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Zu diesem Kurs-Skript
Dieses Kurs-Skript zum "Klinischen Untersuchungskurs" des 2. Studienjahres Bachelor Humanmedizin umfasst
die 4 Teil-Skripte Thorax, Abdomen, Allgemeinstatus und Neurostatus. Wer sich zusätzlich in das Thema der
körperlichen Untersuchung vertiefen will, beachte die Lehrmittel-Hinweise auf Seite T-6 (Thorax).
Lernziele
Prinzipien der körperlich-klinischen Untersuchung des peripheren und zentralen Nervensystems
Klinisch-anatomische Orientierung (Dermatome, Muskulatur)
Untersuchung von Rumpf und Extremitäten (Reflexe, Sensibilität, Muskulatur)
Untersuchung von Hirnnerven und zentralnervösen Leistungen (Koordination)
Die neurologische (Erst-)Untersuchung muss sich zentrifugal (Schau vom Patienten her) orientieren und
zunächst fragen: was FEHLT diesem Patienten?
Das Ziel ist die Erfassung eines Syndroms – und nicht die Diagnose – mit den Werkzeugen der Anamnese und
Befunderhebung:
Das Syndrom
Definition: Werkzeug:
Eine Gruppe von gleichzeitig auftretenden
Beschwerden -> Anamnese
und Befunden, -> Neurostatus
die ein identifizierbares Muster bilden.
Untersuchungsmaterial
Reflexhammer, Spatel, Stimmgabel; Messband; Otoskop/Augenspiegel (fakultativ)
Anamnese
Bei der Befragung muss zudem hinterfragt werden, ob der Untersuchte kooperieren kann und will
(Verhalten), und ob er über einen normalen Zugriff zu seinem eigenen Archiv verfügt (Kognition).
Damit kommt der Erhebung der Anamnese in der Neurologie eine zweifache Rolle zu.
Erhebung der Krankengeschichte
- Erfassen des aktuellen Leidens
- Aufrollen der neurologischen Vergangenheit
Erhebung der Anamnesefähigkeit (Befund)
- Anamnesekompetenz
In aller Regel sollte nach der Erhebung der Anamnese das Syndrom in groben Zügen erkannt sein. Zumindest
die Einteilung in ein zentrales, peripheres, oder gemischtes Syndrom.
N-1
Der Neurostatus ist angewandte funktionelle Neuroanatomie.
Es gibt keinen Standard-Neurostatus. Jeder Patient verdient eine maßgeschneiderte neurologische
Untersuchung.
Die Aufgabe des Neurostatus besteht im wesentlichen darin, das Syndrom zielgerichtet zu dokumentieren –
und nicht, «etwas» zu suchen.
Der Anfänger soll rasch geschult werden, funktionelle Systeme (z.B. Motorik, Sensibilität) mit Hilfe von
einzelnen Elementen des Status (z.B. Trophik, Pallästhesie, Augenmotorik) im Rahmen des postulierten
Syndroms sinnvoll in ihrer Gesamtheit zu untersuchen und zu werten.
Die Willkürmotorik kann durch eine Reihe von Untersuchungselementen erfasst werden, die eine Zuteilung in
zentrale und periphere Ausfälle an sich rasch ermöglichen. Sie sind in Tabelle 4 aufgelistet,
Es ist ein auf komplexes Netzwerk von 3 unterschiedlich arbeitenden Systemen
Das kortikospinale System wirkt direkt auf das 2. Motoneuron (efferenter Teil des Muskeleigenreflexes) und
moduliert es durch hemmende Einflüsse.
Das zerebelläre System beeinflusst die Metrik (Weg, Geschwindigkeit und Beschleunigung) der Bewegung
Das extrapyramidale System beeinflusst die Kinetik durch die Organisation des Zusammenspiels von
Agonisten und Antagonisten in aktiver Ruhe und während Bewegungen.
Die Sensibilität ist oftmals schwierig zu erheben (Ermüdung, Unaufmerksamkeit). Das zentrale Perzeptieren
(Somatosensorik) wird entscheidend durch die Stimmung (bei einem depressiven Zustandsbild kann sich der
ganze Körper «wie tot» anfühlen) und kognitiven Leistungen (Kommunikationsfähigkeit) beeinflusst. Daher
ist es besonders wichtig, dass sich der Untersucher rasch eine gute Technik aneignet und stets den mentalen
Zustand des Patienten mit einbezieht.
