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Herausgegeben von
M. W. Schnell, Witten, Deutschland
C. Schulz, Düsseldorf, Deutschland
C. Dunger, Witten, Deutschland
Palliative Care ist eine interprofessionelle, klinisch und kommunikativ ausgerich-
tete Teamleistung, die sich an Patienten und deren Angehörige richtet. Bei der
Versorgung eines Palliativpatienten geht es nicht nur um die Behandlung krank-
heitsbedingter Symptome, sondern vor allem auch um Zuwendung an die Adresse
eines Patienten, um die Schaffung geeigneter Versorgungsangebote, um die Unter-
stützung von Familien und um konkrete Mitverantwortung. Über die Erfahrungs-
welten von Palliativpatienten in Deutschland gibt es nur wenige Erkenntnisse. In
diesem Bereich besteht ein Forschungsbedarf, der sich auf Sachthemen wie die
subjektiven Sichtweisen von Patienten und Angehörigen, auf Interaktionen am Le-
bensende, auf Lebenswelten des Sterbens und nicht zuletzt auf soziale Strukturen
von Versorgungseinheiten bezieht. Diese und andere Sachthemen können durch
qualitative und sozialwissenschaftliehe Forschungsmethoden erschlossen werden,
die in Deutschland bislang nur sehr selten im Bereich der Erforschung von Pallia-
tive Care eingesetzt werden. Die Reihe Palliative Care und Forschung möchte mit-
helfen, diesen Mangel im deutschen Sprachraum zu beseitigen.
Herausgegeben von
Martin W. Schnell Christine Dunger
Witten, Deutschland Witten, Deutschland
Christian Schulz
Düsseldorf, Deutschland
Martin W. Schnell • Christian Schulz
Andreas Heller • Christine Dunger (Hrsg.)
Palliative Care
und Hospiz
Eine Grounded Theory
Herausgeber
Martin W. Schnell Andreas Heller
Witten/Herdecke, Deutschland Wien, Österreich
Springer VS
© Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort ................................................................................................................. 7
Martin W. Schnell
Die Grounded Theory im Licht der Wissenschaftstheorie .................................. 11
Claudia Wenzel
Heil sterben. Zur Bedeutung alternativer und komplementärer Ansätze
für eine Versorgung Sterbender in Hospizarbeit und Palliative Care ................. 75
Christine Dunger
Grounded Theory – eine kommentierte Literaturliste ....................................... 175
***
gekommen ist. Insofern trägt der vorliegende Band den Titel Hospiz und Pallia-
tive Care.
In England existiert bereits seit Jahrzehnten ein großes Interesse an alterna-
tiven und komplementären pflegerischen und medizinischen Angeboten im
Rahmen der hospizlichen Versorgung sterbender Menschen. Auch in Deutsch-
land beginnt sich dieses Interesse auszuweiten. Dabei ist unklar, wer diese Ange-
bote als komplementär oder alternativ definiert und wer für ihren Einsatz sorgt.
Die hier vorliegende Auswertung von in Deutschland erhobenen Daten zeigt,
dass jene komplementären Verfahren eher unsystematisch, ja beinahe zufällig in
die jeweiligen Hospize gelangen. Verständnis und Einsatz von Aromatherapie,
Musiktheraphie, Massage, Meditation und anderen Verfahren sind von Faktoren
abhängig wie etwa dem ‚Glauben‘ Pflegender an diese Verfahren, die Verfassung
der Gäste, die Kooperation zwischen Pflege und Medizin und das Vorhandensein
strukturelle Voraussetzungen, die die Freiheit zum Einsatz von alternativen und
komplementären Maßnahmen überhaupt zulassen.
Diese Ergebnisse wurden mit der Methode bzw. Methodologie der Grounded
Theory, erweitert durch Elemente der ‚Intuitive Inquiry‘, ermittelt. Auf diese
Weise konnte eine Reflexion auf das Vorverständnis des Forschers, das in der
Forschung selbst zum Tragen kommt, mit der Konstitution der sozialen Bedeu-
tungswelt des Hospizes verbunden werden. Eine solche Kopplung der Methoden
ist durch eine Weiterentwicklung der Grounded Theory und ihrer Anschlussmög-
lichkeiten, wie sie von Kathy Charmaz betrieben worden ist, realisierbar.
Die klassische Grounded Theory geht bekanntlich auf Anselm Straus und
Barney Glaser zurück und befindet sich seit den 70er Jahren bereits in diversen
Transformationen. Der vorliegende Band stellt diese Methodik zunächst vor,
reflektiert sie und beobachtet sie dann bei der Durchführung.
Für ihre unverzichtbare Mithilfe bei der Erstellung des Manuskripts bedan-
ken wir uns bei Kerstin Pospiech und Marian Wittenberg vom Lehrstuhl für
Sozialphilosophie und Ethik und bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des
Instituts für Ethik und Kommunikation im Gesundheitswesen der Universität
Witten/Herdecke.
Martin W. Schnell
Christian Schulz
Andreas Heller
Christine Dunger
im Oktober 2014
Die Grounded Theory im Licht der
Wissenschaftstheorie
Martin W. Schnell
M. W. Schnell et al. (Hrsg.), Palliative Care und Hospiz, Palliative Care und Forschung,
DOI 10.1007/978-3-658-07664-1_1, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
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nicht von rein äußerlichen Kategorien bevormundet werden und somit auch nicht
hinter einer Expertensprache verschwinden. Besonders dann nicht, wenn außer
der Forschung niemand sonst den Probanden eine Stimme verleiht.
Der Nachteil einer bestimmten qualitativen Forschung, die sich zu stark
einem Subjektivismus nähert, kann darin bestehen, dass sie die „Illusionen der
persönlichen Meinung“ (Pierre Bourdieu) nicht durchschaut. Eine Kranken-
schwester hat nicht nur deshalb Respekt vor kranken Menschen, weil sie grund-
sätzlich „alle Patienten liebt“, sondern weil ihr gar nichts anderes übrig bleibt. In
ihrer Arbeit ist sie – im Unterschied zum Arzt – einer permanenten Ansprech-
barkeit ausgesetzt. Die Selbstinterpretation der Schwester, „für ihre Patienten da
zu sein“ macht aus der Not, nämlich ohnehin „da sein“ zu müssen, eine Tugend.
Die Tugend, dass Pflegende per se „Anwälte des Patienten“ sind, ist eine Illusion
oder stellt sich sehr häufig als eine solche heraus (Schnell 2012).
Um den Illusionen des gesunden Menschenverstandes entkommen zu kön-
nen, bedarf es einer Objektivierung der subjektiven Sicht der Welt, die von Ak-
teuren vertreten wird (Bourdieu 1970: 41). Diese Objektivierung geschieht durch
einen Bruch mit der alltäglichen Sicht der Welt, wie Gaston Bachelard hervor-
hebt (Bachelard 1974: 19).
Eine objektivierende Betrachtung der sozialen Welt sieht, wie Emile Durk-
heim sagt, Individuen als Tatsachen an. Diese Betrachtungsweise ist der Feind
der Selbstinterpretation des Ich (Alain Touraine)! Die objektivierende Analyse
glaubt dem Ich nicht, wenn es sagt, dass es seine Patienten respektiere, weil es
sie liebe. Sie sucht nach tieferliegenden Gründen, die dem Bewusstsein verbor-
gen bleiben und findet soziale Strukturen, wie Dienstpläne, Teamkultur auf der
Station oder Hierarchien, die es nahe legen, dass sich Pflegende als „Anwälte des
Patienten“ bezeichnen. Vor allem dann, wenn ihnen sonst kaum eine bedeutsame
Stellung im Krankenhaus eingeräumt wird.
Ein Instrument zur Vermeidung der Illusion unmittelbarer Evidenz und proble-
matischer Universalisierungen ist die Reflexion auf die sozialen Umstände des
Forschens etwa durch eine „Soziologie der Soziologie“(Bourdieu 1985: 50). In
dieser von Bourdieu im Ausgang von Husserl bezeichneten Reflexion wird das
Erkenntnissubjekt selbst zum Gegenstand gemacht. Es erkennt dann, dass es als
Akademiker auch innerhalb von Forschung eine andere soziale Nähe zu einem
Lehrer als zu einem Migranten haben kann und dass diese Nähe nicht „intuitiv“
oder „unmittelbar“ zustande kommt, sondern der Stellung im sozialen Raum zu
verdanken ist.
Die qualitative Forschung ist dem Verdacht bloßer Meinungsmache ausge-
setzt. Forscher sammeln Zitate und versuchen damit Thesen zu belegen! Die
Anwendung von Gütekriterien kann helfen, diesen Verdacht zu entkräften.
Subjektivismus/Objektivismus
Der Nachteil einer rein objektivierenden Betrachtung, die sich auf die Beschrei-
bung sozialer Umstände beschränken würde, kann darin bestehen, dass sie sozia-
le Strukturen als autonome handlungsfähige Größen betrachtet (ähnlich wie
14 Martin W. Schnell
dieses die Neurobiologie mit dem menschlichen Hirn tut), die Akteure wie Mari-
onetten durch das Schauspiel einer sozialen Welt dirigieren. Die Selbstsicht von
Personen, die die qualitative Forschung in den Mittelpunkt ihrer Bemühungen
rückt, würde dadurch entwertet werden.
Auszug aus der Transkription eines Interviews durch eine Studierende in einer
forschungspraktischen Übung.
Interviewer: „Mich würde noch interessieren [eine Uhr schlägt], was Sie in
dieser Situation [ein vorbeifahrendes Auto ist im Hintergrund zu hören] getan
haben.
Arzt: „Als der Patient auf unsere Station [ein Auto hupt] kam, haben wir ihn
sofort [Kindergeschrei] untersucht. ….“
Bewertung durch den Dozenten: Das Schlagen der Uhr und die Geräusche im
Hintergrund mögen sich faktisch während des Interviews ereignet haben und
daher auch auf dem Tonband zu hören sein, sie sind aber für die Forschung
selbst unwichtig und müssen daher nicht transkribiert und ausgewertet wer-
den. Das Schlagen der Uhr hat auf die Erinnerung des Arztes offenbar keinen
Einfluss und definitiv auch nicht auf die zurückliegende Behandlung des Pati-
enten, die für die Forschungsfrage allein relevant ist.
Wie werden aus Informationen nun Daten? Durch Unterscheidungen! Die meis-
ten Methoden zur Datenerhebung treffen solche Unterscheidungen explizit, in-
dem sie sich auf bestimmte Informationen als Datenquellen ausrichten. Das Ge-
sagte im Unterschied zur Hintergrundatmosphäre oder das Gesagte im Unter-
schied zum Getanen oder das Getane im Unterschied zum Geschriebenen oder
das Geschriebene im Unterschied zu sozialen Interaktionen usw. Als Datenträger
treten dabei auf: der Text (enthält Gesagtes), das Protokoll (enthält Beobachte-
tes), das Strukturreview (enthält institutionelle Daten) usw.
Die Durchführung einer Unterscheidung bedeutet, dass bestimmte Informa-
tionen als Daten aufgefasst und behandelt werden, andere aber nicht. Für diese
Auffassung und Behandlung können drei Faktoren maßgeblich sein: die Bestim-
mung einer Relevanz der Informationen für die Fragestellung, die Totalität einer
Institution, in der die Studie stattfindet und die Daten gewonnen werden und das
Gewicht impliziten Wissens der Teilnehmer bzw. der Informationsgeber.
Für die Auffassung und Behandlung bestimmter Information als Daten kön-
nen drei Faktoren maßgeblich sein:
a) die Bestimmung einer Relevanz,
b) die Totalität einer Institution,
c) das Gewicht impliziten Wissens.
Relevanz (Schütz 1971) bezeichnet: etwas wird als bedeutsam thematisiert oder
legt sich als bedeutsam auf, anderes rückt zur Seite oder wird dahin geschoben.
Die Entstehung einer entsprechenden Scheidelinie kann als einfacher und rever-
sibler Schnitt geschehen. Eine einfache Operation in dieser Hinsicht ist die Zu-
sammenfassung.
Ein Arzt hat einen zehn stündigen Nachtdienst hinter sich und wird im
Nachgang gebeten, davon zu berichten. Vor dem Hintergrund, dass die erlebte
Zeit (der 10 Stunden dauernde Dienst) und die erzählte Zeit (der fünfminütige
Bericht über diesen Dienst) nicht identisch sind, kann die Zusammenfassung das
Relevante darbieten und damit Irrelevantes unthematisiert lassen. Weil das, was
als relevant gilt, relativ ist, kann es vorkommen, dass der Interviewer Anderes für
wichtig als der Arzt erachtet und daher nach- und weiterfragt.
Komplex wird die Aufgabe, das als relevant Bestimmte in Begriffen zu
fixieren, wenn es als solches sprachfern verfasst ist. Von der Philosophie und der
Psychologie der Landschaft (Georg Simmel, Kurt Lewin) ist darauf hingewiesen
worden, dass Stimmungen und Atmosphären eine soziale Situation maßgeblich
prägen können, es aber schwierig sei, sie aussagekräftig zu erfassen (Böhme
1995). Wie erfasst man eine Atmosphäre als Datensatz?
Die Entstehung jener Scheidelinie kann in den Sektoren des Gesund-
heitswesens aber auch weniger harmlos geschehen, da es besonders hier viele,
zumindest potentiell totale Institutionen gibt.
b) Als totale Institution bezeichnet Ervin Goffman eine soziale Ordnung, wenn
es 1. eine Gruppe von Schicksalsgenossen gibt, die 2. die meiste Zeit ihres All-
tags zusammen an einen Ort verbringen und dabei 3. einheitlichen Regeln und 4.
einem institutionellen Plan unterworfen sind (Goffman 1961: 17). Eine totale
Institution tendiert dazu, eine Binnenmoral auszubilden, eine eigene Zeitlichkeit,
ja eine eigene Lebenswelt zu bilden. Zu denken ist an das Militär, die Schule, das
Internat, aber auch an das Krankenhaus, das Alten- und Pflegeheim.
In einer totalen Institution ist die Scheidelinie zwischen Relevantem und Nicht-
relevantem durchaus problematisch. Michel Foucault zeigt dieses am Beispiel
der Psychiatrie. „Man weiß, daß man nicht das Recht hat, alles zu sagen, dass
man nicht bei jeder Gelegenheit von allem sprechen kann, daß schließlich nicht
jeder beliebige über alles beliebige reden kann.“ (Foucault 1977: 7) Das heißt,
dass hier nur bestimmte Informationen als Daten (etwa durch das Sagen in einem
Interview) auftreten können und dass die Scheidelinie zwischen Gesagten und
Nichtgesagtem durch Macht, also auf eine nicht harmlose Weise, gezogen wird!
Das Nichtgesagte kann möglicherweise aber auch wichtig sein. Wenn man es als
Datum gewinnen möchte, kann sich die Forschung wohl nicht nur auf das Gesag-
te als Quelle des Wissens bezieht (Schnell 2006). Meist interessieren sich For-
schungen nur für das Gesagte, Explizite und Offenbare.
c) Der Blick auf die Genese des Gesagten, das dann in Interviews und Texten als
Datensatz fixiert werden kann, ist nicht nur hinsichtlich der Beachtung von Pro-
zessen der Macht in totalen Institutionen wichtig, sondern immer dann, wenn es
auf die Unterscheidung zwischen Gesagtem und Nichtgesagtem ankommt. Das
ist häufig schon bei elementaren Beschreibungen der Fall, in denen implizites
Wissen zur Geltung gelangt.
Die Krankenschwester geht in das Zimmer des Patienten, gibt ihm die Hand,
spricht kurz mit ihm und geht wieder.
Auf die Frage eines Interviewers, was sie im Zimmer des Patienten gemacht
habe, sagt sie: „Nichts besonderes. Ich war auf meiner Runde und habe kurz
reingesehen.“
Auf die weitergehende Frage, wie es um die aktuelle Verfassung des Patienten
stehe, kann sie über Atmung, Gesichtsfarbe, Puls, Temperatur und die Wün-
sche des Kranken bestens Auskunft geben. Diese Informationen hat sie aus
dem kurzen Gespräch und der Berührung gewonnen.
Auf die abschließende Frage, wie es ihr gelinge, diese Informationen über den
Patienten ohne Fieberthermometer und ohne Stethoskop zu erhalten, antwortet
sie: „Das macht die Erfahrung.“
Implizites Wissen ist ein stummes, verkörpertes, leibliches Können und Ver-
mögen das praktisch wirksam ist, aber meist ungesagt bleibt.
In der Qualitativen Forschung gilt es, die Genese von Daten kritisch zu be-
trachten! Eine empirische verfahrende Wissenschaft sollte den Zusammen-
hang zwischen dem, was sich als Gesagtes und Getanes zeigt und dem, was
nicht in dieser oder in einer andere Weise auftritt, im Blick behalten.
Grounded Theory
Die Grounded Theory ist eine Methode der Datenerhebung- und auswertung. Sie
wurde von Anselm Strauss (1916-1996) begründet, von Strauss in Kooperation
mit Barney Glaser entwickelt und nach der Beendigung der Kooperation zwi-
schen Strauss und Glaser in unterschiedlichen Richtungen weiter betrieben. Hier
sind besonders die Schriften von Glaser seit Mitte der 70er Jahre zu erwähnen
und die Zusammenarbeit zwischen Strauss und der Pflegewissenschaftlerin Juliet
Corbin. Es ist somit nicht möglich, von der Grounded Theory zu sprechen. Sie ist
eher eine Methode, die sich, aufgrund der unterschiedlichen, genannten Arbeits-
zusammenhänge, in Entwicklungen befindet. Zudem ist die Forschungsarbeit mit
einer je bestimmten Version der Grounded Theory keine detailgenaue Ausfüh-
rung von Arbeitsschritten, wie man sie von Backrezepten kennt, sondern immer
auch ein kreativer Umgang einem konzeptionellen Rahmen. Auf diesen gilt es
sich hier zu beschränken, zumal über die Grounded Theory und ihre Entwicklung
mittlerweile vieles geschrieben worden ist, was an dieser Stelle nicht wiederholt
werden muss.
Die wissenschaftstheoretische Einordnung der auf Strauss zurückgehenden
Impulse beginnt mit einer wissenschaftshistorischen Betrachtung. Der Ansatz der
Grounded Theory ist in jenen Traditionen verankert, die zu den ersten Denkbe-
wegungen zählen, die die USA nach ihrer Unabhängigkeit im Jahre 1776 entwi-
ckelt haben: dem Pragmatismus und dem symbolischen Interaktionismus (Haller
2000, 16f). Diese beiden, miteinander verbundenen Denkbewegungen können als
intellektuelle Unabhängigkeitserklärungen Amerikas angesehen werden, weil
ihre wichtigsten Motive nicht oder nur sehr mittelbar auf die genuin europäische
Philosophie und das heißt auf die Romantik und den Idealismus als deren zentra-
le Ausprägungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts zurück geführt werden können.
Anselm Strauss studierte nach dem Abbruch seines Medizinstudiums das
Fach Soziologie bei Robert E. Park, der zu den einflussreichen Soziologen der
„Chicagoer Schule“ zählt. Inhaltlich lernt Straus dort dem Pragmatismus kennen
und auch die soziologischen Bemühungen, diesen in der empirischen Forschung
zu verwenden. Wichtiger noch als dieser Einfluss ist die Begegnung Strauss‘ mit
Herbert Blumer. Blumer war der letzte direkte Mitarbeiter von George Herbert
Mead, welcher der Begründer des symbolischen Interaktionismus ist. Blumer
Die Grounded Theory im Licht der Wissenschaftstheorie 19
kommt das Verdienst zu, Meads Arbeit unter der Überschrift „symbolischer In-
teraktionismus“ bekannt gemacht zu haben. Zudem sorgte Blumer durch seine
Interpretation dafür, dass der symbolische Interaktionismus in den USA weniger
als Philosophie, sondern eher als eine empirisch ausgerichtete Methodologie
verstanden wird. In Sinne dieser Wirkungsgeschichte sollen nun zunächst das
Werk von Mead vorgestellt, dann die Interpretation Blumers skizziert und
schließlich die Konsequenzen, die Strauss und andere Verfechter für die Gestalt
der Grounded Theory aus dieser Bewegung gezogen haben, dargestellt werden.
Mead nahm im Jahre 1888 sein Studium der Philosophie und Psychologie in
Berlin auf, wo er Wilhelm Dilthey kennengelernt und ein Interesse an der Frage
nach dem Psychischen ausgebildete. Nach seinem Studium kehrte Mead in die
USA zurück und wurde 1894 Assistenz-Professor in der Abteilung für Philoso-
phie und Psychologie an der Universität von Chicago.
Die Stadt Chicago und ihr Umfeld befanden sich zu jener Zeit in einer Um-
bruchphase. Die Ausbreitung moderner Industrien lockte zahlreiche Einwanderer
aus Europa und Migranten aus den Südstaaten der USA an. Die rapide Zunahme
an Menschen unterschiedlichster Herkunftskulturen, die von nun an auf engstem
Raum zusammenleben wollten, stellte die Stadt vor die Herausforderung, neue
Konzepte für Städtebau, Planung, Integration und demokratische Verwaltung
ausbilden zu müssen. Es wundert nicht, dass in jener Zeit auch an der Universität
von Chicago ein Interesse für die Frage nach der Organisation sozialer Prozesse
in den Vordergrund getreten war. Die erwähnte Soziologie-Schule von Chicago
entwickelte ihre weltberühmte Stadt-, Regional- und Migrationssoziologie. Sie
verband dabei die Soziologie Georg Simmels mit Methoden empirischer For-
schung.
In dieser Situation griff der junge Mead Fragen nach der Natur des Psychi-
schen und des Sozialen auf und verband sie miteinander! Die eine Frage lässt
sich demnach nicht ohne die andere bearbeiten. Die klassische, aus Europa be-
kannte, Dichotomie zwischen Individualismus und Kollektivismus galt es hinter
sich zu lassen (vgl.: Joas 1980, 21ff). In seinem Aufsatz „Die Definition des
Psychischen“ (1903; Mead 1980 I, 83ff) wendete sich Mead frühzeitig gegen
eine rein private oder innerliche Definition des Psychischen. Es sei vielmehr
„selbst auf Allgemeinheit angelegt und eingelagert in eine gemeinsame Welt.“
(Joas 1980, 77) Jahre später leitete Mead aus dieser Einsicht ein berühmtes Cre-
do seines symbolischen Interaktionismus ab: „We are what we are through our
relationship to others.“ (Mead 1967, 379)
20 Martin W. Schnell
Symbolischer Interaktionismus
Hier ist nun eine wesentliche Bestimmung getroffen worden, die auch für
die Grounded Theory gilt: Bedeutungen entstehen, bestehen und verändern sich
in und aus Interaktionen! Die Stabilität von Bedeutungen erklärt Mead durch die
Logik des Symbolischen und leistet damit auch einen Beitrag zur philosophi-
schen Debatte um den Symbolbegriff.
Beim Kaufladenspiel spricht das Kind sich als Kunde an und antwortet (oft in
anderer Stimmlage) als Verkäufer. Sprechende und antwortende Identität ge-
hen einen Dialog mit wechselnden Anreizen ein. Im Play lernt das Kind, sich
aus der Sicht Anderer zu verstehen.
Im Wettkampf (game) lernt der Jugendliche nun, in die Welt des Erwachsenen
einzutreten. Während im Play ein weitgehend kreativer Umgang mit den Reakti-
onen Anderer möglich ist, tritt im Game der Regelcharakter der Interaktion in
den Mittelpunkt. Es handelt sich hier um den „Übergang von der spielerischen
Übernahme … zur organisierten Rolle.“(194)
Beim Baseball antizipiert der Werfer die Reaktion des Fängers und die Reak-
tionen der Mitspieler, die von seinem Wurf betroffen sein werden, so dass
diese Antizipation die Wurfhandlung des Werfers von vornherein organisiert
und kontrolliert.
Eine erwachsene Identität hat, wer sich selbst an den Reaktionen Anderer auf die
eigenen Handlungen orientiert! Sich am Anderen zu orientieren bedeutet: sich an
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jemand Anderes (Du) ausrichten. Der Andere ist dann ein konkreter Anderer (S.
Benhabib). Oder: sich an irgend jemand Anderes (Er, Sie, Es) auszurichten. Der
Andere ist dann ein verallgemeinerter Anderer (generalized other). Sich am ver-
allgemeinerten Anderen zu orientieren heißt, sich an Haltungen auszurichten,
durch die der Andere sich wie jedermann verhält. „Die organisierte Gemein-
schaft oder gesellschaftliche Gruppe, die dem Einzelnen seine einheitliche Iden-
tität gibt, kann der ‚verallgemeinerte Andere‘ genannt werden.“(196) Man denke
an das Autofahren: wir erwarten, dass sich jeder individuelle Autofahrer an der
Kreuzung verhält wie sich jedermann verhalten sollte.
„In der Form des verallgemeinerten Anderen … übt die Gemeinschaft die
Kontrolle über das Verhalten einzelner Mitglieder aus.“(198) Daraus leitet sich
ein Verständnis gesellschaftlicher Normen und Institutionen ab. „Die Institution
ist eine gemeinsame Reaktion seitens aller Mitglieder der Gemeinschaft auf eine
bestimmte Situation.“(308)
Der Nachruhm und die Wirkungsgeschichte Meads ist wesentlich zwei Personen
zu verdanken: Charles Morris und Herbert Blumer. Morris edierte 1934 Meads
berühmte Vorlesungen Mind, Self and Society, die 1968 in deutscher Sprache
missverständlich und geisteswissenschaftlich gefärbt unter dem Titel „Geist,
Identität und Gesellschaft“ erschienen sind.
Blumer prägte den Begriff des symbolischen Interaktionismus und bahnte
dem Ansatz von Mead einen Weg von der Philosophie zur Forschung. „George
Herbert Mead … (hat) mehr als alle anderen die Grundlagen des symbolischen-
interaktionistischen Ansatzes gelegt.“(Blumer 2013, 63). Blumer versteht Meads
24 Martin W. Schnell
Die auf Anselm Strauss zurück gehende Grounded Theory gründet auf folgen-
den, durch Herbert Blumer beeinflussten wissenschaftstheoretischen Grund-
annahmen:
Anselm Strauss definiert die „Grounded Theory“ als einen „Stil …., nach dem
man Daten qualitativ analysiert und (der) auf eine Reihe von charakteristischen
Merkmalen hinweist: Hierzu gehören das Theoretical Sampling …. das kontinu-
ierliche Vergleichen und die Anwendung eines Kodierparadigmas, um die Ent-
wicklung und Verdichtung von Konzepten sicherzustellen.“(Strauss 1978, 29f)
Diesen Hinweisen soll stichwortartig nachgegangen werden. Damit keine Dop-
pelungen und Wiederholungen auftreten, sei zusätzlich hingewiesen auf das
Kapitel „Was ist Grounded Theory?“ im vorliegenden Buch und auf Jörg
Strübings vorzügliche Darstellung (Strübing 2008).
