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Markus J. Pausch
Sven J. Matten
Trauma und
Traumafolgestörung
In Medien, Management und Öffentlichkeit
Markus J. Pausch Sven J. Matten
München München
Deutschland Deutschland
Warum ein Buch zu Trauma und Traumafolgestörungen in Medien, Management und Öffent-
lichkeit?
Ein von Betroffenen und Behandlern gemeinsam entwickeltes und erarbeitetes, anschau-
liches und plausibles Erklärungsmodell bildet das Fundament einer gemeinsamen
Sprache, die für die Bewältigung der Symptomatik und die Wiedererlangung der
Kontrolle unabdingbar ist.
Den beiden Autoren ist es gelungen, ein Fachbuch über Traumata und Traumafolgestörungen
zu schreiben, das sich an viele Leser richtet, insbesondere an jene, welche in der Öffentlichkeit
stehen, eine Führungsposition bekleiden oder aus diesem Umfeld kommen, und nicht nur, wie
sonst zumeist üblich, an Therapeuten.
Die vielen und guten Fallbeispiele veranschaulichen eindrucksvoll und nachvollziehbar die
Symptome von Traumata und Traumafolgestörungen. Das Buch gibt Betroffenen Hilfe zur
Selbsthilfe und unterstützt die Menschen, die in ihrem unmittelbaren Umfeld mit einem Be-
troffenen zusammenarbeiten oder in einer Partnerschaft mit ihm zusammenleben.
Gerade auch Führungskräfte können von diesem Buch profitieren. In Unternehmen arbeiten
immer mehr Menschen, welche von Burnout, Angststörungen, Trauma oder Traumafolge-
störungen direkt oder indirekt betroffen sind, und zudem aus anderen Kulturkreisen, wie z. B.
Syrien oder Afghanistan stammen. Führungskräfte stehen dann vor der Frage: Warum sind diese
Menschen so anders? Was haben sie erlebt? Sind das die kulturellen Unterschiede oder nehme
ich Symptome einer möglichen Traumafolgestörung war? Wie führe ich diese Menschen? Wer
kann mich beraten und unterstützen? Hier gibt das Buch wertvolle Informationen.
Auch die Menschen, die im Bereich Öffentlichkeitsarbeit tätig sind, können wichtige Impulse
für ihre Arbeit gewinnen. Wer über Menschen schreibt – schreibt mitunter über Schicksale.
Vielleicht eine interessante Story, die die Absatzzahlen nach oben schnellen lässt – aber es ist
auch die Geschichte eines Menschen oder von vielen Menschen, die vielleicht ihr Leben lang
unter den Geschehnissen zu leiden haben. Ich würde mir einen verantwortungsvollen, fein-
fühligen Umgang und ein genaues Abwägen wünschen, wobei die Interessen des Betroffenen
gewahrt werden. Dieses Buch ist eine Aufforderung dazu.
Mich hat dieses Buch sensibilisiert, noch achtsamer im Umgang mit meinen Kolleginnen und
Kollegen bei Siemens zu sein. Es hat mich ermutigt, im Rahmen meiner Aufgaben als Organi-
satorin von Seminaren zu Arbeits- und Führungstechniken, Zusammenarbeit und Gesundheit
entsprechend zu handeln, auch Schweigen zu durchbrechen, Gesprächsangebote zu machen
– sofern sie erwünscht sind. Mir ist bewusst geworden, dass es nicht um Einzelschicksale geht,
sondern dass viel mehr Menschen betroffen sind, als ich angenommen habe.
Ein Fachbuch für Menschen, die sich mit dem Thema intensiver beschäftigen wollen, für direkt
und indirekt Betroffene, insbesondere in exponierten Positionen, sowie auch für Laien. Ein
Buch, das erklärt, unterstützt und Mut macht.
Wegsehen hat zur keiner Zeit geholfen – Hinsehen ist eine Facette von Mitmenschlichkeit.
Karin Parkhof
Siemens AG
IX
Inhaltsverzeichnis
1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
Serviceteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
Literaturempfehlungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
XI
Die Autoren
Einführung
Sie haben plötzlich Schlafstörungen mit belastenden Albträumen, erleben wieder und wieder ein
1 einschneidendes Ereignis, sehen Bilder, bekommen starke Ängste verbunden mit ungewöhnli-
chen körperlichen Symptomen.
Sie haben einen Flashback in einer Vorstandssitzung oder in der Warteschlange an der Kasse
im Supermarkt.
Sie bekommen plötzlich eine Dissoziation im Rampenlicht einer Bühne oder in einem Zug.
Ihnen fehlt plötzlich ein halber Tag.
Sie sind ungewohnt schreckhaft im Alltag. Ihr Bedürfnis, sich zu waschen, wird plötzlich
belastend und zwanghaft.
Sie vermeiden jegliche Erinnerungen und potenziell bedrohliche Situationen aus Angst vor
Wiedererleben.
Traumatische und existentiell bedrohlich empfundene Situationen geschehen urplötzlich und
betreffen viele Menschen. Aber nur ein Teil davon entwickelt eine Traumafolgestörung (PTBS).
Was schützt die einen davor und wie kann der Betroffene selbständig mit den Symptomen
umgehen? Warum ist gerade er betroffen? Und warum nicht?
Was macht ein Trauma zum Trauma, was sind überhaupt Symptome einer Traumafolgestö-
rung? Und ist es eine Schwäche solche Symptome zu haben? Vielleicht sogar eine Stärke?
Wie kann man konstruktiv mit Traumata und Traumafolgestörungen umgehen, insbesondere
in exponierten Positionen? Diese vielleicht sogar als Wettbewerbsvorteil nutzen sowie überwin-
den, persönliches Glück wiedererlangen?
Betrifft das nur mich, oder gibt es auch andere? Und wie gehe ich mit einer Person um, die
ein Trauma erlebt hat?
Durch den kombinierten Blick eines erfahrenen psychiatrisch fachärztlichen Therapeuten
und eines langjährigen Managers ist dieses Buch die Fusion eines praxisnahen Fachbuches mit
einem professionellen Ratgeber. Zusammenhänge und Lösungsansätze zur Traumabewältigung,
insbesondere von exponierten Personen, werden aufgezeigt. Eigeninitiative sowie eine mögli-
che Notwendigkeit zur Zuhilfenahme professioneller Unterstützung werden ausdrücklich nicht
ersetzt. Erkenntnisgewinn steht als Ziel im Vordergrund.
Im Folgenden wird manchmal die weibliche, manchmal die männliche Form verwendet.
Selbstverständlich sind, sofern nicht gesondert genannt, immer und gleichwertig alle Geschlech-
ter gemeint. Bewusst wird aus Gründen der Effizienz angesichts der Zielgruppe Medien/Manage-
ment/Öffentlichkeit auf wesentlichste Informationen fokussiert und dabei auf ausführliche
Beschreibungen und Hintergrundangaben verzichtet. Ein ausführliches Literaturverzeichnis
dient als Hilfestellung zur Vertiefung individueller Interessen. Der Index unterstützt den Leser
bei der raschen Auffindung spezifischer Informationen, nach Schlagwörtern sortiert.
Trauma und Management, Angst und Öffentlichkeit sowie zudem auch alles verbindend
Medien – alle diese Aspekte hängen eng zusammen. Oftmals sind es genau solch innere Triebfe-
dern wie traumatische Erfahrungen und deren Folgen, die Personen in Management und Öffent-
lichkeit besonders erfolgreich machen. Doch Erkenntnis, Verständnis und der richtige Umgang
sind entscheidend. Das gilt auch für die optimale Nutzung eigener Ressourcen, sowohl in beruf-
licher Hinsicht als auch im zeitgleichen Streben nach persönlichem Glück. Es ist wichtig und
unumgänglich, Geschehenes radikal anzunehmen und aktiv zum Vorteil zu nutzen. Das bedeu-
tet, nicht die Augen zu verschließen, die Herausforderung anzunehmen und daran zu wachsen.
Keinesfalls einfach, doch gibt es denn eigentlich überhaupt eine wirkliche Alternative?
3 2
Literatur – 12
Traumatische Ereignisse gehören zu seinem Leben, seitdem es den Menschen gibt. Zu allen
Zeiten war der Mensch in seinem Sein auch mit dem scheinbar Unaushaltbaren, dem existenziell
Bedrohlichen und der Macht und Gewalt von Natur und Mitmensch konfrontiert. In manchen
2 Berufen ist der Mensch einer solchen Gefährdung eher ausgesetzt als in anderen. Ereignisse,
welche als traumatisch erlebt werden, sind dadurch charakterisiert, dass sie im Betroffenen see-
lischen, kognitiven, körperlichen und emotionalen Stress auslösen. Es kann sich das Gefühl von
Hilflosigkeit einstellen, von Überforderung, Machtlosigkeit. Es kann aber auch sein, dass ein
Mensch in einer traumatischen Situation erstmal gar nichts fühlt. Viele unterschiedliche Reak-
tionen sind denkbar, möglich und normal. Traumatisierungen, welche in großem Ausmaß und
früh im Leben eines Menschen stattfinden, haben oft schwerwiegende und tiefe Auswirkungen
auf den Betroffenen.
Eine einheitlich gültige Definition von seelischem Trauma (griechisch für „Wunde“) gibt es nicht.
Der Begriff hat sich über die letzten Jahre und Jahrzehnte hinweg verändert. Ein Grundgedanke
war und ist, dass es sich dabei, wie bei einem körperlichen Trauma, um eine Verletzung handelt.
Ein Trauma verletzt die menschliche Seele und führt an ihre eine Wunde herbei.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definierte 1991 ein Trauma als ein „kurz- oder
langanhaltendes Ereignis oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung mit katastropha-
lem Ausmaß, das nahezu bei jedem tiefgreifende Verzweiflung auslösen würde.“
Eine traumatische Situation ist dadurch gekennzeichnet, dass es eine Diskrepanz zwischen
der subjektiv erlebten Bedrohung für sich oder andere und den individuellen Bewältigungs-
strategien gibt. Es ist also nicht nötig, dass die Betroffenen für sich selbst die Lebensgefahr sehen.
Es kann auch für jemanden traumatisierend sein, wenn die Lebensgefahr für andere befürch-
tet wird, z. B. im Rahmen der Beobachtung einer Gewalttat. Zudem kann der plötzliche Verlust
einer wichtigen Bezugsperson oder eine lebensbedrohliche Erkrankung eine Überforderung der
individuellen Bewältigungsstrategien zur Folge haben.
Traumata sind Ereignisse, die durch ihre Plötzlichkeit („Es geschieht aus heiterem Himmel.“),
ihre Heftigkeit („Es sind zerstörerische Kräfte mit der Gefahr für Gesundheit und Leben am
Werk.“) und ihre Ausweglosigkeit („Man ist hilflos und ausgeliefert.“) charakterisiert werden
können.
Häufig wird versucht, ein Trauma auch dadurch greifbar zu machen, indem man sagt, dass
ein solches Ereignis jeden Menschen mehr oder weniger aus der Bahn werfen würde.
Ein Satz, den Betroffene häufig sagen, ist folgender: „Danach ist nichts mehr, wie es vorher war!“
Dieser Satz ist sehr zutreffend. Er impliziert aber auch, dass es ein „Vorher“ gegeben hat. Nicht
selten begann die Traumatisierung so früh im Leben, dass sich der Betroffene nicht mehr an ein
solches „Vorher“ erinnern kann.
Bei einer Traumatisierung kommt es bei den Betroffenen zu körperlichen, kognitiven und
emotionalen Reaktionen. Auf der körperlichen Ebene tritt eine massive Stressreaktion ein. Diese
zeigt sich unter anderem durch Herzrasen, Blutdruckanstieg, Schwitzen, Zittern, Schwindel,
Übelkeit. Auf der kognitiven Ebene ist häufig der einzig mögliche Gedanke der, dass man gleich
stirbt. In einigen Fällen kommt es auch zu einer, meist teilweisen, Amnesie für die Phase der
Traumatisierung, was dazu führt, dass die Betroffenen nur eingeschränkte Erinnerungen an das
Ereignis haben. Emotional kann es bei der Traumatisierung zu einer Reaktion kommen, es kann
sich jedoch auch eine vollständige emotionale Taubheit einstellen. Im letzteren Fall erleben die
Betroffenen die traumatische Situation, ohne dabei ein Gefühl zu haben. In den Betroffenen ist
2.2 · Welche Traumata gibt es? – Einteilungen von Traumata
5 2
emotionale Stille. Wenn es zu einer emotionalen Reaktion kommt, dann ist diese geprägt von
Furcht, Angst, Panik, Hilflosigkeit, Ausweglosigkeit, Schutzlosigkeit und meist einer Todesangst.
Es ist wichtig, dass Betroffenen klar gemacht wird, dass jede Reaktion in der traumatischen
Situation richtig ist. Jeder reagiert in einer solchen extremen Situation so, wie es für ihn gerade
möglich ist.
Die in Deutschland gültige 10. Ausgabe der „Internationalen statistischen Klassifikation
der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme“, kurz ICD-10, der WHO definiert ein
Trauma als „kurz- oder lang anhaltendes Ereignis oder Geschehen von außergewöhnlicher
Bedrohung mit katastrophalem Ausmaß, das nahezu bei jedem tiefgreifende Verzweiflung
auslösen würde“.
In dem in den USA gültigen und von der American Psychiatric Association (APA; ameri-
kanische psychiatrische Gesellschaft) herausgegebenen Klassifikationssystem „Diagnostic and
Statistical Manual of Mental Disorders“ (DSM; Diagnostischer und statistischer Leitfaden psy-
chischer Störungen) wird ein Trauma charakterisiert durch die „tatsächliche oder drohende
Konfrontation mit dem Tod, schwerer Verletzung oder sexueller Gewalt“. Es wird des Weiteren
noch genauer unterschieden, in welcher Art und Weise ein solche Konfrontation stattfinden kann:
nämlich durch „direkte Erfahrung“, „persönliche Zeugenschaft“, „in der nahen Familie bzw. bei
nahen Freunden“ oder durch die „wiederholte Konfrontation mit aversiven Details“.
Es gibt eine Vielzahl von Ereignissen, welche als traumatisch bezeichnet werden können. Hierzu
zählen Verkehrsunfälle, Naturkatastrophen, Gewaltverbrechen, Überfälle, Vergewaltigungen,
sexualisierte Gewalt usw. Es haben sich unterschiedliche Einteilungen dieser vielen unterschied-
lichen Traumata durchgesetzt.
Die erste Einteilung trennt die traumatischen Ereignisse danach, ob sie einmalig oder mehr-
mals aufgetreten sind.
55 Typ-I-Taumata: Sind Ereignisse, die dadurch gekennzeichnet sind, dass ein einzelnes
Trauma auftritt. Diese Traumata sind meist kurzfristig.
55 Beispiele: Verkehrsunfall, Banküberfall
55 Typ-II-Traumata: Hierunter fallen jene Traumata, bei denen es zu mehreren traumatischen
Ereignissen kommt. Die Traumatisierung ist hierbei langfristig.
55 Beispiele: sexueller Missbrauch, Gewalterfahrungen über längere Zeit
Eine zweite, wichtige Unterteilung trennt die Ereignisse nach der verursachenden Instanz.
55 Non-intentionale/akzidentielle Traumata: Hierunter fallen all jene traumatischen Ereig-
nisse, welche zufällig und/oder durch die Natur verursacht werden.
55 Beispiele: Verkehrsunfälle, Erdbeben
55 Intentionale Traumata: Traumatisierungen, welche durch Menschen willentlich und
absichtlich hervorgerufen werden, fallen hierunter. Für solche Traumatisierung haben sich
auch die Begriffe man-made-disaster oder Beziehungstraumatisierung etabliert.
Es hat sich gezeigt, dass die Psyche des Menschen traumatische Ereignisse, welche zufällig
auftreten und durch die Natur verursacht werden, besser verarbeiten kann, als jene, die im
Rahmen einer Beziehungstraumatisierung auftreten. Dies erscheint auch sehr einleuchtend,
spielen doch bei der Traumatisierung durch einen anderen Menschen alle zwischenmensch-
lichen Bereiche sowie das Selbst-, Menschen- und Weltbild des Opfers eine große Rolle. Und
6 Kapitel 2 · Trauma und Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)
in diesen Bereichen kommt es, durch eine solche Traumatisierung, häufig zu einer Verände-
rung oder Schädigung.
Eine weitere Einteilung kann nach dem Alter stattfinden, in dem das traumatische Ereignis
2 auftritt. Traumata, die in frühen Phasen des Lebens auftreten, fallen häufig in Phasen der beson-
deren Verletzbarkeit in denen die Persönlichkeit des Betroffenen noch nicht vollständig ausge-
reift ist. Traumatisierungen in solchen Phasen hinterlassen häufig tiefere Folgen für die seelische
Gesundheit.
PTBS
Die Bezeichnung PTBS ist ein Akronym und ergibt sich aus den Anfangsbuchstaben des
Begriffes Post-Traumatische Belastungs-Störung. Der Begriff lässt sich folgendermaßen
erklären: Nach (also „post“) dem Erleben eines Traumas kommt es zu einer
Belastungsrektion bzw. -störung, also einer gestörten Verarbeitung. Im angelsächsischen
und immer wieder auch im deutschen Sprachraum wird die Bezeichnung Post Traumatic
Stress Disorder (PTSD) verwendet.
Die Tatsache, dass ein Mensch ein oder mehrere Traumata erlebt hat, lässt nicht den Schluss zu,
dass der Betroffene deshalb auch gleich eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) ent-
wickeln muss.
Häufig wird nicht PTBS als Begriff verwendet, sondern Traumafolgestörung. Die Bezeich-
nung Traumafolgestörung ist viel weiter gefasst und beinhaltet einen viel größeren Bereich
an Symptomen, Syndromen, Störungen und Reaktionsmöglichkeiten auf traumatische Ereig-
nisse, wobei das Trauma hierbei meist nicht als alleinige Ursache, sondern eher als Risikofak-
tor, anzusehen ist.
Die Posttraumatische Belastungsstörung stellt eine spezifische Form einer Traumafol-
gestörung dar. Weitere Formen bzw. verwandte Störungsbilder sind die akute Belastungs-
reaktion, die Anpassungsstörung und die Andauernde Persönlichkeitsänderung nach
Extrembelastung.
Traumatisierungen, welche intentional sind (also von einem Menschen verursacht), häufig
und über längere Zeit passieren, sehr früh im Leben eines Betroffenen beginnen, ein sehr hohes
Maß an Gewalt beinhalten oder sogar sexualisierte Gewalt, führen häufig zu einer Symptoma-
tik, welche über die der PTBS hinausgeht. Die Folgen einer solchen Traumatisierung sind meist
auch eine gestörte Persönlichkeitsentwicklung.
Da die Folgen einer solch komplexen Traumatisierung nicht mehr deckungsgleich sind mit
dem, was unter einer PTBS gemeint ist, werden häufig die Begriffe „komplexe Traumafolgestö-
rung“ oder „komplexe Präsentation einer PTBS“ verwendet.
Als weitere Traumafolgestörungen sind die Dissoziativen Störungen, die somatoforme
Schmerzstörung, die Dissoziative Persönlichkeitsstörung (oder besser bezeichnet als Dissozia-
tive Identitätsstruktur) und die emotional-instabile Persönlichkeitsstörung zu nennen.
2.4 · Traumafolgestörungen in den verschiedenen Klassifikationen
7 2
Zudem gibt es einige Störungen, bei deren Entstehung das Vorhandensein eines Traumas
oder mehrerer Traumata eine wichtige Rolle spielt. Hierzu zählen die Essstörungen, die affekti-
ven Störungen und die Abhängigkeitserkrankungen.
Posttraumatische Belastungen können, vor allem wenn sie chronifiziert sind, zu einer dauer-
haften Stressreaktion im Körper führen. Durch einen solchen „Dauerstress“ können körperliche
Erkrankungen mitverursacht oder in ihrem Verlauf negativ beeinflusst werden. In den aktuellen
Studien hierzu zeigt sich dies besonders für kardiovaskuläre und immunologische Erkrankungen.
In Deutschland werden, wie in allen anderen europäischen Ländern auch, alle psychischen und
auch somatischen Erkrankungen nach dem Klassifikationssystem der WHO, der Internationalen
statistischen Klassifikation von Krankheiten und verwandten Gesundheitsproblemen (englisch:
International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems; ICD) eingeteilt.
Die aktuell gültige Ausgabe ist die 10. Version und deshalb wird dieses Klassifikationssystem
kurz als ICD-10 bezeichnet.
Innerhalb dieser Einteilung wird die PTBS (ICD-10: F43.1) zu den Belastungs- und Anpas-
sungsstörungen gezählt. Das ICD-10 gibt genaue Kriterien vor, welche erfüllt sein müssen, damit
die Diagnose einer PTBS gestellt werden darf. Diese diagnostischen Kriterien sind folgende:
55 „traumatisches Ereignis von außergewöhnlicher Schwere“
55 Auftreten der Symptome „innerhalb von 6 Monaten nach“ dem traumatischen Ereignis
55 „wiederholte unausweichliche Erinnerungen oder Wiederinszenierung des Ereignisses in
Gedächtnis, Tagträumen oder Träumen“ (sogenanntes Wiedererleben/Intrusionen)
55 „Vermeidung von Reizen, die eine Wiedererinnerung an das Trauma hervorrufen könnten“
(sogenanntes Vermeidungsverhalten) sowie „Gefühlsabstumpfung“ (sogenanntes
Numbing)
55 „vegetative Störung“ in Form von Übererregtheit (sogenanntes Hyperarousal/
Übererregung)
55 (ICD-10, Dilling et al. 2011)
Die akute Belastungsreaktion stellt zunächst eine physiologische Reaktion der Psyche auf eine
außergewöhnliche Belastung dar.
Diagnostische Kriterien der Anpassungsstörung:
2 55 „ungewöhnliche Belastung“
55 Beginn der Symptome innerhalb eines Monats nach Beginn der ungewöhnlichen
Belastung
55 Es zeigen sich unterschiedliche, z. B. depressive oder ängstliche, Symptome oder Verände-
rungen im Sozialverhalten (z. B. aggressives oder dissoziales Verhalten). Keine Symptome
erfüllen die Kriterien der einzelnen Störungen, wie z. B. einer sozialen Phobie. Es können
gemischte Störungsbilder auftreten.
55 Symptome dauern nicht länger als sechs Monate
55 (ICD-10, Dilling et al. 2011)
Kommt es neben den Symptomen der „klassischen“ PTBS zu weiteren Symptomen, kann es sein,
dass eine zusätzliche psychische Erkrankung vorhanden ist, z. B. eine Angststörung. Diese zweite
Störung kann sich auch, bedingt durch ein traumatisches Ereignis, ausgebildet haben.
Betroffene, welche nicht eine, sondern mehrere schwerwiegende traumatische Situationen
erlebt haben, die vielleicht sogar über mehrere Jahre andauerten, zeigen häufig ein Störungsbild,
welches die PTBS enthält (es sind also alle diagnostischen Kriterien der PTBS erfüllt), jedoch in
seiner Symptomatik noch darüber hinausgeht und weitere Beschwerden aufweist. Dieses Stö-
rungsbild wird häufig als „komplexe Traumafolgestörung“, „komplexe Präsentation einer PTBS“
oder „komplexe PTBS“ bezeichnet, ohne dass eine dieser Bezeichnungen allgemeingültig wäre
oder es hierfür klare und feste Kriterien gäbe. Der Begriff „komplexe PTBS“ wurde erstmalig von
der US-amerikanischen Psychiaterin Judith Herman 1992 verwendet. Eine diagnostische Ein-
teilung für diese Form der Erkrankung gibt es im ICD-10 aber leider noch nicht und somit auch
keine allgemeingültigen Kriterien für die Diagnosestellung.
Andreas Maercker hat in seinem Buch „Posttraumatische Belastungsstörungen“ (1998) fol-
gende diagnostischen Kriterien für die komplexe PTBS vorgeschlagen:
55 Traumakriterium: Vorliegen einer lang andauernden traumatischen Belastung (z. B. Opfer
von organisierter Gewalt, von häuslicher Gewalt, von schwerer sexualisierter oder körper-
licher Gewalt in der Kindheit)
55 Kernsymptome einer PTBS (Wiedererleben, Vermeidungsverhalten, Numbing,
Übererregung)
55 Beeinträchtigung zusätzlicher Bereiche wie
44Regulation von Gefühlen: Emotionen werden als unaushaltbar, unkontrollierbar erlebt
und es kommt zu häufigen Gefühlsausbrüchen, zu Phasen der „Gefühllosigkeit“, zu
depressiven Episoden sowie zu Selbstverletzung und Suizidgedanken.
44Veränderungen des Selbstbildes: Die Betroffenen erleben sich als wertlos, minder-
wertig, schlecht, schuldig und unterlegen. Zudem kommt es zu Schamgefühlen.
44Störung der Beziehungsgestaltung: Beziehungen können aufgrund von Angst,
Misstrauen usw. schwer aufgenommen werden, es können schwer Nähe und Distanz
reguliert werden und Beziehungen werden häufig abrupt abgebrochen.
44Auftreten von Dissoziationen.
Eine weitere diagnostische Einteilung von komplexen Traumafolgestörungen kann in die Gruppe
der andauernden Persönlichkeitsstörung nach Extrembelastung im ICD-10 erfolgen. Im DSM
findet sich keine diesem entsprechende Kategorie. Im Rahmen von Felduntersuchungen für das
DSM-IV wurden der Begriff und die diagnostische Entität der DESNOS („Disorder of Extrem
2.4 · Traumafolgestörungen in den verschiedenen Klassifikationen
9 2
Stress Not Otherwise Specified“; deutsch: Störung durch Extrembelastung nicht anderweitig
bezeichnet) geschaffen. Einen letztendlichen Einzug in das Klassifikationssystem DSM fand diese
Diagnose jedoch nicht. Dennoch bezeichnet das, was unter diesem Begriff verwendet wird, sehr
gut die komplexe Traumafolgestörung. Aufgrund dessen findet sie im psychiatrischen, psycho-
therapeutischen Alltag und in der Forschung häufig Verwendung.
Diagnostische Kriterien für DESNOS (nach Luxenberg et al. 2001):
55 Veränderungen in Affektregulation und mindestens 1 Symptom von Umgang mit
Ärger, autodestruktives Verhalten, Suizidalität, Störungen der Sexualität, exzessives
Risikoverhalten.
55 Amnesien oder transiente dissoziative Episoden und Depersonalisation
55 Veränderungen der Selbstwahrnehmung mit mindestens 2 Symptomen von Ineffektivität,
Stigmatisierung, Schuldgefühle, Scham, Isolation, Bagatellisierung
55 Veränderungen in Beziehungen zu anderen mit mindestens 1 Symptom von Unfähigkeit,
zu vertrauen, Reviktimisierung, Viktimisierung anderer
55 Somatisierung mit mindestens 2 Symptomen von gastrointestinalen Symptomen, chroni-
schen Schmerzen, kardiopulmonalen Symptomen, Konversionssymptome, sexuellen
Symptomen.
55 Veränderungen bezüglich der Lebenseinstellungen mit Verzweiflung und Hoffnungs-
losigkeit oder/und Verlust früherer stützender Grundüberzeugungen.
55 Je früher es im Leben eines Menschen zu Traumatisierungen kommt und je länger diese
bestehen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein DESNOS ausprägt
55 (Pelcovitz et al. 1997).
Auf jeden Fall ist bei dem Verdacht auf eine (komplexe) PTBS und/oder eine andere psychische
Erkrankung eine fundierte diagnostische Abklärung durch einen qualifizierte Fachkraft, am
besten mit guter traumatherapeutischer Erfahrung und Qualifikation, durchzuführen.
In den Vereinigten Staaten von Amerika werden psychische Erkrankungen nach dem Klas-
sifikationssystem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM; deutsch: „Diag-
nostischer und statistischer Leitfaden psychischer Störungen“), herausgegeben von der amerika-
nischen psychiatrischen Gesellschaft (American Psychiatric Association, APA), eingeteilt. 2013
wurde eine neu überarbeitete 5. Auflage (deshalb DSM-5) veröffentlicht.
In der zuvor, seit 1994 gültigen Version, dem DSM-IV, war die Diagnose der posttrauma-
tischen Belastungsstörung den Angststörungen zugeordnet und es wurden folgende Kriterien
gefordert:
55 erleben oder beobachten eines traumatischen Ereignisses mit möglicher oder realer Todes-
gefahr, ernsthafter Verletzung, Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit bei sich oder
anderen (sogenanntes A1-Kriterium, oder objektives Charakteristikum).
55 Reaktion mit intensiver Furcht, Hilflosigkeit, Schrecken auf dieses Ereignis (sogenanntes
A2-Kriterium, oder subjektives Charakteristikum).
55 Wiedererleben (mindestens 1 Symptom von Intrusionen, belastende (Alp-)Träume, Flash-
backs, Belastung durch Auslöser, physiologische Reaktion auf Erinnerungen).
55 Vermeidung (mindestens 3 Symptome von Vermeidung von bestimmten Gedanken/
Gefühlen, Vermeidung von bestimmten Aktivitäten/Situationen, Amnesien, Vermeidung
von bestimmten Interessen, Entfremdungsgefühl, eingeschränkter Affektspielraum).
55 Übererregung (mindestens 2 Symptome von Ein-/Durchschlafstörungen, erhöhte
Reizbarkeit, Konzentrationsstörungen, übergroße Schreckhaftigkeit).
55 Zeitkriterium: Dauer der obigen Symptome für mindestens 4 Wochen.
55 (DSM-IV-TR, Saß et al. 1996)
10 Kapitel 2 · Trauma und Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)
In der neuen Version, dem DSM-5 (jetzt mit arabischer und nicht mehr römischer Ziffer) von
2013, gab es einige kleine, aber wichtige Veränderungen.
Erstens wurde die PTBS nicht mehr den Angststörungen zugeordnet, sondern es wurde eine
2 eigene Gruppe für trauma- und stressbezogene Störungen geschaffen. In diese Gruppe gehören
nun neben der posttraumatischen Belastungsstörung auch die akute Belastungsreaktion und die
Anpassungsstörung. Die beiden Letztgenannten stellen Reaktionen auf schwere Belastungen dar,
welche unterschiedliche Symptome (z. B. depressive Stimmung, Angst, Flashbacks) zeigen, die
jedoch nach 1 Monat (akute Belastungsreaktion) bzw. nach 6 Monaten (Anpassungsstörung)
wieder verschwinden.
Zweitens wurde das A2-Kriterium, also die subjektive Reaktion mit intensiver Furcht, Hilf-
losigkeit oder Schrecken auf das traumatische Ereignis aufgegeben. Durch diese Entscheidung
hat die amerikanische psychiatrische Gesellschaft als Herausgeber des DSM-5 die diagnostischen
Kriterien der PTBS ein großes Stück der Realität der Betroffenen angepasst. Sehr häufig ist die
traumatische Situation so überwältigend, dass es durch diese deutliche Überforderung eben nicht
zu einer emotionalen Reaktion kommt. Die Psyche der Betroffenen ist derart überfordert, dass
die potenziell erlebten Emotionen unaushaltbar wären und somit jegliche Emotion „abgestellt“
wird. Man könnte sagen, dass das „Nicht-Gefühl“ als Reaktion eine Steigerung der intensiven
Furcht, Hilflosigkeit oder Schrecken darstellt.
