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Werner 

Vogd · Martin Feißt

Therapeutische
Arrangements im
Maßregelvollzug
Studien zur Leerstellengrammatik
und den Bezugsproblemen in der
forensischen Psychiatrie
Therapeutische Arrangements im
Maßregelvollzug
Werner Vogd · Martin Feißt

Therapeutische
Arrangements im
Maßregelvollzug
Studien zur Leerstellengrammatik
und den Bezugsproblemen in der
forensischen Psychiatrie
Werner Vogd Martin Feißt
Berlin, Deutschland Einbeck, Deutschland

ISBN 978-3-658-37130-2 ISBN 978-3-658-37131-9  (eBook)


https://doi.org/10.1007/978-3-658-37131-9

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Vorwort

In einer forensischen Psychiatrie, auch Maßregelvollzugsklinik genannt, leben


Menschen, die in den meisten Aspekten kaum anders sind als wir ‚normale‘
Menschen. Sie haben manchmal Wut, sind ab und zu traurig oder depressiv. Sie
sehnen sich nach Beziehungen zu anderen Menschen und möchten von anderen
mit Würde behandelt werden. Wie viele von uns neigen auch einige von ihnen
dazu, berauschende Substanzen zu sich zu nehmen.
Sie empfinden sexuelles Begehren und malen sich in ihrer Vorstellung aus, wie
es erfüllt wird. Wie die meisten von uns haben sie ab und zu Gewaltfantasien,
etwa wenn sie sich hilflos fühlen oder von anderen schlecht behandelt wurden.
Was die dort Untergebrachten von uns ‚Normalen‘ unterscheidet, ist die Über-
schreitung einer Grenze. Die Linie zwischen Fantasie und Realität, Hass und
Begehren auf der einen Seite und einer schweren Straftat auf der anderen Seite
ist von ihnen mindestens einmal überschritten worden. Zudem sind Psychiater
nach eingehender Begutachtung zu dem Schluss gekommen, dass eine hohe
Wahrscheinlichkeit besteht, dass sie unbehandelt und in Freiheit erneut zur Tat
schreiten könnten.
Von der Grundidee her ist die forensische Psychiatrie eine Einrichtung der
Therapie und der Rehabilitation. Die Untergebrachten sollen durch unterschied-
liche Therapien, ein unterstützendes soziotherapeutisches Setting und gezieltes
Training dazu befähigt werden – so die Worte eines Chefarztes –, dass sie „keine
weiteren Straftaten begehen“ und „in die Lage kommen, vorher zu erkennen,
wenn sie Straftaten begehen würden, um dann Hilfe zu finden.“ Darüber
hinaus sollen die Patienten einen produktiven „Umgang mit ihrer psychischen
Erkrankung finden.“ Eine Besonderheit des Maßregelvollzugs besteht darin,
dass die Therapie sich nicht auf einige Wochen oder Monate beschränkt,
sondern in der Regel auf Jahre ausgelegt ist. Der „Zeitansatz in der forensischen
Psychiatrie“ ist „sehr großzügig“ angesetzt. Zudem erfolgt die Behandlung im

V
VI Vorwort

Kontext eines Zwangsregimes. Die Patienten suchen diese Einrichtung in der


Regel nicht freiwillig auf. Dies weckt zunächst Zweifel an den Erfolgsaussichten,
denn eine psychiatrische Behandlung verlangt nicht nur aus rechtlichen, sondern
eben auch aus therapeutischen Gründen das Einverständnis und die Mitwirkung
des Patienten. Doch auch wenn – so wieder die Worte und Perspektive des Chef-
arztes – die Patienten es „nicht sagen würden, profitieren viele von ihnen davon,
dass sie oft für Jahre eingesperrt worden sind“. Wenn sie „dann schließlich ent-
lassen werden könnten“, würden sie nicht selten „‚Danke für alles‘ sagen“.
Ob, wie, unter welchen Bedingungen und in welchen Konstellationen das mit
dem Maßregelvollzug gegebene Versprechen ‚Therapie unter Zwang‘ gelingen
kann, ist Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. Diese Monographie ist
eines von drei Buchprojekten zur forensischen Psychiatrie, die nahezu zeitgleich
entstanden sind. Diese drei Publikationen stehen in einem reflexiven Verhältnis
zueinander und stellen jeweils bestimmte Fragestellungen und Aspekte in den
Vordergrund.1 Mit dem Buch „Prozesse des Normalisierens“ beleuchten wir die
Thematik aus einer eher gesellschaftstheoretischen Perspektive. Hier steht das
komplexe Verhältnis von Abweichung und Normalität im Vordergrund, wobei
dann nochmals eine dezidiert organisationstheoretische Perspektive zum Aus-
druck kommt. Das Buch „Lebensqualitäten im Maßregelvollzug“, zugleich die
Dissertationsschrift von Martin Feißt, lenkt demgegenüber das Augenmerk vor
allem auf die komplexe Situation eines Patienten, der nolens volens mit dem
Maßregelvollzug zurechtkommen muss und deshalb nicht umhinkommt, in dieser
neuen und noch dazu von Autonomieverlust gekennzeichneten Situation für sich
ein kohärentes Selbst- und Weltverhältnis aufzubauen.
Dieses Buch steht – wie bereits der Titel ausdrückt – zwischen den beiden
Polen und thematisiert die Frage der therapeutischen Arrangements, die im Guten
wie im Schlechten die Selbst- und Weltverhältnisse der Patienten konditionieren.
Dabei möchten wir in besonderer Weise würdigen, dass sich ein Fall zwar

1 Es ist das Verdienst von Martin Feißt, mit seiner Bachelorarbeit „Zur sozialen Situation
psychisch kranker Rechtsbrecher“ das Forschungsthema „Maßregelvollzug“ für den
Lehrstuhl Soziologie an der Universität Witten/Herdecke eröffnet zu haben. Im Sommer-
semester 2015 und Wintersemester 2015/2016 fand, ebenfalls auf Initiative von Martin
Feißt, zusammen mit Bernd Dimmek und Sabrina Wiecek an der Universität Witten/
Herdecke ein Lehrforschungsprojekt zur Lebensqualität von langzeituntergebrachten
Patienten statt. In diesem Rahmen wurden in verschiedenen forensischen Kliniken
qualitative Interviews mit unterschiedlichen Patientengruppen durchgeführt. Auf dieser
Basis entstand der Antrag zu dem DFG-Projekt, auf dessen Erhebungen die hier vor-
gestellten Analysen beruhen.
Vorwort VII

analytisch in Psyche, Körper und unterschiedliche Sphären des Sozialen auftrennen


lässt (etwa als Person des Rechts, als Patient, als Mitglied einer Organisation, als
Teil der Familie oder einer Gruppe), im konkreten Behandlungsprozess jedoch alle
diese Aspekte zusammenkommen und sich miteinander verschränken.
Um diese Prozesse systematisch rekonstruieren zu können, untersuchen wir
einzelne Fälle in ihrer jeweiligen Einbettung. Die betroffene Person ist damit
nicht als eine individuelle psychische Entität zu verstehen (was immer das sein
soll), sondern stellt ein jeweils spezifisches Selbst- und Weltverhältnis dar, das die
Beziehungen zu einer (sozialen) Umwelt ebenso umfasst wie den Kontakt zu der
eigenen Leiblichkeit. Eine Annäherung an die Frage, was dies für jede einzelne
Person bedeutet, muss folglich sowohl die Perspektiven signifikanter Anderer mit
einbeziehen, als auch die Materialität der unmittelbaren Gegebenheiten – etwa
vergitterte Fenster oder durch Stacheldraht gesicherte Mauern.
Bei all dem – und dies macht diese Untersuchung ebenso wertvoll wie not-
wendig – haben wir uns vor Augen zu halten, dass unter den zuvor benannten
Bedingungen das Gelingen der Resozialisierung psychisch kranker Rechtsbrecher
alles andere als garantiert ist. Nicht selten mündet der lange Klinikaufenthalt
leider nicht in der Befähigung des Patienten, in einer weniger gesicherten Umwelt
mit der eigenen Erkrankung besser umzugehen zu können. Manchmal kommt
es sogar zur Entwicklung sekundärer Symptome, etwa von Passivität, Hilflosig-
keit und Depression, die eine positive Entwicklung zusätzlich hemmen. Ebenso
kann es zu Konstellationen kommen, in denen der ‚Patient‘ beginnt sich dem
therapeutischen Regime anzupassen und entsprechend dem hier vorherrschenden
Bestrafungs- und Belohnungssystem den Regeln der Klinik zu folgen. Unterhalb
der Oberfläche brodelt es jedoch weiter und es kommt, sobald er freigelassen
wird, erneut zur Deliktanbahnung.
Gerade weil wir wissen, dass die Bemühungen um Rehabilitation
auch scheitern können, ist es umso wichtiger, sich die Gelingens- und
Misslingensbedingungen therapeutischer Arrangements und Konstellationen
anzuschauen. Wir greifen hierzu auf die systemische Perspektive der Leer-
stellengrammatik von Gotthard Günther zurück. Wir hoffen, durch diese neue
Perspektive ein wenig Licht in dieses komplexe Geflecht vertrackter Dynamiken
bringen zu können. Es ist unser Wunsch, dass alle Beteiligten – egal ob Unter-
gebrachte, Angehörige, Personal oder politisch Verantwortliche – neue Erkennt-
nisse aus der vorliegenden Studie ziehen können.
An dieser Stelle ist zunächst der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die
Finanzierung des zugrunde liegenden Forschungsprojektes zu danken. Zudem
gebührt unser Dank den Leitungen der sechs Kliniken, die uns vertrauensvoll
den Feldzugang gewährt haben, ebenso ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern,
VIII Vorwort

die uns in vielen ausführlichen Gesprächen aus ihrem Berufsalltag berichten


konnten und für die unsere Aufenthalte mit Mehraufwand verbunden waren. Wir
danken Raphael Moreno und Kerstin Pospiech-Form für die kritische Durch-
sicht des Manuskripts. Ebenso möchten wir Till Jansen den Dank aussprechen,
der an der Erhebung und Fallinterpretation beteiligt war und die Entstehung des
Manuskripts durch seine Kritik begleitet hat.
Vor allem möchten wir jedoch den vielen Patienten (und wenigen
Patientinnen) danken, die uns wichtige Einblicke in ihr krisenhaftes Leben
gegeben haben. Um ihre Identität zu schützen, sind alle Daten, die zu ihrer Identi-
fizierung führen könnten, etwa Städte- und Personennamen, im Text verfremdet
worden.

Witten Werner Vogd


Dezember 2021 Martin Feißt
Einleitung

Geschlossene psychiatrische Einrichtungen – und besonders die forensische


Psychiatrie – versuchen etwas zu ermöglichen, was aus Perspektive gängiger
Annahmen zu Psychotherapie und Erziehung nahezu unmöglich erscheint. Deut-
lich wird dies bereits anhand einiger Problemfelder und Dilemmata bezüglich der
Rolle des Patienten:

• Wie kann sich ein Patient unter Zwang freiwillig zur Therapie entscheiden?
(Autonomiedilemma)
• Warum soll ein Patient den Therapeuten offen und ehrlich über seine inneren
Zustände berichten und dabei keine strategischen Absichten verfolgen, etwa
in Hinblick auf Gewährung oder Einschränkung von Freiheitsgraden? (Wahr-
haftigkeitsdilemma)
• Wie kann ein Patient Personen vertrauen, die im Rahmen einer totalen Institution
(Goffman 1973) absolute Macht über ihn haben? (Vertrauensdilemma)
• Wie können Patienten als selbstbestimmte Akteure an der Krankenbehandlung
aktiv mitwirken, obwohl sie doch zugleich als psychisch Kranke behandelt
werden, die ihr Verhalten nicht im Griff haben? (Krankheitsdilemma)
• Wie kann es einem Patienten gelingen, seine persönliche Integrität aufrecht
zu erhalten, wenn von außen der Druck an ihn herangetragen wird, sich ver-
ändern zu müssen? (Integritätsdilemma)
• Wie können in einer organisierten Zwangsgemeinschaft natürliche
Beziehungen erprobt werden? (Sozialisationsdilemma)

Wenngleich diese und andere Dilemmata den Alltag der forensischen Psychiatrie
prägen, so hindert dies die Institution und ihre Mitarbeiterinnen nicht daran,
mit der Behandlung ihrer Patienten fortzufahren, und auch wenn nicht darüber
hinweggesehen werden kann, dass das Vorhaben in vielen Fällen scheitert, führt

IX
X Einleitung

es auf der anderen Seite bei nicht wenigen Patienten zu sichtlichen Erfolgen. In
einigen Fällen scheint gar eine weitergehende Rehabilitation – gleichsam das
Unmögliche – zu gelingen. Hiermit stellt sich die Frage, wie dies möglich ist.
Sind die gängigen Annahmen zur Freiwilligkeit von Psychotherapie möglicher-
weise gar nicht so relevant für ihren Erfolg oder sind die benannten Dilemmata
vielleicht gar nicht so problematisch? Ist vielleicht der Zwang überhaupt kein
Hindernis von (Psycho-)Therapie, bzw. stellen die Machtmittel der forensischen
Psychiatrie nicht viel eher die conditio sine qua non dar, um den zuvor nicht ein-
sichtigen Patienten zur Mitarbeit zu bringen? Könnte es sein, dass Druck und
Fremdbestimmung Gelingensbedingung für die Wiedererlangung von Auto-
nomie mancher psychisch Kranker sein kann? Das System des Maßregelvollzugs
stünde dann nicht im Gegensatz zur Lebenswelt ihrer Patienten. Psychisch kranke
Straftäter in organisierter Form mit strukturierten Therapieangeboten behandeln
zu wollen, wäre dann nicht nur moralisch gut (denn was lässt sich moralisch
dagegen einwenden, diesen hochvulnerablen Menschen helfen zu wollen?),
sondern rational geboten und in diesem Falle nicht nur theoretisch, sondern auch
praktisch im Interesse des Patienten.
Um das Richtige für ihn zu tun, würde es dann allein ausreichen, den Skripten
und Leitlinien evidenzbasierter Maßnahmen zu folgen, die an die unterschied-
lichen Diagnosen und Krankheitsbilder angepasst sind. Die oben benannten
Dilemmata würden sich damit als praktisch unbedeutend erweisen, als Gedanken-
spielereien kritischer Theoretiker, die überall Widersprüche vermuten. In der
Praxis wäre jedoch klar, was zu tun ist: Man wendet einfach die bewährten
Therapieprogramme an, ohne sich weitergehende Gedanken über mögliche
Dilemmata und Paradoxien machen zu müssen.
Wenn man sich jedoch von einigen forensischen Patienten die Geschichte ihrer
Therapie oder gar Rehabilitation erzählen lässt oder mit erfahrenen Ärztinnen,
Pflegkräften oder Therapeuten spricht, wird schnell klar, dass sich die Sache nicht
so einfach darstellt. Was bei dem einen Patienten funktioniert, ruft bei einem
anderen mit ähnlicher Diagnose die gegenteilige Reaktion hervor. Beziehungen
sind kompliziert und nicht wenige Patienten haben aufgrund ihrer Geschichte
plausible Gründe, eher ihren Peers zu vertrauen als den institutionellen Rollen-
trägern. Lange schon leben sie in einer Welt, die geprägt ist von einem ‚Wir‘ und
einem ‚Die‘, wobei zu letzteren dann insbesondere die bürgerlichen Protagonisten
der Organisationen zählen, denen sie nolens volens ausgeliefert sind. Und warum
überhaupt sollen sie die Zuschreibung annehmen, psychisch krank zu sein?
Viele hoffen immer noch, dass ihr Anwalt sie in ein paar Monaten oder Jahren
aus der Anstalt herausholt. Und selbst wenn sie die Überzeugung gewinnen, dass
(Psycho-)Therapie für ihre eigene Entwicklung eine hilfreiche Sache ist, bleibt
Einleitung XI

die Frage, welchem Therapeuten man in Hinblick auf die Offenbarung intimer
Phantasien und Gefühle vertrauen kann. Und wie soll man damit umgehen, wenn
eine solche ‚Vertrauensperson‘ nun bereits das vierte oder fünfte mal wechselt?
Zudem zeigt sich bei manchen Patienten eine Überanpassung an die Klinik, die
ihre eigenen problematischen Effekte birgt, etwa wenn man nun genau darin
‚normal‘ sein soll, sich selbst als ‚krank‘ anzusehen.
Nicht zuletzt bleibt auch für den Patienten die Notwendigkeit bestehen,
dass sich sein Selbst von der Umwelt abgrenzen muss, um als autonome Enti-
tät fortbestehen zu können. Der Patient muss sich selbst Initiative und Wirksam-
keit zurechnen können, was kaum geht, wenn er das Gefühl hat, von der Klinik
fremdbestimmt zu werden. Unweigerlich treffen wir hier auf eine Variante der
Sei-spontan-Paradoxie von Paul Watzlawick (1991, S. 91 ff.), die in unserem
Zusammenhang besagt, dass sich der Patient unter sozialem Druck und vor-
gegebenen Skripten aus eigener Einsicht und infolge seiner eigenen Willens-
impulse heraus verändern wollen soll.
Um es zusammenzufassen: In der forensischen Psychiatrie herrscht nicht nur
die medizinische Rationalität, die einen eineindeutigen Konnex von Diagnose
und therapeutischer Intervention nahelegt. Es gibt eine rechtliche Rationalität, die
eigenen Gesetze der Peergruppen, die Rationalität des Vertrauens in die Therapie
und die komplexen Eigenlogiken eines Selbst, das sich von seiner Umwelt
unterscheiden muss, um als es selbst in Abgrenzung eine Identität gewinnen zu
können. Darüber hinaus bergen Organisationen im Spannungsfeld von Zweck-
auftrag und routinierter Normalität ihre eigenen Handlungsrationalitäten. So
wird das Personal kaum in der Lage sein, immer alles ausschließlich unter dem
Blickwinkel von Diagnose, Pflege und Therapie zu beleuchten, sondern wird
manchmal auch einfach nur seine Ruhe haben wollen. Gleiches gilt für den seit
Jahren oder gar Jahrzenten untergebrachten Patienten. Nolens volens ist der
Klinikalltag für ihn irgendwann zum eigentlichen Leben geworden und ent-
sprechend wird er eine abgekühlte Distanz zu den therapeutischen Programmen
und den damit verbundenen Versprechen entwickelt haben.
Unter dem Blickwinkel dieser vielen, einander widersprechenden Rationali-
täten erscheint es zunächst nicht leicht, die Bedingungen des Erfolgs und Miss-
erfolgs forensischer Therapien nachzuzeichnen. Für den Außenstehenden erscheint
es zunächst fast wie ein Wunder, dass trotz der benannten Problemfelder die
Behandlung dennoch häufiger funktioniert, als man zunächst vermuten würde. Für
den erfahrenen Praktiker erscheint der Umgang mit solchen Lagerungen demgegen-
über als eine Art Kunstlehre, in die man dann mit den Jahren hineinwächst und für
die man mit hinreichender Erfahrung eine Intuition entwickelt. Manchmal ist das
eine zu tun, manchmal das Gegenteil davon und manchmal etwas ganz anderes.
XII Einleitung

Widersprüchliche Einheiten

Wir möchten solche Prozesse rekonstruieren und somit einer professions-


theoretischen wie auch professionsethischen Reflexion zugänglich machen. Im
Vordergrund steht dabei die Wertschätzung einer professionellen Praxis, die es
unweigerlich mit Widersprüchen und Paradoxien zu tun bekommt, gleichzeitig
jedoch komplex und der jeweiligen Situation angemessen agieren soll, ohne
dabei ihr eigentliches Ziel aus den Augen zu verlieren. Ulrich Oevermann spricht
hier von der „widersprüchlichen Einheit von universalistischer theoretischer
Geltungsbegründung einerseits und fallspezifischem Verstehen andererseits,
von stellvertretender Entscheidung und Hilfe einerseits und der mäeutischen
Aktivierung von Selbsthilfe sowie dem Respekt vor der Autonomie der Lebens-
praxis in ihren gesunden Anteilen andererseits“ (Oevermann 1990, S. 15). Zudem
habe es die professionelle Praxis „wesentlich immer mit Operationen der stellver-
tretenden Deutung lebenspraktischer Problemkonstellationen zu tun“, ohne dass
diese „dabei einer theoretischen Bevormundung dieser Praxis technokratisch zum
Opfer fallen dürfen“ (Oevermann 1990, S. 15).
Im Sinne einer „klinischen Soziologie“, wie sie ursprünglich Oevermann
(1990) angedacht hat, setzten wir dabei auf Einzelfallrekonstruktionen. Diese
„folgt jeweils der realen Verlaufsdynamik in der praktischen Lebens- und
Arbeitsweise des Einzelfalles“, wodurch es möglich wird, dass sich die Analyse
„jeweils der konkreten Ausprägung einer gegebenen praktischen Problemstellung
anschmiegt, wie es für jegliche klinische Methode unabdingbar ist“ (ders., S. 8).
Dabei ist zu betonen, dass ein Fall nicht in der innerpsychischen Dynamik
des ausgewählten Patienten aufgeht. Über die jeweils patiententypischen
Vulnerabilitäten hinausgehend – die sich für Patienten mit unterschiedlichen
Diagnosen und Krankheitsbildern anders darstellen können –, kann und darf das
jeweilige Selbst- und Weltverhältnis der Betroffenen nicht unabhängig von seiner
sozialen und kulturellen Situiertheit gesehen werden. Ein Fall erscheint vielmehr
als eine komplexe Prozessstruktur, die durch kommunikative Praxen stabilisiert
und durch sozial angelieferten Sinn, etwa auf Basis der in einem Kulturkreis
üblichen semantischen Figuren und Institutionen (hier insbesondere das Recht
und die Medizin), konfiguriert wird.
Oevermanns Professionstheorie betont stark die Freiwilligkeit des Arbeits-
bündnisses zwischen Klientin und Therapeutin und tendiert dahin, die Sinnhaftig-
keit von therapeutischen oder pädagogischen Zwangskontexten grundsätzlich
infrage zu stellen (Oevermann 1996). Mit Bohnsack (2020) lässt sich dem-
gegenüber aus einer praxeologischen Perspektive vermuten, dass auch im
unfreiwilligen Kontext des Maßregelvollzugs unter bestimmten – allerdings noch
Einleitung XIII

zu spezifizierenden Voraussetzungen – therapeutisch wirksame, auch in Hin-


blick auf die Resozialisation produktive Arrangements entfaltet werden können.
In hohem Maße machtstrukturierte Kommunikation – durchaus im Foucaultschen
Sinne2 – verbunden mit einer Disziplinierung des Körpers, kann – so Bohnsacks
Befund3 – einen strukturierenden Rahmen bereitstellen, in dem dann etwa
Erziehung – und warum nicht auch Therapie? – stattfinden kann. Doch was
sind die die Bedingungen der Möglichkeit, dass hochgradig machtstrukturierte
Kontexte im Sinne Bohnsacks produktiv werden können? Was sind die Weichen-
stellungen, welche die Chancen auf eine mögliche Rehabilitation im Guten wie
im Schlechten konditionieren?
Mit Blick auf diese Fragestellung sind jedoch die zuvor aufgeworfenen
Dilemmata keineswegs hinfällig, sondern stellen vielmehr gerade die Bezugs-
probleme dar, denen sich jedes therapeutische Bemühen innerhalb der
forensischen Psychiatrie zu stellen hat. Der Begriff Bezugsproblem meint an
dieser Stelle zunächst ein Set widersprüchlicher und im streng logischen Sinne
nicht miteinander zu vereinbarender Anforderungen, die jedoch in der Praxis
bewältigt werden müssen. Dabei sind unterschiedliche Lösungen möglich, bzw.
die Freiheitsgrade der Praxis entstehen gerade dadurch, dass eben kein formales
Rational im technisch-logischen Sinne die ‚richtige‘ Antwort nahelegt (später
werden wir den Begriff mit Blick auf die funktionale Methode noch etwas
anders definieren). Die Bezugsprobleme sind dann eine andere Bezeichnung für
Oevermanns „widersprüchliche Einheiten“. Um diese angemessen bearbeiten zu
können bedarf es einer autonomen Praxis – sprich: einer professionellen Praxis.4
Letztere zeichnet sich dann dadurch aus, mit der Rolle des Professionellen
Positionen vorzuhalten, die bestimmte Freiheitsgrade in ihren Entscheidungen
haben, deren Handeln und Verhalten also nicht in der Subsumptionslogik
vorab bestehender Programme oder Kalküle aufgeht. So verfügen auch im
Maßregelvollzug ärztliches und psychotherapeutisches Personal, Pflegekräfte,
aber auch andere am Behandlungsprozess Beteiligte über Freiheitsgrade in
Hinblick auf die Frage, wie durch widersprüchliche Anforderungen geprägte
Lagerungen im Einzelfall pragmatisch gelöst werden können und auch müssen.
Aus der praxeologischen Perspektive teilen wir diesen Grundgedanken, ver-
muten aber, dass sich die produktiven wie auch unproduktiven Formen der

2 Siehe etwa Foucault (2000 [1978]).


3 Siehe auch Bohnsack (2017, S. 244 ff.).
4 Oevermann schließt hier an Talcott Parsons (1958a, b) Professionstheorie an.
XIV Einleitung

Professionalität nicht zuletzt zu habituellen Haltungen verdichten und zudem


auch im organisatorischen Setting selbst ausdrücken, ohne dabei reflexiv als ‚Ent-
scheidung‘ eines einzelnen professionellen Akteurs zum Ausdruck kommen zu
müssen.

Relationen im Selbst- und Weltverhältnis

Im konkreten Behandlungsprozess treten mindestens vier Relationen auf,


die in einer nichttrivialen Weise miteinander verflochten sind, nämlich die
Relation des Klienten zu sich selbst (Ich vs. Selbst), die Relation des Patienten
zum Behandlungsteam, die Beziehung der Patienten untereinander und die
Relation zu den Semantiken der Institutionen, in denen dieser Prozess stattfindet
(Organisation und Gesellschaft). So kann zum Beispiel in Bezug auf die Arbeits-
therapie die Organisation dieser Prozesse darüber hinaus (zumindest selektiv)
selbst reflexiv werden – etwa indem in einer Fallkonferenz darüber beraten wird,
wie denn nun die einzelnen Aspekte auszutarieren sind. In der vierten Relation
kann also das Verhältnis aller anderen Relationen thematisiert werden. All dies
zusammengenommen – also das Arrangement der unterschiedlichen Relationen
und die Art und Weise, wie diese miteinander verschränkt sind – bildet den zu
untersuchenden Fall im methodologischen Sinne. Aus Perspektive des Patienten
erscheint der Fall als sein Selbstverhältnis (die Aspekte der Relation, mit dem er
sich identifiziert) und sein Weltverhältnis (all die weiteren Relationen, die ihm
äußerlich erscheinen oder die ihn auch dann prägen, wenngleich sie ihm nicht
reflexiv zugänglich sind).
Anhand ausgewählter konkreter Arrangements möchten wir untersuchen,
wie und unter welchen Umständen Konstellationen gefunden werden können,
in denen sich etwa Zurichtung und Widerstand, Therapie und Abweichung, Ver-
trauen und Misstrauen, Selbst- und Fremdbestimmung in einer (un-)produktiven
Weise verbinden. So können wir auch einen Erklärungsansatz dafür liefern,
warum vorschnelle Kurzschlüsse – etwa die Verwechslung von krankheitsein-
sichtigem mit in jedem Falle adäquatem Verhalten – leicht in Hospitalisierung
oder eine Drehtürpsychiatrie abgleiten.
Damit ist die Soziologie freilich keine bessere Psychiatrie, doch ihr Gewinn
liegt darin, dass sie es – wie Max Weber sagt – den Beteiligten aus der Praxis
ermöglicht, sich selber besser Rechenschaft über ihr Tun zu geben (Weber 1995,
S. 35). Das mag tröstend oder amüsierend sein, es mag Erklärungen über eine
Praxis erlauben, die man oftmals als frustrierend und unbefriedigend erlebt –
ja, die man manchmal möglicherweise nicht so recht versteht. Doch vielleicht
Einleitung XV

ermöglicht es an der einen oder anderen Stelle sogar eine bessere Praxis – etwa,
wenn die Gelingens- und Misslingensbedingungen für die erfolgreiche Balance
der oben benannten Dilemmata sichtbarer werden. Und es ermöglicht darüber
hinaus, Hinweise zu geben, welche Schieflagen dem Maßregelvollzug möglicher-
weise systemisch inhärent sind und nicht den einzelnen Kliniken oder gar einzel-
nen Personen zuzurechnen sind.
All dies bedeutet jedoch, sich mehr als allgemein üblich der Komplexität der
institutionalisierten Therapie unter Zwang zu stellen.
Genau dies haben wir mit unserem Projekt „(Re-)Sozialisierung im
Maßregelvollzug“ versucht. Um dies auf eine fundierte Weise leisten zu
können, haben wir im Laufe des Jahres 2019 sechs forensische Kliniken5 für
jeweils zwei Wochen in vier Bundesländern aufgesucht, dabei mit Patienten,
Ärztinnen, Therapeuten und dem pflegerischen Personal gesprochen und in teil-
nehmender Beobachtung die Abläufe des Klinikalltags miterlebt. Im Verlauf der
Feldforschung haben sich dann einzelne Arrangements herauskristallisiert, die
aus unterschiedlichen Gründen in besonderem Maße über die oben benannten
Problematiken Aufschluss geben können – sei es, weil eine Lockerung oder
weitergehende Resozialisierung kurz bevorsteht, sei es, weil sich im Behandlungs-
verlauf gerade eine Wendung andeutet oder (unerwartet) eine Krise aufscheint.
Die Auswahl der hier vorgestellten Fälle erfolgt nach dem Kriterium sinn-
voller Kontraste, wobei auf der formalen Ebene unterschiedliche Krankheitsbilder
(Schizophrenie und Persönlichkeitsstörungen) und Delikte (Sexualstraftaten,
Kapitalverbrechen und weniger schwerwiegende Straftaten) abgebildet werden,
um der Diversität der Klientel des Maßregelvollzugs einigermaßen gerecht zu
werden. Die inhaltliche Kontrastierung wiederum zielt vor allem darauf ab, das
Spektrum relevanter Bezugsprobleme des Maßregelvollzugs abbilden zu können.
Aus didaktischen Gründen werden die Bezugsprobleme noch vor der eigentlichen
Fallanalyse in pointierter Form anhand ausgewählter Textstellen vorgestellt.
Die eigentliche Fallanalyse erfolgt demgegenüber sequentiell, nicht zuletzt um
das komplexe Geflecht der unterschiedlichen Positionen im Arrangement sowie
den zeitlichen Verlauf und die hierin sich ausdrückenden Weichenstellungen
rekonstruieren zu können.

5 In Hinblick auf Rückschlüsse von unseren sechs Kliniken auf das Maßregelvoll­
zugssystem haben wir mit einzubeziehen, dass wir in unserem Sampling einen Bias ver-
muten. Dieser besteht darin, dass uns natürlich vor allem jene Kliniken die Türen geöffnet
haben, die von ihrer Arbeit überzeugt sind.
XVI Einleitung

Die Perspektive, die unseren Analysen zugrunde liegt, ist die der
konditionierten Koproduktion von psychischen, körperlichen und sozialen
Phänomenen. Auch der forensische Patient kommt als solcher erst durch andere
ins Dasein: als ein Mensch, der in einer bestimmten sozialen Konstellation
durch die Rechtsprechung zum Straftäter wird und durch die Medizin zu einem
Patienten mit einer seelischen Störung, die so schwer ist, dass ihm die Schuld-
fähigkeit abgesprochen wird.
Hiermit soll allerdings nicht abgestritten werden, dass psychiatrische
Diagnosen ihre Berechtigung haben, oder dass es biologische Prozesse gibt (etwa
Hirnveränderungen), die mit bestimmten Verhaltensdispositionen einhergehen.
Doch wir weisen darauf hin, dass der forensische Patient keine vorsoziale, bio-
logische oder psychologische Gegebenheit ist, sondern erst in einer bestimmten
sozialen und diskursiven Konstellation zu diesem spezifischen Hybrid aus Täter
und Patient wird und in Folge auch nicht mehr umhinkommt, in seiner bio-
logischen und psychischen Entwicklung hierauf Bezug zu nehmen. Der Mensch
im Maßregelvollzug ist also nicht forensischer Patient, weil seine Persönlich-
keit gestört ist oder irgendwelche Abnormalitäten in seinen hirnorganischen
Prozessen vorliegen, sondern weil er spätestens nach seiner Einweisung in einer
spezifischen sozialen und institutionellen Konstellation leben muss, die auch in
psychischer und körperlicher Hinsicht sein Selbst- und Weltverhältnis prägt:

• Er wird nicht mehr in der gleichen Weise wie zuvor seine Leiblichkeit
zur Geltung bringen können (allein die Klinikmauern und die geforderte
Tagesstruktur greifen hier massiv ein): dies wird seine Haltung und seine
Stimmungen beeinflussen und damit langfristig auch seinen Habitus prägen.
• Er wird lernen müssen, in einer anderen Weise zu sprechen, allein schon, weil
jedes seiner Worte eine Relevanz für die weitere Diagnostik und Gefahrenein-
schätzung haben kann. Dies wird sein Denken, seine Interaktionen, wie auch
seine Motivationen und weitere Aspekte seines Handelns mitbestimmen.
• Er wird nicht mehr in der gleichen Weise empfinden können, da jeder Affekt
und jeder Handlungsimpuls zugleich als ein potenzielles Zeichen einer
seelischen Störung gewertet werden kann, die es zu therapieren gilt. Schon
deshalb wird auch in psychischer Hinsicht sein Erleben und Empfinden ein
anderes werden.

Die Anhänger einer auf das Individuum beschränkten psychiatrischen Theorie


mögen die psycho-soziale Komplexität ausblenden wollen, doch ob sie wollen
oder nicht: Therapie und Resozialisierung geschehen weder mit isolierten
Einleitung XVII

Psychen noch mit dekontextualisierten Körpern. Sie behandeln vielmehr ein


Arrangement, von dem sie immer schon selber Teil sind. Die behandelten
Menschen sind Ausdruck einer konditionierten Koproduktion, die unweigerlich
auch die Verhältnisse des Maßregelvollzuges selbst einschließt. Wie Gestalt und
Kontext, Vordergrund und Hintergrund bilden das behandelnde Regime und die
zu behandelnden Menschen unweigerlich eine Einheit im Sinne einer rekursiven
funktionalen Beziehung. Um es mit Fritz Simon auszudrücken:

„Psychische Systeme entstehen in der Interaktion und Kommunikation eines


lebenden Systems mit sich selbst. Die Medien dieser Kommunikation sind der
Organismus und das soziale System. Psychische Strukturen entstehen, so lässt sich
zusammenfassen, in einem selbstreferenziellen Prozess, bei dem das Individuum
sich selbst Botschaften und Mitteilungen gibt – über sich selbst und die Welt; und
diese Botschaften finden ihren Weg zurück über die Vermittlung körperlicher und
sozialer Prozesse“ (Simon 2012, S. 61).

Bei allen Fragen der Therapie oder Resozialisierung innerhalb der forensischen
Psychiatrie geht es also nicht nur um die Behandlung eines Menschen im
Maßregelvollzug, sondern um die Veränderung eines Arrangements, von dem der
Patient nur ein Bestandteil unter anderen ist. An der Entlassung eines Patienten
oder bereits an der Gewährung unbegleiteten Ausgangs sind viele beteiligt: Gut-
achter, Richter, Therapeuten, Ärzte und das pflegerische Personal, aber auch die
sozialen Netzwerke außerhalb der Klinik, etwa Angehörige und Arbeitgeber oder
nachsorgende Einrichtungen.
Zu diesem Arrangement gehören selbstverständlich aber auch die Psychen und
Körper der Patienten und des Personals wie auch das, was sie miteinander tun –
Interagieren, Kommunizieren und dabei auch körperliche Prozesse beeinflussen
(letzteres etwa durch Medikamente oder die Bewegungsfreiheit einschränkende
Settings).

Die Verstehensproblematik

Insbesondere die systemtheoretische Perspektive im Anschluss an Niklas


Luhmann führt aus guten Gründen eine scharfe Trennung zwischen den System-
ebenen ein. Das organische System (also die autopoietische Verkettung der
physiologischen Prozesse), die Psyche (der selbstreferenzielle Bezug von
Gedanken auf Wahrnehmungen und andere Gedanken) wie auch soziale Systeme
(die Beziehung von Kommunikationen, die an Kommunikationen anschließen)
XVIII Einleitung

stellen jeweils emergente Phänomene dar, die jeweils ihre eigene genetische
Wertigkeit haben, also zwar strukturell gekoppelt sind (psychische Systeme
lassen sich durch physiologische Prozesse oder Kommunikation anregen
und beeinflussen und vice versa), jedoch nicht in einer kausalen Beziehung
zueinander stehen. Ein Gedanke, eine Empfindung eine Fantasie muss nicht
in der Kommunikation geäußert werden. Umgekehrt mag man noch so nach-
drücklich auf jemanden einreden, ohne dass dieser den mit der Argumentation
implizierten Sinn teilt. Eine körperliche Reaktion mag von dem anderen bemerkt
und kommunikativ aufgegriffen werden, ohne dass sie zuvor ins Aufmerksam-
keitsfeld der psychischen Wahrnehmung gekommen ist. Vorstellungen mögen den
Körper anregen oder kaum eine bzw. gar eine inhibierende Wirkung haben.
Psyche, Körper und Kommunikation referieren zwar sinnhaft aufeinander
und die „jeweils eine Systemart ist notwendige Umwelt der jeweils anderen“
(Luhmann 1984, S. 92). Sie sind im „Wege der Co-Evolution entstanden“ und
aufeinander „angewiesen“ (a. a. O.). Doch wie gesagt besteht kein unmittel-
barer kausaler Zusammenhang zwischen der einen und der jeweils anderen
Systemebene. In der systemtheoretischen Literatur wird oft formuliert, dass
Kommunikation die Psyche eben nur irritieren, also versuchen kann, sie zu
Reaktionen herauszufordern, ohne dabei jedoch determinieren zu können, worin
diese Reaktion dann konkret besteht. Umgekehrt wird ein ausgesprochener
Gedanke in der Kommunikation nicht unbedingt so verstanden, wie er vom
Bewusstsein intendiert war. Gleiches muss dann selbstredend auch für den Ver-
such gelten, den psychischen Prozess – also die Kognitionen, das Fühlen und
das Erleben eines anderen Menschen – zu verändern. Um nochmals Fritz Simon
heranzuziehen:

„Psychische Veränderungen können durch Veränderungen einer ihrer Umwelten –


d. h. dem Organismus oder dem sozialen System – ausgelöst werden, sie sind in
ihrer konkreten Ausformung aber immer durch interne Strukturen definiert. Mit
anderen Worten: Psychische Operationen schließen immer nur an psychische
Operationen an und müssen – auch wenn sie sich verändern – deren innerer Logik
folgen.“ (Simon in Schleiffer 2012, S. 10).

Für psychiatrische und psychotherapeutische Institutionen und ihre Akteure


ergibt sich hieraus ein Problem. Um einen unmittelbaren Einfluss auf die Psyche
ihrer Klienten auszuüben, müssten sie ihr Handeln am Erleben ihrer Klienten
ausrichten. Da zu diesem jedoch kein direkter Zugang besteht, können sie ihr
Handeln praktisch nur am Verhalten des Patienten anschließen (etwa an seinen
Einleitung XIX

Artikulationen und körperlichen Reaktionen).6 Sie müssen also etwas vollziehen,


was logisch unmöglich ist (niemand kann in das Bewusstsein des Gegenübers
schauen), was gleichzeitig dennoch gemacht werden muss. Die Operation, die
dies leistet, ist das Verstehen, also der Versuch, die Fremdreferenz des jeweils
anderen Systems nachzuvollziehen, wenngleich eben unmittelbare Einfühlung
unmöglich ist.7 Im Sinne einer Hermeneutik des Anderen gilt hier Hans-Georg
Gadamers Einsicht, dass die „Bemühung des Verstehens“ überall dort stattfindet,
„wo sich kein unmittelbares Verstehen ergibt, bzw. wo mit der Möglichkeit eines
Mißverstehens gerechnet werden muß“ (Gadamer 1972, S. 167).
Sei es über einen empathischen Analogieschluss oder theoriegeleitete Ver-
suche einer „Theory of Mind“ (A. F. Schmidt 2008) – gerade Therapeuten und
Psychiater kommen nicht umhin, zu versuchen, sich in ihre Patienten hineinzu-
versetzen.8 Man mag sich in der Sozialforschung darauf zurückziehen wollen,
dass eben all dies nur soziale Konstruktionen darstellt, oder im Sinne einer
zu wörtlich genommenen objektiven Hermeneutik eben nur an textförmig
artikulierte Kommunikation angeschlossen werden kann und eben nicht an das
subjektive Erleben des Gegenübers.9
Doch dies ändert nichts daran, dass die Erste-Person-Perspektive des Patienten
schon immer konstitutiv für das psychiatrische Feld ist und war. Nicht nur Eugen
Bleulers (1916) Beschreibungen der Schizophrenie beruhen auf der Annahme
einer phänomenologisch validen Erste-Person-Perspektive (vgl. Rigato et al.
2019). Selbst ein biologisch denkender Psychiater wird die Artikulationen
seines Patienten in einen Zusammenhang mit dessen gestörtem Erleben bringen
müssen.10 Auch wenn es einen spontanen und unmittelbaren Zugang zur Du-
Perspektive des Anderen nicht geben kann und jeder Bericht zudem immer
durch Sprache – also sozial angelieferten Sinn – vermittelt ist, bleibt es für das

6 In einer Klinik gab es hier den verbreiteten Spruch: „Man kann den Leuten eben nur vor
den Kopf gucken“.
7 Siehe ausführlicher zum Problem des Fremdverstehens und Versuchen seiner Lösung aus

Perspektive einer systemtheoretischen Methodologie Vogd (2011, S. 219 ff.).


8 Siehe zur Debatte um das Fremdverstehen aus einer phänomenologischen Perspektive

Zahavi (2001).
9 Vgl. Garz und Kraimer (1994).

10 Wie Lindemann (2006) aufzeigt kommt selbst der Hirnforscher manchmal nicht umhin,

seinen Versuchstieren die Eigensinnigkeit einer Du-Perspektive zuzurechnen.


XX Einleitung

psychiatrische und therapeutische Feld konstitutiv, dass eben am Erleben des


Anderen, das heißt an die Erste-Person-Perspektive fremdpsychischer Vorgänge
angeschlossen wird.
Wir würden unseren Gegenstand nicht ernst nehmen, wenn wir dies in
unseren Rekonstruktionen ausklammern würden. Wir haben es mit einem Feld
zu tun, das ständig Erste-Person-Perspektiven anfertigt. Selbst systemtheoretisch
fundierte Autoren, die sehr genau um die Systemgrenzen von Psyche, Körper
und sozialem System wissen, kommen in ihren Falldarstellungen nicht umhin,
zwischen Ich-, Du- und Dritte-Person-Perspektiven und den damit verbundenen
unterschiedlichen Erklärungs- und Beschreibungsmodi zu wechseln.11 Ebenso
haben die systemischen Therapeuten und ihre Autorinnen Fallbeschreibungen
anzufertigen, in denen ‚verstanden‘ wird. Somit wird auch hier die rekonstruktive
Gattung eines im Nachhinein angefertigten sprachlichen Berichts als eine Reali-
tät genommen, auf der dann andere Überlegungen aufbauen. Gleiches wird für
unsere Texte gelten. Insofern wir versuchen, Verstehen zu verstehen, also die
therapeutischen Bemühungen und Reflexionen sowie das Selbstverstehen in
den Reflexionen der Patienten aufgreifen und in Beziehung setzen, bleibt uns
nichts anderes übrig, als eine Art „ontologisches Gerrymandering“ (Woolgar
und Pawluch 1985) zu betreiben. Wir müssen Perspektiven wechseln und unter-
schiedliche Positionen einnehmen, wenn wir versuchen, ‚verstehend‘ jemand
anderes zu verstehen, um dies dann wiederum unsererseits zu unserer Perspektive
des Verstehens zusammenzufassen. Aus den hiermit einhergehenden vielfältigen
Beobachterabhängigkeiten kommen wir nicht heraus. Wir können nur versuchen,
an manchen Stellen die Positionen zu indizieren, und dann mit der Zusammen-
schau unterschiedlicher Perspektiven eine hinreichend „dichte Beschreibung“
(Geertz 1983) zu ermöglichen, in der die Eigenarten und Weichenstellungen
der konditionierten Koproduktion der beteiligten Körper, Psychen und sozialen
Systeme sichtbar werden.
Die Berichte und Dialoge von Patienten und Mitarbeitern sind damit sowohl
Ausdruck eines Interaktionssystems, in dem Erzählungen angefertigt werden,
als auch anderer sozialer Systeme mit ihren Strukturen von Erwartungen und
Erwartungserwartungen (etwa von Organisationen oder therapeutischen Dyaden).
Und nicht zuletzt sind sie Ausdruck von Körpern, in denen sich Soziales und

11 Siehe etwa Schleiffer (2012).


Einleitung XXI

Psychisches über viele Jahre hinweg eingeschrieben hat.12 Hier drückt sich dann
zugleich die Interaktionsgeschichte der Beteiligten aus – wie auch die hier-
mit verflochtenen Prozesse der Co-Evolution (was für den Patienten, ebenso
wie die Mitarbeiter beispielsweise heißt, dass bereits gemachte Erfahrungen
des Maßregelvollzugs mit einfließen). Zugleich besteht jedoch weiterhin die
Differenz zwischen Körpern, Psychen und sozialen Systemen, wie auch die damit
verbundenen Unbestimmtheiten an den jeweiligen Schnittstellen.
Die Perspektive der konditionierten Koproduktion erlaubt zudem in der
Zusammenschau von Perspektiven verbindende Muster und Entwicklungen auch
in Hinblick auf einen Patienten zu sehen, ohne dabei jedoch präjudizieren zu
müssen, ob diese positiv oder negativ zu bewerten sind:

„Die konkrete Entwicklung psychischer Strukturen, seien sie nun als ‚pathologisch‘
oder ‚gesund‘ bewertet, lässt sich als Folge der Geschichte bewältigter ‚Störungen/
Anregungen‘ (sog. Perturbationen oder Irritationen) durch diese Umwelten erklären.
Solche Perturbationen können zum Beispiel körperliche Veränderungen in der
Pubertät oder im Alter darstellen, es können aber auch familiäre oder gesellschaft-
liche Ereignisse oder Veränderungen sein. Entscheidend ist hier, dass sich Krankheit
und Gesundheit immer durch die im Prinzip selben generierenden Mechanismen
erklären lassen müssen.“ (Simon in Schleiffer 2012, S. 10 f.).

Wenn die Verstehensproblematik durch Macht


konditioniert wird

An dieser Stelle ist jedoch gerade auch in Hinblick auf die Verstehensproblematik
nochmals besonders darauf hinzuweisen, dass die Arzt-Patienten-Kommunikation
innerhalb der geschlossenen Einrichtung der forensischen Psychiatrie als hoch-
gradig machtstrukturiert anzusehen ist – und damit die Möglichkeit wechsel-
seitigen Verstehens wenngleich nicht aufgehoben, so jedoch durch eine andere
Semantik gebrochen wird.

12 Auch das narrativ geführte Einzelinterview bildet aus dieser Perspektive dann den
individuellen Knotenpunkt des multidimensionalen Vollzugs von Körperlichkeit,
Organisation und Gesellschaft. Siehe methodologisch in Referenz auf die Theorie der
Polykontexturalität auch Vogd (2011, S. 133 ff.).
XXII Einleitung

Luhmann beschreibt hier in seiner Theorie der symbolisch generalisierten


Kommunikationsmedien eine zentrale Weichenstellung der Kommunikation:13
Die eine Möglichkeit besteht demzufolge darin, das eigene (kommunikative)
Handeln zum Zwecke der Änderung einer anderen Person anzusetzen. Dies ent-
spricht der Semantik der Macht. Ich tue etwas, damit der Andere tut, was ich will.
Der Andere folgt mir dabei nicht, weil er es will oder einsieht, sondern weil er
muss. Die andere Variante besteht demgegenüber darin, das eigene Handeln am
Erleben des Anderen auszurichten. Dies entspricht der Semantik des Verstehens,
wie es etwa in der humanistischen Psychotherapie, der Liebe oder einer liberalen
Pädagogik zum Ausdruck kommt. Ich mache etwas, damit der andere für sich
etwas erleben kann, an das er anschließen kann bzw. will. Der andere folgt dann,
wenn er die Sache für sich als wertvoll und nachvollziehbar empfindet.
‚Verstehen‘ im Maßregelvollzug heißt damit eben auch, zu begreifen, dass
das Verstehen durch die Machtsemantik gebrochen wird – also gleichsam beiden
Pfaden der Weichenstellung zu folgen hat. Verstehen heißt somit zu verstehen,
was unfreiwilliges Verstehen bedeuten kann. Dies verkompliziert die Aufgabe
einer sozialwissenschaftlichen Rekonstruktion der Behandlungsprozesse im
Maßregelvollzug und führt, wie bereits zu Beginn der Einleitung angedeutet, zu
den spezifischen Bezugsproblemen des Maßregelvollzugs, die es im Folgenden
nachzuvollziehen gilt.
Für diejenigen, die eine strenge methodologische Engführung einfordern,
mag all dies unbefriedigend sein. Zwischen Erste-, Zweite- und Dritte-Person-
Perspektiven wechseln und dann noch mit einer Transgression zwischen Macht
und Verstehen rechnen zu müssen, wirft eine Komplexität auf, die methodisch
kaum zu kontrollieren scheint. Doch darunter ist unser Gegenstand nicht
angemessen zu haben. Gerade weil der Maßregelvollzug so enorm komplex ist,
kommen wir nicht umhin diese Komplexität in gewissem Maße auch auszubreiten
und der Leserin zuzumuten.
In diesem Buch werden neben dem im Methodenkapitel aufgearbeiteten
Beispiel fünf weitere Fälle ausführlich aufgearbeitet und dargestellt – denn die
typischen Muster der im Maßregelvollzug gängigen Relationen zeigen sich erst
in der detaillierten Rekonstruktion des Einzelfalls und der komparativen Ana-
lyse unterschiedlicher Fälle. Das Allgemeine wird nur im Besonderen sichtbar.

13Siehe zur Kreuztabellierung von Erleben und Handeln in Bezug auf Ego und Alter unter
dem Blickwinkel der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien etwa Luhmann
(1998, S. 336 ff.).
Einleitung XXIII

Ergänzend werden kleine Fallvignetten anderer Verläufe eingefügt. So werden


Weichenstellungen aufgezeigt, wie in etwas veränderten Konstellationen andere
Entwicklungen möglich sein könnten.
Die Auswahl der Fälle folgt dabei vor allem dem Kriterium, ob hierdurch
grundlegende Bezugsprobleme des Maßregelvollzugs sichtbar werden, wobei
jedes der ausgewählten Beispiele andere Aspekte in den Vordergrund treten
lässt. Es geht also nicht darum, irgendwelche Absonderlichkeiten und besonders
bizarre psychiatrische Charaktere vorzuführen, sondern darum, regelmäßig
wiederkehrenden systemischen Mustern nachzuspüren. Zudem haben wir sowohl
Krankheitsbilder ausgewählt, die unter dem Oberbegriff ‚Persönlichkeitsstörung‘
subsumiert werden können, als auch dem schizophrenen Formenkreis zuzu-
rechnen sind, da sich hier jeweils bestimmte Bezugsprobleme in besonderer
Weise zeigen.

Anmerkungen zum Aufbau des Buches

Mit diesem Buch möchten wir uns der Komplexität des Maßregelvollzugs stellen.
Hierfür ist ein Preis zu zahlen. Wir haben auf inhaltlicher Ebene zwischen unter-
schiedlichen Fokussierungen und Abstraktionsniveaus zu wechseln, um am Ende
zu einer dichten Beschreibung gelangen zu können.
In den folgenden Kapiteln finden sich sowohl ausführliche Fallbeschreibungen
wie auch kondensierte theoretische Verdichtungen, eine thematisch gegliederte
Illustration der wichtigsten Bezugsprobleme des Maßregelvollzugs, wie auch
komplexe Schilderungen von Fallverläufen, in denen zugleich das Gewirr
divergierender Problemlagen deutlich wird.
Wir wechseln zwischen den Positionen und Perspektiven der unter-
schiedlichen Beteiligten und versuchen hierdurch, die hiermit zum Ausdruck
kommenden Arrangements – die Muster, die verbinden – zu identifizieren.
Wir haben den Interviewausschnitten und Beobachtungssequenzen bewusst
viel Raum gegeben. Da die meisten psychiatrischen oder therapeutischen Bücher
nur kondensierte, verdichtete und entlang einer spezifischen Fragestellung auf-
gearbeitete Fälle präsentieren, erscheint es uns als Wert an sich, Patienten,
Therapeuten, Ärztinnen etc. ausführlicher zu Wort kommen zu lassen, als dies
den üblichen Lesegewohnheiten entsprechen mag.
Wer an unserer methodologischen Herangehensweise interessiert ist, sollte
zumindest die Beispielinterpretation in Abschn. 3.2 lesen und dann ggf. weitere,
an anderer Stelle von uns publizierte methodologische Arbeiten hinzuziehen.
XXIV Einleitung

Ein zentraler Zugang zur Komplexität des Gegenstands besteht darin,


systematisch die Perspektiven und Ebenen zu wechseln und durch die hieran
anschließenden komparativen Analysen ein multidimensionales Bild der Weichen-
stellungen und Arrangements innerhalb der forensischen Psychiatrie zu generieren.
Dies widerspricht jedoch der sequenziellen Anordnung eines Buches, in dem die
einzelnen Elemente der Argumentation nacheinander aufgefädelt werden. Des-
halb haben wir uns entschieden, die einzelnen Kapitel immer wieder in Form von
ergänzenden „Kästen“ zu durchbrechen, welche jeweils eine weitere Ebene ein-
führen, die dann an anderer Stelle nochmals aufgegriffen werden kann. Hierbei
kann es sich um alternative Weichenstellungen handeln, die an dieser Stelle mög-
lich wären, um methodologische Fragen, die anders angegangen werden könnten,
oder aber auch um gesellschaftstheoretische Aspekte, die an dieser Stelle eine
Rolle spielen, jedoch nicht ausführlicher entfaltet werden können.
Wir laden damit einerseits ein, zu springen – was bei einem solch umfang-
reichen Buch die meisten Leser und Leserinnen sowieso machen werden –
andererseits jedoch auch zu systematischer Lektüre, um sich der Komplexität des
Gegenstandes zu stellen und auf diese Weise die Verschränkung der jeweiligen
Perspektiven, Positionen und hiermit einhergehenden Darstellungsweisen in den
Blick zu bekommen.
Mit Blick auf die Lesefreundlichkeit eines aus den zuvor benannten Gründen
an sich schon herausfordernden Buches, haben wir uns dafür entschieden, den
Textfluss nicht auch noch durch ein systematisches Gendern von Bezeichnungen
zu verkomplizieren, die zugleich in männlicher und weiblicher Variante vor-
kommen. Wir verwenden teilweise das generische Maskulinum (wenn wir vom
Patienten oder Therapeuten sprechen, sind alle Geschlechtsformen gemeint). Wir
verwenden teilweise das generische Femininum (wenn wir beispielsweise von der
Wissenschaftlerin sprechen, sind auch männliche Personen mit bezeichnet).
Inhaltsverzeichnis

1 Der Maßregelvollzug in Deutschland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1


1.1 Soziologie und Psychiatrie – ein schwieriges Verhältnis. . . . . . . . . . 11
1.2 Sozio- und Milieutherapie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
1.3 Das Personal im Rollenkonflikt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
2 Schlüsselbegriffe der Untersuchung und methodologische
Bemerkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
2.1 Arrangements – Selbst- und Weltverhältnisse
in Form bringen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
2.2 Das forensische Arrangement – Transformation
der Selbst- und Weltverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
2.3 Weichenstellungen – wenn ein Arrangement
sich zu verändern beginnt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44
3 Praxeologischer Zugang – Dokumentarische Methode und
Kontexturanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
3.1 Funktionale Methode – Bezugsprobleme
und deren Lösungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
3.2 Beispielinterpretation: Herr Volkert – ein
kranker Pädophiler?! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58
4 Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
4.1 Frau Schmidt: Sich verändern, um dieselbe
bleiben zu können . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94
4.2 Herr Salier: Das Risiko des Vertrauens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
4.3 Frau Krampen: In der Klinik ein Zuhause finden?!. . . . . . . . . . . . . . 225
4.4 Herr König: Kapitän der Seele. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277
4.5 Herr Zimmermann: In der Beziehungsfalle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325

XXV
XXVI Inhaltsverzeichnis

5 Abschließende Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359


5.1 Weichenstellungen der forensischen Psychiatrie
in der Zusammenschau der Arrangements. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363
5.2 Der Körper im Arrangement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379
5.3 Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie – eine Revision. . . . . 391
5.4 Ethische Fragen – Verantwortung, Reflexion und Umgang mit
Freiheitsgraden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408
6 Kritische Reflexion der Rolle des soziologischen Beobachters. . . . . . . 425

Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429
Der Maßregelvollzug in Deutschland
1

Wer eine Straftat begeht, zum Tatzeitpunkt jedoch aufgrund „einer krankhaften
seelischen Störung, wegen einer tief greifenden Bewusstseinsstörung oder wegen
einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung
unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln“
(§ 20 StGB) und somit für schuldunfähig oder verminderter schuldfähig (§ 21
StGB) gilt, kann in logischer Konsequenz des Schuldstrafrechts (vgl. Dörner
et al. 2013, S. 333) nicht bestraft werden. Sind dennoch „erhebliche rechtswidrige
Taten“ von der betreffenden Person zu erwarten, kann sie zwangsweise auf
Grundlage von § 63 StGB in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht
werden.1
Bei solchen Maßregelvollzugskliniken, wie sie auch genannt werden, handelt
es sich um geschlossene psychiatrische Einrichtungen, die den Zweckauftrag der
„Besserung und Sicherung“ verfolgen (für eine Einführung siehe Dörner et al.
2013, S. 331 ff.; Stolpmann 2010). Unter diesem Primat, der alle Ebenen der
Organisation durchsetzt, gilt es, psychisch kranke Rechtsbrecher so weit zu (re-)
sozialisieren, dass sie in einem Prozess „kultureller Osmose“ (in Anlehnung an

1 Darüber hinaus benennt das Strafgesetzbuch mit § 64 StGB den Fall, dass eine Person

per richterlicher Anordnung in eine „Entziehungsanstalt“ eingewiesen werden kann,


sofern diese den „Hang“ hat, „alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im
Übermaß zu sich zu nehmen“, die rechtswidrige Tat in unmittelbaren Zusammenhang mit
diesem Hang zu bringen ist und weitere Taten infolge dieses Hangs zu erwarten sind. Eine
solche Unterbringung soll jedoch nur erfolgen, insofern eine hinreichende Aussicht auf
Heilung oder längerfristige Vermeidung von Rückfällen zu erwarten ist. Diesen Bereich des
Maßregelvollzugs haben wir in unserer Studie ausgeklammert.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden 1


GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022
W. Vogd und M. Feißt, Therapeutische Arrangements im Maßregelvollzug,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-37131-9_1
2 1  Der Maßregelvollzug in Deutschland

Goffman 1973, S. 24) in weniger gesicherten Anschlusseinrichtungen weiter in


die Gesellschaft eingegliedert werden können.2
Gesellschaftlich tragen die Insassen das „doppelte Stigma“ (Schott und
Tölle 2006, S. 324), dass sie sowohl „krank“ als auch „kriminell“ sind. Es ist
also immer schon zu beachten, dass allein die Einweisung und der hiermit ein-
hergehende Verlust des gesellschaftlichen Status das forensische Arrangement
konditionieren wird (s. hierzu auch den Punkt „Weichenstellungen“ im Kap. 2
„Schlüsselbegriffe“).
Aufgrund von Schuldunfähigkeit oder verminderter Schuldfähigkeit kann es
nicht mehr um eine moralische Behandlung des Täters gehen.3 „Soweit möglich“
soll der Untergebrachte „geheilt oder sein Zustand so weit gebessert werden,
daß er nicht mehr gefährlich ist“ (§ 136 StVollzG). Der normative Anspruch
ist also die Reduzierung der Gefährlichkeit durch therapeutische Behandlung.
Die Insassen werden zu Patienten, die auf ein straffreies Leben außerhalb einer
solchen „totalen Institution“ (Goffman 1973) vorbereitet werden sollen (etwa in
speziellen Wohngruppen etc.).
Anders als im Strafvollzug, wo der Schuldige per Definition klar und das
Strafmaß per Gerichtsentscheid eindeutig ist, erschwert das Wissen um die
Vulnerabilität eines psychisch kranken und schuldunfähigen Menschen dessen
Einordnung in moralisch oder medizinisch-therapeutisch eindeutige Kate-
gorien. „Gefährlichkeit“ wird im Behandlungsverlauf zum zentralen Prüfstein
der potentiell unbegrenzten Unterbringung, da im regelmäßigen Turnus neu
über deren Verlängerung entschieden werden muss.4 Was unter „Gefährlichkeit“

2 Die Einsicht, dass nicht jeder Mensch in gleichem Maße für seine Straftaten zur Ver-

antwortung gezogen werden kann, besteht schon seit über tausend Jahren (vgl. Haack
2016; Schott und Tölle 2006, S. 324 ff.). Mit dem Deutschen Reich wurden 1871 recht-
liche Regelungen eingeführt, die denjenigen für nicht schuldhaft erklären, der „im
Zustand schwerer psychischer Störung eine Straftat begangen hat“ (ebd. 325). Der Ein-
fluss der Medizin auf den Umgang mit Straftätern bildete sich dabei im Wesentlichen im
19. Jahrhundert aus (vgl. Foucault 2005: 39 ff.). Nach einigen Gesetzesentwürfen zu
Zeiten des Kaiserreichs sowie der Weimarer Republik erlangte die rechtliche Regelung
der Behandlung von sogenannten Gewohnheitsverbrechern allerdings erst 1933 durch die
Nationalsozialisten Gesetzeskraft (Kammeier 1995). Der damals eingeführte § 42b RStGB
besteht bis heute (als § 63 StGB) nahezu unverändert fort.
3 Siehe zu unterschiedlichen Modellen der Bearbeitung moralischer Einsichtsfähigkeit
bereits Foucault (1996 [1961], S. 265).
4 Begründungspflichtig ist dabei die Fortdauer der Unterbringung. Nicht die Lockerungen

sind begründungspflichtig, sondern das Zurückhalten von Lockerungen, also das Ausmaß
des Freiheitsentzugs (vgl. Kammeier 2016a, b).
1  Der Maßregelvollzug in Deutschland 3

jedoch zu verstehen ist und wie diese vor allem in der Praxis im Zusammenspiel
der Funktionslogiken ‚Recht‘ und ‚Medizin‘ operationalisiert werden kann, ist
alles andere als eindeutig und objektiv.5
Die Gefährlichkeit eines Menschen ist vielmehr etwas, das zunächst im
Gerichtsverfahren (und dann im weiteren Verlauf der Unterbringung) festgestellt,
um nicht zu sagen kommunikativ hergestellt werden muss, wie bereits Ghode/
Wolff (1992) sehr eindrücklich gezeigt haben. Es handelt sich dabei um die
wichtige Weichenstellung der forensischen Patientenkarriere, denn es geht hier
um die die Feststellung, ob ein Täter überhaupt ein forensischer Patient darstellt.
Machen wir dies an einem fiktiven Beispiel deutlich. Ein zweiundzwanzig
Jahre alter Student, der auf einer Party einen für ihn ungewohnten Cocktail
chemischer Drogen zu sich nimmt, gleitet in die Psychose ab, greift während-
dessen den neuen Partner seiner Exfreundin mit dem Messer an und verletzt
diesen schwer. Da der junge Mann für mehrere Stunden vollkommen „durch-
gedreht“ erscheint, wird er zunächst in die nächste Psychiatrie eingewiesen.
Stellt die Tat lediglich einen singulären Akt dar, der durch eine Drogen-
wirkung bzw. die daraus resultierende (vermeintliche) Psychose verursacht
wurde, könnte der Mann zum Zeitpunkt der Tat für schuldunfähig erklärt und
nach kurzer freiwilliger Behandlung in der Allgemeinpsychiatrie wieder ent-
lassen werden. Befand er sich jedoch aufgrund früherer psychotischer Schübe in
psychiatrischer Behandlung, wäre möglicherweise eine Unterbringung in einem
psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB angebracht, um den Studenten
angemessen behandeln zu können und zukünftige Straftaten zu verhindern.
Möglicherweise ist der tätliche Angriff jedoch auch als eine Beziehungstat zu
werten. Vielleicht werden Zeugen darauf hinweisen, dass er sein Opfer auch im
nüchternen Zustand schon mehrfach aggressiv angegangen ist und die Psychose
im Drogenrausch möglicherweise nur vorgibt, um eine bereits zuvor intendierte
Handlung zu vollenden. Hiermit würde seine Schuldunfähigkeit fraglich werden
und er würde vielleicht aufgrund versuchten Totschlags ins Gefängnis gehen
müssen. Ein weiteres Szenario könnte sich um den Befund verdichten, dass er
schon seit einigen Jahren regelmäßig Kokain und andere Substanzen zu sich
nimmt und trotz mehrfacher Entzugsversuche seinen Substanzkonsum nicht so
recht unter Kontrolle bekommt. Gemäß § 64 StGB könnte er dann als „schuld-
vermindert“ zum Entzug in eine entsprechende Klinik eingewiesen werden. Die
verschiedenen Szenarien bringen unterschiedliche Konsequenzen mit sich. Von
einer baldigen Freilassung, einem gesetzlich auf zwei Jahre begrenzten Aufent-

5 Vgl. Leygraf (1988), Dessecker (2004), Eher et al. (2016) und Feißt (2018b).
4 1  Der Maßregelvollzug in Deutschland

halt in einer Entziehungsanstalt, über einen zeitlich nicht begrenzten Aufenthalt


in der forensischen Psychiatrie nach § 63 StGB bis hin zu einer definierten und
daher begrenzten Gefängnisstrafe sind unterschiedliche Weichenstellungen denk-
bar. Die angemessene rechtliche Bewertung der Tat bzw. des Täters liegt dabei
nicht im Sinne eines objektiven Datums auf der Hand, sondern wird erst in einem
komplexen Prozess von Einschätzungen und Interpretationen hergestellt.
Rechts- und Staatsanwälte, externe psychiatrische Gutachter, die Ärzte,
welche den jungen Mann nach dem Vorfall behandelt haben, und Zeugen aus
dem Umfeld werden dann das Material liefern, auf Basis dessen die Richterin ihr
Urteil fällen wird. Wenngleich mit Blick auf die sachliche Ausgangslage die ver-
schiedenen Optionen nahe beieinander liegen, sind die daraus jeweils folgenden
Arrangements grundverschieden. Doch insofern einmal richterlich entschieden
(ob psychisch krank oder gesund, schuldfähig oder schuldunfähig), erscheint
der Sachverhalt klar und eindeutig. Ob er will, oder nicht – der junge Mann
wird in seiner Lebensform den Bahnen folgen müssen, die hiermit institutionell
vorgezeichnet sind. Und umgekehrt müssen die Institutionen mit den ihnen zur
Verfügung stehenden Mitteln die betreffende Person erfolgreich behandeln –
obschon diese möglicherweise um ein Haar einer ganz anderen Behandlung
zugeführt worden wäre.

Weichenstellung – zwei Jahre Entzug oder psychiatrische Behandlung


mit unbestimmter Dauer
Frau Martini befindet sich aufgrund eines Messerangriffs auf den Partner
ihrer Mutter in Untersuchungshaft. Ihre Richterin hat entsprechend der
Strafprozessordnung nach § 126a eine einstweilige Unterbringung in der
forensischen Klinik angeordnet.
Oberarztvisite, 15. 6. 2019
Oberärztin: Frau Martini, 18 Jahre alt, Borderline, Drogen, Psychose …
hat im Rahmen eines psychotischen Schubes den Lebensgefährten der
Mutter mit dem Messer angegriffen … hat es überlebt …
Pflegedienstleiter: Sie hat jetzt nach dem Gutachten begriffen, dass es
ernsthafter ist … dass sie unter Umständen doch nicht so leicht rauskommt
… sie beginnt zudem, darüber nachzudenken, ob die Übergriffe von ihrem
Vater sexueller Missbrauch waren … hat hier anfangs Tritt- und Karate-
übungen gemacht … hat ein sehr großes Misstrauen … gewinnt zu uns jetzt
ein wenig mehr Zutrauen …
1  Der Maßregelvollzug in Deutschland 5

(Die Patientin wird reingebeten)


Oberärztin: Wie sieht es aus?
Frau Martini: Bin immer noch in U-Haft.
Oberärztin: Es dauert dann längstens 6 Monate, bis es geklärt sein muss …
wir warten jetzt. Was ist Ihr Wunsch?
Patientin: Eine passende Einrichtung für Menschen, die Drogenprobleme
haben … den Marienhof, das, was wir besprochen haben … jetzt mit dem
Gutachten glaube ich, dass ich zwei Jahre dableiben muss …
Oberärztin: Was glauben Sie, was mit Ihnen ist?
Frau Martini: Persönlichkeitsstörung.
Oberärztin: Und zum Zeitpunkt der Tat?
Frau Martini: War verwirrt und hatte Panik … hatte dann konsumiert …
Oberärztin: Sie hatten ja auch hier am Anfang Panik … eine Psychose… es
ist wichtig, darüber sprechen zu können …. und lernen, unterscheiden zu
können, was ist berechtigt, was hängt von der Psychose ab … jetzt habe ich
noch eine Frage. Darf ich mit dem Gutachter reden?
Frau Martini: Ja.
Oberärztin: Sollen wir es mit dem Marienhof versuchen?
Frau Martini: Ja. … Dann noch etwas. Wenn ich in dem Maßregelvollzug
bleiben muss, dann lieber in Mainz als in Frankfurt.
Oberärztin: Warum?
Frau Martini: Weil die Familie näher ist
Oberärztin: Das ist jetzt schwierig mit der Finanzierung … das geht nur im
Tausch mit einem Reinlandpfälzer gegen einen Patienten aus Hessen.

Im Aufenthaltsraum der Frauen (drei Tage später, Frau Martini liegt auf
dem Sofa und starrt an die Decke)
Feldforscher: Sie haben eben mit ihrem Anwalt telefoniert?
Martini: Ja.
Feldforscher: Und?
Frau Martini (bedrückt): Konnte mir nicht viel sagen.
(Schweigen)
Feldforscher: Wie geht es ihnen hier?
Frau Martini: Ist halt Mist. Ich will hier raus.
Feldforscher: Wann klärt sich das auf?
Frau Martini: Juli, August. […].
6 1  Der Maßregelvollzug in Deutschland

Feldforscher: Tut es Ihnen leid mit dem Angriff?


Frau Martini: [Zögern] Ja schon, irgendwie hat er es aber auch verdient.

Die Einweisung in den Maßregelvollzug nach § 126a StPO erscheint als die
erste Weichenstellung, mit der die Patientenkarriere beginnt. Die richterliche
Bestätigung dieser Entscheidung im Anschluss an die Untersuchungshaft stellt
die zweite Weichenstellung dar.6 Der Patient mag dann mit seiner Anwältin noch-
mals in Berufung gehen, doch schon allein die hiermit verbundenen längeren
Zeithorizonte bringen es mit sich, dass ersterer nolens volens beginnen muss, sich
mit der Patientenrolle zu arrangieren. Die richtungsweisende Entscheidung für
das forensische Arrangement ist gefallen.

Gesellschaftstheoretische Anmerkung
„Die offizielle Auffassung der Gesellschaft ist, daß Insassen von
psychiatrischen Kliniken in erster Linie dort sind, weil sie an einer Geistes-
krankheit leiden. In dem Maße jedoch, wie die ‚seelisch Kranken‘ außerhalb
der Kliniken zahlenmäßig diejenigen in den Kliniken erreichen oder über-
treffen, könnte man behaupten, daß die Geisteskranken nicht an seelischen
Krankheiten, sondern an Zufällen leiden.“ (Goffman 1973, S. 135).

Ist die richterliche Entscheidung für ein bestimmtes Arrangement einmal gefallen,
heißt dies jedoch nicht, dass hiermit der gesamte weitere Verlauf determiniert ist.
Es werden sich auch weiterhin eine Vielzahl kleinerer oder größerer Weichen-
stellungen ergeben, die dann die Ausgestaltung dieses Arrangements bestimmen.
Zunächst ist in diesem Zusammenhang das Behandlungskonzept und die damit
verbundene therapeutische Ideologie zu benennen. Je nachdem, ob die leitenden
Ober- und Chefärzte der biologischen Psychiatrie zuneigen, eher verhaltens-
therapeutisch, psychoanalytisch oder systemisch orientiert sind, wird das

6 Im Rahmen der Untersuchungshaft kann sich die Entscheidung allerdings noch ein halbes
Jahr hinziehen. Entsprechend § 126a der Strafprozessordnung kann der Richter zunächst
die Einweisung in den Maßregelvollzug anordnen. Im weiteren Verlauf werden dann auf
Basis der psychiatrischen Gutachten und anderer Indizien Anwälte und Gerichte ver-
handeln, wie es weitergeht.
1  Der Maßregelvollzug in Deutschland 7

Behandlungssetting unterschiedlich ausgestaltet sein. Ebenso ist von Bedeutung,


ob sie dazu tendieren, eher Kontrolle und Sicherheit zu betonen denn Freiheits-
grade zu gewähren, anhand derer sich die Patienten erproben können.7 Zudem
spielt eine wichtige Rolle, auf welche Diagnose sich die Psychiater einigen,
denn gerade psychiatrische Diagnosen stellen nicht nur begriffliche Heuristiken
dar, welche die Beschreibung von Krankheitsbildern ermöglichen, sondern sind
zugleich ein Modell für eine psychosoziale Realität, an der sich Patient und
Personal im Sinne einer Self-fulfilling Prophecy (Merton 1948) auszurichten
beginnen. Hiermit einhergehend stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien
Patienten einzelnen Stationen zugewiesen werden.
Die Einrichtungen unterscheiden sich beachtlich in Hinblick auf die Größe
und damit auch in ihren Möglichkeiten der stationären Binnendifferenzierung.
Das Spektrum reicht hier von eher familiär wirkenden Kliniken mit vielleicht
50 Patienten bis hin zu Anstalten mit bis zu mehreren hundert Insassen. Es
können getrennte Stationen für Schizophrene, Sexualstraftäter, Persönlichkeits-
gestörte, Intelligenzgeminderte sowie kaum mehr zu resozialisierende Langzeit-
patienten eingerichtet werden. Andere Krankenhäuser verzichten bewusst auf
eine Differenzierung nach Krankheitsbildern und belegen die Stationen „durch-
mischt“. Größere Kliniken unterscheiden darüber hinaus in Aufnahmestationen,
Therapiestationen und entlassungsvorbereitende Stationen. In kleinen dezentralen
Kliniken finden wir hingegen auf derselben Station sowohl Patienten in der vor-
läufigen Unterbringung als auch Patienten kurz vor der Entlassung.
Manche Einrichtungen verfügen zudem über eigene offene Wohngruppen,
wo sich die Patienten noch einige Monate auf die anstehende Entlassung
oder Beurlaubung vorbereiten können. An anderer Stelle müssen Patienten
zum Teil zwei bis drei Jahre warten, bis sie überhaupt einen Platz außerhalb
des Hochsicherheitseinrichtung bekommen, da solche Plätze rar sind und
man Maßregelvollzugspatienten eher mit Skepsis begegnet. Kurzum: die
organisationalen Settings weisen in der Praxis eine enorme Bandbreite auf.8

7 Das ist dann nicht nur eine Frage der ‚Haltung‘ des Personals, sondern wird auch dadurch
beeinflusst, ob es in der Umgebung der Klinik besonders wachsame Bürgerinitiativen gibt,
das Vertrauen in die Medien der lokalen Berichterstattung gut oder schlecht ist oder ob
gerade Wahlen auf kommunaler oder Landesebene anstehen. Kurz vor Wahlen – so wurde
uns in einer Klinik berichtet – sei man restriktiver, was Lockerungen angeht.
8 Die Großzahl der im Maßregelvollzug untergebrachten sind Männer. Damit ergibt sich die

Frage, ob die wenigen Frauen in einem isolierten Behandlungsregime untergebracht oder in


der einen oder anderen Form in ein geschlechtergemischtes Setting integriert werden.
8 1  Der Maßregelvollzug in Deutschland

Die organisationalen Rahmenbedingungen des Maßregelvollzugs sind


wiederum durch politisch-rechtliche Vorgaben der Bundesländer konditioniert.9
Die föderale Verantwortlichkeit führt zu unterschiedlichen Organisationsformen
des Maßregelvollzugs (etwa große zentralisierte Kliniken vs. dezentralisierte
Angebote) (vgl. Dörner et al. 2013, S. 336). Zudem finden wir bemerkens-
werte Unterschiede bei den Unterbringungsdauern. Diese sind beispielsweise in
Hamburg und Hessen signifikant niedriger als in anderen Bundesländern (vgl.
Jaschke und Jaschke 2017).10 Selbst innerhalb eines Bundeslandes sind regionale
Unterschiede auszumachen, so Traub und Weithmann (2011) mit Bezug auf
Baden-Württemberg. Bereits Dörner identifiziert die „Einstellung einzelner Ent-
scheidungsträger“ (Dörner et al. 2013, S. 336) als Einflussfaktor. Darüber hinaus
wird der „Charakter des Maßregelvollzugs und damit das Unterbringungs-,
Behandlungs- und Rehabilitationsklima für die Patienten vom aktuellen rechts-
und kriminalpolitischen Klima einer Gesellschaft bestimmt, das seinerseits von
den jeweiligen gesellschaftlichen Strömungen und dem damit korrespondierenden
Wandel des Sicherheitsbedürfnisses, moralischer Werte und des Menschenbildes
abhängig ist“ (ebd.). Spektakuläre Taten eines geflohenen Patienten – man denke
etwa an den Fall Franz Schmökel – führen zu massenmedialer Aufmerksamkeit
und setzen damit die Innenministerien unter Druck. Aber auch harmlose Ent-
weichungen eines Sexualstraftäters sorgen für öffentlichen Aufruhr, wohingegen
von tatsächlich bedenklichen Vorfällen vergleichsweise wenig Notiz genommen
wird (vgl. Schiffer und Schalast 2019, S. 157 f.). Eine solche Umwelt setzt nach-
vollziehbarerweise das System des Maßregelvollzugs unter Spannung.

9 
Die rechtliche Ausgestaltung des Maßregelvollzugs ist Ländersache und wird in ent-
sprechenden Maßregelvollzugsgesetzen oder diesbezüglichen Regelungen im sogenannten
Psychisch-Kranken-Gesetz (PsychKG) geregelt.
10 
Vergleicht man die unterschiedlichen mittleren Verweildauern in Deutschland, so
werden deutliche Differenzen zwischen unterschiedlichen Bundesländern ersichtlich (von
6,5 Jahren in Hessen über 10,6 Jahren in NRW bis zu 12,4 Jahren im Saarland. Diese
Zahlen beziehen sich auf die Unterbringungsdauer für diejenigen Patienten, die im Bezugs-
jahr aus der Maßregel ausgeschieden sind (Beendigung) (Jaschke und Oliva 2020). Das ist
je Land ein von Jahr zu Jahr stark schwankender Anteil von Patienten (die N sind dabei
teilweise sehr klein, so dass Extremwerte stark ins Gewicht fallen und die Jahresdurch-
schnitte prägen). Um dem entgegenzuwirken und um Verzerrungen aus Bundesländern mit
kleineren Entlassungskohorten wie dem Saarland vorzubeugen, werden die Daten aus den
Jahren 2015 bis 2018 aggregiert. Ein möglicher Anstieg über diese vier Jahre mittelt sich
dann (leider) ebenfalls aus.
1  Der Maßregelvollzug in Deutschland 9

Allein der Blick auf die zahlenmäßige Entwicklung des Maßregelvollzugs


lässt deutlich werden, dass nicht nur die Anzahl, sondern auch die mittleren Ver-
weildauern der nach § 63 StGB stationär untergebrachten Patienten in den letzten
zwanzig Jahren drastisch gestiegen ist (vgl. Heinz 2017; Jaschke und Oliva 2020;
H.-J. Traub und Schalast 2017). Dies kann epidemiologisch nicht (allein) durch
eine gestiegene Gefährlichkeit der Bevölkerung erklärt werden, vielmehr sind
die Ursachen dafür auch in der Praxis der Anordnung des Vollzuges und der Auf-
hebung der Maßregel zu suchen.11
Bei zu großem Druck – gerade von gesellschaftlicher Seite – besteht jedoch
die Gefahr, dass das System nur noch unzureichend zwischen Bagatelldelikten,
mittlerer Kriminalität und schwerwiegenden Straftaten zu differenzieren ver-
mag. Diese und weitere Punkte haben die jüngste Reformdebatte um den § 63
StGB ausgelöst, an deren Ende weniger eine Reform denn eine „Novellierung“
des Maßregelrechts stand – manchmal auch „Reförmchen“ genannt.12 Hinzu
kommen weitere Herausforderungen, die sich aus einer zunehmenden Stärkung
der Patientenselbstbestimmungsrechte ergeben (vgl. Kammeier 2016b, S. 108)
sowie internationale Verordnungen wie die UN-Behindertenrechtskonvention,
die aufgrund einer illegitimen Sonderbehandlung psychisch kranker Rechts-
brecher Fragen an das System als Ganzes nach sich ziehen und zudem eine
humanistischere Behandlung einfordern,13 die auch die Lebensqualität der
Betroffenen mehr in den Blick nimmt.

11 Der Anteil der über 10 Jahre (!) in einem psychiatrischen Krankenhaus Untergebrachten
lag 2006 bei 17,8 %, 2012 bei 28,7 % und 2015 bei 32,2 %, vgl. Jaschke u. Jaschke (2017)
sowie Jaschke u. Oliva (2014). Schiffer und Schalast (2019, S. 151) geben an, dass fast
jeder dritte Patient (§ 63 StGB) bereits über 10 Jahre untergebracht ist.
12 Vgl. BGH-Beschluss vom 14.07.2016: Gesetz zur Novellierung des Rechts der Unter-

bringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 des Strafgesetzbuches und


zur Änderung anderer Vorschriften. Des Weiteren Kammeier (2014, 2016a) sowie Pollähne
(2015).
13 Schon im Rahmen der Psychiatrieenquete von 1975 wurde der Behandlung der nach § 63

StGB verurteilten Rechtsbrecher eine „Schlusslichtposition“ in der Versorgungslandschaft


attestiert. Leygraf sprach noch 1988 in einer bundesweiten Erhebung von „gigantischen
Lebensversickerungsanlagen“ mit „desolaten, deprimierenden und unzulänglichen“
Unterbringungs- und Behandlungsbedingungen (1988, zitiert nach Pollähne 2015, S. 9 f.).
Dies löste entsprechende Reformbemühungen aus, die unter anderem die Dezentralisierung
des Behandlungsangebotes und die programmatische Änderung der Benennung der
Maßregel von „Sicherung und Besserung“ zu „Besserung und Sicherung“ nach sich zogen.
10 1  Der Maßregelvollzug in Deutschland

All dies sind freilich nur einige wenige Beispiele für die verschiedenen Ein-
flussfaktoren, welche die Behandlung eines Maßregelvollzugspatienten prägen.
Eine vollständige Auflistung kann hier selbstverständlich nicht erfolgen. Der an
dieser Stelle wichtige Punkt ist: das jeweilige Setting, auf das ein Patient trifft,
stellt nicht etwa eine ‚natürliche‘ und psychiatrisch-therapeutisch adäquate
Antwort auf seine Probleme dar, sondern verdankt sich einer Vielzahl inner-
organisatorischer und gesellschaftlicher Faktoren. Eine medizinisch-therapeutische
Perspektive auf den Maßregelvollzug läuft immer Gefahr, genau dies aus dem
Blick zu verlieren. Auch wenn viele Einrichtungen des Maßregelvollzugs auf
den ersten Blick konzeptionell ähnlich erscheinen, ergeben sich je nach Klinik-
leitung, therapeutischer Ideologie, gewachsener Strukturen und länderspezifischer
Gegebenheiten unterschiedliche Rahmen, in denen sich dann ein spezifisches
Behandlungsarrangement entwickeln kann.

Einschub – gefährliche Menschenrechte?


Leitender Oberarzt (im Interview, Juni 2019): Das ist die Seite, wo es halt
schwierig ist mit der Justiz, weil die Gesellschaft in so einem komischen
Spannungsfeld ist, also diese schlimmen Menschen weg haben will aus der
Öffentlichkeit, die eigene unbewussten oder auch bewussten Impulse in die
reinverlagern und die dann in Sicherheit bringen in der Forensik, ne? Und
andererseits aber Menschenrechte so hoch gesetzt werden, dass jeder Recht
auf Krankheit hat, dass so eine Behandlung oder so eine Unterbringung
eben nach bestimmten Jahren nicht mehr verhältnismäßig ist und Leute
quasi unbehandelt weiterhin gefährlich nach sechs Jahren entlassen werden
oder nach zehn Jahren, wenn es halbwegs vertretbar ist. Das ist schon ein
Problem. Das heißt, es können Leute theoretisch sechs Jahre da absitzen,
ihre Lebenszeit vergeuden, ja? Und unbehandelt, das finde ich furchtbar,
ja? Das ist wirklich eine ganz miese Situation. Weil man will denen ja
helfen, man will ja eine Änderung haben. Man will auch dafür sorgen, dass
die Leute nicht mehr gefährlich sind. […] Und je nach gesellschaftlicher
Mode ändert sich die Einweisungspraxis, das sehen wir auch von Bundes-
land zu Bundesland. Also wir haben da Leerstand zum Teil. Also das ist
sehr zurückgegangen, weil vor allen Dingen das Landgericht [Name] sehr
rigide entscheidet. Also die Schwelle, in den Maßregelvollzug zu kommen,
ist relativ hoch. […] Also ich gehe davon aus, dass erstmal nochmal
schlimme Dinge passieren müssen, bis da eine Änderung wieder passiert.
Das ist das Problem.
1.1 Soziologie und Psychiatrie – ein schwieriges Verhältnis 11

Nicht zuletzt ergeben sich im konkreten Behandlungsalltag eine Vielzahl von


kleineren Weichenstellungen. Hier stehen dann Entscheidungen an, wann jeweils
Therapie oder Pflege, wann Ermächtigung oder Unterstützung, wann Verständ-
nis oder kritische Problematisierung, wann Freiwilligkeit oder Zwang, wann
Belohnung oder Bestrafung als Mittel zur Therapie oder Erziehung angebracht
sind. Gleiches gilt in Bezug auf die diagnostische Frage, ob oder wann
bestimmte Eigenarten des Verhaltens als Symptom einer Krankheit, als Ergeb-
nis schlechter Erziehung, als Widerständigkeit, als fehlende Einsicht oder als
normaler Ausdruck der charakterlichen Eigenarten der Persönlichkeit betrachtet
werden. In all diese Fragen gehen dann sowohl die jeweils unterschiedlichen
Interaktionsgeschichten zwischen Insassen und Personal, die vorherrschenden
therapeutischen Ideologien aber auch strukturelle Bedingungen einer Einrichtung,
wie auch gesellschaftlichen Haltungen, Vorgaben und Einstellungen ein.

1.1 Soziologie und Psychiatrie – ein schwieriges


Verhältnis

Das soziologische Bild der Psychiatrie wurde insbesondere von Michel Foucault
und Erving Goffman geprägt, deren Werke – wenngleich von den Autoren
nicht unbedingt in dieser Radikalität beabsichtigt – primär als Kritik an den
psychiatrischen Anstalten gelesen wurden. Goffman (1973) schuf das Bild
der Psychiatrie als einer totalen Institution, Foucault das einer biopolitischen
Zurichtungspraxis nichtnormierten Lebens (Foucault 1968, 1996 [1961], 2005).
Damit sind primär die normierenden, totalitären und machtstrukturierenden
Aspekte der Psychiatrie in den Blick gerückt. Dies stellte einen fruchtbaren Nähr-
boden bereit, auf dem Soziologen wie Psychiater gleichermaßen psychiatrie-
kritisch publizierten (u. a. Becker 2014 [1963]; Castel 1983; Cooper 1984;
Rosenhan 1990; Scheff 1973; Szasz 1972). Die Antipsychiatriebewegung wie
die „Sozialpsychiatrie“ (vgl. Dörner 1975) sind eng mit dieser Entwicklung
verbunden. Zugleich wurde damit auch die Rolle der Soziologie als Kritikerin
zementiert. Da aber die Kritik das Kritisierte nicht ersetzen kann – auch
Goffman räumte ein, dass er keinen „besseren Weg“ wisse, „mit Menschen, die
als Geisteskranke bezeichnet werden, umzugehen“ (Goffman 1973, S. 365) –,
kam es nach und nach zu einer „Funkstille“ zwischen Sozialwissenschaften und
Psychiatrie (vgl. Finzen 2009, 2017). Das ‚Soziale‘ wird seither maßgeblich
von der Sozialpsychiatrie bedient. Sozialpsychiatrische Forschung, so stellten
Angermeyer et al. in einer Zeitschriftenanalyse Anfang der 2000er Jahre fest,
findet „nach wie vor in Deutschland praktisch unter Ausschluss der Soziologie“
12 1  Der Maßregelvollzug in Deutschland

statt (Angermeyer et al. 2004).14 Seitdem hat sich nicht groß etwas daran ver-
ändert, dass sich Forschung in diesem Bereich hauptsächlich auf die Versorgung
konzentriert und kaum Grundlagenforschung betrieben wird (vgl. Angermeyer
und Winkler 2001). Die soziologische Ignoranz gegenüber biologischen Faktoren
psychischer Störungen macht Richter für die von ihm ebenfalls geteilte Fest-
stellung verantwortlich, dass der Einfluss der Soziologie in diesem Bereich
„heute eher gegen null“ tendiert (Richter 2003, S. 16).
Mit der ‚Decade of the Brain‘ kamen bereits in den 1990er Jahren neue
Hoffnungen auf, psychischen Krankheiten auf biologische Weise auf die Schliche
zu kommen (vgl. Fedrowitz et al. 1994). Doch nachdem die neurobiologischen
Hoffnungen zur Erklärung psychischer Störungen nicht in Erfüllung gingen,
musste man auch hier eingestehen, dass ein einseitiger Reduktionismus der Sache
nicht gerecht wird (vgl. Kilian 2008). Die Frage einer Vermittlung zwischen dem
Biologischen und dem Sozialen bleibt ein Desiderat.
Dennoch dürfen hier die wenigen weiteren ethnografischen Studien, die an
den Forschungsansatz Goffmans anknüpfen, nicht unerwähnt bleiben. Christa
und Thomas Fengler (1980) beschreiben die soziale Ordnung einer Aufnahme-
station als „Werk der Mitglieder“ und versuchen, die Methoden und Verfahrens-
weisen des therapeutischen Personals bei Fragen der Diagnose und Therapie in
der Praxis zu rekonstruieren. Floeth (1991, S. 235 ff.) bestimmt eine geschlossene
Akutstation als „soziales Milieu-im-Entstehen“. Klausner (2015), der die ein-
zige umfangreiche ethnographische Studie neueren Datums vorgelegt hat, arbeitet
mit dem Konzept der „Choreografie“ unter Einbeziehung der „Körperlichkeit“
heraus, „wie psychiatrische Expertise Patienten im Rahmen eines spezifischen
Sets von Praktiken behandelt und versorgt“ (ebd. 18). Des Weiteren muss in
diesem Zusammenhang auch die Arbeit von Riemann (1987) angeführt werden,
der in seiner Studie mit dem Titel „Das Fremdwerden der eigenen Biografie“ die
Bedeutung einer biografischen Perspektive aufzeigt, die ein Narrativ voraussetzt,
das von der Vergangenheit in die Zukunft reicht, um auf diesem Wege die eigene
Persönlichkeit in einen Lebensentwurf hineinprojizieren zu können. Es stellt sich
damit die Frage, wie in der Psychiatrie – zumindest ideell – eine Zukunft gestaltet
werden kann, die für die Untergebrachten von Bedeutung ist (s. auch Coffey 2012).
Es finden sich auch einige Bestrebungen neueren Datums zu einer
„Renaissance der soziologischen Psychiatriekritik“ (Dellwing und Harbusch
2013). Bemühungen, der Soziologie eine produktive Aufgabe innerhalb der

14 
Wobei dies ein etwas verzerrtes Bild darstellt, so Hildenbrand (2000), da sich die
wenigen Beiträge einer psychiatrischen Soziologie „außerhalb der offiziellen Etikettierung“
(ders., S. 5) entwickeln und so in der Zeitschriftenanalyse nicht erfasst wurden.
1.1  Soziologie und Psychiatrie – ein schwieriges Verhältnis 13

psychiatrischen Forschung einzuräumen, lassen sich demgegenüber seit der Jahr-


tausendwende nur in recht überschaubarem Umfang finden (s. etwa Hildenbrand
2000; Kilian 2008; Richter 2003). Arbeiten mit einer dezidiert organisations-
soziologischen Perspektive fehlen hierbei jedoch gänzlich.
Schlussendlich nimmt die Psychiatrie unter der Perspektive des Helfens und
Heilens nach wie vor die Position des einzigen Fürsprechers des Patienten ein,
wobei jedoch die besonderen methodologischen und theoretischen Perspektiven
anspruchsvoller soziologischer Forschung bislang außen vor bleiben.
Wenn wir demgegenüber die bisherigen soziologischen Forschungsarbeiten
unter einem etwas veränderten Vorzeichen lesen, kann ein differenzierteres Bild
entstehen, von dem im Sinne einer „klinischen Soziologie“ (Oevermann 1990)
auch die Praktiker wieder mehr profitieren können. Es ist der Psychiater Klaus
Dörner, der anführt, dass sich „die Unterscheidung von R. Strauß zwischen
sociology in medicine und sociology of medicine (…) in der Praxis aus wissen-
schaftssoziologischen Gründen stets wieder aufhebt“ (Dörner 1975, S. 34). Denn
aus seiner Sicht gilt es als „unumgängliche Forderung […], daß die theoretische
und soziologische Reflexion ihres Tuns zu den fundamentalen Aufgaben jeder
Wissenschaft selbst gehört“ (ebd.).
Insofern wir nämlich institutionelle Macht und strukturierte Ordnungen –
durchaus in Foucaults Sinne – als Bedingungen sine qua non ansehen, um über-
haupt Sozialisation und damit die Emergenz von dem, was wir als menschliche
Personalität betrachten, zu ermöglichen, erscheinen sowohl die Psychiatrie
als Institution wie auch die in ihr zum Einsatz kommenden Mittel in einem
sublimeren Lichte. Die Psychiatrie stellt sich dann weder als ein Ort der
Inhumanität noch umgekehrt per se als ein Ort der Menschlichkeit dar, da
man sich nur hier um die Bedürfnisse psychisch kranker Menschen kümmern
könne. Vielmehr ermöglicht sie situative und spezifische Arrangements, in
denen Zwangselemente wie auch gewährte Freiheitsgrade, Therapie und Ent-
lastung, „Struktur und Antistruktur“ (Turner 1989) im Guten wie im Schlechten
zueinanderfinden können. Hier lassen sich all die zu Beginn der Einleitung
benannten „widersprüchlichen Einheiten“ in den Blick nehmen, die konstitutiv
für den professionellen Umgang mit geschädigter Autonomie sind (vgl.
Oevermann 1990).15

15 
Wobei Kritiker wiederum einwenden mögen, dass die geschädigte Autonomie Aus-
druck einer Autonomie-schädigenden Gesellschaft sei. Einschränkung von Autonomie ist
nun gerade die raison d'être der Gesellschaft. Das sich hieraus ergebende Spannungsfeld
14 1  Der Maßregelvollzug in Deutschland

Eine Soziologie, die nicht auch in Rechnung stellen kann, dass neben den
zweifelsohne vorherrschenden Mechanismen der Macht und der Zurichtung
auch so etwas wie „positive Behandlungserfolge“ (gemäß der psychiatrischen
Selbstbeschreibung) sowohl von Personal- als auch von Patientenseite verzeichnet
werden, wird ihrem Gegenstand nicht gerecht.16
Eine Soziologie, die mit der Kopräsenz unterschiedlicher Rationalitäten
rechnet und entsprechend darum weiß, dass Faktoren je nach Kontext ihr Vor-
zeichen wechseln können, kann demgegenüber beispielsweise vorurteilsfreier
auf die Wirkung von Zwangsmaßnahmen schauen. Sie braucht mit Blick auf
das Selbst- und Weltverhältnis eines Patienten nicht in jedem Falle davon aus-
zugehen, dass freiheitsentziehende Maßnahmen per se dessen Autonomie
einschränken müssen. Wie uns ein Strafverteidiger eines Schizophrenen im
Gespräch einmal sagte: die Freiheit des Patienten sei natürlich dasjenige Gut,
das er zu verteidigen gedenke. Doch sei eben in gerade jenem Fall, wegen dem
sein Klient hier sei, die Freiheit in der Klinik deutlich höher als draußen. Und
auch hier gilt wieder unter den Bedingungen der gegenwärtigen Gesellschaft: dies
kann und darf kein Freifahrtschein für Zwangsmaßnahmen sein. Auch dies wäre
eine Trivialisierung der Praxis zum Zwecke einfacher Antworten.
Dass Patienten auch in Hinblick auf ihr subjektives Erleben die Unterbringung
in einer geschlossenen forensischen Einrichtung vorziehen oder diese von außen,
unter dem Gesichtspunkt der Lebensqualität betrachtet wünschenswert wäre, gilt
nicht immer. Möglicherweise sogar nur selten. Aber: es ist nicht von vornherein
auszuschließen und eben eine Frage des Arrangements. So gibt es Patienten, die
die Tagesstruktur als bevormundend erleben; es gibt aber auch Patienten, die
dankbar sind über diese Form der Strukturierung. Und wo die besten Lösungen
diejenigen sind, die situativ gefunden werden müssen, bleiben wissenschaftliche
Generalisierungen notwendigerweise unbefriedigend – vor allem dann, wenn sie
in triviale Handlungsempfehlungen münden. Genau dies stellen wir systematisch
in Rechnung, wenn wir den Blick auf die Bedingungen der Möglichkeiten
bestimmter Arrangements legen.

zwischen Individuum und Gesellschaft ist demnach nicht aufzulösen, es gilt vielmehr dieses
(unter anderem auch durch Gesellschaftskritik) immer wieder neu auszuloten.
16 Letzteres gipfelte in den methodischen Fehlern des Rosenhan-Experiments (Rosenhan

1990) und der Radikalität Scheffs (1973), Krankheit nur noch als Label zu sehen, damit
aber die Möglichkeit zu verspielen, eine wie auch immer angemessene Antwort auf das
Leiden der Betroffenen geben zu können.
1.1  Soziologie und Psychiatrie – ein schwieriges Verhältnis 15

Im Folgenden soll es also nicht darum gehen, die Komplexität des Gegen-
standes auf die eine oder andere Weise zu tilgen, um vermeintliche Sicherheiten
oder Gewissheiten zu suggerieren. Wir wollen vielmehr systematisch auf die
dem Feld inhärenten Paradoxien hinweisen und schauen, wie diese in der Praxis
situativ zu bestimmten Arrangements führen. Was passiert in einer Einrichtung,
die sowohl hilft und heilt als auch zurichtet und normiert – und das gleichzeitig?
Damit ist Kritik keineswegs ausgeschlossen. Sie findet aber zu einem anderen
Zeitpunkt und an anderer Stelle statt. Sie ist nicht beobachtungsleitend, sondern
setzt an den Ergebnissen der deskriptiven Beschreibungen der Praxis an.
Wir gehen davon aus, dass der von uns vorgeschlagene methodologische
Blickwinkel für die Psychiatrie auch in Hinblick auf ihr eigenes Programm von
Interesse ist. Der Blick auf die alltäglichen Weichenstellungen, die hiermit ein-
hergehenden therapeutischen Arrangements und die Frage, was all dies mit den
Selbst- und Weltverhältnissen der Patienten (und des Personals) macht, berührt
Fragen, die unmittelbar für die Praxis relevant sind.

Beispiel – vermeintliche Entscheidungsfreiheit


Oberarztvisite, Juli 2019

Oberärztin: Herr Müller …. ist intelligenzvermindert … hat eine Spiel-


sucht, immer so Ballerspiele. Wir dürfen es eigentlich nicht verbieten.
Ich habe ihm aber dann gesagt: „Wenn Sie hier bleiben möchten, geht es
nicht anders“ … „Sonst müssen wir Sie verlegen“ … Hat jetzt in Folge
das Spielen reduziert. Wie viel gespielt werden darf, ist dann eine Frage
der Aushandlung … Die Therapeuten gehen dann auf seine Welle …. Ich
komme dann dazu, und auf diese Weise gibt es einen bestimmten Drive …
Weil er biologisch so ausgestattet ist, hat er schlechte Karten … braucht
Medikamente, um seine Verhaltensstörung in den Griff zu bekommen
… Wenn ich ihn dann spreche, sagt er dann: „Kommen Sie mir nicht mit
den Medikamenten“. Er muss Einsicht entwickeln. Er braucht sehr viel
Akzeptanz … er ist kein Sympathieträger …. und wird, wenn er sich nicht
verändert … für immer bleiben.
(Patient kommt rein)
Oberärztin: Das sind zwei Forscher, haben Sie etwas dagegen, wenn sie
bleiben?
Herr Müller: Von mir aus, die waren ja schon da.
Oberärztin: Sollen die bleiben?
16 1  Der Maßregelvollzug in Deutschland

Herr Müller: Ist doch egal, sind doch sowieso in der Psychiatrie … wenn
der Peters [der Chefarzt] seine neue Sekretärin mitbringt … oder der Mein-
ecke [Name des Assistenzarzt] neu da ist … ich kann da sowieso nichts
entscheiden.
Oberärztin: Mit mir ist es immer anstrengend … Wie geht es Ihnen?
Herr Müller: Bin müde, hab gelesen.

1.2 Sozio- und Milieutherapie

Unter dem Blickwinkel der konditionierten Koproduktion von biologischen,


psychischen und sozialen Prozessen ist es kaum fraglich, dass die Ausgestaltung
der Mitwelt eines Patienten einen wichtigen therapeutischen Einfluss hat. Dies
wird in den psychiatrischen Fachdiskursen auch durchaus berücksichtigt und
unter den Stichworten Sozio- oder Milieutherapie behandelt.
Um es aus einer soziologischen Perspektive zu formulieren: Die Milieu-
therapie zielt darauf ab, die Klienten im Alltag dazu zu bringen, Rollen einzu-
nehmen, welche den Normalitätsvorstellungen der Gesellschaft entsprechen.
Hiermit stellt sich aber die Frage, wie sich dies trotz bestehender Vulnerabilitäten
und geschwächter Affektkontrolle realisieren lässt. Der Maßregelvollzug verfügt
hier über einige typische Mittel und Instrumente. Auf organisatorischer Ebene
geschieht dies durch das Hineinkopieren von Institutionen der Gesellschaft in
den Klinikalltag. Qua Organisation findet gewissermaßen eine Simulation von
gesellschaftlicher Normalität statt, die dabei die Rollenskripte zur Verfügung
stellt, deren zuverlässige Einnahme letztlich den Maßstab für die erfolgreiche
Sozialisation bildet. Dies geschieht mittels der Strukturierung und Rhythmisierung
von Tages- und Wochenabläufen, der Einrichtung von Arbeitsphasen (Ergo-
therapie), der Enaktierung der Klienten als Wirtschafts- und Rechtssubjekte
(geringe Verdienstmöglichkeiten, Beschwerdemöglichkeiten, Medienkonsum etc.),
der Möglichkeit, in begrenztem Rahmen einem Hobby nachzugehen, und nicht
zuletzt (rudimentärer) biografischer Entwicklungsmöglichkeiten (etwa durch das
Nachholen von Bildungsabschlüssen oder einfach nur, indem mit fortschreitender
Resozialisation in Hinblick auf Ausgang und andere Freiheitsgrade gegen-
über anderen Insassen ein höherer Status gewonnen werden kann) (vgl. Tölle
und Windgassen 2014, S. 327 ff.). In diesem Sinne fördert Soziotherapie „die
normalen, regelhaften, allgemeinen, alltäglichen, gesunden, nicht an Krankheit
gebundenen, d. h. freien Anteile eines Individuums“ (Dörner et al. 2013, S. 556).
1.2  Sozio- und Milieutherapie 17

Zugleich eröffnet der institutionelle Kontext den Raum für ein Patienten-
kollektiv, das seinerseits als Sozialisationsinstanz fungieren kann, wobei die
Unfreiwilligkeit des Kontextes und das Stigma der psychischen Krankheit eine
positive Identifikation mit der „(Zwangs-)Gemeinschaft“ erschwert (Feißt 2017),
hier also mit paradoxen Effekten im eingangs benannten Sinne zu rechnen ist.
Dennoch kommt der Milieutherapie gerade in der forensischen Psychiatrie
eine Schlüsselrolle für die Resozialisation zu, zumal „Psychotherapie […]
immer nur einen kleinen Teil des Tagesablaufs ausmacht“. Wesentliche „Teile
der Begegnung sind nicht im engeren Sinn psychotherapeutisch“ (Dörner et al.
2013, S. 555). Da die Reaktionsmuster der Klienten zudem mit schweren Selbst-
und Fremdgefährdungen einhergehen können, wird es allein schon im Schutz-
interesse des Personals und der anderen Patienten primär darum gehen müssen,
die Betroffenen in die Lage zu versetzen, mit ihren Handlungsimpulsen in einer
Weise umzugehen, die gefährliches bzw. strafrechtlich relevantes Verhalten
unwahrscheinlicher macht. Genau dies setzt aber ein Setting voraus, das neben
akuten Zwangsmaßnahmen (beispielsweise die räumliche Absonderung in den
Kriseninterventionsraum) und Psychopharmaka bestimmte organisatorische
Kontexte und Milieus bzw. eine „Atmosphäre im psychischen Krankenhaus“
(Tölle und Windgassen 2014, S. 327) etabliert, in der Psychodynamiken, die in
Eruptionen von Gewalt münden können, abgeschwächt werden17 (vgl. auch Brunt
2008).
Bei aller Schwierigkeit der Präzisierung, was genau unter Soziotherapie
zu verstehen ist bzw. was alles dazugehört, wird sie in unterschiedlichen Lehr-
büchern als „Basis“ beschrieben, die „die Anwendung anderer Techniken erst
möglich macht“ (Dörner et al. 2013, S. 556; vgl. auch Tölle und Windgassen
2014, S. 327). Eine 2007 veröffentlichte Zeitschriftenanalyse kommt jedoch zu
dem Schluss, dass die „Soziotherapie im ärztlich geprägten wissenschaftlichen
Diskurs unterrepräsentiert ist“ (Hausner et al. 2007, S. 399). Der Grund hierfür
sei keineswegs im Mangel an „unbearbeiteten Fragestellungen“ zu suchen, viel-
mehr vermuten die Autoren, dass „Fragestellungen, welche die Kernkompetenzen
der universitär ausgebildeten Ärzte und Psychologen berühren, wie beispiels-
weise die Pharmako- oder Psychotherapie, (…) möglicherweise mit höherer
wissenschaftlicher Wertigkeit betrachtet [werden] als die therapeutischen Bei-
träge anderer Berufsgruppen“ (ebd.).

17 Vgl. das Soteria-Konzept, insb. das „weiche Zimmer“ (vgl. Aebi et al. 1996).
18 1  Der Maßregelvollzug in Deutschland

Beispiel – Gebrauchsanweisungen für Patienten


Stationspflegeleiter: Also es ist wirklich schon eine sehr intensive Arbeit
die man am Patienten, eine sehr hartnäckige Arbeit. Und da muss man
wirklich am Ball bleiben, das dauert. Also hier einen Patienten wirklich
so hinzubekommen, dass der fähig ist, in einem Wohnheim gut klarzu-
kommen, dauert lange. […] Also das fällt in einem Wohnheim häufig zum
Teil weg, weil so hoch strukturiert arbeiten die eigentlich nicht mehr. Wir
geben immer so ein Handbuch mit, für die Patienten, was die benötigen an
Struktur, damit sie einigermaßen klarkommen.
Interviewer: Für die Wohnheime?
Stationspflegeleiter: Für die Wohnheime, ja.
Interviewer: Wie so eine Art Gebrauchsanleitung für die Patienten.
Stationspflegeleiter: Genau, eine Gebrauchsanleitung für die Patienten. Das
gelingt uns bei einigen ganz gut, dass die Patienten merken, oh, es bricht
nicht so das Komplette weg, sondern die Mitarbeiter einer anderen Ein-
richtung behalten das ein Stück. Bringt ja auch Sicherheit.

Allerdings ist auch aus soziologischer Perspektive bislang die wichtige Frage
offengeblieben, in welchen Konstellationen die oben benannte Simulation von
Normalität in Verbindung mit der (Zwangs-) Gemeinschaft für den Insassen im
Sinne einer gelingenden Milieutherapie produktiv werden kann. Nicht zuletzt die
ernüchternden Erfahrungen mit der ‚Reform-‘ bzw. ‚Sozialpsychiatrie‘ infolge
der psychiatriekritischen Bewegungen der 1960er-Jahre weisen darauf hin, dass
die aktive Gestaltung der Milieus eine ebenso herausfordernde wie diffizile
Aufgabe darstellt (vgl. Pörksen 1974). Der Versuch der gesellschaftlichen und
gemeinschaftlichen Einbettung der Patienten muss also nicht in jedem Fall zur
Resozialisation führen, sondern kann – wie bereits mehrfach angedeutet –
umgekehrt auch mit einer Verschlimmerung der Symptome einhergehen (s. etwa
Eink 1997a; sowie Haselbeck und Machleidt 1987).
Hiermit stellt sich aber nochmals in besonderem Maße die Frage, wie die hier-
mit verbundenen Spannungen und Paradoxien im konkreten Organisationsalltag
umgesetzt und bewältigt werden können. Nicht zuletzt ist dabei zu erhellen, was
in der Praxis letztlich geschieht, wenn Therapeuten, Patienten, Pfleger, Gutachter
und andere in geschlossenen und hoch gesicherten Einrichtungen im guten wie
im schlechten Sinne die ‚Maßregel vollziehen‘. Die zu spezifizierende Frage
bleibt: Welche Arrangements führen in einem positiven Sinne zur Stabilisierung
oder gar Transformation der Selbst- und Weltverhältnisse der Patienten?
1.2  Sozio- und Milieutherapie 19

Beispiel – freundliche Farbgestaltung


Der Patient Herr Friedrich berichtet im Interview: „Wir haben unsere Ein-
richtung hier selbst gestaltet, Wohnzimmer farblich gestaltet, wie wir das
haben wollten und Projektor darauf und malen und auf was kommen die
jetzt, durch die Umstrukturierung, jetzt letzte Woche kommen die, alles nur
noch tote Hose, alles eine Farbe, sie haben ja bestimmt den Flur gesehen.
Das war früher viel, viel schöner alles, auch das Wohnzimmer, das ist noch
was wir selbst gestaltet haben. Wir haben uns wohl gefühlt. Selbst das ist uns
genommen worden. Da kommt ein Farbpsychologe, der sagt die Wände sind
für die Patienten besser, und was dabei rauskommt, das ist schrecklich.“
Beobachtungsnotiz:
Pfleger: Wir haben hier ein schönes Projekt, das heißt ‚Heimat-Schaffen‘,
damit sie sich in ihrem Zimmer wohler fühlen.
Patient: Leck mich am Arsch! (Dreht sich um und geht)

(Beide Beispiele wurden im Rahmen der Dissertation von Martin Feißt


erhoben.)

Milieutherapie zielt auf Normalität durch Simulation von Normalität. Doch die
Normalität, die sich dann tatsächlich einstellt, ist nicht die simulierte Normalität.
Es ist eine Normalität unter Einbezug der simulierten Normalität in einer totalen
Institution. Milieutherapie als Technik der Umweltgestaltung bleibt eben immer
eine Technik – und was aus der Anwendung dieser Technik entsteht, ist etwas
anderes, als was mit ihr ursprünglich intendiert war. An vielfältigen Stellen ist mit
adversen und paradoxen Effekten zu rechnen.

Methodologische Bemerkungen
Schon in Hinblick auf ‚normale‘ Organisationen stellt sich die Frage,
ob und wie sich der Alltag in einer forensischen Psychiatrie überhaupt
mit dem Begriff des Milieus verträgt, der ja eine gewisse Gemeinschaft-
lichkeit suggeriert. Nicht nur die unterschiedlichen vertretenen Berufs-
gruppen, auch die in Hinblick auf Herkunft, Krankheitsbild, Alter etc.
recht verschiedenen Patienten lassen es kaum zu, von einem gemeinschaft-
lichen Milieu zu sprechen. Zugleich ist die Einrichtung in hohem Maße
durch gesellschaftliche Funktionsbezüge geprägt, die ja mit formalen
20 1  Der Maßregelvollzug in Deutschland

Rollenerwartungen einhergehen (also nicht mit lebensweltlicher Natürlich-


keit). Zudem geht die Patientenrolle nicht unbedingt mit positiv besetzten
Identifikationsangeboten einher, an welche die Betroffenen im Sinne einer
weitergehenden Vergemeinschaftung andocken könnten (vgl. Feißt 2017).
So wichtig Milieu- und Soziotherapie für die Rehabilitation auch
sein mag, scheint es uns aus methodologischen Gründen dennoch sinn-
voll, nicht von vornherein festzulegen, worin deren essentiellen Bestand-
teile liegen. Wir halten es für produktiv, im Einzelfall zu untersuchen, ob
und wie die Ergotherapie, der Umgang mit den Pflegern, die bestehenden
Außenkontakte oder Freundschaften zu Mitpatienten zur sozio-
therapeutischen Normalisierung beitragen (oder vielleicht auch nicht
bzw. mit paradoxen Effekten einhergehen). Die Bedeutung von Gemein-
schaftlichkeit und den hiermit einhergehenden sozialen Beziehungen
rückt dadurch methodologisch etwas in den Hintergrund, ohne sie
jedoch aus dem Blick zu verlieren. Im Vordergrund steht demgegen-
über die Rekonstruktion der Arrangements, und nicht von Milieus –
und dieser Fokus erscheint uns gerade auch durch den Gegenstand der
Maßregelvollzugsklinik gegeben, die ja von ihrem Arbeitsauftrag nicht
unbedingt darauf zielt, ein Milieu zu generieren, in dem die Insassen sich
dann häuslich einrichten können. Die Patienten sollen das Setting ja irgend-
wann wieder verlassen und sich dabei idealerweise an den Normalitäts-
erwartungen des Personals, und nicht an den Mitpatienten orientieren.
Gerade weil der Auftrag der Milieutherapie damit alles andere als trivial
ist, scheint es methodologisch sinnvoll, hier nicht mit vorab vorgefassten
Konzepten heranzugehen, also sich der Sache eher offen, das heißt indirekt
zu nähern.

1.3 Das Personal im Rollenkonflikt

Wie in jeder Organisation entstehen auch in der forensischen Psychiatrie für das
Personal Rollenkonflikte und ethische Spannungslagen. Mit dem Auftrag der
„Besserung und Sicherung“ ist dieses „dual relationship problem“ (Ward 2013)
bereits programmatisch angelegt. „The essential dilemma confronting forensic
and correctional practitioners is that there are ethical tensions between their
respective professional codes and the ethical demands of working within the
criminal justice system“ (ebd. 97, vgl. auch Holmes 2005). Auf der einen Seite
1.3 Das Personal im Rollenkonflikt 21

steht hier der professionelle Auftrag, dem vulnerablen Individuum zu helfen, auf
der anderen Seite die Ansprüche Dritter, vor der betreffenden Personen geschützt
zu werden, so Schott et al.:18

„Gleichwohl ist das ethische Dilemma letztlich unaufhebbar, mit dem der
Psychiater – wie jeder andere Arzt – bei der Krankenbehandlung konfrontiert ist:
Wie kann er individuellen und gesellschaftlichen Interessen gleichermaßen gerecht
werden? Wie stark kann er als ‚Anwalt des Kranken‘ gegen Sachzwänge vorgehen?
Wo muss er notwendigerweise gesellschaftliche Interessen – z. B. die Frage nach
der Gefährdung Dritter – gegen die des Kranken durchsetzen? Diese Problematik
spitzt sich insbesondere in der forensischen Psychiatrie zu, in der der Psychiater
dem Wohl und Interesse des Einzelnen ebenso gerecht werden soll wie dem der
Gesellschaft. Darin liegt ein Hauptproblem des psychiatrischen Maßregelvollzugs,
in dem es etwa vorkommen kann, dass ein nicht aggressiver Exhibitionist Jahre
und Jahrzehnte hinter Gittern verbringt, angeblich zum Schutz der Allgemeinheit“
(Schott und Tölle 2006, S. 506).

In der Alltagspraxis wird all dies beispielsweise relevant, wenn das medizinische
Personal sicherheitsrelevante Maßnahmen ausführen (Zimmerdurchsuchungen,
etc.) oder Gutachten für das Gericht verfassen muss, die sich gegen die Interessen
des Patienten richten etc. (vgl. Ward 2013, S. 93 ff.).
In einem Vergleich der therapeutischen Beziehung im forensischen und all-
gemeinpsychiatrischen Setting kommen Otte et al. (2019) dennoch zu der
Schlussfolgerung, dass die aus dem Zusammenhang zwischen Therapieerfolg und
Entlassungswahrscheinlichkeit resultierende „extrinsische Therapiemotivation
[…] wiederum ein hinreichender Motivator zu sein [scheint], eine Bindung zum
Therapeuten einzugehen und diesem trotz der eingangs erwähnten Doppelrolle
als Behandler und gerichtlicher Sachverständiger ein gewisses Vertrauen ent-
gegenzubringen“.
Diese Überlegung setzt aber voraus, dass der Patient in gewisser Weise sein
Schicksal akzeptiert und sich auf diese ambivalente und erzwungene Beziehung
einlassen kann. Bereits Knoll (1991) weist auf die Probleme hin, die sich aus
dem artifiziellen Charakter der Beziehungen zwischen Personal und Insassen
ergeben, wenn unter organisierten Zwangsbedingungen Authentizität entstehen
soll. Wie insbesondere eine jüngere Arbeit von Koepsell (2015) aufzeigt, scheint
dabei weniger die Tatsache problematisch zu sein, dass es in psychiatrischen
Kontexten eine erhebliche Fremdbestimmung gibt. Entscheidend ist vielmehr,

18 Vgl. auch Sen et al. (2007).


22 1  Der Maßregelvollzug in Deutschland

wie damit umgegangen wird. Insofern es gelingt, die allein schon mit Blick auf
die organisatorischen Zwänge offensichtliche Fremdbestimmung innerhalb der
Interaktionen zwischen Insassen und Personal zumindest temporär auszublenden,
können leichter Inseln der Normalität aufscheinen. Dies geschieht dann beispiels-
weise, wenn Pfleger in der eher ruhigen Spätschicht mit Patienten Karten spielen
oder Small Talk führen, gemeinsam Feiertage oder Gartenfeste gestaltet werden
etc.19
Aber auch dies stellt eine Leistung dar, die erst einmal erbracht werden
muss und eine Balancierung unterschiedlicher Werte und Ansprüche voraus-
setzt. Denn es muss auch in Rechnung gestellt werden, dass die Patienten ihrer-
seits ambivalente Gefühle hervorrufen (they „may evoke feelings of empathy as
well as feelings of disgust, repulsion, and fear“, Jacob et al. 2008, S. 153). Genau
diese Vermittlungsarbeit, die auf unterschiedlichen, auch emotionalen Ebenen
zu leisten ist, führt bei den Angestellten zu inneren Konflikten bis hin zu Burn-
out-Erscheinungen (Claire Newman et al. 2020) und läuft Gefahr, in gebrochene
berufliche Identitäten, unethische Praxisformen und möglicherweise gar einen
Verlust der persönlichen Integrität des Personals zu münden (Ward 2013,
98 f.). Nicht ohne Grund führen Hammarström et al. (2020, S. 440) mit Ver-
weis auf Austin (2001) an, dass gerade der Aufbau der auch aus therapeutischen
Gründen so wichtigen Beziehungen eine der größten Herausforderungen für das
forensische Pflegepersonal darstellt – gerade in diesem Bereich liegt einerseits
ein großes Potential für den Patienten, andererseits eben auch das Risiko einer
chronischen Überforderung des Personals.20
Aus all dem erwächst auch die immer wieder erneut zu bestimmende hand-
lungspraktische Frage, wie die Grenze zwischen therapeutischen, pädagogischen,
sich distanzierenden oder gar sanktionierenden oder strafenden Interventionen
des Personals zu ziehen ist (vgl. Wulff 1998) und welches ‚Mischungsverhältnis‘
dem Ziel der Resozialisation unter den gegebenen Umständen am zuträglichsten

19 Im Sinne einer Funktionalität „geschlossener Bewusstheitskontexte“ (Glaser und Strauss


1965) scheint es also mitunter durchaus produktiv zu sein, in stillschweigender Überein-
kunft über die ggf. schlechten Zukunftsperspektiven der Betroffenen hinwegzusehen, um
ihnen gerade hierdurch noch eine rudimentäre Verortung in den Skripten einer Normalbio-
grafie zu ermöglichen.
20 
Auch die von Strauss et al. (1963) vorgelegten Studien zum „hospital as negotiated
order“ erscheinen hier in einem neuen Licht, nämlich ebenfalls als ein Arrangement,
das den Insassen Möglichkeiten und Spielräume eröffnet, in ihren Interaktionen trotz
beschädigter Autonomie eine gewisse Selbstwirksamkeit zu erfahren.
1.3  Das Personal im Rollenkonflikt 23

ist. Auch dies scheint eine Frage des forensischen Arrangements zu sein und wird
letztlich auch davon beeinflusst, inwiefern ein Patient in der Lage ist, etwaige
Zwangsmaßnahmen gegen sich selbst als berechtigt anzusehen (vgl. Kousmanen
et al. 2007). Zudem birgt das Ziel der Rehabilitation, wie etwa Eink (1997b) auf-
zeigt, seine eigene Paradoxie, nämlich einen Veränderungsdruck zu entfalten, der
jedoch Normalität durch ein Übermaß an pädagogischem und therapeutischem
Eifer behindern kann.
Gerade das Thema Sexualität scheint in diesen Prozessen eine Schlüssel-
rolle zuzukommen, da in der Regulierung eines natürlichen Bedürfnisses nur
unzureichend auf generalisierte Regeln zurückgegriffen werden kann (vgl. Ruane
und Hayter 2008).
Auf der Helferseite besteht zudem die Gefahr, in Beziehungskonflikte mit den
Insassen verwickelt zu werden und hierdurch die professionelle Distanz zu ver-
lieren, bis hin zu gewalttätigen oder sexuellen Episoden (vgl. Bachmann und Böker
1994). Da sexuelle und aggressive Vergehen jedoch einer starken gesellschaft-
lichen Stigmatisierung unterliegen, besteht die Gefahr einer „Tabuzone“, die eine
offene und produktive Auseinandersetzung mit der „dunklen Seite“ der Helfer- und
„Therapeutenpersönlichkeit“ verhindert (Becker-Fischer und Fischer 2008).
Zugleich besteht aus Sicht der Mitarbeiter stets das Risiko, mit potentiell
traumatisierenden Situationen bis hin zu Übergriffen konfrontiert zu sein
(Claire Newman et al. 2021; Tema et al. 2011). Diesbezügliche Ängste und
emotionale Zumutungen belasten die – wie bereits beschrieben – ohnehin diffizile
Beziehungsgestaltung zusätzlich (Jacob und Holmes 2011). Man denke beispiels-
weise an Fälle, in denen weibliches Personal mit Sexualstraftätern konfrontiert
ist und beginnt, sich vorzustellen, in die „sexuellen Fantasien straffällig
gewordener Patienten eingebaut zu werden“ (Bornwasser 1995). Die Frage, wie
in produktiver Weise mit den (berechtigten) Ängsten umgegangen werden kann,
bleibt für die forensische Psychiatrie ein Dauerthema, zumal in Verbindung von
Hilflosigkeit, Überforderung und emotionaler Anspannung die Gefahr besteht,
dass die Helfer selbst die Kontrolle über ihre Emotionen verlieren und in der
Folge ihrerseits zum Täter werden (Veltin 1987).
Komplementär hierzu erscheint eine Forschungsperspektive produktiv,
welche die Aggressionen der Insassen zumindest partiell mit dem Beziehungs-
geschehen in der Einrichtung in Verbindung bringt (s. etwa Brunt 2008; Fluttert
2010; Meehan et al. 2006). So zeigt Debus (1997) beispielsweise auf, dass
gerade die oben benannten widersprüchlichen Anforderungen im therapeutischen
Setting psychiatrischer Kliniken auch vom Patienten komplexe emotionale
Integrationsleistungen verlangen, die oft nur schwer erfüllt werden können.
Gemeint ist hiermit, damit umgehen zu müssen, seitens des Personals zugleich
24 1  Der Maßregelvollzug in Deutschland

als krank, als potentiell gefährlichen Täter wie auch als Mensch gesehen zu
werden, der sich nach Normalität sehnt. Zudem bringt die institutionell gerahmte
Beziehung zwischen Psychiatern und hospitalisierten Psychiatriepatienten
„kommunikationstheoretisch einen Doppelbindungscharakter“ mit sich (Knoll
1991). Leicht entstehen Situationen, in denen jegliches Verhalten des Patienten
problematisch erscheint, dieser sich jedoch der Situation nicht entziehen kann.21
Nicht zuletzt ist auf die strukturellen (Macht-)Dynamiken im Betreuungs-
und Behandlungsteam hinzuweisen. Die Pfleger stehen in direkterer Beziehung
zum Insassen und haben entsprechend mehr Kontakt zu ihm, wodurch sie
gewissermaßen als die ‚eigentlichen‘ Therapeuten erscheinen könnten (Kuhr
1987), wenngleich innerhalb der Hierarchie den Ärzten und Psychologen formal
die Deutungsmacht als entscheidenden Experten zukommt (vgl. Rosenhan
1990, S. 131 f.). Die hierarchische Ordnung eröffnet einerseits die Möglich-
keit verteilter Rollen und ermöglicht hiermit einhergehend die Deeskalation
von Konflikten (etwa in dem dann die einen Mitgefühl und Verständnis zeigen
und die anderen mit Strenge und Härte agieren). Andererseits besteht aber auch
die Gefahr, dass die Dynamiken von Macht und Ohnmacht unreflektiert in die
Beziehung zum vulnerabelsten Glied der Beziehung – dem Patienten – hinein-
kopiert werden (vgl. Wallenczus 1998).
Durch ihre spezielle Rolle befinden sich Pflegekräfte in einer hohen sozialen
wie auch therapeutischen Interaktion mit den Patienten. Betrachtet man die
Forschung und die Forschungsgebiete der Pflegewissenschaften im (forensisch-)
psychiatrischen Bereich, so zeigt sich, dass immer wieder – mal mehr, mal
weniger – ein implizites Verständnis für die Psychiatrie als irreduzibel mehr-
deutige Einrichtung durchscheint, in der es vor allem auf die spezifische Form der
Ausgestaltung des Arrangements ankommt.22

21 Zumindest im Falle schizophrener Patienten befinden sich die Patienten also in einem
Setting, welches vergleichbare Kommunikationsstrukturen aufweist, wie sie im Kontext
der Familie für die Entstehung der Krankheit (mit-)verantwortlich gemacht werden (vgl.
Bateson et al. 1969).
22 Dabei ist darauf hinzuweisen, dass insbesondere die pflegewissenschaftliche Forschung

eine für unseren Zusammenhang interessante dritte Position einnimmt. Besonders deut-
lich wird dies bei Themen der Beziehungsgestaltung zu den Patienten in der forensischen
Psychiatrie, maßgeblich gekennzeichnet durch das unauflösbare Spannungsfeld zwischen
Nähe und Distanz, Freundschaft und professionellem Verhältnis und in der Doppelfunktion,
sowohl „Schließer“ als auch „Pfleger“ zu sein (s. beispielsweise Bowers et al. 2010;
Bressington et al. 2010; Jacob und Holmes 2011; Jacob et al. 2008; Kumpula und Ekstrand
2009; Perron und Holmes 2011; Peternelj-Taylor 2004).
1.3  Das Personal im Rollenkonflikt 25

Psychiatrische Diagnostik – eine Chimäre phänomenologischer, bio-


logischer und sozialpsychiatrischer Zugänge
Die Psychiatrie geht in ihrer medizinischen Perspektive von einer Reihe
mehr oder weniger trennscharf definierter Störungsbilder aus,23 die sich
unterscheiden und diagnostizieren lassen (s. bereits Jaspers 1913). Mit
Blick auf die Klientel des Maßregelvollzugs sind insbesondere folgende
Gruppen relevant: Menschen mit Persönlichkeitsstörungen, Schizophrenie,
Intelligenzminderung und Suchterkrankungen bzw. Mehrfachdiagnosen
(Dörner et al. 2013, S. 341). Dass die Diagnostik auf Typisierungen beruht,
die sich einer sozialen Praxis verdanken, darf nicht darüber hinwegtäuschen,
dass Diagnosen aus der jeweiligen neurologischen, psychiatrischen oder
psychologischen Fachperspektive eine eigene Dignität haben, also nicht
allein als soziale Konstruktionen zu betrachten sind.24 Und obschon
die Klassifikations- und Diagnosesysteme auch unter Psychiatern nicht
unumstritten sind (vgl. Schleiffer 2012), erfüllen sie trotz berechtigter
Kritik wichtige Funktionen in der gesellschaftlichen Organisation der
Behandlung psychischen Leidens (s. insbesondere Bowker und Leig
Star 1999, S. 170 ff.). Dabei wird im Allgemeinen davon ausgegangen,
dass diese Störungsbilder, die mit einer bestimmten Phänomenologie des
Erlebens beim Betroffenen einhergehen (s. bereits Bleuler 1916), sich in
psychologischen und neurophysiologischen Testparametern manifestieren
können (vgl. Strik und Dierks 2011), teilweise mit genetischen Dis-
positionen korrelieren sowie in Bezug auf die unmittelbare soziale Umwelt
mit typischen Interaktionsmustern einhergehen (Simon 1988).
Insgesamt erscheint es dabei wenig fruchtbar, phänomenologische, bio-
logische und interaktions- bzw. kommunikationstheoretische Perspektiven
gegeneinander auszuspielen. Unter Psychiatern und Psychologen ist

23 Siehezur Klassifikation von psychischen und Verhaltensstörungen die Ziffern F00 bis
F99 des ICD-10-GM.
24 Gerade dieser Aspekt wird in einer Psychiatriekritik, die nicht in die Handlungsvollzüge

eingebunden ist, vernachlässigt. Der Soziologe Dirk Richter kritisiert dies scharf und macht
genau diese Haltung für die derzeitige Irrelevanz der Soziologie für psychiatrische Praxis
verantwortlich. „Eine zeitgemäße Soziologie psychischer Störungen wird nicht darauf ver-
zichten können, die elementare Bedeutung biologischer Faktoren in diesem Kontext anzu-
erkennen“ (Richter 2003, S. 17).
26 1  Der Maßregelvollzug in Deutschland

mittlerweile unstrittig, dass traumatische Erlebnisse wie auch erlernte


Verhaltensweisen neuronal repräsentiert werden, aber auch umgekehrt
biologisch bedingte Vulnerabilitäten zu Umkippeffekten in den sozialen
Interaktionssystemen der Betroffenen führen können, was dann auf
kommunikativer Ebene die Symptomatik verstärkt oder gar erst evoziert
(vgl. Spitzer 2000, S. 315).
Produktiv erscheinen dabei Ansätze, die von der Verschränkung unter-
schiedlicher Systemebenen ausgehen (s. etwa T. Fuchs 2010), wobei die
Manifestation einer Psychose oder das Begehen einer schweren Straf-
tat zu einem irreversiblen Schnitt in der Biografie und der Evolution des
sozialen System des Patienten führt, da die Welt für alle Beteiligten nun
nicht mehr dieselbe ist (vgl. Ciompi 1997). Einerseits scheinen jetzt auf
neuroaffektiver Ebene bestimmte Handlungs- und Erlebensmuster gebahnt
zu werden, die anderseits durch kommunikative Zuschreibungen im Inter-
aktionssystem selbstreferenziell bestätigt (vgl. Buchholz 1994) und in
Folge mit dem sozialen Kontext verbunden werden, in dem die ‚Störung‘
aufgetreten ist.
Da die problematischen Verhaltens- und Reaktionsmuster in der Regel
bereits durch eine lange Geschichte von Interaktionen bestätigt und erlernt
worden sind, erscheinen sie zugleich in den höheren kortikalen Schichten
verkörpert und damit chronifiziert. Als wichtige Konsequenz für Therapie
und Resozialisation ergibt sich hiermit auch aus psychiatrischer Perspektive
die zentrale Rolle der auf Dauer angelegten sozialpsychiatrischen Inter-
ventionen. Denn nur durch die kontinuierliche Vermittlung „neuer
Inputsignale, d. h. neuer Erfahrungen“, und hiermit einhergehend die
Etablierung neuer Kontexte des Verhaltens können – so die leitende
These – die „langfristig gespeicherten Repräsentationen“ überschrieben
werden (Spitzer 2000, S. 315). Selbst unter dieser Annahme bleibt natür-
lich die Frage bestehen, welche Erfahrungen gerade der Maßregelvollzug
im Zwangskontext und dem artifiziellen psychiatrischen Setting ermöglicht.
Nicht unterschlagen werden darf bei all dem die Einbettung
psychiatrischer Diagnostik in die sozialen Interaktionsprozesse. So
beschreibt Dellwing (2008) die letztliche Bezeichnung einer Person als
‚geisteskrank‘ als Resultat eines fehlgeschlagenen Aushandlungsprozesses
über die Definition sozialer Realität. Geisteskrankheit bzw. psychische
1.3  Das Personal im Rollenkonflikt 27

Störung liefert dann das „Erklärungsvokabular, das die eigene soziale


Realität gegen den widerspenstigen Aushandlungspartner schützt, ohne
ihn ausstoßen zu müssen; es glättet aber nicht die Situation, in der dieser
Andere weiterhin präsent ist und stört.“ (ebd. 156)
Schlüsselbegriffe der Untersuchung
und methodologische Bemerkungen 2

Bevor wir zu den Fallanalysen kommen, erscheint es uns mit Blick auf die voran-
gehenden Ausführungen sinnvoll und hilfreich, einige Begriffe und Konzepte zu
rekapitulieren. Es handelt sich dabei um heuristische Begriffe, welche gestatten,
die zuvor aufgeworfene Komplexität in einer dem Gegenstand angemessenen
Weise zu reduzieren.

2.1 Arrangements – Selbst- und Weltverhältnisse


in Form bringen

Einer der leitenden Begriffe unserer Untersuchung ist der des Arrangements.
Gemeint ist hiermit, dass ein Mensch seine Lebensform nur in Koproduktion,
d. h. als Teil einer umfassenderen Ökologie aufbauen kann (vgl. Bateson 1992
[1972]). Seien es die Beziehungen zu anderen Menschen, seine institutionelle
Einbettung, seine mittelbare und unmittelbare gesellschaftliche Umgebung wie
auch weitere Umwelteinflüsse – das Leben eines Menschen erschließt sich erst
im Wechselspiel mit seiner Mitwelt bzw. aus dem Netzwerk der hiermit einher-
gehenden Beziehungen. Aus Perspektive des einzelnen Akteurs ergibt sich dabei
eine spezifische Form der Bezogenheit, die durch das Begriffspaar Selbst- und
Weltverhältnis ausgedrückt wird.1

1 Esist der Verdienst von Winfried Marotzki (1990) unter dem Blickwinkel der Kybernetik
Gregory Batesons (1987, 1992 [1972]) und der Polykontexturalitätstheorie von Gott-
hard Günther (1978, 1979b) den systemischen Diskurs um menschliche Selbst- und

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GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022
W. Vogd und M. Feißt, Therapeutische Arrangements im Maßregelvollzug,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-37131-9_2
30 2  Schlüsselbegriffe der Untersuchung und methodologische …

Im Selbstverhältnis kommt zum Ausdruck, dass ein Mensch ein reflexives


Wesen ist, das sich in der einen oder anderen Weise auf sich selbst bezieht. Dies
kommt allein schon in dem von der Phänomenologie beschriebenen Unter-
schied von ‚Leib sein‘ und ‚einen Körper haben‘ zum Ausdruck.2 Unser Körper
kann uns als Objekt, gar als Gegenstand erscheinen und die von ihm aus-
gehenden Impulse können gar als fremd erlebt werden. Wir können uns unseren
Trieben und Emotionen ausgeliefert fühlen und versuchen, erstere kontrollieren
zu wollen, oder wir können uns umgekehrt mit dem assoziierten Begehren und
Empfinden (ich-synton) identifizieren. Unsere Gedanken können sich kritisch
oder gar verurteilend auf das beziehen, was wir empfinden, intendieren oder
bereits getan haben, oder aber andersherum sich genau mit all diesem in einem
positiven Sinne identifizieren. Kurzum, unser Selbst erscheint gleichsam in
verschiedene Aspekte und Stimmen aufgeteilt, die dabei jedoch aufeinander
referieren und auf diese Weise ein komplexes Gebilde generieren, das wir im
Alltagssinne als unser Selbst auffassen. Der Begriff ‚Selbstverhältnis‘ steht hier-
mit für das dynamische Wechselspiel von Empfindungen, Fantasien, Gedanken,
Gefühlen und Willensbewegungen eines Menschen. Er ermöglicht es, die
komplexe Beziehung der konditionierten Koproduktion gleichsam von der Seite
anzuschneiden, auf die entsprechend der psychiatrischen Selbstbeschreibung
die Veränderungsarbeit zielt: auf den körperlich-psychischen Komplex, der die
eigene Leiblichkeit ausmacht.
Im Sinne der formtheoretischen Notation von Spencer Brown, die nicht zuletzt
Fritz Simon eingeführt hat, um die komplexen Verhältnisse psychiatrischer
Behandlungsprozesse zu reflektieren,3 beginnt das Selbstverhältnis mit der
Setzung einer Unterscheidung, welche den Beobachter konstituiert:

„Als Beobachter soll definiert sein, wer oder was (das heißt, es muss sich dabei
nicht um einen Menschen oder ein Lebewesen handeln) einen spezifischen Typus
von Operation vollzieht: beobachten. [...] Unter Beobachten soll eine Operation
verstanden werden, die durch die Koppelung zweier anderer Operationen entsteht:
unterscheiden und bezeichnen.“4

Weltverhältnisse und deren Transformation eröffnet zu haben. Zur Weiterführung dieser


Gedanken siehe Vogd (2018b).
2 Siehe ausführlicher zur Theorie der Selbst- und Weltverhältnisse aus phänomemologischer

Sicht im Anschluss an Merleau-Ponty insbesondere Kap. 2 und 3 aus Vogd (2018b).


3 Siehe Simon (1993).

4 Simon (2018, S. 13).


2.1  Arrangements – Selbst- und Weltverhältnisse in Form bringen 31

Ein Selbstverhältnis kann sich dann beispielsweise nicht zuletzt auch über die
eigene Leiblichkeit aufbauen, etwa indem der Bewusstwerdeprozess zwischen
den Positionen ‚Leib sein‘ und ‚Körper haben‘ oszilliert, um auf beiden Seiten
(durch Bezeichnen und Unterscheiden) einen Andockpunkt zu finden. Denken
und Wahrnehmung können in diesem Sinne mit Luhmann (1995) ebenfalls als
eine Bewegung verstanden werden, welche kontinuierlich Objekte (sei es eine
Sinneswahrnehmung oder ein Gedanke) generiert, um sich dann in der Bewegung
des Anschließens weiterer Gedanken und Wahrnehmungen als psychisches
System zu identifizieren, bzw. als Beobachter hervorzubringen.
Das Weltverhältnis bezeichnet unsere Bezugnahme auf das, was dem Common
Sense nach als unsere Außenwelt erscheint, d. h. die Mitmenschen, Arte-
fakte wie Gebäude und Maschinen, Medien, aber auch die natürliche Umwelt.
Gemeint sind also sowohl die Bereiche der Mitwelt, auf die ein Mensch sich
intentional bezieht, als auch die Aspekte, die eher passiv, d. h. im Hintergrund die
Bedingungen der Möglichkeit seines Erlebens und Handelns konditionieren. Das
Weltverhältnis beinhaltet damit sowohl den Teil der Umweltbeziehungen, welche
im Bewusstsein als Außenwelt reflektiert und im eigenen Erleben und Wollen
adressiert wird. Es beinhaltet aber auch die relevanten Umweltbeziehungen,
welche die konditionierte Koproduktion ebenfalls maßgeblich prägen, jedoch
nicht als explizite Unterscheidungen in den Bewusstseinsprozessen auftauchen.
Das, was im Selbst- und Weltverhältnis als ‚Welt‘ zugerechnet wird, wird
wiederum durch die Operation ‚Unterscheiden und Bezeichnen‘ hervorgebracht.
In dem Begriffspaar Selbst- und Weltverhältnisse betont das verbindende Wort
‚und‘ dabei die Tatsache, dass Innenwelt und Weltbezug als miteinander ver-
schränkt zu verstehen sind. Das Denken und Erleben eines Menschen wird durch
sozial angelieferten Sinn – etwa durch Worte und symbolische Handlungen –
angeregt und formatiert, seine Körperlichkeit durch die materialen Bedingungen
seiner Umwelt. Sein Verhalten ruft bestimmte Reaktionen in der Mitwelt hervor,
die dann wiederum zum Ausgangspunkt des eigenen Erlebens und Handelns
werden. Bei all dem ist zu berücksichtigen, dass die beteiligten anderen Menschen
ihrerseits ein Selbst- und Weltverhältnis darstellen und damit nicht allein „für
sich“ bestehen, sich also im Sinne von Merleau-Ponty die eigene Wahrnehmung
und Reflexion mit den Perspektiven von Anderen verschränkt. Sei es die All-
tagsinteraktion oder das therapeutische Gespräch, jede Dyade erscheint damit
als ein komplexes System, in dem sich „vier Glieder“ koppeln und wechselseitig
konditionieren: „mein Sein-für-mich, mein Sein-für-Andere, das Für-sich des
Anderen und sein Sein-für-mich“ (Merleau-Ponty 2004, S. 111, Abb. 2.1).
Hiermit kommen wir bereits zu einer polykontexturalen Beschreibung, die
von der Kopräsenz mehrerer Selbst- und Weltverhältnisse ausgeht, die jedoch
32 2  Schlüsselbegriffe der Untersuchung und methodologische …

Patient/in Therapeut/in

verhältnis
Selbst-
mein Für-sich
Sein-für-mich des Anderen

Organisation
Medizin Recht
Medien
Ökonomie
verhältnis

mein sein
Sein-für-andere Sein-für-mich
Welt-

Abb. 2.1   Die Beziehung des Patienten zum Therapeuten ist hier unter dem Blickwinkel
der Verschränkung zweier Selbstverhältnisse dargestellt, wobei im mittleren Feld die
gesellschaftlichen Funktionsbezüge vermerkt sind, die den Charakter des Verhältnisses
(mit)konditionieren. Diese Struktur lässt sich selbstredend auch auf die Beziehungen zu
Pflegekräften, Ärztinnen, Sozialarbeiter etc. übertragen

im Sinne der konditionierten Koproduktion voneinander abhängen, d. h. nur


in wechselseitiger Abhängigkeit ihre jeweilige Ausprägung finden.5 Jede Kon-
textur steht dabei für den Aufbau eines Welt-Umwelt-Verhältnisses, wobei die
unterschiedlichen Positionen reflexiv aufeinander Bezug nehmen können. Im
Sinne von Gotthardt Günthers polykontexturaler Logik (Günther 1978) gibt
es keinen „Ort der Orte“, keinen „ausgezeichneten Ort der Begründung“, keine

5 Die formtheoretische Notierung eines Selbst- und Weltverhältnisses von Spencer Brown
ist hiermit in Richtung einer polykontexturalen Beschreibung zu erweitern, welche die
Kopräsenz und wechselseitige Bezugnahme mehrerer Selbst- und Weltverhältnisse dar-
stellen lässt. Spencer Brown weiß um diese Limitationen, wie dann bereits im Vorwort zu
den „Laws of Form“ zum Ausdruck kommt: „‚Wir‘ erzeugen eine Existenz, indem wir die
Elemente einer dreifachen Identität auseinandernehmen. Die Existenz erlischt, wenn wir
sie wieder zusammenfügen. Jede Kennzeichnung impliziert Dualität, wir können kein
Ding produzieren, ohne Koproduktion dessen, was nicht ist, und jede Dualität impliziert
Triplizität: Was das Ding ist, was es nicht ist, und die Grenze dazwischen“ (Spencer-Brown
1997, S. xviii). In einer späteren Publikation mit dem Titel „Only two can play this game“
(Spencer-Brown 2013) wird dieses Thema expliziter aufgegriffen.
2.1  Arrangements – Selbst- und Weltverhältnisse in Form bringen 33

übergreifende Rationalität oder Logik, denn alle Kausalitäten bleiben insofern


gleichzeitig wahr, als dass die jeweiligen Ursache-Wirkungs-Hierarchien erhalten
bleiben. Für das Gesamtsystem existiert jedoch keine letzte Begründung mehr,
denn: „Was Grund und was Begründetes ist, wird geregelt durch den Standort der
Begründung. Der Wechsel des Standortes regelt den Umtausch von Grund und
Begründetem. Jeder Ort der Begründung ist in diesem Fundierungsspiel Grund
und Begründetes zugleich. Orte sind untereinander weder gleich noch ver-
schieden; sie sind in ihrer Vielheit voneinander geschieden. Die Ortschaft der
Orte ist bar jeglicher Bestimmbarkeit“ (Kaehr 1993, S. 170).
Bei all dem ist nochmals darauf hinzuweisen, dass menschliche Selbst- und
Weltverhältnisse in hohem Maße durch Sprache vermittelt sind. Wichtig ist
hierbei, dass sprachlicher Sinn zugleich ein gefühlter Sinn ist, dass er also im
Sinne von Bourdieu buchstäblich als verkörpert anzusehen ist, wobei Menschen
zugleich über das ‚Innen-Sprechen‘ kontinuierlich Einfluss auf sich selbst
nehmen. Erst auf diesem Wege eröffnet sich das Verständnis von (Sozio-)
Therapie als einer wirksamen und immer auch sprechenden Praxis (vgl. Buchholz
1994). Um es mit Peter Fuchs auszudrücken:

„Das SELBST ist – summarisch formuliert – ein soziales Phänomen, dessen


Individualisierung oder Singularisierung durch ‚Einkörperung‘ gewonnen wird.
Insofern ist die großartige Bibelformulierung ›Und das Wort ist Fleisch geworden
...‹ (wenn man metaphysische Instanzen und Pläne für einen Moment suspendiert)
in gewisser Weise paradigmatisch. Das psychische System erweist sich als Produkt
der sozialen Interpretation von Hirnereignissen. Die Psyche ist nicht einfach da,
wenn Menschen geboren werden. Sie entsteht durch Sozialisation, die ihr nicht noch
Fehlendes hinzufügt, sondern sie als Sinnsystem erzeugt.“6

Bestimmte Konstellationen einer jeweils spezifischen Mitwelt bilden mit einem


Selbst- und Weltverhältnis ein Arrangement. Beobachten wir einen Familienvater,
der täglich zur Arbeit geht, so sehen wir etwas, das wir als ein Netzwerk mehr
oder weniger stabiler Erwartungshaltungen zwischen Kollegen, Kindern und
Ehegatten auffassen können. Man rechnet mit bestimmten Interaktionsmustern
und weiß um seine eigene Rolle. Der Alltag verläuft dann im Rahmen wieder-
kehrender Beziehungsmuster sowie an vertrauten Örtlichkeiten. Man hat sich
aufeinander eingestellt und im Regelfall geschieht dann aus Sicht der Beteiligten
mehr oder weniger Erwartbares. Selbst die ‚Überraschungen‘ laufen in geregelten

6 Fuchs (2010, S. Bucheinband).


34 2  Schlüsselbegriffe der Untersuchung und methodologische …

Bahnen, d. h. in vertrauten Kontexten. Aus Perspektive des Vaters scheint sein
Selbst- und Weltverhältnis damit im Sinne von Rollenerwartungen und Ver-
haltenskorridoren so eingespielt, dass sich die damit verbundenen Muster immer-
fort stabilisieren und reproduzieren. Hierbei ist es nicht von Bedeutung, ob diese
Muster aus einer ethischen Perspektive oder dem Common Sense nach positiv
oder negativ zu bewerten sind. Beispielsweise mag sich der Mann jeden Freitag
nach der Arbeit betrinken und danach unausstehlich sein, was seiner Frau zwar
nicht besonders gefällt, sie jedoch auch nicht daran hindert, sich mit der Zeit auf
ihre Weise darauf einzustellen.
Kommt es an bestimmten Stellen zu massiven, disruptiven Änderungen,
rekonfiguriert sich das Arrangement, womit auch das Selbst- und Weltverhältnis
der beteiligten Personen unter Druck kommt. Bricht bei unserem Familienvater
beispielsweise eine Psychose aus, muss er vielleicht mehrere Monate in Kranken-
häusern verbringen und kann entsprechend weder seiner Arbeit nachgehen noch
aktiv am Familienleben teilhaben. Hat er im Rahmen des Anfalls gar seinen
Bruder mit dem Messer angegriffen, wird er in einer forensischen Klinik unter-
gebracht. Ob er will oder nicht – sein Selbst- und Weltverhältnis wird sich auf die
eine oder andere Weise auf eine Patientenkarriere7 einrichten müssen. Dasselbe
gilt dann auch für die Angehörigen, auch ihre Welt wird nicht mehr die gleiche
sein wie zuvor.
Für den Patienten bzw. um ihn herum entsteht ein neues Arrangement mit
einem veränderten Set von Rollenerwartungen. Im Weltverhältnis wird nun
einiges möglich (sich z. B. als „krank“ aus weltlichen Verantwortlichkeiten
zurückzuziehen und von Pflegekräften betreut zu werden), anderes hingegen
unmöglich (etwa weiterhin einer geregelten Arbeit nachzugehen oder die Klinik-
mauern unbegleitet zu verlassen). Das zuvor bestehende Familien- wie auch das
Arbeits-Arrangement haben sich verändert und müssen zu einem neuen Gleich-
gewicht finden. (Wie rekonfiguriert sich etwa das Familien-Arrangement, wenn
der Vater auf einmal im Maßregelvollzug sitzt?)
In seinem Selbstverhältnis mag der Patient dann weiterhin die Kontinuität zu
seinem früheren Leben imaginieren (also auf schnelle Entlassung und Rückkehr
in sein normales Leben hoffen). Vielleicht mag er auch eine alternative Reali-
tät für sich aufbauen und die Einweisung in die Klinik für einen Irrtum halten

7 Siehe zum Begriff der Patientenkarriere aus soziologischer Perspektive etwa Gerhardt
(1986).
2.1  Arrangements – Selbst- und Weltverhältnisse in Form bringen 35

(und beispielsweise in der Story des Wahns verbleiben und den getöteten Bruder
weiterhin für einen gefährlichen Geheimagenten halten). Möglicherweise wird
er aber auch resignieren und infolge der Geschehnisse zunehmend depressiv
werden. Mit Blick auf das Verhältnis zwischen seiner Patientenrolle und seiner
psychischen Identität bleibt damit offen, ob die in seinem Selbstverhältnis
erscheinende jeweilige ‚Eigensinnigkeit‘ als Ressource erscheint, die dazu bei-
trägt, die Rückkehr ins normale Leben zu bahnen, oder dies behindert.
Mit Blick auf die Analyse des Arrangements wird dann auch zu berück-
sichtigen sein, dass die anderen beteiligten Personen ebenfalls ein Selbst- und
Weltverhältnis darstellen und sich aus dieser Position in einer spezifischen Weise
zu dem Patienten verhalten. Der behandelnde Arzt mag eher die Möglichkeit
einer erfolgreichen Rehabilitation sehen, wenn das Arbeits- und das Familien-
arrangement mitspielen und gemeinsam mit der Klinik die Wiedereingliederung
in eine Lebenswelt außerhalb der Klinik unterstützen. Die Therapeuten mögen
die Aussichten des Patienten hingegen skeptischer einschätzen. Vielleicht mag
die Ehefrau ihren Partner liebevoll willkommen heißen, vielleicht sieht sie
die psychiatrische Einweisung aber auch als Anlass, sich aus einer Beziehung
zurückzuziehen, an der sie sowieso schon viel zu lange gelitten hat. Vielleicht
wird der angegriffene Bruder verzeihen können, ebenso die Eltern, da sie
das dramatische Geschehen auf eine Krankheit zurechnen können, die nun
medikamentös gut eingestellt ist und damit überwunden erscheint, vielleicht
werden sie den Vater aber auch dämonisieren und aus der Familie verstoßen.
Sowohl Positionen, die innerhalb der forensischen Klinik liegen (Personal und
Mitpatienten) als auch Positionen, die außerhalb der Einrichtung liegen (Familie,
Freunde, Arbeitgeber, Rechtsanwälte etc.) konditionieren das Arrangement und
hiermit einhergehend das Selbst- und Weltverhältnis des Patienten.
Ein Arrangement lässt sich damit formal als ein Gebilde netzwerkförmig
aneinander gekoppelter Selbst- und Weltverhältnisse verstehen, in dem die Werte
an den einzelnen Positionen zwar voneinander abhängen, jedoch nicht vollständig
durch das Arrangement bestimmt sind. Ob der Familienvater aus unserem Bei-
spiel nun als gelehriger Patient sein Selbstverhältnis zum vermeintlich „Besseren“
ändert, aufgrund der Schuld und dem Verlust seiner alten Welt depressiv wird
oder nur im Modus des Als-ob-Therapie macht und im Geheimen seine Wahn-
fantasien kultiviert, wird zwar von den anderen Positionen beeinflusst, jedoch
nicht determiniert. Dasselbe gilt für andere Stellen im Arrangement. Vielleicht hat
der Patient schon längst in einer Weise an sich gearbeitet, dass weitere Straftaten
sehr unwahrscheinlich sind und er ohne Risiko entlassen werden könnte, doch der
Chefarzt traut ihm – aus welchen Gründen auch immer – nicht und blockiert den
unbegleiteten Ausgang des Patienten, wenngleich die Gutachter und das Personal
36 2  Schlüsselbegriffe der Untersuchung und methodologische …

die Lockerung befürworten. An jeder Position bestehen Freiheitsgrade, die sich


daraus ergeben, wie die Werte an anderen Positionen besetzt werden.
Wir verwenden hierfür im Folgenden im Anklang an Gotthard Günthers
Theorie der Polykontexturalität den Begriff der Leerstellengrammatik.8 Das Wort
Grammatik steht dafür, dass die einzelnen Stellen (bzw. die hier möglichen Wert-
besetzungen) nicht unabhängig voneinander bestehen – es betont die Hetero-
nomie, also die wechselseitige Abhängigkeit des Geschehens.
Der Begriff Leerstelle impliziert demgegenüber, dass an jeder Position ein
eigenständiges Selbst- und Weltverhältnis im Sinne einer weiteren logischen
Kontextur (einer Beobachterposition im Sinne von Spencer Brown) aufgebaut
wird, das nicht vollkommen von der Umgebung determiniert wird – betont wird
hier die Autonomie, also die prinzipiell bestehenden Freiheitsgrade lebendiger
Prozesse. Diese sind – anders als die Input-Output-Relation einer trivialen
Maschine – eben gerade nicht vollkommen determiniert. Um dies an einem Bei-
spiel in Anklang an Bateson (1992 [1972], S. 520) zu pointieren: Tritt man bei
einem Auto auf das Gaspedal, beschleunigt es. Tritt man jedoch einen Hund, ist
unklar, was passiert. Er mag wegrennen, beißen, so tun, als ob nichts geschehen
sei, oder etwas anderes machen.
Was an einer jeweils konkreten Position geschieht, wird von den Werten, die
an einer anderen Position eingenommen werden, zwar beeinflusst, aber nicht
vollkommen von dort aus bestimmt. Heteronomie und Autonomie stehen damit
in einem dialektischen Bedingungsverhältnis – das eine ist die Bedingung der
Möglichkeit des anderen –, sind aber kausal nicht aufeinander zurückzuführen.
Ein Mensch mag chronisch krank sein, seine alte Arbeit verlieren, sich aber
vielleicht dennoch nicht von seiner Identität her als kranker Mensch empfinden
und entsprechend immer mit der Familie in Konflikt geraten, wenn diese ihn als
hilfsbedürftig behandelt, da er dies eigentlich nicht sein möchte.
Umgekehrt mögen alle Beteiligten an die Rehabilitation und die damit erhoffte
Rückkehr zur Normalität glauben und dies tatkräftig unterstützen, doch die
Psyche und Körper des Betroffenen machen nicht mit. Vielmehr wird Hoffnung
auf Besserung und das hiermit einhergehende Drängen als zusätzliche Belastung
empfunden, was dann seinerseits den Prozess in Richtung des Scheiterns und der
längerfristigen Hospitalisierung konditioniert (was dann ebenfalls ein spezifisches
Arrangement darstellt). Ein Feld wird zwar durch die anderen Positionen in
seinem Umfeld in einer Weise bestimmt, dass die Realisierung bestimmter Werte

8 Siehe etwa Günther (1979a).


2.2  Das forensische Arrangement – Transformation … 37

mehr oder weniger wahrscheinlich wird. Der Begriff der Leerstelle impliziert
jedoch, dass trotz der Konditionierung ein Rest an Freiheitsgraden besteht.
In den vorangehenden Beispielen steht das Selbstverhältnis des Patienten in
einem Spannungsverhältnis zu seinem Weltverhältnis. Die Rollenerwartungen
seiner Mitwelt unterscheiden sich markant von seinen eigenen Vorstellungen.
Umgekehrt können Selbst- und Weltverhältnis jedoch auch in einem mehr oder
weniger kohärenten Verhältnis zueinander stehen, etwa wenn die therapeutischen
Schritte mit den Vorstellungen und Willensbewegungen des Patienten und der
Unterstützung und Zuschreibung durch die Mitwelt weitgehend miteinander
übereinstimmen.
Sowohl harmonische wie auch konflikthafte oder auch von einem externen
Beobachter als ‚gescheitert‘ erachtete Formen können stabile Arrangement
bilden. Entscheidend für ihre Beständigkeit ist nicht die Qualität der Form,
sondern die Art und Weise, wie die hiermit verbundenen Muster sich selbst
bestätigen.
Ein jeweils konkretes Selbst- und Weltverhältnis ist damit letztlich als eine
Leerstelle in einem bestimmten Arrangement zu begreifen, wenngleich es seiner-
seits aus einem ‚Set‘ unterschiedlicher Leerstellen besteht. Was an einer Stelle
geschieht, konditioniert, was an anderer Position möglich ist, ohne jedoch dies
vollständig festzulegen. Die Beziehung zwischen Selbst- und Weltverhältnissen
und Arrangements erscheint damit als eine komplementäre. Es hängt von der
Betrachtungsebene ab, was jeweils primär fokussiert wird. Ein Selbst- und Welt-
verhältnis erscheint als ein spezifisches Muster, wie es aus einer bestimmten
Position erscheint. Das Arrangement erscheint als das übergreifende Muster, das
die Muster verbindet.

2.2 Das forensische Arrangement – Transformation


der Selbst- und Weltverhältnisse9

Dass ein Mensch von der Norm bürgerlichen Verhaltens abweicht, gefährlich
ist, andere (sexuell) missbraucht oder durch anderes Fehlverhalten traumatisiert,
dabei Mitgefühl vermissen lässt und aus Perspektive des Common Sense

9 
Hier im Anklang an Marotzki (1990), der im Rahmen seiner strukturalen Bildungs-
theorie ebenfalls die Komplexität aufzeigt, der sich jeder zu stellen hat, der das Erleben und
Handeln von Menschen in eine intendierte Richtung verändern möchte.
38 2  Schlüsselbegriffe der Untersuchung und methodologische …

kriminell, unmoralisch, krank, psychopathisch oder auf andere Art pervers


oder gestört erscheint, bringt weder automatisch mit sich, dass dieser Mensch
psychiatrisch behandelt, noch im Gefängnis sicherheitsverwahrt wird. Es sind
eine Vielzahl von Arrangements denkbar, in denen Menschen mit einem aus
gesellschaftlicher Perspektive hochproblematischen Selbst- und Weltverhält-
nis außerhalb des Radars medizinischer und strafrechtlicher Institutionen leben
können – man denke etwa an die Mafia, verborgene Subkulturen oder aber an
Machtstrukturen in Firmen, Kirche und Politik, die dazu tendieren, Missbrauch
zu verdecken oder gar menschenverachtendes Verhalten zu tolerieren.
Nehmen wir das Beispiel eines pädosexuellen Mannes, der seine Aktivi-
täten weitgehend im Verborgenen hält. Um überhaupt als Kandidat für den
Maßregelvollzug infrage zu kommen, muss er in strafrechtlicher Hinsicht auf-
fällig werden. Es reicht nicht, die Missbilligung von Nachbarn, Bekannten
oder Fremden zu erfahren, die ab und zu Verdacht schöpfen. Zunächst muss
er angeklagt werden. Doch vielleicht ist die Beweislage noch zu dünn, oder er
verfügt über gute Anwälte, die eine Verurteilung abwenden können. Es muss
also zunächst die strafrechtliche Hürde überwunden werden, damit die Norm-
abweichung überhaupt zum Tatbestand wird. Damit ist jedoch noch keine
psychiatrische Problematik und Behandlung indiziert. Die Richter können – wie
in den meisten solcher Fälle – zu dem Urteil kommen, dass der Mann schuld-
fähig ist und damit für die nachgewiesenen Vergehen die Verantwortung zu über-
nehmen habe. Er wird dann eine Gefängnisstrafe bekommen und nach ihrer
Verbüßung wieder entlassen werden. Um in den Maßregelvollzug zu kommen,
bedarf es also zusätzlich noch der psychiatrischen Einschätzung der Schuld-
unfähigkeit.
Mit Blick auf die Leerstellengrammatik stellen Recht und Medizin hier also
zentrale Positionen dar, die das Arrangement maßgeblich konditionieren. Je nach-
dem, wie hier die Werte besetzt werden – recht/unrecht, gesund/krank bzw. hier-
mit einhergehend schuldfähig/schuldunfähig –, entwickelt sich ein fundamental
anderes Arrangement.
Mit Arrangement 1 haben wir es zu tun, wenn die pädophilen Neigungen in
einer eher unauffälligen Weise ausgelebt werden. Es kommt möglicherweise zu
Anzeigen, die Verfahren werden aber aufgrund der geringen Deliktschwere oder
unzureichender Beweislage wieder eingestellt. Die Kontextur ‚Recht‘ wird bereits
hier für den pädophilen Akteur relevant, es kommt aber zu keiner Verurteilung
und das ‚normale‘ Leben kann weitergehen.
Arrangement 2 entspricht dem ‚normalen Pädophilen‘, der schuldfähig ist
und (vielleicht wiederholt) als Täter zu einer begrenzten Freiheitsstrafe verurteilt
wird.
2.2  Das forensische Arrangement – Transformation … 39

In Arrangement 3 tritt die Medizin als Kontextur hinzu, der normale,


klassische Pädophile ist hier ‚krank genug‘, um medizinisch-psychiatrisch
behandelt zu werden. Als psychisch Kranker wird er nun in den Maßregelvollzug
eingeliefert – mit dem Ziel der ‚Besserung und Sicherung‘.
Die hier anzutreffende Behandlung und Therapie zielt auf ein weiteres
Arrangement, nämlich die Rehabilitation bzw. Resozialisierung in ein neues
Selbst- und Weltverhältnis, das mit Blick auf die problematische Ausgangslage,
die zur Einweisung geführt hat, ein deutlich anderes ist (Arrangement 4).10 Der
entlassene Patient soll ja nicht in die Ausgangslage – also Arrangement 1 (ver-
borgene Pädophilie) oder Arrangement 2 (zu bestrafender Straftäter) bzw.
Arrangement 3 (erneute Einweisung in eine forensische Klinik) – zurückfallen,
sondern verändert werden.

Fallbeispiel Herr Volkert


Herr Volkert war zweimal verheiratet, ist Vater von drei Kindern und war
bis zu seiner Inhaftierung berufstätig.11 Er war Mitglied einer bürgerlichen
Partei und engagierte sich darüber hinaus ehrenamtlich im lokalen Sport-
verein, dabei insbesondere im Kinder- und Jugendbereich. Zudem war er
in seiner Freizeit immer wieder in Theaterprojekten aktiv. Herr Volkert
kam zum ersten Mal mit 52 Jahren – also relativ spät – wegen pädophiler
Delikte in Untersuchungshaft und wurde anschließend qua richterlichen
Beschluss in eine forensische Klinik eingewiesen, in der er zum Zeitpunkt
unseres Interviews – knapp sechs Jahre später – immer noch sein Leben
unter Freiheitsentzug verbringt. Laut Aktenlage gab es zwar vorher schon
einige Anzeigen wegen auffälligen Verhaltens gegenüber Kindern, die
jedoch nicht zu einer Verurteilung geführt hatten.
Die aktenkundig dokumentierten pädophilen Überschreitungen bestehen
ausschließlich darin, etwa beim Schwimmen oder Toben Situationen
zu suchen, in denen Nähe zu Kindern entsteht, wodurch auch ‚zufällige‘

10 
Anzumerken ist hier jedoch, dass Rehabilitation nicht unbedingt vor Stigmatisierung
schützt. Auch deshalb ist das Arrangement so schwierig zu stabilisieren – selbst wenn
das Selbst- und Weltverhältnis des Betroffenen entsprechend dem Maßstab der Besserung
erfolgreich verändert wurde. Salopp gesprochen: Was nützt einem ein therapeutisch
stabilisierter Pädophiler, wenn ihn draußen niemand haben mag?
11 Siehe ausführlich Vogd et al. (2021).
40 2  Schlüsselbegriffe der Untersuchung und methodologische …

Berührungen der unerlaubten Zonen des kindlichen Körpers möglich


werden. Seine pädophilen Handlungen spielten sich also – zumindest
soweit diese bekannt sind – in rechtlichen Grauzonen ab. Interessanter-
weise hatte der Anwalt des Patienten einen Antrag auf Revision gestellt,
dem stattgegeben wurde, da die Qualität der Zeugenaussagen noch keine
Verurteilung rechtfertigen würden. In der Wiederaufnahme des Verfahrens
taucht als weiteres Beweismittel tagebuchähnliche Erzählungen auf, in der
Herr Volkert sexuelle Fantasien zu einzelnen von ihm betreuten Mädchen
ausführlich ausarbeitet. Wenngleich durch Wahl der Orte und Zeiten deut-
lich erkennbar ist, dass es sich um Fiktionen handelt, wird damit jedoch
die pädophile Neigung unwiderruflich offenbar. Allein die Anfertigung
solcher Texte rechtfertigen noch keine Einweisung in den Maßregelvollzug.
Im Rahmen der „Gesamtwürdigung des Täters“ (vgl. § 63 StGB) kommt
der Richter im erneuten Verfahren jedoch zu dem abschließenden Urteil,
dass Herr Volkert in einer psychiatrischen Klinik untergebracht werden
sollte. Ein Grund hierfür sei – nach Aussage der Ärzte – schlichtweg die
„fehlende Problemeinsicht“ des Patienten gewesen.
Der betreuende Oberarzt beschreibt Herrn Volkert im Interview mit
uns mit den Worten „eigentlich ein Pädophiler“, der „recht klassisch“
und wie die meisten „normalen Pädophilen eigentlich nicht krank genug“
sei, „um in den Maßregelvollzug zu kommen.“ Doch gerade dass er „die
Dreistigkeit besessen“ habe, sich „so unbeeindruckt zu zeigen“, das er
während des laufenden Verfahrens noch auf eine Kinderfreizeit gefahren
ist, wurde dann als entscheidendes Indiz für das die Schuldfähigkeit ein-
schränkende Eingangsmerkmal der „schweren anderen seelischen Störung“
genommen.12 Es ist diese performativ gezeigte „Dreistigkeit“, die im
Rahmen der „Gesamtwürdigung“ (§ 63 StGB) nicht mehr anders denn als
krank gedeutet werden könne und das Arrangement des „normalen Pädo-
philen“ hin zum „kranken Pädophilen“ kippen lässt. Herr Volkert hat sich
somit für den Maßregelvollzug „qualifiziert“, wenngleich eigentlich „keine
so schweren Taten“ vorgelegen hätten – eine minimale Verschiebung

12 Diese stellt als eines der sogenannten Eingangsmerkmale eine Kategorie dar, die in der
forensischen Begutachtung angewendet wird, wenn eine schärfer definierte, trennschärfere
psychiatrisch-diagnostische Einschätzung nicht möglich ist (vgl. A. F. Schmidt 2008,
S. 21).
2.2  Das forensische Arrangement – Transformation … 41

der Gewichtung zieht eine große institutionelle Wirkung nach sich.


