Sie sind auf Seite 1von 383

See discussions, stats, and author profiles for this publication at: https://www.researchgate.

net/publication/311507578

Krisenintervention

Chapter · January 2016


DOI: 10.1007/978-3-662-47744-1_25

CITATIONS READS

0 2,326

2 authors:

Kurt Fritzsche Daniela Wetzel-Richter


University Medical Center Freiburg Kliniken des Landkreises Lörrach GmbH
441 PUBLICATIONS   2,892 CITATIONS    8 PUBLICATIONS   1 CITATION   

SEE PROFILE SEE PROFILE

Some of the authors of this publication are also working on these related projects:

Psychosomatic Medicine View project

Psycho-oncology View project

All content following this page was uploaded by Kurt Fritzsche on 22 June 2020.

The user has requested enhancement of the downloaded file.


Psychosomatische Grundversorgung

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
K. Fritzsche
W. Geigges
D. Richter
M. Wirsching
(Hrsg.)

Psychosomatische
Grundversorgung
2., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage

Mit 95 Abbildungen

123
kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
Herausgeber
Kurt Fritzsche Dietmar Richter
Universitätsklinikum Freiburg Bad Säckingen
Freiburg
Michael Wirsching
Werner Geigges Universitätsklinikum Freiburg
Reha-Klinik Glotterbad Freiburg
Glottertal

ISBN 978-3-662-47743-4 978-3-662-47744-1 (eBook)


DOI 10.1007/978-3-662-47744-1

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;


detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2003, 2015


Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht aus-
drücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das
gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Ein-
speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk be-
rechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der
Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann
benutzt werden dürften.
Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in
diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die
Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes,
etwaige Fehler oder Äußerungen.

Zeichner:
Gisela Mehren, Freiburg (Abb. 5.2, 5.3, 7.2, 9.1, 10.2, 10.4, 12.3, 14.1, 14.2, 16.2, 17.1, 18.1, 18.2, 20.1, 22.1, 25.1,
25.2, 27.1, 28.2)
Claudia Styrsky, München (Zeichnungen in den Abb. 10.3, 12.1, 12.2, 29.6, 29.8, 30.3, 30.4)
Peter Späth, Freiburg (Abb. 5.1)
Umschlaggestaltung: deblik Berlin

Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier

Springer-Verlag ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media


www.springer.com

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
V

Vorwort zur 2. Auflage

»Das Lehren mit Worten ist nicht so gut wie das Lehren mit dem Leib.«
(Alte chinesische Redewendung)

Der Anstoß zu einer Neuauflage unseres Lehrbuchs kommt nicht nur aus der Notwendigkeit
neues Wissen und praktische Erfahrungen auf dem Gebiet der psychosomatischen Medizin
und Psychotherapie auch für nicht »Psycho-Ärzte« aufzubereiten, sondern auch durch eine
neue Generation von Ärzten in allen Fachgebieten, die inzwischen sehr aufgeschlossen für
psychosomatisches Denken sind. Es sind Ärzte, die durch die Reform des Medizinstudiums
schon während ihres Studiums Kurse in ärztlicher Gesprächsführung absolviert haben und
die durch inhaltlich und didaktisch gut aufbereitete Praktika in psychosomatischer Medizin
und Psychotherapie schon frühzeitig für ein ganzheitliches biopsychosoziales Krankheits-
modell sensibilisiert wurden. Es ist eine Generation von Ärzten entstanden, die wissen, dass
das vorherrschende Krankheits- und Behandlungsmodell nur eine Möglichkeit ist, Medizin
zu betreiben und die durch die Ökonomisierung der modernen naturwissenschaftlichen Me-
dizin immer mehr desillusioniert werden. Psychosomatische Medizin als humane Medizin ist
in diesem Sinne »subversiv«, da sie Theorie und Praxis einer technisierten Medizin unterläuft
und Ärzten wieder einen ganzheitlichen Ansatz ärztlicher Heilkunde lehrt. Psychosomatische
Medizin in diesem Sinne ist nicht nur ein Spezialfach, sondern fester Bestandteil jedes ärzt-
lichen Fachgebietes. Wir freuen uns, dass das Interesse an einer psychosomatischen Medizin
weiter wächst und stellen uns gerne den inhaltlichen, methodischen und didaktischen Pro-
blemen, die bei der Konzeptualisierung unserer Kurse zur Psychosomatischen Grundversor-
gung und bei der Neuauflage dieses Lehrbuchs gefordert sind.

Wozu psychosomatische Grundversorgung?


Nach aktuellen Untersuchungen entwickelt zwischen 25–30 % der Bevölkerung mindestens
einmal jährlich eine psychische Störung nach den Kriterien von ICD-10. Das Lebenszeitrisiko
liegt bei mehr als 50 %. Am häufigsten treten Angststörungen, Depressionen und somatofor-
me Störungen auf. Die Mehrheit dieser psychischen Störungen manifestiert sich in der Kind-
heit und Adoleszenz. Hier werden Weichen für eine lebenslange Leidensgeschichte gestellt.
Immer noch werden psychische Störungen nicht frühzeitig erkannt und v. a. nicht adäquat
behandelt. Unbehandelt nehmen psychische Störungen einen chronischen Verlauf mit enor-
mem Leiden für die Patienten und nicht selten auch erheblichen Auswirkungen auf deren
soziales Umfeld. Dies ist mit enormen Kosten für das Gesundheitswesen verbunden.

Durch die Einführung der Psychosomatischen Grundversorgung und der Weiterbildung


Psychotherapie-fachgebunden hat Deutschland weltweit das beste Versorgungssystem ambu-
lanter und stationärer psychosomatischer Medizin und Psychotherapie.

Curriculum Psychosomatische Grundversorgung


In Freiburg im Breisgau finden seit 1991 kontinuierlich Kurse zur Qualifikation in Psychosoma-
tischer Grundversorgung statt. Mehrere tausend Ärztinnen und Ärzte, vom Berufseinsteiger bis
zum langjährig erfahrenen Arzt, gaben uns über die Jahre die Rückmeldung durch die Kurse in
ihrem persönlichen Umgang mit Patienten viel gelernt zu haben. Sowohl die Patientenzufrie-
denheit als auch die eigene Zufriedenheit mit der täglichen Arbeit hätten sich verbessert.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
VI Vorwort zur 2. Auflage

Das Lehrbuch
Die in über 20 Jahren erworbenen Erfahrungen bei der inhaltlichen, didaktischen und me-
thodischen Gestaltung der Fort- und Weiterbildungen in Psychosomatischer Grundversor-
gung fließen in dieses Buch ein. Der Untertitel »Lehrbuch« ist irreführend, denn psychoso-
matische Medizin lernt man nicht aus Büchern. Man lernt sie durch tägliche Erfahrungen mit
Patienten, durch gute Lehrer, Supervision, Balintgruppen und am häufigsten durch eigene
Fehler und Scheitern.

Dieses Buch wurde geschrieben für neugierige Ärzte, die Kenntnisse und Fertigkeiten in
psychosomatischer Medizin erwerben und weiterentwickeln möchten. Die Hauptfrage ist
daher: Wie lerne ich psychosomatische Grundversorgung?

Das Buch gliedert sich nach den 3 Zielen der psychosomatischen Grundversorgung:
1. Erkennen psychischer und psychosomatischer Probleme und Störungen,
2. Begrenzte eigene Beratungs- und Behandlungsangebote,
3. Rechtzeitige und gezielte Weitervermittlung in Fachpsychotherapie, sofern erforderlich.

Die Autoren gehen zunächst davon aus, was passiert, wenn ein Patient und ein Arzt zum
ersten Mal in der Praxis oder im Krankenhaus aufeinandertreffen. Wir haben versucht, diesen
Prozess, der oft nur 5–10 min dauert, in Zeitlupe detailliert anzuschauen, sowohl aus Sicht des
Arztes als auch aus Sicht des Patienten. Jeder einzelne Schritt wird genau nachvollzogen und
auch theoretisch begründet.

Der Hauptteil des Buches stellt grundlegende Denk- und Vorgehensweisen bei den häufigsten
Krankheitsbildern, Störungen und Problemen vor.

Uns ist bewusst, dass der Arzt in Klinik und Praxis nach einem 80-stündigen Kurs in Psycho-
somatischer Grundversorgung und begrenztem Zeitbudget nur wenige Elemente sofort in
seinem Arbeitsbereich anwenden wird. Am Anfang bleibt es vielleicht zunächst bei einem
Patienten pro Woche, wo der Arzt eine ausführliche biopsychosoziale Anamnese erhebt und
erste Interventionen zur Reduktion von Angst und Depressivität anwendet oder den Patienten
für eine Fachpsychotherapie motiviert.

Möglichkeiten und Grenzen der Umsetzung einer integrierten psychosomatischen Versor-


gung und Modelle der Kooperation und Integration von Psychosomatik in Praxis und Kran-
kenhaus werden vorgestellt. Ein wichtiges Anliegen des Buches ist die Vermittlung einer acht-
samen Haltung gegenüber dem Patienten, unseren ärztlichen Kollegen gegenüber und beson-
ders auch gegenüber sich selbst.

Am Schluss des Buches finden sich daher Überlegungen zur eigenen Psychohygiene und
Burnout-Prophylaxe. Dazu gehört auch die Teilnahme an einer Balintgruppe.

Wir möchten darauf hinweisen, dass wir aus Gründen der besseren Lesbarkeit in diesem Buch
überwiegend das generische Maskulinum verwenden. Dieses impliziert natürlich immer auch
die weibliche Form. Sofern die Geschlechtszugehörigkeit von Bedeutung ist, wird sie selbst-
verständlich sprachlich differenziert.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
VII
Vorwort zur 2. Auflage

Das Buch verdankt sein theoretisches Fundament Thure von Uexküll. In jahrzehntelanger
Arbeit hat er ein Modell der psychosomatischen Medizin entwickelt, welches alle klinischen
Fächer umfasst und die Spaltung der Medizin in körperliche und seelische Krankheiten über-
windet.

Der Arbeitskreis Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Südbaden e. V. ist seit seiner
Gründung 1991 dieser Idee einer nicht dualistischen Medizin verpflichtet. Der Grundgedan-
ke ist, dass psychosomatische Medizin ein integraler Bestandteil der Medizin ist. Es braucht
psychosomatisch denkende und handelnde Ärzte in allen Fachgebieten der Medizin.

Kurt Fritzsche (für die Autorinnen und Autoren)


Freiburg, im Juli 2015

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
Vorwort zur 1. Auflage

Eine psychosomatische Haltung in der Medizin lässt sich nicht aus Büchern lernen. Deshalb
ist der Untertitel »Lehrbuch« etwas irreführend. Vielmehr sind es tägliche Erfahrungen mit
Patienten, gute Lehrer, Supervision, Balintgruppen und nicht zuletzt eigene Fehler und Schei-
tern, die uns Psychosomatik lehren. So ist auch dieses Buch aus der Praxis entstanden, aus der
täglichen Arbeit der Autoren und den über 10-jährigen Erfahrungen in Fort- und Weiterbil-
dungen im Rahmen der psychosomatischen Grundversorgung.

Sein theoretisches Fundament verdankt das Buch Thure von Uexküll. In jahrzehntelanger
Arbeit hat er ein Modell der psychosomatischen Medizin entwickelt, welches alle klinischen
Fächer umfasst und die Spaltung der Medizin in körperliche und seelische Krankheiten über-
windet. Wir sind uns bewusst, dass es eine ärztliche Praxis ohne Theorie nicht gibt. Oft ist uns
die theoretische Fundierung unserer ärztlichen Entscheidungen allerdings gar nicht präsent.
Das dargestellte Modell einer Psychosomatik als integrierte Medizin stellt eine »Landkarte«
zur Verfügung, um praktisches Handeln besser zu verstehen.

Möchten Sie sich informieren über Gesprächsführung, Diagnostik und Therapie von Angst-
störungen, die Begleitung von Krebspatienten und die Betreuung von Patienten mit chroni-
schen Schmerzen, dann raten wir Ihnen, in dem jeweiligen Kapitel direkt nachzuschlagen.
Den theoretischen Grundlagen können Sie sich auch erst im zweiten Anlauf nähern. Für die
therapeutische Arbeit haben wir 4 Prinzipien dargestellt, die in jedem Behandlungsprozess
wirksam sind. Diese Wirkfaktoren finden sich in unterschiedlicher Gewichtung bei allen
Krankheitsbildern und Problembereichen wieder. Sie werden ergänzt durch spezifische
Kenntnisse und Fertigkeiten beim Erkennen und Behandeln dieser Störungen.

Dieses Buch wurde geschrieben für neugierige Ärzte, die Kenntnisse und Fertigkeiten in
psychosomatischer Medizin erwerben und weiterentwickeln möchten. Die Hauptfrage ist
daher: Wie lerne ich psychosomatische Grundversorgung? Psychosomatische Medizin ist ein
Querschnittsfach mit einem kaum zu überschauenden Wissen. In einem Kurs und in diesem
Lehrbuch ist es nicht möglich, alle Krankheitsbilder zu behandeln. Deswegen werden grund-
legende Denk- und Vorgehensweisen an exemplarischen Krankheitsbildern erläutert.

Das Buch gliedert sich nach den drei Zielen der psychosomatischen Grundversorgung:
1. Erkennen psychischer und psychosomatischer Probleme und Störungen,
2. begrenzte eigene Beratungs- und Behandlungsangebote,
3. rechtzeitige und gezielte Weitervermittlung in Fachpsychotherapie, sofern erforderlich.

Die Autoren beschreiben zunächst, was geschieht, wenn ein Patient und ein Arzt zum ersten
Mal in der Praxis oder im Krankenhaus aufeinander treffen. Wir haben versucht, diesen Pro-
zess, der oft nur 5–10 min dauert, sozusagen in Zeitlupe, sowohl aus Sicht des Arztes als auch
aus Sicht des Patienten detailliert anzuschauen, um jeden Schritt genau nachzuvollziehen und
auch theoretisch zu begründen.

Der Hauptteil des Buches stellt Behandlungsansätze und ihre Anwendung bei den häufigsten
Krankheitsbildern, Störungen und Problemen vor. Uns ist bewusst, dass der Arzt in Klinik

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
IX
Vorwort zur 1. Auflage

und Praxis nach einem 80-stündigen Kurs in psychosomatischer Grundversorgung und be-
grenztem Zeitbudget nur ausgewählte Elemente sofort in seinem Arbeitsbereich anwenden
wird. Am Anfang bleibt es vielleicht erstmal bei einem Patienten pro Woche, wo der Arzt
spürt, dass er ihn umfassender versteht und in der Lage ist, eine ausführliche biopsychosozi-
ale Anamnese zu erheben und erste Interventionen zur Reduktion von Angst und Depres-
sivität, zur Schmerzverarbeitung oder zur Motivation für eine Fachpsychotherapie auszupro-
bieren.

Möglichkeiten und Grenzen der Umsetzung einer integrierten psychosomatischen Versor-


gung und Modelle der Kooperation und Integration von Psychosomatik in Praxis und Kran-
kenhaus werden vorgestellt. Am Schluss des Buches finden sich Überlegungen zur Psycho-
hygiene der Helfer, im Sinne einer Burnout-Prophylaxe. Einer dieser hilfreichen Schritte, die
Teilnahme an Balintgruppen, wird in einem eigenen Kapitel dargestellt.

Die Fallbeispiele zur Illustrierung eines Problems stammen aus der eigenen Praxis der Auto-
ren, wurden von Teilnehmern der Kurse vorgetragen oder sind aus bereits veröffentlichten
Büchern zur psychosomatischen Medizin entnommen, wenn sie uns besonders anschaulich
erschienen.

Die in diesem Werk verwandten Personen- und Berufsbezeichnungen sind, auch wenn sie nur
in einer Form auftreten, gleichwertig auf beide Geschlechter bezogen.

Wichtigstes Anliegen des Buches ist die Vermittlung einer ärztlichen Haltung gegenüber dem
Patienten, unseren ärztlichen Kollegen und uns selbst. Sie lässt sich mit der folgenden Anek-
dote beschreiben: Ein seit 17 Jahren niedergelassener Chirurg mit Qualifikation und Erfah-
rung in psychosomatischer Grundversorgung antwortete auf die Frage nach seinem schönsten
Erlebnis mit Patienten spontan: »Mein schönstes Erlebnis war, als eine Patientin zu mir sagte:
Herr Doktor, bei Ihnen vergesse ich immer, dass Sie Arzt sind«.

Kurt Fritzsche (für die Autorinnen und Autoren)


Freiburg, im Juli 2003

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
Danksagung

Wir bedanken uns bei den tausenden ärztlichen Kolleginnen und Kollegen, die bisher unsere
Kurse besucht haben und die viele wichtige Anregungen zu diesem Buch beigetragen haben.
Bedanken möchten wir uns bei den Patienten in der Klinik und in der Haus- und Facharzt-
praxis, die sich über das Verständnis freuen, das ihnen entgegen gebracht wird, und die uns
immer wieder bestärken auf dem Weg zu einer integrierten psychosomatischen Medizin fort-
zufahren.

Wir danken den Patienten der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am
Universitätsklinikum Freiburg, der Werner-Schwidder-Klinik in Bad Krozingen, der Reha-
klinik Glotterbad, der Celenus-Klinik Freiburg und den Patienten aus den Praxen der Dozen-
ten, dass sie sich für ein Patienten-Live-Gespräch im Rahmen unserer Kurse zur Verfügung
gestellt und offen und eindrucksvoll über ihre Beschwerden, ihre Lebensgeschichte und ihre
Behandlung berichtet haben.

Wir danken auch den Dozenten des Arbeitskreises Psychosomatische Grundversorgung


Südbaden e. V., die nicht als Autoren an der Entstehung der 2. Auflage dieses Lehrbuchs mit-
gewirkt haben, aber bei unseren Arbeitstreffen durch Diskussionsbeiträge und Arbeitsmate-
rialien wichtige Impulse zur Verbesserung unseres Curriculums gegeben haben: Bettina
Engemann, Manfred Sauer, Christoph Schaefer, Bettina Seiberling, Georg Schmitt, Axel
Schweickhardt und dem leider verstorbenen Freund und Kollegen Georg Napp.

Wir danken Almut Zeeck für die kritische Durchsicht des Kapitels über Anorexia nervosa und
Bulimie.

Unser besonderer Dank gilt Thure von Uexküll, der mit seinem Modell einer Psychosomatik
als integrierte Medizin unsere Arbeit sehr geprägt hat. Danken möchten wir auch Michael
Wirsching, dem Ärztlichen Direktor der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapeutische
Medizin am Universitätsklinikum Freiburg, der Anfang der 90er Jahre mit großem Engage-
ment und Unterstützung von KV Südbaden und Bezirksärztekammer Südbaden die ersten
Kurse in Psychosomatischer Grundversorgung initiiert hat.

Wir danken vor allem Frau Kunz und Frau Krivickaite, die in geduldiger und mühevoller
Kleinarbeit mit Unterstützung von Frau Schulz vom Springer-Verlag und der Lektorin, Frau
Leubner-Metzger, für die Fertigstellung des Manuskripts gesorgt haben.

Kurt Fritzsche (für die Autorinnen und Autoren)

Die Mitherausgeber dieses umfangreich neu gestalteten Lehrbuchs Psychosomatische Grund-


versorgung danken in besonderer Weise Herrn Prof. Dr. med. Kurt Fritzsche für seine zahlrei-
chen Initiativen und Anregungen zur Gestaltung dieser 2. Auflage. Seine unermüdliche, stets
»liebevoll antreibende« Art bei der redaktionellen Gestaltung der einzelnen Kapitel hat dieses
Buch in der jetzt vorliegenden Form entstehen lassen.

Werner Geigges, Dietmar Richter und Michael Wirsching

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
XI

Inhaltsverzeichnis

I Was ist psychosomatische Grundversorgung?

1 Was ist psychosomatische Medizin? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3


Werner Geigges, Kurt Fritzsche
1.1 Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4
1.2 Das theoretische Modell der psychosomatischen Medizin und
seine philosophischen Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
1.2.1 Konstruktivismus – Wir erschaffen uns unsere Wirklichkeit selbst . . . . . . . . . . . . . . . 5
1.2.2 Krankheit als Passungsstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
1.2.3 Selbstregulation lebender Systeme (Exkurs) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
1.3 Das biopsychosoziale Modell von Krankheit am Beispiel
der koronaren Herzkrankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
1.4 Wissenschaftliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
1.4.1 Psychobiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
1.5 Was macht uns krank, was hält uns gesund? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
1.5.1 Stressmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
1.5.2 Antistresssysteme des menschlichen Organismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
1.5.3 Ein integratives Modell der psychosomatischen Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

2 Warum psychosomatische Grundversorgung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19


Werner Geigges, Kurt Fritzsche
2.1 Psychische und psychosomatische Erkrankungen sind häufig . . . . . . . . . . . . . . . 20
2.2 Versorgungssituation bei Patienten mit psychischen und psychosomatischen
Krankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22

3 Ziele der Fort- und Weiterbildung in der psychosomatischen


Grundversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
Werner Geigges, Kurt Fritzsche
3.1 Inhalte der psychosomatischen Grundversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
3.2 Prozessqualität in der psychosomatischen Grundversorgung: Basisdiagnostik,
Basistherapie und Kooperation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
3.3 Die narrative Dimension in der psychosomatischen Grundversorgung:
Krankengeschichte als »Lebenserzählung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
3.4 Qualitätssicherung in der psychosomatischen Grundversorgung . . . . . . . . . . . . . 27
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
XII Inhaltsverzeichnis

II Der Erstkontakt:
Erkennen psychosozialer Belastungen und Therapieplanung

4 Beziehungsgestaltung – Herstellen einer gemeinsamen Wirklichkeit . . . . 33


Kurt Fritzsche, Dietmar Richter, Dietrich Noelle
4.1 Arzt und Patient im Annäherungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
4.2 Einstellungen und Techniken, die sich bewährt haben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
4.2.1 Empathie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
4.2.2 Echtheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
4.2.3 Bedingungslose Wertschätzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
4.2.4 Innehalten, Geduld haben, abwarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
4.2.5 Die Kunst des Zuhörens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
4.2.6 Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36
4.2.7 Die Person des Arztes als diagnostisches Instrument und als Medikament . . . . . . . . . . 37
4.3 Formen der Arzt-Patient-Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
4.3.1 Das paternalistische Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
4.3.2 Das Dienstleistungs- oder Konsumentenmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
4.3.3 Das partnerschaftliche Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40

5 Gesprächsführung – Vom Verhören zum Zuhören . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41


Kurt Fritzsche, Dietmar Richter, Christina Burbaum
5.1 Bedeutung des ärztlichen Gespräches für Diagnostik
und Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
5.2 Häufige Mängel und Fehler im Arzt-Patient-Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
5.3 Patientenzentrierte und arztzentrierte Gesprächsführung . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
5.3.1 Die patientenzentrierte Gesprächsführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
5.3.2 Strukturierung des Gespräches – die arztzentrierte Gesprächsführung . . . . . . . . . . . . 46
5.4 Umgang mit negativen Emotionen (Angst, Ärger, Wut) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48
5.4.1 Mit welchem Ohr hört der Arzt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
5.4.2 Umgang mit aggressiven Patienten – ein Deeskalationsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . 51
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53

6 Die biopsychosoziale Anamnese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55


Kurt Fritzsche, Christina Burbaum
6.1 Begrüßung und Beziehungsgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
6.2 Setting und Sitzordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
6.3 Patientenzentrierte Phase der Befunderhebung
(aktuelle Beschwerden) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
6.4 Arztzentrierte Phase der Befunderhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
6.5 Körperliche Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58
6.6 Psychosoziale Anamnese und aktuelle Lebenssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58
6.6.1 Einfühlungsvermögen für körperliche Beschwerden (Exkurs) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60
6.7 Gesamtdiagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60
6.8 Behandlungsplanung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
6.9 Abschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
6.10 Dokumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
XIII
Inhaltsverzeichnis

7 Das Paar- und Familiengespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63


Werner Geigges, Dietrich Noelle, Michael Wirsching
7.1 Theoretischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
7.1.1 Konzept des Lebenszyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
7.2 Praktischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
7.2.1 Das Familiengespräch im medizinischen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
7.2.2 Phasen des Familiengesprächs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
7.2.3 Erstellung eines Genogramms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
7.2.4 Techniken der Gesprächsführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73

8 Was wirkt? – Allgemeine Wirkfaktoren ärztlicher Interventionen . . . . . . . 75


Kurt Fritzsche, Daniela Wetzel-Richter
8.1 Psychosoziale Grundbedürfnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76
8.2 Allgemeine Wirkfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78
8.2.1 Eine gute Arzt-Patient-Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78
8.2.2 Aktive Unterstützung zur Problem- und Krankheitsbewältigung . . . . . . . . . . . . . . . 80
8.2.3 Salutogenese und Ressourcenaktivierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
8.2.4 Gesundheitsförderung durch Lebensstiländerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86

III Erkennen und Behandeln häufiger Krankheitsbilder


und Problembereiche

9 Somatoforme Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
Kurt Fritzsche, Martin Dornberg, Christina Burbaum
9.1 Theoretischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92
9.1.1 Kennzeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92
9.1.2 Symptome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92
9.1.3 Diagnostische Einteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92
9.1.4 Häufigkeit und Verlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94
9.1.5 Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
9.2 Praktischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
9.2.1 Erkennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
9.2.2 Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

10 Chronische Schmerzstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105


Kurt Fritzsche, Martin Dornberg, Blandine Niklaus
10.1 Theoretischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
10.1.1 Kennzeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
10.1.2 Diagnostische Einteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
10.1.3 Häufigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
10.1.4 Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
10.1.5 Risikofaktoren für Chronifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
10.1.6 Sonderform der chronischen Schmerzstörung: Das Fibromyalgiesyndrom . . . . . . . . . 110

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
XIV Inhaltsverzeichnis

10.2 Praktischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111


10.2.1 Erkennen – die psychosomatische Schmerzanamnese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
10.2.2 Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118

11 Angststörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
Kurt Fritzsche, Uwe H. Ross
11.1 Theoretischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
11.1.1 Kennzeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
11.1.2 Symptome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
11.1.3 Diagnostische Einteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
11.1.4 Differentialdiagnosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
11.1.5 Häufigkeit und Verlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
11.1.6 Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
11.2 Praktischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
11.2.1 Erkennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
11.2.2 Arzt-Patient-Beziehung und Haltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126
11.2.3 Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126
11.2.4 Krisenintervention bei Panikattacken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
11.2.5 Medikamentöse Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
11.2.6 Fallstricke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
11.2.7 Überweisung und Kooperation mit psychotherapeutischen Praxen und Kliniken . . . . . 131
11.2.8 Psychotherapeutische Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132

12 Depression und Suizidalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133


Kurt Fritzsche, Daniela Wetzel-Richter
12.1 Theoretischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134
12.1.1 Kennzeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134
12.1.2 Diagnostische Einteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134
12.1.3 Differenzialdiagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136
12.1.4 Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138
12.2 Praktischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
12.2.1 Erkennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
12.2.2 Therapeutische Grundhaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142
12.2.3 Arzt-Patient-Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142
12.2.4 Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
12.2.5 Gesprächsführung: Begleiten-Aktivieren-Informieren-Motivieren . . . . . . . . . . . . . . . 143
12.2.6 Einbeziehen von Familie und nahen Bezugspersonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144
12.2.7 Psychopharmaka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145
12.2.8 Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146
12.2.9 Suizidalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
XV
Inhaltsverzeichnis

13 Krebserkrankung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
Kurt Fritzsche, Werner Geigges
13.1 Theoretischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154
13.1.1 Psychosoziale Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154
13.1.2 Diagnose Krebs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154
13.1.3 Problem Fatigue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
13.2 Praktischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
13.2.1 Das Informations- und Aufklärungsgespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
13.2.2 Behandlungsstufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162
13.2.3 Psychotherapie bei Krebs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163
13.2.4 Sterbebegleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164

14 Koronare Herzkrankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167


Kurt Fritzsche, Daniela Wetzel-Richter
14.1 Theoretischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168
14.1.1 Kennzeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168
14.1.2 Psychosoziale Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168
14.1.3 Geschlechtsspezifische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169
14.2 Praktischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170
14.2.1 Erkennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170
14.2.2 Haltung und Arzt-Patient-Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
14.2.3 Psychotherapie nach Herzinfarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
14.2.4 Psychopharmaka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173

15 Diabetes mellitus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175


Werner Geigges, Ulrich Garwers, Martin Poppelreuter, Kurt Fritzsche
15.1 Theoretischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176
15.1.1 Kennzeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176
15.1.2 Symptome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176
15.1.3 Psychosomatik des Diabetes mellitus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176
15.1.4 Häufigkeit und Verlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
15.2 Praktischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
15.2.1 Erkennen psychischer Belastungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
15.2.2 Therapeutische Grundhaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180
15.2.3 Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182

16 Adipositas und metabolisches Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185


Kurt Fritzsche, Daniela Wetzel-Richter, Werner Geigges
16.1 Adipositas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186
16.1.1 Theoretischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186
16.1.1.1 Kennzeichen und diagnostische Einteilung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186
16.1.1.2 Häufigkeit und Verlauf. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186
16.1.1.3 Psychosoziale Folgen der Adipositas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186
16.1.1.4 Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
XVI Inhaltsverzeichnis

16.1.2 Praktischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187


16.1.2.1 Erkennen von Übergewicht und Adipositas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187
16.1.2.2 Grundhaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187
16.1.2.3 Arzt-Patient-Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188
16.1.2.4 Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188
16.2 Metabolisches Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190
16.2.1 Theoretischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190
16.2.1.1 Kennzeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190
16.2.1.2 Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190
16.2.1.3 Häufigkeit und Verlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190
16.2.1.4 Depression, metabolisches Syndrom und Diabetes mellitus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190
16.2.2 Praktischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191
16.2.2.1 Erkennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191
16.2.2.2 Grundhaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191
16.2.2.3 Arzt-Patient-Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191
16.2.2.4 Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192

17 Anorexia nervosa und Bulimie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195


Kurt Fritzsche, Peter Rochlitz
17.1 Anorexia nervosa (ICD-10: F 50.0) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196
17.1.1 Theoretischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196
17.1.1.1 Kennzeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196
17.1.1.2 Diagnostische Einteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196
17.1.1.3 Häufigkeit und Verlauf. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197
17.1.1.4 Entstehungsbedingungen der Anorexia nervosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198
17.1.2 Praktischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198
17.1.2.1 Erkennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198
17.1.2.2 Therapeutische Grundhaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200
17.1.2.3 Arzt-Patient-Beziehung und Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200
17.1.2.4 Psychotherapeutische Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201
17.2 Bulimia nervosa (ICD-10: F 50.2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201
17.2.1 Theoretischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201
17.2.1.1 Kennzeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201
17.2.1.2 Häufigkeit und Verlauf. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202
17.2.1.3 Entstehungsbedingungen der Bulimia nervosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202
17.2.2 Praktischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202
17.2.2.1 Erkennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202
17.2.2.2 Therapeutische Grundhaltung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203
17.2.2.3 Arzt-Patient-Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203
17.2.2.4 Psychotherapeutische Behandlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204

18 Suchtkrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205
Kurt Fritzsche
18.1 Theoretischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206
18.1.1 Kennzeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206
18.1.2 Symptome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
XVII
Inhaltsverzeichnis

18.1.3 Diagnostische Einteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206


18.1.4 Häufigkeit und Verlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207
18.1.5 Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207
18.1.6 Internetsucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207
18.1.7 Hypersexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207
18.2 Praktischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207
18.2.1 Erkennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207
18.2.2 Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209
18.2.3 Behandlung bei Internetsucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214

19 Akute und posttraumatische Belastungsstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215


Peter Schröder
19.1 Theoretischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216
19.1.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216
19.1.2 Welche Patienten sind betroffen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216
19.1.3 Was ist ein traumatisches Ereignis? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217
19.1.4 Häufigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217
19.1.5 »Opfer« oder »Überlebender«? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217
19.1.6 Typische Folgen eines Traumas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218
19.1.7 Gefühle traumatisierter Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
19.1.8 Entwicklung einer posttraumatischen Belastungsstörung nach Trauma . . . . . . . . . . . 219
19.2 Praktischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220
19.2.1 Das Konzept der Ressourcenarbeit bei Trauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220
19.2.2 Erste Hilfe-Möglichkeiten nach Trauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222
19.2.3 Ziele professioneller Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224
19.2.4 Pharmakotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224
19.2.5 Fallsticke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225

20 Persönlichkeitsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227
Kurt Fritzsche, Werner Geigges, Michael Wirsching
20.1 Theoretischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228
20.1.1 Kennzeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228
20.1.2 Symptome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228
20.1.3 Diagnostische Einteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229
20.1.4 Häufigkeit und Verlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232
20.1.5 Entstehungsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232
20.2 Praktischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232
20.2.1 Haltung in der Arzt-Patient-Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232
20.2.2 Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
20.2.3 Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
XVIII Inhaltsverzeichnis

21 Sexualmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239
Dietmar Richter, Daniela Wetzel-Richter
21.1 Theoretischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240
21.1.1 Definition und Dimensionen der Sexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240
21.1.2 Sexualphysiologie der Frau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240
21.1.3 Sexualphysiologie des Mannes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242
21.1.4 Sexualstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242
21.2 Praktischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245
21.2.1 Kommunikationshemmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245
21.2.2 Erkennen – die sexualmedizinische Erstanamnese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246
21.2.3 Gesprächsführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246
21.2.4 Sexualmedizinische Behandlungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247
21.2.5 Spezifische Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248

22 Psychosomatik im Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251


Kurt Fritzsche, Margrit Ott
22.1 Theoretischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252
22.1.1 Symptome – der Altersprozess als ein psychosomatisches Paradigma . . . . . . . . . . . . 252
22.1.2 Einsamkeit im Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253
22.1.3 Probleme älterer Patienten im Krankenhaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253
22.1.4 Krankheit als Lösungsversuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254
22.2 Praktischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254
22.2.1 Erkennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254
22.2.2 Haltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256
22.2.3 Arzt-Patient-Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257
22.2.4 Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258

23 Unheilbar Kranke und Sterbende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261


Kurt Fritzsche, Gerhild Becker
23.1 Theoretischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262
23.1.1 Gefühlsambivalenz und illusionäre Verkennung der Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 262
23.1.2 Palliativmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262
23.1.3 Arzt-Patient-Gespräch über palliative Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263
23.2 Praktischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263
23.2.1 Kommunikation über Diagnose und Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263
23.2.2 Palliatives Behandlungskonzept entwickeln, Reanimation besprechen . . . . . . . . . . . . 264
23.2.3 Die psychosoziale Begleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267

24 Familie und Partnerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269


Michael Wirsching, Werner Geigges
24.1 Familie als System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270
24.2 Paarkonflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271
24.3 Eltern und Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273
24.4 Hilfe im Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274
24.5 Schwere und chronische körperliche oder psychische Erkrankung . . . . . . . . . . . . 276
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
XIX
Inhaltsverzeichnis

25 Krisenintervention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281
Kurt Fritzsche, Daniela Wetzel-Richter
25.1 Was ist eine Krise? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282
25.2 Wie äußern sich Krisen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282
25.3 Behandlungsschritte bei Krisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283
25.3.1 Erster Schritt: Minderung von Angst und depressiver Symptomatik . . . . . . . . . . . . . . 283
25.3.2 Zweiter Schritt: Klärung der aktuellen Konfliktsituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285
25.3.3 Dritter Schritt: Beratung und Unterstützung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285
25.4 Einbeziehung von Angehörigen und anderen Bezugspersonen . . . . . . . . . . . . . . 287
25.5 Weiterbehandlung und Weitervermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287
25.6 Technik der Gesprächsführung in der Krisenintervention . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288
25.7 Beispiele zur Krisenintervention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288
25.7.1 Der ängstliche, somatisierende Patient . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288
25.7.2 Der verleugnende, nicht krankheitseinsichtige Patient . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289
25.7.3 Der Verlust einer nahen Bezugsperson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289
25.7.4 Der suizidale Patient . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290
25.7.5 Der feindselige, aggressive Patient . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290
25.7.6 Akutes Trauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291

IV Als Arzt genormt und geformt –


Wie erhalte ich die Freude an meinem Beruf?

26 Psychosomatik in der Hausarztpraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295


Peter Schröder, Kurt Fritzsche
26.1 Der Hausarzt zwischen Psyche und Soma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296
26.2 Die systematische biopsychosoziale Anamnese in der Hausarztpraxis . . . . . . . . . 297
26.3 Schaffen einer neuen gemeinsamen Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298
26.4 Nehmen Sie sich Extrazeit! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298
26.5 Chancen der Integration einer psychosomatischen Medizin in die Hausarztpraxis . 299
26.6 Lösungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301

27 Psychosomatik im Krankenhaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303


Kurt Fritzsche, Martin Dornberg
27.1 Psychische und psychosomatische Störungen und Probleme im Krankenhaus . . . . 304
27.2 Ziele und Umsetzung einer psychosomatischen Grundversorgung im Krankenhaus 304
27.2.1 Weiterbildungsergebnisse eines Kurses in Psychosomatischer Grundversorgung
für Krankenhausärzte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305
27.3 Die Stationsvisite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306
27.3.1 Die Stationsvisite in ihrer bisherigen Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306
27.3.2 Die psychosomatische Stationsvisite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306
27.4 Der psychosomatische Konsil- und Liaisondienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307
27.4.1 Wirksamkeit des psychosomatischen Konsil- und Liasondienstes . . . . . . . . . . . . . . . 308
27.5 Integrierte internistische Psychosomatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
XX Inhaltsverzeichnis

28 Die Balintgruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311


Kurt Fritzsche, Werner Geigges
28.1 Theoretischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312
28.1.1 Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312
28.1.2 Relevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312
28.1.3 Wer war Michael Balint? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312
28.1.4 Grundannahmen der Balintarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313
28.1.5 Gegenübertragung und Parallelprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313
28.2 Praktischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314
28.2.1 Rahmen und Verlauf einer Balintgruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314
28.2.2 Aufgabe des Gruppenleiters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314
28.2.3 Aufgaben des vorstellenden Arztes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314
28.2.4 Skulpturarbeit in der Balintgruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317
28.2.5 Einstellungsänderung des Arztes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318
28.2.6 Wie werde ich Balintgruppenleiter? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320

29 Entspannung, Körperwahrnehmung und Erholung . . . . . . . . . . . . . . . . . 321


Uwe H. Ross, Kurt Fritzsche
29.1 Entspannung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322
29.1.1 Entspannen – Wozu? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322
29.1.2 Begriffsklärung: Was ist Entspannung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322
29.1.3 Kennzeichen der Entspannungsreaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325
29.2 Körperwahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326
29.2.1 Körperwahrnehmung – Bedeutung bei Entspannung und Selbstregulation . . . . . . . . . 326
29.2.2 Entspannungsübungen mit dem Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329
29.3 Erholung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330
29.3.1 Begriffsklärung: Was ist Erholung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330
29.3.2 Was wird eigentlich erschöpft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333
29.3.3 Das 3-Phasen-Modell der Erholung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335

30 Burnout-Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337
Uwe H. Ross, Kurt Fritzsche
30.1 Theoretischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338
30.1.1 Begriffsklärung – Was ist Burnout? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338
30.1.2 Ursachen von Burnout . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339
30.1.3 Arbeitsbelastung drückt auf Zufriedenheit und Sozialleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340
30.1.4 Persönliche Faktoren: Wer ist gefährdet? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341
30.1.5 Burnout und Depression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342
30.1.6 Therapie des Burnout-Syndroms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342
30.2 Praktischer Teil – Burnout wirksam vorbeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343
30.2.1 Prävention auf persönlicher Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344
30.2.2 Prävention auf organisationaler Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354
30.2.3 Resilienzfaktoren: Was hält Ärzte unter Stress gesund? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
XXI
Inhaltsverzeichnis

31 Wie weiter? Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten


in psychosomatischer Medizin und Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . 359
Kurt Fritzsche, Peter Schröder
31.1 Psychosomatische Grundversorgung als Teil der psychosomatischen
und psychotherapeutischen Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360
31.2 Zusatzweiterbildung Psychotherapie-fachgebunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360
31.2.1 Ausbildungsziel und Lernziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361
31.2.2 Leitlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362
31.2.3 Inhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362
31.2.4 Fallbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363
31.3 Weiterbildung in systemischer Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365
31.4 Weitere Fort- und Weiterbildungen in psychosomatischer Medizin
und Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367

Serviceteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369
Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
Autorenverzeichnis

Prof. Dr. med. Gerhild Becker Dr. med. Blandine Niklaus


Universitätsklinikum Freiburg Celenus Psychosomatische Fachklinik
Klinik für Palliativmedizin Freiburg GmbH
Robert-Koch-Straße 3 An den Heilquellen 2
79106 Freiburg 79111 Freiburg
gerhild.becker@uniklinik-freiburg.de blandineniklaus@t-online.de

Dr. phil. Dipl.-Psych. Christina Burbaum Dr. med. Dietrich Noelle


Universität Freiburg Ziegeleiweg 2
Institut für Psychologie 79312 Emmendingen
Abt. Rehabilitationspsychologie und noelle.dietrich@t-online.de
Psychotherapie
Engelberger Str. 41 Dr. Margrit Ott
79085 Freiburg Universitätsklinikum Freiburg
burbaum@psychologie.uni-freiburg.de Zentrum für Geriatrie und Gerontologie (ZGGF)
Lehener Str. 88
Dr. med. Dr. phil. Martin Dornberg 79106 Freiburg
Alemannenstr. 78a margrit.ott@uniklinik-freiburg.de
79117 Freiburg
Martin.dornberg@rkk-sjk.de Dr. Martin Poppelreuter
Dornberg.Freiburg@t-online.de Rehaklinik Glotterbad
Gehrenstr. 10
Prof. Dr. med. Kurt Fritzsche 79286 Glottertal
Universitätsklinikum Freiburg m.poppelreuter@rehaklinik-glotterbad.de
Zentrum für Psychische Erkrankungen
Klinik für Psychosomatische Medizin und Prof. Dr. med. Dietmar Richter
Psychotherapie Obere Flüh 4
Hauptstr. 8 79713 Bad Säckingen
79104 Freiburg info@prof-richter.de
kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
Dr. med. Peter Rochlitz
Dr. Ulrich Garwers Celenus Psychosomatische Fachklinik
Rehaklinik Glotterbad Freiburg GmbH
Gehrenstr. 10 An den Heilquellen 2
79286 Glottertal 79111 Freiburg
u.garwers@rehaklinik-glotterbad.de P.Rochlitz@fachklinik-freiburg.de

Dr. med. Werner Geigges PD Dr. med. Uwe H. Ross


Rehaklinik Glotterbad Luisenstr. 6
Gehrenstr. 10 79098 Freiburg
79286 Glottertal dr-ross@web.de
w.geigges@rehaklinik-glotterbad.de

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
XXIII
Autorenverzeichnis

Dr. med. Peter Schröder


Tennenbacherstr. 42
79106 Freiburg
peter.schroeder@klinikum.uni-freiburg.de

Dr. med. Daniela Wetzel-Richter


Klinik für Psychosomatische Medizin und
Psychotherapie
Kliniken des Landkreises Lörrach GmbH
Spitalstraße 25
79539 Lörrach
praxis@wetzel-richter.de

Prof. Dr. med. Michael Wirsching


Universitätsklinikum Freiburg
Zentrum für Psychische Erkrankungen
Klinik für Psychosomatische Medizin und
Psychotherapie
Hauptstr. 8
79104 Freiburg
michael.wirsching@uniklinik-freiburg.de

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
1 I

Was ist
psychosomatische
Grundversorgung?
Kapitel 1 Was ist psychosomatische Medizin? –3
Werner Geigges, Kurt Fritzsche

Kapitel 2 Warum psychosomatische Grundversorgung – 19


Werner Geigges, Kurt Fritzsche

Kapitel 3 Ziele der Fort- und Weiterbildung in


der psychosomatischen Grundversorgung – 23
Werner Geigges, Kurt Fritzsche

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
3 1

Was ist psychosomatische


Medizin?
Werner Geigges, Kurt Fritzsche

1.1 Definition –4

1.2 Das theoretische Modell der psychosomatischen Medizin


und seine philosophischen Grundlagen – 5
1.2.1 Konstruktivismus – Wir erschaffen uns unsere Wirklichkeit selbst –5
1.2.2 Krankheit als Passungsstörung – 6
1.2.3 Selbstregulation lebender Systeme (Exkurs) – 6

1.3 Das biopsychosoziale Modell von Krankheit am Beispiel


der koronaren Herzkrankheit – 7

1.4 Wissenschaftliche Grundlagen –8


1.4.1 Psychobiologie –8

1.5 Was macht uns krank, was hält uns gesund? – 11


1.5.1 Stressmodell – 12
1.5.2 Antistresssysteme des menschlichen Organismus – 13
1.5.3 Ein integratives Modell der psychosomatischen Medizin – 16

Literatur – 17

K. Fritzsche et al. (Hrsg.), Psychosomatische Grundversorgung,


DOI 10.1007/978-3-662-47744-1_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
4 Kapitel 1 · Was ist psychosomatische Medizin?

1.1 Definition Medizin als »Medizin für neugierige Ärzte«, die


1 nicht mit Teildiagnosen zufrieden sind, sondern
Psychosomatische Medizin hatte immer die »Mis- wissen, dass eine rationale Therapie »Gesamtdia-
sion«, eine ganzheitliche Heilkunde zu werden, d. h. gnosen« erfordert, aus denen hervorgeht, was und
nicht von zwei unterschiedlichen und voneinander mit welchem Gewicht somatische, psychische und
unabhängigen Konzepten von Körper und Seele soziale Faktoren zu dem Krankheitsbild eines Pa-
auszugehen. In seinem wegweisenden Kapitel in der tienten beitragen.
Zeitschrift Science mit dem Titel »The need for a Psychosomatische Medizin wird heute als inter-
new medical model: A challenge for biomedicine« disziplinäres, umfassendes Bezugssystem zum
(Engel 1977) hat Engel diese Mission als Forderung ganzheitlichen Verständnis von Krankheit und
nach einer biopsychosozialen Medizin formuliert, Kranksein verstanden, mit drei Perspektiven: einer
die somatische, psychische und soziale Probleme mehrdimensionalen biografisch/biopsychosozialen
des Kranken nicht nur additiv als Angelegenheit Verständnisperspektive, einer ganzheitlichen Hei-
verschiedener Disziplinen versteht, sondern »inte- lungsperspektive und einer Bewältigungsperspek-
griert«, als einander ergänzende Aspekte eines tive (Herrmann-Lingen 2012). Dabei sind drei
kranken Menschen. Blickrichtungen zu unterscheiden: 1. Der gemein-
In . Abb. 1.1 wird das biopsychosoziale System same Blick zurück auf das Ganze, etwa in der bio-
mit seinen Dimensionen dargestellt. Wie bei einem psychosozialen Anamnese. 2. Der gemeinsame
Teleskop kommen unterschiedliche Teile des Ge- Blick auf das gegenwärtige Ganze, z. B. das Sym-
samtsystems scharf ins Blickfeld, während andere ptom und seine Bedeutung im Affekt- und Bezie-
verblassen, je nachdem welcher Perspektive und hungskontext und 3. Der ganzheitliche Blick voraus,
welchen Methoden der Untersucher folgt. Dies be- als die gemeinsame Arbeit mit dem Patienten an der
deutet nicht, dass eines der Teilsysteme weniger Frage, was wie anders bzw. besser werden kann, was
wichtig als die anderen ist oder oberflächlichere As- nicht mehr so wird, wie es war und wie das Leben
pekte als die anderen erfasst. Entscheidend sind dennoch damit weitergehen kann.
vielmehr die Wechselwirkungen, die sich auf und Psychosomatische Medizin ist zum einen ein
zwischen den verschiedenen Ebenen des Ganzen Grundlagenfach mit integrativen Aufgaben und
abspielen. zum anderen eine Spezialdisziplin. Drei differen-
Thure von Uexküll (1908–2004), einer der zielle Versorgungsebenen sind zu unterscheiden:
Begründer der psychosomatischen Medizin in die psychosomatische Grundversorgung, die fachge-
Deutschland, definierte deshalb psychosomatische bundene Psychotherapie des somatisch tätigen Arz-

Dimensionen

biologische

intrapsychische

interpersonelle

soziokulturelle

. Abb. 1.1 Das biopsychosoziale Modell

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
1.2 · Das theoretische Modell der psychosomatischen Medizin
5 1
tes und die Gebietsbezeichnung Psychosomatische
Medizin und Psychotherapie.

1.2 Das theoretische Modell


der psychosomatischen Medizin
und seine philosophischen
Grundlagen

Thure von Uexküll sah im einseitig naturwissen-


schaftlich orientierten Menschenbild der modernen
Medizin die geistige Voraussetzung für die zuneh-
mende Industrialisierung und Ökonomisierung der
modernen Medizin: »Psychosomatische Medizin
beginnt mit der Entdeckung, dass die Krise der Me-
dizin eine Krise ihrer Philosophie ist, die dem Arzt
einseitige Modelle und Konzepte für seine Empirie
vorschreibt.« Um die moderne Medizin als integra-
tiven Arbeitsbereich zu begreifen, bedarf es eines
Menschenbildes, welches den Mensch als biopsy- . Abb. 1.2 Cartoon: Ein Cowboy und Indianer treffen sich
chosoziales Wesen im Netzwerk seiner persönli- in der Prärie. (Zeichnung: Gisela Mehren)
chen und beruflichen Beziehungen begreift.

wir uns für die subjektiven Wirklichkeitskonstruk-


1.2.1 Konstruktivismus – tionen unserer Patienten interessieren, kann es uns
Wir erschaffen uns unsere gelingen, eine gemeinsame Sprache zu entwickeln,
Wirklichkeit selbst in der die jeweils subjektiv erlebte Wirklichkeit zu
einer gemeinsamen neuen Wirklichkeit wird.
Das Gehirn bildet Regelhaftigkeiten der Umgebung Die unterschiedlich erlebte Wirklichkeit wird in
landkartenartig in kortikalen Repräsentanzen ab, der folgenden Geschichte »Ein Cowboy und ein In-
die sich jedoch durch neue Erfahrungen ständig dianer treffen sich in der Prärie« (nach Jahnshoff
verändern, die sogenannte Plastizität des Gehirns: 2002) eindrücklich dargestellt (. Abb. 1.2):
Beim gleichen Stimulus für bestimmte Wahrneh- Der Indianer zeigt mit dem Zeigefinger auf den
mungsrezeptoren werden unterschiedliche Hirn- Cowboy. Der hebt als Antwort Zeigefinger und Mit-
areale aktiviert. Welche Hirnareale in einem be- telfinger gespreizt hoch. Der Indianer faltet die
stimmten Augenblick reagieren, hängt entschei- Hände vor dem Gesicht. Da schüttelt der Cowboy
dend vom emotionalen Zustand der Person ab. locker seine rechte Hand. Beide reiten davon.
Deshalb sind wissenschaftliche Modelle auch Der Cowboy: »Heute habe ich eine Rothaut ge-
keine unabhängig vom Bewusstsein existierend ver- troffen. Sie hat mit dem Zeigefinger gedroht, mich
standenen Wahrheiten, sondern Konstruktions- zu erschießen. Da habe ich dem Indianer mit der
pläne zur Beschreibung von Lebenswirklichkeiten. Hand bedeutet, ihn zweimal zu erschießen. Weil er
So sind im naturwissenschaftlich geprägten somati- mich aber um Gnade gebeten hat, habe ich ihm zu
schen Krankheitsmodell Symptome, Wirkungen verstehen gegeben, er solle verschwinden.«
von im Körper verborgenen biomechanischen Ur- Der Indianer: »Heute habe ich ein Bleichgesicht
sachen, die erkannt und beseitigt werden müssen. getroffen. Auf meine Frage nach seinem Namen hat
Deshalb haben Krankheitssymptome für Ärzte eine der Weiße geantwortet: ›Ziege‹. Auf meine weitere
ganz andere Bedeutung als für die betroffenen Pa- Frage: ›Bergziege?‹ kam die Antwort: ›Nein, Fluss-
tienten und ihre Familienangehörigen. Nur wenn ziege‹.«

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
6 Kapitel 1 · Was ist psychosomatische Medizin?

1.2.2 Krankheit als Passungsstörung körperlichen Funktionsstörungen ein Maximum an


1 Einschränkung auf der Ebene der Aktivitäten und der
G. Bateson (1985), ein amerikanischer Anthropo- Partizipation. Bezogen auf unser Modell sehen wir
loge, Biologe und Psychologe, definierte als Einheit hierin ein typisches Beispiel für einen Menschen,
des Überlebens die unzertrennliche Einheit von dem es nicht mehr gelingt, hilfreiche Umwelten zu
Organismus und Umwelt. Dieser grundlegende konstruieren.
Aspekt lebender Systeme gilt demnach sowohl für
die biologische Systemebene, also z. B. für eine ein- Die Passungsdynamik ist ein permanenter und un-
zelne Zelle, wie auch für den biopsychosozialen Ge- erwartet neu auftretender Prozess. Das heißt, Pas-
samtorganismus. sung liegt eigentlich immer nur in sehr kurzen Mo-
Gesundheit bedeutet demnach das permanente menten vor, wo wir vielleicht das Gefühl haben von
Ringen um eine jeweils neu herzustellende Passung einem umfassenden Wohlsein, von Glück oder dem
zwischen dem Organismus und seiner Umwelt und Eindruck »es stimmt«. Aber Passung geht perma-
dies auf allen Systemebenen des menschlichen Or- nent verloren. So lange dieses Ringen um Passung
ganismus. Passung bedeutet daher eine gelingende kontrollierbar bleibt, wird dadurch sowohl auf der
Organismus-Umwelt-Interaktion: der Organismus biologischen wie psychosozialen Ebene Wachstum
konstruiert aus einer neutralen Umgebung eine zu angeregt. Passungsstörungen können so zum Motor
seinen Bedürfnissen und Verhaltensmöglichkeiten der psychischen Entwicklung werden; zum Antrieb,
passende Umwelt (individuelle Wirklichkeit). Es die eigentlichen Möglichkeiten über den jeweils er-
handelt sich also bei dieser Organismus-Umwelt- reichten Stand hinaus zu entwickeln und das eigene
Interaktion um einen basalen Kommunikations- Potenzial so gut wie möglich auszuschöpfen. In un-
prozess. Gesundheit ist in diesem Passungsmodell serem therapeutischen Handeln geht es also immer
die Fähigkeit, lebensnotwendige Ressourcen der wieder um Hilfe zur Passungsarbeit, d. h. um kom-
Umgebung als passende Gegenleistung für die eige- munikative Abstimmungsprozesse mit dem Patien-
nen vitalen Bedürfnisse und Verhaltensmöglich- ten. Dabei soll ein spezieller Beziehungsraum mit
keiten zu nutzen. Das bedeutet, jeder Organismus dem Patienten zusammen gestaltet werden, wo-
besitzt eine Passungskompetenz, d. h. spezielle durch hilfreiche Umweltaspekte aufgebaut und
kommunikative Fähigkeiten, und ist prinzipiell Selbstorganisation und Selbstheilung wieder akti-
angewiesen auf passende Gegenleistungen seiner viert werden können.
Umgebung. Krankheit bedeutet in diesem Modell
einen Passungsverlust im Zusammenwirken von
Organismus und Umwelt. Im Passungsmodell der 1.2.3 Selbstregulation lebender
psychosomatischen Medizin sind Symptome Zei- Systeme (Exkurs)
chen für Passungsstörungen in der Organismus-
Umwelt-Beziehung. Nach dem biopsychosozialen Systemmodell gliedert
sich der Organismus in zahlreiche Subsysteme, die
Fallbeispiel durch permanente Auf- und Abwärtseffekte rekur-
Eine 52-jährige Patientin kommt in Begleitung ihres siv miteinander verbunden sind. Mit der Integra-
Ehemanns in die ambulante psychosomatische tion von Teilen zu einem Ganzen – einem System
Sprechstunde. Die Patientin kann praktisch nur noch – entstehen sprunghaft neue Eigenschaften, die es
im eigenen Haus und da nur noch auf dem Balkon le- auf der Ebene der Teile (hier Subsystem) nicht gibt
ben. Der Ehemann muss sie nachmittags auf einen und die sich auch nicht auf deren Eigenschaften zu-
Höhenzug in der Nähe fahren, weil sie nur noch ge- rückführen lassen. In der Sprache der Systemtheo-
sunde Höhenluft ertragen kann. Diagnostisch han- rie sprechen wir von Emergenz, d. h. der spontanen
delt es sich um eine sogenannte Umweltkrankheit Herausbildung von Phänomenen oder Strukturen.
(Sick-Building-Syndrom), eine Diagnose, die immer Mit dem Zusammenschluss einfacherer Subsysteme
häufiger gestellt wird. Wie für eine somatoforme zu immer komplexeren Systemen entstehen immer
Störung charakteristisch, findet sich bei geringen wieder neue Eigenschaften. Lebende Systeme sind

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
1.3 · Das biopsychosoziale Modell von Krankheit am Beispiel der koronaren Herzkrankheit
7 1
in diesem Sinne hoch komplexe Systeme, die nicht sezernieren begannen, war dem Folgendes voraus-
hierarchisch organisiert sind, sondern durch Selbst- gegangen: Die Hunde hatten Geräusche aus dem
regulation bzw. Autopoiese (Varela 1981) sich Nebenraum, in dem der Labordiener mit der Zube-
selbst durch Rückkopplungsschleifen hemmen oder reitung des Futters beschäftigt war (Geräusche, die
fördern. Sie bringen daher Oszillation und Rhyth- für die Hunde bis zu diesem Tag neutrale Geräusche
mik (Anspannung/Entspannung – ergotrope/tro- [»akustisches Rauschen«] waren), als Zeichen für
photrope Reaktion) und neue Muster hervor, als Vorgänge von Bedeutung in ihrer Umgebung ko-
auch Ordnung und plötzlichen Wechsel. Zwischen diert und gleichzeitig in nervale Zeichen für die
den unterschiedlichen Systemebenen erfolgen Aktivierung der Drüsen übersetzt. Es war ein Über-
strukturelle Kopplungen: Autonome Übersetzungs- setzung bzw. »Bedeutungskoppelung« zwischen
prozesse, die durch die eigenen Struktur des Sys- psychischen und somatischen Zeichen zustande
tems bzw. Subsystems determiniert sind. Als Mis- gekommen (von Uexküll u. Wesiack 1998).
sing Link erweist sich hier der Begriff des Zeichens Solche Übersetzungen bzw. Bedeutungskoppe-
(von Uexküll u. Wesiack 2011). Zeichen bestehen lungen bewirken zweierlei:
aus drei Elementen: dem Zeichen, einer bezeichne- 4 Sie erteilen einem zuvor neutralen, d. h. für
ten Sache und dem Interpretanten. Die Funktion den Organismus nicht existenten Ausschnitt
eines Interpretanten ist, Bedeutung zu erteilen. Wir der Umgebung eine Bedeutung als psychisch
sprechen deshalb auch von Bedeutungskopplungen: erlebte Zeichen für die Steuerung des Verhal-
Zeichen, die im Körper Nachrichten über die Be- tens und erweitern damit die subjektive Um-
deutung einer Organreaktion für andere Organe welt.
übertragen, werden mit Zeichen zusammengekop- 4 Sie schaffen eine Verbindung zwischen einem
pelt, die den Organismus über die Bedeutung von psychischen Erlebnis und bestimmten Orga-
Vorgängen in seiner Umgebung informieren. nen im Inneren des Körpers. Dieser Zusam-
Im klinischen Kontext sind Symptome daher menhang eröffnet die Möglichkeit für die Auf-
Zeichen, die auf etwas hinweisen, das für den Pa- und Abwärtseffekte zwischen den verschie-
tienten und dessen Organismus eine Bedeutung hat, denen Integrationsebenen eines hierarchisch
die der Arzt verstehen muss, um seinen Behand- gegliederten lebenden Systems.
lungsauftrag zu erfassen.
Nach unseren heutigen Vorstellungen vermit-
teln auf der Integrationsebene Zelle Zeichen des 1.3 Das biopsychosoziale Modell
genetischen Codes den Informationsaustausch zwi- von Krankheit am Beispiel der
schen Zellelementen. Gene sind Kommunikatoren koronaren Herzkrankheit
und Kooperatoren (Bauer 2008). Auf der Ebene des
Organismus sind es Hormone und Nervenaktions- Im pragmatischen Realitätskonzept der modernen
ströme, die den Informationsaustausch zwischen Kardiologie ist das Herz ein muskuläres Hohlorgan
unterschiedlichen Organen ermöglichen. Auf einer mit mechanisch wirkenden Klappen, versorgt durch
noch komplexeren Ebene vermitteln psychische das Röhrensystem der Blutgefäße. Auf einer tiefer
Prozesse die Verbindung zwischen Organismus und liegenden Systemebene wird das Herz verstanden
Umgebung. als ein Verbund spezifischer Zellen und noch dar-
Die Frage, wie zwischen diesen Zeichensyste- unter der Gene und weiterer intrazellulärer Mole-
men oder »Sprachen« Übersetzungen stattfinden, küle, auf der höheren Systemebene wird das Herz
hat durch die Arbeit von Pawlow ein empirisches als Pumpe im Dienste des Gesamtorganismus gese-
Fundament gefunden (zit. nach Adler u. von Uex- hen und immer mehr in seiner Kontrolle durch
küll 1987). Als die Versuchshunde, an denen Pawlow physiologische Regelkreise wahrgenommen. Auf
die Wirkung von Geschmacks-, Geruchs- und Be- der Basis dieses Konstrukts konnte in der Kardiolo-
rührungsreizen auf die Speichel- und Magendrüsen gie die Krankenhaussterblichkeit am akuten Herz-
untersuchte, eines Tages völlig unerwartet auf akus- infarkt zwischen den Jahren 1978 und 2008 von
tische Sensationen hin Speichel- und Magensaft zu rund 30 % auf etwa 8 % reduziert werden (Jneid et

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
8 Kapitel 1 · Was ist psychosomatische Medizin?

al. 2008). Zahlreiche Befunde aus der Psychokardio- auch das koronare Risiko zu und betrug in der am
1 logie der letzten Jahre legen nahe, dass die Erkran- höchsten belasteten Gruppe gut das Dreifache des
kung des »Pumpenherzens« auch auf seine seelische Risikos der Kontrollgruppe ohne belastete Kind-
Dimension einwirken und umgekehrt: bei den häu- heitserfahrung.
figen Herzerkrankungen werden regelhaft in 10– . Abb. 1.3 stellt das biopsychosoziale Modell zur
50 % auffällige Angst- und Depressionssymptome Entstehung der koronaren Herzerkrankung dar,
bis hin zu depressiven Episoden und Panikstörun- aufgegliedert nach der biologischen, psychischen
gen gefunden (Herrmann-Lingen u. Buss 2002). und sozialen Ebene (Hermann-Lingen 2000).
Seelische Belastungen und Erkrankungen können
ihrerseits den Verlauf organischer Herzkrankheiten
maßgeblich beeinflussen. Bei depressiven Koronar- 1.4 Wissenschaftliche Grundlagen
patienten ist die mittelfristige Mortalität um gut das
Doppelte erhöht (Barth et al. 2004) (s. auch 7 Kap. Ein einheitliches Modell für die Wechselwirkung
14 »Koronare Herzerkrankung«). zwischen Körper, psychischen Prozessen und Um-
Neben der somatischen und psychischen Di- welt existiert nicht. Meist werden Teilaspekte be-
mension gilt es, die soziale bzw. die Dimension in- schrieben, die von unterschiedlichen Theorien auf-
terpersoneller Beziehungen einzubeziehen. So ha- genommen werden. Im integrierten Modell, dem
ben z. B. das Vorhandensein und die Qualität einer dieses Lehrbuch folgt, werden Erkenntnisse der
Ehebeziehung Auswirkungen auf das Ausmaß einer Psychoanalyse, der Verhaltensmedizin, der Neuro-
subklinischen Atherosklerose bei Frauen. Umge- biologie, Psychoneuroimmunologie und der Sys-
kehrt hat eine organische Herzerkrankung auch temtheorie zusammengefasst. Dabei geht es nicht
Auswirkungen auf interpersonelle Beziehungen nur um die Frage wie Krankheiten entstehen, son-
und die Gesundheit der Beziehungspartner: Bei- dern auch um die Fragen, wie eine erfolgreiche kör-
spielsweise findet sich immer wieder bei Partnerin- perliche und psychische Passung zwischen Organis-
nen von Herzpatienten eine hohe psychische Belas- mus und Umwelt stattfindet und wie Gesundheit
tung, die teilweise über derjenigen des Patienten erhalten bleibt.
selbst liegt (Einsle et al. 2006). Auch berufliche Be-
lastungsfaktoren, wie z. B. berufliche Gratifika-
tionskrisen, können als soziale Risikofaktoren für 1.4.1 Psychobiologie
die koronare Herzkrankheit gelten (Sigrist 2004).
Das dreidimensionale systemische Bezugssys- Die Psychobiologie beschreibt die Zusammenhänge
tem mit somatischen, psychischen und sozialen zwischen Psyche, Immunsystem, Endokrinum und
Aspekten von Gesundheit und Krankheit bedarf der Nervensystem, z. B. bei Stimmungszuständen wie
Ergänzung durch eine historische bzw. biographi- Angst, Freude, Trauer, beim Sexualverhalten, beim
sche Dimension (Hermann-Lingen 2012): Auch Schmerzempfinden, bei Stressreaktionen oder bei
frühe biographische Erfahrungen können noch im psychischen und psychosomatischen Erkrankun-
mittleren bis höheren Erwachsenenalter nachteilige gen wie Depression und Essstörungen. Die Psycho-
Konsequenzen sowohl für die psychische als auch biologie ist eine interdisziplinäre Fachrichtung, die
körperliche Gesundheit entwickeln. In einer Aus- biologische und psychologische Teildisziplinen ver-
wertung der Adverse Childhood Experience (ACE) bindet. Dazu zählen unter anderem die Evolutions-
Studie (Dong et al. 2004) konnte bei mittelalten biologie, die Psychoneuroimmunologie, die Verhal-
Amerikanern mit anamnestischer Angabe belasten- tensforschung, die Genetik, die Molekularbiologie,
der Kindheitserinnerungen, wie emotionaler oder die Biochemie und die Neurobiologie.
sexueller Missbrauch, häusliche Gewalt oder kör-
perliche Misshandlung, gezeigt werden, dass das Neurobiologische Aspekte von Geist
relative Risiko für das Vorliegen einer Koronarer- und Körper
krankung etwa 40–70 % erhöht war. Dabei nahm Auf der Basis des Modells der Selbstorganisation
mit steigender Anzahl der Belastungserlebnisse lebender Systeme (Autopoiese) muss das Gehirn als

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
1.4 · Wissenschaftliche Grundlagen
9 1

. Abb. 1.3 Das biopsychosoziale Modell zur Entstehung der koronaren Herzerkrankung. SES: sozioökonomischer Status
(hoch, mittel, niedrig). (Aus Hermann-Lingen 2000; mit freundlicher Genehmigung)

ein sich selbst organisierendes dynamisches Organ Wesentliches Funktionsprinzip des Gehirns ist so-
betrachtet werden, das sich insbesondere durch mit die Vernetzung und zwar von den einzelnen
neuronale Plastizität ausweist: der Fähigkeit, sich Zellen zu Netzwerken und zwischen den Netzwer-
mit seiner Tätigkeit zu verändern. Alle Leistungen ken. Die neuronalen Netzwerke sind durch Rück-
des Gehirns beruhen auf synaptischer Signalüber- kopplungsschleifen miteinander verbunden, welche
tragung. Unser Gehirn hat ca. 1010 Neuronen und entweder aktivierende oder hemmende Wirkung
jedes Neuron ca. 10.000 Synapsen. Dadurch erge- haben. Netzwerke unterschiedlicher Funktionen
ben sich unendliche Möglichkeiten von Verbindun- verknüpfen sich in Konvergenzzonen. Eine solche
gen zwischen den einzelnen Neuronen und zwar Konvergenzzone innerhalb der Großhirnrinde
immer dann, wenn zwei Neuronen oder neuronale ist z. B. der anteriore zinguläre Kortex (ACC), der
Netzwerke gleichzeitig tätig werden: Synchronisa- Signale aus den Schmerzrezeptoren des Körpers mit
tion bewirkt Interaktion, auf diesem Prinzip beru- Signaleingängen emotionaler Systeme verbindet
hen viele unbewusste Lernvorgänge des Menschen. und für die emotionale Einfärbung der Schmerz-
Ein weiteres Prinzip synaptischer Verbindungen wahrnehmung sorgt. So konnten Eisenberger et al.
besteht in der Abhängigkeit ihrer Stabilität von der (2003) experimentell zeigen, dass die Erfahrung,
Häufigkeit der Benutzung. Dieser Prozess der Kop- sozial ausgeschlossen zu werden (im Rahmen
pelung von Synapsen wird durch modulatorische eines  Computerspiels), in analoger Weise wie bei
Systeme verstärkt oder gehemmt. Z. B. wird bei Be- somatisch ausgelösten Schmerzempfindungen mit
lohnungserwartung das Dopamin-System als för- einer neuronalen Aktivierung des ACC-Systems
derndes modulatorisches System aktiviert, deshalb einhergeht, als Ausdruck des aversiven emotionalen
sind Gedächtnisleistungen stimmungsabhängig. Schmerzerlebens (s. auch 7 Kap. 10 »Chronische

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
10 Kapitel 1 · Was ist psychosomatische Medizin?

Schmerzstörung«). Der Versuch macht deutlich, und insulärer Kortex sind somit Schaltstellen zwi-
1 dass soziale Erfahrungen maßgeblichen Einfluss auf schen Innen und Außen und möglicherweise neu-
die synaptischen Netzwerkstrukturen des Gehirns robiologische Grundlage für das, was wir in der
haben und damit das Gehirn auch als soziales Psychosomatik als Körperselbst bezeichnen. Gefüh-
Organ charakterisieren. le, Wertvorstellungen, biografische Erfahrungen,
Ein anderes wichtiges Netzwerk, in dem Geist soziales Umfeld können über diese Konvergenzzo-
und Körper verbunden sind, stellt die Schaltkreise nen somit Einfluss auf das vegetative und hormo-
der Amygdala dar. Hier wird der Einfluss und die nelle System nehmen.
Bewertung der Emotionen auf Wahrnehmung,
Langzeit- und Kurzzeitgedächtnis und damit auf Neurophysiologische Stressreaktionen –
Bewusstheit, Kognition, Handeln und unseren Kör- Psyche und Nervensystem
per organisiert: das Kerngebiet der Amygdala ist Bei emotionaler Belastung wirkt das Gehirn über
zentraler Organisator von Vermeidungs- und zwei Wege sowohl auf das Endokrinum als auch auf
Fluchtverhalten und das bestuntersuchte emotiona- das Immunsystem:
le System. Die Amygdala speichert z. B. unbewusste,
mit Angst verbundene frühkindliche Erfahrungen. 1. Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrin-
Dadurch, dass alle sensorische Inputs über das den-Achse (HPA-Achse)
Zwischenhirn, speziell über den Thalamus an die Der Hypothalamus setzt CRH (Corticotropin Re-
Amygdala und ihre Netzwerke, geleitet werden, leasing Hormon) frei, ein Neurohormon, das in der
bevor sie die sensomotorischen, akustischen oder Hypophyse die Bildung von ACTH (adrenokortiko-
visuellen Rindengebiete erreichen, erklärt sich die tropes Hormon) anstößt. Dies wiederum bewirkt
emotionale Einfärbung aller sensorischer Informa- die Freisetzung des Nebennierenrindenhormons
tionen. Die Netzwerke der Amygdala können auch Kortisols, welches die Bildung der Interleukine 1, 2
als emotionales Erfahrungsgedächtnis gesehen wer- und 12 durch die Immunzellen hemmt. Die Bezie-
den, das von allen sensorischen Inputs von innen hung zwischen Gehirn und Immunsystem ist wech-
und außen wie ein Filter durchlaufen werden muss, selseitig: einerseits wirken die Immunzellen mit
bevor diese den Kortex erreichen und bewusstseins- ihren Interleukinen über den afferenten Nervus
fähig werden. Die Amygdala und ihre Netzwerke vagus auf das Gehirn (Bottom-up), andererseits re-
sind als Konvergenzzone mit anderen Konvergenz- agiert das Gehirn auf diesen Reiz durch das Immun-
zonen strukturell gekoppelt. In diesen Zonen laufen system mit einer Reaktion der Hypothalamus-Hy-
Informationen aus verschiedenen Systemen zusam- pophysen-Nebennierenrinden-Achse (Top-down-
men und werden hier integriert. Diese Zonen ver- Regulation). Durch diesen Feedback-Mechanismus
binden parallele Netzwerke aus dem Körperinnern kann eine überschießende Immunreaktion gezügelt
mit emotionalen und kognitiven Systemen (Ledoux bzw. eine unerwünschte Entzündung eingedämmt
2006). oder sogar beendet werden. Versagt der Mechanis-
Die Amygdala und ihre Netzwerke kontrollie- mus, etwa wenn von der Nebennierenrinde zu we-
ren über den Hirnstamm und den Hypothalamus nig Kortisol ins Blut abgegeben wird, entfaltet sich
sowohl das vegetative Nervensystem als auch das die Immunreaktion ungebremst, sie schießt über;
hormonelle System. Gleichzeitig empfängt das Ge- deshalb werden Autoimmunerkrankungen mit
hirn auch aus dem Körperinneren ständig Informa- Kortison behandelt.
tionen über den Zustand seiner Systeme, von den
Eingeweiden, den Muskeln, dem Herz usw. Die 2. Vegetatives autonomes Nervensystem
Rindenbereiche des zingulären Kortex und des in- Viel schneller als über das Stresshormon Kortisol
sulären Kortex sind ebenfalls Konvergenzzonen, in kann das Nervensystem über efferente Bahnen
denen Informationen aus dem Körperinneren mit des Sympatikus und des Nervus vagus mit dem
Informationen der emotionalen aber auch der sen- Neurotransmitter Acetylcholin Immunzellen hem-
sorischen Systeme, welche Information über die men. Die Drosselung der Entzündungsprozesse
Außenwelt bringen, verbunden werden. Zingulärer durch den Vagus wird als cholinerger antiin-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
1.5 · Was macht uns krank, was hält uns gesund?
11 1
flammatorischer Reflex bezeichnet. Dies erklärt, Gene oder Umwelt hat sich aufgelöst in ein wechsel-
warum  Hypnose, Meditation oder auch Aku- seitiges Beeinflussungsverhältnis. Die Regulation
punktur,  die gezielt Vagusfasern aktivieren, eine der Genaktivität und damit die Produktion von Pro-
entspannende gesundheitsfördernde Wirkung teinen ist die entscheidende Regelgröße für Herz
haben. und Kreislaufsystem, Hormon-, Immun- und Ner-
vensystem. Die Regulation der Genaktivität erfolgt
Die im Rahmen der neurophysiologischen Stress- für jedes Gen getrennt durch regulatorische Se-
reaktionen ausgeschütteten Hormone Kortisol, Ad- quenzen, die dem Gen vorgeschaltet sind. Soge-
renalin und Noradrenalin entfalten ihre Wirkung nannte Transkriptionsfaktoren binden an diese re-
nicht nur an den peripheren Organen, indem sie gulatorischen Sequenzen, wodurch die Aktivität des
Energieressourcen bereitstellen für Kampf oder Gens und des nachgeschalteten Gens reguliert wird.
Flucht, sondern bewirken im Gehirn Störungen des Die Aktivierung der Gene über Transkriptions-
Informationsflusses und Blockaden von Schaltkrei- faktoren hängt somit von Signalen ab, die das Gen
sen bis hin zur Entfaltung neurotoxischer Wirkun- von außerhalb erreichen. Diese Signale können aus
gen. Diese Blockaden der Verbindung zentraler der Zelle selbst, aus dem Gesamtorganismus oder
neuronaler Netzwerke können funktionell oder re- aus der Umwelt kommen. Auch im Gehirn unter-
versibel sein, sie können jedoch auch zur Degenera- liegt die Regulation zahlreicher Gene einem perma-
tion ganzer Areale durch morphologische Schädi- nenten Einfluss von Signalen aus der Außenwelt, die
gung der Zellen führen. Insbesondere wenn Stress die Nervenzellennetzwerke der großen Hirnrinde
chronifiziert (z. B. frühkindliche traumatische und modulieren. Das limbische System verbindet diese
Verlusterlebnisse) und über die beschriebene Informationen mit emotionalen und kognitiven Er-
Stressachse dauerhaft Kortisol ausgeschüttet wird. fahrungen, bewertet sie und wandelt sie in biologi-
Diese Degeneration von Neuronen durch dauerhaf- sche Signale um (Bedeutungskopplung von Zei-
te Kortisolerhöhung konnte in Form einer Hippo- chensystemen). Seelisches Erleben wird so in biolo-
campus-Schrumpfung nachgewiesen werden. Hier- gische Signale übersetzt, wobei im Rahmen der so
durch entfällt die Vorwärtshemmung des Hypotha- angestoßenen Signalketten unter anderem auch
lamus, sodass Stressreaktionen dann ungebremst Transkriptionsfaktoren aktiviert und Gene reguliert
gebahnt werden und damit eine lebenslange Emp- werden. Gefahrensituationen beispielsweise ver-
findlichkeit für äußere und innere Belastungen ent- wandelt das Gehirn in spezifische biologische Sig-
steht. Diese potenziell schädigende Wirkung von nale, die Gene in den Alarmsystemen des Hirn-
chronischem Stress entfaltet sich verstärkt in frühen stammes und des Hypothalamus aktivieren und so
Lebensphasen, während sich die Gehirnstrukturen Angstreaktionen hervorrufen. Die Aktivierung so-
entwickeln und verschalten. Dies erklärt experi- genannter Stressgene hat Auswirkung auf das Herz-
mentelle Befunde, die zeigen konnten, dass bei Rat- Kreislauf-System und das Immunsystem und kann
ten und anderen Tieren bei früher Trennung vom bei fortdauerndem Stress direkte schädigende Wir-
Muttertier im späteren Leben vielfältige physiologi- kungen auf Nervenzellen im Hippocampus aus-
sche Störungen in unterschiedlichen Körpersyste- üben.
men auftreten: erhöhter Puls, Regulationsstörungen
von Schlaf und Körpertemperatur sowie Immun-
schwäche und Tod an viralen Infekten (Lupien et al. 1.5 Was macht uns krank,
2009). was hält uns gesund?
Psyche – Gene – Umwelt Gesundheit und Krankheit bilden keine entgegenge-
Die Regulation der Genaktivität unterliegt in wei- setzten Pole, sondern bewegen sich auf einem Kon-
tem Umfang psychosozialen Einflüssen. Genetische tinuum. Gesundheit ist dabei kein passiver Zustand
Reaktionsmuster können durch Erlebnisse und Er- oder schicksalhafte Gegebenheit, sondern muss
fahrungen gebildet werden. Organismus, Gene und ständig aktiv hergestellt werden (Passungsarbeit).
Umwelt bilden eine Einheit. Der frühere Gegensatz Belastungen und permanente Bewältigungsanfor-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
12 Kapitel 1 · Was ist psychosomatische Medizin?

Umweltfaktoren (z. B. Schicht- Belastende Lebensereignisse Trauma (z. B. Gewalt,


1 arbeit, fehlende Partnerschaft, (z. B. Verlust eines Elternteils, Missbrauch, Krebsdiagnose,
Hartz-IV-Empfänger) langer Krankenhausaufenthalt) Verkehrsunfall)

Gehirn: Stresswahrnehmung
(äußert sich in Form von Angst,
Hilflosigkeit, erhöhter Wachsamkeit u. a.)

Verhalten
Individuelle Unterschiede (Kampf oder Flucht,
(Genetik, Bindungserfahrungen, Lebensstil: Ernährung, Rauchen
Resilienz, Kohärenzgefühl) Alkohol, Bewegung)

Physiologische Reaktionen
HPA-Achse, LC-NE-Achse,
Immunsystem

Allostase Anpassung

Allostatische Überlastung Krankheit

. Abb. 1.4 Stressreaktion und allostatische Überlastung. (Mod. nach McEwen 1998)

derungen stellen dem Organismus Passungskompe- neuronaler und endokriner Ebene sowie im Verhal-
tenzen, ein salutogenetisches Potenzial zur Verfü- ten wiederherzustellen. Wenn der Stress vorüber ist,
gung. Dieses salutogenetische Potenzial ergibt sich werden die Anpassungsvorgänge wieder abgeschal-
aus einem komplexen Wechselspiel zwischen Le- tet. Homöostase bezeichnet die Aufrechterhaltung
bensgeschichte des Patienten, seinen Bindungs- eines Gleichgewichts in einem engen Rahmen, z. B.
erfahrungen und der daraus entstehenden Stress- Sauerstoff im Blut, pH-Wert, Körpertemperatur.
vulnerabilität, seiner aktuellen Lebenssituation, Allostase bezeichnet die Aufrechterhaltung ei-
seiner subjektiven Bewertung der Krankheitssymp- nes Gleichgewichtes innerhalb breiterer Grenzen,
tome, der zur Verfügung stehenden Bewältigungs- wie z. B. die Fähigkeit, bestimmte extreme Belastun-
strategien und der sozialen Unterstützung in sei- gen wie längeren Schlafentzug, Isolation, Hunger
nem sozialen Kontext. oder extreme Temperaturschwankungen zu bewäl-
tigen (McEwen 1998).
Die Stressbewältigungsprogramme des Körpers
1.5.1 Stressmodell sind genetisch determiniert und können durch
frühkindliche traumatische Erfahrungen und Ver-
Unter Stress versteht man den Zustand einer be- lusterlebnisse gestört werden.
drohten biologischen Homöostase bzw. Allostase, Die Hypophysen-Nebennieren-Achse (HPA-
der sowohl durch körperliche Schädigungen als Achse) und die Locus-coeruleus-Norepinephrin
auch durch psychosoziale Belastungen herbeige- (LC-NE-Achse) sind die zentralen Säulen des
führt werden kann. Unter Stressantwort oder Stressverarbeitungssystems, wie in . Abb. 1.4 dar-
Stressreaktion versteht man das Bemühen des Kör- gestellt.
pers, die biologische Homöostase bzw. Allostase
durch Veränderungs- und Anpassungsprozesse auf

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
1.5 · Was macht uns krank, was hält uns gesund?
13 1
Stress und Krankheit Umwelt-Landkarte, sodass keine hilfreichen Ver-
Es gilt inzwischen als gesichert, dass psychische ständnismöglichkeiten und Handlungsmöglich-
Stressbelastung den Ausbruch und den Verlauf keiten mehr generierbar sind und sich stattdessen
vieler Krankheiten beeinflusst, u. a. weil sie die Ohnmacht, Hilflosigkeit und dissoziative Fragmen-
Immunlage verändert. Der negative Stress auf tierung einstellen. Neben der Extrembelastung, als
Atemwegsinfekte wurde belegt, ebenso wie der Ein- einem wesentlichen Verursachungsfaktor, finden
fluss von Stress auf multiple Sklerose, Asthma bron- sich bei einer posttraumatischen Belastungsstörung
chiale, rheumatoide Arthritis und Allergien. per Definition Intrusionen (aufdrängende schmerz-
Ein Tag oder Wochen anhaltender Stress führt liche Erinnerungen an das Trauma, Wiedererleben,
zu permanent erhöhter Aktivität auf der LC-NE- »flash backs«, belastende Albträume), Vermei-
Achse und der HPA-Achse und zunächst zu funk- dungssymptome und Numbing-Symptome (emotio-
tionellen, im weiteren Verlauf auch strukturellen nale Taubheit) in Form von Gedanken- und Ge-
Schädigungen im Gehirn, Herz-Kreislauf-System fühlsvermeidung in Bezug auf das erlebte Trauma,
und Immunsystem. Eine entscheidende Rolle dabei ferner Situations- und Aktivitätsvermeidung, emo-
spielt der Hippocampus. Eine dauernde Überlas- tionale Erstarrungs- und Taubheitszustände, ein
tung dieser Region führt zur Dysregulation der eingeschränkter Affektspielraum sowie ein chroni-
HPA-Achse und zu kognitiven Einschränkungen. scher Hyperarousal (Übererregung in Form von
Auch depressive Erkrankungen können durch eine Schlafstörung, Konzentrations- und Gedächtnis-
Fehlanpassung an den chronischen Stress entste- schwierigkeiten, Schreckhaftigkeit und Erregbar-
hen. Während es in der akuten Stressphase zu einer keit). Für die psychosomatischen Zusammenhänge
vermehrten Freisetzung von Kortisol kommt, kann bedeutsam ist, dass sich Symptome einer posttrau-
chronischer Stress zu einem Hypokortisolismus matischen Belastungsstörung (PTBS) auch gehäuft
führen. Eine hypokortisole Stoffwechsellage be- bei Patienten nach Herzinfarkt, nach Mitteilung ei-
günstigt eine gesteigerte Aktivierung des sympathi- ner Krebsdiagnose bzw. HIV-Diagnose oder auch
schen Nervensystems und eine vermehrte Freiset- nach Verbrennungen finden. Nach Herzinfarkten
zung proinflammatorischer Zytokine. Diese Effekte oder der Entladung eines internen Defibrillators
können direkt die Progredienz einer koronaren wird die Prävalenz von Symptomen einer PTBS mit
Herzkrankheit erklären und damit den starken 10–15 % angegeben.
Zusammenhang von chronischem Stress, Depres-
sion und kardiovaskulärem Risiko verdeutlichen
(Lupien et al. 2009). 1.5.2 Antistresssysteme des
Eine Extremvariante von akutem Stress, häufig menschlichen Organismus
auch von chronischem Stress, der definitionsgemäß
die individuellen Belastungsressourcen überfor- Salutogenese und Resilienz
dert, im Sinne eines Passungsverlusts, stellen Trau- Bei der Erforschung der Gesundheitsentstehung (Sa-
matisierungen dar (s. auch 7 Kap. 19 »Akute und lutogenese) suchte Antonovsky (1987) nach Bedin-
posttraumatische Belastungsstörung«). Fischer u. gungen, die dazu führen, dass es Menschen gelingt,
Riedesser (1998) definierten Trauma im Sinne einer in schwierigen Lebenssituationen (z. B. nach dem
Variante allgemeinen Krankseins als: »Passungsver- Tod einer nahen Bezugsperson, einem Unfall oder
lust der Organismus-Umwelt-Beziehung, im Sinne einer psychischen Krise) körperlich und psychisch
eines vitalen Diskrepanzerlebens zwischen bedroh- gesund zu bleiben oder wieder gesund zu werden.
lichen Situationsfaktoren und den individuellen Zentral für das Salutogenese-Modell ist ein Sense of
Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Coherence (Kohärenzerleben) als grundlegende le-
Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht benserhaltende Ressource, die der Mensch im Rah-
und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- men seines Lebens bei der Bewältigung von Proble-
und Weltverständnis bewirkt.« men entwickelt. Der Sense of Coherence umfasst:
Was uns geschieht in solchen traumatischen Si- 4 die Fähigkeit belastende Ereignisse als versteh-
tuationen, ist nicht mehr einzuordnen in unsere bar zu erleben (»comprehensibility«),

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
14 Kapitel 1 · Was ist psychosomatische Medizin?

4 diese beeinflussen zu können (»manage- Das Bindungssystem


1 ability«) und Das Bedürfnis nach emotionaler Bindung ist ange-
4 die Fähigkeit solchen Belastungen Bedeutung boren. Das Ziel ist die Herstellung emotionaler
und Sinn zu verleihen (»meaningfulness«). Nähe und Sicherheit, vor allem wenn das Kind sich
müde, krank, unsicher oder verlassen fühlt. Für
In der ärztlichen Praxis können wir dieses Saluto- Bindungserfahrungen entscheidend sind die ersten
genese-System bei Patienten fördern oder auch 3 Lebensjahre.
hemmen. Ressourcenaktivierung knüpft an die
positiven Eigenarten, die Fähigkeiten und die Moti- jBindungsverhalten
vation des Patienten in der Gestaltung seines Lebens Trifft der Säugling oder das Kleinkind auf eine Mut-
und seiner zwischenmenschlichen Beziehungen an. ter oder andere Hauptbezugspersonen, die mit Mi-
In der empirischen Psychotherapieforschung mik und Gestik feinfühlig, d. h. schnell und ange-
(Grawe 2004) fand sich bei nichterfolgreichen Sit- messen auf die Reaktionen des Kindes antworten,
zungen über den zeitlichen Verlauf einer Sitzung so kommt es zur Ausschüttung von Oxytocin, wel-
regelhaft ein Muster mit einer hohen Problemakti- che dem Säugling soziale Interaktionen und die da-
vierung und nur einer sehr geringen Ressourcenak- mit verbundenen Gefühle als angenehm erleben
tivierung. Bei den erfolgreichen Therapiesitzungen lässt. Ein sicheres Bindungsverhalten wird auf die-
hielten sich dagegen Problem- und Ressourcenakti- se Weise gefördert. Das Gehirn, vor allem die
vierung die Waage. Die Therapeuten stellten am Amygdala, der Hippocampus und der präfrontale
Ende der als erfolgreich erlebten Sitzungen typi- Kortex werden vor Schädigungen als Folge über-
scherweise eine Verbindung mit dem Ressourcen- schießender Glukokortikoidausschüttungen in
potenzial der Patienten her. Stresssituationen geschützt. Eine sichere Bindung
Im Zusammenhang mit dem Salutogenese- trägt zu einer Erhöhung der Stressschwelle und zu
Konzept spielen die ebenfalls positiv aufgefassten einer Dämpfung der Stressantwort bei.
Begriffe wie Schutz- bzw. protektive Faktoren, Res- Reagiert die Mutter dagegen zurückweisend auf
ilienz, Ressourcen und posttraumatische Reifung die Bindungsbedürfnisse des Kindes, so resultiert
eine wichtige Rolle. ein sehr unsicher-vermeidender Bindungsstil beim
Mit Resilienz ist psychische Widerstandskraft Kind. Sind die mütterlichen Antworten auf die
gemeint, die Fähigkeit, aus widrigen Lebensum- kindlichen Signale sehr widersprüchlich und wenig
ständen gestärkt und mit größeren Ressourcen aus- vorhersagbar, dann entwickelt das Kind eine soge-
gestattet herauszukommen. Als Voraussetzung zur nannte unsicher-ambivalente Bindung.
Entwicklung dieser salutogenen Passungskompe-
tenz finden sich in der Resilienz-Forschung unter jNegative Bindungserfahrung und erhöhte
anderem folgende Aspekte: Stressvulnerabilität
4 stabile emotionale Beziehungen zu einem Eine Mutter, die nach der Geburt ihres Kindes eine
Erwachsenen in der Kindheit, schwere Depression erleidet, kann auf das Bin-
4 Verfügbarkeit sozialer Unterstützung, dungsbedürfnis des Kindes oft nicht adäquat re-
4 soziale Modelle für eine konstruktive Problem- agieren und sich in die Bedürfnisse ihres Kindes
lösung (ältere Geschwister, Lehrer usw.), nicht ausreichend einfühlen. Das Fehlen einer sol-
4 frühe Konfrontation mit Leistungsanforde- chen Feinfühligkeit führt in der Folge zu Störungen
rungen, bei der Entwicklung des Stressverarbeitungssys-
4 Verantwortungsübernahme, tems. Die Aktivierung der HPA-Achse durch ver-
4 intellektuelle Begabung zur Bewältigung von stärkte CRH-Ausschüttung oder fehlende Hem-
Traumata, mung führt zur Erhöhung von Kortisol und da-
4 günstige Voraussetzung hinsichtlich des Tem- durch bedingter Schädigung des Hippocampus.
peraments (Lösel u. Bender 1994). Kinder, die körperlich oder psychisch stark trauma-
tisiert wurden, entwickeln eine Hyperreagibilität
von HPA- und LC-NE-Achse.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
1.5 · Was macht uns krank, was hält uns gesund?
15 1
Tierexperimentell konnte gezeigt werden, dass
ein positives Bindungsverhalten (taktile mütterliche 5 Überdurchschnittliche Intelligenz
Stimulation des Nachwuchs) innerhalb der ersten 5 Robustes, aktives und kontaktfreudiges
Lebenswochen direkt intrazelluläre Signalwege ver- Temperament
ändert: Die Modifikation der DNA mit Methylie- 5 Internale Kontrollüberzeugungen,
rung an der Zelloberfläche führte zu einer verän- »self-efficacy«
derten Genexpression des Glukokortikoid-Rezep- 5 Soziale Förderung (z. B. Jugendgruppen,
tor-Gens (GRG) im Hippocampus und damit zu Schule, Kirche)
einer veränderten Stressreaktion auf der HPA-Ach- 5 Verlässlich unterstützende
se und letztlich zu erhöhter Stresstoleranz und we- Bezugsperson(en) im Erwachsenenalter
niger Furchtreaktion, nachweisbar bis ins Erwach- 5 Lebenszeitlich spätere Familiengründung
senenalter (Weaver et al 2004). (i. S. von Verantwortungsübernahme)
5 Geschlecht: Mädchen weniger vulnerabel
jLangzeitfolgen
Psychosoziale Belastungen in der Kindheit können
auf diesem Wege zu einer Dysfunktion des Stress- Die aufgeführten Schutzfaktoren können die nega-
verarbeitungssystems mit erhöhter Stressvulnerabi- tiven Erfahrungen in der Entwicklung eines Kindes
lität in Konfliktsituationen führen. Zur Bewältigung auffangen und zur Stärkung der psychischen Wider-
der Stressbelastung werden Alkohol, Drogen, ag- standskraft (Resilienz) führen. Da die neuronale
gressives Verhalten und sozialer Rückzug einge- Verknüpfung im Gehirn unmittelbar mit der Erzie-
setzt. Die damit verbundenen Risikoverhaltenswei- hung und Sozialisation zusammenhängt, die das
sen wie Rauchen, Bewegungsmangel, Fehlernäh- Kind in den ersten 3 Lebensjahren erlebt, können
rung, wenig Schlaf, häufiger Partnerschafts- und auf diese Weise auch Defizite in der Gehirnentwick-
Arbeitsplatzwechsel führen im Langzeitverlauf ge- lung ausgeglichen werden.
häuft zu körperlichen und seelischen Krankheiten. Tierexperimentell konnten Cao et al. (2012)
Langzeitstudien zeigten, dass die Wahrscheinlich- nachweisen, dass ein reichhaltiges Angebot an salu-
keit im Erwachsenenalter eine psychische oder psy- togener, motorischer und sensorischer Stimulation
chosomatische Erkrankung zu entwickeln, durch (Ressourcenaktivierung oder »environmental en-
das Einwirken psychosozialer Belastungen in der richment«) im ZNS u. a. zur Veränderung der
Kindheit um das 5- bis 20-fache erhöht wird. Wachstumshormonexpression, Stimulation der
Ob ein Mensch erkrankt, hängt von den Wech- Neurogenese sowie zur längeren Lebensdauer von
selwirkungen zwischen Belastungsfaktoren und Nervenzellen führt. Damit wird der Verlauf neuro-
Schutzfaktoren ab, s. unten stehende Übersicht logischer Erkrankungen beeinflusst; ferner führte
(Egle et al. 1997, 2002). dies in Experimenten mit Melanom- und Kolonkar-
zinomzellen zu einer deutlichen Tumorsuppression.

Schutzfaktoren für spätere Stress- Bewältigungs-/Ressourcen-Coping


vulnerabilität Coping ist ein aktiver, nicht immer bewusster Pro-
5 Dauerhafte gute Beziehung zu mindestens zess der Auseinandersetzung des Patienten mit sei-
einer primären Bezugsperson ner Krankheit. Er umfasst alle kognitiven, emotio-
5 Sicheres Bindungsverhalten nalen und verhaltensorientierten Aktivitäten eines
5 Großfamilie, kompensatorische Eltern- kranken Menschen, die dazu dienen, bereits beste-
beziehungen hende oder erwartete krankheitsbedingte Anforde-
5 Entlastung der Mutter (v. a. wenn allein- rungen, Belastungen und Probleme zu überwinden,
erziehend) zu lindern oder zu tolerieren. Das Verhalten wird
5 Gutes Ersatzmilieu nach frühem Mutter- eingesetzt, um Gefühle der Bedrohung, der Selbst-
verlust wertbeeinträchtigung und des Kontrollverlustes in
Grenzen zu halten.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
16 Kapitel 1 · Was ist psychosomatische Medizin?

Entsprechend dem konstruktivistischen Postu- 4 Unbewusste Strategien bzw. unbewusste Ab-


1 lat, wonach Wirklichkeit z. B. auch im Sinne einer wehrmechanismen: Die wichtigsten Abwehr-
schweren Erkrankung nicht einfach vorliegt, son- mechanismen sind Verleugnung, Dissoziation,
dern individuell und familiär konstruiert wird, wird Regression, Projektion, Intellektualisierung,
der Ausgang einer Erkrankung oder Lebenskrise Rationalisierung und Verschiebung sowie Ver-
weniger durch die Art und Schwere des belastenden kehrung ins Gegenteil.
Ereignisses bestimmt, sondern dadurch, wie der Pa-
tient die Krankheit bewertet und welche Möglich- Günstigen Einfluss auf das emotionale Befinden
keiten der Krisenbewältigung ihm zur Verfügung und die Lebensqualität haben eine aktive problem-
stehen. orientierte Krankheitsverarbeitung, eine Unterstüt-
Drei Hauptformen der Krankheitsverarbeitung zung durch das soziale Umfeld und das Vertrauen
sind zu unterscheiden: in die ärztliche Behandlung. Als ungünstig haben
1. Kognitive Verarbeitung: Erklärungsversuche sich Resignation, Hilf- und Hoffnungslosigkeit, so-
für die Krankheit finden, Bücher, Zeitschriften, zialer Rückzug und eine starke psychische Belas-
Internet benutzen, relativierende Sätze wie »es tung, z. B. schwere Depression, erwiesen.
wird schon nichts Schlimmes sein, andere ha-
ben das auch überlebt«. Gleichzeitig finden
sich umgekehrt auch übertriebene Eigen- 1.5.3 Ein integratives Modell
beobachtungen, maximale Aufmerksamkeit der psychosomatischen Medizin
körperlichen Symptomen gegenüber.
2. Affektive Verarbeitung: Stimmungen, Affekte Die dargestellten biologischen und psychosozialen
und Emotionen von der normalen Angst oder Belastungsfaktoren gesunder und kranker Men-
Dauerreaktion bis hin zu schweren psycho- schen interagieren mit psychosozialen Schutzfakto-
pathologischen Zuständen mit Panikattacken, ren im Sinne individueller und sozialer Ressourcen
depressivem Rückzug mit Suizidalität und und dem salutogenetischen Kohärenzgefühl. Höchst
aggressivem Verhalten. individuell resultiert hieraus ein spezifisches biopsy-
3. Verarbeitung auf der Verhaltensebene: Zupa- chosoziales Vulnerabilitätsprofil. Abhängig von ak-
cken, nach vorne schauen, aktiv sich Hilfe und tuellen Beziehungsmustern, kritischen Life-events,
Unterstützung besorgen, aber gegenteilig auch persönlichen und sozialen Ressourcen sowie den
Kapitulation, Vermeidung und Rückzug. zirkulär verbundenen neurobiologischen Mustern
können somatische, psychische und psychosomati-
Modulierende Faktoren des individuellen Copings sche Krankheiten entstehen (. Abb. 1.5).
sind die Schwere der körperlichen Erkrankung und
die damit verbundenen Beeinträchtigungen, die
Persönlichkeit des Patienten (früher erworbene
Krisenbewältigungsmuster), das Konzept der Kon-
trollüberzeugung (das eigene Verhalten hat Einfluss
auf Lebensereignisse [interne Kontrolle] oder die
Lebensereignisse werden vorwiegend von außen
bestimmt [externe Kontrolle]) sowie die soziale
Unterstützung.
Die Strategien der Krankheitsbewältigung las-
sen sich in bewusste und unbewusste Strategien
einordnen:
4 Bewusste Strategien: z. B. Suche nach sozialer
Unterstützung, Sinnsuche, Religiosität, Infor-
mationssuche und Ablenkung.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
Literatur
17 1

Die – Frühe, unsichere Bindungserfahrungen


Genetik
– Frühe traumatische Erlebnisse
Person
– Erlerntes Verhalten in der Familie

– Neurophysiologische Dysfunktionale
– Armut Vulnerabilität Beziehungs-
– Arbeitslosigkeit – Störung neuronaler muster
– Kulturelle Vernetzung des – Aktuelle Beziehungen
Bewertung Immunsystems – Familie
von Krankheit – Entzündungsprozesse
– Ausmaß – Verluste und
sozialer Anpassungsleistungen
Unterstützung – Negative Affekte
Dysfunktionales
Krankheitsverhalten

Somatische, Psychische, Psychosomatische


Krankheiten

. Abb. 1.5 Ein integriertes Modell der Psychosomatik. (Aus Veit 2010; mit freundlicher Genehmigung © [2010] W. Kohlham-
mer GmbH, Stuttgart)

Literatur Einsle F, Nitschke M, Petrowski K et al. (2006) Welche psychi-


schen Beeinträchtigungen zeigen Partner von Patienten
Adler R, Uexküll T von (1987) Individuelle Physiologie als mit Herzrhythmusstörungen? Z Psychosom Med Psycho-
Zukunftsaufgabe der Medizin. Schweiz Rundsch Med ther 52: 373–391
Prax 76: 1275–1280 Engel GL (1977) The need for a new medical model: A cha-
Antonovsky A (1987) The salutogenetic perspective: toward a lenge for biomedicine. Science 196: 129–136
new view of health and illness. Advances 4: 47–55 Fischer G, Riedesser P (1998) Lehrbuch der Psychotraumatolo-
Barth J, Schumacher M, Herrmann-Lingen C (2004) Depres- gie. Ernst-Reinhard-Verlag, München Basel
sion as a risk factor for mortality in patients with coronary Grawe K (2004) Neuropsychotherapie. Hogrefe, Göttingen
heart disease: A meta-analysis. Psychosom Med 66: Herrmann-Lingen CH (2000) Biopsychosoziale Faktoren in
802–813 Genese und Manifestation der koronaren Herzkrankheit.
Bateson (1985). Krankheiten der Erkenntnistheorie. In: Ökolo- Z Psychosom Med Psychother 46: 315–330
gie des Geistes, S. 614–626. Suhrkamp, Frankfurt a. M. Herrmann-Lingen C, Buss U (2002) Angst und Depressivität im
Bauer J (2008) Das kooperative Gen. Hoffmann und Campe, Verlauf der koronaren Herzkrankheit. Reihe »Statuskon-
Hamburg ferenz Psychokardiologie«, Band 5. Frankfurt: VAS
Cao L, During MJ (2012) What ist the brain-cancer connec- Herrmann-Lingen C (2012) Was die psychosomatische Medi-
tion? Annual review of neuroscience. 35: 331–345 zin im Innersten zusammenhält. Z Psychosom Med
Dong M, Giles WH, Felitti VJ et al. (2004) Insights into causal Psychother 58: 138–139
pathways for ischemic heart disease: Adverse childhood Janshoff F (2002) Kommunikation – interkulturell? ide 3,
experiences study. Circulation 110: 1761–1766 S 128
Egle, UT, Hoffmann SO, Steffens M (1997) Psychosoziale Jneid H, Fonarow GC, Cannon CP et al. (2008) Impact of time
Risiko- und Schutzfaktoren in Kindheit und Jugend als of presentation on the care and outcomes of acute
Prädisposition für psychische Störungen im myocardial infarction. Circulation 117: 2502–2509
Erwachsenenalter. Nervenarzt 97: 683–695 Ledoux J (2006) Das Netz der Persönlichkeit. Wie unser Selbst
Egle UT, Hardt J, Nickel R, Kappis B, Hoffmann SO (2002) entsteht. Deutscher Taschenbuch Verlag, München
(Früher Streß und Langzeitfolgen für die Gesundheit – Lösel F, Bender D (1994) Lebenstüchtig trotz schwieriger
Wissenschaftlicher Erkenntnisstand und Forschungs- Kindheit. Psychische Widerstandskraft im Kindes- und
desiderate Z Psychosom Med Psychother 48: 411–434 Jugendalter. Psychoscope, 18 (7): 14–17
Eisenberger NJ, Liebermann MD, Williams KD (2003) Does Lupien J, McEwen BS, Gunnar MR, Christine Heim C (2009)
Rejection Hurt? An fMRI Study of Social Exclusion, Effects of stress throughout the lifespan on the brain,
Science 302: 290 behaviour and cognition. Nat Rev Neurosci 10: 434–445

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
18 Kapitel 1 · Was ist psychosomatische Medizin?

McEwen BS (1998) Protective and demaging effects of stress


1 mediators. New Engl Journal of Medicine 338: 171–179
Siegrist J, Starke D, Chandola T et al. (2004) the measurement
of effort-reward imbalance at work: European compari-
sons. Soc Sci Med 58: 1483–1499
Uexküll T von, Wesiack W (1998) Theorie der Humanmedizin. 3.
Aufl. Urban & Schwarzenberg, München Wien Baltimore
Uexküll T von, Wesiack W (2011) Integrierte Medizin als Ge-
samtkonzept der Heilkunde: ein bio-psycho-soziales
Modell. In: Adler RH, Herzog W, Joraschky P, Köhle K,
Langewitz W, Söllner W, Wesiack W (Hrsg.) Uexküll Psy-
chosomatische Medizin, 7. Aufl. Urban & Fischer
München
Varela F (1981) Autonomy and Autopoiesis. In: Roth G,
Schwegler H (ed.) (1981) Self-organizing Systems. An
Inner-disciplinary Approach. Frankfurt a. M. (Campus)
Veit I (2010) Praxis der Psychosomatischen Grundversorgung.
W. Kohlhammer, Stuttgart
Weaver JGC, Cervoni N, Champague FA et al. (2004) Epige-
netic programming by maternal behaviour. Nat. Neurosci
7: 847–854

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
19 2

Warum psychosomatische
Grundversorgung?
Werner Geigges, Kurt Fritzsche

2.1 Psychische und psychosomatische Erkrankungen


sind häufig – 20

2.2 Versorgungssituation bei Patienten mit psychischen


und psychosomatischen Krankheiten – 21

Literatur – 22

K. Fritzsche et al. (Hrsg.), Psychosomatische Grundversorgung,


DOI 10.1007/978-3-662-47744-1_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
20 Kapitel 2 · Warum psychosomatische Grundversorgung?

2.1 Psychische und psychosomati- sity »Global burden of disease« (Murray u. Lopez
sche Erkrankungen sind häufig 1996) werden depressive Erkrankungen im Jahr
2020 an zweiter Stelle aller Erkrankungen stehen,
2 Im Schatten der großen Erfolge der naturwissen- wenn man deren sozioökonomische Bedeutung für
schaftlich-technischen Medizin des 20. Jahrhun- die Gesellschaft betrachtet. All dies belegt, dass psy-
derts finden sich in Studien zur Qualität medizi- chische und psychosomatische Erkrankungen
nischer Versorgung in den letzten Jahrzehnten längst zu Volkskrankheiten geworden sind, die die
regelhaft eine hohe Inzidenz psychischer und psy- Lebensqualität der Erkrankten und ihrer Familien
chosomatischer Erkrankungen in Haus- und Fach- nachhaltig beeinträchtigen. Zu der Anerkennung
arztpraxen und gleichzeitig erschreckende Mängel als gesellschaftliches Problem trugen entscheidend
in der Diagnostik und Behandlung dieser Krank- auch die ökonomischen Folgen dieser Erkrankun-
heitsbilder. Nach den Daten des Bundes-Gesund- gen bei: während die Arbeitsunfähigkeitszeiten in
heitssurvey (Jacobi et al. 2014) lagen die 12-Monats- Deutschland insgesamt rückläufig sind, steigen
Prävalenzen psychischer Störungen bei Erwachse- Fehlzeiten aufgrund psychischer Störungen stetig
nen bei 27,7 % (33,3 % für Frauen und 22 % für an. Ebenso die Zunahme der Frühberentungen in-
Männer). Am häufigsten sind dabei die affektiven folge psychischer Erkrankungen.
Störungen und Angststörungen, gefolgt von den so- In den epidemiologischen Querschnittsunter-
matoformen Störungen und Suchterkrankungen. suchungen und Langzeitverlaufsuntersuchungen
Dementsprechend hoch ist auch der Anteil von Pa- konnte zwischenzeitlich auch für mehrere der häu-
tienten mit psychischen Erkrankungen innerhalb figsten Erkrankungen zahlreiche Wechselwirkungen
der gesamten medizinischen Versorgungssysteme, zwischen psychischen und somatischen Erkrankun-
also in der hausärztlichen Praxis, in internistischen gen nachgewiesen werden. Beispielsweise erhöhen
oder allgemeinen Krankenhäusern und in der Not- psychische Erkrankungen das Risiko für koronare
fallmedizin. Auch weisen Patienten mit zusätzlicher Herzkrankheit, Schlaganfall und Diabetes mellitus
Depression in internistischen Krankenhäusern eine (Salaycik et al. 2007; Lustman et al. 2000; Abas et al.
höhere Liegedauer auf (Friedrich et al. 2002). In ei- 2002). Für Personen im mittleren Alter findet sich ein
ner Studie »Inanspruchnahme des Versorgungssys- um mehr als 3fach erhöhtes kardiovaskuläres Morta-
tems bei psychischen Erkrankungen« anhand der litätsrisiko, wenn diese an einer schweren psychi-
Routinedaten von drei Ersatzkassen und Daten der schen Erkrankung leiden (Osborn et al. 2007). Um-
Deutschen Rentenversicherung Bund hatten 33 % gekehrt sind schwere körperliche Erkrankungen,
der Versicherten wegen einer psychischen Störung z. B. Herzinfarkt oder Schlaganfall, mit einer hohen
Kontakte zum Versorgungssystem (Gaebel et al. Rate sekundärer psychischer Störungen, vor allem
2013). 50,4 % dieser Versicherten litten an mindes- Depression verbunden (Deuschle u. Lederbogen
tens zwei psychischen Störungen. Bei nahezu allen 2002). Das Auftreten einer schweren körperlichen
Versicherten mit einer psychiatrischen Index-Diag- Erkrankung geht häufig mit Ängsten, tiefgreifender
nose (98,8 %) wurde zusätzlich mindestens eine so- Verunsicherung und gravierenden Folgen für die Le-
matische Diagnose kodiert. bensqualität einher, die das Risiko einer psychischen
Ob seelische Erkrankungen zunehmen oder nur Störung, welche über das übliche, normale Ausmaß
verstärkt wahrgenommen und diagnostiziert wer- einer seelischen Reaktion hinausgeht, deutlich erhö-
den, lässt sich mit epidemiologischen Untersuchun- hen. So ist z. B. ein Herzinfarkt ein häufig typischer
gen derzeit nicht eindeutig belegen. Möglicherweise Auslöser für eine erstmalig auftretende schwere de-
werden diese Erkrankungen schneller und sicherer pressive Episode oder eine Angsterkrankung.
diagnostiziert, möglicherweise ist auch die Bereit- Für diese hochbedeutsame Komorbidität psy-
schaft der Betroffenen gestiegen, sich in Behand- chischer und somatischer Erkrankungen lassen sich
lung zu begeben, d. h. das Problem der gesellschaft- häufige Grundmuster darstellen (Schüßler et al.
lichen Stigmatisierung psychisch Kranker ist evtl. 2011):
kleiner geworden. Nach Hochrechnungen der Welt- 1. Die seelische Störung ist organisch mitbedingt
bank und der US amerikanischen Harvard Univer- (somatopsychisch). Die seelische Störung ist

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
2.2 · Versorgungssituation bei Patienten
21 2
begründet in organischen Auswirkungen der Versorgung dieser Patienten gegenüber: Mehr als
körperlichen Erkrankung oder der Auswir- 84 % dieser Patienten werden ausschließlich ambu-
kung der körperlichen Behandlung (v. a. phar- lant versorgt und fast drei Viertel der aufgrund einer
makogen auf das ZNS). psychiatrischen Diagnose behandelten Versicher-
2. Seelische Störungen und ihre biologischen ten ausschließlich durch Ärzte für Allgemeinmedi-
Auswirkungen verursachen die körperlichen zin und Fachärzte für somatische Medizin (Gaebel
Erkrankungen mit und beeinflussen deren 2013). Auch im stationären Bereich wird ein relativ
Verlauf (psychosomatisch). hoher Anteil an Patienten (27–64 %) mit psychia-
3. Gemeinsame Ursache der körperlichen Er- trisch/psychosomatischer Hauptdiagnose durch
krankung und der seelischen Störung, z. B. bei Fachabteilungen für somatische Medizin versorgt.
schweren Missbrauchserfahrungen in der Bei schweren Depressionen erfolgte die initiale Ver-
Kindheit, die sowohl die Wahrscheinlichkeit sorgung überwiegend (74 %) ambulant bei einem
einer seelischen Störung als auch körperlichen Arzt für Allgemeinmedizin oder einem Facharzt
Erkrankung erhöhen. einer Fachrichtung für somatische Medizin, 53 %
4. Seelische Störungen als Folge der körperlichen dieser Patienten hatten keinen Zugang zu einem an-
Erkrankung, im Sinne von reaktiven seelischen deren Versorgungsbereich bzw. einer anderen Fach-
Anpassungsstörungen als nicht gelungene Be- disziplin wie etwa Fachärzte für Psychiatrie und
wältigungsfolge der körperlichen Erkrankung Psychotherapie oder Fachärzte für Psychosomati-
bzw. im Zusammenhang mit Missbrauch oder sche Medizin und Psychotherapie. In Anbetracht
Abhängigkeit von Suchtstoffen und Medika- des hohen ambulanten Versorgungsanteils ist eine
menten bei körperlichen Erkrankungen, um verstärkte sektoren- und disziplinübergreifende Ko-
den Symptomdruck dieser Erkrankung zu lin- operation sowie die Sicherstellung einer adäquaten
dern. psychosomatischen Grundversorgung im hausärzt-
5. Wiederauslösung (Verstärkung) einer bereits lichen Bereich sowie im übrigen Facharztbereich
früher aufgetretenen seelischen Störung durch somatischer Fächer daher dringend erforderlich.
die körperliche Erkrankung. Diese besondere Versorgungssituation und der
6. Keine anamnestische seelische Erkrankung, je- damit verbundene medizinische Versorgungsnot-
doch erhöhte psychosoziale Risikobedingun- stand führten zur Aufnahme der sogenannten psy-
gen werden durch die Auseinandersetzung mit chosomatischen Grundversorgung in die ambu-
der körperlichen Erkrankung zur manifesten lante Versorgung und die Fort- und Weiterbildung
seelischen Störung. (Psychotherapievereinbarung der kassenärztlichen
7. Multikausale Störung: zirkuläre Wechselwir- Bundesvereinigung und der Krankenkassen 1987,
kungen zwischen organischen, pharmakoge- Musterweiterbildungsordnung der Bundesärzte-
nen und psychischen Faktoren. So kann ein kammer 1992). Psychosoziale und naturwissen-
HIV-Patient eine zentralnervöse Beteiligung schaftlich-technische Leistungen sollen in einem
im Rahmen der Grunderkrankung aufweisen, ausgewogenen Verhältnis stehen (Autorengruppe
medikamentöse Nebenwirkungen zeigen und Psychosomatische Grundversorgung 2001).
gleichzeitig eine depressive Reaktion auf die Nach dem Curriculum der Bundesärztekammer
Erkrankung ausbilden. müssen auch von primär somatisch orientierten
Ärzten psychische Probleme und Erkrankungen si-
cher erkannt und angemessen berücksichtigt wer-
2.2 Versorgungssituation bei Patien- den. Dies gilt sowohl für den Hausarzt wie für den
ten mit psychischen und psycho- in Klinik oder Praxis tätigen Facharzt.
somatischen Krankheiten Die psychosomatische Grundversorgung stellt
einen notwendigen Baustein in einem »4-Ebenen-
Die hohe Prävalenz psychischer, psychosomatischer Modell« einer zukunftsfähigen Versorgung psy-
und somatopsychischer Störungen in der Bevölke- chisch und psychosomatisch Kranker dar (Heuft et
rung stehen große Defizite und Probleme in der al. 2014):

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
22 Kapitel 2 · Warum psychosomatische Grundversorgung?

1. Ebene: psychotherapeutische Kenntnisse Literatur


sollten bereits im Medizinstudium erworben
werden. Abas M, Hotopf M, Prince M (2002) Depression and mortality
in a high-risk population. II-Year follow-up of the Medical
2 2. Ebene: alle ärztlichen Fachgebiete sollten Research Council Elderly Hypertension Trial. Brit J Psy-
Kompetenzen in der psychosomatischen chiat 181: 123–8
Grundversorgung erwerben (obligat für Autorengruppe Psychosomatische Grundversorgung (2001)
Hausärzte und Gynäkologen). In: Curriculum Psychosomatische Grundversorgung.
3. Ebene: klarere Positionierung der fachgebun- 2. Aufl. Hrsg.: Bundesärztekammer – Arbeitsgemeinschaft
der deutschen Ärztekammern
denen Psychotherapie und Angebote von
Deuschle M, Lederbogen F (2002) Depression und koronare
Kurzzeit-Psychotherapie. Herzerkrankung: pathogenetische Faktoren vor dem
4. Ebene: differenzielle Behandlung durch Fach- Hintergrund des Stresskonzeptes. Fortschr Neurol Psy-
ärzte für Psychosomatische Medizin und chiatr 70: 268–75
Psychotherapie sowie Fachärzte für Psychiatrie Friedrich HC, Hartmann M, Bergmann G, Herzog W (2002)
Psychische Komorbidität bei internistischen Kranken-
und Psychotherapie.
hauspatienten. Prävalenz und Einfluss auf die Liegedauer.
Psychother Psych med 52: 323–328
Der Begriff »Psychosomatische Grundversor- Gaebel W, Kowitz S, Fritze J, Zielaseck J (2013) In-
gung« wird im Rahmen der Musterweiterbildungs- anspruchnahme des Versorgungssystems bei psychis-
ordnung der Bundesärztekammer zur Bezeichnung chen Erkrankungen, Deutsch Ärztebl 110: 799–808
eines in die vertragsärztliche Versorgung eingeführ- Heuft G, Freyberger HJ, Schepker R (2014) 4-Ebenen-Modell
einer personalisierten Medizin: Epidemiologische Bedeu-
ten Tätigkeitsbereiches verwendet. Aus systemati- tung, historische Perspektive und zukunftsfähige Mo-
schen Gründen werden vier Gruppen von Erkran- delle aus Sicht von Patienten und Ärzten. Schattauer,
kungen unterschieden (Autorengruppe Psychoso- Stuttgart
matische Grundversorgung 2001): Jacobi F, Höfler M, Strehle J et al. (2014) Psychische Störungen
4 Psychische Erkrankungen, die geläufige in der Allgemeinbevölkerung. Studie zur Gesundheit
Erwachsener in Deutschland und ihr Zusatzmodul Psy-
Krankheitsbilder (z. B. Angsterkrankungen,
chische Gesundheit (DEGS1-MH). Nervenarzt 85 (1):
depressive Syndrome) umfassen. 77–87
4 Funktionelle Störungen, die somatoforme Lustman PJ, Anderson RJ, Freeland KE et al. (2000) Depression
Erkrankungen, also körperliche Beschwerden and poor glycemic control: a meta-analytic review of the
ohne organischen Befund darstellen. literature. Diabetes Care 23: 934–942
Murray CJL, Lopez AD (1996) The global burden of disease: a
4 Psychosomatische Krankheiten, als diejenigen
comprehensive assessment of mortality and disability
körperlichen Erkrankungen, bei deren Entste- from diseases, injuries and risk factors in 1990 and pro-
hung oder Verlauf psychosoziale Faktoren jected to 2020. Cambridge, MA Harvard School of Public
wesentlich beteiligt sind (wie etwa koronare Health on behalf of the World Health Organization and
Herzkrankheit, Asthma bronchiale). the World Bank. Global burden of disease an injury series,
Vol I
4 Somatopsychische Störungen, die dann vorlie-
Osborn DP, Levy G, Nazareth I et al. (2007) Relative risk of
gen, wenn bei der Bewältigung schwerer soma- cardiovascular and cancer mortality in people with
tischer Erkrankungen psychische Probleme severe mental illness from the United Kingdom’s general
auftreten (z. B. Angststörungen bei Patienten practice research database. Arch Gen Psych. 64: 242–249
mit schweren Herzrhythmusstörungen und Salaycik KJ, Kelly-Hayes M, Beiser A et al. (2007) Depressive
implantiertem automatischen Defibrillator). symptoms and risk of stroke. The Framingham Study.
Stroke 38:16–21
Schüßler G, Joraschky P, Söllner W (2011) Depression, Angst
und Anpassungsstörung bei körperlichen Erkrankungen.
In Adler RH, Herzog W, Joraschky P, Köhle K, Langewitz W,
Söllner W, Wesiak W (Hrsg) Uexküll Psychosomatische
Medizin 7. Aufl. Elsevier, München S 605–606

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
23 3

Ziele der Fort- und Weiter-


bildung in der psychosoma-
tischen Grundversorgung
Werner Geigges, Kurt Fritzsche

3.1 Inhalte der psychosomatischen Grundversorgung – 24

3.2 Prozessqualität in der psychosomatischen Grundversorgung:


Basisdiagnostik, Basistherapie und Kooperation – 24

3.3 Die narrative Dimension in der psychosomatischen Grund-


versorgung: Krankengeschichte als »Lebenserzählung« – 26

3.4 Qualitätssicherung in der psychosomatischen


Grundversorgung – 27

Literatur – 29

K. Fritzsche et al. (Hrsg.), Psychosomatische Grundversorgung,


DOI 10.1007/978-3-662-47744-1_3, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
24 Kapitel 3 · Ziele der Fort- und Weiterbildung in der psychosomatischen Grundversorgung

3.1 Inhalte der psychosomatischen im Körper verborgene Ursachen, die es zu finden


Grundversorgung und zu beseitigen gilt. Weil aber psychische Vorgän-
ge in diesem Modell nicht vorkommen, dürfen Be-
Die Einführung der psychosomatischen Grundver- schwerden, die auf psychischen Problemen beru-
sorgung bedeutete einen Meilenstein für ein besse- hen, keine Krankheiten sein. Die psychologische
res Erkennen und Behandeln psychischer und psy- Medizin wiederum hat ein eigenes Klassifikations-
3 chosomatischer Störungen in Arztpraxis und Kran- system (DSM, ICD) zum Verständnis psychischer
kenhaus. Vorgänge im Körper entwickelt. Als Konsequenz
Die psychosomatische Grundversorgung um- haben wir zwei unterschiedliche Denkschemata
fasst folgende Leistungen: und – getrennt voneinander – eine somatische und
4 Differenzialdiagnostische Abschätzung: wel- eine psychologische Medizin. Dies bildet sich auch
chen Anteil haben psychosoziale Belastungen in der Organisation unseres Gesundheitssystems
und Probleme am Krankheitsbild? ab. Deswegen hat die psychosomatische Grundver-
4 Grundlegende therapeutische Leistungen, vor sorgung das Ziel, den Dualismus in der Medizin
allem Beratung und Unterstützung, ggf. auch und in unserem Gesundheitssystem tendenziell zu
Entspannungsverfahren. überwinden, indem sie Gesamtdiagnosen stellt.
4 Die angemessene Vorbereitung (Aufklärung Gesamtdiagnosen sind dabei keine Aneinander-
und Motivation) und Weitervermittlung derje- reihung der durchschnittlich 3–6 Diagnosen am
nigen Patienten, die spezielle psychotherapeu- Schluss der Krankenblätter unserer Kliniken, son-
tische und/oder psychiatrische Hilfe brauchen. dern »Beziehungsdiagnosen«, die beschreiben, wie
körperliche und seelische Symptome, ihr subjekti-
ves Erleben und ihre Verarbeitung sich im Kontext
3.2 Prozessqualität in der psycho- gegenwärtiger und vergangener Beziehungserfah-
somatischen Grundversorgung: rung und im aktuellen Arzt-Patient-Kontakt dar-
Basisdiagnostik, Basistherapie stellen.
und Kooperation Bei jedem Krankheitsbild spielen somatische,
psychische und soziale Faktoren in unterschied-
Die Bemühungen, die somatische Medizin durch lichem Gewicht eine Rolle. Die Aufgabe der biopsy-
eine psychosoziale Medizin zu ergänzen, drohen chosozialen Anamnese ist es, diese Anteile zu er-
den herrschenden Dualismus einer Medizin für kennen, zu gewichten und zueinander in Beziehung
»Körper ohne Seele« und einer Psychotherapie für zu setzen.
»Seele ohne Körper« zu verfestigen. Ohne die Über- Für diesen diagnostischen Erkenntnisprozess,
windung dieses Dualismus läuft der in psychosoma- aber auch für alle grundlegenden therapeutischen
tischer Grundversorgung fort- und weitergebildete Leistungen im Rahmen der psychosomatischen
Arzt Gefahr, wegen seiner überwiegend somati- Grundversorgung, ist eine ganz spezielle kommuni-
schen Tätigkeit noch ein wenig Psychosomatik und kative Kompetenz notwendig.
Psychotherapie zu betreiben. Die psychosomatische Der aktuelle Versuch, die knappe Zeit von Ärz-
Grundversorgung kann nicht additiv erfolgen, son- ten in Krankenhäusern zu rationieren, über die De-
dern stellt eine Herausforderung für das bisherige legation von Anamnesen, Aufnahmegesprächen an
wissenschaftliche Modell der Medizin und das ihm sogenanntes ärztliches Hilfspersonal, offenbart ein
zugrunde liegende Menschenbild dar. tiefes Missverständnis über die grundlegenden
Bereits bei der diagnostischen Abklärung be- Ziele der Arzt-Patient-Kommunikation: Oberstes
gegnet uns dieses dualistische Dilemma: es gibt Di- Ziel von Kommunikation ist nicht das Aufnehmen
agnosen für somatische Krankheiten und Diagno- von Fakten, sondern das Schaffen einer gemeinsa-
sen für psychische Krankheiten. Die Diagnosen für men Wirklichkeit zwischen Patienten und Helfern.
somatische Krankheiten werden meistens nach dem Dieses notwendige Ringen um gemeinsame Wirk-
mechanistischen Maschinenmodell gestellt (7 Kap. lichkeitskonstruktionen erfordert einen kompli-
1). Nach diesem Modell sind Symptome Zeichen für zierten Abstimmungsprozess, da wir davon ausge-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
3.2 · Prozessqualität in der psychosomatischen Grundversorgung
25 3
hen müssen, dass Krankheitssymptome von Arzt
und Patient initial sehr unterschiedlich interpretiert
und mit unterschiedlichen Wirklichkeitskonstruk-
tionen verbunden werden. Diese unterschiedlichen
Wirklichkeitskonstruktionen führen dann auch
konsekutiv zu unterschiedlichen Handlungen bei
Arzt und Patient. In einer gelingenden Arzt-Patient-
Beziehung entsteht durch gegenseitige permanente
Abstimmungsprozesse partiell eine gemeinsame
Wirklichkeit, zeichentheoretisch betrachtet, eine
Code-Anpassung, ein partiell gemeinsamer Code,
und am Ende so etwas wie eine Gemeinschafts-
handlung. Der Alltag in der Medizin sieht eher an-
. Abb. 3.1 Die Baumsäge
ders aus: regelhaft beklagen Patienten bei Befragun-
gen die kommunikativen Defizite in den therapeu-
tischen Beziehungen in Krankenhäusern und in
medizinischen Praxen. Compliance wird einseitig entstand, sobald sich die Leistungen der beiden ob-
verstanden als Befolgung ärztlicher Weisung durch jektiv ergänzten, d. h. die Leistungen des einen die
die Patienten. Häufig finden sich Muster der Arzt- passende Gegenleistung zur »Ergänzung« der Leis-
Patient-Beziehung, die als »Pseudopassung« be- tungen des anderen waren:
zeichnen werden können: es gelingen zwar gemein- Gerade dann, wenn beide Beteiligte sich auf
same Wirklichkeitskonstruktionen zwischen Arzt dem Höhepunkt einer gekonnten Zusammenarbeit
und Patient, z. B. im Rahmen immer neuer wieder- maximal selbständig erlebten, zeigte die Analyse,
holter diagnostischer Untersuchungen bei Patien- dass beide objektiv in strenger Gegenseitigkeit der
ten mit somatoformen Störungen, die von diesen Abläufe verbunden waren. Daraus folgt, dass bei
Patienten auch regelhaft eingefordert werden. Im- dem gemeinsamen Tun das Erlebnis freier Selb-
pulse in Richtung Autonomie, gesunder Entwick- ständigkeit (Autonomie) nur dadurch gewonnen
lung, Selbstorganisation und Krankheitsbewälti- wird, dass die Gegenseitigkeit des Tuns objektiv er-
gung bleiben aber aus, es findet sich eine typische reicht ist.
Chronifizierungsspirale. Jegliche Kommunikation beruht auf dem Aus-
Eine andere, immer häufigere Form der Pseudo- tausch von Informationen, die vom Sender nach
passung in der medizinischen Versorgungspraxis einem bestimmten Code erzeugt werden und die
stellt das sogenannte Kundendienst-Modell dar: im der Empfänger gemäß demselben Code interpre-
Ringen um gemeinsame Wirklichkeit kann sich der tiert. In den Augenblicken, in denen beide das »Ge-
zahlungsfähige Patient in den Angebotsregalen der fühl des Zusammen« als Ausdruck einer gemeinsa-
Medizin bedienen. men Wirklichkeit erleben, die Christian und Haas
Das Bemühen um eine gemeinsame Wirklich- als »Bipersonalität« bezeichnen, ist die Einheit der
keit durch komplizierte kommunikative Abstim- Gemeinschaftshandlung erreicht. Sie schreibt bei-
mungsprozesse demonstrierten Christian u. Haas den einen gemeinsamen Code vor. Beide erleben
(1949) mit Hilfe eines einfachen Versuchs: sie ließen das gleiche Objekt, d. h., der Baumstamm, an dem
zwei Personen mit einer zweigriffigen Baumsäge beide sägen, wird für die beiden Partner zu dem
zusammenarbeiten (. Abb. 3.1). Die Säge war mit »gleichen Baumstamm«. Kommunikation setzt
einem Messwerk versehen, das die Leistungen bei- Code-Angleichung voraus. Dabei ist für das kom-
der Partner registrierte. Gleichzeitig wurde deren munikative Realitätsprinzip das erfolgreiche Sich-
subjektives Erleben fortlaufend erfragt. Ergänzen der Leistungen verschiedener Menschen
Die Resultate zeigten, dass im Verlauf der Inter- entscheidend. Aber Kommunikation erzeugt auch
aktion ein »Gefühl des Zusammen« (als Ausdruck Nähe, jenes »Gefühl des Zusammen« affektiven
einer Übereinstimmung der gegenseitigen Codes) Verstehens.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
26 Kapitel 3 · Ziele der Fort- und Weiterbildung in der psychosomatischen Grundversorgung

Das hohe Maß an Reziprozität solcher kommu- » Lebenserzählungen organisieren Ereignisse und
nikativer Abstimmungsprozesse, beinhaltet auch für Erfahrungen. Lebensereignisse werden zu Be-
Ärzte und Pflegende die Chance für eigene Verände- standteilen einer fortlaufenden Erzählung und
rungs- und emotionale Wachstumsprozesse: »Wenn sind nicht länger unzusammenhängende, vonei-
ich mich einen anderen wirklich verstehen lasse, nander isoliert erscheinende Ereignisse. Lebens-
riskiere ich, durch das Verständnis verändert zu wer- erzählungen ermöglichen ein Erleben von Konti-
3 den« (Rogers 1973). Für Carl Rogers erweist sich nuität und Kohärenz eines fortlaufenden und
bereits der Versuch, sich empathisch auf die inneren sich entwickelnden Prozesses. Indem sie Erleben
Wirklichkeitskonstruktionen eines Patienten einzu- organisieren, bilden sie den Rahmen und Leitfa-
lassen, als wirksam. Er macht deutlich, dass Empa- den zur Interpretation der eigenen Erfahrungen,
thie kein Zustand, sondern ein Prozess ist, in dem des eigenen Handelns. (Retzer 1995)
die Vergewisserung des Verstehens und Verstanden-
werdens vorrangig durch den Patienten erfolgt. Die in diesen Erzählungen enthaltenen Beschrei-
bungen (»Realitäten«) können mit denen anderer
Fallbeispiel Menschen übereinstimmen, aber auch im Wider-
In einem therapeutischen Gespräch mit einer spruch zu ihnen stehen. Narrative Strukturen ent-
80-jährigen depressiven Patientin gerät der Arzt stehen aus dem Zusammenwirken von Handlungen
kurzfristig in eine Art psychoedukatives Dozieren. (»was«), Personen (»wer«) und Kontext (»Rah-
Die Patientin erlebt dies offensichtlich als ein »Klem- men«, z. B. »wo und wann«). Die Bedeutung dieser
men der zweigriffigen Baumsäge«, als Bruch des einzelnen Komponenten der Erzählung wird und ist
»Zusammenpassens« und sie unterbricht den gesteuert vom impliziten Wertesystem bzw. Code
Therapeuten mit den Worten: »Herr Doktor, haben des Erzählers.
Sie schon einmal eine Depression erlebt?« Um die »Krankheit« als medizinisches Kon-
strukt bilden sich sprachliche Sinn-Umwelten, ein
Der Aufbau gemeinsamer Wirklichkeiten erweist Netzwerk von Geschichten, durch die die Krankheit
sich als wichtiger salutogener Wirkfaktor auf vielen zum sozialen Phänomen, zur sozialen Wirklichkeit
Ebenen medizinischen Handelns: Er erhöht die Pa- wird: »Krankheit als Metapher« (Sonntag 2003).
tientenzufriedenheit, fördert eine höhere Behand- Die Bedeutung einer Krankheit wird so in ei-
lungsadhärenz, führt zu besseren medizinischen nem interaktionellen Prozess konstruiert, in diesem
Behandlungserfolgen, aber auch zu einer Kostenre- Prozess hat insbesondere die Kommunikation in-
duktion (bei elektiver Chirurgie bis zu 25 % nerhalb der Familien unserer Patienten einen gro-
[Cochrane Review], Loh et al. 2007) und letztlich ßen Einfluss. Jedes einzelne Individuum, aber auch
auch zu einer geringeren Stressbelastung und besse- jede Familie, verfügt über geschichtlich erworbene
ren Gesundheit von Ärzten. Erfahrungen in der Bewältigung von Lebensereig-
nissen und Lebenskrisen – eine »Familiengeschich-
te« analog zu der individuellen Lebensgeschichte.
3.3 Die narrative Dimension in der Um diese Familiengeschichte bzw. individuelle Le-
psychosomatischen Grundver- bensgeschichte ranken sich Traditionsbildungen
sorgung: Krankengeschichte als und Familienmythen, die für den Einzelnen und die
»Lebenserzählung« Familien eine Abwehr- und zugleich eine Schutz-
funktion erfüllen (z. B. Wiedergutmachungs- oder
Ein wichtiger Aspekt innerhalb des kommunikati- Rettungsmythen).
ven Realitätsprinzips in der Arzt-Patient-Beziehung Diese Geschichten, z. B. im Sinne tradierten
ist die narrative Dimension: die Krankengeschichte Wissens über Ätiologie, Verlauf und Bewältigung
als »Lebenserzählung«. Grundlegende Überzeu- von Krankheiten bzw. von erfolgreichen Heilungs-
gungsmuster von Patienten werden häufig ver- strategien, bilden auch eine Art Matrix für aktuelle
ständlicher, wenn wir die zugrunde liegenden Le- bzw. künftige Reaktionen eines Einzelnen bzw. ei-
benserzählungen berücksichtigen: ner Familie auf eine schwere Erkrankung.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
3.4 · Qualitätssicherung in der psychosomatischen Grundversorgung
27 3
Vor allem aus therapeutischen Gründen ist es 4 Welche Veränderungen im individuellen bzw.
sehr wichtig, diese Welt der Familiengeschichten, familiär geteilten Überzeugungsmuster bzw. in
Familienmythen und -überzeugungen zu erkunden den Beziehungsdefinitionen würden sich
und in die Therapieentscheidungen einzubeziehen. durch alternative Wirklichkeitsbeschreibungen
Die Suche nach therapeutischer Hilfe bedeutet (neue Erzählstrukturen) erzielen lassen?
für Individuen wie für Familien häufig implizit auch
die Suche nach Bestätigung und Fortdauer des Ziele der Basistherapie sind:
individuellen bzw. familiären Wertesystems. Die 5 Gestaltung einer tragfähigen Arzt-Patient-
»Krankheit« wird zum Zeichen familiär geteilter Beziehung
und vermittelter Bedeutungserteilungen, eingebettet 5 Förderung der Patientenautonomie durch
in individuelle und familiäre Lebenserzählungen. Wahrnehmung seiner oder in seinem
Angesichts lebensbedrohlicher und chaosstif- Umfeld vorhandener Ressourcen
tender Aspekte von schwerer Krankheit wird das 5 Lösungsorientierung durch Problemklärung,
individuelle und familiäre Kohärenzgefühl wesent- Problemlösung, Problemakzeptanz oder
lich durch Erzählungen, durch »narrative Wirklich- -bewältigung
keiten«, gesichert. 5 Symptomlinderung oder Heilung
Insbesondere im Hinblick auf das Problem der 5 Information des Patienten
Non-Compliance zwischen Arzt und Patient kommt (Psychoedukation)Verhinderung unnötiger
den individuellen bzw. familiären Lebenserzählun- Maßnahmen wie z. B. nicht indizierte Medika-
gen eine große Bedeutung zu. Statt Konfrontation menteneinnahmen, Arztkonsultationen, ope-
des Patienten mit seinem gesundheitlichen Miss- rative Eingriffe, stationäre Aufenthalte
management oder seiner Belehrung empfiehlt sich 5 Hilfe bei der Überwindung von Lebens-
hier eher die Verhandlung über Lebenserzählungen krisen wie z. B. schwere Krankheit, Verlust-
des Patienten und die darin eingebettete Krank- oder Trennungssituation
heitstheorie. 5 Spezifische Behandlung bei verschiedenen
Oft genügt allein schon der Prozess, in dem der psychischen Störungen, einschließlich
Arzt versucht, die innere Logik und Plausibilität der Psychopharmakotherapie
Krankheitstheorie und Überzeugungsmuster des 5 Vorbereitung und Einleitung einer indizierten
Patienten zu verstehen, um ein effektiveres Gesund- weiterführenden spezialisierten Therapie
heitsverhalten anzustoßen. (Fachpsychotherapie, psychiatrische Behand-
Die Frage, warum Geschichten neben ihrer Ko- lung, psychosoziale Beratungsstelle)
härenz- und Kontinuitätsfunktionen die Chancen 5 Kooperation mit Selbsthilfegruppen
für ein Neuverständnis, eine Neuinterpretation be-
inhalten, eröffnet einen weiteren grundlegenden
Aspekt: Geschichten sind Wege in unserer Vorstel-
lungswelt, die unserer Phantasie ein »Dabei-sein« 3.4 Qualitätssicherung in der psycho-
ermöglichen (»shared experience of illness«). somatischen Grundversorgung
Zentrale Fragen, die sich aus dieser narrativen
Dimension ergeben, sind daher: Sieben wichtige Qualitätsziele in der psychosomati-
4 Welche individuellen und familiären Lebens- schen Grundversorgung wurden von der Projekt-
erzählungen durchziehen, quasi wie ein roter gruppe »Qualitätssicherung in der der Psychosoma-
Faden, die anamnestischen Schilderungen des tischen Grundversorgung« (Autorengruppe Psy-
Patienten? chosomatische Grundversorgung 1999) benannt:
4 Welche Wirklichkeitskonstruktionen im Hin- 1. Das Erkennen psychosozialer Befunde,
blick auf Ätiologie, Verlauf und Bewältigung 2. Die Entwicklung des psychosozialen Krank-
von Krankheiten bzw. von erfolgreichen Hei- heitsverständnisses,
lungsstrategien sind in diesen Erzählungen 3. Die Behandlungszufriedenheit des Arztes/des
enthalten? Patienten,

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
28 Kapitel 3 · Ziele der Fort- und Weiterbildung in der psychosomatischen Grundversorgung

4. Die Arzt-Patient-Beziehung, und die Professionalität, mit der diese Inter-


5. Die Vermeidung einer Chronifizierung, ventionen eingesetzt werden.
6. Die gezielte Behandlung,
7. Der kollegiale Austausch. Für konkrete Fallarbeit, z. B. in Qualitätszirkeln
der  psychosomatischen Grundversorgung, eignet
In einer systematischen Literaturübersicht (Fritz- sich das Modell der reflektierten Kasuistik (Geigges
3 sche et al. 2006) fanden sich insgesamt 9 kontrol- 2002). Unter reflektierter Kasuistik wird die An-
lierte Studien, bei denen der Hausarzt selbst die wendung des Metamodells einer integrierten psy-
psychosozialen Interventionen durchführte. In chosomatischen Medizin in der medizinischen
den  meisten Studien zeigten sich die psychoso- Praxis verstanden. Die Praxis soll dabei von der
zialen hausärztlichen Interventionen wirksamer Theorie her und die Theorie von der Praxis her
als  eine Routineversorgung bzw. eine Plazebobe- transparent gemacht werden, sodass das theore-
handlung und genauso wirksam wie eine psycho- tische Modell ein »lernendes Modell« bleibt. Zen-
pharmakologische Behandlung. Insgesamt waren trale Fragen im Sinne einer reflektierten Kasuis-
die erzielten klinischen Effekte meistens klein und tik sind:
kurzzeitig. Studien mit spezifischen Therapiean- 4 Besteht eine Passung zwischen dem Behand-
sätzen bei spezifischen Störungen (z. B. spezifische lungsmodell des Arztes und der Erkrankung
Therapiemanuale für somatisierende Patienten) des Patienten bezogen auf die Systemebenen?
zeigten die beste Wirksamkeit. Bei der Erzielung Besteht also z. B. keine Passung zwischen
von stärkeren Effekten durch psychosoziale Inter- einem primär psychotherapeutischen Behand-
vention des Hausarztes tauchen zwei grundsätzli- lungsmodell des Arztes und einem akuten
che Probleme auf: die eingeschränkte Zeit und die Myokardinfarkt seines Patienten?
konkurrierenden Aufgaben des Hausarztes in der 4 Mit welchem Modell beschreibt der Behan-
Primärversorgung (z. B. gleichzeitige Behandlung delnde die Probleme des Patienten?
von organischen Krankheiten, medizinische Not- 4 Welche anderen Problembeschreibungen sind
fälle). Aus diesen Ergebnissen lassen sich zukünf- möglich?
tige Ziele der psychosomatischen Grundversor- 4 Welche sind der Erkrankung angemessen
gung ableiten: (pragmatische bzw. kommunikative Realitäts-
4 Die konzeptuelle Weiterentwicklung von konstruktionen)?
kurzen strukturierten psychosozialen Inter- 4 Wie sieht die Passung aus zwischen Patient
ventionen für die häufigsten psychosoma- und Behandler im Hinblick auf die Therapie-
tischen Störungen, die im Rahmen der Haus- ziele und die damit einhergehenden Aufgaben
arztpraxis bei oft begrenztem Zeitrahmen und (Behandlungsauftrag)?
eher psychotherapiefeindlichen Organisations- 4 Gibt es eine Passung in der Sichtweise der
strukturen angewendet werden können. Erkrankung zwischen Patient und Behandler?
4 Die Identifizierung von Kernkomponenten, die Gelingt eine kommunikative Abstimmung?
allen psychotherapeutischen Interventionen Lässt sich der Aufbau einer gemeinsamen
gemeinsam sind, z. B. die Qualität der thera- Wirklichkeit erkennen?
peutischen Beziehung, die Entwicklung eines 4 Gibt es eine Passung zwischen der therapeu-
Problemverständnisses beim Patienten, die tischen Beziehung, die vom Patienten ange-
Unterstützung des Patienten bei der Verände- strebt bzw. vom Arzt angeboten wird?
rung von Verhaltens- und Denkschemata und 4 Besteht eine Passung zwischen behandelndem
beim Umgang mit belastenden Emotionen. Arzt und anderen »Behandlern« (z. B. Stations-
Die Hauptunterschiede zwischen Hausarzt team, Hausarzt, Familie, soziale Dienste) dem
und Fachpsychotherapeut wären die Ziele der Patienten gegenüber (kommunikative Team-
Interventionen (z. B. Psychoedukation, kurz- integration oder additives Nebeneinander)?
zeitige emotionale Entlastung, Motivierung für 4 Bestehen konkurrierende Aufträge und Be-
Psychotherapie), der begrenzte Zeitrahmen handlungsstrategien?

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
Literatur
29 3
Literatur

Autorengruppe Psychosomatische Grundversorgung (1999)


In: Curriculum Psychosomatische Grundversorgung.
2. Auflage 2001. Hrsg.: Bundesärztekammer – Arbeits-
gemeinschaft der deutschen Ärztekammern
Christian P, Haas R (1949) Wesen und Formen der Bipersona-
lität. Beiträge aus der Allgemeinen Medizin. Heft 7. Klett,
Stuttgart
Fritzsche K, Burghardt HM, Schweickhardt A, Wirsching M
(2006) Was bewirken hausärztliche Interventionen bei
Patienten mit psychischen Störungen. Z Psychosom Med
Psychother 52: 4–22
Geigges W (2002) Reflektierte Kasuistik als Instrument der
Forschung und Lehre einer Integrierten Medizin in Uex-
küll, Geigges, Plassmann (Hrsg.) Integrierte Medizin 2002,
Schattauer, Stuttgart
Loh A, Simon D, Kriston L, Härter M (2007) Patientenbeteili-
gung bei medizinischen Entscheidungen: Effekte der
Partizipativen Entscheidungsfindung aus systemischen
Reviews. Dt. Ärzteblatt 104 (21)
Retzer A (1995) Sprache und Psychotherapie. Psychothera-
peut 40: 210–221
Rogers CR (1973) Entwicklung der Persönlichkeit. Psycho-
therapie aus Sicht eines Therapeuten. Klett, Stuttgart
Sontag S (2003) Krankheit als Metapher. Fischer, Frankfurt a. M.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
31 II

Der Erstkontakt:
Erkennen psychosozialer
Belastungen und
Therapieplanung
Kapitel 4 Beziehungsgestaltung – Herstellen einer
gemeinsamen Wirklichkeit – 33
Kurt Fritzsche, Dietmar Richter, Dietrich Noelle

Kapitel 5 Gesprächsführung – Ver-hören zum Zuhören – 41


Kurt Fritzsche, Dietmar Richter, Christine Burbaum

Kapitel 6 Die biopsychosoziale Anamnese – 55


Kurt Fritzsche, Christine Burbaum

Kapitel 7 Das Paar- und Familiengespräch – 63


Werner Geigges, Dietrich Noelle, Michael Wirsching

Kapitel 8 Was wirkt? – Allgemeine Wirkfaktoren


ärztlicher Intervention – 75
Kurt Fritzsche, Daniela Wetzel-Richter

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
33 4

Beziehungsgestaltung –
Herstellen einer gemeinsamen
Wirklichkeit
Kurt Fritzsche, Dietmar Richter, Dietrich Noelle

4.1 Arzt und Patient im Annäherungsprozess – 34

4.2 Einstellungen und Techniken, die sich bewährt haben – 34


4.2.1 Empathie – 34
4.2.2 Echtheit – 34
4.2.3 Bedingungslose Wertschätzung – 35
4.2.4 Innehalten, Geduld haben, abwarten – 35
4.2.5 Die Kunst des Zuhörens – 35
4.2.6 Fragen – 36
4.2.7 Die Person des Arztes als diagnostisches Instrument
und als Medikament – 37

4.3 Formen der Arzt-Patient-Beziehung – 37


4.3.1 Das paternalistische Modell – 38
4.3.2 Das Dienstleistungs- oder Konsumentenmodell – 38
4.3.3 Das partnerschaftliche Modell – 39

Literatur – 40

K. Fritzsche et al. (Hrsg.), Psychosomatische Grundversorgung,


DOI 10.1007/978-3-662-47744-1_4, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
34 Kapitel 4 · Beziehungsgestaltung – Herstellen einer gemeinsamen Wirklichkeit

4.1 Arzt und Patient im Annähe- 4.2 Einstellungen und Techniken,


rungsprozess die sich bewährt haben

Die Qualität der Arzt-Patient-Beziehung ist ein ent- 4.2.1 Empathie


scheidender Faktor für den Erfolg einer Behand-
lung. Die Qualität einer Arzt-Patient-Beziehung Die von Carl R. Rogers begründete humanistische
wird im Wesentlichen bestimmt durch das Ver- Gesprächspsychotherapie beschreibt 3 Grundhal-
ständnis, das der Patient erfährt und das Vertrauen, tungen: Empathie (Einfühlungsvermögen), Kon-
4 das sich dadurch gegenseitig entwickeln kann. gruenz (Echtheit) und unbedingte (bedingungslo-
se) Wertschätzung (Rogers 1983). Empathie bedeu-
» Eine vertrauensvolle, als hilfreich empfundene
tet: »sich in den Bezugsrahmen des anderen einzu-
Beziehung zwischen Arzt und Patient ist die
fühlen als wäre es der eigene«. Empathie bedeutet
Grundlage jeder medizinischen Behandlung.
demnach, zu begreifen warum jemand weint, war-
Der Arzt kommt regelmäßig und oft als einzi-
um jemand nicht in eine Operation einwilligt oder
ger mit Konflikten, Ängsten und Nöten in Kon-
warum jemand lieber naturkundliche Behand-
takt, welche die Menschen aller Altersgruppen,
lungsverfahren bevorzugt. Empathie bedeutet, dem
Schichten und Nationalitäten als Folge oder
Patienten zu zeigen, dass der Arzt an ihm interes-
Ursache körperlicher oder seelischer Leiden
siert ist, dass er das persönliche Erleben des Patien-
beschweren. (Abschlussbericht des Murrhard-
ten und dessen Beweggründe, in einer bestimmten
ter Kreises, 3. Auflage 1995)
Art zu handeln, verstehen möchte. Dieses Interesse
Was geschieht, wenn Arzt und Patient, also zwei kommt durch Äußerungen zum Ausdruck wie:
Menschen mit einer jeweils individuellen Lebensge- »Das möchte ich gerne näher verstehen«, »Was ver-
schichte und oft ganz unterschiedlichen Erwartun- binden Sie damit?« oder »Können Sie mir erklären,
gen, Wünschen und Vorgaben in der Arztpraxis woher Ihre Meinung kommt?«
oder im Krankenhaus aufeinander treffen? Zunächst
wissen beide noch wenig voneinander. Der Patient
ist vielleicht verunsichert über seine Beschwerden 4.2.2 Echtheit
und sucht Orientierungshilfe beim Arzt. Der Arzt ist
ohne Anamnese und diagnostische Maßnahmen Echtheit bedeutet, eine professionelle Haltung zu
meistens nicht in der Lage, auf Anhieb zu sagen, was finden, die der eigenen Persönlichkeit gerecht wird.
dem Patienten fehlt. Auch er braucht Orientierungs- Diese Haltung beantwortet Fragen wie: »Darf ich
hilfen, um sich gemeinsam mit dem Patienten der mit dem Patienten weinen, wenn mich deren
noch unerkannten Erkrankung zu nähern. Schicksal traurig macht?«, »Darf ich meine Sorgen
Arzt und Patient beginnen nun, sich zu verstän- zeigen, wenn ich einem Patienten doch eigentlich
digen, knüpfen Beziehungsfäden und versuchen die Entscheidung für eine Behandlung überlassen
eine gemeinsame Sprache zu finden. Es kommt dar- will?« oder »Wie gehe ich mit Abscheu um, die ich
auf an, diesen Annäherungsprozess so zu gestalten, bei bestimmten Verhaltensweisen von Patienten
dass sich Wege in das unbekannte Land des Patien- empfinde?«.
ten und seiner Erkrankung öffnen, ohne im Dickicht Wer echt ist, muss solche Reaktionen nicht
der Fülle der Informationen und der losgetretenen zwangsläufig verstecken. Der Arzt ist allerdings in
Emotionen hängenzubleiben oder durch vorschnel- der Pflicht, die eigenen Regungen nicht zur Ent-
le Schlüsse und Festlegungen sich selbst Wege zu scheidungsgrundlage bei behandlungsrelevanten
verbauen. Fragen werden zu lassen. Der Arzt hat die Verant-
Im Folgenden werden Einstellungen und Tech- wortung für den Gesprächsverlauf und für den Be-
niken beschrieben, die den Erstkontakt zwischen handlungsprozess. Er kehrt auf die sachliche Be-
Arzt und Patienten erleichtern. Weitere Informatio- handlungsebene zurück. Durch das Erleben, dass es
nen zur Begrüßung und Beziehungsgestaltung fin- sich auch beim Arzt um einen Menschen handelt,
den sich in 7 Kap. 6 »Die biopsychosoziale Anamnese«. wird eine andere und offenere Form der Bezie-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
4.2 · Einstellungen und Techniken, die sich bewährt haben
35 4
hungsgestaltung möglich. Für viele Ärzte ist es seine Sorgen darüber an. Anstatt aber nun zu Blut-
obendrein eine Erleichterung, zu merken, dass Pro- abnahme und Blutdruckmessung zu schreiten, hält er
fessionalität und Menschlichkeit sich nicht aus- einen Moment inne und fragt: »Gibt es sonst noch
schließen. etwas?« Es entsteht eine kurze Pause. Danach berich-
tet der Patient mit bedrückter Stimme, dass er sich
große Sorgen um seine Ehefrau mache, die schon seit
4.2.3 Bedingungslose Wertschätzung 2 Wochen wegen eines schweren Hüftleidens im Kran-
kenhaus liege. Ohne diese Frage und das Abwarten
Die bedingungslose Wertschätzung ist eine Hal- hätte sich dieser neue Weg zum Verständnis der Be-
tung, die ihre Begründung darin erfährt, dass es schwerden des Patienten nicht eröffnet und Diagnos-
vielen Menschen peinlich ist, wenn sie Schwächen tik und Therapie wären auf der körperlichen Ebene
ansprechen. Es bedeutet, dem anderen zu signalisie- stehengeblieben. In seinem kurzen Innehalten spürte
ren, dass er als Person auch dann noch geschätzt der Arzt, dass der Patient im Gegensatz zu sonst be-
und ernst genommen wird, wenn er in einigen Be- drückter und zurückgezogener wirkte. Seine Körper-
reichen den eigenen Ansprüchen oder denen ande- haltung war leicht gebeugt und seine Stimme belegt.
rer nicht genügt. Bedingungslose Wertschätzung Der Arzt spürte bei sich selbst eine Traurigkeit und
bedeutet dabei nicht, die Meinung des Patienten zu hatte das Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung war.
teilen oder gutzuheißen. Es bedeutet lediglich, zu
respektieren, dass es Gründe für die Meinung oder
das Verhalten gibt. Hinter einer ausländerfeindli- 4.2.5 Die Kunst des Zuhörens
chen Meinung kann die eigene Angst stehen, den
Arbeitsplatz zu verlieren, hinter einer Selbstaufgabe Zuhören ist ein aktiver Prozess, der vom Arzt Of-
kann ein schweres Schicksal stehen. fenheit, zugewandtes Interesse und eine ungeteilte
Aufmerksamkeit voraussetzt. Es ist ein »Hören mit
dem dritten Ohr«, ein Zuhören durch »alle Poren
4.2.4 Innehalten, Geduld haben, der Haut« (. Abb. 4.1).
abwarten Es ist vergleichbar mit den zwei verschiedenen
Ohren der Fledermäuse. Mit einem Ohr hören sie
Innehalten bedeutet, nach der ersten Schilderung ihr eigenes lautes Schnattern. Im Ohr befindet sich
der Beschwerden durch den Patienten zunächst jedoch noch ein weiteres Hörorgan, mit dem sie das
3 sec zu schweigen. Dies ist besonders schwierig für leise Echo, das von der Wand zurückkommt, gegen
Ärzte, die gewohnt sind, schnell zu diagnostizieren die sie nicht prallen wollen, hören. Dieses Echolot-
und zu behandeln. Eine schnelle Lösung wird es bei verfahren können auch wir Menschen entwickeln
psychosozialen Problemen in der Regel nicht geben. und trainieren. Zuhören und gleichzeitig beobach-
Das Abwarten ist aber alles andere als Untätigkeit. ten gehört zusammen: Wie ist der Patient gekleidet,
Es ist eine Konzentration auf den Patienten und auf wie ist seine Körperhaltung, sein Gesichtsausdruck?
die eigenen Gefühle und Gedanken. In diesem Zu- Wie sind seine Gesten, seine Stimme und seine Art
stand kann sich der Patient mehr und mehr entfal- des Sprechens, wie reguliert er Nähe und Distanz?
ten und den Arzt auf zunächst nicht sichtbare Wege Zuhören meint ferner, nicht vorschnelle Schlüsse
hinweisen. aus den Äußerungen des Patienten zu ziehen, die
Symptome und Beschwerden nicht sofort in ein
Fallbeispiel diagnostisches System einzuordnen. Eine Ge-
Ein Patient mit koronarer Herzkrankheit und Bluthoch- sprächsführung im Sinne eines Verhörs macht
druck kommt zum Hausarzt, weil er sich nicht wohl- den Patienten eher stumm und passiv.
fühlt. Er selbst meint, dass es mit seinem Herzen zu- Zuhören kann dabei schon in Minuten oder gar
sammenhängt und bittet den Arzt um eine Blutdruck- Sekunden wirksam werden. Es geht hierbei nicht
messung und Laboruntersuchung. Der Hausarzt hört um die real zur Verfügung stehende Zeit, sondern
sich zunächst die Beschwerden des Patienten und um die Haltung gegenüber dem Patienten.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
36 Kapitel 4 · Beziehungsgestaltung – Herstellen einer gemeinsamen Wirklichkeit

ein aktiver Prozess, der genaues Hinhören und gu-


tes Beobachten braucht.

4.2.6 Fragen

Üblicherweise beginnt der Arzt bei der Anamnese-


erhebung zunächst mit allgemeinen Fragen und
4 benutzt die Antworten des Patienten, um eine zuvor
gestellte Hypothese über die Ursache der Beschwer-
den zu überprüfen. Damit betritt er eine Art Ein-
bahnstraße, in der der Patient wenig Spielraum hat.
Balint sagt dazu lapidar: »Wer Fragen stellt, erhält
Antworten, aber sonst nicht viel« (Balint 1965). Das
meint nicht, dass keine Fragen gestellt werden sol-
len. Aber die Fragen sollten sich aus den Mitteilun-
gen des Patienten ergeben und auf die Klärung die-
ser Mitteilungen zielen. Fragen sollen den Patienten
anregen, selbst weitere wichtige Beobachtungen
und Gedanken zu seinen Beschwerden zu äußern.
Die Fragen sollen aber immer so gestellt werden,
dass sie das Gespräch zwischen Arzt und Patient
. Abb. 4.1 Hören mit dem dritten Ohr nicht einengen. Der Arzt sollte deshalb seine Neu-
gierde zügeln und nicht versuchen, gegen den Wi-
derstand des Patienten in ihn einzudringen. Neu-
Ein Arzt-Patient-Gespräch gierde ist wichtig, aber sie sollte aus einer Haltung
Patientin: »Also wissen Sie, wenn es mir schlecht der Loyalität und einem Respekt vor dem anderen
geht, kann ich meist nicht mit einem anderen darü- Menschen erfolgen.
ber sprechen«. Bei jeder Anamnese bleiben offene Fragen und
Arzt: »Warum denn nicht?« »weiße Flecken« zurück. Diese »weißen Flecken«
Patientin: »Aus Angst, der andere könnte mir helfen sind ebenfalls aufschlussreich um den Patienten zu
wollen.« verstehen. »Auch was fehlt, muss ausdrücklich fest-
Arzt: »Was wünschen Sie sich denn stattdessen?« gehalten und bewertet werden« (Balint 1965).
Patientin: »Ich wünsche mir als den anderen jeman-
den, bei dem ich sicher sein kann, dass er mir unend- Fallbeispiel
lich lange zuhört, nämlich solange, bis ich durch Im Rahmen der psychosozialen Anamnese fällt auf,
mein Sprechen selbst darauf komme, was mir fehlt dass der Patient sehr ausführlich über die Beziehung
und was ich zu tun habe.« (Dörner 2002) zu seinen Eltern und die schwierige Situation an sei-
nem Arbeitsplatz spricht, weiter seine beiden Söhne
Die Einstimmung des Arztes auf den Patienten erwähnt, aber die Ehefrau in den Schilderungen nicht
nannte Balint »tuning-in«. Wenn der Arzt bei sich vorkommt. Auch auf wiederholtes Nachfragen hin
selbst entdeckt, dass er seinen Patienten zuhören kann sich der Arzt kein konkreteres Bild von der Frau
kann und auch das kaum Gesagte noch erfasst, wird und der Partnerbeziehung des Patienten machen.
die Folge sein, dass er beginnt sich selbst in dersel- Später zeigte sich, dass dieses »Nichtvorkommen«
ben Weise zuzuhören und sich als diagnostisches der Ehefrau in der Anamnese ein Zeichen der Ent-
Instrument zu entdecken. Eine solche Einstellungs- fremdung zwischen den Partnern war.
änderung braucht Zeit. Zuhören erfordert vom Arzt
zunächst sich selbst zurückzunehmen. Zuhören ist

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
4.3 · Formen der Arzt-Patient-Beziehung
37 4
Fallbeispiel Gefühle, mit denen der Arzt auf den Patienten
Ein junger Patient mit immer wieder auftretenden reagiert, beeinflussen sein Verhalten zum Patienten.
krampfartigen Oberbauchschmerzen ohne aus- Es ist unmöglich, ein neutraler Beobachter zu sein:
reichenden Organbefund erzählt ausführlich von Die eigene Subjektivität prägt die Gesprächsfüh-
seiner Mutter, erwähnt aber den Vater mit keinem rung. Wenn der Arzt den Patienten sympathisch
Wort. Der Arzt macht sich dazu eine kurze Notiz und findet, wird er anders reagieren, als wenn er sich
erfährt in einem späteren Gespräch, dass die Eltern von ihm genervt und attackiert fühlt. Der Arzt wird
sich schon kurz nach der Geburt getrennt haben auf ausschweifende Schilderungen eines Patienten
und der Patient bis heute noch keinen Kontakt zu anders reagieren als auf subtile erotische Reize einer
seinem Vater, den er nur aus Erzählungen kennt, weiblichen Patientin. Er wird Angebote seiner Pa-
aufgenommen hat. tienten aufgreifen, verwerfen oder übersehen. Er
wird Fragen stellen oder sich zurückhalten. Er wird
Näheres zur Fragetechnik findet sich im 7 Kap. 5 sich durch den Patienten inspiriert oder gelähmt
über Gesprächsführung. fühlen. Er wird feststellen, dass ihm das Verhalten
oder das Problem des Patienten unklar bleibt, oder
dass er im Kontakt mit dem Patienten nervös, unsi-
4.2.7 Die Person des Arztes als cher oder gelangweilt reagiert. Das heißt, der Arzt
diagnostisches Instrument und wird die Erfahrung machen, dass sein Verhalten
als Medikament anfällig ist für Eindrücke, die der Patient in ihm
auslöst.

» Sehr bald enthüllte die Diskussion – gewiss


Fallbeispiel
nicht zum ersten Mal in der Geschichte der Me-
Eine ältere Patientin in schlechtem Ernährungs- und
dizin –, dass das bei weitem am häufigsten ver-
Allgemeinzustand wird wegen einer Pneumokokken-
wendete Medikament in der Allgemeinarztpra-
sepsis auf der Intensivstation beatmet. Sie entwickelt
xis der Arzt selbst ist. Nicht nur auf den Tropfen
eine Angststörung und weigert sich, sich von der Be-
in der Flasche oder die Pillen in der Schachtel
atmung entwöhnen zu lassen. Der diensthabende
kommt es an, sondern auch darauf, wie der
Anästhesist fühlt sich in der Nachtschicht hilflos und
Arzt sie seinem Patienten gibt – eigentlich auf
ohnmächtig und stellt mit dem Affekt »die werde ich
die ganze Atmosphäre, in der ein Medikament
zwingen zu atmen« das Beatmungsgerät ab. Darauf
verordnet und genommen wird. (Balint 1955)
gerät die Patientin in Panik, wird zyanotisch und
In einer Übersichtsarbeit zu Kontextfaktoren des muss schnell wieder intensiv beatmet werden. Die
Behandlungsergebnisses hatten Ärzte, die emotio- zuvor schon erzielten kleinen Fortschritte bei der
nales Einfühlungsvermögen mit sicherem Auftre- Entwöhnung wurden damit wieder zunichte ge-
ten und verständlicher Information verbanden, macht.
bessere Therapieergebnisse im Vergleich zu eher
unbeteiligt, unpersönlich, formal und vage auftre-
tenden Kollegen (Di Blasi et al. 2001). 4.3 Formen der Arzt-Patient-
Sowie der Arzt bei der Untersuchung des Her- Beziehung
zens sein Stethoskop und bei der Untersuchung des
Abdomens den Ultraschall benutzt, so können seine Im Kern ist und bleibt die Beziehung zwischen Arzt
eigenen gefühlsmäßigen Reaktionen ihm in dem und Patient aufgrund eines grundlegenden Infor-
Gespräch mit dem Patienten etwas über diesen Pa- mations- und Kompetenzunterschiedes asymme-
tienten mitteilen, was keine andere diagnostische trisch. Die Asymmetrie verstärkt sich wegen rasan-
Methode in Erfahrung bringen kann. Sein eigenes ter Weiterentwicklungen in der Medizin. Sie verrin-
Befinden, seine Gedanken, seine Phantasien sind gert sich durch neue Informationsquellen (Internet)
wie der Klang eines Resonanzkörpers, der durch das und bei Patienten mit hohem Bildungsniveau. Das
Gespräch in Schwingungen versetzt wird. erfordert vom Arzt eine hohe Flexibilität und ein

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
38 Kapitel 4 · Beziehungsgestaltung – Herstellen einer gemeinsamen Wirklichkeit

. Tab. 4.1 Vor- und Nachteile des paternalistischen Modells

Vorteile Nachteile

Befunderhebung bleibt kurz und durch geschlossene Durch Fokussierung auf die somatischen Zusammenhänge
Fragen kalkulierbar der Hauptsymptomatik werden zusätzliche Diagnosen
Irritationen durch zusätzliche Informationen werden oder weitere für die Behandlung wichtige Informationen
vermieden oftmals übersehen

4 Bei eindeutiger Diagnose kann in vergleichsweise


kurzer Zeit dem Patienten die optimale Behandlung
Mangelnde Compliance der Patienten und dadurch
schlechtere Behandlungsergebnisse
zukommen

Geeignet bei Patienten, die einen paternalistischen Arzt Manche Patienten bauen erst dann Vertrauen auf, wenn
erwarten und großes Vertrauen mitbringen sie sich persönlich und nicht nur als kranken Körper wahr-
genommen und beachtet fühlen

ausgesprochen gutes Gespür für den individuellen . Tab. 4.1 legt die Vor- und Nachteile des pater-
Patienten. nalistischen Modells dar.