Die Hirnnerven
Die Untersuchung der Hirnnerven wird am besten in funktionellen Einheiten durchgeführt
Optomotorik II, III, IV, VI, VIII
Alle Funktionen, die dem (visuellen) Erkennen und der Orientierung im Raum (inklusive Hören) dienen.
Gesichtsnerven V, VII
Ausfälle werden vom Patienten und dem Untersucher im allgemeinen rasch wahrgenommen.
Kaudale Gruppe IX, X, XI, XII
Ausfälle werden vom Patienten und dem Untersucher im allgemeinen rasch wahrgenommen.
Unter Umständen muss zusätzlich eine ORL-Abklärung durchgeführt werden.
Geruchssinn I
Der einzige Zugang zum (basalen) Frontalhirn (Tumore). Muss bei jedem Schädel-Hirn-Trauma erfasst
werden (ein fehlender Geruchssinn wird vom Patienten oft nicht spontan erkannt).
Integrale Untersuchungen
N-2
1. Inspektion und Kommunikation
Gang und Motorik, Orientierung (zeitlich, örtlich, situativ, autopsychisch), Vigilanz ("Wachsamkeit" bzw.
Aufmerksamkeit) und weitere höhere kortikale Leistungen (Sprache, Sprechen) beurteilt man im gesamten
Rahmen des ärztlichen Kontakts mit dem Patienten: vom Eintreten des Patienten über die Schilderung der
Beschwerden bis zum Aus- bzw. Anziehen der Kleider.
Muskelatrophie der Handmuskulatur (im Vergleich zu jüngerer gesunder Hand) (links); Hautatrophie mit
glänzender papierener Haut und mit Thenar-Atrophie (rechts)
2. Sensibilität
= Wahrnehmung von Reizen an Haut, Gelenken und inneren Organen.
Man unterscheidet die Oberflächensensibilität von der Tiefensensibilität.
Der Patient hat bei der Prüfung die Augen geschlossen.
ZNS-Leitungsbahnen:
Oberflächensensibilität
Schmerz- und Temperaturempfinden Tractus spinothalamicus
Berührungsempfindung, 2-Punkte-Diskrimination Tractus spinothalamicus + Hinterstränge
Tiefensensibilität
Vibrationssinn und Lagesinn (Propriozeption) Hinterstränge
Oberflächensensibilität
Räumliches Auflösungsvermögen:
Zahlenschrift: IN BLICKRICHTUNG DES PATIENTEN WERDEN MIT EINEM RAUHEN STUMPFEN GEGENSTAND (STREICHHOLZ,
REFLEXHAMMER-STIEL) 3 - 5 CM GROSSE ZAHLEN GESCHRIEBEN, DIE DER PATIENT ERKENNEN MUSS.
2-Punkte-Diskrimination: 2 SPITZE GEGENSTÄNDE WERDEN AN HANDFLÄCHEN UND FUSSSOHLEN IMMER NÄHER
NEBENEINANDER AUFGESETZT, BIS DER PROBAND DIE BEIDEN SPITZEN NUR NOCH ALS EINEN PUNKT WAHRNIMMT.
Schmerz:
Vorsichtiges Kneifen von Hautfalten.
Spitz-stumpf-Unterscheidung: Durch das Aufsetzen eines spitzen oder stumpfen Gegenstands kann z.B.
die Wirksamkeit einer Lokalanästhesie erfasst werden, oder ein Gebiet verminderter Sensibilität eingegrenzt
werden. Das Gebiet mit verminderter Wahrnehmung soll eingezeichnet werden
N-3
Berührung:
Diskrete (Wattebüschel) bis handfestere Methoden (eigene Fingerballen) werden zum Seitenvergleich der
Berührungsempfindung verwendet: MAN BERÜHRT STREICHEND UNTERSCHIEDLICHE KÖRPERABSCHNITTE UND LÄSST DIE
BERÜHRUNG SELBST SOWIE ALLFÄLLIGE ASYMMETRIEN MELDEN.
Temperaturempfinden:
AN DIE HAUT VERSCHIEDENER KÖRPERSTELLEN HÄLT MAN MIT KALTEM BZW. WARMEM WASSER GEFÜLLTE REAGENZGLÄSER ODER
"KALTE" BZW. "WARME" GEGENSTÄNDE (wärmeleitende bzw. -isolierende Stäbe, z.B. aus Metall bzw. Holz oder
Kunststoff).
Tiefensensibilität
Vibration:
Die verwendete Stimmgabel (64 oder 128 Hz) kann zur Quantifizierung des Vibrationssinnes an den Zinken
Skalenkeile aufgeschraubt haben. Damit der Patient nicht irrtümlicherweise den Aufsetzdruck der
Stimmgabel angibt, MUSS ERST AN PROXIMALEN KNOCHENVORSPRÜNGEN (STIRNE, BRUSTBEIN, SCHLÜSSELBEIN) DIE
VIBRATION DEMONSTRIERT WERDEN.