Denn anders als im Gefängnis, wo nur eine zeitlich begrenzte Strafe
von vielleicht sechs bis zwölf Monaten abzusitzen wäre, kann die auf
Rehabilitation zielende forensische Therapie so lange dauern, bis sie (aus
Perspektive der psychiatrischen Entscheidungsträger) endlich Erfolg zeigt.

Von seinem institutionellen Auftrag her gesehen, zielt der Maßregelvollzug


mit Blick auf die Devianz und Gefährlichkeit seiner Patienten auf die Trans-
formation der Weltverhältnisses seiner Patienten. Nach der Entlassung sollen sie
sich gegenüber der Mitwelt anders verhalten, was vor allem heißt, dass sie keine
Straftaten mehr begehen sollen. Als psychiatrische und psychotherapeutische
Behandlung zielt sie jedoch zugleich auf die Veränderung des Selbstverhältnisse 
des Patienten.13 Sie geht von einer seelischen Störung oder Krankheit aus, welche
seine Persönlichkeit betrifft. In Bezug auf sein Erleben, sein Begehren, seine Art
zu denken oder die Bezugnahme auf seine Körperlichkeit soll der Patient infolge
der Behandlung ein verändertes Verhältnis zu sich selbst entwickeln. Um es
salopp zu sagen: Er soll einsichtig sein und an sich arbeiten (Abb. 2.2).
Mit Blick auf das Konzept der Leerstellengrammatik wird jedoch deutlich,
dass sich zwar das Weltverhältnis des Patienten durch die Entscheidungen der
Klinik zwar manipulieren lässt14 (etwa durch die Zuweisung von Therapeuten,
Verlegung in eine andere Station, die Zwangseinweisung in den Krisenraum, die
Eröffnung von Möglichkeiten zur Arbeit, selektive Öffnung und Schließung der
Anstaltsmauern für begleiteten Ausgang), jedoch gerade auf sein Selbstverhältnis
besteht kein unmittelbarer Zugriff. Man mag immer wieder in der Psychotherapie
mit ihm über seine inneren Zustände sprechen und Medikamente einsetzen, um
in den Körper einzugreifen (etwa die Psychose mit Neuroleptika herunterregeln

13 EineVerhaltenstherapeutin mag entsprechend ihrer theoretischen Grundlage zwar davon


ausgehen, dass es nur um das Verhalten des Patienten gehe (also um eine Veränderung
seines Weltverhältnisses), doch auch sie kommt alltagspraktisch nicht umhin, den Patienten
dazu zu bringen, dass er hierbei auch mitmachen will – also ein Selbstverhältnis hat, das für
sein Weltverhältnis relevant wird.
14 Genau genommen lässt sich dabei nicht einmal bestimmen, wie sich der Patient verhält.

Es kann jedoch im Sinne eines Ausprobierens verschiedener Maßnahme versucht werden,


den Patienten zu erziehen, wobei sich der Erfolg dann daran zeigt, dass der Patient sich
dann einigermaßen so verhält, wie man es von ihm erwartet.
42 2  Schlüsselbegriffe der Untersuchung und methodologische …

– verborgen
Medizin ausagieren

+ Recht –
krank schuldig
+
+
+
+ +
pädophile
unschuldig Gefängnis
Handlungen
+ +
(keine)
Maßregel Krankheits Schuld
vollzug einsicht abgetragen

Therapie (keine)
(keine)
Besserung
Entlassung

Abb. 2.2   Je nachdem wie innerhalb der Leerstellengrammatik die Werte in Recht
(schuldig/unschuldig) und Medizin (krank/gesund) besetzt werden, erhält das pädophile
Verhalten eine andere Bedeutung. Das graue Feld führt in die forensische Patienten-
karriere, das weiße Feld in Weichenstellungen, die nicht durch die Medizin formatiert sind
(beispielsweise die mit dem gestrichelten Pfeil angedeutete Lebensform, ein bürgerliches
Leben zu führen, in dem die Pädophilie im Verborgenen ausagiert wird)

oder – wenn der Patient dazu bereit ist – den Sexualtrieb mit antiandrogenen
Substanzen dämpfen), doch was all dies mit dem Selbstverhältnis des Patienten
macht, bleibt eine Frage, die sich zwar mit mehr oder weniger gut begründeten
Annahmen umkreisen, jedoch niemals mit Sicherheit beantworten lässt.
Die Klinik kann nichts anderes tun, als Veränderungen des Arrangements vor-
zunehmen (Therapeutenwechsel, Stationswechsel, Beurlaubung in ein Wohn-
heim, begleiteter Ausgang etc.), denn sie hat keinen unmittelbaren Zugriff auf
das Selbst- und Weltverhältnis ihrer Patienten, also darauf, wie sich der Patient zu
diesen Veränderungen des Arrangements verhält.
Hierin liegt eines der zentralen Bezugsprobleme der Behandlung im
Maßregelvollzug, wie im weiteren Verlauf des Fallbeispiels noch deutlich werden
wird: Das Vorhaben der Resozialisierung durch die forensische Psychiatrie zielt
2.2  Das forensische Arrangement – Transformation … 43

auf die Veränderung der Selbst- und Weltverhältnisse ihrer Patienten. Dies kann
jedoch nicht unmittelbar geschehen – niemand kann in die Psyche eines anderen
unmittelbar eingreifen. Innerhalb der polykontexturalen Leerstellengrammatik
zeichnet sich die Position eines spezifischen Selbst- und Weltverhältnisses auf-
grund der an dieser Stelle aufgeworfenen Komplexität durch eine gewisse Auto-
nomie aus. Möglich ist nur der oben beschriebene mittelbare Weg über die
gezielte Transformation von Arrangements – etwa durch Versuche, die Körper-
lichkeit zu verändern (etwa durch Medikamente) oder die Kommunikation anders
zu gestalten, sodass dann – so die Hoffnung – in konditionierter Koproduktion
das Selbst- und Weltverhältnis des Patienten gewissermaßen nachfolgt.15 Wenn
die Anzeichen darauf hindeuten, dass dies gelingt (und es im Nachhinein auch
nicht zu einem Rückfall kommt) war der Prozess erfolgreich – nicht mehr und
nicht weniger.

Fallbeispiel Herr Volkert (Fortführung)


Nach zwei Jahren bekommt Herr Volkert unbegleiteten Ausgang und
nimmt in diesem Rahmen werktags eine Anstellung in einem Zeitungs-
laden an. Er reist darüber hinaus regelmäßig nach Köln, das eine halbe
Stunde von der Klinik entfernt liegt, um alte Bekannte zu besuchen. Nach
ein paar Monaten kommt es zu einem Vorfall an einem Badesee. Herr
Volkert freundet sich mit fremden Kindern an, spielt und tobt mit ihnen.
Dies weckt den Verdacht der anderen Strandgäste, die schließlich die
Polizei rufen. Letztere stellt bei der Aufnahme der Personalien fest, dass
der Mann im Maßregelvollzug wohnt. Die Klinik entzieht dem Patienten
daraufhin den unbegleiteten Ausgang und damit auch die Möglichkeit,
außerhalb der Klinik einer Arbeit nachzugehen.
Das Beispiel zeigt auf, dass die Veränderung im Arrangement
(unbegleiteter Ausgang) Hinweise darauf geben kann, dass es nicht zu
der Transformation der Selbst- und Weltverhältnisse des Patienten kam,
die man sich seitens der Ärztinnen und Therapeutinnen gewünscht hätte.

15 Indiesem Sinne ist das Selbst oder die Persönlichkeit eines Patienten nicht als Entität,
sondern als komplexe Beziehung anzusehen. Das „Selbst“ ist immer nur als „Relation in
den Blick zu bekommen ist, nämlich als Selbst- und Weltverhältnis […]“ (Vogd 2018b,
S. 11).
44 2  Schlüsselbegriffe der Untersuchung und methodologische …

Der – in diesem Fall gescheiterte – unbegleitete Ausgang und die Möglich-


keit, diesen wieder entziehen zu können, wird aber immer Teil des
Arrangements der Klinik bleiben.

2.3 Weichenstellungen – wenn ein Arrangement sich


zu verändern beginnt

Das Versprechen des Maßregelvollzugs besteht darin, den betroffenen Menschen


zu ‚helfen‘, indem sie diese zunächst in das Arrangement einer langjährigen
und doch begrenzten geschlossenen Unterbringung einbinden. Es wird eine
therapeutisch angelegte Mit- und Umwelt bereitgestellt, die eine konditionierte
Koproduktion ermöglichen soll, die idealerweise darin mündet, dass der (ehe-
malige) Patient als Psyche, Körper und soziales Wesen eine andere Lebens-
weise verwirklicht als zuvor. Der Maßregelvollzug stellt dabei zugleich ein
Arrangement dar, das auf seine Selbsttransformation zielt – also auf den Bruch
und die Veränderung der Verhältnisse, die er bereitstellt: Irgendwann soll der
Patient die Einrichtung verlassen und mit weniger Sicherungsmaßnahmen und
höheren Freiheitsgraden sein Leben führen können. Sowohl der Übergang
in den Maßregelvollzug wie auch der Prozess der Entlassung sind mit Blick
auf die vorangehenden Ausführungen alles andere als trivial, denn wie zuvor
beschrieben, stellt jede dieser Veränderungen eine Veränderung des Arrange-
ments dar. So wie man nur hoffen kann, dass eine therapeutische Intervention die
erwünschten Transformationen der Selbst- und Weltverhältnisse nach sich zieht,
kann man nur wünschen, dass eine Beurlaubung oder Entlassung, die ja beide
eine massive Änderung des Arrangements mit sich bringen, nicht die Stabilität
des Selbst- und Weltverhältnisses gefährdet, sondern vielmehr unterstützt.

Kleines Beispiel zur Illustration problematischer Weltverhältnisse


Kurzer Bericht des Pflegedienstleiters in der wöchentlichen Klinikkonferenz:
„Herr Arslan [ein Patient mit Migrationshintergrund) wurde gestern
nach Siegen ins Wohnheim verlegt. Wir wissen ja alle, dass das wahr-
scheinlich nicht von langer Dauer sein wird. Er wurde gleich von zwei
Nazi-Opas mit dem Hitler-Gruß begrüßt und dem Spruch ‚alle Ausländer
gehören ins Gas.‘“
2.3  Weichenstellungen – wenn ein Arrangement sich … 45

Für die Behandlungsteams stellt sich dabei insbesondere die Herausforderung,


wie die widersprüchliche Einheit von Hilfe und Verantwortungsübernahme und
autonomer Lebenspraxis des Patienten zugunsten Letzterer gestaltet werden kann.
Die Unterstützung und der Schutz vor Selbst- und Fremdgefährdung sollte ja
dann auch beim forensischen Patienten irgendwann stufenweise zurückgefahren
werden, um diesem wieder eine eigenständigere Lebensführung zu ermöglichen.
Über all dem schwebt zudem das Damoklesschwert der ‚Gefährlichkeit‘ – und
der Anspruch an die Behandlungsteams, hier für ‚Sicherheit‘ zu sorgen.
Demgegenüber stellt sich für nicht wenige Patienten noch Jahre nach der
Einweisung die Frage, in welches Selbst- und Weltverhältnis sie angesichts der
Zumutungen der Institutionen des Maßregelvollzugs einrasten. Doch selbst
wenn sie sich schließlich mit der Klinik „angefreundet“ bzw. abgefunden haben
sollten und die Therapien, Einschränkungen und Tagesabläufe zu einem Teil
ihrer selbst gemacht haben, ergibt sich ein anderes Problem: Warum soll ein an
die Bedingungen der geschlossenen Psychiatrie angepasster Habitus für eine Welt
außerhalb der geschützten Klinik geeignet sein? Für manche Patienten wird sich
dann die Frage stellen, ob sie dies überhaupt noch wollen bzw. können. Wie kann
also ein Arrangement aussehen, das sich selbst obsolet machen soll? Der Patient
soll schließlich entlassen werden und nicht in der Klinik verbleiben.
Um Aufschluss über diese Fragen zu gewinnen, werden wir im Folgenden die
Aufmerksamkeit immer wieder auf Weichenstellungen lenken, an denen sich die
Arrangements zu ändern beginnen – und damit unter Umständen auch die Selbst-
und Weltverhältnisse der zu behandelnden Person. Dies deutet sich beispielsweise
an, wenn Diagnosen verändert werden, Entscheidungen für den unbegleiteten
Ausgang getroffen oder wieder zurückgenommen werden, (ausstehende)
Gerichtsentscheidungen das Behandlungsregime unter Druck setzen, manchmal
aber auch, wenn durch einen Therapeutenwechsel eine neue Beziehungsquali-
tät entsteht oder die Einwilligung in eine bestimmte Depotmedikation erfolgt.
Anhand dieser Weichenstellungen können wir zumindest ansatzweise ein Ver-
ständnis idealtypischer Patientenkarrieren16 gewinnen, nicht zuletzt indem wir auf
die entscheidenden Kipppunkte hinweisen. Anders als der Begriff der Patienten-
karriere nahelegt, geht es uns dabei jedoch nicht so sehr um den individuellen
Akteur, vielmehr fokussieren wir all die Positionen im Arrangement, welche in

16 GeradeUta Gerhardt (1986) hat den Begriff der Patientenkarrieren in der medizinsozio-
logischen Forschung stark gemacht, um hiermit die Aufmerksamkeit auf die Beziehung
zwischen dem zeitlichen Verlauf einer chronischen Erkrankung und ihrer institutionellen
Einbettung zu lenken.
46 2  Schlüsselbegriffe der Untersuchung und methodologische …

einer konditionierten Koproduktion den Patienten im Maßregelvollzug erst zu


dem Menschen machen, der er ist.
Gerade auch in den Fort- und Rückschritten seiner Behandlung (die eben-
falls erst durch Beobachtungen von anderen Positionen des Arrangements aus
konstituiert werden) stellt der forensische Patient keine vorsoziale, anatomische
oder psychologische Gegebenheit dar, sondern ist auch hier immer zugleich
Produkt und Ausdruck einer bestimmten sozialen und diskursiven Konstellation.
Praxeologischer Zugang –
Dokumentarische Methode und 3
Kontexturanalyse

An die Methodologie einer rekonstruktiven Untersuchung, mit der zu den hier


genannten Fragen gegenstandstheoretische Einsichten gewonnen werden sollen,
sind bestimmte Anforderungen zu stellen. So wird etwa Sensitivität in Hinblick
auf die in den Praxen verkörperten Selbst- und Weltverhältnisse verlangt. In
diesem Sinne ist ein praxeologischer Zugang zu fordern, der aber unter Berück-
sichtigung der spezifischen Anforderungen des Gegenstandes zu erweitern bzw.
anzupassen ist.
Unser methodologische Ausgangspunkt ist dabei der qualitativ-rekonstruktive
Zugang der Dokumentarischen Methode (Bohnsack 2008), spezifiziert für die
Organisationsforschung (Amling und Vogd 2017). Das mit der Datenerhebung
gewonnene Material (seien es Interviews, Beobachtungen oder Dokumente)
wird dabei in den drei Schritten der formulierenden Interpretation, der
reflektierenden Interpretation und der komparativen Analyse aufgeschlossen.
Letztere beruht auf dem systematischen Vergleich unterschiedlicher Fälle und
Perspektiven in verschiedenen Kliniken. Bei der formulierenden Interpretation
wird zunächst ein Überblick über die (im Interview vorkommenden oder in teil-
nehmender Beobachtung erhobenen) Problemstellungen in Form thematischer
Verläufe erarbeitet, um anschließend die Bearbeitung der unterschiedlichen
Themen in Form einer Feingliederung in der Sprache des/der Interpretierenden
zu reformulieren. Bei der reflektierenden Interpretation werden auf Grundlage
der in der formulierenden Interpretation identifizierten thematisch bedeutsamen
Stellen latente Orientierungsmuster und Orientierungsrahmen herausgearbeitet,
die auf den Kontext der Äußerungen oder des beobachteten Verhaltens verweisen
und mittels komparativer Analyse zu anderen Fällen in Beziehung gesetzt werden
(Bohnsack 2008, S. 178 ff.).

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden 47


GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022
W. Vogd und M. Feißt, Therapeutische Arrangements im Maßregelvollzug,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-37131-9_3
48 3  Praxeologischer Zugang – Dokumentarische Methode …

Mit der Kontexturanalyse wird zwischen der formulierenden Interpretation


und der reflektierenden Interpretation ein weiterer methodischer Schritt ein-
geschoben, der darauf abzielt, jene logischen Beziehungen zwischen Pro-
positionen und relevanten Positionen zu identifizieren, die jeweils ein spezifisches
Arrangement bestimmen (siehe hierzu ausführlich Jansen, Feißt und Vogd 2020;
Jansen und Vogd 2022; Vogd und Harth 2019).
Diese logischen Beziehungen zeigen sich insbesondere in der Relationierung
von Perspektiven, die auf die Sozial- und Zeitdimension von Sinn fokussieren,
wie sie sprachlich etwa durch bestimmte Präpositionen, Einklammerungen oder
Distanzierungen ausgedrückt werden. Von Interesse ist hier u. a., wie die Grenzen
zwischen Sinnprovenienzen und Kontexturen bestimmt werden. Dies ist bei-
spielsweise immer dann zu beobachten, wenn innerhalb der Erzählung Probleme
und Spannungen auftreten, die durch bestimmte sprachliche Brüche markiert sind
– etwa durch Distanzierungen und Rahmenwechsel – und eine Veränderung in
den Reflexionsverhältnissen indizieren. Außerdem ist im Sinne der mehrwertigen
Hermeneutik einer Kontexturanalyse darauf zu schauen, wie divergierende
Perspektiven bzw. „verschiedene Reflexionsräume in ein stabiles Verhältnis
gesetzt“ werden (Jansen et al. 2015, S. § 30), etwa indem Tabus Sinnabbrüche
und Reflexionssperren markieren.1 In einem zweiten Schritt der Kontexturana-
lyse kann untersucht werden, wie sich unterschiedliche Reflexionsperspektiven
wechselseitig konditionieren, also in Hinblick auf die Selbst- und Weltverhält-
nisse zu einem mehr oder weniger beständigen Arrangement stabilisieren.
Die Kontexturanalyse ist ebenso sensibel für Praxen des Darüber-Hinweg-
sehens, des Im-Modus-des-Als-Ob-Bearbeitens, des Verdrängens, der Aus-
blendung von Konnexen und möglichen Zusammenhängen, wie auch für Praxen,
die Verbindungen zwischen logisch inkommensurablen Sphären und Perspektiven
herstellen.
Darüber hinaus gestattet sie es, die kommunikativen Reflexionsverhältnisse der
Gesellschaft weitaus stärker zu betonen, als es in der Psychotherapieforschung, den
Pflegewissenschaften und selbst in der phänomenologisch orientierten Psychiatrie

1 
Insbesondere die Sinntransformationen der Formen ‚So-tun-als-ob‘ und ‚In-anderen-
Zusammenhang-stellen‘ generieren für die Kommunikation zusätzliche Freiheitsgrade, die
genutzt werden können, um komplexere Arrangements aufzubauen (vgl. Goffman 1996).
Homolog zur Rahmenanalyse von Goffman (1996) erweitert sich hier der Blick auf Wider-
sprüche und Doppeldeutigkeiten, die sich auch in speziellen ‚Markierungen‘ innerhalb der
Kommunikationen der beteiligten Akteure zeigen.
3  Praxeologischer Zugang – Dokumentarische Methode … 49

üblicherweise geschieht. Organisation, Recht, Medizin, Politik, Religion,


Pädagogik, massenmediale Öffentlichkeit etc. bilden jeweils eigenständige
kommunikative Kontexturen, welche ihrerseits das Verhältnis anderer Kontexturen
moderieren und konditionieren. ‚Formelle Regeln‘, ‚Gesetze‘, ‚Machtverhältnisse‘
(etwa über Hierarchien), medizinisch-therapeutische Semantiken oder schlichtweg
pädagogische Disziplinierung treten strukturierend und relationierend in die
Beziehung eines Menschen zu sich selbst und anderen Menschen ein – und genau
dies kann in der Analyse nun gewürdigt werden.
Gerade in der Zusammenschau dieser unterschiedlichen, den Maßregelvollzug
beeinflussenden gesellschaftlichen Subsysteme bzw. Kommunikations- und
Handlungslogiken liegt der besondere Erkenntnisgewinn einer soziologischen
Auseinandersetzung mit der Psychiatrie.
Aus der methodologischen Perspektive der Kontexturanalyse folgt zudem,
dass auch die Leiblichkeit – sei es die des Patienten oder eines Akteurs aus dem
Behandlungsteam – keine logische Einheit darstellt, sondern als eine Verbund-
kontextur zu rekonstruieren ist. Deutlich wird dies, wenn man die Differenz von
‚einen Körper haben‘ und ‚ein Leib sein‘ bedenkt. Das Bewusstsein kann sich
mit seinem Körper identisch und nichtidentisch fühlen (vgl. auch Ronald D.
Laing 1976, S. 55 ff.), was dann durch den sozial angelieferten Sinn moderiert
wird, der etwa in der Sprache, aber auch in anderen symbolischen Prozessen zum
Ausdruck kommt. Darüber hinaus gewinnt das Verhältnis zur eigenen Leiblich-
keit bei forensischen Patienten nochmals besondere Relevanz, denn Psychosen,
Wahnvorstellungen und andere ‚Störungsbilder‘ erscheinen nicht nur als soziale
Attribution, sondern auch auf der psychischen Seite der Person als ein spezi-
fisches Reflexionsverhältnis, etwa als Problem, wie mit den eigenen triebhaften
Impulsen und Wahrnehmungen umzugehen ist. Auch hier erscheint die Kontext-
uranalyse zugleich sensitiv für Krankheits- und Symptombilder (die ihrerseits
wieder mit bestimmten Arrangements einhergehen können), ohne sich dabei
eindimensional auf eine Kausalrichtung der Beschreibung (etwa auf eine hirn-
organische Verursachung oder umgekehrt auf die soziale Konstruktion von
Krankheit) festlegen zu müssen.
Mit Blick auf das erhobene Datenmaterial ist zu beachten, dass Erzählungen
und Interviews immer auch Ausdruck der gewärtigen Situation, der Interaktions-
situation, des aktuellen Lebenskontextes darstellen. Berichte über Erinnerungen
sind zudem rekonstruktive Gattungen. Sie können nicht unmittelbar das damals
Erlebte wiedergeben, sondern sind bereits mehrfach durch die Sprache gegangen
und in dieser reformuliert, abstrahiert, typisiert und reinterpretiert worden. Zudem
haben psychiatrische Patienten vielfach und in unterschiedlichen Kontexten
50 3  Praxeologischer Zugang – Dokumentarische Methode …

bereits über ihre Erfahrungen und Erlebnisse berichtet, was wiederum zu


bestimmten Formen der Interpretation und Rekonstruktion von Erfahrungen führt.
Aus einer methodologischen Perspektive lassen sich jetzt zwei Extremstand-
punkte benennen: Der erste besagt, dass insbesondere das narrative Interview
es gestattet, Erlebnis- und Erfahrungsaufschichtungen zu evozieren, die nahe
am ursprünglichen Erleben dran sind und in diesem Sinne interpretiert werden
können, insofern man die Textgattungen zu unterscheiden lernt (Schütze 1983).
Der zweite geht davon aus, dass es nur die gegenwärtige Situation gibt und
das Interview vor allem Ausdruck davon ist, wie sich die offenen Fragen und
Kontingenzen einer Interviewsituation unter Zugriff auf sozial bzw. gesellschaft-
lich bereitgestellter Sinnangebote plausible beantworten bzw. schließen lassen
(Nassehi und Saake 2002).
Mit Blick auf die Konzeption der konditionierten Koproduktion wählen wir
einen dritten Weg, der beide Perspektiven integriert. Die Interviewpartner referieren
in der Gegenwart sowohl auf die Geschichte ihrer vergangenen Selbst- und Welt-
verhältnisse (und damit kommt auch zum Ausdruck, was sie damals erlebt und
wie sie damals eine Situation interpretiert haben) als auch auf die kommunikativen
Erwartungsstrukturen der gegenwärtigen Interaktionssituation. Die Texte verweisen
auf beides, jedoch nicht unmittelbar. Es bedarf dann einer Hermeneutik, welche
im Sinne von Inter- und Intratextvergleichen alternative Kontexte und Vergleichs-
horizonte heranzieht, welche dann Interpretationen darüber erlauben, wie sich in
der Vergangenheit die Selbst- und Weltverhältnisse dargestellt haben könnten, an
welchen Weichenstellungen diese einer Reinterpretation unterzogen worden sind
und wie sich all dies mit der gegenwärtigen Interaktionssituation verzahnt. Bereits
Schütze (1984) bietet diesbezüglich bereits an, zwischen den leichter objektivier-
baren Aspekten einer Verlaufskurve (etwa der Klinikeinweisung, der Scheidung,
dem chronologischen Verlauf der Erzählungen), narrativen Elementen (die dann
auch gefühlsmäßige und bildhafte Elemente enthalten) und Rekonstruktionen in
Form erklärender und typisierender Äußerungen zu unterscheiden.
Wie in jeder Hermeneutik lässt sich dabei niemals feststellen, was ‚wirklich‘
der Fall gewesen ist, doch es lässt sich verstehend erschließen, wie die Kontexte
und Selbstverhältnisse sein könnten, die zu der gegenwärtigen Situation und den
aktuellen Erzählungen geführt haben. Das Problem bzw. die Herausforderung
besteht unseres Erachtens also nicht darin, auf Basis gegenwärtiger Erzählungen
auch auf die Vergangenheit bezogene Weichenstellungen zu rekonstruieren,
sondern darin, dies nicht in einer naiven Weise zu tun, also die interpretativen
Fallstricke von Erzählungen komplexer Erfahrungsaufschichtungen zu erkennen
und in der Interpretation mitzuführen.
3.1  Funktionale Methode – Bezugsprobleme und deren Lösungen 51

Wir stehen dann gleichsam vor demselben Problem wie eine Röntgen-
ärztin, die aufgrund eines zweidimensionalen Bildes die Tiefenstrukturen drei-
dimensionaler Verhältnisse und zudem die sich darin ausdrückenden genetischen
Beziehungen (was sich gewandelt hat) erkennen möchte. Das Vorhaben ist nicht
sinn- oder aussichtslos, doch selbstredend kann man sich in der Interpretation
irren. Doch genau hierin besteht dann die eigentliche Leistung der Hermeneutik:
Weil man prinzipiell nicht in der Lage ist, kausal zu erklären, trägt man Ver-
ständnisweisen heran, welche für den Fall und den Problemkomplex stimmig
sind – bis die Situation ein anderes Verstehen herausfordert oder ein besseres
Interpretationsangebot ein neues Verständnis erzeugt.
Da die vorliegende Untersuchung primär gegenstandstheoretisch ausgerichtet
ist, versuchen wir bei der Darstellung der ausgewählten Fälle auch didaktischen
Kriterien gerecht zu werden (also etwa wie durch die Nebeneinanderschau von
Fallanalysen bestimmte Aspekte deutlich gemacht werden können).
Nichtsdestotrotz möchten wir unseren methodologischen Zugang, ins-
besondere auch die in der Kontexturanalyse zur Anwendung kommende „logische
Kondensation“ (Jansen et al. 2020) zumindest an einem Fallausführlicher vor-
führen. Dies geschieht am Beispiel von Herrn Volkert, der bereits im vorangehend
kurz vorgestellt wurde. Zuvor werden wir jedoch ausführlicher auf die methodo-
logische Perspektive der funktionalen Methode eingehen.

3.1 Funktionale Methode – Bezugsprobleme und


deren Lösungen

Ein wichtiger Begriff unserer Untersuchungen ist der des Bezugsproblems. In


Referenz auf Oevermann haben wir Bezugsprobleme zunächst als Folge eines
konstitutionslogischen Zusammenhangs begriffen, der ein Dilemma hervorbringt,
für das keine formale Lösung bereitsteht und somit nur pragmatisch durch eine
jeweils konkrete Praxis (mit den hiermit verbundenen Beobachtungsoperationen
und Entscheidungen) gelöst werden kann. So gibt es etwa für die widersprüch-
liche Anforderung, den Patienten vor sich selbst zu schützen und zugleich
daran zu arbeiten, ihm seine Autonomie zurückzugeben, kein eineindeutiges
Rational. Es gibt zwar verschiedene organisatorische Wege und unterschiedliche
professionelle Stile, hiermit umzugehen, doch auch diese sind dann wiederum an
den konkreten Einzelfall anzupassen.
Dies hindert die Sozialforscherin jedoch nicht daran, die in konkreter Praxis
gefundenen Lösungen zu typisieren und zu systematisieren. Auf diese Weise
52 3  Praxeologischer Zugang – Dokumentarische Methode …

lässt sich zu einer funktionalen Typenbildung gelangen. Das durch Praxis zu


bearbeitende Grundproblem stellt dann die Basistypik dar.2 Es verweist auf
ein Problem oder Dilemma, das auf die eine oder andere Weise in allen Fällen
bearbeitet werden muss (etwa die Balance zwischen Patientenautonomie und
Schutz vor Selbst- und Fremdschädigung). Hieran kann dann eine differenzierte
Typik anschließen, welche einerseits die wesentlichen Charakteristika der unter-
schiedlichen Lösungswege abbildet, andererseits aber die wesentlichen Faktoren
unterscheiden lässt, welche die Weichenstellung in Richtung einer bestimmten
Lösung konditionieren. In Bezug auf Erstere mag eine Klinik dann mehr auf
vorstrukturierte Verfahren wie z. B. Fallkonferenzen setzen, die andere Ein-
richtung mehr auf die Intuition der leitenden Mitarbeiter (z. B. der Oberärzte).
In Hinblick auf die konditionierenden Faktoren könnte dann beispielsweise eine
Typik der handlungsleitenden diagnostischen Rahmen entstehen (so stellt sich
für medikamentös eingestellte schizophrene Patienten bürgerlicher Herkunft der
Entscheidungskorridor in der Regel anders dar als für dissoziale Täter mit einer
Persönlichkeitsstörung).
Die systemtheoretische Perspektive verallgemeinert den Blick auf den
Problem-Lösungs-Zusammenhang zur funktionalen Methode. Die Besonderheit
der funktionalen Methode besteht darin, vom Ergebnis her zu denken. Sie fragt
ausgehend von den im konkreten Fall gefundenen Verhältnissen und Eigenarten,
welches Problem durch ein auf den ersten Blick vielleicht merkwürdiges oder
unverständliches Verhalten gelöst wird. Durch eine Umkehrung der gewöhnlichen
Analyseperspektive wird das, was üblicherweise als Problem erscheint – etwa das
bizarre oder uneinsichtige Benehmen eines Patienten oder das erklärungswürdige
Verhalten einer Therapeutin –, als Bewältigungsversuch einer vorangehenden
Problematik betrachtet. Diese bezeichnen wir dann als das Bezugsproblem.
Man mag beispielsweise feststellen, dass der Psychotherapeut dem Patienten
übermäßig vertraut, da er dessen Worte mehr als geboten für glaubwürdig hält,
während die Mehrheit der Pflegekräfte ihm Misstrauen entgegenbringt. Die im
Team verteilten unterschiedlichen Perspektiven sind dabei – so die Arbeitshypo-
these – als eine Antwort auf ein grundlegenderes Bezugsproblem zu sehen, etwa
auf die Intransparenz der Psyche des Patienten. In organisierten Entscheidungs-
prozessen, in denen etwa die Frage verhandelt wird, ob man dem Patienten

2 Siehezur Verbindung von funktionaler Methode und Typenbildung Vogd (2018a) wie
auch Bohnsack (2010a).
3.1  Funktionale Methode – Bezugsprobleme und deren Lösungen 53

unbegleiteten Ausgang gewähren könne oder nicht, entfalten sich dann – wie
noch zu zeigen ist – raffiniertere Antworten auf die Frage, wie man mit dem
Bezugsproblem der Unzugänglichkeit der Fremdpsyche umgehen kann.
Selbstredend können aus dieser Perspektive auch die Verhaltensauffälligkeiten
eines Patienten unter dem Blickwinkel einer funktionalen Beziehung betrachtet
werden. Psychische Störungen oder Krankheiten können auf diese Weise etwa als
eine Art „Selbsthilfemechanismus“ verstanden werden, „mit dem Menschen ver-
suchen, ihre gefährdete Identität aufrechtzuerhalten“ (Schleiffer 2012).3
Die funktionale Methode ist dabei eine Perspektive der Beobachtung, die
zunächst die Kontingenz über verschiedene Fälle hinweg sichtbar macht, indem
sie nämlich aufzeigt, dass in der Praxis mehrere Lösungen für ein Problem
gefunden werden können. Zugleich werden mit der Annahme, dass unterschied-
liche, funktional äquivalente Lösungen als Antwort auf ein Problem möglich sind,
Weichenstellungen sichtbar. Um es mit Schleiffer zu formulieren:

„Die funktionale Analyse geht davon aus, dass eine bestimmte Handlung immer
Resultat einer Wahl zwischen mindestens zwei Handlungsmöglichkeiten ist. Hand-
lungen sind insofern kontingent, also weder unmöglich noch notwendig. Zum
einen kann es für ein und dasselbe Problem unterschiedliche Problemlösungen
geben. Zum anderen kann sich ein und dasselbe Problemlöseverhalten zur Lösung
unterschiedlicher Probleme eignen. Unter der Annahme, dass menschliches Ver-
halten letztlich nicht determiniert ist, besteht der besondere Wert der funktionalen
Methode für erzieherische und/oder therapeutische Interventionen darin, dass sie
den Blick freigibt für funktionale Äquivalenzen. Professionelle Helfer haben es
schließlich immer wieder mit einem Verhalten zu tun, das als von den Erwartungen
abweichend, deviant, pathologisch, jedenfalls als ‚suboptimal‘ bewertet wird. Die
therapeutischen Leitfragen lauten dann: Was muss verändert werden, damit das
Problem anders, eben auf nicht so prekäre und problematische Weise gelöst werden
kann? Oder: Was müsste geschehen, damit ein erwünschtes Verhalten zur Problem-
lösung eingesetzt wird?“ (Schleiffer 2012, S. 26).

Nach Niklas Luhmann (2005 [1970]) kann und darf die funktionale Methode
jedoch nicht im Sinne einer teleologischen Konzeption missverstanden werden.
Die sich im Feld offenbarenden Symptome, Merkwürdigkeiten oder Arrange-
ments entstehen nicht unbedingt infolge eines absichtsvollen Plans. Die Mit-
glieder des Behandlungsteams nehmen nicht bewusst Partei für oder gegen den

3 Die Zitatstelle befindet sich auf dem Klappentext.


54 3  Praxeologischer Zugang – Dokumentarische Methode …

Patienten, um gezielt ein Arrangement mit verteilten Rollen zu entfalten.4 Der


psychisch kranke Mensch rutscht nicht willentlich und mit voller Bewusstheit in
eine Krise, um erneut eine Legitimation für den weiteren Aufenthalt in der Klinik
zu bekommen, die für ihn längst eine Heimat geworden ist.
Eine bestimmte Lösung wird nicht unbedingt von vornherein angestrebt,
vielmehr zeigt sich eine Chronologie, in der Spannungen, Widersprüche und
Unsicherheiten bestehen und gerade dadurch eine Vielzahl unterschiedlicher
Perspektiven entstehen lassen, die dann mit jeweils spezifischen Selbst- und Welt-
verhältnissen einhergehen.
In der Folge lassen sich Suchbewegungen in Richtung von Erwartungs-
strukturen beobachten, die mit weniger Unsicherheit und geringeren Spannungs-
lagen einhergehen. Diese erscheinen dann als ein spezifisches Arrangement.5
Jeder der Beteiligten (Therapeuten, Patienten, Pflegekräfte, Ärzte etc.) mag
also seine eigene Sicht der Dinge haben und sein Handeln und Erleben danach
strukturieren. In der Makroperspektive verschränken sich die Positionen jedoch
im Sinne der eingangs geschilderten Leestellengrammatik zu einem spezifischen
Muster, in dem die eine Position die andere konditioniert, ohne sie dabei jedoch
vollständig zu bestimmen.
In diesem Sinne ist der Begriff der Funktion eher als eine Operation im
mathematischen Sinne zu verstehen, denn als eine auf ein vorab definiertes Ziel
hin ausgerichtete Bewegung. Die Lösung erscheint als ein möglicher Eigenwert
der durch das Bezugsproblem aufgeworfenen komplexen Funktion.
Da die funktionale Methode im Sinne einer evolutionären Perspektive nicht
von einer kausalen Determination ausgeht, sind wie bereits gesagt verschiedene
Lösungen bzw. Ausprägungen denkbar, die mit Blick auf ein Bezugsproblem
funktional äquivalent erscheinen (die Leerstellen der Leerstellengrammatik eines
spezifischen Arrangements stehen für die hiermit einhergehenden Freiheitsgrade).
Aus dem Bezugsproblem ergibt sich dann die Spannbreite der Basistypik, die in

4 
Wenngleich aus einer systemischen Perspektive eben auch Funktionen analysiert und
reflexiv für den therapeutischen Prozess nutzbar gemacht werden können.
5 Man kann zwar bewusst auf ein bestimmtes Arrangement hinarbeiten, man kann sich auch

theoretisch im Team darüber einig sein, doch ob sich dies dann auch in der Praxis so ein-
stellt, ist fraglich. Man kann das System eben nicht (vollständig) kontrollieren. Zudem sind
Arrangements, welche die Spannungslagen und Unsicherheiten für das Personal verringern,
nicht zwingend im Sinne des Patienten.
3.1  Funktionale Methode – Bezugsprobleme und deren Lösungen 55

einer differenzierten Typenbildung funktional äquivalenter Lösungen spezifiziert


werden kann.6
So kann beispielsweise – um es nun aus Sicht des Patienten aufzuzeigen –
das Bezugsproblem Autonomie unter Zwang auf unterschiedliche Weise gelöst
werden. Der Patient kann versuchen, im Widerstand gegen die strengen Regeln
des Klinikalltags eine gewisse Restautonomie aufrecht zu erhalten. Er kann den
Konflikt temporalisieren, indem er mit den Therapeuten zusammenarbeitet, um
möglichst schnell wieder entlassen zu werden. Er kann sich in unterschiedliche
Teilpersönlichkeiten aufspalten oder möglicherweise einen anderen Weg finden.
Wie Karl. E. Weick aufzeigt und bereits in der Einleitung angedeutet wurde,
lassen sich auch komplexere soziale Gebilde aus einer funktionalen Perspektive
betrachten. Sie erscheinen dann als ein rekursiver, auf sich selbst Bezug
nehmender „Prozess des Organisierens“ (Weick 1998).7
Aus den spontanen Aktivitäten und Handlungen der Organisationsmit-
glieder entfalten sich Gestaltungs- und Interventionsversuche (Variation), um
die Spannungen des Bezugsproblems zu mindern. Von diesen werden innerhalb
der Organisation nur wenige aufgegriffen werden (Selektion). Insofern sich ein
Muster zu etablieren beginnt, hat sich diese Selektion jedoch wiederum mit Blick
auf die vielfältigen gesellschaftlichen Zusammenhänge zu bewähren, in welche
die Organisation eingebettet ist (etwa in Form kulturell akzeptabler Verfahren),
um erst auf diese Weise als ein einigermaßen beständiges Muster zu erscheinen
(Restabilisierung).
Mit Blick auf eine sinnvolle Balance von Zwang und Autonomie mag sich
dann im Behandlungsteam beispielsweise eine gewisse Arbeitsteilung heraus-
bilden, etwa indem die Psychotherapeuten mehr den Freiheitsaspekt betonen, die
Pflegekräfte mehr die Zwangsseite. Der leitende Oberarzt mag in die Rolle des
Jokers schlüpfen, der in seinen Entscheidungen zur ‚Lockerung eines Patienten‘
situativ mal mehr die eine oder andere Seite aufgreifen kann. Die gefundenen
Lösungen müssen dann allerdings vor dem Recht Bestand haben. Wenn Anwälte
und Richter aus Gründen der Verhältnismäßigkeit die Maßregel bei nicht hin-
reichend therapierten Patienten aufheben, entsteht für die Klinik ebenso ein

6 
Siehe zur Beziehung von funktionaler Analyse und Typenbildung Bohnsack (2010b),
Vogd (2018a) sowie Jansen & Vogd (2021, Abschn. 3.5).
7 
Siehe zur funktionalen Typenbildung mit Blick auf organisationale Arrangements des
Krankenhauses auch Feißt (2018a).
56 3  Praxeologischer Zugang – Dokumentarische Methode …

Problem, wie wenn sie gefährliche Patienten zu schnell in die Freiheit entlässt,
ohne dabei die Risiken hinreichend kontrollieren zu können.
Die Systemik solch eines Arrangements kann und darf damit also weder vom
einzelnen Akteur her gedacht werden (etwa nur vom Patienten her), noch erschließt
sie sich auf Basis der Position, die formal die Entscheidungsbefugnis inne-
hat (im Maßregelvollzug der Chefarzt). Sie ist vielmehr als ein überindividuelles
Beziehungsmuster zu rekonstruieren, das auf ein tieferliegendes Bezugsproblem
verweist – im vorgestellten Beispiel handelt es sich hierbei um die prekäre
Dynamik von Selbstbestimmung und Zwang in der forensischen Psychiatrie im
Kontext des gesellschaftlichen Auftrags „Besserung und Sicherung“.
Die Aufmerksamkeit wird damit auf eine höhere Ordnung der Selbst-
organisation gerichtet, die jenseits des Orientierungsrahmens einzelner Akteure
oder Gruppen von Akteuren liegt. In den Blick kommt damit die Ökologie des
Gesamtarrangements, in dem unterschiedliche Perspektiven und Rationalitäten
zusammenfinden, miteinander koexistieren und sich wechselseitig bestätigen und
stabilisieren können, ohne dass dies jedoch heißt, dass damit auch die Wider-
sprüche verschwinden (auch konfliktreiche Lösungen können sich als beständig
erweisen).
Dabei ist die Ausbildung eines bestimmten Arrangements einer Organisation
zwar abhängig von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen (etwa medizinischen,
rechtlichen aber auch ökonomischen oder politischen Vorgaben), jedoch in
Hinblick auf die zum Ausdruck kommenden Kausalitäten nur locker an diese
gekoppelt (so können dann auch Kliniken im gleichen Bundesland einen recht
unterschiedlichen Charakter haben). Auch hier sind entsprechend der oben
beschriebenen Leerstellengrammatik eine Vielzahl von Freiheitsgraden gegeben
und damit verschiedene, jedoch nicht beliebige Lösungsformen denkbar. Diese
stehen dann typologisch jeweils für ein bestimmtes Arrangement. Die Möglich-
keit unterschiedlicher Lösungen verweist auf die Freiheitsgrade der Organisation,
die allerdings wiederum durch die Ökologie des Gesamtarrangements ein-
geschränkt werden.
So sind beispielsweise im Hinblick auf Führung und Management einer
Organisation nur Arrangements möglich, die zumindest die folgenden zwei
Bedingungen erfüllen:

1. Einerseits haben die zentralen Akteure der Organisation mitzuspielen und ent-
sprechend einigermaßen verlässlich ihre Rolle einzunehmen (d. h. zumindest
pro forma so zu tun), bzw. diejenigen, die die dies nicht tun bzw. gar die
Organisation verlassen, müssen durch andere ersetzt werden, die ihre Funktion
übernehmen.
3.1  Funktionale Methode – Bezugsprobleme und deren Lösungen 57

2. Andererseits können die zentralen Spannungen und Dilemmata, die das


Bezugsproblem aufwerfen, nicht negiert werden, tauchen also – in welcher
Form auch immer – im Arrangement wieder auf.

Da sowohl die Patienten wie auch das Personal kaum umhinkommen, mit den
vom Maßregelvollzug an sie gestellten Erwartungen und den hieraus folgenden
Spannungen umzugehen (auch wenn dies von ihnen nicht bewusst reflektiert
werden muss), ist es möglich, die sich hieraus ergebenden Arrangements auf
Basis unserer Gespräche mit den betroffenen Akteuren sowie der von uns
erstellten Beobachtungsprotokolle zu rekonstruieren. Aus dem Vergleich der
Arrangements lässt sich dann auf die Bezugsprobleme zurückschließen, die sich
an einer bestimmten Position (etwa für den Patienten) oder für eine Organisation
als Ganzes ergeben.

Methodische Bemerkung
Die funktionale Methode ist abhängig von der Position eines Beobachters,
aus der ein bestimmter Problem-Lösungs-Zusammenhang betrachtet wird.
Aus Perspektive der damit einhergehenden Abstraktion von weiteren
Details, welche die Situation auszeichnen, wird postuliert, dass sich feld-
spezifische Bezugsprobleme rekonstruieren lassen, die auf unterschied-
liche Weise gelöst werden können und damit eine Weichenstellung mit sich
bringen.
Diese Analyseeinstellung ist strukturell identisch mit einer system-
theoretischen Perspektive, die davon ausgeht, dass sich unterschiedliche
Systeme ausbilden, die jeweils eine Umwelt haben, von dieser aber nicht
vollständig determiniert sind (Luhmann 1993, S. 30 ff.). Der jeweilige
Systemzusammenhang und die damit verbundenen Freiheitsgrade erscheinen
damit selbst als die Lösung eines der von der Ko-Evolution der beteiligten
Systeme aufgeworfenen Bezugsproblems. Der funktionale Zusammen-
hang beruht darauf, von Details abzusehen, welche erklären könnten,
warum gerade diese und nicht eine andere Lösung gefunden wurde.
Dies ist aus systemtheoretischer Perspektive keine Verlegenheit, sondern
vielmehr ein notwendiger Schritt. Da Systeme in Hinblick auf die sie
konstituierenden Prozesse gewissermaßen blind sind – sie also weder die
Umweltfaktoren kontrollieren können, auf Basis derer sie zustande kommen,
noch ihre eigenen Prozesse vollständig reflektieren können – beruhen
auch die Prozesse, welche die operative Schließung eines Systems – etwa
58 3  Praxeologischer Zugang – Dokumentarische Methode …

ein spezifisches Selbst- und Weltverhältnis – generieren, geradezu auf


Abstraktion (und damit Absehung) von den vielfältigen Details, welche die
Situation auch noch ausmachen könnten. Systeme können nur auf Basis
selektiver Unwissenheit operieren. Systeme sind gleichsam durch Intrans-
parenz fundiert. „Existence is selective blindness“, um es mit den Worten
Spencer Browns (1997, S. 192) zu sagen.
Die funktionale Perspektive erlaubt Zusammenhänge in einer Weise zu
rekonstruieren, die genau diesem Funktionsprinzip gerecht wird: Mit Blick
auf einen bestimmten Problemzusammenhang wird eine Welt aufgebaut,
die dann als ein konkretes Selbst- und Weltverhältnis erscheint.

3.2 Beispielinterpretation: Herr Volkert – ein kranker


Pädophiler?!8

Der betreuende Oberarzt beschreibt Herrn Volkert im Interview mit uns – um es
nochmals zu erwähnen – als „ein Pädophiler“, der „recht klassisch“ sei und wie
die meisten „normalen Pädophilen eigentlich nicht krank genug“ sei, „um in den
Maßregelvollzug zu kommen.“ Üblicherweise würden diese für „schuldfähig“
erklärt  und kommen im Falle offenkundiger Vergehen in die Justizvollzugsanstalt,
um dann dort auch sexualpädagogisch behandelt zu werden. Im Sinne der eher
geringen Deliktschwere hätten Menschen wie Herr Volkert dann nach vielleicht
einem halben oder maximal zwei Jahren ihre Schuld abgebüßt (vgl. auch Kröber
et al. 2009, S. 403 ff.), würden dann jedoch erneut inhaftiert, falls neue Delikte
offenkundig würden. Bereits hier wird deutlich, dass der Oberarzt seinerseits
ein Gewebe recht unterschiedlicher Referenzen aufruft (rechtliche, medizinische
sowie Normalitätserwartungen und die hiermit einhergehenden Typisierungen).
Herr Volkert wurde durch den Gutachter auch zunächst als „normaler Pädo-
philer“ eingeschätzt und für schuldfähig befunden, diese Einschätzung wurde

8 Siehe ausführlich und in Referenz zu Foucaults (2019 [1977]) Arbeiten zum Sexualitäts-
dispositiv Vogd et al. (2021). Die Textstellen der Interpretation und der Interviewzitate
wurden weitgehend wörtlich aus diesem Beitrag übernommen. Wir verzichten deshalb
aus Gründen der besseren Lesbarkeit in dieser Falldarstellung auf explizite Nachweise der
Zitate.
3.2  Beispielinterpretation: Herr Volkert – ein kranker Pädophiler?! 59

jedoch später wieder revidiert. Das Arrangement kippt nun in ein psychiatrisches
Regime anstelle des Strafvollzugs. Anlass der veränderten diagnostischen Ein-
schätzung waren nach Vermutung des Oberarztes zum einen die angefertigten
Schriftstücke („wirklich ellenlange Ausführungen, die im Prinzip so erotisierte
Darlegungen über weibliche Genitalien sind“ und dazu „irgendwelche
Schwärmereien über dieses besagte Mädchen“). Zum anderen erschien dem
begutachtenden Psychiater auffällig, dass der Patient keinerlei Problemeinsicht
zeigte, da er „als die Verhandlung noch im Gange war, […] tatsächlich noch
auf Ferienlager, Kinderferienlager gefahren ist“. Gerade dass er „die Dreistig-
keit besessen“ habe, sich „so unbeeindruckt zu zeigen“, wurde dann als ent-
scheidendes Indiz für das die Schuldfähigkeit einschränkende Eingangsmerkmal
der „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ genommen.9 Es ist diese per-
formativ gezeigte „Dreistigkeit“, die im Rahmen der „Gesamtwürdigung“
(§ 63 StGB) nicht mehr anders denn als krank gedeutet werden kann und das
Arrangement des „normalen Pädophilen“ hin zum „kranken Pädophilen“ kippen
lässt. Herr Volkert hat sich somit für den Maßregelvollzug „qualifiziert“, wenn-
gleich eigentlich „keine so schweren Taten“ vorgelegen hätten – eine minimale
Verschiebung der Gewichtung zieht eine große institutionelle Wirkung nach
sich. Denn anders als im Gefängnis, wo nur eine zeitlich begrenzte Strafe von
vielleicht sechs bis zwölf Monaten abzusitzen wäre, kann die auf Rehabilitation
zielende Therapie so lange dauern, bis sie endlich Erfolg zeigt. Hiermit ist die
Weichenstellung getroffen, die in das Arrangement des Maßregelvollzuges führt.
In den ersten Jahren im Maßregelvollzug lässt sich Herr Volkert nach eigener
Aussage praktisch kaum auf die Therapieprogramme für Sexualstraftäter ein, da
er sein Verhalten zunächst weder für problematisch noch in einer sonstigen Weise
veränderungswürdig hält. Er habe ja in keiner Weise sexuelle Beziehungen zu den
Kindern gehabt, weder in einvernehmlicher und erst recht nicht in erzwungener
Form. Beginnen wir die durch die Kontexturanalyse informierte Rekonstruktion
mit einem Gesprächsausschnitt aus dem Interview mit dem Patienten. Er bezieht

9 Die „andere seelische Abartigkeit“ stellt als eines der sogenannten Eingangsmerkmale
eine Kategorie dar, die in der forensischen Begutachtung angewendet wird, wenn eine
schärfer definierte, trennschärfere psychiatrisch-diagnostische Einschätzung nicht möglich
ist. Wie auch Schmidt kritisiert, kommen dabei „hauptsächlich idiosynkratisch geprägte
Theorien und Kriterien zum Einsatz, die zumeist keiner empirischen Überprüfung unter-
zogen worden sind, und die fatalerweise von den einzelnen Gutachtern in beliebig
kombinierter Form eingesetzt werden“ können (Schmidt 2008, S. 21).
60 3  Praxeologischer Zugang – Dokumentarische Methode …

sich hier auf die pubertierende Tochter, die seine erste Frau mit in die Ehe
brachte. Deutlich wird an dieser Stelle die Schwierigkeit, „die Grenze zu halten“:

Herr Volkert: Nichts dergleichen wurde durchgezogen, ich merke bloß, dass meine
Fantasien mit mir schon durchgingen, mit dem Mädchen gerne mal alleine sein zu
wollen oder vielleicht ja ihr Lehrer sein zu wollen. […] Und wurde mir bewusst,
wie gesagt, wie mich das anzieht, aber ich würde nach wie vor sagen, dass ich von
der Klugheit her, vielleicht würde ich sagen, von der Klugheit her, diesen Schritt
nicht hätte gehen können. […]
Interviewer: Also so, da würden Sie sagen: „Ah ja, so einer bin ich, ich habe immer
bis jetzt die Grenze gehalten.“ Also ich weiß, ich weiß, da ist die Grenze und ich
weiß …
Herr Volkert: Richtig.
Interviewer: Ich weiß, dass ich das nicht überschreiten sollte, aber Sie haben genau
die …
Herr Volkert: Ich würde es auch nicht tun wollen.
Interviewer: Genau, aber …
Herr Volkert: Niemals wollen, also mit dem Wollen […] Hätte ich immer noch
Angst, dass ich plötzlich mal darauf anspringe. Weil, ich kann es Ihnen nur
so sagen. […] Ich kann Ihnen eins sagen, ich kann es nicht verstehen, wie ein
erwachsener Mann, der diese Freude und dieses tolle Empfinden über die Weib-
lichkeit, wie ich sie ja habe, zu einer Erektion kommt nur durch Zusammensein mit
Kindern. Das ist mir nicht passiert und das, weiß nicht, ob ich so willenssteuernd
bin, also so weit ging das nicht. Ließ ich mir selber vielleicht den Genuss dieser
Eindrücke nicht zu. Also ich verharrte nicht drauf, sondern ich dachte dann: „Oh,
jetzt wird es eng“.

Logische Kondensation

Es wir nichts [mit den Kindern] durchgezogen.


Ich habe Fantasien, mit dem Mädchen allein sein zu wollen, ihr Lehrer sein zu
wollen.
Meine Fantasien gehen mit mir durch.
Ich bin mir bewusst, dass Es mich anzieht.
Ich sage und ich sage nicht, dass ich von der Klugheit her den Schritt gehe.
Ich weiß, dass es eine Grenze gibt.
Ich will die Grenze überschreiten und will nicht die Grenze überschreiten.
Ich will es nicht wollen.
Ich habe Angst, dass ich auf die Fantasien anspringe.
Ich kann nicht verstehen, dass ein erwachsener Mann, der Freude über die Weiblich-
keit von Kindern empfindet, eine Erektion bekommt.
Das ist mir nicht passiert.
Ich weiß nicht, ob ich willenssteuernd bin, dass es mir nicht passiert.
3.2  Beispielinterpretation: Herr Volkert – ein kranker Pädophiler?! 61

Es passiert nicht.
Ich habe und habe nicht den Genuss der Eindrücke.
Wenn ich sie habe, merke ich, dass es eng wird.

Reflektierende Interpretation

Die logische Kondensation macht insbesondere das Wechselspiel von drei


Positionen sichtbar:

1. Die objektive Sicht auf eine Realität der Begegnung mit Kindern, in der es
(vermeintlich) niemals zu Übergriffen gekommen ist.
2. Die Position der Fantasie, in der das Ausleben des Begehrens imaginiert wird.
3. Die Position des Ichs als einer Reflexions- und Kontrollinstanz.

Die aktenkundige und von ihm dargestellte Handlungsrealität (bislang wurde


Herr Volkert keiner aktiven Vornahme sexueller Handlunge an Kindern angeklagt)
steht im Spannungsfeld zur Realität expliziter Fantasien, die durch eine dritte
Instanz geregelt wird. Hierdurch entsteht eine prekäre Balance, in der sich das
Ich als „Kapitän seiner Seele“ darstellt,10das ein Grenzmanagement zu leisten
hat. Auf Handlungsebene bleibt er im wahrsten Sinne grenzwertig, die Fantasien
bewegen sich aber deutlich jenseits dieser Grenze. Er fühlt sich von den Fantasien
angezogen, ohne den Schritt zu gehen. Er bewegt sich diesseits und jenseits der
Grenze zugleich. Der pädophile Akt erscheint damit ständig im Möglichkeits-
raum, erhält dort eine eigene Realität, wird dabei jedoch zugleich negiert, so dass
dieser doch im Kontrafaktischen verbleibt. Die Fantasie tritt hiermit imaginär in
die Realität ein, um dort wirkmächtig (als ein erregendes Imaginativ) und nicht
wirkmächtig (etwa als konkreter Handlungsvollzug) zu werden.
Bereits in dieser Sequenz zeigt sich ein recht komplexes Selbst- und Welt-
verhältnis. Er fühlt sich durch weiblich-kindliche Körper angezogen und ent-
wickelt Fantasien, die nicht mehr der willentlichen Steuerung unterliegen („mit
mir durchgingen“). Gleichzeitig hat er die gesellschaftlichen Normen so weit ver-
innerlicht, dass es nicht zur Umsetzung dieser Fantasien kommt. Zwar gibt er an,
nicht einmal bewusst nachempfinden zu können, wie ein erwachsener Mann in

10 Hierim bewussten Anklang an Batesons Untersuchungen zu den Selbst- und Weltverhält-


nisses eines Alkoholikers (Bateson 1992 [1972], S. 400 ff.).
62 3  Praxeologischer Zugang – Dokumentarische Methode …

Anwesenheit von Kindern eine Erektion bekommen könne, weiß aber zugleich,
dass ihm dies ebenfalls passieren könnte. Denn er kennt sehr wohl Situationen,
in denen es „eng“ wird. Er kann damit die sexuelle Grenzüberschreitung zugleich
verstehen wie auch nicht verstehen.
In seiner Selbstreflexion kann er diesen Widerspruch nur durch den Verweis
auf die internalisierte Selbstkontrolle („willenssteuernd“) auflösen: Er könne den
unmittelbaren sexuellen „Genuss“ der „Eindrücke“ nicht zulassen, und genau
deshalb würde ihm nichts Problematisches passieren.
Sein Wollen ist im Sinne einer paradoxen Struktur einerseits aktiv auf ver-
botenes Begehren hin ausgerichtet, anderseits auf die Negation desselben („nicht
tun wollen“). Herr Volkert ist in dem Sinne normal, als dass er – wie die meisten
anderen Menschen – sich bürgerlichen Normerwartungen anzupassen ver-
sucht, was vor allem heißt, das Selbst unter Kontrolle zu haben. Er ist aber inso-
fern nicht normal, als dass er ein Begehren hat, das er nicht haben darf. Dieses
Begehren hat er zwar unter Kontrolle. Diese Kontrolle hat er aber nicht unter
Kontrolle. Er ist sich nicht sicher, dass es nicht doch irgendwann durchbricht.
Bis zum zweiundfünfzigsten Lebensjahr konnte Herr Volkert trotz seiner pädo-
philen Neigung auf diese Weise ein weitgehend normales Leben führen.11Er hat
sich in Bezug auf Kinder wiederholt grenzwertig (im Bereich seiner Fantasien),
aber nie deutlich grenzüberschreitend (im Ausleben seines Begehrens). Die Hand-
lungsebene blieb solange juristisch nicht belangbar, bis das Tagebuch mit seinen
ausgearbeiteten Fantasien als Dokument seiner imaginären Realität ins Spiel kam.
Das Framing des unschuldigen Herumtobens und Herumtollens mit den Kindern
kann nun nicht mehr aufrechterhalten werden, obschon sich an den konkreten
Handlungen nichts änderte. Der Möglichkeitsraum der Fantasie eröffnet sich nun
auch den Gutachter/innen als Möglichkeitsraum zukünftigen problematischen
Handelns.
Als Insasse der forensischen Psychiatrie ist er nun jedoch unweigerlich
einem medizinischen Regime ausgeliefert. Genau dies macht den Fall für uns so
interessant, denn wir können an ihm untersuchen, welchen Unterschied dieses
Arrangement macht. Beschreiben wir deshalb  einige Stationen seiner ‚Patienten-
karriere‘.

11 Auch in der Klinik lebt er eine bemerkenswert bürgerliche Normalität. Sein Zimmer ist
aufgeräumt, auf dem Tisch steht eine Vase mit einem Blumenstrauß und er hört im Radio
klassische Musik.
3.2  Beispielinterpretation: Herr Volkert – ein kranker Pädophiler?! 63

Das in der logischen Kondensation verdichtete Wechselspiel der Positionen


und der damit verbundenen Spannungslagen können zugleich aus einer
funktionalen Perspektive betrachtet werden. Das, was sich hierin ausdrückt,
erscheint damit als die Lösung eines oder mehrerer Bezugsprobleme. Im Inter-
view in dieser oder jener Weise zu sprechen und zu formulieren, erscheint damit
als Antwort auf eine Problemlage. Offensichtlich ist das Problem eines Mannes,
der ein pädophiles Begehren hat, dass aus nahe liegenden Gründen nicht offen
in konkreten Beziehungen ausagiert werden kann und darf. Die Lösung, die Herr
Volkert präsentiert, besteht darin, sich Kindern zu nähern, das Begehren dabei
jedoch nicht real, sondern nur in der Fantasie zu leben. Er trifft hiermit eine
spezifische Weichenstellung, funktionale Alternativen wären etwa: im Geheimen
reale sexuelle Beziehungen zu suchen oder umgekehrt der Nähe von Kindern im
Wissen um das problematische eigene Begehren systematisch auszuweichen.12
Für die Institutionen des Rechts erscheint die von Herrn Volkert gefundene
Lösung ihrerseits als Bezugsproblem, auf die sie eine Antwort finden müssen.
Eine Gefängnisstrafe, die Unterbringung im Maßregelvollzug oder eine
Bewährungsstrafe oder gar ein Freispruch aufgrund unzureichender Beweislage
erscheinen dann als funktional äquivalente Antworten.

12 Es ist mit Gunter Schmidt davon auszugehen, dass das pädophile Begehren  pädophiler
Männer „strukturell bis in ihre Identität hinein“ reicht (G. Schmidt 2011, S. 60), jedoch
gesellschaftlich aus guten Gründen nicht tolerier- und lebbar ist. Hierin lieg dann für
Günter Schmidt die eigentliche „Tragik pädophiler Männer“, nämlich darin, die „Bürde
und Zumutung, ihre Liebe und Sexualität nicht leben zu können“, doch wenn sie sich
darum bemühen, nicht straffällig zu werden, ohne ihre Zuneigung zu kindlichen Körpern
zu suspendieren, zugleich „Verachtung“ und „Diskriminierung“ anstelle von „Respekt“ und
„Solidarität“ zu erfahren (ebd.). Selbst der „gute Pädophile“ bleibt dabei, wie Benjamin
Lipp (2014) in einer soziologischen Studie jüngeren Datums aufzeigt, „in zeitgenössischen
Gesellschaften vor allem mit zwei Diskurslogiken verwoben: Die sexuelle Ansprechbar-
keit auf Kinder wird einerseits als Krankheit im medizinischen Sinne einer Paraphilie und
andererseits als Prädiktor für Verbrechen im rechtlichen Sinne eines sexuellen Kindesmiss-
brauchs aus dem Spektrum ‚normaler‘ Sexualität exkludiert“ (ders. S. 201). Selbst wenn
er für sich selbst weder als krank noch als Rechtsbrecher erscheint und es ihm gelingt,
sich von den hiermit assoziierten „stigmatisierenden Referenzen“ (ebd.) zu befreien, bleibt
ihm als einziger Ausweg, seine „Pädophilie“ mit Unterstützung anderer „als existenzielles
Leiden“ (ebd.) anzunehmen und zu begreifen, denn nur auf diesem Wege gelänge es ihm,
auf die Zuschreibungen der dominanten Diskurse zu antworten, ohne diesen in Hinblick
auf die eigene Identität – also krank und/oder Täter zu sein – zu verfallen.
64 3  Praxeologischer Zugang – Dokumentarische Methode …

Methodische Bemerkungen
Das Schema (Bezugs-)Problem-Lösung der funktionalen Methode ist
eine Perspektive der Beobachtung und damit abhängig von der jeweiligen
Beobachterreferenz. Was unter einem Blickwinkel als Lösung erscheint,
kann unter einem anderen Blickwinkel wiederum als ein Problem
erscheinen. Es muss deshalb jeweils eine Referenz der Anwendung fest-
gelegt werden. Die eigentliche Leistung der funktionalen Methode in
unserem Zusammenhang ist es, Weichenstellungen sichtbar zu machen, an
denen jeweils etwas anderes geschehen kann, wenn an bestimmten Stellen
innerhalb der Leerstellengrammatik die Werte anders besetzt werden. In
diesem Beispiel etwa im Falle einer anderen Entscheidung des Gerichts
oder einem anderen Selbstverhältnis des Patienten.

Einweisung in die Klinik

Den Wechsel vom Siegburger Gefängnis in den Maßregelvollzug beschreibt


Herr Volkert zunächst als eine „Riesen-Erleichterung“. Der Maßregelvollzug bot
ihm nicht nur wesentlich mehr Freiheitsgrade, vor allem hatte er „das Gefühl“
gerade unter „den Offiziellen“ nun „Gesprächspartner“ auf seiner „Augenhöhe“
zu finden. Geradezu enthusiastisch beschreibt er das Gespräch mit dem Chefarzt
an seinen ersten Tag:

Herr Volkert: Ich hätte sprudeln wollen ihm gegenüber und das habe ich wahr-
scheinlich getan.

Logische Kondensation

Ich will sprudeln und will nicht sprudeln


Ich sprudele und sprudele nicht

Reflektierende Interpretation

Die Metapher des „Sprudelns“ verweist auf ein ungehemmtes Erzählen und damit
auch darauf, in Hinblick auf die Inhalte die Kontrolle über die Selbstoffenbarung
aufzugeben. So wie die Fantasien „mit ihm durchgehen“ (s. o.), er sich aber
3.2  Beispielinterpretation: Herr Volkert – ein kranker Pädophiler?! 65

zurückhalten muss, kann er sich hier (nun endlich) dem Gesprächsfluss hingeben.
Es ist in gewisser Weise der Modus, den er sich mit Bezug auf die Auslebung
seiner Fantasien ein Leben lang versagen musste – mit Ausnahme in seinen Tage-
büchern. Die Mischung aus einer in den Konjunktiv gesetzten Willensbekundung
(„hätte … wollen“) und der probabilistisch eingeschränkten Indikativ-Aussage
(„wahrscheinlich getan“) kann hier als ein Vertrauen gegenüber dem Chefarzt
interpretiert werden, was im Nachhinein nicht mehr probat erscheint und deshalb
eingeklammert wird. Die Ambivalenz erscheint in der logischen Kondensation als
Paradoxie. Wir schlagen vor, diese als Spannungsfeld divergierender Zeithorizonte
zu interpretieren, entsprechend denen der Sachverhalt in den damit verbundenen
jeweiligen Kontexten etwas anderes bedeutet. Herr Volkert weiß mittlerweile, dass
das Sprudeln im Kontext der Psychiatrie nicht folgenlos bleibt. Die „Gesprächs-
partner“ auf „Augenhöhe“ haben psychiatrische Ohren.
Dennoch kann das pädophile Begehren, dessen Unterdrückung und die damit
verbundene paradoxe Identität nun artikuliert werden. Damit scheint er endlich
auch mit Blick auf sein Begehren ein normaler Mensch zu werden, der im Mit-
einander-Sprechen einer respektvollen Interaktion Anerkennung gewinnt und
endlich in all seinen Aspekten gesehen werden kann. Wie sich mit Blick auf das
Interview andeutet, scheint ihm zumindest zu diesem Zeitpunkt noch nicht gewahr,
dass diese Normalität eine ist, die lediglich im Kontext der Psychiatrie Gültig-
keit besitzt und nicht jenseits der Maßregelvollzugsklinik. Er hat nicht den Ort
gefunden, an dem er endlich ein normaler Mensch ist, er hat einen Ort gefunden,
an dem er ein normaler kranker Pädophiler ist, ein normaler Patient. Nur deshalb
fühlt er sich vom Arzt verstanden. Im ‚Darüber-Sprechen‘ macht die Klinik ihn zu
einem Patienten, der behandlungsbedürftig ist und dies eben einzusehen hat. Aus
Perspektive der forensischen Psychiatrie geht es um Diagnose und Therapie, also
nicht um eine verstehende Subjektivierung, sondern um seine Objektivierung.
Diese Divergenz der Perspektiven prägt auch den weiteren Behandlungs-
prozess. Herr Volkert fühlt sich zunächst verstanden und hiermit einhergehend
gut aufgehoben – und eben auch nicht. Im Gespräch mit den Fachleuten erscheint
seine Pädophilie – nun auch psychiatrisch erklärt – als eine nachvollziehbare
Ausdrucksform der menschlichen Sexualität. Und solange er keinem Kind etwas
zuleide tue, sei ja alles in Ordnung.
Für den Oberarzt erscheint jedoch das sich hiermit ausdrückende Selbstver-
ständnis als ein Problem, das die Behandlung erschwert, denn die Therapie
kommt nicht voran. Die sich im Selbst- und Weltverhältnis des Patienten aus-
drückenden Diskurselemente befinden sich aus Sicht der Klinik nicht im richtigen
Arrangement. Folgender Ausschnitt lässt die Divergenz der Perspektiven deutlich
werden:
66 3  Praxeologischer Zugang – Dokumentarische Methode …

Oberarzt: Bei [Herrn Volkert] gibt es nur Erfolge. Ein Erfolg jagt den nächsten.
Und, das ist sicher aber auch persönlichkeitsbedingt, also Misserfolge sind nicht
vorgesehen. Und insofern auch hier in der Therapie wurde viel gelernt wohl, ja? Der
kann also ganz, ganz lang alle möglichen Erkenntnisse intellektueller Art darlegen.
Die helfen nur nichts. Und die sind auch keine Verhaltensänderung in irgendeiner
Form, ja? Also da, weiß ich nicht, hat sich die vermeintliche Therapeutin so ein
bisschen blenden lassen durch diese ganzen Darlegungen, ja. Die spielen im End-
effekt wenig eine Rolle, sondern entscheidend ist, dass er teils die Taten gar nicht so
anerkennt in der Art, ja?

Logische Kondensation

Herr Volkert hat nur Erfolge.


In seiner Persönlichkeit sind Misserfolge nicht vorgesehen.
In der Therapie hat Herr Volkert viel gelernt.
Er kann seine Erkenntnisse in intellektueller Form darlegen.
Intellektuelle Darlegungen sind keine Verhaltensänderungen.
Die Therapeutin lässt sich und lässt sich nicht blenden.
Intellektuelle Darlegungen spielen keine Rollen.
Entscheidend ist, dass er seine Taten nicht anerkennt.

Reflektierende Interpretation

Auf der einen Seite beschreibt der Oberarzt eine „intellektuelle Ebene“, auf der
Herr Volkert Einsicht zeigt und eigene Erfolge und Erkenntnisse beschreiben
kann. Diese Ebene entspricht der „Klugheit“, die Herr Volkert selbst beschreibt
(s. o.). Die starke Ironie und die Überspitzung durch den Oberarzt („Ein Erfolg
jagt den nächsten“) verweist darauf, dass Arzt und Patient hier nicht auf einer
Linie liegen. Die Perspektive des Oberarztes auf Herrn Volkert (für ihn sind keine
Misserfolge vorgesehen, nur Erfolge) decken sich dabei durchaus mit den obigen
Darlegungen Herrn Volkerts, nämlich durch Willenssteuerung und Klugheit stets
alles unter Kontrolle zu haben. Auf der anderen Ebene steht jedoch die Ebene des
Verhaltens, auf der „intellektuelle Darlegungen“ keine Rolle spielen. Der Psycho-
therapeutin ist es aus Perspektive des Oberarztes nicht gelungen, beide Ebenen zu
trennen. Der Hintergrund dieser Einschätzung ist folgender:
Die „Blendung“ der früheren Therapeutin und die tatsächlich geringe Delikt-
schwere haben zu schnellen und weitreichenden Lockerungen geführt. Herr
Volkert nimmt werktags eine Anstellung in einem Zeitungsladen an. Er reist
darüber hinaus regelmäßig nach Köln, das eine halbe Stunde von der Klinik
3.2  Beispielinterpretation: Herr Volkert – ein kranker Pädophiler?! 67

entfernt liegt, um alte Bekannte zu besuchen. Er wohnt in der Klinik, darf


diese aber umfangreich verlassen und beginnt sich mehr oder weniger häuslich
in den gewonnenen Freiheitsgraden einzurichten, ohne dabei jedoch größere
Anstrengungen zu übernehmen, den Aufgabenstellungen der Therapeuten zu
folgen – insbesondere Situationen zu vermeiden, die deliktrelevantes Verhalten
auslösen könnten. Und so wird die Diskrepanz zwischen Therapie im Imaginären
und tatsächlicher Verhaltensänderung erneut zum Problem. Die Klinik hat Herrn
Volkert noch nicht hinreichend normalisiert, sodass Herr Volkert weiterhin seine
Fantasien ausleben kann, ohne dass diese aus seiner Perspektive mit ihm „durch-
gehen“ würden.
Die Analyseperspektive der funktionalen Methode macht hier Weichen-
stellungen sichtbar: Therapie erscheint zwar als Antwort auf das Bezugsproblem
eines problematischen Selbst- und Weltverhältnisses des Patienten, jedoch
ist Therapie nicht gleich Therapie. Was der Patient daraus macht und was die
Therapeuten dann daraus machen, ist eine andere Sache.

Der Rückfall

Im Sommer 2017 kommt es zu einem Vorfall an einem Badesee. Herr Volkert


freundet sich mit fremden Kindern an, spielt und tobt mit ihnen. Dies weckt
den Verdacht der anderen Strandgäste, die schließlich die Polizei rufen. Letztere
stellt bei der Aufnahme der Personalien fest, dass der Mann im Maßregelvollzug
wohnt. Die Klinik entzieht dem Patienten daraufhin den unbegleiteten Ausgang
und damit auch die Möglichkeit, außerhalb der Klinik einer Arbeit nachzugehen.
Zudem wird sein Fehlverhalten nun in den Gruppen und therapeutischen Einzel-
sitzungen zum Thema. Betrachten wir den Bericht der Stationspflegeleiterin:

Stationspflegeleiterin: Herr Volkert ist, wie Herr Volkert ist. […] Aber er hat nun
mal diese pädophile Neigung. Das Wort, alleine dieses Wort, das bringt ihn ja
schon sofort auf die Palme. Ne? Er will eigentlich normal gelten und er will doch
bloß mit den Kindern, ja, gemeinsam, und die sprechen ihn ja auch an. Das ver-
leugnet er ja auch nicht. Ne? Und seine ganze Art und Weise/und das war ja, die
letzte Rücknahme der Lockerung, dass er eben aufgefallen ist bei Passanten draußen
am Badesee. Dass er mit zwei Kindern gebadet hat, rumgetollt hat. […] Und das
hatten wir auch als Thema gemacht, auch in der Großgruppe und so, dass alleine
sein Verhalten ja schon andere Mitmenschen aufmerksam macht: Da kann irgend-
was nicht stimmen. […] Und das will er/und das will er ja eigentlich nicht sein. Er
will es nicht sein. Aber letztendlich zieht er sich ja hin zu Kindern. Ja? […] Also
wir können ihm das sowieso schlecht zurückmelden. […] Und dann gibt es wieder
68 3  Praxeologischer Zugang – Dokumentarische Methode …

Phasen, wenn er mit Herrn Martin [dem Psychologen] gesprochen hat, ja, wo das
dann um Verzicht geht. Ne? Verzicht, nicht mit mir. […] Und dann [wieder], das ist
für ihn so, na, er will kein Monster sein. Er schreit dann immer, er will kein Monster
sein und er hat ja nie einen hier/die Kinder nicht vergewaltigt. Ja?

Logische Kondensation

Herr Volkert ist, wie Herr Volkert ist.


Herr Volkert hat pädophile Neigungen.
Herr Volkert regt sich auf, wenn er pädophil genannt wird.
Herr Volkert will und will nicht als normal gelten.
Herr Volkert will und will nicht mit Kindern zusammen sein.
Kinder sprechen Herrn Volkert an.
Herr Volkert gibt das zu.
Herr Volkert hat eine eigene Art und Weise.
Herr Volkert fällt auf, wenn er mit Kindern spielt.
Wir sprechen in der Großgruppe darüber, dass sein Verhalten auffällt.
Die Mitmenschen denken, dass da etwas nicht stimmt.
Er will es und will es nicht sein.
Es zieht ihn zu Kindern hin.
Wir können ihm das zurückmelden und können es nicht zurückmelden.
Der Psychologe spricht mit Herrn Volkert über Verzicht.
Verzicht will Herr Volkert nicht.
Er will kein Monster sein.
Er sagt, er ist kein Monster.
Er sagt, er vergewaltig keine Kinder.

Reflektierende Interpretation

Die Stationspflegeleiterin führt Herrn Volkert in Form einer Tautologie ein


(„Herr Volkert ist, wie Herr Volkert ist“). Im Sinne üblicher alltagssprachlicher
Verwendungen solcher Formen (wenn man etwa sagt, ‚meine Frau ist eben wie
sie ist‘) verweist dies auf eine spezifische Eigengesetzlichkeit des Anderen.
Herr Volkert hat eine ‚Art und Weise‘. Diese Eigengesetzlichkeit zeigt sich in
einer merkwürdigen Widersprüchlichkeit. Auf der einen Seite will Herr Volkert
als normal gelten. Hier streitet er ab, pädophil zu sein. Auf der anderen Seite
besteht Herr Volkert auf seinem „Verhalten“, das aus Perspektive der Umwelt
als nicht normal erscheint. Er beharrt darauf, dass gerade dieses Verhalten
als normal zu gelten habe, blendet jedoch aus, dass dies nicht der Fall ist. Ver-
weist die Klinik auf diesen Umstand, so wendet Herr Volkert ein, dass er keine
Kinder vergewaltigt habe und kein Monster sei. Herr Volkert rechnet also
3.2  Beispielinterpretation: Herr Volkert – ein kranker Pädophiler?! 69

den vermeintlich unproblematischen Bereich seines Verhaltens (mit Kindern


zusammen sein, ihr Lehrer sein) dem Bereich der Normalität zu und trennt davon
den Bereich seiner Begierden ab. Die Umwelt hingegen rechnet den Bereich
des Verhaltens schon dem Pädophilen zu. Sie sieht das Mögliche im Faktischen,
während Herr Volkert auf dem Faktischen des Faktischen beharrt. Während der
Patient das Imaginäre (pädosexuelle Fantasien, die ihn erregen) vom Faktischen
abkoppelt („kein Monster“), erscheint für die Pflegeleiterin (hier stellvertretend
für das ganze Behandlungsteam) das durch die Fantasie angeregte Begehren sehr
wohl in die Realität von Herrn Volkert einzutreten – allein schon deshalb, weil es
Außenstehenden auffällt. Unweigerlich konditioniert die Position der „Anderen“
hiermit das Selbst- und Weltverhältnis des Patienten.
Dies greift dann auch die Klinik auf und macht es gegenüber dem Patienten
zum Thema. Herr Volkert kann nicht einfach sein, wie er ist, sondern wird
unweigerlich in Hinblick auf Sein und Sollen verdoppelt und damit gleichsam
nicht-authentisch in seiner Authentizität.
Gerade deshalb, weil er der Normale sein will, ist er nicht der, der er eigent-
lich ist, nämlich ein Patient, der im Sinne der ihm zugeschriebenen Krankenrolle
begreift, dass mit seinem Begehren nicht alles in Ordnung ist, und entsprechend
mit dem Behandlungsteam daran arbeitet, zu verzichten. Genau dies steht aber
im Gegensatz zu der Selbstthematisierung des Patienten, kein Unmensch zu sein
und Kindern niemals Schaden zugefügt zu haben. Es scheint ihm unmöglich zu
sein, selbst auszusprechen, was möglicherweise der Fall sein könnte. Jedes Reden
über seine Sexualpräferenz als möglicherweise nicht „normal“ erscheint gleich
als „monströs“.
Das Dilemma des prekären Gleichgewichts von Fantasie, Realität sowie
reflektierender und kontrollierender Ich-Position wird in diesem Bericht erneut
offenbar. Der unschuldige Kinderfreund, zu dem Herr Volkert sich stilisiert, ist
inkompatibel mit einer behandlungsbedürftigen sexuellen „Abartigkeit“. Warum
soll man verzichten, wenn man doch eigentlich normal ist? So weiterhin das
vordergründige Selbstverhältnis des Patienten, was jedoch nicht mit dem Weltver-
hältnis des Insassen einer forensischen Klinik kompatibel ist.

Methodologische Bemerkungen
In der Falldarstellung haben wir hier mehrfach die Sprecherpositionen
gewechselt: zunächst der Patient, dann der Oberarzt und nun die Stations-
pflegeleiterin, die über den Patienten spricht. Die jeweiligen Sprecher
nehmen dabei bei jedoch auch die Perspektiven des jeweils anderen ein,
70 3  Praxeologischer Zugang – Dokumentarische Methode …

etwa im vorangehenden Text im „Fremdverstehen“ des Patienten. Mit


Blick auf die langen Zeithorizonte, in denen sich die bereits kennen und
aufeinander eingestellt haben, halten wir es legitim, diese Perspektiven
gleichsam zu einem Arrangement zusammenzuziehen, das im Sinne einer
Leestellengrammatik darauf beruht, dass die jeweils eine Position, die
Perspektiven der jeweils anderen kennt und hierauf dann Bezug nimmt,
da beide Positionen unweigerlich durch den übergreifenden Kontext des
Maßregelvollzugs existenziell miteinander verbunden sind. Dies ist allein
schon durch die formale Rollenbeziehung gegeben. Die einen sind die
Patienten und die anderen die Pflegekräfte, Ärzte und Therapeutinnen. Die
einen sind in der Klinik beschäftigt und können nach getaner Arbeit die
Klinikmauern verlassen. Für die anderen bleiben die Türen verschlossen –
und genau dies, wie auch andere Aspekte der Rollenbeziehung werden von
allen Seiten wahrgenommen und reflektiert.
Aus diesem Grunde erscheint es methodologisch legitim und
geboten, die Positionen systematisch zu wechseln, um zu einer „Dichten
Beschreibung“ (Geertz 1983) zu gelangen. Dies funktioniert jedoch nur,
wenn die Beteiligten hinreichend miteinander verwickelt sind, sich also
in einem längeren Prozess schon längst in Bezug auf Erwartungen und
Erwartungserwartungen aufeinander eingestellt haben. Um in der Termino-
logie der Dokumentarischen Methode zu sprechen: Sie bilden einen
konjunktiven Erfahrungsraum, ohne dass sich damit zugleich ihre hand-
lungsleitenden Orientierungen dieselben sein müssen. Sie sind Teil des-
selben Arrangements, je nach Position stellen sich die zum Ausdruck
kommenden Selbst- und Weltverhältnisse jedoch anders dar.

Nach dem Badeseevorfall gerät das zuvor benannte Arrangement weiter unter
Druck. Jetzt, wo Herr Volkert darüber in der Gruppe sprechen muss, kommt
er nicht umhin, anzuerkennen, dass er von anderen Menschen weiterhin in
problematischer Weise als pädophil gesehen wird, wodurch er gezwungen ist,
eine reflexive Position dazu zu entwickeln. Zum anderen bekommt er die volle
Kraft einer totalen Institution zu spüren. Die Klinik erscheint jetzt nicht mehr
nur als Verständnis zeigende und mehr Freiheit gebende Alternative zum Gefäng-
nis. Sie offenbart sich nun ihrerseits als eine Institution der Macht, die massiv
disziplinierend in sein bereits diszipliniertes Leben eingreifen kann. Sie wird
damit auch für ihn unhintergehbar als ein Kraftvektor wirksam, der unweigerlich
sein Selbst- und Weltverhältnis zu formatieren beginnt. Herr Volkert kann sich
3.2  Beispielinterpretation: Herr Volkert – ein kranker Pädophiler?! 71

jetzt nicht mehr der Tatsache entziehen, dass er in medizinischer Behandlung ist
und nun auch über die hiermit einhergehenden Implikationen sprechen muss.
Schauen wir diesbezüglich auf einige erhellende Stellen aus dem Interview
mit dem Patienten:

Herr Volkert: Ich war ja auch schon fast zwei Jahre im Ausgang und weiß nicht,
ob sie Ihnen das gesagt darüber, ich war schon arbeiten, ich war in Köln, ich war
gar nicht hier. Also zur Nacht musste ich immer wieder herkommen oder Ende der
Schicht bis zur nächsten Schicht. Und war deshalb schon so frei unterwegs, dass ich
diese Ängste auch wegtun konnte: ‚Hier komme ich nie vorwärts‘. Oder: ‚Die ver-
suchen mich bloß in die Ecke zu drängen, bis ich endlich zugebe, dass ich ja eigent-
lich vollkommen und so, also vollkommen besessen bin davon. Ich müsste, und
ich würde nur und irgendwas.‘ Ich hatte fürchterliche Ängste. Also die verfolgen
mich heute auch immer noch wieder, wenn ich in solche, das Gefühl habe, dass sich
Druck auf mich gemacht, über diese psychologischen, vielleicht sogar Experimente.
Dann wurde mit einer Konfrontationsart nach dem es nun nochmal so ein Zurück-
holen gab. Sie sagten mir: ‚Sie bleiben in Ihrem Verhalten, lassen Sie sich nicht
ändern.‘ Das war also der Hintergrund: ‚Sie fangen an, wieder genauso offen und
locker und erzählen was hier noch und das macht uns allen schon Bedenken.‘ […]
Da komme ich in alle Ängste. Ich habe also bis zum Suizidgedanken, hier gesagt:
‚Dann hat das keinen Sinn, die wollen das gar nicht. Die wollen niemanden hier
wieder rauslassen, den sie nicht durch Medikamente und sein Zugeständnis: ‚Ich bin
halt so besessen, ich bin sexuell völlig verrückt und völlig falsch, bitte gebt mir end-
lich eine Kastration.‘

Logische Kondensation

Ich bin und ich bin nicht in der Klinik. Ich bin in Köln und arbeite.
In der Nacht bin ich hier.
Es gibt Ängste.
Ich war frei unterwegs.
Die Ängste sind, dass ich nicht vorwärts komme.
Die Ängste sind, dass die Klinik mich zwingen will, pädophiles Begehren zu gestehen.
Wenn ich in der Klinik und nicht in der Klinik bin, sind die Ängste weg und nicht weg.
Die Ängste sind da und nicht da.
Die Klinik setzt mich unter Druck.
Druck macht Ängste.
Die Klinik macht und macht nicht Experimente.
Experimente machen Druck.
Die Klinik konfrontiert.
Die Klinik holt mich zurück.
Die Klinik sagt ich ändere mich nicht und lasse mich nicht ändern.
Die Klinik hat Bedenken.
Ich habe Ängste und Suizidgedanken.
72 3  Praxeologischer Zugang – Dokumentarische Methode …

Ich denke: Die Klinik will mich nicht rauslassen.


Aus der Klinik kommt nur raus, wer Medikamente nimmt und zugibt, besessen, ver-
rückt und falsch zu sein – und um eine Kastration bittet.
Ich muss sagen: Ich bin pädophil. Kastriert mich.

Reflektierende Interpretation

Herr Volkert befindet sich auch schon in der Zeit, als er Freigang hatte, in einer
ambivalenten Situation. Die Ängste sind da und sind nicht da, sie können weg-
geschoben werden. Diese Ambivalenz hält jedoch nur solange an, bis der
Badeseevorfall als Rückfall interpretiert wird. Die Lockerungen werden zurück-
gezogen. Es wird deutlich, dass die Klinik Handeln im Rahmen pädophiler
Fantasien als problematisch begreift. Genau diese Unterscheidung ist jedoch
für Herrn Volkert nicht fassbar. Er begreift das Handeln der Klinik vielmehr als
Machtwillkür. Diese wolle ihn dazu zwingen, etwas zu gestehen, was er nicht mit
sich vereinbaren kann (zuzugeben „falsch“ zu sein und „verrückt“ und sich ent-
sprechend „kastrieren“ zu lassen). Aus der Retrospektive erscheint seine frühere
Naivität in Hinblick auf die euphorische Anfangsbegegnung mit dem Chefarzt
als eine Art Verdrängung („diese Ängste auch wegtun konnte“) der weiter fort-
bestehenden Stigmatisierung, der Gefahr, als Monster behandelt zu werden und
eingesperrt zu bleiben („hier komme ich nie vorwärts“) oder gar mit Gewalt-
mitteln („Druck“) zugerichtet zu werden („vielleicht sogar Experimente“). Der
eigentliche „Hintergrund“ der psychiatrischen Veranstaltung – dass es hier näm-
lich um seine Veränderung geht – wird ihm nun irreversibel offenbar. Damit wird
die Macht der Klinik zum ständig präsenten Bestandteil seines Selbstverhält-
nisses („Also die [Ängste] verfolgen mich heute auch immer noch wieder, wenn
ich in solche, das Gefühl habe, dass sich Druck auf mich“).

Methodologische Bemerkungen
Hier und in den folgenden Sequenzen werden mit der Kontexturana-
lyse unterschiedliche Elemente, welche dem Common Sense nach dem
subjektiven Erleben zugerechnet werden (Gefühle, Gedanken, Fantasieren)
und objektive Gegebenheiten (Abläufe in der Klinik, Entscheidungen)
gleichzeitig aufgegriffen und in der Analyse in Beziehung gesetzt. Wir
nehmen also weder die Haltung ein, dass sich qualitative Forschung nur
mit subjektiv gemeintem Sinn befasse, noch vertreten wir umgekehrt
eine Position, entsprechend nur der Text als objektiver Fakt vorliege und
3.2  Beispielinterpretation: Herr Volkert – ein kranker Pädophiler?! 73

deshalb zu Erste- oder Zweite-Person-Perspektiven nichts gesagt werden


dürfe. Aus dem Blickwinkel der konditionierten Koproduktion gehen wir
vielmehr immer schon von der Verschränkung von Psyche und Sozialem
aus. Um mit Peter Fuchs zu sprechen:
„Das psychische System“ des Menschen, „das SELBST einbegriffen, ist
nicht eine Intimität, sondern randlose Extimität, in der durch Sozialisation
unter unendlich vielem anderen auch die Selbstbeschreibung als Intimität
verfügbar wird“ wie auch „das Erleben eines Körpers etwa.“ (Fuchs 2010,
S. 304).
Es bleibt entsprechend nichts anders übrig, als in der Interpretation in
einer Art ontologischem Gerrymandering (Woolgar und Pawluch 1985) den
Hiatus zwischen vermeintlich subjektiven und objektiven Elementen immer
wieder zu überspringen. Dies entspricht der Haltung von Bruno Latour,
in den Netzwerken seiner Beschreibungen alle Elemente zuzulassen, die
miteinander Wirkungen hervorbringen – seien es materiale Artefakte,
subjektive Zustände oder imaginäre Objekte, wie zum Beispiel ‚Geister‘
oder ‚Götter‘ (vgl. Latour 2007). Dass in der Analyse dann eine bestimmte
Verkettung von Elementen als angemessene Interpretation erscheint, ergibt
sich dann aus dem hermeneutischen Prozess, der unterschiedliche Möglich-
keiten des Verstehens an den Komplex von Aussagen und Beobachtungen
heranträgt und dabei feststellt, dass hierzu auch die Zurechnung auf
Körper, Psychen und Soziales gehört.
Da innerhalb psychiatrischer Behandlungsprozesse per se Perspektiven
gewechselt werden, also Berichte von inneren Zuständen teilweise als
objektive Fakten, teilweise als strategische Anpassung teilweise als
subjektive Meinungen genommen werden und dann umgekehrt dann auch
Symptome oder Verhaltensweisen des Patienten unter dem Blickwinkel
eigener subjektiver Bewertungen interpretiert werden, muss auch die
Rekonstruktion der Verhältnisse immer wieder die epistemische Grenze
zwischen Subjektivem und Objektivem kreuzen.
Es ergibt wenig Sinn, sich darauf zurückzuziehen, dass alles nur sozial
konstruiert sei und dann inneren Zuständen (etwa Wahnvorstellungen
oder pädophilen Begehrens) eine psychische oder leibliche Realität abzu-
sprechen. Umgekehrt wäre es ebenso falsch, die Berichte über das Erleben
des Patienten als unmittelbarer, gar vorsozialer Ausdruck seiner Psyche zu
nehmen. Vielmehr besteht unseres Erachtens der produktivste Weg darin,
auf die Verkettung der jeweiligen Elemente zu schauen und diesbezüglich
74 3  Praxeologischer Zugang – Dokumentarische Methode …

plausible Hypothesen zu entwickeln, die sich dann ein Verständnis ermög-


lichen, das sich dann im Sinne der hermeneutischen Herangehensweisen
an anderen Textstellen und Beobachtungen verdichtet und ggf. wieder
korrigiert oder angepasst werden kann.

Das Selbstverhältnis eines pädophilen Mannes, der sich ich-synton als normal
erlebt, beginnt sich nun mit einem Weltverhältnis zu verweben, dass auch
die Selbstwahrnehmung im Sinne therapeutisch-medizinischer Diskurse zu
formatieren beginnt. Die Welt des therapeutischen Regimes wird damit – auch
wenn er es selbst nicht so haben will – zu seiner eigenen.
Diese Implikationen und die hiermit einhergehenden Reflexionen werden
zunehmend internalisiert, der unhintergehbare therapeutische Vektor der Klinik
zeigt Wirkung, wie etwa der folgende längere Gesprächsausschnitt recht deutlich
aufzeigt:

Interviewer: Also Sie haben dann praktisch doch wieder so Situationen aufgesucht,
wo Sie Anregungen für Fantasien oder …
Herr Volkert: Richtig. Wo ich Anregungen kriegte, wo mir das wohltat, dass ich ja
sagen kann: ‚Ey‘, super. Ich lächele natürlich, finde das niedlich, die Kinder machen
da Quatsch und Purzelbäume oder kabbeln sich. Ja, das ist ein angenehmes Gefühl.‘
Habe mich wieder darauf eingelassen und immer gemeint, das ist aber nichts, was
mich so weit bringen wird […] also den Punkt habe ich ja mit dem Kognitiven im
Griff und bitte sehr: Da war es wieder. Da merkt man das dann, wenn man sich
plötzlich äußern muss. Dann merke ich, wenn ich es äußern muss, merke ich: ‚Jetzt
benutze ich ja schon wieder genau die gleichen, genau die gleichen Argumente, die
ich seinerzeit benutzt habe.‘ Und das ist dann immer die Frage, wer macht das? Ist
das der Verteidiger in mir, der immer sagen will: ‚Die sind alle doof und du bist
ein Guter‘? Und es gibt so ein psychologisches Modell des sogenannten Deliktteils,
so wie man sagen würde, so natürlich, das kennt man, man trägt diesen Schweine-
hund immer in sich, der einem dann zuspricht: ‚Du musst da auch nicht auf die
hören, den Schweinehund zu überwinden.‘ Und unter diesem Schweinehund sagt
man, der Deliktteil ist wie so ein Einer in mir, der immer kämpft dafür, sofort wach-
rufen wird, wenn jemand, wie Sie mir gegenüber sitzen, etwas hören will darüber,
dann sagt er immer: ‚Erzähl nicht alles oder mach das so oder rede hier nicht vom
Alibisieren, das ist doch, das machst du doch bloß, weil die anderen das wollen.‘
Und so was alles. Also das sind zwei Seelen, die sind in meiner Brust. Die sind
also nicht nur da, diese Seele ist nicht nur da, wenn der diese schönen, visuellen,
akustischen oder diese Reize mitnehmen will, dieses Wohlfühlen in der Nähe von
Kindern. Sondern der ist auch da, wenn andere da ihn dran fechten wollen, wieder
dran fechten wollen und sagen wollen: ‚Na wollten Sie sich nicht ändern?‘ Dann
3.2  Beispielinterpretation: Herr Volkert – ein kranker Pädophiler?! 75

ist der wach, dann ist der fängt schon an. Das bringt, brachte natürlich dazu, dass
wir irgendwo, wusch, noch mal richtig auf den Grund wollten. Was mich geärgert
hat an der Sache war, auf einmal hieß es dann, was sicherlich faktische Gründe,
alles belegbar oder auch zu rechtfertigen ist. Dass sie mich der Frau Schilling
weggenommen haben. Wie auch immer, dem Psychologen, haben mich zu dem
Herrn Martin gebracht. […] Und der fing diese Konfrontierung an, als müsste er
jetzt noch mal, also ich habe es halt so empfunden, und das macht es natürlich ver-
dammt schwer, als wollten die mir im Prinzip jetzt ausgraben: ‚Der hat es bloß nie
zugegeben, der hat irgendwo Leichen im Keller.‘

Logische Kondensation

Ich suche Situationen, wo ich Anregungen kriege.


Situationen mit Kindern regen mich an.
Ich lasse mich auf angenehme Gefühle ein.
Angenehme Gefühle sind nichts, was mich so weit bringen wird.
Ich habe das durch das Kognitive im Griff.
Wenn ich sage, dass ich es mit durch das Kognitive im Griff habe, ist ES wieder da.
Es ist, wenn ich merke, dass ich das Kognitive als Argument benutze.
Jetzt bin ich anders als seinerzeit.
Es ist und es ist nicht der Verteidiger.
Der Verteidiger sagt, Du bist ein Guter und die anderen sind doof.
Es gibt eine psychologische Theorie.
In der Theorie gibt es den Deliktteil.
Der Deliktteil ist der Schweinehund. Der sagt, dass man ihn nicht überwinden muss.
Wenn jemand da ist, zu dem man redet, spricht der Deliktteil.
Der Deliktteil sagt, was man sagt und nicht sagt. Der Deliktteil sagt, dass man vom
Alibisieren spricht und nicht spricht.
Es gibt zwei Seelen in meiner Brust.
Die Seele ist da, wenn ich mich mit Kindern wohlfühle.
Die Seele ist da, wenn die anderen dieses Gefühl anfechten wollen.
Die anderen erwarten, dass ich es ändere.
Das bringt mich und bringt mich nicht dazu, dass wir der Sache auf den Grund
gehen.
Es ärgert mich, dass alles faktische Gründe hat und belegbar und zu rechtfertigen ist.
Die erwarten, dass ich das ändere.
Deswegen haben sie mich Frau Schilling weggenommen.
Deswegen bin ich bei Herrn Martin.
Herr Martin konfrontiert.
Herr Martin muss und muss nicht.
Es ist so und es ist nicht so.
Es ist schwer.
Die wollen mit mir ausgraben: Herr Volkert hat Leichen im Keller. Herr Volkert
muss zugeben, dass er Leichen im Keller hat.
76 3  Praxeologischer Zugang – Dokumentarische Methode …

Reflektierende Interpretation

Wir finden hier ein recht komplexes polyphones Gewebe unterschiedlicher


Positionen vor, die aufeinander referieren, ohne dabei jedoch zu einem stabilen
Arrangement zu gelangen. Zum einen gibt es das unmittelbare Fühlen Herrn
Volkerts in der Nähe von Kindern sowie seine unmittelbare Reaktion auf die
Nachfrage, dass „das Kognitive“ alles „im Griff“ habe. Daraufhin schaltet sich
jedoch eine in der Psychiatrie erlernte Reflexionsfigur ein, die die Zurechnung auf
„das Kognitive“ unter Verdacht stellt. Wie der Patient selbst bemerkt, wird diese
dadurch evoziert, im Rahmen der Therapie über die eigenen Rechtfertigungen
sprechen zu müssen („Da merkt man das dann, wenn man sich plötzlich äußern
muss“). Die „Argumente“ seiner Legitimation erscheinen nun als „Problem“,
nämlich als Versuch zu „Alibisieren“. Gleiches gilt für den Verweis auf die eigene
Unschuld (die Anderen sind „alle doof und du bist ein Guter“). Möglicherweise ist
es also der „Deliktteil“ in Einheit mit dem „Verteidiger“, der da spricht und nicht
möchte, dass man ihm auf „den Grund“ geht. Dies scheint alles gut begründet.
Wenn Therapie nur so einfach wäre, wäre der Patient mit dieser Reflexions-
instanz nun hinreichend ausgestattet, seinen inneren „Schweinehund“ zu über-
winden. Das auf diese Weise ermächtigte Ich würde sich nicht mehr durch die
zuvor unbewussten Teile an der Nase herumführen lassen und so zu einer
umfassenderen Selbstkontrolle ermächtigt. Doch so funktioniert es nicht. Die
durchaus erfolgreich rekapitulierten therapeutischen Positionen (denn ansonsten
würden sie nicht im Interview reproduziert) übernehmen nicht das Regime,
sondern werden ihrerseits durch andere Positionen reflektiert, kommentiert
und damit relativiert. Sie erscheinen nicht als die eigene Rede, sondern fremd-
motiviert („Alibisieren […] machst du doch bloß, weil die anderen das wollen“).
Doch auch diese Volte rastet nicht in eine stabile Position ein und wird von
einer anderen Position als Therapieverweigerung kontextualisiert („Na wollen
Sie sich nicht ändern“). Die Positionen kommentieren sich ständig. Zur weiter-
hin fortbestehenden gefühlsmäßigen Referenz („dieses Wohlfühlen in der Nähe
von Kindern“) gruppieren sich jetzt vielfältige Weisen des darüber Redens und
Sprechens. Letzteres ist wohl genau das, was Foucault im Blick hat, wenn er von
der diskursiven Explosion um den Sex herum schreibt und dabei eher von „Über-
ladung“ und „Verdoppelung“, denn von zu wenig Reflexion spricht (Foucault
2019 [1977], S. 68).
Im Falle Herrn Volkerts entsteht dadurch überhaupt erst jenes polyphone
Gewebe, dem er auf Anlass des Therapeuten gemeinsam mit ihm („wir“) dann
„richtig auf den Grund“ gehen will. Hiermit ergibt sich allerdings ein Problem für
die Psychotherapie: Herr Volkert steigt in seinen eigenen therapeutischen Prozess
3.2  Beispielinterpretation: Herr Volkert – ein kranker Pädophiler?! 77

mit ein, indem er die Rede von unterschiedlichen ‚innerpsychischen‘ Positionen


übernimmt (Deliktteil, Verteidiger, Seelen, etc.) und Interesse an deren Wechsel-
spiel bekundet. Damit ist jedoch die Position, die Gefallen an Kindern findet,
keineswegs getilgt und auch keine Instanz etabliert, welche ihn davon abhält, die
„schönen, visuellen, akustischen Reize mitzunehmen“, die die Nähe zu Kindern
für ihn bringen. Im Kontext einer Psychotherapie mit einem Menschen, der kein
potentieller Rechtsbrecher ist, wäre dies nicht weiter schlimm – ggf. würde sich
der therapeutische Diskurs einfach immer weiter perpetuieren oder gar durch das
Scheitern noch weiter angeheizt werden.
Der Maßregelvollzug kann und darf sich hiermit jedoch aus nahe liegenden
Gründen nicht zufriedengeben. Während die Gesellschaft dem ‚normalen‘
homo- oder heterosexuellen Mann zugesteht, seine Perspektiven und Empfin­
dungsmöglichkeiten in Hinblick auf seine sexuellen Impulse diskursiv zu verviel-
fältigen, soll Herr Volkert eben nicht lernen, sich auf diese intellektualisierende
Weise noch weiter zu subjektivieren. Er soll vor allem unterlassen, sich weiterhin
den Kindern zu nähern.
Am Wechsel der Therapeutin wird nun auch deutlich, dass Psychotherapie im
Maßregelvollzug nicht als ein freiwillig vereinbartes Arbeitsbündnis erscheint.13
An dieser Stelle wird dem Patienten erneut gewahr, einer totalen Institution aus-
geliefert zu sein. Man kann ihm Beziehungen „wegnehmen“, ohne ihn zu fragen,
obschon er zugesteht, dass es hierfür berechtigte Gründe gegeben haben mag
(„sicherlich faktische Gründe, alles belegbar oder auch zu rechtfertigen ist“).
Er bezieht somit die Position der Klinik ein, sieht sich aber zugleich der dies-
bezüglichen Willkür der Klinik ausgeliefert. Hiermit einhergehend entsteht ein
Selbst- und Weltverhältnis, das sich selbst die widerständige Emotion zurechnet,
während Konsequenzen der Macht einfach nur ertragen werden müssen („was
mich geärgert hat“). Die Emotion Ärger ist insofern in hohem Maße sub-
jektivierend, als dass das Zentrum der Energie als Eigenes erfahren wird und der
Feind oder Gegner eindeutig auf Seite der Anderen verortet werden kann. Der
Ärger richtet sich aber wie erwähnt nicht gegen Frau Schilling, sondern gegen die
Klinik, die – in Person des neuen Therapeuten – vermutet, dass es auf dem Grund
tatsächlich etwas zu „entdecken“ gibt.

13 Erbezieht nicht die Möglichkeit mit ein, dass Frau Schilling auch nicht mehr seine
Therapeutin sein wollte, aber das ihm nicht so direkt sagt, da sonst bisherige therapeutische
„Fortschritte“ aufs Spiel gesetzt werden.
78 3  Praxeologischer Zugang – Dokumentarische Methode …

Mit Blick auf den Zweckauftrags der Klinik (Besserung und Sicherung)
können wir die Hypothese aufstellen: Insofern es gelingt, die zuvor benannte
Figur beim Patienten zu internalisieren – also auch in Abwesenheit der machtaus-
übenden Institution auf Dauer zu stellen – ergibt sich für die Forensik ein wirk-
samer Ansatzpunkt einer therapeutischen Zurichtung, die dann möglicherweise
auch das pädophile Verhalten adressieren könnte.
Unter dem Analyseschema Bezugsproblem/Lösung der funktionalen
Methode erscheint es an dieser Stelle produktiv, das Augenmerk auf folgende
zwei Weichenstellungen zu lenken: In Hinblick auf das Bezugsproblem ein
‚normaler‘ Pädophiler zu sein (der aus Perspektive des eigenen Selbstverhält-
nisses doch eigentlich gar nichts ‚Schlimmes‘ tut) und dabei gleichzeitig als
Patient in einer forensischen Klinik interniert zu sein, ist Herr Volkert in der
Lösung eingerastet, an den Therapieprogrammen teilnehmen (er hätte dies ja
auch verweigern und hoffen können, dann irgendwann von seinem Anwalt auf-
grund der Verhältnismäßigkeit herausgeholt zu werden). Hiermit entsteht für ihn
jedoch ein weiteres Bezugsproblem, nämlich die Frage, wie die nun die hieraus
folgenden Dilemmata in seinem Selbstverhältnis gelöst werden können. Als eine
Weichenstellung wäre denkbar, dass der Patient nun sein pädophiles Begehren
problematisch erlebt und mit den Therapeuten nach einer neuen Weise sucht, mit
seiner Sexualität umzugehen. In diesem Fall jedoch entfaltet sich jedoch eine
andere Lösung: Unterschiedliche Stimmen und Haltungen („zwei Seelen in der
Brust“) koexistieren nebeneinander, ohne dass damit das pädophile Begehren
grundsätzlich infrage steht.

Die Konfrontation in der Visite

Wir erinnern uns, dass die Stationsleiterin angab, dass allein das Wort
„Pädophilie“ Herr Volkert „auf die Palme“ bringe. Eine Woche nach unserem
Interview mit Herrn Volkert bietet ihm der Oberarzt während einer Visite an,
mit ihm die infrage kommenden triebdämpfenden Medikamente durchzugehen,
sofern er wieder rückfällig werden würde. Daraufhin wirft der Patient dem
Psychiater lautstark vor, ihn kastrieren zu wollen und verlässt entrüstet den Raum:

12.6.2019, 10:30 Uhr, Oberarztvisite


Oberarzt: Was gibt es bei Ihnen?
Herr Volkert: Warten ist ja jetzt die Überschrift ... jetzt von meiner Seite ...
Oberarzt: Bei Ihnen war das Aussetzen des UA [unbegleiteten Ausgang] […] jetzt
über die drei Jahre her … was hat sich jetzt aus Ihrer Sicht verändert?
3.2  Beispielinterpretation: Herr Volkert – ein kranker Pädophiler?! 79

Herr Volkert: Jetzt nach dem Gespräch vor 3 Monaten ... natürlich hat sich jetzt
etwas geändert ... der Schock, dass das jetzt Dritte so sehen ... die Sicht der Dritten,
die das nicht so harmlos sehen, wie ich das sehe ... das habe ich jetzt verstanden ...
früher konnte ich mich ja damit retten „die, welche mich angezeigt haben, haben
sich in eine Hysterie hinein geredet“ ... und deswegen bin ich verhaftet worden ...
aber jetzt ... vorher habe ich gar nicht begriffen, wie mich die Dritten sehen ...
Oberarzt: … ist jetzt schon einige Jahre her, dass Sie alleine draußen waren her
...warum soll es jetzt klappen?
Herr Volkert: Vieles meiner inneren Abwehr ist jetzt ein bisschen schwächer ... kann
jetzt sagen, dass da ein paar Teile von mir sind ... die auch bleiben werden ... und
das hat es für mich weicher und akzeptabler gemacht und auch das Motiv ist jetzt
für mich klar ... „Ich möchte nie wieder so dumm dastehen“ ... und jetzt, dass ich
jetzt mit dem locker lassen ... „Jetzt lasse ich mich wieder so sehen“ – „nein!“ – das
habe ich jetzt zumindest theoretisch begriffen ...
Oberarzt: Ich kann ja jetzt mit Ihnen mal die Substanzen durchgehen ... steht ja jetzt
noch nicht zur Debatte ... aber wenn es bei einem UA einen Rückfall geben wird,
dann ist das ja eine Option ...
Herr Volkert: (laut, offensichtlich stark berührt): Jetzt schreit es bei mir innerlich ...
ich habe nie ein Kind angegriffen ... das hat das Gericht festgestellt ... Sie müssen
nicht alle Männer kastrieren ... nur weil ich weibliche Rundungen bei Kindern schön
finde ... dann unterstellen Sie mir gleich, dass ich sie ficken will ... aber so Leute wie
Sie, wollen mich ja grundsätzlich kontrollieren und einsperren ... nur weil Sie sich
nicht vorstellen können, dass manche Menschen anders sind und empfinden ... des-
wegen sitzen Sie wohl hier, weil sie wie im Dritten Reich nicht anders können als
einsperren und kastrieren ...
(geht raus und knallt die Tür)
Pflegedienstleiterin: Soweit mit dem Bedürfnisverzicht

Logische Kondensation

Oberarzt: Es gibt was bei Ihnen.


Herr V.: Warten, meine Seite.
Oberarzt: Unbegleiteter Ausgang seit drei Jahren ausgesetzt. Es hat sich etwas bei
ihnen geändert. Ihre Sicht.
Herr V., Die Sicht der Dritten. Ich habe verstanden: Dritte sehen es nicht harmlos.
Ich sehe es harmlos. Früher: Dritte sind hysterisch. Jetzt: Dritte sehen es anders als
ich.
Oberarzt: Sie sind nicht draußen, weil es nicht geklappt hat. Es klappt nicht draußen.
Herr V.: Es klappt draußen. Mein Widerstand gegen therapeutische Einsicht ist
schwach und nicht schwach. Ich kann sagen: Es gibt Teile. Diese Teile bleiben. Es
ist und ist nicht weich und akzeptabel. Das Motiv ist klar. Ich möchte nicht dumm
dastehen. Ich will von Dritten nicht so gesehen werden. Ich habe es begriffen und
nicht begriffen
Oberarzt: Wenn Rückfall, dann chemische Kastration und nicht chemische Kastration.
80 3  Praxeologischer Zugang – Dokumentarische Methode …

Herr V.: Es schreit innerlich. Ich greife Kinder an und greife keine Kinder an. Sie
kastrieren alle Männer. Ich finde weibliche Rundungen bei Kindern schön. Es folgt
nicht, dass ich Kinder ficken will. Es gibt Leute wie sie. Ich empfinde anders als Sie.
Sie können sich das nicht vorstellen. Sie sperren ein und kastrieren. Hier ist und ist
nicht das Dritte Reich.
Herr V.: Ende [Türknallen].
Pflegedienstleiterin: Kein Bedürfnisverzicht.

Reflektierende Interpretation

Aus dem Blickwinkel der medizinischen Rationalität sind die ersten Sequenzen
nicht ungewöhnlich und gehören gewissermaßen zum Standardformat
psychiatrischer Visiten. In diesem Gespräch geht es auch um den anstehenden
unbegleiteten Ausgang. Der Oberarzt testet durch seine Fragen ab, inwiefern Herr
Volkert den therapeutischen Diskurs internalisiert hat. Herr Volkert zeigt per-
formativ zunächst, dass er dieses Spiel beherrscht. Und zeigt performativ, was
der Oberarzt bereits über ihn berichtet hat: er kann intellektuell Erfolge benennen
und ausführen. Er gibt an, dass er etwas gelernt habe und was er gelernt habe.
Er reproduziert die Figuren, welche die psychotherapeutischen Diskurse zur
Verfügung stellen („innere Abwehr“, „ein paar Teile von mir“, „Motiv ist jetzt
für mich klar“) und gibt an, dass er jetzt endlich gelernt habe, die Perspektiven
anderer wahrzunehmen („vorher habe ich gar nicht begriffen, wie mich die
Dritten sehen“), also die Fremdperspektive nun auch zu seinem Weltverhältnis
gehört. Interessant ist nun, dass sich hier kein grundlegender Wandel zeigt. Wie
schon im Interview erzählt er von seinen unterschiedlichen „Teilen“, die dann
jedoch wohl „auch bleiben werden“. Seine Position bleibt ambivalent. Nur dass,
er die Dritten versteht, heißt nicht, dass er deren Position auch teilt.14
Die Teile mögen „weicher und akzeptabler“ geworden sein. Das heißt jedoch
noch nicht, dass sie akzeptabel sind. Das theoretische Begreifen muss nicht damit
einhergehen, auch das praktische Verhalten substanziell zu ändern. Sein „Motiv“
ist somit nur „nie wieder so dumm da[zu]stehen“.

14 Oder um es noch schärfer zu pointieren: Er sagt nur, dass er verstanden hat, dass Dritte
es anders sehen. Und er sagt noch mehr: Dritte sehen es nicht so harmlos wie ich. Das hat
er verstanden. Er sieht es aber nach wie vor harmlos. Er hat jedoch (noch) nicht verstanden,
dass sein Verhalten eben nicht harmlos ist (gemäß der Klinik, die hier die Deutungsmacht
hat).
3.2  Beispielinterpretation: Herr Volkert – ein kranker Pädophiler?! 81

Der Oberarzt scheint die Problematik der hier aufgeworfenen Theorie-Praxis-


Differenz zu bemerken und bringt die Option des realen, durch Medikamente
vermittelten Triebverzichts ein. Dies macht er in einer sprachlichen Form, die in
der Gegenwart der Visite eine Zukunft projiziert, in der der Patient bereits wieder
rückfällig geworden ist und nun erneut mit seinem Scheitern umgehen muss.
Dabei bleibt aber auch der Oberarzt im Raum des Unbestimmten („Option“).
Die Reaktion des Patienten zeigt an, dass er die Figur des Futur II nicht nur
verstanden, sondern auch als gefühlsmäßige Zumutung angenommen hat. Er
versteht, dass er bei einer erneuten, für ihn selbst weiterhin harmlos
erscheinenden Kontaktaufnahme mit Kindern wieder zurück in die Klinik kommt
und vermutlich nur wieder gelockert wird, falls er einer antiandrogenen Therapie
zustimmt. Und versteht zugleich nicht warum. Durch seine Reaktion offenbart er,
dass er selbst nicht sicher ist, dass es diesmal klappen wird, sagt er implizit doch
selbst, dass er sich nicht anders verhalten will, sondern nur nicht mehr dumm vor
anderen dastehen will.
Für ihn besteht ein Unterschied zwischen „Monstern“ (s. o.) die Kinder
„ficken“ wollen und ihm, der „weibliche Rundungen bei Kindern schön“ findet.
Es wird deutlich, dass er (wie er selbst sagt!) lediglich „theoretisch“ verstanden
habe, dass Dritte – und damit auch die Klinik – sein Verhalten problematisch
finden. Praktisch lautet sein Vorwurf an den Oberarzt, dass dieser ihn nicht ver-
stehen könne. Herr Volkert versteht nicht, dass es hier nicht um Probleme des
Verstehens bestimmter Präferenzen geht, sondern und unterschiedliche Ein-
ordnungen seines Verhaltens. Das bleibt ihm praktisch unzugänglich. Und gerade
darin begründet sich die Vehemenz seiner Reaktion.
Im Gegensatz zur Psychiatrie des von Herrn Volkert angerufenen „Dritten
Reichs“ verfügt der Oberarzt von außen betrachtet kaum über die Macht, einen
mit Blick auf die Deliktschwere eher wenig gefährlichen Patienten dauerhaft
„einzusperren“15 oder gegen seinen Willen medikamentös zu behandeln. Herr
Volkert sieht sich selbst aber dennoch mit der Anforderung konfrontiert, entweder
seine grundlegende Art des in-der-Welt-Seins zu ändern oder eben „eingesperrt“
zu bleiben. Die eigentliche Pointe dieser Szene liegt, um nochmals Foucault
zu zitieren, nicht in der „Frage“, ob Herr Volkert wirklich „unterdrückt“ wird,

15 Wobei 6 oder 10 Jahre Unterbringung, die seit der jüngsten Novellierung des § 63 als

Prüfsteine der Verhältnismäßigkeit vorgesehen sind, im Gegensatz zu einer 0,5–2 Jährigen


Unterbringung im MRV tatsächlich eine gewisse Dauerhaftigkeit sind.
82 3  Praxeologischer Zugang – Dokumentarische Methode …

sondern „weshalb“ er „mit solcher Leidenschaft“ sagt, dass er „unterdrückt“ wird


(Foucault 2019 [1977], S. 16).
Was der Patient nicht sehen kann, was für ihn implizit bleibt, ist, dass
er gerade durch seinen leidenschaftlichen Widerstand sich weiter in das
therapeutische Arrangement verwickelt. Er baut die Emotion des existenziell
Unterdrückten auf und da das Gefühlte im Selbstverhältnis seine eigene Wirk-
lichkeit mit sich bringt, beginnt sein körperliches System die hiermit einher-
gehende Realität auf die Dauer mehr und mehr zu habitualisieren. Aufgrund der
geringen Schwere des Delikts und im Wissen darum, dass man ihn in dieser Hin-
sicht nicht zwangsmedikamentieren kann, könnte er auch die Strategie verfolgen
abzuwarten, bis ihn seine Rechtsanwältin aufgrund der anstehenden Prüfung
der Verhältnismäßigkeit aus der Klinik „herausholt“. Es würde reichen, wenn
Herr Volkert sich bis dahin als ein verständiger Patient zeigt – etwa den Ärzten
sagt, dass er alles versuchen werde, um seine pädophilen Neigungen in Griff zu
bekommen und im Falle eines Rückfalls sogar über antiandrogene Mittel nach-
denken werde. Draußen wäre er dann gut beraten, seinen pädophilen Neigungen
etwas verdeckter als bisher Ausdruck zu verleihen. Wir haben mit Patienten
gesprochen, bei denen sich solche Arrangements herausbilden konnten. Aber
dieser Kontrast zeigt, dass im Fall von Herrn Volkert genau dies nicht möglich
ist, da er im Grunde tief und fest davon überzeugt ist, dass sein Verhalten – trotz
divergierender Ansichten „Dritter“- unproblematisch sei. Doch einmal als „Pädo-
philer“ zum Gegenstand der Medizin geworden, bleibt ihm nur als Möglichkeit
darin einzustimmen und das für ihn Unsagbare zu sagen: „Ich bin pädophil“ –
mit allen Implikationen, die mit einer solchen erkenntnistheoretischen Wende
einhergehen würden (Bateson 1992 [1972], S. 434; sowie Feißt 2019). Und je
mehr er dagegen anschreit („Ich bin nicht pädophil!“) umso mehr liefert er für
die Klinik die Berechtigung, dass er am richtigen Platz ist. Die Welt der totalen
Institution Maßregelvollzug ist so präsent, dass sie unweigerlich zum Selbst- und
Weltverhältnis des Patienten wird. Er kann sich, so die These, gegen die damit
verbundenen Zumutungen auf die eigene Identität nicht mehr so ohne Weiteres
abschirmen, etwa indem er in Modus des Als-ob nur so tut, die Anforderungen
der Klinik zu verstehen, diese aber nicht so sehr an sich ranlässt. Denn dann hätte
er ja auch nicht wütend werden und die Türe schlagen müssen. Er hätte einfach
nur cool seine Rolle einnehmen können. Doch genau dies kann er nicht.
Das Analyseschemata der Kontexuranalyse lässt sich an dieser Stelle selbst-
redend auch auf das Selbst- und Weltverhältnis andere Positionen innerhalb des
Arrangements anwenden.
Für den Oberarzt stellt sich das Problem, einen Mann mit pädophilem
Begehren vor sich zu haben, der in absehbarer Zeit wieder entlassen werden
3.2  Beispielinterpretation: Herr Volkert – ein kranker Pädophiler?! 83

muss, da irgendwann die Verhältnismäßigkeit greift. Als Weichenstellung sind


hier in Hinblick auf sein Handeln drei Alternativen denkbar:

1. Die Gerichte und Gutachter dazu zu bringen, den Patienten aufgrund von
besonderer Gefährlichkeit länger in der Klinik zu behalten (was aufgrund der
geringen Deliktschwere nicht so recht plausibel erscheint aber im Hinblick
auf das gesellschaftliche Klima durchaus möglich ist, siehe etwa Schiffer und
Schalast 2019, S. 157 f.);
2. den Patienten dann weitgehend unbehandelt zu entlassen (hierin aber auch
kein größeres Problem zu sehen, da die Delikte nicht so schwerwiegend
waren);
3. einen forcierten therapeutischen Druck aufzubauen, um den Patienten in Hin-
blick auf seine Therapiebedürftigkeit zur Einsicht zu bringen. Die Intervention
des Oberarztes erscheint hiermit als die Lösung des Bezugsproblems, im
Kontext einer spezifischen rechtlichen Lagerung einen therapeutischen Auf-
trag zu haben und diesen auch erfüllen zu wollen.

Für den Patienten lässt sich hier etwa das Bezugsproblem einer Interaktions-
situation pointieren, in der seine Identität bedroht erscheint. Da er sich als guter
und nicht als monströser Mensch erlebt und sein pädophiles Begehren ich-syn-
ton erscheint, stellt die Zumutung über die chemische Kastration nachzu-
denken, gleichzeitig von zwei Seiten sein Selbstverhältnis infrage bzw. bedroht
dieses. Die Emotion ‚Wut‘ erscheint damit als eine Lösung für ihn, da gerade in
diesem Gefühl auf leiblicher Ebene eine starke Identität erfahren werden kann.
Zugleich generiert eben diese Wut ein neues Bezugsproblem für den Patienten,
denn sie wird im Kontext der Klinik als Symptom gewertet und ist entsprechend
therapeutisch zu bearbeiten. Der Patient mag zwar wütend den Raum verlassen
und die Türe schlagen, erzeugt jedoch hiermit das Problem, über das Geschehene
und Erlebte wieder kommunizieren zu müssen, da er dem Weltverhältnis, in
einer psychiatrisch-therapeutischen Einrichtung untergebracht zu sein, nicht aus-
weichen kann.

Inkorporiertes Arrangement: Selbst- und Weltverhältnisse


beginnen sich zu verschränken

Herr Volkert kann sich den Zumutungen der Intervention des Oberarztes
nicht mehr entziehen, weil er zu sehr bereits Teil des psychiatrischen Arrange-
ments geworden ist und sich den hiermit einhergehenden Kraftlinien nicht mehr
84 3  Praxeologischer Zugang – Dokumentarische Methode …

entziehen kann. Gerade weil sein inneres Erleben und die hiermit aufscheinende
Subjektivität von dem polyphonen Netzwerk von Positionen und den damit ver-
bundenen Machtverhältnissen nicht zu trennen ist, sondern umgekehrt immer
schon ein Ausdruck derselben ist, kann er nicht anders, als sich als Subjekt zu
artikulieren, in dem er wütend protestiert, um gerade hierdurch zu zeigen, dass er
die Zumutungen der Klinik verstanden hat.
Entsprechend muss er auch dort reden, wo es aus einer rationalen
Akteursperspektive heraus gesehen strategisch eigentlich besser wäre zu schweigen.
Eine Stunde nach der Visite kommt Herr Volkert in das Büro der Stations-
pflege und gibt einen Zettel ab. Dort steht in Großbuchstaben geschrieben:

VOLKERT
?WARUM?
PANIK!
ENTSETZEN!
FURCHT!
WUT!
VOLL RESIGNIERT!
BITTE UM DRINGENDES GESPRÄCH

In kondensierter Form tritt hier nun noch einmal das bereits Rekonstruierte
zutage: Ein Nachvollzug der Position des Oberarztes scheint ihm unmög-
lich („?WARUM?“). Sie kann entsprechend nicht rational bearbeitet werden,
sondern löst emotionale Reaktionen hervor („PANIK! ENTSETZEN! FURCHT!
WUT!“), die er aber nicht nur wie eben in der Visite zeigt, sondern auch schrift-
lich artikuliert, um die hiermit assoziierten Machtverhältnisse somit auch in dieser
Form zum Gegenstand des Behandlungsprozesses werden zu lassen. Im Gegensatz
zu Menschen, die sich durch die Gesellschaft und ihre institutionellen Vertreter
nicht berühren lassen,16 kann Herr Volkert nicht anders, als erneut das Gespräch zu
suchen. Allein schon die Tatsache, dass er formell darum bittet, zeigt an, wie stark
er das institutionelle Regime bereits verkörpert hat. Hinzu kommt, dass er sich
nicht nur als normal ansieht, er will unbedingt auch als normal anerkannt werden.
Er braucht den Konsens mit dem Arzt. Es ist diese Form der Anerkennung, die

16 Inder Differenzialdiagnose würden Psychiater hier dann den sogenannten Soziopathen


unterscheiden, der nur in geringen Maße Kompetenzen wie Mitgefühl, Einfühlungsver-
mögen und Unrechtsbewusstsein entwickelt hat und entsprechend auch in seiner Identitäts-
konfiguration weniger davon abhängig ist, wie andere ihn sehen.
3.2  Beispielinterpretation: Herr Volkert – ein kranker Pädophiler?! 85

er ganz zu Beginn seiner Unterbringung durch den Chefarzt erhalten hat, aber
nur innerhalb des psychiatrischen Regimes Gültigkeit besitzt. Bei all dem ist zu
beachten, dass er bereits seit Jahren nicht einmal sein ausleben kann, denn seit
dem Vorfall am Badesee vor drei Jahren durfte er die Mauern der Klinik nicht
mehr ohne Begleitung durch das Personal verlassen. Es geht für ihn also nicht
mehr um die faktische, materiale Seite seines Weltverhältnisses, sondern um den
symbolischen Aspekt des internalisierten Selbstbilds, das weiterhin die Gleich-
setzung mit dem problematischen pädophilen Begehren mitführen lässt.
Am Nachmittag bekommt Herr Volkert noch, wie von ihm gewünscht, das
Gespräch mit dem Therapeuten:

13.9., 7:35 Uhr (am nächsten Tag) im Stationszimmer


Feldforscher: Hat sich Herr Volkert beruhigt?
Pfleger: Ja, er hat sich wieder eingekriegt ... Hatte dann gestern noch ein Gespräch
mit dem Therapeuten ... er kocht dann erst mal hoch und dann reguliert er sich
wieder ...

Logische Kondensation

Feldforscher: Herr Volkert: ruhig.


Pfleger: Herr Volkert ist ruhig. Das Gespräch mit dem Therapeuten führt zur Ruhe.
Wenn Herr Volkert kocht, dann reguliert er sich wieder runter.

Reflektierende Interpretation

Gerade die beiläufige und unaufgeregte Verallgemeinerung der Dynamik


zwischen der Klinik und Herrn Volkert ist hier interessant. Für die Pflege-
kraft scheinen die Geschehnisse eben Ausdruck des „Arrangement Volkert“ zu
sein: Die Position der Klinik lässt Herrn Volkert hochkochen, er beruhigt sich
wieder und das Spiel kann wieder von vorne beginnen. So ist es nun mal. Dies
wird sich (über die Jahre) solange wiederholen, bis Herr Volkert seine Position
ändert und ein anderes Arrangement einrasten kann. Interessant ist dabei, dass
die Klinik selbst integraler Bestandteil dieser Dynamik ist: Der Oberarzt lässt
ihn gezielt hochkochen. Und es ist der Psychotherapeut, der auf Bitte von Herrn
Volkert durch ein Gespräch interveniert. Die Pflege begreift diesen Zusammen-
hang dennoch als eine Form der Selbstregulation des Patienten. Auf- wie auch
Abregung sind also als Formen gemeinsamer Produktion (konditionierter
Koproduktion) zu betrachten.
86 3  Praxeologischer Zugang – Dokumentarische Methode …

Was hier geschieht, geschieht nicht zufällig, wie in der Nachbesprechung im


therapeutischen Team deutlich wird. Allerdings zeichnen sich auch hier unter-
schiedliche Positionen ab:

12.6.2019, 10:45 Uhr, im Stationszimmer (Oberarzt, Pflegedienstleiterin, ein Feld-


forscher und eine neue Psychotherapeutin sind anwesend)
Oberarzt (über Volkert): … ist jetzt auch gut, Druck aufzubauen ... es geht ja dann
in Richtung der intendierten Veränderung ... geht dann in kleinschrittig überwachten
UA ... es droht ja jetzt auch die Verhältnismäßigkeit [nach 6 Jahren] ... es handelt
sich um sexuellen Missbrauch, keine Tötung oder Vergewaltigung ... jetzt hat es
keinen Sinn immer nur ‚Trockenschwimmen‘ zu machen ... er muss raus, selbst
wenn die Pfleger dagegen sind ... jetzt ihm das Stufenschema erläutern [abgestufte
Liste immer stärker triebdämpfender Medikamente] ...
Pflegedienstleiterin: Wir haben ja jetzt auch einen gesellschaftlichen Auftrag ... den
Schutz der Kinder ...
Oberarzt: In Einrichtungen, wo kein Druck in diese Richtung [chemische Trieb-
dämpfung] besteht, verweilen sie oft ewig ...
Pflegedienstleiterin: Ist aber jetzt auch nicht schlecht, wenn sie länger drin bleiben ...
Oberarzt: Sehe ich jetzt nicht so, ist Freiheitsberaubung ...

Logische Kondensation

Position Oberarzt: Druck aufbauen ist gut. Ziel: intendierte Veränderung.


Es folgt der kleinschrittig überwachte unbegleitete Ausgang.
Herr Volkert wird und wird nicht aufgrund von Verhältnismäßigkeit entlassen.
Sexueller Missbrauch ist der Fall. Missbrauch ist keine Tötung oder Vergewaltigung.
Trockenschwimmen ist keine Option.
Herr Volkert wird und wird nicht entlassen.
Position Oberarzt: Pflege will nicht, dass Herr Volkert rauskommt.
Position Pflegedienstleiterin: Gesellschaft vergibt Auftrag. Der Auftrag lautet:
Schutz der Kinder
Position Oberarzt: Wenn kein Druck, dann lange Verweildauern
Position Pflegedienstleiterin: Lange in der Klinik sein, ist gut
Position Oberarzt: Pflege und ärztliche Position sind unterschieden. Lange Verweil-
dauern sind Freiheitsberaubung.

Reflektierende Interpretation

Dem Oberarzt ist bewusst, dass die vermeintlich sachliche medizinische


Information über antiandrogene Medikamente den Patienten psychisch in eine
Zwickmühle bringt. Doch genau das ist von ihm gewollt, denn für die „intendierte
3.2  Beispielinterpretation: Herr Volkert – ein kranker Pädophiler?! 87

Veränderung“ muss man „Druck aufbauen“. Dieser Druck wird dann im Sinne
des Patienteninteresses gerahmt, da sonst die Gefahr bestehe, dass diese „ewig
verweilen“ würden. Auf der anderen Seite „droht“ seine Entlassung aufgrund der
erforderlichen Verhältnismäßigkeit der Unterbringungsdauer und der geringen
Schwere des Deliktes. Würde man Herr Volkert also einfach nur loswerden
wollen, könnte man auch auf eine Entlassung aufgrund der Verhältnismäßigkeit
spekulieren. Dieses Szenario wird vom Oberarzt aber vielmehr als Bedrohung
wahrgenommen („es droht ja jetzt auch die Verhältnismäßigkeit“), vielmehr steht
er doch für die therapeutischen Möglichkeiten der „intendierten Veränderung“ ein.
Hier wird zudem ein Zielkonflikt zwischen Medizin und Pflege deutlich.
Letztere repräsentiert die moralischen und normativen Standards des Common
Sense. Für sie besteht der „gesellschaftliche Auftrag“ vor allem im „Schutz
der Kinder“ und entsprechend ist es für sie „nicht schlecht“, wenn Pädophile
„länger“ in der Klinik bleiben. Der verantwortliche Psychiater steht innerhalb
des forensischen Arrangements an einem anderen Knotenpunkt der Leerstellen-
grammatik. Hier verschränkt sich der Common Sense der Moral (Kinder müssen
vor Pädophilen geschützt werden) mit dem Recht und der Medizin in einer
anderen, spezifischen Weise: Therapie erscheint sowohl möglich wie auch not-
wendig. Den Patienten nur wegzusperren oder unbehandelt zu entlassen, hieße
aus dieser Perspektive, dem therapeutischen Auftrag nicht gerecht zu werden.
„Freiheitsberaubung“ ist die Unterbringung ohnehin, sie verliert aber ohne den
Einsatz therapeutischer Mittel zum Zwecke einer Rehabilitation ihre Legitimation
und ihren Sinn.
Homolog zum Chirurgen, der den Körper des Kranken verletzen darf, um ihm
zu helfen, darf auch der Psychiater der Seele seiner Patienten weh tun, wenn dies
eine Linderung der Krankheitssymptomatik verspricht. Herr Volkert mag zwar
nur ein ‚normaler‘ Pädophiler sein, aber in der forensischen Psychiatrie ist er
per definitionem psychisch krank. Entsprechend muss er behandelt werden. Das
bedeutet, dafür zu sorgen, dass die theoretischen Therapiediskurse („Trocken-
schwimmen“ bzw. „Therapie-Theater“, wie es der Oberarzt im Interview an
anderer Stelle nennt) als ein so realer Zwang erlebt werden, dass die hiermit ver-
bundenen Implikationen gewissermaßen in jede Pore des Patienten eindringen.
Die Behandlung, insofern sie Erfolg hat, wird den unterdrückten pädo-
philen Mann produzieren, der künftig auch bei jeder Begegnung mit einem
Kind die hiermit einhergehenden Diskurse und Dramen (etwa der „Kastrations“-
Drohung) abrufen wird. Falls die Behandlung im Sinne der intendierten Ver-
änderung gelingt, wird sein Selbst- und Weltverhältnis damit nicht mehr dasselbe
sein (vgl. Feißt 2018). Seine Sexualität wird dann durch die Dispositive der
Institution der forensischen Psychiatrie geprägt sein. Er kann dann nicht mehr in
88 3  Praxeologischer Zugang – Dokumentarische Methode …

die unschuldige Biografie eines Mannes zurückfinden, der „seine kleinen Lüste“
leben konnte und „bloß“ mit einer „kollektiven Intoleranz“ rechnen musste. Nun
ist er unweigerlich zugleich Resultante „einer juristischen Aktion“ und „einer
medizinischen Intervention“ (Foucault 2019 [1977], S. 36 f.). Sein Begehren ist
damit Ausdruck eines veränderten Sexualitätsdispositivs, das mit Blick auf die
artikulierte Wut des Patienten wohl kaum mit einem geringeren Maße an Sub-
jektivierung einhergeht. Herr Volkert ist damit gerade deshalb Herr Volkert, weil
er nicht Herr Volkert ist, sondern seine Subjektivität und Emotionalität sich aus
Kraftverhältnissen speisen, die ihn immer schon als individuelle Person über-
schreiten.
Um das komplexe Arrangement der Kraftverhältnisse zusammenzufassen:

Es schreit in ihm innerlich, weil er normal ist.


Er ist pädophil und deswegen ist er nicht normal und muss sich ändern.
Als Pädophiler kann er nicht in der Gesellschaft sein, sondern ist im
Maßregelvollzug eingesperrt.
Weil er normal ist, kann er sich nicht ändern, aber er muss sich ändern.
Deshalb muss er der Unterdrückte werden, denn nur so kann er sich ändern und
zugleich derselbe bleiben.
Damit die andern ihn ändern (und er derselbe bleiben kann), muss er das Gespräch
suchen.
Mit Blick auf alle zuvor benannten Aspekte gilt: Genau dieses komplexe Geflecht ist
er bereits geworden, deswegen kann er nicht anders, als weiter mitzuspielen.

Hermeneutik der Weichenstellungen komplexer


Arrangements

Abschließend kommen wir also zu einem Bild des Arrangements um den Fall
von Herrn Volkert. Unterschiedliche Perspektiven – hier der Patient, die Stations-
pflegeleiterin, der Oberarzt – und verschiedene Interaktionssituationen (hier
insbesondere die Oberarztvisite) werden hinzugezogen, wobei dann üblicher-
weise wesentlich mehr Daten erhoben und ausgewertet werden, als in der
abschließenden Publikation aufgegriffen werden können. So wurden zu dem
Fall von Herrn Volkert auch der Psychotherapeut wie auch weitere Pflegekräfte
befragt. Doch die Einbeziehung weiteren Materials hätte das rekonstruierte Bild
nicht grundsätzlich geändert, weshalb dieses Material im Sinne der Sparsamkeits-
regel nicht explizit aufgegriffen wurde.
Um zum abschließenden Bild eines Arrangements zu kommen – also der Ver-
zahnung, Verschränkung und wechselseitige Konditionierung der unterschiedlichen
3.2  Beispielinterpretation: Herr Volkert – ein kranker Pädophiler?! 89

Positionen innerhalb der Leerstellengrammatik des forensischen Arrangements


– bedarf es unterschiedlicher hermeneutischer Schritte, die dann immer wieder
durchlaufen werden:

• Die Texte sind im Sinne einer formulierenden Interpretation aufschließen, um


die inhaltliche Dimension des Geschehens nachvollziehen zu können.
• Die Aussagen werden in einer logischen Kondensation verdichtet, um Apo-
rien, Paradoxien und widersprüchliche Einheiten aufzuspüren.
• In der reflektierenden Interpretation sind unterschiedliche Kontexte des Ver-
stehens an die Ergebnisse der logischen Kondensation heranzutragen, um
sich an das Wechselspiel der sinngenetischen Zusammenhänge heranzutasten
können.
• Mit der funktionalen Analyse können unterschiedliche Problem-Lösung-
Zusammenhänge an das Material herangetragen werden, um die Weichen-
stellungen der untersuchten Prozesse zu entdecken.
• Mit der komparativen Analyse unterschiedlicher Fälle verdichtet sich die hier-
mit zum Ausdruck kommenden Positionen, Selbst- und Weltverhältnisse sowie
die hiermit einhergehenden Arrangements und Bezugsprobleme.

Da die vorliegende Untersuchung primär gegenstandstheoretisch ausgerichtet ist,


versuchen wir bei der Darstellung der weiteren Fälle – anders als in der voran-
gehenden methodischen Illustration – vor allem inhaltlichen Kriterien gerecht zu
werden und nicht in einem methodologisch strengen Sinne jeden einzelnen Ana-
lyseschritt im Detail zu explizieren.
Dabei haben wir uns dafür entschieden, Interviewmaterial und Feld-
beobachtungen in größeren, ungekürzten Abschnitten zur Verfügung zu stellen,
um den Leserinnen und Lesern ihrerseits zu ermöglichen, sich intensiver in die
Denkstrukturen der jeweiligen Protagonisten hineinzudenken.
Bezugsprobleme der forensischen
Psychiatrie 4

In den folgenden Kapiteln möchten wir am Beispiel von fünf ausführlichen Fall-
rekonstruktionen zum einen die typischen Bezugsprobleme der forensischen
Psychiatrie vorstellen, zum anderen die Praxen des Umgangs mit ihnen sowie
die damit verbundenen Arrangements und Behandlungsentscheidungen. Die Fall­
beschreibungen werden dabei – wie bereits erwähnt und vorgeführt – durch Ein-
schübe bzw. ‚Kästen‘ ergänzt, in denen unter anderem kurze Fallvignetten
eingeführt werden, die alternative Weichenstellungen verdeutlichen, die in ähn-
lichen Konstellationen auftreten können.
Durch die Nebeneinanderschau der Fälle entsteht ein umfassendes Bild, mit
dem

• beginnend bei der Einweisung bis hin zu einer möglichen Rehabilitation die
Weichenstellungen der forensischen Behandlung erkennbar werden,
• die typischen Bezugsprobleme, also Spannungslagen und Konstellationen,
welche die Entscheidungen an den Weichenstellen prägen, nachvollzogen
werden können,
• die unterschiedlichen Positionen und die sich hieraus ergebenden divergierenden
Perspektiven innerhalb des Behandlungsarrangements sichtbar werden.

In der Fallauswahl haben wir berücksichtigt, dass verschiedene Krankheits-


bilder (Schizophrenie, Persönlichkeitsstörung), unterschiedlich schwere Delikte
(von leichten Straftaten bis hin zu Tötung) sowie divergierende Entlassungs-
perspektiven abgebildet werden.
Da das Ziel der Analysen jedoch nicht darin liegt, Patientenfälle zu typisieren,
sondern die Weichenstellungen zu verstehen, die sich aus der Konditionierung des

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden 91


GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022
W. Vogd und M. Feißt, Therapeutische Arrangements im Maßregelvollzug,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-37131-9_4
92 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

forensischen Behandlungsarrangements ergeben, beruht die Fallauswahl nicht


auf einer Kreuztabellierung von Eigenschaftsmerkmalen forensischer Patienten.
Vielmehr sind die Beispiele so gewählt, dass die Kipppunkte eines Behandlungs-
arrangements und die hiermit einhergehenden psychosozialen Konstellationen
sichtbar werden.
Um dies leisten zu können, benötigen wir eine „Dichte Beschreibung“ (Geertz
1983) der hiermit einhergehenden Prozesse und Reflexionen um jeweils einen
konkreten Patienten. Der Vergleich unterschiedlicher Arrangements und Verläufe
lässt dabei sowohl die gemeinsamen Bezugsprobleme der forensischen Kranken-
behandlung sichtbar werden, wie eben auch die unterschiedlichen Weichen-
stellungen, die hiermit einhergehen.
Aus didaktischen Gründen (dies ist kein Methodenbuch, sondern eine
gegenstandstheoretische Abhandlung) macht es dabei jedoch wenig Sinn, den
methodischen Prozess im Detail sichtbar zu machen, den wir in den komparativen
Analysen durchlaufen haben. Im Sinne der Leserin und des Lesers folgt die
Darstellung und damit auch die Auswahl der fünf Schlüsselfälle vielmehr vom
Ergebnis aus gesehen gedacht (also nachdem wir bereits die von uns für relevant
erachteten Bezugsprobleme rekonstruiert und bereits eine Vielzahl unterschied-
licher Fälle vergleichend angeschaut haben).
Die hier präsentierten Schlüsselfälle wurden entsprechend ausgewählt, weil
sie bestimmte Bezugsprobleme in besonders prägnanter Weise repräsentieren
und Kontraste in den Weichenstellungen des Behandlungsarrangements sicht-
bar machen. Die Falldarstellungen sind dabei aufgeteilt in verdichtete Passagen
(im ersten Teil der Falldarstellung), die jeweils ein spezifisches Bezugs-
problem forensischer Behandlungsprozesse deutlich werden lassen, sowie einer
umfassenderen Rekonstruktion des Falles im Anschluss, welche die unterschied-
lichen Weichenstellungen innerhalb der Patientenkarriere sichtbar werden lässt.
Hierdurch werden dann die Gelingens- und Misslingensbedingungen der
(Re-)Sozialisation im Maßregelvollzug sowohl im Allgemeinen wie auch im
Konkreten deutlich.
Anhand des Beispiels von Frau Schmidt möchten wir zunächst das Bezugs-
problem Bedrohung durch Stereotype behandeln. Dieses handelt von dem
Dilemma, dass psychiatrische Diagnosen nicht einfach ein Abbild von Wirk-
lichkeit darstellen, sondern ihrerseits eine Wirklichkeit erzeugen. Als verrückt
und psychisch krank gesehen zu werden, klebt den Betroffenen unweigerlich
Etiketten an, denen sich schwer entkommen lässt, da hiermit die soziale Identi-
tät tief greifend formatiert wird. Es verwundert deshalb nicht, dass nicht selten
gerade die Patienten, die noch die Hoffnung haben, dem psychiatrischen
4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie 93

Regime zu entkommen, diese Zuschreibungen abwehren und versuchen, sich im


Maßregelvollzug Inseln der Normalität aufzubauen – was im Extremfall heißt,
dass sie die Therapie verweigern.
Hiermit eng zusammenhängend erscheint ein weiteres Bezugsproblem,
das wir ebenfalls am Beispiel des Falls von Frau Schmidt illustrieren möchten:
Autonomie unter Zwang. Psychotherapie soll die Patienten zur Autonomie
ermächtigen und damit sollte idealerweise die Entscheidung für sie ebenfalls
freiwillig sein. Dies ist in der forensischen Psychiatrie nur bedingt gegeben. Da
zudem Patienten, die einen gewissen Widerstand gegenüber dem psychiatrischen
Regime aufrechterhalten können, nicht unbedingt eine schlechte Prognose haben
müssen, stellt sich die Frage, wie und unter welchen Bedingungen hier trotzdem
Therapie erfolgen kann.
Am Beispiel von Herrn Salier, einem Sexualstraftäter, behandeln wir das
Bezugsproblem der Intransparenz der Beziehung von Körper, Psyche und
Kommunikation. Den Aussagen eines Patienten über seine inneren Zustände kann
nicht unbedingt vertraut werden, doch ebenso erlauben körperliche Indikatoren
– etwa der Hormonspiegel von Androgenen – keine absolut zuverlässige Ein-
schätzung der Gefährlichkeit eines Patienten. Dennoch muss das Behandlungs-
team diesbezüglich Entscheidungen treffen. Damit assoziiert tritt ein weiteres
Bezugsproblem auf, nämlich die Verschränkung von Recht und Medizin in der
forensischen Diagnostik. Indizien und Vermutungen müssen gewichtet, interpretiert
und ineinander verwoben werden, was verlangt, die Kompetenzen und Stand-
ortabhängigkeiten – nicht zuletzt auch der rechtlichen Konsequenzen miteinzu-
beziehen.
Mit Frau Krampen wird das Bezugsproblem der Internalisierung des
psychiatrischen Regimes deutlich. Sich dem therapeutischen Regime in ver-
ständiger Weise anzupassen, die damit verbundenen Perspektiven auf die Krank-
heit und ihre Behandlungsmöglichkeiten zu übernehmen, erscheint auf den ersten
Blick produktiv, da die Patientin bereit scheint, mitzuarbeiten. Zugleich birgt
eine Überanpassung jedoch die Gefahr, dass die Patientin sich zu sehr an die Ein-
richtung gewöhnt. Pointiert wird dies durch ein weiteres Bezugsproblem, das wir
zunächst mit den Worten Beziehung als Existenzverhältnis umkreisen. Wenngleich
es formal mit Blick auf den Zweckauftrag der Einrichtung weiterhin um Kranken-
behandlung und Therapie zu gehen hat, erscheint die Klinik auf der sozialen
Ebene für viele Patienten als das einzig verbleibende Medium, in dem für sie
noch Beziehungen möglich sind, die eine gewisse Konstanz in der sozialen Identi-
tät und den hiermit einhergehenden Selbst- und Weltverhältnissen ermöglichen.
Beide Bezugsprobleme bringen die Schwierigkeit mit sich, dass für manche
94 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Patienten – auch wenn sie es nicht zugeben mögen – die Klinik attraktiver wird als
der vermeintliche Aufstieg in eine weitergehende Rehabilitation.
Anhand des schizophrenen Patienten Herr König möchten wir abschließend
ein weiteres Bezugsproblem herausarbeiten, das sich als Präferenzwert Gesund-
heit umschreiben lässt. Dieses drückt sich darin aus, dass durch den gesellschaft-
lich positiv besetzten Wert ‚gesund‘ bzw. ‚nicht psychisch krank‘ verhindert wird,
die weiterhin fortbestehenden psychotischen Anteile integrieren zu können, wes-
halb der Patient wieder in die Psychose zu entgleiten droht. In einem weiteren
Sinne erscheint damit das Bezugsproblem des positiven Kohärenzgefühls. Viele
Patienten identifizieren sich mit ihrem Deliktverhalten, erleben es als ich-synton,
was jedoch dem von ihnen verlangten Bemühen um therapeutische Besserung
zuwiderläuft. Auch hier – wie beim Bezugsproblem der Internalisierung des
psychiatrischen Regimes – steht die Psychiatrie vor dem Problem, durch den Ver-
such der Problembehandlung das Problem mitzuerzeugen. Zugleich wird jedoch
sichtbar, wie Patient und Behandlungsteam ein pragmatisches Arrangement
finden können, um die Beziehungsfalle zu umschiffen.
Am Beispiel der Behandlungskonferenz von Herrn Zimmermann, der eben-
falls wegen einer Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis behandelt
wird, möchten wir darüber hinaus aufzeigen, wie ein psychiatrisches Double
Bind entstehen kann, welches die Therapie und damit die Möglichkeit der
Rehabilitation in einer Weise konterkariert, dass die Beteiligten mit den Eigen-
mitteln der Kommunikation aus der verfahrenen Situation nicht mehr so leicht
herauskommen. Das Behandlungsarrangement rastet in eine Beziehungsfalle ein,
ohne dabei jedoch einen pragmatischen Ausweg finden zu können, wie im Fall
von Herrn König.

4.1 Frau Schmidt: Sich verändern, um dieselbe


bleiben zu können

Wir beginnen mit einem Fall, bei dem alle von uns Befragten sich einig sind,
dass eine erfolgreiche Resozialisation möglich und wahrscheinlich ist. Zugleich
werden in der Fallrekonstruktion eine Reihe von typischen Ambivalenzen deut-
lich, die das Arrangement des Maßregelvollzugs auszeichnen. Indem der konflikt-
hafte Behandlungsprozess von Frau Schmidt nachgezeichnet wird, lassen
sich pars pro toto einige der zentralen Weichenstellungen von Therapie und
Rehabilitation im Maßregelvollzug rekonstruieren.
4.1  Frau Schmidt: Sich verändern, um dieselbe bleiben zu können 95

Frau Schmidt ist zum Zeitpunkt des Interviews fünfunddreißig Jahre alt. Als
sechsjähriges Kind ist sie von ihrer Mutter ins Heim gegeben worden, während
ihre Schwester bei der Familie bleiben durfte. Als Jugendliche verbrachte sie
ein Jahr in einem Erziehungslager in Spanien. Danach lernte sie ihren ersten
Mann kennen, mit dem sie ein Kind hatte. Ihr Lebensgefährte starb bei einem
Unfall. Danach stürzte sie psychisch ab und begann, unterschiedliche Drogen
(„Chemie“) zu konsumieren. Schließlich musste sie ihr Kind abgeben, da
sie nicht mehr für es sorgen konnte. Mit ihrem neuen Freund, der ebenfalls in
der lokalen Drogenszene aktiv war, bekam sie zwei weitere Kinder. Die Eltern
richteten sich mehr oder weniger häuslich in einer kriminellen Karriere ein, die
von einigen Gefängnisaufenthalten unterbrochen wurde. Als ihr vom Jugend-
amt schließlich die anderen beiden Kinder weggenommen wurden, kam es zum
psychischen Zusammenbruch. Frau Schmidt zündete ihre Wohnung an, wurde
zunächst ins Gefängnis eingeliefert, begann aber auch dort durchzudrehen – unter
anderem setzte sie ihre Gefängniszelle unter Wasser. Etwa vier Jahre vor unsere
Untersuchung wurde sie in die forensische Psychiatrie eingewiesen. Als wir Frau
Schmidt in einer Visite zum ersten Mal persönlich kennengelernt haben, wurde
sie uns zuvor von der Oberärztin mit folgenden Worten kurz vorgestellt:

Oberärztin: Sie hat drei Kinder, hat eine Persönlichkeitsstörung, ist impulsiv,
Delikte unter anderem Körperverletzung. Hatte eine langjährige Beziehung zu
einem Sexualstraftäter hier in der Einrichtung. Wir suchen jetzt eine ambulante Ein-
richtung für sie.

Am Beispiel von Frau Schmidt möchten wir insbesondere zwei Bezugsprobleme


der Therapie im Maßregelvollzug diskutieren, die nahezu jeden Behandlungs-
prozess prägen: Die Bedrohung durch Stereotype und das Bezugsproblem Auto-
nomie unter Zwang. Ersteres besteht darin, dass Menschen, die als krank oder
problematisch gesehen werden, sich den hiermit verbundenen Zurechnungen
nicht nur kaum erwehren können, sondern zudem die damit einhergehenden
Attribute oftmals selbst übernehmen und entsprechend das Selbstvertrauen ver-
lieren, in ‚normalen‘ Kontexten funktionieren oder agieren zu können.
Das zweite Bezugsproblem liegt darin, dass die Entscheidung für die Therapie
und die Krankheitseinsicht eigentlich vom Patienten selbst zu kommen hat,
doch genau dieses dadurch konterkariert wird, dass in einem Zwangskontext
jede freiwillige und spontane Willensäußerung auf die eine oder andere Weise
erzwungen erscheint. Wir landen hier unweigerlich bei der von Paul Watzlawick
beschriebenen „Sei-spontan-Paradoxie“. „Auf einen direkten Befehl etwas
96 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

spontan zu tun, ist ebenso unmöglich, wie etwas vorsätzlich zu vergessen oder
absichtlich tiefer zu schlafen. Entweder man handelt spontan, also aus freiem
Ermessen; oder man befolgt eine Anweisung und handelt daher nicht spontan.“1
Schauen wir, bevor wir uns dem Fall ausführlicher im Detail nähern, zunächst
etwas genauer auf die systemischen Dynamiken dieser beiden Bezugsprobleme.

Bezugsproblem: ‚Autonomie unter Zwang‘

Wie kann der Wunsch nach Selbstwirksamkeit und Autonomie des Patienten mit
dem Setting einer totalen Institution in ein produktives Arrangement gebracht
werden? Welche Selbst- und Weltverhältnisse kommen hier zum Ausdruck und
wie werden diese wiederum vom Personal reflektiert, das seinerseits in die para-
doxen Dynamiken intendierter Veränderungen verstrickt ist? Wir beginnen mit
einer Sequenz aus dem Gespräch mit dem Stationspflegeleiter über Frau Schmidt,
in dem die Eigenarten und Schattierungen dieser Dynamik thematisiert werden:

Interviewer: Also, das scheint mir auch so eine typische Entwicklung zu sein, dass
also die Einsicht oder Bereitschaft gewissermaßen in das therapeutische Regime zu
gehen und an sich zu arbeiten, dass die relativ spät kommt. Weil der Patient also
erst einmal so gebrochen werden muss. Also aus Patientensicht renne ich gegen eine
Wand und komme nicht mehr weiter und irgendwann kommt die Einsicht, vielleicht
auch Jahre später erst „Okay so will ich nicht leben, ich versuche doch an mir zu
arbeiten.“
Stationspflegeleiter: Ja, und dass man ihnen hier nichts Böses möchte. Also man
möchte, Frau Schmidt ist zum Beispiel ein gutes Beispiel dafür.
Interviewer: Genau, genau …
Stationspflegeleiter: Sie hat ja immer die Angst oder die Befürchtung, so war mein
Eindruck, dass wir sie verändern wollen. Dass wir ihren Charakter verändern wollen
– aber darum geht es ja nicht. Also die hat lange gebraucht, akzeptieren zu können,
dass wir ihr nur die Hälfte der Bestellung geben wollen oder das Rüstzeug draußen
besser zurechtzukommen, und die war auch eine Kandidatin, die so ihre ein, zwei
Jahre gebraucht hat, um erst einmal hier anzukommen. Da gibt es Patienten, die es
etwas schneller schaffen und andere, die da mehr Zeit brauchen.
Interviewer: Genau. Das scheint ja dann schon jetzt diese Grundperspektive zu sein,
also die Angst zu haben, da wollen die Leute was oder sind böse oder nicht böse, aber
ja klar, sie wollen mir die Autonomie verändern, oder es greift da jemand in mich rein.
Stationspflegeleiter: Ja. Also das erste Problem ist ja schon mal, dass sie nicht frei-
willig hier sind.

1 Watzlawick (1991, S. 87 f.).


4.1  Frau Schmidt: Sich verändern, um dieselbe bleiben zu können 97

Interviewer: Das ist vollkommen klar.


Stationspflegeleiter: Ja. Die werden ja hier untergebracht gegen ihren Willen.
Meistens können sie es auch nicht nachvollziehen, dass sie so, also diese Strafe
bekommen haben. Dann sind die Ängste oftmals da, dass man da sie hier verändern
will, einen anderen Menschen aus ihnen machen möchte, was ja so nicht stimmt.
Und dann wollte ich noch was sagen …
Interviewer: Also was wäre es dann? Also kein anderer Mensch? Also man muss
sich ändern, sie sollen sich jetzt doch irgendwie verändern oder sollen sie sich ein-
fach nur benehmen? Also sie sollen ja im Leben zurechtkommen, also ein bisschen
Veränderung ist es, aber nicht der Charakter.
Stationspflegeleiter: Genau. Wir wollen ja nicht den Charakter verändern.
Interviewer: Ja.
Stationspflegeleiter: Sondern die Fähigkeit mit ihrem Charakter und mit der Umwelt
besser zurechtzukommen, das besser zusammenfügen zu können.

Vermutlich geht keine Patientin freiwillig in die forensische Psychiatrie. Wie


kann aber unter der Voraussetzung von Zwang und Gewalt ein Selbst- und Welt-
verhältnis aufgebaut werden, entsprechend dem die Insassen die therapeutischen
Angebote als Hilfe annehmen und mit dem Behandlungsteam zusammenarbeiten,
um sich zu verändern? Die natürliche Bewegung psychischer und sozialer Identi-
fikation läuft in die gegenläufige Richtung: Man fühlt sich von den Pflegekräften
gemaßregelt. Die Chef- und Oberärzte erscheinen als allmächtige Akteure, die
willkürlich die Freiheitsgrade einschränken können. Sie können beispielsweise
anordnen, den Patienten auf eine andere Station zu verlegen oder ihn oder sie
in den Krisenraum einsperren und dort womöglich gar fixieren. Zudem scheint
alles, was ein Patient dem Personal gegenüber aus seinem Innenleben offenbart,
im Zweifelsfall gegen ihn oder sie verwendet werden zu können – etwa als Indiz
dafür, dass er oder sie psychisch noch kränker sei, als man zuvor gedacht hatte
und er entsprechend noch länger in der Einrichtung behandelt werden müsse.
Entsprechend scheint ein Patient zunächst gut beraten, misstrauisch gegenüber
dem Personal zu sein und seine Worte diesem gegenüber sehr genau abzuwägen.
Entsprechend wird er oder sie beispielsweise zögern, offen über Gewaltfantasien
oder andere Impulse zu sprechen, die mit dem Delikt zusammenhängen, aufgrund
dessen er oder sie einsitzt. Eine vorsichtige Haltung scheint insbesondere auch
dann angebracht, wenn das Gerichtsverfahren, in dem die Tat verhandelt wird,
noch nicht abgeschlossen ist, der Patient also noch die Hoffnung hegt, mit Hilfe
seines Anwalts schnell wieder auf freien Fuß zu kommen (diese Haltung haben
wir bei vielen ‚Novizen‘ beobachten können, also bei Patienten, die sich erst
einige Monate in der Einrichtung befinden).
All dies hat der Interviewer als Wissenshorizont im Hintergrund, wenn er
bemerkt, dass es in der Regel sehr lange dauere, bis ein Patient bereit sei, mit dem
98 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Behandlungsteam zusammenzuarbeiten. Er stellt gar die Vermutung an, dass der


Patient erst einmal „gebrochen werden“ müsse. Der Pflegeleiter greift die letztere,
doch eher negativ konnotierte Suggestion nicht auf und bemerkt stattdessen,
dass die Patienten erst einmal begreifen müssen, dass man „ihnen hier nichts
Böses möchte.“ Zudem führt er mit Verweis auf Frau Schmidt eine interessante
Differenzierung ein: Sie habe die „Befürchtung“ gehabt, dass man „ihren
Charakter verändern“ wolle, doch darum „gehe es ja nicht“, sondern man wolle
ihr nur das „Rüstzeug“ geben, „draußen“ besser zurechtzukommen. Es gehe also
nicht um die Zerstörung der Persönlichkeit, sondern um die Entwicklung der
„Fähigkeit“ mit dem eigenen „Charakter“ und „mit der Umwelt besser zurechtzu-
kommen“, was heißt, all dies „besser zusammenfügen zu können.“
So schön die Worte auch gewählt sind, auf den zweiten Blick erscheint die
Antwort paradox: Wie kann man sich grundlegend ändern, ohne das aufzugeben,
was man als das eigene Selbstverhältnis empfindet? Wie im Zwangskontext des
Maßregelvollzugs Veränderung möglich ist, ohne innerlich „gebrochen“ zu
werden?
Die Antwort auf diese schwierige Frage deutet sich hier zumindest in
abstrakter Form bereits an (wie dies konkret aussehen kann, wird weiter unten
in der ausführlichen Fallrekonstruktion noch deutlich werden): Indem nur „die
Hälfte Bestellung“ gegeben wird – um die Metapher des Pflegeleiters aufzu-
greifen –, kann sich das Selbst zugleich sowohl ändern als auch dasselbe bleiben.
Es spaltet sich gleichsam in zwei Hälften auf, um auf diese Weise ein Arrange-
ment zu entfalten, in dem das Selbst- und Weltverhältnis sich verändert, ohne
dass dieser Prozess darüber hinaus als Charakterveränderung erscheint. Wenn
dies gelingt, kann der Patient sich die Veränderung selbst zurechnen und als
eigene Geschichte annehmen. Er oder sie kann sich beispielsweise einerseits so
akzeptieren, wie er oder sie ist (braucht sich also nicht zu verändern), anderer-
seits jedoch das Verhalten verändern. Doch dies erscheint für den Patienten dann
als eine Bewegung, die aus ihm oder ihr selbst kommt und nicht dem Druck oder
Zwang einer äußeren Instanz geschuldet ist. Bereits an dieser Stelle lässt sich
vermuten, dass Veränderungen möglicherweise oftmals nur dann geschehen,
wenn sie aus Perspektive des Patienten gleichsam gegen die Klinik, d. h. eher im
Widerstand oder zumindest unabhängig der expliziten, ständig aktualisierten Auf-
forderung, sich zu ändern, geschehen.
Erst auf dieser Basis würde somit ein höheres Maß an Autonomie und
innerer Freiheit entstehen, die dann auch zur Kontrolle des delinquenten Ver-
haltens genutzt werden kann. Doch diese Autonomisierung hat im Kontext einer
totalen Institution zu geschehen. Das durch Zwang und institutionelle Gewalt
geprägte Setting ist und bleibt unhintergehbar – nicht zuletzt auch deshalb, weil
4.1  Frau Schmidt: Sich verändern, um dieselbe bleiben zu können 99

die Gesellschaft ihrerseits gute Gründe hat, die dem im Maßregelvollzug ein-
sitzenden Menschen die Freiheit zu entziehen.
Erfolgreiche Therapie heißt hier also: Veränderung der Selbst- und Weltver-
hältnisse, die jedoch nicht als Veränderung des Charakters erscheinen darf – um
es paradox zu formulieren: der Patient hat sich zugleich zu ändern und sich nicht
zu ändern.
Hierzu gesellt sich zudem das Dilemma der Bedrohung durch Stereotype, das
in den folgenden Abschnitten ausführlicher diskutiert wird.

Bezugsproblem: ‚Bedrohung durch Stereotype‘

In einem Krankenhaus sind die Rollenverhältnisse klar verteilt: die einen sind die
Kranken, die anderen das Personal, das die Kranken betreut und therapeutische
bzw. pflegerische Hilfe anbietet. Doch wie kann ein Patient bzw. eine Patientin
mit dieser Rollenzuschreibung eine Lebensform finden, die nicht unter dem
Blickwinkel ihrer psychischen Problematik und den hiermit einhergehenden
Störungsbildern gesehen wird? Wie können unter diesen Bedingungen Inseln der
Normalität entstehen oder im Sinne eines soziotherapeutischen Settings gezielt
geschaffen werden, die nicht primär durch das Thema Krankheit geprägt sind.
In einer untersuchten Klinik stellt beispielsweise die Textilwerkstatt eine
Einrichtung dar, in der sich Patienten in der gesellschaftlichen Normalität eines
gewöhnlichen Arbeitsverhältnisses einleben können. Angefangen von einfachen,
stereotypen Handlungsabläufen bis hin zu anspruchsvolleren, komplexeren Tätig-
keiten können sie hier Kompetenzen entwickeln, die ihnen einen neuen Selbst-
und Weltbezug im Sinne positiver Selbstwirksamkeitserwartungen ermöglichen,
die jenseits der stigmatisierenden Zuschreibungen der psychiatrischen Klinik
liegen. Freilich spielen Letztere sehr wohl auch in die Haltungen zur Arbeit
hinein. Die Bedrohung durch die zugerechneten Defizite tauchen auch hier auf,
können aber manchmal durch gegenläufige Interventionen signifikanter Anderer
überwunden werden. Im Falle von Frau Schmidt ist die Schilderung des Leiters
der Textilwerkstatt besonders illustrativ:

Leiter der Textilwerkstatt: Also ich habe sie vor ein, zwei Jahren mal gefragt, was 30
durch 2 war, war sie nicht in der Lage. Ging nicht. Sie hat es auch lange abgelehnt,
überhaupt zu rechnen. Also einfachste Aufgaben. Mittlerweile rechnet sie und sie
kann auch rechnen. Es ist nicht so, dass sie nicht rechnen kann. Sie hat irgendeine
Blockade. Diese Blockade, die löst sich langsam. Also gestern früh zum Beispiel,
da habe ich ihr einfach, obwohl sie behauptet hat, sie hätte schlecht geschlafen. Ich
habe ihr einfach Rechenaufgaben gegeben, sogar schwierige, also schon vierstellige
100 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Teilaufgaben zum Beispiel und sie hat gerechnet und sie hat das Ergebnis auch
richtig rausgehabt. […] Sie muss ja rechnen, wie viel Stoff. […] Wir bekommen ja
große Stoffrollen und dann bekommt man ja zum Beispiel, wenn das jetzt doppelt
gelegt wird, und dann muss man eben, wenn ich beispielsweise 292 Teile brauche,
dann muss ich ja nur 146 von den Doppelten aufschneiden zum Beispiel. Und das
muss sie rechnen. Sie könnte dazu Hilfsmittel nehmen, aber sie rechnet mittlerweile
im Kopf.
Interviewer: Ist ja toll. Und dann hat sie die Blockade überwunden.
Leiter der Textilwerkstatt: Das ist eine Blockade. Die hat da irgendwo eine
Blockade gehabt, aber vielleicht auch durch ihre ganzen Probleme. Das weiß man
natürlich nicht genau. Sie hat ja viele persönliche Probleme aus der Vergangenheit
und auch aus der Gegenwart.