Leider wurde im DSM-5 keine eigene Diagnose für die komplexe posttraumatische Belas-
tungsstörung geschaffen. Die Hoffnungen auf eine solche Diagnose liegen nun auf der Neuver-
sion des ICD, welche voraussichtlich 2018 von der WHO verabschiedet werden wird.
Die Wahrscheinlichkeit, dass man in Deutschland Opfer einer Traumatisierung wird, ist gar
nicht so niedrig, wie vielleicht vermutet wird. Zwischen einem Viertel und einem Drittel aller
in Deutschland lebenden Menschen erleben mindestens ein Trauma im Laufe ihres Lebens
(Maercker et al. 1998). In den Vereinigten Staaten von Amerika ist die Zahl noch deutlich
höher, hier erleben ca. 60 % aller Menschen mindestens ein Trauma im Lauf ihres Lebens. Von
diesen 60 % erkranken nur ca. 8 % der Männer und 20 % der Frauen an einer PTBS (Kessler
et al. 1995).
Nach einer Studie von Kessler et. al aus dem Jahre 1995 waren von den 5877 Probanden 9,2 %
der Frauen und 0,7 % der Männer Opfer einer Vergewaltigung. Davon zeigten 45 % der Frauen und
65 % der Männer das Bild einer PTBS. Des Weiteren erlebten 12,3 % (Frauen), bzw. 2,8 % (Männer)
einen sexuellen Missbrauch in der Kindheit. Hiervon entwickelten 26,5 % (Frauen), bzw. 12,2 %
(Männer) eine PTBS. Ebenso zeigten diejenigen, welche in der Kindheit Vernachlässigung erlebten
(3,4 % der Frauen; 2,1 % der Männer) zu 19,7 % (Frauen)/23,9 % (Männer) eine PTBS. Diejenigen,
welche körperliche Gewalt erlebten (11,1 % Männer; 6,9 % Frauen), entwickelten zu 1,8 % (Männer),
bzw. zu 21,3 % (Frauen) eine PTBS. Gewaltandrohung mit einer Waffe erlebten 19,0 % der Männer
und 6,8 % der Frauen. Hiervon entwickelten 32,6 % der Frauen und 1,9 % der Männer eine PTBS.
Ob es nach einer traumatischen Erfahrung zur Entwicklung einer PTBS kommt oder nicht,
hängt von vielen Faktoren ab, einer davon ist die Art des Traumas.
55 Nach einer Vergewaltigung kommt es bei 50 bis 80 % der Betroffenen zu einer PTBS.
55 Nach einem Gewaltverbrechen nicht-sexueller Art entwickeln ca. 25 % eine PTBS.
55 Opfer von Krieg, Vertreibung und Folter zeigen in ca. 50 bis 70 % der Fälle eine PTBS.
55 15 % bis 39 % der Opfer eines Verkehrsunfalls bilden Symptome einer PTBS aus.
2.6 · Die Geschichte der PTBS als Diagnose
11 2
55 Menschen, welche an schweren körperlichen Erkrankungen (z. B. Krebserkrankung,
Herzinfarkt) leiden, zeigen auch in ca. 10 % der Fälle das Bild einer PTBS.
55 (Siol et al. 2001; Yule 2001; Perkonigg et al. 2000)
Zeuge einer traumatischen Situation zu werden oder von einem traumatischen Ereignis zu erfah-
ren, kann auch zur Ausbildung einer PTBS führen.
In einer Untersuchung von Breslau et al. aus dem Jahre 1998 (insgesamt 2181 Probanden)
gaben 40,1 % (Männer) bzw. 18,6 % (Frauen) an, Zeuge eines Unfalls oder einer Gewalttat gewor-
den zu sein. Hiervon erfüllten 9,1 % (Männer)/2,8 % (Frauen) die Kriterien einer PTBS. Von
einem traumatischen Erlebnis erfahren zu haben, gaben 61,8 % der Frauen und 63,1 % der Männer
an, davon litten wiederum 1,4 % der Männer und 3,2 % der Frauen unter den Symptomen einer
PTBS. Des Weiteren wurden die Probanden befragt, ob es einen plötzlichen und unerwarteten
Tod einer wichtigen Bezugsperson gab (63,1 % der Männer und 61,8 % der Frauen). Betroffene
hiervon erfüllten zu 12,6 % (Männer) und zu 16,2 % (Frauen) die Kriterien der PTBS.
Wenn man sich ansieht, wie viele Menschen in Deutschland an einer PTBS leiden, so zeigt
sich, dass dies ca. 1,5 bis 2 % der Allgemeinbevölkerung sind. Die Anzahl derer, welche PTBS-ähn-
liche Symptome (also jene, die ein subsyndromales Krankheitsbild haben), aber nicht das Voll-
bild einer PTBS haben, dürfte wesentlich höher sein. Sowohl ein subsyndromales Krankheitsbild,
als auch die PTBS haben eine sehr hohe Tendenz zur Chronifizierung, sprich, die Beschwerden
bleiben, wenn sie unbehandelt sind, unverändert bestehen oder verstärken sich.
In einer US-amerikanischen Untersuchung aus dem Jahre 1995 wurden Betroffene einer
PTBS über mehr als 10 Jahre in ihrem Krankheitsverlauf beobachtet. Bei der gesamten beobach-
teten Gruppe wurden keine therapeutischen Interventionen durchgeführt. Nur ein Drittel der
beobachteten Menschen zeigte eine deutliche Symptombesserung nach 12 Monaten. Die beiden
anderen Drittel hatten nach einem und fünf Jahren weiterhin Symptome einer PTBS. Ein Drittel
der Betroffenen hatte sogar nach 10 Jahren noch deutliche Symptome, welche sie in ihrem Alltag
einschränkten (Kessler et al. 1995).
Die Geschichte der Posttraumatischen Belastungsstörung als Diagnose ist, im Vergleich mit manch
anderen Diagnosen wie z. B. der Depression, eine relativ junge Geschichte und dies, obwohl es sie
wohl gegeben hat, seit es Menschen gibt, welche in traumatische Situationen kommen können.
Josef Breuer und Sigmund Freud beschrieben in ihrer Veröffentlichung „Studien über die Hys-
terie“, 1895 eine Unterklassifizierung der hysterischen Erkrankung, welche die Spätfolgen einer
Traumatisierung darstellt. Der deutsche Psychiater Emil Kraepelin, welcher die Grundlagen für
die heutige Klassifizierung psychischer Erkrankungen schuf, beschrieb die Symptome, welche
nach schweren Unfällen, vor allem Eisenbahnunfällen, auftraten, als Schreckneurose. Die ersten
Untersuchungen einer PTBS aus wissenschaftlicher Sicht wurden bei Überlebenden von schwe-
ren Eisenbahnunfällen durchgeführt (sogenanntes „railway spine syndrome“).
Während und nach dem Ersten Weltkrieg zeigten zurückgekehrte Soldaten Symptome einer
PTBS. Die Betroffenen wurden als „Kriegszitterer“ bezeichnet. Nach dem Zweiten Weltkrieg
zeigten die heimgekehrten Soldaten ebenfalls PTBS-typische Symptome.
William G. Niederland, ein niederländischer Psychiater, beschrieb die psychischen Folgen
der KZ-Inhaftierten und Verfolgten des nationalsozialistischen Regimes als Überlebenden-Syn-
drom (Niederland 1980).
12 Kapitel 2 · Trauma und Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)
Bei vielen Veteranen aus dem Vietnamkrieg zeigten sich dieselben Symptome wie bei den
Soldaten nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Dies war der Anlass für eine genauere Erfor-
schung der PTBS. Judith Lewis Herman, eine US-amerikanischen Psychologin, schuf letztendlich
2 den Begriff der (komplexen) PTBS, nachdem sie lange mit Veteranen des Vietnamkriegs gearbei-
tet hatte. 1992 veröffentlichte sie ihr Buch „Trauma and Recovery“, in den Vereinigten Staaten, in
dem sie über therapeutische Arbeit mit traumatisierten Kriegsveteranen schreibt.
In ein diagnostisches Manual – d. h. in das US-amerikanische DSM-III – wurde die PTBS erst-
malig 1980 aufgenommen. Dies markiert auch den Zeitpunkt, ab dem die PTBS immer mehr Auf-
merksamkeit erhielt. Die Forschungsarbeiten und die Veröffentlichungen stiegen in den letzten
25 Jahren deutlich an.
In das Klassifikationssystem der WHO, das ICD, wurde die PTBS erst 1991, mit Veröffent-
lichung der 10. Version, aufgenommen.
Friedmann et al. veröffentlichten 2007 mit dem „Handbook of PTSD: Science and Practice“
das erste Kompendium, welches sich ausschließlich mit der PTBS beschäftigte.
Der Begriff Trauma wurde originär für körperliche Verletzungen verwendet. Erst ab 1880
wurde diese Bezeichnung auch zunehmend für psychische Verletzungen verwendet.
Literatur
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13 3
Physiologie einer
traumatischen Situation
Literatur – 26
In einer Situation, in der ein Mensch im schlimmsten Falle mit seinem Tod rechnen muss, kommt
es in der menschlichen Psyche und damit im Gehirn, aber auch im gesamten Körper zu einer
physiologischen Notreaktion. Diese Reaktion betrifft die Gedanken, die Gefühle, den Körper
und das Verhalten der Betroffenen. Durch diese physiologischen Reaktionen kommt es zu „Kol-
lateralschäden“, in diesem Fall zu Veränderungen, allen voran einer fehlerhaften Abspeicherung
dessen, was während des Trauma erlebt wird. Dieses fehlerhaft Abgespeicherte wird dann später
3 zu den Symptomen der PTBS.
Die physiologischen Reaktionen im Körper während der Traumatisierung sind, ebenso wie
die Symptome der PTBS, normale Reaktionen. Das, was unnormal ist bzw. war, ist das Trauma.
Gefühle stellen einen wichtigen, sogar essentiellen Teil unseres menschlichen Lebens dar. Ein
Leben und eine Weiterentwicklung der Menschheit und des einzelnen Individuums sind ohne
Gefühle nicht denkbar. Gefühle motivieren uns, treiben uns an, helfen uns beim Erkennen von
Gefahren, bringen Liebe, Lust und Freude in unser Leben. Anzunehmen, dass Gefühllosigkeit
stärker und erfolgreicher sowie weniger verletzbar macht, ist wenig hilfreich und zudem falsch.
Vielmehr geht es darum, sich selbst und seine Gefühle zu kennen und mit ihnen umgehen zu
können. Gefühle zu bekämpfen, verschwendet Ressourcen. Und diese Energien können sinn-
voller eingesetzt werden. Egal, welche Wertung jeder individuell für sich vornimmt, ob man nun
Karriere oder persönliches Glück in den Vordergrund stellt, nur eine ausgewogene Gesamtbilanz
wird zu nachhaltigem Erfolg führen.
Übermäßig gefühlloses sowie zu radikal rationales Auftreten kann den eigenen Zielen, sowie
einem selbst schaden. Das Umfeld, private wie geschäftliche Partner, Familie, Kollegen, Kunden, das
Team oder die Öffentlichkeit können in den seltensten Fällen erraten oder erspüren, aus welchem
inneren Zusammenhang und Antrieb sich individuelles Handeln speist. Als Folge ist das Auf-
kündigen von Gefolgschaft und Vertrauen nicht selten. Wobei individuell betrachtet zumeist das
genaue Gegenteil sinnvoll, hilfreich und – wenn vielleicht auch nur unbewusst – gewünscht wäre.
Biologisch betrachtet starten Gefühle wichtige, automatisierte Programme im Menschen,
welche sich im Laufe der Entwicklung des Menschen als effizient und erfolgreich für Überleben
und Fortpflanzung bewährt haben – völlig unabhängig von Geschlecht, Ort und sozialem oder
gesellschaftlichen Status.
Zudem spiegeln Gefühle wider, ob ein bestimmtes Ziel oder ein Bedürfnis erfüllt wurde oder
nicht, und sorgen dann für die passenden Handlungen.
Gefühle können ihrer Qualität nach sehr intensiv oder eher schwach sein. Sie können ganz
plötzlich einsetzen oder sich langsam anbahnen; sie können nur einen kurzen Augenblick andau-
ern oder sehr lange; sie können als angenehm oder unangenehm erlebt werden; sie können als
gut steuer- und regulierbar oder als überflutend erlebt werden.
In der Emotionsforschung werden unterschiedliche Basisemotionen beschrieben. Hierunter
werden Gefühle beschrieben, welche kulturübergreifend gefunden werden. Dazu zählen, schwan-
kend je nach Autor, im Wesentlichen Überraschung, Trauer, Wut, Angst, Ekel, Schuld und Freude.
Unsere unterschiedlichen Gefühle sind wie Musiker in einem großen Orchester. Wenn jeder
Musiker in diesem Orchester an der richtigen Stelle, mit der richtigen Intensität spielt, klingt es
wunderbar. Wenn jeder Musiker, wann immer er will und wie stark er will, spielt, dann klingt
es schrecklich. Und so ist es mit den Gefühlen auch. Zudem kann es ein Problem sein, wenn die
Folge eines Gefühls nicht gewollt wird.
3.1 · Warum Gefühle? – Grundlagen von Emotionen
15 3
Zuweilen wird in der Emotionsliteratur zwischen Emotion auf der einen und Gefühl bzw.
Stimmung auf der anderen Seite unterschieden. Emotionen werden als plötzlich auftretend, ver-
änderlich und mit starker Intensität charakterisiert, Stimmung und Gefühl als länger andauernd
und weniger stark in ihrer Intensität. Emotionen haben hierbei fast immer eine relativ einfach zu
erkennende Ursache, was bei Stimmungen und Gefühlen nicht der Fall ist.
Belastende Ereignisse und die damit verbundenen Gefühle, wie Trauer, Angst, Wut, Ver-
zweiflung, Hoffnungslosigkeit, sind und waren immer Teil der menschlichen Existenz. Solche
Ereignisse stellen eine Herausforderung für den Betroffenen dar. Es geht darum, sich anzupassen
und vielleicht neue Strategien der Bewältigung zu erlernen. Es geht darum, sich zu verändern
und vielleicht Fähigkeiten, Stärken und Seiten an sich zu entdecken und auszubauen, von denen
man bisher nichts wusste. Belastende Ereignisse können also der Motor für Veränderung, Wei-
terentwicklung und Kreativität sein.
» Erst unter den Hammerschlägen des Schicksals, in der Weißglut des Leidens an ihm, gewinnt
das Leben Form und Gestalt. (Viktor E. Frankl 2005)
Nur unter Druck entstehen Diamanten? Vielleicht. Doch ist das eigene Handeln eine individu-
elle Entscheidung und der entstehende Leidensdruck bleibt, auch bei vorausgegangenen, mög-
licherweise fehlerhaften, Entscheidungen – oder Unterlassung von Entscheidungen – selbst
steuerbar. Die Stärke des Drucks ist also regulierbar. Es muss nicht abgewartet werden, bis
dieser so hoch geworden ist, dass Handeln alternativlos geworden ist und Optionen minimiert
sind. Der Zeitpunkt und die Art des Handels sind und bleiben eine eigene Entscheidung. Kei-
neswegs ist es eine Schwäche, sich professionelle Hilfe zu holen. Das ist genau wie im geschäft-
lichen Leben eine Selbstverständlichkeit und auf vielen Ebenen, öffentlich wie privat, umsetz-
bar. Ein traumatisches Ereignis ist in den seltensten Fällen wirklich vermeidbar, beeinflussbar
oder vorhersehbar. Doch der Umgang damit liegt in der eigenen Hand jedes Einzelnen. Ein in
der Öffentlichkeit stehender Schauspieler genau wie eine exponierte Person in wirtschaftlicher
Führungsposition, beide lernen, sich medienwirksam zu verkaufen und treffen insbesondere
im gehobenen Management tagtäglich Entscheidungen von großer Tragweite. Allein schon aus
Gründen der Effizienz, Gewinnoptimierung oder wirtschaftlicher Rationalität würden beide
ohne zu zögern dazu raten, nicht die Augen zu verschließen, nicht absehbare negative wirt-
schaftliche Folgen abzuwarten und nicht in, zumindest theoretisch absehbare, immer größer
werdende Folgeprobleme untätig hineinzugehen.
Das Verständnis im Hinblick auf Gründe, Zusammenhänge und Folgen wird in den wei-
teren Kapiteln gefördert und es wird ein adäquates Verhalten, ob nun aus rein wirtschaftlich
orientierter, privater oder kombinierter Sicht, auf Basis der Erkenntnis aufgezeigt. Als akut
selbst betroffener Manager mag in diesem Zeitraum eine objektive Betrachtung des eigenen
Status und persönlicher Bedürfnisse vorübergehend nicht möglich sein. Also orientieren Sie
sich daran, was Sie ohne zu zögern im Rahmen einer geschäftlichen Entscheidung veranlassen
würden: Packen Sie die Dinge aktiv an, stellen Sie ihr Team zusammen, machen Sie die Augen
auf, stellen sie sich der Herausforderung, gehen Sie hindurch und prüfen Sie, welche der sich
dabei ergebenden Umstände Sie zu Ihrem Vorteil nutzen können. Dieser rein rationale gewinn-
orientierte Ansatz als erster Schritt wird im weiteren Verlauf auch persönliche Weiterentwick-
lung ermöglichen. Es gibt kein „Falsch“ außer Stillstand und Augenverschließen. Und selbst
das kann für einen bestimmten Zeitabschnitt individuell die richtige Entscheidung sein. Denn
niemand außer den Betroffenen selbst kann über richtig und falsch, soweit eine solche Eintei-
lung überhaupt sinnvoll sein kann, entscheiden.
16 Kapitel 3 · Physiologie einer traumatischen Situation
Wenn es um solch essentielle Dinge wie das Überleben geht, müssen wir Menschen des 21. Jahr-
hunderts uns leider selbst eingestehen, dass wir immer noch so funktionieren wie unsere Vorfah-
ren in der Steinzeit. Die tief in unseren Genen und unserer Biologie liegenden Reaktionsmuster
und Verhaltensweisen in Extremsituationen, in denen es um Leben und Tod geht, bestimmen, wie
3 wir in solchen Situationen fühlen (oder nicht fühlen), denken (oder nicht denken) und handeln
(oder nicht handeln).
z Subjektive Lebensbedrohung!
Eine traumatische Situation ist dadurch gekennzeichnet, dass die Betroffenen sie als existen-
ziell, als physisch oder psychisch lebensbedrohlich erleben, oder zumindest als Bedrohung für
die Gesundheit ansehen. In einer solchen Situation ist es von größter Bedeutung für das Über-
leben, dass Entscheidungen über das Verhalten in Bruchteilen von Sekunden getroffen werden.
Ein Abwägen in unserem Großhirn (Cortex) würde viel zu lange dauern.
Wenn man die Hand auf einer heißen Herdplatte hat, sollte man sie möglichst schnell weg-
ziehen und nicht erst überlegen, ob es nun Sinn macht oder nicht, sie wegzuziehen.
Um schnell reagieren zu können, fällt der Mensch deshalb in hohen Belastungen und bei
großer Gefahr auf einfache, schnelle und evolutionsbiologisch alte Reaktionsmuster zurück.
Beispiel
Der Steinzeitmensch begegnet auf einem seiner Streifzüge durch die Prärie einem Säbelzahn-
tiger. Dem Steinzeitmenschen ist sofort klar, dass dies eine lebensbedrohliche Situation für ihn ist
(subjektiv lebensbedrohliches Ereignis).
Seine Psyche und seine Physis reagieren umgehend mit dem Ziel, das Überleben zu sichern.
Der Körper schüttet Stresshormone aus und der Sympathikus wird aktiv. Sein Herz schlägt schnel-
ler und sein Blutdruck steigt an, wodurch die Leistungsfähigkeit in seinem ganzen Körper, aber vor
allem in seinen Muskeln gesteigert wird. Die Durchblutung der Muskulatur wird hochgefahren,
damit er entweder stark im Kampf oder schnell im Fliehen ist. Er fängt an, zu schwitzen, damit der
Köper im Kampf oder auf der Flucht gut gekühlt wird. Die Atmung wird schneller, um viel Sauer-
stoff im Blut und damit im Körper aufnehmen und viel Kohlenstoffdioxid abatmen zu können. Der
Magen-Darm-Trakt wird weniger durchblutet (Verdauung und Nahrungsaufnahme sind in der
akuten Gefahr vollkommen unwichtig), wodurch es zu Übelkeit und Erbrechen kommen kann.
Die Pupillen werden weit, damit er gut sehen kann. Die Aufmerksamkeit wird auf die Gefahr hin
fokussiert und alles andere ausgeblendet. Ob da nun am Wegesrand noch schöne Blümchen
stehen, ist für das Überleben vollkommen unwichtig.
3.2 · Akute Traumatisierung und traumatische Zange
17 3
Emotional erlebt er Angst, Wut, Furcht und vielleicht auch andere Gefühle.
Der Körper und die Psyche aktivieren alles, was an Energie da ist, und stellen diese bereit, denn es
geht um nichts Geringeres als um das physische oder psychische Überleben.
Im nächsten Schritt wird das Bindungssystem als erste Lösungsmöglichkeit aktiv, es werden
also (Bindungs-)Personen gesucht, die helfen oder schützen können. Der Steinzeitmensch sieht
sich also um, ob ein anderer aus seinem Stamm bei ihm ist, um ihm zu helfen. Die traumatische
Situation ist aber genau dadurch gekennzeichnet, dass keine Bindungsperson in der Nähe ist
(vielmehr ist in vielen traumatischen Situationen die Bindungsperson sogar Ausgangspunkt der
Bedrohung).
Der Steinzeitmensch wird nun versuchen, einen Weg zur Flucht zu finden, um so der Lebens-
bedrohung zu entkommen. Charakteristisch für die traumatische Situation ist aber wieder, dass
keine Flucht möglich ist. Als Folge erlebt er Hilflosigkeit.
Der einzige Weg, der nun noch bleiben würde, wäre Kampf. Ist der Säbelzahntiger aber viel zu groß
und zu stark, ist das Gegenüber zu übermächtig und damit ein Kampf ebenfalls nicht möglich.
Der Steinzeitmensch erlebt nun eine tiefe Ohnmacht und ein absolutes Ausgeliefertsein. Hier-
durch kommt es zu einem Einfrieren, einem „Freeze“. Es wird auf die absolute Notfall-Lösung in
der Psyche umgeschaltet, auf die Dissoziation. Der Steinzeitmensch erstarrt und es kommt zu
einem Auseinanderdriften von Wahrnehmung und Gedächtnis. Er nimmt die Situation mit dem
Säbelzahntiger nur noch verzerrt oder gar nicht mehr wahr. Letztendlich führt diese Dissoziation
zum „Totstellreflex“. Dieser soll letztendlich bewirken, dass die Gefahr vorbeigeht.
Der „Totstellreflex“ hat sich evolutionsbiologisch deshalb etabliert und erhalten, weil die meisten
„Gegner“ des Menschen im Laufe seiner Entwicklung keine Aasfresser waren und damit keinen
toten Menschen gefressen hätten.
Zunächst ist die Dissoziation durch den Sympathikus vermittelt und es kommt zu einem Erstarren
in der Übererregung. Dann aber wird auf den Parasympathikus umgeschaltet. Dieser ist der Teil
des vegetativen Nervensystems, der für Ruhe und Inaktivität zuständig ist. Dieser Parasympathi-
kus besteht aus zwei Teilen, einem dorsalen Teil und einem ventralen Teil. Der dorsale Parasympa-
thikus ist für den „Totstellreflex“ zuständig, der ventrale für Entspannung und Erholung.
Wir haben also nun von der traumatischen Zange bildlich gesprochen das „Gewinde“ (lebensbe-
drohlich erlebte Situation) und die beiden „Griffe“ (die beiden Reaktionsmöglichkeiten Kampf
oder Flucht) veranschaulicht. Das charakteristische an der traumatischen Zange ist, dass der Griff,
also die beiden „Lösungsoptionen“ Kampf oder Flucht, nicht funktionieren.
z Fehlerhafte Abspeicherung!
Jegliche verfügbare Energie wird bereitgestellt, aber nichts hilft. Und genau diese Situation ist
für unser Gehirn ein Super-GAU. Es kommt unter diesen Bedingungen des Super-GAUs dazu,
dass die Funktionen des Gehirns, wie Reaktion, Verarbeitung, Speicherung, Gedächtnis, nur
gestört möglich sind. Ein Abspeichern der in der traumatischen Situation wahrgenommenen
Informationen findet nicht mehr in „normaler“ Weise statt. Diese fehlerhaften Verarbeitungen
sind dadurch gekennzeichnet, dass es zu keiner (räumlich-zeitlichen) Einordnung, zu keiner
Bewertung und zu keiner Strukturierung kommt, was eigentlich über die Zusammenarbeit von
verschiedenen Hirnregionen (Broca-Sprachzentrum, Hippocampus, Cortex) passiert. Die Ein-
drücke können nicht geordnet, nicht benannt, nicht strukturiert und nicht bewertet werden. Viel-
mehr werden die einzelnen Eindrücke als einzelne Fragmente (also Bilder, Gefühle, Verhalten,
Körperempfindungen, Sinneseindrücke, Gedanken) im eingefrorenen Zustand abgelegt. Dies
bedeutet, dass das, was in dieser Situation erlebt wird, in dem Zustand eingefroren wird, wie es
in dieser traumatischen Situation erlebt wird. Es kommt nicht zu einer Verarbeitung, emotiona-
len Abreaktion und Vernetzung mit dem anderen biografischen Gedächtnis. Die Erinnerung an
18 Kapitel 3 · Physiologie einer traumatischen Situation
die traumatische Situation bleibt als eine aktive, akute Hier-und-Jetzt-Erinnerung erhalten. Die
Betroffenen erinnern sich also nicht daran, dass es dort und damals eine traumatische Situation
gegeben hat, in der sie sich so gefühlt haben, das gedacht haben und dort diese Schmerzen hatten.
Vielmehr empfinden sie, wenn sie an die Situation erinnert werden, die Gefühle, die Gedanken
und die Körperempfindungen genauso aktiv, als erlebten sie gerade wieder dieselbe Situation.
Die Betroffenen erinnern sich also nicht daran, sondern erleben die Situation so wieder, als pas-
3 siere sie gerade im Moment wieder. Man erinnert sich nicht an die Lebensbedrohung, sondern
erlebt sie wieder. Man erinnert sich nicht an die Angst, sondern erlebt sie wieder. Man erinnert
sich nicht an den Schmerz, sondern erlebt ihn wieder.
Diese fehlerhaft abgespeicherte Erinnerung wird häufig auch als Traumanetzwerk bezeich-
net. Jeder Gedanke, jedes Gefühl, jede Emotion und jedes Körperempfinden kann es nur deshalb
geben, weil es in unserem Gehirn Nervenzellen (Neurone) gibt, welche für die jeweilige Sen-
sation verantwortlich und aktiv sind. 1949 beschrieb der kanadische Psychologe Donald Hebb
ein wichtiges Prinzip: „neurons that fire fogether, wire together“ (Hebb 1949), was frei über-
setzt so viel heißt wie „Nervenzellen, die gemeinsam aktiv sind, bilden gemeinsame Verbindun-
gen“. Die Nervenzellen, welche für die traumatische Erinnerung zuständig sind, sind deshalb so
stark miteinander gekoppelt, weil sie unter der Aktivität von emotionalen Zentren sehr stark
zusammen aktiv sind. Durch diese gemeinsame intensive Aktivität verbinden sich diese Ner-
venzellen auch sehr stark miteinander und sind dann, wenn es zu einer Aktivierung kommt,
auch meist gemeinsam aktiv.
Fallbeispiel von Claudia S.: Akute Traumatisierung und Traumatische Zange mit Dissoziation
Claudia S. (Name geändert), 34 Jahre alt, ist eine international bekannte Kinofilmdarstellerin. Sie
ist geschieden, war zweimal verheiratet und ist Mutter einer 5-jährigen Tochter mit geteiltem
Sorgerecht, das aufgrund ihrer beruflichen Situation und des damit zusammenhängenden an-
spruchsvollen Zeitmanagements sowie eines ihr pauschal unterstellten „unsteten Lebenswan-
dels“ immer wieder infrage gestellt wird. Im Vorfeld hatte sie keine körperlichen und psychischen
Erkrankungen.
An einem Donnerstag im November beschließt sie, nach Drehschluss zur Vorbereitung des kom-
menden Tages noch einige Zeit länger am Set eines Actionfilms am Originalschauplatz, einer
dunklen Gasse einer ihr weitgehend noch unbekannten ausländischen Großstadt, zu bleiben, und
entlässt den ihr zugeteilten Fahrer in den Feierabend. Als sie am späten Abend ihr Wohnmobil
verlässt, ist sie die Letzte, die geht. Geistig noch in ihrer Rolle, leicht bekleidet und nur mit dem
Wichtigsten in ihrer Handtasche auf dem Weg zu einem der Produktionsfahrzeuge stellt sich ihr
plötzlich ein Mann in den Weg und hält ihr eine Waffe vor die Nase. Der Mann schreit sie in einer ihr
unverständlichen Sprache an, fordert offensichtlich gestikulierend Geld, Autoschlüssel, Schmuck
und alles, was sie sonst noch an Wertsachen bei sich hat. Zudem brüllt er, schnell unkontrollierter
wirkend, weitere unbekannte Worte. Sie interpretiert diese für sich in etwa wie: „Oder ich bring
dich um!“.
Claudias Herz rast. Sie hat das Gefühl, als springe ihr das Herz gleich aus der Brust. Sie fängt an,
zu schwitzen, zittert am ganzen Körper. Zudem wird ihr übel. Sie kann keinen klaren Gedanken
mehr fassen, sondern starrt nur noch auf die Waffe. Es gibt in ihr nur diesen einen Gedanken: „Ich
sterbe jetzt!“. Sie spürt Ohnmacht, Hilflosigkeit, Panik, Ausweglosigkeit.
Der Körper von Claudia reagiert auf die existenzielle Bedrohung. Der Sympathikus aktiviert alles
in ihr, was die Möglichkeit, zu überleben, irgendwie verbessert.
Sie will die Opferrolle nicht akzeptieren, sieht sich kurz um, hofft, dass da doch noch jemand ist,
der ihr helfen könnte, den sie um Hilfe bitte könnte (Suche und Aktivierung von Bindungsperso-
nen). Aber sie ist mit diesem Mann dort ganz alleine.
3.3 · Das Unaushaltbare aushalten können! – Dissoziation in der traumatischen Situation
19 3
Was könnte sie tun? Weglaufen? So schnell könnte sie gar nicht sein, dass er sie nicht mit seiner
Waffe treffen würde. Wenn die denn echt ist – Risiko zu hoch. Kämpfen? Der Mann ist fast einen
Kopf größer als sie und ihr körperlich auch ohne Waffe haushoch überlegen. Zudem wirkt er al-
koholisiert und äußerst entschlossen Die kleinste Andeutung, gegen ihn anzukämpfen, würde er
vielleicht damit quittieren, dass er einfach abdrückt. Dies hier ist ja kein Film, sondern echt! Sie hat
sich selbst in eine ausweglose Situation gebracht. Soll sie sagen, wer sie ist? Nein, dann würde die
Situation möglicherweise weiter eskalieren. Sie kann ja nicht einmal die Sprache! Und was wird
die Öffentlichkeit sagen, wenn sie davon erfährt? Sicher wäre das nicht gut für sie, sofort käme
die Frage nach ihrer Mitschuld auf. Warum ist sie auch so aufreizend bekleidet mitten in einer
Novembernacht … Und ihre Tochter …
Nein, es ist kein Weglaufen, kein Diskutieren und kein Kämpfen möglich! Sie ist in der trauma-
tischen Zange. Schließlich erstarrt sie. Es ist so, als ob sie sich bei der ganzen Szene von außen
beobachten würde. Sie rutscht in die Dissoziation. Merkt plötzlich, dass sie gar nichts mehr fühlt,
keine Anspannung mehr hat.