4.3.1 Das paternalistische Modell 4.3.2 Das Dienstleistungs- oder


Konsumentenmodell
Das paternalistische Modell entspringt dem hippo-
kratischen Denken. Demnach ist der Arzt kraft sei- Die ärztliche Versorgung wird zur Dienstleistung.
ner (väterlichen) Autorität in der Lage über den als Daraus wurde die Forderung abgeleitet, den Arzt als
unmündig erachteten Patienten hinweg, zum Bes- Dienstleister und den Patienten als Kunden zu se-
ten des Patienten zu entscheiden und zu handeln. hen. Der Arzt ist in diesem Modell Experte, die Ent-
Hier weiß der Arzt als medizinischer Experte, was scheidungskompetenz bleibt beim Patienten. Die
für den Patienten richtig ist. Er missachtet die Auto- Rolle des Arztes beschränkt sich darauf, dem
nomie des Patienten, aus der Überzeugung, dass Patienten die nötigen Informationen zu geben und
dies zu dessen Wohle geschieht. Der Patient bleibt die vom Patienten getroffenen Entscheidungen aus-
passiv. zuführen. Da die Haftung für die Behandlung beim
Für das Gespräch zwischen Arzt und Patient Arzt bleibt, sind die Regeln der ärztlichen Kunst
bedeutet dies, dass der Arzt die Themen festlegt, einzuhalten. Nicht alles was der »Kunde Patient«
über die gesprochen wird. Das Gespräch dient dazu, begehrt, darf oder muss der Arzt ausführen.
diagnostische Kriterien abzufragen, die nicht durch Im Arzt-Patient-Gespräch steht die Zufrieden-
die Untersuchung direkt beobachtet werden kön- heit des Patienten im Mittelpunkt. Die Grundhal-
nen. Im Zentrum steht der somatische Befund. tung des Patienten ist die des Misstrauens, die der
Häufig werden die Beschwerden mit geschlossenen Arzt durch freundliche und kompetente Beratung
oder standardisierten Fragen eingekreist. Bei der zu überwinden sucht. Der Arzt befriedigt damit
Behandlung kann sich der Arzt im Rahmen dieses auch die Bedürfnisse des Patienten nach Entschei-
Modells optimal am wissenschaftlichen Standard dungsfreiheit, Selbständigkeit, Informiertheit und
orientieren. Er bringt sein Expertenwissen ein und respektvoller Zuwendung. Der Patient hat das
die Behandlungsvorschläge orientieren sich an der Recht, Forderungen zu stellen; der Arzt hingegen
Fachexpertise. Die aus dem Befund abgeleitete Be- sollte auch dann noch freundlich bleiben, wenn der
handlung wird dem Patienten mehr oder weniger Patient diese übertrieben vorträgt.
nur mitgeteilt. Die Mitarbeit des Patienten im Sinne Vor- und Nachteile des Dienstleistungsmodells
der Einhaltung ärztlicher Anweisungen wird vor- sind in . Tab. 4.2 zusammengestellt.
ausgesetzt.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
4.3 · Formen der Arzt-Patient-Beziehung
39 4

. Tab. 4.2 Vor- und Nachteile des Dienstleistungsmodells

Vorteile Nachteile

Zufriedenheit des Patienten wird berücksichtigt Starke Orientierung an Zufriedenheit des Patienten birgt
Patient kann auch über Dinge sprechen, die vermeint- Gefahr, dass Behandlungen durchgeführt werden, die
lich nicht zur Erkrankung gehören nicht indiziert sind

Arzt befriedigt in stärkerem Maße soziale Bedürfnisse Arzt muss den Patienten oft gegen seinen Willen mit
unliebsamen, aber notwendigen Entscheidungen kon-
frontieren

Complianceprobleme werden seltener, Patient über- Der enttäuschte, unzufriedene oder verärgerte Patient
nimmt von vornherein Verantwortung für seine Be- wendet sich womöglich an einen anderen Arzt, der ihm
handlung seine Wünsche erfüllt, auch wenn es dafür keine vernünf-
tigen Gründe gibt

Besonders Menschen mit starkem Bedürfnis nach Viele Patienten wollen ihren Arzt nicht als technischen
Autonomie sind mit dieser Beziehungsgestaltung Experten sehen, sie erwarten eine emotionale Anteil-
zufrieden nahme

4.3.3 Das partnerschaftliche Modell Gespräch mit seinem Arzt einbringen. Beide bemü-
hen sich gemeinsam, die bestmögliche Lösung zu
Das partnerschaftliche Modell geht von der koope- finden (»shared decision making«, s. nachfolgende
rativen Leistung zweier gleichberechtigter Partner Übersicht). Der Patient hat das Recht, jede Behand-
aus. Nur wenn beide zusammenarbeiten und sich lung abzulehnen, wenn er dies im vollen Bewusst-
ergänzen, kann die Behandlung zum Erfolg führen. sein der Konsequenzen tut. Der Arzt muss dies ak-
Der Patient wird als mündiger Mensch respektiert, zeptieren. In diesem Aushandlungsprozess sind
der seine Lebensentscheidungen eigenverantwort- Arzt und Patient gemeinsam für alle Entscheidun-
lich trifft (Autonomieprinzip). Der Arzt ist der Ex- gen verantwortlich. Dies gilt auch, wenn einer oder
perte. Seine Aufgabe ist, den Patienten so aufzuklä- beide sich etwas anderes vorgestellt oder für wün-
ren, dass dieser zur begründeten Entscheidung be- schenswert gehalten hätten.
fähigt wird. Der Patient kann, darf und soll in die- . Tab. 4.3 weist auf die Vor- und Nachteile des
sem Modell eigene Fragen und Standpunkte in das partnerschaftlichen Modells hin.

. Tab. 4.3 Vor- und Nachteile des partnerschaftlichen Modells

Vorteile Nachteile

Patient übernimmt Verantwortung, Compliance- Schwierige Aufgabe für den Arzt, den Patienten so
probleme werden so umgangen aufzuklären, dass er die Eigenverantwortung auch tragen
Arzt wird entlastet, da er in schwierigen ethischen kann
Fragen nicht die Entscheidung übernehmen muss

Spätere Behandlung verkürzt sich durch aufgebautes Partnerschaftliches Vorgehen benötigt viel Zeit zur
Vertrauen Anamnese
Unvergüteter Mehraufwand erfordert Idealismus aufseiten
des Arztes

Besonders sinnvoll bei einer längeren Begleitung von


Patienten

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
40 Kapitel 4 · Beziehungsgestaltung – Herstellen einer gemeinsamen Wirklichkeit

Literatur
»Shared decision making«
Zitierte Literatur
Ziel ist eine gemeinsam getragene Entschei-
Balint M (1955) The doctor, his patient and the illness. The
dung zweier prinzipiell gleichberechtigter Lancet CCLXVIII, Vol. I, 683 - 688 (bisher nicht auf Deutsch
Partner. Um dies zu erreichen, müssen beide erschienen), zitiert nach C. Nedelmann, H. Ferstl (Hrsg)
Seiten bereit sein, eine gemeinsame Entschei- (1989) Die Methode der Balintgruppe. Klett-Cotta, Stutt-
dung zu suchen, relevante Informationen zu gart, S 94
Balint M (1965) The doctor’s therapeutic function. The Lancet
teilen und willens sein, eine Entscheidung zu
I, 1177–1180
4 treffen und zu akzeptieren. Deutsche Übersetzung in: C. Nedelmann, H. Ferstl (Hrsg)
Für die Patienten ist dabei wichtig, folgende (1989) Die Methode der Balintgruppe. Klett-Cotta, Stutt-
Informationen zu erhalten: gart, S 134
5 Grundlegende Informationen zur Erkran- Di Blasi Z, Harkness E, Ernst E, Georgiou A, Kleijnen J (2001)
kung Influence of context effects on health outcomes:
a systematic review. The Lancet 357: S 757–762
5 Informationen, um eine Vorstellung über
Dörner K (2002) Der gute Arzt. Lehrbuch der ärztlichen
die Prognose zu erhalten Grundhaltung. Schattauer, Stuttgart, S 44–51
5 Informationen, um Abläufe von Untersu- Robert-Bosch-Stiftung (Hrsg) (1995) Das Arztbild der Zukunft.
chungen und Behandlungen zu verstehen Analysen zukünftiger Anforderungen an den Arzt. Kon-
5 Informationen, um die Konsequenzen von sequenzen für die Ausbildung und Wege zu ihrer Reform.
Abschlussbericht des Arbeitskreises Medizinerausbil-
Untersuchungen und Behandlungen ein-
dung der Robert-Bosch-Stiftung – Murrhardter Kreis.
schätzen zu können Beiträge zur Gesundheitsökonomie 26, Bleicher, Ger-
5 Möglichkeiten der Unterstützung lingen
5 Möglichkeiten zur Vermeidung von Kom- Rogers CR (1983) Therapeut und Klient. Fischer, Frankfurt
plikationen
Weiterführende Literatur
Geisler LS (2008) Arzt und Patient – Begegnungen im
Der Arzt kann sich die Entscheidung des Gespräch, 5. Aufl. pmi, Frankfurt a. M.
Patienten in dessen Worten erklären lassen. Härter M, Loh A, Spies C (Hrsg.) (2005) Gemeinsam entschei-
Zur Unterstützung können Graphiken einge- den – erfolgreich behandeln. Deutscher Ärzte-Verlag,
setzt werden, die sowohl der anschaulichen Köln
Information als auch der Verdeutlichung von
Risiken dienen.

Es ist die Entscheidung eines jeden Arztes, welche


Anteile der beschriebenen Modelle er in sein profes-
sionelles Selbstverständnis aufnimmt. Das partner-
schaftliche Modell erfordert vom Arzt hohe Flexibi-
lität und die Fähigkeit zuzuhören. Die Entscheidung
für den schwierigeren Weg, dem Patienten flexibel
zu begegnen, wird langfristig mit dankbareren Pati-
enten und einer erhöhten Arbeitszufriedenheit ent-
lohnt.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
41 5

Gesprächsführung –
Vom Verhören zum Zuhören
Kurt Fritzsche, Dietmar Richter, Christina Burbaum

5.1 Bedeutung des ärztlichen Gespräches für Diagnostik


und Therapie – 42

5.2 Häufige Mängel und Fehler im Arzt-Patient-Gespräch – 42

5.3 Patientenzentrierte und arztzentrierte


Gesprächsführung – 42
5.3.1 Die patientenzentrierte Gesprächsführung – 43
5.3.2 Strukturierung des Gespräches – die arztzentrierte Gesprächs-
führung – 46

5.4 Umgang mit negativen Emotionen (Angst, Ärger, Wut) – 48


5.4.1 Mit welchem Ohr hört der Arzt? – 49
5.4.2 Umgang mit aggressiven Patienten – ein Deeskalationsmodell – 51

Literatur – 53

K. Fritzsche et al. (Hrsg.), Psychosomatische Grundversorgung,


DOI 10.1007/978-3-662-47744-1_5, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
42 Kapitel 5 · Gesprächsführung – Vom Verhören zum Zuhören

5.1 Bedeutung des ärztlichen 4 Unklare und missverständliche Erklärungen


Gespräches für Diagnostik zu Untersuchungsbefunden, Krankheitsdiagno-
und Therapie sen und therapeutischen Empfehlungen.
4 Vertikale Kommunikation: Der Arzt in der
Funktion als Lehrer – Festhalten an schul-
» Worte waren ursprünglich Zauber und das
medizinischem Wissen.
Wort hat noch heute viel von seiner alten
4 Zu rasche Psychologisierung des Problems bei
Zauberkraft bewahrt. Durch Worte kann ein
fehlendem psychosomatischem Krankheits-
Mensch den anderen selig machen oder zur
verständnis des Patienten.
Verzweiflung treiben, durch Worte überträgt
der Lehrer sein Wissen auf die Schüler, durch
5 Worte reißt der Redner die Versammlung der
5.3 Patientenzentrierte und
Zuhörer mit sich fort und bestimmt ihre Urteile
arztzentrierte Gesprächsführung
und Entscheidungen. Worte rufen Affekte her-
vor und sind das allgemeine Mittel zur Beein-
Für ein gelingendes und zufriedenstellendes Arzt-
flussung der Menschen untereinander. Wir
Patient-Gespräch ist es als Arzt notwendig, ver-
werden also die Verwendung der Worte in der
schiedene Formen und Phasen der Gesprächs-
Psychotherapie nicht geringschätzen und
führung zu kennen und anwenden zu können. Es
werden zufrieden sein, wenn wir Zuhörer der
werden patientenzentrierte und arztzentrierte
Worte sein können, die zwischen dem Analy-
Gesprächsphasen und -stile unterschieden: in pa-
tiker und seinem Patienten gewechselt wer-
tientenzentrierten Gesprächsphasen wird die
den. (Freud 1917)
Führung dem Patienten übergeben und dieser kann
Trotz einer immer weiter expandierenden Vielfalt seine Beschwerden, Anliegen, Sorgen oder Fragen
technischer Untersuchungsmethoden bleibt das entfalten und der Arzt hat dabei »nur« die Rolle
ärztliche Anamnesegespräch zusammen mit der inne, ihn darin zu unterstützen und zuzuhören. Vor
körperlichen Untersuchung das wichtigste diagnos- allem für die Erhebung einer biopsychosozialen
tische Instrument. Allein nach dem Anamnesege- Anamnese (7 Kap. 6) ist zu Beginn eine patienten-
spräch können 70 %, zusammen mit der körperli- zentrierte Gesprächsführung wichtig; ebenso in Ge-
chen Untersuchung 90 % aller Diagnosen richtig sprächssituationen, in denen ein Patient sehr belas-
gestellt werden. Die Kooperation des Patienten und tet ist oder psychosoziale Themen und Probleme
damit der Erfolg oder Misserfolg einer ärztlichen angesprochen werden. Umgekehrt ermöglicht eine
Behandlung hängen in hohem Maße von der Qua- patientenzentrierte Gesprächsführung dem Patien-
lität der Arzt-Patient-Kommunikation ab. ten überhaupt erst, Belastungen oder psychosoma-
tische Aspekte einer Erkrankung anzusprechen.
Andererseits ist es wichtig, dass der Arzt zur Er-
5.2 Häufige Mängel und Fehler fragung von Details der Symptomatik und/oder der
im Arzt-Patient-Gespräch Biographie des Patienten oder auch zu einer erfor-
derlichen Strukturierung des Gespräches, wieder
Häufige Fehler und Mängel im Arzt-Patient-Ge- die Führung übernimmt. Dies macht er mit Hilfe
spräch zeigt die folgende Aufstellung (Buddeberg einer arztzentrierten Gesprächsführung. Entspre-
et al. 2004): chend dem Thema eines Gespräches (Anamnese,
4 Unterbrechen von Schilderungen des Patien- Visitengespräch, Aufklärungsgespräch, Paar- und
ten, durchschnittlich nach 18 sec (Beckmann Familiengespräch) oder dem Setting (Arztzimmer,
u. Frankel 1984; Geisler 2008). Patientenzimmer, Notaufnahme, Hausbesuch)
4 Mangelnde Strukturierung des Gespräches. kann einmal eine mehr arztzentriert, ein andermal
4 Einengung des Patienten durch Suggestiv- eine mehr patientenzentrierte Gesprächsführung
fragen und geschlossene Fragen. erforderlich sein. Beide Partner, Arzt und Patient,
4 Nichteingehen auf emotionale Äußerungen. sollten am Gesprächsablauf derart partizipieren,

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
5.3 · Patientenzentrierte und arztzentrierte Gesprächsführung
43 5
5.3.1 Die patientenzentrierte
Gesprächsführung

» Zuhören bedeutet, sich in die Welt des ande-


ren Menschen hineinzuversetzen, zu ermög-
lichen, auf ausgesprochene und – noch
wichtiger – unausgesprochene Botschaften
zu reagieren. Zuhören bedeutet auch, sich
seiner eigenen Gefühle, Bilder, Phantasien
und Assoziationen gewahr zu werden
(Strupp 1996).
. Abb. 5.1 Cartoon: Schaukel. (Zeichnung: Peter Späth)
Das aktive Zuhören ist Teil der Gesprächspsycho-
therapie nach Rogers (Rogers 1983; Tausch u.
dass vergleichbar mit einem gemeinsamen Tanz, Tausch 1990). Rogers nennt 3 Grundhaltungen des
mal der Patient, mal der Arzt die Führung innehat. Therapeuten/Arztes, die dem Patienten helfen zu
Man kann sich auch das Bild einer Schaukel vor- wachsen, zu heilen oder sich zu entfalten: Eine un-
stellen. Am einen Ende sitzt der Arzt, am anderen bedingte Wertschätzung oder Akzeptanz des Pa-
Ende der Patient auf der Schaukel. Beide haben die tienten, ein empathisches, einfühlendes Verständ-
Möglichkeit, die Schaukel in ihrer Bewegung und nis für seine Probleme und eine »Echtheit des Arz-
Dynamik zu beeinflussen (. Abb. 5.1). Der Patient tes« im Sprechen und Verhalten (s. 7 Kap. 4 »Bezie-
hat zum Beispiel durch Schweigen oder Passivität hungsgestaltung – Herstellen einer gemeinsamen
im Gesprächsablauf die Möglichkeit, den Arzt qua- Wirklichkeit«). Diese Haltungen aus der humanisti-
si auf der Schaukel »verhungern zu lassen«. Ande- schen Psychotherapie sind für das ärztliche Ge-
rerseits kann der Arzt durch eine beispielsweise spräch von hoher Relevanz, da sie in der Arzt-Pa-
überaktive Gesprächsführung dem Patienten einen tient-Beziehung einen Raum entstehen lassen, in
unangenehmen Gesprächsrhythmus (Schaukelbe- dem der Patient sich und seine Beschwerden aus-
wegung) aufzwingen. drücken kann und sich verstanden fühlt. Die so ver-
. Tab. 5.1 zeigt eine Gegenüberstellung von pa- wirklichte Arzt-Patient-Beziehung ist in sich selbst
tientenzentrierten und arztzentrierten Gesprächs- dann heilend wirksam und unterstützt den Patien-
führungstechniken. ten in der Krankheitsbewältigung.

. Tab. 5.1 Techniken der patienten- und der arztzentrierten Gesprächsführung

Patientenzentriert Arztzentriert
Gesprächsführung übergeben Gesprächsführung übernehmen

Ausreden lassen Transparenz


Unterbrechen

Offene Fragen stellen Geschlossene Fragen stellen

Warten, Pausen Zeitrahmen benennen


Zur Weiterrede ermutigen

Echoing Eigene Themen einbringen


Paraphrasieren: Aufgreifen der Worte des Patienten Übergänge in der Gesprächsführung ankündigen
Auf evtl. Störungen vorbereiten

Zusammenfassen in eigenen Worten Metakommunikation


Spiegeln von Emotionen Gesprächsende ankündigen
Vereinbarungen treffen

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
44 Kapitel 5 · Gesprächsführung – Vom Verhören zum Zuhören

Die Haltungen spiegeln sich in der konkreten


Gesprächsführung des Arztes wider und werden im
Sinne von »Techniken« des aktiven Zuhörens be-
schrieben. Die Techniken erlauben es dem Arzt, den
Ball immer wieder an den Patienten zurückzuspie-
len, ihm genügend Raum zur Verfügung zu stellen,
damit er seine eigene Position einbringen kann.

jAusreden lassen
Lässt der Arzt den Patienten vor allem zu Beginn
5 der Anamneseerhebung ausreden, halten die meis-
ten Patienten das Kooperationsprinzip durchaus
ein. Sie fassen sich kurz und berichten die für sie
relevanten Dinge. In einer Untersuchung in einem
Schweizer Krankenhaus betrug die durchschnittli-
che Redezeit 92 sec.; 78 % der Patienten schlossen
ihre Berichte innerhalb von 2 min ab (Langewitz
2002). In der Untersuchung wurden die Ärzte auf-
gefordert, ihre Patienten nicht zu unterbrechen. Le-
diglich 7 von 335 Patienten sprachen länger als . Abb. 5.2 Cartoon: Pausen. (Zeichnung: Gisela Mehren)
5 min.
Das Ausredendürfen wird von den Patienten positiv
erlebt. Zudem kommen in einer zusammenhängen- die offene Frage ihren zur Erzählung auffordernden
den Erzählung die Beschwerden und Symptome des Charakter.
Patienten vollständiger zur Sprache und für den Pa-
tienten scheinbar nebensächliche Aspekte können jPausen machen
für die Diagnostik relevant sein. Dieses Wissen des Bei Gesprächspausen entsteht beim Arzt oft das
Patienten ist häufig nur schwer mit arztzentrierter Gefühl der Verlegenheit, als wisse er nicht weiter.
Gesprächsführung abfragbar. Gemeinsam mit dem hohen Zeitdruck erschwert
dies den Einsatz dieser Technik. Eine kurze Pause
jOffene Fragen stellen von etwa 3 sec hat sich aber als sehr wirksames Mit-
Als offene Fragen werden solche Fragen bezeichnet, tel erwiesen (. Abb. 5.2). In kurzen Phasen des
die nicht nur mit Ja, Nein (geschlossene Fragen) Schweigens fallen dem Patienten Dinge ein, die er
oder einem einzigen Wort (halboffene Fragen, Al- vergessen hat. Die bewusst eingesetzte Pause signa-
ternativfragen) beantwortet werden können. Offene lisiert dem Patient weiter zu erzählen, wenn es
Fragen laden dazu ein, umfassend alles Relevante noch etwas zu ergänzen gibt. Häufig kommen dann
zum befragten Themenkomplex zu berichten. Inhalte zur Sprache, bei denen der Patient bislang
Mit Hilfe von offenen Fragen gibt der Arzt dem gezögert hat, sie zu erzählen. Entgegen der Be-
Patienten Raum, er zeigt Interesse an Informatio- fürchtung, Pausen könnten den Arzt inkompetent
nen, die über den reinen Sachverhalt hinausgehen. erscheinen lassen, wirken Pausen eher entlastend
Je reflektierter, strukturierter und kommunikativer auf Patienten. Sie erleben es als angenehm kurz
ein Patient ist, desto mehr Fragen können offen ge- nachdenken zu können, erleben den Arzt als zuge-
stellt werden. Fehlen dem Patienten hingegen die wandt, ruhig und sicher.
Worte, kann es durchaus sinnvoll sein, ihm über A: »Sie hatten vorhin kurz Probleme in der Part-
geschlossene Fragen zu helfen (z. B. Adjektivlisten nerschaft angedeutet, möchten Sie dazu noch mehr
zur Erhebung der Schmerzqualität). Nach der offe- erzählen?«
nen Frage sollten keine weiteren Fragen angefügt P: »Mhm, ja. Es ist halt so, dass mein Mann sehr
oder Erklärungen gegeben werden, sonst verliert viel geschäftlich auf Reisen ist und wenn er mal zu

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
5.3 · Patientenzentrierte und arztzentrierte Gesprächsführung
45 5
Hause sein könnte, trifft er sich mit Freunden. Da P: »Neben den Bauchschmerzen fehlt mir zur-
bin ich halt meist alleine für die Kinder zuständig, zeit auch der Antrieb. Ich fühle mich ständig müde.«
schmeiße den Haushalt und Arbeiten tu ich ja auch A: »Ständig müde.«
noch, auch wenn es nur Teilzeit ist. Irgendwie bin P: »Ja, ich meine, ich trinke kaum Alkohol und
ich da schon unzufrieden, ja.« gehe meist früh ins Bett, schlafe aber sehr unruhig
A: »Mhm …« (3 sec Pause) und fühle mich meist den ganzen Tag wie gerädert.
P: »Um ehrlich zu sein, eigentlich bin ich sogar Wobei es morgens am schlimmsten ist, wenn ich
richtig sauer. Ich bekomme keinerlei Anerkennung aufstehen will.«
für meine Arbeit, es wird halt einfach vorausgesetzt, Als Technik angewandt, wirkt das Echoing für
dass das schon alles passt. Wenn es mir schlecht den Arzt selbst manchmal künstlich. Vom Gegen-
geht, dann interessiert es keinen, die Erika wird die über wird dies jedoch meist nicht bemerkt, sondern
Zähne schon zusammen beißen, so halt wie immer. er fühlt sich ermutigt weiterzureden.
Teilweise fühle ich mich wirklich wie ein Häufchen
Elend, dabei war ich früher das blühende Leben.« jParaphrasieren
A: »Das blühende Leben. ...« (3 sec Pause) Der Arzt übernimmt die Perspektive des Patienten
P: »Wissen Sie, es sollte mich auch nicht wun- und fokussiert mit der Paraphrase auf den Teil der
dern, wenn sich mein Mann nicht nur mit Freunden Patientenaussage mit dem größten Bedeutungsge-
trifft. So knackig wie früher bin ich nicht mehr, da halt. Der Arzt begleitet damit den Patienten verbal.
bin ich halt gerade noch gut genug für den Haushalt Bei guten Paraphrasen ergeben sich oft neue Blick-
und die Kinder. Nein, eine Unterstützung ist das winkel für den Patienten, da er sich verstanden fühlt
wirklich nicht.« und zudem für einen kurzen Moment die Möglich-
keit bekommt, sein eigenes Erleben besser zu ver-
jErmutigung zur Weiterrede stehen.
Nonverbale Zeichen wie leichtes Kopfnicken bei zö- P: »Könnten wir den nächsten Zyklus der
gerlichem Sprechen ermutigen den Patienten indi- Chemotherapie nicht verschieben?«
rekt weiterzureden. Der Blickkontakt signalisiert A: »Sie möchten gern eine längere Pause haben?«
Aufmerksamkeit und Interesse, eine zugewandte P: »Ja. Wissen Sie, die Sache ist die, meine
Körperhaltung unterstreicht die Präsenz des Arztes. Schwester wohnt in den USA und kommt in zwei
Durch den Blickkontakt können Sie auch erkennen, Wochen zu Besuch. Ich kann sie ja zurzeit nicht be-
ob ein Patient einen Sprecherwechsel wünscht oder suchen und die Medikamente machen mich so
noch über eine Frage oder ein Thema nachdenkt. müde. Na ja, das wäre schon doof, wenn sie da ist.«
Ein Sprecherwechsel wird zumeist über Blickkon- A: »Ah ja, Sie möchten nicht eingeschränkt sein,
takt eingeleitet, während das Nachdenken über per- wenn ihre Schwester da ist?«
sönliche Themen zumeist durch einen Blick nach P: »Ja genau. Eigentlich möchte ich gar nicht,
unten begleitet wird. dass sie so sehr mitbekommt, dass ich krank bin. Ich
Verbale Möglichkeiten den Gesprächsfluss des mein, sie weiß es natürlich, aber sie soll es halt nicht
Patienten zu fördern, sind kurze Äußerungen wie so mitbekommen.«
»mhm«, »O. K.« oder »ah ja«. A: »Mhm, Sie wollen nicht, dass Ihre Schwester
Sie krank erlebt.«
jEchoing P: »Ja, ich will kein Mitleid oder sonst was von
Echoing ist eine weitere Möglichkeit, zur Weiterre- ihr. Wissen Sie, ich bin die Ältere und ich war im-
de zu ermutigen. Hier werden einzelne Wörter auf- mer eher für sie da.«
gegriffen, die wörtlich wiederholt werden. Die Während die erste Paraphrase noch auf die Be-
Funktion ist ganz ähnlich wie ein einfaches »mhm«, handlung fokussiert, geht der Arzt in den folgenden
allerdings lenkt es die Aufmerksamkeit stärker. auf die Belastungen und persönlichen Hintergrün-
Es  fehlt aber jede Interpretation der Inhalte, da de der Patientin ein. Dadurch reflektiert die Patien-
hier  bewusst nicht nach anderen Worten gesucht tin die Hintergründe ihrer Ablehnung.
wird.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
46 Kapitel 5 · Gesprächsführung – Vom Verhören zum Zuhören

jZusammenfassen des Gesagten nicht sofort beruhigt und beschwichtigt oder das
Während der Arzt bei der Paraphrase nur die wich- Thema wechselt, sondern innehält und abwartet.
tigsten Teile aus der unmittelbar zuvor erhaltenen Dies stellt zunächst eine erhebliche Belastungsprobe
Botschaft aufgreift, bezieht sich das Zusammenfas- dar. Für den Patienten ist es in so einem Fall ent-
sen auf einen längeren Gesprächsabschnitt. Der scheidend, das verstehende Interesse und die ruhige
Arzt gibt mit eigenen Worten wieder, was er ver- Anteilnahme des Arztes zu spüren. Er erfährt da-
standen hat. Der Patient kann Informationen ergän- durch, dass solche heftigen Emotionen auch ausge-
zen, die er vergessen hat. halten werden können und nicht durch sofortige
A: »Ich möchte noch einmal zusammenfassen, Abwehrmanöver beantwortet werden müssen. Die
was Sie gesagt haben: Herzklopfen, Atemnot, Enge- Anteilnahme kann durch kleine Gesten, wie das Rei-
5 gefühl in der Brust und Schwindel traten auf, nach- chen eines Taschentuches, wenn der Patient weint,
dem Ihre Prüfung vorbei war.« unterstützt werden. Am Bett einer schwerkranken
P: »Dabei fällt mir ein, dass das Herzklopfen Patientin kann der Arzt z. B. ihre Hand halten.
und der Schwindel nach dem Kaffeetrinken anfin-
gen, als ich wieder allein war.«
Der Arzt kann die Mitwirkung des Patienten 5.3.2 Strukturierung des Gespräches –
noch verstärken, indem er nach der Zusammenfas- die arztzentrierte Gesprächs-
sung sich durch folgende Frage rückversichert: führung
»Habe ich das richtig verstanden?«
Zusammenfassungen sind zudem geeignete Der Arzt ist für den zeitlichen und organisatori-
Mittel, um zwischen zwei Gesprächsphasen überzu- schen Rahmen des Gespräches verantwortlich. Er
leiten oder das Ende des Termins anzukündigen, muss für die Diagnostik bestimmte Themen und
indem die wichtigsten Inhalte des Gesprächs zu- Details fokussieren und dafür das Gespräch lenken
sammengefasst werden. und steuern. Und er muss den Patienten über be-
stimmte Aspekte aufklären und gut strukturiert in-
jSpiegeln von Emotionen formieren.
Das Spiegeln von Emotionen ist der Paraphrase sehr
ähnlich. Allerdings bezieht sich das Spiegeln vor al- jTransparenz
lem auf emotionale Inhalte. Manchmal werden die- Transparenz stellt das grundlegende Instrument zur
se Emotionen direkt angesprochen, oftmals liegt Strukturierung und Wahrung des zeitlichen Rah-
dem Aufgreifen der Emotion aber eine Beobach- mens dar. Die nachfolgende Übersicht enthält ei-
tung der Körperreaktion, z. B. Ballen der Fäuste, nige Tipps, wie Transparenz hergestellt werden kann.
Abwenden des Blickes, zugrunde oder es bezieht
sich auf das, was zwischen den Zeilen gesagt wurde.
Das Aufgreifen emotionaler Äußerungen des Tipps zum Herstellen von Transparenz
Patienten soll im Sinne eines Vorschlags erfolgen, Transparenz zum Inhalt:
der den Patienten nicht einengt, sondern der von 5 Informieren Sie über die Behandlungs-
ihm abgelehnt oder korrigiert werden kann. schritte, die Sie für diesen Termin vorgese-
P: »Ich habe Angst, es könnte sich um einen bös- hen haben
artigen Tumor handeln.« 5 Geben Sie die notwendigen fachlichen
A: »Sie sind ängstlich und machen sich Sorgen, Informationen
was bei der Untersuchung herauskommt.« 5 Teilen Sie dem Patienten mit, warum Sie
P: »Meine Mutter ist vor drei Wochen tödlich etwas machen
verunglückt.« (weint) 5 Transparenz zum Rahmen:
A: »Es tut sehr weh, an dieses Ereignis zu den- 5 Weisen Sie auf mögliche Störungen hin
ken.« 5 Informieren Sie über den Zeitrahmen des
Nach einer intensiven und heftigen emotiona- Gesprächs
len Äußerung ist es besonders wichtig, dass der Arzt

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
5.3 · Patientenzentrierte und arztzentrierte Gesprächsführung
47 5
Das 1. Element ist sehr wichtig, es ist praktisch ein
Transparenz zu Gesprächsphasen: »Aufwecker«. In Situationen, in denen Patienten
5 Machen Sie deutlich, ob Sie von Ihrem ohne Punkt und Komma reden, haben sie den Kon-
Patienten längere Ausführungen oder kurze takt zu ihrem Gesprächspartner verloren. Diesen
Antworten erwarten Kontakt muss der Arzt erst wieder herstellen, er
5 Signalisieren Sie Übergänge zwischen muss den Patienten in gewisser Weise aus dem Mo-
patientenzentriertem und arztzentriertem nolog reißen und deutlich machen, dass er auch da
Gespräch an ist. Das 2. Element macht die Unterbrechung sozial
5 Kündigen Sie das Gesprächsende rechtzeitig verträglich. Indem der Arzt signalisiert, dass er den
an Patienten versteht, bleibt er zugewandt und bringt
dem Patienten Wertschätzung gegenüber. Beim
3. Element profitiert der Arzt von der bislang geleis-
Das Übernehmen der Gesprächsführung kann not- teten Transparenz. Hat er zuvor schon auf Inhalte
wendig werden bei begrenzter Zeit und bei Patien- und Ziele des Gesprächs hingewiesen, dann ist es
ten, die sich in weitschweifigen Äußerungen verlie- nun leicht, daran zu erinnern. Das 4. Element ist
ren. Dazu sind »invasive Gesprächstechniken« wie besonders mit Blick nach vorne ungemein wichtig.
das Unterbrechen erforderlich. Wenn einmal eine Abmachung getroffen wurde, so
kann in der Folge immer wieder darauf zurückge-
jUnterbrechen kommen werden: »Frau Maier, jetzt sind wir wieder
Das Unterbrechen hat vier Elemente: sehr ins Detail gegangen, darf ich Sie an unsere
1. Direktes Unterbrechen: Zunächst wird durch Abmachung erinnern?«.
einen intensiven Blickkontakt, ein aktives An-
sprechen des Patienten mit seinem Namen und jDie metakommunikative Äußerung
sogar durch das Berühren des Patienten am Die metakommunikative Äußerung ist eine Äuße-
Unter- oder Oberarm die Aufmerksamkeit auf rung über die Art und Weise der Kommunikation.
den Arzt gelenkt. Sie greift auf, über was geredet wird (Inhalt) oder
2. Zusammenfassung: Der Arzt signalisiert, dass wie über etwas geredet wird (Prozess). Sie kann
er verstanden hat, dass es dem Patienten um sich auf verbale und nonverbale Informationen be-
ein anderes Thema geht, auch wenn dieses jetzt ziehen.
nicht weiter fortgesetzt werden kann. Ziel jeder metakommunikativen Äußerung ist
3. Gesprächsziel: Der Arzt wiederholt, welches die Reflexion über die Art und Weise des Gesprächs,
Ziel das Gespräch hat, evtl. auch die Konse- um darüber zu einer Korrektur zu gelangen. Da sol-
quenz, wenn die Struktur nicht eingehalten che Äußerungen im Alltag meist nur in sehr pro-
wird. blematischen Situationen angewendet werden
4. Einverständnis holen: Zum Schluss erfragt der (»Wie redest du mit mir?«, »Ich bitte um einen an-
Arzt, ob der Patient mit diesem Vorgehen ein- deren Ton!«), ist es besonders wichtig, die Äuße-
verstanden ist. Das ermöglicht ihm, bei weite- rung wertneutral zu halten und als Ich-Aussage zu
ren Unterbrechungen auf die Vereinbarung zu formulieren: »Ich erlebe das Gespräch als sehr ange-
verweisen. spannt«. Es darf kein Vorwurf in der Stimme mit-
schwingen, sonst kommt es schnell zu einer Belas-
Beispiel tung der Beziehung. Dieser Anspruch erfordert
Arzt: »Frau Maier (Element 1), ich höre, es ist Ihnen aber häufig eine deutliche Distanz von den eigenen
sehr wichtig, sehr detailliert über alle Ihre Beschwer- Gefühlen, da der Anlass zur metakommunikativen
den zu berichten (Element 2). Mir wäre es aber wich- Äußerung meist mit Ärger, Ungeduld oder Ableh-
tig, dass Sie mir auf meine Fragen möglichst kurz ant- nung verbunden ist.
worten, da die Zeit sonst nicht reicht, alle notwendi- Die metakommunikative Äußerung kann sehr
gen Fragen zu stellen (Element 3). Sind Sie damit ein- gut zur Strukturierung des Gesprächs eingesetzt
verstanden, dass wir so weiter machen (Element 4)?« werden. Wird zusätzlich das Gesprächsziel erwähnt

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
48 Kapitel 5 · Gesprächsführung – Vom Verhören zum Zuhören

(»Ich möchte gerne wieder zu einem sachlichen kommt. Die erste Reaktion ist daher meist eine recht
Austausch kommen, um die Aufklärung über die kurze Antwort. Diese Pause im Redeschwall kann
Operation abzuschließen.«), verstärkt sich deren sehr gut genutzt werden, die Struktur deutlich zu
Wirkung als Regulativ. machen. Bei Wiederholung dieser Technik verwan-
delt sich die Überraschung oft in eine humorvolle
Metakommunikative Äußerung zum Thema Reaktion, die das anstrengende Unterbrechen des
Die Metakommunikation über die Inhalte ist die Patienten deutlich erleichtert.
einfachste Form. Hier wird hervorgehoben, welche A: »Jetzt sind wir wieder bei den Erkrankungen
Inhalte besonders im Vordergrund stehen oder wel- anderer gelandet.« (Metakommunikation)
che Inhalte kaum angesprochen werden dürfen. P: (lacht) »Sie haben recht, ich bin wirklich et-
5 A: »Mir fällt auf, dass wir immer sehr schnell was durcheinander. Was war noch mal Ihre Frage?«
von dem Thema ›Operation‹ abschweifen, obwohl
ich erwartet hatte, dass sie im Mittelpunkt unseres Metakommunikative Äußerung zu Positionen Ver-
Gesprächs steht.« (Metakommunikation mit Er- treten Patienten andere Positionen als ihr Arzt, wer-
wähnung des Gesprächsziels) den diese nicht immer direkt geäußert, sondern
P: »Mhm, ja, das ist schon richtig. Ich werde zeigen sich in der nonverbalen Kommunikation. Da
auch ziemlich nervös, wenn ich nur daran denke.« es sich hier auch um Inhalte handelt, ist diese Form
A: »Sollen wir das Gespräch auf morgen früh weniger problematisch. Im Gegenteil, Patienten
verschieben?« (Geschlossene Frage) sind oft dankbar, wenn der Arzt ihre Zurückhaltung
P: »Nein, irgendwann müssen wir es ja führen.« erkennt und ernst nimmt.
A: »Gut, wenn Sie aber merken, dass es Ihnen zu A: »Ich habe den Eindruck, Sie reagieren sehr
viel wird, dann sagen Sie mir das bitte. Wir hätten zögerlich auf den Vorschlag, Antibiotika zu neh-
morgen früh auch noch Gelegenheit, das Gespräch men.« (Metakommunikation)
zu beenden.« (Transparenz zum Rahmen) P: »Ja, das ist wahr, dass Sie das gemerkt haben.
Diese Form der Äußerung ist besonders gut für Ich bin da schon zurückhaltend, weil ich gerade erst
ausufernde Patienten geeignet. In diesem Fall sollte eine Kur gemacht habe, um meine Darmflora zu
auf keinen Fall hinterfragt werden, warum das Ge- regenerieren und jetzt soll das alles wieder für die
sprächsverhalten gezeigt wird, da das erneut aus- Katz sein?«
ufern würde. Bei diesen Patienten ist es wichtig eine A: »Ah ja, verstehe, Sie haben den Eindruck, Sie
Struktur anzubieten und einzuhalten. schaden sich damit mehr als dass Sie sich helfen.«
A: »Mir ist aufgefallen, dass Sie über die Erkran- (Metakommunikation)
kung Ihrer Tante sehr ausführlich berichten.« Diese Form der Äußerung erfordert sehr viel
(Metakommunikation) Feingefühl, da die Wahrnehmung stimmen muss.
P: »Ach so, ja. Das ist eigentlich nicht so wichtig, Auf diese Art ins Gespräch gebrachte Haltungen
oder?« sind oft sehr wichtig für den Behandlungsverlauf, sie
A: »Sehen Sie, es gibt sicherlich sehr viele wich- erlauben in kurzer Zeit das Problem zu adressieren.
tige Themen, aber unsere Zeit ist begrenzt und ich
würde sie gerne nutzen, um zu erfahren, wie es Ih-
nen geht. Sind Sie damit einverstanden?« (Transpa- 5.4 Umgang mit negativen
renz, Metakommunikation) Emotionen (Angst, Ärger, Wut)
Dient die metakommunikative Äußerung
hauptsächlich der Strukturierung, so empfiehlt sich Der Umgang mit aufgebrachten oder aufgewühlten
wie bei der Unterbrechung, sich am Ende ein Ein- Patienten stellt im ärztlichen Alltag eine besondere
verständnis für die Struktur geben zu lassen. Herausforderung dar. Im Folgenden sollen zwei
Der Vorteil der metakommunikativen Äuße- Modelle vorgestellt werden, die über die bereits vor-
rung bei Vielrednern ist der Überraschungseffekt. gestellte patientenzentrierte Gesprächsführung hi-
Fast immer kommt es kurz zu einer Irritation, da naus helfen können, solche emotional aufgeladenen
der Wechsel der Gesprächsebene unvermutet Situationen zu verstehen und zu entlasten.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
5.4 · Umgang mit negativen Emotionen (Angst, Ärger, Wut)
49 5

. Abb. 5.3 Cartoon: Umgang mit Gefühlen und Gedanken. (Zeichung: Gisela Mehren)

Sachebene
5.4.1 Mit welchem Ohr hört der Arzt?
Selbstoffenbarung

Wenn es zu Missverständnissen oder Kommunika-


tionsproblemen im Alltag kommt, liegt dies häufig

Appell
daran, dass die beiden Gesprächspartner auf ver- Nachricht
schiedenen Ebenen hören und agieren: z. B. glaubt
der eine, lediglich einen Sachverhalt zu klären, wäh-
rend der andere dies als Beziehungsaussage auffasst.
Durch die medizinische Ausbildung ist der Arzt Beziehungsebene
gewohnt, immer die Sachebene zu hören und auf ihr . Abb. 5.4 Die vier Ebenen einer Nachricht
zu antworten. Er erklärt dem Patienten z. B., warum
eine Untersuchung oder eine Operation verschoben
werden musste, er gibt ausführliche Informationen 3. Der Beziehungsinhalt: Dieser sagt aus, was
zu den erhobenen Befunden, ohne die emotionale der Sprecher vom anderen denkt und in wel-
Botschaft, die in Fragen und Äußerungen des Pati- cher Beziehung er zu ihm steht.
enten enthalten ist, zu hören und auf seine eigenen 4. Die Selbstoffenbarung: Damit gibt der Spre-
Emotionen zu achten. Beispielhaft soll dies an der cher einen Hinweis darauf, wie er sich fühlt.
Behandlung einer Blutdruckdysregulation veran-
schaulicht werden (. Abb. 5.3). Beispiel aus dem Alltag
Mit jeder Nachricht werden jedoch vielfältige Sie fahren mit dem Auto auf eine Kreuzung mit einer
Informationen übermittelt, die sich in vier Ebenen Ampelanlage zu. Ihre Beifahrerin sagt: »Achtung, es
unterteilen lassen (Schulz von Thun 2010, . Abb. wird rot.«
5.4): Der Sachinhalt. Selbst die kurze Nachricht beinhaltet
1. Der Sachinhalt: Das ist die Ebene, die im ärzt- mehr als den Sachinhalt, dass die Ampel von grün
lichen Berufsalltag dominiert. auf rot umgesprungen ist.
2. Der Appell: Der Sprecher will erreichen, dass Der Appell. Der Appell könnte lauten:
der andere etwas tut. »Pass auf!«

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
50 Kapitel 5 · Gesprächsführung – Vom Verhören zum Zuhören

»Konzentriere Dich!« Sorgen um meinen Arbeitsplatz, die Auftragslage ist


»Bremse rechtzeitig!« schlecht zurzeit. Da ich zudem schlecht schlafen
Der Beziehungsinhalt. Die Aussage zum Beziehungs- kann, habe ich Angst noch mehr Fehler zu machen,
inhalt kann sein: da ist es besser ich bleibe zu Hause.«
»Ich fahre besser Auto als Du.«
»Du bist zu blöd zum Autofahren.« Durch den Ebenenwechsel ermöglicht der Arzt dem
»Jedes Mal übersiehst Du das Signal und ich muss Patienten über seine beruflichen Belastungen zu
Dir das erst mitteilen.« sprechen. Es kommen Schlafstörungen zur Sprache,
»Du bist ein schlechter Autofahrer.« eine mögliche Depressivität des Patienten kann nun
Die Selbstoffenbarung. Die Selbstoffenbarung, abgeklärt werden.
5 die dahinter steht, könnte lauten:
Fallbeispiel
»Ich habe Angst vor einem Unfall.«
»Ich bin genervt.« Ein 50-jähriger Patient wird von seinem Hausarzt we-
»Ich habe es eilig. Zu blöd, dass die Ampel jetzt rot gen Verdacht auf eine ernste Magenerkrankung sta-
ist.« tionär eingewiesen. Die schon am ersten Tag vorge-
sehene Gastroskopie musste zweimal verschoben
Je nachdem, welche Ebene der Nachricht man hört werden. Am dritten Tag beschwert sich der Patient
(bildlich gesprochen, mit welchem der vier Ohren bei der Visite: »Ich bin nun schon den dritten Tag hier
man hört) wird auch die Reaktion des Hörers ganz und es ist immer noch nichts passiert. Wann werde
unterschiedlich ausfallen. ich denn nun operiert? Mir reicht’s jetzt, ich möchte
Indem der Arzt es lernt, die unterschwelligen den Chefarzt sprechen.«
Aspekte, Appelle oder Selbstoffenbarungen im Ge- Der Arzt beginnt sich zu rechtfertigen. Er erklärt dem
spräch mit einem Patienten wahrzunehmen und Patienten, dass eine Kollegin in der Endoskopie er-
anzusprechen, kann er ein Gespräch entlasten und krankt sei. Er erwähnt, dass ein Notfall dazwischen
klären. Auf der Hörerseite kann der Arzt das Modell kam und dass er alleine auf Station ist.
nutzen, um seine Wahrnehmung gezielt auf eine Alle diese Erklärungen bewirken bei dem Patienten
bestimmte Ebene der Nachricht zu lenken. Das ist nur eine Verstärkung seines Ärgers, worauf der Sta-
besonders hilfreich, wenn das Gespräch emotional tionsarzt ebenfalls genervt und ungeduldig reagiert.
getönt ist bei nur vordergründiger Sachlichkeit. Da Ein Arzt, der empathisch auf den Patienten reagieren
Patienten psychosoziale Inhalte meist nur vorsichtig will, fragt sich im Stillen zunächst: Was empfindet
erwähnen, ist es besonders wichtig gut zuzuhören. mein Gesprächspartner? Was ist ihm im Moment
wichtig? Was beschäftigt ihn am meisten? Eine Mög-
Beispiel aus einem Arzt-Patient-Gespräch: lichkeit, in Worte zu fassen was gefühlsmäßig mit-
P: »Ich konnte die letzten beiden Tage nicht zur schwingt wäre: »Ich sehe, Sie sind ziemlich verärgert,
Arbeit und würde mich gerne mal richtig auskurie- dass die Gastroskopie noch nicht stattgefunden hat
ren. Sie werden mich doch krankschreiben, oder?« und Sie weiter in dieser Ungewissheit bleiben müs-
A: »Ich möchte Sie zunächst noch einmal unter- sen. Ihr Hausarzt hat Sie ja eingewiesen, damit wir so
suchen, aber so wie Sie es schildern, werde ich Sie schnell wie möglich herausfinden, was hinter Ihren
diese Woche wohl krankschreiben können.« Beschwerden steckt.« Das Ansprechen der vermute-
Mit dieser Antwort hört und antwortet der Arzt vor ten Selbstoffenbarung des Patienten bedeutet für die
allem auf der Sachebene. Auf der Beziehungsebene Patienten und damit für den weiteren Gesprächsver-
merkt er, dass der Patient ihn unter Druck setzt und lauf eine Entlastung.
erkennt daran, dass der Patient selbst unter starkem
Druck steht. Seine alternative Antwort könnte da- . Abb. 5.5 veranschaulicht die vier Botschaften, die
her lauten: in dem oben beschriebenen Fallbeispiel stecken.
A: »Sie stehen ganz schön unter Druck.«
P: »Ja, das ist richtig. Mir sind in letzter Zeit einige
Fehler unterlaufen bei der Arbeit und ich mache mir

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
5.4 · Umgang mit negativen Emotionen (Angst, Ärger, Wut)
51 5

»Wann werde ich denn endlich operiert«

– Ich warte schon lange


– Wann komme ich dran?

Inhalt

Selbstoffenbarung
– Ich bin ungeduldig

Appell
– Tu etwas, dass ich operiert werde
– Ich bin wütend
– Hör mir zu
– Ich habe Angst vor der Diagnose

Beziehung

– Ich halte Sie für verantwortlich


– Ihnen kann ich es sagen

. Abb. 5.5 Wann werde ich endlich operiert

5.4.2 Umgang mit aggressiven Patien- jStufe 1: Contact


ten – ein Deeskalationsmodell Die Aufgabe der Stufe 1 ist es, trotz der Aggression
oder der Abwertungen des Patienten mit diesem in
Das CALM-Modell (Schweickhardt u. Fritzsche Kontakt zu bleiben. Dabei kommt es wesentlich da-
2009) dient als Stufenmodell zur Deeskalation von rauf an, sich nicht durch die Aggressionen anstecken
konfliktträchtigen Gesprächen. Gewöhnlich sollten zu lassen, sondern ruhig und sachlich zu bleiben.
die Stufen von unten nach oben der Reihe nach Gleich einer Welle muss die erste Aggression auf-
durchlaufen werden. Die unteren beiden Stufen branden und auslaufen, auf keinen Fall sollte man
(Contact, Appoint) bewahren oder vertiefen die Be- sich gegen sie stellen. Hilfreich kann es sein, zu ak-
ziehung, die oberen beiden Stufen (Look ahead, zeptieren, dass sich der Patient in einer schwierigen
Make an agreement) stellen Vereinbarungen dar, Situation befindet, sonst würde er sich nicht unange-
die als Kompromiss den letzten gemeinsamen Nen- messen verhalten. Möglicherweise kommen herbe
ner zwischen Arzt und Patient darstellen. Nur sehr Vorwürfe, die unberechtigt sind. Der Blick sollte im
selten gelangt man an die Spitze der Pyramide, ersten Augenblick auf die Situation des Patienten ge-
wenn die Stufen gekonnt umgesetzt werden. Meist richtet werden, von Rechtfertigungen ist abzusehen.
reicht bereits die erste Stufe, um in eine konstruk- Besonders wichtig für das erste Aufbranden lassen
tive Arbeitsbeziehung zurückzukehren. In einigen ist die Körpersprache. Eine entspannte Körperhal-
Fällen kann es passieren, dass die unteren Stufen tung und Mimik, möglicherweise sogar freundlicher
dem Eskalationsniveau nicht mehr entsprechen und Körperkontakt können die Situation entspannen.
gleich auf Stufe 3 oder 4 eingestiegen wird. Dies ob- Anschließend können mögliche Fehler eingestan-
liegt der Abwägung des Arztes. Die ersten beiden den werden. Es sollte hervorgehoben werden, dass
Stufen sind nur zu verwirklichen, wenn das Verhal- die Schwierigkeiten des Patienten erkannt und be-
ten des Patienten gewisse Grenzen des Arztes res- rücksichtigt werden. Die Zusammenhänge, wie es zu
pektiert. der für den Patienten unerfreulichen Situation ge-
. Abb. 5.6 stellte das CALM-Modell mit seinen kommen ist, sollten erklärt werden, soweit dies mög-
4 Stufen dar: lich ist. In den meisten Fällen reichen diese Maßnah-
men bereits aus, um die Situation zu entspannen.
Wenn dies nicht der Fall ist, kommt der 2. Schritt.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
52 Kapitel 5 · Gesprächsführung – Vom Verhören zum Zuhören

Make an agreement
ng
lu

Entscheiden
nd
ha
Be

Rollen-
5 klärung/
Planen Look ahead
ng

Benennen
lu

Beziehung
nd
ha
Be

Tolerieren/
Verstehen Verbalisieren
Immunisieren Appoint
der der
ng

gegenüber
Emotionen Emotionen
lu
nd

Angriffen
ha
Be

Entspannung Anerkennen
Erklären der
durch Körper- Eingestehen der Contact
Zusammen-
sprache und von Fehlern schwierigen
hänge
Mimik Situation

. Abb. 5.6 CALM-Modell

jStufe 2: Appoint nen Beweggründe wie Ängste oder Sorgen. Werden


In dieser 2. Phase geht es darum, die gezeigte Emo- diese aufgegriffen, so kann sich die Qualität des
tion direkt zu benennen. Der Ärger, die Wut, die Gesprächs schlagartig ändern. Aus unverständli-
Enttäuschung wird direkt angesprochen. Zunächst cher Wut wird angemessene Betroffenheit, hinter
reicht es, diese in wenigen Worten zu benennen inadäquaten Forderungen kommen Ängste zum
(»Sie sind wütend«). Häufig führt das direkte An- Vorschein. In seltenen Fällen lassen sich Patienten
sprechen der Emotion zunächst zu einer kurzen nicht auf diese Ebene ein, dann muss nach dem ge-
Steigerung derselben, darauf sollte man gefasst sein meinsamen Nenner für eine weitere Zusammenar-
und »auf Durchzug schalten«. Es kommt dann sehr beit gesucht werden.
schnell zu einer deutlichen Abnahme der Emotio-
nalität. Dies ist der Zeitpunkt, im Rahmen des jStufe 3: Look ahead
4-Ohren-Modells sich auf die Selbstoffenbarung Hat sich der Patient immer noch nicht beruhigt, so
des Patienten zu konzentrieren und die hinter der wird mit der nächsten Stufe die professionelle Be-
Aggression liegenden Emotionen mithilfe patien- ziehung zwischen Arzt und Patient verdeutlicht. Die
tenzentrierter Gesprächsführungstechniken anzu- Beziehung hat ein Ziel und dieses sollte wieder ins
sprechen. Meist liegen hinter den offenen Emotio- Auge gefasst werden. Es gilt zu klären, wie beide

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
Literatur
53 5
gemeinsam weitermachen können. Wichtig in die- Literatur
ser Phase ist es, dem Patienten das gemeinsame Ziel
Zitierte Literatur
zu verdeutlichen und ihm ein Angebot zu machen,
Beckmann HB, Frankel RM (1984) The effect of physician
das ungeachtet der Verärgerung aufrechterhalten behavior on the collection of data. Ann Intern Med 101:
bleibt. Es werden aber die Grenzen aufgezeigt und 692–696
die Spielregeln benannt, nach der die Zusammenar- Buddeberg C, Laederach K, Buddeberg-Fischer B (2004) Das
beit zu erfolgen hat. Es ist besonders wichtig, dass ärztliche Gespräch – die ärztliche Untersuchung. In:
dies ohne Groll geschieht. Buddeberg C, Willi J (Hrsg) Psychosoziale Medizin.
Springer, Heidelberg
Freud S (1917) Vorlesungen zur Einführung in die Psycho-
jStufe 4: Make a decision analyse. Gesammelte Werke XI, 4. Aufl. 1966. Fischer,
In dieser Phase wird ein »Vertrag angeboten«. Dem Frankfurt a. M. S 9–10
Patienten wird damit die Verantwortung für die Geisler L (2008) Arzt und Patient – Begegnung im Gespräch.
weitere Behandlung gegeben, er hat sich zu ent- pmi, Frankfurt a. M.
Langewitz W, Denz M, Keller A et al. (2002) Spontaneous
scheiden. Wenn diese Stufe erreicht wird, ist die
talking time at start of consultation in outpatient clinic:
Eskalation weit fortgeschritten, es ist nicht leicht für cohort study. Brit Med J, 325: 682–683
den Patienten zu realisieren und zu akzeptieren, Rogers CR (1983) Therapeut und Klient. Fischer, Frankfurt
dass der Arzt nun nicht weiter inhaltlich auf die vor- Schulz von Thun F (2010) Miteinander Reden. Störungen und
gebrachten Vorwürfe oder Forderungen eingeht, Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation.
Rowohlt, Hamburg
sondern eine Entscheidung erwartet. Daher kann es
Schweickhardt A, Fritzsche K (2009) Kursbuch ärztliche Kom-
hilfreich sein, dem Patienten Zeit anzubieten, ihm munikation. Grundlagen und Fallbeispiele aus Klinik und
vorzuschlagen, zunächst einen Spaziergang zu ma- Praxis, 2. Erw. Aufl. Deutscher Ärzteverlag, Köln
chen oder eine Nacht darüber zu schlafen. Strupp HH (1996) Nachhaltige Lektionen aus der psychother-
apeutischen Praxis und Forschung. Psychother 41: 84–87
jHaltung Tausch R, Tausch AM (1990) Gesprächspsychotherapie.
Hogrefe, Göttingen
Es erfordert einige Übung, eine andere Haltung ein-
zunehmen und – wie oben beschrieben – sich nicht Weiterführende Literatur
gegen die Aggression zu stellen, sondern sie gewis- Schweickhardt A, Fritzsche K (2009) Kursbuch ärztliche Kom-
sermaßen auslaufen zu lassen. Am ehesten gelingt munikation. Grundlagen und Fallbeispiele aus Klinik und
dies, wenn man sich das 4-Ohren-Modell vergegen- Praxis, 2. Erw. Aufl. Deutscher Ärzteverlag, Köln
wärtigt und bewusst versucht auf die Selbstoffenba-
rung zu achten. Für Aggressionen gibt es einen
Grund und dieser ist meist verständlich. Aus Ge-
genangriff oder Rechtfertigung wird dann schnell
Verständnis.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
55 6

Die biopsychosoziale
Anamnese
Kurt Fritzsche, Christina Burbaum

6.1 Begrüßung und Beziehungsgestaltung – 56

6.2 Setting und Sitzordnung – 56

6.3 Patientenzentrierte Phase der Befunderhebung


(aktuelle Beschwerden) – 57

6.4 Arztzentrierte Phase der Befunderhebung – 57

6.5 Körperliche Untersuchung – 58

6.6 Psychosoziale Anamnese und aktuelle Lebenssituation – 58


6.6.1 Einfühlungsvermögen für körperliche Beschwerden (Exkurs) – 60

6.7 Gesamtdiagnose – 60

6.8 Behandlungsplanung – 61

6.9 Abschluss – 61

6.10 Dokumentation – 62

Literatur – 62

K. Fritzsche et al. (Hrsg.), Psychosomatische Grundversorgung,


DOI 10.1007/978-3-662-47744-1_6, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
56 Kapitel 6 · Die biopsychosoziale Anamnese

Die unten stehende Übersicht zeigt die verschiede- 6.2 Setting und Sitzordnung
nen Phasen der biopsychosozialen Anamnese. In
der Folge werden die einzelnen Phasen genauer dar- Mit der Wahl der Sitzordnung können Arzt und
gestellt. Die hier vorstellte Reihenfolge der Phasen Patient Nähe und Distanz in der Beziehung regulie-
hat sich bewährt und kann in der Gesprächsfüh- ren. Ein frontales Gegenübersitzen ist eher ungüns-
rung eine Orientierung bieten. Im konkreten Ge- tig. Beide sollten die Möglichkeit haben, gelegent-
spräch werden jedoch individuelle Schwerpunkte lich mit dem Blick ihrem Gesprächspartner auszu-
gesetzt oder es kann punktuell zu einer anderen weichen. Dies geschieht z. B. durch ein leichtes
Reihenfolge kommen. »Überkreuz-Sitzen«, bei dem die Stühle schräg
zueinander angeordnet sind. Es gibt auch die Mög-
Phasen der Anamnese lichkeit, dem Patienten zwei Stühle anzubieten,
Begrüßung und Beziehungsgestaltung z. B. hinter dem Schreibtisch oder neben dem
Schreibtisch, so dass er selbst Nähe und Distanz
6 Setting und Sitzordnung
bestimmen kann. Diese Vorbereitungen und
Patientenzentrierte Phase der Befunderhe-
bung (aktuelle Beschwerden) scheinbaren Formalien kosten nur wenig Zeit, sind
Arztzentrierte Phase der Befunderhebung aber sehr wichtig.
Körperliche Untersuchung Bei einem bettlägerigen Patienten im Kranken-
Aktuelle Lebenssituation und psychosoziale haus bemüht sich der Arzt, den Patienten so zu la-
Anamnese gern, dass dieser ohne Atembeschwerden sprechen
Gesamtdiagnose kann. Er achtet darauf, dass er sich etwa auf gleicher
Behandlungsplanung Ebene mit dem Patienten befindet und dieser ihn
Abschluss gut sehen und hören kann. Sehr bewährt hat sich
Dokumentation das Anbringen eines Schildes »Bitte nicht stören« an
der Außentür des Zimmers. Zur einleitenden Erklä-
rung gehört, wie viel Zeit für das Gespräch voraus-
sichtlich zur Verfügung steht, damit der Patient sich
6.1 Begrüßung und Beziehungs- auf diesen Rahmen einstellen kann.
gestaltung

Mit der Begrüßung kommt zum Ausdruck, wie zu- Begrüßung und Setting (Köhle 2005)
gewandt der Arzt dem Patienten ist und wie viel Begrüßung und Vorstellung
Interesse er zeigt. Begrüßt er den Patienten mit Der Arzt begrüßt den Patienten, stellt sich vor
Handschlag und Namen, schaut er ihm in die Au- und erklärt ihm seine Rolle und Funktion.
gen, wirkt er einladend und herzlich oder versteckt Dieser erste Schritt erscheint so selbstver-
er sich hinter einer Akte, dem Computerbildschirm, ständlich, dass er häufig vergessen wird.
wirkt unnahbar oder liest den Namen von der Kar- 5 Blickkontakt aufnehmen
teikarte ab? Für den Arzt ist der Patientenkontakt 5 Begrüßung
professionelle Routine, für den Patienten verbinden 5 Mit Namen ansprechen, Hand geben
sich vielfältige Hoffnungen und Befürchtungen mit 5 Sich mit Namen vorstellen
dem Termin. Ein kurzer Small Talk erleichtert den 5 Funktion erklären
ersten Kontakt. Ein, zwei Sätze über die Familie, das
Wetter, den Herweg überbrücken das Gefühl von Für eine ungestörte, ruhige Gesprächs-
Fremdheit. atmosphäre sorgen
Zur Begrüßung gehört auch, dass der Arzt sich 5 Evtl. Schild »Bitte nicht stören«
und seine Funktion kurz vorstellt. 5 Wenn möglich, Mitpatienten raus bitten oder
Gespräch in Behandlungszimmer führen
5 Fernseher oder Radio ausschalten

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
6.4 · Arztzentrierte Phase der Befunderhebung
57 6
patientenzentrierten Gesprächsführung in 7 Kap.
5 Arzthelferinnen anweisen, nur in dringen- 5). Der Arzt registriert diese initialen Schilderungen
den Fällen zu stören des Patienten, ohne sie sofort zu interpretieren. Er
sollte in dieser Phase nicht unterbrechen, es sei
Für angenehme Gesprächsatmosphäre sorgen denn für Verständnisfragen.
Der Arzt erkundigt sich, wie sich der Patient im
Moment fühlt. Er bemüht sich, es dem Patien-
ten so bequem wie möglich zu machen. 6.4 Arztzentrierte Phase
5 Gespräch im Sitzen führen (Stuhl am Kran- der Befunderhebung
kenbett, Patient nur zur körperlichen Unter-
suchung hinlegen) In der arztzentrierten Phase der Anamnese stellt der
5 Evtl. Bett hochstellen Arzt gezielt geschlossene Fragen, um möglichst
5 Nähe/Distanz abstimmen schnell die Information zu erfragen, die er zur Stel-
5 Körperhaltung des Patienten beachten lung einer Diagnose benötigt. Die vielfach zusätz-
5 Small Talk zum »warm werden« führen lich eingesetzten Anamnesebögen helfen alle not-
wendigen Fragen zu stellen und signalisieren dem
Gesprächsinhalt und Rahmen abstecken Patienten den geänderten Gesprächsstil. Zusätzlich
5 Gesprächsziele verdeutlichen sollte der Arzt den Wechsel der Gesprächsführung
5 Zeitrahmen mitteilen transparent machen und kurz metakommunikativ
5 Auf evtl. Störungen durch Piepser, Kollegen einführen (s. 7 Abschn. 5.3.2 zur Metakommunika-
oder Pflegepersonal hinweisen tion). Dies kann er beispielsweise tun, indem er das
5 Unterbrechungen ankündigen (z. B. für bis dahin Gehörte zusammenfasst und dann ankün-
gleichzeitige Versorgung anderer Patienten digt, dass er nun einige Nachfragen zu den Be-
im Nebenraum) schwerden stellen möchte.
Der Arzt beginnt mit einer gezielten, eher offe-
nen Frage, um dann immer präziser nachzufragen:
4 »Was meinen Sie eigentlich mit ‚schlecht füh-
6.3 Patientenzentrierte Phase len’?«
der Befunderhebung 4 »Müssen Sie erbrechen?«
(aktuelle Beschwerden) 4 »Haben Sie Gewicht verloren?«

Ausgangspunkt ist immer das aktuelle Anliegen des Weitere gezielte Fragen zu Schmerzen können sein:
Patienten, in der Regel sind dies die aktuellen kör- 4 »Wo sind die Schmerzen genau und wohin
perlichen Beschwerden. Das Gespräch wird immer strahlen sie aus?«
mit einer offenen Frage eröffnet: »Was führt Sie 4 »Wie erleben Sie die Schmerzen, z. B. dumpf,
heute her zu mir?«, »Was kann ich für Sie tun?«, brennend oder stechend?«
»Was für Beschwerden haben Sie?« 4 »Wie stark erleben Sie die Schmerzen auf einer
Durch eine offene Frage kann der Patient selbst Skala von 0–10, wobei 0 keinen Schmerzen
wählen, worüber er zunächst sprechen will. Dabei entspricht und 10 stärksten Schmerzen?«
gibt diese »initiale Botschaft« schon wichtige Hin- 4 »Wie weit sind Sie durch die Schmerzen in
weise auf das zugrundeliegende Problem. Nach der Ihrem Alltag beeinträchtigt?«
Gesprächseröffnung nimmt der Arzt sich zurück 4 »Haben Sie zusätzlich noch andere Beschwer-
und lässt dem Patienten Raum zur Schilderung sei- den?«
nes Anliegens und seiner Beschwerden. Er gibt ihm 4 »Wann genau haben die Schmerzen begonnen,
durch verbale (z. B. Zusammenfassen der Be- wie war der weitere Verlauf?«
schwerden) und nonverbale Signale (Pausen, Kopf- 4 »In welcher Situation treten die Schmerzen
nicken) die Möglichkeit, seine Beschwerden mög- verstärkt auf? Durch welche Maßnahmen
lichst umfassend zu schildern. (s. Techniken der können Sie die Schmerzen lindern?«

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
58 Kapitel 6 · Die biopsychosoziale Anamnese

Fallbeispiel
Ein 35-jähriger Patient, Herr K., kommt wegen Praxistipp
krampfartig stechender Oberbauchbeschwerden in Die Wahrnehmung und Rückmeldung körper-
die Sprechstunde. Bei der weiteren Schilderung mit licher Reaktionen an den Patienten können
einigem Nachfragen ergibt sich folgender Befund: dabei helfen, dass der Patient sich entspannt,
Die Beschwerden treten unabhängig von den Mahl- Vertrauen gewinnt und sich vom Arzt verstan-
zeiten auf. Er schildert, dass er noch vor dem Klingeln den fühlt:
des Weckers aufwache, häufig unruhig sei und Übel- 5 »Ich merke, dass sich Ihr Bauch verkrampft.
keit bis Brechreiz verspüre. Er versuche, kleine leichte Ist Ihnen die Berührung unangenehm?«
Mahlzeiten zu sich zu nehmen, was aber aufgrund 5 »Die Schmerzen in der rechten Schulter,
seines unregelmäßigen Schichtdienstes und der wenn Sie den Arm heben, scheinen für Sie
Arbeit am Serviceschalter bei der Deutschen Bundes- unerträglich zu sein.«
bahn häufig nicht möglich sei. Er habe zudem sehr
6 schnell ein Gefühl der Übersättigung. Dazu kommen
Aufstoßen, Blähungen und unregelmäßiger Stuhl-
gang. 6.6 Psychosoziale Anamnese
Der Arzt hört sich zunächst die Beschwerden an und aktuelle Lebenssituation
(Phase 3), stellt evtl. einige klärende Fragen (Phase 4)
und leitet dann zur aktuellen Lebenssituation und Die psychosoziale Anamnese umfasst die biogra-
zur psychosozialen Anamnese (Phase 6) des Patien- phische Anamnese, die Lebensumstände und die
ten über. Krankheitsbewältigung sowie das subjektive Krank-
heitsverständnis. Die biographische Anamnese
hat dabei das Ziel, die psychische, soziale und me-
6.5 Körperliche Untersuchung dizinische Vorgeschichte eines Patienten herauszu-
arbeiten, um einen Gesamtblick auf dessen persön-
Die körperliche Untersuchung ist integraler Be- liche Entwicklung zu erhalten. Im Vergleich zur
standteil der Diagnostik. Sie gibt dem Patienten das allgemeinen klinischen Anamnese stehen mehr die
Gefühl, mit seinen körperlichen Beschwerden ange- Person des Patienten und sein subjektives Erleben,
nommen zu werden und intensiviert die Arzt-Pa- seine Krankheits- und Behandlungsvorstellungen
tient-Beziehung. Sie liefert wertvolle Informationen im Mittelpunkt. Bereits im patientenzentrierten Teil
sowohl auf der Sach-, als auch auf der Beziehungs- der Anamnese erhaltene Informationen werden ge-
ebene. gebenenfalls vertieft.
Auch bei der körperlichen Untersuchung laufen Zu diesem Teil der Anamnese bleibt im Rahmen
zwischen Arzt und Patient verbale und nonverbale eines Erstgespräches in Klinik oder Praxis aller-
Austauschprozesse ab. Das Berühren bei der kör- dings meist zu wenig Zeit. Aber auch in einer
perlichen Untersuchung ist eine Körpergrenzen zunächst auf die körperliche Symptomatik ausge-
überschreitende, oft intime und eindringende An- richteten Anamnese können schon Daten zur Le-
näherung an einen Fremden. Zum Beispiel bei der bensgeschichte, z. B. schwere Krankheiten oder
Untersuchung des Abdomens ist das Maß an not- Krankenhausaufenthalte in der Kindheit oder Be-
wendiger Entspannung abhängig von der Feinfüh- lastungen durch Krankheit oder Tod eines Eltern-
ligkeit des Untersuchers und dem Vertrauen, das teils zur Sprache kommen. Weitere Einzelheiten
der Untersuchte in der Situation entwickelt. Gefühle können – wenn notwendig – in Folgegesprächen
von Unlust, Angst, Scham oder Schmerz können erarbeitet werden.
beim Patienten auftauchen. Der gute Beziehungs- Mit einer offenen Frage leitet der Arzt zur Le-
aufbau in den bisherigen Phasen der Anamnese, benssituation und Biographie des Patienten über:
kann den Verlauf der körperlichen Untersuchung 4 »Ich habe noch gar kein Bild davon, wie Sie
daher entscheidend beeinflussen. sonst leben, was Sie beruflich machen und ob
Sie eine Familie haben?« oder

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
6.6 · Psychosoziale Anamnese und aktuelle Lebenssituation
59 6
4 »Um Sie besser kennen zu lernen, möchte ich In diesem Beispiel verspürt der Arzt bei sich be-
Ihnen noch gerne einige Fragen zu Ihrer Ar- schützende Impulse gegenüber dem Patienten. Er
beits- und Lebenssituation stellen.« möchte ihn trösten und ihm Mut machen. Gleich-
zeitig bemerkt er ein anklammerndes Verhalten des
Weitere Themen können in Folgegesprächen suk- Patienten, das ihn zurückschrecken lässt.
zessiv erarbeitet werden. Der Arzt fragt nach der
Beziehung zu den Eltern und Geschwistern und an- Inhalte der biopsychosozialen Anamnese
deren wichtigen Bezugspersonen, wie Lebenspart- 5 Aktuelle Beschwerden, Gründe für Aufsuchen
nern und Kindern. Die Fragen können z. B. lauten: der Arztpraxis oder stationäre Aufnahme
»Was für ein Mensch ist/war Ihre Mutter/Ihr Vater?« 5 Genauer Zeitpunkt des Beschwerdebe-
»Wie ist/war die Beziehung zu Ihren Eltern/zu Ihren ginns, auslösende, symptomverstärkende
Geschwistern?« »Was sagen/wie reagieren Ihr Le- und aufrechterhaltende Bedingungen
benspartner und die Kinder auf Ihre jetzige Erkran- 5 Aktuelle Lebenssituation (Familie, Partner-
kung?« schaft, Beruf )
5 Eigen- und Familienanamnese in Bezug auf
Fortsetzung Fallbeispiel
frühere Erkrankungen
Auch bei Herrn K. ergibt die erweiterte biopsycho- 5 Lebensgeschichtlicher Rückblick: Kindheit,
soziale Anamnese wichtige Informationen zum Ver- Beziehung zu Eltern, berufliche Entwick-
ständnis der Beschwerden. Er berichtet, er könne sich lung, Schwellensituationen
schlecht konzentrieren, vergesse wichtige Termine, 5 Zusammenhänge zwischen Lebensge-
sei schnell hektisch und reagiere nervös, was sich schichte und aktuellen Beschwerden
zunehmend auch in Unsicherheit im Kontakt mit 5 Subjektives Krankheitsverständnis des
»schwierigen Kunden« äußere. Am Wochenende und Patienten
im Urlaub falle es ihm schwer, Abstand von den Pro- 5 Einschätzung der körperlichen und sozialen
blemen des Arbeitstages zu gewinnen. Ressourcen
Ähnliche Beschwerden seien bereits vor einem Jahr 5 Bild von der Persönlichkeit des Patienten
aufgetreten, als er noch in A. wohnte und auf einen 5 Evtl. Verleugnung psychosozialer Konflikte
anderen Bahnhof versetzt worden sei. Er sei damals und Krankheitsängste
gastroskopiert und wegen immer wieder auftreten- 5 Erste Therapieüberlegungen
der Durchfälle koloskopiert worden, wobei ein leich-
ter Reizzustand der Magen- und Darmschleimhaut
nachgewiesen wurde. Jetzt seien von seinem Vorge- In einem abschließenden Schritt wird versucht, die
setzten erneut Rationalisierungsmaßnahmen ange- aktuellen Beschwerden auf dem Hintergrund der
kündigt worden. Er fürchte wieder eine Versetzung Lebensgeschichte des Patienten zu verstehen.
oder den Verlust seines Arbeitsplatzes. Das Klima un-
ter den Kollegen sei schlecht, einer misstraue dem Fortsetzung Fallbeispiel
anderen. Wenn er seinen Beruf nicht gerne ausüben Herr K. berichtet weiter, dass sein Vater, welcher bei der
würde, hätte er sich schon längst um eine andere Ar- Deutschen Bundesbahn als Lokomotivführer gear-
beitsstelle gekümmert. beitet habe, früh, im Alter von 53 Jahren, an Herzinfarkt
verstorben sei. Zur Mutter bestehe ein sehr enges ab-
Während der gesamten Schilderung des Patienten hängiges Verhältnis. Umzug und andere Trennungs-
achtet der Arzt auf sein eigenes Befinden. Ist er vom situationen hätten schon als Kind bei ihm zu Bauch-
Patienten fasziniert, kann er ruhig und entspannt schmerzen geführt. Als Jugendlicher habe er immer
zuhören, interessiert ihn der Patient, oder ist er an- versucht es allen recht zu machen, nicht aufzufallen
gespannt, gereizt oder gelangweilt? Parallel dazu und durch gute Leistungen Anerkennung zu erwerben.
entstehen Hypothesen zum Zusammenhang zwi- Er lebe seit 5 Jahren mit einer 30-jährigen Frau zusam-
schen aktuellen Beschwerden und der Lebens- und men, könne sich aber nicht entscheiden, diese Frau zu
Beziehungsgeschichte des Patienten. heiraten und gemeinsame Kinder zu haben.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
60 Kapitel 6 · Die biopsychosoziale Anamnese

gleich. Wird der Arzt offen für seine eigene subjek-


tive Anatomie, entwickelt er im Laufe seiner Berufs-
laufbahn einen Resonanzraum, eine »Körperreso-
nanz« für verschiedenste Symptome seiner Patien-
ten. Rollenspiele, in denen der Arzt selber einen
Patienten spielt, zeigen, dass solche Fähigkeiten
schnell erlernt werden können. Die Teilnehmer sind
meistens sehr überrascht, wie anders es sich anfühlt,
in der Patientenrolle zu sein und entwickeln auf die-
se Weise ein neues Verständnis für die Beschwerden
der Patienten. Diese spezifische Empathie bedeutet
eine neue Qualität in der Arzt-Patient-Kommuni-
kation. Sie ergänzt den bisher vom Patienten ge-
6 wonnenen Eindruck durch folgende Aspekte: Was
ist die initiale körperliche Botschaft des Patienten?
Wie ist die Körperhaltung? Wie gibt er mir die
Hand? Wie betritt er das Untersuchungszimmer?
Auch die körperliche Untersuchung ist Kom-
. Abb. 6.1 Biopsychosoziale Anamnese. (Mod. nach Bräuti-
gam et al. 1997; mit freundlicher Genehmigung des Thieme- munikation. Die Art und Weise, wie der Arzt den
Verlags) Patienten anpackt, wie zart oder fest er ihn drückt,
wie lange er die Hand auf Bauch oder Rücken liegen
Jetzt ist mosaikartig ein umfassendes Bild des Pati- lässt, kann Antipathie oder Zuwendung bedeuten
enten entstanden, das es ermöglicht, eine Gesamt- und hat entscheidenden Einfluss auf das Selbstwert-
diagnose zu stellen, die die Beschwerden auf dem gefühl des Patienten. Auch wenn Arzt und Patient
Hintergrund der aktuellen und vergangenen Le- zunächst noch nicht verstehen, woher die Be-
benssituation verständlich machen (. Abb. 6.1). schwerden kommen und was sie aussagen, ist durch
die körperliche Empathie des Arztes eine gemeinsa-
me Wirklichkeit entstanden, die einen Austausch
6.6.1 Einfühlungsvermögen für kör- über Ursachen und Behandlung erst möglich macht.
perliche Beschwerden (Exkurs)

Je besser der Arzt wirklich versteht, welche existen- 6.7 Gesamtdiagnose


tiellen Botschaften und Verletzungen der Patient
mit seinen Beschwerden ausdrückt, desto genauer Eine Gesamtdiagnose (7 Kap. 1 »Was ist psychoso-
wird seine Diagnose sein. Der Weg dorthin führt matische Medizin?«) soll die Fragen beantworten:
über die sogenannte körperliche Empathie (Rude- Was hat bei diesem Krankheitsbild einen somati-
beck 1998), ein Einfühlungsvermögen für das, was schen, was einen psychischen und was einen sozia-
ein anderer Mensch körperlich wahrnimmt, wie er len Bezug und welches Gewicht hat jeder dieser
seine Krankheitssymptome erlebt und wie er darauf Anteile? Durch die biopsychosoziale Anamnese hat
reagiert. der Arzt diese Anteile erkannt, kann sie nun ge-
Der berühmte Neurologe Oliver Sacks behandel- wichten und zueinander in Beziehung setzen
te hirngeschädigte Menschen. Um mit den Symp- (. Abb. 6.2).
tomen seiner Patienten vertraut zu werden, imitierte Der Arzt sollte sich darüber klar sein, welche
er sie häufig. Er zappelte wie ein vom Tourette-Syn- Systemebene (Organe, psychisches Befinden, sozia-
drom Befallener, er fiel in sich zusammen wie ein le Probleme) er fokussiert und warum er gerade
Autist oder zitterte wie ein Parkinson-Kranker. diese Ebene auswählt. Es ist zwar möglich, Aspekte
Dieses körperliche Einfühlungsvermögen ist ein verschiedener Systemebenen simultan wahrzuneh-
diagnostischer und therapeutischer Prozess zu- men, es ist aber sehr schwierig und auch häufig

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
6.9 · Abschluss
61 6
Häufig kann es mehrere Sitzungen dauern, bis
Arzt und Patient gemeinsam das »Drama« verste-
hen und eine Gesamtdiagnose gestellt werden kann.
Auf jeden Fall ist es am Ende der ersten Anamnese-
stunde sinnvoll, gemeinsam mit dem Patienten eine
Art Zwischenfazit zu formulieren (Beispiele s.
7 Kap. 1 »Was ist psychosomatische Medizin?« und
7 Kap. 3 »Ziele der Fort- und Weiterbildung in der psy-
chosomatischen Grundversorgung«).

6.8 Behandlungsplanung

. Abb. 6.2 Das biopsychosoziale Modell: Körperliche, see- Das Ziel der Behandlungsplanung ist, mit dem Pa-
lische und soziale Einflussfaktoren wirken bei jeder Krank- tienten gemeinsam eine Behandlungsstrategie zu
heit in unterschiedlicher Gewichtung zusammen finden, die auch vom Patienten mitgetragen wird.
Dazu gehört auch die Auftragsklärung. Wozu
kommt der Patient? Gibt es versteckte Aufträge? Ist
nicht notwendig, die Aufmerksamkeit auf alle Ebe- der Patient wirklich motiviert z. B. etwas an seiner
nen gleichermaßen zu verteilen. In der hochtechni- Lebensführung zu ändern? Oder erwartet er, dass
sierten Akutmedizin ist die Entscheidung für den der Arzt ihn leitet und versorgt?
organbezogenen Fokus oft notwendig. Psychische A: »Es gibt verschiedene Behandlungsansätze,
und soziale Ebenen treten zunächst zurück, sollten die denkbar sind. Wenn Sie möchten, informiere ich
im weiteren Verlauf aber unbedingt berücksichtigt Sie darüber und wir entscheiden anschließend ge-
werden. meinsam, was für Sie das Beste ist. Wenn Sie möch-
Metaphorisch ausgedrückt bedeutet, eine Dia- ten, kann ich die Entscheidung aber auch aus mei-
gnose zu stellen, einem unsichtbaren Vorgang einen ner Sicht für Sie treffen.«
Namen zu geben, ihn zu einer benennbaren Krank- Die Antwort könnte lauten:
heit zu machen, die behandelbar ist. Anders ausge- P: »Sie sind doch der Experte, entscheiden Sie
drückt: Krankheiten sind so etwas wie unheimliche das.«
Dramen. Der Arzt kann die Beschwerden des Kran- Oder:
ken wie die Worte eines Schauspielers nehmen und P: »Ja, das wäre mir schon lieb, erstmal zu hören,
versuchen, daraus den Namen des Stückes und die was es für Alternativen gibt.«
Spielregeln zu erkennen. Erst wenn der Arzt diese
Zusammenhänge verstanden hat, sollte er sich in
das »Drama« einschalten. Eine Diagnose stellen ist 6.9 Abschluss
also die »Suche« nach dem richtigen Namen für ein
unbekanntes Drama. Die Abschlussphase dient dem Resümee. Dazu
Eine Gesamtdiagnose wird nicht vom Arzt allei- nutzt der Arzt erneut das Mittel der Zusammenfas-
ne gestellt. Vielmehr sollte sich die Anamnese so sung, mit der die Thematik des Gesprächs und die
entwickeln, dass der Patient im Erzählen ein besse- wichtigsten Punkte aufgegriffen werden.
res Verständnis seiner selbst entwickeln kann und
ihm Zusammenhänge deutlich werden. Deutungen Fortsetzung Fallbeispiel
des Arztes sollten im Sinne eines Vorschlages dem Arzt zu Herrn K.: »Wir haben heute ausführlich über
Patienten klar aber auch behutsam angeboten wer- Ihre Bauchschmerzen und die damit zusammenhän-
den. Dann sollte genug Raum und Zeit bleiben, dass genden Probleme gesprochen. Wir haben vereinbart
der Patient seine eigene Resonanz auf die Gesamt- Blut abzunehmen, eine Ultraschalluntersuchung des
diagnose noch spüren und äußern kann. Bauches, eine Gastroskopie und ein Belastungs-EKG

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
62 Kapitel 6 · Die biopsychosoziale Anamnese

durchzuführen. Wir haben auch über Ihre Arbeits- Fall ist darauf zu achten, sich dem Patienten immer
platzprobleme gesprochen. Um darauf nochmal ein- wieder zuzuwenden, vor allem dann, wenn wichtige
zugehen, möchte ich Ihnen gerne einen Termin in Erlebnisse mit heftigen Gefühlen berichtet werden.
den nächsten Tagen vorschlagen. Bei der Gelegen- Es ist auch möglich, den Patienten kurz zu bitten, im
heit werden wir dann auch die Ergebnisse der zwi- Gespräch innezuhalten, um sich einige Notizen zu
schenzeitlich erfolgten Untersuchungen besprechen. machen und dann das Blatt wieder wegzulegen.
Gibt es noch Fragen, die wir jetzt vergessen haben?«
Herr K. war offen gegenüber einer psychosomati- Praxistipps
schen Sichtweise und hat in seinem subjektiven 5 Störende Unterbrechungen des Gesprä-
Krankheitsverständnis schon selbst solche Zusam- ches durch Telefon oder Praxispersonal
menhänge vermutet. Nach 2 unterstützenden Ge- minimieren
sprächen, die das Selbstvertrauen und das Durchset- 5 Sich dem Patienten aktiv zuwenden, nicht
zungsvermögen des Patienten gegenüber seinem
6 Vorgesetzten und Arbeitskollegen förderten, kam es
gleichzeitig den Computer bedienen
5 In den ersten 3 min sich selbst zurück-
zu einer Besserung der Beschwerden. Bei erneutem nehmen und offene Fragen stellen
Auftreten der Magen- und Darmbeschwerden wurde 5 Vor Abschluss des Gespräches gezielte
die Vorstellung bei einem Psychotherapeuten ver- Fragen zur Verständnissicherung stellen
einbart. 5 Am Ende den Inhalt kurz zusammenfassen
5 Gesprächsnotizen nach Möglichkeit erst
Versucht der Patient unmittelbar vor Ende des Ge- nach dem Gesprächsende machen
spräches noch ein weiteres wichtiges Thema zur 5 Gesprächsende und Vereinbarung über das
Sprache zu bringen, so kann der Arzt das Gespräch weitere Vorgehen rechtzeitig ankündigen
auf folgende Weise beenden: »Wir haben nur noch
wenige Minuten Zeit. Das Thema ist sehr wichtig.
Ich schlage vor, dass wir uns dafür noch einmal aus-
führlich Zeit nehmen und nicht jetzt versuchen, auf Literatur
die Schnelle eine Lösung zu finden.«
Zitierte Literatur
Auf diese Weise gelingt es, den Gesprächsrah- Bräutigam B, Christian P, von Rad M (1997) Psychosomatische
men einzuhalten und sogenannte »Türschwellen- Medizin: Ein kurzgefasstes Lehrbuch. Thieme, Stuttgart
Gespräche« zu vermeiden, die in aller Regel für Köhle K (2005) Ärztliche Gesprächsführung und Mitteilung
beide Beteiligten nur unangenehm sind. Weitere schwerwiegender Diagnosen. AG Medizindidaktik. Insti-
Einzelheiten zur Gesprächsführung finden sich in tut und Poliklinik für Psychosomatik und Psychotherapie
Universität Köln
7 Kap. 5.
Rudebeck C (1998) The doctor, the patient and the body.
Proceedings of the eleventh international Balint Con-
gress 1998. Edited by John Salinsky. Limited Edition Press,
6.10 Dokumentation Southport

Weiterführende Literatur
Schriftliche Aufzeichnungen während des Erstge-
Adler RH, Hemmler W (1992) Praxis und Theorie der Anam-
sprächs können die Aufmerksamkeit gegenüber nese. 3. Aufl. Fischer, Stuttgart
dem Patienten beeinträchtigen. Ist der Arzt noch
nicht so erfahren, ein Gespräch anschließend kurz
niederzuschreiben, oder ist er es gewohnt aufzu-
schreiben, dann wird er ohne Notizen nicht aus-
kommen. Wichtig ist aber, den Patienten darüber
vorher zu informieren und sein Einverständnis ein-
zuholen. Es sollten dann aber nur markante Daten
und wichtige persönliche Formulierungen des Pati-
enten in Stichworten festgehalten werden. Auf jeden

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
63 7

Das Paar- und Familiengespräch


Werner Geigges, Dietrich Noelle, Michael Wirsching

7.1 Theoretischer Teil – 64


7.1.1 Konzept des Lebenszyklus – 64

7.2 Praktischer Teil – 66


7.2.1 Das Familiengespräch im medizinischen Kontext – 66
7.2.2 Phasen des Familiengesprächs – 67
7.2.3 Erstellung eines Genogramms – 70
7.2.4 Techniken der Gesprächsführung – 71

Literatur – 73

K. Fritzsche et al. (Hrsg.), Psychosomatische Grundversorgung,


DOI 10.1007/978-3-662-47744-1_7, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
64 Kapitel 7 · Das Paar- und Familiengespräch

Fallbeispiel 7.1 Theoretischer Teil


Die 33-jährige Frau A. ist verheiratet mit dem 36-jäh-
rigen Herrn A. und Mutter einer Tochter (9 Jahre) und 7.1.1 Konzept des Lebenszyklus
eines Sohnes (11 Jahre). Frau A. erhält die Diagnose
eines Morbus Hodgkin, Stufe CS IV. Zu Beginn der Er- Das Konzept des Lebenszyklus (McGoldrick u. Ger-
krankung hält die Familie eng zusammen. Der Mann son 1990) geht davon aus, dass Familien im Laufe
sagt alle Freizeitaktivitäten ab, engagiert sich sehr für ihres Lebens verschiedene Phasen durchlaufen, wie
seine Kinder und besucht seine Frau regelmäßig z. B. Paarbildung, Elternschaft, Altwerden usw.
während der stationären Aufenthalte. Das familiäre (. Abb. 7.1). Jede dieser Phasen stellt wie jede ande-
Gefüge wird vor allem durch die Betonung komple- re Veränderung des Familiengleichgewichts, eine
mentärer Beziehungsformen stabilisiert: Zeichen der potentielle Bedrohung für die bisherige Organisa-
Schwäche bei Frau A. führen zu ausgesprochener tionsform der Familie dar. Neue Mitglieder kom-
Stärkedemonstration bei Herrn A., der offenbar ganz men hinzu, sei es durch Geburt, Adoption, Freund-
problemlos mit seiner neuen Aufgabe als Haupterzie- schaften oder Ehen, andere verlassen die Familie
hungsperson zurechtkommt. Zeigt sich Frau A. ent- durch Trennung, Scheidung oder Tod. Die Phasen,
7 mutigt, verhalten sich v. a. die Kinder betont optimis- durch die Familien gehen, sind nicht willkürlich,
tisch und versorgen ihre Mutter z. B. mit frohstim- sondern lassen sich in Stadien einteilen, die charak-
menden Kinderzeichnungen. Negative Gefühle wer- teristische Erscheinungsformen mit für sie typi-
den zugunsten von Harmonie und Stabilität reguliert, schen Problemen aufweisen. Ein erfolgreiches Ab-
Konflikte abgeschwächt oder verborgen. Zehn Mo- solvieren dieser Stadien des Lebenszyklus ist eine
nate nach der Krebsdiagnose zeigen sich deutliche notwendige Voraussetzung für Wachstum und Wei-
Veränderungen des familiären Interaktionsmusters: terentwicklung in Familien. Die Fähigkeit, solche
Der 11-jährige Sohn wird zunehmend aggressiv und Veränderungen gemeinsam durchzustehen, ist we-
erlebt einen Leistungseinbruch. Der Arzt lädt die Fa- sentlich davon bestimmt, wie erfolgreich die voran-
milie zu einem Familiengespräch ein. gegangen Phasen bewältigt wurden. Manchmal
entwickelt ein Familienmitglied gerade dann, wenn
ein Familie große Mühe hat, sich an veränderte Be-
dingungen anzupassen, Symptome und sucht Hilfe

. Abb. 7.1 Das Konzept des Lebenszyklus. (Aus McGoldrick u. Gerson 1990; mit freundlicher Genehmigung)

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
7.1 · Theoretischer Teil
65 7
bei Ärzten bzw. Beratungsstellen. Es ist daher stets gleichzeitigem Gefühl der Zusammengehörigkeit
hilfreich, sich in solchen Situation zu überlegen, in scheint für diese Phase sehr wesentlich. Enkelkin-
welchem Übergangsstadium sich die Familie zu die- der übernehmen später häufig die Funktion, die
sem Zeitpunkt befindet. Generationen wieder näher zusammenzubringen.
In der Arbeit mit schwer erkrankten älteren Patien-
Das junge Paar ten wird die Beziehung zu den Enkelkindern sehr
Wenn etwa bei einem jung vermählten Paar, das ge- häufig als eine der wesentlichsten Bewältigungsres-
rade mit dem Aufbau eines neuen familiären Sys- sourcen sichtbar, eng verbunden mit dem Gefühl
tems und gleichzeitig mit der Ablösung von den »noch gebraucht zu werden«.
jeweiligen Herkunftsfamilien beschäftigt ist, eine
schwere Erkrankung, wie etwa eine Krebserkran- Familie als Ressource und
kung diagnostiziert wird, ist die Beziehung häufig Unterstützungssystem
sehr bedroht. Der betroffene Partner kann in die Ehepartner oder Lebensgefährten haben einen grö-
Abhängigkeit und Intimität seiner Herkunftsfamilie ßeren Einfluss auf gesundheitsrelevante Lebensge-
zurückfallen; die Herkunftsfamilie regelt dann häu- wohnheiten als irgendeine Person, einschließlich
fig anstehende Entscheidungen ohne den neuen des behandelnden Arztes. Vor allem der Zwang zur
Lebenspartner adäquat einzubeziehen. Kosteneinsparung im Gesundheitssystem führt zur
Wiederentdeckung des familiären Unterstützungs-
Familien mit Kindern in der Adoleszenz systems als wichtige Ressource. In zahlreichen Un-
Die Hauptaufgabe dieser Entwicklungsphase ist die tersuchungen (Black et al. 1990) konnte gezeigt
allmähliche und doch definitive Ablösung der Kin- werden, dass familienorientierte Programme z. B.
der, die sich mehr und mehr ihrer »Peergruppe« zur Änderung des Essverhaltens oder zur Reduzie-
zuwenden und auf der Suche nach eigener Identität rung kardiopulmonaler Risikofaktoren erfolgrei-
und eigenen Lebenszielen sind. In einer solchen Si- cher und kostengünstiger sind, als Programme, die
tuation führt eine schwere Erkrankung eines Fami- sich auf den einzelnen Patienten beziehen. Dia-
lienangehörigen leicht zu Abbruch bzw. Aufschub betes- und asthmakranke Kinder profitieren be-
dieser Ablösungsdynamik. Regressionstendenzen sonders von familientherapeutischen Interventio-
und ein schwerer Abhängigkeits-Autonomiekon- nen im Hinblick auf Blutzuckerspiegel, geringere
flikt können die Folge sein, Individuationsbemü- Anfallshäufigkeit, Medikamentenreduktion und
hungen werden oft schuldhaft verarbeitet, die soge- Krankheitstage (Campbell u. Patterson 1995).
nannte Ausbruchsschuld. Erkrankt ein Elternteil an
einer schweren Erkrankung werden heranwachsen- Familie als belastetes System
de Kinder häufig mit entsprechenden Elternfunk- Der Wandel von akuten zu chronischen Krankheits-
tionen betreut und damit wieder stark an die Fami- bildern mit der Notwendigkeit, chronisch kranke
lie gebunden. Dies hemmt ihren Ablösungsprozess, Patienten sowohl zu Hause als auch im Kranken-
selbst wenn sie sich diesem Aufgabentransfer ver- haus zu versorgen, setzt Familien zunehmenden
weigern und sich zurückziehen, da erfolgreiche Belastungen aus. Die medizinischen Fortschritte
Individuation stets »bezogene Individuation« be- ließen eine Vielzahl neuer Probleme für Familien
deutet: »Wir können uns nur mit – und müssen uns entstehen: z. B. in der Transplantationsmedizin, ins-
gleichzeitig gegen – unsere wichtigen Bezugsperso- besondere bei Lebensspendern zwischen biologisch
nen individuieren« (Stierlin et al 1983). oder sozial eng verwandten Menschen oder in der
Reproduktionsmedizin.
Im Alter Neben psychischen Erkrankungen greifen auch
In der Phase des Alterns hängt das partnerschaftli- schwere körperliche Erkrankungen eines Elternteils
che Miteinander der Eltern und das Miteinander auf vielfache Weise in die Beziehung zwischen El-
mit den erwachsenen Kindern wesentlich davon ab tern und Kind ein und können die psychosoziale
wie die Adoleszenzphase und deren Wirren durch- Entwicklung nachhaltig schädigen. Analog zu
laufen wurden. Das Getrenntsein-Können bei Schätzungen in den USA kann davon ausgegangen

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
66 Kapitel 7 · Das Paar- und Familiengespräch

werden, dass auch in Deutschland 5–15 % aller Kin- sourcen zur Krankheitsverarbeitung. Der Auftrag
der und Jugendlichen einer solchen gravierenden zum Gespräch ist primär durch die Krankheit
Belastung einmal, mehrfach oder chronisch ausge- bestimmt.
liefert sind. Trotz der zahlenmäßigen Relevanz ist
diese Problematik in unserem Versorgungssystem Krankheitsgeschichte erfragen
bislang weder klinisch noch wissenschaftlich, noch Um die »Krankheit« als medizinisches Konstrukt
im Hinblick auf präventive Konzepte ausreichend bildet sich ein Netzwerk von Geschichten, durch die
berücksichtigt. Insbesondere bei Krebserkrankun- Krankheit zum sozialen Phänomen, zur »geteilten«
gen eines Elternteils oder bei neurologischen Er- familiären Wirklichkeit wird. Wie das autobiografi-
krankungen, wie z. B. multiple Sklerose und Epilep- sche Narrativ ist auch das familiäre Narrativ, als
sie, finden sich bei den Kindern in bis zu 50 % ma- Sammlung von Geschichten über familiäre Erfah-
ladaptive Bewältigungsmuster (Riedesser 1999). rungen in der Bewältigung von Lebensereignissen
Im Falle einer Erkrankung können folgende und Lebenskrisen ein Realitätskonstrukt, das über
Stressoren in Familien und Beziehungen auftreten: Generationen hinweg die Reaktionen von Familien
4 Verschiebung der Balance zwischen Geben auf bedrohliche Krankheiten prägt. Wichtige Fra-
7 und Nehmen; gen in Familiengesprächen sind daher:
4 ungelöste chronische Konflikte, die nicht mehr 4 Welche familiären Lebenserzählungen durch-
länger zu umgehen oder unterdrücken sind ziehen wie ein »roter Faden« die Schilde-
unter der Last der körperlichen Krankheit; rungen der Familienmitglieder?
4 Gefühl der Entfremdung durch körperliche 4 Welche Wirklichkeitskonstruktionen im
und mentale Überlastung beider Partner; Hinblick auf Ätiologie, Verlauf und Bewälti-
4 erhöhte Hilflosigkeit, Aggression, Gefühle von gung von Krankheiten bzw. von erfolgreichen
Abscheu und der damit verbundenen Schuld Heilungsstrategien sind in diesen Erzählungen
des Patienten und/oder Betreuers. erhalten?

Orientierung am Anliegen der Familie


7.2 Praktischer Teil Hier geht es vor allem darum, die Bewältigungs-
muster einer Familie, auch wenn sie von außen be-
7.2.1 Das Familiengespräch im trachtet eher dysfunktional erscheinen, nicht von
medizinischen Kontext vornherein zu kritisieren und zu disqualifizieren,
sondern sie als in der aktuellen Situation subopti-
McDaniel et al. (1997) empfiehlt folgende therapeu- male Lösungsversuche zu würdigen und den Bei-
tische Strategien für Paar- bzw. Familiengespräche trag der Einzelnen im Hinblick auf das Weiterfunk-
im medizinischen Kontext: tionieren der Gesamtfamilie zu anerkennen. Es
dient dem Abbau von Schuldzuweisungen und
Medizinische Dimension der Krankheit Schuldgefühlen und bewirkt eine unmittelbare
erkennen und anerkennen emotionale Entlastung. Häufig kommt es z. B. vor,
Anders als in der Paar- und Familientherapie, geht dass Familienmitglieder bei lebensbedrohlichen Er-
es bei Paar- und Familiengesprächen im medizini- krankungen ihre eigenen Lebensaufgaben ganz zu-
schen Kontext um Familien, die mit einer Krank- rückstellen und sich gänzlich in den Dienst des er-
heit nicht oder nur unzureichend zurechtkommen. krankten Familienmitglieds stellen, andere wieder-
Im Mittelpunkt stehen die Erkrankung und ihre um suchen die Distanz und werden in der Familie
Auswirkungen auf die Familienmitglieder. Am An- selbst oft als undankbar verurteilt und tendenziell
fang bedarf es meistens der Erläuterung der Krank- ausgestoßen. Aus einer systemischen Perspektive
heit, ihrer Prognose und des wahrscheinlichen kann es gelingen, beide Aspekte als wichtige Aufga-
Krankheitsverlaufs als aktiver Beitrag des Arztes ben innerhalb des familiären Systems in der Krise
der Familie gegenüber. Der therapeutische Fokus zu beschreiben und damit tendenziell auch wieder
liegt im Unterstützen von Kompetenzen und Res- miteinander zu versöhnen.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
7.2 · Praktischer Teil
67 7
Förderung offener Kommunikation Der Arzt als Moderator
und gegenseitiger Unterstützung Wenn der Arzt sich im Paar- oder Familiengespräch
Hier geht es vor allem darum, der Familie in der als Moderator versteht, ohne der Versuchung zu er-
Verarbeitung von Informationen bei Prognose, liegen, dem Paar oder der Familie Ratschläge zu
Krankheitsverlauf und Behandlungsplan Zeit zu erteilen, kann es gelingen, einen offenen Austausch
lassen und Gelegenheit zu erneuten Gesprächen an- innerhalb der Beziehungen zu fördern und dem
zubieten, auch sie zu kritischen Fragen und Einwän- Paar oder der Familie zu vermitteln, dass sie selbst
den zu ermuntern. durch ihre veränderten Handlungsmuster den posi-
Besonders wichtig ist es, alle Familienmitglieder tiven Therapieverlauf fördern und unterstützen
als Betroffene anzuerkennen und sie dabei zu unter- können.
stützen, möglichst alle Gefühle der Betroffenheit
zuzulassen. Diese emotionalen Reaktionen induzie-
ren bei Familienangehörigen häufig Ängste: Aus der 7.2.2 Phasen des Familiengesprächs
Rolle zu fallen, psychiatrisch auffällig zu erschei-
nen, sozial ausgegrenzt zu werden. Die Scham, die- Phase 1: Warm werden (Joining)
se emotionale Reaktion sozial nicht kommunizieren Joining (d. h. sich an das Paar oder die Familie an-
zu können, ist meist spürbar und führt dazu, dass zukoppeln) heißt, mit jedem einzelnen Familien-
Gedanken und Gefühle sowohl den behandelnden mitglied eine Verbindung aufzunehmen, es wissen
Ärzten wie den eigenen Angehörigen gegenüber zu lassen, dass man Wert darauf legt, auch seine
zurückgehalten werden. Emotionale Reaktionen Meinung kennenzulernen.
lösen unter den Familienmitgliedern häufig starke Eine ganze Familie bzw. ein Paar in die Praxis
Unsicherheit und Hilflosigkeit aus. Hier kann the- oder in die Klinik einzuladen, ist ein sehr viel offi-
rapeutische Unterstützung ansetzen: Sie kann hel- ziellerer Akt als die einzelnen Familienmitglieder
fen, den Prozesscharakter der emotionalen Reak- bei einem Hausbesuch bzw. bei Angehörigenbesu-
tion und deren Bedeutung für eine erfolgreiche chen in der Klinik zu sehen. Der Unterschied be-
Bewältigung zu vermitteln und die emotionale La- steht vor allem darin, dass die Initiative zu solchen
bilität des Kranken bzw. anderer Familienmitglieder Paar- oder Familiengesprächen in der Regel vom
als positiven Bewältigungsaspekt umzudeuten. Der Arzt ausgeht und es deswegen an ihm liegt, das Ge-
akzeptierende Umgang mit direkt oder indirekt ge- spräch zu eröffnen und die Situation zu erklären,
äußerten Gefühlen hilft letztlich den einzelnen Be- seine Vorstellungen und Anliegen offen zu legen:
troffenen, aus ihrer individuellen Wirklichkeit wie- Eine bewährte Formulierung um eine Familie
der in die soziale Wirklichkeit der Familie bzw. der zum Gespräch einzuladen:
Umgebung zurückzukehren. Alle konfrontierenden A: »Bei einer ernsten Erkrankung und wenn es
Äußerungen sind möglichst zu vermeiden, der um die Behandlung geht, sollten sich alle Beteiligten
Schwerpunkt liegt auf der Betonung und dem Beja- an einen Tisch setzen. Wir würden gerne auch Ihren
hen der Stärken und Eigenheiten einer Familie. Angehörigen anbieten, ihre Meinungen und Fragen
Um dem Gefühl vieler betroffener Familien hier einzubringen. Deshalb schlage ich ein gemein-
alleingelassen zu sein entgegenzuwirken, sollten sames Gespräch vor.«
erste Familiengespräche auch psychoedukative Be-
ratung und Unterstützung anbieten: Information jKommentar:
über die Krankheit und mögliche Bewältigungs- Mit diesen einleitenden Sätzen wird als Anlass für
strategien, Geschichten darüber, wie andere Fami- das gemeinsame Gespräch bereits am Anfang die
lien Antworten auf die Herausforderung schwerer gemeinsame Unterstützung und Hilfe für den Pa-
Krankheit suchen. Daneben ist es hilfreich, den tienten ganz in den Vordergrund gerückt, um schon
Kontakt zu anderen Familien zu fördern, bzw. In- früh Ängste der Familienangehörigen (»Was hat er
formationen über regionale Selbsthilfegruppen für wohl dem Arzt erzählt?« »Sind wir jetzt womöglich
Patienten und Familien mit speziellen Krankheiten Schuld am Ausbruch der Krankheit?« usw.) abzu-
weiterzugeben. bauen.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
68 Kapitel 7 · Das Paar- und Familiengespräch

Als nächster Schritt empfiehlt sich das Setting, 4 Institutioneller Kontext:


d. h. den Gesprächskontext zu erläutern und die 4 Vor allem im klinischen Kontext ist es wichtig,
Dauer des Gespräches. Wichtig ist, der Familie bzw. dass die für den diagnostischen und therapeu-
dem Paar die Verantwortung zu geben, selbst zu be- tischen Prozess verantwortlichen Ärzte in das
stimmen, über welche Themen gesprochen werden gemeinsame Familiengespräch direkt einbezo-
soll, bzw. welche ausgespart werden sollen. gen werden, da ansonsten die große Gefahr
Wichtigste Voraussetzung für ein gutes Ge- besteht, dass die Familie sich im Laufe einer
spräch ist es dann, mit jedem einzelnen Mitglied stationären Behandlungsphase mit ganz unter-
einen guten Kontakt aufzubauen. Dies ist besonders schiedlichen professionellen Sichtweisen der
wichtig, da der Arzt nicht allen Personen in gleicher Krankheit und ihrer Konsequenzen auseinan-
Weise vertraut ist und einige den Eindruck haben dersetzen muss und dadurch zusätzlich
könnten, er stünde mehr oder weniger auf der Seite belastet wird.
des Patienten. 4 Auftragsklärung – die Familie und ihre unter-
A: »Ich kenne Sie, Frau A., und Sie, Herrn A., schiedlichen Behandler:
schon seit vielen Jahren, Ihre Kinder dagegen nur 4 Hier ist zu klären, welche anderen Ärzte, Psy-
7 flüchtig. Wer mag mir die Familie etwas näher vor- chotherapeuten bzw. Beratungsstellen, Heil-
stellen und mir noch mal ihre Namen und ihr Alter praktiker usw. in die gesundheitlichen Pro-
nennen. Vielleicht kann ja jeder einige kurze Worte bleme der Gesamtfamilie involviert sind und
über die Person, die neben ihm sitzt sagen, wo er/sie wie diese anderen Behandler über die aktuelle
wohnt und was sie beruflich machen und wer im Krise der Familie denken, bzw. urteilen.
Moment zusammenwohnt?« 4 Erwartungen an das Paar- bzw. Familien-
Sind Kinder mit im Gespräch so hat sich gespräch:
bewährt, kurz persönlichen Kontakt auch mit ih- 5 »Anna, was denkst Du weshalb Ihr alle
nen aufzunehmen, um von Anfang an ein Zeichen heute in meiner Praxis zusammengekom-
der Gleichwertigkeit aller Familienmitglieder zu men seid?«
setzen, damit sich vor allem kleinere Kinder nicht 5 »Wie hat Vater Dir erklärt, weshalb ihr
von vornherein langweilen und evtl. das weitere heute hier zu mir kommen sollt?«
Gespräch stören. Dafür ist es auch wichtig, eine 5 »Wer in der Familie war eher skeptisch der
kleine Spielecke im Zimmer zu haben, bzw. die El- Idee eines gemeinsamen Familiengesprächs
tern zu bitten den Kindern ein Spielzeug bzw. Mal- gegenüber?«
sachen zu geben, damit die Kinder im Gesprächs- 5 »Wer in der Familie teilte diese Ansicht am
verlauf sich immer wieder auch selbst beschäftigen ehesten?«
können. Wenn wir uns direkt mit Fragen an die 5 »Paul, wie hat Vater es geschafft, dass Ihr
Kinder richten, so hat sich bewährt, zuvor die El- euch alle zusammen heute die Zeit nahmt,
tern um Erlaubnis zu einem Gespräch mit ihren um hier in meiner Praxis dieses gemein-
Kindern zu bitten und ihnen ein »Vetorecht« im same Gespräch zu führen?«
Umgang mit schwierigen Themen einzuräumen,
d. h. ihnen auch eine Mitverantwortung für den Durch solche Fragen werden Familien zu einer di-
Verlauf des Gesprächs und den Umgang mit ihren rekten Kommunikation miteinander während des
Kindern zu übertragen. In Familiengesprächen Gespräches angeregt. Die dadurch angestoßenen
passiert leicht, dass Themen berührt werden, die Familieninteraktionen bieten in diagnostischer
die Eltern nicht in Gegenwart ihrer Kinder bespre- Hinsicht die Möglichkeit, genau zu beobachten, wie
chen wollen. die Familienmitglieder miteinander reden, wer wen
unterstützt, bzw. abwertet, wie die familiäre Hierar-
Phase 2: Kontext und Auftragsklärung chie sich darstellt und wer welche Rollen in der Fa-
Im Vorfeld und zu Beginn des Familiengespräches milie einnimmt (. Abb. 7.2).
sollten folgende Punkte angesprochen und geklärt Wichtig ist, dass alle Mitglieder in der Anfangs-
werden: phase des Gesprächs die Möglichkeit haben, ihre

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
7.2 · Praktischer Teil
69 7
5 Welches sind die Ziele und Pläne einer
Familie und wie wirkt sich die Erkrankung
darauf aus?
5 Wie sieht jedes einzelnes Familienmitglied
die Veränderungen, die durch die Erkran-
kung angestoßen wurden?
4 Verfügbare Ressourcen:
5 Welche finanziellen Ressourcen sind ver-
fügbar, wenn ein Einkommen ausbleiben
sollte?
5 Welche Ressourcen stehen zur Verfügung:
Verwandte, Freunde, Selbsthilfegruppen
. Abb. 7.2 Cartoon: Und wie steht es bei Ihnen zuhause?
(Zeichnung: Gisela Mehren) usw.?
4 Frühere Erfahrungen mit ähnlichen
Situationen?
Wünsche und Erwartungen, aber auch Ängste und 5 Welche Bewältigungsstrategien benutzte die
Befürchtungen dem gemeinsamen Familienge- Familie in früheren Krisen?
spräch gegenüber ausdrücken zu können. 5 Wie sieht die Krankheitsanamnese der
Familie aus und wie sehen die darin erwor-
Phase 3: benen Erfahrungen aus?
Die Krankheit und ihre Auswirkungen
Die 3. Phase des Familiengespräches hat die Krank- Phase 4: Behandlungsplanung
heit und ihre Auswirkungen aus verschiedenen Per- Durch das Joining, die Kontextklärung und die im
spektiven zum Thema. Die folgenden Punkte soll- Laufe des Gespräches immer genauere Fassung der
ten angesprochen werden: gesundheitlichen Probleme und der damit verbun-
4 Die Krankheit: denen Beziehungswirklichkeiten bildet sich allmäh-
5 Was ist anders geworden in der Familie seit lich eine Vorstellung über die Richtung möglicher
dem Ausbruch der Erkrankung? Veränderungen aus.
5 Was wurde von der Familie und von den A: »Wir haben jetzt von Ihnen allen gehört, wie
einzelnen Familienmitgliedern bereits alles Sie über die Krankheit von Frau A. denken und wel-
versucht, um dem kranken Familienmit- che Auswirkungen dies für die Gesamtfamilie und
glied zu helfen? für die Einzelnen von Ihnen hat. Was wäre ein gutes
5 Was hat am besten geholfen? abschließendes Ergebnis unseres Familiengesprä-
5 Was versteht die Familie unter der Krank- ches für die gesamte Familie bzw. für jeden von Ih-
heitsdiagnose? nen? Gibt es konkrete Veränderungsideen und wie
5 Welches Verständnis der Therapiemaßnah- könnten die Wege dahin aussehen, so dass Sie alle
men und deren Nebenwirkungen ist vor- davon profitieren könnten?«
handen?
5 Welche Überzeugung in Hinsicht auf die Phase 5: Gesprächsabschluss
Prognose und Heilbarkeit herrschen vor? Familientherapeuten legen nach ca. 60–90 min ei-
4 Die Bedrohung für die familiären Beziehungen nes Familiengespräches eine Pause von ca. 10 min
und die Zukunftspläne: ein, um die erhaltene Information noch einmal zu
5 Wie werden innerhalb der Familie Rollen, ordnen, die eigenen Hypothesen zu überprüfen, die
Beziehungen und Kommunikationsmuster Allparteilichkeit zu reflektieren und einen Ab-
definiert? schlusskommentar zu entwickeln. Durch die Ge-
5 Nach welchen Mustern werden innerhalb sprächspause und die Ankündigung, danach nur
der Familie Entscheidungen herbeigeführt, kurz zusammenfassend die Sicht der Therapeuten
aktuell und vor der Erkrankung? mitzuteilen und Vereinbarungen zu treffen für den

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
70 Kapitel 7 · Das Paar- und Familiengespräch

weiteren Verlauf der Behandlung, wird eine beson- 7.2.3 Erstellung eines Genogramms
dere Aufmerksamkeit auf Seiten des Paares bzw. der
Familie erzeugt. Auch der Patient hat nochmals die Genogramme sind grafische Darstellungen einer
Möglichkeit sich über das laufende Gespräch auszu- über mehrere Generationen reichenden Familien-
tauschen. In begrenztem Umfang ist dies auch im konstellation. Sie zeigen Positionen in der Ge-
medizinischen Kontext möglich. schwisterreihe, Todesfälle, Krankheiten, Symptome,
Die Abschlussintervention besteht aus mehre- Lebensereignisse usw. in übersichtlicher Form. Sie
ren Elementen: werden im Rahmen eines Anamnesegesprächs mit
Am Anfang steht in der Regel eine positive Kon- Einzelpersonen bzw. Familien erstellt.
notation, das heißt jede Person wird in positiver Der Vorschlag, ein Genogramm zu zeichnen,
und wertschätzender Weise in ihrem Verhältnis zur kann vom Arzt auf folgende Weise eingeführt wer-
Familie und zum vorgetragenen Problem gewürdigt den: »Wir haben uns jetzt ausführlich über Ihr Pro-
und die Leistung der Familie als Ganzes, Lösungen blem unterhalten, ich würde mir jetzt gerne noch
für einen Problemkreislauf zu finden, anerkannt. ein Bild darüber machen, welche Krankheiten in
Die primär problematischen Verhaltensweisen sol- Ihrer Familie vorgekommen sind und welche Men-
7 len in einen sinnvollen Zusammenhang zur Ent- schen zu Ihrer Familie gehören. Während Sie erzäh-
wicklung der Familie gebracht werden, im Sinne len, zeichne ich diese Informationen gerne gemein-
suboptimaler Lösungsversuche. Ziel ist die Verflüs- sam mit Ihnen auf, nach Art eines Familienstamm-
sigung starrer Verhaltensmuster und einseitig Pa- baums, sodass ich mich dann auch später wieder
thologie-orientierter Sichtweisen. daran erinnern kann, wer wer ist.«
Positive Konnotation am Beispiel der Fami- Durch vorsichtige Kommentare zu den Ereig-
lie A.: nissen bieten sich zahlreiche Möglichkeiten, in ein
Die Veränderungen in der Paarbeziehung wer- vertiefendes Gespräch mit dem Patienten einzustei-
den positiv konnotiert als notwendige Verände- gen, z. B.:
rungs- und Anpassungsprozesse i. S. einer jetzt dy- 4 »In Ihrer Familie befinden sich viele Menschen
namischeren Beziehungsregulation, die nach der mit chronischen Kopf- und Bauchschmerzen,
initialen, fast symbiotischen Nähe auch neue Dis- wie denken Sie darüber?«
tanzierungsmöglichkeiten erfordert. Der verstärkte 4 »Sie waren damals 6 Jahre alt, als Ihr Vater
berufliche Einsatz und die Wiederaufnahme von starb ... erinnern Sie sich noch an diese Zeit?«
Vereinsaktivitäten durch Herrn A. sowie das Enga- 4 »Ist Ihnen aufgefallen, dass bestimmte Ereig-
gement von Frau A. für andere betroffene Krebspa- nisse gleichzeitig eintraten, z. B. Ihre Mutter
tienten im Rahmen einer Selbsthilfegruppe werden starb, als Ihre Tochter zur Welt kam?«
so umgedeutet. Die intensive Suche nach symbioti- 4 »Verwundert es Sie, dass die männlichen
scher Nähe zur Mutter beim 11-jährigen Sohn wird Familienmitglieder in Ihrer Familie immer
ebenfalls positiv konnotiert, als Versuch die Mutter sehr früh starben?«
zu unterstützen und ihre unausgesprochenen Ängs- 4 »Ihre Großmutter hat ihre Krebskrankheit
te mit seinem Verhalten auszudrücken. überlebt, was wissen Sie über ihre Art mit der
Das Ende des Gesprächs beinhaltet auch Unter- Krankheit umzugehen? Was hat ihr damals
stützung und Rat: geholfen?«
4 Informationen über lokale Selbsthilfegruppen
für Patienten und Familien, Die Erstellung eines Genogramms (s. . Abb. 7.3)
4 Informationen darüber, wie andere Familien erfolgt in drei Schritten:
eine schwere Erkrankung gemeistert haben, 1. Alle Familienmitglieder und ihre Beziehungen
4 Herstellung des Kontakts zu solchen Familien. werden aufgezeichnet. Dabei wird mit den
Kindern oder dem Paar als Kernfamilie an-
gefangen. Dann werden die Großeltern hinzu-
gefügt. Insgesamt sollen nach Möglichkeit 3
Generationen miteinbezogen werden.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
7.2 · Praktischer Teil
71 7
Klaus Erna Jürgen Klara

45 J. (Carcinom) 72 J. 70 J. (Lungenkrebs) 68 J.
∞ ∞

Herr A. Frau A.

36 J. 33 J. Morbus Hodgkin

Paul Anna

11 J. Schulprobleme 9 J.

Die gebäuchlichsten Symbole und ihre Bedeutung


Mann unbekannt De-fakto-Beziehung Scheidung
gestorben
Frau verheiratet Trennung lebt außerhalb der
Hausgemeinschaft

. Abb. 7.3 Genogramm der Beispielsfamilie von Frau A.

2. Im zweiten Schritt werden Angaben zur Fami- dient nicht nur der Informationsgewinnung, es er-
liengeschichte hinzugefügt: Alter, Geschlecht, öffnet auch neue Denkweisen und Perspektiven in
Heirat, Scheidung, Fehlgeburten, Tod und der Familie.
ernsthafte Krankheiten sowie kritische
Familienereignisse. Direkte Fragen
3. Jetzt werden die hauptsächlich vorkommenden Direkte Fragen beziehen sich auf Fakten, Ursachen
Beziehungen unter den Familienmitgliedern sowie Verhaltens- und Erlebnisweisen, die dem Ein-
nochmals besonders hervorgehoben. zelnen gut zugänglich sind. Beispiele:
4 Wann traten die ersten Symptome auf?
4 Wem sind diese Symptome zuerst aufgefallen?
7.2.4 Techniken der Gesprächsführung 4 Wie reagieren Ihre Angehörigen auf Ihre
Krankheit?
Eine aktive strukturierende Gesprächsführung ist 4 Mit wem sprechen Sie über Ihre Beschwerden?
die Voraussetzung für einen förderlichen Umgang Mit wem eher nicht?
mit der Problemsituation der Familie. Dabei gilt es, 4 Wer hat wohl am meisten Angst vor der Er-
eine gute Balance zu finden, zwischen der natürli- krankung?
chen Selbstinszenierung der Familie, deren sponta-
nem Kommunikationsverhalten und dem sehr Indirekte oder zirkuläre Fragen
strukturierten zirkulären Vorgehen. Für diese aktive Wenn wir in einer Paarbeziehung bzw. in einer Fa-
und strukturierende Gesprächsführung sind in milie jedes Mitglied nach der eigenen Meinung zu
Paar- und Familiengesprächen unterschiedliche einer Krankheit bzw. einem Problem und dessen
Fragetechniken sehr sinnvoll. Fragen zu stellen, Auswirkungen befragen, erhalten wir häufiger inte-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
72 Kapitel 7 · Das Paar- und Familiengespräch

ressantere Informationen, wenn wir auf eher indi- eine indirekte Weise die Selbstwirksamkeit der ein-
rekte Weise fragen: »Anna, was glaubst Du denn, wie zelnen Familienmitgliedern dem Krankheitspro-
Dein Vater über die Krankheit der Mutter denkt?« blem gegenüber. Beispiele:
Diese indirekte Fragetechnik wird auch als zir- 4 Angenommen die Migräneanfälle Ihrer Frau
kulär bezeichnet, weil sie dazu dient, die Sichtweise würden deutlich seltener auftreten, was würde
einer dritten Person über die Beziehung zweier an- Ihre Frau (und Ihre Familie) gewinnen, was
derer zu erfragen. Hierdurch lernen die Behandler, würde dies für die konkrete Beziehungsgestal-
aber auch die Familienmitglieder auf spielerische tung im Alltag bedeuten?
Weise die unterschiedlichen Sichtweisen der einzel- 4 Angenommen, eines Ihrer Kinder würde sich
nen Familienmitglieder kennen. Selbst wenn diese dafür entscheiden, wieder zu Hause einzuzie-
Angehörigen ihre Reaktion im Familiengespräch hen und ganz für die Eltern da zu sein, wer
selbst nicht zum Ausdruck bringen, werden sie an- wäre das am ehesten?
schließend gemeinsam darüber reden, wie die Ein- 4 Angenommen wir würden uns in 5 Jahren
zelnen in Gegenwart eines Fremden (des Arztes) die hier wieder zu einem Familiengespräch treffen,
unterschiedlichen Beziehungen in der Familie be- was denken Sie, werden die Eltern noch zu-
7 schrieben. Solche zirkulären Fragen laden dazu ein, sammenleben? Wird Eva sich für ihren Freund
sich in die Gedankenwelt der anderen hineinzuver- entschieden haben? Wird Richard noch zu
setzen und Beziehung bewusst zu definieren. Da- Hause leben?
durch erhalten solche Gespräche neben ihrem dia-
gnostischen Wert auch eine therapeutische Bedeu- Lösungsorientierte Fragen
tung, da sie Menschen helfen können, die Dinge Mit lösungsorientierten Fragen wird der Blick von
unterschiedlich zu sehen, unausgesprochene Mei- der Krankheit weg auf symptomfreie Zeiten ermög-
nungsverschiedenheiten und Konflikte offenzule- licht.
gen und durch neue Wirklichkeitsdefinitionen erste 4 Wie oft (wie lange, wann) ist die Symptomatik
Schritte zu Lösungen einzuleiten. nicht aufgetreten? Was haben Sie und andere
in diesen Zeiten anders gemacht?
Klassifikationsfragen
Durch Klassifikationsfragen werden Unterschiede Ungünstige Gesprächstechniken in
in Sichtweisen und Beziehungen greifbarer. Beipiele: Paar- und Familiengesprächen
4 Wer teilt die Meinung von Paul zur Krankheit Manche aus ärztlicher Alltagskommunikation sehr
seiner Mutter am ehesten? vertraute Äußerungen, Ratschläge und Kommuni-
4 Wer am wenigsten? kationsstrategien fördern eher weniger den offenen
Austausch innerhalb einer Familie. Weitere Anre-
Prozentfragen beleuchten quantitative Unterschiede gungen für eine hilfreiche Gesprächstechnik sind:
und lassen Gewichtungen erkennen: 4 Konfrontierende Äußerungen sind möglichst
4 Zu wieviel Prozent halten Sie Ihre Beschwer- zu vermeiden. Der Schwerpunkt liegt auf der
den für den Ausdruck der körperlichen Er- Betonung und dem Bejahen der Stärken und
krankung, zu wieviel Prozent für den Aus- Eigenheiten in der Familie.
druck Ihrer derzeitigen beruflichen und fami- 4 Dem Paar oder der Familie keine Ratschläge
liären Probleme? erteilen, sondern sich als Moderator verstehen.
Nur so kann es gelingen, einen offenen Aus-
Hypothetische Fragen tausch innerhalb der Familienbeziehung zu
Hypothetische Fragen ermöglichen es, kreative fördern und dem Paar oder der Familie zu ver-
neue Möglichkeiten einzuführen und wirken daher mitteln, dass sie selbst durch veränderte Hand-
der Angst vor Veränderung entgegen. Die in den lungsmuster den positiven Therapieverlauf för-
Fragen spielerisch angesprochenen neuen Wege dern und unterstützen können.
müssen dabei in keiner Weise realistisch, ja nicht 4 Im medizinischen Kontext sollte von »Fami-
einmal realisierbar sein, dennoch verstärken sie auf liengespräch« gesprochen werden und nicht

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
Literatur
73 7
von »Familientherapie«, da letzteres bei Fami-
lienangehörigen häufig missverstanden wird,
im Sinne von »Jetzt ist nicht unsere Tochter
krank, sondern offensichtlich wir als ganze Fa-
milie und möglicherweise sind wir sogar
schuld an ihrer Krankheit!« Solche Einstellung
fördern hohe Abwehrhaltungen von Familien
gegenüber Gesprächsangeboten.
4 Zu wenig aktive und strukturierende Ge-
sprächsführung. Anders als im Einzelkontakt
mit Patienten entwickeln Paare oder Familien
im gemeinsamen Gespräch sehr rasch kommu-
nikative Muster, wie sie sich im Beziehungs-
alltag ausgebildet haben. Übernimmt nicht der
Arzt relativ rasch aktiv die Gesprächsführung,
besteht die Gefahr, dass sich im gemeinsamen
Paar- und Familiengespräch alte Muster
reinszenieren, sich bestimmte Koalitionen
schnell ausbilden und sich einzelne Familien-
mitglieder innerlich aus dem Gespräch »ab-
melden«.

Literatur

Black DR, Gleser LJ, Kooyers KJ (1990) A meta-analytic evalua-


tion of couples. Weight-loss programms. Health Psychol
9: 330
Campbell TL, Patterson JM (1995) The effectiveness of family
interventions in the treatment of physical illness. Journal
of Marital and Family Therapy 4: 545–583
McDaniel S, Hepworth J, Doherty WJ (1997) Familientherapie
in der Medizin. Carl-Auer Systeme Verlag
McGoldrick M, Gerson R (1990) Genogramme in der Familien-
beratung. Klett-Cotta, Stuttgart
Riedesser P, Schulte-Markwort M (1999) Kinder körperlich
kranker Eltern. Dtsch Arztebl 38: 1908–1912
Stierlin H, Wirsching M, Haas B et al. (1983) Familienmedizin
mit Krebskranken. Familiendynamik 1: 48–68

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
75 8

Was wirkt? –
Allgemeine Wirkfaktoren
ärztlicher Interventionen
Kurt Fritzsche, Daniela Wetzel-Richter

8.1 Psychosoziale Grundbedürfnisse – 76

8.2 Allgemeine Wirkfaktoren – 78


8.2.1 Eine gute Arzt-Patient-Beziehung – 78
8.2.2 Aktive Unterstützung
zur Problem- und Krankheitsbewältigung – 80
8.2.3 Salutogenese und Ressourcenaktivierung – 81
8.2.4 Gesundheitsförderung
durch Lebensstiländerung – 81

Literatur – 86

K. Fritzsche et al. (Hrsg.), Psychosomatische Grundversorgung,


DOI 10.1007/978-3-662-47744-1_8, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
76 Kapitel 8 · Was wirkt? – Allgemeine Wirkfaktoren ärztlicher Interventionen

8.1 Psychosoziale Grundbedürfnisse nehmensberater aufgebaut, ist viel gefragt, hat ein
sehr gutes Einkommen und kann frei über die An-
Nach Grawe (1998) ist die Sicherung der Konsis- nahme oder Ablehnung von Arbeitsaufträgen ent-
tenz eine wichtige Grundlage des »psychischen scheiden. Geprägt durch den Vater, der sich vom ein-
Funktionierens«. Eine Konsistenz der psychischen fachen Angestellten zum Leiter einer Sparkasse in ei-
Prozesse stellt sich ein, wenn die psychosozialen ner mittelgroßen Stadt hochgearbeitet hat, ist er
Grundbedürfnisse befriedigt sind. Folgende psy- ebenfalls sehr ehrgeizig, arbeitet viel und achtet we-
chosozialen Grundbedürfnisse werden von ver- nig auf gesunde Ernährung, sportliche Aktivität und
schiedenen Autoren für die Aufrechterhaltung von Entspannung. Herr K. ist seit 28 Jahren verheiratet
seelischer Gesundheit für wichtig gehalten (Rudolf und hat zwei Söhne im Alter von 25 und 23 Jahren.
2007; Lichtenberg et al. 2000; Plante u. Sherman Durch die Betreuung von Kunden in der gesamten
2001; Grawe 2000b; WHO 2011): Bundesrepublik, ist er in der Woche meistens unter-
4 das Bedürfnis nach körperlicher Nähe und wegs und nur am Wochenende zu Hause. Das Ver-
emotionaler Offenheit, hältnis zur Ehefrau und zu den Kindern schildert er
4 das Bedürfnis nach Bindung, als gut und unproblematisch. Die Familie scheint ihm
4 das Bedürfnis nach Autonomie und Kontrolle, aber nicht besonders wichtig, auch ist keine tiefere
4 das Bedürfnis nach Anerkennung und Selbst- emotionale Beziehung zur Ehefrau oder zu den Söh-
wert, nen spürbar. Im Mittelpunkt steht seine berufliche Tä-
8 4 das Bedürfnis nach psychosexueller und tigkeit, die er weitgehend alleine ausübt. Er bekommt
beruflicher Identität, viel Bestätigung durch seine Kunden und ist hochgra-
4 das Bedürfnis nach körperlichem Wohl- dig positiv mit seinem Beruf identifiziert. Ernsthafte
behagen und Lust, körperliche Krankheiten sind bisher nicht aufgetreten.
4 das Bedürfnis nach Sinn und Spiritualität. Zeitweise klagt er über Magendruck und Völlegefühl
sowie Rückenschmerzen. Die Frage nach dem Lebens-
Aus dieser Sichtweise hat jeder Mensch das Bedürf- sinn oder tiefergehende spirituelle Themen haben ihn
nis, in Beziehungen anderen nahe und emotional bis jetzt nicht beschäftigt. Die Grafik zur Erfüllung sei-
offen zu sein – beim Anderen geborgen zu sein – ner psychosozialen Grundbedürfnisse zeigt, dass bis
autonom zu sein – liebenswert zu sein – sich zuge- auf das Bedürfnis nach emotionaler Nähe und Bin-
hörig zu fühlen – sich wohl zu fühlen und ein sinn- dung alle Grundbedürfnisse befriedigt waren. Das
volles Leben zu führen (Stauss 2011). Die mangelnde steht in Übereinstimmung mit seinem subjektiven
Befriedigung von psychosozialen Grundbedürfnis- körperlichen und seelischen Wohlbefinden bis zum
sen ist die Hauptursache von seelischen Störungen. Zeitpunkt seines Herzinfarktes (. Abb. 8.1).
Ein Mensch mit seelischen Störungen ist in seinen
psychosozialen Grundbedürfnissen verletzt. Ziel Fallbeispiel – nach dem Herzinfarkt
ärztlicher Interventionen ist die Konsistenz des psy- Schon Wochen vor dem Herzinfarkt berichtet Herr K.
chischen Geschehens wiederherzustellen und/oder über bisher nicht gekannte Phasen von Müdigkeit
zu erhöhen (Grawe 2000b), indem der Arzt dem Pa- und Erschöpfung mit vermehrtem Schlafbedürfnis. Er
tienten hilft, die durch Krankheit und Behandlungs- habe aber dennoch seine Arbeitsleistung voll auf-
situation verletzten Grundbedürfnisse zumindest rechterhalten. Die Diagnose eines Herzinfarktes und
teilweise wieder zu befriedigen. Dies erfordert einen einer koronaren Dreigefäßerkrankung trifft ihn aus
achtsamen Umgang in der Beziehungsgestaltung. heiterem Himmel. Nach Behandlung in der Akutklinik
und anschließender Rehabilitation in einer Herz-
Fallbeispiel – vor dem Herzinfarkt Kreislauf-Klinik haben sich das psychische Befinden
Herr K., 54-jährig, hat bis zum Auftreten eines Hinter- und das Auftreten von Herrn K. sehr verändert.
wandinfarktes und der Diagnose einer koronaren Der Hausarzt berichtet: »Seit dem Aufenthalt in der
Dreigefäßerkrankung ein subjektiv zufriedenstellen- Herz-Kreislauf-Klinik ist Herr K. bisher drei Mal in mei-
des Leben geführt. Er hat sich in den letzten 15 Jah- ner Praxis gewesen. Jedes Mal gibt es schon Reiberei-
ren ein gutes Renommee als selbstständiger Unter- en und Streit mit den Arzthelferinnen, bevor er ins

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
8.1 · Psychosoziale Grundbedürfnisse
77 8

Psychosoziale Grundbedürfnisse
+4

+3

+2

+1

–1

–2

–3

–4 Körperliche Vertrauen Autonomie Anerkennung Berufliche Psycho- Körperliches Spiritualität,


Nähe und und sichere und und Identität sexuelle Wohl- Sinn im
emotionale Bindung Kontrolle Selbstwert Identität behagen Leben
Offenheit
. Abb. 8.1 Gesamtbilanz der psychosozialen Grundbedürfnisse am Beispiel von Herrn K.: vor Herzinfarkt

Sprechzimmer kommt. Er wirkt ungeduldig, schnell Wie kann der Arzt den Patienten in dieser Situation
aufbrausend, möchte mir vorschreiben, was ich zu bei der Befriedigung seiner psychosozialen Bedürf-
tun habe und stellt alle Befunde und vorgeschlagene nisse unterstützen?
Therapiemaßnahmen infrage.«
Ein Blick auf die aktuelle Befriedigung seiner psycho- Fortsetzung Fallbeispiel – nach dem Herzinfarkt
sozialen Grundbedürfnisse nach erlittenem Herz- Der Hausarzt versteht das ungeduldige, aufbrausen-
infarkt erklärt sein Verhalten: In der Herz-Kreislauf- de und kontrollierende Verhalten von Herrn K., als
Klinik ist ihm nahegelegt worden, seine bisherige dessen Versuch Reste seiner Autonomiebedürfnisse
Tätigkeit nicht mehr auszuüben und stattdessen in zu befriedigen. Dies gibt dem Patienten zumindest
ein Angestelltenverhältnis zu wechseln. Sein Selbst- kurzfristig ein Gefühl von Kontrolle und Stabilität.
wertgefühl ist durch den Verlust der beruflichen Weiter lässt der Hausarzt sich durch das vordergrün-
Autonomie stark geschwächt, seine berufliche Identi- dig lärmende Verhalten nicht provozieren, spiegelt
tät infrage gestellt. Das körperliche Wohlbefinden dem Patienten seinen Ärger und seine Enttäuschung
hat sich wegen weiterhin bestehender Angina pecto- und zeigt Verständnis für seine schwierige Lebens-
ris Beschwerden auf mittlerer Belastungsstufe und situation. Er vereinbart mit dem Patienten regel-
einer möglichen Indikation für eine Bypass-Operati- mäßige Termine in 14-tägigen Abständen, sodass
on deutlich reduziert. Die Unzufriedenheit mit seiner sich eine stabile, vertrauensvolle, und auch emotio-
Lebenssituation macht es ihm auch nicht möglich, nale Beziehung aufbauen kann.
emotionale Ressourcen in den familiären Beziehun- Herr K. fühlt sich von seinem Hausarzt verstanden.
gen zu nutzen. Der Herzinfarkt hat somit zum Verlust Er öffnet sich mit seinen negativen Gefühlen sowohl
von Autonomie und Selbstwert geführt, was durch dem Hausarzt als auch der Ehefrau gegenüber und
andere Grundbedürfnisse derzeit nicht zu kompen- gewinnt wieder mehr Selbstvertrauen. Das aggres-
sieren ist. Der Patient wirkt depressiv und weist ein sive und fordernde Verhalten lässt nach, berufliche
erhöhtes Suizidrisiko auf (. Abb. 8.2). Alternativen tun sich auf. Der Patient ist sogar kurz-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
78 Kapitel 8 · Was wirkt? – Allgemeine Wirkfaktoren ärztlicher Interventionen

Psychosoziale Grundbedürfnisse
+4

+3

+2

+1

–1

–2

–3

8 –4

Körperliche Vertrauen Autonomie Anerkennung Berufliche Psycho- Körperliches Spiritualität,


Nähe und und sichere und und Identität sexuelle Wohl- Sinn im
emotionale Bindung Kontrolle Selbstwert Identität behagen Leben
Offenheit
. Abb. 8.2 Gesamtbilanz der psychosozialen Grundbedürfnisse am Beispiel von Herrn K.: nach Herzinfarkt

fristig bereit, psychotherapeutische Hilfe bei einem 1. Eine gute Arzt-Patient-Beziehung (7 Kap. 4),
Psychologen unter dem Stichwort »Coaching« in 2. Aktive Unterstützung bei der Problem- und
Anspruch zu nehmen. Die Befriedigung seiner psy- Krankheitsbewältigung,
chosozialen Grundbedürfnisse wie emotionale Nähe, 3. Salutogenese und Ressourcenaktivierung,
Zunahme der Autonomie bei der zukünftigen Berufs- 4. Gesundheitsförderung durch Lebensstilände-
gestaltung, Anerkennung durch Hausarzt und Ehe- rung,
frau und die sich abzeichnende neue berufliche Iden-
tität führen langsam zu einer Verbesserung des seeli- Im Folgenden werden diese 4 Wirkfaktoren näher
schen und körperlichen Befindens des Patienten. erläutert.

8.2 Allgemeine Wirkfaktoren 8.2.1 Eine gute Arzt-Patient-Beziehung

Wir haben 4 allgemeine therapeutische Prinzipien, Die Qualität der Beziehung zwischen Arzt und Pa-
die als Wirkfaktoren in der Psychotherapie gesi- tient trägt signifikant zu einem besseren oder
chert sind, zur Grundlage der therapeutischen In- schlechteren Therapieergebnis bei (Lambert 2013).
terventionen in der psychosomatischen Grundver- Für den Therapieerfolg sind nicht die Therapie-
sorgung weiterentwickelt. Sie können von jedem schule und eine lange Berufserfahrung entschei-
Arzt auch ohne fachpsychotherapeutische Kennt- dend, sondern zwischenmenschliche Fertigkeiten
nisse und Fertigkeiten angewandt werden (s. auch wie z. B. empathische, warmherzige und unterstüt-
7 Kap. 1 »Was ist psychosomatische Medizin?«). zende Qualitäten in der Begegnung. Das Einfüh-
Bei den 4 allgemeinen Wirkfaktoren handelt es lungsvermögen in die Welt und Sichtweise eines
sich um: Patienten ist ein zentraler Wirkfaktor (Norcross u.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
8.2 · Allgemeine Wirkfaktoren
79 8
Lambert 2011). Ebenso wirksam sind die Wert- begegnen, bedeutet für den Arzt, darauf zu achten,
schätzung des Patienten und die Aufrichtigkeit und welche Gedanken, Gefühle und auch Bewertungen
Echtheit des Arztes (Norcross u. Lambertz 2011; in ihm selbst entstehen, während er zuhört. Wenn
Rogers 1983; s. auch 7 Kap. 4 zur Beziehungsgestal- der Arzt – schon während der Patient spricht – an-
tung). fängt, innerlich zu argumentieren, eine Entgegnung
Gute Ärzte scheinen über gute interpersonelle vorzubereiten oder Behandlungspläne auszuarbei-
Fertigkeiten, gerade im Umgang mit schwierigen ten, dann wird es kaum möglich sein, den Patienten
Patienten, zu verfügen (Miller et al. 2013). Sie fokus- freizugeben und sich selbst zurückzunehmen.
sieren auf den Patienten, orientieren sich an Rück- Eine solche Haltung befreit von dem Druck, al-
meldungen des Patienten und anderen Bezugsper- les richtig machen zu müssen und alles schon zu
sonen, unterstützen den Patienten aktiv, verfügen wissen, wenn der Patient das Arztzimmer betritt.
über professionellen Selbstzweifel und versuchen Der Arzt darf auch Fehler machen. Er sollte jedoch
ihre therapeutischen Fertigkeiten fortlaufend zu bereit sein, darüber nachzudenken und damit den
verbessern. Prozess der Bewusstmachung auch beim Patienten
unterstützen.
Haltung der respektvollen Neugierde
Die nicht wertende und neutrale Haltung des Arztes Passung und Bindung
gegenüber den Konflikten und Lebenseinstellungen Zwischen den Erfahrungen eines Menschen mit sei-
des Patienten wird ergänzt durch eine Haltung res- nen Eltern und anderen frühen Bezugspersonen
pektvoller Neugier. Die Neugier fördert beim Pa- und seiner späteren Fähigkeit, emotionale Bezie-
tienten den Prozess der Selbstreflektion und erzeugt hungen einzugehen, besteht ein enger Zusammen-
neue zusätzliche Beschreibungen und Gedanken zu hang. Diese ersten wichtigen Bindungserfahrungen
seinen Beschwerden. Jedes Symptom und jede von Nähe und Distanz sind prototypisch für unsere
Krankheit hat eine Eigengesetzlichkeit, die wir zu- späteren Beziehungen als Erwachsene. Es lassen
nächst nicht kennen und auch nicht bewerten kön- sich 3 Bindungstypen abgrenzen:
nen. Ein Arzt, der schon nach kurzer Schilderung 4 sicher-gebundene Menschen mit einem posi-
des Patienten zu wissen glaubt, was diesem fehlt, tiven Selbst- und Fremdbild,
wird schwerlich für neue Erfahrungen offen sein 4 unsicher-abweisende, vermeidend gebundene
können. Wenn der Arzt sich jedoch zugesteht, dass Menschen mit einem negativen Fremdbild,
er zunächst noch wenig über seinen Patienten weiß, 4 unsicher-ängstliche, verwickelt/ambivalent
wird es für ihn leichter sein, vorgefassten Denk- und gebundene Menschen mit einem negativen
Verhaltensmustern nicht zu verfallen. Die respekt- Selbst- und ambivalenten Fremdbild.
volle Neugierde nutzt die Situation des Nichtwis-
sens dazu, Offenheit im Gespräch zwischen Arzt Ein sicher gebundener Patient ist auch in der Arzt-
und Patient zu erzeugen. Das kann bei Arzt und Patient-Beziehung offen und kooperativ. Er kann
Patient weitere Assoziationen, neue Ideen und an- die angebotene Hilfe und Beratung annehmen, stellt
dere Perspektiven auslösen. Eine solche Haltung Fragen und arbeitet aktiv mit. Der Arzt empfindet
verhindert, dass sich der Dialog zwischen Arzt und den Patienten insgesamt als unkompliziert und
Patient vorschnell verengt und wichtige Informa- nicht besonders belastend.
tionen nicht zur Sprache kommen. Patienten mit unsicher-vermeidendem Bin-
Die Haltung respektvoller Neugierde bedeutet dungsstil tendieren eher zur Bagatellisierung und
ein Innehalten und eine Reflektion des eigenen Verleugnung ihrer Beschwerden. Sie vermeiden
Denken und Handelns. Es erfordert die Fähigkeit Arztbesuche. Der Arzt hat teilweise das Gefühl, ab-
des Perspektivenwechsels, um Probleme des Patien- gelehnt oder geprüft zu werden, fühlt sich misstrau-
ten vielleicht von einer ganz anderen Seite zu sehen. isch beobachtet und spürt manchmal eine offene
Gleichzeitig muss der Arzt aber lernen, sich oder unterschwellige Aggression. Wenn der Arzt
selbst in respektvoller Neugierde zu beobachten sich zurückzieht, fühlt sich der Patient, in seinem
und sich selbst zuzuhören. Sich selbst respektvoll zu Misstrauen und seiner Erwartung alleingelassen zu

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
80 Kapitel 8 · Was wirkt? – Allgemeine Wirkfaktoren ärztlicher Interventionen

werden, bestätigt. Bei Patienten mit vermeidendem sätzen unterstützt. Er macht eine korrigierende Er-
Bindungsstil besteht auf Seiten des Arztes eher ein fahrung in Bezug auf emotionales Verständnis,
Gefühl der Distanz, Vorsicht und Misstrauen. Wertschätzung und Respektierung seiner Autono-
Bei unsicher-verwickeltem/ambivalentem mie. Wichtige psychosoziale Grundbedürfnisse
und hoch ängstlichem Bindungsverhalten steht werden erfüllt. Neue Aspekte im Umgang mit seiner
ängstliches und hilfesuchendes Verhalten im Vor- Krankheit werden sichtbar.
dergrund. In den Arzt und dessen Behandlung wer-
den hohe Hoffnungen und Erwartungen gesetzt.
Der Arzt fühlt sich aufgrund des Verhaltens des 8.2.2 Aktive Unterstützung
Patienten geschmeichelt und wird verführt, mehr zur Problem- und Krankheits-
Verantwortung zu übernehmen. Die Kommunika- bewältigung
tion ist asymmetrisch auf Seiten des Arztes. Oft
wird auch von Seiten des Arztes die notwendige Unterstützung bei der Problembewältigung und
Distanz nicht eingehalten. Im Gegensatz zum si- Ressourcenaktivierung gehören zu den Grundlagen
cher-gebundenen Patienten wird der Arzt eine der supportiven Psychotherapie. Der Arzt unter-
höhere Belastung, Erschöpfung und Ermüdung stützt den Patienten auf der Basis seines reichen
wahrnehmen, teilweise auch Gefühle von Ärger therapeutischen Erfahrungsschatzes bei der Lösung
und Wut spüren. Die initiale Idealisierung des Arz- von Problemen und bei der Krankheitsbewältigung.
8 tes kann in Enttäuschung und Entwertung um- In psychischen Krisensituationen und bei lebensbe-
schlagen bis zum Beziehungsabbruch. Unsichere drohlichen Erkrankungen wie Krebserkrankung,
Bindungsmuster findet man häufig bei somatofor- chronische Lungenerkrankung, Verkehrsunfall mit
men Störungen (Scheidt u. Waller 2002). Polytrauma oder vor und nach Organtransplanta-
Über eine gelungene Passung und damit über tion leiden Patienten unter starken Ängsten und
die Qualität der Arzt-Patient-Beziehung entschei- depressiver Symptomatik. Es besteht ein vermin-
det auch, welches Bindungsmuster beim Arzt durch dertes Selbstwertgefühl, eine leichte Kränkbarkeit,
den Patienten aktiviert wird. Eine empathische, von das Gefühl ausgeliefert zu sein und einen starken
Wertschätzung, Offenheit und Echtheit getragene Verlust erlitten zu haben. Die Introspektionsfähig-
Haltung hilft Patienten mit unsicherem Bindungs- keit ist eingeschränkt. Gefühle der Hilf- und Hoff-
verhalten, Vertrauen zu entwickeln, die Situation nungslosigkeit aktivieren unbewusst Abwehrme-
auch selbst kontrollieren zu können, angstfrei zu chanismen wie Spaltung und Verleugnung, um die
kommunizieren und eigenen Fähigkeiten wieder zu Situation zu ertragen. Der Ausdruck adäquater Ge-
vertrauen. fühle wie Wut, Ärger und Enttäuschung ist ge-
hemmt. Durch aktives Zuhören (7 Kap. 5) fokussiert
jFeinfühligkeit in der Passungsarbeit der Arzt auf die Wahrnehmung von verbal und non-
Ein Beispiel für eine Passungsarbeit im Säuglings- verbal ausgedrückten Emotionen. Er begleitet den
und Kleinkindalter ist das aus der Bindungsfor- Patienten mit Entspannungsübungen und Imagina-
schung (Bowlby 1975) stammende Konzept der tionen. Die Spiegelung des emotionalen Befindens
»Feinfühligkeit« (Ainsworth et al. 1978; Grossman durch den Arzt führt zur Stabilisierung des emotio-
u. Grossman 1991). Feinfühligkeit in diesem Sinne nalen Befindens des Patienten und zur Aktivierung
bedeutet die Fähigkeit des Arztes, verbale und non- von zunächst nicht wahrgenommenen psychischen
verbale Äußerungen des Patienten frühzeitig wahr- und körperlichen Ressourcen, die für die Krank-
zunehmen, zu interpretieren und prompt und ange- heitsbewältigung benutzt werden können (Fritz-
messen darauf zu reagieren. Je empathischer und sche 2005).
feinfühliger sich der Arzt in die Situation des Pa- Diese vorübergehende Funktion eines »Hilf-
tienten einfühlen kann, desto besser wird sich der Ichs« soll aber nicht die Haltung der Hilflosigkeit
Patient verstanden fühlen. Er spürt, dass die Bezie- bei Patienten unterstützen. Aktive Unterstützung
hung zum Arzt für ihn eine sichere Basis darstellt, bewegt sich in einer Balance zwischen situativ not-
die ihn in der Entwicklung von eigenen Lösungsan- wendiger emotionaler und praktischer Unterstüt-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
8.2 · Allgemeine Wirkfaktoren
81 8
zung (z. B. Information, Beratung, Krankschrei- haben bzw. künftig noch ermöglichen können.
bung) und Respekt für die Autonomie des Patien- Im  Rahmen dieses Konzeptes ist es nicht unbe-
ten. Die Interventionen sind daher immer auch eine dingt notwendig, zu wissen wie es dazu kam, dass
Hilfe zur Selbsthilfe. Bei einseitiger Aktivität des der Patient jetzt körperlich und seelisch dekom-
Arztes kommt es zur Pseudopassung und z. B. zu pensiert ist. Wichtig ist es aber, einen Weg zu
Verlust der Autonomie. Wir gehen davon aus, dass beschreiben, wie der Patient wieder aus dieser
jeder Mensch prinzipiell die Fähigkeit hat, eine Um- belastenden Situation herauskommt und welche
gebung passend für die eigenen Bedürfnisse zu ge- Aufgaben Arzt und Patient dabei zu bewältigen
stalten. Auch der kranke Mensch braucht die Erfah- haben. Hierbei können soziale Beziehungen, intel-
rung, dass er sich selbst und die Umgebung aktiv lektuelle Tätigkeiten, Kreativität, Sport, Musik,
mit Unterstützung des Arztes beeinflussen kann. Achtsamkeit und Entspannungsverfahren eine
Deshalb ist das Ziel jedes therapeutischen Prozes- wichtige Rolle spielen.
ses, auch diese »Selbstwirksamkeit« wiederherzu-
stellen und zu fördern (Bandura 1977).
8.2.4 Gesundheitsförderung
durch Lebensstiländerung
8.2.3 Salutogenese und Ressourcen-
aktivierung Ein ungesunder Lebensstil erhöht nicht nur das Ri-
siko für kardiovaskuläre Erkrankungen, Krebser-
Der Begriff »Pathogenese« geht von der Vorstellung krankungen, Demenz und Diabetes mellitus, son-
aus, dass Gesundheit ein Besitz ist, der verloren geht dern wirkt sich auch schädlich auf Entstehung und
und wiedergewonnen werden kann. Gesundheit ist Verlauf seelischer Erkrankungen aus (Michal et al.
kein »Kapital«, das man aufzehren kann. Gesund- 2014).
heit wird jeden Augenblick neu erzeugt. In dem
Konzept der Salutogenese von Antonovsky (1987, Körperliche Aktivität
1993) wird gefragt, wie es Menschen schaffen, in In der evolutionären Geschichte des Menschen ist
schwierigen Lebenssituationen (Tod einer nahen körperliche Bewegung ein wichtiger Faktor, um ge-
Bezugsperson, Unfall, psychische Krise) körperlich sund zu bleiben und zu überleben. »Humans are
und psychisch gesund zu bleiben oder wieder ge- made to move« (Deslandes 2014). Körperliches
sund zu werden. Das Kohärenzerleben, das Anto- Training unterstützt lebenslang die Stimulierung
novsky als eine grundlegende lebenserhaltende Res- vom Gehirn zum Muskel und umgekehrt und hilft
source ansieht, umfasst die Fähigkeit, auch belas- bei der Stressbewältigung. Psychobiologische Effek-
tende Ereignisse als verstehbar zu erleben, sie beein- te finden sich bei den Zytokinen, bei oxidativem
flussen zu können und die Fähigkeit, den Dingen Stress, den Neurotrophinen und der Neurogenesis
Bedeutung und Sinn zu verleihen (7 Kap. 1). (Erikson et al. 1998). Langzeiteffekte betreffen die
Ressourcenaktivierung meint die Förderung Normalisierung des erhöhten Kortisolspiegels und
der Eigenverantwortlichkeit und der Lösungskom- eine Zunahme von Beta-Endorphin.
petenz des Patienten für seine Probleme bzw. seine Die sportlichen Aktivitäten sollten einen regel-
Krankheit. Ressourcenaktivierung knüpft an die mäßigen, quasi rituellen Charakter erhalten. Neben
positiven Möglichkeiten, Eigenarten, Fähigkeiten dem Lauftraining sind folgende Ausdauersport-
und Motivationen des Patienten in der Gestaltung arten geeignet: Nordic Walking, Wandern, Schwim-
seines Lebens und seiner zwischenmenschlichen men, Skilanglauf und Schneeschuhwandern. Eine
Beziehungen an. Wenn z. B. bei der erweiterten Pulsfrequenz von 180 minus Lebensalter gilt als
psychosozialen Anamnese frühere oder aktuelle optimal. Die Durchführung der Bewegungstherapie
traumatische Ereignisse berichtet werden, kann der kann in Sportvereinen, Trainingscentern und Fit-
Arzt unmittelbar auf Ressourcen des Patienten zu nessstudios erfolgen. Hier wirken auch Gruppen-
sprechen kommen, die ihm in der Vergangenheit kontakt und Gruppenkohärenz motivationsstei-
die Bewältigung solcher Ereignisse ermöglicht gernd.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
82 Kapitel 8 · Was wirkt? – Allgemeine Wirkfaktoren ärztlicher Interventionen

jWirksamkeit einen emotional stabilisierenden Charakter und


Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass sich Patien- sind auch Rituale der Kommunikation. Man trifft
ten unter regelmäßiger körperlicher Aktivität so- sich »auf einen Kaffee« oder »zum Abendessen«.
wohl bei den körperlichen Parametern als auch in Was eine gesunde Ernährung ist, wird kontro-
ihren Denk- und Verhaltensweisen und in ihrem vers diskutiert. Hier der derzeitige Stand der Wis-
seelischen Befinden deutlich verbessern. Sport baut senschaft:
physiologische Stressreaktionen ab und hat nach- Jenseits aller Diäten im Internet und in Frauen-
weislich Wirkung auf das Herz-Kreislauf-System, und neuerdings auch Männerzeitschriften gilt: Ge-
den Stoffwechsel und die psychische Befindlichkeit müse, Obst und Vollkornprodukte sind günstig. Bis
(Geuter 2006, S. 261). Durch Ausdauersport wird auf tiefgefrorene frische Gemüse sind Fertigessen,
das vegetative Nervensystem hin zum stärkeren Va- vor allem »Fast Food« nicht zu empfehlen. Zucker,
gotonus moduliert. Messbar ist dies über die Herz- Fett und Fleisch sollten in geringem Umfang konsu-
frequenzvariabilität (HRV). Hierdurch erklärt sich miert werden. Menschen, die viel Fleisch und wenig
unter anderem die körperlich aber auch psychisch Gemüse zu sich nehmen, erhöhen ihr Herzinfarkt-
protektive Wirkung (Berg et al. 2009; Mück-Wey- und Darmkrebsrisiko. Fettarme Milchprodukte,
mann 2005; Löllgen 1999). sofern sie vertragen werden, sind gesund, und wich-
Bei einem moderaten therapeutischen Lauftrai- tige Kalzium- und Eiweißlieferanten.
ning können Erfahrungen der Selbstwirksamkeit Eine gesunde Mischkost ist die derzeit allge-
8 und der Selbstvergewisserung gemacht werden mein empfohlene Ernährung. Sie enthält ein ausge-
(Bandura 1977). Vorangegangene Erfahrungen der wogenes Maß an Eiweiß, Kohlenhydraten und ge-
Unbewältigbarkeit und Aussichtslosigkeit können sunden Fetten. Vorzuziehen sind pflanzliche Fette
auf diese Weise überschrieben werden. Selbstbe- mit mehrfach ungesättigten Fettsäuren, welche ag-
wusstsein und positive eigene Körperwahrneh- gressive Stoffwechselprodukte (Radikale) besser
mung nehmen zu. abpuffern können und der Arteriosklerose und an-
Körperliche Aktivitäten wie Wandern, Fahrrad- deren Erkrankungen vorbeugen. Kohlenhydrate
fahren, Krafttraining, Yoga oder Qi Gong verbes- sollten in Form von naturbelassenen Vollkornpro-
sern die Lebensqualität und die Fatigue-Symptoma- dukten bzw. mit ausreichend Ballaststoffen kon-
tik von Patienten mit verschiedenen Krebserkran- sumiert werden. Vollkornprodukte enthalten viele
kungen und haben einen deutlichen antidepressi- notwendige Mineralstoffe. Ballaststoffe regulieren
ven und milden anxiolytischen Effekt (Josefsson et u. a. den Cholesterin- und Zuckerstoffwechsel und
al. 2014; Lucas et al. 2011). Sowohl Ausdauer- als schützen vor Karzinogenen (Watzl u. Leitzmann
auch Krafttraining haben hohe antidepressive Ef- 2005).
fektstärken und sind so vergleichbar mit Antide- Eine gute Mischung aus tierischen und pflanzli-
pressiva und Psychotherapie (Rimer et al. 2012). chen Eiweißen ist notwendig, um alle notwendigen
Aerobic und Krafttraining trägt zur Verbesserung Aminosäuren zur Verfügung zu haben (z. B. Milch-
der kognitiven Funktionen bei (Silveira et al. 2013). produkte und Hülsenfrüchte). Eiweiß trägt am
Patienten mit neurodegenerativen Erkrankungen meisten zur Sättigung bei und wird bei der Adipo-
wie Demenz profitieren von aerobischen Übungen sitastherapie auch so eingesetzt. Frisches Obst, Ge-
(Deslandes 2014). müse und Salate tragen zu einer guten Sättigung bei
und beinhalten Zusatzstoffe, wie Vitamine und Ge-
Ernährung schmacksstoffe, welche gesundheitsfördernd sind.
Hunger, Appetit, Sättigung, aber auch der olfaktori- Das optische und geschmackliche Erleben kann
sche Genuss verschiedener Speisen und Getränke durch frische Rohkost gesteigert werden. Vitamine
sind wichtige emotionale Erlebnisse und häufig af- und gesundheitsfördernde Farbstoffe befinden sich
fektiv gekoppelt an entsprechende Erinnerungen. v. a. in den Schalen, welche mitgegessen werden
Gesundes Essen hat somit auch mit Achtsamkeit sollten. Beeren sind für ältere Menschen gute Vita-
und »In-sich-Hineinhören« zu tun. Gemeinsames min- und Ballaststofflieferanten, die auch noch gut
Essen, Essensrituale und Essensrhythmen haben schmecken. Sog. Nahrungsergänzungsmittel sind

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
8.2 · Allgemeine Wirkfaktoren
83 8
nur bei nachgewiesenen Mangelerscheinungen Sinne wie Geschmack, Riechen, Sehen, Hören, Füh-
wirklich notwendig. Der therapeutische Einsatz von len und Tasten positiv beeinflussen. Kulinarische
hochdosierten Vitaminprodukten sollte ärztlich Genüsse sind Bestandteil der Ess- und Trinkkultur,
überprüft und auch die Risiken einer Überdosie- geistige Genüsse sind beispielsweise das Hören von
rung aufgezeigt werden. Musik oder das Lesen interessanter Bücher.
Eine einseitige Ernährung, wie viele Menschen Musik hören oder ausüben berührt Sphären des
es heute betreiben, ist in den wenigsten Fällen ge- Unterbewusstseins, die mit anderen Mitteln nicht
rechtfertigt. Auch das Weglassen bestimmter In- erreichbar sind. Jedes musikalische Erleben findet
haltstoffe ist in den seltensten Fällen medizinisch im körperlichen und im emotionalen Bereich statt.
indiziert. Viele Menschen projizieren ihre psycho- Musik beruhigt Körper und Psyche, löst Erinnerun-
somatischen Beschwerden auf Nahrungsmittelin- gen und Assoziationen aus, regt zum Träumen an.
haltsstoffe, wie Laktose oder Gluten, und stabilisie- Tanzen ist ein partnerschaftliches Erlebnis, was z. B.
ren ihre psychische Situation über ein Krankheits- beim Tango Argentino zu nachweisbarer Reduktion
modell, das zum Verzicht von gesunden und teils von Stressmarkern führte und positive Partner-
lebensnotwendigen Nahrungsmitteln abzielt. Häu- schaftseffekte zeigte (Quiroga Murcia et al. 2009).
fig werden untaugliche Labortestungen (Immun- Die koordinative Herausforderung des Tanzens wie
globulin G, IgG) herangezogen, um dies zu fixieren. auch des Musizierens beugt dementiellen Entwick-
Ernährungsmedizinisch ist eine einseitige Ernäh- lungen vor. (Kattenstroh et al. 2013)
rung oder das Weglassen bestimmter Nahrungsmit- Massagen werden durch die körperliche Berüh-
tel immer zu hinterfragen. rung zu einem sinnlichen Genuss. Was als Genuss
empfunden wird, ist jedoch subjektiv und damit
jSchlußfolgerungen individuell unterschiedlich. Voraussetzung ist die
4 Obwohl die Zusammenhänge zwischen gesun- Genussfähigkeit.
der Ernährung und psychischem Wohlbefin- Genussfähigkeit kann auch verloren gehen. Vor
den nicht vollständig aufgeklärt sind, gibt es allem Patienten mit Depressionen klagen über eine
Hinweise, dass die Ernährung Einfluss hat auf ausgeprägte Genussunfähigkeit. Aber auch Patien-
die Plastizität des Gehirns, die Stressachse, auf ten mit chronischen Schmerzen, posttraumatischer
die Mitochondrien, auf Entzündungsvorgänge Belastungsstörung, Essstörungen und Suchterkran-
und oxidative Prozesse (Berk et al. 2010). kungen haben ihre Genussfähigkeit verloren. Gene-
4 Gesund ist die Vielfalt der Nahrungsmittel. rell wird Genuss mit der Fähigkeit zur Muße und
4 Essensrhythmen und adäquate Energiemengen Entspannung verknüpft. Eile, Hektik und Stress
tragen zur Gesundheit bei. gelten als genussfeindliche Faktoren (Bergler u.
4 Alle einseitigen Diäten zur Gewichtsabnahme Hoff 2002; Kiss-Elder 2003).
sind höchst zweifelhaft, kosten meist Geld und Ziele der therapeutischen Intervention sind:
führen im Endeffekt durch eine Reduktion des 4 das Alltags-Tempo reduzieren und Zeit ein-
Grundumsatzes eher zu einer Gewichtserhö- räumen,
hung. 4 neugieriges Wiederentdecken und Wieder-
4 Ernährung sollte auf die individuellen Bedürf- erlangen der Genussfähigkeit,
nisse abgestimmt sein. 4 Aufbau und Einüben angenehmer Verhaltens-
4 Essen ist mehr als Nahrungsaufnahme. Essen weisen,
ist ein Ritual und ein Gemeinschaftserlebnis. 4 systematisches Üben der eigenen Wahrneh-
Dies gilt es wieder zu entdecken und zu mung,
pflegen. 4 neue Erfahrungen machen,
4 einen neuen Zugang zu sich selber finden.
Verbesserung der Genussfähigkeit
Genuss ist ein bewusst erlebtes Vergnügen, das mit
körperlichem und geistigem Wohlbefinden einher-
geht. Genusserlebnisse können die verschiedenen

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
84 Kapitel 8 · Was wirkt? – Allgemeine Wirkfaktoren ärztlicher Interventionen