Das Ziel einer Grounded Theory ist, um mit Udo Kelle zu sprechen, eine
empirisch begründete Theorie. Unter dem Wort Theorie wird dabei ein aus einer
menschlichen Interaktionspraxis zugängliches Bedeutungsuniversum verstanden.
Dieses Bedeutungsuniversum wird in seiner Tiefe erschlossen. Es ist nicht reprä-
sentativ, sondern perspektivisch ausgerichtet.
Eine Antwort auf die Forschungsfrage, „wie Patienten mit sog. Migrations-
hintergrund einen Aufenthalt in einem deutschen Krankenhaus erleben und
gestalten?“, ergibt eine möglichst erschöpfende Auskunft über die Situation
bestimmter Patienten in einem bestimmten Setting zu einer bestimmten Zeit
und gesellschaftlichen Situation.
Unterscheidung, die an anderer Stelle näher untersucht wird, dient dazu, inner-
halb der Daten eine Schlüssel- oder Kernkategorie zu isolieren und zu identifi-
zieren. Diese Kategorie bezeichnet das zentrale Phänomen, um das es in einem
Forschungsprojekt geht. Eine Schlüsselkategorie muss dabei mindestens folgen-
de Kriterien erfüllen:
a. Sie muss häufig im Datenmaterial als in-vivo-code oder als Variation vor-
kommen,
b. sie muss sich zu den meisten anderen begrifflichen Bestimmungen in Be-
ziehung setzen lassen,
c. sie muss die Begrifflichkeit sein, auf die alle wichtigen Begrifflichkeiten
verweisen (vgl.: Strauss 1998, 67f).
Kodierparadigma
Für eine methodisch sichere Durchführung des Kodierens, besonders des axialen
Kodierens, schlägt Strauss vor, das sog. Kodierparadigma zu verwenden. Dieses
Paradigma (siehe hier Seite 43), das ebenfalls an anderer Stelle ausführlicher
dargestellt wird, zeigt, welchen Ursachen, Kontexten und Bedingungen ein zent-
rales Phänomen unterliegt und auch, welche Konsequenzen und Strategien für
Akteure jeweils aus einer solchen Konstellation folgen (vgl.: Strauss 1998, 56f).
Das Kodierparadigma ist dabei, wie Strauss sagt, ein Vorschlag bzw. eine „prag-
matische Heuristik“(Strübing 2008, 72). Mit ihm ist zu arbeiten wie mit einem
Werkzeugkasten. Es ist variabel und auch veränderbar. Es ist somit möglich, das
Paradigma zu variieren. Gerade in der Analyse der Gesundheitsversorgung in
totalen Institutionen zeigt sich, dass der Kontext und die Bedingungen, denen ein
zentrales Phänomen unterliegt, zusammen fallen können (vgl.: Schüßler 2013).
Zusammenfassend kann gesagt werden: Das Kodierparadigma ist die Einlö-
sung der Idee der symbolischen Interaktion für den Gebrauch innerhalb einer
28 Martin W. Schnell
empirischen Forschung. Das Ziel ist eine empirisch begründete Theorie, deren
Bedeutungen in Interaktionen entstehen und sich auch dort verändern.
Das Kodierparadigma ist zudem Ausdruck des Pragmatismus, da es dazu
dient, Konzepte und Kategorien in einem sachnahen und „kreativen Prozeß
durch Zutun der Forschenden“(Strübing 2008, 57) zu erzeugen. Erkenntnis-
theoretisch kann daher mit Adorno formuliert werden: „Was in (den Sachen)
selbst wartet, bedarf des Eingriffs, um zu sprechen.“(Adorno 1980, 39) Diese
Sichtweise führte in der Geschichte der Grounded Theory zu einer quasi philo-
sophischen Kontroverse, die durch die Formel Interpretation vs. Emergenz ge-
kennzeichnet werden kann.
Unter dem Label der Grounded Theory rubrizieren in erster Linie gehaltvolle
und lehrreiche Studien und Erkenntnisse über das Leben in Institutionen, wie
man sie sonst nur von Ervin Goffman kennt. Von den Betreibern der Grounded
Theory kennen wir Untersuchungen über die Arbeitsabläufe in Krankenhäusern,
über das Dasein von Patienten mit chronischen Krankheiten und über den gesell-
schaftlichen Umgang mit Sterben und Tod (vgl.: Glaser/Strauss 1965). Entschei-
dende Unterschiede innerhalb der Untersuchungen resultieren aus unterschiedli-
chen Auffassungen über die adäquate Gestalt einer Grounded Theory, wie sie
zwischen Strauss, Glaser und Corbin entstanden sind. Dabei kommt in der Tat
dem Problem der Emergenz eine entscheidende – und zwar erkenntnistheoretisch
entscheidende – Bedeutung zu.
Wissenschaft und Forschung sind in ein Berufsumfeld, in politische, finan-
zielle und rechtliche Rahmenbedingungen eingebunden. Neben diesen externen
Faktoren, die auch zur Charakterisierung anderer kultureller Praktiken geeignet
sind, kommt internen Faktoren eine zentrale Funktion zu. Unter ihnen ist wiede-
rum die Frage nach Wahrheit und Methode von besonderer Relevanz. Methodi-
sches Vorgehen ist in der Wissenschaft unumgänglich. Fraglich ist jedoch, ob die
Durchführung einer Methode allein zu empirisch gehaltvoller Wahrheit führt
oder ob es dazu mehr bedarf. Letztere Auffassung wird von den Vertretern der
Emergenz geteilt. Als Emergenz bezeichnet man das Auftreten neuer Qualitäten,
das sich nicht aus der Summe vorhandener Eigenschaften oder der Handhabung
von Methoden und Techniken allein erklären lässt. Jene Qualitäten treten viel-
mehr spontan im Sinne einer Selbstorganisation auf (Krohn/Küppers 1992).
Barney Glaser ist ein Vertreter eines Emergenzkonzepts. Anselm Strauss
und Juliet Corbin sind Anhänger des interpretativen Paradigmas. Glaser geht
davon aus, dass eine Theorie ungezwungen aus vorhandenen Daten hervorgehe.
Die Grounded Theory im Licht der Wissenschaftstheorie 29
2. Grenze: Daten ohne Text? Forschung im Sinne der Grounded Theory zielt, wie
jede Forschung, auf die Erfassung von Daten. Nicht jede Information ist dabei
ein Datum, denn unter einem Datum wird verstanden: etwas, dass von Personen
innerhalb sozialer Interaktionen selbst erlebt worden ist und das daraufhin von
diesen als Text (erzählt, geschrieben, …) gefasst wird und damit vom Forscher
als Text erfasst werden kann. Eine weitere Grenze der Grounded Theory besteht
darin, dass auch Nichtselbsterlebtes, Nichtgesagtes und nicht als Text Vorlie-
gendes ebenfalls wichtig sein kann. Gerade Prozesse in totalen Institutionen wie
der Forensik generieren Informationen, die als Daten relevant sein können (vgl.:
Haynert/Schnell 2009). Ihre Erfassung erfordert offensichtlich eine methodische
Erweiterung der klassischen, auf Strauss zurück gehenden Grounded Theory.
Die Grounded Theory im Licht der Wissenschaftstheorie 31
Wenn Forschung über die Auswertung von Erfahrungen, die Personen in Interak-
tionen gemacht haben, hinaus Daten aus dem gewinnen möchte, was Interakti-
onszusammenhänge strukturiert und damit beeinflusst, was aber nicht von den
involvierten Personen bewusst er- und durchlebt wird, dann muss Forschung eine
methodische Erweiterung der Grounded Theory anstreben. Eine solche Erweite-
rung ist das Anliegen der Reflexiven Grounded Theory, die von einer Arbeits-
gruppe um Franz Breuer entworfen worden ist. Sie vereint in methodologischer
Hinsicht die Methode der Grounded Theory mit einem ethnographischen Zugang
und einer ausdrücklichen Selbstreflexivität des Forschers, der aufgrund der
ethnologischen Erweiterung der Grounded Theory nun selbst in das interaktive
Untersuchungsfeld eintritt und somit in persona auch zum Untersuchungsgegen-
stand wird (Breuer 2010).
Die Reflexive Grounded Theory erhebt den Anspruch, den engen Gegen-
standsbezug und interaktiven Kontakt zum Forschungsfeld durch eine Integrati-
on ethnographischer Methodiken vertiefen zu können (ebd., 23). Sie versteht sich
insofern als „Erweiterung“(40) der klassischen Grounded Theory. Die Erweite-
rung besteht konkret darin, dass nun auch Daten, die aus Beobachtungen erwach-
sen und die über das Erleben von Probanden hinausreichen, ausgewertet werden
können.
Die Reflexive Grounded Theory betrachtet die Verwendung des Kodier-
paradigmas von vorn herein als einen offenen Prozess. Die Annahme, dass ein
zentrales Phänomen von fünf und nicht mehr oder weniger verketteten Kompo-
nenten konturiert wird, erscheint dabei als ein pragmatischer Arbeitsvorschlag –
so, wie es Strauss ursprünglich auch selbst eingeschätzt hatte (86ff). Die Struktur
des Kodierparadigmas, die Verbindungen und Anhängigkeiten zwischen den
Komponenten werden dadurch variabel gehandhabt.
Die besondere Betonung der Selbstreflexivität des Forschers führt die Me-
thode in die Richtung einer Ethnographie des Selbst. Die Subjektivität des For-
schers wird unvermeidlich zum Untersuchungsgegenstand, weil der Forscher
durch teilnehmende Beobachtungen in das zu untersuchende Feld eintritt, es
verändert und selbst auch verändert wird. (Eine an dieser Stelle eigentlich not-
wendige, ausführliche wissenschaftstheoretische, -historische und methodische
Darstellung der Ethnographie findet sich in Band 2 der Buchreihe „Palliative
Care und Forschung“ unter dem Titel: Martin W. Schnell, Werner Schneider,
Harald Kolbe: Sterbewelten. Eine Ethnographie. Wiesbaden 2014.)
32 Martin W. Schnell
Teilnehmende Objektivierung
Die Reflexive Grounded Theory kann als ein Versuch verstanden werden, Sub-
jektivismus und Objektivismus zusammenzuhalten. Das Ziel dessen ist es, eine
möglichst breite Datenbasis zu erlangen: Erlebtes, Erzähltes, Beobachtetes und
auch Strukturen, die Erfahrungen ermöglichen, selbst aber nicht direkt erfahren
werden, sollen der Forschung zugänglich sein. In diesem Zusammenhang müsste
das Anliegen bzw. das Konzept der Reflexivität der Grounded Theory und natür-
lich das der Reflexiven Grounded Theory mit dem Modell der teilnehmenden
Objektivierung (Participant Objektivation) diskutiert werden. Dieser, in der Me-
thodenliteratur noch nicht erfolgte Schritt kann zu einer weiteren Aufklärung
über die Güte einer Grounded Theory beitragen.
„Unter teilnehmender Objektivierung“ versteht Pierre Bourdieu „die Objek-
tivierung des Subjekts der Objektivierung.“(Bourdieu 2004, 172) Der Gegen-
stand der teilnehmenden Objektivierung sind dabei „soziale Bedingungen, die …
den Akt der Objektivierung ermöglichen.“ Wenn der Forscher in den Gegenstand
eingreift, muss er selbst auch objektiviert werden durch „eine Objektivierung der
subjektiven Beziehung zum Objekt“(Bourdieu 2010, 420). Gegenstände dieser
Objektivierung sind die Sozialwelt, der der Forscher entstammt, die Stellung des
Forschers und sein Werdegang, die Zusammenhänge zwischen den gewählten
Forschungsthemen und der sozialer Position. Würde ein solcher Schritt der Ref-
lexivität nicht unternommen und auch nicht annähernd, dann bestünde die Güte
von Forschung lediglich in der Hauptsache in der subjektiven Nachvollziehbar-
keit ihrer Ergebnisse.
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Was ist „Grounded Theory“?
Janina Schmidt/Christine Dunger/Christian Schulz
Einleitung
Dieses Kapitel soll helfen, ein Verständnis davon zu entwickeln, was mit dem
Begriff Grounded Theory im Sinne einer Forschungsmethodologie und – metho-
de gemeint ist. Dazu ist neben einer grundsätzlichen Definition eine Darstellung
der Grundsätze, Prozesslogik und einzelnen Verfahrensschritte notwendig. Im
Anschluss daran werden mögliche Gegenstandsbereiche beschrieben. Zuletzt
sollen allgemeine forschungspraktische Aspekte bei der Forschungsplanung und
Durchführung erläutert, sowie die Wirkungsgeschichte des Verfahrens aufgezeigt
werden. Dazu gehören auch deren Grenzen und wissenschaftliche Anerkennung
in der scientific community.
Die Grounded Theory kann als die klassische, Theorien generierende qualitative
Forschungsmethode bezeichnet werden (Strübing 2008). Klassisch, weil sie sich
seit ihrer Entwicklung bis heute als eine „konzeptuell verdichtete, metho-
dologisch begründete und in sich konsistente Sammlung von Vorschlägen“ dar-
stellt, die sich für die Erzeugung von Theorien als geeignet erwiesen hat (ebd.).
Aus dem ersten Entwurf des Verfahrens hat sich zwischenzeitlich „eine allge-
meine Methodologie qualitativer Sozialforschung“ (Tiefel 2005) entwickelt, die
„in den letzten vier Jahrzehnten zu einem der am weitesten verbreiteten Verfah-
ren der qualitativ-interpretativen Sozialforschung geworden ist“ (Strübing 2008).
Erfunden wurde die Grounded Theoryin den 60er Jahren des 20. Jahr-
hunderts von den beiden Soziologen Barney Glaser, Columbia University und
Anselm Strauss, University of Chicago mit dem Ziel, eine Methodik zu schaffen,
die es ermöglicht, begründete Theorien über ein Phänomen, zum Beispiel
menschliches Verhalten in bestimmten Situation, direkt aus den Daten heraus zu
entwickeln. Strauss arbeitete an einer Studie über sterbende Patienten in kalifor-
nischen Krankenhäusern, fand jedoch keine bestehende Forschungsmethode, mit
der ihm dies in vorgestellter Art und Weise gelang. Ihn interessierte, ob und
wenn ja, inwiefern das Bewusstsein über einen nahenden Tod das Verhältnis und
M. W. Schnell et al. (Hrsg.), Palliative Care und Hospiz, Palliative Care und Forschung,
DOI 10.1007/978-3-658-07664-1_2, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
36 Janina Schmidt/Christine Dunger/Christian Schulz
1. Eine Grounded Theory geht von einer zeitlichen Parallelität und funktiona-
len Abhängigkeit der Prozesse der Datenerhebung, -analyse und Theoriebil-
dung aus und nicht von einer idealtypischen und von den situativen Um-
ständen des Forschungsvorhabens unabhängigen Sequentialität (Strauss
1991).
2. Eine Grounded Theory ist stets ein sich kontinuierlich entwickelnder For-
schungsprozess. Eine in empirischen Daten basierte Theorie wird von Be-
ginn an produziert und es ist zunächst kein Endpunkt bestimmbar (Strübing
2008).
3. Die Steuerung des Forschungsprozesses erfolgt aus sich selbst heraus, einer-
seits durch eine theoretische Stichprobenauswahl, andererseits durch Refle-
xion der einzelnen Schritte durch die Forschenden. Die Entscheidungskrite-
rien für die reflexive Prozesssteuerung liegt in den vorangegangenen Pro-
zessetappen (Strübing 2008).
38 Janina Schmidt/Christine Dunger/Christian Schulz
4. Bei der Entwicklung einer Grounded Theory stehen Forscher und For-
schungsgegenstand in einer kontinuierlichen Wechselbeziehung. Als Inter-
pret der Daten ist ein Forschender zwangsläufig immer Subjekt des For-
schungsprozesses (Breuer 2010; Charmaz 2007). „Wenn Forschung Arbeit
ist und Arbeit als dialektisches Wechselverhältnis zwischen Subjekt und Ob-
jekt aufgefasst wird, dann muss als Resultat des Prozesses, die erarbeitete
Theorie, immer auch ein subjektiv geprägtes Produkt sein“, so Strübing
(2008).
5. Eine Grounded Theory kann sehr viele Datenformen berücksichtigen. Anga-
ben über die zugrunde gelegte Literatur sowie das Analysevorgehen im For-
schungsprozess sind unverzichtbares Element der Verfahren.
Für Anselm Strauss gilt, dass Forschung keineswegs die Anwendung einer ferti-
gen Methode auf beliebige Gegenstände ist. Vielmehr ist davon auszugehen, dass
sich durchgeführte Grounded Theorys, die jeweils eine gegenstands- und
empiriebezogene Erklärung einer sozialen Welt liefern, in ihren Verfahrenswei-
sen voneinander unterscheiden. Das Krankenhaus, das Gefängnis, das Fußball-
stadion sind als Interaktionsfelder verschieden. Diese Verschiedenheit macht sich
in der Durchführung von Forschung deutlich bemerkbar!
Trotz möglicher Unterschiede gibt es auch wichtige Gemeinsamkeiten;
andernfalls könnte man nicht von der Grounded Theory als einer Methodologie
und Methode sprechen, sondern nur von einer Aneinanderreihung einzelner Ver-
fahren. Im Wesentlichen können nachfolgende sieben Gemeinsamkeiten ange-
führt werden:
Die Abbildung 1 zeigt, dass der Schritt der Datenerhebung und – analyse durch
ein besonderes Vorgehen gekennzeichnet ist. Es schließt die Gleichzeitigkeit der
Erhebung und Auswertung ein: ausgehend von ersten Ergebnissen werden über
die Methode des ständigen Vergleichens und die theoriegeleitete Stichproben-
auswahl immer mehr Aspekte des Phänomen mittels neuer, multipler empirischer
Daten beschrieben und so die Theorie entwickelt (Glaser und Strauss 2005).
Mruck spricht von einem „iterativ- zyklischen Prozessmodell“ (Mruck 2009).
Zu Beginn der Arbeit mit der Grounded Theory Methodologie steht die Ent-
scheidung, wie die ersten Daten erhoben werden sollen (beispielsweise in Form
von Interviews). Die Auswahl dieser ersten, kleinen Stichprobe (Initialsampling)
kann zufällig erfolgen (Strauss und Corbin 1996) oder auch anhand von zur
Verfügung stehenden Möglichkeiten bzw. praktischer Vorkenntnisse des For-
schenden. Wichtig ist zunächst der Eintritt ins Feld.
40 Janina Schmidt/Christine Dunger/Christian Schulz
Theoretisches Sampling
Kodieren
der Daten ein“ (Brüsemeister 2008). Geleitet werden sie durch drei Kodier-
phasen, die der regelgeleiteten Systematisierung des Datenmaterials dienen.
Offenes Kodieren
In der ersten Phase des Kodierens, dem offenen Kodieren, werden die Daten
„sehr genau – linebyline – beobachtet“ und „in einer Art brainstorming alle mög-
lichen Ideen als so genannte theoretische Konzepte festgehalten“ (ebd.). Es dient
dem Identifizieren der in den Daten vorkommenden Phänomene, die dann mitei-
nander verglichen und in ihrer Bedeutung und ihren Eigenschaften hinterfragt
werden, so dass sie verschiedenen Konzepten zugeordnet und mittels Kodes
benannt werden können. Die gewählten Kodes für die Konzepte bzw. Kategorien
können entweder direkt aus der Datenquelle übernommen werden, In- Vivo-
Kodes (Mruck 2009) oder durch frei gewählte Namen bezeichnet werden.
Ähnliche Konzepte können wiederum durch ein „Konzept höherer Ordnung“
(Corbin 1996), d.h. eine Kategorie bezeichnet werden. Sie stellen die „Grund-
pfeiler der sich entwickelnden Theorie“ dar (Mruck 2009). Jede Kategorie wird
mittels Vergleichen mit ähnlichen oder kontrastierenden Phänomenen hinsicht-
lich ihrer Eigenschaften oder auch Charakteristika betrachtet, man spricht von
Dimensionalisieren der Kategorie. Strauss und Corbin bezeichnen die Dimensio-
nen als „Anordnung von Eigenschaften auf einem Kontinuum“ (Strübing 2008)
und das Dimensionalisieren als „Aufbrechen einer Eigenschaft in ihre Dimensio-
nen“ (Strübing 2008).
Es geht in diesem ersten Analyseschritt also nicht darum, das in den Daten
vordergründig Enthaltene zu beschreiben/kodieren, sondern darum, den zugrun-
deliegenden empirischen Gehalt des Phänomens zu erkennen. Als Hilfestellung
dient in diesem Zusammenhang das „Konzept- Indikator- Modell“ (Mruck
2009). Empirische Vorfälle verweisen demzufolge als Indikatoren auf ein oder
mehrere theoretische Konzepte. Ziel ist, eine analytische Vielfalt zu erzeugen
und Richtungen für das theoretische Sampling zu erhalten. Die Herkunft der
Grounded Theory aus der Philosophie des symbolischen Interaktionismus (vgl.
das Kap. „Die Grounded Theory im Licht der Wissenschaftstheorie“) macht sich
bemerkbar: die Bedeutung von Daten ist nicht offenbar, sondern in dem Sinne zu
interpretieren, da sich eine Tiefendimension haben, die es erst zu ermitteln gilt.
In der durch Glaser vertretenen und von Strauss abweichenden Richtung der
Grounded Theory Methodologie fällt der Schritt des Dimensionalisierens fort.
Der Forschende richtet hierfür direkt generative Fragen an die Daten (Mruck
2009): Um was geht es? Wer ist beteiligt? Wann? Wie lange? Welche Aspekte
werden erwähnt? Welche nicht?
42 Janina Schmidt/Christine Dunger/Christian Schulz
Axiales Kodieren
In der zweiten Kodierphase, dem axialen Kodieren, erfolgt die gezielte Analyse
bestimmter Schlüsselkategorien (Strauss und Corbin 1996). Das Verhältnis einer
Kategorie zu einer anderen Kategorie und zu Subkategorien wird anhand des
Datenmaterials untersucht. Der Forscher entwickelt sukzessive Zusammen-
hangsmodelle (ebd., 79). Dabei können sowohl bereits kodierte Texte, aber auch
neue Texte systematisch daraufhin betrachtet und kodiert werden (ebd.).
Die mittels des offenen Kodierens herausgearbeiteten Eigenschaften und
Dimensionen bilden dabei die Grundlage. Jedoch nicht alle Phänomene, die im
ersten Arbeitsschritt, dem offenen Kodieren aufgespürt wurden, werden „syste-
matisch vergleichend auf ihre Ursachen, Umstände und Konsequenzen befragt“
(Strübing 2008), sondern der Forschende trifft die Entscheidung, bei welchen
Phänomenen er dies durchführt. Er ordnet also in diesem Zug den Phänomenen
unterschiedliche Relevanz für den Untersuchungsgegenstand zu und bringt sich
somit selbst als Person mit Erfahrungen und Prägungen ein.
Abb. 2 stellt das Kodierparadigma nach Strauss dar. „Es ist ein Vorschlag
zur Anleitung und Systematisierung gerade des axialen Kodierens, bei dem um
die Achse einer Kategorie bzw. eines Konzeptes herum kodiert werden soll“
(Strübing 2008). Mittels dieses paradigmatischen Modells wird das zentrale
Phänomen, um das sich die erhobenen Daten drehen, ausdifferenziert. Gleichzei-
tig dient es als Rahmen für eine methodisch sichere und nachvollziehbare Durch-
führung der Datenanalyse mit dem Ziel, neue Konzepte zu entwickeln und zu
verdichten. Entsprechend des Ziels der Arbeit mit der Grounded Theory Metho-
dologie, die Bedeutung der Dinge für Akteure innerhalb von Interaktionen zu
verstehen und zu begreifen, ermöglicht das Kodierpardigma dem Forschenden
auf strukturierte Art und Weise die Daten genau daraufhin zu befragen. Damit
stellt es vor allem eine Systematisierung generativer Fragen dar.
Die Ausdifferenzierung des zentralen Phänomens erfolgt über Subkatego-
reien. Zu diesen gehören
• die Ursachen, ohne die es nicht oder zumindest nur abgeschwächt vorhan-
den wäre,
• der Kontext, in den es eingebettet ist und der Eigenschaften und Bedingun-
gen des Phänomens umfasst, wie einen Rahmen bildet für
• die Strategien, mit denen Akteure im Forschungsfeld dem Phänomen be-
gegnen.
• Diese Strategien unterliegen wiederum gewissen Vorbedingungen sowie
fördernden oder hemmenden Einflüssen, die im Kodierparadigma als inter-
venierende Bedingungen bezeichnet werden. Zudem haben die Strategien
Was ist „Grounded Theory“? 43
Selektives Kodieren
In der Phase des selektiven Kodierens geht es darum, das zentrale Phänomen
herauszuarbeiten (Strauss und Corbin 1996). Zentraler Arbeitsschritt des selekti-
ven Kodierens ist das Auswählen der Kernkategorie, um die herum sich alle
anderen Kategorien anordnen. „Kernkategorien sind solche, die übrigbleiben,
wenn man diejenigen Kategorien wegstreicht, die für das untersuchte Phänomen
nicht wesentlich sind. Viele Kategorien beziehen sich nur auf Randbereiche des
untersuchten Phänomens“ (Strauss 1984). Sowohl Glaser, als auch Strauss und
Corbin plädieren dafür, sich beim selektiven Kodieren auf ein zentrales Phäno-
men zu festzulegen, auch wenn unter Umständen mehrere in Frage kommen
(Strübing 2008).