Der Täter reißt ihr die Handtasche aus den Händen und läuft weg. Claudia bleibt dort einfach
stehen. Wie lange? Das weiß sie im Nachhinein nicht mehr. Sie weiß nur noch, dass es irgendwann
zu regnen begonnen hat und sie sich deutlich später klatschnass und unterkühlt aber ansonsten
körperlich unverletzt in dieser Gasse wiedergefunden hat. Um sie herum sind zwei ihr fremde
Personen, von denen eine sie erkannt und Bilder der Situation mit seinem Smartphone gemacht
hat, während die andere, die Lage richtig einschätzend, gerade die Polizei alarmiert hat.
Dissoziation ist das Sichtrennen von Wahrnehmung und Gedächtnis. Dabei ist eine Dissozia-
tion nichts grundsätzlich Krankhaftes. Jeder Mensch besitzt mehr oder weniger die Fähigkeit
zur Dissoziation. Sie ist eine neurophysiologisch angelegte Fähigkeit, welche unsere Psyche zur
Bewältigung von Belastungen anwenden kann. Hierbei spaltet die Psyche bestimmte Gefühle,
Gedanken, Handlungen, Körperempfindungen einfach ab und macht sie somit dem Bewusstsein
nicht zugänglich. Der Sinn, der dahintersteht, ist, dass durch dieses Abspalten eine Überflutung
mit Reizen unmöglich wird und die Betroffenen in der traumatischen Situation besser reagieren
und vor allem überleben können.
Jeder kennt die Situation, wenn man mit dem Auto auf einer leeren, langen Autobahn unter-
wegs ist und dann mit den Gedanken abdriftet. Plötzlich könnte man nicht mehr sicher sagen,
was die letzten paar Kilometer am Wegesrand so los war. Oder man sitzt in einer langweiligen
Teambesprechung und der Kollege, der sich selbst immer am liebsten reden hört, hält wieder
einen langen Monolog über etwas total Uninteressantes. Dann ist es ein Leichtes, mit den Gedan-
ken an all jene Orte zu gehen, an denen man jetzt viel lieber wäre. Wird man dann unerwartet
angesprochen oder gar etwas gefragt, hat man nicht den geringsten Schimmer, was in den letzten
Minuten passiert ist.
Das ist Dissoziieren jedenfalls auch. Diese Fähigkeit zur Dissoziation ist bei jedem Menschen
unterschiedlich stark ausgeprägt. Zudem nimmt die Fähigkeit mit dem Alter ab. Kinder im Vor-
und Grundschulalter haben diese Fähigkeit am stärksten ausgeprägt. Wenn man Kinder in dem
Alter beim Spielen beobachtet, kann man dies gut erkennen. Ein Grundschulkind, welches mit
seinen Freunden Räuber und Gendarm spielt, ist in diesem Moment auch ein Räuber oder ein
Gendarm. Dissoziation ist also etwas, mit dem alle Menschen in unterschiedlicher Ausprägung
auf die Welt kommen.
20 Kapitel 3 · Physiologie einer traumatischen Situation
Nach einem belastenden Ereignis oder einer traumatischen Erfahrung kommt es zunächst bei
vielen Betroffenen zu einer psychomotorischen Überregung oder einer deutlichen inneren
Unruhe. Sie erleben Angst, Wut, Panik oder Erstarrung – häufig schnell wechselnd vom einen
Gefühl zum anderen. Es kann zu Erstarrung und zu einem Betäubungsgefühl kommen. Die
Betroffenen ziehen sich sozial zurück.
Diese Reaktionen sind als normale Reaktionen auf ein un-normales Ereignis anzusehen.
Die Betroffenen erleben die Beschwerden, die Einschränkungen in ihrem Leben und den
dadurch entstehenden Leidensdruck als unnormal. Sie erleben sich selbst vielleicht als unfähig,
schwach und versuchen deshalb, die Beschwerden zu verstecken.
Diagnostisch lässt sich eine solche Reaktion bis maximal 3 Tage nach dem belastenden Ereig-
nis im ICD-10 als eine akute Belastungsreaktion einordnen.
Dauern die Symptome länge als 3 Tage an und haben sie spätestens 3 Monaten nach dem
Ereignis angefangen, lässt sich nach dem ICD-10 eine Anpassungsstörung diagnostizieren.
3.4 · Frühintervention und Debriefing – Hilft schnelle Hilfe schneller?
21 3
Diese darf nicht länger als 4 Wochen, bzw. 2 Jahre bei der Untergruppe der längeren depres-
siven Reaktion, andauern.
In beiden Fällen kann eine supportive therapeutische Unterstützung sehr hilfreich sein.
Im weiteren Verlauf kommt es dann entweder zu einer Verarbeitung des belastenden Ereig-
nisses oder es entwickelt sich eine (komplexe) PTBS. Diese kann, nach herrschender Lehrmei-
nung, manchmal erst nach Monaten oder Jahren beginnen (sogenannte late-onset-PTBS). Hier
ist es wichtig, dass das ICD-10 bezüglich des Zeitkriteriums von dieser herrschenden Lehrmei-
nung abweicht und für die Diagnosestellung der PTBS eine Entstehung der Symptome innerhalb
der ersten 6 Monate nach dem belastenden Ereignis fordert.
Bei Betrachtung des nun dargestellten Verlaufes, stellen sich zwei Fragen:
1. Wie kann man akut traumatisierten Menschen direkt helfen?
2. Ist eine möglichst frühe therapeutische Intervention sinnvoll und wenn ja, wie sollte sie
aussehen?
Die beiden Wissenschaftler Lasogga und Gasch haben sich lange mit der Notfallpsychologie
beschäftigt und ausgehend von ihren Forschungsarbeiten einige Basisregeln für Laienhelfer und
professionelle Helfer aufgestellt.
Regeln für professionelle Helfer am Unfallort nach Lasogga und Gasch (2011)
55Vergegenwärtigen Sie sich auf der Fahrt zum Einsatzort, was Sie erwartet und in welcher
Reihenfolge Sie die einzelnen Handlungen absolvieren wollen.
55Verschaffen Sie sich zunächst einen Überblick.
55Sagen Sie dem Opfer, wer Sie sind und dass etwas zu seiner Hilfe geschieht.
3 55Suchen Sie vorsichtigen Körperkontakt.
55Geben Sie Informationen über die Art der Verletzungen sowie die eingeleiteten
Maßnahmen.
55Kompetenz im fachlichen Bereich beruhigt.
55Stärken Sie die Selbstkompetenz des Patienten, indem Sie ihn zu einfachen Aufgaben
mit heranziehen.
55Halten Sie das Gespräch mit dem Betroffenen aufrecht. Hören Sie „aktiv“ zu, wenn der
Betroffene spricht.
55Sagen Sie dem Patienten, wenn Sie ihn verlassen müssen, und sorgen Sie für
„psychischen Ersatz“.
55Beachten Sie die Angehörigen.
55Schirmen Sie Verletzte vor Zuschauern ab.
55Belastende Erlebnisse des Helfers sollten durch Entspannungstechniken, Einzel- und
Gruppengespräche aufgearbeitet werden.
z Ist eine möglichst frühe therapeutische Intervention sinnvoll? Wie sollte sie
aussehen?
Eine frühe therapeutische Intervention erscheint dann sinnvoll, wenn sie den Betroffenen hilft,
das Erlebte besser zu verarbeiten, und somit die Entwicklung einer PTBS verhindert. Für die
Verarbeitung einer traumatischen Situation ist es wichtig, wie die Betroffenen die Folgen der
Traumatisierung beurteilen und wie kompetent sie sich selbst in der Bewältigung des Erlebten
und der Folgen erleben.
In einer frühen therapeutischen Intervention spielt die Psychoedukation eine zentrale Rolle.
Es wird in der Therapie vermittelt, was während und nach der Belastung in der Seele der Betroffe-
nen vorgeht. Zudem werden die Symptome, welche den Betroffenen plagen, ausführlich erklärt.
Ziel sollte sein, dass die Betroffenen am Ende Fachleute bezüglich ihrer Symptome sind und
sie verstanden haben, warum und wie diese entstehen, und was sie selbst dagegen tun können.
Zudem sollten ganz praktische und z. T. auch soziale Unterstützungen angeboten werden.
An diesem Punkt ist es dann gegebenenfalls auch ganz wichtig, eine sozial-pädagogische Bera-
tung mit ins Boot zu holen.
Während dieser laufenden Behandlung sollten Risikofaktoren für die Entwicklung einer
PTBS exploriert werden und bei jedem erneuten therapeutischen Kontakt eine genauer Blick
auf die Entwicklung der Symptome geworfen werden. Ziel sollte es sein, dass die Diagnose und
die Behandlungsindikation einer etwaigen PTBS früh gestellt werden können und dann, mit den
Betroffenen, ein individueller Behandlungsplan erarbeitet werden kann.
Unter Umständen ist zeitweise auch eine medikamentöse Behandlung notwendig und
sinnvoll.
Eine weitere Behandlungsmöglichkeit stellt das sogenannte Debriefing dar. Hierbei handelt
es sich um eine therapeutische Behandlung, bei der sehr früh eine Art Konfrontationsbehand-
lung durchgeführt wird. Die Behandlung läuft in der Regel in 6 Phasen ab.
3.5 · Was schützt? – Resilienz
23 3
1. Therapiezielformulierung und Information über den Therapieablauf
2. Der Patient schildert den Ablauf der traumatischen Situation
3. Der Patient schildert die Gedanken und Eindrücke in der traumatischen Situation
4. Der Patient schildert den schlimmsten Moment (Gefühle, Reaktionen etc.) in der trauma-
tischen Situation
5. Der Patient wird über die Symptome, die Erkrankung und den Verlauf sowie über Bewälti-
gungsstrategien informiert
6. Ende der Behandlung
Wenn man sich die Studienlage zu den Erfolgen eines solchen Debriefings ansieht, dann sieht
man, dass in vielen Untersuchungen keine Traumafolgestörung, in klinisch bedeutsamer Aus-
wirkung, verhindert werden konnte (Bisson et al. 1997; Cuijpers et al. 2005; Litz et al. 2008;
Mitte et al. 2005; Rose et al. 2001; van Emmerik et al. 2002). In einigen Untersuchungen zeigte
sich sogar eine Verstärkung der Symptome (Hobbs et al. 1996; Mayou et al. 2000; Sijbrandij
et al. 2006).
Aufgrund dessen wird von einem obligatorischen Debriefing abgeraten.
Nicht jeder, der eine traumatische Situation erlebt, entwickelt eine PTBS. Von den Menschen,
die Opfer einer Vergewaltigung werden und damit einer schrecklichen sexualisierten Gewalt
ausgeliefert sind, entwickeln ca. 2/3 der Fälle eine PTBS. Dies bedeutet aber eben auch, dass
sich bei 1/3 der Fälle keine PTBS entwickelt. Die Opfer eines Verkehrsunfalls bilden in ca.
1/3 der Fälle eine PTBS aus und in 2/3 nicht. Warum bekommen die einen eine PTBS und die
anderen nicht?
Es ist sehr wichtig, dass verstanden wird, warum diejenigen, welche eine PTBS entwickeln,
diese entwickeln. Es ist wichtig, zu verstehen, warum diese Erkrankung entsteht und wie.
Es ist aber auch sehr wichtig und hoch interessant, zu verstehen, was dazu beiträgt, dass einige
Betroffene eines Traumas keine PTBS erleiden. Machen diese Menschen etwas anders? Und wenn
ja, was? Wenn man genau sagen könnte, was diese Betroffenen eines traumatischen Ereignisses
tun, um keine PTBS zu bekommen, dann könnte man dies auch anderen raten.
Dieser Gedanke, der nach den Gründen sucht, warum Gesundheit bestehen bleibt, oder sich
von selbst wiedereinstellt, heißt Salutogenese und steckt hinter dem Begriff Resilienz.
Resilienz
Das Wort Resilienz selbst leitet sich von dem lateinischen Wort „resilire“ ab, was so
viel heißt wie „abprallen“. Deshalb könnte man Resilienz mit „Widerstandsfähigkeit
gegenüber psychischen Belastungen“ übersetzen. Das Gegenteil von Resilienz ist übrigens
Verwundbarkeit (Vulnerabilität).
Es gibt seit den 1980er-/1990er-Jahren eine intensive Forschung auf dem Gebiet der Resilienz.
Hierbei konnte gezeigt werden, dass Resilienz keine Persönlichkeitseigenschaft ist, vielmehr
zeichnen sich resiliente Menschen dadurch aus, dass sie sich gut an die verändernden
Situationen ihrer Außenwelt anpassen können. Sie können ihre bestehenden Lebenskonzepte
erweitern.
24 Kapitel 3 · Physiologie einer traumatischen Situation
Was kann ein Mensch, der eine hohe Resilienz hat, besonders gut?
55 Er kann aktiv für sich sorgen und seine Bedürfnisse erkennen, wahrnehmen und erfüllen.
55 Er entspannt sich regelmäßig.
55 Er erkennt seine Grenzen und die der anderen. Er hält diese Grenzen auch ein.
55 Er kann einen Perspektivwechsel vornehmen und so sich, sein Leben, Probleme usw. aus
unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten.
55 Er schätzt sich selbst und andere wert.
55 Er erkennt, dass zum Leben Erfolge, Glück, Freude, aber auch Misserfolge, Krisen, Trauer
und Schmerz gehören.
55 Er kann seinem Leben einen Sinn geben.
Es ist also gut möglich, dass man seine eigene Resilienz ausbaut. Was dazu nötig ist, hat die ame-
rikanische Psychologenvereinigung (American Psychological Association) zusammengetragen,
und 2008 dazu 10 mögliche Wege zur Resilienz veröffentlicht:
55 Make connections! (Habe gute soziale Beziehungen!)
55 Avoid seeing crises as insurmountable problems! (Mache Dir klar, dass Krisen
überwindbar sind!)
55 Accept that change is part of living! (Veränderung ist ein Teil des Lebens!)
55 Move toward your goals! (Wende Dich Deinen Zielen zu!)
55 Take decisive actions! (Treffe Entscheidungen!)
55 Look for opportunities for self-discovery! (Halte Ausschau nach Möglichkeiten um Dich
selbst zu erforschen!)
55 Nurture a positive view of yourself! (Pflege einen positiven Blick auf Dich selbst!)
55 Keep things in perspective! (Bewahre den richtigen Blickwinkel!)
55 Maintain a hopeful outlook! (Erhalte Dir die Hoffnung!)
55 Take care of youself! (Kümmere Dich um Dich!)
55 (American Psychological Association 2008; dt. Übersetzung der Autoren)
Unter dem Punkt Resilienz wurde bereits ausgeführt, welche Faktoren nach einer Traumatisierung
vor einer PTBS schützen. Es gibt aber auch Faktoren, welche als Risiko anzusehen sind. Wenn es
bei einem Menschen zu einer traumatischen Situation gekommen ist, ist es wichtig, abzuklären,
welche Risikofaktoren bestehen. Je mehr Risiken zusammenkommen, desto höher ist die Wahr-
scheinlichkeit, dass sich in der Zeit nach dem Trauma eine PTBS entwickelt.
Dies wiederum bedeutet, dass Betroffene von traumatischen Erlebnissen mit vielen Risiko-
faktoren, in der Zeit nach dem Trauma besonders beobachtet werden sollten, so dass zügig die
Diagnose einer PTBS gestellt werden kann.
Risikofaktoren, welche zur Ausbildung einer PTBS beitragen, sind folgende:
Art des Traumas Ein erstes Risiko für eine PTBS liegt im Trauma selbst. Je schwerer ein Trauma
war und je länger es andauerte, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, im weiteren Verlauf eine
PTBS zu entwickeln. Zudem ist das Risiko einer PTBS höher, je lebensbedrohlicher das Opfer die
Traumatisierung erlebt hat. Ein weiterer Punkt ist die Ursache des Traumas: Wurde die Traumatisie-
rung durch einen Menschen verursacht, ist das Risiko höher (sogenanntes „man-made-desaster“).
Geschlecht Frauen haben ein doppelt so hohes Risiko, nach einer Traumatisierung eine PTBS
zu entwickeln, als Männer.
Frühere Taumata Menschen, welche in ihrem Leben bereits eine oder mehrere Traumatisie-
rungen erlebt haben, haben ein höheres Risiko nach einer erneuten Traumatisierung, eine PTBS
zu bekommen.
26 Kapitel 3 · Physiologie einer traumatischen Situation
Psychische Krankheiten in der Vorgeschichte Wenn es bei den Betroffenen eines Traumas in der
Vorgeschichte schon andere psychische Erkrankungen gab, wie z. B. Depressionen, Sucht, Angst-
störungen, ist es wahrscheinlicher, dass sich nach dem Trauma eine PTBS entwickelt.
Wenig soziale Unterstützung Hierbei ist vor allem die peritraumatische Unterstützung gemeint.
Wenn es kurz- und mittelfristig nach dem traumatischen Erleben wenige oder sogar keine Unter-
3 stützung gab, steigt die Wahrscheinlichkeit für die Entwicklung einer PTBS.
Weitere belastende Ereignisse Kommt es nach dem Trauma zu weiteren Belastungen, wie z. B.
Arbeitsverlust, Gerichtsverfahren, bleibende körperliche Schaden, so führt auch dies dazu, dass
die Wahrscheinlichkeit für das Entstehen einer PTBS steigt.
Literatur
Literatur – 51
Während und nach dem Erleben einer oder mehrerer traumatischen Situationen kann es zu vielen
unterschiedlichen Symptomen und Beschwerden kommen. Häufig erleben die Betroffenen diese
Symptome als subjektiv sehr belastend. Manchmal wird vielleicht erst einmal kein Zusammen-
hang mit dem ursprünglichen Trauma erkannt. Betroffene haben dann vielleicht das Gefühl, den
Verstand zu verlieren. Sie entwickeln vielleicht ein Sucht, werden depressiv oder leiden plötzlich an
unerklärlichen Angstzuständen. Wenn die Betroffenen sich Hilfe holen, und dies tun leider nur sehr
wenige, dann suchen sie meist einen Fachmann für das jeweilige Symptom auf. Bei einer Sucht wird
der Suchtmediziner aufgesucht; bei körperlichen Erkrankungen der Hausarzt. Diesem Fachmann
4 wird nun das Problem geschildert, also das Symptom. Das vorangegangene Trauma wird häufig
nicht erzählt, denn der Betroffen sieht ja keinen Zusammenhang. Meist wird dann das Symptom
behandelt, nicht die eigentliche Krankheit, nämlich die PTBS. Grund hierfür ist, dass in der Anam-
nese nicht explizit nach traumatischen Ereignissen gefragt wird. So können Jahre ins Land gehen,
bis der Zusammenhang endlich hergestellt wird und eine Behandlung eingeleitet werden kann.
Eine andere Variante ist, dass die Betroffenen, vielleicht weil die Symptome unmittelbar nach
dem Trauma schon eingesetzt haben, relativ schnell einen Zusammenhang zwischen Symptomen
und Trauma herstellen. Dies ist dann wiederum häufig damit verbunden, dass die Betroffenen
sich nicht umgehend Hilfe holen, sondern zunächst einmal selbst versucht, damit umzugehen,
oder hoffen, dass die Symptome von selbst wieder verschwinden. Die Betroffenen erleben sich
in zweierlei Hinsicht als unfähig. Zum einen erleben sie sich als unfähig, weil sie überhaupt Sym-
ptome bekommen haben. Eine starke, erfolgreiche Führungskraft muss die Fähigkeit besitzen,
auch traumatische Ereignisse wegstecken zu können. Jede andere Reaktion wird als Schwäche
gesehen. Zum anderen erleben sie sich als unfähig, weil sie mit den Symptomen nicht umgehen
können. Ein häufiger Gedanke: Wenn dann schon Symptome nach einem Trauma auftreten,
dann muss die starke, erfolgreiche Führungskraft zumindest die Fähigkeit besitzen, mit diesen
umzugehen, sprich, sie verschwinden zu lassen.
Meist sprechen die Betroffenen nicht mit anderen, vielleicht sogar mit anderen, die genau
dieselbe Situation oder eine ähnliche erlebt haben. Zu hoch scheint häufig die Angst, erkannt zu
werden, als schwach oder gar krank angesehen zu werden.
Die Betroffenen leben mit den Erinnerungen, den Bildern, den Ängsten, der Daueranspan-
nung. Sie vermeiden jegliche Erinnerung, konsumieren Alkohol, Medikamente, Drogen um
„runterzukommen“, schlafen zu können, oder sogar um überhaupt arbeiten zu können.
Sie erleben das, was in ihnen nach dem Trauma passiert, also all die Symptome, als un-nor-
mal und die traumatische Situation wird als normal eingestuft; als etwas, mit dem man einfach
umgehen können muss. Und dabei wird genau umgekehrt „ein Schuh draus“:
> PTBS ist eine normale Reaktion auf eine un-normale Situation.
Das, was die Betroffenen an Beschwerden erleben, ist eine physiologische, normale Reaktion. Die
Symptome entstehen durch die „fehlerhafte“ Abspeicherung des in der traumatischen Situation
Erlebten. Diese Situation war es, die unnormal war und das Gehirn deshalb dazu gebracht hat,
nicht richtig funktionieren zu können.
4.1.1 Intrusionen
Dadurch werden Intrusionen sehr treffend bezeichnet. Wie oben bei der traumatischen Zange
beschrieben, wird das, was der Betroffene in der traumatischen Situation erlebt hat (alles Sin-
neseindrücke, alle Gedanken, Gefühle, Körpersensationen), im Gehirn unverarbeitet und
unintegriert in einem „eingefrorenen“ Zustand abgelegt. Diese „abgelegte“ Erinnerung wird
häufig auch als Traumanetzwerk bezeichnet. Dieses Netzwerk ist durch äußere oder innere
Reize, sogenannte Trigger, aktivierbar. Äußere Trigger können z. B. der Geruch eines Men-
schen oder eine bestimmter Ort sein. Innere Trigger können Gedanken an das Trauma sein,
aber auch natürliche körperliche Prozesse. So kommt es häufig vor, dass die physiologische
Reaktion (z. B. das Herz schlägt schneller und man kommt etwas ins Schwitzen) auf eine kör-
perliche Aktivität (wie z. B. Treppensteigen) das Gehirn an die traumatische Situation erin-
nert, bzw. das Traumanetzwerk antriggert (denn damals in der traumatischen Situation hat ja
auch das Herz schneller geschlagen und man hat geschwitzt), und so ein Flashback ausgelöst
wird. Zudem kann es auch vorkommen, dass das Traumanetzwerk ohne einen Reiz aktiv wird
und es zu Flashbacks kommt.
Während eines Flashbacks oder eines Alptraumes können die Erinnerungen in allen Sin-
nesmodalitäten auftreten. Es kann zu Bildern oder Filmen kommen, welche vor den Augen der
Betroffenen unkontrolliert ablaufen. Es können aber auch akustische Eindrücke entstehen, so
dass man bestimmte Geräusche oder sogar Stimmen und Dialoge hört. Nicht selten betrifft die
30 Kapitel 4 · Symptome der PTBS
Intrusion auch das Schmecken und das Riechen. In solchen Fällen haben die Betroffenen ganz
schreckliche Geschmackssensationen im Mund oder Riechen Gerüche, welche in der Traumati-
sierung vorhanden waren. Letztlich kann es auch zu Körperwiedererleben kommen. Die Betrof-
fenen haben dann das Gefühl, wieder angefasst zu werden, sie verspüren Schmerzen, Brennen
oder Ähnliches.
Unter dem Begriff Hyperarousal wird eine Übererregbarkeit bzw. Übererregung verstanden. Die
Betroffenen sind in einer permanenten „Hab-Acht-Stellung“ und auf der Suche nach potenziel-
len (Lebens-)Gefahren. Es wird immer und überall sehr viel Energie im Gehirn dazu verwen-
det, letztendlich Überleben zu sichern. Das Gehirn hat in der traumatischen Situation „gelernt“,
dass es zu jeder Zeit zu einer Lebensgefahr kommen kann. Der Betroffene hat ein permanent
erhöhtes Erregungsniveau.
Physiologisch ist für diese Übererregung der Mandelkern des Menschen verantwortlich.
Dieser Mandelkern, auch Amygdala genannt, ist ein Teil des limbischen Systems, und liegen
paarig (also ein Mandelkern im linken und ein Mandelkern im rechten Hirn) im Schläfen-
lappen. Der Mandelkern ist das „Angstzentrum“ und damit so etwas wie die Alarmanlage des
Menschen und 24 Stunden am Tag aktiv, um nach möglichen Bedrohungen Ausschau zu halten.
Dadurch ist der Mensch unter einer Daueranspannung, einer Dauerunruhe, einer Dauer-
angst. Das Hyperarousal äußert sich neben diesen Dauerzuständen auch in Form von Ein- und
Durchschlafstörungen, stärkerer Reizbarkeit oder sogar Aggressivität, aber auch Schreckhaf-
tigkeit. Weil das Gehirn so viele Ressourcen für diese Überlebenssicherung aufwenden muss,
bleibt sozusagen nur noch ein kleiner Teil für kognitiv-mnestische Fähigkeiten übrig, so dass
es zu Störungen der Konzentration und des Gedächtnisses kommen kann. Häufig beschreiben
Betroffene, dass sie früher gerne und viel gelesen haben und nun schon mit dem Klappentext
eines Buches Probleme bekommen, weil sie am Ende des Textes, manchmal sogar am Ende des
Satzes, nicht mehr wissen, was weiter vorne stand. Nicht selten denken die Betroffenen dann,
dass sie nun auch an Demenz leiden.
Die Amygdala sind nicht nur die körpereigene Alarmanlage, sondern auch an vielen anderen,
wichtigen Prozessen beteiligt. Neben der Entstehung von Angst, spielen sie eine Rolle bei der
Verarbeitung von externen Reizen, vegetativen Reaktionen und der Analyse von Gefahren. Ohne
funktionierende Mandelkerne verliert ein Mensch jegliches Empfinden von Furcht und Aggres-
sion, was wiederum dazu führt, dass es auch keine Warnreaktionen mehr gibt. Neuere For-
schungsberichte legen nahe, dass sie zudem für lustvolle und emotionale Empfindungen wichtig
sind und am Sexualtrieb beteiligt sind. Menschenaffen, denen die Mandelkerne entfernt wurden,
verlieren jegliche Furcht und Aggression.
32 Kapitel 4 · Symptome der PTBS
4.1.3 Vermeidungsverhalten
Wenn innere und äußere Trigger immer wieder Intrusionen auslösen, man unter einer Daueran-
spannung leidet, ist es nachvollziehbar, dass jegliche Reize und scheinbar zusätzliche Gefahren
und Belastungen gemieden werden. Zunächst werden traumaassoziierte Reize vermieden. Der
Ort, an dem „es“ passiert ist, wird gemieden. Ähnliche Orte werden gemieden. Wenn die trau-
matische Situation in der Bahn passiert ist, fährt man nicht mehr Bahn. Wenn „es“ beim Auto-
fahren passiert ist, fährt man nicht mehr Auto. Zudem redet man nicht über das Trauma, man
möchte nicht einmal daran denken.
Kurzfristig hat diese Bewältigungsstrategie auch durchaus Erfolg. Erstmal fällt die Anspan-
nung ab, man wird ruhiger, die Flashbacks treten nicht auf und man hat vielleicht keine Angst.
Mittel- und langfristig wird es nicht so erfolgreich bleiben. Vermeidungsverhalten wird gelernt.
Das Gehirn lernt, dass Situationen, Menschen, Tätigkeiten usw., welche angstbesetzt sind, dadurch
„gelöst“ werden können, indem man sie vermeidet. Durch dieses Lernen tritt ein Generalisie-
rungseffekt (sozusagen ein Ausbreiten des Vermeidungsverhaltens) ein. Dies bedeutet, dass das
Gehirn diese Strategie auf alles anwendet, bei der Angst im Spiel. Angst ist aber nun leider ein
steter Begleiter des menschlichen Daseins und so führt das Ausbreiten der Vermeidung dazu,
dass der soziale Radius der Betroffenen immer kleiner wird. Zunächst wird vielleicht der Ort
gemieden, an dem das Trauma passiert. Dann werden große Menschenansammlungen, wie ein
4.1 · Kernsymptome der PTBS
33 4
Weihnachtsmarkt, gemieden, weil die vielen Menschen dort Angst machen und die Befürchtung
besteht, dass es dort wieder zu einer ähnlichen traumatischen Situation kommen könnte. Als
Nächstes werden Ansammlungen von wenigen Menschen gemieden und die Betroffenen gehen
vielleicht nur noch in die Stadt, zum Einkaufen, wenn nicht gerade Stoßzeit ist. Dann werden
genaue Zeitfenster gesucht, in denen besonders wenig Menschen unterwegs sind, z. B. Einkau-
fen ganz früh am Morgen. Und irgendwann wird dann über das Internet bestellt. Am Ende wird
kaum noch die Wohnung verlassen. Das Ende des Vermeidungsverhaltens ist die soziale Isola-
tion. Aber selbst dort gibt es noch keine absolute Sicherheit. Es gibt immer noch Angst.
Eine weitere Form der Vermeidung, einer inneren Vermeidung, ist die emotionale Taubheit.
Hierbei werden im Inneren jegliche emotionalen Regungen vermieden, um nicht an die Gefühle
aus der traumatischen Situation erinnert zu werden. Es stellt sich im Inneren eine Leere ein, ein
Nicht-fühlen, damit man das, was man im Trauma gefühlt hat, nicht wieder fühlen muss.
Norbert redet nicht über all dies. Er lebt damit, meint das schon im Griff zu haben. Er schämt sich,
fühlt sich unsicher und minderwertig. Und wem sollte er sich auch anvertrauen? Und warum
überhaupt?
4 Eine schwere, lang andauernde Traumatisierung kann, wie oben beschrieben, zu einer komplexen
Traumafolgestörung führen. Häufig finden solche Traumatisierungen bereits in frühen Kinder-
jahren statt oder beginnen in dieser Zeit. Diese frühen Jahre eines Menschen sind sehr vulnera-
ble, also empfindliche Jahre, in denen eine traumatische Erfahrung auf eine noch nicht voll aus-
gereifte Seele und ein noch nicht ausgewachsenes Gehirn trifft. Hierdurch sind die Folgen meist
weitgreifender. Leider ist es auch sehr häufig so, dass in diesen Fällen die Täter wichtige Bezugs-
personen der Opfer sind. Dies führt dazu, dass die Opfer in die fast unlösbare Situation kommen,
dass diese Person einmal geliebte Bezugsperson ist und dann Liebe, Zuwendung und Geborgen-
heit gibt, und ein anderes Mal Täter, der Schmerz, Leid und Erniedrigung zufügt.