Beispiel tigung am Nachmittag erleichtert das Einschla-


Es handelt sich um eine Teilnehmerin eines Kurses fen. Dies gilt nicht für intensive, aber unregel-
zur Psychosomatischen Grundversorgung. Die mäßige körperliche Aktivitäten kurz vor dem
35-jährige Gynäkologin hat eine Oberarztstelle in Schlafengehen.
einem Kreiskrankenhaus übernommen und fühlt
sich sowohl von den Assistenzärzten als auch von Imaginationsübungen
ihrem Chef stark unter Druck gesetzt. Sie versucht Imagination ist das Vermögen, bei wachem Bewusst-
es allen recht zu machen, häuft Überstunden an, sein mit meistens geschlossenen Augen innere Bilder
schläft schlecht und findet kaum noch Zeit für wahrzunehmen. Diese inneren Bilder ähneln Traum-
Hobbys und entspannende Tätigkeiten. bildern. Sie können jedoch willentlich gefördert und
Nach dem Kurs erreicht die Dozentin folgende modifiziert werden. Imaginationsübungen werden
Nachricht: »Gleich nach dem Kurs bin ich einen Body- oft mit Entspannungsmethoden kombiniert. Manche
shop gegangen und habe mir Seife und verschie- Menschen verfügen problemlos über diese Fähigkeit,
dene Badezusätze gekauft. Am Abend habe ich mir andere hingegen haben große Mühe und können nur
ein Bad einlaufen lassen und mich in der Badewanne unter Anleitung diese mentalen Bilder wahrnehmen.
genussvoll entspannt. So etwas hat mir schon lange Imaginationsübungen dienen der Stabilisierung
gefehlt. Ich freue mich, dass ich meine Genussfähig- und Selbstberuhigung und wurden ursprünglich
keit wieder entdeckt habe. Vielen Dank.« zur Vorbereitung auf eine Traumaexposition, vor
8 allem bei komplexen posttraumatischen Belas-
Schlafhygiene tungsstörungen, Borderline-Persönlichkeitsstörun-
Allgemeine schlafhygienische Maßnahmen sind: gen sowie dissoziativen Identitätsstörungen, ver-
4 Regelmäßige Zeiten für das Zubettgehen und wendet (Reddemann 2001). An etwas Schönes zu
das morgendliche Aufstehen einhalten, auch denken, ist fast genauso wirksam, wie es zu erleben.
am Wochenende und im Urlaub mit Verkür- Von Luise Reddemann gibt es eine Sammlung von
zung der Bettzeit auf max. 7–8 Stunden, um Imaginationsübungen, die je nach Problemstellung
den zirkadianen Rhythmus aufrechtzuerhalten. verwendet werden können. Als Beispiel haben wir
4 Nicht länger als notwendig im Bett verbleiben, die Übung »Gepäck ablegen« ausgewählt:
nicht wach im Bett herumliegen, nicht länger
als in beschwerdefreien Zeiten liegen bleiben. jGepäck ablegen
4 Tagschlafepisoden soweit wie möglich vermei- Für die Imagination schließen Sie bitte wieder die
den. Augen. Stellen Sie sich vor, dass Sie auf einer langen
4 Eine angenehme und schlaffördernde Gestal- Wanderung sind. Sie tragen einen schweren Ruck-
tung des Schlafzimmers. Den Wecker u. a. sack. Nun kommen Sie auf eine Hochebene. Vor
Uhren aus dem Blickfeld des Bettes verbannen. Ihnen breitet sich die Landschaft aus, Sie atmen frei.
4 Abends nur eine leicht verdauliche Mahlzeit zu Weil es Ihnen hier gut gefällt, beschließen Sie, den
sich nehmen. Rucksack abzulegen. Sie finden einen Stein oder
4 Abends eine Alkohol- und Koffeinkarenz ein- Baum und lassen Ihr Gepäck dort stehen. Weil Sie
halten und den Zigarettenkonsum minimieren. sich jetzt so leicht und frei fühlen, beginnen Sie, sich
4 Die Abend- und Nachtstunden so entspannt wie zu bewegen. Vielleicht wollen Sie auch tanzen.
möglich gestalten (z. B. nicht arbeiten), die für Dann sehen Sie eine Lichtquelle. Helles, warmes
den nächsten Tag anstehenden Tätigkeiten nicht Licht. Sie gehen darauf zu und lassen sich vollkom-
im Schlafzimmer, sondern vor dem men von diesem Licht umströmen. Vielleicht tan-
Zubettgehen wenn möglich in einem anderen zen Sie. Dann sehen Sie ein Wesen, das sich auf Sie
Wohnraum durchdenken, am besten nieder- zu bewegt. In der Hand hält es ein Geschenk, das
schreiben. Nicht ärgern, wenn Einschlafen nicht Ihnen in Ihrer aktuellen Situation helfen kann. Sie
sofort möglich ist, nicht auf die Uhr sehen. nehmen es und wenn Sie mögen, können Sie sich
4 Morgendliche Aktivierung mit begleitender bedanken. Mit dem Geschenk kehren Sie zu Ihrem
Lichtexposition, regelmäßige körperliche Betä- Gepäck zurück.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
8.2 · Allgemeine Wirkfaktoren
85 8
Sie nehmen die Wanderung wieder auf und ent- Der Kurs »mindfulness-based cognitive therapy«
scheiden, ob Sie einen Teil des Gepäcks zurücklassen (MBCT) ist ein achtsamkeitsbasiertes Verfahren,
oder alles mitnehmen. Sie gehen in der Gewissheit das spezifisch zur Rückfallprophylaxe bei Depres-
weiter, dass Sie jederzeit eine Pause machen und Ihr sionen eingesetzt wird. Metaanalysen zeigen, dass
Gepäck ablegen können. Atmen Sie noch zwei bis MBSR mit mittleren Effektstärken (0.51–0.62) lin-
dreimal tief durch, dann öffnen Sie langsam die Au- dernd auf psychische Symptome wie Angst, Depres-
gen und kehren bewusst in den Raum zurück, in sivität und Stress wirkt.
dem Sie sich befinden. Beenden Sie die Imagination. Eine einfache Achtsamkeitsübung in 3 Schritten
Die Übungen müssen nicht direkt angeleitet, sie für den Alltag:
können auch über ein Gespräch eingeführt werden.
Bei der Übung »Gepäck ablegen« könnte der Arzt jDer Atemraum
den Patienten fragen: »Wie würde es sich anfühlen, 1. Halten Sie für einen Moment in Ihrem Tun
wenn Sie einmal eine Weile weniger neue Aufträge inne. Schließen Sie die Augen. Spüren Sie, wie
und Verpflichtungen annehmen und stattdessen Sie in diesem Moment hier sitzen. Nehmen Sie
Verantwortung abgeben? Können Sie spüren, wie Ihren Körper auf dem Sitz wahr, die Kleidung
Sie sich dann fühlen?« auf der Haut und die Geräusche, die Sie umge-
Weitere Übungen finden Sie im Internet unter ben.
www.seelenschmerz-forum.de Rubrik Therapie- 5. Spüren Sie, wie der nächste Einatemzug Ihren
übungen. Körper weitet und wie er mit dem Ausatmen
jetzt ein wenig loslässt, Atemzug für Atemzug
Achtsamkeit vielleicht 5 oder auch 10 Atemzüge lang.
Achtsamkeit kann als eine Verbindung zweier Pro- 6. Nehmen Sie Ihren atmenden Körper in Ihrer
zesse gefasst werden: 1. Die Bewusstseinshaltung Umgebung wahr. Öffnen Sie die Augen, spüren
der Präsenz, d. h. der Aufmerksamkeit im gegen- Sie sich in Ihrer Welt und fahren Sie dann ver-
wärtigen Moment, und 2. Die nicht wertende Ak- bunden mit Ihrem Innern und mit der Welt
zeptanz: »So wie es ist, ist es in Ordnung« (Schmidt außen in Ihrem Tun fort.
2014).
Ziel der Achtsamkeit ist die Entwicklung folgen- Eine Anleitung von Nils Altner zu einer vertiefen-
der Fähigkeiten zu verstärken: den Achtsamkeitsübung ist z. B. über folgende Web-
4 Selbstzuwendung, seite verfügbar: www.achtsamkeit.com/audio.htm.
4 Selbstwahrnehmung,
4 Selbstakzeptanz und Weitere Atemübungen
4 Selbstregulation. Atemübungen sind sehr gut zur Entspannung und
zum Stressabbau geeignet. Das Ausatmen aktiviert
Der Begriff der Achtsamkeit hat seinen Ursprung den Vagotonus und moduliert so die vegetative Ach-
im Buddhismus. Die bekannteste Anwendung ist se. Dies wird auch im Biofeedback genutzt. (Mück-
die achtsamkeitsbasierte Stressbewältigung (»mind- Weymann 2005). Atemübungen sind in vielen Situ-
fulness-based stress reduction«, MBSR) durch Jon ationen, auch während der Arbeit, anwendbar, v. a.
Kabat–Zinn (2001). MBSR ist ein strukturierter sind sie in Situationen der Hektik und des Getrie-
8-Wochen-Kurs, in dem verschiedene Formen der benseins (Hamsterrad) ein hervorragendes Mittel,
Achtsamkeitsmeditation unterrichtet werden. Er sich zu entspannen und neue Energie zu gewinnen.
richtet sich an Menschen, die eine Bewältigungs- Dazu genügt eine Auszeit von wenigen Minuten.
strategie für Stress, Schmerzen oder chronische Er- Tiefes, gleichmäßiges Ein- und Ausatmen und
krankungen suchen. Speziell für Suchterkrankun- die Konzentration auf den Atemvorgang sind die
gen wurde ein Programm entwickelt, das nach er- zentralen Elemente. Richtiges Atmen geschieht mit
folgreicher Suchttherapie einen Rückfall vermeiden dem Zwerchfell. Bei der Atemübung atmen wir
soll, der sogenannte »mindfulness-based relapse grundsätzlich langsam durch die Nase ein und
prevention« oder MBRP-Kurs (Bowen et al. 2012). gleichmäßig durch den leicht geöffneten Mund wie-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
86 Kapitel 8 · Was wirkt? – Allgemeine Wirkfaktoren ärztlicher Interventionen

der aus. Die Ausatmung sollte doppelt so lang dau-


ern wie die Einatmung. Nach dem Ausatmen ent- Der Arzt ist von der empfohlenen Therapie
steht eine natürliche Atempause, in der sich die überzeugt und kann sie glaubhaft vertreten.
Atemmuskeln entspannen und zur Ruhe kommen. Der Patient spürt, dass der Arzt um die Besse-
rung seiner Beschwerden bemüht ist und dass
jAtemübung mit Anspannung er sich mit seiner ganzen Person für ihn ein-
und Entspannung setzt. Er vertraut dem Arzt, dass die ihm emp-
Während Sie langsam einatmen, spannen Sie so vie- fohlene Therapie für ihn die Richtige ist.
le Muskeln wie möglich an. Halten Sie dann kurz die Statt Krankheit steht Gesundheit mit ihren
Luft an. Dann langsam ausatmen und alle Muskeln körperlichen, seelischen und sozialen Kom-
wieder entspannen. Durch dieses Anspannen der ponenten im Mittelpunkt.
Muskeln wird Blut in die Gefäße gepumpt. Wenn
Sie dann die Muskeln wieder lockern, werden die
Gefäße erweitert und es fließt mehr Blut. Das führt Literatur
zu einem Gefühl wohliger Wärme und angenehmer
Zitierte Literatur
Schwere. Ainsworth M, Blehar M, Waters E, Walls S (1978) Patterns of
Nachdem Sie etwa 5-mal diese An- und Ent- Attachment: A Psychological Study of the Strange Situa-
spannung in Kombination mit langsamen Ein- und
8 Ausatmen durchgeführt haben, bleiben Sie noch
tion. Erlbaum, Hillsdale, NJ
Antonovsky A (1987) The salutogenetic perspective: toward a
new view of health and illness. Advances 4: 47–55
etwa 1 oder 2 Minuten mit geschlossenen Augen
Antonovsky (1993) Gesundheitsforschung versus Krankheits-
ruhig sitzen bzw. liegen. Spüren Sie die Wärme in forschung. In: Franke A, Broda M (Hrsg) Psychosoma-
Ihrem Körper. tische Gesundheit. Versuch einer Abkehr vom Patho-
Aus: www.zeitblueten.com/news/atemuebung/. genese-Konzept. DGVT, Tübingen, S 3–14
Bandura (1977) Self-Efficacy: Toward a unifying theory of
behavior change. Psychol. Rev. 84191–215
Berg A, Deibert P et al. (2009) Lebensstilberatung Maßge-
Fazit für die Praxis schneidert. Medicalsportsnetwork 5/2009
Interventionen sind erst dann wirksam, wenn Bergler R, Hoff T (2002) Genuss und Gesundheit. Psycholo-
ein heilungsfördernder Kontext vorhanden ist. gische Bedeutungen von Genuss und Kultur. Kölner
Dieser Kontext lässt sich folgendermaßen be- Universitas-Verlag, Köln
Berk M, Kapcinszki F, Andreazza AC et al. (2010) Pathways
schreiben:
underlying neuroprogression in bipolar disorder: focus
Die Beziehung zwischen Arzt und Patient ist on inflammation, oxidative stress and neurotrophic
vertrauensvoll, warm, verständnisvoll, akzep- factors. Neusci Biobehav Rev 35 (3): 804–817
tierend, freundlich und offen. Der Arzt zeigt Bowen S, Chawla N, Marlatt GA (2012) Achtsamkeitsbasierte
Einfühlungsvermögen für die Probleme des Rückfallprävention bei Substanzabhängigkeit: Das
MBRP-Programm. Beltz, Weinheim
Patienten. Der Patient entwickelt eine emotio-
Bowlby J (1975) Bindung. Fischer, Frankfurt a.M.
nale Bindung an den Arzt und es entsteht eine Deslandes AC (2014) Exercise and mental health: what did we
gelungene Passung zwischen der Person des learn in the last 20 years? Front. Psychiatry, http://dx.doi.
Arztes, der Person des Patienten, dem Problem org/10.3389/fpsyt.2014.00066
des Patienten und dem eingesetzten thera- Erikson PS et al. (1998) Neurogenesis in the adult human
hippocampus. Nat Med 4: 1313–1317
peutischen Verfahren.
Fritzsche K (2005) Psychotherapie bei lebensbedrohlich
Die Persönlichkeit des Arztes und seine soziale Erkrankten. Psychotherapeut 50: 281–289
Kompetenz. Ärzte, die emotionales Einfüh- Geuter U (2006) Körperpsychotherapie – Der körperbezogene
lungsvermögen mit sicherem Auftreten und Ansatz im neueren wissenschaftlichen Diskurs der Psy-
verständlicher Information verbinden, haben chotherapie, teil 2. In: Psychotherapeutenjournal 3/2006:
258–264
bessere Therapieergebnisse als Ärzte, die im
Grawe K (1998) Psychologische Therapie. Hogrefe, Göttingen
Vergleich dazu eher unbeteiligt, unpersönlich, Grawe K (2000a) Allgemeine Psychotherapie. In: Senf W, Broda
formal oder vage auftreten. M (Hrsg) Praxis der Psychotherapie. Thieme, Stuttgart,
S 314–325

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
Literatur
87 8
Grawe K (2000b) Neuropsychotherapie. Hogrefe, Göttingen Scheidt CE, Waller E (2002) Somatoforme Störungen und
Grossman KE, Grossman K (1991) Attachment as an organizer Bindungstheorie. Psychother 47(3): 157–164
of emotional and behavioral responses in a longitudinal Schmidt S (2014) Was ist Achtsamkeit? Herkunft, Praxis und
perspective. In: Parkes CM, Stevenson-Hinde J, Marris P Konzeption. Sucht 60 (1): 13–19
(eds) Attachment across the life cycle. Tavistock, London Silveira H, Moraes H, Oliviera N et al. (2013) Physical exercise
Josefsson T, Lindwall M, Archer T (2014) Physical exercise and clinically depressed patients: a systematic review
intervention in depressive disorders: metaanalysis and and metaanalysis. Neuropsychobiology 67: 61–68
systematic review. Scand J Med Sci Sports 24: 259–72 Stauss K (2011) Bonding Psychotherapie Grundlagen,
Kabat-Zinn J, Kroh M (2011) Gesund durch Meditation. Das Methoden. Kösel, München
große Buch der Selbstheilung. Droemer Knaur, München Watzl B, Leitzmann C (2005) Bioaktive Substanzen in Lebens-
Kattenstroh JC et al. (2013) Six month of dance intervention mitteln. Hippokrates, Stuttgart
enhances postural sensorimotor, and cognitive perfor- WHO (1948, 2011) Definition Gesundheit und sexuelle Ge-
mance in elderly without affecting cardio-respiratory sundheit. http://www.euro.who.int/de/health-topics/
functions Front. Ag Neurosci 5:5. DOI: 10.3389/ Life-stages/sexual-and-reproductive-health/news/
fnagi.2013.00005 news/2011/06/sexual-health-throughout-life/definition.
Kiss-Elder K (2003) Muße. Eine kleine Schule des Genießens. Zugegriffen: 15. Mai 2015
Patmos, Düsseldorf
Lambert, MJ (2013) The efficacy and effectiveness of psycho- Weiterführende Literatur
therapy. In: Lambert MJ (Hrsg): Bergin and Garfield’s Götz ML, Rabast U (1999) Diättherapie. Thieme, Stuttgart
Handbook of Psychotherapy and Behaviour Change. Huber M (2006) Der innere Garten: Ein achtsamer Weg zur
John Wiley & Sons, New York, S 169–218 persönlichen Veränderung. Junfermann, Paderborn
Lichtenberg JD, Lachmann M, Fosshage JL (2000) Das Selbst Markser V, Bär KL (2015) Sport- und Bewegungstherapie bei
und die motivationalen Systeme. Zu einer Theorie psy- seelischen Erkrankungen. Schattauer, Stuttgart
choanalytischer Technik. Brandes & Apsel, Frankfurt Von Schlippe A, Schweitzer J (2002) Lehrbuch der systemi-
Löllgen H (1999) Herzfrequenzvariabilität. Neue Methoden in schen Therapie und Beratung. Vandenhoeck & Ruprecht,
der kardialen Funktionsdiagnostik. Dtsch Arztebl 96: Göttingen
A-2029–2032
Lucas M, Mekary R, Pan A et al. (2011) Relation between
clinical depression risk and physical activity and time
spent watching television in older women: a 10-year
prospective follow-up study. Am J Epdemiol 174 (9):
1017–1027
Michal M, Subic-Wrana C, Beutel ME (2014) Psychodynamis-
che Psychotherapie, Lebensstil und Prävention. Z Psycho-
som Med Psychother 60: 350–367
Miller SD, Hubble MA, Chow DL, Seidel JA (2013) The outcome
of psychotherapy: Yesterday, today, and tomorrow. Psy-
chotherapy, 50 (1): 88–97
Mück-Weymann M (2005) Depression und Herzratenvaria-
bilität. Seelentief zwingt Herzschlag in enge Bahn.
Hausarzt 3: 68–69
Norcross, JC, Lambert MJ (2011) Evidence-based therapy
relationships. In: Norcross JC (Hrsg) Relationships that
work, 2. Aufl. Oxford Univ Press, Oxford
Plante TH, Shermann AC (2001) Faith and Health. Psychologi-
cal perspectives. Guilford Press, New York
Quiroga Murcia C, Bongard S, Kreutz G (2009) Emotional and
neurohumoral responses to dancing Tango Argentino:
The effects of music and partner. Music Med 1: 14
Reddemann L (2001) Imagination als heilsame Kraft; Zur
Behandlung von Traumafolgen mit ressourcenorien-
tierten Verfahren. Klett-Cotta, Stuttgart
Rimer J et al. (2012) Exercise for depression. Cochrane Data-
base Syst Rev 7:CD004366
Rogers CR (1983) Therapeut und Klient. Fischer, Frankfurt
Rudolf G (2007) Psychotherapeutische Medizin und Psycho-
somatik. Thieme, Stuttgart

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
89 III

Erkennen und Behandeln


häufiger Krankheitsbilder
und Problembereiche
Kapitel 9 Somatoforme Störungen – 91
Kurt Fritzsche, Martin Dornberg, Christina Burbaum

Kapitel 10 Chronische Schmerzstörung – 105


Kurt Fritzsche, Martin Dornberg, Blandine Niklaus

Kapitel 11 Angststörungen – 119


Kurt Fritzsche, Uwe H. Ross

Kapitel 12 Depression und Suizidalität – 133


Kurt Fritzsche, Daniela Wetzel-Richter

Kapitel 13 Krebserkrankung – 153


Kurt Fritzsche, Werner Geigges

Kapitel 14 Koronare Herzkrankheit – 167


Kurt Fritzsche, Daniela Wetzel-Richter

Kapitel 15 Diabetes mellitus – 175


Werner Geigges, Ulrich Garwers, Martin Poppelreuther,
Kurt Fritzsche

Kapitel 16 Adipositas und metabolisches Syndrom – 185


Kurt Fritzsche, Daniela Wetzel-Richter, Werner Geigges

Kapitel 17 Anorexia nervosa und Bulimie – 195


Kurt Fritzsche, Peter Rochlitz

Kapitel 18 Suchtkrankheiten – 205


Kurt Fritzsche

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
Kapitel 19 Akute und posttraumatische
Belastungsstörungen – 215
Peter Schröder

Kapitel 20 Persönlichkeitsstörungen – 227


Kurt Fritzsche, Werner Geigges, Michael Wirsching

Kapitel 21 Sexualmedizin – 239


Dietmar Richter, Daniela Wetzel-Richter

Kapitel 22 Psychosomatik im Alter – 251


Kurt Fritzsche, Margrit Ott

Kapitel 23 Unheilbar Kranke und Sterbende – 261


Kurt Fritzsche, Gerhild Becker

Kapitel 24 Familie und Partnerschaft – 269


Michael Wirsching, Werner Geigges

Kapitel 25 Krisenintervention – 281


Kurt Fritzsche, Daniela Wetzel-Richter

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
91 9

Somatoforme Störungen
Kurt Fritzsche, Martin Dornberg, Christina Burbaum

9.1 Theoretischer Teil – 92


9.1.1 Kennzeichen – 92
9.1.2 Symptome – 92
9.1.3 Diagnostische Einteilung – 92
9.1.4 Häufigkeit und Verlauf – 94
9.1.5 Ursachen – 95

9.2 Praktischer Teil – 95


9.2.1 Erkennen – 95
9.2.2 Behandlung – 96

Literatur – 103

K. Fritzsche et al. (Hrsg.), Psychosomatische Grundversorgung,


DOI 10.1007/978-3-662-47744-1_9, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
92 Kapitel 9 · Somatoforme Störungen

Fallbeispiel 4 Der Patient sucht Hilfe für seine Beschwerden


Frau S., 40-jährig, wurde bereits mehrfach wegen bei primär somatisch ausgebildeten Ärzten.
heftigster krampfartiger Bauchschmerzen stationär 4 Wenn körperliche Befunde vorhanden sind,
in der Inneren Abteilung eines Kreiskrankenhauses erklären sie nicht die Art und das Ausmaß der
aufgenommen. Alle diagnostischen Maßnahmen Symptome, das Leiden und die innere Beteili-
blieben ohne pathologischen organischen Befund. gung des Patienten.
Eine Behandlung mit Säureblockern brachte keine
Besserung. Die Beschwerden traten mit einem
Führungswechsel in der Firma auf. Seither herrscht 9.1.2 Symptome
dort eine unangenehme Stimmung. Selbst in
leitender Position, fühlt sich die Patientin zwischen Somatoforme Symptome können jedes Organsys-
Leitung und Mitarbeitern hin- und hergerissen: tem betreffen. Die häufigsten Manifestationen zeigt
»Ich bin aus dem Lot gekommen.« Neben Übelkeit, . Tab. 9.1.
Erbrechen und krampfartigen Oberbauchschmerzen
klagt die Patientin über Schlafstörungen, Konzen-
trationsstörungen, Appetitverlust, Unruhe, Anspan- 9.1.3 Diagnostische Einteilung
nung und Angstgefühle: »Ich vertraue meinem
Körper nicht mehr. Ich fühle mich elementar ver- Wir unterscheiden zwischen dem weiteren Begriff
unsichert.« der Somatisierung (Ausdruck seelischer Beschwer-
den in körperlichen Symptomen) und dem engeren
9 Begriff der somatoformen Störung nach ICD-
9.1 Theoretischer Teil 10-Klassifikation, bei dem die feste Überzeugung,
eine körperliche Erkrankung zu haben und ein da-
9.1.1 Kennzeichen rauf bezogenes Interaktionsverhalten hinzukommt.
Nach ICD-10 haben Patienten mit sog. Somatisie-
Kennzeichen einer somatoformen Störung sind: rungsstörungen ein dementsprechendes (somato-
4 Der Patient ist durch körperliche Beschwerden formes) Krankheitserleben und -verhalten und wer-
belastet, für die keine hinreichenden organi- den unter den somatoformen Störungen codiert.
schen Ursachen gefunden werden.
4 Der Patient ist überzeugt, dass die körperlichen Somatoforme Störungen (ICD-10: F 45)
Beschwerden Ausdruck einer organischen Er- Folgende Unterteilung hat sich in der Praxis be-
krankung sind. währt:

. Tab. 9.1 Manifestationen somatoformer Symptome

Organsystem Häufige Symptome

Herz-Kreislauf-System Brustschmerzen, paroxysmale Tachykardien


Hypertone und hypotone Regulationsstörungen, Synkope

Oberer Gastrointestinaltrakt Übelkeit, Globusgefühl, Meteorismus

Unterer Gastrointestinaltrakt Schmerzen, Diarrhoe, Obstipation

Atmungssystem Hyperventilation z. T. mit Parästhesien und Engegefühl

Bewegungsapparat Rückenschmerzen

Urogenitalsystem Miktionsstörungen, Menstruationsstörungen

Nervensystem Schwindel, Krampfanfall, Lähmungen

Allgemeinsymptome Müdigkeit, Leistungsminderung, Schlafstörungen

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
9.1 · Theoretischer Teil
93 9
4 Somatoforme autonome Funktionsstörungen Gangstörungen, Störungen der Sinnesempfindun-
der vegetativ versorgten Organsysteme wie gen wie Gefühllosigkeit der Haut, plötzlicher Seh-
Herz-Kreislauf-System, Magen-Darm-Trakt, verlust, Taubheit und Ohnmacht. Ein verdrängter
Atmung- und Urogenitalsystem (s. . Tab. 9.1). Konflikt wird in Körpersprache symbolisch ausge-
4 Die anhaltende somatoforme Schmerzstörung drückt, um das Bewusstsein von unerträglichen
(ICD-10: F 45.4; 7 Kap. 10 »Chronische Gefühlen freizuhalten.
Schmerzstörung«).
4 Als schwerste Ausprägung umfasst die sog. Funktionelle Syndrome anderer medizi-
Somatisierungsstörung (ICD-10: F 45.0) viel- nischer Fachgebiete (nach ICD-10)
fältige, häufig wechselnde körperliche Symp- Funktionelle Syndrome aus anderen medizinischen
tome, die bereits über Jahren bestehen und Fachgebieten können nach ICD-10 folgenderma-
mehrere Organsysteme betreffen. ßen klassifiziert werden:
4 Bei der hypochondrischen Störung (ICD-10: 4 Gastroenterologie: Reizdarmsyndrom (K 59),
F 45.2) beschäftigen sich die Patienten in über- Nicht-ulzeröse Dyspepsie (K 30)
triebener Weise und über lange Zeit mit der 4 Rheumatologie: Fibromyalgie (M 79.0)
Möglichkeit, an einer oder mehreren schweren 4 Innere Medizin/Neurologie: Chronisches
und fortschreitenden körperlichen Erkran- Erschöpfungssyndrom (G 93.3)
kungen zu leiden. Alltägliche Körperempfin- 4 Zahnmedizin: Orofaziales Schmerz-Dysfunk-
dungen werden als bedrohlich und belastend tionssyndrom (K 07.6)
fehlinterpretiert. Bei der körperdysmorphen 4 Gynäkologie: Pelvipathie (N 94)
Störung wird der Körper als vermeintlich
missgestaltet interpretiert. Dies geht meist mit Weitere funktionelle Körper-
dem Wunsch nach kosmetischen Operatio- beschwerden (außerhalb ICD-10)
nen einher. Als weitere Begriffe, die für funktionelle Körperbe-
schwerden außerhalb der ICD-10 stehen können,
Dissoziative Störungen und sind zu nennen:
Konversionsstörungen (ICD-10: F 44) Umweltbezogene Körperbeschwerden, wie
Dissoziation heißt wörtlich »Spaltung des Bewusst- »Multiple Chemical Sensitivity«, »Elektrosmog«
seins«. Beispiele sind Entfremdungsgefühle wie De- oder amalgambezogene Beschwerden, ferner die
personalisation und Derealisation, Gedächtnisver- »Nahrungsmittelunverträglichkeit, das »HWS-
lust und Fluchtverhalten, Dämmerzustände, neuro- Schleudertrauma«, die »Chronische Borreliose«
logisch nicht erklärbare Lähmungen und Krampf- und das »Golfkriegssyndrom«.
anfälle.
Diese Phänomene kommen häufig in Zusam- Differenzialdiagnose
menhang mit schweren psychischen Traumata, be- Somatoforme Symptome können auch Teil einer
sonders nach Gewalterfahrungen und sexuellem Angststörung oder einer Depression sein. Gefühle
Missbrauch vor. Die verbale Verarbeitung des Ereig- der Angst oder depressive Symptome werden nicht
nisses ist nicht möglich. Das traumatische Erlebnis bewusst erlebt, sondern kommen nur auf körperli-
wird abgespalten und findet als Angst, vegetativer cher Ebene zum Ausdruck. Wir sprechen hier auch
Spannungszustand und den oben beschriebenen von Affektäquivalenten.
Symptomen seinen Ausdruck (7 Kap. 19 »Akute und
Posttraumatische Belastungsstörung«). Ausblick auf DSM-5 und ICD-11
Konversionssymptome sind Funktionsstörun- Es gibt verschiedene Begrifflichkeiten und Konzep-
gen der Willkürmotorik und des Sensoriums. Die tualisierungen wie »körperliche Beschwerden ohne
Symptome betreffen Körperfunktionen und Kör- ausreichenden Organbefund«.
perregionen, die eine Bedeutung in der Kommuni- Das Konzept »körperliche Beschwerden ohne
kation haben wie Arme und Beine, Augen und Ge- ausreichenden Organbefund« fördert den Dualis-
hör. Beispiele sind Lähmungen der Muskulatur mit mus zwischen Körper und Seele. Die Beschwerden

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
94 Kapitel 9 · Somatoforme Störungen

des Patienten werden entweder als organisch verur- bung der Arzt-Patient-Interaktion. Unklar ist die
sacht oder organisch nicht erklärbar angesehen. Das Anwendung dieser Kriterien auf schwere lebensbe-
letztere führt oft implizit zur Annahme einer psy- drohliche körperliche Erkrankungen. Inwieweit
chischen Ursache. Dieses Konzept widerspricht sich der neue Diagnosename im Englischen und
dem biopsychosozialen Modell, bei dem somati- auch im Deutschen durchsetzen wird, ist noch of-
sche, psychische und soziale Faktoren in unter- fen. Somatic Symptom Disorder erscheint eher als
schiedlicher Gewichtung zum Krankheitsgesche- Oberkategorie, denn als Einzeldiagnose.
hen beitragen. Als praktische Konsequenz ergeben sich eine
Die Neuauflage des diagnostischen Klassifizie- Stärkung des psychotherapeutischen Aspektes in
rungssystems für psychiatrische Störungen DSM-5 der Diagnostik, z. B. wie erlebt der Patient seine
versucht diesen Dualismus zu überwinden. In einer Beschwerden, welche Gedanken, welche Gefühle,
neuen diagnostischen Kategorie mit dem Namen welches Verhalten gehen damit einher. Die oft
Somatic Symptom Disorder (SSD) werden körper- schwierige Entscheidung, ob organisch ausrei-
liche Beschwerden diagnostiziert, bei denen eine chend erklärt oder nicht, entfällt. Ein biopsychoso-
dysfunktionale Krankheitswahrnehmung, ein auf- ziales Modell kann auf eine größere Gruppe von
fälliges Krankheitsverhalten und ausgeprägte Ge- Patienten mit körperlichen Beschwerden angewen-
sundheitsängste vorherrschen. det werden.
Folgende Kriterien müssen zur Diagnose einer Für die Klassifikation in ICD-11 ist der Begriff
SSD erfüllt sein: Bodily Distress Disorder vorgesehen. Hier stehen
A. Körperliche Beschwerden: Ein oder mehrere Symptomcluster im Vordergrund. Psychobehavio-
9 beeinträchtigende körperliche Beschwerden. rale Kriterien sind nicht der Teil der Diagnose.
B. Übertriebene Gedanken, Gefühle und Verhal-
tensweisen im Zusammenhang mit diesen
Körperbeschwerden oder hiermit verbunde- 9.1.4 Häufigkeit und Verlauf
nen Gesundheitssorgen: wenigstens eines der
folgenden Kriterien muss erfüllt sein: Die 12-Monats-Prävalenz somatoformer Störungen
1. Unangemessene und anhaltende Gedanken in der erwachsenen Bevölkerung beträgt 3,5 % (Ja-
über die Ernsthaftigkeit der eigenen Symp- cobi et al. 2014). Bei Frauen wird deutlich häufiger
tome. eine somatoforme Störung diagnostiziert als bei
2. Anhaltend hohes Angstniveau bezüglich Männern. Ca. 30 % der Patienten, die einen Haus-
der eigenen Gesundheit oder Symptome. arzt aufsuchen, haben körperliche Beschwerden
3. Übermäßiger Zeit- und Energieaufwand für ohne ausreichenden Organbefund.
diese Symptome oder Gesundheitssorgen. Folgende Verlaufsformen werden unterschie-
C. Dauer: Auch wenn ein Symptom nicht konti- den:
nuierlich vorhanden ist, so sollte die Dauer 1. Kurzfristige, oft wenige Stunden oder Tage
der Beschwerden mindestens sechs Monate anhaltende Beschwerden, die bei jedem Men-
betragen. schen vorkommen und rasch wieder ohne
weitere Maßnahmen abklingen. Hier wird kei-
Die Diagnose Somatic Symptom Disorder ersetzt ne somatoforme Störung codiert.
die vormaligen Diagnosen Somatisierungsstörung, 2. Beschwerden, die Wochen und mehrere
undifferenzierte Somatisierungsstörung, somato- Monate andauern, häufig in Zusammenhang
forme autonome Funktionsstörung, somatoforme mit akuten Belastungen stehen, die zum Teil
Schmerzstörung und z. T. die Diagnose Hypo- spontan abklingen, z. T. aber auch einer Be-
chondrie. handlung bedürfen, um eine Chronifizierung
zu vermeiden (70–75 %).
jKommentar: 3. Anhaltende Somatisierung über Monate und
Positiv ist die stärkere Betonung psychosozialer Va- Jahre, teilweise mit wechselnder Symptomatik,
riablen zu bewerten. Es fehlt jedoch die Beschrei- die zu häufigen Arztbesuchen, diagnostischen

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
9.2 · Praktischer Teil
95 9
mit einhergehende physiologische Erregung und
der emotionale Distress lösen Angstgefühle aus, die
wiederum die Körperreaktionen verstärken
(. Abb. 9.2).
Zu den psychosozialen Faktoren, die eine so-
matoforme Störung begünstigen, zählen:
4 Traumatisierungen in der Kindheit.
4 Negative Bindungserfahrungen (7 Kap. 1 und 7
Kap. 9 »Chronische Schmerzstörung«).
4 Modell-Lernen an elterlichen Vorbildern, die
unter ähnlichen Beschwerden litten.
4 Neigung zu psychischer und körperlicher
Überforderung.
4 Geringes Selbstbewusstsein, Kränkbarkeit, und
Verletzbarkeit.
4 Verstärkung einer Krankenrolle durch ver-
mehrte Aufmerksamkeit und Unterstützung
des Umfeldes.
4 Entlastung von sozialen oder familiären Anfor-
derungen und von Verpflichtungen als Folge
. Abb. 9.1 Cartoon: Viele Ärzte. (Zeichnung: Gisela Mehren)
der Beschwerden.

und therapeutischen Eingriffen, starkem Lei- 9.2 Praktischer Teil


densdruck, reduzierter Lebensqualität und
Arbeitsunfähigkeit führt (25–30 %; . Abb. 9.1). 9.2.1 Erkennen

Hinweise für somatoforme Störungen können sein:


9.1.5 Ursachen 4 Die Symptome folgen nicht anatomischen oder
physiologischen Mustern.
Jeder Mensch reagiert auf psychische Belastungen 4 Es besteht ein großer Unterschied zwischen
mit körperlichen Symptomen, z. B. Schwitzen, den objektiven Befunden (klinische Untersu-
Schlafstörungen, Herzklopfen, Durchfall etc. Bei chung, Labor, Bildgebung) und den subjek-
somatisierenden Patienten werden die emotionalen tiven Beschwerden.
Belastungen nicht wahrgenommen oder es besteht 4 Die Schilderung der Symptome ist diffus.
eine Hemmung, die Gefühle auszudrücken. Die 4 Die Beschwerden werden einerseits unbe-
Aufmerksamkeit richtet sich stattdessen auf die be- wegt hingenommen, andererseits in drama-
gleitenden Körpersymptome, die eine negative Be- tischen Bildern und inadäquaten Affekten
wertung und Verstärkung erfahren und nicht mehr geschildert.
mit dem auslösenden Gefühl in Zusammenhang 4 Der Patient wirkt klagend, fordernd, anklam-
gebracht werden. Das Klagen über körperliche Be- mernd.
schwerden ersetzt den Ausdruck unangenehmer 4 Es finden sich weitere organisch nicht ausrei-
Gefühle. chend erklärbare Beschwerden in unterschied-
In einem Teufelskreis (7 Kap. 11 »Angststörun- lichen Organsystemen.
gen«, Teufelskreis der Angst) verstärken Fehlwahr- 4 Häufiger Arztwechsel.
nehmung und Fehlinterpretation der körperlichen 4 Aktuelle Belastungen, z. B. im Beruf oder in
Symptome als bedrohliche Krankheitszeichen die der Familie, mit ängstlicher oder depressiver
erhöhte Aufmerksamkeit auf den Körper. Die da- Symptomatik.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
96 Kapitel 9 · Somatoforme Störungen

. Abb. 9.2 Modell der Somatisierung. (Mod. nach Rief 2000)


9
Patienten mit somatoformen Störungen und ihren
Ärzten ist in der Regel nicht bewusst, worauf sie mit
ihren Symptomen reagieren (Lieb u. von Pein 2009,
. Abb. 9.3).

Hinweise für komplizierten Verlauf


Das Ziel ist, somatoforme Störungen frühzeitig zu
erkennen und eine Chronifizierung zu verhindern.
Dazu wurden in der aktuellen S3-Leitlinie sog. «yel-
low flags« als Hinweise für einen komplizierten Ver-
lauf zusammengestellt (. Tab. 9.2). Die »yellow
flags« stellen zum einen positive Kriterien für das
Vorliegen von somatoformen Symptomen dar, zum
anderen erlauben sie eine Differenzierung des
Schweregrads in leichtere und schwerere Verlaufs-
formen (Hausteiner-Wiehle et al. 2013; Schäfert et
al. 2012).

9.2.2 Behandlung

Ziel der Behandlung im Rahmen der psychosoma-


. Abb. 9.3 Cartoon: »Eisberg«. (Aus Lieb u. von Pein 2009;
tischen Grundversorgung ist der Aufbau einer em- mit freundlicher Genehmigung)
pathischen und vertrauensvollen Arzt-Patient-Be-
ziehung, in der der Patient sich mit seinen Be-
schwerden und seiner Sicht der Erkrankung ernst

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
9.2 · Praktischer Teil
97 9

. Tab. 9.2 Charakteristika leichter und schwerer Verlaufsformen somatoformer funktioneller Störungen.
(Schäfert et al. 2012)

Kriterium Leichterer, unkomplizierter Verlauf Schwererer, komplizierter Verlauf


(»yellow flags«)

Häufigkeit ca. 50–75 % ca. 10–30 %

Anzahl der Eine oder wenige Beschwerden Mehrere Beschwerden


Beschwerden (Mono-/oligosymptomatischer Verlauf ) (Polysymptomatischer Verlauf )

Häufigkeit/ Dauer der Selten bzw. kurz Häufig bzw. anhaltend


Beschwerden (Längere beschwerdefreie Intervalle) (Ohne oder nur mit seltenen/kurzen
beschwerdefreien Intervallen)

Krankheits- Weitgehend adäquat Dysfunktional, z. B. katastrophisierendes Denken


wahrnehmung Starke Krankheitsängste

Krankheitsverhalten Weitgehend adäquat, z. B. angemes- Sicherheit-suchendes Verhalten (Schon- und


senes Inanspruchnahmeverhalten Vermeidungsverhalten, Rückversicherung, hohes
Inanspruchnahmeverhalten)

Funktionelle Beein- Weitgehend normale Funktionsfähig- Deutlich reduzierte Funktionsfähigkeit; Arbeits-


trächtigung keit unfähigkeit > ca. 4 Wochen, sozialer Rückzug
»Befinden« entspricht weitgehend Körperliche Dekonditionierung, evtl. körperliche
dem »Befund« Folgeschäden

Psychosoziale (evtl. Gering Hohe Belastungen in Lebenssituation und


auch biographische) Biographie (Traumatisierung)
Belastung

Psychische Keine relevante psychische Schwerere psychische Komorbidität (Depression,


Komorbidität Komorbidität Angst, PTBS, Sucht, Persönlichkeitsstörung)

Behandler-Patient- Weitgehend unkompliziert (Von beiden) als »schwierig« erlebt, häufige


Beziehung Behandlungsabbrüche

Medizin-systemische Adäquates Behandlerverhalten Iatrogene Faktoren (einseitig biomedizinisches


Faktoren Vorgehen, invasive Maßnahmen)

genommen fühlt. Nach Ausschluss einer organi- sorgfältig die somatische Ebene weiter im Blick
schen Erkrankung können so andere Erklärungs- behalten.
modelle besprochen werden und falls nötig der Pa- 4 Auch wenn der Arzt nicht an eine organische
tient für eine weiterführende psychotherapeutische Ursache der Erkrankung glaubt, den Patienten
Behandlung motiviert werden (Sauer u. Eich 2007). wiederholt zumindest kurz körperlich unter-
suchen.
Therapeutische Grundhaltung 4 Keine vorschnelle Verknüpfung von berichte-
Zur therapeutischen Grundhaltung, welche eine ten oder vermuteten seelischen Belastungen
bealstbare Arzt-Patient-Beziehung entstehen las- mit den körperlichen Beschwerden. Keine
sen soll, gehören: »Detektivarbeit«!
4 Ernstnehmen der körperlichen Beschwerden. 4 Lange Krankschreibungen, unnötige Weiter-
4 Verständnis für Hilflosigkeit, Enttäuschung überweisungen und Eingriffe vermeiden bzw.
und Ärger des Patienten. verhindern.
4 Die Unwahrscheinlichkeit einer ernsten orga- 4 Geduld, Gelassenheit und Wissen um die Be-
nischen Erkrankung benennen und zugleich grenztheit der therapeutischen Möglichkeiten.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
98 Kapitel 9 · Somatoforme Störungen

. Abb. 9.4 Cartoon: Diagnosemitteilung. (Zeichnung: Gisela Mehren)

Behandlungsziel ist zunächst die Linderung der Die Dialoge in den folgenden Fallbeispielen sind
Beschwerden, keine Heilung. Eine regelmäßige, be- sehr vereinfacht dargestellt. In realen Gesprächen
schwerdeunabhängige Einbestellung, z. B. 14-tägig, finden sich bei beiden Gesprächspartnern subtile
ist zu empfehlen. Strategien, das Gegenüber von der eigenen Sicht-
weise auf die Symptome zu überzeugen bzw. Strate-
Das 3-Stufen-Modell gien von Patienten die (vorschnellen) psychosoma-
Für die Behandlung in der Grundversorgung hat tischen Deutungen der Ärzte/Therapeuten in Frage
sich folgendes 3-Stufen-Modell bewährt: zu stellen (Burbaum et al. 2010; . Abb. 9.4).

j1. Stufe – Den Patienten ernst nehmen Fallbeispiel Fortsetzung – Stufe 1


und verstehen Die 40-jährige Frau S. kommt erneut in die Sprech-
4 Empathische, vertrauensvolle Arzt-Patient- stunde. Alle Untersuchungsbefunde zur Abklärung
Beziehung. der Bauchschmerzen waren unauffällig.
4 Erfragen des subjektiven Krankheitsverständ- A: »Was denken Sie, ist die Ursache für Ihre Bauch-
nisses: »Was glauben Sie, hat Ihre Krankheit schmerzen?«
verursacht? Wie ernsthaft glauben Sie ist Ihre P: »Ich weiß, das klingt albern, aber meine Mutter
Krankheit? Von welcher Therapie würden Sie hatte Gebärmutterkrebs und es fing auch mit sol-
am meisten profitieren?« chen Bauchschmerzen an. Ich muss jetzt oft denken,
4 Psychosoziale Anamnese. dass mein Krebs nur noch nicht erkannt ist.«
4 Kurze körperliche Untersuchung. A: »Beschäftigt Sie das sehr?«
P: »Ja, schon.«

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
9.2 · Praktischer Teil
99 9
Emotionen Psychophysiologie Symptome

Herzstolpern
Angst Blutdruckanstieg Herzklopfen
Aufregung Herzfrequenzanstieg Atemnot
Unruhe Beschleunigte Atmung Kribbelgefühl
Anspannung Muskelanspannung Muskelschmerzen, v. a.
Schulter- und Nackenbereich

. Abb. 9.5 Zusammenhänge zwischen Angst und körperlichen Symptomen

A: »Die Laboruntersuchung, Ultraschall und Compu- 4 Entwicklung von alternativen Verhaltenswei-


tertomographie haben keine Hinweise auf eine orga- sen in Beruf und Privatleben – Motivierung für
nische Erkrankung ergeben. Ich möchte gerne noch eine fachpsychotherapeutische Behandlung.
einmal Ihren Bauch untersuchen. (…)«
Rückmeldung der Untersuchungsergebnisse: Fallbeispiel Fortsetzung – Stufe 3
A: »… Im mittleren Bereich ist Ihr Bauch empfindlich, A: »Sie haben beim letzten Besuch erwähnt, dass es
aber sonst kann ich keine Auffälligkeit finden. Aber berufliche Probleme gibt?«
ich kann mir vorstellen, dass Sie sehr unter Ihren P: »Ja, es sollen Arbeitsplätze wegrationalisiert wer-
Beschwerden leiden.« den, ich mache mir große Sorgen. Manchmal muss
ich sogar weinen«
j2. Stufe – Alternative Krankheitsmodelle A: »Ich sehe, dass Sie auch im Moment angespannt
anbieten und traurig sind. Körperliche Angespanntheit kann
Ein alternatives Krankheitsmodell kann durch Er- eine Muskelverkrampfung erzeugen und zu ähnli-
läuterung psychophysiologischer Zusammenhänge chen Beschwerden führen, wie Sie sie jetzt haben.«
entwickelt werden, z. B. zwischen Angst und kör- P: »Sie meinen, das hat mit meinen Bauchschmerzen
perlichen Symptomen: »Bei ängstlichen Menschen zu tun?«
schüttet der Körper mehr Adrenalin aus. Deshalb A: »Ich meine die Sorgen sind Ihnen auf den Magen
schlägt das Herz in Angstsituationen schneller.« geschlagen.«
. Abb. 9.5 legt diese Zusammenhänge dar. P: »Sie glauben, die Muskeln in meinem Bauch ver-
Oder es kann dem Patienten der Zusammen- krampfen sich und verursachen meine Bauchschmer-
hang zwischen depressiver Stimmung und Körper- zen? Aber meine traurige Stimmung, macht die auch
symptomen erklärt werden: »Wenn Menschen Sor- diese Schmerzen?«
gen haben, bedrückt sind, kann ihr Darm sich zu- A: »Ja, natürlich, können Sie sich z. B. im Bett ent-
sammenzuziehen, was Bauchschmerzen verur- spannen?«
sacht.« P: »Oh nein.«
Besonders hilfreich sind körperbezogene Rede- A: »Ich glaube das ist die Folge von den Sorgen sein,
wendungen im Alltag, z. B. »was mir auf den Magen die Sie sich machen.««
schlägt« oder das Verbalisieren von belastenden P: »Mhm ... das könnte sein. Aber was kann ich dage-
Emotionen. gen tun?«
A: »Wie fühlen Sie sich, wenn Sie darüber sprechen?«
j3. Stufe –Verbindungen herstellen P: »Es tut gut, Ihnen meine Gefühle zu zeigen und
In der 3. Stufe werden Verbindungen zwischen dem verstanden zu werden. Ich versuche immer stark zu
Auftreten der körperlichen Beschwerden und der sein, aber eigentlich weiß ich nicht mehr weiter.«
Lebenssituation des Patienten hergestellt. A: »Ich glaube psychotherapeutische Gespräche
4 Zusammenhang zwischen Auftreten der kör- könnten Ihnen helfen Ihre Ängste und Sorgen um
perlichen Beschwerden und Lebensgestaltung. den Arbeitsplatz besser zu bewältigen und sich wie-
4 Abbau von Schon- und Vermeidungsverhalten. der zu entspannen.«

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
100 Kapitel 9 · Somatoforme Störungen

P: »Was heißt »psychotherapeutische Gespräche« Symptomtagebuch Der Einsatz eines Symptomta-


genau?« gebuchs dient der Wahrnehmung der Beschwerden
Arzt erklärt (s. 7 Kap. 26 »Psychosomatik in der und ihrer Fehlbewertung, wie z. B. die Angst eine
Hausarztpraxis«). ernsthafte Krankheit zu haben. Damit kann ein
A: »… und ich schreibe Ihnen jetzt die Telefonnum- Symptomtagebuch zum besseren Verständnis der
mer einer Psychotherapeutin auf, mit der ich zusam- Schmerzen führen (. Tab. 9.3).
menarbeite. Sie können dann selbst einen Termin Die Aufzeichnung der Gedanken und Gefühle
vereinbaren. Ich betreue Sie selbstverständlich wei- beim Auftreten der Bauchbeschwerden werden be-
terhin hausärztlich und würde Sie gerne nach dem sprochen und zusammen mit der Patientin neu be-
Termin bei der Psychotherapeutin wieder sehen.« wertet, z. B »Jetzt kommen die Bauchschmerzen
P: »Danke. Ich weiß nicht, ob mir das helfen wird, wieder und ich spüre einen starken Druck und eine
aber ich habe jetzt wieder etwas Hoffnung.« Angst zu versagen. Zwar weiß ich, dass meine
Mutter Gebärmutterkrebs hatte und es auch mit sol-
Handwerkskasten chen Bauchschmerzen anfing, aber alle Untersu-
Hilfreiche Hintergründe, Infos und Tipps auch zur chungen der letzten Wochen und Monate haben
Gesprächsführung bei somatoformen Beschwerden gezeigt, dass meine Gebärmutter, mein Darm und
finden sich in der S3-Leitlinie (Schäfert et al. 2012; mein sonstiger Körper vollkommen gesund sind
Hausteiner-Wiehle et al. 2013), die kostenlos auch und ich auch voll leistungsfähig bin.« So kann die
online verfügbar ist. Patientin in Zukunft ihr Kundengespräch fortsetzen
und die Erfahrung machen, dass die Bauchschmer-
9 Zeit nehmen Das geduldige Anhören der oft um- zen abklingen, ohne dass sie sich auf die Toilette
fangreichen Beschwerdeschilderung, der Enttäu- zurückziehen muss.
schung über vorangegangene Behandlungsversuche Symptomtagebücher sollten nicht zu lange an-
und der Klagen des Patienten über das Unverständ- gewendet werden, da sie zu einer vermehrten Wahr-
nis, das ihm bisher bei Ärzten und nahen Bezugsper- nehmung der Beschwerden führen und daher den
sonen begegnet ist, hat unmittelbare Entlastungs- Prozess der Somatisierung verstärken können. Eine
funktion und therapeutische Wirksamkeit. Da den Dauer von ein bis maximal zwei Wochen reicht.
Patienten die psychische Dimension ihres Leidens Über das Symptomtagebuch werden Situationen
nicht zugänglich ist, können sie ihre emotionale Be- identifiziert, in denen der Patient besonders anfällig
dürftigkeit zunächst nur über ihre körperlichen Be- ist für das Erleben von Beschwerden. Nicht die reine
schwerden ausdrücken. Eine Annahme und ein Ver- Situation, sondern die damit einhergehenden Ge-
ständnis für diese Beschwerden fördern das Selbst- fühle und Gedanken sind für das Verständnis der
wertgefühl und stärken das Vertrauen in den Arzt. Beschwerden entscheidend. Daher ist es wichtig,

. Tab. 9.3 Symptomtagebuch

Tag/ Symptome/Ausmaß Situation Gedanken in der Gefühle und


Uhrzeit der Beschwerden Andere Personen Situation Stimmungen in der
(1–10, gering bis Aktivität Situation
extrem) Anforderungen

Montag Bauchweh (8) Bin im Verkaufsgespräch, Ich muss zum Abschluss Leistungsdruck
10 Uhr Stuhldrang (8) ein anderer Kunde kommen, sonst geht mir Angst zu versagen
möchte auch Beratung der andere Kunde verloren

Montag Heftige Bauch- Mein Mann ist gerade Wo hat er sich wieder Ärger
19 Uhr schmerzen (10) nach Hause gekommen, rumgetrieben? Wenigs- Angespannte
Stuhldrang (9) 2 h zu spät, ohne Be- tens anrufen hätte er Atmosphäre
Brennender Schmerz gründung und Entschul- können, während ich hier
beim Stuhlgang (9) digung allein sitze

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
9.2 · Praktischer Teil
101 9
dass der Patient gerade diese Felder ausfüllt, was Medikamentöse Behandlung
vielen Patienten, die es nicht gewohnt sind, über Medikamente z. B. Betablocker, für die als unange-
sich nachzudenken, zunächst sehr schwer fällt. Eine nehm empfundenen supraventrikulären Extra-
enge Begleitung in der Zeit, in der die Tagebücher systolen, oder Spasmolytika für Patienten mit
ausgefüllt werden, ist daher unerlässlich. krampfartigen abdominellen Beschwerden oder
auch Schmerzmittel sollten nur nach einer kriti-
Körperbezogene Redewendungen Anhand von schen Risiko-Nutzen-Bewertung verordnet werden
körperbezogenen Redewendungen aus dem Volks- und nur für eine begrenzte Zeit.
mund lassen sich ebenfalls gut die Zusammenhänge Antidepressiva haben sich zur Linderung von
zwischen emotionaler Belastung und körperlicher Angst und Depression bewährt. Bei somatoformer
Reaktion vermitteln. Beispiele hierfür sind: Schmerzstörung wird der Einsatz von Amitriptylin
4 viel um die Ohren haben, im Gegensatz zur chronischen Schmerzstörung
4 die Zähne zusammenbeißen, (s. 7 Kap. 10) kontrovers beurteilt. Auch für andere
4 kalte Füße bekommen, Unterformen der somatoformen Störungen, wie zum
4 vor Angst in die Hose machen, Beispiel der hypochondrischen Störung, lassen sich
4 Wut im Bauch haben, keine Hinweise für den Nutzen einer begleitenden
4 das geht mir an die Nieren, Pharmakotherapie aussprechen.
4 sich etwas zu Herzen nehmen, Bestehen zusätzlich zur somatoformen Erkran-
4 etwas schlägt auf den Magen, kung mittelgradige oder schwere ängstliche oder
4 weiche Knie bekommen. depressive Symptomatiken, sollte deren pharmako-
logische Behandlung erfolgen (Komorbidität).
Kognitive Verarbeitung Beeinflussung der kogniti-
ven Verarbeitung der Beschwerden können z. B. Überweisung und Kooperation mit psy-
durch das Teufelskreismodell der Angst (7 Kap. 11 chotherapeutischen Praxen und Kliniken
»Angststörungen«) erfolgen. Die Überweisung in ambulante oder stationäre psy-
chotherapeutische Behandlung lässt sich am besten
Entspannungsverfahren und Körperwahrnehmung im Rahmen eines stufenweisen Behandlungsmo-
Die Kontrolle über die körperlichen Symptome dells, das von der hausärztlichen Behandlung bis
wird durch Entspannungsverfahren und Übungen zur ambulanten oder stationären Psychotherapie
zur Körperwahrnehmung erleichtert. Beispiel: reicht, realisieren (s. Übersicht).
»Legen Sie eine Hand auf den Brustkorb und
den Bauch. Spüren Sie die Bewegung unter den
Händen, ohne den Atem zu verändern. Nun merken Stufenweises Behandlungsmodell in der
Sie das immer wiederkehrende Ein und Aus des ambulanten und stationären Versorgung
Atems. Sagen Sie dabei zu sich »es atmet mich«. (Mod. nach Henningsen et al. 2007)
Stellen Sie sich vor, wie mit dem Ausatmen Anspan- Stufe 1
nung aus dem Körper weichen kann. Stellen Sie sich Sicherung, dass keine ernsthafte Krankheit vor-
nun vor, wie mit dem Einatmen neuer Sauerstoff liegt, alternatives Krankheitsmodell anbieten
und damit neue Energie in den Körper einströmt.« Gegebenenfalls symptomatische Maßnahmen,
z. B. zur Schmerzlinderung
Patienteninformation Um den Patienten weiter zu Abbau des Schonungsverhaltens und Beratung
informieren und ihm Denkanstöße zu geben, haben zu gestufter Aktivierung
wir die unten stehende Patienteninformation zu Beratung zu dysfunktionaler Krankheitswahr-
nehmung und Krankheitsverhalten
körperlichen Beschwerden ohne Organbefund ent-
Biopsychosoziales Modell einführen
wickelt (. Abb. 9.6). Sie stammt ursprünglich von
Regelmäßige, z. B. 14-tägige Termine anbieten
der Weltgesundheitsorganisation und wurde von
unserer Arbeitsgruppe überarbeitet. Stufe 2, falls Stufe 1 nicht ausreicht

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
102 Kapitel 9 · Somatoforme Störungen

Körperliche Beschwerden ohne Organbefund

Häufig vorkommende körperliche Beschwerden ohne Organbefund:


– Kopfschmerzen – Bauchschmerzen
– Schmerzen in der Brust – Kreuzschmerzen
– Atembeschwerden – Juckreiz
– Schluckbeschwerden – häufiges Wasserlassen
– Übelkeit – Durchfall
– Erbrechen – Missempfindungen der Haut und der Muskeln

Begleitende Sorgen und beunruhigende Gedanken:


– woher kommen die Schmerzen?
– was ist mit mir los?
– habe ich eine schlimme Krankheit
– Befürchtungen: was könnte passieren ?

Die körperlichen Symptome sind nicht eingebildet


Kopfschmerzen
Schluckbeschwerden

9 – Aufregung, Ärger und Angst können körperliche Symptome hervorrufen


Brustschmerzen
Atembeschwerden

Bauchschmerzen
– körperliche Symptome können die Aufregung verstärken Übelkeit/Erbrechen
häufiges Wasserlassen
Durchfall/
Potenzstörungen

Juckreiz
– Aufregung kann die körperlichen Symptome verstärken
Stress, Anst, Sorgen,
Ärger, Derpressionen

Welche Therapie ist hilfreich?


Eine Begleittherapie durch den Hausarzt ist häufig notwendig

– Beruhigung und Versicherung durch den Hausarzt, daß keine ernsthafte Krankheit vorliegt
– Stressbewältigungsstrategien, Bewältigung von Lebenskrisen
– Lernen sich zu entspannen
– Vermeiden von negativen Denkmustern
– Körperliche Aktivität steigern
– Häufige positive, angenehme Aktivitäten durchführen
– Unnötige körperliche Untersuchungen vermeiden

. Abb. 9.6 Patienteninformation

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
Literatur
103 9
Literatur
Aufrechterhaltende Bedingungen, z. B. Renten-
begehren und evtl. Traumaerfahrungen der Burbaum C, Stresing A, Fritzsche K et al. (2010) Medically
unexplained symptoms as threat to patients’ identity:
Vorgeschichte prüfen
A conversation analysis of patient reactions to psycho-
Medikamentöse antidepressive Behandlung in somatic attributions. Patient Educ Couns 79: 207–217
Betracht ziehen Jacobi F, Höfler M, Strehle J et al. (2014) Psychische Störungen
Den Patienten für eine ambulante oder statio- in der Allgemeinbevölkerung. Studie zur Gesundheit
näre psychotherapeutische Behandlung moti- Erwachsener in Deutschland und ihr Zusatzmodul
Psychische Gesundheit (DEGS1-MH). Nervenarzt 85 (1):
vieren
77–87
Enge Zusammenarbeit mit ambulanten Hausteiner-Wiehle C, Henningsen P et al. (2013) Umgang mit
Psychotherapeuten oder psychosomatischer Patienten mit nicht-spezifischen, funktionellen und
Klinik zur weiteren Behandlungsplanung somatoromen Körperbeschwerden. Schattauer, Stuttgart
und bei Komplikationen Henningsen P, Zipfel S, Herzog W (2007) Management of func-
tional somatic syndromes. Lancet, 369, 946–955
Lieb H, von Pein A (2009) Der kranke Gesunde. 4. Aufl., Trias,
Stuttgart
Fachpsychotherapeutische Behandlung Sauer N, Eich W (2007) Somatoforme Störungen und Funk-
Die Überweisung in eine ambulante oder stationäre tionsstörungen Dtsch Arztebl 104(1-2): 45–53
fachpsychotherapeutische Behandlung kann aus 2 Schäfert R (2015) Somatoforme/ funktionelle Körperbe-
Gründen indiziert sein: schwerden – Diagnostik, Behandlung, Kosten und trans-
kulturelle Aspekte. Habilitationsschrift. Heidelberg
1. Im Rahmen des hausärztlichen Behandlungs- Schäfert R, Hausteiner-Wiehle C, Häuser W et al. (2012)
programms zeigen sich Probleme und Konflik- Klinische Leitlinie: Nicht-spezifische, funktionelle und
te, z. B. bei Patienten mit Persönlichkeitsstö- somatoforme Körperbeschwerden. Dtsch Arztebl Int.
rungen, die den zeitlichen Rahmen und die 109: 803–813
Zielsetzung dieses Vorgehens überschreiten Schäfert R, Kaufmann C, Wild B et al. (2013) Specific collabora-
tive group intervention for patients with medically
und nur in einer vertiefenden, längerfristigen
unexplained symptoms in general practice: a cluster
Psychotherapie behandelbar sind. randomized controlled trial. Psychother Psychosom 82:
2. Depressionen und Angststörungen verstecken 106–19
sich häufig hinter einer körperlichen Sympto- Rief W (2000) Somatisierungsstörungen. In: Margraf J (Hrsg.)
matik. Sind die Kriterien einer mittelgradigen Lehrbuch der Verhaltenstherapie. Springer, Berlin, Heidel-
berg, New York
oder schweren depressiven Episode oder einer
Angststörung erfüllt, so klärt der Arzt den Pa-
tienten über dieses Krankheitsbild auf und mo-
tiviert ihn, eine entsprechende medikamentöse
und psychotherapeutische Behandlung in An-
spruch zu nehmen (7 Kap. 11 und 7 Kap. 12).

Lehnt der Patient eine Überweisung ab, bestehen


noch die Möglichkeiten eines gemeinsamen Ge-
spräches mit dem Psychotherapeuten in der Praxis
des Hausarztes oder die weitere Behandlung durch
den Hausarzt selbst im Rahmen einer engmaschi-
gen Kooperation mit dem Spezialisten (7 Kap. 26)
(Schäfert et al. 2013).

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
105 10

Chronische Schmerzstörung
Kurt Fritzsche, Martin Dornberg, Blandine Niklaus

10.1 Theoretischer Teil – 106


10.1.1 Kennzeichen – 106
10.1.2 Diagnostische Einteilung – 106
10.1.3 Häufigkeit – 108
10.1.4 Ursachen – 108
10.1.5 Risikofaktoren für Chronifizierung – 108
10.1.6 Sonderform der chronischen Schmerzstörung:
Das Fibromyalgiesyndrom – 110

10.2 Praktischer Teil – 111


10.2.1 Erkennen – die psychosomatische Schmerzanamnese – 111
10.2.2 Behandlung – 113

Literatur – 118

K. Fritzsche et al. (Hrsg.), Psychosomatische Grundversorgung,


DOI 10.1007/978-3-662-47744-1_10, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
106 Kapitel 10 · Chronische Schmerzstörung

Fallbeispiel 10.1.2 Diagnostische Einteilung


Ein 37-jähriger Patient erlitt vor 3 Jahren einen Band-
scheibenvorfall im Bereich L4/L5, der erfolgreich kon- Die anhaltende somatoforme Schmerzstörung
servativ behandelt wurde. In den darauffolgenden (ICD-10: F 45.40) tritt in Verbindung mit emotio-
Jahren gab es nur gelegentliche Praxiskontakte. Seit nalen Konflikten oder psychosozialen Belastungen
3 Wochen klagt der Patient über eine deutliche Zu- auf, denen die Hauptrolle für Beginn, Schweregrad,
nahme der Rückenschmerzen. Immer wieder taucht Exazerbation oder Aufrechterhaltung der Schmer-
er als Notfallpatient in der Praxis mit hochakuter zen zukommt.
Symptomatik auf, wobei jeweils eine deutliche Dis- Bei der chronischen Schmerzstörung mit so-
krepanz zwischen der geschilderten Schmerzsymp- matischen und psychischen Faktoren (ICD-10:
tomatik und dem körperlichen Befund besteht. Der F 45.41) bestehen Schmerzen in einer oder mehre-
Hausarzt leitet eine ausgiebige Diagnostik ein, die ren anatomischen Regionen, die ihren Ausgangs-
sowohl orthopädische als auch gastroenterologische punkt in einem physiologischen Prozess oder einer
Abklärungen umfasst. Es lassen sich keine eindeuti- körperlichen Störung haben. Psychischen Faktoren
gen, die Schmerzen klärenden Befunde erheben. wird eine wichtige Rolle für Schweregrad, Exazer-
Durch den Orthopäden erfolgt eine chirotherapeuti- bation und Aufrechterhaltung der Schmerzen bei-
sche Behandlung, ohne wesentliche Befundbesse- gemessen, jedoch nicht die ursächliche Rolle für
rung. Die Vorstellung beim Neurologen und die Hin- deren Beginn.
zuziehung eines zweiten Neurologen auf Wunsch des Jeder Schmerz kann auf einem Kontinuum von
Patienten ergeben keinen auffälligen neurologischen überwiegend organisch bedingten, z. B. Tumor-
Befund. Der Patient kommt mit starken Beschwerden schmerzen, bis zu somatoformen Schmerzzustän-
erneut als »Notfall« in die Praxis. Aufgrund der Teil- den ohne Organbefund eingeordnet werden.
10 nahme an einer Beerdigung muss der Hausarzt, der Die differenzialdiagnostischen Überlegungen
die Situation nicht als Notfall einschätzt, die Unter- bei einem chronischen Schmerzzustand werden in
suchung um einige Stunden verschieben. Der Patient . Abb. 10.1 dargestellt und durch die nachfolgende
ist darüber so verärgert, dass er den Hausarzt Übersicht ergänzt.
wechselt.

Differenzialdiagnose chronischer Schmer-


10.1 Theoretischer Teil zen (Egle u. Zentgraf 2009, . Abb. 10.1)
1. Körperlich begründete Schmerzen (nozi-
10.1.1 Kennzeichen zeptive und neuropathische Schmerzen)
mit reaktiver Angst und Depression als
Kennzeichen einer chronischen Schmerzstörung Zeichen einer inadäquaten Krankheits-
sind: bewältigung (ICD-10: F 45.41).
4 Die Schmerzen bestehen länger als 6 Monate. 2. Funktionelle Schmerzsyndrome. Es han-
4 Der Schmerz hat seine Leit- und Warnfunktion delt sich um meist reversible Funktions-
verloren und selbstständigen Krankheitswert störungen eines Organsystems ohne Vorlie-
erlangt. gen einer strukturellen Schädigung. Bei-
4 Die Verselbstständigung des Schmerzerlebens spiele sind Herzbeschwerden, Ober- und
führt zu psychischen und sozialen Beeinträch- Unterleibsschmerzen (ICD-10: F 45.30 bis
tigungen. Der Schmerz wird für den Patienten F 45.34) und chronische Schmerzen des
zum Mittelpunkt seines Denkens und Ver- muskuloskelettalen Systems (F 45.38).
haltens. 3. Psychische Störungen mit dem Leit-
symptom Schmerz. Dazu gehören:
– die anhaltende somatoforme Schmerz-
störung (ICD-10: F 45.4). Schmerzen

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
10.1 · Theoretischer Teil
107 10

chronisches Schmerzsyndrom

nozizeptiv/ psychische Störungen


neuropathisch mit Leitsymptom Schmerz
funktionelles – somatoforme Schmerzstörung
Schmerzsyndrom – Somatisierungsstörung
– PTBS
– Depression
keine psychische – Hypochondrie/Wahn
psychische Komorbidität – zönästhetische Psychose
Komorbidität (Depression,
Angst, PS)

ohne Angst- mit Angst-


erkrankung erkrankung

anankastische
Persönlichkeitszüge

. Abb. 10.1 Differenzialdiagnose bei chronischem Schmerz. (Aus Egle u. Zentgraf 2009; mit freundlicher Genehmigung von
Rosenfluh Publikationen)

treten in Verbindung mit emotionalen länger als 3 Monate bestehen (7 Abschn.


Konflikten auf. Anamnestisch finden sich 10.1.6).
häufig negative Kindheitserfahrungen – Posttraumatische Belastungsstörung
mit emotionaler Vernachlässigung oder (ICD 10: F 43.0 und F 43.1; 7 Kap. 19).
Misshandlung. Der Beginn der Schmerz- Auch hier kann primär eine Schmerz-
symptomatik steht in enger Beziehung zu symptomatik (Rückenschmerzen, Kopf-
einem belastenden Lebensereignis, das schmerzen) im Vordergrund stehen.
die nicht verarbeiteten inneren frühkind- – Hypochondrie (ICD-10: F 45.2). Anhal-
lichen Konflikte reaktiviert. Es findet sich tende Überzeugung, an einer oder meh-
eine hohe Komorbidität mit Depressio- reren schwerwiegenden körperlichen
nen und Angsterkrankungen. Krankheiten zu leiden.
– Somatisierungsstörung mit Leitsymp- – Zönästhetische Psychose (ICD-10: F 28.0).
tom Schmerz (ICD-10: F 45.0 und F 45.1). Seltenes Krankheitsbild mit Schmerzen
Es bestehen multiple, wiederholt auftre- und Körperhalluzinationen. Die Be-
tende und fluktuierende körperliche schwerdeschilderung ist bizarr. Finden
Symptome wechselnder Lokalisation sich zusätzliche Symptome wie akus-
ohne adäquaten Organbefund. Auch hier tische Halluzinationen und Depersona-
finden sich häufig depressive Störungen lisation, so handelt es sich um eine
oder Angststörungen. schizophrene Psychose.
– Fibromyalgiesyndrom. Chronische
Schmerzen des Muskel-Skelett-Systems
in mindestens drei Körperregionen, die

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
108 Kapitel 10 · Chronische Schmerzstörung

10.1.3 Häufigkeit eines psychosomatischen Netzwerkes, welches


die Befindlichkeit und ganz besonders die
Ca. 7–10 % der Bevölkerung leiden an behand- Angst-, Stress- und Schmerzempfindlichkeit
lungsbedürftigen chronischen Schmerzen. Ca. 2 % reguliert. Das Netzwerk aus unterschiedlichen
der Bevölkerung benötigen eine spezielle Schmerz- Gehirnregionen wird als »Schmerzmatrix«
therapie. bezeichnet.
Am häufigsten handelt es sich um: 3. Im Bereich des vorderen Gyrus cinguli (»ante-
4 Kopfschmerzen, rior cingulate cortex«, ACC) besteht eine Ver-
4 Nackenschmerzen und Nacken-/Armschmer- bindung zu Affekten wie Angst, Katastrophi-
zen, sieren, Bedrücktsein und Niedergeschlagen-
4 Kreuzschmerzen, heit. Im Bereich des Präfrontalkortex findet die
4 Kreuz-/Beinschmerzen, kognitive Bewertung des Schmerzgeschehens
4 muskuloskelettale Schmerzen wechselnder Lo- statt. Ein Reaktivieren der Amygdala führt zur
kalisation, i. S. einer Fibromyalgie. Aktivierung des Stressverarbeitungssystems
(Egle u. Zentgraf 2009).

10.1.4 Ursachen Bei anhaltenden Schmerzen kommt es zu einer


Umstrukturierung im Rückenmark und im somato-
Neuroplastizität des Gehirns sensorischen Kortex der Großhirnrinde und zu
Zum Verständnis chronischer Schmerzen reicht ein funktionellen Veränderungen der schmerzverarbei-
lineares Schmerzverständnis des akuten Schmerzes, tenden Systeme mit verstärktem Schmerzempfin-
bei dem der Schmerz durch eine Verletzung ent- den. Der biographische Kontext früherer Schmerz-
10 steht, zum Gehirn weitergeleitet und dort wahrge- erfahrungen (vorderer Hippocampus) wird akti-
nommen wird, nicht aus. viert und nimmt Einfluss auf das Schmerzerleben.
Unser Gehirn hat die Fähigkeit, Schmerzen zu Das erklärt, warum frühkindliche Schmerzer-
hemmen. Die neuronale Aktivität in bestimmten fahrungen sich wie Lernprozesse im Gehirn festset-
Teilen unseres Gehirns (Frontalhirn, vorderer Teil zen und neuronale Strukturen verändern. Situatio-
des Gyrus cinguli), die ein Teil des sog. limbischen nen von Hilflosigkeit können alte Schmerzerfah-
Systems bilden und unser »emotionales Gehirn« rungen reaktivieren, wenn im Rahmen frühkindli-
ausmachen, korreliert mit der Intensität der subjek- cher Lernprozesse eine Verknüpfung zwischen
tiv empfundenen Schmerzen. Negatives Denken, Hilflosigkeit und Schmerzerleben gespeichert wur-
z. B. Katastrophisieren und emotionale Belastun- de (Egle u. Zentgraf 2009).
gen, verschlimmert den Schmerz. Vor allem 3 Ursa- Das Phänomen Phantomschmerz zeigt, dass
chen sind für Phänomene der Schmerzmodulation Schmerz auch dann empfunden wird, wenn die
bekannt: schmerzhafte Gliedmaße durch Amputation abge-
1. Die Hemmung der Schmerzneurone im trennt wurde und Schmerz nicht mehr von peripher
Hinterhorn des Rückenmarks durch abstei- nach zentral geleitet werden kann. Die Schmerzen
gende Fasern, sodass die »Eintrittspforte des haben aber zu einer neuroplastischen Reorganisation
Schmerzes« zum zentralen Nervensystem der Hirnrinde geführt, sind jetzt dort gespeichert
verschlossen bleibt, was in der sog. Gate- und können jederzeit aktiviert werden (Rüegg 2011).
control-Theorie (Melzack u. Wall 1965) und
ihrer Weiterentwicklung zu einem umfassen-
den Regulationssystem – der sog. Neuro- 10.1.5 Risikofaktoren
matrix (Melzack 1999) – beschrieben wurde. für Chronifizierung
2. Die Entdeckung des sog. endogenen Mor-
phiums, auch »Endomorphine« genannt. Diese Allgemeine Risikofaktoren
endogenen Opiate und andere Neuropeptide Als allgemeine Risikofaktoren für eine Chronifizie-
sowie ihre zugehörigen Rezeptoren sind Teil rung gelten:

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
10.1 · Theoretischer Teil
109 10
4 anhaltender Distress in Beruf, Familie und
Partnerschaft (z. B. Gewalt in der Ehe, dauer-
hafte Pflege von Angehörigen),
4 Alleinleben ohne soziale Unterstützung.

Einfluss des Arztes


Der Arzt kann zum Chronifizierungsprozess beitra-
gen durch:
4 Förderung einer unangemessener Behand-
lungserwartung (»Das haben wir gleich«),
4 Fehl- und Überbewertung körperlicher Krank-
heitsanteile (von »Verschleiß« bis »Schrott-
haufen«),
4 Verunsicherung und mangelnde Unterstützung
des Patienten (Besprechung von Anamnese
. Abb. 10.2 Cartoon: Sekundärer Krankheitsgewinn. und Befunden erfordert vor allem Zeit),
(Zeichnung: Gisela Mehren)
4 Empfehlung zu übermäßiger körperlicher
Schonung, z. B. Bettruhe,
4 Katastrophisierung möglicher Schmerzur- 4 schnelle Bescheinigung von Arbeits-
sachen (»Es wird doch keine schlimme Krank- unfähigkeit,
heit dahinterstecken«), 4 beschwerde- statt zeitabhängige Wiedervor-
4 ängstliches Vermeidungsverhalten (»Bewegen stellung (Patient braucht Schmerz als Eintritts-
wird mir noch mehr Schmerzen und Schaden karte zur Konsultation),
zufügen«), 4 fehlindizierte operative Behandlungsmaß-
4 Hilflosigkeit (»Ich hab‘ keine Idee, wie ich die nahmen (zu schnelle, unangemessene Indika-
Schmerzen beeinflussen kann, weil die tionsstellung).
Arthrose verhindert/die Bandscheibe nicht
zulässt, dass ich gesund werde«), Negative Kindheitserfahrungen
4 unrealistische Behandlungserwartungen und Schmerzerleben
(»Erfolgreich ist eine Behandlung nur, wenn Menschen mit negativen Kindheitserfahrungen
ich schnell schmerzfrei werde«) und und daraus resultierenden frühen Beziehungsstö-
4 passive Behandlungserwartungen rungen:
(z. B. Massage), 4 Können körperliche und emotionale Abläufe
4 Schmerzmittelabusus sowie nicht in der Wahrnehmung differenzieren:
4 sekundärer Krankheitsgewinn. Was ist primär körperliche Missempfindung?
Was ist primär affektiver Spannungszustand?
Emotionale Belastungen 4 Können sich nicht durch eigenes adäquates
Eine Schmerzchronifizierung kann auch durch Handeln beruhigen (Hilflosigkeit).
emotionale Belastungen gefördert werden, wie z. B.: 4 Können körperliche und emotionale Abläufe
4 körperliche Gewalterfahrungen und/oder nicht durch Unterstützung anderer bessern
sexueller Missbrauch in der Kindheit mit Ent- (fehlendes/inadäquates Hilfesuchenver-
wicklung eines unsicheren Bindungsstils, halten).
4 belastende Lebensereignisse in engem zeit- 4 Neigen zu inadäquaten, dysfunktionalen
lichen Zusammenhang mit dem Beschwerde- Denkprozessen (somatische Krankheitsüber-
beginn, zeugungen, katastrophisierende Bewertungen),
4 depressive Stimmungsstörungen (»Ich kann die zu verstärkter Selbstaufmerksamkeit, Angst
mich nicht mehr freuen und fühle mich und Rückzug aus der Objektwelt führen.
niedergeschlagen«),

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
110 Kapitel 10 · Chronische Schmerzstörung

Es besteht eine enge Verknüpfung zwischen 10.1.6 Sonderform der chronischen


Schmerz und Stressverarbeitung. Für das Gehirn ist Schmerzstörung:
Schmerz ein biologischer Stressor. Das Fibromyalgiesyndrom
Schmerz und Bindung Epidemiologie
Dass »Zurückweisung schmerzt«, haben Eisenber- In der Allgemeinbevölkerung beträgt die 12-Mo-
ger et al. gezeigt (Eisenberger et al. 2003): In einem nats-Prävalenz für ein Fibromyalgiesyndrom 3,4 %
Computerspiel durften je ein Proband und zwei vir- bei Frauen, 0,5 % bei Männern. 20–40 % der Neu-
tuelle Figuren sich Bälle zuwerfen. Nach einiger Zeit konsultationen bei Rheumatologen fallen unter
warfen sich nur noch die beiden virtuellen Figuren diese Diagnosekategorie. Der Frauenanteil beträgt
den Ball zu. Der Versuchsteilnehmer fühlte sich 80–90 %. Der Altersgipfel liegt zwischen 30 und 50
ausgegrenzt und reagierte empört. Zugleich sank Jahren.
seine Schmerzschwelle und er reagierte empfindlich
auf Hitzereize und andere kleine Quälereien. Diagnostische Kriterien
Die kalifornische Arbeitsgruppe um Naomi Ei- Die diagnostischen Kriterien des Fibromyalgiesyn-
senberger konnte in weiteren Studien mithilfe zen- droms wurden ursprünglich 1990 vom American
traler Bildgebung (funktionelle Magnetresonanz- College of Rheumatology (ACR) definiert. Obligate
tomographie) belegen, dass Symptome sind ausgedehnte Schmerzen im Bereich
1. das Gehirn alleine, auch ohne periphere der Muskulatur am Achsenskelett, der rechten und
Schädigung, Schmerzen generieren kann; linken Körperhälfte sowie oberhalb und unterhalb
2. die durch periphere Gewebsschädigungen der Taille während mindestens 3 Monaten, zudem
bedingten Schmerzreize bei sozialer Ausgren- die Druckschmerzhaftigkeit von 11 von 18 definier-
10 zung verstärkt wahrgenommen werden. Dieser ten Tenderpoints (schmerzhafte Punkte am Körper,
»soziale Schmerz«, der auch mit sozialen meist Muskel-Sehnen-Übergänge). Es finden sich
Ängsten einhergeht, ist jedoch von körperlich fakultative Zusatzbefunde wie Müdigkeit (98 %),
bedingten Schmerzen nicht unterscheidbar. Schlafstörungen (90 %), Gelenkschmerzen (85 %),
Die neuronalen Strukturen, welche die affek- Colon irritabile (80 %), Migräne, Parästhesien
tive Komponente von physischem Schmerz (76 %), Spannungskopfschmerzen (66 %), Engege-
regulieren, steuern zugleich das Erleben von fühl beim Schlucken (Globusgefühl, 40 %), funktio-
psychischem Schmerz. nelle Herz- und Atembeschwerden, peptische Ma-
genbeschwerden, Dysmenorrhoe und Dysurie.
Menschen die sich ungeliebt, einsam und abgelehnt 2010 wurden vom ACR neue Diagnosekriterien
fühlen, reagieren mit dem Anstieg von proinflam- festgelegt, die seither als »ACR 2010-Kriterien« be-
matorischen Zytokinen, was dazu führt, dass zeichnet werden (Wolfe et al. 2010). Statt der Ten-
Schmerzreize als noch schmerzhafter wahrgenom- derpoints sind nun die Größe der schmerzhaften
men werden. Soziale Nähe, Bindungen und das Ge- Regionen und das Ausmaß der Beschwerden ent-
fühl der Sicherheit lindern hingegen den Schmerz. scheidend. Die Größe wird einem »regionalen
Emotionale Vernachlässigung, unberechenba- Schmerzindex« erfasst, das Ausmaß der Beschwer-
res Verhalten der Eltern, aber auch Überfürsorge den durch einen »Symptomschwere-Score«. Ein
können ein unsicheres Bindungsmuster entstehen Fibromyalgiesyndrom besteht demnach wenn:
lassen. Dieses unsichere Bindungsverhalten hat 1. Ausgebreitete Schmerzen mit einem regiona-
Auswirkungen auf die Schmerzwahrnehmung und len Schmerzindex von 7 oder höher bestehen
das Schmerzverhalten: Die Schmerzintensität und und gleichzeitig die Symptomschwere min-
die körperlich-seelische Beeinträchtigung wird destens 5 beträgt. Alternativ können die
stärker erlebt; Angst, Depression und Neigung zum Schmerzen auch weniger ausgebreitet sein
Katastrophisieren sind häufiger. Neben den (Indexwert mindestens 5) dafür jedoch hefti-
Schmerzen werden noch weitere körperliche Be- gere Symptome vorliegen (Symptomschwere
schwerden berichtet (Meredith et al. 2008). mindestens 9)

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
10.2 · Praktischer Teil
111 10

Ich fühle mich als ob ein Lastwagen mich


überfahren hat

Bin morgens wie Ich habe überall und immer


zerschlagen Schmerzen

Ich ermüde bald Schmerzspitzen


wechseln die
Lokalisation und den
Schmerz-Charakter

. Abb. 10.3 Symptome der Fibromyalgie

2. Die Symptome müssen in ähnlicher Stärke 10.2 Praktischer Teil


mindestens 3 Monate bestehen.
3. Die Beschwerden werden nicht durch eine 10.2.1 Erkennen – die psycho-
andere Erkrankung hervorgerufen. somatische Schmerzanamnese

Die charakteristischen Symptome einer Fibromyal- Schmerz ist, was der Patient sagt und nicht, was im
gie sind in . Abb. 10.3 dargestellt. Röntgenbild oder Labor zu sehen ist. Das bedeutet
zuzuhören, was der Patient sagt, auf die Körperspra-
Zusammenhänge zwischen Fibromy- che zu achten und eigene Gedanken und Gefühle als
algiesyndrom und Traumatisierung diagnostisches Kriterium einzubeziehen (7 Kap. 4
Bei ca. 40 % der Fibromyalgie-Patienten sind Kind- »Beziehungsgestaltung – Herstellung einer gemeinsa-
heitstraumata nachweisbar z. B. in Form von emo- men Wirklichkeit«; . Abb. 10.4).
tionalem, körperlichem oder sexuellem Missbrauch
oder auch emotionaler und körperlicher Depriva- Schmerzanamnese
tion. Die Gewalterfahrungen in der Kindheit korre- Um zwischen neuropathischen, nozizeptiven und
lieren mit der Symptomausprägung und mit der Schmerzen aus psychischer Ursache unterscheiden
Inanspruchnahme medizinischer Leistungen. zu können, sollte der Schmerzcharakter, die Moto-
rik, die Sensibilität und weitere Zeichen erfragt wer-
den (. Tab. 10.1).
Neben Lokalisation, Intensität und Qualität
der Schmerzen sollten im Rahmen der Anamnese-
erhebung folgende Fragen geklärt werden:

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
112 Kapitel 10 · Chronische Schmerzstörung

. Tab. 10.1 Die 3 Schmerztypen und ihre Eigenschaften

Merkmal Neuropathisch Nozizeptiv Primär psychisch

Schmerzcharakter Brennend, bohrend, Drückend, bohrend, reißend Variabel


elektrisierend

Gestörte Motorik Entsprechend Beteiligung Schonung, keine Paresen Nicht einheitlich


motorischer Nerven

Gestörte Entsprechend Beteiligung Lokal, jedoch nicht topogra- Nicht somatotopisch


Sensibilität sensibler Nerven bzw. Nerven- phisch dem somatosenso-
verbindungen rischen System zuzuordnen

Vegetative Häufig bei peripheren oder Nur lokale Zeichen fehlend


Zeichen spinalen Läsionen

Diverses Allodynie, Hyperalgesie, Keine Somatotopie (peri- Inkonsistente Angaben


Neuralgie pher, radikulär, zentral), Weitere Hinweise für
weder dermatomal, myoto- primär psychische Ursache
mal noch sklerotomal

jSubjektives Schmerzverständnis
Chronisch Schmerzkranke haben ihre eigenen
Krankheits- und Behandlungsvorstellungen. Fol-
10 gende Fragen sind nützlich:
4 »Was glauben Sie, hat Ihre Schmerzen verur-
sacht?«
4 »Warum glauben Sie, haben die Schmerzen zu
diesem Zeitpunkt begonnen?«
4 »Was lindert Ihre Schmerzen?«

Folgende Kriterien sprechen zusätzlich für ein


Schmerzsyndrom, mit überwiegend psychischen
Ursachen:
4 fehlende Abhängigkeit der Schmerzen von der
Willkürmotorik,
. Abb. 10.4 Cartoon: Schmerzanamnese. (Zeichnung: Gise- 4 Fehlen von schmerzverstärkenden bzw.
la Mehren) schmerzlindernden Faktoren,
4 Fehlen von schmerzfreien Intervallen – Dauer-
schmerz,
4 Was lindert die Schmerzen?
4 vage Lokalisation,
4 Was verschlimmert die Schmerzen?
4 inadäquate Affekte, z. B. demonstrativ theatra-
4 Wie sieht ein typischer Tag mit Schmerzen
lisch oder affektindifferent.
aus?
4 Wie verändern sich die Schmerzen im Laufe
des Tages? Schmerzstärke
4 Wann sind die Schmerzen zum ersten Mal auf- Schmerz ist eine subjektive Empfindung und nicht
getreten? objektivierbar. Die Schmerzstärke lässt sich am bes-
4 Welche Schmerzerfahrungen bestehen in der ten auf einer visuellen Analogskala (VAS) oder einer
Familie und in der eigenen Lebensgeschichte? numerische Analogskala (NAS) von 0–10 erfassen

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
10.2 · Praktischer Teil
113 10
(0 bedeutet keine Schmerzen und 10 stärkste, nicht überzeugt, dass der Orthopäde ihn geschädigt hat,
mehr aushaltbare Schmerzen). da die Schmerzen immer stärker werden: »Er hat mir
das vegetative Nervensystem zerstört«.
Chronifizierungsgrad Der Hausarzt erlebt den Patienten unter einem
Die Chronifizierungsgrade nach Von Korff et al. enormen Erfolgsdruck und erkennt die inadäquate
(1992) sind Bestandteil des Deutschen Schmerzfra- Schmerzwahrnehmung und Schmerzverarbeitung.
gebogens, der bei der Deutschen Schmerzgesell- Die Hypothesen und Krankheitstheorien des Haus-
schaft erhältlich ist (http://www.dgss.org/deut- arztes werden jedoch trotz wiederholter Bemühun-
scher-schmerzfragebogen/). In einer Kombination gen diese zu vermitteln, vom Patienten nicht aufge-
der Faktoren »Schmerzintensität« (gering bis hoch) nommen. Der Patient besteht auf einer organischen
und »schmerzbedingte Beeinträchtigung« (gering Ursache seiner Symptomatik. Dies löst beim Hausarzt
bis stark) können Schmerzpatienten 4 Chronifizie- Ohnmachts- und Versagensgefühle aus. Beim Haus-
rungsgraden zugeordnet werden. Die Eingruppie- arzt entsteht das Gefühl von Undank und ungerech-
rung gilt als guter Prädiktor für Arbeitslosigkeit, ter Behandlung seitens des Patienten; er hat Angst
Depressivität oder häufige schmerzbezogene Arzt- im Dorf »schlechtgemacht« zu werden. Im weiteren
besuche (Kappesser u. Hermann 2013). Verlauf entwickelt sich eine chronische Schmerz-
störung mit somatischen und psychischen Faktoren
Schmerztagebuch (ICD-10 F 45.41).
Für eine begrenzte Zeit von 1–2 Wochen ist das
Führen eines Schmerztagebuches sinnvoll. Die Auf-
zeichnungen sollten dann zwischen Arzt und Pa- 10.2.2 Behandlung
tient besprochen werden.
Erfolge in der Behandlung einer chronischen
Medikamentenanamnese Schmerzstörung werden am ehesten im Rahmen
Fast alle Patienten mit einer chronischen Schmerz- eines Gesamtbehandlungskonzeptes in Koopera-
störung nehmen Analgetika ein. Ein Missbrauch tion des Hausarztes mit einem Schmerztherapeuten
oder die Abhängigkeit von diesen Medikamenten und anderen Fachärzten erzielt.
kann die Qualität und Intensität der Schmerzen,
z. B. beim medikamenteninduzierten Schmerz Grundhaltung
durch Analgetika, wesentlich beeinflussen. Die Im Umgang mit Schmerzpatienten ohne ausrei-
Gabe von Opiaten bei der somatoformen Schmerz- chenden Organbefund ist es wichtig, ihnen ihre
störung wird zurzeit sehr kontrovers diskutiert. Schmerzen genauso zu glauben, wie jenen, bei
denen eine organische Ursache nachweisbar ist.
Soziale Anamnese Die Patienten spüren aufgrund der oft vorhande-
Im Rahmen der biopsychosozialen Anamneseerhe- nen hohen Sensibilität für Zurückweisung sehr
bung (s. 7 Abschn. 4.5) sollte die Arbeitssituation, die schnell, ob sie mit ihren Beschwerden ernst genom-
Wohnsituation, die Freizeitgestaltung und das Aus- men werden. Eine vertrauensvolle Arzt-Patient-
maß der sozialen Unterstützung erfragt werden. Beziehung ist deshalb die wesentlichste Vorausset-
zung für die Motivierbarkeit dieser Patienten für
Fortsetzung Fallbeispiel – psychosoziale ein integriertes Vorgehen im Rahmen der psycho-
Anamnese somatischen Grundversorgung oder für eine evtl.
Der Patient ist Angestellter in der Firma des Vaters, indizierte Psychotherapie. Folgende Aspekte sind
der diese erfolgreich aufgebaut hat. In den kommen- zu beachten:
den Monaten ist die Übergabe der Firma an den 4 ausführliche Exploration der Symptome sowie
Patienten als Juniorchef geplant. Der Patient kann der auslösenden und aufrecht erhaltenden
einen möglichen Zusammenhang zwischen dieser Bedingungen,
Zunahme an Verantwortung und der Zunahme sei- 4 Ernstnehmen der körperlichen Beschwerden
ner Rückenschmerzen nicht nachvollziehen. Er ist (= Wertschätzung des Patienten),

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
114 Kapitel 10 · Chronische Schmerzstörung

4 keine vorschnellen Verknüpfungen der 4 Eine Trennung von somatischen und psycho-
Symptome mit berichteten oder vermuteten sozialen Aspekten fördert die Chronifizierung.
psycho-sozialen Belastungen, 4 Die Vereinbarung regelmäßiger Vorstellung
4 Eingehen auf das subjektive Krankheitsver- in der Sprechstunde, z. B. alle 2–4 Wochen ist
ständnis, beziehungsfördernd und symptomlindernd.
4 Schwierigkeiten in der Arzt-Patient-Beziehung Sie dient dazu, dass der Patient nicht Symp-
beachten, z. B. Ärger, tome entwickeln oder verstärkt darstellen
4 Verständnis für Hilflosigkeit, Enttäuschung muss, um einen Arztkontakt zu begründen.
und Ärger des Patienten (= Wertschätzung des 4 Neben dem Gespräch über die körperlichen
Patienten), Einschränkungen und seelischen Belastungen
4 Krankheit als Lösungsversuch anerkennen, durch die Schmerzen, steht in jedem ärztlichen
4 Legitimierung der Symptome, Gespräch die Rückbesinnung auf vergangene
4 Geduld, Gelassenheit und Wissen um die und aktuelle positive Einstellungen und Fertig-
Begrenztheit der therapeutischen Möglich- keiten im Mittelpunkt (Ressourcenaktivierung).
keiten. 4 Einbeziehung von wichtigen Bezugspersonen
wie Partnern oder Familienangehörigen.
Leitsätze 4 Eine Schmerztherapie braucht Zeit. Die bei
Hölzer et al. haben folgende Leitsätze für die Be- den begrenzten Behandlungserfolgen auftre-
handlung einer chronischen Schmerzstörung for- tenden Gefühle von Insuffizienz, Ärger, Unge-
muliert (Hölzer et al. 1997): duld und Unzufriedenheit bei Arzt und Patient
4 Schmerz bleibt immer ein subjektives Phäno- sind Themen für eine Balintgruppe.
men. Für die Entwicklung eines tragfähigen 4 Interdisziplinäre Schmerzkonferenzen von
10 Arbeitsbündnisses und die Erfahrung einer Niedergelassenen und Klinikärzten dienen der
hilfreichen Beziehung ist es wichtig, dass der Koordinierung der Behandlung und bieten die
Arzt das subjektive Schmerzerleben des Pa- Möglichkeit des Kennenlernens unterschied-
tienten versteht und ernst nimmt. licher Behandlungsansätze (. Abb. 10.5).
4 Viele Patienten kommunizieren psychosoziale
Belastungen in Form von Schmerzen (s. 7 Kap. Fallbeispiel
9 »Somatoforme Störungen«). Ursächlich hier- Die 42-jährige Patientin hat sich im Rahmen eines Ski-
für sind oft Vernachlässigung und Gewalt- unfalls eine Fraktur des linken distalen Radius zugezo-
erfahrungen in der Kindheit. Es braucht lange gen. Sie wird ambulant operativ versorgt. Sechs Wo-
Zeit, um auch die seelischen Schmerzen zu chen nach Gipsentfernung entwickelt sich ein Morbus
spüren und auszudrücken. Sudeck, eine sog. sympathische Reflexdystrophie.
4 Der Arzt sollte sich Zeit für die Erklärung psy- Die Patientin ist zum Zeitpunkt der Fraktur in einem
chosomatischer Zusammenhänge nehmen. psychisch sehr labilen Zustand aufgrund eines sehr
Zufallsbefunde und Normvarianten dürfen belastenden Scheidungsprozesses, in dem ihr das
dem Patienten nicht vorschnell als relevant Sorgerecht für die 15-jährige Tochter zugesprochen
vermittelt werden. Die Erklärung der diagnos- wurde. In Rahmen dieser Belastungen entwickelt sie
tischen Befunde hilft bei der Entwicklung eines eine Angststörung und depressive Symptome, die
gemeinsamen Krankheitsverständnisses. mit häufiger Krankschreibung verbunden sind.
4 Vor der Durchführung invasiver diagnos- Ängste um den Verlust des Arbeitsplatzes kommen
tischer Maßnahmen ist größte Zurückhaltung hinzu. Insgesamt fühlt sich die Patientin sehr hilflos
geboten. Bei Auftreten von neuen Schmerzen und hoffnungslos. Bei diesem komplexen psycho-
sollte die Diagnostik gezielt durchgeführt somatischen Krankheitsbild kommt ein multimodaler
werden und nur dann, wenn therapeutische Therapieansatz zur Anwendung:
Konsequenzen folgen. Körperliche Unter- 4 Physiotherapie, manuelle Therapie, Sport,
suchungen können in begrenztem Umfang 4 medikamentöse Therapie gegen neuropathische
jederzeit durchgeführt werden. Schmerzen (Carbamazepin),

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
10.2 · Praktischer Teil
115 10

. Abb. 10.5 Interdisziplinäre Schmerzkonferenz

4 Antidepressivum (Amitriptylin), einer ausreichenden feinfühligen »Antwort« auf


4 operative Versorgung durch Orthopädie, seinen emotionalen Ausdruck. Unlusterfahrungen
4 Plexusblockade zur schmerzfreien Bewegung (Hunger, Müdigkeit, körperliches Unwohlsein) be-
durch Anästhesie, dürfen der Tröstung und Beruhigung, um wieder in
4 psychotherapeutische Unterstützung zur Verbes- das emotionale Gleichgewicht zurückzufinden. Das
serung des Selbstwertgefühls, Unterstützung des alleingelassene, gelangweilte, unterstimulierte Kind
Trauerprozesses um die gescheiterte Ehe und bedarf eines interaktionellen Austausches um sich
Stärkung ihrer Position am Arbeitsplatz. wieder wohlzufühlen. Es braucht die Erfahrung des
Gehört-, Beantwortet- und Verstandenwerdens. Es
Nach einem halben Jahr zeigen sich erste Zeichen braucht die Erfahrung des Beruhigt-, Getröstet-
einer langsamen Besserung der Schmerzen und eine und Befriedigtwerdens. Aus diesen Erfahrungen
Zunahme der Bewegungsfreiheit der Hand. Die ge- erwachsen Erklärungen, Worte und geeignete Maß-
samte Behandlung dauert fast 2 Jahre und führt zu nahmen um sich später als Jugendlicher und Er-
einer deutlichen psychischen Stabilisierung. Vorsich- wachsener selbst zu verstehen, andere zu verstehen
tig öffnet sich die Patientin einer neuen Partner- und sich selbst und andere zu beruhigen (Mentali-
schaft. Eine leichte schmerzhafte Bewegungsein- sierung).
schränkung im linken Handgelenk mit einschießen- Bei negativen Kindheitserfahrungen und unsi-
dem Hitzegefühl bleibt bestehen. cherem Bindungsverhalten fällt dem Arzt die Auf-
gabe zu, durch seine Haltung, seine Stimme und
Biographische Beziehungserfahrungen sein Verhalten ein Teil dieser emotionalen Grund-
und die Bedeutung für die Arzt-Patient- bedürfnisse zu befriedigen, aber auch Grenzen zu
Beziehung setzen. Er findet klärende Worte und geeignete Be-
Körperliche und emotionale Verfassung sind beim handlungsmaßnahmen für die körperlich erlebten
Kind in den ersten Lebensjahren sehr stark verwo- Schmerzen. Der Patient macht die Erfahrung ver-
ben. Das Kind ist angewiesen auf die Notwendigkeit standen zu werden, beruhigt und entspannt sich.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
116 Kapitel 10 · Chronische Schmerzstörung

. Tab. 10.2 Zusammenstellung verschiedener Behandlungsverfahren der psychosomatischen Medizin und ihre Ziel-
bereiche

Regulationssystem Behandlungsziele Methoden

Vegetativ Dämpfung schmerzfördernder, physiologisch- Entspannungsverfahren


vegetativer Hyperaktivierung und Beeinflus- - Progressive Muskelrelaxation
sung des subjektiven Kontrollbewusstseins - Autogenes Training
- Atemtherapie
Schlafhygienemaßnahmen

Kognitiv und Steuerung der Schmerzwahrnehmung Aufmerksamkeitslenkung


Verhalten - Ablenkung
- Imagination
- Suggestion (Hypnose)

Veränderung schmerz- und stressrelevanter Instruktive Krankheitsaufklärung


Kognitionen Schmerzinformationsschulung
- Eigene Kompetenz Kognitive Verhaltenstherapie
- Krankheitsvorstellungen Schmerztagebuch
- Aktivierung, Abbau von Schonverhalten
Anleitung zur Selbstbeobachtung, um den
Zusammenhang von Kognitionen, Emotionen,
Verhalten und Schmerz erfahrbar zu machen

Affektiv Reduzierung von Angst und Depression Kognitive Verhaltenstherapie


Verbesserung der Affektwahrnehmung und Psychodynamische Behandlungsverfahren
10 -integration Psychopharmaka, z. B Amitriptylin 25–50 mg

Sozial Abbau von Verstärkung des Schmerzverhal- Angehörigenberatung


tens durch die soziale Umwelt Arbeitsversuch
Frühe Einbeziehung von Sozialarbeit und
sozialen Versicherungsträgern

Klärung psychosozialer Konflikte Paar- und Familiengespräche


Verbesserung der zwischen-menschlichen Soziotherapie
Kommunikation am Arbeitsplatz, in der Part-
nerschaft, in der Familie

Verbesserung Arzt-Patient-Beziehung Balintgruppe, Supervision

Zusammenarbeit mit Psychotherapeuten Psychotherapeutische Behandlungsverfahren


Eine Überweisung an Fachpsychotherapeuten soll- bei chronischen Schmerzen, vor allem im stationä-
te nur nach ausführlicher Vorbereitung des Patien- ren Bereich sind:
ten und in Absprache zwischen dem Hausarzt und 4 Entspannungsverfahren,
dem Psychotherapeuten erfolgen. Das psychothe- 4 Hypnose,
rapeutische Verfahren sollte sich nach den Erfor- 4 Biofeedback,
dernissen des Patienten richten. Bewährt hat sich 4 nonverbale Verfahren (konzentrative Bewe-
eine Kombination aus bewältigungsorientierten gungstherapie, Musiktherapie, Gestaltungs-
Elementen der kognitiven Verhaltenstherapie und therapie),
der psychodynamischen Therapie unter Einbezie- 4 kognitive Verhaltenstherapie,
hung von Bezugspersonen (s. . Tab. 10.2). Weiter- 4 Schmerzbewältigungsgruppen,
hin besteht die Möglichkeit einer stationären Be- 4 psychodynamische Psychotherapie,
handlung in einer psychosomatischen Akut- oder 4 Paar- und Familiengespräch.
Rehabilitationsklinik.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
10.2 · Praktischer Teil
117 10

Indikationskonferenz

körperliche und funktionelles somatoforme PTSD


psychische Schmerzsyndrom Schmerzstörung
Komorbidität mit/ohne Angst

Einzel-PT Einzel-PT spezifische Einzel-PT traumaspezifische


interaktive Gruppe Angstbewältigung spezifische Einzel-PT
Schmerzbewältigungs- Biofeedback Gruppentherapie (Sertralin, Paroxetin)
training Krankengymnastik KBT
Krankengymnastik Sporttherapie Sporttherapie
PMR/QiGong (Sertralin) Massage/Bäder
SSRI/SNRI (Sertralin)

Schmerzreduktion

Überprüfung der Analgetikaapplikation/Opiatentzug

. Abb. 10.6 Mechanismenbezogene psychosomatische Schmerztherapie. (Aus Egle u. Zentgraf 2013; © [2013] W. Kohlham-
mer GmbH, Stuttgart; mit freundlicher Genehmigung)

Beim Fibromyalgiesyndrom wird ein abgestuftes Neurologische Klinik der Universität Regens-
Behandlungskonzept mit aerobem Ausdauertrai- burg
ning, Amitriptylin, kognitiver Verhaltenstherapie Universitätsstraße 84
und Baden in warmen Thermalquellen empfohlen 93053 Regensburg
(Häuser et al. 2009). Tel. 0941/941-3070
Psychotherapeutische Behandlung sollte auf Fax 0941/941-3075
dem Hintergrund der im theoretischen Teil darge- E-Mail: arne.may@klinik.uni-regensburg.de
stellten differenzialdiagnostischen Subgruppenein- www.dmkg.org
teilung und der zugrundeliegenden schmerzverur- 4 Deutsche Schmerzliga e. V. (DSL)
sachenden Mechanismen erfolgen. Eine Übersicht Adenauerallee 18
dazu zeigt . Abb. 10.6. 61440 Oberursel
Tel. 0700/375 375-375
jWichtige Adressen Fax 0700/375 375-38
4 Deutsche Gesellschaft zum Studium www.dsl-ev.de
des Schmerzes (DGSS) 4 Interdisziplinäre Gesellschaft
Geschäftsstelle: für Psychosomatische Schmerztherapie
c/o Klinik für Anaesthesiologie der Universität Frankfurter Str. 10
Köln 16548 Glienicke/Nordbahn
Joseph-Stelzmann-Straße 9 www.igps-schmerz.de/
50924 Köln 4 Painweb
Tel. 0221/478-6686 www.painweg.de/inhalte/verband/gesellsch.htm
Fax 0221/478-6688
E-Mail: dgss@uni-koeln.de
www.medizin.uni-koeln.de/projekte/dgss
4 Deutsche Migräne- und Kopfschmerz-
gesellschaft
c/o Dr. Arne May

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
118 Kapitel 10 · Chronische Schmerzstörung

Literatur

Zitierte Literatur
AWMF Leitlinie Fibromyalgie. http://www.awmf.org/leitlinien/
detail/ll/041-004.html (Zugegriffen Mai 2015)
Egle UT, Zentgraf B (2009) Mechanismenbezogene statt
schulenspezifische psychosomatische Schmerztherapie.
Neurologie 3: 18–23
Egle UT, Zentgraf B (2013) Psychosomatische Schmerzthera-
pie. Kohlhammer, Stuttgart
Eisenberger NI, Lieberman MD, Williams KD (2003) Does
Rejection Hurt? An fMRI Study of Social Exclusion.
Science, 302 (5643): 290–292
Häuser W, Eich W, Hermann M, Nutzinger DO, Schiltenwolf M,
Henningsen P (2009) Fibromyalgie-Syndrom. Dtsch
Arztebl 106: 383–391 nicht im Text
Hölzer M, Hege-Scheuing, G, Matzek N (1997) Der Beitrag des
Therapeuten in der ambulanten Behandlung chronisch
Schmerzkranker. 8 psychosomatische Behandlungs-
grundsätze. Psychotherapeut 42: S 223–229
Kappesser J, Hermann C (2013) Entstehung und Aufrechter-
haltung von chronischen Schmerzen. Psychotherapeut
58: 503–517
Melzack R (1999) From the gate to the neuromatrix. Pain
Supplement 6, 121–126
Melzack R, Wall PD (1965) Pain mechanisms: a new theory.

10 Science 150 (699): 971–979


Meredith P, Ownsworth T, Strong J (2008) A review of the
evidence linking adult attachment theory and chronic
pain: Presenting a conceptual model. Clin Psychol Review
28: 407–429
Rüegg JC (2011) Psychosomatik, Psychotherapie und Gehirn.
Schattauer, Stuttgart
Von Korff M, Ormel J, Keefé FI, Dvonkin SF (1992) Grading the
severity of chronic pain. 50: 133–149
Wolfe F, Clauw DJ, Fitzcharles MA, Goldenberg DL, Katz RS,
Mease P, Russel AS, Russel IJ, Winfield JB, Yunus MB (2010)
The American College of Rheumatology preliminary
diagnostic criteria for fibromyalgia and measurement of
symptom severity. Arthritis Care Res (Hoboken) 62 (5):
600–610

Weiterführende Literatur
Egle UT, Hoffmann SO, Lehmann KA, Nix WA (2003) Handbuch
chronischer Schmerz. Schattauer, Stuttgart

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
119 11

Angststörungen
Kurt Fritzsche, Uwe H. Ross

11.1 Theoretischer Teil – 120


11.1.1 Kennzeichen – 120
11.1.2 Symptome – 120
11.1.3 Diagnostische Einteilung – 120
11.1.4 Differentialdiagnosen – 124
11.1.5 Häufigkeit und Verlauf – 124
11.1.6 Ursachen – 125

11.2 Praktischer Teil – 125


11.2.1 Erkennen – 125
11.2.2 Arzt-Patient-Beziehung und Haltung – 126
11.2.3 Behandlung – 126
11.2.4 Krisenintervention bei Panikattacken – 130
11.2.5 Medikamentöse Behandlung – 130
11.2.6 Fallstricke – 131
11.2.7 Überweisung und Kooperation mit psychotherapeutischen
Praxen und Kliniken – 131
11.2.8 Psychotherapeutische Behandlung – 132

Literatur – 132

K. Fritzsche et al. (Hrsg.), Psychosomatische Grundversorgung,


DOI 10.1007/978-3-662-47744-1_11, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
120 Kapitel 11 · Angststörungen

11.1 Theoretischer Teil 4 weitere psychische Störungen wie Depression


mit Suizidalität auftreten.
11.1.1 Kennzeichen

Erscheinungsformen der Angst begleiten alle psy- 11.1.2 Symptome


chischen und körperlichen Krankheitsbilder in of-
fener oder verdeckter Form. Angst zu empfinden, Angst beinhaltet ein komplexes körperlich-seeli-
ist ein normales psychophysiologisches Reaktions- sches Simultangeschehen, das sich auf 4 Ebenen
muster. Sie sichert das Überleben, ähnlich wie die widerspiegelt (s. . Tab. 11.1 und . Abb. 11.2):
Fähigkeit Schmerzen zu empfinden. Keine Angst zu Bei vielen Patienten mit Angststörung verbirgt
haben, kann ebenso problematisch sein, wie zu viel sich die Angst hinter körperlichen Symptomen, die
Angst zu haben. als Affektäquivalente an die Stelle bewusst wahrge-
Angst ist sinnvoll: nommener Angst treten. . Tab. 11.2 zeigt eine Über-
4 als Alarmsignal mit Vigilanzerhöhung als sicht körperlicher Symptome der Angst, geordnet
Reaktion auf bedrohliche Ereignisse, nach Organsystemen.
4 zur Vorbereitung des Körpers auf schnelles
Handeln bei Gefahr und
4 als Bereitschaftszustand für Flucht und 11.1.3 Diagnostische Einteilung
Vermeidung (. Abb. 11.1).
Panikstörung (ICD-10: F 41.0)
Angst wird zu einer Krankheit, wenn: Die wesentlichsten Kennzeichen einer Panikstö-
4 sie unangemessen stark auftritt, rung sind:
4 sehr oft und über längere Zeiträume besteht, 4 Wiederkehrende Phasen intensiver akuter
4 der Patient die Angst nicht mehr kontrollieren Angst, die sich nicht auf eine bestimmte Situa-
kann, tion/Auslöser beziehen.
11 4 der Patient ängstliche Situationen beginnt zu 4 Vegetative Begleitsymptomatik wie Herzklop-
vermeiden, fen, Brustschmerzen, Erstickungsgefühle,
4 dadurch das Alltagsleben eingeschränkt ist, Schwindel, Schwitzen, Zittern ([Nor-]Adrena-
4 Angstbewältigung mit Alkohol- oder Medika- lin-Wirkungen)
mentenmissbrauch einhergeht oder 4 Intensive Gefühle der Bedrohung bis hin zu
Ängsten zu sterben oder verrückt zu werden,
Entfremdungsgefühle.

. Abb. 11.1 (Zeichnung: Gisela Mehren) . Abb. 11.2 Angstreaktionen. (Zeichnung: Gisela Mehren)

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
11.1 · Theoretischer Teil
121 11

. Tab. 11.1 Die 4 Ebenen der Angstreaktion

Körperempfinden Gefühle Gedanken Verhalten

Zittern Spannungsgefühle »Mit mir passiert etwas Schreck- Vermeidung


Schwitzen Sorgen liches.« Flucht
Herzrasen Panik »Ich muss hier raus.« Medikamente
Kopfschmerzen Gefühl von Unwirklichkeit »Ich weiß nicht mehr weiter.«
Schwindel Angst verrückt zu werden, zu »Ich verliere die Kontrolle.«
Atemnot sterben oder die Kontrolle zu »Ich bekomme einen Herzinfarkt.«
Weiche Knie verlieren (Katastrophisierendes Denken)
s. . Tab. 11.2 Hilflosigkeit
Ohnmacht

Fallbeispiel
. Tab. 11.2 Körperliche Symptome der Angst ent-
sprechen (Nor-)Adrenalin-Wirkungen Eine 36-jährige Patientin, Mutter von 3 Söhnen, ent-
wickelt heftige Panikattacken, die ihre Stabilität völ-
Organsystem Symptome lig erschüttern, nachdem sich ihr Mann – für sie uner-
wartet und unverständlich – in seinem Verhalten ver-
Herz Unregelmäßiges, rasches oder ver- ändert hat. Er färbt sich die Haare und bekundet,
stärktes Herzklopfen bis Herzrasen
dass er sich nunmehr verstärkt um sich selbst küm-
Linksthorakales Druckgefühl
mern wolle. Beide haben in den Jahren zuvor das von
Gefäßsystem Erröten im Gesicht bzw. Blässe und
den Eltern übernommene Haus mit hohem persönli-
Kälte auch an den Extremitäten
Bluthochdruck
chem Einsatz umgebaut.
Die Patientin fühlt sich völlig überfordert, hilflos und
Muskulatur Zittern
handlungsunfähig und kaum mehr in der Lage, die
Lähmungsgefühl
Kribbelgefühl und Taubheit täglichen Aufgaben der Haushaltsführung zu bewäl-
tigen. Immer wieder wird sie von heftigen Angst-
Atmungstrakt Hyperventilation
gefühlen überfallen, verbunden mit Herzrasen,
Gefühl von Enge und Atemnot
heftigem Schwindel, Schweißausbrüchen und Zitter-
Magen-Darm- Kloßgefühl im Hals (Globus) anfällen. Manchmal fühlt sie sich kurz vor dem
Trakt Erbrechen, Bauchschmerzen,
»Durchdrehen« oder »Überschnappen«, sodass ihr
Durchfall
Mann zeitweise denkt, sie könne unter dem Druck
Vegetatives Schwitzen
der Situation vom Balkon springen.
Nervensystem Harndrang
Erst im Rahmen einer intensiven Langzeit-Psychothe-
Zentrales Schwindel und Ohnmachtsgefühle rapie, einer mehrmonatigen stationären Behandlung
Nervensystem Kopfschmerzen
in einer Fachklinik und dem vorübergehenden Ein-
Depersonalisation und Derealisation
satz angstreduzierender und antidepressiver Medika-
mente gelingt es der Patientin schrittweise, ihre
Ängste besser zu bewältigen, unangenehme Span-
4 Spontanes Auftreten, Dauer wenige Minuten nungszustände zu ertragen und wieder handlungs-
bis zu einer Stunde. fähig zu werden.
4 Im angstfreien Intervall Angst vor der Angst Im Verlauf stellt sich eine tiefgreifende Störung der
(Erwartungsangst). ehelichen Beziehung heraus, die schon lange Zeit im
Untergrund geschwelt hat. Beide entscheiden sich
schließlich zu einer Trennung.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
122 Kapitel 11 · Angststörungen

Terminus Kennzeichen

Agoraphobie F40.0 Angst vor offenen Plätzen, Reisen, Menschenmengen

(dabei Angst vor hilflosmachender Situation ohne Flucht-


möglichkeit: (Kontrollverlust, Ohnmacht, Durchfall etc.)

Spezifische Angst ausgelöst durch umschriebene(s) Objekt)


(isolierte) Phobie F40.2 Situation
z. B. Höhe, Tiere, Flüge, Blut, Enge, Examen etc.

Soziale Phobie F40.1 Angst vor prüfender Beobachtung


durch andere Menschen.
z. B. beim Essen, Unterschreiben, Sprechen

. Abb. 11.3 Formen von Angststörungen: Phobien. (Zeichnungen: Claudia Styrsky)

Phobien (ICD-10: F 40) Fallbeispiel


11 Der Begriff Phobie kommt aus dem Griechischen Eine 41-jährige Patientin entwickelt nach einem aku-
und bedeutet Angst und Schrecken, aber auch ten Infekt der oberen Luftwege Sehstörungen und
Flucht. Im Gegensatz zu den diffusen Angststörun- einen ungerichteten Schwindel. Kurz zuvor hatte sie
gen, wie Panikattacken und generalisierte Angststö- eine neue Stelle in einem Großraumbüro mit 12 Mit-
rung, sind diese Ängste an auslösende Reize und arbeitern angetreten. Sie wird längere Zeit krank-
Situationen gebunden, welche in der Folge vermie- geschrieben, sodass der Versuch, sich am neuen Ar-
den werden. Das Vermeidungsverhalten ist allen beitsplatz als Anwaltssekretärin einzuarbeiten, schei-
Angststörungen gemeinsam und führt kurzfristig tert. Wenige Monate zuvor hat sie ihren langjährigen
zur Spannungsreduktion, mittelfristig aber zu wei- Arbeitsplatz verloren, weil ihr Chef sein Büro aufgab.
terem Rückzug und Zunahme der Angst. In der Folge zieht sie sich weiter zurück, verlässt sel-
Die Phobien werden eingeteilt in Agoraphobie, tener das Haus und traut sich nicht mehr, Auto zu
soziale Phobie und spezifische isolierte Phobien (s. fahren, nachdem sie beim Einparken in die Garage
. Abb. 11.3). einen leichten Blechschaden verursacht hat. Da sie
auf dem Land lebt, ist ihre Mobilität dadurch stark
Agoraphobie (ICD-10: F 40.0) eingeschränkt. Es folgen zahlreiche fachärztliche
Die Agoraphobie ist bestimmt durch: Untersuchungen und stationäre Aufenthalte, um
4 Ängste vor offenen Plätzen, vor Menschen- eine organische Krankheitsursache auszuschließen.
mengen z. B. in Kaufhäusern, Kinos, Restau- Antidepressive Medikamente werden von der Patien-
rants und öffentlichen Verkehrsmitteln. tin nicht akzeptiert. Erst eine 2-monatige stationäre
4 Vermeidung der angstauslösenden Situation. psychosomatische Behandlung und anschließende
4 Angstreduzierung durch vertraute Personen ambulante Gruppenpsychotherapie bewirken, dass
oder mitgeführte Medikamente, Riechsubstan- sie halbtags wieder arbeiten kann und ihr Alltags-
zen oder Telefonnummern von Ärzten. leben ohne größere Einschränkungen bewältigt.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
11.1 · Theoretischer Teil
123 11
Soziale Phobie (ICD-10: F 40.1) Spezifische Phobie (ICD-10: F 40.2)
Die soziale Phobie äußert sich typischerweise Die Angst ist ausgelöst durch eine umschriebene
durch: Situation oder ein definiertes Objekt. Hierbei lassen
4 Unangemessene Furcht und Vermeidung von sich unterscheiden: Tier-Typ (z. B. Hunde, Schlan-
spezifischen Situationen, in denen die Patien- gen), Naturgewalten-Typ (z. B. Sturm, Gewitter),
ten einer möglichen prüfenden Bewertung Blut-Injektion-Verletzungstyp, situativer Typ (z. B.
durch andere ausgesetzt sind (z. B. beim Unter- Höhe, Fliegen, Fahrstuhl, Tunnel) und andere Ty-
schreiben, Essen, Trinken in der Öffentlich- pen (z. B. Krankheit wie HIV- oder Aids-Phobie
keit). und die Krebsphobie). Das Ausmaß der Beeinträch-
4 Angst zu versagen, sich lächerlich zu machen tigung hängt davon ab, wie sehr die phobische Situ-
oder durch ungeschicktes Verhalten gedemü- ation oder das phobische Objekt vermieden werden
tigt zu werden. kann.
4 Beschwerden in Form von Erröten, Händezit-
tern, Übelkeit oder Drang zum Wasserlassen. Fallbeispiel
Eine 36-jährige Patientin, die mit ihrem gleichaltri-
Fallbeispiel gen Partner und dem gemeinsamen 3-jährigen Sohn
Ein 25-jähriger Medizinstudent bekommt immer zusammenlebt, leidet an einer heftigen Angst, an
mehr Probleme, in der Gesellschaft anderer, wie z. B. Brustkrebs zu erkranken wie ihre Großmutter und vor
in der Mensa, zu essen. Er hat das Gefühl keinen allem wie eine nur unwesentlich ältere Bekannte.
Bissen mehr schlucken zu können oder leidet unter Diese Angst verstärkt sich zunehmend und es treten
einem heftigen fast unwiderstehlichen Würgereiz. In Schwindelgefühle hinzu, ohne dass die Beschwerden
der Folge vermeidet er solche Situationen, was dazu für die Patientin verständlich sind. Erst als der Haus-
führt, dass er sich sozial isoliert und sich ganz auf arzt sie zum Psychotherapeuten überweist und sie
sein Studium konzentriert, aber zeitweise unruhig ihre diesbezügliche Hemmung überwinden kann,
wird, sodass das Essproblem auch zu Hause, aller- findet sie die Möglichkeit, sich in den Gesprächen zu
dings in abgeschwächter Form, auftritt. entlasten, ihre Angst zu akzeptieren und mit ihr um-
Es zeigt sich, dass er sich anderen Menschen gegen- gehen zu lernen. Es stellt sich heraus, dass sie bisher
über auch früher schon unsicher fühlte; der Meinung kaum mit ihrem Partner über ihre Angst gesprochen
war, er sei zu dick und schwitze zu stark und würde hat, weil sie dessen Unverständnis fürchtet. Gleich-
deshalb andere durch seine Anwesenheit beeinträch- zeitig hat sie sich von ihm zurückgezogen und die
tigen. Obwohl er fast 750 km von seinem Heimatort Qualität der Beziehung hat sich für beide spürbar
entfernt studiert, hält er einen sehr engen Kontakt zu verschlechtert. Die neu gewonnene Offenheit kann
seiner Familie. Er wird z. B. von seinem Vater häufig sie zunehmend in die Partnerschaft einbringen und
um Rat gefragt. Dieser ist ganz besonders stolz auf im gleichen Maß geht auch die Angst zurück.
ihn, weil er in der ganzen Familie der Erste ist, der ein
Studium absolviert. Das Problem des Patienten ist ein Generalisierte Angststörung
Ablösungskonflikt vom Elternhaus. Sein Autonomie- (ICD-10: F 41.1)
bedürfnis zeigt sich nur indirekt: Als er die Nachricht Zur generalisierten Angststörung gehören:
bekommt, nach seinem Examen im darauffolgenden 4 eine ängstliche Persönlichkeit mit chronisch
Jahr zu einem Forschungsprojekt in die USA gehen ängstlicher Anspannung;
zu können, kann er eine vollständige Mahlzeit in ei- 4 Sorgen, Befürchtungen und Grübelei über Si-
nem McDonald-Restaurant ohne Probleme einneh- tuationen im Arbeitsleben, in der Partnerschaft
men. Seine Symptomatik ist durch diese Zukunfts- und in der Welt;
perspektive ganz verschwunden. 4 psychische und körperliche Begleitsymptome
wie bei der Panikstörung;
4 häufig begleitende depressive Symptome
(7 Kap. 12 »Depression und Suizidalität«).

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
124 Kapitel 11 · Angststörungen

Fallbeispiel Zwangsstörung (ICD-10: F 42)


Ein 38-jähriger Patient reagiert auf eine für ihn völlig Hauptsymptome sind wiederkehrende Zwänge in
überraschende Veränderung am Arbeitsplatz, als sein Form von sich aufdrängenden, unerwünschten Ge-
bisheriger Chef vorzeitig in den Ruhestand geht, mit danken und Handlungen. Die Zwangshandlungen
heftigsten Ängsten, körperlichen Beschwerden und haben ritualisierten Charakter z. B. dauerndes Hän-
tiefer hilfloser Verzweiflung. Er fühlt sich unfähig, die- dewaschen und haben das Ziel die negativen Ge-
sen Gefühlen etwas entgegenzusetzen, erlebt sich danken und Gefühle, die mit ihren Ideen, Vorstel-
passiv, ausgeliefert wie in rasender Fahrt auf einen lungen oder Impulsen verbunden sind, zu neutrali-
Abgrund zu. Nur eine intensive psychiatrisch-psycho- sieren. Zum Beispiel dient das Händewaschen dazu,
therapeutische Unterstützung vermag ihm, wieder die immer wieder aufdrängende Furcht vor Anste-
mehr Stabilität zu verleihen. ckung zu neutralisieren.
Es stellt sich heraus, dass er seit der Kindheit an hefti-
gen Krankheitsängsten, permanenter Selbstunsicher- Körperliche Krankheiten, die Angst-
heit, Selbstzweifeln und erheblichen Entscheidungs- symptome vortäuschen können
problemen gelitten hat, die immer nur kurzfristig von Die folgenden körperlichen Krankheiten sollten
besseren Phasen mit größerer Stabilität unterbro- ausgeschlossen sein:
chen waren. 4 Hyperthyreose,
4 koronare Herzerkrankung,
4 paroxysmale Tachykardien,
11.1.4 Differentialdiagnosen 4 Phäochromozytom,
4 Hypoglykämie,
Hypochondrische Störung 4 epileptische Anfälle,
oder Nosophobie (ICD-10: F 45.2) 4 Nebenwirkungen von Psychopharmaka und
Bei der hypochondrischen Störung beschäftigen 4 Entzugssymptome bei Alkohol- oder Medika-
sich die Patienten in übertriebener Weise und über mentenabhängigkeit.
11 lange Zeit mit der Möglichkeit, an einer oder meh-
reren schweren und fortschreitenden körperlichen
Erkrankungen zu leiden, ohne dass es dafür ange- 11.1.5 Häufigkeit und Verlauf
messene objektive Befunde gibt.
Die 12-Monats-Prävalenz für Angststörungen be-
Herzphobie oder somatoforme trägt in Deutschland 15,3 %. Für die einzelnen For-
autonome Funktionsstörung des men der Angststörungen ergeben sich folgende
Herzens (ICD-10: F 45.3) 12-Monats-Prävalenzen (Jacobi et al. 2014):
Während bei anderen Angststörungen die Angst im
Spezifische Phobie 10,3 %
Vordergrund steht und von körperlicher Symptoma-
Soziale Phobie 2,7 %
tik begleitet wird, stehen bei der sog. Herzphobie ein Agoraphobie 4,0 %
linksthorakales Druckgefühl, Herzklopfen, Schwit- Panikstörung 2,0 %
zen, Atemnot und die Befürchtung, am Herztod zu Generalisierte Angststörung 2,2 %
sterben, im Vordergrund. Bei dieser umschriebenen
Phobie ist das Objekt der Angst nicht mehr ein Teil Die »Angst vor der Angst« (Erwartungsangst) führt
der Außenwelt, z. B. ein Tunnel oder eine Höhe, son- zu ausgeprägtem Vermeidungsverhalten und sozia-
dern ein Teil des eigenen Körpers. Die Symptomatik lem Rückzug. Bei Agoraphobie kann der soziale
entspricht oft Angina-pectoris-Beschwerden, wird Rückzug so stark ausgeprägt sein, dass ein Verlassen
aber demonstrativ vorgetragen. Herzphobiker ha- des Hauses nicht mehr möglich wird. Auch bei der
ben kein erhöhtes Risiko, einen Herzinfarkt zu erlei- sozialen Phobie kann es ohne Therapie, zum voll-
den. Trotz wiederholter Untersuchungen und unauf- ständigen Rückzug des Patienten kommen. Panik-
fälliger Befunde bleibt der Patient überzeugt, an ei- störungen zeigen meist einen schubförmigen Ver-
ner schweren Erkrankung zu leiden. lauf, die generalisierte Angststörung verläuft eher

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
11.2 · Praktischer Teil
125 11
chronisch progredient. Es besteht das Risiko der Umzug in eine andere Stadt oder ein anderes
Chronifizierung verbunden mit Alkohol- und Me- Land, der tatsächliche oder drohende Verlust
dikamentenabusus, Entwicklung einer depressiven eines nahe stehenden Menschen, einer beruf-
Störung und häufigen Arztbesuchen. lichen Position oder der Heimat. Todesängste
treten bei Erstickungsgefühlen im akuten
Asthma-bronchiale-Anfall oder bei Angina
11.1.6 Ursachen pectoris auf.

Folgende 3 Faktoren des biopsychosozialen Modells


spielen in unterschiedlicher Gewichtung bei der 11.2 Praktischer Teil
Entstehung einer Angststörung eine Rolle:
4 Neurobiologische Veränderungen. Die Prä- 11.2.1 Erkennen
disposition zur Panikstörung wird durch eine
Mutation im Erbfaktor für Serotonintranspor- Bei vielen Patienten in der Hausarztpraxis oder in
ter und durch einen Mangel an Gamma-Ami- der Notaufnahme im Krankenhaus stehen nicht pri-
nobuttersäure (GABA)–Rezeptoren verur- märe Angstsymptome im Vordergrund, sondern
sacht, wobei die Panikstörung nur dann mani- körperliche Beschwerden, wie Herzrasen, Hyper-
fest wird, wenn psychosoziale Belastungen z. B. ventilation, Schwindel, u. a.. Lassen sich Hinweise
traumatische Kindheitserfahrungen dazu kom- auf eine organische Erkrankung nicht finden oder
men. Angeborene und erworbene erhöhte erklärt die vorhandene organische Erkrankung nicht
neurophysiologische Erregbarkeit, die mit das Ausmaß der körperlichen Beschwerden, so soll-
Angstgefühlen einhergeht, werden in Amyg- te die folgende gezielte Anamneseerhebung folgen.
dala und Hippocampus gespeichert. Dieses Leitfragen bei Angststörungen:
emotionale Gedächtnis ist langfristig angelegt, 4 Aktuelle Beschwerden:
kann in bestimmten Situationen aktiviert, aber 5 Wie äußern sich Ihre Beschwerden?
auch über steuernde Impulse aus dem präfron- (4-Ebenen-Modell)
talen Kortex, z. B. durch psychotherapeutische 5 Wann, wo, wie oft treten Ihre Beschwerden
und psychopharmakologische Maßnahmen auf? Wie lange halten sie an?
gehemmt werden. 5 Was verstärkt/lindert Ihre Beschwerden?
4 Psychosoziale Disposition. Die Angstbewälti- 4 Auslöser:
gung gehört zu den Entwicklungsaufgaben, die 5 Wann traten Ihre Beschwerden das erste
jedem Menschen in verschiedenen Lebenspha- Mal auf?
sen gestellt werden. Eine wenig Empathie und 5 Was glauben Sie, hat Ihre Beschwerden aus-
Schutz bietende Erziehung ebenso wie eine gelöst?
dauerhafte Überfürsorglichkeit beeinträchti- 5 Wie sah Ihre Lebenssituation aus, als die
gen die Bildung von angemessenen Bewälti- Ängste auftraten (Schwellensituation)?
gungsmechanismen. Angstauslöser sind 5 Gab es existenziell erschütternde Ereignisse?
Schwellensituationen wie Pubertät, Beendi- 4 Ressourcen:
gung der Schulzeit, Weggang vom Elternhaus, 5 Was trauen Sie sich heute dennoch zu?
Heirat, Ablösung der Kinder, Beendigung des 5 Was macht Ihnen Freude?
Berufslebens oder der Tod naher Bezugsper- 5 Was hat Ihnen früher geholfen, schwierige
sonen. Eine sichere Bindung (7 Kap. 1 und Situationen zu meistern?
7 Kap. 8, Bindungserfahrung) ist ein guter 4 Biografie:
Schutz gegen die Entwicklung einer Angst- 5 Wie sind Sie aufgewachsen? Erziehungsstil
störung. der Eltern? Familiäres Klima?
4 Belastende Lebensereignisse und Krankheit.
Dies sind Veränderungen der gewohnten Le- Im nächsten Schritt kann der Arzt mit spezifischen
bensumstände (Schwellensituationen), z. B. Fragen klären, welche Form der Angststörung vor-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
126 Kapitel 11 · Angststörungen

liegt. Hierzu eignen sich die folgenden Screening- 11.2.2 Arzt-Patient-Beziehung


fragen (Margraf u. Schneider 2003). und Haltung

Tipps für die Praxis Patienten mit Angststörungen sind auf der Suche
Arzt: »Können Sie mir sagen, ob Ihnen die fol- nach Menschen, die ihnen Schutz und Sicherheit
genden Situationen oder Dinge Angst machen geben. Sie sind freundlich, angepasst und froh, ei-
oder bei Ihnen den Wunsch auslösen, sie mög- nen Arzt gefunden zu haben, bei dem sie sich auf-
lichst zu vermeiden?« gehoben fühlen und der sie gut behandelt. Gleich-
5 Panikattacke/-störung: zeitig neigen sie aber auch zur Anklammerung und
5 »Leiden Sie manchmal unter plötzlichen brauchen den Arzt als Person, die ihnen Sicherheit
und unerwarteten Angstanfällen, ohne dass gibt, ohne auf dessen Interessen Rücksicht zu neh-
eine tatsächliche Bedrohung vorliegt?« men. Dann wird spürbar, welche hohen Erwartun-
5 Agoraphobie: gen, ja sogar Forderungen der Patient damit verbin-
5 »Gibt es bestimmte Situationen und Orte, det: Der Arzt soll permanent zur Verfügung stehen,
wie z. B. Kaufhäuser, Autofahren, Men- eine immer freundliche Autorität sein, die ihn frag-
schenmengen, Fahrstühle oder geschlosse- los unterstützt und bestärkt.
nen Räume, die Ihnen Angst machen oder Die ideale Haltung in der Behandlung ist Zu-
die Sie möglichst vermeiden?« und Vertrauen bei der Begleitung des Patienten mit
5 Sozialphobie: Förderung seiner Autonomie, ohne ihn alleine zu
5 »Fürchten oder vermeiden Sie bestimmte lassen oder zu überfordern. Daraus ergeben sich
Situationen, in denen Sie von anderen Men- folgende Bausteine für die Behandlung:
schen beobachtet oder bewertet werden 4 Ausführliche Exploration der Symptome, der
könnten, wie z. B. öffentliches Sprechen, auslösenden und aufrechterhaltenden Bedin-
Essen, Partys etc.?« gungen.
5 Spezifische Phobie 4 Ernstnehmen der Beschwerden (= Wertschät-
11 zung des Patienten).
5 »Fürchten oder vermeiden Sie bestimmte
Dinge oder Aktivitäten, wie z. B. Tiere, 4 Eingehen auf das subjektive Krankheitsver-
Höhen, Flugreisen, Anblick von Blut oder ständnis.
Verletzungen?« 4 Schwierigkeiten in der Arzt-Patient-Beziehung
5 Generalisiertes Angstsyndrom: beachten.
5 »Leiden Sie häufig unter übermäßig starken 4 Verständnis für Hilflosigkeit und Sicherheits-
Sorgen, die Sie nicht kontrollieren können, bedürfnis (= Wertschätzung des Patienten).
z. B. über familiäre, berufliche oder finan- 4 Freundliche Distanz, Struktur, Klarheit und
zielle Angelegenheiten?« Transparenz (vermittelt Sicherheit und Orien-
5 Zwangssyndrom: tierung).
5 »Gibt es unsinnige oder unangenehme
Gedanken oder Handlungen, die Sie nicht
aus Ihrem Kopf verbannen können bzw. die 11.2.3 Behandlung
Sie immer wieder ausführen müssen, auch
wenn Sie versuchen, sich dagegen zu Folgende Interventionen haben sich bei Angstpa-
wehren?« tienten kurzfristig und auch längerfristig als hilf-
5 Posttraumatische Belastungsstörung: reich erwiesen:
5 »Haben Sie schon einmal ein existenziell er-
schütterndes, extrem belastendes oder gar Strukturierung
lebensbedrohliches Ereignis erlebt, wie z. B. Ein ängstlicher, hilfloser Patient braucht Strukturie-
eine Vergewaltigung, andere Gewalttaten, rung im Gespräch. Eine Möglichkeit ist, die vom
Unfälle oder Naturkatastrophen?« Patienten diffus und ungeordnet geschilderten Be-
schwerden mit seiner Hilfe nach ihrer Wichtigkeit

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
11.2 · Praktischer Teil
127 11
einzuordnen und dann gemeinsam Behandlungs-
möglichkeiten zu überlegen. Wichtige Lehrsätze zum Umgang mit
Beispiel: »Sie erwähnten 3 Themenbereiche. Angst (Mod. nach Görlitz 2014, S. 216)
Thema 1 ..., Thema 2 ..., Thema 3 ... Über was sollen 1. Auch bei Angstpatienten besteht kein grö-
wir zuerst sprechen? Über was danach? Ich schreibe ßeres Risiko, dass eine der befürchteten
mir die Reihenfolge auf und achte darauf, dass alle Katastrophen eintreten könnte, als bei
Ihre Punkte zur Sprache kommen.« jedem anderen Menschen.
2. Unangenehme Gefühle gehören zum Ge-
Autonomie stärken fühlsbereich eines jeden Menschen. Ver-
Die Eigenverantwortlichkeit und Eigenkompetenz schwenden Sie daher keine sinnlosen Ener-
des Patienten sollte gewahrt, geschützt und geför- gien für Angstunterdrückungsversuche, die
dert werden. Der Arzt versucht gemeinsam mit dem niemals dauerhaft gelingen können.
Patienten herauszufinden, was er sich trotz seiner 3. Die Überwindung von Angst gelingt dann
Beschwerden und Einschränkungen zutraut und am besten, wenn Sie bereit sind, »an die
welche Empfehlungen und Ratschläge er umsetzen Grenze zu gehen«, d. h. in der Situation zu
kann. Veränderungen geschehen in kleinen Schrit- bleiben, ohne aufzugeben, solange bis die
ten. Rückschläge sind zu erwarten, wenn zu große Angst abnimmt. Der Lohn dafür ist Stolz.
Schritte zu einer Überforderung führen. 4. Wenn Sie üben, Angstsituationen durchzu-
stehen, dann helfen Ihnen z. B. folgende
»Kleine Schritte« innere Einstellungen und Sätze:
– Ich erlaube mir meine Angst.
Beispiel – Ich werde es schaffen, die Situation
Wenn ein Patient an Höhenangst leidet und bereits durchzustehen. Ich bleibe da.
beim Anblick eines Aussichtsturmes feuchte Hände – Die körperlichen Symptome werden
bekommt, sollte er nicht gleich versuchen, einen sol- wieder abklingen.
chen zu besteigen. – Ich werde mich hinterher erleichtert und
Er besucht einen Aussichtsturm und lässt sich Zeit, stärker fühlen.
das Gebäude anzuschauen. Nach einigen Besuchen 5. Die körperlichen Begleiterscheinungen in
sollte der Anblick des Turmes vertraut sein und keine Angstsituationen sind zwar sehr unange-
Angst mehr hervorrufen. Nun kann er sich überwin- nehm, aber weder schädlich noch gefähr-
den und das erste Stockwerk besteigen. Dort ange- lich. Ihr Übungsziel besteht darin, mit der
kommen sollte er versuchen, in sich zu horchen und Angst umgehen zu lernen und nicht darin,
zu spüren, wie das Gefühl der Angst langsam ab- sie zu vermeiden.
nimmt. Hierbei kann es hilfreich sein, einem Begleiter 6. Lernen Sie Ihre persönliche Belastungs-
die Gedanken und Empfindungen zu erzählen oder grenze kennen und versuchen Sie diese
diese aufzuschreiben. Bei den folgenden Besuchen nicht zu überschreiten, da körperlich-seeli-
dürfte das Besteigen des ersten Stockwerkes bereits sche Überlastung häufig der Nährboden
wesentlich leichter fallen. Nach einiger Zeit ist dann für Angststörungen ist.
auch der Aufstieg zur Spitze kein Problem mehr (sys-
tematische Desensibilisierung).
Handwerkskasten
Information und Beratung jDas Vulnerabilität-Stress-Modell
Wichtige Lehrsätze zum Umgang mit der Angst Arzt: »Wenn Sie unter sehr starker Grundanspan-
sind in der folgenden Übersicht zusammengestellt. nung stehen, dann reagiert der Körper früher als
sonst mit Atemnot, schnellem Herzschlag, Schwit-
zen, Zittern, Kopfschmerzen und Schwindel.
Kleinste Alltagsbelastungen führen dann schon
dazu, dass die Schwelle für die Auslösung von Panik-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
128 Kapitel 11 · Angststörungen

Alltägliche Stressoren Schwelle für


Hoch
Panikanfälle
100 Stressoren
stark
Anspannung

schwach
Alltägliche
Stressoren
Allgemeine Anspannung: hoch

Allgemeine Anspannung: niedrig


0

Niedrig Zeitverlauf

. Abb. 11.4 Vulnerabilität-Stress-Modell. (Mod. nach Margraf u. Schneider 2013)

anfällen überschritten wird. Wenn Sie jedoch ent- hand eines »Teufelskreises« erklären: Einige Men-
spannt sind, lösen die alltäglichen Stressbelastun- schen neigen zu besonders starken vegetativen Re-
gen keinerlei Beschwerden aus. Es bedarf also schon aktionen oder nehmen körperliche Veränderungen
11 sehr starker Belastungen mit großer innerer An- intensiv wahr und bewerten diese dann – willkür-
spannung, um dann die Schwelle für die Auslösung lich oder unwillkürlich – als bedrohlich. Dies wie-
von Panikanfällen und den damit einhergehenden derum löst Angst mit körperlichen Reaktionen aus.
körperlichen Reaktionen zu überschreiten.« Die Angst und die Körperreaktionen werden dann
Die körperlich-seelische Überlastung und die unwillkürlich mit dem Außenreiz/Situation ver-
damit verbundene Auslösung von Panikanfällen knüpft, der/die fortan zum Auslösereiz für die
zeigt . Abb. 11.4. Angstreaktion wird (Konditionierung). Die Reak-
tion auf den Außenreiz ist damit gelernt (s.
jEntspannungsverfahren Pawlow’sche Klingel). Diese körperlichen Reaktio-
Da bei jedem Angstpatienten das körperliche und nen können dann in anderen Situationen, die ur-
seelische Anspannungsniveau massiv erhöht ist, sprünglich nicht mit Angst verbunden waren, eben-
stellen Entspannungsverfahren eine erste allge- falls Angst auslösen (Generalisierung). Selbst die
meine Behandlungsmaßnahme dar. Techniken der Vorstellung und Erwartung von Angstzuständen
Progressiven Muskelrelaxation nach Jacobson ha- kann zu Angstgefühlen führen (Erwartungsangst,
ben sich bewährt. Bei Patienten mit Neigung zur Angst-vor-der-Angst). Im Rahmen des Teufelskrei-
Hyperventilation ist ein gezieltes Atemtraining ses kann sich dieser Prozess immer mehr verstär-
mit  Schulung der Bauchatmung und des Atem- ken, sodass der Patient sich dem Geschehen ohn-
rhythmus hilfreich. mächtig ausgeliefert fühlt (. Abb. 11.5).
Beispiele zur Durchbrechung des Teufelskreises
jKognitive Bewältigung – Teufelskreis der beinhalten die Exposition und kognitive Umstruk-
Angst turierung. Dies kann folgendermaßen gestaltet wer-
Die Entstehung und Aufrechterhaltung einer Angst- den:
störung lässt sich für den Patienten am besten an-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
11.2 · Praktischer Teil
129 11

Auslöser
Situationen, Gedanken, körperliche
Missempfindungen etc.

Provokation
Kniebeugen, Saunabesuch,
Fitness, Hyperventilation

Körperliche Wahrnehmung
Empfindungen

Neubewertung
Alternativgedanken

Physiologische
Gedanken
Veränderungen (»Gefahr«)

»Angst«

Exposition

Verhalten
Flucht, Vermeidung, Erstarrung, etc.

. Abb. 11.5 Teufelskreis der Angst. (Mod. nach Markgraf u. Schneider 2013)

Beispiel meinsam durchgeführten Übung direkt hervor-


Der Patient erlebt Atemnot und Herzklopfen als Be- gerufen werden. Der Patient soll im Sprechzimmer so
drohung und denkt: »Gleich muss ich sterben!«. Zur lange forciert ein- und ausatmen, bis die ersten kör-
Korrektur der Fehlwahrnehmung und Fehlinterpreta- perlichen Erscheinungen wie Beklemmungsgefühl,
tion seiner körperlichen Symptome wird der Patient leichte Schwindelgefühle oder Kribbelparästhesien
angeleitet, eine neue angstreduzierende Bewertung auftreten. In der anschließenden Ruhephase klingen
der körperlichen Symptome zu entwickeln. Zusätz- die Beschwerden wieder ab. Dadurch erfährt der
lich soll er sich durch gezielte Konfrontation mit den Patient die Harmlosigkeit seiner Beschwerden und
angstauslösenden Symptomen an diese Beschwer- dass er sie selbst beeinflussen kann. Bei starker
den gewöhnen und sie als harmlos erfahren. Zur Hyperventilation kann die CO2-Rückatmung in eine
Konfrontation sind z. B. geeignet: Kniebeugen, auf Plastiktüte oder in die hohlen Hände, die die Nase
der Stelle laufen, Seil springen, Saunabesuch oder umschließen, durchgeführt werden.
Besuch des Fitnessstudio zur Erzeugung von Herz-
klopfen und Schwitzen. jSymptomtagebuch
. Tab. 11.3 zeigt das Symptomtagebuch eines
Beispiel 35-jährigen Diplomvolkswirtes, der an rezidivie-
Bei einem Patienten mit angstbezogenen funktionel- rendem Druckgefühl und Schmerzen in der linken
len Atemstörungen, die häufig zu Hyperventilations- Brust leidet, verbunden mit Atemnot und der Angst
zuständen führen, kann die Symptomatik in einer ge- vor einem Herzinfarkt.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
130 Kapitel 11 · Angststörungen

. Tab. 11.3 Symptomtagebuch eines 35-jährigen Patienten

Datum Symptome1 und Situation Wie fühlten Sie sich?1 An was dachten Sie?1
(Was Sie gerade tun, was Sie (Ängstlich, sehr angespannt,
gedanklich beschäftigt) traurig, nervös, ärgerlich, froh,
unruhig)

01.05.2015 Schmerzen in der Brust (8) Ängstlich (6) Ich habe einen Herzinfarkt
Bei der Gartenarbeit (9)

07.05.2015 Kurzatmigkeit (4) und Herzrasen (6) Ängstlich (9) Irgendetwas stimmt nicht
Ich liege im Bett mit meinem Herzen (8)

1Eingeteilt nach Schweregraden 0–10; 0 = gar nicht, 10 = sehr stark ausgeprägt.

Die Aufzeichnung der Gedanken und Gefühle regt. Sie fühlen sich, als wären Sie in großer Gefahr.
beim Auftreten der Herzbeschwerden werden be- Ich möchte Ihnen sagen, dass Sie hier sicher sind.
sprochen und zusammen mit dem Patienten neu Hier in meinem Zimmer sind Sie völlig sicher und
bewertet, z. B. »Jetzt kommen die Schmerzen in der Ihr Herz ist körperlich gesund. Ich werde bei Ihnen
Brust wieder und ich habe Angst, einen Herzinfarkt bleiben, bis die Attacke vorüber ist. Ich kann bereits
zu bekommen. Zwar weiß ich, dass mein Vater an sehen, dass Ihr Herz langsamer und ruhiger
einem Herzinfarkt verstorben ist und er ähnliche schlägt.«
Symptome hatte, aber alle Untersuchungen der letz- Weitere Techniken zur Beruhigung sind:
ten Wochen und Monate haben gezeigt, dass mein 4 Aufmerksamkeitsfokussierung z. B. »Nennen
Herz vollkommen gesund ist und ich mich voll kör- Sie mir fünf Dinge, die Sie gerade sehen« und
perlich belasten darf.« In der Folge setzt der Patient 4 »Realitätscheck« der irrationalen Überzeu-
11 seine Gartenarbeit fort und macht die Erfahrung, gungen.
dass die Beschwerden abklingen, ohne dass er sich
ins Bett legt oder den Notarzt anrufen muss. Vor allem, wenn der Patient sich Sorgen um »Ver-
rücktsein« macht oder glaubt eine lebensbedrohli-
che Krankheit zu haben, kann es hilfreich sein,
11.2.4 Krisenintervention wenn man nicht das Pathologische, sondern die
bei Panikattacken zugrunde liegende Normalität des Erlebens und
Verhaltens, von dem der Patient nach und nach ab-
Zuerst sollte der Patient gefragt werden, ob er ähn- gewichen ist, betont.
liche Anfälle schon häufiger hatte und was er bisher Arzt: »Eigentlich ist es ganz normal, dass Sie
dagegen getan hat. Um den Patienten zu beruhigen, sich Sorgen machen. Aber wir sollten uns fragen,
sprechen Sie mit einer ruhigen, festen und freund- warum Ihre Sorge so stark geworden ist, dass Sie
lichen Stimme. Erklären Sie die körperlichen Emp- vollständig verängstigt sind. Ich glaube, jeder würde
findungen des Patienten als normale physiologische sich in einer solchen Situation Sorgen machen.«
Reaktionen des Körpers auf Angst. Gleichzeitig
kann die Realitätswahrnehmung gestärkt werden
(Cave: Abwerten der Gefühle des Patienten). Posi- 11.2.5 Medikamentöse Behandlung
tiv-suggestive Maßnahmen können hilfreich sein,
z. B. den Puls fühlen (implizites Ernstnehmen und Patienten mit Angststörungen sind häufig skep-
Wertschätzung). tisch, was die Behandlung mit Medikamenten be-
Arzt: »Was Sie jetzt erleben, ist eine Panikatta- trifft und fürchten Nebeneffekte oder die Entwick-
cke. Ihr Herz schlägt schneller, Sie haben Probleme lung einer Abhängigkeit. Aus diesem Grund ist es
beim Atmen. Ich kann verstehen, dass Sie das auf- wichtig, die Effekte und Nebeneffekte der Medika-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
11.2 · Praktischer Teil
131 11

. Tab. 11.4 Psychopharmakabehandlung bei Angststörungen

Benzodiazepine Pflanzliche Präparate Antidepressive Medikation

Gute Wirksamkeit bei Panik- Bei allgemeinen Angstzuständen und SSRIs, SSNRIs bei Panikstörungen
attacken einer erhöhten Anfälligkeit für Angst, und sozialer Phobie bewährt
Z. B. Lorazepam 1 mg, auch sublin- Evidenz fehlt Z. B.Citalopram, Beginn mit
gual oder Diazepam-Tropfen Z. B. Hopfen- oder Baldriankombina- 10 (20) mg/die
Probleme der Abhängigkeit und tionen, Kava-Kava Bei generalisierter Angststörung
Toleranz Cave Leberschäden manchmal auch in geringen Dosen
effektiv

tion detailliert mit dem Patienten zu besprechen fühlen sich Arzt und Patient in dieser Konstellation
und seine Befürchtungen und Reaktionen ernst zu wohl. Längerfristig kann eine solche überprotektive
nehmen. Haltung des Arztes dem Patienten jedoch schaden,
Es kommt manchmal vor, dass sich unter dem indem sie dessen Chancen für eine autonome Ent-
Eindruck von Nebenwirkungen wie Unruhegefühl wicklung hemmt.
und Schwitzen die Angstsymptomatik verschlech- Ein selbstunsicherer Arzt wird einen Patienten
tert und auch Panikattacken häufiger auftreten mit einer Angststörung eher versuchen loszuwer-
(Angst vor Kontrollverlust). Daher sollte die Eindo- den. Das anklammernde Verhalten und die ständig
sierung langsam und vorsichtig erfolgen. wiederholenden Forderungen nach Beruhigung
. Tab. 11.4 listet die Psychopharmaka auf, wel- oder nach ärztlicher Untersuchung sind ihm lästig
che bei der Behandlung von Angststörungen zum und führen zu Ungeduld und Ärger. Er unterstützt
Einsatz kommen. ihn wenig und versucht ihn mit Ratschlägen, die
Grundsätzlich sind auch trizyklische Antide- den Patienten eher überfordern, loszuwerden.
pressiva (TZA) wie z. B. Imipramin wirksam, wer-
den jedoch wegen der anticholinergen Nebenwir-
kungen wie Mundtrockenheit, Sehstörungen und 11.2.7 Überweisung und Kooperation
Müdigkeit meist nicht toleriert. Am häufigsten wer- mit psychotherapeutischen
den die selektiven Serotoninwiederaufnahmehem- Praxen und Kliniken
mer (SSRI) wie Paroxetin, Citalopram und Escital-
opram sowie selektive Serotonin- und Noradrena- Die Überweisung in ambulante oder stationäre psy-
linwiederaufnahmehemmer (SSNRI) wie Venlafa- chotherapeutische Behandlung lässt sich am besten
xin eingesetzt. im Rahmen eines stufenweisen Behandlungsmo-
Betablocker z. B. Propranolol sind bei phobi- dells realisieren:
schen Störungen, z. B. Prüfungsängsten mit Zittern 4 hausärztliche Information und Beratung,
und Tachykardien, wirksam. 4 Einsatz von Entspannungsverfahren,
Das Ausschleichen der psychopharmakologi- 4 pflanzliche Präparate,
schen Behandlung bei Panikstörungen sollte 4 Empfehlungen für die Teilnahme an einer
schrittweise über mehrere Wochen erfolgen. Selbsthilfegruppe,
4 kurzfristige Psychopharmakabehandlung,
4 Überweisung zu einem diagnostischen und be-
11.2.6 Fallstricke ratenden Gespräch bei einem Psychiater, Psy-
chotherapeuten oder einer Institutsambulanz,
Der selbstsichere, väterlich/mütterlich-fürsorgliche 4 kombinierte Behandlung mit Psychotherapie
Arzt versucht dem Patienten in seiner Angst ein ge- und Psychopharmaka,
wisses Zutrauen, Sicherheit und Halt bzw. Gebor- 4 stationäre psychotherapeutische und
genheit, Schutz und Wärme zu geben. Kurzfristig medikamentöse Behandlung.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
132 Kapitel 11 · Angststörungen

11.2.8 Psychotherapeutische Literatur


Behandlung
Zitierte Literatur
Görlitz G (2014) Körper und Gefühl in der Psychotherapie.
Schwere und komplexe Formen von Angststörun- Klett-Cotta, Stuttgart
gen erfordern eine professionelle psychotherapeuti- Jacobi F, Höfler M, Strehle J et al. (2014) Psychische Störungen
sche Behandlung. Wenn die Behandlung von in der Allgemeinbevölkerung. Studie zur Gesundheit
Angstsymptomen im Vordergrund steht, spricht Erwachsener in Deutschland und ihr Zusatzmodul Psy-
chische Gesundheit (DEGS1-MH). Nervenarzt 85 (1):
das für eine kognitive Verhaltenstherapie. Behand-
77–87
lungsprogramme enthalten in der Regel Kompo- Margraf J, Schneider S (2013) Panik: Angstanfälle und ihre
nenten, die bereits früher in der Basistherapie er- Behandlung (2. Aufl.). Springer, Berlin
wähnt wurden und die jetzt in einer noch gezielte- NICE. Generalised anxiety disorder and panic disorder – clini-
ren und intensiveren Weise verwendet werden: Be- cal guidelines. https://www.nice.org.uk/guidance/cg113
(Zugegriffen Mai 2015)
reitstellung von Informationen über Angst und
Panikattacken, verzerrte Wahrnehmung und Fehl- Weiterführende Literatur
interpretation von körperlichen Symptomen sowie Angenendt J, Frommberger U, Trabert W, Stiglmayr C, Berger
die Konfrontation mit angstauslösenden Gedanken, M (1999) Angststörungen. In: Berger M (Hrsg) Psychiatrie
wenn Angstsymptome auftreten. und Psychotherapie. Urban & Schwarzenberg, München
Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft (1999)
Für die Panikstörung mit Agoraphobie hat sich
Empfehlungen zur Therapie von Angst- und
die Konfrontation als wirksamste Methode erwie- Zwangsstörungen. AVP-Sonderheft Therapieempfehlung
sen. Für die Panikstörung ohne Agoraphobie sind Bassler M, Leidig S (2011) Angstkrankheiten. In: Senf W, Broda
kognitive Interventionen wie Neubewertung kör- M. (Hrsg) Praxis der Psychotherapie. Ein integratives
perlicher Symptome, das »zu-Ende-Denken« von Lehrbuch. Vollständig überarbeite Auflage. Thieme-Ver-
katastrophisierenden Gedanken (Exposition in sen- lag, Stuttgart, S 388–411
Margraf J, Schneider S (Hrsg) (2009) Lehrbuch der Vehaltens-
su), Gedankenstopp und verhaltensmedizinische therapie, Bd 2. Kapitel: Paniksyndrom und Agoraphobie,
Maßnahmen, wie Ablenkungsstrategien in Verbin-
11 dung mit einem Entspannungsverfahren, wirksam.
spezifische Phobien, Sozialphobie, generalisiertes Angst-
syndrom. Springer, Heidelberg
Für soziale Phobien, spezifische Phobien und die
generalisierte Angststörung haben sich systemati-
sche Desensibilisierung, Konfrontation, kognitive
Ansätze und Entspannungsverfahren als wirksam
erwiesen.
Wenn hingegen die Erfassung und Verarbeitung
von unbewussten Konflikten im Vordergrund steht,
werden psychoanalytisch begründete Therapien be-
vorzugt. In erster Linie sind diese Verfahren nicht
symptomorientiert, sondern persönlichkeitsorien-
tiert.
Idealerweise werden im ambulanten und statio-
nären Setting die übenden Techniken der kogniti-
ven Verhaltenstherapie mit Konflikt bearbeitenden
tiefenpsychologischen Verfahren, i. S. einer Thera-
pieschulen übergreifenden und störungszentrierten
bzw. lösungsorientierten Vorgehensweise, kombi-
niert.
Es liegt gute Evidenz vor, dass sowohl medika-
mentöse als auch psychotherapeutische Behandlun-
gen bei der Bewältigung von Angststörungen wirk-
sam sind (NICE-Richtlinien 2011).

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
133 12

Depression und Suizidalität


Kurt Fritzsche, Daniela Wetzel-Richter

12.1 Theoretischer Teil – 134


12.1.1 Kennzeichen – 134
12.1.2 Diagnostische Einteilung – 134
12.1.3 Differenzialdiagnose – 136
12.1.4 Ursachen – 138

12.2 Praktischer Teil – 141


12.2.1 Erkennen – 141
12.2.2 Therapeutische Grundhaltung – 142
12.2.3 Arzt-Patient-Beziehung – 142
12.2.4 Behandlung – 143
12.2.5 Gesprächsführung: Begleiten-Aktivieren-Informieren-
Motivieren – 143
12.2.6 Einbeziehen von Familie und nahen Bezugspersonen – 144
12.2.7 Psychopharmaka – 145
12.2.8 Psychotherapie – 146
12.2.9 Suizidalität – 147

Literatur – 151

K. Fritzsche et al. (Hrsg.), Psychosomatische Grundversorgung,


DOI 10.1007/978-3-662-47744-1_12, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
134 Kapitel 12 · Depression und Suizidalität

Fallbeispiel ängstlich. Seine Stimmung gegenüber anderen


Herr M., ein 30-jähriger Jurastudent kommt wegen ist feindselig, er ist innerlich getrieben, von der
Tinnitus zum Hausarzt. Schon seit längerem klagt er Umwelt abgeschnitten, Schuldgefühle treten
über chronische Müdigkeit und teilweise auch auf.
Schwindelanfälle. Besonders zu schaffen macht ihm 4 Gedanken. Die Gedankenwelt wird bestimmt
aber seine Schwierigkeit sich zu konzentrieren, da er durch eine negative Einstellung gegenüber sich
in Vorbereitung auf das Staatsexamen steht. Auf den selbst und der Zukunft. Es bestehen Pessimis-
Lernstoff kann sich Herr M. nur kurz konzentrieren, mus, permanente Selbstkritik, Selbstunsicher-
dann schweifen seine Gedanken ab, ohne dass er heit, Konzentrationsprobleme, Gedächtnis-
einen Gedanken tatsächlich zu Ende denken kann, zu störungen, Katastrophisieren, Ideen der Aus-
sehr jagt ein Gedanke den nächsten. Herr M. steht weglosigkeit und Zwecklosigkeit des eigenen
dann auf, weil er nicht länger ruhig sitzen kann, in- Lebens, Suizidgedanken, Erwartung von
nerlich fühlt er sich viel zu unruhig. Er geht aber auch Strafen, Wahnvorstellungen z. B. Verarmungs-
kaum aus, seine Freundschaften hat er zuletzt nicht wahn und ein zwanghaft hohes Anspruchsni-
gepflegt. Er hat Angst, sich den Fragen zu stellen, wie veau an sich selbst.
er mit dem Lernen vorwärtskommt, er macht sich 4 Verhalten. Die Körperhaltung ist kraftlos,
auch so schon genug Vorwürfe, es erscheint ihm alles gebeugt, die Bewegungen sind verlangsamt.
hoffnungslos. Der Gesichtsausdruck ist traurig, teilweise
Aufgewachsen ist Herr M. in einem sehr strengen maskenhaft und wie versteinert. Die Sprache
und leistungsorientierten Elternhaus. Die Eltern strit- ist leise, langsam und monoton. Es besteht eine
ten sich viel und der Vater zog sich immer mehr zu- Aktivitätsverminderung mit eingeschränktem
rück. Als Herr M. 14 Jahre alt war, suizidierte sich der Bewegungsradius.
Vater. Herr M. war es, der den Vater tot auffand. Über
dieses Ereignis spricht er zunächst gar nicht, obwohl Die Symptome der Depression sind in . Abb. 12.1
ihm die Bilder noch heute manchmal in seinen Träu- dargestellt.
men erscheinen. Insgeheim macht er seiner Mutter Es gibt Patienten, bei denen sich die depressive
den Vorwurf, dass sie nicht genug für den Vater da Stimmung hauptsächlich in Form von körperlichen
12 war. Mit etwas mehr Mitgefühl hätte dieser vielleicht Beschwerden darstellt (. Abb. 12.2; s. auch 7 Kap. 9
noch leben können. »Somatoforme Störungen«).

12.1 Theoretischer Teil 12.1.2 Diagnostische Einteilung

12.1.1 Kennzeichen In den internationalen Klassifizierungssystemen


werden depressive Störungen innerhalb der dia-
Der Begriff »Depression« leitet sich vom lateini- gnostischen Kategorie der »affektiven Störungen«
schen »deprimere« ab und bedeutet »herunter- oder beschrieben.
niederdrücken«. Die häufigsten affektiven Störungen sind die
Eine Depression äußert sich auf verschiedenen manische Episode (ICD-10: F 30), die bipolare af-
Ebenen: fektive Störung (ICD-10: F 31), die depressive Epi-
4 Körper. Beklagt werden körperliche Schwäche, sode (ICD-10: F 32), auch »Major Depression« ge-
Antriebslosigkeit, Appetitlosigkeit, Schlaf- nannt, und die Dysthymia (ICD-10: F 34.1).
losigkeit, Wetterfühligkeit, erhöhte Schmerz-
empfindlichkeit, Libidoverlust sowie multiple Depressive Episode (ICD-10: F 32)
vegetative Beschwerden wie Kopfdruck, Die Einschlusskriterien für eine depressive Episode
Magenbeschwerden, Verdauungsstörungen. sind erfüllt, wenn während mindestens 2 Wochen
4 Gefühle. Der Patient fühlt sich niedergeschla- mehrere der folgenden Symptome vorliegen:
gen, traurig, hoffnungslos, hilflos, einsam und

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
12.1 · Theoretischer Teil
135 12

Depressive Stimmung

Gestörter Antrieb Endloses Grübeln

Freudlosigkeit
Appetitlosigkeit

Angstgefühle Schuldgefühle

Schlafstörungen

. Abb. 12.1 Symptome der Depression. (Zeichnung: Claudia Styrsky)

Kopfschmerzen

Rücken:
Schmerzen
Brust: Verspannungen
Druck
Engegefühl
Sexualorgane:
Bei dem Mann:
Herz-Kreislauf: Erektionsstörungen
Schwindel Bei der Frau:
Atembeschwerden Zyklus-,
Orgasmusstörungen

Magen-Darm:
Appetitstörungen
Magendrücken Beine:
Übelkeit Gliederschwere
Verstopfung

. Abb. 12.2 Körperliche Symptome der Depression. (Zeichnung: Claudia Styrsky)

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
136 Kapitel 12 · Depression und Suizidalität

4 Hauptsymptome Bipolare affektive Störung (ICD-10: F 31)


5 Gedrückte, depressive Stimmung, Kennzeichen der bipolaren affektiven Störung ist
5 Interesselosigkeit und/oder Freudlosigkeit, eine chronische, anhaltende Instabilität der Stim-
auch bei sonst angenehmen Ereignissen, mung mit Schwankungen zwischen Depression und
5 Antriebsmangel, erhöhte Ermüdbarkeit. gehobener Stimmung.
4 Zusatzsymptome
5 Verminderte Konzentration und Aufmerk- Sonderformen der Depression
samkeit, Als Sonderformen gelten die postpartale Depres-
5 Vermindertes Selbstwertgefühl und Selbst- sion, die atypische Depression, die Altersdepression
vertrauen, und die saisonale Depression.
5 Gefühle von Schuld und Wertlosigkeit, Der Unterschied im Verlauf zwischen einer re-
5 Negative und pessimistische Zukunftsper- zidivierenden depressiven Störung und einer Dys-
spektiven, thymia zeigt . Abb. 12.3.
5 Suizidgedanken/-handlungen,
5 Schlafstörungen, Double Depression (ICD-10: F 32.2
5 Verminderter Appetit/Appetitsteigerung. und zusätzlich F 34.1)
Nach dem Konzept des biopsychosozialen Modells
Je nach Anzahl der Symptome kann die depressive wirken bei allen Depressionen psychoreaktive und
Episode in verschiedene Schweregrade unterteilt biologische Faktoren in komplizierter Weise zusam-
werden. Unterschieden wird zwischen der leichten, men; jeder Patient hat gewissermaßen seine »eige-
mittelgradigen und schweren depressiven Episode: ne« Depression.
4 Leicht: 2 Hauptsymptome und 2 Zusatz- Eine Systematik der depressiven Störungen ist
symptome. nach wie vor schwierig, v. a. die klassische Eintei-
4 Mittelgradig: 2 Hauptsymptome und lung in »reaktive«, »neurotische« und »endogene«
3–4 Zusatzsymptome. Depressionen ist in dieser Weise nicht mehr auf-
4 Schwer: 3 Hauptsymptome und ≥4 Zusatz- recht zu halten. Weder bestehen klar unterscheidba-
symptome. re Krankheitsentitäten noch begründet eine Unter-
12 teilung eindeutige therapeutische Entscheidungen.
Dysthymia (ICD-10: F 34.1) Dies wird deutlich am Beispiel der sog. »double
Kennzeichen der Dysthymia sind: depression«, d. h. dem Zusammentreffen einer (re-
4 Die langdauernde depressive Verstimmung, zidivierenden) schweren Depression und einer Dys-
die aber nicht so ausgeprägt ist, dass die Krite- thymia.
rien für eine depressive Episode erfüllt sind.
4 Der Beginn im frühen Erwachsenenalter, eine
Dauer über mehrere Jahre, manchmal lebens- 12.1.3 Differenzialdiagnose
lang.
4 Typische Symptome wie Müdigkeit, Schlaf- In der Differenzialdiagnostik sollte geklärt werden,
störungen, schnelle Erschöpfbarkeit, Grübeln, ob die Veränderungen in Stimmung und Antrieb
Klagsamkeit oder ein Gefühl der Unzuläng- auch z. B. einer bipolaren Störung zugeordnet wer-
lichkeit. den können. Weiter können körperliche Krank-
heiten depressive Symptome auslösen oder verstär-
Manische Episode (ICD-10: F 30) ken, z. B. Hypo- oder Hyperthyreose, Anämie und
Die Manie ist durch euphorisch-gehobene, zum Teil Krebserkrankungen. Ein besonders wichtiger Zu-
auch gereizte Stimmungslage, Enthemmung, Selbst- sammenhang besteht mit Alkohol- oder Medika-
überschätzung und Ideenflucht gekennzeichnet. mentenabusus. Bei Altersdepressionen kann die
Abgrenzung zu einer beginnenden Demenz zu-
nächst schwierig sein (s. auch 7 Kap. 22 »Psychoso-
matik im Alter«).

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
12.1 · Theoretischer Teil
137 12
Schwere Depression, phasisch

–2 Zeit
–4 freies depressive
–6 Intervall Episode
Tief

Dysthymie, »neurotische Depression«

–2
Zeit
–4
depressive Verstimmung über 2 Jahre und länger
–6
Tief

. Abb. 12.3 Depressionsverläufe

Depression versus Trauer spektive und auch der erhaltenen Fähigkeit, Hilfe
Das Krankheitsbild Depression muss von Traurig- und Unterstützung zu suchen (. Tab. 12.1).
keit oder Trauer abgegrenzt werden. Trauerarbeit braucht Zeit. Durch eine miss-
Traurigkeit oder Trauer ist ein normales Gefühl glückte und blockierte Trauerarbeit wird die Ent-
wie Zorn, Freude oder Angst und gehört zu den wicklung einer Depression oder körperlicher Be-
Grundemotionen des Menschen. Die Fähigkeit zur schwerden ohne Organbefund (Somatisierung) be-
Traurigkeit ist in uns biologisch angelegt. Gefühle günstigt.
von Traurigkeit sind in der Regel vorübergehend.
Traurigkeit oder Trauer ist oft Folge des Verlusts Anpassungsstörung
einer nahen Bezugsperson. Die dabei auftretenden Depressive Symptome finden sich auch als Reaktion
Gefühle von Niedergeschlagenheit, Selbstzweifel, auf schwere psychosoziale Belastungen bzw. Le-
Hoffnungslosigkeit und Hilflosigkeit finden sich bensereignisse. Es werden kurze depressive Reak-
auch bei einer Depression, haben jedoch nicht die tionen, die nicht länger als einen Monat dauern,
gleiche Intensität, vor allem ist der Verlust des und längere depressive Reaktionen, die aber nicht
Selbstwertgefühls nicht so hoch. länger als zwei Jahre dauern, unterschieden (ICD-
Im Vergleich zur Depression lässt sich die Trau- 10: F 43). Anpassungsstörungen sind immer defi-
rigkeit oft durch positive, angenehme Tätigkeiten niert als leichte Symptomatik. Sobald nach den
und Ereignisse unterbrechen. Trauer ist etwas Vor- ICD-10 Kriterien eine mittelgradige Depression
übergehendes mit zuversichtlicher Zukunftsper- vorliegt, kann es sich definitionsgemäß nicht mehr

. Tab. 12.1 Merkmale von »normaler« Trauer und Depression

»Normale« Trauer Depression

Biologisch angelegtes Reaktionsmuster auf bedeutsame Dissoziation von Gefühlen, meist durch blockierte
Ereignisse: Verlust von Menschen, Heimat, Organfunk- Trauerarbeit
tion, Integrität, Idealen Schwingungsfähigkeit p
Positive Unterbrechung möglich Durch Positives nicht zu unterbrechen
Verlust-Bewältigung-Abschied Selbstwertgefühl und Selbstachtung p
Mitfühlen anderer (Empathie n) Ablehnung durch die Umwelt
Soziale Integration und Bindung n Sozialer Rückzug – Isolation
Anpassung an veränderte Situation Zukunftsperspektive p

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
138 Kapitel 12 · Depression und Suizidalität

Individuelle Faktoren Arbeitsplatzfaktoren

1. Arbeitsüberforderung
vegetative Stresssymptome, rückbildungsfähige Erschöpfung

Andauernde Überforderung

2. Burn-out (Z 73.0)
(Risikozustand) Regene-
anhaltende Erschöpfung, Zynismus, Leistungsminderung ration

Chronifizierter Stress Leistungseinschränkung

3. Folgekrankheiten 4. Somatische und


z. B. Depression, Angsterkrankungen, psychische Erkrankungen
Medikamentenabhängigkeit, z. B. multiple Sklerose, Krebs,
Tinnitus, Hypertonie, (+ Z 73.0) beginnende, Demenz, Psychose

. Abb. 12.4 Klassifikation von Arbeitsüberforderung, Burnout und Krankheiten. Wie aus Arbeitsüberforderung Krankheit
wird – ein Konzept. (Mod. nach Berger et al. 2012; mit freundlicher Genehmigung)

um eine Anpassungsstörung handeln. Weitere Bei- und die früheren Persönlichkeitszüge wieder her-
spiele einer Anpassungsstörung finden sich in vortreten. Einzelne Beschwerden können dabei
7 Kap. 13 »Krebserkrankung«, 7 Kap. 14 »Koronare weiterbestehen. Etwa die Hälfte aller Patienten,
Herzkrankheit« und 7 Kap. 19 »Akute und posttrau- die  erstmalig an einer Depression erkrankt sind,
matische Belastungsstörung«. erleidet in den folgenden Jahren eine weitere
12 depressive Episode. Nach zweimaliger Erkrankung
Burnout-Syndrom und Depression liegt die Wahrscheinlichkeit ein weiteres Mal
Burn-out wird in der ICD-10 als »Ausgebranntsein« zu  erkranken bei 70 %, nach der dritten Episode
und »Zustand der totalen Erschöpfung« mit dem bei 90 %.
Diagnoseschlüssel Z 73.0 erfasst. Es handelt sich um Depressionen weisen eine hohe Rate an komor-
einen schleichenden Prozess, der sich von Arbeits- biden psychischen Störungen auf (75–90 %), vor
überforderung, anhaltender Erschöpfung bis hin zu allem Angststörungen, Zwänge, posttraumatische
psychischen und körperlichen Folgekrankheiten Belastungsstörungen, Essstörungen, Substanzmiss-
entwickelt (. Abb. 12.4). brauch/-abhängigkeit, Schlafstörungen, somatofor-
. Abb. 12.5 zeigt wie sich ein Burnout-Syndrom me Störungen, schizophrene Störungen, hirnorga-
von einer depressiven Störung abgrenzt. nische Störungen, Demenzerkrankungen und Per-
In einer bundesweiten Untersuchung der Allge- sönlichkeitsstörungen. Das Vorhandensein weiterer
meinbevölkerung (Jacobi et al. 2014) betrug die psychischer Störungen ist ein Risikofaktor in Bezug
12-Monats-Prävalanz für eine depressive Episode auf eine Chronifizierung der Depression und ein
6 %, für eine Dysthymia 2 % und für eine bipolare Risikofaktor für Suizidalität.
Störung 1,5 %.
Depressionen verlaufen individuell sehr
verschieden. Bei etwa der Hälfte bis zwei Drittel 12.1.4 Ursachen
der Patienten bessert sich der Zustand im Verlauf
oder durch die Behandlung soweit, dass sie wie- Gemäß dem biopsychosozialen Modell treffen bei
der  ihre gewohnte Leistungsfähigkeit besitzen der Entstehung und Manifestation einer Depression

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
12.1 · Theoretischer Teil
139 12

Burnout-Syndrom Depression




• Arbeitsbezogene mentale und • Multifaktorielle Genese
emotionale Erschöpfung • Antrieb ↓/schnelle Erschöpfung
• Leistung ↓ • Innere Distanzierung/Zynismus
• Innere Distanzierung/Zynismus Emotionale Erschöpfung • Freudlosigkeit/Niedergestimmtheit
• Einschlafstörungen • Früherwachen
• Statusgefühl erhalten • Statusverlust/Kränkung
• Selbstwertgefühl erhalten • Selbstwertgefühl ↓

Risikofaktoren: Risikofaktoren:
• Arbeitsbelastung ↑ • Genetik, Frauen, Single
• Inbalance Verausgabung-Belohnung • Negative Live-Events
• Partizipation/Kontrolle ↓ • Soziale Unterstützung ↓
• Rollenkonflikt • Sozio-ökonom. Status ↓

. Abb. 12.5 Differenzierung zwischen Burnout und Depression.