Hierzu erfolgt in der Herangehensweise nach Strauss erneut der Einsatz des
Kodierparadigmas. Ausgehend von der zentralen Kategorie muss sich eine in
sich stimmige Geschichte erzählen lassen, die alle Kategorien und ihre Bezie-
hungen untereinander berücksichtigt, es gilt also den Versuch zu unternehmen,
„die entwickelte Theorie in einem Gesamtnetzwerk von Kategorien, Subkatego-
rien und Relationen darzustellen.“ (Mruck 2009)
Auf diese Art und Weise erfolgt eine stetige Überprüfung bzw. Validierung
der bisher vorgenommenen Kodierungen und Kategorisierungen, so dass gege-
benenfalls Änderungen vorgenommen werden können oder eine weitere, gezielte
Datenerhebung erfolgen kann, um Lücken in der Grounded Theory über den
Forschungsgegenstand zu füllen und Kategorien eine erhöhte Dichte und Spezifi-
tät zu verleihen.
Das beschriebene Kodieren, „der Prozess der Datenanalyse“ (Corbin 1996), stellt
ein Aufbrechen der Daten dar, indem empirische Ereignisse miteinander vergli-
chen, Konzepten zugeordnet und so auf neue Art und Weise zusammengesetzt
werden, so dass am Ende eine gegenstandsverankerte Theorie entstehen kann.
Zwei analytische Verfahren kommen in allen drei Kodierphasen zur Geltung,
verändern sich aber in ihrer Art je nach Kodierschritt: Das permanente Verglei-
chen und das Stellen von Fragen. „Beide Verfahren helfen dabei, den Konzepten
in der Grounded Theory ihre Präzision und Spezifität zu verleihen“ (Corbin
1996), Glaser und Strauss sehen „in der Arbeit des kontinuierlichen Vergleichens
die Quelle gegenstandsbezogener theoretischer Konzepte“ (Strübing 2008).
Form von Interviews oder Beobachtungen genutzt, möglich ist die Erarbeitung
einer Grounded Theory aber auch aus anderen Quellen. Immer sind es Daten, die
eine „komplexe soziale Wirklichkeit“ (Corbin 1996) abbilden, die nicht mit
quantitativen Forschungsmethoden zu erfassen ist und bei denen es darum geht,
die dahinterstehenden Handlungs- und Sinnzusammenhänge zu ergründen.
Auch die Entscheidung für eine Datenform oder -erhebungsmethode wird
anhand der sich entwickelnden Theorie festgelegt. Somit ist es durchaus mög-
lich, dass die ersten Daten in Form von Feldbeobachtungen erhoben werden, die
folgenden in Form von Interviews oder Blogeinträgen in sozialen Medien.
Theoretische Sättigung
Die theoretische Sättigung stellt den (vorläufigen) Endpunkt einer Konzept- und
Theorieentwicklung dar. Sie ist erreicht, wenn neue Daten keine neuen Einsich-
ten mehr ermöglichen und die bereits erhobenen Fälle alle Varianten des For-
schungsgegenstandes und seiner Ausprägungen erklären. Beendet werden kön-
nen das Sampling und damit die Datenerhebung, wenn für alle Kategorien diese
theoretische Sättigung erreicht ist.
Die Entscheidung, dass dieser Punkt erreicht ist, wird vom Forschenden getrof-
fen, so dass es an diesem Punkt elementar wichtig ist, die Entscheidung zu expli-
zieren, ausführlich zu dokumentieren und gegebenenfalls in einem Forschungs-
kolloquium oder ähnlichem vorzustellen und zu reflektieren.
Forschen im Sinne der Grounded Theory kann als kreativer Prozess angesehen
werden (Strauss und Corbin 1996). Während des gesamten Kodiervorgangs müs-
sen schriftliche Analyseprotokolle in Form von Memos verfasst werden, um
theorierelevante Entscheidungen nachvollziehbar zu machen und zu dokumentie-
ren. Theoretisches Vorwissen wird dadurch expliziert und empirisch fundierte
Ergebnisse werden kontinuierlich im Hinblick auf eine entstehende Theorie
reflektiert. Darüber hinaus bilden Memos und Diagramme die Grundlage für die
spätere wissenschaftliche Veröffentlichung der erarbeiteten Theorie und helfen
dem Forschenden dabei, Lücken oder Ungereimtheiten aufzudecken.
Es gibt drei verschiedene Arten von Memos:
Tabelle 1
Theoretische Sensibilität
Während der Arbeit mit der Grounded Theory Methodologie bringt sich der
Forscher als Person mit Erfahrungen, individuellen Prägungen und Entscheidun-
gen ein, so dass eine Wechselbeziehung zwischen Forschungsgegenstand und
Forschendem entsteht und unterschiedliche Interpretationen der Daten bei unter-
schiedlichen Forschern möglich bzw. wahrscheinlich sind.
Der Forscher misst empirischen Vorfällen Bedeutung zu, er nutzt seine
Kreativität zur Erschließung und Benennung der Kategorien und entscheidet,
welche Fragen er an die Daten richtet. Die Datenauswertung hängt maßgeblich
von seiner Fähigkeit ab, „zu erkennen, was in den Daten wichtig ist, und dem
einen Sinn zu geben“ (Corbin 1996), erst dadurch wird es möglich, eine konzep-
tuell dichte Grounded Theory zu entwickeln. Bezeichnet wird diese Fähigkeit als
Theoretische Sensibilität.
Durch ihre Studie „Interaktion mit Sterbenden“ haben Glaser und Strauss in den
60er Jahren nicht nur ein Manifest für die qualitative Sozialforschung verfasst
(Brüsemeister 2008; Strübing 2008), sondern auch ein in Richtung Palliative
Care gehendes Forschungsinteresse deutlich benannt. Forschungen mit der
Grounded Theory zielen immer auf soziale Interaktionen, im Palliative Care und
Hospizbereich können dies Interaktionen zwischen
Hintergrund der Studie „Wie erleben und gestalten Intensivmediziner den Pro-
zess eines Behandlungsabbruchs bei nicht einwilligungsfähigen Patienten?“ sind
die zunehmende Anzahl von Therapieabbrüchen (Jox 2011) und sterbenden Pati-
enten auf Intensivstationen (O. Karg 2008 ). Intensivmediziner sind entsprechend
häufig mit solchen Situationen konfrontiert (Ralf J. Jox 2010) und empfinden
Entscheidungen für oder gegen einen Behandlungsabbruch als problematisch.
Studien zeigen, dass sie solche Entscheidungen sogar versuchen zu vermeiden
oder sich weigern, sie zu treffen (Erbguth 2012), obgleich die gesetzlichen
regelung eindeutig sind.
Grundsätzlich beruht jede medizinische Behandlungsentscheidung auf zwei
Säulen: der Indikation und dem Patientenwillen (Ralph Charbonnier 2008 ). Die
Stellung oder Verneinung der Indikation obliegt dem Arzt, der diesbezüglich eine
Entscheidung treffen und sie vor dem Patienten bzw. seinen Angehörigen vertre-
ten muss (Bundesärztekammer 2011). In diese Entscheidung fließt nicht nur der
medizinische Aspekt ein, sprich die wissenschaftlichen Erkenntnisse bezüglich
dieser Behandlung, sondern auch individuelle Faktoren des konkreten Falls und
des jeweiligen Arztes. Hierzu gehören zum Beispiel Komorbiditäten, Alter, Um-
feld des Patienten, kulturelle Prägung und berufliche Erfahrung des Mediziners
(Ralph Charbonnier 2008 ). Dem Gesetz nach ist aber auch der Wille des Patien-
ten bindend für den Arzt (Schnell und Schulz 2012). Dabei ist nicht relevant, ob
diesem durch Tun oder durch Unterlassen Folge geleistet wird.
Besonderheit in dieser Studie ist, dass sie nur Patienten berücksichtigt, die
nicht einwilligungsfähig sind. Sie können folglich ihren Willen bezüglich einer
Behandlungsentscheidung nicht äußern. Stellvertretend für die direkte Patien-
50 Janina Schmidt/Christine Dunger/Christian Schulz
Kitchen Stories
Beispiel:
Ärztin: (...) „wenn möglich, halt immer wieder das Gespräch suchen und,
und erklären, um (.) um halt da die Angehörigen vom, von dem Vorgehen zu
überzeugen. (.)“
Meist entsteht ein Forschungsprojekt auf der Basis persönlicher Interessen, was
meist bedeutet, dass Vorkenntnisse und Annahmen vorliegen oder sich bereits
eine Meinung darüber gebildet wurde. Es ist daher einerseits sehr wichtig, dass
die eigene Meinung und Vorannahmen reflektiert werden und zum anderen, das
Was ist „Grounded Theory“? 53
Forschungsethik
Validierung
Wirkungsgeschichte
Weltweit ist die Grounded Theory Methodologie heute eine „der verbreitetsten
Vorgehensweisen der qualitativen Sozialforschung“(Corbin 1996). Seit den
1980er Jahren hat sie sich in zahlreichen wissenschaftlichen und praktischen
Disziplinen als eine wichtige Forschungsmethode etabliert, so z.B. in der Pflege-
und Gesundheitsforschung (vgl. Schaeffer und Müller-Mundt 2002; Geyer
2003), in den Wirtschaftswissenschaften (vgl. Burchill und Fine 2003), den Er-
ziehungswissenschaften (vgl. Krüger 2010) sowie den vergleichenden Politik-
und Sozialwissenschaften (Pickel et al. 2009).
Dieser Erfolg gelang vor allem durch das neue Verständnis für und die Ent-
wicklung von empirische(r) Sozialforschung anhand der bereits beschriebenen
Grundprinzipien und Prozesslogiken (Mey und Mruck 2007). Diese Grundprin-
zipien, Prozesslogiken und Verfahrensschritte weisen „ein hohes Maß an Allge-
Was ist „Grounded Theory“? 55
meinheit auf und finden in fast jeder Art von qualitativ-interpretativer Forschung
in der ein oder anderen Weise Berücksichtigung“ (Strübing 2008). Zugleich war
ein gestiegenes Interesse in Bezug auf Interaktions- und Kommunikationsprozes-
se seit Ende der 1980er Jahre dafür ausschlaggebend (Schaeffer 2012). Situati-
onsspezifische Theorien mittlerer Reichweite wurden entwickelt, z.B. „Erleben
selbstverletzenden Verhaltens“ (Ramluggun 2013) oder „Festgenagelt sein. Der
Prozess des Bettlägerigwerdens“ (Zegelin 2005), die für die Pflegewissenschaft
und Pflegepraxis wichtige Phänomene und Prozesse beschreiben (ebd.). Auch für
Palliative Care und Hospizarbeit kann die Grounded Theory ein wichtiges Ver-
fahren darstellen.
Die Rede von der einen Grounded Theory ist wie bereits erläutert irreführend.
Drei Varianten des Verfahrens werden aktuell in der gesundheits- und pflegewis-
senschaftlichen Forschung angewendet (vgl. Charmaz 2007), eine pragmatisch
inspirierte von Anselm Strauss, „die er teilweise allein, teilweise gemeinsam mit
Juliet Corbin in ihren praktischen Dimensionen näher ausgearbeitet hat“
(Strübing 2008). Eine empiristische Variante von Barney Glaser (ebd.), und drit-
tens eine selbstreflexive Form, bei der „der reflexive Umgang mit der Subjektivi-
tät des/der Forschenden zu einer Erkenntnisquelle eigener Art ausgearbeitet
wird“ (Breuer 2010).
All diesen Verfahren sind die beschriebenen Grundsätze, Prozesslogiken
und Verfahrensschritte gemeinsam. Zuletzt sollen jedoch noch einige grundle-
gende Unterschiede aufgezeigt werden. Besondere Aufmerksamkeit erhält dabei
die Reflexive Grounded Theory nach Breuer.
Strauss und Corbin hingegen empfehlen einen regen Umgang mit vorhan-
dener Literatur, halten ihn sogar für nötig und förderlich, da er die Theoretische
Sensibilität des Forschenden verbessern, Ideen für das Theoretische Sampling
liefern und über Vergleichen als Gültigkeitsnachweis dienen kann. Sie plädieren
für ein Wechselspiel zwischen induktivem und deduktivem Denken im For-
schungsprozess, also zwischen Aufstellen von Hypothesen und Überprüfen die-
ser.
Der deutlichste Unterschied zwischen den beiden Analyseverfahren zeigt
sich im axialen Kodieren. Während Strauss das Kodierparadigma in den Mittel-
punkt der Analyse stellt, erweitert Glaser diese Betrachtungsweise des Datenma-
terials um weitere theoretische Rahmenkonzepte. Diese Codier-Familien (Glaser
1978) beinhalten die Fragen des Kodierparadigmas (C-Familie), beziehen jedoch
neun weitere Familien mit ein (Prozess, Grad, Typen, Strategie, Interaktion,
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Was ist „Grounded Theory“? 59
1 Das gilt teilweise auch für Österreich und der Schweiz, wenngleich wir auf die einzelnen
Entwicklungen in diesem Beitrag nicht weiter eingehen können. Stattdessen möchten wir am
Beispiel der Geschichte der Hospizbewegung in Deutschland Impulse für eine weitere Ausei-
nandersetzung mit anderen Ländern setzen.
M. W. Schnell et al. (Hrsg.), Palliative Care und Hospiz, Palliative Care und Forschung,
DOI 10.1007/978-3-658-07664-1_3, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
62 Andreas Heller/Sabine Pleschberg
Zwei Frauen stehen an der Wiege eines menschenwürdigen Umgangs mit Ster-
benden und ihren Bezugspersonen: Die Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross hat
in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts das Tabuthema Sterben aufgegriffen,
indem sie sich sterbenden Menschen im Krankenhaus zuwandte, bzw. Studieren-
de ermunterte, dies zu tun (Kübler-Ross 1969). Die Bedürfnisse und emotional-
kognitiven Auseinandersetzungen von Menschen angesichts ihres nahen Todes
wurden interaktiv aufgenommen. In elementarer Weise, und dies erklärt sicher-
lich die weltweite Rezeption der Bücher von Elisabeth-Kübler-Ross, wurden
zentrale Einsichten formuliert: Die sogenannten „Austherapierten“ haben Be-
dürfnisse und Wünsche. Man kann mit ihnen reden und in Beziehung treten. Sie
stehen zwar am Ende des Lebens, sind aber nicht am Ende existenzieller
menschlicher Erfahrungen. Sterbende werden so zu den Lehrmeisterinnen derer,
die sie zu betreuen trachten.
Cicely Saunders, die Gründerin des St. Christopher’s Hospice in London
1967, belegt mit ihrem beruflichen Hintergrund als Ärztin, Krankenschwester
und Sozialarbeiterin eindrucksvoll einen multidimensionalen Blick auf Patien-
tInnen, auf ihr Befinden und auf ihre Befunde (Saunders 1984). Davon geprägt
war auch ihre prägende Arbeit im St. Christopher’s Hospice. Leitend blieb die
Einsicht, dass Teamarbeit ein konstituierendes Strukturelement einer umfassen-
den Sorge und Aufmerksamkeit für die Sterbenden und ihrer An- und Zugehöri-
gen bildet („unit of care“), weil allein durch eine interprofessionelle Perspekti-
vierung die Multidimensionalität menschlicher Existenz aufgenommen werden
kann. Entsprechend interdisziplinär ist auch die Forschung, die von Cicely Saun-
ders im Umfeld des Hospizes initiiert wurde: Sie revolutionierte die Schmerzthe-
rapie, indem sie die Zeitabstände zwischen den Morphingaben so weit reduzier-
te, so dass neben dem Schmerz auch die Angst vor dem Schmerz behandelt wer-
den konnte. Bis heute bestimmt das von ihr geprägte Signalwort vom „total pain“
(darin wird die Multidimensionalität des Phänomens Schmerz (bio-psychosozial
und spirituell aufgehoben) maßgeblich den Diskurs. Die systematische For-
schung um Schmerz und andere Symptome (Atemnot, Übelkeit, etc.) in Palliati-
64 Andreas Heller/Sabine Pleschberg
ve Care wurde mit der Schaffung eines Lehrstuhls, den Robert Twycross innehat-
te, begründet (Clark et al. 2005).
Ein weiterer Baustein für das umfassende hospizliche Versorgungskonzept à
la Saunders wurde durch die Trauerforschung von Colin Murray Parkes in das St.
Christopher’s Hospice eingebracht. Er kam aus der Psychiatrie und interessierte
sich für Stressforschung und Trauer. In einem Oral History Projekt, das die eng-
lische Hospizgeschichte rekonstruierte, erzählt er:
„Ich traf Cicely Saunders zu einer Zeit als sie im St. Joseph’s Hospiz arbei-
tete. Sie befasste sich damals mit der Schmerzlinderung, interessierte sich aber
auch für das umfassendere Feld der psychosozialen Betreuung sterbender Men-
schen. Dieses Thema interessierte mich auch im Hinblick auf meine Arbeit, denn
ich war sehr unzufrieden mit Ärzten und Pflegenden über die Art, wie sie mit den
großen Belastungen von Patienten und deren Familien umgegangen sind. Ich traf
mit ihr jemanden, der sehr interessiert nach den Möglichkeiten einer psychosozi-
alen Versorgung sterbender Menschen fragte, ohne dabei vorzugeben, über be-
sonderes Wissen zu verfügen. Darüber wollten wir alle mehr erfahren. Ich sagte
ihr gleich zu Beginn unserer Begegnung, dass ich ihr dabei gerne helfen würde,
wenn sie der Meinung sein sollte, dass meine Mitwirkung hilfreich sein könnte./I
met Cicely Saunders…. She was working at St Joseph´s Hospice at the time,
studying pain relief but also interested in the wider psychosocial aspects of car-
ing for the dying. This was a subject I was interested in, in my area, as I´ve al-
ready talked about my dissatification with medicine and with the way in which it
seemed to me that doctors and nurses were handling the major stresses that pa-
tients and families were going through. So when I met someone who, although
she didn´t pretend to any specialist knowledge, was very interested in psychoso-
cial care oft the dying, that was obviously something we wanted to know more
about. And I said, right from the start, that if I could be of any help to her I´d be
very pleased to do so.” (Clark et al. 2005, 32)
Der Terminus „Palliative“ wurde geprägt von dem kanadischen Onkologen
Balfour Mount, der die Bezeichnung „Palliative Care“ 1974 für einen Palliativ-
dienst im Royal Victoria Hospital in Montreal benutzte. Er etablierte diesen
Dienst bewusst nicht unter der Bezeichnung „Hospiz“, weil diese bei den franzö-
sischsprachigen Kollegen mit einem passiven Versorgungsmodell für Sterbende
assoziiert wurde, was nicht im Einklang mit der positiven Botschaft und dem
proaktiven Betreuungsmodell stand (NCHSPCS 1995). Nicht nur weil dieser
Begriff in der Folge von der WHO aufgenommen wurde, gilt Balfour Mount
weltweit als wichtiger Pionier (WHO 1990) von Palliative Care, sondern auch,
weil er stets die Notwendigkeit interdisziplinärer und multiprofessioneller Team-
arbeit in Praxis und Theorie, in Forschung und Lehre betonte.
Geschichte der Hospizbewegung in Deutschland 65
digungen über Leitbegriffe in den Fokus, die zentral um die Auslegungen von
Würde, Autonomie und von Fürsorge kreisen (Pfabigan, Pleschberger 2014).
Der Beginn der Hospizgeschichte in Deutschland lässt sich in den 1970er-
Jahren beobachten, also etwas weniger als 30 Jahre nach dem Ende des Zweiten
Weltkriegs. Die Nachkriegsjahre „manischer Überaktivität“ (Mitscherlich 2011:
223), die in einer volkswirtschaftlichen Semantik gerne als das „deutsche Wirt-
schaftswunder“ gekennzeichnet werden, gingen zu Ende. Sie können sozialpsy-
chologisch auch als eine kollektive Verdrängungsreaktion begriffen werden. Man
wandte sich dem Aufbau und Ausbau zu, um sich nicht mit den Gefühlen, dem
Leid der Opfer, den zerbrochenen Idealen und der Identifikation mit dem Grö-
ßenwahn Hitlers und der eigenen Verführbarkeit befassen zu müssen. In der
DDR gab es keinen Grund, „historisch“ zu trauern. Man sah sich in der Dynamik
des „antifaschistischen Widerstands“ und hatte mit den „Tätern“ und der Verant-
wortung für ihre Taten nichts gemein. Erst in einer offenen Auseinandersetzung,
so meinte die jüngst verstorbene Margarete Mitscherlich, wäre aber die emotio-
nale und soziale Basis geschaffen worden, in der eigenen Trauer die Trauer ande-
rer zu sehen und in der Trauer über das Sterben, die Vernichtung und den Tod
anderer die eigene Trauer zuzulassen und als Mitgefühl anzuerkennen.
Die Auseinandersetzung mit einem menschlichen, würdigen Sterben durch
die erste Hospizgeneration stellte die erste öffentliche Thematisierung des Ster-
bens in der deutschen Nachkriegsgeschichte dar. Sozialpsychologisch bedeutete
dies auch, die eingefrorene kollektive Trauer als Reaktion auf die individuell und
kollektiv existenziellen Erschütterungen des Zweiten Weltkriegs, durch die nati-
onalsozialistischen Verbrechen und die Traumatisierungen, die durch die syste-
matische Vernichtung der europäischen Juden entstanden war, zu verflüssigen.
Die Hospizbewegung war ein Kontext, ein gesellschaftliches Induktionsfeld, in
gewisser Weise ein sozialer Raum für diese „kollektive Trauer“. Dass sie in
Deutschland verzögert Boden gewann, mochte damit zu tun haben, dass die
kollektiven Reaktionen nach 1945 in Deutschland darin bestanden, sich nicht
auseinanderzusetzen, sich zu schützen und abzuschirmen, die Schrecken und
gefühlmäßigen Erschütterungen durch millionenfachen Tod und Mord, durch die
Leiden aufgrund von Krieg, der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung Europas
und der Zivilbevölkerung abzubinden und zu verdrängen.
Erst mit Beginn der 1970er-Jahre wurde es langsam möglich, über Sterben,
Tod und Trauer zu sprechen, indem Zugänge zu den eigenen, persönlichen und
den familiären Trauererfahrungen gefunden wurden. Möglicherweise hatte die
Hospizbewegung hier eine katalysatorische Funktion, nicht explizit, sondern
eher implizit. Die Metaphern vieler Pionierinnen („Es lag in der Luft“, „Die Zeit
war reif“) können vielleicht auch so gedeutet werden, dass die Eindrücke der
Geschichte der Hospizbewegung in Deutschland 67
2 Beispielhaft seien hierfür die End-of-life-Care Strategy der britischen Regierung aus dem Jahr
2008 angeführt, in die 286 Mio. Pfund investiert wurden (http://www.endoflifecareforadulds.
nhs.uk/); bemerkenswert ist ebenfalls die nationale Palliative Care Strategie der Schweiz (Bun-
desamt f. Gesundheit) von 2010-2012 die nun für weitere drei Jahre verlängert wurde und ein
umfassendes Maßnahmenpaket einschl. Forschungsschwerpunktprogramm enthält.
Geschichte der Hospizbewegung in Deutschland 69
zurück (ebd.). Damit verbunden scheint ein Prozess der „Bürokratisierung des
Sterbens“ eingesetzt zu haben, der die Standardisierung von Sterbequalitätskrite-
rien zum Ziel hat und weitgehend abstrahiert vom individuellen Ansehen der
Person (Max Weber) (James, Field 1992). Und schließlich gibt es Anzeichen
dafür, dass die in der Versorgungsphilosophie von Palliative Care angelegte
Gleichheit und Ergänzungsbedürftigkeit der verschiedenen Berufsgruppen aufge-
löst wird zugunsten der Medizin als Leitdisziplin und Ärzten als Leitprofession
(Heller 2000; Heller B, Heller A 2003).
Vor diesem Hintergrund plädieren wir für organisierte interdisziplinäre
Irritationen, wie sie etwa durch konsequente Einbindung von ehrenamtlicher
Hospizarbeit repräsentiert werden, einer stärken Berücksichtigung der Kategorie
Geschlecht in Forschung und Praxis (Reitinger, Beyer 2010), oder einer Umset-
zung ethischer Entscheidungsprozesse in und zwischen den entsprechenden
Organisationen (Krobath, Heller 2010).
Der Prozess der Institutionalisierung der Hospizarbeit wurde in den letzten
Jahren weiter vorangetrieben: Flächendeckende Versorgung, Ausdifferenzierung
und Spezialisierung sind die Leitsignale (Fink 2012). Professionalisierung wird
ebenso gefordert, nicht zuletzt im Kontext neuer gesetzlicher Rahmenbedingun-
gen wie etwa rund um die SAPV (Spezialisierte ambulante Palliativversorgung).
Ein solcher Prozess ist nicht friktionsfrei und geht mit Irritationen bei den betei-
ligten Akteuren einher.
Wie hat es eigentlich angefangen? Was war denn die ursprüngliche Idee?
Menschen nicht alleine zu lassen im Sterben, wurde als die selbstverständliche
Aufgabe der Familien, Freundinnen und Nachbarn und eben der ehrenamtlichen
HospizhelferInnen gesehen und praktiziert. Was braucht es mehr, fragen da die
Einen? Wie kann an den Erkenntnissen von Wissenschaft und Forschung rund
um die lindernde Pflege, Behandlung und die ganzheitliche Sorge um sterbende
Menschen und ihre An- und Zugehörigen vorbeigehandelt werden? Das fragen
Andere und fordern Curricula, Qualitätsstandards und evidenzbasierte Konzepte.
Die Widersprüche hinter diesen Fragen lassen sich nicht einfach auflösen. Die
Herausforderungen guter hospizlicher Praxis und einer konvergierenden länder-
übergreifenden Weiterentwicklung von Palliative Care sind vielleicht gerade
wegen ihres großen Erfolges keinesfalls kleiner geworden. Festzuhalten gilt es
daher an einem gemeinsamen Ringen um eine anhaltende zivilgesellschaftliche
Engagementbereitschaft und einige hospizliche Vorfahrtsregeln: ambulant vor
stationär, integriert vor spezialisiert, multikulturell vor monokulturell und orien-
tiert an den betroffenen Menschen statt an Profis, Organisationen und Strukturen.
Die Forschung selbst muss in diesem Feld die Komplexität der Themen und
Problembereiche aufnehmen und sich in pluralen, eben auch methodischen Zu-
gängen (quantitativ und qualitativ) entwickeln. Die gesellschaftliche Herausfor-
70 Andreas Heller/Sabine Pleschberg
derung eines menschlichen Sterbens, die Frage nach den Bedingungen unter
denen Menschen autonom und umsorgt sterben können bringt die Forschung
geradezu zwangsläufig in das Paradigma einer interdisziplinären Verwiesenheit
der Geistes- Sozial- und Naturwissenschaften aufeinander. Schließlich kann
wissenschaftlich relevantes Wissen nur mit Akteuren im Feld und auch nur mit
den Betroffenen generiert werden, was wiederum ein transdiszplinäres Verständ-
nis von Forschungstheorie und Forschungspraxis nahelegt (Dressel et al. (Hg.)
