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Palliative Care und Forschung

Herausgegeben von
M. W. Schnell, Witten, Deutschland
C. Schulz, Düsseldorf, Deutschland
C. Dunger, Witten, Deutschland
Palliative Care ist eine interprofessionelle, klinisch und kommunikativ ausgerich-
tete Teamleistung, die sich an Patienten und deren Angehörige richtet. Bei der
Versorgung eines Palliativpatienten geht es nicht nur um die Behandlung krank-
heitsbedingter Symptome, sondern vor allem auch um Zuwendung an die Adresse
eines Patienten, um die Schaffung geeigneter Versorgungsangebote, um die Unter-
stützung von Familien und um konkrete Mitverantwortung. Über die Erfahrungs-
welten von Palliativpatienten in Deutschland gibt es nur wenige Erkenntnisse. In
diesem Bereich besteht ein Forschungsbedarf, der sich auf Sachthemen wie die
subjektiven Sichtweisen von Patienten und Angehörigen, auf Interaktionen am Le-
bensende, auf Lebenswelten des Sterbens und nicht zuletzt auf soziale Strukturen
von Versorgungseinheiten bezieht. Diese und andere Sachthemen können durch
qualitative und sozialwissenschaftliehe Forschungsmethoden erschlossen werden,
die in Deutschland bislang nur sehr selten im Bereich der Erforschung von Pallia-
tive Care eingesetzt werden. Die Reihe Palliative Care und Forschung möchte mit-
helfen, diesen Mangel im deutschen Sprachraum zu beseitigen.

Herausgegeben von
Martin W. Schnell Christine Dunger
Witten, Deutschland Witten, Deutschland

Christian Schulz
Düsseldorf, Deutschland
Martin W. Schnell • Christian Schulz
Andreas Heller • Christine Dunger (Hrsg.)

Palliative Care
und Hospiz
Eine Grounded Theory
Herausgeber
Martin W. Schnell Andreas Heller
Witten/Herdecke, Deutschland Wien, Österreich

Christian Schulz Christine Dunger


Düsseldorf, Deutschland Witten/Herdecke, Deutschland

Palliative Care und Forschung


ISBN 978-3-658-07663-4 ISBN 978-3-658-07664-1 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-658-07664-1

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort ................................................................................................................. 7

Martin W. Schnell
Die Grounded Theory im Licht der Wissenschaftstheorie .................................. 11

Janina Schmidt/Christine Dunger/Christian Schulz


Was ist „Grounded Theory“? .............................................................................. 35

Andreas Heller/Sabine Pleschberger


Geschichte der Hospizbewegung in Deutschland.
Hintergrundfolie für Forschung in Hospizarbeit und Palliative Care ................. 61

Claudia Wenzel
Heil sterben. Zur Bedeutung alternativer und komplementärer Ansätze
für eine Versorgung Sterbender in Hospizarbeit und Palliative Care ................. 75

Christine Dunger
Grounded Theory – eine kommentierte Literaturliste ....................................... 175

Autorinnen und Autoren ................................................................................... 185


Vorwort

Palliative Care ist eine interprofessionelle, klinisch und kommunikativ ausge-


richtete Teamleistung, die sich an Patienten und deren Angehörige richtet. Bei
der Versorgung eines Palliativpatienten geht es nicht nur um die Behandlung
krankheitsbedingter Symptome, sondern vor allem auch um Zuwendung an die
Adresse eines Patienten, um die Schaffung geeigneter Versorgungsangebote, um
die Unterstützung von Familien und um konkrete Mitverantwortung. Manchmal
sind diese interpersonalen und sozialen Hilfeleistungen in einem entsprechenden,
ambulanten oder stationären Setting die einzige Leistung, die von der Palliativ-
versorgung am Lebensende noch erbracht werden kann.
Über die Erfahrungswelten von Palliativpatienten und Hospizgästen in
Deutschland gibt es nur wenige Erkenntnisse. In diesem Bereich besteht ein
Forschungsbedarf, der sich auf Sachthemen wie die subjektiven Sichtweisen von
Patienten und Angehörigen, auf Interaktionen am Lebensende, auf Lebenswelten
des Sterbens und nicht zuletzt auf soziale Strukturen von Versorgungseinheiten
bezieht.
Diese und andere Sachthemen können durch qualitative, quantitative und
andere Forschungsmethoden, die im weitesten Sinne sozialwissenschaftlich
ausgerichtet sind, erschlossen werden. Diese Methoden sind in Deutschland
bislang nur sehr selten im Bereich der Erforschung von Palliative Care eingesetzt
worden.
Die Buchreihe Palliative Care und Forschung möchte mithelfen, diesen
Mangel im deutschen Sprachraum zu beseitigen. Zu diesem Zweck bietet jeder
Band der Reihe:

ƒ die Darstellung einer qualitativ bzw. sozialwissenschaftlich ausgerichteten


Methode,
ƒ eine wissenschaftstheoretische Reflexion dieser Methode,
ƒ eine Studie, die die Erschließungskraft der Methode im Bereich Palliative
Care bei der Arbeit vorstellt und die damit zugleich Wissen über bestimmte
Aspekte der Erfahrungswelten von Palliativpatienten präsentiert,
ƒ die Kommentierung ausgewählter Primär- und Sekundärliteratur zur darge-
stellten Methode.
8 Vorwort

Diese Buchreihe richtet sich an: Forscher, Nachwuchswissenschaftler, evidenz-


basiert arbeitende Versorger (Ärzte, Pflegende, Therapeuten), Studierende im
Bereich von Palliative Care.

***

Im Mittelpunkt des durchlebten und begleiteten Lebensendes von Patienten steht


unter anderem eine spezielle Diversität. Damit ist eine Besonderheit jener sozialen
Beziehungen gemeint, die es nur am Lebensende gibt, weil sie das Lebensende
selbst ausmacht: ein Mensch wird auf absehbare Zeit versterben und damit die
Welt verlassen, die anderen, ihn begleitenden Menschen (Angehörige, Heilberufler,
freiwillige Helfer) werden weiter leben und das Sterben des Versterbenden organi-
sieren. Diese Diversität zeigt sich als eine Asymmetrie von Lebensbeendigung und
Fortleben innerhalb derer die Welt als gemeinsam geteilter Lebensraum langsam
versinkt (vgl. dazu: M.W. Schnell/Chr. Schulz: Basiswissen Palliativmedizin, 2.
Aufl. 2014, Springer Verlag: Berlin/Heidelberg, Kap. 3).
Dieser grundsätzlichen Idee folgend, befasste sich Band 1 dieser Buchreihe
(„Der Patient am Lebensende. Eine Qualitative Inhaltsanalyse“, 2013) mit der
methodischen Erforschung der Situation, die Patienten als ihr Lebensende durch-
leben. Band 2 („Sterbewelten. Eine Ethnographie“, 2014) untersuchte daraufhin
die Situation und Aufgaben der weiterlebenden Begleiter im Hinblick auf das
Sterben des Anderen.
Der hier nun vorliegende Band 3 („Hospiz und Palliative Care“, 2015)
befasst sich mit dem Hospiz als einer Versorgungsform, in der sich überlebende
Begleiter und sterbende Patienten, oft als Gäste bezeichnet, begegnen und unter-
stützen.
Das Hospiz als Institution ist aus dem tatkräftigen Geist der Zivil-
gesellschaft und des Ehrenamtes entstanden. Das Hospiz steht für die Einsicht,
dass das Sterben zum Leben gehört und dass Menschen am Lebensende zu uns
gehören! Dieser ethische Inklusionsgewinn war lange Zeit durch eine Front-
stellung zur Palliativmedizin gekennzeichnet. Um das Sterben dem Zugriff von
Ärzten und anderen professionellen Heilberuflern, Krankenhäusern und den
Wissenschaften entziehen zu können, plädierten Vertreter der Hospizbewegung
manchmal für eine antimedizinische Einstellung, die in der Konsequenz dazu
führen würde, dass das Sterben medizinischer Behandlung und die Begleitung
sterbender Menschen wissenschaftlicher Reflexion entzogen werden. Die Ent-
stehung einer modernen Palliativmedizin hat in den letzten Jahren jedoch dazu
beigetragen, dass es in Deutschland eher zu einer Ergänzung von Konzepten der
Hospizversorgung und der Palliativmedizin statt zu einer Konfrontation beider
Vorwort 9

gekommen ist. Insofern trägt der vorliegende Band den Titel Hospiz und Pallia-
tive Care.
In England existiert bereits seit Jahrzehnten ein großes Interesse an alterna-
tiven und komplementären pflegerischen und medizinischen Angeboten im
Rahmen der hospizlichen Versorgung sterbender Menschen. Auch in Deutsch-
land beginnt sich dieses Interesse auszuweiten. Dabei ist unklar, wer diese Ange-
bote als komplementär oder alternativ definiert und wer für ihren Einsatz sorgt.
Die hier vorliegende Auswertung von in Deutschland erhobenen Daten zeigt,
dass jene komplementären Verfahren eher unsystematisch, ja beinahe zufällig in
die jeweiligen Hospize gelangen. Verständnis und Einsatz von Aromatherapie,
Musiktheraphie, Massage, Meditation und anderen Verfahren sind von Faktoren
abhängig wie etwa dem ‚Glauben‘ Pflegender an diese Verfahren, die Verfassung
der Gäste, die Kooperation zwischen Pflege und Medizin und das Vorhandensein
strukturelle Voraussetzungen, die die Freiheit zum Einsatz von alternativen und
komplementären Maßnahmen überhaupt zulassen.
Diese Ergebnisse wurden mit der Methode bzw. Methodologie der Grounded
Theory, erweitert durch Elemente der ‚Intuitive Inquiry‘, ermittelt. Auf diese
Weise konnte eine Reflexion auf das Vorverständnis des Forschers, das in der
Forschung selbst zum Tragen kommt, mit der Konstitution der sozialen Bedeu-
tungswelt des Hospizes verbunden werden. Eine solche Kopplung der Methoden
ist durch eine Weiterentwicklung der Grounded Theory und ihrer Anschlussmög-
lichkeiten, wie sie von Kathy Charmaz betrieben worden ist, realisierbar.
Die klassische Grounded Theory geht bekanntlich auf Anselm Straus und
Barney Glaser zurück und befindet sich seit den 70er Jahren bereits in diversen
Transformationen. Der vorliegende Band stellt diese Methodik zunächst vor,
reflektiert sie und beobachtet sie dann bei der Durchführung.
Für ihre unverzichtbare Mithilfe bei der Erstellung des Manuskripts bedan-
ken wir uns bei Kerstin Pospiech und Marian Wittenberg vom Lehrstuhl für
Sozialphilosophie und Ethik und bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des
Instituts für Ethik und Kommunikation im Gesundheitswesen der Universität
Witten/Herdecke.

Martin W. Schnell
Christian Schulz
Andreas Heller
Christine Dunger

im Oktober 2014
Die Grounded Theory im Licht der
Wissenschaftstheorie
Martin W. Schnell

Wissenschaftstheorie ist eine Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeiten


und deren Grenzen, durch die methodisch verfahrende Forschungen empirische
Wahrheit, Sinn und Bedeutung hervorbringen. Diese Definition ist im Ausgang
von Pierre Bourdieu und Arbeiten zum „medizinischen Feld“ im Anschluss an
Bourdieu (Schnell 2005, Schnell 2009) gebildet. – Gemäß dieser Perspektive soll
zunächst der Zusammenhang von Selbstinterpretation und sozialer Strukturen in
der qualitativen Forschung betrachtet werden und vor diesem Hintergrund dann
speziell die Grounded Theory. Zu diesem Zweck soll zunächst an das Grund-
verständnis von Wissenschaftstheorie erinnert werden, das der Buchreihe „Pallia-
tive Care und Forschung“ insgesamt zugrunde liegt.

Selbstinterpretationen und soziale Strukturen

Qualitativ ausgerichtete Forschungen dienen dem Versuch, Zugänge zu subjekti-


ven Sichtweisen von Akteuren zu erhalten. Konkrete und bisweilen dichte Be-
schreibungen sollen besser in der Lage sein, verständlich machen zu können, wie
z.B. Menschen mit chronischen Krankheiten leben als dieses durch standardisier-
te Befragungen möglich wäre. Qualitative Forschungen sind näher dran (Flick et
al. 2003: 17, 19)!
Harold Garfinkel, einer der Nestoren der qualitativen Soziologie, hebt her-
vor, dass die Gegenstandsnähe dadurch erreicht wird, dass die wissenschaftlichen
Beschreibungen vom „Standpunkt des Mitgliedes“(Garfinkel 1962: 189) jener
Alltagswelt erfolgen, die aktuell gerade beschrieben werden soll. Mit anderen
Worten: Wer wissen möchte, ob eine Krankenschwester Respekt für ihre Patien-
ten empfindet, frage sie einfach danach!
Der Vorteil der qualitativen Forschung besteht darin, dass anerkannt wird,
dass die Selbstinterpretationen von Akteuren zur Konstitution einer sozialen
Realität hinzugehören. Durch diese Anerkennung kann Forschung ihren Proban-
den zusätzlich eine gewisse Mündigkeit ermöglichen, da die Probanden (etwa
durch die Verwendung von in-vivo codes) quasi selbst zur Sprache kommen,

M. W. Schnell et al. (Hrsg.), Palliative Care und Hospiz, Palliative Care und Forschung,
DOI 10.1007/978-3-658-07664-1_1, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
12 Martin W. Schnell

nicht von rein äußerlichen Kategorien bevormundet werden und somit auch nicht
hinter einer Expertensprache verschwinden. Besonders dann nicht, wenn außer
der Forschung niemand sonst den Probanden eine Stimme verleiht.
Der Nachteil einer bestimmten qualitativen Forschung, die sich zu stark
einem Subjektivismus nähert, kann darin bestehen, dass sie die „Illusionen der
persönlichen Meinung“ (Pierre Bourdieu) nicht durchschaut. Eine Kranken-
schwester hat nicht nur deshalb Respekt vor kranken Menschen, weil sie grund-
sätzlich „alle Patienten liebt“, sondern weil ihr gar nichts anderes übrig bleibt. In
ihrer Arbeit ist sie – im Unterschied zum Arzt – einer permanenten Ansprech-
barkeit ausgesetzt. Die Selbstinterpretation der Schwester, „für ihre Patienten da
zu sein“ macht aus der Not, nämlich ohnehin „da sein“ zu müssen, eine Tugend.
Die Tugend, dass Pflegende per se „Anwälte des Patienten“ sind, ist eine Illusion
oder stellt sich sehr häufig als eine solche heraus (Schnell 2012).
Um den Illusionen des gesunden Menschenverstandes entkommen zu kön-
nen, bedarf es einer Objektivierung der subjektiven Sicht der Welt, die von Ak-
teuren vertreten wird (Bourdieu 1970: 41). Diese Objektivierung geschieht durch
einen Bruch mit der alltäglichen Sicht der Welt, wie Gaston Bachelard hervor-
hebt (Bachelard 1974: 19).
Eine objektivierende Betrachtung der sozialen Welt sieht, wie Emile Durk-
heim sagt, Individuen als Tatsachen an. Diese Betrachtungsweise ist der Feind
der Selbstinterpretation des Ich (Alain Touraine)! Die objektivierende Analyse
glaubt dem Ich nicht, wenn es sagt, dass es seine Patienten respektiere, weil es
sie liebe. Sie sucht nach tieferliegenden Gründen, die dem Bewusstsein verbor-
gen bleiben und findet soziale Strukturen, wie Dienstpläne, Teamkultur auf der
Station oder Hierarchien, die es nahe legen, dass sich Pflegende als „Anwälte des
Patienten“ bezeichnen. Vor allem dann, wenn ihnen sonst kaum eine bedeutsame
Stellung im Krankenhaus eingeräumt wird.

Reflexion auf soziale Umstände als ein Gütekriterium

Innerhalb der qualitativen Forschung zählt die Sichtbarmachung der sozialen


Umstände unter denen der Forscher geforscht hat, als ein weiteres Gütekriterium.
Eine solche Selbstreflexion auf soziale Umstände ist erstens sinnvoll, weil der
qualitativ Forschende weder unabhängig von seinem Objekt ist, wie dieses beim
Laborforscher, der ein Reagenzglas schwenkt, der Fall sein mag, noch freischwe-
bend über ihm rangiert. Er ist vielmehr ein Teil seines Untersuchungsobjekts.
Der Psychologe gehört einem Milieu an, der Soziologe ist ein Teil der Gesell-
schaft, der Historiker ist ein Teil der Geschichte. Die Reflexion ist zweitens
sinnvoll, um in der Forschung der „Illusion unmittelbarer Evidenz oder der un-
Die Grounded Theory im Licht der Wissenschaftstheorie 13

bewußten Universalisierung einer singulären Erfahrung“(Bourdieu et al. 1991:


83f) zu entkommen.

Die Illusion unmittelbarer Evidenz!


Ein Forscher führt ein Interview mit einem Gymnasiallehrer. Der Lehrer be-
richtet über seine Studentenzeit, die Anfänge im Beruf, die Familiengründung,
über Hobbies und Freunde. Der Forscher tritt mit dem Lehrer problemlos in
ein tiefes Gespräch ein und glaubt, als Interviewer unmittelbar, also ohne
vertiefende Interpretationsarbeit, an die Erfahrungen seines Gesprächspartners
herankommen zu können. – Das ist eine Illusion, da der Forscher verkennt,
dass er und sein Gesprächspartner sich nur deshalb „so gut verstehen“, weil
sie beide demselben sozialen Raum entstammen. Auch der Forscher hat stu-
diert und ist erst nach dem 25. Lebensjahr in einen Beruf eingestiegen und
versteht daher, was der Lehrer meint, wenn dieser sagt, dass man „anfangs
ohne viel Geld glücklich gewesen und nur mit dem Rucksack in den Süden
gefahren“ sei.
Eine völlig andere Erfahrung hätte der Forscher gemacht, wenn er eine Person
vom anderen Ende des sozialen Raums, also etwa einen Bürgerkriegsmigran-
ten von einem fernen Kontinent, als Gesprächspartner angetroffen hätte.

Ein Instrument zur Vermeidung der Illusion unmittelbarer Evidenz und proble-
matischer Universalisierungen ist die Reflexion auf die sozialen Umstände des
Forschens etwa durch eine „Soziologie der Soziologie“(Bourdieu 1985: 50). In
dieser von Bourdieu im Ausgang von Husserl bezeichneten Reflexion wird das
Erkenntnissubjekt selbst zum Gegenstand gemacht. Es erkennt dann, dass es als
Akademiker auch innerhalb von Forschung eine andere soziale Nähe zu einem
Lehrer als zu einem Migranten haben kann und dass diese Nähe nicht „intuitiv“
oder „unmittelbar“ zustande kommt, sondern der Stellung im sozialen Raum zu
verdanken ist.
Die qualitative Forschung ist dem Verdacht bloßer Meinungsmache ausge-
setzt. Forscher sammeln Zitate und versuchen damit Thesen zu belegen! Die
Anwendung von Gütekriterien kann helfen, diesen Verdacht zu entkräften.

Subjektivismus/Objektivismus

Der Nachteil einer rein objektivierenden Betrachtung, die sich auf die Beschrei-
bung sozialer Umstände beschränken würde, kann darin bestehen, dass sie sozia-
le Strukturen als autonome handlungsfähige Größen betrachtet (ähnlich wie
14 Martin W. Schnell

dieses die Neurobiologie mit dem menschlichen Hirn tut), die Akteure wie Mari-
onetten durch das Schauspiel einer sozialen Welt dirigieren. Die Selbstsicht von
Personen, die die qualitative Forschung in den Mittelpunkt ihrer Bemühungen
rückt, würde dadurch entwertet werden.

In der Qualitativen Forschung gilt es, Subjektivismus und Objektivismus zu


vermeiden! Eine empirische verfahrende Wissenschaft sollte daher den Zu-
sammenhang zwischen Selbstinterpretationen von Akteuren und sozialen
Strukturen, innerhalb derer sich Akteure bewegen, sprechen und handeln,
nicht aus dem Blick verlieren.

Daten – was ist das eigentlich?

„Everything is data!“ Dieser bekannte Slogan taucht immer wieder in For-


schungshandbüchern auf. Danach seien alle Informationen, denen ein Forscher
während seiner Forschung begegnet, Daten und als solche auswertbar. Dem steht
allerdings die Tatsache gegenüber, dass Forschung methodisch verfährt und dass
Methoden selektiv ansetzen. Meist, fast immer, werden nicht alle Informationen
als Daten behandelt, sondern nur bestimmte (Kuckartz 2012, 41f). Entweder, das
von Probanden Gesagte oder das Geschriebene oder das Getane oder die sie
umgebenden Strukturen usw. Methoden sind selektiv angelegt, weil sie aus den
verfügbaren Informationen meist nur bestimmte als Daten herauspräparieren und
dann auswerten. Auch Methodentriangulationen ermöglichen keine definitive
Totalerhebung, sondern nur weiter gefasste Datensätze. Selektivität kann auch
hier nicht grundsätzlich umgangen werden. Es gibt demnach nicht Daten
schlechthin, sondern aus dem Pool vieler Informationen werden bestimmte In-
formationen als Daten ausgewählt und bearbeitet. Die übrigen Informationen
werden in das thematische Feld geschoben, wie Aron Gurwitsch sagen würde,
oder gänzlich als irrelevant unbeachtet gelassen. Als Beispiel dafür kann die
Regelung von Transkriptionen gelten.
Die Grounded Theory im Licht der Wissenschaftstheorie 15

Auszug aus der Transkription eines Interviews durch eine Studierende in einer
forschungspraktischen Übung.
Interviewer: „Mich würde noch interessieren [eine Uhr schlägt], was Sie in
dieser Situation [ein vorbeifahrendes Auto ist im Hintergrund zu hören] getan
haben.
Arzt: „Als der Patient auf unsere Station [ein Auto hupt] kam, haben wir ihn
sofort [Kindergeschrei] untersucht. ….“
Bewertung durch den Dozenten: Das Schlagen der Uhr und die Geräusche im
Hintergrund mögen sich faktisch während des Interviews ereignet haben und
daher auch auf dem Tonband zu hören sein, sie sind aber für die Forschung
selbst unwichtig und müssen daher nicht transkribiert und ausgewertet wer-
den. Das Schlagen der Uhr hat auf die Erinnerung des Arztes offenbar keinen
Einfluss und definitiv auch nicht auf die zurückliegende Behandlung des Pati-
enten, die für die Forschungsfrage allein relevant ist.

Wie werden aus Informationen nun Daten? Durch Unterscheidungen! Die meis-
ten Methoden zur Datenerhebung treffen solche Unterscheidungen explizit, in-
dem sie sich auf bestimmte Informationen als Datenquellen ausrichten. Das Ge-
sagte im Unterschied zur Hintergrundatmosphäre oder das Gesagte im Unter-
schied zum Getanen oder das Getane im Unterschied zum Geschriebenen oder
das Geschriebene im Unterschied zu sozialen Interaktionen usw. Als Datenträger
treten dabei auf: der Text (enthält Gesagtes), das Protokoll (enthält Beobachte-
tes), das Strukturreview (enthält institutionelle Daten) usw.
Die Durchführung einer Unterscheidung bedeutet, dass bestimmte Informa-
tionen als Daten aufgefasst und behandelt werden, andere aber nicht. Für diese
Auffassung und Behandlung können drei Faktoren maßgeblich sein: die Bestim-
mung einer Relevanz der Informationen für die Fragestellung, die Totalität einer
Institution, in der die Studie stattfindet und die Daten gewonnen werden und das
Gewicht impliziten Wissens der Teilnehmer bzw. der Informationsgeber.

Für die Auffassung und Behandlung bestimmter Information als Daten kön-
nen drei Faktoren maßgeblich sein:
a) die Bestimmung einer Relevanz,
b) die Totalität einer Institution,
c) das Gewicht impliziten Wissens.

a) Die Unterscheidung, die bestimmte Informationen zu Daten und andere zu


Nichtdaten macht, erfolgt entlang dessen, was Alfred Schütz als das Problem der
16 Martin W. Schnell

Relevanz (Schütz 1971) bezeichnet: etwas wird als bedeutsam thematisiert oder
legt sich als bedeutsam auf, anderes rückt zur Seite oder wird dahin geschoben.
Die Entstehung einer entsprechenden Scheidelinie kann als einfacher und rever-
sibler Schnitt geschehen. Eine einfache Operation in dieser Hinsicht ist die Zu-
sammenfassung.
Ein Arzt hat einen zehn stündigen Nachtdienst hinter sich und wird im
Nachgang gebeten, davon zu berichten. Vor dem Hintergrund, dass die erlebte
Zeit (der 10 Stunden dauernde Dienst) und die erzählte Zeit (der fünfminütige
Bericht über diesen Dienst) nicht identisch sind, kann die Zusammenfassung das
Relevante darbieten und damit Irrelevantes unthematisiert lassen. Weil das, was
als relevant gilt, relativ ist, kann es vorkommen, dass der Interviewer Anderes für
wichtig als der Arzt erachtet und daher nach- und weiterfragt.
Komplex wird die Aufgabe, das als relevant Bestimmte in Begriffen zu
fixieren, wenn es als solches sprachfern verfasst ist. Von der Philosophie und der
Psychologie der Landschaft (Georg Simmel, Kurt Lewin) ist darauf hingewiesen
worden, dass Stimmungen und Atmosphären eine soziale Situation maßgeblich
prägen können, es aber schwierig sei, sie aussagekräftig zu erfassen (Böhme
1995). Wie erfasst man eine Atmosphäre als Datensatz?
Die Entstehung jener Scheidelinie kann in den Sektoren des Gesund-
heitswesens aber auch weniger harmlos geschehen, da es besonders hier viele,
zumindest potentiell totale Institutionen gibt.

b) Als totale Institution bezeichnet Ervin Goffman eine soziale Ordnung, wenn
es 1. eine Gruppe von Schicksalsgenossen gibt, die 2. die meiste Zeit ihres All-
tags zusammen an einen Ort verbringen und dabei 3. einheitlichen Regeln und 4.
einem institutionellen Plan unterworfen sind (Goffman 1961: 17). Eine totale
Institution tendiert dazu, eine Binnenmoral auszubilden, eine eigene Zeitlichkeit,
ja eine eigene Lebenswelt zu bilden. Zu denken ist an das Militär, die Schule, das
Internat, aber auch an das Krankenhaus, das Alten- und Pflegeheim.

In einer Untersuchung über die soziale Wirklichkeit in einem Krankenhaus der


Regelversorgung konnten Forscher zeigen, dass das Krankenhaus eine in sich
geschlossene Welt bildet. In der Institution existieren fast keine Anzeichen
dafür, dass eine Außenwelt existiert. Im Aufenthaltsraum kleben im Juli noch
Osterhasen an den durchsichtigen Scheiben. Das Krankenhaus als Institution
hat sich vom Kalender der öffentlichen Zeit abgekoppelt und bezieht sich nur
auf sich selbst. Ein solcher Selbstbezug kann die Entstehung einer totalen
Institution begünstigen.
Die Grounded Theory im Licht der Wissenschaftstheorie 17

In einer totalen Institution ist die Scheidelinie zwischen Relevantem und Nicht-
relevantem durchaus problematisch. Michel Foucault zeigt dieses am Beispiel
der Psychiatrie. „Man weiß, daß man nicht das Recht hat, alles zu sagen, dass
man nicht bei jeder Gelegenheit von allem sprechen kann, daß schließlich nicht
jeder beliebige über alles beliebige reden kann.“ (Foucault 1977: 7) Das heißt,
dass hier nur bestimmte Informationen als Daten (etwa durch das Sagen in einem
Interview) auftreten können und dass die Scheidelinie zwischen Gesagten und
Nichtgesagtem durch Macht, also auf eine nicht harmlose Weise, gezogen wird!
Das Nichtgesagte kann möglicherweise aber auch wichtig sein. Wenn man es als
Datum gewinnen möchte, kann sich die Forschung wohl nicht nur auf das Gesag-
te als Quelle des Wissens bezieht (Schnell 2006). Meist interessieren sich For-
schungen nur für das Gesagte, Explizite und Offenbare.

c) Der Blick auf die Genese des Gesagten, das dann in Interviews und Texten als
Datensatz fixiert werden kann, ist nicht nur hinsichtlich der Beachtung von Pro-
zessen der Macht in totalen Institutionen wichtig, sondern immer dann, wenn es
auf die Unterscheidung zwischen Gesagtem und Nichtgesagtem ankommt. Das
ist häufig schon bei elementaren Beschreibungen der Fall, in denen implizites
Wissen zur Geltung gelangt.

Die Krankenschwester geht in das Zimmer des Patienten, gibt ihm die Hand,
spricht kurz mit ihm und geht wieder.
Auf die Frage eines Interviewers, was sie im Zimmer des Patienten gemacht
habe, sagt sie: „Nichts besonderes. Ich war auf meiner Runde und habe kurz
reingesehen.“
Auf die weitergehende Frage, wie es um die aktuelle Verfassung des Patienten
stehe, kann sie über Atmung, Gesichtsfarbe, Puls, Temperatur und die Wün-
sche des Kranken bestens Auskunft geben. Diese Informationen hat sie aus
dem kurzen Gespräch und der Berührung gewonnen.
Auf die abschließende Frage, wie es ihr gelinge, diese Informationen über den
Patienten ohne Fieberthermometer und ohne Stethoskop zu erhalten, antwortet
sie: „Das macht die Erfahrung.“
Implizites Wissen ist ein stummes, verkörpertes, leibliches Können und Ver-
mögen das praktisch wirksam ist, aber meist ungesagt bleibt.

Das implizite Wissen ist eine Herausforderung für die wissenschaftstheoretische


Reflexion, weil es sich in gewisser Hinsicht der Thematisierung widersetzt, aber
dennoch in der Praxis höchst wirksam ist und eine Unterscheidung zwischen
Gesagten und Nichtgesagtem mitbedingt (Schnell 2010, Schnell/Schulz 2010).
18 Martin W. Schnell

In der Qualitativen Forschung gilt es, die Genese von Daten kritisch zu be-
trachten! Eine empirische verfahrende Wissenschaft sollte den Zusammen-
hang zwischen dem, was sich als Gesagtes und Getanes zeigt und dem, was
nicht in dieser oder in einer andere Weise auftritt, im Blick behalten.

Grounded Theory

Die Grounded Theory ist eine Methode der Datenerhebung- und auswertung. Sie
wurde von Anselm Strauss (1916-1996) begründet, von Strauss in Kooperation
mit Barney Glaser entwickelt und nach der Beendigung der Kooperation zwi-
schen Strauss und Glaser in unterschiedlichen Richtungen weiter betrieben. Hier
sind besonders die Schriften von Glaser seit Mitte der 70er Jahre zu erwähnen
und die Zusammenarbeit zwischen Strauss und der Pflegewissenschaftlerin Juliet
Corbin. Es ist somit nicht möglich, von der Grounded Theory zu sprechen. Sie ist
eher eine Methode, die sich, aufgrund der unterschiedlichen, genannten Arbeits-
zusammenhänge, in Entwicklungen befindet. Zudem ist die Forschungsarbeit mit
einer je bestimmten Version der Grounded Theory keine detailgenaue Ausfüh-
rung von Arbeitsschritten, wie man sie von Backrezepten kennt, sondern immer
auch ein kreativer Umgang einem konzeptionellen Rahmen. Auf diesen gilt es
sich hier zu beschränken, zumal über die Grounded Theory und ihre Entwicklung
mittlerweile vieles geschrieben worden ist, was an dieser Stelle nicht wiederholt
werden muss.
Die wissenschaftstheoretische Einordnung der auf Strauss zurückgehenden
Impulse beginnt mit einer wissenschaftshistorischen Betrachtung. Der Ansatz der
Grounded Theory ist in jenen Traditionen verankert, die zu den ersten Denkbe-
wegungen zählen, die die USA nach ihrer Unabhängigkeit im Jahre 1776 entwi-
ckelt haben: dem Pragmatismus und dem symbolischen Interaktionismus (Haller
2000, 16f). Diese beiden, miteinander verbundenen Denkbewegungen können als
intellektuelle Unabhängigkeitserklärungen Amerikas angesehen werden, weil
ihre wichtigsten Motive nicht oder nur sehr mittelbar auf die genuin europäische
Philosophie und das heißt auf die Romantik und den Idealismus als deren zentra-
le Ausprägungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts zurück geführt werden können.
Anselm Strauss studierte nach dem Abbruch seines Medizinstudiums das
Fach Soziologie bei Robert E. Park, der zu den einflussreichen Soziologen der
„Chicagoer Schule“ zählt. Inhaltlich lernt Straus dort dem Pragmatismus kennen
und auch die soziologischen Bemühungen, diesen in der empirischen Forschung
zu verwenden. Wichtiger noch als dieser Einfluss ist die Begegnung Strauss‘ mit
Herbert Blumer. Blumer war der letzte direkte Mitarbeiter von George Herbert
Mead, welcher der Begründer des symbolischen Interaktionismus ist. Blumer
Die Grounded Theory im Licht der Wissenschaftstheorie 19

kommt das Verdienst zu, Meads Arbeit unter der Überschrift „symbolischer In-
teraktionismus“ bekannt gemacht zu haben. Zudem sorgte Blumer durch seine
Interpretation dafür, dass der symbolische Interaktionismus in den USA weniger
als Philosophie, sondern eher als eine empirisch ausgerichtete Methodologie
verstanden wird. In Sinne dieser Wirkungsgeschichte sollen nun zunächst das
Werk von Mead vorgestellt, dann die Interpretation Blumers skizziert und
schließlich die Konsequenzen, die Strauss und andere Verfechter für die Gestalt
der Grounded Theory aus dieser Bewegung gezogen haben, dargestellt werden.

George Herbert Mead (1863-1931)

Mead nahm im Jahre 1888 sein Studium der Philosophie und Psychologie in
Berlin auf, wo er Wilhelm Dilthey kennengelernt und ein Interesse an der Frage
nach dem Psychischen ausgebildete. Nach seinem Studium kehrte Mead in die
USA zurück und wurde 1894 Assistenz-Professor in der Abteilung für Philoso-
phie und Psychologie an der Universität von Chicago.
Die Stadt Chicago und ihr Umfeld befanden sich zu jener Zeit in einer Um-
bruchphase. Die Ausbreitung moderner Industrien lockte zahlreiche Einwanderer
aus Europa und Migranten aus den Südstaaten der USA an. Die rapide Zunahme
an Menschen unterschiedlichster Herkunftskulturen, die von nun an auf engstem
Raum zusammenleben wollten, stellte die Stadt vor die Herausforderung, neue
Konzepte für Städtebau, Planung, Integration und demokratische Verwaltung
ausbilden zu müssen. Es wundert nicht, dass in jener Zeit auch an der Universität
von Chicago ein Interesse für die Frage nach der Organisation sozialer Prozesse
in den Vordergrund getreten war. Die erwähnte Soziologie-Schule von Chicago
entwickelte ihre weltberühmte Stadt-, Regional- und Migrationssoziologie. Sie
verband dabei die Soziologie Georg Simmels mit Methoden empirischer For-
schung.
In dieser Situation griff der junge Mead Fragen nach der Natur des Psychi-
schen und des Sozialen auf und verband sie miteinander! Die eine Frage lässt
sich demnach nicht ohne die andere bearbeiten. Die klassische, aus Europa be-
kannte, Dichotomie zwischen Individualismus und Kollektivismus galt es hinter
sich zu lassen (vgl.: Joas 1980, 21ff). In seinem Aufsatz „Die Definition des
Psychischen“ (1903; Mead 1980 I, 83ff) wendete sich Mead frühzeitig gegen
eine rein private oder innerliche Definition des Psychischen. Es sei vielmehr
„selbst auf Allgemeinheit angelegt und eingelagert in eine gemeinsame Welt.“
(Joas 1980, 77) Jahre später leitete Mead aus dieser Einsicht ein berühmtes Cre-
do seines symbolischen Interaktionismus ab: „We are what we are through our
relationship to others.“ (Mead 1967, 379)
20 Martin W. Schnell

Seinen Ansatz bezeichnet Mead selbst als „Sozialbehaviorismus“. Das La-


bel „symbolischer Interaktionismus“ wird ihm, wie erwähnt, erst durch Herbert
Blumer verliehen. Sozialbehaviorismus darf allerdings nicht mit der auf Pawlow
und Skinner zurückgehenden Verhaltenstheorie verwechselt werden. Für Mead
gilt vielmehr: Ein Ich hat sich vom Anderen her zu verstehen. Das Ich ist somit
ein relationaler Begriff, wie es später bei Charles Taylor und Paul Ricoeur heißen
wird, es trägt daher den Namen Selbst (Self). Der Sinn oder die Bedeutung mei-
ner Geste (Verhalten, Handeln, Sprechen) liegt nicht in dem, was ich beabsichti-
ge, sondern in der Reaktion desjenigen, dem die Geste zugedacht ist. „Der Sinn
der Geste … liegt,…, in der Reaktion des anderen Organismus.“(Mead 1973,
188)

Symbolischer Interaktionismus

Wesentliche der Bemühungen Meads gelten der Spezifizierung und Vertiefung


seiner Aussage, dass der Sinn einer Geste durch die Reaktion eines Anderen
gestiftet wird. Die erste Spezifizierung gilt der Art, wie diese Reaktion vorzustel-
len ist. Der Andere reagiert, so Mead, nicht auf meine vollendete Handlung,
sondern auf das am Anfang meiner Handlung von ihm vorgestellte Ende meiner
Handlung (vgl.: Tugendhat 1979, 257f). Als Beispiel dient der Boxkampf. Ich
will den Anderen treffen. Er reagiert auf den Anfang meines Hiebs (dabei das
mögliche Getroffenwerden durch den ausgeführten Hieb antizipierend) und
wehrt meinen Hieb ab. Der Sinn meiner Geste lautet: misslungener Schlag, da
kein Treffer! Die Sinnkonstitution erfolgt durch die Reaktion des Anderen und
eben nicht durch das, was ich eigentlich von mir aus realisieren wollte. Ob Tref-
fer oder nicht, wird nicht durch meine Absicht, sondern durch die Realisierung
der Handlung aus der Sicht des Anderen, dem diese Handlung zugedacht ist,
bestimmt.
Die zweite Spezifizierung bezieht sich auf die Logik kollektiven Verhal-
tens. In diesem Zusammenhang wird nun auch der Symbolbegriff von Mead
eingeführt. „Los, wir gehen!“ Alle stehen auf und marschieren los. Ein solch
gleichgerichtetes Verhalten einer Gruppe ist möglich, wenn und weil der Satz
(„Los, wir gehen!“) in uns allen dieselbe Reaktion auslöst bzw. uns alle zu dem-
selben Verhalten veranlasst. „Gesten werden zu signifikanten Symbolen, wenn
sie im Gesten setzenden Individuum die gleichen Reaktionen implizit auslösen,
die sich explizit bei anderen Individuen auslösen oder auslösen sollen.“(ebd., 86)
Ein Symbol ist ein „Reiz, dessen Reaktion schon in vorhinein feststeht“(224),
bzw. der „die gleiche oder eine ähnliche Reaktion“(376) hervorruft.
Die Grounded Theory im Licht der Wissenschaftstheorie 21

Hier ist nun eine wesentliche Bestimmung getroffen worden, die auch für
die Grounded Theory gilt: Bedeutungen entstehen, bestehen und verändern sich
in und aus Interaktionen! Die Stabilität von Bedeutungen erklärt Mead durch die
Logik des Symbolischen und leistet damit auch einen Beitrag zur philosophi-
schen Debatte um den Symbolbegriff.

Play und Game

Um erklären zu können, wie von Akteuren die Befähigung zur symbolischen


Interaktion erworben wird, entfaltet Mead eine genetische Perspektive, die bis in
die Entwicklungspsychologie der 60er Jahre hineingewirkt hat (vgl.: Krappmann
1985). Die entsprechenden Überlegungen bestehen aus einer Entfaltung der
kreativen und geregelten Aspekte der Tätigkeit des Spielens und ihrer Entwick-
lung im Laufe des menschlichen Lebens. Sie stellen wiederum eine Vertiefung
von Meads anfänglicher Aussage über die Sinnkonstitution einer Handlung dar
und werden nicht etwa durch die Einführung von Zusatzannahmen gewonnen.
Das Kinderspiel (play) ist eine Einübung der Fähigkeit zur Reaktion auf
Reize im Hinblick auf die Identitätsbildung.
Man denke an das Kaufladenspiel.

Beim Kaufladenspiel spricht das Kind sich als Kunde an und antwortet (oft in
anderer Stimmlage) als Verkäufer. Sprechende und antwortende Identität ge-
hen einen Dialog mit wechselnden Anreizen ein. Im Play lernt das Kind, sich
aus der Sicht Anderer zu verstehen.

Im Wettkampf (game) lernt der Jugendliche nun, in die Welt des Erwachsenen
einzutreten. Während im Play ein weitgehend kreativer Umgang mit den Reakti-
onen Anderer möglich ist, tritt im Game der Regelcharakter der Interaktion in
den Mittelpunkt. Es handelt sich hier um den „Übergang von der spielerischen
Übernahme … zur organisierten Rolle.“(194)

Beim Baseball antizipiert der Werfer die Reaktion des Fängers und die Reak-
tionen der Mitspieler, die von seinem Wurf betroffen sein werden, so dass
diese Antizipation die Wurfhandlung des Werfers von vornherein organisiert
und kontrolliert.

Eine erwachsene Identität hat, wer sich selbst an den Reaktionen Anderer auf die
eigenen Handlungen orientiert! Sich am Anderen zu orientieren bedeutet: sich an
22 Martin W. Schnell

jemand Anderes (Du) ausrichten. Der Andere ist dann ein konkreter Anderer (S.
Benhabib). Oder: sich an irgend jemand Anderes (Er, Sie, Es) auszurichten. Der
Andere ist dann ein verallgemeinerter Anderer (generalized other). Sich am ver-
allgemeinerten Anderen zu orientieren heißt, sich an Haltungen auszurichten,
durch die der Andere sich wie jedermann verhält. „Die organisierte Gemein-
schaft oder gesellschaftliche Gruppe, die dem Einzelnen seine einheitliche Iden-
tität gibt, kann der ‚verallgemeinerte Andere‘ genannt werden.“(196) Man denke
an das Autofahren: wir erwarten, dass sich jeder individuelle Autofahrer an der
Kreuzung verhält wie sich jedermann verhalten sollte.
„In der Form des verallgemeinerten Anderen … übt die Gemeinschaft die
Kontrolle über das Verhalten einzelner Mitglieder aus.“(198) Daraus leitet sich
ein Verständnis gesellschaftlicher Normen und Institutionen ab. „Die Institution
ist eine gemeinsame Reaktion seitens aller Mitglieder der Gemeinschaft auf eine
bestimmte Situation.“(308)

Identität als dialogische Identität

Die Ausbildung von Identität besteht darin, geregelte Haltungen Anderer zu


übernehmen und sich daran zu orientieren. Aber das ist nicht alles! Wäre Identi-
tätsbildung nur ein Prozess der Übernahme geregelter und damit konventioneller
Einstellungen, dann wäre sie nichts anderes als eine Erziehung zum konformisti-
schen Verhalten. Um dieser Engführung entgehen zu können und auch innovati-
ve und damit nonkonforme Handlungen erklären und quasi verteidigen zu kön-
nen, betrachtet Mead Identität als dialogische Identität. Ich bin Zwei! Eine „Spal-
tung der Persönlichkeit“(185) ist insofern normal als Identität eine geregelte und
eine spontane Seite hat.
In dieser Dialogizität tritt das Selbst (Self) zugleich als Me und als I auf.
„Der Dialog zwischen I und Me macht Identität aus.“(222) Diese Unterschei-
dung, die es in der deutschen Alltagssprache nicht in gleicher Weise gibt und die
allenfalls mit den französischen Pronomina Je und Moi vergleichbar ist, besagt
zugleich zweierlei: 1.) Das Selbst ist ein Me, da es Haltungen Anderer über-
nimmt. Das Me ist das Ensemble von Konventionen, das mir sagt, wie man und
damit auch ich mich üblicherweise zu verhalten habe. 2.) Das Selbst ist zugleich
I und zwar im Sinne Reaktionen auf jene konventionellen Haltungen. Das Me
verlangt, dass unser Handeln bestimmten Verpflichtungen nachkommt, doch
diese Verpflichtung kann die Art und Weise, wie ich dieses tun soll, selbst nicht
regeln. Somit ist ergeben sich auf der Seite des antwortenden I Spielräume für
Kreativität und ein „Gefühl der Freiheit, der Initiative“(221). Mead denkt hier an
Die Grounded Theory im Licht der Wissenschaftstheorie 23

gesellschaftliche Innnovationen, die die Regeln des Miteinanders vergrößert und


erneuert haben.
Mead stellt sich diese Innovationen, ähnlich wie Hegel, als Taten „großer
Persönlichkeiten und charaktervoller Menschen“(260) vor. Diese weichen zur
Stiftung von Neuerungen, die allen Mitglieder der Gemeinschaft zu Gute kom-
men, zunächst bewusst von geltenden Regeln ab, um jene maßgeblichen Innova-
tion anstoßen zu können. Abraham Lincoln musste mit den religiösen Gefühlen
vieler Amerikaner brechen, um die Sklaverei verbieten zu können.

Meads demokratische Vision

Der Prozess der gesellschaftlichen Innovation soll eine Entsprechung zwischen


Rechten, Pflichten, Innovation und Allgemeinwille bewirken. Das schöpferisch
Neue ist zugleich das normativ Geltende (vgl.: Schnell 1994). Das Gemeinwesen
als Verkörperung dieser Entsprechung wird stets umfassender und das Leben
wird lebenswerter. Durch den inneren Kern dieser Vision erweist sich Mead als
Erbe der europäischen rationalistischen und idealistischen Philosophie. Er selbst
spricht auch vom „Leibnizschen Universum“(Mead 1973, 245) und dessen Har-
monie.
In einer Weltgesellschaft gäbe es eine Sprache, deren signifikante Symbole
für alle Menschen dasselbe bedeuten würden. Die Eigeninteressen sind mit den
Interesse aller identisch (vgl. ebd.: 321). Somit wäre zumindest eine partielle
„Verschmelzung von I und Me“(320) der Höhepunkt einer Demokratie, die zeit-
weilig als Patriotismus, universale Nachbarschaft und Teamwork gelebt wird
(321ff).

Von der Philosophie zur empirischen Sozialwissenschaft:


Herbert Blumer (1900-1987)

Der Nachruhm und die Wirkungsgeschichte Meads ist wesentlich zwei Personen
zu verdanken: Charles Morris und Herbert Blumer. Morris edierte 1934 Meads
berühmte Vorlesungen Mind, Self and Society, die 1968 in deutscher Sprache
missverständlich und geisteswissenschaftlich gefärbt unter dem Titel „Geist,
Identität und Gesellschaft“ erschienen sind.
Blumer prägte den Begriff des symbolischen Interaktionismus und bahnte
dem Ansatz von Mead einen Weg von der Philosophie zur Forschung. „George
Herbert Mead … (hat) mehr als alle anderen die Grundlagen des symbolischen-
interaktionistischen Ansatzes gelegt.“(Blumer 2013, 63). Blumer versteht Meads
24 Martin W. Schnell

Werk nicht als Philosophie, sondern als empirische Sozialwissenschaft. „Für


mich ist der symbolische Interaktionismus nicht eine philosophische Lehr-
meinung, sondern eine bestimmte Betrachtungsweise innerhalb der empirischen
Sozialwissenschaft – er ist ein Ansatz, der dazu bestimmt ist, nachprüfbares
Wissen über das menschliche Zusammenleben und Verhalten zu erbringen.
Demgemäß haben seine methodologischen Grundsätze mit den grundlegenden
Erfordernissen der empirischen Wissenschaften übereinzustimmen.“(ebd., 89)
Diese empirische Zuspitzung bewirkt, dass die philosophischen Teile von Meads
Theorie, wie seine demokratische Vision oder die Dialogizität zwischen I und
Me, – berechtigt oder nicht – von Blumer ausgeblendet werden. Manchmal
scheint es, als ob es in seiner Version des symbolischen Interaktionismus nur um
Interpretationen ginge und um sonst nichts.
Seine, den empirischen Wissenschaft zugängliche Version des symbolischen
Interaktionismus stützt Blumer nun bekanntlich auf drei Prämissen.

Die Grundsätze des symbolischen Interaktionismus:


1. „Menschen handeln gegenüber Dingen auf der Grundlage der Bedeutungen,
die diese Dinge für sie besitzen.“
2. „Bedeutung erwächst aus sozialen Interaktionen.“
3. „Bedeutungen werden in einem interpretativen Prozess gehandhabt und
verändert.“(64)

Die in diesen Grundsätzen vorgestellte Bedeutungstheorie zeigt die Nähe zum


Pragmatismus an, der in den USA wesentlich von John Dewey vertreten worden
ist und in Europa zum Beispiel beim späten Wittgenstein zu finden ist. „Die
Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.“(Wittgenstein 1977,
Nr. 43)
Der Pragmatismus geht davon aus, dass Bedeutungen weniger durch kon-
templatives Denken, sondern eher durch eingreifendes Handeln entstehen. Das
Handeln geht dabei direkt auf die pragmata (die Dinge, die Sachen) ein und
verändert sie. Als veränderbare pragmata versteht der Pragmatist nicht nur mate-
rielle Gegenstände, sondern quasi die Welt insgesamt. Richard Rorty, eine Nach-
fahre Deweys, spricht auch von einer „Welt ohne Substanzen oder Wesen“(Rorty
1994, 37). Herbert Blumer betrachtet seinerseits den Pragmatismus als Wegberei-
ter des symbolischen Interaktionismus (vgl.: Blumer 2013, 63).
Die Grounded Theory im Licht der Wissenschaftstheorie 25

Wissenschaftstheoretische Grundannahmen des Symbolischen Interaktionismus


innerhalb der Grounded Theory

Die auf Anselm Strauss zurück gehende Grounded Theory gründet auf folgen-
den, durch Herbert Blumer beeinflussten wissenschaftstheoretischen Grund-
annahmen:

1. Sinn/Bedeutung von Worten und Taten sind in Interaktionen eingebettet und


von dort her zu gewinnen.
2. Die Kenntnisnahme von Sinn/Bedeutung beginnt mit der Weise der Daten-
erhebung (theoretical Sampling).
3. Eine empirisch begründete Theorie (Grounded Theory) ist als Ergebnis der
Datenauswertung eine Artikulation von Interaktionspraxen, die die Bedeu-
tung von etwas konstituieren. Bedeutungen müssen nicht einheitlich sein!
4. Wissenschaftliche Arbeit ist ein Hin und Her zwischen Kontext und Verall-
gemeinerung (Flick 2003, 475ff).

Ein Beispiel: Bedeutung entsteht aus Interaktionen!


Wenn Patienten im Krankenhaus auf eine nicht überlebensnotwendige Opera-
tion unbestimmt warten müssen, weil diese kurzfristig verschoben worden ist,
sagen, dass das Warten von ihnen als „langweilig“ empfunden wird, dann
handelt es sich keineswegs um eine triviale Aussage. Denn es ist alles andere
als selbstverständlich, was das Wort „langweilig“ bedeuten mag und wie die-
ser Zustand von Patienten bewertet wird.
Bei Nachforschungen zeigt sich, dass das, was langweilig bedeutet, unter
anderem davon abhängig ist, wie Patienten, die unerwartet freie Zeit verleben,
derweil mit Pflegenden kommunizieren und ob Verwandte in dieser Zeit für
einen Kontakt zur Verfügung stehen. Wer alleine ist, durchlebt die Langeweile
anders als der kommunikativ eingebundene Patient. Sofern Ärzte die OP-
Verzögerung gar begründen, haben Patienten durchaus Verständnis für die
Wartezeit. „Notfall. Kann ich verstehen. Ist wichtiger.“
Als Fazit kann festgehalten werden: die Bedeutung von „langweilig“ ergibt
sich aus Interaktionen, in die Patienten im Kontext des Krankenhauses einge-
bunden sind. Diese Interaktionen gilt es zu erforschen, um die empirisch prä-
zisen Bedeutungen von Langeweile ermitteln zu können.
26 Martin W. Schnell

Anselm Strauss und die Grounded Theory

Anselm Strauss definiert die „Grounded Theory“ als einen „Stil …., nach dem
man Daten qualitativ analysiert und (der) auf eine Reihe von charakteristischen
Merkmalen hinweist: Hierzu gehören das Theoretical Sampling …. das kontinu-
ierliche Vergleichen und die Anwendung eines Kodierparadigmas, um die Ent-
wicklung und Verdichtung von Konzepten sicherzustellen.“(Strauss 1978, 29f)
Diesen Hinweisen soll stichwortartig nachgegangen werden. Damit keine Dop-
pelungen und Wiederholungen auftreten, sei zusätzlich hingewiesen auf das
Kapitel „Was ist Grounded Theory?“ im vorliegenden Buch und auf Jörg
Strübings vorzügliche Darstellung (Strübing 2008).
Das Ziel einer Grounded Theory ist, um mit Udo Kelle zu sprechen, eine
empirisch begründete Theorie. Unter dem Wort Theorie wird dabei ein aus einer
menschlichen Interaktionspraxis zugängliches Bedeutungsuniversum verstanden.
Dieses Bedeutungsuniversum wird in seiner Tiefe erschlossen. Es ist nicht reprä-
sentativ, sondern perspektivisch ausgerichtet.