Genetische Disposition Psychosoziale Entwicklung

Auslöseereignis (vor allem Verlusterleben)

Überforderung
Hilflosigkeit
Stress
Alarmreaktion

biologisch: klinisch:
Hypophysen- Depressive Symptomatik
Nebennierenrindenaktivierung Körperliche Symptome
Cholinerge Aktivierung

. Abb. 12.6 Biopsychosoziales Modell der Depression

mehrere Faktoren zusammen, die je nach Individu- den auf eine Erhöhung der Verfügbarkeit von Sero-
um unterschiedlich gewichtet sind (. Abb. 12.6). tonin und Noradrenalin im synaptischen Spalt zu-
rückgeführt. Die Depression ist ein starker Stressor.
Genetische Diposition Er führt zur Aktivierung der Hypothalamus-Hypo-
Depressionen kommen familiär gehäuft vor. Wenn physen-Nebennierenrinden-Achse mit der Folge
beide Eltern erkrankt waren, ist das Erkrankungs- einer übermäßigen Kortisolproduktion.
risiko der Kinder ca. 50 %.
Kognitionen
Neurochemische und neuro- Kognitionen sind alle mentalen Prozesse, die mit
endokrinologische Korrelate Wahrnehmung, Vorstellung, Gedächtnis, Lernen,
Die Serotonintheorie geht davon aus, dass ein Denken und Urteilen zusammenhängen. Kognitio-
niedriger Serotoninspiegel die neuralen Aktivitäten nen können Gefühle und Stimmungen hervorrufen.
anderer neurochemischer Systeme stark verändert Depressive haben eine pessimistische Sichtweise
und zu Manie oder Depression führt. Die antide- von sich selbst, der Welt und der Zukunft (negative
pressive Wirkung der trizyklischen und tetrazykli- Triade). Sie haben durch negative Lebenserfah-
schen Antidepressiva und der MAO-Hemmer wer- rungen negative Überzeugungen und Handlungs-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
140 Kapitel 12 · Depression und Suizidalität

muster (Schemata) erworben, die in belastenden Bedürfnisse, Ärger, Wut und Enttäuschung werden
Situationen zu kognitiven Verzerrungen, z. B. will- zunächst abgewehrt und dann durch Selbstvorwür-
kürlichen Schlussfolgerungen oder selektive Wahr- fe, Selbstanklagen und Selbstmordversuche gegen
nehmung, führen. die eigene Person gerichtet.
Beispielhaft wird das Konzept der erlernten
Hilflosigkeit erwähnt: In der Biographie finden sich Kommunikative Funktion
wiederholt unkontrollierbare traumatische Erleb- Der depressive Patient ist während der depressiven
nisse, die diese Patienten passiv hinnehmen muss- Episoden in seinem Erleben in einem Teufelskreis
ten, ohne mögliche Vermeidungs- und Bewälti- gefangen. Der Interessenverlust und die Freudlosig-
gungsreaktionen zu entwickeln. Die erlernte Hilflo- keit in Folge der Depression führen zum Rückzug
sigkeit führt zu der Erwartung, dass auch spätere und zur Passivität. Freunde werden vernachlässigt,
negative Erfahrungen nicht zu kontrollieren sind. sonst gerne gepflegte Hobbys verkümmern. Meist
Sie bewirkt, dass tatsächlich vorhandene Einfluss- gelingt es zwar noch den Pflichten wie Arbeit oder
möglichkeiten nicht genutzt werden und mit einem Kinderversorgung nachzugehen, aber auch diese
depressiven Rückzug beantwortet werden. Dazu werden lieblos und mit wenig Engagement ausge-
kommt, dass der Betroffene die Ursache für das übt. Diese Passivität verstärkt die vorhandenen
Scheitern stets bei sich selbst sucht. Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle; der Depres-
sive beobachtet sein eigenes Verhalten, es gelingt
Psychosoziale Belastungen ihm aber nicht es zu korrigieren, vielmehr verurteilt
Vor dem erstmaligen Auftreten einer Depression er sich für das, was er tut oder nicht tut. Die nieder-
finden sich fast immer typische Belastungssituatio- geschlagene Stimmung, die Hoffnungslosigkeit
nen: Interpersonelle Konflikte, Ansehensverluste wird hierdurch noch verstärkt. Im inneren Dialog
oder Kränkungen, drohende oder tatsächlich voll- reagiert der Patient auf Impulse und Vorschläge aus
zogene Trennungen oder der Tod eines nahe ste- der Umwelt, von Freunden oder Helfern resigniert:
henden Menschen. »Du hast ja recht, aber ich bin es nicht wert, dass Du
Gemeinsames Merkmal dieser Ereignisse ist die Deine Zeit mit mir verbringst. Es ist hoffnungslos,
Bedrohung oder der Verlust zwischenmenschli- ich bin so oder so nicht in der Lage irgendetwas
12 cher Bindungen. Menschen, die in den ersten Le- vernünftig hinzubekommen«.
bensjahren überdurchschnittlich häufig von Tren- Neben dem Hilfsappell, den Depressive an die
nungserfahrungen oder schweren Gefährdungen Mitmenschen aussenden, hat die Depression aber
ihrer maßgeblich beschützenden Beziehungen auch den evolutionsbiologischen Sinn und Zweck,
betroffen waren, haben eine dauerhafte, bis ins Er- den Patienten zum Rückzug aus seinem Alltag zu
wachsenenalter reichende Sensibilisierung ihrer zwingen und ihm damit die Möglichkeit zu geben,
biologischen Stressantwort auf Konflikte, Trennun- sich aus bisherigen überfordernden und für ihn un-
gen oder Verluste. Diese Menschen haben ein er- erfreulichen Verhältnissen und Konstellationen zu
höhtes Depressionsrisiko: Kritische psychosoziale verabschieden und evtl. einen Neubeginn zu wagen.
Belastungen führen zu einer stärkeren und länger
anhaltenden Alarmierung ihres Stresssystems. Beziehungszirkel bei depressiv
strukturierten Patienten
Psychodynamik Wenn depressive Menschen in der Ich-Form spre-
Aus Angst vor erneuten Trennungen und Verlusten chen könnten, würden sie etwa folgendes Selbstbe-
haben diese Menschen ein hohes Verantwortungs- kenntnis ablegen:
und Pflichtbewusstsein entwickelt und verlangen »Ich neige dazu, den anderen Menschen zu su-
sich selbst große Leistungen ab, um andere zufrie- chen, ich möchte ihm nahe sein, ich bin eigentlich
denzustellen. Sie hoffen auf diese Weise vom ande- recht abhängig von den Mitmenschen. Meist bin ich
ren gebraucht zu werden und ihr Liebesdefizit aus- gutgläubig und werde leicht ausgenützt. Ich bin
zugleichen. Gleichzeitig dient dieses Verhalten der stark im Ertragen und Verzichten. Ich sehe meinen
Aufrechterhaltung ihres Selbstwertgefühls. Eigene Sinn vor allem darin, für andere zu leben. Ich fühle

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
12.2 · Praktischer Teil
141 12

Verborgene Wünsche/Erwartung:
Patient wünscht sich insgeheim Anerkennung, Liebe
7 und Unterstützung. So wie er auch für andere da ist 7
und eigene Interessen zurückstellt, sollen auch die
Mitmenschen ihn lieben und anerkennen.

Umgang des Patienten mit sich selbst: Verhalten des Patienten:


Patient macht sich selbst Vorwürfe, hasst sich, Patient bekommt nicht die Aufmerksamkeit,
vernachlässigt sich und wendet sich ab. die er sich wünscht.
Er macht dem anderen Vorwürfe

Negative Reaktionen des anderen:


7 7
Interaktionspartner bekommt Schuldgefühle,
wird ärgerlich und wendet sich ab.

. Abb. 12.7 Beziehungszirkel. (Mod. nach Wöller et al. 2004; mit freundlicher Genehmigung)

mich oft überfordert. Ständig fühle ich mich verant-


wortlich. Ich kann mich gut in andere Menschen Zwei Screeningfragen zur Depression
einfühlen, aber nur sehr schwer nein sagen.« (Arroll et al. 2003; Loewe et al. 2005)
Menschen mit einer depressiven Persönlich- 1. »Haben Sie sich im letzten Monat oft
keitsstruktur haben Angst davor, Unabhängigkeit niedergeschlagen, traurig, bedrückt oder
zu demonstrieren. Sie glauben, dass sie damit ande- hoffnungslos gefühlt?«
re Menschen verlieren könnten. Diese Haltung sich 2. »Hatten Sie im letzten Monat deutlich
selbst und anderen Menschen gegenüber lässt sich weniger Interesse und Lust an Dingen, die
im Modell des dysfunktionalen Beziehungszirkels Sie sonst gerne tun?«
(Wöller et al. 2004) beschreiben (. Abb. 12.7).

Jedoch gibt es auch Patienten bei denen diese Symp-


12.2 Praktischer Teil tome nicht im Vordergrund stehen, sondern primär
körperliche Beschwerden als Grund für die Beein-
12.2.1 Erkennen trächtigung genannt werden.

Die Anamnese kann beispielsweise mit folgenden Fortsetzung Fallbeispiel Herr M.


Sätzen eingeleitet werden: A: »Herr M., Sie haben mir einige Probleme geschil-
»Fast alle Menschen haben manchmal Zeiten, in dert: Tinnitus, chronische Müdigkeit, Konzentrations-
denen sie sich traurig und kraftlos fühlen, z. B. probleme, Schwindelgefühle. Zur Untersuchung des
wenn eine nahestehende Person gestorben ist oder Tinnitus werde ich Sie an den HNO-Arzt überweisen.
wenn es in der Schule, im Beruf oder in der Partner- Häufig stehen die genannten Symptome aber mit
schaft Probleme gibt. Ich möchte Ihnen jetzt einige Stress in Verbindung, gibt es da bei Ihnen etwas?«
Fragen zu Ihrer Stimmung stellen und beziehe mich P: »Ja, ich mache gerade Prüfung, zumindest versu-
da auf den Zeitraum der letzten 4 Wochen.« che ich es, aber ich werde es wohl nicht schaffen.«
Die meisten Patienten mit einer depressiven Er- A: »Prüfung.« (Echoing)
krankung können durch 2 gezielte diagnostische P: »Ja, Staatsexamen, aber das ist ziemlich schwer,
Fragen erkannt werden. eigentlich brauche ich da gar nicht antreten.«

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
142 Kapitel 12 · Depression und Suizidalität

A: »Mhm, Sie haben viel Stress durch die Prüfung und 4 Haben Sie Vorbereitungen getroffen?
können sich gar nicht mehr vorstellen, dass das 4 Gibt es irgendetwas, was Sie im Leben hält?
klappt.« 4 Haben Sie schon zu jemandem über Ihre
P: (schaut nach unten) »Genau.« Selbstmordabsicht gesprochen?
A: »Wie sieht es denn in anderen Bereichen aus: 4 Haben Sie einmal einen Selbstmordversuch
Freunde, Hobbys?« (offene Frage, diagnostische Ab- unternommen?
klärung) 4 Hat sich in Ihrer Familie oder in Ihrem Freun-
P: »Zur Zeit mache ich gar nichts. Wenn ich es schaffe, des- oder Bekanntenkreis schon jemand das
lerne ich und in der anderen Zeit bin ich zu müde Leben genommen?
oder habe auch keine Lust.«
A: »Wenn Sie an den letzten Monat denken, haben Sie
sich denn da oft niedergeschlagen, traurig, bedrückt 12.2.2 Therapeutische Grundhaltung
oder hoffnungslos gefühlt?« (Screeningfrage 1)
P: »Ja allerdings. Vor allem bedrückt und hoffnungs- Mit depressiven Patienten zu arbeiten erfordert Mut
los. Ich sehe wirklich kein Land zurzeit.« und Geduld. Die empathische Begleitung depressi-
A: »Und hatten Sie im letzten Monat deutlich weniger ver Patienten bedeutet zumindest kurzfristig in die
Interesse und Lust an Dingen, die Sie sonst gerne Hilf- und Hoffnungslosigkeit des Patienten einzu-
tun?« (Screeningfrage 2) tauchen. Das dabei entstehende Gefühl der Läh-
P: »Ja, früher bin ich gerne mit Freunden weggegan- mung löst beim Arzt Aktivitätsimpulse aus, denen
gen, aber ich glaube auch, die haben gar keine Lust der Patient jedoch noch nicht folgen kann. Wer der
mehr mit mir wegzugehen, ich bin ja nur noch ein Versuchung widersteht, zu schnell aktiv zu werden,
Stimmungskiller.« dem Patienten gewissermaßen einen Rettungsanker
nach dem anderen hinzuwerfen, die er alle nicht
Wurden die beiden Screeningfragen bejaht, so kön- annimmt, der hat die Chance, den Patienten selbst
nen sich zur Unterscheidung zwischen leichter, mit- zu aktivieren. Er signalisiert damit dem Depressi-
telgradiger und schwerer depressiver Episode die ven, dass er bei ihm ist und ihn aushält, dass letzten
folgenden Fragen anschließen: Endes die depressive Stimmung aushaltbar und
12 4 Wie schlafen Sie zurzeit? überwindbar ist.
4 Können Sie zurzeit eine Zeitung oder ein Buch
lesen oder fernsehen?
4 Über was freuen Sie sich? 12.2.3 Arzt-Patient-Beziehung
4 Was ist Ihnen zurzeit wichtig?
4 Neigen Sie zurzeit zum Grübeln? Depressive Menschen sind in ihrer Selbstachtung
4 Wie ist Ihr Appetit zurzeit? und ihrem Selbstwertgefühl so sehr geschwächt und
4 Haben Sie in letzter Zeit Gewichtsverände- verletzt, dass sie auf jede Störung einer zwischen-
rungen bei sich festgestellt? menschlichen Beziehung reagieren. Aufgabe des
4 Wie ist zurzeit Ihr sexuelles Leben? Arztes ist es in erster Linie, den Patienten geduldig
anzuhören und die Klagen anzunehmen, ohne ihn
Zur Abschätzung der Suizidalität bietet sich der vorschnell aufzumuntern. Ungeduld, Ermahnun-
Fragenkatalog nach Poldinger (1982) an: gen und kurzsichtige Ratschläge führen nur dazu,
4 Haben Sie in letzter Zeit daran denken müssen, dass der Patient sich unverstanden fühlt. Er wird in
sich das Leben zu nehmen? Häufig? seiner depressiv verzerrten Sicht seiner selbst und
4 Haben Sie auch daran denken müssen, ohne es der Welt bestätigt.
zu wollen?
4 Haben sich Selbstmordgedanken aufgedrängt?
Konnten Sie diese Gedanken beiseiteschieben?
4 Haben Sie konkrete Ideen oder Pläne, wie Sie
es machen würden?

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
12.2 · Praktischer Teil
143 12
12.2.4 Behandlung Kommentar Der Arzt greift die Äußerungen des
Patienten empathisch auf, obwohl er dadurch zu-
Die Behandlung einer Depression setzt entspre- nächst die Hoffnungslosigkeit des Patienten ver-
chend den oben geschilderten Entstehungsbedin- stärkt. Nach nur zwei Redewechseln verändert sich
gungen an 5 Punkten an: der Blick des Patienten. Er schaut nun nicht mehr
4 die Beeinflussung dysfunktionaler Denk- und auf die jetzige Situation, sondern sieht sich aus der
Verhaltensmuster, Außenperspektive, bringt den für ihn unverständli-
4 die Verbesserung des Selbstwertgefühls, chen Persönlichkeitswandel zum Ausdruck.
4 der Abbau von inneren und äußeren Anfor-
derungen, Aktivieren
4 die Herstellung eines körperlichen Gleich- Jetzt entsteht die Frage, wie es denn nun weiter ge-
gewichts, z. B. durch Behandlung der Schlaf- hen soll? Es sind diese kleinen Signale, die der Arzt
störung, durch Sport, aufgreifen kann. Es zeigt sich ein Minimum an Ak-
4 die Beeinflussung des Neurotransmitterstoff- tivität darin, dass der Patient eine in die Zukunft
wechsels durch Psychopharmaka. gerichtete Frage stellt.

Fortsetzung Fallbeispiel Herr M.


12.2.5 Gesprächsführung: A: »Verstehe, Sie sind eigentlich ein geselliger Mensch,
Begleiten-Aktivieren- nur zur Zeit finden Sie diese Seite gar nicht mehr.«
Informieren-Motivieren (Aufgreifen der nicht-depressiven Persönlichkeit)
P: »Ja, weg, wie ausgeblasen.«
Begleiten A: »Einfach verschwunden diese Seite, weg.«
Wie kann der Arzt depressiven Patienten begegnen, (Empathisches Begleiten)
wenn alle gut gemeinten Ratschläge im Strudel der P: (Pause) »Meinen Sie, die kann ich wieder bekom-
Hoffnungslosigkeit versinken? men?« (zeigt Aktivität)
Auch bei depressiven Patienten kommen die A: »Wo Sie so nachdenken, kommt die Frage: Kann
Techniken des aktiven Zuhörens zur Anwendung. ich wieder der Alte werden?« (Aktivieren)
Mit Paraphrasen und Zusammenfassungen wird die P: »Der Alte, das glaube ich nicht, aber vielleicht ein
Hoffnungslosigkeit nicht schön geredet, sondern wenig. Meinen Sie das geht?«
gespiegelt. Damit macht der Depressive eine Erfah- A: »Ja, ich meine das geht. Was Sie haben, ist eine De-
rung, die er selten macht, er wird in dem was er sagt pression, das ist eine Erkrankung, die man behandeln
ernst genommen und es wird nicht versucht, sofort kann.« (Informieren)
etwas dagegen zu setzen. Zugleich signalisiert der
Arzt dem Patienten, dass es möglich ist, über das Kommentar Durch das neuerliche Begleiten
Gefühl der Schwere zu sprechen und auszuhalten, kommt vom Patienten eine Frage, die in die Zukunft
eine Erfahrung, die den Depressiven nicht mehr weist. Sie zeigt, dass der Patient noch ein Minimum
ganz alleine sein lässt. an Hoffnung hat. Bevor der Arzt diese Reaktion
nutzt, um zu informieren, wie es weitergeht, ver-
Fortsetzung Fallbeispiel Herr M. stärkt er dieses Minimum an Aktivität. Der Patient
A: »Aha, die Freunde haben gar keine Lust mehr mit schwankt in seiner Reaktion zwischen depressiver
Ihnen wegzugehen.« (Empathisches Begleiten) Hoffnungslosigkeit und dem weiter vorhandenen
P: (niedergeschlagen) »Ja, ich hätte wohl auch keine Hoffnungsschimmer. Nun erst informiert der Arzt
Lust mehr mit mir wegzugehen. Ich verderbe ja nur über die Diagnose und darüber, dass es prinzipiell
die Stimmung.« Möglichkeiten der Behandlung gibt.
A: »Eigentlich kann Sie so keiner ertragen.«
(Empathisches Begleiten) Informieren
P: »Genau.« (Pause) »Eigentlich war ich mal ein eher Ist der Patient bereit ein kleines Stück Verantwor-
unterhaltsamer Typ, aber da ist alles weg.« tung zu übernehmen, kann der Arzt informieren

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
144 Kapitel 12 · Depression und Suizidalität

und Hilfestellungen leisten (s. »Grünes Rezept«).


Dabei wird verdeutlicht, dass die Symptome Teil licher Ausgleich, nicht zu viel Belastendes
einer Erkrankung sind und dass diese Erkrankung gleichzeitig (Umzug, Arbeitsplatzwechsel
behandelbar ist, auch wenn dies gegenwärtig kaum usw.), gesunde Ernährung.
vorstellbar erscheint. Darüber hinaus kann der Ta- 5 Prüfen Sie, ob es bevor Sie depressiv wur-
gesablauf mit dem Patienten besprochen werden. den, wesentliche Änderungen in Ihrem Le-
Da depressive Patienten meist die vorgegebenen ben gab (beruflich, privat), Verluste, Versa-
Aufgaben noch erfüllen können, ist eine Strukturie- genserlebnisse, zwischenmenschliche Kon-
rung hilfreich. Dabei kann der Arzt darauf achten, flikte, Überforderungen, Unterforderungen,
dass die Struktur möglichst keine Überforderung Wohnort- oder Stellenwechsel.
beinhaltet, aber auch, dass die Entspannungsphasen
zeitlich klar begrenzt sind und Entspannung nach
Möglichkeit durch Bewegung und nicht durch Motivieren
Schlafen erreicht wird. Bei der Besprechung des Ta- Das Ziel ist die Einleitung einer psychotherapeuti-
gesablaufs können positive Aktivitäten nochmals schen oder psychopharmakologischen Behandlung.
besonders hervorgehoben werden. Wenn vom Patienten keinerlei aktive oder Hilfe su-
chende Signale kommen (fehlende Möglichkeit der
Aktivierung), ist die Gefahr der Suizidalität beson-
Tipps für die Praxis ders groß.
Informationsblatt: »Grünes Rezept« gegen
Depression
5 Antriebsmangel, Energielosigkeit, rasche 12.2.6 Einbeziehen von Familie
Erschöpfbarkeit, Interesse- und Freudlosig- und nahen Bezugspersonen
keit, Schuldgefühle, Ängste, Gefühle von
Unfähigkeit, Appetitlosigkeit, Gewichts- Die Reaktionen von Familienangehörigen und na-
abnahme, Schlafstörungen, Körperbe- hen Bezugspersonen auf einen depressiv Erkrankten
schwerden und sozialer Rückzug sind können recht unterschiedlich ausfallen: Sie reichen
12 Beispiele für die vielfältigen Äußerungs- vom realistischen, praktischen bis zum völlig konfu-
formen einer Depression. sen, hilflosen, manchmal sogar negativen Handeln.
5 Falls Sie an einer Depression leiden, dann Hauptproblem ist, dass die pessimistischen und ne-
sind Sie kein Einzelfall: Ca. 10 % der Bevöl- gativen Gefühle des Patienten ansteckend sein kön-
kerung machen irgendwann im Leben eine nen. Der Patient ist oft überzeugt, dass es keine Lö-
behandlungsbedürftige Depression durch. sung für seinen Zustand gibt, dass das Problem ihn
5 Auch wenn Sie hoffnungslos sind, eine De- zerstören wird und diese Hoffnungs- und Hilflosig-
pression kann man erfolgreich behandeln: keit kann auf die Familie und die Freunde übergrei-
Die Heilungschance durch eine medika- fen. Ehepartner fühlen sich durch das Verhalten des
mentöse Behandlung oder Psychotherapie Patienten verletzt, wenn er nicht mehr so warmher-
sind bei konsequenter Behandlung gut. zig und einfühlsam reagiert wie früher. Mangel an
5 Vermeiden Sie längeren Rückzug mit exzes- Zärtlichkeit und das verminderte sexuelle Verlangen
sivem Grübeln. Planen Sie ablenkende Ak- führen zu Frustrationen in der Partnerschaft. Todes-
tivitäten. Vermeiden Sie Vormittagsschlaf. wünsche und Suiziddrohungen versetzen die Ange-
Versuchen Sie einen geregelten Tagesablauf hörigen in Furcht . Abb. 12.8).
einzuhalten. Durch Information und Unterstützung der Fa-
5 Prüfen Sie, ob Sie allgemeine Regeln zur milie kann der Arzt erreichen, dass die Angehörigen
Verminderung von Belastungen einhal- ein tieferes Verständnis für das Leiden des Patienten
ten: Ausreichende Zeit für Entspannung aufbringen und dadurch besser in der Lage sind, ihn
und Abwechslung, Pausenplanung, sport- in dieser schwierigen Phase zu unterstützen.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
12.2 · Praktischer Teil
145 12

Depression Placebowirkung die Verum-Wirkung einer antide-


pressiven Medikation übersteigt. Die Wirksamkeit
antidepressiver medikamentöser Behandlung ist
gegenseitige
Verunsicherung v. a. in der Akutphase gut dokumentiert. SSRI-Prä-
parate sind gut verträglich und von der Mehrzahl
der Patienten akzeptiert. Eine psychotherapeutische
anwachsende Kritik und
Spannung Vorwürfe
Behandlung bei Erstmanifestation senkt das Risiko
einer späteren zweiten Depression, während eine
rein medikamentöse Behandlung der ersten De-
blockierte pression das Risiko, später erneut an einer Depres-
Kommunikation, sion zu erkranken, eher erhöht.
Rückzug Mittelschwere depressive Episoden: Hier ist
eine Kombination von Psychotherapie mit antide-
. Abb. 12.8 Teufelskreis depressiver Kommunikation.
pressiver Medikation indiziert. Der etwas schnellere
Wirkungseintritt der Medikation wird durch die
Folgende Maßnahmen haben sich in der Zu- größere Nachhaltigkeit und die bessere Compliance
sammenarbeit mit der Familie als hilfreich erwiesen bei psychotherapeutischen Interventionen ergänzt.
(Holmberg 1984): Schwere Depressionen: Eine antidepressive
4 Die Familienangehörigen gleich wie den Psychopharmakabehandlung in Kombination mit
Kranken über das Wesen einer Depression so- Psychotherapie ist unbedingt indiziert.
wie über die Behandlungsmöglichkeiten und Es ist zu beachten und dem Patienten auch
-pläne informieren. gleich mitzuteilen, dass bei allen Antidepressiva
4 Die Angehörigen sollten darauf achten, dass eine Latenz von mindestens 2 Wochen bis zum Wir-
der Patient die Medikamente vorschriftsmäßig kungseintritt besteht, dass die Nebenwirkungen
einnimmt. hingegen sofort eintreten. Die Medikation sollte
4 Wenn ein Suizidrisiko besteht, sollten sie dem ca. 6–9 Monate fortgeführt werden. Im Fall von re-
Patienten Gesellschaft leisten und ihn nicht aus zidivierenden Depressionen ist eine Langzeitrezi-
den Augen lassen. divprophylaxe indiziert.
4 Die Angehörigen sollten dem Patienten bei der Die Antidepressiva lassen sich unter klinisch-
Körperpflege helfen, mit ihm Spaziergänge ma- praktischen Gesichtspunkten je nach Wirkkompo-
chen und ihn soweit wie möglich beschäftigen. nenten in 3 Gruppen einteilen und bestimmten
4 Treten Änderungen im Verhalten und Befin- Hauptindikationen zuordnen:
den des Kranken ein, besonders wenn eine 1. Antriebssteigernde Antidepressiva wie die se-
Verschlechterung des Zustandes sich andeutet, lektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer
sollte auch bei Widerständen des Patienten so- (SSRI).
fort der zuständige Arzt informiert werden. 2. Sedierende Antidepressiva wie Mirtazepin,
ein noradrenerges und spezifisch serotonerges
Antidepressivum.
12.2.7 Psychopharmaka 3. Venaflaxine und Duloxetin sind selektive Sero-
tonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer
Bei leichten depressiven Episoden (ohne schwere (SSNRI).
Schlaf- und Antriebsstörungen oder gravierende
Suizidgedanken) gilt nach einer kurzen abwarten- Die Verordnung von Psychopharmaka setzt eine
den Beobachtung des Spontanverlaufs (maximal vertrauensvolle Arzt-Patient-Beziehung voraus,
14 Tage) eine Psychotherapie als Behandlung erster auch um die Medikamenten-Compliance zu unter-
Wahl. Ausnahmen betreffen z. B. einen expliziten stützen. Gerade in schwierigen Behandlungsab-
Patientenwunsch nach Antidepressiva. Hinter- schnitten wie z. B. zu Beginn, wenn die gewünschte
grund ist, dass im Bereich leichter Depression die antidepressive Wirkung noch nicht deutlich ist,

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
146 Kapitel 12 · Depression und Suizidalität

aber dennoch auftretende Nebenwirkungen das Be- Kognitive Verhaltenstherapie


finden beeinträchtigen, ist es entscheidend, dass Die kognitive Verhaltenstherapie hat folgende Ziele:
sich der Patient ernstgenommen fühlt, z. B. wenn er 4 Förderung angenehmer Aktivitäten,
über empfindliche Nebenwirkungen klagt. Der Arzt z. B. Genusstraining.
sollte diese Nebenwirkungen nicht bagatellisieren, 4 Förderung der trotz Depression vorhandenen
wenn sie etwa nicht in das typische Nebenwirkungs- aktiven Anteile und Kompetenzen des Patienten.
spektrum passen. 4 Aufbau sozialer Kompetenzen zur Verände-
Zusammenfassend sind im Folgenden die wich- rung ungünstiger Interaktions- und Kommu-
tigsten Regeln für das Verhalten des Arztes bei der nikationsstile, z. B. in Form von Rollenspielen.
Behandlung depressiver Patienten aufgeführt (Kiel- 4 Kognitive Umstrukturierung zum Erkennen,
holz 1981; Kielholz u. Adams 1991). Überprüfen und Korrigieren negativer und
verzerrter Selbst- und Fremdwahrnehmungen.
Tipps für die Praxis (Kielholz 1981, Kielholz 4 Erkennen von auslösenden und aufrechterhal-
u. Adams 1991) tenden Faktoren der Depression.
Der Arzt soll nicht: 4 Aufbau von Bewältigungs- und Problemlöse-
5 Depressive in Ferien- oder Erholungsaufent- fertigkeiten für zukünftige Krisen, z. B. Erken-
halte schicken nen des eigenen Leistungsanspruchs und da-
5 Depressive wichtige Entscheidungen fällen raus folgende mögliche Selbstüberforderung.
lassen
Tiefenpsychologische (psycho-
5 Den Patienten auffordern sich zusammen-
dynamische) Psychotherapie
zureißen
5 Behaupten, es gehe schon besser (wenn es Die Psychoanalyse geht davon aus, dass die Auslö-
nicht stimmt) sesituation für die Depression als eine Verdichtung
von aktuellen und vergangenen Konfliktkonstella-
Der Arzt soll: tionen zu sehen ist. Die bisher zur Verfügung ste-
5 Den Patienten und seine Krankheit akzep- henden Lösungsfähigkeiten und Ressourcen ange-
tieren sichts eines Verlusterlebnisses haben sich erschöpft.
12 5 Günstige Prognose der Krankheit betonen Daraus resultiert Hilflosigkeit und Ohnmacht. Auf-
5 Den Behandlungsplan erklären grund einer Abhängigkeitsproblematik werden ag-
5 Auf Nebenwirkungen von Medikamenten gressive Auseinandersetzungen vermieden und
hinweisen Wut und Ärger gegen die eigene Person im Sinne
5 Auf vorübergehende Stimmungsschwan- einer Selbstentwertung gerichtet.
kungen vorbereiten Hauptziel ist daher die Bearbeitung der Selbst-
5 Kurzfristige Therapieziele setzen, damit der wertproblematik durch Stärkung autonomer Ziele
Patient Erfolge erlebt des Patienten. Ein weiteres Ziel ist, den Patienten
von seinen hohen Ansprüchen und Idealvorstel-
lungen von sich selbst und anderen zu entlasten.

12.2.8 Psychotherapie Interpersonelle Therapie (IPT)


IPT ist eine strukturierte Therapie und umfasst in
Die Psychotherapie ist die wichtigste Säule in der der Regel 16 Sitzungen. Der Behandlungsfokus liegt
Behandlung der Depression, da insbesondere beim auf dem Zusammenhang zwischen Depression und
erstmaligen Auftreten einer Depression damit das aktuellen interpersonellen Konflikten, z. B. Tren-
Risiko weiterer depressiver Phasen vermindert wer- nung von vertrauten Personen, nicht stattgefundene
den kann. Trauerarbeit, Verlust einer gewohnten sozialen Rol-
le oder Vereinsamung.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
12.2 · Praktischer Teil
147 12
Andere nicht-medikamentöse Therapie- deutung, weil so der verborgene kommunikative
verfahren Gehalt der Symptome verständlicher werden kann:
4 Die Wachtherapie kann wegen ihrer raschen, Was macht die tiefe Kränkung des Patienten aus,
wenn auch immer nur kurz anhaltenden wer könnte der Adressat der verborgenen Botschaft
Wirkung eingesetzt werden. sein? Wenn es gelingt, den Patienten für solche Fra-
4 Die Indikation für eine Lichttherapie be- gen zu interessieren, dann ist bereits ein wertvoller
schränkt sich auf leichte bis mittelgradige therapeutischer Schritt aus der Einengung heraus
Episoden, insbesondere bei Erkrankungen mit getan.
saisonalem Muster.
4 Körperliches Training hat eine erwiesen anti- Arzt-Patient-Beziehung
depressive Wirkung für alle Schweregrade, ist Dass ein suizidaler Mensch sich verstanden fühlen
jedoch als alleinige Therapie nicht ausreichend. kann, ist paradox, denn er hat ja gerade jede Bezie-
4 Die elektrokonvulsive Therapie gilt nach wie hung zu anderen und zu sich selbst aufgekündigt. So
vor als Ultima-Ratio-Behandlung. ist die Aufnahme einer Beziehung schon ein Wider-
spruch zur Selbsttötungsabsicht. Daher ist die the-
rapeutische Technik, einen Menschen »vor dem
12.2.9 Suizidalität Absprung« so lange im Gespräch zu halten, bis die
Suizidabsicht langsam abklingt.
Abschätzung der Suizidalität Dabei ist entscheidend, den Unterschied zwi-
Beim depressiven, Selbstmord gefährdeten Men- schen den Anteilen, die leben wollen und denen die
schen kommt es zu einer Einengung des Gefühls- sterben wollen, zu sehen (. Abb. 12.9). Bei jedem
lebens, der zwischenmenschlichen Beziehungen zum Suizid entschlossenen Menschen finden sich
und seiner Handlungsmöglichkeiten. diese beiden Seiten – ebenso wie beim Arzt selbst.
Diese Einengung macht sich in der Regel auch Das Auseinanderhalten und gleichwertige Ernst-
nach außen hin bemerkbar. Nahestehenden Men- nehmen beider Seiten gemeinsam durchzustehen,
schen fällt eine Veränderung im Verhalten auf, die
Betreffenden sind immer verschlossener und zie-
hen sich zunehmend zurück, oder sie machen ent-
sprechende Andeutungen.
Typische Patientenäußerungen sind:
4 »Da nehme ich mir lieber einen Strick.«
4 »Das hat ja eh keinen Sinn mehr!«
4 »Ich weiß sowieso nicht, was ich daheim noch
machen soll … mir bleibt nur noch eins …«
4 »Es wäre besser, ich wäre an dem Herzinfarkt
gestorben.«

Jeder Hinweis in dieser Hinsicht muss unbedingt


ernst genommen werden. Die Möglichkeit eines of-
fenen Gesprächs über dieses schwierige und hoch-
ambivalente Thema, das mit vielen Schuld- und
Schamgefühlen besetzt ist, stellt für den Patienten
eine Entlastung dar. Zur Orientierung für ein sol-
ches, offen und vorurteilsfrei geführtes Gespräch
dient der Fragenkatalog zur Abschätzung der Suizi-
dalität von Poldinger (1982) (s. 7 Abschn. 12.2.1).
Ein verständnisvolles Eingehen auf die oft ver- . Abb. 12.9 Cartoon: »Gibt es etwas ...?« (Zeichnung: Gisela
steckte aggressive Thematik ist von besonderer Be- Mehren)

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
148 Kapitel 12 · Depression und Suizidalität

ist zwar für den Arzt und den Patienten schmerzhaft


und macht es anstrengend, ist aber auch schon wie- den sie es in sich aufnehmen und es wird
der ein Stück Leben. Im weiteren Verlauf des Ge- ihnen wichtig sein, dass ihr Arzt dieses
spräches kann sich der Arzt dann mit den lebensbe- Vertrauen hat und so sicher darum weiß.
jahenden Anteilen des Patienten verbünden. 7. Entscheidend wichtig ist die seelische Bin-
dung an eine zuverlässige Person. Das
kann auch der Hausarzt sein. Wesentlich
10 Regeln für den Umgang mit Suizid- ist, durch Befragen wichtige Beziehungs-
gefährdeten personen zu eruieren. Anschließend fra-
1. Wer von Selbstmord redet, muss als gen Sie den Patienten, ob er versprechen
selbstmordgefährdet angesehen werden. kann, bis zum nächsten vereinbarten Ter-
Selbstmordideen dürfen niemals unter- min sich nichts anzutun. Es wird den Pati-
schätzt werden. enten auf jeden Fall erleichtern, wenn Sie
2. Wenn uns jemand mit gramerfülltem und ihm versichern können, dass er Sie rund
versteinertem Gesicht, mit gebeugter Hal- um die Uhr anrufen kann, wenn die Sui-
tung und verlangsamter Psychomotorik zidgedanken wieder zunehmen.
versichert, es gehe ihm gut, dann sollten 8. Wenn ein Patient Zeit und Ort für seinen
wir daran denken, dass hinter dieser Lüge geplanten Suizid angibt – also »ich werde
geheime Suizidabsichten stehen. mich am Dienstag an einem Baum erhän-
3. Liegt eine Depression vor, verlassen Sie gen« – dann gehört er wegen seiner Suizi-
sich nicht nur auf Ihre Intuition in Bezug dalität in eine Klinik. Das ist ein Grund zur
auf die Suizidalität. Fragen Sie den Kran- Zwangseinweisung.
ken ohne viel Umschweife, ob er schon 9. Daneben gilt grundsätzlich: Wenn Sie sich
einmal daran gedacht hat, sich das Leben überfordert fühlen, überweisen Sie den
zu nehmen. Eine solche direkte Frage Patienten an einen Psychiater oder Psy-
macht dem Patienten seine Suizidgedan- chotherapeuten oder an die Ambulanz ei-
ken evtl. viel früher bewusst und damit ner psychiatrischen Klinik.
12 bearbeitbar, als es sonst der Fall gewesen 10. Bei Jugendlichen mit Suizidphantasien:
wäre. Hier ist es gut, den Hintergrund dieser
4. Ein verständnisvolles Eingehen auf die ag- Patienten zu kennen. Die häufigsten Ursa-
gressive Thematik ist von besonderer Be- chen sind: Zurücksetzung und Vernachläs-
deutung. Wer hat durch was den Patien- sigung in der Familie oder unter Gleichalt-
ten gekränkt? An wen richten sich die Sui- rigen, Verunsicherung und Vereinsamung
zidphantasien? Der Patient sollte verste- in »broken home«-Situationen, unglückli-
hen, dass Selbstmordimpulse meistens che Liebe, Schul- und Examensängste.
immer jemand anderem gelten.
5. Das Ausmaß der Suizidgefährdung korre-
liert nicht notwendig mit der Schwere der Der Nicht-Suizid-Vertrag
Depression. Patienten sind vor allem bei Das ärztlich-therapeutische Gespräch sollte am bes-
der Lockerung der depressiven Versteine- ten mündlich oder schriftlich mit zeitlichem Rah-
rung gefährdet. Der Antrieb nimmt wieder men bis zur nächsten Verlaufskontrolle mit einem
zu und erst dann ist überhaupt die Ener- Nicht-Suizid-Vertrag abgeschlossen werden. Vor-
gie da, sich etwas anzutun. aussetzung dazu ist, dass der Patient absprachefähig
6. Man kann dem Patienten versichern, dass ist. Der Arzt kann dies anhand des vorangegange-
man weiß: jede Depression klingt wieder nen Gespräches beurteilen, z. B. wie bereitwillig
ab. Vordergründig werden die Patienten spricht der Patient über seine Selbsttötungsabsich-
das heftig bezweifeln, untergründig wer- ten und die dahinter stehenden Lebensprobleme?
Gelingt es dem Arzt, einen emotionalen Kontakt

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
12.2 · Praktischer Teil
149 12
zum Patienten herzustellen? Ist der Patient kognitiv handelt mit dem Patienten über einen neuen Ver-
in der Lage, seine Situation zu reflektieren? trag. Das Ergebnis der Einschätzung kann in der
Nicht-Suizid-Verträge können keine Suizidali- Patientenakte oder auf der Karteikarte festgehalten
tät verhindern und haben keinen juristischen Wert. werden, z. B. Patient verneint gegenwärtig jede Sui-
Sie dienen dazu, das therapeutische Arbeitsbündnis zidabsicht.
zwischen Arzt und Patient zu vertiefen und sind bei
nicht eindeutiger Haltung des Patienten ein deutli- Notfallplan
cher Hinweis für weiter bestehende Suizidalität. Der Notfallplan hat die Funktion, Alternativen zur
Selbsttötung im Falle von unerträglichen Suizidge-
Beispiel für Formulierung eines danken festzulegen. Er kann folgendermaßen for-
Nicht-Suizid-Vertrags muliert sein:
Arzt: »Ich möchte Sie bitten, mir zunächst Bei unerträglichen inneren Spannungen und
mündlich und dann schriftlich zu versichern, Selbsttötungsgedanken wende ich mich an …
dass Sie sich nichts antun. Ich möchte Sie bit- 4 meine Freundin Erika,
ten, folgenden Satz laut zu sagen und mich da- 4 meinen Hausarzt, Herrn Dr. Schmidt,
bei anzuschauen: Ich versichere, dass ich mich 4 meinen Psychotherapeuten, Herrn Dr. Franz,
weder absichtlich noch durch Fahrlässigkeit tö- 4 an die Notfallambulanz der Psychiatrischen
ten werde, egal was passiert und gleich wie ich Klinik,
mich fühle. Wenn ich Gedanken an den Tod 4 an die Telefonseelsorge.
habe, werde ich mich an die Notfallambulanz
der Psychiatrischen Klinik wenden. Ich ver- Ich entlaste mich, indem ich meinem Gesprächs-
pflichte mich, dies bis morgen früh um 8 Uhr partner mitteile, dass ich mich in einem unerträgli-
einzuhalten.« chen Zustand befinde und ich Gedanken habe, mir
das Leben zu nehmen.
Bei Patienten, die sich in einer psychotherapeu-
Wenn der Patient diesen Satz ausgesprochen hat, tischen Behandlung befinden, wurden in der Regel
bekräftigt der Arzt per Handschlag und mit deutli- alternative Verhaltensweisen erarbeitet, um die in-
chem Blickkontakt den Vertrag. Wenn der Patient neren Spannungen abzubauen, z. B. Körperübun-
zögert, die Sätze auszusprechen, undeutlich spricht, gen, nahe Freunde aufsuchen, ein warmes Bad neh-
emotional nicht beteiligt ist und den Blickkontakt men. Der Patient kann dann ermutigt werden, die-
vermeidet, bittet der Arzt den Patienten, den Satz ses Alternativverhalten einzusetzen und sich an-
mit lauter Stimme und innerer Beteiligung zu wie- schließend, wenn die Gedanken sich das Leben zu
derholen und ihn dabei anzuschauen. Wenn dies nehmen, abgeklungen sind, zu belohnen, z. B. mit
dem Patienten nicht gelingt, besteht trotz verbal an- einem guten Essen mit Freunden, gemeinsamer
derer Versicherungen eine deutliche Suizidgefahr Kinobesuch oder einem Ausflug im Park.
und eine Indikation für die Klinikeinweisung.
Als zusätzliche Sicherheit kann der Arzt den Einbeziehung von Angehörigen
Vertrag schriftlich abfassen, vom Patienten unter- Prognostisch ist die seelische Bindung an eine zu-
schreiben lassen und auch ihm ein Exemplar aus- verlässige Person von entscheidender Bedeutung.
händigen. Die Formulierung des Vertrages ist ab- Nach der Klärung der gesamten Situation und aller
hängig von der aktuellen Situation des Patienten offenen Fragen muss mit dem Patienten ganz kon-
und sollte der Sprache des Patienten angepasst sein. kret besprochen werden, wie es an eben diesem Tag
Der Zeitrahmen, in dem der Nicht-Suizid-Ver- und in der darauffolgenden Zeit für ihn weitergeht,
trag gilt, wird mit dem Patienten individuell ausge- wer zu seiner Unterstützung bereitsteht und wie er
handelt und kann von mehreren Stunden bis zu sich mit dem Arzt in Verbindung setzen kann, falls
mehreren Tagen reichen. Bei jedem zwischenzeitli- der Druck in ihm wieder zunimmt. Eine direkte
chen Kontakt und vor Ablauf des Vertrages schätzt Einbeziehung z. B. von Familienmitgliedern oder
der Arzt erneut die akute Suizidalität ein und ver- anderen Vertrauenspersonen ins Gespräch (wenn

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
150 Kapitel 12 · Depression und Suizidalität

der Patient dem zustimmt) und eine engmaschige Häufige Fehler


Vereinbarung weiterer Gesprächstermine sind 4 Der Arzt will Signale des Patienten nicht wahr-
wertvolle Hilfsmittel. nehmen – bloß keine schlafenden Hunde we-
cken! Wann immer dem Arzt die Idee kommt,
Klinikeinweisung dass der Patient daran denken könnte, sich das
Auf der anderen Seite ist immer dann, wenn es nicht Leben zu nehmen, muss er ihn danach fragen.
gelingt, zu dem Patienten einen in dieser Art offe- Es ist eine verbreitete, aber irrige Meinung,
nen und vertrauensvollen Kontakt zu etablieren, dass eine solche Frage den Patienten erst auf
erhöhte Wachsamkeit geboten. Wenn Widersprü- den Gedanken bringen könnte. Es ist mit
che in Äußerungen und Verhalten des Patienten Sicherheit davon auszugehen, dass dieser sich
nicht verständlich werden, ein Gespräch darüber bereits längst damit beschäftigt hat, wenn dem
nicht gelingt und die Unsicherheit weiter zunimmt, Arzt diese Idee kommt.
dann sind die Möglichkeiten des einzelnen Arztes 4 Kein Trost nach dem Motto: »Denken Sie doch
rasch erschöpft. Dann ist entweder die umgehende daran, wie schön das Leben sein kann …
Konsultation eines Facharztes oder die direkte Kli- denken Sie nicht an Ihre Frau, an Ihre Kin-
nikeinweisung erforderlich. der?« Ein solcher Trost oder eine vielleicht gut
Wenn etwa ein Patient gramerfüllt und mit gemeinte Ermutigung wird von einem ver-
versteinertem Gesicht, gebeugter Haltung und zweifelten Menschen eher als Verspottung
ansonsten wortkarg versichert, es gehe ihm gut, empfunden.
dann ist allerhöchste Vorsicht angebracht. Gerade 4 Um sich selbst zu beruhigen, fängt der Arzt an
bei schweren Depressionen besteht ein erhöhtes auf den Patienten einzureden, bis dieser Ein-
Suizidrisiko dann, wenn die depressive Versteine- sicht zeigt, »wieder vernünftig ist«, das Positive
rung und Hemmung sich löst, ohne dass bereits der sieht, dem Arzt zuliebe und verhindert so, dass
depressiv-hoffnungslose Affekt gebessert ist. Der der Patient seine Verzweiflung mitteilt.
Antrieb nimmt wieder zu und nun ist überhaupt 4 Der Arzt trifft aktiv Maßnahmen, ohne den
erst die Energie da, sich etwas anzutun. Ähnliches Patienten einzubeziehen, z. B. Einsetzen von
gilt für den Fall, dass ein zuvor von seiner Depres- Medikamenten, Überweisung zum Psychiater,
12 sion extrem gequälter Patient plötzlich wie vom ohne Rücksicht darauf, ob dies von dem
Druck befreit zu sein scheint, ohne dass dies für Patienten gewünscht wird oder ob der Patient
den Arzt emotional nachvollziehbar ist. Möglicher- das überhaupt aushalten kann. Damit begüns-
weise hat er sich jetzt zum Suizid entschlossen, tigt er die Selbsttötungen, die gerade zu Beginn
nachdem er zuvor durch die tiefe Ambivalenz so therapeutischer Aktivitäten besonders häufig
gequält war. sind. Der Arzt macht sich durch sein Handeln
Wenn es nicht gelingt einen Kontakt zum Pa- zum Herrn über Leben und Tod, ohne den
tienten herzustellen oder zu viele Fragen offen blei- Patienten selbst zu beteiligen.
ben, dann ist eine Klinikeinweisung zum Schutz des 4 Der Arzt lässt sich von der Angst und Panik
Patienten unumgänglich. Wenn der Patient dem des Patienten zu sehr anstecken und ist nicht
nicht zustimmt, dann sollte der Arzt, der seine In- mehr handlungsfähig. Wenn der Arzt dies
dikation zuvor sicher gestellt hat, auf seiner Ent- merkt, kann er sich innerlich distanzieren, in-
scheidung bestehen und die Einweisung auch gegen dem er tief ein- und ausatmet, bis 10 zählt und
den Willen des Patienten veranlassen. Der Patient sein emotionales Engagement zurückfährt.
muss ab diesem Zeitpunkt von einer Pflegekraft
überwacht werden. Die gesetzlichen Bestimmun-
gen der Bundesländer liefern die dafür nötige
Grundlage bei unmittelbarer Selbstgefährdung, die
auf andere Weise nicht abgewendet werden kann.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
Literatur
151 12
Literatur

Zitierte Literatur
Arroll B, Khin N, Kerse N (2003) Screening for depression in
primary care with two verbally asked questions: cross
sectional study. BMJ 327: 1144–1146
Berger M, Falkai P, Maier W (2012) Arbeitswelt und psychische
Belastungen: Burn-out ist keine Krankheit. Dtsch Arztebl
109 (14): A 700–702
Holmberg G (1984) Der Depressive und seine Familie. In:
Kielholz P, Adams C (Hrsg): Vermeidbare Fehler in
Diagnostik und Therapie der Depression. Deutscher
Ärzteverlag, Köln
Jacobi F, Höfler M, Strehle J et al. (2014) Psychische Störungen
in der Allgemeinbevölkerung. Studie zur Gesundheit
Erwachsener in Deutschland und ihr Zusatzmodul Psy-
chische Gesundheit (DEGS1-MH). Nervenarzt 85 (1):
77–87
Kielholz P (1981) Der Allgemeinpraktiker und seine depressi-
ven Patienten. Huber, Stuttgart
Kielholz P, Adams C (1991) Vermeidbare Fehler in der Diagnos-
tik und Therapie der Depression. Deutscher Ärzteverlag,
Köln
Loewe B, Kroenke K, Grafe K (2005) Detecting and monitoring
depression with a two-item questionnaire (PHQ). J Psy-
chosom Res 2(58): 163–171
Poldinger W (1982) Suizidprophylaxe bei depressiven Syn-
dromen. Neuropsychiatr Clin 1: 87–97
Wöller W, Tress W, Kruse J (2004) Depression und Suizidalität.
In: Tress W, Kruse J, Ott J (Hrsg.) Psychosomatische Grund-
versorgung. 3. überarbeitete und erweiterte Aufl. Schat-
tauer, Stuttgart

Weiterführende Literatur
AWMF Leitlinien Depression http://www.awmf.org/leitlinien/
detail/ll/nvl-005.html (Zugegriffen Juni 2015)
Berger M et al. (2014) Affektive Störungen. In: Berger M (Hrsg.)
Psychische Erkrankungen Klinik und Therapie, 5. Aufl.
Urban & Fischer, München S 359–428
Hautzinger M (2009) Depression. In: Margraf M & Schneider S
(Hrsg) Lehrbuch der Verhaltenstherapie Band II. Springer,
Heidelberg
Rudolf G (2013) Depressiver Grundkonflikt und seine Verar-
beitungen. In: Rudolf G, Henningsen P (Hrsg) Psycho-
therapeutische Medizin und Psychosomatik – ein ein-
führendes Lehrbuch auf psychodynamischer Grundlage.
Thieme, Stuttgart S 123–145
Senf W, Broda M (2011) Praxis der Psychotherapie. Thieme,
Stuttgart

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
153 13

Krebserkrankung
Kurt Fritzsche, Werner Geigges

13.1 Theoretischer Teil – 154


13.1.1 Psychosoziale Faktoren – 154
13.1.2 Diagnose Krebs – 154
13.1.3 Problem Fatigue – 157

13.2 Praktischer Teil – 157


13.2.1 Das Informations- und Aufklärungsgespräch – 157
13.2.2 Behandlungsstufen – 162
13.2.3 Psychotherapie bei Krebs – 163
13.2.4 Sterbebegleitung – 164

Literatur – 164

K. Fritzsche et al. (Hrsg.), Psychosomatische Grundversorgung,


DOI 10.1007/978-3-662-47744-1_13, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
154 Kapitel 13 · Krebserkrankung

13.1 Theoretischer Teil de Einflüsse bei der Krebsentstehung sind nicht


mehr im Gleichgewicht. Krebserregende Substan-
13.1.1 Psychosoziale Faktoren zen, wie sie z. B. im Rauch von Zigaretten enthalten
sind, oder chemische Stoffe, eine genetische Dispo-
Bis in die 50er-Jahre überlebten nur wenige Patien- sition, Strahlen oder Viren können leichter ihre
ten eine Krebserkrankung. Unter den Folgen der schädigende Wirkung entfalten. Bei Vorhandensein
kombinierten Chemo- und Radiotherapie und dif- von krebserregenden Umweltbedingungen und
ferenzierter chirurgischer Verfahren nahmen die psychosozialen Belastungsfaktoren steigt das Krebs-
Todesraten bei Krebserkrankungen deutlich ab, risiko (s.. Abb. 13.1).
Krebs wurde zu einer chronischen Erkrankung. Für den Nachweis eines Zusammenhangs zwi-
Gleichzeitig findet sich dadurch eine Zunahme von schen psychosozialen Belastungen und der Entste-
Krankheitslast, d. h. von Bewältigungsproblemen. hung einer Krebserkrankung sind Studien mit sehr
Fragen der Lebensqualität und der emotionalen Be- großen Fallzahlen über lange Zeiträume notwendig.
dürfnisse der Patienten rücken mehr in den Mittel- Die bisher vorliegenden Studien lassen keine klare
punkt. Die Psychoonkologie beschäftigt sich mit Schlussfolgerung in der einen oder anderen Rich-
dem Einfluss von psychischen und sozialen Fakto- tung zu.
ren auf Krankheitsentstehung, Krankheitsverlauf Anders ist es bei den Untersuchungen zum Ver-
und Krankheitsbewältigung und untersucht die lauf und der Bewältigung einer Krebserkrankung.
Wirksamkeit psychotherapeutischer Behandlungs- In der Mehrzahl der Studien hatten psychosoziale
verfahren zur Verbesserung des emotionalen Befin- Belastungen einen negativen Einfluss auf die Rezi-
dens und der Lebensqualität der Patienten. divrate und die Mortalität.
Soweit psychosoziale Faktoren bei der Krebsent-
stehung eine Rolle spielen, handelt es sich dabei um
das Zusammenwirken von gesundheitsschädigen- 13.1.2 Diagnose Krebs
dem Verhalten (Rauchen, Alkohol, Ernährung) und
psychosozialen Belastungen. Fallbeispiel
Überforderung, Bindungsverlust und eine dar- Der 55-jährige Herr M. wird zur Abklärung eines the-
aus resultierende depressive Symptomatik führen rapieresistenten Hustens stationär aufgenommen.
zur Aktivierung der Hypophysen-Nebennierenrin- Die Anamnese ergibt, dass Herr M. seit seinem 18. Le-
13 den-Achse und der damit verbundenen vermehrten bensjahr bis vor 5 Jahren durchschnittlich 20 Zigaret-
Ausschüttung von Kortisol. Kortisol verringert in ten pro Tag geraucht hat. Er ist verheiratet (zwei er-
seiner entzündungshemmenden Funktion die Gen- wachsene Kinder), von Beruf Elektroinstallateur und
regulation von Zytokinen (Tumornekrosefaktor, arbeitet als Angestellter in einem kleinen mittelstän-
Interleukin 1, 2 und 6) und die Zellaktivität der T- dischen Betrieb.
Lymphozyten als auch der natürlichen Killerzellen Röntgen-Thorax und Thorax-CT zeigen eine Raumfor-
(NK). Die Abwehrfunktion des Immunsystems bei derung, die bronchoskopische Biopsie ergibt ein
der Entstehung und Beseitigung von Tumorzellen kleinzelliges Bronchialkarzinom.
ist damit eingeschränkt. Schützende und schädigen-

Karzinogene Endokrinum

Psychosoziale
Strahlen Belastungen
Krebs Immunsystem
z. B.
Depression

Viren Genetische Faktoren

. Abb. 13.1 Multifaktorielle Karzinogenese. (Mod. nach Hürny 2003; mit freundlicher Genehmigung)

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
13.1 · Theoretischer Teil
155 13

. Tab. 13.1 Im Verlauf einer Krebserkrankung auftretende psychische Reaktionen und Aufgaben

Erkrankungsphase Psychische Reaktionen Vom Patienten zu bewältigende Aufgaben

Diagnosemitteilung Schock, Angst Akzeptieren der Diagnose, Ertragen von heftigen


Ungläubigkeit, Verzweiflung, Depression Emotionen
Wut Entscheidungsfindung bzgl. der Behandlung
Unterrichtung des sozialen Umfelds

Primäre Behand- Angst, Depression, Kontroll- und Akzeptieren der Erkrankung und Behandlung
lungsphase Autonomieverlust Ertragen der Behandlungsnebenwirkungen
Verlust der körperlichen Integrität (Übelkeit, Erbrechen, Haarausfall, körperliche
Einsamkeit, Verlust von Intimität und Erschöpfung, Fatigue)
sexuellen Kontakten Aufbau von tragfähigen Beziehungen zum
Behandlungsteam
Wiedererlangung des psychischen und körper-
lichen Selbstwertgefühls

Remission Erleichterung, Dankbarkeit Rückkehr in den Alltag, Leben mit Unsicherheit


Angst vor Rezidiven und Metastasen, Entwicklung neuer Lebensperspektiven, beruf-
verstärkte Wahrnehmung des Körpers licher Wiedereinstieg

Rezidiv Schock, Angst, Depression Akzeptieren der Zukunftsunsicherheit


Verleugnung Akzeptieren des Fortschreitens der Erkrankung
Verlust der Hoffnung und des Vertrauens und der Wahrscheinlichkeit des Todes
Erhöhte Verletzbarkeit Anpassung der Lebensperspektive an die neue
Sinnsuche, Schuldgefühle Situation

Terminales Stadium Todesangst, Depression, Demoralisierung Auseinandersetzung mit dem Tod und dem
Verleugnung eigenen Sterben, Betrauern des Verlustes
Kontrollverlust Akzeptieren des eigenen Todes
Angst vor Einsamkeit Akzeptieren des körperlichen Verfalls und der
Zunehmende Abhängigkeit von Ärzten Prognose
und Pflegeteam Regelung der familiären und rechtlichen Angele-
Rückzug genheiten, Abschied nehmen von Familie und
Wut und Ärger Freunden
Rückblick auf das eigene Leben, Auseinanderset-
zung mit spirituellen Themen

Psychische Reaktionen Krankheitsbewältigung (Coping)


nach der Diagnosestellung Jedes Verhalten, das vom Patienten eingesetzt wird,
Vor allem in den ersten Wochen nach Diagnosemit- um bereits bestehende oder erwartete krankheits-
teilung zeigen 30–50 % der Patienten Symptome bedingte Belastungen zu überwinden, zu lindern
einer psychischen Störung (Mehnert et al. 2014). oder zu akzeptieren, ist ein Versuch der Krankheits-
Meistens handelt es sich um eine akute Belastungs- verarbeitung. Gefühle der Bedrohung, der Selbst-
reaktion mit Angst und depressiver Symptomatik wertbeeinträchtigung und des Kontrollverlustes
(ICD-10: F 43.0, ICD-10: F 43.2). werden versucht in aushaltbaren Grenzen zu halten.
Eine Zusammenfassung der psychischen Reak- Im englischen Sprachraum wird dafür das Wort
tionen, die im Laufe einer Tumorerkrankung auf- »coping« verwendet.
treten und der Aufgaben, die sich dem Patienten Es finden sich Copingstrategien auf der kogniti-
damit stellen, zeigt . Tab. 13.1. ve, emotionalen und Verhaltensebene:
4 Kognitive Verarbeitungsweisen wie z. B. Erklä-
rungsversuche für die Krankheit zu finden, die
Diagnose nicht wahr haben wollen, die Selbst-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
156 Kapitel 13 · Krebserkrankung

ermutigung oder auch andere für die Erkran- um die Erkrankung zu bewältigen. Diese »subjekti-
kung verantwortlich zu machen. ven Krankheitstheorien« sind oft widersprüchlich
4 Emotionen wie gereizt reagieren, grübeln, und stehen meist nicht im Einklang mit den wissen-
hadern, Galgenhumor und andere Stim- schaftlichen Kenntnissen. Bei der Ursachenvorstel-
mungen, Affekte und Emotionen. lung spielen psychische Faktoren eine große Rolle:
4 Die Verarbeitung durch Handlungen wie z. B. In einer deutschen Befragung mit hauptsächlich
zupacken, nach vorne schauen, sich ablenken, Mammakarzinom Patientinnen nannten 80 % die
genau den ärztlichen Rat befolgen oder sozia- Umwelt, 70 % Stress, 68 % seelische Probleme, 58 %
ler Rückzug. das Schicksal und 54 % familiäre Belastungen als
Die Art der Krankheitsverarbeitung hat ent- Ursachen ihrer Brustkrebserkrankung (Riehl-Emde
scheidenden Einfluss auf das emotionale Befinden et al. 1989).
und die Lebensqualität. Patienten, die eine psychische Ursachenvorstel-
Als günstig haben sich erwiesen: lung entwickeln und sich selbst damit eine Mit-
4 eine aktive Auseinandersetzung mit der schuld an der Entstehung des Tumors zuschreiben,
Erkrankung, sind emotional stärker belastet, depressiver und
4 Sinnsuche und Spiritualität, weniger hoffnungsvoll (Faller u. Schilling 1996;
4 gute zwischenmenschliche Beziehungen und Wolf et al. 1995).
soziale Unterstützung, Ca. die Hälfte aller Patienten sieht in ihrer
4 Vertrauen in die Ärzte. Krebserkrankung auch eine Herausforderung bzw.
ein Drittel betrachtet die Erkrankung als eine wert-
Ungünstige Bewältigungsformen sind: volle Erfahrung (Büssing u. Fischer 2009). Nur we-
4 passive Hinnahme, Resignation, nige sahen die Erkrankung als persönliches Versa-
4 sozialer Rückzug und Isolation, gen und als Strafe (3–5 %).
4 Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit.
Krebserkrankung und Partnerschaft
Krankheitsbewältigung ist ein hochindividuelles Eine Krebserkrankung bedeutet einen Einbruch in
Geschehen (. Abb. 13.2), bei dem je nach spezifi- das gesamte System zwischenmenschlicher Bezie-
scher Situation und einem lebensgeschichtlich de- hungen. Die Diagnose Krebs führt neben der indi-
terminierten individuellen Bewertungsprozess Be- viduellen Belastung häufig auch zu einer Störung
13 wältigungsressourcen aktiviert werden (Tschuschke der Partner- und Familiensituation. Negative Aus-
2011). wirkungen der Krebserkrankung sind Schwierigkei-
ten über Gefühle, Ängste und Probleme in der Zu-
Subjektive Krankheitstheorien kunft und vor allem nach dem möglichen Tod zu
Angesichts der existentiellen Bedrohung durch die reden. Als positive Auswirkungen werden stärkere
Diagnose einer Krebserkrankung entwickeln Pa- familiäre Bindung, größere Zufriedenheit mit der
tienten eigene Vorstellungen zur Ursache der Er- Familie insgesamt und positive Veränderungen in
krankung, ihrem Verlauf und was sie tun können, den Beziehungen zu Geschwistern und Kindern ge-

Zur Verfügung stehende


Abwehr- und Emotionen
Bewältigungsmechanismen Gedanken

Belastung durch
Patient Reaktion
Diagnose Krebs

Subjektive Bewertung Verhalten


Körper
. Abb. 13.2 Individuelle Verarbeitung der Diagnose Krebs

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
13.2 · Praktischer Teil
157 13
nannt. Die Lust auf Sexualität und die sexuelle Ak- gen, Aggressionen gegenüber anderen Kindern,
tivität nimmt bei allen Krebsformen ab. Hauptpro- aber auch gegen andere erwachsene Bezugsperso-
bleme sind Orgasmusschwierigkeiten, Lustlosig- nen, um den erkrankten Elternteil zu schonen. Wei-
keit, Schmerzen und Inkontinenz (Kornblith 1998). terhin treten auf: somatoforme Symptome wie
Andererseits ist die Familie eine zentrale Bewäl- Kopf- und Bauchschmerzen, Konzentrationsstö-
tigungsressource bei Krebserkrankungen. Bezie- rungen, Lernschwierigkeiten und Leistungsabfall in
hungsressourcen für eine erfolgreiche Krankheits- der Schule, sozialer Rückzug mit Vernachlässigung
bewältigung sind: von Freunden und Hobbies sowie äußerlicher Ver-
4 eine offene und unterstützende Kommuni- wahrlosung, Parentifizierung mit Übernahme von
kation, Verantwortung für andere Familienmitglieder und
4 positive Bewältigungserfahrungen in früheren für den Haushalt (Heußner 2009).
Krisen,
4 starke emotionale Verbundenheit (Kohäsion),
4 Bereitschaft eigene Interessen zugunsten von 13.1.3 Problem Fatigue
Familienbelangen zurückzustellen,
4 Bereitschaft veränderte Rollenverteilungen zu Fatigue äußert sich in starker Müdigkeit und Er-
akzeptieren (Adaptabilität), schöpfung, vermindertem Leistungsvermögen und
4 gemeinsame angenehme partnerschaftliche Muskelschwäche. Betroffen sind insbesondere Pa-
Aktivitäten und tienten nach Bestrahlung oder Chemotherapie. Ca.
4 ein tragfähiges soziales Netzwerk. 30–40 % der Patienten leiden auch noch nach Ab-
schluss der Behandlungsphase unter chronischer
In Zukunft wird durch die umfangreiche Möglich- Fatigue.
keit, prädiktiver Diagnostik auch im Bereich onko- Auch wenn es Überschneidungen mit der de-
logischer Krankheitsrisiken mit dem zuverlässigen pressiven Symptomatik gibt, gilt Fatigue als eigen-
Nachweis von Genmutationsträgern und im Ange- ständiges Syndrom. Zugrunde liegt wahrscheinlich
bot von Biomarkern für Prädisposition, Krank- ein komplexes Wechselspiel zwischen Tumorer-
heitsverlauf und Therapiewirksamkeit das familiäre krankung, Chemo- und Radiotherapie, Tumoranä-
Bewältigungspotenzial zusätzlich herausgefordert: mie, weiteren Begleiterkrankungen, immunologi-
Wie werden solche genetischen Risiken und Prädis- schen Reaktionen des Immunsystems und psychi-
positionen in der Familie kommuniziert? Wer wird schen Verarbeitungsprozessen.
mit Kindern und Jugendlichen sprechen, die selber
Genmutationsträger sind, und zu welchem Zeit-
punkt? 13.2 Praktischer Teil

Krebskranke Eltern 13.2.1 Das Informations-


Die Krebserkrankung eines Elternteils ist für ein und Aufklärungsgespräch
Kind ein äußerst einschneidendes Erlebnis.
Ca. 200.000 Kinder sind in Deutschland jährlich Das Informations- und Aufklärungsgespräch steht
davon betroffen. Klinisch relevante psychische Auf- im Zentrum der psychosomatischen Grundversor-
fälligkeiten vor allem Depression und Angststörun- gung. Über 90 % aller Krebspatienten wünschen
gen sind bei diesen Kindern häufiger als in der Nor- über die Erkrankung und ihre Behandlungsmög-
malbevölkerung (Siegel et al. 1992). lichkeiten aufgeklärt zu werden. Wichtiger Bestand-
Jüngere Kinder reagieren oft mit Verhaltensän- teil des Aufklärungsgesprächs ist die emotionale
derungen, während Adoleszente sich cool und un- Unterstützung des Patienten und seiner Angehöri-
beteiligt zeigen (Flechtner et al. 2012). gen bei der Verarbeitung der Informationen.
Verhaltensänderung und Symptome von Kin-
dern umfassen je nach Alter: Daumenlutschen,
Trennungsängste, Bettnässen und Einschlafstörun-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
158 Kapitel 13 · Krebserkrankung

Fallbeispiel Fortsetzung Befund und die Behandlung in einfachen Worten er-


Die behandelnde Ärztin fragt den Patienten Herr M., klären muss. Eine Prognose möchte sie auf keinen
ob es in Ordnung sei, wenn seine Ehefrau am Fall mitteilen, da sie zum einen aus eigener Erfahrung
Gespräch teilnehmen würde und bittet nach seinem weiß, dass diese selten zutreffen, zum andern verhin-
Einverständnis den Patienten zusammen mit seiner dern möchte, dass dem Ehepaar M. die Hoffnung ver-
Ehefrau ins Arztzimmer, um ihnen die Befunde mit- loren geht.
zuteilen. Im Gespräch versucht die Stationsärztin, ohne Um-
Herr M. hat vor 5 Jahren das Rauchen aufgegeben, schweife die Befunde mitzuteilen und dabei sachlich,
weil er miterlebt hat, wie ein jüngerer Kollege und aber zugewandt zu bleiben. Sie versucht den ersten
Freund »aus heiterem Himmel« an Lungenkrebs er- Schock zu dämpfen, indem sie Vertrauen in die Be-
krankt und nach kurzer Zeit daran verstorben ist. Be- handlungsmöglichkeiten aufbaut. Sie vermeidet
sonders hat ihn belastet, dass der Kollege erstickt ist. Fremdwörter und erklärt dem Ehepaar M. insbeson-
Die stationäre Aufnahme und das Warten auf den Be- dere die Behandlungsmöglichkeiten und deren Wir-
fund machen Herrn M. große Angst, er möchte am kungsweise so genau wie möglich.
liebsten mit niemandem reden und weglaufen, er Herrn M. fällt es schwer, den Ausführungen der Ärztin
schläft sehr unruhig und wacht schweißgebadet auf. zu folgen. Teilweise fühlt er sich wie betäubt. Gegen
Er denkt immer häufiger an den verstorbenen Kolle- Ende des Gesprächs wagt er es aber doch, zu fragen,
gen und fragt sich, ob auch er Lungenkrebs hat und ob er jetzt sterben muss. Die Ärztin ist von der Direkt-
nun sterben muss. heit dieser Frage zunächst überrascht. Durch einfühl-
Auch Frau M. hat Angst, dass es sich um eine bösarti- sames Nachfragen erfährt sie von dem qualvollen
ge Erkrankung handeln könnte, lässt sich jedoch Tod des Arbeitskollegen und versteht den Hinter-
nichts anmerken, um ihren Mann nicht noch stärker grund der Frage. Einfühlsam geht sie auf die Ängste
zu verunsichern. Die Zeit seit der stationären Aufnah- des Patienten ein und versichert ihm, dass alles getan
me ihres Mannes war für sie sehr anstrengend, vor al- wird, um ihm zu helfen sowie Schmerzen und unnöti-
lem wegen der Spannung zwischen eigener Angst ges Leiden zu ersparen.
und Starksein für ihren Mann. Da das Ehepaar mit
dem Geld aus Herrn M.s Vollzeit- und Frau M.s Halb- Planung und Vorbereitung
tagstätigkeit gerade so auskommt, fragt sich Frau M., Die Mitteilung schlechter Nachrichten sollte nach
was wird, wenn ihr Mann im Krankenhaus bleiben Möglichkeit immer persönlich erfolgen. Beispiel:
13 muss. Als die Ärztin ihrem Mann mitteilt, dass es sich »Die Ergebnisse Ihrer Laboruntersuchung sind
um eine bösartige Geschwulst handelt, versucht sie zurück. Es wäre zu schwierig, Ihnen das alles am
schnell, ihre Fassung wiederzuerlangen. Sie stellt Fra- Telefon zu erklären, deshalb bitte ich Sie, vielleicht
gen nach den Behandlungsmöglichkeiten, um Zuver- auch zusammen mit Ihrer Frau, am späteren Nach-
sicht zu bekommen und ihren Mann und sich selbst mittag vorbeizukommen, damit wir darüber spre-
durch sachliche Informationen von der Angst abzu- chen können.«
lenken. Nach wie vor ist es ihr Ziel, ihren Mann nichts Obwohl diese Information scheinbar indifferent
von ihrer Angst spüren zu lassen. klingt, wird sie den Patienten beunruhigen. Daher
Die Stationsärztin ist, bevor sie das Ergebnis der Bi- ist es wichtig, den Termin für das Gespräch sobald
opsie gelesen hat, davon ausgegangen, dass es sich wie möglich zu vereinbaren und genügend Zeit ein-
eher um eine chronische Bronchitis handelt. Vor dem zuplanen.
Gespräch macht sie sich Gedanken, was genau sie
Herrn M. mitteilen möchte. Am liebsten möchte sie Ein ungestörter Gesprächsrahmen Das Arbeitszim-
den Befund so formulieren, dass Herr M. noch Hoff- mer des Arztes oder ein ähnlich geeigneter geschlos-
nung hat, d. h. die Möglichkeit der Radio- und Che- sener Raum ist notwendig. Gespräche auf dem Flur,
motherapie anbieten und ihm mitteilen, dass so die im Empfangsraum, in der Caféteria der Klinik, wo
Chance besteht, Begleitsymptome wie Schmerzen ein geschützter Rahmen nicht gewährleistet ist, sind
und Atemnot in den Griff zu bekommen. Sie verge- ungeeignet. Der Arzt sollte eine warme und herzli-
genwärtigt sich auch, dass sie dem Ehepaar M. den che Atmosphäre herstellen, sodass der Patient Ver-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
13.2 · Praktischer Teil
159 13
trauen hat und sich sicher fühlt. Dazu dienen eine möchten auf diese Weise den Patienten vor zusätzli-
freundliche Begrüßung mit Händedruck und Blick chen Belastungen schützen. In diesem Fall wird der
in die Augen, ruhige und gelassene Aufmerksam- Arzt die Absicht der Angehörigen wertschätzen,
keit, die Versicherung, dass der Patient bequem sitzt aber gemeinsam mit ihnen nach Wegen suchen, den
und die Vermeidung von Störungen, z. B. durch Te- Patienten aufzuklären, um keine langfristigen Ver-
lefon, Piepser oder medizinisches Personal. zögerungen bei der Diagnosemitteilung zu riskieren.
Die Patienten haben das Recht, selbst informiert zu
Aufnahmebereitschaft und -fähigkeit des Patienten werden und können dann immer noch entscheiden,
Vor Beginn des eigentlichen Aufklärungsgesprä- ob sie die Informationen annehmen möchten.
ches klärt der Arzt ab, ob der Patient überhaupt zum
Gespräch bereit und dazu fähig ist. Es gibt Patien- Vorbereitung des Arztes Der Patient wird in den
ten, die durch andere Ereignisse im privaten oder meisten Fällen über die Diagnose, die Prognose und
beruflichen Bereich so beansprucht und belastet die daraus folgende Behandlung Fragen stellen. Da-
sind, dass sie aktuell keine freien Kapazitäten für her sollte sich der Arzt vor dem Gespräch versi-
eine neue, ebenfalls extrem belastende Situation ha- chern, dass
ben. Wenn der Patient zu verstehen gibt, dass er im 4 die Untersuchungsergebnisse vollständig vor-
Moment nur begrenzt aufnahmefähig ist, aber den- liegen,
noch das Gespräch führen will, so sollte sich der 4 er sie verstanden hat und
Arzt nach dem Tempo und der Aufnahmefähigkeit 4 er weiß, wie er im Gespräch vorgehen möchte.
des Patienten richten. Der Arzt kann z. B. den Pa-
tienten ermutigen, noch den wichtigen Telefonan- Der Arzt sollte sich vorher informieren, ob es noch
ruf zu erledigen oder die Patientin auffordern, Angehörige oder Bezugspersonen gibt, von denen
nochmal nachzuprüfen, ob die Babysitterin auch der Patient sich wünscht, dass sie bei dem Gespräch
wirklich gekommen ist. Erst dann fragt der Arzt, ob anwesend sind. Von ärztlicher Seite sollte eine Be-
der Patient bereit ist, sich auf das Gespräch bzw. die zugsperson auf jeden Fall dabei sein, wenn der Pa-
Befundmitteilung zu konzentrieren. An diesem tient jung oder körperlich und geistig eingeschränkt
Punkt sollte der Arzt sehr auf emotionale Reaktio- ist. Auch bei psychisch labilen Patienten und bei
nen des Patienten achten. Entdeckt er z. B. beim Patienten, die schon im Vorfeld eine mögliche le-
Patienten eine Ängstlichkeit in Anbetracht einer bensbedrohende Erkrankung nicht wahrhaben wol-
erwarteten schlechten Nachricht oder eine starke len, sollte eine nahe Bezugsperson anwesend sein.
Anspannung und Unruhe bei dem Gedanken an Wenn der Patient vehement die Anwesenheit einer
mögliche Folgen der Diagnosen, greift er diese weiteren Person beim Erstgespräch ablehnt, sollte
Emotionen im Gespräch auf (s. 7 Abschn. 5.4 zu das akzeptiert werden und versucht werden, beim
Umgang mit Emotionen). Folgegespräch im Vorfeld ein gemeinsames Ge-
Cave: Bei Patienten, die gerade einen Herzin- spräch zu arrangieren.
farkt erlitten haben oder psychisch sehr labil sind,
z. B. Selbstmordabsichten haben, sollte das Aufklä- Gesprächsverlauf
rungsgespräch zu einem späteren Zeitpunkt statt- jGesprächsbeginn
finden. Im ersten Schritt befragt der Arzt das Vorwissen des
Selten kommt es vor, dass die Patienten aus kör- Patienten und sein subjektives Krankheitsver-
perlichen oder seelischen Einschränkungen nicht in ständnis. Mit offenen Fragen eruiert er, was der
der Lage sind, die Informationen zu verstehen. Patient schon über seine Krankheit weiß, welche
Wenn der Arzt diesen Eindruck hat, sollte er mit Vorstellungen er von der Prognose und von der Be-
Einverständnis des Patienten andere nahe Bezugs- handlung hat:
personen oder Verantwortliche informieren. »Bevor ich anfange, möchte ich gerne von Ihnen
erfahren, was Sie schon über Ihre Erkrankung wis-
Angehörige bitten den Arzt, den Patienten nicht über sen und welche Gedanken Sie sich dazu gemacht
seine Diagnose aufzuklären Die Angehörigen haben.«

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
160 Kapitel 13 · Krebserkrankung

Schlechte Nachrichten treffen selten auf einen


Patienten, der absolut keine eigenen Vorstellungen, 5 Die Kunst der Informationsvermittlung be-
Erklärungskonzepte, Hoffnungen und Erwartun- steht darin, vor dem Gespräch zu entschei-
gen hat. Beispiel: den, welche Informationen der Patient aus
Ein Patient, der selber schwarze Pigmentflecken Sicht des Arztes unbedingt benötigt und
auf seiner Haut entdeckt hat, ist bei der Mitteilung die Vermittlung der übrigen Informationen
des Biopsiebefundes wahrscheinlich schon darauf an dem Befinden und den Informationsbe-
eingestellt, dass es sich um ein Malignom handeln dürfnissen des Patienten auszurichten.
könnte.

jDiagnosemitteilung jWeiterer Verlauf


Der Arzt sollte dann mit einem einleitenden Satz Im folgenden Teil folgt der Arzt der Bereitschaft des
auf die zu übermittelnde Nachricht überleiten: Patienten, mehr über den Befund oder das Ereignis
»Ich habe Ihnen leider eine schlechte Nachricht wissen zu wollen. Er lässt den Patienten Fragen stel-
mitzuteilen.« len und achtet vor allem auf die emotionale Beteili-
Dieser Einstieg schwächt den Schock der Nach- gung.
richt etwas ab und erlaubt dem Patienten, sich auf
die folgende Mitteilung besser einzustellen. Der Emotionale Reaktionen Bei starker, offener emotio-
Arzt unterrichtet dann den Patienten mit direkten naler Beteiligung des Patienten oder bei vermuteter
und klaren Worten in kurzen Sätzen über den Be- starker emotionaler Belastung setzt der Arzt Ge-
fund. sprächstechniken ein, die offene oder vermutete
Gefühle widerspiegeln:
Exkurs: Darf ich das Wort »Krebs« verwenden? Hier- »Das macht Sie sehr bedrückt und ratlos.«
zu gibt es keine einheitliche Meinung. Manche Ärz- »Ich habe den Eindruck, dass Sie verärgert sind,
te verwenden vom ersten Moment an das Wort dass man Ihnen nicht früher gesagt hat, dass es sich
»Krebs«. Andere Ärzte sprechen von einem »bösar- möglicherweise um einen bösartigen Tumor han-
tigen Tumor«. Das Wort »Krebs« ist nach wie vor deln könnte.«
tabuisiert und bei vielen Menschen mit baldigem Achtung: Weichen Sie bei emotional schwieri-
qualvollem Sterben und Tod assoziiert. Wenn der gen Situationen nicht sofort auf die Sachebene
13 Patient jedoch direkt nachfragt: »Hab ich jetzt (»Fakten«) aus.
Krebs?«, dann sollte der Arzt diese Frage wahrheits- Diese Phase des Aufklärungsgesprächs erfor-
gemäß mit ja oder nein beantworten. dert vom Arzt viel Einfühlungsvermögen: Einer-
seits möchte er den Patienten durch zu starke Fo-
kussierung auf Gefühlsäußerungen nicht zusätzlich
Tipps für die Praxis belasten, andererseits ist es sehr entlastend und
5 Bitte geben Sie nur die wichtigste Informa- auch hilfreich für eine vertrauensvolle Arzt-Patient-
tion in einem kurzen Satz, z. B. »Die Rönt- Beziehung, wenn der Patient sich auch emotional
genuntersuchung der Brust (Mammogra- angenommen und verstanden fühlt. Auf keinen Fall
phie) zeigt den dringenden Verdacht auf sollte der Arzt den Patienten mit seiner Angst, sei-
eine Krebserkrankung.« ner Trauer, seiner Wut und/oder Ohnmacht alleine
5 Passen Sie Ihre Informationen der Sprache lassen. Er sollte jedoch nur Emotionen aufgreifen,
des Patienten an. Kleiden Sie komplexe die beim Patienten deutlich spürbar sind. Vorsichti-
Informationen in einfache Bilder. ge Begleitung durch Spiegeln der Gefühle ist der
5 Je nach Befund und nach medizinischen beste Weg und entlastet Arzt und Patient.
Vorkenntnissen des Patienten sollte der Arzt
dann weitere Informationen mit einfachen Keine falschen Versprechungen, aber Hoffnung ver-
und klar verständlichen Worten anfügen. mitteln Der Arzt gibt weiterhin klare kurze Ant-
worten und Erklärungen und korrigiert Überreak-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
13.2 · Praktischer Teil
161 13
tionen des Patienten, die aus Missverständnissen
und Fehlinterpretationen resultieren: Tipps für die Praxis
»Ja natürlich, eine Operation ist notwendig, 5 Lassen Sie immer Hoffnung zu, auch in
aber es gibt mittlerweile moderne Operationsver- »hoffnungslosen« Situationen
fahren, die eine schonende Entfernung des Tumors 5 Vermeiden Sie Aussagen wie »wir können
ermöglichen, ohne dass die Brust als Ganzes ent- nichts mehr für Sie tun«
fernt werden muss.« 5 Sichern Sie stattdessen verlässliche, kom-
Auch hier handelt es sich um eine Gratwande- petente und bestmögliche Behandlung z. B.
rung zwischen schonungsloser Klärung mit Schil- gegen Schmerzen zu
derung negativer Szenarien und dem Aufzeigen der 5 Sichern Sie dem Patienten kontinuierliche
zur Verfügung stehenden therapeutischen Möglich- Begleitung zu
keiten. 5 Vermitteln Sie dem Patienten das Gefühl,
Zur Unterstützung seiner Aussagen kann der dass er nicht aufgegeben wird, wecken Sie
Arzt entsprechende nonverbale Zeichen und Ges- jedoch keine falschen Hoffnungen
ten einsetzen, z. B. dem Patienten den Arm um die
Schulter legen, seine Hand halten. Auf diese Weise
fühlt der Patient sich auch auf nonverbale Weise ge- Hat der Patient die Informationen verstanden?
tröstet und in seiner schwierigen emotionalen Situ- Wenn der erste Schock über die Diagnose vorüber
ation verstanden (s. 7 Abschn. 5.3.1 zu aktivem Zuhö- ist, sollte der Arzt den Patienten ermutigen, Fragen
ren). Auch bei einer infausten Prognose kann der zu stellen und zu klären, was der Patient bisher ver-
Arzt auf diese Weise vermitteln, dass er den Patien- standen hat. In spannungs- und emotionsgeladenen
ten nicht aufgibt, eine häufige und sehr starke Angst Situationen können viele Menschen Informationen
des Patienten. Verbal kann er diese Gesten folgen- nicht adäquat aufnehmen und entwickeln ein ver-
dermaßen unterstützen: zerrtes und unvollständiges Verständnis ihrer Situ-
»Ich werde Sie auf Ihrem schweren Weg in der ation. Zum Beispiel kann ein Patient, wenn er die
nächsten Zeit begleiten. Egal welche Entwicklung Diagnose Krebs hört, sofort assoziieren, dass er nur
Ihre Krankheit nimmt, werde ich mit meinem ärzt- noch wenige Monate zu leben hat, so wie er das bei
lichen Können und meiner Person für Sie da sein.« einem Nachbarn erlebt hat. Wiederholung der Auf-
Der Arzt sollte vermeiden, den Patienten in die- klärung und schriftliche Informationen zum
ser Situation mit zu vielen Informationen zu kon- Krankheitsbild z. B. Patientenratgeber sind dann
frontieren. Das übermäßige Reden des Arztes ist oft notwendig. Häufig nehmen Patienten nur den ers-
der Ausdruck seiner eigenen Angst. Schweigen und ten Teil einer schlechten Nachricht auf und können
Pausen mit körperlicher und geistiger Präsenz sind dann den Ausführungen des Arztes nicht mehr fol-
sehr wirksam. Der Arzt achtet auf seine eigenen Ge- gen. Sie sind, wie manche Patienten berichten, wie
fühle und versteht sie als Resonanz auf das emotio- »unter Schock« und haben ihre Ohren »auf Durch-
nale Erleben des Patienten. zug« gestellt. Bevor der Arzt weitere Informationen
Der Arzt hilft dem Patienten am meisten, wenn gibt, sollte er den Patienten zunächst emotional
er zunächst alle Bemerkungen und Ermutigungen, begleiten (s. oben »Emotionale Reaktionen«).
z. B. »Kopf hoch, das wird schon wieder«, aufgibt
und zulässt, dass er im Moment nichts tun kann, Ressourcenaktivierung Der Arzt eruiert die vor-
außer als Ansprechpartner zur Verfügung zu stehen handene soziale Unterstützung durch Partner, Fa-
und Unterstützung anzubieten. Dieses Aushalten ist milie und Freunde. Er fragt nach belastenden Situ-
eine anspruchsvolle, vom Patienten dankbar ange- ationen in früheren Lebensabschnitten und lässt
nommene Intervention. den Patienten berichten, was ihm damals geholfen
hat, diese Situation zu bewältigen. Der Arzt macht
sich ein Bild von der familiären Situation des Pa-
tienten und davon, welche Auswirkungen die Dia-
gnose oder das belastende Ereignis für den Le-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
162 Kapitel 13 · Krebserkrankung

benspartner und für das weitere Zusammenleben in tergeht. Diese umfasst die medizinische Behand-
der Familie haben könnte. lung, evtl. psychotherapeutische Unterstützung so-
wie Einschluss von Familie, Freunden, Selbsthilfe-
Suizidalität Die Suizidalität kann direkt erfragt gruppen und, falls erwünscht, religiösen Beistand.
werden, z. B. »Sie haben eine Menge zu schlucken Es ist günstig einen neuen Termin kurzfristig
und ich weiß, dass ist schwer aushaltbar. Haben Sie oder spätestens innerhalb einer Woche zu verein-
Gedanken, sich selbst etwas anzutun, sich auf ir- baren:
gendeine Weise das Leben zu nehmen?« »Wenn Sie jetzt keine Fragen mehr haben, kön-
Wenn der Patient konkrete Pläne hat, sollte im- nen wir das Gespräch beenden. Ich kann mir vor-
mer ein Psychiater konsultiert werden (7 Kap. 12 stellen, dass Ihnen danach noch vieles durch den
»Depression und Suizidalität«). Kopf geht. Wir können gerne morgen früh noch
einmal darüber sprechen.«
Fallbeispiel Fortsetzung In Notfällen muss der Patient wissen, ob der
Herr M. hat seine Diagnose wohl schon seit längerem Arzt zur Verfügung steht oder an wen er sich wen-
geahnt. Er schwankt zwischen Nicht-Wahrhaben- den kann. Wenn psychotherapeutische Hilfe not-
Wollen, der Krankheit ins Auge sehen, sich Mut wendig ist, vermittelt der Arzt ihm entsprechende
machen und Verleugnung und Resignation. Der Arzt Stellen, z. B. psychosomatischer Konsildienst des
akzeptiert diese scheinbar widersprüchlichen Bewäl- Krankenhauses oder niedergelassene Psychothera-
tigungsstrategien als die individuelle Antwort des peuten. Bei starker Erregung und Schlafstörungen
Patienten auf eine lebensbedrohliche Erkrankung. ist die vorübergehende Verschreibung eines Tran-
Der Arzt kann wahrheitsgemäß die Fragen des Pati- quilizers sinnvoll. Der Patient wird ermutigt, auf-
enten beantworten, dabei aber auch immer auf seine kommende Fragen aufzuschreiben und beim nächs-
emotionalen Reaktionen eingehen. Dabei sollte er ten Mal mitzubringen.
aber nur Informationen über Behandlung und
Prognose vermitteln, die vom Patienten auch ge-
wünscht werden. Umgekehrt sollte er nach Wün- 13.2.2 Behandlungsstufen
schen des Patienten fragen und sie bei der Behand-
lung berücksichtigen. Es werden 3 Behandlungsstufen im Rahmen einer
psychoonkologischen Behandlung krebskranker
13 Nach dem Gespräch Patienten unterschieden:
Nach dem Gespräch sollten alle an der Behandlung 1. Information und Beratung (Psychoedukation).
Beteiligten (Ärzte, Pflegepersonal, Physiotherapeu- Diese 1. Behandlungsstufe sollte jedem Patien-
ten u. a.) über den Therapieplan informiert werden. ten nach der Diagnose einer Krebserkrankung
Ein entlastendes Gespräch mit einem Kollegen über im Rahmen einer psychosomatischen Grund-
den Gesprächsverlauf und die eigenen Gefühle die- versorgung angeboten werden, sei es als Ein-
nen der Psychohygiene des behandelnden Arztes. zelberatung oder im Rahmen eines Gruppen-
Der Arzt sollte sich auch darauf einstellen, dass programms. Die Information beinhaltet, dass
viele Informationen vom Patienten noch nicht auf- Ängste und depressive Reaktionen häufige
genommen werden konnten. Die Aufklärung über Reaktionen auf die Diagnose darstellen und
eine lebensbedrohliche Erkrankung und die Be- der Stationsarzt, das Pflegepersonal oder
wusstwerdung des Patienten über die neue Lebens- Psychotherapeuten als Ansprechpartner zur
situation ist ein kontinuierlicher Prozess, der zwi- Verfügung stehen. Sie erfordert keine psycho-
schen Nicht-Wahrhaben-Wollen und aktiver Ausei- therapeutische Kompetenz und kann vom Sta-
nandersetzung oszilliert. tionsarzt übernommen werden. Viele Patien-
ten profitieren von Selbsthilfegruppen.
Die weitere Behandlung 2. Symptomorientierte Maßnahmen. Bei
Der Patient braucht für die schwierige Phase nach Schmerzen, Erschöpfung, Übelkeit oder Erbre-
Diagnosemitteilung eine klare Strategie, wie es wei- chen gibt es, neben somatischen Maßnahmen,

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
13.2 · Praktischer Teil
163 13
ein breites Spektrum an psychologischen Inter- 4 Psychischen Beeinträchtigungen und Kon-
ventionsmöglichkeiten: progressive Muskelent- flikten in der Partnerschaft durch chirurgische
spannung, autogenes Training, Hypnose, Tie- Eingriffe, z. B. nach Brustamputation bei
fenatmung, Meditation, Biofeedback, passive Mammakarzinom oder bei erektiler Dysfunk-
Entspannung und Phantasiereisen (sog. gelei- tion nach chirurgischem Eingriff bei Prostata-
tete Imagination oder Visualisierung). oder Hodenkarzinom.
3. Fachpsychotherapeutische Behandlung. 4 Vermeidung von Öffentlichkeit bei Gesichts-
Kognitiv-behaviorale, psychodynamische Be- und Kehlkopfoperierten.
handlungsansätze und Gesprächspsychothera- 4 Persönlichkeitsstörungen (ICD-10: F 60, ICD-
pie sowohl als Einzeltherapie oder in der Grup- 10: F 61, ICD-10: F 63), die durch die Krebser-
pe haben sich bewährt. Je nach Problem des krankung verstärkt wurden.
Patienten können einzelne Elemente oder eine 4 Schon länger bestehenden seelischen Erkran-
Kombination der Behandlungsverfahren zum kungen, z. B. Depression (ICD-10: F 32, ICD-
Einsatz kommen. In der Praxis werden oft ver- 10: F 34), Angsterkrankung (ICD-10: F 40,
schiedene Therapieansätze miteinander kom- ICD-10: F 41), Psychose (ICD-10: F 0.6, ICD-
biniert. Eine psychotherapeutische Interven- 10: F 2), die die traumatisierende Wirkung der
tion ist umso erfolgreicher, je mehr sie auf die Diagnosemitteilung verstärken und die Anpas-
individuellen Probleme des Patienten, den sung an die Krankheitssituation erschweren.
Krankheitsverlauf und seine psychischen und 4 Körperlich nicht erklärbaren Schmerzsyndro-
sozialen Ressourcen abgestimmt ist. men (ICD-10: F 45.4), die trotz symptoma-
tischer Maßnahmen über längere Zeit bestehen.
In vielen Kliniken steht ein psychiatrischer und psy- 4 Posttraumatischen Belastungsstörungen (ICD-
chosomatischer Konsil- und Liaisondienst zur Ver- 10: F 43.1, s. 7 Kap. 11.2.3, »Akute und posttrau-
fügung, der die fachpsychotherapeutische Behand- matische Belastungsstörung«), z. B. nach kom-
lung übernimmt und in Kursen Ärzte und Pflege- plikationsreicher Knochenmarktransplantation.
personal bei dem Erwerb der psychosomatischen
Basiskompetenz unterstützt. Die Wirksamkeit psychoedukativer und psychothe-
Bei einer mittelschweren bis schweren Angst- rapeutischer Behandlungsverfahren zur Verbesse-
störung, Depression oder einer psychotischen De- rung des emotionalen Befindens und der Lebens-
kompensation unter Kortison und Chemotherapie qualität ist gesichert. Auch konnte gezeigt werden,
wird eine zeitlich begrenzte psychopharmakologi- dass mit kognitiv-behavioralen Techniken und Ima-
sche Behandlung notwendig. ginationsverfahren Schmerzzustände, sowie Übel-
keit und Erbrechen als Begleitsymptomatik der Che-
motherapie beeinflusst werden können. Der Einfluss
13.2.3 Psychotherapie bei Krebs der Psychotherapie auf den Krankheitsverlauf und
die Überlebenszeit ist wahrscheinlich sehr gering
Eine psychotherapeutische Behandlung durch und bisher noch nicht überzeugend nachgewiesen.
ärztliche oder psychologische Psychotherapeuten
ist indiziert bei: Fallbeispiel Fortsetzung
4 Ängsten und depressiven Reaktionen (ICD-10: Die Chemotherapie musste bei Herrn M. nach 2 Mo-
F 43.2) nach Diagnosemitteilung oder im Rah- naten wegen starker Nebenwirkungen wie Übelkeit
men der Therapie. und Erbrechen, Appetitlosigkeit, Gewichtsverlust und
4 Suizidalität (7 Kap. 12 »Depression und Suizida- schlechtem Allgemeinzustand abgebrochen werden.
lität«). Der Patient verstirbt ein halbes Jahr später im Kreise
4 Psychovegetativen Reaktionen (ICD-10: F 45) seiner Familie. Während dieser Zeit ist er engmaschig
wie verstärkte Übelkeit, Schwäche und Müdig- von seinem Hausarzt betreut worden (s. auch
keit, Schlaf- und Konzentrationsstörungen 7 Kap. 23 zur Begleitung von unheilbar Kranken und
(Fatigue-Syndrom). Sterbenden).

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
164 Kapitel 13 · Krebserkrankung

13.2.4 Sterbebegleitung setzt haben, sind am ehesten in der Lage, sich ein-
zufühlen und ihre Grenzen zu erkennen. Sie kön-
Belastende Aspekte der Kommunikation mit Tu- nen am ehesten nachvollziehen, was es bedeutet,
morpatienten sind: sich auf den eigenen Tod einzustellen.
4 Das ärztliche Gespräch fällt schwer, wenn dem
Patienten keine Therapiemöglichkeiten mehr
angeboten werden können. Literatur
4 Sowohl beim Patienten als auch beim Arzt
Zitierte Literatur
breiten sich Gefühle der Ohnmacht und Hilf-
Büssing A, Fischer J (2009) Interpretation of illness in
losigkeit aus (Syndrom der »leeren Hände«). cancer survivors is associated with health-related
variables and adaptive coping styles. BMC Women’s
Dazu sagt die Krebspatientin Paula in Irvin D. Ya- Health 9: 2
loms Die Reise mit Paula: »Warum begreifen die Faller H, Schilling S (1996) Kausalattribution »Krebspersön-
lichkeit« – ein Ausdruck maladaptiver Krankheitsver-
Ärzte nicht die Bedeutung ihrer schieren Gegen-
arbeitung? Z Klin Psychol Psychiatr Psychother 44:
wart? Warum können sie nicht erkennen, dass gera- 104–116
de der Augenblick, in dem sie sonst nichts mehr zu Flechtner HH, Simon A, Krauel K (2012) Kinder krebskranker
bieten haben, der Augenblick ist, in dem man sie am Eltern: Eine vernachlässigte Zielgruppe in der Psycho-
nötigsten hat?«. onkologie. In: Weis J, Brähler E (Hrsg.) Psychoonkologie
in Forschung und Praxis. Kap. 21: 229–43. Schattauer,
Hoffnung wird meistens mit einem positiven
Stuttgart
Ziel assoziiert und auf eine Erfolgsorientierung, Hürny C (2003) Psychische und soziale Faktoren in Entstehung
z. B. auf die Formulierung »mit günstiger Prog- und Verlauf maligner Erkrankungen. In: von Uexküll:
nose« reduziert. Es scheint so, als würde Misserfolg Psychosomatische Medizin. 6. Aufl. Urban & Fischer
Hoffnung ausschließen. Hoffnung zu geben ist je- Verlag München, S 1015
doch eine wesentliche Dimension in der Gestaltung Heußner P (2009) Wie sag ich’s meinem Kinde? Umgang mit
Kindern krebserkrankter Erwachsener. In: Dorfmüller M,
der Arzt-Patient-Beziehung. Krebskranke, deren Dietzfelbinger H (Hrsg.) Psychoonkologie-Diagnostik
legitime Hoffnung auf Heilung und Genesung ent- – Methoden – Therapieverfahren. 3. Aufl. Urban & Fischer,
täuscht wird, sind nicht notwendigerweise hoff- München, 203–207
nungslos. Die Hoffnung zu überleben tritt zurück, Kornblith AB (1998) Psychosocial adaptation of cancer survi-
andere Hoffnungen, z. B. auf einen friedlichen Tod, vors. In Holland JC (Ed.), Psycho-oncology (pp 223–254).
Oxford University Press, New York
13 auf eine Versöhnung mit zerstrittenen Familien-
Mehnert A, Braehler E, Szalai C et al. (2014) Four-Week Preva-
angehörigen oder Wünsche, z. B. den gerade gebo- lence of Mental Disorders in Patients with Cancer across
renen Enkel noch einmal zu sehen, gewinnen an Major Tumor Entities. J Clin Oncol 32(31)
Bedeutung. Manche Sterbende zeigen in dieser Ex- Riehl-Emde A, Buddeberg C, Muthny FA et al. (1989) Ursa-
tremsituation ein wiedergewonnenes Gleichgewicht chenattribution und Krankheitsbewältigung bei Patien-
tinnen mit Mammakarzinom. Psychother med psychol
mit großer Ruhe, Weisheit und Humor, das die
39: 232–238
Außenstehenden erstaunt. Für die Entfaltung dieser Siegel K, Mesagno FP, Karus DG et al. (1992) Psychosocial
Fähigkeiten ist eine respektvolle und empathische adjustment of children with a terminally ill parent. J Am
Begleitung notwendig. Der Sterbende braucht das Acad Child Adolesc Psychiatry 32: 327–333
Gefühl, nicht allein gelassen zu werden (s. auch Tschuschke V (2011) Psychoonkologie, Psychologische Aspekte
7 Kap. 23 »Unheilbar Kranke und Sterbende«). der Entstehung und Bewältigung von Krebs. Schattauer,
Stuttgart
Dem Arzt muss klar sein, dass er bei der Sterbe- Wolf C, Meyer PC, Richter D et al. (1995) Kausalattribution und
begleitung eine intensive gefühlsmäßige Bindung Krankheitsverarbeitung bei Brustkrebspatientinnen:
zu dem Patienten eingeht. Frühere Erfahrungen mit Ergebnisse einer Längsschnittuntersuchung. Zschr psy-
sterbenden Freunden, Geschwistern oder Eltern chosom Med 41: 356–369
werden reaktiviert. Für den Arzt ist es wichtig, die Yalom YD (2000) Die Reise mit Paula. Bertelsmann
eigenen »Schwachstellen« und Verletzlichkeiten zu Weiterführende Literatur
kennen. Ärzte, die sich mit Traumata und Verlusten Holland JC, Breitbart WS, Jacobsen PB et al. (2010) Psycho-
in ihrer eigenen Lebensgeschichte auseinanderge- Oncology. 2nd ed., Oxford University Press, New York

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
Literatur
165 13
Koch U, Weis J (1998) Krankheitsbewältigung bei Krebs und
Möglichkeiten der Unterstützung. Schattauer Stuttgart,
New York
Leitlinienprogramm Onkologie (Deutsche Krebsgesellschaft,
Deutsche Krebshilfe, AWMF): Psychoonkologische Dia-
gnostik, Beratung und Behandlung von erwachsenen
Krebspatienten, Kurzversion 1.0, 2014. http://www.awmf.
org/leitlinien/detail/ll/032-051OL.html (Zugegriffen Juni
2015)
Tschuschke V (2011) Psychoonkologie, Psychologische As-
pekte der Entstehung und Bewältigung von Krebs. Schat-
tauer, Stuttgart
Weis J, Brähler E (2013) Psychoonkologie in Forschung und
Praxis. Schattauer, Stuttgart

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
167 14

Koronare Herzkrankheit
Kurt Fritzsche, Daniela Wetzel-Richter

14.1 Theoretischer Teil – 168


14.1.1 Kennzeichen – 168
14.1.2 Psychosoziale Faktoren – 168
14.1.3 Geschlechtsspezifische Aspekte – 169

14.2 Praktischer Teil – 170


14.2.1 Erkennen – 170
14.2.2 Haltung und Arzt-Patient-Beziehung – 171
14.2.3 Psychotherapie nach Herzinfarkt – 173
14.2.4 Psychopharmaka – 173

Literatur – 173

K. Fritzsche et al. (Hrsg.), Psychosomatische Grundversorgung,


DOI 10.1007/978-3-662-47744-1_14, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
168 Kapitel 14 · Koronare Herzkrankheit

Fallbeispiel ständnis für die Bedürfnisse des Jungen gezeigt. »Nur


Herr S. ist 50 Jahre alt, verheiratet und hat 3 Töchter. Leistung zählt«. Nach dem Herzinfarkt wird er vom
Seit 5 Jahren leidet er unter thorakalen Beschwerden. Patienten als verständnislos und entwertend (»fauler
Risikofaktoren sind ein hoher Blutdruck, erhöhte Hund!«) erlebt.
Blutfette, eine Adipositas und das Rauchen. Seine Der Patient absolvierte eine Ausbildung zum Auto-
Risikofaktoren sind unzureichend behandelt, Arzt- schlosser. Er hat sich bis zuletzt beruflich sehr veraus-
kontakte werden vermieden. Vor 4 Wochen hat er gabt (»unentbehrlich«) bei geringer Gegenleistung
einen akuten Hinterwandinfarkt erlitten. des Arbeitgebers. Die Arbeit hat er als unterwertig
empfunden (»nur malochen, malochen«).
Regelmäßig ärgerte er sich und hatte wiederholt
14.1 Theoretischer Teil Wutausbrüche, die auch zu Konflikten am Arbeits-
platz und in der Familie geführt hatten. Zustände von
14.1.1 Kennzeichen starker innerer Spannung und Gereiztheit versuchte
er mit übermäßigem Essen und Alkoholabhängigkeit
Als koronare Herzkrankheit (KHK) bezeichnet zu kompensieren.
man die Minderversorgung des Herzens mit Sauer-
stoff aufgrund einer zunehmenden Verengung der Alle folgenden in . Tab. 14.1 aufgeführten psycho-
Herzkranzarterien (Koronarsklerose) bis zum voll- sozialen Belastungsfaktoren waren in zahlreichen
ständigen Gefäßverschluss mit Ausbildung eines Studien mit einem erhöhten Risiko für eine korona-
Herzinfarktes. Mögliche Folgen des Gewebeunter- re Herzkrankheit und einen Herzinfarkt verbunden
gangs beim Herzinfarkt sind einerseits Störungen (Ladwig et al. 2013).
der kardialen Pumpfunktion mit Herzinsuffizienz,
andererseits Herzrhythmusstörungen mit plötzli- Zusammenhang Depression und KHK
chem Herztod. Depression ist ein unabhängiger Risikofaktor bei
Die bekannten kardiovaskulären Risikofaktoren der Entwicklung einer koronaren Herzkrankheit.
sind Hypertonie, erhöhte Serumwerte für LDL- 25–30 % der Patienten nach Herzinfarkt erfüllen
Cholesterin und Triglyceride, Diabetes mellitus, die Kriterien einer depressiven Störung und haben
Rauchen, Übergewicht und Bewegungsmangel. Ne- ein 2- bis 4-fach erhöhtes Mortalitätsrisiko (Barth et
ben genetischen Faktoren hat auch psychosozialer al. 2004). Den Zusammenhang zwischen Depres-
Stress in Wechselwirkung mit den somatischen Ri- sion und kardiovaskulären Erkrankungen zeigt
sikofaktoren einen entscheidenden Anteil bei der . Tab. 14.2.
Entstehung und dem Verlauf der koronaren Herz- Das »Typ-D-Persönlichkeitsmuster« beschreibt
14 krankheit. Durch Änderung des individuellen Le- eine überdauernde Tendenz, negative Gefühle wie
bensstils, z. B. Nichtrauchen, gesunde Ernährung, Depressivität, Ängstlichkeit und Reizbarkeit zu
mehr Bewegung und weniger Stress, ließe sich das empfinden (»negative Affektivität«). In Kombina-
Risiko für einen Herzinfarkt um 80 % verringern. tion mit einer ausgeprägten sozialen Kontakthem-
(Yusuf et al. 2004). mung (»soziale Inhibition«) ist auch dieses Muster
nach aktuellen Metaanalysen mit einer deutlich
schlechteren Prognose bei KHK verknüpft (Denol-
14.1.2 Psychosoziale Faktoren let et al 2010).
Das Zusammenwirken psychischer, sozialer
Fortsetzung Fallbeispiel – und somatischer Risikofaktoren lässt sich folgen-
psychosoziale Anamnese dermaßen beschreiben:
Die Mutter von Herrn S. erkrankte, als der Patient Durch eine Häufung belastender Erfahrungen
4 Jahre alt war, an einem Krebsleiden und ist im in der Kindheit entstehen eher ängstliche oder miss-
12. Lebensjahr des Patienten nach langer Krankheit trauische Interpretations- und Verhaltensmuster.
verstorben. Auch heute noch wird sie vom Patienten Dies führt zu Stressreaktionen in zwischenmensch-
vermisst. Der Vater hatte wenig emotionales Ver- lichen Beziehungen. Eine langanhaltende Dys-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
14.1 · Theoretischer Teil
169 14

. Tab. 14.1 Psychosoziale Belastungsfaktoren im Zusammenhang mit einem erhöhten Risiko für koronare Herz-
krankheit (KHK) und Herzinfarkt

Psychische Belastungsfaktoren Berufliche Belastungsfaktoren

Negative Bindungserfahrung Übersteigerte Verausgabungsbereitschaft mit Unterschätzung der Anforde-


Selbstwertproblematik rungen und Überschätzung der eigenen Kraft mit dem Bedürfnis nach
Chronische Partnerschaftskonflikte Geltung und Anerkennung
Feindseligkeit Hohe berufliche Anforderungen bei gleichzeitig geringer Kontrolle und
Soziale Isolation geringem Entscheidungsspielraum über die Arbeitsaufgabe und das
Vitale Erschöpfung Ergebnis
Depressivität Hohe Verausgabung bei niedriger Belohnung durch Geld, Achtung,
Arbeitsplatzsicherheit und Aufstiegschancen
Fehlen guter Beziehungen am Arbeitsplatz

. Tab. 14.2 Zusammenhang zwischen Depression und kardiovaskulären Erkrankungen

Depression

HPA-Achse1 Sympathovagale Dysregulation Verändertes Gesundheitsverhalten

Hyperkortisolämie Gestörte Endothelfunktion Non-Compliance z. B.


Erhöhte Blutfette Arrhythmien Medikamente
Adipositas Vasokonstriktion Rauchen
Insulinresistenz Hypertonie Geringe Aktivität
Diabetes mellitus Ungesunde Ernährung

1HPA = Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse.

balance der Stresssysteme verstärkt die depressive 14.1.3 Geschlechtsspezifische Aspekte


Symptomatik (Heim et al. 2008) und fördert einen
ungesunden Lebensstil, wie Rauchen, ungesunde Das Manifestationsalter bei Frauen steigt nach der
Ernährung und körperliche Inaktivität. Anderer- Menopause zunächst moderat, in den hohen Alters-
seits stellt die Depression ihrerseits einen anhalten- gruppen (ab 75 Jahren) dann exponentiell an. Die
den internen Stressor dar, der über eine Aktivierung kardiovaskuläre Mortalität ist höher als bei Män-
des Immunsystems, der Blutgerinnung und Verän- nern. Ursache ist vermutlich eine Doppelbelastung
derung am Gefäßendothel die Entstehung einer ko- von beruflicher und familiärer Belastung. Zusätzli-
ronaren Herzkrankheit beeinflusst (. Tab. 14.2). che psychosoziale Stressoren bei Frauen sind Part-
Psychische Spannungen werden versucht mit nerschaft, Kinder, Enkel und andere familiäre Pro-
erhöhtem Nikotinabusus und vermehrtem Essen zu blemfelder.
lindern. Negative Beziehungserfahrungen und be-
rufliche Enttäuschungen werden als Retraumatisie-
rung erlebt und lösen Depressivität und unter-
drückte Feindseligkeit aus (. Abb. 14.1). Das Zu-
sammenwirken dieser somatischen und psychoso-
zialen Risikofaktoren erhöht die Wahrscheinlichkeit
an einem frühen Herztod zu sterben.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
170 Kapitel 14 · Koronare Herzkrankheit

. Abb. 14.1 Cartoon: Ihr Herzinfarkt. (Zeichnung: Gisela Mehren)

14.2 Praktischer Teil hung steigern. Die Angst äußert sich in zitternder
Stimme, ängstlichem Gesichtsausdruck, anklam-
14.2.1 Erkennen merndem Verhalten, häufigem Nachfragen und
misstrauischem Kontrollieren. Ursachen der Angst
Akutphase des Herzinfarkts sind fortbestehende Angina-pectoris-Beschwer-
Obwohl viele Patienten den Herzinfarkt »wie aus den, bedrohliche Phantasien über Ursache und
heiterem Himmel« erleben, hat ein Viertel der Pa- Konsequenzen des Herzinfarkts, Kontrollverlust,
tienten uncharakteristische Warnsignale, die jedoch Abhängigkeit von medizinischen Geräten, Ängste
meistens ignoriert werden. Dazu zählen Müdigkeit, über bleibende Schäden und Beeinträchtigungen.
Leistungsschwäche, Konzentrationsstörungen,
Schwindel, Schlafstörungen, Angst und Krankheits- jDepressivität
gefühl. Diese Symptome werden unter dem Begriff Der depressive Patient wirkt insgesamt verlangsamt,
»vitale Erschöpfung« zusammengefasst. interesselos, oft zurückgezogen. Hinter einer stillen
Unauffälligkeit verbirgt sich eine Hoffnungslosig-
jEmotionale Belastungen in den ersten Tagen keit bis zur Selbstaufgabe. Diese Symptomatik wird
14 nach akutem Herzinfarkt in der Hektik der Akutkrankenhäuser oft nicht er-
Bei ca. 30 % der Patienten bestehen in den ersten Ta- kannt. Die American Heart Association (AHA)
gen und Wochen nach akutem Herzinfarkt Angstzu- empfiehlt daher ein Screening zunächst mittels
stände und depressive Symptome (akute Belastungs- zweier Indikatorfragen (Lichtmann et al. 2008; s.
reaktion ICD-10: F 43.0, Anpassungsstörung F 43.1). auch 7 Kap. 12 »Depression und Suizidalität«).
Auslöser dieser psychischen Reaktionen sind eine
Labilisierung des Selbstwertgefühls, die Angst vor Screeningfragen für Depression (bezogen
kardialen Komplikationen, Verlust der körperlichen auf die letzten 2 Wochen)
Integrität, Arbeitsplatzverlust und sozialem Abstieg, 5 »Hatten Sie wenig Interesse und Lust Dinge
die Abhängigkeit von Ärzten und Pflegepersonal und zu erledigen?«
die Abwehr von aggressiven Impulsen. 5 »Fühlten Sie sich niedergeschlagen,
depressiv und hoffnungslos?«
jAngst
Die Angst ist das bedeutsamste psychische Symp-
tom während der Akutphase. Die Angst kann sich Ursachen sind neben einer unspezifischen Reaktion
bis zu Panik mit Gefühlen der tödlichen Bedro- auf die Erkrankung vor allem das Gefühl der Hilflo-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
14.2 · Praktischer Teil
171 14
sigkeit, abgewehrte aggressive Impulse wie Wut und Patienten soll Sicherheit vermittelt, dass seine Angst
Ärger, die gegen sich selbst gerichtet werden, voran- gemindert und sein Vertrauen in die ärztliche Be-
gegangene berufliche und/oder private Kränkungen handlung gestärkt werden.
oder eine depressive Persönlichkeitsstruktur. In der Akutphase befindet sich der Patient in
einer Ambivalenz zwischen Bestrebungen nach
jKrankheitsverarbeitung (Coping) Unabhängigkeit und hypochondrischen Befürch-
Verdrängung und Verleugnung der lebensbedrohli- tungen. Die ängstliche Seite und der Wunsch nach
chen Diagnose hat zunächst das Ziel Angst zu min- Regression werden durch ein dominantes und ex-
dern und die psychische Funktionsfähigkeit wieder pansives Auftreten abgewehrt, um die »Führung«
herzustellen (s. 7 Abschn. 1.5.2.3 zu Coping). Dies nicht abgeben zu müssen.
hat z. B. nach der Diagnose einer Krebserkrankung
in den ersten Wochen und Monaten auch einen sta- jPraxistipps für das Arzt-Patient-Gespräch
bilisierenden Effekt. Bei der koronaren Herzkrank- Der Arzt versucht den Patienten in seiner gefühls-
heit ereignen sich aber 50 % der Todesfälle in den mäßigen Ambivalenz zu verstehen und anzuneh-
ersten 4 h nach dem Infarkt. men, indem er ihm beide Seiten spiegelt (Albus et
Eine Verleugnung ist beim Herzinfarkt deshalb al. 2010):
mit folgenden Konsequenzen verbunden: »Sie sind immer gewohnt gewesen Ihr Leben im
4 zu späte Inanspruchnahme fachärztlicher Hilfe, Griff zu haben und selbst zu bestimmen. Nun sind
4 Angina-pectoris-Symptomatik wird nicht Sie von Ärzten, Pflegekräften und Apparaten ab-
erkannt und nicht ernst genommen, hängig und vielleicht empfinden Sie zum ersten Mal
4 verordnete Bettruhe wird nicht eingehalten, in Ihrem Leben so etwas wie Angst und Ohnmacht.
4 Informationen über Entstehung von Herz- Wenn Sie möchten, können Sie mir gerne mehr
infarkt und die konsequente Durchführung über Ihre Gedanken und Gefühle mitteilen.«
späterer Therapie- und Rehabilitationsmaß- »Wie ging es Ihnen denn seelisch, als Sie von der
nahmen werden nur selektiv aufgenommen. Herzkrankheit erfuhren? Ich könnte mir vorstellen
und so kenne ich es auch von anderen Patienten,
Das durch die Verleugnung kurzfristig bessere emo- dass man nach so einer Diagnose erstmal ziemlich
tionale Empfinden wird nach einem Jahr mit einer geschockt sein kann.«
schlechteren Compliance, häufigerer Rehospitali- Der Arzt informiert den Patienten über die Be-
sierung und einer erhöhten Sterblichkeitsrate er- handlungsziele und den Behandlungsplan sowie zu
kauft. Techniken der Verminderung von Unsicherheit und
Angst (s. 7 Kap. 11 »Angststörungen«). Je nach Infor-
mationsbedürfnis des Patienten wird auch über po-
14.2.2 Haltung und Arzt-Patient- tentielle Auslöser des Herzinfarkts gesprochen:
Beziehung »Ein Infarkt kommt selten aus heiterem Him-
mel. Was haben Sie in letzter Zeit durchmachen
Im Rahmen der biopsychosozialen Anamnese ge- müssen?«
winnt der Arzt ein besseres Verständnis des Den- Manchmal wird der Arzt mit Berichten über
kens und Verhaltens des Patienten. Er lernt das sub- frühere Leistungen überschüttet und fühlt sich mit
jektive Krankheitskonzept des Patienten kennen seinem Gesprächsangebot abgelehnt. In den »Ge-
und identifiziert maladaptive Copingstrategien. schichten« sind jedoch oft Hinweise auf starke
Neben der Eruierung psychosozialer Belastungen in Ängste, negative Beziehungserfahrungen und Be-
der Vergangenheit bietet der Stationsarzt regelmä- ziehungswünsche versteckt.
ßige kürzere Gespräche an. Die kontinuierliche Zu- Manche Patienten verleugnen die Bedrohung
wendung des Arztes, seine Anteilnahme, seine emo- ihres körperlichen Gesundheitszustandes durch die
tionale Unterstützung helfen dabei, einen Ausgleich Herzkrankheit. Der Patient wirkt dann emotional
für narzisstische Kränkungen und den Verlust der unberührt, ist im Kontakt rigide und wenig koope-
körperlichen Leistungsfähigkeit zu erleben. Dem rativ. Der Arzt versteht, dass die Verleugnung ein

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
172 Kapitel 14 · Koronare Herzkrankheit

. Abb. 14.2 Cartoon: Loslassen. (Zeichnung: Gisela Mehren)

Schutz gegen die unerträglichen Gefühle von Ver- körperlichen Aktivität, Nichtrauchertraining) an-
14 nichtung und Vereinsamung darstellen können. setzen, greifen daher in vielen Fällen zu kurz. Viel-
mehr muss es oft auch darum gehen, die psychi-
Postinfarktphase schen »Narben« früherer psychosozialer Belastun-
Die Notwendigkeit zur Schonung und die nur lang- gen zu versorgen. Hierbei bietet die therapeutische
sam wieder einsetzende Belastbarkeit erleben viele Arzt-Patient-Beziehung ein wichtiges Lernfeld, in
Patienten als schwer zu ertragende Passivität. Ihr dem maladaptive Beziehungsmuster, die zu emo-
Leben war bisher auf Selbstbestätigung durch Leis- tionaler Belastung führen, deutlich werden und
tung ausgerichtet und nicht mit einer längeren Bett- auch verändert werden können (Dong et al. 2004).
ruhe und Schonung vereinbar (. Abb. 14.2). Da-
durch zeigen diese Patienten bald wieder die Ten- Sexualität und koronare Herzkrankheit
denz, in ihre alten Lebens- und Arbeitsweisen z. B. Viele Patienten und ihre Partnerinnen haben Sorge,
in Bezug auf Rauchen, Ernährung, Überstunden dass die körperliche Belastung durch den Sexualakt
zurückzufallen. den Kranken gefährdet. Männer sind häufig verun-
Maßnahmen zur Prävention und Behandlung sichert, was ihre Potenz betrifft, vor allem dann,
der KHK, die lediglich an der Veränderung des Le- wenn sie Medikamente nehmen müssen, welche
bensstils (z. B. Ernährungsberatung, Anleitung zu vermeintlich die Sexualität stören können (z. B. Be-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
Literatur
173 14
tablocker). Das aktive Ansprechen der Sexualität KHK beachtet und entsprechende Kontrollen (v. a.
durch den Arzt entlastet den Patienten und zeigt das EKG) veranlasst werden. Zu berücksichtigen sind
Interesse an seiner zukünftigen Lebensqualität. Das ausserdem die vielfältigen Interaktionen von Psy-
Gesprächsangebot wird meist gerne angenommen. chopharmaka und kardial wirksamen Medikamen-
Ausführliche Empfehlungen bzgl. sexueller Aktivi- ten (Mayer 2015).
tät und kardiovaskulären Erkrankungen veröffent-
lichte die American Heart Association (AHA; Levi-
ne et al. 2012). Literatur

Zitierte Literatur
Albus C, Wöller W, Kruse J (2010) Die körperliche Seite nicht
14.2.3 Psychotherapie nach Herzinfarkt vernachlässigen. Patienten mit somatischen und »psy-
chosomatischen« Erkrankungen. In: Wöller W, Kruse J
Bei 20 % der Patienten besteht sowohl im Akut- (Hrsg) Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie –
Basisbuch und Praxisleitfaden. Schattauer, Stuttgart,
krankenhaus als auch in der ambulanten oder sta- S 408–420
tionären Rehabilitation ein Bedarf an psychothera- Barth J, Schumacher M, Herrmann-Lingen C (2004) Depres-
peutischer Unterstützung. sion as a risk factor for mortality in patients with coronary
Folgende Behandlungsmaßnahmen haben sich heart disease: a meta-analysis. Psychosom Med 66:
bewährt: 802–13
Denollet J, Schiffer A, Spek V (2010) A general propensity to
4 Kognitiv-behavioral ausgerichtete Trainings-
psychological distress affects cardiovascular outcomes.
programme zur Reduktion von Stressbelastung Evidence from research on the type D (distressed)
und Förderung gesundheitsbewusster Ver- personality profile. Circ Cardiovasc Qual Outcomes 3:
haltensweisen mit dem Ziel kardiovaskuläre 546–557
Risikofaktoren zu beeinflussen. Dong M, Giles WH, Felitti VJ et al. (2004) Insights into Causal
Pathways for Ischemic Heart Disease- Adverse Childhood
4 Psychotherapeutische Modifikation koronar
Experiences Study. Circulation; 110: 1761–1766
gefährdender Verhaltens- oder Persönlich- Dusseldropp E, van Elderen T, Maes S et al. (1999) A meta-
keitsmerkmale, z. B. unterdrückter Arger, analysis of psychoeducational programs for coronary
sozialer Rückzug. heart disease patients. Health Psychol 18: 506–519
4 Psychotherapeutische und psychopharma- Heim C, Newport DJ, Mletzko T et al. (2008). The link between
childhood trauma and depression: Insights from HPA axis
kologische Behandlung der Depressivität.
studies in humans. Psychoneuroendocrinol 33, 693–710
Ladwig KH, Lederbogen F, Albus C et al. (2013) Positions-
Metaanalysen (Linden et al. 1996; Dusseldropp et al. papier zur Bedeutung psychosozialer Faktoren in der
1999) haben gezeigt, dass Kurzzeitpsychotherapie Kardiologie. Update 2013. Kardiologe 7: 7-27
psychosozialen Stress reduziert und zu signifikanter Levine GN, Steinke EE, Bakaeen FG et al. (2012) Sexual activity
Besserung von psychischem Befinden und Lebens- and cardiovascular disease: A scientific statement from
the American Heart Association. Circulation 125: 1058–
qualität führt. Die Interventionen normalisierten
1072
darüber hinaus auch die Herzfrequenz, senkten das Lichtman JH, Bigger JT Jr, Blumenthal JA et al. (2008) Depres-
Cholesterol und reduzierten das Risiko für einen sion and coronary heart disease: recommendations for
Reinfarkt und für die kardiale Mortalität. screening, referral, and treatment: a science advisory
from the American Heart Association Prevention Com-
mittee of the Council on Cardiovascular Nursing, Council
on Clinical Cardiology, Council on Epidemiology and
14.2.4 Psychopharmaka Prevention, and Interdisciplinary Council on Quality of
Care and Outcomes Research: endorsed by the American
Patienten mit einer mittelgradigen oder schweren Psychiatric Association. Circulation 118: 1768–1775
depressiven Episode in der Akutphase oder in der Linden W, Stossel C, Maurice J (1996) Psychosocial interven-
tions for patients with coronary artery disease: a meta-
chronischen Phase einer koronaren Herzkrankheit
analysis. Arch Intern Med 156: 745–752
profitieren von SSRI (z. B. Sertralin) und von Mir- Mayer, KC (2015) Arzneimittelwechselwirkungen – wie sie
tazapin. Allerdings sollten die Kontraindikationen zustande kommen. http://www.neuro24.de/p450.htm
und Warnhinweise für einzelne Substanzen bei (Zugegriffen Mai 2015)

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
174 Kapitel 14 · Koronare Herzkrankheit

Yusuf S, Hawken S, Ounpuu S et al. (2004) Effect of potentially


modifiable risk factors associated with myocardial infarc-
tion in 52 countries (the INTERHEART study): case-control
study. Lancet 364: 937–952

Weiterführende Literatur
Bardé B, Jordan J (2015) Klinische Psychokardiologie. Beiträge
zur Psychotherapie von Herzkranken. Brandes & Apsel,
Frankfurt a. M.
Hermann-Lingen C, Albus C, Titscher G (2014) Psychokardiolo-
gie – Ein Praxisleitfaden für Ärzte und Psychologen.
Deutscher Ärzteverlag, Köln

14

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
175 15

Diabetes mellitus
Werner Geigges, Ulrich Garwers, Martin Poppelreuter, Kurt Fritzsche

15.1 Theoretischer Teil – 176


15.1.1 Kennzeichen – 176
15.1.2 Symptome – 176
15.1.3 Psychosomatik des Diabetes mellitus – 176
15.1.4 Häufigkeit und Verlauf – 179

15.2 Praktischer Teil – 179


15.2.1 Erkennen psychischer Belastungen – 179
15.2.2 Therapeutische Grundhaltung – 180
15.2.3 Behandlung – 181

Literatur – 182

K. Fritzsche et al. (Hrsg.), Psychosomatische Grundversorgung,


DOI 10.1007/978-3-662-47744-1_15, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
176 Kapitel 15 · Diabetes mellitus

15.1 Theoretischer Teil 15.1.3 Psychosomatik


des Diabetes mellitus
15.1.1 Kennzeichen
Die wichtigsten komorbiden psychischen Störun-
Hauptformen des Diabetes mellitus sind der Diabe- gen im Kontext eines Diabetes mellitus sind:
tes mellitus Typ 1, gekennzeichnet durch eine ver- 4 Depressionen,
minderte Insulinsekretion infolge eines Autoim- 4 Angststörungen (Angst vor Folgeschäden,
munprozesses, und der Diabetes mellitus Typ 2, Hypoglykämieangst, soziale Phobie, Spritzen-
gekennzeichnet durch eine gestörte Insulinwirkung phobie),
bzw. Insulinresistenz und einen relativen bzw. im 4 Essstörungen (Binge eating disorder, Bulimie
Spätstadium auch absoluten Insulinmangel. Beide und insbes. atypische Essstörungen),
Formen können auch in Kombination vorkommen. 4 diabetesunabhängige psychische Erkran-
Weitere Formen sind der Diabetes mellitus Typ 3 kungen, die eine Diabeteseinstellung
(genetische Defekte und sekundäre Diabetesfor- erschweren.
men) und der Typ 4 (Gestationsdiabetes).
Diabetes mellitus und Depression
Die Prävalenz depressiver Störungen ist bei Patienten
15.1.2 Symptome mit Diabetes mellitus etwa doppelt so hoch wie in der
Allgemeinbevölkerung (Anderson et al. 2001). Um-
Der alle Diabetesformen definierende Befund ist gekehrt erhöht eine Depression die Wahrscheinlich-
die Blutzuckerdysregulation, die mit hyper- und bei keit an einem Diabetes Typ 2 zu erkranken. Für die
entsprechender insulinotroper Medikation auch klinische Praxis ist von zentraler Bedeutung, dass das
mit hypoglykämischen Entgleisungen einhergehen Vorliegen depressiver Symptome signifikant das Co-
kann und die im Folgenden beschriebenen typi- pingverhalten und damit auch den Verlauf der Er-
schen Symptome aufweist: krankung beeinflusst, und zwar unabhängig davon,
Hyperglykämien imponieren neben den be- ob die Depression primär oder sekundär im Sinne
kannten somatischen Symptomen wie Polyurie und einer Anpassungsstörung oder organisch (mit-)be-
Polydipsie durch Müdigkeit, Antriebsmangel, Kon- dingten affektiven Störung besteht. Dieser Zusam-
zentrationsmangel und Gewichtsabnahme, die ähn- menhang ist auch schon bei leichten Ausprägungen
lich den Symptomen bei einer depressiven Erkran- der psychischen Symptomatik, also auch schon bei
kung sein können. subklinischen depressiven Symptomen, nachweisbar.
Typische adrenerge und neuroglykopenische Den Teufelskreis aus Depression und schlechter
Symptome bei Hypoglykämien sind: Bewusstseins- Stoffwechseleinstellung zeigt . Abb. 15.1.
trübung, Unruhe, Gereiztheit bis hin zu aggressi- Die psychophysiologischen Bindeglieder sind,
15 vem Verhalten, begleitet von Schwitzen, Tachykar- ähnlich wie bei der koronaren Herzkrankheit
die und teilweise Angstgefühlen, andererseits psy- (7 Kap. 14): Hyperaktivität der Stressachse mit er-
chomotorische und kognitive Verlangsamung, re- höhter Kortisol- und STH-Ausschüttung, Hyperre-
duzierte Orientierungs- und Urteilsfähigkeit bis hin gulation des sympathischen Nervensystems (Kate-
zu Hilflosigkeit, die Fremdhilfe erforderlich macht cholaminausschüttung) mit Aktivierung des Im-
(schwere Hypoglykämie). Oft mangelt es den Be- munsystems, Verstärkung der Insulinresistenz und
troffenen in dieser Situation an rationaler Einsicht, einer erhöhten Gerinnungsaktivität. Auf der Ver-
was dann nicht selten zu Unverständnis und Kon- haltensebene kommt es bei einem Teil der depressiv
flikten mit besorgten Familienmitgliedern oder Erkrankten zur Verstärkung eines adipogenen und
Freunden und Arbeitskollegen führen kann. Die diabetogenen Lebensstils mit hochkalorischer, fett-
starke Ähnlichkeit eines Teils der genannten hypo- reicher Ernährung, einer verminderten körperli-
glykämischen Symptome mit den Symptomen einer chen Aktivität, häufigerem Nikotinkonsum sowie
Panikstörung kann differentialdiagnostische Pro- verminderter Therapieadhärenz, was die Manifes-
bleme bei komorbider Angststörung aufwerfen. tation eines Diabetes mellitus Typ 2 begünstigt.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
15.1 · Theoretischer Teil
177 15

Depression

Psychische Störungen
Körperliche Symptome
Stimmungslage, Antrieb,
Kraftlosigkeit/Erschöpfung
Motivation, Selbstwert

Diabetes
Stoffwechsellage

. Abb. 15.1 Teufelskreis aus Depression und schlechter Stoffwechseleinstellung. (Mod. nach Lange u. Hirsch 2002; mit
freundlicher Genehmigung)

Die Komorbidität von Diabetes mellitus mit ei- leichteren Formen einer Depression um das 8fache,
ner depressiven Störung ist mit einer geringeren für Patienten mit schweren Depressionen sogar um
Lebensqualität, häufigeren Therapieabbrüchen, das 11fache im Vergleich zu Diabetespatienten ohne
ungünstigeren Stoffwechseleinstellungen, höherem eine Depression. Aber auch das Risiko für makro-
Risiko für diabetische Folgeschäden, einer insge- vaskuläre Komplikationen war bei depressiven Dia-
samt erhöhten Morbidität und Mortalität sowie hö- betespatienten um das 2,5fache erhöht. Das Morta-
heren medizinischen Versorgungskosten assoziiert litätsrisiko zeigte gar eine Erhöhung um etwa das
(Kruse et al. 2006). In einer amerikanischen Längs- 5-fache (. Abb. 15.2).
schnittstudie (Black et al. 2003), in welcher über
einen Zeitraum von 7 Jahren 2830 Diabetespatien-
ten betreut wurden, stieg das Risiko für mikrovas-
kuläre Komplikationen für Diabetespatienten mit

12 11,32

10
8,63
8
Relatives Risiko

6,89

6
4,94
4,59
3,94
4
2,4 2,64 2,31
1,65 1,91
2
1 1,35 1 1 1

0
Makrovaskuläre Mikrovaskuläre Funktionelle Mortalität
Kompl. Kompl. Einschränkungen

kein Diabetes Diabetes ohne Depression


Diabetes mit leichter Depression Diabetes mit schwerer Depression

. Abb. 15.2 Folgekomplikationen des Diabetes mellitus. (Mod. nach Black et al. 2003). Kein Diabetes (weiß), Diabetes ohne
Depression (hellgrau), Diabetes mit leichter Depression (dunkelgrau), Diabetes mit schwerer Depression (schwarz)

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
178 Kapitel 15 · Diabetes mellitus

Diabetes mellitus und Angst- Diabetes mellitus und Essstörungen


und Zwangsstörungen Mädchen in der Adoleszenz mit einem Diabetes
Die Prävalenz klinisch relevanter Angststörungen mellitus Typ 1 haben ein erhöhtes Risiko zumindest
ist bei Menschen mit einem Diabetes mellitus für eine subklinische bzw. atypische Essstörung.
ca. 20 % höher als bei stoffwechselgesunden Men- Mitverantwortlich für das gehäufte Auftreten von
schen, für die eine Lebenszeitprävalenz von 15 % Essstörungen bei Menschen mit Diabetes mellitus
beschrieben wurde (Meyer et al. 2000). Bislang ist ist die notwendige lebenslange Auseinandersetzung
aber unklar, ob es eine spezifische Häufung einzel- mit Nahrungsmitteln, Gewichtsregulation und kör-
ner Formen von Angststörungen bei Diabetespa- perlicher Aktivität, um eine normnahe Stoffwechsel-
tienten gibt. Angststörungen gehen oft mit zusätz- einstellung zu erreichen. Daneben besteht insbe-
lichen psychischen Erkrankungen einher (Külzer et sondere in der Pubertät und Adoleszenz häufig ein
al. 2014, S3-Praxisleitlinien Diabetes und Soziales). problematisches Selbstwertgefühl, das durch die
Einige Formen können einen Einfluss auf den Um- Gewichtszunahme nach Diabetesmanifestation und
gang mit der Erkrankung haben. So verzichten z. B. Stoffwechselrekompensation durch das anabole In-
Patienten mit einer sozialen Phobie häufig auf BZ- sulin weiter erschüttert wird und zu einem gezügel-
Messungen und Insulininjektionen in der Öffent- ten Essverhalten bis hin zu den genannten gegen-
lichkeit aus Angst unangenehm aufzufallen. regulatorischen Maßnahmen führen kann. Durch
Die häufigste diabetesbezogene Angst, die sich die bewusste Reduktion der Insulindosis, sog. Insu-
nicht einer ICD-10 Kategorie zuordnen lässt, ist die linpurging (Häufigkeit je nach Studie 9–39 %), wird
Hypoglykämieangst, insbesondere nach dem Erle- i. S. einer gegenregulatorischen Maßnahme ähnlich
ben einer schweren Hypoglykämie mit Kontroll- dem Erbrechen bei der Bulimia nervosa durch eine
verlust. Dabei werden deutlich erhöhte Blutzucker- hierdurch induzierte Glucosurie eine Gewichtszu-
werte in Kauf genommen, um diese angstbesetzten nahme verhindert.
Hypoglykämiesituationen zu vermeiden oder auch Somit kann die Essstörung als individuelle Ant-
um sich dem kontrollierenden Verhalten des Fami- wort auf den Stress einer chronischen Erkrankung
liensystems zu entziehen. Oft ist es für Betroffene verstanden werden, sodass in dieser sensiblen Phase
schwierig, die ersten Hypoglykämiesymptome eine nachhaltige Störung der psychosozialen Ent-
wahrzunehmen, richtig zu interpretieren und ange- wicklung möglich ist.
messen zu reagieren. Für den Patienten entwickelt Dem Typ 2 Diabetes mellitus geht in 80 % der
sich eine Gratwanderung zwischen normnaher BZ- Fälle eine behandlungsbedürftige Adipositas voraus
Kontrolle zur Vermeidung von Folgeschäden und (Herpertz et al. 1998).
dem Inkaufnehmen von zumindest leichten Hypo-
glykämien, die wiederum langfristig eine Adapta- Krankheitswahrnehmung und -verhalten
tion an niedrige Blutzuckerwerte und eine damit Erforderlich ist eine lebenslange Perspektive der
15 einhergehende Abnahme der Alarmsignale begüns- Krankheitsbewältigung. Liebgewonnene bzw. tra-
tigen. dierte Lebensformen müssen aufgegeben und neue
Ängste vor diabetesspezifischen Komplikatio- z. T. aversiv erlebte Lebensstile implementiert wer-
nen und Folgeschäden sind Realängste. Sie können den. Insbesondere die modernen diabetologischen
aber auch zu zwanghaft erscheinenden häufigen Therapiekonzepte haben gemeinsam mit größerer
BZ-Kontrollen und Überkorrekturen von vermeint- Unabhängigkeit und Handlungsfreiheit für Patien-
lich oder auch tatsächlich erhöhten BZ-Werten füh- ten auch extrem hohe Anforderungen an die Selbst-
ren, mit einem erhöhten Risiko für Hypoglykämien. managementfähigkeiten mit sich gebracht. Wichti-
Bei der relativ selten vorkommenden Spritzen- ge kritische Übergangspunkte in der Krankheits-
phobie kann es zu vasovagalen Reaktionen im Rah- biographie mit der Gefahr maladaptiver Bewälti-
men von Insulinapplikationen kommen oder auch gungsstrategien und nachfolgender negativer
zum Vermeiden einer medizinisch notwendigen Entwicklungen sind vor allem:
Insulintherapie (»psychische Insulinresistenz«). 4 Der Zeitpunkt der Diagnosestellung, der die
meisten Betroffenen mit einer für sie völlig

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
15.2 · Praktischer Teil
179 15
neuen Thematik und einem daraus resultie- ginale Lubrikationsstörungen und damit einherge-
renden hohen Bedarf an Informations- und hende Schmerzen sowie eine fehlende oder einge-
Kompetenzvermittlung konfrontiert. schränkte Orgasmusfähigkeit beschrieben (Enzlin
4 Beginn einer intensivierten (Insulin-)Therapie, et al. 2002, 2009).
den viele Betroffene für sich als Misserfolg
(»nicht gut genug mit meinem Diabetes um-
gegangen«) und als einen »point of no return« 15.1.4 Häufigkeit und Verlauf
in der Therapie (»von jetzt an wird es immer
schwieriger!«) erleben. Ca. 10 % der deutschen Bevölkerung, das sind
4 Erstes Auftreten von diabetischen Folgeschä- ca. 8 Millionen Bürger (Hauner 2008) sind vom ma-
den, was ebenfalls und verstärkt selbstabwer- nifesten Diabetes mellitus oder vom Prädiabetes
tende Kognitionen zum bisherigen Coping als betroffen. Die Wahrscheinlichkeit bis zum Alter
auch zukunftsbezogene Ängste auslöst. von 80 Jahren an einem Diabetes zu erkranken be-
trägt für Frauen 33 % und für Männer 39 % (Nara-
53 % der Typ 2 Diabetiker sind selbst überzeugt sich yan et al. 2003). Die Lebenserwartung der Betroffe-
an die Empfehlungen der Ärzte zu halten, aber aus nen ist je nach Alter bei Diagnosestellung und Blut-
Sicht der Ärzte wird die Adhärenz der Patienten nur zuckereinstellung im Durchschnitt um 10 Jahre re-
in 3 % als gut eingeschätzt (Peyrot et al. 2005). duziert (Gregg et al. 2012).
Hauptursache sind Kommunikationsschwierigkei- Der Typ 2 Diabetes mellitus ist mit 90 % die häu-
ten, Fehlwahrnehmung und Fehlbewertung der Er- figste Diabetesform. Genetische Disposition, Adipo-
krankung und der Behandlungsbedürftigkeit durch sitas, fett- und kalorienreiche Ernährung, mangeln-
den Patienten, meistens aufgrund von Wissensdefi- de körperliche Aktivität und ein höheres Lebensalter
ziten. sind Risikofaktoren für die Entstehung. Beim Typ 1
Weiterhin bestehen Vorbehalte gegenüber einer Diabetes mellitus, der etwa 10 % aller diabetischen
Insulinbehandlung, was in der Literatur als psycho- Patienten betrifft, liegt eine fortschreitende Zerstö-
logische Insulinresistenz bezeichnet wird (Petrak rung der insulinproduzierenden β-Zellen in den
2006). Die Patienten haben zwar eine positive Er- Langerhansschen Inseln des Pankreas vor. Diese
wartung an eine wirksame Insulintherapie, sie ha- Form des Diabetes mellitus manifestiert sich über-
ben jedoch Ängste vor Hypoglykämien, einer Stig- wiegend im Kindes- und Jugendalter, d. h. in einer
matisierung durch Insulinspritzen und das Gefühl, besonders sensiblen Phase der Autonomieentwick-
im Rahmen des Krankheitsprozesses den »point of lung eines Menschen. Folgeerkrankungen bei bei-
no return« erreicht zu haben und fühlen sich insge- den Diabetesformen sind die Mikro- und Makroan-
samt durch eine Insulintherapie überfordert. giopathie mit Retinopathie, Nephropathie, kardio-
vaskulären Erkrankungen sowie die Neuropathie
Diabetes und Sexualität und das diabetische Fußsyndrom.
Die Nationale Vesorgungsrichtlinie Neuropathie
bei Diabetes (2012) empfiehlt, beim Vorliegen einer
autonomen diabetischen Neuropathie gezielt nach 15.2 Praktischer Teil
sexuellen Funktionsstörungen zu fragen (s. auch
7 Kap. 21 »Sexualmedizin«). Die am häufigsten vor- 15.2.1 Erkennen psychischer
kommende sexuelle Funktionsstörung im Zusam- Belastungen
menhang mit Diabetes mellitus ist die Erektions-
störung des Mannes. Das Schulungsprogramm Depressive Störungen
WENUS (Wieder normal und spontan Sexualität Das Spektrum depressiver Erlebens- und Reaktions-
erleben; Kulzer et al. 2003) richtet sich an männliche weisen im Kontext eines Diabetes mellitus reicht
Diabetespatienten mit erektiler Dysfunktion. In von angemessenen und nachvollziehbaren Reaktio-
letzter Zeit werden aber auch spezifisch weibliche nen von Trauer, Verunsicherung und Enttäuschung
Störungen wie neurologisch-vaskulär bedingte va- durch die Diagnosestellung oder den Krankheits-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
180 Kapitel 15 · Diabetes mellitus

verlauf über Probleme der Therapieadhärenz und


Krankheitsbewältigung, bis hin zu klinisch relevan- 5 Angst vor Folgestörungen:
ten und behandlungsbedürftigen Formen depressi- – »Machen Sie sich häufig Sorgen, ob zu
ver Erkrankungen. hohe Blutzuckerwerte zu weiteren ge-
Screeningfragen (7 Kap. 12 »Depression und sundheitlichen Schäden oder Einschrän-
Suizidalität«) bezogen auf die letzten 2 Wochen sind kungen führen könnten?«
(Loewe et al. 2005): 5 Zwangssstörung:
4 »Haben Sie sich im letzten Monat oft nieder- – »Gibt es die Neigung zu häufigem Blut-
geschlagen, traurig, bedrückt oder hoffnungs- zucker messen, welches Sie immer wie-
los gefühlt?« der ausführen müssen, auch wenn Sie
4 »Hatten Sie im letzten Monat deutlich weniger wissen, dass es unsinnig ist und Sie ver-
Interesse und Lust an Dingen, die Sie sonst suchen, sich dagegen zu wehren?«
gerne tun?«

Zur Erfassung diabetesspezifischer Belastungen hat Zur Erfassung psychologischer Barrieren der In-
sich der Fragebogen zu Belastungen und Problemen sulintherapie existiert ein validierter Fragebogen
im Umgang mit der Diabeteserkrankung bzw. des- (Petrak 2006).
sen Behandlung (PAID) (Deutsche Version: Kulzer
et al. 2002; PAID Originalversion: Polonsky et al. Essstörungen
1995) etabliert. Die Fragebogen PAID und WHO-5 Besonders bei jugendlichen Patienten mit unzurei-
(WHO 1998) sind kostenlos von der Website der chender Stoffwechseleinstellung und erheblichen
Arbeitsgemeinschaft Diabetes und Psychologie, Blutzuckerschwankungen trotz Diabetesschulung
DDG »Diabetes und Psychologie e. V.«, abrufbar sollte an eine Essstörung einschließlich »Insulin-
(www.diabetespsychologie.de). Purging« gedacht werden. Weitere Kriterien sind
übertriebenes Diätverhalten, Sorgen um das eigene
Dysfunktionale und behandlungs- Körpergewicht, gestörte Körperwahrnehmung, dras-
bedürftige Ängste und Zwänge tische Gewichtsverluste oder Gewichtszunahmen auf
In der Erhebung der Anamnese sollten weitere ge- dem Boden einer starken Selbstwertproblematik, oft
zielte Screeningfragen gestellt werden. in Verbindung mit depressiven Symptomen.

Screeningfragen zu Ängsten und Zwängen 15.2.2 Therapeutische Grundhaltung


5 Soziale Phobie:
– »Fürchten oder vermeiden Sie bestimmte Das ärztliche Gespräch sollte getragen werden von
15 Situationen, in denen Sie von anderen Empathie, Akzeptanz, Selbstkongruenz und Wert-
Menschen beobachtet oder bewertet schätzung. Ziel ist die Veränderungsbereitschaft
werden könnten, wie z. B. BZ-Messungen, und notwendige Kompetenzen zu entwickeln und
Insulinapplikationen etc.?« zu stärken. Zur motivationsfördernden Gesprächs-
5 Spritzenphobie: führung s. auch 7 Kap. 18 »Suchtkrankheiten«.
– »Fürchten oder vermeiden Sie den Wichtige Prinzipien der motivationsfördernden
Anblick von Blut, Verletzungen, Insulin- Gesprächsführung sind eine grundsätzlich unterstüt-
spritzen bzw. PENs?« zende Gesprächshaltung, die Vermittlung von Empa-
5 Angst vor Hypoglykämien: thie sowie eine Betonung der Entscheidungsfähigkeit
– »Befürchten Sie, in der Öffentlichkeit auf- des Patienten (Miller u. Rollnick 2002). Gleichzeitig
grund eines »Unterzuckers« die Kontrolle ist der Ansatz explizit direktiv auf die Förderung »ge-
zu verlieren, ohnmächtig oder hilflos zu sunder« Verhaltensweisen ausgerichtet. Verände-
sein?« rungsmotivation wird über die Explikation von Dis-
krepanzen zwischen Werten und Zielen des Patien-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
15.2 · Praktischer Teil
181 15
ten und seinem Verhalten entwickelt, die im Ge-
spräch offengelegt werden. Weitere wichtige 5 Bewältigung des Diabetes und seiner
Prinzipien sind die Akzeptanz von Problemen als möglichen Konsequenzen in verschiedenen
normalen Ereignissen im Rahmen einer chronischen Lebensbereichen (Freizeit, Familie, Beruf )
Erkrankung. Angestrebt werden realistische Zielset- 5 Prävention und Bewältigung von Akut- und
zungen im Umgang mit dem Diabetes, wobei die Folgekomplikationen
Ziele des Patienten bestimmend sind, die kompatibel 5 Erfolgreicher Umgang mit psychischen
sein müssen mit seiner Lebenssituation. Zielformu- Störungen im Zusammenhang mit der
lierungen im Sinne von BZ- oder HbA1c-Werten Erkrankung (z. B. Depressionen, Ängste,
sind zwar möglicherweise aus Behandlersicht sinn- Essstörungen)
voll, selten aber für Patienten wirklich motivierend,
zumindest so lange sie nicht, mit persönlichen Anlie-
gen oder Zielen (»gute Gründe, mich um meine Ge- Es ist sinnvoll, psychodiabetologische Interven-
sundheit zu kümmern«) verknüpft sind. Weiterhin tionen in unterschiedlichen Intensitätsstufen zu
ist es wichtig, auch kleine Erfolge zu validieren, per- konzeptualisieren.
sönliche und soziale Ressourcen anzusprechen und Die erste Stufe wäre die Beratung im Sinne von
zu nutzen und ebenso mögliche individuelle oder Informationsvermittlung zu Krankheitsbild und
soziale Barrieren zu identifizieren und nach mögli- Bewältigungsstrategien, verbunden mit Ermuti-
chen Lösungen zu suchen. gung und Motivierung für diesen komplexen Pro-
zess. Auf der zweiten Stufe sehen wir ein kontinu-
ierliches Monitoring durch Behandler im Hinblick
15.2.3 Behandlung auf psychische Befindlichkeit, Lebensqualität und
Krankheitsbewältigung, die es ermöglicht, bei auf-
Die folgende Übersicht zeigt eine Auflistung der tretenden Problemen schnell und flexibel zu reagie-
Voraussetzungen für eine erfolgreiche Anpassung ren. Bei entsprechender psychodiabetologischer
an die Erfordernisse eines Diabetes mellitus (Petrak Expertise und zeitlichen Valenzen lassen sich ver-
u. Herpertz 2008). Patienten brauchen nicht nur mutlich viele Belastungen im Rahmen der fachärzt-
eine gute internistisch-diabetologische Betreuung, lichen Beratung adäquat bearbeiten. Der Einbezug
sondern auch psychoedukative und bei Bedarf auch von Beratungsliteratur, Selbsthilfegruppen oder
psychotherapeutische und psychopharmakologi- spezifischen Schulungen im Verlauf bietet weitere
sche Behandlungsmaßnahmen. Möglichkeiten zur Übertragung von Verantwor-
tung (»empowerment«) an die Betroffenen. Als
dritte Stufe im Rahmen eines solcherart geführten
Voraussetzungen für eine erfolgreiche »stepped care«-Ansatzes wäre schließlich der Ein-
Anpassung an den Diabetes bezug spezifischer psychotherapeutischer Fach-
(Petrak u. Herpertz 2008) kompetenz. Grundsätzlich sollte die Psychotherapie
5 Aufbau einer langfristigen kooperativen von Patienten mit einem komorbiden Diabetes mel-
Arzt-Patient-Beziehung litus möglichst von Therapeuten mit psychodiabe-
5 Erlernen von Wissen und Fertigkeiten zur tologischen Kenntnissen oder zumindest in enger
Selbstbehandlung (Diabetesschulung) Kooperation mit dem behandelnden Diabetologen
5 Umsetzung der Therapieempfehlungen im erfolgen.
Alltag Mithilfe der strukturierten Patientenschulung
5 Emotionale und kognitive Akzeptanz des soll der Patient durch Erwerb von Kenntnissen und
Diabetes Fähigkeiten über die Erkrankung und deren Be-
5 Erkennen und Bewältigung von Barrieren, handlung in die Lage versetzt werden, auf der Basis
die einer erfolgreichen Diabetesbehand- eigener Entscheidungen den Diabetes in das eigene
lung entgegenstehen Leben zu integrieren, negative Konsequenzen zu
vermeiden bzw. hinauszuzögern und die Lebens-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
182 Kapitel 15 · Diabetes mellitus

qualität zu erhalten (Kulzer et al. 2014). Gleichzeitig oder psychologischen Psychotherapeuten erfolgen.
wird deutlich, dass angesichts der lebenslangen Not- Bisher liegen keine Hinweise vor, dass die bei Angst-
wendigkeit einer aktiven Auseinandersetzung mit störungen etablierten, überwiegend verhaltensthe-
der Erkrankung und möglicher Veränderungen im rapeutisch orientierten Therapieverfahren bei einer
Verlauf, sowohl in Bezug auf Krankheits- und Be- Komorbidität mit einem Diabetes mellitus weniger
handlungsparameter als auch personseitig, eine wirksam sind als bei Stoffwechselgesunden. Als Er-
»einmal für alle Zeiten-Schulung« nicht ausreichend gänzung können Serotonin-Wiederaufnahmehem-
ist, sondern dass »Nachschulungen« und thematisch mer (SSRI) und kurzfristig zur Krisenintervention
fokussierte Interventionen in Abhängigkeit vom in- Benzodiazepine eingesetzt werden. Bei Hypoglykä-
dividuellen Bedarf sinnvoll und notwendig sind. mieängsten, die in Zusammenhang mit Wahrneh-
mungsstörungen der Hypoglykämie stehen, existie-
Diabetes mellitus und Depression ren strukturierte und evaluierte Trainingsprogram-
Die Behandlung leichter oder mittelgradiger und me zur Verbesserung der Detektion von Hypogly-
schwerer Depressionen erfolgt wie in 7 Kap. 12 »De- kämien (Kulzer et al. 2014).
pression und Suizidalität« beschrieben. Eine psycho-
pharmakologische Therapie bedarf vor dem Hinter- Diabetes mellitus und Esstörungen
grund der Komorbidität Diabetes mellitus einer Aufgrund des komplexen Krankheitsbildes sollte
besonderen Beachtung der Nebenwirkungen und diese Behandlung von einem ambulanten Fachpsy-
Kontraindikationen sowie der Interaktionen mit chotherapeuten (Fachpsychologe Diabetes, zertifi-
dem Glukosestoffwechsel und anderen Medika- zierte Weiterbildung im Rahmen der Deutschen
menten. Die medikamentöse antidepressive Be- Diabetesgesellschaft) oder teilstationär bzw. statio-
handlung sollte entsprechend möglichst nicht mit när erfolgen, insbesondere aufgrund der mit der
Mirtazapin wegen seiner appetitsteigernden und Anorexia nervosa einhergehenden vitalen Bedro-
adipogenen sowie diabetogenen Nebenwirkungen hung.
erfolgen. Bei kardialen Begleit- oder Folgeerkran-
kungen sind trizyklische Antidepressiva problema-
tisch. Aber auch bei der Verordnung von neueren Literatur
SSRI (z. B. Sertralin) müssen die Möglichkeit der
Zitierte Literatur
QT-Zeit-Verlängerung im EKG mit dem erhöhten
Anderson RJ, Freeland KE, Clouse RE et al. (2001) The preva-
Risiko fataler Herzrythmusstörungen und eine er- lence of comorbid depression in adults with diabetes:
höhte Insulinsensitivität mit dem Risiko von ge- a meta-analysis. Diabetes Care 24: 1069–1078
häuften Hypogykämien bzw. eine notwendige Insu- Black SA, Markides KS, Ray LA (2003) Depression predicts
lindosisreduktion berücksichtigt werden. increased incidence of adverse health outcomes in older
Zusammengefasst zeigt sich in den neueren Mexican Americans with type 2 diabetes. Diabetes Care
15 Studien, dass psychotherapeutische oder psycho-
26: 2822–2828
Enzlin P, Mathieu C, van der Bruel A et al. (2002) Sexual dys-
edukative Interventionen bei komorbider Depres- function in women with type 1 diabetes. Diabetes Care
sion eine moderate Reduktion der Depression und 25: 672–677
eine geringgradige Verbesserung der HbA1c-Werte Enzlin P, Rosen R, Wiegel M et al. (2009) Sexual dysfunction in
bewirken. women with type 1 diabetes. Diabetes Care 32: 780–785
Gregg EW, Cheng YJ, Saydah S et al. (2012) Trends in Death
rates among U.S. Adults With and Without Diabetes
Diabetes mellitus und Angststörungen
between 1997 and 2006: Findings from the National
Bei leichten, subklinischen Ängsten sind Gespräch Health Interview Survey. Diabetes Care 35: 1252–1257
und Beratung zu den diabetesspezifischen Ängsten Hauner H (2008) Diabetesepidemie und Dunkelziffer. In:
indiziert. Bei geringgradigen Phobien helfen Ermu- Deutsche Diabetes-Union (Hrsg) Deutscher Gesundheits-
bericht Diabetes 2008. Kirchheim, Mainz, 7–11
tigung und Anleitung zur Exposition gegenüber
Herpertz S, Albus C, Wagener R et al. (1998) Comorbidity of
befürchteten Situationen. Bei mittelgradigen oder diabetes and eating disorders. Does diabetes control
schweren Angststörungen sollte die Überweisung reflect disturbed eating behavior? Diabetes Care 21:
zu einem diabetologisch erfahrenen, ärztlichen 1110–1116

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
Literatur
183 15
Kruse J, Petrak F, Herpertz S et al. (2006) Diabetes mellitus
und Depression – eine lebensbedrohliche Interaktion.
Z Psychosom Med Psychother 52: 289–309
Kulzer B, Hermanns N, Ebert M et al. (2002) Problembereiche
bei Diabetes (PAID) – Ein neues Messinstrument zur Erfas-
sung der emotionalen Anpassung an Diabetes. Diabetes
Stoffwechsel 11 (Suppl 1): 144; http://www.diabetespsy-
chologie.de/templates/main.php?SID=711 (Zugegriffen
Juni 2015)
Kulzer B, Maier B, Hermanns N (2003) WENUS – Wieder normal
und spontan Sexualität erleben. Kirchheim, Mainz
Kulzer B, Albus C, Herpertz S et al. (2014) DDG Praxis-Leitlinie:
Psychosoziales und Diabetes mellitus. Diabetologie
(Suppl 2) 3: 155–168
Lange K, Hirsch A (2002) Psycho-Diabetologie: Personenzen-
trierter beraten und behandeln, Kirchheim, Mainz
Loewe B, Kroenke K, Grafe K (2005) Detecting and monitoring
depression with a two-item questionnaire (PHQ). J Psy-
chosom Res 2(58): 163–171
Meyer C, Rumpf HJ, Hapke U et al. (2000) Lifetime prevalence
of mental disorders in general adult population. Results
of TACOS study. Nervenarzt 71: 535–542
Miller WR, Rollnick S (2002) Motivational Interviewing: prepar-
ing people for change. Guildford, New York (dt.: Motivie-
rende Gesprächsführung, Freiburg, Lambertus 1999)
Narayan KM, Boyle JP, Thompson TJ et al. (2003) Lifetime risk
for diabetes mellitus in the United States. JAMA 290:
1884–1890
Nationale VersorgungsLeitlinie Neuropathie bei Diabetes im
Erwachsenenalter (2012) Dtsch Ärztebl 109 (4),
A166-A169
Petrak F (2006) Psychologische Barrieren der Insulintherapie
bei Patienten mit Typ-2-Diabetes. Diabetes Stoffwechsel
Herz 15: 28–34
Petrak F und Herpertz S (2008) Psychosomatische Aspekte des
Diabetes mellitus. Psychotherapeut 53: 293–305
Peyrot M, Rubin RR, Lauritzen T et al. (2005) Psychosocial
problems and barriers to improved diabetes manage-
ment: results of the Cross-National Diabetes Attitudes,
Wishes and Needs (DAWN) Study. Diabet Med 22: 1379–
1385
Polonsky WH, Anderson BJ, Lohrer PA et al. (1995) Assessment
of diabetes-related distress. Diabetes Care 18: 754–760
WHO (1998) Psychiatric Research Unit. WHO Collaborating
Center for Mental Health, Hillerød

Weiterführende Literatur
Kulzer B, Albus C, Herpertz S et al. F (2013) Psychosoziales und
Diabetes. S2-Leitlinie Psychosoziales und Diabetes –
Langfassung. Diabetologie und Stoffwechsel, 8(3):
198–242

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
185 16

Adipositas und metabolisches


Syndrom
Kurt Fritzsche, Daniela Wetzel-Richter, Werner Geigges

16.1 Adipositas – 186


16.1.1 Theoretischer Teil – 186
16.1.1.1 Kennzeichen und diagnostische Einteilung – 186
16.1.1.2 Häufigkeit und Verlauf – 186
16.1.1.3 Psychosoziale Folgen der Adipositas – 186
16.1.1.4 Ursachen – 186
16.1.2 Praktischer Teil – 187
16.1.2.1 Erkennen von Übergewicht und Adipositas – 187
16.1.2.2 Grundhaltung – 187
16.1.2.3 Arzt-Patient-Beziehung – 188
16.1.2.4 Behandlung – 188

16.2 Metabolisches Syndrom – 190


16.2.1 Theoretischer Teil – 190
16.2.1.1 Kennzeichen – 190
16.2.1.2 Ursachen – 190
16.2.1.3 Häufigkeit und Verlauf – 190
16.2.1.4 Depression, metabolisches Syndrom und Diabetes mellitus – 190
16.2.2 Praktischer Teil – 191
16.2.2.1 Erkennen – 191
16.2.2.2 Grundhaltung – 191
16.2.2.3 Arzt-Patient-Beziehung – 191
16.2.2.4 Behandlung – 191

Literatur – 192

K. Fritzsche et al. (Hrsg.), Psychosomatische Grundversorgung,


DOI 10.1007/978-3-662-47744-1_16, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
186 Kapitel 16 · Adipositas und metabolisches Syndrom

16.1 Adipositas wichtigen. Die Lebenserwartung verkürzt sich


um ca. 6 Jahre.
16.1.1 Theoretischer Teil
16.1.1.3 Psychosoziale Folgen
16.1.1.1 Kennzeichen und diagnostische der Adipositas
Einteilung
Neben einer psychischen Komorbidität geht die Adi-
Eine Adipositas (ICD-10: E 66.0) liegt vor, wenn ein positas je nach Ausprägung mit einer deutlichen
Body-Mass-Index (BMI) von 30 kg/m2 überschrit- Minderung der individuellen Lebensqualität einher,
ten wird. vergleichbar mit der bei chronischen körperlichen
Die Binge-Eating-Disorder (BED, engl. »to Krankheiten. Die Patienten sind bei der Arbeits-
binge« = schlingen, ICD-10: F 50.9) ist gekenn- platzsuche sozial diskriminiert und erhalten weniger
zeichnet durch: Lohn. Arbeitsunfähigkeit und vorzeitige Berentung
4 Essanfälle mit Kontrollverlust. sind häufig die Folge. Sie haben Schwierigkeiten bei
4 Essen in großer Menge in begrenzter Zeit, der Partnersuche und es kommt zu negativen Inter-
ohne Hunger, meist alleine, mit nachfolgen- aktionen mit anderen Menschen und auch mit den
dem Schamgefühl, kein Erbrechen oder andere behandelnden Ärzten. Psychische Probleme treten
regulierende Maßnahmen. in Form von Selbstwertkrisen, Schuld- und Scham-
4 Essanfälle an mindestens 2 Tagen der Woche gefühlen und sozialem Rückzug auf und führen bis
über 6 Monate. zu Depressionen, Angststörungen und somatofor-
20–30 % der Adipösen weisen trotz ihres erhöhten men Störungen. Umgekehrt erhöhen Depressionen
Body-Mass-Index kein erhöhtes Risiko für gesund- wiederum das Risiko für eine Adipositas.
heitliche Probleme auf (Stefan et al. 2013).
16.1.1.4 Ursachen
16.1.1.2 Häufigkeit und Verlauf Auf die Gewichtsregulation wirken verschiedenste
24 % der deutschen Bevölkerung haben eine Adipo- Faktoren ein, wie in . Abb. 16.1 dargestellt.
sitas mit einem BMI ≥ 30 kg/m2. Frauen und Män- Die Nahrungsaufnahme ist ein Primärbedürf-
ner sind etwa gleich betroffen (Gößwald et al. 2012). nis. Sie ist an grundlegende emotionale Erfahrun-
Die Tendenz ist deutlich steigend. Ein gehäuftes gen in der Mutter-Kind-Beziehung verknüpft (z. B.
Vorkommen findet sich bei älteren Menschen und beruhigende Wirkung beim »Stillen« des Kindes).
in den unteren sozialen Schichten. Langzeitstudien Wenn das Kind nicht ausreichend gelernt hat, nega-
belegen den Zusammenhang zwischen kindlichem tive Affektzustände zu differenzieren, z. B. Hunger
Übergewicht und Adipositas im Erwachsenenalter. von Angst oder Trauer zu unterscheiden, dann kön-
30 % der Patienten mit Übergewicht haben eine nen durch kohlenhydratreiche Nahrung negative
Binge-Eating-Disorder. Affekte gemildert werden. Neurobiologisch ist da-
Folgezustände der Adipositas sind: bei der Serotoninstoffwechsel und der Leptinstoff-
4 Endokrin-metabolische Störungen: Arterio- wechsel beteiligt. Die angeborene Regulation durch
16 sklerose, Fettstoffwechselstörungen, Diabetes das Gefühl der »Sättigung« geht verloren. Die fami-
mellitus Typ 2, arterielle Hypertonie (metabo- liäre Häufung spricht einerseits für eine genetische
lisches Syndrom), Krebserkrankungen wie z. B. Komponente. Die rasche epidemieartige, weltweite
Brustkrebs, Gebärmutterkrebs, Nierenkrebs Zunahme der Adipositas kann aber über genetische
u. a., hormonelle Störungen wie Hirsutismus Faktoren allein nicht erklärt werden. Hier scheinen
und Fertilitätsstörungen. soziokulturelle Faktoren entscheidend zu sein.
4 Herzinsuffizienz, Schlaf-Apnoe-Syndrom. Weitere psychosoziale Faktoren sind niedriger
4 Mechanische Mehrbelastung: Arthrosen an sozioökonomischer Status, v. a. bei Frauen mit ge-
den Gelenken sowie degenerative Erkran- ringer Bildung und ungelerntem Beruf, die Erfül-
kungen der Wirbelsäule. lung sozialer Normen z. B. »braves Kind«, »gute
4 Verminderte Leistungsfähigkeit und 12-fach Frau«, die Verfügbarkeit und Vorlieben für gutes
höhere Mortalität im Vergleich zu Normalge- Essen mit fetter ballaststoffarmen Kost und süßen

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
16.1 · Adipositas
187 16

Genetik Persönlichkeit
Soziokulturelle Faktoren
Anzahl der Fettzellen Biographie
Art der Menge der Nahrung
Energieverbrauch Emot. Befinden
Sozioökonomischer Status
Geschmackspräferenz Impulskontrolle
Art der Berufstätigkeit
Sättigungsregulierung

Ruhestoffwechsel (70%)
Essverhalten Körperliche Aktivität (15+%)
Kal. Thermogenese (15 %)

Energieabgabe Energieaufnahme

Körpergewicht

. Abb. 16.1 Multifaktorielles Modell der Gewichtsregulation. (Nach Albus 2004)

Getränken, Bewegungsmangel, chronischer aber her wichtig, eigene Verhaltensweisen und Risiken
auch episodischer Stress mit Depressivität und Är- sich bewusst zu machen, um mit übergewichtigen
ger, Köperschemastörungen, »man fühlt sich größer Patienten adäquat umgehen zu können.
und dünner als man ist« und ungezügeltes Essver- Der Body-Mass-Index (BMI) berechnet sich aus
halten in Form von Heißhungerattacken. dem Körpergewicht (kg) dividiert durch das Qua-
Es konnte keine mit der Adipositas assoziierte drat der Körpergröß (m)2. Die Formel lautet:
Persönlichkeitsstruktur oder –störung nachgewie- BMI = Körpergewicht : (Körpergröße in m)2.
sen werden. Bei der Binge-Eating-Störung als Ex- Die Einheit des BMI ist entsprechend kg/m2.
tremvariante gestörten Essverhaltens findet sich
BMI 20–25 Normalgewicht
allerdings eine bedeutsame Komorbidität mit insbe-
BMI 25–30 Übergewicht
sondere affektiven Störungen und Persönlichkeits- BMI > 30 Adipositas
störungen. Die Essattacken dienen oft dem Versuch,
dysphorische Stimmungen zumindest passager zu Um die abdominale Adipositas als Risikofaktor dar-
neutralisieren. Bei Traumafolgestörungen kann die zustellen, benötigt es den Bauchumfang. Das Risi-
Adipositas dazu dienen, weibliche Attraktivität ab- ko für ein metabolisches Syndrom steigt bei einem
zuwehren, um sich von männlichen Übergriffen zu Bauchumfang:
schützen. 4 Frauen > 80 cm,
4 Männer > 94 cm.