2014).
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Die Geschichte der Hospizbewegung in Deutschland erwächst aus einem Geflecht von
Ideen, Initiativen und Gründungen. Ein Blick auf die kommentierte Chronologie der
ersten 10 Jahre vermittelt einen Eindruck von der dynamischen, föderalen Gesamtent-
wicklung, die sich zahlreicher unterschiedlicher Impulse verdankt:
1983
Gründung der ersten deutschen Palliativstation als eine Sechs-Betten-Einheit: „Stationäre
Hospizeinrichtung für palliative Therapie an der Chirurgischen Universitätsklinik in
Köln“, gefördert von der Deutschen Krebshilfe.
1984
In Stuttgart gründet die Diakonin Ursula Lesny die Sitzwachenarbeit in Pflegeheimen. Es
handelt sich hierbei um ein „Vorläufermodell“ zur ambulanten Hospizarbeit (Initiatorin
Christa Seeger).
Die Arbeitsgruppe „Zu Hause sterben“ an der Evangelischen Fachhochschule in
Hannover wird von Johann-Christoph Student gemeinsam mit anderen gegründet.
1987
Die erste, von Elisabeth Abrecht auf Auftrag von Reinhold Iblacker aus dem Englischen
übersetzte Hospizpublikation von Sandol Stoddard erscheint im Verlag Lambertus unter
dem Titel „Die Hospizbewegung. Ein anderer Umgang mit Sterbenden“.
Im Dezember wird das Hospiz zum Hl Franziskus in Recklinghausen, gegründet von
Norbert Homann, Hans Overkämping und Sr. Reginalda, eröffnet. Es prägt aufgrund
seiner Größe, vorhanden sind 12 Betten, und der Einbindung von ehrenamtlichem Enga-
gement das Verständnis vom „ersten deutschen Hospiz“.
In Stuttgart startet eine kleine Gruppe von Ehrenamtlichen, angeleitet und koordi-
niert von Daniela Tausch, mit ambulanter Hospizarbeit. Als Initiatoren wirken unter ande-
ren Helmuth Beutel und Martin Klumpp mit.
Geschichte der Hospizbewegung in Deutschland 73
1988
Gründung der „Deutschen Hospizhilfe“ am 24. Januar in einer Lounge des Frankfurter
Flughafens durch Helmuth Beutel, Prof. Dr. Klaus Dörner, Prof. Dr. Ulrich Kleeberg,
Klaus Kutzer, Prof. Dr. Dietrich Schmähl, Prof. Dr. Johann Christoph Student und Pfarrer
Dr. Paul Türks. Mit der Geschäftsführung wurde Renate Wiedemann betraut.
Die Generalsynode der Vereinigten Evangelischen Landeskirchen in Deutschland
(VELKD) in Veitshöchheim bei Würzburg befasst sich mit der Hospizbewegung. Sie wird
von Peter Godzik unter Mitarbeit von Petra Muschaweck vorbereitet.
Die Palliativstation an der Robert Janker Klinik in Bonn wird eröffnet.
Das Tübinger Projekt „Häusliche Betreuung Schwerkranker“, gefördert von der Robert
Bosch Stiftung und dem Sozialministerium Baden Württembergs, startet. Dr. Thomas
Schlunk vom „Paul-Lechler Krankenhaus“ leistet Pionierarbeit in der palliativen
Schmerztherapie.
1989
In Hamburg wird „Charon“ gegründet. Es ist die erste Beratungseinrichtung, in der Ange-
hörige Unterstützung rund um Sterben, Tod und Trauer finden. Die Einrichtung wird von
der Freien und Hansestadt Hamburg finanziert. Die Leitung hat Karin Helmer.
Auf Beschluss der Generalsynode der VELKD wird eine in Celle arbeitende Pro-
jektgruppe zum Thema „Sterbende begleiten – Seelsorge der Gemeinde“ formiert. Die
Leitung hat der damaligen Oberkirchenrat Dr.Peter Godzik. Aus der Projektgruppe geht
später das Celler Modell, ein wirkunmgsmächtiges Ausbildungskonzept für ehrenamtliche
Hospizhelferinnen, hervor.
In Ravensburg startet das Projekt „Clinic-Home-Interface“ mit dem Ziel der häusli-
chen Betreuung von „austherapierten“ krebskranken Menschen. Die Initiative dazu geht
vom Chefarzt des St. Elisabethen Krankenhauses in Ravensburg, Prof. Meuret aus. Hubert
Jocham und Carmen Rist leisten Pionierarbeit auf dem Gebiet der häuslichen Palliativ-
pflege.
1990
Die WHO-Definition zu Palliative Care wird im Kontext des Programms der Weltgesund-
heitsorganisation zur Krebsschmerzbekämpfung veröffentlicht (WHO 1990).
Die Palliativstation am Malteserkrankenhaus in Bonn wird eröffnet unter der Lei-
tung von Prof. Dr. Eberhard Klaschik. Mit im Team sind unter anderem: Dr. Friedemann
Nauck und Martina Kern (Pflege).
Die Bremer Hospiz-Hilfe im Evangelischen Krankenhauspfarramt wird im Novem-
ber durch die Gemeindekrankenschwester Rosemarie Mester und den evangelischen
Krankenhauspastor Dieter Tunkel in Bremen-Nord gegründet. Es handelt sich dabei um
eine überkonfessionelle Gruppe, die häusliche Sterbebegleitung sowie Fortbildungen für
Pflegekräfte in Krankenhäusern oder im ambulanten Bereich anbietet.
Gründung des Hauses Maria Frieden der Franziskanerinnen vom Göttlichen Heiland
in Oberharmersbach.
Es ist das erste stationäre Hospiz für Aidskranke, heute offen für alle Menschen mit
terminalen Erkrankungen. Die Leitung obliegt Thile Kerkovius.
74 Andreas Heller/Sabine Pleschberg
1991
Der ökumenische Hospizverein im Bistum Hildesheim zur Koordination und Unterstüt-
zung von Initiativen wird gegründet: Ulrich Domdey (Seelsorgereferent Generalvikariat)
und Peter Godzik sind federführend.
Initiativ dabei ist auch die Psychologin Karin Wilkening. Der Verein gilt als Vorläu-
ferorganisation der späteren Landesarbeitsgemeinschaft Niedersachsen.
Am 13. Juli gründen acht Vereine beziehungsweise Hospizgruppen bei einem Treffen in
Bamberg den Bayrischen Landesverband Hospiz. Christine Denzler-Labisch aus Bamberg
wird die erste Vorsitzende. Es folgen Landesarbeitsgemeinschaften in Niedersachsen,
Bremen und Nordrhein-Westfalen.
Die beiden Kirchen ändern offiziell ihre Positionen zur Hospizbewegung: beispiels-
weise in der Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz.
Fachtagung an der Evangelischen Akademie Arnoldshain. Thema: „Der Hospizgedanke,
die Hospizbewegung“. Diese Fachtagung findet von da an eine jährliche Fortsetzung als
„Arnoldshainer Hospiztage“.
Gründung des deutschen „Kinderhospizvereins e. V.“ in Olpe durch sechs Familien
mit lebensverkürzend erkrankten Kindern.
Die wissenschaftliche Begleitung des Förderprogramms der Palliativeinheiten im
Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit startet. Insgesamt 16 verschiedene Pallia-
tiveinheiten an ebenso vielen Standorten werden in diesem Programm geschaffen und
über mehr als drei Jahre hindurch evaluiert (BOSOFO 1997).
1992
Am 26. Februar wird in Halle (Saale) nach einem konfliktreichen Prozess die „Bundesar-
beitsgemeinschaft Hospiz zur Förderung der Hospizidee“ gegründet. Einzelinitiativen
schließen sich unter einem Dach zusammen, zum ersten Vorsitzenden wird Rudolf Dadder
aus Halle gewählt.
Heil sterben. Zur Bedeutung alternativer und
komplementärer Ansätze für eine Versorgung
Sterbender in Hospizarbeit und Palliative Care
Claudia Wenzel
Einleitung
Die vorliegende Arbeit setzt sich mit der Bedeutung alternativer und komple-
mentärer Ansätze in der Versorgung von schwerkranken und sterbenden Men-
schen in Hospizarbeit und Palliative Care auseinander. Konkret wird die kom-
plementäre palliative Versorgung in stationären Hospizen in Deutschland in den
Blick genommen und die bestehende Praxis der Anwendung und Nutzung alter-
nativer und komplementärer Verfahren exploriert. Als methodischer Rahmen für
die qualitative explorative Studie dienten Elemente der ‚Grounded Theory‘ und
der ‚Intuitive Inquiry‘. Es wurden insgesamt zwanzig multiperspektivische quali-
tative Interviews mit Leitenden (n=7), komplementären PraktikerInnen (n=8)
und MedizinerInnen (n=5) sowie sechs Gruppendiskussionen mit multiprofessi-
onellen Teams in deutschen Hospizen geführt.
Warum werden zur konventionellen Medizin alternative und komplementä-
re Behandlungsformen nun aber verstärkt von schwerkranken und sterbenden
Menschen in Anspruch genommen und zunehmend auch in Einrichtungen und
Institutionen integriert, die sich der Sorge um Menschen in ihrer letzten Lebens-
phase annehmen?
Welche Anliegen verbinden alternative Therapieformen und die Hospizbe-
wegung, die sich inzwischen weltweit als „Palliative Care“ etabliert hat, und
welche Rolle spielt Spiritualität in diesem Zueinander dieser beiden zum etab-
lierten Gesundheitssystem alternativen Bewegungen?
Diese und andere Überlegungen stehen im Zentrum vorliegender Arbeit und
sollen im Licht relevanter Literatur und der Erkenntnisse aus der Analyse des
empirischen Datenmaterials reflektiert und weitergeführt werden.
M. W. Schnell et al. (Hrsg.), Palliative Care und Hospiz, Palliative Care und Forschung,
DOI 10.1007/978-3-658-07664-1_4, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
76 Claudia Wenzel
erweisen sich auch als zentral, wenn es um Forschung in diesem Feld geht (Ran-
kin-Box 1997 & Avis 2001).
Auch die steigende Anzahl von Publikationen in wissenschaftlichen Jour-
nals in den letzten zehn Jahren verweist auf das zunehmende Interesse an alter-
nativen und komplementären Ansätzen in Palliative Care.
In einer systematischen Übersichtsarbeit (die sich auf 26 Studien aus 13
westlichen Ländern bezieht) konnte gezeigt werden, dass die durchschnittliche
Nutzung komplementärer Ansätze von onkologischen Patienten und Patientinnen
weltweit bei 31,4% liegt (Ernst & Cassileth 1998).3 In Großbritannien beispiels-
weise, werden in 90% der Hospize und Palliativeinheiten Aromatherapie, Mas-
sage und Reflexologie angeboten (Tavares 2003)4. Vor allem in der palliativen
Onkologie spielen komplementäre Ansätze eine bedeutende Rolle (Ernst, 2001).
Im Rahmen von Hospizarbeit und Palliative Care werden komplementäre Ansät-
ze meist als zusätzliche Behandlungsmöglichkeit zu konventioneller Medizin
und nicht als Ersatz gesehen (Chatwin & Tovey 2004), dies gilt insbesondere für
die Pflege.
Die Gründe für die Nutzung alternativer und komplementärer Ansätze von
Menschen mit lebensverkürzenden Erkrankungen oder terminalen Prognosen
sind vielfältig. Gerade dort, wo die konventionelle Schmerztherapie an ihre
Grenzen stößt, können komplementäre Ansätze Linderung bringen und ganzheit-
liches Wohlbefinden steigern. Daher spielen sie in Palliative Care eine wichtige
Rolle in der Symptomkontrolle, aber auch in der Verbesserung der Lebensquali-
tät von Patienten und Patientinnen und deren An- und Zugehörigen (Cassileth &
Schulman 2004).
Onkologisch erkrankte PatientInnen hoffen auf Lebensverlängerung, Kon-
trolle über die Krankheit bzw. Nebenwirkungen invasiver Therapien zu gewin-
nen, geheilt zu werden, sie hoffen auf Schmerz- und Symptomreduktion sowie
auf eine Verbesserung der Lebensqualität (Oneschuk et al. 1998).
Betroffene nutzen komplementäre Ansätze zur Schmerzbehandlung
(Gecsedi & Decker 2001), bei Übelkeit (Hudson, 1998), Fatigue (Berenson
2006), Angst (Hadfield 2001) oder zur Verbesserung der Lebensqualität
(Cheesman, Christian & Cresswell 2001). Weitere Gründe für die Nutzung kom-
plementärer Ansätze liegen im Wunsch nach Selbstbestimmung; im Vertrauens-
verlust in die konventionelle Medizin oder in der Absicht das Immunsystem zu
stärken (Berenson 2006: 492).
3 Problematisch bei solchen Übersichtsarbeiten ist jedoch, dass oft nicht genau definiert ist,
welche Verfahren als komplementär bzw. alternativ klassifiziert werden oder dass Definitionen
prinzipiell sehr weit gefasst sind (Cassileth & Schulman 2004: 1088).
4 Für den deutschsprachigen Raum fehlen jedoch vergleichbare statistische Daten über die Nut-
zung komplementärer Verfahren in Hospizarbeit und Palliative Care.
80 Claudia Wenzel
5 Zweck dieser Darstellung ist es, auf die Vielfalt bzw. Unterschiedlichkeit der existierenden
alternativen bzw. komplementären Verfahren in Hospizarbeit und Palliative Care zu verweisen.
Die folgende Auflistung, die alphabetisch gereiht ist, stellt also lediglich eine beispielhafte
Auswahl der Autorin dar, die in keinster Weise Wertungen impliziert oder Anspruch auf Voll-
ständigkeit erhebt.
6 Basale Stimulation und Kinästhetik als Konzepte, die in der Pflege etabliert sind, werden in
internationalen Klassifikationen meist nicht unter komplementäre oder alternative Ansätze
subsummiert und daher aus forschungsökonomischen Gründen von der Autorin in vorliegender
Arbeit ausgeklammert.
Heil sterben 81
7 http://www.nmc-uk.org/Nurses-and-midwives/The-code/The-code-in-full, am 01.04.2012
82 Claudia Wenzel
„that nurses using CAM practices do not seek to change the epistemological and au-
thority boundaries of biomedicine. Even so many believe that CAM methods should
be included within the cognitive boundaries of biomedicine. They are not disturbed
that most of these techniques have not passed the test of biomedical research criteria,
though they feel blocked by physicians who keep the cognitive boundaries of bio-
medicine closed.” (Shuval 2006: 1784)
Darüber hinaus gibt es eine immer größer werdende Anzahl von qualitati-
ven Studien9, die sich in unterschiedlicher Fokussierung mit der Wirkung kom-
plementärer Verfahren in Hospizarbeit und Palliative Care auseinandersetzen:
Fallstudien setzen sich beispielsweise mit der Wirkung von Reiki bei Menschen
im Hospiz (Bullock 1997), mit der Wirkung von Musiktherapie auf Sterbende im
Hospiz (Krout 2003); mit der Wirkung von Reiki in Palliative Care (Burden,
Herron-Marx & Clifford 2005) oder mit der Wirkung von Musiktherapie auf
9 Im Rahmen der „5th International Conference for Researchers and Practitioners in CAM“ mit
dem Titel „Valuing Qualitative Research: Diversity & Debate in Complementary & Alternative
Medicine“, vom 13. – 14. Juli 2009 an der University of York, konnte die Autorin internationa-
le Diskurse zum Thema qualitative Forschung(sarbeiten) im Bereich alternativer und komple-
mentärer Verfahren mitverfolgen.
86 Claudia Wenzel
Grounded Theory
Eine ausführliche Darstellung der Grounded Theory findet sich in Kapitel 1 des
vorliegenden Buches zum Thema „Die Grounded Theory im Licht der Wissen-
schaftstheorie“ und in Kapitel 2 zur Frage „Was ist Grounded Theory?“.
Intuitive Inquiry
Der Ansatz der Intuitive Inquiry wurde in den 1990er Jahren von der Psycholo-
gin Rosemarie Anderson11 entwickelt. Intuitive Inquiry verwendet Elemente der
10 Eine vergleichbare empirische Studie zum Thema liegt bislang im deutschsprachigen Raum
noch nicht vor.
11 Anderson, geboren 1947 in den USA, wurde in den 1970er Jahren während ihres Psychologie-
studiums stark von den experimentellen und quantitativen Methoden der Sozialpsychologen
Heil sterben 87
Clark Hull und B.F. Skinner geprägt. Durch Reisen nach Asien kam sie in Kontakt mit fernöst-
lichen spirituellen Traditionen, was sie schließlich u.a. zu intensiver wissenschaftlicher Ausei-
nandersetzung mit Theologie, Philosophie und Biblischer Hermeneutik führte. Ab 1991 lehrte
sie am Institute for Transpersonal Psychology und beschäftigte sich mit Forschungsmethoden
im Kontext transpersonaler Psychologie und den Berührungspunkten zwischen Spiritualität
und Wissenschaft.
12 In der Tradition von Friedrich Schleiermacher und Hans-Georg Gadamer war Hermeneutik bedeut-
sam in der Interpretation verschiedener Textformen aus Religion, Philosophie und Literatur.
88 Claudia Wenzel
wahl, sammelt Daten und bereitet diese für die nachfolgende deskriptive Analyse
auf.
Erst in Ablauf 4 „Transforming and Revising Interpretive Lenses“ präsen-
tiert der/die ForscherIn die durch die Auseinandersetzung mit den Daten weiter-
entwickelten „interpretativen Linsen“ und vergleicht diese mit jenen aus Zyklus
2: „The degree of change between cycle 2 and cycle 4 lenses is, in part, a
measure of the researcher`s willingness to be influenced by data and to modify
his or her understanding of a topic“ (Anderson 2011: 254).
In Ablauf 5 „Integrating Findings and Theory Building“ erfolgt eine Integ-
ration der „interpretativen Linsen“ aus Ablauf 4 mit der empirischen und theore-
tischen Literatur und den theoretischen Verfeinerungen und Vermutungen, die
auf den bisherigen Erkenntnissen basieren: „The intuitive inquirer presents a
final interpretation of findings and theoretical speculations related to the topic of
the study“ (Anderson 2011: 255).
Für eine Übersicht über die 5 Abläufe der Intuitive Inquiry siehe Abb. 1
(aus: Anderson 2011: 250)
Cycle 5:
Final Interpretation (Discussion)
Cycle 4:
Final Lenses (Discussion)
Cycle 3:
Data Collection and Data Summaries (Results)
Cycle 2:
Initial Lenses (Literature Review)
Cycle 1:
Clarify Topic via Imaginal Dialogue (Introduction)
Anderson (2011: 397) empfiehlt Intuitive Inquiry mit anderen qualitativen oder
quantitativen Forschungsmethoden zu kombinieren oder erstere in letztere zu
integrieren. Sie sieht Intuitive Inquiry als Möglichkeit, intuitive Erkenntnisvor-
gänge zu strukturieren und dokumentieren und „artistic and imaginal ways of
knowing with scholarly and sientific discovery“ (Anderson 2011: 397) zu ver-
binden.
Intuitive Inquiry eignet sich dabei besonders für Fragestellungen und The-
men, die intuitive Zugangsweisen erfordern. Im Gegensatz zu einem Wissen-
schaftsverständnis, in welchem die Entdeckung von Prinzipien, wie eine objekti-
ve Welt funktioniert, im Vordergrund steht, forciert die Intuitive Inquiry „a world
reality that we create through new insights and understandings, which ever chan-
ge“ (Anderson 2011: 398).
Sowohl Grounded Theory (Charmaz 2011, Strauss & Corbin 1996) als auch
Intuitive Inquiry (Anderson 2011) sind methodische Ansätze, die eine induktive
Theoriebildung verfolgen bzw. anstreben.
Kathy Charmaz beschreibt Grounded Theory als systematische Methode,
die von positivistischen als auch interpretativen Paradigmen geprägt ist. Dabei
sieht sie ihre konstruktivistische Variante der Grounded Theory als „more com-
patible with intuitive inquiry than earlier versions of grounded theory because it
assumes that the viewer is part of what is viewed“ (Charmaz 2011: 303).
Unterschiede zur Intuitive Inquiry sieht Charmaz in der Einflussnahme der
Literaturanalyse auf die Theoriebildung und in der Flexibilität des iterativen
Prozesses im Rahmen der Grounded Theory, die eine Vor- und Rückbewegung
zwischen Kodieren und dem Konstruieren konzeptioneller Kategorien impliziert.
Während in der konstruktivistischen Grounded Theory theoretische Konstrukte
durch Verlinkung der Daten mit auftauchenden Kodes entstehen, dienen in der
Intuitive Inquiry persönliche Ressourcen des forschenden Subjekts als Quelle für
intuitive Erkenntnisse, die im Spiegel der Daten erweitert bzw. transformiert
werden. Analyse und Theoriebildung in der Intuitive Inquiry gehen also über das
Offensichtliche bzw. Sichtbare in den Daten hinaus:
neutical circle, which cycles back and forth between personal insight and data.”
(Anderson 2011: 325)
Anderson (2011: 324) weist darauf hin, dass Intuitive Inquiry – angelehnt an ein
postmodernes Verständnis – dazu konzipiert ist, Möglichkeiten und nicht Ge-
wissheiten (die gewissermaßen in den Daten eingebettet sind) zu explorieren.
Charmaz (2011: 304) setzt die intuitiven Erkenntnisse im Rahmen der Intuitive
Inquiry mit den kreativen und imaginativen Interpretationen im Rahmen der
Grounded Theory gleich. Ebenso sind Phasen von Konfusion und sichtbar wer-
denden Ambivalenzen kennzeichnend für beide induktive Forschungsprozesse.
Sowohl Anderson als auch Charmaz verweisen abschließend auf die transforma-
tive Kraft der beiden Forschungsansätze, die gleichermaßen auf den Forscher/die
Forscherin wie auf die Beforschten wirkt.
75) bleibt. Als Grundelement des narrativen Interviews kann die von den Befrag-
ten frei entwickelte Stegreiferzählung angesehen werden, die durch eine „erzähl-
generierende“ Eingangsfrage13 angeregt werden soll. Dabei soll die Haupterzäh-
lung von den Befragten autonom gestaltet werden, und die Befragenden sollen
die „Rolle aufmerksamer Zuhörer übernehmen und durch unterstützende Gesten
und nicht-direktive Kurzkommentare zur Aufrechterhaltung der Erzählung bei-
tragen“ (Hopf 2005: 356). Erst im Nachfrageteil dürfen die Interviewenden in
einen aktiven Teil übergehen und offen gebliebene Fragen aufgreifen. Die Form
des narrativen Interviews basiert auf der Grundannahme, dass Erzählungen stär-
ker an konkrete Handlungsabfolgen und weniger an Ideologien und Rationalisie-
rungen der Befragten orientiert sind und Befragte so eher dazu neigen, Gedanken
preiszugeben, die sie auf direkte Fragen nicht äußern würden, können oder wol-
len (vgl. Hopf 2005: 357).
Die Formulierungen der thematisch gegliederten Fragen der Interviewleit-
fäden vorliegenden Forschungsprojektes orientierten sich am Kriterium der Of-
fenheit und dienten dazu, die Erzählungen der InterviewpartnerInnen anzuregen
und auch Themen, die nicht im Interviewleitfaden bzw. Blickfeld der Forscherin
waren, Raum zu geben. Abgesehen von der Einstiegsfrage, orientierte sich die
Abfolge der Interviewfragen bzw. flexiblen Variationen derselbigen an den Er-
zählungen der InterviewpartnerInnen.
Für die Durchführung der Interviews wurde für jede professionelle Perspek-
tive (Leitende, externe komplementäre PraktikerInnen und MedizinerInnen) ein
eigener Interviewleitfaden entwickelt, der im Laufe der Interviewtätigkeit nur
geringfügig erweitert bzw. modifiziert wurde (siehe Anhang). Die Themen in
den Interviewleitfäden orientierten sich an Ergebnissen der Literaturanalyse
sowie an jenen für das Forschungsprojekt relevanten Fragestellungen. Für jedes
Interview wurde zusätzlich ein detailliertes Dokumentationsprotokoll über den
Interviewkontext erstellt (siehe Anhang).
Gruppendiskussionen
13 Auch Froschauer und Lueger (2003: 62) beschreiben die Einstiegsfrage als besondere Heraus-
forderung in qualitativen Interviews, da sie die InterviewpartnerInnen nicht nur in ihrem
lebensweltlich relevanten Kontext abholen, sondern auch die Erzählung anregen soll.
92 Claudia Wenzel
„focus groups“ verknüpft, die ursprünglich von Merton und Kendall (1956) im
Kontext der Rezeptionsforschung von Propagandasendungen im Zweiten Welt-
krieg geprägt und später in der Marktforschung verwendet wurde. Im Kontext
der Marktforschung haben Morgan (1988) und Krueger (1988) das Verfahren
erstmals für sozialwissenschaftliche Forschung verwendet.
In der vermittelnden Gruppendiskussion können Meinungen und Einstel-
lungen einzelner TeilnehmerInnen oder der Diskussionsgruppe (als soziale Ein-
heit) generiert, öffentliche Meinungen aktualisiert, die den Meinungen und Ein-
stellungen zugrundeliegenden Bewusstseinsstrukturen offen gelegt, sowie grup-
penspezifische Verhaltensweisen erforscht und gesellschaftliche Teilbereiche
empirisch erfasst werden (vgl. Lamnek 1995: 134).
Im Hinblick auf Sampling bzw. Zusammensetzung der TeilnehmerInnen
von Gruppendiskussionen sollten diese zumindest ein zentrales Charakteristikum
teilen: „Focus Groups should be mogomenous in terms of background and not
attitudes (Morgan 1988, zitiert nach Barbour 2007, S. 59).
Nach ersten Auswertungen von Gruppendiskussionen können auch
Modifizierungen im Sampling vorgenommen werden: “there maybe other as-
pects of his or her situation that become apparent only during discussion, but
which are illuminating and may provide ideas for further sampling” (Barbour
2007: 65).
Die Anzahl der Gruppendiskussionen in einem Forschungsprojekt hängt von
der interessierenden Fragestellungen und relevanten Vergleichskriterien wie
beispielsweise Alter, Gender oder sozioökonomischen Kriterien ab.