Normalerweise würde man nicht daran denken, dass elementare Fähigkeiten


eines Menschen, wie etwa das Lösen von Rechenaufgaben, davon abhängen,
wie er sich selbst sieht und von anderen gesehen wird. Wie die Sozialpsycho-
logie mittlerweile am Beispiel der Bedrohung durch Stereotype aufgezeigt hat,
ist jedoch genau dies der Fall.2 Wenn man einem Menschen eine Rolle zuweist,
die zugleich mit der Einstellung einhergeht, dass er nichts kann, dann beginnt er
mit der Zeit, diese Zurechnungen zu übernehmen und seine eigenen Fähigkeiten
zu blockieren. Er wird weniger leisten können, vielleicht sogar wirklich versagen
und dann auch empfinden, dass er es nicht kann. Die Blockade – ursprünglich
durch soziale Zuschreibungen generiert – erscheint nun auch auf der psychischen
und kognitiven Ebene als eine verfestigte Realität. Die Blockierung ist besonders
stark, wenn sie explizit angerufen, also das stigmatisierende Merkmal in der
Kommunikation aufgerufen wird. Sie kann verschwinden bzw. gewissermaßen
‚vergessen‘ werden, wenn das Stigma in der Interaktion nicht thematisiert wird.
Dann können die betroffenen Menschen manchmal Dinge leisten, von denen sie
vorher selbst nicht geglaubt haben, dass sie es können.3 Ein Mensch kann also in

2 Siehe etwa Steele (Steele 1997).


3 George Akerlof, Träger des Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaften, referiert dies-
bezüglich beispielsweise auf die bemerkenswerte Studie von »Karla Hoff und Priyanka
Pandey zum Thema Bedrohung durch Stereotype und Kasten in Indien. Die Probanden
wurden gebeten, Labyrinthrätsel zu lösen, und erhielten für jedes gelöste Rätsel eine
beträchtliche Geldsumme. In Indien ist die Kaste am Nachnamen erkennbar. Wenn durch
Aufruf per Nachnamen eine Bekanntgabe der Kaste stattfand, lösten die Mitglieder der
niederen Kasten 23 % weniger Rätsel. Das schlichte Vorlesen ihrer Nachnamen in der
Öffentlichkeit reichte aus, um ihre Leistung zu vermindern, obwohl sie einen beträchtlichen
materiellen Erfolgsanreiz hatten« (Akerlof und Krankton 2010, S. 38). Siehe zur Original-
studie: Hoff und Pandey (2006).
4.1  Frau Schmidt: Sich verändern, um dieselbe bleiben zu können 101

seinem Selbst- und Weltverhältnis in Hilflosigkeit und Unfähigkeit einrasten oder


in einen Modus, der sich den gestellten Aufgaben produktiv widmen lässt, doch
die Unterscheidung, in welchen der beiden Eigenwerte er einrastet, ist in hohem
Maße sozial, das heißt durch andere Personen, vermittelt.
In diesen Fall ist es der Schneidermeister, der einerseits die Blockade sieht,
andererseits eben diese nicht ernst nimmt, sie gleichsam übersieht und Frau
Schmidt stattdessen auffordert, dennoch zu rechnen („Also gestern früh zum
Beispiel, da habe ich ihr einfach, obwohl sie behauptet hat, sie hätte schlecht
geschlafen, ich habe ihr einfach Rechenaufgaben gegeben, sogar schwierige, also
schon vierstellige Teilaufgaben zum Beispiel und sie hat gerechnet und sie hat
das Ergebnis auch richtig rausgehabt“). Dies führt wiederum bei Frau Schmidt
zu der Erfahrung, dass sie die Arbeit bewältigen kann. Es beginnt sich damit ein
Selbst- und Weltverhältnis zu stabilisieren, innerhalb dessen sie komplexere
Anforderungen lösen und dies zugleich als befriedigend erleben kann. Die Sphäre
des Sozialen und des Psychischen beginnt sich hiermit auf eine Weise zu ver-
schränken, die in einem positiven Sinne eine Teilhabe an der normalen Welt
ermöglicht.
Das Ziel von Soziotherapie besteht genau darin, dies zu bahnen. Doch hiermit
lässt sich bereits erahnen, wie komplex die Anforderungen sind, damit dies gelingt.
Einen Patienten beispielweise an der Ergotherapie teilhaben zu lassen, kann auf-
grund der hiermit einhergehenden therapeutischen Rahmung beispielsweise das
Stereotyp anrufen, dass dieser eigentlich nicht arbeitsfähig sei und deshalb eben in
Arbeitstherapie muss. Das zunächst gut gemeinte Programm mündet damit in einer
Bedrohung durch Pathologisierung – also einer Verfestigung statt einer Lockerung
der Krankenrolle und der mit ihr einhergehenden Zuschreibungen.
Damit wird aber auch die andere Weichenstellung deutlich, die mit dem
Eigenwert der Blockade einhergeht. Das Stigma, das mit der Bedrohung durch
die Stereotype aufgerufen wird, wird zur selbst-erfüllenden Prophezeiung,
die dann sowohl die psychische Identität als auch die hiermit verbundenen
Anknüpfungspunkte für soziale Identitäten beeinflusst.
Erlauben wir uns, diesbezüglich etwas weiter auszuholen, um die Problematik
in ihrer Breite darzustellen.
Der oder die Betroffene beginnt sich als eine am Rand der Gesellschaft
stehende Persönlichkeit wahrzunehmen, um auf diese Weise ein Selbst- und Welt-
verhältnis aufzubauen, das von zwei Seiten Bestätigung findet: Einerseits von
der Mehrheitsgesellschaft, die diesen Menschen nichts mehr zutraut und ihnen
mit offener oder verdeckter Ablehnung begegnet. Anderseits durch die Gemein-
schaft derer, denen es genauso geht und die sich bereits darin eingerichtet haben,
sich nicht mehr an den Lebensentwürfen vermeintlich ‚normaler‘ Menschen zu
102 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

orientieren. Die Not wird jetzt zur Tugend, das Problem zur selbst gewählten
Lebensform. Man will gar nicht mehr einer normalen Arbeit nachgehen, findet
es langweilig und uninteressant, etwas zu lernen und beginnt sich zunächst über
den Umweg der Abgrenzung zu denjenigen, die ein konventionelles, geregeltes
Leben führen, eine von den Normalitätserwartungen abweichende Identität auf-
zubauen. Am Rande der Gesellschaft zu stehen, muss nämlich keineswegs
bedeuten, aus der Sphäre des Sozialen ausgeschlossen zu sein. Anstelle in Hin-
blick auf die soziale Identität in eine Art ‚Leere‘ zu versinken, lässt sich nun
etwa gerade dadurch Selbstgewissheit und in Hinblick auf das Selbstverhältnis
Sicherheit finden, die Protagonisten der normalen Gesellschaft – darunter selbst-
redend Polizisten, Richter, Psychiater, Therapeuten – als Gegner zu sehen, denen
entsprechend misstraut werden muss. Der eigenen Gruppe kann demgegenüber
insofern vertraut werden, als dass man sich hier einig ist, den Institutionen der
Gesellschaft nicht zu trauen und zumindest hierin eine Form der Gemeinschaft
bzw. Gemeinsamkeit gefunden werden kann, die wiederum das eigene Selbst-
und Weltverhältnis stabilisiert.
Wenngleich sich diese Milieus oftmals dadurch auszeichnet, dass ein hohes
Maß an Gewalt unter ihren Menschen herrscht oder auf andere Weise (man
denke etwa an destruktive Formen des Drogengebrauchs) eine soziale Abwärts-
spirale begünstigt wird, bieten sie weiterhin eine brauchbare Form von Sozialität
an, mittels der sich die eigene Identität stabilisieren lässt. Oftmals kann gerade
dadurch ein hohes Maß an eigener Kompetenz und Selbstwirksamkeit erfahren
werden, die staatlichen Institutionen auszutricksen – etwa Straftaten zu begehen
und sich nicht dabei erwischen zu lassen. Aus der Perspektive der eigenen Gruppe
erscheint dies damit als der eigentliche Normalitätshorizont, um den herum ein
positives Selbst- und Weltverhältnis aufgebaut werden kann. Mit Blick auf die
eigene Identitätsbildung ist kriminelles Verhalten also keineswegs per se dys-
funktional, sondern kann im Gegenteil auf seine eigene Weise recht produktiv sein.
Demgegenüber bleibt in der Begegnung mit dem ‚ordentlichen‘ Durchschnitts-
menschen die Bedrohung durch Stereotype virulent. An den Ansprüchen der
Mehrheitsgesellschaft gemessen, droht das Selbst- und Weltverhältnis weiterhin
ins Negative zu kippen. Um dieser Gefahr für die eigene Identität vorzubeugen,
kommt es üblicherweise zur Separierung der Milieus. Selbst in den Gefängnissen
orientiert man sich primär an seinesgleichen. Für den Insassen bleibt das Gefäng-
nispersonal entsprechend auf der anderen Seite. Im therapeutischen Kontext wird
jedoch auch eine Allianz mit dem Behandlungsteam erwartet. Anders als im Straf-
vollzug, wo die Strafe einfach abgesessen werden kann, hat man sich auf die
Therapie – und damit auf die institutionellen Vertreter der Mehrheitsgesellschaft –
einzulassen, um überhaupt eine Perspektive auf Entlassung zu haben.
4.1  Frau Schmidt: Sich verändern, um dieselbe bleiben zu können 103

Mit Blick auf die hiermit entstehenden Beziehungsmuster ergeben sich


damit zwei unterschiedliche Eigenwerte, die zueinander in einer chiastischen,
sich überkreuzenden Beziehung stehen. Sobald der eine aus therapeutischer
Perspektive positiv bewertete Wert in den Vordergrund tritt (nämlich daran zu
arbeiten, gesellschaftlichen Normalitätserwartungen nicht nur gerecht zu werden,
sondern diese auch für sich selbst erstrebenswert zu finden), wird zugleich der
negative Wert präsent (nämlich die Abwertung der eigenen Identität durch die
pathologisierenden Stereotype des therapeutischen Regimes – man erscheint
krank und abnormal). Umgekehrt erscheint der ursprüngliche identitätsbildende
Wert (das mit dem delinquenten Verhalten und einer diesbezüglichen Ver-
bindung mit einer Gemeinschaft der ausgesonderten Gesinnungsgenossen) für
die forensische Institution als Problem, da er nicht zur Distanzierung von dem
problematischen Verhalten führt.
Diese Dynamik legt Beziehungskonstellationen nahe, die dem therapeutischen
Regime entgegenlaufen und die Demütigung, welche mit der Bedrohung durch
die Stereotype einhergeht, reproduzieren lässt.
Was hier in der Beziehung mit dem Leiter der Textilwerkstatt und Frau
Schmidt zu gelingen scheint – nämlich der Aufbau eines Selbst- und Weltver-
hältnisses, das die Potentiale einer Normalbiografie nicht mehr blockiert, sondern
diesbezügliche Kompetenzen fördert – erscheint damit zwar einerseits der
Idealfall sozialtherapeutischer Arbeit, muss jedoch deshalb keineswegs immer
gelingen. Denn auch im Behandlungsteam werden vielfach genau die Stereotype
reproduziert werden, welche das problematische Selbst- und Weltverhältnis der
Patienten ausmachen. Innerhalb einer psychiatrischen Klinik gehört es zum All-
tag, dass Patienten als krank betrachtet werden, ihnen nichts so recht zugetraut
wird oder sie in anderer Form in ihrem Selbstwert gekränkt werden.
In sozialpsychiatrischen Maßnahmen wird deshalb versucht – etwa durch an
normale Arbeitsverhältnisse angelehnte Angebote oder Möglichkeiten weiterer
Schulbildung – hier zugleich eine alternative soziale Realität zu ermöglichen. Das
Feld der Psychiatrie kennt das Problem sehr genau und versucht hier mit einem
entsprechenden Setting gegenzusteuern. Im hier behandelten Fall scheint dies
gelungen zu sein.

Methodologische Bemerkung
Die Problematisierung der Bedrohung durch Stereotype heißt nicht, dass
die Verwendung von Stereotypen keinen Sinn ergibt oder sich gar in der
Alltagskommunikation generell oder in der Psychiatrie im Besonderen
104 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

vermeiden lässt. Im Sinne von Alfred Schütz (2004a) beruht Sozialisation


und Wissenserwerb auf der Bildung sprachlicher Common Sense-Typen.
Schließlich bleibt den Beteiligten ja in vielen Situationen nichts Anderes
übrig, sich ein Bild voneinander zu machen, dies in Form kondensierter
Erwartungsmuster zu verdichten und sich entsprechend danach zu ver-
halten. Innerhalb psychiatrischer Behandlungsprozesse wird jedoch
zugleich die Kehrseite dieser Prozesse sichtbar und muss entsprechend
bearbeitet werden.

Rekapitulieren wir mit Blick auf diese beiden Bezugsprobleme nochmals die ent-
scheidenden Fragen dieses Kapitels: Wie können Patienten Vertrauen gewinnen zu
einer Mit-Welt, die ihnen in wesentlichen Teilen fremdbestimmt und nicht als die
ihre erscheint? Was bedeutet dies für die therapeutischen Beziehungen und die zeit-
liche Dynamik der therapeutischen Prozesse? Was sind die Bedingungsfaktoren,
die eine zu den Beharrungstendenzen gegenläufige Bewegung ermöglichen? Wie
sehen die hiermit einhergehenden Weichenstellungen aus? Gehen wir in die aus-
führliche Fallaufarbeitung, um hierauf spezifischere Antworten zu bekommen.

Fallvergleich: Bedrohung durch Stereotypen


In den unterschiedlichen in diesem Buch angeführten Fallbeispielen zeigen
sich verschiedene Dynamiken, wie mit der Bedrohung durch Stereotypen
im Klinikalltag umgegangen wird. Bei Herrn Volkert drückt sich die hier-
mit assoziierte Problematik darin aus, die Zuschreibung der Pädophilie als
behandlungsbedürftige psychische Krankheit vehement zurückzuweisen. Herr
König versucht sich die Imagination einer erfolgreichen Normalbiografie
aufrechtzuerhalten, um für sich und das Behandlungsteam nicht als wenig
belastungsfähiger schizophrener Patient erscheinen zu müssen. Herr Salier
und Frau Krampen scheinen auf den ersten Blick ihre Krankheit angenommen
zu haben, wobei Letztere jedoch in die dauerhafte Hospitalisierung zu
rutschen droht, während Ersterer ein Selbstverhältnis zu realisieren scheint,
entsprechend der die nun medikamentös behandelte Sexsucht für ihn nicht
mehr zu ihm gehört, da sie ja jetzt erfolgreich behandelt sei. Er ist dann eben
nicht mehr krank bedroht – hat dann jedoch weiterhin damit umzugehen, dass
er etwa von manchen Pflegekräften dennoch so gesehen wird. Die Bedrohung
durch Stereotypen bleibt also auch für ihn virulent.
4.1  Frau Schmidt: Sich verändern, um dieselbe bleiben zu können 105

Die Fallrekonstruktion

Die Einweisung in den Maßregelvollzug – Die „Hölle auf


Erden“
Die Wochen vor Frau Schmidts Einweisung in die forensische Psychiatrie werden
von der Patientin im Nachhinein als der biografische Tiefpunkt bewertet: Das
Jugendamt hat entschieden, ihr das letzte Kind wegzunehmen, da sie aufgrund
von Drogenkonsum und offensichtlicher Hilflosigkeit die Erziehungsaufgaben
nicht mehr erfüllen könne („Die hat dann gesehen, dass ich bekifft war und ziem-
lich überfordert war in dem Moment. Aber da sagt man halt nein, ne? Wer will
das schon als Mutter, zu sagen, hey, ich bin schwach?“). Vor dem psychischen
Zusammenbruch ist ihr ehemaliger Partner – und Vater des Kindes – in ihre
Wohnung eingebrochen, um Wertsachen und Drogen zu stehlen. Frau Schmidts
Antwort besteht darin, ihrerseits in mehrere Wohnungen von bekannten Dealern
einzubrechen. Dabei wird sie von der Polizei aufgegriffen und anschließend
ins Gefängnis gebracht. Dort rastet sie aus. Sie schlägt wild um sich und setzt
ihre Zelle unter Wasser. Daraufhin wird sie in die forensische Psychiatrie ein-
geliefert. Hier muss Frau Schmidt zunächst zwei Wochen im abgeschlossenen
Krisenraum verbringen. Durch die Scheibe an der Tür, die manchmal geöffnet
wird, kommt es zur ersten Begegnung mit Herrn Schmidt, einem Mitpatienten.
Er leiht ihr Bücher. Sie liest diese Bücher und beginnt sich mehr und mehr für
ihn zu interessieren. Schließlich wird er zum „Mann ihres Lebens“. Da er für sie
zum zentralen Bezugspunkt wird, entscheidet sie sich auch, in der forensischen
Psychiatrie zu bleiben, wenngleich sie laut ihrer Erzählung auch in eine andere,
auf Drogentherapie spezialisierte Einrichtung hätte wechseln können.
Trotz der neuen Liebesbeziehung beschreibt sie im Nachhinein die Situation
auf der Station, auf der sie immerhin ein Einzelzimmer bekommt, als „Hölle
auf Erden“. Als besonders problematisch erlebt sie den Verlust ihrer Frei-
heit und Autonomie. Alltägliche Dinge des Lebens (wie Essen zubereiten)
werden für sie nun übernommen und geregelt. Auch darf sie ihre Kinder nicht
mehr sehen, sondern kann nur noch gelegentlich mit ihnen telefonieren. Aus-
gang und Lockerung ist noch nicht in Sicht, da das Strafverfahren gegen sie
noch nicht abgeschlossen ist. Bis die richterliche Entscheidung gefallen ist, hat
sie gemäß der Strafprozessordnung § 126a den Status einer Untersuchungs-
inhaftierten. Ihr Aufenthalt unterliegt damit bis zum Abschluss des Verfahrens
den strengen Regeln eines normalen Gefängnisses. Mehr und mehr rutscht sie
in eine depressive Stimmung hinein. Es gelingt ihr nicht, irgendetwas Positives
an der Klinik sehen. Herr Schmidt, der Mann, den sie später auch heiraten wird,
erscheint als ihr einziger Halt.
106 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Schauen wir auf einige Interviewsequenzen, welche ihre Situation nach der
Einweisung in die forensische Psychiatrie verdeutlichen:

Frau Schmidt: Okay, ich bin da gut, wirklich gut durchgedreht, ich kann mich
auch noch an jede Situation erinnern, die ich da im Gefängnis gestartet habe. An
jede Situation. Ich weiß, dass ich da die Polizisten gebissen habe, ich wusste, dass
die mich da zu viert in diese Schlichte getragen haben. Das wusste ich alles und
dann war das so, dass ich halt Unterleibsschmerzen hatte und da halt saß und auch
geschaukelt habe mit meinen Füßen so, weil mir war kalt in dieser Schlichte [dem
Krisenraum] und dann hatte ich nur so ein T-Shirt und eine Hose und die haben
wirklich gedacht, ich habe einen an der Macke oder so. […] War dann auch zwei
Wochen, ich wusste gar nicht, was ich da zwei Wochen anfangen soll, war auch eine
sehr ruhige Person. Ich wusste gar nicht, warum man mich so lange da drin festhält,
bis die dann sagt, naja die können sie nicht einschätzen. Naja, das ist schön, ich bin
die ruhigste Person hier die ganze Zeit, nur, weil man mich nicht einschätzen kann,
sperrt man mich da wochenlang ein, bis ich irgendwann mal was mache? […] Man
sitzt da die ganze Zeit in diesem kleinen Raum, dass ich schon angefangen habe,
die Fenster zu putzen oder vom Personal mir dann immer die Zeitung oder Sudoku
geben habe lassen, ne? Wegen den Rätseln und so. Und dann halt auch angefangen,
ich bin überhaupt kein Leser, dann gefragt habe nach irgendwelchen Büchern, ne?
Mich interessiert nicht grad irgendwelche, weiß ich was für Bücher, ich interessiere
mich schon für Thriller oder Horror […] Und so ist es dann gewesen, dass ich
diesen Menschen kennengelernt habe, also mein Ex-Partner. […]
Interviewer: Den haben Sie dann kennengelernt als Sie rausdurften aus der …
Frau Schmidt: Ne, wo ich noch in dieser Schlichte war. […] Wenn die Milchtür
offen ist kann man ja winken und sagen Hallo oder Guten Tag und …
Interviewer: Ach so, den haben Sie dann praktisch durch die Tür mit dem Fenster
und da haben die ab und zu mit Ihnen geredet, als Sie noch drin waren, also in den
drei Wochen haben Sie ihn schon kennengelernt?
Frau Schmidt: Genau, genau. Also es hat sich natürlich entwickelt, ne? Also von
ihm habe ich dann im Endeffekt diese Bücher gekriegt. […] Also einmal hieß das
Buch ‚Seelenbrecher‘ und das andere Buch hieß ‚Psychiatrie‘, ne? Es hat natür-
lich gepasst. Und das sind so Sachen, die mich auch übelst interessieren, wo ich
mich dann auch reinhänge, obwohl ich kein Leser bin. […] Diese Bücher, ich
wusste ja, dass die von ihm sind, und diese Bücher haben mich natürlich dann für
diesen Menschen interessiert, ne? Was das für ein Mensch ist, ne? So und so hat
sich das natürlich im Positiven erstmal entwickelt. Dann kam ich da auch raus, kam
hier runter auf diese Station, war aber auch noch in diesem Zimmer da. […] Also
ich muss Ihnen sagen, das war für mich Hölle auf Erden, ne? Ich bin von draußen
als selbstständige, verantwortungsvolle Mutti hier rein, ne? Wo dann eigentlich
die komplette Selbstständigkeit genommen wird, das war für mich, weiß ich nicht,
also es war für mich ein Schock, ne? Also weil ich ja nun ein Mensch war, die
alles alleine gemacht hat, für die Kinder, und wo ich hier rein bin, ich war wirklich
geschockt, wo ich dann gesehen habe, was für Patienten hier waren, Zimmer nicht
selber saubermachen oder wie auch immer, ne? […] Und dann kam noch dazu, dass
ich meine Kinder erstmal nicht sehen konnte, sondern/und dann durfte ich ja halt
4.1  Frau Schmidt: Sich verändern, um dieselbe bleiben zu können 107

auch telefonieren, ne? Also es war ja hier immer ein Telefon, wo man telefonieren
durfte. Ja, das war dann auch sehr schwierig, mit meinen Kindern zu reden, die
waren ja zu der Zeit auch noch ein bisschen kleiner. […] Ja, es hat mich alles echt
mitgenommen und ich war da dann schon in einer Depri-Phase.

Versuchen wir zunächst mit Blick auf die geschilderte Szene die Perspektive des
pflegerischen und therapeutischen Teams einzunehmen. Da kommt eine Frau auf
die Station, die beißt und um sich schlägt, im Gefängnis schon durch Gewalt auf-
gefallen ist, der ihre Kinder abgenommen wurden, die zudem auf Drogenentzug
ist und mit der Einweisung in die Klinik die verbliebenen Reste ihres bürger-
lichen Lebens verloren hat. Aus Sicht der Klinik scheint es nachvollziehbar, dass
man sie zunächst in den Krisenraum steckt und überwacht, um dann langsam zu
schauen, wie es mit ihr weitergehen kann. Zudem ist abzuwägen, wie sich der
Drogenentzug gestaltet und ggf. aus medizinischer Sicht unterstützt werden kann.
Für das Behandlungsteam ist jedenfalls klar, dass man es mit einer außer sich
geratenen Person zu tun hat, die sich zudem erst langsam an ihre neue Lebens-
situation zu gewöhnen hat.
Aus Perspektive von Frau Schmidt stellt sich diese Situation jedoch anders
dar. Kontrafaktisch zur Sicht der Außenwelt (das Jugendamt hat ihr das Kind
weggenommen) betrachtet sie sich als „selbständige, verantwortungsvolle
Mutti“. Sie räumt zwar ein, dass sie „gut durchgedreht“ war, rechnet sich aber
selbst auf dem Höhepunkt ihrer Krise noch eine gewisse Autonomie zu – etwa
indem sie bezeugt, dass sie sich noch sehr genau daran erinnere, dass sie die
Polizisten „gebissen habe“. Selbst ihr Ausrasten erscheint damit gewissermaßen
noch als ein intentionaler Akt, der von ihr ausgeht und damit noch in gewisser
Weise unter bewusster Kontrolle steht (wie an anderer Stelle im Buch anhand
von Herrn König gezeigt wird, kann sich dies bei anderen Patienten auch anders
darstellen, etwa, wenn in einer schizophrenen Episode ein Delikt begangen wird,
an das man sich später nicht mehr erinnert oder das für den Patienten fremd-
bestimmt erscheint). Ihr Ausrasten ist ihr selbst nicht unverständlich, sondern
gewissermaßen den Umständen gemäß, gleichsam als eine verständliche Immun-
antwort ihres bedrohten Selbstverhältnisses. Sie kann sich entsprechend auch
heute noch mit den hiermit einhergehenden Impulsen und Emotionen identi-
fizieren. Retrospektiv erscheint sie für sich selbst als ‚normal‘ und so sieht sie
sich entsprechend bereits im Krisenraum als einen grundsätzlich harmlosen
Menschen („ich bin die ruhigste Person“), der nur aufgrund der Fehlein-
schätzung der Pfleger so lange eingesperrt wird.
Als sie dann in den normalen Stationsalltag integriert wird, wiederholt und
bestätigt sich ihre Wahrnehmung, dass sie in einer psychiatrischen Einrichtung
108 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

fehl am Platz sei, da sie doch eigentlich ihr Leben im Griff habe. Sie grenzt sich
dabei auch von anderen Patienten ab, die noch nicht einmal ihr Zimmer selber
sauber machen könnten und offensichtlich jegliche Selbstständigkeit vermissen
lassen („weil ich ja nun ein Mensch war, die alles alleine gemacht hat, für die
Kinder, und wo ich hier rein bin, ich war wirklich geschockt, wo ich dann gesehen
habe, was für Patienten hier waren, Zimmer nicht selber sauber machen oder wie
auch immer“).
Wie erklärt sich nun die Diskrepanz der Perspektiven? Man könnte im Sinne
einer alltagspsychologischen Deutung auf die Idee kommen, dass Frau Schmidt
eine verzerrte oder gestörte Wirklichkeitswahrnehmung habe und entsprechend
die Dinge nicht richtig sehen könne. Dies würde dann auch der klinischen
Diagnose ‚Borderline‘ entsprechen, die zu ihr in den Akten notiert ist.
Doch selbst in der retrospektiven Erzählung teilt die Patientin diese Ein-
schätzung nicht. Vielmehr bringt sie zum Ausdruck, dass sie ja immerhin bislang
mehr oder weniger erfolgreich mit anderen Menschen ihre Welt aufgebaut hat.
Sie betont, dass sie immerhin Mutter war und – wenngleich mit Unterstützung
des Jugendamtes – ihr Kind noch selbst versorgt habe. An anderen Stellen des
Interviews können wir hören, dass sie sich für viele Jahre erfolgreich im Drogen-
milieu durchschlagen konnte. Wir dürfen also nicht den Fehler machen, die
Normalitätserwartungen der Mehrheitsgesellschaft oder die diagnostischen Ein-
schätzungen der Ärztinnen und Therapeuten mit ihrem eigenen Selbstverhältnis
zu verwechseln. Frau Schmidts scheint sich zunächst dadurch auszuzeichnen, ein
stabiles Selbst- und Weltverhältnis außerhalb der bürgerlichen Welt aufzubauen.
Zudem scheint sie mit dieser Lebensform – die wir als ‚stabile Delinquenz‘
bezeichnen könnten – nicht allein gewesen zu sein, sondern hat in einem Milieu
Bestätigung gefunden, das genauso lebt wie sie, innerhalb dessen Beschaffungs-
kriminalität und regelmäßiger Drogenkonsum normal sind.
Weitere Hinweise gibt die funktionale Perspektive: Die Widrigkeiten einer
krisenhaften Biografie erscheinen für die Patientin als Bezugsproblem – sich
trotzdem als autonome Persönlichkeit zu erleben, demgegenüber als Lösung.
Die aus einer Außenperspektive wirklichkeitsfremd anmutende Zurechnung von
Leistungen und Kompetenzen muss für sie im Selbstverhältnis demgegenüber als
eine Ressource für den Aufbau ihrer Identität erscheinen. Zumindest im Wider-
ständig-sein, kann sie sich weiterhin als sie selbst erleben.
In ihrer eigenen Welt fühlt sie sich damit weniger als Erleidende, denn als
Handelnde, die sich ich-synton mit ihren Emotionen und Verhaltensweisen identi-
fiziert. Frau Schmidt habe über die ganze Zeit hinweg noch den Kontakt zu ihren
älteren Kindern gehalten. Es sei ihr bis zu dem krisenhaften Wendepunkt noch
gelungen, ihren jüngsten Sohn zu versorgen. Aus der Perspektive ihrer Mitwelt
4.1  Frau Schmidt: Sich verändern, um dieselbe bleiben zu können 109

(etwa der Vertreter des Jugendamtes) mag dies fraglich sein, doch sie selbst
rechnet sich dies auch heute noch als Leistung zu.
Vor diesem Hintergrund erscheint die Tatsache, dass sie einen Polizisten
gebissen hat und sich der Verhaftung widersetzt, keineswegs als verrückt, sondern
vielmehr als ein letzter heroischer Akt, ihre Autonomie gegenüber den Vertretern
der gegnerischen staatlichen Institutionen zumindest symbolisch zu behaupten.
Nicht zuletzt ist darauf hinzuweisen, dass an dieser Stelle noch nicht die end-
gültige Weichenstellung für eine forensisch-psychiatrische Patientenkarriere
gefallen ist. In dem damals noch anstehenden Gerichtsverfahren könnte sie auch
nach § 64 StGB in eine Drogenentzugsklinik überwiesen werden oder nach der
anfänglichen Krise für eine absehbare Zeit ins Gefängnis kommen.
So gesehen ist es also kaum verwunderlich, dass sie das neue Regime des
Maßregelvollzugs aus Perspektive des zuvor zum Ausdruck kommenden Selbst-
verhältnis nicht annehmen kann. Sie, die ‚selbstständige‘ Frau, wird von anderen
ungerechterweise eingesperrt und kann deshalb ihre Rolle als Mutter nicht
mehr ausfüllen. Dass sie deshalb in Folge – wie an anderer Stelle geschildert –
zunächst „depressiv wird“ und all dies als „Hölle auf Erden“ erlebt, darf deshalb
nicht verwundern, sondern erscheint vielmehr als ein Ausdruck dafür, dass sie
sich selber treu bleibt, und damit ihr Selbstverhältnis imaginativ fortführt (und es
dann einfach dazugehört, ab und zu auch mal für einige Zeit im Gefängnis ein-
zusitzen). Das Weltverhältnis der Klinik erscheint ihr demgegenüber als fremd
und aufgezwungen und in diesem Sinne zeichnet sich das Arrangement gerade
dadurch aus, dass Welt- und Selbstverhältnis nicht zusammenkommen – und
dieser Konflikt selbst für sie identitätswirksam erscheint, nämlich eben dadurch,
dass sie all dies, was sie nun ertragen muss, im Selbstverhältnis nicht ist.
Insbesondere Ernst v. Glasersfeld hat den Begriff Viabilität eingeführt, um
auszudrücken, dass es allein darum geht, dass Wirklichkeitskonstruktionen
funktionieren, nicht jedoch darum, ob ein externer Beobachter die hiermit
realisierte Lebensform für wünschenswert oder moralisch richtig erachtet. Der
Begriff ‚viable‘ lässt sich mit praktikabel oder lebensfähig übersetzen4 und referiert
auf die Tatsache, dass es Frau Schmidt vor ihrer Karriere als forensische Patientin
im Großen und Ganzen gelang, eine stabile soziale Identität aufzubauen – so
krisenhaft diese von Außenstehenden auch gesehen oder bewertet gewesen sein
mag. Es war für sie außerdem klar, wer zu ihren Verbündeten und wer zu ihren
Gegnern gehörte.

4 Siehe etwa v. Glasersfeld (1985).


110 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Unter dem Blickwinkel dieser Perspektive wird auch nachvollziehbar, dass


weder die sich um sie bemühenden Pfleger noch die Ärzte (die in diesem Teil der
Erzählung nicht einmal benannt werden) für sie als potentielle Beziehungspartner
relevant werden. Denn entsprechend ihrer bisherigen Lebensform und des sich
dokumentierenden Selbstverhältnisses gehören sie eindeutig zur gegnerischen
Seite – allein schon, weil sie dafür verantwortlich sind, sie hinter Mauern fest-
zuhalten und sie mit einer radikal anderen Sichtweise ihrer selbst konfrontieren:
nämlich psychisch krank zu sein. Als Partner oder Verbündete kommen nur
Mitpatienten in Frage, die – wie sie selber – widerborstig und damit autonom
erscheinen – also noch nicht gebrochen sind und entsprechend dem Regime
gegenüber noch einen gewissen Widerstand zeigen.
Gerade in der Phase, wo die Diskrepanz zwischen dem faktisch geführten
Leben (eingeschlossen im Krisenraum einer psychiatrischen Klinik) und dem
eigenen Selbstbild (Frau Schmidt als autonome Frau) am größten ist, erscheint
ihr künftiger Ehemann. Die Bücher, die er ihr zum Lesen anbietet, spiegeln ihre
derzeitige Situation. Der Horrorroman „Der Seelenbrecher“ von Sebastian Fitzek
erzählt von einer grausamen und sadistischen Ärztin, die ihren Patienten den
Willen bricht und sie zu einer Art willfährigen Zombies macht – und von dem
Widerstand einiger Patienten, die sich dieser Gehirnwäsche zu widersetzen. Unter
dem Blickwinkel des zuvor angedeuteten Selbstverhältnisses verwundert es kaum,
dass diese Geschichte bei Frau Schmidt auf Resonanz stößt und die Neugier weckt,
den Mann kennenzulernen, der diesen Roman mit ihr teilt. Das Buch wie auch
sein Überbringer erscheinen damit als die Vermittler, welche ihr altes Selbst- und
Weltverhältnis reaktualisieren lassen. Sie hat jetzt einen Partner. Zu zweit können
sie gegen die feindliche Welt der staatlichen Institutionen angehen und sich
gemeinsam dagegen wehren, wie die Patienten im Roman gebrochen zu werden.
Was von Frau Schmidt an dieser Stelle jedoch nicht gesehen werden kann, ist
die Tatsache, dass diese Beziehung erst von den Akteuren, die für sie als Gegner
erscheinen, ermöglicht wird. Wenngleich – wie später noch deutlich wird –
auf verbaler Ebene seitens des Personals durchaus Einwände gegen die Paar-
beziehung formuliert wurden, wird die Begegnung mit ihrem späteren Partner
explizit erlaubt. Es wird gestattet, dass die beiden miteinander telefonieren und
einander auf den unterschiedlichen Stationen, wo sie wohnen, besuchen können.
Später werden sogar Räume zur Verfügung gestellt, in denen sich das Paar auch
sexuell begegnen kann.
Wer den Maßregelvollzug kennt – und wir haben Fälle dokumentiert, in
denen anders entschieden worden ist –, weiß, dass Beziehungen jederzeit seitens
des Personals unterbunden werden können. Wenn die Beziehung als therapie-
gefährdend eingeschätzt wird oder aufgrund der begangenen Delikte der Partner
4.1  Frau Schmidt: Sich verändern, um dieselbe bleiben zu können 111

als kontraproduktiv erscheint, lässt sich der Kontakt leicht unterbinden. Einer der
beiden könnte etwa auf eine Station verlegt werden, die so weit entfernt ist, dass
die Begegnung der beiden unwahrscheinlich wird. Gründe der Rechtfertigung,
einem Patienten etwas nicht zuzugestehen, lassen sich immer finden. Dieser mag
dann zwar versuchen, mit seinem Anwalt dagegen anzugehen, doch letztlich sitzt
das Personal am längeren Hebel.
Zudem stellt sich unter dem Blickwinkel der funktionalen Methode der
Problem-Lösungszusammenhang für die Klinik anders dar als für die Patientin.
Frau Schmidts Symptomatik, ihr Ausrasten, ihre Widerständigkeit erscheint für
sie nicht als Lösung, sondern als Ausdruck eines Problems, das es zu behandeln
gilt. Als therapeutische Einrichtung wissen die behandelnden Ärztinnen und
Therapeuten jedoch zugleich, dass zu diesem Problem eben auch das Selbst-
verhältnis einer Patientin gehört, die sich aus gutem Grunde ihre Persönlichkeit
nicht verändern lassen möchte, da gerade hierin ihr Selbstverhältnis bzw. ihre
psychische Identität besteht.
Um das Selbst- und Weltverhältnis von Frau Schmidt angemessen zu ver-
stehen, haben wir also deshalb nicht nur ihre reduzierte Weltbeschreibung zu
betrachten (Herr Schmidt als verständnisvoller Partner, sie als autonomer Mensch,
das Klinikpersonal als Gegner und die Mauern als Gefängnis). Wir haben zu
berücksichtigen, dass all das, was für sie in einem bestimmten Selbst- und Welt-
verhältnis zum Ausdruck kommen kann (eine Partnerschaft mit einem Mit-
patienten zu leben, die dann schließlich gar in die Hochzeit vor dem städtischen
Standesamt mündet), in hohem Maße durch die Klinik gestaltet und konditioniert
wird. Die Beziehung wird ermöglicht, aber gleichzeitig reguliert (etwa indem die
Zeiten der Begegnung restringiert werden). Diesbezügliche Freiheitsgrade situativ
zu geben wie auch wieder einzuschränken, gehört zum therapeutischen Konzept
dieser Einrichtung. So haben diesbezüglich vorab Gespräche mit den Therapeuten
stattzufinden und die beiden Partner haben sich wechselseitig über das Delikt auf-
zuklären, weshalb sie einsitzen, bevor die Intimbeziehung beginnen kann. Zudem
sitzt zur Sicherheit eine Pflegekraft vor der Tür zum Begegnungsraum. Nicht
zuletzt müssen sich die Beteiligten an die Regeln der Einrichtung halten, sodass
zumindest die ersten Lockerungsstufen gegeben werden können.
Mit Blick auf das Arrangement der forensischen Behandlung lässt sich also
formulieren, dass die Klinik für eine Patientin, die sich im Selbstverhältnis gleich-
sam trotz (vermeintlich) feindlichem Gewässer als Kapitänin der Seele hält, ein
Weltverhältnis gestaltet, innerhalb dessen sie sich weiterhin autonom und selbst-
wirksam erfahren kann, ohne dabei jedoch wahrzunehmen, dass gerade hier-
durch ihre Sozialisation in einer bestimmten Weise kanalisiert wird – nämlich
dahin gehend, dass sie langsam lernt – sei es bewusst oder unbewusst –, dass
112 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

die Autonomie gewährenden Freiheitsgrade nur möglich sind, wenn sich die
Patientin auch an die Einrichtung anpasst (Abb. 4.1).
Im unteren Teil der Grafik ändert sich das Bild grundlegend. Die Klinik-
mauern generieren eine starre Grenze, die nun auch für Frau Schmidt
unhintergehbar erscheint. Mit Eigenmitteln sind sie nicht zu überwinden
und auch ihre Kinder sind für sie nicht mehr erreichbar. Im Selbstverhält-
nis reproduziert sich Frau Schmidt jetzt als Patientin. Das bedeutet, dass das
therapeutische Personal jetzt im Weltverhältnis für sie unmittelbar relevant wird.
Für Frau Schmidt bleibt zunächst weiterhin im Latenzbereich, dass beide Bilder
Ausdruck derselben Organisation sind – also des Regimes der forensischen
Psychiatrie. Die für Frau Schmidt möglichen Freiheitsgrade (etwa die Möglich-
keiten, eine Ehebeziehung zu leben und mit den Kindern persönlichen Kontakt zu
halten) werden hier gestaltet und entschieden.

Methodische Bemerkungen
Im Interview berichtet die Patientin aus ihrer gegenwärtigen Situation
über vergangene Sachverhalte. Wir nehmen hier eine interpretative
Position ein, entsprechend der sehr wohl in den Erzählungen auch
Erfahrungsaufschichtungen zum Ausdruck kommen können, welche
noch einige Charakteristika des vergangenen Erlebens haben können.
Gleichzeitig sehen wir die Erzählung jedoch nicht nur durch die gegen-
wärtige Interviewsituation geprägt (etwa aufgrund von Erzählzwängen
eine zusammenhängende Geschichte erzählen zu müssen), sondern auch
die therapeutischen Narrative der Klinik überlagert. Unsere Bemühungen
des Verstehens setzen dann insbesondere an Ersteren und Letzteren an,
also einerseits im Versuch, die Dynamik der geschilderten ursprüng-
lichen Situation ein wenig nachzuvollziehen, sowie andererseits der (Re-)
Formatierung derselben durch den Maßregelvollzug nachzuspüren.
Wir vermuten, dass diese beiden Aspekte in Hinblick auf die Erzähl-
zwänge so dominant sind, dass die Spezifika der Interaktion mit dem
Forscher eher in den Hintergrund treten. Wir sind beileibe nicht die ersten
Menschen, mit denen die von uns befragten Patienten über ihre Geschichte
reden. Entsprechend ist zu vermuten, dass sie uns schon längst als geübte
Erzähler/innen ihrer Patientenkarriere entgegentreten und unser Einfluss
dann bestenfalls ein wenig anregend und modulierend ist, jedoch nicht
substantiell die erzählten Inhalte und die hiermit einhergehende Haltung
prägt. Es ist also kaum davon auszugehen, dass kein Patient uns zuliebe,
eine neue Persönlichkeitsstruktur, einen neuen Ausdruck seines Krankheits-
bildes oder ein vollkommen anderes Selbstverhältnis erfindet.
4.1  Frau Schmidt: Sich verändern, um dieselbe bleiben zu können 113

Klinikmauern
leitende Ärzte

Therapeuten
Kinder
Frau Mann

andere Patienten

Kinder
Klinikmauern Mann

Ärzte
Patientin
Therapeutin
andere Patienten

Abb. 4.1   Im oberen Teil der Grafik erscheint Frau Schmidt als Mutter und Ehefrau und kann
sich auf diese Weise im Maßregelvollzug ein Selbstverhältnis aufbauen, das einer Normalbio-
grafie entspricht. Die anderen Patienten, die Therapeuten und das Pflegepersonal erscheinen
zwar im Weltverhältnis durchaus präsent, jedoch nicht als Ressourcen, um das eigene Selbst-
verhältnisses aufzubauen. Sie bilden gewissermaßen eine Umwelt, die nolens volens zu
ertragen ist, jedoch nicht dem Selbst zugerechnet wird. Gleiches gilt für die Klinikmauern, die
zwar wahrgenommen, aber nicht identitätsrelevant im Selbstverhältnis erscheinen.
114 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Beziehungsknoten – einen „Psychopathen“ lieben und die


Helfer als „Gegner“ betrachten
Im weiteren Verlauf ihres Klinikaufenthaltes vertieft sich die Beziehung zu dem
Patienten von der Männerstation und führt schließlich, wie bereits angeführt, zur
formellen Schließung einer Ehe. Herr und Frau Schmidt leben nun als Mann und
Frau in einer forensischen Klinik, was mit sich bringt, dass sie sich weiterhin
nur in vorprogrammierten Zeitfenstern begegnen und nicht im gleichen Zimmer
wohnen dürfen. Im weiteren Verlauf erweist sich die Partnerschaft für Frau
Schmidt als zunehmend problematisch:

Frau Schmidt: Aber ist halt, muss ich auch ehrlich sagen, nicht leicht, mit Psycho-
pathen, also das ist so ein Mensch, der zwei verschiedene Persönlichkeiten hat und
die eine positive den Mitmenschen zeigt und die eine negative nur dem Menschen
zeigt, den man liebt. Also natürlich hat er auch positive Seiten gezeigt, ja? Also
ich kann zufrieden sein, dass ich jetzt über alles so reden kann. Also es gab sehr
emotionale Situationen hier drin, die wirklich an die Grenzen gingen. Wo ich am
Verzweifeln war, weil ich ja hier drin erst gelernt habe, was Gefühle, Emotionen
und alles sind, ne?

Den Mitarbeitern der Klinik erzählt sie ihre Probleme für lange Zeit nicht – an
einer anderen Stelle im Interview berichtet sie gar von einer Vergewaltigung.
Doch die Pflegekräfte und Therapeuten verbleiben strukturell noch in der Rolle
der Gegner. Erst als ihr Ehemann in eine andere Klinik verlegt wurde, kann sie
mit den Therapeuten offen darüber reden:

Frau Schmidt: Natürlich habe ich die ganzen zwei Jahre immer versucht zu
schweigen, es für mich zu behalten. Ich war nicht gerade so ein offener Mensch
und habe geredet, sondern habe das alles mit mir selbst ausgemacht oder mit einer
Freundin, die in meinem Zimmer lag oder, ne? Es gab auch Doppelzimmer und so,
als wie mit dem Personal. Weil für mich sind das die Gegner, ne? Ob nun Therapeut,
Personal, sind meine Gegner. Schon immer gewesen. […] Und im Nachhinein ist es
aber dann so gewesen, es hat sich entwickelt, wo ich dann viele Sachen gesagt habe,
dass da im Garten was passiert ist oder dass ich beleidigt wurde, dass ich bedroht
wurde. […] Es kam erst dann zwei Jahre danach, wo ich dann offen geworden bin
und die richtige Offenheit kam dann wirklich erst, wo er dann weg war, ne?

In Verbindung mit der zunehmend krisenhaften Beziehung zu ihrem Ehemann


kommt es erneut zu einem psychischen Zusammenbruch. Dies mündet für sie
zunächst darin, erneut die strukturelle Gewalt der Klinik erfahren zu müssen.
Man will ihr helfen. Sie verweigert die Hilfe, die ihr seitens des Personals
angeboten wird und schlägt stattdessen wild um sich. Schließlich wird sie „weg-
gespritzt“ und wacht im Krisenraum auf:
4.1  Frau Schmidt: Sich verändern, um dieselbe bleiben zu können 115

Frau Schmidt: In der Zeit gab es auch eine Situation, wo ich komplett am Rad
gedreht habe, wo die mich hier weggespritzt haben. Das war auch so eine emotionale
Sache, ne, das ging dann um den Partner, da lag ich vorne auf der Couch und habe
geweint, habe meine Decke über den Kopf gezogen und eine Patientin hat schon
zum Personal gesagt, lassen Sie sie mal, ne? Kann ich mich noch ganz genau dran
erinnern. Und auf einmal, so meine Decke über den Kopf gemacht, weil sie sagte,
Frau Schmidt, kommen Sie mal. Und die wollten mich dann wieder in die Schlichte
stecken, weil die dachten, ich drehe am Rad oder so. Im Endeffekt bin ich auch am
Rad gedreht, wo ich dann meine Decke über den Kopf gemacht habe und gesehen
habe, dass um die ganze Couch Personal, Ärzte, Therapeuten standen, ne? Da fühlt
man sich beengt, ne? Ganz logisch, ja? Und das ist dann auch so, dass ich da aus-
getickt bin und um mich geschlagen habe, ich weiß noch, ich hatte damals einen
Therapeuten, Herr Peters, der völlig okay war, ihn getreten habe ins Schienbein
und dann haben die mich da auf den Boden gelegt und komplett festgehalten. Ich
weiß auch noch, dass ich mit meinem Kopf auf den Boden geschlagen habe, weil ich
wollte, dass die mich loslassen, ne? Und ich weiß dann nur noch, dass ich irgend-
welche Piekse gemerkt habe und dann wach geworden bin in dieser Schlichte. Ja.
Und jeder Mensch würde so reagieren, also wenn er irgendwie/bist gerade am
Weinen, weil du seelische, emotionale Probleme selbst mit dir hast, ja, und da irgend-
eine Menschenmenge um dich rum steht, ist klar, dass du da irgendwie raus willst.

Die letzten beiden Abschnitte lassen zunächst vermuten, dass sich das Selbst-
und Weltverhältnis von Frau Schmidt seit Beginn ihres Klinikaufenthaltes noch
nicht grundlegend verändert hat. Das Personal erscheint als Gegner, ihr Wider-
stand gegenüber den Handlungen des Personals als verständlich und legitim
(„da fühlt man sich beengt, ne? Ganz logisch, ja?“). Dennoch deuten sich bei
genauerer Analyse in diesem Erzählabschnitt bereits leichte Verschiebungen an.
Der Therapeut, den sie getreten hat, erscheint in der Erzählung nicht mehr per se
als Feind, sondern kann in der Reflexion nun als „völlig okay“ gesehen werden.
Der emotionale Ausbruch lässt sich weiterhin auch noch als eine Art psychischer
Immunreaktion verstehen – wenn alles nicht mehr hilft, um das Selbst aufrechtzu-
erhalten, dann bieten der Körper und das Gefühl immer noch Rückhalt.
Sie hat nun offensichtlich auch Probleme mit sich selbst und den ihr nahe-
stehenden Menschen, möchte darin aber nicht von den anderen gesehen oder
diesbezüglich bedrängt werden. Sie möchte gleichsam unsichtbar sein (was auch
durch das „Decke über den Kopf“ ziehen symbolisiert wird).
Doch solch ein Rückzug ist in der forensischen Psychiatrie nicht mehr mög-
lich. Jede emotionale Bewegung und jeder Versuch der Abschottung wird vom
Behandlungsteam wahrgenommen. Jegliches auffällige Verhalten ist begründungs-
pflichtig. Doch indem das Personal von ihr Antworten einfordert, wird das
bestehende Selbst- und Weltverhältnis noch stärker unter Druck gesetzt – und
genau dies macht hier das spezifische Arrangement des Maßregelvollzugs aus:
116 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Rückzug, Macken und andere Besonderheiten im Verhalten werden nicht mehr


einfach nur als charakterliche Eigenarten behandelt, sondern als Symptome, die
möglicherweise auf behandlungsbedürftige Probleme hinweisen.
Betrachten wir an dieser Stelle etwas ausführlicher die systemische Dynamik
einer Ehe zu einem Mann, der von ihr retrospektiv als „Psychopath“ tituliert
wird. Dabei haben wir uns zunächst nochmals zu verdeutlichen, dass sich die
Akteure aus dem Helfersystem nicht so ohne Weiteres im positiven Sinne in
das Selbst- und Weltverhältnis der Patientin integrieren lassen. Das Eingestehen
der Hilfsbedürftigkeit würde zunächst offenbaren, dass sie mit ihrem Leben
gescheitert ist, auch dass sie in dieser Ehe und nicht zuletzt auch als Mutter ver-
sagt hat – denn sonst könnte sie ja bei ihren Kindern sein. Als ideelle Referenz
bleibt für sie entsprechend nur das ursprüngliche delinquente Milieu, in dem
sie früher ihre Identität im Sinne einer viablen Ökologie reproduzieren konnte.
Mit der Ehebeziehung ist zwar innerhalb der Psychiatrie eine Art Mikrokosmos
entstanden, indem zunächst das alte Selbstverhältnis weitergehen konnte, wenn-
gleich es in Anbetracht der Zwangsbedingungen des Maßregelvollzugs schon
unter Druck geriet. Doch nun kommt es zu einer Krise, die ihre Hilfsbedürftig-
keit demonstriert. Damit kommt sie wieder am Ausgangspunkt der durch die
Bedrohung durch Stereotype konditionierten Schleife an: Hilfe kann sie aus
gutem Grunde nicht annehmen, denn dies würde ihr Selbstverhältnis als auto-
nome Persönlichkeit infrage stellen.
Es kommt zu einer Art Knoten, wie er von dem Psychiater Ronald D. Laing
(1986 [1972], S. 24) beschrieben worden ist: Entsprechend einer destruktiven,
sich kreuzförmig wechselseitig bestätigenden Schleife ist jedem zu misstrauen,
der einem helfen möchte (auch wenn der Therapeut „völlig ok war“).

Balancen institutioneller Zumutungen – lernen, „die Füße still


zu halten“
Zudem dürfen wir nicht aus den Augen verlieren, dass in der forensischen
Psychiatrie jeglicher Freiheitsgrad von der Erlaubnis der leitenden Ärzte abhängt
und zudem die Patienten die ‚Provokationen‘ zu ertragen haben, die seitens des
Teams auch verbal an sie herangetragen werden. Sowohl die Restriktionen als
auch manche herausfordernden Gesprächsinterventionen mögen zwar seitens
der Therapeuten therapeutisch oder pädagogisch begründet und auch wirklich
gut gemeint sein. Dies heißt jedoch nicht unbedingt, dass dies aus Patienten-
perspektive so gesehen wird. Oftmals erscheinen sie vielmehr als Demütigung
und manche Intervention wird dann auch eher als eine Art Erpressung wahr-
genommen:
4.1  Frau Schmidt: Sich verändern, um dieselbe bleiben zu können 117

Interviewer: Frau Markwart [die Oberärztin], wenn ich das jetzt mal so vorsichtig
sage. Also Sie verstehen, was ich meine, ne? Also theoretisch dürfen Sie selbst ent-
scheiden, was Sie tun und machen, aber wenn Sie jetzt das nicht machen, wie wir
wollen, dann werden Sie verlegt […].
Frau Schmidt: Ja ich verstehe ganz genau, was Sie meinen. Mein Anwalt hat sie
auch schon erlebt. Der meinte nur ‚Oh Gott, ist das ein Drachen‘ und guckte mich
so an. Auf Wiedersehen, Frau Schmidt, behalten Sie Ihre Nerven, beißen Sie Ihre
Zähne zusammen, ich kenne Sie. Ich sage ‚Schön, Sie fahren jetzt hier nach Hause
und ich muss hierbleiben.‘ […] Sie kam hier mit vielen Sachen schon, also Frau
Schmidt, weil ich unbedingt damals ein Doppelzimmer haben wollte mit meinem
Partner, ne? Und in [Name Bundesland] dürfen die doch in ein Zimmer, ne? ‚Ja,
dann müssen sie sich umpolen lassen.‘ Dann gab es so eine Situation, wo Sie,
das hat Sie hier vor der ganzen Gruppe gesagt, dann gab es so eine Situation, wo
Sie dann das allererste Mal in der ganzen Zeit, wo ich hier war, sich bei mir ent-
schuldigt hat, ne? Sie kam dann nach hinten in den Raucherraum und hat sich
entschuldigt. Also es gab wirklich deftige Situationen, wo ich mit/ich habe mich
schon sehr oft mit Frau Markwart angelegt. Ich bin eine Person, die lässt sich nicht
irgendwas sagen, die lässt sich die Wahrheit nicht umdrehen. […] Ich habe schon
viele Beschwerden geschrieben und wie sie auch mit mir umgegangen ist oder mit
meinem Partner damals oder was sie gesagt hat an Beleidigungen, Bedrohungen
oder weiß ich, ne? Und ich habe es hier drin einfach nur gelernt, nicht nur, ne? Also
ich habe gelernt, auch mein Anwalt, ‚Frau Schmidt, halten Sie einfach die Füße
still.‘ Ich sag ja, gerade mit meinem Temperament die Füße still halten ist gar nicht
so leicht, ne? Wenn [die Oberärztin] schon sagt, ‚Kommen Sie aus sich raus‘, dann
hieß es/ich sag, ‚Sie sind immer diejenige gewesen, die gesagt hat, kommen Sie aus
sich raus.‘ Und jetzt komme ich aus mir raus und es ist Ihnen auch nicht recht sag
ich, ne?
Interviewer: Jaja, das ist eine ganz raffinierte Balance, weil man muss aus sich raus,
aber dann nicht zu viel. Also es ist gar nicht so leicht, es ist echt/also.
Frau Schmidt: Aber es ist so. Das Ding ist/na finden Sie mal einen Mittelweg. Ich
sag auch, die Therapeuten, die fahren immer wieder nach Hause.

Auch diese Sequenz verdeutlicht, wie die Patientin versucht, unter Bedingungen
der Zwangsbehandlung ein einigermaßen stabiles Selbst- und Weltverhältnis auf-
rechtzuerhalten. Was innerhalb von Beziehung freier Menschen als Erpressung,
Nötigung oder eine andere illegitime Ausübung von Macht erscheinen würde,
erscheint im Maßregelvollzug als Bestandteil des therapeutischen oder
pädagogischen Settings: Man redet etwas harscher, um die Patientin vielleicht auf
diesem Wege zur Einsicht zu bringen oder wendet ein wenig Druck an, um sie
zum „richtigen“ Verhalten zu motivieren. Die Grenzen zwischen gut gemeinter
und wohldurchdachter therapeutischer Maßnahme, unbedachter Intervention und
Machtmissbrauch verschwimmen leicht.
118 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Frau Schmidt ist zwar jetzt verheiratet, kann ihre Ehe jedoch nur unter den
Bedingungen des Maßregelvollzugs leben. Die Oberärztin offenbart die Macht-
verhältnisse und konterkariert die Fiktion einer normalen Ehe, indem sie ihr
während der wöchentlichen Großgruppensitzung sagt, sie könne nur dann mit
ihrem Manne ein Zimmer teilen, wenn sie ihr Geschlecht umwandeln würde.
Dies ist eine Provokation, welche der Patientin schlagartig klarmacht, dass sie
innerhalb der forensischen Psychiatrie keine Normalität leben kann, sondern
unweigerlich den Regeln der Einrichtung ausgeliefert ist. Es ist wohl kein Zufall,
dass die Demütigung im offiziellen Kontext der Gruppentherapie geschehen ist,
wo eine hochgradig asymmetrische Kommunikationsstruktur vorherrscht (die
Ärztin ist die Leiterin und Frau Schmidt die Patientin) und die Entschuldigung im
Raucherraum stattfindet. Hier ist eine symmetrische Kommunikation möglich, in
der sich beide sozusagen von Mensch zu Mensch begegnen können.
In dieser Interviewsequenz wird noch ein weiterer Aspekt deutlich, nämlich
die Rolle des Rechts. Indem Frau Schmidt die Vertreter des Rechts anruft („ich
habe schon viele Beschwerden geschrieben“), gewinnt sie eine Art Gegenbalance
gegenüber der Allmacht der Ärzte. Ihr persönlicher Rechtsanwalt erscheint damit
als wichtiger Partner. Als ihr Alliierter kann er im Sinne von Bruno Latour dazu
beitragen, bei Frau Schmidt eine Form von Subjektivität zu enaktieren, indem er
sie zu einer Person des Rechts macht.5
Wenn sich Patienten bei den hierfür vorgesehenen Institutionen über die
Zustände in der Psychiatrie beschweren, ist dies keineswegs nur ein nerviger
Akt, der – wie man zunächst denken könnte – letztlich nur anzeigt, dass die
Betroffenen den Sinn der Therapie nicht begriffen haben. Im Gegenteil tragen
solche Akte der Widerständigkeit dazu bei, dass der Patient ein Bewusstsein auf-
bauen bzw. aufrechterhalten kann, weiterhin eine rechtsfähige Persönlichkeit und
damit Teil der Gesellschaft zu sein. Ein geschickter Anwalt kann dann seinerseits
unterstützend in das Selbst- und Weltverhältnis seiner Klienten eingreifen, indem
er einerseits verstehend die Klagen seiner Klientin aufgreift („meinte nur, ‚oh
Gott, ist das ein Drachen‘“), zugleich aber die Konfliktdynamik in eine Richtung
moderiert, welche die Wut der Patientin etwas zügeln lässt („halten Sie einfach
die Füße still“).
Das ‚Füßestillhalten‘ erscheint für den therapeutischen Prozess damit als eine
vielsagende Metapher mit verschiedenen Bedeutungshöfen: ‚Dableiben und nicht

5 Siehe Latour (2014, S. 487 ff.).


4.1  Frau Schmidt: Sich verändern, um dieselbe bleiben zu können 119

weglaufen‘ oder ‚den Anderen nicht treten‘ bzw. ‚nicht wild um sich schlagen‘.
Andererseits eröffnet es die Möglichkeit für die Patientin, einen ‚Mittelweg‘ zu
finden, der ihr erlaubt „eine Person“ zu bleiben (bzw. zu werden), die sich „nicht
irgendwas sagen“ und sich „die Wahrheit nicht umdrehen“ lässt. Im Sinne der
konditionierten Koproduktion psychischer und sozialer Prozesse bedarf es dabei
konkreter Menschen, die entsprechende Positionen einnehmen und den jeweils
Anderen ermächtigen, sich als normaler Mensch zu sehen. Ein Rechtsanwalt
erscheint dabei besonders prädestiniert, für die Insassen gegenüber der Allmacht
der Ärzte die Außenperspektive der Welt der Normalen aufrechtzuerhalten. Er
bekommt hiermit eine eindeutige Position als Verbündeter.
Eine diesbezüglich in vieler Hinsicht ambivalente Rolle nimmt die Oberärztin
ein, denn sie repräsentiert zugleich den Zwang und die Demütigung als auch die
therapeutische Aufforderung an die Patientin, autonom zu sein und wieder gesund
zu werden. Sie steht für einen therapeutischen Double Bind: Die Patientin kann
es in einer für sie existenziellen Situation nie richtigmachen („Sie sind immer die-
jenige gewesen, die gesagt hat, ‚Kommen Sie aus sich raus.‘ Und jetzt komme ich
aus mir raus und es ist Ihnen auch nicht recht“). Letztlich hat die Patientin nur
die Möglichkeit, als Antwort auf solch widersprüchliche Anforderungen eine für
sie stimmige Praxis zu finden – oder verrückt zu werden (bzw. zu bleiben).
In Anbetracht dieser widersprüchlichen, komplexen Lagerungen bleibt für
die Patientin die schwer lösbare Herausforderung, in Beziehungskonstellationen
einzurasten, in denen sich ihr Selbstverhältnis als ein autonomes reproduzieren
kann, wenngleich die Machtverhältnisse der forensischen Psychiatrie als totale
Institution und als Weltverhältnis unhintergehbar bleiben. Letzteres drückt sich
nicht zuletzt auch darin aus, dass sich das Personal dem Ganzen immer wieder
entziehen kann, nicht jedoch der Patient („Ich sag auch, die Therapeuten, die
fahren immer wieder nach Hause“). Auch hier besteht eine konstitutionelle
Asymmetrie.
An dieser Stelle dürfen wir nicht dem Missverständnis aufsitzen, diesen
Prozess als rein innerpsychisch zu betrachten (so als ob es nur um die
Konstruktionen der Patienten gehe, bzw. um die Art und Weise, wie sie die
kommunikativen Angebote des Behandlungsteams aufgreifen). Wir haben viel-
mehr zu verstehen, dass die beschriebenen Dilemmata in die soziale Situation
und die Psychen aller beteiligten Akteure eingeschrieben sind. Frau Schmidt ist
der institutionellen Gewalt der Einrichtung wirklich ausgeliefert, ist den Attacken
anderer Patienten ausgesetzt und hat die gerechtfertigten oder nicht gerecht-
fertigten Einmischungen des Personals zu erdulden. All dies erfährt sie sowohl
als persönlich Erleidende als auch in der Beobachtung anderer Patienten, die
120 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

ebenfalls all diese Zumutungen hinnehmen müssen. Die Insassen geschlossener


Einrichtungen erleben Grausamkeiten und Zumutungen, die für Menschen,
welche die Psychiatrie nicht erlebt haben, kaum vorstellbar sind.
Zudem ist sie selbst mehrfach ausgerastet und gegenüber anderen gewalt-
tätig geworden. Doch das therapeutische Setting der Psychiatrie erlaubt ihr nicht
mehr, aggressives Verhalten ich-synton als Ausdruck der eigenen Potenz oder
Wirkmächtigkeit zu bewerten (wie es dann doch teilweise in ihrem Selbstver-
hältnis erscheint). Es erscheint vielmehr als ein Problem, das zu behandeln oder
zu sanktionieren ist. Was im Kontext eines Gefängnisses noch als eine Tugend
oder Ausdruck von Stärke erscheinen mag – sich nichts gefallen zu lassen und
andere zu vermöbeln – wird nun auch für das eigene Selbst- und Weltverhältnis
problematisch. Der Patient kann seinen emotionalen Impulsen nicht mehr freien
Lauf lassen, sondern hat sich und sein Verhalten selbstkritisch zu beobachten.
Genau genommen sollen die Impulse gar nicht mehr auftauchen. Doch wenn
sie da sind und wegmoduliert werden, läuft die Patientin Gefahr, nicht mehr
authentisch zu sein. Zudem erscheinen insbesondere die Pflegekräfte, aber
auch die anderen Mitglieder des therapeutischen Teams keineswegs immer nur
als affektiv neutrale Helfer, die in jeder Situation nur zum Wohle der Patientin
agieren. Es ist durchaus plausibel, dass sich dann bei einigen von ihnen ihrerseits
Muster und Stereotype der Abwertung und Ablehnung ihr gegenüber verfestigt zu
haben.
Gerade deshalb erscheinen die (wenigen) Inseln der Widerständigkeit – etwa
in ihren Beschwerden in Allianz mit dem Anwalt – oder Auseinandersetzungen
mit Ärzten und Therapeuten, die in der Lage sind, zwischen asymmetrischen und
komplementären Interaktionsformen zu pendeln, für sie hoch bedeutsam. Denn
diese gestatten es ihr, ideell ihr altes Selbstverhältnis aufrechtzuerhalten – ihren
Charakter zu behalten – und sich dabei doch ein wenig zu verändern.
Unter dem Blickwinkel der funktionalen Methode steht die Klinik dabei
vor dem Bezugsproblem, die Patienten in ihrem Charakter und ihrer Identität
zugleich zu bestätigen wie auch verändern zu müssen. Logisch gesehen scheinen
diese beiden Aufträge unvereinbar. Praktisch müssen sie jedoch vermittelt
werden, bzw. ein Arrangement gefunden werden, das beiden Aspekten gerecht
wird. Im Sinne des therapeutischen Auftrags der Klinik sollen dabei zudem
produktive, auf die Rehabilitation einzahlende Lösungen gefunden werden.
Insbesondere die Psychotherapeutin hat für Frau Schmidt diesbezüglich
eine wichtige Funktion. Aus diesem Grunde möchten wir im Folgenden ihrer
Perspektive auf das Fallgeschehen etwas mehr Raum geben.
4.1  Frau Schmidt: Sich verändern, um dieselbe bleiben zu können 121

Psychotherapie als Suspendierung problematischer


Stereotype – „vielleicht wird sie auch nicht immer gerecht
behandelt“
Nach drei Jahren bekommt Frau Schmidt eine neue Psychotherapeutin, Frau Mitchel.
Als Berufsanfängerin und weil sie noch nicht in die zunehmend konflikthafte
Beziehungsdynamik von Personal und Patientin verwickelt ist, können sich beide
noch einigermaßen unvoreingenommen begegnen. Schauen wir zunächst, was diese
über den Beginn ihrer therapeutischen Arbeit mit Frau Schmidt zu berichten hat:

Frau Mitchel (Psychotherapeutin): Ich kam im Mai oder so. Und die sind/da waren
so tief greifende Konflikte, sie hatte zu niemandem in der Pflege irgendeinen
positiven Kontakt, das war alles verhärtet, hoch aggressiv von beiden Seiten, die
Visiten liefen schreiend, brüllend ab. Sie wurden immer mittendrin abgebrochen, Tür
geknallt, dann war sie raus. Ich kam da an und dachte was ist denn hier los? Was ist
denn hier los? Und ich hatte aus meiner noch damals Anfänger- oder eher neutralen
Sicht konnte ich nicht feststellen, was kommt von wo? Ist es etwas, was mit der
Störung der Patientin zu tun hat, dass sie nicht in der Lage ist, hier irgendwie aus
welchen Gründen auch immer einen guten Kontakt herzustellen oder ist es was ganz
Persönliches bei der Oberärztin zum Beispiel? Dass sie einfach so sauer ist und sie
nicht leiden kann, ich konnte es nicht feststellen. Und diese/meine Neutralität oder
Naivität war dann wahrscheinlich letztlich das Glück, dass ich nicht eindeutig gesagt
habe, ‚naja, die Patientin ist aber schwierig‘, sondern dass ich auch so ein bisschen
daran gezweifelt habe, naja, wird hier mit ihr eigentlich so gut umgegangen? Und
dass ich mich weder auf die eine noch auf die andere Seite schlagen musste. […]
Das war sozusagen dann irgendwie ein bisschen die Rettung, dass ich weder mit
Frau Schmidt kritisch umgehen musste und sagen musste, ‚naja, was Sie da machen
und da machen und da machen, dann wären wir nie irgendwo angekommen‘, wenn
ich diese Position oder Haltung gehabt hätte, sondern ich habe schon auch ihr Leid
gesehen und gedacht naja, vielleicht wird sie auch nicht immer gerecht behandelt,
vielleicht schafft sie es, dass andere so persönlich gemein mit ihr werden, dass es
dann auch nicht mehr okay ist, ja? Dass man sie auch schützen muss.
Und ich bin zu so einer Art Vermittlerin geworden zwischen der einen Konfliktseite
und der anderen Konfliktseite. Und habe ich mich mit ihr verbunden und gesagt,
‚naja, das, was Sie da erleben ist aber wirklich, das ist ja wirklich schwierig, Sie
sind ja in einer ganz blöden Position, ne? Und erleben da viel Unangenehmes und
wenn die Visite so im Streit zu Ende geht, dann kann ich mir vorstellen, das ist für
Sie auch schwer? Ich meine, Sie sind hier angewiesen, Sie sind Patientin‘. ‚Nein,
ich bin nicht angewiesen, auf gar keinen Fall und das ist auch überhaupt nicht so
und was Sie da versuchen, mich zu verstehen, ist doch Quatsch und mir geht es hier
schon gut und ich werde so schnell…‘/ so, ne? Aber mit der Zeit hat sie sich dann
besser drauf eingelassen und hat sich verstanden gefühlt, irgendwie so, ja? Und ich
konnte/habe es irgendwie auch geschafft, die andere Seite ein bisschen zu mildern
122 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

und auch für Frau Schmidt mehr im Team zu sprechen und da so ein bisschen einen
offeneren Blick herzustellen und ich war eigentlich die ganze Zeit musste ich Feuer
austreten am Anfang. […] Also mal in die eine Ecke springen und da war wieder
Alarm und dann da wieder was beruhigen und ich kam jeden Tag zur Arbeit und es
gab wieder irgendein Problem mit dieser blöden Frau Schmidt, ja? Und so, also es
war wirklich richtig Ausnahmezustand. Und diese/und das, was sie alles kann, war
sehr schwer zu sehen in der Zeit und war glaube ich auch für das Team sehr schwer
zu sehen und da hatten viele resigniert und gesagt ne, das wird eh nichts. Einfach
raus mit der, Therapie bringt eh nichts. Ich sage es jetzt mal hart, aber solche harten
Dinge sind gefallen und das ist übrigens als Therapeut sehr schwer zu hören, weil
man ist ja in einer Rolle, ich muss ja versuchen, eine möglichst positive Beziehung,
therapeutische Beziehung aufzubauen, möglichst tragfähig und wenn man unter
solchen Angriffen die ganze Zeit steht, ist das sehr schwer.

Diese Erzählung erlaubt uns nochmals auf das zweite eingangs beschriebene
Bezugsproblem der Therapie im Maßregelvollzug zurückzukommen. Die
Bedrohung durch Stereotype ist nicht nur ein psychisches Phänomen, das in
den Köpfen der Betroffenen stattfindet, sondern zugleich ein kommunikatives
Phänomen des Gesamtarrangements, das sich an unterschiedlichen Stellen im
sozialen Feld offenbart. Die hiermit einhergehenden Konflikte sind nicht nur ein
Hirngespinst der Patientin, sondern eine soziale Realität gelebter Beziehungen.
Frau Mitchel kann von ihrer zunächst unbeteiligten Position aus sehen, dass nicht
nur die Patientin, sondern auch die Mitglieder des Behandlungsteams Öl ins
Feuer gießen („hoch aggressiv von beiden Seiten“). Ebenso wird deutlich, dass
Teile der Pfleger, der Patientin nicht mehr zutrauen und sie entsprechend auch
in Hinblick auf die Perspektive einer Rehabilitation als Versagerin sehen („da
hatten viele resigniert“, „das wird eh nichts“). Hinsichtlich dieser Gegebenheiten
lässt sich mit Blick auf die Selbst- und Weltverhältnisse von Frau Schmidt recht
gut verstehen, dass Frau Schmidt ihre Autonomie – gleichsam den letzten Rest
ihrer persönlichen Integrität – gegenüber den stigmatisierenden Abwertungen
nur dadurch behaupten kann, indem sie die an sie gestellten Zumutungen mit
aller Vehemenz zurückweist („die Visiten liefen schreiend, brüllend ab. […] Tür
geknallt, dann war sie raus“).
Die individuellen psychischen Realitäten – wie die Patientin die Situation
erlebt und wie die Pfleger und Ärzte die Situation erleben – verschränken sich
hier auf kommunikativer Ebene zu einer Schleife, die genau das Phänomen
perpetuiert, an dem alle Beteiligten leiden. Denn die sozialen Dynamiken (bzw.
die jeweils aneinander anschließenden kommunikativen Offerten) lassen auf
beiden Seiten genau die Wirklichkeitssichten reproduzieren, die eine Veränderung
des Musters verunmöglichen.
4.1  Frau Schmidt: Sich verändern, um dieselbe bleiben zu können 123

Psychotherapie ist jedoch nur möglich, wenn diese starren Festlegungen („das
war alles verhärtet“) durchbrochen werden.

Methodologische Bemerkung
An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass Stereotype und die hiermit
einhergehenden sozialen Dynamiken gleichzeitig eine psychische und eine
körperliche Seite haben, also nicht nur soziale Konstruktionen darstellen,
etwa im Sinne, dass die Patientin nur als Opfer der stigmatisierenden
sozialen Zuschreibungen zu betrachten ist. Zugleich verhält, fühlt und
erlebt sie eben auch in einer Weise, die es nahelegt, in bestimmter Weise
typisiert zu werden. Andere Patienten verhalten sich weniger eskalierend
und auch ihre Körperlichkeit drückt sich in einer anderen Weise aus. So
gesehen es eben nicht (nur) eine soziale Konstruktion, wenn das Personal
bei ihr zu der Einschätzung einer „in ihren emotionalen Reaktionen
problematische Borderline-Patientin“ kommt.
Die eigentliche Problematik liegt dann darin, wie aufgrund solch
einer Verfestigung überhaupt ein Arrangement bzw. das hiermit ver-
bundene Muster verändert werden kann. Dieses Problem stellt sich dann
aber auch für Patienten, die in anderer Weise typisiert werden – etwa als
Schizophrene oder Pädophile. Die Klassifizierung hat einerseits durch-
aus ihre Berechtigung und Sinnhaftigkeit, erzeugt aber zugleich eben die
Stereotype, denen sich nicht so leicht entkommen lässt, welche also das
behindern oder gar verhindern, was systemische Therapeuten als erfolg-
reichen ‚Musterwechsel‘ bezeichnen würden.

Man könnte dies an dieser Stelle in Form folgender Hypothese noch weiter
zuspitzen: Psychotherapie ist das Durchbrechen starrer Festlegungen bzw.
Zuschreibungen (und damit einhergehend auch rigider Selbstzuschreibungen).
Doch auch hier gilt, dass diese Öffnung nicht allein auf individueller,
psychischer Ebene geschehen kann – etwa, indem die Patientin sich dieses
Prozesses bewusst wird – sondern sich ebenso auf der sozialen Ebene innerhalb
des therapeutischen Arrangements zu manifestieren hat.
124 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Eine erste Insel eines anderen, produktiven sozialen Miteinanders wird nun in
den psychotherapeutischen Sitzungen möglich. Da die Psychotherapeutin die im
Konflikt eingespielten Muster noch nicht verinnerlicht hat, kann sie an den hier-
mit einhergehenden Attributionen zweifeln („ein bisschen daran gezweifelt habe,
‚naja, wird hier mit ihr eigentlich so gut umgegangen?‘“). Sie kann sich damit
die Frage offenhalten, ob mit dem Team oder der Patientin oder vielleicht nur an
der Interaktion etwas nicht in Ordnung ist („das, was Sie da erleben, das ist ja
wirklich schwierig, Sie sind ja in einer ganz blöden Position“). Dies eröffnet für
sie eine dritte Perspektive, nämlich die einer „Vermittlerin“, die sich nicht fest-
legen muss, auf welcher Seite des Konflikts sie steht.
Hiermit eröffnet sich für den therapeutischen Prozess die Chance, eine Form
des Zu-zweit-Seins aufzubauen, die nicht durch die den Konflikt begleitenden
und reproduzierenden Stereotype geprägt ist, sondern sich durch mehr Offen-
heit auszeichnet. Auf diese Weise kann für Frau Schmidt – wie sie ihrerseits
im Interview formuliert – eine neue Beziehungsqualität zwischen ihr und der
Psychotherapeutin entstehen. Sobald diese Verbindung hinreichend tragfähig
ist, kann auch der blinde Fleck im Selbst- und Weltverhältnis von Frau Schmidt
thematisiert werden, nämlich, dass die Patientin – auch wenn sie so tut – von dem
Setting des Maßregelvollzugs nicht wirklich getrennt ist („wenn die Visite so im
Streit zu Ende geht, dann kann ich mir vorstellen, das ist für Sie auch schwer? Ich
meine, Sie sind hier angewiesen, Sie sind Patientin“).
Das Gelingen dieser Beziehung erscheint jedoch, wie Frau Mitchel selbst
reflektiert, keineswegs selbstverständlich, denn es setzt voraus, mit den Fest-
legungen, die sich im sozialen System bereits verfestigt haben, psychisch nicht in
Resonanz zu gehen. Um mit den Begriffen der Kontexturanalyse zu sprechen, die
negativen Zurechnungen der anderen Mitglieder des Behandlungsteams müssen
von ihr rejiziert werden. Als Therapeutin hat sie damit gegen das wahrschein-
lichere Arrangement zu arbeiten, nämlich gegen den Eigenwert der Bedrohung
durch Stereotype, welcher die Konfliktkonstellation auf Dauer stellt („das ist
übrigens als Therapeut sehr schwer zu hören, […] ich muss ja versuchen, eine
möglichst positive Beziehung, therapeutische Beziehung aufzubauen […] und
wenn man unter solchen Angriffen die ganze Zeit steht, ist das sehr schwer“).
Dies setzt bei der Psychotherapeutin auf psychischer Ebene voraus, sich nicht
von den Problembeschreibungen affizieren zu lassen, die alle anderen Beteiligten
haben, bzw. zumindest partiell diesbezügliche Wahrnehmungen und Deutungen
zu suspendieren, um dann ihrerseits eine Beziehung zur Patientin zu wagen, die
nicht durch die von den anderen vermittelte Sicht gefärbt wird. Dies kann ver-
schiedene Gründe haben: Unsicherheit, Souveränität, Kompetenz, Inkompetenz
(„meine Neutralität oder Naivität war dann wahrscheinlich letztlich das Glück,
4.1  Frau Schmidt: Sich verändern, um dieselbe bleiben zu können 125

dass ich nicht eindeutig gesagt habe ‚Naja, die Patientin ist aber schwierig‘“). Es
muss halt einfach passieren.
An dieser Stelle lässt sich die These formulieren, dass eine Einrichtung wie
der Maßregelvollzug strukturell Positionen vorsehen muss, in der genau dies
möglich wird. Hierfür steht dann etwa auch die eingangs erwähnte Textilwerk-
statt, mit der ebenfalls Rollen und Positionen gegeben sind, die durch Personen
besetzt werden, die den Patienten offen und unter Absehung der bisherigen Inter-
aktionsgeschichte zwischen Patienten und Klinik begegnen können.
Dabei lässt sich mit Blick auf die Freiheitsgrade des Selbstverhältnisses der
Patientin im Sinne der Leerstellengrammatik anmerken, dass eine solche Ver-
mittlerrolle, wie die Therapeutin sie eingenommen hat, nicht per se erfolgreich
sein muss oder die Patientin automatisch mitzieht, jedoch eine Bedingung der
Möglichkeit darstellt, im Selbst- und Weltverhältnis der Beteiligten eine neue
Qualität von Beziehungen aufbauen zu können.

Übertragung und Gegenübertragung – „die erste Person, wo


ich offen geworden bin“
In dem hier rekonstruierten Fall erweist sich die Beziehung zur Therapeutin
als ein wesentlicher Faktor, der dann schließlich die Veränderung des Selbst-
und Weltverhältnisses der Patientin bahnt. Sowohl Frau Schmidt als auch Frau
Mitchel berichten dies in den jeweils von uns geführten Interviewgesprächen
unabhängig voneinander:

Frau Schmidt: Die Frau Mitchel […] Das ist gerade die erste Person, wo ich offen
geworden bin, ne? Wo ich kein/also ich hatte mit ihr am Anfang richtig Probleme,
ne? Weil sie hat einen Charakter oder einen Charakter in einer Art und Weise an
sich, die mich zur Weißglut bringen könnte, ne? […] Ich habe mein größtes Ver-
trauen in ihre Hände gelegt.
Frau Mitchel: Ich glaube sie war die Patientin, die sich auch am allermeisten ein-
gelassen hat auf mich, von meinem/dort, im Maßregelvollzug, die sich wirklich,
die es riskiert hat, das ist ja ein Risiko, sich wirklich an mir festzuhalten und das
hat sie sogar auch gesagt, ne? Es gibt nur zwei Menschen in meinem Leben, die
mir Halt bieten. Das ist einmal diese Frau vom Jugendamt, Frau Neumann, die hat
sie bestimmt auch erwähnt. Und […] dass sie ein großes Bedürfnis auch hatte nach
Beziehung und nach Kontakt und nach jemandem in ihrem Leben, der hilfreich ist.
Hat auch viel bei mir ausgelöst, ne? Also dieses Adoptivkind-Phänomen, damit habe
ich mich auch rumgeschlagen eine Zeit. Hat auch viel bei mir ausgelöst, ne? Habe
auch viel über diese Behandlung gesprochen und viel nachgedacht und so. Hat das
bei mir auch ausgelöst, manchmal hatte ich auch so Fantasien, die nehme ich jetzt
mit nach Hause und ich kümmere mich um sie oder so. Also sie hat eher so diese
kindliche Seite oder mütterliche in mir wiederum angesprochen. Natürlich hat das
auch was mit so einer Retter-Fantasie, muss man einfach wissen, ne, selber, wenn
126 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

man so eine Gegenübertragung spürt und sich dann professionell damit beschäftigt,
das natürlich nicht machen oder so, das ist ja Quatsch.

Neben der Komplementarität der Beschreibungen wird hier ein anderer Aspekt
deutlich, der in der psychoanalytischen Tradition mit den Begriffen der Über-
tragung und Gegenübertragung beschrieben wird. Insofern eine therapeutische
Beziehung lebendig und produktiv wird, beginnt sich auch der Therapeut in
sie zu verwickeln. Die eigentliche therapeutische Kunst besteht dabei darin,
dies zuzulassen, ohne jedoch die damit verbundenen Impulse zu sehr auszu-
agieren. Wie bereits in Hinblick auf die problemverstärkenden Sinnofferten des
Behandlungsteams, ist also auch hier in der Beziehung zur Patientin eine Grenz-
arbeit zu leisten, den sozial angebotenen Sinn zwar wahrzunehmen, jedoch nicht
zur eigenen Handlungsmaxime zu machen. Gerade hierin zeichnet sich psycho-
therapeutische Professionalität aus – offen zu bleiben, sich berühren zu lassen,
ohne in den Prozess hineinzuagieren.
Im Sinne der konditionierten Koproduktion ließe sich hier gar formulieren,
dass das, was die psychoanalytische Tradition als „Gegenübertragung“
problematisiert,6 eigentlich eher einen wertvollen Heilfaktor darstellt, der weit
über das professionelle Therapieverhältnis hinausgeht. Die persönliche Identi-
fikation mit Frau Schmidt scheint hier für die Therapeutin einerseits eine
motivierende Wirkung zu haben (und damit auch ein Stück weit erklären zu
können, warum sie so hartnäckig geblieben und Frau Schmidt nicht einfach auf-
gegeben hat) und scheint gleichzeitig bei ihr auch ein besonderes Verständnis für
Frau Schmidts existenzielle Grundsituation zu wecken. Auch mit Frau Neumann,
der Ansprechpartnerin aus dem Jugendamt, scheint eine besondere Beziehung in
dieser Form möglich gewesen zu sein.
All dies lässt sich jedoch wiederum gegenlesen in Bezug auf die leiblich-
psychischen Dispositionen, welche von beiden Seiten mit in die Beziehung ein-
gebracht werden. Jeder bringt seine spezifische Persönlichkeit mit ein. Für Frau
Mitchel ist diese dann zweifach codiert, einmal als Charakter – sie ist eben so,
wie sie ist, und verdient es entsprechend, so genommen und akzeptiert zu werden.
Anderseits wird sie als Patientin mit der Diagnose einer Borderline-Störung
genommen, die sich auch in einer bestimmten Weise in der Therapie ausdrückt
und entsprechend mit Vorsicht zu behandeln ist. Das Dilemma der Bedrohung
durch Stereotype wie auch der Charakterveränderung kopiert sich somit in die

6 Siehe etwa Heimann (1950).


4.1  Frau Schmidt: Sich verändern, um dieselbe bleiben zu können 127

therapeutische Beziehung hinein. In diesem Sinne lässt sich mit Peter Fuchs
(2011) vermuten, dass ein wesentliches professionelles Merkmal der Psycho-
therapeuten darin besteht, eine gewisse Vagheit zu kultivieren, also nicht vor-
schnell in zu eindeutige Zuschreibungen einzurasten.

Ambivalenzen aushalten – weder „Verräter“ noch „Komplize“


Wie wurde nun Frau Schmidts problematische Beziehung zu ihrem Ehemann in
der Psychotherapie verhandelt? Schauen wir diesbezüglich auf einen längeren,
instruktiven Abschnitt aus dem Gespräch mit der Therapeutin:

Interviewer: Und sie hat mit Ihnen da drüber gesprochen über die Beziehung zu
ihrem Mann? […] oder kam das erst später? Oder wann kam das?
Frau Mitchel: Sie musste natürlich befürchten, dass ich genauso gegen die
Beziehung bin, so wie sie es erlebt hat, gegen die Beziehung bin, wie die anderen
Therapeuten oder alle anderen. Alle anderen sind ja dagegen. Aber das habe ich
nicht gemacht, da habe ich immer wieder versucht, mich davor irgendwie/da raus
zu halten und das nicht negativ zu bewerten, weil ich weiß, wenn man das als
Therapeut tut, hat man eigentlich verloren, dann würde derjenige sich nicht mehr an
einen wenden und ich habe ja immer darum geworben, dass sie sich vertrauensvoll
an mich wendet mit dem, womit sie sich da beschäftigt, damit wir das bearbeiten
können. Und das hat sehr geschwankt, also es gab entsprechend ihrer Symptomatik,
ne, natürlich auch mal Phasen, wo sie nur geschwärmt hat und dann nichts an ihn
rankam und ‚der Mann ihres Lebens‘ und alles ganz, ganz toll und dann gab es oft
sehr schnell und rapide schwankende Momente, wo sie sagt, das ist alles schlimm
und ich trenne mich von dem und das wäre der schlimmste Mensch, den ich in
meinem Leben jemals gekannt habe und so in etwa dieses Bild hat sich auch in der
Therapie abgezeichnet. […] Und dazwischen gibt es nichts. Dazwischen gibt es
nichts. Es gibt nicht diese/naja, manchmal so, manchmal so, aber geht schon irgend-
wie, kriegen wir hin. Es war entweder das eine oder das andere. Und das ist das
Schlimme bei Borderlinern, dass es so erlebt wird, ne? Das ist die Spaltung, ne?
Ja, es gibt keine Ambivalenz, sondern ist die Ambi-Tendenz, also die eine Hand
weiß von der anderen nichts, so. Es ist beides da, aber es gibt keine Verbindung.
Sie ist entweder in dem Zustand der absoluten Idealisierung oder der absoluten Ent-
wertung. Ja und das hat diese Dynamik zwischen den beiden in der Paarbeziehung,
und das hat auch Auswirkungen auf die Therapie natürlich, ne? Also es war schwer,
mit ihr da sowas Stabiles herzustellen, dass ich weder auf der einen Seite mich zu
sehr mit ihr verbünde gegen den Mann, noch mit ihr und dem Mann verbünde gegen
den Maßregelvollzug. […]
Interviewer: Ich glaube, ich kann das gut nachvollziehen. Also die letzten Tage, da
hat uns auch eine Patientin gefragt, ob wir ein Interview mit ihr machen können und
in dem Gespräch mit ihr, da habe ich irgendwann begriffen, auch ich weiß nicht
mehr, was die Realität ist. Weil die ganzen divergierenden Perspektiven, also auch
was man von anderen hört, das passt nicht mehr zusammen. […] Sie kriegen das
nicht mehr zusammen.
128 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Frau Mitchel: Glauben Sie jetzt dem einen oder glauben Sie dem anderen? […]
Aber das könnte ein Vorteil sein, dass die Analyse nicht darauf angewiesen ist,
genau zu wissen, was die äußere Realität ist. Eigentlich braucht man es nicht.
Sondern es geht darum zu verstehen, was ist die subjektive, die psychische Reali-
tät desjenigen und was inszeniert sich? Inszenieren sich Spaltungen oder nicht, also
das, was Sie gerade beschrieben haben, ne? Das bringt man nicht mehr zusammen.
Oder was wird dabei erlebt? Wie könnte man es vor dem Hintergrund der Ver-
gangenheit verstehen, was hier gerade passiert? Auf welche Weise werde ich da rein
verwickelt? Und das sind alles Fragen, die überhaupt nicht berücksichtigen, was ist
denn nun passiert oder nicht? Und ich glaube, wenn man das versucht, dann ist man
verloren, weil …
Interviewer: Ja, dann ist man nur Verräter. Entweder ist man Verräter …
Frau Mitchel: oder Komplize.

Frau Schmidts Verhältnis zu ihrem Mann scheint hochgradig ambivalent. Einer-


seits erlaubt ihr die Beziehung gegenüber der als feindselig und bedrohlich
empfundenen Welt des Maßregelvollzugs eine halbwegs stabile Identität auf-
zubauen (sie ist verheiratet, lebt die Partnerschaft und ist zumindest in dieser
Hinsicht normal), anderseits wird sie innerhalb der Partnerschaft gedemütigt
und wohl auch misshandelt. Die Psychotherapeutin wäre somit in der Falle,
wenn sie sich auf eine der beiden Seiten schlagen würde. Falls sie sich gegen
den Mann wendet, würde sie sich gegen das bisherige Selbst- und Weltverhält-
nis der Patientin stellen, das darauf beruht, innerhalb der totalen Institution der
Psychiatrie mit ihrem Mann eine geteilte Welt leben zu können, die sich dem
Zwangsregime zu widersetzen scheint. Wenn sie die Beziehung jedoch zu sehr
affirmieren würde, verliert sie den Kontakt zu dem Teil von Frau Schmidt, der an
der Ehe leidet.
Die therapeutische Chance besteht darin, die extreme Ambivalenz auszuhalten,
um jenseits der Verräter- oder Komplizenrolle eine Haltung einnehmen, die ein-
fach wahrnimmt, was sich jeweils im Gespräch mit der Patientin inszeniert. Die
Beziehung scheint immer dann zu gelingen, wenn die Frage ‚Was ist real?‘ ein-
geklammert bzw. in der Schwebe gehalten werden kann, denn nur auf diese Weise
ist es möglich, die sich jeweils offenbarenden widersprüchlichen Aspekte der
Selbst- und Weltverhältnisse nicht zu negieren.
Die Psychologin rechnet das Pendeln zwischen diesen beiden Polen psycho-
logisierend auf die Borderline-Persönlichkeit der Patientin zu. Dies würde ent-
sprechend dem Common Sense dieses Störungsbildes heißen, dass diese keine
emotional stabile Position und die hiermit einhergehend konstante Beziehung
halten könne. Aus Perspektive der von uns entfalteten Rekonstruktion stellt dies
jedoch nur die halbe Wahrheit dar. Die beiden Grenzregime, zwischen denen
Frau Schmidt oszilliert, stellen nicht nur innerpsychische Phänomene dar. Sie
4.1  Frau Schmidt: Sich verändern, um dieselbe bleiben zu können 129

bilden zugleich ein Muster der Verschränkungen dreier grundverschiedener


korrespondierender sozialer Realitäten: Auf der einen Seite erscheint die Welt
eines zunehmend gebrochenen Menschen, für den die Demütigungen durch
den Partner jedoch immer noch erträglicher sind als die Bedrohung der eigenen
Identität durch die Pathologisierung des psychiatrischen Regimes. Auf der
anderen Seite erscheint jedoch das Leiden an dem Verhältnis zu ihrem Ehemann.
Als dritte Realität beginnt sich in der dialogischen Beziehung zur Therapeutin
eine alternative soziale Welt aufzubauen. Hier wird es möglich, miteinander über
die erlittenen Demütigungen zu reden, die hiermit einhergehenden Emotionen zu
teilen und diesbezüglich Mitgefühl und Verständnis zu erfahren.
Damit beginnt sich für die Patientin in rudimentärer Form ein Selbst- und Welt-
verhältnis aufzubauen, das ihr erlaubt, sich aus der Welt der ‚Therapeuten‘ heraus
sehen zu können. Da jedoch noch nicht entschieden ist, ob man den sich hieraus
entfaltenden Beziehungen zu sich selbst und seiner Umwelt trauen kann, erscheint
es keineswegs verwunderlich, zwischen den unterschiedlichen Selbst- und Welt-
verhältnissen (sowie den hierdurch aufgebauten ‚Realitäten‘) zu oszillieren. Die
Frage, wer Komplize ist und wer zu den Verrätern gehört, ist für sie noch nicht
entschieden. Die Ambivalenz ist aus einer funktionalen Perspektive keineswegs
als krank oder gestört zu sehen (wie dies die psychologisierende Verwendung der
‚Borderline‘-Diagnose zunächst implizieren würde). Sie ist vielmehr der Ausdruck
einer fortlaufenden Bewegung des Selbsterhalts – man hält sich aus guten Gründen
noch beide Optionen offen. Genau dies muss dann als ein funktionaler Zusammen-
hang gesehen werden, der es der Patientin erlaubt, sich in ihrem Selbst- und Welt-
verhältnis auch in der Krise weiterhin noch als autonom zu erfahren.
Der Begriff ‚Borderline‘ würde hiermit also nicht nur einen innerpsycho-
logischen Zustand bezeichnen, sondern ebenso bivalente Weltverhältnisse,
deren soziale Strukturen eben mit unterschiedlichen Selbstverhältnissen einher-
gehen. Aus der funktionalen Perspektive kann die Borderline-Symptomatik also
wiederum als eine Art „Selbsthilfemechanismus“ verstanden werden, um unter
den gegebenen Bedingungen so etwas wie eine stabile Identität aufzubauen.
Im Sinne der Frage, was zuerst da war, die Henne oder das Ei, lässt sich dabei
nicht entscheiden, was die eigentliche Ursache ist, das soziale Muster oder die
psychische Struktur.

Sich mit den Augen des anderen sehen lernen – „ist ja


peinlich“
Die in den vorangehenden Ausführungen bereits angedeutete Suche nach Inseln
von Autonomie im Zwangsregime des Maßregelvollzugs ist zentral für das
Verständnis der Dynamik des therapeutischen Arrangements. Deshalb möchten
130 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

wir die hiermit einhergehenden Dynamiken nochmals an einem anderen Beispiel


verdeutlichen, nämlich anhand von Frau Schmidts Verhältnis zum Drogenkonsum
und der von der Klinik angebotenen Drogentherapie. Vor der Einlieferung in den
Maßregelvollzug hat sie neben Haschisch in nicht unerheblichen Maße Tabletten
(„Chemie“) konsumiert, die auf den einschlägigen Drogenmärkten angeboten
werden. Dennoch hat sie sich bewusst entschieden, nicht an der von der Klinik
angebotenen Drogengruppe teilzunehmen. Schauen wir auf eine Erzählung,
mit der sie beschreibt, wie sich ihr Verhältnis zum Drogenkonsum mit der Zeit
gewandelt hat:

Frau Schmidt: Die haben hier natürlich schon Suchtgruppen, ja? Wo ich eigentlich
reingehöre, ne? Natürlich auch da mit drin stehe. Aber wo ich nicht hingehe. Weil
es gibt hier so viel Krankheitsbilder, natürlich haben wir auch eine Situation von
Sucht zu tun, ne? Aber was bringt es mir, wenn ich mich da in der Gruppe freue
über Situationen oder darüber rede oder weiß ich, wenn ich es gar nicht will, ja?
Weil der Knackpunkt ist ja jedermann selbst und bei mir hat sich das entwickelt,
ich hatte dann auch keine großen Rückschläge oder so mit Sucht. Da gab es damals
Buscopan, ne? Das kann man rauchen, wenn man das klein macht.
Interviewer: Ach und das war hier drin? Wie kam das hier rein?
Frau Schmidt: Ja das gibt es, das sind Magentabletten, wenn man Magenkrämpfe
hat.
Interviewer: Und dann kann man da/und das wussten die aber hier nicht oder?
Frau Schmidt: Im Nachhinein wusste sie es.
Interviewer: Und dann sind die Bewohner drauf gekommen, das zu nehmen?
Frau Schmidt: Weil ich dann auch immer eine Person bin, die dann schlechte
Gedanken hat.
Interviewer: Und das haben Sie aber nicht gemacht, oder?
Frau Schmidt: Doch, ich habe das gemacht. Ich habe mitgemacht, also wir waren
drei Personen, die das gemacht haben. Also es gab viele Sachen …
Interviewer: … wo man einfach mal was macht und das/
Frau Schmidt: Ja, also das war auch das Einzige, was ich hier drin gemacht habe.
[…] Und es gab so eine Situation, ich bin zum Arzt gefahren, ich hatte einen Termin
beim Frauenarzt, ne? Und war dann auch schon zwei Jahre, mehr als zwei Jahre
clean. Und habe dann eine Frau sitzen sehen, auch so in meinem Alter, wie die da
hingelegt und getrunken hat. Habe ich mir gedacht, irgendwas ist doch mit der. Und
auf mich dann zurückgeguckt und ich wusste, dass sie irgendwas genommen hat, ne,
ich wusste, dass sie unter Drogen stand.
Interviewer: Den Blick haben Sie einfach. Den kennen Sie.
Frau Schmidt: Na damals hatten man den Blick nicht, wenn man selber drinsteckt,
sieht man den anderen nicht, ne? Und dann/haben die Menschen mich damals auch
so gesehen, ne? Und da war der Knackpunkt für mich, ne. Ist ja peinlich.

Frau Schmidt demonstriert zunächst, dass sie selbst unterhalb des strengen Regimes
des Maßregelvollzugs in der Lage ist, bewusstseinsverändernde Substanzen
4.1  Frau Schmidt: Sich verändern, um dieselbe bleiben zu können 131

einnehmen zu können. Mit zwei anderen Bewohnern raucht sie Tabletten, die eine
berauschende, halluzinogene Wirkung haben. Nicht ganz ohne Stolz attribuiert
sie sich selbst die Initiative hier („weil ich dann auch immer eine Person bin, die
dann schlechte Gedanken hat“). Personen, wie sie, können – wenn sie wollen – der
Klinik ein Schnippchen schlagen und damit zeigen, dass sie sich nicht unterkriegen
lassen („also es gab viele Sachen“). Da Frau Schmidt zu dieser Zeit nicht als
substanzsüchtig gilt, erscheint dieser Regelverstoß für sie selbst (wie wohl auch für
die Therapeuten) als ein autonomer Willensakt. Gleiches gilt für ihre Entscheidung,
nicht an der Drogengruppe teilzunehmen, zu der sie eingeteilt wurde.
In ihrer Erzählung vollzieht sich die persönliche Abwendung vom Drogen-
konsum im Anschluss an einen Arztbesuch, der ihr ein neues Verhältnis zu
ihrer eigenen Geschichte eröffnet. In einer Lebensphase, in der sie selbst keine
Drogen mehr nimmt („zwei Jahre clean“), sieht sie eine andere Frau, die offen-
sichtlich unter starkem Drogeneinfluss steht. Dies bringt sie dazu, sich selbst in
ihrem damaligen Erscheinungsbild wiederzuerkennen. Dies erlaubt ihr, eine neue
Perspektive auf ihr damaliges Selbst aufzubauen, um auf diesem Wege ein neues
Selbstverhältnis zu gewinnen, das sich dadurch auszeichnet, sich von ihrer alten
Lebensform zu distanzieren („ist ja peinlich“). Die fremde Frau in einer solch
beschämenden Situation zu erleben, erscheint für sie als der eigentliche „Knack-
punkt“. Denn erst im Angesicht des Spiegels ihres früheren Selbst entsteht der
Wunsch, selbst nicht mehr in solch eine Situation zu gelangen.
Strukturell gesehen ist es dieselbe Bewegung, gegen die Regeln der Klinik
zu verstoßen, um hierdurch performativ eine eigene Identität hervorzubringen
oder sich in einem Akt peinlicher Berührung als Nicht-Drogensüchtige zu identi-
fizieren. In beiden Fällen wird ein Selbst- und Weltverhältnis hervorgebracht, das
sich dadurch auszeichnet, sich in Auseinandersetzung mit den Positionen und
Perspektiven anderer als autonome, also nicht fremdbestimmte Bewegung identi-
fizieren zu können („der Knackpunkt ist ja jedermann selbst“).

Methodische Bemerkung
An dieser Stelle wird besonders deutlich, dass es sich bei dieser Erzählung
um eine rekonstruktive Gattung handelt. Die Patientin erzählt im Nach-
hinein die Geschichte ihrer Behandlung und interpunktiert diese so, als
ob als dies ihre eigene Leistung und Erkenntnis im Sinne einer Art Heils-
geschichte oder Konversion sei (vgl. Ulmer 1988). Für die Rekonstruktion
des therapeutischen Prozesses tut dies nichts zur Sache, insofern wir die
132 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

damit verbundenen Muster der Attribution eben als solche betrachten: als
Zurechnungen, die ein bestimmtes Selbstverhältnis aufbauen, das sich
dadurch auszeichnet, Kontrolle über das Geschehen zu haben. Mit Blick
auf das eingangs geschilderte Bezugsproblem eröffnet dies der Patientin
dann die Möglichkeit, auch dann sie selbst bleiben zu können, wenn sie
sich verändert.

Was jedoch für Frau Schmidt im blinden Fleck bleibt, sind die Kontexte der
Möglichkeit ihrer Erfahrung. Gemeint ist der von ihr nicht referierte Teil ihres
Weltverhältnisses, also die vielfach auch aus therapeutischen Gründen gerade so
und nicht anders gestalteten Umwelten und Reglements, welche die Bedingungen
mitgestalten, in denen sich Patienten abgrenzend und identifizierend als Selbst
hervorbringen können. Die Dinge dann später in dieser oder ähnlicher Weise
sehen und reflektieren zu können, wird von den Patienten erwartet und dahin
gehend werden sie unzählige Male in therapeutischen Gesprächen trainiert.
So wissen die Mitarbeiter der Klinik – wie uns mehrfach bestätigt wurde –
sehr wohl, dass die bestehenden Kontrollmechanismen nicht vollständig ver-
hindern, dass Patienten an Drogen herankommen können. Dies wird jedoch von
den Ärztinnen und Therapeutinnen nicht unbedingt als Problem gesehen, sondern
vielmehr als eine therapeutische Chance. Wenn nämlich der Substanzmissbrauch
offenbar wird – was unter dem Beobachtungsregime des Maßregelvollzugs auf
kurz oder lang unvermeidbar ist –, kann in der anschließenden Therapie betont
werden, dass es ja die Entscheidung des Patienten gewesen sei, die Droge zu
nehmen. Durch die ‚autonomisierende‘ Zurechnung des Therapeuten kann der
Patient wiederum die Figur der eigenen Entscheidungsfreiheit übernehmen und
– insofern keine Substanzabhängigkeit vorliegt – für sich auch dadurch Auto-
nomie gewinnen, insofern er sich gegen den Konsum entsprechender Mittel
entscheidet. Es ist also Bestandteil des therapeutischen Settings, dass Patienten
Besuch empfangen dürfen oder – wenn längere Zeit nichts vorgefallen ist und
die Risikoabschätzung es zulässt – sie unbegleiteten Ausgang bekommen, und
dann die hiermit verbundenen Freiheitsgrade nutzen können, gegebenenfalls
auch wieder Drogen zu nehmen. Dies erscheint dann wiederum als ihre eigene
Entscheidung, sodass für die damit einhergehenden Restriktionen die Patienten
anschließend selbst verantwortlich gemacht werden können (etwa indem jetzt nur
noch begleiteter Ausgang erlaubt wird).
4.1  Frau Schmidt: Sich verändern, um dieselbe bleiben zu können 133

In diesem Sinne gehört es zum spezifischen therapeutischen Setting einer


forensischen Klinik, bestimmte Freiheitsgrade zu gewähren, wobei dann gerade
das Wechselspiel von Regeln, Routinen und Abweichungen soziotherapeutisch
interessant ist. So ist beispielsweise Frau Schmidt zum Zeitpunkt der Unter-
suchung immer noch auf der im Stationspflegeraum hängenden Liste der Drogen-
therapiegruppe eingetragen. Sie hat sich jedoch, wie im Interview deutlich wird,
entschieden, nicht dort hinzugehen und dies wird vom Personal akzeptiert. Die
Ärzte und Therapeuten haben ihr abgeraten, die Beziehung zu ihrem späteren
Mann einzugehen, dennoch wurde es ihr ermöglicht, die Partnerschaft im Kontext
der Klinik zu leben.
Für die Patienten ist es in Fragen der Beziehungsgestaltung möglich, anders
zu handeln, als es das Personal will, um damit zugleich jedoch für das eigene
Verhalten verantwortlich gemacht zu werden. Regeln geben Freiheit, da man
sich ihnen widersetzen kann, und in diesem Sinne wird dann gerade die totale
Institution des Maßregelvollzugs eine Vielzahl von Räumen gestalten, in denen
über Abgrenzung gegenüber anderen, eine gewisse Widerständigkeit oder
über Regelbrüche eine gewisse Autonomie erfahren werden kann – was dann
wiederum therapeutisch nutzbar ist.
Der Maßregelvollzug zielt selbstredend auf die Transformation der Selbst-
und Weltverhältnisse in ein gesellschaftlich erwünschtes Regime. Sich in
einer stabilen Delinquenz einzurichten oder die unterschiedlichen Aspekte der
eigenen psychischen und sozialen Identität weiterhin mittels der Delikte aufzu-
bauen, wegen derer man einsitzt, kann entsprechend nicht geduldet werden. Die
gewährten Freiräume ermöglichen Inseln der Autonomie, hebeln aber nicht den
grundlegenden Charakter des Zwangsregimes auf.

Prekäre Identifikationen – „selbst ich hätte hier drinnen


bekloppt werden können“
Eine Patientin hat sich – falls sie irgendwann ein Leben außerhalb psychiatrischer
Einrichtungen führen möchte – nolens volens irgendwann dafür zu entscheiden,
Formen der Identifikation und Autonomisierung anzulaufen, die mit den Normen
der Gesellschaft kompatibel sind. Gerade hierauf arbeiten ja die therapeutischen
und erzieherischen Programme der Klinik hin.
Wendepunkte in der forensischen Patientenkarriere gehen entsprechend
immer auch damit einher, dass das ursprüngliche Milieu als problematisch oder
„peinlich“ gesehen oder empfunden wird und nun stattdessen Anschlüsse an die
Lebenswelten der Mitglieder der ‚normalen‘ Gesellschaft gesucht werden.
134 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Methodologische Bemerkung
Aus dem Blickwinkel der konditionierten Koproduktion ist es dabei nicht
zu entscheiden, ob erst die Einsicht der Patientin da war und das hiermit
assoziierte Empfinden oder zuerst die Einredungen seitens der Therapeuten
und Ärztinnen (man denke hier auch an das Beispiel von Herrn Volkert).
Inhaltlich relevant ist dann allein der Befund, dass die Patientin sich die
Bewegung am Ende selbst zurechnet. Annahmen von Kausalität sind –
wie in jedem polykontexturalen Gewebe – vom Standort bzw. Beobachter
abhängig. In der verstehenden Rekonstruktion bilden wir Annahmen
darüber, wie die Beteiligten zurechnen und was dies über ihr Selbst- und
Weltverhältnis aussagt – nicht mehr und nicht weniger.

Für Frau Schmidt erscheinen in diesem Sinne auch die meisten Mitpatienten als
negativer Orientierungspunkt, als abschreckende Beispiele. Anders als in den
ersten Jahren ihres Klinikaufenthaltes, in dem für sie das Personal per se auf der
Seite der Gegner stand, werden jetzt vermehrt Anschlüsse an die für sie nun in
ihrer Normalität attraktiv erscheinenden Vertreter der Institution gesucht:

Frau Schmidt: Es gab es im Personal/also, das gab es eine Weile lang, ich gehe jetzt
auch manchmal noch auf Station, ich bin leidenschaftlicher Skat-Spieler oder all-
gemein Tischtennis, Skat. Und das ist dann auch immer so, andere Patienten haben
da keinen Bock oder überhaupt aufs Personal. Da weiß ich auch, was die dann
immer von mir gedacht haben, Schleimerin beim Personal oder so. Ist aber nicht
einfach so, ich habe einfach nur Beschäftigung gesucht […]
Interviewer: Und mit denen kann man halt zumindest ein bisschen spielen, macht
Spaß. Oder, das ist einfach okay, das zu machen?
Frau Schmidt: Nein, das Ding war einfach, das waren normale Menschen, ne.
Interviewer: Normale Menschen.
Frau Schmidt: Das waren Menschen, die normal sind. Ich bin auch so gerne jeden
Morgen, wo ich dann schon in der Textilwerkstatt war/Ich war immer so erleichtert,
wenn ich morgens aus dieser Tür ging und auf dem Weg zur Textilwerkstatt war,
mit Herrn Dölling und Herrn Martin zu tun zu haben, weil das sind joviale Leute.
Menschen. Die sind nicht krank oder mit denen muss ich mich irgendwie kümmern
oder beschäftigen. Oder muss jetzt da irgendwie erwarten, dass da irgendwas
Dummes um die Ecke kommt. Das ist jetzt, was ich hier drinnen immer gesucht
habe, ne. Und das ist ja auch so immer das, warum ich mit dem Personal Karten
gespielt habe, um was Normales, was Reales, was Verständliches, nicht irgendwas
Dummes an meiner Seite zu haben. Um normal zu bleiben, ist einfach so. Es ist
halt nicht so leicht, das ist ja das, was ich meine. Wenn ich die Stärke nicht gehabt
hätte oder mir das alles so selber gesucht hätte, selbst ich hätte hier drinnen bekloppt
4.1  Frau Schmidt: Sich verändern, um dieselbe bleiben zu können 135

werden können. Das ist einfach so. Ob es nun an den Gruppen liegt, ob es nun an
den Mitpatienten liegt, ob es nun manchmal die Aussagen von Frau Markwart [der
Oberärztin] sind oder von den Therapeuten. Du musst einfach mit irgendjemand
anderen darüber reden, weil wenn du dir darüber Gedanken machst, das macht dich
irre im Kopf. Und wenn man manchmal/Ist so. Ich war hier in manchen Situationen,
hey, bist du jetzt hier die Bescheuerte oder stellen die dich einfach nur bescheuert
hin, ne? Es gab so viele Facetten, wo ich gedacht habe, ich muss hier einfach nur
raus, sonst wirst du irre. Wo ich schon nach dem Telefon gegriffen habe, mit den
Pflegeeltern […]. Und mit denen geredet habe, um was Normales zu hören.

In diesen wenigen Zeilen offenbart sich nochmals das sozialpsychologische


Grunddilemma eines jeden Patienten, der längere Zeit in einer geschlossenen
psychiatrischen Einrichtung verbringt.
Wenn er oder sie zu nah am Personal dran ist, wird er von den Mitpatienten
als „Schleimer“ oder gar als Verräter angesehen. Sobald man die eigene Gruppe
zu verlassen beginnt, drohen sich deren Mitglieder als Feinde gegen einen zu
wenden (dramatisch wird es etwa – wie von uns etwa einmal in der Auseinander-
setzung in der Großgruppe beobachtet –, wenn ein Patient das Personal darüber
informiert, dass ein anderer Patient Drogen genommen habe). Umgekehrt droht
man bei zu viel Nähe zu den anderen Insassen zu sehr in den Modus delinquenter
Gegnerschaft oder gar in die Position des Kranken bzw. des Verrückten hinein-
zurutschen. Letztere wird dann ihrerseits noch durch die Mitglieder des
Behandlungsteams bestärkt, das allein schon von Berufs wegen darauf gepolt
ist, jede Äußerung der Patienten unter dem Blickwinkel von Krankheit und
potentieller Behandlungsbedürftigkeit abzutasten.
Jedes Körpersignal, jedes Wort, jeder Gedanke, jeder emotionale Ausdruck
kann zum Anzeichen genommen werden, dass etwas nicht stimmt, was dann
auch den Gesündesten verrückt zu machen droht („selbst ich hätte hier drinnen
bekloppt werden können“). Wenn Patienten versuchen, nicht zu kommunizieren,
kann sein Schweigen als Zeichen gewertet werden, dass er depressiv sei oder
etwas zu verbergen habe. Wenn es einem Patienten zu gut geht, entsteht der
Verdacht, dass er manisch sei, oder vielleicht nur etwas vorspielen wolle (viele
Patienten und auch Frau Schmidt – an anderer Stelle des Interviews – berichten
von diesbezüglichen Szenen). Gleichsam jede Ausdrucksform mündet in die für
psychiatrische Einrichtungen typische generelle Fraglichkeit, ob wirklich alles in
Ordnung sei oder ob hinter der vorgeführten Ausdrucksform etwas Verborgenes
dahinterstecke.
Im Sinne der konditionierten Koproduktion, der Verschränkung von
psychischen und sozialen Prozessen, führt dies bei Patienten unweigerlich zu
komplementären Formen der Selbstreflexion, welche das eigene Selbst- und
136 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Weltverhältnis infrage stellen. In Phasen einer Krise oder wenn in Bezug auf
konkrete Problemlagen Coaching oder Hilfe gesucht wird, um sich zu ver-
ändern, mag diese Hyperreflexivität produktiv sein. Als Dauerzustand führt sie
jedoch dazu, der Bedrohung durch Pathologisierung kaum mehr entkommen zu
können, da nun nichts mehr normal ist. Leicht manifestiert sich eine andauernde
Unsicherheit in Hinblick auf die Frage, ob man selbst ein Problem habe oder
nur die anderen mit ihrem Gerede problematisch sind („bist du jetzt hier die
Bescheuerte oder stellen die dich einfach nur bescheuert hin“).
Abmildern oder und zumindest in Ansätzen vermeiden lässt sich diese
Bedrohung durch Pathologisierung nur, wenn es den Betroffenen gelingt,
Inseln der Normalität aufzubauen. Der eine, wohl leichtere Weg besteht darin,
das Klinikpersonal per se als Gegner zu betrachten und sich stattdessen an den
Normen der eigenen Peers zu orientieren. Der andere, riskantere Pfad besteht
darin, Kontakte zum Personal zu pflegen, das zum ‚rechtschaffenen‘ Teil der
Gesellschaft gehört.
Frau Schmidt versucht Letzteres. Anhand unverdächtiger Beschäftigungen
sucht sie den Kontakt zu „normalen Menschen“, und rechnet diese Bewegung
zudem autonomisierend sich selbst zu („mir das alles selber gesucht“). Da die
Psychiatrie eine totale Institution ist, die alle Lebensbereiche umschließt, ist es
für das soziotherapeutische Setting deshalb von zentraler Bedeutung, dass mit
ihr Sphären oder Lebensbereiche geschaffen werden, in denen es den Insassen
zumindest partiell möglich wird, normale soziale Beziehungen leben zu können
(„was Normales, was Reales, was Verständliches“), was natürlich auch nur
bedingt geht, weil praktisch alles, was im Maßregelvollzug geschieht, durch die
psychiatrisch-therapeutische Rahmung konditioniert ist. Unweigerlich landen wir
bei den eingangs geschilderten Aporien des Autonomiedilemmas. Wir werden
dies später an der Bedeutung der Textilwerkstatt nochmals ausführlicher auf-
greifen.
An dieser Stelle jedoch der Hinweis, dass Normalität – anders als im Gefäng-
nis – kaum auf Dauer in dem alten Selbst- und Weltverhältnis gefunden werden
kann, also in der Peer Group eines in Bezug auf kognitive Fähigkeiten, Mentali-
tät und begangenen Delikten ähnlich gelagerten Milieus von Mitpatienten. Im
Maßregelvollzug können die Gegenmodelle delinquenter Gegenkulturen, die
jedoch im Sinne eines viablen Ökosystems ihre eigene Normalität haben, nicht
mehr in naiver Form weiter aufrechterhalten werden. Der dauernd präsente
therapeutische Vektor verlangt Einsicht, Reflexion und Änderungsbereitschaft.
Wer im Maßregelvollzug auf unbestimmte Zeit eingeschlossen ist, der wird nach
einigen Jahren unweigerlich damit konfrontiert, dass er in seinem bisherigen
Weltzugang gescheitert ist und er sich zu ändern wollen habe. Für viele Patienten
4.1  Frau Schmidt: Sich verändern, um dieselbe bleiben zu können 137

geht das Leben in einer forensischen Klinik nicht mit einem Weltverhältnis ein-
her, mit dem sich so ohne Weiteres identifizieren lässt (siehe allerdings den Fall
von Frau Krampen in Abschn. 4.3 als ein Beispiel, in dem sich dies anders dar-
stellt). Hinter Mauern lässt sich schwer eine Identität aufbauen, die nicht auch in
der einen oder anderen Weise als eine gebrochene erscheint.
Damit zeigen sich anhand des Bezugspunkts „Normalität“ nochmals die
grundlegenden Probleme und Herausforderung des psychotherapeutischen
Settings. Wie kann Autonomisierung, also die Ermächtigung des Patienten,
sein Leben selbst in den Griff zu bekommen, unter Zwang und permanenter
Bedrohung durch Stereotype gelingen? Wie kann es zu einem Arrangement
kommen, in dem die Psychotherapie als Ausdruck einer Bewegung zur Normali-
tät erscheint und nicht als Zerstörung der Persönlichkeit, die dann etwa mit dem
langsamen „Fremdwerden der eigenen Biografie“7 einhergeht oder in depressives
Einrasten in dauerhafte Hospitalisierung mündet?

Autonomie in der Krise – „Der Knackpunkt, der war eigentlich


so vor einem Jahr, weil ich habe ja auch eine Flucht gemacht“
Kommen wir nun zu einem zentralen Wendepunkt in der Patientenkarriere von
Frau Schmidt, der von ihr wieder als „Knackpunkt“ bezeichnet wird. Bemerkens-
werterweise ist dieser mit einer weiteren Krise verbunden, die in einem Flucht-
versuch kulminiert. Im Rahmen eines unbegleiteten Ausgangs packt sie Geld und
Decken ein und entscheidet sich entgegen den Regeln, am Abend nicht mehr in
die Klinik zurückzukehren. Dabei wählt sie interessanterweise einen Zufluchts-
ort, der nur wenige hundert Meter von der Klinik entfernt ist. Beim Verlassen
des Hauses hat sie noch Blickkontakt zu ihrem Mann gehalten, der am Fenster
stand. Schauen wir auf die diesbezügliche Erzählung, in der dann auch von
der Ergreifung durch die Polizei sowie der Art und Weise der anschießenden
Behandlung durch die Klinik berichtet wird:

Frau Schmidt: Der Knackpunkt, der war eigentlich so vor einem Jahr, weil ich
habe ja auch eine Flucht gemacht, ne? Und da war aber der Partner noch hier, ne.
Und da war es gerade so im Endstreit und sehr emotional. […] Das war vor gut 1,5
Jahren, wo ich die Flucht begangen habe. Da bin ich in meinem UA [unbegleiteten
Ausgang] einfach draußen geblieben und bin/also ich war hier. Ich war pünktlich
hier vorm Zaun und er stand da oben am Fenster, das war mir zu emotional. Wir
hatten da vorher auch schon Streit und er ist fremdgegangen und alles. […] Hier

7 So die Worte von Gerhard Riemann (1987).


138 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

ist so vieles Negatives und dieses Emotionale oder gerade diese Beziehung. Auch
dieser Umgang mit den Patienten oder Personal, ne, was man alles gar nicht will
als normal, sag mal wieder normal, weil das ist für einen selbständigen Menschen,
der hier reinkommt, schon sehr schwer, immer wieder in so ein Horrorhaus zurück-
zugehen, sage ich mal, ja. Und ich hatte ja nun schon meine Freiheit und bin ja nun
schon lange hier draußen sein […] Und bin dann einfach weggegangen, habe mich
da hinten an so einem kleinen Häuschen versteckt und es ging in der Zeit eigentlich
nur emotional über diese Partnerschaft. Bin dann hier unten langgelaufen, habe dann
oben angerufen, weil ich mit ihm sprechen wollte, das war abends um 22 Uhr oder
so. Und die Polizei wollte dann schon verhandeln und ich wollte gar nicht weg, ne.
Ich wollte denen eigentlich nur ein Zeichen setzen, weil das war ja im Endeffekt
mein Halt hier, wo sollte ich hin, ne? Ich wollte dann einfach auch nur so einen
Schock, auch natürlich dem Partner einen Schock einsetzen. Nicht so, ne. Und ich
habe mich dann auch eigentlich nur hier hinten, da hinter der Sporthalle versteckt,
mit Deckchen hab ich/Das Ding war, ich war auch komplett eingepackt, hatte alles,
hatte Geld alles dabei, mit Telefon alles, das Personal hat es noch nicht mal mit-
gekriegt. Ich war eingepackt, ich bin ja nur ein zartes Persönchen, ich hatte ein
Pullover, Decke drunter, unter meinem Dicken, das hätte man sehen müssen (lacht).
Wirklich. […] Ich habe keinen Alkohol getrunken, ich habe keine Drogen in der
Zeit genommen, es ist einfach nur eine emotionale Sache, dass ich/ich wollte hier
einfach nicht zurück. Wollte diesen Menschen da oben nicht mehr sehen, ich wollte
hierhin nicht zurück. Ich wollte darüber nicht reden, weil ich weiß ja, dass die dann
immer mit einem quatschen. Das war für mich auch der Horror, der Horror. Also die
Polizisten, die haben mich dann ja gesehen, haben mich dann geholt und (…) / Habe
dann auch gefragt, weil ich ja weiß, wenn man da mal flüchtet, dass man dann da in
diese hässliche Schlichtezelle kommt.

Wenn man der Erzählung folgt, wird deutlich, dass die Flucht nicht auf einen
imaginierten Ort der Befreiung zielt, der dann hoffnungsvoll angelaufen werden
kann („war ja im Endeffekt mein Halt hier, wo sollte ich hin, ne?“), sondern
eher als ein dramatischer Ausdrucksakt zu verstehen ist („ein Zeichen setzen“),
mit dem zunächst vor allem dem Ehemann gezeigt werden soll, dass es so nicht
weitergehen kann. Ihre Beziehung befindet sich in einer tiefen Krise („da war
es gerade so im Endstreit“) und auch in ihrem Versteck („einem kleinen Häus-
chen“) ging es eigentlich „nur emotional über diese Partnerschaft.“
All das allein war für sie schwer auszuhalten. Doch noch unerträglicher schien
für sie – selbst noch aus heutiger Perspektive – die Vorstellung, mit dem Klinik-
personal hierüber reden zu müssen („Ich wollte darüber nicht reden“). Denn die
ganze Zeit zuvor hatte sie sich in einer imaginären Welt eingerichtet, in der es so
schien, als ob sie zusammen mit ihrem Mann gegenüber der verrückten Welt der
Klinik eine Insel der Normalität aufrechterhalten könne.
Trotz all ihrer Verzweiflung kann der Fluchtversuch deshalb noch als ein Akt
gesehen werden, der ihre eigene Autonomie bezeugt und damit im Sinne ihres
4.1  Frau Schmidt: Sich verändern, um dieselbe bleiben zu können 139

bisherigen Selbst- und Weltverhältnisses auf ihre eigene personale Integrität ein-
zahlt. Auf diese Weise kann sie sich trotz der offensichtlichen Krise treu bleiben
und allen zeigen, dass sie charakterlich noch nicht gebrochen ist und die Hand-
lungsinitiative weiterhin bei ihr liegt. Es gelingt ihr wieder mal, die Pflege-
kräfte und Therapeuten hinters Licht zu führen („das Personal hat es noch nicht
mal mitgekriegt“), um sich zumindest in dieser Hinsicht als wirkmächtig zu
behaupten.
In diesem Sinne mag für sie die Aussicht noch schlimmer erscheinen, darüber
reden zu müssen („dass die dann immer mit einem quatschen. Das war für mich
auch der Horror“), als wieder in dem Krisenraum eingesperrt zu werden („die
hässliche Stichelzelle“). Hierdurch würde ihr Selbst- und Weltverhältnis in einer
Weise aktualisiert, die sie bislang mit aller Kraft zu vermeiden gesucht hat –
nämlich auch auf emotionaler Ebene eine Beziehung zum Personal eingehen zu
müssen und hiermit einhergehend von ihm abhängig zu sein. Doch genau dies
wird im Folgenden unvermeidbar.

Methodologische Bemerkung
An dieser Stelle lässt sich wieder einwenden, dass eine biografische
Erzählung eine rekonstruktive Gattung darstellt, in der aus der gegen-
wärtigen Perspektive und mit Blick auf zwischenzeitlich, etwa durch
Therapie angeeignete Erzählfiguren, diese reformuliert und geordnet
werden, etwa als Krisen- und Wendepunkte einer Biografie. Zugleich
erscheint es jedoch für die mit diesem Projekt verfolgte Zielsetzung
produktiv, die Erzählungen nicht nur unter dem Blickwinkel der gegen-
wärtigen sozialen Situation zu betrachten, sondern auch in Hinblick auf die
materialen Konstellationen, über die berichtet wird.
Im Sinne von Fritz Schütze (1983) arbeitet die Hermeneutik, also die
Versuche den Schilderungen verstehend Sinn abzuringen, deshalb auf zwei
Ebenen: einerseits mit Blick auf das aktuale Selbst- und Weltverhältnis,
das sich der in einer Gegenwart erzeugten Erzählung ausdrückt, anderseits
jedoch im Nachvollziehen einer Verlaufskurve, die sowohl in Hinblick in
ihren materialen Aspekten als auch in ihren psychischen, körperlichen und
sozialen Aspekten zumindest in rudimentärer Form verstehbar ist. Es macht
mit Blick auf unser Erkenntnisinteresse wenig Sinn, die Kulmination der
Ereignisse in der Flucht, die anschließende Reaktion der Klinik (Einsperren
im Krisenraum, Entzug der zuvor gegebenen Freiheitsgrade) nur des-
halb nicht zu würdigen, weil sie nur als Erzählungen vorliegen – also nur
140 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

narrative Konstruktionen darstellen. Gerade auch im Fallvergleich erweisen


sich gerade solche Krisen als so fundamental für die therapeutische
Dynamik des Maßregelvollzugs, dass wir nicht umhinkommen, in den
Erlebnisaufschichtungen der Erzählungen auch auf die materialen Verhält-
nisse zurückzuschließen, welche die ursprüngliche Situation geprägt haben
und ebenso zu würdigen, dass die Erzählungen damit auch auf Erfahrungen
hinweisen, welche die Patientenkarriere prägen.
Der Begriff der „Erfahrung“ impliziert ja mit Alfred Schütz (2004b)
bereits schon immer beides: die retrospektive typisierende Aneignung
durch die Sprache und die Referenz auf phänomenologische Qualitäten,
die anders nicht zugänglich sind. Der Versuch des Verstehens hat beides zu
berücksichtigen.

Nachdem Frau Schmidt wieder in die Klinik zurückgebracht wurde und im


Krisenraum eingesperrt wird, wird ihr wohl unwiderruflich klar, in welchem
Ausmaß sie den Mitarbeitern des Maßregelvollzugs ausgeliefert ist. Zunächst wird
die Tür ihrer Zelle noch offengelassen. Als sie jedoch am nächsten Morgen daran
gehindert wird, den Raum zu verlassen, um sich „frisch zu machen“, rastet sie aus.
Daraufhin wird sie gefesselt und man nimmt ihr den Schmuck ab. Mehrere Tage
wird sie im Krisenraum gehalten. Als sie wieder auf die Station kommt, muss sie
zudem zur Kenntnis nehmen, dass sie für ein halbes Jahr ihre Kinder nicht mehr
sehen darf, da ihr sämtliche Freiheitsräume entzogen worden sind:

Frau Schmidt: War auch über Nacht, war die Tür auch offen, habe auch in der
Nacht mit diesem Schmuck geschlafen. Nächsten Morgen, das war schon wieder
so eine Schocksituation, wo ich gedacht habe, ey, ticken die hier noch alle richtig?
Also ich habe den ganzen Tag mit meinem Schmuck geschlafen, die ganze Nacht
war meine Tür offen, ne. Nächsten Morgen wollte ich mich frisch machen, bin
rausgegangen aus der Tür. Hab gefragt: ‚Darf ich mich frisch machen?‘, da beim
bekannten Personal, ja. ‚Ja, Frau Schmidt, was tun Sie hier draußen‘, ne? ‚Naja, ich
will mich frisch machen, das ist mein Recht mich hier frisch zu machen.‘ ‚Nein.‘
Und ich sage: ‚Ne, ich will mich frisch machen‘, ne. Und dann bin ich ja dann auch
am Kontern und denn haben sie mich eingesperrt. […] Das ist immer diese Art, die
ich hier drinnen nicht so mag, wie die mit einem umgehen. Und ohne Witz, ich bin
da drin nur durchgedreht, habe nur gegen die Tür getreten und habe gesagt: ‚Ich
gehe mich hier frisch machen.‘ Ich sage: ‚Was sind Sie für Unmenschen. Was soll
das?‘ Ja, also. Und die haben mich wirklich nur gefesselt, um mir meinen Schmuck
abzunehmen. […] Und ein Zungenpiercing. Bauchnabel haben sie mir einen Kleber/
Ich sage: ‚Geht es noch?‘ Ich war hier nie/noch nie irgendwie suizidgefährdet
4.1  Frau Schmidt: Sich verändern, um dieselbe bleiben zu können 141

oder irgendwas. […] Ich habe mich da drei Tage gefesselt gelegen, ohne dass ich
wirklich irgendwas gemacht habe. Das Ding ist dann, das Personal kam dann rein
und stand dann um mich rum und dann wollte eine, die diejenige, die gesagt hat,
gehen Sie wieder rein. Die wollte mich alleine aufs Bett drücken, die anderen
Damen haben sich nicht getraut. Die haben sich nicht getraut mich anzufassen und
sie guckte dann noch den anderen von Personal an, den Herrn Schilling: ‚Ja, hilfst
du mir mal, oder was?‘ Ich kann mich noch ganz genau dran erinnern […] nur,
weil ich da gegen die Tür getreten habe wie eine Irre, mich da zu fesseln und mir
meinen Schmuck abzunehmen. Nur zu zeigen, die sind hier die, ne. Also das ist für
mich einfach nur unmenschlich. Ich verstehe das nicht. Und das sind so eine/Ich
habe auch mit meinem Anwalt darüber geredet, aber er hat gesagt: ‚Frau Schmidt,
so lange Sie hier drinnen sind, können Sie nichts machen. Sie wissen, wer hier die
Oberhand hat.‘ Ist mir ja schon bewusst, ja. Aber so was finde ich einzusehen, das
ist es ja, dass gerade ich mir so etwas gefallen lasse, das ist sehr schwer.
Interviewer: Und, dass Sie nichts machen können.
Frau Schmidt: Ja. Genau, dass mir die Hände gebunden sind.
Interviewer: Weil am Ende sind Sie hilflos.
Frau Schmidt: Ja.
Interviewer: War das so? Das haben Sie ja dann irgendwie begriffen in der Situation.
Frau Schmidt: Ja. Nicht nur in der Situation. Auch, dass ich dann nach der Flucht
meine Kinder ein halbes Jahr nicht/Dass die da dann so unmenschlich sind, meine
eigenen Kinder nicht sehen durfte und alles.
A [...]
Frau Schmidt: Haben die mir alles verboten. Ja.
[…]
Ein ganzes halbes Jahr […] nur als Strafe. Ich sage, also/Ich sage, versetzen Sie sich
mal wieder in die Kinder, ne.

An dieser Stelle müssen wir uns nochmals die grundlegende Weichenstellung


vergegenwärtigen, die mit der richterlichen Anordnung einer Behandlung im
Maßregelvollzug nach § 63 StGB einhergeht. Anders als bei einer Gefäng-
nisstrafe oder der Einweisung in eine Entzugsklinik nach § 63 StGB ist der
Anstaltsaufenthalt nicht befristet – endet also nicht nach 2 Jahren (wie beim
Drogenentzug) oder nach einer Haftstrafe, die aufgrund der geringen Delikt-
schwere ebenfalls vom Maß her überschaubar gewesen wäre (Frau Schmidt hat ja
laut Akte niemanden getötet oder eine schwere Körperverletzung zugefügt). Zum
Zeitpunkt, als sich diese Szene ereignet, konsumiert die Patienten schon längst
keine Drogen mehr und es ist ihr – wie auch ihrem Ehemann – unbegleiteter
Ausgang erlaubt. Sich in eine demütigende Paarbeziehung zu begeben, in
dramatischer Form an der Trennung zu leiden und mit anderen nicht darüber
reden zu wollen, ist an sich keine Indikation für den Maßregelvollzug und die
hiermit einhergehenden Zwangsmaßnahmen. Doch wenn man drinnen ist, sieht
die Situation anders aus.
142 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Frau Schmidt erfährt an dieser Stelle mit voller Wucht die Macht der totalen
Institution des Maßregelvollzugs. Dies mündet schließlich für sie zur unver-
schleierten Einsicht, dem Regime der forensischen Psychiatrie ausgeliefert zu
sein, also zu verstehen, dass hier jemand anderes die „Oberhand“ hat – und sie
als Patientin nicht einmal in rudimentärer Form die Kontrolle über die Rahmen-
bedingungen ihres Weltverhältnisses. Da ihr vor dem Hintergrund der Krise mit
ihrem Mann zudem keine zweite soziale Realitätsebene mehr zur Verfügung
steht, in der sie sich einrichten und über die sie sich noch in einem positiven
Sinne definieren könnte, scheinen ihr nur zwei Auswege möglich zu sein: Ent-
weder im psychiatrischen Sinne wirklich krank zu werden – das heißt also auch
im Selbstverhältnis krank zu sein – oder eben mit Blick auf die Perspektive auf
künftige Chancen, den Maßregelvollzug wieder zu verlassen, eben den Tatsachen
bewusst in die Augen schauen, so schwierig dies auch sein mag („dass gerade ich
mir so etwas gefallen lasse, das ist sehr schwer“).
Im Sinne der Leerstellengrammatik wäre es gut nachvollziehbar, wenn
sie nun innerlich gebrochen wäre und in Folge depressiv oder vielleicht auch
vollkommen verrückt würde. Sie wäre damit gewissermaßen charakterlich
gebrochen. An dieser Stelle ist jedoch auch ein anderes Selbstverhältnis mög-
lich, das darin besteht, das Weltverhältnis der forensischen Klinik in einer
anderen Weise annehmen zu können, ohne damit ihren Charakter zu verändern.
Dies würde dann – um den anfangs zitierten Pflegedienstleiter nochmals zu Wort
kommen zu lassen – nicht in die Zerstörung der Persönlichkeit münden, sondern
in die Entwicklung der „Fähigkeit“ mit dem eigenen „Charakter“ und „mit der
Umwelt besser zurechtzukommen“, was hieße, all dies „besser zusammenfügen
zu können.“
Frau Schmidt ist am absoluten Tiefpunkt angekommen, wobei im Unter-
schied zu früheren Krisen, die in der Demonstration der institutionellen Macht
der Psychiatrie mündeten, diese Zuspitzung durch ihre Entscheidung zur Flucht
freiwillig und vermutlich durchaus im Bewusstsein zumindest eines Teils der
Konsequenzen inszeniert wurde. Aus einer funktionalen Perspektive gesehen,
stellt die Krise die Patientin vor ein Problem, auf das sie eine Antwort finden
muss. In Hinblick auf ihre Patientenkarriere deutet sich hiermit eine zentrale
Weichenstellung an.
An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass an solch einem „Knack-
punkt“ unweigerlich etwas Altes zerbricht – so wie etwa die Schale einer Nuss
gebrochen wird –, womit aber noch nicht impliziert ist, ob auch der innere Kern
verletzt oder gar zerstört wird. Mit Blick auf die Leerstellengrammatik bleibt
offen, ob das Selbstverhältnis einer Patientin, die dermaßen in die Enge getrieben
ist, in eine produktive oder destruktive Form einrastet. Aus diesem Grunde
4.1  Frau Schmidt: Sich verändern, um dieselbe bleiben zu können 143

ist das erfahrene Klinikpersonal darauf vorbereitet, dass es in solchen Lagen


auch zu destruktiven Modi der Problembearbeitung kommen kann, etwa indem
sich die Patientin sich im suizidalen Akt gegen den eigenen Körper richtet. In
diesem Sinne ist es nicht verwunderlich, dass die Pflegekräfte ihr den Schmuck
abnehmen, denn Piercing-Nadeln werden, wie man von anderen Patienten weiß,
in solchen Situationen durchaus genutzt, um sich Selbstverletzungen zuzufügen.
Auf der anderen Seite könnte es im Anschluss an eine solche Krise geschehen,
dass Patienten nun vollkommen resignieren und sich in einer dauerhaften
Hospitalisierung einzurichten beginnen.
Was sind nun die Faktoren, welche die eine oder andere Weichenstellung
wahrscheinlicher werden lassen? Biologische oder psychologische Faktoren,
wie sie beispielsweise von Psychiatern und Neurologen benannt werden können,
mögen hier zwar durchaus von Relevanz sein, sind jedoch als isolierte Faktoren
für uns weniger von Interesse, da wir sowieso immer schon von einer bio-psycho-
sozialen Einheit auszugehen haben. Wie auch immer sich die Verbindung im
Einzelfall darstellt und durch welche biologischen und psychologischen Faktoren
sie auch noch konditioniert wird, aus sozialer Sicht gilt für den Aufbau eines
stabilen Selbst- und Weltverhältnisses Ernst v. Glasersfelds Maxime „Zuerst muss
man zu zweit sein“ (Glasersfeld 1990). Aus psychotherapeutischer Sicht sind und
bleiben entsprechend die Beziehungsmöglichkeiten entscheidend, anhand derer
sich in Identifikation und Abgrenzung ein Selbstverhältnis ausbilden kann, das
dann in der einen oder anderen Weise auch leiblich verkörpert wird.
Im Fall von Frau Schmidt scheidet ihr Mann nun endgültig aus. Die
Beziehung ist zerbrochen. Außerdem ist er in eine andere Klinik verlegt worden,
als die Eskalation der Eheproblematik in ihrem vollen Ausmaß bekannt wurde.
Die Kinder von Frau Schmidt bleiben weiterhin ein wichtiger Bezugspunkt zur
Normalität. Die Perspektive, in Zukunft wieder mit ihnen in Kontakt treten zu
können, stellt sicherlich einen förderlichen Faktor dar, doch dies ist nicht hin-
reichend, um Normalität aufzubauen, da sich die eigentliche Lebenswelt der
Patientin überwiegend hinter den Klinikmauern abspielt. Andere Positionen
außerhalb der Klinik – man denke an den Rechtsanwalt und vielleicht auch
die Vertreterin des Jugendamts mögen hier zwar ebenfalls eine Rolle spielen,
doch ein zentrales Moment, welches das Arrangement konditioniert, stellen die
Beziehungen innerhalb der Anstalt dar.

Zuerst muss man zu zweit sein – „ich habe schon etwas sehr
Nahes gesagt und gesagt, dass ich natürlich bleibe“
Für die Konditionierung des therapeutischen Arrangements erscheint es mit Blick
auf die vorangehenden Ausführungen wesentlich, auch zum therapeutischen
144 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Team Beziehungsoptionen entfalten zu können. Dabei ist jedoch zu berück-


sichtigen, dass ein Teil des Personals seinerseits in die Gewaltdynamik der
Disziplinierung von Frau Schmidt verwickelt ist und damit nicht so ohne Weiteres
als Andockpunkt einer positiv erscheinenden Beziehung genutzt werden kann.
Im vorliegenden Fall nimmt die Psychotherapeutin wiederum eine besondere
Rolle ein, da sie zu den wenigen Akteuren gehört, die nicht in die negative
Beziehungsspirale verwickelt ist. Schauen wir deshalb etwas ausführlicher auf
ihre Schilderung des therapeutischen Prozesses im Anschluss an die Flucht:

Interviewer: Wie war die erste Stunde nach der Flucht? Was ist Ihre Perspektive,
erinnern Sie sich noch?
Frau Mitchel: Die hat sie schreiend verbracht, schreiend, weinend, sie hat zu
mir gesagt, na jetzt können Sie sich doch endlich um die anderen Patienten
kümmern und mich alleine lassen. Frau Schmidt kommt aus einer Familie mit vier
Geschwistern, wo sie die einzige ist, die ins Heim gegeben wurde […] und dieses,
ich glaube was Schlimmeres kann einem nicht passieren, dass man aus der Familie
ausgeschlossen wird als Einzige und die anderen bleiben und man nie wieder
zurückkann und diese Geschwisterrivalitäten haben immer eine Rolle gespielt,
auch in der Therapie. Und an dem Punkt, also ich meine, sie hat das ja auch immer
wieder provoziert, dass ich sie fallen lasse oder was auch immer, das musste ja
immer wieder überprüft werden, ob ich wirklich bleibe und auch wirklich bleibe
und sie wirklich nicht verbanne. Und da war da auch wieder so ein Punkt, dass/ich
meine, das ist auch eine Attacke gegen die Therapie, so wegzulaufen. […] Und sie
hatte einerseits ganz furchtbare Angst, dass ich sie verurteile, dass ich böse auf sie
bin, dass sich was ändert zwischen uns und/oder dass ich sie auch nur kritisiere, das
war auch die Zeit, da durfte ich auch nichts Kritisches sagen, also da musste die
Symbiose noch sehr gepflegt werden.
Und das hat sie befürchtet und in dieser Antizipation hat sie angefangen, ist sie nach
vorne gegangen und ist mit mir sehr aggressiv umgegangen, hat mich angeschrien.
Sie denken doch jetzt sowieso, was ich für ein blöder Versager bin und, und, und,
und jetzt können Sie sich endlich um die anderen kümmern, Sie wollen sowieso
nicht, Sie wollen sowieso nicht mit mir arbeiten, so. Dann geht es richtig los. Und
ja. Und ich glaube, da gibt es vielleicht keine schlaue therapeutische Intervention,
ich glaube, das Schlaueste, was man machen kann, ist einfach zu bleiben. […]
Wenn ich eine Haltung einnehme und sage, ach, es ist doch nicht so schlimm, ist
doch nicht so schlimm, was da passiert ist, dass Sie weggelaufen sind, dass Sie
gefahndet werden mussten, ist doch alles nicht so schlimm und zwischen uns ist ja
alles in Ordnung, dann würde ich ja auch die Attacke nicht sehen, dann hätte ich
sie nicht erkannt, so. Wenn ich aber strafend reagiere, dann laufe ich Gefahr, dass
ich diese frühe Dynamik wieder re-inszeniere und man muss einen Mittelweg finden
und das ist ja das Integrieren, die Arbeit, die wir immer wieder machen. Also zu
gucken ja, ‚wir müssen uns damit auseinandersetzen, was Sie dazu bewegt hat und
was da in Ihnen vorgegangen ist‘. Aber gleichzeitig auch zu vermitteln, dass es
einen Raum dafür gibt, dass wir uns damit auseinandersetzen und ich glaube, ich
4.1  Frau Schmidt: Sich verändern, um dieselbe bleiben zu können 145

habe aber, weil ich sie auch von Anfang an sehr mochte, ich glaube, ich habe schon
etwas sehr Nahes gesagt und gesagt, dass ich natürlich bleibe und mit ihr arbeite,
natürlich.
Interviewer: Und dann? Dann ist sie wiedergekommen?
Frau Mitchel: Natürlich ist sie wiedergekommen, klar. Natürlich. Immer freitags,
doch. Wir/natürlich haben wir damit weitergearbeitet und einfach dieses, dass sie
merkt auf Dauer ne, so schnell kriegt man die nicht tot. Ich sage es jetzt mal, wie
es ist, ne? Die ist nicht so schnell zu töten und so schlimm sind ihre destruktiven
Anteile dann vielleicht doch nicht. Das macht ja auch Selbstvertrauen, zu merken
oh, ich habe da zwar ziemlich viel Schlimmes, aber vielleicht ist es doch nicht
so schlimm, dass man deswegen ein Unmensch ist oder nicht mehr, weiß nicht,
respektvoll behandelt wird oder so. Also ich glaube, dass es oft gar nicht darum
geht, was man sagt, sondern einfach, ob man es schafft, denn zu bleiben und den
Rahmen irgendwie/und das sind auch so Sachen, deswegen braucht Therapie auch
so lange, damit man das immer wieder erfährt und immer wieder so eine Erfahrung
sammelt und ich glaube, dass das mit ihr das so war. […]
Also was/ne, was ich gerne noch sagen wollte, damit das dann doch wieder passt
in den Verlauf, es ging dann einfach weiter, Woche für Woche und sie konnte diese
Anklage, die sie ja eigentlich befürchtet hat, dass ich gegen sie richte, auch fallen
lassen gegen mich, so. […] Also sie hat ja gesagt, ich bin jetzt die Böse und ich
lasse sie jetzt alleine. Da hat sie mich ja angeklagt, weil sie befürchtet hat, dass ich
sie anklage, weil sie weggelaufen ist. Das hat sie vorweggenommen, da hat sie so
einen Rollentausch, so einen cleveren Sprung gemacht. Und diese Anklage gegen
mich konnte sie dann fallen lassen, als sie gemerkt hat ‚Mist, die ist ja immer noch
gut und die ist ja immer noch bei mir‘, ne? […]
Und dann ging es ja los, dass sie wieder von vorne anfangen musste, das heißt, sie
war dann wieder hoch gesichert. Und das bedeutet, begleitet überall bei, ne? Also
sie hatte dann keine Spielräume mehr und das hat/sie musste dann nochmal richtig
in sowas Regressives eigentlich durchmachen. Also nochmal von Anfang an richtig
dableiben und da konnte sich unser Kontakt glaube ich auch sehr festigen. Vielleicht
war das auch gar nicht, für die Therapie, gar nicht schlecht, dass wir das nochmal
beide zusammen jeden einzelnen Entwicklungsschritt durchlaufen konnten. […]
Und dann haben wir das alles nochmal zusammen gemacht, jetzt bis quasi fast zur
Beurlaubung. Ja.

Die Therapeutin beschreibt aus ihrer psychologischen Sicht das Geschehen


als Reinszenierung des familiären Ursprungskonflikts zwischen der Patientin
und ihrer Mutter, die sie ins Heim gegeben hat, sowie den Versuch, dies in der
aktuellen therapeutischen Beziehung zu vermeiden. In den Begrifflichkeiten der
dabei entfalteten Perspektive offenbart sich hier die Weichenstellung zwischen
zwei unterschiedlichen Selbst- und Weltverhältnissen: dem alten Konfliktmuster
und einer erst noch zu entwickelnden neuen Beziehungsqualität. Die Psycho-
therapeutin beschreibt den Suchprozess, in dem ausgetestet wird, welche mög-
lichen Varianten in der konkreten Beziehung auf Resonanz stoßen.
146 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Mit dieser Auseinandersetzung entscheidet sich für Frau Schmidt, ob


eine identitätserhaltende Beziehungsgestaltung mit einer Vertreterin der
psychiatrischen Institution möglich ist (in der sie charakterlich dieselbe bleiben
kann), oder ob sich ihr Selbstverhältnis nur noch über die Krankenrolle einer
gebrochenen psychiatrischen Patientin aufbauen lässt. Als sozialer Flucht-
punkt würden ihr dann nur noch die Mitpatienten bleiben, die sich in einer ähn-
lichen Lage befinden, was selbstredend der therapeutischen Perspektive einer
gelungenen Rehabilitation zuwiderlaufen würde. Für letzteres sprechen allein
schon die Geschehnisse nach der Flucht. Frau Schmidt wurde vom Personal wie
ein unbändiges Tier behandelt, eingesperrt und gefesselt, wenngleich sie sich
doch – wie jede normale Frau – nur „frisch machen“ wollte.
Im Sinne dieser Bedrohung durch Pathologisierung erscheinen für die
Patientin die beiden folgenden Schlussfolgerungen in Bezug auf das eigene
Selbst- und Weltverhältnis zunächst naheliegend (was dann aus Perspektive der
Klinik wiederum dem erwartbaren Beziehungsmuster einer als „Borderline“
diagnostizierten Patientin entspricht):

1. Ich bin nicht gut und entsprechend kann auch keiner von denen zu mir halten.
2. Die anderen sind schlecht, man kann ihnen nicht vertrauen, da sie mich
sowieso fallen lassen.

In der Psychotherapie konnte offensichtlich dieses Muster durchbrochen werden.


Entsprechend der Leerstellengrammatik der therapeutischen Beziehung wird dies
möglich, indem der Knoten, die chiastische Verknüpfung zu einer destruktiven
Beziehungskonstellation artikuliert und damit anerkannt wird („jetzt können
Sie sich doch endlich um die anderen Patienten kümmern und mich alleine
lassen“), dies aber zugleich nicht in einen Abbruch der Beziehung – und damit
in die Reproduktion des Musters – mündet. Vielmehr gelingt es der Therapeutin,
ihre Sympathie gegenüber ihrer Klientin aufrechtzuerhalten und dazubleiben
(„ich glaube, das Schlaueste, was man machen kann, ist einfach zu bleiben“).
Dies bietet der Patientin ihrerseits die Möglichkeit, in der Beziehung zu bleiben
(„natürlich ist sie wiedergekommen“).
Dies eröffnet Frau Schmidt die Chance, ein verändertes Selbst- und Weltver-
hältnis aufzubauen, in dem die Therapeutin für sie zugleich als Alliierte, Freundin
und Vertraute erscheint. In diesem neuen „Zuerst-muss-man-zu-zweit-sein“ ist
zu beachten, dass die Beziehung ein noch recht empfindliches Gebilde darstellt,
das noch nicht durch kritische Auseinandersetzungen gefährdet werden darf
(„dass ich sie auch nur kritisiere, das war auch die Zeit, da durfte ich auch nichts
Kritisches sagen, also da musste die Symbiose noch sehr gepflegt werden“).
4.1  Frau Schmidt: Sich verändern, um dieselbe bleiben zu können 147

Vor dem Hintergrund, dass die Flucht von Frau Schmidt gerade dadurch
motiviert war, der destruktiven Ehebeziehung zu entkommen, erscheint die
Therapeutin für sie nun als zentraler Bezugspunkt („da konnte sich unser Kontakt
glaube ich auch sehr festigen“).
Wir haben uns an dieser Stelle nochmals zu vergegenwärtigen, dass Frau
Schmidt in dieser Zeit faktisch aller Freiheitsgrade beraubt war, also wieder als
„hoch gesichert“ galt. Nicht nur auf psychologischer Ebene, sondern auch mit
Blick auf die strenge Beobachtung und Reglementierung wurde sie gleichsam
wie ein Kind behandelt, auf das man jederzeit aufpassen musste („sie musste
dann nochmal richtig in sowas Regressives eigentlich durchmachen“). Vor dem
Hintergrund der nun entwickelten therapeutischen Beziehung erweist sich diese
Konstellation jedoch aus Perspektive der Psychotherapeutin (zumindest im Nach-
hinein betrachtet) durchaus als produktiv, denn nun können alle Lockerungsstufen
bis hin zur Entlassung in das Wohnheim von der Einrichtung gemeinsam in der
neu gewonnen Partnerschaft durchlaufen werden („zusammen jeden einzelnen
Entwicklungsschritt durchlaufen […] jetzt bis quasi fast zur Beurlaubung“).
Auf diese Weise wird ein therapeutisches Arrangement möglich, das sich selbst
transzendiert, ohne dabei das Selbst- und Weltverhältnis der Patientin in einer
Weise zu korrumpieren, dass es als Veränderung ihres Charakters erscheint. Das
Arrangement kann sich damit verändern, ohne dass sie sich dabei zu viel ver-
ändert.

Veränderung ohne Aufgabe der Persönlichkeit „natürlich


habe ich meine große Klappe und meine Ehrlichkeit dadurch
nicht verloren“
Schauen wir nun auf die komplementäre Perspektive von Frau Schmidt,
also auf eine Stelle, in der sie über ihre Entwicklung im Anschluss an die
Zwangsmaßnahmen nach ihrer Flucht berichtet:

Frau Schmidt: Die versuchen, Menschen zu helfen, aber dann verletzen die einen
Menschen in solchen Situationen dann auch wieder. Ich weiß es auch nicht, ob ich
die Kraft dafür draußen noch habe. Diesen Saftladen hier oben mal anzuscheißen,
was hier drinnen so wirklich alles mal abgeht, ja, ist wirklich so. Es ist auf eine Art
auch eine gute, na/Natürlich erreicht auch unter Druck und Drohungen erreicht man
auch was, klar, aber das hätten wirklich manchen Sachen echt nicht sein müssen, wo
ich mir denke, das ist echt nicht mehr menschlich. Aber im Endeffekt ist es, wie ich
dann gelernt habe, für mich wirklich einfach/natürlich habe ich meine große Klappe
und meine Ehrlichkeit dadurch nicht verloren. Wo ich mir dann einfach nur für mich
dann so gedacht habe/Also der Partner war dann im Endeffekt auch weg und wo ich
dann zu mir selbst gefunden habe. Wo mir die Augen geöffnet wurden, wo ich mir
148 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

dann gedacht habe, okay. Natürlich bin ich immer noch so ein Mensch, der in der
Gruppe ehrlich und offen ist und der da alles auf den Tisch legt, wenn mir was nicht
passt, ne. (…) Der Knackpunkt für mich kam: ‚Das macht dich doch alles nicht
fertig.‘ ‚Kümmre dich jetzt um dich, ne, und nicht um die Sachen, die hier drinnen
dich stören‘ oder die du sowieso nicht ändern/man kann schon ändern, ne. Aber das
Ding ist, wenn das einer hört, dann werden dir Steine in den Weg gelegt und das
kommt ja alles auf mich zurück, ne. Und/Aber ich kann das auch nicht sehen, wenn
die Ungerechtigkeit irgendwie siegt und wo ich dann einfach auch in mich rein-
geguckt habe und gesagt habe: ‚Komm, du willst hier irgendwann mal raus.‘ Und
du kriegst ja mit, wenn du hier immer gegen Frau Markwart konterst, kommst nicht
gerade mit. Wo ich dann einfach für mich dann auch meine Füße stillgehalten habe
und dann war ja die Offenheit weiter.

In diesem Interviewausschnitt wird deutlich, wie sich bei Frau Schmidt die
Selbst- und Weltverhältnisse neu zu konfigurieren beginnen, wenngleich für
sie die grundlegende Einschätzung ihrer Situation und die damit verbundenen
Orientierungspunkte dieselben bleiben. Im Krisenraum eingesperrt zu werden
und das Verbot, ihre Kinder zu sehen – worauf ihre Rede zunächst anspielt –
wird weiterhin als grausam und unmenschlich erlebt („echt nicht mehr mensch-
lich“). Zudem werden viele Geschehnisse in der Einrichtung auch aus rechtlicher
Sicht als verwerflich angesehen. Auf den zweiten Blick, bei genauerer Analyse,
wird jedoch deutlich, dass sich ihr Selbst- und Weltverhältnis in Bezug auf diese
Orientierungspunkte an einer wichtigen Stelle zu verändern beginnt. Die zeitliche
Textur, das Verhältnis zwischen Gegenwart und imaginierter Zukunft verschiebt
sich. Ihr Widerstand wird nicht mehr unmittelbar ausgedrückt (etwa im Türen-
schlagen), sondern temporalisiert (Sie hat gelernt, ihre „Füße still zu halten“). Die
Möglichkeit, gegen die Einrichtung zu protestieren, wird in die Zeit nach der Ent-
lassung gelegt, wobei zugleich markiert wird, dass dies dann möglicherweise für
sie keine Relevanz oder Priorität mehr haben wird („weiß es auch nicht, ob ich
die Kraft dafür draußen noch habe“).
Zugleich wird zum ersten Mal in der biografischen Erzählung auch die gute
Seite des Zwangsregimes gesehen („unter Druck und Drohungen erreicht man
auch was“). Auch in der Sozialdimension beginnt sich ihr Selbst- und Weltver-
hältnis, das bisher maßgeblich durch die Beziehung zu ihrem Mann und durch
die Konflikte mit dem Personal formatiert wurde, in Richtung des therapeutischen
Vektors der Klinik zu bewegen („du willst hier irgendwann mal raus. Und du
kriegst ja mit, wenn du hier immer gegen Frau Markwart konterst, kommst nicht
gerade mit.“). Dass ihr Mann die Klinik verlassen musste („der Partner war
dann im Endeffekt auch weg“), erscheint dabei als nur beiläufig erwähnenswerter
Aspekt des sich verändernden Arrangements. Die passivische Formulierung „wo
mir die Augen geöffnet wurden“, verweist auf eine transformierende Bewegung,
4.1  Frau Schmidt: Sich verändern, um dieselbe bleiben zu können 149

die außerhalb ihrer selbst entstanden ist, dann aber in ihr eigenes Selbstverhält-
nis integriert wird („wo ich dann zu mir selbst gefunden habe“). Die Sichtweise
und hiermit einhergehende Erzählung mag zwar in der Therapie eingeübt worden
sein, doch sie erscheint nun mehr und mehr als ihre eigene.
Bemerkenswerterweise mündet diese ‚Hingabe‘ an die Veränderung in
die Einsicht der Beständigkeit ihres Charakters, nämlich, dass sie weiterhin
Konflikten mit Mitmenschen nicht auszuweichen hat („natürlich bin ich immer
noch so ein Mensch, der in der Gruppe ehrlich und offen ist und das da alles auf
den Tisch legt, wenn mir was nicht passt“). Veränderung heißt entsprechend für
sie nun nicht mehr, charakterlich gebrochen zu werden.
In ihrem Fall heißt dies auch, nicht mehr ausrasten zu müssen, sondern ent-
sprechende Impulse auch mal zurückhalten zu können, ohne damit zugleich
den Verhältnissen zustimmen zu brauchen („auch meine Füße stillgehalten
habe“). All dies führt dann in eine Art „Offenheit“, die neue Gestaltungs- und
Beziehungsmöglichkeiten eröffnet.
Die hierdurch gewonnene neue Autonomie besteht – wie gesagt – nicht darin,
die Verhältnisse innerhalb der Klinik schönzufärben oder gut reden zu wollen –
sie erscheinen (als)weiterhin grausam und unmenschlich. Doch dies mündet
jetzt nicht mehr in ein fundamentales ‚Dagegen-Sein‘. Ihr Selbstverhältnis wird
jetzt also nicht mehr über die Widerständigkeit gegenüber der Institution und im
Besonderen gegenüber der Oberärztin aufgebaut („man kann schon ändern, ne.
Aber das Ding ist … du willst hier irgendwann mal raus. Und du kriegst ja mit,
wenn du hier immer gegen Frau Markwart konterst, kommst nicht gerade mit“).
Indem erfahren wird, dass dies gelingt, kommen zugleich die eigenen Ressourcen
in den Blick („Das macht dich doch alles nicht fertig“).
Entsprechend kann Frau Schmidt es jetzt so sehen und erzählen, dass sie
dabei ihre alte Persönlichkeit nicht aufzugeben braucht. Sie kann und darf weiter-
hin streiten und konfrontieren, wenn ihr danach ist („Natürlich bin ich immer
noch so ein Mensch, der in der Gruppe ehrlich und offen ist und der da alles
auf den Tisch legt, wenn mir was nicht passt“). Doch die inneren und äußeren
Bezugspunkte sind nun andere. Statt sich mit ihrem Mann gegen die Vertreter der
Institution zu wenden, die sie hinter Mauern festhalten, rückt jetzt die Perspektive
eines Lebens außerhalb der psychiatrischen Institution in den Vordergrund. Dies
erscheint nun durch ihre eigene Arbeit und Initiative erreichbar („Kümmre dich
jetzt um dich … nicht um die Sachen, die hier drinnen dich stören oder die du
sowieso nicht ändern [kannst]“).
Aus der Erzählperspektive der Patientin (und vermutlich auch der Psycho-
therapeutin) hat diese etwas gelernt und sich wesentlich verändert. Mit Blick auf
die anderen Stellen des forensischen Arrangements stellt sich die Lage komplexer
150 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

dar. Da sind zum einen die Akteure des Personals oder auch die Mitpatienten, die
sich weiter in Konflikte mit Frau Schmidt verwickeln. Da gibt es aber auch – ins-
besondere in Person der Psychotherapeutin – Positionen, welche die Eskalationen
und Ambivalenzen ertragen, einklammern und damit gewissermaßen
professionell kompensieren, ohne ihrerseits hineinzuagieren. Ihre Veränderung ist
damit zugleich ein Interaktionseffekt subtiler Veränderungen eines Arrangements,
das über verschiedene Positionen zugleich Veränderungsdruck entfaltet wie auch
suggeriert, dass die Patientin charakterlich so bleiben könne, wie sie ist.

Die Rochade im sozialen Raum – „Also sie weiß dann oder


denkt, dass sie was Besseres ist und auch mehr kann“
Einhergehend mit dem sich verändernden Arrangement beginnt Frau Schmidt auf
eine für sie neue Weise, Verantwortung für sich zu übernehmen und sich damit
verbunden auch intensiver auf die eigene Psychotherapie einzulassen:

Frau Schmidt: Natürlich habe ich auch bewiesen und ich beweise hier nun auch
schon immer, ich bin ein Arbeitsmensch. Ich mache hier jede Therapie mit, außer
diese Suchttherapien. Bin in jeder Gruppe, bin pünktlich, bin immer da, bin hilfs-
bereit. … [Hast] Verantwortung für deine eigenen Kinder, Verantwortung für dich,
Verantwortung, auf dich selbst aufzupassen, wenn du jetzt in deinen Ausgängen bist.
Da ist ja auch nie irgendwas passiert in meiner Hinsicht. […] Also mein Knack-
punkt war dann einfach, war die Zeit und das hat auch einen großen Teil an meinen
Kindern zu sehen. Weil ich das einfach miterleben, was meine Kinder, ne, wie die
groß werden, wie lange ich will daran teilhaben, will arbeiten, ich bin ein Mensch/
und diese Textilwerkstatt […] Ich bin da ein sehr anspruchsvoller Mensch, also ich
bin da drüben auch beliebt, weil ich viele Sachen kann, was manche Patienten da
drin nicht können wie die Färbemaschinen. Oder Computerarbeiten oder ja. Weil
ich dafür ein Auge, auch mit Mathematik und Färbemaschine, da muss man ja
immer rechnen und das alles richtigmachen. Mich natürlich nach einer Weile auch
angekotzt, weil es immer irgendwie das Alltägliche ist. […] Das hat Herr Dölling
dann so mitgekriegt, also der Chef von der Textilwerkstatt, mitgekriegt und hat mir
da drüben viele andere Facetten gegeben wie Programmierung. Die Maschinen aus-
einandernehmen und saubermachen. Der wusste, dass ich was Neues brauche, ne.
Interviewer: Ja, ja.
Frau Schmidt: Und das ist es, was mich hier dazu drinnen angespornt hat. Sabine
komme, kümmere dich um dich und komm du voran. Mach aus dir was, als wie
jetzt auf das rumzuhacken, was dich hier drinnen einfach stört. Der Knackpunkt
hier drinnen war, um hier rauszukommen und mir selber zu beweisen. Dann kam
natürlich die Offenheit, die Ehrlichkeit gegen den Therapeuten über, was so meine
Probleme sind. Woran ich arbeiten müsste, das sind ja so Facetten, wo man anfängt
hier. Man redet ja erst über die Vergangenheit, was hat geführt zu dem einen? Wie
kann man es ändern, wie kann man es verbessern? So fängt die Therapie ja hier
eigentlich an und das ist natürlich bei mir sehr schwer, wenn man sich an viele
4.1  Frau Schmidt: Sich verändern, um dieselbe bleiben zu können 151

Sachen nicht erinnern will. Ne, das sind ja solche Sachen, ne. Wie man dann über-
haupt erstmal dahinterguckt, was ist es überhaupt? Man muss ja erstmal rausfinden,
was ist es. Dann muss man erstmal gucken, wie bekommt man das – (…) wie soll
man sagen – anders hin, ne, ist immer leichter gesagt als getan, ja. Das ist es ja, was
ich meine. Ich habe hier viele, viele Sachen mit mir selbst gemacht, auch immer
noch, ne, weil ich bin nun mal so wie ich bin (lacht).
Und das war im Endeffekt diese Vertrauensbasis, die mit Frau Mitchel. Und ich
lasse mir da auch nicht gerne irgendwas aufs Butterbrot schmieren, was nicht so ist.
Ich bin da dann an meinem Konterweg und sage es auch so, wie ich es für mich
empfinde. Nicht so wie die es, wie die Therapeutin das gerade sieht, sondern so wie
ich es für mich richtig halte. Ob die das nun richtig hält oder sieht, das ist mir egal.
Es geht um mich und nicht um sie. (…) Viele Facetten/Also mein Hauptthema ist ja
wirklich Vertrauen und Ruhe bewahren, ne.