16.1.2 Praktischer Teil Weitere zu messende Parameter zur Diagnose eines


metabolischen Syndroms sind: die Triglyceride, das
16.1.2.1 Erkennen von Übergewicht HDL-Cholesterin, der Blutdruck und Nüchtern-
und Adipositas blutzucker.
Ärzte, welche selbst übergewichtig sind, erkennen
Übergewicht und Adipositas nicht in dem Maße wie 16.1.2.2 Grundhaltung
normalgewichtige Kollegen und verdrängen die Ist ein adipöser Patient in seinem Leidensdruck
Problematik. Im Sinne der Selbstreflektion ist es da- erreichbar, so kann der für die Erkrankung auf-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
188 Kapitel 16 · Adipositas und metabolisches Syndrom

geschlossene Arzt mit ihm eine Arbeitsbeziehung


aufbauen und ihn langfristig begleiten. Frustration
und Rückschläge müssen von Arzt und Patient
gemeinsam ertragen und überwunden werden
können. Es braucht eine längere Zeitperspektive
und kleine erreichbare Ziele. Dies gelingt am ehes-
ten, wenn der Arzt ein Krankheitsmodell hat,
welches den Patienten nicht schuldig spricht
für sein Verhalten, sondern biographische, sozio-
kulturelle und emotionale wie auch genetische Ur-
sachen miteinbezieht. Bei verdrängtem Leidens-
druck ist es umso schwieriger, eine Eigenmotiva-
tion des Patienten aufzubauen und die Behandlung
nicht über diesen hinweg zu planen. Hilfreich ist
stets, Essverhalten und Gewichtsreduktion mit all-
gemeinen Lebenszielen und Lebensstilen zu ver-
knüpfen.

16.1.2.3 Arzt-Patient-Beziehung
Zur Gestaltung einer tragfähigen, hilfreichen Arzt-
Patient-Beziehung sollte der Arzt:
4 Den Patienten mit Übergewicht ernst nehmen
und die Selbstwahrnehmung des Patienten
(»Ich verstehe nicht, warum ich zunehme, ich
esse doch gar nichts«) nicht als bewusste . Abb. 16.2 Cartoon: Schwere Knochen. (Zeichnung: Gisela
Täuschung ansehen (. Abb. 16.2). Mehren)
4 Seine Gegenübertragungsgefühle von Ärger,
Ablehnung, Verachtung kontrollieren, weil der
Patient dies wahrnimmt und in seinem Selbst- Ein Energiedefizit von ca. 500 kcal/Tag durch
wertgefühl weiter geschwächt wird. Nahrungsmittel mit geringer Energiedichte und
4 Enttäuschungen vorbeugen und auch selbst körperlicher Aktivität (> 150 min/Woche) wird an-
sich darauf einstellen gestrebt.
4 Bei Misserfolgen als Behandler nicht gekränkt Kleine, erreichbare Ziele statt »Alles oder Nichts«
reagieren. werden besprochen, zudem gibt es eine flexible Kon-
trolle bei Abweichung vom Plan. Ziele sollten nicht
16.1.2.4 Behandlung nur Gewichtsziele, sondern auch an allgemeinen
jMultimodales Konzept
16 Lebenszielen orientiert sein, z. B. »dann kann ich
Die Leitlinie (Hauner et al. 2014; Wirth et al. wieder Treppen steigen ohne außer Puste zu sein«.
2014) betont das individualisierte Herangehen. 5–10 % Gewichtsreduktion pro Jahr sind ein er-
Das bedeutet, die Anpassung der Therapieziele an reichbares Ziel bei einem BMI 25–35 kg/m2 bzw.
psychosoziale und organmedizinische Gegeben- > 35 kg/m2. Regelmäßige Bewegung und regelmäßi-
heiten  ist unbedingte Voraussetzung für ein er- ge Gewichtskontrollen erhöhen die Erfolgschancen.
folgreiches Gewichtsmanagement. Wann ein ärzt- Wiederkehrende Rückschläge und Stagnationspha-
licher oder psychologischer Psychotherapeut hin- sen müssen einkalkuliert und vorbesprochen wer-
zugezogen wird, muss im Einzelfall entschieden den, um Frustrationen vorzubeugen. Eine verhal-
werden. Es empfiehlt sich aber, einen Psychologen tenstherapeutische Begleitung ist erfolgverspre-
zumindest in Gruppenprogrammen hinzuzu- chend. Körperliche Fitness bei konstantem Gewicht
ziehen. verbessert bereits die metabolischen Risikofaktoren.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
16.1 · Adipositas
189 16
Erfolgversprechend sind eher Gruppenpro- rung zu unangenehmen Fettstühlen führen. Testos-
gramme als Einzelberatung. Eine Einbeziehung des teron oder Thyroxinpräparate sind zur Gewichtsab-
Familiensystems ist dringend anzuraten. nahme unzulässig. Neue Indikationen zur Ge-
Innerhalb von 1–2 Jahren ist eine durchschnitt- wichtsreduktion für Substanzkombinationen von
liche Gewichtsabnahme von ca. 4–6 kg im Rahmen Phentermin und Topiramat, Naltrexon und Bupro-
von Ernährungsprogrammen in kontrollierten Stu- pion oder Liraglutide sind in Deutschland noch
dien festgestellt worden. Allerdings gelingt es insge- nicht zugelassen. SSRI und SNRI sind in der Thera-
samt nur ca. 10–15 % aller adipösen Menschen, ihr pie der BED wirksam, jedoch hierfür nicht zugelas-
Gewicht dauerhaft zu reduzieren. sen (DGPM Leitlinien 2010).
Wichtige Behandlungselemente von multimo-
dalen Konzepten sind: jOperative Adipositastherapie
4 Ernährungsberatung zu ballaststoffreicher Adipositas-chirurgische Eingriffe (Schlauchmagen,
Mischkost geringer Energiedichte, Magenband, Magenbypass) sind indiziert bei BMI
4 ggf. initial Formuladiät (eiweißreiche, kohlen- > 40 kg/m2 oder BMI 35–40 kg/m2 mit zusätzlichen
hydratarme Kost), Risiken. Die sog. bariatrischen Operationen kön-
4 Bewegungstherapie, Sportgruppen, nen Gewichtsreduktionen von 20–40 kg in 1–2 Jah-
4 ggf. Kochgruppe, ren und eine Remission des Typ 2 Diabetes mellitus
4 verhaltenstherapeutische Gruppensitzungen bewirken.
mit Psychoedukation in Form von Motivation Die perioperative Mortalität liegt im Durch-
zur Verhaltensänderung von Ernährung schnitt bei 0,3 %, kann aber in Risikogruppen auch
und Bewegung, soziales Kompetenztraining, 2 % und höher erreichen. Die Häufigkeit von Kom-
Problemlösetraining, Stressbewältigungs- plikationen nach der Operation variiert zwischen
training, 4–25 %, abhängig von der Dauer der Nachunter-
4 Unterstützung langfristiger Gruppenkohärenz suchungen, dem operativen Procedere und indivi-
i. S. der Selbsthilfegruppe. duellen Patientencharakteristika. Langfristige Be-
obachtungsstudien zeigen ein erniedrigtes Risiko
Ein multimodales Gruppenkonzept setzt z. B. das für kardiovaskuläre Erkrankungen. Ebenfalls in
ambulante Therapieprogramm der Abteilung Langzeitbeobachtungsstudien über 10 Jahre fand
Sportmedizin der Universität Freiburg und der sich ein höheres Risiko für das Auftreten von Alko-
Sporthochschule Köln um, welches in vielen holabusus (Cuellar-Barboza et al. 2015), für Suizid
Städten schon etabliert ist und von den Kranken- und Ernährungsdefizite. Randomisiert kontrol-
kassen getragen wird (Berg et al. 2008). Psycho- lierte Studien liegen nicht vor. Eine lebenslange in-
therapie ist bei krankheitswertigen komorbiden terdisziplinäre Nachsorge ist gefordert.
psychischen Störungen wie Depression, Ängste Da also insgesamt Ungewissheit über den Nut-
oder somatoforme Störungen indiziert. Die Binge- zen und Schaden im Langzeitverlauf besteht, sollte
Eating-Störung ist häufig Ausdruck einer typischen jeder Entscheidung für eine operative Adipositas-
Affektregulationsstörung bzw. einer fehlenden Behandlung ein gemeinsamer Entscheidungspro-
Impulskontrolle. Daher erweisen sich hier Ansätze zess zwischen Arzt und Patient vorausgehen (Shared
der kognitiven Verhaltenstherapie, die an der Decision Making; Arterburn u. Courcoulas 2014).
Förderung der Impulskontrolle ansetzen, als hilf- Gleichzeitig sollte bariatrische Chirurgie stets von
reich. prä- und postoperativen Therapien konservativer
oder psychologischer Art unterstützt werden (inte-
jMedikamentöse Therapie grierter Therapieansatz), um die langfristige Wirk-
Bei BMI > 28 kg/m2 und zusätzlichen Risiken kann samkeit des Therapieerfolgs zu sichern.
auch das Medikament Orlistat empfohlen werden.
Es ist derzeit das Einzige auf dem Markt befindliche
Pharmakon. Es reduziert die Fettresorption und da-
mit die Kalorienaufnahme .Es kann bei Fehlernäh-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
190 Kapitel 16 · Adipositas und metabolisches Syndrom

Gemeinsame Veranlagung
Bewegungsarmut
zu psychischen Störungen

Antidepressiva,
Schlechte Ernährung
Metabolisches
Antipsychotika,
Syndrom Stimmungsstabilisierer

Folgekrankheiten wie Eingeschränkte


Diabetes, KHK, ... Lebenserwartung

Eingeschränkte kognitive
Leistungsfähigkeit

. Abb. 16.3 Ursachen des metabolischen Syndroms. (Aus Mayer 2015)

16.2 Metabolisches Syndrom 16.2.1.3 Häufigkeit und Verlauf


In Deutschland sind etwa 25 % der Bevölkerung be-
16.2.1 Theoretischer Teil troffen. Es finden sich keine Unterschiede zwischen
Männer und Frauen. Am häufigsten findet sich das
16.2.1.1 Kennzeichen metabolische Syndrom bei über 60-jährigen (Hop-
Das metabolische Syndrom ist eine Sammelbe- pichler 2004; Hanefeld 2006).
zeichnung für verschiedene Krankheiten und ist Jedes der 4 oben genannten Krankheitsbilder
durch 4 Faktoren gekennzeichnet: schädigt die Blutgefäße und erhöht das Risiko für
1. Abdominelle Fettleibigkeit, Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Das Auftreten einer
2. Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankung ist um das 4-fache er-
3. Hyperlipidämie, v. a. Hypercholesterinämie, höht, die Mortalität um das 2- bis 4-fache (Toplak
4. Insulinresistenz. 2005).

Weitere Symptome sind: erhöhte Harnsäure, ver- 16.2.1.4 Depression, metabolisches


stärkte Blutgerinnung, erhöhte Entzündungsbereit- Syndrom und Diabetes mellitus
16 schaft und eine endotheliale Dysfunktion. Eine depressive Erkrankung, der Diabetes mellitus
Typ 2 und das metabolische Syndrom stehen in ei-
16.2.1.2 Ursachen nem signifikanten Zusammenhang. Sowohl das
Eine Übersicht über die Ursachen des metaboli- Krankheitsbild der Depression als auch das metabo-
schen Syndroms gibt . Abb. 16.3. Es finden sich lische Syndrom sind durch die gleichen Symptome
vielfach Überschneidungen mit den Ursachen für wie erhöhte viszerale Fettgewebsdepots, Insulin-
Adipositas (s. 7 Abschn. 16.1.1). resistenz, Hyperkortisolismus und eine erhöhte
Bestimmte atypische Antipsychotika wie Konzentration an proinflammatorischen Zytokinen
Olanzapin oder Clozapin aber auch Antidepressiva wie Interleukin 6 und TNF gekennzeichnet. Diese
wie Mirtazepin sind appetitsteigernd und können Symptome gelten als Marker für eine erhöhte kar-
zu Entstehungen des metabolischen Syndroms bei- diovaskuläre Morbidität und Mortalität. Die de-
tragen. pressive Erkrankung trägt häufig zum bewegungs-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
16.2 · Metabolisches Syndrom
191 16
armen Lebensstil bei und erschwert die Compliance
. Tab. 16.1 Metabolisches Syndrom
bzgl. Verhaltensänderungen.
Kriterien Europäische Europäische
Männer Frauen
16.2.2 Praktischer Teil
Taillenumfang ≥ 94 cm ≥ 80 cm
16.2.2.1 Erkennen + 2 der folgenden Faktoren
Um ein metabolisches Syndrom zu erkennen, be- Triglyzeride1 ≥ 150 mg/dl ≥ 150 mg/dl
darf es vor allem der Bewusstmachung der körper-
HDL1 > 40 mg/dl > 50 mg/dl
lichen Risikofaktoren wie Übergewicht und Bewe-
gungsarmut. Die Objektivierung erfolgt für Arzt Systolischer (diasto- ≥ 130 mmHg ≥ 130 mmHg
und Patient über die Berechnung des BMI. Zudem lischer) Blutdruck (≥ 85 mmHg) (≥ 85 mmHg)
sollte Blutdruck und Bauchumfang gemessen wer- Nüchternglukose1 ≥ 100 mg/dl ≥ 100 mg/dl
den. Zusätzlich sind Laboruntersuchungen notwen-
1 gemessen im Blutserum
dig, um den Fettstoffwechsel und Glucosestoff-
wechsel zu dokumentieren und auch für den Patien-
ten zu visualisieren. Eine Ernährungs-und Bewe-
gungsanamnese verdeutlicht den Lebensstil. 16.2.2.4 Behandlung
Angesichts häufiger Komorbiditäten sollten Scree- Hauptansatzpunkt ist die Änderung des Lebensstils
ningfragen zu Depression und sozialen Ängsten mit dem Ziel, das Körpergewicht zu reduzieren, die
gestellt werden. Blutfette zu senken und das Auftreten eines mani-
Die internationale Diabetes-Föderation (IDF) festen Diabetes mellitus zu verhindern. Hier bedarf
hat 2005 Grenzwerte festgelegt, um die Diagnose es einer Verhaltensumstellung bzgl. Ernährung und
eines metabolischen Syndroms zu vereinheitlichen. Bewegung, wie oben bei der Adipositastherapie be-
Nach dieser Klassifizierung liegt ein metabolisches schrieben. Eine Umstellung der Ernährung ist ein
Syndrom dann vor, wenn der Taillenumfang bei längerfristiger Prozess, der sich in der Regel erst
Männern ≥ 94 cm bzw. bei Frauen ≥ 80 cm ist und nach einigen Monaten auswirkt. Ziel ist weniger ein
mindestens 2 weitere der folgenden Kriterien erfüllt starker, kurzfristiger Gewichtsverlust, sondern eine
sind (. Tab. 16.1). dauerhafte Anpassung des Stoffwechsels. Nur so
können Jo-Jo-Effekte vermieden werden.
16.2.2.2 Grundhaltung Zudem sind regelmäßige Laborkontrollen und
Eine wertneutrale, objektive Diagnostik ohne Vor- Blutdruckkontrollen indiziert. Es wäre wünschens-
wurfshaltung ist entscheidend, um ein Arbeitsbünd- wert, dass der Patient durch Selbstkontrolle von
nis mit dem Patienten schließen zu können. Dies Blutdruck, Blutzucker und Gewicht die Verantwor-
bedarf der Selbstreflektion auf Seiten des Arztes in tung über den Verlauf selbst übernimmt. Die not-
Bezug auf den eigenen Lebensstils. Gerade schlanke, wendige Medikation sollte die Gewichtsabnahme
sportliche Ärzte und Ärztinnen müssen ihre indivi- unterstützen, d. h. beispielsweise möglichst keine
duellen Ideale von den objektiven Empfehlungen Betablocker und keine Insulintherapie, solange an-
differenzieren und nicht subjektiv werten. dere Optionen möglich sind.

16.2.2.3 Arzt-Patient-Beziehung jWeitere Ansatzpunkte


Eine empathische, wertneutrale Grundhaltung er- Das Arbeitsleben sollte so gestaltet sein, dass in ei-
möglicht es dem Patienten, die Verantwortung für nem strukturierten Alltag Platz für regelmäßige und
seinen Lebensstil selbst zu übernehmen. Ärzte soll- gesunde Mahlzeiten und ausreichend körperliche
ten zwar mitfühlen, sich aber nicht mit Erfolg oder Aktivität vorhanden ist.
Misserfolg des Patienten identifizieren, um Krän- Ausdauertraining: Bei körperlichem oder vor
kungen bei Misserfolgen nicht wiederum auf den allem chronischem seelischem Stress werden neben
Patienten zu projizieren. Adrenalin, Noradrenalin und Kortison auch Blut-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
192 Kapitel 16 · Adipositas und metabolisches Syndrom

zucker und Cholesterin aktiviert. Durch Ausdauer- den, warum ein Verhalten nicht geändert werden
training können erhöhte Blutzucker- und Choleste- kann. Arbeiten Sie individuell, je nach Lebensalltag
rinwerte abgebaut werden. und Möglichkeiten.
Der Verzicht auf Rauchen beeinflusst den Cho-
lesterinwert positiv. jWichtige Internetseiten
Eine Alkoholabstinenz wirkt sich auf den Fett- 4 www.internisten-im-netz.de/de_was-ist-ein-
stoffwechsel aus und hilft den Blutdruck zu senken. metabolisches-syndrom_647.html (Zugegrif-
Zur Unterstützung der Gewichtsabnahme und fen Juni 2015)
der regelmäßigen körperlichen Aktivität ist eine be- 4 www.adipositas-gesellschaft.de (Zugegriffen
gleitende Verhaltenstherapie sinnvoll. Sie moti- Juni 2015)
viert den Patienten und hilft ihm die Verhaltensän- 4 www.mobilis-programm.de (Zugegriffen Juni
derung beizubehalten. Starre Kontrollmaßnahmen 2015)
werden dabei durch flexible, auf den Patienten ab-
gestimmte Behandlungsschritte ersetzt.
Literatur
jTipps für die Praxis
Die Bewegungstherapie sollte wie ein Rezept ver- Zitierte Literatur
Albus C (2004) Psychosomatische Aspekte der Fehlernährung,
ordnet werden:
Kompetenzfeld: Fehlernährung/Metabolisches Syndrom I
»Betreiben Sie 3 Mal wöchentlich eine Ausdau- (Vortrag an der Universitätsklinik Köln, Sommersemester
ersportart in einer Dauer von anfangs 15 min z. B. 2004)
Radfahren mit einer Pulsfrequenz von ca. 120 Schlä- Arterburn DE, Courcoulas AP (2014) Bariatric surgery for
gen/min. Jede Woche sollten Sie um 5 min steigern, obesity and metabolic conditions in adults. BMJ, 349:
g 3961
sodass Sie bei 45–60 min pro Trainingseinheit ange-
Berg A, Berg A, Frey I et al. (2008) Bewegungsorientierte
langen.« Schulung für adipöse Erwachsene. Ergebnisse zum
Der Arzt begleitet den Patienten zunächst über Interventionsprogramm M.0.B.I.L.I.S. Dtsch Arztebl
einen Zeitraum von 6 Monaten. Bei den regelmäßi- 105(11), S 197
gen Terminen im Abstand von 2–4 Wochen werden Cuellar-Barboza AB, Frye MA, Grothe K et al. (2015) Change in
der Blutdruck, der Taillenumfang und der Body- consumption patterns for treatment-seeking patients
with alcohol use disorder post-bariatric surgery. J Psycho-
Mass-Index gemessen, um einfach und bequem den
som Res 78(3): 199–204
Erfolg der vereinbarten Behandlungsmaßnahmen DGPM. Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Medizin
zu beurteilen. Eine zusätzliche Ernährungsbera- und Psychotherapie und Deutsches Kollegium für Psy-
tung, Sportgruppen, Programme zur Raucherent- chosomatische Medizin (2010) Diagnostik und Therapie
wöhnung stehen zur Verfügung. Die Kosten werden der Essstörungen. AWMF-Register Nr. 051/026, Entwick-
lungsstufe S3. http://www.awmf.org/leitlinien/
meistens von der Krankenkasse übernommen.
(Zugegriffen Juni 2015)
Besonders geeignete Sportarten sind Ausdauer- Gößwald A, Lange M, Kamtsiuris P, Kurth BM (2012) DEGS:
sportarten wie z. B. Joggen, Nordic Walking, Spa- Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland.
16 zierengehen, Radfahren, Wandern, Schwimmen Bundesweite Quer- und Längsschnittstudie im Rahmen
des Gesundheitsmonitorings des Robert Koch-Instituts.
oder Aquajogging, Skilanglauf. Aber auch schon
Bundesgesundheitsbl Gesundheitsforsch Gesundheits-
Spaziergänge, Treppensteigen oder Gartenarbeit
schutz 55: 775–780
wirken sich positiv auf die Symptome des metaboli- Hanefeld M (2006) Das metabolische Syndrom: Definitionen,
schen Syndroms aus. Die Belastungsintensität sollte common soil für Diabetes und kardiovaskuläre Erkran-
moderat sein, d. h. 50–60 % der maximalen Leis- kungen, Konsequenzen für die Therapie. Adipositas
tungsfähigkeit. Spektrum 3, 7–10
Visualisieren Sie den Verlauf für den Patienten Hauner H, Berg A, Bischoff SC et al. (2014) Interdisziplinäre
Leitlinie der Qualität S3 zur »Prävention und Therapie der
z. B. durch eine Tabelle. Loben Sie den Patienten für
Adipositas«, 2. Aufl. (1. Aktualisierung, 2011–2013).
seine Erfolge und zeigen Sie Verständnis für Miss- Deutsche Adipositas Gesellschaft http://awmf.org
erfolge. Versuchen Sie Barrieren mit dem Patienten Hoppichler F (2004) Das metabolische Syndrom: Epidemiolo-
zusammen zu erkennen und mit ihm herauszufin- gie und Diagnose, Acta Med Austriaca 31/4, S 130–132

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
Literatur
193 16
Mayer KC (2015) Glossar Psychiatrie/Psychosomatik: Metabo-
lisches Syndrom. Online Dokument. http://www.neuro24.
de/show_glossar.php?id=1082 (Zugegriffen Juni 2015)
Stefan N, Häring HU, Hu FB, Schulze MB (2013) Metabolically
healthy obesity: epidemiology, mechanisms, and clinical
implications. Lancet Diabetes Endocrinol 1(2), 152–162
Toplak H (2005) Das Metabolische Syndrom – Beginn des
»Tödlichen Quartetts« J Kard S 6–7
Wirth A, Wabitsch M, Hauner H (2014) Klinische Leitlinie,
Prävention und Therapie der Adipositas. Dtsch Ärztebl
111, 42

Weiterführende Literatur
Herpertz S, de Zwaan M, Zipfel S (Hrsg.) (2008) Handbuch
Essstörungen und Adipositas. Springer, Heidelberg
Wirth A (2000) Adipositas. Epidemiologie, Ätiologie, Fol-
gekrankheiten, Therapie, 2. Aufl. Springer, Heidelberg

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
195 17

Anorexia nervosa und Bulimie


Kurt Fritzsche, Peter Rochlitz

17.1 Anorexia nervosa (ICD-10: F 50.0) – 196


17.1.1 Theoretischer Teil – 196
17.1.1.1 Kennzeichen – 196
17.1.1.2 Diagnostische Einteilung – 196
17.1.1.3 Häufigkeit und Verlauf – 197
17.1.1.4 Entstehungsbedingungen der Anorexia nervosa – 198
17.1.2 Praktischer Teil – 198
17.1.2.1 Erkennen – 198
17.1.2.2 Therapeutische Grundhaltung – 200
17.1.2.3 Arzt-Patient-Beziehung und Behandlung – 200
17.1.2.4 Psychotherapeutische Behandlung – 201

17.2 Bulimia nervosa (ICD-10: F 50.2) – 201


17.2.1 Theoretischer Teil – 201
17.2.1.1 Kennzeichen – 201
17.2.1.2 Häufigkeit und Verlauf – 202
17.2.1.3 Entstehungsbedingungen der Bulimia nervosa – 202
17.2.2 Praktischer Teil – 202
17.2.2.1 Erkennen – 202
17.2.2.2 Therapeutische Grundhaltung – 203
17.2.2.3 Arzt-Patient-Beziehung – 203
17.2.2.4 Psychotherapeutische Behandlung – 203

Literatur – 204

K. Fritzsche et al. (Hrsg.), Psychosomatische Grundversorgung,


DOI 10.1007/978-3-662-47744-1_17, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
196 Kapitel 17 · Anorexia nervosa und Bulimie

17.1 Anorexia nervosa (ICD-10: F 50.0) 4 Endokrine Störung auf der Hypothalamus-
Hypophysen-Gonaden-Achse: Amenorrhö bei
Fallbeispiel Frauen, Libido- und Potenzverlust bei Män-
Die 19-jährige Patientin kommt Ende 2012 in Beglei- nern, Wachstumshormon und Kortisol erhöht,
tung und auf Initiative ihrer Mutter in die Praxis eines Gonadotropin erniedrigt, Störungen des
Facharztes für Allgemeinmedizin. Sie habe seit Som- Schilddrüsenhormonmetabolismus und der
mer vergangenen Jahres von damals 60 kg Gewicht Insulinsekretion.
(Größe 172 cm, BMI 20,3) auf jetzt ca. 40 kg (BMI 13,6)
abgenommen. Ein Auslöser kann zunächst nicht be- Die Folgen eines gestörten Essverhaltens sind in
nannt werden. Bei der Anamnese zeigt sich ein deut- . Tab. 17.1 dargestellt (Schlüter et al. 2006).
licher Zusammenhang mit der ersten festen Partner-
schaft. Der Freund habe sie immer mit schlankeren 17.1.1.2 Diagnostische Einteilung
Mädchen verglichen. Ihr Versuch abzunehmen sei Unterschieden werden:
dabei außer Kontrolle geraten, auch nach der Tren- 4 Anorexia nervosa ohne aktive Maßnahmen zur
nung vom Freund. Nach einer Familienurlaubsreise in Gewichtsabnahme, sondern ausschließlich
den letzten Sommerferien kam es zu einer weiteren Hungern oder exzessives Sporttreiben,
rasanten Gewichtsabnahme. Die Eltern fühlten sich sog. restriktive Anorexie (ICD-10: F 50.00).
überfordert und veranlassten die Vorstellung in der
Praxis. Sie selber, als schulisch hervorragende Zwölft-
klässlerin kurz vor dem Abitur, sei zwiespältig, leide
jedoch unter ihrem massiven Leistungsabfall, ins-
besondere hinsichtlich ihrer vielfältigen Sportarten
(Mountainbiking, Klettern, Reiten, Schwimmen und
Laufen).

17.1.1 Theoretischer Teil

17.1.1.1 Kennzeichen
Zu den Symptomen der Anorexia nervosa zählen:
4 Gewichtsabnahme von mindestens 15 % unter
das Idealgewicht oder ein BMI ≤ 17,5. Meist
liegt die Gewichtsabnahme deutlich unterhalb
dieses Wertes bis zur Kachexie.
4 Der Gewichtsverlust ist selbst herbeigeführt
durch Vermeidung von kalorienreichen Spei-
sen, selbstinduziertem Erbrechen, selbstindu-
ziertem Abführen, übertriebener körperlicher
Aktivität und/oder Gebrauch von Appetit-
17 züglern und Diuretika.
4 Anhaltende, zwanghafte Beschäftigung mit
den Themen Essen und Gewicht.
4 Trotz deutlichem Untergewicht wird der eigene
Körper als zu dick erlebt (Körperschema-
störung; . Abb. 17.1).
4 Übertriebene sportliche Aktivitäten.
4 Fehlendes seelisches und körperliches Krank-
heitsbewusstsein. . Abb. 17.1 Cartoon: Schnepfe. (Zeichnung Gisela Mehren)

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
17.1 · Anorexia nervosa
197 17

. Tab. 17.1 Folgen gestörten Essverhaltens

Psychisch Emotionale Veränderungen (Depressivität, Instabilität, Ängstlichkeit)


Kognitive Defizite

Körperlich Folgen des Hungerzustands


- Schwächegefühl
- Bradykardie
- Hypotonie
- Muskelatrophie
- Haarausfall
- Reduzierte Knochendichte (o Osteoporose)
- Hirnatrophie
- Endokrine Störungen (veränderte Spiegel von Serotonin, Östradiol, LH, Kortisol, Wachtums-
hormon, Schilddrüsenhormonen u. a.) o Amenorrhö

Folgen von selbstinduziertem Erbrechen und Abführmittelmissbrauch


- Elektrolytstörungen (v. a. Hypokalämie)
- Dehydratation
- Störungen des Säure-Basen-Haushalts (Alkalose oder Azidose)
- Kardiainsuffizienz
- Ösophagitis
- Reflux
- Zahnschäden
- Sialadenose (Schwellung der Ohrspeicheldrüse)
- Langfristig Nierenschädigung

Sozial Eingeschränkte Freizeitaktivitäten


Sozialer Rückzug
Evtl. Verschuldung (bei ausgeprägten Essanfällen)
Schwierigkeiten in Ausbildung und Beruf

4 Anorexia nervosa mit aktiven Maßnahmen zur Adoleszenz. Das Verhältnis Frauen zu Männern be-
Gewichtsabnahme wie Erbrechen nach regel- trägt 12:1. Die Anorexia nervosa findet sich in allen
rechten Fressanfällen, Missbrauch von Abführ- westlichen Ländern, gehäuft in sozial höheren
mitteln, Diuretika, Appetitzüglern, sog. buli- Schichten.
mische oder aktive Anorexie (ICD-10: Eine Komorbidität mit anderen Erkrankungen
F 50.01). ist häufig, v. a. mit Depressionen, Angststörungen
und Zwangserkrankungen. Die Erkrankung ver-
Differenzialdiagnostisch abzugrenzen sind: läuft in der Regel über mehrere Jahre. In ungefähr
4 Psychogener Appetitverlust (ICD-10: F 50.8) der Hälfte der Fälle kommt es zu Heilungen, in ca.
als vorübergehende zeitlich begrenzte Essstö- 20 % zu einem chronischen Verlauf. Das Sterbe-
rung im Rahmen von Belastungssituationen. risiko ist mit 15 % deutlich erhöht.
4 Erbrechen bei anderen psychischen Störungen Eine schlechte Prognose findet sich bei Kombi-
(ICD-10: F 50.5, 7 Kap. 9 »Somatoforme nation der Anorexie mit Laxantienabusus, vorange-
Störungen«). gangener Adipositas, Suchtmittelabusus, Persön-
4 Gewichtsverlust bei Krebserkrankungen und lichkeitsstörung, Zwangsstörung und schlechter
Darmerkrankungen wie Morbus Crohn. sozialer und beruflicher Anpassung.

17.1.1.3 Häufigkeit und Verlauf


1 % Prozent der Frauen zwischen 15 und 35 Jahren
erkranken. Der Beginn ist meistens während der

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
198 Kapitel 17 · Anorexia nervosa und Bulimie

17.1.1.4 Entstehungsbedingungen 4 Familiäre Situation: Neigung zur Harmonisie-


der Anorexia nervosa rung und Konfliktvermeidung bei Spannungen
Fallbeispiel Fortsetzung in der Familie; rigide Familienstrukturen.
Die Patientin ist mittleres von 3 Kindern (Bruder 4 Hoher Leistungsanspruch.
+1,5 Jahre, Schwester –1,5 Jahre) eines mittelständi- 4 Gewalterfahrungen und sexuelle Traumatisie-
schen Kleinunternehmers und einer Ärztin, welche rung vor Ausbruch der Erkrankung.
ihre Laufbahn aufgrund der Kinder stark einge- 4 Genetische Faktoren.
schränkt hat. Sie sei immer die Stütze der Mutter 4 Auslöser: tatsächliche oder phantasierte Tren-
gewesen, die Schwester dagegen die Rebellin. Ein nungssituationen; erste Verliebtheit.
Abitur von 1,1 wird von ihr angestrebt; ein anschlie-
Die Gegensätze und Widersprüche, welche zum
ßendes Medizinstudium ist geplant.
Hungern führen, sind in . Tab. 17.2 dargestellt.
Es handelt sich um ein komplexes Zusammenspiel
folgender Faktoren, die im Einzelfall mit unter- 17.1.2 Praktischer Teil
schiedlicher Gewichtung zur Entstehung beitragen:
4 Abwehr von weiblicher Identität und 17.1.2.1 Erkennen
Sexualität. Patientinnen mit Essstörungen haben initial häufig
4 Der Kampf um Autonomie. Hungern als Ver- kaum Kontakte zu Ärzten für psychische Störungen.
such, sich als eigenständiges Subjekt zu definie- Ärzte für Allgemeinmedizin, Zahnärzte oder Gynä-
ren. Die Selbstkontrolle verleiht das Gefühl der kologen können daher wichtige Funktionen bei der
Vollkommenheit. Jedes therapeutische Angebot Früherkennung von Essstörungen übernehmen.
wird als Bedrohung dieses Zustandes erlebt. So ist bei folgenden Risikogruppen in Erwägung
4 Abwehr von Abhängigkeitswünschen. Es zu ziehen, ob eine Essstörung vorliegen könnte
besteht ein starker Wunsch nach nahen und (Leitlinie 2011):
engen Beziehungen, die aber Angst auslösen. 4 Junge Frauen mit niedrigem Körpergewicht,
Beherrschung des Hungers bedeutet das Erleb- 4 Unter- bzw. normalgewichtige Patientinnen
nis, sich abgrenzen zu können. mit Gewichtssorgen,
4 Verzerrung der Körperwahrnehmung, z. B. die 4 Frauen mit Zyklusstörungen oder Amenorrhö,
Wahrnehmung des eigenen Körpers im Spiegel 4 Patientinnen mit Hinweisen auf eine Mangel-
im Sinne von »zu dick«. ernährung,

. Tab. 17.2 Dialektik des Hungerns

»Ich bin ein liebes und braves Kind« »Ich bin ein rebellisches, unangepasstes Kind«

Ich bin schwach Ich bin stark


- Ich bin ein kleines Kind - Ich bin zäh und leistungsfähig
- Ich habe keine Sexualität - Ich habe mich total im Griff

Ich bin angepasst Ich bin etwas Besonderes


17 - Ich widerspreche niemanden - Ich verachte die Schwäche der anderen
- Ich bin gut in der Schule - Ich bin Herr über meinen Körper

Ich bin gehorsam Ich bin ungehorsam


- Ich füge mich - Ich mache, was ich will
- Ich bin lieb - Ich habe Macht über euch
- Ich bin genügsam - Alles dreht sich nur um mich

Ich brauche Euch Ich bin total unabhängig


- Ich verlasse euch nicht - Ich lasse niemanden an mich heran
- Ich habe euch so lieb - Ich lasse nichts in meinen Körper hinein

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
17.1 · Anorexia nervosa
199 17
4 Patientinnen mit gastrointestinalen
Symptomen, Tipps für die Praxis
4 Patientinnen mit wiederholtem Erbrechen, Aufmerksamkeitssignale für eine Anorexia
4 Kinder mit einer Wachstumsstörung. nervosa sind:
5 Beschäftigung mit dem Gewicht in Form
Bei Verdacht auf eine Essstörung können folgende von ausgeprägtem Interesse an Diäten, oft
Fragen für ein erstes Screening hilfreich sein: dramatisch herabgesetztes subjektives
4 »Wie zufrieden sind Sie mit Ihrem Ess- Wunschgewicht, deshalb gezielte Explora-
verhalten?« tion notwendig, krankhafte Furcht vor dem
4 »Gibt es etwas, das Sie ändern wollen im Hin- Dickwerden
blick darauf, was und wieviel Sie essen?« 5 Phasenweise deutlich ausgeprägte
4 »Beeinflusst Ihr Gewicht Ihr Selbstwertgefühl?« Gewichtsschwankungen
4 »Machen Sie sich Sorgen wegen Ihrer Figur?« 5 Zyklusstörungen
4 »Essen Sie heimlich?« 5 Hypokaliämie, (Brady-)Arrhythmie, ge-
4 »Kommt es vor, dass Sie sich übergeben, wenn schwollene Speicheldrüsen
Sie sich unangenehm voll fühlen?« 5 BMI < 17,5 kg/m2
4 »Machen Sie sich Sorgen, weil Sie manchmal 5 Missverhältnis zwischen Körpergewicht und
mit dem Essen nicht aufhören können?« Aktivitätsniveau, z. B. exzessive sportliche
Aktivität
Patienten mit Anorexia nervosa sind oft hin- und 5 Nur angedeutete, vage psychische Be-
hergerissen, einerseits zwischen dem Wunsch sich schwerden
anzuvertrauen, um Hilfe zu bekommen, und ande-
rerseits ihren Schamgefühlen und der Angst vor
Veränderung. Deshalb teilt sich die Patientin oft jMedizinische Diagnostik
nicht direkt mit, sondern »testet«, ob der Arzt der Im allgemeinärztlichen Bereich sollte die medizini-
eher vagen Schilderung der Beschwerden nachgeht. sche Diagnostik als Minimum folgende Elemente
Wichtigstes Diagnostikum ist daher bei Ver- enthalten (Leitlinie 2011):
dacht auf Anorexie die gezielte Exploration ent- 4 Körpergröße und Körpergewicht (Bewertung
sprechend der oben genannten diagnostischen Kri- mit Hilfe des BMI oder mit Perzentilkurven
terien. bei Kindern und Jugendlichen),
Als Bewertungsmaßstab zur Beurteilung des 4 Blutdruck und Puls.
Körpergewichtes wird der Body-Mass-Index (BMI)
verwendet. Die Festlegung des Normalgewichts er- Zur Abschätzung der vitalen Gefährdung durch
folgt durch den Quetelet-Index (QI), der auch als Untergewicht und Folgen des Erbrechens können
»Body-Mass-Index« (BMI) bezeichnet wird. folgende Elemente hinzugezogen werden:
Body-Mass-Index (BMI) = Körpergewicht 4 Körpertemperatur, Inspektion der Körper-
(kg) : Körpergröße (m)2 peripherie (Durchblutung, Ödeme),
Beispiel: BMI = 75 : (1,79)2 = 24 4 Auskultation des Herzens, Orthostasetest,
Unter klinischen Gesichtspunkten kann das 4 Blutbild,
hochgradige Untergewicht noch in zwei Stufen un- 4 Blutsenkung,
terteilt werden: hochgradiges Untergewicht Grad I 4 Harnstoff,
mit BMI 13,0–15,99 kg/m2 und hochgradiges Un- 4 Elektrolyte,
tergewicht Grad II mit BMI < 13,0 kg/m2. Das Ra- 4 Kreatinin,
tional hierfür ist die deutlich erhöhte Mortalität bei 4 Leberfunktionstest,
Patientinnen mit Anorexia nervosa, welche einen 4 Blutglukose,
BMI < 13,0 kg/m2 haben. Bei Erwachsenen mit ei- 4 Urinstatus und
nem BMI < 15 kg/m2 sollte eine stationäre Behand- 4 Elektrokardiogramm.
lung erwogen werden (Leitlinie 2011).

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
200 Kapitel 17 · Anorexia nervosa und Bulimie

Die medizinische Diagnostik dient v. a. der Gefah- Vorschlag für eine Intervention bei ambivalenter
renabwehr, indem Komplikationen der Essstörung Behandlungsmotivation: »Ein Teil in Ihnen wünscht
erkannt werden, und in selteneren Fällen auch der eine Veränderung, ein anderer Teil möchte am
differenzialdiagnostischen Abklärung. Hungern und an Ihrem niedrigen Gewicht festhal-
ten. Wie stark würden Sie prozentual beide Anteile
17.1.2.2 Therapeutische Grundhaltung einschätzen? Wären Sie bereit, mir für den 20 % An-
Die Therapiemotivation der Patientinnen ist insbe- teil, der eine Veränderung wünscht, einen Behand-
sondere zu Beginn der Behandlung häufig ambiva- lungsauftrag zu erteilen?«
lent. Daher ist eine empathische, wertungsfreie, 4 »Friss oder stirb« – Haltung des Arztes. Die
nicht vorwurfsvolle Haltung angemessen. Soweit Patienten lösen in ihrer Verzweiflung im Rah-
die körperliche und/oder psychische Situation der men ihrer eher destruktiven Lösungsversuche
Patientinnen kein unmittelbares Eingreifen not- im Umgang mit Essen, Körper, Schönheitsideal
wendig macht, sollten zunächst die Entwicklung und Geschlechtsrolle beim Arzt einen Aktio-
eines tragfähigen Arbeitsbündnisses und die Be- nismus aus, der zu rigiden Verträgen und Re-
handlungsmotivation im Vordergrund stehen. geln und zu einem Überbetonen des gestör-
Aufgaben des Hausarztes oder primär behan- ten Essverhaltens führt. Meistens endet diese
delnden Arztes sind: Konfrontation in einem unproduktiven Clinch,
4 Erkennen und Benennen der Erkrankung der nur das wiederholt, was die Patientin schon
sowie Aufklären über körperliche und psy- aus ihrer Familie bis zum Überdruss kennt.
chische Beeinträchtigungen und Folgen einer
Anorexie. Die andere Seite sind Ohnmachtsgefühle und Resi-
4 Frühe Einbeziehung der Familie. gnation beim Arzt, die zur Vernachlässigung der
4 Aufklärung über die Grundzüge der psycho- lebensbedrohlichen Symptomatik führen. Von
therapeutischen Diagnostik und Therapie. der Patientin wird das so verstanden, dass der Arzt
4 Lebensbedrohung und Gefahr der Chronifizie- die Symptome stillschweigend toleriert. Vorder-
rung deutlich machen. gründig erscheint es wie ein Triumph der Patientin,
4 Einholen eines Behandlungsauftrags von der dass sie ihre Behandler täuschen und manipulieren
Patientin und der Familie. kann. In der Folge verliert sie jedoch die letzte Hoff-
4 Motivierung für die Psychotherapie; unter Be- nung auf ein Gegenüber, das sie konfrontiert, für sie
rücksichtigung der oft extremen Ambivalenz erlebbar wird und ihr dadurch Reifungsschritte und
der Patientinnen. Verhaltensänderungen ermöglicht.
4 Spaltung. Die Spaltung in gute, empathische
17.1.2.3 Arzt-Patient-Beziehung Behandler und harte und strenge Behandler
und Behandlung stellt sich in allen Behandlungssystemen ein, vor
Behandlungsprobleme entstehen in der Regel wegen: allem wenn die Patienten parallel bei unter-
4 Ambivalenter Behandlungsmotivation. Der schiedlichen stationären Einrichtungen, Praxen
Druck zur Behandlung kommt eher von den oder Beratungsstellen auftauchen, womöglich
Angehörigen, von der Schule, vom Arbeitsplatz ohne dass die Behandler voneinander wissen.
oder von anderen ärztlichen Behandlern, Die Spaltungsprozesse im Behandlersystem sind
17 weniger von der Patientin selbst. Vordergrün- meistens ein Abbild der Dynamik, die sich auch
dig passt sich die Patientin bis zur Unterwer- innerhalb der Familie der Patientin abspielt.
fung unter ärztlich-therapeutische Ratschläge Den verschiedenen Behandlern muss klar wer-
an, insgeheim boykottiert sie die therapeu- den, dass sie stellvertretend für die Patientin die
tischen Bemühungen durch Lügen und Mani- widersprüchlichen Anteile in ihr austragen.
pulation. Hintergrund ist der verzweifelte
Kampf um Autonomie, Anerkennung und Ziel ist eine Integration dieser verschiedenen Antei-
Selbstwert bei gleichzeitig kaum eingestan- le. Dies ist am besten innerhalb eines stationären
denen Abhängigkeitswünschen. Behandlungskonzeptes möglich ist. Gegenüber der

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
17.2 · Bulimia nervosa
201 17
Familie sollte der Hausarzt eine warmherzige, wohl- 5 Vertrag mit Festlegung einer regelmäßigen
wollende, aber gleichzeitig neutrale Position zwi- Gewichtszunahme bis Erreichen des Basis-
schen Überfürsorge und Ablehnung einnehmen. gewichts,
5 Führen eines Esstagebuchs,
17.1.2.4 Psychotherapeutische 5 Aufklärung über normale Essensmengen
Behandlung und Essstruktur.
Fallbeispiel Fortsetzung – 2. Nach Symptomreduktion zunehmend Einzel-
Behandlung und Verlauf und Gruppentherapie zur Bearbeitung der
Die erste stationäre Aufnahme erfolgt mit einem Ge- zugrunde liegenden Konflikte mit dem Ziel:
wicht von 38 kg (BMI 12,7). Im Rahmen einer multi- 5 Stärkung des Selbstwertgefühls,
modalen Behandlung basierend auf einem Gewichts- 5 Entwicklung von Problemlösungsstrategien,
zunahme-Vertrag erreicht die Patientin unter erhebli- 5 Selbstsicherheitstraining im sozialen
chen Mühen und Gewichtsschwankungen ein Ge- Verhalten,
wicht von 40,4 kg. Dies gilt als Grundvoraussetzung, 5 Verbesserung der Wahrnehmung von
das Abitur absolvieren zu können. Affekten und Konflikten.
Nach erfolgreichem Abitur erfolgt die zeitnahe Wie-
deraufnahme im Sinne einer Intervallbehandlung. Alle untersuchten Therapieansätze führen nur zu
Ambivalenzen der Patientin und eine verstrickt-rigide mäßigen Erfolgsraten. Bislang gibt es keinen Hin-
Familienstruktur werden deutlich. Es kommt immer weis auf die Überlegenheit eines bestimmten The-
wieder zu Gewichtsabstürzen und Beinaheverlegun- rapieverfahrens.
gen in die Innere Medizin zur intensivmedizinischen
Behandlung. Nach dieser Phase kommt es schließlich
doch zu einer konstruktiveren Gewichtsentwicklung 17.2 Bulimia nervosa (ICD-10: F 50.2)
bis zu dem noch immer extrem untergewichtigen
Gewicht von 42,6 kg (BMI 14,4). Die Entlassung in Fallbeispiel
eine ambulante hausärztliche und psychotherapeuti- Die beim Erstkontakt 17-jährige Patientin kommt auf
sche Behandlung ist möglich. Patientin geht nicht Initiative und in Begleitung der Mutter, nachdem die
mehr ins Elternhaus zurück, sondern zieht zunächst familiäre Situation kurz zuvor eskaliert war. Die Pa-
zu einer Tante zur weiteren Gewichtsrestitution vor tientin hat ihren Eltern das Ausmaß ihrer bulimischen
etwaigem Studienbeginn. Die Prognose ist offen. Symptomatik offengelegt: täglich 2–10 Ess-/Brechan-
fälle, dazwischen häufige Nahrungsrestriktion. Zu-
Die Behandlung sollte bei einem BMI ≤ 15 kg/m2 gleich ist aufgefallen, dass sie zur Finanzierung eines
immer stationär oder teilstationär in einer speziali- Essanfalles Geld aus dem Geldbeutel des Vaters ge-
sierten Einrichtung erfolgen. Nach Erreichen eines nommen hat. Die junge, normalgewichtige Patientin
Mindestgewichtes oder Basisgewichtes (BMI um zeigt sich äußerst verzweifelt, latent suizidal, weswe-
18) ist eine anschließende längere ambulante Psy- gen dem Anliegen einer initial stationären Behand-
chotherapie unbedingt notwendig. Nicht selten sind lung mit Fokussierung auf das Essverhalten und
wiederholte stationäre Aufnahmen erforderlich. Distanzierung aus dem innerfamiliären Milieu statt-
Das Behandlungskonzept sollte symptombe- gegeben wird.
wältigende und konfliktbearbeitende Anteile bein-
halten; i. d. R. kann nach anfänglicher Fokussierung
auf die Symptomminderung (Essverhalten normali- 17.2.1 Theoretischer Teil
sieren, Gewichtssteigerung) im Verlauf der Behand-
lung vermehrt auf die zu Grunde liegenden Konflik- 17.2.1.1 Kennzeichen
te eingegangen werden (Herpertz u. de Zwaan 2005): Zu den Symptomen der Bulimia nervosa (ICD-10:
1. Verhaltenstherapeutische Ansätze mit dem F 50.2) zählen:
Ziel der Normalisierung des Essverhaltens i. S. 4 Andauernde Beschäftigung mit dem Essen und
einer vermehrten Selbstkontrolle durch: unwiderstehliche Gier nach Lebensmitteln.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
202 Kapitel 17 · Anorexia nervosa und Bulimie

4 Regelmäßige Essattacken (nach DSM-5: mind. Diagnose liegen oft viele Jahre, da die Patientinnen
2/Woche über mind. 3 Monate), bei denen wegen starker Scham- und Schuldgefühle ihre
Nahrungsmittel in sehr großer Menge in sehr Symptome verheimlichen.
kurzer Zeit konsumiert werden (»Fressanfall«). Prognose: In 25 % der Fälle ist eine Heilung
4 Der befürchteten Gewichtszunahme wird nach 2–3 Jahren ambulanter und/oder stationärer
durch selbstinduziertes Erbrechen, Missbrauch Behandlung möglich.
von Abführmitteln, Appetitzüglern, Schilddrü-
senpräparaten oder Diuretika und zeitweiligen 17.2.1.3 Entstehungsbedingungen
Hungerperioden entgegengesteuert. der Bulimia nervosa
4 Es besteht eine krankhafte Furcht dick zu Fallbeispiel Fortsetzung
werden, verbunden mit einer Körperschema- Die Patientin ist die Älteste von drei Kindern
störung. Das Wunschgewicht ist sehr niedrig, (Schwester –2 Jahre, Bruder –8 Jahre) des örtlichen
evtl. findet sich eine Anorexia nervosa in der Bürgermeisters und einer Hausfrau, welche ihrerseits
Vorgeschichte. seit über 20 Jahren unter einer anorektischen Ess-
4 In der Regel Normgewicht, da immer ein Teil störung leidet. Sie sei immer die Brave gewesen,
der zugeführten Nahrung nicht erbrochen wird. habe früh gemerkt, dass mit dem Essen der Mutter
4 Amenorrhö in knapp 50 % der überwiegend etwas nicht stimme. Von der Mutter erlebe sie
normalgewichtigen Patienten. massive Kontrolle und Druck bezüglich des Essver-
haltens.
Zu den Folgezuständen gehören:
4 Elektrolytstörungen, hauptsächlich Hypo- Folgende Faktoren spielen bei der Entstehung einer
kaliämie, die zu Herzrhythmusstörungen und Bulimia nervosa eine Rolle:
plötzlichem Herzstillstand führen können. 4 Selbstunsicherheit, Gefühle der inneren Leere
4 Zahnschädigung durch Magensäure. und Sinnlosigkeit werden nach außen hinter ei-
4 Chronische Entzündung und Schwellung der ner starken unabhängigen Fassade verborgen.
Parotisdrüsen, sogenanntes »Hamstergesicht«. 4 Hoher Leistungsanspruch.
4 Reizung der Ösophagusschleimhaut, Sodbren- 4 Nach Enttäuschung z. B. in einer Partnerschaft
nen bis hin zu Ulzerationen und Kardiainsuffi- dient die Symptomatik der Ess- und Brech-
zienz. anfälle der Neutralisierung starker innerer
4 Schuld- und Schamgefühle. Spannungen mit aggressiven Impulsen.
4 Bei einem Teil der Patienten kommen als Aus-
Zitat einer 18-jährigen Patientin: druck des Verlustes der Impulskontrolle
»Ich denke nur noch ans Essen und die übrige selbstverletzende Handlungen in Form von
Welt ist völlig ausgeschaltet. Alle Selbstzweifel, Schneiden in Unterarme und Oberschenkel
Traurigkeit und Wut sind verschwunden. Ich stopfe vor.
dann alles mit Genuss in mich hinein, was sonst 4 Komorbidität mit Persönlichkeitsstörungen
verboten ist. Es ist wie ein Rausch. (7 Kap. 20 »Persönlichkeitsstörungen«).
Wenn ich mich voll fühle, bekomme ich plötz-
lich Angst, zuzunehmen. Nach dem Kotzen fühle
17 ich mich dann befreit und leer, bekomme aber auch 17.2.2 Praktischer Teil
riesige Schuldgefühle und ekle mich so sehr vor mir
selber. Ich habe panische Angst, dass jemand mitbe- 17.2.2.1 Erkennen
kommt, wie abstoßend ich eigentlich bin und neh- Patientinnen mit Bulimia nervosa stehen i. d. R. un-
me mir dann vor: Morgen wird alles anders.« ter hohem psychischen Leidensdruck, neigen auf-
grund einer hohen Schamproblematik jedoch zum
17.2.1.2 Häufigkeit und Verlauf Verheimlichen der Erkrankung. Ein behutsames,
Die Prävalenzrate bei 20- bis 40-jährigen Frauen aber offenes Ansprechen bei Krankheitsverdacht
beträgt 3 %. Zwischen Beginn der Erkrankung und führt häufig zu einer Entlastung.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
17.2 · Bulimia nervosa
203 17
Warnsignale für Bulimie: Elektrolytverände- ristisch von denen bei der Anorexia nervosa, wie in
rung, Karies, Schwielen an den Fingern durch häu- . Tab. 17.3 gegenübergestellt.
figes selbstinduziertes Erbrechen, ansonsten ähn-
lich wie bei Anorexie, jedoch keine Kachexie. 17.2.2.4 Psychotherapeutische
Bei der Diagnostik sollten Daten aus folgenden Behandlung
Lebens- und Erfahrungsbereichen erhoben werden: Fallbeispiel Fortsetzung –
Familiäre Vorgeschichte von Essstörungen, essens- Behandlung und Verlauf
bezogene Verhaltensweisen in der Familie, biogra- Die initiale stationäre Behandlungsphase beinhaltet
fische Vorgeschichte von emotionaler Vernachlässi- die Stabilisierung des Essverhaltens, das Bearbeiten
gung, körperlicher oder sexueller Gewalterfahrung, der Scham und Besprechen der familiären Situation.
von Selbstwertentwicklung, Problemen mit der Nach ausreichender Stabilisierung erfolgt die Fort-
Impulskontrolle, Diätverhalten und exzessive Be- setzung der Psychotherapie in ambulanter Langzeit-
schäftigung mit dem eigenen Körper. behandlung (50 h), günstigerweise beim vorbehan-
delnden Einzeltherapeuten. Nachdem das Essverhal-
17.2.2.2 Therapeutische Grundhaltung ten ausreichend stabilisiert ist, gelingt im Verlauf
Hauptziel ist wie bei der Anorexia nervosa das Er- eine immer bessere Konfliktbearbeitung. Die Patien-
kennen und Benennen sowie die Aufklärung über tin kann in dieser Zeit ihr Abitur absolvieren, eine
das Krankheitsbild, die Grundzüge der Behandlung erste festere Partnerschaft eingehen und eine Bank-
und die Motivierung für eine Fachpsychotherapie. kaufmannslehre beginnen. Die Patientin ist zuver-
Besondere Berücksichtigung bedarf dabei die bei sichtlich auch nach Ende der psychotherapeutischen
Bulimie ausgeprägte Schamproblematik und die Behandlung den Behandlungserfolg zu halten. Auch
stark schwankende Behandlungsmotivation (zwi- der Psychotherapeut geht von einer guten Prognose
schen »jetzt sofort« und »brauch ich nicht«). aus.

17.2.2.3 Arzt-Patient-Beziehung Eine Übersicht über mögliche Probleme bei der Be-
Die Probleme der Behandlung und der Arzt-Pa- handlung von Patientinnen mit Anorexia nervosa
tient-Beziehung unterscheiden sich z. T. charakte- und Bulimie zeigt . Tab. 17.4.

. Tab. 17.3 Charakteristika des Arzt-Patient-Kontaktes bei Bulimia nervosa und Anorexia nervosa. (Nach Haber-
mas u. Müller 1986)

Anorexia nervosa Bulimia nervosa

Zumeist jugendliche Patientinnen In der Regel junge Frauen

Spätes Aufsuchen des Arztes Aufsuchen des Arztes oft erst nach jahrelangen gescheiterten
Selbstheilungsversuchen, z. T. Verschweigen der Symptome

Arztbesuch/Therapie auf Drängen von Familien- Kommt oft allein


mitgliedern Möchte häufig Familie nicht einbeziehen
Erste Gespräche häufig in deren Begleitung

Vordergründiges Fehlen psychischer Symptome Ausgeprägte Stimmungsschwankungen, häufig Depressivität


oder Konflikte

Leiden unter Verlust der Leistungsfähigkeit Leiden unter Kontrollverlust und Beeinträchtigung der Alltags-
bewältigung, der Leistungsfähigkeit und der Beziehungen

Fehlendes Krankheitsgefühl und Verleugnung des Ausgeprägter Leidensdruck, schamhaftes Verschweigen der
bedrohlichen körperlichen Zustandes Symptomatik, Wechsel von Ich-Syntonizität und Ich-Distonizität
Magerkeit ist ich-synton, möchte wegen Strebens oft Erleichterung, mit Symptom nicht allein zu sein
nach Besonderheit nicht als krank gelten

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
204 Kapitel 17 · Anorexia nervosa und Bulimie

. Tab. 17.4 Probleme der Essstörungsbehandlung auf Seiten von Patientin und Behandler (A = Anorexie, B = Bulimie)

Patientin Behandler

– Ambivalente (B), geringe und schwankende (A) – Überbetonen oder Vernachlässigen der Symptomatik
Motivation – Inkonsequenz oder Rigidität (z. B. bezügl. »Verträgen«,
– Druck durch Patientin (B) oder System (Angehörige, Regeln)
Schule, Behandler) (A) – Aktionismus oder Resignation
– Unübersichtlichkeit (A) (z. T. geschlechtsspezifische) Gegenübertragung
– Vordergründig Anpassung/»Unterwerfung«, Charme – Tolerieren zu schneller oder zu langsamer Gewichts-
– »Heikle Affekte«: Scham, Gier und Ekel, große Kränk- zunahme (A)
barkeit – »Komplizenschaft« oder »Verclinchung« (A)
– Heimlichkeit, Manipulationen und Lügen; Multi- – Spaltungen im Team/zwischen Behandlungseinrich-
Impuls-Verhalten tungen (A)
– »Alles oder Nichts«-Denken – Zu frühe Beendigung der Behandlung
– Zwangssymptomatik (A), depressive Symptomatik

Eine ambulante, störungsspezifische Kurzthera- 4 Verschiedene Internet-Portale zu Essstörungen


pie ist in vielen Fällen ausreichend. Für Patientin- bieten sinnvolle Informationen:
nen mit Medikamentenmissbrauch, Suizidalität 5 www.hungrigonline.de oder
oder zugrunde liegenden Persönlichkeitsstörungen 5 www. Magersucht.de oder
ist oft eine stationäre psychotherapeutische Be- 5 www.bzga-essstoerungen.de
handlung und anschließende ambulante Weiterbe-
handlung sinnvoll. Das Behandlungskonzept um-
fasst ähnlich wie bei der Anorexia nervosa verhal- Literatur
tenstherapeutische Ansätze zur Modifikation des
Zitierte Literatur
Essverhaltens i. S. einer vermehrten Selbstkontrolle,
Habermas T, Müller M (1986) Das Bulimie-Syndrom: Krank-
Stärkung des Selbstwertgefühls, Entwicklung von heitsbild, Dynamik und Therapie. Nervenarzt 57: 322–331
Problemlösungsstrategien und Selbstsicherheits- Herpertz S, de Zwaan M (2005) Essstörungen. In: Senf W,
training im sozialen Verhalten. Die Patienten ler- Broda N (Hrsg). Praxis der Psychotherapie. Ein integra-
nen, Gefühle der Leere auszuhalten und in Konflik- tives Lehrbuch. Thieme, Stuttgart, S 502–528
ten Traurigkeit und Wut verbal ohne Ess-Brech- Schlüter N, Ganß C, Klimek J, Zeeck, A (2006). Zahnhart-
substanzschäden bei Essstörungen. Psychotherapeut 51:
Anfall auszudrücken. Im weiteren Verlauf rückt die
465–474
Bearbeitung zugrunde liegender Konflikte in den
Vordergrund. Weiterführende Literatur
Ergänzend zur Psychotherapie gilt die psycho- Bruch H (2010) Der goldene Käfig: Das Rätsel der Magersucht.
pharmakologische Behandlung mit selektiven Sero- Fischer, Frankfurt a. M.
Jacobi C, Thiel A, Paul T (2004) Essstörungen. Hogrefe,
tonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI) v. a. bei
Göttingen
ausgeprägter depressiver Symptomatik und bei Im- Herpertz S, Herpertz-Dahlmann B, Fichter M, Tuschen-Caffier
pulskontrollverlust als wirksam. B, Zeeck A (Hrsg) (2011) S3-Leitlinie Diagnostik und
17 Behandlung der Essstörungen. Springer, Heidelberg
jWichtige Internetseiten Schmidt U, Treasure J (2001) Die Bulimie besiegen. Beltz,
Weinheim
4 Die Bundeszentrale für gesundheitliche Auf-
Zeeck A (2008) Essstörungen. Wissen, was stimmt. Herder,
klärung stellt vielfältige Informationen für An- Freiburg
gehörige als Broschüren wie auch im Internet
bereit: www.bzga-essstoerungen.de

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
205 18

Suchtkrankheiten
Kurt Fritzsche

18.1 Theoretischer Teil – 206


18.1.1 Kennzeichen – 206
18.1.2 Symptome – 206
18.1.3 Diagnostische Einteilung – 206
18.1.4 Häufigkeit und Verlauf – 207
18.1.5 Ursachen – 207
18.1.6 Internetsucht – 207
18.1.7 Hypersexualität – 207

18.2 Praktischer Teil – 207


18.2.1 Erkennen – 207
18.2.2 Behandlung – 209
18.2.3 Behandlung bei Internetsucht – 213

Literatur – 214

K. Fritzsche et al. (Hrsg.), Psychosomatische Grundversorgung,


DOI 10.1007/978-3-662-47744-1_18, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
206 Kapitel 18 · Suchtkrankheiten

Fallbeispiel 18.1.2 Symptome


Ein ca. 40-jähriger Mann stellt sich in der Hausarzt-
praxis wegen wiederkehrender Übelkeit und Druck- Die wichtigsten Symptome einer Abhängigkeit sind:
beschwerden im Oberbauch vor. Nach den ersten 4 Kontrollverlust,
Untersuchungen diagnostiziert der Hausarzt eine 4 Entzugssyndrom und
Gastritis, hegt jedoch den Verdacht einer möglichen 4 Toleranzentwicklung.
Alkoholabhängigkeit des Patienten. Auf Nachfragen
berichtet dieser, täglich 3–4 Flaschen Bier und auch Indirekte klinische Hinweise für eine Alkoholab-
mal härtere Spirituosen zu konsumieren. Dies mache hängigkeit sind ein reduzierter Allgemeinzustand,
er, um sich besser entspannen zu können und psychische Störungen wie Unruhe, Konzentrations-
schneller in den Schlaf zu finden. Er stehe derzeit am schwäche, Angst, Änderungen des Appetits, des
Arbeitsplatz sehr unter Druck, habe manchmal Angst, Schlafrhythmus und der sexuellen Funktionen.
den Job ganz zu verlieren. Am Wochenende komme Hinzu kommen Hypertonie, supraventrikuläre Ex-
es schon auch vor, dass er bis zu einer halben Flasche trasystolen, vermehrte Schweißneigung, eine gering
Cognac alleine trinke. Dies vertrage er gut, habe am vergrößerte Leber und ein Druckschmerz im Epi-
nächsten Tag keine Nachwirkungen, worauf er fast gastrium. Bei 20 % der Patienten finden sich Zei-
stolz zu sein scheint. chen einer Polyneuropathie.
Patienten mit einer Medikamentenabhängigkeit
leiden unter vielfältigen Symptomen, die meist kör-
18.1 Theoretischer Teil pernah erlebt werden wie z. B. allgemeine Niederge-
schlagenheit, rasche Ermüdbarkeit, nachlassende
18.1.1 Kennzeichen Leistungsfähigkeit, Schlafstörungen, Kopfschmer-
zen, Gliederschmerzen, Muskelschmerzen, Ange-
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert spanntheit, Angstzustände und anderweitige soma-
Abhängigkeit als ein unüberwindbares Verlangen toforme Beschwerden.
nach einer bestimmten Substanz oder einem be-
stimmten Verhalten, das der Patient nicht mehr
steuern kann und von dem er beherrscht wird. Einer 18.1.3 Diagnostische Einteilung
Abhängigkeit liegt der Drang zugrunde, die psychi-
schen Wirkungen des Suchtmittels zu erfahren, zu- Die diagnostische Einteilung der Suchtkrankheiten
nehmend auch das Bedürfnis, unangenehme Aus- umfasst:
wirkungen ihres Fehlens (Entzugserscheinungen 4 Akute Intoxikation (ICD-10: durch Alkohol
wie Unruhe, Schlafstörungen, Kopfschmerzen, F 10.0 oder andere psychotrope Substanzen
Angstzustände, Schweißausbrüche) zu vermeiden. F 11.0 – F 19.0).
Es kommt dabei zu einer Toleranzerhöhung und in 4 Schädlicher Gebrauch (ICD-10: von Alkohol
der Folge zu einem körperlichen Entzugssyndrom. F 10.1 oder anderen psychotropen Substanzen
Im Verlauf können sich Beschaffung und Konsum F 11.1 – F 19.1).
von den entsprechenden Substanzen zum lebensbe- 4 Abhängigkeitssyndrom (ICD-10: chronischer
stimmenden Inhalt entwickeln. Es wird unterschie- Alkoholismus F 10.2 oder andere psychotroper
den zwischen Abhängigkeitssyndrom und schäd- Substanzen: F 11.2 – F 19.2).
lichem Gebrauch. Letzteres bezeichnet – als schwä-
18 chere Variante des Missbrauchsverhaltens – einen Allgemein wird unterschieden zwischen
Konsum mit nachweislichen (körperlichen oder 4 Stoffgebundener Abhängigkeit: Alkohol,
psychischen) Zeichen, ohne dass eine Abhängigkeit Medikamente, Drogen, Genussmittel wie Kof-
vorliegt. fein, Nikotin und
4 Nicht-stoffgebundener Abhängigkeit: z. B.
pathologischer Internetgebrauch. Diese Stö-
rungen werden in der ICD-10 unter »ab-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
18.2 · Praktischer Teil
207 18
normen Gewohnheiten und Störungen der (Craving), fortgeführter Konsum trotz nega-
Impulskontrolle« (F 63) eingeordnet. tiver Konsequenzen wie Leistungsabfall,
gesundheitliche Probleme, intrafamiliäre Kon-
flikte, Entzugserscheinungen bei verhindertem
18.1.4 Häufigkeit und Verlauf Konsum und Toleranzentwicklung (exzessiv
ausufernde Nutzungszeiten).
Alkoholabhängigkeit und Abhängigkeit von Canna- 4 Im Extremfall wird die Computerwelt zu
bis und Opiaten ergeben zusammen die vierthäu- einem vollständigen Ersatz für sonstige soziale
figste psychische Störung in Europa. Die 12-Mo- Kontakte und führt zu sozialer Isolation.
nats-Prävalenz einer Alkoholabhängigkeit beträgt
3 % (Jacobi et al. 2014). Neurowissenschaftlich lassen sich ähnliche kortika-
le Verarbeitungsmerkmale wie bei substanzgebun-
denen Abhängigkeitserkrankungen nachweisen.
18.1.5 Ursachen
Häufigkeit
Gemäß dem biopsychosozialen Modell wirken ver- Die Zahl der Internetnutzer in der klinischen Pra-
schiedene Faktoren zusammen: xis, welchen es nicht gelingt, einen adäquaten Um-
4 Das Suchtmittel wirkt direkt oder indirekt auf gang mit dem Medium des World Wide Web einzu-
die dopaminergen Neurone und löst eine Akti- gehen, nimmt zu. In Deutschland besteht bei
vierung des Belohnungssystems mit Euphorie ca. 560.000 Menschen, d. h. bei 1 % der 14–64 Jäh-
und Wohlbehagen aus. Weiterhin kann eine rigen eine Internetabhängigkeit und bei 4,6 % eine
genetische Vulnerabilität durch Genomvarian- »problematische Internetnutzung« von mindestens
ten das Belohnungssystem und das daraus fol- 4 Stunden online pro Tag. Die Prävalenzen des pa-
gende Suchtverhalten beeinflussen. thologischen Internetgebrauchs sind in der Regel
4 Das Suchtmittel kann helfen, depressive Stim- für Jugendliche höher als für Erwachsene (Bundes-
mungen zu lösen, Einsamkeit, Langeweile und ministerium für Gesundheit 2011).
Erlebnissuche bei innerer Leere zu füllen. Das
Suchtmittel führt ferner zu Leistungssteige-
rung und Schmerzlinderung. 18.1.7 Hypersexualität
4 Im sozialen Bereich spielen eine »broken
home« Situation, elterliche Vorbilder, Grup- Als Nicht-Stoffgebundene Abhängigkeit kann auch
penzwänge in der Schule oder im Freundes- die Hypersexualität (»Sexsucht«) gewertet werden,
kreis und ein Freizeitvakuum eine Rolle. wenn ein Leidensdruck und eine deutliche Ein-
schränkung wichtiger Lebensbereiche (z. B. Sozial-
kontakte) durch oft zeitraubende sexuelle Verhal-
18.1.6 Internetsucht tensmuster entsteht (Kobs et al. 2011). Ursächlich
sind hier depressive Erkrankungen, aber auch
Symptome Zwangstörungen oder Impulskontrollstörungen.
Pathologischer Internetgebrauch ist gekennzeich-
net durch
4 exzessive Nutzung des Internets und Kontroll- 18.2 Praktischer Teil
verlust bezüglich meist spezifischer Nutzungs-
formen wie z. B. Onlinecomputerspiel, Chatten 18.2.1 Erkennen
und Messaging, Konsum und/oder Produktion
pornografischer Webinhalte. Die Diagnose Abhängigkeit nach ICD-10 kann ge-
4 Symptome, die Parallelen zu substanzgebun- stellt werden, wenn irgendwann während des letz-
denen Süchten erkennen lassen wie z. B. ein ten Jahres 3 oder mehr der folgenden Kriterien
intensiver Drang, dem Verhalten nachzugehen gleichzeitig vorhanden waren (. Abb. 18.1):

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
208 Kapitel 18 · Suchtkrankheiten

Grenzwert auf 7 Punkte zu setzen. Der gesamte Test


ist online verfügbar.
Für den Einsatz im primärmedizinischen Be-
reich kann der AUDIT-C (Alcohol Use Disorders
Identification Test-Consumption) empfohlen wer-
den (Bush et al. 1998). Der AUDIT-C ist eine Kurz-
version, die ausschließlich die 3 Konsumfragen des
AUDIT beinhaltet:

Praxistipp: AUDIT-C (Alcohol Use Disorders


Identification Test-Consumption)
1. Wie oft trinken Sie Alkohol?
– Nie (0 Punkte)
. Abb. 18.1 Cartoon: Erkennen einer Suchterkrankung. – 1-mal im Monat oder seltener (1 Punkt)
(Zeichnung: Gisela Mehren) – 2- bis 4-mal im Monat (2 Punkte)
– 2- bis 3-mal die Woche (3 Punkte)
– 4-mal die Woche oder öfter (4 Punkte)
4 Starker Wunsch oder Art Zwang nach Konsum 2. Wenn Sie Alkohol trinken, wie viele Gläser
der betreffenden Substanz. trinken Sie dann üblicherweise an einem
4 Verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Tag (1 Glas entspricht 0,33 L Bier,
Beginns, der Beendigung und der Menge des 0,25 L Wein/Sekt, 0,02 L Spirituosen)?
Konsums. – 1–2 Gläser pro Tag (0 Punkte)
4 Körperliches Entzugssyndrom. – 3–4 Gläser pro Tag (1 Punkt)
4 Toleranznachweis. – 5–6 Gläser pro Tag (2 Punkte)
4 Fortschreitende Vernachlässigung anderer – 7–9 Gläser pro Tag (3 Punkte)
Vergnügen oder Interessen zugunsten des – ≥ 10 Gläser pro Tag (4 Punkte)
Substanzkonsums. 3. Wie oft trinken Sie 6 oder mehr Gläser alko-
4 Anhaltender Substanzkonsum trotz Nachweis holischer Getränke bei einer Gelegenheit
eindeutiger schädlicher Folgen wie z. B. Leber- z. B. beim Abendessen, auf einer Party
schädigung durch exzessives Trinken, depres- (1 Glas entspricht 0,33 L Bier, 0,25 L Wein/
sive Verstimmung oder Verschlechterung Sekt, 0,02 L Spirituosen)?
kognitiver Funktionen. – Nie (0 Punkte)
– Seltener als einmal im Monat (1 Punkt)
Indirekte Hinweise auf eine Alkoholabhängigkeit – Jeden Monat (2 Punkte)
bieten die Erhöhung der typischen Laborparameter – Jede Woche (3 Punkte)
wie Gamma-GT, Transaminasen, mittleres Erythro- – Jeden Tag oder fast jeden Tag (4 Punkte)
zytenzellvolumen (MCV) und erhöhtes kohlen-
hydratdefizientes Transferrin (CDT). Bei einem Gesamtpunktwert von ≥ 4 bei Män-
Der AUDIT (Alcohol Use Disorders Identifica- nern und ≥ 3 bei Frauen ist der Test positiv i. S.
tion Test) Fragebogen wurde im Auftrag der WHO, eines erhöhten Risikos für alkoholbezogene
die ihn auch empfiehlt, entwickelt. Er besteht aus Störungen (riskanter, schädlicher oder abhängi-
18 insgesamt 10 Fragen, die jeweils auf einer 5stufigen ger Alkoholkonsum) und spricht für die Not-
Skala beantwortet werden. Für die Gesamtpunkt- wendigkeit zu weiterem Handeln (. Abb. 18.2).
zahl werden alle einzelnen Werte addiert. Die Min-
destpunktzahl ist 0, die maximale ist 40. Ein Wert
von 8 oder höher deutet auf einen gefährlichen Die Diagnosestellung bei einer Medikamentenab-
und schädlichen Alkoholkonsum hin. Bei Frauen hängigkeit wird dadurch erschwert, dass Patienten
und Männern über 65 Jahren wird empfohlen, den die Symptome verheimlichen, aus Scham oder

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
18.2 · Praktischer Teil
209 18

. Abb. 18.2 Cartoon: Probleme mit Alkohol. (Zeichnung: Gisela Mehren)

Angst Suchtmedikamente nicht mehr verordnet zu 1. Empathie zeigen und ausdrücken.


bekommen. Hinweise für eine Abhängigkeit kön- Eine empathische Grundhaltung fördert die
nen folgende Punkte geben: Akzeptanz und erleichtert die Veränderung.
4 Widerstand des Patienten gegen Absetz- Die Techniken des aktiven Zuhörens sind
versuche, unentbehrlich. Konfrontationen auf jeden Fall
4 Rezeptfälschungen oder -verluste, vermeiden.
4 Bezug der Medikamente durch andere Ärzte, A: »Alkoholkonsum kann zu Organschäden
4 Eigenmächtige Dosiserhöhungen oder führen, die sich durch Laborveränderungen
4 Nicht bestimmungsgemäße Anwendung bei zeigen, wie wir sie bei Ihnen gerade fanden.
psychischem Stress und zur Beruhigung. Haben Sie sich schon einmal Sorgen um Ihren
Alkoholkonsum gemacht?« Weniger geeignet
wäre: »Ihre Laborwerte weisen klar darauf hin,
18.2.2 Behandlung dass Sie Alkoholiker sind. So können Sie nicht
weiter machen!«
Therapeutische Grundhaltung 2. Fördern der Diskrepanzwahrnehmung und der
Es besteht die Versuchung, den Patienten mit soge- Veränderungsbereitschaft.
nannten objektiven Beweisen wie Laborwerten Das Bewusstsein über Konsequenzen des
überführen zu wollen. Der Arzt läuft dabei Gefahr, Verhaltens ist wichtig. Eine Diskrepanz zwi-
die Abwehr des Patienten zu verstärken und einen schen dem derzeitigen Verhalten und wichti-
Kontaktabbruch zu provozieren. Der beste Weg zu gen Zielen in der Zukunft fördert die Verände-
Diagnostik und rechtzeitigem Erkennen eines rungsbereitschaft. Der Patient sollte die
Suchtproblems ist das Gespräch mit dem Betroffe- Argumente zur Veränderung selbst liefern.
nen. Fühlt sich der Patient nicht sofort als Abhängi- A: »Sie machen sich offensichtlich große
ger/Alkoholiker verurteilt, so kann sich ein sehr Sorgen um die drohenden langfristigen Organ-
offenes, informatives Gespräch entwickeln. schäden. Auf der anderen Seite haben Sie der-
Als grundlegende Haltung gegenüber süchtigen zeit Laborveränderungen, die diese Organ-
Patienten wird empfohlen, sich an der motivieren- schäden ankündigen.«
den Gesprächsführung nach Miller u. Rollnick 3. Beweisführung vermeiden.
(1991) zu orientieren. Wesentliche Merkmale der Der Arzt wird zum Detektiv, der den Patienten
motivierenden Gesprächsführung sind (Diehl u. überführen möchte. Solche Beweisführungen
Mann 2005): sind kontraproduktiv. Wenn der Patient Wi-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
210 Kapitel 18 · Suchtkrankheiten

Stufe 1: Einsicht in die Problematik


Motivation als Grad der
Fehlende Einsicht
Überzeugung an
Wodurch schädigt sich
Alkoholabhängkeit zu leiden
der Patient? Erleben von Leidensdruck

Stufe 2: Hoffnung auf Besserung


Selbstwirksamkeit als
Fehlende Einsicht
Überwindung sozialer Hürden Überzeugung die Behandlung
Welche Möglichkeiten
erfolgreich abzuschließen
hat der Patient? Durchhaltevermögen stärken

Stufe 3:
Handeln
Ambivalenzen begegnen
Wie wir dem Patienten


geholfen?
Motivation bewahren
Stufe 4:
Aufrechterhaltung
Einsicht in verbleibende Risiken
Wie sichert der Patient
den Erfolg?

. Abb. 18.3 Ziele motivierender Gesprächsführung. (Aus Schweickhardt u. Fritzsche 2009, S. 236; mit freundlicher Geneh-
migung des Ärzte-Verlages)

derstand zeigt, ist das ein Signal, die Ge- Der Patient ist für die Entscheidung zur Ver-
sprächsstrategie zu ändern. Der Widerstand änderung und für ihre Durchführung verant-
zeigt sich, wenn der Patient versucht durch Ba- wortlich.
gatellisieren, Unterbrechen des Arztes und A: »Die Tatsache, dass Sie es bereits in der Ver-
durch Schuldzuweisung an die Umgebung ab- gangenheit geschafft haben, einige Wochen
zulenken. Der Arzt sollte auf diese Gegenargu- ganz abstinent zu leben, spricht dafür, dass Sie
mente nicht direkt reagieren, sondern eher die es auch in Zukunft noch länger schaffen kön-
emotionale Seite, z. B. versteckte Ängste vor nen. Ich möchte Ihnen gerne ein paar Informa-
Stigmatisierung, aufgreifen: tionen geben, wie Sie die Chancen weiter ver-
A: »Sie möchten in keinem Fall in die abwer- bessern können.
tende Schublade ›Alkoholiker‹ gesteckt wer-
den! Könnte man denn sagen, dass Sie trotz- . Abb. 18.3 stellt die Ziele der motivierenden Ge-
dem durch den Alkohol schon Schäden oder sprächsführung nochmals dar.
unangenehme Folgen erlebt haben?«
4. Mit dem Widerstand des Patienten gehen. Basisinterventionen
Abwehrbewegungen des Patienten können Die Aufgabe des Arztes in Praxis und Klinik ist,
positiv genutzt werden. Neue Sichtweisen dem Patienten zur Krankheitseinsicht zu verhelfen
werden vorgestellt, nicht vorgeschrieben. Der und ihn für die Entzugsbehandlung und die daran
Patient wird selbst als kompetenter Ratgeber anschließende Entwöhnungsbehandlung zu moti-
18 bei der Lösung seines Alkoholproblems vieren. Vier Phasen der Veränderungsbereitschaft
gesehen. werden unterschieden (Prochaska u. DiClemente
5. Aufbau von Vertrauen in die Selbstwirksam- 1986).
keit.
Der Glaube, dass eine Änderung möglich ist,
und dass der Patient dies selbst durchführen
kann, ist eine wichtige Motivationsquelle.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
18.2 · Praktischer Teil
211 18
jPhase 1: Von der Absichtslosigkeit geht mir aber darum, Ihnen klar zu vermitteln, was
zur Absichtsbildung mein Standpunkt ist.« (Pause)
Fallbeispiel – Erfragen des Konsumverhaltens P: »Ja, was wollen wir jetzt machen?«
A: »Ich habe nun meine Untersuchungen abgeschlos- A: »Das ist die richtige Frage. Was ergibt sich aus der
sen und kann sagen, dass ich von einer Gastritis aus- Diagnose Alkoholabhängigkeit für Notwendigkeiten
gehe.« und Veränderungen?«
P: »Aber da kann man doch bestimmt etwas dagegen P: »Weniger trinken, das sehe ich schon ein, okay.«
tun?« A: »Das ist ja auch ganz wichtig zu erkennen. Alko-
A: »Ja, das kann man. Ich würde mit Ihnen gerne aber holabhängigkeit ist eine Krankheit und kein Charak-
auch noch über mögliche aufrechterhaltende Fakto- terfehler. Und ich empfehle Ihnen ganz klar, in der
ren sprechen und über Ihr Gesundheitsverhalten. Wie Zukunft völlig auf Alkohol zu verzichten.«
ist es z. B. mit dem Konsum von Nikotin und Alkohol?«
P: »Mit Rauchen habe ich vor 7 Jahren aufgehört, von Der Arzt verabredet mit dem Patienten eine 3- bis
einem Tag auf den anderen. Es war kein Problem.« 4-wöchige Alkoholkarenz. In den meisten Fällen
A: »Und Alkohol?« hat der Alkoholkranke diese zeitlich begrenzte Ab-
P: »Ja, ich trinke schon hin und wieder. Aber das ist ja stinenz schon versucht und ist bis zu einem gewis-
normal.« sen Grade auch damit zurechtgekommen. Insofern
A: »Viele Menschen trinken regelmäßig, das stimmt. ist er gerne bereit, diesen Versuch zu wiederholen,
Wie viel ist es denn bei Ihnen?« um sich und dem Arzt zu beweisen, dass er ja kein
P: »So 3–4 Bier am Abend. Sie müssen das verstehen! Alkoholiker ist. Es wird vereinbart, dass er bei
Nach dem Arbeiten bin ich auch fertig. Wir haben ge- Nichteinhalten dieses Vertrags unverzüglich in die
rade viel Druck und ich habe ein wenig Angst, den Praxis kommt, um die Situation, in der er getrunken
Job zu verlieren.« hat, zu besprechen.
A: »Das heißt, Sie trinken auch, um sich besser ent- Im folgenden Gespräch geht der Arzt noch ein-
spannen zu können.« mal gründlicher und gezielter auf die Anamnese
P: »Ja, danach schlafe ich wunderbar.« ein, diagnostiziert die oben genannten Symptome
A: »Was ist denn so das Höchstmaß, was Sie so schaf- einer Alkoholabhängigkeit eindeutig und ohne
fen, an einem Abend zu trinken?« Dämonisierung und verschafft sich durch eine
P: »Tja, am Wochenende war das eine halbe Flasche psychosoziale Anamnese ein Bild über die berufli-
Cognac. Aber davon merke ich nicht so viel, bin nicht che und familiäre Situation. Meistens ist der Patient
richtig betrunken.« am Arbeitsplatz durch verminderte Leistungs-
A: »Und am nächsten Tag?« fähigkeit, häufiges Zuspätkommen oder Fehlen,
P: »Geht es mir gut, kein Thema. Ich vertrage richtig gehäufte Verletzungen oder Krankmeldungen auf-
viel.« fällig geworden.
A: »Haben Sie mal in Bezug auf Ihren Alkoholkonsum
überlegt, diesen zu reduzieren?« jPhase 2: Von der Absichtsbildung in
P: »Ja schon. Meine Frau macht da immer so Bemer- Richtung Bewusstwerdung und Handlung
kungen.« Zum Motivationsaufbau gehört, Diskrepanzen im
Verhalten aufzuzeigen und den Patienten dafür zu
Fallbeispiel – Mitteilen der Abhängigkeit sensibilisieren, auf seine ambivalente Haltung in
A: »Nach all dem, was Sie mir erzählt haben und zu- Bezug auf abstinentes Verhalten einzugehen und
sammen mit den Ergebnissen der Blutuntersuchung gemeinsam mit ihm eine Entscheidung zu treffen.
würde meine Diagnose zum jetzigen Zeitpunkt Die Abhängigkeit wird vom Patienten ambiva-
schon »Alkoholabhängigkeit« lauten.« lent erlebt: Einerseits merkt er, dass sie Formen ei-
P: »Also das glaube ich jetzt nicht! Sie können mir viel ner Krankheit angenommen hat und er dagegen
erzählen!« etwas unternehmen muss. Andererseits ist es das
A: »Ich kann Ihre Reaktion verstehen. Das klingt so Wesen einer Sucht, sich vor unerträglichen Gefüh-
nach Verurteilung. Darum geht es mir aber nicht. Es len zu schützen, unüberwindbare Spannungen aus-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
212 Kapitel 18 · Suchtkrankheiten

zugleichen und Wohlbefinden herzustellen. Der wohl die Gruppen gerade bei ihnen äußerst hilf-
Patient kann sich nicht vorstellen, auf den tröstli- reich sind.
chen Begleiter zu verzichten. Daraus entsteht eine
Wie kann einem Rückfall im Einzelnen vorgebeugt
Mischung aus Schuldgefühlen, Angst und Unter-
werden?
würfigkeit. Patienten entwickeln Vermeidungsstra-
4 Frühzeitiges Erkennen und Akzeptieren von
tegien gegenüber einer Entzugsbehandlung. Dies
Risikosituationen.
erklärt, warum sie dem Aufklärungsgespräch
4 Vorbereitung und Üben von Handlungsmög-
scheinbar geduldig und aufmerksam zuhören, in-
lichkeiten in einer Risikosituation (Entwick-
nerlich aber längst abgeschaltet haben. Der Arzt
lung geeigneter Abstinenzgedanken, Planen
spürt diese Ambivalenz und sollte sie aufgreifen.
von Reaktionsmöglichkeiten).
4 Veränderungen des Lebensstils vornehmen
Fallbeispiel – Förderung der Veränderungs-
(positive Abhängigkeiten schaffen, langfristig
bereitschaft
vorbeugende Maßnahmen).
P: »Also nie mehr was trinken? Ich glaube nicht, dass
4 Umgang mit dem Rückfallschock bei einem
ich das packe.«
Ausrutscher.
A: »Da bin ich zuversichtlicher als Sie! Wenn Sie ans
4 Kontinuierliche Begleitung.
Rauchen denken, das haben Sie auch geschafft! Ich
denke, dass es Ihnen gut gelingen könnte, mit dem Fallbeispiel – Gespräch nach Rückfall/
Alkoholtrinken aufzuhören.« Rückfallmanagement
P: »Es kann ja gut sein, dass Sie Recht haben. Aber P: »Ich weiß auch nicht, wie das passieren konnte.
um ganz ehrlich zu sein, ich weiß gar nicht, ob ich Ich dachte, ich habe das alles im Griff.«
das überhaupt auch will!« A: »Sie sind verzweifelt und wütend. Aber das
A: »Ich habe den Eindruck, dass Sie innerlich noch Wichtige ist, dass Sie hier erschienen sind.«
gespalten sind. Ein Teil sieht sehr wohl, dass Sie alko- P: »Ich dachte, ich hätte das im Griff.«
holabhängig sind und Hilfe brauchen. Ein anderer A: »Rückfälle kommen vor. Das ist völlig normal.
Teil möchte nicht auf den Alkohol verzichten und hat Wichtig ist nur, dass wir diesen Rückfall jetzt
auch Angst, was in einer möglichen Behandlung pas- gemeinsam und konstruktiv bewältigen.«
sieren könnte. Sie stehen vor einer Entscheidung, bei Ehefrau: »Was machen wir denn jetzt mit ihm?«
welcher es Gründe dafür und dagegen gibt.« A: »Mein Vorschlag ist, dass Sie sich jetzt unverzüg-
lich ins Krankenhaus zum Entzug begeben.«
jPhase 3: Handlungsphase P: »Gleich ins Krankenhaus? Aber Herr Doktor, das
Dazu gehört, die freie Wahlmöglichkeit zu betonen, muss doch nicht sein!«
zur Abstinenz zu ermutigen und gemeinsam mit A: »Doch. Das ist nun der sicherste Ort, wo Sie lang-
dem Patienten einen Veränderungsplan zu erstellen. fristig Ihre Abstinenz sichern können.«
Motivation wird nicht als etwas Statisches gese-
hen, sondern als ein dynamischer, prozesshafter Fallstricke
Vorgang, der je nach Phase ein spezifisches Vorge- 4 Der Patient verführt im Erstkontakt den Arzt
hen notwendig macht. zu der Illusion, er sei der Einzige, der ihm in
seiner verzweifelten Lage helfen könne. Der
jPhase 4: Aufrechterhaltungsphase Arzt erkennt die Verführung nicht, engagiert
Rückfälle sind eher die Regel als die Ausnahme. Es sich und übernimmt die Verantwortung für die
18 handelt sich dabei nicht um ein suchtspezifisches Probleme des Patienten. Früher oder später
Phänomen, vielmehr gehören sie zum »normalen« zerbricht dieses idealistische Engagement. Der
Krankheitsverlauf. Ambulante Nachsorge (Selbst- Arzt zieht sich enttäuscht, erschöpft und ärger-
hilfegruppen, Beratung, Psychotherapie) beugt lich zurück: »Niemals werde ich mich um ei-
Rückfällen wirksam vor und kann beginnende nen Alkoholiker kümmern. Denen ist nicht zu
Rückfälle wirksam auffangen. Rückfällige meiden helfen. Ich bin bitter enttäuscht.« Der Patient
Selbsthilfegruppen viel häufiger als Abstinente, ob- sucht sich den nächsten Retter.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
18.2 · Praktischer Teil
213 18
4 Übermäßige Abgrenzung. Es ist schwierig, die Psychotherapie
Balance zwischen therapeutischer Distanz und Eine wirksame Suchtbehandlung kann in der Regel
empathischer Nähe aufrechtzuerhalten. Die nur in dafür spezialisierten ambulanten Behand-
Abgrenzungsreaktion des Arztes gegen die lungsstellen und Fachkliniken erfolgen. Die Ent-
Verschmelzungswünsche des Suchtkranken zugsphase dauert 2–4 Wochen, eine längerfristige
führt manchmal dazu, dass die Fähigkeit zur psychische Entwöhnungsbehandlung sollte folgen.
Einfühlung verloren geht. Das Verhalten ge- Daran schließt sich sinnvollerweise eine mehrmo-
genüber dem Suchtkranken wird formalisiert, natige ambulante Nachbetreuung in einer Suchtbe-
ohne differenzierte Bewertung der aktuellen ratungsstelle und die Teilnahme an einer Selbsthil-
Situation wird mechanisch auf Regelverstöße fegruppe an.
reagiert. Zwischen Arzt und Patient herrscht
Misstrauen und Distanz. Medikamentöse Behandlung
4 Auf der anderen Seite ist der Verlust der Ab- Zur medikamentösen Unterstützung der motivie-
grenzung häufig dadurch gekennzeichnet, dass renden Gespräche durch Hausarzt oder Kranken-
der Arzt in einem kumpelhaften Ton mit dem hausarzt können Medikamente, die den Suchtdruck
Patienten spricht, um ihm dadurch näher zu reduzieren (sog. Anticraving-Substanzen) einge-
kommen. Er neigt dazu, offensichtliches Fehl- setzt werden. Dazu gehören der Opiatrezeptoranta-
verhalten des Patienten zu bagatellisieren und gonist Naltrexon und der NMDA (N-Methyl-D-
zu vertuschen, z. B. durch Ausstellen von Ge- Aspartat)-Rezeptorantagonist Acamprosat. Die
fälligkeitsattesten. Er verleugnet das Ausmaß Behandlung mit Acamprosat verdoppelt bei moti-
der Sucht, obwohl bereits mehrere ambulante vierten Patienten die Abstinenzrate und die Wirk-
Behandlungsversuche gescheitert sind und samkeit bleibt auch über die Behandlungsdauer von
eine stationäre Behandlung dringend notwen- einem Jahr hinaus erhalten.
dig wäre.
4 Der Arzt kann durch sein Verhalten kontra-
produktiv, krankheitsverlängernd und somit 18.2.3 Behandlung bei Internetsucht
co-abhängig wirken, wenn er glaubt, die Sucht
sei durch ärztliche Gespräche oder ambulant Professionelle Hilfsangebote werden erst sehr spät,
mit Medikamenten behandelbar, ohne vom Pa- meist nach einer Eskalation im familiären Umfeld,
tienten Abstinenz zu fordern. aufgesucht. Trotz erheblichem Leidensdruck der
Betroffenen und deren Angehörige ist die Internet-
Wirksamkeit ärztlicher Gespräche sucht bisher noch nicht als eigenständiges Störungs-
Bereits eine hausärztliche Maßnahme wie Informa- bild anerkannt. Es existieren weder einheitliche
tion, Aufklärung und Ratschlag von maximal diagnostische noch empirisch-fundierte psychothe-
30-minütiger Dauer führt dazu, dass bis zu 50 % der rapeutische Behandlungskonzepte.
Patienten ihren Alkoholkonsum reduzieren (Moyer Hauptziele der Behandlung sind die Reduzie-
et al. 2002). Etwas umfangreichere Kurzinterven- rung der Online-Zeiten auf ein normales Maß und
tionen zeigten bis zu 4 Jahren nach der Durchfüh- das Wiedererlernen von alternativen Verhaltens-
rung Effekte (Fleming et al. 2002). weisen. Auch psychoedukative Elemente und die
Ein Leitfaden für Kurzinterventionen wurde Vermittlung funktionaler Stressbewältigungsstrate-
von der deutschen Hauptstelle gegen die Suchtge- gien stellen einen Baustein der Behandlung dar.
fahren veröffentlicht (www.dhs.de). Speziell für den Wichtig sind das soziale Kompetenztrainig und die
niedergelassenen Arzt wurde ein Manual mit pra- Wiederaufnahme sozialer Kontakte.
xisorientierten Leitlinien für Diagnostik und Bera-
tung von Patienten mit Alkoholproblemen von der
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung
herausgegeben (www.bzga.de).

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
214 Kapitel 18 · Suchtkrankheiten

Literatur

Zitierte Literatur
Bundesministerium für Gesundheit (2011) Prävalenz der
Internetabhängigkeit (http://www.drogenbeauftragte.
de/fileadmin/dateien-dba/DrogenundSucht/Computer-
spiele_Internetsucht/Downloads/PINTA-Bericht-End-
fassung_280611.pdf ) (Zugegriffen Juni 2015)
Bush K, Kivlahan DR, McDonell MB et al. (1998) The AUDIT
alcohol consumption questions (AUDIT-C): An effective
brief screening test for problem drinking. Arch Int Med
158: 1789–1795
Diehl A, Mann K (2005) Früherkennung von Alkoholabhängig-
keit. Probleme identifizieren und intervenieren.
Dtsch Ärztebl 33: B 1894–1899
Fleming MF, Mundt MP, French MT et al. (2002) Brief physician
advice for problem drinkers: long-term efficacy and
benefitcost analysis. Alcohol Clin Exp Res 2002 26: 36–43
Jacobi F, Höfler M, Strehle J et al. (2014) Psychische Störungen
in der Allgemeinbevölkerung – Studie zur Gesundheit
Erwachsener in Deutschland und ihr Zusatzmodul Psy-
chische Gesundheit (DEGS1-MH). Nervenarzt 85 (1):
77–87
Kobs J, Spenhoff M, Hartmann U (2011) Sexsucht- Diagnose,
Differentialdiagnose, Therapieansätze und ein Fall-
beispiel. Sexuologie 18 (1-2): 72–80
Miller WR, Rollnick S (1991) Motivational interviewing: Prepar-
ing people to change addictive behaviour. New York:
Guilford Press
Moyer A, Finney JW, Swearingen CE, Vergun P (2002) Brief
interventions for alcohol problems: a meta-analytic
review of controlled investigations in treatment-seeking
and non-treatment-seeking populations. Addiction 97:
279–292
Prochaska JO, DiClemente CC (1986) Toward a comprehensive
model of change. In W. Miller and N. Heather (Eds.),
Addictive behaviors: Processes of Change. New York:
Plenum Press, pp 3–28
Schweickhardt A, Fritzsche K (2009) Kursbuch ärztliche Kom-
munikation. Grundlagen und Fallbeispiele aus Klinik und
Praxis. 2. erweiterte Auflage, Deutscher Ärzteverlag, Köln

Weiterführende Literatur
Batraa, Bilke-Hentscho (Hrsg) (2002). Praxisbuch Sucht.
Thieme, Stuttgart
Krauß M, Haasen C (2004) Compendium Sucht. Thieme,
Stuttgart

18

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
215 19

Akute und posttraumatische


Belastungsstörung
Peter Schröder

19.1 Theoretischer Teil – 216


19.1.1 Einführung – 216
19.1.2 Welche Patienten sind betroffen? – 216
19.1.3 Was ist ein traumatisches Ereignis? – 217
19.1.4 Häufigkeit – 217
19.1.5 »Opfer« oder »Überlebender«? – 217
19.1.6 Typische Folgen eines Traumas – 218
19.1.7 Gefühle traumatisierter Menschen – 219
19.1.8 Entwicklung einer posttraumatischen Belastungsstörung
nach Trauma – 219

19.2 Praktischer Teil – 220


19.2.1 Das Konzept der Ressourcenarbeit bei Trauma – 220
19.2.2 Erste Hilfe-Möglichkeiten nach Trauma – 222
19.2.3 Ziele professioneller Therapie – 224
19.2.4 Pharmakotherapie – 224
19.2.5 Fallsticke – 224

Literatur – 225

K. Fritzsche et al. (Hrsg.), Psychosomatische Grundversorgung,


DOI 10.1007/978-3-662-47744-1_19, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
216 Kapitel 19 · Akute und posttraumatische Belastungsstörung

19.1 Theoretischer Teil ganz alten verwirrten und »psychiatrisch kranken«


Patienten zum Vorschein.
19.1.1 Einführung Bei Kindern, die Überlebende von Gewalttaten
werden oder solche beobachten (u. U. auch im
Das Psychotrauma ist eine schlimme Erfahrung, die Fernsehen), kann ein Psychotrauma vorliegen, des-
viele unserer Patienten ein- oder mehrmals im Le- sen Folgen Jahre bis Jahrzehnte andauern können.
ben durchmachen. Diese Art von belastenden Er- Der große Bereich der Vernachlässigung, der ge-
eignissen führt unbehandelt in 15–25 % der Fälle waltsamen und/oder sexuellen Traumatisierung,
zur posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS, insbesondere in der Kindheit und Jugend, gehört
engl. »posttraumatic stress disorder«). Bei Trauma ebenfalls hierher.
ist es eben nicht so, dass »die Zeit alle Wunden Migranten sind geflohen vor Krieg, Bürger-
heilt«. Innere Ressourcen des Patienten, seine Co- krieg, Armut und politischer Verfolgung. Sie sind
pingstrategien, äußere Faktoren und natürlich auch den Gefängnissen, den Schützengräben, den Mi-
die Art des Traumas beeinflussen die Folgen eines nenfeldern oder der Folter in zahlreichen Ländern
Traumas. Die Diagnosen Psychotrauma oder PTBS der ganzen Welt entkommen. Die Flucht selbst ist
werden in allgemeinärztlichen Praxen selten ge- häufig sehr traumatisierend und mit viel Gewalter-
stellt. fahrung verbunden, selbst dann wenn Menschen
Dieser Beitrag soll Informationen über häufige nicht in wackeligen Booten über das Mittelmeer
Reaktionen auf ein durchgemachtes Trauma geben, geflohen sind. Flüchtlinge sind in der großen Mehr-
er soll Verständnis wecken für die vielfältigen Symp- zahl der Fälle schwer traumatisiert und brauchen
tome und Probleme, die Traumatisierte zeigen, und besonders viel Aufmerksamkeit und Zuneigung.
damit die Diagnose »posttraumatische Belastungs- Viele Migranten erleben das Nicht-Willkommen-
störung« erleichtern. Der Beitrag soll außerdem Sein in Deutschland als eine erhebliche Retrauma-
Möglichkeiten der »ersten Hilfe« nach Trauma auf- tisierung, die sie in helle Angst versetzt.
zeigen, die gerade nicht psychotherapeutisch ge- Häufige Traumata in der Praxis und im Kranken-
schulte Kollegen anwenden können. haus sind:
4 plötzlicher Verlust von Angehörigen oder
Freunden,
19.1.2 Welche Patienten sind betroffen? 4 Mitteilung einer schwerwiegenden Diagnose,
4 medizinische Eingriffe, Krankenhausaufent-
In der Allgemein- und Facharztpraxis halte,
Da sind zunächst die Patienten, die ganz unerwar- 4 Vergewaltigung,
tet einen geliebten Menschen verlieren. Diese trau- 4 anderes Gewalterlebnis selbst- oder miterlebt,
ernden Menschen kommen als erstes in die Praxis 4 Unfälle,
des Allgemeinarztes. Die Grenze zwischen einer 4 Arbeitsplatzverlust,
Trauerreaktion und einer posttraumatischen Reak- 4 Kriegserlebnisse (neue, alte).
tion ist fließend. Hier geht es um eine frühe Erken-
nung einer schnell chronisch werdenden Ein- Bei anderen Fachärzten
schränkung. und im Krankenhaus
Allgemeinärzte haben außerdem häufig mit Pa- Bei schwerwiegenden (z. B. multiple Sklerose) oder
tienten nach Schockerlebnissen zu tun, sei es nach zum Tode führenden Erkrankungen, beim Ge-
einem Verkehrsunfall, einer erlebten oder bezeug- spräch mit Angehörigen vor und besonders nach
ten Gewalttat oder anderen unerwarteten schlim- dem Tod eines Patienten, nach erfolgreichen oder
men Ereignissen. versuchten Suiziden, vor und nach größeren Ein-
19 Dann sind es insbesondere ältere Menschen, die griffen besteht ein zusätzlicher über die normale
den Krieg miterlebt haben und die oft ein Psycho- Pflege und Betreuung hinausgehender Bedarf an
trauma zu verarbeiten haben. Diese unverarbeiteten psychosozialer Unterstützung. Einige Beispiele aus
früheren Erlebnisse kommen dann häufig bei den verschiedenen Fachrichtungen:

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
19.1 · Theoretischer Teil
217 19
4 Chirurgie: nach Unfällen (ohne psychothera- teile einsammeln müssen, Berufsgruppen, die
peutische Behandlung: 18 % PTBS), nach wiederholt mit Details von Kindesmissbrauch
Verletzungen, nach Gewalttaten, bei Selbst- konfrontiert sind. (APA 2013)
verletzungen.
4 Pädiatrie: bei Krebserkrankungen der Kinder,
bei sexueller Traumatisierung von Kindern 19.1.4 Häufigkeit
und Jugendlichen, bei Behinderungen.
4 Innere Medizin: bei chronischen Erkran- Die 12-Monats-Prävalenz für eine posttraumatische
kungen, die die Lebensqualität ernsthaft Belastungsstörung (PTBS) liegt in der Allgemeinbe-
beeinflussen, z. B. Lebererkrankungen. völkerung bei 2,3 % (Jacobi et al. 2014). Wesentlich
4 Hautklinik: entstellende Verletzungen, Haut- höher ist die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten
krankheiten, nach sexuellen Infektionen. von weniger ausgeprägten Störungen. Frauen sind
4 Gynäkologie: bei Schwangerschaftskonflikten, doppelt so häufig betroffen wie Männer. Das Auf-
nach Vergewaltigungen, bei schweren Ge- treten von PTBS ist abhängig von der Art des Trau-
burten, Gewalt in der Partnerschaft, Krebs- mas. Bei Opfern von sexualisierter Gewalt beträgt
diagnosen, nach Entfernung wichtiger Organe die PTBS-Prävalenz 50 %, bei anderen gewaltsamen
(Brust, Uterus, Adnexe). Verbrechen 25 %, bei Kriegsopfern 20 %. Patienten
4 Augen: bei drohendem oder tatsächlichem mit der Diagnose einer schwerwiegenden, lebens-
plötzlichen Sehverlust. bedrohlichen Erkrankungen wie z. B. Krebs haben
eine PTBS-Prävalenz von 15 % (Flatten et al. 2004).
Bei Trauma durch Verkehrsunfall beträgt die PTBS-
19.1.3 Was ist ein traumatisches Prävalenz 18 % (Frommberger et al. 1998).
Ereignis? Etwa 60 % der Menschen erleben selbst oder
bezeugen ein traumatisches Ereignis in ihrem Le-
Die ICD-10 Definition lautet: »Ein belastendes Er- ben. Die Wahrscheinlichkeit, ohne eine spezifische
eignis oder eine Situation außergewöhnlicher Be- Behandlung danach eine posttraumatische Belas-
drohung oder katastrophenartigen Ausmaßes tungsstörung zu entwickeln, hängt von vielen Fak-
(kurz- oder langanhaltend), die bei fast jedem eine toren ab, u. a. der früheren psychischen Gesundheit
tiefe Verzweiflung hervorrufen würde.« (WHO) der Betroffenen, von inneren Ressourcen, aber auch
Der neue DSM-5 definiert das traumatische Er- von äußeren Faktoren. In der Summe beträgt die
eignis folgendermaßen: Wahrscheinlichkeit etwa 20 %. Nur bei Vergewalti-
Kriterium A: traumatisches Ereignis. gungen liegt diese Zahl bei über 50 %.
Die Betroffenen waren über mindestens einen
der unten genannten Wege (entweder tatsächlich
oder angedroht) dem Tod, schwerwiegender Verlet- 19.1.5 »Opfer« oder »Überlebender«?
zung oder sexueller Gewalt ausgesetzt:
1. Direktes Erleben des traumatisierenden Das wehrlose, hilflose Opfer kommt oft erst nach
Ereignisses. Jahren aus dieser Rolle heraus und wird zum Ȇber-
2. Persönliches Miterleben als Zeuge, wie das lebenden«. Immer noch ist das überlebte Ereignis
traumatisierende Ereignis anderen zustößt. prägend für wichtige Teile des Lebens, es gehört un-
3. Erfahren, dass das traumatisierende Ereignis bedingt zur neuen Identität dieses Menschen. Der
einem engen Familienmitglied oder Freund Begriff »Überlebender« schließt außerdem die indi-
zugestoßen ist. Wenn das Ereignis echten oder viduellen Mechanismen des Coping, des »Damit
drohenden Tod einschloss, muss dieser ent- fertig werden«, ein.
weder gewaltsam oder unfallbedingt sein.
4. Wiederholter oder extremer Kontakt zu grausi-
gen Details eines Ereignisses, meist im profes-
sionellen Bereich, z. B. Ersthelfer, die Körper-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
218 Kapitel 19 · Akute und posttraumatische Belastungsstörung

backs« beschrieben. Es handelt sich nicht um eine


Tipps für die Praxis Erinnerung, sondern um ein Wiedererleben des
Diesen Satz sagt der Autor zu traumatisierten Traumas.
Patienten: Eine zweite Form der Erinnerung sind Alpträu-
5 »PTBS-Symptome sind Ausdruck einer nor- me, in denen das Erlebte mit allen damaligen Ge-
malen Reaktion eines normalen Menschen fühlen immer wieder neu durchlebt wird. Die Be-
auf etwas schrecklich Unnormales.« troffenen bleiben oft stundenlang wach, weil sie
Angst vor den allnächtlichen Träumen haben. Sol-
Oft sogar noch deutlicher: che Alpträume können Jahrzehnte anhalten.
5 »Dass Sie mir Ihre Symptome so schildern,
beweist mir, dass Sie eine normale Reaktion 2. Vermeiden, Dissoziation Dies ist ebenfalls eine
zeigen. Sie sind ein psychisch gesunder zunächst vernünftige, in der Folge aber einschrän-
Mensch. Es ist gut solche Symptome zu ha- kende Verhaltensweise nach Trauma. Der Verun-
ben, wenn einem etwas Schreckliches pas- fallte fährt nicht mehr Auto, er meidet den Platz des
siert ist.« Unfalls, er geht einfach nicht mehr aus dem Haus.
Es ist leicht ersichtlich, dass hier die Grundlage für
Phobien und Zwangshandlungen gelegt ist.
Die Betroffenen fühlen sich wie »neben sich ste-
19.1.6 Typische Folgen eines Traumas hend«, »nicht richtig da«, »geistig abwesend«, »wie
im falschen Film«. Diese Reaktion ist während des
Vier typische Reaktionen lassen sich bei Überleben- Traumas ein guter Selbstschutz für Situationen, die
den eines Psychotraumas beobachten. Wichtig ist eigentlich nicht auszuhalten sind und denen man
hier zu betonen, dass alle diese Symptome als Reak- nicht mehr ausweichen kann, wie etwa bei einer
tionen eines gesunden Menschen verstanden wer- plötzlichen unerwarteten Todesnachricht eines ge-
den sollten, dem etwas Schlimmes zugestoßen ist. liebten Verwandten, bei einer Vergewaltigung oder
Für Patienten ist es extrem wichtig, diese Normalität bei anhaltendem sexuellem Missbrauch. Nach der
der Symptome vom Arzt bestätigt zu bekommen, überstandenen Situation wird dies eine automati-
weil sie selbst diese nicht richtig einordnen können. sche Reaktion, die dann eher hinderlich ist. Diese
Menschen isolieren sich selbst, können keine Kon-
1. Intrusionen Schmerzliche Erinnerungen sind takte ertragen, passen sich neuen Situationen nicht
unkontrollierbar immer wieder da, ausgelöst durch oder nur ungenügend an, haben alles Kämpferische
einen Anblick oder ein Geräusch oder einen Ge- aufgegeben. Sie bleiben in einem »dissoziierten«
ruch, der an das vergangene Trauma erinnert. Zum Zustand.
Beispiel hatte ein kurdischer, lange vom türkischen
Militär gefolterter Patient immer dann panische 3. Übererregung Die zunächst vernünftige, maxi-
Angstanfälle, wenn er eine Uniform sah. Die ganze male Stressreaktion mit Adrenalin- und Korti-
schreckliche Erinnerung kam dann wieder in ihm sonausschüttung dient der Vorbereitung des Kör-
hoch und er konnte nur noch panisch davonlaufen. pers auf die nötige unmittelbare Flucht vor einer
Auch Geräusche – eine Ambulanzsirene z. B. – kön- großen Gefahr oder auf den folgenden Kampf. Es
nen panische Reaktionen auslösen, wenn sie an das handelt sich um eine auch aus dem Tierreich be-
Trauma, etwa einen Verkehrsunfall, erinnern. Oder kannte physiologische Reaktion. Diese hält dann
Gerüche, wie etwa der Geruch von Benzin an der leider sehr lange an. Nervosität, Magenbeschwer-
Tankstelle, der an auslaufendes Benzin nach einem den, Herzbeschwerden, rasender Puls, hoher Blut-
schweren Unfall erinnert. druck, Ruhelosigkeit und andere Zeichen sind dafür
19 Typisch ist, dass durch solche Auslöser (»Trig- typisch. Die betroffenen Menschen können sich
ger«) alle Gefühle des überstandenen Traumas wie- nicht entspannen, sie sind fahrig und leicht aufge-
derkommen, oft noch stärker als während des Trau- regt, sie schlafen schlecht und oft unterbrochen.
mas selbst. Dies wird mit dem Ausdruck »Flash- Ursachen für diese recht typische Schlafstörung

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
19.1 · Theoretischer Teil
219 19
nach Trauma sind die Angst vor einer Wiederho- 4 Schreck und Überraschung,
lung der Alpträume (»da mag ich gar nicht mehr 4 Fassungslosigkeit, Hilflosigkeit,
einschlafen, wenn ich weiß, dass ich gleich wieder 4 Unsicherheit und Orientierungslosigkeit,
einen Alptraum haben werde«) und die allgemeine 4 Gefühllosigkeit, Leere,
innere Unruhe, die die Menschen am Schlafen hin- 4 Verwirrung,
dert. Viele Traumatisierte haben einen Ruhepuls 4 Hoffnungslosigkeit, Sinnlosigkeit,
von weit über 100 Schlägen/min und leiden unter 4 Angst, Wut und Hass,
einem behandlungsbedürftigen hohen Blutdruck. 4 Schmerz,
Auch aggressives Verhalten ist durch diese inne- 4 Schwäche,
re Unruhe und die laufende Angst vor Störungen des 4 Vorwurfshaltung, Selbstmitleid
labilen inneren Gleichgewichts erklärlich. Ein Pati- 4 Kränkung,
ent aus Ex-Jugoslawien beschrieb das so: »Ich weiß 4 Scham, Demütigung,
nicht, was dann über mich kommt, aber immer, 4 Wertlosigkeit,
wenn einer eine falsche Bemerkung über meine Hei- 4 schlechtes Gewissen und Schuldgefühle,
mat macht, will ich gleich zuschlagen.« Er war an- 4 Rachebedürfnis,
sonsten ein besonders friedlicher Mensch. Konzen- 4 Trauer und Lustlosigkeit.
trationsstörungen führen besonders bei traumati-
sierten Kindern zu Lernschwierigkeiten und dem Aber es gibt auch positive Gefühle wie Freude,
falschen Eindruck einer Intelligenzstörung. Dankbarkeit, Stolz, Glück, Stärke und die Erleichte-
rung, davongekommen zu sein.
4. Psychosomatische Symptome stehen bei vielen
Überlebenden im Vordergrund. Zum Teil sind diese
zahlreichen Beschwerden, welche oft keinen organi- 19.1.8 Entwicklung einer post-
schen Befund haben, auf die anhaltende Dauer- traumatischen Belastungs-
Übererregung zurückzuführen, z. T. scheinen aber störung nach Trauma
eigenständige psychosomatische posttraumatische
Krankheitsbilder zu existieren. Einem Patienten tut Viele Traumatisierte verhalten sich ausgesprochen
über Jahrzehnte der Rücken weh, ohne dass dafür auffällig. Sie sind übererregt, nervös, aggressiv bis
eine spezifische Ursache zu finden wäre (somato- gewalttätig. Oder sie sind still und zurückgezogen,
forme Schmerzstörung). Bei genauerer Anamnese vermeiden Kontakte selbst mit ehemaligen Freun-
stellt sich heraus, dass der Patient seit einem schwe- den und Familienangehörigen. Unklare Symptome
ren Unfall, den er mit seinem Vater im Alter von und eine ausgeprägte psychosomatische Reaktion
16 Jahren hatte, darunter leidet. Sein geliebter Vater erschweren eine klare Diagnose. Abzugrenzen ist
war damals ums Leben gekommen. Der Körper hat- diese Symptomatik vor allem von
te sich diesen starken körperlichen und seelischen 4 Depression,
Schmerz gemerkt und reproduziert ihn immer wie- 4 Substanzmissbrauch,
der. Ohne eine Bearbeitung des Traumas wird man 4 Schizophrenie,
dem Leiden dieser Menschen nicht gerecht werden. 4 dissoziative Störungen,
4 Übererregung,
4 Angsterkrankung,
19.1.7 Gefühle traumatisierter 4 Zwangserkrankungen und
Menschen 4 Phobien.

Eine Vielfalt unangenehmer und unklarer Gefühle Die aktuell gültigen 8 Kriterien für das Stellen einer
bedrängen Traumatisierte oft jahre- und jahrzehn- PTBS-Diagnose sind in der folgenden Übersicht
telang. dargestellt.
Wichtige negative Gefühle traumatisierter
Menschen sind:

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
220 Kapitel 19 · Akute und posttraumatische Belastungsstörung

gnose kann bei Bedarf durch einen Diagnostik-


Diagnosekriterien einer posttraumati- Fragebogen präzise gestellt werden.
schen Belastungsstörung (nach DSM-5)
5 Kriterium A: ein traumatisches Ereignis
5 Kriterium B: Intrusionen (nach dem Trauma 19.2 Praktischer Teil
aufgetreten)
– Verstörende Erinnerungen 19.2.1 Das Konzept der Ressourcen-
– Alpträume nachts und tags arbeit bei Trauma
– »Flashbacks«
– Psychologischer Stress bei bestimmten Alle PTBS-Symptome können als Zeichen eines
Gedanken überstandenen Traumas verstanden werden. Damit
5 Kriterium C: Anhaltendes Vermeiden sind sie zuordenbar und behandelbar. Es gibt ver-
– Vermeidung von Gedanken, Gefühlen, schiedene Ansätze der Therapie. Immer aber sollte
die ans Trauma erinnern größter Wert auf die Eigenkräfte des Patienten ge-
– Vermeiden von äußeren Auslösern legt werden. Alle vorhandenen Ressourcen sollten
(Menschen, Orte, Aktivitäten, Objekte, mobilisiert werden. Das hilft dem Betroffenen, auch
Situationen) schwerste Belastungen zu überstehen und als einen
5 Kriterium D: Negative Veränderungen in Teil seiner eigenen Geschichte zu begreifen. Zu-
Kognition und Stimmung nächst sind die Traumatisierten oft nicht imstande,
– Vergessen eines Details, negative Gedan- auch nur eine einzige gute Erfahrung bewusst zu
ken, Entfremdung erinnern. Jede Hilfe beim Erinnern an gute Dinge
– anhaltende Emotionen wie Furcht, aus der Gegenwart oder der Vergangenheit ist wich-
Horror, Ärger, Schuld, Scham tig. Es geht darum, so schnell wie möglich die Trau-
5 Kriterium E: Übererregung matisierten aus ihrer »Lethargie« zu holen und ih-
– Herzrasen, hoher Blutdruck, schnelle nen erstmals wieder eine positive Betrachtung des
Atmung Lebens zu erlauben.
– Ungewöhnliche Aggressivität
– Rücksichtsloses und selbstzerstörendes Fallbeispiel
Verhalten Eine 16-jährige junge Frau findet ihren Freund erhängt
– Verstärkte Schreckreaktion im Flur ihrer Wohnung vor. Einen Tag später bittet sie
– Konzentrationsprobleme um ein Gespräch in der Praxis, das am gleichen Tag
– Schlafstörungen stattfindet. Sie ist erschüttert, traurig, aber auch wü-
5 Kriterium F: Dauer mehr als 1 Monat tend über den Freund, der seinen Suizid so geplant
5 Kriterium G: Ernsthafte Beeinträchtigung im hatte, dass sie ihn finden musste. Der Arzt betont die
Leben Wichtigkeit, auch widerstrebende Gefühle wahrzu-
5 Kriterium H. Nicht einer Substanzwir- nehmen. Sie entwickelt keine PTBS. Durch eine große
kung oder einer anderen Krankheit zu- innere Stärke, die schon im ersten Gespräch sichtbar
zuordnen wird, gelingt es ihr, Trauer und Wut auseinanderzuhal-
ten, sich Hilfe von Freunden zu holen, in eine Selbsthil-
fegruppe zu gehen, intensive Trauerarbeit zu leisten
Bei der Diagnosestellung soll man erwähnen, ob und nach wenigen Wochen wieder arbeiten zu gehen.
»mit oder ohne Dissoziation«, »mit oder ohne De- Der Arzt begleitet sie unterstützend und ressourcen-
personalisation und/oder Derealisation«. orientiert in diesem Prozess.
Neben einer vollständigen PTBS-Diagnose gibt Nach etwa 6 Sitzungen stellt die Patientin fest, dass
19 es auch eine partielle PTBS, bei der nicht alle Krite- sie den Arzt jetzt nicht mehr brauche, sie käme
rien B–E gegeben sind: z. B. wenn jemand keine alleine klar. Ein Nachgespräch nach einem halben
Übererregungssymptome mehr zeigt, sondern diese Jahr zeigt erneut ihre Stärke: sie kann gut trauern um
irritierenden Emotionen abgespalten hat. Die Dia- den Freund, hat sich aber – in Gedanken – von ihm

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
19.2 · Praktischer Teil
221 19
die Erlaubnis geholt, sich erneut zu verlieben und
das Leben zu genießen. Sie dankt dem Arzt für die
Hilfe bei diesem Prozess, der es ihr im jugendlichen
Alter ermöglicht hat, sich mit sehr ernsten Lebens-
fragen wie Tod und Sterben, Selbstbestimmung in
allen Lebenslagen etc. auseinanderzusetzen. Sie
selbst fühlt sich durch diese Erfahrung sehr gereift
und innerlich gewachsen.

Voraussetzung für diese Art von Ressourcenarbeit


ist allerdings eine stabile Beziehung zum behan-
delnden Arzt, der eindeutig zu verstehen geben soll-
te, dass er die Schwere des Traumas verstanden hat.
Erst wenn dieser Teil der Passung gut funktioniert,
. Abb. 19.1 Alte Esche
ist Ressourcenarbeit möglich.
Diese alte Esche ist 1787 entstanden, hat 186 Jah-
resringe, die nach dem Fällen 1973 sichtbar wurden. Alle diese Kategorien sind sehr wertvoll für einen
Auf der linken Seite ist vor über 50 Jahren eine Katas- Patienten, der ein schlimmes Ereignis verarbeiten
trophe passiert, ein Blitzschlag oder ein Sturm hat möchte. Es lohnt sich, mit dem Patienten zusam-
einen großen Ast zerstört. Es dauerte etwa 25 Jahre, men nach solchen Ressourcen zu suchen. Dabei
in denen der Baum diese schwere Wunde heilte, be- geht es nicht um die Ressourcen des Arztes, son-
vor sie nach außen unsichtbar wurde. Dieser Baum dern um die des Patienten. Auch ein agnostischer
ist eine Metapher für die Heilungsfähigkeiten nach Arzt kann einem Patienten helfen, in seinem Glau-
Trauma. Es dauert eine gewisse Zeit bis zur Heilung. ben Trost zu finden, Zuversicht zu gewinnen und
Man wird das Ereignis nie vergessen können, es ist eine Zukunftsperspektive zu entdecken.
immer in der Lebensgeschichte da, aber es ist nicht
von weitem sichtbar und es sollte nicht mehr weh- Das »Schatzbuch« (Exkurs)
tun, daran zu denken. Anhand dieses Bildes kann Der Arzt könnte einem traumatisierten Patienten
man dies mit betroffenen Patienten besprechen. vorschlagen, abends vor dem Einschlafen Einträge in
Beim Ressourcengespräch ist es wichtig, dass ein »Schatzbuch« zu machen. Hier dürfen nur posi-
der Arzt Ressourcen beim Patienten wahrnimmt tive Momente des vergangenen Tages oder von frü-
und festhält: »Patient ist mutig, kann auch mal la- her eingetragen werden. Das Schatzbuch unterschei-
chen, hat eine unterstützende Familie, kann gut wei- det sich also von einem »Tagebuch« oder einem
nen, kann sehr traurig sein, zeigt Humor, kann gut »Trauma Tagebuch«, in dem auch negative Gefühle
kommunizieren«. Diese Einträge helfen dem Arzt, vermerkt werden können. Es geht um kleine kurze
nicht in die angebotene Depression und Traurigkeit Momente eines Tages, die in der Erinnerung eindeu-
des Patienten zu verfallen. Er kann dadurch einen tig schön, angenehm und positiv waren, z. B. den
kleinen Abstand bewahren und genau dadurch mit Moment, in dem mich ein kleines Kind herzlich an-
dem Patienten zusammen Ressourcen entdecken. lacht oder in dem ich eine schöne Blume erblicke
Denkbare Ressourcen sind (Lohse 2008): oder eine lobende Bemerkung eines Freundes höre.
4 emotionale Ressourcen, Man kann diese oft sehr kurzen Momente finden,
4 kommunikative Ressourcen, indem man chronologisch durch den Tag geht oder
4 selbstorganisatorische Ressourcen, die fünf Sinnesorgane auf positive Momente prüft:
4 geistig/spirituelle Ressourcen, »Haben Sie heute etwas Schönes gesehen, gehört, ge-
4 materielle Ressourcen, rochen, geschmeckt, oder körperlich gefühlt?« Vor
4 soziale Ressourcen, dem Einschlafen kann man 3, 5 oder mehr solcher
4 weltanschauliche und Momente in ein schön gestaltetes Büchlein schrei-
4 kognitive Ressourcen. ben, man kann sie seinem Partner erzählen und man

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
222 Kapitel 19 · Akute und posttraumatische Belastungsstörung

kann in der Erinnerung an das schönste dieser schö- Sicherer Ort


nen Momente besser einschlafen. Das wirkt oft bes- In dieser Phase, in der jeder Betroffene dauernd ver-
ser als manche Schlaftablette. Beim nächsten Besuch unsichert wird, Ängste entwickelt, vermeiden
sollte der Arzt allerdings nach diesen Einträgen fra- möchte, weglaufen möchte, sind innere oder äußere
gen, sie loben, wenn sie aufgeschrieben wurden, oder sichere Orte wertvoll. Das können echte Orte sein,
verstehen, warum der Patient sie nicht aufschreiben wie die eigene Wohnung oder ein bestimmtes Café,
konnte. In diesem Fall suchen die Patienten nach be- in dem man sich wirklich restlos sicher fühlt, es
deutsamen, großen Ereignissen, die sie gar nicht ha- können aber auch innere Phantasieorte sein (wie
ben können und sind nicht zufrieden mit einem kur- ein schöner hoher sicherer Berggipfel), an denen
zen Lächeln eines Mitbürgers oder dem vergängli- man sich diese vollständige Sicherheit gut vorstellen
chen Duft eines angenehmen Parfums. kann. Mit Hilfe hypnotherapeutischer Techniken
(Trance, Anker) können diese Orte verstärkt wer-
den. Sie bilden wichtige Rückzugsorte für Betroffe-
19.2.2 Erste Hilfe-Möglichkeiten ne, falls die äußere Welt einmal zu schwierig oder
nach Trauma unsicher werden sollte.

Erstaunlicherweise überstehen ca. 80 % der Trau- Überregung gegensteuern


ma-Überlebenden auch schwerste Ereignisse ohne Es ist wichtig, früh der massiven Übererregung
ernsthafte Probleme. Das »Coping«, das »Damit- gegenzusteuern, unter denen die Überlebenden
fertig-werden«, funktioniert eben bei vielen, aber massiv leiden. Dazu gehören leicht erlernbare
nicht bei allen. Eine bald nach dem Ereignis einset- Atemübungen, vielleicht auch Entspannungstech-
zende Intervention (nicht unbedingt Therapie!) niken wie die Progressive Muskelrelaxation (PMR)
hilft allen Betroffenen zusätzlich und verhindert ein nach Jacobson, aber auch Aufklärung über die Ur-
lang anhaltendes Leiden. sachen dieser lästigen und zunächst unverständ-
Die Helfer, die sich ja im Umgang mit Trauma- lichen Symptome wie Herzrasen, Nervosität, Schlaf-
tisierten selbst oft hilflos fühlen, können einfache störungen etc.. Auch Sport und Bewegung sind
Techniken benützen, um den Betroffenen zu helfen. höchst wirksam bei der Verbesserung der Gefühls-
Damit helfen sich die Helfer übrigens auch selbst, da situation eines traumatisierten Menschen.
sie ja durch den dauernden Umgang mit Trauma
selbst sekundär traumatisiert werden. Diese Techni- Personal Debriefing
ken sind leicht erlernbar und sollten von allen Hel- Das Personal Debriefing ist eine neue Technik, die
fern, die mit Trauma-Überlebenden (z. B. auch es sehr früh nach dem Trauma erlaubt, u. a. struk-
nach Naturkatastrophen und Unfällen) zu tun ha- turiert über das Erlebte zu sprechen und früh zu
ben, beherrscht werden. lernen, die kognitive Erinnerung von den Emotio-
nen zu trennen. Es ist eine gute Methode zur Prä-
Kommunikation vention (oder Behandlung) von »Flashbacks« und
Dazu gehört an erster Stelle das Herstellen einer Alpträumen.
tragfähigen Kommunikation. Überlebende sind
wie oben dargestellt unter anderem misstrauisch. Information
Ein Teil des Grundvertrauens ist zerstört worden, Auch die Information (Psychoedukation) der Be-
umso schlimmer, je mehr das Trauma absichtlich troffenen über Trauma und die möglichen Folgen
von Menschen zugefügt wurde. Es geht also im mit der Betonung der Normalität der Symptome
Kontakt mit diesen Patienten zunächst vor allem hilft sehr deutlich, vor allem jenen, die glauben, all-
um Vertrauen. Ohne dieses lassen sich weder un- mählich »verrückt« zu werden. »Sie müssen diese
19 spezifische »Erste-Hilfe-Techniken« noch spezifi- Symptome haben, weil Sie etwas sehr Schweres hin-
sche Traumatherapien durchführen. ter sich haben. Daran sehe ich, dass Sie nicht ver-
rückt, sondern psychisch normal sind«, könnten
etwa die Worte des Arztes lauten.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
19.2 · Praktischer Teil
223 19
Erschütterte Vorannahmen weiteres Studium etc.. Durch diesen Fast-Unfall, der
Der amerikanische Traumaexperte Horowitz ja tödlich hätte enden können, erfuhr sie, dass die
spricht von »shattered assumptions«, also von er- Lebenszeit begrenzt ist und das schönste Leben ganz
schütterten Vorannahmen. Immer wieder stellt plötzlich zu Ende sein kann. Das hat ihre traumati-
sich heraus, dass die »objektive« Schwere eines sche Angstreaktion ausgelöst.
Traumas nicht so sehr die posttraumatische Reak- Als ihr dies bewusst wurde, ging es ihr besser, sie hat
tion erklärt. Gerade bei Fast-Unfällen ist das gut sich neu an diesem verlässlichen Freund gefreut, hat
studiert worden. Auch wenn eigentlich gar nichts Babypläne für die Zukunft gemacht und ist schnell
Schlimmes passiert, leidet der Mensch später unter wieder Fahrrad gefahren, allerdings ab jetzt mit
einer klaren posttraumatischen Reaktion. Fragen Helm. Die 3-stündige »Therapie« oder Kurzinterven-
Sie in solchen Fällen die Patienten, was sich denn tion war beendet, als sie beim dritten Mal selbst mit
durch diesen Fast-Unfall in ihnen selbst geändert dem Fahrrad zur Praxis kam.
habe. Suchen Sie mit ihm zusammen nach solchen Wenn der behandelnde Arzt nicht auf die Vorannah-
Vorannahmen, die durch das Ereignis erschüttert men zu sprechen gekommen wäre, wäre ihm völlig
sein könnten. entgangen, was diese Patientin so erschüttert hatte.
Es war ja schließlich eigentlich nichts passiert. Wie
Fallbeispiel verhängnisvoll wäre es gewesen, sie mit angstlösen-
Der Freund einer 25-jährigen Patientin ruft an, sie den oder sedierenden Medikamenten zu behandeln,
habe vor Tagen einen Fast-Unfall gehabt, ein Auto- ohne zu verstehen, was sie so aus der Bahn geworfen
fahrer habe die Tür geöffnet, als sie mit dem Rad vor- hatte.
beifahren wollte. Sie habe das rechtzeitig gemerkt,
ihm noch etwas Böses hinterhergerufen und sei wei-
tergeradelt. Nach 100 m habe sie zu zittern angefan- Tipps für die Praxis
gen. Dann sei sie nach Hause gelaufen. Am nächsten Was kann der Arzt nach Trauma tun?
Tag sei sie mit der Straßenbahn zur Arbeit gefahren. 5 Guten tragfähigen Kontakt herstellen, dem
Abends habe sie in der Zeitung gelesen, dass es ei- Patienten Verständnis für die Schwere des
nen leichten Zusammenstoß mit einer Straßenbahn Traumas ausdrücken
gegeben habe, bei der eine Frau verletzt wurde. Am 5 Stabilisierungstechniken (s. Reddemann
nächsten Tag fährt sie mit dem Bus zur Arbeit. In der 2005)
Tageszeitung liest sie von einem schweren Busunfall 5 Sichere Orte schaffen (echte oder in der
in der Türkei mit vielen Toten. Am nächsten Tag ver- Fantasie, »in sensu«)
lässt sie ihre Wohnung gar nicht mehr, sie schließt 5 Eigene Kräfte/Fähigkeiten des Betroffenen
alle Fenster und Vorhänge und verlässt das Bett nicht wieder entdecken und verstärken
mehr. 5 Das verständliche Vermeiden des Patienten
Vor diesem Unfall sei sie nie ängstlich gewesen, sie ansprechen und gegensteuern
habe Fallschirmspringen und Bergklettern als Sport 5 Debriefing anwenden
praktiziert und sei alleine durch Südamerika gereist. 5 Die Normalität der berichteten Symptome
Dem Arzt fällt das Vermeidungsverhalten auf, was die betonen
Frau lernen ließ, dass zunächst Radfahren, dann der 5 Das Denken traumatisierter Menschen
öffentliche Nahverkehr und schließlich die Öffent- ändert sich: Weltbild, Selbsteinschätzung,
lichkeit gefährlich sein könnte. Also bleibt man am Menschenbild o sollte vom Arzt angespro-
besten im Bett. Aber warum hatte sie überhaupt so chen werden!
ängstlich reagiert, nachdem dies ja keine übliche 5 Nicht sofort überweisen (der Patient fühlt
Eigenschaft von ihr war? sich dann noch kränker und hilfloser)
Es stellte sich nach 2–3 Gesprächen heraus, dass sie 5 Nicht in die Traurigkeit des Patienten ver-
gefühlt unendlich viel Zeit im Leben hatte. Zeit, fallen (dann kann man keine Ressourcen
einen richtigen Partner zu suchen, mit dem sie ir- entdecken)
gendwann einmal ein Kind haben könne, Zeit für ein

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
224 Kapitel 19 · Akute und posttraumatische Belastungsstörung

19.2.3 Ziele professioneller Therapie halb von 10 Sitzungen Opfer von krimineller Ge-
walt und von Unfällen behandelt (Fischer 2002).
Die eigentliche Traumatherapie durch erfahrene Ähnlich erfolgreich sind auch kurzzeitige verhal-
Traumatherapeuten sollte wenigen, ausgewählten tenstherapeutische Behandlungsprogramme. Bei
Patienten vorbehalten bleiben. Verhaltenstherapeu- länger zurückliegenden Traumen und Extremtrau-
tische und hypnotherapeutische Kurztherapien sind matisierung (Krieg, Folter) oder wenn z. B. schwere
effektiv und kostengünstig. Dazu gehört nach einer und wiederholte Traumatisierungen in der Kindheit
Stabilisierungsphase oft auch eine Konfrontation aufgearbeitet werden müssen (Beziehungstrauma-
mit dem vergangenen Trauma. Ein gezielter Abbau ta), ist mit einer mehrjährigen Therapie, meist in
der intrusiven Erinnerungen ist schnell und effektiv Kombination mit einer stationären psychothera-
möglich und erleichtert das Leben der Betroffenen peutischen Behandlung, zu rechnen.
ganz erheblich. Neuere Methoden wie Hypnothera- Ziel ist ein neuer bewusster Umgang mit der
pie, Tapping, Eye Movement Desensitization and traumatischen Erinnerung, das Wiedererleben von
Reprocessing (EMDR) und viele andere können oft Gefühlen und damit das Wiedererlangen der Kon-
recht kurzfristig Besserung im Leid der Patienten trolle über das Gefühlsleben. Erst dadurch ist die
herbeiführen, müssen aber in eine allgemeinere andauernde Integration des Traumas in die eigene
Traumatherapie eingebettet sein, die die folgenden Lebensgeschichte möglich.
Grundprinzipien beachtet.

Stufen der Traumabehandlung 19.2.4 Pharmakotherapie


(mod. nach Horowitz 2003)
1. Stufe: Sicherheit Der Gebrauch von Benzodiazepinen ist bei der Be-
Differenzierter Umgang mit Symptomen – handlung von Traumafolgestörungen kontraindi-
soziale Ressourcen aktivieren, Erlernen von ziert. Sie stellen erstens eine große Suchtgefahr dar,
Atemtechniken, Vermeidungsverhalten die bei Trauma noch höher als normal ist, und zwei-
reduzieren, therapeutische Beziehung – tens können durch die induzierte Entspannung
therapeutisches Setting, Sicherheit wahr- massive bedrohliche und beängstigende Flashbacks
nehmen und verfestigen und Alpträume auftreten.
2. Stufe: Stabilität Bei einer begleitenden mittelschweren oder
Selbstwahrnehmung in der zwischen- schweren Depression sind Antidepressiva (v. a.
menschlichen Beziehung, Grenzen aktivie- SSRI) indiziert. Bei schweren Schlafstörungen hel-
ren – Selbstakzeptanz, Verbesserung der fen Zopiclon 7,5 mg oder Mirtazapin 15 mg abends.
Selbstwahrnehmung, Unsicherheiten wahr-
nehmen und bewältigen
3. Stufe: Konfrontation 19.2.5 Fallsticke
Aktivierung früherer Erlebnisinhalte, kogni-
tive und emotionale Arbeit an der Wirkung Durch die Verwirrung, die Hilflosigkeit und das
des Traumas, Grenzen aktivieren und auf- durchaus verständliche Gefühlschaos erscheinen
rechterhalten kürzlich Traumatisierte oft sehr hilfebedürftig. Sie
4. Stufe: Integration machen einen depressiven Eindruck, sprechen oft
Annahme des Traumas – annehmen der gar nicht oder sehr wenig, oder erzählen dauernd
Veränderung, selbst bestimmen, wie wich- aber ohne Gefühle vom traumatischen Erlebnis.
tig das Trauma in der Lebensgeschichte Ihre Zuhörer haben oft den Impuls, sie »an der
Hand zu nehmen« und helfend zu begleiten. Hier
19 sein soll
sollte man sich klarmachen, dass im Trauma immer
ein Moment völliger Ohnmacht, ein Moment mas-
Mit Hilfe der sog. Mehrdimensionalen Psychodyna- siven Kontrollverlustes, passiert, der sich dem Be-
mischen Traumatherapie (MPTT) werden inner- troffenen gut einprägt. Die Hilflosigkeit bleibt be-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
Literatur
225 19
stehen. Wenn man dem Patienten Entscheidungen
abnimmt oder für ihn Dinge beschließt, mag er sich
oft unverstanden und sogar retraumatisiert fühlen.
Die Grundhaltung des Arztes sollte sein, den Trau-
matisierten so bald wie möglich alle Entscheidun-
gen selbst fällen zu lassen und nur in einer begrenz-
ten Zwischenzeit ihm helfend zur Seite zu stehen.
Ein weiterer Hinweis sollte dem frisch Trauma-
tisierten vom Arzt gegeben werden: nämlich in die-
ser außergewöhnlichen Zeit kurz nach dem Trauma
keine wichtigen Entscheidungen zu fällen, sondern
diese auf später zu verschieben, wenn der Patient
wieder gesunde eigene Entscheidungen treffen
kann.

Literatur

Zitierte Literatur
APA American Psychiatric Association (2013) Diagnostic and
statistical manual of mental disorders, DSM V (5th ed.).
APA, Washington DC
Fischer G (2002) Neue Wege aus dem Trauma. Information
und Hilfen für Betroffene. Vesalius, Konstanz
Flatten G, Perlitz V, Pestinger M et al. (2004) Neural Processing
of traumatic events in subjects suffering PTSD: a case
study of two surgical patients with severe accident
trauma. GMS 1:doc06(20040701)
Frommberger U, Stieglitz RD, Nyberg E et al. (1998) Die
psychischen Folgen von Verkehrsunfällen I. Relevanz,
diagnostische Kriterien und Therapie psychischer Störun-
gen. Z Unfallchir 24: 115–121
Horowitz MJ (2003) Stress Response Syndromes. Jason
Aronson Inc, Northvale
Jacobi F, Höfler M, Strehle J et al. (2014) Psychische Störungen
in der Allgemeinbevölkerung. Studie zur Gesundheit
Erwachsener in Deutschland und ihr Zusatzmodul Psy-
chische Gesundheit (DEGS1-MH). Nervenarzt 85 (1):
77–87
Lohse TH (2008) Das Kurzgespräch in Seelsorge und Beratung.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen
Reddemann L (2005) Imagination als heilsame Kraft –
Zur Behandlung von Traumafolgen mit ressourcen-
orientierten Verfahren. Klett-Cotta, Stuttgart

Weiterführende Literatur:
Maercker A (1997) Therapie der posttraumatischen Belas-
tungsstörungen. Springer, Heidelberg
Reddemann L (2004) Psychodynamisch Imaginative Trauma-
therapie. PITT – das Manual. Klett-Cotta, Stuttgart

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
227 20

Persönlichkeitsstörungen
Kurt Fritzsche, Werner Geigges, Michael Wirsching

20.1 Theoretischer Teil – 228


20.1.1 Kennzeichen – 228
20.1.2 Symptome – 228
20.1.3 Diagnostische Einteilung – 229
20.1.4 Häufigkeit und Verlauf – 232
20.1.5 Entstehungsbedingungen – 232

20.2 Praktischer Teil – 232


20.2.1 Haltung in der Arzt-Patient-Beziehung – 232
20.2.2 Behandlung – 233
20.2.3 Prognose – 237

Literatur – 237

K. Fritzsche et al. (Hrsg.), Psychosomatische Grundversorgung,


DOI 10.1007/978-3-662-47744-1_20, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
228 Kapitel 20 · Persönlichkeitsstörungen

20.1 Theoretischer Teil Beziehungsprobleme, sondern vielmehr eine psy-


chosoziale Krise, die durch Ablehnung und Demü-
20.1.1 Kennzeichen tigung durch andere entstanden ist. So kann sich
etwa eine depressive Störung mit Suizidalität als
Persönlichkeitsstörungen gehen einher mit Beein- Folge wiederholter Kränkungen entwickeln.
trächtigungen in bestimmten Fähigkeiten, die zur
Bewältigung der grundlegenden Herausforderun-
gen des menschlichen Lebens wesentlich sind (Auf- 20.1.2 Symptome
bau tragfähiger zwischenmenschlicher Beziehun-
gen) (Zimmermann 2014). Ein Kennzeichen der Starre des Denkens
Persönlichkeitsstörung ist es, dass diesen Patienten Vorgefasste und unverrückbare Meinungen be-
ihre sonderlichen Reaktionsweisen zumeist nicht herrschen die Gedanken. Die Betroffenen sind kei-
zugänglich sind; sie halten das Verhalten der ande- nen vernünftigen Argumenten zugänglich. Cha-
ren Menschen ihnen gegenüber für unangemessen rakteristisch sind Spaltungen, wie ausgeprägtes
und sehen dabei den eigenen Anteil nicht. In der Tat Schwarz-Weiß-Denken, entweder oder, Gut oder
sind die Reaktionen der Anderen teilweise brüsk, Böse, Alles oder Nichts. Sie schwanken zwischen
ablehnend oder ausnutzend. Dadurch kommt es bei der Bereitschaft, andere Menschen und Lebens-
Patienten mit Persönlichkeitsstörungen sehr häufig möglichkeiten stark zu idealisieren oder aufs
zu Beziehungsproblemen. Der Wechsel von Abkap- Schärfste zu entwerten. Es besteht eine Unfähigkeit
selung oder Anklammern, von Idealisierung und zur Ambivalenz, zum Zwiespalt. Grautöne werden
Entwertung und der manipulative Umgang mit an- nicht zugelassen.
deren Menschen lassen die Persönlichkeitsstörung
nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern auch Gestörte Gefühlsregulation
für dessen Umfeld zu einer Qual werden. Die Patienten kämpfen mit stärksten Gefühlen der
Der Patient mit Persönlichkeitsstörung hinter- Wut, der Verzweiflung, der Enttäuschung, aber
fragt aber nicht, wodurch er ein solches Verhalten auch der Angst, der Scham, der Schuld, die sie kaum
ausgelöst hat. Die Störung wird als ich-synton be- beherrschen oder auf angemessene Weise zum Aus-
zeichnet, weil den Patienten ihr auffälliges Bezie- druck bringen können. Ausgelöst werden diese Ge-
hungsverhalten selbst nicht auffällt (. Abb. 20.1). fühle oft aus nichtigem Anlass. Ein Stirnrunzeln
Das Offenlegen des problematischen Beziehungs- oder eine harmlose Bemerkung des Gesprächspart-
verhaltens wird von solchen Patienten daher abge- ners, ein verpasster Zug oder Warten in der Schlan-
lehnt. ge kann Emotionen auslösen, die gegenüber dem
Der Grund für die Aufnahme einer Psychothe- Anlass inadäquat erscheinen.
rapie ist daher auch nicht die Einsicht in die eigenen

20
. Abb. 20.1 Cartoon: Keinen Leidensdruck. (Zeichnung: Gisela Mehren)

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
20.1 · Theoretischer Teil
229 20
Problematische zwischenmenschliche 4 Ängstliche (vermeidende)
Beziehungen Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F 60.6)
Der Kontakt zu anderen Menschen ist aufs Stärkste Kennzeichen sind: Gefühle von Anspannung,
beeinträchtigt. Dies betrifft sowohl die engere Besorgtheit, Unsicherheit und Minderwertig-
Familie und Partner als auch Freunde, Berufskolle- keit; andauernde Sehnsucht nach Zuneigung
gen und zufällig begegneten Menschen. Der Mangel und akzeptiert werden; Überempfindlichkeit
an Empathie, an Dauerhaftigkeit und Zuverlässig- gegenüber Zurückweisung und Kritik; Nei-
keit sind oft Folge von Bindungsstörungen in den gung zu Überbetonung potentieller Gefahren
ersten Lebensjahren (s. 7 Abschn. 1.5.2. und 7 Ab- oder Risiken alltäglicher Situationen.
schn. 8.2.1). 4 Abhängige (asthenische) Persönlichkeits-
störung (ICD-10: F 60.7)
Kennzeichen sind: passives Verlassen auf
20.1.3 Diagnostische Einteilung andere Menschen; große Trennungsangst;
Gefühle von Hilflosigkeit und Inkompetenz;
Die Persönlichkeitsstörungen lassen sich anhand Neigung sich den Wünschen Älterer und
ihrer charakteristischen Merkmale in folgende Ka- anderer unterzuordnen; Versagen gegenüber
tegorien unterteilen: den Anforderungen des täglichen Lebens.
4 Paranoide Persönlichkeitsstörung 4 Sonstige spezifische Persönlichkeits-
(ICD-10: F 60.0) störungen (ICD-10: F 60.8)
Kennzeichen sind: übertriebene Empfindlich- Hierzu gehören u. a. exzentrische, narzissti-
keit gegenüber Zurückweisung; Misstrauen; sche und passiv-aggressive Persönlichkeits-
freundliche Handlungen anderer werden als störungen.
feindlich missdeutet.
4 Schizoide Persönlichkeitsstörung Für den Alltagsgebrauch, vor allem in der psycho-
(ICD-10: F 60.1) somatischen Grundversorgung, empfiehlt es sich,
Kennzeichen sind: Rückzug von affektiven und die Vielzahl der phänomenologisch unterscheidba-
sozialen Kontakten; einzelgängerisches Verhal- ren Persönlichkeitsstörungen in 3 große Gruppen
ten; in sich gekehrte Zurückhaltung; begrenz- zu ordnen.
tes Vermögen, Gefühle auszudrücken und
Freude zu erleben. Borderline-Störung (ICD-10: F 60.31)
4 Emotional instabile Persönlichkeitsstörung Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung
(ICD-10: F 60.3) sind emotional instabil. Emotionale Situationen,
Kennzeichen sind: Impulse werden ohne wie Kränkungen, Frustrationen, Verärgerung, Ent-
Berücksichtigung der Konsequenzen ausagiert; täuschung können nur sehr schwer verarbeitet wer-
impulsiver Typus und Borderline-Typus den. Patienten reagieren auf solche Gefühle impul-
(s. unten). siv, meist mit Aggressionen gegen sich selbst und
4 Histrionische Persönlichkeitsstörung gegen andere in Form von Wutausbrüchen, Krän-
(ICD-10: F 60.4) kungen oder der Drohung von Beziehungsabbruch.
Kennzeichen sind: oberflächliche und labile Die Folge sind instabile, wenig konstante und kri-
Affektivität; Dramatisierung; theatralischer, senhafte Beziehungen zu anderen Menschen, die oft
übertriebener Ausdruck von Gefühlen, Ego- zugleich sehr intensiv sind, im Positiven, wie im
zentrik; Mangel an Rücksichtnahme; erhöhte Negativen. Borderline Patienten haben häufig eine
Kränkbarkeit. ausgeprägte Angst davor, verlassen zu werden. Im
4 Anakastische (zwanghafte) Persönlichkeits- Zentrum steht der Wunsch, nach einer sicheren,
störung (ICD-10: F 60.5) zuverlässigen und innigen Beziehung. Meist auf-
Kennzeichen sind: Gefühle von Zweifel; grund schlechter Erfahrungen, oft auch Traumati-
Perfektionismus; übertriebene Gewissen- sierungen, fehlt aber die Toleranz gegenüber
haftigkeit; ständige Kontrollen; Starrheit. schwierigen Phasen in der Beziehung. Das Gefühl

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
230 Kapitel 20 · Persönlichkeitsstörungen

der Unberechenbarkeit aktiviert sofort die Tren- einen oder wenige Menschen, die stark idealisiert
nungsangst und führt zu einem Entgleisen der werden.
Emotionen. Die Beziehungen sind daher geprägt
von Schwankungen, die im Positiven sehr innig und Fallbeispiel
im Negativen sehr aggressiv sind. Die Schwankun- Eine Mutter spricht den Hausarzt an:
gen in der Beziehung bestätigen die Annahme, sich »Irgendwas stimmt mit meiner Tochter Monika nicht.
des Partners nie sicher sein zu können. Sie ist jetzt 19, geht kaum aus dem Haus, die Schule
hat sie abgebrochen. Auch verschiedene Versuche
Fallbeispiel eine Lehre zu beginnen sind erfolglos geblieben. Sie
Bei der 25-jährigen Elisabeth fallen dem Hausarzt schläft viel, hört Musik, manchmal rafft sie sich auf
sowohl frische als auch teilweise vernarbte Schnitt- zum Handarbeiten. Das ist doch kein Leben.
verletzungen an beiden Unterarmen und den Ober- Wenn man sie anspricht oder nicht tut, was sie will,
schenkeln auf. Verlegen und abweisend reagiert sie wird sie pampig, aufbrausend. Neulich hat der Vater
auf sein Nachfragen. versucht eine Frist zu setzen: wenn sie nicht jobbe,
P: »Ja, ich schneide mich. Das mache ich schon lange. flöge sie raus. Da ist die Hölle los gewesen, das ist
Das hilft mir Stress abzubauen.« doch auch keine Lösung. Was sollen wir tun?
A: »Wie schaut es denn sonst aus in Ihrem Leben?« Still und zurückgezogen, schüchtern ist die Monika
P: »Nichts Besonderes. Mit dem Studium der Soziolo- schon immer gewesen, auch im Kindergarten.
gie und Philosophie komme ich nicht zurecht, weiss Der ältere Bruder und die jüngere Schwester sind
aber nicht, was ich sonst machen soll. Einen Partner ganz anders. Ich mache mir Sorgen. Wenn ich und
habe ich nicht. Ich habe noch vom letzten die Nase mein Mann einmal nicht mehr für Monika da sind,
voll. Manchmal gehe ich mit jemandem mit, oder kommt sie mit Sicherheit nicht mehr im Leben
nehme jemanden mit nach Hause, dann fühle ich zurecht.«
mich mies.«
A: »Wie steht es mit zu Hause?« Paranoide (ICD-10: F 60.0), schizoide
P: »Was soll schon sein? Mein Vater ist gegangen, als (ICD-10: F 60.1) und narzisstische (ICD-
ich keine 3 Monate alt war. Der hatte wohl eine ande- 10: F 60.80) Persönlichkeitsstörung
re, mehr weiß ich nicht. Die Mutter ist ständig über- Personen mit paranoider Persönlichkeitsstörung
fordert gewesen mit der Situation, schwer depressiv, glauben, andere wollen ihnen schaden und hegen
immer wieder in Kliniken, voller düsterer Prophezei- böse Absichten. Aus dieser Annahme entsteht ein
ungen. Als Kind habe ich mich sehr verantwortlich Groll gegen andere und eine Neigung zur Streit-
und überfordert gefühlt, die Mutter am Leben zu süchtigkeit. Im Gegensatz zur paranoiden Psychose
erhalten. Manchmal packt mich die kalte Wut und handelt es sich um Fehlinterpretationen, nicht um
Verzweiflung, dann will ich gar nicht mehr. Zweimal Halluzinationen, auch wenn dies teilweise schwer
habe ich schon versucht, mir mit Tabletten das auseinanderzuhalten ist. Häufiger ist aber die
Leben zu nehmen. Das nächste Mal wird es bestimmt narzisstische Selbstüberschätzung. Bewunde-
klappen.« rung, Erfolg, Beifall machen süchtig. Solche Men-
schen wirken anspruchsvoll, ausbeuterisch, neider-
Ängstlich, vermeidende (ICD-10: F 60.6) füllt und arrogant. Wenn dazu noch eine hohe
und abhängige (ICD-10: F 60.7) Persön- Intelligenz und Eloquenz kommt, finden wir
lichkeitsstörung diese Persönlichkeitsgestörten in höchst erfolgrei-
Kennzeichen sind Überempfindlichkeit und ständi- chen Positionen in Politik, Wissenschaft und Wirt-
ge Besorgtheit, den eigenen oder fremden Erwar- schaft.
tungen und Ansprüchen nicht zu genügen. Das
Selbstwertgefühl ist stark herabgesetzt. Alle Arten Fallbeispiel
von Anstrengungen, Herausforderungen und Be- Die Arzthelferin kommt ins Sprechzimmer: »Herr W.
20 ziehungen zu anderen Menschen werden ängstlich will nicht mehr warten, was soll ich tun?«
vermieden. Manchmal findet sich die Fixierung auf A: »Sagen Sie ihm in 5 Minuten.«

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
20.1 · Theoretischer Teil
231 20
Bleich vor Wut, gespannt und schmallippig, bricht
. Tab. 20.1 Vergleich Persönlichkeitsstile und Per-
es aus Herrn W. hervor: »Ich warte über eine halbe sönlichkeitsstörung
Stunde.«
A: »Es tut mir leid, ein unvorhergesehener Zwischen- Persönlichkeitsstil Persönlichkeitsstörung
fall, hat die Helferin Ihnen das nicht gesagt?«
P: »Das interessiert mich nicht. Wenn ich meinen Wachsam Paranoid

Laden so schleifen ließe, was meinen Sie was da los Ungesellig Schizoid
wäre.« Exzentrisch Schizotypisch
A: »Was führt Sie zu mir?«
Abenteuerlich Antisozial
P: »Wie schön, dass ich endlich mein Anliegen vortra-
gen darf. Also, Stress auf allen Ebenen, die Firma will Sprunghaft Borderline
mich loswerden, ich werde gemobbt, ich sei gesund- Dramatisch Histrionisch
heitlich nicht mehr den Anforderungen gewachsen.
Selbstbewusst Narzisstisch
Das müssen Sie mir bescheinigen, dass ich topfit bin.
Ich lasse mich doch nicht verarschen. Mein Anwalt Sensibel Selbstunsicher
wird Sie anrufen, was in dem Attest zu stehen hat. Anhänglich Dependent
Geht das in Ordnung?«
Gewissenhaft Zwanghaft
A: »Dazu muss ich Sie erst untersuchen und brauche
Lässig Passiv-aggressiv
noch einige Angaben von Ihnen.«
P: »Ich habe doch gesagt, ich bin topfit, reicht das Aufopfernd Selbstschädigend
nicht? Glauben Sie mir etwa nicht? Geht das hier Aggressiv Sadistisch
schon wieder los?«
A: »Beruhigen Sie sich doch. Schließlich soll ich Ihnen
helfen, aber da müssen Sie schon mitziehen.« men auch die Wahrnehmung und die Bewertung
P: »Also, das mach ich nicht mehr mit, so was tu ich der anderen und damit einhergehend die eigenen
mir nicht an, das hab ich mir gleich gedacht, wie das Emotionen. Sind die Persönlichkeitsstile zu rigide
hier läuft.« und unbeweglich, kommt es zu verzerrten Wahr-
Spricht’s und verlässt Türen knallend die Praxis. nehmungen und in deren Folge zu unangemessenen
Emotionen. Diese lösen dann Verhaltensmuster wie
Von der Psychose unterscheidet die Persönlich- Aggression, Unterordnung, Anbiederung oder Be-
keitsstörungen vor allem der intakte Realitätsbezug. ziehungsabbruch aus, die für den Gesprächspartner
Fließend ist der Übergang zu eigentümlichen Men- nicht nachvollziehbar und der Situation nicht ange-
schen mit bestimmten Persönlichkeitsstilen, die als messen sind.
Sonderlinge, Exzentriker, Kreative oder Hochbe- Es können verschiedene Persönlichkeitsstile be-
gabte auffallen. Persönlichkeitsstörungen sind die schrieben werden, die bei zu starrer Ausformung zu
extreme Ausprägung von Persönlichkeitsstilen. unterschiedlichen kommunikativen Problemen
führen können (. Tab. 20.1)
jPersönlichkeitsstile
Jeder Mensch hat bestimmte bevorzugte soziale Ausblick Die Validität der oben genannten Charak-
Verhaltensweisen und erwartet auch ein bestimm- terisierungen wird von Forschern und Kliniken seit
tes Auftreten von seinen Mitmenschen. Diese Wert- langem infrage gestellt. Im Rahmen einer operatio-
haltungen sind Teil des Charakters und damit uner- nalisierten psychodynamischen Diagnostik (OPD)
lässlich für soziale Vielfalt und soziales Miteinan- werden stattdessen strukturelle Beeinträchtigungen
der. Beharren Menschen zu sehr auf ihren Positio- in den basalen Funktionen der Persönlichkeit im
nen, Werten und sozialen Erwartungen, so wird aus Umgang mit sich selbst und mit anderen beschrie-
einem Charaktertypen schnell ein Querulant oder ben (Zimmermann 2014).
ein komischer Kauz. Solche Persönlichkeitsstile be- Die künftigen Klassifikationssysteme für Per-
stimmen nicht nur das soziale Verhalten, sie bestim- sönlichkeitsstörungen bestehen wahrscheinlich aus

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
232 Kapitel 20 · Persönlichkeitsstörungen

zweidimensionalen Modulen zur Erfassung des ringe Steuerbarkeit und ein Gefühl der Aktualität
Schweregrads und der Art der Persönlichkeitspro- auszeichnet. Es ist, als wäre das Unglück gerade wie-
blematik. der geschehen. Um psychisch überleben zu können,
bilden die Patienten Gegenreaktionen. Sie erstar-
ren oder sie spalten das Gefühl vom körperlichen
20.1.4 Häufigkeit und Verlauf Vorgang ab, d. h. sie empfinden nur die vegetativen
Begleiterscheinungen der Angst und der Wut. Diese
Ca. 5–10 % der Bevölkerung leiden unter einer der Formen der Gefühlsbewältigung sind unzulänglich
verschiedenen Störungstypen, die unter den Sam- und laufen Gefahr, in steter Folge zu versagen, so-
melbegriff Persönlichkeitsstörung gefasst werden dass der Patient schutzlos seinen massiven Affekten
(Fiedler 2007). ausgeliefert ist.
Die so erworbenen kognitiven, emotionalen
und interpersonellen Defizite müssen ausgeglichen
20.1.5 Entstehungsbedingungen werden. Daraus ergeben sich Kompensationsme-
chanismen, wie Rückzug, Isolation, Gefühlsabspal-
Bei der Entstehung der Persönlichkeitsstörungen tung, Unterwerfung oder der Versuch, die Welt zu
kommt es zu einem Zusammenwirken von folgen- beherrschen. Als Zeichen misslungener Kompensa-
den Risikofaktoren, die mit einer Verletzung bzw. tion entwickeln sich weitere psychische Störungen
dem Versagen emotionaler Grundbedürfnisse ver- wie Depressionen, somatoforme Störungen (z. B.
bunden sind: chronische Schmerzerkrankung), Essstörungen
4 Überforderte Eltern oder andere Bezugs- (z. B. Bulimie) oder Suchterkrankungen.
personen im Umfeld,
4 fragwürdige Erziehungsmethoden (überver-
wöhnender, ablehnender, autoritärer oder 20.2 Praktischer Teil
ambivalenter Erziehungsstil)
4 alle Formen der Kindeswohlgefährdung (Ver- 20.2.1 Haltung in der Arzt-Patient-
wahrlosung, physischer und/oder psychischer Beziehung
Missbrauch, Gewalterfahrungen, Suchterkran-
kung der Eltern), Patienten mit Persönlichkeitsstörungen werden von
4 Trennung/Scheidung der Eltern, Ärzten in der Regel als »schwierige Patienten« erlebt
4 Eltern mit einem oder mehreren problema- und lösen heftige Gefühls- und Handlungsimpulse
tischen Persönlichkeitsstilen, aus. Als Beziehungsstörung begriffen, lassen sich
4 Parentifizierung (dem Kind zu früh Aufgaben für jeden Störungstyp spezifische, sog. maladaptive
übertragen, die eigentlich von den Bezugsper- Beziehungszirkel beschreiben. Sie beinhalten in
sonen übernommen werden müssten), Form eines Teufelskreises die Wünsche und Erwar-
4 sonstige Traumatisierungen. tungen der Patienten, das eigene Verhalten und die
Reaktion der Anderen. Aufgrund früher, meist in
Das auffällige Verhalten, Erleben und Denken der der Kindheit liegender, schlechter Erfahrungen sind
Betroffenen ist vor diesem lebensgeschichtlichen bei den Patienten Glaubenssätze entstanden, die
Hintergrund als Reaktualisierungen früherer men- besagen, dass die Wünsche und Erwartungen nur
tal abgespeicherter, unbewältigter schmerzlicher unter besonderen Bedingungen in Erfüllung gehen.
Erfahrungen zu verstehen. Die Patienten erleben Diese Erwartungen führen i. S. einer sich selbst er-
die Gefühle gleich stark wie in früheren Lebenssitu- füllenden Prophezeiung zu dem ungewöhnlichen,
ationen, wenngleich es nur Auslöser (Trigger-Situa- gestörten Beziehungsverhalten. Ein Patient, dessen
tion) waren, die das Reaktionsmuster aktiviert ha- Glaubenssatz beispielsweise nahelegt, dass er sich
ben. Neurobiologisch betrachtet, handelt es sich um nur frei entfalten kann, wenn er sich gegen die an-
20 Vorgänge die im prozeduralen Gedächtnis gespei- deren durchsetzt, zeigt ein stark konkurrierendes
chert sind, welches sich durch Unmittelbarkeit, ge- bis teilweise schon aggressives Verhalten, um sich

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
20.2 · Praktischer Teil
233 20
auf Kosten anderer die eigene Autonomie zu 20.2.2 Behandlung
sichern. Die Reaktionen der anderen werden abwei-
send oder gar feindselig sein. Diese negativen Reak- Die Grenzen dieses theoretischen Konzeptes sind
tionen führen aber nicht zur Korrektur des Verhal- klar erkennbar. Von den drei oben genannten Fall-
tens, sondern im Gegenteil zu einem Mehr dessel- beispielen bieten allenfalls die ersten beiden die
ben. Im Beispiel wird der Patient seinen Glaubenssatz Möglichkeit zum weiterführenden Kontakt, woge-
durch die negativen Reaktionen der Anderen bestä- gen das dritte Beispiel des Patienten mit paranoider
tigt finden. Persönlichkeitsstörung durch den für diese Störung
So zentral der Glaubenssatz für die zugrunde charakteristischen Beziehungsabbruch von vorn-
liegende Störung ist, er ist nur sehr schwer zu verän- eherein scheitert. Hier ein Beispiel für einen eini-
dern. Eine solche Veränderung bedarf der psycho- germaßen gelungenen Erstkontakt:
therapeutischen Behandlung und benötigt viele
Monate. Für den Arzt ist es dennoch hilfreich, den Paranoide Persönlichkeitsstörung
Glaubenssatz als letztlich ungenügenden Lösungs- Fallbeispiel
versuch vor dem Hintergrund enttäuschter kindli- P (direkt nach der Begrüßung): »Wozu dient eigent-
cher Grundbedürfnisse zu verstehen, es erleichtert lich der Fragebogen hier?«
ihm, sein eigenes Verhalten auf den Patienten ein- A: »Das erleichtert uns die Behandlung, wenn wir
zustellen. Die im Beziehungszirkel enthaltenen über die wichtigsten gesundheitlichen Punkte Be-
meist unbewussten Wünsche und Erwartungen scheid wissen.« (Information, Transparenz schaffen)
können dagegen direkt genutzt werden. Durch ein P: »Ach so, ich habe jedenfalls einige Punkte offen
entsprechendes Beziehungsverhalten im Gespräch gelassen, bei den aktuellen politischen Diskussionen
versucht der Arzt die Wünsche ernst zu nehmen. um risikoabhängige Krankenkassenbeiträge schienen
Gewährt der Arzt dem Patienten Autonomie, ohne mir manche Informationen gefährlich. Wenn es wirk-
dass dieser darum kämpfen muss, kann mittelfristig lich wichtig werden sollte, werde ich Ihnen schon sa-
eine stabile und hilfreiche Beziehung entstehen, die gen, gegen welche Medikamente ich allergisch bin.«
vergleichsweise frei von Beziehungsstörungen und A: »Gut, wir kommen dann darauf zurück, wenn wir
-abbrüchen bleibt. über die Medikamente sprechen. Das ist mir auch am
Die Hauptaufgaben sind: liebsten, wenn Patienten selber mitdenken und mir,
4 Beherrschung der eigenen emotionalen Im- wenn es drauf ankommt, die Informationen geben.
pulse wie Ärger, Wut und Empörung gegen Ich kann Ihnen auch versichern keinerlei Informatio-
den Patienten. nen weiterzuleiten, ohne das vorher mit Ihnen zu be-
4 Gefühle der Hilflosigkeit, der Hoffnungslosig- sprechen. Entscheiden tun das immer Sie.« (Informa-
keit und des Mitleids bei sich selbst wahrneh- tion zum Vorgehen, Transparenz und Kontrolle her-
men und respektieren, statt sie zu überspielen. stellen)
4 Achtsamer Umgang mit Nähe und Distanz in P: »Das ist gut, ich hoffe nur, Sie halten sich dran, ich
der Beziehungsregulierung. habe da schon so manches erlebt.«
4 Den Patienten vor dem Hintergrund seiner
Lebensgeschichte verstehen. jKommentar
4 Den Blick auch auf die kreativen gesunden Die Behandlung von paranoiden Patienten sollte
Bereiche zu richten und Ressourcen zu stärken. durch größtmögliche Offenheit und Transparenz
4 Klare Absprachen und Verlässlichkeit aber gekennzeichnet sein. Der Patient benötigt das Ge-
auch Toleranz im Hinblick auf Absagen von fühl der Kontrolle; die Techniken der gemeinsamen
Terminen und Beziehungsabbrüchen seitens Entscheidungsfindung (s. Kap. 4 zur Beziehungs-
des Patienten. gestaltung) sind sehr hilfreich. Bereits in der Ein-
gangssequenz wird ein deutlich paranoider Denk-
stil deutlich. Der unverfängliche Fragebogen der
Praxis führt zu wilden Spekulationen, was mit der
Information gemacht wird. Der Arzt merkt an die-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
234 Kapitel 20 · Persönlichkeitsstörungen

ser Äußerung, dass er es offensichtlich mit einem A: »OK, Sie merken, dass es die absolute Sicherheit
sehr misstrauischen und möglicherweise schwieri- nicht gibt, dass immer ein Risiko bleibt. Was würde
gen Patienten zu tun hat. Er hält bei der Vermutung Ihnen helfen, das Risiko einzugehen?«
des Patienten deshalb auch nicht gegen, sondern P: »Naja, wenn Sie mir zusichern, alles vorher mit mir
akzeptiert seine Haltung. In leicht suggestiver Form durchzusprechen, dann werde ich Ihnen das erstmal
unterstreicht er die Bereitschaft des Patienten, sich glauben. Immerhin müssen Sie ja immer noch damit
offen über mögliche Unverträglichkeiten bei Medi- rechnen, dass ich mir bei der Krankenkasse Aktenein-
kamenten zu unterhalten und stärkt den Selbstwert, sicht verschaffe und das könnte dann richtig unange-
indem er betont, dass er es schätzt, wenn Patienten nehm werden, wenn Sie sich dann nicht an die Ver-
mitdenken. Dabei macht der Arzt an jeder Stelle die einbarungen halten.«
Kontrolle des Patienten deutlich, auch als er am A: »Ja, letztlich können Sie das kontrollieren. Ich finde
Schluss die Richtigstellung bringt, dass alle Infor- es gut, dass Sie sich trotz aller Bedenken auf die Un-
mationen vertraulich behandelt werden, unter- tersuchung einlassen.«
streicht er erneut die Kontrolle durch den Patienten.
Die Reaktion des Patienten zeigt, dass auch diese jKommentar
Versicherungen noch misstrauisch aufgenommen Über die Metakommunikation kann das Thema
werden. Ein in dieser Form dargebrachtes Einver- Misstrauen angesprochen werden. Die Bedenken
ständnis ist für eine Weiterbehandlung jedoch aus- kommen hervor und können so weit gelöst werden,
reichend. dass sich der Patient bewusst für eine Behandlung
Im weiteren Verlauf nutzt der Arzt das Mittel entscheidet. Auch hier bleiben Zweifel, die für den
der Metakommunikation: Arzt nicht leicht zu schlucken sind, da der Patient
versucht über Drohungen die Kontrolle zu bewah-
Fallbeispiel Fortsetzung ren. Das offene Gespräch und die Zusicherungen
A: »Ich bräuchte dann noch eine Urinprobe von Ih- sind im Umgang mit dem Patienten wichtig, sie rei-
nen und die Arzthelferin wird Ihnen noch Blut ab- chen aber nicht aus, aus dem Denkmuster auszubre-
nehmen. Machen Sie dann für Ende der Woche einen chen (. Abb. 20.2).
weiteren Termin aus, dann wissen wir, ob es sich wie Da paranoide Patienten oft rechthaberisch sind,
erwartet um eine Entzündung handelt.« muss der Arzt aufpassen, sich nicht mit dem Patien-
P: »Und was wird da noch alles untersucht?« ten zu »verkeilen«. Meinungen und Einstellungen
A: »Wir schauen uns die Blutsenkung an und die An- des Patienten sollten daher nur dann revidiert wer-
zahl der weißen Blutkörperchen, um zu sehen, ob es den, wenn es wirklich nötig ist. Dem Patienten wi-
Anzeichen für eine Entzündung gibt.« dersprechende Positionen können als Differenzie-
P: »Und wahrscheinlich wissen Sie dann auch, wie rung der Meinung des Patienten eingebracht wer-
viel ich trinke und was ich esse.« den. Wehrt sich der Patient zum Beispiel gegen die
A: »Sie bringen mir wenig Vertrauen entgegen.« Medikamente, so könnte folgender Satz helfen: »Sie
(Metakommunikation) haben Recht, mit Medikamenten muss man sehr
P: »Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Das ist nicht vorsichtig umgehen. Ich sehe es wie Sie, dass man
persönlich gemeint, aber ich habe schon so viel nur das unbedingt Notwendige nehmen sollte.«
erlebt, da wird man irgendwann vorsichtig.« Dieses Vorgehen erfordert viel Fingerspitzengefühl
A: »Verstehe, mir wäre es aber sehr wichtig, dass Sie und sollte auf wirklich wichtige Punkte beschränkt
wissen, woran Sie bei mir sind. Wenn Sie möchten, bleiben.
zeige ich Ihnen gerne den Laborbericht im Original.
Würde Ihnen das helfen, mir in diesem Punkt zu ver- Borderline-Störung
trauen?« Im Gegensatz zu anderen Patienten mit Persönlich-
P: »Wichtiger wäre mir eigentlich zu sehen, was Sie keitsstörungen haben Borderline-Patienten oft eine
dazu so schreiben. Aber wer kann mir garantieren, Einsicht in ihre Probleme. Daher kann der Arzt bei
20 dass nicht doch hinten rum ein Brief an die Kranken- diesen Patienten versuchen relativ bald die Mög-
kasse geht.« lichkeit einer Psychotherapie anzusprechen, die in

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
20.2 · Praktischer Teil
235 20

Verborgene Wünsche/Erwartungen
Wünsche: Möchte geliebt und geachtet
werden
Erwartungen: Angriffe und Demütigungen
Kognitionen: Nur wenn ich andere unter
Kontrolle halte, kann ich Liebe annehmen

Umgang mit sich selbst Verhalten


– Bestätigung des Misstrauens gegenüber – misstrauisch
anderen – kontrollierend
– Selbstüberhöhung als Ausgleich für – feindselig
Achtung durch andere (»die anderen – übertrieben überzeugt von
sind neidisch«) eigenen Ideen

Reaktion der anderen


– wird teilweise für durchdachtes und
vorsichtiges Vorgehen geschätzt
– keine vertrauensvollen Beziehungen
– Versuch, die Person nicht einzubeziehen
– häufig Rückzug

. Abb. 20.2 Maladaptiver Beziehungszirkel bei paranoider Persönlichkeitsstörung. (Aus Schweickhardt u. Fritzsche 2009,
S. 225; mit freundlicher Genehmigung des Ärzte-Verlages)

jedem Fall indiziert ist. Aufgrund der Trennungs- Psychotherapie brach sie nach einem halben Jahr
ängste sollte der Arzt deutlich machen, dass die psy- wieder ab.
chotherapeutische Behandlung eine weitere Beglei- Seit das Schneiden vom Arzt aufgegriffen wurde,
tung durch den Arzt nicht beeinflussen wird. Insge- kommt Frau B. 1–2 Mal im Quartal wegen Bagatell-
samt sollte die Behandlung dieser Patienten beson- erkrankungen und nutzt die Gelegenheit, mit Dr. K.
ders von Respekt, Wohlwollen und Akzeptanz über ihre Beziehungsprobleme zu sprechen. Als sie
geprägt sein, die auch dann noch deutlich wird, dieses Mal zum Gespräch kommt, gibt sie sich keiner-
wenn der Patient emotional reagiert. lei Mühe, die Schnittverletzungen an den Unter-
armen zu kaschieren.
Fallbeispiel A: »Ich sehe, Sie haben sich wieder geschnitten, wie
Die 23-jährige Frau B. ist Patientin in der Praxis von kam denn das?«
Dr. K. Sie ist vor Jahren zum Studium nach Heidelberg P: »Mein Freund ist ausgezogen, weil er es mit mir
gezogen. Vor einem Jahr fielen zum ersten Mal unter einem Dach nicht aushält. Und Sie haben mich
Schnittverletzungen an beiden Armen auf. Darauf das letzte Mal ja auch ziemlich hängen lassen damit.«
angesprochen, war Frau B. zunächst verlegen, berich- A: »Sie sind enttäuscht von mir.«
tete aber offen darüber, dass sie sich bereits seit der P: »Ja, ich hatte das letzte Mal von meinen Problemen
12. Klasse immer wieder schneide, wenn es ihr erzählt, Sie haben sich das auch alles voller Verständ-
schlecht ginge. Weiter sprach sie von häufigen nis angehört, aber letztlich ist es wohl rein professio-
Alkoholexzessen. Kurz vor dem Abitur hatte sie einen nell, solange ich hier bin.«
Suizidversuch mit Schlaftabletten unternommen, der A: »Aha, hier mit mir auch über persönliche Dinge zu
rechtzeitig entdeckt wurde. Die darauffolgende sprechen, tut Ihnen gut, aber es ist halt nicht genug.«

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
236 Kapitel 20 · Persönlichkeitsstörungen

Verborgene Wünsche/Erwartungen
Wünsche: Möchte in der Beziehung
geborgen und sicher sein
Erwartungen: Keine Zuverlässigkeit in der
Beziehung
Kognitionen: Andere nutzen mich aus

Umgang mit sich selbst Verhalten


– Beim Verlassenwerden Verstärkung des – Häufige Wechsel zwischen der Suche
Gefühls, ausgenutzt worden zu sein nach Nähe und Abweisung
– Schwankende Beziehungsqualität – Reaktionen oft sehr impulsiv, teilweise
bestätigt Annahme mangelnder verzweifelt
Zuverlässigkeiten anderer – Übertriebene Angst vor dem
– Selbstverletzungen Verlassenwerden

Reaktion der anderen


– Rückzug oder
– Mitmachen der Gefühlsschwankungen,
häufiger Streit mit Phasen innerer Nähe

. Abb. 20.3 Maladaptiver Beziehungszirkel bei Borderline-Persönlichkeitsstörung. (Aus Schweickhardt u. Fritzsche 2009,
S. 227; mit freundlicher Genehmigung des Ärzte-Verlages)

P: »Genau, aber ich weiß ja, dass Sie das nicht leisten zeigt. Dabei bleibt er sehr bemüht um den Patienten
können.« und versucht eine Lösung zu finden. Die Möglich-
A: »Ich bin immer gerne für Sie da, auch wenn es viel- keit einer Psychotherapie könnte eine solche Lö-
leicht mal keinen klaren medizinischen Grund gibt. sung sein. Der Arzt betont die Zusätzlichkeit eines
Was Sie wollen, ist aber jemand, der Sie wirklich solchen Angebotes, um vorzubeugen, dass der Pa-
versteht und für Sie da ist und da reicht das, was ich tient sich abgeschoben fühlt (. Abb. 20.3).
Ihnen anbieten kann nicht aus. Ich biete Ihnen an,
in der jetzigen Form auch weiterhin zusammenzu- Psychotherapie
arbeiten, würde es aber für sinnvoll halten, wenn Sie Die Behandlung von Persönlichkeitsstörungen ist
zugleich einen psychotherapeutisch arbeitenden aufwändig und langwierig. Sie ist dem Erfahrenen
Kollegen aufsuchen. Der kann sehr viel mehr Zeit vorbehalten und erfordert die Berücksichtigung
für Sie aufbringen und für Sie da sein, als es mir verschiedener Komponenten (multimodale Be-
möglich ist.« handlung). Oft werden ambulante und (teil)statio-
näre Maßnahmen kombiniert (Intervallbehand-
jKommentar lung). Die Psychotherapie soll,
Auch hier gilt zunächst, sich nicht durch die Abwer- 4 konkrete Aufgaben bearbeiten
tungen und Angriffe aus der Ruhe bringen zu las- Im verhaltenstherapeutischen Behandlungsteil
sen. Der Arzt schaut hier trotz der Schuldvorwürfe werden Denk- und Verhaltensweisen auf die
hinter die Kulissen und benennt den Beziehungs- Probe gestellt. Welches ist das störendste Ver-
20 wunsch klar. Er macht ein Angebot, dass aber nicht haltensmuster? Welche Denkmuster blockieren
zu viel verspricht, sondern seine Grenzen klar auf- alles Weitere? Wie können die quälendsten

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
Literatur
237 20
Gefühle beherrschbar gemacht werden? 20.2.3 Prognose
Hier ist Übung (sogenanntes Skills-Training),
genaueste Verhaltensanalyse, Protokollierung Wir finden Persönlichkeitsstörungen an allen Orten
auf der Grundlage von Behandlungstage- der Gesellschaft. In Randgruppen, als gescheiterte,
büchern angezeigt. vielfach belastete Nischenexistenzen, bis hin in
4 Reaktualisierungen aufdecken. höchsten Machtpositionen von Politik, Wirtschaft,
Wenn der Patient seine eigene Verletzbarkeit Kultur und Wissenschaft. Ca. ein Drittel der Betrof-
erkennt, zugleich aber auch merkt, dass er fenen schaffen es trotz starker psychischer Beein-
etwas tun kann, den Gefühlsimpulsen nicht trächtigungen auf bewundernswerte Weise durch
hilflos ausgesetzt ist, ist viel gewonnen. Der eigene Anstrengung und therapeutische Hilfe ihr
Patient lernt verstehen, dass immer wieder die Leben zu meistern. Dazu gehört das Wissen um die
alten dramatischen Muster aktualisiert werden. eigene Verletzlichkeit, ebenso wie die Erfahrung,
Er lernt verstehen, dass es sich hier aber um Er- dass durch kompensatorische konstruktive Mecha-
innerungen handelt, dass »ein alter Film« ab- nismen ein Ausgleich geschaffen werden kann. Dies
läuft, dass, bildhaft gesprochen, »ein inneres mit dem Patienten und seinen Angehörigen zu be-
Kind« sich zu Wort meldet, das auf diese Weise sprechen, ist ehrlicher und wirksamer, als ihm voll-
seine verletzten emotionalen Bedürfnisse aus- ständige »Heilung« in Aussicht zu stellen, was
drückt und das pfleglich behandelt werden will. unweigerlich in Enttäuschung und letztlich Resig-
4 Das Umfeld einbeziehen. nation mündet.
Dies geschieht entweder durch direktes
Hinzuziehen von Partnern und Familien- Evidence Based Medicine Die Wirksamkeit von
angehörigen oder, wenn diese nicht zur Ver- Psychotherapie ist vor allem bei Borderline-Störung
fügung stehen, im Rahmen einer Familien- und bei ängstlich-vermeidender Persönlichkeitsstö-
rekonstruktionsarbeit. rung gesichert. Am besten untersucht ist die dialek-
4 Eine Langzeitperspektive geben. tisch behaviorale Therapie (DBT) bei Borderline-
Die Behandlung von Persönlichkeitsstörungen Störungen, aber auch modifizierte psychodynami-
braucht Zeit. Dies muss nicht eine sehr hohe sche Behandlungsansätze haben sich als erfolgreich
Zahl von Sitzungen bedingen. Wichtig ist die erwiesen.
Lebensstrecke, die begleitet wird. Oft wird in
Episoden gearbeitet, z. B. können immer wie-
der stationäre oder tagesklinische Behand- Literatur
lungsintervalle eingeschaltet werden, in denen
die Behandlung intensiviert und durch Hinzu- Fiedler P (2007) Persönlichkeitsstörungen. 6. Auflage Wein-
heim: Beltz-PVU
nahme weiterer Therapiemaßnahmen (Kunst-
Schweickhardt A, Fritzsche K (2009) Kursbuch ärztliche Kom-
therapie, Musiktherapie, Körpertherapie) ver- munikation. Grundlagen und Fallbeispiele aus Klinik und
breitert und wirksamer gemacht wird. Solche Praxis. 2. erweiterte Auflage, Deutscher Ärzteverlag, Köln
geplante (teil)stationäre Intervallbehandlung Zimmermann J (2014) Paradigmenwechsel in der Klassifika-
hat große Vorzüge gegenüber dem Festhalten tion von Persönlichkeitsstörungen. Die neuen Modelle in
am ambulanten Setting bis es zur großen Krise DSM-5 und ICD-11. Psychotherapie im Dialog 3: 16–20

kommt und die stationäre Einweisung unum-


gänglich geworden ist.