Was die Anzahl der TeilnehmerInnen pro Gruppendiskussion betrifft so
empfehlen Kitzinger und Barbour (1999) sowie Bloor et al. (2001) eine minima-
le Anzahl von 3-4 und eine Höchstanzahl von 8 TeilnehmerInnen.
Bereits (im Feld) existierende Gruppen bieten einige Vorteile für Gruppen-
diskussionen, werfen jedoch ethische Themen auf, vor allem im Hinblick auf die
Vertraulichkeit. Daher ist es wichtig, dass der/die ModeratorIn vor Beginn der
Gruppendiskussion ausführlich auf diesen Punkt verweist.
Ob bereits existierende Gruppen gewählt werden oder nicht, hängt immer
von der jeweiligen Fragestellung bzw. dem Zweck ab: „If the purpose of the
research project is to provide an understanding of the ‚real-life’ context in which
people work or come together for other purposes“ (Barbour 2007: 68). Die Fra-
gestellung bestimmt weiters, ob Leitende an den Gruppendiskussion teilnehmen,
und ob letztere monoprofessionell oder multiprofessionell zusammengesetzt
sind. Das Sampling kann auch gemixt werden und die Ergebnisse von z.B. mo-
noprofessionellen und multiprofessionellen Gruppendiskussionen verglichen
werden.
Heil sterben 93
Theoretisches Sampling
L1 Pflege W Keine
L2 Pflege W Shiatsu
L3 Pflege M Keine
L4 Pflege W Aromatherapie
Heilpraktikerin,
L5 Pflege W initiatische Therapie n.
Dürkheim, Handauflegen
L6 Pflege W Reiki
Aromatherapie; Heilprak-
L7 Pflege M
tiker
Motopädin W Shiatsu
Psychologin; Supervisorin,
W Craniosacrale Osteopathie
Heilpraktikerin
Kunsttherapeutin W Kunsttherapie
Physiotherapeutin, Körper-
W Palliative Atemtherapie
therapeutin, Atemtherapeutin
Beim Sampling der Gruppendiskussionen wurde nach dem Prinzip der maxima-
len Kontrastierung hinsichtlich der Professionen der TeilnehmerInnen vorgegan-
gen. Die Leitungspersonen wurden nicht eingeladen an den Gruppendiskussio-
nen teilzunehmen. Drei Gruppendiskussionen waren nur aus weiblichen Teil-
nehmerinnen zusammengesetzt.
96 Claudia Wenzel
Alle Interviews wurden im Zeitraum von September 2008 bis Oktober 2010 von
der Autorin vorliegender Arbeit selbst geführt. Die InterviewpartnerInnen
wurden jeweils persönlich telefonisch kontaktiert bzw. konkret für ein Interview
angefragt, wobei in den meisten Fällen eine Vorinformation durch die Leitenden
an die komplementären PraktikerInnen erfolgte. Von Seiten der Forscherin
erfolgte eine Information über Projektkontext, Projektziele bzw. -inhalte,
Interviewform sowie zeitlichen Rahmen und Ablauf des Interviews. Bei Interesse
an einer Interviewteilnahme und der Zustimmung für digitale Aufnahme und
wissenschafliche Auswertung der Interviews wurden Termine für Telefon-
interviews oder persönliche Interviews vor Ort vereinbart. Alle Interview-
partnerInnen erhielten vor dem Interview (bei Telefoninterviews per E-Mail oder
Fax) eine Projektbeschreibung und einen Informed Consent. Letzterer wurde von
InterviewpartnerInnen und der Interviewerin jeweils vor den Interviews unter-
98 Claudia Wenzel
zeichnet (das Original verblieb bei der Forscherin und die InterviewpartnerInnen
erhielten jeweils eine Kopie). Nach den Interviews füllten die Interview-
partnerInnen ein Erhebungsblatt aus, indem einige soziodemographische Daten
erhoben wurden.
Für die Autorin war es von großer Bedeutung eine vertrauensvolle Ge-
sprächsatmosphäre herzustellen und sich auf die Erzählungen der Interview-
partnerInnen einzulassen, vor allem in den Telefoninterviews, wo keine per-
sönlichen Kontakte vorausgegangen waren. Dies erforderte von der Forscherin
höchste Aufmerksamkeit, Konzentration sowie emotionales Einfühlungsver-
mögen während der Interviews.
Im Folgenden soll ein Überblick über die Dauer der Interviews mit Leiten-
den, komplementären PraktikerInnen und Medizinerinnen gegeben werden. Die
Interviews mit den Leitenden der Hospizeinrichtungen dauerten zwischen ca. 43
und ca. 70 Minuten.
L1 01:00:23
L2 00:42:48
L3 00:45:38
L4 00:44:29
L5 00:59:05
L6 01:09:48
L7 00:50:32
Kunsttherapeut 00:33:46
Kunsttherapeutin 2 00:54:57
Ärztin 1 00:43:39
Ärztin 2 00:48:30
Ärztin 5 00:28:53
Als Dank für die zur Verfügung gestellte Zeit erhielten die InterviewpartnerInnen
eine ausgewählte Publikation zum Themenfeld Hospizarbeit und Palliative Care.
Alle InterviewpartnerInnen zeigten sich interessiert an der von der Forscherin
angebotenen Zusendung eines Projektendberichtes und stellten sich für eventuell
auftauchende Fragen im Analyseprozess zur Verfügung.
Nach der Transkription und einer ersten Analyse der bereits durchgeführten
Interviews mit Leitenden und komplementären PraktikerInnen wurden die
interviewten Leitungspersonen erneut kontaktiert, diesmal mit der Anfrage, eine
Gruppendiskussion in den entsprechenden Hospizen durchführen zu dürfen. Alle
angefragten Leitungspersonen haben dieser Anfrage zugestimmt und sich bereit
erklärt, diese terminlich zu koordinieren bzw. multiprofessionelle Teammit-
glieder dafür zu gewinnen. Zu diesem Zweck hat die Forscherin ein Informa-
tionsblatt und eine Einladung zur Gruppendiskussion erstellt, die die Leitenden
lediglich an die MitarbeiterInnen weitergeben mussten.
An dieser Stelle haben die Leitungspersonen eine wichtige Rolle eingenom-
men, die in der Literatur als „Gatekeeper“ im Sinne von „Schlüsselpersonen“
(Merkens 2005: 288) beschrieben werden. In Bezug auf die Einladungspolitik für
die Gruppendiskussionen wurden die Leitungspersonen von der Forscherin
gebeten, das Einladungsschreiben an das gesamte multiprofessionelle Team
(inklusive externe bzw. ehrenamtliche Teammitglieder) weiterzuleiten und dabei
zu kommunizieren, dass sie als Leitngspersonen nicht teilnehmen würden bzw.
Inhalte der Gruppendiskussion von der Forscherin nicht an die Leitungsebene
kommuniziert würden. Lediglich in einem Hospiz gab es an dieser Stelle
Kommunikationsmissverständnisse, was dazu führte, dass die Leitende an der
Gruppendiskussion teilnahm.
Die Autorin überließ es den Leitenden, die Gruppendiskussionen in oder
außerhalb der Arbeitszeit anzusetzen bzw. konnte letztlich nicht beeinflussen,
wie (und an wen) die Einladung zur Gruppendiskussion konkret erfolgte.
Im Zuge der Auswertung zeigte sich, dass trotz unterschiedlich (vermuteter)
ausgeprägter Freiwilligkeit der Teilnahme und unterschiedlicher Zusammen-
setzung der Professionen der TeilnehmerInnen in den Gruppendiskussionen die
Themen und Inhalte der Diskussionen in den beforschten Hospizen sehr ähnlich
waren.
In einer zweiten Projektphase wurden Gruppendiskussionen mit multipro-
fessionellen Teams in sechs unterschiedlichen Hospizen durchgeführt. Alle
Gruppendiskussionen fanden in den jeweiligen Hospizen vor Ort, das heißt in für
Heil sterben 101
Auswertung
Leitungsperspektive (Interviews)
Perspektive externer komplementärer PraktikerInnen (Interviews)
Perspektive der MedizinerInnen (Interviews)
Multiprofessionelles Team (Gruppendiskussionen)
Als exemplarisch für eine besonders dichte Kategorie, sollen die Subkategorien
der Kernkategorie „Komplementäre Praxis im Hospiz“ wiedergegeben werden.
Anzahl
Anzahl der Sub-
Kernkategorien (n=12) der
kategorien
Zitate
Begrifflichkeiten rund um komplementäre Ver-
11 18
fahren
Beispiele komplementäre Behandl./Begleitungen 8 28
Besonderheiten am Lebensende 17 77
Komplementäre PraktikerInnen 23 130
Komplementäre Behandlung/ Begleitung/ The-
33 120
rapie in Hospizarbeit und Palliative Care
Einbezug von An- und Zugehörigen 12 43
Grenzen und Gefahren komplementärer Ver-
13 30
fahren
Institutionelle Rahmenbedingungen für kom-
14 48
plementäre Praxis
Integration 14 58
Multidisziplinäres Team 25 79
Spezifische komplementäre Verfah-
43 83
ren_Beschreibung
Wirkung komplementärer Verfahren_allgemein 37 68
Exemplarisch für die Interviews mit den Medizinerinnen, sollen die Subkatego-
rien der Kernkategorien „Auswirkung komplementärer Verfahren auf Hos-
piz/multiprofessionelle Teamarbeit“ und „Besonderheiten am Lebensende“ dar-
gestellt werden.
Anzahl Sub-
Kernkategorien (n= 20) Anzahl der Zitate
kategorien
Besonderheiten am Lebensende 12 25
Hospiz A
In Hospiz A war die Verteilung der Äußerungen der multiprofessionellen Team-
mitglieder relativ ausgewogen. Die Craniosacrale Osteopathin äußerte sich am
häufigsten, eine weibliche Pflegeperson meldete sich am wenigsten zu Wort. Es
gibt nur sehr wenige Stellen, wo alle Teammitglieder gleichzeitig bzw. durchei-
nander sprachen. Im Vergleich zu anderen Hospizen wurden in dieser Gruppen-
diskussion eher individuelle Meinungen und Positionen vertreten und es gab
weniger gemeinsame Themen, außer, wenn es um Erzählungen über Gäste, An-
und Zugehörige ging.
Hospiz B
In Hospiz B dominieren die Äußerungen der Medizinerin die Gruppendiskussi-
on, dicht gefolgt von einer weiblichen Pflegeperson. Die wenigsten Wortmel-
dungen stammen von einer männlichen Pflegeperson. Insgesamt ist diese Grup-
pendiskussion jedoch sehr ausbalanciert, was die Beteiligung der einzelnen Pro-
fessionen betrifft, wobei die Länge der Redebeiträge kürzer als bei anderen
Gruppendiskussionen ist.
Hospiz C
Die Besonderheit bei der Gruppendiskussion in Hospiz C bestand darin, dass es
nur weibliche TeilnehmerInnen16 gab und dass die Leitende des Hospizes anwe-
send war, welche die Gruppendiskussion mit ihren Redebeiträgen auch dominier-
te. Die wenigsten Äußerungen stammen von einer weiblichen Pflegenden.
Hospiz D
Die Zusammensetzung der Gruppendiskussion in Hospiz D unterscheidet sich
von den anderen darin, dass hier keine internen (Pflegenden) oder externen kom-
plementäre PraktikerInnen teilnehmen und dass es die einzige Gruppendiskussi-
on ist, in der die Profession der Sozialarbeit vertreten ist. Auch in diesem Hospiz
wird die Diskussionsrunde von einer Pflegeperson dominiert, die eine stellvertre-
tende Leitungsfunktion inne hat. Die wenigsten Wortmeldungen stammen von
einer weiblichen Pflegeperson.
Heil sterben 111
Hospiz E
Die meisten Äußerungen in Gruppendiskussion E stammen von einer weiblichen
Pflegeperson, die auch in Aromatherapie geschult ist, dicht gefolgt von der An-
zahl der Wortmeldungen der palliativen Körpertherapeutin. Am wenigsten mel-
det sich eine weibliche Pflegeperson zu Wort. Die beiden PalliativmedizinerIn-
nen liegen bezogen auf die Häufigkeit ihrer Äußerungen im Mittelfeld.
112 Claudia Wenzel
Hospiz F
Fast gleich ist die Anzahl der Wortmeldungen der Kunsttherapeutin und einer
weiblichen Ehrenamtlichen, die die Gruppendiskussion in Hospiz F dominieren.
Die restlichen Teammitglieder (Pflegepersonen und eine Ehrenamtliche) bringen
sich fast gleich häufig in die Diskussion mit ein. Auch diese Gruppendiskussion
besteht nur aus Teilnehmerinnen.
Heil sterben 113
Gruppendiskussion D:
Zu Beginn der Gruppendiskussion herrscht eine allgemeine abwehrende Haltung
gegenüber komplementären Anwendungen in dem Sinne: „Das brauchen wir
nicht – wir sind bodenständig“. Es wird betont, dass in diesem Hospiz die Men-
schen „nicht mit irgendwelchen Heilmethoden überfallen werden“. Diese Hal-
tung scheint sich auch auf die Gäste zu übertragen, die dann – nach Aussagen der
anwesenden Teammitglieder „ohnehin nichts damit anfangen können“.
Nachdem ein Teammitglied jedoch ein sehr berührendes Beispiel aus der
Kunsttherapie schildert, schlägt plötzlich die Stimmung gegenüber den komple-
mentären Verfahren um: Eine Anwesende, die am Beginn gemeint hatte, dass es
unnatürlich sei und dass die Gäste mit „solchen Sachen traktiert“ würden, sagt
plötzlich, dass diese Verfahren „schon ihren Stellenwert im Haus hätten“.
Spannend ist, dass am Ende der Gruppendiskussion einige TeilnehmerInnen
sogar selbst reflektieren, dass durch die Gruppendiskussion bei ihnen ein Er-
kenntnisprozess in Bezug auf die Bedeutung der komplementären Verfahren für
ihre Arbeit im Hospiz in Gang gekommen ist.
Nun werden die komplementären Angebote plötzlich nicht mehr als Zumu-
tung, mit denen die Gäste belastet werden dargestellt, sondern sie stellen eine
Bereicherung für das Hospiz und eine Entlastung für die Pflegenden dar.
Gruppendiskussion F:
Spannend ist, dass nachdem die Moderatorin die Gruppendiskussion eigentlich
schon beendet hatte, sich noch einmal eine Ehrenamtliche zu Wort meldet und
unterstreicht, wie gut die Zusammenarbeit in diesem Hospiz zwischen Haupt-
und Ehrenamt funktioniert. Darauf preisen auch die anderen Teammitglieder die
gute Zusammenarbeit und überhäufen sich nahezu gegenseitig mit Komplimen-
ten.
Nach der ersten Phase des offenen Kodierens (siehe Network Views im Kapitel 2
„Auswertung der Interviews und Gruppendiskussionen“) erfolgte in der zweiten
Phase des Kodierens (axiales Kodieren), die gezielte Analyse der gefundenen
Schlüsselkategorien sowie das In-Beziehung-Setzen letzterer zu einzelnen
Subkategorien (siehe Abbildung 8).
In der letzten Phase des Kodierens (selektives Kodieren) ging es zunächst darum,
eine zentrale Kategorie bzw. ein zentrales Phänomen der Studie herauszuarbeiten
und dieses mit anderen Kategorien in Beziehung zu setzen. An dieser Stelle ist es
sinnvoll Fragen wie „Worum geht es hier?“ Oder „Worauf bezieht es sich?“ zu
stellen. In Abbildung 9 steht die „implizite (CAM17-) Praxis“ als zentrales
Phänomen im Mittelpunkt der Betrachtung. Es erfolgt eine Validierung der
Beziehungen zwischen den Kategorien und die Verdichtung bzw. das Auffüllen
von Kategorien, die weiterer Spezifikation bedürfen. Es geht darum, einen roten
Auf die Bildung einer (einzigen) schematischen Grounded Theory nach Strauss
und Corbin (1996) wurde von der Autorin verzichtet, da für sie sowohl die
„implizite (CAM-) Praxis“ als auch das „heil sterben“ als zentrale Phänomene im
Mittelpunkt standen und bei der Entscheidung für ein Phänomen zentrale
Aspekte (auf anderen Ebenen) verloren gegangen wären. Es hätte mehrere
Grounded Theories gebraucht, um alle Perspektiven und Betrachtungsebenen
118 Claudia Wenzel
was sie zu erzählen hätten, für eine wissenschaftliche Studie auch wichtig und
wertvoll genug sei, selbst nachdem ich mehrmals betont hatte, dass gerade die
subjektiven Erfahrungen und Sichtweisen für das Projekt von Interesse seien.
Individuelle Vorstellungen von Forschung und Wissenschaft führten bei einigen
ForschungspartnerInnen zu Misstrauen bzw. Ängsten, dass ihre Alltagserfahrun-
gen nicht wissenschaftlich bzw. relevant wären.
Obwohl die vorliegende Studie explorativ und nicht interventionsorientiert
angelegt war, zeigten sich vor allem in und nach den Gruppendiskussionen Inter-
ventionseffekte, die nicht nur die komplementäre Praxis in den Hospizen, son-
dern auch die (Reflexion der) multiprofessionelle(n) Teamarbeit betrafen.
Erhebung, Auswertung und Interpretation der Daten erfolgten in vorliegen-
dem Projekt nicht linear, sondern – ganz im Sinne der Grounded Theory – zirku-
lär. So wurden von mir auch nicht alle in den Daten enthaltenen Themen von
Anfang an gesehen bzw. mit Bedeutung versehen. Gerade das Thema Spirituali-
tät wurde erst in einem sehr späten Stadium des Forschungsprozesses für mich
sichtbar, da es nicht offenkundig war, sondern sich vielmehr zwischen den Zeilen
verbarg und ich erst ein Bewusstsein für die Bedeutung dieses Themas im Kon-
text vorliegender Arbeit benötigte.
Auf die Frage, mit welchen Begriffen mit Gästen sowie An- und Zugehörigen
über die komplementären Angebote im Hospiz kommuniziert wird, zeigt sich,
dass es kaum einheitliche Begrifflichkeiten in den multiprofessionellen Teams
gibt, sondern meist die konkreten Verfahren (z.B. Aromatherapie, Shiatsu, Kunst-
therapie,...) als solche benannt werden. Komplementäre Anwendungen werden
von den Professionellen grundsätzlich als Möglichkeit „etwas anderes auszupro-
bieren“ (L2: 191) oder einfach als „zusätzlicher, erleichternder“ (L6: 301) Ver-
such etwas auszuprobieren, angeboten.
120 Claudia Wenzel
„Und dann halt nicht mehr von Therapie sprechen zu müssen. Vielleicht zu wollen,
das ist eine ganz andere Geschichte, also was ist das Bedürfnis des Gastes? Will der
therapiert werden? Aber nicht, dass man halt (..) diese riesen Überschrift hier
nochmal mit rüber tragen muss.“ (A_P1: 264)
„Es ist im Hospizbereich auch so, dass man nicht Therapie sagt. Und ich sage im-
mer, Craniosacrale Therapie ist eine Therapieform, weil sie lehrbar ist, man kann
sie lernen, sie hat spezielle Indikationen, von daher ist es eine Therapieform. Was
ich hier im Haus mache ist, um mich dem Sprachgebrauch anzugleichen, aber auch
weil es nicht so einen expliziten Auftrag hat wie eine Therapie, wo jemand zu mir [in
die Praxis] kommt, sag ich Craniosacrale Entspannung.“ (Craniosacrale Osteo-
pathin: 51-52)
Eine Atemtherapeutin hat im Laufe ihrer Tätigkeit im Hospiz eine spezielle Form
der Atemtherapie entwickelt, die mittlerweile als „Palliative Atemtherapie“ im
deutschsprachigen Raum etabliert ist, obwohl sie sich darüber bewusst ist, dass
der Therapiebegriff am Lebensende nicht wirklich passend ist.
Heil sterben 121
„Also Therapie (..), ich hab das dann so genommen, Atemtherapie und hab dann
palliativ dazugetan, weil eben dieses Umfeld ein ganz anderes ist. Aber Therapie ist
es eigentlich ganz wenig nur noch.“ (Atemtherapeutin: 189)
Ein wichtiges Anliegen von allen InterviewpartnerInnen ist es, im Kontext von
Hospizarbeit und Palliative Care immer von komplementären bzw. ergänzenden
und nicht von alternativen Angeboten zu sprechen.
„Ich finde, man kann nicht mehr alternative Verfahren sagen, denn die komplemen-
tären Behandlungsmethoden die gehören da hin wo sie Sinn machen und Nutzen
bringen. Es kann letztendlich nur da drum gehen, was führt den Patienten weiter?
Und das ist sicherlich die Ergänzung der Schulmedizin mit den vielfältigen komple-
mentären Behandlungsmöglichkeiten.“ (Pflegende, Wickel und Auflagen: 278-281)
„Und insofern alternative Heilmethoden, ich weiß nicht, mir gefällt dieser Begriff
gar nicht. Mir gefällt es viel besser zu sagen, dass ich alles das nütze, was den Men-
schen in seiner Ganzheitlichkeit abholt. Und ihn da abholt, wo er gerade steht.“
(C_EA: 311)
Eine Körpertherapeutin verweist indes auf die für sie relative Bedeutung von
Begrifflichkeiten, denn letztlich gehe es ja darum, mit welchen Inhalten die Be-
griffe gefüllt werden und dass ein Austausch innerhalb der Komplementärmedi-
zin stattfindet: „Ein Begriff ist ja immer erst mal ein Begriff. Also denke ich, die
kann man ja schaffen und dann müssen sie mit Inhalt gefüllt werden. (..) Also im
Prinzip, das was ich mir wünsche, ist ein Austausch innerhalb (..) der Komple-
mentärmedizin“ (Körpertherapeutin: 112).
Eine Pflegende beschreibt die Irritation, die durch die Namen spezifischer
Verfahren bei Gästen (und auch bei ihr selbst?) ausgelöst werden kann: „Na, also
Shiatsu ist ja schon für viele Menschen der Begriff komisch. Oder craniosacral
(..) kann man nicht aussprechen, na“ (A_P3: 86).
In fast allen Gruppendiskussionen wird zu Beginn die Frage diskutiert, wie
komplementäre Heilverfahren überhaupt zu definieren sind. Eine Ärztin meint
dazu: „Aber ich hab mich im Vorfeld auf diese Diskussion auch gefragt, was
weiß ich eigentlich, was komplementär und alternativ ist? Und da ist mir einiges
eingefallen, was bei mir aber sehr negativ besetzt ist“ (B_PM: 24).
Im Rahmen der Gruppendiskussionen wurde sichtbar, dass es bei vielen
Professionellen schlichtweg an Wissen in Bezug auf Begrifflichkeiten, Definitio-
nen sowie Kategorisierungsmöglichkeiten komplementärer Verfahren mangelt,
wie folgender Ausschnitt zeigt:
122 Claudia Wenzel
„D_P3: Ja, wenn ich überlege, was diese komplementären Heilverfahren und The-
rapien - ich weiß auch nicht ganz genau, welche Methoden, da drunter eigentlich
stecken können. Also entweder Physiotherapie oder was Anderes.
D_P2+stvL: Ja, also wenn man das so definiert. Ich muss sagen, ich merk, ich weiß
gar nicht genau, was das ist, komplementäre Heilmethoden ehrlich gesagt.
D_P4: Jetzt als Begriff meinst du?
D_P2+stvL: Nein, was sich dahinter verbirgt. Alles. Die ganzen Möglichkeiten. Ich
glaube, dass ich da zu wenig Ahnung hab.“ (GD_D: 52+204-208).
„Ich mein wenn Du sagst alternativ komplementär, dann ist sowas wertvolles wie
Aroma[therapie] da drin, auch sowas wertvolles wie Kunst- und Musiktherapie.
Vielleicht auch noch andere Dinge, die wir nicht kennen. Aber es sind auch noch
diese Menschen da drin, die da spielen mit der Hoffnung. Das find ich schwer.“
(B_PM: 558)
„D_P4: Und was man ja auch bei uns sagen muss, Heilmethode an sich, ist ja auch
schon - eine Heilung in dem Sinn ist ja auch nicht mehr wirklich möglich.
D_P2+stvL: Ich glaube, da wird heil gemeint nicht im Sinne von heilen, sondern der
Mensch ist ja in sich, finde ich, heil. Und heilen vielleicht eben, das Heile zu pfle-
gen. Ich find jeder Mensch ist trotz jeder Krankheit heil, weil er ein Mensch ist, ein
menschliches Wesen, eine Seele hat, finde ich.“ (GD_D: 227-229)
Heil sterben 123
Strukturelle Voraussetzungen
Wenn die Verweildauer der Gäste im Hospiz zu kurz ist bzw. nur wenige Tage
beträgt, werden komplementäre Verfahren oft nicht (mehr) angeboten. Eine Pfle-
gende drückt ihr Dilemma diesbezüglich folgendermaßen aus: „Dafür ist die
Zeitspanne zu kurz, um so was einzusetzen. Da stehen für mich andere Sachen im
Vordergrund, auch Schmerztherapie und so“ (D_P1: 102). Ausreichend Zeit zu
haben wird von einer Pflegenden als Voraussetzung für ganzheitliche Pflege be-
schrieben (A_P2: 453).
Auch in der folgenden Schilderung einer Pflegeperson wird deutlich, dass
das „Zeit haben“ nicht nur eine äußere Voraussetzung für eine komplementäre
Anwendung ist, sondern auch eine innere Voraussetzung bei der Pflegenden, sich
ganz auf einen Menschen einzulassen.
„Ich habe ihr [einem Gast] gesagt: ‚Heute ist ein besonderer Tag, wir haben heute
viel Zeit, ich mach Ihnen heute mal eine ganz tolle Fußmassage‘. Und sie hat sich
da richtig darüber gefreut und es war für mich auch ganz toll, so die Erfahrung
dann zu machen.“ (C_P1: 220)
Der eigene Umgang mit Zeit wird auch in einem Ausschnitt einer Gruppendis-
kussion deutlich, in der eine Kunsttherapeutin über ihren Umgang mit Zeit be-
richtet, der manche ihrer KollegInnen überrascht bzw. erstaunt.
„B_KU: Ich hab [die Leitung] nach meiner Zeit gar nicht gefragt. Ich mache ein-
fach die Zeit, die ich brauche. Und keiner hat was gesagt.