ZUR PRÜFUNG WIRD DIE STIMMGABEL ANGESCHLAGEN UND VORSICHTIG AN DISTALEN KNOCHENVORSPRÜNGEN (KNÖCHEL,
SCHIENBEIN, HANDGELENK) AUFGESETZT: DER PATIENT MELDET DEN ZEITPUNKT DES VERSCHWINDENS DES
VIBRATIONSEMPFINDENS. NUN WIRD AN DEN VIBRIERENDEN SKALENKEILEN DER WERT (BIS 8/8) ABGELESEN.
Abnehmende Vibration von links nach rechts: von 2/8 bis 8/8. Stimmgabel-Zinken mit Messkeilen.
Lagesinn - Bewegungsempfinden:
FINGER- ODER ZEHENENDGLIEDER WERDEN SEITLICH GEFASST UND IN UNREGELMÄSSIGER FOLGE GEBEUGT BZW. GESTRECKT. DER
PATIENT GIBT DIE RICHTUNG DIESER PASSIVEN BEWEGUNGEN AN.
N-4
Zeichne einzelne Kennsegmente (C6, C8, L3, L4, L5, S1) an der rechten Körperhälfte ein, und markiere die
Versorgungsgebiete von Nervus medianus, cutaneus femoris lateralis, saphenus und peroneus superficialis an
der linken Körperseite.
Schema der segmentalen (rechte Körperhälfte) und peripheren Innervation (linke Körperhälfte)
von ventral und von dorsal
3. Motorik
Die Motorik kann getestet werden durch die Prüfung der rohen Muskelkraft oder durch (Muskeleigen-)
Reflexe.
Das Prinzip der Kraftprüfung ist es, DEN MUSKEL IN SEINER HAUPTFUNKTIONSRICHTUNG GEGEN DEN WIDERSTAND DES
UNTERSUCHERS MAXIMAL ANSPANNEN ZU LASSEN. Problematisch können schmerzbedingte oder willkürliche
Minderinnervationen (Simulation einer Lähmung) sein.
Der Muskeleigenreflex prüft nur mit seinem efferenten Schenkel die Motorik; eine verminderte Reflexantwort
kann auch durch Störung der sensiblen Afferenz oder der zentralnervösen Verschaltung bedingt sein.
Die Muskelkraft gegen Widerstand wird quantifiziert von 0 bis 5 (Tabelle). Muskelschwächen (neurogen
oder myogen) werden als Paresen, völlige Muskellähmungen als Paralysen bezeichnet (engl.: palsy).
Lähmungen von Gliedmassenabschnitten oder ganzen Extremitäten heissen Plegien (z.B. Tetraplegie).
N-5
Reflexe sind unwillkürliche, gleichbleibende Reaktionen auf Reize.
Bei den Eigenreflexen erfolgt die Auslösung im Erfolgsorgan: Muskel(sehnen)dehnung durch Hammerschlag
führt zur Muskelzuckung als Reflexantwort. Es sind monosynaptische Reflexbogen mit 2 Neuronen.
Fremdreflexe dagegen haben ein anderes Auslösungsorgan (Haut oder Schleimhaut) und sind daher
polysynaptisch.
Bei der Prüfung der Muskeleigenreflexe (MER) liegt der PATIENT ENTSPANNT auf dem Rücken und hält die
Gelenke in Mittelstellung; die Untersuchung ist je nach Reflex auch in anderen Stellungen möglich. Der
HAMMERSCHLAG ERFOLGT KURZ UND FEDERND auf die Sehne selbst oder auf den Untersucher-Finger auf der Sehne.
Gelegentlich muss der Muskel passiv leicht vorgespannt werden.
N-6
Muskeleigenreflexe kann man erleichtern bzw. verstärken (bahnen, fazilitieren) durch Mitinnervation anderer
Körperabschnitte (Jendrassik-Handgriff: Auseinanderziehen der ineinander gehakten Hände). Spontan
gesteigerte lebhaftere Muskeleigenreflexe bis hin zum ruckenden Klonus sind Zeichen einer enthemmten
zentralnervösen Steuerung (Pyramidenbahn-Schädigung). Abgeschwächte Muskeleigenreflexe deuten auf
eine Störung im Reflexbogen selbst hin.