Eine Antwort auf die Forschungsfrage, „wie Patienten mit sog. Migrations-
hintergrund einen Aufenthalt in einem deutschen Krankenhaus erleben und
gestalten?“, ergibt eine möglichst erschöpfende Auskunft über die Situation
bestimmter Patienten in einem bestimmten Setting zu einer bestimmten Zeit
und gesellschaftlichen Situation.

Im Gegensatz zu vielen quantitativen Studien, die auf Fallzahlkalkulation und


Powerberechnung basieren und die die Datenerhebung und – analyse linear aus-
richten, verläuft der Forschungsprozess der Grounded Theory linear. Der For-
scher führt ein direktes Nacheinander von Datenerhebung, -auswertung und
fortschreitender Theoriebildung durch. Nach jedem dieser Dreierschritte wird
überlegt, welche Daten als nächste erhoben werden sollen. Dieses als theoretical
Sampling bezeichnete Verfahren verzichtet auf einen präexistierenden Plan zur
Datenauswahl. Es dient der phänomennahen Entscheidung, ob der jeweils nächs-
te folgende Schritt der Anreicherung der bislang verfolgten Perspektive oder
ihrer Kontrastierung gelten solle. Jeder untersuchte Einzelfall (jeder einzelne
interviewte Patient mit Migrationshintergrund) wird dabei kontinuierlich mit
allen anderen Einzelfällen (mit den Aussagen aller anderen Patienten) verglichen.
Ein Einzelfall wird in Beziehungen zu anderen gesetzt. Unter anderem kann so
verhindert werden, dass die Datengewinnung nur Anekdoten generiert.
Im Zentrum der Theoriebildung steht der Prozess des Kodierens von Daten.
Bekanntlich wird im Rahmen der Grounded Theory die Unterscheidung zwi-
schen offenem, axialem und selektivem Kodieren getroffen. Diese prozedurale
Die Grounded Theory im Licht der Wissenschaftstheorie 27

Unterscheidung, die an anderer Stelle näher untersucht wird, dient dazu, inner-
halb der Daten eine Schlüssel- oder Kernkategorie zu isolieren und zu identifi-
zieren. Diese Kategorie bezeichnet das zentrale Phänomen, um das es in einem
Forschungsprojekt geht. Eine Schlüsselkategorie muss dabei mindestens folgen-
de Kriterien erfüllen:

a. Sie muss häufig im Datenmaterial als in-vivo-code oder als Variation vor-
kommen,
b. sie muss sich zu den meisten anderen begrifflichen Bestimmungen in Be-
ziehung setzen lassen,
c. sie muss die Begrifflichkeit sein, auf die alle wichtigen Begrifflichkeiten
verweisen (vgl.: Strauss 1998, 67f).

Patienten mit Migrationshintergrund erfahren ihren Aufenthalt in einem deut-


schen Krankenhaus als „isoliert“.
a. Die Patienten verwenden das Wort „isoliert“ sehr häufig.
b. Das Wort „isoliert“ lässt sich leicht und plausibel zu anderen relevanten
Bestimmungen wie „Kontakt zur Familie“, „Gespräch mit den Pflegenden“,
„Information durch Ärzte“, „das Leben draußen“ in Beziehung setzen.
c. Alle relevanten Bestimmungen erhalten ihre Bedeutung durch ihren Bezug
zu Begriff und Sache der „Isolation“.

Kodierparadigma

Für eine methodisch sichere Durchführung des Kodierens, besonders des axialen
Kodierens, schlägt Strauss vor, das sog. Kodierparadigma zu verwenden. Dieses
Paradigma (siehe hier Seite 43), das ebenfalls an anderer Stelle ausführlicher
dargestellt wird, zeigt, welchen Ursachen, Kontexten und Bedingungen ein zent-
rales Phänomen unterliegt und auch, welche Konsequenzen und Strategien für
Akteure jeweils aus einer solchen Konstellation folgen (vgl.: Strauss 1998, 56f).
Das Kodierparadigma ist dabei, wie Strauss sagt, ein Vorschlag bzw. eine „prag-
matische Heuristik“(Strübing 2008, 72). Mit ihm ist zu arbeiten wie mit einem
Werkzeugkasten. Es ist variabel und auch veränderbar. Es ist somit möglich, das
Paradigma zu variieren. Gerade in der Analyse der Gesundheitsversorgung in
totalen Institutionen zeigt sich, dass der Kontext und die Bedingungen, denen ein
zentrales Phänomen unterliegt, zusammen fallen können (vgl.: Schüßler 2013).
Zusammenfassend kann gesagt werden: Das Kodierparadigma ist die Einlö-
sung der Idee der symbolischen Interaktion für den Gebrauch innerhalb einer
28 Martin W. Schnell

empirischen Forschung. Das Ziel ist eine empirisch begründete Theorie, deren
Bedeutungen in Interaktionen entstehen und sich auch dort verändern.
Das Kodierparadigma ist zudem Ausdruck des Pragmatismus, da es dazu
dient, Konzepte und Kategorien in einem sachnahen und „kreativen Prozeß
durch Zutun der Forschenden“(Strübing 2008, 57) zu erzeugen. Erkenntnis-
theoretisch kann daher mit Adorno formuliert werden: „Was in (den Sachen)
selbst wartet, bedarf des Eingriffs, um zu sprechen.“(Adorno 1980, 39) Diese
Sichtweise führte in der Geschichte der Grounded Theory zu einer quasi philo-
sophischen Kontroverse, die durch die Formel Interpretation vs. Emergenz ge-
kennzeichnet werden kann.

Versionen der Grounded Theory

Unter dem Label der Grounded Theory rubrizieren in erster Linie gehaltvolle
und lehrreiche Studien und Erkenntnisse über das Leben in Institutionen, wie
man sie sonst nur von Ervin Goffman kennt. Von den Betreibern der Grounded
Theory kennen wir Untersuchungen über die Arbeitsabläufe in Krankenhäusern,
über das Dasein von Patienten mit chronischen Krankheiten und über den gesell-
schaftlichen Umgang mit Sterben und Tod (vgl.: Glaser/Strauss 1965). Entschei-
dende Unterschiede innerhalb der Untersuchungen resultieren aus unterschiedli-
chen Auffassungen über die adäquate Gestalt einer Grounded Theory, wie sie
zwischen Strauss, Glaser und Corbin entstanden sind. Dabei kommt in der Tat
dem Problem der Emergenz eine entscheidende – und zwar erkenntnistheoretisch
entscheidende – Bedeutung zu.
Wissenschaft und Forschung sind in ein Berufsumfeld, in politische, finan-
zielle und rechtliche Rahmenbedingungen eingebunden. Neben diesen externen
Faktoren, die auch zur Charakterisierung anderer kultureller Praktiken geeignet
sind, kommt internen Faktoren eine zentrale Funktion zu. Unter ihnen ist wiede-
rum die Frage nach Wahrheit und Methode von besonderer Relevanz. Methodi-
sches Vorgehen ist in der Wissenschaft unumgänglich. Fraglich ist jedoch, ob die
Durchführung einer Methode allein zu empirisch gehaltvoller Wahrheit führt
oder ob es dazu mehr bedarf. Letztere Auffassung wird von den Vertretern der
Emergenz geteilt. Als Emergenz bezeichnet man das Auftreten neuer Qualitäten,
das sich nicht aus der Summe vorhandener Eigenschaften oder der Handhabung
von Methoden und Techniken allein erklären lässt. Jene Qualitäten treten viel-
mehr spontan im Sinne einer Selbstorganisation auf (Krohn/Küppers 1992).
Barney Glaser ist ein Vertreter eines Emergenzkonzepts. Anselm Strauss
und Juliet Corbin sind Anhänger des interpretativen Paradigmas. Glaser geht
davon aus, dass eine Theorie ungezwungen aus vorhandenen Daten hervorgehe.
Die Grounded Theory im Licht der Wissenschaftstheorie 29

Er wirft Straus daher vor, durch Interpretationen Erkenntnisse zu erzwingen und


damit zu verfehlen statt sie frei entstehen zu lassen. Für Strauss entsteht eine
empirisch basierte Theorie in der Tat durch Arbeit am Datenmaterial. Er wirft
Glaser seinerseits vor, mit „religiösen Kategorien“(Strübing 2008, 75) zu arbei-
ten, wenn Glaser sage, dass die Güte der Durchführung einer Methode schlicht
und einfach in dem Masse gegeben sei, wie der Forscher Vertrauen in das Funk-
tionieren jener Methode habe.
In der Sache zeigt sich, dass beide Positionen sehr gegensätzlich sind. Ver-
mutlich werden die meisten Forscher darin übereinstimmen, dass eine kluge
Mischung als regelgeleiteter Praxis, Kreativität, Fleiß und Kontingenz zu gelun-
gener Forschung beiträgt.

Grounded Theory als Werkzeugkasten

Alle Forschungsmethoden sind im Zusammenhang mit bestimmten Frage-


stellungen und Themenfeldern erfunden worden. Die Soziographie wurde von
Marie Jahoda, Paul F. Lazarsfeld und Hans Zeisel entwickelt als sie unter-
suchten, wie sich das Schicksal der Arbeitslosigkeit auf Menschen in einer
Kleinstadt auswirkt. Die Objektive Hermeneutik ist bei der Interpretation von
Texten aus dem Bereich von Kunst und Kultur entstanden. Die Qualitative In-
haltsanalyse in der klassischen Version entfaltete sich in einer Untersuchung des
Berufsalltags von Lehrern. Auch die Grounded Theory hat einen Entstehungs-
kontext und damit Gegenstände, an denen sie sich besonders gut bewährt.
Diese Verwiesenheit einer Methode auf bestimmte Gegenstände erlaubt es
oft nicht, dass jede Methode auf jeden beliebigen Gegenstand angewendet wer-
den kann. Eine an Texten ausgerichtete Methode funktioniert nur dann, wenn
Daten auch in texthafter Form vorliegen. Sind sie in einer anderen gegeben, läuft
die Methode leer!
Diese Begrenztheit auch eine Kehrseite. Methoden sind nicht wie strenge
mathematische Beweise durchzuführen, sondern können oft variabel gehandhabt
werden. Sie sind mehr oder weniger auch als Werkzeugkästen anzusehen und zu
verwenden – wenn ein Forscher eine solche Verwendungsweise gut begründen
kann! Der Forscher entnimmt ihnen in diesem Falle, was er benötigt und kombi-
niert es mit anderen Methodenteilen. Ob eine solche Kombination jeweils sinn-
voll ist, hängt von der Erfüllung von Gütekriterien ab.
Auch die Grounded Theory wird oft als ein Werkzeugkasten verwendet. In
solchen Fällen wird eine Grounded Theory nicht vollständig durchgeführt, son-
dern als offenes und axiales Kodieren (incl. Kodierparadigma). Auf ein finales
selektives Kodiere wird hingegen verzichtet, weil etwa im Rahmen von Qualifi-
30 Martin W. Schnell

kationsarbeiten eine erschöpfende Datensättigung nicht erreichbar ist (vgl. als


Beispiel: Kolbe/Schnepp/Zegelin 2009). Oder es ist denkbar, dass das
Kodierparadigma mit anderen Methoden zur Gewinnung und Auswertung von
Daten, die nicht der Grounded Theory zugehören, sinnvoll kombiniert wird (vgl.
als Beispiel die Reflexive Grounded Theory).

Grenzen der Grounded Theory

1. Grenze: Bedeutung ohne Interaktion? Ereignisse oder Sachverhalte, die offen-


bar oder angeblich nicht in sozialen Interaktionen befindlich sind, habe keine Be-
deutung. „Menschliche Körper, … – wie etwa die Körper komatöser Patienten –,
fallen wie selbstverständlich aus dem Beobachtungsrahmen heraus. Das heißt:
ihre Aktivitäten werden gar nicht erst als relevantes Datum erfaßt.“(Lindemann
2008, 111) Offenbar können Komapatienten nicht an symbolischen Interaktionen
teilnehmen und sind daher ohne Bedeutung. Der Sache nach ist diese Ansicht in
medizinischer Hinsicht wohl falsch oder höchst problematisch, da Komapatien-
ten leben und am Austausch mit der Umwelt nachweislich teilnehmen (vgl.:
Schnell 2004, 108f). Selbst wenn man annähme, Komapatienten wären unbelebt,
also ohne Eigenbewegung, dann könnten sie George Herbert Mead zufolge sehr
wohl an bedeutungsstiftenden Interaktionen teilhaben. Mead betont ausdrücklich,
dass auch „unbelebte Gegenstände genau wie andere menschliche Organismen
Teile des verallgemeinerten … Anderen sein können.“(Mead 1973, 196) Diese
Annahme ist in das Konzept der Gounded Theory nicht eingegangen. An dieser
Stelle rächt sich quasi die Tatsache, dass Blumer bei der Umarbeitung des sym-
bolischen Interaktionismus für die empirische Forschung viele philosophische
Elemente Meads ausgesondert hat.

2. Grenze: Daten ohne Text? Forschung im Sinne der Grounded Theory zielt, wie
jede Forschung, auf die Erfassung von Daten. Nicht jede Information ist dabei
ein Datum, denn unter einem Datum wird verstanden: etwas, dass von Personen
innerhalb sozialer Interaktionen selbst erlebt worden ist und das daraufhin von
diesen als Text (erzählt, geschrieben, …) gefasst wird und damit vom Forscher
als Text erfasst werden kann. Eine weitere Grenze der Grounded Theory besteht
darin, dass auch Nichtselbsterlebtes, Nichtgesagtes und nicht als Text Vorlie-
gendes ebenfalls wichtig sein kann. Gerade Prozesse in totalen Institutionen wie
der Forensik generieren Informationen, die als Daten relevant sein können (vgl.:
Haynert/Schnell 2009). Ihre Erfassung erfordert offensichtlich eine methodische
Erweiterung der klassischen, auf Strauss zurück gehenden Grounded Theory.
Die Grounded Theory im Licht der Wissenschaftstheorie 31

Von der Grounded Theory zur Reflexiven Grounded Theory

Wenn Forschung über die Auswertung von Erfahrungen, die Personen in Interak-
tionen gemacht haben, hinaus Daten aus dem gewinnen möchte, was Interakti-
onszusammenhänge strukturiert und damit beeinflusst, was aber nicht von den
involvierten Personen bewusst er- und durchlebt wird, dann muss Forschung eine
methodische Erweiterung der Grounded Theory anstreben. Eine solche Erweite-
rung ist das Anliegen der Reflexiven Grounded Theory, die von einer Arbeits-
gruppe um Franz Breuer entworfen worden ist. Sie vereint in methodologischer
Hinsicht die Methode der Grounded Theory mit einem ethnographischen Zugang
und einer ausdrücklichen Selbstreflexivität des Forschers, der aufgrund der
ethnologischen Erweiterung der Grounded Theory nun selbst in das interaktive
Untersuchungsfeld eintritt und somit in persona auch zum Untersuchungsgegen-
stand wird (Breuer 2010).
Die Reflexive Grounded Theory erhebt den Anspruch, den engen Gegen-
standsbezug und interaktiven Kontakt zum Forschungsfeld durch eine Integrati-
on ethnographischer Methodiken vertiefen zu können (ebd., 23). Sie versteht sich
insofern als „Erweiterung“(40) der klassischen Grounded Theory. Die Erweite-
rung besteht konkret darin, dass nun auch Daten, die aus Beobachtungen erwach-
sen und die über das Erleben von Probanden hinausreichen, ausgewertet werden
können.
Die Reflexive Grounded Theory betrachtet die Verwendung des Kodier-
paradigmas von vorn herein als einen offenen Prozess. Die Annahme, dass ein
zentrales Phänomen von fünf und nicht mehr oder weniger verketteten Kompo-
nenten konturiert wird, erscheint dabei als ein pragmatischer Arbeitsvorschlag –
so, wie es Strauss ursprünglich auch selbst eingeschätzt hatte (86ff). Die Struktur
des Kodierparadigmas, die Verbindungen und Anhängigkeiten zwischen den
Komponenten werden dadurch variabel gehandhabt.
Die besondere Betonung der Selbstreflexivität des Forschers führt die Me-
thode in die Richtung einer Ethnographie des Selbst. Die Subjektivität des For-
schers wird unvermeidlich zum Untersuchungsgegenstand, weil der Forscher
durch teilnehmende Beobachtungen in das zu untersuchende Feld eintritt, es
verändert und selbst auch verändert wird. (Eine an dieser Stelle eigentlich not-
wendige, ausführliche wissenschaftstheoretische, -historische und methodische
Darstellung der Ethnographie findet sich in Band 2 der Buchreihe „Palliative
Care und Forschung“ unter dem Titel: Martin W. Schnell, Werner Schneider,
Harald Kolbe: Sterbewelten. Eine Ethnographie. Wiesbaden 2014.)
32 Martin W. Schnell

Teilnehmende Objektivierung

Die Reflexive Grounded Theory kann als ein Versuch verstanden werden, Sub-
jektivismus und Objektivismus zusammenzuhalten. Das Ziel dessen ist es, eine
möglichst breite Datenbasis zu erlangen: Erlebtes, Erzähltes, Beobachtetes und
auch Strukturen, die Erfahrungen ermöglichen, selbst aber nicht direkt erfahren
werden, sollen der Forschung zugänglich sein. In diesem Zusammenhang müsste
das Anliegen bzw. das Konzept der Reflexivität der Grounded Theory und natür-
lich das der Reflexiven Grounded Theory mit dem Modell der teilnehmenden
Objektivierung (Participant Objektivation) diskutiert werden. Dieser, in der Me-
thodenliteratur noch nicht erfolgte Schritt kann zu einer weiteren Aufklärung
über die Güte einer Grounded Theory beitragen.
„Unter teilnehmender Objektivierung“ versteht Pierre Bourdieu „die Objek-
tivierung des Subjekts der Objektivierung.“(Bourdieu 2004, 172) Der Gegen-
stand der teilnehmenden Objektivierung sind dabei „soziale Bedingungen, die …
den Akt der Objektivierung ermöglichen.“ Wenn der Forscher in den Gegenstand
eingreift, muss er selbst auch objektiviert werden durch „eine Objektivierung der
subjektiven Beziehung zum Objekt“(Bourdieu 2010, 420). Gegenstände dieser
Objektivierung sind die Sozialwelt, der der Forscher entstammt, die Stellung des
Forschers und sein Werdegang, die Zusammenhänge zwischen den gewählten
Forschungsthemen und der sozialer Position. Würde ein solcher Schritt der Ref-
lexivität nicht unternommen und auch nicht annähernd, dann bestünde die Güte
von Forschung lediglich in der Hauptsache in der subjektiven Nachvollziehbar-
keit ihrer Ergebnisse.

Literatur

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Bachelard, G. (1974): Epistemologie, Frankfurt/M./ Berlin/Wien.
Blumer, H. (2013): Symbolischer Interaktionismus. Aufsätze zu einer Wissenschaft der
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Böhme, G. (1995): Atmosphäre, Frankfurt/M.
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Die Grounded Theory im Licht der Wissenschaftstheorie 33

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Was ist „Grounded Theory“?
Janina Schmidt/Christine Dunger/Christian Schulz

Einleitung

Dieses Kapitel soll helfen, ein Verständnis davon zu entwickeln, was mit dem
Begriff Grounded Theory im Sinne einer Forschungsmethodologie und – metho-
de gemeint ist. Dazu ist neben einer grundsätzlichen Definition eine Darstellung
der Grundsätze, Prozesslogik und einzelnen Verfahrensschritte notwendig. Im
Anschluss daran werden mögliche Gegenstandsbereiche beschrieben. Zuletzt
sollen allgemeine forschungspraktische Aspekte bei der Forschungsplanung und
Durchführung erläutert, sowie die Wirkungsgeschichte des Verfahrens aufgezeigt
werden. Dazu gehören auch deren Grenzen und wissenschaftliche Anerkennung
in der scientific community.

Die Grounded Theory – mehr als eine Methode

Die Grounded Theory kann als die klassische, Theorien generierende qualitative
Forschungsmethode bezeichnet werden (Strübing 2008). Klassisch, weil sie sich
seit ihrer Entwicklung bis heute als eine „konzeptuell verdichtete, metho-
dologisch begründete und in sich konsistente Sammlung von Vorschlägen“ dar-
stellt, die sich für die Erzeugung von Theorien als geeignet erwiesen hat (ebd.).
Aus dem ersten Entwurf des Verfahrens hat sich zwischenzeitlich „eine allge-
meine Methodologie qualitativer Sozialforschung“ (Tiefel 2005) entwickelt, die
„in den letzten vier Jahrzehnten zu einem der am weitesten verbreiteten Verfah-
ren der qualitativ-interpretativen Sozialforschung geworden ist“ (Strübing 2008).
Erfunden wurde die Grounded Theoryin den 60er Jahren des 20. Jahr-
hunderts von den beiden Soziologen Barney Glaser, Columbia University und
Anselm Strauss, University of Chicago mit dem Ziel, eine Methodik zu schaffen,
die es ermöglicht, begründete Theorien über ein Phänomen, zum Beispiel
menschliches Verhalten in bestimmten Situation, direkt aus den Daten heraus zu
entwickeln. Strauss arbeitete an einer Studie über sterbende Patienten in kalifor-
nischen Krankenhäusern, fand jedoch keine bestehende Forschungsmethode, mit
der ihm dies in vorgestellter Art und Weise gelang. Ihn interessierte, ob und
wenn ja, inwiefern das Bewusstsein über einen nahenden Tod das Verhältnis und

M. W. Schnell et al. (Hrsg.), Palliative Care und Hospiz, Palliative Care und Forschung,
DOI 10.1007/978-3-658-07664-1_2, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
36 Janina Schmidt/Christine Dunger/Christian Schulz

die Interaktion zwischen Sterbenden und Mitarbeitern der Krankenhäuser verän-


derte bzw. beeinflusste. Gemeinsam mit Glaser begann er, sich die gesammelten
Daten anzuschauen, theoretische Überlegungen und Konzepte zu entwickeln,
diese in Form von analytischen Memos festzuhalten und als Basis für neue, wei-
tere Datenerhebung zu verwenden. So entwickelten sie Schritt für Schritt die
erste Grounded Theory.
Zum ersten Mal als Methode beschrieben wurde dieses Vorgehen 1967 im
gemeinsamen Buch von Glaser und Strauss „The Discovery Of Grounded Theo-
ry: strategies for qualitative research“(Strauss 2012). Nach der Entwicklung der
Grounded Theory trennten sich jedoch die Wege von Strauss und Glaser und es
folgte eine differente Weiterentwicklung und Interpretation der Methodologie
(Abschnitt 8). Seitdem wurde die Grounded Theory in ihrer Darstellung kontinu-
ierlich verfeinert und verändert (vgl. Strauss/Corbin 1996 und Breuer u.a. 2010).
Gemeinsam ist allen Verfahren, dass sie einen systematisch-experimentellen
Wirklichkeitszugang zugrunde legen, „der einer klaren, wissenschaftstheoretisch
orientierten Falsifikationslogik unterliegt“ (Strübing 2008). Im Zentrum stehen
Handlungsentscheidungen sozialer Akteure, oftmals innerhalb von Organisa-
tionen und institutionellen Kontexten (Glaser und Strauss 1974). Aus den damit
gegebenen und vollzogenen Interaktionen erwachsen die Bedeutungen, die die
Welt und ihre Ausschnitte für die Akteure besitzen (H. Blumer). Um die Bedeu-
tungen, die Akteure den Dingen geben, verstehen zu können, muss ein Forscher
die Frage stellen: „Was passiert hier, wie und warum?“.
Glaser und Strauss richteten sich mit ihrer Methodologie zudem gegen die
in den 1960er Jahren in den USA übliche, durch das normative Paradigma ge-
prägte Sozialforschung. Die vorherrschende Denkrichtung zu dieser Zeit nahm
die Wirklichkeit als objektiv gegeben an, in der sich die Menschen in ihrem
Handeln und Denken an Normen orientieren. Die Interaktion zwischen Personen
ereignet sich dieser Auffassung nach in einem gemeinsamen System von Symbo-
len, Sprache und Gestik, so dass ihre Bedeutung stets eindeutig ist. In diesem
Zusammenhang ist insbesondere die Theorie nach Talcott Parsons zu nennen.
Glaser und Strauss waren Anhänger des interpretativen Paradigma, das davon
ausgeht, dass Interaktion zwischen Personen erst interpretiert werden muss und
ihr auf diese Weise Sinn und Bedeutung zugeschrieben wird. Aus diesem Grund
muss empirische Forschung nicht erklärend, sondern verstehend sein. Unter
diesem Anspruch fand die Entwicklung der Grounded Theory Methodologie
statt.
Grundlegend für das forschungspraktische Vorgehen aller Verfahren ist ein
systematischer Empiriebezug im Sinne einer empirischen Fundierung theoreti-
scher Konzepte. Theorien basieren auf systematisch interpretierter Erfahrung
(vgl. Erbrecht &Hillebrandt 2006). Mit diesem Ansinnen wollen Strauss und
Was ist „Grounded Theory“? 37

Glaser der Alternative von empiriefreier Supertheorie oder theorieloser Daten-


sammlung entgehen.
Die Grounded Theory geht stattdessen davon aus, dass Forschung und ana-
lytische Durchdringung immer zugleich empirisch und theoretisch sein sollten
(Glaser und Strauss 2005; Strauss und Corbin 1996). Erst die Perspektive auf das
zu untersuchende Phänomen und die Gegenstandsangemessenheit der Theorien
und Methoden machen gute qualitative Sozialforschung aus (ebd.). Das Ziel der
Grunded Theory als Methologie ist eine Grounded Theory im einzelnen und
eines einzelnen Settings: eine in empirischen Daten gegründeten Theorie sozialer
Prozesse etwa im Krankenhaus oder in anderen Institutionen (Brüsemeister
2008). Sie versteht sich somit als gegenstands- oder datenverankerte Theorie
(Corbin 1996).
Die Grounded Theory Methodologie beruht auf der Annahme, dass sich
menschliches Verhalten immer im Austausch mit der Umwelt befindet, sich so-
mit ständig verändert. Dementsprechend besitzen Forschungsfragen eine Hand-
lungsorientierung, die mit dem offenen und sinnverstehenden Zugang zum empi-
rischen Feld übereinstimmen (Mruck 2009).
Wichtig war beiden Begründern der Grounded Theory , dass die entwickel-
ten Theorien zum einen sowohl der Fachwelt als auch einem Laienpublikum
zugänglich sind und zum anderen, dass sie über eine praktische Relevanz verfü-
gen, die im Feld „dazu taugt, den Praktiker Situationen verstehen und in Ansät-
zen kontrollieren zu lassen.“ (Strübing 2008)
Aus dem bisher Genannten ergeben sich folgende forschungspraktische
Konsequenzen:

1. Eine Grounded Theory geht von einer zeitlichen Parallelität und funktiona-
len Abhängigkeit der Prozesse der Datenerhebung, -analyse und Theoriebil-
dung aus und nicht von einer idealtypischen und von den situativen Um-
ständen des Forschungsvorhabens unabhängigen Sequentialität (Strauss
1991).
2. Eine Grounded Theory ist stets ein sich kontinuierlich entwickelnder For-
schungsprozess. Eine in empirischen Daten basierte Theorie wird von Be-
ginn an produziert und es ist zunächst kein Endpunkt bestimmbar (Strübing
2008).
3. Die Steuerung des Forschungsprozesses erfolgt aus sich selbst heraus, einer-
seits durch eine theoretische Stichprobenauswahl, andererseits durch Refle-
xion der einzelnen Schritte durch die Forschenden. Die Entscheidungskrite-
rien für die reflexive Prozesssteuerung liegt in den vorangegangenen Pro-
zessetappen (Strübing 2008).
38 Janina Schmidt/Christine Dunger/Christian Schulz

4. Bei der Entwicklung einer Grounded Theory stehen Forscher und For-
schungsgegenstand in einer kontinuierlichen Wechselbeziehung. Als Inter-
pret der Daten ist ein Forschender zwangsläufig immer Subjekt des For-
schungsprozesses (Breuer 2010; Charmaz 2007). „Wenn Forschung Arbeit
ist und Arbeit als dialektisches Wechselverhältnis zwischen Subjekt und Ob-
jekt aufgefasst wird, dann muss als Resultat des Prozesses, die erarbeitete
Theorie, immer auch ein subjektiv geprägtes Produkt sein“, so Strübing
(2008).
5. Eine Grounded Theory kann sehr viele Datenformen berücksichtigen. Anga-
ben über die zugrunde gelegte Literatur sowie das Analysevorgehen im For-
schungsprozess sind unverzichtbares Element der Verfahren.

Im Folgenden werden zunächst die allen Verfahrensformen der Grounded Theory


gemeinsame Elemente vorgestellt. Im Anschluss daran wird speziell auf die
Reflexive Grounded Theory eingegangen.

Darstellung der Methode

Für Anselm Strauss gilt, dass Forschung keineswegs die Anwendung einer ferti-
gen Methode auf beliebige Gegenstände ist. Vielmehr ist davon auszugehen, dass
sich durchgeführte Grounded Theorys, die jeweils eine gegenstands- und
empiriebezogene Erklärung einer sozialen Welt liefern, in ihren Verfahrenswei-
sen voneinander unterscheiden. Das Krankenhaus, das Gefängnis, das Fußball-
stadion sind als Interaktionsfelder verschieden. Diese Verschiedenheit macht sich
in der Durchführung von Forschung deutlich bemerkbar!
Trotz möglicher Unterschiede gibt es auch wichtige Gemeinsamkeiten;
andernfalls könnte man nicht von der Grounded Theory als einer Methodologie
und Methode sprechen, sondern nur von einer Aneinanderreihung einzelner Ver-
fahren. Im Wesentlichen können nachfolgende sieben Gemeinsamkeiten ange-
führt werden:

1. Gleichzeitigkeit der Datenerhebung und Datenanalyse


2. Theoretisches Sampling
3. Kodieren
4. Methode des ständigen Vergleichens
5. Nutzung multipler Datenformen
6. Theoretische Sättigung
7. Theoretische Sensibilität
Was ist „Grounded Theory“? 39

Gleichzeitigkeit der Datenerhebung und Datenanalyse

Die Abbildung 1 zeigt, dass der Schritt der Datenerhebung und – analyse durch
ein besonderes Vorgehen gekennzeichnet ist. Es schließt die Gleichzeitigkeit der
Erhebung und Auswertung ein: ausgehend von ersten Ergebnissen werden über
die Methode des ständigen Vergleichens und die theoriegeleitete Stichproben-
auswahl immer mehr Aspekte des Phänomen mittels neuer, multipler empirischer
Daten beschrieben und so die Theorie entwickelt (Glaser und Strauss 2005).
Mruck spricht von einem „iterativ- zyklischen Prozessmodell“ (Mruck 2009).

Abbildung 1: Parallelität der Arbeitsschritte im Verfahren der Grounded


Theory nach Strauss (1991)

Zu Beginn der Arbeit mit der Grounded Theory Methodologie steht die Ent-
scheidung, wie die ersten Daten erhoben werden sollen (beispielsweise in Form
von Interviews). Die Auswahl dieser ersten, kleinen Stichprobe (Initialsampling)
kann zufällig erfolgen (Strauss und Corbin 1996) oder auch anhand von zur
Verfügung stehenden Möglichkeiten bzw. praktischer Vorkenntnisse des For-
schenden. Wichtig ist zunächst der Eintritt ins Feld.
40 Janina Schmidt/Christine Dunger/Christian Schulz

Im Anschluss erfolgt die Transkription der Interviews oder Feldnotizen etc.,


d.h. die Aufbereitung des Datenmaterials zur Analyse. Die ersten Ergebnisse
geben dann wiederum den Anlass für eine erneute Datenerhebung, die bereits
theoretisch geleitet ist (theoretische Stichprobenauswahl).

Theoretisches Sampling

Mit theoretischem Sampling (theoretische Stichprobenauswahl) wird die gezielte


Auswahl von Untersuchungseinheiten bezeichnet (Glaser und Strauss 2005). Das
Ziel dessen ist es, genau die Daten zu erheben, von denen man aufgrund der
bisherigen Ergebnisse annimmt, dass sie wichtige Informationen für die Beant-
wortung der Forschungsfrage enthalten (ebd., 54) und die somit theoretische
Relevanz für die entstehende Theorie besitzen könnten. Erkennbar wird diese
zum Beispiel daran, dass Konzepte beim Vergleichen „immer wieder auftauchen
oder ganz abwesend sind“ (Corbin 1996). Nicht der Forschende legt also im
Vorhinein die zu erhebenden Daten fest. Entscheidend ist, worauf die bisher
erhobenen Daten verweisen.
Bereits aus den ersten Daten werden Theoriebausteine extrahiert, welche die
Basis für weiterführende Vergleiche bilden (Brüsemeister 2008). Die Ausführung
und die Zielsetzung des theoretischen Samplings ändert sich je nach dem aktuel-
len Kodierprozess: Während des offenen Kodierens ist auch das Sampling offen
gehalten, da möglichst viele Kategorien, Eigenschaften und Dimensionen ent-
deckt werden sollen. Das Sampling während des axialen Kodierens zielt vor
allem darauf ab, Daten zu gewinnen, um Beziehungen zwischen Kategorien und
Subkategorien aufzudecken, zu validieren und Unterschiede auf dimensionaler
Ebene zu verdeutlichen. Es vollzieht sich dadurch schon spezifischer als das
offene theoretische Sampling. Im Zusammenhang mit dem selektiven Kodieren
spricht Corbin von einem „diskriminierenden Sampling“ (Corbin 1996). Es zielt
ganz spezifisch darauf ab, den roten Faden der Geschichte zu überprüfen und
noch unzureichend ausgearbeitete Kategorien zu verdichten.

Kodieren

Kodieren bedeutet im Rahmen einer Grounded Theory Daten auszuwählen, ihre


relevanten Bedeutungen zu bestimmen und diese mit einem Begriff zu bezeich-
nen (Strauss und Corbin 1996). Im Anschluss daran werden anhand der Daten
Dimensionen der einzelnen Konzepte bestimmt und Fragen an eben diese Kon-
zepte formuliert (ebd.). Dabei „nehmen die Forscher vollständig den Standpunkt
Was ist „Grounded Theory“? 41

der Daten ein“ (Brüsemeister 2008). Geleitet werden sie durch drei Kodier-
phasen, die der regelgeleiteten Systematisierung des Datenmaterials dienen.

Offenes Kodieren

In der ersten Phase des Kodierens, dem offenen Kodieren, werden die Daten
„sehr genau – linebyline – beobachtet“ und „in einer Art brainstorming alle mög-
lichen Ideen als so genannte theoretische Konzepte festgehalten“ (ebd.). Es dient
dem Identifizieren der in den Daten vorkommenden Phänomene, die dann mitei-
nander verglichen und in ihrer Bedeutung und ihren Eigenschaften hinterfragt
werden, so dass sie verschiedenen Konzepten zugeordnet und mittels Kodes
benannt werden können. Die gewählten Kodes für die Konzepte bzw. Kategorien
können entweder direkt aus der Datenquelle übernommen werden, In- Vivo-
Kodes (Mruck 2009) oder durch frei gewählte Namen bezeichnet werden.
Ähnliche Konzepte können wiederum durch ein „Konzept höherer Ordnung“
(Corbin 1996), d.h. eine Kategorie bezeichnet werden. Sie stellen die „Grund-
pfeiler der sich entwickelnden Theorie“ dar (Mruck 2009). Jede Kategorie wird
mittels Vergleichen mit ähnlichen oder kontrastierenden Phänomenen hinsicht-
lich ihrer Eigenschaften oder auch Charakteristika betrachtet, man spricht von
Dimensionalisieren der Kategorie. Strauss und Corbin bezeichnen die Dimensio-
nen als „Anordnung von Eigenschaften auf einem Kontinuum“ (Strübing 2008)
und das Dimensionalisieren als „Aufbrechen einer Eigenschaft in ihre Dimensio-
nen“ (Strübing 2008).
Es geht in diesem ersten Analyseschritt also nicht darum, das in den Daten
vordergründig Enthaltene zu beschreiben/kodieren, sondern darum, den zugrun-
deliegenden empirischen Gehalt des Phänomens zu erkennen. Als Hilfestellung
dient in diesem Zusammenhang das „Konzept- Indikator- Modell“ (Mruck
2009). Empirische Vorfälle verweisen demzufolge als Indikatoren auf ein oder
mehrere theoretische Konzepte. Ziel ist, eine analytische Vielfalt zu erzeugen
und Richtungen für das theoretische Sampling zu erhalten. Die Herkunft der
Grounded Theory aus der Philosophie des symbolischen Interaktionismus (vgl.
das Kap. „Die Grounded Theory im Licht der Wissenschaftstheorie“) macht sich
bemerkbar: die Bedeutung von Daten ist nicht offenbar, sondern in dem Sinne zu
interpretieren, da sich eine Tiefendimension haben, die es erst zu ermitteln gilt.
In der durch Glaser vertretenen und von Strauss abweichenden Richtung der
Grounded Theory Methodologie fällt der Schritt des Dimensionalisierens fort.
Der Forschende richtet hierfür direkt generative Fragen an die Daten (Mruck
2009): Um was geht es? Wer ist beteiligt? Wann? Wie lange? Welche Aspekte
werden erwähnt? Welche nicht?
42 Janina Schmidt/Christine Dunger/Christian Schulz

Axiales Kodieren

In der zweiten Kodierphase, dem axialen Kodieren, erfolgt die gezielte Analyse
bestimmter Schlüsselkategorien (Strauss und Corbin 1996). Das Verhältnis einer
Kategorie zu einer anderen Kategorie und zu Subkategorien wird anhand des
Datenmaterials untersucht. Der Forscher entwickelt sukzessive Zusammen-
hangsmodelle (ebd., 79). Dabei können sowohl bereits kodierte Texte, aber auch
neue Texte systematisch daraufhin betrachtet und kodiert werden (ebd.).
Die mittels des offenen Kodierens herausgearbeiteten Eigenschaften und
Dimensionen bilden dabei die Grundlage. Jedoch nicht alle Phänomene, die im
ersten Arbeitsschritt, dem offenen Kodieren aufgespürt wurden, werden „syste-
matisch vergleichend auf ihre Ursachen, Umstände und Konsequenzen befragt“
(Strübing 2008), sondern der Forschende trifft die Entscheidung, bei welchen
Phänomenen er dies durchführt. Er ordnet also in diesem Zug den Phänomenen
unterschiedliche Relevanz für den Untersuchungsgegenstand zu und bringt sich
somit selbst als Person mit Erfahrungen und Prägungen ein.
Abb. 2 stellt das Kodierparadigma nach Strauss dar. „Es ist ein Vorschlag
zur Anleitung und Systematisierung gerade des axialen Kodierens, bei dem um
die Achse einer Kategorie bzw. eines Konzeptes herum kodiert werden soll“
(Strübing 2008). Mittels dieses paradigmatischen Modells wird das zentrale
Phänomen, um das sich die erhobenen Daten drehen, ausdifferenziert. Gleichzei-
tig dient es als Rahmen für eine methodisch sichere und nachvollziehbare Durch-
führung der Datenanalyse mit dem Ziel, neue Konzepte zu entwickeln und zu
verdichten. Entsprechend des Ziels der Arbeit mit der Grounded Theory Metho-
dologie, die Bedeutung der Dinge für Akteure innerhalb von Interaktionen zu
verstehen und zu begreifen, ermöglicht das Kodierpardigma dem Forschenden
auf strukturierte Art und Weise die Daten genau daraufhin zu befragen. Damit
stellt es vor allem eine Systematisierung generativer Fragen dar.
Die Ausdifferenzierung des zentralen Phänomens erfolgt über Subkatego-
reien. Zu diesen gehören

• die Ursachen, ohne die es nicht oder zumindest nur abgeschwächt vorhan-
den wäre,
• der Kontext, in den es eingebettet ist und der Eigenschaften und Bedingun-
gen des Phänomens umfasst, wie einen Rahmen bildet für
• die Strategien, mit denen Akteure im Forschungsfeld dem Phänomen be-
gegnen.
• Diese Strategien unterliegen wiederum gewissen Vorbedingungen sowie
fördernden oder hemmenden Einflüssen, die im Kodierparadigma als inter-
venierende Bedingungen bezeichnet werden. Zudem haben die Strategien
Was ist „Grounded Theory“? 43

beabsichtigte oder unbeabsichtigte Konsequenzen, die ebenfalls durch den


Forschenden ausgearbeitet und ins Kodierparadigma eingepflegt werden.
Bezeichnet werden diese, sich um das zentrale Phänomen gruppierenden Katego-
rien als Subkategorien, da sie in Beziehung zum Phänomen stehen und dieses
näher spezifizieren.

Abbildung 2: Das Kodierparadigma nach Strauss

Neben der systematischen Neuordnung der Daten durch das Kodierparadigma


zielt das axiale Kodieren darauf ab, die Kategorien weiter zu verfeinern. Es wer-
den generative Fragen gestellt und Vergleiche hinsichtlich Ähnlichkeiten und
Unterschieden angestellt. Am Ende dieses Analyseschrittes stehen sorgfältig
ausgearbeitete Kategorien, aus denen im Zuge des selektiven Kodierens die
Grounded Theory, also eine aus den Daten entwickelte Theorie, formuliert wird.
44 Janina Schmidt/Christine Dunger/Christian Schulz

Selektives Kodieren

In der Phase des selektiven Kodierens geht es darum, das zentrale Phänomen
herauszuarbeiten (Strauss und Corbin 1996). Zentraler Arbeitsschritt des selekti-
ven Kodierens ist das Auswählen der Kernkategorie, um die herum sich alle
anderen Kategorien anordnen. „Kernkategorien sind solche, die übrigbleiben,
wenn man diejenigen Kategorien wegstreicht, die für das untersuchte Phänomen
nicht wesentlich sind. Viele Kategorien beziehen sich nur auf Randbereiche des
untersuchten Phänomens“ (Strauss 1984). Sowohl Glaser, als auch Strauss und
Corbin plädieren dafür, sich beim selektiven Kodieren auf ein zentrales Phäno-
men zu festzulegen, auch wenn unter Umständen mehrere in Frage kommen
(Strübing 2008).
Hierzu erfolgt in der Herangehensweise nach Strauss erneut der Einsatz des
Kodierparadigmas. Ausgehend von der zentralen Kategorie muss sich eine in
sich stimmige Geschichte erzählen lassen, die alle Kategorien und ihre Bezie-
hungen untereinander berücksichtigt, es gilt also den Versuch zu unternehmen,
„die entwickelte Theorie in einem Gesamtnetzwerk von Kategorien, Subkatego-
rien und Relationen darzustellen.“ (Mruck 2009)
Auf diese Art und Weise erfolgt eine stetige Überprüfung bzw. Validierung
der bisher vorgenommenen Kodierungen und Kategorisierungen, so dass gege-
benenfalls Änderungen vorgenommen werden können oder eine weitere, gezielte
Datenerhebung erfolgen kann, um Lücken in der Grounded Theory über den
Forschungsgegenstand zu füllen und Kategorien eine erhöhte Dichte und Spezifi-
tät zu verleihen.

Methode des ständigen Vergleichens

Von einzelnen Fallauswertungen und daraus resultierenden Konzepten und Fra-


gen ausgehend werden die nächsten Probanden bzw. Daten bestimmt (Brüse-
meister 2008). „Die ForscherInnen werden sich (...) nicht nur von Fall zu Fall
fortbewegen, sondern ihren aus Hypothesen bestehenden Theorieannahmen im
Auge behalten“ (ebd.), um diese kontinuierlich im Hinblick auf die zu entwi-
ckelnde Theorie zu beantworten (siehe Abb. 3).
Was ist „Grounded Theory“? 45

Abbildung 3: emergierender Theorie

Das beschriebene Kodieren, „der Prozess der Datenanalyse“ (Corbin 1996), stellt
ein Aufbrechen der Daten dar, indem empirische Ereignisse miteinander vergli-
chen, Konzepten zugeordnet und so auf neue Art und Weise zusammengesetzt
werden, so dass am Ende eine gegenstandsverankerte Theorie entstehen kann.
Zwei analytische Verfahren kommen in allen drei Kodierphasen zur Geltung,
verändern sich aber in ihrer Art je nach Kodierschritt: Das permanente Verglei-
chen und das Stellen von Fragen. „Beide Verfahren helfen dabei, den Konzepten
in der Grounded Theory ihre Präzision und Spezifität zu verleihen“ (Corbin
1996), Glaser und Strauss sehen „in der Arbeit des kontinuierlichen Vergleichens
die Quelle gegenstandsbezogener theoretischer Konzepte“ (Strübing 2008).

Nutzung multipler Datenformen

Gegenstand einer Datensammlung können Interviews, Feldbeobachtungen, Brie-


fe, Tagebücher, Fragebögen, Statistiken, Zeitungsartikel und andere Objekte sein.
Dafür müssen sie als Text in transkribierter Form vorliegen, so dass sie mittels
des Kodierparadigmas auswertbar sind. In den meisten Fällen werden Daten in
46 Janina Schmidt/Christine Dunger/Christian Schulz

Form von Interviews oder Beobachtungen genutzt, möglich ist die Erarbeitung
einer Grounded Theory aber auch aus anderen Quellen. Immer sind es Daten, die
eine „komplexe soziale Wirklichkeit“ (Corbin 1996) abbilden, die nicht mit
quantitativen Forschungsmethoden zu erfassen ist und bei denen es darum geht,
die dahinterstehenden Handlungs- und Sinnzusammenhänge zu ergründen.
Auch die Entscheidung für eine Datenform oder -erhebungsmethode wird
anhand der sich entwickelnden Theorie festgelegt. Somit ist es durchaus mög-
lich, dass die ersten Daten in Form von Feldbeobachtungen erhoben werden, die
folgenden in Form von Interviews oder Blogeinträgen in sozialen Medien.

Theoretische Sättigung

Die theoretische Sättigung stellt den (vorläufigen) Endpunkt einer Konzept- und
Theorieentwicklung dar. Sie ist erreicht, wenn neue Daten keine neuen Einsich-
ten mehr ermöglichen und die bereits erhobenen Fälle alle Varianten des For-
schungsgegenstandes und seiner Ausprägungen erklären. Beendet werden kön-
nen das Sampling und damit die Datenerhebung, wenn für alle Kategorien diese
theoretische Sättigung erreicht ist.
Die Entscheidung, dass dieser Punkt erreicht ist, wird vom Forschenden getrof-
fen, so dass es an diesem Punkt elementar wichtig ist, die Entscheidung zu expli-
zieren, ausführlich zu dokumentieren und gegebenenfalls in einem Forschungs-
kolloquium oder ähnlichem vorzustellen und zu reflektieren.

Das Schreiben theoretischer Memos und Diagramme

Forschen im Sinne der Grounded Theory kann als kreativer Prozess angesehen
werden (Strauss und Corbin 1996). Während des gesamten Kodiervorgangs müs-
sen schriftliche Analyseprotokolle in Form von Memos verfasst werden, um
theorierelevante Entscheidungen nachvollziehbar zu machen und zu dokumentie-
ren. Theoretisches Vorwissen wird dadurch expliziert und empirisch fundierte
Ergebnisse werden kontinuierlich im Hinblick auf eine entstehende Theorie
reflektiert. Darüber hinaus bilden Memos und Diagramme die Grundlage für die
spätere wissenschaftliche Veröffentlichung der erarbeiteten Theorie und helfen
dem Forschenden dabei, Lücken oder Ungereimtheiten aufzudecken.
Es gibt drei verschiedene Arten von Memos:

1. Kode-Notizen, welche die Ergebnisse des Kodierens beinhalten und die


Bedeutung des jeweiligen Kodes verdeutlichen. Zudem können auch Beob-
Was ist „Grounded Theory“? 47

achtungsnotizen anfallen, die auffällige Beobachtungen (Äußerungen, Moti-


ve, Handlungen etc.) beschreiben, die inkonsistent mit bisher Gesagtem oder
Erlebtem oder auffällig sind,
2. theoretische Memos, welche die Überlegungen, Entscheidungen und Ergeb-
nisse des Forschungsprozesses und der sich entwickelnden Theorie beinhal-
ten sowie
3. Planungsmemos oder Methodische Notizen, die nächste Schritte im For-
schungsprozess festhalten.

Die Tabelle 1 zeigt anhand eines forschungspraktischen Beispiels mögliche Me-


mos und ihre Unterscheidung auf. Das Beispiel entstammt der Studie „Wie erle-
ben und gestalten Intensivmediziner den Prozess eines Behandlungsabbruchs bei
nicht einwilligungsfähigen Patienten“.

Beobachtungsnotizen Theoretische Methodische Notizen


Notizen
Auffällige Beobachtungen, Es gibt einen Punkt, an In erneuten Interviews ist
die bspw. inkonsistent mit dem aus der Sicht der genauer zu fokussieren, was
bisher Gesagtem oder Er- Mediziner nichts mehr die Aussage „nichts hilft
lebtem oder auffällig sind: hilft. mehr“ bedeutet und was
Mediziner geben in Inter- sich dann genau ändert.
views immer wieder an, Was bedeutet die Aus- In der Literatur nach ent-
dass sie alles für die Patien- sage „nichts hilft mehr“ sprechenden „Umbruchsitu-
ten tun, bis der Punkt er- eigentlich? ationen“ suchen.
reicht ist, an dem „nichts
mehr hilft“. Nach emotionaler Bedeu-
tung fragen.

Tabelle 1

Das Schreiben von Memos sollte in ganzen Sätzen statt in Stichpunkten


(Strübing 2008) und mit Datum und mit Bezugsquelle zu den Daten versehen
werden (Corbin 1996). Elektronische Analyseprogramme bieten die Möglichkeit,
diese Verlinkungen sofort anzulegen und erleichtern damit die Arbeit.
Insbesondere die materialferneren Schritte des axialen und selektiven Ko-
dierens und damit die Konstruktion von Kategorien, die Relevanzentschei-
dungen, welche Kategorien durch das Kodierparadigma spezifischer betrachtet
werden, und letztlich die Bestimmung der Kernkategorie verlangen eine sorgfäl-
tige Dokumentation mittels theoretischer Memos.
48 Janina Schmidt/Christine Dunger/Christian Schulz

Diagramme ermöglichen visuelle Darstellungen von Beziehungen zwischen


Kategorien. Diagramm und Memos gewinnen im Laufe der Analyse an Komple-
xität und sollten damit zur Klarheit beitragen!

Theoretische Sensibilität

Während der Arbeit mit der Grounded Theory Methodologie bringt sich der
Forscher als Person mit Erfahrungen, individuellen Prägungen und Entscheidun-
gen ein, so dass eine Wechselbeziehung zwischen Forschungsgegenstand und
Forschendem entsteht und unterschiedliche Interpretationen der Daten bei unter-
schiedlichen Forschern möglich bzw. wahrscheinlich sind.
Der Forscher misst empirischen Vorfällen Bedeutung zu, er nutzt seine
Kreativität zur Erschließung und Benennung der Kategorien und entscheidet,
welche Fragen er an die Daten richtet. Die Datenauswertung hängt maßgeblich
von seiner Fähigkeit ab, „zu erkennen, was in den Daten wichtig ist, und dem
einen Sinn zu geben“ (Corbin 1996), erst dadurch wird es möglich, eine konzep-
tuell dichte Grounded Theory zu entwickeln. Bezeichnet wird diese Fähigkeit als
Theoretische Sensibilität.