B_PM: Klar.
B_KU: Ja, man hätte ja sagen können eine Stunde oder, aber eine Stunde reicht in
der Regel nicht.
B_PM: Ah, hat da gar keiner gefragt?
B_P1: Nein.
B_P2: Ach Du kannst machen, Ende offen?
B_KU: Und ich geh ohne Uhr rein.
B_P2: Ach so.
B_KU: So, ich mach so lange wie es braucht. Und ich trag genau ein, was ich ge-
macht hab.“ (GD_B: 1541:1560)
Die Anwendung komplementärer Verfahren hängt jedoch nicht zuletzt vom En-
gagement einzelner Personen ab (C_PfdL: 33), wie eine Pflegeperson treffend
beschreibt: „Es muss getragen werden mit Personen, die dann halt auch immer
124 Claudia Wenzel
präsent sind. Das trägt sich nicht alleine so etwas. Das ist immer an Personen
gekoppelt würd ich sagen ((seufzt))“ (A_P1: 26).
„…also diesen ganzen Prozess auch selber erleben und langsam sich trauen ganz ein-
fach, mit einem Punkt oder einem Strich oder einem Klecks auch schon in einen eige-
nen Kontakt mit sich zu kommen. Und das ist dann so eine Erfahrung, die den Betrof-
fenen, bislang zumindest bei den Seminaren, sehr gut getan hat. Und es hat gleichzei-
tig, glaub ich auch, das Vertrauen im Team sehr stark gestärkt.“ (F_KU: 761)
„Also ich finde überhaupt aus meiner Sicht, dass ich ganz viel Vertrauen auch haben
muss zu beiden. Zu [Vorname Shiatsu-Praktikerin] und [Vorname Cranio Praktike-
rin] weil ich finde, ich kann es ja nicht kontrollieren, in dem ich mich dann mit ins
Zimmer setze und schaue, was machen die da eigentlich. Machen die das wohl rich-
tig? Das würde ich nicht machen. Und dieses Vertrauen ist ganz klar da.“ (L1: 147)
„Wir können oft nicht anknüpfen an das, was vorher war. Weil, die Emotionen gehen
auf und ab und man weiß nicht welche Familienmitglieder da waren. Eigentlich ist
es wirklich so, ich sage mal, wir führen ein Gespräch und ich bin also morgens an-
ders und habe andere Themen, als wenn ich es abends habe. Und natürlich auch in
der letzten Lebensphase erst recht.“ (Shiatsu-Praktikerin: 118-119)
Eine Pflegende beschreibt, wie gerade im Kontext von Hospizarbeit und Palliati-
ve Care die Flexibilität, mit der komplementäre Verfahren angewandt werden, im
Vordergrund steht und nicht mit einem „Therapievorschlag“ von vornherein in
eine Behandlung hineingegangen werden kann, sondern es gilt herauszufinden
wovon die betreffende Person im Moment am meisten profitieren kann (E_P2:
232). Dazu gehört auch eine zeitliche Flexibilität sowie das Setzen von Prioritä-
126 Claudia Wenzel
ten, was Länge und Anzahl der komplementären Behandlungen betrifft (Kunst-
therapeut 2: 183-184).
Einige komplementäre PraktikerInnen erachten den Beziehungsaufbau zu
den Betroffenen als grundlegend für ihre Arbeit, um dem anderen „auf einer
ganz anderen Ebene“ begegnen zu können (Kunsttherapeut 2: 55 + 51) oder um
„so ein Stück sicherer in der Begegnung zu sein“ (Körpertherapeutin: 124).
Auch bei aromatherapeutischen Anwendungen müssen die Pflegenden bereit sein
„sich zu öffnen“ und „so nah ran zu gehen“, wie ein Pflegender beschreibt:
„Aber bei ihr passte das, na. Oder wir hatten einfach auch schon vorher Zeit, um
uns kennen zu lernen“ (B_PA: 797). Für eine Körpertherapeutin ist eine große
„Sensibilität“ und das Hören von „sehr leisen Zwischentönen“ sehr wichtig, um
die Bedürfnisse der Gäste im Hospiz wahrnehmen zu können und auf diese ein-
zugehen (Körpertherapeutin: 67+220).
Als wesentliche Grundlage für die Anwendung komplementärer Verfahren
wird von den PraktikerInnen sowie Pflegenden die Haltung beschrieben (A_SHI:
71). „Es ist mehr eine Frage von Haltung, als eines Verfahrens, was man an-
wendet, wie ich dem Gast begegne, mit welcher Aufmerksamkeit ich dem begeg-
ne“ (D_Soz: 225).
Neben einer inneren Haltung, geht es auch um die Gestaltung eines Rau-
mes, im Innen wie im Außen: „Die Berührung, die den Atem meint, meine innere
Haltung ist elementar wichtig. Ich kann keine Hetze brauchen, keine Uhrzeit. Ich
gestalte einen Raum, um uns herum, der auch ungestört ist“ (Atemtherapeutin:
127). Außerdem werden Achtsamkeit und Präsenz als Voraussetzung auf Seiten
der komplementären PraktikerInnen genannt (F_P1: 1093).
„Und für manche ist das dann noch nicht mal eine Energiefrage. Für die, die da in-
nerlich motiviert sind, die machen das auch bei geringen körperlichen Kräften sozu-
sagen. Und für andere, die eigentlich noch viel mobiler sind und es könnten Malen
vielleicht nicht, also der Grund nicht zu malen ist möglicherweise ein ganz anderer.
Also einer, weil vielleicht eine innere Abwehr da ist (…) oder ja, also solche Dinge
spielen natürlich, glaub ich, eine größere Rolle.“ (Kunsttherapeutin 3: 106)
Schließlich verweist eine Leitende auf etwas gemeinsames Drittes und benutzt
dafür die Metapher der „gemeinsamen Blickrichtung“, die zwischen Behandel-
tem/n und BehandlerIn vorhanden sein muss.
„Ich würd sagen, es muss so einen Punkt geben zwischen dem Patienten und dem
Therapeuten, wo man sich auf eine gemeinsame Blickrichtung auf so etwas einigen
kann. Ja, und das muss vielleicht nicht ausgesprochen sein, aber es muss was da
sein. Was gemeinsames Drittes zwischen ((lacht)) zwei Menschen geben.“ (L5: 266)
durch Gäste, die ihre Haustiere ins Hospiz mitnehmen (Pferde, Hunde, Katzen,
Vögel, Schildkröten,..) (GD_E: 416-437; C_EAKo: 172-173).
Eine Pflegeperson unterscheidet zwischen „offiziellen“ und „inoffiziellen“
Anwendungen (C_P1: 390-391). Während sie Duftlampen als etwas Offizielles
beschreibt, das „jeder sieht“, werden auch „ganz viele andere Sachen hier ge-
macht“, die „gar nicht auffallen“, jedoch sehr viel mit Hospizarbeit zu tun ha-
ben.
Was die Nutzung der komplementären Anwendungen in den Hospizen be-
trifft, so sind die komplementären Angebote vorrangig für die Gäste gedacht, in
einigen Hospizen jedoch auch für die An- und Zugehörigen. Exemplarisch für
die fließenden Grenzen in Bezug auf die Nutzung der komplementären Verfahren
steht folgendes Zitat einer Leitenden:
„Die [Grenzen] sind bei verschiedenen Angeboten fließend. Also ich sag jetzt mal,
also einmal im Rahmen von der Kunsttherapie und auch das, was wir diesen
Wohlfühlmorgen nennen. Also auch da gibt es die Möglichkeit, dass das auch Ange-
hörige von entspannenden Massagen nenn ich jetzt mal profitieren können. Während
ich sag mal so, im Alltäglichen, das ist ja schon für die Gäste dann. Also da profitie-
ren erstmal vorrangig die Gäste von dem Angebot.“ (L2: 82)
Das Einbeziehen An- und Zugehöriger setzt jedoch in jedem Fall das Einver-
ständnis des betreffenden Gastes voraus, das entweder von den externen Prakti-
kerInnen oder von Pflegepersonen eingeholt wird.
Prinzipiell wird den Gästen immer ein (komplementäres) Angebot gemacht bzw.
werden diese gefragt, ob sie komplementäre Anwendungen wünschen oder aus-
probieren wollen. In allen Hospizen wird grundsätzlich das Einverständnis der
Betroffenen – meist in Form eines mündlichen Informed Consent – eingeholt,
bevor mit komplementären Anwendungen oder Behandlungen begonnen wird:
„Also, ich gehe davon aus, egal wer was hier einsetzt, dass der Patient infor-
miert ist, dass der eingehend beraten wurde und sein Einverständnis dazu gege-
ben hat.“ (C_L: 62).
Auf die Frage, wie das Einverständnis für die Anwendung komplementärer
Heilverfahren bei Gästen eingeholt wird, die nicht (mehr) verbal kommunizieren
können, schildern die Leitenden, dass über nonverbale Kommunikation, Körper-
sprache, Gestik, Mimik (L2: 114; L3: 96; L4: 302) und Kommunikation mit den
Angehörigen (L4: 286; L6: 150) versucht wird herauszufinden, was für den Gast
im Moment stimmig ist. Auch über basale Stimulation kann versucht werden
132 Claudia Wenzel
Sowohl für die Leitenden, als auch für die komplementären PraktikerInnen selbst
ist es sehr wichtig, dass die komplementären Behandlungen so angeboten wer-
den, dass sie von den Gästen im Hospiz auch abgelehnt werden können:
„Ich frage immer, ich bin sehr unaufdringlich, wenn ich merke das hakt so ein biss-
chen oder ist nicht so ganz einverstanden, dann frage ich ganz offen, das ist kein
Problem, ich gehe wieder, ist überhaupt kein Problem. Ich bin für Sie da, und Sie
nicht für mich, so.“ (Kunsttherapeut 2: 42)
Wenn ein Gast ein Angebot bereits abgelehnt hat, dann ist die Absprache mit
dem multiprofessionellen Team entscheidend, ob noch einmal ein Angebot ge-
macht wird. Die Craniosacrale Osteopathin meint dazu in einer Gruppendiskus-
sion zu ihren KollegInnen:
„Aber da war, ist mir schon in der Regel wichtig, wenn vorher jemand das Angebot
nicht haben mochte, das kann ich nur in Absprache mit Euch, sonst würd ich das
nicht machen, also. (..) Na, es geht nur mit Euch.“ (A_CS: 684)
Prinzipiell kommt es jedoch eher selten vor, dass komplementäre Angebote von
vornherein abgelehnt werden.
Im Sterbeprozess kann es dann Phasen geben, wo komplementäre Angebote
gerne angenommen werden und solche, wo sie „nicht mehr passen“ oder es ein-
fach zu viel wird bzw. ist.
„Also einmal, wenn ich eine sehr deutliche Aussage von einem Gast höre, dass je-
mand das nicht möchte oder aber das spüre. Also, das kann sich ja im Laufe des
Sterbeprozesses einfach auch verändern, dass es ne Phase gibt, in der das passt und
eine Phase gibt dann, wo es nicht mehr passt. Und das wär, das ist für mich aus-
schlaggebend, das heißt eine verbale Ablehnung oder auch eine andere Art der Ab-
lehnung, wo ich so das Gefühl habe, das ist zu viel. Oder es könnte einfach auch
sein, dass schon zu viel plötzlich da am Laufen ist, wenn die Situation sich irgendwie
verändert hat und medikamentös was verändert worden ist und vielleicht andere
Fachkräfte noch zu Rate gezogen sind, dass es einfach auch ein Zuviel ist in der Si-
tuation.“ (Körpertherapeutin: 49-50)
Heil sterben 133
„B_P1: Also fortgeführt schon. Wir haben das ja mit in unserem Alternativbogen,
na. Also wehe dem, der das nicht fortführt. ((lacht)) Nein, also es ist schon klar, so
streng/
B_PA: Aber man muss es sich, ich mein Du bist jetzt voll in der Materie.
B_P1: Ja.
B_PA: Aber ich bin da wirklich nicht so drin. Ich lass das oft schleifen so. Und muss
mich dann immer wieder dran erinnern, dass doch wieder einzusetzen oder das doch
wieder so zu versuchen, bevor ich andere Sachen...“ (GD_B: 1073-1079)
„Ich finde es besser dann Wenige zu besuchen, die aber richtig. Und dass die auch
richtig was davon haben als hier durch zu hechten und zu sagen so das war abzuar-
beiten, das bringt es einfach nicht. Das merken die auch. Also, die sind sehr wie sagt
man eben schon, sehr empfindsam die meisten und wenn man da nur irgendwas
Komisches will, oder irgendwie was nur abarbeiten will, das würde sofort auffal-
len.“ (Kunsttherapeut 2: 183-184)
Noch vor dem Erstkontakt erfolgt bei den meisten komplementären PraktikerIn-
nen eine „Einstimmung auf den Gast“, die durch die Übergabe oder das Lesen
der Dokumentation angeregt werden kann. Für eine Kunsttherapeutin beginnt die
Einstimmung beispielsweise schon bei der Vorbereitung der Malutensilien.
„Im Hospiz (Y) ist das ja so, dass ich immer meinen Einkaufskorb, wo die ganzen
Farben drin sind mitnehme und meine Mappe, große Mappe wo die verschiedenen
Blätter drin sind und das sortier ich in der Regel so, räum das ordentlich ein. Und
denk dabei an den Gast den ich gerade besuche, was mir da in den Sinn kommt, was
möglicherweise sinnvoll ist einzupacken. Oder mit fällt dann dabei irgendwas noch
ein, vielleicht auch ein Bild aus der Kunst oder so, Text und pack das ein was mir in
den Sinn kommt.“ (Kunsttherapeutin 1: 246)
Dieses Einstimmen auf eine konkrete Person mündet jedoch nicht in einer kon-
kreten Vorbereitung im Sinne eines Konzeptes, das für diese Stunde erarbeitet
wird (Kunsttherapeutin 1: 256).
Da die komplementären PraktikerInnen oftmals von KollegInnen (vorrangig
Pflegende) vorgestellt oder eingeführt werden, erfolgt der Erstkontakt mit den
Gästen dann entweder in Begleitung dieser KollegInnen oder (in den meisten
Fällen) alleine. Die Craniosacrale Osteopathin beschreibt, wie dies in der Praxis
aussehen kann.
„Manchmal sagen Mitarbeiter ‚Ach Frau X, ich hab was ganz Tolles, das tut Ihnen
bestimmt gut‘. Manchmal gehe ich aber auch alleine rein, es ist verschieden. Ich sa-
ge ‚Ich mach Entspannung hier, ich mach das regelmäßig, das gehört zum Haus, Sie
müssen dafür nichts bezahlen. Sie bleiben einfach im Bett liegen und Sie können´s
ausprobieren und wenn es heut nicht passt, vielleicht ein ander mal. Schaun Sie ein-
fach‘“. (Craniosacrale Osteopathin: 102)
136 Claudia Wenzel
Wenn Gäste gerade schlafen, wird abhängig von der individuellen Situation bzw.
dem aktuellen Befinden entschieden, ob diese für eine Behandlung geweckt
werden oder nicht.
„Also bei bestimmten Patienten ist es so, dass wir auch gucken, die eher so vor sich
hindösen und die auch vielleicht sogar explizit sagen, sie wollen geweckt werden zur
Behandlung. Und es gibt aber bestimmte Gäste oder Patienten, die, für die es ein-
fach am besten ist, wo wir Pflegekräfte oder ich auch alleine entscheide, wenn die
schlafen, werden die schlafen gelassen und dann geht das vor und dann behandle
ich nicht.“ (Körpertherapeutin: 50)
Mit einem schlafenden Gast kann Kontakt beispielsweise „behutsam über die
Schulter“ oder durch die Stimme (Kunsttherapeutin 3: 20) aufgenommen wer-
den.
Die Atemtherapeutin bezeichnet den Erstkontakt als eine Kunst „in die
Begegnung zu kommen“, wofür es „höchste Achtsamkeit“ braucht, um überhaupt
wahrzunehmen, wo der betroffene Mensch gerade steht. Es geht darum, wach,
präsent und frei von jeglichen Vorstellungen zu sein, was jetzt sein muss. Letzt-
lich steht die Frage im Vordergrund: „Wie komme ich (..) von dem total Außen zu
ihm [ihr] nahe und auch so zu dem Inneren?“ (Atemtherapeutin: 85-97). Der
Kontakt beginnt also schon mit dem Eintreten in das Zimmer und dem Wahr-
nehmen der Atmosphäre im Raum.
„Die Frage ist ja auch immer, was will ich mit diesen alternativen Heilmethoden be-
zwecken? Was ist das Bild davon? Und das ist vielleicht bei einer Akupunktur eher
wirklich ein ähnliches Ziel, wie ich mit meinen Tabletten verfolgen würde, also ganz
klar, bestimmte Symptome zu bekämpfen. Und es kann aber eben bei anderen Berei-
chen, also wenn ich so von der palliativen Körpertherapie unserer Heilpraktikerin
ausgehe, die kann unter Umständen Lymphdrainage über die Füße machen, das ist
mehr, da verfolgt sie einen ganz bestimmten Zweck sagen wir mal, aber sie kann
auch mehr im Sterben begleiten, ins Loslassen. Das ist ja ein anderer Ansatz. Und je
mehr ich in diesen, je feinstofflicher ich werde, würd ich sagen, umso mehr braucht
es dieses gemeinsame Dritte.“ (L5: 267)
„Und eine andere Ebene, (…) da spielt wieder das Gefühl eine Rolle, wenn ich in Re-
sonanz bin. (…) wenn eine Harmonie entsteht in der Behandlung, ist sie für mich ge-
lungen, bin ich zufrieden. Und das ist, kann ich jetzt, könnte ich nicht beschreiben, wo-
ran ich das festmache außer an so inneren Schwingungen.“ (Körpertherapeutin: 173)
„Ich sag natürlich nicht ‚Sie wollten sich doch schon immer mit ihrem Bruder ver-
tragen“ oder so, ne? Natürlich ((lacht)) nicht. Das ist nicht meine Aufgabe hier.
[Meine Aufgabe hier ist] (..) „to keep the space open“, wie Upledger19 so schön
sagt.“ (Craniosacrale Osteopathin: 144-148)
Den Auftrag bestimmt der Gast bzw. seine An- und Zugehörigen im Hospiz.
Kunsttherapeut 2 (42) bringt es auf den Punkt: „Ich bin für Sie da, und Sie nicht
für mich“.
19 John Upledger ist Mediziner und einer der zentralen Gründerfiguren der Craniosacralen Osteo-
pathie.
138 Claudia Wenzel
„Also man kann sehr gut beobachten, wann ein Mensch sich öffnet, also sozusagen
aus dem Schneckenhaus herausgeht, aus seiner kleinen Einheit und wann er sich
oder sie sich wieder zurückzieht. Also das kann man auch sehr gut sehen und das
wäre so etwas, wo man drauf achten muss. (..) Also ich finde, das ist eine sehr sen-
sible Art der Kommunikation, die gerfordert ist.“ (Kunsttherapeutin 3: 101)
Wichtig sei es ebenfalls „wach und präsent“ sowie „frei von irgendwelchen
Vorstellungen, was sein muss“ (Atemtherapeutin: 97) zu sein, wobei „in dieser
Haltung zu bleiben, eine ständige Achtsamkeit ist“ (Craniosacrale Osteopathin:
167). Eine Wachheit, die verhindert in irgendwelche Routinen zu verfallen, ist
für eine andere komplementäre Praktikerin von großer Bedeutung für ihre Arbeit.
„Also, für mich ist einfach wichtig, wach zu bleiben, von der ersten bis zur letzten
Minute, um alles mitzubekommen. Jetzt nicht irgendwie in Routine zu verfallen oder
so in irgendwelche gleichmäßigen Rituale zu verfallen, sondern wirklich bei jeder
Handhabung, die ich mache, bei jeder Technik, die ich anwende, wach zu sein und
zu überprüfen, passt das so und kommt das an und passt die Dosierung und was
krieg ich grade als Feedback zurück. Also, diese, mehr also diese Wachheit.“ (Kör-
pertherapeutin: 71)
Die Atemtherapeutin beschreibt, dass es für sie ein ständiger Prozess ist, in einer
Haltung der Absichtslosigkeit zu bleiben und von allem „wollen“ zu lassen.
„Also das ist eigentlich mein Prozess immer und immer mehr, alles Wollen zu lassen.
(..) ich folge den Sterbenden, das sind meine Lehrer. Ich lerne von ihnen und ich ge-
be ihnen so dieses Bisschen, was mir gegeben wurde, gebe ich ihnen gerne, oder das
ich einfach meine Zeit, oder einfach was ich bin [gebe]. Und lade sie ein, zu etwas
zu kommen, was in ihnen ist. Nicht ich gebe, was hab ich schon? Alles ist in jedem.“
(Atemtherapeutin: 247-248)
„Pflege muss ja auch immer etwas tun. Also sie meinen dann am Anfang die Patien-
ten auch erst, sie müssen was tun. Sie müssen sich hochheben, leicht machen. Ich
sag ‚Ja, sie müssen nichts tun.‘ Also in diese Ebene des Empfangens zu gehen - über
die Berührung, die nichts will.“ (Atemtherapeutin: 126)
„Ich sage immer, sie könnten dabeibleiben wenn der Gast das okay findet. Wenn er
das nicht okay findet, dann natürlich nicht. Und manche Angehörige sagen ‚Ach
dann geh ich raus und trinke ich in Ruhe einen Kaffee‘. Und manchmal ist es auch
deutlich, dass das angemessener ist. Aber es gibt auch Situationen, wo ich dann
auch eher ermutige dabei zu bleiben, und zu sagen ‚das tut bestimmt gut, das ist ent-
spannend‘. Und manchmal auch Angehörige ermutige, auch gleichzeitig zu berüh-
ren. Und manchmal behandle ich auch Angehörige im Zimmer.“ (Craniosacrale
Osteopathin: 109-110)
Die komplementären Angebote für An- und Zugehörige lösen Anspannung, brin-
gen Entlastung, unterstützen beim Loslassen und ermöglichen Ersteren eine
„kleine Verschnaufpause“ (Kunsttherapeutin 3: 182). Eine Pflegende beschreibt
wie wichtig es ist, den „Angehörigen zur Ruhe oder auf den Boden wieder zu
[verhelfen], weil sie emotional sehr belastet sind“ (A_P2: 48).
Komplementäre Verfahren eröffnen An- und Zugehörigen Zugang zu ihren
eigenen, oft ungelebten Gefühlen wie Trauer oder Wut: „Aber auch eben alle
Gefühle gezeigt werden dürfen, die man also dann vor dem Angehörigen nicht
zeigt. Na gut, es gibt ja nicht immer die harmonischen, heilen Familien“
(Shiatsu-Praktikerin: 124-131).
Eine Kunsttherapeutin berichtet, dass Angehörige, die während einer Sit-
zung dabei sind, den von Krankheit oftmals eingeschränkten Menschen noch
einmal anders „wahrnehmen“ bzw. „noch einmal anders wertschätzen lernen
können oder noch einmal eine andere Ebene von ihm mitbekommen“ (Kunstthe-
rapeutin 3: 181).
Die Kunsttherapie bietet An- und Zugehörigen die Möglichkeit, ihrer Zu-
neigung für den geliebten Menschen in einer kreativ-künstlerischen Form sicht-
baren Ausdruck zu verleihen.
„Das kam bei Frau B., weil der Mann hat einmal mit gemalt. Und ich finde das sehr
spannend, wenn Angehörige auch mal dazu mitkommen. (…) Und der hat seinen
Engel dazu gemalt. Und er sagte ‚Aber ich kann einfach nicht malen‘. Und hat es
trotzdem gemacht. Und dann hab ich das nochmal betont und hab gesagt ‚Ja
Mensch, wenn Ihr Mann das für Sie so macht, dann ist es doch wirklich was Beson-
deres‘. Und das hat sie sehr angerührt.“ (B_KU: 1213-1217)
„Und da hab ich dann dem Ehemann gesagt: ‚Wissen Sie, dass ihre Frau so gerne
weiße Rosen mag?‘. ‚Ja das weiß ich‘, sagte er. ‚Und die waren von (Stadt Y. ‚Wis-
sen Sie in (Stadt Y) gibt’s auch ein Blumengeschäft?‘. Und dann ist der Mann losge-
gangen und hat für seine Frau noch einen Strauß weiße Rosen gekauft. Die konnte
an dem Tag das auch noch riechen, später ging das bei ihr nicht mehr. Und das war
für den so tröstlich, hat er mir erzählt, dass er seiner Frau noch den letzten Strauß
Heil sterben 141
weiße Rosen hier noch bringen konnte, alles ausgelöst durch diese Begegnung mit
dem Kunsttherapeut. Man weiß nie, was so entsteht dabei.“ (D_Soz: 352-353)
Sind komplementäre Angebote im Hospiz konzeptuell nicht für An- und Zugehö-
rige vorgesehen, erfolgt die Einbindung häufig so, dass Letztere angeleitet wer-
den, selbst etwas für den/die Sterbende/n zu tun, zum Beispiel diese/n zu berüh-
ren:
„Und, das heißt, das was passiert ist höchstens, dass ich sie einbinde in etwas, den
Angehörigen irgendetwas zeige. Und sage ‚Das und das ist möglich, dass sie das
auch machen und übernehmen‘. Oder erkläre was ich mache, also in dieser Form
die Angehörigen einbinde aber nicht, nicht dass ich meinen Fokus stark auf die An-
gehörigen richte.“ (Körpertherapeutin: 77)
Eine Craniosacrale Osteopathin beschreibt, wie sie Angehörige, die unter großer
Anspannung und Unruhe stehen zu Berührung anleitet:
„Ja, also ich mache das relativ häufig, weil dann mach ich es eigentlich immer,
wenn Angehörige dabeisitzen und jemanden so streicheln. Dann sag ich ‚Wissen Sie
was, ich kann Ihnen mal erzählen wie ich das mache und was ich so weiß, schafft es
so viel Unruhe wenn man jemand so streichelt, halten sie einfach‘. Und zeige, wie
ich das mache und das nehmen eigentlich alle gerne auf. Also das wäre so ein ganz
konkretes Beispiel, ne? Wo ich dann in dem Sinn manchmal sogar auch fast korri-
gierend eingreife, wenn jemand mit so viel Anspannung und Unruhe ist und immer
so auf die Schulter klopft oder so.“ (Craniosacrale Osteopathin: 217)
Für die Atemtherapeutin (163-172) ist das Anleiten zur Berührung kein Angebot
an die Angehörigen, sondern „entsteht fast wie eine Notwendigkeit aus der Situa-
tion“ heraus: „Und dann legt die Frau ihre Hände auf meine Hände, dass sie
auch ein bisschen spürt, dass es auch eine andere Möglichkeit der Berührung
gibt, so ein Zurücknehmen, ein nichts wollen, so dieses loslassende Berühren“
(Atemtherapeutin: 172).