Psychopharmaka
Zur Behandlung der Angstsymptomatik, der de-
pressiven Symptome und der gestörten Stressregu-
lation in Krisensituationen werden atypische Neu-
roleptika und selektive Serotonin-Wiederaufnah-
mehemmer (SSRI) eingesetzt.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
239 21

Sexualmedizin
Dietmar Richter, Daniela Wetzel-Richter

21.1 Theoretischer Teil – 240


21.1.1 Definition und Dimensionen der Sexualität – 240
21.1.2 Sexualphysiologie der Frau – 240
21.1.3 Sexualphysiologie des Mannes – 242
21.1.4 Sexualstörungen – 242

21.2 Praktischer Teil – 245


21.2.1 Kommunikationshemmung – 245
21.2.2 Erkennen – die sexualmedizinische Erstanamnese – 246
21.2.3 Gesprächsführung – 246
21.2.4 Sexualmedizinische Behandlungsmöglichkeiten – 247
21.2.5 Spezifische Behandlung – 247

Literatur – 248

K. Fritzsche et al. (Hrsg.), Psychosomatische Grundversorgung,


DOI 10.1007/978-3-662-47744-1_21, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
240 Kapitel 21 · Sexualmedizin

21.1 Theoretischer Teil das Sehen, das Hören und das Schmecken. Die
21 sexuelle Selektion wird bestimmt durch unbewusst
21.1.1 Definition und Dimensionen bleibende vomeronasale (Pheromone) und olfakto-
der Sexualität rische Signale.

Sexualität umfasst vielfältige emotionale und phy- jBindungssystem


siologische Zustände, Motivationen, Emotionen Das Bedürfnis nach emotionaler Nähe und Bindung
und Verhaltensweisen, die mit Geschlechtsidentität, gehört zu den neurobiologisch verankerten psycho-
Intimität, Lust, Erregung, Orgasmus und Befriedi- sozialen Grundbedürfnissen. Die Sehnsucht nach
gung zu tun haben, aber auch mit Berührung, Ge- dauerhafter, stabiler Partnerbeziehung stellt für
borgenheit, Bindung und Kinderwunsch. viele Menschen ein derart alles überragendes Le-
Man unterscheidet 3 Motivationen, warum wir bensziel dar, dass eine befriedigende Sexualität in
überhaupt Sex haben: 1. Die Lustdimension (neuro- den Hintergrund treten oder ganz verschwinden
biologisch verankert und von Hormonen gesteu- kann.
ert), 2. Der Fortpflanzungswunsch, 3. Der Wunsch Bevor es zu einer erkennbaren peripheren se-
nach emotionaler Nähe, Bindung und Partner- xuellen Reaktion kommt (Lubrifikation, Anschwel-
schaft. len der Labien, Beginn der Erektion) sind eine Reihe
komplizierter Prozesse im Gehirn abgelaufen, die
Neurobiologie des sexuellen Begehrens darüber entscheiden, ob es zu einer Zunahme der
Nach Helen Fisher (2002) bestimmen 3 Systeme das Erregung und zu einer sexuellen Handlung kommt
sexuelle Begehren: oder ob die Erregung gehemmt wird. An diesen un-
1. Das System Lust – Sexualtrieb, bewusst bleibenden Vorgängen im Gehirn sind
2. Das Attraktionssystem, maßgeblich der Hippocampus, die Amygdala, der
3. Das Bindungssystem. Nucleus accumbens und das Frontalhirn beteiligt.
Wichtiger Neurotransmitter im ZNS für Sexualver-
Diese Systeme müssen nicht synchron sein und halten sind das Dopamin (DA), das Stickstoffmon-
können auch auseinanderlaufen, d. h. man kann oxid (NO) und v. a. das Testosteron.
sich an einen Menschen sehr eng gebunden fühlen, Entwicklungsgeschichtlich jüngere, hemmende
gleichzeitig aber mit einem anderen Menschen eine Systeme im präfrontalen Kortex führen zu einer
sexuelle Beziehung eingehen, mit welchem man Kontrolle und Hemmung sexueller Reize und ent-
sich aber keinesfalls näher und längerfristig binden scheiden darüber, dass wir im wahrsten Sinne des
würde. Wortes nicht »den Kopf verlieren«, sondern eher
einen »kühlen Kopf bewahren«.
jSystem: Lust – Sexualtrieb Das Dual-Control-Modell der sexuellen Erre-
Dass wir überhaupt das Risiko eingehen, uns mit gung nach Perelman (2006) zeigt (. Abb. 21.1). Das
einem anderen Menschen sexuell einzulassen, Zusammenspiel von Mechanismen der Erregung
hängt entscheidend von verschiedenen Hormonen und Hemmung erzeugt ein individuelles Niveau der
und Neurotransmittern ab. Es sind die Androgene sexuellen Reaktionsfähigkeit.
– insbesondere das Testosteron – welche darüber
entscheiden, ob es überhaupt zu einem sexuellen
Impuls kommt. 21.1.2 Sexualphysiologie der Frau

jAttraktionssystem Der sexuelle Reaktionszyklus der Frau ist gekenn-


Beim »Sich-Verlieben« gewinnt man relativ rasch zeichnet durch sexuelles Begehren, gefolgt von Er-
einen – im genetischen Sinne – »ganzheitlichen regungsphase, Plateauphase, Orgasmus- und Re-
Eindruck« von der anderen Person. Die folgenden fraktärphase. Im Gegensatz zum Mann ist die Frau
Sinnesqualitäten informieren uns: das Riechen zu mehrfachen Orgasmen in kurzer Zeitfolge fähig.
(»Ich kann Dich nicht riechen« - »der Stallgeruch«), Dies liegt an der geringeren Prolaktinausschüttung

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
21.1 · Theoretischer Teil
241 21

Hemmung Erregung


– Physiologische und + Physiologische und
organische Faktoren organische Faktoren


– Physiologische, kulturelle + Physiologische, kulturelle
und Verhaltenfaktoren und Verhaltenfaktoren

Sexual Tipping
Point

Variabler und dynamischer Prozess

. Abb. 21.1 Hemmung und Erregung der sexuellen Reaktion. (Mod. nach Perelman 2006; mit freundlicher Genehmigung)

beim Orgasmus. Intensität, Dauer und erlebte Erre- zum Mann, der fast immer zu »seiner Befriedigung«
gungs- und Plateauphase können intraindividuell einen Orgasmus mit Ejakulation erlebt.
und partnerabhängig große Unterschiede aufwei- . Abb. 21.2 stellt den ungestörten sexuellen Re-
sen. Obwohl etwa 30 % der Frauen von der Plateau- aktionszyklus der Frau dar, modifiziert nach Mas-
phase aus keinen Orgasmus erreichen, können sie ters u. Johnson (1985) und Singer Kaplan (2006).
sich doch in einem umfassenden Sinne »befriedigt« 1998 wurde die Klitoris als kleine sichtbare
fühlen, wenn die sexuelle Situation ausreichend Spitze eines viel ausgedehnteren Schwellkörpers be-
lang und mit Zärtlichkeit und dem Gefühl emotio- schrieben. Beidseits finden sich Corpora carver-
naler Nähe stattgefunden hat, ganz im Gegensatz nosa in ähnlicher Ausdehnung wie die männlichen

Orgasmus

Plateauphase

En
tsp
an
nu
Entsp

ng
Entspannungs

sp
ha
Erregungsphase se
annu
ngsp

(B)
hase
phase

A B C (A)
(C)

. Abb. 21.2 Der ungestörte sexuelle Reaktionszyklus der Frau. A Verlauf mit mehreren Orgasmen, B Verlauf ohne Orgas-
musphase, C Verlauf mit einmaligem Orgasmus

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
242 Kapitel 21 · Sexualmedizin

Schwellkörper. Diese Entdeckung hat zu einem er- Außenbeziehung durch die erhöhte innere Anspan-
21 weiterten Verständnis der weiblichen Sexualphysio- nung unter Umständen bis 6 MET an. Vergleichbar
logie geführt (O’Connell u. Sajeraan 2006). Ebenso sind Tätigkeiten wie Golf spielen (4–5 MET), Trep-
verhält es sich mit der Entdeckung, dass es sich bei pensteigen (4–5 MET) oder schwere Hausarbeit
den sog. Skene’schen Drüsen eigentlich um eine (3–6 MET). Die Gefahr der Überbelastung ist ge-
weibliche Prostata handelt. Die Anatomie und Aus- ring. Dies ist vor allem für Männer nach körperli-
prägung der weiblichen Prostata ist mannigfaltig und chen Erkrankungen wie z. B. Herzinfarkt eine wich-
unterschiedlich. Bei ausgeprägter weiblicher Prostata tige und meist beruhigende Information.
kann es zum Phänomen der sog. »weiblichen Ejaku- Den ungestörten sexuellen Reaktionszyklus des
lation« kommen (Wimpissinger et al. 2007). Mannes, modifiziert nach Masters u. Johnson (1985)
und Singer Kaplan (2006), zeigt . Abb. 21.3.

21.1.3 Sexualphysiologie des Mannes


21.1.4 Sexualstörungen
Die sexuelle Erregung beginnt mit der Verarbeitung
von sexuellen Reizen im Gehirn. Eine Sexualstörung liegt vor, wenn die von einem
Optische, taktile und andere Sinnesreize werden Menschen gewünschte und ersehnte Sexualität der-
unbewusst vom männlichen Gehirn registriert und art von der real gelebten Sexualität abweicht, dass
geprüft. Fehlen negative Vorerfahrungen, hat der der Mensch darunter leidet. Sexualstörungen haben
Partner das richtige Geschlecht und erlebt der häufig keine monokausale Ursache, sondern sind
Mann die erotische Situation in einer für ihn emo- bedingt durch das Zusammenwirken biologischer,
tional angenehmen Atmosphäre, so wird der biolo- psychologischer, partnerschaftlicher und soziokul-
gische Reaktionszyklus »angeworfen« und die Erre- tureller Faktoren.
gung bewusst. Bei der Sexualmedizin handelt es sich um eine
Über sympathische und parasympathische Ner- mehrdimensionale Disziplin, wie in . Abb. 21.4
venbahnen wird die Erregung in die Peripherie ver- dargestellt.
mittelt. Über Botenstoffe, insbesondere Stickstoff-
monoxid wird am Endorgan, den Arteriolen des Weibliche Sexualstörungen
Penis, eine Vasodilatation initiiert, welche zur Erek- Man unterscheidet Störungen der sexuellen Funk-
tion führt (Erregungsphase). Je nach Stimulation tion (Sexualstörungen im engeren Sinne) (ICD-10:
und emotionaler Stimmung kann die folgende Pla- F 52), Störungen der sexuellen Entwicklung (ICD-
teauphase unterschiedlich lange andauern. Meist 10: F 66), Störungen der Geschlechtsidentität (ICD-
mündet die Erregung ein in ein Orgasmusgefühl, 10: F 64), Störungen der sexuellen Fortpflanzung
begleitet von einer Ejakulation und Kontraktionen (ICD-10: F 69), Störungen der sexuellen Präferenz
der glatten Muskeln der Samenleiter, Harnröhre, (ICD-10: F 65) und Störungen des sexuellen Verhal-
Prostata und des Analschließmuskels. Männer zei- tens (ICD-10: F 63).
gen im Vergleich zu Frauen eine höhere und prolon- Die weiblichen sexuellen Funktionsstörungen
giertere Prolaktinsekretion nach dem Orgasmus umfassen:
(Prolaktin ist ein Libidoblocker; Exton et al. 2001). 4 Störungen der Appetenz,
Durch die postorgastische Prolaktinerhöhung wird 4 Störungen der sexuellen Erregung,
die Rückbildungsphase und Refraktärphase einge- 4 Störungen des Orgasmus,
leitet, welche den Mann meist eine zeitlang unerreg- 4 innere und äußere Dyspareunie,
bar macht. 4 Vaginismus.
Die körperliche Belastung beim Sexualakt ent-
spricht beim Mann 2–6 MET (MET = metabolische Die Störungen der sexuellen Appetenz (Libidostö-
Einheiten = 3,5 ml Sauerstoff/kg/Körpergewicht/ rung) ist die häufigste und zugleich am schwierigs-
min). Die Belastung ist abhängig von der sexuellen ten zu behandelnde Störung in der Praxis (Cedzich
Situation und steigt beispielsweise im Rahmen einer u. Bosinski 2010).

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
21.1 · Theoretischer Teil
243 21

Orgasmus




Refräktärperiode
Plateauphase

Refräktärperiode

Entsp
Ents

annu
Erregungsphase

pan

ngsp
nun
gsph

hase
ase
. Abb. 21.3 Der ungestörte sexuelle Reaktionszyklus des Mannes

Triebschicksal
Genetik Traumata
Hormone
Neurotransmitter

Krankheit Soma Psyche

Sexualpräferenz Persönlichkeitsstruktur
Medikamente
Sexualedukation

Partnerschaft

Paarkollusion Lernerfahrung

Soziale Situation

. Abb. 21.4 Sexualmedizin – eine mehrdimensionale Disziplin

j»Larvierte« funktionelle Sexualstörungen Reizblasensyndrom, das funktionelle sekundäre


der Frau Amenorrhoesyndrom als auch zahlreiche Neben-
Das Pelipathiesyndrom (chronische Unterbauch- wirkungen von Ovulationshemmern gehören zu
schmerzen der Frau, »chronic pelvic pain«), der den sog. Somatisierungsstörungen (Richter 1999a,b;
chronische Pruritus genitalis, der chronische Fluor 7 Kap. 9 »Somatoforme Störungen«). Patientinnen
genitalis, zahlreiche Miktionsstörungen wie das mit Unterbauchschmerzen stellen Problempatien-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
244 Kapitel 21 · Sexualmedizin

tinnen in der gynäkologischen Sprechstunde dar. jEjaculatio praecox (Vorzeitiger Samen-


21 Zum einen ist bereits die diagnostische Abgrenzung erguss)
schwierig, zum anderen bleiben therapeutische Die Ejaculatio praecox ist die häufigste sexuelle
Maßnahmen häufig unbefriedigend oder gar erfolg- Funktionsstörung und wird mit einer Häufigkeit
los. Dies liegt hauptsächlich daran, dass der psycho- von bis zu 30 % angegeben. Man unterscheidet die
somatische Hintergrund dieser Erkrankung nur lebenslange und die erworbene Ejakulationsstö-
ungenügend bekannt ist. Der Umgang mit solchen rung. Die erworbene Ejaculatio praecox und insbe-
Patientinnen wird vielfach von Gefühlen der Hilflo- sondere die im jugendlichen Alter bestehende Eja-
sigkeit, der Frustration oder der Ärgerlichkeit be- kulationsstörung sind häufig auf psychische Fakto-
stimmt. Das erklärt die häufig zu beobachtende ren, wie Unerfahrenheit und Angsterkrankungen,
aktiv-operative Vorgehensweise von Gynäkologen, zurückzuführen. Bezüglich der lebenslangen vor-
zeitigen Ejakulation zeigen neuere Untersuchungen
Männliche Sexualstörungen die Wahrscheinlichkeit einer Ursache im Rahmen
Ca. 40 % der Männer berichten über das Vorliegen der Serotoninrezeptoren.
von sexuellen Störungen im Rückblick auf die letz-
ten 3 Jahre (Hartmann et al. 2002). Seltene Störun- jLibidostörung
gen wie Pädophilie oder Geschlechtsidentitätsstö- Ca. 8 % der Männer (40–80. Lebensjahr) geben eine
rungen spielen in der Praxis eine unwesentlichere verminderte Libido an. Die Ursachen für männliche
Rolle. Treten bei Männern Störungen ihrer sexuel- Appetenzstörungen sind mannigfaltig: Neurotische
len Funktion auf, so führt dies häufig zu einem Teu- Konflikte, Partnerschaftskonflikte, psychiatrische
felskreis, beginnend mit Versagensängsten, Rück- Erkrankungen, Ängste und Depression können zu
zug aus der Beziehung, ggf. Partnerschaftskonflik- einer Libidoreduktion führen. Hormonstörungen
ten mit einer deutlichen Störung der Kommuni- können Auslöser von Libidostörungen sein. Auch
kation im Partnerschaftsbereich. Nicht selten Medikamente, wie Antidepressiva, Neuroleptika
versuchen Männer »sexuelles Versagen« durch und selektive Betablocker, Kalziumantagonisten,
Leistung in anderen Lebensbereichen, wie z. B. im aber auch Lipidsenker und Antidiabetika sowie an-
Beruf, zu kompensieren, was zu einer Verschlechte- tihormonelle Therapeutika können ursächlich sein.
rung der Sexualstörung und Entwicklung einer de- Adipositas und hoher Alkoholkonsum können Mit-
pressiven Symptomatik führen kann. ursache sein. Auch die Dauer einer Paarbeziehung
Trotz des hohen Leidensdrucks wenden sich verändert nicht selten das sexuelle Verlangen, kann
nur ca. 5 % der Männer aktiv an einen Arzt, z. B. andererseits aber auch zu vermehrter Vertrautheit
den Hausarzt (Hartmann et al. 2002; Cedzich u. und Nähe führen.
Bosinski 2010).
Die häufigsten sexuellen Funktionsstörungen Sexualität und Krebserkrankungen
des Mannes sind: Der Ausbruch einer Krebserkrankung an den Ge-
4 erektile Dysfunktion, schlechtsorganen kann je nach Persönlichkeits-
4 Ejaculatio praecox, struktur der Patienten intensive Fantasien, Versün-
4 Libidostörung. digungsideen und Schuldgefühle auslösen. Die Be-
drohung durch eine u. U. tödliche Erkrankung lässt
jErektile Dysfunktion sexuelle Fantasien und Wünsche ganz in den Hinter-
Die Häufigkeit der erektilen Dysfunktion liegt bei grund treten. Das taktvolle Ansprechen sexueller
40–79-jährigen Männern um 18 % (Fisher et al. Probleme im Rahmen der Krebserkrankung zeigt,
2002; Laumann et al. 1999; Braun et al. 2000). Ur- dass der Arzt für die Patienten eine lebenswerte Zeit
sächlich für die erektile Dysfunktion sind häufig mit und nach Überwindung der Krankheit erwartet.
psychogene Faktoren, aber mit zunehmendem Alter
auch vermehrt somatische Erkrankungen, wie Dia- Sexualität des älteren Menschen
betes mellitus, arterielle Hypertonie und Arterio- Die Vorstellung eines älteren weiblichen oder
sklerose (Schaefer u. Ahlers 2006). männlichen Körpers in sexueller Erregung löst bei

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
21.2 · Praktischer Teil
245 21
vielen Menschen noch immer ein Gefühl der Pein- Erkrankung. Andererseits haben 20–70 % der Dia-
lichkeit aus. Studien haben belegt, dass sich ein betiker Erektionsstörungen (Fedele et al. 2000).
hoher Prozentsatz älterer Menschen jedoch nach Nach radikaler Prostatektomie kommt es – je
sexuellen Zärtlichkeiten sehnt. nach OP-Verfahren im Ausmaß variierend – zu In-
Die Zahl älterer und häufig auch allein lebender kontinenz und Erektionsstörungen. In einer Studie
Patienten nimmt zu. Diese Patienten erwarten ein zeigten postoperativ nur 9,9 % der Patienten eine
einfühlsames Gespräch über Alterssexualität. Erektionsfähigkeit, 4,7 % eine Penetrationfähigkeit
ohne Hilfsmittel oder Medikation. Die postoperative
Weibliche Sexualstörungen Befragung der betroffenen Paare ergab, dass die Or-
bei organischen Erkrankungen gasmusfähigkeit beider Partner deutlich gesunken
Nahezu alle endokrinen Erkrankungen (Diabetes war. Dafür war aber der Austausch von Zärtlichkeit
mellitus, Hypothyreose, Morbus Cushing, Galak- mehr in den Mittelpunkt gerückt (Rösing et al. 2004).
torrhoe-Amenorrhoe-Syndrom, aber auch das
Nachlassen der Ovarialfunktion in der Peri- und
Postmenopause) können Auslöser von Sexualstö- 21.2 Praktischer Teil
rungen sein. Ebenso führen genetisch bedingte Stö-
rungen der Geschlechtsdifferenzierung (Turner- 21.2.1 Kommunikationshemmung
Syndrom, testikuläre Feminisierung, Gonadendys-
genisie, adrenogenitales Syndrom AGS, Rokitans- Wir haben es im Bereich der Sexualmedizin mit ei-
ky-Küster-Mayer-Syndrom) zu Sexualstörungen. ner Kommunikationshemmung in der täglichen
Daneben können auch spezielle gynäkologisch er- Sprechstunde zu tun. Es existieren unterschiedliche
klärbare Befunde Auslöser von Sexualstörungen Hemmschwellen bei Patienten und Ärzten.
sein wie anatomische Besonderheiten, chronische Hemmungen auf Seiten der Patienten sind:
Entzündungszustände, Lageanomalien der Genital- 4 Hat der Arzt dafür überhaupt Zeit?
organe, Endometriose, Uterus myomatosus, Ver- 4 Ist der Arzt hinreichend kompetent?
wachsungen im Genitalbereich, posttraumatische 4 Patienten fühlen sich minderwertig, schämen
Zustände im Genitalbereich, z. B. schmerzhafte sich oder haben Angst, über sexuelle Probleme
Narbenverhältnisse nach einer Geburt, Schmerzen zu sprechen.
nach gynäkologischen Operationen, Z. n. Strahlen- 4 Patienten fehlt es an Wissen über Behand-
therapie und natürlich die »trockene Scheide« in lungsmöglichkeiten bei sexuellen Störungen.
der Postmenopause. 4 Unsicherheit, ob es der rechte Ort ist, beim
Arzt über sexuelle Probleme zu sprechen.
Männliche Sexualstörungen 4 Geschlecht, Alter, kommunikative Fähigkeiten
bei organischen Erkrankungen des Arztes können darüber entscheiden, ob der
Die erektile Dysfunktion kann ein erstes Alarmzei- Patient den Mut hat, sein sexuelles Problem
chen für eine allgemeine endotheliale Dysfunktion anzusprechen.
sein. Die Erektionsstörung ist ein sensibler Prädik-
tor für eine stumme, noch unbemerkte koronare Hemmungen auf Seiten der Ärzte umfassen:
Herzkrankheit, vor allem dann, wenn entsprechen- 4 Fehlendes Bewusstsein für sexuelle Störungen.
de kardiovaskuläre Risikofaktoren vorliegen (Le- 4 Fehlendes Wissen über Sexualität und ihre
vine et al. 2012). Die Störung tritt durchschnittlich Störungen.
3 Jahre vor dem koronaren Ereignis auf. 4 Fehlendes Wissen über Therapiemöglichkeiten
Im Rahmen des Diabetes mellitus, vor allem von Sexualstörungen.
bei Typ 1 Diabetikern, entwickeln sich bei schlech- 4 Angst vor Sexualisierung der Situation.
ter Blutzuckereinstellung im Verlaufe der Erkran- 4 Ökonomische Gründe (Zeit, Einkommens-
kung häufig Nervenschäden im Sinne einer Poly- verlust, Angst vor langen Gesprächen).
neuropathie. Ca. 23 % der Männer mit Erektions- 4 Angst vor der Selbstreflektion: Wie geht es mir
störungen haben eine unentdeckte diabetische selbst mit meiner Sexualität?

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
246 Kapitel 21 · Sexualmedizin

Die Sprache in der Sexualmedizin wenn ich ›Viagra‹ einnehme. Sie will nicht, dass ich
21 Es gibt nicht die »eine« allgemeinverbindliche Spra- mir dies Medikament aufschreiben lasse.«
che im Bereich der Sexualmedizin. Grundsätzlich In einem daraufhin vorgeschlagen Paargespräch wird
wichtig ist, dass man sich mit dem Patienten auf mit dem Paar die Haltung der Ehefrau zu Partner-
eine klare verständliche Sprache mit eindeutigen schaft und Sexualität geklärt und das Paar gefragt,
Bezeichnungen einigt. Die Sprache, welche die was sie sich für ihr zukünftiges Sexualleben wün-
meisten Patienten bei sexualmedizinischen Proble- schen. Beide sind sich einig, dass sie weiterhin se-
men benutzen, ist die Umgangssprache. Darüber xuell aktiv sein wollen. Es folgt eine Information über
hinaus gibt es eine medizinische Fachsprache, die den Gesundheitszustand des Ehemannes und über
Bürokratensprache, die Kindersprache, die blumige die Wirkungsweise von »Viagra«. Daraufhin äußert
Sprache, die Vulgärsprache. Vermeiden sollte man, die Frau die Angst, dem Mann könne durch die An-
sich auf eine Vulgärsprache mit zweideutigen For- strengung beim Sex »etwas passieren«, stimmt aber
mulierungen einzulassen, sollte der Patient diese letztlich einer Behandlung zu, wenn ihr Mann einen
Sprache benutzen. Belastungstest, welcher der sexuellen Aktivität ent-
spricht (75 W auf dem Ergometer) absolviert. Durch
die Aufklärung bzgl. der medikamentösen Wirkung
21.2.2 Erkennen – die sexual- i. S. der Durchblutungsförderung und nicht i. S. einer
medizinische Erstanamnese Luststeigerung ist die Frau beruhigt und entlastet.
Der 60-jährige erscheint hoch motiviert zum Belas-
Folgende Punkte haben sich bei der Erhebung der tungs-EKG und kann problemlos 100 W Leistung er-
sexualmedizinischen Erstanamnese bewährt: bringen. Das Paar, das offensichtlich positiv verbun-
4 Spontanangaben zur sexuellen Situation. den ist, kann daraufhin den Phosphodiesterasehem-
4 Genaue Schilderung der Symptomatik. mer (Viagra) erfolgreich einsetzen ohne Nebenwir-
4 Seit wann besteht die Störung? kungen. Bei der nächsten Konsultation bedankt sich
4 Wann tritt diese Störung auf, in welchen Situa- der Patient für die Unterstützung seines Anliegens
tionen? Mit welchem Partner oder Partnerin? mit den Worten: »Es klappt wieder und wir sind sehr
4 Wie häufig tritt diese Störung auf? froh darum!«
4 Mit welchem Partner gibt es das sexuelle
Problem?
4 Hat dieses sexuelle Problem bereits Aus- 21.2.3 Gesprächsführung
wirkungen auf die Partnerschaft?
4 Hat der Patient Leidensdruck? Die ärztliche Haltung sollte eine offene Gesprächs-
4 Haben bereits eigene Lösungsversuche bereitschaft signalisieren, ohne drängend und inva-
stattgefunden? siv zu wirken, gleichsam mit »Takt und Taktik«
4 Warum kommt der Patient gerade jetzt? (Nijs 2002).
4 Kommt der Patient von sich aus oder wurde er Um dem Patienten evtl. Ängste und Hemmun-
evtl. vom Partner/von der Partnerin geschickt? gen zu mindern, haben sich Formulierungen be-
währt, die wir als »Türöffner« bezeichnen. Solche
Fallbeispiel Formulierungen wären etwa:
Ein 60-jähriger Lehrer leidet an einer vollständigen »Gibt es etwas zum Thema Sexualität zu sagen?«
erektilen Dysfunktion. Risikofaktoren sind eine Arterio- oder »Gibt es Probleme im Bereich der Sexualität?«
sklerose und ein obstruktives Schlafapnoesyndrom. oder »Viele meiner Patientinnen erleben in den
Er erwähnt im Rahmen eines hausärztlichen Konsulta- Wechseljahren Veränderungen in ihrem Sexualle-
tionsgesprächs seinen Wunsch, ein erektionsfördern- ben. Geht es Ihnen ähnlich?« oder »Wirken sich
des Medikament, z. B. Viagra, einzunehmen. Ihre Beschwerden auf Ihre Sexualität aus?« ...
P: »Wir haben beide noch Freude am Sex und Schmu- Diese offenen Fragen geben dem Patienten die
sen gerne. Im Moment klappt gar nichts mehr. Leider Möglichkeit, in das Thema Sexualität »einzustei-
hat meine Frau Angst, mir könnte etwas passieren, gen« ohne sich zu sehr gedrängt zu fühlen.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
21.2 · Praktischer Teil
247 21
Vermeiden sollte man geschlossene, suggestive flikt, thematisiert wird, so bedarf es einer umfang-
oder indirekte Fragen, wie: »Sie haben doch sicher- reicheren Sexualanamnese unter Berücksichti-
lich als Diabetiker bereits Erektionsprobleme?« gung psychischer (Persönlichkeitsstruktur, Sexual-
oder »Wenn Sie mit Ihrer Frau zusammen sind, präferenz, Geschlechtsidentität, Biographie, Lern-
klappt es dann noch?« geschichte, psychische Erkrankungen) biologischer
Das sexualmedizinische Erstgespräch sollte im- (Medikamente, Hormone, Chromosomenaberra-
mer mit einer offenen Frage beginnen. Der Arzt tion, körperliche Erkrankungen) und sozialer
sollte dem Patienten entspannt zuhören und mög- (Partnerschaft, Beruf, Umfeld) Faktoren. Meist ist
lichst nicht sofort unterbrechen. dann eine Überweisung an einen spezialisierten
Kommt es im Rahmen einer voll einbestellten Facharzt, bzw. zu einer Sexual-, Einzel- oder Paar-
Routinesprechstunde überraschenderweise zu ei- therapie erforderlich.
nem sexualmedizinischen Erstgespräch, weil der
Leidensdruck sehr groß geworden ist oder weil sich
ein Patient vielleicht nach längerem inneren Zweifel 21.2.5 Spezifische Behandlung
endlich entschlossen hat, über das für ihn schwieri-
ge Problem zu sprechen. So kann man mit dem Ver- Libidostörungen
weis auf die jetzt sehr beschränkte Zeit dem Patien- Therapeutisch kann hier eine Lebensstilberatung
ten innerhalb von 2 Wochen einen neuen Termin mit Stressreduktion, eine Paarberatung, eine Um-
anbieten mit einem größeren Zeitrahmen. Wichtig stellung hin zu weniger Libido einschränkenden
ist, dem Patienten zu signalisieren, dass man sein Medikamenten, eine – falls erforderlich – Testoste-
Anliegen verstanden hat und es wichtig ist, darüber ronsubstitution hilfreich sein. Eine Depression,
ausführlicher zu sprechen. Angststörung oder andere psychische Erkrankun-
gen als häufige »Lustkiller« müssen erkannt und
entsprechend in die sexualmedizinische Behand-
21.2.4 Sexualmedizinische lung mitintegriert werden.
Behandlungsmöglichkeiten
Erektile Dysfunktion:
Im Rahmen der psychosomatischen Grundversor- Seit 1998 sind orale erektionsfördernde Medika-
gung, beim Hausarzt aber auch bei anderen Fach- mente auf dem Markt, welche die Phosphodiestera-
ärzten, ist es gut möglich und manchmal auch sehr se hemmen und somit zu einer vermehrten Durch-
wichtig, die Partnerin oder auch den Partner einzu- blutung der penilen Gefäße führen. Voraussetzung
laden, um ein gemeinsames, klärendes, häufig auch für die Wirkung ist eine erotische Stimulation sowie
edukatives Gespräch zu führen. Allein eine solche die Intaktheit der penilen Nerven. Über die Wir-
Paarberatung kann manche sexuelle Problematik kungsweise und ggf. Nebenwirkungen (z. B. Kopf-
lösen (Buddeberg 2005). Im Rahmen solcher Erst- schmerzen) sowie Kontraindikationen (z. B. Kom-
gespräche – in der Einzel- oder Partnersituation – bination mit Nitraten) muss eingehend aufgeklärt
können weibliche oder männliche Sexualmythen werden. Es ist von Vorteil die Beratung zusammen
korrigiert werden. Paarinterne und paarexterne mit der Partnerin durchzuführen und weitere Ge-
Stressoren (Kinder, Schwiegermutter, Arbeitsplatz- spräche als Rückmeldung für den Therapieerfolg
konflikt u. a.) können thematisiert und Lösungsvor- anzubieten. Um den Leistungsdruck zu reduzieren
schläge erarbeitet werden. Eine solche Paarberatung und auch um der biologischen Funktion Zeit zu ge-
kann therapeutisch zu einer Lebensstilberatung mit ben, sich wieder zu etablieren, empfiehlt sich, den
Stressreduktion werden (7 Kap. 8). Patienten darüber zu informieren, dass 8–10 Versu-
Das Ansprechen des sexuellen Problems und che notwendig sind, um eine Wirkung der Phos-
eine sexualmedizinische Edukation können bereits phodiesterasehemmer (z. B. Sildenafil, Tadalafil,
deutlich entlasten. Wenn dies nicht ausreicht und Vardenafil) zu beurteilen. Nach mehreren erfolglo-
eine umfangreichere Sexualstörung, wie z. B. eine sen medikamentösen Therapieversuchen sollten
Libidostörung oder ein tiefergehender Partnerkon- eine fachurologische Untersuchung und ggf. auch

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
248 Kapitel 21 · Sexualmedizin

eine weiterführende psychosomatische Abklärung hängig von möglichen Ursachen, keine »inneren
21 erfolgen. Bilder« von ihren äußeren und inneren Geschlechts-
organen besitzen. Schon bei der Erstkonsultation –
Ejaculatio praecox nach der gynäkologischen Untersuchung – lässt
Bei der psychogenen Ejaculatio praecox haben sich man sich von der Patientin ihr äußeres Genitale als
verhaltenstherapeutisch-sexualmedizinische Ver- Bild zeichnen. Unabhängig vom Bildungsgrad
fahren, wie die »Start-Stop-Technik« und die zeichnen dies nahezu ausnahmslos alle Patientin-
»Squeeze-Technik« bewährt. Hierbei erlernt der nen, ausgenommen Ärztinnen, anatomisch falsch.
Mann durch Stimulation und Beendigung der Sti- Anhand von anatomischen Bildern erfolgt eine so-
mulation eine bessere Kontrolle über die Ejakula- fortige Korrektur hin zu der wahren Topographie.
tion zu gewinnen. Auch ein Schmerzreiz durch Zu- Die Patientin erhält nun die Aufgabe täglich sich vor
sammenpressen des Penis kann zum Erlernen der einem größeren Spiegel bei geöffneten Beinen zu
Kontrolle beitragen. Die lebenslange Ejaculatio betrachten und ihre äußeren Geschlechtsorgane zu
praecox zeigt sich durch die verhaltenstherapeuti- benennen und zu einem späteren Zeitpunkt auch zu
schen Verfahren nicht ausreichend behandelbar. berühren. Während dieser Anleitung zum Selbstbe-
Serotonerge Medikamente, wie Serotonin-Wieder- trachten und Selbstberühren unter Zuhilfenahme
aufnahmehemmer (SSRI), welche die Störung im von Gleitmitteln und später auch Dilatatoren finden
Rezeptorbereich positiv modulieren, können zu ei- Paartherapiesitzungen in 2-wöchigen Abständen
ner verlängerten Ejakulation beitragen (z. B. Dapo- statt. Nach Vereinbarung eines Koitusversuchver-
xetin). bots durchlaufen die Paare vorgeschriebene Kör-
perberührungsübungen, die vom zunächst nur Rü-
Nach Prostatakarzinomoperation ckenstreicheln schließlich bis zum Berühren der
Nach Prostatakarzinomoperationen und bei nerva- Geschlechtsorgane führen und zuletzt ein Einfüh-
len Schädigungen anderer Ursache (z. B. Diabetes ren des Penis ermöglichen. Während der Paarthera-
mellitus) bedarf es einer lokalen Behandlung. Hier piesitzungen wird über die bei den Übungen erleb-
hat sich die Schwellkörper-Auto-Injektions-Thera- ten Gefühle und das daraus resultierende Verhalten
pie (SKAT) etabliert. Der Mann spritzt sich i. S. ei- gesprochen.
ner Selbstinjektion ein Prostaglandin mittels einer
dünnen Kanüle in den Penisschaft, was zu einer lo-
kalen Gefäßdilatation mit nachfolgender Erektion Literatur
führt. Alternativ kann eine Vakuumpumpe einge-
setzt werden. Nach Erreichen einer ausreichenden Braun M, Wassmer G, Klotz T et al. (2000) Epidemiology of
Erektion des Penis wird dieser mittels Gummiring erectile dysfunction: results of the »Cologne Male
gestaut gehalten, so dass eine Penetration möglich Survey« In J Impot Res 12: 203–311
Buddeberg C (2005) Sexualberatung – eine Einführung für
ist. Bei eigentlich allen medikamentösen und me- Ärzte, Psychotherapeuten und Familienberater. Thieme,
chanischen »Hilfen« empfiehlt sich eine ärztlich- Stuttgart, S 58–60
sachkundige und empathische Begleitung des Paa- Cedzich D, Bosinski H (2010) Sexualmedizin in der hausärzt-
res. Es kann sehr bereichernd für das Paar sein, lichen Praxis; Gewachsenes Problembewusstsein bei
wenn es – unter wohlwollender taktvoller sexual- nach wie vor unzureichenden Kenntnissen. Sexuologie
17 (1–2), 5–13
medizinischer Begleitung – bei einer Art »Entde-
Exton MS, Krüger THC, Koch M et al. (2001) Coitus induces
ckungsreise« neuer sexueller Erfahrungen unter- orgasm stimulatet prolactin secretion in healthy subjects.
stützt wird. Dabei zeigt die Erfahrung, dass das Be- Psychoneuroendocrinology 25(2): 187–199
dürfnis nach Zärtlichkeit und Bindung einen im- Fedele D, Bortolotti A, Coscelli C et al. (2000) ED in type 1 and
mer größeren Raum einnimmt. type 2 diabetics in Italy. Int J Epidemiol 29: 524–531
Fisher HE, Aaron A, Mashek D et al. (2002) Defining the brain
systems of lust, romantic attraction and attachement.
Vaginismus
Arch Sex Behav 31: 413–419
Diese Einzel- und/oder Paarbehandlung geht von Hartmann U et al. (2002) Sexualität in der Arzt-Patient-Kom-
der Erfahrung aus, dass diese Patientinnen, unab- munikation. Ergebnisse der »Globalen Studie zu sexuel-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
Literatur
249 21
len Einstellungen u. Verhaltensweisen«. Sexuologie 9,
50–60
Laumann EO, Paik A, Rosen RC (1999) Sexual dysfunction in
the United States: prevalence und predictors. JAMA 281:
537–44
Levine G et al. (2012) Sexual Activity and Cardiovascular
Disease: A Scientific Statement from the American Heart
Association. Circulation 125: 1058–1072
Masters WH, Johnson VE (1966) Human Sexual Response. 1st
ed., Little, Brown and Company, London
Masters WH, Johnson VE (1970) Die sexuelle Reaktion. Ro-
wohlt, Hamburg. Originaltitel: Masters WH, Johnson VE
(1966) Human sexual response. Little, Brown and Com-
pany, Boston
Masters WH, Johnson VE (1985) Die sexuelle Reaktion –
Rororo Taschenbuch
Nijs P (2002) Therapie als Begegnungskunst – Eine klin-
isch-therapeutischer Leitfaden für Sexualmedizin und
Psychosomatik. Peeters, Leuven 74–77
O’Connell HE, Sajeraan KV (2006) Anatomy of female genitalia
In: Goldstein I, Meston CM, Davis SR, Trais AM (eds):
Womens sexual function und dysfunction. Taylore &
Francis, London, S 105–112
Perelman (2006) A new combination treatment for premature
ejaculation: a sex therapist’s perspective. J Sex Med. 3(6):
1004–1012
Richter D (1999a) Chronischer Pruritus genitalis – psycho-
somatischer Fluor. In Stauber M, Kentenich H, Richter D
(Hrsg) Psychosomatische Geburtshilfe und Gynäkologie.
Berlin, Springer
Richter D (1999b) Chronischer Unterbauchschmerz. In
Stauber M, Kentenich H, Richter D (Hrsg) Psychosoma-
tische Geburtshilfe und Gynäkologie. Berlin, Springer
Rösing D et al. (2004) Krankheits- und behandlungsbedingte
Sexualstörungen nach radikaler Prostatektomie – eine
bio-psycho-soziale Betrachtung. Urologe 43: 291–295
Schaefer GA, Ahlers CJ (2006) Differentialdiagnostische Dis-
kussion der Erektionsstörung. Urologe 445: 967–974
Singer Kaplan H (2006) Sexualtherapie bei Störungen des
sexuellen Verlangens. Thieme, Stuttgart
Wimpissinger F, Stifter K, Grin W, Stackl W (2007) The female
prostate revisited. Perinael ultrasound and biochemical
studies of female ejaculate, J Sex Med 4: 1388–1393

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
251 22

Psychosomatik im Alter
Kurt Fritzsche, Margrit Ott

22.1 Theoretischer Teil – 252


22.1.1 Symptome – der Altersprozess als ein psychosomatisches
Paradigma – 252
22.1.2 Einsamkeit im Alter – 253
22.1.3 Probleme älterer Patienten im Krankenhaus – 253
22.1.4 Krankheit als Lösungsversuch – 254

22.2 Praktischer Teil – 254


22.2.1 Erkennen – 254
22.2.2 Haltung – 256
22.2.3 Arzt-Patient-Beziehung – 257
22.2.4 Behandlung – 257

Literatur – 258

K. Fritzsche et al. (Hrsg.), Psychosomatische Grundversorgung,


DOI 10.1007/978-3-662-47744-1_22, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
252 Kapitel 22 · Psychosomatik im Alter

Fallbeispiel Während für jüngere Menschen hauptsächlich


Frau K., eine 68-jährige Patientin mit bekanntem Beruf, Familie und Freunde im Mittelpunkt stehen,
Asthma bronchiale, wird in der medizinischen Klinik nimmt für Menschen über 60 Jahre die Gesundheit
22 stationär aufgenommen, nachdem 14 Tage vorher und körperliche Leistungsfähigkeit einen zentralen
eine Verschlechterung des Allgemeinzustandes, ver- Stellenwert ein (Hodek et al. 2009). 90 % der über
mehrt Husten und Atemnot aufgetreten sind. Die 76-jährigen leiden unter Glieder- und Gelenk-
hausärztliche Behandlung hat zu keiner dauerhaften schmerzen (Gunzelmann et al. 2002).
Stabilisierung geführt. Unter der üblichen Therapie
mit Cortison, Euphyllin und Inhalationen tritt statio- Depressive Störungen
när rasch eine Besserung der Atemnot auf. Nach der und Angststörungen
Entlassung erfolgt eine Wiederaufnahme 5 Tage spä- Einschränkungen in Aktivitäten des täglichen Le-
ter wegen Verdacht auf eine erneute Exazerbation. bens und die damit verbundenen psychischen Be-
Auch jetzt ist das Asthma bronchiale sowohl klinisch lastungen bestärken sich gegenseitig. Der drohende
als auch nach Werten der Lungenfunktionsprüfung Verlust der Selbstständigkeit und der damit verbun-
lediglich mäßig bis mittelgradig ausgeprägt. Erneut dene Wechsel der Wohnumgebung und Verein-
tritt eine rasche Besserung der Bronchospastik ein. samung erklären die erhöhte Häufigkeit von leich-
Die Patientin lehnt jedoch eine erneute Entlassung teren depressiven Störungen und Angststörungen
nach Hause ab. (Heuft et al. 2006; Riedel-Heller u. Luppa 2013).
Typische Beispiele sind das Zusammenwirken von
Depression und Schlaganfall (Kringler 2001, neu
22.1 Theoretischer Teil 2009; Busch et al. 2013). Auslöser für Suizidversu-
che sind psychische Erkrankungen wie Depression,
22.1.1 Symptome – der Altersprozess schmerzhaft und chronisch verlaufende schwere
als ein psychosomatisches körperliche Erkrankungen und kritische Lebens-
Paradigma ereignisse wie Partnerverlust und Wohnungswech-
sel (Statistisches Bundesamt 2013; Robert Koch-
Prävalenzdaten gehen von 23 % psychisch oder psy- Institut, Berlin 2014; Wächtler 2009; Wilk et al.
chiatrisch erkrankter alter Menschen aus (Heuft et al. 2007; Wolfersdorf 2008).
2006). Das gemeinsame Vorkommen von somati-
schen Erkrankungen wie Schlaganfall, Morbus Par- Somatoforme Störungen
kinson und psychischen Störungen wie Depression Die Differenzialdiagnose für somatoforme Stö-
stellt große Herausforderungen an die Krankheits- rungen ist wegen dem Überlappen mit körperli-
verarbeitung alter Menschen (Barnett et al. 2012). chen Krankheiten im Alter schwierig. Während die
Aber auch Ärzte sind mit der Zunahme von körper- nach außen hin sichtbar laute und teilweise dra-
lichen Befunden immer wieder vor diagnostische matische Symptomatik von Neurosen und Persön-
Herausforderungen gestellt, inwieweit die körperli- lichkeitsstörungen im Alter eher abnimmt und
chen Beschwerden z. B. Schmerzen, einem organisch Neuerkrankungen gering sind, finden im Bereich
begründeten Schmerzerleben oder einer somatofor- der psychosomatischen Probleme und Störungen
men Störung zuzuordnen sind. Auch ein rein körper- und körperlichen Erkrankungen eine deutliche Zu-
bezogenes Krankheitsverständnis (Depression) vie- nahme. Bei den funktionellen Störungen sind
ler älterer bzw. hochaltriger Menschen aus der letzten Magenbeschwerden mit Sodbrennen, Obstipation,
Kriegsgeneration kann die Diagnostik erschweren, Schwindel, Schlafstörungen unklarer Genese zu
da vorwiegend somatische Beschwerden in der haus- nennen. Eine deutliche Ersteigerung erfahren
ärztlichen Sprechstunde benannt werden. Im Alter ebenfalls körperbezogene hypochondrische Ängste
sind die körperliche, die funktionale, die seelische und abweichend von der oben genannten Tendenz,
und die soziale Ebene von Gesundheit noch enger depressive Symptome, sicherlich bedingt durch ge-
miteinander verzahnt als in der Jungend oder in der häufte Verluste und Einsamkeit im Alter (Radebold
ersten Hälfte des Erwachsenenalters. 1992).

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
22.1 · Theoretischer Teil
253 22
Das häufige Auftreten mehrerer sich gegenseitig 22.1.2 Einsamkeit im Alter
beeinflussender Krankheiten, vor allem des Herz-
Kreislauf-Systems, des Stütz- und Bewegungsappa- Ca. 10–30 % der alten Menschen in Deutschland
rates und des Stoffwechsels, verbunden mit einer berichten über ausgeprägte Einsamkeitsgefühle. Bis
Zunahme von seelischen und sozialen Problemen, zum 85. Lebensjahr ist zwischen Frauen und Män-
machen das Krankheitsbild zunächst unüberschau- nern kein Unterschied festzustellen (Zebhauser et
bar und führen zu erheblichen Problemen bei Dif- al. 2014). Erst ab 85 Jahren sind Frauen häufiger
ferenzialdiagnose und Behandlung. Es zeigt sich, betroffen. Je ausgeprägter und intensiver Freund-
dass gerade im Alter die körperliche Krankheit, der schaften und soziale Kontakte sind, desto geringer
seelische Zustand und die aktuelle Lebenssituation, ist die Gefahr an Einsamkeit zu leiden. Risikofakto-
wie Wohnverhältnisse, finanzielle Ressourcen und ren sind eine bestehende Depression, geringe Resi-
soziale Unterstützung, unlösbar miteinander ver- lienz und körperliche Gebrechlichkeit. Einsamkeit
bunden sind und bei der Anamnese erfasst und bei ist auch ein eigenständiger Risikofaktor für die Ein-
der Therapieplanung berücksichtigt werden müs- nahme von Psychopharmaka, hauptsächlich bei
sen. Gerade im Alter besteht oft eine Diskrepanz Frauen. Geringere soziale Eingebundenheit ist auch
zwischen subjektivem Erleben und objektivem Be- mit erhöhter Mortalität verbunden (Holt-Lunstad
fund, sodass sich nur ein Teil aller körperlichen Er- et al. 2010). Personen mit ausgeprägten sozialen
krankungen rein organisch erklären lässt. Häufig Netzwerken hatten eine um 50 % erhöhte Wahr-
finden wir Probleme der Krankheitsverarbeitung, scheinlichkeit im jeweiligen Untersuchungszeit-
chronische seelische Belastungen, pathologische raum zu überleben, als Patienten mit niedrigem
Trauerreaktionen und konflikthafte soziale Situa- sozialem Netzwerk. Einsamkeit hatte ähnlich nega-
tionen, die das subjektive Krankheitserleben erklä- tive Auswirkungen wie die etablierten Risikofakto-
ren (Fritzsche u. Dornberg 1992). ren Alkohol und Rauchen. Auch bestehen Zusam-
menhänge mit Bluthochdruck, Diabetes mellitus,
Trauma Entzündungsparametern und Schlafqualität. Auch
Traumatische Erlebnisse können im Alter wieder in langjährigen Paarbeziehungen gibt es Einsamkeit
reaktiviert werden (Heuft et al. 2006). Alte Men- durch liebloses nebeneinanderher Leben, verbun-
schen, die während dem 2. Weltkrieg in irgendeiner den mit ständigen Streitigkeiten und Nörgeleien.
Weise traumatisiert wurden, reagierten auf politi- Die Pflege der Paarbeziehung ist im Alter besonders
sche Krisen wie z. B. den Beginn des Golfkrieges wichtig, weil andere Faktoren wie Arbeit, Kinder
1991 mit akuten Traumasymptomen. Sie erlebten oder Freundeskreis zunehmend wegfallen.
Bilder und Geräusche im Fernseher als sehr bedroh-
lich, als ob es erst gestern gewesen wäre. Eine Re-
traumatisierung kann durch eine der traumatischen 22.1.3 Probleme älterer Patienten
Erfahrung ähnelnden Situation ausgelöst werden: im Krankenhaus
Eine jüdische Überlebende des KZ Ausschwitz re-
agierte mit Panik, als eine junge Pflegende ihr die Die psychosozialen Schwierigkeiten von über
Medikamente in den Mund geben wollte. Diese Si- 65-jährigen Patienten im Krankenhaus sind v. a.
tuation erinnerte sie an die zwangsweise Verabrei- Einsamkeit, fehlende Lebensperspektive, Probleme
chung von Medikamenten zu Versuchszwecken, sich zu Hause weiter wie bisher selbstständig zu ver-
welche sie monatelang hatte über sich ergehen las- sorgen, Suizidalität und Verlusterlebnisse. Bei 58 %
sen müssen (Dominguez 2007). Frauen, die wäh- der Patienten ist das Beschwerdebild oder die Ent-
rend ihres Lebens Opfer einer Vergewaltigung ge- scheidung sich ins Krankenhaus einweisen zu las-
worden waren, reagieren auf die Intimpflege durch sen, durch oben genannte psychosoziale Schwierig-
eine männliche Person aber auch durch weibliche keiten wesentlich beeinflusst. Bei vielen dieser Pa-
Pflegekräfte mit starker Abwehr. tienten ist ein befriedigender Abschluss der Be-
handlung im Allgemeinkrankenhaus nur erreichbar,
wenn dieser psychosoziale Hintergrund gezielt be-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
254 Kapitel 22 · Psychosomatik im Alter

achtet wird. Für Ärzte und Pflegepersonal werden


auf der Station täglich die Themen Einsamkeit,
Sinnlosigkeit, Suizidalität, Tod und Sterben relevant
22 und sind nicht nur für den Patienten selbst, sondern
auch für Ärzte und Pflegepersonal schwierig und
belastend (Schmeling-Kluders u. Odensass 1994).

22.1.4 Krankheit als Lösungsversuch

Aus psychosomatischer Sicht verstehen wir das ge-


häufte Auftreten von körperlichen Beschwerden bei
nur geringem Organbefund nicht nur als eine pa-
thologische Reaktion des Körpers, sondern als sinn-
volle Reaktion auf eine oft als unerträglich erlebte
Lebenssituation. Bei vielen alten Menschen hat sich
durch die Reduktion der körperlichen Leistungs-
fähigkeit das Gefühl verstärkt, überflüssig zu sein.
Ein bisher wichtiger Mechanismus der Kontaktauf-
nahme und Pflege zwischenmenschlicher Bezie-
hungen, nämlich für andere da zu sein, ist nur noch
beschränkt möglich. Bei fehlender sozialer Unter-
stützung und zunehmender sozialer Isolation greift
der Körper zu Selbsthilfe: Der regelmäßige Arzt-
besuch oder die Aufnahme ins Krankenhaus scheint
. Abb. 22.1 Cartoon: Salutogenese.
die einzige Möglichkeit, menschliche Kontakte her-
(Zeichnung: Gisela Mehren)
zustellen. Die körperliche Krankheit sichert in die-
sem Fall ein begrenztes Maß an Aufmerksamkeit
und Körperkontakt mit anderen Menschen. Sie im Alter, trotz oft negativer Lebenserfahrungen, er-
schützt auch vor schmerzhaften Gefühlen, die mit möglichen (Lacruz et al. 2010; . Abb. 22.1).
dem Älterwerden und dem Verlust wichtiger Be-
zugspersonen verbunden sind (Overbeck 1984;
Haag 1985). In diesem Sinne sind körperliche Be- 22.2 Praktischer Teil
schwerden Selbstheilungsversuche des Organismus,
ein Versuch der Anpassung an eine neue Situation 22.2.1 Erkennen
und eine Möglichkeit, Gefühle des Überflüssigseins,
der Leere und der Sinnlosigkeit zu kompensieren Der Arzt macht sich im Sinne einer biopsychoso-
und ggf. ein neues Gleichgewicht zu finden (Fritz- zialen Anamnese ein umfassendes Bild über die
sche u. Dornberg 1992). Lebenssituation, die Beziehungen, die sozialen Um-
Neben den krankmachenden Faktoren im Alter stände wie auch über mögliche Probleme und Kon-
ist es unter salutogenetischer Perspektive auch sehr flikte des Patienten (Heuft 2010).
interessant zu fragen, was hält uns im Alter gesund? 4 Welche Aktivitäten, Interessen und Fähigkei-
Während das Konzept eines »erfolgreichen Alterns« ten bestehen zum Ausgleich der körperlichen
immer populärer wird, ist wenig über die psycho- und seelischen Probleme?
physiologischen und biopsychosozialen Mechanis- 4 Über welche Beziehungen (Partner, Familie,
men bekannt, die psychisches und körperliches Verwandte, Freunde) verfügt der Patient?
Wohlbefinden und eine erfolgreiche Anpassung an 4 Wie ist die soziale Situation (Status, Einkom-
die Lebensbedingungen und die Einschränkungen men, Wohnung, Versorgung)?

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
22.2 · Praktischer Teil
255 22

. Tab. 22.1 Unterscheidung Depression und Demenz

Depression Demenz

Vorwiegend rascher, erkennbarer Beginn Schleichender, unklarer Beginn


Belastungsfaktoren oft vorhanden Belastungsfaktoren nicht fassbar

Episodischer Verlauf Chronischer Verlauf

Stimmung ist beständig depressiv Stimmungs- und Verhaltensauffälligkeiten fluktuieren


Klassisches Morgentief Eher Sundown Phänomene

»Weiß nicht«-/«Kann nicht«-Antworten sind typisch Angenähert richtige Antworten überwiegen

Patient stellt Defizite besonders heraus, klagt über kogni- Patient versucht, Defizite zu bagatellisieren, zu
tive Einbußen verbergen

Selbstanklage, evtl. Schuldgefühle Orientierungs-/Gedächtnisstörungen


Urteilsfähigkeit erhalten, depressiv gefärbt Zunehmende Einschränkung der Urteilsfähigkeit
Alt- und Neugedächtnis altersentsprechend beeinträchtigt Neugedächtnis mehr gestört als Altgedächtnis

4 Wie erlebt und beurteilt der Patient selbst seine Es gibt aber einen wechselseitigen Zusammenhang
augenblickliche Situation? Wie sieht die wei- zwischen dem Auftreten von Demenz und Depres-
tere Entwicklung aus? Wie sind früher ähn- sion. Ca. 30–50 % der Menschen mit Demenz ent-
liche Schwierigkeiten bewältigt worden? wickeln im Verlauf ihrer dementiellen Erkrankung
eine depressive Episode. Aber auch die Depression
»Late onset depression« selbst stellt ein 1,5- bis 3-fach erhöhtes Risiko für die
Eine Depression im höheren Lebensalter ist schwie- Entwicklung einer Demenz dar (Green et al. 2003).
riger als im Erwachsenenalter zu diagnostizieren. In . Tab. 22.1 sind Unterschiede zwischen De-
Ältere Menschen tendieren eher dazu, weniger Nie- pression und Demenz aufgelistet (Konrad et al.
dergeschlagenheit und Selbstwertzweifel oder 2013; Hegerl et al. 2001; Woltersdorf et al. 2005).
Schuldgefühle zu berichten als jüngere Menschen.
Somatische Beschwerden wie Schlaflosigkeit und Fallbeispiel Fortsetzung – Erstgespräch
Energieverlust stehen im Vordergrund. Hinter ei- Es handelt sich um eine 1,60 m große, schmale, zer-
nem risikoreichen Gesundheitsverhalten z. B. we- brechlich wirkende Patientin, Gewicht 56 kg, mit
nig Bewegung, Übergewicht, unzureichend behan- grauen Haaren, unsicherem Gang und Stock bei Zu-
delter Bluthochdruck, erhöhte Blutfette und Diabe- stand nach zweimaliger Hüft-TEP. Die Patientin hat
tes mellitus kann sich auch eine unerkannte Depres- einen wachen und aufmerksamen Gesichtsausdruck.
sivität oder auch eine latente Suizidalität verbergen. Sofort bei der Begrüßung und beim Eintreten ins
Nicht immer bildet sich das Vollbild einer Major Zimmer nimmt die Atemnot zu. Spontan berichtet
Depression aus. Häufig finden sich im Alter unter- die Patientin mit anklagender, aber auch fordernder
schwellige sog. subsyndromale depressive Krank- Stimme ihre Probleme: »Zu dem anderen Stationsarzt
heitsbilder. Diese zeigen ein erhöhtes Risiko für die habe ich keine Antenne. Ich glaube, er will mich wie-
Entwicklung einer Major Depression (Riedel-Heller der entlassen. Meine Befürchtung ist, dass es mir
u. Luppa 2013; Luppa et al. 2012) schon nach wenigen Tagen schlechter gehen wird,
Hinzu kommt, dass somatische Beschwerden ich wieder in die Klinik muss. Ich habe Sorge, dass
und kognitive Beeinträchtigungen i. S. einer kogni- man mich hochbringt, scheinbar alles okay ist, nach
tiven Störung bei Depression (bis zu 32 %), früher Hause schickt und ich dann im Pflegeheim lande.
auch als »depressive Pseudodemenz« benannt, ge- Manchmal habe ich den Eindruck, dass man mich
genüber den emotionalen Symptomen einer De- entmündigen will. Nirgendwo geht’s menschlich zu.
pression deutlich häufiger sind. (Konrad et al. 2015). Keiner sagt mir etwas. Niemand nimmt sich Zeit. Ich

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
256 Kapitel 22 · Psychosomatik im Alter

kann keine Fragen stellen, bekomme keine Antwor- zinischen Versorgungssystems etwas ein, was sie
ten. Lange mache ich das nicht mehr mit! Ich denke quasi als Vorleistung in Form einer umfassenden
ans Schlussmachen. Es ist ja auch niemand da, der Versorgung der Eltern gegeben hat. In diesem Ver-
22 um mich weint.« ständnis ist das Angebot eines Altenheims natürlich
Nachdem der Stationsarzt ruhig und aufmerksam zu- keine Wiedergutmachung, sondern muss als Ohr-
gehört hat und sein Verständnis signalisiert hat, feige empfunden werden. In der symbiotisch anmu-
schweigt die Patientin kurz und spricht dann zögernd tenden Beziehung zur Mutter war sie wahrschein-
weiter: »Ich muss immer erst ausloten, wie sich die lich immer das kleine Mädchen geblieben. Notwen-
Leute mir gegenüber verhalten. Ich habe Angst, dass dige Schritte der Separation und Individuation
das, was ich berichte, sich zu meinem Nachteil aus- fanden nur unzureichend statt. Dies erklärt auch
wirkt, z. B. Altenheim oder Altenwohnung. Sehen Sie, ihre starke Abneigung gegen den Kontakt mit ande-
ich bin wie eine Regenbogenforelle: Ein standort- ren alten Menschen, da sie in ihrer Phantasie ja
treuer Mensch, v. a. wenn ich Vertrauen gefasst habe. noch jung ist. Das Beispiel zeigt die Schwierigkeit
Ich möchte gerne, dass man mich nicht nur körper- und Grenzen einer psychosomatischen Behandlung
lich, sondern auch seelisch auf Vordermann bringt.« im Alter auf. Aber allein schon ein psychosomati-
sches Verständnis der Symptome im Sinne eines
jPsychosoziale Anamnese biopsychosozialen Krankheitsmodells kann dem
Die Patientin ist in Oberschlesien geboren und mit Arzt helfen, die Patientin und ihre Krankheit besser
26 Jahren den Eltern zuliebe in die Bundesrepublik zu verstehen und zu akzeptieren.
ausgesiedelt. Damals manifestierte sich erstmals
das Asthma bronchiale. Nach dem Tod der Mutter,
die sie viele Jahre lang gepflegt hat und im Rollstuhl 22.2.2 Haltung
spazieren fuhr, zog sie sich ebenfalls eine Schenkel-
halsfraktur zu. In der Folgezeit klagte sie ständig Das psychosomatische Krankheitsverständnis ver-
über Schmerzen in der linken Hüfte, ohne dass sucht, die in den Krankheitsäußerungen enthalte-
dafür ein Organbefund feststellbar war. Im letz- nen Anklagen ernst zu nehmen und die Inszenie-
ten Jahr traten gehäuft Stürze auf, für welche sich rung der Krankheit als einen – sicherlich nicht
trotz exakter Diagnostik keine Ursache fand. Die optimalen – Lösungsversuch innerhalb einer aus-
vom Hausarzt in Aussicht gestellte Aufnahme in weglos empfundenen Lebenssituation zu sehen. Das
ein Altenheim, was die Patientin auf keinen Fall Verhalten der Patienten wird manchmal als Erpres-
wollte, brachte die Symptomatik wieder zum Ver- sung erlebt und nach anfänglicher Zuwendung und
schwinden. Abgelöst wurden diese Beschwerden Anteilnahme ziehen sich die beteiligten Personen
nur durch das erneute Auftreten des Asthma bron- wieder zurück. Das verstärkt die ohnehin schon
chiale. vorhandene Wut und Ohnmacht des Patienten, der
sie dann entweder gegen sich selbst – in Form eines
jKommentar Selbstmordversuchs – oder wieder verstärkt nach
Die Patientin hat immer mit ihren Eltern zusam- außen richtet. Im Idealfall wird der Sinn der körper-
mengelebt, hat große Opfer gebracht, Verzicht ge- lichen Symptomatik vom Primärarzt erkannt und
leistet bis zum Tod der Mutter, ein Verzicht auf ein mit der Patientin besprochen, sozialtherapeutische
eigenes Leben. Nach dem Tode der Mutter hat sie Hilfen eingeleitet und eine begrenzte gesprächsthe-
nun ein Alter erreicht, in dem ein großer Teil des rapeutische Begleitung von ihm selbst übernom-
Lebens schon vorbei ist. Jetzt möchte sie eine Grati- men. Dies führt in der Regel zum Verschwinden
fikation für ihre Aufopferung. Sie wünscht sich das oder zum Abschwächen der Beschwerden.
Gleiche, was sie ihren Eltern gegeben hat, nun für
> Ältere Menschen brauchen mehr Zeit.
sich. Hinter ihrer Anklage steht die Forderung: Die
Ärzte müssen mich mit der gleichen Sorgfalt, Hin- Obwohl ältere Patienten in der Regel eher zu wenig
gabe und Liebe behandeln, wie ich meine Mutter Zeit erhalten, benötigen sie im Gegenteil mehr Zeit.
behandelt habe. So klagt sie im Rahmen des medi- Der Arzt braucht Zeit um ihre Biografie und ihre

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
22.2 · Praktischer Teil
257 22
Lebenssituation besser kennenzulernen. Die Pa- älteren Patienten in Klinik und Praxis (Heuft et al.
tienten selbst benötigen Zeit um über ihre Probleme 2006; Maercker 2003)
und Sorgen zu sprechen, sich an verändernde oder Durch eine Teilidentifizierung mit dem Patien-
geänderte Lebensumstände zu gewöhnen, Konflikt- ten gelingt es dem jüngeren Arzt, sich in die Krank-
lösungen im Gespräch zu finden oder einen Trauer- heits- und Lebenssituation des älteren Patienten
prozess zu durchleben (Radebold 1992). hineinzufühlen. Wie empfindet man es viele Tage
bettlägerig und ständig auf fremde Hilfe angewiesen
zu sein? Wie belastet fühlt man sich durch die große
22.2.3 Arzt-Patient-Beziehung Anzahl verordneter Medikamente oder durch die
durchgeführten Untersuchungen? Wie erlebt man
Die Wahrnehmung des Älterwerdens seiner Patien- ständige Verluste an wichtigen Beziehungsperso-
ten konfrontiert den Arzt mit seinen eigenen Vor- nen? Eigene gute Erfahrungen mit Eltern und
stellungen, Phantasien und Ängsten bezüglich sei- Großeltern erlauben einen stützenden, warmherzi-
nes eigenen Alters. Bei jüngeren Patienten kann er gen und liebevollen Zugang zum alternden Patien-
sich mit ihrer Entwicklung, ihren Erfolgen identifi- ten (Heuft 2010).
zieren und die Auseinandersetzung mit dem eige- Bei fortschreitender Behandlung mit erfolgrei-
nen Älterwerden verdrängen. Ein gemeinsames cher Hilfestellung und vom Patienten erlebter Kom-
Altern von Arzt und Patient erleichtert für den Arzt petenz des Arztes entwickelt sich dann trotz des
die Identifizierung mit dem älteren Menschen. Bei großen Altersunterschiedes eine stabile Arzt-Pa-
jungem Arzt und älterem Patienten besteht jedoch tient-Beziehung, in der der Arzt die Führung hat,
eine Beziehung zwischen zwei Menschen unter- aber je nach Bedarf und Persönlichkeit des Patien-
schiedlicher Entwicklungs- und Altersstufen mit ten auch einen partnerschaftlichen Modus und eine
unterschiedlichen Lebenserfahrungen. Dadurch gemeinsame Entscheidungsfindung praktiziert.
kommt es zur Umkehrung der klassischen Übertra-
gungskonstellation.
Jeder Arzt hat Wünsche und Erwartungen an 22.2.4 Behandlung
die Erwachsenen seiner Kindheit gehabt, hat Ent-
täuschungen erlebt und erinnert sich an die Alters- Ziel der hausärztlichen Interventionen ist es, die
veränderungen, die Behinderungen, die Krankhei- Autonomie des Patienten solange wie möglich auf-
ten, die erlebte Pflege- und Hilfsbedürftigkeit der rechtzuerhalten. Für die Arzt-Patient-Interaktion
Großeltern und später auch der eigenen Eltern. bedeutet dies:
Bewusste und unbewusste Ängste, Befürchtungen 4 Überlegungen und Wünsche des älteren Pati-
und Wünsche, Sehnsüchte und Konflikte werden in enten werden respektiert, er wird nach seiner
der Interaktion mit einem älteren Patienten reakti- eigenen Meinung gefragt.
viert. Der jüngere Arzt sieht in dem älteren Patien- 4 Fördernde, aktivierende oder rehabilitative
ten eigene Eltern- oder Großelternfiguren und um- Maßnahmen werden eingeleitet, anstatt pfle-
gekehrt sieht der ältere Patient in dem jüngeren gende, bewahrende oder sogar kontrollierende
Behandler sich selbst oder seine Kinder, auf die Vorgehensweisen z. B. durch Partner und
frühere Wünsche, Vorstellungen, Ängste und Kon- Familie.
flikte übertragen werden. Dadurch befindet sich der 4 Diagnostische Eingriffe und Behandlungsmaß-
jüngere Arzt nicht mehr in der Sicherheit, Anerken- nahmen werden sowohl mit dem Patienten als
nung und Stabilität des Elternteils, wie es seinen auch mit den Familienangehörigen im Beisein
Vorstellungen über seine Position als Arzt ent- des Patienten besprochen.
spricht. Der Arzt sieht sich mit seinen eigenen Vor- 4 Gezieltes Aufgreifen von Konflikten und
stellungen, Phantasien, aber auch Ängsten bezüg- Schwierigkeiten, drohenden Verlusten oder
lich seines eigenen Alterns konfrontiert. Aus diesen sozialen Notständen.
Übertragungs- und Gegenübertragungsgefühlen 4 Kummer, Trauer und Verzweiflung des
erklären sich viele Arzt-Patient-Interaktionen mit Patienten werden empathisch begleitet.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
258 Kapitel 22 · Psychosomatik im Alter

4 Alternative Lösungsmöglichkeiten werden im Literatur


gemeinsamen Gespräch abgeklärt und gegen-
Zitierte Literatur
einander abgewogen. Barnett et al (2012) Epidemiology of multimorbidity and
22 implications for health care, research, and medical educa-
Fallbeispiel Fortsetzung – weiterer Verlauf tion: a cross-sectional study. Lancet Vol 380
Der Stationsarzt brachte viel Geduld und Verständnis Busch MA, Maske UE, Ryl L et al. (2013) Prävalenz von depressiv-
für die extreme Empfindlichkeit, Verletzbarkeit und er Symptomatik und diagnostizierter Depression bei
Erwachsenen in Deutschland. Bundesgesundheitsblatt-Ge-
Kränkbarkeit der Patientin auf. Vor allem wenn sie
sundheitsforschung-Gesundheitsschutz, 56(5-6), 733–739
Behandlungsangebote ablehnte und entwertete. Dominguez J (2007) Bedeutung der Psychosomatik im hohen
Dieses Aushalten und Mittragen der Resignation und Alter. Vertiefungsarbeit Gerontologie Modul C. Internet
Hoffnungslosigkeit der Patientin führte dann nach Francis J, Kumar A (2013) Psychological treatment for late-life
einer Woche zu einem belastbaren Arbeitsbündnis. depression. Psychiatr Clin North Am 36: 561–575
Fritzsche K, Dornberg M (1992) Krankheit als Lösungsversuch.
Die Patientin akzeptierte ein geriatrisches Konsil und
Eine Kasuistik zum psychosomatischen Krankheitsver-
die Einschaltung einer Sozialarbeiterin. Nach 10 Ta- ständnis im Alter. Z Gerontol 25: 466–470
gen erfolgte die Verlegung in eine sozialtherapeuti- Green RC, Cupples LA, Kurz A et al. (2003) Depression as a risk
sche Betreuung im Rahmen der Tagesklinik der psy- factor for Alzheimer disease: the MIRAGE Study. Arch
chiatrischen Universitätsklinik. Neurol 60 (5): 753–759
Gunzelmann, T, Schuhmacher J, Brähler E (2002) Prävalenz
von Schmerzen im Alter: Ergebnisse repräsentativer
Psychotherapie
Befragungen der deutschen Altenbevölkerung mit dem
Der Bedarf nach geronto-psychosomatischer Ver- Giessener Beschwerdebogen. Schmerz 4: 249–254
sorgung ist hoch. Der psychotherapeutische Be- Haag A (1985) Psychosomatische Aspekte funktioneller
handlungsbedarf wird auf bis zu 10 % geschätzt Störungen bei der Bewältigung von Verlusten im Alter in
(Hirsch u. Schneider 1999). Die geringe Inan- Bergener M, Kark B (Hrsg.) Psychosomatik in der Geriatrie.
Steinkopff, Darmstadt S 25
spruchnahme erklärt sich einmal aus den Vorurtei-
Hegerl U, Zaudig M, Möller HJ (2001) Depression und Demenz
len der Behandler selber, wo über lange Jahre ältere im Alter: Abgrenzung, Wechselwirkung, Diagnose, Thera-
Menschen als nicht mehr therapiefähig angesehen pie. Springer, Heidelberg
wurden, und noch aus den aus dem Nationalsozia- Heuft G, Kruse A, Radebold H (2006) Lehrbuch der Geronto-
lismus stammenden Stigmatisierungen von psychi- psychosomatik und Alterspsychotherapie, 2. Aufl. Ernst
Reinhardt Verlag, München
schen Störungen als Zeichen der Schwäche, mit
Heuft G (2010) Gerontopsychosomatik. In Adler RH et al.
denen man selber fertig werden musste. (Hrsg). Uexküll. Psychosomatische Medizin. Theoretische
Metaanalysen belegen die Wirksamkeit psycho- Modelle und klinische Praxis. Elsevier, Amsterdam S
therapeutischer Verfahren bei älteren Menschen 1185–1193
mit Depressionen (Pinquart et al. 2006; Francis u. Hirsch RD, Schneider HK (1999) Gegenwärtige Grenzen und
notwendige Entwicklungen der Alterspsychotherapie,
Kumar 2013).
Spektrum 28: 94–97
Weitere wirksame Behandlungsverfahren sind Hodek et al. (2009) Multimorbidity and health-related quality
die »Life-Review«-Methoden und die Problemlöse- of life among elderly persons. Bundesgesundheitsblatt
therapie. Ziele der Lebensrückblicktherapie sind Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz 52: 1188–1201
eine Reduktion von bestehenden Verbitterungs- Holt-Lunstad J, Smith TB, Layton JB (2010) Social relationships
gefühlen sowie die Förderung einer positiven Sicht and mortality risk: a meta-analytic review. PLoS Med 7(7):
e1000316
auf die eigene Lebensgeschichte und die Wiederent-
Konrad C, Losekam S, Kirchner T (2013) Gedächtnisstörungen
deckung von Ressourcen. In der Problemlösethera- bei Depressionen. In: Bartsch T, Falkai P (Hrsg) Gedächt-
pie lernen die Patienten ihr eigenes Leben besser zu nisstörungen. Springer, Berlin, S 264–278
organisieren, ihr Stressniveau zu reduzieren und die Konrad C, Losekam S, Zavorotny M (2015) Kognitive Störun-
damit einhergehende depressive Symptomatik und gen bei unipolarer Depression. Nervenarzt 1-2015
Kringler W (2001) Prävalenz depressiver Störungen bei Pa-
Angst zu lindern. Sie lernen Handlungsalternativen
tienten mit Schlaganfall. Z Neurophysiol 12: 4
zu schaffen und lernen als letzten Schritt, Probleme Lacruz ME, Emeny R, Bickel H et al. (2010) Mental health in the
wieder alleine zu lösen. aged: prevalence, covariates and related neuroendocrine,
cardiovascular and inflammatory factors of successful

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
Literatur
259 22
aging. BMC Medical Research Methodology 10: 36, http://
www.biomedcentral.com/1471-2288/10/36 (Zugegriffen
Juni 2015)
Luppa M, Sikorski C, Luck T et al. (2012) Age- and gender-
specific prevalence of depression in latest-life-
systematic review and meta-analysis J Affect Disord
136(3): 212–221
Maercker A (2003) Alterspsychotherapie. Aktuelle Konzepte
und Therapieaspekte. Psychotherapeut 48: 132–149
Neu P (2009) Wechselwirkungen zwischen Depression und
Schlaganfall. Nervenarzt 80: 772–780
Overbeck G (1984) Krankheit als Anpassung. Suhrkamp,
Frankfurt
Pinquart M, Duberstein PR, Lyness JM (2006) Treatments for
later-life depressive conditions: a meta-analytic compari-
son of pharmacotherapy and psychotherapy. Am J Psy-
chiatry 163(9): 1493–1501
Radebold H (1992) Psychodynamik und Psychotherapie
Älterer. Springer, Heidelberg S 45–54
Riedel-Heller SG, Luppa M (2013) Depression im Alter – was
trägt die aktuelle epidemiologische Forschung bei.
Psychiat Prax 40: 173–175
Robert Koch-Institut (2014) Beiträge zur Gesundheitsbericht-
erstattung des Bundes Gesundheitliche Lage der Männer
in Deutschland Kapitel 2: Wie geht es Männern?
Schmeling-Kluders C, Odensass C (1994) Zur bio-psycho-
sozialen Situation über 65-jähriger internistischer Pa-
tienten eines allgemeinen Krankenhauses im Vergleich
mit jüngeren Kranken. In Lamprecht F und Johnen R
(Hrgb.) Salutogenese. Ein neues Konzept in der Psycho-
somatik? VAS, Frankfurt a. M.
Statistisches Bundesamt (2013) Todesursachenstatistik,
Fortschreibung des Bevölkerungsstandes: Sterbefälle,
Sterbeziffern (je 100.000 Einwohner, altersstandardisiert)
(ab 1998). www.gbe-bund.de (Stand: 24.01.2014)
Wächtler C (2009) Suizidalität im höheren Lebensalter.
Psychotherapie 14. Jahrg. Bd 14, Heft 2, CIP-Medien,
München
Wilk K, Havers I, Bramesfeld A et al. (2007) Früherkennung von
Depression und Prävention von Suizidalität im Alter.
Public Health Forum 15 (57): 26–28
Wolfersdorf M (2008) Depression und Suizid. Bundesgesund-
heitsblatt, Gesundheitsforschung, Gesundheitsschutz 51
(4): 443–450
Woltersdorf M, Schüler M (2005) Depressionen im Alter.
Kohlhammer, Stuttgart
Zebhauser A, Hofmann-Xu L, Baumert J et al. (2014) How
much does it hurt to be lonely? Mental and physical
differences between older men and women in the
KORA-Age Study. Int J Geriatr Psych 29(3): 245–252

Weiterführende Literatur
Radebold H (1992) Psychodynamik und Psychotherapie
Älterer. Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York
Heuft G, Kruse A, Radebold H (2006) Lehrbuch der Geron-
topsychosomatik und Alterspsychotherapie, 2. Aufl. Ernst
Reinhardt Verlag, München

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
261 23

Unheilbar Kranke
und Sterbende
Kurt Fritzsche, Gerhild Becker

23.1 Theoretischer Teil – 262


23.1.1 Gefühlsambivalenz und illusionäre Verkennung
der Wirklichkeit – 262
23.1.2 Palliativmedizin – 262
23.1.3 Arzt-Patient-Gespräch über palliative Behandlung – 263

23.2 Praktischer Teil – 263


23.2.1 Kommunikation über Diagnose und Prognose – 263
23.2.2 Palliatives Behandlungskonzept entwickeln, Reanimation
besprechen – 264
23.2.3 Die psychosoziale Begleitung – 265

Literatur – 267

K. Fritzsche et al. (Hrsg.), Psychosomatische Grundversorgung,


DOI 10.1007/978-3-662-47744-1_23, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
262 Kapitel 23 · Unheilbar Kranke und Sterbende

23.1 Theoretischer Teil internistischer Symptome sowie die Therapie neu-


ropsychiatrischer Symptome gehören, wird die psy-
23.1.1 Gefühlsambivalenz und illusionä- chosoziale und spirituelle Begleitung als ebenso
re Verkennung der Wirklichkeit wichtig angesehen. Ziel ist es, den Patienten bis zu-
letzt ein erfülltes Leben am Ort seiner Wahl zu er-
»Im Grunde glaubt niemand an seinen eigenen Tod möglichen (Aulbert et al. 2012).
23 oder, was dasselbe ist … im Unbewussten ist jeder Bei Erwachsenen benötigen etwa 10 % der Tu-
von uns von seiner Unsterblichkeit überzeugt«, morpatienten und etwa 5 % der an unheilbaren
mutmaßt Sigmund Freud 1915 in seiner Schrift nicht-onkologischen Erkrankungen erkrankten
Zeitgemäßes über Krieg und Tod. Schwerstkranken und Sterbenden eine spezialisier-
Dieses Zitat befremdet vielleicht, irritiert, ärgert te Palliativversorgung (SPV). Der Großteil der sog.
auch. Wir sind natürlich nach außen hin gerne be- allgemeinen Palliativversorgung (APV) wird jedoch
reit zu vertreten, dass der Tod der notwendige Aus- von Hausärzten und anderen Ärztegruppen getra-
gang allen Lebens sei, dass man sich darauf vorbe- gen. Die Begleitung unheilbar Kranker und sterben-
reiten müsse, dass der Tod natürlich, unleugbar und der Patienten und ihrer Familien ist im Team mit
unvermeidlich sei. Daneben kennen wir aber auch ambulanter oder stationärer Pflege, Sozialarbeitern,
alle die Tendenz, den Tod beiseitezuschieben, ihn zu Psychologen, Seelsorgern und ehrenamtlichen Hos-
verleugnen, ihn nicht als zum Leben dazugehörig zu pizbegleitern am besten zu bewältigen.
eliminieren. Diese Haltung beschreibt die Psycho- Die frühzeitige Einbindung palliativmedizini-
analyse als »Gefühlsambivalenz«. scher Maßnahmen kann nicht nur die Lebensquali-
Dies bedeutet, dass gegensätzliche Gefühle vor- tät der Patienten verbessern, sondern möglicher-
handen sind, von denen nur eines die Zensur zum weise auch die Lebenszeit signifikant verlängern
Bewusstsein durchschreiten durfte, das andere (Temel et al. 2010; Bakitas et al. 2009; Zimmermann
bleibt latent oder unbewusst. et al. 2014).
In den Gesprächen mit unheilbar Kranken fällt
immer wieder auf, wie sehr diese Patienten an Bil- jSchmerzen
dern, Wünschen, Zukunftsperspektiven festhalten, In der Endphase einer Erkrankung leiden etwa 60 %
die für Außenstehende etwas Irreales, Utopisches, der Patienten an chronischen Schmerzen und be-
Illusionäres verkörpern. Es scheint wie eine Illusion dürfen einer symptomatischen medikamentösen
oder illusionäre Verkennung der Wirklichkeit (Fal- Therapie (Singer et al. 2015). Emotionale Faktoren
ler 1993). Dieses Festhalten an scheinbaren Illusio- wie Angst, Depression und Einsamkeit können das
nen hat für die Patienten einen ganz wichtigen Stel- Schmerzempfinden verstärken. Umgekehrt können
lenwert und eine Beurteilung von außen, von dem langanhaltende Schmerzen Ängste und depressive
Standpunkt einer scheinbar sicheren Realität und Verzweiflung steigern. Schmerz kann aber auch
einem sogenannten gesunden Menschenverstand, Ausdruck einer seelischen Verletzung oder Krän-
wird diesem Phänomen nicht gerecht. kung sein. Dann ist verstärkte emotionale Zuwen-
dung notwendig. Dieses wird in der Palliativmedi-
zin ausgedrückt mit dem Konzept von »total pain«,
23.1.2 Palliativmedizin dem mit »total care« begegnet werden soll. (Saun-
ders u. Sykes 1993).
Die psychosoziale Begleitung von unheilbar Kran-
ken und Sterbenden gehört zum Aufgabengebiet jSpirituelle Grundbedürfnisse
der Palliativmedizin. Palliative Care bedeutet, »die Der Verlust des Lebenssinns angesichts des Todes
aktive und umfassende Betreuung von Patienten, weist auf unerfüllte Grundbedürfnisse im spirituel-
deren Erkrankung nicht auf kurative Behandlung len Bereich hin. Die Befriedigung dieser führt bei
anspricht« (WHO und European Association for einem großen Teil der Patienten zu einer Verbesse-
Palliative Care [EAPC]). Neben der Symptomkon- rung des Lebenssinns. Diese, in der Literatur als
trolle, zu der die Schmerztherapie, die Behandlung »spiritual care« beschriebene Patientenbetreuung

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
23.2 · Praktischer Teil
263 23
meint nicht unbedingt religiöse oder gar konfessio- 23.2 Praktischer Teil
nell gebundene Begleitung, sondern die Förderung
der meistens schon vorhandenen, manchmal verlo- 23.2.1 Kommunikation über Diagnose
rengegangenen spirituellen Bindungen und Riten, und Prognose
die helfen, die terminale Situation besser zu bewäl-
tigen (Frick et al. 2006). Das Überbringen der Diagnose einer lebensbedroh-
lichen Erkrankung wird im 7 Kap. 13 »Krebserkran-
jEinbeziehung der Familie kung« ausführlich behandelt. Bei einer unheilbaren
Eine frühzeitige Einbeziehung der Familie, wie sie Krankheit und der damit verbundenen palliativen
bei Kindern selbstverständlich ist, sollte auch bei Behandlung kommt eine Schwierigkeit dazu: Das
Erwachsenen erfolgen. Patienten in ihrer letzten Le- »Syndrom der leeren Hände«. Das Vorgehen ist das
bensphase benötigen im hohen Maße Unterstüt- gleiche wie beim Überbringen der Erstdiagnose. Der
zung durch ihre Familienangehörigen (Köhle 2011). Arzt sollte sich an dem Vorwissen und dem
Partner und andere Familienmitglieder sind durch Informationsbedürfnis des Patienten orientieren und
die schwere Erkrankung eines Familienmitglieds die Informationen vermitteln, die der Patient braucht,
selbst erheblich mitbelastet und brauchen vor allem um am weiteren Behandlungsprozess kooperativ teil-
emotionale Unterstützung. zunehmen. Das bedeutet, auch seine Bewältigungs-
fähigkeiten adäquat einzuschätzen und Bedürfnisse
nach Verleugnung und Nichtwissen zu akzeptieren.
23.1.3 Arzt-Patient-Gespräch Dennoch ist empirisch gesichert, dass eine offene
über palliative Behandlung Kommunikation die Situation sowohl für den Arzt
als auch den Patienten entlastet, die Kooperation und
Trotz der Gefühlsambivalenz gegenüber Sterben die Lebensqualität verbessert und nicht mit einer er-
und Tod wünschen über 90 % aller Patienten über höhten Suizidgefahr einhergeht.
die Prognose und ihre Behandlungsmöglichkeiten
aufgeklärt zu werden (Fallowfield et al. 2002). Aber Grundlagen der Gesprächsführung
nicht nur die Information ist entscheidend, sondern Die Grundlagen der Gesprächsführung nach Köhle
die emotionale Unterstützung bei der Verarbeitung (2005) sind:
der Information. Gespräche mit dem Thema Über- 4 Zeit haben, offen sein, sich zur Verfügung
gang zu palliativer Behandlung werden von Ärzten stellen.
als schwierig und belastend erlebt. 4 Sich im Gespräch v. a. zu Anfang zurückhalten,
Ärzte halten prognostische Informationen häu- Ruhe ausstrahlen, dem Patienten Raum geben.
fig zurück und beantworten Fragen von Seiten des 4 Das Gespräch soll den Patienten entlasten,
Patienten eher ausweichend (Fallowfield u. Jenkins daher keine vergangenen oder gegenwärtigen
2004). Die prognostischen Informationen sind für Konflikte vertiefen.
den Patienten besonders wichtig. Sie helfen ihm, die 4 Sich weder durch Hoffnungslosigkeit bestim-
verbleibende Zeit zu gestalten. Informationen über men lassen, noch zu unrealistischen zwangs-
die Prognose führen nicht zu erhöhter Ängstlich- läufig in Enttäuschung mündenden Rettungs-
keit. Im Gegenteil, unaufrichtige Kommunikation phantasien verleiten lassen.
vergrößert die emotionale Belastung des Patienten 4 Gefühle der Angst, der Verzweiflung, der Wut
und führt zu Verunsicherung. Patienten nehmen und des Ärgers vom Patienten aufgreifen und
Inkongruenz zwischen verbaler und nonverbaler ihm helfen, diese Gefühle auszudrücken.
Kommunikation sehr genau wahr. 4 Anknüpfen an frühere erfolgreiche Bewälti-
gungsstrategien.

Informationen über die Prognose


Bei der Kommunikation über die Prognose ist es
wichtig, die Balance zwischen dem Geben einer re-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
264 Kapitel 23 · Unheilbar Kranke und Sterbende

alistischen Einschätzung und dem Nähren von 2. Eigenes Verständnis prüfen: weiterfragen, aktiv
Hoffnung zu wahren. Die Informationsvermittlung zuhören, Pausen machen.
sollte an das Sprachverständnis des Patienten und 3. Wertschätzung für die Situation und den Ver-
der Bezugsperson angepasst werden. Dazu sollten such, diese zu bewältigen: verbal und/oder
klare und allgemein verständliche Wörter verwen- nonverbal durch Mimik, Veränderung der
det werden. Ein Großteil der Bevölkerung versteht Sitzposition evtl. Berührung.
23 Worte wie »Metastasen« oder den Ausdruck »pal- 4. Ernstgemeinte und machbare Unterstützung
liativ« nicht oder nicht richtig. anbieten.
Um den Schock der Nachricht etwas abzu- 5. Wenn passend, vertieftes Nachfragen.
schwächen, ist es sinnvoll, als Einstieg einen Aus-
druck oder einleitenden Satz zu verwenden, der auf Ein Arzt, der sowohl Empathie als auch medizini-
die Mitteilung einer schlechten Nachricht hinweist. sche Kompetenz zeigt, vermittelt dem Patienten
und der Bezugsperson Sicherheit und Vertrauen.
Beispiele für das Mitteilen einer schlechten
Prognose Beispiele für ein empathisches Eingehen
4 »Leider sind die Untersuchungsergebnisse nicht 4 »Ich kann mir vorstellen, dass Sie dieser Befund
so gut, wie wir erhofft haben.« sehr durcheinander bringt.«
4 »Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass die Be- 4 »Ich kann mir vorstellen, dass Sie jetzt sehr
handlung den Tumor nicht verkleinern konnte.« enttäuscht sind.«
4 »Das ist wahrscheinlich jetzt sehr schwer aus-
Hilfreich ist auch, im Gespräch den Bezug zum aktu- zuhalten.«
ellen Befinden herzustellen und dadurch eine Brücke 4 »Ich kann mir vorstellen, dass das, was ich Ihnen
für die Überbringung der schlechten Nachricht zu gerade gesagt habe, Ihnen Angst macht (Pause,
bauen: auf zustimmendes Signal warten). Das ist sehr
4 »Sie haben vorhin gesagt, dass Sie Schwierigkei- nachvollziehbar und würde sicherlich fast jedem
ten mit dem Atmen haben. Der Grund dafür liegt so gehen.«
darin, dass …« 4 »Ich kann mir sicherlich nicht wirklich vorstellen,
wie das gerade für Sie ist.«
Auch wenn das aktuelle Befinden positiv ist, lässt sich
diese Strategie anwenden: Wichtig ist, dass der Arzt die jetzt auftretenden
4 »Sie haben vorhin gesagt, dass Sie zurzeit wenige Emotionen aushält und damit dem Patienten als
Beschwerden haben und sich fit fühlen. Das ist Beispiel dient. Auf diese Weise verinnerlicht der Pa-
wunderbar und freut mich sehr. Ich hoffe, dass tient das emotionale Geschehen und ist eher offen
wir diesen Zustand möglichst lange aufrecht- für die Besprechung der palliativen Behandlungs-
erhalten können. Im CT sieht man nämlich leider schritte.
einen ungünstigen Befund, der erstmal gar nicht
zu Ihrem Befinden passt ...«
23.2.2 Palliatives Behandlungskonzept
Empathisches Eingehen auf die entwickeln, Reanimation
emotionalen Reaktionen besprechen
Wenn Patienten erfahren, dass ihr Leben bedroht
ist, reagieren sie und ihre Angehörigen häufig stark Der Arzt versucht mit dem Patienten und seinen
emotional. Für die emotionale Unterstützung von Angehörigen herauszufinden, wie unter den jetzi-
Patienten und Bezugspersonen ist eine Orientie- gen Bedingungen ein möglichst erfülltes Leben aus-
rung an folgendem 5-stufigem Schema hilfreich sehen kann. Dazu ist es wichtig, die aktuelle Lebens-
(Back et al. 2007): situation, Werte, Wünsche und Befürchtungen von
1. Emotionen benennen: vorsichtig, fragend, als Patient und Bezugsperson zu kennen.
Angebot formuliert, eventuell im Konjunktiv.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
23.2 · Praktischer Teil
265 23
Beispiele für das Einführen eines palliativen – Schmerzfreiheit und Linderung anderer
Behandlungsplans belastender Symptome,
4 »Die bisherige Krebsbehandlung war nicht so er- – die Beziehung mit nahen Angehörigen und
folgreich und es ist auch ziemlich sicher, dass die anderen wichtigen Bezugspersonen – etwas
jetzt geplante Chemotherapie Ihre Krankheit zu sagen, was Sie ihnen immer schon sagen
nicht heilen wird. Ich möchte deshalb mit Ihnen wollten, Meinungsverschiedenheiten klären,
darüber sprechen, wie Sie Ihr Leben jetzt am Abschied nehmen,
besten gestalten können. Dazu müsste ich etwas – die Belastung für die Familie reduzieren,
mehr über Ihre Vorstellungen und Wünsche – die Kontrolle über die Behandlung solange
wissen.« wie möglich erhalten,
4 »Ich möchte jetzt gemeinsam mit Ihnen den Be- – eine nicht adäquate Verlängerung des Ster-
handlungsplan für die nächste Zeit besprechen. bensprozesses vermeiden – nicht an einer Ma-
Wie gesagt, gehen wir zum jetzigen Zeitpunkt schine sterben.«
nicht mehr davon aus, dass wir die Krebserkran-
kung heilen können. Wir werden aber alles in Die Klärung des Wunsches nach Reanimation soll-
unserer Macht stehende tun, damit Sie möglichst te ebenfalls frühzeitig mit dem Patienten bespro-
lange möglichst gut leben können. Lassen Sie chen werden. Hierdurch kann die Situation vermie-
uns überlegen, was dabei für Sie besonders den werden, dass der Patient so krank wird, dass er
wichtig ist.« keine Entscheidungen mehr treffen kann und diese
Entscheidung dann von den Familienmitgliedern
Im Weiteren informiert der Arzt über palliative Be- getroffen werden muss, die nicht immer die Wün-
handlungsmöglichkeiten, die auch psychosoziale sche des Patienten bezüglich dieses Themas kennen
und spirituelle Unterstützungsmöglichkeiten bein- und durch diese Entscheidung zusätzlich emotional
halten. Auch die besonderen Konzepte einer Pallia- belastet werden.
tivstation und eines Hospizes sollten besprochen
werden. Bei der Antizipation des Verlaufs ist es Beispiel für das Dokumentieren des Patienten-
wichtig zu beachten, dass Patienten häufig nur grob wunsches hinsichtlich Reanimation
wissen möchten, welche Symptome sie in der Ster- 4 »Damit Ihre eben genannten Wünsche auch um-
bephase erwarten und welche Möglichkeiten der gesetzt werden können, empfehle ich, dass wir
Schmerzbehandlung bestehen, dem gegenüber pfle- eine Notiz in die Akte aufnehmen, dass Sie keine
gende Angehörige sehr genau über alle möglichen Reanimation möchten, falls Sie jetzt in eine akut
Szenarien in der Sterbephase informiert werden lebensbedrohliche Situation geraten. Stattdessen
möchten, um sich besser auf die Situation einstellen werde ich anordnen, dass alles getan wird, dass
zu können. Pflegende Angehörige haben oft auch Sie sich so gut wie möglich fühlen.«
Bedenken, wie sie dem Wunsch des Patienten, zu-
hause zu sterben, gerecht werden können. Hier kön-
nen vom medizinischen Behandlungsteam Hilfen 23.2.3 Die psychosoziale Begleitung
und Entlastung angeboten werden. Ein weiteres,
hauptsächlich für Angehörige relevantes Thema ist Der Umgang mit Verleugnung
die Frage nach dem Vorgehen nach dem Tod des Es gibt Patienten, die, obwohl offen über ihre Er-
Patienten. Es kann daher sinnvoll sein, Bezugsper- krankung und ihre Prognose informiert, sich so
sonen zu einem separaten Gespräch einzuladen. verhalten, als hätten sie keinerlei Wissen über ihre
Erkrankung und als würden sie die Lebensbedroh-
Beispiele für das Besprechen der Palliativsituation lichkeit ihrer Situation verleugnen. Es handelt sich
4 »Wir wissen aus Erfahrung mit anderen Patienten, um ein Hin- und Herbewegen zwischen Wissen
dass es einige Dinge gibt, die den Menschen in und Nichtwissen. Es ist wichtig, diese Verleug-
dieser Behandlungsphase am meisten beschäfti- nungsvorgänge zuzulassen, da sie unter Umständen
gen. Es handelt sich dabei um (Beispiele): auch einen sinnvollen Schutz darstellen. Niemand

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
266 Kapitel 23 · Unheilbar Kranke und Sterbende

kann schließlich im vollen Bewusstsein tödlicher gefunden hat. Diese Gefühle werden wieder belebt
Bedrohung leben. Auch sonst im Alltag brauchen und zu sich selbst gehörig erlebt (Eissler 1978).
wir unsere Illusionen, unsere kleinen Fluchten – Der Arzt stellt sich dem Patienten zur Verfü-
Hollywood-Filme, Theater, Alkohol u. a. – um die gung, damit dieser seine Illusionen und Phantasien
Realität und unsere eigene Kleinheit und Nichtig- leben kann, begleitet ihn ein Stück dabei, bleibt je-
keit angesichts der bestehenden politischen, ökono- doch immer auf dem Boden der Realität und lässt
23 mischen und auch persönlichen Probleme ertragen sich von den illusionären Verkennungen des Patien-
zu können (Meerwein 1991). ten nicht überwältigen.
Dieser Mangel an Objektivität sich selbst gegen- Der Arzt wird zum Umgangsobjekt. Mit einem
über und der Umwelt und die Phantasie, unverletz- Jahr haben Kinder gewöhnlich einen oder mehrere
lich, unendlich und unsterblich zu sein, werden als weiche Gegenstände, Teddybär, Stoffpuppe, Schmu-
Lebensnotwendigkeiten aufgefasst. Um die Krän- setuch oder eine bestimmte Melodie. Sie sind zu-
kung einer zu kurzen Lebenszeit zu bewältigen, nächst Ersatz für die Brust und mit der Zeit reprä-
schafft sich der kranke Mensch die Illusion von Un- sentieren sie auch Übergänge zur Welt des Vaters
sterblichkeit, die Illusion einer Welt ohne Todesbe- und der Mutter. Ein Übergangsobjekt ist ein Zwi-
drohung. Wird vom Arzt die Verleugnung als schüt- schenobjekt zwischen dem Selbst und der Außen-
zende Illusion erkannt, so wird er ein forciertes welt. Im typischen Fall sehen wir, wie ein Kind ein-
Konfrontieren mit der Realität vermeiden. schläft, ein solches Objekt fest in die Hand nimmt,
Die Annahme des Todes geschieht nur selten in während es zugleich am Daumen lutscht. Jedes
vollem Einverständnis. Seine Annahme erfolgt viel Kind hat dabei ein persönliches Verhaltensmuster
häufiger im Verlaufe eines stillen, mehr oder weni- und dieses Muster, das zur Zeit des Einschlafens
ger resignierenden Nachgebens, eines Sich-Anpas- oder wenn sich das Kind einsam oder traurig fühlt
sens. oder Angst hat, aktiviert wird, kann bis in die späte
Kindheit oder sogar bis ins Erwachsenenalter erhal-
Der Arzt als Übergangsobjekt ten bleiben. All dies gehört zu einer normalen emo-
Welche Haltung sollte der Arzt in dieser Situation tionalen Entwicklung. Sie befähigen das Kind, Frus-
einnehmen, um dem Patienten einen Tod in seeli- trationen und Benachteiligungen und die Konfron-
schem Frieden zu ermöglichen? Im Idealfall gelingt tation mit neuen Situationen zu bestehen.
es, dem sterbenden Patienten ein Gefühl zu vermit-
teln, das einer frühen Entwicklungsstufe, in der Holding Function und Containing
Schutz, Sicherheit und Geborgenheit herrschte, in Jeder Mensch braucht eine Art Zwischenbereich der
der Regel mit der Mutter, entspricht. Das Bedürfnis Illusion als einen Ruheplatz, zum Kraftholen vor
nach Nähe nimmt dann zu. »Er wollte, dass man der nächsten Anstrengung und Bewältigung bevor-
zärtlich zu ihm sei, ihn küsse und über ihn weine, stehender Aufgaben, umso mehr der Patient im
wie man Kinder liebkost und tröstet« (aus Leo Sterbeprozess. Der Arzt stellt dem Patienten diesen
Tolstoi: Der Tod des Iwan Iljitsch). Raum zur Verfügung, den er braucht, um seine Ge-
Es ist wichtig, dass man dem Todkranken diese danken, Gefühle, seien sie zärtlich oder aggressiv,
Bedürfnisse zugesteht. Er befindet sich in einem erleben zu können, ohne dass der Arzt sich davon
Zustand, der vergleichbar ist mit einem Kind, das selbst zu sehr mitreißen oder sogar zerstören lässt.
vorbehaltlos geliebt wird und diese empfangene Zu- Der Arzt muss also seine eigene Gefühlsambivalenz
neigung versetzt den Sterbenden in einen Zustand neutralisieren.
von großer Sicherheit. Vertrauen in die ärztliche Für den Patienten ist es hilfreich, die Bereit-
Behandlung gibt Mut und Trost. Es schützt vor der schaft von Ärzten und Pflegepersonal zu spüren,
Angst, verlassen zu werden und verhindert eine De- trotz des ungünstigen Verlaufes, trotz des bevorste-
pression. Psychoanalytisch ausgedrückt geht es um henden Todes und trotz der eigenen therapeuti-
die Wiederbelebung von frühen Selbst- und Objekt- schen Ohnmacht, dem Patienten beizustehen, die
anteilen, in denen die »primäre Liebe« der Eltern Beziehung zu ihm aufrecht zu erhalten. Nicht das,
oder anderer Bezugspersonen ihren Niederschlag was gesagt wird, ist entscheidend, sondern die Hal-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
Literatur
267 23
tung, in der es gesagt wird. Sie sollte aufrichtig sein seine Angst und seinen Kummer erträgt und ihn an
und von Herzen kommen. Nur so wird sie vom Pa- der Illusion der Unsterblichkeit seines Erlebens und
tienten emotional auch erfasst. dadurch seiner Selbst festhalten lässt.
Es fragt sich, ob das nicht ein zu hoher An-
spruch ist, den der Arzt an sich stellt, ob er diesem jWichtige Informationen
genügen wird und ob es nicht zu einer übermäßigen 4 Die Zusatzqualifikation »Palliativmedizin« ist
Idealisierung und auch Überhöhung der eigenen seit 2003 aufgenommen in die Musterweiter-
Person kommen könnte. Schutz davor bietet die bildungsordnung für Ärzte. Von den Ärzte-
Überlegung, dass der Arzt Funktionen der primä- kammern und anderen Anbietern werden
ren Bezugspersonen des Patienten übernimmt, die Schulungskurse zur Erlangung dieser Zusatz-
im Sterbeprozess reaktiviert werden. Im Gegensatz bezeichnung durchgeführt.
zu einer psychoanalytischen Behandlung ist die Die Universität Freiburg bietet in Zusammen-
Übertragung auf den Arzt jedoch kein Werkzeug im arbeit mit dem Universitätsklinikum und der
therapeutischen Prozess, das später wieder aufge- Klinik für Palliativmedizin ein Masterpro-
löst wird, sondern Selbstzweck, der bis zum Tod gramm für Ärzte, Psychologen und andere Ge-
stehen bleibt (Eissler 1978). sundheitsberufe an. Kontakt: http://www.palli-
ativecare.uni-freiburg.de/postgraduate (Zuge-
Der Arzt, der Kranke, der Tod griffen Juni 2015).
und der Teufel 4 Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärzt-
Der Theologe Michael Nüchtern hat in einer Be- lichen Sterbebegleitung, Deutsches Ärzteblatt
trachtung über Emil Noldes Bild »Der Arzt, der Jahrgang 108, Februar 2011:
Kranke, der Tod und der Teufel« eindrucksvoll her- »Aufgabe des Arztes ist es, unter Achtung des
ausgearbeitet, wie wichtig es für den Todkranken Selbstbestimmungsrechtes des Patienten Leben
sein kann, dass der Arzt auch in dieser Situation bei zu erhalten, Gesundheit zu schützen und wie-
ihm bleibt (Köhle 2011). derherzustellen sowie Leiden zu lindern und
Wäre der Arzt nicht mit auf dem Bild, wäre der Sterbenden bis zum Tod beizustehen.«
Patient alleine mit dem Tod und v. a. mit dem Teu- In den Grundsätzen der Bundesärztekammer
fel, der für den Anteil des Todes steht, der Angst, werden folgende Fragen behandelt: ärztliche
Schrecken, Schuld und Verzweiflung auslöst. Das Pflichten bei Sterbenden, Verhalten bei Pa-
Dasein des Arztes hält dem Patienten sozusagen tienten mit infauster Prognose, Behandlung
den Teufel vom Leibe. Er nimmt dem Tod den bei schwerster zerebraler Schädigung, Ermitt-
Schrecken. Der Patient scheint in Frieden mit sich lung des Patientenwillens, Betreuung von
selbst und seinen Tod anzunehmen. Die Autoren Schwerstkranken und sterbenden Kindern und
behaupten, dies ist durch das scheinbar einfache Jugendlichen und vorsorgliche Willensbekun-
Dasein des Arztes möglich. Es ist ein Beispiel für die dung des Patienten (z. B. die Patientenverfü-
oben erwähnte Beschreibung des Übergangsobjek- gungen).
tes, das Halt und Schutz gibt und vermittelt zwi-
schen einem »ozeanischen« Gefühl (Freud 1999)
der unbegrenzten Macht und der Realität des bevor- Literatur
stehenden Todes. Der Arzt tut nichts, er ist einfach
Zitierte Literatur
da und sein Blick und seine Haltung zeigen, dass er Aulbert E, Nauck F, Radbruch L (2012) Lehrbuch der Palliativ-
dem Kranken sehr nahe ist. Und nicht nur der Pa- medizin. 3. aktualisierte Auflage, Stuttgart, New York,
tient scheint davon zu profitieren, auch der Arzt Schattauer
und wir als Betrachter kommen zu einer wichtigen Back AL, Arnold RM, Baile WF et al. (2007) Efficacy of communi-
Erkenntnis: Der Mensch kann in Frieden sterben, cation skills training for giving bad news and discussing
transitions to palliative care. Arch Intern Med. 167, 453–460
wenn er von einer liebevollen Beziehung getragen Bakitas ML et al. (2009) Effects of a palliative care intervention
wird, die ihn im Prozess des Sterbens eine bedin- on clinical outcomes in patients with advanced cancer.
gungslose Liebe fühlen lässt, seinen tiefen Schmerz, JAMA 302 (7): 741–749

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
268 Kapitel 23 · Unheilbar Kranke und Sterbende

Eissler KR (1978) Der sterbende Patient. Zur Psychologie des


Todes. Holzboog, Stuttgart
Faller H (1993) Zum Umgang mit Illusionen bei der psycho-
therapeutischen Betreuung terminal Krebskranker.
Prax Psychother 38: 210–218
Fallowfield L, Jenkins V (2004) Communicating sad, bad, and
difficult news in medicine. Lancet 363, 312–319
23 Fallowfield LJ, Jenkins VA, Beveridge HA (2002) Truth may hurt
but deceit hurts more: communication in palliative care.
Palliat Med 16, 297–303
Freud S (1999) Das Unbehagen in der Kultur in: Gesammelte
Werke. Bd XIV, Frankfurt S 421
Frick E, Riedner C, Fegg MJ et al. (2006) A clinical interview
assessing cancer patients’ spiritual needs and prefer-
ences. Eur J Cancer Care 15, 238–243
Köhle K (2005) Manual ärztliche Gesprächsführung und Mit-
teilung schwerwiegender Diagnosen. Köln: AG Medizin-
diagnostik Universität Köln, S 1224–1250
Köhle K (2011) Sprechen mit Krebskranken. In: Adler RH,
Herzog W, Joraschky P, Köhle K, Langewitz W, Söllner W,
Wesiack W (Hrsg.) Lehrbuch der Psychosomatischen
Medizin. 7. Aufl., München: Elsevier GmbH, Urban &
Fischer Verlag, 989-1008
Meerwein F (1991) Einführung in die Psychoonkologie. Huber,
Bern Stuttgart Wien
Singer AE et al. (2015) Symptom trends in the last year of life
from 1998 to 2010: a cohort study, Ann Intern Med 162
(3): 175–183
Saunders C, Sykes N (1993) The management of terminal
malignant disease. Edward Arnold, London
Temel JS et al. (2010) Early palliative care for patients with
metastatic non-small-cell lung cancer. NEJM 363: 733–774
WHO und European Association for Palliative Care (EAPC),
http://who.int/cancer/palliative/definiton/en (Zuge-
griffen Juni 2015)
Zimmermann C et al. (2014) Early palliative care for patients
with advanced cancer: a cluster-randomised controlled
trial; Lancet 383: 1721–1730

Weiterführende Literatur
Aulbert E, Nauck F, Radbruch L (2012) Lehrbuch der Palliativ-
medizin. 3. aktualisierte Auflage, Stuttgart, New York:
Schattauer

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
269 24

Familie und Partnerschaft


Michael Wirsching, Werner Geigges

24.1 Familie als System – 270

24.2 Paarkonflikte – 271

24.3 Eltern und Kinder – 273

24.4 Hilfe im Alter – 274

24.5 Schwere und chronische körperliche oder psychische


Erkrankung – 276

Literatur – 279

K. Fritzsche et al. (Hrsg.), Psychosomatische Grundversorgung,


DOI 10.1007/978-3-662-47744-1_24, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
270 Kapitel 24 · Familie und Partnerschaft

Am Ende des 2. Weltkrieges (1945) schrieb der New mischen Sinne, Unterschiede herausarbeiten
Yorker Internist Henry D. Richardson sein weitsich- und Optionalität herstellen, um bei festgefah-
tiges Werk Patienten haben Familien, das großes renen Kommunikations- und Verhaltensmus-
Interesse fand. Darin beschreibt er die »Entwick- tern wie z. B. Opfer-Täter-Zuschreibungen ver-
lung der Medizin vom erkrankten Organ, über die änderte Sichtweisen anzubieten. Notwendige
Persönlichkeit des Patienten zum Verständnis des neue Entscheidungen, die Überwindung von
Patienten als Teil seiner Familie in einem bestimm- Stagnationen und krisenhaften Zuspitzungen
ten sozialen Umfeld«. Dieser familienmedizinische und die Vermeidung von Sackgassen und Ab-
24 Zugang ist wegweisend für die hausärztliche (pri- wegen (z. B. Symptomentwicklungen, Suizid,
märmedizinische) Praxis in allen Ländern und be- etc.) sind das Ziel der therapeutischen Arbeit.
stimmt auch unser Verständnis der psychosomati- Ob und wenn ja wann und in welchem Um-
schen Grundversorgung. Im Folgenden werden die fang tatsächlich Neues entsteht (wir sprechen
Grundannahmen solcher Systemsicht zusammen- von Veränderungen zweiter Ordnung) oder ob
gefasst und auf Grundthemen angewandt, wie sie es bei quantitativen Schwankungen bleibt
für den ärztlichen Alltag typisch sind: Partnerschaft, (mehr oder weniger vom Gleichen), ist nicht
Erziehung, alte Menschen und familiäre Belastun- vorhersagbar und erst recht lässt sich nicht
gen durch schwere oder chronische Krankheiten voraussehen, was das Ergebnis eines etwaigen
(. Abb. 24.1). Fallbeispiele und Hinweise zum dia- strukturellen Wandels sein wird.
gnostischen Vorgehen sollen die Praxisrelevanz 3. Konstruktivismus – wie wirklich ist die Wirk-
hervorheben. Dabei ist der Übergang zur Paar- und lichkeit? Diese alte Frage der Erkenntnisphilo-
Familientherapie fließend. sophie ist von dem bekannten Familienthera-
peuten Paul Watzlawick (1978) wieder aufge-
griffen worden. Er zeigt, dass menschliche
24.1 Familie als System Kommunikation niemals objektive Wahrheiten
vermittelt, sondern von Eindrücken, Interes-
Grundlegend für die Einbeziehung von Familien ist sen, Schlussfolgerungen und wechselseitigen
ein, wie wir heute sagen, systemisches Verständnis
der Medizin. Dessen Elemente sind die folgenden
(s. auch 7 Kap. 1, 7 Kap. 7 und 8):
1. Multiperspektivität: In einem biopsychosozia-
len System stehen körperliche, seelische und
soziale (auch familiäre) Prozesse in beständiger
Wechselwirkung. Deren Berücksichtigung ist
eine wesentliche Voraussetzung für das Gelin-
gen der Behandlung. Je kränker der Patient,
umso belasteter ist er selbst und seine Familie,
und je belasteter der Patient und die Familie
sind, umso höher ist das Risiko eines kompli-
zierten und chronischen Krankheitsverlaufes.
2. Selbstorganisation (Autopoese): Menschliche
Systeme lassen sich nur begrenzt planen, be-
einflussen oder in ihrer Entwicklung vorherbe-
stimmen. Vielmehr folgen sie dem Prinzip der
Autopoese durch wechselseitige Interaktionen.
Die »Behandlung« hat also das Ziel, die Ent-
wicklung des Einzelnen wie der Familie zu
optimieren durch Information, Unterstützung . Abb. 24.1 Cartoon: Patienten kommen selten allein zum
und Begleitung. Information meint im syste- Arzt. (Aus Crouch u. Roberts 1987)

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
24.2 · Paarkonflikte
271 24
Erfahrungen bestimmte »Konstrukte« zugrun- mitzubringen? Soll er mit dem Mann allein reden?
de legt. Die gleiche Geschichte, z. B. der Kon- Soll er eine Eheberatung empfehlen?
flikt eines Paares, wird ohne bösen Willen von Weiterzusprechen ist wohl unvermeidbar und not-
den Streitenden selbst, von deren Kindern und wendig, sonst bliebe das Thema unerledigt und
den Großeltern, von den Freunden, Nachbarn offen. Bei Zeitmangel könnte ein weiterer Termin
oder Kollegen sehr unterschiedlich wahrge- außerhalb der Kernsprechzeit vereinbart werden.
nommen, geschildert und beurteilt, selbst Zugleich wird der Hausarzt auf diese Weise Mitwisser,
wenn die Fakten – der Mann hat eine Geliebte vielleicht sogar Verbündeter, und verliert seine
und der Mann wohnt nicht bei seiner Familie – Neutralität gegenüber dem Ehemann. Er wird also
allen bekannt sind. Für den Arzt stellt sich die versuchen, dieses Gespräch auf das Notwendigste zu
Aufgabe, diesen unterschiedlichen Sichtweisen begrenzen: Was ist geschehen? Weiß die Frau schon,
Gehör und Geltung zu verschaffen, ohne sich was sie will? Was würde geschehen, wenn sie mit ih-
zum Detektiv oder Schiedsrichter (wer hat was rem Mann spräche? Was könnte helfen, die Krise zu
getan oder verschuldet) zu machen oder ma- überwinden?
chen zu lassen. Stattdessen wird der konstruk- Frau M. geht in ein benachbartes Café und kommt
tivistische Ansatz Neutralität oder, noch besser, 1½ h später, am Ende der Sprechstunde, wieder. Sie
Allparteilichkeit (jede Position hat ihre Berech- erzählt das Folgende: beim Ausräumen der Taschen
tigung) naheliegen. hat sie eine Hotelrechnung gefunden, über ein Dop-
pelzimmer von einer Dienstreise letzte Woche, die ihr
Mit diesem systemischen Grundkonzept im Kopf Mann angeblich allein gemacht hat. Sie habe unter
wollen wir nun die häufigsten Anlässe zur Einbezie- einem Vorwand dort angerufen und die Bestätigung
hung der Familie in der psychosomatischen Grund- erhalten, dass er mit einer Frau übernachtet hat. Seit-
versorgung betrachten. Für die allgemeinen metho- her sei sie wie betäubt, habe Magenschmerzen, kön-
dischen Grundlagen des gemeinsamen Familienge- ne kaum essen und schlafe schlecht. Ihr Mann verhal-
sprächs verweisen wir auf die Ausführungen in te sich betont freundlich und besorgt. Sie könnte
7 Kap. 7 »Das Paar- und Familiengespräch«. platzen. Die beiden Kinder fragen schon, was los sei.
Was würde geschehen, wenn sie ihren Mann offen
anspräche? Er würde alles abstreiten, in die Enge ge-
24.2 Paarkonflikte trieben zum Gegenangriff antreten. Es gäbe massi-
ven Streit. Wie ist die Ehe sonst? Vielleicht etwas lahm
Beginnen wir mit einem kurzen, recht typischen geworden, nach Kindern, Haus und Beruf. Vielleicht
Fallbeispiel: sei sie nicht mehr attraktiv genug für ihren Mann. Sie
hat Angst, alles zu verlieren. Wäre es nicht besser,
Fallbeispiel Frau M. über all das miteinander zu reden? So eine Krise kann
A: »Haben Sie denn Belastungen oder Sorgen? Wie ja auch eine Chance sein. Sie will es sich überlegen,
sieht’s denn zu Hause aus?« ob sie mit ihrem Mann spricht. Der Hausarzt schlägt
P: »Ach wissen Sie, mein Mann ...« (weint) vor, das Gespräch auf jeden Fall in der kommenden
A: »Ja, was ist mit ihm?« Woche fortzusetzen. Wenn sie bis dahin mit ihrem
P: »Er hat eine andere und ich bin ganz sicher. Er weiß Mann gesprochen hat, sollte sie versuchen, mit ihm
aber noch nicht, dass ich dahintergekommen bin.« zusammen zum Gespräch zu kommen.
So oder ähnlich könnte ein hausärztliches Gespräch
beginnen. Die 42-jährige Frau M. sucht ihren Arzt Kommentar Das Paar steckt in einer Krise. Wird
wegen diffuser, körperlich schwer begründbarer (so- der Ehebruch alles zerstören? Wird das unausge-
matoformer) Beschwerden auf. Gleich zu Anfang stel- sprochene »Geheimnis« die Beziehung auf Dauer
len sich mehrere schwierige Fragen: Soll der Arzt das belasten oder werden die Partner das Beste aus den
Thema ausweiten? Soll er der Frau raten, ihr Wissen Geschehnissen machen: Kränkung, Enttäuschung,
dem Mann zu offenbaren? Soll er sie einladen, ihren Wut überwinden und einen »neuen Anfang« su-
Mann zu einem nächsten, ausführlicheren Gespräch chen?

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
272 Kapitel 24 · Familie und Partnerschaft

Alle Paare stehen in den mittleren Jahren, vor Fortsetzung Fallbeispiel Frau M.
allem wenn die Kinder das Haus verlassen, vor A: »Stellen wir uns einen Augenblick vor, Sie wären
wichtigen Entwicklungsaufgaben: die Partnerschaft nicht fremdgegangen, wie würden Sie beide dann
wird wieder wichtiger und dies kann ein Gewinn über die Ehe sprechen?«
sein, kann aber auch zur Belastung werden, wenn Frau M. zögert: »Ich kann mir das nicht vorstellen, der
das Paar sich entfremdet oder in Konflikte verstrickt Stachel sitzt zu tief.«
hat. Viele Ehen zerbrechen in dieser Lebensphase A: »Versuchen Sie’s trotzdem.«
ohne dass die Beteiligten sich die Gelegenheit gege- Frau M.: »Ja, ich glaube, wir sollten was ändern, wie-
24 ben haben, zu entscheiden, ob Trennung und Neu- der mehr aufeinander schauen, mal was zusammen
anfang die beste Lösung ist. Beides kann wichtig machen, wie früher Sport, Kino, Disco, Wochen-
und richtig sein: eine lieblos und destruktiv gewor- endtrips oder ähnliches.«
dene Beziehung versuchen auf faire Weise zu been- Herr M.: »Habe ich nichts dagegen, man muss nur
den oder einer ermüdeten und erkalteten Partner- mal den Hintern hochkriegen, statt der ewigen Fern-
schaft neues Leben zu geben. Die Entscheidung, was sehglotzerei.«
möglich und nötig ist, kann durch gemeinsame A: »Ja, gut, überlegen Sie’s beide nochmal und lassen
Gespräche mit einem in Paarentwicklung geschul- Sie uns in 2 Wochen wieder zusammenkommen,
ten Außenstehenden unterstützt werden. dann wissen wir schon eher, was geht. Wegen der an-
deren Geschichte empfehle ich, mal abzuwarten.«
Fortsetzung Fallbeispiel Frau M. A zu Frau M.: »Natürlich werden diese Gefühle immer
Zweites Gespräch: Tatsächlich kommen Frau M. und wieder hochkommen.«
ihr Mann eine Woche später gemeinsam. Es ist von A zu Herrn M.: »Es wird darum gehen, ob Sie es schaf-
Vorteil, dass Herr M. den Hausarzt schon lange kennt fen, wieder das Vertrauen Ihrer Frau zu gewinnen.«
und wie seine Frau dessen Wohlwollen und Vernunft A zu beiden: »Ich halte es für eine gute Idee, jetzt mal
schätzt. Der Mann verhält sich zuerst zerknirscht, etwas gemeinsam anzupacken, statt nur in dem Al-
später rechtfertigend: »Bei uns ist schon lange nichts ten zu wühlen.«
mehr los, alles dreht sich um die Kinder und um die Bei weiteren 3 Gesprächen im Verlauf der nächsten
Schwiegermutter, mich gibt es überhaupt nicht ca. 6 Monate überwindet das Paar die akute Krise. Es
mehr. Sie vernachlässigt sich und im Bett läuft auch zeigt sich, dass die beiden großes Interesse daran ha-
nichts mehr. – Schau Dich doch selbst an und auf ben und auch viele Möglichkeiten haben, ihre Ehe
Kommando kann ich schon gar nicht. Außerdem fin- weiterzuentwickeln. Neben der Entwicklung von Ge-
de ich es reichlich unverschämt, dass Du mir so meinsamkeiten wird als wichtige Grundlage einer be-
kommst. Nach dem, was Du angestellt hast, bin ich friedigenden Beziehung auch die Autonomie der bei-
jetzt noch selber schuld daran?« den Partner hervorgehoben. Ideal ist, nicht alles ge-
meinsam machen zu wollen, sondern auch eigene In-
Kommentar Beide drohen, in einen schnell eskalie- teressen zu pflegen (z. B. berufliche Neuorientierung
renden Kampf einzutreten, der vermutlich nicht der Frau, sportliche Hobbies des Mannes). Auf der
weiterführt. Deutlich wird jedoch: beide sind ent- Grundlage gegenseitigen Vertrauens und eines star-
täuscht und unzufrieden, sehen aber keinen Aus- ken Zusammengehörigkeitsgefühls sind solche Al-
weg. Hinderlich sind die Verletzungen und die Wut leingänge nicht gegen die Beziehung gerichtet.
der Frau und das »schlechte Gewissen« des Mannes. Im Gegenteil, der Hausarzt fasst es am Ende so zu-
Der Hausarzt bemerkt dies und schlägt gemäß dem sammen: »Jetzt wissen Sie etwas besser, dass Sie zu-
obengenannten Prinzip der Neutralität (bzw. All- sammenleben, weil Sie dies lieber wollen als alleine
parteilichkeit) sowie der Ressourcenorientierung oder mit jemand anderem zu leben. Sie wissen jetzt,
das Folgende vor: dass die Beziehung auch enden könnte, aber Sie le-
ben nicht weiter zusammen, weil Sie Angst vor der
Trennung haben, sondern weil Sie es wollen und weil
Ihnen diese lange Zeit, die Sie schon zusammenle-
ben, so viel wert ist.«

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
24.3 · Eltern und Kinder
273 24
peuten sinnvoll sein. Der Unterschied zwischen
Paarberatung und Paartherapie ist fließend, wenn-
gleich die erstere eher an aktuellen, konkreten Kon-
flikten ausgerichtet ist und letztere auf die langdau-
ernden, auch psychopathologisch relevanten Bezie-
hungsstörungen ausgerichtet ist. Die Finanzierung
dieser Leistungen muss im Einzelfall geklärt wer-
Immer schien alles in Ordnung zwischen uns den. Bei Beratungsstellen wird ein einkommensab-
beiden – jedoch eine kürzlich entstandene ... hängiger Unkostenbeitrag erwartet, bei kassenzuge-
lassenen, niedergelassenen Psychotherapeuten ist
die Einbeziehung des Partners im Rahmen einer
von den Krankenkassen genehmigten Psychothera-
pie, die jedoch ausschließlich der Behandlung der
psychischen Störung eines der Partner dienen muss,
möglich.

Luftaufnahme offenbart die schreckliche Wahrheit. 24.3 Eltern und Kinder


Wir haben 13 1/2 Jahre aneinander vorbeigeredet!
Die Beziehungen zwischen den Generationen sind
. Abb. 24.2 Cartoon: Die schreckliche Wahrheit. (Zeich-
manchmal problematisch. Bei kleinen Kindern
nung: Peter Gaymann, mit freundlicher Genehmigung) zeigt sich dies im Gedeihen und in der Entwicklung:
Schreien, Schlafen, Ernährung, Motorik, Sauber-
keitstraining, soziale Kontakte und Konzentration.
In diesem Beispiel hat also eine begrenzte Zahl von All dies kann Anlass zur Konsultation des Kinder-
5 Paargesprächen geholfen, die Krise nicht nur zu arztes oder Hausarztes geben. In der Pubertät rü-
überwinden, sondern eine Neuentwicklung des cken Disziplin, Grenzüberschreitungen und Schul-
Paares in einem kritischen Lebensabschnitt zu för- probleme in den Vordergrund. Immer bleibt zu
dern. Dies ist nicht ungewöhnlich, denn nicht alle prüfen, wie weit familiäre Konflikte zu diesem Pro-
Menschen entwickeln sich ausschließlich mit psy- blem beitragen oder durch die Schwierigkeiten mit
chotherapeutischer Hilfe! Kindern verschärft werden. Und wieder gilt natür-
Wäre der Fall anders verlaufen, hätte sich zum lich: beides ist auf unauflösbare Weise miteinander
Beispiel ein schwerer wiegender Partnerschaftskon- verschränkt. Dennoch ist die Einbeziehung der Fa-
flikt entwickelt oder hätte die Frau eine schwere de- milie nicht so einfach, wie bei dem eben dargestell-
pressive Reaktion gezeigt oder wäre im Zuge der ten Paarkonflikt. Öfter wird wohl über die Familie
Gespräche eine bereits vorher bestehende psychi- statt mit der Familie gesprochen.
sche Störung des Mannes zutage getreten, dann wäre Am häufigsten sind Klagen über aufsässige, un-
der Rahmen der Grundversorgung gesprengt wor- ordentliche, unmotivierte Jugendliche. Diese in ein
den. Aber in jedem Fall, gleich ob schwerwiegender gemeinsames Gespräch einzubeziehen, sprengt
Paarkonflikt oder schwere psychische Störung eines meist den Rahmen der Grundversorgung und
oder beider Partner (und meist kommt mehreres scheitert oft an mangelnder Gesprächsbereitschaft.
zusammen) wäre die Berücksichtigung des Paares Eher kann es gelingen, bei langjährigen hausärztli-
bzw. der ganzen Familie nicht nur unvermeidbar, chen Kontakten mit den Streitenden, also den El-
sondern sogar unverzichtbar (. Abb. 24.2). tern und den Jugendlichen, getrennt zu sprechen.
Stehen Paarkonflikte im Vordergrund, können Wieweit auch »unproblematische« Geschwister ein-
kommunale und freie oder kirchliche Ehe-, Fami- bezogen werden, muss im Einzelfall entschieden
lien- oder Lebensberatungsstellen oder eine Paar- werden, ist aber meist noch komplizierter und auf-
therapie bei einem niedergelassenen Psychothera- wendiger. Im Fall, dass doch ein gemeinsames Fa-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
274 Kapitel 24 · Familie und Partnerschaft

miliengespräch zustande kommt, ist eine struktu- Aufregungslieferanten? Werden Sie sich nach seinem
rierte Gesprächsführung unerlässlich: Welche Zie- Auszug mehr oder weniger sehen als jetzt? Was
len sollen (können) erreicht werden? Für welche werden Sie tun, wenn Sie den anderen sehen oder
Bereiche (z. B. Schule, Ausgehen, Fernsehen, Ta- sprechen wollen und was werden Sie tun, wenn das
schengeld, Mithilfe im Haushalt) sollen (müssen) Gegenteil der Fall ist? Wie könntest Du, Fabian, die
Regeln gefunden werden? Was geschieht, wenn die Mutter am sichersten und schnellsten herbeiholen
Vereinbarungen nicht eingehalten werden? (z. B. durch alarmierendes Verhalten)? Wie könntest
Du die Mutter am sichersten auf Abstand halten
24 Fallbeispiel Frau S. (z. B. durch beleidigende Pöbeleien)? Gibt es Alter-
Die alleinerziehende Sozialarbeiterin Frau S. und ihr nativen? Zum Beispiel, einfach zu sagen, was man
16-jähriger Sohn Fabian sind heftig verstritten. »eigentlich« will. Könnte ein neutraler Gesprächs-
Frau S. ist in psychotherapeutischer Behandlung seit partner, wie z. B. der Hausarzt, hilfreich sein, die
ihr Mann sich aus dem Staub gemacht hat. Der Haus- Anlaufschwierigkeiten zu überwinden?
arzt wird seit langer Zeit immer wieder wegen ge- Das Angebot wird angenommen und passt in den
ringfügiger Anlässe aufgesucht. Oft klagt Frau S. hausärztlichen Rahmen: Regelmäßig, aber in größe-
über den Sohn, der bei seinen eigenen Arztbesuchen ren Abständen (6 Wochen) zusammenkommen um
eher verschlossen wirkt. Jetzt wird überlegt, ob der zu hören, was gut geht und was nicht und zu überle-
Sohn in eine betreute Wohngemeinschaft zieht. Der gen, ob es Alternativen gibt. Alles andere bleibt, wie
Hausarzt soll sagen, was er davon hält und bietet an, es ist, einschließlich der Beratung durch Therapeu-
mit Mutter und Sohn gemeinsam nachzudenken. Das ten, Lehrer, Familie, Nachbarn und Freunde. Dies mag
Gespräch ist sehr aufschlussreich, zeigt es doch die wenig erscheinen, ist aber sehr viel in einer Situation,
hohe Ambivalenz der Mutter-Sohn-Beziehung. Beide die durch hochschießende Gefühle, Zynismus und in-
haben das Verschwinden von Herrn S. nicht verkraf- tensives Intervenieren bestimmt ist. Einen Ort der
tet. Beide hängen aneinander. Beide werfen sich (un- Ruhe, der Besinnung und der Anspruchslosigkeit zu
ausgesprochen) diese Abhängigkeit vor. Die Frau er- haben, der immer wieder aufgesucht wird, um den
kennt Züge des Mannes im rücksichtslosen Verhalten Boden etwas weniger schwanken zu lassen.
ihres Sohnes und schämt sich, wenn sie ihm dies im
Streit vorwirft. Der Sohn wird durch die Vorwürfe der Eine wichtige und anspruchsvolle Voraussetzung
Mutter an den früheren Elternstreit erinnert und är- für die Beratung einer Familie ist, dass der Hausarzt
gert sich über sich selbst, wenn er ihr im Streit zu- selbst seine Hilfs-, Beratungs-, Schiedsrichter- und
schreit: «Kein Wunder ist der Papa abgehauen, bald Harmonisierungsimpulse beherrschen kann, also
hast Du auch mich soweit!« neutral, allparteilich, ressourcengeleitet und ent-
Alle mit therapeutischer Hilfe erarbeiteten Schul-, Ar- wicklungsorientiert, mit anderen Worten gelassen
beits-, Aufräum-, Ausgeh-, Telefon- Taschengeld-Ver- bleibt.
einbarungen sind gescheitert, vergessen oder un-
merklich verwässert worden. Die Mittlere Reife ist ge-
fährdet, das Zimmer ist eine Müllhalde und neulich 24.4 Hilfe im Alter
sind 20 Euro verschwunden. Beide wollen ihre Ruhe
und beide haben Angst und sind traurig, wenn sie an Die Menschen werden älter und viele bleiben bis ans
die Trennung denken. Lebensende körperlich und psychisch so wenig be-
Was soll hier der Hausarzt raten? Das haben schon einträchtigt, dass sie ein erfülltes und eigenständi-
andere getan und werden auch weiterhin viele ande- ges Leben führen können. Andere sind durch Al-
re tun: Lehrer, Nachbarn, Freunde, Verwandte, Thera- terskrankheiten wie Krebs, Herz-Kreislauferkran-
peuten. Was fehlt: ein Ort, eine Person zu haben, wo kungen, Diabetes, etc. auf die Unterstützung durch
nicht wieder endlos verhandelt, gestritten, gerungen andere angewiesen, bis hin zur Pflegebedürftigkeit.
wird. Stattdessen einfach mal hereinhören in die Fa- Dazu kommen psychosoziale Anforderungen.
milie: Wie geht‘s Dir, Fabian, bei dem Gedanken an Menschen, die mit den Anforderungen früherer Le-
die WG? Wie wird‘s Ihnen, Frau S., gehen, ohne Ihren bensabschnitte nicht zurechtgekommen sind, lau-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
24.4 · Hilfe im Alter
275 24
fen Gefahr, auch an den Anforderungen des Alters Mangel an geeignetem »Familienersatz«, wie Hei-
zu scheitern. Wer niemals allein sein konnte, wird me, Wohnstätten ziehen unwürdige Entscheidun-
Verluste oder Trennungen (Wegzug der erwachse- gen nach sich. Umgekehrt erleben Ärzte, wie Men-
nen Kinder, Tod des Partners) schwer ertragen. Wer schen, v. a. Frauen, die selbst am Rande körperli-
in seinem Lebensstil und in seinen Lebenszielen cher, emotionaler oder finanzieller Erschöpfung
sehr einseitig orientiert war, wird anfällig für den stehen, von alten Menschen, die nicht vorgesorgt
Wegfall solcher »Lebensinhalte«: Das Unglück, haben, zur Pflege erpresst werden oder sich ver-
wenn das Berufsleben endet; das Unglück, wenn die pflichtet fühlen, jenseits ihrer eigenen Lebenswün-
körperlichen Kräfte und die Attraktivität abneh- sche, Lebensinteressen und Lebensmöglichkeiten
men; Einsamkeit, wenn der Kontakt zu anderen Hilfen zu geben. Dies zieht nicht nur gesundheitli-
Menschen nicht aufgebaut oder gepflegt wurden. che Risiken für die Betroffenen selbst, sondern auch
Das Alter ist nur ein neuer Lebensabschnitt mit Belastungen für ihre Ehe und oft auch für die nach-
vielfältigen Facetten und Verläufen und birgt, wie wachsende Generation nach sich, wenn z. B. kleine
jeder der früheren Lebensabschnitte, Anforderun- oder jugendliche Kinder mit im Haushalt leben.
gen, aber auch neue Möglichkeiten. Gefragt ist also
auch am Lebensabend die Anpassungs- und Ent- Fallbeispiel Familie K.
wicklungsfähigkeit des Einzelnen wie der Familie. Die 22-jährige Josefa ist magersüchtig. Herr K. steht
Angehörige sind schon weit vor einer eigentli- in leitender Position beim Finanzamt und kümmert
chen »Pflege« beteiligt. Im günstigen Falle sind sich wenig. Die 48-jährige Frau K. ist Lehrerin mit hal-
Großeltern ein bereichernder Teil der erweiterten bem Deputat. Im Haus lebt noch deren 80-jährige
Kernfamilie mit eigenen Lebensinteressen, die von Mutter. Nach mehreren Schlaganfällen infolge einer
dem Kontakt mit jüngeren Kindern, Enkeln, emo- langjährigen Diabeteserkrankung ist sie motorisch
tional und geistig profitieren und die auch wichtige und sprachlich beeinträchtigt. Ihr Zimmer, ihr Essen,
Hilfen geben können, mit Ratschlägen, Überbrü- ihre Wäsche müssen versorgt werden. Sie hatte ihre
ckung von Engpässen z. B. bei der Kinderbetreuung Tochter schon zeitlebens »unter ihrer Fuchtel«. Sie
oder materiellen Zuwendungen durch Schenkun- behandelt sie immer noch wie ein kleines Kind. Dem
gen, Überschreibungen etc. Im Gegenzug können Hausarzt ist diese Situation seit Jahren auch durch
sie sich darauf verlassen, dass »immer jemand für Hausbesuche vertraut. Er sieht, wie spätestens seit
sie da ist«, wenn sie physisch, psychisch oder mate- Josefa anorektisch wurde, die Situation unhaltbar ge-
riell in Not geraten. Sie erleben, wie ihre Familie sich worden ist. Frau K. hat Schlafstörungen und zeigt
über Generationen weiterentwickelt und sie haben auch andere Erschöpfungssymptome. Der Vater ist
als Ältere ihren Platz in dieser Entwicklung, der mit unzufrieden, weil er zu kurz kommt, z. B. sind Reisen,
Wertschätzung und Zuneigung bedacht wird, ohne Urlaube mit seiner Frau nicht mehr möglich. Josefa
im eigentlichen Sinn verantwortlich zu sein, d. h. sie hat Schuldgefühle, dass sie ihrer Mutter Sorgen be-
brauchen sich nicht einzumischen. reitet, zugleich fühlt sie sich, trotz ihres Studiums, zu
Ärzte in der Praxis wie im Krankenhaus wissen, stark in die Pflege der Großmutter, die zudem noch
dass solche Ideale oft nicht erfüllt werden. Sie erle- an ihr herumkrittelt, eingebunden. Die Großmutter
ben ganz entgegengesetzte Entwicklungen, die von will am liebsten sterben, sie sei nur noch im Weg, kei-
Enttäuschung, Verbitterung oder gar Hass bestimmt ner kümmere sich um sie.
sind. Sie fühlen sich oft ohnmächtig, einer oft über Nachdem der Hausarzt Frau K. wegen akuter Er-
Jahrzehnte hinweg negativ verlaufenen Entwick- schöpfung – sie ist im Unterricht heulend zusam-
lung eine andere Wendung zu geben. Sie fühlen sich mengebrochen – krankschreiben musste, vereinbart
außerstande, emotional oder lebenspraktisch Ersatz er ein Gespräch mit ihr und ihrem Mann. Hier wird
zu geben, für das, was in der Familie fehlt, mögen beschlossen, dass die beiden regelmäßig sich »etwas
die an sie gerichteten Hoffnungen und Erwartungen Gutes tun«, z. B. in die Sauna gehen, ein Restaurant
noch so hoch sein. Und sie erleben, dass sie handeln besuchen, ins Kino gehen oder Sport treiben. Für ei-
müssen, wenn ein alter Mensch körperlich oder nen längeren Urlaub wird eine 14-tägige Kurzzeit-
geistig hinfällig geworden ist. Zeitdruck, Armut und pflege der Großmutter in einer akzeptablen Einrich-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
276 Kapitel 24 · Familie und Partnerschaft

tung vorgeschlagen. Josefa soll in der Zeit die Groß- abschnitt ist eine chronische Krankheit schwer zu
mutter regelmäßig besuchen. Der ambulante Pflege- akzeptieren.
dienst setzt in der Zeit aus, mit Josefa soll geklärt In wachsendem Umfang sind Haus- und Kli-
werden, dass sie die schon lange geplante Psycho- nikärzte auch bei psychischen Leiden gefordert und
therapie mit einem stationären Aufenthalt in einer dies sind in der Regel nicht die eher seltenen, gro-
Fachklinik in den Semesterferien beginnt. Danach ist ßen psychiatrischen Krankheiten (z. B. Schizophre-
geplant, dass sie in eine WG oder ein Studentenheim nie), sondern viel häufiger Depressionen, Ängste,
zieht. An ihrer Stelle soll ein »Omasitter« die gemein- somatoforme Störungen und Essstörungen.
24 samen Abende der Eltern ermöglichen. Mit der Groß- Die Familie ist bei jeder schweren und chroni-
mutter wird besprochen, dass sie sich eine Tages- schen körperlichen und psychischen Erkrankung
pflege in der Nähe anschaut, wo sie an den Vormitta- beteiligt, sei es, dass die Familie in Mitleidenschaft
gen hingebracht werden könnte, an denen ihre Toch- gezogen wird: emotionale Belastung (Bewältigung),
ter in der Schule arbeitet. materielle Belastung (Verdienstausfall, Zusatzkos-
Dies sind alles nur Vorschläge und vieles wird in der ten), Übernahme von Aufgaben und Verantwor-
Familie K. an finanziellen, emotionalen oder räumli- tung (z. B. wer ersetzt die kranke Mutter). Im ande-
chen Hindernissen scheitern und dennoch ist viel ren Fall können familiäre Konflikte und Belastun-
geholfen. Versucht wird, die Balance von gegenseiti- gen die Bewältigung, möglicherweise sogar den
ger Fürsorge und Eigeninteressen bzw. Eigenverant- Verlauf der Krankheit beeinträchtigen.
wortung wiederherzustellen. Bei alledem darf jedoch nicht übersehen wer-
den, dass eine schwere und chronische Krankheit
Niemand soll von der Familie abgeschoben, in der für die Familie als Ganzes auch durchaus positive
Not verstoßen werden. Aber niemandem ist ge- reifungs- und entwicklungsfördernde Wirkungen
dient, wenn sich Einzelne oder gar die Familie als haben kann: die Relativierung von Konflikten, das
Ganzes aus übertriebener und einseitiger Fürsorge bewusstere Leben, das Zusammenwachsen durch
und Verpflichtung verausgaben. Zu helfen, das geteiltes Leid und überstandenen Kummer.
Gleichgewicht zu halten, durch Rat und ggf. Entlas- Die Aufgaben des Arztes in der Familie, unter-
tung sowie durch praktische Vorschläge, ist eine der scheiden sich nicht von den Aufgaben bei der Be-
häufigsten und wirkungsvollsten Aufgaben heuti- treuung des einzelnen akut oder chronisch erkrank-
ger, so stark von Altersproblemen bestimmter Me- ten Patienten:
dizin und dies gilt für Krankenhaus und ambulante 4 Die Aufklärung, d. h. die verständliche und
Praxis gleichermaßen. annehmbare Information über die Krankheit,
ihre Folgen und ihre Behandlung möglichst
kontinuierlich über einen längeren Zeitraum.
24.5 Schwere und chronische Selbstverständlich muss der Patient der Infor-
körperliche oder psychische mation, z. B. des Ehepartners, vorab zustim-
Erkrankung men. Er sollte jedoch ermutigt werden, im
gemeinsamen Paargespräch, möglicherweise
In mancher Hinsicht vergleichbar den Fragen des sogar im gemeinsamen Familiengespräch, über
Alters ist die Begleitung von Familien, die sich mit die Krankheit zu reden. Dies gilt für körper-
Lebensbedrohung oder Verwirrung in einer Krank- liche wie auch psychische Leiden, wobei letzte-
heitskrise auseinandersetzen oder die auf Dauer re meist Schuldgefühle und Verunsicherung in
den Anforderungen eines schwer Kranken oder der Familie nach sich ziehen: Was haben wir
schwer psychisch Beeinträchtigten standhalten. falsch gemacht? Hätten wir die Krankheit ver-
Mehr noch als bei alten Menschen, wo die Familie hindern können? Will er nicht oder geht es
auf Vorerfahrungen zurückgreifen kann, ist vieles wirklich nicht? Deshalb ist ein wesentlicher
neu, für den Patienten wie für das Umfeld. In jungen Teil der Aufklärung, ein entlastendes, entwick-
und mittleren Jahren bricht die Krankheit unerwar- lungsförderliches, systemisches Krankheitsmo-
tet und unvorbereitet herein und in diesem Lebens- dell im Sinne des oben Gesagten zu vermitteln.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
24.5 · Schwere und chronische körperliche oder psychische Erkrankung
277 24
Bei jeder Krankheit, gleich ob sie psychische 4 Die Begleitung und Unterstützung auch der
oder körperliche Symptome zeigt, kommt Angehörigen, z. B. der Partner oder der Kin-
vieles zusammen: angeborene oder erworbene der, in getrennten und gemeinsamen Gesprä-
Dispositionen, der Versuch, mit den gespürten chen: Dies ist ganz besonders bei psychischen
oder erahnten Beeinträchtigungen zurechtzu- Erkrankungen wichtig, deren Behandlung oft
kommen, zusätzliche Belastungen, die den von verunsichernden Veränderungen, krisen-
Krankheitsausbruch fördern und den Verlauf haften Zuspitzungen und Rückfällen geprägt
ungünstig chronifizierend beeinflussen kön- ist. Eine intensive stationäre oder ambulante
nen, und Versuche, die Krankheitsfolgen zu Psychotherapie kann alle Beteiligten sehr ver-
überwinden. unsichern, durch die Veränderungen der Per-
sönlichkeit des Patienten, durch existenzielle
Fallbeispiel Frau A. Neuentscheidungen und durch das Aufbrechen
Die 72-jährige Frau A. mit dekompensierter Leberzir- bislang verdeckter Konflikte. Der Hausarzt
rhose im Rahmen einer chronischen Hepatitis B wird kann hier ermutigend und beruhigend wirken.
zunächst im kleinen Heimatkrankenhaus, dann auf 4 Konfliktklärung und Konfliktlösung: Wie
Druck der Angehörigen in einem Krankenhaus der auch sonst, kann die psychosomatische Grund-
Maximalversorgung und zuletzt im Schwerpunkt- versorgung bei akuten oder chronischen kör-
krankenhaus in Heimatnähe internistisch behandelt. perlichen oder psychischen Erkrankungen hel-
Hier erkennt die zuständige Stationsärztin die pallia- fen, durch die Krankheit ausgelöste oder die
tive Situation der Patientin, spürt aber gleichzeitig ei- Krankheit auslösende Konflikte zu klären und
nen hohen Erwartungs- und Handlungsdruck von unter Umständen sogar überwinden zu helfen.
Seiten der beiden erwachsenen Kinder der Patientin. Bei schweren psychischen Erkrankungen er-
Sie entschließt sich zu einem geplanten Angehöri- reicht die psychosomatische Grundversorgung
gengespräch am Krankenbett von Frau A., zu dem jedoch ihre Grenzen.
beide Kinder und der 74-jährige Ehemann anreisen. 4 Motivation und Weitervermittlung: Auch bei
Deutlich wird, dass die Kinder in großer Sorge sind, körperlichen Krankheiten kann es vorkom-
die Mutter könnte sterben und dass im Grunde beide men, dass der Patient und die Familie zögern,
heftige Schuldgefühle haben, da sie sich, bedingt einer medizinisch notwendigen Behandlung
durch räumliche Entfernung und berufliche Ver- zuzustimmen oder dass es über die Behand-
pflichtungen, nicht in ausreichendem Maße um die lung geteilte Meinungen in der Familie gibt,
Mutter kümmern konnten. Der Ehemann wirkt eher z. B. einen Streit zwischen mehr schulmedizi-
hilflos und überfordert. Die Stationsärztin zeigt Ver- nisch oder alternativ orientierten Mitgliedern.
ständnis für die Not der Angehörigen, sorgt gleich- Unter strikter Beachtung der Entscheidungs-
zeitig für Entlastung, indem sie die medizinische Situ- autonomie des Patienten sind gemeinsame Ge-
ation und die Krankheitsentwicklung in verständli- spräche hilfreich, zu einem von allen Beteilig-
cher Form nochmals darstellt und alle Fragen der An- ten getragenen Behandlungskonzept zu gelan-
gehörigen beantwortet. Frau A. wirkt während des gen. Dies gilt noch mehr für die Psychothera-
Gespräches zwar emotional beteiligt, mischt sich in pie, wo die Betroffenen selbst und erst recht
ihrem somnolenten Zustand jedoch nicht in das Ge- die Angehörigen anfänglich oft skeptisch sind.
spräch ein. Die Tochter der Patientin hält der Mutter Hier ist der Hausarzt besonders geeignet, den
während des gesamten Gespräches die Hand. Patienten Mut zu machen und die Unterstüt-
Die Ärztin erklärt der Familie die palliative Situation zung der Angehörigen, z. B. der Ehepartner,
und rät zu einer Betreuung der Patientin zuhause. Sie der Eltern eines kranken Kindes etc., zu gewin-
bietet an, den Kontakt zu dem in Palliativmedizin ge- nen. In der Psychotherapie kommt noch eine
schulten Hausarzt herzustellen. Frau A. wird 14 Tage wichtige Aufgabe hinzu, nämlich bei der Suche
mithilfe vom Hausarzt und ambulantem Pflegedienst eines geeigneten Therapeuten zu helfen. Hier
in Anwesenheit der gesamten Familie gepflegt, bis sind verschiedene Schulrichtungen und Set-
sie zu Hause stirbt. tings zu beachten (z. B. psychoanalytisch, tie-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
278 Kapitel 24 · Familie und Partnerschaft

fenpsychologisch oder verhaltenstherapeu- dass Sie wieder mehr Ruhe und Zuversicht finden
tisch, bzw. einzel-, gruppen- oder familienthe- und dabei kann Ihr Sohn uns helfen.«
rapeutisch oder auch ambulant, teilstationär Das funktioniert. Die Operation verläuft erfolgreich
oder stationär). Die Erreichbarkeit des Thera- und komplikationslos. Der Enddarm bleibt erhalten.
peuten, die Finanzierung und die emotionale Die Histologie zeigt einen begrenzten, weit im Ge-
»Passung« sind im Weiteren bei der Behand- sunden entfernten Tumor. Wieder sitzen die drei,
lungsentscheidung zu berücksichtigen. Es gibt Patientin, Sohn, Stationsärztin, beisammen. Die Er-
bei gegebener Qualifikation nicht gute oder leichterung ist groß. Jetzt drängt wieder die Frage an,
24 schlechte Therapeuten, aber passende oder woher kommt der Krebs und warum jetzt gerade? Bin
unpassende. Auch hierbei können Angehörige ich (der Sohn) schuld, weil ich die Mutter verlassen
entscheidende, hilfreiche oder hinderliche habe? Hat sie die Scheidung nicht verkraftet (ist der
Wirkungen entfalten, die vom Hausarzt, aber geschiedene Mann schuld)? Bin ich (die Patientin)
auch schon im Krankenhaus, in eine entwick- selbst schuld, weil ich mit meinem Leben nicht zu-
lungsbegünstigende Richtung zu lenken sind. rechtkomme? Ist der Krebs die Quittung für ein ver-
fehltes Leben oder kommt alles von früher, vom Miss-
Fallbeispiel Frau L. brauch, von der schwierigen Familie? Das Dilemma
Frau L: hatte kein einfaches Leben und dies hat seine der Psychoonkologie wird hier deutlich: psychische
Spuren hinterlassen. Früh wurde sie von einem Ver- »Ursachen« = Schuld (selbst- oder fremdverursacht).
wandten sexuell missbraucht, später entwickelte sie Der Stationsärztin hilft die Orientierung am biopsy-
eine Essstörung (Bulimie), wurde Außenseiterin in chosozialen Systemdenken: »Wir wissen nicht, was
der Herkunftsfamilie und scheiterte in ihrer Ehe. Ge- letztlich die Krebserkrankung auslöst. Sicher werden,
blieben ist ein (zu?) inniges Verhältnis zum erwachse- neben anderen, angeborenen oder erworbenen
nen Sohn, der aber durch ihre dauerhaften Beschwer- Faktoren, auch längere Belastungen als Gesundheits-
den (Depression und Schmerz) schon einigermaßen risiko diskutiert und niemand kann ausschließen,
»genervt« ist. Vor 3 Jahren hat sie, mit Mitte 50, ihren dass solches bei Ihrem belastungsreichen Leben eine
Beruf aufgegeben. Kürzlich hat der Sohn, nach sei- Rolle gespielt hat. Aber ist das nicht eine akademi-
nem Studienabschluss, die gemeinsame Wohnung sche Frage? Ist es nicht viel wichtiger, wie es weiter-
verlassen und ist in eine weiter entfernte Stadt gezo- geht, wie Sie mit der Operation fertig werden und
gen. Zur Entfernung eines Darmpolypen begibt sie was Sie tun können, um gesund zu bleiben?«
sich ins Krankenhaus. Was als Routineeingriff geplant Mutter und Sohn stimmen erleichtert zu: »Ja, genau,
war, wird zur Tragödie: Darmkrebs! Der Zusammen- so ist es.« Was folgt daraus?
bruch erfolgt unmittelbar nach der Diagnosemittei- Sohn: »Ja, ich weiß nicht, ob ich nicht wieder zur
lung. Sie will sofort das Krankenhaus verlassen, es Mutter zurückkehren sollte.«
habe sowieso keinen Zweck mehr, am besten, sie Frau L.: »Bloß nicht, das würde ich mir niemals
würde nicht mehr leben. Der Sohn reist sofort an. verzeihen.«
Das ist ihr peinlich, sie will ihn doch nicht schon wie- Ärztin: »Wie könnten Sie Ihren Sohn überzeugen,
der belasten. dass Sie alleine zurechtkommen?«
Die Stationsärztin setzt sich mit beiden eine halbe Frau L.: »Na, ich hab doch meine Freundinnen. Außer-
Stunde zusammen. Wie gefährlich ist die Krebskrank- dem habe ich beschlossen, eine Psychologin aufzu-
heit? Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es? Wie suchen, vielleicht sogar im Anschluss an die Klinik
sind die Folgen? Erhält Frau L. einen künstlichen eine psychosomatische Kur zu machen. Die Krankheit
Darmausgang und v .a. und immer wieder: wie sind war mir jedenfalls eine Warnung, dass es so nicht
die Überlebenschancen und schließlich, warum diese weitergehen kann, mit mir und meinem Leben; jetzt,
Krankheit und warum jetzt, ist das Ganze auch psy- nachdem ich gesehen habe, wie schnell das Leben
chisch bedingt? Geduldig und fachkundig klärt die gefährdet sein kann.«
Stationsärztin auf und lenkt die Aufmerksamkeit auf In der Tat begibt sich die Patientin in eine psycho-
die nächsten bevorstehenden Schritte von Frau L.: somatische Anschlussheilbehandlung und danach in
»Danach wissen wir mehr und dafür ist es wichtig, ambulante Psychotherapie. Zu den Gesprächen wird

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
Literatur
279 24
in Abständen auch der Sohn hinzugezogen, der
inzwischen am Wohnort eine neue Partnerschaft
gefunden hat.

jZusammenfassung
Wir hoffen gezeigt zu haben, dass Richardsons
Zitat von 1945 auch heute noch gilt: Patienten ha-
ben Familien. Wir können hinzufügen: und es lohnt
sich, sie zu beachten und oft ist es sogar einfacher,
miteinander als übereinander zu reden.
Wem als Behandler daran gelegen ist, die Unter-
stützung der Beteiligten zu gewinnen und wer dabei
auch noch den Überblick über die Aufgaben und
Verantwortlichkeiten in unübersichtlichen Behand-
lungssystemen behalten will, der kommt an der Fa-
milie nicht vorbei. Dabei ist unsere Überzeugung
und Erfahrung, dass erst eine systemische, d. h. fa-
milienorientierte, psychosomatische Grundversor-
gung ihren Namen verdient. Wer den Blick für den
Patienten und seine Familie gewonnen hat und wer
gelernt hat, die Familie als Ganzes in sein Handeln
einzubeziehen, der ist im großen Vorteil gegenüber
jedem noch so engagierten »Einzelkämpfer«.