Palliative Care als Gegenstand der Grounded Theory- ein Beispiel

Durch ihre Studie „Interaktion mit Sterbenden“ haben Glaser und Strauss in den
60er Jahren nicht nur ein Manifest für die qualitative Sozialforschung verfasst
(Brüsemeister 2008; Strübing 2008), sondern auch ein in Richtung Palliative
Care gehendes Forschungsinteresse deutlich benannt. Forschungen mit der
Grounded Theory zielen immer auf soziale Interaktionen, im Palliative Care und
Hospizbereich können dies Interaktionen zwischen

• unheilbar kranken und sterbenden Menschen und ihren Angehörigen,


• unheilbar kranken und sterbenden Menschen untereinander,
• unheilbar kranken und sterbenden Menschen und den Sie Pflegenden oder
Behandelnden,
• Angehörigen und Mitgliedern des multiprofessionellen Behandlungsteams
und
• zwischen Mitgliedern des multiprofessionellen Behandlungsteams sein.
Was ist „Grounded Theory“? 49

Die Forschungsfragen zielen immer darauf ab zu rekonstruieren, wie sich Akteu-


re innerhalb strukturierender Rahmenbedingungen, z.B. innerhalb von Organisa-
tionen oder Institutionen verhalten (Glaser und Strauss 1974). Mittels der Me-
thode kann man das handelnde Zusammenwirken von Akteuren oder auch Ver-
läufe von biografischen Entscheidungen untersuchen (Brüsemeister 2008). Mit
Hilfe von Beobachtungen lassen sich zudem Routinen erfassen. Sowohl in der
Geschichte der Grounded Theory als auch in der Forschungstradition des Berei-
ches Palliative Care gibt es Anwendungsbeispiele dafür. Im 5. Kapitel, der kom-
mentierten Literaturliste, werden beispielhaft zwei in Journal publizierte For-
schungsarbeiten vorgestellt.
Ein Beispiel für den Einsatz der Grounded Theory Methodologie ist das in
der Durchführung befindliche Projekt „Wie erleben und gestalten Intensivmedi-
ziner den Prozess eines Behandlungsabbruchs bei nicht einwilligungsfähigen
Patienten?“. Auf sie wird im Rahmen der „Kitchen Stories“ nochmals eingegan-
gen.

Hintergrund der Studie „Wie erleben und gestalten Intensivmediziner den Pro-
zess eines Behandlungsabbruchs bei nicht einwilligungsfähigen Patienten?“ sind
die zunehmende Anzahl von Therapieabbrüchen (Jox 2011) und sterbenden Pati-
enten auf Intensivstationen (O. Karg 2008 ). Intensivmediziner sind entsprechend
häufig mit solchen Situationen konfrontiert (Ralf J. Jox 2010) und empfinden
Entscheidungen für oder gegen einen Behandlungsabbruch als problematisch.
Studien zeigen, dass sie solche Entscheidungen sogar versuchen zu vermeiden
oder sich weigern, sie zu treffen (Erbguth 2012), obgleich die gesetzlichen
regelung eindeutig sind.
Grundsätzlich beruht jede medizinische Behandlungsentscheidung auf zwei
Säulen: der Indikation und dem Patientenwillen (Ralph Charbonnier 2008 ). Die
Stellung oder Verneinung der Indikation obliegt dem Arzt, der diesbezüglich eine
Entscheidung treffen und sie vor dem Patienten bzw. seinen Angehörigen vertre-
ten muss (Bundesärztekammer 2011). In diese Entscheidung fließt nicht nur der
medizinische Aspekt ein, sprich die wissenschaftlichen Erkenntnisse bezüglich
dieser Behandlung, sondern auch individuelle Faktoren des konkreten Falls und
des jeweiligen Arztes. Hierzu gehören zum Beispiel Komorbiditäten, Alter, Um-
feld des Patienten, kulturelle Prägung und berufliche Erfahrung des Mediziners
(Ralph Charbonnier 2008 ). Dem Gesetz nach ist aber auch der Wille des Patien-
ten bindend für den Arzt (Schnell und Schulz 2012). Dabei ist nicht relevant, ob
diesem durch Tun oder durch Unterlassen Folge geleistet wird.
Besonderheit in dieser Studie ist, dass sie nur Patienten berücksichtigt, die
nicht einwilligungsfähig sind. Sie können folglich ihren Willen bezüglich einer
Behandlungsentscheidung nicht äußern. Stellvertretend für die direkte Patien-
50 Janina Schmidt/Christine Dunger/Christian Schulz

tenäußerung sollen Patientenverfügungen in entsprechenden Entscheidungssitu-


ationen als Richtlinie dienen. Ob Ärzte jedoch Patientenverfügungen von nicht
einwilligungsfähigen Patienten interpretieren und dann dementsprechend han-
deln dürfen, oder ob die Auslegung der Patientenverfügung ausschließlich dem
Betreuer des Patienten obliegt, ist rechtlich nicht eindeutig geklärt (Ulsenheimer
2010).
Bei dem Prozess eines Behandlungsabbruchs bei nicht einwilligungsfähigen
Patienten handelt es sich somit um einen komplexen Prozess, der mit dem Be-
handlungsabbruch oder der Fortführung der Behandlung endet. Unklar ist aller-
dings, wie Mediziner diese Situationen erleben und wie sie den Entscheidungs-
prozess gestalten. Wie lösen oder umgehen sie die oben aufgeführten Schwierig-
keiten sie diese? Welchen Einfluss hat die unklare Rechtslage hinsichtlich der
Interpretation von Patientenverfügungen? Wie gelangen sie schließlich zu einer
Entscheidung?
Um diese Fragen zu beantworten, bedarf es eines offenen und sinnverste-
henden methodischen Zugangs, der es ermöglich, das Fühlen und Handeln der
Intensivmediziner nachzuvollziehen und auch die Interaktionen, die den Prozess
begleiten, einzubeziehen. Aus diesem Grund wurde die Grounded Theory Metho-
dologie gewählt.

Kitchen Stories

Ein Wesensmerkmal qualitativer Sozialforschung besteht darin, mit einer unbe-


kannten Subkultur in Kontakt treten zu müssen, um die Handlungsmuster und
Prozesslogiken sozialer Akteure aus ihrer Perspektive heraus entwickeln zu kön-
nen (Mayring 1996). Die Handlungen sozialer Akteure erfassen und rekonstruie-
ren zu können „[...] setzt voraus, sich in die Welt zu begeben, um zu beobachten,
was passiert, um zuzuhören, was gesagt wird, um Fragen zu stellen und jegliche
Art von Daten zu sammeln, derer man habhaft werden kann“ (Lo-Biondo-Wood
& Haber 1996; vgl. dazu Boyle 1991). Die Feldteilnahme ist also Kennzeichen,
Voraussetzung und Methode zugleich, wie Wolff (1993) sagt. Nur durch sie kann
erfasst werden, wie die Feldteilnehmer situativ handeln, wie sie sich entscheiden
und wie sie von den Rahmenbedingungen beeinflusst werden (ebd.).
Es gilt für den Forcher, einen Blick zu bewahren, der nicht aufgrund von
unreflektierten Vorerfahrungen beeinflusst ist und den Kontakt zu Probanden im
Feld zu bewahren. Dazu ist eine ethnografische Haltung des Wissenschaftlers
zum Feld hilfreich, da ansonsten jede Fremdheit auf kulturelle Verschiedenheit
zurückgeführt wird, ohne es wirklich zu sein (vgl. Bourdieu 1991; Spradley
1979). Während ein Soziologe erst mittels Instrumenten Distanz schaffen muss,
Was ist „Grounded Theory“? 51

um mit seinen Primärerfahrungen zu brechen, ist ein Ethnologe von Beginn an


Zuschauer, weil er keinen vorgeschriebenen Platz im Feld hat (Bourdieu 1999).
Die Position des Außenstehenden, der eine theoretische Position inne hat
führt erst dazu, nicht alles als selbstverständlich hinzunehmen (Schnell/Kolbe
2014).
Anknüpfend an die Studie „Wie erleben und gestalten Intensivmediziner
den Prozess eines Behandlungsabbruchs bei nicht einwilligungsfähigen Patien-
ten“ und die bereits dargestellte Beobachtungsnotiz zeigt das folgende Beispiel,
wie eine offene Haltung den Kontakt zu den Teilnehmern beeinflusst:
Im Rahmen der beschriebenen Studie wurden zunächst narrative Interviews
nach Fritz Schütze geführt (Küsters 2009).
Die Intensivmediziner erhielten zu Beginn des Interviews die Aufforderung,
sich an einen Behandlungsabbruch bei einem nicht einwilligungsfähigen Patien-
ten zu erinnern und zu erzählen, was ihnen diesbezüglich in Erinnerung geblie-
ben ist und wie sie ihn erlebt haben.
Auf diese Weise wurden sie nicht durch konkrete Fragen in eine vorgegebe-
ne Richtung gelenkt, sondern bestimmten selbst das Erzählte und legten Schwer-
punkte. Aufgabe des Forschenden während des Erzählens ist es, sensibel für die
entscheidenden Punkte hinsichtlich der zugrunde liegenden Forschungsfrage zu
bleiben, um in der zweiten Interviewphase sogenannte immanente Nachfragen
(Küsters 2009) stellen zu können. Ziel dieser Nachfragen ist es, ein Konkretisie-
ren oder Ausführen als wichtig empfundener Aspekte des Erzählten zu erreichen.
Durch dieses Vorgehen bestimmten die Intensivmediziner im Wesentlichen selbst
die Inhalte des Interviews und gewannen Vertrauen in ein ehrlich gemeintes
Interesse für ihre Arbeit und ihre Schwierigkeiten mit Behandlungsabbrüchen auf
Intensivstationen. Alle interviewten Mediziner sprachen offen über Gefühle wie
Ängste und Überforderung, erzählten offen von Situationen, in denen ihr Verhal-
ten nicht gesetzeskonform war oder gaben unumwunden zu, dass sie die Geset-
zeslage gar nicht kennen. Mehr als einmal ergab sich die Situation, dass auch
nach Beendigung des Interviews die Gesprächssituation nicht abriss und den
Ärzten immer wieder etwas einfiel, was sie noch ergänzen oder erzählen wollten.
Damit es gelingt, eine derart vertrauensvolle Interviewsituation zu schaffen,
ist es wichtig, sich vor dem Interview Zeit für ein Vorgespräch zu nehmen, offe-
ne Fragen zu beantworten und auch Fragen zur eigenen Person und dem Grund
für das Forschungsprojekt zu ermöglichen.
52 Janina Schmidt/Christine Dunger/Christian Schulz

Beispiel:
Ärztin: (...) „wenn möglich, halt immer wieder das Gespräch suchen und,
und erklären, um (.) um halt da die Angehörigen vom, von dem Vorgehen zu
überzeugen. (.)“

Persönliches Memo „Angehörige überzeugen“


07.04.2013, 20.38 Uhr
Das Verhalten, Angehörige überzeugen zu wollen und nur mit ihrer
Zustimmung zu handeln, habe ich schon mehrfach in Situationen auf der
Arbeit beobachtet – nur aus pflegerischer Sicht. Es missfällt mir, denn der
Patient sollte ausschlaggebend sein. Ich denke, dass Intensivmediziner so
handeln, weil sie Angst vor Konfliktsituationen haben und es ihnen schwer
fällt, eine klare Position zu beziehen. Der Patient wird in dieser Situation
unwichtig, ihm gegenüber müssen sich die Ärzte nicht rechtfertigen, er ist
nicht ansprechbar, die Angehörigen aber schon. Ich merke, dass mich das
sehr aufwühlt. Ich muss das nochmals in Ruhe mit (Name) besprechen und
dann in den nächsten Interviews danach fragen, was hinter diesem verhalten
steckt. Letztendlich sind das jedoch nur Vermutungen!

Theoretisches Memo „Angehörige überzeugen“


09.04.2013, 20.38 Uhr
Die Angehörigen sollen also im Falle einer Uneinigkeit über die weitere
Behandlung vom geplanten Vorgehen der Ärzte überzeugt werden. Warum
will man sie überzeugen?
Weil man sich sicher ist, dass man selber recht hat? Weil man es für das
beste für den Patienten hält? Warum müssen sie überzeugt werden?
Um den Druck von sich zu nehmen? Um nicht gegen sie entscheiden zu
müssen, weil man nichts desto trotz so entscheiden müsste, auch wenn sie
nicht einwilligen?
Damit man nicht in die Lage kommt, eine Therapie zu prolongieren, wie sie
es später beschreibt?
Ist „Angehörige vom geplanten Vorgehen überzeugen“ also ein Aspekt, wie
Intensivmediziner den Prozess eines Behandlungsabbruchs gestalten?

Meist entsteht ein Forschungsprojekt auf der Basis persönlicher Interessen, was
meist bedeutet, dass Vorkenntnisse und Annahmen vorliegen oder sich bereits
eine Meinung darüber gebildet wurde. Es ist daher einerseits sehr wichtig, dass
die eigene Meinung und Vorannahmen reflektiert werden und zum anderen, das
Was ist „Grounded Theory“? 53

dennoch ein offener und unvoreingenommener Zugang zu den Daten gewährt


wird.

Forschungsethik

Insbesondere im Bereich der Erforschung von Interaktionen und Handlungsent-


scheidungen am Lebensende, sind forschungsethische wie rechtliche Überlegun-
gen Teil des verantwortlichen forscherischen Handelns. Neben den allgemeinen
Bestimmungen zum Datenschutz und der Sicherstellung einer Informierten Zu-
stimmung (Schnell und Heinritz 2006), sind die Vulnerabilität der Studienteil-
nehmer und dementsprechende, für mögliche Krisen zu nutzende, präventive
Maßnahmen zu beachten. Dies gilt vor allem für die beschriebenen möglichen
Forschungsgegenstände, bei denen nicht die professionellen Versorger, sondern
oftmals die Betroffenen im Fokus stehen. Die Diskussion zur allgemeinen Zuläs-
sigkeit von Forschung mit sterbenden Menschen soll hier nicht ausführlich dar-
gestellt werden.

Validierung

Wie in den grundlegenden Annahmen beschrieben, fokussiert die Grounded


Theory nicht auf ein positivistisches Wissenschaftsverständnis, dessen Ziel der
Nachweis von Wirksamkeit und Kausalitäten ist. Mit diesem Ansatz verbindet
sich auch eine andere Perspektive auf wissenschaftliche Gütekriterien, wie Re-
liabilität und Validität. In der Diskussion um Gütekriterien der qualitativen Sozi-
alforschung, werden die klassischen Gütekriterien quantitativer Forschung zu-
dem durch Gütekriterien qualitativer Forschung ersetzt (vgl. Steinke 1999) oder
begrifflich anders gefasst.
Dazu gehören Elemente der Systematik und Nachvollziehbarkeit sowie der
Intersubjektivität. Die Arbeit in Teams oder Forschungswerkstätten oder zumin-
dest eine Peer Supervision (Mruck 2009) zur gemeinsamen interpretativen Arbeit
am Datenmaterial ermöglicht eine Perspektiven- Triangulation (Mruck 2009).
Gleichzeitig kann auch eine empirisch begründete Theorie nur Gültigkeit bean-
spruchen, wenn eine systematisch- empirische Überprüfung erfolgt (Strübing
2008). Im Falle der Grounded Theory ist davon auszugehen, dass es sich um eine
valide Methode handelt, die in sich Momente der Validierung des Datenmaterials
trägt. Das permanente Vergleichen kommt dem permanenten Überprüfen gleich
und das theoretische Sampling stellt die Repräsentativität für die entstehende
Theorie in ihrem beabsichtigten Kontext sicher (Strübing 2008).
54 Janina Schmidt/Christine Dunger/Christian Schulz

Zu beachten ist dabei der grundsätzliche Ansatz, dass Ergebnisse empiri-


scher Sozialforschung nur eine Momentaufnahmen der vorzufindenden Realität
sind. Eine Grounded Theory soll nicht die Allgemeinheit repräsentieren, sondern
ein Phänomen spezifizieren (Strübing 2008). Je mehr Typen von Konstellationen
jedoch Eingang in das Konzept finden, desto stärker ist wiederum Verallge-
meinerbarkeit. Strübing gibt das Beispiel des Phantomschmerzes (ebd.). Es ist
dann ein gut ausgearbeitetes Konzept, wenn es alle Umstände umfasst, d.h. von
der Amputation im Feldlazarett bis hin zur Amputation in Uni- Klinik alle As-
pekte des Phänomens beschrieben sind.
Noch wichtiger erscheint in diesem Zusammenhang der Hinweis auf die
Grenzen der Methodik, die, nicht beachtet, einen wesentlichen und substantiellen
Kritikpunkt an Studien darstellen. Die Gegenstandsangemessenheit der Methode
erfordert von den Forschenden umfangreiche Methodenkenntnisse, um ein phä-
nomengeleitetes Handeln sicherstellen zu können. Auch die Ressourcenverfüg-
barkeit und deren Einsatz, insbesondere der Zeitressource, sind wesentliche As-
pekte der Studienplanung und –durchführung. Im Rahmen einer Methodologie,
deren Erkenntnisgewinn an Zeit-, Setting- und Phänomen gebundenen ist und die
daher niemals vollständig generalisierbar und gesättigt sein kann, stellt die Res-
sourcenallokation, aber insbesondere die zeitliche Abgrenzung zum Ende der
Studie, eine große Herausforderung dar.
Zu beachten ist zudem, dass die Grounded Theorynur auf Prozesse inner-
halb eines Bedingungsgefüges anwendbar ist, aber z.B. nicht auf den leblosen
Körper. Ebenfalls müssen die Beteiligten ihre Erfahrungen auf irgendeine für den
Forscher verständliche Art und Weise kommunizieren können.

Wirkungsgeschichte

Weltweit ist die Grounded Theory Methodologie heute eine „der verbreitetsten
Vorgehensweisen der qualitativen Sozialforschung“(Corbin 1996). Seit den
1980er Jahren hat sie sich in zahlreichen wissenschaftlichen und praktischen
Disziplinen als eine wichtige Forschungsmethode etabliert, so z.B. in der Pflege-
und Gesundheitsforschung (vgl. Schaeffer und Müller-Mundt 2002; Geyer
2003), in den Wirtschaftswissenschaften (vgl. Burchill und Fine 2003), den Er-
ziehungswissenschaften (vgl. Krüger 2010) sowie den vergleichenden Politik-
und Sozialwissenschaften (Pickel et al. 2009).
Dieser Erfolg gelang vor allem durch das neue Verständnis für und die Ent-
wicklung von empirische(r) Sozialforschung anhand der bereits beschriebenen
Grundprinzipien und Prozesslogiken (Mey und Mruck 2007). Diese Grundprin-
zipien, Prozesslogiken und Verfahrensschritte weisen „ein hohes Maß an Allge-
Was ist „Grounded Theory“? 55

meinheit auf und finden in fast jeder Art von qualitativ-interpretativer Forschung
in der ein oder anderen Weise Berücksichtigung“ (Strübing 2008). Zugleich war
ein gestiegenes Interesse in Bezug auf Interaktions- und Kommunikationsprozes-
se seit Ende der 1980er Jahre dafür ausschlaggebend (Schaeffer 2012). Situati-
onsspezifische Theorien mittlerer Reichweite wurden entwickelt, z.B. „Erleben
selbstverletzenden Verhaltens“ (Ramluggun 2013) oder „Festgenagelt sein. Der
Prozess des Bettlägerigwerdens“ (Zegelin 2005), die für die Pflegewissenschaft
und Pflegepraxis wichtige Phänomene und Prozesse beschreiben (ebd.). Auch für
Palliative Care und Hospizarbeit kann die Grounded Theory ein wichtiges Ver-
fahren darstellen.

Anwendungen im Sinne des Grounded Theory Ansatzes

Die Rede von der einen Grounded Theory ist wie bereits erläutert irreführend.
Drei Varianten des Verfahrens werden aktuell in der gesundheits- und pflegewis-
senschaftlichen Forschung angewendet (vgl. Charmaz 2007), eine pragmatisch
inspirierte von Anselm Strauss, „die er teilweise allein, teilweise gemeinsam mit
Juliet Corbin in ihren praktischen Dimensionen näher ausgearbeitet hat“
(Strübing 2008). Eine empiristische Variante von Barney Glaser (ebd.), und drit-
tens eine selbstreflexive Form, bei der „der reflexive Umgang mit der Subjektivi-
tät des/der Forschenden zu einer Erkenntnisquelle eigener Art ausgearbeitet
wird“ (Breuer 2010).
All diesen Verfahren sind die beschriebenen Grundsätze, Prozesslogiken
und Verfahrensschritte gemeinsam. Zuletzt sollen jedoch noch einige grundle-
gende Unterschiede aufgezeigt werden. Besondere Aufmerksamkeit erhält dabei
die Reflexive Grounded Theory nach Breuer.

Strauss/Corbin und Glaser

Grundsätzlich versteht sich die Grounded Theory Methodologie als induktiver


Forschungsansatz: Es wird aus den Daten heraus eine Theorie entwickelt und
nicht eine Annahme an die Daten herangetragen und überprüft, es wird also vom
Einzelfall auf das Allgemeine geschlossen.
Streng genommen und von B. Glaser auch so vertreten, darf dieses Vorge-
hen nicht durch Vorwissen beeinflusst und damit verfälscht werden, der For-
schende soll möglichst unvoreingenommen ins Feld gehen, somit ist vorhandene
Literatur zunächst zu ignorieren und erst nach der Auswertung zum Vergleich
heranzuziehen.
56 Janina Schmidt/Christine Dunger/Christian Schulz

Strauss und Corbin hingegen empfehlen einen regen Umgang mit vorhan-
dener Literatur, halten ihn sogar für nötig und förderlich, da er die Theoretische
Sensibilität des Forschenden verbessern, Ideen für das Theoretische Sampling
liefern und über Vergleichen als Gültigkeitsnachweis dienen kann. Sie plädieren
für ein Wechselspiel zwischen induktivem und deduktivem Denken im For-
schungsprozess, also zwischen Aufstellen von Hypothesen und Überprüfen die-
ser.
Der deutlichste Unterschied zwischen den beiden Analyseverfahren zeigt
sich im axialen Kodieren. Während Strauss das Kodierparadigma in den Mittel-
punkt der Analyse stellt, erweitert Glaser diese Betrachtungsweise des Datenma-
terials um weitere theoretische Rahmenkonzepte. Diese Codier-Familien (Glaser
1978) beinhalten die Fragen des Kodierparadigmas (C-Familie), beziehen jedoch
neun weitere Familien mit ein (Prozess, Grad, Typen, Strategie, Interaktion,
Identität, Qualitativer Sprung, Kultur, Konsens).

Reflexive Grounded Theory

Die Besonderheiten der Reflexiven Grounded Theory gegenüber den Ursprungs-


formen bestehen vor allem in der methodischen Systematisierung eigener Refle-
xionsmomente und der Reflexion der Aussagen und es Handelns von Studien-
teilnehmern. Dies gelingt vornehmlich über die gezielte Auswahl verschiedener
Datenformen, die die subjektiv interaktionistische Perspektive um eine ethnogra-
phische erweitert. So werden die zumeist fokussierten Selbstaussagen der Studi-
enteilnehmer oftmals durch teilnehmende Beobachtungen ergänzt (Breuer 2010).
In Erweiterung der Grounded Theory-Methodik schlägt Breuer (2010) zwei
methodologische Ergänzungen vor:

• Den Ethnographischen Zugang


„Ins-Untersuchungsfeld gehen, soziale Nähe zu den Mitgliedern des Feldes
suchen, Besuche von und Gespräche mit Untersuchungspartnerinnen und –
partnern in deren Lebenswelt unternehmen, teilnehmende Beobachtung und
beobachtende Teilnahme dort durchführen“ (ebd.)
• Die Selbst-/Reflexivitätder Forscher/innen-Person und ihres Forschungs-
handelns
„Die Subjekt/ivitäts-Charakteristik der/des Forschenden zählt und findet
Beachtung – sowohl hinsichtlich ihrer lebensweltlichen Einbettung als
(„private“) Person wie hinsichtlich der Bedeutung für die Forschungsinter-
aktion“ (ebd.).
Was ist „Grounded Theory“? 57

Wenngleich die Ergänzungen der beschriebenen Offenheit und Reflexivität sehr


ähnlich scheinen, gehen sie über diese hinaus. Das liegt einerseits an ihrer sys-
tematischen Berücksichtigung im Forschungsprozess. Andererseits stehen sie
auch für einen perspektivischen Wandel, der in den grundlegenden theoretischen
Annahmen begründet wird. Neben dem handlungstheoretischen Ansatz des sub-
jektiven Interaktionismus treten hier ethnologische Annahmen mit ihren Implika-
tionen auf das Handeln des Forschers, wie auf das Verständnis von Selbstreflexi-
vität, Handlung und Bedeutungskontexte in den Vordergrund (vgl. Kapitel 1).

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Geschichte der Hospizbewegung in Deutschland.
Hintergrundfolie für Forschung in Hospizarbeit
und Palliative Care
Andreas Heller/Sabine Pleschberg

Die Geschichte der Hospizbewegung in Deutschland ist ein gewachsenes Ge-


flecht, das aus unterschiedlichen Wurzeln gespeist wird. Sie lässt sich nicht in
einer linearen Genealogie rekonstruieren. Denn anders als im Mutterland Eng-
land kann sie hier nicht von einer alles überstrahlenden Gründungsfigur (Dame
Cicely Saunders) abgeleitet werden. Die historische Entwicklung dessen, was
gegenwärtig international mit „Palliative Care“ bezeichnet wird, ist im Vergleich
zu anderen Ländern in Deutschland komplexer. Die Besonderheiten zu verstehen
ist jedoch wichtig, wenn es um die Entwicklung, erst recht um Felder zukünfti-
gen hospizlichen Forschens geht. Dieses „Feld“ umfasst nämlich in Deutschland1
neben zahlreichen „Palliativ“-Disziplinen, -Professionen und -Einrichtungen zur
besseren Versorgung von unheilbar kranken und sterbenden Menschen, auch eine
erfolgreiche Bürgerrechtsbewegung für ein menschenwürdiges, individuelles
Sterben (‚to die in dignity and character‘, Saunders 1984), in der ca 100.000
Personen organisiert sind.
Wir möchten auf der Basis eigener langjähriger Forschungsarbeiten eine
differenzierte historisch-aktualisierende Geschichtsschreibung von Hospizarbeit
und Palliative Care in Deutschland leisten (vgl. Heller, Pleschberger et al. 2013).
Diese dient als Hintergrundfolie, um Chancen und Herausforderungen der For-
schung in Hospizarbeit und Palliative Care auszuloten und die Differenzen zu
internationalen Entwicklungen zu akzentuieren.

1 Das gilt teilweise auch für Österreich und der Schweiz, wenngleich wir auf die einzelnen
Entwicklungen in diesem Beitrag nicht weiter eingehen können. Stattdessen möchten wir am
Beispiel der Geschichte der Hospizbewegung in Deutschland Impulse für eine weitere Ausei-
nandersetzung mit anderen Ländern setzen.

M. W. Schnell et al. (Hrsg.), Palliative Care und Hospiz, Palliative Care und Forschung,
DOI 10.1007/978-3-658-07664-1_3, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
62 Andreas Heller/Sabine Pleschberg

Die gemeinsamen christlichen Wurzeln

Die Idee der modernen Hospizbewegung als absichtslose Gastfreundschaft gera-


de gegenüber den Fremden lässt sich bis in die Frühzeit des Christentums zu-
rückverfolgen. Auch im Judentum und Islam ist diese Haltung als religiöses
Ethos bekannt. In der Apostelgeschichte des Neuen Testaments wird von der
diakonisch-gemeindlichen Sorge um Hilfsbedürftige berichtet. Als „Häuser“
stehen Hospize in der Tradition der mittelalterlichen Gastfreundschaft und des
Herbergswesens für Pilger (hospitium) (Stoddard 1987). Die christliche Interpre-
tation des Lebens als irdische Pilgerschaft mobilisierte viele Menschen zu Wall-
fahrten. Die großen Mönchsorden bauten Hospize entlang von Pilgerwegen, sie
standen allen offen, die unterwegs und hilfebedürftig waren. Sterbende zu beglei-
ten, Tote zu bestatten und Trauernde zu trösten waren als Grundtugenden christ-
licher Barmherzigkeit. Bis in das 20. Jahrhundert – wenn auch nicht frei von
Brüchen – entwickelt sich die Hospizbewegung in enger Zusammenarbeit mit
kirchlichen Trägern. Zu nennen sind hier etwa das erste moderne Hospiz in Dub-
lin, das von Mary Aikenhead, einem Mitglied der Irischen Schwestern der Barm-
herzigkeit, Mitte des 19. Jahrhunderts (Campion 1997) gegründet wurde. Das St.
Christopher’s-Hospice in London, gilt seit seiner Eröffnung im Jahr 1967 als
Modell des ersten Hospizes moderner Geschichtsschreibung und nimmt viele
Aspekte aus dieser Tradition auf. Es verknüpft die Multiperspektivität auf die
Sterbenden zu einem Konzept, das Versorgung am Lebensende nach wissen-
schaftlichen Erkenntnissen ausrichtet bzw. danach trachtet, diese auch kontinu-
ierlich zu verbessern. In der Redeweise vom „modernen Hospiz“ wird ein Unter-
schied markiert (Clark, Seymour 1999), der den Übergang vom christlich ge-
prägten und inspirierten beispielhaften Handeln aus Nächstenliebe zum professi-
onell und institutionell erforderlichen Handeln in einem funktional ausdifferen-
ziertem Gesundheitssystem, resp in einer pluralen Gesellschaft markiert. In vie-
len Hospizgründungen leben zwar bis heute in den Namensgebungen die
christentümlichen Wurzeln fort (z.B. Franziskus Hospiz in Recklinghausen,
Christophorus Hospizverein in München, Hospiz St. Martin, Stuttgart, etc.).
Hospizarbeit und Palliative Care haben aber einen deutlich funktionaleren Cha-
rakter bekommen und werden stärker als Teil eines umfassenden Versorgungs-
konzepts gesehen.
Die heutigen Selbstbezeichnungen von Einrichtungen im Kontext von Palli-
ative Care stehen in der Regel nicht mehr im Kontext christlicher Traditionen.
Fachlich-professionelle Terminologien und international vergleichbare Semanti-
ken spiegeln den säkularen und funktionalen Charakter einer deutlichen Profes-
sionalisierungsdynamik. So lässt sich in dieser Hinsicht ein erstes Indiz erkennen
für die in Deutschland typische „zweigleisige Entwicklung“ von Hospiz-
Geschichte der Hospizbewegung in Deutschland 63

bewegung einerseits und Palliativ-(medizin) andererseits. In den vergangenen 25


Jahren, seit Gründung der ersten Initiativen ist also ein Säkularisierungsprozess
beobachtbar, der auch als Auseinandersetzung und Annäherung zwischen den
beiden Entwicklungssträngen interpretiert werden kann bzw. auch als ein Para-
digmenwechsel zu den Anfängen gesehen werden kann (Gronemeyer, Heller
2014).

Die interdisziplinären Wurzeln

Zwei Frauen stehen an der Wiege eines menschenwürdigen Umgangs mit Ster-
benden und ihren Bezugspersonen: Die Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross hat
in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts das Tabuthema Sterben aufgegriffen,
indem sie sich sterbenden Menschen im Krankenhaus zuwandte, bzw. Studieren-
de ermunterte, dies zu tun (Kübler-Ross 1969). Die Bedürfnisse und emotional-
kognitiven Auseinandersetzungen von Menschen angesichts ihres nahen Todes
wurden interaktiv aufgenommen. In elementarer Weise, und dies erklärt sicher-
lich die weltweite Rezeption der Bücher von Elisabeth-Kübler-Ross, wurden
zentrale Einsichten formuliert: Die sogenannten „Austherapierten“ haben Be-
dürfnisse und Wünsche. Man kann mit ihnen reden und in Beziehung treten. Sie
stehen zwar am Ende des Lebens, sind aber nicht am Ende existenzieller
menschlicher Erfahrungen. Sterbende werden so zu den Lehrmeisterinnen derer,
die sie zu betreuen trachten.
Cicely Saunders, die Gründerin des St. Christopher’s Hospice in London
1967, belegt mit ihrem beruflichen Hintergrund als Ärztin, Krankenschwester
und Sozialarbeiterin eindrucksvoll einen multidimensionalen Blick auf Patien-
tInnen, auf ihr Befinden und auf ihre Befunde (Saunders 1984). Davon geprägt
war auch ihre prägende Arbeit im St. Christopher’s Hospice. Leitend blieb die
Einsicht, dass Teamarbeit ein konstituierendes Strukturelement einer umfassen-
den Sorge und Aufmerksamkeit für die Sterbenden und ihrer An- und Zugehöri-
gen bildet („unit of care“), weil allein durch eine interprofessionelle Perspekti-
vierung die Multidimensionalität menschlicher Existenz aufgenommen werden
kann. Entsprechend interdisziplinär ist auch die Forschung, die von Cicely Saun-
ders im Umfeld des Hospizes initiiert wurde: Sie revolutionierte die Schmerzthe-
rapie, indem sie die Zeitabstände zwischen den Morphingaben so weit reduzier-
te, so dass neben dem Schmerz auch die Angst vor dem Schmerz behandelt wer-
den konnte. Bis heute bestimmt das von ihr geprägte Signalwort vom „total pain“
(darin wird die Multidimensionalität des Phänomens Schmerz (bio-psychosozial
und spirituell aufgehoben) maßgeblich den Diskurs. Die systematische For-
schung um Schmerz und andere Symptome (Atemnot, Übelkeit, etc.) in Palliati-
64 Andreas Heller/Sabine Pleschberg

ve Care wurde mit der Schaffung eines Lehrstuhls, den Robert Twycross innehat-
te, begründet (Clark et al. 2005).
Ein weiterer Baustein für das umfassende hospizliche Versorgungskonzept à
la Saunders wurde durch die Trauerforschung von Colin Murray Parkes in das St.
Christopher’s Hospice eingebracht. Er kam aus der Psychiatrie und interessierte
sich für Stressforschung und Trauer. In einem Oral History Projekt, das die eng-
lische Hospizgeschichte rekonstruierte, erzählt er:
„Ich traf Cicely Saunders zu einer Zeit als sie im St. Joseph’s Hospiz arbei-
tete. Sie befasste sich damals mit der Schmerzlinderung, interessierte sich aber
auch für das umfassendere Feld der psychosozialen Betreuung sterbender Men-
schen. Dieses Thema interessierte mich auch im Hinblick auf meine Arbeit, denn
ich war sehr unzufrieden mit Ärzten und Pflegenden über die Art, wie sie mit den
großen Belastungen von Patienten und deren Familien umgegangen sind. Ich traf
mit ihr jemanden, der sehr interessiert nach den Möglichkeiten einer psychosozi-
alen Versorgung sterbender Menschen fragte, ohne dabei vorzugeben, über be-
sonderes Wissen zu verfügen. Darüber wollten wir alle mehr erfahren. Ich sagte
ihr gleich zu Beginn unserer Begegnung, dass ich ihr dabei gerne helfen würde,
wenn sie der Meinung sein sollte, dass meine Mitwirkung hilfreich sein könnte./I
met Cicely Saunders…. She was working at St Joseph´s Hospice at the time,
studying pain relief but also interested in the wider psychosocial aspects of car-
ing for the dying. This was a subject I was interested in, in my area, as I´ve al-
ready talked about my dissatification with medicine and with the way in which it
seemed to me that doctors and nurses were handling the major stresses that pa-
tients and families were going through. So when I met someone who, although
she didn´t pretend to any specialist knowledge, was very interested in psychoso-
cial care oft the dying, that was obviously something we wanted to know more
about. And I said, right from the start, that if I could be of any help to her I´d be
very pleased to do so.” (Clark et al. 2005, 32)
Der Terminus „Palliative“ wurde geprägt von dem kanadischen Onkologen
Balfour Mount, der die Bezeichnung „Palliative Care“ 1974 für einen Palliativ-
dienst im Royal Victoria Hospital in Montreal benutzte. Er etablierte diesen
Dienst bewusst nicht unter der Bezeichnung „Hospiz“, weil diese bei den franzö-
sischsprachigen Kollegen mit einem passiven Versorgungsmodell für Sterbende
assoziiert wurde, was nicht im Einklang mit der positiven Botschaft und dem
proaktiven Betreuungsmodell stand (NCHSPCS 1995). Nicht nur weil dieser
Begriff in der Folge von der WHO aufgenommen wurde, gilt Balfour Mount
weltweit als wichtiger Pionier (WHO 1990) von Palliative Care, sondern auch,
weil er stets die Notwendigkeit interdisziplinärer und multiprofessioneller Team-
arbeit in Praxis und Theorie, in Forschung und Lehre betonte.
Geschichte der Hospizbewegung in Deutschland 65

Die gesellschaftlichen Wurzeln

Die neuzeitliche, moderne Hospizbewegung muss als organisierte Reaktion auf


den Umgang mit Sterben und Tod in der „modernen“ Gesellschaft gesehen wer-
den. Dieser ist neben Individualisierung und Institutionalisierung in besonderem
Ausmaß durch Medikalisierung gekennzeichnet (Feldmann 1997). Paradigma-
tisch dafür ist das medizinisch dominierte Krankenhaus. In ihm stehen organisa-
tionstheoretisch bis heute die Ziele der Gesundung, der Rehabilitation und der
maximalen Lebensverlängerung im Vordergrund. Das Sterben gilt in dieser Lo-
gik als „Betriebsunfall“, als „Versagen medizinischer Leistungsfähigkeit“ (Heller
1994). Dieses Paradigma führt dazu, dass selbst bei sterbenden Menschen zahl-
reiche – häufig intensivmedizinische, medizinisch nicht induzierte – Interventio-
nen gesetzt werden, die in Verbindung mit Defiziten in der persönlichen Beglei-
tung, in der einseitigen Fokussierung auf die somatische Seite des Sterbens (im
Unterschied zur psychischen, sozialen oder spirituellen) den Sterbeprozess in-
human und unpersönlich erscheinen lassen. Sterbende, so die Kritik, geraten
schnell in die Rolle, Objekte einer inhumanen strukturellen Versorgungsdynamik
zu werden.
Vor allem die durch die Intensivmedizin entstehenden ethische Problemla-
gen (z.B.: Behandlungsabbruch, Therapiezieländerung, Autonomie-Fürsorge,
etc.) provozieren öffentliche Debatten über die Reichweite und ethische Legiti-
mität medizinischer Eingriffe. Sie finden gegenwärtig etwa im Diskurs über die
Patientenverfügungen ihren Ausdruck, der auch als wachsendes Misstrauen der
Patientinnen gegenüber einer bestimmten (sprach- und beziehungslosen) Form
der Medizin gelesen werden kann bzw. ein radikales Autonomieverständnis
transportiert (Klie, Student 2008).
Die Hospizbewegung muss als Gegenströmung und Gegenpol zu den lauter
werdenden Euthanasiediskussionen seit den 70er Jahren in Deutschland gesehen
werden. Schon damals galt es Alternativen zu dem von den Befürwortern pro-
klamierten „Beenden eines sinnlosen Leidens“ aufzuzeigen. Die Euthanasiebe-
wegung in Deutschland, organisiert in der DGHS (Deutschen Gesellschaft für
Humanes Sterben), impulsiert die Hospizarbeit nachhaltig, indem über eine bes-
sere Versorgung sterbender Menschen in einem umfassenden Sinn nachgedacht
wird und Alternativen zunächst provisorisch (zu Hause sterben) geschaffen wer-
den. Die anhaltenden Debatten und die jüngsten Gesetzgebungen einer Legalisie-
rung aktiver Sterbehilfe bzw. des assistierten Suizids in Europa (etwa in den
Niederlanden, in Belgien und Luxemburg) und über das Verbot gewerbemäßig
agierender Sterbehilfeorganisationen aktualisieren die öffentlichen und parla-
mentarischen Debatten (Gronemeyer 2007). Damit rücken notwendige Verstän-
66 Andreas Heller/Sabine Pleschberg

digungen über Leitbegriffe in den Fokus, die zentral um die Auslegungen von
Würde, Autonomie und von Fürsorge kreisen (Pfabigan, Pleschberger 2014).
Der Beginn der Hospizgeschichte in Deutschland lässt sich in den 1970er-
Jahren beobachten, also etwas weniger als 30 Jahre nach dem Ende des Zweiten
Weltkriegs. Die Nachkriegsjahre „manischer Überaktivität“ (Mitscherlich 2011:
223), die in einer volkswirtschaftlichen Semantik gerne als das „deutsche Wirt-
schaftswunder“ gekennzeichnet werden, gingen zu Ende. Sie können sozialpsy-
chologisch auch als eine kollektive Verdrängungsreaktion begriffen werden. Man
wandte sich dem Aufbau und Ausbau zu, um sich nicht mit den Gefühlen, dem
Leid der Opfer, den zerbrochenen Idealen und der Identifikation mit dem Grö-
ßenwahn Hitlers und der eigenen Verführbarkeit befassen zu müssen. In der
DDR gab es keinen Grund, „historisch“ zu trauern. Man sah sich in der Dynamik
des „antifaschistischen Widerstands“ und hatte mit den „Tätern“ und der Verant-
wortung für ihre Taten nichts gemein. Erst in einer offenen Auseinandersetzung,
so meinte die jüngst verstorbene Margarete Mitscherlich, wäre aber die emotio-
nale und soziale Basis geschaffen worden, in der eigenen Trauer die Trauer ande-
rer zu sehen und in der Trauer über das Sterben, die Vernichtung und den Tod
anderer die eigene Trauer zuzulassen und als Mitgefühl anzuerkennen.
Die Auseinandersetzung mit einem menschlichen, würdigen Sterben durch
die erste Hospizgeneration stellte die erste öffentliche Thematisierung des Ster-
bens in der deutschen Nachkriegsgeschichte dar. Sozialpsychologisch bedeutete
dies auch, die eingefrorene kollektive Trauer als Reaktion auf die individuell und
kollektiv existenziellen Erschütterungen des Zweiten Weltkriegs, durch die nati-
onalsozialistischen Verbrechen und die Traumatisierungen, die durch die syste-
matische Vernichtung der europäischen Juden entstanden war, zu verflüssigen.
Die Hospizbewegung war ein Kontext, ein gesellschaftliches Induktionsfeld, in
gewisser Weise ein sozialer Raum für diese „kollektive Trauer“. Dass sie in
Deutschland verzögert Boden gewann, mochte damit zu tun haben, dass die
kollektiven Reaktionen nach 1945 in Deutschland darin bestanden, sich nicht
auseinanderzusetzen, sich zu schützen und abzuschirmen, die Schrecken und
gefühlmäßigen Erschütterungen durch millionenfachen Tod und Mord, durch die
Leiden aufgrund von Krieg, der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung Europas
und der Zivilbevölkerung abzubinden und zu verdrängen.
Erst mit Beginn der 1970er-Jahre wurde es langsam möglich, über Sterben,
Tod und Trauer zu sprechen, indem Zugänge zu den eigenen, persönlichen und
den familiären Trauererfahrungen gefunden wurden. Möglicherweise hatte die
Hospizbewegung hier eine katalysatorische Funktion, nicht explizit, sondern
eher implizit. Die Metaphern vieler Pionierinnen („Es lag in der Luft“, „Die Zeit
war reif“) können vielleicht auch so gedeutet werden, dass die Eindrücke der
Geschichte der Hospizbewegung in Deutschland 67

„Melancholie und Traurigkeit einer ganzen Generation“ (Paolo Conte) Ausdrü-


cke in der Hospizbewegung finden konnten.

Verzögerte Rezeption der Hospizidee

Die Aufnahme der internationalen Hospizidee setzte im deutschsprachigen Raum


mit einer erheblichen zeitlichen Verzögerung ein. Analysen, warum es fast zwan-
zig Jahre braucht, bis dass in Deutschland die erste Palliativstation in Köln 1983
eröffnet wurde, verweisen auch auf die negative Rezeption des Films von Jesui-
tenpater Reinhold Iblacker, „Noch 16 Tage. Bericht aus einer englischen Sterbe-
klinik“, der 1977 im deutschen Fernsehen ausgestrahlt wurde (Seitz et al. 2002).
Vor allem die beiden großen Kirchen, die Wohlfahrtsverbände und Krankenhaus-
gesellschaften äußerten sich auf eine Anfrage des deutschen Bundesministeriums
für Jugend, Familie und Gesundheit 1978 negativ auf die Frage: Brauchen wir in
Deutschland Sterbekliniken? Zwar wurde erkannt, dass es vielfältiger Maßnah-
men bedarf, um überall ein menschenwürdiges Sterben zu ermöglichen, die
Hospizidee – wohl aufgrund der unglücklichen Begriffswahl „Sterbeklinik“ –
wurde jedoch mit einer Ghettoisierung Sterbender und mit einer latenten Eutha-
nasiepraxis gleichgesetzt (Godzik 2000). Die Angst vor einer Wiederholung der
Ghettoerfahrungen und die Erinnerung an die nationalsozialistische Euthanasie-
politik (Aly 2013) erschwerte über Jahre eine „sachliche“, bzw. eine historisch
fundierte und empathisch-aufklärerische Diskussion zum Thema Hospiz.

Internationalisierung und Etablierung

Von Großbritannien ausgehend verbreitet sich der Hospizgedanke zunächst im


angelsächsischen und nordamerikanischen Raum. In diesen Ländern vollzieht
sich in den späten achtziger Jahren bereits eine schrittweise Institutionalisierung
und Überführung in das Konzept „Palliative Care“. Maßgeblichen Anteil daran
hat auch das Engagement der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die 1990
eine Definition und konzeptionelle Beschreibung von Palliative Care vorgelegt
hat und sich bis heute einer weltweiten Verbreitung des Konzeptes verpflichtet
fühlt (WHO 1990, 2002). Gleichzeitig setzte ein Prozess der Verwissenschaftli-
chung ein: Fachgesellschaften, Publikationsmedien wurden gegründet, erste
Lehrstühle eingerichtet, internationale Kongresse beförderten die Entwicklung
und Verständigungen. Dies wird auch in dem explosionartig ansteigenden Publi-
kationen aus dem Feld deutlich, in denen das Konzept für andere, als tumorer-
68 Andreas Heller/Sabine Pleschberg

krankte Zielgruppen propagiert wird, z.B. alte Menschen (Davies, Higginson


2004), für Kinder und Jugendliche, für Menschen mit Behinderungen, etc. aber
auch in großangelegten Forschungs- und Förderprogrammen.2
Das Feld „Palliative Care“, in Deutschland vorrangig als Palliativmedizin
interpretiert, vermochte die internationale Forschung weitgehend linear aufzu-
nehmen. Im Kontext der Lehrstühle für Palliativmedizin wurde Forschung in
diesem Bereich etabliert und auch international vernetzt vorangetrieben. Der
Anspruch auf Interdisziplinarität wurde zwar stets betont, diesen auch einzulösen
gelang aus verschiedenen Gründen nur bedingt, was im Bereich der Palliativ-
pflege bis heute eklatant sichtbar bleibt (Pleschberger 2010).
Die Hospizbewegung hat sich – im Unterschied zur Palliativmedizin – als
soziale Bewegung stets in kritischer Distanz zu den Bemühungen um Etablie-
rung von Forschung und Wissenschaft gestellt. Von Beginn an bis heute wurden
innerhalb der Hospizbewegung weder eine Akademisierung noch eine For-
schungsstrategie beabsichtigt und verfolgt. Das Akademische schien unvereinbar
mit dem existenziell-sozialen Selbstanspruch, Menschen im Sterben nahe zu
sein. Der Druck der Praxis, die Not der Sterbenden diktierte das Agieren. Die
theoriegenerierende Reflexion dieser Praxis erfolgte eher auf Basis individueller,
situativer Selbstreflexionen, einer systematische Reflexion der in dieser Praxis
gesammelten Erfahrungen zum Zwecke der Theoriebildung und Weiterentwick-
lung blieb aus (Heller et al. 2013). Dies ist heute gerade im Lichte der stattfin-
denden Internationalisierung von Palliative Care nicht nur ein Problem der For-
schung. Denn das Besondere der deutschen Hospizentwicklung als Bewegung in
Form ehrenamtlicher Hospizarbeit, bleibt so weitgehend unsichtbar, unverständ-
lich und „unübersetzbar“ (Radbruch et al. 2009).

Herausforderungen für die Zukunft

Im Zuge eines Vergleiches der Hospizarbeit in Europa weist etwa Gronemeyer


auf die ambivalenten Züge des „neuen Gesichts von Palliative Care“ hin (Gro-
nemeyer et al. 2004): Der frühe Beginn von Palliative Care, wie er sich konzep-
tionell zunehmend durchsetzt, biete zwar die Chance, palliative Maßnahmen
erfolgreicher durchzuführen als bisher, dränge aber gleichzeitig mit der Akzen-
tuierung des Begriffs Lebensqualität das würdevolle Sterben als Zielsetzung

2 Beispielhaft seien hierfür die End-of-life-Care Strategy der britischen Regierung aus dem Jahr
2008 angeführt, in die 286 Mio. Pfund investiert wurden (http://www.endoflifecareforadulds.
nhs.uk/); bemerkenswert ist ebenfalls die nationale Palliative Care Strategie der Schweiz (Bun-
desamt f. Gesundheit) von 2010-2012 die nun für weitere drei Jahre verlängert wurde und ein
umfassendes Maßnahmenpaket einschl. Forschungsschwerpunktprogramm enthält.
Geschichte der Hospizbewegung in Deutschland 69

zurück (ebd.). Damit verbunden scheint ein Prozess der „Bürokratisierung des
Sterbens“ eingesetzt zu haben, der die Standardisierung von Sterbequalitätskrite-
rien zum Ziel hat und weitgehend abstrahiert vom individuellen Ansehen der
Person (Max Weber) (James, Field 1992). Und schließlich gibt es Anzeichen
dafür, dass die in der Versorgungsphilosophie von Palliative Care angelegte
Gleichheit und Ergänzungsbedürftigkeit der verschiedenen Berufsgruppen aufge-
löst wird zugunsten der Medizin als Leitdisziplin und Ärzten als Leitprofession
(Heller 2000; Heller B, Heller A 2003).
Vor diesem Hintergrund plädieren wir für organisierte interdisziplinäre
Irritationen, wie sie etwa durch konsequente Einbindung von ehrenamtlicher
Hospizarbeit repräsentiert werden, einer stärken Berücksichtigung der Kategorie
Geschlecht in Forschung und Praxis (Reitinger, Beyer 2010), oder einer Umset-
zung ethischer Entscheidungsprozesse in und zwischen den entsprechenden
Organisationen (Krobath, Heller 2010).
Der Prozess der Institutionalisierung der Hospizarbeit wurde in den letzten
Jahren weiter vorangetrieben: Flächendeckende Versorgung, Ausdifferenzierung
und Spezialisierung sind die Leitsignale (Fink 2012). Professionalisierung wird
ebenso gefordert, nicht zuletzt im Kontext neuer gesetzlicher Rahmenbedingun-
gen wie etwa rund um die SAPV (Spezialisierte ambulante Palliativversorgung).
Ein solcher Prozess ist nicht friktionsfrei und geht mit Irritationen bei den betei-
ligten Akteuren einher.
Wie hat es eigentlich angefangen? Was war denn die ursprüngliche Idee?
Menschen nicht alleine zu lassen im Sterben, wurde als die selbstverständliche
Aufgabe der Familien, Freundinnen und Nachbarn und eben der ehrenamtlichen
HospizhelferInnen gesehen und praktiziert. Was braucht es mehr, fragen da die
Einen? Wie kann an den Erkenntnissen von Wissenschaft und Forschung rund
um die lindernde Pflege, Behandlung und die ganzheitliche Sorge um sterbende
Menschen und ihre An- und Zugehörigen vorbeigehandelt werden? Das fragen
Andere und fordern Curricula, Qualitätsstandards und evidenzbasierte Konzepte.
Die Widersprüche hinter diesen Fragen lassen sich nicht einfach auflösen. Die
Herausforderungen guter hospizlicher Praxis und einer konvergierenden länder-
übergreifenden Weiterentwicklung von Palliative Care sind vielleicht gerade
wegen ihres großen Erfolges keinesfalls kleiner geworden. Festzuhalten gilt es
daher an einem gemeinsamen Ringen um eine anhaltende zivilgesellschaftliche
Engagementbereitschaft und einige hospizliche Vorfahrtsregeln: ambulant vor
stationär, integriert vor spezialisiert, multikulturell vor monokulturell und orien-
tiert an den betroffenen Menschen statt an Profis, Organisationen und Strukturen.
Die Forschung selbst muss in diesem Feld die Komplexität der Themen und
Problembereiche aufnehmen und sich in pluralen, eben auch methodischen Zu-
gängen (quantitativ und qualitativ) entwickeln. Die gesellschaftliche Herausfor-
70 Andreas Heller/Sabine Pleschberg

derung eines menschlichen Sterbens, die Frage nach den Bedingungen unter
denen Menschen autonom und umsorgt sterben können bringt die Forschung
geradezu zwangsläufig in das Paradigma einer interdisziplinären Verwiesenheit
der Geistes- Sozial- und Naturwissenschaften aufeinander. Schließlich kann
wissenschaftlich relevantes Wissen nur mit Akteuren im Feld und auch nur mit
den Betroffenen generiert werden, was wiederum ein transdiszplinäres Verständ-
nis von Forschungstheorie und Forschungspraxis nahelegt (Dressel et al. (Hg.)
2014).