142 Claudia Wenzel
„Ich fand das zum Beispiel bei dem Herrn B., der hat mich auch mehrmals darauf
angesprochen. Er hat gefragt ‚Können Sie mir was zu den Bildern sagen?‘ oder hat
auch mal angerufen. Und .. und ich hab ihm das auch angeboten, dass er mitmachen
könnte. Aber es war seine Wahl, dass das nicht so sein Ding ist. Aber er war ja auch
involviert, na, wenn sie zum Beispiel gemalt hat, dass er ihr die Hand auf die Schul-
ter legt und da war vorher sehr viel Distanz. Da war ihm das ganz wichtig über das
Bild zu sprechen, sagen wir einmal. Ob er gemeint ist und sowas.“ (B_KU: 1927)
„Das ist ganz offen, also wir lassen extra die Türen auch offen, damit da jeder auch
durch kann, auch wer einfach nur durchlaufen will, also dass man das immer wahr-
nimmt (…) Und trotzdem der runde Tisch hat trotzdem so etwas wie Schutzraumat-
mosphäre. Also es ist eine Mischung aus Schutzraumsetting, sag ich mal, aber auch
gleichzeitig Offenheit, Transparenz. Also eben jederzeit wieder flüchten zu können
aber auch genauso, dass eben auch Angehörige, wenn sie da sind, sich einfach da-
zusetzen können. Und ich sprech' auch, oder wir alle sprechen einfach die Angehö-
rigen auch immer wieder an und sagen „Sie können einfach sich zu einer Tasse Kaf-
fee einfach dazusetzen mit oder ohne Angehörigen“. (F_KU: 426 - 427)
Heil sterben 143
Oft haben An- und Zughörige auch völlig andere Bedürfnisse als die Sterbenden
selbst bzw. „sind auf einem anderen Weg“ (B_P1: 1885). Und gerade in der
letzten Lebensphase kann es sein, dass die Angehörigen stärker belastet sind.
„Und das sind oftmals Situationen, wo der Angehörige konfrontiert wird, dass jetzt
der nahe Tod fast, oder bald oder ja bevor steht. Und wo dann nochmal starke ja
starke Verlustgefühle auch auftreten und dann manchmal Situationen entstehen wo
der Angehörige einen mehr braucht als jetzt gerade der Patient in dem Augenblick.“
(Pflegende, Wickel und Auflagen: 137)
„Da war die Mutter war Gast und die Tochter aber auch schon über die, ja, so 56
etwa schätze ich so vom Alter her. Und sie stand also am Bett der Mutter und wusste
nicht, was sie machen sollte. Innerlich so ‚blup blup blup‘. Dann hab ich der Mutter
Shiatsu gegeben und sie hatte auch schon die Nacht geschlafen in unseren Klappbet-
ten. Und dann habe ich ihr Shiatsu gegeben in diesem Beistellbett. Und sie wurde
ganz ruhig und die Mutter ist gestorben in der Zeit.“ (Shiatsu-Praktikerin: 132)
Gerade im Sterbeprozess sind die Angehörigen von den Sterbenden oft nicht zu
trennen, weshalb die Begleitung der Angehörigen zentral ist.
Für eine Ärztin ist es wichtig, dass durch die Anwendung komplementärer Me-
thoden „medikamentöse, wichtige Effekte“ nicht vermindert oder „nivelliert“
werden bzw. auch umgekehrt, dass die Schulmedizin auch Rücksicht auf die
komplementären Verfahren nimmt:
144 Claudia Wenzel
„Ich finde, es ist ganz wichtig zu gucken, dass man nicht mit einem Komplementär-
verfahren andere medikamentöse, wichtige Effekte runterschraubt oder nivelliert.
Und genauso, find ich, ist auch wichtig, dass man auch dann den Komplementärver-
fahren eine Möglichkeit gibt, also z.B. wenn ich einen Patienten ganz massiv sedie-
re, dass ein kunsttherapeutischer, wichtiger Ansatz gar nicht mehr machbar ist, dann
muss man darüber sich austauschen, welcher therapeutische Weg der wichtigere ist,
um da sich nicht mit dem einen, das andere zu verbauen. Ja. Aber da würde ich,
wenn ich der Überzeugung bin, oder die Überzeugung bei einem Betroffenen ge-
wonnen habe, dass der Komplementäransatz der wichtigere ist für den Moment,
dann würde ich den schulmedizinischen auch in dem Moment zurückfahren. (…)
Weil wenn das andere gut tut und nicht schadet und vor allen Dingen einen guten Ef-
fekt hat, dann ist das manchmal wichtiger als die Schulmedizin.“ (Ärztin 5: 137-
143)
„Das ist mir auch ganz wichtig zu erwähnen, dass wenn es brenzlige Situationen
sind und wenn der Patient es wirklich braucht, dass er selbstverständlich die schul-
medizinische Therapie im Notfall an erster Stelle steht. Das ist glaub ich noch ganz
wichtig, auch wenn man mit alternativen Heilverfahren arbeitet, das ist ganz wich-
tig.“ (Pflegende, Wickel und Auflagen: 264)
noch nie jemanden hier gehabt, der, wo das wirklich eine Alternative gewesen
wäre zu Morphin oder so.“ (D_P2+stvL: 495).
„Oder jemand dann mal die Augen aufmacht oder kurzen Kontakt auch aufnimmt
oder Augenbewegung auch hat. (..) Also auch wenn jemand nicht spricht gibt es Äu-
ßerungsmöglichkeiten für ihn. Oder seufzt oder ‚hmm‘ oder Schluckauf bekommt
das fällt mir ein. Weil es gab jemanden, der bekam immer ein Schluckauf an der
Stelle und auch das ist eine Kommunikationsmöglichkeit.“ (Leitende Hospiz 2: 114)
Wenn mit den Sterbenden keine verbale Kommunikation mehr möglich ist, kann
diese auch über die Angehörigen erfolgen. In folgendem Beispiel fungiert eine
Shiatsu-Praktikerin als Vermittlerin in einem Abschiedsprozess eines Ehepaars
und integriert das Gespräch in die Shiatsu-Behandlung.
„Dann habe ich mit der Frau eine Stunde gesprochen, also der Mann hatte keine
Sprache mehr. Und dann habe ich praktisch das, was sie mir erzählt hat praktisch
an ihn weiter gegeben. ‚Hören Sie Herr Soundso. Sie haben genau gespürt, dass sie
dann nicht mehr nach Hause kamen, wenn sie ins Krankenhaus gingen. Sie haben es
nicht erzählt, nur Ihre Frau hat es gespürt‘. (…) Und wir haben ganz dicht an sei-
nem Bett gesessen und haben das Gespräch geführt, wo er praktisch noch mal von
seiner Frau hörte, dass sie das auch mitgekriegt hatte, seinen Prozess zu Hause.“
(Shiatsu-Praktikerin: 84-86)
146 Claudia Wenzel
Der Vorteil eines – auf die Persönlichkeiten bezogen – heterogenen Teams be-
steht nach Ansicht einer Leitenden darin, dass „für viele Menschen was dabei
ist“, während der Nachteil darin liegt, „dass sie schwer auf einen Weg zu bringen
sind“ (L5: 224).
Dabei sollte auch ein nicht vorhandenes Interesse für komplementäre An-
sätze von MitarbeiterInnen von der Leitung akzeptiert und in der Pflegeplanung
mit bedacht werden: „Das muss schon so besprochen werden und Form haben
und in die Pflegeplanung mit aufgenommen werden und der Kollege oder die
Kollegin, die das vielleicht jetzt auch nicht so, oder keine Neigung haben, die
sollen noch was anderes machen“ (L7: 124).
Bei vielen MitarbeiterInnen besteht nur wenig Wissen über spezifische
Verfahren (z.B. Homöopathie) (E_P1+AT: 324), oder auch über die Nutzungs-
möglichkeiten komplementärer Ansätze in der Pflege (F_P1: 312). Eine stellver-
tretende Pflegedienstleitung gibt zu, dass sie nur wenig Wissen über komplemen-
täre Heilmethoden besitzt: „Ich persönlich hab ehrlich gesagt von komplementä-
ren Heilmethoden ganz wenig Ahnung“ (D_P2+stvL: 47). Auch eine Palliativ-
medizinerin stellt im Rahmen einer Gruppendiskussion ihr eigenes Wissen über
komplementäre Verfahren in Frage: „Und ich denk dann manchmal, tun wir den
alternativen Methoden Unrecht, weil wir es nicht wissen? Aber einen Heiler, den
gibt`s nicht, ne? ((lacht))“ (B_PM: 584-588). Gleichzeitig kann Wissen, das im
Rahmen von Fortbildungen erworben wird, auch Interesse bei Teammitgliedern
für die Anwendung komplementärer Verfahren im Hospiz auslösen:
„Ich hab das jetzt in der Nachbereitung vom Palliative Care Kurs nochmal (..) so
kennengelernt - Atemtherapie, ja. Wo ich so dachte, das kann ich mir vorstellen,
dass das auch eine gute Sache ist für unsere Gäste. Also das hat mich nochmal wirk-
lich so ein bisschen gejuckt jetzt in den Fingern auch, wo ich so dachte, ja, weil das
ist was, was man spontan auch einsetzen kann in der Situation. Ich muss nichts vor-
organisieren.“ (E_P1+AT: 198)
einmal anders Abschied nehmen konnte“, weil viele „einzelne Teile“ interpro-
fessioneller Teamarbeit zusammen gewirkt haben (A_P3: 753).
„Und da überlegen wir schon auch, was könnte helfen? (…) Und wo dann vielleicht
der eine sagt: ‚Ich hab festgestellt der reagiert gut, wenn ich die Hand halte‘ oder
‚Die Musik tut gar nicht gut, da wird er eher unruhig‘ oder so. Also das unsere Ein-
drücke von der Person dann zusammengefasst werden.“ (L5: 155)
„Wenn ich sie dann treffe, sag ich ‚Warst du heut schon bei Frau R. oder warst
schon dort und dort?‘ und ‚Is ja richtig gut‘. Und dann sagt sie so was aus ihrer Ar-
beit, dass es schwierig war, Kontakt zu kriegen, oder dass sie dies und jenes halt
gemacht hat und es scheinbar gut funktioniert.“ (Ärztin 1: 122)
Eine andere Ärztin gesteht im Rahmen eines Interviews, dass sie „eben auch
nicht gut nachfrage, was das Thema angeht“ und noch gar nicht auf die Idee
gekommen ist, „da auch mal auch differenzierter nachzufragen“ (Ärztin 3: 164-
168).
„Und die Ärzte, die halten sich da völlig raus und sagen sozusagen, damit können
wir ja eh nichts kaputt machen. Also macht mal ruhig, macht was Ihr wollt sozusa-
gen. ((lacht))“ (L5: 119)
Dies deckt sich mit der Aussage einer Ärztin, die erklärt, dass die Anwendung
komplementärer Verfahren für sie in Ordnung ist, „wenn man das Gefühl hat, es
schadet nicht“ (B_PM: 1393). Schulmedizin und komplementäre Angebote lau-
fen mehr oder weniger „ungestört (…) nebeneinander“ (L1: 235-239), ohne dass
es je „zum Thema gemacht“ wurde bzw. wird (L1: 243). Auch die Atemthera-
peutin erlebt keinerlei Einschränkungen von Seiten der MedizinerInnen (Atem-
therapeutin: 329).
Heil sterben 149
„Ich hatte mal Öle in der Tasche, und ich bin damit komplett vor die Wand gefahren.
Und da ich [Vorname C_EAKo] versprochen hab, als meine Chefin, ich tue nichts,
was von Leitungsseite nicht gewünscht ist (..), habe ich es nicht angewandt.“
(GD_C: 47)
„Und das würde ich mir mal so wünschen, das auch so mal gezielter zusammenzu-
tragen, welche Angebote kann man überhaupt machen, welche sind sinnvoll, welche
sind vielleicht nicht so sinnvoll? Und womit fangen wir an und wie kann man das
ausweiten, das würde ich mir wünschen.“ (C_L: 236)
Vor allem in Hospiz C besteht der Wunsch nach einer besseren Kooperation
mit den Ehrenamtlichen sowie einer „besseren Kommunikation im Miteinander“
(CPfdL: 264) und die Ressourcen der Ehrenamtlichen in die komplementäre
Praxis im Hospiz mit einzubeziehen (C_L: 236).
Sowohl Leitende, als auch komplementäre PraktikerInnen und die Medizi-
nerInnen selbst sprechen von einer Verbesserung der Zusammenarbeit in Bezug
auf die komplementäre Praxis im Hospiz (z.B. L1: 315), die sich konkret darin
zeigen könnte, dass „die Schulmedizin die komplementären Anwendungen mit-
denken würde“ (L6: 463-467), so eine Leitende. Die Leitende eines anderen
Hospizes hätte gerne einen Arzt/eine Ärztin im Hospiz, die mit „homöopathi-
schen Mitteln“ arbeitet und dabei aber die „Schmerztherapie nicht komplett
ausklammert“ (L4: 550). Interessanterweise fordert eine Ärztin „mehr Offenheit
im Bereich der Schulmedizin“ (Ärztin 5: 195) bzw. Symptom orientiert zu
schauen, was dem Gast gut tut – und nicht automatisch die Schulmedizin zuerst
anzuwenden (Ärztin 5: 191). Auch Ärztin 3 wünscht sich, dass „das wieder mehr
ins Blickfeld gerät“ und man komplementäre Verfahren einsetzt bevor man Me-
dikamente verschreibt (Ärztin 3: 196). Ärztin 2 möchte gern mehr von den kom-
plementären „Therapien wahrnehmen“ und als Ärztin „selbstverständlicher mit
drin“ sein, um „besser teilhaben“ zu können (Ärztin 2: 365-369). Sie möchte in
Zukunft mit den komplementären PraktikerInnen „gemeinsam zum Patienten
hingehen“, um „in der Gemeinsamkeit was Neues zu lernen“ (Ärztin 2: 375-
384).
Strukturelle Grenzen
bot gleich ist, denk ich, dass es organisatorisch einfach auch schwierig ist“
(E_KÖ: 187-188)
In einer Gruppendiskussion wird als weitere Grenze in der Anwendung
komplementärer Verfahren im Hospiz der Kostenfaktor beschrieben (GD_B:
147-160), da die Finanzierung der komplementären Angebote nicht von den
Krankenkassen übernommen wird, auch wenn diese im Vergleich zu konventio-
nellen Therapien oftmals kostengünstiger sind.
Strukturelle Gefahren
jemand anders zu liebe aushalten, ertragen, mitmachen. Und das wäre einfach
alles kontraproduktiv“ (Körpertherapeutin: 221-222). Gleiches gilt für die Mit-
arbeiterInnen im Hospiz. Eine Pflegende weist darauf hin, dass auch den Team-
mitgliedern die komplementäre Praxis im Hospiz bzw. die Anwendung spezifi-
scher Verfahren nicht aufgezwungen werden sollte (Pflegende, Wickel und Auf-
lagen: 308-309).
Aus der Sicht der MedizinerInnen werden komplementäre Ansätze dann gefähr-
lich, wenn sie in ihrer schulmedizinischen Tätigkeit gestört bzw. behindert wer-
den:
„Ja gefährlich ist in meinen Augen, wenn ich das Gefühl hab, ich kann meine Arbeit
nicht so gut tun. Ich kann die Symptome nicht so lindern, wie ich es eigentlich könn-
te, weil es aus einem anderen Grund nicht gewünscht ist. Das ist oft in Situationen
schwierig, aber wenn ich dann das Gefühl hab, da steht eine andere Therapie im
Vordergrund, wo ich das Gefühl hab, die ist nicht so gut, dann fällt es mir schwer.“
(GD B_PM: 1435)
Ärztin 5 (180-183) warnt vor der Applikation von Substanzen, die „mit einer
Belastung“ oder einer Gefährdung einhergehen bzw. deren therapeutischer Effekt
fragwürdig ist. Gefahren liegen außerdem in Substanzen oder Pillen, die übers
Internet angeboten bzw. bezogen werden und vermuten lassen, dass Geschäftsin-
teressen die Hauptmotivation sind (Ärztin 3: 93).
naturgemäß und sind daher auch nicht getrennt voneinander zu betrachten. Wei-
ters wird in vorliegendem Kapitel auf Faktoren, die die Integration komplemen-
tärer Verfahren im Hospiz fördern bzw. behindern, eingegangen und abschlie-
ßend werden konzeptuelle Berührungsstellen zwischen komplementären Ansät-
zen und Hospizarbeit/Palliative Care dargestellt.
Aus den Interviews mit den externen komplementären PraktikerInnen geht her-
vor, dass die Integration der komplementären PraktikerInnen auf der Personen-
ebene grundlegend für die Integration der komplementären Verfahren im Hospiz
ist. Dabei stellt die Integration auf Personenebene kein einmaliges Ereignis,
sondern vielmehr einen – oftmals langwierigen – Prozess dar und muss mit je-
der/m Mitarbeiter/in individuell durchlaufen werden. Für eine externe Praktike-
rin war die Kommunikation mit den einzelnen Teammitgliedern ein Prozess, der
dazu beigetragen hat, dass sie sich „ernster genommen“ fühlte und sich mittler-
weile als „positive Ergänzung“ im Team sieht, ein Prozess, der letztlich auch mit
„jeder Pflegekraft individuell abgelaufen ist“ (Körpertherapeutin: 26). Dabei
verlaufen solche individuellen Integrationsprozesse nicht immer harmonisch:
„Natürlich erst mal die neue Person, die da das alles durcheinander bringt.
Abläufe die vorher da waren, da muss man die neue Person integrieren“ (Kör-
pertherapeutin: 201-203). Kunsttherapeutin 1 (490) erklärt, dass auch das Ver-
trauen auf persönlicher Ebene mit der Zeit wächst und eine wichtige Rolle im
Integrationsprozess spielt.
Durchwegs alle interviewten komplementären PraktikerInnen fühlen sich
auf Personenebene sehr gut in den jeweiligen Hospizen integriert. Eine externe
Praktikerin erlebt ihre Integration auf Personenebene, indem sie eine „unheimli-
che Wertschätzung“ ihr gegenüber wahrnimmt (Shiatsu-Praktikerin: 151), glei-
ches beschreibt Kunsttherapeutin 1 (524). Ein Kunsttherapeut nimmt wahr, dass
er im Team „nicht irgendwie ein Fremdkörper“ ist, sondern sich „ausgespro-
chen wohl fühlt“ (Kunsttherapeut 2: 167).
In den Interviews mit den Leitenden wird deutlich, dass vor allem die kom-
plementären Anwendungen im Rahmen der Pflege letztlich immer von engagier-
ten Einzelpersonen abhängen und von diesen gewissermaßen getragen werden
(L1: 82+74). Verlassen solche Personen das Hospiz bzw. wechseln den Arbeits-
platz, und hat eine Integration nur auf Personenebene stattgefunden, verschwin-
den meist auch die komplementären Anwendungen aus dem Hospiz. Dies bestä-
tigt auch eine Pflegende, die rückblickend auf die Anwendung verschiedener
komplementärer Verfahren im Hospiz resümiert, dass es immer eine Person
Heil sterben 155
braucht, die sich damit „beschäftigt“ und die anderen sozusagen mitzieht, da
diese Dinge ansonsten wieder verloren gehen (C_P1: 160).
Eine vollständige Integration der komplementären Angebote in die tägliche
Praxis aller Pflegepersonen ist jedoch in keinem Hospiz zu finden, ein Leitender
spricht in diesem Kontext vielmehr von „Bewusstseinsbildung“, die geleistet
werden muss (L3: 217). Aus den Aussagen der InterviewpartnerInnen geht her-
vor, dass eine hundertprozentige Integration auf Personenebene nicht erreicht
werden kann und auch von keinem/keiner der Leitenden als Ziel angestrebt wird.
Die Integration der externen PraktikerInnen ins Team sowie deren Etablierung
auf Teamebene wird von einer Leitenden (L1: 86) als langwieriger Prozess be-
schrieben. Wichtig in diesem Prozess ist die Teilnahme an multiprofessionellen
Teambesprechungen sowie Fortbildungen (L1: 94, L5: 157-159), die leider nicht
in allen Hospizen von der Leitung forciert werden (L2: 138). Erst durch die In-
tegration der komplementären PraktikerInnen in die Teamsitzungen entsteht
„Transparenz“, die von allen Teammitgliedern sehr geschätzt wird und durch die
häufig Anregungen entstehen, die der Betreuung der Gäste zu Gute kommt:
„Dann wird das rund dadurch. Und kriegt noch einmal eine ganz andere Bedeu-
tung“, so eine Kunsttherapeutin im Rahmen einer Gruppendiskussion
(KU_GDB: 938-952). Kunsttherapeutin 3 (193) bemerkt ihre Integration im
Hospiz daran, dass die Teammitglieder wissen, zu welchen Zeiten sie anwesend
ist, und sich auch darauf einrichten indem sie beispielsweise ihre Pflegetätigkei-
ten auf die Anwesenheitszeiten der Kunsttherapeutin ausrichten. Integration hat
ihrer Ansicht nach (Kunsttherapeutin 3: 195-197) auch etwas mit Bewusstseins-
arbeit bei den Pflegenden zu tun, was letztlich daran sichtbar wird, ob und wie
Pflegende die komplementären Angebote in ihrer Arbeit mitdenken bzw. sie in
diese integrieren. Auch die Atemtherapeutin beschreibt, dass sie von Pflegenden
sehr gezielt aufgrund ihrer Kompetenzen geholt wird, was auf ihre Integration im
Team hinweist (Atemtherapeutin: 69). Für eine Pflegende gehört zur Integration
komplementärer Verfahren im Hospiz auch das gegenseitige Lesen der Doku-
mentation (A_PA: 98). Die Integration eines komplementären Verfahrens bedarf
vor allem einer wechselseitigen Wertschätzung und ein gemeinsames Tragen im
Team:
„..also [da ist] gleich eine ganz andere Wertschätzung und damit ist man ineinander
oder miteinander verzahnt. Und das macht die Sache so wertvoll. Shiatsu allein oder
Craniosacrale alleine hier in diesem Haus hätte keinen Bestand, ... wenn wir es ge-
meinsam nicht tragen würden.“ (A_PA: 98-106)
156 Claudia Wenzel
Integration auf Teamebene bedeutet jedoch nicht, dass alles gleich wird, sondern
vielmehr, dass das eigene Profil erhalten bleibt: „Wo es auch nicht darum geht,
alles zu vermischen und zu sagen ‚Integration heißt, wenn alles gleich ist. Wir
machen ja sowieso alle dasselbe‘, natürlich nicht. Also, das eigene Profil muss
noch da sein“ (Craniosacrale Osteopathin: 278).
„Also mir gefällt natürlich hier, dass man sowohl einen Freiraum hat, eben komplex
zu arbeiten, also eine komplexe Sichtweise zu haben, dass es auch Anerkennung hat
von den anderen. Also dass man ein Teil des Ganzen ist. Und den Respekt den ge-
genseitigen, den finde ich einfach unglaublich wichtig. Ich glaube, der hat auch was
damit zu tun, dass man diese verschiedenen Zugänge ja auch zulässt.“ (F_KU: 961)
„Einmal, dass wir mehr Freiheiten haben. Dass wir kleine Institutionen sind mit ei-
ner anderen Hierarchieform. Nicht so vielen Kontrollinstanzen, Apotheker, Chefarzt,
der uns da irgendwie reinredet. Sondern wir können auch einfach machen. Das ist
ein ganz großes Geschenk. Wir haben ganz viel Freiheiten.“ (L4: 364)
„Und ich glaube, es war natürlich schon ähnlich wie bei Shiatsu auch, dass wenn
Mitarbeiter erleben das tut gut, können sie sich besser vorstellen und können auch
Gästen das besser vorschlagen oder was damit anfangen. Das ist was ganz Wichti-
ges.“ (Craniosacrale Osteopathin: 69-71)
Auch die Offenheit und Transparenz gegenüber den Teammitgliedern ist zentral
für die Integration komplementärer Verfahren im Hospiz. So hat zum Beispiel
die Atemtherapeutin Kollegen und Kolleginnen mit in die Zimmer der Gäste
genommen, wenn komplementäre Behandlungen stattfanden, um ihnen einen
Eindruck ihrer Arbeit zu verschaffen (Atemtherapeutin: 40-41). Auch Kunstthe-
rapeutin 3 erklärt, wie wichtig es für den Integrationsprozess im Hospiz war, ihre
Arbeit immer wieder „nach außen“ zu tragen und von den Ereignissen zu erzäh-
len, weil sich die Teammitglieder oft nicht vorstellen konnten, was konkret da
passiert: „Als ich dann über sozusagen einzelne kleine Geschichten oder Erleb-
nisse die Situationen beschrieben habe, dann haben sie verstanden, was da sozu-
sagen noch in Gang kommen kann. (..) Und daraufhin bin ich auch besser inte-
griert worden“ (Kunsttherapeutin 3: 187-189). So wie die Offenheit nach innen
– also ins Team – ist auch die Öffnung nach außen, z.B. durch Ausstellungen von
Bildern der Gäste im Hospiz (Kunsttherapeutin 1: 536), von großer Bedeutung
für die Integration komplementärer Anwendungen.
wird letztere oft nicht angewandt, aus Angst, etwas „falsch zu machen“ (GD_D:
121-125).
Pflegende weisen darauf hin, dass komplementäre Ansätze auch immer
wieder „einschlafen“ bzw. „aus dem Kopf verschwinden“, wenn man sie nicht
fortwährend anwendet (GD_D: 73-76) bzw. wenn es „nicht mit Freude weiterge-
führt“ wird (D_P2+stvL: 115). Integration externer komplementärer Angebote
wird hingegen verhindert, wenn komplementäre PraktikerInnen nur auf Abruf
bereit stehen:
„Ja, ich würde mir wünschen, dass wir eine gute Musiktherapie und regelmäßig, al-
so integriert da drin haben. Wir haben zwar jemanden, den wir mal anrufen können,
aber das ist genau wie mit anderen Angeboten, wenn das nicht irgendwo fest, etwas
fester im Kopf ist, etwas fester etabliert, dann geht das so ein bisschen verloren, geht
einfach aus dem Kopf raus.“ (Ärztin 4: 161-162)
Wenn die Kommunikation im Team nicht klar ist oder der Auftrag von Seiten der
Leitung nicht klar an die MitarbeiterInnen kommuniziert wird, wirkt sich dies
negativ auf die Integration komplementärer Verfahren bzw. deren Anwendung
aus (GD_C: 35-47).