Für ein Kind ist es unabdingbar, sich irgendwie liebevolle Bezugspersonen zu erhalten. Wenn
diese Bezugsperson aber nun auch die Quelle von Leid, Schmerz, Qualen ist, bleibt diesem Kind
nur die Möglichkeit, diesen Teil abzuspalten, sprich „wegzudissoziieren“. Dadurch bleiben die
Erkenntnis, das Wissen und die Erinnerung an den Teil der Bezugsperson, der Leid zufügt, dem
Bewusstsein unzugänglich.
Diese Dissoziationsvorgänge führen bei schweren, langen Traumatisierungen dazu, dass sich
die Seele des Opfers dissoziativ strukturiert, sprich, um zu überleben, entwickeln sich unter-
schiedliche Persönlichkeitsanteile. Diese Persönlichkeitsanteile sind Anteile der Seele, mit jeweils
eigenen Erinnerungen, Eigenschaften und emotionalen Zuständen.
Jeder Mensch hat unterschiedliche Facetten oder Anteile. Diese werden als Ego-States bezeich-
net. Wenn man mit seinem Chef redet, dann wird man sich anders fühlen, anders reden, anders
reagieren, als wenn man mit einem kleinen Kind spielt. Die Übergänge und Grenzen zwischen
diesen Ego-States sind sehr fließend und meist merkt man diese kaum. Bei Menschen, die dis-
soziativ strukturiert sind, sind diese Ego-States und die Grenzen zwischen ihnen sehr stark aus-
geprägt. Zum Teil wissen die unterschiedlichen Anteile nichts voneinander, so dass es bei den
Betroffenen immer wieder zu Phasen der Amnesie kommt.
Die Dissoziative Identitätsstruktur (DIS) ist ein schon vor über 100 Jahren beschriebenes
Phänomen. Und auch heute ist es noch eine sehr umstrittene Erscheinung. Die Vorstellung, dass
eine menschliche Seele dissoziativ funktioniert und es so zu einer multiplen Persönlichkeits-
struktur kommt, scheint viele Menschen, vor allem jene, welche in der Arbeit mit psychischen
Krankheiten arbeiten, derart zu irritieren, dass sich viele Ärzte, Therapeuten, Psychologen wei-
terhin weigern, anzuerkennen, dass es „so was“ gibt – und dies trotz der vielen wissenschaftlichen
Erkenntnisse in den letzten Jahren und Jahrzehnten. Die Folge davon ist, dass die Betroffenen
nicht nur die Erinnerungen an ihre schwere Traumatisierung und die Symptome der Traumafol-
gestörung mit sich tragen. Auch wenn sie schließlich professionelle Hilfe suchen, treffen sie auf
Menschen, die ihnen einreden, dass so, wie sie nun mal funktionieren – nämlich dissoziativ –, eine
Einbildung ist. Die Ihnen sogar sagen, dass das, was sie getan haben, um das schreckliche Leid
zu überleben – nämlich zu dissoziieren, bzw. sich dissoziativ zu strukturieren –, falsch war und
ist. Und dabei müsste man diesen Betroffenen eigentlich sagen, dass die Dissoziation das Beste
war, was sie tun konnten, weil es die einzige Möglichkeit war, zu überleben. Zu dissoziieren, sich
4.3 · Dissoziation und dissoziative Identitätsstruktur
37 4
dissoziativ zu strukturieren, ist eine kreative, anstrengende und erfolgreiche Strategie gewesen,
um nicht in der Hölle zu sterben.
Die Dissoziative Identitätsstruktur ist durch folgende Charakteristika gekennzeichnet:
55 durchgehendes Muster dissoziativen Funktionierens,
55 mangelhafte Integrationsfähigkeit des Bewusstseins in den Bereichen Gedächtnis,
Wahrnehmung und Identität,
55 Vorhandensein von mindestens 2 Anteilen, die alternierend die Kontrolle über das
Verhalten übernehmen.
Im DSM-5 hat es eine durchaus beachtliche Änderung in den Diagnosekriterien gegeben. Bis
zum DSM-IV war es für die Diagnosestellung der DIS notwendig, dass der Switch (also der
Wechsel von einem Persönlichkeitsanteil in einen anderen) von dem Diagnosestellenden beob-
achtet wurde. Dies ist im DSM-5 nicht mehr erforderlich. Es ist nun ausreichend, dass der Patient
darüber berichtet.
Des Weiteren war es bis zum DSM-IV so, dass die beschriebenen Amnesien nur für trauma-
tische Ereignisse galten. Seit dem DSM-5 wurden diese amnestischen Phasen nun erweitert um
Phasen der Alltagsereignisse.
In den ICD-10 (Forschungs-)Kriterien zur dissoziativen Identitätsstruktur (DIS; multiple
Persönlichkeit) werden folgende Punkte für die Diagnosestellung gefordert:
55 2 oder mehr unterschiedliche Persönlichkeiten innerhalb eines Individuums, von denen zu
einem bestimmten Zeitpunkt jeweils nur eine nachweisbar ist.
55 Jede Persönlichkeit hat ihr eigenes Gedächtnis, ihre eigenen Vorlieben und Verhaltens-
weisen und übernimmt zu einer bestimmten Zeit, auch wiederholt, die volle Kontrolle über
das Verhalten der Betroffenen.
55 Unfähigkeit, wichtige persönliche Informationen zu erinnern, was für eine einfache
Vergesslichkeit zu ausgeprägt ist.
55 (ICD-10, Dilling et al. 2011)
Paul Dell erarbeitet auf Basis der Ergebnisse zahlreicher Studien zum klinischen Erscheinungs-
bild der Dissoziativen Identitätsstörungen ein umfassendes Diagnosekonzept. Dieses Konzept
erscheint deutlich befriedigender als das des ICD-10 oder des DSM-5.
In mehreren Studien in Nordamerika und Europa zeigte sich, dass es in der Normalbevölkerung
ca. 1 % Menschen gibt, die eine DIS haben (Johnson et al. 2006; Sar et al. 2007a; Ross 1991). In
einer Untersuchung von Saß aus dem Jahre 1996 zeigt sich zudem, dass bei Frauen ca. 9-mal häu-
figer die Diagnose einer DIS gestellt wurde als bei Männern (Saß et al. 1996).
Bei der Betrachtung der Gruppe von Menschen, welche in einer allgemeinpsychiatrischen
Behandlung waren, zeigte sich, dass davon ca. 5 % die Diagnose einer DIS hatten.
Menschen mit einer Dissoziativen Identitätsstruktur haben durchaus ein hohes Funktions-
niveau und sind nicht selten beruflich sehr erfolgreich. Dennoch kommt es bei ihnen zu einem
hohen Leidensdruck, zum einen durch die Symptome der komplexen PTBS (Flashbacks, Hype-
rarousal usw.), zum anderen durch die Komplikationen des dissoziativen Funktionierens. Die
Behandlung von Menschen mit einer DIS sollte ausschließlich in den Händen von erfahrenen
Traumatherapeuten liegen, welche auch Wissen und Erfahrung in der Behandlung von Men-
schen mit einer DIS haben.
4.4 · Wenn noch etwas anderes dazukommt! – Komorbiditäten
39 4
Fallbeispiel vonManuela B.: Dissoziative Identitätsstruktur als Folge einer schweren,
komplexen und chronischen Traumatisierung
Manuela B. (Name geändert), 44 Jahre alt, ist TV-Moderatorin diverser Talk- und Unterhaltungs-
shows, fest angestellt, mit gutem Einkommen. Sie ist unverheiratet, hat keine Kinder und mit ihrer
Familie seit mehreren Jahren keinen Kontakt mehr.
Seit vielen Jahren wird Manuela von Flashback-Erlebnissen geplagt. An den ursprünglichen Be-
ginn kann sie sich gut erinnern, doch kann sie dies zeitlich nicht mehr zuordnen. Übererregung
und Vermeidungsverhalten zählen zu ihrem normalen Tagesablauf, den sie als relativ normal
empfindet. Die starken Einschränkungen ihrer Lebensqualität nimmt sie als gegeben hin. Inhalte
ihrer Flashbacks weisen auf einen möglichen sexuellen Missbrauch in der Kindheit hin, an den sie
sich allerdings nicht erinnern kann.
Im beruflichen Alltag ist Manuela ausgesprochen erfolgreich und engagiert. Inhaltlich wie fachlich
ist sie hochangesehen. Der schwierige persönliche Umgang mit ihr ist allgemein bekannt, ihr gele-
gentlich fast schon irrational stark wirkendes, aufbrausendes Wesen ist gefürchtet. Doch trotzdem
wird sie von vielen Seiten sehr geschätzt – dies sowohl innerhalb ihres Teams, also auch auf Sen-
derebene, sowie vom Publikum in ihrer Zielgruppe und der allgemeinen Presse. Ihre persönlichen
Schwächen werden ihr nachgesehen. Doch hat kein Mitglied der genannten Gruppen privaten
Kontakt mit Manuela, berufliches und privates Leben trennt sie äußerst strikt. Ihre Bekanntheit
und ihr gutes Einkommen geben ihr besondere Freiheiten, so dass dies allgemein kaum auffällt.
Im Privatleben ist Manuela selten die eben beschriebene Moderatorin. Diese Facette ihres Wesens
ist eine ihrer drei Persönlichkeitsanteile, die sich in ihrer multiplen Persönlichkeit vereinen. Ob-
wohl dies durchaus möglich wäre, kennen sich bzw. interagieren die drei Persönlichkeitsanteile
untereinander nicht, wissen also nichts voneinander.
Zu Hause lebt Manuela zumeist den Persönlichkeitsanteil, die Facette ihres Wesens, der biederen
Hausfrau und verbringt einen großen Teil ihrer Zeit damit, zwanghaft zu putzen.
Verlässt Manuela aus privaten Gründen das Haus, zeigt sich zumeist ihr dritter Persönlichkeits-
anteil: Der einer ruchlosen Verführerin, die fast schon wahllos und mit überaus eindeutigen An-
geboten Männer aus Bars abschleppt.
Allen Persönlichkeitsanteilen ist Manuelas Grundwesen mit Flashbacks, Übererregung und Ver-
meidungsverhalten gemein. Sonstige Ausprägungen grenzen sich deutlich voneinander ab,
können nicht in einer Persönlichkeit kombiniert werden. Manuela ist sich dessen nicht bewusst.
Sie nimmt zur Kenntnis, dass sie von außen gelegentlich auf ihr doch sehr unterschiedliches
Auftreten hingewiesen wird. Doch versteht sie es, sich zu erklären, wobei ihr der Persönlichkeits-
anteil „Moderatorin“ und deren Status helfen. Die fehlende Lebenszeit, vom Standpunkt aus der
jeweils einzelnen Persönlichkeitsanteile betrachtet, kann sie sich selbst schwer erklären, da sie
sich nicht an die Erlebnisse des jeweils anderen Persönlichkeitsanteils erinnern kann, doch hat
das inzwischen keine Relevanz mehr. Sie hat sich daran gewöhnt. Die insbesondere mit ihrem
Persönlichkeitsanteil „Verführerin“ verbundenen Gefahren, etwa Geschlechtskrankheiten oder
gewalttätige Übergriffe, nimmt sie billigend in Kauf, ja, zu einem gewissen Teil wünscht sie sich
diese sogar und provoziert sie.
Im Jahre 1995 veröffentlichten Ronald C. Kessler et al. die Daten einer großen Untersuchung
zu Komorbiditäten bei PTBS. Hierbei zeigte sich, dass sich bei 88 % der Männer und 79 % der
Frauen mit einer PTBS in der Lebensgeschichte eine psychiatrische komorbide Störung zeigte
40 Kapitel 4 · Symptome der PTBS
(Kessler et al. 1995). Das heißt, dass es bei nur ca. 17 % der Betroffenen einer PTBS zu keiner
weiteren psychiatrischen Diagnose kommt. Es ist also eher die Regel, dass es, vor allem bei lange
bestehender PTBS, zu einer weiteren psychiatrischen Störung kommt.
Die am häufigsten vorkommenden komorbiden psychiatrischen Diagnosen sind:
55 Angststörungen
55 affektive Störungen
55 Substanzmissbrauch
4 Zudem zeigt sich, dass es bei den PTBS-Betroffenen nicht nur zu einem erhöhten Risiko für das
Auftreten von weiteren psychischen Diagnosen kommt, sondern es auch ein erhöhtes Risiko für
körperliche Erkrankungen gibt.
4.4.1 Angststörungen
Die Wahrscheinlichkeit, neben der PTBS eine Angststörung zu entwickeln, ist um den Faktor 2
bis 4 gegenüber der Normalbevölkerung erhöht (Gasch 2000; Hüther 2001; Pynoos et al. 1999).
In einer Untersuchung aus dem Jahr 1997 fanden Breslau et al. bei 801 Frauen mit einer PTBS in
55 % der Fälle eine Angststörung.
Angststörungen werden aktuell durch das Klassifikationssystem ICD-10 wie folgt eingeteilt:
55 phobische Störungen
44Agoraphobie mit oder ohne Panikstörung
44soziale Phobie
44spezifische Phobien
55 andere Angststörungen
44Panikstörungen
44Generalisierte Angststörung
44Angst und depressive Störung, gemischt
z Agoraphobie (Platzangst)
55 Deutliche und anhaltende Furcht vor oder Vermeidung von Menschenmengen,
öffentlichen Plätzen, alleine reisen oder Reisen mit weiten Entfernungen von zu Hause
(mindestens 2 Symptome)
55 Seit Auftreten der Störung müssen in den gefürchteten Situationen mindestens 2 Angst-
symptome der unten angegebenen (davon mindestens eines der vegetativen Symptome),
wenigstens zu einem Zeitpunkt gemeinsam vorhanden gewesen sein:
44vegetative Symptome: Palpitationen; Herzklopfen oder erhöhte Herzfrequenz;
Schweißausbrüche; fein- oder grobschlägiger Tremor; Mundtrockenheit;
44Symptome, die Thorax und Abdomen betreffen: Atembeschwerden; Beklemmungs-
gefühl; Thoraxschmerzen und -missempfindungen; Erbrechen oder abdominelle
Missempfindungen;
44psychische Symptome: Gefühl von Schwindel, Unsicherheit, Schwäche oder Benom-
menheit; Gefühl, Objekte sind unwirklich oder man selbst ist „nicht wirklich hier“;
Angst vor Kontrollverlust oder verrückt zu werden; Angst zu sterben;
4.4 · Wenn noch etwas anderes dazukommt! – Komorbiditäten
41 4
44allgemeine Symptome: Hitzewellen/-wallungen oder Kälteschauer; Gefühllosigkeit
oder Kribbelgefühle;
55 Es besteht eine deutliche emotionale Belastung durch das Vermeidungsverhalten oder die
Angstsymptome und die Betroffenen haben die Einsicht, dass die Angst übertrieben oder
unvernünftig ist.
55 Die Symptome beschränken sich ausschließlich oder vornehmlich auf die gefürchteten
Situationen oder Gedanken an sie.
55 (ICD-10, Dilling et al. 2011)
z Panikstörung
55 Wiederholte Panikattacken, die nicht auf eine spezifische Situation oder ein spezifisches
Objekt bezogen sind und oft spontan auftreten. Die Panikattacken sind nicht verbunden
mit besonderer Anstrengung, gefährlichen oder lebensbedrohlichen Situationen.
55 Eine Panikattacke hat alle folgenden Charakteristika:
44einzelne Episode mit intensiver Angst,
44beginnt abrupt,
44erreicht innerhalb weniger Minuten ein Maximum und dauert mindestens einige
Minuten.
55 Mindestens 4 Symptome der folgenden Liste (mind. 1 vegetatives Symptom):
44vegetative Symptome: Herzklopfen oder erhöhte Herzfrequenz; Schweißausbrüche;
Tremor; Mundtrockenheit;
44Symptome, die Thorax und Abdomen betreffen: Atembeschwerden; Beklemmungs-
gefühl; Thoraxschmerzen und –missempfindungen; Erbrechen oder abdominelle
Missempfindungen;
44psychische Symptome: Gefühl von Schwindel, Unsicherheit, Schwäche oder
Benommenheit; Gefühl, die Objekte sind unwirklich oder man selbst ist „nicht
wirklich hier“; Angst vor Kontrollverlust, verrückt zu werden oder „auszuflippen“;
Angst zu sterben;
44allgemeine Symptome: Hitzewellen/-wallungen oder Kälteschauer; Gefühllosigkeit
oder Kribbelgefühle;
44(ICD-10, Dilling et al. 2011)
z Soziale Phobie
55 Entweder deutliche Furcht davor, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen, bzw. sich
peinlich/erniedrigend zu verhalten
oder
55 Vermeiden von Im-Zentrum-der-Aufmerksamkeit-stehen bzw. von Situationen, in denen
die Angst besteht, sich peinlich oder erniedrigend zu verhalten
55 Diese Ängste treten in sozialen Situationen auf, beim Essen oder Sprechen in der Öffent-
lichkeit, bei der Begegnung mit Bekannten in der Öffentlichkeit, beim Hinzukommen
zu oder der Teilnahme an kleinen Gruppen, wie z. B. bei Partys, Konferenzen oder in
Klassenräumen.
55 Mindestens 2 der folgenden Angstsymptome in den gefürchteten Situationen mindestens
einmal seit Auftreten der Störung:
44vegetative Symptome: Palpitationen, Herzklopfen oder erhöhte Herzfrequenz;
Schweißausbrüche; fein- oder grobschlägiger Tremor; Mundtrockenheit;
42 Kapitel 4 · Symptome der PTBS
z Spezifische Phobien
55 Entweder deutliche Furcht vor einem bestimmten Objekt oder einer bestimmten
Situation
oder
55 deutliche Vermeidung solcher Objekte und Situationen
55 Häufige phobische Objekte und Situationen sind Tiere, Vögel, Insekten, Höhen, Donner,
Flüge, kleine geschlossene Räume, Anblick von Blut oder Verletzungen, Injektionen,
Zahnarzt- und Krankenhausbesuche
55 Mindestens 2 der folgenden Angstsymptome in den gefürchteten Situationen mindestens
einmal seit Auftreten der Störung:
44vegetative Symptome: Palpitationen, Herzklopfen oder erhöhte Herzfrequenz;
Schweißausbrüche; fein- oder grobschlägiger Tremor; Mundtrockenheit;
44Symptome, die Thorax und Abdomen betreffen: Atembeschwerden; Beklemmungs-
gefühl; Thoraxschmerzen und -missempfindungen; Erbrechen oder abdominelle
Missempfindungen;
44psychische Symptome: Gefühl von Schwindel, Unsicherheit, Schwäche oder Benom-
menheit; Gefühl, Objekte sind unwirklich oder man selbst ist „nicht wirklich hier“;
Angst vor Kontrollverlust oder verrückt zu werden; Angst zu sterben;
44allgemeine Symptome: Hitzewellen/-wallungen oder Kälteschauer; Gefühllosigkeit
oder Kribbelgefühle;
55 Die Betroffenen haben eine deutliche emotionale Belastung durch die Symptome oder
das Vermeidungsverhalten und die Einsicht, dass die Angst übertrieben und unver-
nünftig ist.
55 Die Symptome sind auf die gefürchtete Situation oder auf Gedanken an diese beschränkt.
z Generalisierte Angststörung
55 Mindestens 6 Monate mit vorherrschender Anspannung, Besorgnis und Befürchtungen in
Bezug auf alltägliche Ereignisse und Probleme
55 Mindestens 4 Symptome der unten angegebenen Liste (mind. 1 vegetative Symptom):
44vegetative Symptome: Herzklopfen oder erhöhte Herzfrequenz; Schweißausbrüche;
Tremor; Mundtrockenheit;
44Symptome, die Thorax und Abdomen betreffen:Atembeschwerden; Beklemmungs-
gefühl; Thoraxschmerzen und -missempfindungen;
44Erbrechen oder abdominelle Missempfindungen
44psychische Symptome: Gefühl von Schwindel, Unsicherheit, Schwäche oder Benom-
menheit; Gefühl, die Objekte sind unwirklich oder man selbst ist „nicht wirklich hier“;
Angst vor Kontrollverlust, verrückt zu werden oder „auszuflippen“; Angst zu sterben;
44allgemeine Symptome: Hitzewellen/-wallungen oder Kälteschauer; Gefühllosigkeit
oder Kribbelgefühle;
44Symptome der Anspannung: Muskelverspannung, akute und chronische Schmerzen;
Ruhelosigkeit und Unfähigkeit, zu Entspannen; Gefühle von Aufgedrehtsein, Nervosität
und psychischer Anspannung; Kloßgefühl im Hals oder Schluckbeschwerden;
44andere unspezifische Symptome:übertriebene Reaktionen auf kleine Überraschungen
oder Erschrecktwerden; Konzentrationsschwierigkeiten, Leeregefühle im Kopf wegen
Sorgen oder Angst; anhaltende Reizbarkeit; Einschlafstörung wegen Besorgnissen;
44(ICD-10, Dilling et al. 2011)
Bei der Behandlung einer PTBS und einer Angststörung ist es, wie bei allen anderen komorbiden
Erkrankungen, wichtig, diese in den Behandlungsplan bei Erkrankungen einfließen zu lassen,
um so eine optimale Behandlung zu gewährleisten.
bis hin zu gefühlter Atemnot, zittrige Arme und Beine, verschwommenes Sehen und weitere
körperliche Sensationen gesellen sich hinzu. Die Information, die Ferdinand nach diversen und
für ihn äußerst schwierigen Arztbesuchen bekommen hat, nämlich, dass er körperlich im Grunde
weitgehend gesund ist, kann ihn nur wenig beruhigen.
Es wird Ferdinand unmöglich, seine Arbeit im notwendigen Ausmaß und der gewünschten Quali-
tät weiter zu erledigen. Er schafft es kaum noch aus dem Haus. Und selbst zu Hause kann er sich
nicht mehr sicher fühlen. Vielleicht noch in einem seiner Zimmer, seiner ganz eigenen Bibliothek.
Aber auch da nicht mit völliger Sicherheit. Er beschließt, sich zurückzuziehen, legt sein Mandat
4 nieder und zieht sich ins Privatleben zurück. An dieser Stelle kommt Ferdinands Familie wieder
ins Spiel. Sie erkennt die Situation und kann nun, da nicht mehr völlig ausgeschlossen, reagieren
und versuchen, helfend einzugreifen: Sie organisiert professionelle Hilfe.
4.4.2 Depressionen
Was ist eine Depression? Im Diagnose-Manual der WHO, dem ICD-10, werden 3 Hauptkrite-
rien aufgeführt:
55 gedrückte Stimmung
55 Freudlosigkeit und Interessenverlust
55 Antriebsmangel und erhöhte Ermüdbarkeit
In den letzten 2 Wochen müssen 2 oder mehr der Hauptkriterien und/oder Zusatzsymptome
bestanden haben, damit von einer Depression gesprochen werden kann.
Je nach Anzahl der Hauptkriterien und Zusatzsymptome wird die Depression dann nach
leicht (2 Hauptkriterien und 2 Zusatzkriterien), mittelgradig (2 Hauptkriterien und 3 Zusatzkri-
terien) und schwer (3 Hauptkriterien und 4 Zusatzkriterien) unterteilt.
Die Behandlung einer Depression hat 2 zentrale Behandlungssäulen. Diese sind:
55 medikamentöse Behandlung und
55 Psychotherapie
Im Rahmen der medikamentösen Behandlung kommen allen voran Antidepressiva zur Anwen-
dung. Diese machen, entgegen einem gängigen Vorurteil, nicht abhängig und führen auch nicht zu
einer Persönlichkeitsveränderung. Antidepressiva führen dazu, dass der Stoffwechsel im Gehirn,
der für die Depression verantwortlich ist (z. B. Veränderung der Neurotransmitter), wieder aus-
geglichen wird. Antidepressiva müssen ungefähr 2 Wochen eingenommen werden, bis sie ihre
Wirkung entfalten. Manchmal kommen, je nach Symptomen, auch andere Medikamente zum
Einsatz, z. B. Schlafmittel.
4.4 · Wenn noch etwas anderes dazukommt! – Komorbiditäten
45 4
Die Psychotherapie zeigt in ihrer Wirkstärke die gleichen Erfolge wie eine medikamentöse
Behandlung, jedoch dauert es länger, bis die antidepressive Wirkung der Therapie einsetzt. Auf-
grund dessen sollte eine Depression immer sowohl medikamentös als auch psychotherapeutisch
behandelt werden.
Manchmal kommen weitere Behandlungsverfahren im Einzelfall zusätzlich in Frage, wie z. B.
55 Lichttherapie (Wirkung nur bei saisonaler Depression belegt)
55 Wachtherapie (man steht nach der Hälfte der Schlafzeit auf und bleibt wach; hierdurch ist
am nächsten Tag die Stimmung besser)
55 Elektrokrampftherapie (bei schwerer therapieresistenter Depression).
Bei Menschen, welche sowohl eine Depression als auch ein PTBS haben, ist es wichtig, einen indi-
viduellen Behandlungsplan zu erstellen, der beide Störungen im Blick hat.
Fallbeispiel
Ferdinand M.: Intrusion, Hyperarousal und Vermeidungsverhalten mit Komorbidität Depression
Ferdinand erkennt, dass er die Kontrolle verloren hat, obwohl er mit aller Macht dagegen ge-
kämpft und alle Register gezogen hat. Er versucht so gut es geht, weiterzumachen. In seinem
speziellen Fokus auf seine Arbeit, die ihm auch keine Erfüllung mehr gibt, schafft er es dennoch,
zumindest beruflich einigermaßen erfolgreich zu bleiben. Doch hat er jeglichen Ausgleich und
auch jeglichen Glauben daran, dass sich die Situation wieder verändern könnte, verloren. Sobald
die berufliche Ablenkung etwas nachlässt, sieht er nur noch Schwarz. Obwohl er es weiterhin
schafft, seine Leitungsposition, wenn auch auf ungewöhnliche und sehr eingeschränkte Weise
und fast ausschließlich in unpersönlichem Kontakt, weiterzuführen, kann er auch diese Erfolge
nicht mehr genießen. Er sieht zunehmend nur noch sein Versagen und sieht das Ende seiner beruf-
lichen Tätigkeit, seiner Stellung, seines Ansehens nahen. Dann bliebe ihm nichts mehr. Und das sei
ja nun wirklich absehbar. Soviel er sich auch bemühen würde. Ferdinand gleitet emotionslos und
ohne Ziel durch sein Leben, unfähig zu steuern. Er entwickelt einen Tunnelblick, sieht nichts mehr
links oder rechts, oben oder unten. Nur noch geradeaus, dem Untergang entgegen. Am Horizont
nur noch Schwarz. Schnell voranschreitend schwindet seine ihm bis dato verbliebene Kraft.
Er entschließt sich, selbst über sein Ende zu entscheiden, und legt sein Mandat nieder, kündigt
seinen Job. Finanziell hat er ausgesorgt. So hat er wenigstens einen würdigen Abgang. Er wird
es mit „aus persönlichen Gründen, Familie und so“ begründen. Ob das jemand glaubt, ist ihm
egal. Immer öfter beschäftigen ihn Selbstmordgedanken, surft er im Internet auf der Suche nach
Wegen, endlich abzuschließen. Mit dem Leben. Das Schwarz zu akzeptieren. Ferdinand hat kaum
mehr einen sinnvollen Schlafrhythmus, kann sich kaum konzentrieren, fühlt sich wertlos – so-
fern man überhaupt noch von fühlen sprechen kann. Dies bleibt seiner Familie nicht verborgen.
Obwohl das von Ferdinand völlig ausgeblendet wird, erkennen sie seine Not und organisieren
professionelle Hilfe.
4.4.3 Abhängigkeitserkrankungen
höher als bei Frauen ohne eine PTBS (Kessler et al. 1995: 2,5; Helzer et al. 1987: 2,8). Trauma-
tische Erfahrungen in der Kindheit und Jugend erhöhen das Risiko einer späteren Abhängig-
keitserkrankung um das 3-Fache, bei schwerer sexueller Traumatisierung sogar um den Faktor
5,7 (S. Kendler 2000).
Warum zwischen der PTBS und den Abhängigkeitserkrankungen eine so enge Verbindung
besteht, wird durch 3 Hypothesen erklärt.
Hochrisikohypothese Im Rahmen dieser Hypothese wird davon ausgegangen, dass bei Men-
schen, welche bereits an einer Sucht leiden, eine erhöhte Wahrscheinlichkeit besteht, trauma-
tisiert zu werden. Durch die Sucht kommt es unter Umständen zu einer Beschaffungskrimina-
lität, in deren Rahmen man sich in einem Milieu bewegen muss, in dem Gewalt, Aggressivität
und Grenzüberschreitungen deutlich häufiger vorkommen. Zudem befindet sich eine Person,
welche berauscht ist, in einem Ausnahmezustande. Es kommt zu Kontrollverlust, zum Verlust
von Hemmungen und man begibt sich eher in Hochrisiko-Situationen als im nicht berausch-
ten Zustand.
Der erste Schritt in der Behandlung einer Sucht ist eine qualifizierte stationär-psychiatri-
sche Entzugsbehandlung. Diese dauert bei Alkohol ca. 14 Tage. Ab dem ersten Tag erhalten die
Patienten keinen Alkohol mehr. Es werden jedoch Medikamente gegeben, welche den Entzug
abfangen und gefährliche Komplikationen, wie z. B. einen Entzugskrampfanfall, verhindern. Bei
einer Entzugsbehandlung von Benzodiazepinen ist die Dauer deutlich länger als 2 Wochen, da
Benzodiazepine langsam, manchmal über Wochen und Monate, ausgeschlichen werden müssen,
um schwere, z. T. lebensgefährliche Komplikationen zu verhindern. Der Benzodiazepin-Entzug
ist damit abhängig von der Menge des jeweiligen Konsums.
Nach dem Abschluss der Entzugsbehandlung ist der Körper frei von dem Suchtmittel und es
besteht keine körperliche Abhängigkeit mehr. Dennoch besteht weiterhin die psychische Abhän-
gigkeit. Das Suchtverhalten, der Wunsch oder Drang nach dem Suchtmittel in bestimmten Situa-
tionen, ist weiterhin tief im Gehirn eingebrannt. Wann immer die Betroffenen wieder in Situatio-
nen kommen, in denen sie früher das Suchtmittel konsumiert haben, wird dieser Wunsch nach
Konsum wieder stark in ihnen aufkommen. Deshalb ist es wichtig, dass in der Entwöhnungs-
behandlung an dem Umgang damit gearbeitet wird. Zudem müssen Strategien und Verhaltens-
weisen etabliert werden, welche alternativ zur Anwendung kommen.
Wenn auch die Entwöhnungsbehandlung abgeschlossen ist, sind die Betroffenen für ein Leben
ohne das Suchtmittel gut gerüstet. Dennoch werden sie immer wieder in schwierige, belastende
Situationen oder Krisen geraten. Zudem stehen die Betroffenen vor der Aufgabe, das Erlernte
im Alltag aufrecht zu erhalten. Es geht darum, Rückfälle zu verhindern. Hilfreich hierbei ist die
Anbindung an eine Selbsthilfegruppe, wie z. B. Anonyme Alkoholiker.