In diesen Interviewabschnitten wird eine Vielzahl von Aspekten deutlich, die


auf die Möglichkeit einer gelingenden Transformation des Weltverhältnisses der
Patientin hinweisen: Ihre Kinder und die von ihr komplementär auszufüllende
Mutterrolle bilden dabei wichtige Orientierungspunkte. Frau Schmidt beginnt in
der Textilwerkstatt zunehmend qualifiziertere Aufgaben zu übernehmen und hat
zudem, wie sie an anderer Stelle berichtet, für 10 Stunden die Woche eine Tätig-
keit in einem Lebensmitteldiscounter übernommen.
Sie kann sich nun auf die Psychotherapie einlassen und lernt hiermit ein-
hergehend, ihre eigenen Emotionen zu verstehen und in produktive Bahnen
zu lenken. Dabei wird deutlich, dass es für sie nicht um kritiklose Anpassung
im Sinne einer therapeutischen Hirnwäsche geht, sondern dass es für sie von
zentraler Bedeutung bleibt, sich bei all dem als eine eigenständige Persönlich-
keit wiederzuerkennen („lasse mir da auch nicht gerne irgendwas aufs Butterbrot
schmieren“ … „ob die das nun richtig hält oder sieht, das ist mir egal. Es geht
um mich und nicht um sie“).
Auch hier wird wieder deutlich, dass sich ihre Perspektive gegenüber dem
Maßregelvollzug verändert hat. Sie ist nicht mehr so sehr auf die negativen
Aspekte fokussiert, sondern sucht stattdessen nach Möglichkeiten, ihre Fähig-
keiten zu entwickeln („Mach aus dir was, als wie jetzt auf das rumzuhacken, was
dich hier drinnen einfach stört“).
Interessanterweise spricht Frau Schmidt davon, dass ihr derzeitiges „Haupt-
thema“ darin bestehe, „wirklich Vertrauen und Ruhe“ zu „bewahren“. Psycho-
logisierend könnte man zunächst auf die Idee kommen, das Problem der Unruhe
und des Misstrauens auf die individuelle Person zuzurechnen. Entsprechend
könnte man dann der Patientin im Sinne verhaltenstherapeutischer Programme
Entspannungsübungen empfehlen, um sich emotional besser im Griff zu haben.
152 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Alternativ wäre auch die unterstützende Gabe von Psychopharmaka denkbar,


welche dann – funktional äquivalent zu ihrem früheren Cannabis-Konsum – zur
emotionalen Entlastung beitragen könnten.
In Hinblick auf die von uns vorgeschlagene Analyseperspektive liegt das
Problem im Sinne einer konditionierten Koproduktion körperlicher, psychischer
und sozialer Prozesse jedoch nicht allein bei Frau Schmidt bzw. den sich in ihr
manifestierenden neuro-kognitiven Vorgängen. Vielmehr ist der emotional-
kognitive Komplex, der für sie jetzt von solcher Relevanz ist (das „Hauptthema
… Vertrauen“), zugleich immer auch als ein soziales Gefühl zu verstehen, das in
gewisser Weise die Gesamtheit des psychosozialen Arrangements repräsentiert.
Aus diesem Grunde lohnt es sich, nochmals an die zum Eingang des Kapitels
geschilderte Szene mit den Rechenaufgaben in der Textilwerkstatt zu erinnern.
Hier wurde deutlich, dass erst das Vertrauen des Druckers in die Fähigkeiten der
Patientin ihr das Selbstvertrauen vermittelt, die an sie gestellten Aufgaben erfolg-
reich bewältigen zu können („weil ich dafür ein Auge, auch mit Mathematik
und Schneidemaschine, da muss man ja immer rechnen und das alles richtig
machen“). Betrachten wir ergänzend weitere Interviewausschnitte aus den
Gesprächen mit dem Leiter der Textilwerkstatt und seinem Stellvertreter:

Herr Dölling: Also Frau Schmidt hat wirklich eine gute Entwicklung gemacht. Das
merkt man ja, gerade im letzten halben Jahr, wie ich finde, hat sie da einen großen
Sprung gemacht. Also erstens ist sie selbständiger geworden. Also vieles/Ich weiß
gar nicht, am Anfang hat sie sich viele Sachen gar nicht zugetraut, aber jetzt nicht
ängstlich. […] Sie ist in der Lage, sich viel, viel besser zu konzentrieren, auf die
Sache, die sie macht. Also früher hat sie wahrscheinlich viele private Sachen, die sie
parallel verarbeitet hat, und deswegen sind unheimlich viele Fehler entstanden, weil
sie halt nicht bei der Sache war. Das hat sich sehr viel verbessert. Auch dass sie jetzt
über ihr eigenes Arbeitsfeld mal rüber schaut und guckt, was passiert vorher, was
passiert hinterher, dass sie bereichsübergreifend die Sachen versteht, was eigentlich
das Manko bei den meisten ist. Dass sie eigentlich nur auf ihre Arbeit gucken und
entweder nicht verstehen wollen, dass es eine Kette ist, die dann schließen muss.
Die meisten machen nur ihr eigenes Ding, ohne zu gucken, wie geht der nächste mit
meiner Arbeit um oder nicht auf Fehler gucken, die vorher passiert sind. Das ist bei
Frau Schmidt entschieden anders und viel, viel besser geworden. […] Weil sie auch
erkennt und das auch laut äußert, dass sie sich schon höher positioniert gegenüber
den Patienten. Also sie weiß dann oder denkt, dass sie was Besseres ist und auch
mehr kann und das lässt sie dann auch manchmal so raus. Also gegenüber uns und
dann Mitpatienten auch, ja. Also die Entwicklung haben wir schon gesehen.
Herr Martin: Also ich habe sie vor ein, zwei Jahren mal gefragt, was 30 durch 2
war, war sie nicht in der Lage. Ging nicht. Sie hat es auch lange abgelehnt, über-
haupt zu rechnen. Also einfachste Aufgaben. Mittlerweile rechnet sie und kann auch
rechnen.
4.1  Frau Schmidt: Sich verändern, um dieselbe bleiben zu können 153

Die Erzählungen der beiden Betriebsleiter verzahnen sich hier in einer


interessanten Weise mit der von Frau Schmidt. In beiden Berichten wird auf der
Sachebene die Entwicklung der Arbeitskompetenzen bestätigt, wobei jedoch
Erstere noch die Zeit im Blick haben, in der Frau Schmidt nicht einmal einfachste
Rechenaufgaben bewältigen konnte.
Zudem werden hier die Feinheiten der Positionierung im sozialen Feld deut-
lich. Frau Schmidt sieht sich geachtet („ich bin da drüben auch beliebt“), weil
sie „viele Dinge“ kann, die andere „Patienten“ nicht können, um sich auf diese
Weise ihrerseits als ein besonderer Mensch identifizieren und erscheinen zu
können („Ich bin da ein sehr anspruchsvoller Mensch“). Die Leiter der Textil-
werkstatt sehen diese „Entwicklung“, wie auch die hiermit assoziierte soziale
Dynamik („Weil sie auch erkennt und das auch laut äußert, dass sie sich schon
höher positioniert gegenüber den Patienten“). Die Selbstidentifizierung von Frau
Schmidt läuft über die Abgrenzung gegenüber anderen Menschen, doch nun nicht
mehr zum Klinikpersonal, sondern über den Vergleich mit anderen Patienten, die
noch nicht so weit sind. Ihr Selbst konstituiert sich über die Ziehung einer Grenze
zu dem, was es nicht ist.
Auch wenn die fehlende Solidarität zu den anderen Insassen einen zunächst
negativ berühren mag („denkt, dass sie was Besseres ist“), sollte man Frau
Schmidts Verhalten deshalb nicht vorschnell als ‚arrogant‘ titulieren, sondern
als Ausdruck eines Selbstverhältnisses, das sich unter den gegebenen Verhält-
nissen auf diesem Wege Autonomie und Selbstwirksamkeit zurechnen kann. Sich
in Abgrenzung zu anderen als etwas Besseres zu finden und die Bewunderung
genießen zu können, ermöglicht Selbstwertzufuhr.
Da ihr Selbstverhältnis wiederum von Beziehungen abhängig ist, also etwa
auch mit der Frage verbunden ist, wie ein Mensch von anderen gesehen wird und
wie dies von ihm selbst wahrgenommen wird, verwundert es kaum, dass Frau
Schmidt in dieser Phase noch nicht in eine stabile Position einrasten kann. Auch
die hiermit einhergehende Unruhe lässt sich damit als eine Systemeigenschaft
des gesamten körperlich-psychisch-sozialen Arrangements betrachten. Die Werk-
stattleiter und die Psychotherapeutin mögen Frau Schmidt in Hinblick auf die
anstehende Rehabilitation einiges zutrauen, vielleicht aber noch nicht unbedingt
andere signifikante Akteure, wie etwa die Oberärztin oder die Pflegekräfte.
Zudem ist jetzt mit Misstrauen, Missbilligung oder Neid der anderen Patienten
zu rechnen, was seinerseits zu irritierenden Wahrnehmungen im sozialen Raum
führt.
Die Resozialisierung im Maßregelvollzug – so könnte man als These
formulieren – ist in dem hier vorgestellten Fall nur möglich, wenn es der Patientin
154 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

gelingt, sich aus dem Muster der Bedrohung durch Stereotype zu lösen, was
einerseits heißt, sich nicht so sehr von den Zumutungen berühren lassen (also
zu lernen, die „Füße still zu halten“), und anderseits, wenn es ihr gelingt, sich
die therapeutisch induzierenden Veränderungen autonomisierend als eigene
Leistungen zuzurechnen.
Mit Blick auf ihre vorangehenden Erzählungen ist es dann sie selbst, die
Abstand zu der problematischen Beziehung zu ihrem Mann gewinnt (auch wenn
die Klinik ihn durch Verlegung aus ihrem Umfeld entfernt hat), ist sie es, die
sich selbst zur Flucht und den damit verbundenen Konsequenzen entschieden
hat (auch wenn die Geschichte des damit zusammenhängenden Leidens anderes
anklingen lässt), ist sie es, die gegen die pathologisierenden Zuschreibungen
der Klinik Widerstand leistet (auch wenn die Psychotherapeutin durch ihre
Moderation nicht unwesentlich dazu beiträgt).
Es ist damit ihre Krise und ihre Heilungsgeschichte – und gerade deshalb
kann sie dies als den Wendepunkt ihrer persönlichen Entwicklung begreifen.
Ihr Selbst- und Weltverhältnis wird damit nicht grundlegend verändert, sondern
richtet sich nur in eine andere Richtung aus. Ihre Persönlichkeit kann damit die-
selbe bleiben. Denn die Autonomie, die für die Rehabilitation vonnöten ist, speist
sich aus den Bewegungen des gleichen Selbstverhältnisses, das ihr früher ermög-
licht hat, sich in einem viablen Ökosystem stabiler Delinquenz einzurichten und
die auch die andauenden Konflikte mit dem Klinikpersonal genährt haben. Sie
wechselt nun gleichsam die Fronten.
Die Selbst- und Weltverhältnisse der Patienten werden damit nicht im eigent-
lichen Sinne transformiert, sondern eher transponiert, d. h. vom alten in ein
neues Beziehungsregime übersetzt.
Zugleich wird damit aber auch deutlich, wie voraussetzungsvoll mit Blick auf
die herausgearbeiteten psychischen und sozialen Dynamiken eine erfolgreiche
Rehabilitation ist. Mit Blick auf das Rollengefüge einer totalen Institution, die
verhärteten sozialen Dynamiken und die damit assoziierten negativen Emotionen
geht die Tendenz eher dahin, in die bereits etablierten Muster einzurasten, denn
in einen offenen Dialog zu kommen, der ein neues soziales Feld und neue
Beziehungsmuster entstehen lässt.

Den Raum des Sozialen auch im Konflikt nicht verlassen –


„und das war die große Lösung dann noch zum Schluss in der
Therapie“
Wie kann ein Arrangement, das sich doch gerade durch Mechanismen aus-
zeichnet, die eben dieses Arrangement stabilisieren, in ein neues Arrangement
transformiert werden? Wir landen hier bei einer Art Henne-oder-Ei-Problematik
4.1  Frau Schmidt: Sich verändern, um dieselbe bleiben zu können 155

– es stellt sich die Frage des Anfangs einer unbedingten, noch nicht vorbelasteten
Konstellation, aus der heraus etwas Neues entstehen kann.
In der hier vorgestellten Fallrekonstruktion kommt der Beziehung zu Frau
Mitchel, der Psychotherapeutin, wie bereits mehrfach angedeutet eine Schlüssel-
rolle in Hinblick auf die Unterbrechung des alten Musters zu.
Aus diesem Grunde folgt eine ausführliche Schilderung eines Konfliktes,
dessen gemeinsames Durchleben im Nachhinein von beiden Seiten als erfolg-
reicher Beweis der Tragfähigkeit der Beziehung wahrgenommen wurde. Beide
Seiten haben diese Szene uns gegenüber im Interviewgespräch erwähnt, zudem
ist sie von Frau Schmidt auch in der therapeutischen Großgruppe angesprochen
worden. Hier die Schilderung der Therapeutin:

Frau Mitchel: Jetzt muss ich mal scharf nachdenken, was der eigentliche Anlass
war. […] Da ging es auch wieder um den nächsten Schritt, nämlich um die
Beurlaubung. […| Und hat dann versucht, alles selber in die Hand zu nehmen.
[…] Und da habe ich an irgendeinem Punkt die Notbremse eingelegt und gesagt:
‚Stopp, Sie sind zu schnell. Arbeiten Sie mit uns zusammen und im Moment tun
Sie das nicht.‘ Und ich habe ihr sehr konfrontativ für meine Verhältnisse, das
kannte sie auch nicht von mir so, dass ich so klar gesagt habe nein, dass sie mit
uns zusammenarbeiten soll und dass sie das im Moment nicht tut und dass es so
nicht geht, ne? So. Und da hat sie die große Schlachtenplatte ausgepackt und ja,
sie ist total ausgerastet. Die hat mich angebrüllt und angeschrien, da kam das ganze
frühe, der ganze Kladderadatsch mir entgegen: ‚Sie wollen mich ins Heim stecken,
das habe ich doch immer gewusst,‘ und: ‚Ich habe Ihnen so vertraut und jetzt sind
Sie so zu mir,‘ und richtig, also geheult, gebrüllt, sie war außer sich, völlig zerfallen
da vor mir und sie war ja schon in der offenen, im halboffenen Haus, ne? Und wir
haben uns dort immer wieder getroffen, das heißt, wir hatten dort auch kein sicheres
Drumherum, ja? Und dann ist es zwischen uns beiden so eskaliert, ne? Und ich
bin in der Situation/also sie hat mich auch sehr geärgert damit, ne? Und ich war
authentisch wütend und habe das auch nicht zurückgehalten, sondern habe mich
mit ihr richtig gestritten. Und gesagt: ‚Was reden Sie denn da? Und wie kommen
Sie darauf und merken Sie eigentlich, was Sie mir hier gerade vorwerfen?‘ Und so
reagiert, ja? Habe ihr meinen Affekt auch gezeigt und zur Verfügung gestellt und
wir haben uns gestritten und so war das noch nie zwischen uns. So haben wir uns
noch nie gestritten.
Und es ist aber gelungen, das zwar zum Glück relativ am Anfang des Gespräches
oder so mittendrin, gelungen, dass wir anknüpfen konnten, dass wir uns wieder
zusammen beruhigen konnten und ich habe das auch ein bisschen bewusst
moduliert, weil ich wusste okay, jetzt haben wir uns gerade die Dinge an den Kopf
geworfen, die da sind und jetzt muss man es auch nicht weiterführen, sondern habe
versucht, mit ihr da einen Ausweg zu suchen da raus, ne? Und wir konnten das dann
gut klären in demselben Gespräch klären, gut besprechen, auch nochmal aus der
Rückschau dann in dem Moment sagen: ‚Mensch, da waren wir jetzt aber ziemlich
wütend, ne, da ging es jetzt ziemlich heiß her hier und könnte es nicht damit und
156 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

damit zusammenhängen?‘ Also auch mit einer Angst: ‚Ich habe das Gefühl, wenn
Sie Angst bekommen, dann werden Sie immer schneller.‘ Das konnte sie so gut
annehmen und auch wieder einfach die Erfahrung, dass ich bleiben konnte und sie
bleiben konnte. Früher wäre sie rausgerannt. Bei meinem ersten Satz, stopp, wäre
sie schon aus dem Zimmer gerannt und nicht geblieben. Und sie ist die ganze Aus-
einandersetzung geblieben und sie ist die ganze Nachschau geblieben und ich auch,
niemand von uns hat den Raum verlassen und wir konnten die Struktur halten, den
Rahmen halten […].
Montag früh war wieder Gruppe und ich dachte schon so, jetzt fliegt uns das Ding
wieder um die Ohren, keine Chance, dass sie das so positiv, wie es geendet hat,
aufrechterhält. Habe ich nicht gedacht, aber sie hat mir in der Gruppe am Montag
gesagt, dass sie das noch nie so erlebt hat, dass sie bleiben konnte und dass der
andere, dass Frau Mitchel auch geblieben ist. […] Ich weiß nicht, in der Gruppe, wo
Sie ja auch da waren, […] da hat sie gesagt: ‚Ach, mit Frau Mitchel kannst du dich
auch zoffen und danach mit ihr Kaffee trinken.‘ […] Dass sie gemerkt hat, sie ist
auszuhalten. Das Schlimmste an ihr ist auszuhalten. Und das war die große Lösung
dann noch zum Schluss in der Therapie. Also hat mich total erstaunt, dass sie das
so für sich, ja, verarbeiten konnte oder so eingeordnet hat. […] Das ist toll, das ist
genau die Bindungserfahrung, die wahrscheinlich heilsam ist letzten Endes. Letzen
Endes bringen uns wahrscheinlich unsere ganzen schlauen Theorien nichts, sondern
einfach nur dieses dableiben können, wenn es schwer ist. Dass man Konflikte
haben kann, dass man sich auseinandersetzen kann. Die können sich alle nicht aus-
einandersetzen, die da Patienten sind. Wissen nicht, wie das geht, im Konflikt zu
sein, was auszutragen, was miteinander/sich zu entwickeln miteinander, kennen die
alle nicht. Ja. Ja, also das ist/in dem Moment denkt man auch nicht, dass man es
aushält, ne? Aber irgendwie geht es dann doch weiter. Ist ja ganz schön heftig, was
einem da entgegenkommt.

Die Erzählung und Reflexion der Therapeutin sprechen für sich selbst. Zunächst
wird hier nochmals deutlich, was es heißt, „die Füße still zu halten“, ohne dass
damit auch das eigene Selbst aufgeben wird. Szenisch übersetzt bedeutet dies,
dass der Körper von Frau Schmidt und der Körper von Frau Mitchel in einem
Raum bleiben können, auch wenn beide offensichtlich unterschiedlicher Auf-
fassung sind und infolge dieser Erfahrung die Konstanz der Beziehung über
die Zeit hinweg imaginieren können. Es bedeutet, zugleich wahrnehmen wie
auch aushalten zu können, dass die Worte von Frau Schmidt und die Worte von
Mitchel in harter Form aufeinanderprallen, aber dennoch auf der leiblichen Ebene
weiterhin ein so weit tragendes Miteinander gespürt werden kann, dass beide
wissen, dass die Beziehung weitergeht („mit Frau Mitchel kannst du dich auch
zoffen und danach mit ihr Kaffee trinken“).
In Hinsicht auf den bisherigen Fallverlauf erscheint genau diese Szene wie ein
Kippbild, das in zwei Gestalten einrasten kann, mit denen sich jeweils entscheidet,
4.1  Frau Schmidt: Sich verändern, um dieselbe bleiben zu können 157

ob das soziale System in der alten Form weiterläuft oder in ein neues Regime
einmünden kann. Das eine Bild bedeutet Abbruch, rausgehen und die „Türen
schlagen“ oder komplementär die resignative Abwehr der Therapeutin (die damit
die Patientin aufgegeben hat). Das andere Bild zeigt eine Konstellation, welche
die Ambiguität aushalten lässt. Als neue, bislang unbekannte Erfahrung geht dies
mit einer neuen Geschichte einher, die dann retrospektiv immer wieder erzählt
werden kann und damit auch bei der Patientin zu einem veränderten Selbstnarrativ
führt. Interessant ist hier eine Bemerkung der Therapeutin, die anzeigt, nach dem
Konflikt selbst noch nicht begriffen zu haben, dass sich das Selbst- und Weltver-
hältnis der Patientin und damit auch das Beziehungsmuster neu konfiguriert hat
(„war wieder Gruppe und ich dachte schon so, jetzt fliegt uns das Ding wieder
um die Ohren“). Gerade dies offenbart die Authentizität ihrer Erfahrung und weist
darauf hin, dass sie ebenso spontan in das Geschehen verwickelt worden ist wie
die Patientin.
Mit Blick auf das Verhältnis der leiblichen Begegnung, dem konflikthaften
Gespräch und dem therapeutischen Narrativ offenbart sich damit auch für Frau
Mitchel eine Brechung bzw. Veränderung in ihrem eigenen Selbst- und Welt-
verhältnis. Einerseits reproduziert ihre Erzählung das Stereotyp, psychiatrische
Patienten seien konfliktunfähig („die können sich alle nicht auseinander-
setzen, die da Patienten sind“), anderseits macht sie in der geschilderten
Situation die gegenteilige Erfahrung, nämlich, dass in der mit Frau Schmidt
gelebten Beziehung dies sehr wohl möglich ist. Die Verhältnisse erscheinen hier
gewissermaßen klüger als das Bewusstsein und entsprechend kommt sie in der
anschließenden Reflektion der erfahrenen Diskrepanz zu dem Schluss, dass mög-
licherweise irgendetwas an ihrer therapeutischen Ideologie nicht ganz stimmt
(„Letzen Endes bringen uns wahrscheinlich unsere ganzen schlauen Theorien
nichts, sondern einfach nur dieses Dableiben-Können, wenn es schwer ist“).
Das Ganze funktioniert aber nur, weil es in der Beziehung zwischen
Therapeutin und Patientin geschieht, und keine substantielle Änderung des Selbst-
verhältnisses von Frau Schmidt verlangt. Dies wird spätestens da deutlich, wo die
Patienten selbst ihre Entlassung noch einmal ordentlich gegen die Klinik eskaliert.
Die Situation wird damit hochgradig prekär, was allein dadurch markiert wird,
dass die Therapeutin artikuliert, das Verhalten von Frau Schmidt nicht mehr aus-
zuhalten. Im gemeinsamen Ausrasten und wieder Beruhigen wird dann das neue
Muster etabliert. Auf beiden Seiten autonom bleiben, Dinge sagen können, dann
wieder die „Füße still zu halten“ und dabei in Beziehung bleiben und sich dies
alles auch noch auf beiden Seiten als Eigenleistung zurechnen können – darin liegt
die Leistung, des hier zum Ausdruck kommenden Arrangements (Abb. 4.2).
158 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

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Textilwerk-
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Abb. 4.2   Die Grafik illustriert die Leerstellengrammatik des komplexen Selbst- und Welt-
verhältnisses von Frau Schmidt. Dieses ist durch die beiden Pole Autonomie und Zwang
konditioniert. Für den zweiten Pol (Zwang) steht die Tatsache, in einer forensischen Klinik
zu leben und vom Personal und den Entscheidungen der Oberärztin und Therapeuten
abhängig zu sein. Die anderen Patienten erinnern dann im Sinne eines abschrecken Vor-
bildes eher an die (nicht gewollte) Realität des Maßregelvollzugs, denn als Anlass für
Konjunktion und Vergemeinschaftung. Für den ersten Pol stehen Rollenbeziehungen, in
denen sich Frau Schmidt (zumindest imaginär) als Mutter, Freundin oder Lebensgefährtin
verwirklichen kann. Diese Beziehungen erscheinen als selbst gewählte und damit als
eigene. Eine wichtige Rolle spielt zudem ihr Anwalt, der sie als Person des Rechts ein-
setzt und damit einen Gegenpol zu den Zumutungen der Klinik bildet. Eine Zwischen-
position nehmen die durch die Arbeit in der Textilwerkstatt und die Psychotherapie
gebildeten Beziehungen ein. Wenngleich beide durch die Klinik organisiert und bereit-
gestellt werden, entstehen Beziehungsangebote, die mit einem Weltverhältnis einhergehen
können, das zumindest partiell als eigen und selbstbestimmt zugerechnet werden kann.
Diese Positionen fungieren damit als Vermittler zwischen den beiden Polen, wobei ins-
besondere der Psychotherapie eine Schlüsselrolle zukommt. Hier können Reflexionsformen
entwickelt werden, die das eigene Selbst- und Weltverhältnis thematisierbar werden lassen.
Die Pflege erscheint für Frau Schmidt in einer Doppelrolle. Einerseits repräsentiert sie
Normalität (die Patientin kann mit den Pflegekräften über Alltägliches Reden), anderseits
ist sie von ihr abhängig und ihren Zwangsmaßnahmen ausgeliefert. Nicht abgebildet ist die
später veränderte Position der Oberärztin: im weiteren Verlauf erscheint sie nicht mehr als
Gegnerin, sondern rückt in die unterstützende Rolle der Therapeutin.
4.1  Frau Schmidt: Sich verändern, um dieselbe bleiben zu können 159

t Mit Blick auf die Darstellung ist zu beachten, dass Frau Schmidt nicht nur das Selbst-
und Weltverhältnis darstellt, mit dem sie sich identifiziert. Zu dem Weltverhältnis, das ihr
Selbstverhältnis konditioniert, gehören gerade auch jene Aspekte und Teile, mit denen sie
sich nicht identifiziert, die sie also als fremdbestimmt oder äußerlich erlebt.

Konditionierte Koproduktion – auch eine totale Institution


kann therapeutisch produktiv werden
Psychoanalytisch oder behavioristisch geprägte Therapeuten neigen berufsmäßig
dazu, Probleme auf die Psyche ihrer Klienten zuzurechnen. Wir Soziologen
können demgegenüber eine andere Perspektive einnehmen. Wir brauchen uns
nicht zu entscheiden, was zuerst da war, die Henne oder das Ei, die Beziehung
oder individuelle Subjektivität, die Intervention des Therapeuten oder die Einsicht
des Patienten. Wir dürfen vielmehr von einer Verschränkung der unterschied-
lichen Ebenen ausgehen, die verschwimmen lässt, was individuellen Eigen-
schaften, was der Systemik der Kommunikation und was der transpersonalen
Ebene der Beziehung geschuldet ist. In diesem Falle können wir jedoch ver-
muten, dass die Beziehungserfahrung auf beiden Seiten gerade deshalb produktiv
wurde, weil die dominanten sozialen Rahmungen (einschließlich therapeutischer
Konzepte, die auf Krankheit und psychische Defizite verweisen) auf individueller
Ebene hinreichend suspendiert werden konnten, sodass in der Begegnung ein
neues Muster entstehen konnte. Für die Patientin scheint dies insbesondere am
Tiefpunkt ihrer Krise möglich gewesen zu sein, für die Therapeutin vielleicht
auch deshalb, weil sie noch Anfängerin war und entsprechend noch unbefangen
forensischen Patienten begegnen konnte.
Beginnend mit der sich verändernden Beziehung zwischen Frau Schmidt und
ihrer Psychotherapeutin kommt es zu einem neuen Arrangement, das dann auch
auf die Beziehungen zu den anderen Mitgliedern im Behandlungsteam auszu-
strahlen beginnt. So schildert Frau Schmidt an anderer Stelle im Interview, dass
sie nun auch den Pflegern offener begegne. Wenn es früher Probleme geben
hätte, wäre sie dem Kontakt mit ihnen einfach ausgewichen („wo ich dann den
Menschen dann ignoriert habe“). Nun aber sucht sie im Falle von Problemen
aktiv das Gespräch („dass ich dann auch hingehe und denjenigen zur Rede stelle
oder frage, was das sollte. Vor allem, das ist ja immer so ein Buschfunk, ist ja
hier. Da geht man doch lieber selber hin und fragt“).
Als schwieriger Bezugspunkt der Patientin erweist sich die Oberärztin, die
allein schon qua leitender Funktion per se den Maßregelvollzug mit all seinen
Zumutungen und Schattenseiten repräsentiert und deshalb in der Leerstellen-
grammatik des forensischen Arrangements eine wichtige Position einnimmt.
Auf die Frage des Interviewers, wer aus dem Team denn besonders gemein und
160 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

gehässig gewesen sei, benennt Frau Schmidt spontan den Namen der Ärztin
(„wenn jemand sadistisch ist, dann ist es Frau Markwart“).
Die Psychotherapeutin, im Interviewgespräch auf dieses pointierte Urteil
angesprochen, rechnet die Einschätzung der Patientin innerpsychisch auf ihre
innere Zerrissenheit zu („das ist halt auch die Spaltung. Sie hat auf mich die
guten mütterlichen Anteile projiziert und auf Frau Markwart, das ist sozusagen
auch ein Dienst, den Frau Markwart uns erwiesen hat, damit die Therapie
funktionieren konnte, sie hat das projizierte Sadistische übernommen“). Diese
Deutung muss nicht per se falsch sein und hilft zudem, therapeutische Arrange-
ments mit verteilten Rollen zu verstehen, in denen einer den guten, verständnis-
vollen Teil und der andere den strengen, bestrafenden Teil übernimmt.
Doch als Soziologen brauchen wir an dieser Stelle wiederum nicht die psycho-
analytische Ontologie zu übernehmen, die davon ausgeht, dass die Spaltung
gewissermaßen vorwiegend im Kopf der Patientin stattfindet, während die Mit-
glieder des Teams ihr unabhängig von der eingenommenen Rolle helfend bei-
seite stünden und insbesondere die therapeutisch gebildete Oberärztin ihre
emotionalen Übertragungen bewusst beherrsche und entsprechend nur zum
Wohle der Patientin agiere. Aus einer soziologischen Perspektive ist es viel-
mehr hochwahrscheinlich, dass auch die leitenden Ärzte mehr als sie sich selbst
bewusst machen, dem Machtgefüge ihrer eigenen sozialen Position aufsitzen.
Die seitens der Patienten empfundene Spaltung des Teams erscheint damit nicht
nur als eine projektive Illusion, sondern reflektiert reale Beziehungsqualitäten,
die konkret von verschiedener Seite mit den unterschiedlichen damit assoziierten
Emotionen an sie herangetragen werden.
Die Bedrohung durch Stereotype, etwa wenn die Ärztin einem Patienten
zunehmend misstraut, ist ebenso eine soziale Realität wie der Zwangscharakter
der Einrichtung oder die oftmals anzutreffende Double Bind-Kommunikation von
Therapeuten, die einerseits vom Patienten fordern, autonom zu sein, während sie
im nächsten Moment die von ihm gezeigten Eigenbewegungen als krank oder
unauthentisch markieren (siehe hierzu den Fall Zimmermann in Abschn. 4.5).
Wir negieren dabei keineswegs, dass die hiermit einhergehenden Widersprüche
– wie sich gerade auch im Fall von Frau Schmidt offenbaren – in bestimmten
Konstellationen durchaus ihre therapeutische Wirkung haben können. Wir möchten
jedoch auch in Hinblick auf die Frage von Ambivalenzen das Problem nicht vor-
schnell allein auf den Patienten attribuieren (etwa in der Form: ‚Bei Borderline-
Patienten ist das eben so‘). Dies heißt nicht, dass diagnostische Stereotype
nicht auch ihre Realität und ihre Berechtigungen haben, ebenso wie die hieraus
abgeleiteten Erwartungen zu den Beziehungsmustern – doch auch hier ist die trans-
personale Seite zu betonen: „zuerst muss man zu zweit sein“ (Glasersfeld 1990).
4.1  Frau Schmidt: Sich verändern, um dieselbe bleiben zu können 161

Die Oberärztin ist de facto die Person, die einerseits die Restriktionen setzt
und gemeinsam mit dem Chefarzt entscheidet, ob und wann ein Patient in die
Freiheit darf, andererseits aber die Patientin dazu drängt, autonom zu werden
und zu zeigen, dass sie Verantwortung für sich übernehmen kann. Sie ist qua
Hierarchie die dominante therapeutische Instanz. Ihre Interventionen – etwa
während der Oberarztvisite – sind gerade deshalb hochwirksam – im Guten wie
im Schlechten. Die Kommunikation zwischen ihr und der Patientin ist hoch-
gradig machtstrukturiert – und auch dies macht die Ambivalenz ihrer Rolle aus.
Die hiermit verbundene Kommunikation kann heilsam wie auch toxisch sein. Sie
kann nämlich einerseits als Hilfestellung und gut gemeinter Ratschlag („achten
Sie auf sich, gucken Sie auf sich und sehen Sie Ihre Grenzen“), andererseits
jedoch als pathologisierende Problematisierung des Selbst- und Weltverhältnis
(„Die machen hier, wie soll man sagen, immer so aus so kleinen Sachen so einen
Riesenelefanten draus, wo ich mir denke, draußen im normalen Leben wäre das
kein Problem gewesen, aber hier drinnen wirst du dann hingestellt als kriminales
Denken oder ‚Sie sind unachtsam mit sich selbst‘“) gesehen werden.
In diesem Sinne ist es also nicht zwingend, Frau Schmidts Verweis auf die
sadistischen Seiten der Oberärztin auf ihr individuelles Krankheitsbild und die
hieraus folgende Problemwahrnehmung zurückzuführen. Ebenso gut kann die
hiermit einhergehende Vorsicht im Sinne der funktionalen Analyse als eine
Ressource gesehen werden, die ihr nach all dem, was sie ertragen musste, hilft, in
einem stark machtstrukturierten Feld zu überleben: indem nämlich sensibel und
vorsichtig abgetastet wird, was von wem unter welchen Bedingungen erwartet
und in welchem Ausmaß dem Anderen vertraut werden kann. In diesem Sinne
ist es dann eher ein Zeichen von zunehmendem Vertrauen, dass Frau Schmidt
artikulieren und akzeptieren gelernt hat, dass es seine Zeit braucht, Vertrauen
aufzubauen („wenn mir das kommt, dauert das noch länger, um Vertrauen aufzu-
bauen, ist einfach so, und das ist ja auch mit Frau Markwart so“).
In Anbetracht der vorangehenden Ausführungen dürfen wir nicht vergessen,
dass der Maßregelvollzug, selbst wenn deutliche Fortschritte in der Therapie zu
vermerken sind, niemals ein schöner Ort sein wird. Sein Alltag zeichnet sich im
Gegenteil vielmehr durch eine erdrückende Monotonie aus, die dann gelegentlich
durch die Beben unterbrochen wird, wenn wieder mal ein Patient ausrastet und
vom Personal mit den ihm zur Verfügung stehenden Gewaltmitteln gemaßregelt
wird.
Die Grundstimmung dieser Einrichtung drückt sich für Frau Schmidt im Lied
„Schutzgeist der Scheiße“ von den Böhsen Onkelz aus („Es gibt da zum Beispiel
ein Lieblingslied, was ich sehr gerne höre, was hier komplett zu reinpasst. Und
das nennt sich ‚Immer wieder Dienstag‘“). Schauen wir auf die Verse, um auch
162 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

auf diese Weise eine Ahnung entwickeln zu können, was es nicht zuletzt auch in
emotionaler Hinsicht bedeutet, für Jahre innerhalb der Mauern dieser Institution
leben zu müssen:

Innerlich zerrissen
So hieß der Ort an dem ich war
Es war Dienstag
Wie jeden Tag
Es war Winter
Ohne Eis und Schnee
Nur in mir
Niemand sonst kann es seh’n

Jahre fallen herab


Wie das Laub von den Bäumen
Bin ich der Schutzgeist der Scheiße
Verloren in Träumen
Ich versuchte zu lächeln
Mich nicht zu ergeben
Deprimiert und ernüchtert
Wie noch nie in meinem Leben […]

Eiternde Gedanken
Laden ein zum Verweilen
Wie offene Wunden
Die nicht verheilen
Die Vision die ich hatte
Liegt in Scherben auf dem Boden
Verrottet wie ein Leichnam
Sie hat mich belogen

Gerade solche Texte und die mit ihnen verbundene Musik haben dann ihrerseits
einen Stellenwert innerhalb der Stellenwertgrammatik des forensischen Arrange-
ments. Denn sie erlauben es den Patienten, eine Symbolisierung für ihre eigene
Lebenswelt zu finden („Wo man selbst auch immer irgendwie was reinsetzt“),
um auf diesem Wege eine Distanz zur eigenen Situation zu gewinnen („Weil die
Musik ist intensiver als meine Wut, ne? Also ich höre gerne in solchen Situationen
Hard-Tech“). Der selektive Rückgriff auf Musik erscheint entsprechend selbst
wiederum als eine Form der Anpassung, etwa um besser mit den unvermeidlichen
Stimmungsschwankungen umgehen zu können („Es gibt manche Skills […] bei
mir ist das schon immer die Musik“).
Es spricht für den gelingenden psychotherapeutischen Prozess, dass Frau
Schmidt auch ihre Beziehung zur Oberärztin, die ja für all die Zumutungen steht,
4.1  Frau Schmidt: Sich verändern, um dieselbe bleiben zu können 163

zu klären versucht (oder wie die Psychotherapeutin es im Interview ausdrückt:


„Sie hat einen großen Wunsch, mit ihr im Reinen zu sein“).
In den anstehenden Monaten vor der Entlassung übernimmt die Oberärztin
auch die einzeltherapeutischen Sitzungen von Frau Schmidt. Auch hier beginnt
sich die Beziehung in einer produktiven Weise zu rekonfigurieren, wie dann auch
von uns bereits in den gruppentherapeutischen Sitzungen beobachtet werden
konnte, die ebenfalls von der Oberärztin angeleitet werden. Frau Schmidt sucht
aktiv das Gespräch mit der Oberärztin und beginnt zugleich das Misstrauen
ihr gegenüber, wie auch den Wunsch nach mehr Nähe und Unterstützung zu
artikulieren.
Vier Wochen nach unserem Forschungsaufenthalt in der forensischen
Klinik haben wir nochmals mit Frau Markwart gesprochen. Auf Frau Schmidt
angesprochen bemerkt sie:

Frau Markwart: Ja, mit Frau Schmidt war ich in Lüneburg, in dieser ambulanten
Einrichtung. Also mir hat es gut gefallen. Sie war ein bisschen skeptisch, war ihr zu
sehr mitten in der Stadt. Sie hatte da ein bisschen Sorge, da überfordert zu sein. […]
Es ist eine suchtspezifische Einrichtung, ohne nachts, nur mit einer Tagesbetreuung.
Und sie wird sich da einen Job suchen und ich glaube, das wird laufen. Ihren Partner
habe ich auch kennengelernt, ihren Freund. Netter junger Mann, gefällt mir sehr gut.

Selbstredend kann niemand in die Zukunft schauen und sagen, ob die


Resozialisierung wirklich gelingen wird. Doch, so sieht es auch die Oberärztin,
hat Frau Schmidt eine wirklich gute Chance, die andere Patienten so nicht haben.
Unter anderem scheint es ihr gelungen zu sein, das Problem der Bedrohung
durch pathologisierende Stereotype zu überwinden. Sie hat gelernt, Therapeuten
und Pflegepersonal als Verbündete zu gewinnen, um sich dennoch weiterhin als
autonome Persönlichkeit hervorzubringen. Ihr Charakter und auch ihr Selbst-
und Weltbezug mag sich damit zwar nicht fundamental geändert haben, doch
um es nochmals mit den Worten des Stationspflegeleiters auszudrücken: In der
forensischen Psychiatrie geht es ja nicht darum, den „Charakter zu verändern“,
sondern darum, „das Rüstzeug zu geben“, mit dem „eigenen Charakter und mit
der Umwelt besser zurechtzukommen“ und all „das besser zusammenfügen zu
können.“
Zugleich kann der beschriebene Sachverhalt von einer anderen Seite erzählt
werden. Die Klinik, insbesondere die Oberärztin und die Psychotherapeutin
haben gelernt, die Patientin anders zu sehen, Zuschreibungen und Reaktions-
weisen an der richtigen Stelle einzuklammern, als problematisch erachtete
Verhaltensweisen zu kompensieren, sodass die Patienten sich die hiermit einher-
gehenden Änderungen als eigenen Erfolg zurechnen kann.
164 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Eine dritte Beschreibungsebene wird dann vielleicht den Patientenkörper in den


Blick nehmen und feststellen, dass dieser nach langer Zurichtung endlich in der
Lage ist, die „Füße“ ein wenig „still zu halten“, was dann sowohl vonseiten des
Personals als auch im psychischen Selbstverhältnis als Fortschritt verbucht wird.
Aus einer übergreifenden Perspektive wird unter dem Blickwinkel der
konditionierten Koproduktion die Verschränkung der einzelnen Ebenen in den
Blick kommen, also wie in der Koevolution von Psyche, Körper und Sozialem
bestimmte Korridore eröffnet werden (oder auch nicht), in denen das Arrange-
ment in neue Muster und Beziehungen einrasten kann. Die beiden Pole
Borderline-Patientin-Sein und Zur-Borderline-Patientin-gemacht-werden stehen
dabei in einem eigentümlichen Bedingungsverhältnis, ebenso wie die beiden Pole
Gebesserte-Patientin-Sein und Zur-gebesserten-Patientin-gemacht-werden.
Der Blick auf alternative Weichenstellungen macht deutlich, dass unter
leicht veränderten Vorzeichen die Beziehungsdynamik leicht in ein prognostisch
weniger günstiges Arrangement einrasten kann. Die Betrachtungsweise der
funktionalen Methode lenkt die Aufmerksamkeit auf die Bezugsprobleme – hier
insbesondere auf die Frage, wie das Dilemma „Autonomie unter Zwang“ gelöst
werden und auf welcher Weise mit den Stereotypen umgegangen werden kann,
die einerseits – etwa in Form von Diagnosen und Problemeinschätzungen –
unverzichtbar sind, andererseits aber eben zugleich das Phänomen mit hervor-
bringen oder stabilisieren, was es doch zu verändern gilt.
Die funktionale Methode kann dabei je nach eingenommener Perspektive den
Blick sowohl auf die beteiligten Individuen, auf das soziale System einer spezi-
fischen Beziehung wie auch auf das gesamte Arrangement lenken. So erscheint
das spezifische Selbst- und Weltverhältnis der Patientin (aus psychiatrischer
Perspektive als „eskalierende Borderline-Problematik“ betrachtet) für die
Patienten trotz all der Widrigkeiten ein Selbstverhältnis aufzubauen zugleich als
Lösung, nämlich indem sie sich auf diese Weise noch als autonom und selbstwirk-
sam erfahren kann. Aus Perspektive des Arbeitsauftrags der Psychotherapeutin
erscheinen die hiermit einhergehenden Konflikte und Stereotypisierungen als
Problem und die Einklammerung, Kompensation und das In-der-Schwebe-halten
derselben als Lösung. Hieraus kann sich dann ein Arrangement entfalten, in dem
die Patientin als gebessert entlassen werden könnte, was wiederum bestimmte
Lösungen an den anderen Positionen stabilisiert. Die Patientin kann sich das
Geschehen als eigenen Erfolg zurechnen, die Psychotherapeutin als erfolgreiche
Therapie, die Oberärztin als Musterwechsel etc.
Die funktionale Perspektive lässt jedoch auch deutlich werden, dass mit Blick
auf die Verschränkung der Perspektiven zu einem Arrangement an jeder dieser
Weichenstellungen eine andere Problemlösung hätte gefunden werden können.
4.1  Frau Schmidt: Sich verändern, um dieselbe bleiben zu können 165

Alternative Weichenstellung – drohende Hospitalisierung (Herr Sommer)


Herr Sommer ist zum Zeitpunkt des Interviews 30 Jahre alt und ist seit
gut 11 Jahren in einer forensischen Psychiatrie untergebracht. Mit sechs
Jahren kam er in ein Kinderheim, da die Mutter mit dem hyperaktiven
Jungen überfordert war. Mit 16 kommt es zu einem Vergewaltigungsver-
such gegenüber einer Erzieherin, von der er sich gedemütigt fühlt. Mit
18 Jahren möchte Herr Sommer endlich sein eigenes Leben führen, gleitet
jedoch in die Obdachlosigkeit ab. Er freundet sich mit einem Mädchen
an, dabei kommt es nach einigen Wochen zu einer Vergewaltigung. Nach
der Untersuchungshaft entscheidet sich Herr Sommer freiwillig für den
Maßregelvollzug: „Und da hatte ich ja die Wahl gehabt, ob ich im Knast
bleibe oder nicht. So. Man hat mir gesagt, ja, du könntest jetzt auch
Therapie machen. Und auf der Hoffnung, dass sowas halt nicht mehr
passiert […] und da habe ich mich halt für eine Therapie entschieden, so.
Aber dass ich so lange hier drinnen bleibe, habe ich mir nicht gedacht, das
ist klar.“ Die ersten Jahre fällt es ihm schwer, sich auf die therapeutischen
Angebote einzulassen („dann habe ich erstmal zwei Jahre verschenkt“),
besucht dann aber für einige Jahre regelmäßig die Gruppen- und Einzel-
therapie. Er wird gelockert und bekommt auch unbegleiteten Ausgang.
Dabei kommt es einmal zu einem Vorfall: Er und eine Mitpatientin kaufen
sich eine Flasche Wodka und leeren sie gemeinsam. Volltrunken kommen
sie zwei Stunden zu spät in die Klinik zurück. Dies wird als Fluchtversuch
gewertet. In Folge wird ihm der unbegleitete Ausgang entzogen und er
darf ein Jahr nicht mehr in Begleitung das Krankenhaus verlassen. Mittler-
weile besucht er kaum noch die Therapieprogramme, da „therapiemäßig“
eigentlich schon alles für ihn gelaufen ist („Ich habe größtmöglich alles
besprochen, alles verstanden und alles umgesetzt was geht“). Eigent-
lich wünscht sich Herr Sommer eine „richtige Arbeit“, da er sich „unter-
fordert“ fühle.
Sein Alltag ist immer mehr von „Langeweile schieben“ geprägt („plan-
los im Zimmer hocken und denken, entweder man tut schlafen oder man
tut Langeweile schieben“). Er fühlt sich vom Personal, insbesondere
von einigen weiblichen Pflegekräften gedemütigt. Es kommt zu einigen
„exhibitionistischen“ Akten, da er es ihnen mal „zeigen“ will. Schließlich
wird der Patient in eine andere Klinik verlegt. Hier führt der Patient seit gut
zwei Jahren ein eher unauffälliges Dasein und auch die Genitalentblößungen
gegenüber dem Personal sind nicht mehr vorgekommen.
166 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Ausschnitte aus den Einschätzungen seitens des Oberarztes und des


Psychotherapeuten:

Psychotherapeut: Herr Sommer ist sehr verhalten, der ist relativ erfahren,
der ist schon eigentlich sehr viele Jahre im Maßregelvollzug. Der ist zu
uns gekommen, nachdem er eine Beziehung hatte, also zu einer Frau und
dann stand irgendwie im Raum, die hätten sozusagen er wäre bei einem
Besuchskontakt sexuell übergriffig gewesen […], es konnte aber nicht
wirklich erhärtet werden, für den Maßregelvollzug war das natürlich hoch
problematisch. Weil der Maßregelvollzug dann ich sage mal, einerseits in
einem Dilemma war, einerseits Besuche ermöglichen zu müssen, auf der
anderen Seite natürlich sich nicht vorwerfen lassen mag, sie hätten einen
Patienten, der wegen einer Sexualstraftat untergebracht ist, unbeaufsichtigt
oder das mit dazu beigetragen, dass er dann innerhalb des Maßregelvollzugs
einen Übergriff auf eine Frau machen kann. […] Das Problematische bei
Herrn Sommer ist eigentlich, dass er so hospitalisiert ist und also ja, also
fast den ganzen Tag im Bett verbringt. […] Man kann mit dem gar nicht
arbeiten, weil er gar nicht erscheint. […] Weil er auch so, ich denke mal sehr
hoffnungslos ist, es bringt auch nichts, irgendwann, also ich kann das jetzt
nicht, ich kann, ist eine sehr geringe Selbstwirksamkeitserwartung, dass er
aus eigener Kraft etwas bewirken kann und dass seine Anstrengungen letzt-
endlich keine Bedeutung haben, sondern das hängt von Institutionen ab,
wenn die entscheiden ich darf jetzt raus, dann darf ich raus, aber das hat
wenig mit mir selber zu tun. Ob ich jetzt, ich kann das nicht selber, habe das
nicht selber in der Hand. Und das – so ist sozusagen meine Interpretation –
und wenn das nichts bringt, dann kann ich auch im Bett bleiben. Bis Herr
Beuler [Name des Psychotherapeuten] mir irgendwann sagt, so jetzt komme
ich raus und dann, okay, dann komme ich raus, aber so etwas muss ich halt
irgendwie abwarten. […] Deswegen, wenn ich jetzt auch, habe ich jetzt
auch, verfolge ich da jetzt ein anderes Ziel bei ihm, sondern wir müssen
ihn lockern, ihm sagen so, sie können rausgehen, so, aber müssen halt auf-
stehen, aber die Lockerung, das liegt jetzt nicht an uns, also wir müssen
gucken, dass der Ball in seinem Spielfeld liegt, nicht in unserem.
Oberarzt: Dann gibt es aber [bei Herrn Sommer] eine sehr lange Unter-
bringung, er ist auch bereits vorher immer nur in Heimen und Ähn-
lichem gewesen, also ist sozusagen ein Patient, der sehr schwer
hospitalisiert dadurch insgesamt ist, ja? Das muss man kalibrieren auf
4.2  Herr Salier: Das Risiko des Vertrauens 167

die Außenorientierung. Also, Sie können nicht jemanden, der ewig in


einer Unterbringung war, rucki-zucki vor die Tür setzen, dann braucht
auch die Enthospitalisierung Zeit, normalerweise. […] Also diese beiden
exhibitionistischen Handlungen, die hat er immer an Heimpersonal
oder an Klinikpersonal begangen, weiblichen Personal und da ist immer
vorausgegangen eine große Frustration, dass er sich in irgendeiner Form
ausgeliefert gefühlt hat und er dann über diese exhibitionistischen Hand-
lungen, ich sage mal die, das Personal gezwungen hat, ihm Aufmerksam-
keit zu geben. So, der wurde dann oft abgewimmelt oder so, aber dann hat
er halt so etwas gemacht und auf einmal waren die Leute, die haben dann
hingeguckt und dann ist Chefarzt gekommen und ‚Was ist hier los? und
so. […] Und häufig, also bei Frauen, die waren in, ich sage mal in dem
Sinne irgendwie weisungsbefugt und er war auch teilweise auch nicht ein-
verstanden mit Sachen, die die dann angeordnet haben und da gab es oft
Ärger dann und er hatte dann wenig Möglichkeiten, ich sage mal sich aus-
zudrücken, seinen Ärger verständlich zu machen oder seinen Unmut und ist
dann teilweise vielleicht auch nicht ernst genommen worden, so und dann
war das, ich sage mal so eine Art Retourkutsche, wo er sich selber auch
emotional reguliert hat, aber auch dann letztendlich auch gelernt hat, wenn
ich das mache, dann fühlen die sich plötzlich zuständig, dann kriege ich
Beachtung. So. Das hat jetzt hier gar nicht mehr stattgefunden, […] aber es
ist schon jetzt einige Jahre her, das, denke ich hat mit einer Nachreifung zu
tun und wir hatten hier schon verschiedene Situationen, wo er Ärger hatte,
zum Beispiel bei einer Kollegin, also die jetzt nicht mehr bei uns arbeitet,
[…] und wo er aber dann unmittelbar danach dann auch zu mir gekommen
ist, davon geredet hat.

4.2 Herr Salier: Das Risiko des Vertrauens

Die zweite Fallrekonstruktion, die wir vorstellen möchten, handelt von einem
Patienten, bei dem das Personal geteilter Meinung ist, ob man ihm unbegleiteten
Ausgang und damit eine weitere Chance auf eine Resozialisation außerhalb einer
geschlossenen Einrichtung gestatten sollte. Auch mit Blick auf die Schwere
des begangenen Delikts stellt sich hier in besonderer Weise die Frage, ob man
dem Patienten vertrauen kann. Dieser Fall steht damit paradigmatisch für die
Frage, wie Therapie unter Risiko möglich ist, wie also unter Bedingungen des
168 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Nicht-Wissens Vertrauen aufgebaut werden kann, sodass ein kontrolliertes Risiko


eingegangen werden kann.
Herr Salier ist seit seinem 19. Lebensjahr in unterschiedlichen Einrichtungen
des Strafvollzugs und der forensischen Psychiatrie untergebracht worden. Er
ist zum Zeitpunkt des Interviews 45 Jahre alt. Seine Leidensgeschichte begann
bereits in den ersten Lebensjahren. Von seiner leiblichen Mutter der emotionalen
und körperlichen Verwahrlosung anheimgegeben, wurde er mit drei Jahren zur
Adoption freigegeben. Seine Jugend ist durch Gewalterfahrungen gezeichnet,
wobei er bereits als Minderjähriger nicht nur die Rolle des Opfers, sondern auch
die des Täters einnahm, etwa indem er Kinder in demütigende und sexuell auf-
geladene Situationen verwickelte. Mit 18 Jahren wurde er brutal zusammen-
geschlagen. Dies führte zur Schädigung seiner Halswirbelsäule, die dann durch
ein Metallimplantat stabilisiert werden musste. Noch heute leidet Herr Salier
öfters unter starken Kopfschmerzen infolge dieses Traumas.
Als er 19 Jahre alt war, kam es zu einem schweren Übergriff auf eine deutlich
ältere Frau. Er bedrohte sein Opfer mit dem Messer, raubte ihr die Tasche, ver-
gewaltigte sie und würgte sie zudem noch am Hals. Im Anschluss an die Tat kam
er zunächst ins Gefängnis. Als die Mitgefangenen herausbekommen hatten, dass er
neben der räuberischen Erpressung (was im Gefängnis mit einem gewissen Status
verbunden ist) auch eine Sexualstraftat begangen hatte, war „sein Ruf“ hin – so
seine Worte. Der Gefängnisaufenthalt glich von nun an einem „Spießrutenlauf“. Er
musste „Schläge“ einstecken und andere Demütigungen ertragen.
Einige Monate später wurde er in die forensische Psychiatrie eingewiesen und
mit dieser Weichenstellung beginnt seine Patientenkarriere. Wie nicht unüblich
für Patienten, die in den Maßregelvollzug zwangseingewiesen werden, verweigert
er dort die Therapie. Während einer „Entweichung“ greift er ein Mädchen an. In
der Folge wird er in eine andere Einrichtung verlegt – in die von uns untersuchte
Klinik. Hier führt er einige Jahre lang ein eher zurückgezogenes, unauffälliges
Leben. Er nimmt an den Therapiegruppen teil und zeigt sich gegenüber dem
Personal als ein verständiger und einsichtiger Patient, der daran arbeitet, seine
Probleme in den Griff zu bekommen.
Im Jahr 2009 – nach fünfzehn Jahren Klinikaufenthalt – entscheiden die
Ärzte und Therapeuten in Absprache mit externen Gutachtern, Herrn Salier
unbegleiteten Ausgang (UA) zu gewähren, um seine Rehabilitation zu bahnen.
Während eines Ausgangs bandelt er mit zwei Mädchen aus der Jugendpsychiatrie
an. Wie er später berichtet, hatte er in seiner Fantasie bereits geplant, eine der
Jugendlichen während eines weiteren Treffens zu vergewaltigen. Eines der
potentiellen Opfer vertraut sich jedoch dem Personal an. Damit wird offen-
bar, dass Herr Salier entgegen der Absprache mit der Klinik Kontakt zu Frauen
4.2  Herr Salier: Das Risiko des Vertrauens 169

aufgenommen hat. Darauf angesprochen, leugnet er zunächst den Vorfall.


Dennoch wird ihm der Ausgang mit sofortiger Wirkung entzogen. Um es mit den
Worten des Patienten zu schildern:

Herr Salier: Wo ich dann hier in Klinikum [Name der Klinik] gewesen bin,
gab’s 2009 einen Vorfall, wo ich alleine raus konnte, wo ich fast zu einer Straftat
gekommen wäre, mit einer, mit einem Mädel aus der Kinder- und Jugend/Dann
wurden mir die Lockerungen dann wieder weggenommen.
Interviewer: Ach! Wie ist das passiert? Also, was …
Herr Salier: Na ja, ich habe mich/Mädels aus der Kinder- und Jugend/die haben
nach Zigaretten gefragt. Ich habe zu dem Zeitpunkt noch geraucht. Und haben mich
dann gefragt, und ich habe dann gegeben und habe dadurch mit einem Mädel da so
quasi angebändelt, dass ich sie ihr immer wieder gegeben habe und habe mir dann
irgendwann mehr versprochen; und habe mir auch schon ausgemalt, wann Montag,
Dienstag, dass es dann sein könnte, dass ich mich mit ihr alleine treffe, und dass ich
dann auch zu meinem Sex kommen werde, ja, ob sie will oder nicht. Und sie hat
sich dann halt dem Personal auf ihrer Station anvertraut. Und dadurch ist es dann
quasi ins Rollen gekommen, wo ich dann hier in der Visite drauf angesprochen/nee,
Quatsch, von meinem damaligen Therapeuten, Herrn Schulze. Der ist dann zum/ich
wollte gerade in Ausgang, da wurde sofort gesagt: Herr Salier, ihre Lockerungen
sind ausgesetzt bis auf weiteres. Es gab einen Vorfall! Und den habe ich erst noch
bestritten. Später habe ich ihn dann zugegeben und im März 2010 in etwa habe ich
dann angefangen, über meine Fantasien zu reden – erstmals.

Nach dem Vorfall dauert es zwei Wochen, bis Herr Salier dem Therapeuten
gegenüber zugeben kann, dass er aktiv den Kontakt zu den Mädchen gesucht
hat. Von nun an drängen die Therapeuten und Ärzte den Mann, seine sexuellen
Fantasien dem Personal gegenüber zu offenbaren. Auch die Mitpatienten fordern
in den Therapiegruppen den Patienten auf, endlich ehrlich zu sein. Nach gut drei
Monaten zeigt der soziale Druck seine Wirkung. Herr Salier vertraut sich dem
Therapeuten zum ersten Mal in Hinblick auf seine sexuellen Gewaltfantasien
an. Er erzählt, dass er die ganze Zeit, die er bislang im Maßregelvollzug unter-
gebracht war, ein Doppelleben geführt habe. Nach außen hin habe er den ver-
ständnisvollen und einsichtigen Patienten gespielt, während er innerlich über
mehr als 10 Jahre hinweg weiterhin seine sadistischen Vorstellungen kultiviert
und zur Selbstbefriedigung genutzt habe:

Herr Salier: Na ja, und wo ich dann in den Maßregelvollzug gekommen bin/
Ich habe im Prinzip mein Leben von draußen da drinnen weitergeführt. Ich habe
draußen oder so, nachts, aktiv gewesen, und am Tage habe ich dann geschlafen. Und
das habe ich im Maßregelvollzug weitergeführt. Ich habe für meine Fantasie gelebt.
Da ich dann immer starke Gewaltfantasien hatte/
Interviewer: Mhm (bejahend)
170 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Herr Salier: wo es um Vergewaltigung geht, wo es um Tötung ging, wo es um gott-


ähnliches Dasein ging und/
Interviewer: Gottähnliches Dasein, also Macht über alle, oder was?
Herr Salier: Macht und Kontrolle über mein Opfer, dass ich entscheide, ob ich das
Opfer leben/oder so/oder nicht/ob ich/was ich mit ihr mache – wie auch immer –,
das ist mein/meine Entscheidung und sie muss sich da fügen.
Interviewer: Mhm (bejahend), das haben Sie als Fantasie dann immer gehabt?
Herr Salier: Ja. Natürlich. Ja […], ich habe mich im Prinzip von dem Tag, was ich
wach gewesen bin, 90 Prozent nur mit den Fantasien beschäftigt. Also/oder anders
herum gesagt, die Fantasien haben mich kon/haben ja mich kontrolliert. Ja. Also,
wenn ich/wenn es hieß, jetzt ist Selbstbefriedigung angesagt, dann machst Du das.
Und das/also Selbstbefriedigung war für mich zu dem Zeitpunkt vier, fünf, sieben,
acht Mal am Tag, ja.

Nach dieser Selbstoffenbarung wird die Verbindung von Sexualtrieb und Gewalt-
fantasien zu einem ständigen Thema in den Therapiegesprächen. Gut eineinhalb
Jahre später stimmt der Patient einer chemischen Kastration durch die Salvacyl-
Depotspritze zu.
Seit acht Jahren – bis zum Zeitpunkt des Interviews – steht Herr Salier unter
antiandrogener Behandlung. Laut seinen eigenen Worten habe er schon seit
Langem keine Selbstbefriedigung mehr ausgeübt. Das Medikament sei gleich-
sam sein „Lebensretter“ geworden, da es ihn von seinen sexuellen Fantasien
erlöst habe. Aus diesem Grunde würde er es selbst dann weiterhin nehmen
wollen, wenn er nicht entlassen werden würde. Allerdings habe sich nun eine Ent-
lassungsperspektive aufgetan:

Herr Salier: Sexualität ist für mich absolutes ‚No Go‘. Keine Ahnung, ich habe, ich
weiß nicht, wann ich das letzte Mal probiert habe, eine Selbstbefriedigung auszu-
üben. Ich habe – was weiß ich/Fantasien rufe ich schon ewig nicht mehr auf. Für
mich ist das Salvacyl quasi mein Lebensretter geworden. Also, hätte ich dieses
Medikament nicht bekommen, würde ich mich weiter in, in Fantasien verlieren.
Und deswegen ist es für mich eigentlich auch der Grund, dass ich gesagt habe, ich
möchte dieses Medikament ein Leben lang weiter nehmen, unabhängig davon, ob
ich rauskomme oder nicht/was ja nun Gott sei Dank doch dahinläuft, dass ich raus-
komme.

Zu dem Zeitpunkt, als wir in der Klinik unsere Forschung durchführten, stand
für die behandelnden Ärzte und Therapeuten bereits fest, dass man erneut eine
Lockerung des Patienten ins Auge fassen wolle. Im Zuge dessen hatte man
einen externer Gutachter beauftragt, um die Chancen und Gefahren der erneuten
Gewährung des „unbegleiteten Ausgangs“ zu erörtern. Das zum Zeitpunkt
4.2  Herr Salier: Das Risiko des Vertrauens 171

der Feldforschung bereits vorliegende Gutachten spricht sich explizit für die
Lockerung aus. Nun liegt es am Behandlungsteam sowie der letztlichen Ent-
scheidung des Chefarztes, ob und unter welchen Bedingungen der unbegleitete
Ausgang für den Patienten, der nun seit 26 Jahren in forensischen Einrichtungen
einsitzt, gewährt werden kann.
Schauen wir zunächst auf zwei Bezugsprobleme, die in besonderer Weise bei
diesem Fall sichtbar werden, bevor wir uns ausführlicher mit der Rekonstruktion
des Entscheidungsprozesses um die Frage, ob dem Patienten unbegleiteter Aus-
gang gewährt werden kann, beschäftigen. Es handelt sich hierbei einerseits
um die konstitutionelle Intransparenz der Beziehung von Körper, Psyche und
Kommunikation, zum anderen um das hiermit einhergehende Problem aus recht-
lichen Gründen auch unter unscharfen bzw. unklaren diagnostischen Kriterien zu
eindeutigen Beurteilungen kommen zu müssen.

Bezugsproblem: ‚Intransparenz der Beziehung von Körper,


Psyche, Kommunikation‘

Herr Salier hat sich mehr als sechs Jahre lang einer antiandrogenen Behandlung
unterzogen. Er bekommt alle drei Monate eine Depotspritze, welche die Bildung
des männlichen Sexualhormons Testosteron unterbindet.
Im Sinne eines biophysiologischen Ursachenmodells könnte man zunächst
denken, dass die chemische Kastration künftige strafbare Handlungen unter-
bindet, die darauf angelegt sind, die sexuelle Selbstbestimmung anderer
Menschen zu unterminieren, da der Patient ja durch die Suspendierung des
Sexualtriebs keine sexuelle Motivation mehr entwickeln könne. Diese Kausali-
tätsannahme erweist sich jedoch als falsch. Selbst nach einer chirurgischen
Kastration sind einige Männer noch in der Lage, eine Erektion zu bekommen.
Ebenso kann es passieren, dass entsprechend behandelte Sexualstraftäter erneut
sexuell konnotierte Delikte begehen.8 Aus diesem Grund gibt es „gemessen am
Kriterium der Rückfallreduktion“, wie insbesondere Eher, Gnoth, Birklbauer
und Pfäfflin (2007, S. 109) betonen, auch „keine eindeutige oder gar zwingende

8 
Siehe hierzu etwa die Gespräche von Nikolaus Heim (1998) mit kastrierten
Sexualstraftäten.
172 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Indikation“ für die chemische Kastration durch antiandrogene Medikamente,


zumal die Behandlung sehr nebenwirkungsbelastet ist.
Wenngleich ein eindeutiger Wirksamkeitsnachweis fehlt, erscheint die anti-
androgene Therapie nach den psychiatrischen Leitlinien derzeit weiterhin als ein
Mittel der Wahl, um Patienten eine Zukunft außerhalb der geschlossenen Ein-
richtung des Maßregelvollzugs zu ermöglichen (s. Berner et al. 2007, S. 30 f.).
Allerdings wird die Medikation nur in Verbindung mit psychotherapeutischen
Maßnahmen als sinnvoll erachtet. Zudem hat sie freiwillig, d. h. auf eigenen
Wunsch des Patienten zu erfolgen. Wenngleich sich zwar nicht in jedem Falle die
Gefährlichkeit des Patienten verringert, so lässt sich doch ein deutlicher Rück-
gang der Masturbation sowie der damit verbundenen sexuellen Fantasietätig-
keiten feststellen.
Die wissenschaftlichen Befunde in Hinblick auf die medikamentöse Trieb-
dämpfung verweisen somit auf ein komplexes Bedingungsgeflecht von bio-
logischen, psychologischen und sozialen Faktoren, die sich in unterschiedlicher
Weise und mit divergierenden Vorzeichen miteinander verschränken können. Ob
das Medikament die gewünschte Wirkung zeigt oder ob umgekehrt mit paradoxen
Effekten zu rechnen ist, scheint dabei auch wesentlich von Willen und Einsicht
des Patienten abzuhängen. Wenn dieser sich freiwillig für die Behandlung ent-
scheidet, um seine Triebstörung zu überwinden, erscheint die Prognose wesentlich
besser, als wenn dies unter Zwang geschieht. Aber kann die Entscheidung eines
Patienten, der im Maßregelvollzug einsitzt, wirklich als vollkommen freiwillig
angesehen werden? Reicht es aus, ‚Einsicht‘ als einen psychologischen Prozess
und die hiermit einhergehenden Entscheidungen als ‚individuell‘ vollzogene
Handlungen zu verstehen? Sind Entscheidungen nicht immer auch als Reaktionen
auf die Erwartungen signifikanter Anderer zu verstehen?9 Können Ent-
scheidungen zur Triebdämpfung darüber hinaus als Selbstfestlegungen verstanden
werden, die – auch wenn sie zunächst aus strategischen Gründen getroffen
wurden – in sozialer und psychischer Hinsicht ihre eigene Realität erschaffen?
Sich für die chemische Kastration zu entscheiden, ist letztlich auch
Kommunikation: Es ist ein starkes Statement, das der Gesellschaft, aber auch den
Mitpatienten anzeigt, wo man steht. Gerade auch die Inkaufnahme der körper-
lichen Effekte, vor allem der unerwünschten Nebenwirkungen, die solch eine

9 
Siehe aus grundlagentheoretischer Sicht, auch in Auseinandersetzung mit dem Libet-
Experiment und der Hirnforschung, Vogd (2006b).
4.2  Herr Salier: Das Risiko des Vertrauens 173

Behandlung mit sich bringt, sind deshalb immer auch in ihrem Zeichengehalt in
ihrer symbolischen Bedeutung zu sehen. Sie legen im Sinne eines performativen
Aktes nahe, dass ein Mensch, der solch ein Martyrium auf sich nimmt, es wirk-
lich ernst meinen muss.
Doch wie bei jeder Beziehung von Zeichen und zugerechnetem Sinn sind
auch andere Lesarten denkbar: Was, wenn der Patient all dies nicht wirklich aus
Krankheitseinsicht tut, sondern nur, um rauszukommen und sich dann draußen
erneut ein Opfer zu suchen? Kann und darf man glauben, was er in Hinblick auf
seine inneren Zustände sagt, und was bedeutet es, wenn man seine Aussagen
anzweifelt?
Schauen wir am Beispiel von Herrn Salier, wie das Personal mit den
Ambivalenzen umgeht:

11.2., 8:30 Uhr Stationsraum


Pflegerin-1: Bei Herrn Salier, wie das mit den Fantasien bei ihm ist, weiß man nicht
so genau … er hatte die Fantasien „Frauen Würgen“ … dann hat er eine Trieb-
dämpfung bekommen … angeblich kann er keine Fantasien mehr haben …
Pfleger-2: Das bleibt … ich habe noch keinen Patienten gesehen, bei dem das weg-
geht …
Pflegerin-1: Herr Lindenmann … der hat seine Tendenzen, obwohl er trieb-
dämpfende Medikamente nimmt … erzählt dann den anderen Patienten, dass er sich
doch noch einen hochholen kann.
Pflegerin-3: Das Gute ist jetzt, dass Herr Salier mit seiner Familie in Kontakt steht
… aber ob das jetzt reicht für ein Leben draußen …
Pfleger-2: Er hat Fantasien … Rache-Fantasien, er ist sehr gedemütigt worden …
ich halte es jetzt allerdings nicht für krankhaft, dass er sich bei den Männern, die
ihn gedemütigt haben, rächen wollte … die offene Frage sind jetzt seine sexuellen
Fantasien …
Pflegerin-1: Da ist jetzt insbesondere Frau Horn, die Pflegeleiterin, sehr miss-
trauisch …
Pfleger-4: Habe jetzt eigentlich bei den Patienten immer gesehen, dass die Fantasien
geblieben sind …
Pflegerin-1: Ich denke, hier drin hat er es unter Kontrolle, jetzt ist er ja nur unter
Begleitung draußen … aber wenn er jetzt alleine draußen ist …
Pfleger-2: Die Therapeuten sind ja nicht bestrebt, die Fantasien wegzumachen,
sondern dass er sie unter Kontrolle hat und nicht Situationen aufsucht … die
Patienten können letztlich nur lernen, damit umzugehen … letztlich bleibt es immer
dabei … gehört gewissermaßen zu der Persönlichkeit … sie müssen lernen, mit den
Krisensituationen umzugehen …
Pflegerin-1: Mein Gefühl … weiß ich gar nicht … Frau Horn traut ihm jedoch jetzt
überhaupt nicht … hat auch die Sache mit Schmidt in Erinnerung [ein Patient, der
vor einigen Jahren im Freigang eine Tat begangen hat] … die geht ihr nach …
174 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Pfleger-2: Ich vertraue persönlich darauf, dass ich hier mit den Patienten umgehen
kann … doch wenn ich die Allgemeinheit schützen will, ist Vertrauen nicht
angesagt …
Pflegerin-3: Tendenziell kann er jetzt allerdings alleine raus … wenn er raus geht,
wird er es alleine schaffen … er kann ja auch arbeiten … war in der Malergruppe …
wenn er mal raus ist, dann kann man es ihm zutrauen, dass er sein Leben schafft …
Pfleger-2: Er ist ein großer, renitenter …
Pflegerin-1: Ja er baut sich mal auf, ist aber nicht so schlimm …

Für unsere Zwecke ist es hilfreich, die Gruppe der Pflegekräfte als eine Einheit
zu betrachten, in der unterschiedliche, sich auf den ersten Blick widersprechende
Stimmen erscheinen, die sich jedoch zu einem komplexen Gewebe verzahnen,
in dem divergierende Aspekte hervortreten, dabei jedoch insgesamt ein Bild
ergeben, das durch Unsicherheiten und Ambivalenzen gefärbt wird.
Zunächst wird deutlich, dass die Pflegekräfte der Aussage des Patienten
infolge der Triebdämpfung keine sexuellen Fantasien mehr zu haben, nicht nur
anzweifeln („angeblich kann er keine Fantasien mehr haben“), sondern generell
die Wirkung der antiandrogenen Medikation in Frage stellen („habe noch keinen
Patienten gesehen, bei dem das weg geht“).
Bei anderen Patienten haben sie gesehen, dass trotz der chemischen Kastration
sexuelle Fantasien weiterhin auftreten können und auch Selbstbefriedigung –
wenngleich in der Regel in deutlich verringertem Ausmaße – noch vorkommt.
Zudem wissen sie, dass die psychotherapeutischen Programme der Klinik
genau betrachtet nicht darauf zielen, sexuelle Fantasien generell auslöschen oder
verhindern zu wollen. Sie sind eher daraufhin ausgerichtet, den Patienten dahin
gehend zu schulen, nicht mehr zur Tat schreiten zu müssen, etwa indem er lernt,
bestimmte Risikosituationen zu vermeiden.
Darüber hinaus haben die Pflegekräfte den konkreten Einzelfall in Blick. Sie
wissen, dass Herr Salier in der Vergangenheit nicht nur exzessiv die Fantasie
„Frauen würgen“ kultiviert hat, sondern diesbezüglich auch zur Tat geschritten
ist. Es ist ihnen bekannt, dass Patienten, die sich an der Angst und dem Schmerz
des Opfers erregen, eine besonders ungünstige forensische Prognose haben, dass
sexuelle Sadisten schwer zu heilen sind und man sich gerade bei dieser Patienten-
gruppe nicht auf die Triebdämpfung verlassen darf.
Zugleich scheint es für die Pflegekräfte jedoch durchaus normal, wenn
Menschen manchmal Rache-Fantasien haben. Wenn etwa Herr Salier seinem
Bezugspfleger erzählt, wie er sich nach einer Demütigung durch einen anderen
Pfleger ausgemalt hat, ihn richtig fertigzumachen, erscheint dies als eine nach-
vollziehbare Reaktion und damit nicht unbedingt als „krankhaft“. Zudem
würde auch hier zunächst das therapeutische Primat gelten, dem Patienten den
4.2  Herr Salier: Das Risiko des Vertrauens 175

Unterschied zwischen Fantasie und Realität klarzumachen und ihm Möglich-


keiten zu eröffnen, seine Wut jenseits strafbarer Delikte zu artikulieren. Mit Blick
auf das Störungsbild des sexuellen Sadismus bleibt für die Pflegekräfte jedoch die
„offene Frage“ bestehen, wie man die (vermeintlich abgeklungenen) „sexuellen
Fantasien“ des Patienten zu bewerten habe.
Da sich jedoch in die Psyche eines Menschen nicht hereinschauen lässt, bleibt
nichts anderes übrig, als sein Verhalten, bzw. was andere über dieses berichten,
als Anzeichen für verborgene innere Prozesse zu nehmen. Herr Salier pflegt
sowohl den Kontakt zu seinen Adoptiveltern als auch zu seiner leiblichen Mutter,
doch zugleich stellt sich für die Pflegerin, welche dies erwähnt, die Frage, ob
diese soziale Einbettung „für ein Leben draußen“ ausreiche. Herr Salier habe
allerdings darüber hinaus bewiesen, dass er in der Lage sei, zu arbeiten, und man
ihm deshalb zutrauen könne, ein Leben draußen zu schaffen.
Als Gegenhorizont erscheint jedoch das Risiko, dass man einen Patienten vor
sich hat, den man nicht sicher einschätzen kann, zumal er das Personal schon
einmal massiv getäuscht hat. Frau Horn, die Stationsleitung, hatte vor knapp
15 Jahren bereits einen Fall miterleben müssen, wo es während des Ausgangs
zu einer tragischen Straftat gekommen war, und erscheint infolgedessen als eine
besonders misstrauische Stimme. An dieser Stelle lässt sich also noch die Unter-
scheidung einführen zwischen Misstrauen, das dem Patienten aufgrund eigenen
früheren Fehlverhaltens entgegengebracht wird und solchem, das dem Patienten
aufgrund des früheren Fehlverhaltens anderer Personen entgegengebracht wird.
Die Bearbeitung des Problems der Intransparenz hängt also nicht nur von dem
jeweils betreffenden, sondern auch von anderen Patienten ab. Das Verhältnis von
Vertrauen und Misstrauen gegenüber dem Patienten wird also nicht nur durch die
Interaktionsgeschichte mit selbigem, sondern eben auch mit anderen Patienten
aufgebaut. Letzteres wird jedoch zugleich von den anderen Pflegekräften als
‚persönliche Betroffenheit‘ markiert und damit in Hinblick auf die sachliche
Relevanz in Bezug auf die Gefahreneinschätzung partiell eingeklammert.
Was bleibt, ist eine gewisse Unsicherheit („mein Gefühl … weiß ich gar
nicht“), was jedoch nicht zu einer grundsätzlichen Ablehnung des Freigangs
führt, sondern in eine weitere Suche nach Indizien mündet, die dafür oder
dagegen sprechen. Es wird deutlich, dass der Patient gerade auch vor dem
Erfahrungshintergrund einer weiblichen Pflegekraft als jemand eingeschätzt
wird, der sich innerhalb der Einrichtung („hier drin“) unter Kontrolle habe. Die
offene Frage sei jedoch, ob dies auch der Fall sei, wenn die Begleitung durch das
Personal wegfällt („aber wenn er jetzt alleine draußen ist“).
Es bleibt ein Dilemma: Gut geführte Patienten zeigen in Freiheit nicht
unbedingt dasselbe Verhalten wie innerhalb der Klinik. Angesichts der Schwere
176 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

der begangenen Delikte ist die „Allgemeinheit“ zu schützen, was für eine
andauernde Hospitalisierung sprechen würde. Letzteres läuft jedoch dem
therapeutischen Auftrag des Maßregelvollzugs zuwider, der auf Resozialisierung
zielt. Selbst wenn also die Pflege manche Patienten grundsätzlich lieber
nicht alleine rauslassen würde – denn ein gewisses Restrisiko wird sich nicht
ausschließen lassen –, bleibt nichts anderes übrig, als weitere Indizien abzu-
wägen. Nicht zuletzt ist darauf zu schauen, wie der Patient auf die Pflegekräfte
persönlich wirkt. Herr Salier hat offensichtlich eine gewisse Körpermasse und
zeichnet sich durch eine gewisse Bockigkeit aus („ein großer, renitenter“). Dies
mag vielleicht zunächst ein wenig bedrohlich wirken („baut sich mal auf“), hat
sich jedoch in der Praxis des Stationsalltags als harmlos erwiesen („ist aber nicht
so schlimm“). Dennoch fällt es weiterhin schwer, hinsichtlich seines Sexualver-
haltens das Risiko abzuschätzen.
Fassen wir die unterschiedlichen Aspekte des hier gezeichneten widersprüch-
lichen Bildes zusammen:

• Die Pflegekräfte zweifeln die Aussage an, dass der Patient keine sexuellen
Fantasien mehr hat, was gerade mit Blick auf seine Vorgeschichte als
problematisch erachtet wird.
• Das Verhalten des Patienten wird unter dem Blickwinkel abgetastet, ob es als
‚normal‘ betrachtet werden kann. Neben der Fähigkeit, einer Arbeit nach-
zugehen und der Kontaktpflege zur Familie werden bemerkenswerterweise
sowohl die Rache-Fantasien nach einer Demütigung als auch das dominante
Auftreten im Bereich des Normalen bzw. Vertretbaren verortet.
• Zugleich wird das Risiko thematisiert, das mit dem unbegleiteten Ausgang des
Patienten einhergeht. Mit Blick auf die Verantwortung gegenüber der Gesell-
schaft wird Letzteres kritisch gesehen.
• Die Pfleger stellen fest, dass sie innerhalb der Klinik gut mit dem Patienten
umgehen können und er sich hier als weitgehend ‚normal‘ zeigt, während
jedoch offenbleibt, ob dies auch draußen der Fall ist.

Schauen wir im Folgenden, wie Herr Saliers Psychotherapeut mit der schwer ein-
zuschätzenden Problematik der sexuellen Fantasien umgeht:

Interviewer: Und die Pflege jetzt, ich habe mit denen gesprochen, die misstrauen,
die sagen, dass die Fantasien bleiben, also sie würden keinen Patienten kennen, der
mit dem Mittel die Fantasien wegbekommen hat, also wie ist jetzt Ihre …
Psychotherapeut: Also man muss mal sagen, dass es keiner genau weiß.
4.2  Herr Salier: Das Risiko des Vertrauens 177

Interviewer: Keiner weiß es genau, also das …


Psychotherapeut: Das sind alles Modelle, die man im Kopf haben kann? […] Und die
beruhen natürlich alle auf Aussagen von Patienten, ja? Es kann ja keiner sozusagen,
wir können ja nicht einem bildgebenden Verfahren dann darstellen, was da jetzt wirk-
lich abläuft. […] Was wir sagen können, dass Herr Salier chemisch kastriert ist. […]
Wir können es über die Spiegelkontrollen nachweisen, dass er chemisch kastriert ist.
Das ist sicher. Und wir wissen natürlich auch, dass das Testosteron eine wichtige
Rolle spielt, ja, bei der Generierung solcher Fantasien und bei der Selbstbefriedigung,
und auch alle Fantasien, in aller Regel immer in Kombination mit Selbstbefriedigung
auch erst aufgerufen werden. Das ist sozusagen dann, dass man sich dann erst hinein-
versetzt, dass die nicht permanent einfach so da ist. Also auch jemand, der jetzt
solche Fantasien hat, lebt ja nicht dauerhaft in diesem Zustand, sondern in seinem
Bewusstsein ist ja auch nochmal was anderes, auch triviale Dinge, aber er ist nicht
so Tag und Nacht und jede Minute davon eingenommen. Das ist glaube ich, ja, über
Fantasien, da gibt es halt sehr viele verschiedene Vorstellungen im Maßregelvollzug,
weil das auch ein sehr unklares Gebiet ist, was aber wiederum sehr verknüpft ist mit
Gefährlichkeit, oder vermuteter oder unterstellter Gefährlichkeit. […]
Interviewer: Ja.
Psychotherapeut: So, das können wir nachweisen, dann gibt es regelmäßige
Explorationsgespräche zur Selbstbefriedigung, Häufigkeit, wie das stattfindet und
so. Da kann man dann nochmal einen Abgleich machen, sozusagen noch zu den
Laborwerten und das auch dann verhältnismäßig nochmal so gegenüberstellt und
dann gibt es natürlich auch die Tatsache, dass wir auch keine Beobachtung mehr
machen in der Hinsicht, so. Und das ist für mich auch ausreichend.
Interviewer: Also beobachten, ob etwas auf dem Betttuch ist (lacht)?
Psychotherapeut: Nein, aber das sieht man ja, wenn jetzt jemand ständig onaniert
und so, dann wird der ja auch, zum Beispiel, es gibt ja nachts auch diese Zimmer-
kontrollen, ob sozusagen noch alles in Ordnung ist. Und es ist ja so ein langer Zeit-
raum, und wenn wir da dann nichts mehr finden, […] dann muss man sagen, okay,
da wird auch nichts mehr sein.

Der Psychotherapeut bestätigt zunächst die konstitutionelle Unsicherheit in Hin-


blick auf das Selbstverhältnis des Patienten. Man kann nicht wirklich wissen, was
in der Psyche eines anderen Menschen vor sich geht („man muss mal sagen, dass
es keiner genau weiß“). Man wisse jedoch, dass der Patient chemisch kastriert sei
und dass dies die Selbstbefriedigungstätigkeit dämpfe, wobei Letzteres wiederum
mit dem Aufruf von sexuellen Fantasien verbunden sei. Die Häufigkeit der
Masturbation lässt sich jedoch abfragen („regelmäßige Explorationsgespräche“)
sowie durch nächtliche „Zimmerkontrollen“ überprüfen. Auf diese Weise ergibt
sich ein pragmatischer Umgang mit dem „unklaren Gebiet“ der „Fantasien“:
Wenn der Hormonspiegel niedrig ist und das Personal keine Auffälligkeiten
berichtet, dann „muss man sagen“: „da wird auch nichts mehr sein“.
178 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Wir stoßen hier auf ein Bezugsproblem, das bei psychiatrischen Patienten
generell und bei Patienten mit fehlgeleitetem Sexualtrieb oder anderen gefährdenden
Neigungen in nochmals verschärfter Form virulent wird. Die Rede ist von der
Intransparenz der Beziehung von Körper, Psyche und Kommunikation. Gerade
in Hinblick auf die Manifestation, Regulation und Kontrolle des Sexualtriebs lässt
sich nicht von einer trivialen Beziehung von Medikation, Hormonspiegel, Fantasie
und Verhalten ausgehen. Dieses Problem stellt sich dann nochmals in besonderer
Weise in Bezug auf die Diagnose ‚sexueller Sadismus‘. Der Sadismus stellt, wie die
Psychiater sagen würden, eine Qualität dar, die nicht mit dem Sexualtrieb identisch
ist (die also auch nach seiner Suspendierung noch vorhanden sein könnte).
Auch hier gilt, dass das, was sich im Weltverhältnis des Patienten zeigt, nicht
unbedingt mit seinem Selbstverhältnis im Einklang stehen muss. Beispielsweise
mag er sich nach außen hin ‚brav‘ verhalten, während er innerlich vor Wut kocht
oder weiterhin Gewaltfantasien kultiviert.
Weil aber, wie gesagt, kein Mensch in die Psyche eines anderen hineinschauen
kann, sind die Therapeuten und das Personal auf die Berichte aus der Ersten-
Person-Position des Patienten angewiesen. Da es aber möglich ist, unvollständige
Berichte abzugeben oder gar sein Gegenüber bewusst zu täuschen, bleibt nichts
anderes übrig, als weitere Indizien hinzuzuziehen, die jedoch eben nur Anzeichen
sind, also nie eine hundertprozentige Sicherheit darüber geben können, was wirk-
lich der Fall ist.
Darüber hinaus stellt sich das Problem, dass man das Verhalten eines Patienten
immer nur im Kontext der forensischen Psychiatrie beobachten kann, was jedoch
letztlich keine zuverlässige Prognose darüber erlaubt, wie er sich in Freiheit ver-
halten wird.
Das Personal mag sich zwar recht genau auf Veränderungen im Verhalten
kalibriert haben. Sie wissen, wie auf die Zeichen eines Patienten zu antworten
ist, um ihn so zu führen, dass keine problematischen Gefahrenlagen entstehen,
aber eben wiederum nur im Kontext der Organisation. In Hinblick auf die Frage,
wie sich der Patient außerhalb des Klinikkontextes verhalten wird, besteht jedoch
weitaus weniger Erwartungssicherheit. Innerhalb der Klinik hat sich über die
Jahre ein stabiles Arrangement aus Patientenkörper, Medikation, Psyche und
Kommunikation herausgebildet. Es sind hinreichende Feedbackschleifen etabliert
worden, um voneinander zu wissen, was im Guten wie im Schlechten zu erwarten
ist und was im Fall von Abweichungen zu tun ist, die nicht geduldet werden
können. Der Patient mag dem Personal möglicherweise zwar nicht alles sagen,
was ihn bewegt oder antreibt, doch dies wird die wechselseitigen Erwartungen
nicht grundsätzlich berühren, da ein Netzwerk kommunikativer Routinen besteht
4.2  Herr Salier: Das Risiko des Vertrauens 179

(Morgenkreis, Gruppensitzungen, Therapie, Gespräche über Anträge etc.), die


ein Abtasten in Hinblick auf potentielle Probleme gestatten. Die Intransparenz
zwischen Psyche und Kommunikation wird entsprechend durch Beobachtung des
Verhaltens und entsprechende kommunikative Reaktionen auf dieses kontrolliert
(wobei, wie gesagt, nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Patient nicht
doch noch problematische Fantasien hat, die er nicht erzählt).
Komplementär hierzu kann dann auch der Patient in Routinen einrasten. Er
weiß, was er zu sagen und wie er sich im Klinikkontext zu verhalten hat, was
ihm wiederum erlaubt, seine Triebimpulse und Bedürfnisse innerhalb des
institutionellen Kontexts zu normalisieren und in beherrschbare Bahnen zu
lenken. Die Mauern der Klinik und das Personal, das die Patienten während eines
Ausgangs begleitet, verhindern, dass er potentiellen Opfern zu nahekommt. Auch
im Selbstverhältnis kann er hieran andocken, etwa eine gewisse Sicherheit in
Bezug auf sein Verhältnis zu Psyche und Körper gewinnen, indem er sich in dem
von ihm geforderten ruhigen und deliktfreien Leben einrichtet.
Mit den Jahren werden viele Patienten, aber eben nicht alle (und man kann
es vorab nicht sicher wissen), nolens volens lernen, dass auch im Falle des Frei-
gangs oder gar der Entlassung das forensische Regime weiterhin fortbesteht,
also die gewährten Freiheitsgrade schnell wieder eingeschränkt werden können.
Doch solange es nicht ausprobiert wird, bleibt die internalisierte Selbstkontrolle
des Patienten aus Sicht des behandelnden Personals nur eine mehr oder weniger
begründete Hypothese oder Theorie.
Damit wird aber auch klar, dass der Übergang in den unbegleiteten Ausgang ein
nicht unerhebliches Risiko darstellt, da die soziale Kontrolle des problematischen
Körpers (und im Falle von geheimen Fantasien: der problematischen Psyche)
gelockert wird. Selbst wenn der Patient willens ist, ein normales Leben zu führen,
stellt sich die Frage, ob ihm die Außenwelt hinreichend Struktur zur Verfügung
stellt, dass er sich so im Griff hat, nicht von seinen eigenen Impulsen in einer Weise
überrascht zu werden, dass es erneut zu einer Deliktanbahnung kommt.
Mit dem unbegleiteten Ausgang stellt sich also nicht nur die Frage der intrans-
parenten Psyche, vielmehr muss auch mit der Eigendynamik einer Körperlich-
keit gerechnet werden, die sich draußen möglicherweise anders ausdrückt als
innerhalb der Klinik. In einem anderen sozialen Kontext ändern sich auch die
Bedingungen der konditionierten Koproduktion von Körper und Psyche.
Damit erscheint für Ärzte, Therapeuten und Pflegekräfte nochmals in
besonderer Brisanz die Frage, wie der Körper zu lesen ist – oder medizinisch
gesprochen: welche Diagnose vorliegt. Hiermit kommen wir zu dem zweiten
Bezugsproblem, das in diesem Kapitel behandelt wird.
180 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Bezugsproblem: ‚Verschränkung von Recht und Medizin


in der forensischen Diagnostik‘

Ist ein Mensch, der ein für andere nicht hinnehmbares Verhalten zeigt, krank oder
einfach nur kriminell und moralisch verkommen? Handelt er möglicherweise
bloß nach einem anderen kulturellen Code, ist er vielleicht nur schlecht erzogen?
Was in seinem Milieu normal ist, mag in einem anderen sozialen oder kulturellen
Kontext als pervers erscheinen.
Jegliche psychiatrische Diagnostik steht damit zunächst vor der grundsätz-
lichen Frage, ob die Einschätzung und Bewertung von (Fehl-) Verhalten über-
haupt in die Kategorie ‚krank‘ oder ‚gesund‘ fällt. Auch wenn man nicht so weit
gehen möchte, psychiatrische Diagnosen per se (nur) als soziale Konstruktionen
zu begreifen, bleibt eine Reihe von Fragen offen. Die Kriterien sind nicht trenn-
scharf. Zudem beruhen viele Einschätzungen auf Gesprächen, aber die Sprache
ist ihrer Natur nach vage und was sich an phänomenologischer Qualität hinter
dem Gesagten verbirgt, lässt sich nur indirekt erschließen. Hinzu kommt, dass
keine Störung nur durch ein Symptom bestimmt wird. Man hat es stets mit
Symptombündeln zu tun, die wiederum in der Regel unterschiedlichen Störungen
zugeordnet werden können. So kann etwa ein Maniker dieselben Symptome auf-
weisen wie ein Schizophrener (etwa unrealistische Lebensziele artikulieren).
Kommunikation birgt darüber hinaus immer auch einen Beziehungsanteil,
weshalb diagnostische Urteile manchmal weniger über den Beurteilten denn über
das Verhältnis zwischen beiden Seiten aussagen.
Zudem besteht die Gefahr der Medikalisierung, bei der Menschen eine
Diagnose zugeschrieben wird, um sie in das medizinische System einzuspuren.
Im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung erzeugt Medikalisierung damit
erst das Problem, das es dann therapeutisch zu behandeln gilt. Im vorangehenden
Kapitel ist bereits mit Blick auf das Bezugsproblem ‚Bedrohung durch Stereo-
typen‘ einiges hierzu gesagt worden.
Trotz all dieser Probleme ist und bleibt die forensische Diagnostik allein schon
deshalb unhintergehbar, weil mit ihr jene Weichenstellung einhergeht, welche
die Einweisung von Straftätern in eine geschlossene psychiatrische Klinik recht-
fertigt. Menschen, die einfach nur kriminell und nicht krank sind, gehören ins
Gefängnis. Wer schlecht erzogen ist, gehört ins Erziehungsheim oder mag dann
auch, wenn er älter ist, im Strafvollzug pädagogische Betreuung bekommen,
gehört aber nicht in die Psychiatrie.
Wenngleich es also im psychiatrischen Alltag vielfältige Gemengelagen gibt,
in denen eine trennscharfe Unterscheidung zwischen den Sphären schwerfällt,
4.2  Herr Salier: Das Risiko des Vertrauens 181

bleibt nichts anderes übrig, als bei anstehenden Entscheidungen in Hinblick auf
Therapie und Rehabilitation auf diagnostische Einschätzungen zurückzugreifen,
wenngleich sich bei genauerem Hinsehen das Verhältnis von Diagnose und
Therapie eher zirkulär denn im Sinne eines linearen Kausalverhältnisses gestaltet.
Zudem ist ja mit der Einweisung des Patienten bereits eine Vorentscheidung
getroffen worden, nämlich dass es nicht nur um einen Straftatbestand, sondern
auch um eine psychische Erkrankung geht. Damit ist per Definitionem die
Weichenstellung zu einem Arrangement innerhalb eines medizinischen Rahmens
gefallen.
Schauen wir im Folgenden auf die diagnostische Einschätzung des Oberarztes:

Oberarzt: Was sozusagen die bürgerliche Schicht gar nicht nachvollziehen kann,
wie schlimm man emotional vernachlässigt sein kann und wie man aufwachsen
kann. Gut. Hilft aber nicht, ist prognostisch nicht positiv, ja? Ist sicherlich sehr dis-
sozial, wenn man so will, ja. Dissozial ist eigentlich ein Wort, was wir vermeiden
wollen, ja, in dem hiesigen Rahmen. Das ist zu inflationär gebraucht draußen. In
seinem Fall stimmt es sicherlich irgendwo, ja. Ist möglicherweise auch ein dis-
sexueller Vergewaltiger, wenn Sie so wollen. […] Also, Vergewaltigung ist nicht
unbedingt Ausdruck von schwerwiegender Pathologie oder sowas, sondern Ver-
gewaltigung ist einfach eine geringe moralische Internalisierung, eine geringe
normative Internalisierung und man nimmt sich halt sozusagen sein Bedürfnis wie
es einem gefällt, und man schaut über die Bedürfnisse anderer Leute hinweg, und
es ist einem auch wurscht, ja. Es ist auch dann nicht kompliziert und so, sondern
es ist einfach und reiht sich häufig in eine Vielzahl anderer dissozialer Handlungs-
weisen ein. Es ist ein Delikt unter vielen. Da nochmal einen Raub gemacht, eine KV
[Körperverletzung] und was weiß ich, dann dazwischen ist dann auch mal eine Ver-
gewaltigung. […] Und so wurde er auch lange gesehen – und in vielen Gutachten
auch so gesehen: dissozial, dissexuell: Sie können mich fast fragen, was sucht
der im Maßregel, ja? Weil davon wimmelt es im Knast/das spielt/so gut. Darüber
hinaus ist es aber so, dass irgendwann die Identität des sexuellen Sadismus noch
aufkam, und es gibt ein paar Aspekte in den Tathandlungen, die so ein bisschen in
die Richtung verweisen. Beispielsweise Würgen. Würgen ist ein Handlungsmuster,
was häufig im sexuellen Sadismus auftaucht, disruptive Fantasietätigkeit, die er ja
nun irgendwann aufgebracht hat, die wohl da sei, ja. Auch so megalomane Fantasien
dabei und so. Der Topos Machtstörung-Kontrolle, deutlich sadistischer Topos.

Der Oberarzt wirft in dieser längeren Interviewsequenz zunächst die Frage auf,
wie die vom Patienten begangene Vergewaltigung einzuschätzen ist, die zur Ein-
weisung in die forensische Psychiatrie geführt hat. Hierbei stelle sich vor allem
die Frage, ob das Delikt Ausdruck einer dissozialen Persönlichkeit sei, also eines
Menschen, der im Rahmen seiner Sozialisation nicht gelernt hat, sich an Normen
zu halten und sich mehr oder weniger rücksichtslos nimmt, was er begehrt. In
182 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

diesem Fall sei die Psychiatrie eigentlich nicht der richtige Ort für ihn, sondern
das Gefängnis, denn es gehe in diesem Fall ja primär um den Umgang mit einer
Gesetzesübertretung und nicht um eine Krankenbehandlung. Wie jeder normale
‚Kriminelle‘ würde Herr Salier dann für mehrere Jahre einsitzen und würde
dann, nach Verbüßung seiner Strafe, wieder entlassen werden müssen. Allerdings
würden jetzt einige „Aspekte“ der „Tathandlungen“ „so ein bisschen in Richtung“
des „sexuellen Sadismus“ und damit auf eine klare psychiatrische Diagnose ver-
weisen.
Insbesondere nach dem Rückfall vor neun Jahren habe sich jedoch die damals
noch recht ambivalente diagnostische Einschätzung von Herrn Salier markant in
Richtung des sexuellen Sadisten eingependelt.
Der Oberarzt problematisiert im Interview die Verschiebung zu dieser
Diagnose mit Blick auf eine mögliche Rehabilitation äußerst schlechten
Prognose:

Oberarzt: Er war lange Zeit als eigentlich nur dissozialer Vergewaltiger gedeutet
worden, dann 2009 war er gelockert worden, damals noch von Frau Peters [der
damaligen Chefärztin] verantwortet, in den unbegleiteten Ausgang. Im unbegleiteten
Ausgang damals hat er in den Büschen hier masturbiert, hat dann Kontakte hin zu
den Mädels der Kinder- und Jugendpsychiatrie aufgebaut und hatte auch schon
planerische Vorstellungen da dann auch vergewaltigungsbezogen tätig zu werden.
Und das ist dann durch die Informationskette über die Kinder- und Jugend-
psychiatrie hierher gelangt und das ist dann aufgeflogen, und dann war damals die
Lockerung zurückgenommen worden. Der damalige Therapeut war Herr Schulze.
Und Herr Schulze hatte dann schon so Aspekte, wo, wenn Leute ihn enttäuscht
haben, durch ein Lockerungsversagen, dass dann irgendwie plötzlich das alles
drehte. Ich weiß gar nicht, ob er das jemals selbst reflektiert hat, ja?
Interviewer: Ja.
Oberarzt: Da tauchte dann diese Diagnose des sexuellen Sadismus plötzlich auf, ja?
Dann wurde gesagt, das geht nie wieder raus, ja? Und also das hat er häufiger so
gemacht, muss ich sagen. Also ich habe mehrere solche Fälle bei ihm mitgekriegt,
habe das eigentlich auch nie mit ihm toll besprechen können, ja? Ja. Da sind eigene
Gekränktheiten, mögen da eine Rolle spielen oder auch Ängste, schwierig zu sagen.

Die Aussagen des Oberarztes sind mit Blick auf die vorangehenden Aus-
führungen außerordentlich interessant. Zum einen wird klar, dass psychiatrische
Diagnosen auf Interpretationen beruhen („als eigentlich nur dissozialer Ver-
gewaltiger gedeutet worden“). Zum Ausdruck kommt auch, dass in die Fall-
deutung und die hiermit einhergehende Diagnosestellung nicht nur medizinische
oder prognostische Aspekte einfließen, sondern Diagnosen auch genutzt werden
4.2  Herr Salier: Das Risiko des Vertrauens 183

können, um Patienten, die die Erwartungen ihrer Therapeuten nicht erfüllt haben,
zu bestrafen („wenn Leute ihn enttäuscht haben, durch ein Lockerungsversagen,
dass dann irgendwie plötzlich das alles drehte“). Die Motive mögen unter-
schiedlich sein („eigene Gekränktheiten“ oder „auch Ängste“), doch der Ober-
arzt sieht hier eine gewisse Willkür am Werk. Prinzipiell wäre auch eine andere
diagnostische Deutung des Geschehens möglich gewesen. An dieser Stelle wird
auch deutlich, dass sich im Maßregelvollzug, insbesondere bei den Diagnosen,
rechtliche und medizinische Perspektiven in einer spezifischen Weise verzahnen –
nämlich als Legitimation und Rechtfertigung für den Freiheitsentzug.
Dass forensische Patienten – entgegen der Absprachen mit dem Behandlungs-
team – erneut Kontexte aufsuchen, welche die Begehung eines Delikts möglich
machen, ist nicht ungewöhnlich. Jede Erprobung im unbegleiteten Ausgang birgt
zwar ein gewisses Risiko, dass es zum Rückfall kommt, doch selbst hierin liegt
eine therapeutische Chance:
Nicht nur kann der Patient zeigen, sich so weit im zu Griff zu haben, dass
eine weitgehende Rehabilitation möglich ist. Selbst die Deliktanbahnung eröffnet
therapeutische Perspektiven. Sie kann seitens der Ärzte und Therapeuten genutzt
werden, um dem Patienten zu demonstrieren, dass er seine Triebimpulse noch
nicht im Griff hat und entsprechend einsehen muss, dass er wirklich Hilfe in
Anspruch nehmen sollte. Somit kann ihm nun vonseiten der Klinik mit großer
Vehemenz klar gemacht werden, dass er alleine nicht in der Lage ist, mit der
Freiheit umzugehen. Hiermit wird er nochmals explizit vor die Wahl gestellt,
sich aktiv in die Patientenrolle zu begeben. Einem Sexualstraftäter, der sich zuvor
in ungerechtfertigter Weise im Maßregelvollzug untergebracht sah, bleibt jetzt
kaum mehr etwas anderes übrig als anzuerkennen, dass er berechtigterweise ein-
sitzt, was dann die Möglichkeit eröffnet, das therapeutische Gespräch zu suchen,
um von der Täter- in die Patientenrolle wechseln zu können. Die Diagnose
eröffnet damit auch in seinem Selbstverhältnis die Möglichkeit, sich als krank zu
sehen und an der Behandlung mitzuwirken. Auf diese Weise kann dann gleich-
sam eine Rochade geschehen, die sich dadurch auszeichnet, dass der Patient
nicht mehr gegen die Psychiatrie rebelliert, indem er die Therapie unterläuft,
sondern sich mit dem therapeutischen Vektor der Einrichtung zu identifizieren
beginnt.
Therapie unter Zwangsbedingungen scheint damit nur möglich, wenn Frei-
heitsgrade gegeben werden, in denen der Patient sich erproben kann, ohne
dass das Scheitern seinerseits einer moralischen Bewertung unterliegt – denn
psychisch krank zu sein heißt ja per definitionem, dass man nicht anders kann,
auch wenn man es wollte.
184 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Bei alldem ist selbstredend vor allem auch das gesellschaftliche Risiko
abzuwägen. Man kann Patienten, die schwere Delikte begangen haben, nicht
unkontrolliert nach draußen lassen. Doch man muss sie so weit loslassen, dass ein
Patient sich die in Folge möglichen Missgeschicke selbst zurechnen kann. Dies
geht freilich nur, indem die Klinik mehr sieht und hört – also ihre Augen und
Ohren weiter reichen – als der Patient ahnt. Selbstverständlich darf es wie im vor-
liegenden Fall nicht zur Ausführung des nächsten Delikts kommen – nur seine
Anbahnung sollte sichtbar werden. Der Oberarzt scheint hier sehr genau um die
hiermit einhergehenden subtilen Balancen zu wissen.
Wohl kaum an einer Stelle wird die komplexe Beziehung zwischen der
strukturellen Gewalt der Klinik, der diagnostischen Einschätzung und des
therapeutischen Regimes so deutlich wie bei einem dramatischen Rückfall. Aus
diesem Grund erscheint gerade solch ein Ereignis als Kristallisationspunkt, der
in eine Rekonfiguration der Selbst- und Weltverhältnisse münden kann (siehe
in einem ähnlichen Sinne die Bedeutung der Flucht im Fall von Frau Schmidt).
Solche Wendepunkte, wie sie dann im Nachhinein von Patienten und Therapeuten
erzählt werden (und auch in den therapeutischen Sitzungen als Narrativ her-
gestellt werden), erscheinen damit keineswegs nur als ein individueller Akt des
Patienten, sondern werden erst über die komplexe Verschränkung von Patient,
Behandlungsteam und den institutionellen Bedingungen der totalen Institution
‚geschlossene Psychiatrie‘ verständlich.
Im vorliegenden Fall kommt es – insbesondere auch in Verbindung mit der
Reaktion des Einzeltherapeuten Herrn Schulze zum Einrasten in die Diagnose
„sexueller Sadismus“. An dieser Stelle ist nochmals darauf hinzuweisen, dass
mit dieser Beurteilung eine äußerst schlechte Prognose einhergeht („das geht
nie wieder raus“). Eine solche Diagnose erscheint gleichsam als Waffe, um
den Patienten für eine Enttäuschung („Lockerungsversagen“) mit dem Ent-
zug der Perspektive einer Rehabilitation zu bestrafen („Und also das hat er
häufiger so gemacht, muss ich sagen“). Dies erscheint für den Oberarzt als ein
eher unprofessionelles Vorgehen („Ich weiß gar nicht, ob er das jemals selbst
reflektiert hat“), nicht zuletzt deshalb, weil hiermit auch das therapeutische
Potential der Krise verkannt wird. Der Prozess der Herstellung einer Diagnose
ist mithin seinerseits reflexionswürdig – und ‚Profis‘ wissen hierum, können dies
nutzen, haben aber zugleich die Konsequenzen und ethischen Implikationen zu
reflektieren, könnte man hierzu ergänzen.
Wie auch immer die endgültige Diagnose ausfällt, mit Blick auf die Schwere
der Vergehen von Herrn Salier scheint jeder Versuch der Rehabilitation nur als
Therapie unter Risiko möglich. Hiermit erscheint dieser Fall in besonderer Weise
4.2  Herr Salier: Das Risiko des Vertrauens 185

als paradigmatisch für die Herausforderung der forensischen Psychiatrie, ein


kontrolliertes Risiko eingehen zu müssen, wenn sie therapeutisch erfolgreich sein
will, also nicht grundsätzlich den Anspruch der Rehabilitation ihrer Patienten auf-
geben möchte.
Schauen wir unter diesem Blickwinkel auf die Einschätzung des aktuellen
Psychotherapeuten, der anders als sein Vorgänger die hiermit einhergehenden
Ambivalenzen therapeutisch nutzen möchte, womit sich zugleich jedoch auch die
diagnostische Einschätzung verschiebt:

Psychotherapeut: Ich glaube, ich habe ihn 2016 oder 2015 übernommen. […] Also
ich habe mir am Anfang ein ziemlich genaues Bild gemacht da, was da gewesen ist
und auch Zweifel, also, dass Herr Salier ein Sadist ist, sondern ich habe ihn eher
eingeschätzt, dass Herr Salier keine sadistische Neigung hat, sondern eine Form von
Dissexualität. Also das heißt, so ein Sozialversagen, was sich aber auch im Bereich
der Sexualität ausdrückt, das ist so ein Begriff von Bayer, also, dass er, im Prinzip
könnte man sagen, jemand, der seine Bedürfnisse um jeden Preis durchsetzt und
ihm das völlig egal ist, wie es anderen dabei geht. Und wenn ich sexuelle Bedürf-
nisse habe, entweder ich kriege es so, oder ich raube das. Es geht aber nicht ganz
speziell um dieses Moment des Quälens, ist nicht jetzt so entscheidend, sondern es
geht einfach nur darum, das ist mein Bedürfnis und das will ich jetzt haben und ent-
weder machst du mit, oder machst nicht mit, ich komm sowieso zum Ziel, so. Das,
finde ich, kann man auch sehr schön in der Lebensgeschichte sehen, weil es ja dann
einhergeht mit anderen Bereichen, also wo Sozialversagen deutlich wird, Dieb-
stähle, Fahren ohne Führerschein, Regeln gelten nicht für mich, sozusagen ist dann
nicht so inselartig, sozusagen alles funktioniert, aber Sexualität funktioniert nicht,
sondern […] da gibt es ja so ein breiteres Spektrum von Delikten. […]
Diese Sadismusdiagnose war ja auch so eine, aus meiner Sicht hat die alle beruhigt,
weil Sadisten haben eine sehr schlechte Prognose. Da kam halt diese Diagnose,
dann wussten alle, okay (lacht), der hat keine Perspektive, das hat erstmal Klarheit
geschaffen. Und hat auch zu einer Art Beruhigung beigetragen, weil halt alle dann
erst mal die Finger davongelassen haben, ihn zu lockern, da gab es auch keine Ver-
sprechen. Und das hat aber indirekt, glaube ich, sogar hatte das was Positives, weil
Herr Salier dann auch wusste, okay, ich habe eh keine Perspektive, dann nehme
ich halt das, was hier drin ist. Und daher kommt jetzt, aber jetzt denke ich, ist es
also an der Zeit, dass Herr Salier also aus meiner Sicht gelockert werden kann.
Es gibt jetzt seit vielen Jahren, also nicht nur seit ein oder zwei Jahren, sondern
es gibt jetzt insgesamt eine achtjährige Zeit, wo er zuverlässig eine antiandro-
gene Medikation nimmt. Die ist zuverlässig, kann man sagen, dass die auch eine
Wirkung hat, das ist zuverlässig dokumentiert und beobachtbar. Er hat inzwischen,
dadurch, dass er diese Innenwelt, er war ein sehr gemütsarmer Mensch, aber auch
jetzt über die Therapie dann auch gelernt, seine eigenen Gefühle auszudrücken
und das sind ja immer wichtige Handlungsmomente und wenn jemand über
seine Gefühle sprechen kann, ist er auch einschätzbarer, als wenn jemand nur so
186 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Plus/Minus, geht mir schlecht, geht mir gut, aber er kann ja eine differenziertere
Gefühlswahrnehmung.
Was für mich halt wichtig ist, wenn jemand jetzt in der Lockerung ist, dann brauche
ich ein Feedback, sonst kann ich den nicht einschätzen. Jemand, der seine Gefühle
nicht ausdrücken kann, den kann ich auch schlecht einschätzen. Deswegen ist es
sozusagen ein wichtiges Werkzeug in der Kommunikation, ne? So, also das wurde
erlernt, es gibt eine (…) gute therapeutische Anbindung, also ich habe nicht das
Gefühl, dass Herr Salier mich manipuliert, dann ist es auch schwierig, wenn ich
alles hinterfragen muss.

Der Psychotherapeut stellt die von seinem Vorgänger gestellte Diagnose


(„sexueller Sadismus“) infrage. Dabei markiert er, dass es sich um eine
begründete, aber dennoch persönliche Einschätzung handelt, dass also auch er
keine absolute Gewissheit hinsichtlich der richtigen Diagnose haben kann („habe
… eher eingeschätzt“). Die von dem Patienten begangenen Vergewaltigungen
reihen sich für ihn in eine Kette anderer dissozialer Akte ein, die im Zusammen-
hang mit einer „Lebensgeschichte“ zu sehen sind. Diese sei von „Sozialversagen“
und mangelnder Orientierung an Regeln geprägt. Mit dieser diagnostischen
Einschätzung ergibt sich für den Patienten durchaus noch eine Perspektive der
Resozialisation außerhalb der Klinik. Man hat ihm beizubringen, sich an Regeln
zu halten und dies zu kontrollieren, wobei dann allein schon die Perspektive der
erneuten Internierung dem Patienten anzeige, was er zu verlieren habe, wenn er
sich nicht an die Vorgaben halte. Als positiver Faktor wird dabei zudem gesehen,
dass sich der Patient für eine chemische Kastration entschieden habe und seit acht
Jahren in Form einer Depotspritze die Medikamente einnehme. Die damit ver-
bundenen Wirkungen seien zudem „zuverlässig dokumentiert und beobachtbar“.
Der Therapeut ist sich, wie bereits anhand einer anderen Interviewsequenz
deutlich wurde, sehr wohl bewusst, dass er keinen unmittelbaren Zugang zum
Innenleben des Patienten haben kann. Es bleibt also auch für ihn ein Restrisiko
bestehen, zumal bekannt ist, dass gerade im Falle des sexuellen Sadismus die
medikamentöse Triebdämpfung nicht wirksam ist (die Befriedigung geschieht
hier aufgrund der Angst, des Schmerzes und des vom Opfer empfundenen
Grauens, jedoch nicht aufgrund genitaler Stimulation).
Der vorliegende Gesprächsausschnitt lässt jedoch auch deutlich werden,
dass der Therapeut durchaus eine plausible Methode gefunden hat, um die
hiermit einhergehenden Gefahrenpotentiale abzuschätzen. Das Medium hier-
für sind die persönlichen Gespräche mit dem Patienten. Hier kann er eine Ver-
änderung feststellen. Herr Salier erschien vorher als ein „gemütsarmer Mensch“,
der jedoch mit der Zeit gelernt habe, über seine Gefühle zu sprechen („kann ja
4.2  Herr Salier: Das Risiko des Vertrauens 187

eine differenziertere Gefühlswahrnehmung“). Der differenzierte und artikulierte


Umgang mit den eigenen Stimmungen und Emotionen erscheint damit als eine
neu gewonnene Kompetenz.
Die Übersetzung der inneren Zustände in den semantischen Bereich leistet
dabei für den therapeutischen Prozess zweierlei:

• Über die Symbolisierung ist eine Distanzierungsleistung möglich (ich bin


nicht meine Emotion, sondern ich habe eine Emotion und kann mich dazu ver-
halten).
• Darüber hinaus werden die Gefühle in die Sozialdimension überführt. Sie
werden zum Gesprächsthema und zum Bestandteil der Beziehung zum
Therapeuten. Dieser kann sich nun darauf kalibrieren und versuchen, die
Inhalte der Äußerungen mit den nonverbalen Signalen abzugleichen (etwa,
wenn der Patient dazu übergeht, nicht mehr über seine Gefühle zu sprechen).
Auf diese Weise wird das Gegenüber einschätzbar und über die hiermit einher-
gehende Interaktion kontrollierbar („gute therapeutische Anbindung“).

Das Bezugsproblem erscheint aus Perspektive des Therapeuten wieder als


die Intransparenz von Körper und Psyche, insbesondere in Hinblick auf neue
Kontexte, in denen sich der Patient zu bewähren hat. Bearbeitet wird dieses
durch: Beobachten, Nachsteuern, erneutes Beobachten, Risikoabschätzung.
Der therapeutische Prozess zeigt sich hier als Entscheiden unter Unsicherheit,
Beobachten und Anpassen im Sinne einer fortlaufenden Rekursion.
Die verbleibende Restunsicherheit – etwa die Gefahr, vom Patienten getäuscht
und manipuliert zu werden – lässt sich auf diese Weise zwar nicht hundertpro-
zentig ausräumen, jedoch durch die bei jeder Begegnung mitschwingende
gefühlsmäßige Tonalität absorbieren („also ich habe nicht das Gefühl, dass Herr
Salier mich manipuliert“). Auf dieser Basis entscheidet sich der Therapeut, zu
vertrauen, zumal Therapie ansonsten auch kaum mehr möglich wäre („dann ist es
auch schwierig, wenn ich alles hinterfragen muss“).
Unter Berücksichtigung all dieser Faktoren spricht der Therapeut sich für eine
Lockerung des Patienten aus – unter der Voraussetzung kontinuierlicher Therapie-
gespräche, in denen der Patient dann auch seine Emotionen und Probleme
thematisiert („dann brauche ich ein Feedback“), wodurch eine gewisse Risiko-
absorption möglich wird.
Bemerkenswerterweise scheint sich für ihn die fehlende Entlassungs-
perspektive infolge der Diagnose ‚sexueller Sadismus‘ nicht ausschließlich
negativ auf den Behandlungsprozess ausgewirkt zu haben („hat auch zu einer
188 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Art Beruhigung beigetragen“). Da auch für den Patienten klar gewesen sei, dass
er mit dieser Diagnose nicht mehr so leicht aus der Klinik herauskommt, habe er
begonnen, sich mit den Angeboten und Möglichkeiten innerhalb der forensischen
Psychiatrie zu arrangieren. Man könnte auch sagen, dass die Paradoxie der
Therapie unter Zwang hier dadurch ausgehebelt wurde, dass es keinen Sinn mehr
macht, sich nur aus opportunistischen Gründen auf die Behandlung einzulassen,
da man jetzt sowie keine Chance mehr hat, entlassen zu werden. Auf diese Weise
entfällt die Koppelung von Diagnose und Therapie mit Belohnung und Bestrafung
– es gibt diesbezüglich nichts mehr zu hoffen oder zu fürchten. Damit kann sich
der Patient also auch in einem gefängnisähnlichen Kontext wieder freiwillig und
vor allem persönlich motiviert auf ein therapeutisches Gespräch einlassen. Inso-
fern er also erst einmal seine hoffnungslose Situation akzeptiert hat, kann er dies
nutzen, um innerhalb der Klinik das Beste aus der Situation zu machen.
Für den Außenstehenden scheint diese Zurechnung von Wirkfaktoren
vielleicht willkürlich oder zumindest verwirrend. Der zunächst negativ
erscheinende Faktor einer stigmatisierenden Diagnose kann sich langfristig
für den Prozess als günstig erweisen, insofern man bereit ist, die diagnostische
Einschätzung nach einigen Jahren wieder zu ändern. Umgekehrt kann eine ver-
meintlich richtige Diagnose die Therapie ins Stocken bringen, etwa weil sie die
Beteiligten so sehr unter Erfolgsdruck setzt, dass instrumentelle bzw. zweck-
orientierte und berechnende Überlegungen die therapeutische Beziehung zu
überlagern beginnen. Verständlich und nachvollziehbar wird die paradoxe
Wirkung der stigmatisierenden und ungünstigen Diagnose jedoch, sobald man
die komplexe Systemik solcher Behandlungsprozesse betrachtet. Dann wird sicht-
bar, dass ein Wirkfaktor seine Bedeutung – und sein Vorzeichen – immer nur in
Verbindung mit anderen Faktoren und Positionen innerhalb der Leerstellen-
grammatik des forensischen Arrangements gewinnt. So erleichtert der Rückfall es
dem Patienten, dem Druck des Behandlungsteams nachzugeben, sich in Hinblick
auf seine sexuellen Fantasien zu offenbaren, da nun sowieso keine Perspektive
auf Entlassung mehr erwartbar ist und es entsprechend keinen Sinn mehr macht,
dem Personal etwas vorzuspielen. Dies generiert einen neuen sozialen Raum, in
dem sich dann auch die diagnostischen Einschätzungen wieder verändern können.
Die Diagnose ist damit nichts Fixes oder Absolutes, keine unabänderliche
Variable. Sie ist vielmehr selbst eine dynamische Größe, die die Beziehungen
des Patienten zu sich selbst (bzw. zu seinem Körper), zum Behandlungsteam und
zur Gesellschaft (mit)konfiguriert. Sie ist zugleich Bestandteil wie Produkt des
forensischen Arrangements. In die Diagnostik gehen die Selbst- und Weltverhält-
nisse der Ärzte und Therapeuten ein (also ihre jeweils spezifische Beziehung zu
dem Patienten), wie auch umgekehrt die Diagnosen diese Verhältnisse prägen.
4.2  Herr Salier: Das Risiko des Vertrauens 189

Entsprechend kann und darf gerade auch die psychiatrische Diagnostik


nicht im Sinne eines trivialen Maschinenmodells missverstanden werden, ent-
sprechend dem ein Set von Problemursachen benannt werden kann, die dann eine
nach der anderen bearbeitet werden, um schließlich in der Aufsummierung der
hiermit einhergehenden Wirkungen zum Erfolg zu führen. Wir finden hier viel-
mehr eine komplexe Verflechtung von Perspektiven vor, innerhalb derer sich die
Bedeutung und Gewichtung von Faktoren im zeitlichen Verlauf verändern kann.
Psychiatrische Diagnosen sind nicht einfach Abbilder der Wirklichkeit, sondern
generieren ihrerseits Realitäten, die den Behandlungsprozess im Guten wie im
Schlechten konfigurieren.
In psychiatrischen Kontexten sind konkurrierende Diagnosen nicht selten, wobei
im Behandlungsteam unterschiedliche Akteure mit unterschiedlichen Diagnosen
arbeiten können. Auch ist das therapeutische Vorgehen oftmals nur lose mit dem
diagnostischen Vorgehen gekoppelt. Es mag zwar dem Wunsch und der Selbst-
beschreibung mancher Psychiater entsprechen, dass Symptome in eineindeutiger
Weise eruiert und diagnostiziert werden können, doch praktisch wird psychiatrischen
Diagnosen immer ein mehr oder weniger großer Rest an Unsicherheit anhaften.
Da sich jedoch im Maßregelvollzug unweigerlich medizinische und rechtliche
Perspektiven verzahnen, kann sich die forensische Diagnostik hier nicht allein auf
die „Verwaltung der vagen Dinge“ (P. Fuchs 2011) kaprizieren. Ihr Bezugsproblem
besteht nicht nur in der Intransparenz psychischer und körperlicher Prozesse,
sondern zugleich in den rechtlichen Implikationen der damit verbundenen Ent-
scheidungen.
Nicht nur aufseiten des therapeutischen Personals besteht der Verdacht,
dass Diagnosen als Racheakt gegenüber Patienten missbraucht werden können,
als Mittel um Menschen auch außerhalb der medizinischen Indikation im
Maßregelvollzug halten zu können (manchmal durchaus in guter Absicht, etwa
aufgrund einer sozialen Indikation), oder umkehrt, um Patienten, die man schätzt,
mit einer beschönigenden Diagnose doch noch die Perspektive einer Entlassung
zu ermöglichen.
Viele Patienten werden dies ihrerseits reflektieren und sich dann ggf. sehr
genau überlegen, ob und in welcher Form Schilderungen über ihre inneren
Zustände und Gedanken diagnostisch relevant werden können. Dies wiederum
weckt beim Personal Misstrauen an den Erste-Person-Perspektive-Accounts ihrer
Patienten, wenngleich sie auf ebendiese für ihre Diagnosen angewiesen sind.
Genau dies generiert dann das zuvor illustrierte Bezugsproblem der Ver-
schränkung von Recht und Medizin in der forensischen Diagnostik.
190 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Die Fallrekonstruktion

Der Musterwechsel – „endlich irgendwo schon glücklich zu


sein, dennoch dieses Wissen hinten zu haben: Du hast jetzt
erstmal alles verbaut, was möglich ist“
Schauen wir zunächst nochmals auf einen Ausschnitt aus der Erzählung des
Patienten, um nachzuvollziehen, wie sich eine für den Patienten zunächst äußerst
ungünstig erscheinende Konstellation psychischer, sozialer und organisationaler
Faktoren in ein produktives therapeutisches Arrangement transformieren kann,
indem einige Werte innerhalb der forensischen Leerstellengrammatik anders
besetzt werden:

Herr Salier: [Früher] habe ich nicht in mich reingucken lassen. Ich habe nur das
erzählt, wo ich der Meinung war, okay, das können sie ja wissen, mehr aber auch
nicht, […] zum Beispiel mit meinen Fantasien, dass ich da nur liebe, schöne, tolle
Fantasien habe, aber eben keine Gewaltfantasien.
Interviewer: Ah ja! Also praktisch so, so Fantasien einer romantischen Beziehung?
Also, das haben Sie praktisch sich genau überlegt, dass eine romantische Beziehung
okay ist, aber etwas mit Gewaltfantasien zu erzählen, nicht.
Herr Salier: Richtig. Genau. Und das ist so auch über Jahre hinweg entstanden. […]
Und dann gab es einen Vorfall! Und den habe ich erst noch bestritten. Später habe
ich ihn dann zugegeben und im März 2010 in etwa habe ich dann angefangen, über
meine Fantasien zu reden – erstmals.
Interviewer: Und das war dann erst der Anlass, wo Sie praktisch mit dem Herrn
Schulze [dem damaligen Psychotherapeuten] gesprochen haben darüber?
Herr Salier: Na ja, das war ja im Dezember. Ich hatte noch drei Monate quasi so/
Interviewer: das abgeleugnet
Herr Salier: Ich habe Druck von der Klinik gekriegt, vom Personal, von den Ärzten,
selbst von den Patienten hier in unseren Gruppen und […] der Druck war zu groß für
mich dann gewesen irgendwann. Und da habe ich dann/bin dann/bin ich quasi ein-
geknickt und habe angefangen, über meine Gewaltfantasien zu reden – komplett –,
habe angefangen, über dieses Lügennetz zu reden, was ich mir über Jahre, Jahrzehnte
aufgebaut habe. […] Habe komplett frei von der Leber gesprochen, wie der Mund mir
gewachsen ist, das erste Mal quasi in meinem Leben, über alles, was mich bewegt,
was mich/was mich ausmacht komplett ehrlich gesprochen. Und das war das erste
Mal. Das war für mich/für mich war es Gold wert gewesen, endlich mal so reden zu
können, wie ich/was los ist, ohne auf irgendwas zu achten, wem ich was erzähle. […]
Natürlich mit dem Hintergrund, dass ich sämtliches Vertrauen erstmal verloren habe.
Aber dennoch war das für mich einfach der Moment gewesen: Endlich kann ich mal
reden; endlich ohne irgendwas zu lügen, irgendwas/und was zu beachten, oder irgend-
was zu hinterfragen. Nee. Ich kann reden. Und das ist für mich Gold wert gewesen.
Interviewer: Was für ein Gefühl ist das gewesen?
Herr Salier: Ein sehr befreiendes Gefühl war das gewesen.
4.2  Herr Salier: Das Risiko des Vertrauens 191

Interviewer: Ist das mehr ein geistiges oder körperliches Gefühl gewesen?
Herr Salier: Nee, das war wirklich für den ganzen Körper. Das war befreiend.
Das war (überlegt)/ Man sagt ja immer so, wenn man – weiß ich nicht – Bungee-
Jumping macht, oder, wenn man so ein Fallschirmspringen macht/
Interviewer: Ja. Ja.
Herr Salier: Das ist doch immer so dieser, dieser Kick, den man dann für sich
findet. Und so war es für mich in dem Moment, wo ich da drüber reden konnte. Das
war für mich dieser, dieser Adrenalinschub, der sich bei mir breitgemacht hat, end-
lich irgendwo schon glücklich zu sein, dennoch dieses Wissen hinten zu haben: Du
hast jetzt erstmal alles verbaut, was möglich ist, aber du hast es wirklich geschafft,
darüber zu reden, frei zu reden, ohne – wie gesagt -, ohne irgendwelche Sachen
zurückzuhalten. Du hast geredet darüber!
Interviewer: Mhm (bejahend)
Herr Salier: Das war sehr, sehr, sehr wichtig.

Methodische Bemerkungen
Mit Blick auf die epistemische Grenze, die auch uns soziologischen
Beobachtern den direkten Zugang zu dem Fremdbewusstsein eines anderen
Menschen verwehrt, gilt hier streng genommen, dass sich Selbstverhält-
nisse nur im Text dokumentieren – nicht mehr und nicht weniger. Auch für
uns beruht Fremdverstehen damit auf einer Mischung aus hermeneutisch
begründeter Plausibilität, dem Nachvollziehen situationsadäquater
Äußerungen sowie der Vermutung, dass die konditionierte Koproduktion
einer langjährigen Patientenkarriere auf das hier zum Ausdruck kommende
Selbstverhältnis durchschlägt – und damit Sprechen und Erleben für den
von uns befragten Patienten gerade deshalb nicht fundamental auseinander-
fallen, weil notorisches Lügen für ihn keinen Sinn mehr macht. Doch wie
gesagt, die Einschätzung beruht auf Hermeneutik, nicht auf Wissen.

In der vorliegenden Passage präsentiert der Patient ein komplexes Selbst- und
Weltverhältnis. Er berichtet zunächst nochmals, dass er dem Personal gegen-
über über Jahre hinweg nur unverdächtige Gedanken und Vorstellungsbilder vor-
getäuscht habe, während er innerlich weiterhin seine Gewaltfantasien kultiviert
habe. Aufgrund des Insistierens der Ärzte, aber auch der Patienten, habe er
dann schließlich angefangen, über seine Fantasien zu reden. Erfolgt sei diese
Selbstoffenbarung nicht freiwillig, sondern aufgrund starken sozialen Drucks.
Unabhängig von den letztendlichen Beweggründen steht jedoch fest: Einmal über
die Schwelle der Überwindung gesprungen, kann Herr Salier diese Themen nicht
mehr mit sich alleine ausmachen.
192 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Während er früher nach außen hin die Rolle eines ‚normalen‘ Menschen
gespielt, sich innerlich jedoch über „Jahrzehnte“ hinweg in gewaltvolle sexuelle
Fantasien hineingesteigert hat, beginnt sich nun die Beziehung zwischen Selbst-
und Weltverhältnis umzukehren („habe angefangen, über dieses Lügennetz zu
reden“). In seinen kommunikativen Sprechakten erscheint er nach außen hin
nicht mehr als ein harmloser Mann, sondern als gefährlicher Triebtäter, was
umgekehrt die Möglichkeit eröffnet, sich nach innen hin Stück für Stück davon
zu distanzieren.
Anstatt die eigene Autonomie darin zu suchen und hiermit einhergehend das
eigene Selbst dadurch zu konstituieren, eine Fantasiewelt aufzubauen und der
Umwelt gegenüber zu verschweigen, erscheinen die Fantasien nun als Arte-
fakt eines kranken Geistes, was ihm ermöglicht, innerlich die Identifikation mit
denselben aufzugeben. Herr Salier kann nun etwa in der Gruppe für Sexual-
straftäter sagen: ‚Ich habe problematische Fantasien, möchte diesen aber nicht
ausgeliefert sein und deswegen offenbare ich mich.‘ Hiermit erscheint er als Teil
der Therapiegruppe. Die Gruppe und die Therapeuten sind nicht mehr die Gegner,
die seine Autonomie gefährden, und entsprechend braucht er seine Selbst-
kontrolle nicht mehr darauf auszurichten, seine emotionalen und gedanklichen
Bewegungen zu verbergen.
Allein schon aus affektlogischen Gründen ist gut nachvollziehbar, dass
dieser Sprung als enorme Erleichterung erfahren wird (wie, „wenn man – weiß
ich nicht – Bungee-Jumping macht, oder, wenn man so ein Fallschirmspringen
macht“). Die zuvor undurchdringlich erscheinende Mauer zwischen Psyche und
kommunikativer Mitteilung gegenüber der Außenwelt scheint jetzt im Gespräch
überwunden werden zu können. Herr Salier braucht sich im Hinblick auf seine
Äußerungen innerhalb der Sozialbeziehungen der Klinik nun nicht mehr zu
kontrollieren („Habe komplett frei von der Leber gesprochen, wie der Mund
mir gewachsen ist, das erste Mal quasi in meinem Leben“). Es verwundert ent-
sprechend kaum, dass die hier geschilderte Selbstoffenbarung als sehr befreiend
wahrgenommen wird („endlich irgendwo schon glücklich zu sein“), wenngleich
hierfür der Preis zu zahlen ist, nämlich als ein sadistisch veranlagter Triebtäter
zu gelten, der kaum mehr mit einem Leben außerhalb der Klinik zu rechnen hat
(„Du hast jetzt erstmal alles verbaut, was möglich ist“).
Mit dieser Wendung scheint jedoch sein Selbstverhältnis nun zum ersten Mal
in Kohärenz, im Einklang mit seinem Weltverhältnis zu stehen – das heißt mit
dem therapeutischen Arrangement, das ihm die forensische Klinik anbietet. Als
mehrfacher Täter mit Tendenz zum Rückfall ist er berechtigterweise eingesperrt
und kann jetzt in den Therapiegruppen über die Umstände und Bedingungen
4.2  Herr Salier: Das Risiko des Vertrauens 193

reden, die zu dieser für alle so unschicklichen Situation geführt haben. Seine
psychologische Identität und seine soziale Identität beginnen nun zusammenzu-
passen.
Wie bereits angemerkt, können auch wir als soziologische Beobachter selbst-
verständlich nicht in die Köpfe der Patienten schauen. Theoretisch wäre es auch
denkbar, dass Herr Salier ein „Lügennetz“ zweiter Ordnung aufgebaut hat, das er
allen – einschließlich den Feldforschern – erzählt. Doch selbst dies würde ihm
nun – im Gegensatz zu früher – ermöglichen, die Patientenrolle überzeugender
einzunehmen, was ihm in den therapeutischen Interaktionen gestattet, sich von
seiner Täterrolle zu distanzieren, die ihm zuvor (zumindest in der Fantasie)
als „machtvoller Akteur“ – so die Worte des Oberarztes – die „Selbstwert-
zufuhr“ ermöglichte. Über die Patientenrolle kann er jetzt – zumindest in den
therapeutischen Gesprächen – ein anderes Selbstverhältnis aufbauen, etwa indem
er versucht, dadurch Autonomie zu gewinnen, dass er seine Triebregungen unter
Kontrolle bringt. Eine Rolle muss dabei nicht in jedem Falle authentisch ein-
genommen werden (deshalb ist es ja eine ‚Rolle‘). Es reicht, dass sie verhaltens-
wirksam und überzeugend aufgeführt wird.
In diesem Sinne scheint es mit Blick auf die nun eingenommene Patienten-
rolle folgerichtig, dass sich Herr Salier, wie vorangehend bereits dargestellt, für
eine antiandrogene Behandlung entscheidet. Dadurch kann sich – so das Rollen-
skript eines therapiewilligen forensischen Patienten – sein Selbstverhältnis nun
darin ausdrücken, Kontrolle über den eigenen Körper zu gewinnen. Anstatt sein
Selbst wie zuvor über die (Vorstellung der) Macht gegenüber potentiellen Opfern
zu nähren, gewinnt er Autonomie gegenüber seinen sexuellen Fantasien.
Gerade auch mit Blick auf die Wiedergewinnung von Freiheitsgraden in Hin-
blick auf seine Zukunft – unbegleiteter Ausgang ist nun wieder denkbar – kann
Herr Salier seine Entwicklung als eine Erfolgsgeschichte erzählen.

Alternative Weichenstellung (Herr Günther)


Herr Günther ist pädophil und seit 14 Jahren im Maßregelvollzug. Die Gut-
achten empfehlen den unbegleiteten Ausgang nur unter Voraussetzung der
antiandrogenen Depotspritze. Auch die Klinikleitung macht die Spritze zu
conditio sine qua non. Im Interview mit den Forschern erklärt der Patient,
dass er von der Spritze nichts halte und sie eigentlich auch nicht wirklich
wolle. Er habe sich nur deshalb für die Behandlung entschieden habe, um
den Ausgang und eine Perspektive auf Entlassung zu bekommen.
194 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Das polyphone Gewebe einer verinnerlichten Patientenrolle –


„Gerade nach dieser Vorgeschichte“
Gerade weil sich die Verhältnisse für den Patienten zum Besseren hin entwickeln,
kommt Herr Salier nicht umhin, zugleich mit zu reflektieren, dass nicht alle
Akteure des Personals ihm vertrauen können. Dies wird etwa in der folgenden
Interviewsequenz deutlich:

Herr Salier: Ich freue mich, dass es/dass ich das mittlerweile wieder soweit
geschafft habe.
Interviewer: Mhm (bejahend)
Herr Salier: Dass ich vor allem auch, vielleicht noch nicht bei allen, aber bei
einigen Leuten vom Personal wieder Vertrauen aufgebaut habe, mit der Zeit, sicher-
lich nicht bei hundert. Das wird bei niemandem so sein.
Interviewer: Mhm (bejahend)
Herr Salier: Weil, ein gewisses Restrisiko bleibt bei jedem Patienten.
Interviewer: Ja.
Herr Salier: Ein weiteres Problem wird nach wie vor sein: Das Personal kann sich
das nicht vorstellen – was ich auch nachvollziehen kann –, dass durch ein Medika-
ment die Fantasien derart eingeschränkt sind, dass sie nicht mehr aufrufbar sind.
Interviewer: Mhm (bejahend)
Herr Salier: Nachvollziehbar. Sie be/Leute bekommen dieses Medikament nicht,
können sich da wahrscheinlich auch keine/keinen Reim draus machen, ja. Wünsche
ich auch keinem, das Medikament. Aber, ja, da kommt bloß durch: Muss man mir
halt glauben. Und das mit dem Glauben hier drinnen, mir vertrauen, ist fraglich, ist
schwer.
Interviewer: Mhm (bejahend)
Herr Salier: Gerade nach dieser Vorgeschichte.
Interviewer: Mhm (bejahend)
Herr Salier: Aber ich weiß ja, was ich mir erarbeitet habe. Ich weiß, woran ich
gearbeitet habe. Ich weiß, dass ich das, was ich mir erarbeitet habe, wenn ich
darüber spreche, dass es ehrlich ist. Ja, und alleine das zählt für mich.

Bemerkenswert an diesem Gesprächsausschnitt ist, wie der Patient die ver-


schieden Perspektiven auf seinen Fall sowie die hiermit einhergehenden
divergierenden Stimmen zu einer kohärenten polyphonen Erzählung integrieren
kann. Er übernimmt die Perspektive der forensischen Psychiatrie („ein gewisses
Restrisiko bleibt bei jedem Patienten“), referiert auf den Vertrauensbruch durch
seinen Rückfall („gerade nach dieser Vorgeschichte“), nimmt ‚verstehend‘ die
Fremdperspektive von Menschen ein („was ich auch nachvollziehen kann“),
die sich die Wirkung einer antiandrogenen Behandlung nicht vorstellen können
(„können sich da wahrscheinlich auch keinen Reim draus machen“) und würdigt
zudem die Tatsache, bei einigen Mitarbeitern trotz alldem wieder eine Vertrauens-
beziehung aufgebaut zu haben. All dies wiederum mündet in das Resümee, dass
4.2  Herr Salier: Das Risiko des Vertrauens 195

er ja selbst genau wisse, was er sich erarbeitet habe und dass er „ehrlich“ sei,
wenn er darüber spreche und dies allein schon aus persönlichen Gründen für ihn
von Bedeutung sei („alleine das zählt für mich“).
Sowohl der Bezug auf die eigenen Werte als auch die Betonung der eigenen
Redlichkeit sind jedoch kein Beweis, der die Richtigkeit der getätigten Aus-
sagen bestätigt. Sie erscheinen vielmehr als performative Sprechakte, die durch
ihre Artikulation das behaupten, was sie sagen. Auch dies wird von Herrn Salier
wiederum mitreflektiert („muss man mir halt glauben“), wobei zugleich mit-
geführt wird, dass das eingeforderte Vertrauen gewagt ist („mir vertrauen, ist
fraglich, ist schwer“).
Herr Salier weiß um das komplexe Spiel wechselseitigen Vertrauens, wie seine
Artikulationen zeigen. Es ist davon auszugehen, dass er wohl hunderte, wenn
nicht tausende Male in direkter oder indirekter Weise mit den divergierenden
Perspektiven des Personals konfrontiert worden ist. Die unterschiedlichen
Stimmen und die damit verbundenen Reflexionsperspektiven sind verinnerlicht.
Er ist vermutlich Experte darin, die Vertrauensprobleme zu referieren, dabei auf
seine Authentizität zu verweisen, wie auch die körperlichen Folgen zu benennen,
die mit der chemischen Kastration einhergehen („wünsche ich auch keinem, das
Medikament“).
Es sieht so aus, als ob hier unterschiedliche Skripte zitiert werden, wobei die
assoziierten Inhalte und Stimmungen von ihm durchaus auch gefühlt und ernst
gemeint zu sein scheinen und nicht einfach nur auf einer flachen, unbeteiligten
Ebene simuliert werden. Falls diese Einschätzung richtig ist, dann wäre auch
das Bewusstsein von Herrn Salier infolge der konditionierten Koproduktion mit
der Klinik schon längst als polykontextural konfiguriert anzusehen. Er würde
nicht nur instrumentell bzw. strategisch auf opportune Positionen oder Skripte
referieren, sondern wäre selbst Ausdruck dieses Spiels unterschiedlicher,
ineinander verwobener Stimmen. All dies wäre dann schon längst zu seinem
Habitus geworden, den er sich über die Jahre hinweg in den sozialen Feldern des
Maßregelvollzugs angeeignet hat. Sein Selbst- und Weltverhältnis wäre damit
kaum mehr von den hier dokumentierten Anpassungs- und Reflexionsleistungen
zu unterscheiden.
Freilich lässt sich an dieser Stelle im Anklang an die kritischen Stimmen aus
der Pflege fragen, ob es sich nicht auch bei dieser, die Vertrauensproblematik
reflektierenden Erzählung um eine Simulation handelt, einen performativen Akt,
der dazu dient, den Therapeuten – oder, in diesem Falle: dem interviewführenden
Wissenschaftler – zu gefallen. Dies mag (zumindest partiell) durchaus der Fall
sein, doch selbst wenn es so wäre, ist zu beachten, dass das, was der Patient zeigt,
die richtige Erzählung eines Patienten im Maßregelvollzug ist. Ob fingiert oder
196 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

nicht, seine Selbstoffenbarung schlägt die richtige Tonalität an und damit hat
er seine Patientenrolle eingenommen. Herr Salier ist zu einem guten Patienten
geworden, der um die Komplexität seines Falles und seiner Beziehungen zu
wissen scheint.10 Ob mit bewusster oder unbewusster strategischer Absicht oder
absichtslos authentisch, es bleibt ihm kaum mehr etwas anderes übrig, als sich
in die hiermit einhergehenden Erwartungen und Narrative einzuklinken und zu
zeigen, dass er erkannt hat, dass seine früheren Gewaltfantasien problematisch
sind und er dagegen etwas tun muss.
Das diesbezügliche Rational, dem Herr Salier dann auch gefolgt ist, lautet
folgerichtig: Zustimmung zur medikamentösen Triebdämpfung. Innerhalb
des Interviews markiert Herr Salier dies als einen autonomen Entschluss. Der
Psychotherapeut erwähnt demgegenüber im Interview wie auch in der Fall-
besprechung (siehe weiter unten), dass die Entscheidung zur chemischen
Kastration nicht unbedingt aus einer spontanen Einsicht erwachsen ist, sondern
eine längere Auseinandersetzung mit den Therapeuten über den angemessenen
Weg vorausgegangen sei.
Als Soziologen gehen wir auch in dieser Frage davon aus, dass die sogenannte
Willensentscheidung eher mit einer Art Konversion zu tun hat, die sich mehr
einem kontinuierlichen sozialen Erwartungsdruck denn einer spontanen
Erleuchtung eines autonomen Subjekts verdankt. Es liegt in der Natur der Sache,
dass ein solcher Prozess nur in gemeinschaftlicher Form durch Unterstützung
und auch Druck vonseiten Anderer vonstattengehen kann.11 Entscheidend ist
dabei weniger, ob die Initiative wirklich vom Patienten ausgegangen ist bzw. ob

10 
Auf diese Weise lässt sich aber freilich wiederum nicht mit absoluter Gewissheit
ableiten, dass der neue Salier im Gegensatz zum alten ein ‚guter‘ Patient geworden ist.
Eine Argumentation, die die ‚Güte‘ eines Patienten bzw. das Annehmen der Patientenrolle
quasi behavioristisch rein aus dem Verhalten/der „richtigen“ Äußerungen herleitet und
von seinem inneren Zustand weitgehend absieht, ist aufgrund der beschriebenen Intrans-
parenz nachvollziehbar, aber dennoch nicht unproblematisch. Denn auch der ‚alte‘ Salier
hat offenbar die richtige Tonalität angeschlagen und die richtige Erzählung geliefert (ich
bin krank und möchte mich bessern), sonst hätte man ihn kaum gelockert. Er hat also in
kaum geringerem Maße als jetzt den Systemlogiken der Psychiatrie entsprochen. Mal
angenommen, dass er weiterhin seine Fantasien kultiviert und Pläne schmiedet, so bestünde
der einzige Unterschied zum alten Salier darin, dass der neue seine Täuschungsmanöver
verfeinert und mit zusätzlicher Glaubwürdigkeit ausgestattet hat. Er hätte dann seine
Patientenrolle lediglich nach außen hin, aber nicht in seinem Selbstverhältnis angenommen.
11 Mit Bourdieu formuliert, findet also eine „Gegendressur“ statt (Bourdieu 2001, S. 220),

um zu einem neuen Habitus zu gelangen, der dann als der eigene erscheint.
4.2  Herr Salier: Das Risiko des Vertrauens 197

er das wirklich gewollt hat (was immer das auch heißt). Es ist hinreichend, dass
er sich der sozialen Dynamik hingibt und anschließend die Folgen dem eigenen
Wollen zurechnet. Genau hierin besteht dann die Voraussetzung einer mög-
lichen Resozialisation, nämlich dass der psychische Eigensinn – genauer gesagt,
der eigene motivationale Vektor – und der soziale Druck irgendwann in dieselbe
Richtung weisen und die hieraus resultierende Notwendigkeit, sich zu bewegen,
aus der Innenperspektive (also im Selbstverhältnis) nicht mehr als äußerlicher
Zwang erscheint.

Methodische Bemerkungen
Auch hier gilt wieder: Aussagen zum subjektiv gemeinten Sinn bzw. dem
Erleben der Befragten beruhen auf einer hermeneutischen Interpretations-
leistung. Es besteht kein Zugang zu der Psyche eines anderen Menschen.
Es lässt sich jedoch versuchen, ein bestimmtes Verstehen an die Aussagen
heranzutragen, was dann auch Hypothesen über das Innerpsychische
beinhaltet. Dies mag dann mehr oder weniger starke Plausibilität haben –
doch wir wissen es letztlich nicht. Herr Salier ist sehr psychiatrieerfahren
und somit ist es sehr plausibel, dass er gelernt hat, was von ihm erwartet
wird. Wahrscheinlich (etwa mit Blick auf affektlogische Überlegungen)
aber nicht zwingend ist, dass er nicht nur eine Rolle spielt, sondern seine
Erzählungen auch die von ihm angeeigneten Deutungen wie auch Teile
seines Erlebens widerspiegeln. Da das Fremdverstehen prinzipiell nicht
zugänglich ist, bleibt es beim Bemühen des Verstehens; am Ende können
wir nichts anderes tun, als Idealtypen zu bilden, die ihre eigene Plausibili-
tät und mit Blick auf andere Fälle auch eine gewisse Erfahrungssättigung
haben, ohne jedoch mit Sicherheit ausschließen zu können, ob nicht in
dem vorliegenden Fall die Sache ganz anders liegt. Doch damit sind wir
in derselben Situation wie alle Teilnehmer des psychiatrischen Feldes:
Die „Bemühung des Verstehens“ hat überall dort stattzufinden, „wo sich
kein unmittelbares Verstehen ergibt, bzw. wo mit der Möglichkeit eines
Mißverstehens gerechnet werden muß“ (Gadamer 1972, S. 167).
Wir kommen aus dem Problem nicht heraus und entsprechend bleibt
nichts anderes übrig, als eben dieses Problem methodologisch immer
wieder mitzuführen – als Bezugsproblem, das nicht zu lösen ist, dem wir
uns jedoch in einer Weise zu stellen haben, die weder darauf verzichtet,
sinnvolle Aussagen zum Gegenstand zu machen, noch naiv ihren eigenen
Verstehens- und Konstruktionsleistungen auf den Leim geht.
198 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Therapie unter Unsicherheit – „letztlich bleibt da eine


Unsicherheit, aber wie stellt sich die Frage mit dem Risiko?“
Da sich nun nicht nur die Berichte über das Erleben des Patienten mit den
therapeutischen Zielen des Klinikpersonals verschränken, sondern auch der
Körper triebdämpfend behandelt worden ist, ist es an der Zeit, erneut über die
Lockerung von Herrn Salier nachzudenken. Dem steht allerdings die Gefährlich-
keit eines Patienten mit der Diagnose „sexueller Sadismus“ entgegen, der das
Personal schon einmal getäuscht hat. Wie lässt sich dieses Dilemma lösen und in
eine reflektierte Risikoabwägung überführen, die schließlich in eine begründete
Entscheidung mündet?
Eine Antwort lautet: durch Organisation, also durch einen formal
strukturierten Entscheidungsprozess, der eben durch dieses Verfahren legitimiert
ist.12 Innerhalb der organisierten Risikoabschätzung wird seitens der leitenden
Ärzte zunächst beschlossen, die Möglichkeit einer Lockerung zu überprüfen.
Im Anschluss wird bei einem externen psychiatrischen Experten ein Gutachten
zur Einschätzung der Entwicklung des Patienten in Auftrag gegeben. Nachdem
die gutachterliche Stellungnahme vorliegt, findet eine Fallkonferenz statt, an der
die Psychotherapeuten, der Oberarzt, der Bezugspfleger, die Pflegedienstleitung
und der Sozialdienst teilnehmen. Zudem werden vorab auch die Einschätzungen
der Akteure aus den anderen therapeutischen Bereichen abgefragt (Ergotherapie,
Kunsttherapie, Gruppentherapie etc.). Die Ergebnisse werden protokolliert.
Der Oberarzt und der Psychotherapeut entwickeln daraufhin – insofern die
Lockung befürwortet wird – einen Plan, in dem eine stufenweise Lockerung
formuliert wird und die Bedingungen expliziert werden, unter denen diese durch-
geführt werden kann. Es werden Prüfkriterien benannt, wie der Erfolg bzw. Miss-
erfolg der Maßnahme überprüft werden soll. Schließlich entscheidet der Chefarzt
als Letztverantwortlicher über den Vorgang. In manchen Bundesländern muss
darüber hinaus noch ein Richter zustimmen, ob der unbegleitete Ausgang gewährt
werden kann. Der Gesamtprozess – beginnend bei der Lockerungsabsicht des
Therapeuten oder des Oberarztes bis hin zum ersten Freigang – dauert mindestens
sechs Monate. In dieser Zeit wird die Risikoeinschätzung dann auch Thema der
regelmäßigen Oberarzt- und Chefarztvisiten. Zudem führen die leitenden Ärzte
mehrere Einzelgespräche mit dem Patienten, um sich persönlich ein detailliertes

12 
So im Anklang an Luhmanns „Legitimation durch Verfahren“ formuliert (Luhmann
1969).
4.2  Herr Salier: Das Risiko des Vertrauens 199

Bild von der aktuellen Situation zu machen. Nicht zuletzt schauen sich die
erfahrenen Ärzte auch die Akten des Patienten nochmals genauer an.
In den Wochen, als wir die Klinik aufsuchten und mit dem Patienten
gesprochen haben, traf das externe Gutachten ein und wurde in unserer Anwesen-
heit vom Behandlungsteam diskutiert. Aus diesem Grund können wir die Ent-
scheidungsfindung im Fall von Herrn Salier recht gut nachzeichnen und somit
rekonstruieren, wie Dilemma der oben benannten Art in der forensischen
Psychiatrie bearbeitet werden können.
Schauen wir zunächst auf die Chefarztvisite, in der wir den Patienten auch
zum ersten Mal kennengelernt haben:

Chefarztvisite, 4.2.2019, 10:00 Uhr


Chefarzt: Wir sind ganz Ohr. Wie geht’s Ihnen?
Herr Salier: Mir geht’s gut… (entdeckt den Sozialarbeiter in der Ecke neben ihm)
– Ach Herr Mannecke, freue mich, Sie wieder zu sehen – ein typischer Mannecke
… Stimmung ist besser … Behandlungsplanung etc. alles gut … Punkte sind gut …
meine Dominanz, daran muss ich arbeiten… wird und bleibt meine Lebensaufgabe
… mich dann so aufbauen, wenn ich was will … dieses Aufbauen… dass die Leute
mich hinweisen … sicherlich reagiere ich nicht gleich… suche aber das Gespräch
mit dem Personal …
Chefarzt: Warum machen Sie das? – Sie müssen sich fragen‚ was bringt es Ihnen?‘
‚Was für einen Sinn hat es früher für Sie gebracht? Wofür ist es jetzt noch nötig? …
was wollen Sie erreichen?‘
Herr Salier: Habe ich lange, wenn ich zurückdenke… Aufmerksamkeit: Hallo, bin
auch noch hier… früher habe ich mir damit Respekt verschafft …
Chefarzt: Aber es verschreckt ja die Leute …
Herr Salier: Mh … Aufmerksamkeit … Respekt erarbeitet man sich…
Chefarzt: Dass Sie darauf achten… müssen jetzt Sie nicht beantworten, wie es
genau in der Vergangenheit war … wichtig ist, dass Sie das nächste Mal darauf
achten, wenn es beispielsweise bei der Pflege auftritt, dann schauen Sie, was es
Ihnen jetzt noch bringt … in der Situation üben … das bringt mehr, als jetzt abstrakt
darüber zu reden …
Herr Salier: Ja… läuft sonst alles gut …

Wenngleich lückenhaft, so zeugt das Beobachtungsprotoll aus der Visite doch


von einem verständigen Patienten, der um seine Probleme weiß und bereit ist,
durch aktive Mitwirkung eine Besserung anzustreben („meine Dominanz, daran
muss ich arbeiten“). Er kann über seine Zustände berichten („Stimmung ist
besser“) und sich auf ein therapeutisches Gespräch einlassen, das die Ursachen
seines problematischen Verhaltens beleuchtet. Thematisiert wird dabei sein
„Lebensthema“, das wohl darin besteht, sich „Respekt“ zu verschaffen, indem
er sich vor anderen „aufbaut“ oder seine Mitmenschen durch sonstiges grobes
200 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Verhalten beeindruckt. Der Patient räumt ein, dass er zwar nicht immer sogleich
„reagiere“, wenn sich dieses Problem wieder akut zeige, im Nachgang aber sehr
wohl aktiv „das Gespräch mit dem Personal“ suche. Der Chefarzt zeigt Verständ-
nis für den Patienten und weist zugleich darauf hin, dass durch das Dominanz-
gehabe andere Menschen verstört werden („aber es verschreckt ja die Leute“).
Doch all dies erscheint nicht mehr als ein grundsätzliches Problem, das den
Status des Patienten generell infrage stellt, denn – so auch das Resümee des
Patienten: Es „läuft sonst alles gut“. Der Gesprächsverlauf zeichnet sich durch
einen routinierten Umgang zwischen Chefarzt und Patient aus. Man kennt sich
und weiß entsprechend, wie man miteinander umzugehen hat, ohne zu eskalieren
oder einander zu widersprechen.
Nehmen wir zum Kontrast die Schilderung eines Mitpatienten, der Herrn
Salier als einen Mann beschreibt, der andere „gerne herumkommandiere“ und
im Interview von einer Szene erzählt, in der dieser einige Mitpatienten dazu auf-
gefordert habe, an seinem Po zu riechen, nachdem er die Hose heruntergelassen
hat:

Herr Machnow: Na ja und dann gab es dann eben halt zwei Vorfälle, wo ich dann
so gesagt habe: Nein, jetzt ist Schluss, ich ziehe die Reißleine. Also ich bin einmal,
haben wir immer so gemacht, so eine Kaffeerunde im Garten bei schönem Wetter
und dann bin ich vom ALDI gekommen, komme auf den Treppenpodest, wieso,
was ist denn hier los? Oh, oh, oh, na ja, haben sie sich gegenseitig die Hintern
gezeigt. Was macht ihr denn hier? Ja ja, voll. Ich sage, was macht ihr denn hier.
Brrr. Dann bin ich hoch gegangen. So, na ja und dann saßen wir zwei Wochen später
im Fernsehraum und dann der andere Patient, also der sich immer so von Salier
da dominieren lässt, der hat dann irgendwie, wie sich Tiere lieben, begrüßen, die
schnüffeln und so weiter und ja, die schnüffeln sich immer am Hintern und auf
einmal steht der Salier auf, beugt sich nach vorne, zieht die Hosen runter, na dann
schnüffele los. Und ich so, was ist denn jetzt kaputt?
Interviewer: Und das hat er gemacht, ja?
Herr Machnow: Ja, ja. Also der hat jetzt nicht an seinem Hintern geschnüffelt
oder so, aber ich sage, was machst du denn. Dann bin ich aufgestanden, habe ich
gesagt, schmeckt nicht mehr. Und dann bin ich zu, nein Quatsch, das hat dann eine
Schwester gesehen, die hat gesagt, Herr Machnow was ist denn los, Sie sind ja nicht
mehr so locker, so entspannt. Ich sage, na wenn Sie wüssten, also was ich mir hier
antun muss. Da sage ich, also das glaubt mir ja kein Mensch. So und dann habe ich
es der erzählt und dann war hier ein Gespräch gewesen und das hat dann natürlich,
Fernsehraum hat er zugegeben, den Garten hat er abgestritten. Und hat dann so nach
vorne geguckt, so sich nach vorne gebeugt, sagt er: ‚Peter, was erzählst du denn
hier?‘ Ich sage: ‚Na das, was ich gesehen habe. Da sage ich, du musst doch wissen,
wenn du deine Hose runterlässt, aber zweimal hast du es gemacht.‘
4.2  Herr Salier: Das Risiko des Vertrauens 201

Diese kurzen Berichte und die weiter unten angeführten Stellungnahmen der
Pflege vermitteln Eindrücke aus dem Alltagsleben einer forensischen Klinik,
von Szenen, die jenseits der formalisierten Gespräche mit den Ärzten und
Therapeuten geschehen. Es gibt Hierarchien unter den Patienten. Die Dominanten
lassen andere für sich arbeiten, erfinden merkwürdige Spiele, die dann durchaus
mal etwas sexuell Anrüchiges haben können. Es ist zudem nicht ungewöhnlich,
dass es zu kleinen Regelverletzungen kommt und innerhalb der Peergruppe der
Patienten diejenigen besondere Anerkennung erfahren, die in geschickter Form
die Vorgaben der Klinik ein wenig unterlaufen.
All dies wird vom Personal (insbesondere den Pflegekräften) nicht per se
als problematisch angesehen, sondern oftmals eher als ein mehr oder weniger
natürlicher Ausdruck von Beziehungen unter Männern verstanden, die eng mit-
einander zusammenleben müssen. Dies wird – ebenso wie sexuelle Kontakte
unter den Patienten – in der Regel geduldet, insofern nicht offensichtlich jemand
geschädigt wird oder das gezeigte Verhalten dem therapeutischen Regime zu sehr
zuwiderläuft. Solche Sachen werden jedoch vom Personal sehr wohl beobachtet
und reflektiert, insbesondere auch wenn die Frage nach einer Lockerung
ansteht. Allerdings scheint die Frage, wie solche Vergehen seitens der Klinik
therapeutisch zu bewerten sind, nicht so leicht zu beantworten zu sein. Wenn
Patienten, wie in diesem Falle Herr Machnow, sehr ehrlich mit dem Personal sind
und sogar von Fehltritten anderer Patienten berichten, kann dies auch als Über-
anpassung bewertet oder auf eine rigide Persönlichkeitsstruktur zurückgeführt
werden. Möglicherweise wird diesem Patienten dann eine Unfähigkeit attestiert,
in sozialen Gruppen zurechtzukommen, die nicht durch die Institution überwacht
werden.
Umgekehrt kann es einem dominant wirkenden Patienten mit Blick auf seine
Selbstwertregulation möglicherweise eher zugetraut werden, in der rauen Welt
außerhalb der Klinik einigermaßen zurechtzukommen. Allerdings darf das dis-
soziale Verhalten auch nicht überhandnehmen. Mit Blick auf die Bewertung
dürfen dabei allerdings nicht die Maßstäbe und kulturellen Normen der Mittel-
schichtmilieus angewendet werden, was insbesondere die Pfleger, aber auch
erfahrene Therapeuten wissen. Es kann also nicht darum gehen, ob das Verhalten
von Herrn Salier als schön, angenehm oder appetitlich anzusehen ist, sondern ob
es mit Blick auf die Gefahreneinschätzung als kritisch einzuschätzen ist, d. h. ob
es mögliche strafbare Delikte ankündigt.
Eine gewisse Widerständigkeit oder Renitenz kann also durchaus als
Kompetenz betrachtet werden, insofern sie nicht über das Ziel hinausschießt.
202 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Das vom Patienten gezeigte Verhalten lässt sich also nicht als eindeutiges
prognostisches Zeichen für oder gegen die Lockerung verbuchen, sondern muss
interpretiert bzw. in einen weiteren Kontext gesetzt werden. Auch hier stellt sich
dann wieder die Frage: Ist ‚sich von anderen am Po riechen lassen‘ Ausdruck
einer Triebstörung oder nur normales dissoziales Verhalten? Geht das Dominanz-
gehabe mit sadistischen Neigungen einher oder ist es Ausdruck eines gesunden
Selbstwertes, das aber vielleicht noch nicht seine gelungensten Ausdrucksformen
gefunden hat? Ist der Patient gerade deshalb glaubhaft, weil er nicht alles sofort
zugibt – und dadurch eine gewisse Autonomie gegenüber dem Personal aufrecht-
erhält – oder wäre von ihm eine stärkere Anpassung an die Regeln zu verlangen?
Wo beginnt eine Überanpassung, die dann Gefahr läuft, dass die unterdrückte
Seite – gleich einem schlafenden Vulkan – irgendwann in unbeherrschter Form
wieder ausbricht? Wo ist es also normal, abzuweichen und Regeln zu verletzen
und wo ist die Abweichung Anzeichen einer pathologischen Störung?
Innerhalb der Leerstellengrammatik eines forensischen Behandlungs-
regimes hängt die Bewertung einer Stelle von den Werten ab, die an den anderen
Positionen eingenommen werden. Die Gewichtung und manchmal auch das
Vorzeichen ergibt sich aus dem Gesamtarrangement, nicht jedoch aus dem
konkreten Sachverhalt, der an einer bestimmten Stelle festgemacht wird. Was in
einem Kontext als normal erscheint, kann im anderen als krank oder kriminell
erscheinen, wie auch umgekehrt.
Schauen wir nun auf die Fallkonferenz, in der diese und andere Fragen in
Bezug auf die angedachte Lockerung des Patienten verhandelt werden. Anwesend
sind der Oberarzt, der Einzeltherapeut, der Sozialarbeiter, eine weitere Psycho-
login, die Stationspflegeleiterin, sowie zwei weitere Pflegekräfte. Die Fall-
konferenz findet im Raum der Stationspflege statt. Betrachten wir zunächst die
ersten Minuten der Unterredung:

Oberarzt: Wie ist unser Zeitrahmen? … Ich sage mal bis um 11 Uhr
Psychotherapeut (Herr Martin): Jetzt sollten wir erst mal die Fragestellung
definieren … die Ziele des Gesprächs …
Stationspflegeleiterin (Frau Horn): Es geht um Lockerung …
Oberarzt: Was muss man jetzt klarer kriegen in der Entscheidung … ?
Stationspflegeleiterin: Ich?
Oberarzt: Nein, allgemein, alle … es geht ja um den UA [unbegleiteten Aus-
gang] … das Gutachten … das war ja positiv … Martin unterstützt das jetzt auch
sehr … Schmidt [der Chefarzt] ist jetzt nicht so überzeugt und ich weiß jetzt auch
noch nicht … Martin sagt jetzt, ‚das ist kein sexueller Sadismus‘ … ich glaube jetzt
schon, dass es sexueller Sadismus ist … Gutachten bejaht den sexuellen Sadismus
ist aber dennoch für den UA …
4.2  Herr Salier: Das Risiko des Vertrauens 203

Psychotherapeut: Ja, aber der sexuelle Sadismus, von dem dort die Rede ist, ist
nicht die gleiche Form .. sondern eine Bindung an das gestörte Selbstwertgefühl …
das muss berücksichtigt werden … dass es damals eine anderes Situation war …
dann betont der Gutachter ja die positive Entwicklung …
Psychologin: Es gab ja jetzt schon mal einen Rückschlag …
Psychotherapeut: Ist schon lange her … damals hatte er ja all die Gruppen mit-
gemacht … sich dann so eine zweite Geschichte aufgebaut … dann die Lockerung
… zwei Mädchen angesprochen und wohl auch geplant, mit einer Verkehr zu haben,
wenn sie nicht will, mit Gewalt … hat später auch zugegeben, dass er sexuelle
Bedürfnisse verfolgt hat … war eine Hochrisikosituation …
Psychologin: Wurde das aufgearbeitet?
Psychotherapeut: Ne, den Kontakt hat er verschwiegen … muss jetzt auch sagen,
damals war er auch noch nicht triebgedämpft … vor 10 Jahren wurde er dann von
Frau Laskowski [damalige Chefärztin] unter Druck gesetzt … ist dann zusammen-
gebrochen … war dann erstmal die Diagnose ‚sexueller Sadismus‘ … das hat den
Druck rausgenommen … weil dann lange Zeit klar war … dass er nicht mehr raus
kann … war auch für ihn eine Beruhigung … hat dann das Mittel genommen …
war dann nicht so freiwillig, wie er es heute so heroisch darstellt „will nie wieder
meinem Trieb ausgeliefert sein“ … anfangs hat er dann doch gezaudert … aber jetzt
ist es stabil … der Trieb ist jetzt weg mit der chemischen Kastration und damit auch
seine Innenwelt … dann ist er langsam nach außen … macht die Stationszeitung …
Kontakt zur Familie … jetzt auch dafür, sich dauerhaft den Trieb nehmen lassen,
dass er wieder mit seiner Familie Kontakt halten kann … dann auch die Arbeiten,
die er aufgenommen hat ..
Oberarzt: Gut, Ihre Position ist jetzt gut bekannt … gibt es Einwände?
Stationspflegeleiterin: Ja
Oberarzt: Sie sagen, früher hat er eine Rolle vorgespielt … jetzt hat er wieder eine
Rolle eingenommen …
Stationspflegeleiterin: Ich nehme ihm das auf der Gefühlsebene nicht ab … jetzt das
dominante Gehabe auf der Station …
Oberarzt: Inwieweit das echt oder gespielt ist … letztlich bleibt da eine Unsicher-
heit, aber wie stellt sich die Frage mit dem Risiko?