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Chronologie der Ereignisse

Die Geschichte der Hospizbewegung in Deutschland erwächst aus einem Geflecht von
Ideen, Initiativen und Gründungen. Ein Blick auf die kommentierte Chronologie der
ersten 10 Jahre vermittelt einen Eindruck von der dynamischen, föderalen Gesamtent-
wicklung, die sich zahlreicher unterschiedlicher Impulse verdankt:

1983
Gründung der ersten deutschen Palliativstation als eine Sechs-Betten-Einheit: „Stationäre
Hospizeinrichtung für palliative Therapie an der Chirurgischen Universitätsklinik in
Köln“, gefördert von der Deutschen Krebshilfe.

1984
In Stuttgart gründet die Diakonin Ursula Lesny die Sitzwachenarbeit in Pflegeheimen. Es
handelt sich hierbei um ein „Vorläufermodell“ zur ambulanten Hospizarbeit (Initiatorin
Christa Seeger).
Die Arbeitsgruppe „Zu Hause sterben“ an der Evangelischen Fachhochschule in
Hannover wird von Johann-Christoph Student gemeinsam mit anderen gegründet.

1987
Die erste, von Elisabeth Abrecht auf Auftrag von Reinhold Iblacker aus dem Englischen
übersetzte Hospizpublikation von Sandol Stoddard erscheint im Verlag Lambertus unter
dem Titel „Die Hospizbewegung. Ein anderer Umgang mit Sterbenden“.
Im Dezember wird das Hospiz zum Hl Franziskus in Recklinghausen, gegründet von
Norbert Homann, Hans Overkämping und Sr. Reginalda, eröffnet. Es prägt aufgrund
seiner Größe, vorhanden sind 12 Betten, und der Einbindung von ehrenamtlichem Enga-
gement das Verständnis vom „ersten deutschen Hospiz“.
In Stuttgart startet eine kleine Gruppe von Ehrenamtlichen, angeleitet und koordi-
niert von Daniela Tausch, mit ambulanter Hospizarbeit. Als Initiatoren wirken unter ande-
ren Helmuth Beutel und Martin Klumpp mit.
Geschichte der Hospizbewegung in Deutschland 73

1988
Gründung der „Deutschen Hospizhilfe“ am 24. Januar in einer Lounge des Frankfurter
Flughafens durch Helmuth Beutel, Prof. Dr. Klaus Dörner, Prof. Dr. Ulrich Kleeberg,
Klaus Kutzer, Prof. Dr. Dietrich Schmähl, Prof. Dr. Johann Christoph Student und Pfarrer
Dr. Paul Türks. Mit der Geschäftsführung wurde Renate Wiedemann betraut.
Die Generalsynode der Vereinigten Evangelischen Landeskirchen in Deutschland
(VELKD) in Veitshöchheim bei Würzburg befasst sich mit der Hospizbewegung. Sie wird
von Peter Godzik unter Mitarbeit von Petra Muschaweck vorbereitet.
Die Palliativstation an der Robert Janker Klinik in Bonn wird eröffnet.
Das Tübinger Projekt „Häusliche Betreuung Schwerkranker“, gefördert von der Robert
Bosch Stiftung und dem Sozialministerium Baden Württembergs, startet. Dr. Thomas
Schlunk vom „Paul-Lechler Krankenhaus“ leistet Pionierarbeit in der palliativen
Schmerztherapie.

1989
In Hamburg wird „Charon“ gegründet. Es ist die erste Beratungseinrichtung, in der Ange-
hörige Unterstützung rund um Sterben, Tod und Trauer finden. Die Einrichtung wird von
der Freien und Hansestadt Hamburg finanziert. Die Leitung hat Karin Helmer.
Auf Beschluss der Generalsynode der VELKD wird eine in Celle arbeitende Pro-
jektgruppe zum Thema „Sterbende begleiten – Seelsorge der Gemeinde“ formiert. Die
Leitung hat der damaligen Oberkirchenrat Dr.Peter Godzik. Aus der Projektgruppe geht
später das Celler Modell, ein wirkunmgsmächtiges Ausbildungskonzept für ehrenamtliche
Hospizhelferinnen, hervor.
In Ravensburg startet das Projekt „Clinic-Home-Interface“ mit dem Ziel der häusli-
chen Betreuung von „austherapierten“ krebskranken Menschen. Die Initiative dazu geht
vom Chefarzt des St. Elisabethen Krankenhauses in Ravensburg, Prof. Meuret aus. Hubert
Jocham und Carmen Rist leisten Pionierarbeit auf dem Gebiet der häuslichen Palliativ-
pflege.

1990
Die WHO-Definition zu Palliative Care wird im Kontext des Programms der Weltgesund-
heitsorganisation zur Krebsschmerzbekämpfung veröffentlicht (WHO 1990).
Die Palliativstation am Malteserkrankenhaus in Bonn wird eröffnet unter der Lei-
tung von Prof. Dr. Eberhard Klaschik. Mit im Team sind unter anderem: Dr. Friedemann
Nauck und Martina Kern (Pflege).
Die Bremer Hospiz-Hilfe im Evangelischen Krankenhauspfarramt wird im Novem-
ber durch die Gemeindekrankenschwester Rosemarie Mester und den evangelischen
Krankenhauspastor Dieter Tunkel in Bremen-Nord gegründet. Es handelt sich dabei um
eine überkonfessionelle Gruppe, die häusliche Sterbebegleitung sowie Fortbildungen für
Pflegekräfte in Krankenhäusern oder im ambulanten Bereich anbietet.
Gründung des Hauses Maria Frieden der Franziskanerinnen vom Göttlichen Heiland
in Oberharmersbach.
Es ist das erste stationäre Hospiz für Aidskranke, heute offen für alle Menschen mit
terminalen Erkrankungen. Die Leitung obliegt Thile Kerkovius.
74 Andreas Heller/Sabine Pleschberg

1991
Der ökumenische Hospizverein im Bistum Hildesheim zur Koordination und Unterstüt-
zung von Initiativen wird gegründet: Ulrich Domdey (Seelsorgereferent Generalvikariat)
und Peter Godzik sind federführend.
Initiativ dabei ist auch die Psychologin Karin Wilkening. Der Verein gilt als Vorläu-
ferorganisation der späteren Landesarbeitsgemeinschaft Niedersachsen.
Am 13. Juli gründen acht Vereine beziehungsweise Hospizgruppen bei einem Treffen in
Bamberg den Bayrischen Landesverband Hospiz. Christine Denzler-Labisch aus Bamberg
wird die erste Vorsitzende. Es folgen Landesarbeitsgemeinschaften in Niedersachsen,
Bremen und Nordrhein-Westfalen.
Die beiden Kirchen ändern offiziell ihre Positionen zur Hospizbewegung: beispiels-
weise in der Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz.
Fachtagung an der Evangelischen Akademie Arnoldshain. Thema: „Der Hospizgedanke,
die Hospizbewegung“. Diese Fachtagung findet von da an eine jährliche Fortsetzung als
„Arnoldshainer Hospiztage“.
Gründung des deutschen „Kinderhospizvereins e. V.“ in Olpe durch sechs Familien
mit lebensverkürzend erkrankten Kindern.
Die wissenschaftliche Begleitung des Förderprogramms der Palliativeinheiten im
Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit startet. Insgesamt 16 verschiedene Pallia-
tiveinheiten an ebenso vielen Standorten werden in diesem Programm geschaffen und
über mehr als drei Jahre hindurch evaluiert (BOSOFO 1997).

1992
Am 26. Februar wird in Halle (Saale) nach einem konfliktreichen Prozess die „Bundesar-
beitsgemeinschaft Hospiz zur Förderung der Hospizidee“ gegründet. Einzelinitiativen
schließen sich unter einem Dach zusammen, zum ersten Vorsitzenden wird Rudolf Dadder
aus Halle gewählt.
Heil sterben. Zur Bedeutung alternativer und
komplementärer Ansätze für eine Versorgung
Sterbender in Hospizarbeit und Palliative Care
Claudia Wenzel

Einleitung

Die vorliegende Arbeit setzt sich mit der Bedeutung alternativer und komple-
mentärer Ansätze in der Versorgung von schwerkranken und sterbenden Men-
schen in Hospizarbeit und Palliative Care auseinander. Konkret wird die kom-
plementäre palliative Versorgung in stationären Hospizen in Deutschland in den
Blick genommen und die bestehende Praxis der Anwendung und Nutzung alter-
nativer und komplementärer Verfahren exploriert. Als methodischer Rahmen für
die qualitative explorative Studie dienten Elemente der ‚Grounded Theory‘ und
der ‚Intuitive Inquiry‘. Es wurden insgesamt zwanzig multiperspektivische quali-
tative Interviews mit Leitenden (n=7), komplementären PraktikerInnen (n=8)
und MedizinerInnen (n=5) sowie sechs Gruppendiskussionen mit multiprofessi-
onellen Teams in deutschen Hospizen geführt.
Warum werden zur konventionellen Medizin alternative und komplementä-
re Behandlungsformen nun aber verstärkt von schwerkranken und sterbenden
Menschen in Anspruch genommen und zunehmend auch in Einrichtungen und
Institutionen integriert, die sich der Sorge um Menschen in ihrer letzten Lebens-
phase annehmen?
Welche Anliegen verbinden alternative Therapieformen und die Hospizbe-
wegung, die sich inzwischen weltweit als „Palliative Care“ etabliert hat, und
welche Rolle spielt Spiritualität in diesem Zueinander dieser beiden zum etab-
lierten Gesundheitssystem alternativen Bewegungen?
Diese und andere Überlegungen stehen im Zentrum vorliegender Arbeit und
sollen im Licht relevanter Literatur und der Erkenntnisse aus der Analyse des
empirischen Datenmaterials reflektiert und weitergeführt werden.

M. W. Schnell et al. (Hrsg.), Palliative Care und Hospiz, Palliative Care und Forschung,
DOI 10.1007/978-3-658-07664-1_4, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
76 Claudia Wenzel

Problemhintergrund und Forschungsfragen

Studien aus den USA, Großbritannien und anderen westeuropäischen Ländern


zeigen, dass fast die Hälfte der Population alternative und komplementäre The-
rapien in Anspruch nimmt, die Mehrheit dieser NutzerInnen jedoch auch kon-
ventionelle Ärzte und Ärztinnen aufsucht (Goldstein 2004: 927). Die Inan-
spruchnahme alternativer und komplementärer Verfahren kann demnach als
medizinisches, ökonomisches und/oder soziologisches Phänomen gedeutet und
analysiert werden.
Seit den 1960er Jahren werden alternative und komplementäre Heilverfah-
ren nicht nur von chronisch kranken und schwerkranken Menschen verstärkt
nachgefragt (Berenson 2006: 492), sondern immer häufiger auch in der palliati-
ven Betreuung von Menschen, die sich in der letzten Lebensphase befinden,
genutzt (Downer et al. 1994, Cotton 1999).
Im Kontext von Hospizarbeit und Palliative Care werden komplementäre
Verfahren meist als zusätzliche Behandlungsmöglichkeit zu konventioneller
Medizin und nicht als Ersatz in Anspruch genommen. Die Intention vieler kom-
plementärer Ansätze liegt in einer Harmonisierung von Körper und Psyche, so-
wie in der Steigerung des subjektiven Wohlbefindens. Darüber hinaus eröffnen
komplementäre Behandlungsformen Möglichkeiten einer individuellen Selbst-
sorge für An- und Zugehörige sowie für Professionelle.
Die Hospizbewegung und die zur konventionellen Medizin alternativen
Heilverfahren, können als Antwort auf und Kritik an, der seit den 1970er Jahren
zunehmenden Medikalisierung (Illich 1995) in den westlichen Industrienationen
verstanden werden.
Ziel des vorliegenden Projektes ist es, eine exemplarische Landkarte der
palliativen komplementären Versorgungslandschaft in stationären Hospizen in
Deutschland zu zeichnen. Konkret soll die Anwendungs- und Nutzungspraxis
komplementärer Verfahren in den Hospizen in den Blick genommen werden.
Folgende Forschungsfragen stehen dabei im Vordergrund:

• Welchen Beitrag leisten komplementäre Verfahren im Sinne einer Betroffe-


nen-orientierten Versorgung für Menschen in der letzten Lebensphase?
• In welcher Weise profitieren die unterschiedlichen AkteurInnen (Gäste,
Angehörige, Professionelle) von der Anwendung komplementärer Verfahren
im Hospiz?
• Wessen Bedürfnisse werden dabei auf welche Art und Weise bedient?
• Welche Wirkungen werden auf welchen Ebenen aus den unterschiedlichen
Perspektiven wahrgenommen und beschrieben?
Heil sterben 77

Alternative und komplementäre Ansätze in Hospizarbeit und Palliative Care –


Wissenschaftliche Perspektiven, empirische Befunde und Kritik

Ausgehend von den international verbreiteten Begrifflichkeiten „Alternativ-,


Komplementär-, und Integrativmedizin“ werden im folgenden Abschnitt für
Hospizarbeit und Palliative Care relevante Diskurse aufgegriffen und kritisch
beleuchtet.
Einleitend wird auf konzeptionelle Grundlagen alternativer und komple-
mentärer Ansätze Bezug genommen sowie eine grundlegende Kritik an selbigen
geübt.
Danach werden Definitionen und Kategorisierungsmöglichkeiten für Alter-
nativ-, Komplementär-, und Integrativmedizin vorgestellt und kritisch hinter-
fragt.
Es erfolgt ein Überblick über Verbreitung und Nutzung spezifischer alterna-
tiver und komplementärer Verfahren in Hospizarbeit und Palliative Care, wobei
gesondert auf komplementäre Ansätze in der Pflege eingegangen wird.
Intention, Potenzial und Wirkungen alternativer und komplementärer Ver-
fahren werden erläutert, um schließlich deren Rezeption in Hospizarbeit und
Palliative Care zu reflektieren.
Abschließend erfolgt eine Auseinandersetzung mit Möglichkeiten und Her-
ausforderungen im Hinblick auf Evaluation und Evidenzbasierung komplementä-
rer und alternativer Verfahren in Hospizarbeit und Palliative Care.

Konzeptionelle Grundlagen und kritische Betrachtung alternativer und


komplementärer Ansätze

Der Begriff der „Ganzheitlichkeit“ ist insgesamt ein Mischbegriff, da in ihn


naturphilosophische, weltanschauliche und ideologische Aspekte eingewandert
sind (Harrington 2002). Im Wesentlichen hat er folgende Bestandteile:
a. Holismus. Gegenüber einem Atomismus und extremen Individualismus
wird betont, dass das Ganze mehr als die Summe der Teile ist. Diese Denkbewe-
gung setzt in der Antike ein, ist in der Romantik und in der modernen Lebensphi-
losophie zu finden. Das moderne, zerissene und entwurzelte Individuum, so
Georg Simmel, strebt nach Ganzheit (Simmel 1987).
b. Medizin und Pflege. Gegenüber einem dualistischen und mechanischen
Verständnis des Menschen als eines Patienten wird betont, dass ein/e PatientIn
von dem her angenommen werden soll, was ihn/sie insgesamt als Menschen
ausmacht (Leib, Seele, Spiritualität, Sozialität). Gleichwohl warnte bereits Victor
78 Claudia Wenzel

von Weizsäcker energisch vor dem „undeutlichen und vieldeutigen“ Charakter


„dieses Modewortes“ (Weizsäcker 1987: 169).
c. Ideologie. Während des Nationalsozialismus wurde der Begriff der Ganz-
heit verwendet, um einen Vorrang der sog. Nation und Volksgemeinschaft vor
den Bürgerrechten zu behaupten und durchzusetzen. An dieser Ideologisierung
wirkte besonders die Leipziger Ganzheitspsychologie um Felix Krüger mit
(Graumann 1985).
In vorliegender Arbeit wird der Begriff der Ganzheitlichkeit von der Autorin
im Sinne eines holistischen Verständnisses (a) verwendet. Das Verständnis des
Begriffes der Ganzheitlichkeit der InterviewpartnerInnen konnte im Rahmen der
Interviews und Gruppendiskussionen nicht hinterfragt und muss dementspre-
chend kritisch und mit Vorsicht interpretiert werden.

Verbreitung und Nutzung komplementärer Ansätze in Hospizarbeit und


Palliative Care

Zur konventionellen Medizin komplementäre und alternative Ansätze haben in


den letzten Jahrzehnten einen weltweiten Boom erfahren. In den USA nehmen
36% der Erwachsenen eine Form von komplementärer oder alternativer Medizin
in Anspruch (Barnes et al. 2004) während die Nutzung in europäischen Ländern
bei Erwachsenen zwischen 33% und 50% liegt (Vincent & Furnham 1997: 56).
Komplementäre Behandlungsmethoden werden nicht nur von chronisch kranken
und schwerkranken Menschen verstärkt nachgefragt (Berenson, 2006: 492),
sondern immer häufiger auch in der palliativen Betreuung von Menschen, die
sich in der letzten Lebensphase befinden, genutzt (Downer et al., 1994 und Cot-
ton, 1999).
Seit den 1960er Jahren geht in Großbritannien die Entwicklung der Hospiz-
bewegung mit einem wachsenden Interesse an komplementären Ansätzen einher
(Garnett 2003). Seit den 1990er Jahren gibt es einen stetigen Anstieg der Inan-
spruchnahme von komplementären Therapien in Palliative Care (Tavares 2003).
„Supportive and palliative care services are leading the way in the provision of
complementary therapies for patients and their carers” (Prince of Wale`s Founda-
tion for Integrated Health 2003).
Die Orientierung an einem ganzheitlichen Menschenbild sowie an den indi-
viduellen Bedürfnissen der Betroffenen bilden konzeptuelle Berührungsstellen
zwischen komplementären Ansätzen und Palliative Care (Penson 1998).
So stellen Hospizarbeit und Palliative Care nicht nur Schlüsselbereiche für
die Anwendung von komplementären und alternativen Verfahren dar, sondern
Heil sterben 79

erweisen sich auch als zentral, wenn es um Forschung in diesem Feld geht (Ran-
kin-Box 1997 & Avis 2001).
Auch die steigende Anzahl von Publikationen in wissenschaftlichen Jour-
nals in den letzten zehn Jahren verweist auf das zunehmende Interesse an alter-
nativen und komplementären Ansätzen in Palliative Care.
In einer systematischen Übersichtsarbeit (die sich auf 26 Studien aus 13
westlichen Ländern bezieht) konnte gezeigt werden, dass die durchschnittliche
Nutzung komplementärer Ansätze von onkologischen Patienten und Patientinnen
weltweit bei 31,4% liegt (Ernst & Cassileth 1998).3 In Großbritannien beispiels-
weise, werden in 90% der Hospize und Palliativeinheiten Aromatherapie, Mas-
sage und Reflexologie angeboten (Tavares 2003)4. Vor allem in der palliativen
Onkologie spielen komplementäre Ansätze eine bedeutende Rolle (Ernst, 2001).
Im Rahmen von Hospizarbeit und Palliative Care werden komplementäre Ansät-
ze meist als zusätzliche Behandlungsmöglichkeit zu konventioneller Medizin
und nicht als Ersatz gesehen (Chatwin & Tovey 2004), dies gilt insbesondere für
die Pflege.
Die Gründe für die Nutzung alternativer und komplementärer Ansätze von
Menschen mit lebensverkürzenden Erkrankungen oder terminalen Prognosen
sind vielfältig. Gerade dort, wo die konventionelle Schmerztherapie an ihre
Grenzen stößt, können komplementäre Ansätze Linderung bringen und ganzheit-
liches Wohlbefinden steigern. Daher spielen sie in Palliative Care eine wichtige
Rolle in der Symptomkontrolle, aber auch in der Verbesserung der Lebensquali-
tät von Patienten und Patientinnen und deren An- und Zugehörigen (Cassileth &
Schulman 2004).
Onkologisch erkrankte PatientInnen hoffen auf Lebensverlängerung, Kon-
trolle über die Krankheit bzw. Nebenwirkungen invasiver Therapien zu gewin-
nen, geheilt zu werden, sie hoffen auf Schmerz- und Symptomreduktion sowie
auf eine Verbesserung der Lebensqualität (Oneschuk et al. 1998).
Betroffene nutzen komplementäre Ansätze zur Schmerzbehandlung
(Gecsedi & Decker 2001), bei Übelkeit (Hudson, 1998), Fatigue (Berenson
2006), Angst (Hadfield 2001) oder zur Verbesserung der Lebensqualität
(Cheesman, Christian & Cresswell 2001). Weitere Gründe für die Nutzung kom-
plementärer Ansätze liegen im Wunsch nach Selbstbestimmung; im Vertrauens-
verlust in die konventionelle Medizin oder in der Absicht das Immunsystem zu
stärken (Berenson 2006: 492).

3 Problematisch bei solchen Übersichtsarbeiten ist jedoch, dass oft nicht genau definiert ist,
welche Verfahren als komplementär bzw. alternativ klassifiziert werden oder dass Definitionen
prinzipiell sehr weit gefasst sind (Cassileth & Schulman 2004: 1088).
4 Für den deutschsprachigen Raum fehlen jedoch vergleichbare statistische Daten über die Nut-
zung komplementärer Verfahren in Hospizarbeit und Palliative Care.
80 Claudia Wenzel

Weltweit nutzen ca. 31,4% der onkologischen PatientInnen komplementäre


und alternative Verfahren (Ernst & Cassileth 1998). In der Onkologie sind Aro-
matherapie, Reflexologie, Massage sowie Entspannungsverfahren, Meditation
und Visualisation sehr weit verbreitet (Bottrill & Kirkwood, 2005: 223). Weitere
Verfahren, die im Kontext von „palliative cancer care“ Anwendung finden, sind
u.a. Akupunktur, Kunsttherapie, Musiktherapie, Bewegung, Naturheilkunde,
Homöopathie, Massage und spezielle Ernährungsformen (Barraclough, 2007).
Ernst (2001) gibt einen Überblick über die Nutzung komplementärer Therapien
und in der palliativen Onkologie (Ernst, Pittler & Wider 2007) während
Oneschuk und Bruera (1999) sich mit potenziellen Gefahren komplementärer
Verfahren für KrebspatientInnen auseinandersetzen. Auch Barraclough (2007)
listet komplementäre Therapie- und Unterstützungsmöglichkeiten bei onkologi-
schen Erkrankungen auf.
Nachfolgend soll eine Auswahl alternativer bzw. komplementärer Verfahren
aufgelistet werden, die vermehrt im anglo-amerikanischen und deutschsprachi-
gen Raum im Kontext von Hospizarbeit und Palliative Care genutzt werden5:
Akupressur, Akupunktur, Anthroposophische Medizin, Aromatherapie, Atemthe-
rapie, Bachblüten, Craniosacrale Osteopathie, Entspannungsverfahren (z.B. Pro-
gressive Muskelentspannung nach Jacobson), Farbtherapie, Geführte Imaginati-
on, Handauflegen, Homöopathie, Kunsttherapie, Massage, Meditation, Mind-
Body-Medicine, Musiktherapie, Naturheilverfahren, Reflexologie, Reiki,
Rhythmische Einreibungen, Shiatsu, Therapeutic Touch, Traditionelle Chinesi-
sche Medizin (TCM), Visualisation sowie Wickel und Auflagen6.

Komplementäre Ansätze in der Pflege

Verfechter der Anwendung komplementärer Ansätze in der Pflege verweisen auf


das Konzept der Ganzheitlichkeit (Dossey 1995) sowie auf einen Vorzug für den
therapeutischen Einsatz von Berührung (Wright & Sayre-Adams 2001) in der
Pflege. Das steigende Interesse für komplementäre Anwendungen in der Pflege
kann auch als Bedürfnis nach professioneller Weiterentwicklung und als Wunsch

5 Zweck dieser Darstellung ist es, auf die Vielfalt bzw. Unterschiedlichkeit der existierenden
alternativen bzw. komplementären Verfahren in Hospizarbeit und Palliative Care zu verweisen.
Die folgende Auflistung, die alphabetisch gereiht ist, stellt also lediglich eine beispielhafte
Auswahl der Autorin dar, die in keinster Weise Wertungen impliziert oder Anspruch auf Voll-
ständigkeit erhebt.
6 Basale Stimulation und Kinästhetik als Konzepte, die in der Pflege etabliert sind, werden in
internationalen Klassifikationen meist nicht unter komplementäre oder alternative Ansätze
subsummiert und daher aus forschungsökonomischen Gründen von der Autorin in vorliegender
Arbeit ausgeklammert.
Heil sterben 81

nach einer stärker therapeutisch ausgerichteten Rolle (Rankin-Box 2001) inter-


pretiert werden. Carter und Mackereth (2008) sehen als weiteren Grund für die
Nutzung komplementärer Verfahren in der Pflege die Möglichkeit, qualitativ
hochwertige Zeit mit Patienten und Patientinnen zu verbringen, was zu einer
höheren Zufriedenheit bei den Professionellen führt.
Für die Anwendung komplementärer Verfahren in der Pflege wurden Richt-
linien von verschiedenen Institutionen entwickelt, so z.B. der „Nursing and
Midwifery Council Code of Conduct7“ sowie die „Guidelines for the Administra-
tion of Medicines“ (Nursing and Midwifery Council 2004: 9). Das „Royal Col-
lege of Nursing“ in Großbritannien hat sogar eigene Richtlinien für die Integrati-
on komplementärer Therapien in die Pflege (2003) herausgegeben. Diese Richt-
linien legen jedoch keineswegs fest, welche komplementären Ansätze von Pfle-
genden aufgegriffen bzw. umgesetzt werden sollen, sondern „they offer guidance
on the role of complementary therapies with respect to professional and legal
issues, education, practice standards, collaboration and referral, and development
of workplace policy“ (McCabe & Kenny 2003: 266).
Pflegepersonen befinden sich in einer Schlüsselrolle, was die Auswahl
komplementärer Verfahren bei schwerkranken und sterbenden Menschen betrifft.
Oftmals sind es die Pflegenden, die komplementäre Ansätze vorstellen, anbieten
oder einen ersten Kontakt zu einer/m externen Praktiker/in legen. Molassiotis
und Cubbin (2004) verweisen in diesem Zusammenhang auf den Mangel an
Wissen von Professionellen über komplementäre Anwendungen. Es wird argu-
mentiert, dass für ein ganzheitliches Verständnis eigene Erfahrungen mit kom-
plementären Anwendungen, essentiell sind. Bottrill und Kirkwood (2005: 255)
empfehlen darüber hinaus „research based material to reinforce the therapy and
provide evidence of its benefits” für den Fall, dass Pflegende die Anwendung
komplementärer Verfahren rechtfertigen müssen.
Fundierte Aus- und Weiterbildungen für Pflegende sind Voraussetzung für
eine sinnvolle Auswahl und eine sichere Anwendung komplementärer Verfahren.
Dabei existiert eine Vielzahl an unterschiedlichen, meist privaten AnbieterInnen
von Ausbildungen. Die Anerkennung bestimmter Ausbildungsangebote durch
entsprechende Fachgesellschaften bzw. Institutionen kann hilfreich sein, hoch-
wertige von weniger seriösen AnbieterInnen zu unterscheiden.
Judith Shuval hat narrative Interviews mit Pflegenden in Israel gemacht, die
komplementäre Ansätze in ihre Arbeit (in konventionellen und alternativen Set-
tings) integrieren und kommt zu dem Ergebnis,

7 http://www.nmc-uk.org/Nurses-and-midwives/The-code/The-code-in-full, am 01.04.2012
82 Claudia Wenzel

„that nurses using CAM practices do not seek to change the epistemological and au-
thority boundaries of biomedicine. Even so many believe that CAM methods should
be included within the cognitive boundaries of biomedicine. They are not disturbed
that most of these techniques have not passed the test of biomedical research criteria,
though they feel blocked by physicians who keep the cognitive boundaries of bio-
medicine closed.” (Shuval 2006: 1784)

Intention, Potenzial und Wirkung komplementärer Ansätze in Hospizarbeit


und Palliative Care

Die Intention vieler alternativer und komplementärer Ansätze, die in Hospiz-


arbeit und Palliative Care genutzt werden, liegt in der Harmonisierung von Kör-
per und Psyche sowie in der Steigerung des individuellen Wohlbefindens.
Im Gegensatz zur konventionellen Medizin kann Gesundheit in komple-
mentären Ansätzen als „balance of the individual`s internal resources and the
interplay between the external physical and social environment“ (Osterlund &
Beirne, 2001: 374) verstanden werden. Es geht also um eine ganzheitliche Be-
trachtung der Person und nicht um eine Fokussierung auf Symptomebene.
Bottrill und Kirkwood (2005) beschreiben unter anderem folgende Ziele
komplementärer Verfahren in Palliative Care: Verminderung von Anspannung,
Schmerz und anderen Symptomen; Entspannung; Erholung; Verbesserung der
Harmonie und des Energieflusses im Körper sowie die Unterstützung psycho-
neuroimmunologischer Reaktionen.
Komplementäre Ansätze können auch als Empowermentstrategien verstan-
den werden, die Palliativpatienten und -innen sowie deren An- und Zugehörigen
ermöglichen, Einflussnahme auf ihre Erkrankung bzw. ihr subjektives Befinden
zu nehmen (Turton & Cooke 2000).
In der Anwendung körperorientierter Verfahren im Kontext von Palliative
Care stehen keine spezifischen Symptome im Vordergrund, sondern es geht um
die Steigerung des allgemeinen Wohlbefindens: „the primary intention of touch
therapies and relaxation techniques may be to improve wellbeing, reduce anxiety
and manage distress in the short term“ (Carter & Mackereth, 2008: 164). Es gibt
steigende Evidenzen dafür, dass körperorientierte Verfahren durch die Stärkung
des Immunsystems langfristige positive Wirkungen erzielen, vor allem was
Angst- und Stressreduktion betrifft (Field 2000).
In der Literatur über Palliative Care werden komplementäre Therapien als
prinzipielle Möglichkeiten beschrieben, durch die das physische, psychische und
spirituelle Wohlbefinden von schwerkranken und sterbenden Menschen positiv
beeinflusst werden kann, ohne (schädliche) Nebenwirkungen hervorzurufen
(Berenson 2006).
Heil sterben 83

Edzard Ernst (2001) warnt jedoch davor, wirkungsvolle konventionelle


Therapien wegen alternativer und komplementärer Anwendungen aufzugeben,
komplementäre und alternative Medizin als letzte Hoffnung anzusehen bzw.
verweist auf die Schwierigkeit der Abgrenzung zu unseriösen Behandlungsfor-
men. Auch Oneschuk und Bruera (1999) setzen sich mit potenziellen Gefahren
komplementärer Verfahren für KrebspatientInnen auseinander.
Es gibt jedoch keine Hinweise darauf, dass komplementäre Verfahren mehr
Risiken in sich bergen, als andere konventionelle Therapien (McCabe & Kenny,
2003): „Evidence-based complementary therapies are shown to affect in safe
ways patients` physical, emotional, and spiritual well-being“ (Berenson, 2006:
493).
Eine sehr übersichtliche und praxisorientierte Darstellung der Anwen-
dungsmöglichkeiten und Wirkweisen verschiedener körperorientierter Verfahren
im Rahmen der (palliativen) Onkologie liefern Mackereth und Carter (2006).
Verbunden mit der steigenden Nutzung bzw. Verbreitung komplementärer
und alternativer Verfahren in Hospizarbeit und Palliative Care, lässt sich ein
quantitativer und qualitativer Anstieg von Forschungsarbeiten in diesem Be-
reich8, eine zunehmende komplementäre Praxis in konventionellen Settings, und
es lassen sich steigende Evidenzen für bestimmte komplementäre Therapien bzw.
Behandlungsformen erkennen (Vickers 2000).
Da ein grundlegender differenzierter Diskurs zum Thema Wirkung und
Wirksamkeit alternativer und komplementärer Verfahren nicht im Fokus vorlie-
gender Arbeit liegt und aus forschungsökonomischen Gründen an dieser Stelle
nicht geleistet werden kann, wird im Folgenden auf ausgewählte (empirische)
Studien verwiesen, die sich mit Wirkungen bzw. Wirksamkeit komplementärer
Verfahren im Kontext von Hospizarbeit und Palliative Care auseinandersetzen.
Es gibt eine Vielzahl an randomisiert kontrollierten Studien, die die Wirkung
alternativer und komplementärer Verfahren erfassen:

8 Mittlerweile existieren eine Reihe von bibliographischen (Literatur)Datenbanken für CAM-


Studien (z.B. AMED, ARCAM, CAMbase, CAMEOL, CAM on PubMed, CAMLIS,
Chochrane Coll, CM field) oder für spezifische Verfahren, wie z.B. ARRCBASE (Akupunk-
tur), Arthedata (Kunsttherapie), CAIRSS (Musiktherapie), CAM cancer (CAM + Onkologie),
CARDS (Nahrungsergänzungsmittel), China National Knowledge Infrastructure Database
(Traditionelle Chinesische Medizin) oder CHMIS-C (Pflanzenheilkunde in der Onkologie).
84 Claudia Wenzel

Randomisiert kontrollierte Studien AutorInnen Jahr


Wirkung von Ohrakupunktur für Palliative Dillon & Lucas 1999
Care Patienten und –innen
Wirkung von Musiktherapie-Einzel- Krout 2001
sitzungen auf die fremd- und selbstbeo-
bachtete Schmerzwahrnehmung, physisches
Befinden und Entspannung von
HospizpatientInnen
Wirkung von Aromatherapie auf Schmerz, Louis & Kowalski 2002
Angst und Depression bei Menschen im
Hospiz
Wirkung therapeutischer Massage und Post-White et al. 2003
Healing Touch bei Symptomen onkologi-
schen Patienten und –innen
Wirkung von Aromatherapie Massagen für Westcombe et al. 2003
KrebspatientInnen
Wirkung von Aromatherapie-Massagen auf Wilcock et al. 2004
Stimmung, Lebensqualität und physische
Symptome von onkologisch erkrankten
PatientInnen in einem Palliative Care Ta-
geszentrum
Wirkung von Aromatherapie-Massage im Soden et al. 2004
Hospiz
Wirkung von Massage und Meditation am Downey et al. 2009
Lebensende

Tabelle 1: Übersicht randomisiert kontrollierter Studien zur Wirkung


alternativer und komplementärer Verfahren in Hospizarbeit und
Palliative Care

Als Beispiele für systematische Übersichtsarbeiten zur Wirkung komplementärer


Verfahren in Palliative Care sei der systematische Review über randomisiert
kontrollierte Studien für Massage und Meditation (Lafferty et al. 2006) sowie der
systematische Review über Hypnotherapie für die Behandlung von Symptomen
von onkologisch erkrankten Palliativpatienten und -innen (Rajasekaran, Ed-
monds & Higginson 2005) genannt.
Heil sterben 85

Darüber hinaus gibt es eine immer größer werdende Anzahl von qualitati-
ven Studien9, die sich in unterschiedlicher Fokussierung mit der Wirkung kom-
plementärer Verfahren in Hospizarbeit und Palliative Care auseinandersetzen:

Qualitative Studien AutorInnen Jahr


Wirkung komplementärer Verfahren auf die Le- Correa-Velez et al. 2003
bensqualität Sterbender
Wirkung komplementärer Therapien auf das Brenner & Krenzer 2003
Wohlbefinden am Lebensende
Qualitative Evaluation eines Reflexologie Ser- Gambles, Crooke & 2002
vices im Hospiz Wilkinson
Evaluation eines Pilotprojektes: „Yoga in einem McDonald, Burjan & 2006
palliativen Tageszentrum“ Martin
Wirkung der Kombination von Musiktherapie und Magill & Berenson 2008
Reflexologie bei onkologischen PatientInnen
Nutzen und Wirkung komplementärer und alter- Kozak et al. 2009
nativer Medizin in Hospizen in den USA
Rolle von Musiktherapie in Palliative Care aus Magill 2009
der Perspektive trauernder Angehöriger
Wirkung von Massage bei BrustkrebspatientInnen Billhult, Stener- 2007
während der Chemotherapie Victorin & Bergbom
Nutzung komplementärer Verfahren am Lebensende Tilden et al. 2004
multidisziplinäre Perspektiven auf die Wirkung O‘Kelly & Koffman 2007
von Musiktherapie in Palliative Care
strukturphänomenologische Untersuchung zur Bertram 2005
Wirkung der Rhythmischen Einreibungen nach
Wegman/Hauschka

Tabelle 2: Übersicht qualitativer Studien zur Wirkung alternativer und


komplementärer Verfahren in Hospizarbeit und Palliative Care

Fallstudien setzen sich beispielsweise mit der Wirkung von Reiki bei Menschen
im Hospiz (Bullock 1997), mit der Wirkung von Musiktherapie auf Sterbende im
Hospiz (Krout 2003); mit der Wirkung von Reiki in Palliative Care (Burden,
Herron-Marx & Clifford 2005) oder mit der Wirkung von Musiktherapie auf

9 Im Rahmen der „5th International Conference for Researchers and Practitioners in CAM“ mit
dem Titel „Valuing Qualitative Research: Diversity & Debate in Complementary & Alternative
Medicine“, vom 13. – 14. Juli 2009 an der University of York, konnte die Autorin internationa-
le Diskurse zum Thema qualitative Forschung(sarbeiten) im Bereich alternativer und komple-
mentärer Verfahren mitverfolgen.
86 Claudia Wenzel

multidimensionale Bedürfnisse von HospizpatientInnen und deren Familien


(Hilliard 2001) auseinander.
Als Beispiel für eine mixed methods Studie, die die Wirkung von Harfenmusik
für sterbende Menschen untersucht hat, sei jene von Freeman et al. (2006) genannt.

Anlage und methodologischer Rahmen der Studie

Aufgrund des explorativen Charakters vorliegender Studie10, die die Nutzung


und Praxis komplementärer Heilverfahren in deutschen Hospizen in den Mittel-
punkt der Betrachtung stellt, wurde ein qualitativer Zugang zum Thema gewählt.
Konkret diente die Grounded Theory als wissenschaftstheoretisch begründeter
Forschungsstil, während Elemente der Intuitive Inquiry handlungsleitend für
Analyse und Interpretation der Daten waren. Die Grounded Theory ermöglicht
Handlungs- und Sinnzusammenhänge komplexer sozialer Wirklichkeiten zu
erforschen und darzustellen. Im Vergleich dazu bezieht der Ansatz der Intuitive
Inquiry Vorverständnisse des forschenden Subjekts und dessen Intuition in Da-
tenerhebungs-, Analyse- und Interpretationsprozesse mit ein.
Im folgenden Abschnitt sollen vor allem jene Aspekte der Intuitive Inquiry
beschrieben werden, die, in Kombination mit der Grounded Theory, für Erhe-
bungs-, Auswertungs- und Interpretationsprozesse vorliegender Arbeit relevant
und leitend waren.

Grounded Theory

Eine ausführliche Darstellung der Grounded Theory findet sich in Kapitel 1 des
vorliegenden Buches zum Thema „Die Grounded Theory im Licht der Wissen-
schaftstheorie“ und in Kapitel 2 zur Frage „Was ist Grounded Theory?“.

Intuitive Inquiry

Der Ansatz der Intuitive Inquiry wurde in den 1990er Jahren von der Psycholo-
gin Rosemarie Anderson11 entwickelt. Intuitive Inquiry verwendet Elemente der

10 Eine vergleichbare empirische Studie zum Thema liegt bislang im deutschsprachigen Raum
noch nicht vor.
11 Anderson, geboren 1947 in den USA, wurde in den 1970er Jahren während ihres Psychologie-
studiums stark von den experimentellen und quantitativen Methoden der Sozialpsychologen
Heil sterben 87

europäischen Hermeneutik12 und appliziert diese gewissermaßen auf qualitative


Auswertungsprozesse.
Methodologisch wurde die Intuitive Inquiry direkt von der Biblischen Her-
meneutik von Friedrich Schleiermacher (Schleiermacher 1977), der philosophi-
schen Hermeneutik von Hans-Georg Gadamer (Gadamer 1998) sowie phänome-
nologischen und heuristischen Ansätzen von Clark Moustakas (Moustakas 1990
& 1994) und einem weiten Spektrum feministischer Theorien aus Psychologie
und Theologie beeinflusst.
Erst am Beginn der 2000er Jahre verwendete Anderson den hermeneuti-
schen Zirkel „an iterative process, that enfolds pre-understandings and intuition
into data collection, analysis and interpretation, and presentation of the findings“
(Wertz et al. 2011: 69), als Grundlage für den Ansatz der Intuitive Inquiry.
Anderson präsentiert eine Typologie, in der sie zwischen fünf intuitiven
Arten von Ausdrücken differenziert, welche als Grundlage für die Intuitive
Inquiry fungieren (Anderson 2011: 247ff): „Unconscious, symbolic, and
imaginal processes, Psychic or parapsychological experiences, Sensory modes of
intuition, Empathic identification, Through our wounds“.
Die Intuitive Inquiry besteht aus fünf iterativen Abläufen, die einen herme-
neutischen Zirkel der Interpretation bilden. Imaginative Prozesse, kreativer Aus-
druck und intuitive Prozesse führen nicht nur zu einem tieferen Verständnis der
Daten, sondern „transform both the researcher`s understanding of the topic
studied and his or her personal life“ (Anderson 2011: 244). Diese fünf Zyklen
sind eingebettet in analytische und intuitive Prozesse, die auf eine induktive
Theoriebildung abzielen.
Im ersten Ablauf „Clarifying the Research Topic“ geht es für den For-
scher/die Forscherin darum, eigene Motive und Vorverständnisse in Bezug auf
das gewählte Forschungsthema sichtbar zu machen und zu klären.
Im zweiten Ablauf „Preliminary Interpretive Lenses“ wird das interessie-
rende Thema im Lichte existierender Literatur reflektiert, und es wird eine Liste
von vorläufigen „interpretativen Linsen“ (vor der Datenerhebung!) erstellt.
In Ablauf 3 „Collecting Data und Preparing Descriptive Reports“ identifi-
ziert der/die ForscherIn die besten Datenquellen sowie Kriterien für die Datenaus-

Clark Hull und B.F. Skinner geprägt. Durch Reisen nach Asien kam sie in Kontakt mit fernöst-
lichen spirituellen Traditionen, was sie schließlich u.a. zu intensiver wissenschaftlicher Ausei-
nandersetzung mit Theologie, Philosophie und Biblischer Hermeneutik führte. Ab 1991 lehrte
sie am Institute for Transpersonal Psychology und beschäftigte sich mit Forschungsmethoden
im Kontext transpersonaler Psychologie und den Berührungspunkten zwischen Spiritualität
und Wissenschaft.
12 In der Tradition von Friedrich Schleiermacher und Hans-Georg Gadamer war Hermeneutik bedeut-
sam in der Interpretation verschiedener Textformen aus Religion, Philosophie und Literatur.
88 Claudia Wenzel

wahl, sammelt Daten und bereitet diese für die nachfolgende deskriptive Analyse
auf.
Erst in Ablauf 4 „Transforming and Revising Interpretive Lenses“ präsen-
tiert der/die ForscherIn die durch die Auseinandersetzung mit den Daten weiter-
entwickelten „interpretativen Linsen“ und vergleicht diese mit jenen aus Zyklus
2: „The degree of change between cycle 2 and cycle 4 lenses is, in part, a
measure of the researcher`s willingness to be influenced by data and to modify
his or her understanding of a topic“ (Anderson 2011: 254).
In Ablauf 5 „Integrating Findings and Theory Building“ erfolgt eine Integ-
ration der „interpretativen Linsen“ aus Ablauf 4 mit der empirischen und theore-
tischen Literatur und den theoretischen Verfeinerungen und Vermutungen, die
auf den bisherigen Erkenntnissen basieren: „The intuitive inquirer presents a
final interpretation of findings and theoretical speculations related to the topic of
the study“ (Anderson 2011: 255).
Für eine Übersicht über die 5 Abläufe der Intuitive Inquiry siehe Abb. 1
(aus: Anderson 2011: 250)

Cycle 5:
Final Interpretation (Discussion)

Cycle 4:
Final Lenses (Discussion)

Cycle 3:
Data Collection and Data Summaries (Results)

Cycle 2:
Initial Lenses (Literature Review)

Cycle 1:
Clarify Topic via Imaginal Dialogue (Introduction)

Abbildung 1: Intuitive Inquiry: Five Cycles of Interpretation


(Inductive Theory Building)
Heil sterben 89

Anderson (2011: 397) empfiehlt Intuitive Inquiry mit anderen qualitativen oder
quantitativen Forschungsmethoden zu kombinieren oder erstere in letztere zu
integrieren. Sie sieht Intuitive Inquiry als Möglichkeit, intuitive Erkenntnisvor-
gänge zu strukturieren und dokumentieren und „artistic and imaginal ways of
knowing with scholarly and sientific discovery“ (Anderson 2011: 397) zu ver-
binden.
Intuitive Inquiry eignet sich dabei besonders für Fragestellungen und The-
men, die intuitive Zugangsweisen erfordern. Im Gegensatz zu einem Wissen-
schaftsverständnis, in welchem die Entdeckung von Prinzipien, wie eine objekti-
ve Welt funktioniert, im Vordergrund steht, forciert die Intuitive Inquiry „a world
reality that we create through new insights and understandings, which ever chan-
ge“ (Anderson 2011: 398).

Grounded Theory und Intuitive Inquiry – Theoretische Berührungspunkte


und Differenzierung

Sowohl Grounded Theory (Charmaz 2011, Strauss & Corbin 1996) als auch
Intuitive Inquiry (Anderson 2011) sind methodische Ansätze, die eine induktive
Theoriebildung verfolgen bzw. anstreben.
Kathy Charmaz beschreibt Grounded Theory als systematische Methode,
die von positivistischen als auch interpretativen Paradigmen geprägt ist. Dabei
sieht sie ihre konstruktivistische Variante der Grounded Theory als „more com-
patible with intuitive inquiry than earlier versions of grounded theory because it
assumes that the viewer is part of what is viewed“ (Charmaz 2011: 303).
Unterschiede zur Intuitive Inquiry sieht Charmaz in der Einflussnahme der
Literaturanalyse auf die Theoriebildung und in der Flexibilität des iterativen
Prozesses im Rahmen der Grounded Theory, die eine Vor- und Rückbewegung
zwischen Kodieren und dem Konstruieren konzeptioneller Kategorien impliziert.
Während in der konstruktivistischen Grounded Theory theoretische Konstrukte
durch Verlinkung der Daten mit auftauchenden Kodes entstehen, dienen in der
Intuitive Inquiry persönliche Ressourcen des forschenden Subjekts als Quelle für
intuitive Erkenntnisse, die im Spiegel der Daten erweitert bzw. transformiert
werden. Analyse und Theoriebildung in der Intuitive Inquiry gehen also über das
Offensichtliche bzw. Sichtbare in den Daten hinaus:

„Although many qualitative researchers, including grounded theorists, actively em-


ploy intersubjective processes in analysis and interpretation, in intuitive inquiry
analysis and theory building are confidently placed within a self-reflective, herme-
90 Claudia Wenzel

neutical circle, which cycles back and forth between personal insight and data.”
(Anderson 2011: 325)

Anderson (2011: 324) weist darauf hin, dass Intuitive Inquiry – angelehnt an ein
postmodernes Verständnis – dazu konzipiert ist, Möglichkeiten und nicht Ge-
wissheiten (die gewissermaßen in den Daten eingebettet sind) zu explorieren.
Charmaz (2011: 304) setzt die intuitiven Erkenntnisse im Rahmen der Intuitive
Inquiry mit den kreativen und imaginativen Interpretationen im Rahmen der
Grounded Theory gleich. Ebenso sind Phasen von Konfusion und sichtbar wer-
denden Ambivalenzen kennzeichnend für beide induktive Forschungsprozesse.
Sowohl Anderson als auch Charmaz verweisen abschließend auf die transforma-
tive Kraft der beiden Forschungsansätze, die gleichermaßen auf den Forscher/die
Forscherin wie auf die Beforschten wirkt.

Erhebungsverfahren und Durchführung der Feldarbeit

In vorliegendem Abschnitt soll das theoretische Sampling, der Feldzugang, Er-


hebungsverfahren sowie die Datenerhebung in Form von Interviews und Grup-
pendiskussionen dargestellt werden.
Die Datenerhebung fand im Rahmen des Forschungsprojektes „Alternative
Versorgungsformen in Hospizarbeit und Palliative Care“ (Projektleitung: Prof.
Dr. Andreas Heller, Projektkoordination und -durchführung: Mag.a Claudia Wen-
zel) an der Abteilung Palliative Care und OrganisationsEthik, Fakultät für Inter-
disziplinäre Forschung und Fortbildung, Alpen-Adria Universität Klagenfurt,
Wien, Graz statt. Die Feldarbeit, Datenaufbereitung und -analyse fanden in ei-
nem Zeitraum von Oktober 2008 bis September 2010 statt; das Projekt wurde
vom Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft gefördert.

Multiperspektivische qualitative Interviews

Ein Instrument der Datenerhebung in vorliegender Studie stellen qualitative


leitfadengestützte Interviews dar, die sich in ihrer theoretischen Form am prob-
lemzentrierten Interview nach Witzel (1985) sowie am narrativen Interview nach
Schütze (1977) orientieren.
Für die Durchführung des problemzentrierten Interviews wird das „Erzähl-
prinzip“ als vorrangig erachtet; durch offene Fragen wird ein Rahmen für den
interessierenden Problembereich geboten, wobei die „Bedeutungsstrukturierung
der sozialen Wirklichkeit (...) dem Befragten allein überlassen“ (Lamnek 1995:
Heil sterben 91

75) bleibt. Als Grundelement des narrativen Interviews kann die von den Befrag-
ten frei entwickelte Stegreiferzählung angesehen werden, die durch eine „erzähl-
generierende“ Eingangsfrage13 angeregt werden soll. Dabei soll die Haupterzäh-
lung von den Befragten autonom gestaltet werden, und die Befragenden sollen
die „Rolle aufmerksamer Zuhörer übernehmen und durch unterstützende Gesten
und nicht-direktive Kurzkommentare zur Aufrechterhaltung der Erzählung bei-
tragen“ (Hopf 2005: 356). Erst im Nachfrageteil dürfen die Interviewenden in
einen aktiven Teil übergehen und offen gebliebene Fragen aufgreifen. Die Form
des narrativen Interviews basiert auf der Grundannahme, dass Erzählungen stär-
ker an konkrete Handlungsabfolgen und weniger an Ideologien und Rationalisie-
rungen der Befragten orientiert sind und Befragte so eher dazu neigen, Gedanken
preiszugeben, die sie auf direkte Fragen nicht äußern würden, können oder wol-
len (vgl. Hopf 2005: 357).
Die Formulierungen der thematisch gegliederten Fragen der Interviewleit-
fäden vorliegenden Forschungsprojektes orientierten sich am Kriterium der Of-
fenheit und dienten dazu, die Erzählungen der InterviewpartnerInnen anzuregen
und auch Themen, die nicht im Interviewleitfaden bzw. Blickfeld der Forscherin
waren, Raum zu geben. Abgesehen von der Einstiegsfrage, orientierte sich die
Abfolge der Interviewfragen bzw. flexiblen Variationen derselbigen an den Er-
zählungen der InterviewpartnerInnen.
Für die Durchführung der Interviews wurde für jede professionelle Perspek-
tive (Leitende, externe komplementäre PraktikerInnen und MedizinerInnen) ein
eigener Interviewleitfaden entwickelt, der im Laufe der Interviewtätigkeit nur
geringfügig erweitert bzw. modifiziert wurde (siehe Anhang). Die Themen in
den Interviewleitfäden orientierten sich an Ergebnissen der Literaturanalyse
sowie an jenen für das Forschungsprojekt relevanten Fragestellungen. Für jedes
Interview wurde zusätzlich ein detailliertes Dokumentationsprotokoll über den
Interviewkontext erstellt (siehe Anhang).