Bei Menschen, welche sowohl eine Suchterkrankung, als auch eine PTBS haben, zeigt sich in
den Behandlungsstudien Folgendes (Brown 1994, 2000; Ouimette 2000; Abueg und Fairbank 1991):
55 Menschen mit einer Sucht und einer PTBS reagierten weniger günstig auf die
Suchtbehandlungen.
55 Menschen mit einer Sucht und einer PTBS haben häufigere und schwerere Rückfälle.
55 Die Symptome der PTBS störten die Rehabilitation der Sucht.
Aufgrund dessen ist bei Betroffenen einer Sucht und einer PTBS eine kombinierte Behandlung
notwendig. Dies bedeutet im ersten Schritt, dass den behandelnden Ärzten und Therapeuten
offen alle Beschwerden und Symptome geschildert werden. Häufig wird den Traumatherapeuten
das Suchtverhalten verschwiegen, weil dies sehr schuld- und schambesetzt ist. Und den Sucht-
therapeuten werden die Symptome der PTBS verschwiegen.
Nur bei einem Behandlungsplan, der beide Störungen einbezieht, kann den Betroffenen sinn-
voll und nachhaltig geholfen werden.
48 Kapitel 4 · Symptome der PTBS
Betroffene einer PTBS haben, neben den bisher genannten psychischen Erkrankungen, auch
überzufällig häufiger als Nicht-Betroffene eine Somatisierungsstörung, v. a. eine somatoforme
Schmerzstörung, Zwangsstörung und Essstörungen. Es gilt, bei der Behandlungsplanung diag-
nostisch auch auf diese Symptombereiche einzugehen und sie in die genaue Planung der indivi-
duellen Behandlung einzubeziehen.
4.4 · Wenn noch etwas anderes dazukommt! – Komorbiditäten
49 4
4.4.5 Somatische Komorbiditäten
Im Rahmen einer PTBS kann es nicht nur zu komorbiden psychischen Störungen, sondern auch
zu somatischen Erkrankungen kommen.
In einer Untersuchung über 22 Jahre (von 1989 bis 2011) wurden insgesamt ca. 50.000 Frauen
beobachtet. 12 % der Frauen, die zu Beginn der Untersuchung unter einer PTBS litten, entwi-
ckelten später einen Diabetes mellitus Typ II. Von den Frauen, die keine PTBS hatten, entwickel-
ten nur 7 % einen Diabetes mellitus Typ II. Verantwortlich für die zusätzlichen Diabetes-Fälle
war vermutlich Übergewicht (Roberts et al. 2015). Wie die PTBS mit einer Gewichtszunahme
verknüpft ist, ist noch nicht bekannt, evtl. spielen hohe Konzentrationen von Stress-Hormonen
eine Rolle. Dieses Problem existiert wahrscheinlich auch bei Männern, welche unter einer PTBS
leiden, aber dies ist bisher nicht ausreichend untersucht.
empfindet. Was wissen die denn schon. Sollen doch mal froh sein, dass das überhaupt so alles
irgendwie funktioniert …
So vergeht einige Zeit, bis er eines Tages bis dato neue und unbekannte körperliche Symptome
an sich bemerkt. Die Symptome einer Diabetes. Ferdinand sucht professionell fachärztliche Hilfe
auf. Nach eingehender Anamnese, die Ferdinand die Möglichkeit gibt, sich zumindest ein wenig
zu öffnen, rät ihm der Arzt, er solle seinem inneren Druck etwas nachgeben und dringend auch
professionelle psychologische Unterstützung in Anspruch nehmen – neben der medizinischen
Behandlung. Er vermittelt Ferdinand im Rahmen diverser Adressvorschläge unter anderem auch
4 einen Psychotherapeuten, für den sich Ferdinand entscheidet.
Im Rahmen einer PTBS, vor allem aber bei komplexen PTBS, kann es zu einem sogenannten
selbstverletzenden Verhalten und zu Suizidgedanken kommen. Selbstverletzendes Verhalten
bedeutet, dass in den Betroffenen entweder ein emotionales Chaos und so ein schier unaus-
haltbarer Druck entsteht, oder ein emotionales Vakuum. Im ersten Fall treten scheinbar alle
Gefühle gemeinsam auf und es ist den Betroffenen nicht mehr möglich, diese genauer zu dif-
ferenzieren. In diesem Gefühlschaos sind auch Scham, Schuld, Selbsthass und Wut enthalten.
Diese Mischung aus vielen Gefühlen führt zu einem fast unerträglichen inneren Druckgefühl,
welches sich dadurch etwas erleichtern lässt, dass sich die Person selbst Schmerzen zufügt (z. B.
sich am Unterarm ritzen, sich verbrennen).
Im zweiten Fall erleben die Betroffenen in sich ein emotionales Vakuum, sie fühlen gar nichts
mehr. Sie nehmen keine Emotionen wahr, spüren ihren Körper nicht. Dieses Vakuum erleben
die Betroffenen dann wiederum als derart unaushaltbar, dass der Ausweg der Schmerz ist, den
sie sich selbst zufügen.
In der Seele von komplex Traumatisierten entstehen häufig auch Anteile, die dem jeweiligen
Täter nachempfunden sind (sog. Täterintrojekte). Diese Anteile denken über das Opfer, also sich
selbst, so, wie der Täter über das Opfer gedacht hat. Die Entwicklung solcher Anteile, welche über
das sogenannte empathische Lernen läuft, hilft dem Opfer, in der Traumatisierung zu überleben.
Dadurch, dass das Opfer während der Traumatisierung, welche manchmal Jahre dauert, teilweise
die Sicht des Täters übernimmt, wird dieser und die Traumatisierung selbst wieder etwas bere-
chenbarer, und dies gibt wiederum Sicherheit. Als weiterführende Literatur zu Täterintrojekten
sei an dieser Stelle auf die ausgezeichneten Bücher von Michaela Huber verwiesen.
Menschen, welche an einer PTBS leiden, haben häufig Suizidgedanken. Bei einer entsprechen-
den Komorbidität können diese noch verstärkt werden. Suizidgedanken sind in jedem Fall ernst
zu nehmen und sollten die Betroffenen umgehend dazu motivieren, sich professionelle Hilfe zu
holen. Suizidgedanken können behandelt werden und eine medikamentöse Behandlung kann
eine schnelle Entlastung bringen.
In manchen Fällen äußert sich die „Selbstzerstörung“ nicht in Form von selbstverletzendem
Verhalten oder Suizidgedanken, sondern in Form von einem sogenannten Hochrisikoverhalten.
Hierbei suchen die Betroffenen immer wieder Situationen auf, bei denen die Wahrscheinlich-
keit, sich selbst zu schaden, sehr hoch ist. Hierunter fallen ein promiskes Sexualleben, bei dem
nicht auf adäquaten Schutz vor Infektionskrankheiten geachtet wird, oder das Aufsuchen von
Situationen, in denen es zu einer Gewalteskalation, z. B. in Form einer Schlägerei, kommen kann.
Bei der Behandlung von Betroffenen mit einer (komplexen) PTBS steht der Schutz des Lebens
an erster Stelle. Zuerst muss gesichert werden, dass die Betroffenen sich nicht das Leben nehmen
Literatur
51 4
oder sich in eine Situation bringen, in denen ihr Leben gefährdet ist. Denn eine Therapie ist nur
mit einem lebenden Menschen möglich.
Literatur
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52 Kapitel 4 · Symptome der PTBS
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53 5
01
04
05
06
07 Öffentlichkeit
08
09
10
11
5.1 Werde ich oder die anderen verrückt? – Die Frage nach dem
12 Was und Wieso – 54
13
14 5.2 Bin ich selbst schuld? – Die Frage nach dem Warum – 55
15
18
19
20
21
22
23
24
25
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35
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37
38
39
40
41
42
43
44
45
46
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2018
47 M.J. Pausch, S.J. Matten, Trauma und Traumafolgestörung,
48 https://doi.org/10.1007/978-3-658-17886-4_5
54 Kapitel 5 · Umgang mit Traumata und PTBS privat und in der Öffentlichkeit
5.1 Werde ich oder die anderen verrückt? – Die Frage nach
dem Was und Wieso
Wenn es nach einer Traumatisierung, sei es nach Tagen, Monaten oder Jahren zu Symptomen
kommt, wie z. B. Flashbacks, Übererregung oder Ängsten, dann nehmen die Betroffenen diese
zunächst als Anzeichen für eine Fehlfunktion in sich selbst wahr. Die Betroffenen merken, dass
es Beschwerden gibt, dass sie bestimmte „Dinge“ anders erleben, als andere, dass sie mit manchen
Situationen, die früher kein Problem waren, nicht mehr so einfach umgehen können.
Die Betroffenen erleben sich als krank. Und sehr häufig fragen sie sich, ob sie nun verrückt
werden, den Verstand verlieren.
5 Ein Zusammenhang mit der Traumatisierung wird vielleicht nicht gleich gefunden und
hergestellt.
Wenn dieser dann doch hergestellt wird, kann der Gedanke aufkommen, dass andere mit
„so was“ zurechtkommen, nur man selbst eben nicht, weil man vielleicht denkt, dass man zu
schwach sei.
Personen des öffentlichen Lebens, in Führungspositionen oder ganz allgemein aktiv oder
passiv in den Medien, stehen unter hohem Druck und besonderen Anforderungen. Ein von
Trauma oder Traumafolgestörungen Betroffener nimmt zunächst einmal Symptome wahr. Er
stellt diese evtl. aber nicht in Zusammenhang mit Traumatisierung. Unter erhöhtem Druck fällt
es besonders schwer, sich selbst wahrzunehmen, korrekt einzuordnen und von anderen verglei-
chend abzugrenzen. So werden wahrgenommene Symptome oftmals besonders schnell in von sich
selbst unabhängige Zusammenhänge oder als Folgen kurzfristiger äußerlicher Einflüsse interpre-
tiert. Eine Tendenz, zu der ganz allgemein eine Vielzahl von Betroffenen neigt. Der Gedanke, man
werde verrückt, ist nicht unüblich und zumeist auch sehr gut nachvollziehbar. Sich fixe Orientie-
rungspunkte zu schaffen, an denen man eigene Wahrnehmungen messen könnte, ist insbeson-
dere unter Beobachtung einer Öffentlichkeit nicht einfach. Manchmal kaum mehr möglich. Ein
soziales Netz, mit nachhaltig vertrauten Ansprechpartnern, ist in diesem Fall schwierig zu erstel-
len wie auch aufrecht zu erhalten. So bleibt oft nur das Vertrauen auf sich selbst und seine eigene
Einschätzung. In Kombination mit einer in solch exponierten Stellungen zumeist enormen Infor-
mationsdichte, die es zu verarbeiten gilt, und vielen Leistungsanforderungen, die es zu erfüllen
gilt, fällt dies zunehmend schwer oder kann auch ganz einfach untergehen. Es fehlen schlichtweg
die Zeit und die Energie, da die Relevanz der Information gar nicht erkannt wird.
Wenn aber doch der Zusammenhang zwischen Symptomen und Traumatisierung herge-
stellt wird, folgt oftmals der Gedanke, „andere kommen mit ‚so etwas‘ auch zurecht“, „ich bin zu
schwach, wenn ich das nicht schaffe“. Wobei das „So etwas“ zumeist gar nicht wirklich definiert
wird, weil es eben auch in der Regel an dieser Stelle nicht ohne Weiteres definiert werden kann.
Objektiv betrachtet sind Begriffe wie „schwach“ oder „stark“ in diesem Zusammenhang falsch
gesetzt, doch für den Betroffenen ist dies oft nur schwer erkennbar. Gerade, weil auch die Kom-
plexität des Vorgangs unbekannt ist. Menschen, die viele Dinge gleichzeitig erledigen, großen
Überblick haben, weitreichend vernetzt und insbesondere auch Träger verantwortungsvoller
Entscheidungskompetenzen sind, ist es oft fast unmöglich, an dieser Stelle korrekt zu reagieren.
Wobei es keine festgelegte Definition für „korrekt“ gibt.
In jedem Fall geht es nicht um Schwäche oder Stärke, sondern um ureigene menschliche
Bedürfnisse und Empfindlichkeiten, die zwar schwach oder stark angegangen werden können,
doch nichts darüber aussagen, ob ein Mensch selbst stark oder schwach ist. Obwohl es an der
Stelle des Erkennens von Zusammenhängen ein logischer Schritt wäre, professionelle Hilfe ein-
zubinden, wird dies oftmals nicht getan. Die Sorge, sich selbst nicht trauen zu können, ist stark.
Vielleicht sei man doch einfach nur an dieser Stelle etwas schwach und müsse dem mit besonderer
5.2 · Bin ich selbst schuld? – Die Frage nach dem Warum
55 5
Stärke entgegnen. Oder die Sorge, wie das Umfeld – ob privat, geschäftlich oder öffentlich –
reagieren könnte. Sich selbst hintenanstellend wird es höher geschätzt, zu vermeiden. Es könnte
ja jemand merken, dass professionelle psychologische Unterstützung eingebunden wird. Eine
solche Aktivität könnte als Notwendigkeit, als allgemeine Schwäche interpretiert und gegen mich
benutzt werden. Nicht bedacht wird dabei, dass ein rechtzeitiges Reagieren die Sache kontrolliert
und insbesondere zum eigenen Wohl lösen kann. Ignorieren und Verdrängen, was oft Folge eines
„starken“ Vorgehens ist, führt in der Mehrzahl der Fälle zu einer nachhaltigen Verschlechterung
der Lage, die zudem zunehmend unkontrollierbar wird und Folgeprobleme auslöst.
Zur Einsicht zu gelangen, dass Hilfe nötig wird, ist schwer. Wobei in vergleichbarer wirt-
schaftlicher Situation umgehend entsprechend professionelle Unterstützung eingeholt werden
würde – ja, man dies in leitender Position sogar müsste, um keine Pflichten zu verletzen und
Compliance Standards einzuhalten. Doch geht es eben hier nicht um einen kontrollierbaren
Job, sondern um sich selbst. Die Erkenntnis, dass man selbst aber die Ressource ist, aus der sich
die erfolgreiche Tätigkeit im Job speist, und diese Ressource ebenso sehr gepflegt werden muss,
fällt vielen schwer. Die Ressource der eigenen Person wird einfach als gegeben und unendlich
angenommen, oftmals ohne ernsthaft darüber nachzudenken. Logisch wäre aber, sich darüber
bewusst zu werden und als Folge diese allem zugrunde liegende Ressource ganz besonders zu
pflegen, um alle daraus resultierenden Aspekte zu optimieren. Eine solche innere Spiegelung
seiner selbst zählt mit zu den wesentlichen notwendigen Fähigkeiten erfolgreicher Manage-
menttätigkeit. Das abhängige wirtschaftliche Umfeld muss sich darauf verlassen können, dass
Sie handlungsfähig und leitend bleiben, zum Wohle aller. In der Folge ist es nicht nur eine
persönliche Entscheidung, sondern fast schon eine Pflicht, sich über sich selbst Gedanken zu
machen und beim Auftreten potenziell ernsthafter Probleme umgehend adäquat zu handeln.
Genau wie im Geschäftsleben.
Ob dieses Handeln nun öffentlich kommuniziert werden muss, ist eine andere Frage. Es im
Geheimen zu betreiben und das Risiko einzugehen, „entdeckt“ zu werden, ist nicht anzuraten.
Doch muss auch nicht alles in aller Öffentlichkeit dargelegt werden. Es gibt immer einen Mittel-
weg. Sobald die Erkenntnis vorherrscht, dass professionelle Hilfe nicht schaden könnte, sollte
diese auch konsultiert werden. Im eigenen Interesse. Ob sich daraus eine langfristige Aktivität
ergibt, ist nicht zwangsläufig. Schaden entsteht aber in den allermeisten Fällen keiner. Und selbst
wenn, was wäre denn der Worst Case? Nichts kann so schlimm sein, als ernsthaft zu erkranken
und die Kontrolle nachhaltig zu verlieren. Gehen Sie es an. Egal in welcher Phase Sie womög-
lich stehen.
5.2 Bin ich selbst schuld? – Die Frage nach dem Warum
Nachdem das Trauma überlebt wurde, stellen sich viele die Frage, ob sie in der traumatischen
Situation nicht etwas hätten anders machen können. Viele Überlegungen drehen sich darum, ob
das Trauma nicht hätte vielleicht sogar verhindert werden können.
Es stellt sich den Betroffenen aber häufig nicht nur die Frage, ob sie „es“ hätten verhindern
können, sondern auch die Frage, ob sie das Trauma nicht verdient haben. Vielleicht werden
frühere Traumatisierungen oder Vernachlässigungen reaktiviert und in den Betroffenen stellt
sich die Überzeugung ein, dass sie Unheil anziehen oder schlechte Menschen sind und es deshalb
verdient haben, von Menschen schlecht behandelt zu werden.
Es kommen Fragen wie: Hätte ich es nicht kommen sehen müssen? Gab es da nicht Anzei-
chen für das sich anbahnende Grauen? Hätte es nicht noch eine Möglichkeit gegeben, wie ich den
Täter hätte überwältigen können? Hätte ich den Unfall verhindert, wenn ich besser reagiert hätte?
56 Kapitel 5 · Umgang mit Traumata und PTBS privat und in der Öffentlichkeit
In der Zeit nach einer Traumatisierung kommt es zu vielen kognitiven Verzerrungen und zu
einigen Denkfallen, in die die Opfer verständlicherweise „tappen“. Auf diese Denkfallen werden
wir in ▸ Abschn. 6.1.6 „Gedankenkarussell! – Umgang mit Gedankenkreisen“ noch gesondert
eingehen.
Sich insbesondere als Manager oder in der Öffentlichkeit stehende Person zu fragen, ob man
selbst Schuld ist, ein traumatisches Erlebnis als Trauma erlebt zu haben, macht nur sehr bedingt
Sinn. Ebenso die Frage, ob man danach nicht „richtig“ damit umgegangen ist und deshalb selbst-
verschuldet traumatische Folgestörungen bekommen hat. Sicherlich hätte man unter Umständen
das traumatische Ereignis vermeiden können. Oder man hätte sich eventuell besser vorbereiten
oder besser damit umgehen können. Oder, oder, oder. Doch was bringt das eigentlich? Erst einmal
5 nichts. Niemand ist perfekt und diesen Anspruch kann man auch nicht an sich selbst haben, selbst
wenn man in vielerlei Hinsicht möglicherweise ziemlich perfekt agiert. Man sollte dies auch gar
nicht. Im Rahmen von Trauma geht es um Ängste, um Emotionen. Selbstverständlich kann viel
trainiert und erlernt werden. Doch macht gerade Stärke aus, flexibel, spontan und menschlich
reagieren zu können. Dies auch auf Basis von Erfahrung und Training. Aber eben noch mensch-
lich und somit immer auch zu einem gewissen Maße emotional. Von sich zu erwarten, ausschließ-
lich rational funktionieren zu können, führt selten zum gewünschten Erfolg. Die Mischung ist
wesentlich. Und zu versuchen, ureigene menschliche Eigenschaften komplett kanalisieren und
letztlich kontrollieren zu können, kann nur scheitern oder geht auf Kosten der psychischen
Gesundheit. Viel sinnvoller ist es, sich selbst zu erkennen und damit umgehen zu lernen. Daraus
resultierende vermeintliche Schwächen in Stärken zu wandeln und als individuelle Vorteile zu
nutzen, die einen selbst von anderen, wie etwa Wettbewerbern auf dem Markt, differenzieren.
Sich die Fragen zu stellen, ob man etwas falsch gemacht hat, ob man ein schlechter Manager
ist, blockiert und führt nicht weiter. Sich die Frage zu stellen, warum gerade man selbst betroffen
ist und nicht andere, hilft ebenso wenig weiter. Warum auch nicht gerade Sie?
Reflexion über potenzielles Fehlverhalten ist immer wichtig, doch kann man in solch emo-
tionalem Feld überhaupt zwischen richtig und falsch unterscheiden? Gibt es denn überhaupt ein
Richtig oder ein Fasch? Zumeist nicht. Viel gewinnbringender ist es oftmals also, den Blick nach
vorne zu richten und zu überlegen, mit welchen Aktivitäten und Mitteln auf Basis der gewonne-
nen Erkenntnis nun weiter und zielführend vorangegangen werden kann. Sich also nicht daran
aufzureiben, ob man etwas hätte verhindern können, selbst wenn dies vielleicht sogar möglich
gewesen wäre, sondern nach der Analyse des Status zu überlegen, wie das zukünftige Verhalten
optimiert, sowie die aus dem Geschehenen resultierende aktuelle Lage konstruktiv angegangen
werden kann. Rückblickende Selbstkritik ist in diesem Rahmen nur in gewissem Maße sinn-
voll. Darüber zu philosophieren, ob man es nun verdient habe, schlecht behandelt zu werden,
ist destruktiv und wenig zielführend. Vertrauen Sie sich. Nicht alles ist plötzlich schlecht. Selbst-
bewusst, bestimmt und zukunftsorientiert handeln. Dies bei adäquater Selbstreflexion, sowie
unter möglichem Einbezug professioneller Unterstützung. Das ist Stärke und führt zu nachhal-
tiger Problemlösung.
Es gibt keinerlei Schweigegebot. Auch nicht bei einer hochkomplexen PTBS. Schweigen schützt
nur die Täter, nicht die Opfer.
Darüber zu sprechen, beweist im Zweifelsfall eher Stärke. Ob es Sinn macht, darüber zu
sprechen, ist eine Frage der Abwägung. Einerseits wird eine Rolle im Rahmen einer Vorbild-
funktion erfüllt. Andererseits können Ängste geschürt und Vertrauen verloren, wie potenzielle
5.3 · Das Schweigen durchbrechen?
57 5
Feinde gestärkt werden. Zudem bedeutet darüber zu reden auch immer, sich nochmals mit dem
Geschehenen auseinanderzusetzen und dazu ist das nötige Rüstzeug nötig, um nicht erneut emo-
tional überflutet zu werden. Schwächen zu zeigen, kann Stärke demonstrieren. In jedem Fall ist
es wichtig, sich eigene Räume zu schaffen, in denen kommunikative Einschränkungen nicht not-
wendig sind. Und wenn dies auch nur im Rahmen eines Austausches mit einem Therapeuten,
der der gesetzlichen Schweigepflicht unterliegt, ist.
Welche Information an welcher Stelle kommuniziert wird, muss geregelt und eingehalten
werden. Fehlinformationen sind genauso schädlich und können vergleichbar bedrohen oder gar
zurückschlagen, wie gar keine Informationen herauszugeben.
Alle Aspekte verhalten sich genau wie bei öffentlichem oder wirtschaftlichem Krisenma-
nagement. Öffentlichkeit in Presse oder Internet, beispielsweise im Bereich Social Media, ist
schnell schlau, zunehmend gebildet und vergisst nicht. Jeder kann sich zu allem sofort äußern.
Mit jeder Kritik, jedem Angriff, so dumm dieser auch immer sein mag, muss gerechnet werden.
Und gleichzeitig auch mit entsprechenden Reaktionen, mit einer Eigendynamik, die längst nichts
mehr mit Ihnen zu tun hat.
Man muss nicht auf alles reagieren und keinesfalls Reaktionen persönlich oder gar als mög-
licherweise verdient annehmen. Niemand kann wissen, wie es dem Betroffenen, Ihnen, wirk-
lich geht. Keinem steht ein Urteil zu, keiner kann bewerten. Das kann letztlich immer nur der
Betroffene selbst.
Aber er kann Inhalt und Tempo seiner Kommunikation nach außen bestimmen. Wenn also
Kommunikation nach außen, dann geplant, an definierte relevante und vorher bestimmte Ziel-
gruppen adressiert und konsequent gehandhabt. Man sollte sich hier keine vermeidbaren Fehler
leisten, vielleicht sogar einen Spezialisten nur für diesen Themenbereich der öffentlichen Kommu-
nikation einbinden, ohne Salamitaktik, um möglichst gar nicht erst in eine Defensive zu kommen
und sich dann erklären zu müssen.
Aktive Kommunikation ist wesentlich. Ob diese nun die wahren und für den Betroffenen
wirklich relevanten Inhalte enthält, ist zweitrangig, solange dieser selbst seinen persönlichen
uneingeschränkten Kommunikationskanal hat. Öffentliches Ansprechen von PTBS kann sehr
hilfreich sein, aber muss es nicht. Es kann befreiend und zielführend sein, aber muss es nicht. Das
richtige Maß, das richtige Format bzw. die richtige Plattform bestimmen über den Erfolg. Doch
keine Alternative ist es, die Augen zu verschließen; die Dinge, die denn da kommen mögen, aus-
zusitzen, zu schweigen oder gar aufzugeben und den inneren persönlichen Rückzug anzutreten.
59 6
01
02 Traumabewältigung und
professionelle Angebote
03
04
05
06
07
08
6.1 Was kann ich selbst tun – Strategien zur
09 „selbsttherapeutischen“ Hilfe – 61
10 6.1.1 Wenn die Erinnerung einen immer wieder einholt! – Umgang mit
11
Flashbacks, Alpträumen, traumatischen Erinnerungen – 61
12
13
6.1.2 Nur nicht wieder dasselbe! – Umgang mit Vermeidungsverhalten – 65
14 6.1.3 Immer unter Druck! – Umgang mit Übererregung – 67
15 6.1.4 Wenn einem die Hälfte des Tages fehlt! – Umgang mit Dissoziationen – 72
16
6.1.5 Wenn der Geist in die Falle tappt! – Die 10 wichtigsten kognitiven
17
18
PTBS-Fallen – 74
19 6.1.6 Gedankenkarussell! – Umgang mit Gedankenkreisen – 77
20 6.1.7 Wenn Ängsten das Leben bestimmen! – Umgang mit Ängsten – 78
21
6.1.8 Was tun bei Schmerzen? – 79
22
23
6.1.9 Wenn die Nacht zum Tag wird! – Umgang mit Schlafstörungen – 80
24 6.1.10 Wenn die Sucht einen im Griff hat! – Umgang mit Abhängigkeit – 81
25
26 6.2 Ressourcen – 81
27
28
6.3 Allgemeine Grundlagen von Traumatherapie – 82
29
30
6.4 Verhaltenstherapeutische, psychodynamische und
31 traumaspezifische Ansätze – 84
32 6.4.1 Stabilisierungsphase – 85
33
6.4.2 Konfrontationsphase – 89
34
35
6.4.3 Reorientierungsphase – 89
36
37
38
39
40
41
42
43
44
45
46
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2018
47 M.J. Pausch, S.J. Matten, Trauma und Traumafolgestörung,
48 https://doi.org/10.1007/978-3-658-17886-4_6
6.5 Konfrontationsverfahren – 90
6.5.1 EMDR – 90
6.5.2 Narrative Expositions-Therapie (NET) – 91
6.5.3 PITT und Beobachtertechnik – 91
6.5.4 IRRT – 93
6.6 Medikation – 93
Literatur – 94
6.1 · Was kann ich selbst tun – Strategien zur „selbsttherapeutischen“ Hilfe
61 6
Im Folgenden sollen zunächst jene Strategien ausgeführt werden, welche von den Betroffenen
selbst durchgeführt werden können. Es handelt sich um Strategien, die den Umgang mit den
Symptomen erleichtern. Viele dieser Strategien kommen auch im Rahmen einer psychothera-
peutischen Behandlung zum Einsatz. Welche psychotraumatologischen Behandlungsmöglich-
keiten es gibt, wird dann im Weiteren erklärt.
Die genannten „selbsttherapeutischen“ Hilfen sollen dabei unterstützen, mit den Symptomen
einer PTBS besser umgehen zu können. Im Folgenden sind sie nach Symptomen aufgeführt.
Durch Intrusionen kommen Betroffene einer PTBS immer wieder mehr oder minder ungewollt
in die Situation, dass sie das traumatische Erlebnis immer wieder zum Teil, oder als Ganzes, in
Bildern, Filmen, Emotionen, Gedanken, Körpererleben wiedererleben. Und zwar nicht als Erin-
nerung, sondern tatsächlich als ein Wieder-Erleben. Die Eindrücke und die Gefühle aus der trau-
matischen Situation erleben die Betroffenen im Flashback so, als ob sie jetzt gerade noch einmal
stattfindet. Diese Flashbacks können durch äußere (z. B. ein Geruch oder ein Geräusch) oder
innere (z. B. ein Gedanke an das Trauma oder ein ähnlicher Schmerz wie im Trauma) Trigger
aktiviert werden. Flashbacks können alle Sinnesmodalitäten betreffen, nur einen, mehrere oder
alle zusammen.
Die Betroffenen erleben das In-den-Flashback-hineingeraten zunächst als etwas, was von jetzt
auf gleich passiert, von einer auf die andere Sekunde. Bei genauerer Betrachtung und Explora-
tion kann man aber feststellen, dass es ganz typische Symptomketten gibt, welch zum Flashback
führen. Das bedeutet also, dass es Vorboten, sogenannte Prodromi, gibt. Diese Vorboten treten
ganz häufig in einer bestimmten, fast immer gleichen Reihenfolge auf. Häufig sind sie zunächst
kaum wahrnehmbar. Um diese Prodromi besser identifizieren zu können, ist es nötig, dass man
jede Situation, in der wieder ein Flashback scheinbar unerwartet aufgetreten ist, genau analysiert.
Dadurch werden immer mehr dieser Prodromi erkannt. Denn die Vorboten, welche bei der letzten
Analyse herausgearbeitet werden konnten, nimmt man in der nächste Situation viel besser und
intensiver war. Zudem wird der Blick für weitere Vorboten geweitet. Auf diese Weise lässt sich eine
ganz individuelle Vorboten-Kette für bestimmte Flashbacks erarbeiten. Je besser der Betroffene
diese kennt, desto früher kann er über bestimmte Anti-Flashback-Strategien dagegen vorgehen.
Bei der Analyse einer stattgefundenen Situation und der Identifizierung sollte man folgen-
dermaßen vorgehen:
55 Zunächst sollte wieder ausreichende Stabilität und Sicherheit nach dem letzten Flashback
erreicht sein. Solange dies nicht der Fall ist, sollte keine Situations-/Verhaltensanalyse
stattfinden, sondern weiter an der Stabilität gearbeitet werden.
55 Dann sollte geklärt werden, wie der Flashback wahrgenommen wurde, also welche
Sinnesmodalitäten betroffen waren. (Sehen? Hören? Riechen? Schmecken? Körperliche
Wahrnehmungen?)
55 Wo der Flashback stattfand? (Ort? Umgebung? Andere Menschen mit anwesend? Was
haben die gesagt, getan … ?)
62 Kapitel 6 · Traumabewältigung und professionelle Angebote
Die Analyse sollte schriftlich erstellt werden und bei jeder nächsten Analyse wieder hinzugezo-
gen werden.
Die Betroffenen sind häufig sehr verwundert, dass es so viele Vorboten gibt, die einen Flash-
back ankündigen. Zudem gibt es Sicherheit, wenn man weiß, dass es nicht aus heiterem Himmel
kommt.
Wichtig ist aber auch immer, zu beachten, dass man noch so viele Analysen durchführen
6 kann, es kann immer wieder mal vorkommen, dass ein Flashback dann doch wieder unange-
kündigt kommt.