Zunächst wird vom Oberarzt das Ziel der Fallkonferenz benannt: Die Erörterung
der Frage, was dafür und was dagegen spricht, dem Patienten unbegleiteten Aus-
gang (UA) zu gewähren. Dabei werden zunächst die bereits bekannten Positionen
rekapituliert: Der anwesende Psychotherapeut verneint die Diagnose „sexueller
Sadismus“, der externe Gutachter erhält sie jedoch aufrecht, wenngleich er sich
dennoch für den UA ausspricht. Zudem werden die Einwände der Stations-
pflegeleiterin aufgriffen. Letztere verweist darauf, dass der Patient dem Personal
gegenüber früher nur etwas vorgespielt habe und dass sie ihm auf der „Gefühls-
ebene“ die von ihm heute zur Schau gestellte Rolle ebenfalls nicht abnehmen
könne. Der Oberarzt bemerkt daraufhin, dass die Frage, ob das gegenüber dem
204 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Personal gezeigte Verhalten echt oder gespielt sei, letztlich nicht mit Sicherheit
beantwortet werden könne, um dann auf ein anderes Thema überzuleiten, nämlich
auf die Risikoabschätzung.
Damit wird die Frage der Authentizität bzw. der wirklichen Motive des
Patienten ausgeblendet. Die Einklammerung des Wahrhaftigkeitsproblems ist für
den Prozess der forensischen Gefahrenabschätzung ein notwendiger Zug, denn
die hiermit verbundenen Fragen sind unbeantwortbar. Man kann in die Psyche
eines anderen Menschen nicht hineinschauen und entsprechend würde man sich
hier nur auf die Meinungen unterschiedlicher Akteure verlassen können, die den
Bekundungen des Patienten entweder glauben oder nicht glauben. Die Frage nach
der Gefährlichkeit erlaubt demgegenüber, nach Kriterien zu suchen, die auch
dann gelten würden, wenn der Patient nicht aus intrinsischer Motivation, sondern
nur aus Gründen der strategischen Anpassung versucht, den Erwartungen des
Personals gerecht zu werden. Schauen wir, wie sich das Gespräch in der Fall-
konferenz weiterentwickelt:

Stationspflegeleiterin: Das Dominanzgehabe … jetzt das Angeben mit den Besitz-


tümern …
Oberarzt: Macht, Dominanz … jetzt die Frage, wie das außen ausgelebt werden
kann … die weitere Frage ‚Können wir das im UA beobachten und kontrollieren‘ …
Psychotherapeut: Die Frage, ob er jetzt nur eine Rolle spielt, kann hier niemand mit
Sicherheit beantworten … aber die Indizien sprechen jetzt dafür, dass sich vieles
gebessert hat … auf der Arbeit … sein Engagement für die Station …
Oberarzt: Es ist jetzt auch die Frage, ob der UA positiv auf seinen Selbstwert ein-
zahlt … insbesondere, wenn er dann arbeiten geht …
Psychotherapeut: Wir müssen den UA vorsichtig und dosiert angehen …
Sozialarbeiter (Herr Mannecke): Echt ein schwieriges Thema … ich sehe, dass er
immer eine Rolle spielt … glaube auch nicht, dass die Fürsorge für die Station echt
ist … eher, dass er gut angesehen werden will …
Psychotherapeut: Ich glaube schon … das Motiv ist jetzt vielleicht nicht edel …
sondern mag in Bestätigung liegen … aber das ist dann echt …
Psychologin: … das mag jetzt unsympathisch sein, ist aber nicht krank … doch ob
er das jetzt alles spielt, letztlich kann man das nicht rausbekommen …
Psychotherapeut: Schaut sich keine Sexclips mehr an … sagt, dass er bei Erotik-
szenen im Fernsehen einschläft … gut, kann jetzt auch gespielt sein … aber die
Testosteron-Werte sind schon seit Jahren unten …
Stationspflegeleiterin: Mich macht es stutzig, dass er dann zu mir kommt und sagt
‚Fragen Sie mich jetzt aus‘ … ‚Ich antworte Ihnen‘ …
Psychotherapeut: Aber wir haben es ihm jetzt auch gesagt, dass er immer zu uns
kommen soll und uns alles über sein Innenleben sagen soll …
Stationspflegeleiterin: Ich bin jetzt vielleicht ungerecht … aber trotzdem, er stülpt
einem das jetzt immer über …
4.2  Herr Salier: Das Risiko des Vertrauens 205

Psychotherapeut: Im Gutachten steht jetzt auch ‚Empathiedefizit‘ … deswegen ver-


steht er nicht, wie das bei den anderen ankommt …
Oberarzt: Jetzt die Sache mit der Gefährlichkeit … besteht das noch?
Stationspflegeleiterin: Die Fantasien, die Dominanz … der erste sexuelle Kontakt
mit Gewalt …
Psychotherapeut: Aber die Fantasien … sind jetzt nicht auf die Sexualität bezogen
… deshalb würde ich das trennen …
Oberarzt: Aber würde der jetzt jemanden würgen? […] die frühere Chefärztin hat
das damals in der Visite nicht gesehen … eine sehr erfahrene Ärztin … nutzt er
Beziehungen, gewalttätige Beziehungen, um den Selbstwert zu regulieren?
Psychotherapeut: Auf jeden Fall hat er in den letzten Jahren sehr, sehr viel gelernt

Oberarzt: Jetzt der Angriff auf die anorektische Patientin?
Psychotherapeut: Das war 1996 … und die Vergewaltigung …
Oberarzt: Er hat sie nicht gewürgt … dann die beiden Kinder früher …
Psychotherapeut: Es ging da vorwiegend um sexuelle Bedürfnisse … und das mit
den Jugendlichen in Schweinfurt … er wollte jetzt von der Opferseite auf die Täter-
seite wechseln …
Oberarzt: Wir müssen jetzt nicht alle einer Meinung sein … aber Frau Horn meint
jetzt, dass er grundsätzlich lügt …

In dieser längeren Gesprächssequenz wird die Frage nach der Gefährlichkeit des
Patienten von verschiedener Seite angegangen. Zunächst wird von der Stations-
pflegeleiterin das Problem des Dominanzgehabes von Herrn Salier aufgeworfen.
Dies wird von dem Oberarzt umgedeutet in die Frage, wie sich der offene Aus-
gang auf den Selbstwert des Patienten auszahlen würde und inwieweit sich das
Verhalten des Patienten außerhalb der Klinik beobachten und überwachen lasse.
Der Psychotherapeut verweist auf das Engagement des Patienten für die
Station (er ist maßgeblich an der Produktion einer Patientenzeitung beteiligt) und
dass sich auch sein Verhältnis zur Arbeit sehr zum Positiven entwickelt habe.
Auch hier stellt sich jedoch für einige der am Gespräch beteiligten Personen
wieder die Frage nach den Motiven, nämlich, ob er sich aus „Fürsorge“ für die
Stationsbelange einsetzt oder ‚nur‘ deshalb, weil er gut angesehen werden
möchte. Die beiden Psychologen verweisen darauf, dass die Motivfrage letzt-
lich keine Rolle spiele. Es möge zwar sein, dass der Patient egozentrisch und
„unsympathisch“ sein, doch das hiermit einhergehende Verhalten sei nicht
als „krank“ zu bewerten. Ebenso könne es sein, dass sein etwas ungelenkes
kommunikatives Verhalten gegenüber den Pflegekräften ein Artefakt der
therapeutischen Aufforderungen an ihn ist, sich dem Personal gegenüber zu
öffnen. Vielleicht könne sein Benehmen auch darin begründet sein, dass es dem
Patienten nicht so recht gelingt, sich in andere hineinzuversetzen („im Gutachten
206 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

steht jetzt auch ‚Empathiedefizit‘ … deswegen versteht er nicht, wie das bei den
anderen ankommt“).
Auch an dieser Stelle wird deutlich, dass einzelne Verhaltensmerkmale für sich
genommen eher wenig aussagekräftig sind, dass man also nur mit Blick auf das
Gesamtbild zu einer Einschätzung gelangt, in der die einzelnen Befunde gewichtet
und in Hinblick auf ihre – vom Kontext der Betrachtung abhängenden – Vorzeichen
bewertet werden können. Gleiches gilt für die Frage des sexuellen Sadismus. Ob
mit der Gewaltanwendung ihrerseits eine sexuelle Befriedigung einhergeht, ob
Gewalt der Selbstwertregulation dient oder nur als Mittel genutzt wurde, um
gewöhnliche sexuelle Bedürfnisse zu befriedigen, lässt sich nur im Sinne einer
Abwägung und Interpretation der Indizien entscheiden. Auch hier zeigen sich im
Gespräch unterschiedliche Stimmen, welche die aus der Aktenlage bekannten
Sachverhalte unterschiedlich gewichten. Dies mündet in das Resümee des Ober-
arztes, dass nicht alle an der Fallkonferenz beteiligten Personen zwingend einer
Meinung sein müssten. Wie er unter Verweis auf die Stationspflegeleiterin deutlich
macht, bleibt jenseits der Bewertung einzelner Verhaltensdetails die Gretchenfrage
offen, ob der Patient „grundsätzlich“ lügt. Schauen wir uns den weiteren Verlauf
des Gesprächs an:

Stationspflegeleiterin: Ich weiß es nicht … das mit dem Hosenrunterziehen … das


mit Herrn Machnow … das hat er nur stückchenweise zugegeben … Frau Petri [die
Anleiterin der BPS-Gruppe13] hat sich jetzt auch nicht so richtig festgelegt …
Psychotherapeut: Ne, sie hat der Lockerung zugestimmt …
Oberarzt: Es gibt jetzt keine neuen Infos … aber was wir haben, ist das Dominanz-
verhalten …
Stationspflegeleiterin: Ja, er kommt jetzt immer von oben herab …
Oberarzt: Jetzt ist die Frage, ob er alles gottgleich beherrschen will … oder ob
das Dominate einfach zu Persönlichkeit gehört … (zu den anderen anwesenden
Pflegern): Glauben Sie, dass er unter den triebdämpfenden Mitteln die destruktiven
Fantasien weiter fortführt …
Pfleger 1: Hatten ja eben die Diskussion, ob er ehrlich ist … ich würde sagen ‚ehr-
lich ist er nicht immer‘ … aber er ist jetzt auch nicht immer unehrlich … man kann
nicht alles glauben …
Stationspflegeleiterin: Sie können da auch Herrn Machnow fragen … der hat da
auch seine Meinung zu Herrn Salier. …
Pfleger 2: Jetzt neulich mit dem Paket, da war er auch so energisch … jetzt ohne
Anlass … aber ob das jetzt gegen UA spricht … vielleicht beantwortet das auch die
Frage nicht so genau …

13 BPS meint hier das standardisierte Behandlungsprogramm für Sexualstraftäter.


4.2  Herr Salier: Das Risiko des Vertrauens 207

Psychotherapeut: Doch, genau diese Frage müssen wir stellen … ob das was damit
zu tun hat … nämlich, ob sich da mit dem Gehabe irgendein Konnex zu dem Delikt
zeigt … aus meiner Sicht nicht … in Bezug auf die Sexualität kooperiert er mit der
Klinik … da möchte er intensiv mit uns arbeiten … dann mit der Familie … das will
er auch …
Stationspflegeleiterin: Würde ich jetzt auch nicht so sagen, dass er mit der Familie
so nahe ist … nutzt die dann auch aus …
Pfleger 1: Ich habe es mit der Mutter nicht so erlebt … da kümmert er sich schon …
sorgt sich um ihre Gesundheit … und dann mit dem Garten … den pflegt er auch gut

Stationspflegeleiterin: Aber die Angehörigen bringen ihm dann auch Sachen … will
nur was haben
Psychotherapeut: Aber er will jetzt auch Beziehung …
Oberarzt: Am Ende hat er eine dissoziale Persönlichkeitsstruktur … das können wir
nicht ändern …
Pfleger 1: Mit den triebdämpfenden Mitteln ist nicht hundertprozentig … den
anderen Patienten erzählen sie dann ‚Ich kann mir trotzdem einen runterholen‘ …
auch die Fantasien bleiben ..
Oberarzt: Das ist ganz schwer zu deuten .. die Patienten sagen dann das, um bei den
anderen nicht schlecht dazustehen … was dann wirklich ist … ist was anderes …
aber …
Pfleger 2: Müssen dann Sie und der Chefarzt entscheiden … ich würde ihn nie
wieder freilassen … aber der Chefarzt entscheidet … so wie ich bei Herrn Machnow
sagen würde ‚der muss raus‘ würde ich bei ihm sagen ‚nein, nicht raus‘. Der Chef-
arzt muss jetzt eine Entscheidung treffen und dann ist es seine Verantwortung.
Oberarzt: Ja, würde das nicht so hochspielen, die Verantwortung trägt er sowieso …

Die Stationspflegeleiterin verweist auf die Szene mit dem „Hosenrunter-


ziehen“ und dass Herr Salier dies nur „stückchenweise“ zugegeben habe. Für
den Oberarzt stellt dies jedoch keine „neue“ Information dar. Auf prognostisch-
diagnostischer Ebene stellt sich für ihn vielmehr die Frage, ob das „Dominante“
jetzt „einfach“ zu seiner „Persönlichkeit“ gehöre oder auf eine tieferliegende
psychiatrische Störung zurückzuführen sei, die damit einhergehe, dass er „alles
gottgleich beherrschen“ wolle. Letzteres wird dann insbesondere vom Einzel-
therapeuten verneint. „In Bezug auf die Sexualität“ kooperiere „er mit der Klinik“
und entsprechend würde sich zwischen seinem dominanten „Gehabe“ und dem
„Delikt“ kein „Konnex“ zeigen.
Der Oberarzt fragt nochmals bei den beiden anderen anwesenden Pflegern
nach, ob sie glauben würden, dass er unter der triebdämpfenden Behandlung
seine destruktiven sexuellen Fantasien weiter fortführen würde. Die Frage wird
von beiden nicht direkt beantwortet. Der erste Pfleger antwortet „ehrlich ist er
nicht immer“, um zugleich wieder einzuschränken „aber er ist jetzt auch nicht
immer unehrlich“. Man könne ihm „nicht alles glauben“. Die Einschätzung
208 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

von Frau Horn, dass er „grundsätzlich lüge“, wird also nicht geteilt. Herr Salier
erscheint für sie also nicht als ein pathologischer Lügner, sondern eher als
jemand, der situativ nicht immer ganz die Wahrheit sagt, um in einem besseren
Licht zu stehen.
Derselbe Pfleger zweifelt auch die sichere Wirkung der Triebdämpfung an
(„den anderen Patienten erzählen sie dann ‚Ich kann mir trotzdem einen runter-
holen‘“). Der Oberarzt wirft ein, dass die Patienten dies dann oftmals nur des-
halb sagen würden, um „um bei den anderen nicht schlecht dazustehen“. Damit
macht er deutlich, dass die Gehalte von Aussagen immer auch in Hinblick auf
die Sozialdimension – hier das Bedürfnis des Sprechers, sich in der eigenen
Peergroup zu behaupten – bewertet werden müssen. Ab und zu mal nicht ganz
die Wahrheit zu sagen, erscheint nicht als unnormal bzw. nicht als Kriterium
für Krankheit, sondern gewissermaßen als ein natürlicher Aspekt von sozialen
Beziehungen, in denen es immer auch darum geht, ein gutes Image aufrechtzu-
erhalten. Zusammengenommen scheint es für den Arzt also kein überzeugendes
Indiz dafür zu geben, dass Herr Salier ein krankhafter Lügner ist, der insgeheim
den Fantasien seines sexuellen Sadismus nachgeht.
Der zweite, kritischere Pfleger kann ebenfalls keine Hinweise auf sexuell
sadistisches Verhalten geben (also Lust daran zu empfinden, andere „gottgleich“
zu „beherrschen“). Ihn irritiert jedoch Herrn Saliers impulsives Auftreten („neu-
lich mit dem Paket, da war er auch so energisch“), um dann jedoch selbst zu
bemerken, dass die Frage, ob „das jetzt gegen UA spricht“ hiermit nicht „so
genau“ beantwortet würde.
Als weiteres Kriterium wird das Verhältnis des Patienten zu seiner Familie
erörtert. Herr Salier hat auch im Interview erwähnt, dass er mittlerweile den
Kontakt zu seiner Adoptivfamilie wie auch zu seiner leiblichen Mutter und
Schwester pflege. Es stellt sich die Frage, ob nicht auch diesen Beziehungen
überwiegend selbstische Motive zugrunde liegen würden. Die Einschätzungen
divergieren unter den Pflegekräften. Der Therapeut erklärt daraufhin, dass es
ihm sehr wohl auch um „Beziehung“ gehe. Der Oberarzt verweist in diesem
Zusammenhang nochmals auf seine „dissoziale Persönlichkeitsstruktur“, die
man nicht ändern könne, was jedoch – so muss man aus dem Zusammen-
hang ergänzen – nicht gegen eine Lockerung spräche, denn die Aufgabe des
Maßregelvollzugs liegt nicht darin, die Gesellschaft vor sozial minderbegabten
Menschen abzuschirmen.
Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass in der Fallkonferenz kein
Bild entsteht, das in einem starken Sinne gegen den unbegleiteten Ausgang
4.2  Herr Salier: Das Risiko des Vertrauens 209

sprechen würde. Mit Blick auf den therapeutischen Auftrag des Maßregelvollzugs
und das rechtliche Prinzip der Verhältnismäßigkeit würde jetzt nach mehr als
20 Jahren Klinikaufenthalt vielmehr einiges dafür sprechen, unter kontrollierten
Bedingungen zu versuchen, den Patienten zu rehabilitieren, wenngleich ein Rest-
risiko nicht ausgeschlossen werden kann.
Freilich zeigt sich das Team hier gespalten. Teile der Pflege sprechen sich
dagegen aus („ich würde ihn nie wieder freilassen“), um jedoch zugleich zu
markieren, dass es der Chefarzt sei, der letztlich eine solche Entscheidung ver-
antworten müsse („aber der Chefarzt entscheidet“). Für den Oberarzt liegt
weitaus weniger Willkür in dieser Entscheidung, als es der Pfleger ein wenig vor-
wurfsvoll anklingen lässt, sondern sie scheint ihm gut begründet und unter der
Voraussetzung entsprechender Vorsichtsmaßnahmen durchaus verantwortbar.
Je nach professionellem Standort werden die einzelnen Indizien, aus denen sich
dann die Gefährlichkeitsabschätzung ergibt, anders gewichtet (Abb. 4.3).

Risikoabsorption – „muss man dahinfahren, muss gucken,


muss klar sein, was da genau mit ihm los ist“
Im Interview mit dem Oberarzt werden sowohl die Begründung für den Frei-
gang wie auch die unterschiedlichen Rationalitäten, welche die Entscheidung
formatieren, noch ein wenig besser nachvollziehbar als im zuvor behandelten
Beobachtungsprotokoll. Schauen wir uns deshalb die entsprechenden Stellen an:

Oberarzt: Ich bin inzwischen der Meinung, (spricht langsam und überlegt) dass
man klein/also kleinteilig beziehungsweise, man muss es relativ kontrolliert
machen, man den UA wieder machen sollte, ja? Obwohl das Risiko erheblich
ist und es sozusagen eine Restwahrscheinlichkeit gibt, dass man sich täuscht.
Dann muss es aber irgendwie so gemacht werden, dass, falls es Entwicklungen
in die Richtung gibt, dass es erneut zur Deliktanbahnung kommt, wir das früh-
zeitig merken, ne? Also, ich denke, da ist der Trick eher in der Durchführung
und vielleicht auch, also das habe ich mit Martin [dem Psychotherapeuten] auch
gesprochen, also das habe ich ihm auch gesagt, dann müssen wir halt hinfahren
und so, ne? Also, wenn der nach Schweinfurt gehen sollte, da arbeiten, muss man
da hinfahren, muss gucken/muss klar sein, was da genau mit ihm los ist, ja? Also
das/also ich würde in der Tendenz es jetzt befürworten, wobei ich es schon auch
risikoreich finde. Und ich weiß nicht, ich glaube aber, dass Herr Schmidt [der Chef-
arzt] vielleicht das auch macht, weil er, glaube ich, auch das Gutachten von Dr.
Kasimir dann doch überzeugend fand. Ja. Und da muss man aber gucken, da darf
dann nichts passieren. Also man darf nicht verpassen, wenn sozusagen Gefahr sich
anschoppt, ne? Weil die Schadensschwere ist natürlich enorm, ja. Also das ist klar.
210 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

(keine)
Erprobung
im Freigang
+
beobachtbares (keine) –
Therapeuten künftige
Verhalten
Tat
+
(keine) –
Therapie Einsicht Vergewaltungs- keine Einsicht Simulation
Phantasien
+
dissozialer –
Vergewaltiger Medikament beobachtbares
Verhalten

sexueller
Diagnose
Sadismus

Abb. 4.3   Die Grafik illustriert die Problematik der Intransparenz der fremden Psyche.
Niemand kann in das Bewusstsein von Herrn Salier hineinschauen. Entsprechend ist nicht
mit Sicherheit zu beantworten, ob weiterhin Fantasien gehegt werden, die zu einer Straftat
führen könnten. Diese Unsicherheiten können nur bewältigt werden, indem man sich auf
eine Diagnose festlegt und mit Blick auf die bisherige Interaktionsgeschichte davon aus-
geht bzw. darauf vertraut, dass der Patient einsichtig und therapiewillig ist. Indizien hierfür
sind die Einnahme eines antiandrogenen Medikaments und das beobachtbare Verhalten des
Patienten. Nur durch Interpretation des Verhaltens und der Äußerungen des Patienten kann
darauf geschlossen (jedoch nicht ‚gewusst‘) werden, ob es sich um einen authentischen
Ausdruck oder etwas anders handelt.
Die Achse zwischen dem weißen und grauen Dreieck bildet gleichsam die ‚Ambivalenz-
achse‘ des forensischen Arrangements. Kein diagnostisches oder prognostisches Urteil
ist mit Gewissheit zutreffend. Je nachdem, wie die benachbarten Felder besetzt werden,
gibt es eine Tendenz zu dieser oder jener Einschätzung und Beurteilung. Alle Beteiligten
berufen sich auf beobachtbares Verhalten. Was jedoch beobachtet und wie dies interpretiert
wird, unterscheidet sich je nach Position. Beide Pole der Einschätzung (weiße und graue
Felder) sind und bleiben plausibel, doch letztlich hat sich das Arrangement zu entscheiden,
damit der Fall weiter prozessiert werden kann (in diesem Fall sagt die Pflege, dass sie
entgegen der Einschätzung der Therapeuten gegen die Erprobung sei, aber der Chefarzt
letztlich auch anders entscheiden könne. Hierdurch kann die Ambivalenz im Organisations-
gedächtnis erhalten bleiben, ohne dass die Entscheidungsfindung blockiert wird.

Der Oberarzt entscheidet sich letztlich dafür, dem Patienten erneut den
unbegleiteten Ausgang zu geben. Da jedoch das „Risiko erheblich ist“, muss das
Verhalten des Patienten außerhalb der Klinik dann genauestens beobachtet und
4.2  Herr Salier: Das Risiko des Vertrauens 211

kontrolliert werden. Schauen wir etwas ausführlicher auf die Begründung, warum
der Arzt es für verantwortbar hält, dieses kontrollierte Risiko einzugehen:

Oberarzt: Im Grunde ist Prognose Folgendes: Also Sie müssen das Leben des-
jenigen nachzeichnen können eigentlich, ja? Nachzeichnen. Sie müssen dann sagen:
Was sind die entscheidenden, Delinquenz bedingenden Faktoren für den Fall.
Wie haben die sich seit den letzten Taten in der Unterbringung geändert, seien es
Delinquenz bedingende Faktoren, die in der Person liegen, oder aber Delinquenz
bedingende Faktoren, die situativ von außen einwirken. Und wie sind die Wahr-
scheinlichkeiten unter einem bestimmten Freiheitsgrad zu sehen, für die Zukunft
hinsichtlich dieser Delinquenz bedingenden Faktoren für das erneute Auftreten der
Delinquenz. Das ist im Grunde so die Basis.
Bei Herrn Salier zum Beispiel haben Sie, sagen wir mal ‚Drang nach sexueller Aus-
lebung im Sinne eines normalen Geschlechtskontaktes.‘ Das mag ein Aspekt sein,
ja? Dann haben Sie ‚Salvacyl‘, was das ein bisschen runtergedimmt hat. Dann
‚Omnipotenz-Fantasien‘, ‚Beherrschungswünsche‘, auch möglicherweise eine
Reaktion auf Kränkungen, ja?
Interviewer: Ja.
Oberarzt: Destruktiver Art. Das ist dieser sadistische Topos, den kriegen Sie nicht
komplett weg, ja?
Interviewer: Den kriegt man nicht komplett weg, genau, ja.
Oberarzt: Sie müssen wissen, […] welchen Anteil hat das an dem Geschehen,
ja? Ist das sozusagen nur eine Teilquantität oder so. Dann Substanzeinwirkungen
spielen bei ihm keine Rolle.
Interviewer: Also Drogen nimmt er nicht, Alkohol bis zum Volllaufen tut er sich
auch nicht an.
Oberarzt: So. Dissoziale Grundstruktur heißt, geringe normative Einbindung, kein
Interesse an anderen Menschen, kein Interesse an Emotionen, kein Interesse an
längerfristigen Beziehungen, Egozentrik in der Bedürfnisausübung. Das haben Sie
bei ihm definitiv, ja? Dann, wenn Sie eine Arbeitsanbindung haben, das ist eine
Selbstwertzufuhr. Gerade bei Herrn Salier, der sehr profitiert von einer Rolle, von
Gestaltung, von sowas, dann können Sie ein Gegengewicht schaffen. […] Also
das heißt, das ist wichtig, dass sowas dann gelingt. Und diese Aspekte, die Martin
genannt hatte, mit emotionalen Geschichten zur Mutter und so. Das kann man auch
noch mit einbeziehen. Da mag es auch ein bisschen eine bessere Richtung gegeben
zu haben als vorher, würde ich nicht auf die Goldwaage legen bei so jemanden.
Das ist im Grunde, da ist nur begrenzt viel möglich, ja? Und dann ist nochmal die
Frage, wie gut ist er verankert hier, ja? Wie offen berichtet er, da müsste man/das ist
auch für die Risikokontrolle wichtig, da denke ich schon, dass da ein bisschen mehr
gelungen ist auf jeden Fall als in den letzten zehn Jahren davor, ja? Also vor zehn
Jahren war es bestimmt schlechter in der Richtung, oder wie authentisch er da ist,
das kann ich nicht beurteilen.
Interviewer: Also wie der Pfleger sagte, ja, er lügt nicht immer, aber er sagt auch
nicht immer die Wahrheit, weil er eigentlich weiß er, dass ein Kolle/
Oberarzt: Ja gut, okay, aber das ist ja mit vielen Menschen so.
212 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Interviewer: Aber immerhin, dass er sagt, er lügt nicht immer ist ja schon/
Oberarzt: Ja, ist ja auch schon mal was, ja? […]
Oberarzt: Und dann haben wir natürlich noch die Hospitalisierung.
Interviewer: Ja?
Oberarzt: Der Mann ist sehr, sehr stark hospitalisiert. Das heißt, da müssen Sie
allein schon von der Geschwindigkeit der Außenorientierung langsam machen, weil
bei entsprechender Überforderung draußen hat er immer die Möglichkeit ein Delikt
zu setzen und wieder reinzukommen, ja? Das heißt, auch das muss irgendwie im
Blick sein, ne? Und ich weiß gar nicht, ob ich jetzt alles erfasst habe, aber das sind
so einige Aspekte, ne?
Interviewer: Mhm (zustimmend).
Oberarzt: Also im Grunde geht es halt darum, die Delinquenz bedingenden
Faktoren zu gewichten und das dann abzuschätzen. Das ist auch nicht so leicht. Also
gerade, wenn Sie jetzt so einen Fall haben, der ist auch relativ kompliziert vielleicht,
gerade weil da sexueller Sadismus zusammen einwirkt mit Dissozialität, ja?

Auf der inhaltlichen Ebene rekapituliert der Oberarzt hier die Abwägungen der
negativen Faktoren, die es wahrscheinlicher machen, dass der Patient erneut
ein Delikt begeht, und der positiven Faktoren, die dem entgegenstehen. Der
Geschlechtstrieb und der Drang, die damit verbundenen Impulse notfalls gewalt-
sam zu befriedigen, wird durch die antiandrogene Behandlung balanciert, wobei
der Oberarzt zu erkennen gibt, dass er damit rechnet, dass die Triebdämpfung
mit der chemischen Kastration nicht vollständig gelingt („was das ein bisschen
runtergedimmt hat“).
Schwieriger einzuschätzen ist für ihn der verbleibende „sadistische Topos“
(„den kriegen sie nicht komplett weg“), wobei der fehlende Hang zu Drogen und
Alkohol positiv ins Gewicht fällt. Dasselbe gilt für Herrn Saliers Beziehungen
zu einzelnen Familienmitgliedern, wenngleich der Oberarzt diese nicht über-
bewerten möchte, da beim Patienten die Egozentrik einer dissozialen Persönlich-
keitsstruktur doch überwiege. Erfolgskritischer und prognostisch bedeutsamer
scheint dem Psychiater demgegenüber die Frage der Selbstwertregulation. Eine
„Arbeitsanbindung“ erscheint als positiver Faktor für die „Selbstwertzufuhr“,
da der Patient sehr davon profitiere, wenn er in die „Rolle“ komme, etwas zu
gestalten. Auf diese Weise könne ein „Gegengewicht“ zu den Demütigungen
geschaffen werden, die umgekehrt die Tendenz steigern, in einem sadistischen
Akt seine Macht beweisen zu wollen. Allerdings bleibe die langjährige
Hospitalisierung ein kritischer Faktor. Die „Überforderung draußen“ könne gar
dazu führen, ein „Delikt zu setzen“, um wieder in die Klinik zu kommen.
Der Oberarzt macht deutlich, dass es „nicht so ganz leicht“ ist, ein klares
Bild von den „die Delinquenz bedingenden Faktoren“ zu bekommen und diese
dann noch „in ihrer Bedeutsamkeit“ zu gewichten. Zugleich zeigt er jedoch
4.2  Herr Salier: Das Risiko des Vertrauens 213

performativ, dass er selbst als kompetenter und erfahrener Akteur in der Lage
ist, zu einer qualifizierten Einschätzung zu gelangen. Der Orientierungs-
rahmen, der hier aufscheint, ist der eines Experten, eines Profis, der sich nicht
durch Meinungen und Emotionen beeindrucken lässt – weder durch diffuse
Ängste noch durch naives Vertrauen. Sein Urteil gründet sich vielmehr auf einer
differenzierten Betrachtung und Abwägung der Risiken und gegenbalancierenden
Faktoren. Auf dieser Basis bewertet er die Entscheidung für den unbegleiteten
Ausgang als ebenso rational begründet wie vertretbar, insofern die Klinik ein
dichtes Netz von Kontrollen aufrechterhält, um präventiv die Signale wahrzu-
nehmen, die auf die erneute Anbahnung eines Delikts hinweisen.
Um dies leisten zu können, muss die Beziehung zwischen Personal und Patient
so ausgestaltet sein, dass sich aus der Kommunikation hinreichend Informationen
für eine Risikoabschätzung gewinnen lassen. Der Oberarzt stellt dabei sehr wohl
in Rechnung, dass Herr Salier nicht immer die Wahrheit sagt, hält dies aber für ein
vernachlässigbares Problem („Ja gut, okay, aber das ist ja mit vielen Menschen
so“). Er hält es für ausreichend, dass da ein „bisschen mehr gelungen ist“, wobei
die Frage, ob es sich dabei um eine authentische Bewegung des Patienten handele
oder dieser seine Bereitschaft zur Mitarbeit nur vorspielt, ausgeklammert wird.
Interessant ist hier, dass die konstitutionelle Differenz zwischen Psyche und
Kommunikation – niemand kann in das Bewusstsein eines anderen schauen – vom
Oberarzt anerkannt wird, ohne dass dies den Beurteilungsprozess behindert. Er
braucht weder in ein naives Vertrauen einzurasten, das vorgibt, zu wissen, dass der
Patient es ehrlich meine (der Einzeltherapeut geht ein wenig in diese Richtung),
noch sieht er sich veranlasst, bei der der fundamentalen Enttäuschung des Ver-
trauens stehen zu bleiben (wie einige Vertreter der Pflege). Die Frage, ob der
Patient ‚authentisch‘ handelt oder nur etwas ‚vorspielt‘, wird vielmehr als unbe-
antwortbar zurückgewiesen. Stattdessen wird die Entwicklung der Interaktion
mit dem Patienten über die Zeit hinweg betrachtet, wobei der Oberarzt fest-
stellt, dass sich hier definitiv etwas verändert habe („Also vor zehn Jahren war
es bestimmt schlechter in der Richtung“). Um in Hinblick auf die Compliance zu
einer Beurteilung bzw. Risikoabschätzung zu kommen, bleibt nichts anderes übrig,
als sich auf das gezeigte Verhalten zu kalibrieren. Für einen Versuch der (Re-)
Sozialisation ist es also hinreichend, dass der Patient das erforderliche Verhalten in
beständiger Form demonstriert. Die Frage der Authentizität ist dabei unerheblich,
da sie ohnehin nicht endgültig beantwortet, sondern nur zugerechnet werden kann.
Freilich ist es jedoch notwendig, dass der Patient in Koproduktion mit der
Klinik gelernt hat, wie er sich zu verhalten habe, also hinreichend verinner-
licht hat, welche Abweichungen von der Norm geduldet werden und welche
nicht. Rückfälle – und die machtvolle Antwort der forensischen Klinik – sind
214 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

hier ebenso Teil dieses Lernprozesses wie die ‚freiwillige‘ Zustimmung zur
chemischen Kastration. Wie bereits vorangehend angeführt, stellen Freiwillig-
keit und Zwang, Authentizität und Fremdbestimmung ein nicht zu trennendes
Amalgam dar.
Kaum ein Patient will im Maßregelvollzug sein, doch irgendwann bleibt
auf Dauer keine andere Wahl, als zu akzeptieren, dass man Patient ist, von der
Gesellschaft als Täter gesehen wird und sich deshalb einer ständigen Kontrolle
und Überwachung zu stellen hat. In schweren Fällen mag es 20 Jahre oder länger
dauern, dies zu akzeptieren und hiermit mitgehen zu können – das heißt aber
zumindest so zu tun, als ob all dies seine Richtigkeit hat. Wenn dies geschieht,
dann kann auch die andere Seite (das Klinikpersonal) auf eine neue Form des
Vertrauens umstellen: Ein kontrolliertes Risiko eingehen, was heißt, den Patienten
weiterhin zu überwachen, ihm aber mehr Freiheiten zugestehen, da zu erwarten
ist, dass selbst hartnäckige Patienten nach Jahrzehnten so langsam begriffen
haben, wie das Spiel läuft.
Es ist ein soziales Spiel und damit ist dann auch die Frage des Vertrauens
weniger als ein innerpsychischer Vorgang denn als ein kommunikativer Prozess
zu verstehen: als ein geteiltes Wissen, dass beide Seiten darum wissen, dass
der jeweils andere nicht wirklich wissen kann, was in der Psyche des Gegen-
übers vorgeht, es aber einen – und nur einen – Weg gibt, mit den hiermit einher-
gehenden Unsicherheiten produktiv umzugehen – nämlich einander kontrolliert
zu vertrauen. Damit wird das Restrisiko gewissermaßen in die Sozialdimension
eingebaut. Man hat gelernt, den Erwartungen des anderen gerecht zu werden, da
dieser weiß, dass er seinerseits den eigenen Erwartungen gerecht zu werden hat.
Sich der Rolle gemäß zu verhalten, wird damit zu einer einigermaßen verläss-
lichen Lebensform.
Was dies bedeutet, lässt sich anhand der folgenden Sequenz einer Oberarzt-
visite abschätzen, die wenige Tage nach der Fallkonferenz stattfindet:

19.2.2019, 10:50 Uhr Oberarztvisite


Oberarzt: Wie geht es Ihnen? Sagen Sie mal, Herr Salier?
Herr Salier: Grundsätzlich gut … habe aber ziemlich mit Kopfschmerzen zu tun
… vermutlich das Wetter … habe eine 800er reingeschmissen … habe dann um
15:00 das Gespräch mit Herrn Schmidt [der Chefarzt]. … Herr Martin [der Psycho-
therapeut] ist dabei … wird über UA gesprochen …
Oberarzt: … Schon UA? … ich dachte …
Herr Salier: … nur die UA-Gestaltung, für den Fall, dass ich das mal bekomme …
gestern in der BPS Gruppe, das war ein schweres Thema, was wir durchgenommen
haben … ging über Moral und Ambivalenzen …
Oberarzt: Die letzten 10 Jahre, was sind die entscheidenden Veränderungen?
4.2  Herr Salier: Das Risiko des Vertrauens 215

Herr Salier: … Salvacyl … das war mein Lebensretter … war früher von meinen
Fantasien abhängig … hat mich davon erlöst und eine neue Welt eröffnet … keine
Scheuklappen mehr … die sind jetzt weg …
Oberarzt: Bei mir ist jetzt die Frage, welches Risiko noch da ist, unabhängig von
der Sexualität …
Herr Salier: … das müsste ich mir ja in der Fantasie vorwegnehmen … das
Personal kann sich ja nicht vorstellen, dass das wirklich so ist … ich habe aber keine
Möglichkeit mehr, mir eine Fantasie aufzubauen …
Oberarzt: Gut, aber jetzt gab es bei Ihnen ja auch Kränkungen im Vorfeld … der
Pilot wurde abgelehnt … Freundin hat sie abgelehnt … ist das ein Risiko?
Herr Salier: Natürlich ist das ein Risiko … ich habe aber jetzt gelernt, darüber zu
sprechen … wenn Frau Horn mich ablehnt … dann kann ich jetzt mit einem anderen
sprechen …
Oberarzt: Im Ausgang, da haben Sie keinen …
Herr Salier: Ich habe ja dann immer das Handy dabei … immer den Griff zum
Handy, wenn etwas ist … auch das habe ich ja hier gelernt …
Oberarzt: Dann bleibt immer noch das Misstrauen ….
Herr Salier: Ja, das wird hier in der Station immer bleiben … das ist in den Köpfen
drin … kann ich nur versuchen, das Personal durch positive Handlungen zu über-
zeugen …

Auffällig erscheint hier zunächst die gespielte Überraschung des Oberarztes, dass
der Patient einen Termin mit dem Chefarzt hat, um über den unbegleiteten Aus-
gang zu sprechen („Schon UA?“). Der Patient antwortet daraufhin, dass es nur
darum gehe, über die „UA-Gestaltung“ zu sprechen, „für den Fall“, dass dann
später darüber positiv entschieden werde. Er gibt damit zu erkennen, dass er sehr
genau versteht, dass die hiermit einhergehenden Freiheitsgrade nicht selbstläufig
gewährt werden und die Entscheidung auch zu seinen Ungunsten fallen kann.
Im Anschluss erzählt Herr Salier von der letzten Sitzung der Therapiegruppe für
Sexualstraftäter. Es sei ein „schweres Thema“ durchgenommen worden („ging
über Moral und Ambivalenzen“). Herr Salier zeigt sich hiermit als ein Patient,
der nach mehr als 20 Jahren Klinikaufenthalt immer noch an den Therapie-
programmen teilnimmt und auch davon zu profitieren scheint.
Im weiteren Gesprächsverlauf fragt der Oberarzt nach den „entscheidenden
Veränderungen“ der letzten 10 Jahre. Der Patient erwähnt mit emphatischen
Worten („das war mein Lebensretter“) die chemische Kastration als die wesent-
liche Veränderung („war früher von meinen Fantasien abhängig“). Hiermit seien
die „Scheuklappen“ weggefallen und es habe sich für ihn hiermit eine „neue
Welt“ eröffnet. Die Dramatik dieser ultrakurzen biografischen Erzählung ähnelt
einer Konversion – weg vom alten, leidenden und destruktiven Selbst, hin zu
einem neuen, erfüllenden Selbst- und Weltverhältnis. Sie erscheint als eine Heils-
geschichte.
216 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Der Oberarzt fragt nach den verbliebenen Risiken. Der Patient verweist
daraufhin auf die vermeintliche Wirkung des triebdämpfenden Medikaments,
die seine Fantasietätigkeit unterbinde, wobei er jedoch mitreflektiert, dass das
Personal dies nicht nachvollziehen könne. Der Oberarzt verweist im Anschluss
auf Problemfelder, die außerhalb der sexuellen Fantasietätigkeit liegen, ins-
besondere auf die von ihm erfahrenen Kränkungen. Der Patient bestätigt darauf-
hin, dass diesbezüglich weiterhin ein Risiko bestehe, er aber mittlerweile gelernt
habe, in solchen Fällen mit anderen darüber zu sprechen. Auf die Frage, was er
denn machen würde, wenn er draußen alleine sei, antwortet er, dass er im Falle
von Problemen per Handy Kontakt mit der Klinik aufnehmen würde („auch das
habe ich ja hier gelernt“).
Performativ zeigt sich Herr Salier auch hier als ein durchaus ‚verständiger
Patient‘, der um die Gefahren und Risiken seiner psychischen Erkrankung weiß,
aber ebenso gelernt hat, wie hiermit angemessen umzugehen ist.
Zum Abschluss des Visitengesprächs spricht Herr Salier die verbleibende
Frage des Misstrauens an. Er zeigt, dass er auch in Hinblick auf diese Angelegen-
heit die Perspektive des Personals verstehen kann. Er negiert das Problem nicht,
sondern bietet als pragmatische Lösung an, die anderen „durch positive Hand-
lungen zu überzeugen“.
Zusammengenommen zeigt sich in diesem Visitengespräch eine interessante
Überkreuzung und Verschränkung von Perspektiven. Beide Gesprächspartner
wissen um das Problem des Risikos und des Misstrauens und dass es keine
objektiven Gründe gibt, einem rückfällig gewordenen Sexualstraftäter in einem
absoluten Sinne zu vertrauen. Darüber miteinander zu sprechen, gestaltet jedoch
in bestimmter Weise einen sozialen Raum. Zu sagen und offen anzuerkennen,
dass man den anderen enttäuscht hat und Schritte zu benennen, um das verloren
gegangene Vertrauen wiederzugewinnen, führt eine Selbstverpflichtung ein, eben-
dies zu tun und legitimiert damit die andere Seite, ein wenig mehr Vertrauen zu
wagen, zugleich aber entsprechende Kontrollen zu fahren, um dann gegebenen-
falls Entscheidungen gegen die Gewährung weiterer Freiheitsgrade zu treffen.
In jedem Fall können beide Seiten nicht mehr so tun, als ob kein Problem
besteht. Man kann nicht mehr zu einem unbelasteten Vertrauensverhältnis zurück-
kehren und genau dies weiß auch der Patient. Ausbuchstabiert heißt dies: Herr
Salier weiß, dass die anderen wissen, dass er möglicherweise nur etwas vorspielt,
dass sie aber dennoch bereit sind, ihm einen Vertrauensvorschuss zu gewähren,
insofern er das tut, was man von ihm verlangt. Er weiß, dass er einfach nur
behaupten kann, dass er keine destruktiven Fantasien mehr habe, ist sich aber
zugleich bewusst, dass er alles verspielt, wenn das Gegenteil durch sein Verhalten
4.2  Herr Salier: Das Risiko des Vertrauens 217

offenbar wird und dass er genau unter diesem Blickwinkel seitens des Personals
penibel beobachtet wird. Die erfahrenen Ärzte wiederum wissen, dass der Patient
sehr genau weiß, dass sie ihm nicht hundertprozentig trauen können, er allerdings
alles tun wird, sich so zu verhalten, dass er zumindest im Modus des Als-ob den
Vorgaben der Klinik gerecht wird.
Die Situation ist damit eine andere als vor zehn Jahren: Damals konnten die
Therapeuten vielleicht noch hoffen, den Patienten in unproblematischer Weise
rehabilitieren zu können, da er ja immer brav an den Therapiegruppen teil-
genommen hat. Und der Patient konnte davon ausgehen, dass das Personal
seinen Geschichten Glauben schenken wird. Mit dem Rückfall ist das Vorspielen
von Ungefährlichkeit explizit und damit zu einem immer wieder reproduzierten
Bestandteil der therapeutischen Gespräche geworden. Herr Salier selbst ist
damit unwiderruflich zu einem Triebtäter mit Gewaltfantasien geworden, der der
kontinuierlichen Behandlung und Kontrolle bedarf.
Beide Seiten können sich selbst bzw. anderen nicht mehr vormachen, dass der
‚Fall Salier‘ unproblematisch ist und entsprechend in einer einfachen Weise –
gewissermaßen nur durch ‚gut zureden‘ – behandelt werden kann. Auch aus
diesem Grunde erscheint die chemische Kastration gleichsam als die Eintritts-
karte, um überhaupt eine Behandlung mit dem Ziel der Rehabilitation angehen zu
können.
Denn unabhängig davon, in welchem Ausmaß sexuelle Fantasien und Trieb-
regungen hierdurch gedämpft oder aufgehoben werden, zeigt die Entscheidung
zu der nebenwirkungsbelasteten Triebdämpfung an, dass die Ernsthaftigkeit des
Problems begriffen wurde.
Paradoxerweise lässt erst der Vertrauensbruch eine therapeutische Beziehung
entstehen, die auf kontrolliertem Vertrauen basiert. Um jemandem Freigang zu
geben, weil man ihn für ungefährlich oder geheilt hält, bedarf es keines besonders
großen Vertrauens. Umgekehrt ist nicht zu erwarten, dass ein Patient Respekt
gegenüber Therapeuten und Ärzten hat, die er leicht täuschen kann und dabei
nicht einmal ahnen, getäuscht werden zu können.
Die hier herausgearbeitete Systemik bestärkt die eingangs bereits angedeutete
These, dass gerade der Rückfall den Wendepunkt zu einer neuen Interaktions-
dynamik darstellt. Nach dieser Weichenstellung beginnen sich die Werte
innerhalb der Leerstellengrammatik des forensischen Arrangements neu
zu konfigurieren. Streng genommen kann erst hier Therapie im Sinne einer
konditionierten Koproduktion, in der sich beide Seiten verändern, beginnen.
Einem Patienten zu zeigen, dass man bereit ist, mit ihm ein Risiko einzu-
gehen, offenbart, dass man ihn als Menschen ernst und sein Wohlergehen für
218 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

wichtig nimmt und man deshalb bereit ist, ihm zu vertrauen und für die damit
verbundenen potentiellen Konsequenzen Verantwortung zu übernehmen. Dies ist
ein Vertrauen, das nicht allein auf die Sachdimension begrenzt ist (etwa auf die
Einschätzung, ob manche der destruktiven Fantasien fortbestehen oder nicht),
sondern vor allem auch in der Sozialdimension angesiedelt ist – etwa in der
Erwartung, dass das dem anderen Menschen entgegengebrachte Vertrauen diesen
dazu anruft, den hiermit einhergehenden Erwartungen gerecht zu werden, selbst
wenn zunächst auch teilweise andere Impulse vorherrschen mögen.
Entsprechend werden sich die Ärzte und Therapeuten nur deshalb erneut auf
den unbegleiteten Ausgang von Herrn Salier einlassen, weil sie ihn schon lange
kennen, mit seinen Verhaltensweisen vertraut geworden sind und entsprechende
Erwartungen herausgebildet haben. Denn als kompetente und reflektierte
Akteure wissen sie genau, dass sie um die Bewusstseinszustände des Patienten
nicht wirklich wissen, sehr wohl aber die Trajektorien der Beziehungsdynamik
nachzeichnen können. Aus diesem Blickwinkel können sie – auch durch ihre
Erfahrungen mit anderen Patienten – darauf schließen, dass ein geständiger
Patient, nachdem zehn Jahre lang der unbegleitete Ausgang ausgesetzt war, die
sozialen Spielregeln der forensischen Psychiatrie verstanden hat. Dass er dabei
gelegentlich beim Lügen ertappt wird oder das eine oder andere Mal durch sein
Dominanzverhalten unangenehm auffällt, steht dieser Einschätzung kaum ent-
gegen – sondern bestärkt im Gegenteil das Beziehungsmuster. Man weiß ja,
mit wem man es zu tun hat und kann dies dem Patienten auch zeigen; der per-
formative Akt des Vertrauens wiegt aus Sicht des Gegenübers umso schwerer,
wenn diesem bewusst ist, dass man hiermit wissentlich und willentlich ein nicht
unerhebliches Risiko eingeht – dass es also kein ‚blindes‘ Vertrauen ist. Ein dis-
sozialer Patient, der sich innerhalb der Klinik gewisse Autonomiespielräume
aufrechterhält, aber nicht über Gebühr ausrastet, verspricht, sich im Rahmen
kleinerer Grenzüberschreitungen auch draußen einigermaßen im Griff zu halten.
Freilich bleibt auch hier ein Restrisiko bestehen, was sich jedoch am besten
kontrollieren lässt, indem man die in der Klinik etablierten sozialen Formen
draußen weiterführt, also in Beziehung bleibt und zudem die Bewegungen des
Patienten außerhalb der Klinik kontinuierlich im Blick behält.
Bei dem hier verhandelten unbegleiteten Ausgang eines Patienten mit der
Diagnose „sexueller Sadismus“ handelt es sich entsprechend um ein Risiko,
das einzugehen, für die leitenden Ärzte und Therapeuten vertretbar ist. All dies
mag dem ‚gesunden Volksempfinden‘ zuwiderlaufen, was auch von einigen Ver-
tretern der Pflege artikuliert wird. Doch letztlich handelt es sich um eine Risiko-
abschätzung, die mit Blick auf die Wahrscheinlichkeiten in den meisten anderen
4.2  Herr Salier: Das Risiko des Vertrauens 219

Bereichen unseres Lebens ohne zu zögern in eine positive Haltung gegenüber


dem verhandelten Gegenstand münden würde. Man denke etwa an die Gefahren
des Straßenverkehrs:
Wir steigen – ohne dies kritisch zu hinterfragen – in ein Auto, bei dem die
Bremsen versagen können, und vertrauen darauf, dass die zweijährliche Kontrolle
beim TÜV hinreicht, so wie wir auch voraussetzen, dass Wahrnehmung und
Reaktionsvermögen der anderen Verkehrsteilnehmer nicht versagen. Wir tun dies,
weil wir alltagspraktisch gelernt haben, mit den Gefahren umzugehen und die
Erfahrung gemacht haben, dass es in der Regel gut geht.
Im Unterschied zum Straßenverkehr liegt die Vertrauensbildung im
Maßregelzug jedoch nicht allein in einer Gefahrenabschätzung auf der Sach-
ebene, wie die im Interview mit dem Oberarzt anklingenden prognostischen und
diagnostischen Überlegungen zunächst nahelegen. Fragen nach dem sozialen Netz-
werk außerhalb der Klinik, nach Drogen- und Alkoholkonsum, der Bereitschaft
und Fähigkeit einer Arbeit nachzugehen, sind bedeutsam und konditionieren als
Bedingungsfaktor ebenso die Entscheidung wie die leitende Diagnose.
Im Gegensatz zum Straßenverkehr konstituieren sich Vertrauensverhältnisse
im Maßregelvollzug – wie generell in jedem zwischenmenschlichen Geschehen –
vor allem auch auf der Beziehungsebene bzw. Sozialdimension. Hierzu
gehören die wechselseitige Wahrnehmung, die damit verbundenen Erwartungs-
bildungen und Selbstfestlegungen der beteiligten Akteure, wie sie sich in einer
gemeinsamen, oftmals langjährigen Beziehungsgeschichte herausgebildet haben.
Gerade in dieser Hinsicht sind ritualisierte Patientengespräche, wie sie etwa in
der Oberarztvisite auftreten, äußerst bedeutsam. Sie zeigen an, wie auf welche
Weise und mit welcher Beständigkeit sich der Patient in die von ihm erwarte
(Kranken-)Rolle einfügt und welche Erwartungen und Erwartungserwartungen
damit als stabile bzw. tragende Beziehungsstruktur vorausgesetzt werden können.
Damit wird aber auch deutlich, dass Patienten mit solch einer schwer-
wiegenden Deliktgeschichte wie Herr Salier nie vollständig aus dem
therapeutischen Regime entlassen werden können. Auch im Freigang oder nach
einer Entlassung sind die Patienten an institutionelle Beziehungen rückzubinden,
die nicht nur auf der Sachdimension eine Kontrolle ermöglichen, sondern auch
auf der Sozialdimension die notwendigen Erwartungsstrukturen stabilisieren.
Schauen wir abschließend auf einen Gesprächsausschnitt aus dem Inter-
view mit dem Chefarzt, das wir vier Wochen nach der Oberarztvisite geführt
haben. Die Entscheidung für den unbegleiteten Ausgang ist mittlerweile offiziell
gefallen. Der Chefarzt rekapituliert die Problematik wie auch die Bedingungen,
unter denen er diesen verantworten kann:
220 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Interviewer: Haben Sie sich [bei Herrn Salier] jetzt entschieden oder wie ent-
scheiden Sie sich?
Chefarzt: Nein, entschieden habe ich mich schon, also wir müssen jetzt die nächsten
Schritte schon gehen. Der geht auch unbegleitet raus. Aber er muss noch bestimmte
Zuarbeiten machen, die ich von ihm einfach brauche, wie Hilfe- und Krisenplan, der
muss richtig auf ihn zugestellt sein und so. […]
Na ja, da ist ja die Frage, auch da kann man sich nicht sicher sein, wie klar sind die
Fantasien durch die Spritze zurückgedrängt. Er benimmt sich jetzt sehr konform, er
kann mit uns darüber reden, er ist offener geworden, das hat er früher überhaupt
nicht, über diese Sachen geredet. Also das Herangehen an die therapeutischen
Sachen und dann das, was er an Themen anbietet, ist anders, als vor, ja, ich habe
mit Herrn Martin gesprochen, als vor, also dem Therapeuten, als vor sechs Jahren
ungefähr, da ist die Wende irgendwie passiert ist. Und seit da an ist er eigentlich
ehrlicher im Umgang. Er spricht über die Fantasien, spricht über seine Kindheit,
hat die Tatortbesuche und solche Sachen gemacht. Und ist eigentlich bereit da, zur
Mitarbeit. Und das ist so ein Punkt, wo ich für mich sage, ja, den Schritt könnte
man gehen. Ich gehe – wenn – diesen unbegleiteten Schritt sehr kleinschrittig,
das hab ich mit ihm auch so besprochen, weil ich einfach, er muss das Vertrauen
aufbauen, das er durch die vergangenen Jahre so verloren gegangen ist. Das ist,
was er als Auftrag von mir hat. Und ich muss aber ihm das Vertrauen auch/Also
wir müssen gegenseitig uns das Vertrauen geben, zu sagen, okay, ich kann mich
darauf verlassen, dass er ehrlich im Umgang mit der Klinik ist. Und ehrlich sagt,
was ihn bewegt, was ist. Also wir gehen jetzt zum Beispiel vom Kleinschrittigen,
noch haben wir es nicht offiziell, aber ich habe es mit dem Therapeuten schon
besprochen, wir werden jetzt so da rum, es geht einmal darum, dass er wirklich hier
im Areal guckt und mit den Therapeuten zum Beispiel zusammen geht an Stellen,
wo früher Auffälligkeiten waren, hier in der Region.
Interviewer: Ja.
Chefarzt: Einfach um zu gucken noch mal, um dahin zu laufen, um zu schauen, wie
er sich da positioniert und so was. Das sind so Sachen, die wir, wo wir jetzt ein biss-
chen anders rangehen als früher. Und wo eben auch wichtig wäre oder wichtig ist,
dass die Pflege, dass ich denen vermitteln kann, warum ich diese Entscheidung so
treffe, weil, die müssen es mit beobachten. […] Die Verantwortung liegt bei mir,
aber sie müssen eben einfach dranbleiben. Ich muss mich verlassen können, dass sie
dran sind und merken, wenn was sich verändert. Und das muss ich eben noch ver-
mitteln. Das sind zwei Seiten, die ich vermitteln muss, einmal mit Herrn Salier und
mit dem Therapeuten zusammen, dass, wie machen wir es, aber auch mit der Pflege
zusammen, wie kontrollieren wir es? Oder wie können wir es beobachten und im
Blick behalten. […] Also das ist schon eine grenzwertige Geschichte, dass wir den
Weg gehen. Vor sechs Jahren wurde ihm gesagt, er wird nie wieder rauskommen aus
dem Maßregelvollzug, er soll sich hier einrichten und wir würden ihm einige Zuge-
ständnisse machen, damit er es bequem hat und sozusagen gut über die Zeit kommt.
Und jetzt ist es natürlich eine ganz andere Richtung.

Gerade auch für den Chefarzt ist es klar, dass der unbegleitete Freigang mit einem
nicht unerheblichen Risiko einhergeht („Also das ist schon eine grenzwertige
4.2  Herr Salier: Das Risiko des Vertrauens 221

Geschichte, dass wir den Weg gehen“). Zugleich kann er dies unter der Voraus-
setzung verantworten, dass ein enges Beziehungsnetz zum Personal aufrecht
erhalten bleibt („Die Verantwortung liegt bei mir, aber sie müssen eben einfach
dran bleiben“). Hiermit kommt zugleich Organisation ins Spiel, also ein Gebilde
mit vielen Händen, Ohren und Augen, bei dem man eine funktionierende Arbeits-
teilung voraussetzen kann, wobei es dann besonders darauf ankommt, sich auf die
Mitarbeit der Pflege verlassen zu können. Der Chefarzt kann den riskanten Weg
gehen, wenn er weiß, dass das Personal die von ihm verlangten Aufgaben erfüllt.
Auch hier kommt wiederum Vertrauen ins Spiel, nun jedoch mit Blick auf die
Menschen auf der eigenen Seite: Der Chef muss der von ihm geführten Institution
vertrauen können.
Die Organisation kann aber darüber hinaus auch noch formale Lösungen
anbieten, etwa indem ein auf den Patienten ausgerichteter „Hilfe- und Krisenplan“
aufgestellt wird und die Lockerung als eine stufenweise Entwicklung geplant wird,
die „sehr kleinschrittig“ angegangen wird. Auf diese Weise lässt sich dann auch
die Vertrauensfrage temporalisieren, das heißt prozesshaft in der Zeit entfalten. Das
„verloren gegangene“ Vertrauen muss nun Stück für Stück aufgebaut werden, was
übersetzt in eine formale Organisationsperspektive eben heißt, einen detaillierten
Plan niederzuschreiben. Hier wird dann unter anderem festgelegt, in welcher
Reihenfolge welche Freiheitsgrade gewährt werden können, um kontrollieren zu
können, ob der Patient den an ihn gestellten Erwartungen gerecht wird oder nicht.
Zugleich ist gerade auch dem Chefarzt bewusst, dass sich Vertrauen nicht
mechanisch als Abfolge rein sachlich objektivierbarer Schritte abbilden lässt.
Vertrauen beinhaltet nolens volens die Sozialdimension. Es beruht darauf, dass
ein Mensch einem anderen Vertrauen schenkt („Also wir müssen gegenseitig uns
das Vertrauen geben“). Zu sagen ‚ich vertraue Dir‘ ist, wie Austin (1979) im
Anschluss an Wittgenstein aufzeigt, ein performativer Sprechakt. Vertrauen kann
nicht in einem objektiven Sinne gewusst oder festgestellt werden. Vertrauen kann
nur gegeben, also sich selbst und anderen ausgesprochen werden („zu sagen,
okay, ich kann mich darauf verlassen, dass er ehrlich im Umgang mit der Klinik
ist“). Es beruht damit auf einem wechselseitigen Versprechen – in diesem Fall:
sich selbst und den anderen unter dem Blickwinkel der bestehenden Beziehung
dazu zu verpflichten, dass es schon gut gehen wird.
Aus soziologischer Perspektive ist genau dies keine Selbstverständlichkeit,
sondern beruht auf einem komplexen Arrangement, das solch einen (im Falle
von Patienten wie Herrn Salier zunächst sehr unwahrscheinlichen, jedoch nicht
unmöglichen) Akt des wechselseitigen Vertrauens möglich macht.
An dieser Stelle ist es sinnvoll, das Augenmerk nochmals auf die Bezugs-
probleme zu lenken, die zu Beginn des Kapitels eingeführt und diskutiert
222 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

wurden. Der Intransparenz von Körper, Psyche und Kommunikation kann


nicht anders begegnet werden, als in Hinblick auf die bisherige Interaktions-
geschichte Erwartungen herauszubilden, diese mit neuen Erfahrungen abzu-
gleichen und ggf. zu korrigieren und daraufhin – wenn möglich – einen weiteren
Schritt zu wagen. Soziologisch gesprochen begegnen wir hier dem Problem der
„doppelten Kontingenz“ und seiner Lösung (Luhmann 1984, S. 148). Auf beiden
Seiten der Interaktion ist man sich unsicher, was in dem jeweils anderen vorgeht
(seine Psyche ist intransparent und seine körperlichen Zustände sind unzugäng-
lich), es bleibt also nichts anderes übrig, als sich am Verhalten des Gegenübers zu
orientieren und das eigene Handeln daran anzupassen. Vertrauen heißt unter diesen
Bedingungen: Ich kann es nicht sicher wissen, aber ich gehe davon aus, dass es
schon gut gehen wird und dass diese Annahme für beide Seiten (wie auch für die
Beziehung) die bestmögliche Rahmung darstellt. Aus nahe liegenden Gründen ist
dies in Hinblick auf forensische Patienten hochgradig voraussetzungsvoll.
Als zweites Bezugsproblem haben wir die Verschränkung von Recht und
Medizin in der forensischen Diagnostik benannt. Dieses hängt einerseits mit der
Frage der Intransparenz von körperlichen und psychischen Prozessen zusammen,
welche mit sich bringt, dass psychiatrische Diagnosen meistens nicht sehr exakt
sind und nicht selten im Behandlungsteam gleichzeitig mit konkurrierenden
Diagnosen gearbeitet wird. Auch ist das Verhältnis von Therapie und Diagnose
oftmals nur lose gekoppelt (so nehmen dann Sexualstraftäter in der Regel
unabhängig von der spezifischen Diagnose an den diesbezüglich aufgesetzten
gruppentherapeutischen Programmen teil). Das Recht erzwingt demgegenüber
andererseits eine Scharfstellung der Diagnose.14 Wer nur ‚dissozial‘ und nicht
psychisch krank ist, kommt bei entsprechenden Vergehen ins Gefängnis und
nicht in den Maßregelvollzug. Wer die Diagnose ‚sexueller Sadismus‘ bekommt,
muss gar mit einer Langzeitunterbringung rechnen. In dieser spezifischen
Konstellation von Medizin und Recht stellen Diagnosen nicht nur begründete

14 
Dass medizinfremde Funktionsbezüge diagnostische Entscheidungen modulieren
können, zeigt dann auch das Problem der ökonomischen Konditionierung in der Kranken-
hausfinanzierung durch die Diagnose-Related-Groups, etwa wenn ein Up-Coding von
Diagnosen opportun erscheint, um das Krankenhausbudget zu sichern (s. etwa Vogd
2006a). Die Finanzierung der Behandlungen in der forensischen Psychiatrie ist jedoch
nicht unmittelbar an die Diagnosestellung gekoppelt.
4.2  Herr Salier: Das Risiko des Vertrauens 223

Arbeitshypothesen dar, um die Symptome des Patienten erklären und verstehen


zu können, sondern sind zugleich ein Urteil.
Diese spezifische Verschränkung von Recht und Medizin eröffnet auf-
seiten der Psychotherapeuten wie auch der Ärzte die Möglichkeit, Diagnosen in
diese Richtung hin anzupassen – sei es, indem eine etwas harmlosere Diagnose
gegeben wird, um dem Patienten früher im Freigang erproben zu können, oder
umgekehrt eine schwerwiegendere Diagnose, um ihn länger behalten. Im Einzel-
fall (wie hier mit Blick auf den ersten Psychotherapeuten angedeutet) könnte
eine Diagnose gar zur Bestrafung im Anschluss an eine Erwartungsenttäuschung
genutzt werden.
Aufseiten des Patienten heißt dies, dass er nicht einfach nicht einfach ‚kontext-
frei‘, das heißt: nur um der psychiatrischen Diagnostik willen, Auskunft über
seine inneren Zustände Auskunft geben kann. Spätestens nach einer gewissen
Psychiatrieerfahrung (etwa, wenn er einmal einen Begutachtungsprozess durch-
laufen hat) weiß auch er um die rechtliche Bedeutung von Diagnosen. Auf der ärzt-
lichen oder therapeutischen Seite wird man dann entsprechend wieder erwarten,
dass der Patient nicht alles sagt (dass er vielleicht einige der sich andeutenden
Symptome unterschlägt oder nicht jede seiner Fantasien so berichtet, wie es für
Krankheitseinschätzung angemessen wäre).
An den Weichenstellungen im Behandlungsprozess – insbesondere, wenn die
Entscheidung für oder gegen eine weitergehende Lockerung (hier: unbegleiteter
Ausgang) getroffen wird – haben die externen Gutachter wie auch die leitenden
Ärzte dann ihrerseits eine Lösung für die benannten Bezugsprobleme zu finden.
Ein Aspekt der Lösung besteht in der Form des Verfahrens selber: Es werden
Stellungnahmen externer Experten angefragt und diese wiederum durch die ver-
antwortlichen Ärzte reflektiert werden, wodurch unterschiedliche Stimmen und
Perspektiven in eine formale Entscheidung überführt werden.
Hätte etwa der externe Gutachter in dem zuvor vorgestellten Beispiel die auf
den „sexuellen Sadismus“ hinweisenden Aspekte prognostisch deutlich schlechter
bewertet, so wäre damit die Weiche in Richtung Langzeitunterbringung und nicht
in Richtung Rehabilitation gestellt worden. Auf inhaltlicher Ebene wiederum
kann die Lösung in einer komplexen Hermeneutik bestehen, mit der versucht
wird, die Kontextbedingungen von diagnostischen Urteilen in die Gesamtein-
schätzung miteinzubeziehen, um somit zu einem umfassenden Bild zu gelangen,
das eine gut durchdachte Entscheidung ermöglicht. Im vorliegenden Fall zeigt
sich dies etwa, wenn der leitende Oberarzt mögliche persönliche, die Diagnostik
beeinflussende Motive des ersten Therapeuten reflektiert und (an anderer Stelle
224 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

im Interview) mit Blick auf den zweiten Therapeuten Verzerrungen zugunsten des
Patienten sowie eine Reihe weiterer Kontextfaktoren in Betracht zieht.
An dieser Stelle lässt sich dann vermuten, dass auch Stil, Haltung und
Persönlichkeit der entscheidenden Akteure eine Rolle spielen. Die einen mögen
vielleicht Freude an komplexen Überlegungen und Abwägungen haben, die
anderen mögen demgegenüber habituell eher auf Nummer sicher gehen wollen.
Die funktionale Methode lenkt das Augenmerk auf die Tatsache, dass in
Bezug auf die benannten Dilemmata und Unsicherheiten unterschiedliche
Weichenstellungen möglich sind. Der Blick auf den funktionalen Zusammenhang
zeigt Spielräume auf, die dann auch von den professionellen Akteuren bewusst
genutzt werden können.
Wie zuvor bereits angedeutet, demonstrieren Diagnosen immer auch, wie
ein Mensch von anderen gesehen wird, und machen diesem damit ein Angebot,
wie er sich selbst sehen kann. Dies zu reflektieren, kann dazu beitragen, die per-
formative Kraft von Diagnosen weitaus bewusster für den Behandlungsprozess
zu nutzen, als es üblicherweise geschieht. Sie gestatten gewissermaßen die Her-
stellung totaler Identitäten (etwa derart: mit dieser Diagnose kommt er nie wieder
raus) sowie die Revision dieser Urteile. Bei manchen Fällen kann dies absichtlich
oder unabsichtlich dazu genutzt werden, eine Konversion der Selbst- und Welt-
verhältnisse einzuleiten: Bei Herrn Salier scheint die Diagnose sexueller Sadis-
mus zunächst zu einer Art Kapitulation und damit einhergehend zur Annahme
der Patientenrolle geführt zu haben – was sich konkret als Einwilligung in die
chemische Kastration zeigte. Infolgedessen ist auch mit Blick auf sein Selbst-
verhältnis zu erwarten, dass seine Selbstwertzufuhr nicht mehr (oder deutlich
weniger) durch sexuelle Potenz gespeist wird, was wiederum ermöglicht, dass
sich – wenn die psychiatrischen Protagonisten hierzu bereit sind – auch die
Diagnose wieder verschieben kann.
Sich auf eine Krankheitsursache festzulegen, kann bei allen Beteiligten
auch die Motivation wecken, die mit dieser Ursache einhergehend attribuierten
Bedingungen zu verändern. Im Sinne einer geteilten Wirklichkeit weiß man
jetzt, was zu tun ist und kann in konditionierter Koproduktion gemeinsam daran
arbeiten, ein neues Existenzverhältnis zu erschaffen. Freilich setzt dies ein
Behandlungsteam voraus, das über ein hinreichendes Reflexionsvermögen verfügt
und zudem bereit ist, in einem subtilen Gleichgewicht aus Vertrauen und Miss-
trauen in Beziehung zum Patienten zu treten.
Die Beobachterabhängigkeit der psychiatrischen Diagnose heißt damit keines-
wegs, dass die diagnostische Tätigkeit falsch, unbedeutend oder von geringem
prognostischem Wert sei. In allen drei Aspekten ist das Gegenteil der Fall. Die
4.3  Frau Krampen: In der Klinik ein Zuhause finden?! 225

Diagnose ist – nicht zuletzt aus rechtlichen Gründen – unabdingbar für die
Konstruktion des forensischen Patienten und die hierauf aufbauende Kranken-
behandlung – doch nur wenn diese gut konstruiert wird, ergibt sich für ihn eine
Perspektive der Rehabilitation. Gerade in Anbetracht der Gefährlichkeit der
forensischen Patienten bleibt dem Personal keine andere Wahl, als sich immer
wieder darüber Gedanken zu machen, was beim Patienten der Fall ist und was die
hiermit einhergehenden Zuschreibungen mit diesem, der rechtlichen Situation,
der Beziehung zu ihm und der damit verbundenen Entwicklungsperspektive
machen.

4.3 Frau Krampen: In der Klinik ein Zuhause finden?!

Wir möchten nun einen Fall vorstellen, der sich durch ein Selbst- und Welt-
verhältnis auszeichnet, welches sämtliche Bemühungen um Rehabilitation zu
sabotieren scheint.
Gerade deshalb scheint es lohnenswert, sich genauer anzuschauen, wie sich
die Organisation von Therapie mit der Falldynamik verschränkt. Wir bleiben
damit einer Analyseperspektive treu, welche einerseits individuelle und krank-
heitsbezogene Vulnerabilitäten eines psychiatrischen Patienten anerkennt, darüber
hinaus aber in besonderem Maße auf die Wechselwirkungen der psychischen mit
den sozialen und damit auch den institutionellen Bedingungen schaut.
Frau Krampen ist seit ihrem zwanzigsten Lebensjahr in unterschiedlichen
Einrichtungen des Maßregelvollzugs untergebracht. Sie ist zum Zeitpunkt des
Interviews dreiunddreißig Jahre alt. Der Anlass für die Einweisung vor dreizehn
Jahren waren ‚Brandstiftung‘ und ‚schwere Körperverletzung‘. Im Interview
darauf angesprochen, schildert sie die Situation mit knappen Worten:

Interviewer: Können Sie mir erzählen, wie das passiert ist damals?
Frau Krampen: Na, ich hatte so einen Erregungszustand gehabt, also ich hatte,
wollte nicht mehr, mit der Brandstiftung war es so gewesen, dass ich nicht mehr
leben wollte, dass ich dann halt mein Zimmer angezündet habe. Und irgendwann
hatte ich dann einen Freund gehabt, der immer mit seinem Zeug angegeben hat, da
hatte ich ihn schwer verletzt. Das hat mir halt nicht gefallen, habe vorher die Polizei
angerufen.

Die ersten Jahre in der forensischen Klinik gestalten sich für alle Beteiligten recht
schwierig. Die Patientin zeigt immer wieder selbstverletzendes Verhalten und
zudem kommt es gelegentlich zu körperlichen Übergriffen gegenüber Mitgliedern
226 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

des Personals. Für die Patientin wurde damals extra ein weiches Zimmer ein-
gerichtet, ein gepolsterter Krisenraum.15 Laut Bericht der Ärzte hat sie gelegent-
lich selbst darum gebeten, fixiert zu werden. Für einige Zeit wurde die Patientin
zudem in eine andere forensische Klinik verlegt. Seit 4 Jahren ist sie wieder in
der Klinik, in der die Feldforschung stattfand.
Es wurde für sie ein spezielles verhaltenstherapeutisches Programm ent-
wickelt, das darauf zielt, über gezielte negative und positive Anreize in kleinen
Schritten daran zu arbeiten, sich den Anforderungen des normalen Lebens
anzupassen. Frau Krampen folgt dem Programm einige Zeit, doch irgend-
wann beginnt ihre Motivation abzunehmen. Zudem kommt es immer wieder zu
selbstschädigendem Verhalten. Da jedoch seit einigen Jahren kein aggressives
Verhalten gegenüber anderen Menschen, insbesondere auch gegenüber dem
Personal mehr aufgetreten ist, streben die Ärzte und Therapeuten nun eine Ver-
legung in eine andere Einrichtung an, denn – so die Worte der Oberärztin –
„selbstverletzendes Verhalten ist nicht strafbar und damit keine Indikation für
die forensische Psychiatrie“. Da zudem die Therapeutin, welche sie die letzten
Jahre betreut hat, die Einrichtung in Kürze verlassen wird, erscheint dies dem
therapeutischen Personal als ein guter Anlass, die Verlegung in ein Heim zu
bahnen, in dem die Patientin weiterhin betreut werden kann.
Schauen wir zunächst auf zwei Bezugsprobleme, die im vorliegenden Fall
in besonderer Weise sichtbar werden, bevor wir uns ausführlicher mit dem Fall-
geschehen beschäftigen. Bei dem ersten Bezugsproblem handelt es sich um
die produktiven wie auch problematischen Folgen der Internalisierung des
psychiatrischen Regimes, was unter anderem mit der Gefahr von Hospitalisierung
einhergehen kann: Patienten können sich so sehr an eine Einrichtung gewöhnen,
dass diese als ihre eigentliche Heimat erscheint und sie deshalb bewusst oder
unbewusst dagegen arbeiten, diese wieder verlassen zu müssen. Bei dem zweiten
Bezugsproblem handelt es sich um die bei der in jeder therapeutischen Interaktion
stattfindenden Verschränkung der Sach- und Beziehungsebene zu einem Existenz-
verhältnis. Da insbesondere die Psychotherapie auf menschlichem Kontakt und

15 In den anderen Krisenräumen der Einrichtung sind die Wände nicht gepolstert, sondern
gekachelt. In der Mitte des Raumes findet sich dann ein am Boden festgeschraubtes Bett,
an dem die Patienten im Krisenfalle angeschnallt (›fixiert‹) werden können. Die Idee der
weichen Zimmer ist dem Soteria-Konzept entlehnt (vgl. Aebi et al. 1996) und zielt darauf
ab, dass die Patienten ihre Krise in einem geschützten Raum ausleben bzw. durchtunneln
können, ohne dass zusätzlich eine medikamentöse Sedierung oder eine Fixierung nötig ist
(vgl. Aebi et al. 1996).
4.3  Frau Krampen: In der Klinik ein Zuhause finden?! 227

Beziehungen beruht, läuft sie Gefahr, in den hiermit einhergehenden sozialen


Räumen Erwartungsstrukturen zu entfalten, die in eine andere Richtung weisen
als die mit den therapeutischen Programmen formulierten Ziele.

Bezugsproblem: ‚Internalisierung des psychiatrischen


Regimes‘

Wenn Menschen nicht mehr in der Lage sind, autonom ihr eigenes Selbst- und
Weltverhältnis entsprechend gängiger gesellschaftlicher Standards aufzubauen,
spricht man von ‚geschädigter Autonomie‘.16 Mittels Therapie kann dann ver-
sucht werden, dem betroffenen Menschen wieder mehr selbstgestaltete Hand-
lungsspielräume zu eröffnen. Nicht zuletzt durch die Unterstützung der Pflege
können dabei fehlende Kompetenzen ersetzt werden, sodass der Patient trotz
offensichtlicher Defizite in der autonomen Lebensführung als lebender Körper
wie auch als Person im Sinne einer sozialen Adresse bestehen bleibt (sodass etwa
Angehörige den Patienten im Hospital besuchen können).
Eine längere Zeit in einer forensischen Klinik zu verbringen, bedeutet per se, in
seinen Eigenbewegungen erheblich eingeschränkt zu sein. Begründet und gerecht-
fertigt wird dies durch die Diagnose einer (psychiatrischen) Erkrankung, die mit
einer beschädigten Autonomie sowie mit einem selbst- oder fremdschädigenden
Verhalten verbunden ist, das solch ein Ausmaß annimmt, dass ein (Über-)Leben in
normalen gesellschaftlichen Verhältnissen nicht mehr möglich erscheint.
Durch das Setting wird den Betroffenen dann eine Reihe von Supplementen
zur Seite gestellt, welche die fehlenden Aspekte, die eine autonome und gesell-
schaftsfähige Persönlichkeit auszeichnet, kompensieren sollen: So kompensieren
die Mauern der Klinik die fehlende Affektkontrolle. Die gleiche Funktion erfüllen
die ständig präsenten Pflegekräfte, die den Patienten notfalls auch mit körper-
licher Gewalt zurückhalten können, sich oder anderen etwas anzutun. Die Pflege
kann zudem einen Teil der alltäglichen Versorgungsleistungen übernehmen,
etwa wenn Patienten – beispielsweise im Fall einer schweren Psychose – hierzu

16 
Insbesondere der Soziologe Ulrich Oevermann hat in seiner klinischen Soziologie
das Konzept der „geschädigten Autonomie“ eingebracht. Patienten erscheinen dabei per
Definitionem nicht mehr in der Lage, ihre Lebenspraxis in allen Aspekten autonom zu
bewältigen, weshalb sie auf externe Hilfe angewiesen sind. Die professionelle Praxis der
Ärzte und Therapeuten hat entsprechend darauf abzuzielen, dem Patienten zu helfen, seine
Autonomie wiederzuerlangen (Oevermann 1990).
228 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

nicht mehr in der Lage sein sollten. Die Therapeuten geben mit ihren Gesprächs-
und Deutungsangeboten eine Antwort auf das Unvermögen der Patienten, ihre
Situation und ihr Verhalten verstehen zu können. Die Nähe und Empathie des die
Patienten auch in Krisen begleitenden Personals steht für die fehlenden positiven
sozialen Kontakte, in deren Spiegel die Patienten lernen können, sich selbst zu
akzeptieren und mittels reziproker Beziehungen zu anderen Selbstakzeptanz und
Selbstkontrolle aufzubauen.
Insbesondere in psychodynamisch informierten Therapieansätzen stellt dabei
die Entwicklung eines Menschen vom Kind zum Erwachsen das leitende Modell
dar. Diese verläuft in Richtung von extremer Abhängigkeit von den Bezugs-
personen (Säuglingsstadium) in Richtung zunehmender Autonomie, die es den
Akteuren ermöglicht, ihr Selbst- und Weltverhältnis zunehmend eigenständig zu
gestalten.
Im Sinne der Objektbeziehungstheorie von Winnicot (2020) soll
psychiatrischen Patienten die Chance eröffnet werden, die zunächst außerhalb
von ihnen stehenden stützenden Bewegungen zunehmend zu internalisieren und
als eigene Handlungs- und Kontrollmöglichkeiten zu erfahren. So wie ein Klein-
kind über die Interaktion mit seinen Bezugspersonen beginnt, sich in mimetischer
Identifikation mit den hiermit einhergehenden Verhaltensmustern zu identifizieren
(etwa indem es auch in Abwesenheit des Vaters dessen strenge, bestrafende Hand-
lungen antizipiert und die hiermit assoziierten Gefühle bereits in der aktuellen
Gegenwart spürt), soll auch das Setting des Maßregelvollzugs dem Patienten
helfen, die unterentwickelten Aspekte seiner Persönlichkeit auf diesem Wege auf-
zubauen.
Idealerweise würden sich die externen Helfer am Ende dieses Prozesses dann
mehr und mehr zurückziehen, da der Patient irgendwann – oftmals in einem viele
Jahre andauerndem Prozess der tertiären Sozialisation – gelernt haben sollte, mit
sich selbst in einer produktiven Weise umzugehen. Er oder sie sollte dann also in
der Lage sein, sich selbst zu helfen, bzw. sich eigenständig von anderen Unter-
stützung zu holen, wenn Probleme auftauchen. Für forensische Patienten kommt
hinzu, dass sie in der Lage sein sollten, ihre Affekte in unterschiedlichen Lebens-
lagen so unter Kontrolle zu haben, dass sie keine schweren Straftaten mehr
begehen. Dies setzt in der Regel auch voraus, dass die Patienten gelernt haben,
wie sie ihre Bedürfnisse in einer den Umständen angemessenen Form ausleben
können.
Irgendwann sollte das helfende und begrenzende Regime der forensischen
Psychiatrie durch den Patienten also soweit internalisiert worden sein, dass er sein
Leben wieder einigermaßen autonom führen können, wenngleich dies bei vulnerablen
Menschen in der Regel auch weiterhin nur mit institutioneller Unterstützung
4.3  Frau Krampen: In der Klinik ein Zuhause finden?! 229

möglich sein wird (denkbar sind hier etwa Gemeinschaften betreuten Wohnens,
in denen dann deutlich mehr Freiheitsgrade bestehen als im Maßregelvollzug,
jedoch weiterhin Sozialarbeiter und gegebenenfalls auch einige Pflegekräfte
stützend zur Seite stehen). Mit Blick auf die These der Inkorporation des
therapeutischen Regimes sollte also insbesondere bei Langzeitpatienten zu
erwarten sein, dass die entsprechenden restringierenden Imperative und die damit
verbundenen Beziehungsstrukturen von ihnen auf die eine oder andere Weise
internalisiert worden sind.
Soweit die Theorie, wie sie sich aus psychodynamischer Perspektive, aber
auch in vielen systemischen Ansätzen darstellt.17
Schauen wir nun auf eine illustrative Szene, in der bereits einige zentrale
Aspekte der Falldynamik von Frau Krampen deutlich werden:

Montag, 23.8., ca. 13:00 Uhr (auf der Station)


Bei unserem ersten Besuch der forensischen Klinik führt uns der Pflegedienst-
leiter über die Station. Vor dem Krisenraum stoppt er und erklärt uns, dass dort
derzeit Frau Krampen liege, eine Patientin, die sich freiwillig, d. h. auf eigenen
Wunsch dort eingewiesen habe. Um uns den Raum ungestört zeigen zu können,
öffnet er die Tür und spricht die Patientin an, ob sie nicht eine Zigarette rauchen
möchte. Frau Krampen bejaht. Der Stationsleiter holt eine Zigarette aus dem Auf-
enthaltsraum des Personals. Die Patientin verlässt daraufhin den Krisenraum, der
uns anschließend gezeigt wird. Es handelt sich um einen recht kühl wirkenden,
gekachelten Raum. Er enthält in der Mitte ein Bett, das am Boden festgeschraubt ist.
Die Tür hat ein Fenster, durch welches das Zimmer durch das Personal von außen
eingesehen werden kann. Während der Besichtigung wird uns erklärt, Frauen seien
problematischer: Sie fräßen die Dinge in sich herein und wollten Aufmerksamkeit
und Anerkennung. Käme eine Frau in den Krisenraum, hätten als Reaktion häufig
andere Frauen Krisen, um ebenfalls Aufmerksamkeit zu bekommen. Männer würden
zwar manchmal eskalieren, seien dann aber auch schnell zu deeskalieren, Konflikte
seien schnell wieder vorüber, während sie bei den Frauen weiter gären würde.

Bemerkenswert ist hier zunächst, dass sich Frau Krampen selbst in den Krisen-
raum eingewiesen hat. Die Selbsteinschränkung erscheint hiermit vordergründig
als ein autonomer, selbstgewählter Akt. Während andere Patienten – man denke
etwa an die Erzählungen von Frau Schmidt – den Krisenraum eher als Zumutung
erleben denn als Ort, an dem man zur Ruhe kommt oder Heilung erfährt, scheint
sich die Situation für Frau Krampen anders darzustellen.

17 
Siehe zur Verbindung von Systemtheorie, neurobiologischem Konstruktivismus und
Winnicots Objektbindungstheorie etwa Emrich (1994, 2004).
230 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Im Sinne der vorangehenden Ausführungen könnte jetzt vermutet werden,


dass die Patientin bestimmte Prozessstrukturen des Maßregelvollzugs soweit ver-
innerlicht habe, dass sie in der Lage sei, im Falle einer beginnenden Krise ihre
Behandlung imaginativ zu antizipieren und sich entsprechend prophylaktisch ein-
zuweisen.
Es könnte etwa folgende Kausalkette internalisiert worden sein: ‚Wenn ich
ausraste oder durchgedreht bin, komme ich in den Krisenraum. Dies hat mir in
Krisen geholfen, also hole ich mir jetzt selbst Hilfe, um die Krise zu vermeiden.
Ich entscheide mich für die kurzfristige Einschränkung meiner Freiheit durch
die Einzelzelle, weil ich hierdurch mittel- und langfristig eine höhere Autonomie
habe, insgesamt also gesünder bin.‘ Damit würde bei der Patientin ein Selbstver-
hältnis zum Ausdruck kommen, das sich dadurch auszeichnet, Krisen proaktiv
wahrnehmen und angehen zu können.
Mit der Bemerkung des Pflegedienstleiters („Frauen … wollen Aufmerksam-
keit und Ankerkennung“) deutet sich hingegen eine Perspektive an, die einen
anderen, geradezu entgegengesetzten Zusammenhang beinhaltet. Frau Krampens
Symptome scheinen hier in gewisser Weise nützlich und verweisen auf einen
sekundären Krankheitsgewinn: Sie kann sich im Krisenraum der besonderen
Aufmerksamkeit des Pflegeteams gewiss sein. Dies ist allein schon dadurch
garantiert, dass der Raum kontinuierlich überwacht werde, also mindestens jede
halbe Stunde ein Pfleger nachschauen muss, ob noch alles in Ordnung ist.
Die Fähigkeit, die Zeichen einer Krise rechtzeitig zu erkennen, um präventiv
ihre negativen Auswirkungen zu vermeiden, stimmt mit den Zielen des
Maßregelvollzugs überein, sich an hiermit einhergehende Aufmerksamkeit zu
gewöhnen und sie sogar anzustreben jedoch nicht. Frau Krampen hätte jetzt viel-
mehr in Bezug auf ihr Weltverhältnis eine neue Form der sozialen Beziehungs-
gestaltung gefunden. Mit Blick auf das Ziel der Rehabilitation sollte die
Sozialisation in der Klinik jedoch gerade nicht darin münden, das Bedürfnis nach
Beziehung, Begleitung und Unterstützung mit Hilfe von Krisen zu stillen.

Methodologische Bemerkungen
Der Stationspflegeleiter nimmt hier eine funktionale Perspektive ein: Frau
Krampens Krisensymptome sind kein Problem, sondern eine Lösung,
genauer: eine Lösung des Problems, Aufmerksamkeit zu bekommen
und die Beziehung zum Personal zu reaktualisieren. Die soziologische
Beobachterin kann also feststellen: Auch im psychiatrischen Feld selbst
4.3  Frau Krampen: In der Klinik ein Zuhause finden?! 231

wird funktional beobachtet. Es ist zu vermuten, dass dies seinerseits eine


Funktion hat, etwa um eine gewisse Flexibilität im Umgang mit den
Symptomen zu bekommen, sie etwa manchmal als Ausdruck der Krank-
heit ernst zu nehmen, manchmal nur als Suche nach Aufmerksamkeit zu
bewerten und manchmal als Anlass, dies metakommunikativ gegenüber der
Patientin zu thematisieren, um auf diese Weise alternative therapeutische
Weichenstellungen sichtbar zu machen (etwa auf anderem Wege, ohne
Umweg über das Symptom eine Beziehung zum Personal herzustellen).
Ob für die Patientin diese funktionalen Bezüge ‚ebenfalls‘ bzw. ‚wirklich‘
bestehen, können wir nicht sagen. Man kann sie auch nicht einfach fragen,
da primäre und sekundäre Krankheitsgewinne im Latenzbereich liegen, und
dem reflexiven Bewusstsein somit unverfügbar sind. Man kann nicht ein-
fach zugeben, dass man krank geworden ist, um etwas Bestimmtes damit zu
erreichen (etwa, dass man nur die Prüfung nicht machen oder eine Beziehung
intensivieren wollte). Zugleich kann aber eben funktional beobachtet werden
und entsprechend können andere Menschen (etwa das Personal) Symptome
als funktional beobachten. Als sozial angelieferter Sinn lässt sich damit lässt
dann auch in der Selbstbeobachtung die funktionale Perspektive adaptieren,
etwa indem dann für den Patienten selbst die Symptome einen spezifischen
Sinn bekommen. Vielleicht war Frau Krampens Krisensymptom für sie
ursprünglich nicht funktional im Sinne einer absichtsvollen Gewinnung von
Aufmerksamkeit. Aber vielleicht hat sie durch die Reaktionen der Pfleger
gelernt, dass Symptome diesbezüglich genutzt werden können.
Methodologisch darf die funktionale Perspektive also nicht onto-
logisch verstanden werden. Es kann nicht das Ziel sein, eine objektive, d. h.
beobachtungsunabhängige Realität abzubilden. Die funktionale Perspektive
ist vielmehr Ausdruck von Operationen, die bestimmte Konstellationen als
funktionalen Zusammenhang beobachten und sich in ihren Perspektiven
miteinander zu einem Arrangement verschränken. Alles Gesagte ist
beobachterabhängig, doch die Beobachtungsoperationen sind aufeinander
bezogen und konditionieren sich damit wechselseitig. Da sich Frau
Krampen und der Stationspflegeleiter schon seit Jahren kennen, kann im
Sinne der konditionierten Koproduktion davon ausgegangen werden, dass
die funktionale Perspektive ihrerseits zum Bestandteil ihrer Beziehungen
und damit funktional für das Gesamtarrangement geworden ist – sich also
operativ durch genau diese Beziehungen als Muster hervorbringt.
232 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

An dieser Stelle lässt sich bereits erahnen, wie komplex der Zusammenhang von
Beziehung, Symptomen, erlerntem Verhalten, Therapiezielen und Behandlungs-
setting ist. Diese kleine Beobachtungssequenz lenkt den Blick darauf, wie sich
Innerpsychisches (das Denken und Fühlen der Patientin), die Interaktionen mit
dem Personal und die Materialität des Settings (etwa die Tatsache, dass es den
Krisenraum gibt) in einer nicht-trivialen Weise miteinander verwickeln – und es
entsprechend leicht zu paradoxen Effekten kommen kann.
Wir brauchen uns nicht im Sinne der Henne-oder-Ei-Problematik fest-
legen, was zuerst da war, das Bedürfnis nach Aufmerksamkeit oder die im Falle
der Krise gewährte Aufmerksamkeit, der funktionale Zusammenhang bei der
Patientin oder die (Hinein-)Beobachtung durch das Personal, sozial angelieferter
Sinn oder die innerpsychische Interpretation der eigenen Erfahrung. Ob jedoch
all dies die Entwicklung der Patientin im Sinne der Ziele des Maßregelvollzugs
fördert oder möglicherweise gar behindert, ist zunächst eine offene Frage, die
angesichts der Komplexität der Lagerungen und Motive alles andere als leicht zu
beantworten ist.
Darüber hinaus wird in dieser Beobachtungssequenz noch eine weitere
interessante Beziehungsdynamik deutlich, die sich in der Frage des Pflegers
„Möchten Sie eine Zigarette rauchen?“ ausdrückt. Hinter dieser auf den ersten
Blick harmlos erscheinenden Nachfrage verbirgt sich eine komplexe polyphone
soziale Lagerung. Mit der Betonung auf „möchten Sie“ spricht der Pfleger die
Patientin als eine autonome Persönlichkeit an, die jetzt eine Entscheidung treffen
kann. Im Kontext der Unterbringung im Krisenraum einer Zwangseinrichtung,
die sie nicht verlassen kann, erscheint das Angebot jedoch zugleich als Erlaub-
nis durch eine Person, von der die Patientin abhängig ist. Zusammengenommen
erscheint die zunächst routinierte Tätigkeit des Rauchens jetzt als ein Willensakt
der Patientin, der jedoch performativ erst durch die Aufforderung des Pflegers
enaktiert wird. Er gibt hier hiermit also gewissermaßen eine Art Ermächtigung
durch die Suggestion der mit der Frage implizierten Entscheidungsfreiheit.
Anstatt einfach nur zu sagen ‚Gehen Sie eine rauchen‘, wird hier sprachlich
ein zusätzlicher Freiheitsgrad impliziert (als könne man entscheiden, ob man
jetzt rauchen wolle, wenngleich die soziale Dynamik für die Patientin eigent-
lich sowieso nahelegt, der Aufforderung zuzustimmen). Gleichzeitig stellt diese
Interaktion eine Transaktion dar: Sie machen, was ich will und kriegen dafür
eine Zigarette. Genau in dieser Transaktion deutet sich möglicherweise ein
therapeutisches Problem an: Die Klinik will etwas und bekommt es nur, wenn sie
der Patientin dafür etwas gibt.
4.3  Frau Krampen: In der Klinik ein Zuhause finden?! 233

Wenn wir diese Szene mit dem bereits zuvor diskutierten Sachverhalt ver-
binden, dass der Krisenraum eigentlich dazu da ist, Patienten, die ausrasten, zu
isolieren und zu überwachen, so zeigt sich anhand der Beziehungsdynamik, die
in der Interaktion mit dem Pflegedienstleiter aufscheint, eine interessante Ver-
schränkung zwischen den Willensimpulsen der Patientin und dem Zwangs-
charakter der totalen Institution Psychiatrie. Anders als Frau Schmidt, die sich
mit Fußtritten gegen die Zelle wehrt und auch im Nachhinein nicht so recht etwas
Gutes in der Zwangsmaßnahme sehen kann (was sie in Bezug auf ihr Selbstver-
hältnis eine gewisse innere Autonomie gegenüber den Zwängen der Einrichtung
aufrechterhalten lässt), durchkreuzen sich bei Frau Krampen die Grenzen zwischen
ihrem Selbstverhältnis und ihrem Weltverhältnis, das durch den Maßregelvollzug
konditioniert wird (Frau Krampen lässt sich von anderen Autonomie zuweisen und
tut sich selbst Zwang an, indem sie sich in die Zelle einweist).
Auf den ersten Blick könnte man jetzt auf die Idee kommen, genau dies als
Therapieerfolg zu bewerten, etwa als Anzeichen dafür, dass nun nach dreizehn
Jahren Klinikaufenthalten die vielfältigen therapeutischen Bemühungen endlich
Früchte tragen.
Doch um hier zu einer qualifizierteren Einschätzung zu kommen, ist genauer
zu untersuchen, ob die unterschiedlichen Aspekte des Selbstverhältnisses – bzw.
die divergierenden Selbstanteile – auf diese Weise wirklich zu einem Arrange-
ment zusammenfinden, das der Patientin eine Lebensperspektive außerhalb des
Maßregelvollzugs ermöglichen kann. Dies würde unter anderem voraussetzen,
dass die unterschiedlichen verinnerlichten Beziehungsqualitäten im eigenen
Selbst- und Weltverhältnis symbolisiert werden können (etwa als Selbstkontrolle
und Selbstermächtigung), sodass auf diese Weise eine gewisse Distanz von den
jeweils konkret gegebenen Weltverhältnissen der forensischen Psychiatrie mög-
lich wird. Man wird autonom, indem man eine innere Welt aufbauen kann – ein
Selbstverhältnis, das gerade nicht in dem Weltverhältnis (also auch nicht in den
konkret gelebten Beziehungen) aufgeht.18
Ob eine derart differenzierte Konturierung des Selbst- und Weltverhältnisses
auch hier möglich wird oder ob nicht vielmehr eine Konfusion von Selbst und
Maßregelvollzug zum Ausdruck kommt, die genau diese innere Autonomie

18 Um es mit Helmuth Plessner (2002 [1924]) aus Perspektive einer anderen Theoriesprache
zu formulieren. Allein das Aufgehen in den Gesetzlichkeiten der Gemeinschaft führt nicht
zur Autonomie.
234 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

verhindert und die Dauerhospitalisierung begünstigt, muss an dieser Stelle noch


eine offene Frage bleiben.
Das Bezugsproblem sollte deutlich geworden sein. Die Internalisierung
des psychiatrischen Regimes ist einerseits gewünscht, anderseits kann sie
jedoch auch problematisch werden. Es stellt sich die Frage, ob und unter
welchen Bedingungen diese im produktiven Sinne auf die therapeutische Ent-
wicklung der Patientin einzahlt (und damit mittelfristig zu einer Emanzipation
vom Maßregelvollzug führt) oder ob sie umgekehrt eher die langjährige
Hospitalisierung bahnt. Wird die beschädigte Autonomie durch die Inter-
nalisierung des psychiatrischen Regimes überwunden oder werden die hiermit
einhergehenden Beziehungsmuster gar noch bestärkt?
Die Chancen auf Rehabilitation hängen nicht zuletzt davon ab, wie diese
Fragen beantwortet werden.

Bezugsproblem: ‚Beziehung als Existenzverhältnis‘

Im Folgenden möchten wir noch etwas ausführlicher auf ein weiteres Bezugs-
problem eingehen, das sich insbesondere in längeren Psychotherapien stellt. Viele
psychotherapeutische Interventionen setzen am Selbstverhältnis des Klienten
an. Mithilfe gezielter Gesprächs- und Übungsangebote soll der Patient in Bezug
auf klar definierte Problembereiche (Strukturierung des Alltags, Umgang mit
Emotionen etc.) lernen, andere Perspektiven und Haltungen einzunehmen, um
in Folge auch anders handeln zu können. Dabei lässt sich am Verstehen ansetzen
(psychoanalytische oder psychodynamische Ansätze) oder an den Regelkreis-
läufen, die zu den problematischen Symptomen führen (verhaltenstherapeutische
Zugänge). In beiden Fällen könnte man Psychotherapie mit Buchholz auch als
„Supervision schlechter Selbstbehandlungsversuche“ verstehen (Buchholz 1994).
Oftmals wird dabei vernachlässigt, dass der Behandlungsprozess nicht nur
ein Selbstverhältnis gestaltet, sondern zugleich immer auch ein Weltverhältnis.
Zu nennen ist hier nicht zuletzt die Beziehung zwischen dem Therapeuten und
dem Klienten. Diese stellt eine Realität sui generis dar, in dem Sinne, dass sie
ein spezifisches Weltverhältnis konstituiert, in dem dann Klient und Therapeut in
einem jeweils spezifischen Selbstverhältnis erscheinen können.
Aus Perspektive der konditionierten Koproduktion würde damit im Sinne von
Merleau-Ponty sowohl für die psychoanalytische Behandlung als auch für ver-
haltenstherapeutische Programme gelten, dass die Therapie weniger dadurch
„heilt“, dass „sie den Kranken seiner Vergangenheit“ bewusst werden lässt oder
gewünschte Verhaltensweisen ankonditioniert, sondern vor allem dadurch, dass
4.3  Frau Krampen: In der Klinik ein Zuhause finden?! 235

es „durch die Bindung des Patienten an seinen Arzt“ zu „einem neuen Existenz-
verhältnis“ kommt.19 Der Patient ändert sich, wenn sich seine Beziehungen zu
anderen Menschen ändern, weil er (gerade hierdurch) ein anderer wird.20
Darüber hinaus ist natürlich auch die Beziehung zur materialen Umwelt des
Patienten zu berücksichtigen – etwa, dass er in einer geschlossenen Einrichtung
untergebracht ist und das Personal und die anderen Insassen unweigerlich zu
seinem Weltverhältnis gehören. Weltverhältnis und Selbstverhältnis erscheinen
damit unweigerlich verschränkt, nicht identisch, jedoch in einer Weise mit-
einander verwickelt, die keine eindeutige Zurechnung einer Kausalität mehr
ermöglicht. Um es mit Dirk Baecker auf einer abstrakteren Ebene zu formulieren:

„Ein System ist sein Umweltverhältnis im Selbstverhältnis und es ist sein Selbstver-
hältnis im Umweltverhältnis.“21

Die sich an den jeweiligen Positionen manifestierenden Selbstverhältnisse sind


nicht unabhängig von den Umweltverhältnissen zu sehen und auch die hiermit

19 Merleau-Ponty (1974, S. 516 f.).


20 „Die psychoanalytische Behandlung heilt nicht dadurch, daß sie den Kranken seiner
Vergangenheit bewußt werden läßt, sondern vor allem durch die Bindung des Patienten
an seinen Arzt in einem neuen Existenzverhältnis. Nicht darum handelt es sich ihm, der
psychoanalytischen Deutung wissenschaftlich beizupflichten und einen begrifflichen Sinn
der Vergangenheit zu entdecken, sondern darum, dies in ihrer bestimmten Bedeutung
neu zu erleben, und das gelingt dem Kranken nur in der Perspektive seiner Koexistenz
mit dem Arzt. Der Komplex erfährt seine Auflösung nicht durch eine mittellose Freiheit,
sondern zersetzt sich unter dem Andrang der Zeit, der seine Stützen und Motive hat. So
ist es bei jedem Bewußtwerden: es wird nur Wirklichkeit, sofern es getragen ist von einem
neuen Engagement. Dieses Engagement seinerseits vollzieht sich aber nur im Impliziten,
es bleibt somit nur in der Kraft für einen bestimmten Zyklus der Zeit. Die Wahl unseres
Lebens findet immer nur statt auf dem Grunde bestimmter Gegebenheiten. Meine Frei-
heit vermag mein Leben von seinem spontanen Sinn abzulenken, doch immer nur in einer
Reihe gleitender Phasen, im Ausgang von seiner anfänglichen Übernahme, nie durch eine
absolute Schöpfung neuen Sinns. Alle Erklärungen meines Verhaltens aus meiner Ver-
gangenheit, meinem Temperament, meinem Milieu sind also wahr, unter der Bedingung
nur, daß man diese nicht als voneinander trennbare verschiedene Beiträge, sondern als
Momente meines absoluten Seins versteht, deren Sinn in verschiedenen Richtungen mir
auszulegen freisteht, ohne daß je zu entscheiden wäre, ob ich es bin, der ihnen ihren Sinn
gibt, oder ob ich diesen von ihnen empfange.“ (Merleau-Ponty 1974, S. 516 f.).
21 So Dirk Baecker in der Stufu-Zeitung (Sommersemester 2019) der Fakultät für Kultur-

reflexion an der Universität Witten/Herdecke (Baecker 2019).


236 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

einhergehenden Reflexionsverhältnisse sind chiastisch aufeinander bezogen, wie


vorangehend etwa anhand der Äußerung des Stationspflegeleiters deutlich wurde,
der sowohl in der Beobachtung funktionaler Problemzusammenhänge (‚Symptom
als Beziehungssuche‘) wie auch in seiner Transaktion (‚Zigarette gegen Ver-
halten‘) in komplexer Weise mit dem Selbst- und Weltverhältnis der Patientin ver-
wickelt ist.
Um es wieder auf das Bemühen der Psychotherapie zu übertragen: Eine
therapeutische Intervention arbeitet nicht nur am Selbstverhältnis eines Patienten,
sondern auch an den Weltverhältnissen der Beteiligten, den sich hieraus ent-
faltenden Beziehungen und den damit verbundenen Existenzverhältnissen.22
Schauen wir, um diese Frage ausführlicher zu beleuchten, auf eine etwas
längere Erzählung der Psychotherapeutin von Frau Krampen:

Frau Müller (Therapeutin): Unser Belohnungssystem war eigentlich so rigide […]


Und wir haben das genau ausgeklügelt, ich habe auch immer so kleine Aufkleber,
so kleine Marienkäferchen und so in der Tasche, weil sie sich da immer total drüber
freut, wenn sie was macht, dann kriegt sie den. Sie schreibt noch so ein Protokoll,
wie sie sich fühlt mit so Smileys oder soll so Skill-Übungen machen, also so weiche
Skills, die sie dann immer zu bestimmten Zeiten so/es gelingt noch nicht, dass sie
darauf zurückgreift, wenn es wirklich schwierig wird, aber das macht sie und dann
hat sie so ein Heftchen und dann kleb ich ihr immer irgendwie sowas rein und das
findet sie immer ganz toll. Also hat also diese kindliche Seite, die sich da auch/da
freut sie sich sehr drüber. Und dann haben wir das ausgearbeitet und gegen sehr viel
Widerstände auch in der Pflege, diese Widerstände ‚das geht doch nicht, das haben
wir doch alles schon‘ und der schwierigste Punkt daran war, vom Bestrafen zum
Belohnen zu gehen. Ist gar nicht so einfach, ja? Also den Fokus von den Dingen, wo
sie scheitert, wo Dinge schiefgehen, wo Dinge nicht gut laufen, wo man sie wieder
einsperren muss, wo wieder irgendwas nicht geht, das umzukehren in ‚wir gucken
auf das, was sie schafft und markieren das, was sie schafft und nicht das, was sie
nicht schafft‘. Das war wirklich in uns allen, da nehme ich mich gar nicht aus, das
war in uns allen ein wirklich langer Prozess, ja? Eben nicht auf das Schlechte zu
gucken, sondern auf das Gute. Und als das dann gelungen ist, dann war sie auch

22 Das Problem bzw. die professionelle Ausblendung der anderen Seite des Systems mag
dann nochmals pointierter bei verhaltenstherapeutischen Programmen zum Ausdruck
kommen. Die Psychoanalyse erscheint in Hinblick auf solche Prozesse zunächst sensitiver,
da sie von Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomenen weiß, wenngleich es ihr
auch bislang nicht wirklich gelungen ist, sich von einer psychologistischen Ontologie zu
lösen, die mehr oder weniger explizit davon ausgeht, dass das Ich im Kopf des Patienten zu
verorten ist.
4.3  Frau Krampen: In der Klinik ein Zuhause finden?! 237

mitzunehmen. Dann war das auch okay, ja? Dann hat sie da immer geplant und hat
ihre Dinge gemacht, war sehr stolz auf ihre Smiley-Sammlung, das ging dann über,
ich weiß nicht, zwei, drei Jahre ganz gut.
Bis es dann abgeebbt war und sie das nicht mehr […] irgendwann war dann so ein
Punkt, sie wollte das nicht mehr, sie meinte, sie kann das alleine übernehmen die
Verantwortung und das hat nicht gut geklappt, dieser Übergang […] da war so der,
wie sagt man, der Dampf raus? […] Und dann gibt es so Sachen, dass sie beispiels-
weise sich die Zähne immer nicht putzt. Und ich dann sage, Sie müssen sich früh
die Zähne putzen. Und dann erkläre ich ihr, dass das nicht nur darum geht, dass ihre
Zähne sauber sind, sondern ein Stück Struktur ist in den Tag und dann muss ich
ihr das erklären und dann erkläre ich das der Pflege ganz lange, es führt aber nicht
dazu, dass die Pflege mit ihr da zusammenarbeitet und wirklich darauf achtet, dass
sie sich die Zähne putzt. Das funktioniert dann nicht. Und dann sagen die, ist doch
kein Kindergarten, wir gucken doch nicht, ob sich jemand Zähne putzt und finde ja,
doch, ne? So. Also bei Herstellung der Heimfähigkeit geht es genau darum. Ne? So.
Das sind so die Dinge, die es schwierig machen.

Kliniken der forensischen Psychiatrie arbeiten üblicherweise – so auch die von


uns untersuchten Einrichtungen – mit einem Anreizsystem, das auf dem stufen-
weisen Entzug von Freiheitsgraden beruht. Am oberen Level steht dann der
unbegleitete Ausgang, mit dem den Patienten gestattet wird, die Klinik für ein
paar Stunden oder einen Tag alleine zu verlassen, dazwischen der begleitete
Ausgang in Gruppen, am unteren Ende die Überwachung im Krisenraum.
Zwischen den beiden Polen kann zudem eine Vielzahl von Alltagstätigkeiten
genutzt werden, um dem Patienten eine gewisse Normalität zuzugestehen oder
umgekehrt bei Fehlverhalten Möglichkeiten der Selbstbestimmung abzuerkennen
(zu nennen sind hier etwa die Freiheit, über die Zeiten und Inhalte des Medien-
konsums selber zu bestimmen, seinen Tabakkonsum selbst einteilen zu dürfen,
andere Stationen zu besuchen etc.). Hiermit verfügt das Behandlungsteam über
abgestufte Mittel der Sanktionierung, wodurch die Patienten zwar nicht unbedingt
zur Einsicht gebracht, aber starke Anreize gesetzt werden, sich an die Regeln der
Einrichtung anzupassen.
Aus pädagogischer Sicht besteht dabei die Hoffnung, dass der äußerliche
Zwang des Kontrollregimes und die damit verbundenen Möglichkeiten der Ein-
schränkung individueller Autonomie dann irgendwann so verinnerlicht sind, dass
die Patienten sich selbst hinreichend im Griff haben, um sich normgerecht ver-
halten zu können.
Wie bei jeder extrinsischen Motivation führt dies jedoch zu einer Spaltung im
Selbstverhältnis: Man hat sich im Griff, wohlwissend (und auch spürend), dass
ein anderer Teil des eigenen Selbst in eine andere Richtung will. Diese Selbst-
kontrolle geschieht jedoch nicht aus eigener Einsicht und Motivation, sondern
238 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

weil andernfalls eine Strafe zu erwarten ist. Die gefühlte Antizipation der
negativen Konsequenzen blockiert die mit dem Fehlverhalten positiv besetzten
Handlungsimpulse (etwa die mit dem Delikt einhergehende Befriedigung), hebt
sie aber nicht auf. Für die Betroffenen ist und bleibt dies unbefriedigend, denn
die internalisierte Selbstkontrolle wird zugleich als Unterdrückung der eigenen
Lebensenergie erlebt und zudem kostet es Energie, sie aufrechtzuerhalten.
Ähnlich wie bei Dr. Jekyll und Mr. Hyde oder dem Titelhelden aus dem Film
Clockwork Orange besteht deshalb allein schon aus affektlogischen Gründen
immer die Gefahr, dass die problematische Seite wieder durchbricht, etwa wenn
Patienten Alkohol trinken und damit die Affektkontrolle ein wenig geschwächt
ist.
Aus einer affektdynamischen Perspektive muss deshalb ein allzu rigides,
alle Lebensbereiche umfassendes Kontrollregime problematischer scheinen, als
wenn der Patient einige Inseln von Widerständigkeit aufrechterhält, in denen
er Impulsen folgen kann, die er als seine eigenen erlebt. Ab und zu über das
Personal zu schimpfen, andere Patienten ruppig anzugehen oder sich auch mal
gehen zu lassen kann deshalb auch als eine Ausgleichbewegung gesehen werden,
um ein Selbstverhältnis, das von außen zu stark unter Druck gesetzt wird, wieder
in Balance zu bringen.
Auf den ersten Blick erscheint es deshalb erstrebenswert, das therapeutische
Regime von einem bestrafenden, restringierenden Modus auf ein auf positiven
Affekten aufbauendes Anreizsystem umzustellen. Denn wenn sich angenehme
Empfindungen mit dem erwünschten Verhalten verbinden, richtet sich der Vektor
der Handlungsimpulse – so die Annahme der Verhaltenstherapie – automatisch in
diese Richtung aus.
Im Fall von Frau Krampen wurde ein Belohnungssystem entwickelt, mit dem
in kleingliedriger Form gelungene Anpassungsleistungen mit Auszeichnungen
(„Smileys“, „kleine Aufkleber, so kleine Marienkäferchen“) belohnt wurden.
Entsprechend der Theorie der klassischen Konditionierung hätte sich nun die
erwünschte Reaktionsweise (etwa nach dem Essen die Zähne putzen) mit dem
Gefühl der Belohnung verbinden müssen – und damit wäre das therapeutische
Problem gelöst.
Aus Perspektive verkörperter Selbst- und Weltverhältnisse wird eine solche
Kausalannahme der Komplexität des Gegenstands nicht gerecht. Insbesondere
wird hiermit die Sozialdimension von Konditionierungsvorgängen vernachlässigt.
Schon bei den Pawlowschen Hunden, die pars pro toto für das verhaltens-
therapeutische Modell stehen, lässt sich bei näherer Analyse keineswegs ein-
deutig sagen, ob die Tiere auf die Glocke reagieren oder auf den Menschen, der
mit der Glocke hereinkommt. Bei uns Menschen, die – anders als die meisten
4.3  Frau Krampen: In der Klinik ein Zuhause finden?! 239

anderen Säugetiere – in ihrem Selbstwert stark von den Perspektiven anderer


abhängig sind,23 lässt sich dann noch aus anderen Gründen vermuten, dass für
sie weniger die kleinen Klebebildchen von Bedeutung sind denn die hiermit ein-
hergehende Beziehung zur Therapeutin. So wie man sich bei einem Geschenk
oftmals weniger über die Sache freut denn über die Tatsache, von jemand
anderem bedacht worden zu sein, könnte für Frau Krampen der eigentliche Wert
des therapeutischen Programms eher darin liegen, in einen emotional positiv
besetzten kindlichen Raum eintauchen zu können, was dann wohl auch die
Therapeutin angenehm berührt hat („…sich da immer total drüber freut“).
Doch genau dieses Spiel lässt sich nicht auf Dauer stellen, zumal die anderen
Beteiligten des Behandlungsteams, insbesondere die Pflege, hier nicht so recht
mitgehen können und bei der Patientin eher erwachsene Beziehungsmuster
präferieren würden („dann sagen die, ist doch kein Kindergarten“).
Im gleichen Sinne ist zu vermuten, dass auch die mit der Belohnung einher-
gehenden Trainingstechniken (Protokoll schreiben, das zu lernende Verhalten
kleingliedrig aufteilen und Erfolge notieren) nicht unbedingt aus Einsicht befolgt
werden oder weil man an ihre Wirksamkeit glaubt. Auch hier wird die Rolle
der zwischenmenschlichen Beziehung unterschätzt, mit der erst diese Form des
‚Spiels‘ als bedeutsam markiert wird.
Mit den therapeutischen Programmen haben Patient und Therapeut etwas,
auf das sie sich miteinander beziehen können und auf Basis dessen sich die
Beziehung in einer positiven Weise entfalten kann, da an die Initiativen und das
Verhalten des jeweils anderen angeschlossen werden kann (etwa in dem Sinn,
dass die eine Seite dadurch Anerkennung erfährt, dass dem Therapievorschlag
Folge geleistet wird, während die andere Seite sich darin bestätigt fühlt, dass ihre
Performance gesehen und gewürdigt wird).24 Damit würde es also möglichweise
auch in der therapeutischen Beziehung, weitaus mehr als allgemeinhin reflektiert
wird, um wechselseitige Anerkennung gehen.25

23 Siehe hierzu die vergleichenden Untersuchungen von Tomasello (2016).


24 Zum Konzept des Spiels gehört dazu, das letzteres auch eingeübt wird und dann auch
Modi der Überprüfung entwickelt werden, ob von beiden Seiten richtig gespielt wird.
25 Siehe zur Bedeutung und Perspektive der wechselseitigen Anerkennung auch Honneth

(1994) und Sennet (2004). Hiermit im Einklang wäre dann auch der Befund, dass die
psychotherapeutische Technik oder Ideologie als Wirkfaktor eine weitaus geringere Rolle
spielt als die Persönlichkeit des Therapeuten (s. etwa Grawe 2000).
240 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Doch nicht nur weil es im sozialen Feld andere Akteure gibt, die dieses Spiel
konterkarieren (etwa die Pfleger, die laut dem Bericht der Therapeutin nicht so
recht mitmachen oder die Mitpatienten, die sich darüber lustig machen), sondern
allein schon aufgrund von Gewöhnung werden viele der üblichen therapeutischen
Spiele über kurz oder lang langweilig werden und nach Variation verlangen.
Therapeut und Patient mögen dann andere verhaltenstherapeutische Kontroll-
regime ausprobieren (immerhin hat die Angelegenheit zwischen Frau Krampen
und Frau Müller mehr als zwei Jahre getragen), doch vielleicht ist dann irgend-
wann einfach nur Ermüdung eingetreten. Spätestens dann würde sich mit Blick
auf die ankonditionierte Verhaltensweise zeigen müssen, ob für die Patientin der
Wert nunmehr in der Sache selbst liegt oder ob all dies nur gemacht wurde, um
mit der Therapeutin in Beziehung zu bleiben.
Da sich die Selbst- und Weltverhältnisse in bedeutsamen Beziehungen auch
durch ein Wechselspiel von Autonomie und Heteronomie auszeichnen, kann es
– wie offensichtlich auch in diesem Fall geschehen – mit dem Abbruch der Ver-
haltenstherapie auch zu einer Bewegung kommen, in der die Patientin gerade
darin Autonomie erfährt, sich nicht mehr durch den anderen konditionieren zu
lassen („irgendwann war dann so ein Punkt, sie wollte das nicht mehr, sie meinte,
sie kann das alleine übernehmen“).26
Insofern wir also nicht mehr auf den Gegenstand der Auseinandersetzung
schauen (etwa das Zähneputzen), sondern auf das Beziehungsmuster und die
wechselseitig ausflaggenden Identitäten, können wir hier folgenden „Knoten“
entdecken (Laing 1986):

• Sich der Aufforderung der Therapeutin zu widersetzen, erscheint als Ausdruck


der Autonomie des Patienten.
• Das Fehlverhalten der Patientin zu thematisieren und entsprechende
Behandlungsformen vorzuschlagen, reproduziert die Identität des Therapeuten.
• Das Misslingen der Therapie lässt die Beziehung auf Dauer stellen, da weiter-
hin an dem Problem gearbeitet werden muss.

26 Zum Spiel unter Partnern gehört, eine Offerte ablehnen zu können, also die Möglichkeit,
aus einem Spiel auszusteigen und ein anderes Spiel vorzuschlagen, was aber seitens der
Verhaltenstherapeutin nicht gesehen werden kann, da sie nur die Inhaltsseite, aber nicht die
Beziehungsseite der therapeutischen Interaktion fokussiert.
4.3  Frau Krampen: In der Klinik ein Zuhause finden?! 241

• Die Patientin erscheint aus Sicht der Therapeutin27 als Therapieversagerin


(Bedrohung durch Pathologisierung)
• Komplementär hierzu muss die Therapeutin in Hinblick auf ihr Bemühen als
unfähig gelten.
• Die Patientin gewinnt hiermit auch Macht über ihre soziale Identität, indem
sie das von ihr angestrebte Therapieregime scheitern lässt. Hierdurch kann
sie die Beziehung symmetrisieren, allerdings in einem negativen Eigenwert
(Einrasten im Scheitern), der jedoch insofern trägt, als hierdurch eine stabile
Identität aufgebaut werden kann.

Die mit diesen Relationen einhergehenden Selbst- und Weltverhältnisse rasten


also nicht in einer Art Leere oder Chaos ein, sondern in einem mehr oder weniger
wohldefinierten Interaktionsmuster, das auf jeweils beiden Seiten eine stabile
Identität aufbauen lässt.
Der Misserfolg verspricht der Patientin höhere Autonomiegewinne als sich
dem Therapieregime hinzugeben, denn hierdurch kann sowohl eine identitäts-
stiftende Differenz zur Therapeutin aufrechterhalten als auch eine Kontinuität in
der Beziehung erreicht werden. Komplementär findet aufseiten der Therapeutin
der Erhalt der Kontinuität der Beziehung ihren Ausdruck darin, dass sie die
Patientin immer noch nicht in der Lage sieht, in einer weniger gesicherten Ein-
richtung zurecht zu kommen („also bei Herstellung der Heimfähigkeit geht
es genau darum“). Die hiermit einhergehende Bedrohung durch Stereotypen
bestärkt ihrerseits das Arrangement (s. hierzu ausführlich bereits Abschn. 4.1).
Abschließend lässt sich vermuten, dass das hier zum Ausdruck kommende
therapeutische Regime nolens volens eher auf die Hospitalisierung der Patientin
einzahlt als ihre Rehabilitationschancen zu stärken.
Als Eigenwert scheint sich also ein Selbst- und Weltverhältnis zu
konstituieren, dessen Beziehungen und Identitäten sich primär über negative
Attribute stabilisieren. In der Ferne bleibt dann das abstrakte Ziel der Heilung
und Entlassung zwar bestehen, de facto wird die Patientin jedoch vom

27 Letztlichbestimmt der Therapeut bzw. die Therapeutin, was als Therapiefortschritt zu


gelten hat, was dann allerdings wiederum auf das Selbst- und Weltverhältnis des Patienten
rückwirkt, denn dieser muss einen Weg finden, um mit dieser Bewertung zurecht zu
kommen.
242 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Behandlungsteam als ein recht problematischer, wenn nicht gar hoffnungsloser


Fall gesehen, wie auch die Therapeutin im Interview deutlich formuliert („ja,
Frau Krampen ist die Schwierigste“).
Insofern es die organisatorischen Rahmenbedingungen zuließen, könnte die
zuvor benannte Beziehungsdynamik – das Oszillieren zwischen vermeintlichen
kleinen Erfolgen und erneuten Rückschlägen in therapeutischer Begleitung –
über Jahrzehnte fortgeführt werden. Hiermit würde die Patientin dann immer-
hin eine Art Zuhause haben, das sich durch beständige Beziehungen auszeichnet
(zu den Therapeuten und Pflegekräften wie auch zu den Mitpatienten). Frei nach
der Devise ‚eine schlechte Familie ist immer noch besser ist als gar keine‘ würde
die forensische Psychiatrie damit ihren Patienten zumindest eine verlässliche
Beziehungsstruktur anbieten können. Gerade für Menschen, denen es aufgrund
ihrer Vulnerabilität schwerfällt, kohärente Wertebilanzen28 in Hinblick auf ihr
Selbst- und Weltverhältnis aufzubauen, würde ein einigermaßen stabiles Setting
mit vertrauten Bezugspersonen dann auch auf psychischer Ebene eine gewisse
Stabilität ermöglichen.29
Als weiteres Bezugsproblem der forensischen Psychiatrie erscheint damit der
Befund, dass erst Beziehungen ein Existenzverhältnis begründen, aber eben diese
Beziehungen aus institutionellen und gesellschaftlichen Gründen nicht auf Dauer
angelegt sind. Der Patient soll die Klinik ja irgendwann wieder verlassen. In Hin-
blick auf ihre Beziehungen kann der Maßregelvollzug also keine dauerhafte,
sondern nur eine ‚instabile‘ Stabilität anbieten.

Einschub – Gespräch mit einer anderen Psychotherapeutin

Interviewer: Eigentlich ist es wichtig, eine konstante Beziehungswelt zu


haben, dass Menschen da bleiben im Prinzip, ob man sie mag oder nicht
mag, aber sie bleiben quasi da und bleiben als Struktur […].

28 
Gemeint sind hier symbolische Repräsentationen von Beziehungen im Sinne von
Winnicot (2020).
29 
Aus diesem Grunde würden wir bei den von uns beobachten Patienten in der
forensischen Psychiatrie auch nicht von einem „Fremdwerden ihrer eigenen Biografie“
(Riemann 1987) sprechen, da gerade der gute Betreuungsschlüssel und die vielfältigen
Angebote Möglichkeiten eröffnen, eine Patientengeschichte aufzubauen, die noch erzählbar
ist.
4.3  Frau Krampen: In der Klinik ein Zuhause finden?! 243

Psychotherapeutin: Natürlich, ja, deswegen ist es ja so schlimm, dass


es jetzt diese Abbrüche gab und Trennungen gab. Ja, das stimmt, die
Anwesenheit ist wirklich wichtig in bestimmten Phasen. Also erstmal muss
es diese Konstanz geben, dass die Bindung überhaupt hergestellt werden
kann. Wir wissen aber, Maßregelvollzug ist ja nie ein Ort, wo man bleibt,
niemand. Früher oder später wird es die Trennung geben, das steht immer
im Raum, bei allen. Egal, ob der Therapeut geht oder ob der Patient ent-
lassen wird. Es ist nie ein Ort, wo man verweilt für immer, wo man wirk-
lich ankommen kann und vielleicht ist deswegen auch das Einlassen darauf
so schwer, weil man ja weiß, es wird zu Ende gehen und ich muss irgend-
wann wieder gehen, ich kann hier nicht bleiben, das ist nicht mein neues
Zuhause, so. Und das darf man auch nicht vorgaukeln, da darf man auch
nicht so tun, wir machen jetzt hier große Bindungsangebote, letztendlich
muss es ja frustriert werden, das muss man auch immer im Hinterkopf
haben.

Aber wir wissen, dass wenn es bestimmte Bindungserfahrungen gibt oder


gab, dann werden die verinnerlicht. Diese Vorstellung wird verinnerlicht,
das wird integriert, wenn es geht oder erstmal damit identifiziert, so. Das
heißt, auch wenn die Person wegfällt oder es eine Trennung gibt, dann
kann ja trotzdem dieses Muster innerlich weiter bestehen, die Erfahrung
bleibt und wird sich auswirken, auch auf später. Und das ist eigentlich der
Kern: Irgendwann gibt es einen Punkt, da sind sie auf die rein physische
Anwesenheit so nicht mehr angewiesen, sondern können sie weitergehen,
das ist so ein bisschen wie Kinder sich auch entwickeln, ne? Die lösen sich
dann ja auch ab. Vielleicht müssen sie irgendwann in schwierigen Phasen
nochmal anrufen, um zu gucken, Mama, bist du noch da? Ja? Stehst du
theoretisch noch zur Verfügung, falls ich es wieder verliere? Aber es ist
verinnerlicht. So. Und dadurch, dass man ja im Maßregelvollzug in der
Therapie doch mehrere Jahre meistens Zeit hat, hat man schon Zeit, wenn
man darauf abzielt, das zu verinnerlichen. Das kann gelingen.

Die Fallrekonstruktion

Arrangements, wie sie sich hier im Falle von Frau Krampen andeuten, geraten
unweigerlich durch die divergierenden Ansprüche unterschiedlicher gesellschaft-
licher Funktionssysteme unter Druck: Aus Perspektive der Medizin bleibt die
244 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

forensische Psychiatrie ein Krankenhaus. Man darf sich entsprechend nicht auf
Betreuung und Begleitung beschränken, sondern hat die Therapieerfolge im Blick
zu behalten. Das Rechtssystem setzt mit dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit
der dauerhaften Internierung von Patienten eine Schranke. Straffällig gewordene
psychiatrische Patienten sollten im Regelfall nicht länger in der Einrichtung
einsitzen als sie es als gesunde Straftäter im Gefängnis tun würden. Aus volks-
wirtschaftlicher Perspektive gilt darüber hinaus – wenngleich selten explizit
ausgedrückt –, dass keine Langzeitunterbringung in diese teuren, da betreuungs-
intensiven Einrichtungen stattfinden sollte.
Arrangements wie das soeben Vorgestellte kommen jedoch damit unweiger-
lich aus organisatorischen Gründen unter Druck. Die (tragenden) Beziehungen,
welche im Maßregelvollzug möglich sind, sind institutionalisierte Rollen-
beziehungen, welche der Eigenlogik von Organisationen und nicht den ideal-
typischen Ansprüchen bestmöglicher Beziehung oder Betreuung unterliegen.
Rollenträger werden von der Organisation formal definiert und zugeordnet.
Einer bestimmten Zahl von Patienten steht eine bestimmte Anzahl von Pflegern,
Therapeuten und Ärzten gegenüber, ohne dabei jedoch zu schauen, wer mit
wem, wie und über welche Zeit in Beziehung steht. Patienten können, wenn es
aus organisatorischen Gründen opportun erscheint, auf andere Stationen verlegt
werden. Assistenzärzte rotieren turnusmäßig in andere Abteilungen, Oberärzte
verlassen die Klinik und die Arbeitsverträge von Therapeuten werden oftmals
nicht verlängert. Gerade in der innerhalb des von uns erforschten Feldes doch als
recht wichtig erachteten psychotherapeutischen Beziehung ist deshalb keines-
wegs Konstanz gewährleistet.
Zu einem Bruch kommt es auch im vorliegenden Fall. Frau Müller, die Einzel-
therapeutin, verlässt die Einrichtung und Frau Krampen, die sie seit dreizehn
Jahren kennt,30 muss sich wohl oder übel auf den Abschied einstellen. Im Inter-
view bemerkt sie hierzu:

Frau Krampen: Naja, das ist schon ein bisschen ein Rückschlag. Wie ein Schlag ins
Genick.

30 
Freilich stellen in der forensischen Psychiatrie solch lang andauernde Beziehungen
zwischen einem Patienten und einem Therapeuten eher die Ausnahme denn die Regel
dar. Viele Patienten haben in ihrer Patientenkarriere oftmals zehn oder mehr Therapeuten
kennen gelernt.
4.3  Frau Krampen: In der Klinik ein Zuhause finden?! 245

Die hiermit einhergehende Problematik antizipierend, entwickeln die Ärzte in


Absprache mit der Therapeutin einen Plan, der darin besteht, dass die Patientin
gleichsam gemeinsam mit der Therapeutin in eine ambulante Einrichtung ent-
lassen wird und dies auch persönlich als Fortschritt verbuchen kann („dass ihr
Abschied versüßt wird damit, dass es für sie auch vorangeht“, so die Worte von
Frau Müller, ihrer Therapeutin, im Interview).
An dieser Stelle wird deutlich, wie organisatorische Rahmungen Beziehungen
und damit auch therapeutische Entscheidungen beeinflussen können. Nolens
volens bleibt dem Behandlungsteam nichts anderes übrig als zu versuchen, die
divergierenden Eigenlogiken von Organisation und therapeutischer Beziehung
pragmatisch so zu verbinden, dass die (ver-) störenden Diskontinuitäten als sinn-
voller Übergang erscheinen. Man versucht auf eine pragmatische Weise, das
Beste daraus zu machen, indem das Problem als positiv für den Behandlungs-
prozess gerahmt wird, wohlwissend, dass die Dinge eigentlich nicht so optimal
liegen. Dies bringt es freilich mit sich, dass die Kohärenz des alten Arrangements
aufgebrochen wird, denn die alten bisherigen Beziehungsmuster können nicht in
der bisherigen Form aufrechterhalten werden.
Damit gerät aber auch das Selbst- und Weltverhältnis der Patienten unter
Druck. All dies spielt auch in die Konfliktdynamiken des vorgestellten Falls
hinein.
Zehn Tage, nachdem wir Frau Krampen zum ersten Mal kennen lernen durften,
kommt es zu einer Kette von dramatischen Vorfällen, welche den Plan ihrer
Rehabilitation konterkarieren. Nachdem sich Frau Krampen am Samstagabend
längere Zeit auf dem Hometrainer ertüchtigt hat, beklagt sie sich über Atemnot.
Sie bittet die Pflegekräfte, ärztliche Hilfe zu holen. Diese schlagen ihr vor, sich
zunächst ein wenig hinzulegen, um sich zu beruhigen. In ihrem Zimmer schluckt
Frau Krampen zwei Lego-Steine. Als das Personal sie daraufhin in die Notaufnahme
bringen wollen, rastet sie aus und greift sogar eine Pflegerin an (unter anderem
geht sie ihr an den Hals und versucht, sie zu würgen). Daraufhin wird sie unter
Anwendung von Zwang behandelt. Anschließend kommt sie in den Krisenraum.
In der Oberarztvisite am folgenden Montag wird der Fall vorgestellt.
Anwesend sind neben der Oberärztin unter anderen Frau Müller, ihre Therapeutin
und der Pflegedienstleiter. Schauen wir auf das Gesprächsprotokoll:

Montag, 2.9., 11:30 Uhr


Oberarztvisite (findet im Besprechungsraum auf der Station statt, auf der auch die
Patientin ihr Zimmer hat)
Oberärztin: Brandstiftung … die ersten Jahre waren jetzt sehr, sehr schwierig …
es gab auch körperliche Übergriffe gegenüber dem Personal und Selbstverletzungen
246 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

… wir hatten damals extra ein weiches Zimmer wegen ihr eingerichtet … ist
damals auch in [Name einer anderen forensischen Klinik] gewesen … wurde dort
auf eigenem Wunsch fixiert, haben dort ein Zimmer mit Kamera und 24 Stunden
Überwachung. Ist jetzt seit 4 Jahren wieder hier … haben mit ihr ein Verhaltens-
therapieprogramm durchgeführt … kleine Schritte, 5 Smileys geben dann einen
Stern, 5 Sterne geben einen Ausgang … das hat dann auch viel verbessert … aber es
gibt immer noch selbstverletzendes Verhalten … das Problem ist jetzt, dass selbst-
verletzendes Verhalten nicht strafbar ist bzw. keine Indikation für die forensische
Psychiatrie darstellt … dabei sind die Affekte ähnlich … es ist die gleiche Gewalt,
bloß anders gerichtet …
Zu ihrer Beziehung mit den Angehörigen lässt sich sagen, wenn die Angehörigen
mit Ihr telefonieren, dann schimpfen sie nur und sagen dann am Ende, ‚Wir tele-
fonieren nicht mehr mit Dir‘ … aber Bestrafen macht es nur noch schlimmer …
eigentlich war jetzt im Zusammenhang mit dem Weggang von Frau Müller eine
Beurlaubung gedacht … es gab dann auch letzte Woche ein Gespräch mit der Ein-
richtung ‚Sonnenschein‘, die sie nehmen würden … jetzt gab es diese starke Krise
am Wochenende … sie hat Lego-Steine geschluckt und Mitarbeiter angegriffen …
das Problem, in der ambulanten Einrichtung gibt es zu wenig Personal, um damit
umgehen zu können
Therapeutin (Frau Müller): Es geht ja um die Heimfähigkeit … ich habe mit ihr
gestern gesprochen … im Krisenzimmer hat sie uns gesagt, wir wollten nicht, dass
sie aus der Krise rauskommt. … Ich habe ihr gesagt ‚Es ist ja immer unser Ziel,
dass Sie den normalen Alltag bewältigen können‘ … und heimfähig werden …
jetzt wartet sie, wie es weitergeht … der Grund für das Schlucken der Lego-Steine
war: ‚Keiner liebt mich, keiner will mich hier‘ … ist ein Ausdruck von ‚Abschied-
nehmen‘
Oberärztin: Kann Sie wieder aus dem Krisenraum?
Pflegedienstleiter: Vorsichtig, jetzt vielleicht erst mal zum Essen …
Oberärztin: Die sind ja jetzt auch auf der Station von ihr traumatisiert …
Pflegedienstleiter: … die Kollegin, die sie angegriffen hat, ist ja jetzt nicht da, sie ist
erst mal krankgeschrieben …
Oberärztin: … jetzt steht auch noch die richterliche Überprüfung der
Verhältnismäßigkeit an … im Prinzip könnte der Anwalt argumentieren, dass die
Gewalt gegenüber dem Personal durch die institutionelle Gewalt begründet sei …
in diesem Falle ist es aber eine Verlängerung der Fahrkarte …. es war auch heftig in
der Notaufnahme … 2 Stunden hat das gedauert … ist für sie dann auch ein Schock
… denn es ist ja die Verlängerung der Fahrkarte …

In der Schilderung der Oberärztin wird zunächst die institutionelle Perspektive


des Maßregelvollzugs deutlich. Die Patientin kann und sollte nicht auf Dauer in
der Klinik bleiben und genau dies erscheint jetzt als „Problem“ (denn „selbst-
verletzendes Verhalten“ ist „nicht strafbar“ bzw. ist „keine Indikation für
die forensische Psychiatrie“). Das Therapieprogramm habe insofern Früchte
getragen, als dass man mit der Patientin in den letzten Monaten relativ gut aus-
gekommen sei („das hat dann auch viel verbessert“). In der Folge wurde eine
4.3  Frau Krampen: In der Klinik ein Zuhause finden?! 247

ambulante Einrichtung kontaktiert, welche sich bereit zeigte, sie aufzunehmen. Auf
organisatorischer Ebene war die Sache damit zunächst erledigt. Man hatte den Über-
gang in ein Wohnteim gebahnt und damit wäre der Fall im Sinne des Behandlungs-
auftrags der Maßregelvollzugsklinik ordnungsgemäß bearbeitet worden.
Mit Blick auf die aktuellen Geschehnisse stellt sich die Sache jedoch anders
dar. Mit dem Wechsel der Einrichtung werden bestehende Beziehungen auf-
gegeben. Entsprechend kann ihre aktuelle Krise auch als ein „Ausdruck von
‚Abschiednehmen‘“ gesehen werden.
Die hiermit einhergehende Kluft lässt sich für die Patientin jedoch nicht
so leicht heilen. Vielmehr scheint bei ihr ein krisenhafteres Interaktions-
muster angesprochen zu werden: Die Patientin sieht sich aus der Gemeinschaft
ausgestoßen („Keiner liebt mich, keiner will mich hier“). Die Therapeutin, im
Interview auf diese Pointe angesprochen, erklärt dass die Patienten es eigentlich
noch dramatischer formuliert habe („‚Ich habe hier keine Chance mehr. Ich habe
hier keine Chance mehr‘, hat sie gesagt“).
Das im Sinne des organisationalen Vektors angestrebte Weltverhältnis der
Patientin – das Hinarbeiten auf die Entlassung und ein wenig mehr Selbst-
ständigkeit („ist ja immer unser Ziel, dass Sie den normalen Alltag bewältigen
können“) – steht damit in deutlicher Diskrepanz zu dem von Frau Krampen
formulierten Selbstverhältnis: Nach dem Weggang ihrer Therapeutin empfindet
sie sich in einer perspektivlosen Lage: Ungeliebt und vom Team abgelehnt – und
damit noch mehr therapiebedürftig.
Offensichtlich speist sich ihr Selbstverhältnis (und damit verbunden ihr Selbst-
wert) nicht aus der in der Sachebene formulierten ‚Beförderung‘ in eine weniger
gesicherte Einrichtung. Die Rehabilitation wird vielmehr durch die Beziehungs-
dynamik konterkariert. Ihr Selbstverhältnis reproduziert sich im Positiven mit der
kontinuierlichen Aufmerksamkeit des therapeutischen Teams und im Negativen
durch den Beziehungsabbruch. Als Pate für dieses negative Modell steht bereits
ihr Verhältnis zur Kernfamilie („wenn die Angehörigen mit ihr telefonieren, dann
schimpfen sie nur und sagen dann am Ende, ‚Wir telefonieren nicht mehr mit Dir‘
… aber Bestrafen macht es nur noch schlimmer“).
Damit kurbeln allerdings sowohl der Therapieabbruch durch den Weggang
von Frau Müller („wie ein Schlag ins Genick“) als auch die fehlende Aufmerk-
samkeit der Pfleger den Krisenmodus an. Frau Krampen bietet ihrerseits eine
Reflexionsfigur für ihre Lage an: Das Behandlungsteam wolle gar nicht, dass es
ihr besser gehe („Wir wollten nicht, dass sie aus der Krise rauskommt“). Mit dem
hiermit zum Ausdruck kommenden Attributionsschema ist die Patientin praktisch
der Bedrohung durch Stereotypen hilflos ausgeliefert. Für sie reproduziert
sich nun ein Selbst- und Weltverhältnis, in dem keine normalen Möglichkeiten
248 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

mehr verbleiben, sich gegenüber den für sie widersprüchlich erscheinenden


Anforderungen der Klinik als eine autonome Persönlichkeit zu behaupten. Die
einzigen Mittel, die ihr diesbezüglich noch zur Verfügung stehen, liegen im
Bereich des Verrückten.
Sowohl die Selbstverletzung als auch der Übergriff gegenüber dem Personal
können in diesem Sinne aus Sicht der Patientin in vielerlei Hinsicht als durchaus
funktional erscheinen:

• Sie gewährleisten die erneute Aufmerksamkeit und Zuwendung des Klinik-


personals.
• Sie markieren gegenüber dem Personal eine Grenze und zeigen an, wie man
Frau Krampen nicht behandeln darf.
• Sie artikulieren das existenzielle Bedürfnis nach Heimat und Beziehung
(„Keiner liebt mich, keiner will mich hier“).
• Sie stellen Beziehung her, weil die Patientin Erwartungen enttäuscht und weil
die Erwartungsenttäuschung in paradoxer Weise mit der Herstellung von Auf-
merksamkeit und Beziehung verbunden ist.
• Nicht zuletzt eröffnen sie eine Möglichkeit der Kontinuität der im Maßregelvollzug
gelebten Beziehungen („es ist ja die Verlängerung der Fahrkarte“).

Methodische Bemerkungen
Mit Blick auf die konditionierte Koproduktion von Psyche, Körperlich-
keit und sozialem System ließe sich aus einer funktionalen Perspektive
hier ebenso fragen, welches Bezugsproblem die spezifische Persönlich-
keitsstruktur für die Ärzte und Therapeuten stellt. Nicht jeder Patient
zielt darauf ab, in der Psychiatrie zu bleiben und nicht jeder Patient sucht
die Beziehung zum Personal über einen eskalierenden bzw. konflikt-
haften Modus. Darüber hinaus könnte wiederum aus einer funktionalen
Perspektive gefragt werden, ob die spezifische Antwort der Klinik – die
hier getroffene Weichenstellung – durch die spezifische therapeutische
Haltung (hier primär psychoanalytisch geprägt, jedoch unter Einbeziehung
verhaltenstherapeutischer Elemente) konditioniert wird – und was dies
wiederum für die Koproduktion der Selbst- und Weltverhältnisse der
Patientin bedeutet.
Für die hiermit einhergehende Verschränkung der Perspektiven lässt
sich an dieser Stelle zumindest der Verdacht formulieren, dass die Klinik
4.3  Frau Krampen: In der Klinik ein Zuhause finden?! 249

ihrerseits die problematische Beziehungsstruktur reifiziert. Die Muster der


Deutung des Verhaltens der Patientin würden damit zugleich die Funktion
erfüllen, die therapeutischen Konzepte und damit die professionelle Identi-
tät der entscheidenden Akteure zu bestätigen. Die Behandlung würde damit
gewissermaßen auch deshalb scheitern, weil der Patient nicht in die vor-
gebahnten Lösungsmöglichkeiten des therapeutischen Regimes fällt,
also die psychodynamischen Spezifika des Falls in den blinden Fleck des
Behandlungsregimes rücken. Aspekte der Falldynamik könnten dann zwar
vom behandelnden Team wahrgenommen und in Form standardisierter
Zurechnungsmuster bearbeitet, jedoch von den Beteiligten nicht weiter-
gehend reflexiv aufgeschlossen werden.
Die Leerstellengrammatik, die ein solches Arrangement beschreiben
lässt, kann also neben dem Patienten und den Positionen des Behandlungs-
teams auch Stellen beinhalten, welche die Wahrnehmung, die Problemsicht
und Interpretation des Geschehens konditionieren – beispielsweise etwa die
dominante therapeutische Theorie.

Wir treffen hier auf eine spezifische Verschränkung von therapeutischem Thema
(Symptome und der Interpretation) und therapeutischer Beziehung, die zu einer
pragmatischen Paradoxie führt: Eine positive Beziehungsgestaltung (Kontinuität
und Aufmerksamkeit) erscheint nur auf negativer Sachebene möglich (nämlich
indem psychiatrisch und forensisch relevante Inhalte in den Vordergrund treten).
Die mit dem Maßregelvollzug inkorporierten Beziehungsdynamiken haben
damit – zumindest in Fällen wie diesem – unweigerlich etwas Diabolisches, denn
sie reproduzieren genau das, was sie mit aller Kraft und Anstrengung zu ver-
meiden suchen.
Ohne abstreiten zu wollen, dass es individuelle Vulnerabilitäten gibt, die
manche Menschen anfälliger für solche Beziehungsdynamiken werden lässt, kann
auch hier festgestellt werden, dass Körper, Psyche und soziale Dynamiken sich
in Koproduktion zu einem jeweils spezifischen Arrangement formatieren. Gerade
in dieser Sequenz wird deutlich, dass das Selbst- und Weltverhältnis auch durch
überindividuelle Zwänge unter Druck gesetzt wird (etwa dem rechtlichen Primat
der Verhältnismäßigkeit und organisatorisch begründeten Diskontinuitäten in den
Bezugspersonen etc.).
In diesem Sinne kann die Krise auch als ein Versuch des Re-Arrangements in
das alte Selbst- und Weltverhältnis gesehen werden, als eine (Rück-)Bewegung in
250 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

ein vertrautes und bekanntes Regime, das sich durch einen geringeren Level an
Stress und Unsicherheit auszeichnet.

Eigenbewegung ohne Reflexion – „ich wusste nicht mehr,


wohin mit meiner Kraft“
Für alle Beteiligten – nicht zuletzt auch für die Patientin – muss diese
Rekonfiguration als ein ‚Schock‘ erscheinen, denn eine Rückkehr in den Modus
des ‚Verrückten‘ kann nicht wirklich gewollt werden. Solch ein Kontrollversuch
kann sich nur unter Entzug der bewussten Kontrolle manifestieren.
Schauen wir unter Weiterführung der hiermit entwickelten Perspektive auf den
weiteren Verlauf des Visitengesprächs:

(Frau Krampen wird von einem Pfleger aus dem Krisenraum ins Besprechungs-
zimmer gebracht)
Oberärztin: Mensch, Frau Krampen, was ist denn da passiert?
Frau Krampen: Ich weiß auch nicht, ich habe nur noch rot gesehen … ich wusste
nicht mehr, wohin mit meiner Kraft …
Oberärztin: Wie fing es an?
Frau Krampen: Keine Luft mehr gehabt … dann das Personal gerufen … die haben
gesagt … legen Sie sich hin … dann erst recht keine Luft bekommen ….
Oberärztin: Was haben Sie vorher gedacht?
Frau Krampen: Angst vor dem Wechsel … dann ist alles schiefgegangen … also
ich auf der Rettungsstation … hatte Angst … hier kann ich ja alles … aber wenn ich
draußen bin, habe ich Angst, dass ich nicht mehr klarkomme ….
Oberärztin: Ich verstehe, dass Sie unter Druck stehen, aber Sie wissen auch, dass
dies nicht nochmal passieren darf …
Frau Krampen: …. ja … Druck … ich habe das im Kopf … ich bin selbst sehr
erschrocken …
Oberärztin: Wir klären jetzt, wie das weiter geht … machen Sie sich Gedanken, wie
es weiter geht (Patientin wird von der Praktikantin aus dem Raum begleitet)
(Gespräch über Patientin, als sie wieder draußen ist)
Assistenzarzt: Wie sie ihr Angstgefühl mit dem Wechsel verknüpft hat.
Therapeutin: Sie hat es zum ersten Mal verknüpft.
Oberärztin: Ja, wir haben es ihr angeboten und dann hat sie es aufgegriffen … jetzt
die Frage, ob es mit einer Einsicht verbunden ist …
Therapeutin: … und dass sie ja vorher immer gesagt hat, sie wolle aus dem
Maßregelvollzug raus und hat nie Angst gezeigt und jetzt sieht sie das … ob das
jetzt eine Einsicht war am Ende, weiß ich nicht …
(es findet unter maßgeblicher Beteiligung der Ärzte eine Diskussion statt:
„Amygdala und Hippocampus … auf welcher Ebene und wie oder wo findet solch
eine Verbindung statt …. das Hirn ‚feuert‘. Fight & Flight-Modus“)
Therapeutin: Heute darf sie aus dem Krisenzimmer herauskommen, aber sie wird
erst mal oben bleiben.
4.3  Frau Krampen: In der Klinik ein Zuhause finden?! 251

Pflegedienstleiter: Die Luftnot kam vom Sport und nach dem Intervallfasten …
sie war 20 Minuten auf dem Ergometer … und dann habe ich ihr gesagt, ‚die Luft-
not kommt vom Sport‘ … Sie hat gesagt, wir sollen einen Arzt rufen … das haben
wir nicht gemacht … sie hat somatisiert … wir hätten sie vielleicht mehr begleiten
können …
Therapeutin: … ‚somatisieren‘ … das war eine Einladung, die hättet ihr aufgreifen
können … ist ja auch so, dass wir manchmal genervt reagieren …
Pflegedienstleiter: Jetzt wissen wir auch, wer schuld ist …
Therapeutin: Wir müssen das jetzt nicht forcieren … sie wird jetzt nicht mit mir
gehen können …
Oberärztin: Das mit dem Somatisieren macht sie ständig … ist ihre Sprache …
Körperwahrnehmung null … diese Menschen haben keine Körperwahrnehmung …
wenn Sie 20 Minuten Sport machen und dann Intervallfasten … soll normal essen
… sie hat eine Salami gegessen und Käse, auf die Lego-Steine … da nimmt man
auch eher ein Abführmittel
Therapeutin: Sie hat geglaubt, dass es damit rausflutscht … wie auch immer, sie
beginnt jetzt auch wahrzunehmen, dass sie die Sorgen hat und nicht nur wir … und
je mehr sie das tut, desto mehr sie wahrnimmt, desto panischer wird sie … ist jetzt,
dass wir sie wie ein rohes Ei behandeln müssen …
Oberärztin: das war eine Kritik!
Therapeutin: Ich kritisiere es jetzt mal, ganz explizit … ich gehe ja auch …, ich
kann es mir leisten … zum weiteren Vorgehen: ‚Nachts Krisenraum, zu den Mahl-
zeiten raus‘
Pflegedienstleiter: ‚Im Vorraum essen‘ … und dann nachts einschließen?
Oberärztin: … und den nächsten Tag kann sie dann auch wieder in den Aufenthalts-
raum

In diesen Gesprächssequenzen aus der Oberarztvisite sehen wir verschiedene


Gesprächsbewegungen, die sich allesamt dadurch auszeichnen, in Formen einzu-
rasten, die mit dem offiziellen gesellschaftlichen Auftrag des Maßregelvollzugs –
Therapie und Rehabilitation – im Einklang stehen. Problematisches Verhalten
wird gedeutet und kann zum Thema weiterer therapeutischer Gespräche werden.
Man vergewissert sich psychiatrischer Erklärungen, benennt Defizite in der
Begleitung durch das Pflegeteam und bahnt die nächsten Behandlungsschritte,
die es im Sinne einer verhaltenstherapeutischen Pädagogik den Patienten ermög-
lichen, in abgestufter Form erneut Freiheitsgrade zu gewinnen.
Greifen wir aus dem Gespräch zunächst einige interessante Aspekte heraus,
die für die weitere Analyse von Belang sind, um die spezifische Dynamik der
Selbst- und Weltverhältnisse einer hospitalisierten psychiatrischen Patientin zu
verdeutlichen.
Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass sich die Patientin im Anschluss an
die Frage, was geschehen ist, nicht wirklich von dem Akt der gewaltsamen
252 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Eskalation distanziert, sondern diese – zumindest in Hinblick auf den treibenden


Affekt – eher noch affirmiert („ich habe nur noch rot gesehen … ich wusste nicht
mehr, wohin mit meiner Kraft“). Die alltagssprachliche Wendung ‚rot sehen‘ steht
dafür, dass man wütend ist und sich dabei selbst als das Zentrum der hieraus ent-
stehenden Handlungsbewegungen erfährt. Der Impuls erscheint hiermit ich-syn-
ton als ihr eigener, wobei jedoch eine Reflexionssperre in Bezug auf den Sinn
ebendieser Bewegung auftaucht („weiß auch nicht“). Es ist ihre Kraft, jedoch
bleibt deren Bedeutung und sinnhafte Ausrichtung implizit, es ist also zugleich
nicht ihre Kraft. In der logischen Kondensation der Kontexturanalyse ließe sich
die Aussage folgendermaßen verdichten: Ich habe gehandelt. Es hat gehandelt.
Dies verweist auf ein gespaltenes Selbstverhältnis, also auf verschiedene Teile,
die zueinander in einer komplexen Beziehung stehen.
Zum einen ist hier ein Teil zu benennen, der mit dem vitalen Impuls identi-
fiziert ist, welcher zu dem problematischen Verhalten führt. Im Bild von Dr.
Jekyll und Mr. Hyde wäre dies das bestialische und kranke Selbst, das die
forensische Psychiatrie einzuhegen versucht.
Zum anderen erscheint ein Selbstteil, der für das psychiatrische Kontroll-
regime steht und die Patientin dazu veranlasst, ein den Regeln des
Maßregelvollzugs angepasstes Verhalten zu zeigen. Hierzu gehört etwa auch, sich
in der Visite als vorbildliche Patientin zu verhalten, etwa indem versucht wird,
auf jede Frage eine der Situation angemessene Antwort zu geben und Betroffen-
heit zu zeigen („ich bin selbst sehr erschrocken“). Dies muss nicht unbedingt als
eine rein strategisch motivierte Anpassung an die Normen der Klinik verstanden
werden, sondern kann auch auf einen ‚gesunden‘ Selbstanteil der Patientin
zurückgeführt werden, der mit generellen gesellschaftlichen Normen und
Erwartungen im Einklang steht.
An dieser Stelle lässt sich vermuten, dass es noch einen dritten Selbstteil
gibt, der das Verhältnis der beiden zuvor beschriebenen Teile vermittelt, jedoch
dem Bewusstsein in seiner Latenz verborgen bleibt („ich weiß nicht“). Dieser
Teil wäre dann gleichsam dafür verantwortlich, selektiv die Schleusen zu öffnen
und sie wieder zu schließen und zudem Ausmaß und Dramaturgie der Krise
zu regulieren. Hierdurch ließe sich dann etwa dafür sorgen, dass das selbst-
schädigende Verhalten nicht in einem Suizid mündet und die aggressiven Akte
gegenüber dem Personal nicht in blinde Wut ausarten, sondern bestimmte inter-
aktive Zusammenhänge selektiv adressieren können. Insofern die These von
diesem dritten, vermittelnden Teil stimmt, wäre ihr ‚Ausrasten‘ nicht einfach
ein regressives Verhalten, bei dem irgendwas im Hirn unwillkürlich „feuert“.
Vielmehr würde es jetzt auch als eine durchaus funktionale Antwort auf ein
4.3  Frau Krampen: In der Klinik ein Zuhause finden?! 253

systemisches Problem erscheinen können, das sich aus den besonderen sozialen
Lagerungen des Maßregelvollzugs ergibt.
Schauen wir nun zunächst darauf, welche Sprach- und Reflexionsformen in der
Interaktion zum Ausdruck kommen. Wir können sehen, dass zwischen der Ober-
ärztin und der Patientin eine Beziehung möglich ist, die man als ‚therapeutisches
Spiel‘ umschreiben könnte. Referenzen auf das Erleben der Patientin werden
retrospektiv mit Sinnangeboten verknüpft, die diese als reflektierte oder gedeutete
Erfahrungen verstehen lassen. Die traditionelle psychoanalytische Sicht geht
davon aus, dass sich auf diese Weise unbewusste Prozesse durch das Ich aneignen
lassen. Hierdurch würden Einsichten möglich, die dann auch therapeutisch wirk-
sam werden könnten. In Situationen, in denen der Patient offen und bereit dafür
ist, kann dann auch eine Deutung des Therapeuten eine Brücke bauen, um dies-
bezügliche Veränderungsprozesse zu bahnen. Aus diesem Grunde scheint es für
die psychoanalytisch gebildeten Ärzte interessant, dass „zum ersten Mal“ die
„Angstgefühle“ der Patientin mit dem anstehenden „Wechsel“ in eine andere
Einrichtung verknüpft werden. Doch zugleich scheint es für das Behandlungs-
team fraglich, ob dies wirklich mit einer „Einsicht“ verbunden gewesen sei, also
ob im Sinne einer psychoanalytischen Therapie dieser Konnex ‚heilend‘ bzw.
‚autonomisierend‘ auf das psychische System der Patientin durchgegriffen habe.
Entsprechend der hier vorgelegten soziologischen Analyseperspektive
heilt jedoch auch die psychoanalytische Behandlung nicht – um es wieder mit
Merleau-Ponty auszudrücken –, indem „sie den Kranken seiner Vergangen-
heit bewußt werden läßt, sondern“ generiert „vor allem durch die Bindung des
Patienten an seinen Arzt“ ein neues „Existenzverhältnis“ (Merleau-Ponty 1974,
S. 516 f.). In diesem Sinne können wir an dieser Stelle zumindest sehen, dass
Patientin und Oberärztin in einer Weise miteinander reden, die für alle Beteiligten
sozial und sachlich hochgradig relevant ist. Allein dies schon ermöglicht es der
Patientin, den sozial angelieferten Sinn aufzugreifen („sie hat es zum ersten Mal
verknüpft“), um auf diese Weise ein Selbstverhältnis formulieren zu können
(‚sich verstehen‘), das zugleich in Passung mit dem aktuellen Weltverhältnis steht
(‚sich in einer therapeutischen Situation befinden‘).
Umgekehrt ist Frau Krampen infolge der vorangehenden Krise für das
Behandlungsteam wieder eine Person, die beachtet, verstanden und therapeutisch
unterstützt werden muss, wobei hier ‚Verstehen‘ nicht in einem essentiellen Sinne
zu begreifen ist, sondern als wechselseitiges Bemühen, den Äußerungen der
jeweils anderen Bedeutsamkeit abzugewinnen und die dabei auftretenden Frag-
lichkeiten in der Schwebe halten zu können („jetzt die Frage, ob es mit einer Ein-
sicht verbunden ist“).
254 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Alternative Weichstellungen
An dieser Stelle lässt sich mit Blick auf alternative Problembearbeitungen,
wie sie etwa in Visiten anderer Kliniken beobachtet wurden, wieder der
Faktor ‚therapeutische Konzeption‘ benennen. In einem rein verhaltens-
therapeutischen Regime stellt sich demgegenüber weniger die Frage, ob
ein Patient Einsicht hat, sondern hier wird es primär darum gehen, dass er
oder sie die zugewiesene Rolle einnimmt und das Verhalten ändert. Doch
auch hier sind die Therapeuten auf die Zurechnung und Interpretation
Erster-Person-Accounts angewiesen, etwa indem sie die Glaubwürdigkeit
der Berichte ihrer Patienten einschätzen müssen. Als dritte Weichenstellung
wäre dann eine primär biologische Psychiatrie denkbar, die sich vor allem
auf die richtige Medikamenteneinstellung fokussiert, hierbei jedoch auch
auf Erste-Person-Accounts (etwa Berichten zu den Nebenwirkungen)
angewiesen ist. In den von uns untersuchten Praxen treffen wir auf Misch-
formen, in denen – dann oftmals auch abhängig vom Patienten – jeweils
eine therapeutische Auffassung bzw. Konzeption als primärer Rahmen
erscheinen kann.
Es wäre reizvoll, genauer zu untersuchen, welche spezifischen Bezugs-
probleme mit der jeweiligen therapeutischen Ideologie für die Patienten
wie auch für das Personal einhergehen, und wie hierdurch die Entwicklung
des Behandlungsarrangements konditioniert wird.

So wie in dem in diesem Kapitel eingangs geschilderten verhaltens-


therapeutischen Programm nicht die Klebebildchen an sich eine Bedeutung
haben, sondern nur in einem spezifischen sozialen Kontext wirksam werden –
etwa dadurch, dass man sich gemeinsam auf ein Spiel einlässt (und sich mit-
einander freuen oder bei Misserfolgen mitfühlen kann) –, erscheint auch hier
weniger der psychoanalytisch nahegelegte Konnex von Bedeutung, sondern
dass man ein mächtiges Sprachspiel hat, das es erlaubt, die verloren gegangene
Beziehung wieder aufzubauen bzw. zu aktualisieren. Das affektiv-motivierende
Moment hierzu liefert die Krise.
Was ist aber, wenn entsprechend der vorangehend formulierten These von
den drei divergenten Selbstanteilen der beziehungsrelevante Aspekt nur über die
Krise ausgedrückt werden kann? Was ist, wenn bestimmte Aspekte der sozialen
Dynamik nicht nur für die Patientin unbewusst bleiben, weil sie tabuisiert sind,
sondern sich auch im therapeutischen Team diese Reflexionssperre wiederfindet?
4.3  Frau Krampen: In der Klinik ein Zuhause finden?! 255

Was ist, wenn das Problem damit also in die Leerstellengrammatik des
forensischen Arrangements selbst eingeschrieben ist?
Worin könnte der blinde Fleck des Helfersystems nun liegen? Die Antwort ist
aus soziologischer Sicht naheliegend. Sie liegt in dem Problem begründet, dass
dem Patienten in bestimmten Konstellationen von der Institution nicht geholfen
werden kann, sondern all die vorgesehenen Handlungsoptionen die Sache nur
noch schlimmer machen, während genau dies jedoch unvermeidbar erscheint.
Kaum ansprechbar sind die bereits angedeuteten Paradoxien dieser
therapeutischen Veranstaltung. Ebenso kann offiziell nicht zugegeben werden,
dass unter den gegebenen gesellschaftlichen und institutionellen Rahmen-
bedingungen kaum ein Setting denkbar ist, das Frau Krampen ein stabiles
Selbst- und Weltverhältnis ermöglicht. Ein weiterer Punkt, der in der Oberarzt-
visite tabu zu sein scheint, besteht darin, die Hilflosigkeit und Überforderung der
Pflege anzuerkennen und damit auf der anderen Seite die Macht der Patientin in
Bezug auf die Gestaltung der Situation zu würdigen. All diese Aspekte werden
von den Beteiligten sehr wohl wahrgenommen, können jedoch gleichsam nur
‚offline‘ bzw. informell – also außerhalb der organisierten therapeutischen
Kommunikation artikuliert werden.

Im Hamsterrad der Organisation gefangen – „im Prinzip


könnten wir uns dann den ganzen Stress sparen … sie würde
dann einfach hierbleiben“
Schauen wir diesbezüglich auf einige Ausschnitte aus einem Gespräch zwischen
einem der Forscher und Herrn Sauerland, dem Pflegedienstleiter, das noch am
gleichen Tage geführt wurde:

Interviewer: Frau Müller hat ja auf der Oberarztvisite ziemlich stark kritisiert, dass
die Pflege im Fall von Frau Krampen hätte anders reagieren können …
Herr Sauerland (Pflegedienstleiter)(körperlich etwas zögernd): … ja, das war eine
deutliche Kritik … ich bin der Meinung, Frau Krampen weiß, wie sie Situationen
eskalieren kann … das kann man dann nicht verhindern … sie hat den Weg gewählt,
dann kann man da nicht mehr viel machen… man muss ihr auch klarmachen …
man muss ihr auch klar machen, dass andere Patienten auch Aufmerksamkeit
brauchen … ich glaube, die betreuenden Pfleger haben jetzt richtig gehandelt …
hätten wir den Arzt gerufen, eine Stunde später wäre sie dann mit etwas anderem
gekommen und dann wäre es erneut eskaliert … ein paar Stunden vorher habe ich
auch mit Frau Krampen gesprochen … die hat auf mich positiv gestimmt gewirkt
… dass es jetzt für sie eine Option gibt … hätte ich jetzt gar nicht so eingeschätzt,
dass es ein paar Stunden später anders aussieht … dass sie jetzt somatisiert, das ist
normal bei ihr …
256 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Interviewer: Ist das jetzt eine Frage der Aufmerksamkeit, dass sie Aufmerksamkeit
will?
Herr Sauerland: Sie will nicht Aufmerksamkeit, sondern sie braucht sie. Ich würde
ihr jetzt keine Fiesigkeiten unterstellen … Sie braucht den Halt einfach… wenn ein
Patient – hospitalisiert möchte ich jetzt nicht sagen – so lange hier ist, dann ist es
einfach schwierig … es war jetzt dreizehn Jahre mit ihr schwierig und das wird jetzt
auch in der Nachsorge so sein … meine Sorge ist jetzt, dass sie schneller wieder hier
ist, als wir denken können und die Folge wird sein, dass die Einrichtung sie dann
nicht mehr nimmt […].
Ich habe die Visite jetzt auch so verstanden, dass wir der Einrichtung den Vorfall
nicht aufs Butterbrot schmieren sollen … nur wenn sie dann nachfragen, würden
wir ihnen dann erzählen, dass sie eine Mitarbeiterin angegriffen hat … ich finde
das jetzt schwierig … Was ist, wenn die Einrichtung jetzt grundsätzlich keinen
aufnimmt, wenn sie Personal angegriffen hat … im Prinzip könnten wir uns dann
den ganzen Stress sparen … sie würde dann einfach hier bleiben … Jetzt gibt es in
[Name einer Ortschaft] eine Geschlossene, aber die haben jetzt keinen Platz … da
müssen wir warten, bis jemand stirbt … bis jetzt gibt es keine Einrichtung für sie.

Als erfahrener Mitarbeiter, der Frau Krampen schon seit dreizehn Jahren kennt,
wie auch als unmittelbarer Vorgesetzter all der Pflegekräfte, die im Alltag mit
diesen schwierigen Patienten umgehen müssen, weiß Herr Sauerland ebenso
um die Grenzen des pflegerisch und therapeutisch Machbaren wie auch um die
systemischen Dynamiken psychiatrischer Langzeitbehandlung. Fassen wir die
von ihm benannten Aspekte der Krisendynamik zusammen:

• Frau Krampen ist ein schwieriger Fall und das wird auch so bleiben („es war
jetzt 13 Jahre mit ihr schwierig und das wird jetzt auch in der Nachsorge so
sein“).
• Der Ausbruch ihrer Krise ist nicht vorhersehbar („die hat auf mich positiv
gestimmt gewirkt“).
• Die Patientin agiert entsprechend einer Eigenlogik, die – wenn sie einmal
anläuft – nicht durch beruhigende Maßnahmen, etwa eine erhöhte Aufmerk-
samkeit des Pflegeteams aufzuhalten ist („sie hat den Weg gewählt, dann kann
man da nicht mehr viel machen“).
• Sie kann nicht anders, obwohl es naheliegt, ihr eine böse Absicht zu unter-
stellen („Ich würde ihr jetzt keine Fiesigkeiten unterstellen“).
• Frau Krampen kann nicht andauernd betreut werden, sondern hat zu
akzeptieren, dass auch die anderen Patienten Aufmerksamkeit bekommen
(„man muss ihr auch klar machen, dass andere Patienten auch Aufmerksam-
keit brauchen“).
4.3  Frau Krampen: In der Klinik ein Zuhause finden?! 257

• Wenn die Patientin aus der forensischen Psychiatrie entlassen wird, wird sie
nach kurzer Zeit erneut eingewiesen werden („dass sie schneller wieder hier
ist, als wir denken können“).
• Es gibt bislang keine angemessene Einrichtung für Patienten wie Frau
Krampen („bis jetzt gibt es keine Einrichtung für sie“).
• Aus der Kombination der vorangehenden Punkte gibt es ein zugleich ethisches
wie auch praktisches Problem („ich finde das jetzt schwierig“). Ersteres
besteht darin, bezüglich der zu erwartenden Psycho- und Soziodynamiken
nicht ganz die Wahrheit sagen zu können („dass wir der Einrichtung den Vor-
fall nicht aufs Butterbrot schmieren sollen“). Das alltagspraktische Problem
besteht darin, unnötige Arbeit und Belastungen auf sich nehmen zu müssen
(„im Prinzip können wir uns dann den ganzen Stress sparen … sie würde dann
einfach hierbleiben“).

Zuvor haben wir vermutet, dass sich das Selbstverhältnis der Patientin heuristisch
durch ein Modell aus drei Selbstteilen beschreiben lässt: der Teil, der das als
pathologisch wahrgenommene Verhalten produziert, der Teil, der die Patientin
entsprechend den Regeln des Maßregelvollzugs agieren lässt und ein dritter Teil,
der das Verhältnis der beiden Teile regelt und einer Reflexionssperre unterliegt.
Wenn wir uns von einer innerpsychischen Beschreibung lösen und stattdessen
die konditionierte Koproduktion von Psyche und Sozialem in den Blick nehmen,
erscheint zunächst vor allem der zweite Teil als das Ergebnis einer lebendigen
Beziehung zwischen dem therapeutischen Personal und der Patientin. Aus dem
hiermit einhergehenden Zwischenbereich kann für die Patientin ein Selbst- und
Weltverhältnis entstehen, das so lange stabil ist, wie die Beziehung aufrecht-
erhalten werden, die es nähren.
Im Anschluss an den Bericht des Pflegedienstleiters lässt sich nun die
These formulieren und begründen, dass auch der dritte, vermittelnde Teil
seine Beziehungsentsprechung in einer ihm homologen sozialen Dynamik
findet – also ebenfalls als ein überpersonales Phänomen zu begreifen ist. In der
therapeutischen Kommunikation ist es tabu, über die Widersprüche des über-
greifenden Arrangements (der gesellschaftliche Druck und die organisationalen
Zumutungen), sowie die hierdurch verursachte Hilflosigkeit des therapeutischen
Teams zu sprechen. Es kann nicht offen mit Frau Krampen darüber gesprochen
werden, dass die Entlassung der Patientin nicht funktionieren kann, und zwar
allein schon deswegen, weil damit die Beziehungen bedroht wären, welche ihr
ein (wenngleich überwiegend negativ formatiertes) Selbst- und Weltverhältnis
258 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

aufzubauen ermöglichen (darunter auch die therapeutischen Beziehungen). In


der alltäglichen Interaktion über das Offensichtliche nicht zu sprechen, formatiert
jene Beziehungen jedoch seinerseits in einer bestimmten Form.
Aus diesem Zwischenbereich entsteht in konditionierter Koproduktion ein
soziales System mit einer spezifischen Interaktionsdynamik, das sich dadurch
auszeichnet, etwas nicht zu thematisieren, von dessen Existenz zugleich alle
Beteiligten sehr wohl wissen. An dieser Stelle könnte auch gefragt werden,
inwieweit die Beziehung zwischen der Therapeutin und der Patientin die
Reflexionssperre mit produziert. Auch hier wäre das Geschehen als ein über-
individueller Prozess zu betrachten, wobei sich darüber nachdenken ließe, ob
dann gerade auch die Länge der Beziehung (dreizehn Jahre) als förderlich oder
hinderlich für Überwindung dieser Sperre anzusehen ist.
Auf sozialer Ebene ist mit dieser Diskrepanz und diesem Tabu umzugehen.
Genau dies entspricht dem dritten Teil, der die Reflexionssperre aufrechterhält
und entsprechend auf seine Weise für die Kontinuität der Beziehung sorgt – näm-
lich indem dann doch das geschieht, was nicht sein darf, um damit das bewährte
Arrangement aufrechtzuerhalten. Auf sozialer und psychischer Ebene bedeutet
dies unweigerlich Stress, denn auf performativer Ebene muss die Reflexions-
sperre irgendwann wieder durchbrochen werden – was nur mit Gewalt geht –, um
dann jedoch zugleich wieder mit vereinten Kräften daran zu arbeiten (was eben-
falls anstrengend ist), die Eigenwerte des bisherigen therapeutischen Regimes
wiederherzustellen – also die aufgestörte Beziehung wieder zu beruhigen und in
den Latenzbereich des Nicht-Thematisierten zu überführen.
Wenn diese Analyse zutrifft, würden Teil 1 (der Selbstaspekt, welcher die
Patientin mit der Kraft des Delikts identifizieren lässt) und Teil 2 (mit dem sich
ihr Selbst- und Weltverhältnis auf die mit dem therapeutischen Regime ver-
bundenen Beziehungen ausgerichtet hat) keineswegs unvermittelt gegeneinander-
stehen, wie es etwa Dr. Jekyll und Mr. Hyde im gleichnamigen Roman tun. Sie
würden sich vielmehr in einer subtilen, wohlausgewogenen Balance befinden,
über die genau austariert wird, ob und an welcher Stelle man über das Ziel
hinausschießt – und damit das ganze Arrangement gefährdet.
Mit Blick auf die hieraus folgende Ambivalenz zeigen sich bei der Patientin
zwei widersprechende Willensbewegungen: ein ‚anerzogener Wille‘, der dem
therapeutischen Normideal entspricht, irgendwann als resozialisiert entlassen zu
werden, und eine, nennen wir sie ‚pragmatische Willensbewegung‘, die auf die
Reproduktion des alten Selbst- und Weltverhältnisses im Sinne des vertrauten
Milieus innerhalb der Klinik zielt.
Aus unterschiedlicher Perspektive kann die „Verlängerung der Fahrkarte“
nicht gewünscht werden, weder auf psychischer Ebene (eine 33-jährige Patientin
4.3  Frau Krampen: In der Klinik ein Zuhause finden?! 259

kann nur schwerlich bewusst akzeptieren, dass ihre Biografie im Maßregelvollzug


zum Ende gekommen ist) noch aus Perspektive der Organisation (dann wäre die
forensische Psychiatrie keine Einrichtung der Therapie und Rehabilitation mehr
und würde ihrem gesellschaftlichem Zweckauftrag nicht mehr gerecht). Zugleich
erscheint jedoch die Verlängerung des Aufenthalts als die einzige pragmatische
Lösung, der Patientin wie auch der Klinik den Stress perpetuierender Wiederein-
weisungen (Drehtürpsychiatrie) zu ersparen und ihr eine Art Zuhause zu geben.
Gerade deshalb kann die sich hier dokumentierende Krise durchaus als
homöostatische Bewegung eines Arrangements gesehen werden, welches für die
Patientin erneut ein Selbst- und Weltverhältnis reproduzieren lässt, das in der
Wertstruktur der Leerstellengrammatik einer forensischen Klinik in der gegen-
wärtigen Gesellschaft eigentlich nicht vorgesehen ist. In der Einrichtung zu ver-
bleiben, ist an keiner Stelle eine Perspektive, die als Wert offen vertreten werden
kann.
Um dabei zu einem möglichst vollständigen Bild zu gelangen, ist es allerdings
ebenfalls notwendig, die psychisch-körperliche Lagerung einer Patientin zu
würdigen, die ihre eigene Struktur mitbringt. Denn ansonsten blieben wir bei
einer soziologistischen Verkürzung stehen, welche das Problem allein den Ver-
hältnissen zurechnet. Im psychiatrischen Feld wird diese Struktur als ‚Borderline‘
bezeichnet, was unter anderem für eine starke emotionale Ambivalenz in den
tragenden Beziehungen dieser Menschen steht. Diese drückt sich dann salopp
gesagt etwa in folgender Bewegung aus: Ich will bei meiner Familie sein. Meine
Familie stößt mich ab. Ich will ihr gefallen und mache, was ihr gefällt. Doch da
ich nur zu meiner Familie gehöre, wenn ich nicht gefalle, benehme ich mich eben
daneben. Jetzt ist der Maßregelvollzug meine Familie und um dazuzugehören
muss ich mich danebenbenehmen.
An dieser Stelle ist deshalb nochmals darauf hinzuweisen, dass sich nicht alle
Patienten so verhalten wie Frau Krampen. Das von der Klinik angebotene Setting
kann aus Sicht der Patienten vielmehr durch eine Vielzahl unterschiedlicher Ver-
haltensweisen bearbeitet werden. So mögen andere Patienten ihre Autonomie
etwa in einem fortwährenden Widerstand gegen das Behandlungsregime suchen
oder strategisch ihre Rolle einnehmen, um irgendwann wieder rauszukommen.
Wieder andere mögen vielleicht tatsächlich an sich arbeiten und die eine oder
andere ‚Einsicht‘ mitnehmen, um dann vielleicht als chronisch Kranke ihre
Probleme so weit in den Griff zu bekommen, dass sie als ‚gebessert‘ entlassen
werden können.
Im Sinne der konditionierten Koproduktion dürfen Grund und Begründetes,
Ursache und Wirkung nicht in einem linearen Verhältnis verstanden werden.
Weder ist die Patientin einfach nur Produkt der Verhältnisse und Bemühungen
260 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

der Klinik, noch sind letztere eine logische Konsequenz der Symptome und des
Verhaltens ihrer Patienten (bzw. einer sich hieraus ergebenden ‚objektivierbaren‘
Diagnose). Die funktionale Methode lenkt den Blick auf Freiheitsgrade. Der
Patient präsentiert in seinem Verhalten und seinen Symptomen eine Lösung der
Probleme, welche seine Situation als Patient im Maßregelvollzug an ihn heran-
trägt. Analog hierzu stellt aus Sicht des Personals das Setting der Klinik sowie die
therapeutischen Bemühungen eine von vielen anderen möglichen Antworten auf
das Problem des Patienten dar. Beide Bewegungen verschränken sich zu einem
therapeutischen Arrangement, was in dem hier vorgestellten Fall, so die Hypo-
these, in einer spezifischen Form des ‚Scheiterns‘ einrastet.