Gruppendiskussionen

Der Ursprung der Gruppendiskussion als sozialwissenschaftliche Methode liegt


im anglo-amerikanischen Raum bei Kurt Lewin, wobei sich zwei unterschiedli-
che Traditionen der Anwendung von Gruppendiskussionen in der angelsächsi-
schen Diskussion unterscheiden lassen. Einer der Stränge ist mit dem Begriff der

13 Auch Froschauer und Lueger (2003: 62) beschreiben die Einstiegsfrage als besondere Heraus-
forderung in qualitativen Interviews, da sie die InterviewpartnerInnen nicht nur in ihrem
lebensweltlich relevanten Kontext abholen, sondern auch die Erzählung anregen soll.
92 Claudia Wenzel

„focus groups“ verknüpft, die ursprünglich von Merton und Kendall (1956) im
Kontext der Rezeptionsforschung von Propagandasendungen im Zweiten Welt-
krieg geprägt und später in der Marktforschung verwendet wurde. Im Kontext
der Marktforschung haben Morgan (1988) und Krueger (1988) das Verfahren
erstmals für sozialwissenschaftliche Forschung verwendet.
In der vermittelnden Gruppendiskussion können Meinungen und Einstel-
lungen einzelner TeilnehmerInnen oder der Diskussionsgruppe (als soziale Ein-
heit) generiert, öffentliche Meinungen aktualisiert, die den Meinungen und Ein-
stellungen zugrundeliegenden Bewusstseinsstrukturen offen gelegt, sowie grup-
penspezifische Verhaltensweisen erforscht und gesellschaftliche Teilbereiche
empirisch erfasst werden (vgl. Lamnek 1995: 134).
Im Hinblick auf Sampling bzw. Zusammensetzung der TeilnehmerInnen
von Gruppendiskussionen sollten diese zumindest ein zentrales Charakteristikum
teilen: „Focus Groups should be mogomenous in terms of background and not
attitudes (Morgan 1988, zitiert nach Barbour 2007, S. 59).
Nach ersten Auswertungen von Gruppendiskussionen können auch
Modifizierungen im Sampling vorgenommen werden: “there maybe other as-
pects of his or her situation that become apparent only during discussion, but
which are illuminating and may provide ideas for further sampling” (Barbour
2007: 65).
Die Anzahl der Gruppendiskussionen in einem Forschungsprojekt hängt von
der interessierenden Fragestellungen und relevanten Vergleichskriterien wie
beispielsweise Alter, Gender oder sozioökonomischen Kriterien ab.
Was die Anzahl der TeilnehmerInnen pro Gruppendiskussion betrifft so
empfehlen Kitzinger und Barbour (1999) sowie Bloor et al. (2001) eine minima-
le Anzahl von 3-4 und eine Höchstanzahl von 8 TeilnehmerInnen.
Bereits (im Feld) existierende Gruppen bieten einige Vorteile für Gruppen-
diskussionen, werfen jedoch ethische Themen auf, vor allem im Hinblick auf die
Vertraulichkeit. Daher ist es wichtig, dass der/die ModeratorIn vor Beginn der
Gruppendiskussion ausführlich auf diesen Punkt verweist.
Ob bereits existierende Gruppen gewählt werden oder nicht, hängt immer
von der jeweiligen Fragestellung bzw. dem Zweck ab: „If the purpose of the
research project is to provide an understanding of the ‚real-life’ context in which
people work or come together for other purposes“ (Barbour 2007: 68). Die Fra-
gestellung bestimmt weiters, ob Leitende an den Gruppendiskussion teilnehmen,
und ob letztere monoprofessionell oder multiprofessionell zusammengesetzt
sind. Das Sampling kann auch gemixt werden und die Ergebnisse von z.B. mo-
noprofessionellen und multiprofessionellen Gruppendiskussionen verglichen
werden.
Heil sterben 93

Theoretisches Sampling

Die Auswahl der InterviewpartnerInnen erfolgte sukzessive im Verlauf des


Forschungsprozesses und nach dem Prinzip des theoretischen Samplings.14
Daher wurden am Beginn der Untersuchung die Gruppe der Leitenden von
Hospizeinrichtungen gewählt, um einerseits Zugang zu den Hospizen und
andererseits einen ersten Einblick in die komplementäre Praxis in den Hospize
zu erlangen. Dabei erfolgte eine erste Kontrastierung der Fälle nach Alter,
Geschlecht sowie vorhandener Ausbildung in einem komplementären Verfahren.
Die Perspektiven der Trägerorganisationen und der Betroffenen sowie deren
Angehörigen wurden angesichts forschungsökonomischer Begrenzungen exklu-
diert.
Folgende Tabelle gibt eine Übersicht über das Sampling der qualitativen
Interviews mit den Leitenden der Hospizeinrichtungen.

Grund- Ausbildung in komple-


Anonymisierung Geschlecht
Profession mentären Verfahren

L1 Pflege W Keine
L2 Pflege W Shiatsu
L3 Pflege M Keine
L4 Pflege W Aromatherapie
Heilpraktikerin,
L5 Pflege W initiatische Therapie n.
Dürkheim, Handauflegen
L6 Pflege W Reiki
Aromatherapie; Heilprak-
L7 Pflege M
tiker

Tabelle 3: Sampling Interviews mit Leitenden von Hospizen (n=7)

Beim theoretischen Sampling der komplementären PraktikerInnen im Hospiz


stand die Kontrastierung hinsichtlich der Art der ausgeübten komplementären
Verfahren im Vordergrund.

14 Die gesamte Datenerhebung fand in verschiedenen Bundesländern in Deutschland statt.


94 Claudia Wenzel

Berufsbezeichnung Geschlecht Komplementäre Praxis im Hospiz

Fachkrankenschwester in Wickel und Auflagen; rhythmische


W
Palliative Care Einreibungen

Motopädin W Shiatsu

Psychologin; Supervisorin,
W Craniosacrale Osteopathie
Heilpraktikerin

Freischaffender Künstler M Kunsttherapie

Lehrerin für Bildnerische


W Kunsttherapie
Erziehung

Kunsttherapeutin W Kunsttherapie

Physiotherapeutin, Körper-
W Palliative Atemtherapie
therapeutin, Atemtherapeutin

Palliative Körpertherapie; Atemthe-


Heilpraktikerin W rapie; Craniosacrale Osteopathie;
Fußreflexzonenmassage

Tabelle 4: Sampling Interviews mit externen komplementären


PraktikerInnen im Hospiz (n= 8)
Heil sterben 95

Das theoretische Sampling der MedizinerInnen konnte aus forschungsökono-


mischen Gründen nicht wie geplant im Hinblick auf Kontrastierung des Ge-
schlechts und (Zusatz) Ausbildungen in komplementären Verfahren umgesetzt
werden.

Anonymi- Geschlecht Ausbildung in kom- Eigene Erfahrungen mit


sierung plementären Ver- komplementären Verfahren
fahren

Ärztin 1 W Bachblüten Mit Homöopathie (bei Zahn-


weh und Kopfweh); hat Aroma-
therapie im Hospiz von einer
Pflegenden bekommen
Ärztin 2 W Im Rahmen einer „fast kein Wissen“ über CAM
Psychotherapieaus- und keine Erfahrungen;
bildung autogenes Nutzt Kräuter und Tees
Training und Hypno-
se (Entspannungs-
übungen und Traum-
reisen);
2 Jahre lang Tai Chi
Ärztin 3 W Keine Akupunktur, Homöopathie,
Hausmittel (Wickel und Aufla-
gen), Fußreflexzonenmassage
Ärztin 4 W Keine Keine

Ärztin 5 W Keine Aromatherapie

Tabelle 5: Sampling Interviews mit MedizinerInnen im Hospiz (n=5)

Beim Sampling der Gruppendiskussionen wurde nach dem Prinzip der maxima-
len Kontrastierung hinsichtlich der Professionen der TeilnehmerInnen vorgegan-
gen. Die Leitungspersonen wurden nicht eingeladen an den Gruppendiskussio-
nen teilzunehmen. Drei Gruppendiskussionen waren nur aus weiblichen Teil-
nehmerinnen zusammengesetzt.
96 Claudia Wenzel

Anonymi- Anzahl Teilnehmer= Zusammensetzung (Professionen)


sierung Innen Gruppendiskussion
4 Pflegepersonen (davon 1 männlich);
GD_A N= 6 Shiatsu-Praktikerin; Craniosacrale
Osteopathin
3 Pflegepersonen (davon 1 männlich);
GD_B N=5
Medizinerin; Kunsttherapeutin
Hospizleiterin; Koordinatorin für das Eh-
GD_C N=6 renamt; Ehrenamtliche; 3 Pflegepersonen

6 Pflegepersonen (davon 2 männlich);


GD_D N=7
Sozialarbeiter
Palliative Körpertherapeutin; 3 Pflegeper-
GD_E N=6
sonen; 2 Medizinerinnen
2 Pflegepersonen; 2 Ehrenamtliche; Kunst-
GD_F N=5
therapeutin

Tabelle 6: Sampling Gruppendiskussionen15 (n=6)

Feldzugang und Durchführung der Interviews und Gruppendiskussionen

In vorliegender Studie wurde der Feldzugang über die Leitungspersonen der


Hospize gewählt. In einem ersten Schritt wurden Hospize in Deutschland
ausgesucht, von welchen entweder aus früheren Projektkooperationen bekannt
war, dass sie komplementäre Verfahren anbieten oder auf deren Homepages ein
Angebot komplementärer Verfahren ersichtlich war. Es wurden insgesamt sieben
Leitungspersonen telefonisch und per Anschreiben (Post und Email) kontaktiert,
von denen sich sechs Personen zu einem Interview bereit erklärten. Lediglich
eine Leitungsperson äußerte sich wenig interessiert und war nach weiteren
Kontaktversuchen telefonisch nicht mehr erreichbar.
In einer ersten Forschungsreise im September 2008 besuchte die Autorin
vier Hospize (ein bereits geplanter Hospizbesuch wurde wegen einer Erkrankung
der Leitenden kurzfristig abgesagt) sowie eine Palliativstation und führte vier
Interviews mit Leitenden sowie drei Interviews mit komplementären Prakti-
kerInnen jeweils in den betreffenden Einrichtungen durch. Die restlichen
Interviews wurden entweder telefonisch oder persönlich während späterer
Forschungsreisen durchgeführt. Das Interview mit L7 wurde in einer späteren
Projektphase, aufgrund eines Leitungswechsels durchgeführt.

15 Abkürzung für Gruppendiskussion = GD


Heil sterben 97

Einige Leitungspersonen fungierten als VermittlerInnen für Interviews mit


komplementären PraktikerInnen und MedizinerInnen. Alle kontaktierten
komplementären PraktikerInnen waren sofort zu einem Interview bereit. Von
sieben kontaktierten MedizinerInnen erklärten sich sechs mit einem Interview
einverstanden, bei einem potenziellen männlichen Interviewpartner scheiterte die
Terminvereinbarung an organisatorischen Gründen, obwohl prinzipielles Inter-
esse bekundet wurde.
Insgesamt war das Interesse und die Bereitschaft bei den angefragten
Interviewpartnern und -partnerinnen ausgesprochen und unerwartet hoch. Das
Interesse auf Leitungsebene an der Auseinandersetzung mit der komplementären
Praxis im Hospiz war jedoch unterschiedlich stark augeprägt. Vor allem bei jenen
Leitenden, die selbst eine Qualifikation in einem komplementären Verfahren
mitbrachten, bestand hohes persönliches Interesse bzw. Engagement, das Thema
zu fördern. Es bestand jedoch auch bei anderen Leitenden eine große Offenheit
für die Auseinandersetzung mit dem Forschungsthema.
Die einzigen Zweifel, die sowohl Leitende als auch komplementäre Prak-
tikerInnen in Bezug auf die geplanten Interviews äußerten, betrafen die Frage ob
sie genug zu dem Thema zu erzählen hätten bzw. ob das Erzählte wissen-
schaftlich relevant sei. So fragte die Leitende eines Hospizes nach dem Interview
„wie das Interview war, ob es für mich sozusagen brauchbar war“ (Auszug aus
Doku-Kontext-Protokoll) und eine andere meinte „dass das Gespräch auch für
sie selbst sehr interessant war, weil ich sie auf einige Aspekte gebracht habe, die
ihr bis dato nicht bewusst waren“ (Auszug aus Doku-Kontext-Protokoll).

Durchführung der Interviews

Alle Interviews wurden im Zeitraum von September 2008 bis Oktober 2010 von
der Autorin vorliegender Arbeit selbst geführt. Die InterviewpartnerInnen
wurden jeweils persönlich telefonisch kontaktiert bzw. konkret für ein Interview
angefragt, wobei in den meisten Fällen eine Vorinformation durch die Leitenden
an die komplementären PraktikerInnen erfolgte. Von Seiten der Forscherin
erfolgte eine Information über Projektkontext, Projektziele bzw. -inhalte,
Interviewform sowie zeitlichen Rahmen und Ablauf des Interviews. Bei Interesse
an einer Interviewteilnahme und der Zustimmung für digitale Aufnahme und
wissenschafliche Auswertung der Interviews wurden Termine für Telefon-
interviews oder persönliche Interviews vor Ort vereinbart. Alle Interview-
partnerInnen erhielten vor dem Interview (bei Telefoninterviews per E-Mail oder
Fax) eine Projektbeschreibung und einen Informed Consent. Letzterer wurde von
InterviewpartnerInnen und der Interviewerin jeweils vor den Interviews unter-
98 Claudia Wenzel

zeichnet (das Original verblieb bei der Forscherin und die InterviewpartnerInnen
erhielten jeweils eine Kopie). Nach den Interviews füllten die Interview-
partnerInnen ein Erhebungsblatt aus, indem einige soziodemographische Daten
erhoben wurden.
Für die Autorin war es von großer Bedeutung eine vertrauensvolle Ge-
sprächsatmosphäre herzustellen und sich auf die Erzählungen der Interview-
partnerInnen einzulassen, vor allem in den Telefoninterviews, wo keine per-
sönlichen Kontakte vorausgegangen waren. Dies erforderte von der Forscherin
höchste Aufmerksamkeit, Konzentration sowie emotionales Einfühlungsver-
mögen während der Interviews.
Im Folgenden soll ein Überblick über die Dauer der Interviews mit Leiten-
den, komplementären PraktikerInnen und Medizinerinnen gegeben werden. Die
Interviews mit den Leitenden der Hospizeinrichtungen dauerten zwischen ca. 43
und ca. 70 Minuten.

Leitende Dauer der Interviews (h:min:sec)

L1 01:00:23

L2 00:42:48

L3 00:45:38

L4 00:44:29

L5 00:59:05

L6 01:09:48

L7 00:50:32

Tabelle 7: Dauer der Interviews mit Leitenden (n=7)

Die Interviewdauer bei den komplementären PraktikerInnen betrug zwischen ca.


34 und ca. 107 Minuten.
Die Dauer der Interviews mit den Medizinerinnen lag zwischen ca. 29 und
ca. 49 Minuten.
Heil sterben 99

Dauer der Interviews


Komplementäre PraktikerInnen
(h:min:sec)

Pflegende Wickel und Auflagen 01:18:24

Shiatsu Praktikerin 01:02:26

Craniosacrale Osteopathin 00:58:49

Kunsttherapeut 00:33:46

Kunsttherapeutin 1 (Telefoninterview) 01:34:00

Kunsttherapeutin 2 00:54:57

Körpertherapeutin (Telefoninterview) 00:52:29

Palliative Atemtherapeutin (Telefoninterview) 01:47:07

Dauer der Interviews


Medizinerinnen
(h:min:sec)

Ärztin 1 00:43:39

Ärztin 2 00:48:30

Ärztin 3 (Telefoninterview) 00:32:54

Ärztin 4 (Telefoninterview) 00:33:32

Ärztin 5 00:28:53

Tabelle 8: Dauer der Interviews mit komplementären PraktikerInnen


(n=8) und mit MedizinerInnen (n=5)
100 Claudia Wenzel

Als Dank für die zur Verfügung gestellte Zeit erhielten die InterviewpartnerInnen
eine ausgewählte Publikation zum Themenfeld Hospizarbeit und Palliative Care.
Alle InterviewpartnerInnen zeigten sich interessiert an der von der Forscherin
angebotenen Zusendung eines Projektendberichtes und stellten sich für eventuell
auftauchende Fragen im Analyseprozess zur Verfügung.

Durchführung der Gruppendiskussionen

Nach der Transkription und einer ersten Analyse der bereits durchgeführten
Interviews mit Leitenden und komplementären PraktikerInnen wurden die
interviewten Leitungspersonen erneut kontaktiert, diesmal mit der Anfrage, eine
Gruppendiskussion in den entsprechenden Hospizen durchführen zu dürfen. Alle
angefragten Leitungspersonen haben dieser Anfrage zugestimmt und sich bereit
erklärt, diese terminlich zu koordinieren bzw. multiprofessionelle Teammit-
glieder dafür zu gewinnen. Zu diesem Zweck hat die Forscherin ein Informa-
tionsblatt und eine Einladung zur Gruppendiskussion erstellt, die die Leitenden
lediglich an die MitarbeiterInnen weitergeben mussten.
An dieser Stelle haben die Leitungspersonen eine wichtige Rolle eingenom-
men, die in der Literatur als „Gatekeeper“ im Sinne von „Schlüsselpersonen“
(Merkens 2005: 288) beschrieben werden. In Bezug auf die Einladungspolitik für
die Gruppendiskussionen wurden die Leitungspersonen von der Forscherin
gebeten, das Einladungsschreiben an das gesamte multiprofessionelle Team
(inklusive externe bzw. ehrenamtliche Teammitglieder) weiterzuleiten und dabei
zu kommunizieren, dass sie als Leitngspersonen nicht teilnehmen würden bzw.
Inhalte der Gruppendiskussion von der Forscherin nicht an die Leitungsebene
kommuniziert würden. Lediglich in einem Hospiz gab es an dieser Stelle
Kommunikationsmissverständnisse, was dazu führte, dass die Leitende an der
Gruppendiskussion teilnahm.
Die Autorin überließ es den Leitenden, die Gruppendiskussionen in oder
außerhalb der Arbeitszeit anzusetzen bzw. konnte letztlich nicht beeinflussen,
wie (und an wen) die Einladung zur Gruppendiskussion konkret erfolgte.
Im Zuge der Auswertung zeigte sich, dass trotz unterschiedlich (vermuteter)
ausgeprägter Freiwilligkeit der Teilnahme und unterschiedlicher Zusammen-
setzung der Professionen der TeilnehmerInnen in den Gruppendiskussionen die
Themen und Inhalte der Diskussionen in den beforschten Hospizen sehr ähnlich
waren.
In einer zweiten Projektphase wurden Gruppendiskussionen mit multipro-
fessionellen Teams in sechs unterschiedlichen Hospizen durchgeführt. Alle
Gruppendiskussionen fanden in den jeweiligen Hospizen vor Ort, das heißt in für
Heil sterben 101

die TeilnehmerInnen vertrauter Umgebung, statt. Für die Gruppendiskussionen


wurde von der Forscherin ein genauer Ablaufplan, Leitfaden sowie Informed
Consent (siehe Anhang) erstellt. Es wurde ein zeitlicher Rahmen von jeweils
zwei Stunden angesetzt. Jede/r der TeilnehmerInnen erhielt eine Projekt-
beschreibung und unterzeichnete die Einverständniserklärung zur Gruppen-
diskussion (Original verblieb bei der Autorin, die TeilnehmerInnen erhielten eine
Kopie). Nach den Gruppendiskussionen füllten die TeilnehmerInnen ein Erhe-
bungsblatt aus, indem einige soziodemographische Daten erhoben wurden.
Aus organisatorischen und forschungsökonomischen Gründen wurden alle
Gruppendiskussionen von der Autorin selbst – und nicht wie in der Literatur
empfohlen gemeinsam mit einer zweiten Person – moderiert. Die Gruppen-
diskussionen fanden in einem Zeitraum von fünf Monaten (März 2010 bis Juni
2010) statt. Die Dauer der Gruppendiskussionen betrug zwischen ca. 80 Minuten
und ca. 110 Minuten.
Im Feedback zu den Gruppendiskussionen wurde deutlich, dass die Teil-
nehmerInnen bislang keine oder wenig Möglichkeiten hatten, sich über die kom-
plementäre Praxis in den Hospizen im Team auszutauschen. Viele der Teammit-
glieder äußerten sich positiv und bedankten sich für diese Reflexionsmöglich-
keit, die für sie neue Erkenntnisse in Bezug auf die Bedeutung und Weiterent-
wicklung der komplementären Verfahren im Hospiz eröffnete.

Auswertung

Der Auswertungs- bzw. Kodierprozess der empirischen Daten (Interviews und


Gruppendiskussionen) orientiert sich an den oben erläuterten theoretischen Kon-
zepten der Grounded Theory nach Strauss und Corbin (1996) und Charmaz
(2006), wobei die Bildung einer gegenstandsverankerten Theorie in vorliegender
Arbeit nicht angestrebt wird (vgl. dazu Abschnitt 3.4.4).
In einem zweiten Analyseprozess, in dem die Interpretation der deskriptiven
Ergebnisse erfolgt, orientiert sich die Autorin an oben dargestellten theoretischen
Prinzipien der Intuitive Inquiry (Anderson 2011) wie sie in Ablauf 4 und 5 be-
schrieben werden.
Nachfolgend soll detailliert auf Datenaufbereitung, Transkription und
Kodierprozess der Interviews und Gruppendiskussionen eingegangen werden
sowie Zwischenergebnisse der Auswertung präsentiert werden.
102 Claudia Wenzel

Datenaufbereitung, Transkription und Kodierprozess

Die Datenaufzeichnung der Interviews sowie der Gruppendiskussionen erfolgte


unter Zuhilfenahme eines digitalen Aufnahmegerätes der Marke Olympus. Die
transkribierten Interviews dienten zusammen mit den Dokumentationen der
Kontextbedingungen als Grundlage für eine Kodierung des Interviewmaterials
nach Prinzipien der Grounded Theory. Die Auswertung der empirischen Daten
erfolgte unter Zuhilfenahme der Computersoftware Atlas.ti (v. 5.0).
Alle Interviews und Gruppendiskussionen wurden nach der Transkription
von der Autorin anonymisiert. Die Leitungspersonen wurden mit der Abkürzung
L und einer fortlaufenden Ziffer (L1, L2,...), anonymisiert. Die Namen der Ärz-
tinnen wurden ebenfalls mit laufenden Ziffern anonymisiert (Ärztin 1, Ärztin
2,...). Die Namen der komplementären PraktikerInnen wurden durch ihre jewei-
lige konkrete komplementäre Tätigkeitsbezeichnung im Hospiz ersetzt (Atem-
therapeutin, Körpertherapeutin, Craniosacrale Osteopathin, Shiatsu-Prakti-
kerin,...). Ortsnamen, Landesnamen, Einrichtungsbezeichnungen und Personen-
namen in den Interviews wurden ebenfalls anonymisiert.
Für die TeilnehmerInnen der Gruppendiskussionen war eine gesonderte
Anonymisierung notwendig. Die beforschten Hospize wurden mit den Buchsta-
ben A bis F anonymisiert, diese Anonymisierung wurde auch für die Gruppen-
diskussionen übernommen.
Die Analyse im Sinne der Grounded Theory erfolgte durch sorgfältiges
Kodieren der Daten (Transkripte). Dabei wurden (angelehnt an Strauss & Corbin
1996) mehrere Phasen im Kodierprozess unterschieden. Charmaz (2006) regt
dazu an, sowohl beim Kodieren als auch bei der Theoriebildung das Augenmerk
nicht auf Individuen sondern auf Prozesse („actions“) zu legen.
Im Rahmen des vorliegenden Projektes wurden zunächst eigene Auswer-
tungseinheiten („Hermeneutic Units“) für folgende Perspektiven bzw. Datensor-
ten gebildet:

ƒ Leitungsperspektive (Interviews)
ƒ Perspektive externer komplementärer PraktikerInnen (Interviews)
ƒ Perspektive der MedizinerInnen (Interviews)
ƒ Multiprofessionelles Team (Gruppendiskussionen)

Die Auswertung in diesen getrennten „Hermeneutic Units“ sollte dazu dienen,


spezifische Themen in den professionsspezifischen Perspektiven zu identifizie-
ren, um diese in einem zweiten Auswertungsschritt mit den Ergebnissen der
Gruppendiskussionen zu verknüpfen bzw. zu kontrastieren. Ziel war es, zentrale
Heil sterben 103

Kategorien herauszuarbeiten, welche die komplementäre Praxis in den Hospizen


und ihre (Aus)Wirkungen beschreiben.
Die Phase des offenen Kodierens war geprägt von der Haltung der Autorin
einer größtmöglichen Offenheit den Daten bzw. auftauchenden Phänomenen
gegenüber. Das Aufbrechen, Vergleichen, Konzeptualisieren und Kategorisieren
der Daten stand hier im Vordergrund. Die Autorin verfolgte eine Zeilen-für-
Zeilen bzw. Absatz Kodierung.
Ihre theoretische Sensibilität erhöhte die Autorin durch eine Auseinander-
setzung mit der Fachliteratur und einer Fokussierung auf das Stellen von Fragen
und Benennen von Konzepten sowie dem Klären von möglichen Bedeutungen
der Konzepte.
Eine systematische Literaturrecherche stand am Beginn des Projektes und
wurde durch laufende Recherchen während der gesamten Projektdauer ergänzt.
Die Suche nach internationaler Literatur stand zu Beginn im Vordergrund, wobei
diese auf englisch- und deutschsprachige Literatur begrenzt wurde. Die Recher-
che erfolgte in bibliographischen Datenbanken (z.B. Medline/Pubmed) und in
diversen Bibliothekskatalogen und -verzeichnissen. Es wurde eine Schlagwort-
liste in deutscher und englischer Sprache erstellt und im Laufe der Recherche
ergänzt bzw. modifiziert. Die Schlagwörter aus der Gruppe „Palliative Care“
wurden systematisch mit Schlagwörtern rund um „Complementary and Alter-
native Medicine“ (CAM) verknüpft. Zusätzlich wurde nach relevanter grauer
Literatur gesucht.
In der Phase des axialen Kodierens ging es um das Finden von Beziehungen
sowie die Identifizierung zentraler Kategorien. Angelehnt an das Kodierparadigma
wurden ursächliche Bedingungen, Kontext, intervenierende Bedingungen und
Konsequenzen um das zentrale Phänomen gruppiert. Der Auswertungsprozess war
geprägt von einem ständigen Wechsel zwischen offenem und axialem Kodieren.
Im Rahmen des selektiven Kodierens erfolgte schließlich die Fokussierung
auf eine Kernkategorie und das In-Beziehung-setzen dieses zentralen Phänomens
mit den Subkategorien. Hier ging es darum, alle vorhandenen Kategorien schlüs-
sig zu integrieren. Strauss und Corbin (1996: 99) geben an dieser Stelle den
Hinweis sich auf eine Kernkategorie zu beschränken, und zwar jene, die am
stärksten emotional beladen erscheint. Schließlich erfolgte die Entscheidung, die
komplementäre Praxis im Hospiz als zentrales Phänomen in den Mittelpunkt der
Betrachtung zu stellen und davon ausgehend Interaktionen, Prozesse und Wir-
kungen zu beschreiben (vgl. dazu auch Kap. 1 und 2 des vorliegendes Buches).
Für die Interpretation der Daten im Hinblick auf eine induktive Theoriebil-
dung wurde methodologisch auf Elemente der Intuitive Inquiry zurückgegriffen,
in denen eine Modifikation der Daten aufgrund eines veränderten oder erweiter-
ten Verständnisses der Forscherin/ des Forschers (Ablauf 4) sowie die Integration
104 Claudia Wenzel

empirischer Studien und theoretischer Literatur mit den empirischen Daten im


Vordergrund steht (Ablauf 5).

Auswertung der Interviews und Gruppendiskussionen

In vorliegendem Abschnitt sollen die jeweiligen Kern- und Subkategorien der


einzelnen Auswertungseinheiten dargestellt werden. Während die Kernkatego-
rien vollständig dargestellt werden, erfolgt die Darstellung der Subkategorien aus
ökonomischen Gründen nur exemplarisch bzw. beispielhaft.
Dabei verweist die Anzahl der jeweiligen Subkategorie sowie die Anzahl
der darin inkludierten Zitate auf die empirische Dichte (bzw. Sättigung) der je-
weiligen Kategorie.
Folgende Tabellen geben einen Überblick über Kern- und Subkategorien in
den Interviews und Gruppendiskussionen.

Anzahl der Sub- Anzahl der


Kernkategorien (n=14)
kategorien Zitate

Aus- und Fortbildung 7 16


Begrifflichkeiten 7 19
Komplementäre PraktikerInnen 11 18
Komplementäre Praxis im Hospiz 30 79
Komplementäre Verfahren und Angebo-
21 80
te im Hospiz
Finanzierung komplementärer Angebote 3 19
Grenzen und Gefahren komplementärer
12 38
Angebote
Integration vs. Kombination 14 47
Konzeptuelle Ähnlichkeit zwischen
komplementären Verfahren und Pallia- 19 31
tive Care/ Hospizarbeit
Multiprofessionelles Team 25 73
Sichtbarkeit komplementärer Verfahren 14 36
Wirkung, Wirksamkeit und Nutzen
25 49
komplementärer Verfahren
Wünsche der Leitungspersonen 6 20
Zugang/ Ressourcen 10 51

Tabelle 9: Auswertung der Interviews mit Leitenden


Heil sterben 105

Als exemplarisch für eine besonders dichte Kategorie, sollen die Subkategorien
der Kernkategorie „Komplementäre Praxis im Hospiz“ wiedergegeben werden.

Anzahl
Anzahl der Sub-
Kernkategorien (n=12) der
kategorien
Zitate
Begrifflichkeiten rund um komplementäre Ver-
11 18
fahren
Beispiele komplementäre Behandl./Begleitungen 8 28
Besonderheiten am Lebensende 17 77
Komplementäre PraktikerInnen 23 130
Komplementäre Behandlung/ Begleitung/ The-
33 120
rapie in Hospizarbeit und Palliative Care
Einbezug von An- und Zugehörigen 12 43
Grenzen und Gefahren komplementärer Ver-
13 30
fahren
Institutionelle Rahmenbedingungen für kom-
14 48
plementäre Praxis
Integration 14 58
Multidisziplinäres Team 25 79
Spezifische komplementäre Verfah-
43 83
ren_Beschreibung
Wirkung komplementärer Verfahren_allgemein 37 68

Tabelle 10: Auswertung der Interviews mit komplementären


PraktikerInnen

Exemplarisch für die Interviews mit den komplementären PraktikerInnen, sollen


die Subkategorien der Kernkategorien „Integration“ und „Besonderheiten am
Lebensende“ dargestellt werden.
106 Claudia Wenzel

Anzahl der Anzahl der


Kernkategorien (n=7)
Subkategorien Zitate
Bedingungen für Anwendung komplemen-
7 7
tärer Verfahren
Gefahren und Grenzen komplementärer
6 21
Verfahren
Integration komplementärer Verfahren 12 45
Palliativ-MedizinerInnen-Profil 15 89
Wirkung komplementärer Verfahren auf
17 29
Hospiz/ multiprofessionelle Teamarbeit
Wirkweise spezifischer komplementärer
31 79
Verfahren
Zusammenarbeit/ Kommunikation zwi-
schen MedizinerInnen und komplementä- 11 39
ren PraktikerInnen

Tabelle 11: Auswertung der Interviews mit MedizinerInnen

Exemplarisch für die Interviews mit den Medizinerinnen, sollen die Subkatego-
rien der Kernkategorien „Auswirkung komplementärer Verfahren auf Hos-
piz/multiprofessionelle Teamarbeit“ und „Besonderheiten am Lebensende“ dar-
gestellt werden.

Anzahl Sub-
Kernkategorien (n= 20) Anzahl der Zitate
kategorien

Angehörige und komplementäre Verfahren 12 38

Begrifflichkeit, Inklusion & Exklusion &


19 52
Definition komplementärer Verfahren

Besonderheiten am Lebensende 12 25

Komplementäre Praxis im Hospiz 42 120

Ehrenamtliche und komplementäre Ver-


14 30
fahren

Externe komplementäre PraktikerInnen 18 45


Heil sterben 107

Grenzen und Gefahren komplementärer


26 73
Verfahren

Grenzüberschreitungen in Bezug auf kom-


11 49
plementäre Verfahren

Integration komplementärer Verfahren im


22 58
Hospiz

Körper- und Menschenbilder im Hospiz 5 6

Körperorientierte Verfahren und Berüh-


26 47
rung

Multiprofessionelles Team und komple-


43 91
mentäre Verfahren/ Kommunikation

Pflegende und komplementäre Verfahren


39 117
& PraktikerInnen

Rahmenbedingungen für komplementäre


13 33
Praxis im Hospiz

Sichtbarkeit komplementärer Verfahren


8 15
nach außen/ innen

Spezifische(s) komplementärer Verfahren


30 74
allgemein und Beispiele

Voraussetzungen & Grundlagen für kom-


21 49
plementäre Praxis im Hospiz
Wirkung komplementärer Verfahren auf
Hospiz (als Organisation) und Professionel- 18 47
le
Wirkung komplementärer Verfah-
42 88
ren_spezifische Wirkungen

Wünsche für komplementäre Praxis im


7 21
Hospiz

Tabelle 12: Auswertung der Gruppendiskussionen mit multiprofessionellen


Teams
108 Claudia Wenzel

Exemplarisch für die Gruppendiskussionen mit multiprofessionellen Teammit-


gliedern im Hospiz, sollen die Subkategorien der Kernkategorien „Multiprofes-
sionelles Team und komplementäre Verfahren/ Kommunikation“ sowie „Körper-
orientierte Verfahren und Berührung“ dargestellt werden.

Komparative Analyse der Gruppendiskussionen


Eine quantitativ komparative Analyse der Gruppendiskussionen im Hinblick auf
Anzahl und Verteilung der Äußerungen einzelner multiprofessioneller Teammit-
glieder gibt einen Hinweis auf Dominanzen bestimmter Professionen oder Per-
sonen während der Gruppendiskussionen in den einzelnen Hospizen.

Hospiz A
In Hospiz A war die Verteilung der Äußerungen der multiprofessionellen Team-
mitglieder relativ ausgewogen. Die Craniosacrale Osteopathin äußerte sich am
häufigsten, eine weibliche Pflegeperson meldete sich am wenigsten zu Wort. Es
gibt nur sehr wenige Stellen, wo alle Teammitglieder gleichzeitig bzw. durchei-
nander sprachen. Im Vergleich zu anderen Hospizen wurden in dieser Gruppen-
diskussion eher individuelle Meinungen und Positionen vertreten und es gab
weniger gemeinsame Themen, außer, wenn es um Erzählungen über Gäste, An-
und Zugehörige ging.

Abbildung 2: Anzahl der Äußerungen einzelner Teammitglieder in


Gruppendiskussion A
Heil sterben 109

Hospiz B
In Hospiz B dominieren die Äußerungen der Medizinerin die Gruppendiskussi-
on, dicht gefolgt von einer weiblichen Pflegeperson. Die wenigsten Wortmel-
dungen stammen von einer männlichen Pflegeperson. Insgesamt ist diese Grup-
pendiskussion jedoch sehr ausbalanciert, was die Beteiligung der einzelnen Pro-
fessionen betrifft, wobei die Länge der Redebeiträge kürzer als bei anderen
Gruppendiskussionen ist.

Abbildung 3: Anzahl der Äußerungen einzelner Teammitglieder in


Gruppendiskussion B

Hospiz C
Die Besonderheit bei der Gruppendiskussion in Hospiz C bestand darin, dass es
nur weibliche TeilnehmerInnen16 gab und dass die Leitende des Hospizes anwe-
send war, welche die Gruppendiskussion mit ihren Redebeiträgen auch dominier-
te. Die wenigsten Äußerungen stammen von einer weiblichen Pflegenden.

16 Sowie ein anwesender männlicher Hund.


110 Claudia Wenzel

Abbildung 4: Anzahl der Äußerungen einzelner Teammitglieder in


Gruppendiskussion C

Hospiz D
Die Zusammensetzung der Gruppendiskussion in Hospiz D unterscheidet sich
von den anderen darin, dass hier keine internen (Pflegenden) oder externen kom-
plementäre PraktikerInnen teilnehmen und dass es die einzige Gruppendiskussi-
on ist, in der die Profession der Sozialarbeit vertreten ist. Auch in diesem Hospiz
wird die Diskussionsrunde von einer Pflegeperson dominiert, die eine stellvertre-
tende Leitungsfunktion inne hat. Die wenigsten Wortmeldungen stammen von
einer weiblichen Pflegeperson.
Heil sterben 111

Abbildung 5: Anzahl der Äußerungen einzelner Teammitglieder in


Gruppendiskussion D

Hospiz E
Die meisten Äußerungen in Gruppendiskussion E stammen von einer weiblichen
Pflegeperson, die auch in Aromatherapie geschult ist, dicht gefolgt von der An-
zahl der Wortmeldungen der palliativen Körpertherapeutin. Am wenigsten mel-
det sich eine weibliche Pflegeperson zu Wort. Die beiden PalliativmedizinerIn-
nen liegen bezogen auf die Häufigkeit ihrer Äußerungen im Mittelfeld.
112 Claudia Wenzel

Abbildung 6: Anzahl der Äußerungen einzelner Teammitglieder in


Gruppendiskussion E

Hospiz F
Fast gleich ist die Anzahl der Wortmeldungen der Kunsttherapeutin und einer
weiblichen Ehrenamtlichen, die die Gruppendiskussion in Hospiz F dominieren.
Die restlichen Teammitglieder (Pflegepersonen und eine Ehrenamtliche) bringen
sich fast gleich häufig in die Diskussion mit ein. Auch diese Gruppendiskussion
besteht nur aus Teilnehmerinnen.
Heil sterben 113

Abbildung 7: Anzahl der Äußerungen einzelner Teammitglieder in


Gruppendiskussion F

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich in der komparativen


Analyse der sechs Gruppendiskussionen zeigt, dass in jedem multiprofessionel-
len Team unterschiedliche Personen bzw. Professionen die Diskussionen mehr
oder weniger dominieren. In jenen Hospizen, in denen Personen mit Leitungs-
funktion an den Gruppendiskussionen teilnehmen, dominieren sie diese auch,
zumindest was die Häufigkeit ihrer Wortmeldungen betrifft.
Eine qualitative-inhaltliche komparative Analyse der Gruppendiskussionen
erlaubt nicht nur einen inhaltlichen Vergleich zwischen letzteren, sondern auch
eine Verlaufsanalyse einzelner Gruppendiskussionen. In folgender Tabelle wer-
den kontrovers diskutierte Themen und (offene) Konfliktthemen, es wird (Über-
triebener) Konsens zu bestimmten Themen, die Vermeidung von Konfliktthe-
men, es werden von den multiprofessionellen Teammitgliedern selbst einge-
brachte Themen sowie kreative Ideen in Bezug auf die komplementäre Praxis im
Hospiz zusammenfassend dargestellt.
114 Claudia Wenzel

Kategorie Themen in Hospizen


Kontrovers diskutierte Grenzüberschreitung zur Medizin und Kompetenzklä-
Themen und (offene) rungen (A, B); Wirkung komplementärer Verfahren (A,
Konfliktthemen B), Hoffnung als Gefahr (B); Weiterführung komple-
mentärer Anwendungen (B); Unterstützung von Lei-
tung für komplementäre Anwendungen (C); Gefahren
komplementärer Anwendungen (C); Interprofessionelle
Zusammenarbeit (C); Begrifflichkeiten (D, E)
(Übertriebener) Konsens Wertschätzung komplementärer Verfahren und Prakti-
zu bestimmten Themen kerInnen (A); positive Wirkungen spezifischer Verfah-
ren (B, E, F); Wichtigkeit interdisziplinärer Gastbe-
sprechungen im Hospiz (B); Professionelle Grenzüber-
schreitungen als Normalfall (B); Bedeutung komple-
mentärer Verfahren für Hospizarbeit (C); Schwierigkeit
der Integration komplementärer Anwendungen in Pfle-
gealltag (D); Kritik am Therapiebegriff im Hospiz-
kontext (D); Inanspruchnahme komplementärer Ange-
bote für MitarbeiterInnen (D); Umgang mit Ablehnung
komplementärer Angebote (F); seelischer Schmerz als
Indikation für komplementäre Anwendungen (F)
Vermeidung von Neid auf besondere Rahmenbedingungen der komple-
Konfliktthemen mentären PraktikerInnen von Pflegenden (A); Grenz-
überschreitungen zwischen den Professionen (A);
Komplementäre Anwendung von Pflegenden (B); Per-
sönliche Bewertung (Gefahren) komplementärer Ver-
fahren (B,E); Interprofessionelle Zusammenarbeit (C)
Welche Themen werden Dokumentation der komplementären PraktikerInnen
von Gruppe selbst einge- (Verständlichkeit und Verwahrungsort) (A); Differen-
bracht zierung zwischen verschiedenen Verfahren (B); Einbe-
zug Ehrenamtlicher in komplementäre Praxis im Hos-
piz (C); Wirkung spezifischer Verfahren (E); Gefahren
durch zunehmende Professionalisierung der Hospizar-
beit (A); Bedeutung von „heil werden“ am Lebensende
(F)
Kreative Ideen in Bezug Öffentlichkeitsarbeit: Vortrag von komplementärer
auf komplementäre Praxis Praktikerin und Medizinerin über komplementäre Ver-
im Hospiz fahren im Hospiz (A); „Aroma-Kunsttherapie“ (Inte-
gration von Ölen und Düften in die Kunsttherapie im
Hospiz) (B); spezielle komplementäre Angebote für
An- und Zugehörige im Hospiz (C); Homöopathie als
ergänzendes Angebot im Hospiz bzw. homöopathische
Fortbildung für MitarbeiterInnen (E)

Tabelle 13: Qualitative Komparative Analyse der Gruppendiskussionen


Heil sterben 115

Folgende Verlaufsanalysen sollen Einblick in markante Wendungen während


zwei verschiedenen Gruppendiskussionen geben.

Gruppendiskussion D:
Zu Beginn der Gruppendiskussion herrscht eine allgemeine abwehrende Haltung
gegenüber komplementären Anwendungen in dem Sinne: „Das brauchen wir
nicht – wir sind bodenständig“. Es wird betont, dass in diesem Hospiz die Men-
schen „nicht mit irgendwelchen Heilmethoden überfallen werden“. Diese Hal-
tung scheint sich auch auf die Gäste zu übertragen, die dann – nach Aussagen der
anwesenden Teammitglieder „ohnehin nichts damit anfangen können“.
Nachdem ein Teammitglied jedoch ein sehr berührendes Beispiel aus der
Kunsttherapie schildert, schlägt plötzlich die Stimmung gegenüber den komple-
mentären Verfahren um: Eine Anwesende, die am Beginn gemeint hatte, dass es
unnatürlich sei und dass die Gäste mit „solchen Sachen traktiert“ würden, sagt
plötzlich, dass diese Verfahren „schon ihren Stellenwert im Haus hätten“.
Spannend ist, dass am Ende der Gruppendiskussion einige TeilnehmerInnen
sogar selbst reflektieren, dass durch die Gruppendiskussion bei ihnen ein Er-
kenntnisprozess in Bezug auf die Bedeutung der komplementären Verfahren für
ihre Arbeit im Hospiz in Gang gekommen ist.
Nun werden die komplementären Angebote plötzlich nicht mehr als Zumu-
tung, mit denen die Gäste belastet werden dargestellt, sondern sie stellen eine
Bereicherung für das Hospiz und eine Entlastung für die Pflegenden dar.

Gruppendiskussion F:
Spannend ist, dass nachdem die Moderatorin die Gruppendiskussion eigentlich
schon beendet hatte, sich noch einmal eine Ehrenamtliche zu Wort meldet und
unterstreicht, wie gut die Zusammenarbeit in diesem Hospiz zwischen Haupt-
und Ehrenamt funktioniert. Darauf preisen auch die anderen Teammitglieder die
gute Zusammenarbeit und überhäufen sich nahezu gegenseitig mit Komplimen-
ten.

Visualisierung des Auswertungsprozesses (axiales und selektives Kodieren)

Nach der Kodierung der Interviews und Gruppendiskussionen wurden erste


Zwischenergebnisse im Rahmen einer Theoriewerkstatt mit KollegInnen an der
Abteilung Palliative Care und OrganisationsEthik (IFF Wien) sowie im Rahmen
des interdisziplinären DoktorandInnenkollegs diskutiert. Folgende Abbildungen
zeigen jene in diesen Kontexten entstanden Visualisierungen des Auswertungs-
prozesses.
116 Claudia Wenzel

Nach der ersten Phase des offenen Kodierens (siehe Network Views im Kapitel 2
„Auswertung der Interviews und Gruppendiskussionen“) erfolgte in der zweiten
Phase des Kodierens (axiales Kodieren), die gezielte Analyse der gefundenen
Schlüsselkategorien sowie das In-Beziehung-Setzen letzterer zu einzelnen
Subkategorien (siehe Abbildung 8).

Abbildung 8 Visualisierung axiales Kodieren

In der letzten Phase des Kodierens (selektives Kodieren) ging es zunächst darum,
eine zentrale Kategorie bzw. ein zentrales Phänomen der Studie herauszuarbeiten
und dieses mit anderen Kategorien in Beziehung zu setzen. An dieser Stelle ist es
sinnvoll Fragen wie „Worum geht es hier?“ Oder „Worauf bezieht es sich?“ zu
stellen. In Abbildung 9 steht die „implizite (CAM17-) Praxis“ als zentrales
Phänomen im Mittelpunkt der Betrachtung. Es erfolgt eine Validierung der
Beziehungen zwischen den Kategorien und die Verdichtung bzw. das Auffüllen
von Kategorien, die weiterer Spezifikation bedürfen. Es geht darum, einen roten

17 CAM=Complementary and Alternative Medicine


Heil sterben 117

Faden im Datenmaterial zu finden, um den die restlichen Kategorien „gewoben“


werden.

Abbildung 9: Visualisierung selektives Kodieren

Auf die Bildung einer (einzigen) schematischen Grounded Theory nach Strauss
und Corbin (1996) wurde von der Autorin verzichtet, da für sie sowohl die
„implizite (CAM-) Praxis“ als auch das „heil sterben“ als zentrale Phänomene im
Mittelpunkt standen und bei der Entscheidung für ein Phänomen zentrale
Aspekte (auf anderen Ebenen) verloren gegangen wären. Es hätte mehrere
Grounded Theories gebraucht, um alle Perspektiven und Betrachtungsebenen
118 Claudia Wenzel

(Organisation, Individuum, Wirkung der CAM-Verfahren) darzustellen, was den


Rahmen vorliegender Arbeit gesprengt hätte.

Reflexion des Forschungsprozesses: Von der Partizipation bis zur


Transformation

Wertz und Kolleginnen beschreiben die dialogische Natur qualitativer Forschung


und verweisen in diesem Kontext auf die Bedeutung der Enthüllung und Refle-
xivität des forschenden Subjekts.
Meine professionellen Identitäten als Klinische- und Gesundheitspsycholo-
gin, Craniosacrale Osteopathin und Sozialwissenschafterin erweisen sich damit
als grundlegend für den Zugang zu und die Auseinandersetzung mit dem Thema.
Vor allem die eigenen Erfahrungen mit körperorientierten Verfahren als
Behandlerin und Behandelte haben in den Interviews zu einer besonderen Nähe
zwischen mir und den komplementären PraktikerInnen beigetragen, auch wenn
ich meine Identität als Psychologin und Craniosacrale Osteopathin meist erst
nach den Interviews preisgab, da ich den InterviewpartnerInnen in meiner Rolle
als Wissenschaftlerin und nicht als Praktikerin gegenüber treten wollte.
Der Vorteil, dass ich ein grundlegendes Verständnis für und praktische Erfah-
rungen mit körperorientierten Verfahren mitbrachte, kann aus wissenschaftlicher
Perspektive auch als Nachteil betrachtet werden, da ich an gewissen Stellen womög-
lich anders (nach)gefragt hätte, wenn mir diese Verfahren fremd gewesen wären.
Auch der Genderaspekt muss an dieser Stelle berücksichtigt werden. Der
Großteil der InterviewpartnerInnen und GruppendiskussionsteilnehmerInnen
waren weiblich, genau wie ich selbst. Gerade in den Interviews mit den Frauen
spürte ich ein grundsätzliches Vertrauen, dass sich im Interviewverlauf oftmals
vertiefte und dazu führte, dass (selbst bei Telefoninterviews) eine Art von Nähe
und Intimität entstand. Die Frage, welche Inhalte in den Interviews und Grup-
pendiskussionen anders aufgenommen oder behandelt worden wären, wenn ein
Forscher sie geführt hätte, muss an dieser Stelle offen bleiben.
Viele Stellen in den Interviews haben mich auch emotional sehr berührt, vor
allem bei biographischen Berührungspunkten und insbesondere bei Erzählungen
über sterbende Frauen in ähnlichem Alter. In einem praktischen Sinne berührt
wurde ich auch einmal nach einem Interview von einer komplementären Prakti-
kerin, die mir die Erfahrung einer rhythmischen Fußeinreibung ermöglichte. In
diesem Sinne erhielt ich Gelegenheit (theoretisch) Gehörtes am eigenen Leib
nachzufühlen und so in eine „leibhaftige“ Erfahrung zu transformieren.
Im vorliegenden Projekt machte ich die Erfahrung, dass viele der Inter-
viewpartnerInnen im Rahmen des Feldzuganges sehr unsicher waren, ob das,
Heil sterben 119

was sie zu erzählen hätten, für eine wissenschaftliche Studie auch wichtig und
wertvoll genug sei, selbst nachdem ich mehrmals betont hatte, dass gerade die
subjektiven Erfahrungen und Sichtweisen für das Projekt von Interesse seien.
Individuelle Vorstellungen von Forschung und Wissenschaft führten bei einigen
ForschungspartnerInnen zu Misstrauen bzw. Ängsten, dass ihre Alltagserfahrun-
gen nicht wissenschaftlich bzw. relevant wären.
Obwohl die vorliegende Studie explorativ und nicht interventionsorientiert
angelegt war, zeigten sich vor allem in und nach den Gruppendiskussionen Inter-
ventionseffekte, die nicht nur die komplementäre Praxis in den Hospizen, son-
dern auch die (Reflexion der) multiprofessionelle(n) Teamarbeit betrafen.
Erhebung, Auswertung und Interpretation der Daten erfolgten in vorliegen-
dem Projekt nicht linear, sondern – ganz im Sinne der Grounded Theory – zirku-
lär. So wurden von mir auch nicht alle in den Daten enthaltenen Themen von
Anfang an gesehen bzw. mit Bedeutung versehen. Gerade das Thema Spirituali-
tät wurde erst in einem sehr späten Stadium des Forschungsprozesses für mich
sichtbar, da es nicht offenkundig war, sondern sich vielmehr zwischen den Zeilen
verbarg und ich erst ein Bewusstsein für die Bedeutung dieses Themas im Kon-
text vorliegender Arbeit benötigte.

Darstellung der empirischen Ergebnisse

In diesem Abschnitt wird die Auswertung des empirischen Datenmaterials, be-


stehend aus Interviews mit Leitenden (n=7), komplementären PraktikerInnen
(n=8) und MedizinerInnen (n=5) sowie Gruppendiskussionen (n=6) mit multi-
professionellen Teams in den Hospizen dargestellt.