Wenn nun die Vorboten und die individuelle Flashback-Kette gut bekannt ist, vielleicht sogar
auf einer Karteikarte notiert ist, so dass man bei Bedarf immer wieder darauf zurückgreifen kann,
dann ist es wichtig, Strategien zu haben, um diese Kette zu durchbrechen. Je früher man die Kette
erkennt, umso leichter ist sie zu durchbrechen.
z Gegenreize (Skills)
Auf jeder Sinnesmodalitätsebene lassen sich zu dem jeweiligen intrusiven Erleben Gegenreize
setzen. Diese Gegenreize sollen dem Gehirn vermitteln, dass die eine Wahrnehmung (Intru-
sion) in das Dort und Damals gehört und die andere Wahrnehmung (Gegenreiz) im Hier und
Jetzt stattfindet.
Wenn es sich bei der Intrusion um einen Geruch handelt, ist es sinnvoll, in einem kleinen
Fläschchen einen Gegengeruch dabei zu haben. Dieser Geruch lässt sich auch auf einen Schal
oder den Kragen einer Jacke auftragen, so dass das daran Riechen unauffälliger ist. Bei besonders
intensiven Gerüchen kann man auch Tiger Balm unter die Nase reiben.
Geschmacksintrusionen lassen sich durch intensive Bonbons oder scharfe Gummibärchen
(gibt es in speziellen Läden für Gummibärchen) gut unterbrechen.
Die akustischen Intrusionen können unterbunden werden, indem man sich entweder ganz
genau auf die Geräusche in der aktuellen Umgebung konzentriert, bzw. sich genau auf das, was
der Gesprächspartner sagt, konzentriert. Eine andere Möglichkeit ist, sofern dies die Situation
zulässt, sich Kopfhörer in die Ohren zu stecken und Musik zu hören. Die Musik, welche man
dann hört, sollte vorher gut ausgesucht werden. Nicht jede Art von Musik ist in dieser Situation
gut. Die Musik sollte dazu führen, dass das Hier und Jetzt besser wahrgenommen werden kann.
Eine Möglichkeit, welche bei allen Intrusionen angewendet werden kann, ist die 3-2-1-Übung.
Durch diese Übung ist ein Sich-lösen von der intrusiven Erinnerung und Hinwenden zum Hier
und Jetzt gut möglich.
3-2-1-Übung
Sehen Sie sich einfach in ihrer aktuellen Umgebung um. Nehmen sie alles bewusst und klar
war.
Nun benennen Sie in Ihrem Geiste
zunächst 3 Dinge, die Sie sehen,
6.1 · Was kann ich selbst tun – Strategien zur „selbsttherapeutischen“ Hilfe
63 6
Alternativ zur 3-2-1-Übung lässt sich auch eine Kopfrechenaufgabe gut dazu verwenden, um den
Flashback abzuwenden. Dazu können sie z. B. die 100-minus-7-Übung machen.
100-minus-7-Übung
Nehmen Sie 100 und ziehen Sie 7 ab. Was bekommen Sie dann? – Antwort: 93.
Rechnen Sie dann 93 minus 7. Was bekommen Sie dann? – Antwort: 86.
Rechnen Sie dann 86 minus 7. Was bekommen Sie dann? – Antwort: 79.
Rechnen Sie dann 79 minus 7. Was bekommen Sie dann? – Antwort: 72.
Führen Sie das so weiter, bis Sie bei 2 angekommen sind.
Wenn Sie immer noch nahe am Flashback sind, dann fangen Sie von vorne an.
Wenn einem die Mathematik nicht so liegt, lässt sich diese Übung auch gut mit dem
Alphabet durchführen. Sagen Sie einfach das Alphabet rückwärts, also beginnend bei Z, auf.
Alphabet-Übung
Sagen Sie das Alphabet von Z bis A auf. Also Z – Y – X – W – V – U – … – C – B – A.
Realitätskontrolle
Neben diesen Distanzierungstechniken ist auch das Prinzip der Realitätskontrolle hilfreich.
Hierbei geht es schlicht darum, in einer Situation, die vielleicht an die traumatische
Situation erinnert, zu erkennen, was im Hier und Jetzt anders ist als Dort und Damals. Wenn
es sich dabei um eine Person handelt, sollte genau darauf geachtet werden, was an dieser
Person anders ist, als an der Person damals (Haare? Brille? Bart? Kleidung?).
64 Kapitel 6 · Traumabewältigung und professionelle Angebote
Bildschirmübung
Häufig kommen die Flashbacks in Form von Bildern oder Filmen. Mit etwas therapeutischer
Anleitung und Übung ist es gut möglich, dass man in dieses visuelle Wiedererleben aktiv
eingreift. Hierzu kann die Vorstellung, dass die Bilder/Filme auf einer Leinwand oder einem
Fernsehgerät ablaufen, helfen. Dieses projizierte Bild kann nun verändert werden. Es kann,
wie mit einer Fernbedienung, angehalten werden. Die Bilder können kleiner gemacht
werden, die Farbe kann herausgenommen werden, der Ton kann abgestellt werden, oder
die Stimmen verzerrt werden. Um eine Distanzierung zu schaffen, kann auch die Vorstellung
helfen, dass man nur Beobachter und nicht Teilnehmer ist, wie in einem Kino oder Theater.
Zudem kann man jederzeit den Vorhang vor die Leinwand ziehen und so Distanz erreichen.
Diese Distanzierungstechniken sind sehr hilfreich, wenn sie erstmal gut eingeübt sind. Dazu
benötigt es aber häufig therapeutische Hilfe.
6
Tresorübung
Nach einem Flashback oder einem Alptraum, oder unabhängig davon, treten häufig
Erinnerungen, Gedanken an das Trauma auf, welche sich einem immer wieder aufdrängen.
Um diese „loszuwerden“ hat sich die Imaginationsübung des Tresors bewährt. Hierbei
stellt man sich in seiner Vorstellung einen Tresor vor, oder eine große Kiste, einen Schrank
– irgendetwas, was in der Phantasie für einen sicheren Verwahrungsort steht. Dort hinein
packt man nun die Bilder, Gedanken, Erinnerungen, welche sich immer wieder aufdrängen.
Dann wird der Tresor, oder was auch immer, sicher verschlossen. Vielleicht ist der Tresor mit
einem Zahlenschloss versehen? Oder mit einem Schloss mit Stimmerkennung, so dass nur
der Besitzer mit seiner Stimme den Tresor öffnen kann. Vielleicht wird er noch zusätzlich mit
einer Kette oder einem Seil gesichert? Dann kann dieser Tresor oder diese Kiste auch noch
an einen sicheren Ort gebracht werden, zu dem nur der Besitzer Zugang hat. Hier sind der
Phantasie keine Grenzen gesetzt.
Nachdem die Erinnerung und Gedanken dort sicher verwahrt wurden, ist es meist so, dass
sie nach zwei bis drei Sekunden wieder da sind.
Diese Übung braucht Übung. Und deshalb ist es nötig, die Erinnerungen und Gedanken
erneut wegzupacken, so lange, bis es klappt. Und es wird klappen, es ist nur nötig, dass man
geduldig ist.
Bei der Übung geht es nicht darum, diese Gedanken für immer wegzusperren. Es geht
darum, dass die Betroffenen wieder die Entscheidung treffen, wann und wo sie sich mit
bestimmten Gedanken und Erinnerungen auseinandersetzen.
Schaffen Sie sich einen Tresor, eine Kiste, einen Schranken oder sonst etwas, als Platz, an
dem Sie Gedanken, Erinnerungen, Bilder (in Form von Fotos), Filme (in Form von Kassetten,
SD-Karten, oder ähnlichem) oder Ähnliches ablegen können, wenn diese sich Ihnen immer
wieder aufdrängen.
Packen Sie alles, mit dem Sie sich gerade nicht beschäftigen wollen oder können, dort
hinein.
Sagen Sie sich und den Dingen, die Sie wegpacken, dass Sie diese nicht für immer
wegpacken, sondern nur so lange, bis die Zeit dafür reif ist, der Platz dafür geschaffen ist
und Sie stark und stabil genug sind.
6.1 · Was kann ich selbst tun – Strategien zur „selbsttherapeutischen“ Hilfe
65 6
Sichern Sie Ihren Tresor, oder Kiste, oder was auch immer, z. B. mit einem Schloss, einer
Kette, einem Seil.
Bringen Sie weitere Sicherungsmaßnahmen an, die Ihnen wichtig sind.
Bringen Sie den Tresor etc. an einen Ort, der für Sie sicher ist und zu dem vielleicht nur Sie
Zugang haben.
Wiederholen Sie die Übung immer und immer wieder. Sie wird irgendwann gelingen und
Ihnen eine hilfreiche Strategie sein.
Es gibt viele weitere Strategien, um gegen sich aufdrängende intrusive Erinnerungen vorzugehen.
Hier sind nur einige genannt. In letzter Konsequenz geht es darum, dass jede und jeder Betroffene
ein individuelles und wirksames Repertoire aus wirksamen Strategien entwickelt.
Das Finden der Strategien ist aber erst der erste Teil, der zweite, mindestens genauso wichtige
Teil ist das Üben. Ohne üben kann keine einzige Strategie erfolgreich sein.
Letztendlich bleibt noch die Konfrontationsbehandlung (hierzu weiter unten mehr). Die
Intrusionen entstehen durch die fehlerhafte Abspeicherung der Eindrücke in der traumatischen
Situation. Durch eine Konfrontationsbehandlung wird diese Abspeicherung korrigiert und somit
treten keine Intrusionen mehr auf.
Oben genannte Übungen können innerhalb kurzer Zeit und an vielen Orten durchgeführt
werden. Somit eignen sie sich hervorragend gerade für Personen des öffentlichen Lebens, in
Management und Medien. Ob im Hotel, Flugzeug, Wohnmobil am Set eines Films oder zu
Hause, eine Viertelstunde lässt sich im Notfall auch zwischen zwei Telefonterminen einrichten.
An Umsetzungsmöglichkeiten kann es also nicht scheitern. Stellt sich die Frage, ob eine solche
Übung inhaltlich machbar ist. Dies ist eine Frage der Wiederholung und Konzentration. Zu
Beginn ist es nicht einfach, aber nach wenigen Anläufen in den meisten Fällen erfolgreich etab-
liert, sofern auch der innere Widerstand gegen eine solche Übung überwunden ist. In dieser Hin-
sicht ist oftmals die Erkenntnis hilfreich, dass diese Übung nicht erledigt werden muss, sondern
dass es Sinn macht, diese Übung machen zu wollen, dass sie persönlich gut tut und individuelle
Freiräume schafft. Sie ist keine Aufgabe, die es, wie etwa Arbeitsanforderungen, zu absolvieren
gilt. Sie tut Ihnen gut. Versuchen Sie, sich ernsthaft darauf einzulassen. Gönnen Sie sich eine solche
Freiheit, die Sie nach außen hin beispielsweise als Powernapping verkaufen können, sofern Sie
dies überhaupt erklären müssen.
Das Meiden von Orten, Menschen, Situationen oder Gedanken, die Angst machen, ist eine erfolg-
reiche Strategie, um dem, was Angst macht, aus dem Weg zu gehen … kurzfristig jedenfalls. Sehr
kurzfristig.
Wenn einen die Angst vor vielen Menschen quält, dann wird es einem erstmal besser gehen,
wenn man nicht zur nächsten Großversammlung der Firma gehen muss. Nicht hinzugehen führt
erstmal dazu, dass die Angst, die Belastung und die Anspannung abfallen. Wenn die Angst vor
Dunkelheit einen quält, dann wird es einem erstmal besser gehen, wenn man jeden Tag vor Ein-
bruch der Dunkelheit zu Hause ist und dort bis zum nächsten Morgen das Licht anlassen kann.
Es ist auch durchaus nachvollziehbar, dass man, nachdem man eine existenziell bedrohliche
Erfahrung gemacht hat, nicht noch einmal in so eine oder eine ähnliche Lage kommen möchte.
Mittel- und langfristig wird dieses Vermeidungsverhalten aber dann zunehmend selbst zum
Problem werden. Vermeidungsverhalten hat die Eigenschaft, dass es sich ausbreitet. Diesen
66 Kapitel 6 · Traumabewältigung und professionelle Angebote
Vorgang nennt man Generalisierung. Durch das Vermeiden von mit Angst besetzten Situatio-
nen im Außen, oder von Gedanken und Gefühlen im Inneren, lernt das menschliche Gehirn,
dass diese Bewältigungsstrategie eine durchaus erfolgreiche ist, denn die kurzfristigen Erfolge
in Form von Angstabfall usw. gibt es ja. Aufgrund dessen wendet das menschliche Gehirn
dieses Vermeidungsverhalten auf andere Situationen an, in denen es Angst gibt. Dadurch
werden die Betroffenen immer mehr und mehr Orte, Menschen, Situationen, Gedanken und
Gefühle (ver-)meiden.
In jeder Situation, in der etwas vermieden wird, wird dem Gehirn auch die Erfahrung genom-
men, zu erleben und damit zu lernen, dass sie gemeistert werden konnte. Damit gräbt das Ver-
meidungsverhalten den Erfolgserlebnissen das Wasser ab. Das Einzige, was bleibt, ist die tiefe
Überzeugung, dass man sich nur durch Vermeidung etwas an Sicherheit erkämpfen kann. Am
Ende einer „Vermeidungskarriere“ steht meist die soziale Isolation und die Angst als dauerhafte
Begleitung.
6 Wie kann man mit Vermeidung umgehen? Was kann man gegen Vermeidung tun?
Nicht vermeiden! Das klingt erstmal sehr einfach, ist es aber nicht.
Am Anfang muss eine ehrliche und offene Übersicht über das erstellt werden, was man
schon alles vermeidet. Es sollte, wie in der Behandlung von Angststörungen, eine Hierarchie
erstellt werden, mit den Dingen, die einem am meisten Angst machen und deren Vermeidung am
meisten Leidensdruck mit sich bringt. Anschließend sollte ein genauer Plan, mit vielleicht vielen
Zwischenschritten, erstellt werden, wie man der Angst und dem Vermeidungsverhalten begeg-
net und beides sukzessive reduziert. Hierbei sollten die einzelnen Zwischenschritte so gewählt
werden, dass sie immer wieder Erfolgserlebnisse mit sich bringen. Zwischenschritte sind auch
nicht in Stein gemeißelt und sollten je nach individueller aktueller Situation angepasst werden.
Zwischentiefs und Rückschritte gehören zwar mit dazu. Es darf immer wieder mal Momente
geben, in denen die Angst zu groß wurde und dann doch vermieden wurde. Jedoch sollte das
Vermeidungsverhalten in der Grundtendenz von Tag zu Tag, von Woche zu Woche, von Monat
zu Monat, weniger werden.
Letztendlich geht aus noch darum, dass ein gesunder und möglichst objektiver Blick für
potenzielle Gefahren entwickelt wird: Es gibt Gefahren auf dieser Welt. Zu bestimmten Uhrzeiten
sollte man z. B. bestimmte Gegenden eher meiden. Es ist nicht sinnvoll, ein derartiges gesundes
Sicherheitsverhalten infrage zu stellen, es geht aber um das genau Analysieren und Beurteilen
von Situationen auf ihre Gefahr hin.
Ein mögliches Vorgehen zur Reduktion von Vermeidungsverhalten könnte wie folgt aussehen:
55 Erstellung einer Übersicht über das bisherige Vermeidungsverhalten.
44Was wird vermieden/gemieden? (Situationen? Orte? Menschen?
Gedanken? Gefühle?)
44Seit wann wird es vermieden/gemieden? Hat sich die Vermeidung seitdem verändert?
44Wann wird vermieden/gemieden?
44Wie wird vermieden/gemieden?
55 Erstellung einer Hierarchie von dem, was Angst macht und das deshalb vermieden wird.
55 Erstellung eines Plans mit Zwischenschritten zum Abbau des Vermeidungsverhaltens.
55 Ersetzen von Vermeidungsverhalten durch Sicherungsverhalten.
55 Rückschläge einplanen.
55 Nach jeder Nicht-Vermeidung festlegen, was beim nächsten Mal verändert wird, um noch
weniger zu vermeiden.
In den einzelnen Situationen, in denen man vermeiden möchte, sollte man nach dem Prinzip
der 3 F vorgehen. Diese einfache Strategie hilft, die Vermeidung zu vermeiden und die Angst
hinter sich zu lassen.
6.1 · Was kann ich selbst tun – Strategien zur „selbsttherapeutischen“ Hilfe
67 6
Hyperarousal, auch Übererregung genannt, bedeutet eine fast dauerhaft innere Anspannung
oder innere Unruhe. Die körpereigene Alarmanlage, der Mandelkern im Gehirn, ist dauerhaft auf
der Suche nach einer potenziellen Gefahr. Die Betroffenen sind sehr schreckhaft und brauchen,
nachdem sie erschrocken sind, sehr lange, bis sie sich wieder beruhigt haben. Das Gedächtnis und
die Konzentration lassen nach, weil viel Kapazität des Gehirns für dieses Überleben verwendet
wird. Das Lesen fällt immer schwerer, weil es schwierig wird, sich bis zum Ende einer Seite oder
sogar eines Satze zu konzentrieren. Und der Schlaf wird schlecht. Nicht nur, dass es durch das Wie-
dererleben zu quälenden Alpträumen kommt, die Betroffenen kommen auch gar nicht zur Ruhe.
Die Traumatisierung war für die körpereigene Alarmanlage (Mandelkern) ein Super-GAU.
Das Alarmbild des Traumas hat sich in den Mandelkern eingeprägt. Hierdurch ist die Sensibili-
tät für die Auslösbarkeit der Alarmreaktion deutlich gestiegen.
Dies führt dazu, dass die Betroffenen mit einem sehr hohen Grundanspannungs-Niveau
leben. Dadurch sind sie aber auch anfälliger für Belastungen von außen oder innen. Sie haben
weniger Puffer nach oben und sind so schneller an einer Belastungsgrenze.
Schlaf ist nun für die Alarmanlage einer der gefährlichsten Faktoren. Der Mandelkern arbeitet
den ganzen Tag auf Hochtouren, um sofort die kleinste Gefahr erkennen zu können. Am Abend
soll die Alarmanlage dann „damit einverstanden sein“, dass sich der Mensch in einen dunklen
Raum begibt, sich hinlegt, die Augen schließt und schläft. In dieser Situation des Schlafens ist der
Mensch potenziellen Gefahren hilflos ausgeliefert. Deshalb rebelliert der Mandelkern auch und
hält den Betroffenen vom Schlaf ab. Aus Sicht des Mandelkerns eine sinnvolle und erfolgreiche
Strategie – aus Sicht des Betroffenen ist es kräftezehrend, erschöpfend.
Die grundsätzliche Idee beim Vorgehen gegen Übererregung ist, den Mandelkern wieder
ruhiger werden zu lassen. Dies gelingt dadurch, dass das Grundanspannungsniveau gesenkt
68 Kapitel 6 · Traumabewältigung und professionelle Angebote
wird und dadurch der Schlaf, die Konzentration, die Aufmerksamkeit wieder verbessert werden
können.
Strategien zur Reduktion der Übererregung sind Atemübungen, Imaginationsübungen, Medi-
tation, Progressive Muskelentspannung (PMR), Autogenes Training, Yoga, Achtsamkeit und viele,
viele andere. Ziel dieser Strategien soll es sein, dass das Grundanspannungsniveau sinkt und eine
bessere Selbstberuhigung möglich ist.
z Atemübungen
Der Atem ist das, was wir immer dabei haben. Atem ist Leben. Und über die Wahrnehmung und
Steuerung des Atems können wir direkten Einfluss auf unseren Körper, unsere Gedanken und
unsere Gefühle nehmen. Der Atem ist auch Basis vieler weiterer Entspannungsverfahren, wie
Yoga oder Meditation.
Tich Nhat Hanh, ein vietnamesischer buddhistischer Mönch und Schriftsteller hat 1991
6 einmal gesagt:
» Während wir bewusstes Atmen üben, verlangsamt sich unser Denken und wir können echte
Entspannung erleben. Während der meisten Zeit denken wir zu viel und achtsames Atmen
hilft uns ruhig, entspannt und friedlich zu sein. Es hilft uns dabei, aufzuhören so viel zu
denken und von Trauer über die Vergangenheit und Sorgen über die Zukunft besessen
zu sein. Es hilft uns, mit dem Leben in Kontakt zu kommen, das im jetzigen Moment
wunderbar ist.
Der Parasympathikus, der Teil des vegetativen Nervensystems, der u. a. für Ruhe und Ent-
spannung zuständig ist, kann durch einen einfachen Trick aktiviert werden. Die Übererregung
ist über den Sympathikus, der andere Teil des vegetativen Nervensystems, der u. a. für Kampf
und Flucht zuständig ist, vermittelt. Wenn man etwas länger ausatmet, als man einatmet,
aktiviert man hierüber den Parasympathikus. Dies wiederrum wird zu Entspannung führen.
vor und beschreiben Sie es für sich in Ihrem Inneren … Wenn Sie Ihren sicheren inneren Ort
gefunden haben und ihn zu Ihrem völligen Wohlbefinden und Ihrer Sicherheit ausgestaltet
haben, lassen Sie sich dort ein wenig nieder und spüren Sie bitte genau, wie es Ihrem Körper
damit geht, an diesem sicheren Ort zu sein. Lassen Sie sich Zeit. Was sehen Sie? – Was hören
Sie? – Was riechen Sie? – Was spüren Sie auf der Haut? – Wie geht es Ihren Muskeln? – Wie ist
Ihre Atmung? – Wie geht es Ihrem Bauch? – Entspricht die Temperatur an Ihrem sicheren Ort
Ihren Bedürfnissen? Nehmen Sie das bitte ganz genau wahr, damit Sie wissen, wie es sich
anfühlt, an diesem sicheren Ort zu sein. Bleiben Sie noch einen Augenblick an Ihrem Ort und
genießen Sie das Wohlgefühl, die Sicherheit und die Geborgenheit, die Ihnen Ihr Ort gibt …
Damit es Ihnen künftig leichter fällt, an Ihren sicheren Ort zurückzukehren, verabreden Sie
jetzt mit sich selbst ein Zeichen, mit dessen Hilfe Sie jederzeit an Ihren sicheren Ort gehen
können. Das kann eine kleine Körpergeste sein, die Sie oft ausführen oder eine neue kleine
6 Geste. Es wäre gut, wenn Sie die Geste jetzt ausführen und gleichzeitig noch einmal intensiv
an Ihren sicheren Ort denken … So verknüpfen Sie in der Vorstellung Ihren sicheren Ort mit
dieser Geste. Immer wenn Sie diese Geste machen, können Sie zukünftig an den sicheren
Ort gehen und ihn spüren. Spüren Sie jetzt bitte noch einmal, wie gut es Ihnen an diesem
sicheren Ort geht und kommen Sie dann bitte wieder zurück in den Raum, in dem Sie sich
befinden.
z Autogenes Training
Das autogene Training zählt in Europa zu den bekanntesten Entspannungsverfahren. Entwi-
ckelt wurde es in den 1920er-Jahren von dem Berliner Nervenarzt J. H. Schultz. Er merkte, dass
einige seiner Patienten, welche er mittels Hypnose behandelte, nach einiger Zeit sich selbst bei-
gebracht haben, sich selbst in einen Zustand zu versetzen, der dem der Hypnose sehr ähnlich
war. In diesem Zustand waren sie entspannt, ruhig und konnten Schwere, bzw. Wärme im Körper
wahrnehmen.
Die einzelnen Übungen des autogenen Trainings sind sehr einfach und schematisch auf-
gebaut. Es werden bestimmte Formeln (z. B. „rechter Arm schwer“, „beide Beine warm“ oder
„Herz schlägt ruhig und gleichmäßig“) im Geiste gesprochen. Parallel dazu wird der Fokus auf
die Körperwahrnehmung gelegt.
z Progressive Muskelentspannung
Edmund Jacobsen hat diese Entspannungsverfahren erstmalig 1929 beschrieben. Aufgrund
dessen wird es auch häufig Progressive Muskelentspannung nach Jacobsen genannt.
In den Übungen werden unterschiedliche Muskelgruppen hintereinander zunächst für kurze
Zeit (ca. 5 bis 10 Sekunden) bewusst angespannt. Diese Anspannung wird bewusst wahrgenom-
men. Nach Ablauf der Zeit wird diese Muskelgruppe wieder bewusst entspannt. Diese Entspan-
nung wird wieder bewusst wahrgenommen.
PMR-Übung
Atmen Sie zwei-, dreimal tief ein und aus.
Lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit auf Ihre rechte Hand und Unterarm. Machen Sie eine Faust,
zählen Sie bis zehn und atmen Sie dabei ruhig weiter.
Wenn Sie bei zehn angekommen sind, lösen Sie beim Ausatmen die Anspannung
Nehmen Sie die Entspannung für ca. eine Minute bewusst war.
Lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit auf Ihren rechten Oberarm und spannen Sie die Muskeln
dort an, zählen sie bis zehn und atmen Sie dabei ruhig weiter.
Wenn Sie bei zehn angekommen sind, lösen Sie beim Ausatmen die Anspannung
Nehmen Sie die Entspannung für ca. eine Minute bewusst war.
Lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit auf Ihre linke Hand und Unterarm. Machen Sie eine Faust,
zählen sie bis zehn und atmen Sie dabei ruhig weiter.
Wenn Sie bei zehn angekommen sind, lösen Sie beim Ausatmen die Anspannung
Nehmen Sie die Entspannung für ca. eine Minute bewusst war.
Lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit auf Ihren linken Oberarm und spannen Sie die Muskeln
dort an, zählen sie bis zehn und atmen Sie dabei ruhig weiter.
Wenn Sie bei zehn angekommen sind, lösen Sie beim Ausatmen die Anspannung
Nehmen Sie die Entspannung für ca. eine Minute bewusst war.
Fahren Sie nach genau diesem Schema für folgende Muskelgruppen fort:
Stirn – Stirn runzeln
Augen – Augen zukneifen
72 Kapitel 6 · Traumabewältigung und professionelle Angebote
6 Neben den beschriebenen Strategien gibt es noch viele, viele weitere, den Autoren vielleicht
sogar noch unbekannte Strategien zur Reduktion der Grundanspannung und der Übererregung.
Zudem sollte auch hier das Prinzip Achtsamkeit mit den Achtsamkeitsübungen bedacht
werden, was ebenso zu einer Reduktion des Grundanspannungsniveaus führt.
6.1.4 Wenn einem die Hälfte des Tages fehlt! – Umgang mit
Dissoziationen
z Trigger kennen
Dissoziationen werden sehr häufig durch bestimmte Reize (Trigger) ausgelöst. Diese Trigger
können unterschiedlichste Reize von außen oder im Inneren der Betroffenen sein, ein Geräusch,
ein Geruch, oder auch ein Gedanke oder ein bestimmtes Körpererleben. Diese Trigger sind bei
jeder Betroffenen/jedem Betroffenen häufig sehr typisch. Deshalb sollte daran gearbeitet werden,
diese Trigger zu identifizieren, sie zu benennen und zu erinnern.
Wichtig ist hier auch, zu erwähnen, dass nicht alles, was in einem Individuum Stress auslöst, ein
Trigger ist. Jeder Mensch ist tagtäglich Belastungen und Reizen ausgesetzt, die in ihm Stress auslö-
sen und als unangenehm erlebt werden. Reize, die im Menschen Stress auslösen, sind „Stressoren“.
6.1 · Was kann ich selbst tun – Strategien zur „selbsttherapeutischen“ Hilfe
73 6
Trigger sind jedoch Reize, die im Individuum ein Gefühl von massiver Überforderung aus-
lösen und er oder sie deshalb den „Not-Knopf “ Dissoziation drückt.
Jeder Trigger ist ein Stressor, aber nicht jeder Stressor ist ein Trigger.
Dies sollte bei der Erarbeitung der Trigger bedacht werden, da es sonst zu einer unendlich
langen Liste an Reizen kommt, die alle Stressoren sind, aber nur einige davon wirklich Trigger.
z Dissoziationskette
Betroffene von Dissoziationen erleben das Eintreten von Dissoziationen zunächst als plötz-
lich und „aus heiterem Himmel“ kommend. Dissoziationen beginnen aber nicht von einem
auf den anderen Moment. Meist durchlaufen die Betroffenen eine für sie sehr typische Abfolge
von Vorboten. Diese Abfolge wird Dissoziationskette genannt. Es sollte an dieser Dissoziations-
kette gearbeitet werden, so dass immer klarer und offensichtlicher wird, wie es zur Dissozia-
tion kommt.
Zur Verbesserung des Verständnisses der Dissoziationskette bietet es sich an, jede Dissozia-
tion genau zu analysieren. Dazu kann nach folgendem Schema vorgegangen werden:
55 Bevor mit der Analyse begonnen wird, sollten die Betroffenen nach einer Dissoziation erst
wieder voll und ganz im Hier und Jetzt sein und sich ausreichend stabilisiert haben.
55 Dann sollten folgende Fragen beantwortet werden:
44Was ist das Letzte, woran Sie sich vor der Dissoziation erinnern? (In welcher Situation
waren Sie? Was taten Sie? Wer war noch da? Geräusche? Gerüche? Gespräche? Gefühle?
Gedanken? Körpererleben? …)
44Was ist das Letzte, woran Sie sich davor erinnern?
44Was ist das Letzte, woran Sie sich da davor erinnern?
44usw.
Das, woran sich die Betroffenen erinnern, sollte notiert werden. Zudem sollten sich die Betrof-
fenen vornehmen, bei der nächsten Dissoziation genau darauf zu achten, das wahrzunehmen,
was sie in der letzten Dissoziationsanalyse erarbeitet haben.
Nach der nächsten Dissoziation wird wieder nach obigen Punkten eine Analyse durchgeführt.
Meist erweitert sich die Kette, da sich bei jeder Dissoziationsanalyse neue Erkenntnisse ergeben.
Durch diese Arbeit wächst die Dissoziationskette sukzessive.
Sinn dieser Dissoziationskette ist es, dass die Betroffenen schon sehr früh erkennen, dass
es Anzeichen für eine Dissoziation gibt. Erkennen sie dies, ist ein frühzeitiges antidissoziatives
Vorgehen möglich. Je früher eingegriffen werden kann, umso besser sind die Chancen, dass es
zu keiner Dissoziation kommt.
z Anti-dissoziative Strategien
In der Arbeit gegen Dissoziationen gibt es sehr viele unterschiedliche Strategien.
Eine davon sind Skills.
Skills sind Sinnesreize, Strategien oder Techniken, die dabei helfen, dass die Anspannung
absinkt und das man besser im Hier und Jetzt bleibt, also nicht dissoziiert. Ursprünglich wurden
Skills von Marsha M. Linehan in dem von ihr entwickelten DBT-Therapieprogramm für Betrof-
fene einer Borderline-Störung, beschrieben und zusammengefasst.