Fremdreflexe können physiologisch oder pathologisch sein: die Bauchhaut-Reflexe können ausgelöst
werden durch horizontales Streichen der Bauchhaut zum Nabel hin: die Bauchdeckenmuskulatur kontrahiert
zur untersuchten Seite hin. Auf eine Pyramidenbahn-Schädigung weisst demgegenüber der Babinski-Reflex
hin, der nach dem Kleinkindesalter pathologisch ist: das langsame Bestreichen des lateralen Fusssohlenrandes
führt zur (langsamen) Dorsalflexion (Streckung) der Grosszehe.
N-7
4. Hirnnerven
Es gibt rein sensible (sensorische) (I, II, VIII), rein motorische (III, IV, VI; X, XI, XII) und gemischte Hirnnerven.
Wiederhole bei jedem Hirnnerv den Austrittsort aus dem Hirnstamm, den Durchtritt durch die Schädelbasis,
sowie Verlauf und Funktionen.
N-8
Hirnnerven-Untersuchung und pathologische Befunde
Überlege neuroanatomisch, wie die gezeigten pathologischen Lähmungsbilder zustande kommen.
II Konfrontative digitale
N. opticus Gesichtsfeldprüfung (SIMULTANER
VERGLEICH MIT EIGENEM
GESICHTSFELD).
Augenbewegungsstörungen.
III.
N-9
IV Augenbeweglichkeit: M. obliquus
N. trochlearis superior.
Verstärkung der Doppelbilder bei
Kopfneigung zur gelähmten Seite IV
(Bielschowsky-Phänomen) [links],
spontan folglich kompensatorische
Neigung und Drehung des Kopfes
zur gesunden Seite [rechts].
VI Horizontale Augenbeweglichkeit:
N .abducens M. rectus lateralis.
VI
V Hautsensibilität aller 3
N. trigeminus Trigeminus-Äste V1 bis V3.
Korneal-Reflex (ohne
Kontaktlinsen!). V.
Kaumuskulatur, Masseter-
Kontraktion bei zusammen-
gebissenen Zähnen.
Unterscheide:
Zentrale Gesichtslähmung mit
Aussparung der Stirnmuskulatur
wegen ipsi- und kontralateraler
Innvervation.
Periphere Gesichtslähmung mit
halbseitiger Gesichtslähmung
(Bell's palsy).
N-10
VIII Gehör: UHRTICKEN, FINGERSCHNIPPEN, Weber-Versuch:
N. vestibulocochlearis FLÜSTERZAHLEN; Schallempfindungs- Schallleitungs-
Rinné-Versuch (Luft- versus -schwerhörigkeit
Knochenleitung [LL, KL],
Weber-Versuch.
Unterberger-Tretversuch: MIT
GESCHLOSSENEN AUGEN UND
AUSGESTRECKTEN HÄNDEN TRITT DER
PATIENT AN ORT: Abweichen > 45°
weist auf ipsilaterale Labyrinth- Rinne-Versuch:
oder Kleinhirnschädigung hin. Schallempfindungs- Schallleitungs-
[LL>KL] -schwerhörigkeit [KL>LL]
X.
X Gaumensegel bei PHONATION.
N. vagus
XI Schultermuskulatur-Relief und
N. accessorius Kraftprüfung der Mm. trapezius XI.
und sternocleidomastoideus.
N-11
XII Gerades HERAUSSTRECKEN DER
N. hypoglossus ZUNGE. Trophik (Atrophie und
Fältelung der gelähmten
XII
Zungenseite).
6. Koordination
Die Koordinationsprüfung beginnt schon bei der Beobachtung des Ganges, von Willkürbewegungen, beim
Ablegen oder Anziehen der Kleider.
Prüfungenstests vor allem für Kleinhirn-Störungen sind der Finger-Nase-Versuch, der Knie-Hacken-Versuch,
der Unterberger-Tretversuch.
Anamnese und Befund. Die ärztliche Untersuchung als Grundlage klinischer Diagnostik. J. Dahmer.
9., überarb. u. erw. Auflage. 610 S. m. 359 meist farb. Abbildungen. Thieme 2002 Thieme, 50.90 CHF.
Bild-Lehrbuch der klinischen Untersuchung. O. Epstein et al., dt. Übersetzung H.J. Deuber.
Thieme 1994.
L. Käser, U. Schwarz, W. Vetter, Med. Poliklinik USZ, Neurologische Klinik USZ, 2007/2008
N-12
Anhang: Neurostatusblatt der Neurologischen Poliklinik des UniversitätsSpitals Zürich USZ
N-13
N-14