Komplementäre Angebote und Rahmenbedingungen im Hospiz

Begrifflichkeiten und Kategorisierung komplementärer Verfahren im Hospiz

Auf die Frage, mit welchen Begriffen mit Gästen sowie An- und Zugehörigen
über die komplementären Angebote im Hospiz kommuniziert wird, zeigt sich,
dass es kaum einheitliche Begrifflichkeiten in den multiprofessionellen Teams
gibt, sondern meist die konkreten Verfahren (z.B. Aromatherapie, Shiatsu, Kunst-
therapie,...) als solche benannt werden. Komplementäre Anwendungen werden
von den Professionellen grundsätzlich als Möglichkeit „etwas anderes auszupro-
bieren“ (L2: 191) oder einfach als „zusätzlicher, erleichternder“ (L6: 301) Ver-
such etwas auszuprobieren, angeboten.
120 Claudia Wenzel

Selbst in der internen Kommunikation im multiprofessionellen Team gibt es


meist keine einheitlichen Begrifflichkeiten, mit welchen über die komplementä-
ren Verfahren im Hospiz kommuniziert werden. Im Kontext der Pflege tauchen
jedoch Begriffe wie „alternative Pflegemethoden“ (L3: 149, L4: 518, L6: 305-
309), „nicht medikamentöse Anwendungen“ (L4: 540-406), „alternative Pflege-
anwendungen“ (L4: 522) oder „ergänzende Pflegemethoden“ (Pflegende, Wi-
ckel und Auflagen: 278-291) auf. Die komplementären PraktikerInnen sprechen
konkret von den spezifischen Verfahren und schlagen im Rahmen der Interviews
folgende Überbegriffe für den Kontext Hospizarbeit und Palliative Care vor:
Heilarbeit, Gespräch ohne Worte, palliative Körpertherapie oder palliative Kom-
plementärmedizin.
Bei einigen Leitenden, Pflegenden und PraktikerInnen findet eine vehemen-
te Ablehnung des Therapiebegriffes für den Kontext Hospizarbeit und Palliative
Care statt, da Therapie grundsätzlich mit kurativer Ausrichtung, oder sogar mit
etwas „Pathologischem“ (D_Soz: 153) in Verbindung gebracht wird. Es wird
argumentiert, dass Sterbende grundsätzlich keine Therapien benötigen.

„Und dann halt nicht mehr von Therapie sprechen zu müssen. Vielleicht zu wollen,
das ist eine ganz andere Geschichte, also was ist das Bedürfnis des Gastes? Will der
therapiert werden? Aber nicht, dass man halt (..) diese riesen Überschrift hier
nochmal mit rüber tragen muss.“ (A_P1: 264)

Manche PraktikerInnen, die Verfahren anwenden, deren Namen den Therapiebe-


griff beinhalten, verändern Begrifflichkeiten mehr oder weniger bewusst. So
wird die „Craniosacrale Therapie“ im Hospiz zur „Craniosacralen Entspannung“.
Die Craniosacrale Osteopathin erläutert warum.

„Es ist im Hospizbereich auch so, dass man nicht Therapie sagt. Und ich sage im-
mer, Craniosacrale Therapie ist eine Therapieform, weil sie lehrbar ist, man kann
sie lernen, sie hat spezielle Indikationen, von daher ist es eine Therapieform. Was
ich hier im Haus mache ist, um mich dem Sprachgebrauch anzugleichen, aber auch
weil es nicht so einen expliziten Auftrag hat wie eine Therapie, wo jemand zu mir [in
die Praxis] kommt, sag ich Craniosacrale Entspannung.“ (Craniosacrale Osteo-
pathin: 51-52)

Eine Atemtherapeutin hat im Laufe ihrer Tätigkeit im Hospiz eine spezielle Form
der Atemtherapie entwickelt, die mittlerweile als „Palliative Atemtherapie“ im
deutschsprachigen Raum etabliert ist, obwohl sie sich darüber bewusst ist, dass
der Therapiebegriff am Lebensende nicht wirklich passend ist.
Heil sterben 121

„Also Therapie (..), ich hab das dann so genommen, Atemtherapie und hab dann
palliativ dazugetan, weil eben dieses Umfeld ein ganz anderes ist. Aber Therapie ist
es eigentlich ganz wenig nur noch.“ (Atemtherapeutin: 189)
Ein wichtiges Anliegen von allen InterviewpartnerInnen ist es, im Kontext von
Hospizarbeit und Palliative Care immer von komplementären bzw. ergänzenden
und nicht von alternativen Angeboten zu sprechen.

„Ich finde, man kann nicht mehr alternative Verfahren sagen, denn die komplemen-
tären Behandlungsmethoden die gehören da hin wo sie Sinn machen und Nutzen
bringen. Es kann letztendlich nur da drum gehen, was führt den Patienten weiter?
Und das ist sicherlich die Ergänzung der Schulmedizin mit den vielfältigen komple-
mentären Behandlungsmöglichkeiten.“ (Pflegende, Wickel und Auflagen: 278-281)

Eine Ehrenamtliche erläutert, warum sie die Begrifflichkeit der „alternativen


Heilmethoden“ ablehnt.

„Und insofern alternative Heilmethoden, ich weiß nicht, mir gefällt dieser Begriff
gar nicht. Mir gefällt es viel besser zu sagen, dass ich alles das nütze, was den Men-
schen in seiner Ganzheitlichkeit abholt. Und ihn da abholt, wo er gerade steht.“
(C_EA: 311)

Eine Körpertherapeutin verweist indes auf die für sie relative Bedeutung von
Begrifflichkeiten, denn letztlich gehe es ja darum, mit welchen Inhalten die Be-
griffe gefüllt werden und dass ein Austausch innerhalb der Komplementärmedi-
zin stattfindet: „Ein Begriff ist ja immer erst mal ein Begriff. Also denke ich, die
kann man ja schaffen und dann müssen sie mit Inhalt gefüllt werden. (..) Also im
Prinzip, das was ich mir wünsche, ist ein Austausch innerhalb (..) der Komple-
mentärmedizin“ (Körpertherapeutin: 112).
Eine Pflegende beschreibt die Irritation, die durch die Namen spezifischer
Verfahren bei Gästen (und auch bei ihr selbst?) ausgelöst werden kann: „Na, also
Shiatsu ist ja schon für viele Menschen der Begriff komisch. Oder craniosacral
(..) kann man nicht aussprechen, na“ (A_P3: 86).
In fast allen Gruppendiskussionen wird zu Beginn die Frage diskutiert, wie
komplementäre Heilverfahren überhaupt zu definieren sind. Eine Ärztin meint
dazu: „Aber ich hab mich im Vorfeld auf diese Diskussion auch gefragt, was
weiß ich eigentlich, was komplementär und alternativ ist? Und da ist mir einiges
eingefallen, was bei mir aber sehr negativ besetzt ist“ (B_PM: 24).
Im Rahmen der Gruppendiskussionen wurde sichtbar, dass es bei vielen
Professionellen schlichtweg an Wissen in Bezug auf Begrifflichkeiten, Definitio-
nen sowie Kategorisierungsmöglichkeiten komplementärer Verfahren mangelt,
wie folgender Ausschnitt zeigt:
122 Claudia Wenzel

„D_P3: Ja, wenn ich überlege, was diese komplementären Heilverfahren und The-
rapien - ich weiß auch nicht ganz genau, welche Methoden, da drunter eigentlich
stecken können. Also entweder Physiotherapie oder was Anderes.
D_P2+stvL: Ja, also wenn man das so definiert. Ich muss sagen, ich merk, ich weiß
gar nicht genau, was das ist, komplementäre Heilmethoden ehrlich gesagt.
D_P4: Jetzt als Begriff meinst du?
D_P2+stvL: Nein, was sich dahinter verbirgt. Alles. Die ganzen Möglichkeiten. Ich
glaube, dass ich da zu wenig Ahnung hab.“ (GD_D: 52+204-208).

Verschiedene Inklusions- und Exklusionskriterien in Bezug auf komplementäre


Verfahren werden vor allem von Pflegenden diskutiert, wobei hier schnell die
Frage nach der Grenze zu pflegerischen Tätigkeiten auftaucht.

„Na, diese komplementären Heilverfahren, sind das grundsätzlich alternative zu-


sätzliche Dinge, die ich eben auf spiritueller Ebene, auf Alternativmedizin, auf Ent-
spannungsebene [betrachten/kategorisieren kann]…, wo fängt das an, wo hört das
auf?“ (A_P3: 288)
„Aber was wir vorhin hatten, die Frage ist, was ist komplementär? Weil wenn es na-
türlich auch schon alleine der Körperkontakt ist, dann machen wir das schon. Weil
auch bei Angehörigen, entsteht ja die Situation, wenn man das spürt, dass man schon
einmal die Hand auf die Schulter legt oder dass es auch zu einer Umarmung kommt.
Also jetzt ist die Frage, wo ist der Anfang und wo ist das Ende?“ (C_PfdL: 490)

Einer Ärztin ist es ein großes Anliegen, zwischen so unterschiedlichen Verfahren


wie Fernheilung und Meditation zu differenzieren (B_PM: 616), wobei sie au-
ßerdem zwischen „wertvollen“ Verfahren und solchen, die „mit der Hoffnung
spielen“ unterscheidet.

„Ich mein wenn Du sagst alternativ komplementär, dann ist sowas wertvolles wie
Aroma[therapie] da drin, auch sowas wertvolles wie Kunst- und Musiktherapie.
Vielleicht auch noch andere Dinge, die wir nicht kennen. Aber es sind auch noch
diese Menschen da drin, die da spielen mit der Hoffnung. Das find ich schwer.“
(B_PM: 558)

Eine Pflegende verweist im Kontext eines Diskurses zum Begriff Heilmethoden


auf die unterschiedlichen Ebenen, auf denen Heilung bzw. heil sein möglich ist.

„D_P4: Und was man ja auch bei uns sagen muss, Heilmethode an sich, ist ja auch
schon - eine Heilung in dem Sinn ist ja auch nicht mehr wirklich möglich.
D_P2+stvL: Ich glaube, da wird heil gemeint nicht im Sinne von heilen, sondern der
Mensch ist ja in sich, finde ich, heil. Und heilen vielleicht eben, das Heile zu pfle-
gen. Ich find jeder Mensch ist trotz jeder Krankheit heil, weil er ein Mensch ist, ein
menschliches Wesen, eine Seele hat, finde ich.“ (GD_D: 227-229)
Heil sterben 123

Voraussetzungen und Bedingungen für die komplementäre Praxis im Hospiz

Strukturelle Voraussetzungen

Wenn die Verweildauer der Gäste im Hospiz zu kurz ist bzw. nur wenige Tage
beträgt, werden komplementäre Verfahren oft nicht (mehr) angeboten. Eine Pfle-
gende drückt ihr Dilemma diesbezüglich folgendermaßen aus: „Dafür ist die
Zeitspanne zu kurz, um so was einzusetzen. Da stehen für mich andere Sachen im
Vordergrund, auch Schmerztherapie und so“ (D_P1: 102). Ausreichend Zeit zu
haben wird von einer Pflegenden als Voraussetzung für ganzheitliche Pflege be-
schrieben (A_P2: 453).
Auch in der folgenden Schilderung einer Pflegeperson wird deutlich, dass
das „Zeit haben“ nicht nur eine äußere Voraussetzung für eine komplementäre
Anwendung ist, sondern auch eine innere Voraussetzung bei der Pflegenden, sich
ganz auf einen Menschen einzulassen.

„Ich habe ihr [einem Gast] gesagt: ‚Heute ist ein besonderer Tag, wir haben heute
viel Zeit, ich mach Ihnen heute mal eine ganz tolle Fußmassage‘. Und sie hat sich
da richtig darüber gefreut und es war für mich auch ganz toll, so die Erfahrung
dann zu machen.“ (C_P1: 220)

Der eigene Umgang mit Zeit wird auch in einem Ausschnitt einer Gruppendis-
kussion deutlich, in der eine Kunsttherapeutin über ihren Umgang mit Zeit be-
richtet, der manche ihrer KollegInnen überrascht bzw. erstaunt.

„B_KU: Ich hab [die Leitung] nach meiner Zeit gar nicht gefragt. Ich mache ein-
fach die Zeit, die ich brauche. Und keiner hat was gesagt.
B_PM: Klar.
B_KU: Ja, man hätte ja sagen können eine Stunde oder, aber eine Stunde reicht in
der Regel nicht.
B_PM: Ah, hat da gar keiner gefragt?
B_P1: Nein.
B_P2: Ach Du kannst machen, Ende offen?
B_KU: Und ich geh ohne Uhr rein.
B_P2: Ach so.
B_KU: So, ich mach so lange wie es braucht. Und ich trag genau ein, was ich ge-
macht hab.“ (GD_B: 1541:1560)

Die Anwendung komplementärer Verfahren hängt jedoch nicht zuletzt vom En-
gagement einzelner Personen ab (C_PfdL: 33), wie eine Pflegeperson treffend
beschreibt: „Es muss getragen werden mit Personen, die dann halt auch immer
124 Claudia Wenzel

präsent sind. Das trägt sich nicht alleine so etwas. Das ist immer an Personen
gekoppelt würd ich sagen ((seufzt))“ (A_P1: 26).

Voraussetzungen auf Teamebene

Im Hinblick auf das multiprofessionelle Team werden ganz unterschiedliche


Voraussetzungen für die Anwendung komplementärer Verfahren im Hospiz ge-
nannt, die im Folgenden beschrieben werden sollen.
Eigene Erfahrungen Professioneller verbessern nicht nur das Verständnis für
die komplementären Anwendungen, sondern stärken auch das gegenseitige Ver-
trauen im Team, wie eine Kunsttherapeutin aus eigener Erfahrung beschreibt.

„…also diesen ganzen Prozess auch selber erleben und langsam sich trauen ganz ein-
fach, mit einem Punkt oder einem Strich oder einem Klecks auch schon in einen eige-
nen Kontakt mit sich zu kommen. Und das ist dann so eine Erfahrung, die den Betrof-
fenen, bislang zumindest bei den Seminaren, sehr gut getan hat. Und es hat gleichzei-
tig, glaub ich auch, das Vertrauen im Team sehr stark gestärkt.“ (F_KU: 761)

Ebenso sind eigene Erfahrungen mit körperorientierten Verfahren für Mitarbeite-


rInnen im Team wichtig, weil dadurch Spekulationen durch konkrete Erlebnisse
ersetzt werden und Wirkungen am eigenen Leib gespürt werden können. Ausge-
hend von den eigenen Erfahrungen können komplementäre Anwendungen auch
den Gästen im Hospiz besser vorgeschlagen oder nähergebracht werden: „Und
ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Punkt, dass die wissen, was das ist. Allein,
Cranio Sacral hört sich so heilig an, was ist es ja überhaupt?“ (Craniosacrale
Osteopathin: 69).
Auch das Vertrauen der Leitenden, aber auch der anderen Teammitglieder,
wie z.B. der MedizinerInnen (L1: 279) gegenüber den externen PraktikerInnen
wird als grundlegende Voraussetzung für die komplementäre Praxis im Hospiz
genannt:

„Also ich finde überhaupt aus meiner Sicht, dass ich ganz viel Vertrauen auch haben
muss zu beiden. Zu [Vorname Shiatsu-Praktikerin] und [Vorname Cranio Praktike-
rin] weil ich finde, ich kann es ja nicht kontrollieren, in dem ich mich dann mit ins
Zimmer setze und schaue, was machen die da eigentlich. Machen die das wohl rich-
tig? Das würde ich nicht machen. Und dieses Vertrauen ist ganz klar da.“ (L1: 147)

Eine Kunsttherapeutin bezeichnet die multiprofessionelle Zusammenarbeit als


Grundlage für die komplementäre Praxis im Hospiz (F_KU: 217), während ge-
genseitige Wertschätzung im Team sowie interprofessioneller Austausch von
Heil sterben 125

einer komplementären Praktikerin als Voraussetzung dafür beschrieben wird,


dass sie ihrer Arbeit im Hospiz überhaupt nachgehen kann: „Ich kann hier nur
arbeiten wirklich, dadurch, dass Ihr meine Arbeit wertschätzt und dass so ein
enger Austausch ist. Ich also ein Teil des Teams bin und nicht nur von außen
komme“ (A_CS: 116).
Eine weitere Voraussetzung ist die interprofessionelle Kommunikation über
die komplementäre Praxis im Hospiz. Im Team sollte ein Austausch darüber
stattfinden, wer welche komplementären Verfahren anwendet, es sollte ein Wis-
sen darüber bestehen, wer was macht, um nicht „gegeneinander zu arbeiten“
(C_L: 429-430): „Also nicht einfach, dass ich von Tür zu Tür gehe und anklopfe
und gucke, sondern da quasi man so sich absprechen kann und alle, alle zusam-
men in eine Richtung arbeiten“ (E_KÖ: 67).

Voraussetzungen auf Seiten der BehandlerInnen

Voraussetzungen, die externe PraktikerInnen aus Sicht der Leitenden unbedingt


mitbringen müssen, sind, dass sie selbst an das was sie tun „glauben“ (L5: 266)
und dass sie „sensibel“ mit den Menschen umgehen (L6: 427), und diese nicht
mit komplementären Anwendungen zwangsbeglücken. Zusätzlich bildet fundier-
tes theoretisches Wissen sowie ausreichend Praxiserfahrung jedenfalls die
Grundlage für die Anwendung komplementärer Verfahren (D_PB: 93).
Komplementäre PraktikerInnen müssen sich sehr rasch auf die wechselnden
Bedürfnisse der Sterbenden einstellen bzw. einlassen. Dabei gilt es immer wieder
zu hinterfragen, ob das jeweilige komplementäre Verfahren noch passend ist
(F_P2: 704-705; F_EA2: 718-720) bzw. jeden Moment neu „zu gucken, was
braucht der Mensch?“ (Pflegende, Wickel und Auflagen: 162-163).

„Wir können oft nicht anknüpfen an das, was vorher war. Weil, die Emotionen gehen
auf und ab und man weiß nicht welche Familienmitglieder da waren. Eigentlich ist
es wirklich so, ich sage mal, wir führen ein Gespräch und ich bin also morgens an-
ders und habe andere Themen, als wenn ich es abends habe. Und natürlich auch in
der letzten Lebensphase erst recht.“ (Shiatsu-Praktikerin: 118-119)

Eine Pflegende beschreibt, wie gerade im Kontext von Hospizarbeit und Palliati-
ve Care die Flexibilität, mit der komplementäre Verfahren angewandt werden, im
Vordergrund steht und nicht mit einem „Therapievorschlag“ von vornherein in
eine Behandlung hineingegangen werden kann, sondern es gilt herauszufinden
wovon die betreffende Person im Moment am meisten profitieren kann (E_P2:
232). Dazu gehört auch eine zeitliche Flexibilität sowie das Setzen von Prioritä-
126 Claudia Wenzel

ten, was Länge und Anzahl der komplementären Behandlungen betrifft (Kunst-
therapeut 2: 183-184).
Einige komplementäre PraktikerInnen erachten den Beziehungsaufbau zu
den Betroffenen als grundlegend für ihre Arbeit, um dem anderen „auf einer
ganz anderen Ebene“ begegnen zu können (Kunsttherapeut 2: 55 + 51) oder um
„so ein Stück sicherer in der Begegnung zu sein“ (Körpertherapeutin: 124).
Auch bei aromatherapeutischen Anwendungen müssen die Pflegenden bereit sein
„sich zu öffnen“ und „so nah ran zu gehen“, wie ein Pflegender beschreibt:
„Aber bei ihr passte das, na. Oder wir hatten einfach auch schon vorher Zeit, um
uns kennen zu lernen“ (B_PA: 797). Für eine Körpertherapeutin ist eine große
„Sensibilität“ und das Hören von „sehr leisen Zwischentönen“ sehr wichtig, um
die Bedürfnisse der Gäste im Hospiz wahrnehmen zu können und auf diese ein-
zugehen (Körpertherapeutin: 67+220).
Als wesentliche Grundlage für die Anwendung komplementärer Verfahren
wird von den PraktikerInnen sowie Pflegenden die Haltung beschrieben (A_SHI:
71). „Es ist mehr eine Frage von Haltung, als eines Verfahrens, was man an-
wendet, wie ich dem Gast begegne, mit welcher Aufmerksamkeit ich dem begeg-
ne“ (D_Soz: 225).
Neben einer inneren Haltung, geht es auch um die Gestaltung eines Rau-
mes, im Innen wie im Außen: „Die Berührung, die den Atem meint, meine innere
Haltung ist elementar wichtig. Ich kann keine Hetze brauchen, keine Uhrzeit. Ich
gestalte einen Raum, um uns herum, der auch ungestört ist“ (Atemtherapeutin:
127). Außerdem werden Achtsamkeit und Präsenz als Voraussetzung auf Seiten
der komplementären PraktikerInnen genannt (F_P1: 1093).

Voraussetzungen auf Seiten der Behandelten

Nicht nur die komplementären PraktikerInnen müssen bestimmte Voraussetzun-


gen für die komplementäre Praxis im Hospiz mitbringen, sondern auch die Men-
schen müssen sich auf die Behandlungen einlassen (Ärztin 1: 56-60). Die Be-
handelten bestimmen nicht nur die Grenzen, wie weit sie gehen bzw. wie viel an
Nähe und Distanz sie zulassen können und wollen, sondern sie bestimmen auch
das Tempo und die Frequenz der Behandlungen (Ärztin 2: 317-318).
Natürlich setzen gewisse Verfahren, wie z.B. die Kunsttherapie gewisse
motorische Fähigkeiten bzw. körperliche Ressourcen voraus. Doch auch diese
sind nicht unabhängig von psychischen Faktoren, wie innerer Abwehr oder Mo-
tivation. Eine Kunsttherapeutin schildert aus ihrer Erfahrung, dass es sogar beim
Malen nicht vorrangig um körperliche Voraussetzungen bzw. vorhandene Kräfte
geht, sondern vielmehr um eine innerliche Motivation der Beteiligten.
Heil sterben 127

„Und für manche ist das dann noch nicht mal eine Energiefrage. Für die, die da in-
nerlich motiviert sind, die machen das auch bei geringen körperlichen Kräften sozu-
sagen. Und für andere, die eigentlich noch viel mobiler sind und es könnten Malen
vielleicht nicht, also der Grund nicht zu malen ist möglicherweise ein ganz anderer.
Also einer, weil vielleicht eine innere Abwehr da ist (…) oder ja, also solche Dinge
spielen natürlich, glaub ich, eine größere Rolle.“ (Kunsttherapeutin 3: 106)

Schließlich verweist eine Leitende auf etwas gemeinsames Drittes und benutzt
dafür die Metapher der „gemeinsamen Blickrichtung“, die zwischen Behandel-
tem/n und BehandlerIn vorhanden sein muss.

„Ich würd sagen, es muss so einen Punkt geben zwischen dem Patienten und dem
Therapeuten, wo man sich auf eine gemeinsame Blickrichtung auf so etwas einigen
kann. Ja, und das muss vielleicht nicht ausgesprochen sein, aber es muss was da
sein. Was gemeinsames Drittes zwischen ((lacht)) zwei Menschen geben.“ (L5: 266)

Komplementäres Angebot, AnbieterInnen und NutzerInnen im Hospiz

Welche komplementären Verfahren werden in freistehenden Hospizen in Deutsch-


land angeboten bzw. praktiziert und wie finden diese Eingang in die Hospize?
Welche Verfahren werden von welchen Berufsgruppen im Hospiz praktiziert? Und
wer darf welche Angebote unter welchen Bedingungen in Anspruch nehmen?
Komplementäre Verfahren gelangen eher unsystematisch, ja beinahe zufäl-
lig in die jeweiligen Hospize. In der Auswertung der Daten zeigte sich, dass
komplementäre Verfahren im Hospiz mehrheitlich von externen PraktikerInnen,
von Pflegenden oder von den Leitenden selbst angeboten werden.
Besitzen die Leitenden Affinität zu oder sogar eine Ausbildung in bestimm-
ten komplementären Verfahren, dann finden diese auch Eingang in das betreffen-
de Hospiz (z.B. L6: 48-62, L7: 53, L5: 117).
Viele MitarbeiterInnen bringen einschlägige Qualifikationen mit bzw. zei-
gen sich interessiert in diesem Bereich Fortbildungen zu absolvieren. Solche
MitarbeiterInnen übernehmen später oft eine MultiplikatorInnenfunktion und
geben ihr Wissen im Rahmen interner Weiterbildungen an TeamkollegInnen
weiter. Auch im Rahmen von Palliative Care Fortbildungen oder in selteneren
Fällen über Literatur kann es zu Kontakten mit komplementären Verfahren
kommen.
Ganz entschieden jedoch lehnen mehrere Leitende, meist aus persönlichen
bzw. subjektiven Gründen, solche Verfahren für ihr Hospiz ab, die aus deren
Perspektive im Bereich der Esoterik angesiedelt sind, wie z.B. Gesundbeter (L3:
197+225) oder Reiki (L5: 53).
128 Claudia Wenzel

AnbieterInnen: Pflegepersonen Externe PraktikerInnen/ Leitende


Hospize AnbieterInnen

Hospiz A Aromatherapie Shiatsu /


(gab es früher, Craniosacrale Osteopathie
aktuell nicht)

NutzerInnen Gäste Gäste, Angehörige und mul- /


Hospiz A tiprofessionelles Team

Hospiz B Aromatherapie Musiktherapie Kunsttherapie Aroma-


(Einreibungen, therapie
Wickel)
Massagen
Farblampen

NutzerInnen Gäste, Angehöri- Gäste alleine oder gemein- Gäste


Hospiz B ge nur indirekt sam mit Angehörigen; Ange- (und
über Duftlampen hörige alleine nicht Angehö-
rige indi-
rekt)
Hospiz C Aromatherapie Kooperation mit TCM18- Aroma-
(Wickel und Praxis; es gab früher für therapie
Auflagen) Fußre- kurze Zeit Kunsttherapie, Reiki
flexzonen= wurde aber nicht gut ange-
Massage nommen und daher wieder
abgesetzt

NutzerInnen Gäste, Angehöri- Gäste Gäste;


Hospiz C ge auf Anfrage, Reiki
Professionelle wurde
auch bei
Angehö-
rigen
ange-
wandt

18 Abkürzung für Traditionelle Chinesische Medizin


Heil sterben 129

Hospiz D Aromatherapie Kunsttherapie Musiktherapie /


(Wickel, Aufla-
gen, Einreibun-
gen) Fußreflex-
zonen=
Massage

NutzerInnen Gäste Musiktherapie dürfen auch /


Hospiz D Angehörige nutzen
Hospiz E Aromatherapie Heilpraktikerin (Atemthera- /
es gab einmal pie, Fußreflexzonen=
eine Pflegende massage und Craniosacrale
die Heilpraktike- Osteopathie)
rin war Bachblü- Arzt der Homöopathie an-
ten wendet
Reinigung der Früher gab es Arzt, der Aku-
Zimmer mit punktur anwandte
Räucherwerk
NutzerInnen Gäste Gäste, nur in seltenen Fällen /
Hospiz E Angehörige

Hospiz F Aromatherapie Kunsttherapie Leitung


Rhythmische (über einen längeren Zeit- alt:
Einreibungen mit raum gab es Musiktherapie Shiatsu
Massageölen, und einen Klangstuhl; 1-2 Leitung
Ausstreichungen, Jahre gab es Tanztherapie) neu:
Massagen Heilprak-
tiker
Aroma-
therapie,
anthropos
o=
phische
Pflege,
Phytothe-
rapie
NutzerInnen Gäste Gäste und Angehörige Gäste und
Hospiz F Angehö-
rige

Tabelle 14: Übersicht über komplementäre Verfahren, AnbieterInnen und


NutzerInnen in Hospizen in Deutschland (n=6)
130 Claudia Wenzel

Während die komplementären Anwendungen von Pflegenden im Rahmen ihrer


Arbeitszeit stattfinden, haben die externen PraktikerInnen geregelte Anwesen-
heitszeiten und eine fixe Stundenanzahl. Die Stunden werden abhängig von der
Anzahl auf einen oder mehrere Tage pro Woche verteilt, wobei die durchschnitt-
liche Stundenanzahl pro Woche zwischen zwei und zwölf Stunden liegt (siehe
Tabelle 15). Alle interviewten komplementären PraktikerInnen dokumentieren
ihre Behandlungen im Rahmen einer schriftlichen Dokumentation.

Komplementäre Praktike- Durchschnittliche Schriftliche Dokumenta-


rInnen Stundenanzahl pro tion
Woche
Craniosacrale Osteopathin 4 h pro Woche Ja

Shiatsu-Praktikerin 8 h pro Woche Ja

Kunsttherapeut 2 h pro Woche Ja

Kunsttherapeutin 1 6 h pro Woche Ja

Kunsttherapeutin 2 3,5 h pro Woche Ja

Palliative Körpertherapeu- 7 h pro Woche Ja


tin
Palliative Atemtherapeutin 10-12 h pro Woche Ja

Tabelle 15: Übersicht über die durchschnittliche Stundenanzahl


(pro Woche) externer komplementärer PraktikerInnen
im Hospiz

Neben diesen offiziellen komplementären Angeboten gibt es noch andere kom-


plementäre Verfahren, die vom multiprofessionellen Team jedoch nicht eindeutig
als solche klassifiziert werden. So berichtet eine Pflegende von „Klangräumen in
den Zimmern“ (F_P2: 613), die gezielt gestaltet werden. Auch über die wohl-
tuende und heilsame Wirkung vom Kontakt mit Tieren wird in mehreren Hospi-
zen berichtet, obwohl der Kontakt mit den Tieren mehr oder weniger systema-
tisch durch MitarbeiterInnen entsteht, die z.B. ihre/n Hund/e mitbringen oder
Heil sterben 131

durch Gäste, die ihre Haustiere ins Hospiz mitnehmen (Pferde, Hunde, Katzen,
Vögel, Schildkröten,..) (GD_E: 416-437; C_EAKo: 172-173).
Eine Pflegeperson unterscheidet zwischen „offiziellen“ und „inoffiziellen“
Anwendungen (C_P1: 390-391). Während sie Duftlampen als etwas Offizielles
beschreibt, das „jeder sieht“, werden auch „ganz viele andere Sachen hier ge-
macht“, die „gar nicht auffallen“, jedoch sehr viel mit Hospizarbeit zu tun ha-
ben.
Was die Nutzung der komplementären Anwendungen in den Hospizen be-
trifft, so sind die komplementären Angebote vorrangig für die Gäste gedacht, in
einigen Hospizen jedoch auch für die An- und Zugehörigen. Exemplarisch für
die fließenden Grenzen in Bezug auf die Nutzung der komplementären Verfahren
steht folgendes Zitat einer Leitenden:

„Die [Grenzen] sind bei verschiedenen Angeboten fließend. Also ich sag jetzt mal,
also einmal im Rahmen von der Kunsttherapie und auch das, was wir diesen
Wohlfühlmorgen nennen. Also auch da gibt es die Möglichkeit, dass das auch Ange-
hörige von entspannenden Massagen nenn ich jetzt mal profitieren können. Während
ich sag mal so, im Alltäglichen, das ist ja schon für die Gäste dann. Also da profitie-
ren erstmal vorrangig die Gäste von dem Angebot.“ (L2: 82)

Das Einbeziehen An- und Zugehöriger setzt jedoch in jedem Fall das Einver-
ständnis des betreffenden Gastes voraus, das entweder von den externen Prakti-
kerInnen oder von Pflegepersonen eingeholt wird.

Einverständnis für komplementäre Anwendungen (Informed Consent)

Prinzipiell wird den Gästen immer ein (komplementäres) Angebot gemacht bzw.
werden diese gefragt, ob sie komplementäre Anwendungen wünschen oder aus-
probieren wollen. In allen Hospizen wird grundsätzlich das Einverständnis der
Betroffenen – meist in Form eines mündlichen Informed Consent – eingeholt,
bevor mit komplementären Anwendungen oder Behandlungen begonnen wird:
„Also, ich gehe davon aus, egal wer was hier einsetzt, dass der Patient infor-
miert ist, dass der eingehend beraten wurde und sein Einverständnis dazu gege-
ben hat.“ (C_L: 62).
Auf die Frage, wie das Einverständnis für die Anwendung komplementärer
Heilverfahren bei Gästen eingeholt wird, die nicht (mehr) verbal kommunizieren
können, schildern die Leitenden, dass über nonverbale Kommunikation, Körper-
sprache, Gestik, Mimik (L2: 114; L3: 96; L4: 302) und Kommunikation mit den
Angehörigen (L4: 286; L6: 150) versucht wird herauszufinden, was für den Gast
im Moment stimmig ist. Auch über basale Stimulation kann versucht werden
132 Claudia Wenzel

herauszufinden, wo die „Kommunikationskanäle“ eines Menschen liegen (L6:


166+170).

Ablehnung und Abbruch komplementärer Behandlungen

Sowohl für die Leitenden, als auch für die komplementären PraktikerInnen selbst
ist es sehr wichtig, dass die komplementären Behandlungen so angeboten wer-
den, dass sie von den Gästen im Hospiz auch abgelehnt werden können:

„Ich frage immer, ich bin sehr unaufdringlich, wenn ich merke das hakt so ein biss-
chen oder ist nicht so ganz einverstanden, dann frage ich ganz offen, das ist kein
Problem, ich gehe wieder, ist überhaupt kein Problem. Ich bin für Sie da, und Sie
nicht für mich, so.“ (Kunsttherapeut 2: 42)

Wenn ein Gast ein Angebot bereits abgelehnt hat, dann ist die Absprache mit
dem multiprofessionellen Team entscheidend, ob noch einmal ein Angebot ge-
macht wird. Die Craniosacrale Osteopathin meint dazu in einer Gruppendiskus-
sion zu ihren KollegInnen:

„Aber da war, ist mir schon in der Regel wichtig, wenn vorher jemand das Angebot
nicht haben mochte, das kann ich nur in Absprache mit Euch, sonst würd ich das
nicht machen, also. (..) Na, es geht nur mit Euch.“ (A_CS: 684)

Prinzipiell kommt es jedoch eher selten vor, dass komplementäre Angebote von
vornherein abgelehnt werden.
Im Sterbeprozess kann es dann Phasen geben, wo komplementäre Angebote
gerne angenommen werden und solche, wo sie „nicht mehr passen“ oder es ein-
fach zu viel wird bzw. ist.

„Also einmal, wenn ich eine sehr deutliche Aussage von einem Gast höre, dass je-
mand das nicht möchte oder aber das spüre. Also, das kann sich ja im Laufe des
Sterbeprozesses einfach auch verändern, dass es ne Phase gibt, in der das passt und
eine Phase gibt dann, wo es nicht mehr passt. Und das wär, das ist für mich aus-
schlaggebend, das heißt eine verbale Ablehnung oder auch eine andere Art der Ab-
lehnung, wo ich so das Gefühl habe, das ist zu viel. Oder es könnte einfach auch
sein, dass schon zu viel plötzlich da am Laufen ist, wenn die Situation sich irgendwie
verändert hat und medikamentös was verändert worden ist und vielleicht andere
Fachkräfte noch zu Rate gezogen sind, dass es einfach auch ein Zuviel ist in der Si-
tuation.“ (Körpertherapeutin: 49-50)
Heil sterben 133

Dokumentation der komplementären Anwendungen im Hospiz

Mit der Dokumentation komplementärer Anwendungen wird in den Hospizen


auf je unterschiedliche Art und Weise umgegangen, die stark vom Bewusstsein
und Engagement der jeweiligen Leitungspersonen abhängt. So verweist eine
Pflegedienstleitung auf die Bedeutung der Dokumentation komplementärer An-
wendungen in Bezug auf die Sichtbarkeit nach außen, nicht nur für die Öffent-
lichkeit, sondern beispielsweise auch für den medizinischen Dienst (L4: 262).
Auch wenn die meisten komplementären Anwendungen (noch) nicht abgerech-
net werden können, ist es wichtig, diese zumindest in der Dokumentation sicht-
bar zu machen: „Da stehen alle die nicht medizinischen Sachen drinnen, die wir
nicht abrechnen können, aber trotzdem durchführen“ (B_PA: 1121).

Finanzierung der komplementären Angebote im Hospiz

Da die Krankenkassen prinzipiell keine komplementären Leistungen rückvergü-


ten, sind die Hospize für die Finanzierung der komplementären Angebote im
Regelfall auf externe Mittel angewiesen. Externe PraktikerInnen in Hospizen
werden auf unterschiedliche Weise finanziert: Über eine eigene Stiftung (L1:
70); vom Träger (L2: 74; L7: 235-239); über einen Hospizförderverein (L3: 29)
oder über extra Spendentöpfe (L4: 128; L5: 192-196). Die jeweilige Finanzie-
rung bestimmt (mit), ob externe PraktikerInnen beispielsweise im Rahmen einer
ordentlichen Anstellung oder auf Honorarbasis in den Hospizen tätig sind. In den
meisten Fällen entspricht die Bezahlung im Hospiz nicht dem Verdienst, der in
der freien Praxis erwirtschaftet wird (L1: 70). Komplementäre Anwendungen
von Pflegepersonen erfolgen im Rahmen der bezahlten Arbeitszeit und werden
nicht extra abgegolten. Anschaffungen wie z.B. Aromaöle oder Utensilien für
Wickel und Auflagen werden aus dem Gesamtbudget oder eigenen Spendentöp-
fen finanziert.

Zur komplementären Praxis im Hospiz

Komplementäre Praxis Pflegender im Hospiz

Auch wenn Aromatherapie im weitesten Sinne die komplementäre Praxis Pfle-


gender im Hospiz dominiert, so zeigte sich in den Gruppendiskussionen, dass
Pflegende sehr unterschiedliche komplementäre Anwendungen durchführen (z.B.
Reflexologie, Massagen, Wickel und Auflagen, rhythmische Einreibungen,
134 Claudia Wenzel

Bachblüten, Farblampen, Räuchern) bzw. „komplementäre“ Qualifikationen


besitzen (Heilpraktikerin, Craniosacrale Osteopathin). In einem Hospiz wird von
einer negativen Erfahrungen aus der Vergangenheit mit einer Pflegenden, die „in
das Reiki eingetaucht und in der Pflege nicht wieder aufgetaucht“ ist (GD_A:
246-254). Immer wieder äußern sich Pflegende aufgrund persönlicher Einstel-
lungen oder gemachter Erfahrungen kritisch bis ablehnend gegenüber spezifi-
schen komplementären Verfahren: „Ja, mhm. Ja und eben auch diese ganze
Aromatherapie, da bin ich auch, muss ich auch sagen, kritisch stehe ich dem
gegenüber“ (D_P2+stvL: 119).
In der Mundpflege spielt die Aromatherapie am Lebensende jedoch eine
wichtige Rolle. Manchmal werden jedoch auch – oft ohne dies zu beabsichtigen
– sogar kurative Erfolge mit aromatherapeutischen Maßnahmen erzielt, wenn
z.B. Wunden, die mit Ölen behandelt werden, heilen. Vor allem während der
Sterbephase werden von Pflegenden aromatherapeutische Anwendungen ge-
macht, oftmals auch mit der bewussten Intention, in dieser unterstützend zu wir-
ken (GD_B: 457-470).
Pflegende berichten, dass es häufig Schwierigkeiten mit der Fortführung
bzw. Kontinuität komplementärer pflegerischer Anwendungen gibt, weil nicht
alle Pflegenden im Team gleiches Interesse für diese Anwendungen mitbringen
bzw. selbst wenn ein grundlegendes Interesse da ist, nicht alle über das gleiche
Wissen verfügen. Der folgende Ausschnitt aus einer Gruppendiskussion zwi-
schen zwei Pflegenden verdeutlicht dieses Dilemma:

„B_P1: Also fortgeführt schon. Wir haben das ja mit in unserem Alternativbogen,
na. Also wehe dem, der das nicht fortführt. ((lacht)) Nein, also es ist schon klar, so
streng/
B_PA: Aber man muss es sich, ich mein Du bist jetzt voll in der Materie.
B_P1: Ja.
B_PA: Aber ich bin da wirklich nicht so drin. Ich lass das oft schleifen so. Und muss
mich dann immer wieder dran erinnern, dass doch wieder einzusetzen oder das doch
wieder so zu versuchen, bevor ich andere Sachen...“ (GD_B: 1073-1079)

Komplementäre Praxis der externen PraktikerInnen im Hospiz

Im Unterschied zu den Pflegenden, haben die externen PraktikerInnen einen


geschützten Rahmen für die Behandlungen, der nach außen hin meist durch ein
„Bitte-nicht-stören-Schild“ sichtbar wird. Ein Kunsttherapeut berichtet davon,
dass die Gäste im Hospiz an manchen Tagen in einem Zustand sind, „wo man sie
nicht ansprechen kann“; viel häufiger würde es jedoch passieren, dass er viel
Heil sterben 135

Zeit mit wenigen Menschen verbringt und dementsprechend Prioritäten setzen


muss.

„Ich finde es besser dann Wenige zu besuchen, die aber richtig. Und dass die auch
richtig was davon haben als hier durch zu hechten und zu sagen so das war abzuar-
beiten, das bringt es einfach nicht. Das merken die auch. Also, die sind sehr wie sagt
man eben schon, sehr empfindsam die meisten und wenn man da nur irgendwas
Komisches will, oder irgendwie was nur abarbeiten will, das würde sofort auffal-
len.“ (Kunsttherapeut 2: 183-184)

Erstkontakt und Annäherung

Noch vor dem Erstkontakt erfolgt bei den meisten komplementären PraktikerIn-
nen eine „Einstimmung auf den Gast“, die durch die Übergabe oder das Lesen
der Dokumentation angeregt werden kann. Für eine Kunsttherapeutin beginnt die
Einstimmung beispielsweise schon bei der Vorbereitung der Malutensilien.

„Im Hospiz (Y) ist das ja so, dass ich immer meinen Einkaufskorb, wo die ganzen
Farben drin sind mitnehme und meine Mappe, große Mappe wo die verschiedenen
Blätter drin sind und das sortier ich in der Regel so, räum das ordentlich ein. Und
denk dabei an den Gast den ich gerade besuche, was mir da in den Sinn kommt, was
möglicherweise sinnvoll ist einzupacken. Oder mit fällt dann dabei irgendwas noch
ein, vielleicht auch ein Bild aus der Kunst oder so, Text und pack das ein was mir in
den Sinn kommt.“ (Kunsttherapeutin 1: 246)

Dieses Einstimmen auf eine konkrete Person mündet jedoch nicht in einer kon-
kreten Vorbereitung im Sinne eines Konzeptes, das für diese Stunde erarbeitet
wird (Kunsttherapeutin 1: 256).
Da die komplementären PraktikerInnen oftmals von KollegInnen (vorrangig
Pflegende) vorgestellt oder eingeführt werden, erfolgt der Erstkontakt mit den
Gästen dann entweder in Begleitung dieser KollegInnen oder (in den meisten
Fällen) alleine. Die Craniosacrale Osteopathin beschreibt, wie dies in der Praxis
aussehen kann.

„Manchmal sagen Mitarbeiter ‚Ach Frau X, ich hab was ganz Tolles, das tut Ihnen
bestimmt gut‘. Manchmal gehe ich aber auch alleine rein, es ist verschieden. Ich sa-
ge ‚Ich mach Entspannung hier, ich mach das regelmäßig, das gehört zum Haus, Sie
müssen dafür nichts bezahlen. Sie bleiben einfach im Bett liegen und Sie können´s
ausprobieren und wenn es heut nicht passt, vielleicht ein ander mal. Schaun Sie ein-
fach‘“. (Craniosacrale Osteopathin: 102)
136 Claudia Wenzel

Wenn Gäste gerade schlafen, wird abhängig von der individuellen Situation bzw.
dem aktuellen Befinden entschieden, ob diese für eine Behandlung geweckt
werden oder nicht.

„Also bei bestimmten Patienten ist es so, dass wir auch gucken, die eher so vor sich
hindösen und die auch vielleicht sogar explizit sagen, sie wollen geweckt werden zur
Behandlung. Und es gibt aber bestimmte Gäste oder Patienten, die, für die es ein-
fach am besten ist, wo wir Pflegekräfte oder ich auch alleine entscheide, wenn die
schlafen, werden die schlafen gelassen und dann geht das vor und dann behandle
ich nicht.“ (Körpertherapeutin: 50)

Mit einem schlafenden Gast kann Kontakt beispielsweise „behutsam über die
Schulter“ oder durch die Stimme (Kunsttherapeutin 3: 20) aufgenommen wer-
den.
Die Atemtherapeutin bezeichnet den Erstkontakt als eine Kunst „in die
Begegnung zu kommen“, wofür es „höchste Achtsamkeit“ braucht, um überhaupt
wahrzunehmen, wo der betroffene Mensch gerade steht. Es geht darum, wach,
präsent und frei von jeglichen Vorstellungen zu sein, was jetzt sein muss. Letzt-
lich steht die Frage im Vordergrund: „Wie komme ich (..) von dem total Außen zu
ihm [ihr] nahe und auch so zu dem Inneren?“ (Atemtherapeutin: 85-97). Der
Kontakt beginnt also schon mit dem Eintreten in das Zimmer und dem Wahr-
nehmen der Atmosphäre im Raum.

Die komplementäre Behandlung

Die komplementären PraktikerInnen berichten immer wieder von einer Atmo-


sphäre, die im Rahmen einer Behandlung entsteht: „weil man da wirklich das
Gefühl hat, eine Atmosphäre bildet sich“ (Craniosacrale Osteopathin: 110). Die
Shiatsu-Praktikerin vergleicht die Atmosphäre, die während einer Behandlung
entstehen kann, mit einer „ganz feinen Stimmung“ oder einer „Atmosphäre so
wie in der Meditation“ oder in einer Kirche: „Aber diese Form der ganz leichten
Schwingung entsteht, mit diesem Ausdruck der Stimme, der Mimik und der Mus-
kelspannung“ (Shiatsu-Praktikerin: 196).
Heil sterben 137

Intention und „Erfolgskriterien“ komplementärer Behandlungen

Im Unterschied zu konventionellen Behandlungen und Therapien gelten für


komplementäre Anwendungen andere Ziele oder Erfolgskriterien, wie eine Lei-
tende beschreibt.

„Die Frage ist ja auch immer, was will ich mit diesen alternativen Heilmethoden be-
zwecken? Was ist das Bild davon? Und das ist vielleicht bei einer Akupunktur eher
wirklich ein ähnliches Ziel, wie ich mit meinen Tabletten verfolgen würde, also ganz
klar, bestimmte Symptome zu bekämpfen. Und es kann aber eben bei anderen Berei-
chen, also wenn ich so von der palliativen Körpertherapie unserer Heilpraktikerin
ausgehe, die kann unter Umständen Lymphdrainage über die Füße machen, das ist
mehr, da verfolgt sie einen ganz bestimmten Zweck sagen wir mal, aber sie kann
auch mehr im Sterben begleiten, ins Loslassen. Das ist ja ein anderer Ansatz. Und je
mehr ich in diesen, je feinstofflicher ich werde, würd ich sagen, umso mehr braucht
es dieses gemeinsame Dritte.“ (L5: 267)

Es geht also nicht um die Bekämpfung oder Minderung einzelner Symptome,


sondern vielmehr um eine Resonanz, die während der Behandlungen zwischen
BehandlerIn und Behandeltem/r entsteht:

„Und eine andere Ebene, (…) da spielt wieder das Gefühl eine Rolle, wenn ich in Re-
sonanz bin. (…) wenn eine Harmonie entsteht in der Behandlung, ist sie für mich ge-
lungen, bin ich zufrieden. Und das ist, kann ich jetzt, könnte ich nicht beschreiben, wo-
ran ich das festmache außer an so inneren Schwingungen.“ (Körpertherapeutin: 173)

In diesem Sinne sehen komplementäre PraktikerInnen ihren Auftrag im Hospiz


bzw. in der Begleitung schwerkranker und sterbender Menschen darin, Letztere
auf und in ihrem Weg zu begleiten und zu unterstützen (Pflegende, Wickel und
Auflagen: 310) und ihnen „Ruhe und Entspannung“ zu ermöglichen.

„Ich sag natürlich nicht ‚Sie wollten sich doch schon immer mit ihrem Bruder ver-
tragen“ oder so, ne? Natürlich ((lacht)) nicht. Das ist nicht meine Aufgabe hier.
[Meine Aufgabe hier ist] (..) „to keep the space open“, wie Upledger19 so schön
sagt.“ (Craniosacrale Osteopathin: 144-148)

Den Auftrag bestimmt der Gast bzw. seine An- und Zugehörigen im Hospiz.
Kunsttherapeut 2 (42) bringt es auf den Punkt: „Ich bin für Sie da, und Sie nicht
für mich“.

19 John Upledger ist Mediziner und einer der zentralen Gründerfiguren der Craniosacralen Osteo-
pathie.
138 Claudia Wenzel

Worauf komplementäre PraktikerInnen (immer wieder) achten müssen

In den Interviews wurden die komplementären PraktikerInnen danach gefragt,


worauf sie während und in den komplementären Behandlungen – insbesondere
bei schwerkranken und sterbenden Menschen im Hospiz – immer wieder achten
müssen. Eine Kunsttherapeutin beschreibt, wie sie vor allem auf nonverbale
Zeichen von Gästen, An- und Zugehörigen achten muss:

„Also man kann sehr gut beobachten, wann ein Mensch sich öffnet, also sozusagen
aus dem Schneckenhaus herausgeht, aus seiner kleinen Einheit und wann er sich
oder sie sich wieder zurückzieht. Also das kann man auch sehr gut sehen und das
wäre so etwas, wo man drauf achten muss. (..) Also ich finde, das ist eine sehr sen-
sible Art der Kommunikation, die gerfordert ist.“ (Kunsttherapeutin 3: 101)

Wichtig sei es ebenfalls „wach und präsent“ sowie „frei von irgendwelchen
Vorstellungen, was sein muss“ (Atemtherapeutin: 97) zu sein, wobei „in dieser
Haltung zu bleiben, eine ständige Achtsamkeit ist“ (Craniosacrale Osteopathin:
167). Eine Wachheit, die verhindert in irgendwelche Routinen zu verfallen, ist
für eine andere komplementäre Praktikerin von großer Bedeutung für ihre Arbeit.

„Also, für mich ist einfach wichtig, wach zu bleiben, von der ersten bis zur letzten
Minute, um alles mitzubekommen. Jetzt nicht irgendwie in Routine zu verfallen oder
so in irgendwelche gleichmäßigen Rituale zu verfallen, sondern wirklich bei jeder
Handhabung, die ich mache, bei jeder Technik, die ich anwende, wach zu sein und
zu überprüfen, passt das so und kommt das an und passt die Dosierung und was
krieg ich grade als Feedback zurück. Also, diese, mehr also diese Wachheit.“ (Kör-
pertherapeutin: 71)

Die Atemtherapeutin beschreibt, dass es für sie ein ständiger Prozess ist, in einer
Haltung der Absichtslosigkeit zu bleiben und von allem „wollen“ zu lassen.

„Also das ist eigentlich mein Prozess immer und immer mehr, alles Wollen zu lassen.
(..) ich folge den Sterbenden, das sind meine Lehrer. Ich lerne von ihnen und ich ge-
be ihnen so dieses Bisschen, was mir gegeben wurde, gebe ich ihnen gerne, oder das
ich einfach meine Zeit, oder einfach was ich bin [gebe]. Und lade sie ein, zu etwas
zu kommen, was in ihnen ist. Nicht ich gebe, was hab ich schon? Alles ist in jedem.“
(Atemtherapeutin: 247-248)

Im Unterschied zur Pflege geht es in körperorientierten Verfahren um die Ab-


sichtslosigkeit der Berührung.
Heil sterben 139

„Pflege muss ja auch immer etwas tun. Also sie meinen dann am Anfang die Patien-
ten auch erst, sie müssen was tun. Sie müssen sich hochheben, leicht machen. Ich
sag ‚Ja, sie müssen nichts tun.‘ Also in diese Ebene des Empfangens zu gehen - über
die Berührung, die nichts will.“ (Atemtherapeutin: 126)

Schließlich geht es auch für die komplementären PraktikerInnen um eine Gelas-


senheit, die ein Loslassen ermöglicht, wohin auch immer es im Rahmen der
komplementären Behandlung – oder für den sterbenden Menschen – geht: „Ja,
also indem ich ganz entspannt bleibe, gelassen und es lassen zu können. Loslas-
sen zu können, wohin auch immer die Reise geht. Also eben auch mit im Kontakt
mit einem oder eben auch nicht geht.“ (Kunsttherapeutin 3: 157)

Einbezug von An- und Zugehörigen in die komplementäre Praxis im Hospiz

Folgende Art der Einbindung durch komplementäre PraktikerInnen steht exemp-


larisch für jene Hospize, in denen die komplementären Angebote auch den An-
und Zugehörigen offenstehen:

„Ich sage immer, sie könnten dabeibleiben wenn der Gast das okay findet. Wenn er
das nicht okay findet, dann natürlich nicht. Und manche Angehörige sagen ‚Ach
dann geh ich raus und trinke ich in Ruhe einen Kaffee‘. Und manchmal ist es auch
deutlich, dass das angemessener ist. Aber es gibt auch Situationen, wo ich dann
auch eher ermutige dabei zu bleiben, und zu sagen ‚das tut bestimmt gut, das ist ent-
spannend‘. Und manchmal auch Angehörige ermutige, auch gleichzeitig zu berüh-
ren. Und manchmal behandle ich auch Angehörige im Zimmer.“ (Craniosacrale
Osteopathin: 109-110)

Manchmal sind An- und Zugehörige während der komplementären Behandlun-


gen einfach auch nur im Zimmer anwesend. Hier liegt die Herausforderung für
die komplementären PraktikerInnen darin zu spüren, ob die Anwesenheit für alle
Anwesenden auch wirklich passend oder angemessen ist (Kunsttherapeut 2: 104;
112-113). Oftmals wissen die komplementären PraktikerInnen selbst nicht genau,
wie ihre Arbeit auf die Angehörigen wirkt bzw. wie sehr diese sich darauf einlas-
sen.
140 Claudia Wenzel

Wie profitieren An- und Zugehörige von komplementären Behandlungen


im Hospiz?