Literatur

Zitierte Literatur
Crouch M, Roberts L (1987) The family in medical practice.
A family systems primer. Springer, Berlin Heidelberg New
York
Richardson HB (1945) Patients have Families. Commonwealth
Fund, New York
Watzlavick P (1978) Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Piper,
München Zürich

Weiterführende Literatur
Hepworth J, Doherty W (1997) Familientherapie in der Medi-
zin, Carl Auer, Heidelberg
Levold T, Wirsching M (2014) Systemische Therapie und
Beratung. Carl Auer, Heidelberg
Von Schlippe A, Schweizer J (1976) Lehrbuch des Systemi-
schen Therapie und Beratung. Vandenhoeck & Ruprecht,
Göttingen

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
281 25

Krisenintervention
Kurt Fritzsche, Daniela Wetzel-Richter

25.1 Was ist eine Krise? – 282

25.2 Wie äußern sich Krisen? – 282

25.3 Behandlungsschritte bei Krisen – 283


25.3.1 Erster Schritt: Minderung von Angst
und depressiver Symptomatik – 283
25.3.2 Zweiter Schritt: Klärung der aktuellen Konfliktsituation – 285
25.3.3 Dritter Schritt: Beratung und Unterstützung – 285

25.4 Einbeziehung von Angehörigen und anderen


Bezugspersonen – 287

25.5 Weiterbehandlung und Weitervermittlung – 287

25.6 Technik der Gesprächsführung


in der Krisenintervention – 288

25.7 Beispiele zur Krisenintervention – 288


25.7.1 Der ängstliche, somatisierende Patient – 288
25.7.2 Der verleugnende, nicht krankheitseinsichtige Patient – 289
25.7.3 Der Verlust einer nahen Bezugsperson – 289
25.7.4 Der suizidale Patient – 290
25.7.5 Der feindselige, aggressive Patient – 290
25.7.6 Akutes Trauma – 291

Literatur – 291

K. Fritzsche et al. (Hrsg.), Psychosomatische Grundversorgung,


DOI 10.1007/978-3-662-47744-1_25, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
282 Kapitel 25 · Krisenintervention

25.1 Was ist eine Krise? Symptomen wie Hyperventilation, Schwindel,


linksthorakale Schmerzen, Parästhesien und Ohn-
Jeder Mensch wird im Laufe seines Lebens häufig machtsneigung. Auch akute, organisch nicht ausrei-
mit kritischen Situationen konfrontiert. In einer chend erklärbare Schmerzen sind häufig als Aus-
Krise versagen die üblichen seelischen Regulations- druck der Somatisierung eines verdrängten, nicht
mechanismen zur Bewältigung des Problems und es wahrnehmbaren oder nicht ausdrückbaren seeli-
kommt zu einer akuten Störung im seelischen schen Konfliktes. Erregungszustände, die unter
Gleichgewicht. Anlässe für psychosoziale Krisen Umständen mit Kontrollverlust und aggressiven
sind: Verhaltensweisen verbunden sein können, entste-
4 Diagnose einer lebensbedrohlichen Krankheit, hen häufig unter dem Einfluss von Alkohol oder
25 wie Herzinfarkt oder Krebserkrankung, anderen psychotropen Substanzen.
4 ein schwerer Arbeits- oder Verkehrsunfall, Es gibt laute und stille Krisen (. Abb. 25.1).
4 plötzlicher Verlust des Partners oder eines Menschen, die sich in Krisensituationen eher zu-
nahen Angehörigen durch Trennung oder Tod, rückziehen und verstummen, sind kurzfristig und
4 schwere berufliche oder private Kränkungen, auch langfristig am meisten gefährdet. Der Mensch
z. B. Partnerschaftskonflikte, Nichtbestehen selbst und seine Umwelt können die vorhandenen
einer Prüfung, Zurückweisung bei selbstunsi- Gefühle nicht einschätzen und darauf reagieren.
cheren Persönlichkeiten (s. auch Fallbeispiele), Die nicht geäußerten Affekte sind entweder wie ab-
4 scheinbar unlösbare finanzielle Probleme, gespalten oder wenden sich gegen die eigene Per-
4 die Kombination von Verlusterlebnissen im son in Form von Suizidalität oder bringen sich
Alter, wie Verlust des Partners, der sozialen durch vielfältige psychosomatische Symptome zur
Integration oder der körperlichen Integrität, Sprache.
4 unerwartete Erinnerung an eine traumatisch Menschen, die akut im Rahmen eines Unfalles,
verarbeitete Situation, z. B. Hilflosigkeitserle- eines Überfalles oder sonstiger Gewalterfahrung
ben und Schmerz bei einem medizinischen traumatisiert wurden, berichten oft spontan über
Eingriff. eine verzweifelte Stimmung, neigen zum Weinen,
zu erhöhter Schreckhaftigkeit, Gefühle der Hilflo-
Es gibt Krisen unterschiedlicher Schwere und Ge- sigkeit und Ohnmacht, gastrointestinalen Sympto-
fährlichkeit: eine Ehekrise kann mit einer verbalen men, Schmerzsyndromen und sozialem Rückzug.
Auseinandersetzung und Türen knallen beginnen Im Gegensatz dazu stehen bei Menschen, welche
und auch enden. Bei Fortbestehen besteht die Ge- Traumata erlebt haben, die schon lange, teilweise
fahr von aggressiven oder autoaggressiven Hand- mehrere Jahre zurückliegen, eher depressive oder
lungen, der akuten Verschärfung einer vorbestehen- Angstsymptome, manchmal auch Suchtprobleme
den depressiven Symptomatik, des Auftretens von im Vordergrund. Auslöser für die Krise sind dann
schweren Angstzuständen bis hin zu Panikattacken. geringfügige Anlässe, die oft unbewusst an das
Als höchste Stufe der Eskalation kann es zu Suizid- Trauma erinnern und der Zusammenhang zu der
handlungen oder zu einer psychotischen Dekom- zurückliegenden traumatischen Situation ist weder
pensation kommen. für die Betroffenen noch für den Arzt auf Anhieb
erkennbar (7 Kap. 19 »Akute und Posttraumatische
Belastungsstörung«).
25.2 Wie äußern sich Krisen? Die folgende Auflistung zeigt die häufigsten
Krisensituationen im Rahmen der Hausarztpraxis
Die häufigsten Reaktionen in Krisensituationen in absteigender Reihenfolge (Fritzsche et al. 2007):
sind eine depressive Symptomatik mit Verzweif- 4 depressive Krise,
lung, Unruhe, innerer Anspannung, Schlafstörun- 4 Atemnot/Hyperventilation,
gen, sozialem Rückzug und Suizidgedanken bis hin 4 akute Schmerzzustände,
zur Suizidalität. Häufig sind auch Angstzustände bis 4 akute funktionelle Herzbeschwerden,
zu Panikattacken mit begleitenden körperlichen 4 akute Partnerschaftskrise,

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
25.3 · Behandlungsschritte bei Krisen
283 25

. Abb. 25.1 Cartoon: Laute und stille Krisen. (Zeichnung: Gisela Mehren)

4 Somnolenz, 1. Minderung von Angst und depressiver Symp-


4 Panikattacke, tomatik,
4 Erregungszustand, 2. Klärung der aktuellen Konfliktsituation,
4 akuter Verwirrtheitszustand, 3. Beratung und Unterstützung.
4 Wahn,
4 Halluzination,
4 Suizidalität, 25.3.1 Erster Schritt: Minderung
4 Intoxikation und von Angst und depressiver
4 Stupor. Symptomatik

25.3 Behandlungsschritte bei Krisen Erster Behandlungsschritt bei einer Krise


5 Begrüßung
Es handelt sich von vorneherein um eine kurzfristig 5 Behandlungsrahmen klären
angelegte therapeutische Intervention, die sich je 5 Emotionale Entlastung zulassen
nach Kontext von 1 Tag bis maximal 1–2 Wochen
bewegt. Die wichtigste Intervention im Rahmen der
psychosomatischen Grundversorgung bei einer Krisenintervention heißt immer, etwas gegen die
Krise ist das entlastende und unterstützende Ge- Angst des Patienten und die Angst des Arztes zu
spräch. Für dieses Gespräch sollten mindestens unternehmen. Erstes Ziel ist die Angstminderung.
20 Min. zur Verfügung stehen. Bei Zeitmangel ist Angst und das Gefühl, die Kontrolle über die Situa-
ein weiteres zeitnahes Gesprächsangebot für den tion und sich selbst zu verlieren, führen zu Ohn-
Patienten notwendig. macht und zu Panik. Das Gefühl des Scheiterns
Das Vorgehen im Krisengespräch umfasst 3 führt zu Resignation, Rückzug und Hoffnungslosig-
Schritte: keit. Hauptziel bei der Krisenintervention ist deswe-
gen, die Angst, die Hilflosigkeit und die Hoffnungs-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
284 Kapitel 25 · Krisenintervention

losigkeit des Patienten zu mindern. Alles, was diese Sprechen besteht die Gefahr, dass der Patient sich
Angst und Hoffnungslosigkeit verhindert, ist hilf- verliert und nicht zum Wesentlichen findet.
reich. Das Angebot eines ärztlichen Gespräches ist A: »Was haben Sie dabei empfunden?«
der erste Schritt. Wenn der Patient z. B. weint, lässt der Arzt diese Ge-
Die Anwesenheit des Arztes als Person, die zu- fühle zu. Er kann z. B. seine Hand auf den Arm des
hört, sich in die Not des Patienten einfühlt und ver- Patienten legen und ihm damit seine Unterstützung
bal oder nonverbal seine Anteilnahme bekundet, vermitteln. Er signalisiert dem Patienten, dass er das
wirkt direkt angstmindernd. Zum Beispiel signali- Ausmaß seiner Beunruhigung oder Verängstigung,
siert eine entspannte Körperhaltung des Arztes, seine Sorge »verrückt zu sein« oder »unheilbar krank
dass er sich jetzt Zeit nimmt. Der Arzt sollte sich zu sein« wahrnimmt und sieht, wie sehr er darunter
25 durch die Angst des Patienten nicht anstecken las- leidet. Er versucht dann zu vermitteln, dass die Reak-
sen, d. h. sich selbst Bedingungen schaffen, die ihn tionen des Patienten durchaus nachvollziehbar sind,
entspannt, ungestört und möglichst bequem zuhö- indem er das grundsätzlich normale Erleben und Ver-
ren lassen. Dazu gehört z. B. Türen zu schließen, halten in Krisensituationen betont:
bestimmte Personen wegzuschicken oder auch an- A: »In Ihrer Situation ist es völlig normal, dass Sie sich
dere hinzuzuziehen. Das Personal (z. B. Kranken- Sorgen machen. Wir sollten uns aber fragen, warum
schwestern oder Sprechstundenhilfen) sollten kurz Ihre Sorgen und Ihre Angst so übermächtig gewor-
informiert werden, um eine ungestörte Atmosphä- den sind, dass Sie sich völlig hilflos fühlen.«
re zu ermöglichen. Auch Strukturierung ist angst- A: »Ich kann mir vorstellen, dass auch jeder andere
mindernd, dabei gilt so viel Struktur wie nötig, so- Mann in Ihrer Situation nicht mehr weiter wüsste und
viel Offenheit wie möglich. Es kann – wenn mög- verzweifelt wäre.«
lich – hilfreich sein, die zur Verfügung stehende Die Gesprächsführung ist strukturiert, so dass es
Zeit (»Wir können uns jetzt mindestens 20 Min. auch notwendig ist, den Patienten manchmal zu un-
Zeit nehmen ...«) anzusagen, um dem Patienten terbrechen und konkret nachzufragen, wenn etwas
den besonderen Rahmen des Gesprächs als Sicher- unklar bleibt oder vom Patienten weggelassen wird.
heit zu vermitteln. Der Arzt sollte in dieser Situa- Das unterscheidet die Krisenintervention von einem
tion körperlich und geistig völlig präsent sein. Er psychosomatischen Erstgespräch. Der Arzt kann dem
sollte Ruhe vermitteln und darauf achten, dass er Patienten erklären, warum er an dieser Stelle nach-
die Situation in der Hand hat. fragt, er zeigt, dass er in der Krise Verantwortung
übernimmt und Übersicht schaffen möchte. Diese
Fallbeispiel Schreiner Klarheit und Übersicht hilft dem Patienten, seine ei-
Ein 38-jähriger Schreiner hat sich seit einigen Tagen, genen Gedanken und Gefühle wieder unter Kontrolle
bevor er den Arzt aufsucht, unruhiger und unkonzen- zu bekommen.
trierter gefühlt, plötzlich Angst bekommen, seine A: »Was meinen Sie damit, ›ich kann für nichts mehr
Arbeit nicht mehr zu schaffen. Er schläft schon seit garantieren‹?«
längerer Zeit schlechter, wacht früh morgens auf und Auch wenn der Arzt den Patienten zunächst nicht
hat seit Monaten Magenbeschwerden. versteht, kann das angstmindernd und entlastend
Nun hat er heute Morgen ganz weiche Knie gehabt, wirken, weil der Arzt sein Nichtverstehen erklärt und
sich »wie im Schraubstock« gefühlt und den Eindruck die Ungereimtheiten offenlegt. Der Patient spürt,
bekommen, dass »irgendwas mit mir geschieht, ohne dass der Arzt sorgfältig zuhört und sich eine eigene
dass ich Einfluss habe«. Seine Gedanken kreisen nur Meinung von der belastenden Situation bildet.
noch um ihn selbst, was ihn immer ratloser werden
lässt.
A: »Was ist passiert?«
Der Arzt stellt Kontakt zum Patienten her und lässt
ihn ca. 3 Min. ohne Unterbrechung sprechen. Er sig-
nalisiert ihm mit Körperhaltung, Gestik und Augen-
kontakt, dass er aufmerksam zuhört. Bei längerem

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
25.3 · Behandlungsschritte bei Krisen
285 25
25.3.2 Zweiter Schritt: Klärung
der aktuellen Konfliktsituation

Zweiter Behandlungsschritt bei einer Krise


5 Krisenauslöser finden
5 Hintergrund und Anamnese erfragen
5 Subjektive Vorstellungen und Verhalten des
Patienten klären und verstehen

Gemeinsam mit dem Patienten versucht der Arzt


eine Erklärung für die psychische Dekompensation
des Patienten zu finden. Dazu sind folgende Fragen,
die der Arzt sich selbst oder auch dem Patienten
stellt, hilfreich:
4 Welche aktuellen Probleme, z. B. im Beruf, in
der Partnerschaft, betreffend Finanzen oder
eine schwere Krankheit, stehen hinter der
Krisensituation (. Abb. 25.2)?
4 Falls es sich um ein schon länger bestehendes
Problem handelt: Welche Mechanismen
. Abb. 25.2 Cartoon: Belastungen erfragen. (Zeichnung:
machen gerade jetzt aus dem schon länger Gisela Mehren)
bestehenden Problem eine Krise?
4 Stellt das Verhalten des Patienten in der Kri-
sensituation vielleicht einen Lösungsversuch 4 Was wünscht sich der Patient in der aktuellen
zur Bewältigung eines schon länger bestehen- Situation vom Arzt?
den Konfliktes dar? Z. B.:
5 Mobilisierung von Unterstützung durch
Partner, Familie oder Arzt, 25.3.3 Dritter Schritt:
5 heimliche Anklage gegenüber nahen Beratung und Unterstützung
Bezugspersonen,
5 Minderung von Schuldgefühlen,
z. B. bei Einnahme von Drogen, Dritter Behandlungsschritt bei einer Krise
5 Ablenken von Eheproblemen durch 5 Copingstrategien entwickeln
Verschieben auf Randthemen, 5 Ressourcen aktivieren
5 Rache an geliebten Personen, 5 Lösungsmöglichkeiten aufzeigen
5 Selbstbestrafung, 5 Zukunftsperspektiven eröffnen
5 unbewusste Sicherung von Zuwendung,
z. B. anorektische Krise.
4 Welche subjektiven Vorstellungen hat der Ziel dieses Schrittes ist die Schaffung einer inneren
Patient über die Auslöser der Krise? Die Ge- Distanz zu dem den Patienten zunächst überwälti-
danken und Phantasien enthalten Hinweise genden Problem.
dazu, was der Patient unbewusst erreichen will Frage: »Was könnte Ihnen helfen, die Situation
und wie er auf vielleicht destruktive Weise die durchzustehen?«
Kontrolle und Handlungsfähigkeit zurück- Diese Frage zielt auf körperliche und seelische
gewinnen möchte. Diese Vorstellungen zu ken- Ressourcen, die zur Verfügung stehen, die jetzige
nen, ist hilfreich zur Bewältigung der Krise. Krise zu bewältigen. Der Arzt erklärt dem Patien-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
286 Kapitel 25 · Krisenintervention

ten, dass er sich in einer Situation befindet, in der durch Klärung seine eigenen Anteile am Ehekon-
seine bisherigen Konfliktbewältigungsstrategien im flikt näher zu beleuchten. Der Erfolg dieser Klärung
Umgang mit dem Problem nicht mehr ausreichen. ist zweifelhaft; denn der Patient wird dieses Vorge-
Gemeinsam mit dem Arzt werden neue Bewälti- hen als Stellungnahme für die Ehefrau auffassen.
gungsmöglichkeiten durchgesprochen und vorhan- Der Arzt könnte sich mit ihm identifizieren und
dene, bisher nicht genutzte psychische, körperliche ihm sagen, er solle sich bloß trennen von dieser
und soziale Ressourcen aktiviert. »Was hat Ihnen Frau, sie sei offenbar nicht sehr viel wert mit ihrer
denn schon mal geholfen?« Der Patient lernt, dass er ungenierten Untreue. Das haben andere gründlich
über Kräfte und Fähigkeiten verfügt, auch selbst mit getan, und sie haben bewirkt, dass er umso uner-
der Bewältigung der Situation zurechtzukommen. schütterlicher daran festhält, dass er seine Frau liebt
25 Die Beratung durch den Arzt sollte sich deutlich und ohne sie nicht leben kann.
von Ratschlägen, wie der Patient sie in vielfältiger Der Arzt kann irgendwann ärgerlich werden
Form von Angehörigen bekommen hat, unterschei- und ihm sagen, dass er schließlich nicht der erste
den. Sie sollte über allgemeinen Trost und Ratschläge Mann ist, der fortgesetzt betrogen wird, und dass er
zur Lebensführung hinausgehen und als deklarierte sein Schicksal ertragen müsse. Der Patient wird zu-
Expertenmeinung das spezifische Fachwissen zum stimmen, aber dann ist der zweite Selbstmordver-
Patientenproblem beinhalten. Beschwichtigungen, such nicht mehr fern. In beiden Fällen hätte man
wie z. B. »Das schaffen Sie schon«, nützen nichts. ihm eine Entscheidung weggenommen; er hätte sich
entweder gefügt und dem Arzt die Konsequenzen
Fallbeispiel (Hohage 1993) zum Vorwurf gemacht, oder er hätte nur zugehört,
Ein Facharbeiter aus einfachen Verhältnissen, Vater ohne selbst zu handeln.
zweier Kinder, kommt in eine suizidale Krise als er Der Expertenstandpunkt kann z. B. in der Fest-
hört, dass seine Ehefrau ihn wegen eines italieni- stellung liegen, dass der Patient umso hilfloser und
schen Gastarbeiters verlassen will. Die Kränkung, die schutzbedürftiger geworden ist, je schlechter seine
er erleidet, ist offensichtlich. Beide haben sehr jung Frau ihn behandelt hat. Sein Verzicht auf Rache
geheiratet; die recht attraktive Ehefrau hat ihm den oder auf heftige Auseinandersetzungen bringt seine
Vorzug vor anderen jungen Männern gegeben, weil Frau gerade nicht zur Umkehr, sondern trägt dazu
er als aufrichtig und treu galt und sexuell nicht so ein bei, dass sie sich umso fester an ihren Italiener bin-
Draufgänger war wie die anderen. Jetzt ist sie zuneh- det, der offensichtlich alle wichtigen männlichen
mend sexuell desinteressiert geworden, bis sie ihn Attribute bei sich vereinigt. Das, so die Experten-
betrogen hat. Sie versichert ihm aber, dass sie ihn meinung, ist logisch, wenn man unterstellt, dass die
nicht verlassen wolle, schon wegen der Kinder nicht. Ehefrau Männlichkeit bei ihrem Mann vermisst.
Ihren Freund will sie aber auch nicht aufgeben, hier Dann ist er im Laufe der Auseinandersetzung im-
lasse sie sich von ihrem Mann keine Vorschriften ma- mer unmännlicher geworden, hat also an Attrakti-
chen. All dies schildert der Patient mit einer Mi- vität verloren, statt für sich zu gewinnen.
schung aus Zorn, Anklage und Verzweiflung. Er liebe Diese Feststellung enthält keine persönliche
seine Frau und wolle sie behalten. Aber er hat ange- Wertung, obwohl von Unmännlichkeit die Rede ist.
fangen, sich so zu schämen, dass er sich nicht mehr Der Patient hat diese Überlegung akzeptiert. Dass
im Dorf blicken lassen will, deshalb hat er einen nicht seine Reaktion an die Reaktionen kleiner Kinder
sehr konsequent durchgeführten Selbstmordversuch erinnert, die sich umso fester an ihre Mütter binden,
unternommen. Im Gespräch besteht kein Zweifel, je schlechter sie von denen behandelt werden, hat
welche Rolle er dem Arzt zugedacht hat: »Sagen Sie dazu geführt, dass der Patient über die Parallele von
mir, was ich machen soll; ich bin völlig durcheinan- Ehefrau und Mutter nachzudenken begann. Die
der, ich weiß nicht mehr weiter!« Spürbar ist, dass Konsequenz des Gespräches war jedenfalls, dass er,
auch der Suizidversuch Appell und Anklage enthält. ohne sich zu trennen, konsequenter und distanzier-
ter der Ehefrau gegenüber auftrat.
Was tun? Man könnte seine Frage zunächst nicht Der Patient braucht das Gefühl, dass seine Not
beantworten, sondern man könnte versuchen, und innere Bedrohung ernst genommen werden.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
25.5 · Weiterbehandlung und Weitervermittlung
287 25
Gleichzeitig sollte der Arzt diese Gefühle nicht »Ich würde jetzt gerne hören, was Ihr Mann/
übernehmen, sondern sich eine entsprechende pro- Ihre Frau dazu sagt. Sind Sie damit einverstanden?«
fessionelle Haltung, »detached compassion« (dis- Das Gespräch sollte immer in Anwesenheit des
tanziertes Mitgefühl) zu eigen machen (Pattison Patienten stattfinden. Dadurch hat der Patient das
1981). Wenn der Arzt sich von der Angst und Aus- Gefühl, dass nicht über ihn, sondern mit ihm ge-
weglosigkeit des Patienten vereinnahmen lässt, sprochen wird. Er hat die Möglichkeit, die Äuße-
dann können ihm keine Alternativen mehr einfal- rungen seiner Angehörigen zu bestätigen, zu ergän-
len, er verliert die notwendige Distanz und Unpar- zen oder zu korrigieren. Für den Arzt ergibt sich ein
teilichkeit. guter Einblick in die Interaktionen zwischen allen
Zum Abschluss drückt der Arzt in ehrlichen Beteiligten.
Worten aus, was er beim Zuhören empfunden hat. Von einem Gespräch des Arztes mit Angehöri-
Beispiel: gen im Beisein des Patienten sollte man jedoch ab-
4 »Das muss sehr schwer für Sie gewesen sein!« sehen, wenn schon die Eingangssituation gezeigt
4 »Es tut mir leid was Ihnen widerfahren ist.« hat, dass eine massivste aggressive Aufladung zwi-
4 »Ihre Erzählung hat mich sehr bewegt.« schen allen Beteiligten besteht und dadurch eine
Deeskalation nur schwer möglich ist.
Auf diese Weise erlebt der Patient das Mitgefühl des Über die Regeln der Gesprächsführung im Paar-
Arztes. Er erfährt, dass ihm jemand aufmerksam und Familiengespräch unterrichtet 7 Kap. 7.
und interessiert zuhört und dass er nicht alleine ist.
Die dadurch entstehende vertrauensvolle Bindung
an den Arzt sichert die Umsetzung der vereinbarten 25.5 Weiterbehandlung
nächsten Schritte. und Weitervermittlung
Die oben beschriebenen Schritte sind nicht
durchführbar bei akut psychotischen und geistig Die meisten Patienten bedürfen nach der Krisen-
verwirrten Patienten. Sie setzen ein Minimum an intervention einer Weiterbehandlung in Form von
sprachlicher Verständigung voraus. In diesen Fällen betreuenden oder unterstützenden Maßnahmen für
ist eine sofortige, manchmal auch zwangsweise Ein- sich und ihr Umfeld. In schwierigen Fällen ist es
weisung des Patienten in eine geschlossene psychi- sinnvoll, zu Beginn der Beratung dem Patienten
atrische Klinik unumgänglich. mitzuteilen, dass der Arzt versucht ihm zu helfen,
dass es aber auch die Möglichkeit einer fachpsycho-
therapeutischen Weiterbehandlung gibt. Darüber
25.4 Einbeziehung von Angehörigen hinaus kann es notwendig sein, bei fortbestehender
und anderen Bezugspersonen Krisensituation die Patienten in eine stationäre Be-
handlung einzuweisen. Das hat den Vorteil, dass der
Zunächst ist es wichtig, sich unbedingt zuerst dem Patient zunächst einmal aus dem Konfliktfeld her-
Patienten zuzuwenden und ihm klar zu signalisie- ausgenommen ist und mehr Möglichkeiten hat, in-
ren, dass er im Zentrum der ärztlichen Aufmerk- nere Distanz zu gewinnen. Oft sind Patienten sol-
samkeit steht. Dies sollte auch Angehörigen und chen Vorschlägen gegenüber misstrauisch und ab-
anderen Anwesenden in höflicher, aber bestimmter lehnend. Geht der Arzt gezielt auf die spezifischen
Form klargemacht werden. Gleichzeitig bietet der Ängste des Patienten ein, dann wird dieser Schritt
Arzt an, die Angehörigen zu einem späteren Zeit- von ihm nicht als Abschieben interpretiert, sondern
punkt hinzuziehen. Auch gegenüber dem Patienten als Ausdruck von Fürsorge aufgenommen.
macht der Arzt deutlich, dass er primär an seiner
Sicht der Dinge interessiert ist. Fortsetzung Fallbeispiel Schreiner
Wenn der Patient seine Situation geschildert hat Im Gespräch mit dem Arzt kann der Patient sich erst-
und der Arzt ein erstes Bild gewonnen hat, können mals wieder besser entspannen, als dieser ihm mit-
die Angehörigen miteinbezogen werden. Dazu ist teilt, er wirke bereits in Verhalten und Ausdruck auf
der Patient um seine Zustimmung zu fragen: ihn ganz deutlich depressiv und so lasse sich auch

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
288 Kapitel 25 · Krisenintervention

diese Veränderung verstehen, die der Patient selbst ersten Begrüßungsworten deutlich machen, dass er
an sich wahrgenommen hat. Als der Arzt dem Patien- gekommen ist, um zu verstehen und zu helfen.
ten zusätzlich bestätigt, dass das Magenmedikament Die Beruhigung des Patienten gelingt am bes-
(Metoclopamid), das er seit Monaten einnimmt, wie ten, wenn der Arzt in der Initialphase des Gesprä-
er es selbst bereits vermutet hat, durchaus diesen Zu- ches
stand mit ausgelöst haben kann, fühlt sich dieser 4 signalisiert, dass er sich Zeit nimmt,
spürbar sicherer und beide können die nächsten Be- 4 dem Patienten genügend Raum gibt,
handlungsschritte besprechen. Der Arzt erklärt dem 4 ihm aufmerksam zuhört und die Bereitschaft
Patienten, welche medikamentöse Therapie aus sei- signalisiert, sich seines Problems anzunehmen,
ner Sicht sinnvoll ist, und beide überlegen gemein- 4 ihn bei der Verbalisierung von Gefühlen, z. B.
25 sam, ob und wie lange der Patient krankgeschrieben Angst, Trauer, Wut und Verzweiflung, unter-
werden muss. stützt.
Im Laufe einiger weiterer Gespräche lässt sich auch
eine typische Auslösesituation für die Krise herausar- Der Arzt unterstützt den Patienten bei der Verba-
beiten. Der Patient hatte über mehrere Jahre in sehr lisierung von Gefühlen. Das Ausdrücken von Wut,
guter kollegialer Zusammenarbeit mit einem älteren Trauer, Angst, Enttäuschung und Verzweiflung
Kollegen eine Werkstatt aufgebaut, bis dieser Kolle- stellt bis auf wenige Ausnahmen, z. B. bei einer
ge vor einigen Monaten ankündigte, er werde die psychotischen Krise, eine Entlastung dar und er-
Werkstatt demnächst verlassen und sich beruflich möglicht Verständnis und Zugang zur Problema-
umorientieren. Bei aller Überraschung und auch tik. Darüber hinaus kommt es zu einer körperli-
leichter Enttäuschung hatte der Patient zunächst ge- chen Entspannung und Mobilisierung von Ener-
dacht »nun, was soll‹s?« und sich auch zugetraut, die giereserven.
Arbeit selbständig fortzuführen. Erst jetzt, im Nach-
hinein, wird klar, wie sehr er sich im Stich gelassen
und verloren gefühlt hat, was biographisch vor dem 25.7 Beispiele zur Krisenintervention
Hintergrund verständlich ist, dass der Patient unehe-
lich geboren worden war und ohne Vater aufwach- 25.7.1 Der ängstliche, somatisierende
sen musste. Patient
Unter gleichzeitiger konsequenter Therapie mit ei-
nem antidepressiven Medikament vom Amitriptylin- Bei diesen Patienten drückt sich ihre Überforde-
Typ erholt sich der Patient relativ rasch, kann nach rung und innere Not überwiegend durch körperli-
kürzerer Zeit seine Arbeit wieder aufnehmen und ist che Beschwerden aus (7 Kap. 9 »Somatoforme Stö-
auch unter dem Eindruck dieser schweren Krise ohne rungen«). Schmerzen im Magen-Darm-Bereich, als
Probleme bereit, das Medikament zur weiteren Rezi- bedrohlich empfundenes Herzrasen und ein thora-
divprophylaxe für mindestens ein halbes Jahr einzu- kales Druckgefühl, Atemnot oder Kopfschmerzen
nehmen. werden geschildert. In der Regel besteht jedoch kein
relevanter organischer Befund.
Der Arzt ist für diese Patienten eine wichtige
25.6 Technik der Gesprächsführung Kontaktperson, von der sie unausgesprochen Schutz
in der Krisenintervention und Zuwendung erwarten. Oft bestehen eine deut-
liche ängstliche Hilflosigkeit und depressive Ver-
Häufig sind die ersten 3 Min. ausschlaggebend da- stimmung. Andere Patienten können ihre Angst
für, ob ein fruchtbarer Gesprächskontakt aufgebaut nicht offen zugeben und überbetonen eher ihre kör-
werden kann oder nicht. Die Anwesenheit des Arz- perlichen Schwierigkeiten.
tes als Person, die zuhört, sich in die Not des Patien- Die Zuwendung zum Patienten, z. B. in Form
ten einfühlt und verbal sowie nonverbal Anteilnah- eines Gesprächs, aber auch in Form von Entspan-
me bekundet, bewirkt beim Patienten schon eine nungsübungen, stellt in der Regel ein wesentliches
merkliche Entlastung. Der Arzt kann schon mit den therapeutisches Moment dar.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
25.7 · Beispiele zur Krisenintervention
289 25
Viele dieser Patienten sind bereit, sich ganz dem Der Arzt wird als Gefahr erlebt, da er die Ver-
Arzt zu unterwerfen, solange er ihre Versorgungs- drängungsmechanismen schon dadurch stört, dass
wünsche erfüllt. Die Verordnung eines Medika- er dem Patienten objektive Befunde mitteilt. Ver-
ments kann für sie ein magisch erlebtes Kontakt- ordnungen und therapeutische Maßnahmen wer-
symbol sein. Der Arzt läuft dadurch Gefahr, die den häufig nicht befolgt.
Abhängigkeitswünsche des Patienten zu fördern. Bricht der Arzt den Widerstand eines solchen
Folgendes ist daher wichtig: Patienten, kann eine zuvor gut abgewehrte Depres-
4 Ressourcen des Patienten zu erfassen, sion manifest werden und unter Umständen eine
4 Verantwortung wieder abzugeben, gravierende Verschlechterung des Allgemeinzu-
4 selbständiges Handeln des Patienten zu fördern. standes nach sich ziehen. Im Gespräch ist also größ-
te Vorsicht vor Labilisierung durch überschnelle
Eine Sondergruppe stellen Patienten mit herzpho- Zuordnungen geboten. Das subjektive Krankheits-
bischen Anfällen dar (7 Kap. 11 »Angststörungen«). verständnis des Patienten ist zu beachten.
Der Anfall ist neben den bekannten Herzsensatio-
nen von massiver Todesangst und einer Reihe an-
derer vegetativer Symptome begleitet. Der Patient 25.7.3 Der Verlust einer nahen
drängt auf eine kardiologische Diagnostik, die zu Bezugsperson
einer Fixierung auf die Rolle eines Herzkranken
beitragen kann. Folgende Schritte haben sich be- Psychische Krisen sind häufig durch Verlusterleb-
währt: nisse im zwischenmenschlichen Bereich ausgelöst
4 Entlastung durch Information über psycho- (7 Kap. 12 »Depression und Suizidalität«). Neben dem
physiologische Zusammenhänge, Tod eines geliebten Menschen oder Trennungssitua-
4 die Person des Arztes als stabiles, vertrauens- tionen können auch einschneidende Veränderun-
volles Objekt besetzen, gen in Bezug auf angestammte Rollen in Beruf, Fa-
4 Vermeiden nicht unbedingt notwendiger wei- milie etc. mit den daraus resultierenden Konse-
terer medizinisch-diagnostischer Maßnahmen, quenzen für zwischenmenschliche Beziehungen
4 engmaschige Gesprächsangebote. auslösend wirken.
Im Krankenhaus ist es meist der plötzliche Tod
Die Verordnung von Tranquilizern darf nur erfol- einer nahen Bezugsperson oder der Tod des Ehe-
gen, wenn durch andere Maßnahmen keine Stabili- partners, die bei Angehörigen psychische Krisen
sierung erzielbar wird, und maximal nur über weni- auslösen. Beispiele sind Frauen nach einer Fehl-
ge Tage. oder Totgeburt, wobei die Symptomatik in eine
postpartale Depression übergehen kann; der Tod
auf der Intensivstation nach schwerem Unfall, v. a.
25.7.2 Der verleugnende, nicht wenn Kleinkinder betroffen sind z. B. nach einem
krankheitseinsichtige Patient Badeunfall oder Sturz vom Balkon, oder der Tod
nach einer plötzlich eingetretenen Aneurysmablu-
Diese Patienten geben auffällig wenig seelische oder tung auf der neurologischen Intensivstation.
körperliche Beschwerden an, auch wenn sie sich, für Nicht selten kommt es dann zu psychischen Kri-
den Außenstehenden sichtbar, in der Regel in einer sen, wenn die Trauer nicht gelebt werden kann.
massiven körperlichen oder seelischen Krise befin- Nicht gelebte Trauer prädestiniert zu Depression
den. Sie verleugnen ihre Krankheit, wissen aber ins- ebenso wie Trauerarbeit prophylaktisch gegen De-
geheim um ihren Zustand. Diese Erkenntnis wird pression wirksam ist. Der Arzt sollte deshalb Gefüh-
jedoch auf verschiedene Weise, wie etwa durch hy- le der Traurigkeit aufgreifen, um es dem Patienten
pomanische Selbstüberschätzung oder Überaktivi- zu erleichtern, darüber sprechen zu können.
tät, abgewehrt. Es besteht ein Widerstand gegen die
Wahrnehmung eigener Schwächen. Oft handelt es
sich um Personen in leitenden Positionen.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
290 Kapitel 25 · Krisenintervention

In den meisten Fällen ist die Verschreibung von


Phasen des normalen Trauerprozessen Medikamenten, wie Tranquilizern, eher ungünstig
(nach Bowlby, übernommen in modifizier- zu bewerten, weil auf diese Art und Weise ein an
ter Form aus Hell 2006) sich natürlicher Zustand den Charakter des Krank-
1. Phase der Betäubung haften zugeschrieben bekäme. Dies könnte eine
2. Phase der Sehnsucht und Suche Haltung begünstigen, dass die Betroffenen Gefühle,
Die Sehnsucht nach dem verlorenen Men- die Bestandteil normaler menschlicher Erfahrung
schen vermischt sich mit Traurigkeit, Zorn sind, als therapiebedürftig ansehen würden, anstatt
und Hadern mit dem Schicksal. Der verlore- sie anzunehmen, und könnte letztendlich einer Ab-
ne Mensch wird nicht ganz aufgegeben. wehr und einem »Einfrieren« dieser Gefühle Vor-
25 Diese Phase dauert meist monatelang. Ein schub leisten.
Stehenbleiben auf dieser Stufe kann zu
chronischer Trauer und Depression führen
3. Phase der Verzweiflung 25.7.4 Der suizidale Patient
Das Empfinden von Verzweiflung steht
während dieses, meist kürzeren Zeitraums Bei jedem Verdacht auf eine depressive Erkrankung
im Vordergrund des Erlebens. Dahinter soll ganz gezielt nach Todeswünschen respektive
steht die Erkenntnis der Endgültigkeit des Suizidgedanken gefragt werden. Suizidalität besteht
Verlustereignisses. – besonders auch bei älteren Patienten – nicht selten
4. Phase der Reorganisation monatelang und ist dabei nach außen (»man spricht
Die Trauer wird überwunden, indem auch nicht darüber«), aber auch nach innen tabuisiert,
auf der emotionalen Ebene vollständig ak- d. h. der Patient gesteht sich selbst diese Wünsche
zeptiert wird, dass der Verlust endgültig ist die meiste Zeit nicht ein, sondern wird nur zu ge-
und dass der oder die Zurückgebliebene wissen Zeiten von diesen zum Teil als persönlich-
ohne Schuldgefühle und ohne fortgesetzte keitsfremd, gleichwohl drängend erlebten Gedan-
Trauer dableiben darf. Dies führt zu einer ken überwältigt. Nicht selten kommt er in einer
Neudefinition der Lebenssituation. solchen suizidalen Krise erstmals in ärztliche Be-
handlung.
Über diese tabuisierten und meist schambesetz-
Die ärztliche Aufgabe richtet sich ganz wesentlich ten Gedanken kann der Patient oft nur sprechen,
danach, in welchem Stadium des Trauerprozesses wenn der Arzt das Thema als etwas Häufiges und zu
der Patient sich befindet. den menschlichen Möglichkeiten Gehörendes an-
In Phase 1 reicht es zunächst, den Patienten von spricht und dem Patienten gleichzeitig signalisiert,
störenden Außenreizen abzuschirmen, ihm einen dass er selbst keine Angst vor diesem Thema hat.
sicheren Ort anzubieten, wo er sich unter dem Entscheidend ist, Suizidalität zu erkennen bzw. die
Schutz von Arzt, Pflegepersonal oder einer nahen suizidale Gefährdung einzuschätzen und Suizidali-
Bezugsperson kognitiv und emotional mit dem Ver- tät offen und konkret aufzugreifen (7 Kap. 12 »De-
lust auseinandersetzen kann. Besonders in Phase 2 pression und Suizidalität«).
und Phase 3 kann eine zusätzliche Intervention not-
wendig sein:
Am Anfang müssen Verlust, Schmerz und 25.7.5 Der feindselige,
Trauer bejaht und als angemessen für die Situation aggressive Patient
angesehen werden. Wenn eine starke Abwehr gegen
Trauer und Schmerz da ist, dann kann es eine sinn- Aggressive Erregung bis hin zu höchstgradiger Ge-
volle ärztliche Intervention sein, dem Patienten zu spanntheit kann sich bei unterschiedlichen psychi-
einer Annahme dieser Gefühle zu verhelfen, nicht schen Erkrankungen entwickeln. Sie kommt reaktiv
dagegen sofort Durchhalteparolen zu verbreiten bei zwischenmenschlichen Krisen, ferner bei
oder zu beschwichtigen. Rauschzuständen, bei Schizophrenie (katatoner Er-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
Literatur
291 25
regungszustand, aggressive Aufladung unter dem jWichtige Internetseiten
Einfluss von Wahn), bei Persönlichkeitsstörungen 4 Deutsches Institut für Psychotraumatologie
insbesondere vom narzisstischen Typus (narzissti- DIPT e. V.
sche Wut) und bei verschiedenen anderen psychi- http://www.psychotraumatologie.de/
schen Störungen vor. Häufig wird die Erregung noch 4 Deutschsprachige Gesellschaft für Psycho-
durch die enthemmende Wirkung von Alkohol oder traumatologie
anderen psychotropen Substanzen verstärkt. http://www.degpt.de/
Gerade wenn man aggressiv gespannten Patien- 4 Fachverband für Anwender der psychothera-
ten gegenübertritt, ist eine klare Konturierung und peutischen Methode Eye Movement Desensiti-
Festigkeit vonnöten. Eine einfache Sprache ist von zation and Reprocessing, EMDRIA Deutsch-
Vorteil. land e. V, mit Suchfunktion geschulter Psycho-
Häufig äußern Patienten im aggressiven Aus- traumatherapeuten
nahmezustand Schuldvorwürfe, Kränkungen und http://www.emdria.de/
globalisierende Abwertungen, die von früheren Er-
lebnissen herstammen. Äußerungen dieser Art soll-
te der Arzt mit Aufmerksamkeit begegnen, dann Literatur
aber entschieden den Fokus des Gesprächs auf das
Zitierte Literatur
»Hier und Jetzt« lenken, was im Allgemeinen umso
Fischer G (2002) Neue Wege nach dem Trauma – Information
leichter gelingt, je mehr der Arzt dem Patienten zu- und Hilfen für Betroffene. Vesalius, Konstanz
vor das Gefühl des Ernstgenommen Werdens ver- Fritzsche K, Stadtmüller G, Hewer W (2007) Therapeutische
mitteln konnte. Gesprächsführung in der Akut- und Notfallpsychiatrie.
Wenn immer der Arzt in seiner Zuwendung In: Hewer W, Rössler W (Hrsg.) Akute psychische Er-
oder Beurteilung ambivalent ist oder wenn er selber krankungen. Management und Therapie. Urban &
Fischer, München
Angst hat, dann soll er unbedingt weitere Hilfe (z. B.
Hell D (2006) Welchen Sinn macht Depression? Ein integra-
Sanitäter) anfordern. Manchmal kann es gelingen, tiver Ansatz. Rowohlt Taschenbuch, Reinbek
im Sinne eines »Talking down« den Patienten im Hohage R (1993) Die Krisenintervention in der psychosoma-
Laufe des Gesprächs weitgehend zu beruhigen. tischen Grundversorgung (unveröffentlichtes Ein-
Dazu ist unbedingt notwendig, dass man ggf. vor- führungsreferat im Rahmen des Kurses Psychosoma-
tische Grundversorgung am 13.02.1993, Freiburg)
herrschende aggressive sprachliche Interaktionen
Pattison EM (1981) Detached compassion and its detortions
mit anderen Personen komplett unterbindet und in thanatology. In: Schoneberg B et al. (Hrsg) Education
ganz deutlich macht, dass man den Patienten zuerst of the Medical Student in Thanatology. Arno Press, New
allein anhören will. York
Reddemann L (2006) Psychotraumata, Primärärztliche Ver-
sorgung des seelisch erschütterten Patienten, Deutscher
Ärzte-Verlag, Köln
25.7.6 Akutes Trauma
Weiterführende Literatur
Ein besonderes therapeutisches Vorgehen ist bei po- Dross M (2001) Krisenintervention. Hogrefe, Göttingen
tentiell traumatisierenden äußeren Einwirkungen Fischer G, Riedesser P (2009) Lehrbuch der Psychotraumatolo-
notwendig (Fischer 2002, Reddemann 2006). Diese gie. Ernst Reinhardt-Verlag Stuttgart, UTB

erfordern in der Akutsituation die Schaffung eines


sicheren Ortes, in der Folgezeit Unterstützung zur
Distanzierung und Selbstberuhigung. Bei inad-
äquat übersteigerter Reaktion auf einen Auslöser
sollte der Arzt an vorausgegangene Traumata bezie-
hungsweise das Vorliegen einer posttraumatischen
Belastungsstörung (PTBS) denken (7 Kap. 19 »Akute
und Posttraumatische Belastungsstörung«).

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
293 IV

Als Arzt genormt


und geformt –
Wie erhalte ich die Freude
an meinem Beruf?
Kapitel 26 Psychosomatik in der Hausarztpraxis – 295
Peter Schröder, Kurt Fritzsche

Kapitel 27 Psychosomatik im Krankenhaus – 303


Kurt Fritzsche, Martin Dornberg

Kapitel 28 Die Balintgruppe – 311


Kurt Fritzsche, Werner Geigges

Kapitel 29 Entspannung, Körperwahrnehmung


und Erholung – 321
Uwe H. Ross, Kurt Fritzsche

Kapitel 30 Burnout-Prävention – 337


Uwe H. Ross, Kurt Fritzsche

Kapitel 31 Wie weiter? Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten


in psychosomatischer Medizin
und Psychotherapie – 359
Kurt Fritzsche, Peter Schröder

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
295 26

Psychosomatik in
der Hausarztpraxis
Peter Schröder, Kurt Fritzsche

26.1 Der Hausarzt zwischen Psyche und Soma – 296

26.2 Die systematische biopsychosoziale Anamnese


in der Hausarztpraxis – 297

26.3 Schaffen einer neuen gemeinsamen Wirklichkeit – 298

26.4 Nehmen Sie sich Extrazeit! – 298

26.5 Chancen der Integration einer psychosomatischen Medizin


in die Hausarztpraxis – 299

26.6 Lösungen – 300

Literatur – 301

K. Fritzsche et al. (Hrsg.), Psychosomatische Grundversorgung,


DOI 10.1007/978-3-662-47744-1_26, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
296 Kapitel 26 · Psychosomatik in der Hausarztpraxis

»Der Schlüssel zur Verbesserung der Versorgung fachärztliche) Vorgehensweise verändern. Diese Ver-
psychisch Kranker liegt nicht im großzügigen Aus- änderungen brauchen Zeit und schaffen natürlich
bau psychiatrischer Dienste, sondern eher in der auch Probleme. Zeitweise berichten die an den Kur-
Stärkung des Hausarztes in seiner therapeutischen sen teilnehmenden Ärzte, dass sie das Gefühl haben,
Rolle.« (Shepherd et al. 1966) sich mit zwei Berufen identifizieren zu müssen, näm-
lich mit dem eines schulmedizinisch ausgebildeten
Fallbeispiel Arztes und mit dem eines Psychotherapeuten.
Eine junge Patientin, Frau A., die nur ab und zu in die Zitat eines Kursteilnehmers:
Praxis kommt, stellt sich innerhalb von 3 Monaten »Beschäftige ich mich mit den körperlichen
3-mal mit einer Mandelentzündung vor. Beim dritten Symptomen und Befunden des Patienten, so hat der
Mal untersucht der Arzt sie, schließt klinisch eine Psychotherapeut in mir ein schlechtes Gewissen.
Streptokokken-Infektion aus, rät ihr, sich auszuruhen Wende ich mich der Psyche zu, so schwebt der
und schreibt sie für ein paar Tage krank. In die dabei Körperarzt in mir ständig unter dem Damokles-
26 entstehende Pause fragt er: »Warum sind Sie eigent- schwert des Kunstfehlers. Ist die gleichzeitige psy-
lich so oft krank in der letzten Zeit?« Die Patientin ist chotherapeutische und somatische Versorgung ei-
zunächst verwundert, erzählt dann, wieviel Stress sie nes Patienten nicht eine Überforderung? Geraten
gerade habe, sie müsse ihre Mutter pflegen, der klei- wir mit diesem Anspruch nicht immer nur zwi-
nere Bruder brauche dauernd Geld, ihr Lehrmeister schen die Fronten?«
behandele sie unfreundlich und ihr Freund habe sie Diese künstliche Trennung aufzuheben, ist das
vor 3 Monaten verlassen. Es schließt sich ein etwa Ziel unserer Kurse. Eine gute Medizin berücksich-
10-minütiges Gespräch über diese Belastungen an. tigt immer psychische, soziale und körperliche As-
Beide werden sich einig, dass vielleicht eine ganze pekte je nach Situation in unterschiedlicher Ge-
Woche Krankschreibung angemessen wäre, die der wichtung. Im Notfall, z. B bei einer Reanimation,
Arzt dann erneut ausfüllt. wird es zunächst nur um medizinische Aspekte ge-
hen, später auch um die Einbeziehung der Familie.
Dieses Gespräch dauert etwa 12 Min. Die Patientin Ein depressiver Mensch wird bei allen somatischen
fühlt sich nun besser verstanden, hätte aber von sich Begleitsymptomen eher eine psychosoziale Betreu-
aus, nicht auf die schwierigen Umstände hingewiesen. ung erfahren wollen.
Es braucht eine offene Frage des Arztes, der sich auch Der Hausarzt sollte jedoch nicht versuchen, die
jenseits der Tonsillitis für die Patientin interessiert. Arbeit des Fachpsychotherapeuten zu übernehmen
oder zu kopieren. Wichtig für die Identitätsfindung
ist es, die ureigene Identität als Arzt in seinem Fach-
26.1 Der Hausarzt zwischen Psyche gebiet zu wahren und gleichzeitig die psychosoma-
und Soma tische Sichtweise zu integrieren.

Der Alltag in der Praxis des Niedergelassenen sieht Fallbeispiel


anders aus als in der Klinik. Das Grundproblem ist Die neue Patientin B. (23 Jahre) konsultiert den Arzt
jedoch das gleiche: Wie kann der Arzt bei der Inte- wegen einer Blasenentzündung. Nach der Untersu-
gration der psychosomatischen Grundversorgung in chung und der Therapieempfehlung spricht der Arzt
den Praxisalltag die Spaltung zwischen Körpermedi- an, was er die ganze Zeit beobachtet und gesehen
zin und Seelenmedizin vermeiden? Ist es schlimm, hat: »Sie sehen so traurig aus, wie geht es Ihnen denn
bei einigen Patienten eine krankheits- oder organ- sonst so?« Die Patientin beginnt zu weinen und be-
orientierte Medizin und bei anderen Patienten eine richtet von der schweren Erkrankung ihres Freundes,
salutogenetische oder psychosoziale Medizin zu von ihrem misslungenen Examen, vom Streit mit ih-
praktizieren? Bei der psychosomatischen Grundver- ren Eltern. Der Arzt bietet daraufhin an, doch bei ei-
sorgung handelt es sich darum, neue Kenntnisse, nem späteren Gespräch darüber in Ruhe weiterzu-
Fertigkeiten und Fähigkeiten zu entwickeln, die die sprechen, was die Patientin dankbar annimmt und ei-
gesamte hausärztliche (und natürlich ebenso die nen neuen, etwas längeren Termin ausmacht.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
26.2 · Die systematische biopsychosoziale Anamnese in der Hausarztpraxis
297 26
Das ganze Gespräch dauerte nicht mehr als 5 Min. ren sie doch immer wieder etwas Neues und Wich-
(Balint 1977). Wie viel wäre dem Arzt verlorenge- tiges, wenn ein Studierender oder eine Assistentin
gangen, wenn er diese (oder eine ähnliche) simple eine solche Anamnese bei einem eigentlich bekann-
Frage nicht gestellt hätte? Wie viel mehr als von den ten Patienten erhebt.
Blasenbeschwerden hätte er von seiner neuen Pa- Die Kunst bei einer biopsychosozialen Anam-
tientin erfahren? Wie unwahrscheinlich wäre es nese in der Hausarztpraxis ist es, einerseits mit vie-
gewesen, dass diese Patientin mit ihrem Kummer len geschlossenen Fragen (also arztzentriert) viele
sich verstanden fühlte und wiedergekommen wäre? Fakten aus der früheren und aktuellen Geschichte
des Patienten zu erfahren, andererseits mit offenen
Fragen, also patientenzentriert dem Patienten die
26.2 Die systematische Chance zu geben, über andere wichtige Dinge in
biopsychosoziale Anamnese seinem Leben zu berichten (s. auch 7 Kap. 6 zur bio-
in der Hausarztpraxis psychosozialen Anamnese).
Vertrauen zwischen Hausarzt und Patient ent-
Fallbeispiel steht nicht nur durch Kompetenz, Auftreten, Räum-
Frau C., 84 Jahre alt, kommt seit 23 Jahren in die lichkeiten etc., sondern vor allem durch ein gutes
Praxis. Bei einem Hausbesuch durch eine Medizin- Gespräch nicht nur über medizinische Fragen, son-
studentin erzählte sie, dass ihre Lieblingsschwester dern auch über Persönliches, und hierbei darf, soll,
kürzlich gestorben sei und sie deshalb ganz traurig kann und muss der Arzt auch mal eine persönliche
sei und nicht gut schlafen könne. Beim Hausbesuch Frage beantworten. Vertrauen wächst vor allem
des Praxisinhabers eine Woche zuvor, hatte sie ihm durch nichtmedizinische Gespräche. Das sollte
das nicht erzählt. Als er sie später darauf ansprach, dann auch ein Teil einer guten Anamnese sein.
erklärte sie, dass der Arzt bei seinem Besuch einen Wie entsteht ein gutes Verhältnis zwischen
abgehetzten Eindruck gemacht habe und sie ihn Hausarzt und Patient, wie wächst Vertrauen, wie
diesmal nicht mit solchen persönlichen Dingen be- lösen Patient und Arzt gemeinsam Krisen? Bis heute
lästigen wollte. Der Arzt schämte sich dann etwas, fällt es immer noch schwer, diese oft wunderbare
entschuldigte sich, es folgte dann ein längeres Ge- Begegnung zwischen Arzt und Patient gut und
spräch über ihre Schwester, von der der Arzt bis da- nachvollziehbar zu beschreiben. Einige Arbeits-
hin noch nie gehört hatte. gruppen, z. B. die »HAMLET-Gruppe« (Rueter
2012), bemühen sich darum.
Im Nachgespräch wurde es Dr. S. klar, dass er sich »Um das Geschehen in einer Hausarztpraxis er-
in der letzten Zeit einfach nicht genug Zeit für fassen und auswerten zu können, wird als Instru-
Frau C. genommen und ihr nicht genug Raum ge- ment der Selbstreflexion das Mikroszenenprotokoll
geben hatte für ihre persönlichen Dinge, die sie na- vorgestellt. Es gibt einerseits Auskunft über das
türlich auch medizinisch belasten. Sie brauchte in Arzt-Wissen bzgl. der Geschichte der Krankheit,
diesem Fall keine Schlaftablette, sondern ein ver- des Kranken, der Arzt-Patient-Beziehung und der
ständnisvolles Gespräch. Stimmung auf Patienten- und Arztseite im indivi-
Da Hausärzte ihre Patienten lange kennen und duellen Kontakt und zeigt andererseits die Einbet-
sie in ihrem täglichen Umfeld erleben, wird öfter tung der Begegnungen in den gesamten Tagesab-
behauptet, dass die so »erlebte Anamnese« ein Er- lauf. Es werden Überlegungen zu Passung und Pas-
satz für eine systematische Anamnese ist. In vielen sungsstörungen angestellt sowie über Kennzeichen
Fachgebieten werden nur noch fachspezifische kur- einer gelungenen Arzt-Patient-Interaktion. Dabei
ze Anamnesen erhoben, selbst die Internisten be- wird auf das Modell der Integrierten Medizin nach
schränken sich leider oft auf das aktuelle Problem. Thure von Uexküll Bezug genommen« (Volck u.
Es kann als extrem wichtig erachtet werden, sich Kalitzkus 2012).
immer wieder mal Zeit zu nehmen und ein anam- Patienten suchen keine Diagnose- und Behand-
nestisches Gespräch zu führen. Obwohl Hausärzte lungsautomaten, sondern ein menschliches Gegen-
ihre Patienten oft seit über 20 Jahren kennen, erfah- über (Bahrs 2007).

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
298 Kapitel 26 · Psychosomatik in der Hausarztpraxis

26.3 Schaffen einer neuen Buddhistische Weisheit: »Wenn Du eilig bist,


gemeinsamen Wirklichkeit geh’ langsam!«
Es ist inzwischen klar belegt: Je mehr Zeit Sie
Manche Ärzte mit Qualifikation in psychosoma- sich am Anfang einer neuen Arzt-Patient-Begeg-
tischer Grundversorgung glauben, dass psycho- nung nehmen, desto mehr Zeit »sparen« Sie bei
somatische Medizin nur in einem bestimmten Set- allen weiteren Kontakten. Dazu kommt noch der
ting und mit viel Zeit funktionieren könne. Gele- inhaltliche Gewinn durch besseres Verständnis.
gentlich betätigt sich der Arzt auch als Detektiv, der
die psychosozialen Konflikte seiner Patienten auf- Ideen zur Integration von Psychosomatik
deckt und den Patienten zu einer umfassenden Ver- in die tägliche Sprechstunde
änderung ihrer Lebensverhältnisse verhelfen sollte. 5 Bei neuem Termin am Anfang die zur Verfü-
Dies ist oft unrealistisch und endet in beidseitiger gung stehende Zeit erwähnen und darauf
Enttäuschung. Realistischer erscheint, dass Arzt
26 und Patient gemeinsam versuchen, begrenzte Be-
achten, dass sie nicht überschritten wird
5 Freiräume für längere Gespräche schaffen,
reiche des Lebens eines Patienten vorsichtig zu er- z. B. vor und nach der üblichen Bestellpraxis
gründen. Der Arzt sollte sich dabei immer an dem 5 Gehen Sie auf den emotionalen Teil einer
orientieren, was der Patient anbietet bzw. »den Pa- Erzählung ein. Sprechen Sie von Ihnen
tienten dort abholen, wo er gerade ist«, er sollte empfundene Emotionen an, z. B. wie Dr. S
kleine Fortschritte nutzen und sich von Rückschlä- bei Patientin B.: »Sie sehen so traurig aus«
gen nicht entmutigen lassen. Von Uexküll (von 5 Ermutigen Sie Patienten zur Problemdar-
Uexküll u. Wesiak 2011) nennt das das »Schaffen stellung
einer neuen gemeinsamen Wirklichkeit«. Dies ist 5 Strahlen Sie eine ruhige Aufmerksamkeit aus
nicht unbedingt die Meinung des Patienten, der 5 Hören Sie zu. Es gibt ein schönes Gedicht
muss uns Ärzten auch entgegenkommen, wir aber von einer weisen Eule, die deutlich mehr
ihnen auch – eine neue gemeinsame Wirklichkeit hört, nachdem sie weniger redet. Das gilt
eben. doch für uns Ärzte auch

26.4 Nehmen Sie sich Extrazeit! Der Comiczeichner Charles M. Schulz schreibt in
seinem Eulengedicht (. Abb. 26.1):
Ärzte haben oft Angst davor, sich auf längere Ge- »A wise old owl sat on an oak;
spräche mit den Patienten einzulassen, weil diese zu The more he saw the less he spoke;
viel Zeit in Anspruch nehmen könnten. Es ist je- The less he spoke the more he heard;
doch eine alte Erfahrung vieler psychosomatisch Why aren’t we like that wise old bird.«
orientierter Ärzte, dass gerade die Extraminuten
eines Erstgesprächs, die einem helfen, den Patienten jDo Less
etwas besser kennen zu lernen, in allen weiteren Ge- 4 »Do Less!« Weniger aktiv sein, nicht immer
sprächen Zeit sparen. Und außerdem kommt natür- gleich nach Lösungen suchen, erstmal zuhö-
lich nur der Patient wieder, der sich von seinem Arzt ren, auf die Ressourcen des Patienten achten
als Person ernstgenommen fühlt. Und in einer ganz und abwarten!
anderen Lebensphase, nämlich bei schwer kranken 4 »Do less« ist das Motto der Kurse in psycho-
oder sterbenden Patienten ist es gerade diese Extra- somatischer Grundversorgung. Wir treffen
zeit, die der Arzt seinen Patienten anbieten kann, dort zunächst auf intensiv agierende Ärzte und
die für Menschen in solchen Krisen so wichtig ist. Ärztinnen, die angestrengt und unter Zeit-
Es ist natürlich richtig, dass es mehr Zeit in An- druck Behandlungsentscheidungen treffen
spruch nimmt, eine gute therapeutische Beziehung wollen. Im Laufe des Kurses werden die Teil-
herzustellen und aufrechtzuerhalten, als schnell ein nehmer ruhiger, etwas weniger aktiv. Sie wer-
Medikament zu verschreiben. den wieder als ganze Menschen sichtbar.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
26.5 · Chancen der Integration einer psychosomatischen Medizin in die Hausarztpraxis
299 26
rührung, im doppelten Sinne, findet zuerst auf
der körperlichen Ebene statt und kann dann
den Weg zu einem Sprechen über seelisches
Erleben fördern.
4 Der Hausarzt hat nur begrenzte technische
Hilfsmittel und diagnostische Möglichkeiten
zur Hand, muss aber oft weitreichende Ent-
scheidungen fällen. Das zwingt ihn dazu,
wesentliche Probleme der Patienten schnell zu
erkennen und sich auf Lösungen zu konzen-
trieren.
4 Die durchschnittliche Patientenbindung zu ei-
ner Hausarztpraxis beträgt in Deutschland weit
. Abb. 26.1 Eule im Kittel mehr als 10 Jahre. Hausärzte bilden fast die
einzige Arztgruppe, die durch Hausbesuche
einen Einblick in die häusliche Lebenssituation
4 Sprechen Sie die Ressourcen (die Kräfte, Fähig- und in die familiären Beziehungen bekommt.
keiten …) des Patienten an, entdecken Sie neue Wohn- und Arbeitsbereiche des Arztes und
Ressourcen mit ihm. Ihre Beziehung zum pro- der Patienten berühren sich häufig. Er begleitet
blembeladenen Patienten wird sich ändern, den Patienten über Jahre, oft Jahrzehnte hin-
nur über den Umweg der Ressourcen werden weg bei unterschiedlichen Erkrankungen und
Sie manche Probleme lösen können. auch in Notlagen. Anders als im Krankenhaus,
4 Bei wenig Zeit: Bieten Sie dem Patienten bald wo der Patient immer wieder andere Ärzte und
ein längeres Gespräch an, das ist besser und Pflegepersonal trifft, ist der Hausarzt mit dem
leichter planbar, als heute das Problem nur persönlichen Hintergrund des Patienten ver-
kurz anzureißen. traut. Er erhebt nicht nur, sondern »erlebt«
auch die Anamnese, er kennt durch Haus-
besuche das familiäre Milieu und kann zutref-
26.5 Chancen der Integration einer fender als jeder außenstehende Arzt beurteilen,
psychosomatischen Medizin in ob Probleme in der Familie oder der Partner-
die Hausarztpraxis schaft vorliegen und am Krankheitsgeschehen
beteiligt sind. Er kann bei einer großen Zahl
4 Die psychosomatische Grundversorgung ist in seiner Patienten eine Langzeitbeobachtung be-
die Sprechstunde integriert. Körperliche und treiben, die bisher für wissenschaftliche Frage-
seelische Probleme kommen gemeinsam zur stellungen noch kaum genutzt wurde. Durch
Sprache und können in ihrem Wechselspiel er- diese Langzeitbetreuung entsteht eine sehr
kannt werden. Ein Gespräch über seelische starke persönliche Beziehung und Bindung
Konflikte im Rahmen der Sprechstunde erlebt zwischen Arzt und Patient, häufig bis in die
der Patient nicht als Stigma. Hausärzte bieten Sterbesituation hinein.
das ganz selbstverständlich an, der Patient 4 Diagnostik und Therapie stehen beim Haus-
kann das Angebot annehmen, obwohl er sonst arzt in noch viel engerem Zusammenhang als
nie zu einem »Psycho-Doktor« ginge. beim Spezialisten und beim Kliniker. Diagnos-
4 Die körperliche Untersuchung gehört natürlich tische und therapeutische Interaktionen grei-
mit zur Diagnostik und ermöglicht vielfältige fen ineinander und sind nicht immer klar zu
Beobachtungen und Rückschlüsse auf körper- trennen, weil sie zeitlich, personell und räum-
lich-seelische Zusammenhänge. Der Zugang lich stark miteinander verbunden sind. Dazu
über den Körper ist für den Patienten und den kommt die spezielle Chance der Allgemeinpra-
Arzt weniger ängstigend, da vertrauter. Die Be- xis, häufig vor einer genauen Diagnostik schon

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
300 Kapitel 26 · Psychosomatik in der Hausarztpraxis

mit einer Therapie beginnen zu müssen. Aber fühl, sie überhaupt nicht mehr liebe. Er wiederum hat
auch das sogenannte »abwartende Offenhal- Angst, kritische Dinge wie das Erwachsenwerden der
ten« bzw. besser auf English »watchful waiting« Kinder anzusprechen, und spricht deshalb kaum
gehört dazu. Nicht immer muss sofort etwas noch mit ihr. Was wiederum ihre Befürchtungen zu
getan werden. Ein wirklich erfahrener Haus- bestätigen scheint.
arzt schließt im Geist alle »abwendbar gefähr-
lichen Verläufe« inkl. möglicher psychischer Durch 4–5 Gespräche war die Situation soweit ver-
und sozialer Folgen aus, und kann dann in ändert, dass beide miteinander – und auch mit den
aller Ruhe zuwarten und den Patienten regel- Kindern – über die Zukunft sprechen konnten. Bei-
mäßig z. B. täglich beobachten. Das löst ohne der Angst ließ erheblich nach, der spätere tatsächli-
großen Aufwand viele der Alltagskonsultatio- che Auszug der Kinder ging ohne größeren Tren-
nen beim Hausarzt. nungsstress vonstatten. Alle 3 Kinder haben noch
4 Durch rechtzeitiges Eingreifen kann der Haus- guten Kontakt mit den Eltern.
26 arzt Chronifizierungen verhindern. Ein we- Diese Begegnung mit Herrn D. beschreibt einen
sentlicher Teil seiner Arbeit ist Primärprophy- sehr häufigen Verlauf hausärztlicher Gespräche, die
laxe, die Früherkennung und Frühbehandlung durchaus als »psychosomatisch« erkannt werden
von psychosomatischen Fehlentwicklungen können, und der dadurch verbesserten Betreuung
oder Erkrankungen. Er kann z. B. junge Müt- von Patienten.
ter, die nach der Geburt des ersten Kindes 4 Bei Patienten mit chronischen Erkrankungen
überfordert sind, beraten, er kann Eltern Hilfe- kann der Hausarzt die Bewältigung der Ein-
stellungen geben bei schwierigen Entwick- schränkungen und die Schwere des Verlaufs
lungsstufen der Kinder. In allen Schwellen- und das Verhalten bei Rezidiven weiter beein-
situationen einer Familie und natürlich bei Life flussen.
Events wie Heirat, Geburt, Trennung oder Tod 4 Eine wichtige Rolle nimmt die Zusammenarbeit
kann er schon lange vor dem Auftreten von mit Fachärzten und Klinikärzten ein. Durch den
Problemen im Gespräch mit den Betroffenen permanenten Kontakt und den Informations-
Lösungen finden. austausch – darunter fällt auch das schnelle Te-
lefonat mit Vermittlung eines bestimmten Ein-
Fallbeispiel drucks über die Symptomatik des Patienten –
Der Patient D. ist in der Praxis schon lange bekannt. können Fehlentwicklungen und Teufelskreise
Seine Frau leidet unter einer Angststörung, die auch korrigierend beeinflusst werden. Der ganzheit-
den Patienten beunruhigt. Die Ängste der Frau bezie- liche Blick des psychosomatisch orientierten
hen sich auf Phantasien über Leere und Alleinsein, Hausarztes mit all seinen Kenntnissen über den
wenn die Kinder den elterlichen Haushalt verlassen Patienten kann somit auch Fachkollegen behilf-
werden. Zum Zeitpunkt des ersten Gesprächs sind lich sein, sofern dieser für eine solche Sichtweise
die drei Kinder 14, 16 und 17 Jahre alt. Der Mann und Hilfestellung offen ist.
klagt im Gespräch über Kopfschmerzen und Sorgen:
»Ich zerbreche mir so oft den Kopf, was aus meiner
Frau wird.« Der Arzt bestätigt nur, dass er dies verste- 26.6 Lösungen
he: »Das finde ich prima, dass Sie wegen Ihrer Frau
mal zu mir kommen, ich kann Ihnen anbieten, mal Durch jahrelange systematische psychosomatische
davon zu sprechen.« Angebote, schon im Studium, aber auch als Pflicht-
Durch eine Reihe von kurzen Gesprächen mit dem kurse in der Facharztweiterbildung, hat sich das
Patienten und seiner Ehefrau, mal zusammen, mal al- Profil des niedergelassenen Hausarztes verändert.
lein, gelingt es, das Ehepaar wieder zum Miteinan- Es ist heute viel selbstverständlicher, nach sozialen
der-Reden zu bringen. Die Ängste der Frau, so stellt und psychischen Aspekten der Krankheit zu fragen,
sich heraus, beziehen sich auch auf das Verlassen die Patienten erwarten es und der Arzt ist häufig gut
werden vom Ehemann, weil dieser nach ihrem Ge- geschult in diesem Bereich.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
Literatur
301 26
Immer noch gilt natürlich, dass eine Passung Eine von Beginn an psychosomatisch orientierte
zwischen Arzt und Patient hergestellt werden muss. Haltung und Handlungsweise würde manchen Irr-
Ein rein auf eine organische Ursache orientierter weg mit all seinen persönlichen Schicksalen vermei-
Patient, z. B. ein somatoform Erkrankter, wird sich den helfen« (Bahrs 2007).
mit einem eher psychosomatisch orientierten Arzt
eher schwertun, obwohl genau dieser Arzt seine jFazit für die Praxis
Hauptchance ist, sein Leiden zu beenden oder zu Psychosomatisches Denken und Handeln macht
lindern. Auch an dieser Passung sollte der Arzt mit Spaß! Die Arzt-Patient-Beziehung kann besser wer-
den Patienten arbeiten: wie viele psychische und den. Und dies ist ja gerade in der Hausarztpraxis ein
soziale Hintergründe sollen wir hier besprechen. Je ganz zentraler Teil des ärztlichen Tuns. Nur durch
selbstverständlicher der Arzt dies findet, umso eine völlig selbstverständliche und alltägliche Psy-
mehr dazu passende Patienten wird er haben und chosomatik können Hausärzte ihren Patienten eine
sich daran erfreuen. gute an Patientenbedürfnissen ausgerichtete Ver-
Wir verstehen unsere Patienten besser, wir fin- sorgung bieten. Das erhält die Freude am Arztberuf.
den bessere Lösungen, weil es nur in der Integration Etwa so, wie Eugen Roth den guten Arzt beschreibt
Lösungen für sonst verfahrene Situationen gibt. Nur (Roth 1934):
durch eine Erweiterung, auch des Horizontes der
Patienten in den psychischen und sozialen Bereich, Der gute Arzt
werden wir passende Lösungen für Patientenpro- Der gute Arzt ist nicht zu zärtlich,
bleme finden. Das erste Beispiel der Patientin A. mit Doch ist er auch nicht eisenbärtlich.
einer »banalen« Tonsillitis und die Entwicklung die- Nicht zu besorgt und nicht zu flüchtig,
ses Gesprächs über relevante Teile ihres Lebens de- Er ist mit einem Worte: tüchtig.
monstrieren diesen Punkt sehr deutlich. Und wenn Er ist ein guter Mediziner,
wir noch Ressourcen mit den Patienten finden, ist Erst Menschheits- und dann Geldverdiener.
es tatsächlich durchaus ein Genuss. Gesunde fühlen sich wie Götter
Ein niedergelassener Chirurg fragte in einem Und werden leicht am Arzt zum Spötter.
unserer Seminare sehr ernsthaft, warum er denn Doch bricht dann eine Krankheit aus,
überhaupt mit seinen Patienten viel reden solle, das Dann schellen sie ihn nachts heraus
gehöre einfach nicht zu seiner Arbeit, auch der Pa- Beim allerärgsten Sudelwetter
tient wolle von ihm nur saubere chirurgische Hand- Und sind ganz klein vor ihrem Retter.
lungen. Unsere Arbeitsgruppe ist fest davon über- Der kommt – nicht wegen der paar Märker,
zeugt, dass jeder Patient, jede Patientin von jedem Die Nächstenliebe treibt ihn stärker
Arzt wünscht, dass er den ganzen Menschen be- (Schlief er auch noch so süß und fest),
rücksichtigen möge bei seinen Entscheidungen, Zu kriechen aus dem warmen Nest.
Vorschlägen und Gesprächen. Behandelt drum den Doktor gut,
»Auch im gesundheitspolitischen Rahmen wird Damit er Euch desgleichen tut.
der organische Krankheitsbegriff weiterhin bevor-
zugt. Das wirkt sich besonders nachteilig auf die
Vergütung von Leistungen aus: Technische Leistun- Literatur
gen werden immer noch höher vergütet als der per-
Bahrs O (2007) Der Bilanzierungsdialog. Der Mensch 38,
sönliche Einsatz und das ärztliche Gespräch. In den 29–32
vergangenen Jahren ist hier zwar eine Verbesserung Balint E, Norell JS (1977) Fünf Minuten pro Patient. Eine Studie
eingetreten, aber der Trend bleibt bestehen. Dieses über die Interaktion in der ärztlichen Allgemeinpraxis.
Missverhältnis zeigt sich umso deutlicher, je mehr Suhrkamp, Frankfurt a. M.
Roth E (1934) Der Wunderdoktor. Alexander-Duncker, Weimar
im Einzelfall eine unsinnige Stufenleiter diagnosti-
Rueter G (2012) Interaktion von Arzt und Patient – die Perso-
scher oder therapeutischer Eingriffe dem Patienten nale Medizin wiederentdecken. Allgemeinarzt 12, 60–61
keine wirkliche Hilfe bringt und auch auf Seiten der Shepherd et al. (1966) Psychiatric illness in General Practice.
Ärzte Unzufriedenheit, ja Aggressionen hinterlässt. Oxford University Press, London

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
302 Kapitel 26 · Psychosomatik in der Hausarztpraxis

Volck G, Kalitzkus V (2012) Passung im Minutentakt – die


Komplexität einer Hausarztpraxis, Mikroszenenprotokoll
als Instrument zur Selbstreflexion. Z Allg Med, 88,
105–111
Von Uexküll T, Wesiak W (2011) Integrierte Medizin als
Gesamtkonzept der Heilkunde: ein bio-psycho-soziales
Modell. In: Adler RH, Herzog W, Joraschky P, Köhle K,
Langewitz W, Söllner W Wesiack W (Hrsg). Lehrbuch der
Psychosomatischen Medizin. Urban & Fischer, München

26

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
303 27

Psychosomatik
im Krankenhaus
Kurt Fritzsche, Martin Dornberg

27.1 Psychische und psychosomatische Störungen


und Probleme im Krankenhaus – 304

27.2 Ziele und Umsetzung einer psychosomatischen


Grundversorgung im Krankenhaus – 304
27.2.1 Weiterbildungsergebnisse eines Kurses in psychosomatischer
Grundversorgung für Krankenhausärzte – 305

27.3 Die Stationsvisite – 306


27.3.1 Die Stationsvisite in ihrer bisherigen Form – 306
27.3.2 Die psychosomatische Stationsvisite – 306

27.4 Der psychosomatische Konsil- und Liaisondienst – 307


27.4.1 Wirksamkeit des psychosomatischen Konsil- und
Liasondienstes – 308

27.5 Integrierte internistische Psychosomatik – 309

Literatur – 309

K. Fritzsche et al. (Hrsg.), Psychosomatische Grundversorgung,


DOI 10.1007/978-3-662-47744-1_27, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
304 Kapitel 27 · Psychosomatik im Krankenhaus

27.1 Psychische und psychosomati- 27.2 Ziele und Umsetzung einer


sche Störungen und Probleme psychosomatischen Grund-
im Krankenhaus versorgung im Krankenhaus

Nach verschiedenen Untersuchungen ist je nach Auch im Krankenhaus sind die Hauptziele der psy-
Krankenhausfachabteilung bei 30–50 % der dorti- chosomatischen Grundversorgung:
gen Patienten von einer seelischen Belastung entwe- 1. Das rechtzeitige Erkennen psychosozialer
der im Zusammenhang mit der jeweiligen körperli- Belastungen, deren Bewertung für den somati-
chen Erkrankung oder im Sinne einer eigenständi- schen Krankheitsverlauf und deren Integration
gen psychischen Störung auszugehen (Arolt et al. in die weitere Behandlungsplanung.
1997; Fritzsche et al. 2007). 2. Begrenzte Gesprächsangebote.
Die psychosozialen Belastungen sind auf fol- 3. Die rechtzeitige und gezielte Hinzuziehung des
gende Ursachen zurückzuführen (Weidner et al. psychiatrischen und/oder psychosomatischen
2014): Konsildienstes und/oder die direkte Weiterver-
4 Reaktive psychische Störungen im Rahmen der mittlung in ambulante oder stationäre Fach-
27 Krankheitsverarbeitung, am häufigsten Angst psychotherapie.
und Depression z. B. bei Krebs, Herzinfarkt
oder vor und nach lebensbedrohlichen chirur- Die Umsetzung einer psychosomatischen Grund-
gischen Eingriffen. versorgung im Krankenhaus ist im Idealfall mit ei-
4 Entwicklung einer eigenständigen psychischen ner Reihe organisatorischer Veränderungen ver-
Störung im Kontext der somatischen Erkran- bunden:
kung z. B. Panikattacken nach Implantation 4 Fallbesprechungen von Ärzten und Pflege-
eines Defibrillators. personal (sowie ggf. mit anderen Berufsgrup-
4 Körperliche Beschwerden ohne Organbefund pen), bei der v. a. komplexe Krankheitsbilder
(somatoforme Störungen) auf dem Hinter- unter biopsychosozialer Sicht besprochen
grund einer Depression oder Angststörung werden und bei denen das weitere Vorgehen
oder als Ausdruck psychosozialer Belastungen. gemeinsam abgestimmt wird.
4 Primär körperliche Erkrankungen, bei denen 4 Gruppensupervision durch den psychosoma-
psychische Belastungen bei der Auslösung und tischen Konsil- und Liaisondienst für alle ärzt-
bei der Intensität der Beschwerden eine wich- lichen Mitarbeiter (oder z. B. für Stations-
tige Rolle spielen z. B. Neurodermitis, Asthma teams), bei der schwierige Patienten vorgestellt
bronchiale, Colitis ulcerosa oder Hypertonus. werden können.
4 Vorbestehende psychische Erkrankungen, die 4 Einzelsupervision durch den psychosoma-
nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit tischen Konsil- und Liaisondienst für Ärzte,
der aktuellen körperlichen Erkrankung stehen Pflegeteams und andere Berufsgruppen.
z. B. posttraumatische Belastungsstörung, rezi- 4 Die Stationsvisite, die Oberarzt- und Chefarzt-
divierende depressive Störung, Suizidversuch, visite sind patientenzentriert gestaltet.
Suchterkrankungen. Patienten, bei denen die kürzeren 5- bis
4 Hirnorganisches Psychosyndrom in der Folge 10-minütigen Gesprächskontakte nicht aus-
der medizinischen Behandlung z. B. Delir nach reichen, bekommen zusätzlich längere Einzel-
Herzoperation. gespräche oder/und spezifische psychothera-
4 Psychosoziale Belastungen wie Partnerschafts- peutische Angebote (z. B. Entspannungsver-
probleme, Einsamkeit, berufliche Stresssitua- fahren).
tion, die in unmittelbarem kausalem Zusam-
menhang mit der körperlichen Erkrankung Diese Veränderungen können nur schrittweise ein-
z. B. koronare Herzerkrankung stehen, nicht geführt und sollten rechtzeitig geplant, mit allen
aber die Kriterien einer ICD-F Diagnose Beteiligten abgesprochen und von allen Behandlern
erfüllen. mitgetragen werden.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
27.2 · Ziele und Umsetzung einer psychosomatischen Grundversorgung im Krankenhaus
305 27
Probleme bei der Umsetzung ergeben sich häufig 27.2.1 Weiterbildungsergebnisse eines
bei folgenden Punkten: Kurses in psychosomatischer
1. Akutfälle, bei denen apparative Diagnostik und Grundversorgung für Kranken-
Akutinterventionen Vorrang haben und es erst hausärzte
im weiteren Verlauf des stationären Aufent-
haltes möglich ist, ein Gesamtbild vom Patien- Ärzte aller Fachrichtungen, die den Kurs Psychoso-
ten zu gewinnen. matische Grundversorgung im Rahmen ihrer Fach-
2. Hierarchische Gliederung bei den ärztlichen arztweiterbildung absolviert haben, dokumentier-
(aber auch pflegerischen) Mitarbeitern versus ten ausgewählte Behandlungsfälle. 2028 dokumen-
partnerschaftliche Behandler-Patient- und tierte Behandlungsfälle von 367 Ärzten wurden
Behandler-Behandler-Beziehung. Ein psycho- insgesamt ausgewertet. Ängste, Depressivität und
somatisches Denken und Handeln kann nicht familiäre Probleme waren dabei die häufigsten psy-
von oben verordnet werden, sondern ist Teil chosozialen Belastungen. In über 40 % der Fälle
einer veränderten Haltung, die der Arzt/ fanden sich keine Angaben zur Vorgeschichte. Dia-
Pflegende oft erst im Laufe seiner Aus- und gnostische und therapeutische Gespräche fanden
Weiterbildung entwickelt. bei fast der Hälfte der Patienten (45 %) statt.
3. Nicht selten ist das Pflegepersonal trotz gegen- Patienten mit diesen psychodiagnostischen und
teiliger verbaler Bekundungen nicht bereit therapeutischen Interventionen erzielten signifi-
oder geschult, im Team eine patientenzentrier- kant höhere Werte beim gegenseitigen Verständnis,
te Medizin mitzutragen. Unflexible Dienst- dem Behandlungserfolg und der Patientenzufrie-
pläne, autoritäre Strukturen, geringe Bereit- denheit als Patienten ohne diese Maßnahmen. Ein
schaft, sich mit psychosomatischen Aspekten kollegialer Austausch wurde für über die Hälfte der
des Krankseins auseinanderzusetzen und feh- Patienten gewünscht und fand dann hauptsächlich
lende Fortbildungsmöglichkeiten für psycho- im Stationsteam statt. Die Unterschiede der Ein-
somatische Pflege, stehen einer Integration des schätzungen zwischen chirurgisch und nicht-chi-
Pflegepersonals in ein biopsychosoziales Ge- rurgisch tätigen Ärzten beschränkten sich auf weni-
samtkonzept immer wieder im Wege. Dennoch ge, allerdings bedeutsame Items, z. B. mehr Über-
gibt es auch ermutigende Erfahrungen, bei de- weisungen in Physiotherapie und häufigere Krank-
nen einzelne Stationen oder Abteilungen ande- schreibungen bei den chirurgisch tätigen Ärzten
re Wege einer integrierten Medizin beschreiten und mehr psychosoziale Interventionen und Psy-
(Schmeling-Kludas u. Wedler 1997). chopharmaka bei den nicht-chirurgischen Fach-
abteilungen.
Die Umsetzung einer stärker biopsychosozial aus- Die Ergebnisse zeigen, dass zumindest im Rah-
gerichteten Medizin hängt auch von dem Ausmaß men der Kurse zur Psychosomatischen Grundver-
der persönlichen psychosomatischen Qualifikation sorgung eine psychosomatische Diagnostik und
aller Beteiligter ab. Durch fortlaufenden Ausbau der Behandlung durch Klinikärzte im Allgemeinkran-
psychosomatischen Versorgung in Form von Um- kenhaus möglich ist und stattfindet. Die dokumen-
strukturierungen und Weiterbildung der Mitarbei- tierten Interventionen und Behandlungsergebnisse
ter in Psychosomatik und Psychotherapie kann es weisen dabei eindeutig auf einen positiven Effekt
gelingen, schrittweise eine bessere Versorgung zu von psychosozialen Interventionen durch Klinikärz-
etablieren. Im Schnitt sind dafür Entwicklungszeit- te hin. Die fehlenden Angaben in der psychosozialen
räume von 5–10 Jahren zu veranschlagen. Für ex- Anamnese und die in der Studie festgestellte geringe
plizit psychotherapeutische Tätigkeiten, schätzten Umsetzung des als wichtig eingeschätzten kollegia-
Schmeling-Kludas et al. (1991), wird etwa ein Zehn- len Austauschs zeigen strukturelle Defizite auf.
tel der Arbeitszeit eines (internistischen) Stations-
arztes verwendet. Es sei jedoch nicht realistisch,
allen Patienten gleichermaßen auf der somatischen
und der psychischen Ebene gerecht zu werden.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
306 Kapitel 27 · Psychosomatik im Krankenhaus

27.3 Die Stationsvisite

Wir betrachten im Folgenden die Stationsvisite un-


ter 3 Gesichtspunkten:
1. Welche Voraussetzungen bietet die Visite für
ein gelingendes Arzt-Patient-Gespräch
(»Passung«)?
2. Wie lassen sich diese Rahmenbedingungen für
das Gespräch mit dem Patienten im Sinne der
psychosomatischen Grundversorgung verbes-
sern?
3. Gibt es Möglichkeiten, die Visite für thera-
peutische Interventionen zu nutzen?

27 27.3.1 Die Stationsvisite in ihrer


bisherigen Form . Abb. 27.1 Cartoon: Chefarztvisite.
(Zeichnung: Gisela Mehren)
Bei der Stationsvisite in ihrer bisherigen Form ist
für die subjektive Seite des Patienten wenig Zeit. Im
Durchschnitt dauert nach Fehlenberg et al. eine objektiven Krankheitsmodells. Das subjektive
Visite ca. 2,5 min pro Patient. Der zeitliche Ge- Krankheitsverständnis des Patienten fällt damit
sprächsanteil des Arztes hat freundlich geschätzt unter den Tisch.
einen Anteil von 60 %, der von dem Patienten 30 %
und das Pflegepersonal hat einen Anteil von 10 %.
Der Arzt stellt dabei im Durchschnitt 11 Fragen, 27.3.2 Die psychosomatische
denen eine Frage des Patienten gegenübersteht. Stationsvisite
94 % aller Unterbrechungen im Gespräch erfolgen
durch den Arzt. Informationen zu seiner Erkran- Vor der Zimmertür erfolgen die Kurvenvisite, die
kung erfährt der Patient bei der Visite meistens in Organisations- und Arbeitsbesprechung zwischen
indirekter Weise, d. h. aus dem Gespräch, das die Arzt und Schwester sowie der Austausch über den
Ärzte neben seinem Bett führen. Besonders bei Patienten. Im Zimmer steht dann das Gespräch zwi-
schwerkranken Patienten beschränken sich die Ärz- schen Arzt und Patient im Mittelpunkt. Der für den
te auf das Gespräch unter sich. 90 % der Fragen von Patienten zuständige Arzt übernimmt die Ge-
Patienten mit schlechter Prognose werden leider sprächsführung. Der Arzt versucht mit dem Patien-
nicht oder nur unangemessen beantwortet (Fehlen- ten räumlich auf einer Ebene zu sein, z. B. setzt er
berg et al. 1990). sich mit dem Stuhl ans Bett oder setzt sich auf das
Die Ergebnisse zeigen, dass die Person des Bett und signalisiert, dass er sich ihm zuwendet und
Arztes das Gespräch dominiert. Je kränker der Zeit für ihn hat. Nach einer offenen Frage: »Wie
Patient ist, desto weniger Einflusschancen hat er geht es Ihnen heute?«, hat der Patient Gelegenheit,
auf das Gespräch. Eine Feinanalyse des Gesprächs- seine unmittelbaren Anliegen mitzuteilen.
verhaltens von Arzt und Patient deckt auf, dass fast Als Alternative zu dieser Standardfrage kann
alle Ansätze des Patienten, seine Beschwerden und der Arzt dem Patienten auch eine Rückmeldung ge-
sein Befinden aus seiner Sicht darzustellen, vom ben, wie er ihn im Moment erlebt:
Arzt durch Rückfragen, durch Abwiegeln, Hinhal- A: »Ich habe den Eindruck, dass es Ihnen heute
ten, Leerlaufen lassen und andere Abweisungs- Morgen nicht so gut geht.«
strategien geblockt werden. Der Arzt bestimmt P: »Naja, es geht so.«
das  Gespräch also anhand eines rein somatisch A: »Das klingt etwas zögerlich.«

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
27.4 · Der psychosomatische Konsil- und Liaisondienst
307 27
P: »Ich mache mir Sorgen über das Ergebnis der
morgigen Darmspiegelung. Wenn ich nun operiert – Austausch zwischen Arzt und Pflegenden
werden muss?« über den Patienten
A: »Sie befürchten, dass die Entzündung so
schwer ist, dass nur eine Operation helfen kann?« Teil II (im Patientenzimmer)
P: »Ja, das belastet mich am meisten.« 5 Gespräch mit dem Patienten
– Begrüßung: »Wie geht es Ihnen heute?«
Nach dieser ersten Gesprächsphase kann sich der – Einbeziehung der Gefühle ins Gespräch
Arzt nunmehr den medizinischen Aspekten zuwen- – Eingehen auf neu aufgetretene Symp-
den, z. B. bisherige Ergebnisse des Labors in Bezug tome und auf Fragen
auf Entzündungsparameter, Ergebnisse des Ultra- 5 Körperliche Untersuchung (bei Bedarf )
schalls und anderer bildgebender Verfahren. Er kann 5 Gespräch mit dem Patienten
den Patienten kurz körperlich untersuchen und ihm – Diskussion der Kurvenwerte (u. U. anhand
das weitere diagnostische und therapeutische Vorge- der Kurve)
hen erläutern. Zum Abschluss der Visite sollte der – Diskussion weiterer diagnostischer und
Patient noch die Möglichkeit haben, Unklarheiten therapeutischer Maßnahmen
zur Sprache zu bringen, etwas mitzuteilen, was ihm – Zusammenfassung und Bewertung der
noch eingefallen ist oder Fragen zu stellen. Befunde für und durch den Patienten
Bei problematischen Patienten ist eine Nachbe- – Abschluss: »Haben Sie noch Fragen?«
sprechung auf dem Flur sinnvoll. Sie dient dazu, dass
Ärzte und Pflegepersonal ein gemeinsames Ver- Teil III (vor der Zimmertür)
ständnis für den Patienten entwickeln und dieses 5 Nachbesprechung
auch gegenüber dem Patienten gemeinsam vertreten. – Kurze Auswertung des Patienten-
Diese Visitenform lässt sich auch auf Oberarzt- gesprächs, ggf. neue Arbeitsverteilung
und Chefvisiten übertragen. Dabei ist es entschei-
dend, wie der Ober- oder Chefarzt den Stationsarzt
behandelt und einbezieht. Bei Patienten werden die Teile der oben beschriebenen Veränderungen wur-
Aussagen des Oberarztes oder des Chefarztes be- den im »Ulmer Modell« (Köhle et al. 1977) entwi-
sonders hoch bewertet. Wichtig ist, dass der Sta- ckelt. Dabei handelte es sich aber um eine internis-
tionsarzt oder die Stationsschwester dem Patienten tisch-psychosomatische Krankenstation mit etwa
die Chefarztvisite ankündigt, ihm Ablauf und Funk- 10 min Visitenzeit pro Patient. Die Ärzte hatten
tion erklärt und den Patienten bittet, eventuelle neben der internistischen auch eine psychothera-
Fragen aufzuschreiben. Der Patient sollte auch dar- peutische Weiterbildung.
auf vorbereitet sein, dass bei der Chefarztvisite das Die Visite in dem oben beschriebenen Ablauf
Fachgespräch Vorrang hat und dass in der nachfol- kann u. U. zunächst nur zimmerweise bei einzelnen
genden Stationsvisite der Stationsarzt ihm noch Patienten geübt werden. Dadurch wird verhindert,
einmal alles genauer erklären wird. dass der gesamte Stationsablauf durcheinander
Ein Beispiel für Visitengestaltung zeigt die fol- kommt und der neue Ansatz Gefahr läuft zu schei-
gende Übersicht. tern.

Visitengestaltung (modifiziert nach 27.4 Der psychosomatische Konsil-


Schmeling-Kludas 1988) und Liaisondienst
Teil I (vor der Zimmertür)
5 Kurvenvisite In Anlehnung an die in der Medizin übliche Kon-
– Organisations- und Arbeitsbesprechung sultation werden darunter diagnostische und thera-
zwischen Arzt und Pflege peutische Leistungen verstanden, die ärztliche oder
psychologische Psychotherapeuten auf Anfrage

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
308 Kapitel 27 · Psychosomatik im Krankenhaus

einer Station »vor Ort« erbringen. In der Praxis ge- 27.4.1 Wirksamkeit des psychosomati-
hören dazu die Vor- und Nachbesprechungen mit schen Konsil- und Liasondienstes
Ärzten und Pflegepersonal, 2–3 Patientengesprä-
che, evtl. mit der ganzen Familie, und Empfehlun- Systematische Reviews belegen die Effektivität der
gen für das weitere Vorgehen, z. B. Weiterleitung Interventionen in Bezug auf die Verminderung psy-
in eine ambulante oder stationäre Fachpsycho- chischer Beschwerden der behandelten Patienten als
therapie. Psychosoziale Aspekte der Behandlung auch auf die Zunahme der psychosozialen Kompe-
sollen in Zusammenarbeit zwischen Stationsärzten, tenz der anfordernden Ärzte (Herzog et al. 2003;
Pflegeteam und Psychosomatiker in das Gesamt- Leentjens et al. 2011). Oft reichen dabei wenige Ge-
behandlungsprogramm eingefügt werden. Dadurch spräche aus, um die psychische und körperliche
entsteht eine »Integration durch Kooperation« Symptomatik sowie die Lebensqualität und die Zu-
(Wirsching 1990). friedenheit der Patienten zu verbessern. Die Motiva-
Beim Konsiliarmodell sind Austausch und Ko- tion, poststationär eine psychotherapeutische Be-
operation begrenzt und beschränken sich überwie- handlung in Anspruch zu nehmen, wird gefördert.
gend auf kurze Kontakte zwischen Ärzten und Pfle- Teamorientierte Interventionen wie Fort- und Wei-
27 gepersonal und auf schriftliche Empfehlungen. terbildungsangebote oder Supervisionen führen zu
Das Liaisonkonzept – die psychotherapeu- positiven Effekten bei Krankenhausärzten und Pfle-
tischen Mitarbeiter sind kontinuierlich auf der Sta- gepersonal. Die Kompetenz des Behandlungsteams,
tion anwesend und sind in das Behandlungsteam psychosoziale Probleme zu identifizieren, nimmt zu.
integriert – hat sich gegenüber dem herkömmlichen Teamsupervisionen verbessern die Kommunika-
Konsilmodell als erheblich wirkungsvoller erwie- tionsprobleme. Strukturierte Kommunikationstrai-
sen. Abteilungen, die nach dem Konsiliarmodell nings führen zu einer Verbesserung der kommuni-
arbeiten, haben eine Inanspruchnahme psychothe- kativen Kompetenz (Barth u. Lannen 2011).
rapeutischer Leistungen zwischen 0,5–2 % ihrer
Patienten. Bei Abteilungen mit einem Liaisondienst Fallbeispiel
können hingegen 20–30 % der Patienten kurz- oder Ein 20-jähriger Patient wendet sich an die Urologi-
längerfristig psychotherapeutisch betreut werden. sche Abteilung zur Abklärung einer erektilen Dys-
Dies führt zu größerer Zufriedenheit bei den Patien- funktion. Die sexuellen Probleme seien erstmals
ten und bei den Behandlern. Ärzte und Pflegeper- ca. 2 Monate nach einem Autounfall mit Kniegelenks-
sonal fühlen sich unterstützt und entlastet. Regel- trümmerbruch aufgetreten. Damals sei auch ein
mäßige Teilnahme an den Teambesprechungen, re- Hämatom im Beckenbereich nachgewiesen worden,
gelmäßige Fortbildungen für Ärzte und Pflegeperso- das möglicherweise zu einer Nervenschädigung ge-
nal, kurzfristige Fallbesprechungen bei schwierigen führt habe. Der junge Mann wirkte ansonsten körper-
Patienten führen zu einer kontinuierlichen Integra- lich und psychisch unauffällig. Die Belastungen
tion psychosomatischen Denkens und Handelns auf wegen der sexuellen Dysfunktion und der Auswir-
der Station. Besonders wichtig sind Liaisondienste kungen auf die Partnerschaft werden adäquat und
dort, wo Patienten, Angehörige und das medizini- glaubhaft dargestellt. Im Aufnahmebefund wird vom
sche Team starken Belastungen ausgesetzt sind, bzw. Urologen zunächst der Verdacht auf eine organische
wo häufiger konflikthafte Situationen entstehen z. B. Genese der sexuellen Störung gestellt.
in der Onkologie, der Transplantationsmedizin, der Im Rahmen einer erweiterten psychosozialen Anam-
Dialyse oder der Intensivstation. nese am folgenden Tag ergeben sich folgende zu-
Die Liaisonarbeit folgt damit dem Prinzip »In- sätzliche Informationen: Seine Mutter sei 16 Jahre alt
tegration durch Kompetenzsteigerung« (Wirsching gewesen, als er »produziert« wurde. Der Vater habe
1990). sich schon vor der Geburt »verdrückt«. Er habe bis
heute keinen Kontakt zu ihm. Er sei zuerst zusammen
mit seiner Mutter bei den Großeltern aufgewachsen
und habe dann mit der Mutter alleine eine Wohnung
bezogen. Die Mutter habe verschiedene Partner-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
Literatur
309 27
schaften gehabt, aber er habe schon als Kind sehr die wie alle anderen Stationen in die internistische
schnell gespürt, dass aus diesen Beziehungen nichts Notfallversorgung eingebunden ist, zusätzlich aller-
wird. Er habe sich diesen Männern auch überlegen dings durch eine wöchentliche Balintgruppe und
gefühlt. Nach einigen enttäuschenden Erfahrungen durch Stationsärzte in psychosomatischer Weiter-
mit Mädchen hat er mit 17 Jahren seine jetzige bildung und die Bereitstellung eines psychosomati-
Freundin kennengelernt. 1½ Monate später ereig- schen Liaisondienstes charakterisiert ist. 2. Stufe ist
nete sich der schwere Autounfall, der in der Folge zu eine integrierte internistisch-psychosomatische
Alpträumen und zu weiteren Symptomen einer post- Station, die spezifische psychosomatische Behand-
traumatischen Belastungsstörung führte. lungsangebote als Einzel-, Gruppen- oder Familien-
therapie anbieten. Die 3. Stufe der Integration ist
Im gemeinsamen Gespräch mit dem Kollegen vom eine Psychotherapiestation für Patienten mit psy-
psychosomatischen Konsildienst wird die sexuelle chischen und psychosomatischen Störungen im
Dysfunktion als Passungsstörung verstanden: Der engeren Sinne (Essstörungen, somatoforme Störun-
Körper drückt auf seine Weise aus, dass körperliche, gen, Persönlichkeitsstörungen, komplexe Trauma-
kognitive und emotionale Funktionen und Anteile Folgestörungen), deren Stationsärzte ebenfalls über
der Persönlichkeit nicht mehr zusammenpassen. eine internistische Kompetenz verfügen.
Die Frage, ob die Beschwerden körperlich oder see- Insgesamt gesehen sind jedoch integrierte inter-
lisch sind, führt in eine Sackgasse. Die Lebensge- nistisch-psychosomatische, integrierte neurolo-
schichte und die Präsentation der Beschwerden gisch-psychosomatische und integrierte gynäkolo-
weisen auf ein komplexes Wechselspiel von körper- gisch-psychosomatische Stationen selten. Gründe
lichen, psychischen und zwischenmenschlichen dafür sind v. a. das DRG Entgeltsystem und der
Aspekten hin. Neben einer symptomatischen The- hohe organisatorische und inhaltliche Aufwand.
rapie zur Wiederherstellung der Erektionsfähigkeit Qualifikationen auf hohem Niveau auf zwei Gebie-
motiviert der Urologe den Patienten zur Vorstellung ten vorzuhalten ist zeitaufwändig und damit auch
bei einem Psychotherapeuten mit dem Ziel, mit teuer.
einem männlichen Gegenüber die bisher abgespal-
tenen Teile seiner Lebensgeschichte einschließlich
des Autounfalls aufzuarbeiten und in seine Persön- Literatur
lichkeit zu integrieren.
Arolt V, Driessen M, Dilling H (1997) Psychische Störungen bei
Patienten im Allgemeinkrankenhaus. Dtsch Arztebl 94,
1354–1358
27.5 Integrierte internistische Barth J, Lannen P (2011) Efficacy of communication skills
Psychosomatik training courses in oncology: a systematic review and
meta-analysis. Ann Oncol 22, 1030–1040
Fehlenberg D, Simons C, Köhle K (1990) Die Krankenvisite
Vor allem in Nordamerika gibt es an fast allen Uni-
– Probleme der traditionellen Stationsarztvisite und
versitätskliniken und großen Lehrkrankenhäusern Veränderungen im Rahmen eines psychosomatischen
sogenannte Medical-Psychiatric Units (MPU), die Behandlungskonzepts. In: Uexküll von Th (Hrsg) Psycho-
entweder unter psychosomatisch/psychiatrischer somatische Medizin. Urban & Schwarzenberg, München,
Leitung oder internistischer Leitung stehen und S 265–286
Fritzsche K, Spahn C, Nübling M, Wirsching M (2007) Psycho-
psychosomatische Kompetenzen auf dem Gebiet
somatischer Liaisondienst im Universitätsklinikum. Be-
der Onkologie, Dialyse, AIDS/HIV-Therapie, Dia- darf und Inanspruchnahme. Nervenarzt 78, 1037–1045
betologie u. a. anbieten (Wullsin et al. 2006). Eine Herzog T, Stein B, Söllner W, Franz M (2003) Psychosoma-
integrierte internistische Psychosomatik hat sich im tisch-psychotherapeutischer Konsiliar-/ Liasondienst
deutschsprachigen Raum an den Universitätsklini- – Leitlinien und Quellentext. In: Herzog T, Stein B, Konsi-
ken in Heidelberg, Ulm und Bern entwickelt (Her- liar-/Liasonpsychosomatik und -psychiatrie: Leitlinien
und Qualitätsentwicklung. Schattauer, Stuttgart
zog u. Schwab 2011).
Herzog W, Schwab M (2011) Integrierte stationäre Psycho-
In Heidelberg existiert ein sog. 3-Stufen-Mo- somatik. In: Adler RH, Herzog W, Joraschky P, Köhle K,
dell: 1. Stufe ist die »normale« internistische Station, Langewitz W, Söllner W, Wesiack W (Hrsg) Psycho-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
310 Kapitel 27 · Psychosomatik im Krankenhaus

somatische Medizin. Theoretische Modelle und klinische


Praxis. 7. komplett überarb. Aufl. Urban & Fischer,
München
Köhle K, Böck D, Grauhan A (Hrsg) (1977) Die internis-
tisch-psychosomatische Krankenstation – ein Werkstatt-
bericht. Roche, Basel
Leentjens AF, Rundell JR, Wolcott DL et al. (2011) Reprint of:
Psychosomatic medicine and consultation-liason psy-
chiatry: scope of practice, processes, and competencies
for psychiatrists working in the field of CL psychiatry or
psychosomatics. A consensus statement of the European
Association of Consultation-Liason Psychiatry and Psy-
chosomatics (EACLPP) and the Academy of Psychoso-
matic Medicine (APM). J Psychosom Res 70, 486–491
Schmeling-Kludas C, Niemann BM, Jäger K, Wedler H (1991)
Das Konzept der integrierten internistisch-psychosoma-
tischen Patientenversorgung. Psychother Psychosom
Med Psychol 41, 257–266
27 Schmeling-Kludas C, Wedler H (1997) Integrierte psycho-
somatische Medizin in der internistischen Abteilung
eines Allgemeinen Krankenhauses. VAS, Frankfurt
Schmeling-Kludas C (1988) Die Arzt-Patient-Beziehung im
Stationsalltag. VCH, Weinheim Basel
Weidner K, Zimmermann K, Stein B, Söllner W (2014) Psycho-
somatische Medizin am Allgemeinkrankenhaus. Ärztliche
Psychotherapie 4, 201–210
Wirsching M (1990) Der psychosomatische Konsiliar- und
Liaisondienst. Evaluation, Forschungsansätze und Bei-
träge zur Lehre. Psychother Psychosom Med Psychol 40,
363–368
Wullsin LR, Söllner W, Pincus HA (2006) Models of integrated
care. MedClin North Am 90, 647–677

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
311 28

Die Balintgruppe
Kurt Fritzsche, Werner Geigges

28.1 Theoretischer Teil – 312


28.1.1 Definition – 312
28.1.2 Relevanz – 312
28.1.3 Wer war Michael Balint? – 312
28.1.4 Grundannahmen der Balintarbeit – 313
28.1.5 Gegenübertragung und Parallelprozess – 313

28.2 Praktischer Teil – 314


28.2.1 Rahmen und Verlauf einer Balintgruppe – 314
28.2.2 Aufgabe des Gruppenleiters – 314
28.2.3 Aufgaben des vorstellenden Arztes – 314
28.2.4 Skulpturarbeit in der Balintgruppe – 317
28.2.5 Einstellungsänderung des Arztes – 318
28.2.6 Wie werde ich Balintgruppenleiter? – 319

Literatur – 320

K. Fritzsche et al. (Hrsg.), Psychosomatische Grundversorgung,


DOI 10.1007/978-3-662-47744-1_28, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
312 Kapitel 28 · Die Balintgruppe

»At the centre of medicine there is always a 4 Dem Arzt zu helfen, sich weniger mit dem
human relationship between a patient and a Patienten und der Beziehungsproblematik al-
doctor.« (Balint 1957) lein gelassen zu fühlen, weniger Scham zu
empfinden über die Schwierigkeiten mit
Patienten und sich mehr zu öffnen für neue
28.1 Theoretischer Teil Erfahrungen.

Fallbeispiel
Eine Internistin berichtet in der Balintgruppe, dass sie 28.1.2 Relevanz
sich in der letzten Zeit über einen Patienten mit Dia-
betes mellitus, der zunehmend arroganter mit ihr Eine gute Arzt-Patient-Beziehung spielt die ent-
umginge, geärgert habe. Schon beim Hereinkommen scheidende Rolle für eine erfolgreiche und zufrie-
begrüße Herr M. sie herablassend mit: »Na, wie geht’s denstellende Behandlung. Für Diagnostik und The-
Ihnen heute, Frau Doktor?« und »Na, heute sehen Sie rapie ist es dabei wichtig, einerseits die Verhaltens-
aber nicht gut aus.« Sie ärgere sich mittlerweile muster des Patienten genau zu beobachten, ande-
schon, wenn sie den Patienten nur sehen würde. rerseits kann der Arzt auch durch Beachtung seiner
eigenen Gedanken, seiner Gefühls- und Verhalten-
simpulse wichtige Erkenntnisse erhalten.
28 28.1.1 Definition Patienten, welche sich ganzheitlich im Sinne ei-
ner biopsychosozialen Anamnese verstanden füh-
jWas ist eine Balintgruppe? len, sind zufriedener und zeigen eine bessere Com-
Balintgruppen beschäftigen sich mit der Beziehung pliance. Nicht zuletzt werden sie dadurch weniger
zwischen dem Arzt, seinem Patienten und dessen Geld kosten. Der Arzt hat weniger Stress mit diesen
Krankheit (Balint 2001). Ein Arzt stellt einen Patien- Patienten und mehr Freude an seiner Arbeit.
ten, der ihn aus den unterschiedlichsten Gründen
beschäftigt, in einer Gruppe von 8–12 Kollegen vor.
Die Gruppe spiegelt die Arzt-Patient-Beziehung aus 28.1.3 Wer war Michael Balint?
verschiedenen Blickwinkeln wider, die es dem Arzt
ermöglichen, andere Sichtweisen zu erlangen und Michael Balint wurde am 3. Dezember 1896 in Bu-
störende unbewusste Einflüsse sowie eigene Anteile dapest als Sohn eines Allgemeinarztes geboren.
wahrzunehmen. So entstehen ein neues Verständnis Nach einem Medizinstudium emigrierte er wegen
und eine neue Qualität der Beziehung. Diese neuen zunehmendem Antisemitismus nach Berlin, arbei-
Perspektiven helfen dem Arzt, sich selbst und den tete am biochemischen Institut bei Otto Heinrich
Patienten besser zu verstehen, und geben Anstöße Warburg, promovierte 1924 in Chemie, Physik und
für einen befriedigenderen Behandlungsverlauf. Biologie und absolvierte die Ausbildung zum Psy-
choanalytiker. Er untersuchte Medikamente auf ihre
jWas sind Ziele der Balintgruppenarbeit? Wirkungen und Nebenwirkungen, was ihn auf die
Ziele der Arbeit in den Balintgruppen sind: Idee brachte, den Arzt ebenso zu betrachten (»the
4 Dem vorstellenden Arzt zu helfen, ein neues, doctor as a drug«). Nach der Rückkehr nach Buda-
differenziertes Verständnis über den Patienten pest emigrierte er 1939 erneut wegen neuer anti-
zu gewinnen. semitischer Gesetze, dieses Mal nach England. Ab
4 Eigene blinde Flecken wahrzunehmen und die 1949 arbeitete er mit seiner zweiten Frau Enid an
zugrundeliegenden eigenen Gefühle sowie die der Londoner Tavistock Klinik. Sehr früh schon in-
Annahmen über die Beziehungsgestaltung des teressierte er sich für psychosomatische Krankhei-
Patienten zu hinterfragen. ten und beschäftigte sich mit der Bedeutung eines
4 Auf diese Weise bisher wenig bewusste Aspekte angemessenen psychologischen Verständnisses in
der Arzt-Patient-Beziehung wahrzunehmen der ärztlichen Tätigkeit. Er wollte Allgemeinärzte
und zu reflektieren. dafür sensibel machen, dass bei Krankheitssympto-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
28.1 · Theoretischer Teil
313 28
men neben organischen Ursachen auch seelische 6. So wie Wörter eine mehrfache Bedeutung
Vorgänge eine Rolle spielen. Der Schwerpunkt lag haben, können auch Schilderungen und
dabei auf der genauen Beobachtung der Arzt-Pa- Krankheitssymptome des Patienten auf meh-
tient-Beziehung, deren erwünschten Wirkungen reren Ebenen, die sich nicht gegenseitig aus-
und Nebenwirkungen. schließen, verstanden werden. Wenn ein
Sein bekanntestes Buch ist Der Arzt, sein Patient Patient scheinbar nur über das Wetter spricht
und die Krankheit (Balint 2001). Die Balintgruppe und dabei erwähnt, wie stark es draußen
entwickelte sich aus der Forschungsarbeit Michael stürmt, wie trüb der Himmel ist und dass
Balints zu frühen Objektbeziehungen und deren sicher bald ein Unwetter kommt, spricht er
Störungen, von ihm Grundstörungen genannt. Frü- möglicherweise auch über seinen inneren
he Beziehungsmuster finden sich wieder unter an- Zustand.
derem in Arzt-Patient-Beziehungen: »Meine Be- 7. Der Erfolg einer Balintgruppe hängt von der
schreibung lässt erkennen, dass ich das Hauptge- Aufrichtigkeit, dem Respekt und der gegen-
wicht auf den Mangel des ›Zueinander-Passens‹ von seitigen Unterstützung der Gruppenmitglieder
Kind und jenen Personen lege, aus denen seine ab. Die Inhalte der Balintgruppenarbeit sind
Umwelt sich zusammensetzt« (Balint 1973). vertraulich. Je länger eine Balintgruppe dauert
(Monate, Jahre), desto stärker werden die
Gruppenkohäsion und das Vertrauen inei-
28.1.4 Grundannahmen der Balintarbeit nander.

Die Grundannahmen der Balintarbeit sind:


1. Die meisten psychischen Prozesse sind unbe- 28.1.5 Gegenübertragung und
wusst, zunächst nicht zugänglich, aber beein- Parallelprozess
flussbar.
2. Es geht nicht um die Frage, was richtig oder Balintgruppenarbeit ist fokussiert auf die Gegen-
falsch ist, nicht um entweder/oder, sondern übertragungsphänomene, die der Patient beim Arzt
um sowohl als auch. Widersprechende Gedan- auslöst und die sich in der Gruppe widerspiegeln.
ken und Ideen können ausgesprochen werden Als Gegenübertragung bezeichnet man in der
und das Aushalten dieser ambivalenten Ge- Psychoanalyse eine Form der Übertragung, bei der
fühle ist wichtig. ein Therapeut auf den Patienten reagiert und sei-
3. Es ist nicht entscheidend, alles über den Pa- nerseits seine eigenen Gefühle, Vorurteile, Erwar-
tienten zu wissen. Gerade das, was vergessen tungen und Wünsche auf diesen richtet. Der Thera-
und beim Erzählen ausgelassen wurde, hat oft peut verlässt hierbei aus verschiedenen Motiven –
eine entscheidende Bedeutung. Kindheits- in der Regel vorübergehend – seine neutrale Posi-
erlebnisse sind wichtig. Sie prägen unsere tion. Daher galt die Gegenübertragung in den
Beziehungen als Erwachsene. Anfängen der Psychoanalyse als störender Einfluss,
4. Ärzte sind für den Patienten wichtige Bezugs- den der Therapeut sich bewusst machen und besei-
personen, auf die positive wie negative Gedan- tigen müsse. Die moderne Psychoanalyse sieht die
ken, Gefühle, Hoffnungen und Wünsche über- Gefühle des Therapeuten gegenüber dem Patienten
tragen werden. Der Arzt sollte sich dessen auch als »Resonanzboden«, durch den er Informa-
bewusst sein, ohne sie zu interpretieren. tionen über den Patienten gewinnt.
5. Das Verhalten und die Gefühle des Patienten
beeinflussen Gedanken, Gefühle und Handeln Fallbeispiel zum Parallelprozess
des Arztes und können ihn im Extremfall ver- Der Arzt stellte eine junge Patientin mit einer schwe-
wirren und handlungsunfähig machen. Auch ren Anorexia nervosa vor, die ihn zur Verzweiflung
der Arzt hat seine emotionale Entwicklungs- treibe und alle Therapievorschläge entwerte. Nach-
geschichte mit Stärken und Schwächen, die er dem die Gruppe sich eine Zeit lang mit der Patientin
kennen sollte. beschäftigt hat, verschiedene Facetten ihres Verhal-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
314 Kapitel 28 · Die Balintgruppe

tens diskutiert und auch Vorschläge zur Behandlung Gedanken, Gefühle, Phantasien und Körperreak-
gemacht hat, wurde der vorstellende Arzt wieder ein- tionen während der Patientenvorstellung. Aus einer
bezogen: Er könne mit allem Gesagten nichts anfan- leichten Distanzposition innerhalb des Gruppen-
gen. Das würde ihm überhaupt nicht helfen. Er fühle prozesses, ohne selbst einzugreifen, hört der Refe-
sich überhaupt nicht verstanden. rent den Schilderungen der übrigen Gruppenmit-
Dies waren exakt die Worte mit denen er anfangs glieder zu. Es entsteht ein komplexes Bild der Arzt-
auch die Patientin selbst vorgestellt hatte. Nun kann Patient-Beziehung, die für den Arzt viele neue
er spüren, wie es der Patientin mit ihrer Erkrankung Sichtweisen enthalten und blinde Flecken in seiner
und den verschiedenen Therapieversuchen geht. Wahrnehmung erleuchten. Er erkennt besser sein
Er fühlte ihre Schwäche, ihre Unsicherheit und ihre eigenes Verhaltensmuster und seinen Anteil an der
Verzweiflung. Aus der Perspektive der Patientin Arzt-Patient-Beziehung (. Abb. 28.1).
konnte er nun Wünsche an die Gruppe äußern und
die Beziehungsangebote der Gruppe besser an-
nehmen. 28.2.2 Aufgabe des Gruppenleiters

Es fand ein Parallelprozess zwischen der Arzt- Die Aufgabe des Gruppenleiters ist es, die Grund-
Patient(en)-Beziehung und der Beziehung zwi- annahmen der Balintarbeit am Beispiel der vorge-
schen dem Referenten und der Balintgruppe statt. stellten Arzt-Patient-Beziehung erlebbar zu ma-
28 Systemtheoretisch gesprochen handelt es sich um chen. Dazu dienen folgende Fragen:
eine Selbstähnlichkeit der Muster. Wenn es also ge- 4 Was glauben Sie, hat der Patient in diesem
lingt, dass der Arzt sich mit allen begleitenden Ge- Moment gefühlt?
fühlen in die Person des Patienten hineinversetzt, 4 Was für ein Mensch ist der vorgestellte Patient?
dann gelingt es ihm aus dieser Perspektive heraus, 4 Welche Gefühle löst dieser Patient bei uns aus?
den Patienten und die Interaktion zwischen ihm 4 Wie bringt der Patient seinen Arzt für seine
und dem Patienten besser zu verstehen. Bedürfnisse und Möglichkeiten »in Form« und
umgekehrt?
4 Wo und wie spiegelt sich darin eine grund-
28.2 Praktischer Teil legende »Passungsstörung« zwischen dem
Patienten und seiner Umwelt.
28.2.1 Rahmen und Verlauf 4 Wie glauben Sie, sieht der Patient seinen Arzt
einer Balintgruppe und was denkt er über ihn?
4 Warum hat der Arzt sich in dieser Situation so
Eine Balintgruppe setzt sich aus 8–12 Teilnehmern verhalten und was möchte er damit erreichen?
zusammen. Der Gruppenleiter ist in der Regel ein 4 Wie kann man das gemeinsame »Baumsägen«
ärztlicher oder psychologischer Psychotherapeut, zwischen Arzt und Patient beschreiben?
mit Gruppenprozessen vertraut, der eine Ausbil- 4 Gibt es etwas, was der Patient beim Arzt und
dung zum Balintgruppenleiter durchlaufen hat. Die vielleicht auch im Leben vermisst?
Gruppe trifft sich in regelmäßigen Zeitabständen
(wöchentlich, 14-tägig, monatlich oder auch jähr-
lich). Eine Sitzung dauert ca. 1½ h. 28.2.3 Aufgaben des vorstellenden
Der Referent beschreibt die Arzt-Patient-Bezie- Arztes
hung aus seiner Erinnerung heraus, ohne dass er
Aufzeichnungen oder die Patientenakte benutzt. Für den seinen Fall vorstellenden Arzt ergeben sich
Der Arzt berichtet über seine Beziehungserfahrung folgende Aufgaben:
mit dem Patienten und einige Details aus der Le- 4 Der Gruppendiskussion über meinen vorge-
bensgeschichte des Patienten. Die übrigen Grup- stellten Fall zuhören und auf meine Gedanken,
penmitglieder hören der Schilderung aufmerksam Gefühle, Körperwahrnehmungen und Phanta-
zu und berichten anschließend über ihre eigenen sien achten.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
28.2 · Praktischer Teil
315 28

Frage nach einem Fall Der Gruppenprozess beginnt ...

Ko- Ko-
leiter leiter

Wer hat
einen Fall?
Ich habe
einen Fall?
Leiter Leiter

Der Referent beschreibt seinen Fall, ohne Notizen Informationsfragen

Ko- Ko-
leiter leiter
Gibt es irgendwelche
Information, die Sie
noch gerne hätten?
Herr Werner ist ein
59 Jahre alter Mann
mit chronischen Wann begannen die
Rückenschmerzen Rückenschmerzen
von Herrn Werner
Leiter Leiter
Refe- Refe-
rent rent

Der Referent kann sich jetzt zurücklehnen Die Gruppe beginnt mit dem Fall zu arbeiten
und zuhören

Ko-
Ko- leiter
leiter
Wir bitten jetzt die Referen- Ich stelle mir Herrn Werner
ten, sich zurückzunehmen als einen sehr traurigen
und einfach nur zuzuhören und einsamen Menschen vor.
während die Gruppe arbeitet

Leiter Leiter

Refe- Refe-
rent rent

. Abb. 28.1 Was geschieht in einer Balintgruppe. (Mod. nach Lovell-Simons 2012)

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
316 Kapitel 28 · Die Balintgruppe

Welche Vorstellungen bestehen zur


Der Gruppenprozess läuft weiter ...
Arzt-Patient-Beziehung

Ko-
Ko- leiter
leiter
Ich habe gerade das Bild
eines kleinen Jungen,
Wenn ich der Arzt wäre, der gehänselt wird, weil
ich würde mich sehr er stottert.
frustriert fühlen

Leiter Leiter

Refe- Refe-
rent rent

Der Referent wird eingeladen wieder in die


28 Gruppe zurückzukommen

Ko-
leiter
Bitte kommen Sie wieder zurück in
die Runde. Wenn Sie möchten,
können Sie Ihre Gedanken und
Gefühle während des Gruppen-
prozesses äußern, Sie können aber
auch nur weiter zuhören

Leiter

Refe-
rent

Beendigung der Gruppenarbeit

Ko-
leiter
Ich möchte jetzt hiermit die
Gruppe beenden. Vielen Dank
an den Referenten für die Vor-
stellung der Arzt-Patienten-
Beziehung

Leiter
Refe-
rent

. Abb. 28.1 (Fortsetzung)

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
28.2 · Praktischer Teil
317 28
4 Es kann sein, dass ich mich ärgere, unverstan- 28.2.4 Skulpturarbeit in der
den fühle, frustriert bin und etwas sagen Balintgruppe
möchte. Oder ich fühle mich erleichtert, dass
ich diesen Fall an die Gruppe abgeben konnte Skulpturarbeit ist eine Methode aus der Paar- und
und bin froh, dass sich die Gruppe so viel Zeit Familientherapie. Das System einer Familie, eines
für meinen Fall nimmt. Teams in der Arztpraxis oder im Krankenhaus wird
4 Es kann auch sein, dass ich sehr intensive Ge- in Form einer Skulptur dargestellt. Diese Methode
fühle entwickle, wie die Kollegen mit meinem ermöglicht den Zugang zu noch nicht wahrgenom-
Fall umgehen: Neben Erleichterung, Neugier- menen positiven und negativen Beziehungen, zu
de, auch Sorge, Ärger, Angst, Verzweiflung und Spannungen und Konflikten innerhalb des Systems.
Verwirrung. Der Referent wählt zunächst Personen aus dem
4 Wenn ich in den Kreis zurückkomme, wün- Kreis der Gruppenmitglieder als Repräsentanten
sche ich mir, meine Gedanken und Gefühle für die nahen Bezugspersonen des Patienten aus
der Gruppe mitzuteilen und vielleicht doch und positioniert sie im Raum. Auch er selbst als
etwas klarzustellen. Es kann auch sein, dass ich Arzt und die Krankheit (Krebs, koronare Herz-
nur einfach weiter zuhören möchte. krankheit, Depression, somatoforme Schmerzen)
werden aufgestellt.
Fortsetzung Fallbeispiel Herr M. Der Gruppenleiter unterstützt den Prozess, in-
In der Gruppe wird diskutiert, wie der Ärger der Kol- dem er die aufgestellten Teilnehmer fragt: »Wen
legin über den Patienten zu verstehen sei. Eine Idee sehen Sie? Wie fühlen Sie sich in der Position?« Der
war, das Verhalten des Patienten als einen unbewuss- Gruppenleiter kann den Prozess durch weitere Fra-
ten Versuch zu verstehen, unangenehme Themen gen über körperliche und emotionale Erfahrungen
nicht ansprechen zu müssen. Ermutigt durch die freie intensivieren. Er kann z. B. die Person eine typische
Aussprache in der Gruppe, teilte die Internistin auch Geste machen lassen oder spontan einen Satz sagen
ihre Fantasien über den Patienten mit: Sie erlebe ihn lassen, der dem Referenten passend erscheint.
wie einen übervollen Mülleimer auf einer engen Trep- Nachdem der Referent alle Stellvertreter seines Fal-
pe, mit dem sich ein älterer Herr abplagen müsse. les aufgestellt hat, wird er wieder zum Beobachter
Dies stehe jedoch ganz im Widerspruch zu dem mun- und hört zu, was die Stellvertreter sich wünschen. Es
teren und fröhlichen Hereinkommen des Patienten ist immer wieder überraschend, wie gut die Stellver-
ins Behandlungszimmer. treter Zugang haben zu den Gefühlen und den Be-
Beim nächsten Arztbesuch war die Internistin so mu- ziehungsstrukturen innerhalb der Familie oder an-
tig, dem Patienten diesen Widerspruch aufzuzeigen: derer Systeme. Das Ziel ist, Beziehungsprobleme
»Erstaunlich, Herr M., Sie kommen hier ganz munter zwischen den einzelnen Familienmitgliedern oder
herein und lösen andererseits bei mir die Fantasie in einem Team zu erkennen und Lösungsmöglich-
aus, dass sich ein älterer Herr mit einem Mülleimer keiten auszuprobieren, bei der jede aufgestellte Per-
abplagt.« Der Patient bekam daraufhin ein ganz ge- son sich wohlfühlt.
quältes Gesicht und sagte: »Haben wir je über meine Eine neue Perspektive auf die Arzt-Patient-Be-
Frau gesprochen, wie die mich ständig peinigt mit ih- ziehung und die nähere Umgebung zwischen Arzt
rem Sauberkeitszwang und wie sie mich in ihren und Patient wird möglich. Es zeigt sich, dass die
Putzfimmel einzuspannen versucht?« Weiterhin teilte Arzt-Patient-Beziehung nicht einfach nur ein
er mit, dass er aus Frust häufig Süßigkeiten esse und Zweipersonenstück ist. Die soziale Umgebung
es sei ihm jetzt peinlich, darüber zu sprechen. spielt eine wichtige Rolle auch in der Diagnose und
Beim nächsten Kontakt mit dem Patienten war von der Behandlung des Patienten. Dieser Einfluss des
Beginn an eine gute Atmosphäre zwischen Ärztin Umfeldes kann am deutlichsten durch eine Skulp-
und Patient. Die Blutzuckerwerte besserten sich in turarbeit demonstriert werden (Otten 2007, 2012;
den darauffolgenden Wochen erfreulich. . Abb. 28.2).

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
318 Kapitel 28 · Die Balintgruppe

offener Feindseligkeit. Die damit einhergehenden


Erschütterungen der Gruppe sind Katalysatoren für
eine Einstellungsänderung.

Fallbeispiel (Luban-Plozza 2001)


»Ich vergegenwärtige mir eine Begegnung mit einem
Patienten, der mich aus der Fassung gebracht hat. Ich
wüsste heute noch nicht sicher, warum ich mit ihm in
ein Streitgespräch geraten, grundsätzlich und dikta-
torisch geworden bin, wenn ich die Geschichte nicht
in allen Einzelheiten in einer Balintgruppe vorgetra-
gen hätte. Die triumphierende Feststellung des Pa-
tienten: ›Nicht wahr, ich gehe Ihnen auf die Nerven‹,
war nur zu wahr. Das überraschende Resultat der
Gruppe war für mich, dass meine emotional negativ
getönte Wahrnehmung des Patienten von der Grup-
pe keineswegs bestätigt wurde, dass die Teilnehmer
im Gegenteil sehr positive Seiten an ihm entdeckten.
28 . Abb. 28.2 Cartoon: Droge Arzt.
In seinem Widerspruchsgeist, der mich voll getroffen
(Zeichnung: Gisela Mehren)
hatte, lag für ihn eine Überlebenschance, um vor der
Umwelt nicht zur Bedeutungslosigkeit verurteilt zu
28.2.5 Einstellungsänderung des Arztes werden. Seinen Widerstand brechen, hieß ihn ent-
machten und noch mehr krank zu machen. Nach die-
Eine Schwierigkeit im Diskussionsprozess besteht ser Gruppe fand ich einen neuen Zugang zu dem Pa-
in der Neigung, den Kollegen, der berichtet hat, tienten. Ich kann im Einzelnen nicht sagen, was ich
auszufragen: »Jedes Gruppenmitglied sollte die anders gemacht habe. Meine Einstellung zu ihm war
Freiheit haben, über den Arzt, den Patienten und verändert und ich habe erfahren, dass tatsächlich
die Krankheit nachzudenken und anstatt anderen eine begrenzte Veränderung meiner selbst möglich
Leuten, sich selbst Fragen zu stellen. Es steckt im- war. Das Interesse an der Vielzahl der personalen
mer eine Versuchung darin, dem Referenten alle Ausprägungen einer Krankheit ist größer geworden,
Fragen zu stellen, um nachdenken zu vermeiden. die Aufmerksamkeit wacher und dabei der zeitliche
Immer ermutigen wir die Teilnehmer, die Leiter Aufwand geringer. Allerdings brauche ich nach der
eingeschlossen, selbst nachzudenken, selbst wenn Arbeit, die intensiver geworden ist, auch ähnlich in-
ihre Gedanken ihnen selbst ziemlich unsinnig er- tensive Erholungsphasen.«
scheinen. Jeder soll haben, was Michael Balint »den
Mut zur eigenen Dummheit« nannte. Alles wird ins Diese Einstellungsänderung vollzieht sich im Rah-
Spiel gerufen, die Einbildungskraft, die Beobach- men eines längerfristigen Lernprozesses und nicht
tung, die Denkfähigkeit, das professionell erworbe- ohne Selbsterfahrung. Obwohl die Balintgruppe
ne Wissen und Können und alles wird auf die Be- nicht primär eine Selbsterfahrungsgruppe ist, ge-
ziehung zwischen dem Arzt und seinem Patienten winnt der Balintgruppenteilnehmer durch seine
und auf die vorgebrachte Krankheit oder Klage fo- emotionale Beteiligung auch ganz erheblich an
kussiert, aber niemals auf die Entwicklung von Kenntnissen über sich selbst: Warum reagiere ich so
Theorien über Krankheiten oder Ärzte (Balint E. in dieser Situation? An was erinnert mich dieses
1980). Verhalten in Bezug auf frühere Lebenssituationen?
Die Wahrnehmung der Gefühle hat wesentli- Weshalb berichte ich immer über ähnliche Patien-
chen Anteil an dem Verständnis des Falles. Gefühle ten? An welcher eigenen Lebenserfahrung knüpfen
in der Gruppe und beim Einzelnen reichen von Mü- diese Beziehungsmuster bei mir an? Diese Fragen
digkeit und Desinteresse bis hin zu Aggression und schwingen in der Gruppendiskussion stets mit,

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
28.2 · Praktischer Teil
319 28
ohne explizit in der Gruppe vertieft zu werden. Die »Ich bin jetzt stärker motiviert, meinem Patien-
Einstellungsänderung führt dazu, dass der Patient ten zuzuhören, wenn er über sich sprechen möchte,
mehr als ein Partner gesehen wird, mit dem der Arzt und bin auch neugierig, mehr über seinen Hinter-
gemeinsam nach Veränderungen und Lösungen grund zu erfahren.«
seiner Krankheit und seiner Lebensprobleme sucht. »Meine tägliche Routine wurde infrage gestellt.
Im Laufe der Zeit lernt der Arzt viele schwierige Ich bekam eine ganze Menge an Anregungen und
Arzt-Patient-Konstellationen kennen und gewinnt Ermutigungen, neue Wege zu probieren.«
zunehmend Erfahrung und Sicherheit auch mit »Ich sehe jeden Tag sehr viele Patienten. Ich
sehr schwierigen Patienten. glaube, ich kann meine Arbeit jetzt mit größerer
Ruhe und Gelassenheit angehen.«
jDie Teilnahme an einer Balintgruppenarbeit »Ich hab verstanden, dass es besser ist zuzuhö-
führt zu: ren und zu verstehen was der Patient möchte, als
4 Offenheit sowohl für die Gesprächsinhalte als den Patienten von meinen Vorstellungen zu über-
auch die durch das Gespräch geweckten zeugen.«
eigenen Reaktionen in Form von Gefühlen, »Die Arzt-Patient-Beziehung ist noch viel kom-
Phantasien und Körperempfindungen. plizierter als ich je dachte.«
4 Besserem Zuhören und Geduld üben und sich »Ich bekam eine ganze Menge neuer Anregun-
nicht sofort zu irgendeinem Eingriff verleiten gen für die Behandlung von bestimmten Patienten.«
zu lassen.
4 Mehr Gespür für das Vorliegen einer psychi-
schen Störung oder eines psychosomatischen 28.2.6 Wie werde ich Balint-
Problems. gruppenleiter?
4 Abbau eigener Hemmungen und angstfreiem
Umgang mit den psychischen und sozialen Leiterseminare werden von der Deutschen Balint-
Problemen des Patienten. Gesellschaft (DBG) angeboten. Um die Anerken-
4 Zu einem besseren Verständnis der Interak- nung als Balintgruppenleiter durch die DBG zu
tionen zwischen Arzt und Patient. bekommen, werden 6 Leiterseminare – davon min-
4 Zur Nutzung dieses Verständnisses für destens 4 auf Studientagungen der DBG (2 Leiterse-
Diagnostik und Therapie. minare können auf Tagungen wie Lindau, Lange-
4 Einer veränderten Einstellung und einem ver- oog, Lübeck und Weimar bei den von der DBG an-
änderten Verhalten des Arztes gegenüber dem erkannten Ausbildern erbracht werden) und mög-
behandelten Patienten. lichst bei verschiedenen Ausbildern der DBG – mit
4 Zu mehr Handlungsspielraum durch Verständ- insgesamt mindestens 30 Doppelstunden absol-
nis der zunächst unbewussten Prozesse. viert. Voraussetzung für die Teilnahme ist die Zu-
4 Entwicklung von Lösungsmöglichkeiten auch satzbezeichnung Psychotherapie/Psychoanalyse
für zunächst sehr schwierige Probleme des oder der Facharzt für Psychotherapeutische Medi-
Patienten. zin, für Psychiatrie, Kinder- und Jugend-Psychia-
4 Emotionaler Entlastung und Förderung von trie, sowie Erfahrungen als Mitglied einer Balint-
sozialen Ressourcen des Arztes. gruppe. Bei Diplom-Psychologen sollte die Aner-
kennung als psychologischer Psychotherapeut vor-
Teilnehmer einer 3-tägigen Balint-Studientagung liegen, dazu ebenfalls ausreichende Erfahrung als
haben ihre Eindrücke am Tagungsende so zusam- Mitglied einer Balintgruppe (siehe Ausbildungs-
mengefasst: richtlinien der DBG).
»Ich weiß jetzt, ich bin nicht allein mit meinen Die Leiterseminare haben sich auch bewährt
Ängsten und Sorgen. Ich habe erfahren, dass es zum Erfahrungsaustausch der bereits tätigen Balint-
möglich ist, meine Gefühle in Bezug auf den Patien- gruppenleiter.
ten auszudrücken, und dass es von meinen Kollegen Im Rahmen der Leiterseminare wird auch eine
verstanden wurde.« Supervisionsgruppe angeboten. Dort haben Grup-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
320 Kapitel 28 · Die Balintgruppe

penleiter Gelegenheit, eigene Balintgruppen vorzu-


stellen und ihre Arbeit supervidieren zu lassen.

jAdresse der Deutschen Balint-Gesellschaft


4 Geschäftsstelle der Deutschen Balint-Gesell-
schaft e. V. (DBG)
Dr. med. Anousheh Kielstein
Jean-Burger-Straße 15
39112 Magdeburg
Tel.: 0391/ 81067873
Fax.: 0391/ 81067874
Internet-Adresse: www.balintgesellschaft.de

Literatur

Zitierte Literatur
Balint E (1980) The doctor-patient relationship in the 1980s.
28 In: Jappe G, Nedelmann C (Hrsg) Zur Psychoanalyse der
Objektbeziehungen. Frommann-Holzboog, Stuttgart,
S 95–112
Balint M (1957) The doctor, his patient and the illness. 2nd
edition London: Pitman: 1964. 3rd Millenium edition:
Edinburgh: Churchill Livingstone; 2000
Balint M (1973) Therapeutische Aspekte der Regression.
Hamburg
Balint M (2001) Der Arzt, sein Patient und die Krankheit.
Klett-Cotta, Stuttgart, 10. Aufl.
Lovell-Simons L (2012) The method of Balint work (Vortrag an
der 2. Internationalen Balint-Konferenz, in Peking im Juni
2012)
Luban-Plozza B (2001) Beziehungsdiagnostik und Therapie im
Sinne M. Balint‹s. Balint 2: 66–68
Otten H (2007) Balintarbeit mit Skulptur. In: S. Häfner (ed.), Die
Balintgruppe, S 89–94. Deutscher Ärzteverlag, Köln
Otten H (2012) Professionelle Beziehungen – Theorie und
Praxis der Balintgruppenarbeit. Heidelberg, Springer

Weiterführende Literatur
Häfner, S. (Hrsg.) (2007): Die Balintgruppe. Praktische Anlei-
tung für Teilnehmer. Im Auftrag der Deutschen Balint-
Gesellschaft. Köln, Deutscher Ärzte-Verlag.
Nedelmann C, Ferstl H (Hrsg) (1989) Die Methode der Balint-
gruppe. Klett-Cotta, Stuttgart
Otten H (2012) Professionelle Beziehungen – Theorie und
Praxis der Balintgruppenarbeit. Heidelberg, Springer

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
321 29

Entspannung, Körperwahr-
nehmung und Erholung
Uwe H. Ross, Kurt Fritzsche

29.1 Entspannung – 322


29.1.1 Entspannen – Wozu? – 322
29.1.2 Begriffsklärung: Was ist Entspannung? – 322
29.1.3 Kennzeichen der Entspannungsreaktion – 325

29.2 Körperwahrnehmung – 326


29.2.1 Körperwahrnehmung – Bedeutung bei Entspannung
und Selbstregulation – 326
29.2.2 Entspannungsübungen mit dem Patienten – 329

29.3 Erholung – 330


29.3.1 Begriffsklärung: Was ist Erholung? – 330
29.3.2 Was wird eigentlich erschöpft? – 333
29.3.3 Das 3-Phasen-Modell der Erholung – 333

Literatur – 335

K. Fritzsche et al. (Hrsg.), Psychosomatische Grundversorgung,


DOI 10.1007/978-3-662-47744-1_29, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
322 Kapitel 29 · Entspannung, Körperwahrnehmung und Erholung

29.1 Entspannung Desaktiviertheit zum Pol eines fiktiven Basalwerts


hinbewegt« (Vaitl u. Petermann 2000, S. 30).
29.1.1 Entspannen – Wozu? Entspannung ist kein Sonderzustand, sondern
ein natürliches, biologisch determiniertes Reak-
Der Wechsel von erhöhter und verminderter Akti- tionsmuster wie die Stressreaktion auch, das prinzi-
vität ist ein lebenswichtiges Prinzip aller Organis- piell jedem Menschen zur Verfügung steht (Vaitl u.
men und doch ist die Balance von Anspannungs- Petermann 2000). Als Gegenpol zur Stressreaktion
und Entspannungsphasen in der heutigen Zeit (»fight-or-flight« nach Canon bzw. »Stress-Adapta-
meist einseitig zu Rastlosigkeit mit andauerndem tion« nach Selye 1953) dient Entspannung dem
Leistungs- und Termindruck verschoben. Wo das Schutz des Organismus vor übermäßiger Beanspru-
Bedürfnis nach Beruhigung nicht mehr durch Prak- chung und Stress bezogenen Krankheitsprozessen
tiken des Lebensalltags (Ausschlafen, Vor-sich-hin- (Esch et al. 2003; Derra 2007).
Dösen, Spielen, Spazierengehen etc.) befriedigt wer- So unterschiedlich die Ansätze zur Induktion
den kann, müssen heute spezielle Entspannungs- von Entspannung auch sind (. Tab. 29.1), sie bewir-
verfahren oder Rituale zur Entspannung den Schutz ken allesamt eine Entspannungsreaktion – ein Be-
vor Überlastung gewährleisten. Die in . Tab. 29.1 griff, der von dem Internisten Herbert Benson 1974
aufgeführten Verfahren zählen heute zum klini- in den USA geprägt wurde. Diese Reaktion umfasst
schen Standardrepertoire. Das Anwendungsspek- physiologische Veränderungen, die durch eine Ab-
trum von Entspannungsverfahren als Zusatzmaß- senkung des sympathikotonen Aktivierungs-
nahme in der Behandlung von psychischen und niveaus hervorgerufen werden (Benson 1974).
29 körperlichen Störungen ist aufgrund der unspe- Das wiederholte Praktizieren von Entspan-
zifischen psychophysiologischen Wirkungen zur nungsmethoden hat eine konditionierte Entspan-
Stressreduktion groß (Vaitl u. Petermann 2000; nungsreaktion zur Folge, d. h., ein Auftreten dieser
Esch et al. 2003). Indikationen sind Erkrankungen, Reaktion bereits auf einen konditionierten Reiz hin,
die mit einer anhaltend hohen psychophysiologi- z. B. Atem-Fokussierung, Körperhaltung, Selbstin-
schen Spannung einhergehen: struktion, imaginiertes Bild. Auf diese Weise lassen
4 Psychische Störungen: Stress-assoziierte Stö- sich die charakteristischen psychophysiologischen
rungen, wie Erschöpfungssyndrom (Burnout), Veränderungen der Entspannungsreaktion sehr
Angst-, Belastungs- und Anpassungsstö- rasch und willentlich herbeiführen. Darüber hinaus
rungen, depressive Störungen, somatoforme führt die regelmäßige Anwendung von Entspan-
Störungen, Schlafstörungen, Sexualfunktions- nungsverfahren zu plastischen Hirnveränderungen
störungen, Stimm- und Sprechstörungen. (. Abb. 29.1).
4 Körperliche Erkrankungen: Bluthochdruck, Grundvoraussetzungen für Entspannung sind
koronare Herzerkrankungen, periphere (Smith 1988, 2007):
Durchblutungsstörungen, Asthma bronchiale, 4 Fokussierung (Fähigkeit, die Konzentration
gastrointestinale Störungen, akute und chro- über längere Zeit auf einfachen Stimuli zu
nische Schmerzen, Kopfschmerzen vom Mi- halten)
gräne- und Spannungstyp, Schlafstörungen
und sexuelle Funktionsstörungen. Sympatho-adrenerge
Erregungsbereitschaft

29.1.2 Begriffsklärung: Entspannungs-


Was ist Entspannung? reaktion

Entspannung ist ein »spezifischer psychophysiolo-


ZNS-Modulation
gischer Prozess, der durch Gefühle des Wohlbefin-
dens, der Ruhe und Gelöstheit gekennzeichnet ist . Abb. 29.1 Effekte von Entspannungsverfahren. (Mod.
und sich auf einem Kontinuum von Aktiviertheit – nach Vaitl 2000)

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
29.1 · Entspannung
323 29

. Tab. 29.1 Synopsis gängiger Entspannungsverfahren (Auswahl)

Verfahren Beschreibung

Autogenes Training Autosuggestive, konzentrative Selbstentspannung, vom Neurologen J. H. Schultz (1884–1970)


(AT) in den 1930er Jahren aus der Hypnoseforschung entwickelt. Der Übende konzentriert sich auf
formelhafte, wiederholte Vorstellungen von Körpersensationen wie »mein rechter Arm ist
schwer« oder »Herz schlägt ruhig und gleichmäßig«.

Progressive Muskel- In den 1920er Jahren vom Arzt und Physiologen E. Jacobson (1885–1976) auf der Basis experi-
elaxation (PMR) mental-psychophysiologischer Beobachtungen entwickeltes Verfahren, das durch sequen-
zielles, systematisches An- und Entspannen der willkürlichen Körpermuskulatur auf eine
vegetative Umstimmung des Organismus abzielt.

Biofeedback Anfang der 1970er Jahre von Psychologen entwickelte Methode auf lerntheoretischer Konzep-
tion, das auf der Verstärkung normalerweise nicht wahrnehmbarer physiologischer Prozesse
(z. B. Herzfrequenz, Blutdruck, Temperatur, Muskelaktionspotenziale, Hirnströme, Schweiß-
sekretion) und Rückmeldung als wahrnehmbare Signale (akustisch, optisch) beruht. Die Rück-
meldung von Biosignalen ermöglicht deren willentliche Änderung durch den Probanden über
das »Lernen am Erfolg« (operantes Konditionieren).

Imaginative Seit Anfang des 20. Jh. angewandtes Verfahren, das auf der willentlichen Generierung men-
Verfahren taler Vorstellungen beruht, die sensorische oder emotionale Qualitäten beinhalten, und dabei
die Fähigkeit zur Visualisierung und das Vorstellungsvermögen nutzt, um Entspannungszu-
stände zu induzieren.

Hypnose Verfahren (Ursprung im Altertum) zur Induktion eines veränderten Bewusstseinszustands


(Trance) über den Prozess der systematischen Fokussierung von Aufmerksamkeit (therapeu-
tisch meist durch verbale Kommunikation). Trance bezeichnet dabei einen natürlichen Be-
wusstseinszustand, der geprägt ist von unwillkürlichen, automatischen Prozessen (u. a. spon-
tane Muskelzuckungen, lebhaftes bildhaftes, inneres Erleben) und zumeist mit Entspannung
einhergeht.

Meditation Sammelbegriff für verschiedene, ursprünglich spirituelle Praktiken aus christlichen, isla-
mischen, jüdischen und fernöstlichen religiösen Traditionen zur Erlangung einer tiefen Ruhe,
Erweiterung des Bewusstseins und Förderung spirituellen Wachstums. Gemeinsames Prinzip
ist die absichtslose Aufmerksamkeitsregulation durch eine systematische Ausrichtung der
Aufmerksamkeit auf Teilaspekte der inneren oder äußeren Erfahrung. Man unterscheidet
aktive und passive, rezeptive und konzentrative Formen. Seit den 1970er Jahren finden durch
die Arbeiten von Jon Kabat-Zinn insbesondere (passive) Praktiken der Achtsamkeitsmedita-
tion (Vipassana/Zazen) Einzug in therapeutische Kontexte (achtsamkeitsbasierte Stressreduk-
tion, »mindfulness based stress reduction« MBSR, Verhaltenstherapie).

Achtsamkeits- Achtsamkeit (engl. »mindfulness«) als Haltung und Methode zur Minderung von Leiden wur-
training zelt im Buddhismus und kultiviert eine Form der Aufmerksamkeit, die absichtsvoll, auf den
gegenwärtigen Moment bezogen und insbesondere nicht wertend ist (Kabat-Zinn 1982). In
dieser Art bezieht sie sich auf mentale Inhalte, wie Wahrnehmungen, Empfindungen, Gedan-
ken, Bilder und Affekte. Trainiert werden zwei Aspekte: 1. die aktive Steuerung der Aufmerk-
samkeit und 2. Die anhaltende und aktiv aufrechterhaltene Haltung beständiger Neugier,
Offenheit und Akzeptanz (Bishop et al. 2004).

4 Passivität (Fähigkeit, sich zielorientierter und . Abb. 29.2 stellt eine Atemübung zur Entspan-
analytischer Aktivitäten zu enthalten) nung vor. Deren Prinzip umfasst folgende Merk-
4 Rezeptivität (Fähigkeit, unsichere, ungewöhn- male: Fokussierung auf den Atem, Abstandnehmen
liche oder paradoxe Erfahrungen zu tolerieren von Bewusstseinsinhalten, den inneren Beobachter
und zu akzeptieren) entwickeln.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
324 Kapitel 29 · Entspannung, Körperwahrnehmung und Erholung

Übungen aus Fritzsche et al., Psychosmatische Grundversorgung

Arbeitsblatt 1 Atemübung zur Entspannung Seite 1

Durchführung (Dauer: 5–15 min)


1. Nachdem Sie es sich in einer aufrechten Sitzungsposition bequem gemacht haben, in der Ihre Füße auf dem
Boden stehen, Ihre Hände auf den Oberschenkeln ruhen, Ihre Wirbelsäule gerade aufgerichtet ist und das Becken
leicht nach vorn geneigt ist, kann der Kopf ganz locker mit einer leichten Vorwärtsneigung auf der Halswirbel-
säule ruhen. Legen Sie Ihre Hände auf den Unterbauch unterhalb des Nabels und schließen Sie Ihre Augen.
Jetzt beobachten Sie bitte mit geschlossenen Augen, wie Ihr Atem hinein- und hinausgeht. … Spüren Sie Ihren
Körper während der Atem hinein- und hinausfließt ... vielleicht spüren Sie den Atemfluss in der Nase oder in der
Luftröhre und, dass sich die Bauchdecke vor- und zurückbewegt. … Und während dies geschieht, können Sie sich
auf die Wendepunkte Ihres Atems konzentrieren, … den Übergang von Ein- zum Ausatmen und vom Aus- zum
Einatmen.

Ausatmen

29
Einatmen

Ist es nicht schön, zu wissen, dass es im Moment nichts weiter für Sie zu tun gibt – außer Ihren Atem zu beobach-
ten? …
2. Wenn Gedanken, Körperempfindungen, innere Bilder, Emotionen oder externe Geräusche in Ihr Bewusstsein
treten, ist das in Ordnung. Sie können sich dann einfach fragen: »Worum geht es in diesem Gedanken, dieser
Empfindung, diesem Gefühl, diesem Bild oder Geräusch?« Geben Sie ihm dann einen Namen, ohne auf in den
Inhalt näher einzugehen, … oder bezeichnen Sie es, gerade so, als ob Sie ein Etikett auf einen Ordner-Rücken
kleben (z.B. »Steuererklärung«, »Schwierigkeiten mit den Kindern« oder »Merkwürdige Übung«).
3. Jetzt gehen Sie dann mit Ihrer Aufmerksamkeit wieder zu Ihrem Atem zurück und beobachten Sie ihn. Spüren
Sie, wie sich die Bauchdecke bewegt, wenn der Atem ein- und ausgeht … bis wieder etwas Neues ins Bewusst-
sein tritt. Gehen Sie dann wieder wie oben vor und kehren Sie jedes Mal mit Ihrer Aufmerksamkeit wieder zu
Ihrem Atem zurück. …

©2015, Springer-Verlag Berlin, Heidelberg. Aus: Fritzsche et al.: Psychosomatische Grundversorgung

. Abb. 29.2 Atemübung

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
29.1 · Entspannung
325 29

ZNS
Motivations- &
Belohnungs-System

Limbinisches Sysem
nNOS
Dopamin ↑
L-Arginin
Serotonin ↑ NO
Noradrenalin ↑

Endorphin Endocannabinoide

Opiat- Cannabinoid-
(μ3-)Rezeptor (CB1-)Rezeptor
Entspannung

– Hemmung von Norepinephrin


cNOS – Relaxation glatter Muskelzellen
L-Arginin – Vasodilatation
NO – Haut-Temperatur ↑
– unspezifische Immunabwehr

. Abb. 29.3 Entspannung: Wirkungsweise von Stickstoffmonoxid (NO). (In Anlehnung an Stefano et al. 2006)

29.1.3 Kennzeichen der Entspannungs- lem die Monoamine Dopamin und Serotonin sowie
reaktion Opiat-(Endorphin-)Signalwege im mesolimbischen
System und Endocannabinoid-Signalwege eine we-
Bei Entspannungsprozessen spielt Stickstoffmono- sentliche Rolle spielen (Esch u. Stefano 2004; Stefa-
xid (NO), das auch aus Nitrovasodilatatoren (z. B. no et al. 2006; . Abb. 29.3).
Isosorbiddinitrat) freigesetzt wird, eine Schlüssel- Weitere, wissenschaftlich gesicherte Charakte-
rolle, da es sympathikotone Reaktionen blockiert: ristika der Entspannungsreaktion auf verschiede-
Im Rahmen der Entspannungsreaktion wird NO nen Ebenen sind (Übersicht in Vaitl u. Petermann
freigesetzt und antagonisiert Noradrenalin an der 2000; Cahn u. Polich 2006; Salamon et al. 2006; Der-
glatten Gefäßmuskulatur, was mit einer Vasodilata- ra 2007):
tion und einem subjektivem Wärmeempfinden ins- 4 Physiologische Ebene:
besondere an den Extremitäten verbunden ist. Im 5 Blutdrucksenkung und Zunahme der Haut-
ZNS ist NO außerdem als Neurotransmitter wirk- temperatur durch periphere Vasodilatation,
sam und hemmt die Wiederaufnahme von Dopa- 5 Senkung der Muskelspannung mit Abnah-
min, Noradrenalin und Serotonin in Synapsen des me der Reflextätigkeit, der Zahl motorischer
ZNS. Angesichts des Wohlbefindens bei der Aus- Einheiten und der EMG-Amplituden.
übung verschiedener Entspannungsverfahren wer- 5 Dämpfung von Atemfrequenz und -tiefe,
den funktionelle Verknüpfungen mit dem Motiva- Verlängerung der Inspiration, Verminde-
tions- und Belohnungssystem postuliert, wie sie von rung von O2-Verbrauch und CO2-Abgabe.
anderen freudvollen Aktivitäten bekannt sind (z. B. 5 Reduktion der Spiegel von Cholesterin,
Essen, Sex). Neurochemisch sollen hierbei vor al- Kortisol, Adrenalin und Noradrenalin sowie

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
326 Kapitel 29 · Entspannung, Körperwahrnehmung und Erholung

Reduktion der relativen, exspiratorischen wahrnehmung im Hinblick auf mentale und insbe-
NO-Konzentration. sondere körperliche Prozesse. Die Wahrnehmung
5 Verstärkte Expression für Gene, die mit der äußeren Welt tritt zugunsten der Interozeption,
dem Energiestoffwechsel, der Mitochon- der Wahrnehmung der Signale aus dem Körper-
drienfunktion und der Insulinsekretion inneren, in den Hintergrund. Die Eingeweide sind
assoziiert sind. allerdings nur schwach innerviert und die meisten
5 Zunahme des Hautwiderstands. Afferenzen »stumm«, sofern keine Organreizung
5 EEG-Veränderungen: Zunahme an nieder- (z. B. Entzündung) vorliegt (Vaitl u. Petermann
frequenten D-(8–9 Hz) und T-(5–7 Hz)- 2000). Tatsächlich können viele Menschen und ins-
Wellen. besondere Patienten mit somatoformen Störungen
5 Dämpfung der Schmerzverarbeitung. ohne entsprechende Übung zunächst nicht positiv
4 Kognitive Ebene: beschreiben, wie sie ihren Körper spüren, wenn er
5 Mentale Frische. keine Symptome zeigt (die häufig zu hörende Aus-
5 Innen-gerichtete Aufmerksamkeit. sage »gut« entspricht einer Bewertung, nicht einer
5 Förderung assoziativen Denkens, Kreativität. spürbaren Wahrnehmungsqualität).
5 Erhöhung von Wahrnehmungsschwellen Entspannungsverfahren verbessern die Intero-
für Außenreize. zeption und bewirken sowohl eine Beruhigung
5 Schmerzreduktion. durch Reizreduktion (Fokus auf wenige interozep-
4 Emotionale Ebene: tive Signale) als auch einen spürbaren Zugang zu
5 Affektive Indifferenz. Empfindungen, Gefühlen und ressourcereichen
29 5 Innerer Abstand. Körpererfahrungen. Explizit haben u. a. PMR und
5 Wohlbefinden, Gelöstheit und Geborgenheit. Biofeedback die Verbesserung der interozeptiven
5 Innere Ruhe, Zufriedenheit. Wahrnehmung zum Ziel, meist in der Vorstellung,
dass gute Selbstwahrnehmer auch gute Selbstregu-
lierer sind. Denn Körperempfindungen und Affekte
29.2 Körperwahrnehmung stellen als »konzentrierte Erfahrungen« nach dem
Somatic Marker-Modell eine wichtige, lange ver-
29.2.1 Körperwahrnehmung – nachlässigte Informationsquelle für Entscheidungs-
Bedeutung bei Entspannung findungsprozesse dar (Damasio 2001).
und Selbstregulation Hirnphysiologische Untersuchungen haben ge-
zeigt, dass die vordere Insula neben dem anterioren
Die Entwicklung der einseitigen Betonung von Sehen Zingulum das neurobiologische Korrelat von Inter-
und Hören als Kopf- bzw. Fernsinne und des Den- ozeption, Selbstwahrnehmung und Selbstregula-
kens zu Ungunsten der Körperwahrnehmung als tion ist. Diese Hirnstrukturen sind durch Entspan-
Nahsinn begann mit Aufkommen des Buchdrucks nungsverfahren, deren Grundelement eine erhöhte
und der Aufklärung (Classen 1993) und hat in der Selbstaufmerksamkeit ist, sogar modulierbar (Caria
heutigen Arbeits- und Lebenswelt mit überwiegen- et al. 2007; Critchley et al 2004; Rainville et al. 2002;
der audiovisueller Kommunikation einen vorläufi- Faymontville et al. 2003; Craig et al. 2009).
gen Höhepunkt erreicht. So wundert es nicht, dass . Abb. 29.4 beschreibt die Übung »Somatische
bei den häufigsten psychischen Störungen (Ängste, Marker«. Das Prinzip der Übung liegt im Erfor-
somatoforme Störungen, Depressionen) Entspan- schen der spürbaren körperlichen Reaktionen in
nungsverfahren nicht nur wegen der Reizreduktion, unterschiedlichen Situationen und Zuständen (Dis-
sondern insbesondere zum der Ausbau der Körper- tress/Entspannung).
wahrnehmung erfolgreich eingesetzt werden. . Abb. 29.5 stellt eine Entspannungsübung vor,
Entspannung bringt den Übenden in einen Dia- welche auf die Körperwahrnehmung fokussiert.
log mit dem eigenen Körper: Sämtliche der in . Tab. Deren Prinzip ist: Aufmerksamkeitsfokussierung,
29.1 aufgeführten Entspannungsverfahren führen Achtsamkeit, »Reise der Aufmerksamkeit« durch
zur vermehrten Selbstaufmerksamkeit und Selbst- den Körper.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
29.2 · Körperwahrnehmung
327 29

Übungen aus Fritzsche et al., Psychosmatische Grundversorgung

Arbeitsblatt 2 Übung »Somatische Marker« Seite 1

A. Distress (unangenehmer Stress)


Bitte schließen Sie einmal die Augen und vergegenwärtigen sich eine Situation, die Sie als belastend oder
stressend erlebt haben, mit allem, was es da zu sehen, zu hören, ggf. zu riechen und zu schmecken gab. Dann
nehmen Sie bitte wahr, welche Körperempfindungen sich einstellen. Wie reagiert Ihr Organismus spürbar auf
diese Situation? Zeichnen Sie die Reaktionen in die Skizze ein.

B. Entspannung
Bitte vergegenwärtigen Sie sich nun mit geschlossenen Augen eine Situation, wo Sie ganz entspannt waren, mit
allem, was es da zu sehen, zu hören, ggf. zu riechen und zu schmecken gab. Dann nehmen Sie bitte wahr, welche
Körperempfindungen sich einstellen. Wie reagiert Ihr Organismus spürbar auf diese Situation? Zeichnen Sie die
Reaktionen in die Skizze ein.

© 2015, Springer-Verlag Berlin, Heidelberg. Aus: Fritzsche et al.: Psychosomatische Grundversorgung

. Abb. 29.4 Übung »Somatische Marker«

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
328 Kapitel 29 · Entspannung, Körperwahrnehmung und Erholung

Übungen aus Fritzsche et al., Psychosmatische Grundversorgung

Arbeitsblatt 3 Übung zur Wahrnehmung Seite 1

Durchführung (Dauer: 15 min)


Nehmen Sie eine bequeme Sitzposition ein, probieren Sie so lange, bis Sie diese gefunden haben. Wenn es Ihnen
möglich ist, schließen Sie nun die Augen, da es so leichter ist sich auf den Körper zu konzentrieren. Dies ist jedoch
keine Bedingung. Wenn Ihre Sitzposition unbequem wird, können Sie diese verändern. …

Gehen Sie nun mit Ihrer Aufmerksamkeit zu den Füßen, bemerken Sie wie diese am Boden stehen. … Spüren Sie
den festen Untergrund unter den Füßen, wie dieser die Füße hält und trägt. … Wandern Sie nun langsam mit Ihrer
Aufmerksamkeit die Unterschenkel hinauf zu den Knien, spüren Sie die Wadenmuskulatur … Bemerken Sie die Länge
Ihrer Unterschenkel. … Spüren Sie den Abstand zwischen den Knien. … Wandern Sie langsam weiter mit Ihrer Auf-
merksamkeit, an der Unterseite der Oberschenkel entlang zum Becken. … Bemerken Sie die Länge der Oberschen-
kel. … Bemerken Sie wie diese die Sitzfläche des Stuhles berühren. … Liegen Sie mit einer breiten Fläche auf oder
berühren Sie die Sitzfläche nur leicht? … Wie kann sich das Gesäß auf dem Stuhl niederlassen? Wie viel Platz nimmt
es auf der Sitzfläche ein? … Wo spüren Sie viel Gewicht, an welchen Stellen des Gesäßes wenig Gewicht? … Wie groß
erscheint Ihnen die Sitzfläche des Stuhles? … Handelt es sich um eine gepolsterte oder um eine harte Sitzfläche? …
Wandern Sie nun weiter, langsam Ihren Rücken hinauf. Bemerken Sie die Kontaktfläche Ihres Rückens mit der Rücken-
lehne des Stuhles. Handelt es sich hierbei um einzelne Punkte oder eine große Fläche? Wie viel Gewicht geben Sie an
die Rückenlehne ab? Wie hoch und wie breit erscheint Ihnen die Rückenlehne? ...

29 Wandern Sie nun weiter, hinauf zu Ihrem Schultergürtel. Bemerken Sie die Breite Ihres Schultergürtels. ... Wandern Sie
nun langsam mit Ihrer Aufmerksamkeit von der rechten Schulter den rechten Arm hinab. Spüren Sie Ihren rechten
Oberarm, seine Länge, seinen Abstand bzw. seine Nähe zum Rumpf. … Bemerken Sie die Position Ihres Ellenbogens,
wie stark dieser gebeugt ist, … bemerken Sie die Lage und Auflage Ihres rechten Unterarmes, … wandern Sie bis in
die rechte Hand, erspüren Sie die Position jedes einzelnen Fingers. … Wandern Sie nun mit Ihrer Aufmerksamkeit
wieder den Arm hinauf und gehen Sie zu Ihrer linken Schulter. … Wandern Sie auch von dieser langsam Ihren Arm
hinab. Spüren Sie zuerst Ihren linken Oberarm, seine Länge, seinen Abstand bzw. seine Nähe zum Rumpf, … bemer-
ken Sie die Position Ihres Ellenbogens, und wandern Sie dann langsam den linken Unterarm hinab, bemerken Sie
wie er aufliegt. … Wandern Sie bis in die Hand und erspüren Sie die Lage jedes einzelnen Fingers. … Wandern Sie
mit Ihrer Aufmerksamkeit wieder den Arm hinauf und wandern Sie dann langsam Ihren Nacken hinauf. … Bemerken
Sie die Position des Nackens und des Kopfes. Ist der Kopf nach vorne, hinten oder zu einer der beiden Seiten geneigt
oder gedreht?

Wandern Sie nun zu der Vorderseite, zuerst zu Ihrem Gesicht. Spüren Sie Ihre Augen. Können die Augen ruhen, oder
ist noch Unruhe oder Spannung in den Augen zu spüren? Was machen der Kiefer und die Lippen? Kann der Unterkie-
fer sinken? Liegen die Lippen lose aufeinander oder sind sie fest aufeinander gedrückt? Wo befindet sich Ihre Zunge?
Drückt sie nach oben gegen den Gaumen oder kann sie locker in die Mundhöhle sinken? …

Wandern Sie mit Ihrer Aufmerksamkeit langsam weiter, an der Vorderseite Ihres Rumpfes hinab. Bemerken Sie die
Bewegung des Brustkorbes oder der Bauchdecke, die evtl. durch den Atem ausgelöst wird, ohne an Ihrem Atem
etwas zu verändern. … Spüren Sie noch einmal wie Sie insgesamt auf dem Stuhl sitzen. Bemerken Sie wie der feste
Untergrund, die Sitzfläche und Rückenlehne des Stuhles Sie halten und tragen. …

Beenden Sie nun die Übung, indem Sie sich dehnen und räkeln, dabei tief durchatmen und erst, wenn der Körper
wieder frischer ist, die Augen wieder öffnen.

© 2015, Springer-Verlag Berlin, Heidelberg. Aus: Fritzsche et al.: Psychosomatische Grundversorgung

. Abb. 29.5 Übung Körperwahrnehmung

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
29.2 · Körperwahrnehmung
329 29
29.2.2 Entspannungsübungen Als weiteres wird der Patient aufgefordert, sich auf
mit dem Patienten spannungsauslösende Reize und seine Reaktionen
hin zu beobachten: Was löst Spannung bei mir aus?
Als erster Schritt einer Entspannungstherapie ist es (z. B. die Stimme des Chefs, das Bellen des Nachbar-
hilfreich, den Patienten in Bezug auf Zustände er- hundes, der Anblick einer bestimmten Person). Wie
höhter Anspannung und Entspannung zunächst zu äußert sich diese Spannung geistig, körperlich,
sensibilisieren, insbesondere bei skeptischen Patien- emotional und verhaltensmäßig (z. B. durch aggres-
ten und solchen mit somatoformen Störungen. Dies sive oder ängstliche Gedanken, verbale Äußerun-
kann im Rahmen eines Gesprächs und/oder auch gen, Herzklopfen, vermehrte Darm- und Blasenent-
durch einen Fragebogen erfolgen. Ein Fragebogen leerungen, Obstipation, hektisches Umherlaufen
hat den Vorteil, dass sich der Patient ohne äußere oder konsumierendes Verhalten wie Fernsehen,
Einflüsse mit der Frage auseinander setzen kann: Bier trinken)?
Was bedeutet für mich Spannung und Entspan- Eine Sensibilisierung kann auch durch Fremd-
nung, wie erlebe ich diese unterschiedlichen Ele- beobachtungen erfolgen, z. B. dass der Patient je-
mente für mich im Alltag? manden aus seinem Umfeld bittet, wahrzunehmen,
wie Spannungszustände bei ihm sichtbar werden.
Fragebogen Der Patient soll auch andere Personen auf Span-
Sehr geehrter Herr/Frau XY nungszustände hin beobachten, z. B. in der Straßen-
Bitte beantworten Sie die folgenden Fragen bahn oder in privaten Gesprächsrunden. Eigen-
stichwortartig, aber so ausführlich wie möglich: und Fremdbeobachtungen sensibilisieren den Pa-
5 In welchen Situationen fühlen Sie sich an- tienten und geben dem Arzt zudem Hinweise für
gespannt? seinen Therapieansatz.
5 Wie äußert sich Anspannung? Körperlich – Sie haben nun bei Ihrem Patienten häufige
mental – emotional – oder anders? oder andauernde Spannungszustände ggf. mit
5 Was tun Sie, wenn Sie sich sehr angespannt, Schlafstörungen festgestellt und halten ein Ent-
»gestresst«, fühlen? spannungsverfahren für hilfreich. Im Rahmen der
5 Welche Wirkungen haben die Maßnahmen? Edukation haben Sie ihm die gesundheitlichen
5 Benutzen Sie immer die gleichen Maßnah- Vorteile der Anwendung von Entspannungsver-
men zum Entspannen? fahren auf körperlicher und seelischer Ebene er-
5 Wenn Sie unterschiedliche Maßnahmen an- läutert. Damit der Patient ein von Ihnen vorge-
wenden: Wonach richtet sich das? schlagenes Entspannungsverfahren (z. B. Atem-
5 Beschreiben Sie typische Situationen, in de- übung, PMR) auch tatsächlich im Alltag durch-
nen Sie sich entspannt fühlen? führt, ist es wichtig, dieses ohne großen Aufwand
5 Was raten Sie anderen, wie sie sich entspan- für den Patienten erfahrbar zu machen. Denn zur
nen sollen? Motivation braucht der Patient ein unmittelbares
5 Welche Gedanken und Gefühle treten in »Evidenz-Erleben«, also die Erfahrung, dass dieses
entspannten Situationen auf? Empfinden Verfahren tatsächlich im Sinne einer Spannungs-
Sie diese Situationen als angenehm? reduktion wirkt. Warum also nicht gleich mit dem
5 Wenn andere Aspekte bezüglich Spannung Patienten hier in Ihrem Sprechzimmer ein Ent-
und Entspannung für Sie eine Rolle spielen, spannungsverfahren (z. B. die obige Atemübung)
die hier nicht genannt sind, dann beschrei- anwenden, das beiden guttut – dem Patienten und
ben Sie sie bitte. Ihnen?