Renormalisierung – „habe es ihr jetzt deutlich gesagt, dass sie


jetzt nicht hierbleiben kann, wenn noch was passiert“
Knapp zwei Wochen später kommt es bei der Patientin zu einer weiteren Krise,
diesmal jedoch nicht verbunden mit Übergriffen auf andere, sondern nur in Form
einer Selbstverletzung. Frau Krampen schluckt erneut zwei Gegenstände (diesmal
die Verschlusskappen einer Zahnpasta).
Schauen wir auf einen Ausschnitt aus der Oberarztvisite, in der dieser Vorfall
besprochen wird:

16.9, ca. 10:30 Uhr, Oberarztvisite


Pfleger: Auf der Station läuft sie jetzt wieder rum. Da sind auch viele Dinge, die
sie schlucken könnte … wir können jetzt nicht alles verstecken … und wenn sie die
nicht findet, schluckt sie etwas anderes …
Oberärztin (erklärt ausführlicher die Vorgeschichte der letzten Wochen): … jetzt
war die Absprache mit unserer Klinik ‚Kein Personal angreifen‘ … am 18.4. hat sie
wieder Plastikteile gefuttert …
Assistenzarzt: Es war aber kein Fremdangriff
(die Patientin wird reingebeten)
Oberärztin: Wie geht es?
Frau Krampen: Es geht langsam besser
Oberärztin: Dann die Zahnpastadeckel, Warum haben sie das gemacht?
Frau Krampen: Ich habe einfach nicht nachgedacht
Oberärztin: Wie war unsere Abmachung?
Frau Krampen: Weiß ich nicht mehr.
Oberärztin: Was war denn da?
Frau Krampen: Musste wieder das Gerede von Frau Tetzlaff [Name einer
befreundeten Mitpatientin, die wie Frau Krampen deutlich übergewichtig ist]
anhören ‚Jetzt muss ich abnehmen‘ und dann war alles vorbei …. Die Frau Tetzlaff
will, dass ich nach [Name einer anderen Klinik] gehe – aber ich möchte das nicht…
Ich will mich zusammenreißen.
Oberärztin: Wie soll ich das glauben.
4.3  Frau Krampen: In der Klinik ein Zuhause finden?! 261

Frau Krampen: Wie geht es weiter, kann ich wieder runter auf die Station?
Oberärztin: Das besprechen wird dann später … machen Sie langsam, dass es
besser wird, und dann sehen wir …
(Patientin wird rausgebeten)

Die Visite verläuft strukturell sowie in Hinblick auf die Interaktionsmuster ähn-
lich wie nach der ersten Krise. Die Oberärztin fragt nach, was geschehen ist.
Es können Gründe benannt werden, die auf eine bestimmte Psychodynamik
verweisen (etwa die Gewichtsproblematik der Patientin und die diesbezüg-
liche Thematisierung durch eine Mitpatientin). Die Impulse, welche zu dem
problematischen Verhalten geführt haben, liegen jedoch wieder im Latenzbereich,
sie scheinen also der Reflexion der Patientin nicht zugänglich zu sein („Ich habe
einfach nicht nachgedacht“). Auch diesbezügliche Abmachungen mit dem Team
scheinen außerhalb des Erinnerungshorizonts der Patientin zu liegen („Weiß ich
nicht mehr“).
Als Antwort auf die Krise erhöht die Oberärztin den Druck und erklärt ihr,
dass die Patientin nur dann in der Einrichtung bleiben könne, wenn in nächster
Zeit nichts weiter vorfalle. Zugleich wird aber auch deutlich markiert, dass die
Beurlaubung in das weniger gesicherte Heim nun nicht mehr ins Auge gefasst
wird, wie dann auch später nochmals in der Teamsitzung deutlich wird:

Teamsitzung, 13.30 Uhr (am gleichen Tag):


Oberärztin: Ich habe es ihr jetzt deutlich gesagt, dass sie jetzt nicht hierbleiben
kann, wenn noch was passiert
Pflegedienstleiter: Jetzt mit der Einrichtung Sonnenschein … Wissen die das, dass
sie erst mal nicht kommt?
Oberärztin: Ja, sie wird auf absehbare Zeit nicht dahin können … sie wollen sie erst
mal nicht … aber wenn es jetzt bei ihr eine deutliche Entwicklung gibt, würden sie
sie nehmen …

In einem Gespräch mit den Pflegekräften, dass am gleichen Tag stattfindet, wird
die Frage ventiliert, ob die Krise von der Patientin absichtsvoll hervorgerufen
wurde. Hier das Beobachtungsprotokoll:

Tagesraum der Pflege, 14.40 Uhr (am gleichen Tag)


Oberärztin: Wir müssen überlegen, ob wir Frau Krampen hier oben lassen [auf einer
anderen Station, in der sich ein weiterer Krisenraum befindet].
Pfleger-2: Wir haben kein Bett frei …
Pflegerin-1: Sie ist ordentlich durchgedreht unten …
Pfeger-2: Ist das Absicht oder ein Zufallsprodukt?
Pfegerin-3: Habe sie mal gefragt, sie sagte, dass sie das absichtlich so macht.
262 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Pfegerin-1: Das kann doch nicht angehen. Immer wieder auf die Rettungsstelle zu
kommen, weil die irgendwelche Gegenstände geschluckt hat. Diesmal waren wir bis
2 Uhr da. Die kennen sie da schon mit Vornamen …
Pfleger-2: Hat gesagt, dass sie nicht nach [Name, Ort einer anderen forensischen
Klinik] will.
Oberärztin: Ich rede mit dem Chef darüber.

Im Zusammenhang mit unserer Fallrekonstruktion erscheint an dieser Gesprächs-


sequenz interessant, dass es wieder einmal Vertreter aus der Pflege sind, welche in
der Lage sind, den Ausdruckscharakter von Frau Krampens Krise wahrzunehmen
und zu thematisieren. Offensichtlich kann Frau Krampen im Gespräch mit den
Pflegern etwas artikulieren bzw. zumindest andeuten, das in der Interaktion mit
den Ärzten und Therapeuten nicht offen ausgesprochen werden kann – näm-
lich, dass sie in der Einrichtung bleiben möchte und die Krise möglichweise gar
absichtsvoll forciert hat.
Im Sinne der konditionierten Koproduktion der Selbst- und Weltverhält-
nisse ließe sich hier die These formulieren, dass in einem Beziehungsraum, der
weniger durch das oben herausgearbeitete Tabu formatiert ist, sehr wohl um
diesen Zusammenhang gewusst werden kann.
Während in der therapeutischen Kommunikation, die an der Rehabilitation
der Patientin arbeitet, das „Weiß-nicht“ dominiert, scheinen in der von
therapeutischen Primaten und Hoffnungen ein wenig entlasteten Interaktion mit
den Pflegekräften andere Aspekte zutage treten und damit der Reflexion zugäng-
lich werden zu können. Insofern wir das Bewusstsein nicht als einen inner-
psychischen Prozess begreifen, sondern als den subjektiv empfundenen Ausdruck
dessen, was in einer jeweils konkreten Beziehung möglich ist,31 brauchen wir
Frau Krampen auch nicht zu unterstellen, der Oberärztin etwas zu verschweigen.
Vielmehr können wir vermuten, dass beide Selbstverhältnisse authentisch sind,
jedoch nicht gleichzeitig, sondern in Abhängigkeit der jeweiligen Beziehungs-
konstellation. Mit Blick auf die Frage, welche Werte nicht ausgesprochen also
implizit gehalten werden, erscheint in unserem Zusammenhang interessant,

31 Insbesondere Merleau-Ponty macht aus phänomenologischer Perspektive deutlich, dass


Bewusstsein von der Interaktion und der hiermit aufscheinenden Intersubjektivität nicht zu
trennen ist: „Die phänomenologische Welt ist nicht reines Sein, sondern Sinn, der durch-
scheint im Schnittpunkt meiner Erfahrung wie in dem der meinigen und der Erfahrungen
Anderer durch dieser aller Zusammenspiel, untrennbar also von Subjektivität und Inter-
subjektivität, die durch Übernahme vergangener in gegenwärtige wie der Erfahrung
Anderer in die meine zu einer Einheit sich bilden“ (Merleau-Ponty 1974, S. 17).
4.3  Frau Krampen: In der Klinik ein Zuhause finden?! 263

dass die anwesende Oberärztin das Gespräch zwischen den Pflegern zwar nicht
explizit inhaltlich aufgreift oder kommentiert, jedoch verkündet, mit dem Chef-
arzt nochmals über Frau Krampen reden zu wollen. Dabei bleibt jedoch implizit,
mit welcher Intention und mit welchem Ziel dies geschehen soll.
Das Ergebnis des Gesprächs mit ihrem Vorgesetzten wird in der Chefarztvisite
deutlich, die eine Woche später stattfindet:

23.9., 9:00 Uhr, Chefarztvisite (im Zimmer von Frau Krampen)


Chefarzt: Wichtig sind jetzt kleine Schritte… wir müssen offiziell, für die Akten,
einen Termin machen und Lego-Steine, Zahnpasta-Deckel etc. entfernen … ich
weiß ja auch, dass man im Fall der Fälle den Sessel da aufessen kann (deutet auf den
Sessel im Flur). Aber wir haben einen neuen Klinikmanager, der sehr anstrengend ist.
(zwischendurch findet ein Gespräch mit einem anderen Patienten statt)
Chefarzt: … was ich nochmals festhalten möchte: viele kleine Schritte.
Frau Krampen: … ich hatte ja die Krise …
Chefarzt: … die vielen Veränderungen, Frau Müller, die Entlassung … tun Sie uns
den Gefallen, wenn was ist, sagen Sie Bescheid
Frau Krampen: … ich wollte das Personal nicht belästigen …
Chefarzt: … ist jetzt geschehen […] wir haben hier allerdings nur beschränkte
Möglichkeiten … wenn das nicht geht, dann müssen Sie wieder nach [Name einer
größeren Klinik im gleichen Bundesland].
Frau Krampen: … möchte hier oben auf der Station bleiben … unten ist das
schwierig… Frau Peters und Frau Tetzlaff ärgern mich immer… da kriege ich
Krisen…
Chefarzt: Kleine Schritte machen ….
Frau Krampen: ... wollte noch was sagen: Es tut mir Leid, dass ich die Frau Mitchel
[eine Pflegerin] angegriffen habe. Habe ein rotes Tuch gesehen.
Chefarzt: Haben Sie ihr das gesagt?
Frau Krampen: … war nicht da…. mache ich noch… den anderen schon
gesagt…. – wollte Ihnen noch was zeigen … (steht auf und kommt kurze Zeit
später mit einem Stofftier wieder)…. habe ich von Frau Müller zum Abschied
bekommen… das ist Max…
Chefarzt: … ist ja ein toller Kerl … ist das waschbar?
Frau Krampen: … weiß ich nicht ….
Chefarzt: Alles Gute dann. Denken Sie an uns. Wir sind ja auch Menschen.
Frau Krampen: Ja, ich habe nicht nachgedacht …

Mehr oder weniger stillschweigend sind alle Beteiligten – insbesondere die ver-
antwortlichen Ärzte und die Patientin – übereingekommen, die therapeutische
und pflegerische Beziehung aufrechterhalten zu wollen und zur Normalität der
längerfristigen Unterbringung im Maßregelvollzug zurückzukehren. Wenn-
gleich der Chefarzt die Drohung aktualisiert, dass Frau Krampen auch in eine
andere, größere Klinik verlegt werden könnte, verläuft das Gespräch auf der
Beziehungsebene auf einer moderaten, Verständnis zeigenden Ebene („die vielen
264 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Veränderungen, Frau Müller, die Entlassung“). Der Chefarzt zieht die laut den
Klinikprotokollen notwendigen Vorsorgemaßnahmen ein wenig ins Lächerliche,
verweist darauf, dass dies nur pro forma notwendig sei („wir müssen offiziell,
für die Akten, einen Termin machen“) und distanziert sich persönlich von der
hiermit verbundenen Auflage („wir haben einen neuen Klinikmanager, der sehr
anstrengend ist“).
Zugleich stellt er den originären Auftrag des Maßregelvollzugs heraus. Es
gehe darum, dass die Patientin kontinuierlich an sich arbeitet („was ich nochmals
festhalten möchte: viele kleine Schritte“).
Komplementär artikuliert Frau Krampen, dass ihr der Übergriff auf das
Personal leidtue. Der Chefarzt greift dies auf, um dann über die allgemeine
Entschuldigung hinausgehend noch eine persönliche Erklärung gegenüber der
Pflegerin einzufordern. Auch dies wird von der Patientin affirmiert. Anschließend
zeigt sie dem Chefarzt mit ein wenig Stolz das Plüschtier, das sie von ihrer ehe-
maligen Therapeutin erhalten hat. Die Beziehung rastet hiermit in einen kind-
lichen Modus ein, was dann in eine bizarr anmutenden Nachfrage des Chefarztes
mündet („ist das waschbar“). Zum Abschied fordert der Chefarzt von der
Patientin eine weitergehende Perspektivenübernahme ein („Denken Sie an uns.
Wir sind ja auch Menschen“). Auch dies wird von der Patientin bestätigend auf-
gegriffen und mit der Entschuldigung verbunden, dass sie zuvor nicht richtig
„nachgedacht“ habe.
Man rastet in wechselseitigem Wohlwollen ein, fordert gegenseitiges Ver-
ständnis und markiert, dass äußere institutionelle Zwänge nicht ganz so ernst
zu nehmen seien. Zugleich werden jedoch die Machtverhältnisse nochmals
verdeutlicht – wenn die Patientin es zu weit treibt, wird sie die Konsequenzen
tragen müssen und in eine andere Einrichtung verlegt werden („wir haben
hier allerdings nur beschränkte Möglichkeiten … wenn das nicht geht, dann
müssen Sie wieder nach …“). All dies zusammengenommen führt dazu, das
therapeutische Setting der Klinik zu reaktualisieren und dahin gehend anzu-
passen, dass entgegen der vor einigen Wochen noch ins Auge gefassten Weichen-
stellung nun keine Entlassung aus dem Maßregelvollzug mehr ansteht.
In diesen wenigen Sätzen drückt sich die immense Komplexität des
Maßregelvollzugs aus. Es wird die ganze Vielfalt der Stimmen deutlich, welche
hier in ein polyphones Arrangement zu bringen sind. Der Patientin muss das Ver-
trauen gegeben werden, dass es weitergeht, ohne dabei die Übergriffe auf das
Personal aus dem Blick zu verlieren. Es ist ein souveräner Umgang mit den recht-
lich-organisationalen Vorgaben zu demonstrieren. Es wird mitfühlendes Verständ-
nis gezeigt, um jedoch zugleich die Autorität der Institution performativ zum
Ausdruck zu bringen.
4.3  Frau Krampen: In der Klinik ein Zuhause finden?! 265

Vielleicht ist es gerade diese Gleichzeitigkeit divergierender Ansprüche und


Rationalitäten, welche die Kommunikation des Chefarztes beinahe ins Absurde
abgleiten lässt. Die von ihm verwendeten humoresken Sprachbilder „waschbarer“
Übergangsobjekte und Selbstschädigungen, die sich darin artikulieren, einen
„Sessel“ zu essen, wären also damit keineswegs ein Indiz, dass er die Problematik
nicht so recht ernst nähme. Sie würden vielmehr anzeigen, dass die Selbst- und
Weltverhältnisse der beteiligten Akteure innerhalb der forensischen Psychiatrie
manchmal in solch einer tragischen Weise gebrochen sind, dass diese Art von
(Galgen-)Humor für den Chefarzt als eine sinnvolle Form erscheint, Rollen-
distanz und Verantwortung in eine angemessene Balance zu bringen.
Frau Krampen beginnt sich in den folgenden Wochen wieder zu stabilisieren
und in einen weniger dramatischen Modus einzurasten. Für sie und das Personal
herrscht nun wieder normale Alltäglichkeit im Maßregelvollzug (Abb. 4.4).

Perspektiven kreuzen sich – etwas ermöglichen, das die


Gesellschaft nicht vorsieht
Auf den vorangehenden Seiten wurde deutlich, wie die Patientin und das Personal
sich in raffinierter und subtiler Weise aufeinander beziehen, sodass das über die
Jahre hinweg aufrecht erhaltene Arrangement trotz der Krise weitergehen kann.
Schauen wir abschließend nochmals anhand einiger der von uns geführten Inter-
views auf drei unterschiedliche Perspektiven dieses informellen Abkommens.

Die Patientin – „dann passieren mal wieder Dinge und dann


ist wieder für ein Jahr Ruhe“
Beginnen wir mit der Patientin. Das Gespräch wurde im Anschluss an die Chef-
arztvisite geführt. Frau Krampen schläft immer noch im Krisenraum, darf aber
jetzt tagsüber für einige Stunden auf die Station:

Interviewer: Was ist denn so Ihr Ziel?


Frau Krampen: Na, mein Ziel ist es, hier rauszukommen. Also, dass ich irgendwann
mein Leben führe und nicht mehr im Maßregelvollzug verbringe.
Interviewer: Und was müssen Sie dafür machen?
Frau Krampen: Auf jeden Fall mich verhaltensmäßig ändern. Nicht mehr mit Selbst-
verletzungen, dass das nicht mehr vorkommt. Auch Fremdaggressionen nicht mehr.
Interviewer: Und dann haben Sie das Gefühl, Sie sind jetzt auf einem guten Weg.
Frau Krampen: Ja. Ich bin schon seit, also es läuft eigentlich schon viel besser mit mir
als vor paar Jahren. Vor ein paar Jahren war ich ja viel schlimmer gewesen. Jetzt läuft
es schon besser. Ist kaum noch Vorfälle und wenn mal Vorfälle sind, dann sind nur zwei
Wochen Vorfälle und dann ist wieder für ein paar Wochen Ruhe oder für ein Monat
oder ein halbes Jahr. Dann passieren mal wieder Dinge und dann ist wieder für ein Jahr
Ruhe. Also das war vorher nicht so, denke ich von mir, da war jeden Tag etwas.
266 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

erhältnis
Selbstv
+ Weltverhältnis
aggressive – anderer
Frau +
– Maßregelvollzug

Weltverhältnis +
forensische
Klinik
+ +

erhältnis
Selbstv
Weltverhältnis
angepasste + betreutes
Patientin – Wohnen

Abb. 4.4   Die Grafik illustriert das komplexe Selbst- und Weltverhältnis von Frau
Krampen. Im Selbstverhältnis erscheint sie zunächst einerseits als aggressive Frau, die
sich mit ihrer „Kraft“ identifiziert, andererseits jedoch als angepasste Patientin, welche die
Seitens der Therapeuten angebotenen Deutungen übernimmt. Darüber hinaus scheint ihr
Selbst- und Weltverhältnis auch eine Position bereitzuhalten, die das Verhältnis zwischen
der aggressiven Frau und der einsichtigen Patientin moderiert. Im Weltverhältnis taucht die
forensische Klinik auf, welche qua Behandlungsauftrag die Entlassung bzw. Rehabilitation
der Patientin anstrebt. Im weiteren Horizont erscheinen mögliche Betreuungseinrichtungen
außerhalb der vertrauten Klinik, darunter auch andere Maßregelvollzugskliniken, in welche
die Patientin eingewiesen werden könnte, falls sie zu sehr Probleme macht. Zwischen
den unterschiedlichen Positionen entsteht eine subtile Balance. Das Selbst- und Welt-
verhältnis ‚Patientin in vertrauter Klinik‘ bleibt erhalten, wenn die Patientin in wohl-
dosierter Form ab und zu Symptome zeigt, die sie als behandlungsbedürftig qualifizieren.
Der Maßregelvollzug mit seinem gesellschaftlichen Auftrag (Besserung und Sicherung)
konditioniert damit seinerseits die Bedingungen der Balance zwischen den auf den ersten
Blick einander widersprechenden Selbstverhältnissen. Die durch den Klinikkontext ver-
mittelten Beziehungen gestatten, dass sich Frau K. sowohl in ihren aggressiven Impulsen
als auch in ihren Anpassungsversuchen getragen und verstanden fühlen kann (etwa im
Sinne einer Familie, die ihr Problemkind trotz alledem annimmt). Jede Verlegung oder
Entlassung erscheint dadurch allerdings als ein Angriff auf die mit diesen Beziehungen
gegebene Stabilität, denn außerhalb der Klinik sind die vermittelnden Relationen (erstmal)
nicht vorhanden. Die Einheit der Differenz von angepasster Patientin und aggressiver Frau
scheint nur in der Klinik hergestellt werden zu können.
4.3  Frau Krampen: In der Klinik ein Zuhause finden?! 267

Die von der Patientin benannten Ziele sind im Einklang mit dem Vektor des
gesellschaftlichen Auftrags der forensischen Psychiatrie formuliert. Sie möchte
irgendwann die Einrichtung verlassen und in der Lage sein, ihr eigenes Leben zu
führen. Sie weiß um die Kriterien, welche den Therapieerfolg definieren: selbst-
gefährdendes und fremdgefährdendes Verhalten darf nicht mehr vorkommen.
Trotz der dramatischen Krise, die alle Beteiligen vor wenigen Tagen noch durch-
leben mussten, erzählt sie ihre Geschichte als eine fortschreitende Entwicklung
(„vor ein paar Jahren war ich ja viel schlimmer gewesen“, „kaum noch Vor-
fälle“).
Im Gespräch drückt sich ein Selbst- und Weltverhältnis aus, in dem sie
zumindest in der Hinsicht im Einklang mit sich selbst zu stehen scheint, dass die
repetierenden Krisen für sie nicht als ein Problem erscheinen („Dann passieren
mal wieder Dinge und dann ist wieder für ein Jahr Ruhe“). Wenngleich sich die
Patientin bei der Einschätzung der Zeitskalen etwas unsicher zu sein scheint („für
ein Monat oder ein halbes Jahr“), stellt sie im Vergleich zu früheren Jahren einen
Fortschritt fest („da war jeden Tag etwas“). Innerhalb der von ihr artikulierten
Selbstreflexion erscheint ihre Patientenkarriere also durchaus in Ordnung.
Mit Blick auf die vorangehende Fallrekonstruktion lässt sich dazu ergänzen:
Sie ist und bleibt an einem Ort, an dem sie unter den gegebenen Verhältnissen
ein einigermaßen stabiles Selbst- und Weltverhältnis aufbauen kann. Sie hat
Menschen um sich, die sie kennt und auf die sie sich beziehen kann. Angesichts
der Tatsache, dass sie jetzt bereits seit dreizehn Jahren in einer forensischen
Klinik lebt, heißt dies aber auch, dass sie sich an die hiermit einhergehende
Lebensform, die Zeithorizonte und die Einschränkungen ihrer Autonomie
gewöhnt hat. Diese Hospitalisierung stellt sich für sie – wie auch in den anderen
Teilen des Interviews deutlich wurde – nicht als ein grundsätzliches Problem dar.
Die Falldynamik liegt damit deutlich anders als bei Frau Schmidt. Diese hat
die meiste Zeit mit der Klinik gehadert und gerade auch die Einschränkung ihrer
Autonomie und den Aufenthalt im Krisenraum im Anschluss an ihren Flucht-
versuch als große Zumutung und Demütigung erlebt, sodass all dies nun für sie
zum Anlass wird, intensiv und ernsthaft auf die Entlassung hinzuarbeiten. Frau
Krampen scheint es demgegenüber – wie gesagt – vollkommen in Ordnung zu
sein, derzeit im Krisenraum und mit einer auf unbestimmte Zeit aufgeschobenen
Entlassungsperspektive zu leben. Sie kann jetzt in der Klinik verbleiben. Da diese
ideell weiterhin dem Ziel ihrer erfolgreichen Rehabilitation verpflichtet ist, kann
sie weiterhin ein hohes Ausmaß an Betreuung und Aufmerksamkeit erwarten. Auf
der faktischen Ebene bedeutet dies, hospitalisiert zu bleiben und dabei parallel
268 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

imaginär die Hoffnung auf Entlassung und Besserung weiter mitzuführen. Sie
kann damit für sich selbst als ein Mensch erscheinen, der auf Besserung hin-
arbeitet, und zwar langsam, aber dennoch kontinuierlich seine psychische
Erkrankung in den Griff bekommt.
Dieses in die Zukunft projizierte imaginäre Selbstbild kann jedoch nur
aufrechterhalten werden, wenn das übergreifende Selbst- und Weltverhält-
nis, welches all dies ermöglicht, in den Latenzbereich rückt. Zu nennen sind
hier zunächst die Mauern der Klinik und die Krisenräume wie auch all die
Beziehungen, die im Anschluss an die größeren und kleineren Krisen aufrecht-
erhalten und fortgeführt werden. Zu diesem Setting gehört selbstredend aber
auch die umfassende Betreuung durch die Pflegekräfte und Therapeuten – was
in diesem Umfang nur in einer Klinik des Maßregelvollzugs möglich ist. Die
Angestellten der Klinik sind darin geschult, Strafe und Belohnung, Mitgefühl
und Grenzziehung, Verständnis und Normalitätsdruck in einer subtilen Balance
zu halten und tragen auf diese Weise maßgeblich dazu bei, die Patientin in
ebendieses Regime hinein zu sozialisieren. Doch genau diese gemeinsamen
Bewegungen drohen in im Fall von Frau Krampen dazu zu führen, dass diese ein
chronischer Fall bleiben wird. Sie scheinen das Muster, welches die Patientin in
der Klinik hält, aufrechtzuerhalten.
Abstrahiert man vom Einzelfall, so lässt sich festhalten, dass die forensische
Psychiatrie zwei spezifische Beziehungsformen anbietet, die sich in ungünstigen
Konstellationen zu einem Knoten verschränken, der genau die zuvor geschilderte
Problematik reproduzieren lässt:

1. Das therapeutische Routinespiel: ein Miteinander-Sein, das darauf fußt, dass


der Patient unter therapeutischer Begleitung vermeintlich an sich arbeitet,
wobei jedoch implizit die Beziehungsebene wichtiger wird als die Sache, um
die es in der Therapie eigentlich gehen sollte.
2. Der Krisenmodus: Ein der forensischen Psychiatrie eigener Modus, Patienten,
die einen psychischen Zusammenbruch erleiden, ein besonders hohes Maß an
Aufmerksamkeit und Hilfestellung zu gewähren.

In konditionierter Koproduktion mit dem Personal kann Frau Krampen also ein
Selbst- und Weltverhältnis aufbauen und reproduzieren, mit dem sie kontra-
faktisch zu den immer wieder produzierten Krisen als eine sich zum Besseren
hin entwickelnde Patientin erscheint. Daher muss es auch für sie im Bereich
des blinden Flecks bleiben, dass sie selbst aktiv dazu beiträgt, nicht die Klinik
verlassen zu können bzw. müssen, indem sie immer wieder wohldosiert die
4.3  Frau Krampen: In der Klinik ein Zuhause finden?! 269

Symptome (mit)produziert, die ihren weiteren Verbleib rechtfertigen und not-


wendig erscheinen lassen.
Doch was auf diese Weise erreicht wird, ist nicht wenig für Menschen, die
keine anderen Domänen aufgebaut haben (man denke an Arbeit, Familie, Freunde
etc.), um sich in Beziehung mit anderen eine stabile Welt aufzubauen. Mit
Blick auf die mit dieser Lebensform einhergehende Lebensqualität stellt dieses
Arrangement vermutlich nicht das Schlechteste für sie dar.

Die Oberärztin – „Es gibt Menschen, die bleiben im


Maßregelvollzug – ihr Leben lang“
Betrachten wir als zweite Perspektive auf das Fallgeschehen die Antwort der
Oberärztin, als sie von uns im Interviewgespräch auf Frau Krampens schlechte
Chancen einer weitergehenden Rehabilitation angesprochen wurde:

Interviewer: Wie ist das denn jetzt mit solchen Personen, die, sag ich mal, wie Herr
Meier oder Frau Krampen, die doch offensichtlich irgendwie nur sehr begrenzt
integrationsfähig sind? […]
Oberärztin: Frau Krampen ist ein Riesenproblem. Die ist über der
Verhältnismäßigkeitsgrenze hinaus schon untergebracht. Die hat ein Delikt, was
nach zehn Jahren tatsächlich nicht mehr verhältnismäßig ist. Naja gut, die wollte
ihren Freund abstechen oder irgendwie mit einer Flasche tot hauen oder so. Das
muss man immer wieder begründen, das entscheidet irgendwann das Gericht.
Ich bin der Auffassung, solange es von uns aus Bemühungen gibt, sie zu ent-
hospitalisieren, muss so eine Verhältnismäßigkeitsentscheidung eigentlich so ein
bisschen hintenanstehen. Da gibt es unterschiedliche juristische Auffassungen zu.
Das ist meine Meinung und Hoffnung dazu – und ich weiß es nicht, ich habe keine
Ahnung. Wir versuchen alles Mögliche. Alle möglichen Strategien versuchen wir.
Das gibt es. Es gibt Menschen, die bleiben im Maßregelvollzug – ihr Leben lang.

Die Oberärztin steht qua ihrer Rolle für die Aufgabe, die Patienten psycho-
therapeutisch und medizinisch so zu behandeln, dass keine stationäre Unter-
bringung mehr notwendig ist. Insofern diesbezüglich noch ein Behandlungserfolg
zu erwarten ist, scheint aus ihrer Sicht die Behandlung innerhalb der forensischen
Klinik auch aus rechtlicher Perspektive legitim zu sein, wenngleich es diesbezüg-
lich auch andere „juristische Auffassungen“ geben mag.
Formal ist die Legitimation der stationären Behandlung damit für sie recht
klar definiert und entsprechend hat sie grundsätzlich kein Problem damit, eine
längere Unterbringung gegenüber den Gerichten zu begründen, insofern das Ziel
der Rehabilitation nicht aufgegeben wird („von uns aus Bemühungen gibt, sie zu
enthospitalisieren“).
270 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Frau Krampen erscheint der Oberärztin damit weniger aus rechtlicher Sicht
als problematisch, sondern stellt vielmehr aus medizinischer Sicht ein „Riesen-
problem“ dar, da bei ihr die therapeutischen Bemühungen nicht zu greifen
scheinen („alle möglichen Strategien versuchen wir“). Damit droht diese
Patientin ein Beispiel für jene Menschen zu werden, die ihr „Leben lang“ im
Maßregelvollzug bleiben („das gibt es“).
Angesichts dieser Ausweglosigkeit scheint die Ärztin auf eine merkwürdige
Weise ratlos („ich habe keine Ahnung“). Nicht einmal in tastender Form zeigen
sich im Interview Reflexionsbewegungen, welche eine Problemlösung oder
zumindest eine praktische Umgangsweise mit dem Problem explizit andeuten.
Zu denken wäre hier etwa an Überlegungen, in bestimmten Konstellationen
den therapeutischen Druck zu reduzieren und unter der Hand einen Langzeitverb-
leib der Patientin als vertretbare Option zu behandeln. Damit würde es also nicht
mehr um jeden Preis darum gehen, die Patientin zu enthospitalisieren, sondern
man würde sich für manche Fälle vorbehalten, in einer auf Dauer angelegten
stationären Unterbringung den Insassen Spielräume autonomer Entfaltung zu
eröffnen, wohlwissend, dass dies eben nur in einem hochstrukturierten und
personell gut ausgestatteten Setting möglich ist.
An dieser Stelle scheint eine interessante Komplementarität zwischen der
Oberärztin und der Patientin auf. Die Oberärztin ist nicht bereit zu reflektieren,
in welchem Passungsverhältnis das Setting ihrer Klinik zum Selbst- und Welt-
verhältnis der Patientin steht – etwa, dass die therapeutischen Bemühungen um
Entlassung genau jenen Stress hervorrufen, der das Therapieprogramm dann
konterkariert. Ihr „ich weiß es nicht“ erscheint damit weder als eine gelassene,
autarke Form des Nicht-Wissens noch als ein verborgenes, aber wissendes
‚Darüber-hinweg-Schauen‘. Anders als beim Chefarzt, der die widersprüchliche
Komplexität der Lagerungen seiner schwierigen Patientin souveräner auszu-
halten scheint, mündet die hier artikulierte Hilflosigkeit nicht in explizite oder
auch nur implizite Akzeptanz der Situation. Der Rehabilitationsanspruch wird
nicht aufgegeben, sondern der therapeutische Druck weiter aufrechterhalten.
Entsprechend der zuvor ausgearbeiteten Fallrekonstruktion wird dies bei dieser
Patientin jedoch vermutlich in einen weiteren Zyklus aus Krise und Anpassung
münden.
Nicht nur die Patientin verfügt also über eine Reflexionssperre, welche sie
daran hindert, bewusst wahrzunehmen, wie die von ihr heraufbeschworenen
Krisen dazu beitragen, ihre Lebensform als Patientin zu reproduzieren. Auch die
Oberärztin offenbart einen blinden Fleck, der sie darin hindert, ihre eigene Rolle
in diesem Spiel zu artikulieren. Beide können gewissermaßen nicht aus dem Sinn
4.3  Frau Krampen: In der Klinik ein Zuhause finden?! 271

der Veranstaltung des Maßregelvollzugs aussteigen. Sie bleiben damit in der Welt
gefangen, die sie auf diese Weise gemeinsam miteinander erschaffen.
An dieser Stelle kann jedoch vermutet werden, dass die Praxis der Oberärztin
raffinierter ist als ihre hier zum Ausdruck kommende Reflexion. Insofern wir
ihr in Hinblick auf die Behandlung der Patientin eine grundlegende Gutwillig-
keit unterstellen (also den Wunsch, ihr das bestmögliche Setting im Umgang
mit ihrer geschädigten Autonomie zu eröffnen), ließe sich die vorangehende
Interviewstelle auch folgendermaßen interpretieren: Als verantwortliche ärzt-
liche Repräsentantin steht sie vor dem Dilemma, angesichts einer rechtlich und
medizinisch kaum mehr zu rechtfertigenden Unterbringung die Beziehung zur
Patientin nicht abbrechen zu lassen, da gerade hierin das Moment liegt, welches
Frau Krampen noch eine gewisse Lebensqualität ermöglicht. Aus Mitgefühl,
nicht jedoch aus medizinisch-fachlichen oder rechtlichen Gründen, würde sie (im
stillschweigenden Einverständnis mit dem Chefarzt und einigen Pflegekräften)
dann als ‚soziale Indikation‘ das Verbleiben der Patientin im Maßregelvollzug
ermöglichen. Genau dies kann sie jedoch nicht explizit machen, da dies ent-
sprechend der verlangten professionellen Maßstäbe kein legitimes Kriterium dar-
stellt. Es muss implizit bleiben.
Die moderne Gesellschaft ermöglicht es in ihrer funktionalen Differenzierung,
psychisch kranke Straftäter zu therapieren (Medizin), zu erziehen (Pädagogik),
Defizite zu kompensieren (Pflege), einzusperren (Recht) und Knappheitskalkülen
zu unterwerfen (Wirtschaft). Es ist jedoch nicht vorgesehen, ihnen ein Zuhause zu
geben, in dem in kontinuierlichen und einigermaßen konstanten Beziehungen zu
signifikanten Anderen ein stabiles Selbstverhältnis aufgebaut werden kann.
Eine der Paradoxien des Maßregelvollzugs könnte damit auch darin liegen,
(obendrein) zu ermöglichen, dass hochvulnerable Menschen wie Frau Krampen
sich jenseits von Krankheit und Recht und trotz Zwang und Therapieanspruch als
Menschen erfahren können. Dies wäre in Fällen – wie dem vorliegendem – mög-
lich, indem unterhalb der professionellen Rolle noch ein Zwischenbereich mög-
lich wird, in dem selbst sie sich in Beziehungen in einem einigermaßen stabilen
Selbstverhältnis erleben können. Für manche Menschen scheint dies unter den
gegebenen Verhältnissen derzeit nur in der forensischen Psychiatrie lebbar.
Die zuvor zum Ausdruck gebrachte Reflexionssperre wäre dann aus guten
Gründen aufrechtzuerhalten, da es unter den gegebenen gesellschaftlichen Ver-
hältnissen kaum denkbar ist, die betreuungs- und kostenintensive Veranstaltung
des Maßregelvollzugs auf eine nichtinstrumentelle Weise (also nicht anhand der
Ziele „Sicherung“, „Besserung“ und „Therapie“) zu rechtfertigen, sondern nur
aus ‚sozialen‘ Gründen.
272 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Der Stationspflegeleiter – „An sich müsste es eine Einrichtung


geben, wie Maßregelvollzug-Soft oder Maßregelvollzug-
Light“
Nehmen wir nun abschließend die Perspektive des Pflegedienstleiters hinzu und
schauen auf einen Gesprächsausschnitt, in dem dieser die Qualitäten einer Ein-
richtung imaginiert, in der Frau Krampen gut aufgehoben wäre:

Herr Sauerland (Pflegedienstleiter): Sie braucht halt viel Betreuung und eine
Pflegekraft im Dienst ist meines Erachtens nicht ausreichend, wenn dann noch fünf
oder sechs andere Patienten sind, das ist zu wenig, da auch oftmals das Gefühl der
Benachteiligung bei ihr aufkommt, dass sie schlechter behandelt wird als andere
Patienten, dass sie auch gleich wahrnimmt, wenn andere Patienten mehr Aufmerk-
samkeit bekommen. Die möchte sie dann auch haben und hat dann somatische
Beschwerden zum Beispiel, um das zu kompensieren. Ja. Deswegen glaube ich,
muss es eine gut aufgestellte Einrichtung sein und da fällt mir keine ein. […]
Sie braucht jetzt etwas, wo sie ein Zuhause hat, auch eine Beschäftigung hat, also
sie hat ja schon den Wunsch, dass sie sich beschäftigen möchte. Sie kann es halt
bloß nicht so lange und nicht sehr intensiv. Also sie muss die Möglichkeit haben,
arbeiten zu gehen in einer geschützten Werkstatt oder so. Es darf sie aber auch nicht
unterfordern, das ist nun mal schwierig da so den goldenen Mittelweg zu finden und
ich glaube, zwei Personen im Dienst wären angebracht, damit dann in schwierigen
Situationen, dass Frau Krampen nicht in den Modus verfällt, ich muss jetzt zum
Beispiel was schlucken oder mir was antun, damit diese eine Pflegekraft mich jetzt
endlich beachtet oder mich sieht.
Interviewer: Also mal so naiv gedacht so zu denken, okay, genau das könnte man
doch einfach hier machen und dann bleibt sie? Also man würde jetzt den Reha-
Anspruch …
Herr Sauerland: runterfahren
Interviewer: Ja
Herr Sauerland: Wo sie zu Hause ist, wo sie versorgt wird und wo sie sicher ist.
[…] Ja, eine Sicherungsverwahrung, die dann die andere Seite berücksichtigt. Sie
möchte ihre Freiheiten haben. Also sie hatte da schon eine gewisse Vorstellung, was
Freiheit bedeuten kann. Dorthin gehen, wohin man möchte, das wäre ja auch bei
einer Sicherungsverwahrung nicht so. An sich müsste es eine Einrichtung geben,
wie Maßregelvollzug-Soft oder Maßregelvollzug-Light.
Interviewer: Also der praktisch auch alles das hat wie hier, dass man sagt, okay,
wenn man sich gut benimmt, dann darf man auch mal raus. Toll. Also wenn man
dann wieder zurückkommt und sich nicht so gut fühlt, geht man vielleicht mit
Begleitung raus. Also da ist sozusagen das Freiheitsmoment mit drin.
Herr Sauerland: Genau
Interviewer: Man fühlt sich nicht hundertprozentig eingesperrt, sondern …
Herr Sauerland: hat man die Möglichkeit, auch mal zurückbleiben, wenn man eine
schwierige Phase durchläuft und wird dann halt auch geschützt.
4.3  Frau Krampen: In der Klinik ein Zuhause finden?! 273

In dieser längeren Gesprächssequenz wird deutlich, dass die erfahrene Pflege-


kraft sehr genau um die oben benannten Dynamiken weiß. Er kennt die Patientin
seit Jahren und weiß um ihre Bedürfnisse und Reaktionsweisen. Mit Blick auf
die in der Region bestehenden ambulanten Einrichtungen und Heime kommt er
zu dem Schluss, dass es derzeit keine Einrichtung gebe, die in der Lage sei, Frau
Krampen angemessen zu betreuen. Ihm ist der Gedanke, den Rehabilitations-
anspruch etwas herunterzufahren, durchaus vertraut und entsprechend kann er
sich die hiermit einhergehenden Anforderungen recht konkret ausmalen. Es dürfe
sich dabei nicht einfach nur um eine „Sicherungsverwahrung“ handeln, welche
die Patienten einsperrt, sondern es müssten auch selektiv Freiheitsgrade gegeben
werden, sodass der Patientin eine gewisse Autonomie ermöglicht werde.
All dies mündet in die Ausdrücke Maßregelvollzug-Soft und Maßregelvollzug-
Light, womit eine Institution gemeint ist, welche die Möglichkeiten der
forensischen Psychiatrie hat, sich aber von den starken Rehabilitationsansprüchen
verabschiedet. Auf diese Weise würde der Patientin ein Zuhause ermöglicht, „wo
sie versorgt wird und wo sie sicher ist“. Doch diese Option bleibt ein Gedanken-
spiel. Wie der Pflegedienstleiter an einer anderen Stelle formuliert hat, die
bereits zuvor ausführlicher diskutiert wurde, „könnte“ man sich eigentlich „im
Prinzip“ den „ganzen Stress“ sparen. Doch der Konjunktiv zeigt an, dass dies eine
Wunschvorstellung bleiben muss, die im Angesicht der realen institutionellen
Verwicklungen keine Chancen auf Verwirklichung hat.
An dieser Stelle schließt sich der Kreis. Da unter den gegebenen Verhält-
nissen kaum etwas Besseres möglich zu sein scheint, kommen alle Beteiligten
(Patientin, Ärzte und Pflegekräfte) stillschweigend überein, das Arrangement
weiterzuführen, das sich in den vergangenen zehn Jahren stabilisiert hat. Ins-
besondere die Patientin und die Oberärztin haben gute Gründe, die Reflexions-
sperren aufrechtzuerhalten, bzw. zumindest nicht in offiziellen Kontexten darüber
zu kommunizieren (während dann in informellen Kontexten, etwa beim Kaffee,
durchaus zum Ausdruck gebracht werden kann, dass man darum weiß). In diesem
Sinne ist das Zusammenspiel der drei Perspektiven nicht ganz zufällig. Für eine
nicht einmal fünfunddreißig Jahre alte Frau lassen sich unter der Illusion, dass
irgendwann ein Leben außerhalb psychiatrischer Institutionen möglich sei, die
Systemzwänge einer totalen Institution leichter aushalten. Die Oberärztin kann
auf diese Weise formal ihrer Rolle gerecht werden, indem sie weiterhin von der
Patientin therapeutische Einsicht und Mitarbeit verlangt, was nicht verhindert,
dass auch sie – sich von der eigenen Intuition leitend (und im Widerspruch zu
ihrer formalen Rolle) – an manchen Stellen den eigentlichen Zweckauftrag des
Maßregelvollzugs hintanstellt.
274 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Insbesondere die Pflege steht dann für das Wissen um die Normalität des All-
tags der forensischen Anstalt. Sie kennt beide Seiten und weiß um die formalen
Ansprüche der Institution. Sie versteht dabei aber sehr wohl, dass die Logik der
Praxis letztlich immer stärker ist als die Theorien über die Praxis. Die Spannung
zwischen der alltagspraktischen Sphäre (was ist machbar) und der ideologischen
Sphäre gesellschaftlicher Aufträge (was soll sein) muss von den Pflegekräften
nolens volens ausgehalten und ertragen werden.

Alternative Weichenstellung
In einer anderen von uns beobachteten Klinik, einer Einrichtung, die eher
einen systemischen Ansatz präferiert, wird seitens der leitenden Ärzte und
Therapeuten auch die Suspendierung der Therapie als Therapie begriffen,
was dann für die Reflexion des Behandlungsarrangements andere Optionen
eröffnet.

Mit Blick auf ihr Selbstverhältnis zeigen sich komplementär hierzu, bei der
Patientin – durchaus auch im Sinne von Winnicott32 – auch innerpsychisch unter-
schiedliche, „divergente Selbstanteile“, die „an verschiedene Bezugspersonen
eines therapeutischen Teams quasi identifikatorisch“ andocken können,33 um so
in einem einigermaßen stabilen Arrangement zusammenzufinden.
Über die psychische Ebene hinausgehend dürfen das therapeutische und
pflegerische Team dabei freilich nicht mehr als Gruppe affektiv neutraler Akteure
angesehen werden, die ihre Gegenübertragung professionell unter Kontrolle
haben. Sie haben ihrerseits Selbst- und Weltverhältnisse. Der Versuch, ihre
professionelle Rolle einzunehmen, ist ihrerseits spannungsgeladen.
Damit sind auch sie in zweierlei Hinsicht als hochgradig verwickelt anzu-
sehen:

32 Die Referenz auf Winnicott erfolgt hier nicht nur, weil er ein komplexer Denker und
auch für soziologische Perspektiven anschlussfähig ist (Altmeyer 2005), sondern weil im
forensischen Feld seinerseits teilweise auf psychoanalytische Konzeptionen im Anschluss
an Winnicott referiert wird.
33 Emrich (1994, S. 115).
4.3  Frau Krampen: In der Klinik ein Zuhause finden?! 275

1. Zum einen haben sie selbst Bedürfnisse, Reaktionsmuster und spezifische


Betroffenheiten. Auch können Rollen, die außerhalb der Klinik eingenommen
werden (etwa als Mutter oder Vater) mit den in der Klinik geforderten
Haltungen (z. B. Pädophile als unzurechnungsfähig und therapiebedürftig
sehen) in ein Spannungsfeld treten (Interrollenkonflikt).34
2. Zum anderen sind sie nolens volens verschränkt mit gesellschaftlichen und
organisatorischen Zwängen, die das konterkarieren, was sie intuitiv für
richtig halten. Sie sind ratlos und hilflos im Angesicht von Unzulänglich-
keiten und Anforderungen ihrer Organisation, die sie nicht ändern können,
aber für die sie trotzdem einstehen müssen (klassischerweise würde man hier
von einem Intrarollenkonflikt sprechen). All die Verwicklungen, welche mit
institutionellen Widersprüchen einhergehen, manifestieren sich unweigerlich
auch in den Beziehungen zu den Patienten.

Auch wenn über diese Punkte in der Regel nicht mit den Patienten gesprochen
wird – hier greifen dann institutionelle Tabus und Reflexionssperren, welche helfen,
den beruflichen Alltag zu bewältigen – zahlt gerade auch diese Kommunikations-
vermeidung auf die konditionierte Koproduktion ein. Der Versuch, die Latenz des
Arrangements zu schützen, kann damit gleichsam als ein systemisches und (nicht
psychoanalytisch zu verstehendes) Unbewusstes angesehen werden.

Verschränkungen: Existenzverhältnisse, Beziehungen und die


gesellschaftlich konditionierten Grenzen der Organisation
Damit offenbart sich auf einer tieferen Ebene die Bedeutung des eingangs
geschilderten Bezugsproblems Internalisierung des psychiatrischen Regimes.
Die Selbst- und Weltverhältnisse der Menschen, denen man qua vorgeschriebener
Rolle helfen möchte, sind unweigerlich immer auch Ausdruck der Möglich-
keiten und Unmöglichkeiten der in der Organisation vorgesehenen Beziehungen.
Mit der Internalisierung des psychiatrischen Regimes passen sich die Patienten
nicht nur den Beziehungsmustern an, welche ihre Rehabilitation fördern, sondern

34 Wir hatten in unserer Untersuchung beispielsweise den Fall eines Oberarztes, der mit
einer Ausländerin verheiratet war und einen Patienten zu behandeln hatte, der sich selbst-
bewusst als Neonazi bezeichnete und auch in der Klinik gegen die Vermischung von
Rassen wetterte.
276 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

finden ebenso ihre jeweils eigene Antwort auf die Sackgassen und Dilemmata
der Institution. Dies erscheint als eine nicht so leicht zu bewältigende Heraus-
forderung des Maßregelvollzugs, denn es würde von den Therapeuten und Ärzten
erfordern, die institutionellen Verwicklungen ihrer eigenen Rollen – und die hier-
mit einhergehenden Beziehungen – nicht nur in Hinblick auf die Interaktion,
sondern ebenso mit Blick auf die Organisation und ihre Einbettung in die Gesell-
schaft zu reflektieren und sich situativ davon distanzieren zu können.
In dem hier vorgestellten Fallbeispiel wird aber noch eine weitere Problem-
stellung deutlich, die mit dem Bezugsproblem Beziehung als Existenzverhältnis
zu tun hat. Wenn Menschen über einen gewissen Zeitraum miteinander zu tun
haben, dann gewöhnen sie sich aneinander, entwickeln ein Verhältnis, das dann
im Sinne der konditionierten Koproduktion zu einem Teil des eigenen Selbstver-
hältnisses werden kann. Die mit diesen Beziehungen einhergehenden Bindungen
erzeugen im Sinne eines spezifischen Selbst- und Weltverhältnis das Existenz-
verhältnis, in dem der Patient sich dann auch als sich selbst wiedererkennen
und reproduzieren kann. Institutionalisierte Beziehungsabbrüche gehen damit
mit der Gefahr einher – bei manchen Patienten mehr, bei anderen weniger –
das Beziehungsnetzwerk zu bedrohen, das zum Aufbau einer halbwegs stabilen
Identität benötigt wird.
Dieses Phänomen ist strukturell zu unterscheiden von dem Problem der
Hospitalisierung. Letzteres bezeichnet den Abbau körperlicher und psychischer
Fähigkeiten aufgrund längerer klinischer Unterbringung und fehlender Aktivi-
täten, sodass eine Rückkehr in die Normalität des Alltags mit zunehmender Zeit
immer schwerer fällt. Die Hospitalisierung erscheint damit als sekundäre Krank-
heit, die als Folge von langanhaltenden Klinikaufenthalten entsteht.35
Das Bezugsproblem Beziehung als Existenzverhältnis hat hiermit nichts zu
tun, da Beziehungen (unabhängig von der Bewertung ihrer Qualität) als not-
wendige Bedingung für den Aufbau eines stabilen Selbstverhältnisses gesehen
werden müssen. Beziehungen zu leben und an ihrem Verlust zu leiden, muss als
normal erscheinen und nicht als krank. Der Maßregelvollzug steht hier also vor
dem Problem, die diesbezüglich durch das eigene Setting generierten ‚Normali-
täten‘ spätestens nach der Entlassung wieder auflösen und in ein anderes Setting
(etwa ‚betreutes Wohnen‘) transferieren zu müssen. Beziehungsabbrüche stellen
auch für ‚gewöhnliche‘ Menschen krisenhafte Wendepunkte dar.

35 
Inpsychiatrischen Kontext wird daher versucht, durch Arbeitstherapie und andere
Angebote (etwa Sport etc.) dagegen zu steuern.
4.4  Herr König: Kapitän der Seele 277

Damit sollen keineswegs die biografischen, biologischen, psychologischen,


kognitiven und sonstigen individuellen Spezifika von Patienten wie Frau
Krampen negiert werden, die ihrerseits dazu beitragen, dass Beziehungen und
die hiermit einhergehenden Arrangements jeweils in eine bestimmte Richtung
hin konditioniert werden. Ob jemand positiv konnotierte Eigenschaften hat (etwa
‚hübsch‘, ‚dünn‘, ‚intelligent‘, ‚jung‘, ‚kooperativ‘ und ‚eloquent‘) oder etwa als
‚hässlich‘, ‚dick‘, ‚dümmlich‘, ‚alt‘ und ‚wortkarg‘, als ‚sanft‘ oder ‚aggressiv‘,
‚kooperativ‘ oder ‚eskalierend‘ erscheint, macht auch in der therapeutischen
Interaktion einen Unterschied. Doch auch hier gilt (zumindest in Hinblick auf
die Frage, was diese Unterschiede bedeuten): „Zuerst muss man zu zweit sein“
(Glasersfeld 1990).

Etwas andere Weichenstellung – Drehtürpsychiatrie (Herr Lurch)


Der Stationspflegeleiter beschreibt Herrn Lurch als „eigentlich netten
Kerl“. Er sei „etwas schlicht strukturiert“, Im Maßregelvollzug sei er
eigentlich „wegen nichts Besonderem“, aber jetzt schon 10 Jahre hier.
Dreimal habe man ihn schon entlassen. Jetzt stehe wieder die Entlassung
an. Er habe so seine Eigenarten, er schläft zum Beispiel „urplötzlich ein“,
etwa bei „Besprechungen“. Sein „Muster ist“: „Er kocht immer wieder
hoch, dann entschuldigt er sich immer hinterher; wird entlassen, baut dann
wieder Mist (Spielen, Drogen), meldet sich bei der Polizei, dass er nicht
weiter weiß“ und „kommt“ dann „wieder zurück“. Wie gesagt, er „stellt
eigentlich nie was Ernsthaftes an, aber immer genug, um wieder einzu-
fahren“. Persönlich hat er „seine eigenen Pläne (eigene Wohnung), kommt
dann aber nicht klar; lässt sich aber auch nichts vorschreiben.“
Die Psychotherapeutin formuliert im Interview: „Er ist weder
behandlungseinsichtig noch krankheitseinsichtig, da „können“ wir „hier
nix mehr mit ihm machen.“

4.4 Herr König: Kapitän der Seele


„Also im Augenblick, wo schizophrene Symptome bestehen, ist das eine andere
Kategorie […]. Bei Schizophrenie handelt es sich auch wirklich um eine Geistes-
krankheit, das ist nicht mehr quantitative Abweichung von Normalität, das ist
qualitativ was Anderes, da spielen Sie in einer anderen Liga.“ (ein leitender Ober-
arzt im Interview)
278 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Mit der Diagnose ‚Schizophrenie‘36 geht eine besonders scharfe Trennlinie


zwischen der Welt der Gesunden und der psychisch Kranken einher, was dann
auch innerhalb der forensischen Psychiatrie in der Konditionierung des hier-
mit einhergehenden Behandlungsregimes eine wichtige Rolle spielt. Bei den
Fällen der beiden folgenden Kapitel handelt es sich um zwei Patienten, die als
schizophren gelten (wenngleich im zweiten Beispiel im Behandlungsteam auch
Zweifel an dieser Diagnose artikuliert werden). Mit Blick auf die von uns ein-
genommene Analyseperspektive affirmieren wir weder die mit dieser Diagnose
oftmals verbundene Annahme, dass biologische und genetische Faktoren eine
wichtige Rolle spielen und die sozialen Konsequenzen nachrangig zu betrachten
sind, noch betrachten wir umgekehrt die Schizophrenie nur als eine soziale
Konstruktion, die dann aber gerade aufgrund der medikamentösen Behandlung
auch hirnorganische Folgen hat.37 Im Sinne der konditionierten Koproduktion von
Körper, Psyche und Sozialem stellen wir vielmehr auch hier – wie bereits in den
vorangehenden Kapiteln – die Frage nach den Ursachen zurück und betrachten
stattdessen die Selbst- und Weltverhältnisse, die sich in den forensischen
Arrangements schizophrener Patienten ausdrücken.
Am Beispiel von Herrn König38 möchten wir zunächst zwei weitere Bezugs-
probleme herausarbeiten, die viele Behandlungsprozesse im Maßregelvollzug
prägen. Das erste lässt sich als Normalitätsparadoxon umschreiben. Es besteht

36 Laut dem ICD-10 (WHO Version 2019) heißt es: „Die schizophrenen Störungen sind im
Allgemeinen durch grundlegende und charakteristische Störungen von Denken und Wahr-
nehmung sowie inadäquate oder verflachte Affekte gekennzeichnet. Die Bewusstseins-
klarheit und intellektuellen Fähigkeiten sind in der Regel nicht beeinträchtigt, obwohl
sich im Laufe der Zeit gewisse kognitive Defizite entwickeln können. Die wichtigsten
psychopathologischen Phänomene sind Gedankenlautwerden, Gedankeneingebung oder
Gedankenentzug, Gedankenausbreitung, Wahnwahrnehmung, Kontrollwahn, Beein-
flussungswahn oder das Gefühl des Gemachten, Stimmen, die in der dritten Person den
Patienten kommentieren oder über ihn sprechen, Denkstörungen und Negativsymptome.
Der Verlauf der schizophrenen Störungen kann entweder kontinuierlich episodisch mit
zunehmenden oder stabilen Defiziten sein, oder es können eine oder mehrere Episoden mit
vollständiger oder unvollständiger Remission auftreten.“
37 So aus kritischer Perspektive etwa Weinmann (2019).

38 Der Fall König wurde von uns auch als Beispiel genommen, die Methode der Kontextur-

analyse im Forum für Qualitative Sozialforschung einer breiteren Fachöffentlichkeit vorzu-


stellen (Jansen et al. 2020). Die Texte der Interpretationen überschneiden sich entsprechend
an einigen Stellen, wenngleich die Spezifika der logischen Kondensation hier nicht mit
angeführt worden sind.
4.4  Herr König: Kapitän der Seele 279

darin, dass mit dem Präferenzwert ‚gesund‘ bzw. ‚normal‘ verhindert wird,39
die ‚psychisch kranken‘ Anteile integrieren zu können. Nur gesund zu sein
funktioniert ebenso wenig, wie nur krank zu sein. Und ein Konzept, dass es
normal bzw. akzeptabel sein kann, etwa psychotische Denkmuster zu haben
oder sich in pädophiles Begehren hineinzusteigern, kann es aus guten Gründen
in der forensischen Psychiatrie nicht geben – zu schwerwiegend sind die bis-
her begangenen Delikte oder die Konsequenzen der potentiell hiermit einher-
gehenden künftigen Taten. Auch hier – wie bereits beim Bezugsproblem der
Internalisierung des psychiatrischen Regimes – steht die Psychiatrie vor dem
Dilemma, durch den Versuch der Problembehandlung das Problem mitzu-
erzeugen.
Damit verbunden erscheint als weiteres Bezugsproblem das positive
Kohärenzgefühl in Hinblick auf die krank oder problematisch bewerteten Wahn-
symptome. In Anlehnung an das Salutogenese-Konzept von Antonovsky (1997)
zeigt sich damit gewissermaßen eine Verkehrung des Maßstabs für psychische
Gesundheit: Es ist in psychiatrischen Behandlungsprozessen nicht unüblich, dass
Patienten sich in ihrem problematischen Verhalten und den bedenklichen Wahr-
nehmungen oder Fantasien wirkmächtiger, potenter und sinnhafter erleben als
im vermeintlich gesunden Zustand. Mit dem Zustand der vermeintlichen Krank-
heit geht teilweise ein höherer Sense of Coherence (ein größeres Gefühl der
Verstehbarkeit, der Handhabbarkeit und der Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens)
einher, als im Erleben des einsichtigen chronisch Kranken. Herr Salier konnte
sich in seinen sexuellen Machtfantasien als potent und wirkmächtig erleben.
Herr Volkert kann sich im Spannungsfeld von Selbstkontrolle und der sich
zugestandenen pädophilen Lüste als zugleich sinnenfreudiger wie kompetenter
Agent seiner selbst erfahren. Indem Frau Schmidt in der Klinik eskaliert, kann sie
sich zumindest mit den hiermit assoziierten Emotionen als autonom und selbst-
bestimmt fühlen. Die von vielen Therapeuten gewünschte Krankheitseinsicht
scheint demgegenüber bei vielen Patienten mit einem eher depressiven Gemüts-
zustand einherzugehen, allein schon, weil sie anerkennen müssen, dass der eigene
biografische Entwurf gescheitert ist und für sie nur noch in einem psychiatrischen
Rahmen so etwas wie Normalität hergestellt werden kann.
Geben wir zunächst einen kurzen Einblick in die Fallgeschichte des Patienten,
an dem wir die angedeuteten Bezugsprobleme und die damit einhergehenden
systemischen Dynamiken veranschaulichen.

39 Siehe zur Gleichsetzung von „gesund“ und „normal“ Finzen (2018).


280 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Herr König ist zum Zeitpunkt unserer Gespräche 39 Jahre alt. Er kommt aus
einem guten Elternhaus. Er ist sportlich und beginnt nach seinem Abitur eine
Offiziersausbildung. Mit 19 Jahren erleidet er als Beifahrer einen schweren Auto-
unfall. Der Fahrer und ein weiterer Insasse sterben an den Unfallfolgen. Auf-
grund seiner Verletzungen muss er seine militärische Karriere abbrechen. Nach
seiner Rehabilitation beginnt er ein Jura-Studium und beginnt parallel hierzu in
kaufmännischer Verantwortung in eine Einzelhandelskette einzusteigen. In dieser
Zeit stirbt sein Vater an einem Herzinfarkt. Herr König hatte noch versucht, ihn
zu reanimieren. Laut Aktenlage deuteten sich bereits seit längerem Hinweise auf
eine psychische Erkrankung an. So habe Herr König etwa während einer Weih-
nachtsfeier seinem Bruder verboten, ihn zu filmen, da er überwacht werde. Zudem
habe er auch seine ehemalige Freundin verdächtigt, ihn abzuhorchen. Zu dieser
Zeit versucht Herr König, sich selbständig zu machen, während ihm sein Leben
zunehmend entgleitet. Seine Psychotherapeutin beschreibt diese kritische Lebens-
phase bis zur ersten Einweisung in eine psychiatrische Klinik folgendermaßen:

Psychotherapeutin: [Herr König] hat nach mehreren Semestern, ich glaube sechs
Semester insgesamt, dann das Studium abgebrochen, weil er halt sagte, er wollte
sich gern selbständig machen mit seinem Hobby, dem Holzbau, was er sozusagen
von klein auf, ja, ihm gut gefallen hat. Und hat da halt versucht, in die Selbständig-
keit zu gehen mit mehreren Versuchen und ist da jedes Mal aber auch wieder
gescheitert. Also da nochmal beruflich mehrere belastende Ereignisse sozusagen.
Ja und das, also sozusagen hat sich immer weiter zugespitzt. 2014 war es dann so,
dass er, also er ist 2014, ja 2014 war es dann so, dass seine Wohnung sozusagen
geräumt wurde, weil er halt die Miete längere Zeit nicht mehr bezahlt hatte, dass
sein Auto ihm, dass er das wieder abgeben musste, weil er auch da die Raten nicht
mehr bezahlt hatte und wieder zurück zu seiner Mutter zog. (…) Also halt total
gescheitert mit seiner Existenz. Und seine Mutter hatte ihm glaube ich auch noch
eine recht große Summe Geld gegeben, die er dann aber auch anders ausgegeben
hatte, in dem Versuch, da irgendwie beruflich Fuß zu fassen und also war dann
sozusagen ziemlich, ja, am Ruin, sage ich jetzt mal auch. Und ist es dann so, dass
erstmals auch in die Klinik kam 2015. 2015 erstmal auch die Diagnose einer para-
noiden Schizophrenie.

Nachdem die Medikamente ihre Wirkung zeigen, wird Herr König entlassen. Er
bekommt einen gesetzlichen Betreuer und zieht wieder zu seiner Mutter. Nach
einigen Wochen setzt er seine Medikamente ab. Laut Krankenakte beginnt er sich
daraufhin in einen Wahn zu verstricken, dass seine Mutter ein Klon sei, der von
einem ausländischen Geheimdienst gesteuert werde. Da er jetzt allerdings die
Wahrheit herausgefunden habe, solle er umgebracht werden. Um dieser tödlichen
Bedrohung vorzubeugen, sei ihm nichts Anderes übriggeblieben, als seinerseits
den ‚Klon‘ zu töten. Im Anschluss an seine Tat wurde er in den Maßregelvollzug
4.4  Herr König: Kapitän der Seele 281

eingewiesen. Als er schließlich begriff, was er getan hatte, kam es zum psychischen
Zusammenbruch. Um es mit den Worten der Therapeutin zusammenzufassen:

Psychotherapeutin: Eine kurze Zeit dachte er halt noch, die kommen jetzt alle und
klopfen auf die Schulter, weil er der einzige ist, der es durchschaut hat und das
Ganze aufgeklärt hat. Und als er aber gemerkt hat, dass das nicht der Fall ist und
was wirklich passiert ist, dann ist er sehr, sehr dekompensiert.

Herr König durchläuft in der Klinik das gängige Programm für Patienten
mit der Diagnose einer paranoiden Schizophrenie: Die Ärzte versuchen eine
medikamentöse Einstellung zu finden, welche die Psychose zurückdrängt, dabei
aber die kognitiven Fähigkeiten des Patienten nicht allzu sehr beeinträchtigt.
Parallel hierzu findet in Gruppen- und Einzeltherapie ‚Psychoedukation‘ statt,
die dem Patienten unter anderem dabei helfen soll, mit seiner Tat umzugehen
und seine Krankheit verstehen zu lernen. Zudem gibt es weitere unterstützende
psychotherapeutische Angebote, etwa in Form von Kunst- und Musiktherapie.
Im Rahmen der Arbeitstherapie wird dem Patienten ein gewisses Maß an
Konzentration und Leistungsbereitschaft abverlangt.
Zum Zeitpunkt der teilnehmenden Beobachtung sind vom Behandlungsteam
Maßnahmen zur weitergehenden Rehabilitation von Herrn König angestoßen
worden: Es wurde ein externes psychiatrisches Gutachten in Auftrag gegeben,
um im Falle einer positiven Einschätzung unbegleiteten Ausgang gewähren
zu können. Zudem eruieren die Therapeutinnen und Sozialarbeiter, in welcher
Form der Patient in den Arbeitsmarkt integriert werden kann. Dabei stellt sich
das Problem, dass Herr König als gebildeter und anspruchsvoller Mensch
eine entsprechend qualifizierte Tätigkeit aufnehmen möchte, vonseiten des
Personals seine Potentiale jedoch etwas bescheidener eingeschätzt werden. Das
Behandlungsteam vermutet, dass der Patient aufgrund seines Krankheitsbildes
nur Hilfstätigkeiten, vielleicht auch nur eine Beschäftigung im zweiten Arbeits-
markt aufnehmen könne. Hierzu später noch ausführlicher.
Am Beispiel von Herrn König möchten wir die zuvor benannten Bezugs-
probleme diskutieren und anhand des Behandlungsgeschehens anschaulich
werden lassen, wie das ärztliche und therapeutische Personal hiermit umgeht.

Bezugsproblem: ‚Präferenzwert Gesundheit‘

Wie bereits angedeutet, wurde Herr König nach seiner Einweisung in die
forensische Psychiatrie mit Neuroleptika behandelt, was zum Abklingen
der Psychose führte, jedoch nicht zu dem, was die Ärzte als ‚Vollremission‘
282 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

bezeichnen: Aus ärztlicher Sicht weist der Patient noch immer Anzeichen
schizophrener Denk- und Wahrnehmungsstörungen auf. Sie sehen keine Chance,
dass bei ihm – etwa durch Änderung der Medikation – noch eine wesentliche
Besserung eintreten könnte. Aus Sicht der Psychotherapeutin ist er zudem „narziss-
tisch“. Dennoch sind die Symptome soweit gemildert, dass der Patient nicht mehr
gefährlich und das Risiko der weitergehenden Rehabilitation tragbar erscheint.
Unter der gegebenen Medikation ist er hinreichend agil, um in eingeschränktem
Maße sein eigenes Leben zu führen. Mehr ist aus Sicht der Ärzte nicht möglich.
Damit hat die Klinik eigentlich ihren Auftrag erfüllt. Sie hat die ihr best-
mögliche Krankenbehandlung geleistet. Entsprechend geht es jetzt darum, die
Entlassung anzuvisieren. Auch der Patient selbst möchte wieder arbeiten. Wie
auch im Interview mit uns artikuliert, möchte er dabei eine Managementtätig-
keit im Einzelhandel übernehmen. Die Ärzte und Therapeuten halten dies für
unrealistisch und versuchen demgegenüber ein Beschäftigungsverhältnis anzu-
bahnen, das eher den Charakter einer Hilfstätigkeit hat. Es besteht eine deutliche
Diskrepanz zwischen seiner Einschätzung und der des Personals. Der Patient hält
sich für gesund, die Therapeuten nur bedingt.
Erste Hinweise zeigen sich bereits in der Eingangspassage unseres Interview-
gesprächs mit dem Patienten:

Herr König: Ja, ich bin 2016 in einer geschlossenen Psychiatrie das erste Mal
ein Monat gewesen. Und zwar hab’ ich damals meine Mutter geohrfeigt und
eine Nachbarin am Hals genommen und von der Wohnungstür weggedrängt, die
geklingelt hat und gefragt hat, was los ist. Daraufhin bin ich dann dort eingewiesen
worden ein Monat lang und hab dann Medikamente bekommen. Die hab’ ich dann
Mitte 2018 abgesetzt, selbstständig, also trotz Anraten des Arztes sie weiterhin zu
nehmen hab‘ ich das eigenmächtig gemacht, weil ich mich gesund gefühlt hab. Und
ein halbes Jahr später bin ich dann extrem psychotisch geworden, hab mich ver-
folgt gefühlt, hab mich beobachtet gefühlt. Hatte zu meinem Schutz dann schon ein
Messer bei mir im Raum sag ich mal, in der Schublade drin, falls dann die mich
irgendwie holen kommen, dass ich mich verteidigen kann. Und bin dann eines
Abends zu dem Schluss gekommen, dass meine Mutter mich umbringen möchte
und hab dann in Folge eines psychotischen Schubes, sag ich mal, meine Mutter
getötet. Also erst gewürgt und dann mit dem Messer am Hals verletzt. Daraufhin
ist sie dann verblutet, dann kam Polizei, eine halbe Stunde später war sie schon
da. Ich konnte mir nicht so ganz erklären, wieso es so schnell gegangen ist, weil
eigentlich das alles ziemlich leise ablief, aber die Nachbarn meinten sie hätten wohl
irgendwas gehört. Kam dann erst in [Ort] in Haft und bin dann dem Haftrichter vor-
geführt worden. Und der Haftrichter hat mich dann hier nach [Name des Ortes der
forensischen Psychiatrie] geschickt.
4.4  Herr König: Kapitän der Seele 283

Der Patient gibt an, bereits einige Jahre zuvor in die Psychiatrie eingewiesen
worden zu sein, nachdem er seine Mutter und eine Nachbarin angegriffen hatte.
Er habe Medikamente genommen, die er dann später gegen ärztlichen Rat wieder
abgesetzt hat, da er sich „gesund gefühlt“ habe. Anschließend sei er wieder
„extrem psychotisch geworden“. Weil er sich verfolgt gefühlt hatte, habe er
Messer im Raum gehabt und schließlich „in Folge eines psychotischen Schubes“
seine Mutter getötet, nachdem er sie gewürgt hatte. Dann sei schnell die Polizei
gekommen, was ihn sehr verwundert habe, da „alles ziemlich leise ablief“. Die
Nachbarn gaben an, dennoch etwas gehört zu haben. Schlussendlich sei er vom
Haftrichter in die Forensik geschickt worden.
Mit dem Rückfall zeigt sich eine interessante Verkettung. Die Psychose führt
zu aggressiven Verhaltensweisen. Es kommt zur Behandlung in der Psychiatrie.
Die Psychose verschwindet. Der Patient fühlt sich gesund und setzt die Medika-
mente ab. Es kommt erneut zu einer Psychose. Der Zyklus beginnt von vorne. Im
behandeltem Zustand scheint sich Herr König nicht als krank und entsprechend
weiterhin behandlungsbedürftig wahrnehmen zu können. Stattdessen bricht er die
Behandlung eigenmächtig ab, wodurch seine Psychose wieder sichtbar wird.
Der Zyklus erweist sich in gewisser Weise als strange loop (Hofstadter 1979),
da es zu einer Verkettung von Zuständen kommt, die wieder zum Anfangspunkt
zurückführen. Dass an dieser Verkettung etwas nicht stimmt, scheint Herrn
König zumindest teilweise klar zu sein („hab dann in Folge eines psychotischen
Schubes, sag ich mal“). Darüber hinaus findet in der obigen Passage die Bezug-
nahme auf diesen Prozess aus der Beobachterposition heraus statt – sozusagen
als dritte Position-Perspektive –, die der Interviewte hier selbst einnimmt: Herr
König thematisiert eine seltsame Diskrepanz zwischen seiner eigenen Wahr-
nehmung der Umwelt, seiner retrospektiven Wahrnehmung seiner Wahrnehmung
sowie der Wahrnehmung seiner Wahrnehmung durch seine Umwelt („aber die
Nachbarn meinten, sie hätten wohl irgendwas gehört“). Indem er sagt, dass
sein Handeln im Rahmen der von ihm empfundenen Gesundheit selbst nicht
gesund sei, da es zur Krankheit führe, nimmt er eine Reflexionsposition ein,
deren Status an dieser Stelle noch unklar bleibt. Es könnte sich um eine seitens
der Klinik antrainierte Position handeln, die ein Wissen um die nur scheinbar
bestehende Gesundheit zum Ausdruck bringen soll. Die Psychoedukation in den
Therapiegruppen zielt unter anderem darauf, dass die Patienten die Dynamik
ihrer Psychose zu verstehen lernen und entsprechend begreifen, dass sie weiter-
hin medikamentös behandelt werden müssen, damit die Psychose nicht wieder
284 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

ausbricht. Zudem wird versucht, den Patienten beizubringen, ständig auf Signale
zu achten, die auf eine Verschlimmerung ihres Krankheitsbildes hinweisen, um
sich dann gegebenenfalls Hilfe suchen zu können. Falls ein Patient diese Position
auf Dauer stabil halten kann, hat er seine Lektion gelernt.
Es könnte jedoch ebenso der Fall sein, dass er einige Monate nach der Ent-
lassung erneut jene fatale Position einer ‚scheinbaren Gesundheit‘ einnehmen
wird, die ihm suggeriert, im vollen Besitz seiner geistigen Kräfte und der hier-
mit einhergehenden Selbstkontrolle zu sein. Infolge bestimmter Nachlässigkeiten
oder spätestens nach dem eigenmächtigen Absetzen seiner Medikamente, könnte
seine Psychose wieder hochproblematische Züge annehmen.

Fallvergleich
Hier können wir Parallelen zur Behandlung von Herrn Salier sehen: Eine
wichtige Rolle in der Risikoadsorption spielen die Medikamente. Seien es
Neuroleptika oder Antiandrogene, der Körper reagiert, wenngleich unsicher
bleibt, was die Psyche macht. Doch dies reicht, um den unbegleiteten Aus-
gang unter kontrollierten Bedingungen zu wagen. Freilich wird dann auch
in der Beurlaubung die Depotspritze verlangt, da man der Psyche des
Patienten nicht soweit trauen würde, dass er die Medikamente zuverlässig
einnimmt.
Mit Blick auf die konditionierte Koproduktion wird eine interessante
Verschränkung von Körper, Psyche und Sozialem deutlich, zumal ja auch
die Depotspritze nicht gegen den Willen des Patienten gegebenen werden
kann.

Im ersten Fall wäre der Patient in der Lage, die Problematik der zweiten Position
zu erkennen. Er würde die Dynamik der scheinbaren Gesundheit kennen und stets
in Rechnung stellen können. Er weiß in allen Lebenslagen um die Problematik
psychotischen Erlebens und würde damit über eine Metaperspektive verfügen,
die sowohl Krankheit und Gesundheit umfasst. Im anderen Fall würde er sich
gewissermaßen der Hybris eigener Kontrollmächtigkeit ergeben, was nicht nur
mit dem attraktiven Gefühl einer starken Selbstwirksamkeit einhergeht, sondern
zudem auch dem Common Sense gesellschaftlicher Normerwartungen entspricht:
Ein erwachsener, vernunftbegabter und gebildeter Mann hat sich selbst unter
Kontrolle. Das eigene Ich ist in allen Lebenslagen der Captain of the ship.
4.4  Herr König: Kapitän der Seele 285

Schauen wir auf eine andere Interviewpassage, die weiteren Aufschluss gibt:

Interviewer: Was haben Sie damals beruflich gemacht, was hat das mit Ihrem Leben
gemacht sag ich mal?
Herr König: Ja, ich war auf dem Weg zur Selbstständigkeit, wollte eine Internetfirma
im Bereich Holzwaren aufmachen. Die Bank hat aber meinen Darlehenswunsch
abgelehnt. Und dadurch, sag ich mal, bin ich auch, ja, mächtig unter Druck geraten,
sag ich mal, war gestresst und so weiter, weil es beruflich nicht gelaufen ist. Und
das hat das Ganze sicherlich noch verschlimmert, ja, und jetzt streb ich eben danach
der Zeit hier, streb ich dann wieder einen Beruf im Holzhandel an. Das wird dann
erstmal ein einfacher Verkäufer im Bauhandel, ganz normal, ein halbes Jahr ungefähr,
da will ich versuchen Gesellschafter zu werden bei Hornbach, weil die haben mir
ja 2015 und 2016 zwei Mal angeboten, Gesellschafter zu werden, das hab ich beide
Male abgelehnt, weil ich mich selbstständig machen wollte.
Interviewer: Hornbach ist ein Baumarkt, ein größerer oder?
Herr König: Und ich hab alle Qualifikationen, die man braucht, alle Abschlüsse und
Scheine, die man für die Leitungsposition braucht. Bin also insofern ein bisschen
überqualifiziert für einen einfachen Verkäufer, aber die Filialleiter Position streb
ich eigentlich an, aber das wird von der Klinik nicht unterstützt. Die sagen, es wär‘
zu viel Stress, ‚zu viel Verantwortung für Sie gleich zum Anfang‘, deshalb will ich
erstmal Verkäufer machen.

Auf die Frage nach seiner beruflichen Karriere und den Folgen für sein Leben
gibt der Patient an, dass er sich selbständig machen wollte. Die Bank habe
jedoch den hierfür notwendigen Kredit abgelehnt, was zu Stress und einer Ver-
schlimmerung seiner Psychose geführt habe. Nach seiner Entlassung möchte er
wieder im Bauhandel arbeiten, jedoch mit dem Ziel, diesmal die Leitungsposition
anzunehmen, die man ihm vor seiner Krankheitsphase angeboten habe, die er
jedoch damals abgelehnt hatte. In seiner Branche sei er hoch qualifiziert, „ein
bisschen überqualifiziert“ für die Position als Verkäufer, weshalb er mindestens
Filialleiter werden möchte. Dies unterstütze die Klinik jedoch nicht, da solch eine
Stellung mit „zu viel Stress“ einhergehe.
In der Patientenerzählung zeigen sich zwei divergierende Kausalketten. Die
von der Klinik artikulierte Kausalbeziehung benennt die Überforderung als
einen kritischen Stressauslöser, der dann die Psychose verschlimmern würde
(„die sagen, es wär‘ zu viel Stress“). Der Patient identifiziert sich demgegen-
über mit einer alternativen Kausalkette, welche die Ursache seiner psychischen
Erkrankung darin verortet, dass seine Ambitionen durch die Außenwelt behindert
worden wären („die Bank hat aber meinen Darlehenswunsch abgelehnt. Und
dadurch, sag ich mal, bin ich auch, ja, mächtig unter Druck geraten“).
286 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Hiermit gehen zwei voneinander abweichende Szenarien für die künftige


berufliche Entwicklung des Patienten einher. In dem einen ist der Patient nur für
Führungspositionen geeignet, da er als Verkäufer schlichtweg überqualifiziert
ist. Im dem anderen kann er bestenfalls als einfacher Verkäufer arbeiten, da ver-
antwortungsvollere Tätigkeiten mit Überforderung und zu viel Stress einhergehen
würden. Mit dieser Bifurkation zeigt sich in der Erzählung von Herrn König eine
Verschiebung der Sprecherposition. Während der Patient in der vorangehenden
Passage über die Tötung seiner Mutter noch eine Reflexionsposition einnimmt,
in der sich sein präpsychotisches Handeln und seine Wirklichkeitsinterpretation
als falsch erweisen, so wird sein damaliges Geschäftsgebaren als normal und
richtig bejaht: Die Psychose scheint nun nicht mehr maßgeblich durch eigene
Fehlleistungen im Modus der ‚scheinbaren Gesundheit‘ bedingt, sondern wird
extern zugerechnet (die Bank macht Stress und deshalb wird er krank). Im
zweiten Teil der Passage wird die Klinik, die zuvor noch für die höhere Rationali-
tät der Gesundheit stand, nun plötzlich auch zu einer Akteurin, die den Patienten
in seinen Absichten behindert. Es deutet sich eine Trajektorie an, wie sie bereits
zuvor mit der Position ‚scheinbare‘ Gesundheit beschrieben wurde. Um es ein
wenig zuzuspitzen: Die anderen sind schuld an meiner Krankheit, weil sie mir
Stress machen und meine Pläne durchkreuzen. Sie reden mir ein, dass ich Dinge
nicht kann. Dabei bin ich doch eigentlich gesund.
Gleichzeitig tritt jedoch eine merkwürdige Ambivalenz auf: Während die
Bank noch als eindeutiger Gegner erscheint, wendet sich der Patient nicht gänz-
lich gegen die Klinik, sondern geht auf die Ansprüche ein („deshalb will ich
erstmal Verkäufer machen“). Statt die Klinik ausschließlich als Problemfaktor
zu betrachten, der schädlich ist (Kausalkette 1), scheint deren Argumentation
(Kausalkette 2) eine gewisse Plausibilität zu haben. Ob dies nun einer gewissen
Einsicht oder einfach nur der pragmatischen Notwenigkeit geschuldet ist, bleibt
offen (ohne Zustimmung der Klinik ist selbst die Option, als einfacher Verkäufer
oder Hilfsarbeiter tätig zu werden, nicht möglich).
Das Resultat ist jedoch ein zweideutiger Handlungsvektor: Der Patient wird
„einfacher Verkäufer“ – aus seiner Perspektive, um Filialleiter oder Gesellschafter
zu werden, aus Perspektive der Klinik, weil dies das maximal Mögliche ist. Er
macht, was die Klinik will und macht gleichzeitig nicht, was die Klinik will. Er
arbeitet auf die Position als Filialleiter hin und nimmt das Angebot an, es mit der
Stelle als minderqualifizierter Mitarbeiter zu versuchen.
Es zeichnet sich damit etwas Merkwürdiges ab: Sobald der Patient beginnt,
sich auf die konkrete Berufspraxis zu beziehen (ob nun geplante, gegenwärtige
oder vergangene), kollabiert die übergreifende Reflexionsposition und er rutscht
in die Position der ‚scheinbaren‘ Gesundheit. Aus der ersten Position erscheint
4.4  Herr König: Kapitän der Seele 287

er als Handelnder problematisch (nämlich als ein wenig belastungsfähiger,


chronisch schizophrener Patient) und die Klinik als eine Institution, die ihm hilft.
In der ‚scheinbaren Gesundheit‘ erscheint er – sobald er über seine nicht-
psychotische Praxis redet – als Handelnder unproblematisch (er habe alle
Qualifikationen und die Gesellschafter wollen ihn), doch die Klinik wendet sich
gegen ihn.
Betrachten wir diese beiden Bewegungen zusammen, liegt die Annahme
nahe, dass das Abgleiten in die Psychose ständig präsent ist. Dies bestätigt sich
auch in der folgenden Interviewpassage, in der Herr König mit uns über seine
psychotische Symptomatik spricht:

Herr König: Und, ja, ich hab’ ständig Paranoia gehabt halt und immer das Gefühl
gehabt irgendwie, dass ich ausspioniert werde, ja.
Interviewer: Aber das ist jetzt weg?
Herr König: Das Gefühl ist jetzt weg, ja. Also jetzt ist alles, was mit der Psychose
zusammenhängt, in den Hintergrund getreten, jetzt hab ich ja ganz sachlichen Bezug
zur Realität, sag ich mal, und kann es so nicht mehr nachvollziehen wie ich mich
damals gefühlt habe.
Interviewer: Sie sagen, es ist in den Hintergrund getreten, was meinen Sie damit?
Herr König: Na ja, ich gebe mich einem gewissen Appetit auf Muster, auf Zahlen,
auf Erklärungen nicht mehr hin, so ähnlich wie eine Diät eines Verstandes, sag ich
mal, oder des Verstandes. Wenn ich irgendwas bemerke, was auf mich gemünzt sein
könnte, sag ich mir das ist Zufall oder gottgegeben und dann komm ich damit gut
klar. Ich bezieh das alles nicht mehr auf mich, sondern versuche, dem keine weiter-
gehenden Erklärungsversuche irgendwie mich hinzugeben, sondern versuche, das
Ganze sachlicher zu beurteilen und von allen Seiten zu beleuchten. Und dann zu
irgendwelchem Ergebnis zu kommen, dass es eben Zufall ist, ja. Zum Beispiel die
Verletzung jetzt am Fuß hier, ich hab’ jetzt Einlagen bekommen, damit ich, weil
nach einem Autounfall ist mein eines Bein einen Zentimeter kürzer und dann hab
ich mir durch die Badelatschen dadurch, dass ich Badelatschen getragen habe, habe
ich mir den Fuß aufgescheuert an einer Seite. Und da hab’ ich eben auch kurz über-
legt, ob das vielleicht von außen irgendwie kommt, ja, dass da jemand mit einem
Schmerzsignal sozusagen reinfunkt ins Bein, ja, aber das hat nur ein, zwei Tage
angehalten, dann hab’ ich mir gesagt das ist Zufall und dann ging es mir auch
wieder gut, ja.

Herr König gibt an, dass er sich ständig verfolgt gefühlt habe, als er psychotisch
war. Dieses Gefühl sei nun aber weg, es sei jetzt „in den Hintergrund getreten“.
Heute könne er nicht mehr verstehen, wie er sich in der Psychose gefühlt habe, da
er jetzt einen ganz „sachlichen Bezug zur Realität“ habe. Auf Nachfrage erläutert
er, dass „in den Hintergrund getreten“ bedeute, dass er noch immer „Appetit auf
Muster, auf Zahlen, auf Erklärungen“ habe, jedoch eine „Diät des Verstandes“
halte. Bekomme er das Gefühl, dass sich etwas auf ihn beziehe, versuche er keine
288 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

„Erklärungsversuche“ mehr zu unternehmen, sondern „sachlich“ zu bleiben. So


habe er ein verkürztes Bein und sich den Fuß aufgescheuert. Die Erklärung, dass
ihm jemand Schmerzen „ins Bein“ sendet, habe er nach einigen Tagen verwerfen
können.
Der Patient scheint hier in einer Dynamik verfangen, die strukturelle Homo-
logien zum stolzen Alkoholiker zeigt, der glaubt, der Kapitän der Seele40 zu sein.
Er sucht nach Kontrolle und entwickelt so etwas wie einen ‚Schizophrenenstolz‘,
in dem er wider der Krankheitszuschreibung Herr seiner selbst ist. Entgegen
seines anfänglichen Bekundens („und kann es so nicht mehr nachvollziehen,
wie ich mich damals gefühlt habe“) ist er sehr wohl in Lage, psychotische Denk-
muster zu erleben, zu fühlen und zu reformulieren, beginnt sich aber sogleich
davon zu distanzieren. Um es in logisch kondensierter Form zu paraphrasieren:

Ich esse und ich esse nicht Zahlen und Muster („Diät des Verstandes“).41
Ich beziehe die Dinge auf mich und beziehe sie nicht auf mich.
Wenn ich die Dinge auf mich beziehe, beziehe ich sie nicht auf mich.
Wenn ich meinen Fuß verletze, sendet jemand Schmerzen in meinen Fuß.
Es ist nicht der Fall, dass jemand Schmerzen in meinen Fuß sendet.

Für Herrn König stellt sich damit das Problem, wie diese beiden Positionen
integriert werden können: Er ist psychotisch und nicht psychotisch gleichzeitig.
Er scheint über kein schlüssiges Konzept zu verfügen, die Ambivalenz ver-
mittelnd zu verbinden. Psychose und Nicht-Psychose sind nicht in ein kohärentes
Selbst- und Weltverhältnis überführbar.
Dieses Problem versucht der Patient zu lösen, indem er den ‚psychotischen‘
Teil abkoppelt, was jedoch wieder zur Rückkehr eben dieses kranken Teils führt:
Solange er die psychotischen Symptome noch im Hintergrund wahrnimmt, bleibt
die Kontrolle erhalten – er hat sich gewissermaßen noch im Griff. Hat er keine
Symptome mehr, hält er sich für gesund, gibt die Selbstkontrolle auf und droht
damit wieder in die Psychose zu gleiten. Der Schluss: ‚Ich nehme die Medika-
mente nicht mehr, weil ich gesund bin‘ ist hier nicht mehr weit. Gesundheit und
Krankheit sind damit in einer paradoxen Beziehung verschachtelt: Zeigt sich die
Psychose nicht, wird sie bald alles beherrschen. Ist sie präsent, so ist sie unter

40 Hierin Anklang an Bateson (1992 [1972], S. 403).


41 Stattin der Metapher zu bleiben, ließe sich ebenso schreiben: Ich will Zahlen und Muster
sehen. Ich sehe und sehe keine Zahlen und Muster. Es kommt vor allem darauf an, den
enthaltenen Widerspruch herauszuarbeiten. Siehe zur logischen Kondensation Jansen et al.
(2020).
4.4  Herr König: Kapitän der Seele 289

Kontrolle. Gesundheit scheint hier also praktisch nur als kontrollierte Krank-
heit erreichbar. Doch genau dies kann der Patient nicht sehen, da für ihn das Ziel
lautet, ganz gesund zu sein. Ein bisschen psychotisch und ein bisschen gesund
zu sein, erscheint nicht als ein Eigenwert, in den er einrasten kann. Er kann nicht
sagen bzw. die folgenden Phrasen sind nicht Teil seiner Erzählung:

‚Ja, ich laufe beständig Gefahr, in bizarre Denk- und Fühlmuster hineinzufallen.‘
‚Ich werde wohl mein Leben lang ein wenig psychotisch bleiben und deshalb muss
ich auch meine beruflichen Ansprüche ein wenig herunterschrauben. Lasst uns
schauen, was sich unter diesen Bedingungen aus meinem Leben machen lässt.‘
‚In Hinblick auf meine psychische Gesundheit besteht kein Widerspruch zwischen
mir und der Klinik. Wir ziehen beide am selben Strang und außerdem habe ich bei
meiner Vorgeschichte sowieso keine andere Wahl.‘
‚Wenn ich meine Krankheit als Teil von mir annehme, wird es mir bessergehen.‘

Die drei zuvor diskutierten Interviewausschnitte demonstrieren ein Selbst- und


Weltverhältnis, das zwischen verschiedenen Positionen oszilliert und dabei nicht
so recht in einer kohärenten Lebenspraxis und übergreifenden Selbstreflexion zur
Einheit findet. Imaginär erscheint Herr König als Kapitän der Seele, der seine
Psychose im Griff hat und leitende Positionen im Geschäftsleben übernehmen
wird. Dies wird gebrochen durch die Macht einer forensischen Klinik, die aufgrund
der Schwere der begangenen Straftat nicht anders kann, als ihn zurückzuhalten
und zu mäßigen. Das vom Patienten gelebte Weltverhältnis kann nicht mit seinem
Selbstverhältnis zur Deckung kommen. Der Klinik bleibt kaum etwas Anderes
übrig, als diese Diskrepanz ihrerseits als pathologisch zu betrachten und ent-
sprechend zu intervenieren, was jedoch dem imaginären Selbst- und Weltverhält-
nis des Patienten zuwiderläuft. Diesem zufolge erscheint er als leistungsfähiger und
normaler Mensch mit einem „ganz sachlichen Bezug zur Realität“, als ein Mensch,
der nicht einmal „mehr nachvollziehen“ kann, wie sich ein Psychotiker fühlt.
Mit diesem Beispiel wird ein Bezugsproblem deutlich, das nicht nur bei
Krankheitsbildern aus dem Formenkreis der Schizophrenie virulent werden kann,
sondern auch am Beispiel des als pädophil diagnostizierten Herrn Volkert deutlich
wurde: Die imaginierte ‚scheinbare Gesundheit‘ erweist sich nicht als Ressource
für den angestrebten Normalzustand, sondern als Problemzustand. Der Grund
liegt in der Systemik selbst: Der Glaube, die Hoffnung und die Selbstwirksam-
keitserwartung, die Lage in den Griff zu bekommen, erweisen sich als das eigent-
liche Problem (vgl. Bateson 1992 [1972], S. 400 ff.). In Konstellationen wie dieser
versucht ein Teil des Selbst, einen anderen, problematisch erscheinenden Selbst-
anteil unter Kontrolle zu bekommen. Im Gelingen fühlt sich das Ich bestärkt und
ermächtigt. Im weiteren Verlauf wird diese Selbstkontrolle aufgegeben, sei es, weil
290 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

das Ich seiner Hybris aufsitzt oder weil schlichtweg das andauernde Bemühen um
Selbstkontrolle langweilig wird. Der zuvor unterdrückte Teil tritt hervor, um die
Selbstillusion der Kontrolle zu untergraben. Die vermeintlich gesunde Ichfunktion
wird zum Problem. Die Lösung erscheint demgegenüber darin, eine Krankheit zu
akzeptieren, um auf diesem Wege die negativen Seiten der Erkrankung im Rahmen
des Erträglichen managen zu können.42
Dies hieße im Falle von Herrn König, etwa sagen zu können:

‚Ja, ich bin psychotisch, aber das macht nichts, da ich mir die Unterstützung holen
kann, die ich brauche, um trotzdem das Beste aus meinem Leben zu machen.‘
‚Ich schaffe es nicht, doch wenn ich mich in ein therapeutisches Beziehungsnetz
hineingebe, das größer ist als mein Ich, dann wird alles gut.‘

Doch genau dies ist unter dem Primat des Erhalts oder der Wiederherstellung von
psychischer Gesundheit im Sinne von hinreichender Ich-Stärke nicht machbar.
Hiermit kommen wir zu einem strukturell verwandten Bezugsproblem: die Identi-
fikation mit den Gefühlen, die üblicherweise mit einem gesunden Selbstwert ein-
hergehen.

Bezugsproblem: ‚Positives Kohärenzgefühl‘

Das von Aaron Antonovsky (1997) entwickelte Konzept der Salutogenese hat
in der Gesundheitssoziologie Verbreitung gefunden. Es ist zunächst nicht von
der Hand zu weisen, dass ein hohes Kohärenzgefühl einen guten Indikator für
Resilienz darstellt und mit einer Haltung und der Fähigkeit einhergeht, etwas
aus seinem Leben machen zu können. Der „Sense of Coherence“ setzt sich laut
Antonovsky aus drei Faktoren zusammen (vgl. ebd. S. 33 ff.):

• Das Gefühl der Verstehbarkeit geht damit einher, interne wie externe
Zusammenhänge nachvollziehen zu können und damit die Welt zu verstehen;
• das Gefühl der Handhabbarkeit beschreibt das Vertrauen, sein Leben und die
damit verbundenen Anforderungen bewältigen zu können,

42 
Die ‚Krankheit‘ zu akzeptieren bedeutet nicht, dass man sich automatisch auf ein
medizinisches Regime einlassen will und muss oder Psychopharmaka einnimmt. Es
eröffnet zunächst einmal einen bewussten Umgang mit einer bestimmten Abweichung.
4.4  Herr König: Kapitän der Seele 291

• das Gefühl der Bedeutsamkeit steht für den motivationalen Aspekt. Hier geht
es darum, die ‚Welt‘ nicht nur zu verstehen, sondern ihr einen positiven Sinn
abgewinnen zu können.

All dies zusammen führt zu einer hohen „Selbstwirksamkeitserwartung“


(Bandura 1977). Selbstredend muss eine hohe Selbstwirksamkeit dabei nicht
unbedingt mit tugendhaftem Verhalten einhergehen. Es gibt sicher viele
Menschen, die bekommen, was sie erstreben, dabei rechtliche Probleme erfolg-
reich umschiffen und eine große Zahl von Opfern hinterlassen – und ihr Leben
dennoch als kohärent, effizient und zielgerichtet erleben. Selbst wenn sie dann
das eine oder andere Mal im Gefängnis einsitzen müssen, werden sie sich –
zumindest unter ihresgleichen – wohl eher mit Stolz denn mit Scham an ihre
Taten erinnern.
Anders als im Gefängnis gerät ein solches Selbstverhältnis jedoch im
Maßregelvollzug unter Druck, denn es erscheint nicht nur aus Perspektive der
gesellschaftlichen Normen als kriminell, sondern darüber hinaus als krank. Von
einer Gruppe, zu der man nicht selbst gehört, als (moralisch) verachtenswert
behandelt zu werden, ist zwar nicht schön, stellt aber den eigenen Selbstbezug
und das hiermit einhergehende Kohärenzerleben nicht grundlegend infrage. Das
Selbstverhältnis kann jedoch massiv bedroht werden, wenn es mit der Zumutung
konfrontiert wird, aufgrund einer psychischen Erkrankung den eigenen Wahr-
nehmungen und Bedürfnissen nicht mehr zu vertrauen.
Dies trifft in besonderem Maße auf die Schizophrenie zu. Seinen Gefühlen,
Sinneseindrücken und Deutungen nicht mehr glauben zu dürfen, unterminiert
genau den Prozess, über den sich normalerweise ein Selbstverhältnis aufbaut, das
sich als selbstwirksam erfährt. Einer solchen fundamentalen Verunsicherung kann
kaum etwas abgewonnen werden, das den Selbstwert nährt. Einhergehend mit
einem positiven Kohärenzgefühl zeigen sich demgegenüber zwei andere Eigen-
werte: zum einen die ‚scheinbare Gesundheit‘, also das Gefühl, die Psychose
unter Kontrolle und damit sein Leben im Griff zu haben, zum anderen eben das
Wahnsystem selbst. Mit aller Vorsicht und angemessenem Selbstzweifel zu ver-
suchen, kleinschrittig mit einer ‚Krankheit‘ durchs Leben zu gehen, erscheint
demgegenüber (zunächst) deutlich weniger erbauend.43

43 
Eine gesellschaftskritische Diskussion müsste hier zudem fragen, welchen Platz
Menschen mit psychischen Erkrankungen in der Gesellschaft zugewiesen bekommen.
292 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Auch der Oberarzt von Herrn König thematisiert im Gespräch mit uns die
hiermit einhergehende Problematik:

Oberarzt: Sie müssen auch bedenken, dass Psychose, dass jeder Psychose auch
ein Stückchen Hybris innewohnt, weil verfolgt werden Sie meistens nur, wenn
Sie bedeutsam sind. Das ist auch mit ein Grund für die euphorisierende Kraft von
Schizophrenien. Vom CIA verfolgt zu werden. Ist manchmal schon angenehmer,
[denn] als armes Würstchen irgendwo in der Klinik zu sitzen. […] also es ist eine
recht egozentrische Geschichte. Es ist auch eine/Die Attributionsmechanismen der
Schizophrenen sind auch externalisierend, also der Feind ist immer draußen, ja?
Interviewer: Ja.
Oberarzt: Wenn der Depressive zur Selbstattribution neigt, sucht der Schizophrene
schon den Feind draußen, der Zeiger der Schuld geht nach draußen. Und manchmal
ist glaube ich auch, dieses ganze Wahngeschehen zur eigenen Kohärenzfindung
irgendwie ganz sinnvoll, ja? Und auch zur Selbstwertstabilisierung und möglicher-
weise hat es sogar auch was Euphorisierendes, ja also?
Interviewer: Es löst ja Ambivalenzen sehr stark auf.
Oberarzt: Genau.
Interviewer: Die alltäglichen Probleme, mit denen wir so zu tun haben, die ver-
schwinden ja dann irgendwie alle, die sind hochfunktional, ja.
Oberarzt: Also es gibt insofern auch durchaus Aspekte, am Krankheitsgeschehen
festhalten zu wollen, ja?
Interviewer: Ja.

Um die eher vorsichtigen Formulierungen des Oberarztes ein wenig zuzuspitzen:


Verschwörungstheorien anzuhängen und damit sich selbst gegenüber den anderen
Dummen als Wissenden auszuzeichnen, ist erhebend. Sich darüber hinaus
noch den Bedrohungen erwehren und andere oder gar die Menschheit retten zu
können, steigert zusätzlich die Bedeutsamkeit und Sinnhaftigkeit. In unzähligen
Spionagefilmen und Fantasieromanen bieten uns die Protagonisten die Möglich-
keit, zumindest für ein paar Stunden in solch eine Position hineinzuschlüpfen, um
mimetisch an diesen erhabenen Empfindungen teilzuhaben („ist, glaube ich auch,
dieses ganze Wahngeschehen zur eigenen Kohärenzfindung irgendwie ganz sinn-
voll“). Auch der paranoide Psychotiker erschafft sich diese Welten mitsamt seiner
eigenen besonderen Rolle darin und hält sie (wie wir unsere eigene Welt auch) für
real. Diese Realität ist dann in aller Regel attraktiver, denn „als armes Würstchen
irgendwo in der Klinik zu sitzen.“
Schuld- und Kausalzusammenhänge so zu sortieren, dass der Feind außen
steht („der Zeiger der Schuld geht nach draußen“), geht mit der Empfindung
eigener Integrität einher. Man empfindet berechtigte Wut und kann sich allein
schon deshalb als lebendig empfinden. Auch hier ist die Grenze zu Reaktions-
mustern, die vielen Menschen vertraut sind und einer psychischen Erkrankung
4.4  Herr König: Kapitän der Seele 293

(vielleicht einer ‚manischen Vorstufe‘) fließend. Nur weil man die Klinikärzte
für problematisch und die Bank für mitschuldig für den eigenen Konkurs hält, ist
man noch nicht wahnsinnig.
In dieser Hinsicht sind Schizophrene nicht grundlegend anders als vermeint-
lich normale Menschen. Auch sie verweben in ihrem Erleben Weltdeutungen und
Welterklärungen zu einem Gewebe, das den Aufbau einer stabilen und beständig
erscheinenden Identität zu gewährleisten scheint. Dabei ist es unerheblich, ob
einem äußeren Beobachter die benannten Kausalitäten fraglich oder gar absurd
erscheinen mögen. Um es mit den Worten Batesons auszudrücken:

„Es ist, als müsse die dichte Kohärenz des logischen Gehirns, selbst bei Personen,
die notorisch eine ganze Menge wirres Zeug denken, immer noch hochheilig sein.
Wird gezeigt, daß es gar nicht so kohärent ist, dann stürzen sich die Individuen oder
Kulturen wie die Schweine von Gadara in Komplexitäten des Übernatürlichen. Um
den Millionen von metaphorischen Toden zu entkommen, die sich in einem Uni-
versum von Zirkeln der Kausalität abzeichnen, leugnen wir einfach die Realität des
gewöhnlichen Sterbens und flüchten in Fantasien von einer Nachwelt und sogar der
Reinkarnation“ (Bateson 1987, S. 159).

Der Verlust des Gefühls der Verstehbarkeit, des Gefühls der Handhabbarkeit
und des Gefühls für Sinnbeziehungen geht mit einer massiven Bedrohung der
psychischen Integrität einher. „In Wahrheit würde ein Bruch in der scheinbaren
Kohärenz unseres geistigen logischen Prozesses als eine Art Tod erscheinen“
formuliert es Bateson noch drastischer.44
Kleinere oder größere Verschwörungstheorien zu pflegen und sich als
kompetenter Akteur mit Durchblick zu präsentieren, ist entsprechend auch für
Menschen ohne psychiatrische Diagnose ein durchaus gängiger Modus, um mehr
Sinn und Werthaftigkeit fühlen zu können, als in einer Welt, deren Komplexität
unbegreifbar erscheint und deren Prozesse oftmals gerade nicht mehr durch das
eigene Verstehen und Handeln kontrolliert werden können.45

44 Und weiter im Zitat: „Ich bin dieser tief verwurzelten Vorstellung bei meiner Arbeit mit
Schizophrenen immer wieder begegnet, und man kann sagen, daß diese Vorstellung grund-
legend ist für die double-bind-Theorie, die ich vor etwa 20 Jahren zusammen mit meinen
Kollegen in Palo Alto entwickelt habe. Ich möchte behaupten, daß die Zeichen des Todes in
jedem beliebigen biologischen Kreislauf anwesend sind“ (Bateson 1987, S. 159 f.).
45 Genau in diesem Sinne bilden die Unsicherheiten der Covid-19 Pandemie einen Nähr-

boden unterschiedlicher Bewegungen wie der sogenannten „Querdenker“ etc.


294 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

(Weitere) Fallrekonstruktion

Während man bei vielen ‚normalen‘ Menschen über das eine oder andere bizarre
Gedankenmuster hinwegsehen kann, ergibt sich für den schizophrenen Patienten,
der in der forensischen Klinik einsitzt, eine besonders vertrackte Konstellation:
Das Personal kann nicht anders, als darauf hinzuarbeiten, jegliche Identifikation
mit Empfindungen, Denkfiguren und Vorstellungen, die zu einem weiteren Delikt
führen könnten, zu unterbrechen. Zudem ist dem Patienten begreiflich zu machen,
dass die Tatsache, dass er in der forensischen Klinik ist, unvermeidlich zu seinem
Weltverhältnis gehört. All seine Aktivitäten stehen nun unter psychiatrischer Auf-
sicht und Begleitung. Das Personal ist die Referenz einer normalen Weltsicht.
Doch wie lässt sich auf diese Weise ein produktives Selbstverhältnis finden
und wie kann dieser Prozess der Neuausrichtung durch das Behandlungsteam
gebahnt werden?

Reden und Tun entkoppeln – „Was manchmal hilfreich ist …,


dass Darlegungen und Umsetzung häufig so ein bisschen
auseinandergehen“
Wie alle in diesem Buch vorgestellten Bezugsprobleme, sind auch die beiden
vorangehenden ernst zu nehmen. Sowohl das Kohärenzgefühl innerhalb der
psychischen Erkrankung, als auch das Problem des Präferenzwertes der Gesund-
heit stellen Anforderungen an das Behandlungsteam, die bearbeitet werden
müssen. Dies berührt die alltäglichen Interaktionen und Therapiegespräche
ebenso, wie auch die übergreifenden Bemühungen um die Rehabilitation des
Patienten. Betrachten wir hierzu die nachfolgende Sequenz aus dem Interview mit
dem Oberarzt:

Oberarzt: Aus dem Aspekt, das ist auch/Ja, gut. Und wir hatten jetzt das Problem,
dass bei solchen Vorstellungen der Resozialisierung das schlecht übereinkommt, mit
dem, was man dann umsetzen kann, ja?
Interviewer: Ja.
Oberarzt: Und bereits der [Name] als Gutachter im Anlassverfahren hat in der
Hauptverhandlung, wo ich auch war, als Klinikvertreter dann. Dann angemerkt, wie
das denn funktionieren wird, bei diesen Vorstellungen, die Herr König so hat.
Interviewer: Ja.
Oberarzt: Und das habe ich damals noch ein bisschen kleingeredet. Aber das ist
sicherlich eine Schwierigkeit. Was manchmal hilfreich ist bei den Schizophrenen,
ist, dass Darlegungen und Umsetzung häufig so ein bisschen auseinandergehen.
Interviewer: ja.
Oberarzt: Ja? Also ich hoffe darauf, dass Herr König zwar viel spricht über die
Geschäftsführertätigkeit, aber dass er es vielleicht auch eben nicht den Vorstand,
4.4  Herr König: Kapitän der Seele 295

aber dass er vielleicht auch ganz zufrieden ist, wenn er in irgendeiner Fachhandlung
da irgendwie so ein bisschen Hilfstätigkeiten macht und dann sagt, okay, ja? Also
das hoffe ich, dass das geht.

Diese Sequenz folgt unmittelbar auf die kurz zuvor diskutierten Aussagen des
Oberarztes über das Attributionsmuster von Schizophrenen und den Krankheits-
gewinn, der mit dem Wahn einhergeht. Dies bringe Probleme für die Therapie
mit sich, da die psychotische Symptomatik zwar den Selbstwert stabilisiere, sich
jedoch die Fantasien des Patienten nicht mit der Außenwelt in Deckung bringen
ließen. Im Fall von Herrn König habe das bereits der Gutachter angemerkt. Man
habe das von Klinikseite jedoch zunächst relativiert, wenngleich man sehr wohl
das Problem sehe („habe ich damals noch ein bisschen kleingeredet. Aber das
ist sicherlich eine Schwierigkeit“). Letztlich hofft der Oberarzt darauf, dass der
Patient zwar viel über seine Pläne rede, doch am Ende pragmatisch handele. Dies
geschehe oft bei Schizophrenen.
Die Resozialisierung von Herrn König scheint damit zugleich möglich wie
auch nicht möglich. Theoretisch lässt sich das Dilemma nicht lösen („schlecht
übereinkommen, mit dem, was man umsetzen kann“), praktisch wird die Sache
jedoch möglicherweise nicht so heiß gegessen, wie sie gekocht wird („zwar viel
spricht“ … „aber, dass er vielleicht auch ganz zufrieden ist“).
Der Oberarzt kann hier einerseits wieder jenes Muster entdecken, das sich
durch den Kollaps der Reflexionsposition des Patienten in die ‚scheinbare
Gesundheit‘ niederschlägt: Herr König sieht sich als hochgradig belastungs-
fähig an und fühlt sich kompetent, einen anspruchsvollen Posten zu über-
nehmen. Dies widerspricht der Einschätzung der Klinik und des Gutachters.
Sobald die Diskrepanz für den Patienten deutlich zu werden droht, erscheint
die Umwelt wieder als Gegner. Die aufscheinenden Hindernisse und die hieraus
erwachsenen Probleme werden externalisierend den anderen zugerechnet. Wie in
den vorigen Abschnitten herausgearbeitet wurde, zeichnet sich für den Psychiater
die Diagnose Schizophrenie in Fällen wie diesem gerade dadurch aus, dass sich
die ‚scheinbare Gesundheit‘ mit den dramatischeren Episoden der ‚Psychose‘ zu
einem Gesamtbild verbinden.
Gleichzeitig macht der Oberarzt eine neue Unterscheidung auf: die von
Rede und Praxis. Er stellt fest, dass sich Selbstbeschreibungen und Absichtsbe-
kundungen nicht notwendigerweise mit dem tatsächlichen Handeln des Patienten
decken müssen. Damit könnte die Differenz zwischen den drei Positionen
‚scheinbare Gesundheit‘/Psychose/Reflexionsposition beim Patienten prinzipiell
weiterhin aufrechterhalten werden, dies würde jedoch nicht zu der fatalen Praxis
führen, die Herrn König in den Maßregelvollzug gebracht hat. Es verbleibt eine
296 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Restsymptomatik, die in Teilen durch den Patienten selbst kontrolliert wird


(indem er sich dem „Appetit“ nicht „hingibt“), und zum anderen Teil durch eine
Entkopplung von talk und action (Brunsson 1989) unproblematisch bleibt. Dieses
Arrangement entspricht einer komplexen Praxis, von der allerdings unklar ist, ob
sie in Zukunft hinreichend stabilisiert werden kann („Also das hoffe ich, dass das
geht“).
Wie im Folgenden noch deutlicher werden wird, besteht die raffinierte
therapeutische Praxis des Oberarztes und der Klinik darin, eine Trennung
zwischen dem schizophrenen Sprechen des Patienten und seinem Handeln zu
instruieren bzw. zu induzieren. Im Klinikalltag wird versucht, ihn in die Routinen
des alltäglichen Handelns einzuspuren. Herr König mag partiell zwar weiter-
hin seiner eigenen Realität verhaftet bleiben (so hat er beispielsweise im Inter-
view ausführlich darüber berichtet, dass er für das Wissenschaftsjournal ‚Nature‘
einen Artikel verfasst habe, der endlich beweise, warum Nasenaffen ein solch
ungewöhnliches Riechorgan haben). Dies scheint jedoch nicht im Widerspruch zu
der prognostischen Einschätzung zu stehen, Herrn König in naher Zukunft eine
Rehabilitation außerhalb einer geschlossen psychiatrischen Einrichtung ermög-
lichen zu können. Der kritischen Einschätzung des Gutachters zufolge scheinen
all diese Differenzen nicht so groß, als dass man es mit Herrn König nicht doch
außerhalb der Klinikmauern versuchen könnte.
Gerade auch psychiatrische Organisationen können nur funktionieren, wenn talk
und action, Theorie und Praxis und die hierauf bezugnehmenden Entscheidungen
nicht allzu strikt miteinander gekoppelt sind. Organisationen zeichnen sich im Sinne
von Fritz Simon dadurch aus, ihrerseits im metaphorischen Sinne „schizophren“
agieren zu können. In arbeitsteiligen Prozessen ist es möglich, Arrangements zu
finden, in denen die eine Hand etwas anderes tut, als die andere.46 Widersprüche
und Inkommensurabilitäten – etwa zwischen Recht, psychiatrischer Diagnostik,
dem pragmatischen Primat der Psychiatrie und den beispielsweise durch fehlende
personelle Ressourcen gegebenen organisatorischen Möglichkeiten – können damit
in eine einigermaßen tragende Praxis überführt werden. An unterschiedlichen Stellen
(und mit verteilten Rollen) wird jeweils das gemacht, was gemacht werden kann
(und muss). Ob dies logisch zusammenpasst, interessiert solange nicht, wie die
Praxis funktioniert, also die Organisation als Ganzes nicht infrage gestellt wird – bei-
spielsweise im Fall spektakulärer Rückfälle (z. B. der Fall Frank Schmökel), über

46 Siehe etwa Simon (2007).


4.4  Herr König: Kapitän der Seele 297

die die Medien berichten und auf die entsprechend auch die Innenminister der beauf-
sichtigenden Landesregierungen reagieren müssen.47
Solange jedoch unter den Mitarbeitern des Maßregelvollzugs ein „praktischer
Sinn“ (Bourdieu 1997) für die Grenzen des Machbaren besteht und somit eine
hinreichende Intuition in Hinblick auf die Einschätzung der akuten Gefährlichkeit
eines Patienten habitualisiert ist, erscheint eine schrittweise Rehabilitation bei
Patienten wie Herrn König vertretbar.
Bei all dem ist immer auch mitzudenken, dass die forensische Psychiatrie
per se den Zweckauftrag der Rehabilitation hat. Ihr Auftrag ist nicht die Heilung
des Patienten, sondern ihn soweit zu ‚bessern‘, dass er nicht mehr ‚gefährlich‘
ist. Aufgrund ihrer rechtlichen und medizinischen Funktion agiert sie in einer
administrativen Rationalität, entsprechend der eine dauerhafte Institutionalisierung
des Patienten möglichst vermieden werden sollte.

Modus Operandi des Einspurens – „Ja, gut, dann machen wir


es …. hab’ mich schon wieder breitschlagen lassen“
Insofern es gelänge, Herrn König in eine sozialverträgliche Praxis einzuspuren,
würde es eigentlich nicht weiter stören, wenn er einige der für die Eigenwelt
schizophrener Patienten typischen Marotten beibehalten würde. Der Patient
bliebe dann gewissermaßen schizophren, würde jedoch nicht in eine von der
Klinik unkontrollierbare Form der Psychose abgleiten. Wie lässt sich nun aber
dem Patienten beibringen, in dieser Weise sein eigenwilliges Denken und die
hierin artikulierten Erwartungen und Attributionen mit der ernüchternden Praxis
der psychiatrischen Rehabilitation zu verbinden?
Aufschluss hierüber gibt die teilnehmende Beobachtung einer Therapie-
sitzung mit Herrn König. Anwesend waren die Psychotherapeutin, die Arbeits-
therapeutin, der Sozialarbeiter, der Patient sowie der Beobachter. Schauen wir uns
das Protokoll der Sitzung an:

Psychotherapeutin: Wie war denn der letzte Abschnitt der Therapie?


Herr König: Behandlung hat Fahrt aufgenommen… Gespräch mit Dr. Marquart
[dem Chefarzt] … ein Gutachten zu UA [unbegleiteten Ausgang] beantragt … bin
dann in der Töpferei … Sport macht Spaß ….
Psychotherapeutin: In die Gruppen kommen Sie?

47 Aber auch weniger spektakuläre Fälle können entsprechendes Aufsehen erregen (z. B.
der Fall Gustl Mollath).
298 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Herr König: Ja, mache ich gerne…


Psychotherapeutin: Wie schätzen Sie sich in der Arbeitstherapie ein?
Herr König: Sehr gut…. läuft gut … könnte vielleicht noch etwas sicherer sein…
muss bei neuen Aufgaben noch nachfragen… finde mich gut in der Gruppe ein….
Psychotherapeutin: … Wir sollten die Stunden erhöhen? Derzeit haben Sie 5,5…
eigentlich ist 9 das Minimum…
Herr König: … ungern …
Es folgt eine gefühlt ewige Diskussion darüber, warum es nötig ist, dass der
Patient mehr Stunden in der Arbeitstherapie verbringt und warum das aus Sicht
des Patienten nicht geht (Ausschlafen, Sport etc.). Diese Diskussion wird wie folgt
abgeschlossen:
Herr König: Hab das alles, was in der Arbeitstherapie angeboten wird, ja schon
gemacht …
Leitung Arbeitstherapie: Da können wir den folgenden Kompromiss bei den
Terminen machen (legt eine mögliche Terminplanung vor, die den Donnerstagvor-
mittag nicht mit belastet).
Psychotherapeutin: Kommen Sie, Herr König!
Herr König: Ja, gut, dann machen wir es …. hab’ mich schon wieder breitschlagen
lassen…
Psychotherapeutin: Das ist ja nicht das erste Mal, dass wir so reden … das hat sich
aber verbessert … Sie blocken nicht, gehen drauf ein…
Herr König: Ja, weil ich sehe, dass es vorangeht … ich mache Fortschritte…. da
kann man einen Kompromiss eingehen …

Die Psychotherapeutin erkundigt sich nach der Selbsteinschätzung des Patienten


in der Arbeitstherapie. Herr König schätzt sich gut ein und ergänzt, dass er noch
etwas sicherer werden könnte. Daraufhin beginnt eine Diskussion über eine
Erhöhung der Stundenzahl, die von der Psychotherapeutin befürwortet, von Herrn
König jedoch mit verschiedenen Begründungen abgelehnt wird. Herr König
lenkt schließlich ein, nachdem die Psychotherapeutin ihn dazu aufgefordert hat.
Er habe sich, fügt er hinzu, „wieder breitschlagen“ lassen. Daraufhin wird er von
der Psychotherapeutin für sein Verhalten gelobt. Seine Kompromissbereitschaft
erklärt Herr König damit, dass er Fortschritte mache.
Diese Passage zeigt auf, wie die Divergenzen in Bezug auf die Notwendig-
keit der Arbeitstherapie bearbeitet werden. Dies geschieht nicht durch Klärung
von Notwendigkeiten oder Kausalitäten auf der Sachebene, sondern auf der
Beziehungsebene. Nicht Argumente führen zu der gewünschten bzw. seitens
der Klinik geforderten Praxis, sondern ein Appell. Die Aufforderung „Kommen
Sie, Herr König“ klärt nämlich nicht die Dissonanz der Perspektiven zwischen
Therapeutin und Patient. Sie leistet etwas viel Besseres: Sie fordert den Patienten
auf, sie zu begleiten und den gemeinsamen sozialen Raum nicht zu verlassen. Sie
rejiziert die Frage, wer Recht hat und wer nicht, bzw. was auf sachlicher Ebene
4.4  Herr König: Kapitän der Seele 299

der Fall ist. Stattdessen verschiebt sie den nicht zu lösenden Konflikt auf die
Frage, ob der Patient mit der Therapeutin mitgehen wolle.
Er kann sich entsprechend für ersteres entscheiden, ohne dabei seine eigene
Sichtweise aufgeben zu müssen („Ja, gut, dann machen wir es“). Die alltags-
sprachliche Formulierung sich „breitschlagen lassen“ markiert, dass man eigent-
lich etwas anderes getan hätte, die betreffende Sache jedoch dem anderen zuliebe
oder zumindest deshalb macht, um den gemeinsamen sozialen Raum nicht zu ver-
lassen. Zwischen Ich und Du wird eine Brücke zum „Wir“ geschlagen und damit
entsteht ein neues Subjekt des Wollens: ‚Wegen Dir mache ich es und nicht, weil
Du in der Sache recht hast.‘ Hiermit offenbart sich der soziale Sinnüberschuss
performativer Äußerungen. Dadurch kann die Zustimmung auch doppelt codiert
bleiben: Auf der einen Seite ist es das Nachgeben gegenüber der Institution. Zum
anderen kann die Kritik auf der inhaltlichen Ebene beibehalten werden. Sich
kumpelhaft „breitschlagen“ zu lassen, ist etwas anderes, als sich willenlos zu
unterwerfen.
Wenngleich das handschriftliche Protokoll hier lückenhaft ist, zeigt sich eine
Divergenz zwischen Patienten und Therapeutin in der Diskursorganisation des
Therapiegesprächs.48 Beide rahmen die Situation nicht nur in Hinblick auf die
Sachdimension, sondern auch bezüglich der Sozialdimension in anderer Weise.
Die Therapeutin geht nämlich im weiteren Verlauf des Gesprächs nicht auf das
zuvor aufgerufene „Wir“ ein, sondern reproduziert die therapeutische Rahmung,
indem sie unmittelbar eine anders gelagerte reflexive Position bezüglich der eben
erzielten Einigung einführt („Sie blocken nicht, gehen drauf ein“) und hier einen
Fortschritt feststellt („das hat sich aber verbessert“).
Das Zugeständnis Königs lässt jedoch keinen Rückschritt mehr zu. Er hat
ja bereits eine Selbstfestlegung getroffen, die ihn performativ bindet („Ja gut,
dann machen wir es“). Dennoch muss die Sinnverschiebung ihrerseits von Herrn
König bearbeitet bzw. reflektiert werden. Denn es ist jetzt nicht mehr das „Wir“,
das verbindet, sondern der therapeutische Rahmen. So erscheint als weiteres ver-
mittelndes Arrangement der pragmatische Kompromiss, den Herr König eingehen
kann, um seinem Ziel näherzukommen („da kann man einen Kompromiss ein-
gehen“, „weil ich sehe, dass es vorangeht“). Herr König sieht seinen Fortschritt
als Grund für den Kompromiss, die Therapeutin sieht den Kompromiss als Grund

48 
Siehe zur Analyse der divergierender Handlungsorientierungen in der Diskurs-
organisation ausführlich Przyborski (2004).
300 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

dafür, einen Fortschritt feststellen zu können. Im Sinne der Henne-Ei-Problematik


müssen sie sich hier nicht einig werden, um zu diesem stabilen Situationsarrange-
ment zu gelangen, sondern können einfach weitermachen.
Komplementär zum „Kompromiss“ Herrn Königs kommen die Therapeuten
dem Patienten entgegen und schrauben ihre Ansprüche herunter (Herr König
arbeitet statt der eigentlich vorgegebenen 9 nur 5,5 h und auch der Leiter der
Arbeitstherapie macht ein Kompromissangebot). Dies zeigt, dass nicht nur
Herr König sich an die klinischen Umstände anpasst, sondern auch umgekehrt
die institutionellen Regularien zu einem gewissen Maß an seine Möglichkeiten
und Bedürfnisse angepasst werden. Im Sinne der konditionierten Koproduktion
scheint in diesem Falle das Schließen von (beidseitigen) Kompromissen ein
sehr charakteristisches Muster zu sein (sowohl die anvisierte Tätigkeit im Bau-
markt, als auch die Aussichten auf ein betreutes Wohnen können als Kompromiss
zwischen dem gesellschaftlichen Bedürfnis nach Sicherheit und Herrn Königs
Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit gesehen werden).
Interessanterweise produziert die Klinik auf ihre Weise die Differenz mit,
die Therapeuten oft bei ihren Patienten monieren: Diese seien nicht wirklich an
Heilung oder Krankheitseinsicht interessiert, sondern daran, einen pragmatischen
Weg zu finden, endlich wieder aus der Klinik rauszukommen. Durch die
Reproduktion der Differenz von ‚Klinik‘ und ‚Patient‘ durch die Klinik wird aber
gerade diese Herangehensweise nahegelegt. Wenn es nämlich kein wirkliches
„Wir“ gibt, handelt jeder strategisch entsprechend seiner eigenen Interessen. Dass
es hierbei nicht nur um ein singuläres kommunikatives Ereignis geht, sondern um
eine wiederkehrende Form des Miteinander-Umgehens wird dadurch deutlich,
dass die Therapeutin noch im Therapiegespräch selbst bestätigt, dass es „ja nicht
das erste Mal“ sei, „dass wir so reden.“
Aus systemischer Perspektive können wir hier eine übergreifende Ordnungs-
struktur identifizieren. Diese geht jedoch weder auf sachlicher noch sozialer
Ebene in einem geteilten Orientierungsrahmen auf, sondern zeigt sich in
multiplen, in sich gebrochenen Perspektiven, die pragmatisch zu einem
Kompromiss zusammenfinden.
Die Form, die durch wiederholte Praxen eingeübt wird, lässt sich lakonisch
folgendermaßen umschreiben: Der Patient lernt, das, was er will, mit dem, was er
nicht will, in eine Praxis zu überführen, um sich gleichzeitig daran zu gewöhnen,
nicht das zu bekommen, was er will, ohne damit jedoch sein Selbstbild zu ver-
ändern. Für die Klinik gilt umgekehrt das gleiche.
Auf diese Weise wird die Schizophrenie in die therapeutische Beziehung mit ein-
gebaut und die Spaltung von action und talk, von realisierbaren und imaginierten
4.4  Herr König: Kapitän der Seele 301

Weltverhältnissen, auch von institutioneller Seite gleichsam auf Dauer gestellt.


Dieses komplexe Arrangement muss ständig durch erneute Kommunikation
restabilisiert werden, beispielsweise, indem die Klinik – wie im hier beobachteten
Ausschnitt – durch ihre therapeutischen Interventionen einen Konflikt hervor-
ruft (mehr Arbeitstherapie zu fordern, als es der Selbstbestimmung des Patienten
entsprechen würde), der dann durch weitere therapeutische Gespräche wieder
besänftigt wird.

Asymmetrische Patientenrolle – „Es wäre schön, wenn Sie sich


noch mehr einbringen würden“
Bei all dem schwingt für den Patienten die Machtstruktur der forensischen
Psychiatrie als unhintergehbarer Hintergrund seines Weltverhältnisses unweiger-
lich mit. Dem therapeutischen Regime dieser „totalen Institution“ (Goffman
1973). lässt sich nicht entkommen, wie im weiteren Verlauf der Therapiesitzung
nochmals deutlich wird:

Psychotherapeutin: Wie geht es in der Töpferei?


Arbeitstherapeutin: Selbsteinschätzung und Fremdeinschätzung decken sich weit-
gehend … Anhand der Kriterien des MELBA-Profils hat er sich deutlich verbessert
… die Belastbarkeit ist gut … bekannte Arbeitsaufträge werden gut bewältigt …
bei komplexen Aufgaben gibt es noch Nachfragen … ein guter Umgang mit Miss-
erfolgen … wo Sie noch gucken müssen, ist die Qualität … das Tempo ist gut …
in Bezug auf die Teamqualität: In Gruppen gehören Sie zu den wenigen, die nicht
abwertend sind … Sie sind bereit, anderen zu helfen …
Psychotherapeutin: Wie schätzen Sie sich auf Station ein?
Herr König: Ruhe … verstehe mich mit allen gut … mit den Pflegern immer besser,
vor allem mit den Bezugspflegern … Stationsalltag ist ereignislos … ich mache mein
Ding und schaue nicht nach rechts und links … ziehe einfach mein Ding durch …
Psychotherapeutin: Wie läuft es mit der Medikation?
Herr König: Vergesse ich nicht mehr so oft … denke besser dran … Neben-
wirkungen halten sich in Grenzen
Psychotherapeutin (liest Pflegedokumentation vor): guter Kontakt zu Mitpatienten
… Kontakt zur Pflege besser… Kontakt zur Bezugspflege sporadisch … keine
Besonderheiten im Ausgang…. verbesserungswürdig die Einnahme der Medikation
… macht sich viele Gedanken über die Zukunft … hier sehen wir ein bisschen
Abweichung …
Herr König: Ja… aus meiner Perspektive gut … ist halt manchmal schwierig, mit
der Medikation … schaue ich mir einen Film an und um Punkt neun Uhr muss man
da sein … wenn ich dreiviertel komme, sagen sie, ich soll eine rauchen gehen …
muss immer Punkt sein …
Psychotherapeutin: Das ist wichtig … in den Gruppen machen Sie mit … es wäre
schön, wenn Sie sich noch mehr einbringen würden …
302 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Herr König: Ich finde mich recht rege …


Psychotherapeutin: Könnte mehr sein … Herr Müller, was meinen Sie?
Sozialarbeiter: Er hat ein gutes Tempo … er ist sehr selbstständig …
Pflegerin: Man merkt das richtig, die Verbesserung …
Psychotherapeutin: Machen Sie weiter so …
Herr König geht aus dem Zimmer. Das therapeutische Team bespricht den Fall
noch kurz. Man freut sich, dass es gelungen sei, den Patienten zur Aufstockung der
Arbeitstherapie zu motivieren. Es wird zugleich mit Verweis auf die die im MELBA-
Profil abgefragten Kriterien49 in Frage gestellt, ob Herr König schon für den ersten
Arbeitsmarkt bereit sei, da er sich doch oft „vergessen“ würde und auch sonst ab
und zu noch „etwas gehen lassen“ würde.

Die Psychotherapeutin fragt Einschätzungen der Arbeitstherapeutin und des


Sozialarbeiters zum Verhalten und Leistungsniveau von Herrn König ab. Sie
liest aus der Pflegedokumentation vor. Zwischendurch wird der Patient gebeten,
seine eigene Selbsteinschätzung in Hinblick auf therapeutisch relevante Aspekte
zu geben („Wie schätzen Sie sich auf Station ein?“, „Wie läuft es mit der
Medikation?“). Nachdem der Patient den Raum verlassen hat, bespricht das Team
in Referenz auf standardisierte psychosoziale Diagnoseinstrumente, inwieweit der
Patient für den ersten Arbeitsmarkt geeignet sei.
Wie in vielen Visiten in Krankenhäusern üblich50 wird dabei auch in Anwesen-
heit des Patienten über diesen in der dritten Person gesprochen. Nur sporadisch
wird das Expertengespräch durch Fragen an ihn oder Ansprachen unterbrochen,
die dann allerdings ebenfalls auf diagnostisch relevante Informationen zielen
oder therapeutische Anweisungen beinhalten. Das Gespräch ist damit hoch-
gradig asymmetrisch formatiert und gibt Herrn König kaum die Möglichkeit, die
Patientenrolle zu verlassen. Vielmehr wird jeglicher Aspekt seines Verhaltens zu
einem klinisch bzw. diagnostisch relevanten Anzeichen. Sei es, nicht genau „um
Punkt neun Uhr“ zur Tablettenausgabe zu erscheinen, sich zu viele „Gedanken
über die Zukunft“ zu machen oder einfach nur das Bedürfnis, ab und zu mal

49 Das MELBA-Profil dient dazu, die Kompetenzen abzuschätzen, die für die Aufnahme
einer Arbeit von Bedeutung sind. Dabei werden fünf Merkmalbereiche unterschieden:
Soziale Merkmale (etwa Teamarbeit und Kontaktfähigkeit); kognitive Merkmale (wie z. B.
Problemlösen, Konzentration); Sorgfalt und Ausdauer; psychomotorische Merkmale und
als fünfte Merkmalsgruppe die gängigen Kulturtechniken, wie Rechnen, Schreiben, Lesen
und Sprechen.
50 Vgl. Vogd (2004).
4.4  Herr König: Kapitän der Seele 303

zu schweigen („es wäre schön, wenn Sie sich noch mehr einbringen würden“)
– nahezu alles steht unter Beobachtung und wird zum Anlass therapeutisch
begründeter Adjustierung des Patientenverhaltens.
Wenngleich die Evaluation des Personals zu einer recht positiven Ein-
schätzung kommt („Man merkt das richtig, die Verbesserung“), entlässt dies
den Patienten jedoch nicht aus dem therapeutischen Regime. Er mag zwar „ein
gutes Tempo“ haben und „sehr selbstständig“ sein, doch dies ändert nichts an der
Tatsache, psychiatrischer Patient zu sein und es auch in Zukunft zu bleiben. Für
einen intelligenten Menschen, der in seinem vorherigen Leben leistungsfähig war
und sich auch jetzt noch kompetent und autonom fühlt, muss dies tragisch sein.
Die Kluft zwischen Selbstbild (und auch innerhalb der Klinik gezeigter Selb-
ständigkeit) und einem Weltverhältnis, das ihn in Kontrolle und Abhängigkeit von
dem psychiatrischen Personal behält, ist riesig. Auch in diesem Sinne ist seine
Lebenssituation buchstäblich schízein (altgriechisch: zerspalten, zersplittert).
Anders als bei jedem ‚normalen‘ Menschen, bei dem es unproblematisch
erscheint, sich im Gespräch mal etwas zurückzunehmen oder seine Tabletten
etwas später einzunehmen, ist in Bezug auf Herrn Königs Verhalten seitens
der Therapeuten kaum mehr etwas nicht fraglich. Einen „Film schauen“ kann
zugleich heißen, dem vorgegebenen Rhythmus der Station nicht gerecht zu
werden (sich „gehen (zu) lassen“) und dann aufgefordert werden, sich selbst
und dem Personal gegenüber darüber Rechenschaft abzulegen. Auch die
therapeutischen Gruppen lassen die Patienten nicht einfach so wie sie sind,
sondern fordern ein bestimmtes Verhalten ein. Der Patient mag zwar empfinden,
dass er sich „rege“ beteilige, doch durch die Intervention der Psychotherapeutin
(„könnte mehr sein“) wird er gleichsam in die Situation eines Schulkindes
zurückversetzt, das im Evaluationsgespräch dazu aufgefordert wird, den
Erwartungen der Lehrerin gerecht zu werden. Ein erwachsener und sich selbst als
kompetent empfindender Mann wird in dieser Rollenbeziehung wieder zu einem
kleinen Jungen und es bleibt ihm nichts anderes übrig, als auch diese Diskrepanz
hinzunehmen und weiter mitzumachen.
Mit Blick auf die vom Oberarzt angeführte Trennung von Rede und Praxis
lässt sich vermuten, dass gerade in Letzterem das verdeckte eigentliche Ziel der
Sozialisation solcher Patienten liegt: Sie sollen sich daran gewöhnen, dass sie
ihr Selbst- und Weltverhältnis nicht in eine befriedigende kohärente Lebensform
überführen können und ihnen nichts anderes übrig bleibt, als zu lernen, sich an
den hiermit verbundenen Zumutungen nicht zu stören.
So verstanden, zeigt sich Herr König hier durchaus als gelehriger Patient.
Seine Antwort („Ich mache mein Ding und schaue nicht nach rechts und links“)
304 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

scheint im Hinblick auf dieses verdeckte Lernziel genau die richtige zu sein.51 Im
Kontext einer psychiatrischen Zwangseinrichtung, die in erheblichem Maße die
autonome Lebensführung erschwert, bezeugt dies die vom Patienten geforderte
Compliance. Er macht sein „Ding“ und kann dadurch im Selbstverhältnis als
autonomes Subjekt erscheinen, indem er alles ausblendet, was sein Sichtfeld stört.
Unter den gegebenen Verhältnissen ist dies vermutlich nicht die schlechteste
Lösung. Freilich heißt dies aber auch, dass das prekäre Gleichgewicht dieses
Arrangements zugleich wieder in eine Schieflage gerät, sobald der Patient nicht
mehr dem psychiatrischen Regime ausgeliefert ist. Dann könnte die ‚schein-
bare Gesundheit‘ wieder das Ruder übernehmen. Der Teil, der zur kritischen
Selbstreflexion aller Verhaltensparameter auffordert, droht ohne ständige
Reaktualisierung der Patientenrolle schnell zu verblassen – allein schon des-
halb, weil keine positive Selbstwertzufuhr durch ihn zu erwarten ist. Das
therapeutische Team muss diese Position performativ – gewissermaßen durch
permanente ‚Einredung‘ und ‚Problematisierung‘ – immer wieder erneut ins
Leben rufen, um so den sozialisatorischen Kontext aufrechtzuerhalten. Die Aus-
sage der Therapeutin „Das ist ja nicht das erste Mal, dass wir so reden“ kann
damit auch als Metareflexion eines Prozesses gelesen werden, der aus den eben
benannten Gründen nie endgültig zum Abschluss kommen kann.

Es trotzdem versuchen – Paradoxien lassen sich nicht


theoretisch, sondern nur praktisch lösen
Auf den vorangehenden Seiten wurde das komplexe Selbst- und Weltverhält-
nis eines schizophrenen Patienten deutlich, der sich aus guten Gründen nicht
gänzlich als Mensch mit einer chronischen psychischen Erkrankung identi-
fizieren kann. Ebenso wurde sichtbar, auf welche Weise sich die Klinik auf diese
Dynamik bezieht, um unter diesen Bedingungen die weitere Rehabilitation des
Patienten zu ermöglichen.
Betrachten wir abschließend nochmal etwas ausführlicher die Perspektiven der
letztlich verantwortlichen Akteure.

51 
Genau das meint Luhmann mit „zweite(r) Sozialisation […] als Folge besonderer
sozialer Bedingungen, mit denen versucht wird, Sozialisation als Erziehung zu planen“
(Luhmann 2009, S. 191).
4.4  Herr König: Kapitän der Seele 305

Der Chefarzt – „Das ist so sein Kompromiss, den er eingeht.


Mal gucken, ob er das verträgt oder nicht“
Betrachten wir zunächst einen längeren Ausschnitt aus dem Interview mit dem
Chefarzt. Dieser beschreibt zunächst das Spannungsfeld zwischen der „Persön-
lichkeitsstruktur“ von Herrn König und den Einschränkungen, welche die Krank-
heit erzwinge. Wenngleich dies nicht zusammenpasse, könne geschaut werden,
ob der Patient einen „Kompromiss“ eingehen kann:

Chefarzt: Und jetzt ist natürlich das Problem, dass er von der Persönlichkeits-
struktur jemand ist, der sagt: „Arbeit ist mein Leben, ich will ordentlich verdienen.
Ich will Führung übernehmen.“ Und auf der anderen Seite hat man natürlich die
Krankheit, wo man sagt: „Das geht aber nicht mehr mit der Schizophrenie.“ Und
das ist bei ihm noch ein bisschen diese andere Geschichte. Also er kann es noch
nicht abtrennen, er kann noch nicht wahrhaben, dass die Krankheit viele Sachen von
seinen persönlichen Vorstellungen eigentlich ad acta legt oder zunichtemacht. Das
ist für ihn immer noch dieser Zusammenhang. Das ist jetzt das, wo er jetzt sagt: „Na
ja, ich fange erst mal im Baumarkt an.“ Das ist so sein Kompromiss, den er eingeht.
Mal gucken, ob er das verträgt oder nicht. Aber der hat eben, da ist es schwierig,
wenn man vorher ein bestimmtes Level erreicht hatte, beruflich und privat, und dann
durch die Krankheit wieder zurückgeworfen wird, dann kriegt man das schwer also
übereinander, deckungsgleich. Das ist einfach schwierig.
Interviewer: […] Und dann wäre es quasi in dem Sinne, wie so, wie ich jetzt, wenn
ich jetzt schwer behindert würde, und dann Enttäuschung managen müsste. […]
Und das wäre aber dann in dem Sinne nicht ein Wahn, sondern/
Chefarzt: Also das, wenn Sie jetzt, das ist ein gutes Beispiel oder bei mir jetzt, wenn
man jetzt sagt, okay, man ist an der und der Position. Jetzt kommt die Schizophrenie
plötzlich dazu. Dann hat man natürlich einen bestimmten Anspruch an sich selbst.
Und bestimmte Strukturen, die man für sich selbst angenommen hat oder umgesetzt
hat. Kriegt plötzlich die Krankheit rein, die per se ja, egal in welcher Wahnform,
die kommt, mich ja einschränkt in dem, was ich eigentlich weitermachen kann. Das
kann ich aber schwer, also ich muss es dann ja, das ist immer schwer, deckungs-
gleich zu kriegen, weil jemand, der wirklich irgendwas erreicht hat und die Krank-
heit hat und plötzlich gesagt kriegt: „Es wird bloß noch Rente oder es wird bloß
noch eine ganz kleine Tätigkeit“ – das passt ja, das geht ja nicht zusammen. Und
das ist ein Prozess, der wahrscheinlich länger dauert, als die Schizophrenie in
den Griff zu kriegen. […]. Und das Problem ist einfach, wenn er wirklich ver-
suchen würde, draußen dieses Leben von vorher wieder aufzubauen und hat die
Schizophrenie drin, ist natürlich der Ausbruch, einer der schlimmsten Sachen oder
einer der gefährlichsten Dinge ist Stress, Stress und Überbelastung. Und das wäre
dann natürlich wieder so, dass die Schizophrenie dann auch trotz medikamentöser
Einstellung auch wieder zum Ausbruch kommen kann, rein durch das, was er
seinem Körper und der Krankheit zumutet. Das ist schwierig, aber das/Bei ihm ist
es extrem schwierig, weil er wirklich diese Abstriche, die er macht, jetzt von seinem
306 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Leben, die sind noch nicht aus Überzeugung heraus. Die macht er nur, weil wir eben
einfach sagen, das wird so nichts. Dann geht der in den Kompromiss. Auch da ist es
so, dass der, dass er vom Intellekt her so ist, dass er das kann, diesen Kompromiss
machen. Der hat diese Reflexionsgeschichten, das kann er. Er kann eben nur nicht
sagen: „Okay, ich bin jetzt krank, also kann ich das nicht mehr machen.“ Das
funktioniert nicht. Das ist die Persönlichkeitsstruktur, die ihn daran hindert.
Interviewer: Genau, das kriegt er nicht zusammen?
Chefarzt: Nein.
Interviewer: Also das kann er höchstens abstrakt, aber nicht mehr konkret.
Chefarzt: Ja, er kann es sich bei uns anhören. Und wenn ich mit ihm, beim letzten
Gespräch, was ich mit ihm hatte, hat er auch gesagt, er kann es verstehen, dass
ich das sage, aber er hat eben seinen Anspruch, was er, sein Minimum, was er ans
Leben hat. Und das Minimum verträgt sich schon nicht mit einer Krankheit.

Interessant ist hier zunächst der Verweis des Chefarztes auf die „Persönlich-
keitsstruktur“ von Herrn König. Dieser Begriff bezeichnet laut dem Lexikon
der Psychologie „das zu jedem Entwicklungszeitpunkt einer Person einzigartige
Gesamtsystem“, das „aufgrund ihrer grundlegenden physischen und psychischen
Merkmale, ihrer charakteristischen Anpassungsweisen in der Auseinandersetzung
mit personinternen und personexternen Gegebenheiten sowie ihres Selbst- und
Welterlebens (Persönlichkeit)“ entstanden ist.52 So definiert, lässt die Persönlich-
keitsstruktur sich damit nicht auf einen Aspekt (etwa eine Krankheit) reduzieren,
sondern schließt die komplette Entwicklung bzw. Geschichte eines Menschen mit
ein.
Dies beinhaltet selbstredend auch, die „Enttäuschung managen“ zu müssen,
die mit einem massiven biografischen Bruch einhergeht. Wie der Interviewer
anmerkt, würde es nahezu jedem ‚normalen‘ Menschen genauso ergehen, wenn er
plötzlich mit einer schweren Behinderung konfrontiert würde, die sein bisheriges
Leben infrage stellt. Die diesbezüglichen Aspekte der Persönlichkeitsstruktur
und das hiermit einhergehende Leiden sind damit kein Ausdruck von Krank-
heit. Wie bereits Émile Durkheim in seiner berühmten Studie „Der Selbstmord“
(1973) aufzeigt, liegt die Ursache von Depression, Enttäuschung und Verwirrung
nicht immer in einer psychischen Erkrankung, sondern sie können ebenso durch
die Lebensverhältnisse oder sozialen Umstände ausgelöst werden. Enttäuscht zu
sein und im Anschluss depressiv zu werden ist genauso normal, wie der Versuch,
sein vermeintliches Schicksal durch Projektionen und andere Abwehrbewegungen

52 Lexikonder Psychologie, Spektrum der Wissenschaft. https://www.spektrum.de/lexikon/


psychologie/persoenlichkeitsstruktur/11421 (zuletzt aufgerufen am 08.12.2021).
4.4  Herr König: Kapitän der Seele 307

zu verdrängen. Von Elisabeth Kübler-Ross (1972) wissen wir, dass nahezu jeder
Mensch, der mit einer infausten Diagnose konfrontiert wird, lange noch nicht
bereit ist, das Unvermeidliche zu akzeptieren. Warum sollte man also dies von
einem als schizophren diagnostizierten Menschen verlangen, der zuvor ein
intensives und teilweise auch erfolgreiches Leben geführt hat? In diesem Sinne
kann dann auch der Chefarzt nur feststellen, dass es sich bei der Verarbeitung
einer solch massiven biografischen Krise um einen „Prozess“ handelt, „der wahr-
scheinlich länger dauert, als die Schizophrenie in den Griff zu kriegen“.
Darüber hinaus gilt aber auch: Für einen Mann, der im Wahn seine Mutter
umgebracht hat, sind die Möglichkeiten stark eingeschränkt, eigenständig auszu-
probieren, wie sich mit der Krankheit am besten umgehen lässt. Man kann Herrn
König nicht mehr die Freiheitsgrade zugestehen, die man anderen in solch einer
Krise zugestehen würde, nämlich ihm erlauben, so lange gegen die Wand zu rennen
und zu scheitern, bis er langsam das Unvermeidliche begreift. In Hinblick auf das
Risiko eines erneuten Ausbruchs der Psychose muss „Stress und Überbelastung“
vielmehr als ein wesentlicher Prädiktor erscheinen. Trotz der Medikation könne
es in stressbelasteten Lebenssituationen zu einem Rückfall kommen. Doch für eine
Persönlichkeit, die gewohnt ist, an ihre Leistungsgrenzen zu gehen, kann es „ja nicht
zusammen“ passen, „bloß“ noch „Rente“ zu wählen, oder „eine ganz kleine Tätig-
keit“ aufzunehmen. Herr König kann nicht mehr im oben benannten Sinne autonom
agieren und versuchen, seinem Lebensentwurf treu zu bleiben. ‚Normal‘ hat für ihn
entsprechend dem Sicherheitsprimat einer forensischen Klinik auch in Zukunft zu
bedeuten, krank zu sein und dies zu akzeptieren, was jedoch für ihn nicht geht.
Diese beiden Bewegungen passen nicht zusammen. In der angestrebten
Rehabilitation müssen sie jedoch in einer Praxis zusammenfinden. Das Selbst-
verhältnis des Patienten und das von der Klinik und der außerklinischen Umwelt
zu ermöglichende Weltverhältnis müssen hier in Passung gebracht werden,
was jedoch nur in Form eines Kompromisses möglich ist („Das ist jetzt das,
wo er jetzt sagt: ‚Na ja, ich fange erst mal im Baumarkt an.‘ Das ist so sein
Kompromiss, den er eingeht“). Offen bleibt jedoch, ob diese Lösung Bestand
hat, da sie für den Patienten nur als Zwischenlösung wahrgenommen wird, nicht
jedoch als längerfristige Lebensform, wie von der Klinik anvisiert. Dem Chefarzt
bleibt diesbezüglich kaum etwas Anderes übrig, als pragmatisch heranzugehen
und es zu probieren („Mal gucken, ob er das verträgt oder nicht“).
Der Bruch in Hinblick auf die Kohärenz der Selbst- und Weltverhältnisse
von Herrn König lässt sich logisch nicht lösen, und so kann auch der Chefarzt –
in Übereinstimmung mit der bereits angeführten Position des Oberarztes – nur
hoffen, dass mit der Zeit eine Art Gewöhnung eintritt, die den Konflikt abmildert
oder so abblenden lässt, dass er klinisch nicht mehr so sehr von Relevanz ist.
308 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Position des Oberarztes – „ich hoffe darauf, […] dass er


vielleicht auch ganz zufrieden ist“
Im eben benannten Sinne lassen sich auch die folgenden Interviewausschnitte
aus dem Gespräch mit dem Oberarzt lesen. Wie bereits angeführt, sieht auch er
in Übereinstimmung mit dem Chefarzt die Diskrepanz zwischen dem Selbstbild
und den Ansprüchen des Patienten und dem faktisch Realisierbaren, dennoch
hofft er, dass mithilfe der therapeutischen Begleitung die „Krankheitsakzeptanz“
funktionieren wird:

Oberarzt: Ja? Also ich hoffe darauf, dass Herr König zwar viel spricht über die
Geschäftsführertätigkeit, aber dass er vielleicht auch ganz zufrieden ist, wenn er in
irgendeiner Fachhandlung da irgendwie so ein bisschen Hilfstätigkeiten macht und
dann sagt, okay, ja? Also das hoffe ich, dass das geht.
Interviewer: Und damit zufrieden ist, immer weiter über die Großartigkeit der
Zukunft zu Fantasieren und mit dieser Fiktion dann irgendwie lebt und irgendwie
sowas.
Oberarzt: Ja gut, das wird natürlich schon längerfristig auch ein Thema bleiben.
Also da muss man gucken, wie das mit der Resozialisierung da funktioniert. Aber
dass es schon ein bisschen gelungen ist, ja, am Anfang hat er gesagt, das ist alles
unter seiner Würde diese ganze Ergotherapie, das macht er ja ein bisschen. […].
Ich denke, da wird jetzt auch nicht wegweisend was Schlimmes passieren, erwarte
ich eigentlich nicht. Ich denke eher, dass die Schwierigkeiten dann da sind in dem
Moment, wo er dann tatsächlich in den Arbeitskontext muss draußen. […] Und
wo dann sozusagen Realitätsabgleich stattfindet und so. Das muss wahrscheinlich
begleitet werden.
Interviewer: Wo es zu dieser Erwartungsenttäuschung kommen wird, die er/
Oberarzt: Ja. Möglicherweise, ja, also da weiß ich noch nicht so recht, wie das
funktioniert. Das andere ist die Wohnform, bei ihm ist es sicher so, dass er etwas
selbständiger wohnen kann vom Funktionsniveau her als vielleicht andere. Also
aber, wir hatten unsere Vorstellungen, wie zum Beispiel hier in Hamburg, halt
so Wohnungen, wo unten dann Leute noch drin sind, also so Pförtner oder so,
beziehungsweise Betreuungspersonal, die aber nicht ständig mit dem Patienten
zu tun haben, oder so ein bisschen im Blick behalten, da sowas, ja. Und mög-
licherweise kann er das dann ganz gut, konnte er das dann, könnte das ganz gut
funktionieren, diese Richtung, ja, die sie dann haben. Eine Arbeitseinbindung, die
ihn nicht überfordert und Tagesstruktur bietet und dann natürlich entsprechend die
Medikation wird eh für uns dann weitergeführt erstmal über die Ambulanz, und
Drogenprobleme hatte er in dem Sinne nicht. […] Also mal sehen, ob das dann
funktioniert, diese ganze Krankheitsakzeptanz irgendwo.

Betrachten wir hier nochmals das bereits zuvor analysierte Zitat, mit dem die
Unterscheidung zwischen Reden und Tun eingeführt wurde. Mit der Zeit lässt
sich hoffen, dass der Patient eine bestimmte Form von Spaltung verinnerlicht hat,
die gewissermaßen zwei Spuren nebeneinander laufen lässt. Die Diskrepanzen in
4.4  Herr König: Kapitän der Seele 309

Hinblick auf das Selbst- und Weltverhältnis sind damit zwar nicht verschwunden,
jedoch in einen harmlosen Modus verschoben. Auf der einen Seite erscheint
nun der Wunsch nach einer guten, dem eigenen Selbstbild angemessenen beruf-
lichen Position, auf der anderen Seite ein pragmatisches Sich-Einrichten in das,
was möglich ist. Zu einer Lebensform verbunden erscheint dann ein Mensch,
der zumindest imaginär noch das sein kann, was er sein möchte. Homolog zu
Goffmans Arbeiten zum Stigma53 wäre man damit gut beraten, die offensichtliche
Diskrepanz nicht zu benennen, um den Patienten nicht zu demütigen. Mit Blick
auf die Spaltung würde die Klinik dann auch in dieser Frage in die Koproduktion
mit dem Patienten gehen. Die „Krankheitsakzeptanz“, von der der Oberarzt am
Ende spricht, würde damit eine paradoxe Form annehmen: Zu akzeptieren würde
heißen, über die eigentlichen Punkte nicht zu sprechen und sie im Sinne von
Glaser und Strauß (1979) im geschlossenen Bewusstheitskontext zu halten – also
mit dem Tabu zu belegen, nicht darüber reden zu dürfen.
Auch das Personal tut im gemeinsamen Gespräch mit dem Patienten dann so,
als ob alles sich zum Guten entwickeln werde, wenngleich es eigentlich weiß, dass
die vom Patienten erhoffte Zukunft nicht mehr eintreten wird. Auch hier würde
der implizite Teil des Resozialisationsziels darin liegen, hinreichend oft zu zeigen,
wie man mit solchen Situationen umgeht, sodass dieser Modus hinreichend inter-
nalisiert und eine unproblematische Form der Spaltung habituell verankert ist.
Hierauf bezieht sich der Oberarzt auch in seiner prognostischen Ein-
schätzung: Er kann feststellen, dass der Patient mitzumachen beginnt („Aber,
dass es schon ein bisschen gelungen ist, ja, am Anfang hat er gesagt, das ist
alles unter seiner Würde diese ganze Ergotherapie, das macht er ja ein biss-
chen“). Vor diesem Hintergrund kann er dann zu einer Risikoabwägung gelangen.
Zumindest erscheint der Patient schon soweit eingespurt, dass nicht zu erwarten
ist, dass „wegweisend was Schlimmes passieren“ wird. Der Patient lässt sich vom
therapeutischen Team führen und damit werden seine Reaktionen und Krisen
berechenbar („erwarte ich eigentlich nicht“). Es kann gehofft werden, dass noch
weitere Schritte in diese Richtung möglich sind.
Wenngleich der Oberarzt mit Blick auf die Diskrepanz zwischen Wunsch
und Wirklichkeit54 in Bezug auf künftige Arbeitsverantwortung noch nicht „so
recht“ weiß, „wie das funktioniert“, hindert ihn dies jedoch nicht daran, die
weitere Rehabilitation anzugehen – er muss es sogar. Der Modus Operandi kann

53 Goffman (1967).
54 Damit ist immer die Wirklichkeitseinschätzung des Personals gemeint.
310 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

wiederum nicht darin bestehen, das Problem oder die Diskrepanz logisch aufzu-
lösen – dies ist nicht möglich. Der Diskrepanz wird vielmehr pragmatisch durch
eine unterstützende Praxis begegnet, die darin besteht, den Patienten zu über-
reden und ihm zu zeigen, dass es praktisch möglich ist, unter den gegebenen
Bedingungen weiterzumachen („das muss wahrscheinlich begleitet werden“).
Mit Blick auf die vorangehend herausgearbeitete Fallproblematik kann es in
dem geforderten „Realitätsabgleich“ somit nicht um Einsicht gehen, sondern
um Gewöhnung. Es wäre im konkreten Fall von Herrn König wenig erfolg-
versprechend, ihn dahin gehend zu überzeugen, dass er anders über sich, seine
Krankheit und seine Zukunft zu denken oder zu sprechen hat. Man probiert viel-
mehr aus, eine Praxis weiterzuführen, die sich bislang einigermaßen bewährt
hat, und schaut dann, ob der Patient weiterhin mitspielt („Also mal sehen, ob das
dann funktioniert, diese ganze Krankheitsakzeptanz irgendwo“).
Auch wenn es beim ersten oberflächlichen Lesen zunächst anders klingen
mag – die vagen und offen gehaltenen Äußerungen dürfen nicht vorschnell als
unprofessionell interpretiert werden. Der Oberarzt tritt hier im besten Sinne als
‚Verwalter der vagen Dinge‘ (vgl. P. Fuchs 2011)) auf. Es ist genau diese Praxis,
die unter den gegebenen Rahmenbedingungen Resozialisierung überhaupt erst
möglich werden lässt.

Position der Psychotherapeutin – „Es ist wichtig, dass er das


selber erlebt und wir das sozusagen mitbegleiten“
Kommen wir hiermit abschließend noch zu der Perspektive der Psycho-
therapeutin. Im Rahmen der Behandlungsüblichen ‚Psychoedukation‘ ver-
sucht sie beim Patienten zunächst ein Verständnis dafür zu schaffen, dass da
„eine Krankheit ist“, um ihm dann schrittweise begreiflich zu machen, welche
Möglichkeiten es aus ihrer Sicht für ihn gibt:

Interviewer: Aber was dann Zukunftsperspektiven anbelangt, hat er ja immer noch


ziemlich spezielle Vorstellungen?
Psychotherapeutin: Genau. […] Herr König ist jemand, der sich sehr durch seine
beruflichen Erfolge definiert und da ein Verständnis zu schaffen, dass da jetzt aber
eine Krankheit ist und man da nicht mehr anknüpfen kann, sondern erstmal einige
Schritte weiter unten, kleinschrittig wieder anfangen muss, zu gucken, wie belast-
bar bin ich überhaupt, was kann da gehen? Also das war auch ein langer Prozess
bei Herrn König. Am Anfang beispielsweise, er war dann in der Ergotherapie,
hat aber, also es führte kein Weg hin, dass er gesagt hat, er geht beispielsweise in
die zugewiesene Beschäftigung, wo man ja mehrere Stunden dann schon hin-
geht. Weil er immer gesagt hat, na ja, er geht ja nicht, weiß ich, töpfern oder so
und schon gar nicht für einen Euro die Stunde, weil er, ne? Er fängt halt an, keine
Ahnung, sage ich jetzt mal 10.000 € netto an oder so, um in seinen Vorstellungen
4.4  Herr König: Kapitän der Seele 311

zu sprechen und das ist eigentlich hier halt keine Arbeit. Und da hat es lange Zeit
gedauert, bis er sich dann überhaupt darauf einlassen konnte, dann doch in die
zugewiesene Beschäftigung zu gehen. Wir sind dann kleinschrittig vom Geschäfts-
führer zum Filialleiter, zum Abteilungsleiter, jetzt sind wir so, dass er sagt, okay, er
geht erstmal in den Baustoffhandel, im Rahmen einer Anstellung arbeiten, so. Also
so kleinschrittig dann halt zu gucken, wie kann es dann beruflich überhaupt weiter-
gehen, ja? Genau, das waren wichtige Schritte bei Herrn König.
Interviewer: Aber diese Idee von seiner prinzipiellen Großartigkeit, die ist ja doch
noch immer sehr ausgeprägt, war so mein Eindruck.
Psychotherapeutin: Ja, genau. Das ist allerdings, also das ist sicherlich auch,
also die Krankheit, die da auch mit reinspielt, aber im Fall von Herrn König auch
bestehende narzisstische Persönlichkeitszüge, die natürlich von der Schizophrenie
überlagert werden. Die aber, jetzt wenn die Schizophrenie, die Symptomatik ein
bisschen abgeklungen ist, natürlich schon auch da zum Tragen kommen, wo man
halt gucken muss, wie sieht es denn aus mit dem eigenen Selbstwertgefühl, mit der
eigenen Idee, wer bin ich und/Also Herr König ist jemand, der sagt ja immer über
sich, ich bin ein Workaholic, Herr König hat keine Freizeitstruktur vorher gehabt,
er hat keine sozialen Kontakte gehabt, sein Leben bestand aus Arbeit. Und das sind
halt Sachen, das musste alles geschaffen werden. Und da den Fuß in die Tür zu
kriegen, das dauert halt ein bisschen. Zu sagen, okay, maximal, ne, acht Stunden am
Tag, wenn überhaupt, wenn es geht, vielleicht geht ja auch nur eine Teilzeitstelle.
Es ist wichtig, dass Sie eine sinnvolle Freizeitstrukturierung haben, es ist wichtig,
dass Sie auch irgendwo soziale Kontakte herbekommen. Also das sind halt alles
auch Sachen, na ja, woran es dann gilt, sozusagen zu arbeiten. Und halt auch an
der eigenen Selbstwertproblematik, an den eigenen Überzeugungen, ne? Das macht
das Narzisstische ja auch irgendwo aus, diese Grandiosität und Selbstüberschätzung.
Und die Idee, ich bin halt nur wer, wenn ich der Tollste, der Beste, was auch immer
bin, ja? Und da irgendwo darüber in Kontakt oder ins Gespräch zu kommen mit
Herrn König, das hat halt eine Weile gedauert, ja.
Interviewer: Und wie geht sowas jetzt weiter?
Psychotherapeutin: Na ja, also Herr König ist ein Patient, der, wenn er in
Außenlockerung geht, extern begutachtet werden muss aufgrund des Unter-
bringungsdeliktes. Das heißt, also er ist jetzt an einem Punkt, also wo wir sagen,
er ist medikamentös recht gut eingestellt, er hat inzwischen eine realistischere
Perspektive, als es noch früher der Fall war, auch wenn natürlich Fernziel
immer noch der große Geschäftsführer sicherlich ist. Und wir haben halt viel im
Theoretischen das alles besprochen, erarbeitet und so weiter. Und nun geht es
also darum, das auch im Praktischen mehr zu erproben. Einfach, weil Herr König
dadurch ja auch merkt, wie viel geht noch, ne? Also da können wir hier lange sitzen
und reden und ich sage ihm: „Nein, ich sehe das so“ und er sagt aber: „Ich habe
doch damals.“ Es ist wichtig, dass er das selber erlebt und wir das sozusagen mit-
begleiten. Und das ist jetzt sozusagen der nächste Schritt, dieses Theoretische in
die Praxis umzusetzen und ihn dabei halt zu begleiten. […] Und wenn er da halt
die Möglichkeit hat, irgendwo anzufangen, dann würde er halt eine Zeitlang auch
hier von der Station sozusagen also zur Arbeit fahren und zurückkommen, auch
das würden wir sozusagen mitbegleiten in der Übergangszeit und würden dann
312 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

halt gucken, dass er in eine Einrichtung, ambulant betreute Einrichtung im Fall von
Herrn König zieht. […] Genau und dann würden wir das sozusagen weiter mit-
begleiten.

Zunächst wird nochmals auf die Problematik referiert, einen Mann, der sich als
leistungsstarken Workaholic definiert, dazu zu bringen, für ein paar Cent Entlohnung
in der Töpferei zu arbeiten („das war auch ein langer Prozess bei Herrn König“). Es
ist von „bestehende[n] narzisstische[n] Persönlichkeitszüge[n]“ die Rede.
Nach eigenem Bekunden geht es der Psychotherapeutin darum, an der
„Selbstwertproblematik“ und an den „Überzeugungen“ des Patienten zu
arbeiten. Doch das Ergebnis kann mit Blick auf die vorangehenden Analysen
nicht darin bestehen, dass beide Seiten zur gleichen Auffassung und Situations-
einschätzung kommen. Auch wenn sich die Psychotherapeutin wohl wünscht,
den Patienten überzeugen zu können („Ich sage ihm: ‚Nein, ich sehe das so‘ und
er sagt aber: ‚Ich habe doch damals‘“), muss sie feststellen, dass es so nicht
funktioniert („Also da können wir hier lange sitzen und reden“). Gleichzeit ist
ihr Tun nicht sinnlos, denn es eröffnet die Möglichkeit, eine Beziehung zu dem
Patienten aufzubauen und ihn damit in einer Weise begleiten zu können, dass es
ihm selbst möglich wird, die eigenen Grenzen zu erleben („dass er das selber
erlebt und wir das sozusagen mitbegleiten“).
Wenngleich im Gespräch mit dem Patienten keine geteilte Situationsein-
schätzung gewonnen werden kann, scheint sich auf der impliziten Ebene sehr
wohl bereits eine Art ‚Miteinander‘ etabliert zu haben. In diesem Sinne ist es
wohl kein Zufall, dass die Therapeutin in den wenigen Sätzen mehrfach das Wort
„mitbegleiten“ gebraucht.
Was in einer Beziehung geschieht, geht entsprechend der konditionierten
Koproduktion nicht in dem Konzept einer Interaktion auf, in der zwei Menschen
sich als Individuen begegnen, um sich wechselseitig aufeinander zu beziehen.
Vielmehr entsteht durch die Beziehung etwas Drittes, ein neues Wesen – ein
„Zwischenmensch“, wie Martin Buber es ausgedrückt hat.55 Miteinander etwas

55 
Buber führt diesbezüglich aus: „Demgemäß ist es auch von Grund auf irrig, die
zwischenmenschlichen Phänomene als psychische verstehen zu wollen. Wenn etwa zwei
Menschen ein Gespräch miteinander führen, so gehört zwar eminent dazu, was in des
einen oder des anderen Seele vorgeht, was, wenn er zuhört, und was, wenn er selber zu
sprechen sich anschickt. Dennoch ist dies nur die heimliche Begleitung zu dem Gespräch
selber, einem sinngeladenen phonetischen Ereignis, dessen Sinn weder in einem der beiden
Partner noch in beiden zusammen sich findet, sondern nur in diesem ihrem leibhaften
Zusammenspiel, diesem ihren Zwischen.“ (Buber 2002, S. 276).
4.4  Herr König: Kapitän der Seele 313

tun – und sei es nur, im Rahmen einer Psychotherapie miteinander zu sprechen –,


lässt eine neue, gemeinsam geteilte Praxis entstehen. Mit Merleau-Ponty
gesprochen, würde die psychotherapeutische Behandlung damit weniger dadurch
heilen, dass sie dem Patienten zeigt, wie man richtig zu denken und zu fühlen
hat, „sondern vor allem durch die Bindung des Patienten an seinen Arzt, in einem
neuen Existenzverhältnis“ (Merleau-Ponty 1974, S. 516 f.).
Im Sinne einer praxeologischen Perspektive (vgl. Bohnsack 2017) zählt dabei
weniger bzw. nicht nur, was miteinander geredet wird oder ob man der gleichen
Auffassung ist. Vielmehr ist auch von Bedeutung, wie miteinander umgegangen
wird und ob dabei implizit ein sozialer Raum aufgebaut wird, der Kontinuität und
Bestand verspricht – ein Raum, in dem auch Divergenzen ausgehalten werden
können und die Beziehung dennoch fortbesteht. Was dies bedeutet, wurde bereits
in der am Beispiel der zuvor diskutierten Therapiesitzung deutlich. Man ist zwar
nicht gleicher Meinung, geht aber dann doch einen gemeinsamen Weg – lässt sich
„breitschlagen“, um der sozialen Dimension gegenüber der Sache den Vorrang zu
geben.
Die Psychotherapeutin scheint um die Bedeutung der gemeinsamen
Begleitung zu wissen, wenngleich ihre Ausführungen noch dem Common Sense
verhaftet bleiben, dass Psychoedukation deshalb funktioniere, weil der Patient
irgendwann die richtige Einsicht gewinne und hiermit einhergehend die richtigen
Kognitionen und Denkfiguren aufbaue. Für die Logik der Praxis erscheint es an
dieser Stelle unerheblich, ob dies überhaupt bewusst oder reflektiert geschieht.
Die Verhältnisse sind klüger als das Bewusstsein und entsprechend mag es hin-
reichen, implizit das Richtige zu tun, also den Patienten in einer Weise „mitzu-
begleiten“, dass er über kurz oder lang in seinem tragischen Dilemma ein neues
Existenzverhältnis aufbauen kann (Abb. 4.5).