Die komplementären Angebote für An- und Zugehörige lösen Anspannung, brin-
gen Entlastung, unterstützen beim Loslassen und ermöglichen Ersteren eine
„kleine Verschnaufpause“ (Kunsttherapeutin 3: 182). Eine Pflegende beschreibt
wie wichtig es ist, den „Angehörigen zur Ruhe oder auf den Boden wieder zu
[verhelfen], weil sie emotional sehr belastet sind“ (A_P2: 48).
Komplementäre Verfahren eröffnen An- und Zugehörigen Zugang zu ihren
eigenen, oft ungelebten Gefühlen wie Trauer oder Wut: „Aber auch eben alle
Gefühle gezeigt werden dürfen, die man also dann vor dem Angehörigen nicht
zeigt. Na gut, es gibt ja nicht immer die harmonischen, heilen Familien“
(Shiatsu-Praktikerin: 124-131).
Eine Kunsttherapeutin berichtet, dass Angehörige, die während einer Sit-
zung dabei sind, den von Krankheit oftmals eingeschränkten Menschen noch
einmal anders „wahrnehmen“ bzw. „noch einmal anders wertschätzen lernen
können oder noch einmal eine andere Ebene von ihm mitbekommen“ (Kunstthe-
rapeutin 3: 181).
Die Kunsttherapie bietet An- und Zugehörigen die Möglichkeit, ihrer Zu-
neigung für den geliebten Menschen in einer kreativ-künstlerischen Form sicht-
baren Ausdruck zu verleihen.

„Das kam bei Frau B., weil der Mann hat einmal mit gemalt. Und ich finde das sehr
spannend, wenn Angehörige auch mal dazu mitkommen. (…) Und der hat seinen
Engel dazu gemalt. Und er sagte ‚Aber ich kann einfach nicht malen‘. Und hat es
trotzdem gemacht. Und dann hab ich das nochmal betont und hab gesagt ‚Ja
Mensch, wenn Ihr Mann das für Sie so macht, dann ist es doch wirklich was Beson-
deres‘. Und das hat sie sehr angerührt.“ (B_KU: 1213-1217)

Komplementäre Verfahren können An- und Zugehörige inspirieren, noch etwas


für den geliebten Menschen zu tun. Ein Sozialarbeiter erzählt davon, wie eine
Frau sich vom Kunsttherapeuten ein Bild weißer Rosen malen lies und davon
inspiriert der Ehemann seiner Frau den letzten Strauß weiße Rosen kaufte, bevor
sie verstarb:

„Und da hab ich dann dem Ehemann gesagt: ‚Wissen Sie, dass ihre Frau so gerne
weiße Rosen mag?‘. ‚Ja das weiß ich‘, sagte er. ‚Und die waren von (Stadt Y. ‚Wis-
sen Sie in (Stadt Y) gibt’s auch ein Blumengeschäft?‘. Und dann ist der Mann losge-
gangen und hat für seine Frau noch einen Strauß weiße Rosen gekauft. Die konnte
an dem Tag das auch noch riechen, später ging das bei ihr nicht mehr. Und das war
für den so tröstlich, hat er mir erzählt, dass er seiner Frau noch den letzten Strauß
Heil sterben 141

weiße Rosen hier noch bringen konnte, alles ausgelöst durch diese Begegnung mit
dem Kunsttherapeut. Man weiß nie, was so entsteht dabei.“ (D_Soz: 352-353)

Letztlich geht es auch um die Ermöglichung eines Abschiedsprozesses, der zwi-


schen Sterbendem und Angehörigen stattfindet und beide Seiten darin zu unter-
stützen, die dabei auftretenden Gefühle zu leben.

Formen des Einbezugs An- und Zugehöriger in komplementäre


Behandlungen

Sind komplementäre Angebote im Hospiz konzeptuell nicht für An- und Zugehö-
rige vorgesehen, erfolgt die Einbindung häufig so, dass Letztere angeleitet wer-
den, selbst etwas für den/die Sterbende/n zu tun, zum Beispiel diese/n zu berüh-
ren:

„Und, das heißt, das was passiert ist höchstens, dass ich sie einbinde in etwas, den
Angehörigen irgendetwas zeige. Und sage ‚Das und das ist möglich, dass sie das
auch machen und übernehmen‘. Oder erkläre was ich mache, also in dieser Form
die Angehörigen einbinde aber nicht, nicht dass ich meinen Fokus stark auf die An-
gehörigen richte.“ (Körpertherapeutin: 77)

Eine Craniosacrale Osteopathin beschreibt, wie sie Angehörige, die unter großer
Anspannung und Unruhe stehen zu Berührung anleitet:

„Ja, also ich mache das relativ häufig, weil dann mach ich es eigentlich immer,
wenn Angehörige dabeisitzen und jemanden so streicheln. Dann sag ich ‚Wissen Sie
was, ich kann Ihnen mal erzählen wie ich das mache und was ich so weiß, schafft es
so viel Unruhe wenn man jemand so streichelt, halten sie einfach‘. Und zeige, wie
ich das mache und das nehmen eigentlich alle gerne auf. Also das wäre so ein ganz
konkretes Beispiel, ne? Wo ich dann in dem Sinn manchmal sogar auch fast korri-
gierend eingreife, wenn jemand mit so viel Anspannung und Unruhe ist und immer
so auf die Schulter klopft oder so.“ (Craniosacrale Osteopathin: 217)

Für die Atemtherapeutin (163-172) ist das Anleiten zur Berührung kein Angebot
an die Angehörigen, sondern „entsteht fast wie eine Notwendigkeit aus der Situa-
tion“ heraus: „Und dann legt die Frau ihre Hände auf meine Hände, dass sie
auch ein bisschen spürt, dass es auch eine andere Möglichkeit der Berührung
gibt, so ein Zurücknehmen, ein nichts wollen, so dieses loslassende Berühren“
(Atemtherapeutin: 172).
142 Claudia Wenzel

Je nach der angewandten komplementären Methode, gibt es vielfältige


Möglichkeiten, wie An- und Zugehörige kreativ mit eingebunden werden kön-
nen. So hat eine komplementäre Praktikerin einen Mann, der es liebte „für seine
Frau tätig zu sein“ einen schweren Wasserbottich für die klingende Fußwa-
schung tragen lassen (Pflegende, Wickel und Auflagen: 156-157). Oder die Ein-
bindung geschieht durch Kommunikation, wie die palliative Körpertherapeutin
beschreibt: „Dass man ja nicht einfach da rein stolpert, sondern auch kommuni-
ziert, was man da macht.“ (E_KÖ: 388). Angehörige können auch selbst (mit)
bestimmen, auf welche Art sie involviert werden möchten.

„Ich fand das zum Beispiel bei dem Herrn B., der hat mich auch mehrmals darauf
angesprochen. Er hat gefragt ‚Können Sie mir was zu den Bildern sagen?‘ oder hat
auch mal angerufen. Und .. und ich hab ihm das auch angeboten, dass er mitmachen
könnte. Aber es war seine Wahl, dass das nicht so sein Ding ist. Aber er war ja auch
involviert, na, wenn sie zum Beispiel gemalt hat, dass er ihr die Hand auf die Schul-
ter legt und da war vorher sehr viel Distanz. Da war ihm das ganz wichtig über das
Bild zu sprechen, sagen wir einmal. Ob er gemeint ist und sowas.“ (B_KU: 1927)

Manchmal möchten An- oder Zugehörige während komplementärer Behandlun-


gen einfach nur anwesend sein und zu nichts angeleitet werden: „Und ich erlebe
das so, dass oft Angehörige gerne zuschauen, sich weiter weg setzen und zugu-
cken und sagen, auch das ist schön, das ist so friedlich. Und dann ist es gut“
(Craniosacrale Osteopathin: 118).
Das kunsttherapeutische Angebot in einem Haus umfasst neben dem Einzel-
setting auch ein Gruppenangebot, das von der Kunsttherapeutin bewusst nach
außen hin sehr offen und transparent gestaltet ist, und an dem auch An- und Zu-
gehörige partizipieren können.

„Das ist ganz offen, also wir lassen extra die Türen auch offen, damit da jeder auch
durch kann, auch wer einfach nur durchlaufen will, also dass man das immer wahr-
nimmt (…) Und trotzdem der runde Tisch hat trotzdem so etwas wie Schutzraumat-
mosphäre. Also es ist eine Mischung aus Schutzraumsetting, sag ich mal, aber auch
gleichzeitig Offenheit, Transparenz. Also eben jederzeit wieder flüchten zu können
aber auch genauso, dass eben auch Angehörige, wenn sie da sind, sich einfach da-
zusetzen können. Und ich sprech' auch, oder wir alle sprechen einfach die Angehö-
rigen auch immer wieder an und sagen „Sie können einfach sich zu einer Tasse Kaf-
fee einfach dazusetzen mit oder ohne Angehörigen“. (F_KU: 426 - 427)
Heil sterben 143

Bedürfnisse An- und Zugehöriger

Oft haben An- und Zughörige auch völlig andere Bedürfnisse als die Sterbenden
selbst bzw. „sind auf einem anderen Weg“ (B_P1: 1885). Und gerade in der
letzten Lebensphase kann es sein, dass die Angehörigen stärker belastet sind.

„Und das sind oftmals Situationen, wo der Angehörige konfrontiert wird, dass jetzt
der nahe Tod fast, oder bald oder ja bevor steht. Und wo dann nochmal starke ja
starke Verlustgefühle auch auftreten und dann manchmal Situationen entstehen wo
der Angehörige einen mehr braucht als jetzt gerade der Patient in dem Augenblick.“
(Pflegende, Wickel und Auflagen: 137)

Einbezug An- und Zugehöriger in den Sterbeprozess

Vor allem die externen komplementären PraktikerInnen berichten immer wieder


davon, dass manchmal auch während der komplementären Behandlungen Men-
schen versterben. Im Folgenden werden zwei Beispiele beschrieben, die zeigen
wie Angehörige im Sterbeprozess des geliebten Menschen begleitet und beim
Loslassen unterstützt werden können.
Die Shiatsu-Praktikerin erzählt, wie die Tochter einer sterbenden Frau im
Hospiz während der Behandlung zur Ruhe kommen konnte, als ihre Mutter wäh-
rend dieser Behandlung verstorben ist.

„Da war die Mutter war Gast und die Tochter aber auch schon über die, ja, so 56
etwa schätze ich so vom Alter her. Und sie stand also am Bett der Mutter und wusste
nicht, was sie machen sollte. Innerlich so ‚blup blup blup‘. Dann hab ich der Mutter
Shiatsu gegeben und sie hatte auch schon die Nacht geschlafen in unseren Klappbet-
ten. Und dann habe ich ihr Shiatsu gegeben in diesem Beistellbett. Und sie wurde
ganz ruhig und die Mutter ist gestorben in der Zeit.“ (Shiatsu-Praktikerin: 132)

Gerade im Sterbeprozess sind die Angehörigen von den Sterbenden oft nicht zu
trennen, weshalb die Begleitung der Angehörigen zentral ist.

Kombination komplementärer und konventioneller Behandlungen

Für eine Ärztin ist es wichtig, dass durch die Anwendung komplementärer Me-
thoden „medikamentöse, wichtige Effekte“ nicht vermindert oder „nivelliert“
werden bzw. auch umgekehrt, dass die Schulmedizin auch Rücksicht auf die
komplementären Verfahren nimmt:
144 Claudia Wenzel

„Ich finde, es ist ganz wichtig zu gucken, dass man nicht mit einem Komplementär-
verfahren andere medikamentöse, wichtige Effekte runterschraubt oder nivelliert.
Und genauso, find ich, ist auch wichtig, dass man auch dann den Komplementärver-
fahren eine Möglichkeit gibt, also z.B. wenn ich einen Patienten ganz massiv sedie-
re, dass ein kunsttherapeutischer, wichtiger Ansatz gar nicht mehr machbar ist, dann
muss man darüber sich austauschen, welcher therapeutische Weg der wichtigere ist,
um da sich nicht mit dem einen, das andere zu verbauen. Ja. Aber da würde ich,
wenn ich der Überzeugung bin, oder die Überzeugung bei einem Betroffenen ge-
wonnen habe, dass der Komplementäransatz der wichtigere ist für den Moment,
dann würde ich den schulmedizinischen auch in dem Moment zurückfahren. (…)
Weil wenn das andere gut tut und nicht schadet und vor allen Dingen einen guten Ef-
fekt hat, dann ist das manchmal wichtiger als die Schulmedizin.“ (Ärztin 5: 137-
143)

In keinem der beforschten Hospize wird die Notwendigkeit konventioneller


schulmedizinischer Therapien in Frage gestellt, wenn es sich um extreme
Schmerz-Situationen und um akute (Not)Fälle handelt. Exemplarisch für die
Haltung in den Hospizen steht folgendes Zitat:

„Das ist mir auch ganz wichtig zu erwähnen, dass wenn es brenzlige Situationen
sind und wenn der Patient es wirklich braucht, dass er selbstverständlich die schul-
medizinische Therapie im Notfall an erster Stelle steht. Das ist glaub ich noch ganz
wichtig, auch wenn man mit alternativen Heilverfahren arbeitet, das ist ganz wich-
tig.“ (Pflegende, Wickel und Auflagen: 264)

In den Hospizen werden komplementäre Anwendungen häufig mit klassischer


Schulmedizin kombiniert, vor allem in der Pflege. Ein Pflegender berichtet da-
von, wie er aromatherapeutische Anwendungen (in diesem Fall: Lavendel-
Läppchen) bei Bedarf mit klassischer Schulmedizin (hier: Tavor) kombiniert:
„Und wenn ich dann wirklich merke nach einer halben Stunde, die drehen noch
mehr auf oder dann kann ich ja immer noch die Schlaftablette geben“ (B_PA:
367-368).
Dabei geht es für die meisten Professionellen nicht um ein Entweder –
Oder, sondern vielmehr um die Frage, was in der individuellen Situation für die
betroffene Person sinnvoll ist bzw. auch wie komplementäre Anwendungen un-
terstützend eingesetzt werden können: „Wie kann ich (..) alternativ da etwas
Ruhe rein bringen und das, was konservativ begonnen wurde, eben auch noch zu
unterstützen zum Beispiel?“ (C_L: 298).
Es gibt jedoch auch Pflegende, die nicht in Ergänzung, sondern in „Alterna-
tiven“ denken und wo komplementäre Anwendungen dann auch als alternative
Möglichkeiten in der Praxis gehandhabt werden: „Ich kann mir nicht, ich hab
Heil sterben 145

noch nie jemanden hier gehabt, der, wo das wirklich eine Alternative gewesen
wäre zu Morphin oder so.“ (D_P2+stvL: 495).

(Non)Verbale Kommunikation im Rahmen komplementärer Behandlungen


am Lebensende

Die Kommunikation im Rahmen komplementärer Behandlungen kann (je nach


Verfahren) sehr unterschiedlich erfolgen. Verbale Kommunikation kann direkt
(z.B. über die Biographie) oder indirekt (z.B. über Metaphern oder Bilder) erfol-
gen. Nonverbale Kommunikation bedient sich aller Sinnesmodalitäten (Berüh-
rung, Blickkontakt, Gestik, Mimik, Laute, Geruch, Seufzen, Schluckauf,..,..) und
sogar des Schweigens. Eine Leitende beschreibt unterschiedliche Äußerungs-
möglichkeiten, die sie in der Praxis erlebt hat:

„Oder jemand dann mal die Augen aufmacht oder kurzen Kontakt auch aufnimmt
oder Augenbewegung auch hat. (..) Also auch wenn jemand nicht spricht gibt es Äu-
ßerungsmöglichkeiten für ihn. Oder seufzt oder ‚hmm‘ oder Schluckauf bekommt
das fällt mir ein. Weil es gab jemanden, der bekam immer ein Schluckauf an der
Stelle und auch das ist eine Kommunikationsmöglichkeit.“ (Leitende Hospiz 2: 114)

Wenn mit den Sterbenden keine verbale Kommunikation mehr möglich ist, kann
diese auch über die Angehörigen erfolgen. In folgendem Beispiel fungiert eine
Shiatsu-Praktikerin als Vermittlerin in einem Abschiedsprozess eines Ehepaars
und integriert das Gespräch in die Shiatsu-Behandlung.

„Dann habe ich mit der Frau eine Stunde gesprochen, also der Mann hatte keine
Sprache mehr. Und dann habe ich praktisch das, was sie mir erzählt hat praktisch
an ihn weiter gegeben. ‚Hören Sie Herr Soundso. Sie haben genau gespürt, dass sie
dann nicht mehr nach Hause kamen, wenn sie ins Krankenhaus gingen. Sie haben es
nicht erzählt, nur Ihre Frau hat es gespürt‘. (…) Und wir haben ganz dicht an sei-
nem Bett gesessen und haben das Gespräch geführt, wo er praktisch noch mal von
seiner Frau hörte, dass sie das auch mitgekriegt hatte, seinen Prozess zu Hause.“
(Shiatsu-Praktikerin: 84-86)
146 Claudia Wenzel

Multiprofessionelles Team und interdisziplinäre Zusammenarbeit im


Kontext der komplementären Praxis im Hospiz

Interdisziplinäre Teamarbeit im Kontext der komplementären Praxis


im Hospiz

Der Vorteil eines – auf die Persönlichkeiten bezogen – heterogenen Teams be-
steht nach Ansicht einer Leitenden darin, dass „für viele Menschen was dabei
ist“, während der Nachteil darin liegt, „dass sie schwer auf einen Weg zu bringen
sind“ (L5: 224).
Dabei sollte auch ein nicht vorhandenes Interesse für komplementäre An-
sätze von MitarbeiterInnen von der Leitung akzeptiert und in der Pflegeplanung
mit bedacht werden: „Das muss schon so besprochen werden und Form haben
und in die Pflegeplanung mit aufgenommen werden und der Kollege oder die
Kollegin, die das vielleicht jetzt auch nicht so, oder keine Neigung haben, die
sollen noch was anderes machen“ (L7: 124).
Bei vielen MitarbeiterInnen besteht nur wenig Wissen über spezifische
Verfahren (z.B. Homöopathie) (E_P1+AT: 324), oder auch über die Nutzungs-
möglichkeiten komplementärer Ansätze in der Pflege (F_P1: 312). Eine stellver-
tretende Pflegedienstleitung gibt zu, dass sie nur wenig Wissen über komplemen-
täre Heilmethoden besitzt: „Ich persönlich hab ehrlich gesagt von komplementä-
ren Heilmethoden ganz wenig Ahnung“ (D_P2+stvL: 47). Auch eine Palliativ-
medizinerin stellt im Rahmen einer Gruppendiskussion ihr eigenes Wissen über
komplementäre Verfahren in Frage: „Und ich denk dann manchmal, tun wir den
alternativen Methoden Unrecht, weil wir es nicht wissen? Aber einen Heiler, den
gibt`s nicht, ne? ((lacht))“ (B_PM: 584-588). Gleichzeitig kann Wissen, das im
Rahmen von Fortbildungen erworben wird, auch Interesse bei Teammitgliedern
für die Anwendung komplementärer Verfahren im Hospiz auslösen:

„Ich hab das jetzt in der Nachbereitung vom Palliative Care Kurs nochmal (..) so
kennengelernt - Atemtherapie, ja. Wo ich so dachte, das kann ich mir vorstellen,
dass das auch eine gute Sache ist für unsere Gäste. Also das hat mich nochmal wirk-
lich so ein bisschen gejuckt jetzt in den Fingern auch, wo ich so dachte, ja, weil das
ist was, was man spontan auch einsetzen kann in der Situation. Ich muss nichts vor-
organisieren.“ (E_P1+AT: 198)

Eine Pflegende beschreibt das „Interdisziplinäre“ als verbindendes Element im


Team, das „letztendlich den Kreis wieder schließt zum Wohle des Gastes palliativ
zu handeln“ (A_P3: 240) und berichtet von einer sterbenden Frau, die „noch
Heil sterben 147

einmal anders Abschied nehmen konnte“, weil viele „einzelne Teile“ interpro-
fessioneller Teamarbeit zusammen gewirkt haben (A_P3: 753).

Kommunikation über komplementäre Anwendungen im


multiprofessionellen Team

Die Kommunikation im multiprofessionellen Team über die komplementären


Anwendungen stellt eine der grundlegenden Voraussetzungen für die komple-
mentäre Praxis im Hospiz dar. Die Kommunikation über die Gäste findet vor
allem im Rahmen von Übergaben und Teambesprechungen (z.B. GD_D: 387-
391, L7: 211-215), über die Dokumentation, oder schlichtweg informell („zwi-
schen Tür und Angel“ Gespräche) statt.
Solche interdisziplinären Gastbesprechungen finden in den Hospizen in
unterschiedlichen Zeiträumen statt, nicht immer sind die externen komplementä-
ren PraktikerInnen anwesend, manchmal aus konzeptionellen oder aber auch
schlichtweg aus organisatorischen (zeitlichen) Gründen. In einem Hospiz, in dem
diese Gastbesprechungen alle zwei Wochen stattfinden und an denen auch alle
externen Mitglieder teilnehmen, geht es einerseits um die psychosoziale Situati-
on des Gastes, aber auch um Fragen für das Team selbst, wie eine Leitende erläu-
tert: „Wo stehen wir? Müssen wir noch irgendwas anbieten, müssen wir was
rausnehmen? Und vor allen Dingen, wie sehen das auch die anderen? Nicht nur
die Pflege, sondern, dass wir uns öffnen“ (L4: 310-316). Die interdisziplinären
Teambesprechungen ermöglichen einen Austausch für die Professionellen, um
„auch wahrzunehmen, was dem Menschen tut gut“ (L2: 49).
In einem anderen Hospiz werden die Eindrücke der Professionellen über die
Situation des Gastes und die etwaige Wirkung komplementärer Verfahren wö-
chentlich im Rahmen der interdisziplinären Übergabe unter Anwesenheit aller
Berufsgruppen zusammengetragen, so die Leitende:

„Und da überlegen wir schon auch, was könnte helfen? (…) Und wo dann vielleicht
der eine sagt: ‚Ich hab festgestellt der reagiert gut, wenn ich die Hand halte‘ oder
‚Die Musik tut gar nicht gut, da wird er eher unruhig‘ oder so. Also das unsere Ein-
drücke von der Person dann zusammengefasst werden.“ (L5: 155)

Eine Kommunikation der MedizinerInnen mit den komplementären PraktikerIn-


nen scheitert oftmals einfach daran, dass diese zu unterschiedlichen Zeiten anwe-
send sind und sich nur sehr selten begegnen (Ärztin 1: 130). Dies führt dazu,
dass Kommunikation vorrangig im Rahmen der Übergaben bzw. bei Zufallsbe-
gegnungen stattfindet (Ärztin 2: 76-80). Folgendes Beispiel zeigt, wie die Kom-
148 Claudia Wenzel

munikation zwischen einer Ärztin und einer komplementären Praktikerin ausse-


hen kann, wenn es zu einer Begegnung im Hospiz kommt:

„Wenn ich sie dann treffe, sag ich ‚Warst du heut schon bei Frau R. oder warst
schon dort und dort?‘ und ‚Is ja richtig gut‘. Und dann sagt sie so was aus ihrer Ar-
beit, dass es schwierig war, Kontakt zu kriegen, oder dass sie dies und jenes halt
gemacht hat und es scheinbar gut funktioniert.“ (Ärztin 1: 122)

Eine andere Ärztin gesteht im Rahmen eines Interviews, dass sie „eben auch
nicht gut nachfrage, was das Thema angeht“ und noch gar nicht auf die Idee
gekommen ist, „da auch mal auch differenzierter nachzufragen“ (Ärztin 3: 164-
168).

Zusammenarbeit zwischen MedizinerInnen und komplementären


PraktikerInnen

Aus Perspektive der Leitenden, begegnen die MedizinerInnen den komplementä-


ren PraktikerInnen prinzipiell mit „Wertschätzung“ (L1: 223) bzw. „sehr wohl-
wollend und unterstützend“ (L3: 253), auch wenn die komplementären Praktike-
rInnen dies manchmal anders wahrnehmen (L1: 223). Trotz einer prinzipiellen
Offenheit nehmen Führungskräfte im Hospiz von Seiten der MedizinerInnen im
Hospiz „keine Versuche an der Stelle miteinander konkreter zusammen zu arbei-
ten“ (L1: 227) bzw. „kein aktives Interesse“ (L3: 255-257, L6: 273-289) wahr.
Folgendes Zitat einer Leitenden bringt die mehrheitliche Haltung der Medizine-
rInnen im Hospiz zum Ausdruck:

„Und die Ärzte, die halten sich da völlig raus und sagen sozusagen, damit können
wir ja eh nichts kaputt machen. Also macht mal ruhig, macht was Ihr wollt sozusa-
gen. ((lacht))“ (L5: 119)

Dies deckt sich mit der Aussage einer Ärztin, die erklärt, dass die Anwendung
komplementärer Verfahren für sie in Ordnung ist, „wenn man das Gefühl hat, es
schadet nicht“ (B_PM: 1393). Schulmedizin und komplementäre Angebote lau-
fen mehr oder weniger „ungestört (…) nebeneinander“ (L1: 235-239), ohne dass
es je „zum Thema gemacht“ wurde bzw. wird (L1: 243). Auch die Atemthera-
peutin erlebt keinerlei Einschränkungen von Seiten der MedizinerInnen (Atem-
therapeutin: 329).
Heil sterben 149

Eine Leitende berichtet von „missbilligenden Blicken“ mancher Medizine-


rInnen, wenn sie über die komplementären Anwendungen in der Doku lesen,
direkte Kritik oder Beanstandungen gäbe es jedoch nicht (L6: 269).

Die Rolle Ehrenamtlicher im Kontext der komplementären Praxis


im Hospiz

Ehrenamtliche haben prinzipiell sehr klar abgegrenzte Aufgabengebiete in den


Hospizen, vor allem im Hinblick auf Aufgaben und Tätigkeiten der hauptamtli-
chen MitarbeiterInnen und werden dementsprechend sehr unterschiedlich in die
Praxis komplementärer Verfahren mit einbezogen. So unterstützen Ehrenamtli-
che in einem Hospiz die Kunsttherapeutin im Rahmen des gruppentherapeuti-
schen Angebotes (L2: 90), während sie in einem anderen Hospiz gemeinsam mit
hauptamtlichen Kollegen und Kolleginnen Öle für die Aromatherapie herstellen
(L4: 87-96).
In einer Gruppendiskussion, in der keine Ehrenamtlichen anwesend waren,
sind sich die MitarbeiterInnen sicher, dass Ehrenamtliche keine komplementären
Anwendungen durchführen würden, ohne dies vorher zu kommunizieren: „Also
da kann ich mich an keinen Fall in den acht Jahren erinnern, wo jemand ir-
gendwas gemacht hätte, was wir nicht mitbekommen hätten, oder wo das nicht
besprochen worden wäre“ (GD_E: 532-540), so eine Pflegende. Eine Ehrenamt-
liche berichtet im Rahmen einer Gruppendiskussion davon, dass sie von Kolle-
gInnen im Team einmal zurechtgewiesen bzw. darauf hingewiesen wurden, dass
komplementäre Anwendungen im Hospiz nicht erwünscht seien und sie seitdem
die Finger davon gelassen habe:

„Ich hatte mal Öle in der Tasche, und ich bin damit komplett vor die Wand gefahren.
Und da ich [Vorname C_EAKo] versprochen hab, als meine Chefin, ich tue nichts,
was von Leitungsseite nicht gewünscht ist (..), habe ich es nicht angewandt.“
(GD_C: 47)

In einer anderen Gruppendiskussion spricht eine Ehrenamtlichen-Koordinatorin


sogar von einem Boykottieren der komplementären Praxis, und verweist damit
auf einen Konflikt zwischen Haupt- und Ehrenamt.
150 Claudia Wenzel

Ausweitung der komplementären Angebote im Hospiz

Unabhängig voneinander wurde von nahezu allen Mitgliedern der multiprofessi-


onellen Teams eine Ausweitung der komplementären Angebote im Hospiz ge-
wünscht. Folgendes Zitat steht repräsentativ für die Haltung der interviewten
Leitenden in Bezug auf die Erweiterung der komplementären Angebotspalette im
eigenen Haus.

„Und das würde ich mir mal so wünschen, das auch so mal gezielter zusammenzu-
tragen, welche Angebote kann man überhaupt machen, welche sind sinnvoll, welche
sind vielleicht nicht so sinnvoll? Und womit fangen wir an und wie kann man das
ausweiten, das würde ich mir wünschen.“ (C_L: 236)

Verbesserte interdisziplinäre Zusammenarbeit in Bezug auf die komple-


mentäre Praxis im Hospiz

Ausnahmslos alle Mitglieder des multiprofessionellen Teams wünschen sich eine


Verbesserung der interdisziplinären Zusammenarbeit in Bezug auf die komple-
mentäre Praxis im Hospiz. Konkret fordert eine Leitende eine bessere Vernet-
zung im Team (C_L: 258), während sich eine Pflegedienstleitung für die Aroma-
therapiepraxis der Pflegenden wünscht, „dass alle dann an einem Strang ziehen
und nicht so ein bisschen nach Zufallsprinzip“ arbeiten (C_PfdL: 23-24), wäh-
rend Ärztin 2 (365) sich über eine stärkere Integration ins Team freuen würde,
um „besser teilhaben“ zu können. Die palliative Körpertherapeutin spricht den
Wunsch nach mehr Offenheit für komplementäre Anwendungen im Hospiz von
Seiten der Pflegenden aus (Körpertherapeutin: 228-229).
Im Verlauf einer Gruppendiskussion zeigt sich, dass sehr oft kein Wissen im
Team darüber vorhanden ist, wer welche Qualifikationen in komplementären
Verfahren besitzt. So hat eine Pflegedienstleitende die Idee, eine Liste mit kom-
plementären Qualifikationen im Team anzufertigen, auf der ersichtlich wird, wer
welche Fähigkeiten mitbringt (C_PfdL: 578). Dieser Wunsch wird im gleichen
Hospiz auch von den Pflegenden aufgegriffen, die auch die Qualifikationen der
Ehrenamtlichen einholen möchten und vorhaben, mit ausgewählten komplemen-
tären Anwendungen zu beginnen, diese zu etablieren und dann nach einer gewis-
sen Zeit zu evaluieren (GD_C: 609-615). Es entsteht die Idee, Arbeitskreise zu
komplementären Verfahren zu gründen, wo Haupt- und Ehrenamtliche nicht
„getrennt, sondern wirklich miteinander“ arbeiten, auch um die komplementären
Angebote am Wochenende anbieten zu können (GD_C: 581-587).
Heil sterben 151

Vor allem in Hospiz C besteht der Wunsch nach einer besseren Kooperation
mit den Ehrenamtlichen sowie einer „besseren Kommunikation im Miteinander“
(CPfdL: 264) und die Ressourcen der Ehrenamtlichen in die komplementäre
Praxis im Hospiz mit einzubeziehen (C_L: 236).
Sowohl Leitende, als auch komplementäre PraktikerInnen und die Medizi-
nerInnen selbst sprechen von einer Verbesserung der Zusammenarbeit in Bezug
auf die komplementäre Praxis im Hospiz (z.B. L1: 315), die sich konkret darin
zeigen könnte, dass „die Schulmedizin die komplementären Anwendungen mit-
denken würde“ (L6: 463-467), so eine Leitende. Die Leitende eines anderen
Hospizes hätte gerne einen Arzt/eine Ärztin im Hospiz, die mit „homöopathi-
schen Mitteln“ arbeitet und dabei aber die „Schmerztherapie nicht komplett
ausklammert“ (L4: 550). Interessanterweise fordert eine Ärztin „mehr Offenheit
im Bereich der Schulmedizin“ (Ärztin 5: 195) bzw. Symptom orientiert zu
schauen, was dem Gast gut tut – und nicht automatisch die Schulmedizin zuerst
anzuwenden (Ärztin 5: 191). Auch Ärztin 3 wünscht sich, dass „das wieder mehr
ins Blickfeld gerät“ und man komplementäre Verfahren einsetzt bevor man Me-
dikamente verschreibt (Ärztin 3: 196). Ärztin 2 möchte gern mehr von den kom-
plementären „Therapien wahrnehmen“ und als Ärztin „selbstverständlicher mit
drin“ sein, um „besser teilhaben“ zu können (Ärztin 2: 365-369). Sie möchte in
Zukunft mit den komplementären PraktikerInnen „gemeinsam zum Patienten
hingehen“, um „in der Gemeinsamkeit was Neues zu lernen“ (Ärztin 2: 375-
384).

Grenzen und Gefahren in der Anwendung und Nutzung komplementärer


Verfahren im Hospiz

Strukturelle Grenzen

Strukturelle Grenzen liegen beispielsweise im Setting bzw. in den vorhandenen


Räumlichkeiten im Hospiz. Da es meist keine eigenen Behandlungsräume im
Hospiz gibt, finden die komplementären Anwendungen von Gästen, An- oder
Zugehörigen meist in den Zimmern der Gäste oder manchmal in Gemeinschafts-
räumen (z.B. Raum der Stille) statt. Eine komplementäre Praktikerin weist in
diesem Zusammenhang auf die Grenzen in den Behandlungen hin, die durch die
Anwesenheit von An- und Zugehörigen in den Zimmern entstehen können
(Craniosacrale Osteopathin: 109). Die Körpertherapeutin weist auf den organisa-
torischen Aufwand hin, der durch die Vielzahl an unterschiedlichen Angeboten
im Hospiz entsteht: „... dass es dann einfach sehr schnell, zu viel wurde. Und
einfach bei acht Betten oder acht Gästen, für den, wo nicht für jeden das Ange-
152 Claudia Wenzel

bot gleich ist, denk ich, dass es organisatorisch einfach auch schwierig ist“
(E_KÖ: 187-188)
In einer Gruppendiskussion wird als weitere Grenze in der Anwendung
komplementärer Verfahren im Hospiz der Kostenfaktor beschrieben (GD_B:
147-160), da die Finanzierung der komplementären Angebote nicht von den
Krankenkassen übernommen wird, auch wenn diese im Vergleich zu konventio-
nellen Therapien oftmals kostengünstiger sind.

Gefahren in der Anwendung und Nutzung komplementärer Verfahren


im Hospiz

Neben Grenzen schildern MitarbeiterInnen und Leitungspersonen im Hospiz


auch mehr oder weniger konkrete Gefahren, die sie in der Anwendung und Nut-
zung komplementärer Verfahren in Hospizarbeit und Palliative Care sehen. Diese
werden in folgendem Kapitel in Strukturelle Gefahren, Gefahren aus Sicht der
MedizinerInnen, Gefahren durch BehandlerInnen sowie Gefahren und Kontrain-
dikationen spezifischer komplementärer Verfahren gegliedert. Auch Diskussi-
onsbeiträge multiprofessioneller Teammitglieder zur Frage, inwieweit Hoffnung
am Lebensende gefährlich werden kann, sollen in einem eigenen Abschnitt be-
handelt werden. Abschließend sollen Aussagen zur Relativierung und Minimie-
rung von Gefahren komplementärer Anwendungen im Hospiz aus den Interviews
und Gruppendiskussionen wiedergegeben werden.

Strukturelle Gefahren

Prinzipielle Gefahren in Bezug auf die komplementären Angebote am Lebensen-


de bestehen darin, dass zu viel gemacht wird (L5: 204; L6: 182), Sterbende
„übertherapiert werden“ (A_P1: 262) bzw. der Überblick verloren geht (L1:
172). Eine Pflegeperson bringt diese Gefahr sehr pointiert auf den Punkt: „Und
manchmal denke ich auch, mein Gott, was müssen die Leute im Hospiz eigentlich
alles auch aushalten: Experimente, Maltherapie, Musiktherapie, komplementäre
Heilmethoden“ (D_P2+stvL: 286-288). Auch eine Medizinerin beschreibt „zu
viel Therapie, zu viele Maßnahmen, zu viel Aktion“ (E_PM2: 506) als gefährlich.
Eine weitere Gefahr sehen Mitglieder des multiprofessionellen Teams darin,
wenn Betroffenen komplementäre Anwendungen strukturell aufgezwungen
(Pflegende, Wickel und Auflagen: 308-309) oder jemandem übergestülpt (E_P2:
154) und damit zur Belastung werden: „Und es gibt einfach genug auch Men-
schen in der letzten Lebensphase, die das Gefühl haben, sie müssten irgendwas
Heil sterben 153

jemand anders zu liebe aushalten, ertragen, mitmachen. Und das wäre einfach
alles kontraproduktiv“ (Körpertherapeutin: 221-222). Gleiches gilt für die Mit-
arbeiterInnen im Hospiz. Eine Pflegende weist darauf hin, dass auch den Team-
mitgliedern die komplementäre Praxis im Hospiz bzw. die Anwendung spezifi-
scher Verfahren nicht aufgezwungen werden sollte (Pflegende, Wickel und Auf-
lagen: 308-309).

Gefahren aus Sicht der MedizinerInnen

Aus der Sicht der MedizinerInnen werden komplementäre Ansätze dann gefähr-
lich, wenn sie in ihrer schulmedizinischen Tätigkeit gestört bzw. behindert wer-
den:

„Ja gefährlich ist in meinen Augen, wenn ich das Gefühl hab, ich kann meine Arbeit
nicht so gut tun. Ich kann die Symptome nicht so lindern, wie ich es eigentlich könn-
te, weil es aus einem anderen Grund nicht gewünscht ist. Das ist oft in Situationen
schwierig, aber wenn ich dann das Gefühl hab, da steht eine andere Therapie im
Vordergrund, wo ich das Gefühl hab, die ist nicht so gut, dann fällt es mir schwer.“
(GD B_PM: 1435)

Ärztin 5 (180-183) warnt vor der Applikation von Substanzen, die „mit einer
Belastung“ oder einer Gefährdung einhergehen bzw. deren therapeutischer Effekt
fragwürdig ist. Gefahren liegen außerdem in Substanzen oder Pillen, die übers
Internet angeboten bzw. bezogen werden und vermuten lassen, dass Geschäftsin-
teressen die Hauptmotivation sind (Ärztin 3: 93).

Integration komplementärer Verfahren im Hospiz

In den Interviews mit Leitenden sowie externen komplementären PraktikerInnen


wurde jeweils die Frage gestellt, ob sie die komplementären Anwendungen im
jeweiligen Hospiz als integriert empfinden. Im Rahmen der Auswertung der
Interviews zeigte sich jedoch, dass diese Frage nicht zielführend war, um den
Integrationsgrad komplementärer Anwendungen in den Hospizen zu „messen“,
weil sich manche Leitende scheinbar widersprüchlich zu dieser Frage äußerten.
In den Gruppendiskussionen wurde das Thema der Integration komplementärer
Verfahren unterschiedlich intensiv in den multiprofessionellen Teams diskutiert.
Die Integration komplementärer Verfahren in den Hospizen wird von den Inter-
viewten auf unterschiedlichen Ebenen beschrieben: auf Personenebene, auf
Teamebene und auf Organisationsebene. Diese drei Ebenen überschneiden sich
154 Claudia Wenzel

naturgemäß und sind daher auch nicht getrennt voneinander zu betrachten. Wei-
ters wird in vorliegendem Kapitel auf Faktoren, die die Integration komplemen-
tärer Verfahren im Hospiz fördern bzw. behindern, eingegangen und abschlie-
ßend werden konzeptuelle Berührungsstellen zwischen komplementären Ansät-
zen und Hospizarbeit/Palliative Care dargestellt.

Integration auf Personenebene

Aus den Interviews mit den externen komplementären PraktikerInnen geht her-
vor, dass die Integration der komplementären PraktikerInnen auf der Personen-
ebene grundlegend für die Integration der komplementären Verfahren im Hospiz
ist. Dabei stellt die Integration auf Personenebene kein einmaliges Ereignis,
sondern vielmehr einen – oftmals langwierigen – Prozess dar und muss mit je-
der/m Mitarbeiter/in individuell durchlaufen werden. Für eine externe Praktike-
rin war die Kommunikation mit den einzelnen Teammitgliedern ein Prozess, der
dazu beigetragen hat, dass sie sich „ernster genommen“ fühlte und sich mittler-
weile als „positive Ergänzung“ im Team sieht, ein Prozess, der letztlich auch mit
„jeder Pflegekraft individuell abgelaufen ist“ (Körpertherapeutin: 26). Dabei
verlaufen solche individuellen Integrationsprozesse nicht immer harmonisch:
„Natürlich erst mal die neue Person, die da das alles durcheinander bringt.
Abläufe die vorher da waren, da muss man die neue Person integrieren“ (Kör-
pertherapeutin: 201-203). Kunsttherapeutin 1 (490) erklärt, dass auch das Ver-
trauen auf persönlicher Ebene mit der Zeit wächst und eine wichtige Rolle im
Integrationsprozess spielt.
Durchwegs alle interviewten komplementären PraktikerInnen fühlen sich
auf Personenebene sehr gut in den jeweiligen Hospizen integriert. Eine externe
Praktikerin erlebt ihre Integration auf Personenebene, indem sie eine „unheimli-
che Wertschätzung“ ihr gegenüber wahrnimmt (Shiatsu-Praktikerin: 151), glei-
ches beschreibt Kunsttherapeutin 1 (524). Ein Kunsttherapeut nimmt wahr, dass
er im Team „nicht irgendwie ein Fremdkörper“ ist, sondern sich „ausgespro-
chen wohl fühlt“ (Kunsttherapeut 2: 167).
In den Interviews mit den Leitenden wird deutlich, dass vor allem die kom-
plementären Anwendungen im Rahmen der Pflege letztlich immer von engagier-
ten Einzelpersonen abhängen und von diesen gewissermaßen getragen werden
(L1: 82+74). Verlassen solche Personen das Hospiz bzw. wechseln den Arbeits-
platz, und hat eine Integration nur auf Personenebene stattgefunden, verschwin-
den meist auch die komplementären Anwendungen aus dem Hospiz. Dies bestä-
tigt auch eine Pflegende, die rückblickend auf die Anwendung verschiedener
komplementärer Verfahren im Hospiz resümiert, dass es immer eine Person
Heil sterben 155

braucht, die sich damit „beschäftigt“ und die anderen sozusagen mitzieht, da
diese Dinge ansonsten wieder verloren gehen (C_P1: 160).
Eine vollständige Integration der komplementären Angebote in die tägliche
Praxis aller Pflegepersonen ist jedoch in keinem Hospiz zu finden, ein Leitender
spricht in diesem Kontext vielmehr von „Bewusstseinsbildung“, die geleistet
werden muss (L3: 217). Aus den Aussagen der InterviewpartnerInnen geht her-
vor, dass eine hundertprozentige Integration auf Personenebene nicht erreicht
werden kann und auch von keinem/keiner der Leitenden als Ziel angestrebt wird.

Integration auf Teamebene

Die Integration der externen PraktikerInnen ins Team sowie deren Etablierung
auf Teamebene wird von einer Leitenden (L1: 86) als langwieriger Prozess be-
schrieben. Wichtig in diesem Prozess ist die Teilnahme an multiprofessionellen
Teambesprechungen sowie Fortbildungen (L1: 94, L5: 157-159), die leider nicht
in allen Hospizen von der Leitung forciert werden (L2: 138). Erst durch die In-
tegration der komplementären PraktikerInnen in die Teamsitzungen entsteht
„Transparenz“, die von allen Teammitgliedern sehr geschätzt wird und durch die
häufig Anregungen entstehen, die der Betreuung der Gäste zu Gute kommt:
„Dann wird das rund dadurch. Und kriegt noch einmal eine ganz andere Bedeu-
tung“, so eine Kunsttherapeutin im Rahmen einer Gruppendiskussion
(KU_GDB: 938-952). Kunsttherapeutin 3 (193) bemerkt ihre Integration im
Hospiz daran, dass die Teammitglieder wissen, zu welchen Zeiten sie anwesend
ist, und sich auch darauf einrichten indem sie beispielsweise ihre Pflegetätigkei-
ten auf die Anwesenheitszeiten der Kunsttherapeutin ausrichten. Integration hat
ihrer Ansicht nach (Kunsttherapeutin 3: 195-197) auch etwas mit Bewusstseins-
arbeit bei den Pflegenden zu tun, was letztlich daran sichtbar wird, ob und wie
Pflegende die komplementären Angebote in ihrer Arbeit mitdenken bzw. sie in
diese integrieren. Auch die Atemtherapeutin beschreibt, dass sie von Pflegenden
sehr gezielt aufgrund ihrer Kompetenzen geholt wird, was auf ihre Integration im
Team hinweist (Atemtherapeutin: 69). Für eine Pflegende gehört zur Integration
komplementärer Verfahren im Hospiz auch das gegenseitige Lesen der Doku-
mentation (A_PA: 98). Die Integration eines komplementären Verfahrens bedarf
vor allem einer wechselseitigen Wertschätzung und ein gemeinsames Tragen im
Team:

„..also [da ist] gleich eine ganz andere Wertschätzung und damit ist man ineinander
oder miteinander verzahnt. Und das macht die Sache so wertvoll. Shiatsu allein oder
Craniosacrale alleine hier in diesem Haus hätte keinen Bestand, ... wenn wir es ge-
meinsam nicht tragen würden.“ (A_PA: 98-106)
156 Claudia Wenzel

Integration auf Teamebene bedeutet jedoch nicht, dass alles gleich wird, sondern
vielmehr, dass das eigene Profil erhalten bleibt: „Wo es auch nicht darum geht,
alles zu vermischen und zu sagen ‚Integration heißt, wenn alles gleich ist. Wir
machen ja sowieso alle dasselbe‘, natürlich nicht. Also, das eigene Profil muss
noch da sein“ (Craniosacrale Osteopathin: 278).

Integration auf Organisationsebene

Leitende sprechen von Integration komplementärer Verfahren im Hospiz, wenn


etwas „regelmäßig und gezielt“ (L6: 130) stattfindet oder wenn es „Eingang in
die Pflegeplanung“ (L7: 124) gefunden hat. Für eine strukturelle Verankerung
der komplementären Angebote im Hospiz spricht sich auch eine komplementäre
Praktikerin aus: „... wenn man nur auf Abruf kommt, funktioniert eigentlich gar
nichts. Das heißt also dieser feste Rhythmus ist, glaube ich durchaus ein wichti-
ges Merkmal, dass etwas überhaupt läuft“ (Kunsttherapeutin 3: 220).
Die Integration der komplementären Praxis im Hospiz wird auch daran
sichtbar, ob komplementäre Verfahren prinzipiell vor der Schulmedizin zur An-
wendung kommen oder erst nachdem schulmedizinische Behandlungsmöglich-
keiten nicht gegriffen haben, oder wie ein Leitender es ausdrückt, „wenn wir so
krankenpflegerisch klassisch nicht mehr weiterkommen“ (L6: 209). So stellen
die komplementären Verfahren in einigen Hospizen lediglich eine „Parallelmög-
lichkeit“ (L2: 207) zur Schulmedizin dar.
Was die Integration komplementärer Anwendungen in die Pflege betrifft, so
müssten diese aus Perspektive der Leitenden ein fester Bestandteil in Fortbildun-
gen (L7: 128) sein und es bräuchte ein anderes Zeitbudget für Pflegende (L3:
221+233). Außerdem erscheint es wichtig, komplementäre Pflegeanwendungen
wie z.B. die Aromatherapie erst einmal „runter zu brechen, so dass es auch im
Alltag umsetzbar ist“ (L7: 128). In der Praxis kann dies durch die Bereitstellung
von Informationsmaterial, beispielsweise in Form von „Aromaköfferchen“, oder
durch die gemeinsame Erarbeitung von Unterlagen (z.B. Aromatherapie-
Mappen) im Team geschehen (L4: 424+446-458).
Im Vergleich zu externen komplementären PraktikerInnen, die von Gästen
mit ins Hospiz gebracht werden, sieht sich eine komplementäre Praktikerin im
Hospiz als dem Haus „zugehörig“ und damit auch verantwortlich, den institutio-
nellen Rahmen zu wahren: „Das heißt wir müssen die Qualität und den Rahmen
auch wahren, der hier gesetzt ist. Das find ich nochmal einen großen Unter-
schied“ (Craniosacrale Osteopathin: 234-235).
Auf organisationaler Ebene braucht es nicht nur einen entsprechenden Frei-
raum für die Arbeit der externen PraktikerInnen, sondern auch die Offenheit,
Heil sterben 157

verschiedene Zugänge und komplexe Sichtweisen zuzulassen respektive anzuer-


kennen, wie eine Kunsttherapeutin formuliert.

„Also mir gefällt natürlich hier, dass man sowohl einen Freiraum hat, eben komplex
zu arbeiten, also eine komplexe Sichtweise zu haben, dass es auch Anerkennung hat
von den anderen. Also dass man ein Teil des Ganzen ist. Und den Respekt den ge-
genseitigen, den finde ich einfach unglaublich wichtig. Ich glaube, der hat auch was
damit zu tun, dass man diese verschiedenen Zugänge ja auch zulässt.“ (F_KU: 961)

Faktoren, welche die Integration komplementärer Verfahren im


Hospiz fördern

In freistehenden Hospizen in Deutschland finden sich strukturelle (Rah-


men)Bedingungen, die die Integration von komplementären Ansätzen erleichtern
bzw. fördern. Eine Leitende empfindet diese Freiheiten als großes Geschenk.