Fragen zur Auswertung der Übungen


Mit Dank für Ihre Mitarbeit
Ihr Die Erfahrungen des Patienten mit der Entspan-
nungsübung sollten im Anschluss besprochen wer-
den. Hier einige hilfreiche Fragen zur Verbalisie-
rung und Konkretisierung des Erlebten:

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
330 Kapitel 29 · Entspannung, Körperwahrnehmung und Erholung

4 Wie fühlen Sie sich nun? Wie erging es Ihnen Das Üben mit anderen fällt ebenfalls leichter.
während der Übung? Viele Krankenkassen, Einrichtungen der Erwachse-
4 War der Text zu lang? War er zu langsam oder nenbildung (z. B. Volkshochschulen) und Fitness-
zu schnell gesprochen? Hatten die Pausen die center bieten heute eine Vielzahl gängiger Entspan-
richtige Länge? nungsverfahren in Kursen an.
4 Konnten Sie mit der Aufmerksamkeit dabei-
bleiben oder waren Sie öfter abgelenkt?
4 Was dachten Sie während der Übung, bzw. 29.3 Erholung
währenddem Sie wahrnahmen?
4 Was war für Sie deutlich spürbar? 29.3.1 Begriffsklärung:
4 Gab es Bereiche, die Sie nicht oder nur undeut- Was ist Erholung?
lich spürten, bzw. wo Ihnen das Wahrnehmen
schwer fiel? Mit zunehmender Bedeutung des Dienstleistungs-
4 Was war es, das Sie als a) unangenehm und b) sektors seit den 1970er Jahren verlagerte sich das
besonders angenehm empfanden? arbeitsbezogene Anforderungsprofil von körperli-
4 War Ihre Aufmerksamkeit mehr bei den ange- cher Beanspruchung (Landwirtschaft, Handwerk)
nehmen oder mehr bei den unangenehmen hin zu vermehrt psychisch-mentaler Beanspru-
Empfindungen? chung. Diese Entwicklung macht heute anders als
4 War es leichter für Sie, einzelne Körperteile zu früher, neben gesundem Schlaf entsprechend ange-
spüren oder aber den Stuhl wahrzunehmen? passte, speziellere Strategien zur Erholung erforder-
29 (ich habe die Möglichkeit meinen Körper lich (. Abb. 29.6). Erholung muss heute mehr denn
wahrzunehmen und mit meinem Körper je aktiv geplant und strukturiert werden, um die
meine Umgebung wahrzunehmen) persönliche Energie und Gesundheit zu erhalten.
4 Was war die angenehmste Erfahrung? Hierzu werden im Folgenden einige wichtige, prak-
4 Wo können Sie die Übung in Ihrem Alltag tische Erkenntnisse aus der Erholungsforschung
einbauen? erläutert.
Um die Regenerationsprozesse zu erleichtern ist
Das Üben erleichtern: Entspannungs- es hilfreich zu wissen, was den gewünschten Zu-
übungen auf Tonträgern und in Kursen stand des Erholtseins überhaupt ausmacht, um
Neben dem unmittelbaren Praktizieren der Ent- dann geeignete Mittel und Wege zu finden. Die fol-
spannungsübung mit dem Patienten und einer gende Übung hilft Ihnen zunächst, persönliche Er-
schriftlichen Anleitung (Handout) hat sich ins- holungszustände konkreter zu beleuchten (. Abb.
besondere das Live-Mitschneiden der Entspan- 29.7).
nungsinstruktion, z. B. mittels digitalen Diktierge- Unter Erholung werden heute die Verbesserung
räts, und Mitgabe als Audiofile auf CD oder USB- des Befindens und die Wiederherstellung der Hand-
Stick zum Transfer in den Alltag bewährt. Denn lungs- und Leistungsfähigkeit mit dem Wiederauf-
auch für Geübte ist die Entspannung mittels bau von Ressourcen nach vorangegangener Bean-
Fremdinstruktion immer noch wesentlich leichter spruchung verstanden. Eine optimale Erholung ist
und tiefer als durch eine Selbstinstruktion. Zudem möglich, wenn der Erholungsvorgang der vorange-
nimmt der Patient »seine persönliche Entspan- gangenen Beanspruchung angemessen ist (Allmer
nungssitzung mit dem Doktor« zur Übung mit 1996; Sonnentag 2003).
nach Hause. > Das Schlüsselprinzip von Erholung lautet:
Daneben können dem Patienten gängige Ent- Entlaste die Systeme, die zuvor beansprucht
spannungsverfahren (AT, PMR, Achtsamkeitstrai- waren.
ning, Hypnose) auch »konfektioniert« auf käufli-
chen Tonträgern (Audiobooks, CDs) (z. B. Eßwein Wenn ich also Kopf- oder Wissensarbeiter bin,
2010; Grasberger 2010; Hainbuch 2010; Ross 2014) werden solche Aktivitäten erholsam sein, die insbe-
oder als App empfohlen werden. sondere den Körper einbeziehen. Wenn die wil-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
29.3 · Erholung

Beanspruchung Erholung

Körperlich Psychisch

Statisch: kognitiv: Emotional:


– Sitzen – Komplexität – Zeitdruck
– Halten – Ablenkung – Konflikte
– Bildschirmarbeit – Multitasking – Krise
– Audiovisuelle Fokussierung – Reizüberflutung – unbefriedigte Schlaf
– Daueraufmerksamkeit Bedürfnisse Entspannung
Dynamisch: – Abstraktes Denken – Selbstwert ↑ (Erfolg)
– Heben – Audiovisuelle Fokussierung – Sicherheit
– Graben – Arbeitsverdichtung – Autonomie
– Gehen – Problemlösung – Bindung/Zugehörigkeit
– Kränkung
– Unsicherheit, Angst

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
– Frustration, Ärger ...
– Verlust, Traurigkeit
?

. Abb. 29.6 Beanspruchungs-Erholungsbilanz: Der Vielfalt an Beanspruchungsfaktoren steht gewöhnlich eine vergleichsweise geringe Auswahl an Erholungsoptionen gegen-
über. (Zeichnungen: Claudia Styrsky)
29 331
332 Kapitel 29 · Entspannung, Körperwahrnehmung und Erholung

Übungen aus Fritzsche et al., Psychosmatische Grundversorgung

Arbeitsblatt 4 Übung zur Evaluation persönlicher Erholungszustände Seite 1

Wie merken Sie, dass Sie erholt sind?

Körperlich: Wie spüren Sie Ihren Körper, wenn Sie erholt sind?

Geistig: Woran denken Sie, wenn Sie erholt sind?

Emotional: Wie ist Ihre Stimmung, wenn Sie erholt sind?


29 Welche Gefühle sind damit verbunden?

© 2015, Springer-Verlag Berlin, Heidelberg. Aus: Fritzsche et al.: Psychosomatische Grundversorgung

. Abb. 29.7 Übung Erholung wahrnehmen

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
29.3 · Erholung
333 29
lentliche Ich- oder Selbststeuerungsfähigkeit (z. B. Die willentliche Ich- bzw. Selbststeuerungsfähig-
durch Unterdrückung von Gedanken, Bedürfnis- keit ist allerdings eine erschöpfliche Ressource, die
sen, Gefühlen) stark beansprucht wurde, ist es er- durch aufeinanderfolgende oder konfligierende
holsam, die »Ich-Instanz« zu entlasten, indem man mentale Aufgabenstellungen, die Willenskraft
Aktivitäten nachgeht, die – ohne viel Aufwand – erfordern, verringert oder gar aufgezehrt wird.
automatisch-unwillkürlich ablaufen und freudvoll Man spricht von Ego-Depletion (von lat. deplere:
erlebt werden, z. B. Sport, Ballspiele. Als Dienstleis- ausleeren) (Baumeister et al. 2007; Friese et al.
ter, der mit der Aufmerksamkeit oft außen bei den 2013).
Bedürfnissen Anderer ist, wirkt die Selbst- oder Die Erschöpfung der Ich-Steuerungsfähigkeit
Fremdzuwendung erholsam, z. B. über Meditation beinhaltet die Abnahme von Aufmerksamkeit, Inte-
oder Massage. resse, Motivation, Abgrenzungsfähigkeit gegenüber
Eine Grundvoraussetzung für Erholung ist auch konkurrierenden Gedanken und äußeren Störfak-
eine gewisse Kontrolle über die Freizeit oder ein Ge- toren: Wir können weniger bei einer Sache bleiben
fühl von Selbstbestimmtheit in der Freizeit, insbe- und sind durch äußere Einflüsse vermehrt ablenk-
sondere, wenn das Bedürfnis nach Autonomie bei bar (Baumeister et al. 2007). Erschöpft werden also:
der Arbeit nicht ausreichend befriedigt wird. Selbst- Energie (geistig und körperlich), Aufmerksamkeit,
bestimmtheit trägt zur Erholung bei, da man denje- Gedächtnis und Selbststeuerungsfähigkeit. Damit
nigen Freizeitaktivitäten nachgehen kann, die man sinkt die Leistungsfähigkeit.
am liebsten mag und die am erholsamsten sind. Hilfreich zur Wiederherstellung der Ich-Steue-
Man fühlt man sich seinen Aufgaben gewachsen rungsfähigkeit sind dagegen ein Wechsel in der
und kompetent, wird das Selbstwirksamkeitserle- Ausrichtung der Aufmerksamkeit, positive Affekte,
ben gestärkt (Sonnentag 2003). die Befriedigung seelischer Bedürfnisse nach Auto-
nomie (wahrgenommene Selbstbestimmtheit des
eigenen Handelns), Kompetenz (wahrgenommene
29.3.2 Was wird eigentlich erschöpft? Wirksamkeit eigener Verhaltensweisen) und
menschliche Nähe (soziale Bezogenheit) sowie Me-
Den Alltagsbelastungen und hohen Anforderun- ditation (Ryan u. Deci 2008; Friese et al. 2012).
gen in unserer Dienstleistungsgesellschaft ange- Hirnphysiologisch liegt der Erholung der Ich-Steu-
messen zu begegnen, braucht ein gutes Maß an Ich- erungsfähigkeit offenbar eine Aktivierung des Be-
bzw. Selbststeuerung (-kontrolle), um die Auf- lohnungssystems zugrunde, nachdem schon die
merksamkeit auszurichten sowie Gedanken, Ge- Spülung des Mundes mit Glukose dopaminerge
fühle und Verhalten in Hinblick auf übergeordnete Bahnen im Striatum aktiviert und die Selbst-Steue-
Ziele zu regulieren (Baumeister u. Vohs 2007). Dies rung nach Erschöpfung verbessert, ebenso wie Be-
beinhaltet die willentliche Unterdrückung von lohnungen durch Anerkennung oder Geld (Über-
konkurrierenden Gedanken, Gefühlen und Verhal- sicht in: Inzlicht et al. 2014).
tensimpulsen, was mentale Energie kostet (Friese et
al. 2013).
Besondere Anforderungen, die der Arztberuf an 29.3.3 Das 3-Phasen-Modell
die Ich-Steuerungsfähigkeit mit sich bringt, sind: der Erholung
4 Unterdrückung von aversiven Emotionen, z. B.
Ärger, Antipathie, Ekel gegenüber Patienten. Der Erholungsprozess kann in 3 aufeinanderfolgen-
4 Unterdrückung von Ängsten, z. B. dem Patien- de Phasen gegliedert werden, die je nach Funktion
ten zu schaden, das Arbeitspensum nicht zu unterschiedliche Verhaltensweisen erfordern (All-
schaffen, Anforderungen nicht gerecht zu mer 1996, . Abb. 29.8):
werden. 1. Distanzierungsphase: Abstand von der voran-
4 Unterdrückung von Grundbedürfnissen, z. B. gegangenen Beanspruchungsphase gewinnen
nach Schlaf im Nachtdienst, Essen und Trin- durch Verhaltensweisen und Rituale, die das
ken in der Sprechstunde oder im OP. Abschalten (Detachement) fördern.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
334 Kapitel 29 · Entspannung, Körperwahrnehmung und Erholung

I. II. III.
Distanzierung Regeneration Orientierung
→ Abstand → Erholung → Beanspruchungs-
bereitschaft

Rituale Methoden Rituale


Ablösen – Zur Ruhe kommen Ablösen


Hinwenden – Anregung Hinwenden
Ziele
– Energie tanken
– Sinn finden

. Abb. 29.8 Das 3-Phasen-Modell der Erholung. (Zeichnungen: Claudia Styrsky)

2. Regenerationsphase: Ausgleich der beanspru- 4 Achtsamkeitsmeditation und


chungsbedingten, psychophysischen Funktions- 4 Selbsthypnose.
29 beeinträchtigungen und Schaffung optimaler
Handlungsvoraussetzungen über Methoden, Effektive Erholungsaktivitäten (Regenerations-
die den aktuellen Bedürfnissen gerecht werden phase) sind insbesondere solche, die die jeweiligen
und somit unterschiedliche Erholungsziele Beanspruchungsfolgen berücksichtigen und den
haben können. daraus resultierenden, aktuellen Bedürfnissen ge-
3. Orientierungsphase: Allmähliche Umstellung recht werden (nach Allmer 1996; . Tab. 29.2):
der psychophysischen Funktionen und Her-
stellung von Beanspruchungsbereitschaft Herausforderungen meistern
durch Rituale. Mastery-Aktivitäten)
Erholsame Freizeitaktivitäten im Sinne von Maste-
Erholung heißt Handeln ry-Aktivitäten (»mastery«: etwas meistern oder be-
Wichtig zu Beginn (Distanzierungsphase) und un- herrschen) bieten Lernmöglichkeiten und Heraus-
abdingbar für den Erholungsprozess ist das Ab- forderungen in Lebensbereichen außerhalb der
schalten. Das bedeutet, die Arbeit (oder das Bean- Arbeit, wie z. B. ein Sprachkurs, ein neues Hobby
spruchende) gedanklich hinter sich zu lassen und oder eine ehrenamtliche Tätigkeit. Mastery-Aktivi-
sich stattdessen auf anderes einzulassen (Sonnentag täten fördern die Erholung durch Wirksamkeits-
u. Bayer 2005). und Erfolgserleben mit vergleichsweise geringem
Aktivitäten, die die Distanzierung von der Ar- Aufwand, ohne zu überfordern. Sie aktivieren neue
beit oder von der Beanspruchung fördern sind: Ressourcen (Fähigkeiten, Kompetenzen, Selbstver-
4 periodischer Tätigkeitswechsel, trauen). Auf diese Weise verbessern Mastery-Erleb-
4 Beenden der beanspruchenden Tätigkeit mit nisse die Stimmung und können zu einer höheren
etwas Positivem, Leistungsbereitschaft bei der Arbeit führen (Hahn
4 räumlicher Abstand, et al. 2011).
4 Faszination und hohe Bindung von Aufmerk-
samkeit, z. B. durch Ball-Sportarten, Tanzen, Weitere wirksame Erholungsaktivitäten
Spielen, Klettern, Jonglieren, soziale Kontakte, 4 Kurze Pausen: Kurze Unterbrechungen
Gartenarbeit, kreatives Tun (Musizieren, (5–10 min) spätestens alle 1–2 h mindern
Malen, Kochen etc.), Stress, erhalten die Leistungsfähigkeit und

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
Literatur
335 29

. Tab. 29.2 Erholungsaktivitäten unter Berücksichtigung von Beanspruchung und Bedürfnis

Beanspruchung Bedürfnis Erholungsaktivität (Auswahl)

Reizüberflutung, Überforderung Ruhe Entspannungsübungen, Meditation

Monotonie, Unterforderung Anregung Sport, Tanzen, Spielen

Ermüdung Energie tanken Tanzen, Massage, Sex, QiGong

Sättigung, Unterforderung Sinn finden Neue Herausforderungen (Mastery-Aktivitäten)

Stimmung, z. B. bei Ärzten während operativer rung (z. B. neue Sprache lernen), und so ungesunde
Eingriffe (Engelmann et al. 2012). Stressreaktionen dämpfen und einer Überforde-
4 Power-Nap (»Nickerchen«): Kurze Naps rung vorbeugen (Esch u. Stefano 2010).
(< 30 min) am Tage verbessern Gedächtnis- Grundsätzlich sollten Erholungsaktivitäten auf-
und Lernleistungen sowie die Stimmung. genommen werden, bevor die Ressourcen völlig
10-minütige, mittägliche Naps können erschöpft sind, da es zur Abgrenzung gegenüber
Erholungsdefizite nach Schlafrestriktion besser konkurrierenden Impulsen und Erwartungen von
kompensieren als 30 min Schlaf (Brooks u. außen eine gewisse Selbst- bzw. Ich-Steuerung und
Lack 2006). damit Energie braucht. Hilfreich ist zudem, soge-
4 Naturerleben: Natürliche Umwelten sind beim nannte Erholungs- oder Freizeitroutinen aufzu-
Betrachten (10 min) in Bezug auf physiolo- bauen, also an festen Tagen und Zeiten Erholungs-
gische, aufmerksamkeitsbezogene und emotio- aktivitäten bewusst einzuplanen, z. B. als »Wellness-
nale Erholung wirksamer als urbane (Hartig oder/und Fitness-Tag«.
et al. 2003).
4 Mittagspause zur Erholung nutzen: 20-minü- Literatur
tige progressive Muskelentspannung senkt den
Speichel-Kortisolspiegel und sorgt für deutlich Zitierte Literatur
mehr Erholung als 20 min Small Talk (Kra- Allmer H (1996) Erholung und Gesundheit. Gesundheits-
psychologie Band 7. Hogrefe, Göttingen
jewski et al. 2010).
Baumeister RF, & Vohs KD (2007) Self-regulation, ego deple-
4 Schneller Spaziergang: Ein schneller Spazier- tion, and motivation. Soc Personal Psychol Compass,
gang über 10 min bringt mehr subjektives Vol. 1. http://www.blackwellpublishing.com/pdf/
Energieempfinden und Spannungsreduktion compass/spco_001.pdf
als ein Schokoriegel (Thayer 1987). Benson H, Beary JF, Carol MP (1974) The relaxation response.
Psychiatry 37: 37–46
4 Kurzurlaube von mind. 4 bis zu 10 Tagen sind
Brooks A, Lack L (2006) A brief afternoon nap following
offenbar ebenso erholsam wie solche von mehr nocturnal sleep restriction: which nap duration is most
als 10 Tagen (Strauss-Blasche 2000; Etzion recuperative? SLEEP 29(6): 831–840
2003). Denn die Stimmung steigt zumeist in Cahn BR, Polich J (2006) Meditation states and traits: EEG, ERP,
den ersten Tagen, bleibt dann zunächst stabil, and neuroimaging Studies. Psychol Bull 132: 180–211
Classen C (1993) Worlds of Sense. Exploring the senses in
um gegen Ende des Urlaubs wieder abzufallen.
history and across cultures. Routledge, London
Damasio AR (2001) Fundamental feelings. Nature 413: 781
Allen genannten Erholungsaktivitäten ist gemein- Derra C (2007) Progressive Relaxation. DÄV, Köln
sam, dass sie in einer Weise freudvoll erlebt werden Engelmann C, Schneider M, Grote G et al. (2012) Work breaks
und damit das zentralnervöse Belohnungssystem during minimally invasive surgery in children: patient
aktivieren, sei es als Entspannung (z. B. Medita- benefits and surgeon’s perceptions. Eur J Pediatr Surg
22(6): 439–44
tion), sinnlich-konkrete Körpererfahrung (z. B. Es-
Esch T, Fricchione GL, Stefano GB (2003) The therapeutic use
sen, Naturerleben), als moderate Herausforderung of the relaxation response in stress-related diseases. Med
(z. B. Musizieren, Malen, Kochen) oder Lernerfah- Sci Monit 9: RA23–34

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
336 Kapitel 29 · Entspannung, Körperwahrnehmung und Erholung

Esch T, Stefano GB (2004) The neurobiology of pleasure, Strauss-Blasche G, Ekmekcioglu C, Marktl W (2000) Does
reward processes, addiction and their health implica- vacation enable recuperation? Changes in well-being
tions. Neuroendocrinol Lett 25: 235–251 associated with time away from work. Occup Med (Lond)
Esch T, Stefano GB (2010) Endogenous reward mechanisms 50: 167–172
and their importance in stress reduction, exercise and the Thayer R (1987) Energy, tiredness, and tension effects of a
brain. Arch Med Sci 6, 3: 447–455 sugar snack versus moderate exercise. J Personality Soc
Etzion, D (2003) Annual vacation: duration of relief from job Psychol 52 (1): 119–125
stressors and burnout. Anxiety Stress Coping 16: 213–226 Vaitl D, Petermann F (2000) Handbuch der Entspannungs-
Friese M, Messner C, Schaffner Y (2012) Mindfulness medita- verfahren Bd. I: Grundlagen und Methoden. 2. Aufl. Beltz
tion counteracts self-control depletion. Conscious Cogn PVU, Weinheim
21(2): 1016–1022
Friese M, Binder J, Luechinger R et al. (2013) Suppressing Weiterführende Literatur
Emotions Impairs Subsequent Stroop Performance and Eßwein J (2010) Achtsamkeitstraining (mit CD) Gräfe u. Unzer,
Reduces Prefrontal Brain Activation. PLoS ONE 8(4): 8. Auflage
e60385. doi: 10.1371/journal.pone.0060385 Grasberger D (2010) Autogenes Training (mit CD) Gräfe u.
Hahn VC, Binnewies C, Sonnentag S, Mojza EJ (2011) Learning Unzer, 8. Auflage
how to recover from job stress: Effects of a recovery Hainbuch F (2010) Progressive Muskelentspannung (mit CD)
training program on recovery, recovery-related self- Gräfe u. Unzer, 8. Auflage
efficacy, and well-being. J Occupational Health Psychol, Ross UH (2014) Stress verwandeln in Energie. Schnell wirk-
16: 202–216 same Mentaltechniken. Audiobook mit 2 CD’s. Kösel-
Hartig T, Evans GW, Jamner LD et al. (2003) Tracking restora- Verlag
tion in natural and urban field settings. J Environ Psychol Vaitl D, Petermann F (2000) Handbuch der Entspannungs-
23: 109–123 verfahren Bd. I: Grundlagen und Methoden. 2. Aufl. Beltz
Inzlicht M, Berkman E, Elkins-Brown N (2014) The neuro- PVU, Weinheim
29 science of »ego depletion« or: How the brain can help us
understand why self-control seems limited. In: Harmon-
Jones E, Inzlicht M (Eds.), Social Neuroscience: Biological
Approaches to Social Psychology. Psychology Press, New
York, S 1–44
Krajewski J et al. (2010) Relaxation-induced cortisol changes
within lunch breaks – an experimental longitudinal
worksite field study. J Occup Org Psychol 00: 1–14
Ryan RM, Deci EL (2008) From ego depletion to vitality:
Theory and findings concerning the facilitation of energy
available to the self. Soc Personal Psychol Compass 2(2),
702–717
Salamon E, Esch T, Stefano GB (2006) Pain and relaxation
(review). Int J Mol Med 18: 465–470
Selye H (1953) Einführung in die Lehre vom Adaptationssyn-
drom. Thieme, Stuttgart
Smith JC (1988) Steps toward a cognitive-behavioral model of
relaxation. Biofeed Self-Regul; 13(4): 307–329
Smith JC (2007) Psychology of relaxation. In: Lehrer PM, Wool-
folk RL, Sime WE (eds.) Principles and Practice of Stress
Management. 3rd ed., Guilford Press, pp 38–52
Sonnentag S (2003) Recovery, work engagement, and pro-
active behavior: A new look at the interface between
nonwork and work. J Appl Psychol 88: 518–528
Sonnentag S, Bayer UV (2005) Switching Off Mentally: Predic-
tors and Consequences of Psychological Detachment
From Work During Off-Job Time. J Occup Health Psychol
10 (4): 393–414
Stefano GB, Fricchione GL, Esch T(2006) Relaxation: Molecular
and physiological significance. Med Sci Monit 2006;
12:HY21–31

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
337 30

Burnout-Prävention
Uwe H. Ross, Kurt Fritzsche

30.1 Theoretischer Teil – 338


30.1.1 Begriffsklärung – Was ist Burnout? – 338
30.1.2 Ursachen von Burnout – 339
30.1.3 Arbeitsbelastung drückt auf Zufriedenheit und Sozialleben – 340
30.1.4 Persönliche Faktoren: Wer ist gefährdet? – 341
30.1.5 Burnout und Depression – 342
30.1.6 Therapie des Burnout-Syndroms – 342

30.2 Praktischer Teil – Burnout wirksam vorbeugen – 343


30.2.1 Prävention auf persönlicher Ebene – 344
30.2.2 Prävention auf organisationaler Ebene – 354
30.2.3 Resilienzfaktoren: Was hält Ärzte unter Stress gesund? – 356

Literatur – 356

K. Fritzsche et al. (Hrsg.), Psychosomatische Grundversorgung,


DOI 10.1007/978-3-662-47744-1_30, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
338 Kapitel 30 · Burnout-Prävention

Fallbeispiel schrieb 1974 in New York erstmals einen arbeitsbe-


Ein erfolgsgewohnter 37-jähriger, ambitionierter zogenen Erschöpfungszustand, den er bei sich und
Oberarzt einer Unfallchirurgischen Klinik merkt seit ehrenamtlichen Klinikmitarbeitern beobachtet und
längerem, dass etwas nicht stimmt: Termindruck, als Burnout-Syndrom bezeichnet hat (Bauer et al.
Ärger über seine unfähigen Mitarbeiter (»Stümper«), 2003). Es kennzeichnet das kritische Stadium einer
zu viel Kaffee, Frühstück in der Klinik am PC waren meist beruflichen Verausgabungskarriere bei bisher
aber zur Gewohnheit geworden. Das Klima im Team ist leistungsfähigen Personen. Burnout ist als gesund-
gespannt. Abends kommt er spät nach Hause, ist heitsrelevanter Risikozustand ernst zu nehmen so-
wortkarg zu seiner Frau, auf seine beiden Kinder wie als Verbalisierung individuellen und kollektiven
regiert er nur noch gereizt, sodass sie öfter weinen. Leidens unter den Zwängen der gegenwärtigen Ar-
Abends zieht er sich vor den Fernseher zurück, da ihm beitswelt (Siegrist 2012).
die Energie für andere Aktivitäten fehlt. Beim Einschla- Wesentliche Kennzeichen von Burnout sind
fen quälen ihn Gedanken an den Job. Wenn er zur Kli- (Bauer et al. 2003; Positionspapier DGPPN 2012):
nik fährt, bemerkt er des Öfteren schweißnasse Hände, 1. Emotionale Erschöpfung. Gefühl der Über-
Druck auf der Brust und Übelkeit. Seine Frau bemän- forderung und des Ausgelaugtseins der eigenen
gelt häufig, dass er für sie und die Familie kaum Zeit psychischen und körperlichen Reserven, häu-
habe. Er tröstet sie mit den Worten: »Nur noch bis zum fig Unfähigkeit, sich in der Freizeit zu entspan-
Termin nächsten Monat. Du weißt schon – Kongress!« nen. Psychosomatische Symptome wie Müdig-
Zwei Tage vor dem Kongress muss er rechts ranfahren: keit, Niedergeschlagenheit, Anspannungszu-
»Es geht gar nichts mehr« und landet mit einem »Ner- stände, Schlafstörungen, chronische Schmer-
venzusammenbruch« im Krankenhaus. zen mit unauffälligem Befund, funktionelle
Herz- Kreislaufbeschwerden sowie unspezifi-
30 sche Beschwerden des Magen-Darm-Trakts.
30.1 Theoretischer Teil 2. Zynismus/Distanzierung/Depersonalisation.
Aus anfänglich idealisiertem Verhältnis zur
Das Thema Arbeit und Gesundheit ist gerade bei Arbeit entwickelt sich Frustration mit anschlie-
Angehörigen der Gesundheitsberufe hochaktuell. ßender Distanzierung von der Arbeit, verbun-
Weltweit haben Ärzte ein erhöhtes Burnout-Risiko den mit Schuldzuweisungen und Verbitterung
im Vergleich zu anderen Berufsgruppen. Mindes- gegenüber den Arbeitsbedingungen, Abwer-
tens 20 % aller Ärzte kämpfen mit den Beschwerden tung der Arbeit, Zynismus und Gefühllosigkeit
eines voll entwickelten Burnout-Syndroms (Berg- (Depersonalisation), die sich gegen Klientel
ner 2004). Junge Ärzte und Ärzte auf onkologischen und Arbeitskollegen richtet.
und Intensivstationen tragen ein besonderes Risiko 3. Verminderte subjektive Leistungsbewer-
(Bauer et al. 2003; Voltmer et al. 2008). Dieses geht tung. Negative Selbsteinschätzung der persön-
häufig einher mit geringer Berufszufriedenheit und lichen Leistungskompetenz und Arbeitsquali-
Lebensqualität, geringer beruflicher Leistungsfä- tät infolge Minderung der Arbeitsleistung, der
higkeit, einem signifikanten Anstieg von ärztlichen Arbeitszufriedenheit und infolge Sinnverlust.
Kunstfehlern sowie mit verminderter Empathie-
fähigkeit, suboptimaler Patientenversorgung und In der Arzt-Patient-Beziehung zeigen sich Burnout-
reduzierter Patientenzufriedenheit (Prins et al. Phänomene in Form von Stereotypisierungen (»Die
2009; Shanafelt et al. 2003; Weng et al. 2011). wollen alle nur krankgeschrieben werden«), Schuld-
zuweisungen (»Wegen denen muss ich jetzt noch
arbeiten«), Zynismus und Entmenschlichung des
30.1.1 Begriffsklärung – Patienten (»Das Schilddrüsenkarzinom von Zim-
Was ist Burnout? mer 14 wird um 8 Uhr operiert«) (Bergner 2004).
Die Entwicklung des Burnout-Syndroms wird
Der deutsch-amerikanische klinische Psychologe anhand prototypischer Phasen deutlich (. Abb.
und Psychoanalytiker Herbert J. Freudenberger be- 30.1). Der Einstieg in die Burnout-Entwicklung ist

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
30.1 · Theoretischer Teil
339 30

Krankmeldung
5. Burnout
Emotionale und
4. Apathie mentale Erschöpfung
Versagensgefühl
Selbstzweifel
Einbuße an Leistungsfähigkeit

Pessismismus
Zynismus

3. Frustration
Arbeitszufriedenheit ↓
Motivation ↓
Kreativität ↓

2. Stagnation
1. Enthusiasmus Erster Verstärkerverlust
Vernachlässigung von Erstes Gefühl von Hilflosigkeit
Bedürfnissen Leicht anhaltende Erschöfpung
Beruf = Hauptlebensinhalt

Zeit

. Abb. 30.1 Charakteristische Reaktionen in der Entwicklung eines Burnout-Syndroms

meist ein hoher Enthusiasmus und eine starke Iden- 30.1.2 Ursachen von Burnout
tifikation mit der Arbeit. Dabei werden wichtige
Bedürfnisse vernachlässigt, z. B. nach Pausen, Schlaf, Das Wechselspiel von belastenden Arbeitsplatzbe-
Essen, Freizeit, Erholung und sozialen Kontakten. dingungen und Faktoren der individuellen Persön-
Der Beruf wird zum Hauptlebensinhalt. Die Befrie- lichkeit und Psychodynamik ist beim Burnout-Syn-
digung der eigenen Bedürfnisse kommt immer drom wesentlich: Bei Ärzten scheint Arbeitsüberla-
mehr zu kurz, sodass anhaltende Erschöpfungszei- dung der erstrangige Kausalfaktor für Burnout zu
chen auftreten (Verstärkerverlust). In der weiteren sein bei gleichzeitig geringem Einfluss auf das the-
Entwicklung werden Verhaltensänderungen un- rapeutische Geschehen (Bauer et al. 2003).
übersehbar, wie Motivations- und Leistungsminde- Zwei theoretische Modelle zum Zusammen-
rung, Abneigung gegen Patienten, emotionaler und hang von Arbeitsbelastungen und Erkrankungs-
sozialer Rückzug, Fehlzeiten, schädliches Konsum- risiko sind empirisch belegt (Siegrist 2012):
oder Suchtverhalten (z. B. Nikotin-, Alkohol-, Tab- 1. Das Anforderungs-Kontroll-Modell
lettenmissbrauch). Die Folgen davon sind Apathie (Karasek 1979) fokussiert auf Merkmale
mit Selbstzweifel, eine innere Leere und ein Wahr- von Tätigkeitsprofilen/Arbeitsaufgaben.
nehmungsverlust der eigenen Person. Zunehmende Danach sind diejenigen Personen durch
Sinnlosigkeit und Desinteresse prägen die letzte Pha- Arbeitstress gesundheitlich gefährdet, an die
se. Den Endpunkt bildet die völlige emotionale und permanent hohe Anforderungen gestellt
mentale Erschöpfung, die in eine Depression mündet werden, während zugleich die Kontrolle und
und lebensbedrohend sein kann. So haben mehr als der Entscheidungsspielraum bei der Ausfüh-
50 % der schwer Burnout-Betroffenen tatsächlich rung der Aufgaben stark eingeschränkt sind
eine Depression (Ahola et al. 2005). (. Tab. 30.1).

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
340 Kapitel 30 · Burnout-Prävention

. Tab. 30.1 Anforderung versus Kontrolle im Arztberuf

Hohe Anforderungen Geringe Einflussmöglichkeiten

Tägliche Konfrontation mit Krankheit, Leiden und Tod Zeitdruck


Nacht- und Notdienste, ständige Erreichbarkeit Führungsprobleme/hohe Hierarchie
Lange Arbeitszeiten Widersprüchliche Anweisungen/Rollenunklarheit
Ständiger, lebensbeeinflussender Entscheidungsdruck, Mangelnde Entscheidungsfreiheit/Partizipation
teilweise auf der Basis fehlender/widersprüchlicher Mangel an Wertschätzung und positivem Feedback
Befunde Fehlende soziale Unterstützung
Wachsende Verantwortung Schlechte Arbeitsorganisation
Entscheidungen einsam treffen Schlechtes Arbeitsklima bis hin zu Mobbing
Anpassungsdruck an sich ständig ändernde Umstände Mangelnde Ressourcen (Personal, Finanzmittel)
bzgl. Abrechnung, Vorschriften, Techniken, Qualitäts- Administrative Zwänge
kontrollen etc. Bevormundung durch Ökonomen, Kontrollsysteme
Korrekter Umgang mit Problempatienten und (»Qualitätsmanagement«)
Angehörigen Mangel an Aufstiegsmöglichkeiten
Umgang mit fordernden, »informierten« Patienten Negative Darstellung des Arztbildes in den Medien
(Internetwissen) (»Abzocker«, »Pfuscher«)
Erfolgsdruck auch bei geringer Patienten-Compliance
Umgang mit unkooperativen Kollegen
Konkurrenz unter Kollegen

30 2. Das Modell beruflicher Gratifikationskrisen Syndroms: Die Kombination von a) hohen Anfor-
(Siegrist 1996; . Abb. 30.2) weist auf die ge- derungen, b) geringem Handlungsspielraum bei der
sundheitsgefährdende Dysbalance von Arbeit (fehlende Kontrolle), c) geringer Belohnung
Anforderungen und Gratifikationen hin. für das Geleistete und d) wenig sozialer Unterstüt-
Gratifikationen ergeben sich über zung durch Vorgesetzte und Mitarbeitende (Siegrist
5 finanzielle Belohnung, 1996; von Känel 2008).
5 Wertschätzung und Anerkennung des Ge- > Die Faustregeln für Arbeitsbedingungen mit
leisteten, z. B. durch Vorgesetzte, Kollegen, hohem Burnout-Risiko heißen also: hohe
5 Sicherung des sozialen Status durch Auf- Anforderungen bei wenig Einfluss und hohe
stiegschancen, Arbeitsplatzsicherheit und Belastung bei wenig Belohnung.
ausbildungsadäquate Beschäftigung.

Fortgesetzt hohe Verausgabung ohne angemessene


Belohnung führt so zur »Gratifikationskrise«, die 30.1.3 Arbeitsbelastung drückt auf
mit erhöhten Risiken für psychische Störungen Zufriedenheit und Sozialleben
(Depression), Bluthochdruck und koronare Herz-
krankheit einhergeht. Die immensen Arbeitsbelastungen, mit denen Ärz-
In einer neueren Studie fanden sich unter chi- te heute konfrontiert sind (. Tab. 30.2), bleiben
rurgisch tätigen Krankenhausärzten berufliche nicht ohne Folgen auf das persönliche Befinden,
Gratifikationskrisen etwa bei jedem Vierten. Kriti- die Arbeitszufriedenheit und Motivation. Eine
sche Burnout-Werte wurden in dieser Gruppe Umfrage (Gebuhr 2002) kam zu folgenden Ergeb-
5-mal so häufig wie bei den stressfreien Ärzten ge- nissen: Mehr als die Hälfte aller Vertragsärzte gab
messen (Knesebeck et al. 2010). an, dass die Arbeit sie auslaugt (59 %). Die gleich
Verschiedene Faktoren bestimmen somit das hohe Anzahl berichtete, dass sie am Ende eines Ar-
Stresspotenzial und die »Toxizität« des Arbeitsplat- beitstages »völlig erledigt sei« (58 %). Über ständi-
zes im Hinblick auf die Entwicklung eines Burnout- ge Schlafdefizite klagten 59 % der Ärzte. 69 % der

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
30.1 · Theoretischer Teil
341 30

Extrinsische Faktoren Lohn/Gehalt


Wertschätzung
Aufstiegsmöglichkeiten
Arbeitsplatzsicherung

Anforderungen
Verpflichtungen
Belohnung

Verausgabung

Erwartung
(ȟbersteigerte
Verausgabungsneigung«)
Erwartung
(ȟbersteigerte
Verausgabungsneigung«) Intrinsische Faktoren

. Abb. 30.2 Modell beruflicher Gratifikationskrisen. (Mod. nach Siegrist 1996)

Befragten sahen ihr Privatleben in Mitleidenschaft 30.1.4 Persönliche Faktoren:


gezogen. Mit der Rückzugstendenz von Ärzten aus Wer ist gefährdet?
ihren privaten Kontakten bei zunehmender Belas-
tung wird eine entscheidende Ressource für Rege- Persönlichkeiten, welche sich bei der Arbeit über-
neration und Prävention der Burnout-Gefährdung mäßig verausgaben, tragen ein erhöhtes Burnout-
aufgegeben (Bergner 2004; Voltmer u. Spahn 2009). Risiko, sei es, weil sie sich zu leicht vereinnahmen
Verminderte persönliche Befriedigung aus der Ar- lassen, unter Zeitdruck geraten und nicht abgren-
beit reduziert die Motivation und Leistungsfähig- zen können, oder weil sie zu wenig Bestätigung und
keit: Bei 43,4 % der Ärzte vom 3. bis 8. Berufsjahr Befriedigung neben der Arbeit finden (Siegrist
fiel eine reduzierte Arbeitsmotivation auf (Voltmer 1996).
et al. 2007). Am Beginn ihrer Karriere empfinden viele Ärz-
Auch das Krankenhauspersonal in Deutschland te ihren Beruf als Berufung; ihr Wunsch, zu helfen,
ist belastet: 72 % der chirurgisch tätigen Ärzte ga- ihr Leistungswille und Altruismus dominieren. Im
ben an, durch den Beruf so stark beansprucht zu Laufe ihrer Weiterbildung steigen das Belastungser-
sein, dass sie zu müde sind, etwas mit dem Partner leben und Engagement an, der Beruf wird zur zent-
oder mit den Kindern zu unternehmen. Knapp 80 % ralen Lebensaufgabe, der Arzt zum Workaholic.
waren durch die berufliche Beanspruchung zu er- Neurobiologisch erklärbar ist dieses Phänomen im
schöpft, um sich noch persönlichen Interessen zu- Sinne einer »motivationalen Toxizität« von Arbeit
wenden zu können. Etwa zwei Drittel – insbesonde- (Esch u. Stephano 2010): In Analogie zu den Belas-
re Frauen und Assistenzärzte – gehen davon aus, tungen beim Marathonlauf werden bei hoher und
dass Zeitdruck die Arbeitsqualität manchmal oder zunächst motivierender Arbeitsanforderung im
oft vermindert (Knesebeck et al. 2010). ZNS »berauschende«, körpereigene Drogen ausge-
. Tab. 30.2 zeigt die Arbeitsbelastungen von an- schüttet (Adrenalin, Dopamin, Endorphine, Can-
gestellten und selbstständigen Ärzten, die die sich in nabinoide), die dazu führen können, dass man die
der Selbstbeschreibung als biopsychosozial gesund eigenen Belastungsgrenzen und Bedürfnisse nicht
und zufrieden erleben (nach Zwack et al. 2011). mehr spürt und die körperlichen und mentalen

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
342 Kapitel 30 · Burnout-Prävention

. Tab. 30.2 Arbeitsbelastungen von angestellten und selbstständigen Ärzten. Häufigkeit der Nennung der verschie-
denen Stressoren (%)

Stressoren Gesamte Stichprobe Männer Frauen


(N = 200) (N = 136) (N = 64)

Bürokratie/Verwaltungsaufwand 57 60 48

Freizeitmangel/lange Arbeitszeiten 42 43 40

Fließbandmedizin 32 33 30

Hierarchischer Druck 22 21 25

Behandlungsfehler 21 21 22

Fordernde Patienten 20 21 18

Schlechte Honorierung 19 22 13

Unkollegialität 18 18 18

Ungenügende Ausbildungsstrukturen 13 13 13

Tod/Suizid von Patienten 11 9 17

Fachliche Komplexität 10 8 12

Überhöhte Ansprüche an die eigene Person 6 7 5

Non-Compliance von Patienten 4 2 10


30

Kräfte auslaugt. So kommt es zu einer psychophysi- 30.1.5 Burnout und Depression


schen Erschöpfung meist bei Menschen, die nicht
gelernt – oder verlernt – haben, eigene Bedürfnisse Aufgrund ähnlicher und/oder überlappender
wahrzunehmen (von Känel 2008). Symptome ist die differentialdiagnostische Abgren-
Wichtige individuelle, Burnout-begünstigende zung zwischen Burnout und Depressionen, Schlaf-
Faktoren sind (Kaschka et al. 2011): und Angststörungen unscharf. Gemeinsames
4 Idealismus, Merkmal von Depression und Burnout ist die emo-
4 hohe Erwartungen an sich selbst, tionale Erschöpfung. Im Gegensatz zur Depression
4 starker Ehrgeiz, ist das Selbstwertgefühl beim Burnout meist erhal-
4 Perfektionismus, ten. Burnout geht oft mit Einschlafstörungen einher
4 Altruismus, (nicht abschalten können, Gedanken an den Job),
4 starkes Bedürfnis nach Anerkennung (anderen während bei der Depression eher das Früherwa-
immer recht machen wollen), chen typisch ist (. Abb. 30.3; s. auch 7 Kap. 12 »De-
4 eigene Bedürfnisse unterdrücken, pression und Suizidalität«).
4 Wunsch, alles selbst machen zu wollen, nicht
delegieren können/wollen,
4 Gefühl, unersetzbar zu sein, 30.1.6 Therapie des Burnout-Syndroms
4 Selbstüberschätzung,
4 Arbeit als einzig sinngebende Beschäftigung, Burnout ist zwar keine Krankheit nach ICD oder
4 Arbeit als Ersatz für soziales Leben. DSM und dennoch eine medizinisch relevante Ge-
sundheitsstörung im Sinne eines Risikozustandes
(Bauer et al. 2003; DPPN 2012). Eine psychosoma-
tisch-psychotherapeutische Therapie sollte einge-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
30.2 · Praktischer Teil – Burnout wirksam vorbeugen
343 30
Burnout Depression

Freudlosigkeit
Arbeitsbezug Interessensverlust
Mentale
Erschöpfung
Nieder-
Leistung ↓ Antrieb ↓
gestimmtheit

Emotionale Schlafstörung
Innere Erschöpfung Früherwachen
Distanzierung

Selbstwert- Schuld-
Zynismus
gefühle ↓ gefühle
Selbstwert-
gefühl = OK
Einschlaf- Suizidalität
störungen

. Abb. 30.3 Differenzierung Burnout und Depression. (Zeichnungen: Claudia Styrsky)

leitet werden, wenn klinisch relevante Burnout- tenz mit stärkerer Priorisierung von Grundbedürf-
Symptome vorliegen, z. B. bei anhaltenden Schlaf- nissen, als achtsame Lebensführung, stärkere zeit-
störungen (Frühindikator für ungesunden Stress) liche Selbstbegrenzung, selbstbestimmtere Hand-
sowie bei Burnout-Begleit- oder -Folgeerkrankun- lungsregulation und durch Aufbau von außerberuf-
gen, wie Depression, Angststörungen oder Abhän- lichen Belohnungs- und Ressourcenerfahrungen
gigkeitserkrankungen. Ziel ist es, die Arbeitsfähig- (Zwack et al. 2012).
keit zu erhalten oder wiederherzustellen und eine
vorzeitige Dienst- oder Berufsunfähigkeit abzuwen-
den (Bauer et al. 2003). Dabei ist auch bei Ärzten 30.2 Praktischer Teil –
mit Vorurteilen und Befürchtungen eines Stigmas Burnout wirksam vorbeugen
– »Ich bin doch nicht verrückt!« – zu rechnen. Denn
der Wechsel von der ärztlichen Expertenrolle in die Burnout-Prävention hat zum Ziel, persönliche Hal-
Patientenrolle fällt den Betroffenen verständlicher- tungen sowie Reaktions- und Verarbeitungsmuster
weise schwer (Zwack et al. 2012). In einem Informa- aufzubauen, die bei Belastungen die persönliche
tionsgespräch werden ärztliche Burnout-Betroffene Gesundheit schützen. Aus den oben genannten Mo-
über die körperlichen Effekte von Stress und die dellen zum Zusammenhang von Arbeitsbelastun-
Möglichkeit unterrichtet, über eine psychosomati- gen und Erkrankungsrisiko (Anforderung vs. Kon-
sche Behandlung positiv auf das seelische Befinden trolle, Verausgabung und Belohnung) ergeben sich
sowie auf die Lebens- und Arbeitsfreude Einfluss zu Ansätze zur Prävention von Gesundheitseinschrän-
nehmen. Wirkfaktoren der Therapie sind: Achtsa- kungen durch Überforderung auf persönlicher und
me Selbstwahrnehmung, Selbstfürsorge durch Ab- organisationaler Ebene i. S. von professionellem
grenzung («Nein sagen«), verbesserter Umgang mit Stressfolgen-Management (. Abb. 30.4).
eigenen Gefühlen (besonders die Akzeptanz negati-
ver Gefühle), Zunahme der Entspannungs- und
Genussfähigkeit sowie die lebensgeschichtliche
Verortung eigener Denk- und Handlungsmuster
und deren Weiterentwicklung. Der Erfolg zeigt sich
dann im Alltag als gestärkte Selbstfürsorgekompe-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
344 Kapitel 30 · Burnout-Prävention

Prävention:
STRESS Training: Stressreduktion, Entspannung,
Energie- und Selbstmanagement, Bewegung, Ernährung

Coaching – Job-Redesign:
Burnout Motivations- und Werte-Analyse, Klärung von Lebensbalancen,
(Risikozustand) Energie- und Erholungsmanagement

Stress-assoziierte Medizinische Abklärung und Therapie (amb./stat.):


Krankheiten Ausschluss organischer Ursachen, Überweisung zum Psychotherapeuten/
Schlafstörungen Psychiater, Neugewichtung der Arbeit, Entlastung, Ausbau des
Ängste Privatlebens, sozialer Kontakte, Hobbys, Genusstraining, Sport
Depression u.a.

. Abb. 30.4 Professionelles Stressfolgen-Management. (Zeichnungen: Claudia Styrsky)

30.2.1 Prävention auf mehr spürt. Keine eigenen Bedürfnisse zu haben


persönlicher Ebene oder zu äußern, ist gerade als Berufsanfänger op-
portun und daher mit erhöhtem Burnout-Risiko
Was Sie selbst für sich tun können verbunden (Voltmer et al. 2008). Mangelnde Befrie-
Der beste Schutz vor Burnout ist Zufriedenheit im digung von psychosozialen Bedürfnissen ist aller-
Beruf und Privatleben. Dies setzt aber Selbstacht- dings die Hauptursache von seelischen Störungen.
30 samkeit und Selbstsorge voraus – Haltungen, die Zufriedenheit ist unabdingbar mit der Befriedi-
auch heute noch unter Ärzten im Medizinbetrieb gung menschlicher Grundbedürfnisse verknüpft –
von Praxis und Klinik in der Prioritätenliste ganz neben den physiologischen Bedürfnissen wie Essen,
unten stehen. Für die Entwicklung gesunder Ar- Trinken, Schlafen etc. Dabei werden ressourcenrei-
beitsumwelten in Praxis und Klinik braucht es che, emotionale Zustände aktiviert. Als essenziell
Ärzte, die sich sowohl ihrer Stärken, aber auch ihrer für den Erhalt seelischer Gesundheit werden die
Bedürfnisse und Grenzen bewusst sind und diese nachfolgend genannten psychosozialen Grundbe-
achten. Essenziell dabei ist zu verstehen, dass dürfnisse erachtet (z. B. Grawe 2004; Lichtenberg et
Selbstsorge nicht Selbstsucht, sondern Selbsterhalt al. 2000; Rudolf 2007; . Tab. 30.3).
bedeutet (»self-preservation«, Gundersen 2001). In der folgenden Übung können Sie für sich ex-
plorieren, auf welche Weise zunächst die ersten 5
jGrundbedürfnisse achten dieser Grundbedürfnisse in Ihrem Leben befriedigt
»I’ve done too much for too many for too long with werden (. Abb. 30.5).
too little regard for myself« (Sotile u. Sotile 2003).
Als Medizinstudent ist man den eigenen Be- jWerte wiederbeleben: Was ist Ihnen wichtig
dürfnissen noch gut nachgekommen (z. B. Schlaf, im Leben?
Essen, Hobbys, Freunde, Feiern), doch verliert sich Werte sind wie Leuchttürme im Leben: Sie richten
dieser eigentlich gesunde »Egoismus« spätestens unsere Aufmerksamkeit aus, motivieren und mobi-
mit Eintritt in den Klinikalltag. Zumal Ärzte in lisieren Energie für neue Ziele.
deutschen Kliniken oft noch nach militärischen Also, was ist Ihnen wirklich wichtig im Leben?
Grundsätzen sozialisiert werden (Bergner 2004): In welcher Reihenfolge? Die folgende Übung hilft
Unter hierarchischem Druck und mit herem Be- Ihnen dabei, Ihre Werte zu klären (. Abb. 30.6).
rufsethos, die Bedürfnisse der Patienten und Erfor-
dernisse des Dienstes im Blick, lernt man sehr jIdentität
schnell, eigene Bedürfnisse zu unterdrücken, bis Zu wissen oder auch ein Gefühl dafür zu haben, wer
man sie gewohnheitsmäßig kaum oder gar nicht man ist, gibt uns ein Gefühl der Stärke und Stabili-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
30.2 · Praktischer Teil – Burnout wirksam vorbeugen
345 30

. Tab. 30.3 Befriedigung persönlicher Grundbedürfnisse zur Aktivierung von Ressourcen

Menschliches Grundbedürfnis Aktivierte emotionale Ressource durch Bedürfnisbefriedigung

Orientierung/Kontrolle/Autonomie o Gefühl der Sicherheit

Bindung/Beziehung o Gefühl der Zugehörigkeit

Selbstwerterhöhung/Anerkennung o Gefühl der Wertschätzung, Akzeptanz

Lust/Unlustvermeidung o Gefühl von Wohlbefinden, Freude

Körperliche Nähe o Gefühl von Geborgenheit, Offenheit, Freude

Identität o Gefühl von Sicherheit, Präsenz

Sinn/Spiritualität o Gefühl der Integration in etwas Größeres

tät. Aus systemischer Sicht geht man davon aus, dass Menschen, die für Burnout anfällig sind, haben
wir unterschiedliche Seiten oder Persönlichkeitsan- meist besonders starke innere Antreiber, die sie
teile haben, die in verschiedenen Kontexten (Part- über lange Zeit zu mehr Leistung bis zur Überforde-
nerschaft, Familie, Arbeit, Hobby etc.) zum Aus- rung anpeitschen, sodass die genannten Grundbe-
druck kommen und bestimmte Rollen mit Haltun- dürfnisse missachtet werden.
gen, Erlebnis- und Handlungsmustern bestimmen Bei dem Modell der inneren Antreiber der
(Stierlin 1995; Schultz von Thun 1998). Diese sind Transaktionsanalyse (Kahler 1977) handelt es sich
z. B. als Vater oder Mutter einem Kind gegenüber um stereotype, nicht hinterfragte Selbstanforde-
anderer Natur, als in der Rolle des Arztes in der pro- rungen, die ursprünglich aus der Kindheit stam-
fessionellen Begegnung mit dem Patienten. men  und Anforderungen der Eltern an das Kind
Bleiben wir bei Ihrer professionellen Identität, entsprachen, die es zur eigenen Sache gemacht hat
Ihrem Selbst- oder Rollenverständnis als Ärztin oder (Introjekt), um die Eltern zufriedenzustellen und
Arzt: Mit der folgenden Übung können Sie einmal Konflikte und Spannungen zu vermeiden. Im Er-
Ihre berufliche Identität beleuchten (. Abb. 30.7). wachsenenalter werden diese Antreiber bei Mehr-
belastungen getriggert. Sie entwickeln je nach Stres-
jSinn finden sempfinden eine unterschiedlich starke Dynamik,
Eine weitere, starke Energiequelle, die über die da sie eng mit dem Selbstwertgefühl verbunden
Identität hinausgeht, ist die Beantwortung der über- sind: »Ich bin nur OK, wenn ich … (z. B. stark) bin.«
geordneten Sinnfrage im Leben oder auch im Beruf. In Stress- und Belastungssituationen fühlen sich
Tatsächlich zeigen Studien, dass die Fähigkeit von viele Menschen insuffizient, nicht vollwertig, nicht
Ärzten auf besonders sinnhafte Aspekte der Arbeit geschätzt, nicht liebenswert. Die automatische Ak-
zu fokussieren (z. B. Patientenversorgung, For- tivierung innerer Antreiber hilft dann vermeintlich,
schung, Lehre), die erlebte Sinnhaftigkeit und die diesen Gefühlen zu entrinnen, denn sie folgen der
Zufriedenheit bei der Arbeit steigert und das Burn- illusionären Strategie »Ich bin wieder OK, wenn ich
out-Risiko reduziert (Überblick in Shanafelt 2009). … (z. B. stark) bin.« Ganz automatisch aktivieren
Mit der folgenden Übung können Sie Sinn- innere Antreiber so Energien, Fähigkeiten, steuern
aspekte im Leben und bei Ihrer Arbeit einmal näher unser Verhalten, lassen uns aber auch berufliche
beleuchten (. Abb. 30.8). Anforderungen meistern und Höchstleistungen
vollbringen. Denn jeder Antreiber steht auch für
jInnere Antreiber entmachten eine Tugend und hat einen positiven Kern (. Tab.
»Eigentlich bin ich ganz anders, nur komme ich so 30.4): Eine Person mit dem inneren Antreiber »Sei
selten dazu« (Ödön von Horváth, österreichisch- perfekt!« ist beispielsweise bei der Flugsicherung
ungarischer Schriftsteller 1901–1938). oder im Operationssaal durchaus wünschenswert.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
346 Kapitel 30 · Burnout-Prävention

Übungen aus Fritzsche et al., Psychosmatische Grundversorgung


Arbeitsblatt 5 Übung Grundbedürfnisse  Seite 2
Befriedigung der Grundbedürfnisse – Basis für Gesundheit
Wie sorgen Sie dafür, dass Ihre menschlichen Bedürfnisse befriedigt werden?
1. Orientierung/Kontrolle/Autonomie:
Wie erhalten Sie sich Gestaltungsräume, Freiräume, Spielräume ?
a) bei der Arbeit?
b) In der Freizeit?

2. Bindung/Beziehung:
Wie pflegen Sie Ihre sozialen Kontakte? Im Kreis der
a) Familie
b) Freunde
c) Kollegen
d) Praxisteam

3. Selbstwerterhöhung/Anerkennung:
a) Woran sieht man, dass Sie sich selbst wertschätzen/mögen? An:
Ihrem Aussehen:
(gepflegt?)
Ihrem Körper:
(in Schuss?)
Ihrer Nahrung:
30 (ausgewählt / sorgsam angerichtet?)
Wohnung / Haus:
(aufgeräumt, sauber, liebevoll gestaltet?)

b) Wie erleben Sie Wertschätzung / Anerkennung?


- bei der Arbeit?
- in der Freizeit?

4. Lust/Unlustvermeidung:
Wie fördern Sie Ihr Wohlbefinden?
a) Sehen (visuell): Es geht mir besser, wenn ich … sehe.

b) Hören (auditiv): Ich fühle mich gut, wenn ich … höre/lausche.

c) Spüren/bewegen (kinästetisch): Es tut mir gut, wenn ich … spüre/mache.

d) Riechen (olfaktorisch): Ich tanke auf, wenn ich … rieche.

e) Schmecken (gustatorisch): Ich finde es herrlich, wenn ich … schmecke.

5. Körperliche Nähe:
Wie befriedigen Sie Ihr Bedürfnis nach körperlicher Nähe/Berührung?

© 2015, Springer-Verlag Berlin, Heidelberg. Aus: Fritzsche et al.: Psychosomatische Grundversorgung

. Abb. 30.5 Übung zur Befriedigung der Grundbedürfnisse

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
30.2 · Praktischer Teil – Burnout wirksam vorbeugen
347 30

Übungen aus Fritzsche et al., Psychosmatische Grundversorgung


Arbeitsblatt 6 Übung Lebensbalancen  Seite 1
Diese Übung dient der persönlichen Standortbestimmung in Bezug auf wichtige Lebensfelder.
Sie hilft, Zielsetzungen zur Neuausrichtung von Lebensbalancen abzuleiten.
Vorgehen:
Definieren Sie zuerst die wichtigen Bereiche Ihres Lebens, wobei die folgenden 5 Bereiche vertreten sein müssen:
1. Partnerschaft 4. Soziale Kontakte (Hobbys, Vereine)
2. Familie & Freunde 5. Persönlicher Freiraum (Zeit für sich selbst)
3. Beruf & Karriere
Sie haben 2 zusätzliche Felder zur Verfügung, z. B.: Gesundheit & Fitness, Finanzen oder persönliche Weiterentwick-
lung, Spiritualität. Legen Sie bitte auch die aktuelle Priorität des jeweiligen Bereiches in Ihrem Leben fest.
Stellen Sie sich dann zu jedem Bereich die Frage:
Wie zufrieden bin ich in dem Bereich?
(1 = total unzufrieden, 10 = total zufrieden)
Wenn Sie im Bereich Partnerschaft beispielsweise zu 50% zufrieden sind, so füllen Sie bitte das entsprechende Kreis-
segment mit einem Stift bis 5 aus. Verfahren Sie entsprechend mit den Bereichen.
Auswertung:
Entspricht der Grad der Zufriedenheit Ihrem Wunsch?
Wenn nicht: Was wollen Sie verbessern? Wie viel Energie will ich künftig für diesen Bereich aufwenden? Was wären
die nächsten Schritte, um diese Veränderung konsequent umzusetzen?

© 2015, Springer-Verlag Berlin, Heidelberg. Aus: Fritzsche et al.: Psychosomatische Grundversorgung

. Abb. 30.6 Übung zu Lebensbalancen

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
348 Kapitel 30 · Burnout-Prävention

Übungen aus Fritzsche et al., Psychosmatische Grundversorgung


Arbeitsblatt 7 Übung Berufliche Identität Seite 2

Bitte beantworten Sie folgende Fragen möglichst intuitiv und spontan:

1. Von wo her komme ich (in meiner beruflichen Entwicklung)?

2. Was verkörpere ich in meiner Rolle als Arzt?

3. Beantworten Sie die folgende Frage bitte sowohl wörtlich als auch bildhaft-metaphorisch:
Wer bin ich bei meiner Arbeit, wenn meine Seele ganz dabei ist?
Wie komme ich mir da vor?

Wörtlich:

Sinnbild:
30
4. Was leitet mich in meiner Arbeit als Arzt?

5. Wohin bin ich unterwegs? Was steht für mich an in meiner Entwicklung?

© 2015, Springer-Verlag Berlin, Heidelberg. Aus: Fritzsche et al.: Psychosomatische Grundversorgung

. Abb. 30.7 Übung zur beruflichen Identität

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
30.2 · Praktischer Teil – Burnout wirksam vorbeugen
349 30

Übungen aus Fritzsche et al., Psychosmatische Grundversorgung


Arbeitsblatt 8 Übung Sinn finden  Seite 1

Bitte beantworten Sie folgende Fragen möglichst intuitiv und spontan:


1. Was sind Ihre ureigenen Gaben und Talente?
Was können Sie besonders gut und macht Ihnen Freude?
Welches Thema wird durch Sie lebendig?

2. Angenommen, Sie wären im Gefängnis und hätten nur sehr begrenzte Möglichkeiten, sich und den anderen das Leben
so angenehm wie möglich zu machen: Was wäre Ihr Beitrag?

3. Was macht Ihnen Sinn im Leben?


Zu welch‘ einer Welt leisten Sie einen Beitrag? Wovon ist sie geprägt?

4. Welche Aspekte Ihrer Arbeit machen Ihnen ganz besonders Sinn?

5. Wann ist Ihre Seele ganz dabei?

© 2015, Springer-Verlag Berlin, Heidelberg. Aus: Fritzsche et al.: Psychosomatische Grundversorgung

. Abb. 30.8 Übung zur Sinnfindung

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
350 Kapitel 30 · Burnout-Prävention

. Tab. 30.4 Antreiberarten mit ihren Botschaften und positivem Kern

Antreiber Äußere und innere Botschaften Positiver Kern

Sei perfekt! Wenn ich eine Arbeit mache, dann richtig – keine halben Sachen. Sinn für Qualität
Ich darf keine Fehler machen! Ich bin noch nicht gut genug! Vollkommenheit
Ehrgeiz

Mach schnell! Ich bin ständig in Bewegung und immer auf Trab. Ich mache oft Hohe Auffassungsgabe
mehrere Dinge gleichzeitig. Ich muss mich beeilen, sonst werde ich Effektivität
nicht fertig. Ich darf keine Zeit verschwenden! Zielorientierung

Streng dich an! Ohne Fleiß keinen Preis. Erfolge muss man sich hart erarbeiten Beharrlichkeit
– das Leben ist hart. Nur Schweres ist wertvoll. Reiß dich zusam- Durchhaltevermögen
men! Ich muss es schaffen! Ausdauer, Fleiß

Mach es allen recht! Es fällt mir schwer, Nein zu sagen. Akzeptiert zu werden ist wich- Soziale Wahrnehmung
tiger als eigene Interessen durchzusetzen. Positive Rückmeldungen Vermittlungsfähigkeit
sind mir sehr wichtig. Bloß kein Streit! Sei freundlich zu allen!

Sei stark! Ich komme alleine zurecht. Wie es drinnen aussieht, geht keinen Selbstständigkeit
was an. Mich erschüttert nichts so leicht. Indianerherz kennt keinen Engagement
Schmerz. Zähne zusammenbeißen und durch! Haltung bewahren! Leistungskraft

In . Tab. 30.4 finden Sie 5 grundlegende Antrei- stand, die folgende vermehrte Anstrengung endet
30 berarten, die in unterschiedlicher Ausprägung in schließlich in der Erschöpfung.
uns wirken: Was treibt Sie an? Welche Antreiber Wer seine persönlichen inneren Antreiber
sind bei Ihnen besonders stark ausgeprägt? kennt, kann ihren Einfluss abmildern und einem
Problematisch werden diese Antreiber, wenn sie Burnout vorbeugen. Dazu bedarf es einer fürsorgli-
unreflektiert und unausgewogen ausgelebt und in chen Haltung zu sich selbst und der selbsterteilten
ihrer Absolutheit übertrieben werden: Man treibt Erlaubnis, in Belastungssituationen auch einmal
sich selbst immer stärker an, um mehr Erfolg und etwas anderes zu tun. Nachfolgend sind einige sol-
Anerkennung zu bekommen, erzeugt aber eher cher »Erlauber« genannt (. Tab. 30.5):
mehr Stress – bei sich und anderen. Die Folgen sind
schlechte Stimmung, Einengung des Verhaltens,
Emotionen von Angst und Ärger erzeugen Wider-

. Tab. 30.5 Innere Antreiber entmachten

Antreiber »Erlauber« (Erlösende Selbstinstruktionen)

Sei perfekt! Ich darf auch Fehler machen und daraus lernen. Es können auch mal 90 % genügen.

Mach schnell! Ich darf mir Zeit nehmen und auch Pausen machen. Ich kann entscheiden, ob und wann ich
mich beeile.

Streng dich an! Ich darf es mir angenehm und leicht machen. Es darf auch leicht gehen.

Mach es allen recht! Ich darf meine eigenen Bedürfnisse achten und äußern. Ich darf es mir recht machen. Ich bin
auch OK, wenn ich eigene Konturen zeige und das für andere unbequem ist.

Sei stark! Ich darf auch Schwäche zeigen. Ich darf mir Unterstützung und Hilfe holen.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
30.2 · Praktischer Teil – Burnout wirksam vorbeugen
351 30
jStressmanagement – »Don’t work hard – jGesunde Lebensweise
work smart!« Auch mit einer gesunden Lebensweise können Sie
Voraussetzung für den gesunden Umgang mit Stress einem Burnout vorbeugen. Dazu gehört außer einer
ist zunächst überhaupt die Wahrnehmung einer er- ausgewogenen Ernährung, insbesondere regelmäßig
höhten körperlichen Anspannung und gedankli- Sport und Bewegung. Hier sollte jedoch nicht wieder
chen Einengung. In einem nächsten Schritt kom- der Leistungsgedanke (»Sei perfekt!«) im Vorder-
men dann Techniken zur Stressbewältigung zur grund stehen, sondern eher Genussaspekte und da-
Anwendung (s. auch 7 Kap. 29). mit die Aktivierung des Belohnungssystems. Sofern
Grundsätzlich lassen sich 3 Arten von Stressma- Sie nicht gänzlich auf sie verzichten können, schrän-
nagement unterscheiden: ken Sie den Konsum von Aufputschmitteln (z. B.
3. Instrumentelles Stressmanagement: Zeit- Kaffee, Nikotin) oder Genussmitteln (z. B. Alkohol,
und Störungsmanagement, Priorisierung der zuckerhaltige Lebensmittel) ein. Dadurch fühlen Sie
Aufgaben, Strukturierung und Verteilung über sich fitter und gehen ohne die chemischen Neuro-
den Tag gemäß individueller Leistungskurve enhancer weniger über Ihre Grenzen hinaus.
(Biorhythmus!).
4. Kognitives Stressmanagement: Veränderung jProfessionelle Hilfe nutzen
stressfördernder Gedanken (z. B. innere An- Falls Sie über einen längeren Zeitraum einen erhöh-
treiber), Erwartungen, Haltungen, Emotionen ten Stresslevel oder typische Symptome von Burn-
durch Neubewertung. Beispiel: Statt sich über out bei sich bemerken, sollten Sie Verantwortung
den Stau auf der Autobahn aufzuregen, kann für Ihre Gesundheit übernehmen und sich an einen
man ihn als Pause nutzen, um ausgiebig seine professionellen Coach, Arzt oder Psychotherapeu-
Lieblingsmusik zu hören. ten wenden. Coaching als zeitlich begrenzter Bera-
5. Regeneratives Stressmanagement: Hierunter tungsprozess hilft, Hintergründe einer Burnout-
fallen Methoden und Aktivitäten, die geeignet Entwicklung transparent zu machen, Lösungen zu
sind, gesundheitsgefährdende Anspannungs- entwickeln, den Zugang zu eigenen Bedürfnissen
zustände und Stressfolgen zu reduzieren, um und Ressourcen zu finden und diese im Rahmen
sich zu erholen (7 Kap. 29). eines »Job-Redesign« zur Entwicklung salutogener,
wesensgemäßer Arbeitsbedingungen zu nutzen.
Wie sehen Ihre Ansätze zum Stressmanagement Idealerweise erfolgt dies auch in vertrauensvoller
aus? Tragen Sie diese in das folgende Übungsblatt Zusammenarbeit mit dem Vorgesetzten und/oder
ein (. Abb. 30.9). der Personalentwicklung. Grundvoraussetzung für
ein Coaching – in Abgrenzung zur Therapie – ist,
jSoziale Kontakte dass die Selbstregulationsfähigkeit erhalten ist. Es
Das soziale Netzwerk ist ein wichtiger Faktor in der sind zwar erste Stressfolgestörungen vorhanden
Burnout-Prävention. Ärztinnen scheinen in stärke- (z. B. Schlafstörungen, Tinnitus), diese können aber
rem Maße soziale Unterstützung zu suchen und noch ausreichend kompensiert werden. Liegen da-
davon zu profitieren (Voltmer u. Spahn 2009). Der gegen Krankheitszeichen mit Hilflosigkeit vor, wie
Kontakt mit nahestehenden Menschen, Partner, andauernde Schlafstörungen, depressive Sympto-
Freunden und Familie bietet Ausgleich für Belas- me, Ängste, schädlicher oder abhängiger Substanz-
tungen bei der Arbeit. gebrauch, ist eine psychotherapeutisch-psychoso-
Achten Sie dabei insbesondere auf Kontakte mit matische Therapie dringend zu empfehlen.
Menschen, die Ihnen guttun, bzw. die nähren. Viel-
leicht vergegenwärtigen Sie sich einmal Ihre 5 wich- Was Sie bei der Arbeit für sich tun können
tigsten und emotional positiv besetzten Personen in Prävention von Burnout ist das kontinuierliche
den Bereichen Familie, Freunde, Hobby und Kolle- Herstellen einer gelungenen Passung von profes-
gen. Was tun Sie, um diese Kontakte zu pflegen? sioneller Identität und Arbeitsfeld. Die Arbeitsan-
forderungen müssen den individuellen Ressourcen
entsprechen und persönlichen Bedürfnissen ge-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
352 Kapitel 30 · Burnout-Prävention

Übungen aus Fritzsche et al., Psychosmatische Grundversorgung


Arbeitsblatt 9 Übung Stressmanagement  Seite 1

Wie machen Sie es?

Tragen Sie bitte Ihre Ansätze zur jeweiligen Rubrik ein

30

© 2015, Springer-Verlag Berlin, Heidelberg. Aus: Fritzsche et al.: Psychosomatische Grundversorgung

. Abb. 30.9 Übung zum Stressmanagement

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
30.2 · Praktischer Teil – Burnout wirksam vorbeugen
353 30
recht werden, damit sich Arbeitszufriedenheit ein- 4 Schließen Sie die Arbeit mit etwas Positivem
stellt. Nachfolgend finden Sie einige Anregungen, ab.
die sich zur nachhaltigen Entlastung und Motiva- 4 Arbeit und Leben im Gleichgewicht: Ihre Le-
tion bewährt haben. benszufriedenheit und Gesundheit sollten auf
mehreren Beinen stehen (s. Übung zu Lebens-
jArbeitsplatzgestaltung balancen, . Abb. 30.6). Dazu ist es wichtig
Bei der Arbeitsgestaltung in Klinik und Praxis gibt mehrere außerberufliche Quellen der Freude
es meist noch Spielraum, um Burnout-Prophylaxe (Gratifikationsquellen) zu haben: Soziale
zu betreiben. Hier einige Beispiele: Kontakte (Freunde, Familie, Partnerschaft),
4 Zeit- und Energiemanagement: Aufgaben- Hobbys, Sport, Kultur etc.
verteilung unter Beachtung des persönlichen
Leistungs- und Biorhythmus (z. B. schwere jFortbildungen
Aufgaben morgens, leichte abends). Die eigene Professionalität z. B. durch Fortbildun-
Sorgen Sie für Zeitpuffer für Unvorhergesehe- gen zu pflegen, befriedigt das menschliche Grund-
nes im Arbeitsablauf. bedürfnis nach Selbstwerterhöhung und Sinn. Dar-
4 Aufgabenvielfalt: Sorgen Sie für Abwechslung über hinaus werden von Ärztekammern und -ver-
Ihrer Tätigkeiten, das schützt vor Eintönigkeit bänden, Volkhochschulen und Privatanbietern Se-
und motiviert. minare zur Verbesserung der Arbeitsorganisation
4 Prioritäten setzen: Ihre persönliche Gesund- und zur Erreichung eines ausgeglichenen Verhält-
heit und Zufriedenheit gehören an erste Stelle. nisses zwischen Arbeit und Freizeit angeboten. Zu
Nur, wenn Sie in einem guten Zustand sind, diesem Thema existieren auch einige gute Ratgeber
sind Sie wirklich hilfreich. Daher sind Aktivi- und Sachbücher von Steiner (2014), Seiwert (2014),
täten, die Ihren persönlichen Motiven und Csiksentmihalyi (2010), Covey et al. (2007) und
Bedürfnissen entsprechen, vorrangig. Schnabel (2010).
4 Freiräume: Jeder Arzt braucht gewisse Frei-
räume zur individuellen Gestaltung seiner jSupervision
Arbeit und um kreativ zu sein. Schützen Sie Einzelgängerische und überehrgeizige Ärzte, die
Ihre Freiräume durch respektvolles Neinsagen sich bis zur Grenze verausgeben, sollten dahinge-
zu Ablenkungen und Störungen durch andere. hend gestärkt werden, die Kommunikation mit Kol-
4 Störungsmanagement: Erreichbarkeit über legen zu suchen. Studien zeigen, dass Supervisions-
Anrufbeantworter und Einführung einer festen gruppen, die von externen, psychotherapeutischen
Telefonsprechstunde (Zeitkorridor) helfen ge- Moderatoren begleitet werden, sowohl bei Ärzten
gen ständige Störungen. als auch bei Pflegekräften signifikant präventive,
4 Delegation: Tätigkeiten, die nicht Ihren teilweise kurative Effekte gegenüber Burnout-Symp-
Kernaufgaben/-kompetenzen entsprechen tomen haben.
(z. B. Verwaltungstätigkeiten), nach Möglich-
keit an untergeordnetes Personal delegieren. jBalintgruppen
4 Entlastung durch Kooperation: Durch Mit- Diese Arbeit ist im Sinne einer emotional entlasten-
arbeit in einer Gemeinschaftspraxis kann man den, kollegialen Beratung inzwischen auch in Fel-
relativ feste Arbeitszeiten einhalten. Ohne eine dern außerhalb der Medizin, z. B. in Schulen und
externe Vertretung organisieren zu müssen, Unternehmen, verbreitet. In der Balintarbeit geht es
kann man zu Fortbildungen gehen oder in darum, schwierige Patienten-Beziehungen im Krei-
Urlaub fahren, anfallende Kosten werden auf- se der ärztlichen Kollegen zu thematisieren, um sich
geteilt. selbst zu entlasten, seine Gedanken, Gefühle und
4 Setzten Sie der Arbeit Grenzen: Vergeben Sie, Verhaltensmuster tiefer zu verstehen und über Mul-
bevor Sie beginnen, feste Zeitkontingente für tiperspektivität eine Haltungsänderung anzuregen,
bestimmte Tätigkeiten, um auch noch Zeit für die Stress reduziert und neue, stimmige Verhaltens-
andere Interessen zu haben. weisen ermöglicht (7 Kap. 28).

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
354 Kapitel 30 · Burnout-Prävention

30.2.2 Prävention auf organisationaler Engagement, Kreativität, kollegialer Wertschätzung


Ebene sowie in einer Abnahme der Fehlzeiten von Mitar-
beitern.
Einem Burnout lässt sich nicht nur auf persönlicher
Ebene, sondern auch von betrieblicher Seite vor- jGesunde Führung
beugen. Leider wird die seit 1996 im deutschen Neben den genannten Präventivmaßnahmen sind
Arbeitsschutzgesetz geforderte Gefährdungsbeur- in medizinischen Bereichen von Praxis und Klinik
teilung für psychische Belastungen am Arbeitsplatz insbesondere auch Programme zur Verbesserung
bisher noch bei der Minderheit der Betriebe prak- des Führungsverhaltens und zur Entwicklung ei-
tiziert (Beck et al. 2012). Die kontinuierlichen Ver- ner betrieblichen Anerkennungskultur bedeutsam.
änderungsprozesse in der freien Wirtschaft und im Denn die Prinzipien guter Führung sind inzwi-
öffentlichen Dienst und die sich permanent verän- schen weitgehend bekannt und deren stressmin-
dernden Aufgabenprofile von Einzelnen und Teams dernde Effekte auf Mitarbeiter gut belegt, z. B. die
machen eine regelhafte psychosoziale Gefährdungs- Senkung des Kortisolspiegels (Thorell et al. 2001).
beurteilung zum Zweck der Burnout-Prävention Neben Führungstrainings geht es insbesondere
allerdings notwendig (Positionspapier DGPPN um  eine bessere Vereinbarung von Arbeitszeiten
2012). Darüber hinaus sind Kenntnisse zur Frage, und familiären Verpflichtungen. Hilfreich im
wie gesunde Arbeit gestaltet werden kann, damit Sinne der Burnout-Prävention wäre zudem, riskan-
Leistungsfähigkeit, Motivation und Zufriedenheit te Arbeitsbedingungen und riskante Bewältigungs-
erhalten bleiben, für jeden Arzt persönlich, aber formen bei Kollegen und Mitarbeitern frühzeitig
auch als Vorgesetzter und Führungskraft seiner Mit- zu erfassen (Siegrist 2012). In diesem Sinne soll-
arbeiter in Praxis und Klinik von großem Interesse. ten  ärztliche Vorgesetzte ihre Fürsorgepflicht bei
30 (über-)engagierten Mitarbeitern wahrnehmen, die
jWann ist Arbeit gesund? für berufliche Ziele oft private Interessen zurück-
Aus den oben dargestellten Erkenntnissen zur stellen, und erste Anzeichen einer Überforderung
Burnout-Entstehung leiten sich folgende gesund- im Blick haben: Leistungsabfall, schlechte Stim-
heitsfördernde Arbeitsbedingungen ab (Siegrist mung, Anstieg der Fehlerquote und Verhaltens-
2012): änderungen.
4 Angemessene Arbeitslast: Ein anspruchsvolles,
aber nicht überforderndes Arbeitsaufgaben- jBetriebliches Gesundheitsmanagement
profil ermöglicht das Gefühl der Kontrolle und Eine betrieblich realisierte Burnout-Prophylaxe, die
Handhabbarkeit. Die Tätigkeiten gewähren an Organisationsstrukturen ansetzt, kann nur gelin-
nicht nur Autonomie, sondern auch reichhal- gen, wenn die Institution sich dem Thema »Arbeit
tige Lern- und Entwicklungschancen. und Gesundheit« stellt und bereit ist, gesunde Ar-
4 Erbrachte Leistungen gehen mit angemessenen beitsbedingungen zu schaffen. Obwohl die Wirk-
Erfahrungen von Erfolg und sozialer Anerken- lichkeit in vielen medizinischen Institutionen oft
nung einher, sowohl über materielle als auch unerträglich weit von dieser idealen Vorstellung
nichtmaterielle Gratifikationen (Anerken- abweicht, gibt es die berechtigte Erwartung, dass
nungs- und Wertschätzungskultur). betriebliche Gesundheitsförderung bzw. betriebli-
4 Die Zusammenarbeit ist von einem vertrau- ches Gesundheitsmanagement (BGM) in Zukunft
ensvollen Klima, Fairness und transparenten, auch in medizinischen Arbeitsbereichen mehr Ge-
gerechten Umgang gekennzeichnet. wicht bekommt.
4 Der berufliche Einsatz und die Leistungs-
erbringung erfolgen mit gesicherter und jPräventionsprogramme – Wohlbefinden
sinnerfüllter Perspektive. und Gesundheit für Ärzte
Vor allem in den USA und Kanada haben sich in
Die Effekte solcher Arbeitsbedingungen zeigen sich den letzten Jahren Präventionsprogramme zum
nachweislich in erhöhter Produktivität, Motivation, Ausbau von Wohlbefinden und Gesundheit bei

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
30.2 · Praktischer Teil – Burnout wirksam vorbeugen
355 30

. Tab. 30.6 Resilienzstrategien bei Allgemeinärzten und Häufigkeit ihrer Nennung (%). (Nach Zwack et al. 2011)

Allgemeine Kraft- und Gratifikation aus der Arzt-Patient-Beziehung 65,9


Sinn- und Freudequellen
Gratifikation aus dem behandlungsbezogenenen Vorher-Nachher-Vergleich 59,5

Resilienzstrategien I: Freizeitaktivität zum Stressabbau 79,2


Konkrete Handlungen
Kollegialität bewusst suchen und pflegen 53,2
und Praktiken
Investition in und Gratifikation durch die Familie/Freundschaften 47,4

Proaktiv-offene Kommunikation gegen Kollegen/Vorgesetzten 43,9

Proaktiv-offene Kommunikation gegen Patienten 41,6

Ziel- und Standortbestimmung 38,7

Privater Austausch über arbeitsplatzbezogene Belastungen 37,0

Abgrenzung/Selbstschutz gegen Patienten 36,4

Abgrenzung/Selbstschutz gegen Kollegen und Vorgesetzten 34,1

Pflege der Professionalität 34,1

Selbstorganisation 33,5

Arbeitsbegrenzung 27,1

Auszeiten und strategisches Urlauben 26,0

Fehlermanagement 23,7

Institutionalisierter kollegialer Austausch 19,1

Zweites Standbein (langjährige außerberufliche Interessenfelder) 14,5

Einzelsupervision und therapeutische Unterstützung 13,3

Selbstdisziplinierung im Arzt-Patient-Kontakt 11,6

Priorisieren der Basisversorgung 10,4

Spiritualität 9,2

Resilienzstrategien II: Akzeptanz und Realismus 53,8


Nützliche Einstellungen
Selbstbewusstheit und Reflexivität 49,7
und Grundhaltungen
Handlungsorientierung 48,0

Eigene Begrenzungen anerkennen 43,4

»Gehen können« 30,1

Schätzen was ist 23,7

Innere Distanzierung 20,8

Sinngebung durch Kontextorientierung 16,2

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
356 Kapitel 30 · Burnout-Prävention

Ärzten erfolgreich etabliert (Überblick in Albu- 5 Sinnfindung (»Wer das warum kennt, kann
querque u. Deshauer 2014). Diese umfassten Trai- das wie leichter ertragen«).
nings zur Erhöhung der Achtsamkeit im Hinblick 4 Bedürfnis nach Bindung/Beziehung:
auf eigene emotionale Reaktionen in schwierigen 5 Investitionen in die Arzt-Patient-Beziehung
klinischen Situationen und zur Verbesserung von sind grundsätzlich günstig,
Teamdynamiken, Selbstsorge, proaktives Stress- 5 bewusste Suche und Pflege von Kollegialität,
und Risikomanagement am Arbeitsplatz, achtsam- 5 Investition in und Gratifikation durch die
keitsbasierte Kommunikation, Wertschätzung am Familie und Freundschaften,
Arbeitsplatz, als auch Führungstrainings. Beobach- 5 privater und kollegialer Austausch,
tete Effekte waren: ein vertieftes Verständnis für die 5 institutionalisierter Austausch, z. B. durch
Patienten-Belange, effektivere Patientenversorgung, Balintgruppen oder Supervision.
erhöhte Sinnhaftigkeit und Wohlbefinden bei der 4 Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung/
Arbeit, Entwicklung von Gemeinschaftssinn sowie Anerkennung (Selbstwertschutz):
Anpassungsreserven. Die Programme reduzierten 5 selbstreflexive Haltung,
nachweislich das Risiko von Behandlungsfehlern 5 Pflege der eigenen Professionalität,
und erhöhten die Behandlungssicherheit beim Pa- 5 Gratifikationen aus dem behandlungsbezo-
tienten (Beckman et al. 2012; Shanafelt et al. 2009, genen Vorher-Nachher-Vergleich,
2014; West et al. 2014). 5 regelhafte, langjährige außerberufliche In-
vestitionen (»ein Leben neben dem Beruf«).
4 Bedürfnis nach Lust/Unlustvermeidung:
30.2.3 Resilienzfaktoren: Was hält Ärzte 5 Auszeiten und Freizeitaktivitäten zum
unter Stress gesund? Stressabbau, wirken kurzfristig palliativ-
30 regenerativ, steigern das Wohlbefinden,
Bislang haben wir uns mit Maßnahmen zur Vorbeu- 5 basale Selbstfürsorge durch gesundes
gung von gesundheitsgefährdenden Stressfolgen Schlaf-, Ess- und Trinkverhalten.
befasst. Nun kommen wir zu den Faktoren, die die
Widerstandskraft nähren. Eine neuere deutsche In- Wichtigste Ansatzpunkte einer wirksamen Resilienz-
terviewstudie mit 200 gesunden Ärzten (Zwack et Förderung sind deshalb nicht nur die akute Stress-
al. 2011) ist u. a. der Frage nachgegangen, wie sich bewältigung, sondern vor allem eine langfristige
Gesundheit, Sinnerleben, Freude und Wirksam- Verbesserung der »Bedürfnis-Bilanz« (Zwack et al.
keitserfahrung im Arztberuf auch unter widrigen 2012; . Tab. 30.6).
Arbeitsbedingungen erhalten lassen. Die gefunde-
nen Resilienzstrategien nach Häufigkeit ihrer
Nennung gibt . Tab. 30.6 wieder. Danach speist sich Literatur
die Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse
Zitierte Literatur
aus verschiedenen gesundheitsfördernden Strate- Ahola K, Honkonen T, Isometsä E et al. (2005) The relationship
gien und Aktivitäten (Zwack et al. 2011). between job-related burnout and depressive disorders –
4 Bedürfnis nach Orientierung/Kontrolle/ results from the Finnish Health 2000 Study. J Affect
Autonomie: Disord 88: 55–62
Albuquerque J, Deshauer D (2014) Physician health: beyond
5 bewusste Schaffung äußerer Freiheitsgrade,
work-life balance. CMAJ 186(13)
z. B. durch Reduktion von Störfaktoren, Bauer J , Häfner S , Kächele H et al. (2003) Burn-out und Wie-
Setzen von Standards und Grenzen, dergewinnung seelischer Gesundheit am Arbeitsplatz.
5 kognitive Strategien und Haltungen (innere Psychother Psych Med 53(5): 213–222
Distanzierung, Akzeptanz und Realismus, Beck D, Richter G, Ertel M, Morschhäuser M (2012) Gefähr-
Sinngebung, Schätzen was ist, Handlungs- dungsbeurteilung bei psychischen Belastungen in
Deutschland. Präv Gesundheitsf 7: 115–119
orientierung), Beckman HB, Wendland M, Mooney C et al. (2012) »The im-
5 innere Freiheitsgrade durch die Absenkung pact of a program in mindful communication on primary
von Standards bzw. des Anspruchsniveaus, care physicians.« Acad Med 87: 815–819

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
Literatur
357 30
Bergner T (2004) Lebensaufgabe statt Lebens-Aufgabe. Stierlin H (1995) Das Ich und die Anderen. Klett-Cotta, Stuttgart
Dtsch Ärztebl 101: A2232–4 Theorell T, Emdad R, Arnetz B, Weingarten AM (2001) Em-
Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und ployee effects of an educational program for managers at
Nervenheilkunde (DGPPN) (2010) Positionspapier zum an insurance company. Psychosom Med, 63(5), 724–733
Thema Burnout. 03/2012 Voltmer E, Kieschke U, Spahn C (2007) Arbeitsbezogenes
Esch T, Stefano GB (2010) The neurobiology of stress manage- Verhalten und Erleben bei Ärzten im dritten bis achten
ment. Neuroendocrinol Lett 31(1): 19–39 Berufsjahr. Z Psychosom Med Psyc 53, 244–257
Freudenberger H (1974) Staff burn-out. J Soc Issues 30: 159–165 Voltmer E, Kieschke U, Schwappach DL et al. (2008) Psycho-
Gebuhr K (2002) Die vertragsärztliche Gegenwart im Lichte social health risk factors and resources of medical stu-
des Burn-out-Syndroms. Die wirtschaftliche Entwicklung dents and physicians: a cross-sectional study. BMC Med
und die ärztliche Selbstverwaltung in der vertragsärzt- Educ 8: 46
lichen Meinung, Brendan-Schmittmann-Stiftung des Voltmer E, Spahn C (2009) Soziale Unterstützung und Gesund-
NAV-Virchow-Bundes (Verband der niedergelassenen heit von Ärzten. Z Psychosom Med Psyc 55: 51–69
Ärzte Deutschlands, Berlin) Weng HC, Hung CM, Liu YT et al. (2011) Associations between
Grawe K (2004) Neuropsychotherapie. Hogrefe, Göttingen emotional intelligence and doctor burnout, job satisfac-
Gundersen L (2001) Physician burnout. Ann Intern Med 135: tion and patient satisfaction. Med Educ 45(8): 835–42
145–148 West CP, Dyrbye LN, Rabatin JT et al. (2014) Intervention to
von Känel R (2008) Das Burnout-Syndrom: eine medizinische promote physician well-being, job satisfaction, and
Perspektive. Praxis 97: 477–487 professionalism: a randomized clinical trial. JAMA intern
Kahler T (1977) Das Miniskript. In: Barnes G et al. Transaktions- med 174: 527–533
analyse seit Eric Berne, Bd 2, S 91–132 Zwack J, Abel C, Schweitzer J (2011) Resilienz im Arztberuf.
Karasek, RA (1979) Job demands, job decision latitude, and Salutogenetische Praktiken und Einstellungsmuster
mental strain: implications for job redesign. Admin Sci erfahrener Ärzte. Psychother Psychosom Med Psychol 12:
Quart 24: 285–308 495–502
Kaschka WP, Korczak D, Broich K (2011) Modediagnose Burn- Zwack J, Bodenstein U, Mundl, Schweitzer J (2012) Pathoge-
out. Dtsch Ärztebl Int 108(46): 781–787 netische und salutogenetische Aspekte der Ärztegesund-
Knesebeck O, Klein J, Grosse Frie K et al. (2010) Psychosoziale heit – eine qualitative Katamnese betroffener Ärzte.
Arbeitsbelastungen bei chirurgisch tätigen Kranken- Psychiatr Prax, 39: 181–188
hausärzten. Ergebnisse einer bundesweiten Befragung.
Dtsch Arztebl Int 107(14): 248–253 Weiterführende Literatur
Lichtenberg JD, Lachmann M, Fosshage JL (2000) Das Selbst Antonovsky A (1997) Salutogenese. Zur Entmystifizierung der
und die motivationalen Systeme. Zu einer Theorie psy- Gesundheit. dgvt-Verlag, Tübingen
choanalytischer Technik. Brandes & Apsel, Frankfurt Covey SR et al. (2007) Der Weg zum Wesentlichen. Campus,
Prins JT, van der Heijden FM, Hoekstra-Weebers JE et al. (2009) Frankfurt
Burnout, engagement and resident physicians’ self- Csiksentmihalyi M (2010) Das Flow-Erlebnis. Jenseits von
reported errors. Psychol Health Med 14(6): 654–666 Angst und Langeweile: im Tun aufgehen. Klett-Cotta,
Rudolf G (2007) Psychotherapeutische Medizin und Psycho- Stuttgart
somatik. 6. Aufl., Thieme, Stuttgart Rudolf G, Henningsen P (2013) Psychotherapeutische Medizin
Schultz von Thun F (1998) Miteinander reden 3 – Das »innere und Psychosomatik, 7. Aufl. Thieme, Stuttgart
Team« und situationsgerechte Kommunikation. Rowohlt, Schnabel U (2010) Muße. Vom Glück des Nichtstuns.
Reinbek Pantheon, München
Shanafelt TD, Sloan JA, Habermann TM (2003) The well-being Seiwert L (2014) Das 1x1 des Zeitmanagement: Zeiteinteilung,
of physicians. Am J Med 114(6): 513–519 Selbstbestimmung, Lebensbalance. GU, München
Shanafelt TD (2009) Enhancing meaning in work a prescrip- Steiner V (2014) Energie-Kompetenz. Produktiver denken.
tion for preventing physician burnout and promoting Wirkungsvoller arbeiten. Entspannter leben. Pendo,
patient-centered care. JAMA 302(12): 1338–1340 Zürich
Shanafelt, TD, Kaups KL, Nelson H et al. (2014) An interactive
individualized intervention to promote behavioral
change to increase personal well-being in US surgeons.
Ann surg 259: 82–88
Siegrist J (1996) Adverse health effects of high-effort/low-
reward conditions. J Occup Health Psychol 1: 27–41
Siegrist J (2012) »Burnout und Arbeitswelt« Vortrag im
Rahmen der 62. Lindauer Psychotherapiewochen
Sotile WM, Sotile MO (2003) Beyond physician burnout: keys
to effective emotional management. J Med Pract Manage
18: 314–316

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
359 31

Wie weiter? Fort- und Weiter-


bildungsmöglichkeiten in
psychosomatischer Medizin
und Psychotherapie
Kurt Fritzsche, Peter Schröder

31.1 Psychosomatische Grundversorgung als Teil der psycho-


somatischen und psychotherapeutischen Medizin – 360

31.2 Zusatzweiterbildung Psychotherapie-fachgebunden – 360


31.2.1 Ausbildungsziel und Lernziele – 361
31.2.2 Leitlinien – 362
31.2.3 Inhalte – 362
31.2.4 Fallbeispiele – 363

31.3 Weiterbildung in systemischer Therapie – 365

31.4 Weitere Fort- und Weiterbildungen in psychosomatischer


Medizin und Psychotherapie – 366

Literatur – 367

K. Fritzsche et al. (Hrsg.), Psychosomatische Grundversorgung,


DOI 10.1007/978-3-662-47744-1_31, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
360 Kapitel 31 · Wie weiter? Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten in psychosomatischer Medizin und Psychotherapie

31.1 Psychosomatische Grund- . Abb. 31.1 zeigt die Gemeinsamkeiten und


versorgung als Teil der psycho- Überschneidungen der psychosomatischen Grund-
somatischen und psycho- versorgung mit anderen Fachgebieten.
therapeutischen Medizin Dieses Modell wurde durch einen Beschluss des
Deutschen Ärztetages (Deutsches Ärzteblatt 2006;
Die Versorgungssituation in Deutschland lässt sich Neitscher et al. 2006) zur Stärkung und Förderung
am besten in einem 3-stufigen Modell beschreiben. der psychiatrisch-psychosomatisch-psychothera-
1. Die psychosomatische Grundversorgung für peutischen Kompetenz im ärztlichen Handeln be-
alle in Praxis und Klinik tätigen Ärzte. stätigt. Wörtlich heißt es dort: »Psychosoziale Kom-
2. Zusatzbezeichnung Psychotherapie fachgebun- petenz des Arztes und der Ärztin ist in allen medi-
den für Ärzte, die in ihrem somatischen Fach- zinischen Bereichen mit direktem Patientenkontakt
gebiet Patienten intensiv und längerfristig erforderlich und verdient systematisch reflektiert
psychotherapeutisch behandeln möchten. und erlernt zu werden. … Auf der anderen Seite le-
3. Den ärztlichen und psychologischen Fach- gen Patientinnen und Patienten größten Wert dar-
psychotherapeuten, der tiefenpsychologisch, auf, dass sich ihr Arzt und ihre Ärztin viel Zeit für
analytisch oder verhaltenstherapeutisch inten- das Gespräch nimmt, was erwiesenermaßen auch
siv über Jahre weitergebildet ist. zu einer höheren Sicherheit bei der Diagnosestel-
lung somatischer, psychischer und psychosomati-
Übersicht über die Fort- und Weiterbildung scher Erkrankungen und damit zu einer höheren
in psychosomatischer und psychothera- klinischen Effektivität führt. Eine gute Arzt-Patien-
peutischer Medizin ten-Beziehung und damit einhergehend therapeuti-
1. Psychosomatische Grundversorgung sche Gespräche haben bei Patientinnen und Patien-
– Basisdiagnostik ten einen hohen Stellenwert. … Ziel muss es sein,
– Basistherapie abgestuft auf allen Behandlungsebenen, z. B. neben
der psychosomatischen Grundversorgung weiter-
31 – Kooperation im Versorgungssystem
hin den Bereich Psychotherapie bzw. die fachgebun-
– Weiterbildung obligatorisch bisher für
Allgemeinmedizin und Gynäkologie. dene Psychotherapie bedarfsgerecht in allgemein-
2. Zusatzweiterbildung Psychotherapie-fach- und fachärztliche Konzepte einzubeziehen.«
gebunden
– Fakultative integrierte psychosomatische
Psychotherapie als Ergänzung zu allen 31.2 Zusatzweiterbildung Psycho-
Facharztgebieten, z. B. Allgemeinmedizin, therapie-fachgebunden
Innere Medizin, Gynäkologie, Dermatolo-
gie, Urologie, Anästhesie, Orthopädie Die Zusatzweiterbildung fachgebundene Psycho-
3. Ärztliche oder psychologische Fachpsycho- therapie umfasst in Ergänzung zu einer Facharzt-
therapie kompetenz die Vorbeugung, Erkennungen und psy-
– Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie chotherapeutische indikationsbezogene Behand-
– Obligatorisch integrierte Psychotherapie lung von Erkrankungen des jeweiligen Gebietes, die
– Facharzt für Psychosomatische Medizin im Zusammenhang mit psychosozialen Faktoren
und Psychotherapie und Belastungsreaktionen stehen. Z. B. werden
– Ärztlicher psychotherapeutischer Urologen eher Patienten mit erektiler Dysfunktion
Spezialist behandeln, Orthopäden eher Schmerzpatienten,
– Psychologischer Psychotherapeut während für Allgemeinärzte keinerlei Einschrän-
– Psychologischer psychotherapeuti- kungen besteht.
scher Spezialist ohne medizinische
Kompetenz

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
31.2 · Zusatzweiterbildung Psychotherapie-fachgebunden
361 31

Psychosomatische Medizin und


Psychotherapie

Zusatzweiterbildung Zusatzweiterbildung
Psychotherapie Psychotherapie

Psychosomatische Grundversorgung

Allgemeinmedizin Psychiatrie und Psychotherapie


Innere Medizin Kinder- und Jugendpsychiatrie
Neurologie
Gynäkologie
und andere Fachgebiete

. Abb. 31.1 Gemeinsamkeiten und Überschneidungen der psychosomatischen Grundversorgung mit den Gebieten: psy-
chosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychiatrie und Psychotherapie, innere Medizin und anderen Fachgebieten

31.2.1 Ausbildungsziel und Lernziele ambulante oder stationäre Fachpsychotherapie


motiviert und weitervermittelt.
Ausgehend von langjährigen Erfahrungen mit der
Weiterbildung in psychosomatischer Grundversor- Als übergeordnete Lernziele wurden festgelegt:
gung, der bisherigen Zusatzbezeichnung Psycho- 1. Biopsychosoziales Krankheits- und Gesund-
therapie und der Weiterbildung von Fachärzten für heitsverständnis, Kenntnisse über die psychi-
Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sche Entwicklung und die Entstehung psychi-
sowie der Ausbildung Psychologischer Psychothe- scher und psychosomatischer Störungen.
rapeuten wurde an der Abteilung für Psychosoma- 2. Kommunikative Kompetenz.
tische Medizin und Psychotherapie des Universi- 3. Die Gestaltung einer hilfreichen, empathischen
tätsklinikums Freiburg in Zusammenarbeit mit Arzt-Patient-Beziehung mit Nutzung von
dem Arbeitskreis Psychosomatische Medizin und Übertragung und Gegenübertragung für
Psychotherapie Südbaden e. V. das neue Curricu- Diagnostik und Therapie und Erkennen einer
lum erarbeitet. Es schließt unmittelbar an die Psy- dysfunktionalen Beziehungsgestaltung.
chosomatische Grundversorgung im Sinne eines 4. Therapieplanung und spezifische psychothera-
»Aufbaukurses« an. Das Ausbildungsziel, die Lern- peutische Intervention bei häufigen psycho-
ziele, die Leitlinien und die praktische Umsetzung somatischen Störungen und Problemen, je-
werden im Anschluss dargestellt. weils auch unter systemischer Perspektive.
Ausbildungsziel ist der psychosomatisch und 5. Salutogenetische Denkweise als Basis einer
psychotherapeutisch kompetente Arzt, der lösungsorientierten Therapie.
4 in den unterschiedlichen Konstellationen flexi-
bel eine patientenorientierte Medizin (partner- Die Zusatzweiterbildung Psychotherapie soll in be-
schaftliche Arzt-Patient-Beziehung >»shared rufsbegleitender Form die Kompetenz in einem tie-
decision making«@, patientenzentrierte Ge- fenpsychologischen oder verhaltenstherapeutischen
sprächsführung) praktizieren kann und Behandlungsverfahren vermitteln, welches dann im
4 psychische und psychosomatische Probleme Rahmen einer gebietsärztlichen Tätigkeit (z. B. All-
und Störungen in seinem Fachgebiet frühzeitig gemeinmedizin, Innere Medizin, Gynäkologie) zur
erkennt, selbst behandelt oder Patienten für eine Anwendung kommt. Das heißt, im Vordergrund

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
362 Kapitel 31 · Wie weiter? Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten in psychosomatischer Medizin und Psychotherapie

steht eine integrierte psycho-somatische Behand- peutische Grundhaltung aus der Gesprächs-
lung. Der Allgemeinarzt, der Internist oder der Gy- psychotherapie wie bedingungsfreies Akzeptie-
näkologe bleibt weiterhin in seinem Fach tätig, setzt ren und Wertschätzen, Empathie und Echtheit
jedoch einen psychotherapeutischen Schwerpunkt. der Person des Arztes werden integriert. Die
Vor allem Patienten, denen der Schritt in eine ambu- systemische und familienorientierte Sichtweise
lante oder stationäre Fachpsychotherapie schwer- wird bei allen Problemen und Krankheitsbil-
fällt, werden davon profitieren, dass sie von ihrem dern reflektiert.
Hausarzt oder Facharzt auch psychotherapeutisch 5. Ziel ist der Erwerb einer eigenen psycho-
betreut werden. Die Schwelle sich in eine »Psycho«- somatisch-psychotherapeutischen Kompe-
Behandlung zu begeben, wird dadurch herabgesetzt, tenz für die im jeweiligen Fach auftretenden
dass der behandelnde z. B. Allgemeinarzt selbst die- psychischen und psychosomatischen Stö-
se Therapien anbietet. Die psychotherapeutische rungen und Probleme. Die Interventionen
Kompetenz bleibt jedoch (außer beim Facharzt für unterscheiden sich jedoch deutlich in Bezug
Allgemeinmedizin) auf das Fach begrenzt, ebenso auf Inhalt und Umfang von der Fachpsycho-
die damit verbundenen Interventionen. Im Vorder- therapie.
grund stehen die begleitende Psychotherapie eines 6. Theoretische Kenntnisse, praktische Übungen,
chronisch Kranken, Fokalbehandlungen und Kri- Übungen zur Gesprächsführung und die
senhilfen. Krankheitsbilder wie Persönlichkeitsstö- Selbsterfahrung erfolgen themenbezogen in
rungen, posttraumatische Belastungsstörungen, einem Block.
Sucht oder andere Erkrankungen, die eine weiterge- 7. Besonderer Wert wird auf die Selbsterfahrung
hende spezifische Kompetenz erfordern, werden und die damit verbundene Sensibilisierung der
zum Facharzt für Psychosomatische Medizin und Arztpersönlichkeit für Übertragungs- und
Psychotherapie oder zum Facharzt für Psychiatrie Gegenübertragungsprozesse im ärztlichen
und Psychotherapie überwiesen. Alltag gelegt.
Für die Zukunft wäre zu überlegen, ob für Fächer 8. 4-tägige Kurse in Hypnotherapie (oder Ent-
31 wie die Allgemeinmedizin, wo in großem Umfang spannungsverfahren) erweiteren die Kompe-
regelmäßig psychotherapeutische Aufgaben anfallen, tenz der Fachärzte auch in diese für den Pati-
eine Integration der Zusatzbezeichnung in die Ge- enten oft hilfreiche Richtungen.
bietsweiterbildung sinnvoll ist. Damit könnte sehr 9. 1–2 Gruppenleiter begleiten die Teilnehmer
niederschwellig ein für die Patienten sehr wichtiges über die gesamte Weiterbildung kontinuierlich
Angebot einer psychotherapeutischen Behandlung und sind Ansprechpartner für alle im Rahmen
beim ohnehin behandelnden Arzt gemacht werden. des Curriculums auftretenden Fragen und
Probleme.

31.2.2 Leitlinien
31.2.3 Inhalte
Leitlinien bei der Umsetzung des neuen Curricu-
lums sind: Inhalte der Zusatzweiterbildung, wie sie von der
1. Ausgewogenes Verhältnis von Wissensvermitt- Muster-Weiterbildungsordnung vorgegeben wer-
lung, praktischen Übungen und Selbsterfahrung. den, sind:
2. Patienten-Live-Gespräche dienen den Teilneh- 4 120 h theoretische Weiterbildung,
mern als Modell für Gesprächsführung und 4 15 h Fallseminar,
Interventionen. 4 100 h Gruppenselbsterfahrung oder 75 h Ein-
3. Die Fertigkeiten der therapeutischen Gesprächs- zelselbsterfahrung,
führung und Beziehungsgestaltung ziehen sich 4 10 dokumentierte und supervidierte Erstunter-
als roter Faden durch die gesamte Weiterbildung. suchungen,
4. Die Grundorientierung ist psychodynamisch. 4 32 h medizinische Hypnotherapie oder Ent-
Kognitiv-behaviorale Techniken und die thera- spannungsverfahren,

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
31.2 · Zusatzweiterbildung Psychotherapie-fachgebunden
363 31
4 30 h Balintgruppenarbeit, Die Integration von Theorie, Interventions-
4 120 h psychodynamische-tiefenpsychologische übungen und Selbsterfahrung wird exemplarisch
supervidierte Psychotherapie, davon 3 abge- am Thema somatoforme Störungen (. Abb. 31.2)
schlossene Fälle (in Baden-Württemberg vorgestellt.
240 h).

Die Inhalte der vom AK Psychosomatische Medizin 31.2.4 Fallbeispiele


und Psychotherapie in Freiburg als tiefenpsycholo-
gische Weiterbildung anerkannt, werden zurzeit in Mehrere Beispiele aus Supervisionen sollen de-
3 Varianten angeboten: monstrieren, welche Interventionen typisch für die
4 Als 2-Tages-Wochenendkurs (20 h) über insge- fachgebundene Psychotherapie sind.
samt 12 Termine,
4 als 4-Tagesblock (40 h) über 6 Termine und als Fallbeispiel 1
4 7-Tagesblock (70 h) über 4 Termine, jeweils in- 36-jährige Patientin mit rezidivierenden progredien-
nerhalb von 2 Jahren. ten Panikattacken im Beruf bei angespannter, beruf-
lich anspruchsvoller Managerposition.
Alle diese Blockveranstaltungen enthalten 120 h Verhaltenstherapeutische Interventionen mit Erklä-
Theorie, 100 h Gruppenselbsterfahrung, 30 h Fall- rung des Teufelskreises der Angst, Stressmodell,
seminar. Die 10 h supervidierte Erstuntersuchun- Angst auslösenden und aufrechterhaltenden Bedin-
gen, Hypnotherapie (bzw. Entspannungsverfahren) gungen und Erlernen von kognitiven Techniken zur
sowie die Balintgruppenarbeit sind bei den 2- und Angstbewältigung. Tiefenpsychologische Bearbei-
4-Tagesblöcken ausgelagert, bei dem 7-Tagesblock tung des Konfliktes zwischen starker Verausgabung
teilweise integriert. Für die Supervision der von den und nicht ausreichender Würdigung und Gratifika-
Teilnehmern selbst durchzuführenden Behand- tion. Dauer: 15 Sitzungen.
lungsstunden gibt es von der Landesärztekammer
keine Vorgaben. Im Rahmen unseres Arbeitskreises Fallbeispiel 2
Psychosomatische Medizin und Psychotherapie 28-jährige Patientin mit chronisch rezidivierenden
Südbaden e. V. gibt es die Regelung, dass maximal Sinusitiden, der vom HNO-Arzt zur Septumbegradi-
zwei Drittel der Supervisionsstunden in Form von gung und Fensterung geraten wurde.
Gruppensupervision und mindestens ein Drittel als Eine kurze Intervention über die Formulierung
Einzelsupervision erfolgen soll. »verschnupft sein« als umgangssprachlicher Begriff
Das nötige Hintergrundwissen wird in Form führte zum Bewusstmachen von Konflikten mit dem
von Kurzvorträgen und Materialien vermittelt. In Ehemann. Schon nach dem ersten Gespräch deutli-
dem Patienten-Live-Gespräch erleben die Teilneh- che Entlastung. Einbeziehung des Ehemannes, Besse-
mer ein Modell für Gesprächsführung und Inter- rung der Beziehung und der Sinusitis nach 2 Paar-
ventionen. Die Fertigkeiten der therapeutischen gesprächen und 6 Einzelgesprächen.
Gesprächsführung und Beziehungsgestaltung zie-
hen sich als roter Faden durch die gesamte Weiter- Fallbeispiel 3
bildung. Jedes Thema wird durch Übungen belebt. 54-jähriger Patient mit fluktuierenden Darmbeschwer-
Die Inhalte umfassen die häufigsten Krank- den (Meteorismus, chronische Diarrhoe) und Entwick-
heitsbilder und mögliche psychotherapeutische lung einer Krebsphobie. Konflikt mit der Tochter.
Interventionen im Rahmen der Facharzttätigkeit. Zwei 30-minütige Interventionen zur Erfassung des
Folgende Themenbereiche werden behandelt: subjektiven Krankheitsverständnisses und der inneren
Angststörungen, Depressionen, Somatisierung, Landkarte. Überweisung zur gastroenterologischen
posttraumatische Belastungsstörungen, Anpas- Abklärung inklusive Koloskopie: Normalbefund. Fort-
sungsstörungen bei lebensbedrohlichen körperli- setzung der wöchentlichen Gespräche über 3 Monate.
chen Erkrankungen, strukturelle Beeinträchtigun- Nach Besserung der Beschwerden Weiterbehandlung
gen am Beispiel von Sucht und Essstörungen. mit einer Frequenz von 1-mal pro Monat à 30 min.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
364 Kapitel 31 · Wie weiter? Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten in psychosomatischer Medizin und Psychotherapie

Zeiten (Uhr) Mittwoch Donnerstag Freitag Samstag

9.00–10.45 Einstiegsrunde mit Einstiegsrunde Einstiegsrunde Selbsterfahrung


Rück- und Ausblick Bearbeitung der Referate Fortsetzung der in der Gruppe
Vorstellung der Inhalte in Untergruppen Referate – Einzelarbeit
und des Ablaufs in Erstellen von Wand- 2. und 3. Behandlungs- – Familien-
Diskussion mit den zeitungen stufe: »Gemeinsames aufstellung
Teilnehmern Krankheits- und Behand-
lungsverständnis«

10.45–11.00 Pause Pause Pause Pause

11.00–13.00 Impulsreferat Dozent: Referat Übungen zur Selbsterfahrung


zum Thema Soma- zur ersten Behandlungs- Gesprächsführung
tisierung (Definition, stufe »Verstanden 2. u. 3. Behandlungs-
Häufigkeit, gesundheits- fühlen« stufe in 3er Gruppen
politische Bedeutung) (Arzt, Patiente, Beob-
Übungen in 2er Grup- Übungen achter)
pen: eigene Erfahrun- zur ersten Behandlungs-
gen mit Somatisierung stufe in 3er Gruppen
und »Was erwarte ich (Arzt, Patient, Beob-
vom Arzt?« achter)

13.00–14.00 Mittag Mittag Mittag Mittag

14.00–16.00 Patienten-Live- Patienten-Live- Übungen zur Selbsterfahrung


Gespräch Gespräch Gesprächsführung in
alternativ mit alternativ mit zwei Untergruppen
Schauspielpatienten Schauspielpatienten mit Schauspielpatient
mit Videofeedback

31 16.00–16.15 Pause Pause Pause Pause

16.15–18.00 Übungen zu Übungen zu Übungen zu Abschlussrunde


Körperwahrnehmung Körperwahrnehmung Körperwahrnehmung

. Abb. 31.2 Die Integration von Theorie, Interventionsübungen und Selbsterfahrung am Thema somatoforme Störungen

Fallbeispiel 4 drängenden Ehemann wurde ein entsprechendes


42-jährige Borderline-Patientin, vorbehandelt mit Krankheitsmodell in einem Paargespräch angeboten,
analytischer Psychotherapie über 11 Jahre und medi- welches sie gut annehmen konnte. Die Patientin
kamentös Anxiolytika und Tanquilizern. konnte daraufhin die Beschwerden einer akut aufge-
Einleitung einer stationären kognitiv-verhaltensthe- tretenen Gastroenteritis und akuten Gallenkolik mit
rapeutischen Behandlung, danach Ausbildung und folgender Cholezystektomie von den anderen Dauer-
Anstellung als Gärtnerin. Nachsorge beim Hausarzt beschwerden differenzieren. Auf eine erneute inter-
1-mal pro Monat für 30 min. Ziele: Alltagsstrukturie- nistische Abklärung, welche von der Uniklinik post-
rung und Auffangen von stressbedingten Alltags- operativ angeregt wurde, verzichtete die Patientin
ereignissen. nach Rücksprache mit dem Hausarzt. Hierbei half
auch das angebotene Krankheitsmodell. In der Folge
Fallbeispiel 5 konnte sich die Patientin wieder mehr auf entspan-
70-jährige Patientin mit progredienter chronischer nende Dinge wie Spazierengehen und Lesen einlas-
Übelkeit, nach einer Sigmaresektion wegen Subileus. sen. Insgesamt wurde die Patientin über 1¼ Jahre in
Eine ausführliche durch den Hausarzt initiierte inter- Abständen von 2–3 Wochen mit jeweils ca. 30-minü-
nistische Abklärung stellte die Diagnose einer soma- tigen Gesprächen vom Hausarzt begleitet.
toformen Störung. Der Patientin und ihrem sehr Eine Psychotherapie wurde von ihr abgelehnt.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
31.3 · Weiterbildung in systemischer Therapie
365 31
Fallbeispiel 6 liäre Krankheitstheorien und familiäre Wert-
Eine Patientin im 4. Schwangerschaftsmonat klagt vorstellungen, Familiengeschichte und Fami-
über anhaltende diffuse Bauchschmerzen. Alle Unter- lienmythen.
suchungen ergeben einen regelrechten Befund. 4 Kinder kranker Eltern.
Im Gespräch stellt sich heraus, dass sie vor 5 Jahren 4 Kranke Kinder und ihre Familien.
eine Interruptio durchführen ließ und seither Schuld- 4 Auswirkungen schwerer oder chronischer
gefühle hat. Sie glaubt, dass sie das Kind nicht ver- Erkrankungen auf die Partnerschaft.
dient und dass sie jetzt mit einer Fehlgeburt bestraft
würde. In 12 Gesprächen gelang es, die Patientin von Folgende Behandlungstechniken werden vermittelt:
ihren Schuldgefühlen zu befreien und die Bauch- 4 Grundregeln und Grundhaltungen der Ge-
schmerzen verschwanden. sprächsführung,
4 Stufen der Integration von Familien,
4 unterschiedliche Gesprächskontexte,
31.3 Weiterbildung in systemischer 4 partielles Einbeziehen von Partnern und Fami-
Therapie lienangehörigen in Behandlungsprozesse,
4 Arbeit mit Familien mit kranken Kindern,
jFreiburger Familientherapeutischer Arbeits- 4 systematische Arbeit mit Familienangehörigen
kreis e. V. (FFAK) von chronisch Kranken,
Der Freiburger Familientherapeutische Arbeits- 4 Einbeziehen von Partnern und Angehörigen
kreis wurde 1992 als gemeinnützig anerkannter bei Krankheiten mit hoher interaktioneller
Verein gegründet mit dem Aspekt der Förderung Dynamik (z. B. Paargespräche bei Patienten
der systemischen Paar- und Familientherapie. Das mit somatoformen Störungen),
Dozententeam besteht aus ca. 20 Psychologischen 4 Kooperationsmodelle im Helfersystem.
Psychotherapeuten, Ärzten für Psychosomatische
Medizin und Psychotherapie, Diplom-Pädagogen Die o. g. Inhalte werden in Kurzvorträgen, Übun-
und Lehrern, die in unterschiedlichen Institutionen gen, Rollenspielen, Skulpturarbeit, Selbsterfahrung,
und Kontexten tätig sind: in psychosomatischen Falldemonstration und anhand von Fallbeispielen
und psychiatrischen Kliniken, in Beratungsstellen, aus dem eigenen Arbeitskontext der Teilnehmer
psychotherapeutischen Praxen und Paar- und Fa- weitergegeben.
milientherapeutischen Praxen sowie im Kinder- Struktur und Umfang des Curriculums »Syste-
und Jugendhilfebereich. mische Familienmedizin – Therapie und Beratung
Der Arbeitskreis bietet u. a. folgende Weiterbil- von Paaren und Familien mit kranken Angehöri-
dung an: gen«:
4 Kompaktcurriculum »Systemische Familien- 4 3 Samstage jeweils von 9–18 Uhr in einer
medizin – Beratung von Paaren und Familien Gruppe von ca. 15 Teilnehmern
mit kranken Angehörigen«. 4 Leitung: Werner Geigges, Co-Leitung: Anette
Wenger, Christian Schleier
Ziel dieses Einführungskurses ist die Vermittlung 4 Abschluss: Teilnehmerbescheinigung über
systemischer Sichtweisen und Interventionsmög- Umfang und Inhalt
lichkeiten für das systematische Einbeziehen von 4 Weiterbildungspunkte der Landesärzte- bzw.
Angehörigen in die medizinische und psycholo- Psychotherapeutenkammer
gisch-psychotherapeutische Praxis.
Themen und Kursinhalte sind: Weitere Informationen zu Fort- und Weiterbildung
4 Familienmedizinische Perspektiven und das in Paar- und Familientherapie/Systemische Thera-
biopsychosoziale Krankheitsmodell. pie finden sich unter www.ffak.org.
4 Familie als belastetes System und als Ressource.
4 Diagnostische Zugänge: u. a. Genogramm,
Lebenszyklus, Familienstruktur-Modelle, fami-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
366 Kapitel 31 · Wie weiter? Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten in psychosomatischer Medizin und Psychotherapie

31.4 Weitere Fort- und Weiter- 4 Fortbildungsakademie Psychosomatische


bildungen in psychosomatischer Medizin der DGPM
Medizin und Psychotherapie Seit über fünf Jahren bietet die Fortbildungs-
akademie Psychosomatische Medizin der
4 Psychotherapietage in Lindau DGPM ein umfangreiches Programm mit Se-
Die Lindauer Psychotherapiewochen (LP) sind minaren und Curricula zu Themen der spezi-
als Fachtagung in erster Linie für die psycho- ellen psychosomatischen Medizin an. Wir wol-
therapeutische Fort- und Weiterbildung von len mit den Veranstaltungen Fachärztinnen
Ärztinnen und Ärzten, Diplom-Psychologin- und Fachärzte für Psychosomatische Medizin
nen und Psychologen sowie Kinder- und Ju- und Psychotherapie aber auch psychothera-
gendlichenpsychotherapeuten aller Psychothe- peutisch tätige Ärztinnen und Ärzte anderer
rapierichtungen gedacht. Fachgebiete erreichen, wie beispielsweise der
Die LP verstehen sich schulenübergreifend ei- Allgemeinmedizin, Gynäkologie, Orthopädie,
nem psychodynamischen Ansatz verpflichtet, Dermatologie oder der Inneren Medizin. Das
im Austausch mit anderen psychotherapeuti- Angebot ist darüber hinaus auch für Ärzte der
schen Grundorientierungen. Sie wollen auch psychosomatischen Grundversorgung gedacht
den Raum bieten, unkonventionelle Therapie- und natürlich für alle Ärzte, die sich in der
ansätze kennenzulernen. Bei dieser traditions- Weiterbildung zum Facharzt für Psychosoma-
reichen Veranstaltung, mit einer Geschichte tische Medizin oder der Zusatzbezeichnung
seit 1950, wird Altbewährtes gepflegt, in neue Psychotherapie (Weiterbildungsassistent/in
Wissenskontexte hineingestellt und respektvoll bzw. WBA) befinden.
diskutiert. Weitere Informationen unter www.dgpm.de/
Die LP verstehen sich als ein Scharnier zwi- fortbildungsangebote.
schen Wissenschaft und Praxis: Aus der Wis- 4 Jahreskongress des Deutschen Kollegiums
senschaft kommen Anregungen für die Praxis, für Psychosomatische Medizin (DKPM) und
31 aus der Praxis werden neue Fragen an die For- der DGPM in Berlin
schung gestellt. Angestrebt ist die Vermittlung Weitere Informationen unter www.deutscher-
eines breitgefächerten Wissens im Gebiet der psychosomatik-kongress.de.
Psychotherapie, eine Sensibilisierung für anste- 4 Akademie für Integrierte Medizin (AIM)
hende Probleme im Fach und auch das Erlan- Die Thure von Uexküll-Akademie für Inte-
gen von neuen Kompetenzen für die Vertreter grierte Medizin (AIM) wurde im Sommer
der Profession. 1992 gegründet und im Frühjahr 1993 als
Weitere Informationen unter www.lptw.de. gemeinnütziger Verein registriert. Sie entstand
4 Weiterbildungsangebote der Deutschen Ge- aus dem Anliegen, eine Medizin zu entwi-
sellschaft für Psychosomatische Medizin ckeln, die den Menschen in ihren vielfältigen
(DGPM) Bezügen gerecht wird, und den in unserem
Die Deutsche Gesellschaft für Psychosomati- Gesundheitssystem praktizierten Dualismus
sche Medizin und Ärztliche Psychotherapie einer »Medizin für Körper ohne Seelen« auf
(DGPM) ist mit etwa 1.500 Mitgliedern die der einen Seite und einer »Medizin für Seelen
größte Fachgesellschaft für psychosomatisch ohne Körper« auf der anderen überwindet.
und psychotherapeutisch tätige Ärzte in Da es das Ziel der AIM ist, die verlorengegan-
Deutschland. Sie entstand aus der Verschmel- gene oder unterrepräsentierte biopsychosozia-
zung von Deutscher Gesellschaft für Psychoso- le Dimension in die Spezialgebiete der Medi-
matische Medizin und Psychotherapie zin zurückzubringen, wurde bei der Namens-
(DGPM) mit der Allgemeinen Ärztlichen Ge- gebung bewusst auf das Attribut »psychoso-
sellschaft für Psychotherapie (AÄGP) im März matisch« verzichtet. Integrierte Medizin ist
2006. immer und ausdrücklich auch psychosoma-
Weitere Informationen unter www.dgpm.de. tisch.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
Literatur
367 31
Mittlerweile hat die AIM ihr 20-jähriges Beste- Weiterführende Literatur
hen gefeiert. Die Organisationsstrukturen ha- Fritzsche K, Wirsching M (2005) Psychosomatische Medizin
und Psychotherapie. Springer, Heidelberg
ben sich weiterentwickelt, Theorie und Praxis
Hohage R (2011) Analytisch orientierte Psychotherapie in der
sind eng miteinander verwoben, ein enger Be- Praxis. 5. Überarbeitete Auflage, Schattauer, Stuttgart.
zug zwischen täglicher praktischer Tätigkeit, Wöller W, Kruse J (2014) Tiefenpsychologisch fundierte Psy-
wissenschaftstheoretischen Grundfragen und chotherapie. 4. Auflage, Schattauer, Stuttgart
der Lehre wurde von Anfang an gefordert und
gepflegt. Daher gehören zu den inzwischen fast
200 Mitgliedern der Akademie Ärzte aus allen
Fachgebieten und Versorgungsbereichen,
Psychologen, Pflegekräfte, Linguisten, Körper-
therapeuten und andere. Die Spannbreite der
Erfahrungsfelder reicht vom Studenten über
Psychotherapeuten, Haus- und Fachärzten in
eigener Praxis, Ärzten und Psychologen in der
Rehabilitation bis zum Chefarzt und Hoch-
schullehrer.
Weitere Informationen, auch über Veranstal-
tungen, unter www.uexkuell-akademie.de.
Kontakt: sekretaer@uexkuell-akademie.de
4 Lübecker Psychotherapietage
Fort- und Weiterbildungsveranstaltung für
Ärzte, Diplom- und Master-Psychologen,
Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten,
Pflegepersonal aus psychotherapeutisch-psy-
chosomatischen Einrichtungen, Musikthera-
peuten, Gestaltungstherapeuten und Körper-
therapeuten.
Weitere Informationen unter www.luebecker-
psychotherapietage.de.
4 Norderneyer (früher Langeoog) Psycho-
therapiewochen
Weitere Informationen unter www.aekn.de/
fortbildung/fortbildungswochen-der-aerzte-
kammer-niedersachsen.

Literatur

Zitierte Literatur
Deutsches Ärzteblatt (2006) Behandlung von Menschen mit
psychischen und psychosomatischen Erkrankungen:
gegen Stigmatisierung für Stärkung der ärztlichen
Psychotherapie 2006; 103: 22–30
Neitscher F, Loew TH, Bodenstein D (2006): Schwerpunkt
Psychosomatik auf dem Deutschen Ärztetag 2006.
Wachsendes Bewusstsein der Ärzte. Z Psychosom Med
Psychother 52, 434–436

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
369 I

Serviceteil
Glossar – 370

Stichwortverzeichnis – 375

K. Fritzsche et al. (Hrsg.), Psychosomatische Grundversorgung,


DOI 10.1007/978-3-662-47744-1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
370 Serviceteil

Glossar

Abwehrmechanismen Vorgänge, mit denen Unlustgefühle erster Linie auf die Ausbildung einer individuellen Identität
wie z. B. Angst gemildert oder vermieden werden. Diese und psychischer Grenzen. Bezogene Individuation ist nach
Vorgänge laufen unbewusst ab. Beispiele sind: Verdrängung, Stierlin (Stierlin et al. 1975) ein allgemeines Prinzip, demzu-
Hinausverlegen eigener Vorstellungen und Wünsche in die folge ein höheres Niveau an Individuation auch ein jeweils
Außenwelt (Projektion), logische Erklärung einer Handlung höheres Niveau an familiärer Bezogenheit sowohl verlangt
oder eines Gefühls, damit das eigene Motiv nicht erkannt als auch ermöglicht. Damit soll verhindert werden, dass
wird (Rationalisierung), Ersetzen einer Vorstellung durch eine die Abgrenzung gegen andere zu starr und zu dicht wird
andere (Verschiebung), Ungeschehenmachen, Verleugnung. und Unabhängigkeit sich in Isolation, Getrenntheit in aus-
weglose Einsamkeit verwandelt, sodass der Austausch mit
Affekte Kurz andauernde, stark ausgeprägte Emotionen, anderen erstirbt. Bei der Entwicklung einer bezogenen Indi-
meist von psychovegetativen Körperreaktionen begleitet. viduation in der Beziehung des Kindes zu seinen Eltern, lässt
sich zwischen einer Individuation mit den Eltern und gegen
Affektive Störung Depressive Episode mit Niedergeschla- die Eltern oder kurz »Individuation mit« und »Individuation
genheit, Freudlosigkeit, emotionaler Leere, Interesselosig- gegen« unterscheiden, die einander in einem dialektischen
keit und Antriebsverlust oder manische Episode mit Stim- Prozess bedingen und gegenseitig hervorbringen.
mungs- und Antriebssteigerung.
Biofeedback Apparative Rückmeldung von Körperfunktio-
Agoraphobie »Platzangst«. Angst vor Situationen, in denen nen, die normalerweise nicht der bewussten Wahrnehmung
sich die Person außerhalb der gewohnten Umgebung be- oder Kontrolle zugänglich sind, z. B. Herzfrequenz, Blut-
findet, z. B. Angst vor Menschenmengen, Angst vor Reisen, druck, Hauttemperatur, Atemfrequenz, Gehirnstromwellen.
Angst vor öffentlichen großen Plätzen. Dadurch ist z. B. im Rahmen von Entspannungsübungen
eine bewusste Wahrnehmung und Änderung möglich.
Ambivalenz Gleichzeitige Anwesenheit einander entge-
gengesetzter Bestrebungen, Haltungen und Gefühle. Biopsychosoziales Modell Biopsychosoziale Modelle sind
Ordnungsschemata für das hochkomplexe Wechselspiel zwi-
Anxiolytika Angstlösende Arzneimittel, auch als Tranqui- schen Zellen, Geweben, Organen, Organsystemen und dem
lizer und Beruhigungsmittel bekannt. Organismus sowie den ständigen psychischen und sozialen
Einflüssen und Gefahren, denen der Organismus ausgesetzt
Attribution Häufig im Zusammenhang mit dem Begriff ist. Ausgehend von den Konzepten der Systemtheorie wird
Kausalattribution verwendet. Damit ist eine Ursachenzu- ein hierarchisch gegliedertes Schema des Gesamtorganis-
schreibung gemeint, also die Frage, welche subjektiven mus postuliert, das aus unterschiedlichen Subsystemebenen
Theorien der Patient hinsichtlich seiner Krankheitsentste- besteht, also verschiedener Integrationsebenen, zwischen
hung und -aufrechterhaltung hat. Zum Beispiel hat ein denen ständige Aufwärts- und Abwärtseffekte i. S. eines
somatisierender Patient mit Oberbauchschmerzen trotz komplexen Zeichenaustausches erfolgt. Jede Subsystem-
offensichtlicher psychosozialer Konflikte die Überzeugung, ebene bzw. Integrationsebene besitzt ihre eigenen Zeichen-
dass seine Beschwerden durch eine noch nicht erkannte systeme, so dass die Verbindungen zwischen den Ebenen
Durchblutungsstörung verursacht sind. als Übersetzungsprozesse i. S. von Bedeutungskopplungen
bzw. Konditionierungen erfolgen, die sich nur aufgrund der
Autogenes Training Von J. H. Schultz entwickelte Methode individuellen Biografie verstehen lassen.
der »konzentrativen Selbstentspannung«. Es handelt sich
um eine Form der Autosuggestion, d. h. eine Selbstbeein- Burnout-Syndrom Bezeichnet einen Zustand des Ausge-
flussung unwillkürlicher Körperfunktionen. branntseins, v. a. bei Menschen in sozialen Berufen. Die Be-
troffenen reagieren resigniert, hoffnungslos, hilflos, zeigen
Autopoiesis Autopoiesis bezeichnet die Autonomie eines keine Begeisterung mehr für die Arbeit und keine Lebens-
Lebenswesens in seiner Interaktion mit der Umwelt. Das be- freude. Sie neigen zu einer Reihe von psychosomatischen
deutet, dass das Lebewesen sich andauernd selbst erzeugen Beschwerden wie Kopf- und Rückenschmerzen, Magen-
kann. Der Mensch als kognitives Wesen ist befähigt, rekursiv Darm-Beschwerden und chronische Müdigkeit.
an Eigenzustände anzuknüpfen und sie zum Ausgangspunkt
weiterer Gedankengänge zu machen (Maturana 1982). Coping Unter Coping versteht man einen aktiven Prozess
der Auseinandersetzung des Patienten mit seiner Krankheit.
Bezogene Individuation Unter familiendynamischen Er umfasst alle kognitiven Aktivitäten und Verhaltensmaß-
Gesichtspunkten bezieht sich der Begriff Individuation in nahmen, um die körperliche und psychische Integrität zu

K. Fritzsche et al. (Hrsg.), Psychosomatische Grundversorgung,


DOI 10.1007/978-3-662-47744-1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
371
Glossar

wahren, geschädigte Funktionen wiederherzustellen und die Position in der Geschwisterreihe, welche die Eltern in ih-
möglichst weitgehend jede irreversible Behinderung zu ren eigenen Herkunftsfamilien hatten, sowie die, welche der
kompensieren. Es ist ein Selbstschutz, um Gefühle der Be- Indexpatient in seiner Familie einnimmt. Todesfälle, Krank-
drohung und der Selbstwertbeeinträchtigung unter Kontrol- heiten, Symptome aber auch soziale Daten wie Beruf usw.,
le und in akzeptablen Grenzen zu halten. Der Ausgang einer lassen sich jeweils übersichtlich einordnen und ermöglichen
Erkrankung oder einer Lebenskrise wird mitbestimmt durch insgesamt einen guten Überblick über das familiäre System
die Bewältigungsmöglichkeiten (Copingmechanismen), die als Voraussetzung für die Bildung familiendynamischer Hy-
einem Menschen in einer bestimmten Situation zur Verfü- pothesen.
gung stehen. Es gibt empirische Hinweise, dass bestimmte
Copingmechanismen positive oder negative Einflüsse auf Hypnose Durch Suggestion herbeigeführter, schlafähnli-
den Krankheitsverlauf haben. cher Zustand erhöhter Suggestibilität (Beeinflussbarkeit).

Depersonalisation Entfremdungserleben. Veränderung ICD-10 (International Classification of Diseases) Internati-


der Wahrnehmung der eigenen Person oder des eigenen onales Klassifikationssystem von Krankheiten und verwand-
Körpers. ter Gesundheitsprobleme, herausgegeben von der Weltge-
sundheitsorganisation (WHO).
Derealisation Veränderung der Wahrnehmung der Um-
gebung. Die Umgebung wird als fremd oder unwirklich Informed Consent Zustimmung des Patienten nach aus-
empfunden. führlicher Aufklärung über die Therapie und die zu erwar-
tenden Nebenwirkungen.
Dissoziation Teilweise oder vollständige Entkopplung von
seelischen und körperlichen Funktionen. Kernsymptom dis- Interaktion Im interpersonellen Kontext Bezeichnung für
soziativer Störungen. ein gemeinsames oder gegenseitig beeinflussendes Verhal-
ten im Sinne einer Wechselwirkung.
DSM-IV (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Dis-
order) International anerkanntes Handbuch zur Beschrei- Kognition Alle mentalen Prozesse, die mit Wahrnehmen,
bung und Diagnose psychischer Störungen. Herausgegeben Vorstellen, Gedächtnis, Lernen, Denken und Urteilen zusam-
von der American Psychiatric Association. menhängen.

Dysthymia Chronische depressive Verstimmung, früher als Dysfunktionale Kognitionen Kognitionen, die die psychi-
neurotische Depression bezeichnet. sche und körperliche Gesundheit bzw. das Wohlbefinden
beeinträchtigen. Denkstörungen finden sich vor allem bei
Empathie Erkennen und Verstehen der Gedanken und Ge- Depressionen, Schizophrenien und hirnorganischen Erkran-
fühle anderer. Die Fähigkeit, sich zumindest partiell in den kungen.
anderen Menschen hineinzuversetzen oder einzufühlen.
Konflikt In einem Menschen stehen sich grundsätzlich
Empowerment Strategien und Maßnahmen, die geeignet nicht miteinander verträgliche Forderungen gegenüber.
sind, den Grad an Autonomie und Selbstbestimmung von Grund für die Ausbildung neurotischer Verhaltensweisen
Patienten zu erhöhen und es ihnen zu ermöglichen, ihre ist ein Konflikt zwischen starkem Wunsch libidinöser oder
Interessen selbstverantwortlich und selbstbestimmt zu aggressiver Art und der Abwehr des Wunsches wegen Angst
vertreten. vor Bestrafung oder Unvereinbarkeit mit dem eigenen Wer-
tesystem.
Feedback Rückmeldung über Verhalten oder sprachliche
Äußerungen in beschreibender, nicht wertender Art und Konstruktivismus Wir können die Welt nur insoweit »erken-
Weise, die dem Patienten oder Teilnehmer einer Gruppe die nen«, wie wir sie in Form von praktikablen Modellen selbst
Möglichkeit einer Verhaltenskorrektur offen lässt. konstruieren. Kommunikation findet in einem Prozess der
Interaktion zwischen autonom operierenden kognitiven
Gegenübertragung Das Verhalten des Patienten erzeugt Systemen statt. Jedes dieser kommunizierenden Systeme
beim Arzt eine Gegenreaktion. Es handelt sich dabei um ist selbstreferentiell und autopoietisch. Die Bedeutungen
dem Arzt zunächst nicht verständliche Gefühle, Gedanken kommen nicht von außen, sondern werden im Inneren des
und Verhaltensweisen auf das Übertragungsangebot des erkennenden Subjektes von diesem selbst konstruiert. Dort
Patienten, z. B. für ihn zu sorgen, ihn zu bewundern oder ihn sind alle Bedingungen und Möglichkeiten einer Zeichen-
zurückzuweisen. Diese Reaktionen haben wiederum ihre bzw. Codebildung sowie deren Anwendung in den spre-
Wurzeln in unbewussten Konflikten des Arztes. chenden Interaktionen bereits angelegt (Nöth 2000).

Genogramm Die grafische Darstellung einer über mehrere Konversion Ein psychischer Konflikt wird in ein körperliches
Generationen reichenden Familienkonstellation. Sie zeigt Symptom »umgewandelt«. Das Symptom hat dabei symbo-

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
372 Serviceteil

lischen Charakter und stellt auf unbewusste Weise einen Teil wie Metabolismus, Entwicklung, Selbstregulation, Antwort
des inneren Konfliktes dar. auf Umweltreize oder spontane Aktivität können als Fließ-
gleichgewichteigenschaften offener Systeme verstanden
Kybernetik erster und zweiter Ordnung Ursprüngliches werden.
Anliegen der Kybernetik war es, objektive Aussagen über
Systeme und ihre Verhaltensmöglichkeiten zu machen. Der Passung Der Mensch konstruiert sich aus seiner Umgebung
Kybernetik liegt die Annahme zu Grunde, dass Funktio- die zu seinen Bedürfnissen und Verhaltensmöglichkeiten
nen wie Steuerung, Kontrolle, Informationsaustausch und passende Umwelt. Diese Konstruktion einer passenden
-verarbeitung bei Maschinen, Organismen und sozialen subjektiven Umwelt ist die Voraussetzung für körperliche,
Strukturen denselben Prinzipien folgen. Während die Ky- seelische und soziale Gesundheit und Wohlbefinden.
bernetik erster Ordnung von objektiven Merkmalen und
Prozessen eines von außen beobachteten Systems ausgeht, Passungsstörung und Passungsverlust Durch Veränderung
dass Beobachten unabhängig beschreibbar ist, gibt die des menschlichen Organismus, z. B. durch Krankheit, oder
Kybernetik zweiter Ordnung diese Objektivitätsvorstellung Veränderung oder Zerstörung der Umwelt geht die Pas-
auf. Sie thematisiert vielmehr die Unterscheidungen und sung verloren. Es entstehen körperliche und/oder seelische
Bezeichnungen, die vom Beobachter gemacht werden. Alle Symptome als Folge einer ungenügenden Befriedigung
Beschreibungen von Systemen sind danach Ausdruck der emotionaler Grundbedürfnisse. Ziel der ärztlichen Behand-
Interaktion zwischen Beobachter und beobachtetem System lung ist die Wiederherstellung einer Passung zwischen dem
und somit Konstrukte. Im Hinblick auf Diagnostik und The- Patienten mit seinen widersprüchlichen inneren Konflikten
rapie relativiert die Kybernetik zweiter Ordnung radikal die und zwischen ihm und der Umwelt. Beispielhaft geschieht
objektivistische diagnostische Idee, Therapeuten könnten dies in einer verständnisvollen empathischen Arzt-Patient-
Probleme oder Konflikte quasi objektiv identifizieren und Beziehung.
durch zielgenaue Interventionen berechenbar therapieren.
Progressive Muskelrelaxation Von Jacobson entwickelte
Libido Alle mit dem Sexualtrieb verbundenen psychischen Methode der Entspannung.
Erscheinungen.
Psychoedukation Strukturierte Informationsvermittlung
Multiperspektivität Ausgehend vom Konstruktivismus zum Abbau problematischen Verhaltens, Besserung der
und der Kybernetik zweiter Ordnung, liegt Wirklichkeit Compliance und der Symptomreduktion. Zum Beispiel
nicht quasi objektiv vor, sondern wird von jedem Subjekt sollten alle Patienten mit der Diagnose einer Tumorerkran-
im Sinne einer individuellen Wirklichkeit und individuellen kung über psychosoziale Belastungen und entsprechende
Perspektive und Sicht der Dinge konstruiert. Familienthera- Behandlungsangebote informiert werden. Erklärung von
peutische Interventionen zielen daher westlich darauf ab, Zusammenhängen zwischen psychischen Belastungen und
die unterschiedlichen Perspektiven der einzelnen Familien- körperlichen Reaktionen erhöhen die Psychotherapiemoti-
mitglieder zu erfragen, um i. S. der Multiperspektivität den vation von somatisierenden Patienten. Patienten mit einem
dialogischen Verhandlungsprozess über unterschiedliche Herzinfarkt profitieren von Information und Beratung über
Wirklichkeits- und Problembeschreibungen anzuregen und Abbau von somatischen und psychosozialen Risikofaktoren.
dadurch für das einzelne Familienmitglied und die Gesamt-
familie neue Handlungsoptionen zu erschließen. Psychophysiologie Zusammenhänge zwischen physio-
logischen Prozessen und dem Verhalten, Befinden, der
Narrativ Geschichten sind notwendig, wenn die erklärungs- Wahrnehmung und den Emotionen, z. B. bewirkt Angst eine
bedürftigen Tatbestände nicht durch eine Theorie erklärt erhöhte Sympathikusaktivität und einen Blutdruckanstieg,
werden können. Daher unterscheidet man zwischen narra- damit verbunden tritt subjektiv Herzrasen, Druck in der
tiven und theoretischen Texten. »Geschichten sind das, was Brust, Schwindel und Atemnot auf, was wiederum die Angst
erzählt werden muss, um zu wissen, wer einer ist« (Ritter et verstärkt.
al. 1974).
Reattribution Die subjektive Sicht eines Patienten über
Offene und geschlossene Systeme Lebende Systeme sind die Entstehung seiner Beschwerden kann förderlich oder
für den Beobachter geschlossene Systeme. Der Aspekt, der hemmend für den Behandlungsprozess sein. Es ist sinnvoll,
dem Beobachten oder Erleben des Menschen entspricht, eine langsame und vorsichtige Modifikation von subjekti-
bildet die Basis für eine »teilnehmende Beobachtung«. Nach ven Krankheitsvorstellungen, z. B. von einer somatischen
Maturana (1982) sind lebende Systeme aufgrund ihrer »Au- Attribution zu einer mehr psychosozialen Attribution anzu-
topoiese« geschlossene Systeme. Offene Systeme tauschen bieten.
Energie und Materie mit ihrer Umwelt aus. Der Austausch
dient der Selbststabilisierung und Selbstorganisation (Nöth Ressourcenaktivierung Ressourcenaktivierung wird als
2000). Offene Systeme sind »Fließgleichgewichte«. Alle fun- primäres Wirkprinzip der Psychotherapie verstanden.
damentalen Eigenschaften eines lebendigen Organismus Sowohl theoretisch als auch empirisch finden sich gute

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
373
Glossar

Begründungen dafür, dass der Erfolg einer Psychotherapie Semiotik oder Zeichenlehre Theorie der nichtsprachlichen
v. a. davon abhängt, inwieweit es gelingt, die vom Patient Zeichensysteme. Der Zeichenprozess ist ein 3-gliedriger
mitgebrachten Ressourcen für die therapeutischen Zwecke Vorgang, der die Verbindung zwischen den Zeichen und
zu aktivieren. Die Passung zwischen Patient und therapeuti- einer bezeichneten Sache herstellt. Er besteht aus 3 Kom-
schem Vorgehen sollte sich mehr an den Ressourcen als an ponenten: 1. das Zeichen, 2. der Interpretant des Zeichens
den Problemen eines Patienten orientieren. Ressourcenak- und 3. das repräsentierte Objekt. Ein Zeichen ist etwas, das
tivierung bedeutet auch, die vom Patienten mitgebrachten für etwas anderes steht. Es ist etwas Wahrgenommenes, aus
Eigenarten eher als Ressourcen denn als Probleme für die welchem man die Existenz eines Nicht-Wahrgenommen
Therapie zu betrachten (Grawe 1999). schließen kann (z. B. lässt sich aus einer Rauchfahne auf
ein vorhandenes Feuer schließen). Der Interpretant des Zei-
Salutogenese Im Gegensatz zur Pathogenese (Krank- chens ist eine bestimmte Bedeutung i. S. eines elementaren
heitsentstehung) bezieht sich die Salutogenese (Gesund- Bedürfnisses eines Lebewesens, das im Prozess der Bedeu-
erhaltung) auf jene Bedingungen, die dazu führen, dass tungserteilung, aus der neutralen Umgebung die Vorgänge
Menschen trotz vielfacher Schädigungs-/ und Störfaktoren, auswählt, die für die Befriedung des Bedürfnisses »passen«.
denen sie ausgesetzt sind, gesund bleiben können (Anto- Auf diese Weise erhalten Objekte der Umgebung den Cha-
novsky 1988). Zentral für das Salutogenesekonzept ist ein rakter eines Merkmales bzw. Zeichens. Wenn z. B. eine sehr
»sense of coherence«, d. h. das Verstehen eines sinnvollen hungrige Person durch eine Einkaufsmeile einer Großstadt
Zusammenhanges der Lebens- und Erlebniswelt. Dieser geht, erfolgt bei dieser Person eine ganz andere Aufmerk-
»sense of coherence« ist seinerseits von der Fähigkeit bzw. samkeitsfokussierung (Bedeutungserteilung), als wenn die
Überzeugung abhängig, dass äußere und innere Reize struk- gleiche Person von einem opulenten Mahl zurückkehrt.
turiert vorhersagbar und erklärbar sind (»comprehensibili-
ty«), Ressourcen für die Bewältigung der hierfür gestellten Soziale Phobie Anhaltende Angst vor Situationen, in denen
Anforderungen verfügbar sind (»manageability«) und diese die Person im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit anderer
Anforderungen eine sinnvolle Herausforderung (»meaning- steht.
fullness«) darstellen. Unter der Voraussetzung, dass ein
Betroffener trotz enormer Belastungen und Schädigungen Supervision Unterstützung und Hilfestellung in der Dia-
einen sinnvollen Zusammenhang in seinem Leben durch gnostik und Therapie durch einen unabhängigen Fachmann.
Vorhersagbarkeit der Einwirkungen, durch Mobilisierung
von Bewältigungsstrategien und durch das Erleben einer Systemische Perspektive Gegenstände und Vorgänge
sinnvollen Herausforderung herstellen kann, hat er große werden als Teil eines Ganzen verstanden und sind aufei-
Chancen, schwere und schwerste Schädigungen physika- nander bezogen. Der Beobachter entscheidet, was er als
lisch-chemischer, biologischer, psychischer und sozialer Art System betrachten und wo er dessen Grenzen sehen will.
einigermaßen gesund zu überstehen. Die Systemtheorie beschreibt Beziehungen zwischen den an
einer Handlung beteiligten Protagonisten oder Phänomene.
Schemata, Schematheorie Die Interaktion eines Individu- Systeme sind keine statischen Gebilde, sondern Erzeugnisse
ums mit seiner Umwelt wird durch bestimmte neuronale Er- eines Beobachters, die sich mit seiner Blickrichtung ändern.
regungsmuster und damit verbundene psychische Prozesse
aufgrund bestimmter Vorerfahrungen als neurobiologisch Übertragung Die Projektion alter früherer Erfahrungen auf
verankert angesehen. Schemata können eine Wahrneh- eine Person, der man in der Gegenwart begegnet. Dabei
mungsbereitschaft zu bestimmten Denk- und Handlungs- kommt es zu falschen Verknüpfungen zwischen den Erfah-
mustern oder eine Bereitschaft zu einem bestimmten rungen der Vergangenheit mit den Erlebnissen im Hier und
emotionalen Verhalten beinhalten. Nach der Schematheorie Jetzt.
ist das Verhalten eines Menschen durch ein komplexes
Netzwerk von seelischen, verbalen, emotionalen und moto- Vaginismus Verkrampfung des äußeren Drittels der vagina-
rischen Komponenten gesteuert. len Muskulatur.

Sekundärer Krankheitsgewinn Äußerer Vorteil, der nach- Verdrängung Mechanismus, durch den nicht akzeptable
träglich aus bereits bestehenden psychischen und psycho- Wünsche und Impulse in das Unbewusste abgedrängt wer-
somatischen Symptomen gezogen werden kann. den.

Selbstmanagement Der Patient lernt sein Verhalten i. S. Verhaltenstherapie Auf den Grundlagen der Lerntheorie
eigener Ziele selbst zu steuern. Wut, Ärger, Aggressionen entwickelte Psychotherapieform. Das gestörte Verhalten
werden zunächst wahrgenommen und durch Übungen in wird direkt durch verschiedene Techniken im Sinne eines
zwischenmenschlichen Beziehungen nicht kränkender und »Verlernens« behandelt.
destruktiver Weise ausgedrückt. Menschen, die sich in Kon-
fliktsituationen zurückziehen, lernen Spannungen auszuhal- Vulnerabilität Individuell unterschiedliche Verletzbarkeit
ten und sich zu behaupten. und Bereitschaft für das Auftreten psychischer Störungen.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
374 Serviceteil

Widerstand Das Erkennen von verdrängten Gedanken,


Gefühlen und Erlebnissen erregt oft Ängste, Schuld- und
Schamgefühle, die mit den Ursprungserfahrungen eines
Menschen zusammenhängen. Der Aufdeckung dieser Erfah-
rungen wird eine unbewusste Abwehrhaltung, der Wider-
stand, entgegengesetzt.

Unbewusste, das Alle psychischen Inhalte, die zunächst


nicht dem Bewusstsein zugänglich sind. Zum Beispiel wer-
den verdrängte Gedanken, Gefühle und Handlungen im
Traum oder in Fehlleistungen sichtbar und können dadurch
für den therapeutischen Prozess genutzt werden.

Zyklothymia Andauernde Instabilität der Stimmung mit


zahlreichen Perioden leichter Depression und leicht geho-
bener Stimmung.

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
375 A–D

Stichwortverzeichnis

A Antreiberarten 350
Antreiber, innerer 345
Bindungsverhalten 14, 80
Binge-Eating-Disorder 186
Abführmittelmissbrauch 197 Arbeitsbelastung 340 biopsychosoziales Modell 4
Abhängigkeit 206, 207 Arbeitsplatzgestaltung 353 – koronare Herzkrankheit 8
– nicht-stoffgebunden 206 Arteriosklerose 186 bipolare affektive Störung 136
– stoffgebunden 206 Arzt-Patient-Beziehung 34, 37, 78, 86, Body-Mass-Index BMI 187, 199
Abhängigkeitssyndrom 206 126, 142, 188, 203, 257, 297, 301, Borderline-Störung 229, 234
Abhängigkeitswunsch 289 312 Botschaft
Abschalten 334 Arzt-Patient-Gespräch 36, 42, 171, – initiale 57
Achtsamkeit 85, 343 263 – körperliche 60
Achtsamkeitsübung 85 Arzt-Patient-Interaktion 257 Bulimie 201
Adipositas 178, 186, 187 Arzt-Patient-Kommunikation 60 – Behandlungskonzept 204
– Behandlung 188 Atemübung 85, 323 – Entstehung 202
– Folgezustand 186 Aufklärung 276 – Folgen 202
– operative Therapie 189 Aufklärungsgespräch 157 Burnout 338, 343
Adoleszenz 65 Aufnahmebereitschaft 159 Burnout-Entwicklung 338
Affektäquivalent 93, 120 Auftragsklärung 68 Burnout-Risiko 338, 341
Agoraphobie 122, 126 Aufzeichnung, schriftliche 62 Burnout-Syndrom 138
Albtraum 218 Autopoiese 7, 8, 270
Alcohol Use Disorders Identification
Test AUDIT 208
C
Alkoholabhängigkeit 206, 211
Alkoholkarenz 211
B CALM-Modell 51
Alkoholkonsum 208 Balintarbeit 313 Chronifizierung 300
Allostase 12 Balintgruppe 309, 312, 314, 353 Chronifizierungsgrad 113
Allparteilichkeit 271, 272 Balintgruppenarbeit 312, 319, 363 coenaesthetische Psychose 107
Altersprozess 252 Basistherapie 27 Containing 266
Amygdala 10 Beanspruchung 330, 334 Coping 15
– Netzwerke 10 Bedeutungskoppelung 7 Copingstrategie 155, 285
Anamnese Befinden, eigenes 59 Curriculum, neues 362
– biopsychosoziale 24, 58, 59, 111, Befunderhebung
297 – arztzentriert 57
– Setting 56
Anatomie, subjektive 60
– patientenzentriert 57
Begleitung 277
D
Anforderungs-Kontroll-Modell 339 Behandlungsmodell, stufenweise 101 Demenz 255
Angst 283 Behandlungsmotivation 200, 203 Depersonalisation 338
Angstreaktion 121 Behandlungsplanung 69 Depression 134, 255, 289, 342
Angststörung 252, 300 belastetes System 65 – Behandlung 143
– Behandlung 131 Bewältigungsstrategie, maladaptive – Screeningfragen 141, 170
– generalisierte 123, 126 178 – Symptome 134
– Leitfragen 125 Bewegungstherapie 192 – Verlauf 138
Angstsymptome 120, 124 Beziehungsfaden 34 – versus Trauer 137
Angstumgang 127 Beziehungsgestaltung 31, 33, 56 depressive Episode 134
Anorexia nervosa 196, 198 Beziehungsressource 157 depressive Störung 252
– Behandlungskonzept 201 Beziehungszirkel 140 depressive Symptomatik 282, 283
– bulimische 197 – dysfunktionaler 141 Diabetes mellitus 176
– restriktive 196 – maladaptiver 232, 236 – Angststörung 178
– Risikogruppen 198 Bezugsperson 144, 287 – Depression 176
– Signale 199 – Verlust der 289 – Essstörung 178
Anpassung, erfolgreiche 181 Bindung, emotionale 14 – Sexualität 179
Anpassungsstörung 137 Bindungserfahrung 79 Diagnose 60, 61
Antidepressivum 145 – negative 14 Diagnosemitteilung 160

K. Fritzsche et al. (Hrsg.), Psychosomatische Grundversorgung,


DOI 10.1007/978-3-662-47744-1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
376 Serviceteil

Dienstleistungsmodell 38
Dissoziation 218
Fallbesprechung 304
Fallseminar 362
H
dissoziative Störung 93 Familieneinbeziehung 263 Herzinfarkt 170
Dokumentation 62 Familiengespräch 66, 274, 276 – Angst 170
Dysthymia 136 – Phasen 67 – Depressivität 170
Fatigue 157 – emotionale Bealstung 170
Fibromyalgiesyndrom 107, 110 Herzphobie 124
E Flashback 218, 220
Fokussierung 322
herzphobischer Anfall 289
Holding Function 266
4-Ebenen-Modell 21 Folgeerkrankung 179 Hören mit dem dritten Ohr 35
Echoing 45 Fortbildung 353 Hungerzustand 197
Echtheit 34 Fort- und Weiterbildung 21, 360, 366 Hyperglykämie 176
eigenes Befinden 37 Fragen Hypersexualität 207
eigene Subjektivität 37 – direkte 71 Hyperventilation 282
Einfühlungsvermögen 60 – hypothetische 72 Hypochondrie 107, 124
Einsamkeit 253 – indirekte 71 hypochondrische Störung 93
Einstellungsänderung 36, 318 – Klassifikations- 72 Hypoglykämie 176
Einzelsupervision 304 – lösungsorientierte 72 Hypoglykämieangst 178, 182
Ejaculatio praecox 244, 248 – offene 57 Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-
emotionale Reaktion 160 funktionelles Syndrom 93 Achse 196
Emotionen funktionelle Störung 252 Hypothalamus-Hypophysen-Neben-
– negative 48 nierenrinden-Achse 10
– Spiegeln von 46
– Umgang mit 48, 49, 51
G
Empathie 34
– körperliche 60 ganzheitliches Verständnis 4
I
Empathiefähigkeit 338 Gate-control-Theorie 108 Ich-Steuerungsfähigkeit 333
empathisches Eingehen 264 Gedächtnis, prozedurales 232 Ich-Syntonie 228
Endomorphine 108 Gefühl der Hilflosigkeit 171 Identität, berufliche 345
Entspannung 322 Gegenreaktion 232 Imagination 84
Entspannungsreaktion 325 Gegenübertragung 313 Imaginationsübung 84
Entspannungsübung 329 Genaktivität 11 Insulin-Purging 180
Entspannungsverfahren 128, 322, 362 Generalisierung 128 Integration 224
Erbrechen, selbstinduziertes 197 Generationenkonflikt 273 – durch Kompetenzsteigerung
erektile Dysfunktion 244, 247 Genogramm 70 308
Erektionsstörung 179 Genussfähigkeit 83 – durch Kooperation 308
Erholung 330 Gesamtdiagnose 24, 60 integriertes Modell 8, 16
– 3-Phasen-Modell 333 Gespanntheit 290 Internetsucht 207
Erholungsaktivität 334 Gesprächsabschluss 69 internistische Psychosomatik 309
erlernte Hilflosigkeit 140 Gesprächsführung 42, 71, 143, 263, Interozeption 326
Ernährungsberatung 189 284, 288, 365 Interventionsübung 363
Erschöpfung, emotionale 338, 342 – arztzentriert 43, 46 Intoxikation, akute 206
Erschöpfungszustand 338 – motivierende 180, 209 Intrusion 218, 220
erschütterte Vorannahme 223 – patientenzentriert 43
Erwartungsangst 128 – Übernahme der 47
Essattacke 186, 202
Essstörungsbehandlung 204
Gesprächsrahmen 158
Gesundheitsförderung 81, 82
K
Esstagebuch 201 Gesundheitsmanagement, berufliches kardiovaskuläre Risikofaktoren 168
Essverhalten, gestörtes 196, 200 (BEM) 354 katastrophisierendes Denken 132
Extrazeit 298 Gewichtsabnahme 189, 196 KHK.  Siehe koronare Herzkrankheit
Gewichtsregulation 186 Klinikeinweisung 150
Gratifikationskrise 340 kognitive Verarbeitung 101
F Grundbedürfnisse 344
– spirituelle 262
kognitive Verhaltenstherapie 146
Kommunikation, offene 67
fachpsychotherapeutische Behand- Gruppensupervision 304 Kommunikationshemmung 245
lung 163 Kommunikationstraining 308
Fachpsychotherapie 360 Kommunikation, tragfähige 222

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
377 D–P
Stichwortverzeichnis

kommunikativer Abstimmungsprozess Lebensgeschichte 59 Passivität 323


26 Lebensqualität 262 Passung 6, 28, 301
Komorbidität 20 Lebensstiländerung 81, 191 Passungsarbeit 6, 80
Komplikation, vaskuläre 177 Lebenszyklus 64 Passungsstörung 314
Konditionierung 128 Leistungsbewertung 338 Passungsverlust 6
Konflikt 317 Liaisonkonzept 308 paternalistisches Modell 38
Konfliktbewältigung 285, 286 Libidostörung 242, 247 Patient
Konfliktklärung 277 Lösungen 300 – aggressiver 290
Konfliktlösung 277 Lösungsversuch 285 – somatisierender 288
Konfliktvermeidung 198 Lubrikationsstörung 179 – suizidaler 290
Konfrontation 224 – verleugnender 289
Konsiliarmodell 308 Patientenbedürfnis 301
Konsistenzsicherung 76
Konstruktivismus 270
M Patientenbindung 299
Patienteninformation 101
Konsumverhalten 211 manische Episode 136 Patientenschulung, strukturierte 181
Kontext, heilungsfördernder 86 Mastery-Aktivität 334 patientenzentrierte Medizin 305, 361
Konvergenzzone 9 Medikamentenabhängigkeit 208 patientenzentrierte Visite 304
Konversionssymptom 93 Medikamenten-Compliance 145 Personal Debriefing 222
koronare Herzkrankheit 168 Mentalisierung 115 Persönlichkeitsstil 231
– psychosoziale Belastungsfaktoren metabolisches Syndrom 186, 190 Persönlichkeitsstörung 228, 231
168 – Kriterien 191 – abhängige 229, 230
– Zusammenhang Depression 168 Metakommunikation 47, 234 – anakastische 229
körperbezogene Redewendung 101 Mortalitätsrisiko 177 – ängstliche 229, 230
Körperhaltung 35 Motivation 277 – emotional instabile 229
Körpermedizin 296 Multiperspektivität 270 – histrionische 229
Körperresonanz 60 – narzisstische 230
Körperschemastörung 196 – paranoide 229, 230, 233
Körperwahrnehmung 198, 326
Kortisolerhöhung 11
N – Risikofaktoren 232
– schizoide 229, 230
Krankheitsbewältigung 80, 155, 178 Nachrichtenebenen 49 Pflegepersonal 305
Krankheitsgewinn, sekundärer 109 narrative Dimension 26, 27 Phobie 122
Krankheitsmodell, alternatives 99 Neuroplastizität 108 – soziale 123, 126
Krankheitsverarbeitung 16, 171, 253 Nicht-Suizid-Vertrag 148 – spezifische 123, 126
Krankheitsverständnis 306 Notfallplan 149 Phosphodiesterasehemmer 247
– körperbezogenes 252 posttraumatische Belastungsstörung
– psychosomatisches 256 216, 217, 282, 291
– subjektives 59, 156, 159
Krankheitsverständnis, subjektives
O – Diagnosekriterien 220
Primärprophylaxe 300
289 Opfer 217 Problembewältigung 80
Krebsdiagnose 154 professionelle Haltung 287
Krebsentstehung 154 Prognose 263
krebskranke Eltern 157
Krise 271, 276, 282
P Prozessqualität 24
Pseudoanpassung 25
– fortbestehende 287 Paarentwicklung 272 psychodiabetologische Intervention
Krisenauslöser 285 Paargespräch 273 181
Krisengespräch 283 Paarkonflikt 271, 273 Psychoedukation 162, 189, 222
Krisenintervention 130, 283 Paartherapie 273 Psychohygiene 162
Kundendienst-Modell 25 palliative Behandlung 263, 264 Psychopharmaka 182
Palliativmedizin 262, 267 – Nebenwirkung 182
Palliativversorgung, allgemeine 262 psychophysiologische Spannung 322
L Palliativversorgung, spezialisierte 262
Panikattacke 130, 282
Psychose 231
psychosomatische Grundversorgung
Late onset depression 255 Panikstörung 120, 126 296
Lebensabschnitt 273, 275 Parallelprozess 313 psychosomatische Medizin 299
Lebensbalance 344 Paraphrasieren 45 psychosomatische Pflege 305
Lebenserwartung 179 Parentifizierung 232 psychosomatischer Konsildienst 304,
Lebenserzählung 26 partnerschaftliches Modell 39 307

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
378 Serviceteil

psychosomatischer Liaisondienst Schmerzstörung, chronische 106, 114 Sterbebegleitung 164


307, 309 Schmerzsyndrome 106, 282 Stoffwechseleinstellung 176
psychosomatisches Symptom 219 Schmerztagebuch 113 Stressmanagement 343, 351
psychosoziale Begleitung 262, 265 Schmerztherapie 117, 262 Stressmodell 12
psychosoziale Belastung 140, 298, Schmerztypen 112 Stress und Krankheit 13
304 Schmerzverständnis, subjektives 112 Stressvulnerabilität 14
psychosoziale Kompetenz 308 Schwellkörper-Auto-Injektions- – Schutzfaktoren 15
psychosoziale Krise 282 Therapie 248 Suchtbehandlung 210, 213
psychosoziales Grundbedürfnis 76, 78 Screeningfragen Ängste 180 Suchterkrankung 208
Psychotherapie 43 Seelenmedizin 296 Suizidalität 142, 147, 162, 282, 290
– bei Krebs 163 Selbsterfahrung 362 – Abschätzung 147
– -fachgebunden 360 Selbstheilungsversuch 254 Suizidgefährdeter 148
– nach Herzinfarkt 173 Selbstorganisation 270 Suizidrate 252
– supervidierte 363 Selbstregulation 326 Supervision 353
Psychotrauma 216 Selbstüberschätzung 230 Symptomtagebuch 100, 129
PTBS.  Siehe posttraumatische selbstverletzende Handlung 202 systemisches Verständnis 270, 271
Belastungsstörung Selbstwahrnehmung 188 systemische Therapie 365
Selbstwertgefühl 188, 201
Selbstwertproblematik 146
Q Sense of Coherence 13
Setting 277, 298
T
Qualitätssicherung 27 Sexualität 240 Testosteron 240
sexualmedizinische Anamnese 246 Teufelskreis der Angst 95, 128
sexualmedizinische Behandlung 247 therapeutische Grundhaltung 97
R Sexualphysiologie 240, 242
Sexualstörung 242
therapeutisches Arbeitsbündnis 149
Therapieadhärenz 176, 179
Reaktualisierung 232, 237 – bei organischer Erkrankung 245 Transparenz 46
Reanimation 265 – männliche 244 Trauer 137
reflektierte Kasuistik 28 – nach Prostatakarzinom 248 Trauerarbeit 289
Regenerationsprozess 330 – weibliche 242 Trauerprozess 290
Resilienz 14 sexuelle Reaktion 240 Trauma 291
Resilienzstrategie 356 sexueller Reaktionszyklus 241, 242 Traumabehandlung 224
Resonanzkörper 37 sexuelles Begehren 240 Traumafolge 218, 219
Ressource 65, 258, 272, 289 Shared Decision Making 40, 189 traumatische Erinnerung 224
Ressourcenaktivierung 14, 81, 161, sicherer Ort 222 traumatisches Ereignis 216, 217
285, 299, 345 Sinnfindung 345 Tuning-in 36
Ressourcenarbeit 220 Skulpturarbeit 317 Türschwellen-Gespräch 62
Ressourcengespräch 221 Somatic Marker-Modell 326
Retraumatisierung 253 Somatic Symptom Disorder 94
Rezeptivität 323
Rückfall 212
Somatisierung 282
Somatisierungsstörung 93, 107
U
somatoforme autonome Funktions- Übererregung 218, 220
störung 93 Übergangsobjekt 266, 267
S somatoforme Schmerzstörung 93,
106
Übergewicht 187
Überlebender 217
Salutogenese 13, 81, 254 somatoforme Störung 92, 252 überprotektive Haltung 131
salutogenetisches Denken 361 – begünstigende Faktoren 95 Überregung 222
salutogenetisches Potenzial 12 – Behandlungsmodell 98 Ulmer-Modell 307
schädlicher Gebrauch 206 – Chronifizierung 96 unheilbar Kranker 262
Scham 186, 202, 290 – Kennzeichen 92 Unterstützungssystem 65
Schatzbuch 221 – Symptome 92
Schlafhygiene 84 Spaltung 200
Schmerzchronifizierung 108
Schmerz, chronischer 106, 108
Spritzenphobie 178
stationäre Behandlung 287
V
Schmerzkonferenz, interdisziplinäre Stationsvisite 306 Vaginismus 248
114 – bisher 306 vegetatives autonomes Nervensystem
Schmerzmatrix 108 – psychosomatische 306 10

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
379 P–Z
Stichwortverzeichnis

Veränderungsbereitschaft 212
Vereinsamung 252
Verhaltensmuster 236
Verleugnung 171, 265
Verlusterlebnis 289
Vermeiden 218, 220
Versorgungssituation 21
Visitengestaltung 307
Vulnerabilität-Stress-Modell 127

W
Wechselwirkung 4
Weitervermittlung 277
Wertschätzung, bedingungslose 35
Wirkfaktoren der Psychotherapie 78
Wirklichkeit
– gemeinsame 24, 26, 33, 60, 298
– individuelle 6
– soziale 26
Wirklichkeitskonstruktion 5, 24, 27
Wirklichkeitsverkennung 262

Y
Yellow Flags 96

Z
Zuhören 35
Zwangsstörung 124, 126

kurt.fritzsche@uniklinik-freiburg.de
View publication stats

Das könnte Ihnen auch gefallen