74 Kapitel 6 · Traumabewältigung und professionelle Angebote
Dissoziationen können auch durch eine bewusste Gestaltung des alltäglichen Lebens beeinflusst
werden. Hierzu sind folgende Punkte wichtig:
55 ausreichend Flüssigkeit trinken (mindestens 1,5 Liter pro Tag); es gibt einen direkten
Zusammenhang zwischen Dissoziation und geringer Trinkmenge
55 sich gut und ausreichend ernähren
55 keine Drogen konsumieren
55 auf regelmäßigen und ausreichenden Schlaf achten
55 sich ausreichend bewegen
Häufig stellt sich auch die Frage, wie Kollegen, Angehörige, Freunde und Familie mit Dissoziatio-
nen umgehen sollten. Erstens ist es wichtig, dass diese Menschen genügend Information erhalten,
dass sie verstehen können, was da passiert. Zudem sollten sie verstehen, dass eine Dissoziation
keine gefährliche Situation ist.
Im Umgang mit dissoziierten Personen kann man folgende Tipps geben:
55 den Betroffenen ansprechen, aber nicht anfassen
55 Ruhe ausstrahlen
55 dem Betroffenen sagen, wo er ist und wer Sie sind
55 den Betroffenen dazu auffordern ins Hier und Jetzt zu kommen
55 vorsichtig in die Hände klatschen
55 5-4-3-2-1-Übung: Der Betroffene soll zunächst 5 blaue, dann 4 rote, dann 3 grüne,
dann 2 schwarze, dann 1 gelben Gegenstand im Raum benennen
55 wenn der Betroffene schon wieder etwas im Hier und Jetzt ist, zum Anwenden der Skills
motivieren
55 Humor! Humor aktiviert Gehirnregionen, welche für die Mentalisierung zuständig sind
und reorientiert daher sehr gut.
Traumatische Erlebnisse hinterlassen bei den Betroffenen häufig verzerrte Gedanken über das
Trauma und sich selbst, vor allem in Bezug auf ihr Verhalten in der traumatischen Situation. Diese
6.1 · Was kann ich selbst tun – Strategien zur „selbsttherapeutischen“ Hilfe
75 6
Gedanken führen wiederrum zu verzerrten und dysfunktionalen Grundannahmen über sich, die
Welt und die anderen Menschen. Zudem steht am Ende dieser Gedanken häufig, dass die Betrof-
fenen sich eine Schuld zuweisen. In der Verhaltenstherapie wird ganz gezielt an der Identifikation,
der Benennung, der Analyse und Korrektur solcher Kognitionen gearbeitet.
Diese, für Betroffenen einer PTBS typischen kognitiven Fallen sind (nach Kubany 1997):
55 Die „Bauchgefühl“-Falle:
Das „ungute Bauchgefühl“, welches vor der traumatischen Situation erlebt wurde, wird
retrospektiv als Beweis gesehen, dass man es hätte kommen sehen müssen. Die vielen
tausend Male, in denen man ein solches Gefühl hatte, und dann nichts passiert ist, werden
nicht in die Überlegungen mit einbezogen.
Seien Sie der rationale Manager: Was bringt es überhaupt, zurückzublicken? Können
Sie Geschehens ändern? Nein. Blicken Sie nach vorne und optimieren Sie heutige und
zukünftige Handlungen. Niemand wird je erfahren, was gewesen wäre, hätten Sie auf Ihr
Bauchgefühl gehört und es wäre eine veränderte Handlung erfolgt. Denn es ist eben auch
nur ein Bauchgefühl und keine objektiver Beweis.
55 Die Wissens-Falle:
In der retrospektiven Beurteilung der traumatischen Situation schreiben sich der Betrof-
fenen zu, dass sie hätte wissen müssen, was passieren würde, weil es Anzeichen dafür gab,
ohne dass dies zutrifft.
Es ist unmöglich, alles zu wissen und vorherzusehen, was geschehen wird. Rückblickende
Beurteilungen beinhalten häufig, dass Anzeichen gesehen werden, die es in der Situation
selbst aber gar nicht gab. Selbst der beste Manager muss sich eingestehen, dass er nicht
immer wissen kann, was geschehen wird.
55 Die Verhinderungs-Falle:
Die Betroffenen schreiben sich zu, sie hätten das Geschehene verhindern können, ohne
dass dies objektiv zutrifft.
Egal wie viel öffentlicher Einfluss oder Macht Ihnen zur Verfügung stehen, egal wie viel
Erfahrung Sie gesammelt haben, manche Dinge geschehen einfach. Und Sie haben keinen
Einfluss darauf, können diese nicht verhindern. Egal wie knapp es vielleicht gewesen war
oder wie stark oder schwach Sie womöglich waren. Niemand kann wissen, ob Sie wirklich
überhaupt eine Chance gehabt hätten, einzugreifen.
55 Die Verursachungs-Falle:
Wäre das Geschehene auch objektiv irgendwie verhinderbar gewesen? Dieser Gedanke
beinhaltet die Tatsache, dass die Betroffenen dies nicht taten. Es bedeutet nicht, dass sie das
Geschehene auch verursacht haben.
Selbst wenn es wirklich eine Möglichkeit gegeben hätte, das Traumatische zu verhindern,
heißt das nicht, dass es durch den Betroffenen hätte verhindert werden können.
55 Die Schuld-Falle:
In manchen Situationen hat eine Person eine Verantwortung für etwas und muss im
Rahmen dessen Entscheidungen treffen. Dabei kann es immer vorkommen, dass bei einer
Entscheidung etwas Traumatisches passiert. Die Verantwortung für eine Situation zu
haben, bedeutet nicht, dass man auch daran schuld ist.
Insbesondere in Führungspositionen tragen Sie die Last der Verantwortung. In den
meisten Fällen entscheiden Sie objektiv betrachtet richtig. Aber jeder, der Verantwortung
trägt, kann auch falsch entscheiden oder muss Entscheidungen treffen, deren Auswir-
kungen zum Zeitpunkt der Entscheidung noch unabsehbar sind oder gar in Teilen Leid
verursachen. Es wäre eine Verletzung Ihrer Verantwortung, nicht zu entscheiden. Sie
haben entschieden und es hat womöglich zu Leid geführt. Dadurch wird das Geschehene
nicht automatisch zu Ihrer Schuld.
76 Kapitel 6 · Traumabewältigung und professionelle Angebote
55 Die Monokausalitäts-Falle:
Die traumatische Situation hatte, wie jede Situation im Leben, mehrere Ursachen. Die
Betroffenen isolieren rückblickend jedoch eine Ursache. Eine monokausale Erklärung ist
dem menschlichen Geist sehr angenehm, weil sie einfach ist, jedoch entspricht sie nicht der
Realität.
Dinge, die geschehen, haben in den seltensten Fällen nur eine Ursache. Gerade als Manager
ist Ihnen das bewusst. Komplexe Zusammenhänge ziehen Folgen nach sich. Einfache
Erklärungsmuster sind immer verdächtig. Fallen Sie nicht selbst darauf herein.
55 Die „keine Chance“-Falle:
Die Betroffenen sehen rückblickend nicht, dass alle Entscheidungsoptionen, die in der
traumatischen Situation bestanden, negative Aspekte hatten. Manchmal ist nur eine
Entscheidung für die am wenigsten schlimme Option möglich.
Gerade in Führungspositionen ist es Ihre Aufgabe, zu entscheiden. Manchmal gibt es
6 keine objektiv als gut zu betrachtende Entscheidung, da jede Option negative Folgen
nach sich zieht. Sich dann aber trotzdem zu entscheiden und die am wenigsten schlechte
Entscheidung treffen zu können, ist eine Stärke.
55 Die „Kirschen in Nachbars Garten“-Falle:
In der traumatischen Situation haben die Betroffenen Entscheidungen getroffen. Vielleicht
hätten sie auch andere treffen können. Retrospektiv werden die nicht getroffenen Entschei-
dungen als jene gesehen, welche das Trauma hätten verhindern können, ohne dass dies zutrifft.
55 Die Intentions-Falle:
Die Betroffenen urteilen über ihr Handeln vor und in der traumatischen Situation nicht
vom Standpunkt der eigentlichen Handlungsintention aus, sondern von dem des Ergeb-
nisses. Sie fragen also nicht, „was wollte ich bewirken?“, sondern „was habe ich bewirkt?“
und setzen dies dann gleich.
Im Nachhinein ist man immer schlauer. Eine „abgedroschene Phrase“, doch inhaltlich
ist sie korrekt. Sie können nicht nach einem Ereignis die Informationen, die Ihnen dann
vorliegen, Ihrer Bewertung des Geschehenen zugrunde legen. Es geht nicht darum, was
tatsächlich geschehen ist, sondern was vor dem Ereignis Stand der Dinge war und was Sie
womöglich getan haben, um welches Ziel zu erreichen. Dies lässt sich mit dem Wissens-
stand danach nicht uminterpretieren. Ihre eigentliche Intention zum Zeitpunkt der
getroffenen Entscheidung ist relevant.
55 Die „überirdische Kräfte“-Falle:
Betroffene überschätzen rückblickend ihr Wissen (viel Wissen, Einsichten, Beurteilungen
kommen später hinzu und entstehen durch langes überlegen, was in der traumatischen
Situation nicht möglich war) und ihre Handlungsfähigkeiten in der traumatischen
Situation. Zudem werden physiologische Reaktionen des Körpers nicht angenommen.
Außerdem sind traumatische Situationen dadurch charakterisiert, dass sie aus dem
normalen Erfahrungsschatz herausfallen. Sie stellen deshalb für die Betroffenen eine
außergewöhnlich hohe Belastung dar. Diese Belastung wird in der Beurteilung des eigenen
Handelns von Betroffenen häufig nicht mit einbezogen. Wenn ich aus einem brennenden
Haus fliehen muss, werde ich dabei nicht große Abwägungen machen können.
An Sie als Manager oder erfahrene, in der Öffentlichkeit stehende Person, werden
besondere Anforderungen gestellt. Doch machen Sie diese auch nicht übermenschlich.
Zu einem gewissen Grad können Sie besser beurteilen als andere, insbesondere in derart
außergewöhnlichen Stresssituationen. Doch eben nicht so viel mehr, als dass Sie die Kraft
hätten, Übermenschliches zu leisten. Auf viele Dinge hat kein Mensch Einfluss. Egal wie
gut er trainiert oder geschult ist. Manches ist eben einfach nur Zufall, Glück oder Pech.
Machen Sie sich diesen Umstand bewusst. Sie können nicht alles, auch wenn Sie dies
6.1 · Was kann ich selbst tun – Strategien zur „selbsttherapeutischen“ Hilfe
77 6
wollen oder es richtig und gut gewesen wäre. Es ist schlichtweg unmöglich. Sie können nur
das Beste aus dem machen, das möglich ist. Als guter Manager kennen Sie Ihre Möglich-
keiten und Grenzen. Stellen Sie sich nicht im Nachhinein in Frage. Vertrauen Sie auf sich.
Sehen Sie wie immer das Große und Ganze, den Gesamtzusammenhang.
Gedankenkreisen und Grübeln ist ein häufiges Symptom der PTBS und zeigt sich meist in den
Abendstunden, wenn die Betroffenen im Bett liegen und eigentlich schlafen wollen. Im Kopf
werden dann immer und immer wieder dieselben Gedanken durchgegangen. Man malt sich
Horrorszenarien aus, alles wirkt viel schlimmer, größer, bedrohlicher.
Gedankenkreisen und Grübeln hat viel, aber kein Ende und keine Lösung. Das macht das
Grübeln nämlich aus: ein dauerhaftes Nachdenken über Probleme und Situationen, ohne dass
es zu einer Lösung oder Einsicht kommt.
Im Umgang mit dem Grübeln hat sich die Gedankenstopp-Technik bewährt. Hierbei ist es
erst einmal nötig, dass die von Grübeln Betroffenen in der Situation, in der sie grübeln, diese
auch erkennen.
Wenn dies erkannt ist, muss eine Entscheidung getroffen werden: Soll nun weiter gegrübelt
werden oder nicht? Entscheidet man sich gegen das Grübeln, sollte dies in Gedanken auch for-
muliert werden. Man kann sich sagen: „Ich höre jetzt auf, zu grübeln!“. Zudem kann man sich
dabei ein Stoppschild vorstellen, welches einem die Entscheidung, mit dem Grübeln aufzuhö-
ren, nochmals bildlich signalisiert.
> Punkt 2 ist also, sich dazu zu entscheiden, nicht mehr zu grübeln.
Der menschliche Geist will aber beschäftigt sein. Aufgrund dessen ist es wichtig, sich nach der
Anti-Grübel-Entscheidung bewusst etwas anderem zuzuwenden, z. B. Lesen, Musik hören, einen
Tee kochen.
> Punkt 3 ist also, sich bewusst einer anderen Tätigkeit als dem Grübeln zuzuwenden.
Während der ersten Male werden die Grübelgedanken nach wenigen Sekunden wieder da sein.
Dann ist es nötig, sich wieder dagegen zu entscheiden und sich etwas anderem zuzuwenden.
> Punkt 4 ist also, sich immer wieder gegen das Grübeln zu entscheiden.
Das Geheimnis einer erfolgreichen Gedankenstopptechnik ist, dass man sich einmal mehr gegen
das Grübeln entschieden hat, als das Grübeln zurückkam.
Ein kleiner Trick ist noch das Grübelbuch. Wenn dieselben Grübelgedanken immer wieder-
kommen, kann man sich ein kleines Heftchen oder ein Blatt nehmen und sich dort aufschreiben,
78 Kapitel 6 · Traumabewältigung und professionelle Angebote
worüber gerade gegrübelt wird. Ist es dann aufgeschrieben, kann bewusst ein Termin am nächs-
ten Tag mit sich selbst vereinbart werden, an dem man für eine bestimmte Zeit (ca. 15 Minuten)
über dieses Thema nachdenkt oder darüber grübelt. Durch das Aufschreiben und Auf-einen-
anderen-Termin-Verschieben gelingt das Lösen von diesen Gedanken häufig besser.
Ängste spielen im Leben von Menschen mit einer PTBS eine wichtige Rolle. Sie bestimmten
häufig große Teile des Lebens. Zudem tragen die Ängste zum Vermeidungsverhalten bei. Auf-
grund dessen kann man mit den Ängsten ähnlich umgehen wie mit dem Vermeidungsverhalten.
Ein mögliches Vorgehen könnte wie folgt aussehen:
6
Erstellung einer Übersicht über das, was Angst macht
–– Was macht Angst? (Situationen? Orte? Menschen? Gedanken? Gefühle?)
–– Seit wann macht das Angst? Hat sich die Angst seitdem verändert?
–– Wann kommt die Angst?
–– Wie wird die Angst erlebt?
Erstellung einer Angst-Hierarchie
Erstellung eines Plans mit Zwischenschritten für die Exposition mit den Ängsten
Rückschläge einplanen
In den einzelnen Situationen, in denen man Angst erlebt, sollte man mit dieser Angst nach
dem Prinzip der „3 F“ vorgehen.
Die 3-F´s zur Vermeidungsreduktion und Angstbewältigung (Matten und Pausch 2017):
Focus it! – Fokussieren Sie die Angst.
Hierbei geht es darum, sich klar zu werden, dass bestimmte Dinge Angst machen. Es
geht um das Verstehen dessen, was diese Angst ausmacht.
Face it! – Nehmen Sie die Angst wahr.
Wenn Sie verstanden haben, wo die Angst liegt, geht es darum, sich in die Situation
zu begeben. Es geht darum, nicht zu vermeiden. Dadurch wird unweigerlich die
Anspannung ansteigen und die Angst größer werden. Nehmen Sie dies bewusst wahr.
Lenken Sie sich nicht ab. Diese Anspannung und die Angst werden nach einigen
Minuten, spätestens nach ca. 30 Minuten, von selbst wieder abfallen. Dieser Abfall ist
nämlich biologisch begründet. Nehmen sie diesen Abfall auch bewusst wahr. Dadurch
lernt Ihr Gehirn, dass nichts wirklich Schlimmes passiert.
Fade it! – Lassen Sie die Angst los.
Jedes Mal, wenn Sie eine Situation, die Sie eigentlich vermeiden wollten, ausgehalten
haben, erlebt haben, dass die Anspannung und die Angst abfallen, lernt Ihr Gehirn das
wieder neu. Mittel- und langfristig wird dies dazu führen, dass die Anspannungs- und
Angstspitzen immer kleiner und flacher werden. Letztendlich wird die Situation, die Sie
früher vermieden haben, vielleicht nur noch ein leichtes Unbehagen in Ihnen auslösen.
6.1 · Was kann ich selbst tun – Strategien zur „selbsttherapeutischen“ Hilfe
79 6
Niemand muss es zulassen, dass Angst oder gar die Angst davor, Angst zu bekommen, sein Leben
bestimmt. Der erste Schritt im Umgang mit der eigenen Angst und den eigenen Angstsympto-
men ist ein gutes Verständnis der Angst und der Situationen, in denen die Angst kommt, sowie
zu erlernen, wie individuell am besten darauf reagiert werden kann. Angst und Trauma sind eng
miteinander verwoben. Eine Angststörung hat manchmal mit traumatischen Erfahrungen oder
einer PTBS zu tun. Eine PTBS steht zumeist in Zusammenhang mit Ängsten. Somit spielt ein
konstruktiver Umgang mit Angst, der erlernt werden kann, eine wesentliche Rolle im richtigen
Umgang mit einer PTBS.
Stellen Sie sich die Frage nach dem „Warum“ und sehen Sie dies als Schlüssel zu einem erfolg-
reichen Start auf dem Weg zur Angstlösung. Verständnis und Erkenntnis helfen sowohl im akuten
Umgang mit Angst, als auch in der nachhaltigen Arbeit daran. Diese können Sie alleine oder mit
Unterstützung von außen machen. Wenn Sie Unterstützung von außen annehmen, holen Sie sich
professionelle Hilfe. Dies kann je nach sozialer oder beruflicher Lage ein persönlicher Coach, ein
Psychiater oder auch eine Psychologin, ein Psychotherapeut oder eine Allgemeinärztin sein. An
dieser Stelle sollten möglichst keine Kompromisse, zumindest nicht qualitativer Natur, gemacht
werden. Vertrauen Sie sich und Ihrem Körper. Und klären Sie immer zeitgleich auch alle mögli-
chen medizinisch körperlichen Ursachen für Ihre Angst und deren Symptome ab. Angst ist eine
Kraft. Nutzen Sie sie als Chance, lassen Sie sich nicht von ihr treiben, sondern bändigen Sie sie
und verlieren Sie dabei das Ziel nicht aus den Augen: Am Ende werden Sie stärker als vorher und
deutlich gewachsen sein. Nüchtern betrachtet haben Sie zumeist sowieso keine andere Chance:
Sie müssen sich mit Ihrer Angst beschäftigen und Lösungen finden. Also können Sie dies auch
gleich, zielgerichtet und effektiv in der Umsetzung angehen.
Niemand kann sagen, dass es einfach ist, mit Angst umzugehen. In der Phase der Angst wirkt
jedes Gerede über Angst und einen wie auch immer gearteten Umgang damit lächerlich und
unrealistisch. Aber es gibt auch Phasen zwischen der Angst. Wichtig ist insbesondere dann ein
möglichst nüchterner rein faktenorientierter realistischer Blick. Selbst wenn das Angstlevel kon-
stant hoch bleibt und die Angst vor der Angst quält: In dieser Zeit kann man gut aktiv werden.
Es bringt nichts, zu vermeiden.
Niemand ist ein Einzelfall. Es gibt sehr viele Betroffene in allen gesellschaftlichen wie sozia-
len Schichten und auf allen beruflichen Ebenen: von der in einer Familie eingebundenen Haus-
frau und Mutter bzw. dem Hausmann und Vater, der oder dem Alleinstehenden, Angestellten
oder Erwerbslosen bis zu Menschen in beruflichen Führungspositionen und in der Öffentlich-
keit stehenden Personen.
Die internationale Schmerzgesellschaft International Association for the Study of Pain (IASP)
definiert Schmerz als „ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit aktueller oder
potenzieller Gewebsschädigung verknüpft ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung
beschrieben wird“.
Schmerz kann als akuter Schmerz auftreten und hat dann meist vor allem körperliche Ursa-
chen. Der Schmerz hat eine deutliche Warnfunktion. Die entsprechende Behandlung ist dann
auch eine körperliche Behandlung.
Um ein Beispiel zu nennen: Ein gebrochener Arm macht Schmerzen und die warnen den
Betroffenen, dass an der Stelle am Arm etwas nicht in Ordnung ist. Die Behandlung dieses
Schmerzes ist eine körperliche, nämlich eine Operation oder ein Gips.
Es kann aber auch sein, dass sich Schmerz chronisch zeigt, also über längere Zeit (länger als 3
Monate) besteht. Häufig ist dann die körperliche Komponente geringer. Die Wahrnehmung und
80 Kapitel 6 · Traumabewältigung und professionelle Angebote
Verarbeitung von Schmerz ist stark an die psychische Befindlichkeit geknüpft. Bei chronischen
Schmerzen werden häufig in den körperlichen Untersuchungen auch keine eindeutigen Ursa-
chen gefunden. Bei chronischen Schmerzen kann die Seele den Körper leiden lassen. Die Psyche
hat kein Organ und lässt deshalb stellvertretend andere Organe für sich leiden.
Jeder Mensch hat eine Schmerzschwelle, ab der er einen Schmerz wahrnimmt. Diese Schwelle
ist davon abhängig, wie stark, ausgeglichen, zufrieden und entspannt er ist. Diese Schwelle
schwankt also nicht nur von Individuum zu Individuum, sondern auch von Moment zu Moment.
Stress, Belastung, Depression, Schlafdefizit usw. führen dazu, dass diese Schwelle sinkt. Dadurch
nehmen die Betroffenen schon geringere Schmerzen wahr, als wenn die Schwelle höher wäre.
Zudem können Schmerzen bei PTBS-Betroffenen Erinnerungsschmerzen, also Intrusio-
nen sein.
Der Umgang mit chronischen Schmerzen ist häufig sehr schwierig und stellt ein Problem dar,
bei dem viele Fachdisziplinen der Medizin zusammenarbeiten müssen.
6 Für die Betroffenen ist es wichtig, den Zusammenhang zwischen Schmerzschwelle und Belas-
tung zu erkennen. Denn an diesem Punkt kann ein Eingreifen stattfinden. Jede Strategie, die
dazu führt, dass der Stress reduziert, die Belastung geringer, das Individuum ausgeglichener
wird, wird dazu führen, dass die Schmerzschwelle ansteigt und somit weniger Schmerzen wahr-
genommen werden.
Darüber hinaus sollte mit Betroffenen von chronischen Schmerzen und PTBS an der Steue-
rung des Aufmerksamkeitsfokus gearbeitet werden. Auch wenn Schmerzen da sind, sollte man
seine Aufmerksamkeit von ihnen weg bewegen. Je weniger man den Schmerz in den Fokus der
Aufmerksamkeit rückt, umso weniger stark wird er wahrgenommen.
Bei der Behandlung von chronischen Schmerzen und einer PTBS ist eine vernünftige Diag-
nostik, Anamnese und Behandlungsplanung, in Zusammenarbeit mit Schmerzspezialisten, nötig.
Unter Umständen ist auch eine reine Behandlung bei Spezialisten für chronische Schmerzen nötig.
6.1.9 Wenn die Nacht zum Tag wird! – Umgang mit Schlafstörungen
Im Schnitt verbringt ein Mensch ein Drittel seines Lebens mit Schlafen. Mit nichts anderem ver-
bringt der Mensch mehr Zeit als mit Träumen. Im Schlaf werden verschiedene Schlafphasen
durchlaufen. Diese Schlafphasen sind auf die gesamte Nacht unterschiedlich verteilt. Der Schlaf
ist für unser Gehirn in Bezug auf das Lernen neuer Dingen sehr wichtig.
Schlaf stellt für unseren Körper und unsere Psyche aber auch eine Gefahr dar, denn dann ist
die Möglichkeit, auf eine potenzielle Lebensgefahr zu reagieren, sehr gering. Deshalb kommt
es bei PTBS-Betroffenen häufig zu Ein- und Durchschlafstörungen. Die Übererregung und die
Angst sind häufig zu groß, um in den Schlaf zu finden. Das Grübeln ist zu mächtig, als dass der
Geist Ruhe finden könnte. Und die Angst vor dem nächsten Alptraum ist zu groß.
Das, was den erholsamen Schlaf unterbindet, sind also viele unterschiedliche Faktoren, auf die
individuell und extra eingegangen werden muss. Dennoch gibt es Grundregeln, wie man seinen
Schlaf verbessern kann. Hierbei fällt häufig der Begriff Schlafhygiene. Damit sind bestimmte Ver-
haltensweisen gemeint, die allgemein dazu beitragen, dass der Schlaf besser wird.
Achten Sie bei Ein- und Durchschlafstörungen deshalb auf diese Punkte:
55 Halten Sie sich an feste Uhrzeiten beim Aufstehen und Ins-Bett-Gehen.
55 Schlafen Sie tagsüber nicht, auch wenn Sie sehr müde sind.
55 Seien Sie nur zum Schlafen im Bett.
55 Gehen Sie nicht hungrig, aber auch nicht übersättigt ins Bett.
55 Achten Sie auf den Konsum von Nikotin, Koffein und Alkohol. Alle 3 Substanzen
verändern den Schlaf deutlich.
6.2 · Ressourcen
81 6
55 Keine körperliche und psychische Überanstrengung ca. 3 Stunden vor dem
Ins-Bett-Gehen.
55 Wenn Sie nicht schlafen können, bleiben Sie nicht länger als 30 Minuten wach im Bett
liegen. Stehen Sie auf, machen Sie noch etwas Beruhigendes und versuchen sie später
erneut, einzuschlafen.
55 Achten Sie darauf, dass Sie sich in Ihrem Schlafzimmer und Bett sicher und geborgen
fühlen.
55 Schaffen Sie sich ein Zu-Bett-Geh-Ritual.
55 Vermeiden Sie Schlafmittel.
6.1.10 Wenn die Sucht einen im Griff hat! – Umgang mit Abhängigkeit
Kommt bei einer PTBS noch eine komorbide Sucht hinzu, ist es wichtig, auch eine genaue Dia-
gnostik der Sucht, inklusive der etwaigen körperlichen Folgeerscheinungen, vorzunehmen. Es
ist abzuklären, welche Sucht vorliegt. Manchmal liegen auch mehrere Süchte vor. Gibt es bereits
eine körperliche Folgeerscheinung, die einer umgehenden medizinischen Versorgung bedarf,
ist diese einzuleiten.
Ist dies nicht nötig, oder abgeschlossen, ist als nächster Schritt eine genaue Behandlungs-
planung nötig. In diesem Rahmen muss geklärt werden, welche der beiden Erkrankungen,
also die PTBS oder die Sucht, Vorrang hat. In den meisten Fällen ist bei einer komorbiden
Sucht zunächst eine körperliche Entzugsbehandlung nötig. Ist diese erfolgreich abgeschlos-
sen, muss geklärt werden, ob eine Entwöhnungsbehandlung umgehend angeschlossen werden
muss oder ob zunächst eine Stabilisierungsphase besser ist. Eine Kombination wäre zwar eine
gute Idee, in Deutschland gibt es hierfür jedoch keine spezialisierten Einrichtungen. Nach
Klärung und Durchführung der Entwöhnung und ausreichender Stabilisierung muss festge-
legt werden, wann eine ausreichende Stabilität für eine Konfrontationsbehandlung gegeben ist.
Während der Konfrontationsbehandlung ist weiterhin auf das Suchtverhalten zu achten.
Unter der Belastung einer Konfrontation kann es dazu kommen, dass die Sucht nach dem Sucht-
mittel wieder stärker wird. Ist dies der Fall, muss dem entgegengewirkt werden und evtl. die Kon-
frontation pausiert werden.
Nach erfolgreichem Abschluss der Konfrontationsbehandlung sollte in der Reorientierungs-
phase die Anbindung an eine Selbsthilfegruppe weiter bestehen.
Sucht ist ein sehr tabuisiertes und stigmatisiertes Thema. Das Eingestehen einer Sucht wird
meist als Schwäche angesehen und erlebt. Deshalb ist es wichtig, immer wieder klar zu machen,
dass die Sucht auch eine Erkrankung ist und gut behandelt werden kann – allerdings nur, wenn
die Betroffenen sich auch in Behandlung begeben.
Deshalb ist für Betroffene Folgendes wichtig:
> Wenn Sie merken, dass Sie von den weiter oben genannten Kriterien einer Sucht einige
erfüllen, seien Sie mutig und holen Sie sich Hilfe. Gehen Sie zu ihrem Hausarzt, einen
Psychiater, einer Suchtberatung, einer Selbsthilfegruppe.
6.2 Ressourcen
Eine PTBS zeichnet sich dadurch aus, dass sich die Betroffenen hilflos, unfähig, defizitär, schwach
erleben. Deshalb ist es wichtig, den Blick auch auf die Ressourcen der jeweiligen Person zu werfen.
82 Kapitel 6 · Traumabewältigung und professionelle Angebote
Ressourcen
Das Wort „Ressourcen“ kommt aus dem Französischen („source“ für „Quelle“). Gemeint sind
damit Stärken, Fähigkeiten, Hilfreiches und Positives an einem Menschen und in seinem
Leben.
Manchmal sind diese Ressourcen, welche jeder Mensch hat, durch die Traumatisierung überla-
gert bzw. verloren gegangen und man muss sich erst wieder auf die Suche danach machen. Um
dies zu erreichen ist eine Ressourcenanalyse sehr hilfreich. Am besten hält man seine Ressour-
cen schriftlich fest, damit jederzeit die Möglichkeit besteht, darauf zurückzugreifen, wenn mal
wieder alles aussichtslos erscheint und man selbst völlig „unfähig“ ist.
Sehen Sie sich das Notierte an und vergegenwärtigen Sie sich, was sie bereits an Schätzen in Ihrem
Leben haben, welche Stärken Sie jetzt bereits haben.
Wann immer es Ihnen nicht gut geht, sehen Sie sich diese Notizen an.
Bevor die Behandlung von Betroffenen mit einer PTBS beginnen kann, ist es unumgänglich,
dass eine fundierte und umfangreiche Diagnostik durchgeführt wird. Es muss, bevor mit der
Behandlung begonnen wird, klar sein, was die eigentlichen Probleme sind, also welche genauen
Diagnosen vorliegen. Zudem ist genau darauf zu achten, welche Komorbiditäten bestehen, denn
diese müssen in eine vernünftige Therapieplanung mit einbezogen werden. Im Rahmen einer
solchen Diagnostikphase ist es sehr häufig für Betroffene auch nötig, bestimmte Diagnose-Fra-
gebögen auszufüllen.
Im zweiten Schritt muss mit den Betroffenen ganz klar und möglichst konkret besprochen
werden, was die individuellen Ziele der Therapie sind. Diese Ziele müssen die Ziele der Betrof-
fenen sein und nicht die eines ambitionierten Therapeuten.
Die Therapieziele sollten SMART formuliert sein. Im Projektmanagement hat sich dieses
Akronym eingebürgert und hilft dabei, Ziele möglichst eindeutig zu definieren.
6.3 · Allgemeine Grundlagen von Traumatherapie
83 6
SMART
Das Wort „SMART“ steht dabei für Specific, Measurable, Accepted, Realistic und Time Bound
(dt. Spezifisch, Messbar, Akzeptiert, Realistisch, Terminiert).
Mit dieser Methode können die Therapieziele so formuliert werden, dass es auch während der
Behandlung zu Erfolgserlebnissen kommt, für Klient/in und Therapeut/in.