„Und das macht das Arbeiten wertvoll, also ich finde die Arbeit wertvoll mit den
ganzen anderen Puzzleteilen oder Mitarbeitern aus verschiedensten Aspekten. Die-
ses Multidisziplinäre, was zur Ganzheit oder zur Ganzheitlichkeit auch des Hei-
lungsprozesses in den Prozess des Sterbens dazugehört, das ist menschlich.“ (F_P1:
972)
„Ich glaube, wir wollen die Menschen sehr individuell abholen. Ihnen noch etwas
Gutes tun. Und über Mittel und Wege nachdenken, wie kann ich Dir etwas Gutes
tun?
(…) Ich kann ihnen ja nichts mehr Heilmachen, im Sinne, dass ich jetzt was reparie-
re, physisch irgendwas an ihm mache. Aber ich kann ihm etwas zutrauen, ihn unter-
stützen, ihm ein Gefühl vermitteln, dass ihn Geborgenheit spüren lässt.“ (L3: 185-
189)
Manchmal ist die Nutzung komplementärer Verfahren auch Teil der Biographie
der Menschen: „Es gibt ja auch Lebensläufe da gehören solche Dinge ganz fest
mit in das Alltagsgeschehen. Von komplementären Dingen oder auch von Medi-
tation oder Gebet oder ähnliches“ (L2: 154).
In vielen Interviews bzw. Gruppendiskussionen wird Ganzheitlichkeit als
Berührungspunkt zwischen komplementären Verfahren und dem Konzept der
Palliative Care genannt (B_PA: 2004-2009, E_P3: 632, E_P1+AT: 643, L6: 226).
Eine Pflegende bringt es folgendermaßen zum Ausdruck: „Ganzheitliche Pflege
in dem Sinne: Körper, Geist und Seele, das gehört da alles dazu“ (D_P3: 220),
während für eine Leitungsperson ein Zusammenhang zwischen ganzheitlichem
Denken und Natur(verbundenheit), auch im Kontext von Palliative Care, besteht.
Heil sterben 161
„Und da bin ich wieder so bei dem ganzheitlich Denken. (..) Mit der Natur zu leben,
aus der Natur zu leben. (..) Wie oft begleiten wir hier Menschen, die mehr Vertrauen
in Homöopathie haben, die neben einer Chemotherapie immer noch Mispelprä-
parate nehmen, die (..) ganz viel Vertrauen darin haben, was Mutter Erde, ich mach
mal das Bild auf, was Mutter Erde uns gibt, so. Und darum glaub ich sind wir gera-
de an diesem Punkt, da geht es ja so existentiell um Sachen: Was macht mein Leben
aus? Ist mein Leben endlich, wie geht es weiter? Das passt für mich irgendwie dazu,
sag ich jetzt einmal.“ (L3: 193)
„Die Frage ist ja auch immer, was will ich mit diesen alternativen, mit dieser alter-
nativen Heilmethoden bezwecken? Was ist das Bild davon? Und da kann, das ist
vielleicht bei einer Akupunktur eher wirklich ein ähnliches Ziel, wie ich mit meinen
Tabletten verfolgen würde, also ganz klar, bestimmte Symptome zu bekämpfen. Und
es kann aber eben bei anderen Bereichen, also wenn ich so von der palliativen Kör-
pertherapie unserer Heilpraktikerin ausgehe, die kann unter Umständen Lymph-
drainage über die Füße machen, das ist mehr, da verfolgt sie einen ganz bestimmten
Zweck sagen wir mal, aber sie kann auch mehr im Sterben begleiten, ins Loslassen.“
(L5: 267)
„Es scheint alles mehr machbar. Und auf Ihre Frage, deswegen finde ich es wichtig,
dass die komplementären Behandlungsmethoden die eben mehr in diesen Bereich,
dieses Nichtwissens hineingehen, die sich trauen, da hinein zu gehen, darum ist es
so wichtig, dass es die gibt. Weil die Patienten gehen genau da hin. Sie gehen eben
in den Bereich, wo sie es auch nicht mehr wissen. Und wenn sie da eine Begleitung
finden, das halte ich für ebenso wichtig wie, dass sie eine gute ja Schmerzmedikati-
on oder mit der Übelkeit oder was immer ist, dass sie das auch kriegen. (..) Also ja
dieses … dieses Weichere, dass dieses Weichere und dieses Unbekannte einfach
Raum hat, haben darf.“ (Atemtherapeutin: 371-372).
Eine Pflegende versteht körperliche Erkrankung auch als Teil eines seeli-
schen Prozesses und sieht die Möglichkeiten komplementärer Anwendungen im
Hospiz darin, Menschen in ihrer „Heilwerdung um Abschied zu nehmen“ zu
unterstützen.
„Heil sein heißt ja auch ein Stück das Funktionieren aller Zusammenhänge im Kör-
per. Die [Menschen] sind jetzt körperlich sehr krank. Oft ist ja körperliche Erkran-
kung auch ein Teil eines seelischen langen Prozesses, bis es sich im Körper zeigt.
Seele, Geist, Körper, das ist ja eine Einheit. Und die ist auseinander gefallen bei
diesen Menschen, wie ein Puzzlespiel, das sich auseinander gesetzt hat. In diesem
Krankheitsprozess, den sie hier erleben, sind wir hier praktisch diejenigen, die ver-
suchen, diese Teile wieder zu einem Stück zusammenzusetzen, damit sie vielleicht
sogar gehen können. Also so eine Heilwerdung, um Abschied zu nehmen. Ich denke,
das ist so das, was wir noch machen können. Sie werden ja nicht mehr richtig ge-
sund, dass sie weiterleben. Ich mein, wir sind ja auch alle nicht unsterblich.“
(F_P1: 107)
Je weniger von diesen Voraussetzungen erfüllt werden, desto höher ist die Wahr-
scheinlichkeit, dass komplementäre Verfahren nur punktuell angewandt werden
oder wieder aus dem Hospiz verschwinden. Dabei fungieren die strukturellen
Freiheiten gewissermaßen als Eingangstor, damit komplementäre Verfahren bzw.
PraktikerInnen überhaupt den Weg ins Hospiz finden. Auf Teamebene sind vor
allem interdisziplinäre Kommunikation, Vertrauen und gegenseitige Wertschät-
zung von Nöten, damit eine gelingende multiprofessionelle Teamarbeit im Kon-
text der komplementären Praxis stattfinden kann. Die Qualität der Anwendung
hängt jedoch sehr stark von den Voraussetzungen auf Seiten der BehandlerInnen
und deren Reflexionsfähigkeit ab.
164 Claudia Wenzel
Einen Überblick über den Prozess der Auswahl komplementärer Angebote für
Betroffene bzw. die Zuweisung zu (externen) komplementären PraktikerInnen im
Hospiz gibt Abbildung 12.
Am Beispiel der Behandlung der An- und Zugehörigen wird die systemische
Wirkung der komplementären Anwendungen sehr gut sichtbar. Oftmals brauchen
An- und Zugehörige viel dringender Aufmerksamkeit und Unterstützung am
Lebensende ihrer Bezugsperson, vor allem, wenn sie durch vorangegangene
lange Krankheit des nahe stehenden Menschen oder eine über Jahre dauernde
Pflegesituation, körperlich und psychisch stark belastet sind. Die Entlastung der
An- und Zugehörigen bedeutet dabei auch immer eine Entlastung der Sterben-
den.
Die empirischen Ergebnisse zeigen, wie An- und Zugehörige auf vielfältige
Weise von komplementären Behandlungen profitieren: Sie finden Entspannung
und Ruhe, können gewissermaßen „Verschnaufpausen“ einlegen und erhalten
Zugang zu und Ausdrucksmöglichkeit von eigenen (oft unerlaubten) Gefühlen
wie Wut, Verzweiflung oder Trauer. Komplementäre Verfahren bzw. PraktikerIn-
nen unterstützen die nonverbale und emotionale Kommunikation mit Sterbenden,
verhelfen zu ressourcenorientierter Wahrnehmung und ermöglichen manchmal,
noch etwas für den sterbenden Menschen zu tun (z.B. ein Bild im Rahmen der
Kunsttherapie zu malen). Sie fungieren gewissermaßen als Begleitung im Ab-
schieds-, Sterbe- und Trauerprozess und helfen An- und Zugehörigen beim Pro-
zess des Loslassens.
Was das multiprofessionelle Team und die interdisziplinäre Zusammenar-
beit im Hospiz betrifft, so zeigen die Ergebnisse, dass die komplementäre Praxis
im Hospiz interprofessionelle Teamarbeit erfordert und gleichzeitig spezielle
Formen der Teamkultur forciert. Dabei wird eine gemeinsame Haltung sowohl
von Pflegenden als auch von komplementären PraktikerInnen als zentrales ver-
bindendes Element in Bezug auf die Anwendung komplementärer Verfahren
beschrieben.
Durch die komplementäre Praxis werden Pflegende in ihrem professionellen
Selbstverständnis herausgefordert und zur Reflexion und Weiterentwicklung der
eigenen Rolle angeregt. Dies zeigen Ergebnisse aus einer Gruppendiskussion, in
denen Pflegende die prinzipielle Notwendigkeit externer PraktikerInnen im Team
in Frage stellen, da sie die ganzheitliche Pflege im Hospiz in ihrem Kern als
„komplementär“ wahrnehmen.
Einige Pflegende erkennen durchaus die Bedeutung der externen Praktike-
rInnen an, die neben der Eröffnung neuer Sichtweisen auf Gäste, An- und Zuge-
hörige auch Entlastung für die eigene professionelle Tätigkeit bringen und somit
das Team von außen stabilisieren. Die Bedeutung der externen komplementären
PraktikerInnen für das multiprofessionelle Team liegt also nicht nur in ihrer
komplementären Praxis, sondern vielmehr in ihrer Rolle als Externe, in der sie
nicht nur mehr Freiheiten besitzen, sondern durch das ständige Ein- und Austre-
168 Claudia Wenzel
ten strukturelle Abläufe im Hospiz irritieren bzw. zur Reflexion anregen und
damit den Kern des „Hospizlichen“ lebendig halten und bewahren helfen.
Ähnlich in ihrer Bedeutung als externe MitarbeiterInnen für das Hospiz, ist
die Rolle der Ehrenamtlichen, im Kontext der komplementären Praxis, durchaus
ambivalent. Die empirischen Ergebnisse zeigen, dass Leitende und hauptamtli-
che MitarbeiterInnen nur wenig bis gar kein Wissen über die „komplementären“
Qualifikationen von Ehrenamtlichen besitzen und deren Wissen bzw. vorhandene
Ressourcen somit weitgehend ungenutzt bleiben. In einigen Hospizen unterstüt-
zen ehrenamtliche MitarbeiterInnen die externen PraktikerInnen (z.B. im Rah-
men der Kunsttherapie) oder die Professionellen (z.B. beim Sammeln von Heil-
kräutern für die Herstellung von Ölen für die Aromatherapie). Die mangelnde
Integration der Ehrenamtlichen in Bezug auf die komplementäre Praxis hat in
einigen Hospizen dazu geführt, dass Ehrenamtliche auch ohne Wissen der Lei-
tung komplementäre Verfahren angeboten bzw. praktiziert haben und es zu Über-
schneidungen mit offiziellen Angeboten gab. Die strukturelle Einbindung ehren-
amtlicher MitarbeiterInnen in die komplementäre Praxis im Hospiz wäre vor
allem im Hinblick auf deren zeitliches Potenzial (z.B. komplementäre Anwen-
dungen auch am Wochenende fortzuführen), für die Möglichkeit auf individuelle
Bedürfnisse der Betroffenen einzugehen sowie wie für die Entlastung des Teams
gleichermaßen bedeutend.
Durch die Anwendung und Nutzung komplementärer Verfahren im Hospiz
werden nicht nur professionelle bzw. fachliche Grenzen markiert und manchmal
auch Grenzkonflikte hervorgerufen, sondern auch professionelle Grenzen über-
schritten, sei es von Ehrenamtlichen oder auch von den Professionellen selbst.
Grenzüberschreitungen im Rahmen der komplementären Praxis im Hospiz wer-
den von den MitarbeiterInnen selbst am deutlichsten im Zusammenhang mit der
Grenzüberschreitung zur Schulmedizin und hier insbesondere bei der Verabrei-
chung von Substanzen wahrgenommen, vor allem wenn MedizinerInnen Kontra-
indikationen oder gefährliche Nebenwirkungen befürchten.
Das Thema der Grenzüberschreitungen beinhaltet die Frage, wie mit Regeln
und Regelverletzungen umgegangen wird. Gerade im Kontext der komplementä-
ren Praxis zeigt sich, dass selbst Regelverletzungen (z.B. professionelle Grenz-
überschreitungen) nicht (sofort) oder nur in schwerwiegenden Fällen sanktioniert
werden (z.B. wenn Gäste im Hospiz zu Schaden kommen oder das Team
destabilisert wird).
Das Hospiz kann in diesem Sinn als Ort der Grenzüberschreitung (vom
Leben zum Tod) verstanden werden, wo Regeln nicht (immer) beachtet werden,
weil auch der Tod sich nicht an Regeln hält. Dies spiegelt sich auch im subjekti-
ven Empfinden der MitarbeiterInnen wieder, die Grenzüberschreitungen retro-
Heil sterben 169
spektiv als durchaus regelwidrig wahrnehmen, aber gleichzeitig als intuitiv rich-
tig bzw. der Situation angemessen bewerten. 20
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Heil sterben 173
Die Grounded Theory ist, als einer der wichtigsten und bekanntesten For-
schungsansätze der qualitativen Sozialforschung, Gegenstand fast jeden Lehr-
buchs oder jeder Übersicht zu den qualitativen Methoden. Abgesehen von diesen
Kurzdarstellungen, die sich oftmals an Studenten wenden, welche sich in For-
schungsmethoden einarbeiten, gibt es zahlreiche Bücher, deren Gegenstand die
Grounded Theory als Methodologie ist. In diesen Büchern sind entsprechende
Theorien mittlerer Reichweite und oftmals auch die spezifische Anwendung der
Grounded Theory beschrieben. Bei der dritten Art der Literatur zur Grounded
Theory, um die es in diesem Kapitel vornehmlich geht, handelt es sich um
Grundlagenliteratur.
Die folgende Literaturübersicht widmet sich also der kurzen Darstellung
ausgewählter grundlegender Beiträge zur Grounded Theory. Dabei werden ver-
schiedene Verfahrensvorschläge (siehe Kapitel 2) berücksichtigt. Der Fokus liegt
jedoch deutlich auf der durch Strauss verfolgten und etablierten Verfahrensweise
und ihrer entsprechenden Interpretationen. Die durch Glaser veröffentlichten
Monographien werden nicht ausführlich beschrieben, sondern finden sich in der
ergänzenden Literatur wieder.
Im zweiten Teil der Literaturliste werden Journalartikel vorgestellt, die die
Methoden-, wie auch die Ergebnisdarstellung in dieser Form verdeutlichen sol-
len. Zuletzt folgt der Verweis auf weiterführende, meist englischsprachige, Lite-
ratur und Langversionen der Ergebnisdarstellung von Grounded Theory Studien.
Die Einteilung der Literatur orientiert sich an drei Kategorien:
M. W. Schnell et al. (Hrsg.), Palliative Care und Hospiz, Palliative Care und Forschung,
DOI 10.1007/978-3-658-07664-1_5, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
176 Christine Dunger
1. Grundlagenliteratur
sem auftretende Fragen aufgegriffen. Beispiele hierfür sind der Umgang mit
wissenschaftlicher und nicht-wissenschaftlicher Literatur, oder die Analyse von
Fällen, die nicht in die bisher entwickelte Theorie zu passen scheinen. Diese auf
den Forschungsverlauf abgestimmten Themen erlauben auch, das Buch als direk-
te Hilfestellung im Forschungsverlauf zu benutzen.
Die Erläuterungen sind sprachlich verständlich. Der Aufbau und die Gliede-
rung sind klar und nachvollziehbar. So wird nach einer grundlegenden Einfüh-
rung, die auch die Geschichte und den Kontext der Grounded Theory berück-
sichtigt, auf die Techniken und das Vorgehen derselben eingegangen. Im letzten
Abschnitt des Buches greifen Strauss und Corbin neben der Erläuterung von
Memos und Diagrammen, das Publizieren und Bewerten von Grounded Theory
Studien auf, d.h. auch zu diesem wichtigen Teil des Forschungsprozesses gibt es
Erläuterungen.
Insgesamt ist das Buch didaktisch gut durchdacht und auf die Fragen wie
Bedürfnisse von Einsteigern abgestimmt. Es kann aber auch hilfreiche Hinweise
für erfahrenere Forscher beinhalten. Es ist zur Einarbeitung in die Grounded
Theory sehr zu empfehlen, da die zwangsläufige Spannung zwischen der Kom-
plexität der Grounded Theory Methodologie und einer einfachen, verständlichen
Darstellung sehr gut aufgelöst wird. Hier liegt die Besonderheit dieses Grundla-
genbuches.
Als gemeinsames Werk ihrer Erfinder, lassen sich die Grundideen der Ent-
wicklung der Grounded Theory nachvollziehen. Die weiterentwickelten Positio-
nen von Glaser wie Strauss, bzw. Strauss und Corbin finden sich hier natürlich
nicht. Insofern ist das Buch ein Ausgangspunkt für eine Auseinandersetzung mit
der Methodologie. Für die konkrete Anwendung der Grounded Theory empfiehlt
es sich neuere Literatur hinzuzuziehen.
Günter Mey & Katja Mruck (Hg.): Grounded Theory Reader. Historical Social
Research, Supplement 19 (2007). Zentrum für Historische Sozialforschung,
Köln.
Die Textsammlung „Grounded Theory Reader“ erschien 2007 als Ergänzungsteil
der Zeitschrift „Historical Social Research / Historische Sozialforschung“ (GE-
SIS, Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften). Er wurde zum vierzigsten Ge-
burtstag der Grounded-Theory-Methodologie veröffentlicht und sollte einen
Überblick über die Grounded Theory Methodologie, die in ihr entwickelten Posi-
180 Christine Dunger
tionen und ihre Anwendung geben. Damit richtete sich die Textsammlung so-
wohl an Einsteiger, als auch an erfahrene Forschende und Lehrende.
Sodann gliedert sich der Reader in zwei Abschnitte. Der erste Teil „Positio-
nen und Kontroversen“ dient der allgemeinen Reflexion der Grounded Theory
Methodologie und bestehender Positionen. Hier werden auch historische Ent-
wicklungen mit einbezogen. Der zweite Abschnitt „Reflexionen der GTM Pra-
xis“ fokussiert auf die Forschungspraxis und dabei relevante Problemstellungen
im Forschungsprozess.
Die Textsammlung besteht aus deutschen und englischen Beiträgen ver-
schiedener Autoren, wie aus Interviewabdrucken. Insgesamt bietet sie somit
einen vielfältigen Überblick und viele Anregungen zur Auseinandersetzung mit
der Grounded Theory Methodologie. Ein grundlegendes Methodenverständnis
zur Grounded Theory ist jedoch sinnvoll. Dieses erleichtert das Verständnis der
aufgezeigten Kontroversen und der englischsprachigen Beiträge.
Günter Mey & Katja Mruck (Hg.): Grounded Theory Reader. Historical Social
Research, Supplement 19 (2011). 2. AUFLAGE: VS Verlag für Sozialwissen-
schaften.
Die zweite Auflage des Grounded Theory Readers stellt sich zur Aufgabe, die in
den Jahren gewachsene Bandbreite unterschiedlicher Verständnisse der Groun-
ded Theory darzustellen. Mey und Mruck entnehmen sechs Beiträge der ersten
Auflage und fügen neun andere hinzu. Diese Veränderungen führen auch zu
einer Neugliederung der Inhalte. Neben der allgemeinen Einführung durch die
Herausgeber, finden sich Interviews mit den zentralen Vertretern der Grounded
Theory Methodologie, die Darstellung verschiedener Positionen, wie die Diskus-
sion der daraus entstehenden Kontroversen und eine Reflexion relevanter Schrit-
te im Forschungsprozess. Zudem sind bisher englische Texte/ Interviews ins
Deutsche übersetzt. Insgesamt kann eher von einer Neuauflage gesprochen wer-
den, wie die Herausgeber selbst sagen.
Die vollständige Übersetzung und die Neugliederung ermöglichen insbe-
sondere Forschungsneulingen eine bessere Übersicht und ein tieferes Verständ-
nis der Inhalte.
Journal Artikeln treffen die Forscher/ Autoren, immer wieder auf die Problema-
tik, die komplexen Verfahrensweisen und Ergebnisse in einer sehr kurzen Form
angemessen umfassend, aber zugleich verständlich darzustellen. Vielen Autoren
gelingt dies nicht, da sie sich letztendlich zwischen der Darstellung der Methode
und der Darstellung der Ergebnisse entscheiden müssen. Die folgenden zwei
Studien sind beispielhaft für diesen Konflikt und zeigen, wie er gelöst werden
kann.
Inhaltlich fokussieren die Studien auf (1) das Erleben von Hoffnung ambu-
lant Pflegender, (2) das Konzept der Würde am Lebensende aus Sicht deutscher
Pflegeheimbewohner und (3) den Prozess des Bettlägerigwerdens. Die beiden
letzten Artikel stimmen mit der Buchempfehlung zu Langfassungen von For-
schungsergebnissen überein.
(1) Penz K., Duggleby W. (2011). Harmonizing hope: A grounded theory study
of the experience of hope of registered nurses who provide palliative care in
community settings. Palliative and Supportive Care, 9, 281-294.
Penz und Duggleby beschreiben in ihrem Artikel eine Studie mit dem Ziel, das
Konzept der Hoffnung aus der Sicht Pflegender, die in die ambulante Palliativ-
versorgung einer Gemeinde eingebunden sind, zu beschreiben. Dabei handelt es
sich jedoch nicht um eine Konzept- oder Begriffsanalyse. Unter der Annahme,
dass Hoffnung ein komplexes Phänomen ist, das in Zusammenhang mit dem
Verhalten steht, wird das Erleben der Pflegenden von Hoffnung in verschiedenen
Versorgungssituationen als Prozess untersucht.
Die Autoren beschreiben die Anwendung der Grounded Theory Methodo-
logie in der Interpretation von Charmaz und geben Beispiele für den Kodierpro-
zess. In den Ergebnissen stellen sie die Grundzüge der entstandenen Theorie zur
Harmonisierung von Hoffnung mit ihren begleitenden Konzepten vor.
(2) Pleschberger S. (2007). Dignity and the challange of dying in nursing homes:
the residents’ view. Age and Ageing, 36, 197-202.
Pleschberger stellt in diesem Artikel ein zentrales Konzept ihrer Dissertation dar,
die mittels der Grounded Theory Methodologie die palliative Versorgung in
westdeutschen Pflegeheimen untersuchte. Im Zentrum des Artikels steht das
Konzept von Würde am Lebensende, das aus Aussagen von Pflegeheimbewoh-
nern entwickelt wurde. Im Buch „Nicht zur Last fallen“, das die Langfassung
dieser Studie enthält, widmet sich Pleschberger ebenfalls in einem Kapitel die-
sem Konzept und diskutiert es zudem im Rahmen bestehender Definitionen von
Würde.
182 Christine Dunger
3. Weiterführende Literatur
Die hier aufgelisteten Beiträge und Monographien vertiefen einerseits den theo-
retischen Rahmen der Grounded Theory Forschung und enthalten andererseits
entsprechend ausgerichtete Forschungsbeispiele. Sie werden nicht ausführlich
vorgestellt.
Monographien, die weiterführende Informationen zur Grounded Theory
Methodologie geben, sind vor allem:
Weitere Texte von Glaser lassen sich online über Forum:Qualitative Sozialfor-
schung beziehen.
Auch die Darstellung vor Forschungsergebnissen, d.h. Grounded Theories,
in ihrer Langfassung als Monographien ist nicht nur interessant, sondern hilft im
Verständnis der Methode und ihrer Anwendung. Besonders zu berücksichtigen
ist dabei natürlich das Buch „Awareness of dying“ (deutsch: Interaktion mit
Sterbenden) als Erstanwendung der Grounded Theory Methodologie durch Bar-
ney G. Glaser und Anselm L. Straus von 1965.
Grounded Theory – eine kommentierte Literaturliste 183
Die hier empfohlenen Bücher kommen aus verschiedenen Bereichen und zeigen
verschiedene Wege auf, wie in Monographien eine Theoriedarstellung gelingen
kann. Sie legen unterschiedlichen Wert auf die Darstellung der Methode und
verdeutlichen, wie der Anspruch des „Story telling“ in der Darstellung der Er-
gebnisse in verschiedener Wiese umgesetzt werden kann.
Autorinnen und Autoren
Dr. med. Christian Schulz MSc (UK), Stellv. Leiter und Oberarzt des Interdis-
ziplinären Zentrums für Palliativmedizin am Universitätsklinikum Düsseldorf,
Doktorandenstudium zum Professional Doctorate in Existential Psychotherapy
(DProf) an der New School of Psychotherapy and Counseling, Middlesex Uni-
versity, London, UK.
Univ.-Prof. Mag. Dr. Andreas Heller, Leiter des Instituts für Palliative Care
und Organisationsethik, Fak. für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung,
Abt. Palliative Care und Organisationsethik
Univ. Prof. Dr. Sabine Pleschberger, MPH, Leiterin des Instituts für Pflege-
und Versorgungsforschung, Department für Pflegewissenschaft und Gerontolo-
gie, Private Universität für Gesundheitswissenschaften, Medizinische Informatik
und Technik (UMIT) Hall i.T.
Dr. Claudia Wenzel, Fak. für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung, Abt.
Palliative Care und Organisationsethik, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt,
Wien, Graz
M. W. Schnell et al. (Hrsg.), Palliative Care und Hospiz, Palliative Care und Forschung,
DOI 10.1007/978-3-658-07664-1, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015