Konditionierte Koproduktion – schizophren behandeln, um


Schlimmeres zu verhindern
Versuchen wir abschließend ein Bild zu zeichnen, das auch in theoretischer
Hinsicht dem Fall gerecht wird. Der Fall König lässt sich als eine Dynamik
beschreiben, die durch die Beziehung von vier Positionen konditioniert wird:

1. Die erste Position stellt die Psychose dar. Aus dem Blickwinkel der
funktionalen Methode würde hier mit Schleiffer (2012, S.  134 ff.)
zunächst gelten, dass in der Schizophrenie das Selbst- und Weltverhält-
nis eines Menschen in besonders dramatischer Weise unter Druck gerät. Das
psychische System wird gewissermaßen orientierungslos, da es Schwierig-
keiten bekommt, sich von der Umwelt als Selbst zu unterscheiden. Es droht
314 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

betreutes
therapeutische
Wohnen
Begleitung
Selbstkontrolle
scheinbare Kapitän
Gesundheit der Seele

Realitäts-
reale Karriere imaginäre vorstellungen Faktizität
der gelebten
Vorstands- Praxis
Posten

Hilfstätigkeit

Abb. 4.5   Die Grafik verdeutlicht in vereinfachter Weise das Arrangement, auf das die
betreuenden Ärzte ‚hoffen‘. Im inneren Kreis ist die ‚Realitätsvorstellung‘ von Herrn
König dargestellt, im äußeren Kreis die Vorstellung des Personals. Beides zu verbinden
– also dass beide Parteien eine gemeinsame Vorstellung entwickeln können – gelingt
nicht. Vielmehr hofft der betreuende Arzt auf eine funktionierende Differenz zwischen
‚Darlegungen‘ und ‚Umsetzung‘. Die Realitätsvorstellungen sind dabei entkoppelt von
der Faktizität der gelebten Praxis. Gelänge dies nicht, würde das bedeuten, dass Herr
König seine Hilfstätigkeit als das ‚reale‘ Ende seiner Karriereleiter wahrnehmen würde.
Die Faktizität der gelebten Praxis würde mit seiner Vorstellung eines Vorstandsposten
kollidieren. Die Klinik hofft jedoch dies durch eine therapeutische Begleitung abfedern zu
können, denn die Desillusionierung der Wunschprojektionen käme einem Scheitern gleich
und würde eine Krise wahrscheinlich machen. Ob dies gelingt, wissen natürlich weder wir
als Forscher, noch können der Arzt oder Herr König dies voraussagen.

Kontrollverlust und damit Selbst- und Weltverlust. Wahn und Halluzinationen


erscheinen funktional gesehen als Lösung dieser tiefgehenden Identitätskrise.
Die „sogenannten positiven schizophrenen Symptome lassen sich daher als
Rekonstitutionsversuche auffassen, ermöglichen sie dem psychischen System
doch wieder, zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz unterscheiden zu
können. Dadurch wird die Anschlussfähigkeit der psychischen Ereignisse
4.4  Herr König: Kapitän der Seele 315

wiederhergestellt und somit die Autopoiesis gewahrt“56 (Schleiffer 2012,


S. 134 ff.). Für die Klinik erscheint demgegenüber der Wahn als Problem und
die von ihr angebotene medikamentöse Behandlung als Antwort.
2. Die zweite Position ist die von der Klinik angestrebte Gesundheit, die sich
dadurch auszeichnet, dass die schizophrene Symptomatik weitestgehend
zurückgedrängt wird und Kontexte vermieden werden, die einen erneuten
Ausbruch der Krankheit begünstigen könnten. Mit Blick auf die Schwere
der Delikte, die in der Psychose begangen wurden, hat die Klinik keine
andere Wahl, als hier die Macht einer totalen Institution auszuspielen, also
darauf zu bestehen, dass der Patient sich behandeln lässt und Arbeitstätig-
keiten oder Lebensweisen unterlässt, die ihn zu sehr unter Stress setzen
würden – sei es aufgrund der Nebenwirkungen der Medikamente, der sozialen
Situation hospitalisierter Psychiatriepatienten oder auch anderer Spezifika der
konditionierten Koproduktion schizophrener Leiblichkeit. Diese Position ist
für den Patienten nur bedingt attraktiv, allein schon deshalb, weil die Möglich-
keiten einer positiven Selbstwertzufuhr doch erheblich eingeschränkt sind.57
3. Die dritte Position haben wir als scheinbare Gesundheit bezeichnet und
damit eine Erlebens- oder Reflexionsperspektive benannt, die zugleich aus
einer gesunden und kranken, einer nicht-psychotischen aber auch nicht-
psychosefreien Realität besteht. Der Patient mag zwar „Appetit auf Muster“
haben und sich ein wenig den paranoiden Verschwörungstheorien hingeben,
dabei jedoch zugleich um die Problematik eben dieser Denkfiguren wissen,
um diesen nicht den Raum zu geben, dass sie handlungsinstruierend werden.
Es ist eine Perspektive, in der der Patient, wenn schon nicht verbal, so doch

56 
Und weiter: „Während es im Falle einer Wahnentwicklung, insbesondere eines Ver-
folgungswahns, gelingt, ein eindeutig adressunfähiges Subsystem Selbst (P. Fuchs 2010)
zu rehabilitieren, dürfte den Halluzinationen die Funktion einer Selbstvergewisserung sinn-
hafter Wahrnehmungen zukommen“ (Schleiffer 2012, S. 134 ff.).
57 Mit Blick auf die vorangehenden Ausführungen kann mit Schleiffer (2012, S. 139 ff.)

vermutet werden, dass auch die sogenannte Minussymptomatik psychotischer Menschen


– ihre depressive, antriebsschwache Haltung nach erfolgreicher Behandlung des Wahns –
tendenziell wiederum mit Selbstverlust einhergeht, wohingehen Wahn oder Halluzinationen
(also die Positivsymptomatik) aus Perspektive des Patienten die Bearbeitung des ursprüng-
lichen Problems darstellt. Es stellt sich der Verdacht ein, dass die übliche psychiatrische
Behandlung oftmals nicht das eigentliche Bezugsproblem adressiert, also keine wirklich
attraktive alternative Lösung für das Bezugsproblem des Selbstverlustes anzubieten hat.
316 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

zumindest handlungslogisch seine Krankheit und die damit verbundenen Ein-


schränkungen anerkennt und sich entsprechend reflektieren und kontrollieren
kann. Es wäre dann so, wie wenn man sich gestattet, sich ab und zu in Tag-
träumen zu verlieren, dies wiederum bemerkt, und sich dann wieder den
eigentlichen alltäglichen Anforderungen stellt. Diese Position ist jedoch
prekär. Einerseits erscheint sie als die Fähigkeit oder Ressource, die mit der
Psychoedukation gewonnen werden soll – nämlich eine stabile Metaposition,
aus der heraus das problematische Selbst gesteuert werden soll. Anderseits
erscheint sie aus Perspektive der Klinik als gefährliches Spiel einer ‚schein-
baren Gesundheit‘, entsprechend der sich der Patient in einer ‚falschen‘ Sicher-
heit wiegt und dann doch irgendwann wieder in die Psychose abgleitet, zumal
die Diagnose ‚Schizophrenie‘ ja mit der Annahme einhergeht, dass der Patient
auf einer tieferen Ebene Probleme habe, „seine Selbstreferenz routiniert, eben
‚selbstverständlich‘ […] zu handhaben“ (Schleiffer 2012, S. 142).
4. Die vierte Position ist die Perspektive der Interaktion, wobei aus einer
praxeologischen Perspektive davon ausgegangen werden kann, dass sich die
Beteiligten mit der Zeit aneinander gewöhnt und in ihrem Verhalten aufeinander
eingestellt haben. Hier kann dann auch action und talk voneinander entkoppelt
werden. Man lässt den Patienten reden (wie auch umgekehrt dieser gelernt
hat, das Reden der Therapeuten über sich ergehen zu lassen), um in der Praxis
jedoch in einen für beide Seiten akzeptablen Verhaltensmodus einzurasten.

Die Gesundheit erscheint als der Ort, an dem der Patient seine Krankenrolle
annimmt und gerade dadurch handlungs- und zurechnungsfähig wird, das er frei-
willig seine Medikamente nimmt und daran arbeitet, sein Leben so einzurichten,
dass Konstellationen und Kontexte vermieden werden, die seinen Zustand wieder
verschlimmern könnten. Daneben steht die Position der Psychose, in der die
Selbstreflexion kollabiert und der Wahn überhandnimmt. Die dritte Position der
scheinbaren Gesundheit wirft das Problem eines wenig souverän wirkenden Ver-
mittlers auf, der sich bemüht, von keiner Position vereinnahmt zu werden. Der
Vermittler hat zudem niemals die Chance, wirklich stark zu werden, da die Klinik
gegen ihn arbeitet, weil sie ihm aus guten Gründen misstraut.58

58 
Auf den ersten Blick mag hier eine gewisse Ähnlichkeit zu der von Bateson (1969)
beschriebenen schizophrenogenen Familienstruktur aufleuchten (s. auch Simon
1993), doch dies ist nicht mit einer Double Bind-Struktur zu verwechseln, die dem
therapeutischen Vektor der Klinik grundsätzlich entgegenläuft (siehe zu solch einem Fall
das folgende Kapitel).
4.4  Herr König: Kapitän der Seele 317

Die vierte Position erscheint demgegenüber weniger als eine reflexive


Position, denn als eine vorreflexive Haltung, ein Habitus (vgl. Bohnsack 2014),
der in einem spezifischen sozialen Feld ausgebildet wurde und gleichsam seine
Trägheit den Impulsen der anderen Felder entgegensetzt.
Diese Positionen dürfen keineswegs als objektiv gegebene Merkmale der
Psyche des Patienten verstanden werden. Herr König ist nicht ‚an sich‘ entweder
krank oder gesund. Vielmehr wird die Differenz von Krankheit und Gesundheit
erst in der Koproduktion mit der jeweiligen Umwelt sichtbar und relevant. Sie
erscheint als Differenz überhaupt erst aus der Reflexion der dritten Position. Doch
gerade diese wird primär extern produziert. Es sind Klinik, Nachbarn und Familie
(vielleicht auch Banken), die Krankheit von Gesundheit unterscheiden und ver-
suchen, den Patienten dazu zu bringen, sich entsprechend den mit dieser Unter-
scheidung einhergehenden Implikationen zu verhalten.59
Für den konkreten Menschen wird diese Differenz erst erlebbar, wenn sie
von außen an ihn herangetragen wird – spätestens dann, wenn seine eigenen
Erwartungen mit einer Umwelt kollidieren. Frau Schmidt hat sich mehr als
10 Jahre in einem viablen Ökosystem stabiler Delinquenz einrichten können, um
erst nach einigen Jahren im Maßregelvollzug die Macht der Institution in einer
Weise zu begreifen, dass sich ihr Selbst- und Weltverhältnis in neuer Weise zu
kalibrieren beginnt. Herr Volkert konnte bis zu seinem fünfzigsten Lebens-
jahr sein pädophiles Begehren noch weitgehend ungestört ausleben. Herr König
konnte zu Beginn der Einweisung noch den Wahn aufrechterhalten, dass er eine
feindliche Agentin und nicht seine Mutter getötet habe. Auch in der Klinik konnte
er zunächst noch in ein Selbst- und Weltverhältnis einrasten, aus dem heraus das
Problem der Umwelt zugerechnet wird (etwa indem die Therapeuten und Pfleger
die Verschwörung nicht wahrhaben wollten und die Ärzte ihrerseits Vertreter
der feindlichen Macht repräsentierten). Die Situation eskaliert hin und wieder.
Es kommt wiederholt zu therapeutischen Interventionen, die vom Patienten
zwar nicht gewollt, deren Faktizität aber allein schon durch die psychiatrischen
Zwangsmittel für ihn unhintergehbar sind. Dies bringt den Patienten in eine
Reflexionsposition, in der die eigenen Wahrnehmungen und die eigenen Taten ex
post als psychotisch erscheinen.
In der Gegenwart, die auf die Behandlung folgt, wie auch in den eigenen
auf die Zukunft gerichteten Projektionen erscheint der Patient für sich selbst
jedoch wieder als prinzipiell gesund: Er betrachtet sich als leistungsfähig und

59 Vgl. hierzu auch „Die moralische Karriere des Geisteskranken“ (Goffman 1973, S. 125 ff.).
318 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

zur Selbstkontrolle fähig. In der Folge wird ein Teil seiner Probleme erneut der
Umwelt zugerechnet, nicht jedoch dem eigenen Scheitern.
All dies zusammen genommen bringt es mit sich, dass das Psychotische nicht
systematisch integriert werden kann. Es gibt kein übergreifendes ‚Ich‘, das den
psychotischen wie den nicht-psychotischen Teil vereinen würde. Der Patient
versucht dieses Problem zu lösen, indem er sich für die Gesundheit entscheidet.
Er will raus aus dem Maßregelvollzug und draußen ein normales, erfolgreiches
Leben führen. Aus Perspektive der Klinik führt dies allerdings dazu, dass der
Patient erneut in die Psychose zu entgleiten droht.60 Um es aus einer funktionalen
Perspektive zu formulieren: Sich normal und selbstwirksam zu erleben, erscheint
für den Patienten als Lösung, um dem Problem des drohenden Selbstverlustes zu
begegnen. Aus Perspektive der Klinik erscheint genau dies jedoch als Problem,
das sie in Hinblick auf die anstehende Rehabilitation bearbeiten muss. Denn über
kurz oder lang hat sie den medikamentös recht gut eingestellten und kognitiv und
affektiv noch recht aktiven Patienten wieder zu entlassen.
Die Klinik weiß prinzipiell um dieses Problem, vermag es jedoch nicht
unmittelbar aufzufangen. Auch ihr steht keine übergeordnete Position der
systematischen Integration zur Verfügung. Wenn der Patient mithilfe der Psycho-
edukation über seine Schizophrenie aufgeklärt und medikamentös behandelt

60 Selbst wenn man als Psychiaterin eine psychiatriekritische Einstellung einnimmt und
die Schizophrenie für ein Artefakt der psychiatrischen Behandlung hält, kommt man
nicht umhin, dass die in Freiheit entlassenen Patienten draußen scheitern und wieder
zurückkommen, wie dann auch R. D. Laing in einem Gespräch mit Asmus Finzen fest-
stellen muss: „Unvermittelt und spontan berichtete Laing über seine Erfahrungen als
junger Assistenzarzt in einem psychiatrischen Großkrankenhaus in Schottland, die in
seinem ersten Buch, dem „Geteilten Selbst“ festgehalten sind. Er schilderte mit spür-
barer Begeisterung, wie es ihm gelungen war, eine Gruppe chronisch schizophrenie-
kranker Frauen, die untätig, wie leblos, an den Wänden der Station gestanden hatten, in
eine Gruppe von lebhaften, miteinander kommunizierenden Mitmenschen zu verwandeln
– einfach dadurch, dass er und zwei Krankenschwestern sie beharrlich und ausdauernd
wie Menschen behandelt hätten. Das aufwendigste Gerät bei diesem Rehabilitationsver-
such sei ein Teekessel gewesen – Sinnbild englischen sozialen Miteinanders. Schon damals
habe er aufgrund dieser Erfahrungen aufgehört, daran zu glauben, dass es so etwas wie
‚Schizophrenie‘ gebe. Die angeblich chronisch kranken, in Wirklichkeit aber krankenhaus-
geschädigten Patientinnen seien nach wenigen Monaten so weit gewesen, dass er sie habe
entlassen können. Aber sie seien bald zurückgekommen, weil sich draußen niemand um sie
gekümmert habe“ (Finzen 2010, S. 134).
4.4  Herr König: Kapitän der Seele 319

ist, wird er in die Situation eines gebesserten Patienten gebracht, der jetzt einen
kompetenten Umgang mit seiner Krankheit haben sollte. Die so gewonnene
Kontrolle legt ihm jedoch zugleich nahe, in die interessantere und attraktivere
Position der ‚scheinbaren Gesundheit‘ zu rutschen. Damit rücken gerade bei
einem forensischen Patienten die problematischen Aspekte der Psychose wieder
in den Horizont. Im Gegensatz zu allgemeinpsychiatrischen Patienten ist die
Hemmschwelle, es einfach mal ‚drauf ankommen zu lassen‘ und zu schauen, ob
sich in der Praxis ein tragfähiges Arrangement herausbildet, ungleich höher.
Aufgrund dieser Gesamtkonstellation hat es dann eine gewisse Plausibili-
tät, dass dem Personal nichts Anderes übrigbleibt, als mit gespaltener Zunge
zu reden. Es muss der existenziellen Situation des Patienten mit widersprüch-
lichen Botschaften begegnen, etwa indem es einerseits von ihm fordert, gesund
und autonom zu sein, um andererseits genau dies in anderen Handlungen
wieder zu unterminieren. Doppelte Botschaften und die hiermit einhergehende
Tabus können in der Praxis im Sinne des Personals funktionieren. Wenn in
ihrer Anwendung die richtigen Balancen und Dosierungen gefunden werden,
ist mit guten Gründen zu hoffen, dass der Patient sich auf Dauer an die damit
verbundenen Widersprüche gewöhnt und bei dem, was man von ihm erwartet,
einigermaßen mitmacht.
Das Behandlungsziel kann also nicht direkt (etwa indem man den Patienten
überzeugt, dass es doch besser sei, nicht mehr so hohe Ansprüche an sein
Leben zu haben), sondern nur mittelbar über Gewöhnung erreicht werden. Das
heißt, dass der Patient in soziale Praxen verwickelt wird, die irgendwann als
habitualisierte Praxen ihre eigene Wirkmächtigkeit entwickeln. Für die Klinik wie
auch für den Patienten wird es damit möglich, die psychotische Restsymptomatik
soweit auszublenden, dass ein Kompromiss möglich wird, auf dessen Basis beide
Seiten die Rehabilitation in kleinen Schritten miteinander angehen können.
Die Klinik kann nur hoffen, dass Patienten wie Herr König sich auf die
eine oder andere Weise mit dem Regime des Maßregelvollzugs arrangieren,
gerade weil ihnen kaum etwas Anderes übrigbleibt. Das heißt, sie gehen einen
Kompromiss ein, wie auch die Klinik einen Kompromiss mit ihnen eingeht.
Mit der Zeit mag es dann einfach die pragmatischere Lösung sein, sich von der
Therapeutin nach hinreichend langem Disput „breitschlagen“ zu lassen und zu
markieren, dass man nicht die gleiche Sichtweise teilt, um sich so einen Rest an
Würde zu sichern.
Fassen wir die vorangehende Analyse mit Blick auf die wesentlichen
Positionen der Leerstellengrammatik des forensischen Arrangements zusammen.
Auf der Patientenseite finden wir ein komplexes Selbst- und Weltverhältnis vor.
320 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Im Selbstverhältnis erscheinen die Positionen: (1) ‚schizophrenes Erleben‘


(„Appetit auf Muster“); (2) ‚behandelter Patient‘ (medikamentös eingestellt, die
Psychoedukation durchlaufen; (3) ‚Ich‘, das im Sinne eines ‚Kapitäns der Seele‘
davon ausgeht, sein Leben im Griff zu haben. Im Weltverhältnis erscheint die
Klinik einerseits als eine therapeutische Einrichtung, die ihn behandelt, anderseits
als eine Institution, die ihn behindert.
Aufseiten des Personals finden sich komplementäre Positionen: Diagnostisch
zeigt sich eine Restsymptomatik (1), wenngleich der Patient als recht gut ein-
gestellt gilt (2). Darüber hinaus wird seine auf Autonomie und beruflichen
Gestaltungswillen ausgerichtete Persönlichkeit gesehen (3), seine Ansprüche und
Vorstellungen jedoch als Illusion betrachtet, sowie die hiermit einhergehenden
Diskrepanzen einer Persönlichkeitsstörung zugerechnet („narzisstische Persön-
lichkeitszüge“).
All diese Positionen werden wiederum durch die gesellschaftlichen Rahmen-
bedingungen des Maßregelvollzugs konditioniert. Mit Blick auf das Recht (ins-
besondere der Maßgabe ‚Verhältnismäßigkeit‘) und dem medizinischen Auftrag
(Therapie und Rehabilitation) geht der Druck in Richtung Lockerung und Ent-
lassung. Es entsteht eine Spannung zwischen dem Anspruch der Klinik nach
erfolgreicher Rehabilitation und dem Risiko der Entlassung eines Patienten, der
Symptome zeigt, die dieser entgegenstehen.
Als vermittelnde Position (4) erscheinen die pragmatischen Aspekte der
wechselseitigen Interaktionsgeschichte zwischen dem Patienten und dem
Personal. Man hat sich aneinander gewöhnt, weiß, dass Rede und Handeln nicht
dasselbe ist (also einerseits der Patient dann doch mitmacht, auch wenn er zuvor
nicht so recht will, aber anderseits die Klinik nicht auf all dem besteht, was sie
offiziell einfordert – sie also ihrerseits Kompromisse eingeht). Um es habitus-
theoretisch zu pointieren: die Körper haben sich über die Jahre an das soziale
Feld angepasst und gewöhnt, und entsprechend braucht man nicht jeden Verweis
auf die Probleme des Bewusstseins auf die Goldwaage zu legen. Es reicht viel-
mehr aus, im Sinne der Sozialisation die Erwartungen dauerhaft am Verhalten
des anderen auszurichten und zu hoffen, dass dies im weiteren Prozess der ‚Re-
Sozialisation‘ weiterhin funktioniert.61

61 Vgl. Luhmann (2009, S. 183 ff.).


4.4  Herr König: Kapitän der Seele 321

Methodologische Bemerkung
Mit Blick auf die vorangehenden Fälle ist an dieser Stelle hinsichtlich der
Konditionierung des Arrangements durch die Interaktionsbeziehung nochmals
auf den Faktor ‚Persönlichkeitsstruktur des Patienten‘ hinzuweisen. Im Fall
von Herrn König aber auch bei Frau Schmidt zeigt sich eine starke Betonung
der Autonomie und eine Bewegung, sich von der Klinik abzusetzen und diese
wieder zu verlassen. Bei Frau Krampen stellt es sich demgegenüber anders
dar. Hier tendiert das Arrangement eher zu einem Verbleib in der Klinik. Die
Faktoren ‚Beziehung‘ und ‚Gewöhnung‘ konditionieren jeweils auf unter-
schiedliche Weise das Arrangement. In Bezug auf das Ziel der Rehabilitation
scheint sich im Fall von Frau Krampen gar das Vorzeichen zu wechseln. Dies
steht im Einklang mit der methodologischen Perspektive der Leerstellen-
grammatik und einer polykontexturalen Beschreibung der Verhältnisse.
Kausalbeziehungen zwischen zwei Faktoren bestehen nicht an sich, sondern
hängen davon ab, wie die jeweils anderen Stellen besetzt sind und welche
Werte dort angenommen werden.

Wie sich dieses Arrangement bewährt, wenn der Patient tatsächlich unbegleiteten
Ausgang bekommt, zu arbeiten beginnt und sich zunehmend aus dem Kontext
der Klinik löst, muss offenbleiben. Aus der hier eingenommenen Perspektive
erscheinen zwei Möglichkeiten wahrscheinlich: Der Rückfall in die Psychose
oder aber die Entkopplung der Ansprüche und der gelebten Praxis, wie es dann
auch der Oberarzt vermutet. Letzteres hingegen scheint nur möglich, wenn
weiterhin ein soziales Umfeld aufrechterhalten wird, das die Erinnerung an die
Psychose stetig reaktualisiert, also den Patienten daran erinnert, dass er psychisch
krank ist. Der Rückfall in die Psychose innerhalb der Beurlaubungs- bzw.
Bewährungszeitraumes müsste dann wiederum im Maßregelvollzug therapeutisch
bearbeitet werden. Hier sind vereinfacht drei Weichenstellungen denkbar:

1. Mit der Zeit würde er zu einem ‚professionellen Patienten‘, der lernt seine
Krankheit soweit in den Griff zu bekommen, dass man ihn lockern kann.
2. Er würde zu einem chronisch schizophrenen Patienten, der weitgehend in
seiner eigenen Welt lebt und wohl dauerhaft hospitalisiert bleibt.
3. Er würde zu einem forensischen Drehtürpatient, der nie den Sprung nach
‚ganz‘ draußen schafft und zwischen ‚Drinnen‘ und ‚Draußen‘ oszilliert (vgl.
den Fall Herr Molin in der anschließenden Fallvignette).
322 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

An dieser Stelle zeigt sich die besondere Tragik von Fällen wie dem von Herrn
König. Der Schizophrenie62 lässt sich nicht mehr entkommen, da die Klinik
seiner ‚scheinbaren Gesundheit‘ nicht mehr vertrauen kann und er sich dieses
Misstrauen zu eigen machen muss. Während ‚normale‘ Menschen ihre Tagträume
und Fantasien haben dürfen und unbehelligt Muster in das Durcheinander der
Welt hineinsehen können, um sich hieraus die eine oder andere bizarre Theorie
(nicht selten auch Verschwörungstheorien) zu bauen, ist nach der Diagnose ‚para-
noide Schizophrenie‘ und einer dramatischen Tat genau diese Normalität nicht
mehr möglich.
Infolgedessen hat der Patient die bisherigen Ansprüche an sein Leben (etwa
im Sinne einer normalen Berufsbiografie) herunterzuschrauben und sich damit
abzufinden. Die Frage bleibt, wie die damit verbundenen Kompromisse aussehen,
wo die Klinik darüber hinwegsehen kann, was dabei für den Patienten noch
akzeptabel ist und ob sich diese beiden Perspektiven pragmatisch verschränken
können. Es bleibt das Problem, dass bei Patienten, die sich an einer erfolgreichen
Normalbiografie orientieren (Beruf, Familie) und deren Hoffnungen weiterhin am
Präferenzwert Gesundheit ausgerichtet sind, nur schwerlich ein positives Gefühl
der Kohärenz zu erwarten ist. Ihr Selbst- und Weltverhältnis erscheint in der einen
oder anderen Weise gebrochen.

Weichenstellung: Chronifizierung der Psychose (Herr Hutter)


Herr Hutter ist hochgradig schizophren, artikuliert auch unter starker
Medikation Geschichten von einer Weltverschwörung und lebt sehr ver-
wahrlost. Während unserer Beobachtung wurde er unter Einsatz von
sechs Pflegern zum Duschen überzeugt während in der Zwischenzeit
sein Zimmer getrocknet wurde, dass er unter Wasser gesetzte hatte. Das
gesamte Zimmer ist mit Sprüchen und Symbolen vollgekritzelt. In der Ecke
befindet sich ein selbstgebauter Altar. Der Stationspflegeleiter kennt ihn

62 
Aus der von uns vorgeschlagenen systemischen Perspektive brauchen wir weder der
Psychiatrie, anderen sozialen Zusammenhängen (etwa der Familie) oder der Gesellschaft
die Ursache oder gar die Schuld am Leiden des Patienten zuzurechnen, noch sind wir
umgekehrt gezwungen, schizophrene Symptome isoliert und kommunikationsfrei in der
Psyche, im Gehirn oder gar in den Genen des Patienten zu verorten. Mit der konditionierten
Koproduktion verschränkt sich das eine mit dem anderen.
4.4  Herr König: Kapitän der Seele 323

seit fünfzehn Jahren und schildert: „Keiner geht einfach so in sein Zimmer.
Frauen würde er sofort umarmen und küssen, Männern eine reinhauen.
Außer bei einem Pfleger, den er ‚König Ali‘ nennt, da gehe er auf die Knie
und bete. Selbst für erfahrenes Personal sei dies ein besonders verrückter
Fall. Es gebe ein ‚vernichtendes‘ externes Gutachten.“
In diesem Fall scheint es für das Personal unmöglich über Therapie
oder Beziehung eine Veränderung des Arrangements zu bewirken.
Resozialisierung ist kein Thema mehr, vielmehr geht es um eine halbwegs
menschenwürdige Verwahrung des Patienten.
Das Personal hatte sich im Vorfeld überlegt, welche frische Klamotten
man ihm bereitlegt, die er besonders gerne mag. Sein Bett wurde frisch
bezogen, die Bettdecke zurückgeschlagen und ein Schokoriegel auf das
Kopfkissen gelegt. Als „Betthupferl“, wie die Pflegekraft es nannte.
Dennoch bleibt die Frage, inwiefern die forensische Psychiatrie, die
auf Rehabilitation ausgelegt ist (bzw. sein sollte), noch der richtige Ort für
Herrn Hutter ist.

Weichenstellung: ‚Drehtürpsychiatrie‘ (Herr Molin)


Herr Molin, 45 Jahre alt, ist vor 10 Jahren in den Maßregelvollzug ein-
geliefert worden, als er gewaltsam in die Wohnung seiner Nachbarin ein-
gedrungen ist. Er habe Stimmen seiner Nachbarin gehört, die ihn durch
die Wand aufgefordert haben, sie zu schwängern und ihre Familie wollte
sie mit ihm verheiraten. Irgendwann forderten die Stimmen noch mehr,
woraufhin er mit einem Hammer bewaffnet in die Wohnung eingedrungen
sei. Die Nachbarin selbst wurde jedoch nicht angegriffen oder körper-
lich verletzt. Die Polizei kam und hat Herrn Molin vorläufig in den
Maßregelvollzug eingeliefert. Dort wurde ihm eine Schizophrenie mit para-
noidem Wahn diagnostiziert. Als eher ‚leichter‘ Fall ließ er sich recht gut
behandeln und medikamentös einstellen. Der Patient gibt an, dass die Ärzte
in der Einschätzung seines damaligen Wahns recht haben, aber irgendwie
hänge er auch an seinen Fantasievorstellungen.
Herr Molin wurde mittlerweile drei Mal entlassen. Draußen neigt er
zum Konsum von Cannabis und beginnt sich merkwürdig zu verhalten. Die
Betreuer aus der Nachsorge bemerken das und weisen ihn anschließend
wieder in den Maßregelvollzug ein, wenngleich er im eigentlichen Sinne
außerhalb der Klinik niemanden geschädigt oder angegriffen hat. Was auch
324 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

immer die Gründe sein mögen, außerhalb der Klinik rutscht er aus Sicht
der Klinik immer wieder in eine Form des Problemverhaltens und zeigt
eine gewisse Affinität zu bizarren Denk- und Wahrnehmungsmustern, die
ihn wieder so krank wirken lassen, dass man ihn lieber wieder zurückholt,
wenngleich aufgrund fehlender Gefährdung anderer Menschen eigentlich
keine zwingende Indikation für die forensische Psychiatrie besteht.
Der Patient seinerseits schätzt sein Verhalten im Interview eher harmlos
ein, betrachtet den Cannabiskonsum vielmehr als Mittel zum Entspannen,
hält die schizophrenen Denkmuster einerseits im Sinne eines einsichtigen
Patienten für problematisch, kann aber anderseits auch seine Faszination
für diesbezügliche Formen des Erlebens nicht verbergen.

Weichenstellung: problematische Schuld (Herr Schechner)


Herr Schechner hat seit seinem 15. Lebensjahr psychotische Schübe und
ist zum Zeitpunkt des Interviews seit über zehn Jahren im Maßregelvollzug
untergebracht.

Interviewer: Gibt es noch etwas, was Sie sich von der Zukunft erhoffen,
was Sie jetzt nicht angesprochen haben?
Herr Schechner: Ich erhoffe, dass ich besser mit meiner Tat umgehen kann.
Dass ich vielleicht auch einmal den Grund dafür finde, warum ich es über-
haupt getan habe. Dass ich also ich … also ich stelle mir immer noch die
Frage: Warum? Warum nach der Zeit? Warum so etwas, das habe ich ja
nie gemacht. […] Ich wollte auch nicht vergewaltigen. Ich habe der Frau
noch angeboten, ihr die Einkaufstaschen zu tragen. Weil die waren ziem-
lich schwer für so eine ältere Frau. Die war 72 damals. Hat sie verneint und
dann bin ich weggegangen. Und dann habe ich plötzlich alles fallen lassen,
habe mich umgedreht, habe sie zu Boden gerissen, habe sie dann liegen
gelassen und bin dann nach Hause gerannt, habe mich nach einer Woche
gestellt. […] Aber ich möchte ja gerne wissen, warum es dazu kam.
Interviewer: Also, sich selber besser verstehen sozusagen?
Herr Schechner: Ich möchte verstehen, warum ich etwas mache, was ich
eigentlich … was mir zuwider war.
Herr Schechner: „Ich habe Angst, dass ich was mache draußen, vor mir
selbst habe ich Angst, weil ich möchte keinem Menschen etwas Böses
antun. Und die Sicherheit gibt mir auch die Mauer, so schade wie das ist.
4.5  Herr Zimmermann: In der Beziehungsfalle 325

Wenn man sagt: eine fünf/sechs Meter hohe Mauer mit Nato-Draht, das ist
kein Leben, das ist wie ein Zoo oder so. Aber es gibt mir die Sicherheit.“
(zitiert nach Feißt 2019, S. 358 ff.).

Für Herrn Schechner ist ein Arrangement entstanden, das sich dadurch
auszeichnet, sich im Selbstverhältnis die Schuld für die Tat zuzurechnen
und im Weltverhältnis die Klinik als die Instanz zu betrachten, die ihn vor
weiteren Taten schützt. Im Setting einer forensischen Klinik, die ihn per
Definitionem für schuldlos, da krank, hält, übernimmt er Verantwortung
für seine Tat, um damit für sich hinter den geschlossenen Mauern als auto-
nomer Akteur zu erscheinen, der auch im Krankheitsfalle zu wissen hat,
was er tut.
Die Klinik hat jedoch selbst nach so vielen Jahren noch auf eine Ent-
lassung hinzuarbeiten. Hierfür bedarf es jedoch irgendeiner Art der Trans-
formation der Selbst- und Weltverhältnisse, entsprechend denen der Patient
sich mit Blick auf die vergangenen Taten als unschuldig, weil damals
krank, empfindet, um jetzt als behandelt, und damit nicht mehr krank, ent-
lassen zu werden.

4.5 Herr Zimmermann: In der Beziehungsfalle

Das folgende Fallbeispiel unterscheidet sich von den vorangehenden in


einem wichtigen Punkt und dient damit im Sinne der komparativen Ana-
lyse als Kontrastfolie. Für alle zuvor behandelten Fälle stellen sich sowohl für
die Patienten als auch für das Behandlungsteam Bezugsprobleme, die zwar als
logisch nicht zu bewältigende Anforderungen erscheinen (als „widersprüch-
liche Einheit[en]“ Oevermann 1990, S. 15), aber dennoch in irgendeine Form
von pragmatischem Kompromiss münden. Auch wenn keine zeitnahe Lockerung
oder Rehabilitation in Sicht ist, wie bei Frau Krampen, rastet das Arrangement
zumindest in eine Lösung ein, die beiden Seiten das Gesicht zu wahren erlaubt
(etwa als inoffizielle soziale Indikation, die in der Ferne den Reha-Anspruch noch
mitführt).
Am Rande haben wir dabei in kurzen Fallvignetten in dieser Hinsicht aus-
sichtslose Fälle behandelt. Diese sind für unser Buchprojekt von eher geringem
Interesse, denn sie stellen das Behandlungssystem nicht mehr vor ein Dilemma,
326 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

da man ja bereits zu dem Schluss gekommen ist, in Hinblick auf Besserung nichts
mehr tun zu können und die eigenen Erwartungen darauf eingestellt hat. Damit
reduzieren sich die Probleme auf alltagspraktische Fragen. Die für die anderen
Fälle konstitutive Unsicherheit bezüglich Diagnose, weiterer Therapieoptionen
und der Entscheidung in Hinblick auf die Gewährung unbegleiteten Ausgangs
entfällt somit.
Im Fall von Herrn Zimmermann stellt sich die Situation jedoch anders dar. Er
ist medikamentös gut eingestellt, zeigt keine Symptome, die auf eine Gefährlich-
keit oder eine unbehandelte psychiatrische Problematik hinweisen. Der Patient
wirkt zudem nicht hospitalisiert und ist seinerseits durchaus bereit und willig,
die Klinik wieder zu verlassen. Dennoch gelingt es der Klinik nicht, zu einer
pragmatischen Lösung zu gelangen, die weitere Lockerungsschritte ermöglicht.
Vielmehr kommt es zu einer Art Lock-in-Situation, entsprechend der das leitende
Personal zwischen den im Maßregelvollzug aufgeworfenen Dilemmata oszilliert.
Patient und Therapeuten scheinen sich damit in einer Beziehungsfalle oder einem
Double Bind zu befinden, aus der sie nicht mehr so leicht hinausfinden können.
Unter einem Double Bind versteht man mit Gregory Bateson einen
Beziehungszusammenhang, der sich durch die folgenden Bedingungen aus-
zeichnet:

1. Es sind „zwei oder mehr Personen“ beteiligt, die die „wiederholte Erfahrung“
der folgenden Konstellation machen:
2. Es gibt ein „primäres negatives Gebot“ (etwa eine bestimmte Sache nicht tun
oder sagen zu können, ohne dafür negativ sanktioniert zu werden),
3. zu dem sich ein „sekundäres negatives Gebot“ gesellt, „das mit dem ersten auf
einer abstrakten Ebene in Konflikt steht und wie das erste durch Strafen oder
Signale verstärkt wird, die das Überleben bedrohen.“
4. Darüber hinaus besteht ein „tertiäres negatives Gebot, das dem Opfer ver-
bietet, dem Schauplatz zu entfliehen.“
5. Das hiermit einhergehende Beziehungsmuster verdichtet sich schließlich
zu einer Kommunikationsstruktur, in der die Gebote nicht mehr explizit
angerufen werden müssen, da die Beteiligten verinnerlicht und „gelernt“
haben, ihr „Universum“ in diesen „double bind-Mustern wahrzunehmen“
(Bateson 1992 [1972], S. 276 f.).

Die praktische Bedeutung dieser theoretischen Überlegungen wird in der


folgenden Falldarstellung deutlich. Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf
den jeweiligen Aspekt der eben angeführten Double-Bind Beziehung.
4.5  Herr Zimmermann: In der Beziehungsfalle 327

Das Bezugsproblem des psychiatrischen Double-Binds

Aus Perspektive eines Patienten, der seinen Alltag in der forensischen Psychiatrie
verbringen muss, lassen sich leicht Konstellationen vorstellen, die diesen
Kriterien genügen. Er ist eingesperrt und in Hinblick auf mögliche Freiheitsgrade
seines Lebens vom Personal abhängig (4). Er soll offen über seine krankhaften
und perversen Fantasien und Gedanken sprechen, falls er dies nicht tut, wird ihm
das als Therapieverweigerung negativ zu Lasten gelegt (2). Er soll normal sein,
also keine krankhaften und perversen Gedanken haben, bzw. äußern, ansonsten
kann er die Klinik nicht verlassen (3). Kurzgefasst: Wenn er offen redet, ist es
falsch, wenn er nicht offen redet, ist es ebenfalls falsch – und beides geht für
ihn mit existenziellen Konsequenzen einher. Wenn diese Struktur mit wieder-
holten Erfahrungen einhergeht (1) und sich damit zu einem spezifischen, selbst
bestätigenden Selbst- und Weltverhältnis verdichtet (5), das sich in dieser Form
immerfort reproduziert, liegt ein Double Bind vor.
Dabei ist zu beachten, dass nicht jedes Set formal widersprüchlicher
Anweisungen mit einem Double Bind einhergeht. So ist es etwa möglich, dass
therapeutische Gespräche eine Form der „Metakommunikation“ (Watzlawick,
Beavin und Jackson 1990) gestatten, die das Dilemma in einer neuen Weise
rahmen lässt. Beispielweise ließe sich offen darüber sprechen, dass die Verhält-
nisse in der Klinik einen verrückt machen können, um gerade hierdurch eine
Sphäre geteilter Normalität aufzubauen. Darüber hinaus kann der Double Bind
auch dadurch entschärft werden, dass die widerstreitenden Anforderungen an die
Patienten auf unterschiedliche Positionen im Team verteilt werden. Oder es findet
eine zeitliche Entparadoxierung statt, sodass zu unterschiedlichen Zeitpunkten
etwas anderes der Fall ist. Entsprechend geht es dann darum, zu lernen, die ver-
schiedenen Kontexte zu unterscheiden.
So mag beispielsweise ein Patient (man denke an Herrn Salier), der Delikte
gegen die sexuelle Selbstbestimmung begangen hat, nach der Einweisung
zunächst nicht offen über seine Krankheit reden, da er davon ausgeht, dass die
Offenbarung seiner ‚verwirrten‘ Fantasien die Sache nur noch schlimmer machen
würde. Er muss dann jedoch feststellen, dass sein Schweigen ebenfalls als
Indikator dafür genommen wird, dass etwas mit ihm nicht stimmt. Nach einem
Jahr beginnt er zu begreifen, dass er wohl in absehbarer Zeit die Klinik nicht
verlassen wird. In Folge des Drucks der Mitpatienten innerhalb einer Therapie-
gruppe, beginnt er über seine perversen Gedanken zu reden, die ihn die ganze
Zeit quälen. Mit der Zeit entschließt er sich für die Therapie mit einer trieb-
dämpfenden Medikation. Diese scheint anzuschlagen und er verhält sich nun dem
328 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Personal gegenüber als jemand, der von seinen sexuellen Obsessionen geheilt ist,
was als glaubwürdig gesehen und entsprechend gewürdigt wird. Schließlich kann
er nach ein paar Monaten als ‚gebessert‘ entlassen werden.

Nicht nur der Patient im Dilemma – Double Bind-


Konstellationen des Personals
Auch wenn dies in Batesons Überlegungen keine Rolle spielt, lässt sich
gedankenexperimentell die Double Bind-Konstellation auch für die Situation
des therapeutischen Personals formulieren: In Hinblick auf die eigene beruf-
liche Existenz, ihre therapeutische Aufgabe und in Bezug auf die potentiell
dramatischen Konsequenzen ihrer Entscheidungen können sie der Situation
kaum entfliehen bzw. sich der hiermit einhergehenden Verantwortung nicht ent-
ziehen (4). Sie sollen einen (potentiell) gefährlichen Patienten als gebessert ent-
lassen (2). Sie sollen einen gefährlichen Patienten nicht entlassen, insofern er
sich nicht wirklich gebessert hat. Er soll normal sein, also keine krankhaften und
perversen Gedanken haben, ansonsten kann er die Klinik nicht verlassen (3). Sie
haben keine objektiven Kriterien, um entscheiden zu können, ob der Patient sich
wirklich gebessert hat. Wenn sie ihn entlassen, ist es falsch (zu hohes Risiko)
und wenn sie ihn nicht entlassen, ist es falsch (therapeutischer Auftrag nicht
erfüllt). Insofern sich diese Struktur kommunikativ immerfort wiederholt (1) und
sich damit zu einem spezifischen, selbst bestätigenden Selbst- und Weltverhält-
nis verdichtet (5), das sich in dieser Form immerfort reproduziert, wären auch
für das (leitende) Personal Double Bind-Situationen denkbar. Der Vorteil des
Personals gegenüber den Patienten ist dann jedoch, dass sie nach Dienstschluss
die Situation verlassen können.
Die in den vorangehenden Fallrekonstruktionen vorgestellten Beispiele sind
vonseiten des Personals nicht in eine entsprechende Dynamik eingerastet. In für
Organisationen typischer Weise konnten die Widersprüche und pragmatischen
Paradoxien in der Praxis zeitlich entfaltet oder auf unterschiedliche Positionen
verteilt werden (etwa indem die Stationspflegeleitung die eine Position, der Ober-
arzt die widersprechende andere Position einnimmt und der Chefarzt dann ent-
scheidet). Das Personal konnte sich somit auf unterschiedliche Weise auf den
Patienten kalibrieren und hierfür hinreichend stabile Kriterien entwickeln, auf
deren Geltung man sich dann metakommunikativ einigen konnte.
Doch da die Psyche des Patienten immer intransparent bleiben muss und es
um existenzielle Fragen geht, bleibt der Double Bind gerade im spezifischen
Setting einer forensischen Klinik strukturell weiterhin angelegt. Die dortigen
psychiatrischen Arrangements laufen damit zumindest prinzipiell Gefahr, in
kommunikative Schleifen zu geraten, denen sich dann mit den Eigenmitteln der
4.5  Herr Zimmermann: In der Beziehungsfalle 329

Kommunikation nicht mehr so leicht entkommen lässt. Beim Personal scheint


dies insbesondere der Fall zu sein, wenn es ihm – aus welchen Gründen auch
immer – nicht mehr gelingt, Anhaltspunkte zu finden, auf die sie sich in Bezug
auf die Einschätzung ihrer Patienten in stabiler Weise beziehen bzw. kalibrieren
könne.

Die Fallrekonstruktion

Wechseln wir von den vorangehenden theoretischen Überlegungen zur Praxis und
betrachten in diesem Zusammenhang den konkreten Fall eines Patienten, der auf
der Station als „schwieriger Fall“ gilt. Als schwierig gilt er nicht deshalb, weil
der Patient besonders gewalttätig ist, keine Medikamente anschlagen oder er
besonders instabil ist. Auch solche für die Einrichtung ‚schwierigen Fälle‘ gibt
es. Herr Zimmermann hingegen nimmt seine Medikamente, verhält sich ruhig
und angepasst auf Station und macht auch sonst eigentlich „alles mit“. Schwierig,
oder „nebulös“ (wie der Stationsleiter es beschreibt) ist der Fall deshalb, weil es
bisher noch nicht gelungen ist, in ein Resozialisierungsarrangement einzurasten.
Die Einrichtung hat Probleme damit, ihn für ihre Zwecke handhabbar zu machen,
ihm habhaft zu werden.
Herr Zimmermann befindet sich seit etwa einem Jahr im Maßregelvollzug.
Er ist Mitte 50, von dünner Statur, trägt auf Station gemütliche Kleidung, wirkt
dabei aber stets gepflegt. Zuvor lebte er fast 30 Jahre in derselben kleinen Miet-
wohnung auf einem ehemaligen Bauernhof. Er ist seit seinem achtzehnten
Lebensjahr wegen einer Schizophrenie in psychiatrischer Behandlung, lebte
aber die ganzen Jahre ein ruhiges, eigenbrötlerisches Leben und wurde finanziell
von seiner Mutter und seinem Bruder unterstützt. Dieses Arrangement hat sehr
gut funktioniert, bis seine Medikation umgestellt wurde und die Probleme mit
den Nachbarn und dem Vermieter zunahmen. Es wurde des Öfteren die Polizei
gerufen aufgrund extrem lauter Musik und wüster Beschimpfungen. In den
Maßregelvollzug kam er letztlich, weil er beschuldigt wurde, im Stallgebäude des
Resthofes, in dem sich seine kleine Mietwohnung zusammen mit zwei weiteren
Wohnungen befand, vorsätzlich Feuer gelegt zu haben. Das alte Holzgebäude
samt eingelagertem Stroh brannte vollständig ab. Seine Nachbarin kam dabei ums
Leben. Er selbst trug schwere Verbrennungen davon und musste ins künstliche
Koma versetzt werden.
Als Herr Zimmermann im Krankhaus aus seiner Bewusstlosigkeit erwachte,
gab er an, sich an die Ereignisse, die zu dem Delikt geführt haben, ebenso
wenig erinnern zu können, wie an das Delikt selbst. Der Patient zeigt sich in
330 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

der forensischen Klinik, in der er anschließend eingewiesen wird, als krank-


heitseinsichtig. Er glaubt dem Personal, dass er offenbar etwas Dramatisches
getan hat. Er stimmt der Depotmedikation zu. Er ist auf Station höflich. Allen-
falls eine ‚emotionale Verflachung‘ ließe sich beschreiben, wobei dies im Kontext
einer Schizophreniestation und mit Blick auf die anderen Untergebrachten nicht
besonders auffällig erscheint. Als Negativsymptomatik der schon seit Jahrzehnten
diagnostizierten Schizophrenie sowie als Nebenwirkung der Medikation gäbe es
auch hierfür eine plausible medizinische Erklärung.
All dies wird auch zu Beginn der Behandlungsplankonferenz (BPK) von
seiner Stationstherapeutin rekapituliert. Diese Konferenz ist eine wichtige, in
dieser Klinik halbjährlich stattfindende Einrichtung, in deren Rahmen jeweils
ein Teil der Patienten ausführlich im Klinikteam besprochen wird. Dabei wird
erörtert, welche Ziele der Patient im letzten halben Jahr erreicht hat und wie es
im kommenden halben Jahr weitergehen soll. Dies ist auch der Platz, an dem
Lockerungen besprochen und bewilligt werden können. In der normalen zwei-
wöchentlichen Visite ist dies nicht möglich. Zunächst bespricht sich das Personal,
danach wird der Patient hinzugebeten. Im Anschluss trifft das Behandlungsteam
eine Entscheidung, wie es weitergehen soll.
Die BPK ist innerhalb dieser Einrichtung das zentrale Gremium, in dem über
die kleineren und größeren Weichenstellungen des Arrangements der Behandlung
beraten wird. Was hier entschieden wird, steht dann erst wieder in der nächsten
Sitzung zur Disposition, die ein halbes Jahr später stattfindet.

Das Problem: der Patient „tut, was man von ihm erwartet“


Im Folgenden werden wir immer einzelne Auszüge aus eben jener Konferenz
heranziehen. Dies ist nicht nur in Bezug auf die hiermit einhergehenden Weichen-
stellungen aufschlussreich, sondern auch dahingehend, gewissermaßen Zuschauer
des Versuchs zu werden, performativ eine gemeinsame Linie in Bezug auf den
Umgang mit Herrn Zimmermann zu finden. Anwesend sind: der Klinikleiter, die
Psychotherapeutin des Patienten, die ärztliche sowie die stellvertretende ärztliche
Leitung, die Stationspflegeleitung, ein Sozialarbeiter sowie ein Sporttherapeut.
Die Besprechung des Patienten Zimmermann beginnt mit einer kurzen
Skizzierung des Falles durch die Psychotherapeutin. Wir steigen an der Stelle in
die Sitzung ein, an der die Klinikleitung die Frage nach der „Diagnostik“ aufwirft.

Klinikleiter: Diagnostisch?
Pflege: Paranoide Psychose… schizoaffektiv …
Klinikleiter: Paranoide Psychose ist Unsinn …
Psychotherapeutin: Bei uns schizoaffektiv …
4.5  Herr Zimmermann: In der Beziehungsfalle 331

[…]
Psychotherapeutin: …. Er versucht überall durchzuschlüpfen.
Klinikleiter: Ist manipulativ … Verantwortungslos.… geht ihm schlecht, wenn er
merkt, es geht ihm an den Kragen.
Psychotherapeutin: Passt sich an… tut, was man von ihm erwartet… aber nicht
authentisch…

Auf die Abfrage der Diagnose durch die Klinikleitung, nennt die Pflegekraft
zwei Diagnosen. Eine der beiden Diagnosen wird von der Klinikleitung sofort
zurückgewiesen. Die andere wird vom Stationstherapeuten bestätigt. Dass die
Diagnostik in diesem Fall eine mehrdeutige Angelegenheit zu sein scheint, wird
einerseits daran deutlich, dass die Klinikleitung eine der beiden Diagnosen, mit
denen die Pflege auf Station seit knapp einem Jahr arbeitet, zurückweist und
andererseits dadurch, dass der Stationstherapeut angibt, dass er „bei uns“ schizo-
affektiv sei, und somit die Diagnose als etwas Situatives rahmt. Damit ist bereits
markiert, dass die Diagnose etwas ist, das zur Disposition steht.
Stationstherapeut und Klinikleitung ergänzen sich hier in den Zuschreibungen
und widersprechen sich nicht. Herr Zimmermann erfülle die sozialen Erwartungen,
die an ihn gestellt werden („passt sich an, tut, was man von ihm erwartet“).
Er scheint nicht in die Konfrontation zu gehen (sondern versucht stattdessen
„durch[zu]schlüpfen“), und wird als „verantwortungslos“ beschrieben. Er ver-
sucht aus Sicht des Personals der möglichen Verantwortung, die ihm zugeschrieben
wird und von der erwartet wird, dass er sie übernimmt, zu entkommen, dieser zu
entwischen und auch hier „durchzuschlüpfen“. Man bekommt ihn hier nicht zu
fassen. Er übernimmt nicht die Verantwortung, die ihm sozusagen hingehalten
wird. Hiermit konsistent wäre dann, dass es ihm schlecht gehe, wenn er zur Ver-
antwortung gezogen wird („wenn er merkt, es geht ihm an den Kragen“).
So gesehen „tut“ er, „was man von ihm erwartet“ und tut eben nicht, was man
von ihm erwartet. Aus Perspektive des Personals verhält er sich angepasst, sei
aber nicht wirklich angepasst – man hält ihn für „nicht authentisch“. Er soll nicht
nur ein angepasstes Weltverhältnis zeigen, sondern im Selbstverhältnis auch so
sein. Und folgt man der Einschätzung, dass es ihm schlecht gehe, wenn er zur
Verantwortung gezogen wird („wenn er merkt, es geht ihm an den Kragen“),
dann erscheint dies gerade als Anzeichen, dass er etwas zu verbergen habe – und
somit mit dem Patienten, wie vermutet, etwas nicht stimme.
Er vermeidet somit Anlässe, zur Verantwortung gezogen zu werden, indem
er sich anpasst und tut, was man von ihm erwartet. Dies wiederum gilt als nicht
angemessen, da man eigentlich von ihm erwartet, dass er nicht nur überall
„durch[zu]schlüpfen“ versuche.
332 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Den Korridor der Behandlung wechseln – „eine Diagnose


basteln“
Im weiteren Verlauf rekapituliert die Klinikleitung das Tatgeschehen und ver-
knüpft es mit einer diagnostischen Einschätzung:

Klinikleiter: Exazerbierender Verlauf in Folge der Absetzung der Medikamente …


Handlungsleitend: Psychose.
Ärztliche Leitung: … Wissen wir nicht …
Klinikleiter: […] schizophren? – was würden wir daraus für eine Diagnose basteln?
War der überhaupt psychotisch?
Pflege: … Hat nie einer als psychotisch erlebt … […]
Klinikleiter: … Keine Unrechtseinsicht … Tat war auch Rache, weil ihm nicht
gehuldigt wurde.
Pflege: Hat dann Kaffee zu überhöhten Preisen auf der Station verkauft …
Oberarzt: Narzisst … Hedonist …
Klinikleiter. Das ist sein Gut …
Oberarzt: … geht bis in die exaltierte Form seines Aussehens …
Klinikleiter: … dissozial … Machen wir den PCL:63 Kommt an den Bereich
Psychopathie … keine soziale Kompetenz.
(Die Klinikleitung geht die weiteren Positionen des PCL-Schemas durch)
Klinikleiter: … dissozial passt … kriminogen ist Risikobereitschaft, egozentrisch,
kaltblütig… situativ, durch den Nachbarn begrenzt. Hier auch: Wenn wir ihn
begrenzen, würde das Delikt begünstigend werden … das Narzisstische ist unglaub-
lich … schizophren? – was würden wir daraus für eine Diagnose basteln? War der
überhaupt psychotisch?

Die Klinikleitung wirft einleitend zunächst die diagnostische Orientierung auf,


die so auch durch den Stationstherapeuten im Einzelinterview als Sachstand dar-
gestellt wird: Der Fall ist, dass sich durch die Absetzung der Medikamente (nach
einem missglückten Versuch der Medikamentenumstellung) der Zustand von
Herrn Zimmermann massiv verschlechtert habe („exazerbierender Verlauf“) und
es deshalb zur Tat kam („handlungsleitend: Psychose“).
Während zuvor die Krankenhausleitung der Pflege widersprochen hat („Para-
noide Psychose“ – „Unsinn“) ist es hier die ärztliche Leitung, die dieser Dar-
stellung der Krankenhausleitung widerspricht. In der Folge kommt es zu einer
Suchbewegung unter den Anwesenden, die Symptome von Herrn Zimmermann
nicht als Psychose zu deuten, sondern im Rahmen einer Persönlichkeitsstörung zu
verorten. Die vom Klinikleiter verwendete Formulierung „Diagnose basteln“ trifft

63 PCL = Psychopathy Checklist.
4.5  Herr Zimmermann: In der Beziehungsfalle 333

die hiermit einhergehende Diskursbewegung recht gut. Die Pflegekraft (die zuvor
die „paranoide Psychose“ eingebracht hat) gibt nun an, dass Herr Zimmermann
bisher nie psychotisch in Erscheinung getreten sei. In Folge wird das Schema der
Psychopathie-Checkliste (PCL)64 durchgegangen, in der Kategorien wie „ober-
flächlicher Charme“, „pathologisches Lügen“, „flacher Affekt“, „fehlende Reue“,
„parasitärer Lebensstil“, „Verantwortungslosigkeit“ und anderes zu finden sind.
Was zunächst unter dem Vorzeichen der Hypothese besprochen wird, ver-
dichtet sich nach kurzer Zeit zu einer von allen geteilten (bzw. zumindest nicht
widersprochenen) Einschätzung, dass man es bei dem Patienten mit Dissoziali-
tät und Narzissmus zu tun hätte. Im weiteren Gespräch wird dann auch sein
Aussehen als „exaltiert“ gedeutet. Die Tatsache, dass er einmal Kaffee auf der
Station zu überhöhten Preisen verkauft hat, wird in einen direkten Zusammen-
hang mit dem Narzissmus gebracht und auch die Tat selbst als Akt der „Rache“
eingeordnet, weil ihm nicht „gehuldigt“ worden wäre. Kurzum: Was zuvor im
Rahmen seiner bereits seit Jahrzehnten bestehenden Psychose eingeordnet wurde,
wird nun erfolgreich in das „Schema“ Dissozialität eingeordnet.
Die Krankenhausleitung schreibt Herrn Zimmermann in diesem Kontext auch
zu, „keine soziale Kompetenz“ zu haben. Zuvor ging es jedoch noch darum,
dass er sich gut anpasse und tue, was man von ihm erwarte. Selbst unter der
Vermutung, dass er nicht authentisch sei, muss hier eine tatsächlich ‚soziale‘
Kompetenz vorhanden zu sein; nämlich – obwohl man eigentlich nicht so ist –
sich so zu verhalten, wie es von einem erwartet wird. Ebenso ist nicht plausibel,
erfolgreich kleinen Geschäftstätigkeiten auf der Station nachzugehen, wenn man
nicht gewisse soziale Fähigkeiten hat. Auffällig ist hier zudem auch, dass an
dieser Stelle der Umstand nicht mehr berücksichtigt wird, dass Herr Zimmer-
mann einen großen Teil seines Lebens relativ unauffällig, „eigenbrötlerisch“,
eben: gut angepasst gelebt hat – „Durchaus typisch für Menschen mit Psychose
halt“ wie es die Psychotherapeutin im Interview formuliert hat:

Psychotherapeutin (Interview): „Dass er so ein Eigenbrötlerdasein gemacht hat, in


einer Wohnung gewohnt. Anspruchslos, ist herumgelaufen den ganzen Tag, hatte
auch keine festen Beziehungen. Auch keine Freunde, keine Freundin. Aber so leicht
in Kontakt gekommen mit anderen Menschen, dann so, so ein typisches, ja, durch-
aus typisch für Menschen mit Psychose halt. Und wenn sie gut eingestellt sind.“

64 Vgl. Hare (2003).


334 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

An dieser Stelle wird deutlich, was psychiatrische Diagnosen gerade auch in


sozialer Hinsicht leisten. Eine Diagnose wie Schizophrenie schafft Erwartungs-
sicherheit. Sie bietet den Patienten und dem Personal Skripte an, die nahelegen,
was miteinander zu tun ist. Dies ermöglicht eine konditionierte Koproduktion
zwischen Patienten und Behandlungsregime. Ebenso wird sich die Mitwelt
mit der Zeit auf den gedämpften Modus eines eigenbrötlerischen Menschen
eingestellt haben. Zudem hat der Patient in seinem Selbstverhältnis längst
lernen müssen, dass unter den gegebenen sozialen, kognitiven und affektiven
Bedingungen die Möglichkeitsräume der biografischen Entwicklung sehr ein-
geschränkt sind. Kausal wird damit kaum mehr zu unterscheiden sein, ob seine
depressive, antriebsschwache Haltung auf die Krankheit, die Medikation oder die
fehlenden Lebenschancen zurückzuführen ist, oder ob der Patient charakterlich
vielleicht schon immer so war.
Gerade auch in diesem Sinne erschafft die Diagnose Schizophrenie
Erwartungssicherheit im Sinne der Konditionierung der unterschiedlichen
Positionen der Leerstellengrammatik des psychiatrischen Arrangements. Sie
rahmt alle Stellen und die hiermit einhergehenden Relationen in einer Weise,
dass das Grundarrangement der Behandlung feststeht. Durch das „Basteln“ an
der Diagnose im vorliegenden Fall steht nun jedoch wieder genau dieses Grund-
arrangement zur Disposition, in dem bisher gearbeitet wurde. Die durch die
Medikamente eigentlich gut eingestellte Psychose ist nicht mehr das primäre
Anliegen, um welche die Auseinandersetzung kreist, sondern das vermeintlich
merkwürdige Verhalten des Patienten, das sich gerade dadurch auszeichnet, keine
auffällige Symptomatik zu zeigen. An dieser Stelle wird das Problem der Intrans-
parenz der fremden Psyche erneut virulent. Man weiß nicht, ob man dem Bericht
des Patienten trauen kann, findet aber auch keine anderen Indizien (etwa eine
leichte Restsymptomatik), auf die man Bezug nehmen könnte.
Nach einem kurzen weiteren Austausch über die Medikation zieht der Kranken-
hausleiter eine Art Zwischenresümee, der durch die Psychotherapeutin mit einem
markanten Hinweis auf den Kommunikationsstil des Patienten kommentiert wird:

Klinikleiter: Mangelnde Compliance und Persönlichkeitsstörung … zumindest


Doppeldiagnose: Schizoaffektiv und Persönlichkeitsstörung … verantwortungslos…
Psychotherapeutin: … Teflon …
Klinikleiter: … wir werden ihm nicht Verantwortung beibringen …

Auf diese Weise erscheint nun nicht mehr nur die medikamentös gut eingestellte
Schizophrenie, sondern auch die Persönlichkeit des Patienten als Faktor, der den
4.5  Herr Zimmermann: In der Beziehungsfalle 335

Entscheidungsprozess konditioniert. Interessant ist das erneut aufkommende


Thema der Verantwortung. Mit Blick auf die medizinische und rechtliche Anlage
des Maßregelvollzuges trägt der Patient keine Schuld und ist damit auch nicht
verantwortlich für die von ihm begangene Tat – mit Referenz auf die charakter-
lichen Eigenarten eines normalen Menschen jedoch schon. Aus Perspektive
des Common Sense würde man zudem erwarten, dass sich Herr Zimmermann
zumindest aktiv darum bemüht, sich mit den Vorkommnissen auseinanderzu-
setzen – immerhin ist eine Person dabei ums Leben gekommen und erheblicher
Sachschaden entstanden. Hierdurch erscheinen zwei, einander logisch wider-
sprechende Modi der Zurechnung. So mag ihm noch zugestanden werden, dass
er damals nichts dafür konnte, was er getan hat. Jetzt hat er jedoch zu erkennen,
dass er es war. Er wird moralisch dafür verantwortlich gemacht, dass er das
Geschehene nicht auf sich, sondern – ganz gemäß der Prämisse der Einrichtung –
auf die Krankheit zurechnet. Er ist also nicht verantwortlich für die Tat, soll sich
aber verantwortlich zeigen, was ein weiteres Dilemma aufwirft.
„Wir werden ihm nicht Verantwortung beibringen“ erscheint als eine auf-
schlussreiche Formulierung. Einerseits wird damit proponiert, was die Klinik
gerne hätte, andererseits jedoch qua Krankheit ausschließt (nämlich die
Fähigkeit zur Verantwortungsübernahme). Sich schuldig fühlen oder sich an
die Tat erinnern zu müssen, ist an sich keine Kategorie der ärztlichen und
therapeutischen Behandlung – obschon Verantwortungslosigkeit (so auch in
diesem Falle) als Symptom einer Krankheit gedeutet werden kann. Die Auf-
forderung ‚Sie müssen mal mehr Verantwortung zeigen‘ verspricht aber in Hin-
blick auf das benannte Problem keine Heilung oder Besserung, denn damit wird
kein problematisches Alltagsverhalten adressiert, das er ändern könne, wenn er
nur wolle. Es scheint damit eher ein Indiz dafür, dass die Klinik es nicht schafft,
ihn wirklich als krank anzusehen und entsprechend mit ihm umzugehen.
Der Blick auf das hier zum Ausdruck kommende Arrangement offenbart, dass
sich mit der Infragestellung der Diagnose nicht nur für den Patienten, sondern
auch für das Behandlungsteam die Werte der Leerstellengrammatik verändern:
Es besteht die Erwartungshaltung, dass der Patient sich für seine Verantwortungs-
losigkeit verantwortlich zeigt. Herr Zimmermann tut dies jedoch nicht. Die Tat
selbst mag noch im Rahmen der Psychose plausibilisiert werden, die fehlende
Einsicht zum gegenwärtigen Zeitpunkt gilt jedoch hier als Störung der Persön-
lichkeit. Die Frage, inwieweit er aufgrund einer Krankheit keine Verantwortung
trägt, erscheint damit weniger als eine Eigenschaft des Patienten selber, denn als
Resultat der spezifischen Beziehung zwischen Klinik und Herrn Zimmermann.
336 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Dies wird insbesondere auch an der Metapher „Teflon“ deutlich. Da mit Blick
auf die Leerstellengrammatik per se kein Zugriff auf das Bewusstsein eines
anderen Menschen besteht, kann „Abperlen“ nicht heißen, dass der Andere sich
nicht öffnet, sondern nur, dass die Therapeutin die Äußerungen und Verhaltens-
weisen des Patienten nicht eindeutig deuten kann. Sie, wie auch die anderen Mit-
glieder des Behandlungsteams attribuieren das vom Patienten gezeigte Verhalten
in der Folge als charakterliche Eigenschaft des Patienten. Man braucht bloß den
Kontext und damit die Muster der Attribution zu wechseln, dann ist das Verhalten
von Herrn Zimmermann anders deut- und nachvollziehbar. So könnte – als hypo-
thetischer Gegenhorizont – die mangelnde performativ gezeigte Verantwortung
für das damalige Geschehen auch der affektdämpfenden Wirkung der Medikation
sowie der bereits seit Jahrzehnten erfolgenden Behandlung mit Psychopharmaka
zugerechnet werden.
Es soll an dieser Stelle nicht behauptet werden, dass diese Form des Ver-
stehens eher der Wahrheit entsprechen würde, als die seitens des Personals in der
Konferenz formulierten Versuche des Fremdverstehens. Uns geht es an dieser
Stelle vielmehr darum, darauf hinzuweisen, dass das Behandlungsteam sich
mit der Verschiebung der Diagnose selbst den Kontext seines Verstehens und
Handelns erschafft. Die Diagnose ‚Schizophrenie‘ eröffnet die Möglichkeit, den
Patienten als schuldlos zu betrachten, um ihm damit in seinen anderen Eigenarten
in symmetrischer Form als Mensch zu begegnen. Sein eigensinniges, vielleicht
eigenbrötlerisches Verhalten kann dann auf Ebene der Alltagsbeziehungen als
normal und unproblematisch erscheinen. Er ist ein behandelter Patient und darin
normal. Die ad hoc Diagnose ‚verantwortungsloser Psychopath‘ macht ihn jedoch
auf eine andere Weise normal – nämlich als ein Subjekt, das das Personal willent-
lich anlügt und andere ausnutzt –, was dann jedoch auf der Beziehungsebene
weitere Probleme erschafft.
Es geht an dieser Stelle – um es nochmals zu betonen – nicht darum, was mit
dem Patienten wirklich der Fall ist, sondern um die Weichenstellung zwischen
zwei unterschiedlichen Arrangements. Patient und Personal erschaffen sich ihre
gemeinsame Welt, die dann je nach diagnostischer Einschätzung unterschiedlich
aussehen kann.
Schauen wir auf die abschließende Sequenz aus der Vorbesprechung der
Behandlungsplankonferenz. Es wird noch kurz über die Ressourcen gesprochen,
die sich aus der familiären Situation des Patienten ergeben, auf die Eigenlogik
der üblichen Behandlung von schizophrenen Menschen verwiesen, eine weitere
diagnostische Abklärung empfohlen und nochmals die Frage der Deliktbearbeitung
und Opferempathie thematisiert, um damit zugleich zu markieren, dass es fraglich
sei, was hiermit erreicht werden könne:
4.5  Herr Zimmermann: In der Beziehungsfalle 337

Klinikleiter: Lockerung ein Thema … Zeitschiene … mindestens Mittelstrecke…


Klassisch psychiatrische Betrachtung wäre: Psychotisch. Medikation. Beobachten.
Raus. FOTRES-Beobachtung65 ändert das .… Frage, was kann man überhaupt
erreichen? … Einsicht vielleicht? Anpassung?

Die Klinikleitung scheint nicht so recht zu wissen, wie man nun vor diesem
geänderten Vorzeichen mit Herrn Zimmermann weiter verfahren sollte. Es
werden keine konkreten Änderungen innerhalb des klinischen und pflegerischen
Behandlungsregimes beschlossen. Einerseits greift die „klassisch psychiatrische
Betrachtung“ („Psychotisch. Medikation. Beobachten. Raus“) nach Aussage des
Klinikleiters, andererseits jedoch nicht. So steht am Ende als einzig konkretes
Ergebnis fest, dass Herrn Zimmermann im kommenden Jahr kein Einzelausgang
gewährt werden soll.66

65 Das „Forensisch operationalisierte Therapie-Risiko-Evaluations-System“ (FOTRES) ist


ein Instrument zur Beurteilung des individuellen Risikoprofils von Straftätern (Urbaniok
2021).
66 In der Frühstückspause des Pflegepersonals am folgenden Tag dokumentiert sich die

Ratlosigkeit, was die diagnostische Verschiebung des Arrangements nun für die konkrete
Handlungspraxis bedeutet:

Pflegerin: Was mache ich jetzt mit Zimmermann? … was besprochen wurde ist ja
therapeutisch…dissozial kann ich ja nicht bearbeiten…wurde ja nicht diagnostiziert…soll
sich prosozial verhalten … kann man ja entsprechende Pflegediagnose geben … […].
Stationspflegeleitung: … war sehr persönlichkeitslastig … der war auch psychotisch …
Psychose: Kontrolle über Spritze…Bearbeitung der Persönlichkeit … Auftrag: Biografie-
arbeit … Ziel mit [Psychotherapeutin] … nach [Klinikleiter] narzisstisch dissozial…
Pfleger: Das geht ja in eine ganz andere Richtung.
Stationspflegeleitung: …akzentuiert…der Störung nahe…
Pflegerin: Das ist ja was ganz Anderes jetzt.
Stationspflegeleitung: der [Klinikleiter] hat seine Meinung auch revidiert …Zimmermann
zeigt kein opferemphatisches Verhalten … das soll er entwickeln…
Stationspflegeleitung: … wir können nur prosoziales Verhalten trainieren…soll sich mehr
in der Gemeinschaft einbringen …
Pfleger: … Psychoedukation …
Stationspflegeleitung: … schizoaffektiv … durch Depotgabe ist er ja symptomfrei …
Pfleger: … ging davor ja auch 20 Jahre gut … hat 20 Jahre in derselben Wohnung gewohnt
… du weißt ja nicht, wie die Nachbarn waren … die davor haben sich vielleicht durch ihn
nicht gestört gefühlt oder nicht gleich die Polizei gerufen … wer weiß … vielleicht kam
das dann auch durch die neuen Nachbarn.
338 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Erwartungsenttäuschung – „Kein Kaufladen für Freigang“


Nach der Vorbesprechung durch das Personal und der Anmerkung, dass die
Zeit für eine angemessene Fallbesprechung zu knapp bemessen war, wird Herr
Zimmermann nun hereingebeten:

Klinikleiter: Haben sie sich Gedanken gemacht?


Zimmermann: … Hätte gerne Einzelausgang …
Klinikleiter: Es geht eigentlich um den therapeutischen Verlauf … Delikt … Das
hier ist kein Kaufladen für Freigang …
Zimmermann: Mache Ergo … Sport… Laufe. Kann wegen meiner Beeinträchtigung
nicht an den Gruppen teilnehmen … macht Spaß … Weiterer Werdegang: will hier
raus.
Klinikleitung: Spaß reicht nicht … aber gut, dass Sie teilnehmen … Auseinander-
setzung mit sich selbst?
Zimmermann: Kann mich nicht an das Delikt erinnern. … Mache mir natürlich
meine Gedanken, so nachts … bin ja auch nicht aus Stein … was wäre gewesen,
wenn ich die Medikamente genommen hätte …
Klinikleiter: Reicht nicht!
Zimmermann: Ja, klar. Was soll ich machen? …
Klinikleiter: Reicht nicht! … Habe mehr erwartet … Stattdessen kommen sie rein
und wollen Einzelausgang … Sie geben mir eine Fassade … bin nicht zufrieden …
Sie haben Kompetenzen … das geht …

Der Klinikleiter eröffnet das Gespräch mit einer offenen Frage, was seitens des
Patienten eine Vielzahl von Anschlussmöglichkeiten eröffnet. Doch es wird
unmittelbar deutlich, dass die Antwort von Herrn Zimmermann sowohl bezüg-
lich Form wie auch Inhalt nicht seinen Vorstellungen entspricht. Zudem markiert
er, dass die BPK kein „Kaufladen für Freigang“ sei, somit nicht nur der Wunsch
an sich unangemessen sei („es geht eigentlich um den therapeutischen Verlauf“),
sondern der Patient zugleich den Rahmen verkenne, um den es hier gehe. Auch
für den weiteren Verlauf des Gesprächs gilt mit Blick auf die Interaktionsstruktur:
Alles was der Patient sagt, ist ‚fehl am Platz‘. Die Metapher „kein Kaufladen“
könnte mit Blick auf das hiermit angedeutete Tauschverhältnis auch so gesehen
werden, dass der Patient dem Klinikleiter nichts anzubieten hat, um seinen
Wunsch nach Freigang erfüllt zu bekommen.
Dennoch lässt sich Herr Zimmermann auf das Gespräch ein. Weder wird er
unfreundlich noch widerspricht er den Entscheidungsträgern. Brav beschreibt er
die Aktivitäten, denen er nachgeht und dass diese ihm Spaß machen. Sein Ziel
sei es, aus der Klinik entlassen zu werden. Der Krankenhausleiter knüpft auf der
Inhaltsebene an, hebt die Teilnahme an den Gruppen positiv hervor, um dann
wieder zu betonen, dass dies nicht genüge („Spaß reicht nicht“). Performativ
4.5  Herr Zimmermann: In der Beziehungsfalle 339

inszeniert er sich als derjenige, der die Maßstäbe setzt, an denen der Patient sich
zu messen hat. Und er markiert, dass das Soll nicht erreicht sei.
Das Thema wechselt zur Thematisierung des Selbstverhältnisses des Patienten
(„Auseinandersetzung mit sich selbst“). Herr Zimmermann gibt an, sich nicht an das
Delikt erinnern zu können, sich aber Gedanken zu machen, da er „nicht aus Stein“
sei. Er stellt sich im Gespräch als jemand dar, der sich im Sinne des gewünschten
therapeutischen Vektors sehr wohl – wie gefordert – mit sich selbst beschäftige.
Theoretisch böte dies die Möglichkeit inhaltlicher Anschlussmöglichkeiten
seitens der leitenden Akteure (etwa im Sinne: ‚Was machen Sie sich denn dann so
für Gedanken?‘ oder ‚Sie sagen, Sie sind nicht aus Stein – geht Ihnen nahe, was
passiert ist?‘). Die Klinikleitung knüpft jedoch nicht auf der hier thematisierten
Ebene an, sondern verbleibt im Modus des Bewertens, um mit einer weiteren
Negation des artikulierten Selbst- und Weltverhältnisses des Patienten
anzuschließen. Das, was er tut, reicht auch jetzt nicht.
Der Patient affirmiert, dass er verstanden habe („Ja, klar“) und antwortet mit
der Frage, wie er sich denn jetzt zu verhalten habe („was soll ich machen?“).
Die Klinikleitung gibt keine unmittelbare Antwort, sondern formuliert Kritik
auf der Beziehungsebene, nämlich, dass der Patient enttäuscht habe („habe
mehr erwartet“) und zudem nicht authentisch antworte („sie geben mir eine
Fassade“). Unter Voraussetzung eines starken Machtgefälles wird dem Patienten
erneut demonstriert, dass er denn Sollwert nicht erfülle. Weder wird er in seinem
Bemühen um Anpassung positiv affirmiert, noch wird ihm erläutert, wie er sich
korrekt zu verhalten hätte (etwa auf die richtige Weise authentisch krank oder
authentisch unzurechnungsfähig zu sein).
Die folgende Gesprächssequenz umkreist die Frage nach der fehlenden
Erinnerung:

Leitender Oberarzt: Lassen sie mich verdeutlichen, was [Klinikleiter] meint: Sie
haben das Feuer gelegt.
Zimmermann: Weiß ich nicht … kann mich nicht erinnern … Medis.
Klinikleiter: Andere Psychotiker fackeln kein Haus ab.
Zimmermann: Natürlich … Ich weiß es nicht. Erzählungen … kann mich ab 2018
nicht erinnern … weiß nichts mehr.
Leitender Oberarzt: Erinnerungen kommen wieder … man muss sich Ankerpunkte
suchen.
Zimmermann: natürlich.
Klinikleiter: Langsam, Schritt für Schritt … das Koma ist kein Blitzdings aus ‚Men
in Black‘.
Zimmermann: Natürlich. Ja … Das wäre schön zu wissen, warum ich das getan
habe … ich sage, wenn ich die Medis weiter genommen hätte …
340 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Klinikleiter: Der Anspruch ist mehr Auseinandersetzung … Ich habe das Gefühl, Sie
haben nicht das geringste Interesse … Das reicht nicht …
Zimmermann: Natürlich … Sie können mich nicht entlassen, wenn Sie sich nicht
sicher sind.

Die Ärztliche Leitung steigt nun in das Gespräch mit ein. Sie versuchen nun
im Wechsel dem Patienten ein Geständnis abzuringen. Doch ein Konsens über
das, was damals geschehen ist, lässt sich auch auf diese Weise nicht erzeugen.
Genauer: es lässt sich weder ein Konsens noch ein Dissens in Bezug auf die
Sache herstellen. Weder affirmiert noch negiert Herr Zimmermann die suggerierte
Proposition, sondern wählt etwas Drittes: „weiß nicht“. Er sagt weder ja noch
nein – und wirft damit ein Problem auf. Mit einer Ja-Fassung als Antwort könnten
die Therapeuten weiterarbeiten, indem sie nun Reue und Mitgefühl für die Opfer
einfordern. Im Anschluss an eine Nein-Fassung könnten sie versuchen, den
Patienten zur Krankheitseinsicht zu bringen, also mit Blick auf die Beweislage
zu überzeugen, dass er es doch getan habe. Da Herr Zimmermann jedoch auf der
Amnesie beharrt, scheitert die Zurechnung und der Patient wird zum Problem.
Damit beginnt auch die Tatsache zu verschwimmen, dass Herr Zimmer-
mann gerade deshalb im Maßregelvollzug ist, weil man ihn für die Tat nicht
verantwortlich machen kann. Die Klinik vermag es nicht, das Nicht-Erinnern
an die Tat ebenfalls einer Krankheit zuzurechnen, etwa den neurologischen
Folgen des Traumas. Entsprechend verschiebt sich jetzt der Streitpunkt auf eine
andere Ebene. Es stellt sich nicht mehr die Frage, ob er es getan habe oder nicht,
sondern ob er sich erinnern könne oder nicht. Aber auch die Versuche, ihn dazu
zu animieren, sich endlich zu erinnern schlagen fehl. Dabei affirmiert der Patient,
was die Krankenhausleitung und ärztliche Leitung sagen („natürlich“), und
bestätigt die Sinnhaftigkeit des Bemühens des Personals, die Amnesie aufzuklären
(„das wäre schön zu wissen“). Was er jedoch nicht sagen kann: ‚Ich wars! Ich
habe das getan!‘ Was er sagen kann, ist: ‚Es wäre schön zu wissen, was passiert
wäre, wenn ich die Medikamente nicht abgesetzt hätte.‘ Damit ist er aus der
Schusslinie der direkten personalen Verantwortungsübernahme, und bestätigt –
wenn auch nur indirekt – dass er auch davon ausgehe, das Feuer gelegt zu haben.
Direkt kann er dies jedoch – aus welchen Gründen auch immer – so nicht sagen.
Und genau darum ging es bereits in der Vorbesprechung: Kann er sich wirklich
einfach nicht erinnern? Oder hält er konsequent eine Fassade aufrecht?
Mit dem Verweis, dass es keinen Gedächtnis-Löscher wie in der bekannten
Science-Fiction Komödie gebe („das Koma ist kein Blitzdings aus ‚Men in
Black‘“), stellt der Klinikleiter auf inhaltlicher Ebene die Aussage des Patienten
4.5  Herr Zimmermann: In der Beziehungsfalle 341

erneut infrage und markiert somit auf der Beziehungsebene, dass er den
Erwartungen nicht genüge.
Auch diesmal widerspricht Herr Zimmermann nicht. Er geht nicht in die
Opposition, indem er beispielsweise erklärt, dass er sich sehr wohl mit der Tat
auseinandersetze, oder dass er sich eben damit nicht auseinandersetzen könne,
weil er sich nicht erinnere. Er bestätigt performativ die Äußerung der Kranken-
hausleitung („natürlich“) und zeigt damit Verständnis für deren Position. Er
wechselt damit die Ebene, weg von der konkreten Auseinandersetzung über
sein persönliches Erleben, hin zur Perspektive einer forensischen Klinik, die es
mit gefährlichen Patienten zu tun hat („Sie können mich nicht entlassen, wenn
Sie sich nicht sicher sind“), und demonstriert, dass er dies nachvollziehen kann.
Auf der Beziehungsebene schließt er damit positiv, d. h. verstehend an. Doch dies
wird seitens der Klinikleitung nicht affirmiert. Vielmehr wird in der folgenden
Sequenz erneut das Verhalten des Patienten problematisiert:

Klinikleiter: Ihnen ist es wichtig, dass Sie gut versorgt sind … Sie können gut für
sich sorgen. Ich finde es schwierig, Kaffee zu verkaufen.
Zimmermann: (lacht beschämt): Habe damals Kaffee verkauft … musste den Kaffee
ja auch bezahlen … Ich gebe mein Wort, mache ich nicht nochmal …

Die Krankenhausleitung spielt hier auf etwas an, was bereits in der Vor-
besprechung thematisiert wurde. Herr Zimmermann habe auf Station zu über-
höhten Preisen Kaffee verkauft. An dieser Stelle funktioniert nun im Kleinen, was
von dem Patienten in Hinblick auf die Brandstiftung verlangt wird: er gibt zu,
dass er es war und dass er es nicht mehr tun werde. Er kann sich erinnern, leugnet
den Sachverhalt nicht und gelobt Besserung.67

Unbeantwortbare Fragen – „Nicht können oder nicht wollen?“


Dies ändert jedoch nicht die Charakteristik des bisherigen Arrangements, wie in
der folgenden Schlüsselstelle nochmals pointiert zum Ausdruck kommt:

67 Das Problem bezüglich der abgebrannten Scheune hingegen ist, dass es keine objektiven
Beweise gibt, dass er es war. Weder gibt es Zeugen, noch gibt es eindeutige Spuren, die
eine objektive Wirklichkeitsauffassung herstellen könnten. Auch wenn alles dafürspricht,
dass Herr Zimmermann die Scheune angezündet hat – sicher kann sich das Personal auch
hier nicht sein.
342 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Klinikleiter: Sie ziehen sich darauf zurück, dass Sie krank sind. Das geht nicht.
Zimmermann: Kann ich nicht beantworten.
Klinikleiter: Kann ich nicht oder will ich nicht?

Die Aussage der Klinikleitung ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Die


Krankenhausleitung konfrontiert Herrn Zimmermann mit ihrer These, dass
er sich darauf zurückziehe, krank zu sein, – und, dass er das nicht dürfe. Sich
darauf zurückziehen, krank zu sein, ist gerade mit Blick auf psychische Krank-
heit eine vorrausetzungsreiche Sache. Psychische Krankheit impliziert, nicht
zurechnungsfähig zu sein (je nach Krankheit aus unterschiedlichen Gründen).
Mit der vorwurfsvollen Frage („Kann ich nicht oder will ich nicht?“) wird ihm
aber zugerechnet, dass er sich selbst absichtsvoll für unzurechnungsfähig hält
– und damit aber zurechnungsfähig sein müsste. Dies hat den eigentümlichen
Charakter von Münchhausen, der sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf
zieht. Wenn der Patient im Modus des So-tun-als-ob im Sinne des zugerechneten
Vorwurfs handeln könnte, dann wäre er nicht krank, denn er würde ja nur so tun.
Hätte er aber aufgrund des Hirntraumas eine Amnesie, würde er qua definitionem
nicht über die Fähigkeit verfügen, die es bräuchte, um eine Krankheit als Ent-
schuldigung vorzuschieben. Der Klinikleiter unterstellt beides: Krank sein und
sich willentlich darauf zurückzuziehen, um dann auf der Beziehungsebene die
getroffene Wahl zu negieren („Das geht nicht“).
Die Eigentümlichkeit der Aussage des Klinikleiters wird noch deutlicher,
wenn wir uns ihr gedankenexperimentell anhand anderer Antwortmöglichkeiten
nähern. Im machtstrukturierten Kontext der halbjährlichen Behandlungskonferenz
formuliert dieser: „Sie ziehen sich darauf zurück, dass Sie krank sind. Das geht
nicht.“ Würde der Patient jetzt antworten: ‚Nein, das tue ich nicht‘, wäre dies die
Negation der Proposition des mächtigsten Akteurs der forensischen Klinik und
damit auf der Beziehungsebene der Einstieg in eine Konfrontation, die kaum ver-
sprechen würde, zugunsten des Patienten ausgehen zu können. Auf Beziehungs-
ebene würde der Patient sich also nicht so verhalten, wie es die Situation verlangt,
gleichzeitig aber inhaltlich die richtige Antwort geben, indem er den Vorwurf
des falschen Verhaltens zurückweist. Zudem würde die Antwort ‚Nein das tue
ich nicht, ich bin krank‘ oder ‚doch, wie sie sehen geht das‘ gerade performativ
demonstrieren, dass er nicht krank ist. Die Antwort ‚sie haben recht, genau das
tue ich‘ würde ebenfalls nicht funktionieren. Zwar würde er dem Personal die
erhoffte Bestätigung ihrer Vermutung liefern, zugleich jedoch zugeben, dass er sie
bisher immer getäuscht hätte und ihm deshalb aus gutem Grund nicht mehr zu
trauen wäre.
4.5  Herr Zimmermann: In der Beziehungsfalle 343

Es handelt sich um eine klassische Double-Bind Situation, in der ein Mensch


von einer Instanz, von der er existenziell abhängt (hier die Klinik, die über seinen
Freiheitsentzug bestimmt) mit einer Situation konfrontiert wird, in der er nur
falsch agieren kann.
Genau deshalb ist auch Herr Zimmermanns Antwort sowohl auf der inhalt-
lichen Ebene plausibel wie dem Beziehungskontext angemessen: „Kann ich nicht
beantworten“. Denn die Frage ist strukturell unbeantwortbar.
Für den Klinikleiter würde sich hier zumindest theoretisch die Möglichkeit
ergeben, den bisherigen Gesprächsverlauf metakommunikativ aufzugreifen. Er
könnte etwa sagen: ‚Ja, wenn ich Ihnen die ganze Zeit unbeantwortbare Fragen
stelle, dann können Sie die natürlich nicht beantworten. Aber was ich jetzt
sehe, ist, dass Sie gut mit Druck umgehen können. Auch kognitiv scheinen Sie
mir recht fit. Wir haben wohl die richtige Dosis der Medikation gefunden und
vielleicht hängt die Amnesie ja auch mit dem Hirntrauma zusammen.‘ Hier-
mit würde sich die Möglichkeit ergeben, wieder in das Regime der „klassisch
psychiatrischen“ Behandlung psychotischer Patienten zurückzukehren.68
Durch die Wahl dieses Arrangements, würden beiden Seiten wieder ein Stück
Erwartungssicherheit zurückerlangen.
Mit Blick auf die zuvor ‚gebastelten‘ Diagnosen bestätigt die Antwort des
Patienten jedoch in dem vorherrschenden Kommunikationszusammenhang
wieder nur die These, dass dieser eine „Fassade“ aufrechterhalte und versuche,
überall „durchzuschlüpfen.“
Jedenfalls hakt auch die Klinikleitung im Sinne dieser Lesart ein, indem sie
nun die Unterscheidung zwischen ‚Können‘ und ‚Wollen‘ einführt („kann ich
nicht oder will ich nicht“). Auf diese Weise artikuliert, lässt diese Frage nicht
einmal in Erwägung ziehen, dass es dem Patienten tatsächlich nicht möglich ist,
eine Antwort zu geben. Und auch die Äußerung „will ich nicht“ unterstellt beim
Patienten ein zurechnungsfähiges Selbst, das auch anders wollen und handeln
kann (Abb. 4.6).

68 
Es ist aufgrund der sehr machtstrukturieren Interaktion nicht zu erwarten bzw. sehr
unwahrscheinlich, dass ein Versuch der metakommunikativen Rahmung auf Initiative
des Patienten Erfolg haben könnte, deshalb verzichten wir an dieser Stelle darauf, dies
gedankenexperimentell durchzuspielen.
344 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

keine Erprobung
Lockerung im Freigang
+ +

+ angepasstes
Verhalten

Lügner +
keine
Symptome +
+ +

Psychopath Diagnose Schizophrenie

Sympathie Gruppen- Aktenlage


dynamik

Abb. 4.6   Die Grafik zum Fall Zimmermann illustriert zunächst wieder die Problematik
der Intransparenz der fremden Psyche. Niemand kann in das Bewusstsein des Patienten
hineinschauen. Man weiß nicht, ob er simuliert oder lügt. Das angepasste Verhalten
lässt sich nicht in einer Weise deuten, die in eine eindeutige Diagnose und Prognose ein-
rastet. Anders als bei Herrn Salier ist es dem Behandlungsteam hier jedoch weder mög-
lich, sich für eine Diagnose zu entscheiden, noch sich auf das Verhalten des Patienten zu
kalibrieren. Die therapeutische Kommunikation wird hierdurch prekär, da jede Artikulation
des Patienten gleichsam durchgestrichen, d. h. in Hinblick auf die hiermit einhergehende
Möglichkeit des Verstehens negiert wird

Bewusstes Unbewusstes – „Abwehrmechanismen“


Genau an dieser Stelle setzt der ärztliche Leiter im weiteren Gesprächsverlauf an:
Klinikleiter: Möchte etwas klären … es gibt keinen Anhaltspunkt, dass als Folge des
Komas das Gedächtnis weg ist …
Zimmermann: … hat man mir im Krankenhaus gesagt, dass wenn es nach 3-6
Wochen nicht wiederkommt, dann vielleicht nie wieder …
Klinikleiter: Abwehrmechanismen …
Zimmermann: Natürlich …
Klinikleiter: Möchte auch nicht mit Ihnen tauschen … das ist ein Konflikt … da
müssen Sie durch…
Zimmermann: Ja, klar, natürlich …
4.5  Herr Zimmermann: In der Beziehungsfalle 345

Der Klinikleiter gibt hier an, etwas „klären“ zu wollen. Damit setzt er einen
kommunikativen Rahmen für das, was folgt. Wie bereits in den Aussagen zuvor,
konfrontiert er Herrn Zimmermann mit einer vermeintlichen Realität, zu der er
selber positivsprachlich keinen Zugang hat, sondern die er nur behaupten kann.
Er argumentiert ex negativo, es gäbe keinen Anhaltspunkt für einen Gedächtnis-
verlust infolge des Komas. Dies ist jedoch kein Beweis dafür, dass das Gedächt-
nis in diesem Fall wirklich noch da ist. Medizinisch ist eine Amnesie nach einem
mehrmonatigen Koma durchaus plausibel. Zudem stellt sich weiterhin das grund-
legende Problem, dass zu den Tatsachen, die sich in einem fremden Bewusstsein
abspielen, kein Zugang besteht. Man kann dem Anderen Glauben schenken oder
nicht. Man kann es aber nicht wissen.
Deutlich wird, dass Herr Zimmermann erneut den offenen Widerspruch ver-
meidet. Er sagt nicht: ‚Aber mein Gedächtnis ist weg, glauben Sie es mir.‘
Sondern: Man habe ihm „im Krankenhaus“ gesagt, dass es beim ihm sein könnte,
dass es „vielleicht“ niemals wiederkäme. Der Patient verweist damit auf die
Unbestimmtheit in Hinblick auf die epistemische Ebene, ohne damit auf der
Sachebene dem Klinikleiter zu widersprechen.
Auch hier schließt die ärztliche Leitung nicht inhaltlich an die Antwort von
Herrn Zimmermann an (etwa: ‚Vielleicht kommt das Gedächtnis ja irgendwann
noch, vielleicht aber auch nicht‘). Sie rahmt seine Äußerung vielmehr im psycho-
dynamischen Sinne als Ausdruck von „Abwehrmechanismen“. Der Verweis auf
die Funktion des Verdrängens ist gerade an dieser Stelle interessant, denn hinter
der mit diesem Vorwurf einhergehenden Interaktionsstruktur steckt wieder eine
paradoxe Figur: Wenn das Nicht-Erinnern wirklich ein Abwehrmechanismus im
psychologischen Sinne wäre, dann würde er sich ‚wirklich‘ nicht mehr erinnern
können. Denn die Konzeption der Abwehr nimmt das Nicht-Erinnern als gegeben
an. Dass etwas verdrängt wird – und auch was verdrängt wird –, ist aber nur dem
Beobachter, der diese Unterscheidung trifft, zugänglich, nicht jedoch der ver-
drängenden Person selbst.
Wenn der Patient dem ärztlichen Leiter jetzt in einem authentischen Sinne
das Bewusstwerden von verdrängtem Material inhaltlich bestätigen würde
(etwa: ‚Ja, Sie haben recht, das ist nur ein Abwehrmechanismus, eigentlich sind
da die schrecklichen Bilder und Gefühle.‘), dann müsste es ja zur Krise, zum
Zusammenbruch des Patienten kommen, weil die Abwehr des Angriffs nicht mehr
erfolgreich wäre. Die Selbst-Beobachtung des Abwehrmechanismus als Abwehr-
mechanismus würde ihn dysfunktional machen und ihm seine Grundlage ent-
ziehen.
Die Antwort „natürlich“ kann damit keine inhaltliche Bestätigung des ärzt-
lichen Leiters darstellen, sondern ist vielmehr wie bereits zuvor im Sinne einer
346 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

komplementären Beziehung nur als formale Konklusion zu interpretieren. Dies


ermöglicht ein halbwegs konfliktfreies Prozessieren des Gesprächs, indem das
Gegenüber in seinen Aussagen bestätigt wird, ohne auf Ebene des eigenen Selbst-
verhältnisses die hiermit verbundene Einschätzung (bzw. Zumutung) teilen zu
müssen.
Der weitere Anschluss des Psychiaters ist bemerkenswert, denn hier wird
deutlich, dass er das Nicht-Erinnern seines Patienten gerade nicht als psychischen
Abwehrmechanismus eines Selbst behandelt, das sich vor einer Gefahr schützt,
indem es gefährliche Bewusstseinsinhalte ausblendet. Er behandelt es als einen
bewussten und strategischen Abwehrmechanismus, der rational und willentlich
gesteuert ist. Die Formulierung „da müssen Sie durch“ verweist genau darauf,
dass man aus Sicht des Klinikleiters in dieser Sache mit ärztlicher oder psycho-
therapeutischer Hilfe nicht weiterkommt – die Verantwortung für den Verlauf
liege allein beim Patienten.
Interessanterweise greift keine der Ärztinnen oder Therapeuten das Nicht-
Erinnern im Sinne des psychoanalytischen Diagnose-Therapie-Schemas auf (etwa
im Sinne: ‚Ja, Sie erinnern sich nicht. Ich fühle mit Ihnen. Es muss schlimm sein.
Doch das nennen wir Abwehr. Das heißt, dass Ihr Nicht-Erinnern Ausdruck ihrer
psychischen Krankheit ist. Deshalb können wir Sie noch nicht rauslassen‘). Auch
diese Möglichkeit, in eine eindeutige diagnostische Weichenstellung einzurasten,
die für beide Seiten mehr Erwartungssicherheit geben könnte, wird im weiteren
Verlauf nicht wieder aufgegriffen.
Herr Zimmermann bestätigt wieder mit „Ja, klar, natürlich…“, um damit
zu markieren, dass er formal versteht. Die BPK ist damit schon fast am Ende.
Blicken wir auf den letzten Wortwechsel:

Klinikleiter: Es geht um Gefährlichkeit … kann Sie nicht einschätzen … die


Abwehr.
Zimmermann: Natürlich, bin ich dabei…
Klinikleiter: … Frau [Name der Psychotherapeutin] begleitet Sie. Aber Sie müssen
mit den Themen selbst kommen …
Zimmermann: Natürlich…
Klinikleiter: Kurze Frage: Wie geht es Ihnen jetzt?
Zimmermann: Es geht … werde versuchen, mich zu erinnern … habe ja ein halbes
Jahr Zeit.69

69 
Anmerkung: bis zu nächsten Behandlungsplankonferenz (BPK), die ein halbes Jahr
später angesetzt ist.
4.5  Herr Zimmermann: In der Beziehungsfalle 347

Es geht um Gefährlichkeit und Einschätzbarkeit (und nicht um etwas Anderes).


Dies sind die Referenzen, die von der Klinikleitung nochmal als explizite
Kriterien markiert werden. Die Stationstherapeutin „begleitet“, aber die Ver-
antwortung für den weiteren Verlauf wird Herrn Zimmermann zugeschrieben, der
jedoch strukturell kaum anders kann, als sich in einer Position einzurichten, die
sich dadurch auszeichnet, keine Antwort finden zu können und zugleich allem
zuzustimmen („Natürlich, bin ich dabei“).
Das hier zum Ausdruck kommende therapeutische Arrangement erweist sich
als ein Double Bind – als ein Konflikt, der auf der oberflächlichen Ebene die Ent-
scheidung zwischen zwei Optionen verlangt, bei näherem Hinsehen jedoch deut-
lich wird, das keine Option gewählt werden kann. Dies gilt unabhängig davon,
ob Herr Zimmermann sich wirklich nicht erinnern kann (Amnesie), sich nicht
erinnern will, weil es für ihn psychisch zu belastend ist (Verdrängung) oder
anfangs nur etwas vorgespielt hat und jetzt nicht mehr so leicht aus der Nummer
rauskommt (Als-ob-Modus).
Wir dürfen zudem nicht vergessen, dass wir es mit einer existentiellen
Angelegenheit zu tun haben. Herr Zimmermann ist gerade deshalb in der
Beziehungsfalle, weil er sich nicht lediglich in einer kleineren Angelegenheit –
wie zuvor Herr König mit Blick auf die Arbeitstherapie – „breitschlagen“ lassen
kann. Er muss gleichsam sein gesamtes Sein in die Waagschale werfen, da es
um ihn selbst, um seine Identität und Zukunft geht. Und deshalb bleibt ihm auch
zum Abschluss des Gesprächs wohl nichts anders übrig, als eine Form zu finden,
sich nicht entscheiden zu müssen. In diesem Sinne stimmt, was die Klinikleitung
beobachtet: er versucht ‚durchzuschlüpfen‘. Die Gründe hierfür erscheinen nun
jedoch in einem anderen Lichte.
Sein Selbst- und Weltverhältnis kommt gerade deshalb in dieser Weise zum
Ausdruck, weil er schon längst auf existenzielle Weise Bestandteil dieses Arrange-
ments geworden ist. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als die Lebensform eines
zugleich authentischen wie nichtauthentischen forensischen Patienten zu leben,
der in einem Zwangskontext behandelt wird, in dem die für ihn signifikanten
Anderen (Ärzte und Therapeuten) sich auf ihn einzustellen versuchen (u. a. indem
sie „Diagnosen basteln“). Im Anschluss an Plessner (1964) würde die Bedingung
der Möglichkeit authentischen Verhaltens dann vor allem in klaren Rollen-
beziehungen bestehen (vgl. auch T. Fuchs 2002). Es gelingt dem psychiatrischen
Regime hier jedoch nicht, sich in einer Weise auf Diagnosen und den hiermit ein-
hergehenden Therapieoptionen festzulegen, dass es handlungsfähig bleibt – und
hiermit einhergehend dem Patienten eindeutige Identifikationsmöglichkeiten
anbietet, in denen er ‚authentisch‘ erscheinen kann. Im Sinne der konditionierten
Koproduktion wäre das „Teflon“-Verhalten von Herrn Zimmermann damit als
348 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

funktionale Antwort auf die widersprüchlichen Kommunikationsangebote zu


sehen, was seinerseits die uneindeutigen diagnostischen und therapeutischen Ein-
schätzungen des Patienten durch das Personal bestätigt (Abb. 4.7).

Moral

narzistische keine
Simulation Persönlichkeit Empathie
Dissozialität oder Reue

diagnostische bewusste Amnesie symptomatisch körperliche


Zweifel Strategie Deprivation

keine
angepasstes Schizophrenie
psychotischen
Verhalten
Symptome

gute
medikamentöse
Einstellung

Abb. 4.7   Wie bereits in der vorangehenden Grafik verdeutlicht wurde, lässt sich das
angepasste Verhalten nicht in einer eineindeutigen Weise verstehen und interpretieren.
Einerseits könnte man Herrn Zimmermann als klassischen psychisch kranken Straftäter
einordnen. Die Amnesie würde als Symptom der Schizophrenie oder des Komas gewertet
und seine mangelnde Empathie gegenüber dem Opfer als Folgeerscheinung einer bereits
seit dreißig Jahren erfolgenden Medikamenteneinnahme. Damit wäre die Sachlage klar,
allerdings mit dem moralischen Wermutstropfen der mangelnden Opferempathie. Ein
solches Arrangement steht zwar im Raum, das Behandlungsteam kann hierauf aber nicht
einrasten. Vielmehr wird es durch (maßgeblich von der Pflege formulierte) moralische
Ansprüche destabilisiert. ‚Reue‘ wird zur conditio sine qua non. Doch ‚fehlende Reue‘
kann nicht ohne weiteres dem Krankheitsbild der Schizophrenie zugerechnet werden.
Entsprechend müssen alternative Positionen angelaufen werden, in der Hoffnung, das
Arrangement auf andere Weise zu stabilisieren. Die Diagnostik wird in Frage gestellt. Der
Verdacht, Herr Zimmermann würde strategisch simulieren, gewinnt an Plausibilität. Seine
Symptomfreiheit erscheint nicht mehr als Folge einer guten medikamentösen Einstellung,
sondern weckt weitere diagnostische Zweifel. Aber dieses Arrangement kann ebenfalls
nicht zur Stabilität gelangen. Vielmehr versucht das Personal den Druck zu erhöhen, um
so möglicherweise ein Stückchen Erinnerung oder ein Stückchen Reue zu finden, das als
‚hartes Indiz‘ das versuchsweise angelaufene Arrangement stabilisiert.
4.5  Herr Zimmermann: In der Beziehungsfalle 349

Mehr-des-Selben: „Sie wissen, was auf dem Spiel steht“


Schauen wir abschließend auf einige Ausschnitte aus dem Interview mit der
Psychotherapeutin. Das Gespräch wurde ein paar Tage nach der Fallkonferenz
geführt:

Psychotherapeutin: Genau. Er will Einzelausgang haben und der Klinikleiter hat


jetzt gesagt, das reichte nicht aus, er muss sich auseinandersetzen mit dem. Ich habe
es jetzt versucht, ja, bestimmt ein dreiviertel Jahr, aber er blockte ab. Sagt, er weiß
nichts mehr davon. Ob es denn stimmt, ich weiß es nicht. Aber das ist die Voraus-
setzung für Einzelausgang. Jetzt müssen wir mal schauen, wie er reagiert.
Interviewer: Ach, habt Ihr ihm das noch nicht [gesagt]?
Psychotherapeutin: Doch, doch. Aber wie er jetzt zukünftig reagiert. Ob er jetzt
sagt, er weiß was oder dabeibleibt.
Interviewer: Ja. Und wie würdest Du da jetzt therapeutisch?
Psychotherapeutin: (lacht) Ich sage halt, Herr Zimmermann, Sie wissen ja, was
auf dem Spiel steht, tun Sie was! So. Und versuche das Ganze nochmal mit ihm zu
besprechen. Ich weiß es nicht, ob da was rauskommt.

Diese Sequenz macht deutlich, dass das aus der Fallkonferenz herausgearbeitete
Interaktionsmuster bereits seit längerer Zeit besteht („habe es jetzt versucht, ja,
bestimmt ein dreiviertel Jahr“). Die Therapeutin versucht den Patienten zu einer
Auseinandersetzung mit der Tat zu bringen. Dessen ‚echte‘ oder ‚vermeintliche‘
Amnesie rechnet sie nicht einer Krankheit zu, etwa indem sie diese entweder
neurologisch (als Folge des Komas) oder psychodynamisch (als Abwehr) erklärt.
Stattdessen rechnet sie die Tatsache, dass der Patient nicht über seine Erinnerung
spricht, einer willentlichen Bewegung des Patienten zu („er blockte ab“).
Zugleich reflektiert sie nicht, dass sie es selber ist, die diese Zurechnung trifft.
Obschon sie um ihr eigenes Nichtwissen weiß („ob es denn stimmt, ich weiß es
nicht“), übernimmt sie keine Verantwortung für ihre eigenen Unterscheidungen.
Ihr therapeutisches Vorgehen besteht vielmehr darin, mit Blick auf die
existenzielle Lage Herrn Zimmermanns („Sie wissen ja, was auf dem Spiel
steht“) weiterhin den Druck zu erhöhen, um den Patienten dazu zu bewegen,
sich in einer anderen Weise zu artikulieren und zu verhalten („tun Sie was“).
Zugleich markiert die Therapeutin, dass sie nicht erwarte, dass ihrer Anweisung
Folge geleistet werden kann („Ich weiß nicht, ob da was rauskommt“). Um es
zuzuspitzen: Sie glaubt selber nicht an den Sinn ihres eigenen therapeutischen
Vorgehens, kann jedoch weiterhin nichts Anderes tun, als den von ihr selbst
getroffenen Zurechnungen zu folgen.
In der folgenden Gesprächssequenz drückt sich ihr Dilemma nochmals in
pointierter Form aus:
350 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Psychotherapeutin: Ja. Also, es ist so: Man könnte jetzt sagen, er kriegt seine
Medikamente und dann ist er Psychose-frei und dann läuft alles. Könnte man so
argumentieren. Andererseits brennt nicht jeder Mensch, der eine Psychose hat,
ein Haus nieder. Er ist ja dann eine Persönlichkeit. So. Und das fände ich schon
wichtig, das zu klären. Was ist denn, wie tickt er denn? Ohne Psychose. Was dann,
im Falle der Psychose dann eben zum Tragen kommt. Nicht? Weil, war ja dann alles
abgedeckelt durch die Medikamente und da hat er nichts mehr genommen als er in
Freiheit war, weil er sagte, ja, die haben an mir rumexperimentiert und so weiter und
so weiter. Stimmt, /experimentiert jetzt natürlich nicht/aber stimmt vielleicht auch
so ein bisschen, nicht? Aber das ist ja ein Risiko. Wenn nicht klar ist, wie tickt er
denn ohne Psychose? Was in einer Psychose dann praktisch hochkommt. So.
Interviewer: Ja, aber das heißt, das könnte man nur ausprobieren, indem man ihm
keine Medikamente mehr gibt?
Psychotherapeutin: Nein, das kann man nicht machen. Das kann man nicht machen,
weil eine Psychose ist ja schwer zu behandeln. Und jeder psychotische Schub ist
schwerer zu behandeln als der Vorhergehende.
Interviewer: Okay.
Psychotherapeutin: Man weiß nicht, wie lange es dauert und zum anderen hinter-
lässt die Psychose auch schwerwiegende kognitive Defizite. Da geht ja was kaputt.
Also, das kann man nicht machen. Kann man nicht machen.
Man muss versuchen, mit ihm im Gespräch [herauszufinden] wie tickt er denn
eigentlich? Deshalb wäre es jetzt interessant, wie er auf die Enttäuschung, nachdem
ja sonst alles so an ihm vorbei abperlt, ist das jetzt auch so? Und sagt er: ‚Och, kann
nichts tun?‘ Oder kommt was?
Interviewer: Aber mitgeteilt, er weiß es sozusagen, dass er keinen Ausgang kriegt?
Psychotherapeutin: Ja, ja. Ich glaub, der ist ziemlich stinkig.

Versuchen wir die Ausführungen der Therapeutin zu ordnen, indem wir die
einzelne Aussagen betrachten: Er hat eine Psychose, ist aber symptomfrei, weil
er seine Medikamente nimmt. Allerdings brenne nicht jeder ein Haus nieder,
der eine Psychose hat, somit müsse dahinter eine problematische Persönlich-
keit stecken. Das Problematische ist nicht seine (bereits behandelte) Krank-
heit, sondern er selbst. Deshalb müsse man jetzt wissen, wie er abzüglich seiner
Psychose ist. Doch dies lässt sich nicht herausfinden, weil man die Medikamente
nicht absetzen kann. Um herauszufinden, welche Persönlichkeit der Patient hat,
müsse man mit ihm reden, doch diese Versuche, ‚hinter‘ die Psychose zu schauen,
‚perlen‘ ab. Deshalb müsse man dem Patienten wehtun, indem man ihm den Aus-
gang verwehrt. Die Psychotherapeutin vermutet, dass zumindest dies funktioniert
(„glaub, der ist ziemlich stinkig“).
Auch hier offenbart sich wieder das Muster des Arrangements, das bereits
in der Behandlungsplankonferenz zum Ausdruck kam: Weil der Patient
keine Symptome hat und sich angepasst und unauffällig verhält, ist er für das
Personal problematisch. Er zeigt keine Reaktionen, die sie therapeutisch ver-
4.5  Herr Zimmermann: In der Beziehungsfalle 351

werten können. Man erhöht den Druck, um solche Reaktionen zu bekommen,


worauf der Patient erneut mit kommunikativer Anpassung reagiert. Man möchte
den Patienten enttäuschen, um endlich eine authentische Reaktion von ihm zu
bekommen, um dann doch wieder die problematische Anpassung zu sehen, wenn
er sich gefasst hat.

Beziehungsfalle auf Dauer gestellt – „da passt die Chemie


nicht“
Schauen wir ergänzend auf die Einschätzung des Stationspflegeleiters, die
einen weiteren Aspekt deutlich werden lässt, der bislang noch nicht einbezogen
wurde – die Frage der Sympathie:

Stationspflegeleiter: Aber das war so eine Diskussion, da war Herr Zimmermann


doch nicht so sonderlich beliebt so bei den Mitarbeitern. Es gibt ja immer so,
da passt die Chemie, da passt die Chemie nicht, auch egal was die für ein Delikt
gemacht haben. Dabei ist es so, die können auch schwere Delikte gemacht haben,
aber trotzdem irgendwie ist es, gibt es da einen Draht zu den Patienten, aber bei ihm
ist, weil er hat ja immer so Sprüche, ja C’est la vie oder so ist das nun mal und da
ist alles bei den Leuten mit denen er bei den Mitarbeitern bei einigen sage ich jetzt
mal, ist er nicht so gut angekommen. Nein, den können wir doch nicht rauslassen,
der beschäftigt sich überhaupt da nicht mit, dem tut das überhaupt nicht leid irgend-
wie und ja, aber es geht ja erst einmal darum, unser Kernauftrag ist ja nun mal die
Reduzierung von Gefährlichkeit. Im Moment ist er so gesehen nicht gefährlich, da
muss man halt eben gucken und durch diesen Wandel hat man manchmal schon so
eine Dynamik, ah ja, wie ist denn das überhaupt, was können wir jetzt überhaupt
noch machen. Was haben wir überhaupt noch für eine Handhabe.

Auch die erfahrene Pflegekraft bestätigt die Double Bind-Struktur des Arrange-
ments um Herrn Zimmermann. Es erscheint unmöglich, zu einer stabilen
Lösung zu kommen, doch der Grund hierfür liegt nicht allein in dem, was der
Patient getan hat oder was er für eine Krankheit hat, sondern zugleich an der
Beziehungsfalle, in der die Kommunikation zwischen Herrn Zimmermann und
dem Behandlungsteam einrastet.
Der Stationspflegeleiter bemerkt, dass der ursprüngliche Auftrag des
Maßregelvollzugs, „die Reduzierung der Gefährlichkeit“, in diesem Fall bereits
eigentlich schon erreicht worden sei. Zugleich benennt er als Vergleichs-
horizont Patienten, die ebenfalls „schwere Delikte“ begangen hätten, zu denen
aber ein „Draht“ bestehe. Darunter sind vermutlich Fälle, in denen die Unter-
gebrachten (in Übereinstimmung mit dem Personal) jetzt schlecht finden, was sie
damals getan haben und entsprechend Reue zeigen. Ebenso wäre es vermutlich
leichter, Empathie entgegenzubringen, wenn der Patient trotz medikamentöser
352 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Behandlung noch einige psychotische Symptome zeigen würde. Auf diese Weise
könnte das Personal eher nachempfinden, dass der Patient wirklich krank ist, und
sich dann auf Fortschritte der Behandlung kalibrieren, etwa ein Verhalten, das
zwar noch ein wenig bizarr und eigentümlich daherkommt, dabei aber im Großen
und Ganzen recht harmlos erscheint. Ebenso würde – so die Hypothese – wohl
ein nachgewiesenes hirnorganisches Trauma das Arrangement um den Fall in eine
eindeutigere Richtung lenken können – etwa, wenn ein Hirnschaden entdeckt
worden wäre, der die Amnesie erklären würde.
Der Stationspflegeleiter führt zudem an, dass der Patient bei dem Personal
„nicht sonderlich beliebt“ sei und die „Chemie“ nicht stimme. Gerade dies ver-
weist auf einen wichtigen, bislang noch nicht ausführlicher thematisierten Aspekt
der Leerstellengrammatik, welche das Arrangement konditioniert. Zunächst
haben die unterschiedlichen Sprecher des Behandlungsteams ein Bild gezeichnet,
entsprechend dem es Herr Zimmermann sei, der den Kontakt und die Beziehung
verweigere. Die Schwierigkeiten erscheinen damit als ein Problem seines
Wollens. Man bemühe sich seitens des Behandlungsteams, doch der Patient öffne
sich nicht. Nun deutet sich jedoch eine andere Version der fehlenden Resonanz
innerhalb der Beziehung an. Es bleibt nämlich zu fragen, ob die Chemie deshalb
nicht stimmt, weil man umgekehrt den Patienten nicht nachvollziehend verstehen
will, oder ob man den Patienten nicht verstehen will, weil die Chemie nicht
stimmt. In jedem Fall wird seitens des Personals nicht mitgeführt, welchen Anteil
die Mitarbeitenden selbst an der ‚Chemie‘ haben. Bezeichnenderweise findet
sich in unseren Gesprächen mit dem Behandlungsteam kein einziger Akteur, der
nachzuempfinden versucht, wie es diesem nicht sehr beliebten Patienten in den
angeführten Kommunikationssituationen gehen könnte.
Doch anders als die Psychotherapeutin und die leitenden Ärzte scheint
der Stationspflegeleiter immerhin den Charakter der hiermit einhergehenden
„Dynamik“ intuitiv zu begreifen und damit zu wissen, dass damit alle weiteren
Entwicklungsmöglichkeiten verstellt sind („Was können wir jetzt überhaupt noch
machen. Was haben wir überhaupt noch für eine Handhabe“).
Selbstredend können wir als soziologische Beobachter auch nicht wissen,
was mit Blick auf Herrn Zimmermanns Bewusstsein wirklich der Fall ist (und
vermutlich weiß es nicht einmal der Patient selbst). Wir können jedoch die
Struktur eines kommunikativen Musters nachzeichnen: Sobald die Double-Bind-
Beziehungsstruktur selbst zum psychiatrischen Arrangement geworden ist, gibt es
für die Beteiligten kaum einen anderen Ausweg, als die hiermit einhergehenden
Erwartungsstrukturen immerfort zu bestätigen. Die Möglichkeiten, dass sich das
Arrangement wieder in Richtung Rehabilitation des Patienten verändert, scheinen
damit zunächst einmal verbaut.
4.5  Herr Zimmermann: In der Beziehungsfalle 353

Die forensische Psychiatrie sitzt damit ihren Bezugsproblemen in einer Weise


auf, die ihren eigentlichen Arbeitsauftrag verunmöglicht. In dieser Konstellation
lässt sich aufseiten des Personals weder das Vertrauen und die Hoffnung ent-
wickeln, etwas für ihren Patienten erreichen zu können, noch kann der Patient
gemeinsam mit den Therapeuten, Pflegekräften und Ärzten in konditionierter
Koproduktion ein neues Existenzverhältnis aufbauen. Die therapeutische
Kommunikation untergräbt damit die Bedingungen ihrer eigenen Möglichkeit –
sie steckt in der Beziehungsfalle.

Leerstellengrammatik der Verantwortungsvermeidung –


Organisation ohne Entscheidung
Versuchen wir abschließend, das Behandlungsarrangement mit Blick auf die
Leerstellengrammatik nochmals zusammenzufassen.
Der Patient befindet sich in einem Interaktionszusammenhang, der jede seiner
Kommunikationsangebote als problematisch oder ungenügend zurückweist. Wir
können jedoch sehen, dass der Patient dennoch versucht, die Kommunikation auf-
rechtzuerhalten, indem er formgerecht antwortet, wenngleich der von ihm geäußerte
Inhalt sogleich von der anderen Seite negiert bzw. infrage gestellt wird. Mit Blick
auf sein Selbst- und Weltverhältnis lässt sich an dieser Stelle zumindest sagen, dass
es dem Patienten gelingt, diese Situation (wie wohl auch in anderen therapeutischen
Interaktionen) in einer spezifischen Weise zu bewältigen. Er verhält sich rollen-
konform und antwortet ‚brav‘ und ruhig, wenngleich auf inhaltlicher Ebene keine
befriedigende Antwort möglich ist. Dies entspricht der seitens des Personals
getroffenen Einschätzung, dass er alles von sich abprallen lässt. Funktional gesehen
erscheint diese Antwort als eine Lösung auf die Beziehungsfalle, in der er steckt.
Alternative Lösungen würden mit Blick auf Batesons Double Bind-Theorie etwa
darin liegen, durchzudrehen oder gar in eine Psychose zu gleiten. Er könnte aber
auch versuchen, die problematische Kommunikation zu verlassen (man denke an
Herrn Volkert, der türknallend den Visitenraum verlässt, vgl. Vogd et al. 2021).
Da uns Herr Zimmermann nicht gestattete, ein Interview mit ihm zu
führen, sind dem Versuch, sich verstehend an sein Selbstverhältnis heranzu-
tasten, hermeneutische Grenzen gesetzt. Als Indiz bleibt jedoch die Tatsache
der Ablehnung des Gesprächs an sich. Dies kann so verstanden werden, dass
für ihn die Kommunikation – nicht zuletzt auch durch die Enttäuschung in der
BPK – so prekär geworden ist, dass er lieber nicht mit einer externen Person
reden möchte. Im Sinne der konditionierten Koproduktion ließe sich ent-
sprechend folgende Hypothese formulieren: Gerade in Konstellationen, in denen
das soziale System nicht in stabile Muster geteilter oder sich widersprechender
Situationseinschätzungen einrastet, kann auch ein kohärentes Narrativ über die
354 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

eigene Situation nicht so leicht gegeben werden. Entsprechend sind Gesprächs-


situationen wenig attraktiv, in denen dies gefordert wird. Wenn die Situation
und die Rollenverhältnisse demgegenüber klar erscheinen – sich etwa an
therapeutische Erzählungen andocken oder umgekehrt gegenüber einem Ent-
scheidungsträger empörend abgrenzen lassen70 –, kann in der Regel einfacher
auch mit einem Außenstehenden darüber gesprochen werden.
Die Antwort Herrn Zimmermanns auf das Bezugsproblem der therapeutischen
Beziehungsfalle besteht darin, sich Rollenkonform zu verhalten, um gerade hier-
durch das Risiko weiterer problematischer Kommunikation zu vermeiden. Von
der therapeutischen Seite stellt jedoch gerade die vermeintliche Normalität und
Angepasstheit des Patienten ein Problem dar. Im Sinne des medizinischen Codes
(Luhmann 2005) kommt ärztliches oder psychologisches Handeln und Ent-
scheiden anhand von Krankheitssymptomen (im psychiatrischen Kontext also
psychischen Problemen oder Verhaltensauffälligkeiten) in Gang. Entsprechend
dem Schema Symptom ⇒ Diagnose ⇒ Therapie/Behandlungskonzept bedeuten
unterschiedliche Symptome je nach Kontext etwas anderes. Das macht die
Beurteilung grundsätzlich schwierig, sodass Einschätzungen mit Unsicherheit
behaftet sind und entsprechend nur unter Vorbehalt getroffen werden können.
Doch im Sinne des differenzialdiagnostischen Vorgehens kann und darf mehr
oder weniger systematisch der Rahmen gewechselt werden, bis man in eine
bestimmte Konstellation von Symptombild, Diagnose und Behandlungskonzept ein-
rasten kann. Die in diesem Konnex postulierten Kausalbeziehungen brauchen dabei
nicht in einem objektiven Sinne wahr zu sein, es geht hier vielmehr um eine Art
pragmatischer Passung: Man kann etwas tun, sich für eine Behandlung entscheiden
und schauen, was passiert. Gegebenenfalls kann man den Rahmen (und damit ggf.
auch Diagnose und Behandlungskonzept) wieder wechseln, falls die gefundene
Lösung nicht funktioniert oder im weiteren Verlauf Unstimmigkeiten auftauchen.
In dem hier vorliegenden Fall ist dieser Prozess jedoch blockiert. Man ent-
scheidet sich zwar gegen die Lockerung des Patienten, findet aber auch keinen
diagnostischen oder therapeutischen Rahmen, in dem dies Sinn macht. Ein
Grund hierfür liegt darin, dass der Patient schlichtweg keine Antwort liefert bzw.
Symptome oder Problemverhalten präsentiert, an die sich entsprechend der in

70 In diesem Sinne hatte dann Herr Volkert nach der Eskalation der Situation in der Ober-

arztvisite geradezu das Bedürfnis, nochmals mit dem Feldforscher zu sprechen. Wir
mussten ihm aber danach nochmals ausdrücklich versichern, dass wir seine Empörung
gegenüber den Zuständen des Maßregelvollzugs nicht an das Personal weiterleiten.
4.5  Herr Zimmermann: In der Beziehungsfalle 355

psychiatrischen Kontexten üblichen Diagnoseschemata anschließen ließe: Ein


Rest an schizophrener Redeweise (s. Herr König) würde erlauben, sich auf einen
medikamentös eingestellten Psychotiker zu kalibrieren. Wütend Türen zu knallen
(s. Herr Volkert) könnte auf die Psychodynamik eines uneinsichtigen Patienten
hinweisen, der eben noch ein bisschen Zeit braucht, bis er es begreift. Nach-
vollziehbar Reue zu zeigen (Herr Salier) könnte als fortschreitende therapeutische
Einsicht gewertet werden.
Doch Herr Zimmermanns Antwort auf die Situation, vor die er im Maßregel­
vollzug gestellt ist, liefert keine Anhaltspunkte für das Einrasten in einen sinn-
haften therapeutisch-psychiatrischen Rahmen. Somit können die Psychiater nicht
als Psychiater arbeiten und die Psychotherapeuten nicht als Psychotherapeuten.
Die Situation erinnert ein wenig an Douglas Hofstadlers Schallplatte, die nicht
auf dem Plattenspieler gespielt werden kann, weil ihre Information so gelagert ist,
dass sie das Gerät aufgrund der unguten Resonanz mit den Eigenschwingungen
zerstören würde (Hofstadter 1979). Der Patient kann in diesem Fall nicht mit den
Eigenmitteln der Einrichtung bearbeitet, jedoch mit Blick auf seine potentielle
Gefährlichkeit auch nicht entlassen werden. Damit erscheint das Problem
gewissermaßen auch als eines der Identität der behandelnden Organisation.
Oder, um nochmals die eingangs formulierte These aufzugreifen: In diesem
Fall befindet sich nicht nur der Patient, sondern auch die Einrichtung in der
Beziehungsfalle. Auch sie kann aus Gründen ihrer eigenen internen Konfiguration
nicht so leicht aus diesem Dilemma herausfinden.
Auf der Suche nach einer passenden Konstellation von Symptombild,
Diagnose und Behandlungskonzept, schlägt der Klinikleiter in der Fallkonferenz
vor, gemeinsam eine „Diagnose zu basteln“ und nimmt die dort produzierten
sozialen Konstruktionen als Referenz für das weitere Vorgehen. Pflegekräfte,
Psychologinnen, Therapeutinnen und Ärzte erschaffen in einer Art Brainstorming
einen Flickenteppich aus psychiatrischen, psychologisierenden und alltagswelt-
lichen Einschätzungen, ohne diese jedoch zu einem tragfähigen Gesamtkonzept
zusammenfügen zu können.
Hiermit rückt als weiterer Grund für die dilemmatische Form der Problem-
bearbeitung die Frage der Organisation in den Vordergrund. Dass in einer inter-
professionellen Fallkonferenz divergierende diagnostische und prognostische
Einschätzungen formuliert werden, ist angesichts der Komplexität der
behandelten Problematiken nicht ungewöhnlich (man denke an Herrn Salier oder
auch die unterschiedliche Einschätzung in Bezug auf den ‚narzisstischen Teil‘
von Herrn König). In der komparativen Analyse zeigt sich jedoch, dass es in den
anderen Fällen möglich war, im Sinne einer Selbstfestlegung des Systems zu
einer Entscheidung zu kommen. Und sei es durch die hierarchische Weisung des
356 4  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie

Chefarztes, wie teils entgegen der Einschätzungen anderer Akteure nun zu ver-
fahren sei. Soziologisch gesehen lässt sich der Zirkel unentscheidbarer Fragen
nicht theoretisch, sondern nur praktisch – nämlich durch das performative Treffen
einer Entscheidung – durchbrechen.71
Letztlich sind es nicht selten die leitenden Ärzte, die qua Definitionem fest-
legen, was ‚Sache‘ ist, von welcher Diagnose also auszugehen ist. Medizin muss
damit nicht nur als eine deskriptive, sondern zugleich als eine normative Disziplin
angesehen werden (Sadegh-Zadeh 2015). Denn die entscheidenden Ärzte sind
weniger in der Position, eine Wirklichkeit zu erkennen, sondern haben viel-
mehr die Macht (und Pflicht), eine Wirklichkeit zu setzen.72 „Die medizinische
Indikation“ so auch Hucklenbroich (2016, S. 459) „bildet dabei die Brücke

71 Gemäß Heinz v. Foersters Primat, dass man prinzipiell nur die Fragen entscheiden kann,
die unentscheidbar sind (Foerster 1993, S. 73).
72 Hiermit besteht auch ein zentraler Unterschied zwischen wissenschaftlicher und
medizinischer Professionalität. Erstere kann Unsicherheit und Nicht-Wissen in Hinblick
auf ihren Gegenstand mitführen und dies zeichnet dann auch den vorsichtig tastenden, den
hypothetischen Charakter der angestellten Überlegungen wissenschaftlicher Texte aus. Wie
etwa Rudolf Stichweh formuliert, ist die Beziehung zwischen Wissenschaft und Medizin
auch aus einem anderen Grunde keinesfalls trivial, denn die ‚Experten‘ der akademischen
Disziplinen generieren Wissen „eines relativ esoterischen Typs“, da sie ihre Wissens-
basis unter kontrollierten (Labor-)Bedingungen erzeugen. Diese Wissensbasis hat zwar oft
„wissenschaftlichen Status“, ist jedoch nach Stichweh „dennoch in entscheidender Sicht
insuffizient“, denn zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und handlungspraktischer
Anwendung derselben zeigt sich hier eine Grauzone, die nach einem personalen Interpreten
verlangt, der im Einzelfall entscheidet, was denn nun zu tun sei: Der „Tendenz nach gibt es
eine Überkomplexität der Situation im Verhältnis zum verfügbaren Wissen, eine Relation, die
es ausschließt, das Handeln des Professionellen als problemlose Applikation vorhandenen
Wissens mit erwartbarem und daher leicht evaluierbarem Ausgang zu verstehen […] Ein
wesentliches Moment der Problemsituation ist damit Ungewißheit hinsichtlich der Dynamik
der Situation, hinsichtlich der zu wählenden Handlungsstrategie und schließlich dem
mutmaßlichen Ausgang, und ebendiese Struktur läßt auf der Seite des Professionellen die
Relevanz subjektiver Komponenten wie Intuition, Urteilsfähigkeit, Risikofreudigkeit und Ver-
antwortungsübernahme hervortreten, die zugleich mit dem Vertrauen des Klienten als seiner
komplementären und möglicherweise erfolgsrelevanten Investition interagieren“ (Stichweh
1987, S. 228). Klinische Professionalität besteht nun im Gegensatz zur wissenschaftlichen
Professionalität gerade darin, dass man „nicht auf demonstrative Offenlegung, das Mit-
kommunizieren des noch unsicheren Status des Wissens setzen kann. Eine solche Option, die
gerade in der Relativität der Wahrheit die Unbegrenztheit des eigenen Fortschreitens erfährt,
ist für die Professionen durch das Faktum oft existentieller Betroffenheit des Klienten aus-
geschlossen, welches eher dazu zwingt, Ungewißheit zu verdecken, sie in Formen abzu-
arbeiten, die das Vertrauen des Klienten nicht erschüttern“ (Stichweh 1987, S. 228).
4.5  Herr Zimmermann: In der Beziehungsfalle 357

zwischen objektivem Krankheitswert und subjektiven Werten und Normen.“


Sie verbindet Erkennen und Gestalten, sowie – gerade im forensischen Kontext
relevant – Verantwortung in Hinblick auf die Folgen mit einer Haltung, die dem
Patientenwohl verpflichtet bleibt.
Der im Fall Zimmermann zum Ausdruck kommende organisatorische
Zusammenhang wirkt jedoch in einer Weise konfiguriert, die genau einer Ent-
scheidung durch Setzung ausweicht. Die leitenden Ärzte scheinen hier nicht
so recht ihre Rolle einzunehmen, das zu entscheiden, was diagnostisch und
therapeutisch der Fall ist. Doch wer sonst wäre hierzu formal autorisiert? Man
könnte fast sagen, komplementär zum Patienten bleiben sie gewissermaßen
ungreifbar. Die auf den ersten Blick freundlich und demokratisch erscheinende
Einladung zum „Basteln“ zeugt eher davon, der Verantwortung auszuweichen,
die mit ihrer Rolle verbunden ist. Die Interaktion mit dem Patienten verweist
zwar auf eine hochgradig machtstrukturierte Dynamik, doch in Hinblick auf die
entscheidende Frage – die diagnostische und therapeutische Festlegung, ‚was der
Fall‘ ist – üben sie ihre Macht nicht aus.
Im Sinne der konditionierten Koproduktion von Psyche und Kommunikation
ließe sich hier fast vermuten, dass sie in ihrer Rede mit und über den Patienten
auch ein Stückweit über ihr eigenes Selbstverhältnis sprechen: ihre Hilflosig-
keit, ihr fehlendes Vertrauen in psychiatrische Diagnostik und den fehlenden
Mut, den hiermit einhergehenden Weichenstellungen durch ihre eigene Setzung
zu begegnen. All dies steht in einem eigentümlich komplementären Verhältnis zu
einem Patienten, der versucht, alles richtig zu machen, indem er sich normal und
unauffällig verhält – und damit scheitert.
In der Leerstellengrammatik werden hier ex negativo Stellen im Gefüge des
forensischen Behandlungsarrangements deutlich, die bisher nur beiläufig beleuchtet
wurden: die Hierarchie, die entscheidende Rolle der leitenden Ärzte sowie die
Charakteristika der Beziehung zwischen heterarchischer Kommunikation im Team
(jeder kann seine Einschätzung geben) und der hierarchischen Zuspitzung (eine
Autorität, die entscheidet und die Verantwortung übernimmt).73
Gerade deshalb ist der Fall Zimmermann als abschließender Kontrast so
interessant: Er lässt die Bedingungen der Möglichkeit riskanter Behandlungsent-
scheidungen, wie sie für die forensische Psychiatrie konstitutiv sind, nochmals in
einem anderen Licht erscheinen.

73 Siehe zur Beziehung von lateraler und hierarchischer Kommunikation aus organisations-
theoretischer Perspektive auch Baecker (1997).
Abschließende Diskussion
5

Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt,


darin die Augenäpfel reiften. Aber
sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber,
in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,

sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug


der Brust dich blenden, und im leisen Drehen
der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen
zu jener Mitte, die die Zeugung trug.

Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz


unter der Schultern durchsichtigem Sturz
und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle;

und bräche nicht aus allen seinen Rändern


aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.
Rainer Maria Rilke (1908)1

Peter Sloterdijks beschäftigt sich in seinem Buch „Du musst Dein Leben ändern“
mit Anthropotechniken, welche auf die Kultivierung des Menschen zielen. Es
verweist dabei auf eine „immunitäre Verfassung des Menschenwesens“, die
bestrebt sei, sich biologisch, sozial und kulturell zu perfektionieren (Sloterdijk
2009, S. 13). Wir greifen hier nicht das hiermit einhergehende religionsanthropo-
logische Primat auf, sondern den auch für die forensische Psychiatrie geltenden

1 Rilke (1955, S. 557).

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden 359


GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022
W. Vogd und M. Feißt, Therapeutische Arrangements im Maßregelvollzug,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-37131-9_5
360 5  Abschließende Diskussion

Anspruch der Besserung von Menschen. „Du sollst dein Leben ändern“ – selbst
wenn es aussichtlos erscheint und alle Versuche wiederholt gescheitert sind. Die
forensische Patientenkarriere anzunehmen und entsprechend die Arbeit der Ver-
änderung auf sich zu nehmen, bleibt üblicherweise – selbst wenn es gelingt – eine
lebenslange Aufgabe. Das gilt für das Individuum, die beteiligten Organisationen
und die Gesellschaft.
Erinnern wir uns zunächst nochmals an den Anfang und die Fragestellung
dieses Projekts. Die vorangehend dargestellten Fälle sind ausgewählt worden,
um spezifische Bezugsprobleme forensischer Arrangements zu beleuchten. Diese
kreisen nicht zuletzt um das Dilemma, dass der Versuch, forensische Patienten zu
resozialisieren, Eigensozialisation voraussetzt (also sich selbst ändern zu wollen
und darauf eigenständig hinzuarbeiten), dies jedoch außerhalb der Kontrolle der
Klinik liegt. Für den Patienten besteht umgekehrt die Herausforderung, in einem
hospitalisierenden Zwangsregime autonom zu bleiben (oder gar zu werden).
Die Klinik unterdrückt Autonomie und ist doch auf sie angewiesen. Sie ver-
sucht – nicht zuletzt aufgrund ihres gesellschaftlichen Auftrags – die Patienten zu
kontrollieren, muss aber an entscheidenden Stellen genau hiervon absehen – und
dabei nach außen dennoch so tun, als ob sie jederzeit die Kontrolle hätte.
In den folgenden Kapiteln werden wir die Weichenstellungen dieses
Prozesses der „Resozialisierung“ nochmals in verdichteter Form nachzeichnen
(Abschn. 5.1), anschließend die Frage der Körperlichkeit im Selbst- und Welt-
verhältnis forensischer Patienten beleuchten (Abschn. 5.2), sowie die Bezugs-
probleme des Maßregelvollzugs in einer vergleichenden Zusammenschau
aufarbeiten (Abschn.  5.3). Abschließend folgen einige Überlegungen zur
ethischen Reflexion des Maßregelvollzugs (Abschn. 5.4).
Wir haben bereits im ersten Teil des Buches die Schlüsselbegriffe vorgestellt,
die unsere Untersuchung anleiten. Von zentraler Bedeutung war dabei der Begriff
der Selbst- und Weltverhältnisse (Marotzki, 1990; Vogd, 2018b), da wir es für
produktiver halten, Menschen, die sich in therapeutischen Zusammenhängen
befinden, auch in Hinblick auf ihr Erleben, ihren Status als Akteur, ihre Subjekt-
position und ihr Verhalten relational, anstatt unter Rückgriff auf ontologisierende
Identitätskonzepte zu beschreiben. So gesehen haben Menschen kein Selbst- und
Weltverhältnis, sondern sie sind ihr Selbst- und Weltverhältnis.
Dieses kann sich je nach Situation in unterschiedlicher Weise manifestieren,
etwa als Beziehung – man könnte hier auch sagen: als ein Sich-Verhalten – zum
eigenen Körper, zu Affekten, zu Gedanken, zur sprachlichen Anrede, zu bau-
lichen und technischen Artefakten, zur Gemeinschaft, aber auch zu gesellschaft-
lichen Normenerwartungen. Wenngleich manche Aspekte des Selbst- und
Weltverhältnisses eher dem Selbst, andere hingegen eher der Welt zugerechnet
5  Abschließende Diskussion 361

werden, ist zu beachten, dass die Unterscheidung zwischen ‚Selbst‘ und ‚Welt‘
keine objektive Tatsache widerspiegelt und somit nicht in einem absoluten
Sinne gültig ist (etwa in dem Sinne, dass es ein weltunabhängiges Subjekt oder
ein von den Weltbeziehungen isolierbares inneres Seelenwesen gibt, dem eine
subjektunabhängige Welt gegenübersteht). Vielmehr ist diese Unterscheidung
selbst wiederum als Ergebnis und Ausdruck eines Selbst- und Weltverhältnisses
zu betrachten (etwa so, wie ich mich mit meiner Arbeit oder meinen aktuellen
körperlichen Zuständen identifizieren kann oder auch nicht, und die Art und
Weise, wie dies geschieht, sich je nach Konstellation auch wieder ändern kann).
Da Selbst- und Weltverhältnisse stets ein Zwischen beschreiben, d. h. ihrerseits
keine wie auch immer geartete Substanz darstellen, lassen sie sich als Set von
Leerstellen auffassen, die unterschiedlich besetzt und kombiniert werden können
(beispielsweise in der Form: ‚Ich habe einen Körper‘; ‚Ich bin mein Leib‘; ‚Ich
bin Ärztin‘; ‚Ich arbeite als Ärztin, identifiziere mich aber nicht damit‘), wobei
dieses Set wiederum in ein größeres Arrangement eingebettet ist. Letzteres
beinhaltet unter anderem auch andere Menschen, die ihrerseits ein Selbst- und
Weltverhältnisse darstellen und entsprechend ihrer eigenen (Selbst-)Verortung
Attributionen und Unterscheidungen in Bezug auf Kausalzusammenhänge vor-
nehmen (beispielsweise, ob eine bestimmte Handlung dem Willen einer Person
oder aber ihrer Krankheit zugerechnet wird). Ebenso gehören hierzu Spezifika
von Organisationen und Institutionen, aber auch technische und architektonische
Artefakte, sowie eine Vielzahl von anderen Faktoren, welche ihrerseits die Selbst-
und Weltverhältnisse der Beteiligten konditionieren.
Wir haben die hiermit einhergehenden Arrangements in Referenz auf Günthers
Theorie der Polykontexturalität als Leerstellengrammatik bezeichnet (Günther
1979a). Mit dem Wort ‚Grammatik‘ möchten wir ausdrücken, dass die einzel-
nen Stellen – wie sie etwa in verschiedenen Selbst- und Weltverhältnissen besetzt
werden – nicht unabhängig bestehen, sondern voneinander abhängig sind, d. h.
sich in konditionierter Koproduktion wechselseitig hervorbringen (so wie es von
der Stellung eines Wortes im Satz abhängt, ob es Subjekt oder Objekt ist, das
Subjektive und Objektive also kein Bestandteil des Wortes selber ist).
Zugleich gilt jedoch: Was an einer jeweils konkreten Position geschieht, wird
von den Werten, die an einer anderen Position eingenommen werden, beein-
flusst, aber nicht vollkommen bestimmt. Heteronomie und Autonomie stehen
in einem wechselseitigem Bedingungsverhältnis – das eine ist die Bedingung
der Möglichkeit des anderen –, beide Seiten sind aber logisch nicht aufeinander
zurückzuführen. In der systemtheoretischen Tradition im Anschluss an den
Soziologen Niklas Luhmann (1984) steht hierfür der Begriff der Kontingenz.
Etwas ist in bestimmten Konstellationen möglich, unter Umständen auch recht
362 5  Abschließende Diskussion

wahrscheinlich, jedoch nicht notwendig. Was jedoch an einer Leerstelle geschieht,


konditioniert wiederum, was an anderen Stellen möglich ist. Da die einzelnen
Positionen der Leerstellengrammatik also zueinander in Beziehung bzw. Relation
stehen, gibt es Konstellationen, in denen die eingenommenen Werte sich wechsel-
seitig stabilisieren, sodass das Arrangement mehr oder weniger dauerhaft bzw.
veränderungsresistent erscheint. Hierbei sind in der Regel verschiedene Lösungen
möglich, auch Attraktoren genannt, um die Sprache der Theorie dynamischer
Systeme aufzugreifen.2 Die Dynamik der wechselseitigen Besetzung und
Konditionierung der Leerstellen des Arrangements rastet in eine Systemdynamik
ein. Diese beginnt die lokalen, das heißt an den einzelnen Leerstellen möglichen
Zustände und Wertbesetzungen zu ‚versklaven‘, da – insofern ein Attraktor ein-
mal angelaufen wird – die Abwendung von den hiermit verbundenen Wert-
konstellationen zwar nicht unmöglich, jedoch recht unwahrscheinlich wird.
Wenn wir die Entwicklung der Systemdynamik betrachten, können wir
sogenannte Kipppunkte feststellen, an denen mit Blick auf die eingenommenen
Werte die Leerstellengrammatik in ein anderes Arrangement umschlägt.
Ein solcher Kipppunkt stellt im Falle von Herrn Volkert3 etwa die Gerichts-
entscheidung dar, ihn in die forensische Psychiatrie einzuweisen. Bisherige Leer-
stellen eines ‚normalen‘ Lebens können nun nicht mehr besetzt werden, dafür
konditionieren andere Leerstellen zwangsweise das Arrangement – etwa die
Zumutung, auf unbestimmte Zeit in einer geschlossenen Psychiatrie leben zu
müssen und als ‚krank‘ und ‚kriminell’ gesehen zu werden. Ganz offensichtlich
muss hier die Systemdynamik zu einem neuen dynamischen Gleichgewicht
finden, sich ein neuer Attraktor herausbilden.
Um zugleich die dynamischen Aspekte wie auch die systemischen Beharrungs-
kräfte des jeweils eingenommenen Arrangements zu betonen, sprechen wir von
Weichenstellungen. Das Bild der Weiche impliziert, dass einerseits unklar bzw.

2 
Die Theorie dynamischer Systeme behandelt Selbstorganisationsvorgänge in
physikalischen, chemischen oder biologischen Systemen, die sich fern vom Gleichgewicht
befinden (s. etwa Prigogine und Nicolis 1987). In diesem Zusammenhang sind Konzepte
und eine Theoriesprache entstanden, deren Begriffe gut geeignet sind, die Dynamiken
sozialer Systeme zu beschreiben.
3 In den einleitenden Kapiteln haben wir den Fall von Herrn Volkert, einem Mann mit

pädophilem Begehren, vorgestellt. Hier zeigten sich zunächst drei Konstellationen, in


die die Systemdynamik in Sinne eines stabilen Attraktors einrasten kann: 1) Im Schutze
einer bürgerlichen Normalbiografie in verdeckter Form die Pädophilie zu leben; 2) sich
als verurteilter Straftäter für seine pädophilen Handlungen verantworten zu müssen; 3) als
psychisch kranker Pädophiler im Maßregelvollzug behandelt zu werden.
5.1  Weichenstellungen der forensischen Psychiatrie … 363

offen ist, auf welches dynamische Gleichgewicht sich das System der beteiligten
Selbst- und Weltverhältnisse zukünftig einpendelt, andererseits jedoch eine (neue)
Pfadabhängigkeit entstehen wird, der alle Beteiligten nicht so leicht entkommen
können – es sei denn, neue Weichenstellungen treten auf.4

5.1 Weichenstellungen der forensischen Psychiatrie


in der Zusammenschau der Arrangements

Weichenstellungen – wie bereits eingangs beschrieben (Kap. 2) – bezeichnen


nicht Änderungen der Rahmenbedingungen, sondern des Attraktors bzw.
Eigenwertes eines Arrangements, in das das ein Patient in seinem Selbst- und
Weltverhältnis künftig verwickelt zu werden droht. Die Einweisung in den
Maßregelvollzug stellt dabei in aller Regel eine derart gravierende Änderung
in Bezug auf die Positionen der Leerstellengrammatik dar, dass hiermit (fast
immer) eine Weichenstellung einhergeht. Die Betroffenen befinden sich nun
in einem Disziplinarregime, das eine als justiziabel erachtete Normabweichung
durch Therapie, Erziehung und (unausgesprochen) auch durch Bestrafung zu
korrigieren versucht. Eine aufgrund begangener Straftaten vermutete ‚Gefähr-
lichkeit‘ wird als Rechtfertigung für einen zeitlich unbestimmten Freiheits-
entzug genommen. Hiermit werden die meisten5 Patienten zunächst unfreiwillig
in ein neues Weltverhältnis gesetzt, das von nun an durch den Alltag einer
geschlossenen Klinik geprägt ist.6 So stellt von außen betrachtet gerade bei Herrn

4 
Die Theorie dynamischer Systeme spricht hier von „Bifurkationen“ (Prigogine und
Nicolis 1987, S. 138) innerhalb der Systementwicklung.
5 Während bspw. Herr Volkert vor seiner Einweisung in den MRV mit über 50 Jahren
zuvor ein normales, bürgerliches Leben führte, haben wir auch Untergebrachte getroffen,
die bis auf wenige Jahre ihr gesamtes bisheriges Leben in mehr oder weniger offenen bzw.
geschlossenen Einrichtungen verbracht haben. In solchen Fällen stellt der MRV dann mög-
licherweise lediglich eine weitere Unterbringung unter vielen dar.
6 Es ließe sich darüber hinaus auch fragen, inwieweit diese Weltverhältnis durch die
institutionellen Entscheidungsprämissen der jeweiligen Klinik konditioniert wird, etwa
dem leitenden Behandlungskonzept und der hiermit einhergehenden therapeutischen Ideo-
logie. So kann das Setting psychoanalytisch geprägt oder gefärbt sein, was heißt, dass von
allen Beteiligten gefordert wird, über die inneren Zustände, Phantasien, Assoziationen etc.
Auskunft zu geben, um auf diesem Wege Ich-Stärke und Selbstkontrolle zu entwickeln.
Der primäre therapeutische Rahmen kann jedoch auch verhaltenstherapeutisch formatiert
sein, sodass Selbstkontrolle und Selbstmanagement vor allem über positive und negative
364 5  Abschließende Diskussion

Volkert die Einweisung eine gravierende Änderung in seinem bisher normal-


bürgerlichen Leben dar. Dennoch scheint seinen eigenen Äußerungen zufolge
zunächst eine gewisse Erleichterung darüber einzutreten, im Chefarzt nun ein
Gegenüber gefunden zu haben, das ihn versteht. Die Erkenntnis, dass dieses Ver-
ständnis kein bedingungsloses ist, sondern Teil des Disziplinarregimes, stellt sich
erst nach einiger Zeit bei ihm ein und – so weit von außen rekonstruierbar – nicht
bereits unmittelbar mit der Einweisung.
Weichenstellungen lassen sich somit mit konkreten Ereignissen in Verbindung
bringen und letztere werden teilweise auch von Patienten wie Personal in deren
eigenen Narrationen als Schlüsselereignisse verbucht. Aber nicht jede Änderung
der Rahmenbedingungen – etwa die gewährte Lockerung eines Patienten –
bedeutet zugleich eine grundlegende Veränderung des dynamischen Gleich-
gewichts eines Arrangements.

Weichenstellung: Übernahme der Zuschreibungen der


Klinik im Selbst- und Weltverhältnis

Als die eigentliche Weichenstellung aller Patientenkarrieren muss damit weniger


das konkrete Ereignis der Einweisung als vielmehr die Frage gelten, wie sich der
Patient zu den beiden Hauptzuschreibungen der Einrichtung (psychisch krank und
gefährlich zu sein) verhält.
Sich in Übereinstimmung mit der Klinik tatsächlich als krank und gefährlich
anzusehen, ist voraussetzungsvoll und entsprechend keineswegs selbstverständlich.

Anreize konditioniert werden. Ein anderes Setting mag wiederum mehr systemisch oder
sozialtherapeutisch ausgerichtet sein und beispielsweise über eine angegliederte Druckerei
die Reintegration bahnen wollen. Folgt eine Einrichtung hingegen eher dem Paradigma der
biologischen Psychiatrie, so wird man von einem pädophilen Patienten als Voraussetzung
für den Freigang womöglich die Einnahme antiandrogener Medikation verlangen, während
in einem eher psychotherapeutisch angelegten Setting die chemische Triebdämpfung
nicht gefordert bzw. nur unterstützend angewendet wird, wenn der Patient es von sich
aus will. In den meisten Kliniken kommt jedoch eine bestimmte Mischung unterschied-
licher Konzepte und Settings zur Anwendung, was dann wiederum jeder Station oder Ein-
richtung einen spezifischen Charakter gibt. Generell ist jedoch darauf hinzuweisen, dass
Rehabilitationsprogramme und Psychotherapien als personenenbezogene Dienstleistung
technologisch unterbestimmt sind, also nicht ohne weiteres auf eine allgemeine, fachüber-
greifend akzeptierte Wissensbasis (bzw. therapeutische Ideologie) gestellt werden können
(vgl. Klatetzki 2010, S. 13).
5.1  Weichenstellungen der forensischen Psychiatrie … 365

Herr Salier sah es auch zwei Jahre nach seiner Einweisung noch nicht als
problematisch an, Gewalt anzuwenden, um seine sexuellen Phantasien in die Reali-
tät umzusetzen. Herr Volkert, der aus seinem Blickwinkel immer nur zum Wohle
der Kinder gehandelt hat, wehrt sich selbst nach über sechs Jahren dagegen,
als behandlungsbedürftiger Pädophiler gesehen zu werden. In Frau Schmidts
Erzählungen klingt an den Stellen, wo sie von ihren Taten berichtet, eher Stolz
als Reue durch. Und auch Frau Martini, die im Drogenrausch den neuen Lebens-
gefährten ihrer Mutter angegriffen hat, deutet an, dass dieser es durchaus verdient
habe. Selbst Herr König, der seine Mutter für einen Klon des Geheimdienstes
gehalten hat, erlebte sein Delikt zunächst als ich-synton, d. h. aus einem Selbstver-
hältnis heraus, entsprechend dem es sich richtig anfühlte.
Dass für die Patienten durch die Zwangseinweisung in eine forensische
Klinik ein Weltverhältnis gesetzt wird, entsprechend dem sie psychisch krank
und darüber hinaus für die Allgemeinheit gefährlich sind, bedeutet noch nicht,
dass sie dies ohne weiteres in ihr Selbstverhältnis übernehmen. Vielleicht spielen
sie der Klinik den gelehrigen Patienten vor, um in ihren Phantasien weiterhin
ihrem alten Selbst treu zu bleiben, oder sie artikulieren ihren Widerstand und
verweigern offen die Therapie. Möglicherweise hoffen sie auch einfach darauf,
dass der Anwalt sie herausholt und ihnen ein längerer Aufenthalt erspart bleibt.
Denkbar ist auch, dass ein Patient aufgrund der Situation in einen gedämpften
depressiven Modus verfällt, bis er irgendwann – vielleicht erst nach Jahren – auf
richterlichen Beschluss aufgrund des Gebots der Verhältnismäßigkeit entlassen
wird.
Gleichwohl gilt für alle Insassen des Maßregelvollzugs, dass sie letztlich
nicht umhinkommen, sich zu den Zuschreibungen, krank und gefährlich zu sein,
irgendwie verhalten zu müssen.
Unterschiedliche Positionen können hier angelaufen werden.7 Auf der einen
Seite besteht die Möglichkeit, sich die – zunächst von außen erfolgende –
Zuschreibung der Krankheit entweder zu eigen zu machen oder dagegen
anzukämpfen. Auf der anderen Seite steht die Frage nach der – notorisch
diffusen – Zuschreibung von Gefährlichkeit (vgl. hierzu kritisch Feißt 2018),
welche in der Praxis von dem Verhältnis zu den begangenen Delikten abhängt

7 Vielleichtnimmt der Patient dabei nur formal die Rolle des forensischen Patienten ein,
etwa als gelehriger Patient, wie beispielsweise Herr Volkert. Vielleicht geht er oder sie eher
in offenen Widerstand, wie lange Zeit Frau Schmidt oder es findet eine Art Rückzug in
eine depressive Haltung statt, womit ebenfalls ein Widerspruch mit der Patientenrolle aus-
gedrückt werden kann.
366 5  Abschließende Diskussion

(z. B. ob man befürwortet oder bereut) und oftmals auch mit der Unterscheidung
schuldig/unschuldig einhergeht. Einen vereinfachten Überblick möglicher ideal-
typischer Positionen gibt die folgende Kreuztabelle. Die Dimensionen ‚Gefähr-
lichkeit‘ und ‚Schuld‘ fallen nicht zusammen, werden aber in der folgenden
Darstellung in derselben Spalte angeführt:
Das ICH wird hier jeweils in Großbuchstaben geschrieben, um anzuzeigen,
dass es sich hierbei immer um das Ergebnis einer reflexiven Bezugnahme
handelt. Es gibt dieses ICH nicht in einem essentialistischen Sinne, sondern nur
als Ergebnis eines Verhältnisses des ‚Selbst‘ zu sich selbst (vgl. Abschn. 2.1).
Die einzelnen Positionen in der Tabelle entsprechen somit bestimmten – zu Dis-
kussionszwecken vereinfachten – Selbstverhältnissen, während sich Weichen-
stellungen im Sinne unserer oben dargelegten Definition immer dann ergeben,
wenn ein Patient oder eine Patientin in die Klinik eingewiesen wird und sich in
Folge (vorerst) auf einer dieser Positionen stabilisiert bzw. wenn es im weiteren
Verlauf der Unterbringung zu Übergängen von einer Position zu einer anderen
kommt.

Position I: ICH habe eine Krankheit/ICH bin unschuldig/


ungefährlich
Das Selbstverhältnis dieser Position ist für die Klinik in aller Regel am ein-
fachsten zu handhaben. Die Patientin ist nicht krank. Die Patientin ‚sieht ein‘,
dass sie eine Krankheit hat. Durch die Trennung des ICHs von der Krankheit ent-
steht die Perspektive, dass ein ansonsten gesundes ICH etwas hat, das man in den
Griff bekommen, heilen kann etc. Diese Position bietet somit die Chance, dass
Personal und die Patientin gemeinsam gegen die Krankheit vorgehen können. Die
Patientin will die Krankheit nicht mehr haben und die Klinik hilft ihr dabei. Dies
hat auch Folgen für die Frage nach der Schuld und Gefährlichkeit. Da das Delikt
auf die Krankheit zurückzuführen ist, kann man dieser die Schuld zuweisen
und somit das ICH entlasten. Ähnlich verhält es sich mit der Gefährlichkeit.
Die Patientin hält sich prinzipiell für ungefährlich – wenn sie eben nicht diese
Krankheit hätte. Die Kontrolle der Krankheit (nicht der Patientin!) geht somit
mit Ungefährlichkeit einher: Solange man das psychische Gebrechen im Griff
hat, kann man sich selbst über den Weg trauen. Der Vorteil dieser Position für die
Klinik ist, dass sie mit der ‚Compliance‘ der Patientin rechnen kann. Der Wille
der Klinik und der Wille der Patienten sind auf dasselbe Ziel gerichtet. Es bedarf
keiner Dauerkontrolle, da man ja weiß, dass die Patientin sich aus eigener Ein-
sicht und Motivation an die getroffenen Abmachungen halten will. Diese Position
entspricht dem, was die Klinik als ‚Delikteinsicht‘ und ‚Krankheitseinsicht‘
bezeichnet.
5.1  Weichenstellungen der forensischen Psychiatrie … 367

Bei näherem Hinsehen lassen sich zwei Varianten dieser Position identi-
fizieren: Die erste und eben angeführte Variante kann als einsichtiger Patient
bezeichnet werden, um mit dieser Wortwahl zu markieren, dass hiermit auch
auf der Identitätsebene die Patientenrolle angenommen wird. Für den ein-
sichtigen Patienten steht etwa Herr Salier, nachdem er seine sexuellen Phantasien
‚zugegeben‘ hat und eine antiandrogene Therapie beginnt. Die zweite Variante
haben wir im Fallbeispiel von Herrn König (Abschn. 4.4.) mit der Metapher
Kapitän der Seele8 beschrieben, um damit auszudrücken, dass der Patient jetzt
zwar durchaus die Problematik anerkennen kann, die ihn in den Maßregelvollzug
geführt hat, er sich jedoch weiterhin sein Wollen und die hiermit einhergehenden
Verantwortlichkeiten und Kontrollmöglichkeiten zurechnet (auch wenn das aus
der Fremdperspektive anders oder sogar kritisch gesehen werden mag). Für den
Kapitän der Seele steht dann ebenso Frau Schmidt, die sich in fast allen Phasen
ihrer Patientenkarriere die Selbstkontrolle über ihr Verhalten zurechnet (selbst
noch im Fluchtversuch), wie Herr König, der seine Psychose im Griff zu haben
glaubt, wenngleich er immer noch „Appetit auf Muster“ hat, was aus klinischer
Sicht wohl mit eher negativ zu bewertenden Konsequenzen einhergeht.

Position II: ICH bin meine Krankheit; ICH bin schuldig/


gefährlich
Diese Position besteht in dem Zusammenfallen von ICH und Krankheit. Anders
als in Position 1 gibt es die Krankheit nicht als ein externalisierbares ‚Ding‘. Auf
der einen Seite nimmt sich eine Patientin auf dieser Position so an, wie sie ist. Sie
weiß um ihr abweichendes Verhalten und bestreitet nicht, ‚krank zu sein‘. Es gibt
aber keine Trennung in ein gesundes ICH und ein krankes ICH. Während diese
Position in der Allgemeinpsychiatrie im positiven Sinne einem ‚sich selbst so
akzeptieren wie man ist‘ gleichkäme, treten im MRV die Aspekte der Gefährlich-
keit und der Schuld hinzu. Während in Position 1 das ICH weitgehend frei von
Schuld und die Krankheit ursächlich für das Delikt ist, kann eine solche Trennung
hier nicht vollzogen werden. Das ICH hat die Tat begangen. Da man aber weiß,
dass das ICH krank und somit nie voll unter Kontrolle zu bringen ist, kann man

8 
Hier nochmals der Verweis darauf, dass diese Metapher dem Aufsatz von Gregory
Bateson über die „Kybernetik des Selbst“ am Beispiel von Alkoholikern entlehnt ist
(1992[1972], S. 400 ff.). An dieser Stelle ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die Einnahme
dieser Epistemologie (anders als in Batesons Aufsatz anklingend), nicht in jedem Falle als
problematisch anzusehen ist sondern auch – wie im Falle von Frau Schmidt – dem Prozess
der Resozialisation zuträglich sein kann.
368 5  Abschließende Diskussion

sich auf der anderen Seite selbst nicht über den Weg trauen. Man weiß eben nie,
ob man nicht doch wieder ein Delikt begehen wird. Für die Variante ‚krank und
schuldig‘ steht der in einer Fallvignette nur kurz beschriebene Herr Schechner,
der zwar medikamentös wegen seiner Psychose behandelt wurde und damit
eigentlich entlassen werden könnte, jedoch nicht darüber hinwegkommt, die Tat
begangen zu haben. Da er in der Krankheit keine Entschuldigung für seine Tat
sieht und sich selbst nicht mehr über den Weg traut, zieht er es vor, den Schutz
des klinischen Regimes zu behalten.
Diese Position ist auch deshalb mitunter schwieriger in ein behandlerisches
Gesamtarrangement zu bringen, da therapeutische Interventionen damit eher auf
die Veränderung des ‚gesamten‘ ICHs abzielen müssen (sich schuldig zu fühlen
ist auch eine Form, sein Selbst aufzubauen), was trotz möglicher Problemein-
sicht für die Patientin immer ambivalent bleiben muss, da es mit einer Art ‚ICH-
Verlust‘ einhergeht (wer bin ich dann noch, wenn ich mich nicht einmal mehr
schuldig fühlen kann?).

Position III: ICH bin gesund; ICH bin unschuldig/ungefährlich


Die dritte Position findet sich üblicherweise bei Patienten, die gerade erst in
den Maßregelvollzug eingewiesen worden sind und geht häufig mit der Aussage
einher, dass man am falschen Ort gelandet bzw. zu Unrecht ‚hier‘ sei. Das ICH
empfindet sich weder als krank noch als gefährlich, geschweige denn schuldig.
Diese Position findet sich in unterschiedlichen Spielarten. Hierunter sind einer-
seits etwa Patientinnen zu fassen, die im Rahmen einer Psychose jemanden
umgebracht haben, sich aber nicht mehr daran erinnern können. Von außen
mögen sie zweifelsohne als behandlungsbedürftig identifiziert werden, sie selbst
würden aber nicht artikulieren, dass sie krank sind, da die eigene Weise, die
Welt aufzubauen und für sich aufzuordnen als plausibel erlebt wird. So verhält
es sich auch bei Patienten, die zum Zeitpunkt der Behandlung noch immer unter
dem Einfluss wahnhafter Gedanken stehen und nicht bestreiten würden, dass sie
etwa die Nachbarin gewürgt und verletzt haben. Gefährlich sind jedoch nicht sie,
gefährlich ist vielmehr die Welt, die sich verschwörerisch gegen sie verbunden
hat. Der Wahn erscheint hier in unhintergehbarer Weise als Wirklichkeit, wes-
wegen man sich nicht als krank ansieht und die Tat entsprechend als Ausdruck
von Notwehr oder als notwendiges Mittel im Kampf gegen ‚böse Mächte‘ wertet.
Position III findet sich aber auch bei Patienten wie Herrn Volkert, der zwar mit
dem Chefarzt elaboriert über seine pädophilen Neigungen sprechen kann, aber
vollkommen aus der Haut fährt, wenn Worte wie ‚Pädophilie‘ oder ‚Medikation‘
5.1  Weichenstellungen der forensischen Psychiatrie … 369

fallen. Die eigenen pädophilen Handlungen werden in dieser Position als harmlos
oder gar einvernehmlich gerahmt. Ein funktionierendes Entlassungsarrangement
aus dieser Position heraus ist ziemlich unwahrscheinlich.

Position IV: ICH bin gesund; ICH bin schuldig/gefährlich


Die vierte Position haben wir im Rahmen unserer Erhebungen nicht angetroffen
und erscheint uns daher zunächst als Artefakt der Kreuztabelle, welches aber
als Realtypus dennoch nicht per se ausgeschlossen ist. Gerade ideologisch stark
aufgeladene Taten könnten in dieser Position verortet werden. Man denke etwa
an den Fall von Anders Breivik in Norwegen (Utoya), der (entgegen dem ersten
psychiatrischen Gutachten) in seinem Prozess ein starkes Eigeninteresse daran
hatte, seine Taten nicht als Ausdruck einer wahnhaften Störung, sondern als
Durchsetzung einer politischen Position verstanden zu wissen.
Diese vier Positionen stellen Varianten dar, wie sich die Insassen zu den
Zuschreibungen der Klinik (‚Sie sind krank‘, ‚Sie sind gefährlich‘) verhalten.
Patientinnen im Maßregelvollzug können sich nicht nicht hierzu verhalten. Die
erste Weichenstellung in unserem Sinne wäre also, welche dieser Positionen
zunächst nach der Einweisung angelaufen wird und eine gewisse Stabilisierung
erfährt. Im weiteren Verlauf können dann Wechsel zwischen diesen Positionen
auftreten – was deshalb wieder als Weichenstellung bezeichnet werden kann,
weil hiermit eine tief greifende Änderung des Selbst- und Weltverhältnisses
einhergeht. Sich nach Jahren der Unterbringung auf einmal als ‚krank‘ zu
bezeichnen und sich auf triebhemmende Medikation einzulassen, ist nicht
bloß eine Änderung der persönlichen Meinung, es entspricht vielmehr einer
erkenntnistheoretischen Wende (vgl. Feißt 2019). Die Tabelle beschreibt damit
keine Patiententypen – etwa im Sinne einer stabilen Persönlichkeitsstruktur –
sondern Selbstverhältnisse,9 die in bestimmten Phasen des Behandlungsprozesses
angelaufen und auch wieder geändert werden können.
Schauen wir, welche Implikationen für die forensische Patientenkarriere mit
diesen epistemischen Weichenstellungen einhergehen.

9 Diesstellt eine sprachliche Vereinfachung dar. Wir haben es immer mit Selbst- und Welt-
verhältnissen zu tun, betonen aber je nach Perspektive mal den einen, mal den anderen
Aspekt.
370 5  Abschließende Diskussion

Beispielhafte Weichenstellungen

Eine der möglichen Weichenstellungen im Fallverlauf lässt sich gut am Beispiel


von Herrn Salier verdeutlichen: Früher hat er sich mit seiner exzessiven Sexuali-
tät und den hiermit einhergehenden Machtphantasien in hohem Maße identi-
fiziert, nun scheint er es als wohltuend zu empfinden, seinen Trieben nicht mehr
ausgeliefert und zumindest ansatzweise zur moralischen Reflexion seines Ver-
haltens fähig zu sein. Der Rückfall machte ihn in den Augen des behandelnden
Therapeuten – und letztlich auch im eigenen Selbstverhältnis – zum psychisch
kranken sexuellen Sadisten, der von seinen Trieben beherrscht wird und ent-
sprechend keine Perspektive auf ein Leben außerhalb einer geschlossenen
Einrichtung mehr haben wird. Nachdem der Patient dies als sein Schicksal
angenommen hat, eröffnet sich eine weitere epistemische Weichenstellung, ent-
sprechend der es sein Körper ist, der die Krankheit hat, und nicht er selbst. Dies
gestattet die Behandlung durch eine antiandrogene Therapie.
Mit Blick auf das Schema in Tab. 5.1 wechselt der Patient also von Position III
(‚ICH bin gesund‘) zu Position II (‚ICH bin krank‘) und dann zu Position I (‚ICH
habe eine Krankheit‘). Hier kommt nun ein Selbst- und Weltverhältnis zum Aus-
druck, welches den Patienten in der Verantwortung für den Umgang mit seiner
Erkrankung sieht.
Damit gelangt der Patient von der Ablehnung der Krankenrolle im Welt-
verhältnis zur Übernahme der Krankenrolle im Selbstverhältnis. Wie bereits
Parsons (1958b) mit Bezug auf die Rolle des Kranken in der modernen Gesell-
schaft formulierte, hat dieser darauf hinzuarbeiten, nicht mehr krank zu sein;
der psychisch Kranke steht damit in der Bringschuld, dem Therapeuten seine
Symptome zu berichten. Die Konsequenzen der Nichtbehandlung liegen damit
gewissermaßen auch in seiner Verantwortung, denn er hätte ja anders können,
wenn er nur gewollt hätte. Er ist folglich krank und gesund zugleich.