„Einmal, dass wir mehr Freiheiten haben. Dass wir kleine Institutionen sind mit ei-
ner anderen Hierarchieform. Nicht so vielen Kontrollinstanzen, Apotheker, Chefarzt,
der uns da irgendwie reinredet. Sondern wir können auch einfach machen. Das ist
ein ganz großes Geschenk. Wir haben ganz viel Freiheiten.“ (L4: 364)

Für die Integration komplementärer Verfahren braucht es einen klaren Auftrag


sowie klare Rahmenbedingungen von der Leitungsebene. Eine komplementäre
Praktikerin sieht ihre Arbeit auf Ebene der Rahmenbedingungen des Hospizes
integriert, weil sie „den Auftrag auch von dem Haus“ hat und die MitarbeiterIn-
nen ihre „Arbeit kennen“ (Craniosacrale Osteopathin: 233-234).
Die Integration komplementärer Verfahren wird von den Interviewpartne-
rInnen als Prozess beschrieben, der vor allem viel Zeit benötigt. Eine komple-
mentäre Praktikerin schildert ihre Erfahrung aus einem Hospiz, indem eine Top-
Down Implementierung komplementärer Verfahren auf einem sehr hohen Niveau
angesetzt wurde, letztlich aber gescheitert ist. Nach einem Leitungswechsel gab
es dann einen viel langsameren, aber auch „organischen“ Integrationsprozess,
der letztlich viel tiefgreifender war: „Dann hat sich langsam so etwas wie eine
Integration der verschiedenen Maßnahmen oder Möglichkeiten eben auch der
Komplementärdinge entwickelt (..) eben, wie so ein Lernprozess aus dem Kontakt
mit den Menschen“ heraus (F_KU: 908-914).
Als zentral im Integrationsprozess beschreibt die Atemtherapeutin (40-41)
interne Fortbildungen im multiprofessionellen Team, die sie selbst geleitet hat.
Auch die Körpertherapeutin (215) beschreibt, wie durch Vorträge und Fortbil-
dungen für das multiprofessionelle Team zusammen mit dem Feedback der Gäste
158 Claudia Wenzel

über die komplementären Behandlungen letztlich ein Wandel im Team stattge-


funden hat, was die Anerkennung ihrer Arbeit im Hospiz betrifft.
Externe PraktikerInnen (Atemtherapeutin: 40-41, Craniosacrale Osteo-
pathin: 69-71) betonen, wie wichtig es für die multiprofessionellen Teammitglie-
der im Hospiz ist, auch eigene Erfahrungen mit komplementären Verfahren zu
machen:

„Und ich glaube, es war natürlich schon ähnlich wie bei Shiatsu auch, dass wenn
Mitarbeiter erleben das tut gut, können sie sich besser vorstellen und können auch
Gästen das besser vorschlagen oder was damit anfangen. Das ist was ganz Wichti-
ges.“ (Craniosacrale Osteopathin: 69-71)

Auch die Offenheit und Transparenz gegenüber den Teammitgliedern ist zentral
für die Integration komplementärer Verfahren im Hospiz. So hat zum Beispiel
die Atemtherapeutin Kollegen und Kolleginnen mit in die Zimmer der Gäste
genommen, wenn komplementäre Behandlungen stattfanden, um ihnen einen
Eindruck ihrer Arbeit zu verschaffen (Atemtherapeutin: 40-41). Auch Kunstthe-
rapeutin 3 erklärt, wie wichtig es für den Integrationsprozess im Hospiz war, ihre
Arbeit immer wieder „nach außen“ zu tragen und von den Ereignissen zu erzäh-
len, weil sich die Teammitglieder oft nicht vorstellen konnten, was konkret da
passiert: „Als ich dann über sozusagen einzelne kleine Geschichten oder Erleb-
nisse die Situationen beschrieben habe, dann haben sie verstanden, was da sozu-
sagen noch in Gang kommen kann. (..) Und daraufhin bin ich auch besser inte-
griert worden“ (Kunsttherapeutin 3: 187-189). So wie die Offenheit nach innen
– also ins Team – ist auch die Öffnung nach außen, z.B. durch Ausstellungen von
Bildern der Gäste im Hospiz (Kunsttherapeutin 1: 536), von großer Bedeutung
für die Integration komplementärer Anwendungen.

Faktoren, welche die Integration komplementärer Verfahren im Hospiz


behindern

Leitungspersonen beschreiben, wie eine Integration komplementärer Verfahren


im Team aufgrund von Ängsten von MitarbeiterInnen (vor allem in Bezug auf
körpertherapeutische Verfahren) (L5: 226), durch eine strikte Ablehnung spezifi-
scher Verfahren aus persönlichen Gründen (L5: 246) oder aus Desinteresse (L7:
124) verhindert wird.
Wenn bei Pflegepersonen zu wenig Wissen bzw. Unsicherheit in der An-
wendung komplementärer Verfahren (zum Beispiel Aromatherapie) besteht, dann
Heil sterben 159

wird letztere oft nicht angewandt, aus Angst, etwas „falsch zu machen“ (GD_D:
121-125).
Pflegende weisen darauf hin, dass komplementäre Ansätze auch immer
wieder „einschlafen“ bzw. „aus dem Kopf verschwinden“, wenn man sie nicht
fortwährend anwendet (GD_D: 73-76) bzw. wenn es „nicht mit Freude weiterge-
führt“ wird (D_P2+stvL: 115). Integration externer komplementärer Angebote
wird hingegen verhindert, wenn komplementäre PraktikerInnen nur auf Abruf
bereit stehen:

„Ja, ich würde mir wünschen, dass wir eine gute Musiktherapie und regelmäßig, al-
so integriert da drin haben. Wir haben zwar jemanden, den wir mal anrufen können,
aber das ist genau wie mit anderen Angeboten, wenn das nicht irgendwo fest, etwas
fester im Kopf ist, etwas fester etabliert, dann geht das so ein bisschen verloren, geht
einfach aus dem Kopf raus.“ (Ärztin 4: 161-162)

Wenn die Kommunikation im Team nicht klar ist oder der Auftrag von Seiten der
Leitung nicht klar an die MitarbeiterInnen kommuniziert wird, wirkt sich dies
negativ auf die Integration komplementärer Verfahren bzw. deren Anwendung
aus (GD_C: 35-47).

Konzeptuelle Berührungsstellen zwischen komplementären Ansätzen und


Hospizarbeit/Palliative Care

Von den multiprofessionellen Teammitgliedern im Hospiz konnten konzeptuelle


Berührungspunkte zwischen komplementären Verfahren und Palliative Care in
den Interviews und Gruppendiskussionen – selbst auf Nachfrage – nicht (immer)
explizit benannt werden. In vielen Aussagen bzw. Zitaten werden jedoch indirekt
Berührungspunkte sichtbar und sollen im Folgenden dargestellt werden.
Als konzeptionellen Berührungspunkt zwischen Hospizarbeit und komple-
mentären Verfahren sieht eine Leitende die Tatsache, dass auch die Hospiz-
bewegung „alternativ angefangen“ habe (C_L: 543). Als gemeinsames Ziel von
Hospizarbeit und komplementären Verfahren sieht eine Pflegende das Bemühen
um eine gute Lebensqualität in der letzten Lebenszeit (B_P2: 2004-2009). Eine
Leitungsperson beschreibt wie Lebensqualität für Gäste sowie deren An- und
Zugehörige im Hospiz durch komplementäre Verfahren erhalten bzw. verbessert
werden kann: „Man kann ihnen durchaus Lebensqualität geben und auch emoti-
onal durch Aromapflege, ja eine Lebensqualität bereiten oder erhalten. Und es
ist auch eine Sache, die in der Interaktion zu den Angehörigen nochmal sehr
positiv ist“ (L7: 144).
160 Claudia Wenzel

Eine Voraussetzung für die komplementäre Praxis im Hospiz und einen


Grundpfeiler von Palliative Care stellt die multiprofessionelle Teamarbeit dar.
Eine Pflegende beschreibt, wie dieses Multidisziplinäre zum Prozess des Ster-
bens gehört.

„Und das macht das Arbeiten wertvoll, also ich finde die Arbeit wertvoll mit den
ganzen anderen Puzzleteilen oder Mitarbeitern aus verschiedensten Aspekten. Die-
ses Multidisziplinäre, was zur Ganzheit oder zur Ganzheitlichkeit auch des Hei-
lungsprozesses in den Prozess des Sterbens dazugehört, das ist menschlich.“ (F_P1:
972)

Eine Leitungsperson verweist auf die Beziehung(sarbeit) als Grundlage von


Hospizarbeit sowie vieler komplementärer Verfahren: „Und die komplementären
Therapien bauen sehr viel auf Beziehung auf, nicht alle, aber viele. Und das
erfordert einfach ein grundsätzliches Umdenken“ (L5: 242). Eine Leitende sieht
die Haltung dem Menschen gegenüber als zentrales verbindendes Element zwi-
schen komplementären Verfahren und Palliative Care (L2: 170).
Vor allem Leitende sehen in komplementären Verfahren eine Möglichkeit,
auf Menschen individuell einzugehen bzw. diese individuell abzuholen (C_L:
531, L7: 144).

„Ich glaube, wir wollen die Menschen sehr individuell abholen. Ihnen noch etwas
Gutes tun. Und über Mittel und Wege nachdenken, wie kann ich Dir etwas Gutes
tun?
(…) Ich kann ihnen ja nichts mehr Heilmachen, im Sinne, dass ich jetzt was reparie-
re, physisch irgendwas an ihm mache. Aber ich kann ihm etwas zutrauen, ihn unter-
stützen, ihm ein Gefühl vermitteln, dass ihn Geborgenheit spüren lässt.“ (L3: 185-
189)

Manchmal ist die Nutzung komplementärer Verfahren auch Teil der Biographie
der Menschen: „Es gibt ja auch Lebensläufe da gehören solche Dinge ganz fest
mit in das Alltagsgeschehen. Von komplementären Dingen oder auch von Medi-
tation oder Gebet oder ähnliches“ (L2: 154).
In vielen Interviews bzw. Gruppendiskussionen wird Ganzheitlichkeit als
Berührungspunkt zwischen komplementären Verfahren und dem Konzept der
Palliative Care genannt (B_PA: 2004-2009, E_P3: 632, E_P1+AT: 643, L6: 226).
Eine Pflegende bringt es folgendermaßen zum Ausdruck: „Ganzheitliche Pflege
in dem Sinne: Körper, Geist und Seele, das gehört da alles dazu“ (D_P3: 220),
während für eine Leitungsperson ein Zusammenhang zwischen ganzheitlichem
Denken und Natur(verbundenheit), auch im Kontext von Palliative Care, besteht.
Heil sterben 161

„Und da bin ich wieder so bei dem ganzheitlich Denken. (..) Mit der Natur zu leben,
aus der Natur zu leben. (..) Wie oft begleiten wir hier Menschen, die mehr Vertrauen
in Homöopathie haben, die neben einer Chemotherapie immer noch Mispelprä-
parate nehmen, die (..) ganz viel Vertrauen darin haben, was Mutter Erde, ich mach
mal das Bild auf, was Mutter Erde uns gibt, so. Und darum glaub ich sind wir gera-
de an diesem Punkt, da geht es ja so existentiell um Sachen: Was macht mein Leben
aus? Ist mein Leben endlich, wie geht es weiter? Das passt für mich irgendwie dazu,
sag ich jetzt einmal.“ (L3: 193)

Die Intention der interviewten PraktikerInnen bei der Anwendung komplementä-


rer Verfahren stimmt mit der ursprünglichen Absicht der Hospizbewegung über-
ein, in der es um die Begleitung des Sterbens, um das Loslassen und nicht um die
Bekämpfung von Symptomen geht:

„Die Frage ist ja auch immer, was will ich mit diesen alternativen, mit dieser alter-
nativen Heilmethoden bezwecken? Was ist das Bild davon? Und da kann, das ist
vielleicht bei einer Akupunktur eher wirklich ein ähnliches Ziel, wie ich mit meinen
Tabletten verfolgen würde, also ganz klar, bestimmte Symptome zu bekämpfen. Und
es kann aber eben bei anderen Bereichen, also wenn ich so von der palliativen Kör-
pertherapie unserer Heilpraktikerin ausgehe, die kann unter Umständen Lymph-
drainage über die Füße machen, das ist mehr, da verfolgt sie einen ganz bestimmten
Zweck sagen wir mal, aber sie kann auch mehr im Sterben begleiten, ins Loslassen.“
(L5: 267)

Die Atemtherapeutin sieht in komplementären Verfahren Zugänge zum „Nicht-


Machbaren“ und Nicht-Wissen, denn auch Sterbende wissen nicht, was sie er-
wartet, und brauchen genau auf diesem Weg ins Unbekannte Unterstützung und
Begleitung.

„Es scheint alles mehr machbar. Und auf Ihre Frage, deswegen finde ich es wichtig,
dass die komplementären Behandlungsmethoden die eben mehr in diesen Bereich,
dieses Nichtwissens hineingehen, die sich trauen, da hinein zu gehen, darum ist es
so wichtig, dass es die gibt. Weil die Patienten gehen genau da hin. Sie gehen eben
in den Bereich, wo sie es auch nicht mehr wissen. Und wenn sie da eine Begleitung
finden, das halte ich für ebenso wichtig wie, dass sie eine gute ja Schmerzmedikati-
on oder mit der Übelkeit oder was immer ist, dass sie das auch kriegen. (..) Also ja
dieses … dieses Weichere, dass dieses Weichere und dieses Unbekannte einfach
Raum hat, haben darf.“ (Atemtherapeutin: 371-372).

Multiprofessionelle Teammitglieder benennen Spiritualität als Berührungspunkt


zwischen komplementären Verfahren und Palliative Care (D_PB: 216), wobei
erstere aus Perspektive einer Palliativmedizinerin „vielleicht auch (..) leichter zu
erreichen ist als mit schulmedizinischen Ansätzen“ (B_PM: 2048-2060).
162 Claudia Wenzel

Eine Pflegende versteht körperliche Erkrankung auch als Teil eines seeli-
schen Prozesses und sieht die Möglichkeiten komplementärer Anwendungen im
Hospiz darin, Menschen in ihrer „Heilwerdung um Abschied zu nehmen“ zu
unterstützen.

„Heil sein heißt ja auch ein Stück das Funktionieren aller Zusammenhänge im Kör-
per. Die [Menschen] sind jetzt körperlich sehr krank. Oft ist ja körperliche Erkran-
kung auch ein Teil eines seelischen langen Prozesses, bis es sich im Körper zeigt.
Seele, Geist, Körper, das ist ja eine Einheit. Und die ist auseinander gefallen bei
diesen Menschen, wie ein Puzzlespiel, das sich auseinander gesetzt hat. In diesem
Krankheitsprozess, den sie hier erleben, sind wir hier praktisch diejenigen, die ver-
suchen, diese Teile wieder zu einem Stück zusammenzusetzen, damit sie vielleicht
sogar gehen können. Also so eine Heilwerdung, um Abschied zu nehmen. Ich denke,
das ist so das, was wir noch machen können. Sie werden ja nicht mehr richtig ge-
sund, dass sie weiterleben. Ich mein, wir sind ja auch alle nicht unsterblich.“
(F_P1: 107)

„Komplementärzeit im Hospiz“ – Zusammenfassung und Interpretation der


empirischen Ergebnisse

In vorliegendem Abschnitt sollen, basierend auf den empirischen Ergebnissen,


grundlegende Elemente der komplementären Praxis im Hospiz zusammenge-
fasst, deren Verbindungen reflektiert und im Hinblick auf ihre Bedeutung für
Hospizarbeit und Palliative Care interpretiert werden.
Die empirischen Ergebnisse zeigen, dass eine Vielzahl an unterschiedlichen
komplementären Heilverfahren in freistehenden Hospizen in Deutschland An-
wendung finden und in jedem Hospiz ein nahezu einzigartiges Angebot kom-
plementärer Verfahren existiert, das im Rahmen des Bestehens der Hospize –
meist organisch – (mit)gewachsen ist. Hier werden Vorgänge der Exklusion und
Inklusion – vor allem auf Leitungsebene – wirksam, die bestimmen, welche
komplementären Verfahren bzw. welche externen PraktikerInnen Eingang in das
Hospiz finden (dürfen).
Die von den Leitenden beschriebene institutionelle Freiheit und die, im
Gegensatz zu konventionellen klinischen Einrichtungen flachere Hierarchieform
im Hospiz, bilden die (organisationale) Grundlage für die Anwendung komple-
mentärer Heilverfahren. Gerade die Freiheit im Hospiz, in Bezug auf Auswahl
und Anwendungspraxis komplementärer Heilverfahren, korrespondiert mit einer
prinzipiellen Offenheit für komplementäre Ansätze, die wiederum „komplemen-
täre Menschen“, wie es die Teilnehmerin einer Gruppendiskussion treffend for-
muliert hat, anzieht.
Heil sterben 163

Für die Anwendung und Nutzung komplementärer Verfahren im Hospiz ist


das Zusammenwirken einer Vielzahl von Bedingungen auf struktureller Ebene,
auf Teamebene, auf Seiten der BehandlerInnen und auf Seiten der Behandelten
Voraussetzung (siehe Abbildung 10).

Abbildung 10: Voraussetzungen und Bedingungen für die komplementäre


Praxis im Hospiz

Je weniger von diesen Voraussetzungen erfüllt werden, desto höher ist die Wahr-
scheinlichkeit, dass komplementäre Verfahren nur punktuell angewandt werden
oder wieder aus dem Hospiz verschwinden. Dabei fungieren die strukturellen
Freiheiten gewissermaßen als Eingangstor, damit komplementäre Verfahren bzw.
PraktikerInnen überhaupt den Weg ins Hospiz finden. Auf Teamebene sind vor
allem interdisziplinäre Kommunikation, Vertrauen und gegenseitige Wertschät-
zung von Nöten, damit eine gelingende multiprofessionelle Teamarbeit im Kon-
text der komplementären Praxis stattfinden kann. Die Qualität der Anwendung
hängt jedoch sehr stark von den Voraussetzungen auf Seiten der BehandlerInnen
und deren Reflexionsfähigkeit ab.
164 Claudia Wenzel

Was die AnbieterInnen, die Inanspruchnahme und Nutzung komplementärer


Verfahren im Hospiz betrifft, so kann zwischen Angeboten von externen Prakti-
kerInnen und internen MitarbeiterInnen im Hospiz (Leitende, Pflegende, Ehren-
amtliche) unterschieden werden.
Innerhalb der Pflege können Konflikte um die exklusiven Rahmenbedin-
gungen (der externen PraktikerInnen) oder um die (bislang) exklusive Beziehung
zum Sterbenden bzw. um den sterbenden Körper entstehen.
Die Umsetzung komplementärer Anwendungen im Rahmen der Pflege
bedeutet einen zusätzlichen Zeitaufwand, was die Unterstützung bzw. Rücksicht-
nahme nicht nur von KollegInnen, sondern vor allem auch von Leitungsebene
voraussetzt. Vorab vereinbarte Zeiten für komplementäre Anwendungen würden
es Pflegenden erlauben, sich völlig auf die PatientInnen zu konzentrieren, ohne
Angst haben zu müssen, die komplementäre Behandlung nicht in Ruhe zu Ende
führen zu können bzw. abbrechen zu müssen. Externe komplementäre Praktike-
rInnen haben hingegen meist ein klar abgegrenztes Aufgabengebiet und können
sich so mit voller Aufmerksamkeit den PatientInnen widmen.
Obwohl die Gäste im Hospiz jeweils als die HauptadressatInnen komple-
mentärer Angebote fungieren, zeigt die Praxis in den Hospizen, dass meist auch
An- und Zugehörige (auf direktem oder indirektem Weg) (mit)behandelt werden
und je nach Hospizkonzept auch die MitarbeiterInnen im Hospiz die komple-
mentären Angebote nutzen dürfen. Auch wenn keine offizielle Nutzung für Mit-
arbeiterInnen von Seiten der Leitung vorgesehen ist, behandeln sich KollegInnen
gegenseitig bei akutem Bedarf sozusagen „inoffiziell“. In den Hospizen scheint
sich eine implizite Anwendungs- und Nutzungspraxis komplementärer Heilver-
fahren entwickelt zu haben, die einerseits sehr stark von Zugangsreglementie-
rungen (wer darf die komplementären Angebote wann und in welcher Form
nutzen?) geprägt ist und die unterschiedlich stark von den Professionellen in den
jeweiligen Hospizen reflektiert wird.
Heil sterben 165

Abbildung 11: AnbieterInnen und Inanspruchnahme der alternativen


Angebote im Hospiz

Einen Überblick über den Prozess der Auswahl komplementärer Angebote für
Betroffene bzw. die Zuweisung zu (externen) komplementären PraktikerInnen im
Hospiz gibt Abbildung 12.

Abbildung 12: Auswahl komplementärer Angebote und Zuweisung zu


komplementären PraktikerInnen
166 Claudia Wenzel

Die Pflegenden besitzen eine Schlüsselrolle in diesem Prozess. Die Verantwor-


tung für die Auswahl bzw. Empfehlung von komplementären Angeboten darf
jedoch nicht an einzelne Pflegepersonen delegiert, sondern muss gemeinsam
vom multiprofessionellen Team getragen werden.
Da die Bedürfnisse am Lebensende rasch wechseln, ist es im Rahmen der
komplementären Praxis zentral, dass das Einverständnis der Betroffenen vor
jeder Behandlung, zumindest verbal oder nonverbal eingeholt wird und auch auf
Teamebene hinterfragt wird, ob die jeweilige/n Behandlung/en noch erwünscht,
adäquat und sinnvoll für die Betroffenen sind. In der Art und Weise wie kom-
plementäre Verfahren angeboten werden, sollte jedenfalls die Möglichkeit liegen,
dass sie auch abgelehnt werden bzw. sollten die Betroffenen vorgeben, wie oft
und in welchen Abständen sie die komplementären Behandlungen wünschen
(soweit dies im Rahmen der Finanzierung und Möglichkeiten des jeweiligen
Hospizes liegt).
Die komplementäre Praxis in den Hospizen zeigt, dass der Einbezug von
An- und Zugehörigen auf sehr unterschiedliche Weise erfolgen kann (siehe Ab-
bildung 13).

Abbildung 13: Einbezug von An- und Zugehörigen in die komplementäre


Praxis im Hospiz
Heil sterben 167

Am Beispiel der Behandlung der An- und Zugehörigen wird die systemische
Wirkung der komplementären Anwendungen sehr gut sichtbar. Oftmals brauchen
An- und Zugehörige viel dringender Aufmerksamkeit und Unterstützung am
Lebensende ihrer Bezugsperson, vor allem, wenn sie durch vorangegangene
lange Krankheit des nahe stehenden Menschen oder eine über Jahre dauernde
Pflegesituation, körperlich und psychisch stark belastet sind. Die Entlastung der
An- und Zugehörigen bedeutet dabei auch immer eine Entlastung der Sterben-
den.
Die empirischen Ergebnisse zeigen, wie An- und Zugehörige auf vielfältige
Weise von komplementären Behandlungen profitieren: Sie finden Entspannung
und Ruhe, können gewissermaßen „Verschnaufpausen“ einlegen und erhalten
Zugang zu und Ausdrucksmöglichkeit von eigenen (oft unerlaubten) Gefühlen
wie Wut, Verzweiflung oder Trauer. Komplementäre Verfahren bzw. PraktikerIn-
nen unterstützen die nonverbale und emotionale Kommunikation mit Sterbenden,
verhelfen zu ressourcenorientierter Wahrnehmung und ermöglichen manchmal,
noch etwas für den sterbenden Menschen zu tun (z.B. ein Bild im Rahmen der
Kunsttherapie zu malen). Sie fungieren gewissermaßen als Begleitung im Ab-
schieds-, Sterbe- und Trauerprozess und helfen An- und Zugehörigen beim Pro-
zess des Loslassens.
Was das multiprofessionelle Team und die interdisziplinäre Zusammenar-
beit im Hospiz betrifft, so zeigen die Ergebnisse, dass die komplementäre Praxis
im Hospiz interprofessionelle Teamarbeit erfordert und gleichzeitig spezielle
Formen der Teamkultur forciert. Dabei wird eine gemeinsame Haltung sowohl
von Pflegenden als auch von komplementären PraktikerInnen als zentrales ver-
bindendes Element in Bezug auf die Anwendung komplementärer Verfahren
beschrieben.
Durch die komplementäre Praxis werden Pflegende in ihrem professionellen
Selbstverständnis herausgefordert und zur Reflexion und Weiterentwicklung der
eigenen Rolle angeregt. Dies zeigen Ergebnisse aus einer Gruppendiskussion, in
denen Pflegende die prinzipielle Notwendigkeit externer PraktikerInnen im Team
in Frage stellen, da sie die ganzheitliche Pflege im Hospiz in ihrem Kern als
„komplementär“ wahrnehmen.
Einige Pflegende erkennen durchaus die Bedeutung der externen Praktike-
rInnen an, die neben der Eröffnung neuer Sichtweisen auf Gäste, An- und Zuge-
hörige auch Entlastung für die eigene professionelle Tätigkeit bringen und somit
das Team von außen stabilisieren. Die Bedeutung der externen komplementären
PraktikerInnen für das multiprofessionelle Team liegt also nicht nur in ihrer
komplementären Praxis, sondern vielmehr in ihrer Rolle als Externe, in der sie
nicht nur mehr Freiheiten besitzen, sondern durch das ständige Ein- und Austre-
168 Claudia Wenzel

ten strukturelle Abläufe im Hospiz irritieren bzw. zur Reflexion anregen und
damit den Kern des „Hospizlichen“ lebendig halten und bewahren helfen.
Ähnlich in ihrer Bedeutung als externe MitarbeiterInnen für das Hospiz, ist
die Rolle der Ehrenamtlichen, im Kontext der komplementären Praxis, durchaus
ambivalent. Die empirischen Ergebnisse zeigen, dass Leitende und hauptamtli-
che MitarbeiterInnen nur wenig bis gar kein Wissen über die „komplementären“
Qualifikationen von Ehrenamtlichen besitzen und deren Wissen bzw. vorhandene
Ressourcen somit weitgehend ungenutzt bleiben. In einigen Hospizen unterstüt-
zen ehrenamtliche MitarbeiterInnen die externen PraktikerInnen (z.B. im Rah-
men der Kunsttherapie) oder die Professionellen (z.B. beim Sammeln von Heil-
kräutern für die Herstellung von Ölen für die Aromatherapie). Die mangelnde
Integration der Ehrenamtlichen in Bezug auf die komplementäre Praxis hat in
einigen Hospizen dazu geführt, dass Ehrenamtliche auch ohne Wissen der Lei-
tung komplementäre Verfahren angeboten bzw. praktiziert haben und es zu Über-
schneidungen mit offiziellen Angeboten gab. Die strukturelle Einbindung ehren-
amtlicher MitarbeiterInnen in die komplementäre Praxis im Hospiz wäre vor
allem im Hinblick auf deren zeitliches Potenzial (z.B. komplementäre Anwen-
dungen auch am Wochenende fortzuführen), für die Möglichkeit auf individuelle
Bedürfnisse der Betroffenen einzugehen sowie wie für die Entlastung des Teams
gleichermaßen bedeutend.
Durch die Anwendung und Nutzung komplementärer Verfahren im Hospiz
werden nicht nur professionelle bzw. fachliche Grenzen markiert und manchmal
auch Grenzkonflikte hervorgerufen, sondern auch professionelle Grenzen über-
schritten, sei es von Ehrenamtlichen oder auch von den Professionellen selbst.
Grenzüberschreitungen im Rahmen der komplementären Praxis im Hospiz wer-
den von den MitarbeiterInnen selbst am deutlichsten im Zusammenhang mit der
Grenzüberschreitung zur Schulmedizin und hier insbesondere bei der Verabrei-
chung von Substanzen wahrgenommen, vor allem wenn MedizinerInnen Kontra-
indikationen oder gefährliche Nebenwirkungen befürchten.
Das Thema der Grenzüberschreitungen beinhaltet die Frage, wie mit Regeln
und Regelverletzungen umgegangen wird. Gerade im Kontext der komplementä-
ren Praxis zeigt sich, dass selbst Regelverletzungen (z.B. professionelle Grenz-
überschreitungen) nicht (sofort) oder nur in schwerwiegenden Fällen sanktioniert
werden (z.B. wenn Gäste im Hospiz zu Schaden kommen oder das Team
destabilisert wird).
Das Hospiz kann in diesem Sinn als Ort der Grenzüberschreitung (vom
Leben zum Tod) verstanden werden, wo Regeln nicht (immer) beachtet werden,
weil auch der Tod sich nicht an Regeln hält. Dies spiegelt sich auch im subjekti-
ven Empfinden der MitarbeiterInnen wieder, die Grenzüberschreitungen retro-
Heil sterben 169

spektiv als durchaus regelwidrig wahrnehmen, aber gleichzeitig als intuitiv rich-
tig bzw. der Situation angemessen bewerten. 20

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20 Die vollständigen Ergebnisse aus diesem Dissertationsprojekt wurden 2014 im Hospizverlag


unter dem Titel: „Heil sterben – Alternative Ansätze für eine ganzheitliche Begleitung Ster-
bender in Hospizarbeit und Palliative Care“ im Band VI Schriftenreihe des Wissenschaftlichen
Beirats im DHPV e.V. publiziert.
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Grounded Theory – eine kommentierte Literaturliste
Christine Dunger

Die Grounded Theory ist, als einer der wichtigsten und bekanntesten For-
schungsansätze der qualitativen Sozialforschung, Gegenstand fast jeden Lehr-
buchs oder jeder Übersicht zu den qualitativen Methoden. Abgesehen von diesen
Kurzdarstellungen, die sich oftmals an Studenten wenden, welche sich in For-
schungsmethoden einarbeiten, gibt es zahlreiche Bücher, deren Gegenstand die
Grounded Theory als Methodologie ist. In diesen Büchern sind entsprechende
Theorien mittlerer Reichweite und oftmals auch die spezifische Anwendung der
Grounded Theory beschrieben. Bei der dritten Art der Literatur zur Grounded
Theory, um die es in diesem Kapitel vornehmlich geht, handelt es sich um
Grundlagenliteratur.
Die folgende Literaturübersicht widmet sich also der kurzen Darstellung
ausgewählter grundlegender Beiträge zur Grounded Theory. Dabei werden ver-
schiedene Verfahrensvorschläge (siehe Kapitel 2) berücksichtigt. Der Fokus liegt
jedoch deutlich auf der durch Strauss verfolgten und etablierten Verfahrensweise
und ihrer entsprechenden Interpretationen. Die durch Glaser veröffentlichten
Monographien werden nicht ausführlich beschrieben, sondern finden sich in der
ergänzenden Literatur wieder.
Im zweiten Teil der Literaturliste werden Journalartikel vorgestellt, die die
Methoden-, wie auch die Ergebnisdarstellung in dieser Form verdeutlichen sol-
len. Zuletzt folgt der Verweis auf weiterführende, meist englischsprachige, Lite-
ratur und Langversionen der Ergebnisdarstellung von Grounded Theory Studien.
Die Einteilung der Literatur orientiert sich an drei Kategorien:

1. Grundlagenliteratur, die als gute Einführung dienen kann, allgemeine As-


pekte der Grounded Theory erläutert und/ oder verschiedene Ansätze dar-
stellt.
2. Journal publizierte Grounded Theory Studien zum Thema Lebensen-
de/Palliative Care.
3. Weiterführende Literatur.

M. W. Schnell et al. (Hrsg.), Palliative Care und Hospiz, Palliative Care und Forschung,
DOI 10.1007/978-3-658-07664-1_5, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
176 Christine Dunger

1. Grundlagenliteratur

Strauss, Anselm L.: Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Datenanalyse und


Theoriebildung in der empirischen soziologischen Forschung. Fink, 2. Auflage,
München 1998
Anselm L. Strauss stellt in diesem Buch, das sich, unter dem Label der Grundla-
gen qualitativer Sozialforschung, der Grounded Theory widmet, die durch ihn
weiterentwickelte Datenanalyse und Theoriebildung im Rahmen der Methode
vor. In einer ausführlichen, aber allgemein gehaltenen Einführung, legt er dazu
die Grundzüge der Grounded Theory dar und gibt somit einen ersten Überblick
zur Anwendung. Diese Einführung gliedert sich in zwei Abschnitte. Im ersten
werden wesentliche Voraussetzungen verdeutlicht, die den Umgang mit dem
Datenmaterial und Theorie, wie Regeln angehen. Auch die qualitative Datenana-
lyse mit ihrer grundlegenden Logik und zentralen Begriffen wird erläutert. Im
zweiten Abschnitt wird die Grounded Theory Methodologie mit ihren Grundan-
nahmen und Verfahrensweisen vorgestellt.
In den darauffolgenden Kapiteln erläutert er anhand zahlreicher Beispiele
aus der eigenen Forschungspraxis, den Forschungsprozess. Dabei geht er immer
wieder auf die Bedeutung gemeinsamer Analysen und die Intersubjektivität ein,
die durch die gegebenen Analysebeispiele deutlich wird.
Ausgehend von der Datenerhebung, über die Datenanalyse, bis hin zur
Theoriegenerierung erläutert er transparent und in verständlicher Sprache, wie
das Vorgehen gestaltet werden kann. Immer wieder treten Hinweise zum Ver-
meiden unsystematischer Arbeitsweisen und zu notwendigen Arbeits-/Rahmen-
bedingungen auf.
Insbesondere durch die übersichtliche Darstellung, wie die einfache Spra-
che, ermöglicht das Buch einen Einstieg in die Grounded Theory Methodik.
Aktuelle Diskussionen, unterschiedliche Positionen, wie die wissenschaftstheo-
retische Diskussion und Kontroversen werden jedoch nicht thematisiert. Es han-
delt sich somit um ein Handbuch für Lehre und Forschung, in dem insbesondere
die zahlreichen Beispiele zur Auswertung, dem Gebrauch von Memos oder den
Nutzen von zusammenfassenden Darstellungen hilfreich sind.

Anselm L. Strauss & Juliet Corbin. Grundlagen Qualitativer Sozialforschung.


Beltz, Psychologie Verlags Union, Weinheim. 1996
Wie auch das gleichnamige Buch von Strauss (s.o.), widmet sich diese Darstel-
lung der "Grundlagen qualitativer Sozialforschung" keinesfalls der allgemeinen
Darstellung qualitativer Methoden. Dieses von Strauss in Zusammenarbeit mit
Corbin veröffentlichte Grundlagenbuch erläutert relevante Begriffe und Konzep-
te der Grounded Theory Methodologie. Ebenso werden ihr Prozess und in die-
Grounded Theory – eine kommentierte Literaturliste 177

sem auftretende Fragen aufgegriffen. Beispiele hierfür sind der Umgang mit
wissenschaftlicher und nicht-wissenschaftlicher Literatur, oder die Analyse von
Fällen, die nicht in die bisher entwickelte Theorie zu passen scheinen. Diese auf
den Forschungsverlauf abgestimmten Themen erlauben auch, das Buch als direk-
te Hilfestellung im Forschungsverlauf zu benutzen.
Die Erläuterungen sind sprachlich verständlich. Der Aufbau und die Gliede-
rung sind klar und nachvollziehbar. So wird nach einer grundlegenden Einfüh-
rung, die auch die Geschichte und den Kontext der Grounded Theory berück-
sichtigt, auf die Techniken und das Vorgehen derselben eingegangen. Im letzten
Abschnitt des Buches greifen Strauss und Corbin neben der Erläuterung von
Memos und Diagrammen, das Publizieren und Bewerten von Grounded Theory
Studien auf, d.h. auch zu diesem wichtigen Teil des Forschungsprozesses gibt es
Erläuterungen.
Insgesamt ist das Buch didaktisch gut durchdacht und auf die Fragen wie
Bedürfnisse von Einsteigern abgestimmt. Es kann aber auch hilfreiche Hinweise
für erfahrenere Forscher beinhalten. Es ist zur Einarbeitung in die Grounded
Theory sehr zu empfehlen, da die zwangsläufige Spannung zwischen der Kom-
plexität der Grounded Theory Methodologie und einer einfachen, verständlichen
Darstellung sehr gut aufgelöst wird. Hier liegt die Besonderheit dieses Grundla-
genbuches.

Barney G. Glaser & Anselm L. Strauss. Grounded Theory. Strategien qualitati-


ver Sozialforschung. 3. Auflage (2010). Verlag Hans Huber, Bern.
Dieses, in der ersten Auflage in den 1970er Jahren unter dem Titel „The Disco-
very of Grounded Theory“ erschienene Buch, gilt mittlerweile als Klassiker im
Rahmen der qualitativen Sozialforschung. Ziel ist die Darstellung und Erläute-
rung der Grounded Theory als Forschungsstrategie. Als solche spricht das Buch
Lernende und Lehrende, d.h. Anfänger, als auch fortgeschrittene Forscher an.
Seit ihrer Entwicklung durch Glaser und Strauss ist die Grounded Theory in
vielen wissenschaftlichen Disziplinen zum festen Begriff in der qualitativen
Sozialforschung geworden. Sie bietet eine Antwort auf die Problematik der Dif-
ferenz von Praxis, hier als Forschungspraxis der empirischen Sozialforschung,
und Theorie.
Ausgehend von der Vorstellung einer möglichen Theoriegenerierung durch
komparative Analysen, d.h. über die Einbeziehung empirischen Datenmaterials,
über die flexible Nutzung dieses Materials, bis hin zu den sich daraus ergeben-
den Implikationen, gibt das Buch den Begründungsrahmen der Grounded Theory
Methodologie wieder. Besonders interessant ist die Darstellung einer theoreti-
schen Auswertung quantitativer Daten, die sonst sehr selten in Büchern der qua-
litativen Sozialforschung zu finden ist.
178 Christine Dunger

Als gemeinsames Werk ihrer Erfinder, lassen sich die Grundideen der Ent-
wicklung der Grounded Theory nachvollziehen. Die weiterentwickelten Positio-
nen von Glaser wie Strauss, bzw. Strauss und Corbin finden sich hier natürlich
nicht. Insofern ist das Buch ein Ausgangspunkt für eine Auseinandersetzung mit
der Methodologie. Für die konkrete Anwendung der Grounded Theory empfiehlt
es sich neuere Literatur hinzuzuziehen.

Jörg Strübing. Grounded Theory. Zur sozialtheoretischen und epistemologischen


Fundierung des empirischen Verfahrens der empirisch begründete Theoriebil-
dung. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. VS Verlag für Sozialwissenschaf-
ten, Wiesbaden 2008
Der Untertitel des Buches „Zur sozialtheoretischen und epistemologischen Fun-
dierung des empirischen Verfahrens der empirisch begründete Theoriebildung“
mag zunächst insbesondere für unerfahrene Forscher, die noch am Anfang der
Auseinandersetzung mit der Grounded Theory Methodologie stehen, einschüch-
ternd sein. Hinter dieser Präzisierung steckt jedoch auch die große Leistung
dieses Buches, die sich so bisher an keiner anderen Stelle findet: eine Einführung
in den wissenschaftstheoretischen Hintergrund der Grounded Theory. Dabei
orientiert sich Strübing an der Position und Ausdifferenzierung der Grounded
Theory durch Strauss und Corbin, ohne auf eine differenzierte Diskussion des
Ansatzes nach Glaser zu verzichten (Teil 4).
Besonders eindrücklich sind jedoch die Vorstellung des, der Grounded
Theory zugrundeliegenden pragmatistischen Realitäts- und Theorieverständnis-
ses (Teil 2 und 3), wie die Erläuterungen zu Abduktion, Induktion und Dedukti-
on. Strübing beschreibt hier die Arten des logischen Schließens und verbindet sie
mit der schrittweisen, interaktiven Theorieentwicklung, die die Grounded Theory
anstrebt und die Grundlage des zirkulären Vorgehens ist.
Im letzten Teil des Buches, werden Grundlagen der Qualitätssicherung von
Grounded-Theory-Studien, wie auch deren Gütekriterien diskutiert und anschau-
lich dargestellt.
Strübing geht mit seinen gründlichen und zumeist gut verständlichen Aus-
führungen auf die grundlegenden Fragen ein, die hinter der Grounded Theory
Methodologie stehen. Dabei zeigt er auch konzeptionelle Inkonsequenzen in der
bisherigen theoretischen Begründung des Verfahrens auf und diskutiert sie. Sei-
ne Leistung ist eine Fundierung der Methodologie, die zugleich eine adäquate
Qualitätssicherung einbezieht.
Das Buch eignet sich somit für alle an der Grounded Theory Interessierten,
die ihren Fokus auf die epistemologisch sozialtheoretischen Hintergründe legen
möchten. Es enthält zudem kurze, hilfreiche Erläuterungen zu zentralen Begrif-
fen und deren Verortung im Forschungsprozess (bspw. die Anwendung des Ko-
Grounded Theory – eine kommentierte Literaturliste 179

dierparadigmas). Manche Formulierungen sind sehr komplex. Die intensive


Auseinandersetzung lohnt sich jedoch, da sich damit viele Verständnisprobleme
lösen.

Breuer: Reflexive Grounded Theory. Eine Einführung für die Forschungspraxis.


2. Auflage. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2010
Die hier vorliegende Einführung in die Forschungspraxis der Reflexiven Groun-
ded Theory wurde für Studierende und deren Anleitung zu eigenen Forschungs-
projekten entwickelt. Es gliedert sich in vier Kapitel, die einen Ausblick auf die
methodologischen Grundlagen sozialwissenschaftlicher Ethnographie, den For-
schungsstil der Grounded Theory und den Umgang mit Subjektivität, Perspekti-
vität und Selbst-/Reflexivität der Forschenden geben. Im vierten Kapitel runden
zwei Forschungsbeispiele die zuvor theoretischen Inhalte ab (Zwei Aneignungs-
geschichten des Forschungsstils und ihre Erkenntnisresultate).
Breuer gibt somit einen kurzen Überblick über die Grounded Theory Me-
thodologie, nimmt aber auch kritisch Stellung und stellt eigene Lösungsansätze
dar. Das Wesentliche und Besondere an diesem Lehrbuch ist jedoch der vertrete-
ne ethnographische Zugang und der dargestellte Umgang mit der Selbst-
/Reflexivität der Forschenden. Breuer greift damit auf einen Gedanken zurück,
den Glaser und Strauss sehr früh thematisierten, der aber selten so stringent ver-
folgt wird.
Das Buch ist eine praxisorientierte, gut verständliche Einführung in die
Methodik der Grounded Theory und eignet sich für alle, die sich erstmals mit
Grounded Theory beschäftigen wollen. Als Anleitung für die Durchführung
eines eigenen Forschungsprojektes eignet es sich jedoch nicht. Es legt aber viele
Begründungszusammenhänge und kritische Argumentationen auf, die in die
Auseinandersetzung mit der Grounded Theory Methodologie einfließen. Ande-
rerseits – und das ist die herausragende Leistung des bisher einigen Buches zu
dieser Position – bietet es eine interessante Erweiterung der Grounded Theory
für erfahrenere Forscher.

Günter Mey & Katja Mruck (Hg.): Grounded Theory Reader. Historical Social
Research, Supplement 19 (2007). Zentrum für Historische Sozialforschung,
Köln.
Die Textsammlung „Grounded Theory Reader“ erschien 2007 als Ergänzungsteil
der Zeitschrift „Historical Social Research / Historische Sozialforschung“ (GE-
SIS, Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften). Er wurde zum vierzigsten Ge-
burtstag der Grounded-Theory-Methodologie veröffentlicht und sollte einen
Überblick über die Grounded Theory Methodologie, die in ihr entwickelten Posi-
180 Christine Dunger

tionen und ihre Anwendung geben. Damit richtete sich die Textsammlung so-
wohl an Einsteiger, als auch an erfahrene Forschende und Lehrende.
Sodann gliedert sich der Reader in zwei Abschnitte. Der erste Teil „Positio-
nen und Kontroversen“ dient der allgemeinen Reflexion der Grounded Theory
Methodologie und bestehender Positionen. Hier werden auch historische Ent-
wicklungen mit einbezogen. Der zweite Abschnitt „Reflexionen der GTM Pra-
xis“ fokussiert auf die Forschungspraxis und dabei relevante Problemstellungen
im Forschungsprozess.
Die Textsammlung besteht aus deutschen und englischen Beiträgen ver-
schiedener Autoren, wie aus Interviewabdrucken. Insgesamt bietet sie somit
einen vielfältigen Überblick und viele Anregungen zur Auseinandersetzung mit
der Grounded Theory Methodologie. Ein grundlegendes Methodenverständnis
zur Grounded Theory ist jedoch sinnvoll. Dieses erleichtert das Verständnis der
aufgezeigten Kontroversen und der englischsprachigen Beiträge.

Günter Mey & Katja Mruck (Hg.): Grounded Theory Reader. Historical Social
Research, Supplement 19 (2011). 2. AUFLAGE: VS Verlag für Sozialwissen-
schaften.
Die zweite Auflage des Grounded Theory Readers stellt sich zur Aufgabe, die in
den Jahren gewachsene Bandbreite unterschiedlicher Verständnisse der Groun-
ded Theory darzustellen. Mey und Mruck entnehmen sechs Beiträge der ersten
Auflage und fügen neun andere hinzu. Diese Veränderungen führen auch zu
einer Neugliederung der Inhalte. Neben der allgemeinen Einführung durch die
Herausgeber, finden sich Interviews mit den zentralen Vertretern der Grounded
Theory Methodologie, die Darstellung verschiedener Positionen, wie die Diskus-
sion der daraus entstehenden Kontroversen und eine Reflexion relevanter Schrit-
te im Forschungsprozess. Zudem sind bisher englische Texte/ Interviews ins
Deutsche übersetzt. Insgesamt kann eher von einer Neuauflage gesprochen wer-
den, wie die Herausgeber selbst sagen.
Die vollständige Übersetzung und die Neugliederung ermöglichen insbe-
sondere Forschungsneulingen eine bessere Übersicht und ein tieferes Verständ-
nis der Inhalte.

2. Publizierte Studien zum Thema Lebensende/Palliative Care

Studien, die sich mit Interaktionen, sozialen Handlungszusammenhängen und


Entscheidungen beschäftigen, gibt es in allen sozialwissenschaftlichen Diszipli-
nen. Auch in den Gesundheits- und Pflegewissenschaften, selten sogar in der
Medizin, wurden viele entsprechende Studien durchgeführt. Im Rahmen von
Grounded Theory – eine kommentierte Literaturliste 181

Journal Artikeln treffen die Forscher/ Autoren, immer wieder auf die Problema-
tik, die komplexen Verfahrensweisen und Ergebnisse in einer sehr kurzen Form
angemessen umfassend, aber zugleich verständlich darzustellen. Vielen Autoren
gelingt dies nicht, da sie sich letztendlich zwischen der Darstellung der Methode
und der Darstellung der Ergebnisse entscheiden müssen. Die folgenden zwei
Studien sind beispielhaft für diesen Konflikt und zeigen, wie er gelöst werden
kann.
Inhaltlich fokussieren die Studien auf (1) das Erleben von Hoffnung ambu-
lant Pflegender, (2) das Konzept der Würde am Lebensende aus Sicht deutscher
Pflegeheimbewohner und (3) den Prozess des Bettlägerigwerdens. Die beiden
letzten Artikel stimmen mit der Buchempfehlung zu Langfassungen von For-
schungsergebnissen überein.

(1) Penz K., Duggleby W. (2011). Harmonizing hope: A grounded theory study
of the experience of hope of registered nurses who provide palliative care in
community settings. Palliative and Supportive Care, 9, 281-294.
Penz und Duggleby beschreiben in ihrem Artikel eine Studie mit dem Ziel, das
Konzept der Hoffnung aus der Sicht Pflegender, die in die ambulante Palliativ-
versorgung einer Gemeinde eingebunden sind, zu beschreiben. Dabei handelt es
sich jedoch nicht um eine Konzept- oder Begriffsanalyse. Unter der Annahme,
dass Hoffnung ein komplexes Phänomen ist, das in Zusammenhang mit dem
Verhalten steht, wird das Erleben der Pflegenden von Hoffnung in verschiedenen
Versorgungssituationen als Prozess untersucht.
Die Autoren beschreiben die Anwendung der Grounded Theory Methodo-
logie in der Interpretation von Charmaz und geben Beispiele für den Kodierpro-
zess. In den Ergebnissen stellen sie die Grundzüge der entstandenen Theorie zur
Harmonisierung von Hoffnung mit ihren begleitenden Konzepten vor.

(2) Pleschberger S. (2007). Dignity and the challange of dying in nursing homes:
the residents’ view. Age and Ageing, 36, 197-202.
Pleschberger stellt in diesem Artikel ein zentrales Konzept ihrer Dissertation dar,
die mittels der Grounded Theory Methodologie die palliative Versorgung in
westdeutschen Pflegeheimen untersuchte. Im Zentrum des Artikels steht das
Konzept von Würde am Lebensende, das aus Aussagen von Pflegeheimbewoh-
nern entwickelt wurde. Im Buch „Nicht zur Last fallen“, das die Langfassung
dieser Studie enthält, widmet sich Pleschberger ebenfalls in einem Kapitel die-
sem Konzept und diskutiert es zudem im Rahmen bestehender Definitionen von
Würde.
182 Christine Dunger

(3) Zegelin A. (2005). „Festgenagelt sein“ – der Prozess des Bettlägerigwerdens


durch allmähliche Ortsfixierung. Pflege, 18, 281-288.
In diesem deutschsprachigen Artikel gibt Zegelin die wesentlichen Ergebnisse
ihrer Studie zum Prozess des Bettlägeringwerdens wieder. Ähnlich wie in dem
gleichnamigen Buch stellt sie dabei das prozesshafte des beschriebenen Phäno-
mens in den Vordergrund und fokussiert damit nicht einzelne Konzepte oder
Subkategorien, sondern die Kernkategorie. Diese wird in dem Mittelpunkt ge-
stellt, um den herum eine Geschichte erzählt wird ("Story telling“). In diese
Geschichte fließen alle Subkategorien ein.
Zegelin gibt damit ein hervorragendes Beispiel zur Ergebnisdarstellung im
Rahmen der Grounded Theory Methodologie. Der Artikel ist zudem gut ver-
ständlich und schließt sowohl eine explizite Herleitung der Methode für die Fra-
gestellung, wie auch deren Umsetzung ein.

3. Weiterführende Literatur

Die hier aufgelisteten Beiträge und Monographien vertiefen einerseits den theo-
retischen Rahmen der Grounded Theory Forschung und enthalten andererseits
entsprechend ausgerichtete Forschungsbeispiele. Sie werden nicht ausführlich
vorgestellt.
Monographien, die weiterführende Informationen zur Grounded Theory
Methodologie geben, sind vor allem:

ƒ Kathy Chamaz (2006): Constructing Grounded Theory. A Practical Guide


through Qualitative Analysis, 1st edition. SAGE Publications.
ƒ Antony Bryant & Kathy Chamaz (2007): The SAGE Handbook of Ground-
ed Theory. SAGE Publications.
ƒ Glaser B.G. (1992): Basics of Grounded Theory Analysis: Emergence Vs.
Forcing. Sociology Press.

Weitere Texte von Glaser lassen sich online über Forum:Qualitative Sozialfor-
schung beziehen.
Auch die Darstellung vor Forschungsergebnissen, d.h. Grounded Theories,
in ihrer Langfassung als Monographien ist nicht nur interessant, sondern hilft im
Verständnis der Methode und ihrer Anwendung. Besonders zu berücksichtigen
ist dabei natürlich das Buch „Awareness of dying“ (deutsch: Interaktion mit
Sterbenden) als Erstanwendung der Grounded Theory Methodologie durch Bar-
ney G. Glaser und Anselm L. Straus von 1965.
Grounded Theory – eine kommentierte Literaturliste 183

ƒ Glaser/ Strauss (1974): Interaktion mit Sterbenden. Vandenhoevk & Rup-


recht.
ƒ Zegelin A. (2013): «Festgenagelt sein»: Der Prozess des Bettlägerigwer-
dens. Auflage: 2., erweiterte Auflage, Verlag Hans Huber.
ƒ Pleschberger S. (2005): Nur nicht zur Last fallen: Sterben in Würde aus der
Sicht alter Menschen in Pflegeheimen. Lambertus.

Die hier empfohlenen Bücher kommen aus verschiedenen Bereichen und zeigen
verschiedene Wege auf, wie in Monographien eine Theoriedarstellung gelingen
kann. Sie legen unterschiedlichen Wert auf die Darstellung der Methode und
verdeutlichen, wie der Anspruch des „Story telling“ in der Darstellung der Er-
gebnisse in verschiedener Wiese umgesetzt werden kann.
Autorinnen und Autoren

Univ.-Prof. Dr. Martin W. Schnell, M.A. Lehrstuhlinhaber für Sozialphiloso-


phie und Ethik, Fakultät für Kulturreflexion und Direktor des Instituts für Ethik
und Kommunikation im Gesundheitswesen, Universität Witten/Herdecke.

Janina Schmidt, Doktorandin und Mitarbeiterin am Institut für Ethik und


Kommunikation im Gesundheitswesen, Universität Witten/Herdecke.

Christine Dunger, MSc, wiss. Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Sozialphilosophie


und Ethik und Mitarbeiterin des Instituts für Ethik und Kommunikation im
Gesundheitswesen, Universität Witten/Herdecke.

Dr. med. Christian Schulz MSc (UK), Stellv. Leiter und Oberarzt des Interdis-
ziplinären Zentrums für Palliativmedizin am Universitätsklinikum Düsseldorf,
Doktorandenstudium zum Professional Doctorate in Existential Psychotherapy
(DProf) an der New School of Psychotherapy and Counseling, Middlesex Uni-
versity, London, UK.

Univ.-Prof. Mag. Dr. Andreas Heller, Leiter des Instituts für Palliative Care
und Organisationsethik, Fak. für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung,
Abt. Palliative Care und Organisationsethik

Univ. Prof. Dr. Sabine Pleschberger, MPH, Leiterin des Instituts für Pflege-
und Versorgungsforschung, Department für Pflegewissenschaft und Gerontolo-
gie, Private Universität für Gesundheitswissenschaften, Medizinische Informatik
und Technik (UMIT) Hall i.T.

Dr. Claudia Wenzel, Fak. für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung, Abt.
Palliative Care und Organisationsethik, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt,
Wien, Graz

M. W. Schnell et al. (Hrsg.), Palliative Care und Hospiz, Palliative Care und Forschung,
DOI 10.1007/978-3-658-07664-1, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015

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