Tab. 5.1   Besetzung der Werte der Felder Gesundheit und Verantwortlichkeit (bzw.
Gefährlichkeit) im Selbstverhältnis eines forensischen Patienten
unschuldig/ungefährlich schuldig/gefährlich
krank ICH habe eine Krankheit ICH bin meine Krankheit
ICH bin nicht die Krankheit ICH bin schuldig/gefährlich
ICH bin unschuldig/ungefährlich
nicht krank ICH bin gesund ICH bin gesund
ICH bin unschuldig/ungefährlich ICH bin schuldig/gefährlich
5.1  Weichenstellungen der forensischen Psychiatrie … 371

Doch gerade für den psychiatrischen Patienten bringt die zuvor benannte
Weichenstellung von zwei Seiten Probleme mit sich. Zum einen kann die Ver-
bindung von Verantwortung und Krankheit überfordern. So betrachtet, erscheint
Position II weniger konfliktreich, d. h. jenes Selbstverhältnis, in dem man eben
psychisch krank ist – und sich dadurch auch der Verantwortung entledigt. Man
droht damit jedoch zu einem dauerhaft psychisch kranken Menschen zu werden,
der wohl zeit seines Lebens auf Unterstützung durch entsprechende Institutionen
angewiesen ist und hieran auch nichts mehr ändern kann oder auch will. Für
Frau Krampen deutet sich eine diesbezügliche Weichenstellung an, wenngleich
sie noch oszilliert zwischen der einsichtigen Patientin, die dem Therapieregime
folgt, um sich zu bessern, und jenen Rückfällen, die sie mit der Zeit zu einer nicht
mehr zu bessernden chronisch Kranken werden lassen. Aufzugeben oder sich der
drohenden schleichenden Hospitalisierung zu ergeben, ist dann irgendwann mög-
licherweise die opportunere Variante.
Doch auch aus einem anderen Grund kann die Position, für eine Krank-
heit Verantwortung übernehmen zu müssen und damit gewissermaßen zugleich
gesund und krank zu sein, problematisch erscheinen – nämlich mit Blick auf
die Schuldfrage. In der Identifikation mit dem vermeintlich autonomen ICH
kann im Sinne von Position II ein Selbstverhältnis zum Ausdruck kommen, das
die begangenen Delikte nicht nur seiner Krankheit, sondern auch sich selbst
zurechnet.
Neben den im Maßregelvollzug einsitzenden Menschen, welche weder die
Patientenrolle noch die Schuldfrage zu ihrem Selbstverhältnis machen, und jenen,
welche die Patientenrolle annehmen, erscheint gleichsam als unerwünschtes,
jedoch mögliches Folgeprodukt der Leitunterscheidungen des Maßregelvollzugs
der schuldige Patient. Für die Variante ‚krank und schuldig‘ steht – wie bereits
gesagt – der in einer Fallvignette nur kurz beschriebene Herr Schechner, der nicht
darüber hinwegkommt, die Tat begangen zu haben, dabei in der Krankheit keine
Entschuldigung für seine Tat sieht und deshalb lieber den Schutz der Klinik-
mauern behalten möchte, da er sich selbst nicht mehr über den Weg traut.
Fundamentale Änderungen bestimmter Arrangements der Selbst- und Weltver-
hältnisse lassen sich nicht immer auf bestimme Ereignisse zurückführen. Hinzu
tritt hier die Beobachterproblematik. So ist es beispielsweise möglich, dass eine
Veränderung des Selbst- und Weltverhältnisses vonseiten der behandelnden Ärzte
einer Änderung der Medikation und von Patientenseite seiner eigenen Vernunft
zugerechnet wird. Dennoch lassen sich bestimmte gravierende Einschnitte in das
Leben einer Person – wie etwa die Einweisung in den Maßregelvollzug – als Kata-
lysatoren für die Veränderung der Selbst- und Weltverhältnisse identifizieren. Auch
372 5  Abschließende Diskussion

wird das sich konkret herausbildende Arrangement von kleineren und größeren Ent-
scheidungen und/oder Zufällen geprägt sein, wie der konkreten Diagnostik10 oder
auch von der Frage, in welcher Klinik der Patient untergebracht wird11, welcher
Station er zugewiesen wird12 oder wie er mit seinem Zimmerkollegen auskommt.13
Auslöser bzw. Anlässe für Weichenstellungen können aber auch die
Gewährung oder der Entzug von Freiheitsgraden sein, vor allem die für den
Patienten besonders wichtigen Entscheidungen für begleiteten und unbegleiteten
Ausgang. Betrachten wir Weichenstellungen als einen Wechsel des Arrange-
ments von einem Eigenwert in einen anderen, so kann ein Stationswechsel,
ein erweiterter Ausgang etc. zu einer Weichenstellung in der Patientenkarriere
führen – muss aber nicht. Es kann auch sein, dass der Patient Ausgang bekommt
und die hiermit einhergehenden Störungen seines Weltverhältnisses durch die
neuen Herausforderungen in seiner Umwelt einfach ausgleicht. Es kann aber
auch passieren (wie im Fall Volkert oder Salier), dass er rückfällig wird – und
dann ändern sich die Eigenwerte, welche die Systemdynamik in Richtung
eines bestimmten Arrangements prägen, radikal: Vertrauen kann in Misstrauen
umschlagen, Freiheiten in Restriktionen. Wenngleich die Gewährung oder der
Entzug von Freiheitsgraden für sich genommen noch keine Weichenstellung
darstellt, zeichnet sich das Weltverhältnis des Patienten dadurch aus, dass eine
Vielzahl der wesentlichen Entscheidungen, die sein Leben – und damit auch
sein Selbstverhältnis – betreffen, von den leitenden Ärzten getroffen werden.
Sein Selbst- und Weltverhältnis ist damit unweigerlich Teil eines übergreifenden
Arrangements, das das Klinikpersonal und deren Entscheidungen beinhaltet –
auch wenn der Patient dies selbst nicht so sehen oder wahrnehmen mag.

10 Gerade im Auszug der Behandlungskonferenz von Herrn Zimmermann lässt sich gut
beobachten wie ‚fluide‘ eine konkrete Diagnose ist. Dies konnten wir auch in anderen
Fällen beobachten.
11 Man könnte hier mit Blick auf die Statistik der Unterbringungsdauern ergänzen, dass es

einen großen Unterschied macht, in welchem Bundesland ein Patient untergebracht ist. So
ist ein Patient in Hessen im Schnitt rund 5 Jahre (!) schneller entlassen als ein Patient im
Saarland (vgl. hierzu etwa Müller 2019).
12 Eine erfahrene therapeutische Stationsleitung berichtete uns den eigentlich offensicht-

lichen und doch nicht zu unterschätzenden Umstand, dass die gleichen Patienten je nach
Station und Konzept unterschiedlich behandelt werden. Auf einer Station für Persönlich-
keitsgestörte wird man behandelt wie ein Persönlichkeitsgestörter, wechselt man auf eine
Station, auf der vorwiegend schizophrene Patienten untergebracht sind, wird man ebenfalls
vorwiegend als Schizophrener behandelt.
13 Hier trafen wir alles an – von größter Freundschaft bis größter Feindschaft.
5.1  Weichenstellungen der forensischen Psychiatrie … 373

Veränderung und gegenseitige Anpassung

Forensischen Patienten bleibt also kaum etwas anderes übrig, als sich an die an
sie gestellten Erwartungen anzupassen, wenn sie zumindest einige wenige Frei-
heitsgrade in ihrem bereits doch recht eingeschränkten Leben genießen wollen.
Das zumindest ideell weiterhin auf Resozialisierung abzielende Behandlungs-
programm wird entsprechend zur Normalitätsfolie, und Abweichungen (etwa,
wenn Herr König seine Beschäftigungstherapiezeiten reduzieren möchte)
erscheinen problematisch bzw. zumindest begründungspflichtig.
Nur die offensichtlich sehr krank erscheinenden Patienten (bei denen etwa
psychotische Symptome selbst unter starker Medikation noch deutlich hervor-
treten) werden in Ruhe gelassen. In solchen Fällen kann es also – oftmals eher
auf schleichende Weise denn in Form einer expliziten Entscheidung – zu einer
Weichenstellung im Arrangement kommen, mit der von dem Auftrag der
Therapie, Besserung oder gar Rehabilitation weitgehend abgesehen wird.14
Für alle anderen besteht – mal mehr oder mal weniger explizit – der Druck
fort, sich den Regeln und Erwartungen der Klinik anzupassen, um im Gegenzug
in den Genuss von Lockerungen oder gar einer Perspektive auf Rehabilitation zu
kommen. Auch unter Absehung aller Eigenleistungen von Psychotherapie und
der Wirkung der verabreichten Medikamente hat der Maßregelvollzug für seine
Insassen damit eine erzieherische bzw. zumindest eine sozialisierende Wirkung –
denn es wird allen Beteiligten angezeigt, worin die Normalitätserwartungen des
Maßregelvollzugs bestehen.
Dies hat zur Folge, dass selbst jenen Patienten, die die Krankenrolle nicht
annehmen können oder wollen, mit der Zeit kaum etwas anderes übrigbleibt,
als sich anzupassen. Man sucht die Situation dadurch zu bewältigen, dass man
„Kompromisse“ macht (Herr König) oder die „Füße still hält“ (Frau Schmidt),
was für manche Patienten schon deshalb opportun erscheint, um keine Anlässe
zu bieten, entgegen dem eigenen Selbstbild für krank gehalten zu werden. Sich
anzupassen ermöglicht mithin mehr Normalität und Autonomie, was ja wiederum
auch dem therapeutischen Ziel der Klinik entspricht.
Diese Anpassung muss dabei nicht unbedingt eine bewusst gewählte
Bewältigungsstrategie des Patienten darstellen, sondern scheint eher der System-

14 In expliziter Form geschieht dies etwa, wenn die Klinik den Patienten in eine extra hier-

für vorgesehene Station für aussichtslose Langzeitpatienten verschiebt. Implizit geschieht


es, wenn mit den Jahren allen Beteiligten des Personals mehr oder weniger klar wird, dass
der Patient nur noch verwahrt wird.
374 5  Abschließende Diskussion

dynamik des Arrangements geschuldet, die eben nur bestimmte Eigenwerte


zulässt. Es bedarf vielleicht eines Rückfalls (Herr Volkert) oder eines Fluchtver-
suchs (Frau Schmidt), um als Patient die unhintergehbare Macht der forensischen
Psychiatrie wirklich zu begreifen und zu lernen, dass – sofern man irgendwann
wieder raus will – die einzige verbleibende Möglichkeit darin besteht, sich an die
von der Klinik vorgegebenen Spielregeln zu halten. Die wenig attraktive Alter-
native hierzu wäre das Arrangement des hospitalisierten Langzeitpatienten.15
Nach einigen Jahren der (womöglich unfreiwilligen) Anpassung an das
Behandlungsarrangement sind die Interaktionsmuster zumeist hinreichend stabil
und erwartbar geworden. Insofern die Gefährlichkeit des Patienten als gering
eingeschätzt wird, kann er also selbst dann in eine weniger gesicherte Umwelt
entlassen werden, wenn die Therapie im eigentlichen Sinne keine wesentliche
Änderung seines Selbstverhältnisses erreicht hat, jedoch zu erwarten ist, dass er
sich in seinem Weltverhältnis hinreichend an die im Klinikalltag zum Ausdruck
kommenden Normalitätserwartungen der Mehrheitsgesellschaft angepasst hat.
Wenngleich der Maßregelvollzug darauf ausgelegt ist, problematische Norm-
abweichungen der Insassen zu korrigieren, ist im Sinne der konditionierten
Koproduktion zu beachten, dass die hier beschriebene Anpassung keine ein-
seitige Angelegenheit ist. Vielmehr entsteht die ‚Normalität‘ zwischen
Patienten und Personal nur dadurch, dass alle Beteiligten ihre Erwartungen auf-
einander abstimmen. Dass ein Patient ‚gut läuft‘ – wie das Personal gern zu
sagen pflegt –, hängt wesentlich damit zusammen, dass man auch aufseiten der
Klinik gelernt hat, sich an den Patienten und seine Eigenheiten anzupassen.
Erst hierdurch entsteht jene Vertrautheit und Souveränität im Umgang mit dem
Patienten, welche notwendig ist, um abweichende oder ungewöhnliche Ver-
haltensweisen nicht vorschnell zu pathologisieren. Was als ‚normal‘ gilt und
mit Blick auf die weitere Rehabilitation machbar scheint, entscheidet sich somit
in einem Aushandlungsprozess,16 der auf wechselseitiger Erwartungsbildung
und -stabilisierung beruht und in dem auch die Individualität des Patienten eine
gewisse Berücksichtigung findet.

15 Ein Klinikleiter berichtete uns von einem Patienten, bei dem er ahnte, dass dieser erst
einmal entweichen muss, um die Ernsthaftigkeit des Maßregelvollzugs zu begreifen. Er ließ
ihn kontrolliert entweichen, um ihn dann wieder zu „schnappen“.
16 Siehe hierzu bereits Strauss et al. (1963), kritisch mit Blick auf die Psychiatrie auch

Dellwing (2008).
5.1  Weichenstellungen der forensischen Psychiatrie … 375

Kontrolliertes Vertrauen und unproduktives Misstrauen

Auch wenn die Patienten sich an die Normalitätserwartungen der Klinik hin-
reichend angepasst haben, ist die Entscheidung für den unbegleiteten Ausgang
nicht nur durch das Patientenverhalten, die Diagnose und die Gefahrenprognose
konditioniert, sondern ebenso durch das Selbst- und Weltverhältnis der leitenden
Ärzte und Therapeuten. Maßregelvollzug bedeutet immer Therapie unter
Risiko. Gerade wenn es um die Frage des unbegleiteten Ausgangs oder um die
Entlassungsperspektive geht, ist das Klinikpersonal mit der Herausforderung
konfrontiert, dass es keine letztgültige Sicherheit bezüglich der (Un-) Gefähr-
lichkeit eines Patienten geben kann. Idealtypisch lassen sich auf Basis unserer
Rekonstruktionen zwei Formen des Umgangs mit dieser Herausforderung
beschreiben:

1. Kontrolliertes Vertrauen: Die entscheidenden Akteure der Klinik können


davon absehen, auf das Selbstverhältnis des Patienten durchgreifen zu
wollen und stattdessen darauf vertrauen, dass die etablierten wechselseitigen
Erwartungsmuster hinreichen, um strafbares Verhalten zu verhindern. Auf
dieser Basis wird ein Arrangement engmaschig überwachter Lockerungen
möglich, in welchem der Umgang mit Freiheit und Eigenverantwortlichkeit
in angemessenem Tempo erprobt werden kann. Das Oxymoron ‚kontrolliertes
Vertrauen‘ scheint in diesem Kontext angebracht, denn entsprechend dem
Grundproblem der doppelten Kontingenz (beidseitige Unsicherheit und
wechselseitige Konditionierung der Erwartungen) kann das Interaktions-
system nicht einfach in nur Misstrauen einrasten, aber ebenso wenig in nur
Vertrauen.17 Diese Umgangsform stellt somit einen Kompromiss zwischen
dem therapeutischen Anspruch der Klinik und der Realität des in vielen Jahren
gewachsenen Selbst- und Weltverhältnisses des Patienten dar, ebenso wie
zwischen dem patientenseitigen Bedürfnis nach Freiheit und dem mehrheits-
gesellschaftlichen Recht auf Sicherheit.

17 Mit Blick auf Luhmanns Formulierung zum Misstrauen wird deutlich, dass im Falle des
unbegleiteten Ausgangs nicht alle Gefahren kontrolliert werden können, und man – allen
Kontrollmaßnahmen zum Trotz –nicht gänzlich ohne Vertrauen auskommt: „Mißtrauen ist
die stärker einschränkende (aber immer noch erweiternde) Strategie. Man läßt sich auf ein
Risiko nur ein, wenn man für Eventualitäten vorgebeugt hat, zum Beispiel Sanktionen an
der Hand hat oder gegen Schaden ausreichend versichert ist“ (Luhmann 1984, S. 180).
376 5  Abschließende Diskussion

2. Therapeutischer Double Bind: Die Akteure der Klinik können aber auch
von dem Patienten das Unmögliche fordern, nämlich dass er sich nicht nur
anpassen, sondern wirklich ändern soll. Vor dem Hintergrund der inhärenten
Machtstruktur des Maßregelvollzugs wird damit eine Beziehungsfalle
erzeugt, aus der weder der Patient (jede seiner möglichen Antworten erscheint
falsch) noch das Personal aufgrund der getroffenen Festlegungen (etwa für
Lockerungsentscheidungen, valide Informationen über die innerpsychischen
Zustände des Patienten vorauszusetzen) ohne weiteres herauskommt. Denn
letztlich lässt sich nicht entscheiden, ob der Patient sich innerlich ‚wirk-
lich‘ verändert hat, oder ob er oder sie sich nur um angemessenes Verhalten
bemüht, um aus dem Maßregelvollzug herauszukommen. Dem Personal
bleibt damit kaum mehr etwas anderes übrig, als dem Patienten in einer
unproduktiven Weise zu misstrauen.

Anders ausgedrückt: das Arrangement bekommt ein Problem, sobald das Klinik-
personal den therapeutischen Anspruch allzu wörtlich nimmt, also darauf beharrt,
auf die Psyche des Patienten durchgreifen zu müssen. Da die Ärztinnen und
therapeutischen Akteure dies jedoch gerade nicht können, muss das Arrangement
in therapeutischer Hinsicht scheitern (genau diese Gefahr droht im Fall von Herrn
Zimmermann).
Wenn die leitenden Ärzte und Therapeuten demgegenüber mit den Unschärfen
und Ungewissheiten der Praxis umgehen können (wie etwa im Fall von Herrn
Salier oder Herrn König sichtbar wird), kann sich ein Arrangement einstellen,
in dem der Patient sukzessive den Umgang mit der Freiheit erproben kann, was
jedoch stets auch die Möglichkeit beinhaltet, Lockerungen jederzeit wieder
widerrufen zu können.

Die Entlassung als Anlass für Weichenstellungen

An dieser Stelle ist nochmals darauf zu verweisen, dass auch der in der
forensischen Psychiatrie untergebrachte Mensch ein Rechtssubjekt ist. Je nach
Deliktschwere wird sich ab einer bestimmten Unterbringungsdauer die Frage der
Verhältnismäßigkeit stellen – also ob weiterer Freiheitsentzug noch rechtmäßig
ist. Auch mit Blick auf den medizinischen Auftrag stellt sich für die Klinik die
Frage, ob es nicht angemessener ist, Patienten im Freigang unter Supervision
zu erproben, anstatt irgendwann eine unkontrollierte Entlassung aufgrund der
mangelnden Verhältnismäßigkeit zu riskieren.
5.1  Weichenstellungen der forensischen Psychiatrie … 377

Sei es bei Frau Krampen, bei Herrn Volkert, bei Herrn König und wohl
auch bei Herrn Zimmermann – die Frage der Verhältnismäßigkeit ist in
allen diesen Fällen inhärenter Bestandteil der Leerstellengrammatik, welche
das Behandlungsarrangement der forensischen Klinik konditioniert; allein
bei Herrn Salier mit der Diagnose „sexueller Sadismus“ erscheint bei ent-
sprechenden Gutachten eine dauerhafte Sicherheitsverwahrung opportun.
Dasselbe Schicksal in Bezug auf die institutionelle Patientenkarriere hätte unter
den von uns dokumentierten Patienten nur die Gruppe besonders ‚gefährlicher‘
bzw. ‚kranker‘ Patienten zu erwarten, die selbst im Kontext der Psychiatrie nicht
als normal gelten (siehe etwa die Fallvignette von Herrn Hutter am Ende von
Abschn. 4.4). In solchen Fällen erscheint die Weichenstellung für eine dauerhafte
Verwahrung in einer forensischen Klinik irreversibel. Man mag diese Patienten
dann auf spezialisierten Stationen unterbringen oder als kuriose Einzelfälle mit-
führen. Das Personal kann sich dann weitgehend auf die pflegerische Betreuung
beschränken. Mit der Zeit weiß man, wie mit diesen Patienten in einer solchen
Weise umgegangen werden kann, dass konflikthafte Situationen im Alltag nicht
weiter eskalieren. Auch hier entsteht ein stabiles Arrangement der gegenseitigen
Erwartungshaltungen.
Für die meisten anderen Patienten gilt jedoch, dass der Maßregelvollzug nicht
auf Dauer angelegt ist, also irgendwann die Frage nach der Verhältnismäßigkeit
virulent wird und entsprechend auf die Entlassung hingearbeitet werden muss.
‚Nicht auf Dauer‘ erscheint jedoch bei einer bundesweiten durchschnittlichen
Unterbringungsdauer von 9 Jahren wie ein Euphemismus. Neben den langen
Verweildauern liegt die Problematik aus Sicht der Patienten darin, dass die Ent-
scheidung, wann sie entlassen werden, nicht absehbar ist und sich immer wieder
herauszögern kann. Dem Zeitpunkt der Entlassung aus dem Maßregelvollzug
wohnt ein starkes Moment der Willkür inne.18

18 Vgl. hierzu wieder die unterschiedlichen durchschnittlichen Verweildauern im Länder-

vergleich (Müller 2019). Wir haben auch Patienten getroffen, die – nach Aussage des
betreuenden Personals – bereits vor zwei Jahren hätten entlassen werden sollen, man aber
immer noch auf die Zusage eines Wohnheimplatzes warte. Die betreffende Klinik hat
mit dem Problem zu kämpfen, dass selbst die trägereigenen Anschlusseinrichtungen die
Patienten aus der MRV-Klinik nicht haben will.
378 5  Abschließende Diskussion

In besonderem Maße gilt dies für Sexualstraftäter, vor allem für die Pädo-
philen, bei denen sich vor dem Hintergrund einer breiten gesellschaftlichen
Ablehnung immer Gründe finden lassen, warum sie dann doch noch nicht ent-
lassen werden können. Mit Blick auf die Leerstellengrammatik, welche das
forensische Arrangement in diesen Fällen konditioniert, spielt nicht nur Medizin
(etwa erfolgreiche Therapie) oder Recht (Verhältnismäßigkeit der langen Unter-
bringungsdauer) eine Rolle, sondern etwa auch allgemeine Moralvorstellungen
und wie diese durch die (lokale) Politik aufgegriffen werden.19
Mit Blick auf die unterschiedlichen Konfigurationen der Selbstverhältnisse
entsprechend der zuvor angeführten Tabelle ist zu erwarten, dass nicht nur die
Einweisung in den Maßregelvollzug, sondern auch die Entlassung Anlass einer
fundamentalen Änderung des Arrangements der Selbst – und Weltverhältnisse
sein kann.
Für den ‚Kapitän der Seele‘ erscheint die Entlassung ich-synton, d. h. als zu
seinem Selbstverhältnis passend, wenngleich dies nicht unbedingt heißen muss,
dass er nach der langen Hospitalisierung wirklich in der Außenwelt zurecht-
kommt. Für manch einen der chronisch psychisch kranken Patienten erscheint
die Entlassung hingegen als Krise, welche ihm den medizinisch-therapeutischen
Rahmen entzieht, wie auch die hiermit einhergehenden stützenden Beziehungen.
Auch hier passen Selbst- und Weltverhältnis nicht zusammen. Der Patient
möchte eigentlich bleiben, muss aber die Klinik verlassen. Die Klinik konnte den
Patienten zwar stabilisieren, hat aber gleichzeitig eine Abhängigkeit produziert.
Hier sind dann zwei idealtypische Szenarien beobachtbar. Der Patient verlässt
den Maßregelvollzug, wird nach einiger Zeit rückfällig und kommt zurück in
die ursprüngliche Einrichtung oder eine andere Klinik (vgl. die Fallvignette von
Herrn Molin am Ende von Abschn. 4.4.). In einem anderen Fall mag der Patient
vor der anstehenden Entlassung in einem Maße eskalieren, dass man hinreichend
Gründe hat, die „Fahrkarte“ zu „verlängern“ (man denke an Frau Krampen).
Wie auch immer und unter welchem Vorzeichen – auch die Entlassung wird
in fast allen Fällen Anlass für eine weitere Weichenstellung, da sich das Arrange-
ment der Behandlung in Hinblick auf viele Positionen der Leerstellengrammatik
ändert. Dies ist allein schon deshalb der Fall, da die Klinikmauern wegfallen

19 In einem uns von einer Oberärztin berichteten Fall sollte ein gut behandelter und ein-
sichtig erscheinender pädophiler Mann in ein Wohnheim auf dem Lande entlassen werden.
Dies konnte jedoch nicht umgesetzt werden, da der Bürgermeister der Ortschaft unter Ver-
weis auf bauliche Mängel die auf ehemalige Sexualstraftäter spezialisierte Einrichtung
schließen ließ.
5.2  Der Körper im Arrangement 379

und in der Betreuung nun andere bzw. weitere Personen ins Spiel kommen, die
jeweils ihr eigenes Selbst- und Weltverhältnis in den Prozess mit einbringen.20

5.2 Der Körper im Arrangement

Die Frage der Körperlichkeit ist in den geschilderten Fällen mal offensicht-
licher, mal beiläufiger Teil der jeweiligen Arrangements gewesen. Das Thema
ist jedoch so wichtig, dass es noch einmal gesonderter Aufmerksamkeit und
Reflexion bedarf. In der Phänomenologie erscheint unsere Leiblichkeit in Form
der Einheit von Leib sein und einen Körper haben. In der Interaktion zweier
Menschen kommen damit zwei Selbstverhältnisse wie auch zwei Weltverhält-
nisse vor, die sich mit Merleau-Ponty zu einem Arrangement von vier Gliedern
koppeln: „mein Sein-für-mich, mein Sein-für-Andere, das Für-sich des Anderen
und sein Sein-für-mich“ (Merleau-Ponty 2004, S. 111). Auf das Fremdbewusst-
sein eines anderen habe ich keinen direkten Zugriff; will ich erfahren, was
in jemandem vorgeht, muss ich auf seine Worte, vor allem aber auch auf seine
Körpersprache, auf Gestik und Mimik achten. Umgekehrt ist auch mein Bewusst-
sein meinem Gegenüber nur mittelbar, genauer gesagt durch die Beobachtung
meiner leiblichen Expressivität zugänglich. Erst über die Leiblichkeit beginnen
sich in der konditionierten Koproduktion zwei Selbstverhältnisse zu einem
Arrangement zu verschränken, ohne dabei jedoch die konstitutionelle Differenz
zwischen,meinem‘ und ‚deinem‘ Bewusstsein aufzuheben. Die Aussage „Ich
nehme deine Schmerzen wahr“ ist damit zugleich logisch unmöglich wie alltags-
praktisch unhintergehbar – denn wie sollte man sonst von den inneren Zuständen
eines anderen Menschen wissen, als über die Wahrnehmung.21

20 Man denke hier etwa an das gegen Ende von Kap. 1. benannte Beispiel eines Patienten
mit Migrationshintergrund, der bei der Ankunft in seinem Wohnheim nach der Entlassung
von ein paar älteren Herrschaften mit dem Hitler-Gruß begrüßt wurde.
21 
Siehe in diesem Sinne dann auch Wittgenstein: „Angenommen, es hätte jeder eine
Schachtel, darin wäre etwas, was wir „Käfer“ nennen. Niemand kann je in die Schachtel
des Anderen schauen, und jeder sagt, er wisse nur vom Anblick seines Käfers, was ein
Käfer ist. — Da könnte es ja sein, dass jeder ein anderes Ding in seiner Schachtel hätte.
Ja, man könnte sich vorstellen, dass sich ein solches Ding fortwährend verändert. — Aber
wenn nun das Wort ‚Käfer‘ im Sprachgebrauch dieser Leute doch etwas bedeutete? — So
würde er nicht als Bezeichnung eines Dings gebraucht. Das Ding in der Schachtel gehört
überhaupt nicht zum Sprachspiel, auch nicht einmal als ein Etwas, denn die Schachtel
könnte auch leer sein. (…) Es hebt sich [aus der Betrachtung] weg, was immer es ist“
(Wittgenstein 1990, S. PU § 293).
380 5  Abschließende Diskussion

Die leibliche Begegnung ist damit Ausgangspunkt einer jeden Theory of


Mind, sei es über den empathischen Analogieschluss, die sprachlich-symbolische
Rekonstruktion des Zustands des Anderen oder eine Kombination beider Modi.
Sie ist damit aber auch Ausgangspunkt für das Selbstverstehen. Die Reaktion
des Anderen auf mich – sei es seine unmittelbare körperliche Antwort oder der
sozial angelieferte Sinn, der mit seinen symbolischen Ausdrucksformen einher-
geht – dringt in meine Wahrnehmung ein und wird damit unweigerlich zu einem
Teil meines Selbst- und Weltverhältnisses. „Plötzlich merke ich, wie das Wort in
meinen Körper hineinschnappt“, formuliert Merleau-Ponty (1974, S. 475), um
damit auszudrücken, wie über die soziale Sphäre unweigerlich ein Reflexionsver-
hältnis entsteht, das sich zugleich als ein körperliches ausdrückt.
Nicht zuletzt sind damit auch Sprache und Sprechen als ein leibliches
Phänomen zu verstehen.22 Sobald Menschen hinreichend in die Sprache hinein-
sozialisiert sind, bekommen selbst vermeintlich sinnlose Worte Kraft, da
die Beteiligten aufgrund der Geschichte ihrer Interaktionen auf körperlicher
Ebene – selbst dann, wenn all dies von außen nur als ein lächerliches Spiel
erscheint – existenziell engagiert sind. Wie Andreas Weber (2003) herausstellt,
wirken sprachliche Bilder also nicht, wie man zunächst meinen könnte, nur als
abstrakte Als-ob-Fiktion, sondern im Sinne einer konkreten Analogie, welche
die ‚reale Identität‘ betrifft: „Hier hat ein ‚scharfes‘ Geräusch oder ein ‚töd-
liches‘ Wort dieselbe Bedeutung wie ein geschliffenes Messer. Beides ‚zer-
schneidet‘ das Gelingen des Lebensvollzugs. Für den Körper müssen zwei auf
diese Weise analoge Dinge identisch sein. Identität heißt hier:“ Sie haben die
„gleiche existenzielle Bedeutung für den Organismus. Das heißt folglich, dass
sie aus dessen Perspektive das Gleiche sind und damit, dass nichtdiskursive
(präsentative) Symbole sind, was sie bedeuten. Physisches und Psychisches
ist auf dieser Ebene eins: zwei Perspektiven auf die eine autopoietische Fort-
existenz des Lebewesens – einmal betrachtet unter dem Aspekt der materiellen
Homöostase und einmal unter dem Aspekt der subjektiven Perspektive“ (Weber
2003, S. 120).
Mit Blick auf das forensische Arrangement gilt damit, dass auch die Körper
der Patienten (wie auch des Personals) als inhärente Bestandteile der Leerstellen-
grammatik gesehen werden müssen. Die Körperlichkeit im Selbstverhältnis

22 Siehe auch di Paolo et al. (2018).


5.2  Der Körper im Arrangement 381

(etwa die Beziehung zu dem eigenen Begehren) und die Körperlichkeit im Welt-
verhältnis (etwa die Beobachtung durch das Personal und die Deutung durch
Therapeutinnen und Ärzte) bilden hier spezifische therapeutische Arrange-
ments. Recht deutlich wurde dies etwa bei Herrn Volkert, einem Mann, der die
körperliche Nähe zu Kindern sucht, elaboriert und scheinbar einsichtig darüber
sprechen kann, nur um dann im Ausgang sein problematisches Verhalten wieder
aufzunehmen. Wenn vonseiten des Personals jedoch Begriffe wie „pädophil“ oder
„Spritze“ fallen, ‚rastet‘ er ‚aus‘ und zeigt somit aufgrund des bloßen Gebrauchs
bestimmter Reizwörter erhebliche körperliche Reaktionen. Weniger deutlich,
aber bei näherem Hinsehen ebenso bedeutsam, zeigt sich die Körperlichkeit im
Fall von Herrn Zimmermann, hier jedoch unter umgekehrten Vorzeichen. Herr
Zimmermann kann nicht traurig sein bzw. zeigt keine Schuldgefühle hinsicht-
lich des Todes der Nachbarin, den er wohl mitverursacht hat. Das Personal jedoch
will eine emotionale und damit körperliche Reaktion sehen, es besteht auf einer
körperlichen Evidenz, dass der Patient von seinem vermeintlichen Delikt wirklich
berührt wird.23

Gewalt als strukturelles Merkmal des Maßregelvollzugs

Gehen wir nach diesen vorbereitenden Bemerkungen auf einige besondere


Aspekte der Körperlichkeit im Maßregelvollzug ein. Zunächst ist darauf hinzu-
weisen, dass die Erfahrung von Gewalt unmittelbar präsent ist. Es steht immer
die Möglichkeit im Raum, dass Patienten andere Patienten oder das Personal
angreifen. Je nach Klinik und Station mag dies zwar häufiger oder seltener tat-
sächlich vorkommen. Als Potentialität ist körperliche Gewalt jedoch in anderer
Weise präsent als in einer Universität oder Berufsschule. Umgekehrt sind auch
die Patienten auf unmittelbar körperliche Weise der Gewalt der Institution aus-
geliefert. Das Maßregeln setzt am Körper an: Sei es die Bändigung von ‚aus-
rastenden‘ Patienten, das Einsperren im Kriseninterventionsraum (im Feld oft
auch „Bunker“ genannt), das Fixieren oder allein schon die Tatsache, unfreiwillig
hinter geschlossenen Mauern eingesperrt zu sein – die Disziplinierung und
Zurichtung des Patientenkörpers mit Gewaltmitteln ist alltäglich, geradezu

23 
Und scheint nicht zu sehen, dass ‚emotionale Abflachung‘ ein lehrbuchgemäßes
Symptom der von ihnen gestellten Diagnostik ist, vor allem bei einer bereits mehrere Jahr-
zehnte andauernden Behandlung mit Psychopharmaka.
382 5  Abschließende Diskussion

konstitutiv, und für alle Beteiligten unmittelbar wahrnehmbar. Körper wirken auf
Körper ein, wobei das Personal hinsichtlich der Machtmittel letztlich immer am
längeren Hebel sitzt.24
Mit Foucault (2005) gesprochen, muss der Maßregelvollzug buchstäblich als
ein Disziplinarregime gelten, das – vermittelt durch Recht, Medizin und eine
gefängnisähnliche Architektur – Körper in eine bestimmte Anordnung bringt.
Zugleich wird der Patientenkörper zum beobachteten Körper, womit die Über-
wachung im Sinne von Foucaults (1976) „Panoptikum“ auch innerpsychisch
zunehmend zur unhintergehbaren Relation wird. Die Kontrolle durch das Regime
wird – mal mehr, mal weniger – internalisiert und führt somit schließlich zur
„Kontrolle des Selbst durch das Selbst“ (Feißt, 2017).
Gerade für die Patienten sind Gewalterfahrungen damit zum unmittel-
baren Bestandteil ihres Selbst- und Weltverhältnisses geworden. Darüber hinaus
haben viele von ihnen Missbrauch erlebt, sind auf die eine oder andere Weise
traumatisiert worden und haben sich zu diesen Erfahrungen auf spezifische Weise
in Beziehung gesetzt. Vielleicht haben sie sich an all dies schon längst gewöhnt,
möglicherweise durch Dissoziation und Abspaltung von der eigenen Leiblichkeit,
vielleicht durch eine Mischung aus Anpassung und kontrolliertem Aufbegehren.
Frau Schmidt mag selbst dann noch Kapitänin ihrer Seele bleiben, als sie
tobend nach dem Fluchtversuch im Krisenraum auf dem Bett angeschnallt wird,
doch ihr Körper wird nolens volens langsam die Lektionen lernen, die mit den
Zwangsmaßnahmen einhergehen.25
Aber auch das Personal hat sich an diese spezifische Form der Arrangements
von Körpern gewöhnt, hat die damit verbundene direkte oder indirekte Gewaltan-
wendung längst in das eigene Selbst- und Weltverhältnis integriert. Die Schleusen
am Eingang der Einrichtung sind ebenso zur Routine geworden wie der Umgang
mit Patienten, die ‚ausrasten‘ oder auch das Personal angreifen können (man
denke an den Fall von Frau Krampen). Jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter,
der Kontakt mit den Patienten hat, trägt einen ‚Notfallpieper‘ und wenn dieser

24 
Derzeit gibt es eine Diskussion, ob Elektrokrampftherapie als Zwangsmaßnahme im
Maßregelvollzug eingeführt werden soll (siehe hierzu bereits Witzel et al. 2009).
25 An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass es allerdings auch psychiatrische Krank-

heitsbilder gibt – etwa aus dem schizophrenen Formenkreis – die sich durch starke
Schmerzresistenz und Dissoziation vom Körpererleben auszeichnen.
5.2  Der Körper im Arrangement 383

ausgelöst wird, werden wenige Sekunden später tatkräftige Helfer vor Ort sein,26 die
dann – ggf. mit Unterstützung einer hinreichend großen Anzahl von Kollegen – ent-
sprechend zupacken können. Die Konfliktdynamik der so ins Arrangement gebrachten
Körper (etwa die hiermit einhergehende Anspannung und Bereitschaft zur Eskalation
und diese wieder herunter zu regeln) ist psychisch für alle Beteiligten ständig präsent
und wird durch jedes krisenhafte Ereignis erneut in deren Selbst- und Weltverhältnisse
eingeschrieben.
Berücksichtigt werden müssen in diesem Zusammenhang auch die sprach-
lichen Formen der Gewalt, die im zuvor benannten Sinne ebenfalls als leibliches
Geschehen zu verstehen sind. Gerade die Interaktionen mit den leitenden Ärzten
– man denke an die vorangehenden Beispiele der Visiten oder Fallbesprechungen
– laufen in der Form einer stark asymmetrischen Machtbeziehung ab, die mal
offener, mal subtiler zutage tritt. Wenige Worte des Oberarztes können das
Existenzverhältnis eines Patienten radikal ändern – beispielsweise, wenn in der
Visite laut darüber nachgedacht wird, bereits gewährte Lockerungen zurück-
zunehmen, oder wenn, wie bei Herrn Volkert, die Möglichkeit der ‚chemischen
Kastration’ in den Raum gestellt wird. Es verwundert entsprechend kaum, dass
oftmals schon Andeutungen oder Erwägungen der entscheidungsbefugten
Akteure ausreichen, um die Machtbeziehung als solche kenntlich werden zu
lassen, was heißt, die hiermit einhergehenden Selbst- und Weltverhältnisse als
‚real‘, also nicht nur in Form einer Als-ob-Fiktion zu enaktieren.
Wenn der Chefarzt oder die Oberärztin Frau Krampen mitteilen, dass man sie
verlegen werde, wenn sie nochmals das Personal angreift, dann ‚schnappen‘ diese
Worte unweigerlich in ihr leibliches Selbst- und Weltverhältnis ein und entfalten
hier ihre disziplinarische Wirkung. In diesem Sinne ist es keineswegs untypisch,
wenn Patientinnen wie Frau Krampen zu Beginn ihrer Patientenkarriere „viel
wilder“ waren und häufiger und dramatischer dekompensiert sind, mit der Zeit
jedoch gelernt haben, sich wieder zu beruhigen und seltener zu eskalieren. Auch
Frau Schmidt hat irgendwann begriffen, dass es besser ist, die „Füße still zu halten“,
um die körperlich vollzogene Anpassung an das forensische Disziplinarregime dann
zumindest auf psychischer Ebene noch ihrer eigenen Willensleistung zurechnen
zu können (indem man eben selbst der ist, der sich – und damit die Situation –
kontrolliert und man nicht einfach nur willfährig den Anweisungen folgt).

26 
Einer der teilnehmenden Beobachter hat einmal aus Versehen den Alarm am Pieper
ausgelöst (dies geschieht bereits, wenn das Gerät für eine Sekunden in eine Schräglage
kommt). Innerhalb von ca. 30 s kamen fünf Pflegekräfte in den Raum.
384 5  Abschließende Diskussion

Wie subtil und verletzlich die hier gefundenen Balancen sind, wird am Bericht
einer Pflegekraft deutlich: Während eines Besuchs aus dem Ministerium auf
seiner Station habe einer der Beamten vor der versammelten Patientenschaft
gesagt, dass es ihnen in dieser Einrichtung doch wirklich gut gehe. Eine solche
Verkennung der Unterbringungssituation jenseits einer guten materiellen Aus-
stattung blieb nicht folgenlos. Während des Abendessens hätten die Patienten
die Fassung verloren und mit dem Besteck um sich geschmissen. Affektlogisch
bleibt der Maßregelvollzug ein Hochdruckkessel. Ein unbedachtes (oder wie im
Fall von Herrn Volkert auch ein bewusst gewähltes) Wort, und ein Patient kann
explodieren. Die hierbei entstehenden Affekte sind ihrerseits wiederum inhärenter
Bestandteil der Leerstellengrammatik des forensischen Arrangements und können
entsprechend auch bewusst zur Konditionierung therapeutischer Arrangements
genutzt werden.

Der Code der Macht

Die „Funktion von Macht“, so Luhmann (2003, S. 19 ff.), besteht darin, „mög-
liche Wirkungsketten“ sicherzustellen – „unabhängig vom Willen des macht-
unterworfenen Handelnden“ (ebd.). Es geht dabei – zunächst wertneutral zu
verstehen – um eine Einschränkung von Handlungsmöglichkeiten durch die
zusätzliche Codierung Unterlegene/Überlegene. Eine solche Zweitcodierung der
Kommunikation bietet die „Chance […] die Wahrscheinlichkeit des Zustande-
kommens unwahrscheinlicher Selektionszusammenhänge zu steigern“ (ebd.
S. 20). Diese abstrakte Perspektive wird am Beispiel des Maßregelvollzuges
unmittelbar plausibel: wenn ich die Selektionszusammenhänge „ich bin krank“
und „ich bin gefährlich“ wahrscheinlicher machen will, dann kann es wirk-
sam sein, die betreffende Person per Gerichtsurteil in einem Gebäude ‚unter-
zubringen‘, welches nicht verlassen werden darf und in dem die unmittelbare
Kommunikation fast ausschließlich mit therapeutischem/pflegerischem Personal
erfolgt. Dabei wird ebenfalls deutlich, dass Macht nicht einfach eine Eigenschaft
ist, über die manche Personen verfügen, sondern in hohem Maße von den jeweils
bestehenden institutionellen Rahmenbedingungen abhängt.
Die Codierung einer bestimmten Kommunikation mit der Unterscheidung
Unterlegene/Überlegene wird in aller Regel nicht explizit. Sie funktioniert sogar
dann am besten, wenn man offensichtliche Machtmittel nicht allzu häufig aus-
üben muss. Die Machtverhältnisse reproduzieren sich zumeist ganz beiläufig:
5.2  Der Körper im Arrangement 385

der Patient wird zur Visite (einen Termin, den er weder zeitlich noch inhaltlich
bestimmt) in einen Raum gebeten (das Personal bestimmt, wann er einzutreten
hat). Dort sitzen dann bereits mehrere Personen (Überlegenheit durch die schiere
Anzahl), die alle innerhalb der Hierarchie höher stehen als der Patient (Stations-
leitung, Klinikleitung, etc.) und fast immer auch gesellschaftlich eine höhere
Stellung einnehmen („der Herr Doktor“ etc.). In einem solchen Setting wird
der Patient dann aufgefordert, ‚ganz frei und offen‘ zur erzählen, ob ihm der-
zeit etwas ‚auf dem Herzen‘ liege. Die „Verlockung zur Negation“ (ebd. 22) der
Ansichten des Personals wird hier in aller Regel gering sein.
Aber auch das Personal kann sich der Kommunikation im Medium der Macht
nicht entziehen. So entsteht das Dilemma, aus Sicht der Patienten einerseits
„die Person mit dem Schlüssel“ zu sein,27 andererseits aber eine vertrauensvolle
therapeutische Beziehung zu ihnen aufbauen zu sollen.28
Wie bereits angedeutet, empfiehlt es sich, allzu explizite Machtdemonstrationen
zu vermeiden. Wenn man als Oberarzt einen Patienten auf sein Zimmer ver-
weist, dies aber nur mit einem „Sie können mich mal“ quittiert wird, hat man ein
Problem. Entweder belässt man es dabei und lässt damit offensichtlich werden,
dass man die Macht, die man demonstrieren wollte, gar nicht hat. Oder man
droht Gewalt an, die man – in aller Regel – jedoch nicht einsetzen will. Um die
Machtverhältnisse zu reaktualisieren, wird in der Praxis somit eher beiläufig mit-
kommuniziert, dass man in der Position des Überlegenen ist („Ziehen Sie sich
erst einmal ordentlich an und duschen sich, dann können wir über alles weitere
sprechen“), anstatt sich auf offene Machtkämpfe einzulassen. Dies ermöglicht eine
‚sanftere Entfaltung‘ der Maßregel der Besserung und Sicherung.29
Den Patienten nicht zu sehr zu provozieren und auch manche seiner aggressiv
anmutenden Artikulationen auf sich beruhen zu lassen, zeugt nicht nur von
Souveränität, sondern ermöglicht erst jenes subtile Wechselspiel, das den
Patienten dann Normalität beibringen lässt. Anstatt sich in eine Gewaltspirale

27 Der „Schlüssel“ steht dann auch im Feld als Metapher für die Unterordnungs-/Über-

ordnungsverhältnisse, nicht nur visuell, sondern auch akustisch. Auch für uns als teil-
nehmende Beobachter war in den unterschiedlichen Kliniken eine je eigene „Akustik“ des
Schließsystems wahrnehmbar. Sei es das Rasseln von Schlüsselbunden oder das Piepen und
Klacken von Transpondersystemen.
28 Vor allem Zinkler und von Peter (2019) fordern eine organisationale Trennung von
„Unterstützung“ und „soziale Kontrolle“.
29 Siehe zum Thema „Menschenregierungskünste“ unter dem schönen Titel „Gute Hirten

führen sanft“ Bröckling (2019).


386 5  Abschließende Diskussion

verwickeln zu lassen, deren therapeutische und sozialisatorische Folgen kaum


kontrolliert werden können, können dem Patienten gerade auf die Weise
zumindest die Grenzen aufgezeigt werden, die ihm einzuhalten noch möglich
sind, ohne seinerseits eskalieren zu müssen (wenn also beim Patienten die Grenze
des noch Aushaltbaren überschritten ist). Aus naheliegenden Gründen kann das
Personal keinen Dauerkonflikt gebrauchen und wird dem Patienten gegenüber
somit allein schon aus Eigeninteresse nur im Ausnahmefall seine Machtmittel
ausspielen, sondern ihn im Regelfall in Ruhe lassen – es sei denn es wird mal
wieder nötig, ihm ‚die Grenzen‘ zu zeigen.
Genau besehen handelt es hierbei also um ein subtiles Wechselspiel der
Macht, in dem beide Seiten austarieren, was miteinander möglich ist, um idealer-
weise zu einem Eigenwert zu kommen, der mit den Zielen der Klinik im Ein-
klang steht und zugleich im Interesse des Patienten liegt. Macht konditioniert
das gesamte Arrangement – sowohl für die Patienten als auch für das Personal.
Vor dem hier skizzierten Hintergrund hochgradiger Asymmetrie und ungleicher
Verteilung von Machtmitteln ist es umso wirkungsvoller, wenn die Beziehung
zwischen Patienten und Personal in bestimmten Momenten vorübergehend
symmetrisiert wird – beispielsweise, wenn sich eine Klinikleiterin im Patienten-
plenum glaubhaft für das eigene Fehlverhalten gegenüber einer Patientin ent-
schuldigt (so im Fall Schmidt geschehen).
Selbstredend sind allerdings auch Konstellationen möglich, in denen der Auf-
trag der „Besserung und Sicherung“ durch die Machtverhältnisse konterkariert
wird. Man muss dabei nicht nur an jene auch breiter in der Öffentlichkeit dis-
kutierten Fälle der Eskalation von Gewalt denken, wo ein Patient gestorben ist,
nachdem die Pflegekräfte zu fest zugegriffen haben;30 es gibt viele Möglich-
keiten von bewusster oder auch unbewusster Willkür, welche den Zielen des
Maßregelvollzugs entgegensteht (man erinnere sich hier beispielsweise an die
Vermutung des Oberarztes zum ehemaligen Therapeuten von Herrn Salier, dass
dieser Diagnosen auch manchmal zur Bestrafung benutzt habe).
Eine Analyse der Leerstellengrammatik der forensischen Psychiatrie erlaubt
insgesamt jedoch die Hypothese, dass die in der forensischen Psychiatrie

30 Siehe zu letzterem etwa den Kölner Express vom 14.12.2009, ferner auch den Weser-

kurier vom 12.05.2017, insgesamt zu den Zuständen am Beispiel Berlin die ZEIT vom
16. Dezember 2020. https://www.weser-kurier.de/bremen/nach-gewaltsamer-fixierung-
psychiatrie-patient-stirbt-doc7e3i9sr6nop18kpm7glj;
https://www.zeit.de/2020/53/berliner-massregelvollzug-kmv-straftaeter-gewalt-drogen-
betreuung (beides Abruf am 13.10.2021).
5.2  Der Körper im Arrangement 387

vorherrschenden Machtverhältnisse die Selbst- und Weltverhältnisse der


Patienten auf Dauer eher in Richtung Anpassung konditionieren. Anders aus-
gedrückt: gerade weil die Maßregel nach § 63StGB die Besserung nach „ärzt-
lichen Gesichtspunkten“ (§ 136 StVollzG) vorschreibt, bleibt ihr gar nichts
anderes übrig, als dieses unwahrscheinliche Unterfangen durch eine starke Zweit-
codierung im Medium der Macht wahrscheinlicher zu machen.

Das Medikament als Intervention in den Patientenkörper

Das Arrangement der Selbst- und Weltverhältnisse wird in der psychiatrischen


Behandlung ganz maßgeblich durch Medikamente beeinflusst. Eine starke anti-
psychotische Medikation bringt zweifelsohne auch eine veränderte Leiblichkeit
mit sich. Der Affekt wird schwächer und hiermit einhergehend auch der Antrieb.
Betrachtet man die Patientinnen einer Therapiestation für ‚Psychotiker‘, ist dies
selbst für einen Laien ganz offensichtlich erkennbar. Die Menschen ‚schlurfen‘
über die Gänge, sitzen mit nur minimalen Regungen auf einem Stuhl in einer
Ecke. Die gesamte Motorik erscheint wesentlich langsamer als gewöhnlich.
Antiandrogene Medikamente hingegen dämpfen die sexuelle Erregbarkeit und
setzen damit ebenfalls unmittelbar an den körperlichen Regungen an, obschon die
Patienten im unmittelbaren Kontakt keine Anzeichen gedämpfter Motorik zeigen.
Zudem führt die Einnahme von Medikamenten bei einigen Patienten zu einer
deutlichen Gewichtszunahme, was wiederum mit einer anderen körperlich-leib-
lichen Signatur einhergeht. Man fühlt und erlebt sich anders und sieht sich von
den Mitmenschen in einer anderen Weise wahrgenommen.31
Gerade bei den sogenannten ‚Psychotikern‘ bedeutet eine ‚gute medika­
mentöse Einstellung‘ der Patienten oftmals die sprichwörtliche ‚halbe Miete‘
im therapeutischen Prozess. Doch die Fallanalysen zeigen auf, dass die hier-
mit einhergehenden Selbst- und Weltverhältnisse keineswegs trivial sind. Selbst
wenn eine passende Medikation gefunden wurde, kann das Vertrauensverhältnis
zwischen Klinik und Patient derart zerrüttet sein, dass die regelmäßige Einnahme
durch den Patienten nicht erfolgt. In einem umgekehrten Fall nahm ein Patient
mit deutlicher ‚Restsymptomatik‘ die Medikamente, die er eigentlich ablehnte,
regelmäßig ein, weil er wusste, dass diese besonders teuer sind. In wieder

31 
Einerder von uns interviewten Patienten hatte aufgrund der Medikation 60 kg
zugenommen.
388 5  Abschließende Diskussion

einem anderen Fall brauchte der Patient kurz vor der Entlassung die Medikation
nicht mehr wirklich, er musste sich mit der betreuenden Ärztin jedoch auf
eine Minimaldosis einigen, die gerade noch hoch genug war, um vom Richter
akzeptiert zu werden. Jenseits der körperlichen Wirkungen der Medikation ist
somit auch die Einbettung in den sozialen Kontext von hoher Bedeutung. Und
umso mehr man im therapeutischen Prozess auf eine funktionierende Medikation
angewiesen ist, umso ratloser ist man, wenn eine solche nicht gefunden werden
kann, da entweder die Nebenwirkungen zu groß sind, der Patient jede Medikation
ablehnt, oder – wie im Fall eines Langzeitpatienten – die Medikamente
‚verstoffwechselt‘ werden, ohne eine Wirkung zu entfalten.
Mittel zur sexuellen Triebdämpfung stellen ebenfalls gezielte Interventionen in
den Patientenkörper dar. Doch wie gerade im Vergleich der Fälle von Herrn Salier
und Herrn Volkert deutlich wird, gilt auch für diese Medikamente, dass sie immer
schon in ein komplexes biopsychosoziales Arrangement eingebettet sind und ihre
Wirkung folglich nicht im Sinne eines einfachen Kausalschemas beurteilt werden
kann. Sie erschließt sich nur über eine Leerstellengrammatik, die damit rechnen
muss, dass sich die Vorzeichen und Kausalitäten an einer Wirkbeziehung ändern
können, je nachdem, wie die Werte an einer anderen Stelle besetzt werden. Die
Bedeutung eines den Sexualtrieb beeinflussenden Medikaments hängt nicht nur
von den körperlichen Effekten ab, sondern auch davon, welchen Stellenwert es
im Selbstverhältnis gewinnt. Je nachdem, ob ‚die Spritze‘ als willkommenes
Therapeutikum oder umgekehrt als eine von außen erzwungene Kastration, d. h.
als ein Gewaltakt gegen die eigene leibliche Integrität erscheint, ändert sich das
Arrangement im Selbst- und Weltverhältnis des Patienten.
Die Sache verkompliziert sich nochmals, wenn die Relation des Personals
zum medikamentös behandelten Patienten betrachtet wird. Einige körper-
liche Wirkungen mögen zwar objektiv feststellbar sein (Senkung des Hormon-
spiegels, etc.), die Bedeutung im Selbst- und Weltverhältnis des Patienten kann
jedoch seitens der Therapeuten, Ärztinnen und Pflegekräfte nur hermeneutisch
erschlossen werden. Wie eingangs festgestellt, gibt es keine unmittelbare Ein-
sicht in das Bewusstsein eines anderen, vielmehr muss hier mit Indizien
gearbeitet werden, welche allerdings jeweils unterschiedlich interpretiert werden
können. Die Differenz von ‚Leib sein‘ und ‚Körper haben‘ kommt entsprechend
gerade auch in Hinblick auf die Frage der Medikation in bivalenter Form zum
Tragen. Herr Zimmermann mag seit Jahrzehnten Neuroleptika nehmen und
als gut ‚gut eingestellter Psychotiker‘ gelten. Dennoch fragen sich manche in
der Klinik, ob er wirklich psychotisch ist, da ihn noch nie jemand psychotisch
erlebt hat. Herr Salier wiederum sieht das triebhemmende Salvacyl laut eigener
Äußerungen als seinen „Lebensretter“ an, und dennoch will sich ein Teil des
5.2  Der Körper im Arrangement 389

Personals hinsichtlich einer möglichen Entlassung nicht auf seine emphatischen


Äußerungen verlassen.
An solchen Beispielen wird deutlich, dass sich auch für das Personal die
Wirkbeziehungen der medikamentösen Intervention nicht monokausal, sondern
nur mit Blick auf die Besetzung der Werte an den anderen Stellen der Leer-
stellengrammatik erschließen lässt. Dass sich ein Patient zur Einnahme einer
triebdämpfenden Medikation entschlossen hat, kann gleichzeitig als Zeichen
für die nun endlich erfolgte Krankheitseinsicht und als Legitimation in Hin-
blick auf Lockerungsentscheidungen genommen werden. Man kann sich nun auf
(vermeintlich) harte Fakten berufen: ‚Er hat ja die Spritze bekommen.‘ Und die
bereits angesprochenen Nebenwirkungen (etwa Gewichtszunahme) können ihrer-
seits als eine Form körperlicher Evidenz eines laufenden Behandlungsprozesses
genommen werden.
Somit lässt sich festhalten: Die rein körperliche Intervention hat keine
Wirkung an sich, sondern es ist jeweils das relationale Geflecht innerhalb der
Leerstellengrammatik des forensischen Arrangements zu betrachten. Sowohl
die Tatsache der Medikamentengabe, ihre körperliche Wirkung wie auch die
Motive, welche den Beteiligten in Hinblick auf die Entscheidung zugerechnet
werden, stellen somit Positionen dar, die in der Praxis zu ganz unterschied-
lichen Konstellationen zusammenfinden – und dementsprechend unterschiedliche
Wirkungen entfalten.

Körperliche Deprivation

In engem Zusammenhang mit den in diesem Abschnitt angesprochenen Punkten


steht ein Aspekt, den wir übergreifend als ‚körperliche Deprivation‘ bezeichnen
wollen. Hierunter fallen unterschiedliche Aspekte. Die „sexuelle Deprivation“
(vgl. für den Strafvollzug Döring 2006) beispielsweise ergibt sich nicht allein aus
einer unmittelbar triebhemmenden Medikation oder als Nebenwirkung anderer
Psychopharmaka, sondern ebenso aus den eingeschränkten Möglichkeiten,
eine ‚normale‘ Sexualität innerhalb des Maßregelvollzuges auszuleben. Hinzu
tritt die soziale Deprivation. Die Unterbringung in der forensischen Psychiatrie
beschränkt den sozialen Austausch weitestgehend auf therapeutisches Personal
und andere psychisch kranke Rechtsbrecher und manifestiert somit die Zuge-
hörigkeit zu einer Randgruppe mit tendenziell niedrigem gesellschaftlichen
Status. Je nach architektonischer Ausgestaltung (etwa beengende, monotone Ver-
hältnisse) und zeitlicher Dauer der Unterbringung (langjähriger Freiheitsentzug)
können auch sensorische Deprivationserscheinungen auftreten.
390 5  Abschließende Diskussion

Die für den Maßregelvollzug typische Dämpfung bestimmter körperlicher


Funktionen erscheint dabei nicht nur als Nebenfolge eines Regimes, für das ein
tendenziell antriebsärmerer leiblicher Grundzustand nicht der schlechteste Modus
der Anpassung ist. Vielmehr scheint die Einhegung der körperlichen Expressivi-
tät des Patienten aus therapeutischer oder pflegerischer Perspektive allein schon
deshalb geboten, weil die Untergebrachten ihr problematisches Selbst- und Welt-
verhältnis gerade nicht ausagieren sollen. Man will (aus guten Gründen) nicht,
dass der Schizophrene seine Verwandten, die er für vom Geheimdienst gesteuert
hält, angreift oder gar tötet. Man will nicht, dass der Pädophile sich an Kindern
vergreift. Ebenso will man nicht, dass der Dissoziale allen ‚auf die Fresse‘
haut, wenn ihm etwas nicht passt. Rausch, Fest und Ekstase, die von Autoren
wie Georges Bataille als das eigentliche Leben beschrieben werden,32 sind im
Maßregelvollzug unerwünscht. Und da die psychische Krankheit immer auch im
Körper verortet wird, muss der Körper diszipliniert werden. Dass die diesbezüg-
lichen Arrangements gelegentlich auch über das Ziel hinausschießen, wird im
Feld dann unter dem Begriff der ‚Hospitalisierung‘ reflektiert.
Einen Beitrag zur Deprivation leistet auch das – gerade in kleineren Kliniken
– eingeschränkte Beschäftigungsangebot. Obschon wir in allen Kliniken die
Bemühungen beobachten konnten, den Patienten angemessene Tätigkeiten zu
ermöglichen, lassen in vielen Fällen allein die Zeithorizonte der Unterbringung
hier keine angemessene Diversität zu. Unseren Interviews und Beobachtungen
zufolge scheint dies gerade in jenen Fällen problematisch, die immer wieder auf-
grund kleinerer Fehltritte für einige Jahre zurückgeworfen werden (vgl. die Fall-
vignette von Herrn Sommer).
Der Patient mag dann zwar noch ein normales, erfülltes Leben außerhalb
der Klinikmauern ersehnen oder imaginieren, doch der Körper wird mit der
Zeit so träge, dass selbst die Teilnahme an den Ergo- oder kunsttherapeutischen
Programmen zu viel scheint, zumal wenn man das Programm der hier
angebotenen Beschäftigungen bereits mehrmals durchlaufen hat. Bei kognitiv
fitteren Patienten kommt das Problem der Langeweile hinzu. Man denke
hier an das Beispiel von Herrn König, der sich ideell in der leistungsstarken
Position eines in Vollzeit tätigen Geschäftsführers sieht, dann aber in der Visite
um die Reduktion der Arbeitstherapie feilscht, da diese ihm sowieso nichts
bringen würde und er zudem lieber ausschlafen wolle. Einerseits liegt hier die
Argumentation der Klinik nahe: wie wollen Sie denn Geschäftsführer sein, wenn

32 Siehe zur Auseinandersetzung mit Bataille etwa „Welt der Abgründe“ (Boelderl 2015)..
5.3  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie – eine Revision 391

Sie es hier noch nicht einmal in die Ergo schaffen? Zugleich muss jedoch bedacht
werden, dass es eben auch etwas geben muss, für das es sich lohnt, aufzustehen.
Als ein Beispiel für ein motivierendes Setting ist hier die tiergestützte Therapie
zu nennen, die wir besonders in einer Klinik intensiv mitverfolgen konnten. Hier
konnte bei einem Patienten mit einer besonders problematischen Vergangenheit
(einschließlich gewalttätiger Übergriffe auf das Personal) wieder eine Form von
Beziehungsfähigkeit aufgebaut werden, die nicht über therapeutische Gespräche
funktionierte.
Die Deprivation durch verminderte Möglichkeiten sozialer Interaktionen und
Sinnrealisation bleibt damit für die forensische Psychiatrie – die immer auch
den Auftrag von Therapie und Besserung sowie die Möglichkeit der Entlassung
aufgrund des Verhältnismäßigkeitsgebots mitführt – ein Thema, das nach sub-
tilen Balancen verlangt. Einerseits ist es das Ziel des Maßregelvollzugs, dass die
Patienten ihre Lebensform gerade nicht in ihrer vollen leiblichen Expressivität
verwirklichen, andererseits aber sollen sie auf einem Aktivitätsniveau gehalten
werden, das sie im Sinne der gängigen Normalitätserwartungen am Alltags-
leben teilhaben lässt. Was der forensischen Psychiatrie qua blindem Fleck nicht
zugänglich ist, ist die berechtigte Überlegung, ob sie aufgrund ihrer archi-
tektonischen, rechtlichen und medizinischen Rahmenbedingungen nicht ein denk-
bar ungeeigneter Ort ist, um dieser Aufgabe gerecht zu werden – also ob hier mit
Blick auf die Ziele Therapie, Besserung und Rehabilitation überhaupt eine für
den Patienten angemessene Balance gefunden werden kann.

5.3 Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie –


eine Revision

An dieser Stelle werden wir die Bezugsprobleme, welche die Fallauswahl


im zweiten Teil des Buches strukturiert haben, noch einmal zusammenfassen
und abschließend besprechen. Wenngleich in jeder Fallrekonstruktion jeweils
ein oder zwei Bezugsprobleme besonders herausgestellt wurden, gehen wir
davon aus, dass die hiermit einhergehenden Dilemmata mehr oder weniger alle
Behandlungsprozesse prägen, auch wenn sie nicht in jedem Einzelfall explizit in
Erscheinung treten.
Ebenso ist nochmals darauf hinzuweisen, dass die Bezugsprobleme jeweils
das gesamte Arrangement betreffen, also sowohl die Patienten wie auch die
professionellen Akteure und schließlich auch die Organisation, welche die
institutionellen Rahmenbedingungen des Maßregelvollzugs stellt. Die Bezugs-
probleme wie auch die spezifischen Formen ihrer Bearbeitung sind Ausdruck der
392 5  Abschließende Diskussion

Leerstellengrammatik der forensischen Psychiatrie – also des Zusammenwirkens


all der Positionen, welche die Dynamik des Geschehens im Maßregelvollzug an
unterschiedlicher Stelle konditionieren.
Ein Bezugsproblem ergibt sich dabei – um nochmals kurz die methodo-
logische Einführung aus Kap. 1 zu rekapitulieren – aus der Analyseeinstellung
der funktionalen Methode. Deren Vorgehensweise besteht grundsätzlich darin,
aus Sicht einer bestimmten Position im Arrangement (etwa des Patienten,
der Pflegekräfte, der Therapeuten oder der Organisation) Problem-Lösungs-
zusammenhänge zu formulieren, sodass die empirisch gefundenen Verhält-
nisse der jeweils beobachteten Position (etwa das renitente Verhalten eines
Patienten) als – mehr oder weniger zweckmäßige – Antwort auf eine bestimmte,
durch das Arrangement verursachte Herausforderung erscheint. Diese Heraus-
forderung bezeichnen wir als Bezugsproblem. Die funktionale Perspektive
macht die Kontingenz der gefundenen Lösung sichtbar, indem sie im Verweis
auf andere Fälle alternative Weichenstellungen aufzeigt. Damit wird deutlich,
dass die jeweils zu beobachtenden Konstellationen mit all ihren Problematiken
keine ‚in der Natur der Sache‘ liegende Notwendigkeit darstellen – dass folg-
lich andere, womöglich bessere, Lösungen gefunden werden können. Wenn-
gleich mit Blick auf die Freiheitsgrade an den unterschiedlichen Positionen der
Leerstellengrammatik deutlich wird, dass stets alternative Wege eingeschlagen
werden können, bedeutet dies jedoch nicht, dass beliebige Arrangements mög-
lich sind. Vielmehr definieren die jeweiligen Bezugsprobleme einen Korridor an
möglichen Bearbeitungsformen. Es gibt einen gewissen Spielraum für andere
Lösungen, der jedoch begrenzt ist. Angesichts der Komplexität der Verhältnisse
und Bedingungsfaktoren können Bezugsprobleme und die mit ihnen einher-
gehenden Lösungen zudem nur bedingt theoretisch abgeleitet werden. In valider
Form ergeben sich Bezugsprobleme und die Typologie ihrer Lösungen erst durch
die empirische Rekonstruktion auf Basis komparativer Fallanalysen.

Autonomie unter Zwang

Das Bezugsproblem „Autonomie unter Zwang“ ist so konstitutiv für den


Maßregelvollzug, dass wir es in den vorangehenden Abschnitten bereits in unter-
schiedlichen Schattierungen diskutiert haben. Kaum ein Mensch geht zunächst
freiwillig in den Maßregelvollzug. Erst für den einen oder anderen Langzeit-
patienten mag dieser Ort im Lauf der Jahre zu einer Art Heimat werden, die dann
auch im Falle einer Entlassung wieder angestrebt wird. Für die von einer Ein-
weisung betroffene Person stellt sich hiermit die Frage, wie unter dieser Voraus-
5.3  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie – eine Revision 393

setzung das eigene Selbst- und Weltverhältnis aufgebaut und aufrechterhalten


werden kann. Sich vollkommen dem Regime des Maßregelvollzugs hinzugeben,
mag für einige wenige Patienten möglich sein,33 für viele – wenn nicht gar für die
meisten Patienten – funktioniert dies nicht. Auf der anderen Seite zielt das ganze
Vorhaben der Therapie und Rehabilitation nicht zuletzt darauf ab, dem Patienten
zumindest wieder ein wenig mehr Autonomie zu ermöglichen – doch dies
geschieht in einer „totalen Organisation“ (Goffman 1973), die allein aufgrund
der Klinikmauern und der Abhängigkeit von den ärztlichen Entscheidungen den
autonomen Ausdruck der Persönlichkeit in nahezu allen seinen lebensrelevanten
Aspekten erheblich einschränkt. Hiermit ist ein fundamentales Dilemma gegeben,
das nur durch eine raffinierte Praxis bewältigt werden kann, die beiden Seiten
gerecht wird. Wenn es der Klinik mit der Zeit gelingt, dem Patienten gegenüber
als eine Einrichtung zu erscheinen, die nicht seine Persönlichkeit brechen will,
sondern ihm helfen möchte, mit sich und seiner Welt besser zurechtzukommen,
kann sich der Patient auf die geforderte therapeutische Veränderung einlassen und
sie womöglich gar zu seinem eigenen Ziel machen – vielleicht allein schon des-
halb, weil er nicht sein Leben lang in der Einrichtung verbleiben möchte.
Dass es zu solch einem Arrangement kommt und dass dieses dann zu einer
erfolgreichen Rehabilitation führt, ist – wie die vorangehenden Ausführungen
deutlich machen – sehr voraussetzungsvoll. Das Personal hat eine Balance zu
finden, in der es den Patienten einerseits in seinen Marotten akzeptieren, d. h.
ihn so lassen kann, wie er ist (da manche ungewöhnliche Eigenart eben zu seiner
Persönlichkeit gehört), andererseits aber einen gewissen Druck in Richtung
Therapie und Veränderung entfaltet. Die Organisation muss hinreichend Bereiche
und Beziehungsoptionen zur Verfügung stellen, die nicht allein therapeutisch
oder erzieherisch gerahmt sind und in denen sich der Patient noch einigermaßen
als ‚normal‘ erleben kann. Mehr als eine klinische Normalität kann eine solche
Einrichtung aber nicht bereitstellen. Leicht kann es dabei zu Weichenstellungen
kommen, in denen sich Therapie- und Autonomiebewegung in unproduktiver
Weise kurzschließen, etwa indem die Schuldfrage überhandnimmt oder der

33 Man mag hier etwa an junge Patienten aus dem bürgerlichen Milieu denken, die das
Regime des Maßregelvollzugs mit ihren eigenen Werten bzw. Normalitätsvorstellungen in
Einklang bringen und sich entsprechend auch schnell auf die Therapie einlassen können.
In Einzelfällen gewinnen diese Patienten – etwa nach erfolgreicher medikamentöser Ein-
stellung – schnell ihre Autonomie zurück und werden dann auch so zeitig entlassen, dass
die Möglichkeiten einer ‚normalen‘ bürgerlichen Biografie zumindest prinzipiell noch vor-
handen sind.
394 5  Abschließende Diskussion

Patient sich das therapeutische Regime so weit zu eigen macht, dass (auch für
ihn selbst) kaum mehr eine Lebensäußerung als normal und nicht veränderungs-
bedürftig erscheint. Totale Therapie erscheint angesichts der widersprüchlichen
Aufgabe „Autonomie unter Zwang“ ebenso wenig sinnvoll wie ein Regime, das
es dem Patienten zu leicht macht, sich dem therapeutischen Anspruch der Klinik
zu entziehen.
In Hinblick auf das organisatorische Setting erscheint hiermit vor allem ein
hinreichend vielfältiges Arrangement produktiv, das in seiner Leerstellen-
grammatik sowohl Positionen vorsieht, in denen der Patient als normaler Mensch
agieren kann, als auch solche, die immer wieder den therapeutischen Auftrag
aktualisieren. Nicht zu unterschätzen sind dabei auch Positionen außerhalb der
Klinik, etwa Anwälte, die eine Allianz mit den Patienten bilden, oder aber auch
Beziehungen zu Verwandten oder gar realitätsnahe Arbeitsverhältnisse, die eben-
falls die Erfahrung und Erinnerung an eine Normalität außerhalb der Klinik
reaktualisieren lassen.

Bedrohung durch Stereotypen

Die Bedrohung durch Stereotypen – etwa die Interpretation und Deutung von
Gedanken, Empfindungen, Emotionen, sozialen Beziehungen und anderen
menschlichen Ausdrucksformen als ‚defizitär‘ oder ‚krank‘ – stellt ein weiteres
zentrales Bezugsproblem dar, das alle von uns untersuchten Fälle betrifft. Einer-
seits stellen das Stigma einer psychischen Erkrankung und die hiermit einher-
gehenden Stereotypen die eigene Identität des Patienten infrage, andererseits
gilt es jedoch ein Selbst- und Weltverhältnis zu aktivieren, entsprechend dem der
Patient autonom und im Vertrauen auf seine eigenen Ressourcen zu agieren lernt.
Psychisch krank zu sein, sich am unteren Ende der sozialen Hierarchie einer
Gesellschaft zu befinden, in einer forensischen Psychiatrie untergebracht zu
sein, zahlt nicht auf den eigenen Selbstwert ein. Entsprechend kann es für einen
Patienten durchaus stabilisierend sein, diese Zuschreibungen nicht anzunehmen
und auf die eine oder andere Weise das psychiatrisch-therapeutische Regime
nicht so nahe an sich heranzulassen. Auf diese Weise kann zumindest imaginär
ein anders verortetes Selbst aufgebaut werden. Konkret kann dies dann etwa so
aussehen, dass man sich in der Klinik fehl am Platz oder gar ungerechterweise
untergebracht sieht.
Hierfür stand zunächst Frau Schmidt, die sich gemeinsam mit ihrem Partner
und späteren Ehemann eine alternative Realität aufgebaut hat. Aber ebenso
lassen sich Herr Saliers sexuelle Phantasien als ‚mächtiger‘ Vergewaltiger und
5.3  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie – eine Revision 395

das Simulieren von Psychotherapie im Modus des Als-ob unter dem Blickwinkel
der Bedrohung von Stereotypen betrachten – nämlich als ein Versuch, sich nicht
der Zuschreibung ‚krank‘ zu beugen und die eigene Identität aufrechtzuerhalten.
Auch Herr Volkert wehrt sich gegen die Zuschreibung des pädophilen Täters –
diese kann von ihm schlichtweg nicht akzeptiert werden, was wiederum den
therapeutischen Bemühungen entgegensteht, bei ihm ein hinreichendes Problem-
bewusstsein hinsichtlich seines sexuellen Begehrens zu wecken.
Selbst Herr König, der immer weniger an den Arbeitstherapien teilnimmt
und sich stattdessen in einer wirkmächtige Leitungsposition imaginiert, kann
unter diesem Blickwinkel betrachtet werden. So lässt sich sein Verhalten etwa
als Versuch deuten, ein Selbstverhältnis aufzubauen, welches anstelle der
problematisierenden Zuschreibungen der Klinik die eigene Leistungsfähigkeit
betont und sich somit durch einen erhöhten Selbstwert auszeichnet. In diesem
Sinne muss die Ergotherapie als langweilig gerahmt werden, da eine – vielleicht
gar nicht leistbare – ernsthafte Teilnahme immer Gefahr läuft, ihm vor Augen zu
führen, dass er gar nicht so leistungsfähig ist, wie er denkt.
Eine Bedrohung durch Stereotypen (insbesondere das Stigma der „seelischen
Abartigkeit“34) lässt sich in einer psychiatrischen Klinik wohl kaum vermeiden,
setzt die Therapie doch voraus, dass der Patient anerkennt, psychisch krank und
ohne therapeutische Behandlung für andere Menschen gefährlich zu sein. Eine
besondere Schwierigkeit liegt für die professionellen Akteure daher darin, auf
die Krankheitseinsicht des Patienten hinzuwirken, ohne ihn aber in einer unan-
gemessenen Weise zu pathologisieren. Hierbei geht es nicht nur darum, dem
Patienten als Individuum gerecht zu werden. Es liegt auch im Interesse der
Klinik, seine für den therapeutischen Fortschritt notwendige Selbstwirksamkeit
möglichst nicht zu untergraben.
Nach den Erkenntnissen unsere Studie scheint diese Problematik dort zu einer
brauchbaren Praxis zu finden, indem die Organisation mit Blick auf die Leer-
stellengrammatik des forensischen Arrangements unterschiedliche Positionen
bereithält, sodass die Patienten mit je unterschiedlichen Zuschreibungen
konfrontiert sind. Auf diese Weise wird eine Reduzierung ihrer komplexen
Individualität auf wenige und (noch dazu problematische) Merkmale ver-
mieden; stattdessen können sie sich in unterschiedlichen Rollen erleben, in denen
die unterschiedlichen Facetten ihrer Persönlichkeit zum Tragen kommen. So

34 Sonoch die Bezeichnung in § 20 Strafgesetzbuch, Stand 2018. Im Jahr 2020 wurde im


Zuge einer sprachlichen Änderung die „Abartigkeit“ durch „Störung“ ersetzt.
396 5  Abschließende Diskussion

erscheint beispielsweise Frau Schmidt in der Textilwerkstatt als selbstwirksame


Arbeitskraft, in der Oberarztvisite als Borderline-Patientin, in der Beziehung zur
Psychotherapeutin als jemand, der große Fortschritte gemacht hat, und bei ihrem
Anwalt als eine juristische Person, deren Rechte gegenüber der Klinik zu ver-
treten sind. Hiermit kann gleichsam eine Art Arrangement geschaffen werden,
welches die totale Institution, die sich per definitionem dadurch auszeichnet, dass
alles unter einer Autorität (die alles kontrolliert) stattfindet, zumindest ansatz-
weise unterläuft.
Im Sinne von Karl E. Weick (1998) erscheint es damit sinnvoll, dass die
einzelnen Positionen kommunikativ nicht zu fest gekoppelt sind, um die jeweils
unterschiedlichen Weisen, wie sich der Patient hier jeweils im Selbst- und Welt-
verhältnis hervorbringen kann, stabil zu halten (um sich dann beispielsweise im
Arbeitskontext als ‚normal‘ zu empfinden, während in der Oberarztvisite seine 
Krankheit im Vordergrund steht). Eine nur lose Koppelung von Perspektiven
in der komplexen Organisation des Maßregelvollzugs kann dabei durchaus von
Vorteil sein. Allerdings darf man es hierbei auch nicht übertreiben. Aus nahe-
liegenden Gründen (etwa mit Blick auf die Abschätzung der Gefährlichkeit des
Patienten) muss man es vermeiden, die einzelnen Bereiche so weit zu entkoppeln,
dass „die rechte Hand nicht mehr weiß, was die linke tut“ (Simon 2007).
Das Problem der Bedrohung durch Stereotypen ist allein schon deshalb
hartnäckig, da die vom Klinikpersonal getroffenen Einschätzungen und Kate-
gorisierungen – etwa als medizinische Diagnosen – Teil des forensischen
Arrangements sind und es kaum zu verhindern ist, dass sie neben ihrem eigent-
lichen therapeutischen Zweck eben auch als Heuristiken im alltäglichen Umgang
mit den Patienten genutzt werden (etwa in dem Sinne, dass man sich vorab darauf
einstellen kann, was man von ‚Schizophrenen‘, einem ‚Pädophilen‘ oder von
einem ‚Drogensüchtigen‘ zu erwarten hat). Solche Typisierungen machen den
Alltag aus Sicht des Personals zwar handhabbarer, laufen aber Gefahr, im Sinne
einer Self-fulfilling-Prophecy totale Identitäten zu konstruieren, aus denen der
Patient sich nicht mehr herauslösen kann.

Positives Kohärenzgefühl

Eng verwandt mit dem vorangehenden Bezugsproblem – gewissermaßen die Kehr-


seite der Medaille – ist der Umstand, dass die aus klinischer Sicht problematischen
Zustände (etwa im Wahnerleben) oder Verhaltensweisen für manche Patienten mit
einem positiven Kohärenzgefühl (Antonovsky 1997) bzw. Selbstwertgefühl ver-
bunden sind, während Krankheitseinsicht und Therapie eher negativ konnotiert
5.3  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie – eine Revision 397

werden. Erst durch die Pathologisierung bzw. die therapeutische Thematisierung


werden bestimmte Emotionen und Handlungsorientierungen für den Patienten
fragwürdig und die Konsequenzen seines Handelns als problematisch markiert.
Es entbehrt nicht einer gewissen Tragik, dass Therapie in manchen Fällen
zunächst einmal bedeutet, gerade diejenigen Prozesse unterbinden zu müssen,
die das Selbst- und Weltverhältnis stabilisieren. Verglichen mit dem Problem der
Bedrohung durch Stereotypen sind die Vorzeichen hier gewissermaßen umgekehrt:
Der gefühlsmäßig negative Wert ist der therapeutisch positive und die delikt-
bezogenen positiven Gefühle sind die aus Sicht der Klinik problematischen,35
weshalb sich hier nicht eine lose, sondern eine feste Koppelung zwischen den
Positionen der therapeutischen Leerstellengrammatik empfiehlt, um die positiv
empfundene Identität in einer solchen Weise zu problematisieren, dass sie auch
seitens des Patienten nicht mehr wünschenswert erscheint.
Die hiermit einhergehenden Prozesse sind alles andere als trivial. Es ist nicht
damit getan, einfach den Patienten mit seiner Tat zu konfrontieren, damit dieser
das Unrecht endlich einsieht.36 Manche Patienten können ihre Krankheit als
‚Deliktteil‘ so stark abspalten, dass sie vom therapeutischen Druck nicht berührt
werden, oder sie rasten bei entsprechenden kritischen Bemerkungen aus (siehe
das Beispiel der Oberarztvisite von Herrn Volkert). Am Ende gilt es auch hier,
pragmatische Kompromisse zu finden; wie etwa bei Herrn König abzutasten, wie
viel an Wahn man dem Patienten noch zugestehen kann, ohne dabei zu riskieren,
dass die hiermit einhergehenden ‚Störungen‘ ein Eigenleben führen, das in selbst-
oder fremdverletzende Taten mündet.
Die Spannung zwischen dem Selbstverhältnis des Patienten und dem
Arrangement der Klinik kann dabei auch genutzt werden, um gewissermaßen
eine Art ‚Umkippen‘ des Patienten oder zumindest eine bessere Anpassung an
die Klinik zu provozieren. Mit Blick auf ersteres denke man etwa an die Rück-
nahme des Ausgangs von Herrn Salier, als dieser unerlaubterweise Kontakt mit
Mädchen einer anderen Einrichtung aufgenommen hatte und in der Therapie-
gruppe aufgefordert wurde, seine sexuellen Phantasien zu offenbaren. Mit

35 Esmögen auch Fälle denkbar sein, in denen die Krankheit positiv, die Taten aber negativ
besetzt sind und umgekehrt. In Sinne der Leerstellengrammatik des forensischen Arrange-
ments ist also jeweils im Einzelfall zu rekonstruieren, wie und unter welchem Vorzeichen
sich die jeweiligen Stellen und Positionen zueinander verhalten.
36 Das ist ja genau die Grundlage der Schuldunfähigkeitserklärung (§ 20 StGB), die hiermit

konterkariert wird.
398 5  Abschließende Diskussion

Blick auf zweiteres kann das Beispiel von Frau Schmidt angeführt werden, als
sie nach dem Fluchtversuch die Macht der Klinik begreift und beginnt, sich den
im Maßregelvollzug gültigen Spielregeln anzupassen, nicht zuletzt, um eine
Perspektive auf Entlassung zu gewinnen.
Das Bezugsproblem des „positiven Kohärenzgefühls“ ist zunächst aufseiten
der Klinik bzw. der Therapeuten und Ärzte zu verorten, denn mit Blick auf
ihren Behandlungsauftrag erscheint es für sie – und nicht für den Patienten –
als Problem, wenn dieser sich etwa mit seinem Deliktverhalten identifiziert. Für
den Patienten wird dies erst dann zum Problem, wenn er merkt, dass die Klinik
dies nicht toleriert, und weitere Lockerungen von entsprechenden Änderungen
abhängig macht. Entweder es kommt in der Folge tatsächlich zu einer erkenntnis-
theoretischen Wende dahin gehend, dass der Patient seine Krankheit und die
damit verbundenen Taten nun tatsächlich problematisiert und somit und somit
auch auf gefühlsmäßiger Ebene die Wertordnung der Klinik übernimmt. Oder
er gibt sich ‚nach außen‘ reumütig, ohne ‚nach innen‘ substantiell das mit der
Krankheit verbundene Kohärenzgefühl aufzugeben.

Internalisierung des psychiatrischen Regimes

Als weiteres Bezugsproblem haben wir eine bestimmte Form der Internalisierung
des psychiatrischen Regimes identifiziert, die üblicherweise unter dem Begriff
‚Hospitalisierung‘ gefasst wird.37 Anders als bei der Bedrohung durch Patho-
logisierung geht es hier jedoch weniger um die Frage der (Nicht-) Integration von
problematischen Zuschreibungen in das Selbst- und Weltverhältnis als vielmehr
um die habituelle Gewöhnung an die Strukturen und Abläufe des Klinikalltags.
Zwar ist es durchaus erwünscht, dass die Patienten sich an die in der Klinik
geltenden Normalitätserwartungen anpassen; und gerade hierfür kann die für den
Maßregelvollzug charakteristische Isolierung von der Außenwelt von Vorteil sein.
Doch werden Anpassung und Isolation zum Problem, wenn Patienten jeglichen
Bezug zur Realität außerhalb der Klinik verlieren und infolgedessen nicht mehr
in der Lage sind, mit komplexeren Anforderungen der modernen Gesellschaft
zurecht zu kommen. Dies gilt insbesondere für Menschen, die viele Jahre oder

37 Das psychiatrische Regime kann seitens der Patienten noch in einer anderen Form inter-

nalisiert werden, etwa durch die besonders strebsamen Patienten, die alles richtig machen
wollen, sich konform verhalten und gerade dadurch die Chance bekommen, schneller ent-
lassen zu werden.
5.3  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie – eine Revision 399

gar den Großteil ihres Lebens in institutionalisierten Kontexten (etwa Heimen


und Gefängnissen) verbracht haben. Im Extremfall kann dies zur Folge haben,
dass die Patienten nur noch innerhalb der Klinik ein stabiles Selbst- und Welt-
verhältnis ausbilden können. Ein Rehabilitationsprozess ist dann nicht mehr mög-
lich, da die Klinik zum konstitutiven Teil des Selbst- und Weltverhältnisses des
Patienten geworden ist.
Das Problem besteht für das Personal nun darin, dem Patienten einerseits
Aktivitäten und Freiheitsgrade zumuten zu müssen, damit er beweglicher bzw.
aktiver wird, ohne ihn dabei jedoch andererseits zu überfordern. Wenn er an zu
hohen Anforderungen seitens der Klinik scheitert, so würde dies wiederum auf
den Habitus des hospitalisierten Patienten einzahlen.
Aus Perspektive der funktionalen Analyse stellt sich dieses Bezugsproblem
nur für das Personal als Problem dar, das ja einerseits den Auftrag der Besserung
und Resozialisierung noch mitzuführen hat, anderseits aber auch mit Blick auf
die Arbeitsbelastung der Pflege bei den Patienten ein gewisses Aktivitätsniveau
halten möchte (ein zu passiver Patient ist nicht wünschenswert). Aus Perspektive
des Patienten kann demgegenüber die Hospitalisierung – etwa im Sinne einer
„sekundären Anpassung“ (Goffman 1973) – als eine Lösung verstanden werden.
Er hat hiermit nämlich ein Selbst- und Weltverhältnis gefunden, das es ihm
erlaubt, mit den Zumutungen des Maßregelvollzugs und einer als gescheitert zu
betrachtenden Existenz umzugehen.
In den vorgelegten Fallrekonstruktionen haben wir stark hospitalisierte
Patienten nur am Rande mitgeführt (etwa in den Fallvignetten von Herrn Sommer
und Herrn Hutter), da in diesen Fällen in Hinblick auf Rehabilitation wenig
passiert. Wir sind entsprechend hier nicht in der Lage, die Komplexität des
Beziehungsgeflechts, das mit der Weichenstellung in Richtung Hospitalisierung
einhergeht, auf Basis empirischer Rekonstruktionen vollends aufzuschließen.

Beziehung als Existenzverhältnis

Wie im vorangehenden Abschnitt diskutiert, wird mit dem Begriff der


Hospitalisierung die Tatsache bezeichnet, dass sich manche Patienten an das
Behandlungsregime so sehr gewöhnen, dass sie außerhalb therapeutischer und
pflegerischer Institutionen nicht mehr überlebensfähig erscheinen. Diese – aus
Sicht der Klinik – ‚falsche‘ Anpassung stellt für den Behandlungsprozess ein
Problem dar. Ein Loslösen aus diesen selbstgeschaffenen Abhängigkeiten ist
nicht trivial (vgl. auch Hoffman 2003), denn das Problem liegt seitens der Klinik
zunächst darin, Folgendes unterscheiden zu können:
400 5  Abschließende Diskussion

a) Ist ein Patient so krank, dass er auf die Strukturen der Klinik angewiesen ist?
Für die Klinik ist in diesem Fall (aufgrund ihrer eigenen Standortgebunden-
heit) gar nicht vorstellbar, dass dieser Patient auch in anderen Strukturen
‚funktionieren‘ würde. Die Klinik erscheint sich selbst als Lösung des
Problems des Patienten.
b) Oder aber der Patient ist erst durch die Unterbringung in der Klinik in eine
Abhängigkeit von deren Strukturen geraten. Jede weitere therapeutische Arbeit
innerhalb der Klinik würde dann nur ein Verfestigen eben jener Abhängigkeit
bedeuten. Und die Klinik müsste sich selbst als Problem begreifen.

Wenn wir jedoch den Blickwinkel ein wenig verschieben, erscheint jenseits des
medizinischen Zweckauftrags ein anderes Bezugsproblem, das darin begründet
liegt, dass menschliches Leben und menschliches Bewusstsein vor allem in
Beziehung zu anderen Menschen entstehen. Thomas Fuchs spricht davon, dass
das menschliche Gehirn ein „Beziehungsorgan“ ist (T. Fuchs 2020). Humberto
R. Maturana schreibt, dass „unsere Körperlichkeit“ sich „in dem Maße wie
unsere Beziehungen verändert und umgekehrt.“38 Stabile Beziehungen sind nicht
nur einer der zentralen Prädiktoren für menschliche Gesundheit, sondern für
Lebensqualität allgemein. Für Menschen, die über Jahre in einer geschlossenen
psychiatrischen Einrichtung untergebracht sind, stellen Mitpatienten wie auch
das Personal oftmals die einzige Möglichkeit dar, Beziehungen aufzubauen
und zu halten – und wenn dies auch nur heißt, jemanden zu haben, dessen
Reaktionen einem vertraut sind oder der einen mit all seinen Macken kennt und
damit irgendwie umgehen kann. Hiermit verknüpft sind dann, trotz aller Widrig-
keiten des klinischen Rollengefüges, mitunter auch freundschaftliche Gefühle
oder gar die Möglichkeit, so etwas wie Gemeinschaft zu empfinden.39 Analytisch
gesehen ist dies etwas anderes als die Regression in die Hilfsbedürftigkeit eines
hospitalisierten Patienten. Hiermit kommt vielmehr die natürliche Qualität von
Beziehungen zum Ausdruck, die jeden Menschen nährt.

38 Maturana (1994).
39 Die genauere Analyse der Gesprächsprotokolle einiger Patienten wird dann vermutlich
zeigen, dass immer beides gleichzeitig der Fall ist. Und damit ist mit der bevorstehenden
Entlassung zugleich eine immer auch problematische Trennung vorprogrammiert. Dies
kreuzt sich dann mit der Frage, wie man sich als Patient zum medizinischen Regime
verhalten soll, inwieweit dabei Beziehungen oder gar eine Art von Freundschaft mit
Therapeuten oder Mitgliedern vom Personal aufgebaut werden kann, zumal ja gute Gründe
bestehen, das Regime abzulehnen.
5.3  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie – eine Revision 401

Der Maßregelvollzug steht hier vor dem Dilemma, dass einerseits genau diese
tragenden Beziehungen im Sinne der Milieu- oder Soziotherapie zu unterstützen
und zu fördern sind, da dies als ein wichtiger Indikator der Heilung zu betrachten
ist, andererseits jedoch der Maßregelvollzug von seiner Organisation wie auch
von seinem Zweckauftrag her nicht auf dauerhafte Beziehungen hin angelegt ist.
Therapeuten wechseln häufig, Patienten werden verlegt oder entlassen. Zudem
erscheint das Personal strukturell immer wieder als Gegner und nicht als Partner
(etwa, wenn es Freiheiten einschränkt).
Die Organisation des Maßregelvollzugs, sein Zweckauftrag wie auch die
nur schwer zu vermeidende Bedrohung durch die Stereotypen des psychisch
Kranken stehen dem Aufbau gemeinschaftlicher Beziehungen tendenziell ent-
gehen.40 Auch die therapeutische Beziehung ist per se auf ihre Überwindung hin
angelegt, nicht auf Dauerhaftigkeit. Das ganze Vorhaben des Maßregelvollzugs
beruht auf ontologischen und erkenntnistheoretischen Annahmen, welche den
Patienten als einen von seinem institutionellen und gesellschaftlichen Umfeld
getrennten Organismus ansehen, der behandelt wird und im besten Fall gleich-
sam ‚repariert‘ entlassen werden kann. Man hat ihn medikamentös richtig ein-
gestellt (biologisches Paradigma), seine Verhaltens- und Reaktionsmuster durch
entsprechende Trainings ausgerichtet (verhaltenstherapeutisches Paradigma)
oder ihn dazu gebracht, die zuvor externalisierten Beziehungsobjekte nun
als Ressourcen internalisiert zu haben (so der psychodynamische Zugang im
Anschluss an Melanie Klein und Donald W. Winnicot).41
Beziehungen erscheinen innerhalb der Institution Maßregelvollzug als
Mittel zum Zweck, einen autonomen Menschen hervorzubringen, jedoch nicht
als Zweck oder Sinn für sich. Die forensische Psychiatrie konstituiert sich
durch einen gesellschaftlichen Zweckauftrag. Es geht um Therapie, Sicherung,
vielleicht noch um Pflege, nicht jedoch um Gemeinschaft oder gar darum, dass
sich Patienten hier heimisch fühlen – und jeder Versuch, so etwas wie eine
personenzentrierte Zwischenmenschlichkeit herzustellen, ist als Soziotherapie
doch nur wieder Mittel zum Zweck. Faktisch entwickelt sich jenseits dieser
Zweckaufträge jedoch oftmals auch ein Arrangement mit einer anderen Quali-
tät: die Klinik wird zu einer Art Zuhause für die Patienten. Wenn dann bei den
Beteiligten – Patienten wie Personal – noch zunehmend die Hoffnungen auf
eine erfolgreiche Therapie schwinden, können die Beziehungen innerhalb

40 Siehe hierzu ausführlicher Feißt (2017).


41 Winnicot (2020) und Klein (1952).
402 5  Abschließende Diskussion

der Einrichtung auch in expliziter Form zum Selbstzweck werden. Die Kehr-
seite ist damit womöglich, dass man nicht mehr entlassen werden möchte. „Es
wird mit zunehmender Dauer des Kontaktes unklar, ob es sich in der Beziehung
zwischen Patienten und Therapeuten […] um eine professionelle oder eine
private Beziehung handelt. Je länger der Kontakt besteht und je alltäglicher das
Zusammenleben wird, umso familienartiger wird die Beziehung. Wenn dann die
Charakteristika der Kommunikationsmuster in der jeweiligen Einrichtung sich
denen der Herkunftsfamilien annähern, ist eine Chronifizierung der Symptomatik
nicht verwunderlich“ (Simon und Rech-Simon 2016, S. 149).
Insofern wir mit Bühl (1969) Gemeinschaft und Gesellschaft nicht als Gegen-
satz begreifen, sondern jeweils als Bedingung der Möglichkeit des anderen Pols,
ließe sich der Maßregelvollzug als eine Institution der funktional differenzierten
Gesellschaft begreifen, die zur ‚Prozessierung‘42 vulnerabler Menschen auf die
Funktionslogiken Recht, Erziehung, Sozialarbeit und Medizin zurückgreift.
Gleichzeitig generiert diese jedoch doch durch die hiermit verbundenen Rollen-
verhältnisse auch Beziehungen, die Formen von Gemeinschaft erschaffen, auf die
sie zugleich rekurrieren muss, um ihren gesellschaftlichen Auftrag zu erfüllen.
So verstanden würde sich gerade in der widersprüchlichen Einheit von
gesellschaftlichem Zweckauftrag und Gemeinschaft – von System und Lebens-
welt (Habermas 1997) – eine implizite ethische Dimension der forensischen
Psychiatrie auftun: Gerade die instrumentell geprägten Rollenbeziehungen
erscheinen damit auch als eine Form, in der – trotz allem – der Patient als Mensch
an sich (also jenseits der Zweckaufträge seiner Rollenbeziehungen) zur Geltung
kommen kann. Sie erscheinen als der Rahmen, in dem auch anderes passieren
kann und muss, gewissermaßen als ‚Inseln normaler Begegnung‘.
Das Bezugsproblem ‚Beziehung als Existenzverhältnis‘ wurde am Fall-
beispiel Frau Krampen aufgearbeitet, zeigt sich aber – wenngleich unter einem
anderen Vorzeichen, also nicht im Widerspruch zur Rehabilitation stehend – auch
in anderen Fällen. Für Frau Schmidt wird die Beziehung zu ihrer Therapeutin
zu einem tragendenden Moment, um die konflikthafte Beziehung zur Klinik
und zu ihrem Partner neu zu adjustieren. Bei Herrn König scheint es letztend-
lich die gemeinsam geteilte therapeutische Praxis zu sein, die dann trotz der
schizophrenen Restsymptomatik die Rehabilitation wagen lässt. Und auch bei

42 Siehe zur Typisierung von „sozialen personenbezogenen Dienstleistungsorganisationen“


und den damit verbundenen Unterscheidungen zwischen „people processing“, „people
sustaining“ und „people changing“, Klatetzki (2010, S. 10).
5.3  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie – eine Revision 403

Herrn Salier ist der riskante Versuch der Rehabilitation zumindest partiell auf eine
Beziehung zurückzuführen, im Zuge derer sich alle Beteiligten so aufeinander
kalibriert haben, dass einerseits ‚kontrolliertes Vertrauen‘ möglich ist, anderer-
seits aber darauf gehofft werden kann, dass all das, was man miteinander durch-
lebt hat, auch beim Patienten zu einem neuen Existenzverhältnis geführt hat.

Präferenzwert Gesundheit

Als weiteres Bezugsproblem erscheint der Präferenzwert der Gesundheit. Wie


Niklas Luhmann (2005) herausgestellt hat, arbeitet sich jeder medizinische
Behandlungsprozess – also auch der psychiatrische – an dem Code „krank/
gesund“ ab. Ausgehend von der Feststellung eines Gebrechens bzw. einer Krank-
heit, eruieren Ärztinnen und Therapeuten Symptome und erstellen daraufhin
Diagnosen, die dann therapeutische Implikationen und Handlungsprogramme mit
sich bringen. Die Gesundheit ist demgegenüber der ideelle, jedoch faktisch nicht
genauer bestimmbare Reflexionswert.43 Ein Patient, der allein schon durch diese
Bezeichnung mit der Krankenrolle identifiziert ist, übernimmt damit zugleich
den hiermit verbundenen Wert. Er hat im Rahmen seiner Möglichkeiten darauf
hinzuarbeiten, gesund zu sein und all das, was als Anzeichen seiner Krankheit
gedeutet werden kann, zu überwinden. Hiermit ergibt sich für den Patienten das
fundamentale Problem, dass er angesichts des therapeutischen Arbeitsauftrags
der forensischen Klinik nicht einfach so sein kann, wie er ist. Herr König kann
nicht einfach weiterhin ein wenig schizophren sein, wie auch Frau Krampen nicht
einfach im Maßregelvollzug „light“ nur eine Heimat finden kann, um nochmals
auf das Gedankenspiel ihres Stationspflegeleiters zu referieren. Sie haben an sich
zu arbeiten und das Primat der Veränderung zu übernehmen, was eine Spannung
erzeugt, die nicht jeder Patient ins Produktive wenden kann. Institutionell
ist jedoch bei forensischen Patienten nicht vorgesehen, den Code „krank/
gesund“ durch eine Alternative zu ersetzen, welche die Zurechnung auf Krank-
heit suspendiert (etwa indem er wie etwa blinde oder taube Menschen zwar als
‚behindert‘, jedoch darin und in Hinblick auf andere Aspekte seiner Persönlich-
keit als ‚normal‘ behandelt wird).
Faktisch besteht eine der paradoxen Funktionen des Maßregelvollzugs gerade
darin, den Menschen trotz psychischer Krankheit eine gewisse Normalität zu

43 Siehe zur „Verborgenheit der Gesundheit“ auch Gadamer (1993).


404 5  Abschließende Diskussion

ermöglichen, die sie woanders nicht leben können. Offiziell ist dies freilich nicht
vorgesehen. Die forensische Psychiatrie bleibt gerade auch mit Blick auf ihren
gesellschaftlichen Auftrag eine Anstalt, in der Menschen daran arbeiten, dass
Patienten gebessert entlassen werden. Denn nur so kann sie auch die bereits dis-
kutierte Hospitalisierungsproblematik vermeiden. Das hiermit einhergehende
Bezugsproblem stellt sich damit sowohl für die Patienten wie auch für das
Personal und die Klinik als Organisation.

Intransparenz der Beziehung zwischen Psyche, Körper und


Kommunikation

Kommen wir abschließend nochmals zu dem grundlegenden Bezugsproblem, das


alle Entscheidungen forensischer Behandlungsprozesse prägt. Es handelt sich um
die Verschränkung dreier Tatsachen: Erstens lässt sich in das Bewusstsein des
anderen nicht hineinschauen. Zweitens ist die Beziehung zwischen Körper und
Bewusstsein nicht trivial, und drittens besteht angesichts der ‚Gefährlichkeit‘
der Patienten ein begründetes gesellschaftliches Interesse an der Herstellung von
‚Sicherheit‘.
Damit gewinnt jenes konstitutive Merkmal jeglicher Kommunikation, welches
in der Soziologie als doppelte Kontingenz bekannt ist, in der therapeutischen
Interaktion nochmals eine besondere Brisanz. Um es kurz zu rekapitulieren:
Doppelte Kontingenz ist eine Situation, in der mindestens zwei Beobachter nicht
wissen, was in dem jeweils anderen vorgeht und was er oder sie tun wird. Also
bleibt nichts anderes übrig, als sich aneinander zu orientieren, zu schauen, was
der jeweils andere macht, um das eigene Agieren darauf abzustimmen Durch
diese wechselseitige Anpassung entsteht dann ein (neues) soziales System.44

44 Um es mit Niklas Luhmann zu formulieren: „Wir müssen uns jetzt der Frage stellen,
wieso das Problem der doppelten Kontingenz ‚sich selbst löst‘; oder weniger zugespitzt
formuliert: wie es dazu kommt, daß das Auftreten des Problems einen Prozeß der Problem-
lösung in Gang setzt. Entscheidend hierfür ist der selbstreferentielle Zirkel selbst: Ich
tue, was Du willst, wenn Du tust, was ich will. Dieser Zirkel ist, in rudimentärer Form,
eine neue Einheit, die auf keines der beteiligten Systeme zurückgeführt werden kann. In
dieser Einheit hängt die Bestimmung eines jeden Elements von der eines anderen ab, und
gerade darin besteht die Einheit. Man kann diesen Grundtatbestand auch als eine sich
selbst konditionierende Unbestimmtheit charakterisieren: Ich lasse mich von Dir nicht
bestimmen, wenn Du Dich nicht von mir bestimmen läßt. Es handelt sich, wie man sieht,
um eine extrem instabile Kernstruktur, die sofort zerfällt, wenn nichts weiter geschieht.
5.3  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie – eine Revision 405

Mit der Zeit tritt Gewöhnung ein – also eine gewisse Stabilisierung der wechsel-
seitigen Erwartungshaltungen – und entsprechend lässt sich auch hoffen, dass im
Sinne der konditionierten Koproduktion die Psyche des Anderen ‚mitzieht‘ oder
zumindest der Körper die miteinander gelebten Interaktionsmuster hinreichend
habitualisiert hat (also der Patient weitgehend tut, was er soll, auch wenn er
es noch nicht so ganz einsehen mag). Im Falle unmittelbarer Interventionen in
den Körper (etwa der Einstellung durch Neuroleptika oder der Gabe antiandro-
gener Substanzen) lässt sich zudem versuchen, die Psyche des Patienten zu
konditionieren, die jedoch weiterhin intransparent bleibt.
Da doppelte Kontingenz ein Bestandteil jeder Interaktion ist, bleibt auch mit
Blick auf therapeutische Entscheidungen – insbesondere, wenn es um weiter-
gehende Lockerungen wie etwa den unbegleiteten Ausgang geht – nichts anderes
übrig, als sich auf das Spiel des wechselseitigen Abtastens einzulassen. Das
bedeutet einerseits immer auch, sich dem Patienten anzupassen. Zum anderen
heißt es, mehr oder weniger begründete Vermutungen darüber zu treffen, was in
Hinblick auf die Kombination aus Psyche und Körper des Patienten der Fall ist,
wenngleich man dies nie mit Sicherheit wissen kann und immer ein gewisses
Restrisiko bestehen bleibt. Sich auf die doppelte Kontingenz einzulassen,
bedeutet daher, darauf zu vertrauen, dass in dem Interaktionsprozess etwas ent-
steht, womit man arbeiten kann – auch wenn etwas geschieht, das niemand wollte
oder erwartet hat. So kann auch das Scheitern bestimmter Bemühungen inner-
halb der Therapie weitere Anhaltspunkte dafür liefern, wie man weitermachen
kann. Beispielsweise wird es nach einem Rückfall im unbegleiteten Ausgang
mit hoher Wahrscheinlichkeit leichter fallen, weitere Therapie- und Lockerungs-
entscheidungen zu treffen bzw. zu versagen. Zumindest weiß man nun, dass
der Patient den Herausforderungen des unbegleiteten Ausgangs (noch) nicht
gewachsen ist, und kann seine weiteren Bemühungen entsprechend ausrichten.
Die gemeinsame – und insofern kommunikative – Bewältigung der doppelten
Kontingenz kann dabei in Richtung des therapeutischen Vektors der Klinik
laufen – also in Beziehungen und Erwartungsstrukturen münden, welche mit dem
Auftrag der Rehabilitation im Einklang stehen. Hierfür stehen die Fälle von Herrn
König, Frau Schmidt und Herrn Salier.

Aber diese Ausgangslage genügt, um eine Situation zu bilden, die die Möglichkeit birgt,
ein soziales System zu bilden. […] Dieses soziale System gründet sich mithin auf Instabili-
tät. Es realisiert sich deshalb zwangsläufig als autopoietisches System. Es arbeitet mit einer
zirkulär geschlossenen Grundstruktur, die von Moment zu Moment zerfällt, wenn dem
nicht entgegenwirkt wird“ (Luhmann 1984, S. 166).
406 5  Abschließende Diskussion

Klar ist jedoch auch, dass nicht jede Lösung des Problems der doppelten
Kontingenz sich mit dem therapeutischen Zweckauftrag deckt. Beispielsweise
kann die Gewöhnung von Körper und Psyche an die Umstände der Klinik den
unerwünschten Nebeneffekt der Hospitalisierung mit sich bringen. Ebenso können
im Zuge der wechselseitigen Anpassung Beziehungen innerhalb der Klinik entstehen,
welche derart existenziell aufgeladen sind, dass der Verbleib im Maßregelvollzug
attraktiver erscheint als beispielsweise die Entlassung in eine therapeutische Wohn-
gemeinschaft außerhalb der Klinik (man denke an Frau Krampen).
Und nicht zuletzt kann es zu Beziehungskonstellationen kommen, die auf
das Problem der Intransparenz in einer solchen Weise antworten, dass eine
Art Double Bind entsteht, der sowohl die therapeutische Arbeit wie auch die
Rehabilitationsperspektive konterkariert. Die Beziehungsdynamik bleibt dann
in den Eigenwerten ‚Zweifel‘ und ‚Verunsicherung‘ stecken, ohne in einen
praktikablen therapeutischen Pfad einrasten zu können. In der komparativen Ana-
lyse steht hierfür der Fall von Herrn Zimmermann.
Auch das Bezugsproblem der ‚Intransparenz‘ ist zunächst primär als ein
Problem der Klinik bzw. der Therapeuten und Ärzte anzusehen, denn sie – und
nicht der Patient – müssen die Entscheidungen für oder gegen Lockerungen treffen
und verantworten. Die Organisation und die hiermit eingehende Hierarchie der
Entscheidungsfindung erweisen sich gerade in diesem Punkt als die relevanten
Stellen innerhalb der Leerstellengrammatik, welche das forensische Arrangement
konditionieren.45
Hiermit einhergehend erscheint sowohl für das Personal als auch für den
Patienten das Bezugsproblem der Verschränkung von Recht und Medizin in der
forensischen Diagnostik. Da Diagnosen sowohl medizinische als auch rechtliche

45 Die organisationale Problematik solcher Entscheidungen ist nicht neu, wie Hess und
Bretthauer anhand eines Falles aufzeigen, der 1885 an der Charité verhandelt wurde: „Die
Krankenakte K. enthält jedoch die Dokumentationen zweier Einrichtungen. Deren Über-
lieferung mag nicht symmetrisch sein, doch hinreichend für eine Widersprüchlichkeit und
Heterogenität, in der sich ein Eigensinn des historischen Quellenmaterials manifestiert.
Doch auch an den Grenzen zweier institutioneller Diskurse beantwortet sich die Frage
nach der agency des Gefängnisinsassen und Patienten K. nicht. Vielmehr ist diese nur als
Leerstelle zu ahnen, als Widerständigkeit der von institutionellen Wahrheitstechniken ein-
gefangenen und gebannten Worte, Sätze und Wendungen, das gewissermaßen „Unsagbare“.
Wir möchten sogar behaupten, dass die Sprache der Akte, die Beobachtung der Ärzte und
das Bemühen der Justiz um Neutralität, mithin die „Wahrheitswirkungen“ der textlichen
Überlieferung, diese Frage systematisch verfehlen (Foucault 2003, S. 331). Damit ist das
Konzept einer den historischen Akteuren eigenen agency keineswegs entkräftet. Vielmehr
markiert der Verdacht dieser Unentscheidbarkeit einen Eigensinn des historischen Subjekts,
der sich in der archivalischen Überlieferung niederschlägt, aber nicht von ihr erfasst wird“
(Hess und Bretthauer 2009).
5.3  Bezugsprobleme der forensischen Psychiatrie – eine Revision 407

Relevanz haben, wird dies auf beiden Seiten reflektiert und kann entsprechend
genutzt werden, eigene Motive intransparent zu halten, um Zwecke zu verfolgen,
die der diagnostischen oder therapeutischen Zielfindung zuwiderlaufen können.
(Tab. 5.2).

Tab. 5.2   Überblick, wie sich die unterschiedlichen Bezugsprobleme jeweils für den
Patienten und das Personal darstellen können
Bezugsproblem Problem für den Patienten Problem für das Personal
Autonomie unter Zwang Therapie unter Zwang (fehlende) Compliance der
Patienten
Bedrohung durch Stereo- Pathologisierung; (Dauer-)Hospitalisierung,
typen Stigmatisierung Feindseligkeit der
Patienten
Intransparenz der sich nicht artikulieren können (das (nicht) vertrauen können;
Beziehung von Körper, Gesagte wird angezweifelt) (kein) Risiko eingehen
Psyche, Kommunikation können
Verschränkung von Offenheit gegenüber dem Personal strategisches Ver-
Recht und Medizin in der kann mit prognostisch schlechten schweigen von Krank-
forensischen Diagnostik Diagnosen einhergehen; heitssymptomen
Diagnosen könnten therapiefremd
(zum Beispiel als ‚Bestrafung‘ ein-
gesetzt werden
Internalisierung des Verlust von Autonomie; misslingende
psychiatrischen Regimes Überanpassung an das Rehabilitation
therapeutische Regime
Beziehung als Existenz- Beziehungsverlust; Rollenkonflikte, etwa
verhältnis Drehtürpsychiatrie; zwischen Zweckauftrag
keine Heimat (Heilung) und Beziehung
Präferenzwert Gesund- Überforderung; Normalitätszwang Unrealistischer Erfolgs-
heit und Veränderungsdruck
positives Kohärenzgefühl Selbstwertzufuhr durch Delikt und fehlende Sinngebung des
Wahn; Patienten in Hinblick
therapeutische Ziele sind dem- auf realistische Ziele der
gegenüber unattraktiv, da mit Rehabilitation
bescheidenen Lebensverhältnissen
verbunden
psychiatrische Double- Beziehungsfalle (alles, was man Self-fulfilling Prophecy
Binds macht, ist falsch) (Negativspirale);
Handlungsunfähigkeit
408 5  Abschließende Diskussion

5.4 Ethische Fragen – Verantwortung, Reflexion und


Umgang mit Freiheitsgraden
„Die Tugend kann sich vom Wirklichen nicht trennen, ohne ein Prinzip des Bösen
zu werden. Ebenso wenig kann sie sich völlig mit dem Wirklichen identifizieren,
ohne sich selbst zu verleugnen.“
Albert Camus (2016[1951], S. 387)

Konditionierte Koproduktion zu verstehen und reflexiv zugänglich zu machen,


heißt Verantwortung zu übernehmen für die Art und Weise, wie wir unsere Wirk-
lichkeit mit anderen zusammen erschaffen. Dies bedeutet in unserem Falle auch
zu reflektieren, wie wir Menschen – die nicht hinnehmbare Taten begangen
haben – sehen und konstruieren. Dass eine Gesellschaft ein System wie den
Maßregelvollzug vorsieht und umsetzt, ist an sich bereits eine ethische Ent-
scheidung. Die moderne Gesellschaft hat sich mit ihren Institutionen im Rahmen
ihrer Entwicklung dafür entschieden, vulnerable Menschen, die teilweise schreck-
liche Taten begangen haben, nicht als Monster oder Unmenschen zu betrachten,
sondern als krank und unschuldig – und damit schutzbedürftig. Dies wirkt sich
unmittelbar auf den Umgang mit den betroffenen Personen aus: Sie werden
weder gesteinigt noch martialischen Akten der Teufelsaustreibung unterworfen,
noch müssen sie im Siechenhaus ihr armseliges Schicksal fristen. Doch auch
dafür, als vulnerabler Mensch gesehen zu werden und damit einhergehend vor
der „kollektiven Intoleranz“ der Mitmenschen geschützt zu sein, ist ein Preis zu
zahlen, wie nicht zuletzt Michel Foucault gezeigt hat. Die betroffenen Personen
werden nun einer „juristischen Aktion, einer medizinischen Intervention, einer
klinischen Prüfung“ unterzogen und damit zu einem „Gegenstand der Medizin
und des Wissens“ gemacht (Foucault 2019[1977], S. 36 f.).
Zugleich stellt sich für das Personal der auf diese Aufgaben spezialisierten
Institutionen die Frage, wie die untereinander inkommensurablen Wertsphären
(etwa Recht, Medizin, Menschlichkeit, Schutz der Allgemeinheit, Ökonomie) in
ein ausbalanciertes Arrangement gebracht werden können. Hiermit einhergehend
entstehen auch ethische Fragen. Hierunter verstehen wir mit Heinz v. Foerster
(1993, S. 73) jene Problemlagen, die aufgrund der Komplexität des Gegen-
standes nicht auf Basis eines allgemeingültigen rationalen Kalküls entschieden
und bearbeitet werden können, jedoch in der Praxis entschieden und somit
auch verantwortet werden müssen. Die hiermit einhergehenden Entscheidungen
sind in dem Sinne ‚echte‘ Entscheidungen, als dass sie eine Positionierung in
5.4  Ethische Fragen – Verantwortung, Reflexion … 409

­ ertkonflikten beinhalten und zudem mit Blick auf die Konsequenzen not-
W
wendigerweise unter Unsicherheit getroffen werden.
Es gehört zu den konstitutiven Merkmalen einer jeden Maßregelvoll­
zugsklinik, immer im Spannungsfeld verschiedenster Paradoxien zu arbeiten.
So steht den Selbstbestimmungsrechten des Patienten die Fremdbestimmung
durch die totale Institution gegenüber. Aufgrund ihrer Vulnerabilität muss die
Autonomie der Untergebrachten als eingeschränkt gelten, soll aber zugleich so
weit wie möglich aufrechterhalten werden. Denn auch wenn sie für das, was sie
getan haben, per Definitionem nicht verantwortlich zu machen sind, ist ein All-
tag unter der Prämisse der permanenten Unzurechnungsfähigkeit selbstredend
nicht möglich. Therapie soll dabei bestmöglich auf Augenhöhe stattfinden,
bewegt sich aber unweigerlich im Kontext starker Machtasymmetrien. Doch
nicht nur das Thema der Autonomie des Patienten ist in sich paradox gelagert;
auch die Multireferentialität des organisationalen Alltags bringt die Notwendig-
keit mit sich, unterschiedlichsten – und einander zum Teil widersprechenden –
Anforderungen gerecht zu werden.
Konkret bedeutet das, dass jede Entscheidung und jede Handlung sich daran
messen lassen muss, ob sie medizinisch indiziert, rechtlich vertretbar, pflegerisch
sinnvoll, wirtschaftlich tragbar und politisch unbedenklich ist – um nur einige
der zentralen Referenzen anzuführen, die im Alltag eine Rolle spielen. Als Mit-
arbeiter einer solchen Klinik sehe ich mich dann unweigerlich mit Situationen
konfrontiert, in denen ich ad-hoc abwägen muss, wo ich die Freiheit, die ich als
universalen Wert jedem zuspreche, einschränke, durch die Macht, die ich eigent-
lich nicht haben sollte über eine vulnerable Person, für die ich Verantwortung
anvertraut bekommen habe, die aber autonom über sich entscheiden soll,
obwohl sie gerade deshalb in der Einrichtung ist, weil sie für nicht zurechnungs-
fähig gehalten wurde. In einem solchen Feld muss eine Mitarbeiterin des
Maßregelvollzugs Tag für Tag (moralisch) navigieren können!
Es wird schnell deutlich, dass einfache individualethische Handlungs-
maximen im Sinne von ‚Handle stets so, dass…‘ usw. hier keine zufrieden-
stellenden Lösungen anbieten können. Auch vor dem Hintergrund normativer
philosophischer Reflexionen erstellte Handreichungen wie Entscheidungsbäume
ethischen Handelns mögen zwar geeignet sein, Komplexität zu reduzieren und ein
wenig Sicherheit zu geben. Aber auch solche Regeln können letztlich ihre eigene
Anwendung nicht regeln, wie bereits Ortmann (2010, S. 270 ff.) beschrieben hat
(so mag man beispielsweise zur Orientierung – wie im Falle von Herrn Zimmer-
mann – auf eine Psychopathie-Checkliste zurückgreifen, was jedoch nicht
davon entlastet, zu entscheiden, ob ein bestimmtes Verhaltensmerkmal nun als
410 5  Abschließende Diskussion

Item dieses Katalogs gewichtet wird). Solche Interventionen fügen dem multi-
referentiellen Organisationsgeschehen lediglich (aber immerhin) eine weitere
Position in der Leerstellengrammatik hinzu, die ich dann anwenden, situativ
unterlaufen, im Modus des Als-ob behandeln kann usw. Das bedeutet nicht,
dass dies schlecht ist oder sinnlos. Aber Handreichungen ethischer Richtlinien
entbinden den einzelnen nicht von der (immer auch ethischen) Entscheidung,
ob und wie in der jeweiligen Situation zu verfahren ist. Handele ich gegen die
Empfehlung einer Ethikkommission, wenn es im Sinne des Patienten ist? Wie ist
dies rechtlich zu bewerten? Und was sagt die Pflege dazu?
Das eigentlich Ethische einer solchen Entscheidung in dem Sinne, wie wir
Ethik im Anschluss an Wittgenstein verstehen, muss damit implizit bleiben.
Es lässt sich nicht als ein Abwägen der möglichen Folgen verstehen, sondern
erscheint vielmehr als inhärente Qualität oder Ästhetik der gefundenen Lösung.46
Es bleibt die situative, kontextabhängige Abwägung eines Einzelnen, die sich
zwar auf moralische Sollsätze und Reflexionen beziehen kann und auch unter
Rechtfertigungszwang steht, aber letztlich eben doch Fragen entscheiden muss,
für die es kein formalisierbares Rational gibt.
In diesem Sinne kann auch für Luhmann (2008, S. 270 ff.) die philosophische
Ethik unter den gegebenen Verhältnissen nicht mehr moralische Sicherheit geben.
Sie kann bestenfalls noch die Reflexion von Moral und den hiermit einher-
gehenden Fragen nach Verantwortung leisten. Wir folgen somit einer modernen
ethischen Position im Anschluss an Kant, entsprechend der die Frage nach dem
Richtigen und Guten nicht mehr formal beantwortet werden kann, sondern ins
reflexionsfähige Individuum gelegt wird. Dafür ist jedoch der Preis zu zahlen,
dass die Eindeutigkeit moralischer Urteile wegfällt. Wir landen bei einem
abstrakten Vernunftbegriff, der zwar den Stern der Aufklärung weiter leuchten
lässt, doch bei näherem Hinschauen ist nicht mehr so ohne Weiteres ableitbar,
was in konkreten ethischen Problemlagen zu tun ist, da die Kantschen Prinzipien

46 InWittgensteins Tractatus heißt es dann:


„Es ist klar, dass sich die Ethik nicht aussprechen lässt.
Die Ethik ist transzendental. (Ethik und Ästhetik sind Eins.)
Der erste Gedanke bei der Aufstellung eines ethischen Gesetzes von der Form „Du
sollst. “ ist: Und was dann, wenn ich es nicht tue? Es ist aber klar, dass die Ethik nichts mit
Strafe und Lohn im gewöhnlichen Sinne zu tun hat. Also muss diese Frage nach den F o l
g e n einer Handlung belanglos sein. – Zum Mindesten dürfen diese Folgen nicht Ereig-
nisse sein. Denn etwas muss doch an jener Fragestellung richtig sein. Es muss zwar eine
Art von ethischem Lohn und ethischer Strafe geben, aber diese müssen in der Handlung
selbst liegen. (Wittgenstein 1990, S. Proposition 6.421 f.)
5.4  Ethische Fragen – Verantwortung, Reflexion … 411

ja ihrerseits wieder in die konkrete Welt – also von der Transzendenz in die
Immanenz – übersetzt werden müssen. Um es mit Nassehi zu formulieren: „Die
Ethisierung des Moralischen ist bereits eine Reaktion darauf, dass Moral nicht,
oder: nicht mehr, vermag, was sie will“ (Nassehi et al. 2015, S. 23). Übrig bleibt
allein die Reflexion der moralischen Unsicherheit, also der Unbestimmtheit und
damit einhergehend die Subjektivierung des Problems.
Die Perspektive der konditionierten Koproduktion impliziert dabei eine
bestimmte Bewegungs- oder Suchrichtung, wie die hiermit aufgeworfenen
ethischen Fragen anzugehen sind:47 Da wir unsere Wirklichkeiten durch die Art
und Weise unseres Erkennens gemeinsam miteinander aufbauen, verlagert sich
die Aufmerksamkeit einerseits auf unsere Beziehungen, andererseits auf unserer
Epistemologie, also wie wir uns selbst und unsere Mitmenschen sehen.
Aufgrund der Freiheitsgrade, die mit jeder Position der Leerstellengrammatik
des forensischen Arrangements gegeben sind, sind alle beteiligten Akteure
zugleich als Schöpfer wie auch als Teil dieses Arrangements zu sehen, denn sie
sind das Selbst- und Weltverhältnis, welches im Wechselspiel von Möglichkeit
und Notwendigkeit zugleich als autonom wie auch als heteronom erscheint. Die
eigene Rolle und hiermit auch die jeweils mögliche Lebensform verdankt sich
damit den anderen Positionen und Stellen, um gerade aus dieser Ermächtigung
heraus Freiheitsgrade zu schöpfen, die dann für das Arrangement einen Unter-
schied machen. Ethik heißt aus dieser Perspektive, die mit der jeweiligen
Beziehungskonstellation gegebene Lebensform – und die damit verbundenen
Rollen – bewusst und reflektiert anzunehmen, um das Potential der Situation voll
ausschöpfen zu können.
Ethische Imperative erschließen sich damit nicht aus einer akteurszentrierten
Perspektive, denn es würde unweigerlich die Aporie entstehen, wie ein
Individuum frei und autonom sein kann, wenn es sich vollkommen der Situation
fügt. Insofern wir jedoch den Akteur und hiermit einhergehend das Subjekt ent-
sprechend dem Prinzip der konditionierten Koproduktion ‚ent-substanzialisieren‘
bzw. dezentrieren, kommen wir zu einer auch in ethischer Hinsicht relevanten
Position: Ein Akteur oder ein Subjekt kann nichts anderes sein als sein Weltver-
hältnis im Selbstverhältnis und sein Selbstverhältnis im Weltverhältnis.48

47 
Siehe hierzu ausführlich das Kapitel „Implizite Ethik, Leiblichkeit und Polykon­
texturalität“ in Vogd (2018b).
48 
Mit Blick auf die Frage der eigenen Wirkmächtigkeit landen wir damit bei dem
kybernetischen Primat: Willst Du kontrollieren und steuern, so musst Du dich von anderen
kontrollieren und steuern lassen (vgl. Baecker, 1994).
412 5  Abschließende Diskussion

In das Zentrum der ethischen Betrachtung rückt jetzt die Beziehung, wie auch
Judith Butler im Anschluss an Lévinas formuliert:

„Für Lévinas, der Verantwortung und Handlungsfähigkeit voneinander trennt, ent-


steht Verantwortung dadurch, dass wir der ungewollten Anrede durch den anderen
ausgesetzt sind. […] Vor dem Ich, das eine Entscheidung trifft, bedarf es des
Außerhalb des Seins, wo das Ich sich in der Anklage abzeichnet. […] Ich [bin]
nicht primär aufgrund meiner Handlungen verantwortlich, sondern aufgrund meiner
Beziehung zum Anderen, die sich auf der Ebene meiner primären und irreversiblen
Empfänglichkeit bildet, meiner Passivität, die jeder Möglichkeit zu handeln oder
zu entscheiden vorausgeht. […] Vielmehr ist es mein Vermögen, dass auf mich ein-
gewirkt werden kann, das mich in eine Verantwortungsbeziehung einbindet.“ (Butler
2014, S. 115 ff.).

Butlers Ausführungen stehen im Einklang mit der von uns vorgeschlagenen


polykontexturalen Perspektive, entsprechend der Autonomie, Freiheit, Subjektivi-
tät und Verantwortung nicht im Individuum zu verorten, sondern als System-
eigenschaften eines übergreifenden relationalen Gefüges anzusehen sind – von
uns als Arrangement bezeichnet. Auch Freiheit und Verantwortung werden durch
die spezifische Anrede eines anderen gegeben (oder genommen), verdanken
sich also einer spezifischen Beziehungskonstellation. Diese Perspektive führt
zu einer (impliziten) Ethik, die ihre Freiheitsgrade aus der Kontingenz der
Beziehungsdynamiken des Weltgeschehens gewinnt und gerade deshalb nicht in
vordefinierte Positionen, Regeln oder Gesetzlichkeiten einrasten kann.
Als zentrales ethisches Postulat lassen sich hier die systemischen und
strukturellen Bedingungen für die Freiheit selbst benennen. Entsprechend gilt das
von v. Foerster formulierte ethische Primat, darauf hinzuarbeiten, „dass die Anzahl
der Möglichkeiten vermehrt wird“ (von Foerster und Bröcker 2002, S. 335) oder
um es in Bezug auf die Sozialdimension zu reformulieren: „Das Wegnehmen
der Freiheit ist genau das Gegenteil von dem, was […] ein Zusammenleben mit
anderen Menschen möglich und erfreulich macht.“ Aus diesem Grunde ist das
„Hinzufügen freiheitlicher Dimensionen“ tendenziell immer vorzuziehen (ders.
S. 335).
Solchermaßen auf einer abstrakten Ebene formuliert, ist dies durchaus
kompatibel mit dem Behandlungsauftrag und Zielen der forensischen Psychiatrie:
Das Vorhaben zielt grundsätzlich auf Therapie und Besserung, also darauf, die
geschädigten Anteile der autonomen Lebenspraxis des Patienten in einer Weise
zu behandeln, dass dieser mehr Freiheitsgrade hat als vor der Behandlung. Ein
sedierter, nur vor sich hinvegetierender Patient ist gerade nicht das Ziel.
5.4  Ethische Fragen – Verantwortung, Reflexion … 413

Wie und auf welche Weise dem Patienten mehr Freiheit gegeben werden
kann, ist jedoch keine einfach zu beantwortende Frage. Mit Blick auf die
Leerstellengrammatik der forensischen Psychiatrie gilt nämlich, dass die Auto-
nomie und Freiheitsgrade des Patienten von dem relationalen Gefüge des
jeweiligen Arrangements abhängen und angesichts der hiermit einhergehenden
Komplexität keine generellen Aussagen über die Wirkungen von einzelnen
Faktoren getroffen werden können. Je nach Besetzung der anderen Stellen im
relationalen Gefüge kann sich das Vorzeichen einer Kausalbeziehung ändern.
Dies wurde in den Fallanalysen an verschiedenen Stellen deutlich. Ob die Frei-
heitsgrade für einen Patienten innerhalb oder außerhalb der Klinik größer sind,
ob die Anwendung von Zwangsmaßnahmen den Patienten über kurz oder lang
wieder in die Freiheit führt oder eher in die Regression treibt, ob therapeutischer
Druck den Patienten autonomisiert oder tendenziell einer Hospitalisierung Vor-
schub leistet, ob eine psychiatrische Diagnose mit schlechter Prognose den
Patienten resignieren lässt oder umgekehrt bei ihm zu einer Entlastung führt, die
ihm erlaubt, die ihm verbleibenden Gestaltungsräume besser zu nutzen – all dies
lässt sich nicht auf Basis trivialer Kalküle vorab bestimmen. Da sich sowohl das
Personal als auch die Patientinnen in einem Zwangskontext befinden, verbleibt
als einzige Möglichkeit, das Potential der Situation auszuschöpfen, was heißt, das
(unfreiwillige) Beziehungsnetzwerk zu verstehen, sich darauf einzulassen und
gerade dadurch Freiheitsgrade zu gewinnen.49
Hieraus ergibt sich gewissermaßen ein ethisches Kriterium zweiter Ordnung:
‚Gut‘ erscheint das Aufgehen in der Situation, um paradoxerweise gerade auf diese
Weise wieder Freiheitsgrade zu gewinnen. ‚Schlecht‘ erscheint eine mangelnde
Wahrnehmung der Qualität der aktuellen Beziehungen, ein Rückzug auf starre
Positionen, um damit die eigene wie auch die Freiheit des anderen zu verspielen.
Im Sinne der Leerstellengrammatik geht es bei der Bewertung des Geschehens
also nicht um ein Maßnehmen oder Beurteilen entsprechend vorgegebener
Kriterien, Richtlinien oder Gesetzeslagen. Obschon die Sehnsucht nach klaren
Handlungsanweisungen nachvollziehbar ist, geht es vielmehr um das situative

49 Wir wollen damit keineswegs eine normative Perspektive einnehmen, die besagt, dass
der Maßregelvollzug doch eine „gute Sache“ sei, wenn sich die Beteiligten nur darauf ein-
lassen würden. Unser Punkt an dieser Stelle ist: es bringt im Alltag weder dem Personal
noch dem Patienten besonders viel, sich über die Dysfunktionalität des Systems zu
beschweren. Das ist nur dann produktiv, wenn es eine politische Dimension bekommt.
414 5  Abschließende Diskussion

Einnehmen einer verantwortlichen (d. h. reflexiv empfänglichen) Position in einer


immer schon widersprüchlichen Praxis. Denn dies ermöglicht erst die Freiheits-
grade, sich so oder auch anders zu entscheiden bzw. zu verhalten – und zwingt
somit zur Übernahme von Verantwortung für die jeweils eingenommene Position.50
Die Rolle und somit auch die Verantwortung des Psychiaters besteht unter
anderem darin, Diagnosen zu erstellen, hieraus therapeutische Interventionen
abzuleiten und anhand der Faktoren, welche die Leerstellengrammatik des
Behandlungsarrangements konditionieren, eine Prognose in Hinblick auf die
Gefährlichkeit des Patienten in unbegleiteten Kontexten abzugeben. Zumindest
implizit wissen (viele) Ärzte und Psychologen jedoch, dass diese Gefahren-
abschätzung eine spezifische Form des professionellen Handelns darstellt und
nicht mit der Realität an sich (oder einem wie auch immer gearteten objektiven
Wissen) verwechselt werden sollte. Nur deshalb sind sie überhaupt fähig, sich der
Kontingenz einer nicht in allen Aspekten definierten Beziehung zum Patienten
stellen zu können. Gerade weil der Psychiater oder Therapeut in Hinblick auf
Diagnostik und Prognose eine Entscheidung trifft (sich also festlegt), erhält er die
Möglichkeit, je nach Entwicklung des Gesamtarrangements und im Falle einer
Veränderung des Beziehungsgefüges diese Entscheidung zu revidieren. Und nur
wenn er die Diagnose nicht mit einer objektiven Wirklichkeit verwechselt, kann
er auch damit leben, wenn der Patient – wie in einem von uns beobachteten Fall –
sich seine eigene, abweichende Diagnose gibt. Was zählt, ist dann weniger die
Richtigkeit oder Falschheit der Diagnose als vielmehr die Frage, ob und wie diese
zur Stabilisierung des Gesamtarrangements beiträgt.51

50 
Für Stanley Cavell, der ebenfalls an Wittgensteins Arbeiten zur impliziten Ethik
ansetzt, liegt der „Witz der Bewertung“ entsprechend nicht darin, „zu bestimmen, ob sie
angemessen ist, wobei das, was angemessen ist, durch die Form der Bewertung selbst
gegeben ist; der Witz ist vielmehr zu bestimmen, welche Position du einnimmst, d. h., für
welche Position du die Verantwortung übernimmst – und ob ich diese achten kann. […]
Soweit wir haben sehen können, steht in solchen Beispielen nicht die Gültigkeit der Moral
als Ganzes auf dem Prüfstand, sondern das Wesen oder die Qualität unserer Beziehung
zueinander“ (Cavell 2016, S. 438 f.).
51 Aus unserer Sicht liegt denn auch genau hierin die Crux im Fall Zimmermann. Hier hat
sich das Arrangement zu sehr auf die Durchsetzung einer Common-Sense Perspektive ein-
geschossen (‚Sie müssen jetzt endlich mal ein bisschen Reue zeige‘). Gerade diese Form
der Moralisierung scheint hier ein (auch in ethischer Hinsicht) erfolgreiches Arrangement
zu verhindern, da sie den Blick auf andere, ebenfalls mögliche Beziehungen verstellt. So
stellt sich das zumindest aus unserer Rekonstruktion der Konstellationen dar, die sich im
Rahmen unseres Feldaufenthaltes gezeigt haben.
5.4  Ethische Fragen – Verantwortung, Reflexion … 415

Zugleich drohen jedoch auch Möglichkeiten und Freiheitsgrade verspielt zu


werden, wenn der Psychiater seine Position als Experte und Autorität, die sich
auf eine bestimmte Therapie, Diagnose und Prognose festlegt, nicht mehr ein-
nimmt und damit seine eigene Rolle nicht ernst nimmt. Dadurch verschenkt er
die Freiheitsgrade, die gerade in einem durch die medizinische Rationalität
konditionierten Arrangement möglich werden. Denn die Festlegung (in Hinblick
auf Diagnostik, Prognostik, etc.) bedingt auch Handlungsfähigkeit. Der sichere
Rahmen einer eindeutigen Diagnostik ermöglicht es unter Umständen erst, sich
den Ungewissheiten in der Beziehung gegenüber dem Patienten zu stellen, die
sich allein schon aus der Intransparenz des Fremdpsychischen ergeben. Innerhalb
der Leerstellengrammatik der forensischen Psychiatrie erscheint damit gerade die
vermeintliche Rigidität psychiatrischer Urteile als ein wichtiger Faktor, um an
anderen Stellen den weiterhin bestehenden Kontingenzen und Unsicherheiten im
Behandlungsprozess begegnen zu können.52
Gerade erfahrene forensische Psychiaterinnen, die zumindest implizit um
die relationalen Dynamiken der Leerstellengrammatik ihrer Arbeit wissen,
sitzen deshalb nicht dem auf, was Bourdieu als illusio ihres Feldes bezeichnen
würde (Bourdieu und Wacquant 1996, S. 128). Sie nehmen die Regeln ihres
Feldes ernst, übernehmen diese jedoch nicht blind, was bedeuten würde, sich
damit zugleich über die Bedingungen der Möglichkeit ihrer Praxis zu täuschen
(nicht zuletzt darüber, dass die ärztliche Tätigkeit eine normative Praxis ist, die
Wirklichkeiten setzt und entsprechend mit spezifischen Machtverhältnissen

52 Indiesem Sinne lassen sich die leitenden Diagnosen als Erwartungskorridore betrachten,
die als Entscheidungsprämissen (Luhmann 2000) die Praxis konditionieren. Im Sinne der
Leerstellengrammatik erscheinen diese Erwartungskorridore als ein zum Systemgedächtnis
verhärtetes Arrangement, das gegenüber einer Rekonfiguration bzw. Lernen eine gewisse
Trägheit entgegensetzt. Eine Psychose und die hiermit möglicherweise einhergehende
Diagnose einer paranoiden Schizophrenie legt ein bestimmtes Behandlungsregime nahe,
das zumindest unter dem üblicherweise hier vertretenen biomedizinischen Paradigma die
Tat unter Absehung von Beziehungsaspekten und Fragen nach dem Motiv allein als Aus-
druck der psychiatrischen Erkrankung ansieht. Damit ist für den Patienten wie auch für die
Therapie eine bestimmte Richtung vorgegeben. In Bezug auf das Delikt fragt man nicht
mehr nach dem Motiv und strebt auch nicht an, die Einzelheiten der Tat aufzudecken,
sondern man einigt sich eher darauf, dem Wahn selbst keine sinnhafte Bedeutung zu geben.
Dass Herr König seine Mutter für einen Klon des Geheimdienstes gehalten und getötet hat,
erscheint damit gleichsam ‚nur‘ als ein sehr, sehr tragischer Unfall, es braucht jedoch nicht
gefragt werden, ob dahinter ein verborgener Beziehungsaspekt liegt, ob etwa der Patient
vielleicht seine Mutter aus diesem oder jenem Grund gehasst und deshalb angegriffen hat.
Dies reduziert erheblich die Komplexität im Behandlungsarrangement.
416 5  Abschließende Diskussion

einhergeht). Sie wissen um die Kontingenz und die hiermit einhergehenden


Freiheitsgrade ihrer Position und können deshalb den Sprung in das noch nicht
Bestimmte wagen.
Die spezifischen Freiheitsgrade der Psychotherapie ergeben sich aus einer
Aufgabe, die Peter Fuchs (2011) mit der Begrifflichkeit „Verwaltung der vagen
Dinge“ umschrieben hat. Dies heißt, Mehrdeutigkeit und Interpretationen gekonnt
in der Schwebe zu lassen. So gesehen würden erfahrene Psychotherapeuten
nicht den eigenen Konstruktionen aufsitzen, sondern sich auf das Spiel um die
Suche nach Bedeutungen einlassen, welche das Existenzverhältnis zwischen
Therapeuten und Patienten ausmachen, um die Chance offenzuhalten, mit dem
Patienten zusammen viable Lösungen ausfindig zu machen. Sie erscheinen hier-
mit in besonderer Weise als Agenten der konditionierten Koproduktion, indem
sie nämlich die Polyphonie und Vieldeutigkeit der Sprache nutzen, sich an neue
Wirklichkeitskonstruktionen heranzutasten und diese gemeinsam auszuprobieren.
Auch hier drohen die Chancen und Möglichkeiten der Psychotherapie ver-
schenkt zu werden, wenn die Therapeuten ihre eigenen Konstruktionen als Wahr-
heit oder Realität missverstehen und somit den Beziehungscharakter der hiermit
erschaffenen Realität verkennen.
Bei der Pflege (und z. T. auch Sozialarbeiterinnen) hingegen sehen wir die
Problematik der Beziehungsgestaltung in einer anderen Weise. Während der zeit-
liche Kontakt des therapeutischen Personals (hierunter fallen auch Ergo-, Sport-,
Kunsttherapien etc.) mit den Patientinnen recht punktuell gestaltet ist, stehen
die Pflegenden gegenüber den Patientinnen in einer, wenn auch besonderen,

Um es mit Dirk Baecker (1997) zu formulieren: Es entsteht eine Form „einfacher


Komplexität“, die jedoch immer wieder zur komplexeren Formen zurückkehren kann,
etwa indem mit der Frage nach der richtigen Diagnose (wie im Fall Zimmermann) das
Fass erneut aufgemacht wird. Infolge dieser Reduktion von Möglichkeiten stellt sich
ein Arrangement ein, in dem der Patient und die Therapeuten ‚wissen‘, dass es in der
weiteren Zusammenarbeit wesentlich darum geht, dass die Medikamente eingenommen
werden und in der Psychoedukation gelernt wird, mit der Krankheit umzugehen und
rechtzeitig zu erkennen, wenn Symptome auftreten, die auf eine Verschlimmerung der
Erkrankung hinweisen. Es geht jedoch nicht etwa darum, die Affektdynamik der familiären
Konstellationen aufzuarbeiten. Die Nebenwirkungen der Medikation bestärken dann
ebenso wie die kommunikativen Aspekte des Behandlungssettings ein Selbst- und Weltver-
hältnis, das sich auch in dem hiermit einhergehenden Arrangement der beteiligten Körper
ausdrückt und damit mit der Zeit gewissermaßen ‚in Fleisch und Blut übergeht‘.
5.4  Ethische Fragen – Verantwortung, Reflexion … 417

Alltagsbeziehung.53 Es macht einen Unterschied, ob ich einen bestimmten


Patienten alle zwei Wochen zur Therapiesitzung treffe oder ob dieser Patient seit
zehn Jahren viermal täglich zehn Minuten zu früh zur Zigarettenausgabe kommt,
um noch zehn Minuten zu betteln, sich zweimal am Tag das T-Shirt zerreißt und
bei schlechter Laune das Personal beschimpft. Es ist herausfordernd, wenn man
dazwischen noch eine unterstützende Beziehung zu einem pädophilen Sexual-
straftäter aufrechterhalten soll, der seine Taten nicht allzu ernst nimmt – vor
allem, wenn man selbst Kinder hat. Und wenn man danach noch von einem
Patienten darauf hingewiesen wird, dass er nicht nur Lebensmittelkontrolleur,
EU-Kommissar sei, sondern seit neuestem auch Späher bei der Bundeswehr ist,
dann erscheint es verständlich, dass einem hier mal ein „stimmt doch gar nicht“
rausrutscht.
Was an diesen (realen) Beispielen deutlich werden soll, sind nicht nur die
hohen Anforderungen, die der Kontakt zu einzelnen Patienten stellt, sondern
auch die Vielfältigkeit dieser Anforderungen. Hinzu kommt, dass sich durch den
im Wortsinne ‚alltäglichen‘ Kontakt professionelle Haltung und Common Sense-
Einstellung auf viel stärkere Weise vermischen (also beispielsweise kaum mehr
auseinanderzuhalten ist, ob die Missbilligung eines Fehlverhaltens therapeutisch,
pädagogisch oder als alltagsmoralische Missachtung gemeint ist). So verwundert
es nicht, dass es gerade die Pflege ist, die im Fall Zimmermann Reue einfordert,
sich im Fall Volkert gegen eine zügige Entlassung ausspricht und im Fall Salier
die Authentizität seiner Bekundungen infrage stellt. Es besteht die Anforderung
an die Pflege, den Patientinnen mit einer unterstützenden Professionalität zu
begegnen, ohne dabei jedoch eine paternalistische Asymmetrie zu reproduzieren.
Im Sinne der Therapie sollen die Pfleger authentische Beziehungen zu den
Patienten aufbauen, müssen aber nur allzu oft entgegen der eigenen Common
Sense-Vorstellungen handeln.54 So gilt es auch hier, situativ zwischen unter-
schiedlichen Positionen zu pendeln. Im pflegerischen Alltag zwischen Positionen
der Alltagsmoral (die beispielweise einen Sexualstraftäter aus guten Gründen

53 Dass diese Beziehung nicht einer ‚normalen‘ Alltagsbeziehung entspricht, spricht hier
weniger dafür, einen anderen Begriff hierfür zu verwenden, sondern weist gerade auf die
Normalität hin, die eben für die Patientinnen auf Station herrscht. Medikamentenausgabe
etc. ist eben Alltag. Und das über Jahre und Jahrzehnte.
54 
Vergleiche hierzu auch die ethnographische Studie zum „Alltag in der Anstalt“ von
Fengler & Fengler (1980).
418 5  Abschließende Diskussion

als problematisch erachtet) und dem professionellen pflegerischen Blick (die


den vulnerablen psychisch kranken Patienten sieht) zu wechseln, ist jedoch alles
andere als trivial.55
Wie bereits mit Blick auf das Thema Macht angeführt, kommt hinzu, dass
sich das Pflegepersonal in einer Doppelrolle wiederfindet: es ist sowohl Pfleger
als auch ‚Schließer‘. Die Kommunikation zwischen Pflege und Patientinnen wird
immer einer Zweitcodierung im Medium der Macht unterworfen sein (Luhmann
2012[1975]). Dies konditioniert nolens volens das Beziehungsarrangement. Eine
Beziehung auf Augenhöhe wie oftmals gewünscht oder gefordert, muss dies
immer mit einbeziehen – und gerade dort, wo man so tut, als ob es die Unter-
scheidung Überlegene/Unterlegene nicht gäbe, verliert man das Gespür hier-
für und droht, in einen wohlmeinenden Paternalismus zu verfallen („Das haben
Sie ganz klasse gemacht, Herr Schmidt! Prima!“). Umso wirksamer ist es dann
in Einzelfällen jedoch, wenn man dem Patienten – obwohl offiziell verboten –
gewährt, seine Medikation nicht vor allen anderen am Stationszimmer einnehmen
zu müssen, sondern in Ruhe im eigenen Zimmer. Was dann zählt, sind nicht mehr
Regeln, sondern das Geschenk des Vertrauens, was der Patient seinerseits mit der
Zeit schätzen lernen kann, indem er es nicht enttäuscht.
Auf den ersten Blick liegt hier der Gedanke nahe, dass die therapeutischen
Erfolge des Maßregelvollzugs davon abhängen, das Regime zu unterlaufen,
indem manche Regeln nicht so ernst genommen und stattdessen Grau- und
Indifferenzzonen genutzt werden. Mit Blick auf das Bild der Leerstellen-
grammatik ist dies jedoch nur die halbe Wahrheit. Vielmehr bleibt die forensische
Psychiatrie der Form nach – dies zeigen unserer Rekonstruktionen deutlich auf –
eine totale Institution,56 die jedoch partiell Freiheitsgrade ermöglicht, in denen
dann auch therapeutisch etwas geschehen kann, das auf den ersten Blick nicht
möglich erscheint. Es bedarf hierzu professioneller Akteure, die einerseits sehr
genau wissen, was sie tun, um dann andererseits Chancen und Möglichkeiten
wahrzunehmen und sich zu trauen, diese produktiv zu nutzen.

55 Siehezu einer Ethik der Vulnerabilität im Anschluss an Lévinas auch Schnell (2017).
56 
Dies darf nicht dahingehend interpretiert werden, dass die totale Institution die ein-
zige Möglichkeit ist, psychisch kranken Straftätern wieder einen Platz in der Gesellschaft
zu geben. In vielen Fällen kann das System des Maßregelvollzugs durchaus als dys-
funktional angesehen werden, da es auf Hochsicherheitseinrichtungen setzt und mitunter
auch Patienten, bei denen das Risiko schwerer Straftaten als recht gering einzuschätzen ist,
kaum mehr loswird. Man hat nur keinen anderen Ort für sie.
5.4  Ethische Fragen – Verantwortung, Reflexion … 419

All dies hat damit zugleich auch eine professionsethische Dimension: Wie
Ulrich Oevermann und Rudolf Stichweh aufzeigen,57 beinhaltet die Rolle des
professionellen Akteurs zugleich Expertise, Regelhaftigkeit und fachliche
Geltungsbegründung wie auch Autonomie. Sie beinhaltet zugleich fundiertes
Wissen und die Regelhaftigkeit seiner Anwendung sowie die Freiheit situativ
angepasster Anwendung und Abweichung. Eine wesentliche Gelingensbedingung
des Maßregelvollzugs besteht folglich darin, die Autonomie der Praxis auch in
organisationaler Hinsicht aufrechtzuerhalten und in der Leerstellengrammatik
des forensischen Arrangements entsprechende Positionen vorzusehen. Die
eigentliche Falle bzw. professionsethische Verfehlung wäre damit eine „techno-
kratische Regression“,58 welche die widersprüchliche Einheit von strenger Form
und Autonomie zulasten eines formalen Regelwerks tilgt und somit jene Frei-
heitsgrade suspendiert, welche notwendig sind, damit das Arrangement des
Maßregelvollzugs sich selbst unterlaufen kann.
Für den Patienten ergibt sich – wie bereits anhand des Bezugsproblems „Auto-
nomie unter Zwang“ diskutiert – gerade aus dieser Perspektive der Freiheits-
grade das Problem, dass er im Prinzip keine offiziellen Alternativen hat. Er muss
freiwillig Therapie machen, und macht er das nicht, wird er direkt oder indirekt
dazu gezwungen. Wie in den Fallrekonstruktionen deutlich wird, lässt sich in der
Praxis auch hier ein notgedrungener Erfindungsreichtum beobachten, wenn es
darum geht, die Erfüllung der erzwungenen Anforderungen doch noch als eigene
Entscheidung zu verbuchen. Der Untergebrachte muss sich zum Zwangsregime
in einer Weise verhalten, dass es für ihn selbst so aussieht, als entspringe sein
Handeln irgendwie auch – zumindest teilweise – seinem eigenen Willen.
Aus der Organisationsperspektive stellt sich hiermit auch die Frage nach
der Systemverantwortung (Bühl 1998) für ein Setting, das eine Vielzahl
inkommensurabler Ansprüche rechtlicher, medizinischer, humanistischer und
organisatorischer Natur zu bedienen hat. Letzteres bringt es mit sich, dass der
Maßregelvollzug als Organisation sowohl im Guten wie im Schlechten seinen

57 Siehe etwa Oevermann (1996, 2000) und Stichweh (1987, 2008).


58 Dies heißt selbstredend, dass es auch für die immer mit einem Restrisiko behafteten Ent-
scheidungen kein wissenschaftliches Kalkül geben kann, wie nun im Einzelfall richtiger-
weise in Bezug auf einen Patienten zu handeln ist. Oevermann (1995, S. 94) bezeichnet
folgerichtig die „Selbst-Szientifizierung durch Selbst-Subsumption unter wissenschaftliche
Theorien“ als eine „technokratische Regression“, in der „die Autonomie zugunsten einer
Aufgeklärtheit aufgegeben wird“.
420 5  Abschließende Diskussion

unterschiedlichen Zweckaufträgen zuwiderhandeln kann, ja muss, da er nie


allen an ihn gestellten Ansprüchen gerecht werden kann. So mag beispielsweise
einem Patienten, der kaum anderswo einen Platz finden wird, in verdeckter Form
(gewissermaßen als ‚soziale Indikation‘) eine Heimat geboten werden, um ihm
eine ‚Drehtürpsychiatrie‘ und das damit verbundene Leiden weiterer Beziehungs-
brüche zu ersparen (so im Falle von Frau Krampen) – was dann aber wiederum
eine paternalistische Entscheidung über den Kopf des Patienten hinweg darstellt.
In einem anderen Fall mag die rechtswidrige Androhung von Gewaltmitteln den
therapeutischen Druck in Richtung der Autonomisierung des Patienten erhöhen
(man denke an Frau Schmidt), in einem dritten Beispiel mag das allzu regel-
konforme Agieren des Klinikpersonals die Deprivation des Patienten und damit
Hospitalismus begünstigen (siehe etwa die Fallvignette von Herrn Sommer am
Ende von Abschn. 4.1).
Wir haben all diese Fragen mit Blick auf das therapeutische Arrangement
bereits ausführlich erörtert, doch als ein Ergebnis der hier vorgelegten Studie
ist – nicht zuletzt aus ethischen Gründen – die Frage nach dem „Design“ (Bühl
1998) einer Organisation zu stellen, die im produktiven Sinne Leerstellen, d. h.
Freiheitsgrade bereitstellt, die es ihr ermöglicht, ihre eigenen Prämissen temporär
einzuklammern, falls es die Situation und damit nicht zuletzt der Patient ver-
langt – und im unproduktiven Sinne die mit Programmen verbundenen Werte
(z. B. ‚Gesundheit‘) absolut setzt und Aporien erzeugt, die das eigentliche
Anliegen konterkarieren. Auch Ethik kann und darf entsprechend nicht zu sehr
in Form von Programmen expliziert werden, da die Übersetzung von Werten in
organisatorische Verfahren und Anweisungen wiederum das Mittel und Zweck-
Verhältnis umkehren würde.59 Parameter wie Lebensqualität, Arbeitsschutz,
Patientenrechte, therapeutischer Fortschritt oder Patientenaktivierung können
ebenso wie ökonomische Effizienzkriterien schnell zum Selbstzweck werden,60
wodurch Freiheitsgrade und Beziehungsmöglichkeiten in den Hintergrund zu
rücken drohen. Produktiver scheint es, situativ angepasste Lösungen zu finden,
wie die unterschiedlichen, teils inkommensurablen Werte ausbalanciert und ein
praktikables Arrangement überführt werden können.

59 Siehe zu einer philosophischen Kritik an der organisationalen Verfestigung ethischer Prä-


missen Berger und Heintel (1998).
60 Klatetzki spricht von „problematische[n] und aufgezwungene[n] Maße[n] für Erfolg“

(Klatetzki, 2010, S. 17 ff.), um damit auf die Problematik hinzuweisen, dass es in Bezug
auf personenbezogene Dienstleistungen in der Regel keine standardisierten Kriterien für
‚gute‘ Arbeit geben kann.
5.4  Ethische Fragen – Verantwortung, Reflexion … 421

Auch gesellschaftspolitisch ist die Psychiatrie im Allgemeinen und der


Maßregelvollzug im Besonderen dadurch geprägt, zwischen widersprüchlichen
normativen Polen zu oszillieren. Aus liberaler Perspektive werden die Freiheits-
rechte und die Entwicklungschancen der Patienten betont, die konservative Seite
legt Wert auf den Sicherheitsaspekt und einen effizienten Einsatz der zur Ver-
fügung stehenden Mittel (und mag betonen, dass es Einzelfälle gibt, in denen zu
viel der Mühe fehl am Platz ist). Freiheit, Gerechtigkeit und Sicherheit stehen
jeweils für Werte, die ebenfalls nicht absolut gesetzt werden können, umgekehrt
aber auch nicht ohne Weiteres aufgegeben werden dürfen.
Die Problematik des Maßregelvollzugs ist, dass er zwar daran arbeiten kann,
situativ und auf den Einzelfall bezogen möglichst ‚gute‘ Arrangements der
Besserung und Sicherung herzustellen. Er kann dabei jedoch nicht bzw. nicht
gänzlich von sich selbst absehen.
Einerseits bedeutet das, dass Menschen, die – aus welchen Gründen auch immer
– in einer forensisch-psychiatrischen Klinik landen, dort unter den gegebenen
Bedingungen behandelt werden müssen. Es gibt letztlich keine Entscheidungs-
programme, die nochmal prüfen, ob jemand wirklich zu Recht in der Klinik ist
oder nicht, und keine Möglichkeit, diese Einweisungsentscheidung ggf. nochmals
zu korrigieren. Und selbst wenn man zu dem Befund kommt, dass ein Patient
eigentlich nicht mehr in der Klinik sein müsste und die hohen Sicherheitsstandards
nicht bräuchte, ist es unter Umständen nur schwer möglich, ihn ‚loszuwerden.‘
Die Klinik kann nicht anders, als die Untergebrachten in vorgeschriebener Weise
zu prozessieren. Und so finden sich entsprechend unseren Beobachtungen und
Gesprächen zahlreiche Patienten im Maßregelvollzug, die weder hinsichtlich ihrer
Delikte noch in der prognostischen Einschätzung des Personals besonders gefähr-
lich sind, aber dennoch nicht aus dem System herauszubekommen sind, weil sie im
Ausgang oder in der Beurlaubung durch diese oder jene ‚kleine Dummheit‘ gegen
Auflagen verstoßen und so wieder ‚zurückgeholt‘ werden müssen.
Aber auch in einer anderen Hinsicht kann eine Maßregelvollzugsklinik sich
nicht selbst transzendieren: sie kann lediglich innerhalb ihrer eigenen Rahmen-
bedingungen versuchen, den unterschiedlichen Anforderungen so gut wie mög-
lich gerecht zu werden, sie kann sich jedoch nicht gänzlich selbst infrage stellen.
Sie kann nicht sehen, ob es möglicherweise ein ‚besseres‘ System im Umgang
mit psychisch kranken Rechtsbrechern gäbe.61 Das ist der blinde Fleck des
Maßregelvollzugs.

61 Und auch hier wäre zu fragen: besser für wen?


422 5  Abschließende Diskussion

Es bleibt somit zu fragen ob die derzeitigen Institutionen des


Maßregelvollzugs so konfiguriert sind, dass sie leisten können, was von ihnen
erwartet wird. Welche Rolle spielt dabei das Recht, welche Rolle die Politik
(hier vor allem die Innenministerien der Bundesländer bzw. die entsprechenden
Aufsichtsbehörden) und welche Rolle nehmen die Medizin und die mit ihr ver-
bundenen therapeutischen Ideologien ein? Systemverantwortung kann nicht allein
in den unterschiedlichen Systemrationalitäten aufgehen. Es ist immer mitzu-
führen, dass es eigentlich (oder zumindest: auch) um etwas geht, das, wie Niklas
Luhmann in seinem Werk überzeugend aufgearbeitet hat, außerhalb der sozialen
Systeme steht: nämlich den ‚Menschen‘ (Luhmann 1984, 1998).
Die ethische Reflexion der vorangehenden Fallrekonstruktionen verweist auf
die Fähigkeit und Notwendigkeit, die hiermit einhergehenden Systemrationali-
täten partiell wieder einklammern zu können, um der Unverfügbarkeit des
‚Menschen‘ gerecht zu werden. Wenn Mensch-Sein heißt, sich wechselseitig als
Existenzverhältnis hervorzubringen (Merleau-Ponty 1974, S. 516) und „Existenz“
mit Karl Jaspers (2008) nur als „Unbedingtheit in Situation, Bewußtsein und
Handlung“ zu begreifen ist, dann kann auch die forensische Psychiatrie nicht
allein in einer medizinisch-technisch-rechtlichen Risikokalkulation aufgehen. Sie
ist immer schon mehr: nämlich die Suche, was es unter den gegebenen Verhält-
nissen noch heißt, Mensch zu sein. Wir begegnen hier einer Ethik, die auch im
Sinne Jaspers‘ nicht in einem expliziten Rational aufgehen kann, sondern implizit
bleiben muss,62 sich also bewusst situativ einige Freiheitsgrade offen hält, um
herauszufinden, was der jeweiligen Situation (noch) angemessen ist.
Organisationen, deren Auftrag darin besteht, Menschen zu behandeln, zu
‚bessern‘ und zu sichern, hätten damit gerade die Unverfügbarkeit der Psychen
ihrer Klienten und Mitarbeiter nicht nur als Problem, sondern zugleich als die
in ethischer Hinsicht entscheidende Ressource anzuerkennen. Die Vulnerabili-
tät auf beiden Seiten, die Fähigkeit, sich den jeweiligen Existenzialen zu stellen
und trotzdem Beziehungen eingehen zu können, erscheint als eine Bedingung der
Möglichkeit, dem Auftrag des Maßregelvollzugs gerecht zu werden.63
Es liegt in der Natur der Sache, dass die forensische Psychiatrie nie ein
schöner oder attraktiver Ort sein wird. Doch trotz der gegebenen Umstände kann

62 Siehe zur Diskussion, ob Jaspers‘ Werk einer impliziten Ethik folgt, Weidmann (2004),
sowie generell zur Idee einer impliziten Ethik Wittgenstein (1989).
63 Siehe zu medizinethischen Überlegungen aus Perspektive der Vulnerabilität auch Schnell

(2017).
5.4  Ethische Fragen – Verantwortung, Reflexion … 423

sie ein Platz sein, wo der psychisch kranke Straftäter auch ‚Mensch‘ sein kann –
auch wenn dies von Seiten der gesellschaftlichen Funktionssysteme und den mit
ihnen einhergehenden Zweckaufträgen für diese Einrichtung so nicht vorgesehen
ist. Aber gerade weil dies nicht vorgesehen ist, läuft der Maßregelvollzug eben
immer auch Gefahr ‚den Menschen‘ aus den Augen zu verlieren.
Und dennoch schließen sich selbst in einer so stark durch Macht, Recht und
Medizin konditionierten Einrichtung wie der forensischen Psychiatrie „System
und Lebenswelt“ (Habermas 1997) nicht per se aus, sondern stellen ihrerseits
eine widersprüchliche Einheit dar, in der – wie bereits bei den Polen Gesellschaft
und Gemeinschaft (s. auch Bühl 1969) – das eine jeweils als Bedingung der
Möglichkeit des anderen anzusehen ist.
Gerade darin führt uns der Maßregelvollzug vor Augen, was in anderen
Bereichen der Gesellschaft nur weniger offensichtlich ist: Das Beziehungs-
geflecht der konditionierten Koproduktion einer von vielfältigen Institutionen
durchwachsen Gesellschaft, die unterschiedlichen, oftmals inkommensurablen
Werten folgen, stellt den modernen Menschen in seiner Autonomie zugleich
infrage, wie es ihn ermöglicht. Freilich – allein schon in Hinblick auf die in der
Forensik verhandelten Dramatiken – stehen die immer wieder anzulaufenden
Plateaus der Freiheit (Deleuze und Guattari 1992) und die tiefen Abgründe
menschlicher Existenz in der forensischen Psychiatrie besonders nahe bei-
einander. In dieser Hinsicht kann hier Ethik gewissermaßen zu sich selbst
kommen – nämlich als konkrete Praxis einer Leerstellengrammatik, in der
Beziehung, Kontingenz und Verantwortung untrennbar miteinander verwoben
sind. Und so führt der Maßregelvollzug als „Gesellschaft innerhalb der Gesell-
schaft“ (Foucault 1976, S. 304) uns selbst vor, wie wir uns als Mensch erschaffen.
Kritische Reflexion der Rolle des
soziologischen Beobachters 6

Eine als schizophren geltende Patientin, die während einer Psychose ihr Kind
umgebracht hat und nun als gut eingestellt gilt, berichtet im Interview, dass sie
von einer Pflegekraft vergewaltigt worden sei. Oberärztin und Pflegepersonal
erklären auf Nachfrage, dass bei ihr derzeit keine schizophrenen Symptome
zu beobachten seien. Was ist in diesem Fall also die Realität? Ist einer als
schizophren diagnostizierten Patientin Glauben zu schenken? Diese verwirrende
Erfahrung erscheint gewissermaßen charakteristisch für das von uns untersuchte
Feld. Wir treffen auf – im wahrsten Sinne des Wortes – verrückte Verhältnisse,
durchsetzt mit vielfältigen Gewaltmomenten. Ursache und Wirkung, Realität
und Fiktion, Schuld und Unschuld, Anfang und Ende sind oftmals nicht klar zu
trennen. Doch für die Menschen, die in diesem Feld arbeiten und zurechtkommen
müssen, ist es notwendig, eine spezifische Haltung zu entwickeln, sich danach
auszurichten und das eigene Verhältnis zu Patienten und Kollegen entsprechend
zu gestalten – ansonsten würden sie die Orientierung verlieren, möglicherweise
würden sie selbst verrückt werden, da ihre Realität zusammenbrechen würde.
Wir als soziologische Beobachter leben nicht im Maßregelvollzug und wir
arbeiten auch nicht in dieser Institution. Wir waren für einige Wochen zu Besuch,
haben Gespräche geführt und uns dann für lange Zeit zurückgezogen, um das
von uns erhobene Material zu sichten, zu ordnen und zu reflektieren. Wir können
und dürfen verwirrt sein und uns vielleicht dabei auch ein wenig gestatten, unter
den Abgründen dieser Welt zu leiden. Wenn die vielfältigen Geschichten einer
forensischen Klinik uns verstören, so berührt uns das nur persönlich, hat darüber
hinaus jedoch keine ernsthaften existenziellen Konsequenzen – weder für uns
selbst noch für einen Patienten oder einen unserer Kollegen. Wir stehen nicht
unter einem unmittelbaren Handlungsdruck, sondern sind es vielmehr gewohnt,
uns zurückzulehnen, uns Zeit für die Reflexion zu nehmen und die Dinge aus

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden 425


GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022
W. Vogd und M. Feißt, Therapeutische Arrangements im Maßregelvollzug,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-37131-9_6
426 6  Kritische Reflexion der Rolle des soziologischen Beobachters

unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten, ohne uns allzu schnell festlegen zu


müssen, was denn jetzt der Fall ist.
Hiermit entsteht ein eigenständiges Selbst- und Weltverhältnis, das im Sinne
der Leerstellengrammatik sehr wohl mit dem untersuchten Feld zu tun hat, aber
dabei nicht bestimmte Stellen als unmittelbaren Nachbarn hat, sondern recht
freischwebend die Positionen wechseln kann. Wir sind nicht dem Chefarzt
untergeordnet, nicht als Anwalt dem Patienten verpflichtet und auch nicht als
Pflegekraft den Kollegen Loyalität schuldig.
Zu vielen Arrangements haben wir etwa fünf bis sieben Positionen und Ein-
schätzungen erhoben. Bei manchen Fällen decken sich die Perspektiven und
Einschätzungen, bei andern driften sie diametral auseinander, sodass kaum eine
geteilte, konsensuelle Realität aufscheint. Bei wieder anderen Fällen schien uns
im Feld die Sache recht klar und eindeutig, bei näherem Studium der Protokolle
und Interviews traten dann jedoch die Spezifika der Konstruktion eines Patienten
in einer Weise in den Vordergrund, dass wir von den Selbstbeschreibungen des
Feldes Abstand nehmen mussten, um stattdessen das Augenmerk darauf zu
lenken, wie die Beteiligten ihren Gegenstand – und damit Krankheit, Gefährlich-
keit, Vertrauen etc. – selbst konstruieren.
Während der Feldforschung haben wir zudem oft erfahren müssen, was die
Psychoanalyse mit dem Begriff der Übertragung bezeichnet – wir empfinden auf
unsere Weise mit einzelnen Positionen mit, fühlen uns berührt oder bedrückt,
spüren Sympathie oder Antipathie, stellen uns mal mehr auf die Seite der
Patienten oder der des Personals. Doch nach mehrmaliger Durchsicht der Fälle
und wiederholten Korrekturschleifen in der Interpretation rückt die eigene
Affizierung wieder in den Hintergrund und erscheint ihrerseits reflexions-
bedürftig. Damit stellt sich jedoch insgesamt die Frage nach der eigenen Position.
Was machen wir hier eigentlich?
Innerhalb der Organisation der forensischen Psychiatrie hat jeder seinen Platz
und damit auch eine gewisse Sicherheit, welche Erwartungen an ihn gestellt
werden. Die Ärzte haben ihre Diagnosen, die Psychotherapeuten das zeitlich
begrenzte Gespräch, in dem der Geltungscharakter des Gesagten eingeklammert
werden kann. Die Pflege hat den Alltag mit den Patienten, in dem es dann eine
halbwegs vertretbare Ordnung zu schaffen gilt. Viele Patienten leiden an den
Zumutungen der Klinik, haben dabei jedoch in unterschiedlichen therapeutischen
Kontexten gelernt, ihre Geschichte zu erzählen – zumindest daran können sie sich
halten. Andere Außenstehende haben ebenfalls ihren selektiven Auftrag, etwa die
Anwältin in Bezug auf die Durchsetzung der Patientenrechte. Wir als Soziologen
dagegen haben in diesem Spiel – wie gesagt – keine fest bestimmte Position. Wir
sind zunächst nur Gast, nur Beobachter. Unsere berufliche Existenz nährt sich
6  Kritische Reflexion der Rolle des soziologischen Beobachters 427

von dem Leben, den Positionen und Perspektiven anderer, ohne uns selbst dabei
festlegen zu müssen, wohin und zu wem wir gehören.
Da wir nicht selbst Teil der beobachteten Verhältnisse sind, können wir es
auch nicht ‚besser‘ machen. Unsere Texte sind deshalb weder als eine Kritik
noch als eine Affirmation der Verhältnisse gedacht. Nichtsdestotrotz sind wir ver-
antwortlich für die Qualität unserer eigenen Rekonstruktionen. Diese wird sich
darin zeigen, ob es uns gelingen wird, in einem guten Sinne in Resonanz zu dem
untersuchten Feld zu gehen, um auf diese Weise für die entscheidenden Akteure
die Bedingungen ihres Handelns und die hiermit einhergehenden Freiheitsgrade
sichtbar werden zu lassen. Nicht mehr und nicht weniger.
Literatur

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