Wenn die Diagnose klar ist und die Therapieziele formuliert sind, sollte an ihrem Erreichen
gearbeitet werden.
Was Therapieziele und therapeutische Interventionen angeht, muss zwischen Betroffenen mit
einer „einfachen“ PTBS und den Betroffenen mit einer komplexen PTBS unterschieden werden.
Bei beiden gliedert sich die Behandlung in 3 Teile: zuerst Stabilisierung, dann Konfrontation
und zuletzt Reorientierung.
Menschen mit einer „einfachen“ PTBS bringen häufig eine größere Stabilität und eine bessere
Affektregulation mit in die Therapie, so dass die erste Phase, die Stabilisierungsphase, kürzer
gehalten werden kann als bei einer komplexen PTBS. Bei Betroffenen einer komplexen Trau-
mafolgestörung geht es vorrangig darum, ihre Stabilität zu verbessern oder diese überhaupt erst
einmal herzustellen, und eine Verbesserung der Regulierung von Affekten zu erreichen. Zudem
müssen im Rahmen dieser ersten Phase die Komorbiditäten behandelt werden. Diese Phase der
Behandlung kann von einigen Wochen bis zu einigen Jahren dauern.
Im zweiten Teil der Behandlung, in die man erst eintritt, wenn ausreichend Stabilität und
Affektregulation erreicht ist, geht es um die Traumaexposition bzw. die Traumasynthese. Hierbei
wendet der Betroffene sich, in Begleitung des Therapeuten, nochmals dem Trauma zu. Durch
dieses nochmalige Zuwenden und das Aktivieren des damaligen Erlebens kann es zu einer Inte-
gration dieses Traumanetzwerkes kommen. Die damalige fehlerhafte Abspeicherung kann damit
sozusagen geheilt werden. Im Rahmen der Konfrontationsbehandlung gibt es unterschiedliche
Therapieverfahren, die zur Anwendung kommen können.
Im dritten und letzten Teil der Therapie steht die Neu- oder Reorientierung im Mittel-
punkt. Hierbei geht es um die Planung der Zeit nach der Therapie. Es geht häufig um ganz
konkrete Fragen, aber auch um Fragen nach dem Sinn dessen, was dem Betroffenen wider-
fahren ist.
Frederick Kanfer, ein Psychologieprofessor von der University of Illinois, hat den Ablauf einer
Psychotherapie in 7 Phasen unterteilt (Kanfer et. al 2006):
1. Eingangsphase
2. Aufbau einer Motivation für Veränderung und Auswahl von Veränderungsbereichen
3. Verhaltensanalyse mit Beschreibung des Problems und der Bedingungen für das Aufrecht-
erhalten des Problems
4. Klären und Vereinbaren von Zielen in der Psychotherapie
5. Planung, Auswahl und Durchführung von speziellen Methoden
zur Zielerreichung
6. Beurteilung der therapeutischen Fortschritte
7. Endphase mit Abschluss der Psychotherapie
Bei der Übertragung dieser 7 Phasen auf die 3-phasige Traumatherapie würden die Phasen 1 bis
einschließlich 4 in die Stabilisierungsphase fallen. Die Phasen 5 und 6 finden sowohl in der Stabi-
lisierung- wie auch in der Konfrontations- und Reorientierungsphase statt. Letztlich wird Phase
7 in der Reorientierungsphase stattfinden.
84 Kapitel 6 · Traumabewältigung und professionelle Angebote
In der Traumatherapie findet man sehr häufig ein schulenübergreifendes Verständnis der Störung.
Zudem werden nach Möglichkeit verschiedene hilfreiche Strategien aus unterschiedlichen Thera-
pieschulen zu Anwendung kommen. So wurden von Luise Reddemann ein psychodynamischer
und ein hypnotherapeutischer Ansatz zusammengeführt. Dennoch haben sich in den verschie-
denen Therapierichtungen eigene PTBS-Therapieverfahren etabliert.
In der Kognitiven Verhaltenstherapie haben sich vor allem folgende Verfahren etabliert:
55 prolongierte Exposition nach Foa
55 traumafokussierte kognitive Verhaltenstherapie nach Ehlers und Clark
55 Kognitive Verarbeitungstherapie nach Resick
55 Imagery Rescripting and Reprocessing Therapy (IRRT) nach Smucker
6
Aus dem Bereich der psychodynamischen Psychotherapie (also tiefenpsychologisch-fundierte
Psychotherapie und Psychoanalyse) wurden diese Verfahren entwickelt:
55 Psychodynamisch Imaginative Trauma-Therapie (PITT) nach Reddemann
55 Psychodynamische Traumatherapie nach Horrowitz
Zudem gibt es noch Verfahren, die nicht direkt aus einer Therapieschule heraus, sondern speziell
für die Behandlung einer PTBS entwickelt wurden. Hierzu zählt allen voran das von Francine
Shapiro entwickelte Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR) und die Narrative
Expositions-Therapie (NET).
Die aktuell am besten evaluierten Therapieverfahren, die als die erfolgversprechendsten
gelten, sind die traumadokussierte kognitive Verhaltenstherapie und das EMDR.
Im Folgenden wird kurz auf die traumafokussierte kognitive Verhaltenstherapie und auf die
prolongierte Exposition eingegangen, da diese zwei der wichtigsten und erfolgversprechendsten
Verfahren darstellen. Im Anschluss daran wird noch näher auf Konfrontationsverfahren eingegan-
gen. Im Rahmen dessen werden auch die PITT, das EMDR, die IRRT und die NET kurz besprochen.
Zudem steht im Mittelpunkt, dass die Betroffenen wieder eine Selbstwirksamkeit erleben, sie also
Kontrolle über inneres Erleben und äußeres Verhalten erlangen.
6.4 · Verhaltenstherapeutische, psychodynamische und traumaspezifische Ansätze
85 6
z Prolongierte Exposition nach Foa (Foa 2007)
In diesem Verfahren wird die PTBS wie eine Angststörung betrachtet. Im Folgenden werden kurz
die einzelnen Therapiephasen erwähnt.
55 Erstellung des Therapieplans und Erklärung des Therapieverfahrens
55 Hierarchie der angstbesetzten Situation
55 Exposition mit den Erinnerungen an das Trauma in der Vorstellung mit Beschreibung der
Erinnerung in der Gegenwartsform. Von diesem Teil der Therapie wir eine Audiodatei
erstellt, welche sich die Betroffenen bis zur nächsten Stunde mehrmals anhören sollen.
Hierdurch soll, von Mal zu Mal, ein Abfall der Belastung erlebbar werden
55 Exposition mit gefürchteten Situationen oder Objekten in der Realität
6.4.1 Stabilisierungsphase
Wie bereits oben erwähnt, ist die erste Phase der Traumabehandlung die Stabilisierung. Ziel dieser
Behandlungsphase ist das Erreichen einer ausreichend guten Affektregulation und ausreichen-
den Sicherheit und Stabilität im Leben der Betroffenen. In die Stabilisierungsphase fällt auch die
Behandlung von Komorbiditäten. Unter bestimmten Bedingungen ist es nötig, dass zunächst nur die
Behandlung eine Komorbidität durchgeführt wird, z. B. wenn es nötig ist, bei einer Suchterkrankung
eine Entzugs- und Entwöhnungsbehandlung zu machen. Der genaue Plan der Behandlung, inklu-
sive der etwaigen vorgeschalteten Behandlungen, sollte nach ausführlicher professioneller Beratung
und in Zusammenarbeit mit einer Traumatherapeutin oder einem Traumatherapeuten stattfinden.
Im Rahmen der Stabilisierungsbehandlung kommen viele unterschiedlicher Strategien, Maß-
nahmen und Interventionen zum Einsatz. Im Folgenden werden einige, aus der Sicht der Autoren,
wichtige aufgeführt. Bei der Auswahl der folgenden Punkte war es auch ein Kriterium, ob ein
erster Umsetzungsversuch bereits ohne therapeutische Anleitung möglich ist.
Achtsamkeit
Achtsamkeit ist die Absicht, den gegenwärtigen Augenblick bewusst zu erleben und aus
automatischem oder rein mechanischem Verhalten auszusteigen, um im eigenen Leben
gegenwärtig zu sein, nicht fruchtlos in eine ungewisse Zukunft zu denken oder in einer
unangenehmen Vergangenheit zu kleben. Der gegenwärtige Moment wird weder abgelehnt,
noch idealisiert. Konsequenzen werden zur Kenntnis genommen. Es wird zwischen Nützlichkeit
und Schädlichkeit unterschieden. Man geht mit dem sich ändernden Leben, ohne anzuhaften.
Achtsamkeit ist ein klarer Bewusstseinszustand, der sich ausschließlich im Hier und Jetzt
befindet. Der Gedanke „das Gestern ist vergangen, das Morgen noch nicht da“, soll zum
Gewahrwerden des Moments führen.
In die westliche Psychotherapie wurde diese Form des Gewahrsein im Moment von Jon Kabat-
Zinn, der ein systematisches Programm zu Stressbewältigung durch Achtsamkeit entwickelte,
eingeführt. Später entwickelte die amerikanische Psychologieprofessorin Marsha Linehan
ein Behandlungsmanual für Betroffene einer Borderline-Persönlichkeitsstörung, welches als
86 Kapitel 6 · Traumabewältigung und professionelle Angebote
zentralen Teil das Prinzip der Achtsamkeit enthält. Mittlerweile ist Achtsamkeit in der Behand-
lung von vielen psychischen Störungen ein wichtiger Teil.
Jeder Mensch hat in jeder Situation eine bestimmt Anspannung. Dieses Anspannungsniveau
lässt sich z. B. auf einer Skala von 0 % bis 100 % raten. Hierbei bedeutet 0 %, dass gar keine Anspan-
nung, und 100 %, dass die maximal vorstellbare Anspannung wahrzunehmen ist. Jeder Mensch
kann sein eigenes Anspannungsniveau aktiv beeinflussen. Erster Schritt hierbei ist, sich darüber
klar zu werden, wo man mit seinem Anspannungsniveau liegt, bzw. woran man erkennt, wo auf der
Anspannungsskala von 0 % bis 100 % man sich befindet. Zur Reduktion von Anspannung gibt es
unterschiedliche Möglichkeiten, Entspannungsverfahren, Imaginationsübungen, oder Achtsamkeit.
Ziel der Achtsamkeit ist es, Leiden zu reduzieren und Freude zu steigern, die Kontrolle über
den eigenen Geist zu steigern und die Realität so zu erfahren, wie sie ist.
Es wird zwischen innerer und äußerer Achtsamkeit unterschieden.
Innere Achtsamkeit bedeutet, dass die ganze Aufmerksamkeit einer Person nach innen gerich-
6 tet wird und es darum geht, genau wahrzunehmen, was körperlich, emotional und kognitiv in
einem passiert.
Äußere Achtsamkeit bedeutet dagegen, dass der Fokus der Aufmerksamkeit nach außen
gerichtet wird und man ganz genau mit seinen Sinnen wahrnimmt.
M. Linehan unterteilte in der Achtsamkeit in Was- und Wie-Fertigkeiten:
Zudem beschrieb M. Linehan im Rahmen der Achtsamkeit noch die radikale Akzeptanz und das
wohlwollende Selbst (wise mind).
Radikale Akzeptanz
Diese meint eine innere annehmende Haltung gegenüber äußeren Umständen und
Gefühlen, die sich nicht verändern lassen. Durch diese Haltung wird die Realität weder
abgelehnt, noch bekämpft, weder gedanklich, noch real.
6.4 · Verhaltenstherapeutische, psychodynamische und traumaspezifische Ansätze
87 6
» Radikale Akzeptanz ist der einzige Weg, der aus der Hölle führt – sie bedeutet, den Kampf
gegen die Realität sein zu lassen. Akzeptanz ist der Weg, der unerträgliches Leiden in einen
erträglichen Schmerz verwandelt. Marsha Linehan
Achtsamkeit ist ein Prinzip, welches sich hervorragend dazu eignet, in den Alltag integriert zu
werden. Bereits morgens nach dem Aufstehen kann man bei Zähneputzen ganz bewusst im Hier
und Jetzt sein und dies mit all seinen Sinnen wahrnehmen.
Im Folgenden nun 2 Beispiele für Achtsamkeitsübungen:
Gehmeditation
Widmen Sie beim Gehen ihre volle Aufmerksamkeit dem Prozess des Gehens. Bleiben
Sie zunächst einen Moment still stehen und versuchen Sie, Ihre Fußsohlen und das, was
Sie darüber wahrnehmen, ganz bewusst zu spüren. Nehmen Sie wahr, wie Sie mit dem
Boden unter Ihnen tief verwurzelt sind. Verlagern Sie dazu vielleicht Ihr Gewicht zunächst
etwas auf die Fersen, dann etwas nach vorne auf die Zehen. Achten Sie darauf, dass Ihre
Schultern locker hängen. Atmen Sie dreimal tief ein und aus, um eine etwaige anfängliche
Anspannung loszuwerden. Lassen Sie Ihren Atem dann frei fließen. Machen Sie einen Schritt
nach vorn, heben Sie den Fuß hoch, setzten Sie ihn vor dem Körper mit der Ferse ab und
rollen nach vorne zu den Zehen ab. Spüren Sie jede Wahrnehmung in Ihrem Fuß und an
Ihren Fußsohlen. Nehmen Sie nun den anderen Fuß. Heben Sie ihn wieder an, stellen Sie ihn
mit der Ferse vor Ihren Körper ab und rollen Sie zu den Zehen ab. Wieder nehmen Sie jede
noch so kleine Wahrnehmung wahr.
Führen Sie diese Übung am besten barfuß durch.
wie der Atem in die Lungen eintritt und dann in den Bauchraum hinunterwandert, bis ins
linke Bein, in den linken Fuß, und zu den Zehen des linken Fußes. Ausatmend können Sie
spüren oder sich vorstellen, wie der Atem den ganzen Weg wieder zurückkommt, in den
Fuß, in das Bein, in den Bauchraum hinauf, durch die Brust und durch die Nase wieder
heraus. Setzen Sie dies ein paar Atemzüge hindurch fort, so gut Sie können, atmen Sie
bis in die Zehen hinunter und wieder hinaus. Es kann zunächst schwierig sein, dafür ein
Gefühl zu entwickeln – üben Sie einfach dieses „Hineinatmen“, so gut Sie können und
gehen Sie spielerisch damit um. Wenn Sie dazu bereit sind, lösen Sie beim Ausatmen die
Aufmerksamkeit von Ihren Zehen und richten sie auf die Empfindungen an Ihrer linken
Fußsohle – bringen Sie Ihre behutsame, interessierte Aufmerksamkeit der Fußsohle,
dem Spann, der Ferse entgegen. Experimentieren Sie damit, mit den Empfindungen
„mitzuatmen“ – seien Sie sich des Atems im Hintergrund bewusst, während Sie im
6 Vordergrund die Empfindungen im unteren Fußbereich erforschen. Nun erlauben Sie
Ihrem Bewusstsein, sich auf den Rest des Fußes auszudehnen – auf das Fußgelenk, die
Oberseite des Fußes, und bis hin zu den Knochen und Gelenken. Dann atmen Sie etwas
tiefer ein und richten den Atem auf den ganzen linken Fuß. Und während Sie ausatmend
den Atem loslassen, lassen Sie auch den Fuß vollständig los und erlauben dem Fokus Ihrer
Aufmerksamkeit sich in den unteren Bereich des linken Beins zu bewegen – in die Wade,
das Schienbein, das Knie usw., immer nacheinander. Bringen Sie weiterhin den körperlichen
Empfindungen in jedem Bereich des restlichen Körpers abwechselnd Ihre Aufmerksamkeit
entgegen – hin zum oberen Bereich des linken Beins, zu den rechten Zehen, zum rechten
Fuß, zum rechten Bein, zur Hüftgegend, zum Rücken, zur Bauchgegend, zur Brust, zu
den Fingern, zu den Händen, zu den Armen, zu den Schultern, zum Nacken, zum Kopf
und zum Gesicht. Bringen Sie den gegenwärtigen körperlichen Empfindungen in jedem
Bereich so gut Sie es können dasselbe Niveau der Aufmerksamkeit und des behutsamen
Interesses entgegen. Wenn Ihnen Anspannung oder andere intensive Empfindungen in
einem bestimmten Bereich des Körpers bewusst werden, können Sie in diese „hineinatmen“
– indem Sie das Einatmen behutsam dazu einsetzen, Ihre Aufmerksamkeit direkt auf
diese Empfindungen zu lenken und ausatmend das Gefühl bekommen, sie zu lösen oder
loszulassen. Nachdem Sie auf diese Art den ganzen Körper „abgetastet“ haben, verbringen
Sie ein paar Minuten damit, sich Ihres Körpergefühls als Ganzem bewusst zu werden. Der
Atem fließt dabei frei durch den Körper hinein und hinaus. Wenn Sie merken, dass Sie
schläfrig werden, finden Sie es vielleicht hilfreich, den Kopf mit einem Kissen abzustützen,
die Augen zu öffnen, oder die Übung im Sitzen anstatt im Liegen durchzuführen.
Distanzierungstechniken
Im Rahmen der Traumatherapie, vor allem, wenn es um eine Konfrontationsbehandlung geht,
aber auch im alltäglichen Leben, ist es wichtig, dass Betroffene einer PTBS Verhaltensweisen und
Strategien an die Hand bekommen, mit denen Sie sich von aufdrängendem innerem Material
und deren Auswirkungen auf das Individuum, wie Flashbacks, Dissoziationen, Grübelgedanken,
Schmerzen, distanzieren können.
Hierzu gibt es eine große Anzahl an Strategien und Techniken. Einige davon wurden bereits
weiter oben aufgeführt. Es wir an dieser Stelle noch eine kleine Übersicht gegeben, wohl wissend,
dass es sich hierbei nur um eine kleine Auswahl handeln kann.
6.4 · Verhaltenstherapeutische, psychodynamische und traumaspezifische Ansätze
89 6
6.4.2 Konfrontationsphase
Um in die Phase der Konfrontation einzutreten, ist es notwendig, dass die Betroffenen eine
ausreichende Stabilität erreicht haben. Damit ist gemeint, dass es zu keinem schwerwiegenden
selbstverletzenden Verhalten, Suizidversuchen, Hochrisikoverhalten oder schwerwiegenden
Problemen mit Fremdaggressivität in den letzten vier Monaten kam. Zudem sollte keine Kon-
frontationsbehandlung vorgenommen werden, wenn eine akute Psychose vorliegt. Vorsichtig,
bzw. zurückhaltend, sollte man mit einer Konfrontationsbehandlung auch dann sein, wenn ein
akuter Suchtmittelkonsum vorliegt, oder instabile psychosoziale oder körperliche Situationen
(AWMF-S3-Leitlinien Posttraumatische Belastungsstörung 2001).
In der Konfrontationsphase einer Traumatherapie wenden sich die Betroffenen in therapeuti-
scher Begleitung nochmals den traumatischen Erlebnissen zu. Dies bedeutet, dass die Erinnerungen
an das Geschehene, ebenso wie die Gefühle, Gedanken und Körperreaktionen in der damaligen Situ-
ation und heute bei Betrachtung der Erinnerungen nochmals aktiviert werden. Diese Aktivierung des
Traumanetzwerkes führt dazu, dass es „bearbeitbar“ wird, die fehlerhafte Abspeicherung aufgehoben
wird und aus der Hier-und-Jetzt-Erinnerung eine Dort-und-Damals-Erinnerung wird. Mit Hier-und-
Jetzt-Erinnerung ist gemeint, dass die Betroffenen die Erinnerungen nicht als solche erleben, sondern
das damals Geschehene so „erinnern“, als ob es im Hier und Jetzt nochmals passiert. Durch die Kon-
frontation kann dies in eine Dort-und-Damals-Erinnerung umgewandelt werden. Die Betroffenen
erinnern sich also daran, dass im „Dort und Damals“ dieses oder jenes passiert ist. Das Wiedererleben
wird zu einer Erinnerung. Das Trauma wird dort abgelegt, wo es passiert ist: in der Vergangenheit.
6.4.3 Reorientierungsphase
Nach Abschluss der Konfrontationsbehandlung ist sozusagen die Ursache der PTBS behoben. Die
Intrusionen sind versiegt, die Alpträume an das Trauma nur noch eine Erinnerung. Die Betrof-
fenen spüren, wie wieder Ruhe und Sicherheit in ihr Leben einkehrt.
90 Kapitel 6 · Traumabewältigung und professionelle Angebote
6 6.5 Konfrontationsverfahren
6.5.1 EMDR
EMDR
EMDR ist ein Akronym und steht für Eye Movement Desensitization and Reprocessing, was
man mit „Desensibilisierung und Verarbeitung durch Augenbewegung“ übersetzen kann.
Der wissenschaftliche Beirat für Psychotherapie hat 2006 EMDR als wissenschaftlich begründete
Psychotherapiemethode anerkannt. In den letzten Jahren und Jahrzehnten haben zahlreiche wis-
senschaftliche Studien die Wirksamkeit dieses Therapieverfahrens belegt.
Die Traumaverarbeitung mittels EMDR findet auf 4 Ebenen statt. Diese Ebenen sind:
1. visuelle Ebene
2. kognitive Ebene (Gedanken)
3. emotionale Ebene (Gefühle)
4. Körper und Verhalten
Das Vorgehen im EMDR geschieht nach dem EMDR-Protokoll (Shapiro 2013a), welches 8
Phasen beinhaltet. Teilweise beinhalten diese Phasen allgemeine Behandlungsphasen des
Gesamttherapieplanes.
Die 8 Phasen sind folgende:
1. Anamnese und Behandlungsplanung
Hierunter fallen die Erhebung der genauen Kranken- und Traumavorgeschichte, der
Biografie, sowie Diagnostik, außerdem die Erhebung der Ressourcen.
2. Vorbereitung und Stabilisierung
In dieser Phase wird die Theorie von EMDR erklärt und es wird an einer ausreichenden
Stabilität und Affektregulierung gearbeitet.
3. Bewertung des Traumas
Die zur Konfrontation ausgewählte traumatische Erinnerung wird in Bezug auf die 4
Ebenen erarbeitet. Zunächst wir ein Bild erarbeitet, welches den schlimmsten Moment der
Erinnerung darstellt. Dann werden die Gedanken des Betroffenen in dieser traumatischen
Situation (negative Kognition; z. B. „Ich sterbe jetzt!“) und ein gewünschter Zielgedanke
6.5 · Konfrontationsverfahren
91 6
(positive Kognition; z. B. „Ich habe überlebt!“) erarbeitet. In Bezug auf den Zielgedanken
wird bestimmt, wie stimmig sich dieser für den Betroffenen auf einer Skala von 1 („stimmt
gar nicht“) bis 7 („völlig stimmig“) schon anfühlt (Validity of Cognition, VoC). Des
Weiteren werden die bei Betrachtung der Erinnerung aufkommenden Gefühle benannt
und der aktuelle Grad der Belastung (Subjektive Units of Discomfort, SUD) auf einer Skala
von 0 (keine Belastung) bis 10 (maximal vorstellbare Belastung) festgelegt. Zuletzt werden
noch die Körperempfindungen benannt, welche sich bei Kontakt mit der traumatischen
Erinnerung einstellen, festgehalten.
Durch diese Prozedere der Traumabewertung wird das Traumanetzwerk wieder aktiv und
damit bearbeitbar.
4. Desensibilisierung und Reprozessierung
Die Bearbeitung des Traumanetzwerkes findet unter Einsatz einer bilateralen Stimulation
(meist Augenbewegung) statt. Wenn ein Belastungsgrad (SUD) von 0 erreicht wurde, ist
diese Phase abgeschlossen.
5. Verankerung des Zielgedanken (positive Kognition)
6. Körpertest
Hierbei werden, sofern vorhanden, Reste einer „Körpererinnerung“ bearbeitet.
7. Abschluss
8. Nachevaluation
Mittlerweile ist nicht nur die Wirksamkeit von EMDR bei PTBS, sondern auch bei einer Reihe
anderer Erkrankungen bekannt. Unter anderem werden mit EMDR auch schon Depressionen,
Angst-/Panikstörungen, chronische Schmerzen und Abhängigkeitserkrankungen behandelt.
Die Narrative Expositions-Therapie (NET) wurde von Maggie Schauer, Frank Neuner und Thomas
Elbert an der Universität von Konstanz entwickelt. Sie ist ursprünglich für die Behandlung von
schwer- und mehrfachtraumatisierten Menschen vorgesehen. Die NET wurde als Kurzzeit-The-
rapie konzipiert.
Ziel der Therapie ist es, die traumatische Erinnerung zu einem Teil des funktionierenden
autobiografischen Gedächtnisses werden zu lassen.
Um dies zu erreichen, wird in der Therapiesitzung die individuelle Lebensgeschichte erarbei-
tet. Während dieser Erarbeitung achtet die Therapeutin/der Therapeut auf die sogenannten „Hot-
spots“, also jene Erinnerungen an das Trauma, die noch nicht ausreichend in das autobiografische
Gedächtnis integriert sind. An diesen Punkt wird das Fortschreiten der Erzählung der Betroffenen
verlangsamt und man fokussiert auf den „Hot-spot“. Diese „Hot-spots“ sollen von den Betroffe-
nen möglichst intensiv und in allen Qualitäten (Gedanken, Gefühle, Verhalten, Körpererleben)
erzählt und wiedererlebt werden. Parallel dazu wird der Fokus auf die Gefühle gelegt, die in der
Situation des Erzählens entstehen. Am Ende der Behandlung sollten sich die Gefühle von „Dort
und Damals“ klar von den Gefühlen von Hier und Heute unterscheiden lassen.
Luise Reddemann begann in den 1980er-Jahren damit, aus einem psychodynamischen Grund-
verständnis heraus, die psychodynamisch-imaginative Trauma-Therapie (PITT) zu entwickeln.
Mittlerweile stellt die PITT ein Therapieverfahren dar, welches im deutschsprachigen Raum
92 Kapitel 6 · Traumabewältigung und professionelle Angebote
vielfach bei Betroffenen einer komplexen PTBS zum Einsatz kommt. Die PITT ist kein reines
Therapieverfahren für die Konfrontationsbehandlung, sondern umfasst sämtliche Phasen der
Traumatherapie.
Grundprinzipien der PITT sind folgende:
1. Befreiung der Betroffenen von äußeren Belastungen, z. B. durch einen Klinikaufenthalt
2. Die analytische Abstinenzregel wird modifiziert verstanden, was dazu führt, dass der
Therapeut aktiver in der Beziehungsgestaltung ist
3. Aktivierung von positiven Emotionen
4. Etablierung von Strategien zur Selbstberuhigung
5. Psychoedukation
6. Stärkung von Ressourcen und Würdigung von Abwehrmechanismen
7. Integration von Imagination, Achtsamkeit und kognitiver Umstrukturierung
8. Meidung von Deutung und Konfrontation
6 9. Förderung von Progression
10. Arbeit mit Persönlichkeitsanteilen (sogenannte Ego-States)
Die PITT hat als spezielle Technik die „innere Bühne“. Dieser imaginäre Raum gibt Platz für die
bildhafte Vorstellung von Anteilen, wie z. B. „inneres Kind“. Auf dieser inneren Bühne können
unter therapeutischer Begleitung Interaktionen unter verschiedenen Anteilen stattfinden.
Hierbei ist die „innere Bühne“ als eine Entsprechung zu den internalisierten Objektbeziehun-
gen zu verstehen.
Besonders bekannt wurde die „Innere-Kind-Arbeit“, welche der Arbeit auf der „inneren
Bühne“ sehr ähnlich ist. Dabei wird speziell auf den Ego-State fokussiert, der das verletzte innere
Kind repräsentiert. Mit diesem Anteil wird dann in Kontakt getreten. Man versucht, imaginativ
mit diesem Ego-State zu kommunizieren, sei es verbal oder non-verbal. Darüber hinaus finden
die Gedanken, Gefühle, Körperempfindungen und Bedürfnisse dieses inneren Kindes Platz. Zum
Teil wird dieses Kind auch versorgt oder an einen sicheren Platz gebracht.
z Die Beobachtertechnik
Eine ähnliche Übung (Bildschirmtechnik), wie die Beobachtertechnik, wurde bereits weiter oben
unter „Umgang mit Flashbacks“ erwähnt. Diese Technik wird auch als Konfrontationstechnik in
Kombination mit der PITT verwendet.
Bevor mit dieser Technik eine Konfrontation durchgeführt wird, findet eine ausführliche
Aufklärung über das Verfahren statt. Die Klientin oder der Klient sollen sich an einer real vor-
handenen Wand eine Leinwand oder einen großen Bildschirm vorstellen. Dorthin sollen sie
nun, zum Einüben der Technik, bildhaft eine, als angenehm erlebte Situationen aus ihrem Leben
imaginieren. Wichtig dabei ist, dass eine Beobachterperspektive eingenommen wird. Es wird
das, was dort projiziert wird, zusammen mit einer therapeutischen Begleitung angesehen. Die
Klientin/der Klient soll sich nun vorstellen, dass sie/er eine Fernbedienung für diese Projektion
besitzt. Mit dieser Fernbedienung kann die projizierte Situation nun kontrolliert werden. Das
Bild kann von einem Farbbild in ein Schwarz-Weiß-Bild verändert werden. Das Bild kann ange-
halten, zurück- oder vorgespult werden, es kann ein Standbild erzeugt werden. Der Ton kann
aufgedreht werden oder die Stimmen und Geräusche können verzerrt werden. Zudem soll ein-
geübt werden, dass die Distanz zu diesem Bild oder Film größer oder kleiner gemacht werden
kann. Der Betrachter bestimmt, wie sehr er mit diesem Bild in Kontakt tritt. Letztendlich soll
dann auch eingeübt werden, dass der Bildschirm ausgeschaltet werden kann, bzw. dass vor die
Leinwand ein Vorhang gezogen werden kann. Durch dieses Einüben soll eine Distanzierungs-
möglichkeit geschaffen werden, welche dann, wenn man mit der traumatischen Erinnerung in
Kontakt tritt, nötig ist.
6.6 · Medikation
93 6
Wenn die Beobachtertechnik ausreichend gut eingeübt wurde und alle weiteren Voraus-
setzungen für die Konfrontation gegeben sind und es also genügend Stabilität gibt, kann ein
Bearbeitung des Traumas damit vorgenommen werden. Hierbei wird nun nicht eine subjek-
tiv angenehme Situation projiziert, sondern die traumatische. Ebenso wie bei der angenehmen
Situation, soll eine Beobachterperspektive eingenommen werden. Hierdurch kann der Kontakt
zum Trauma selbstreguliert und portioniert stattfinden. Der Betroffene arbeitet sich mit thera-
peutischer Begleitung durch die traumatische Erinnerung, soll dabei zunehmend Kontrolle über
die Erinnerungen bekommen. Zudem können die auftretenden Emotionen benannt und unter-
schieden werden. Am Ende jeder Konfrontationssitzung sollte eine Phase stattfinden, in der es
um Selbstberuhigung und Selbsttrost geht. Bevor die Stunde beendet wird, sollte genau geklärt
werden, welche Unterstützung jetzt nötig ist und wie diese erlangt werden kann.
6.5.4 IRRT
IRRT
IRRT steht für Imagery Rescripting and Reprocessing Therapy und wurde in den
1990er-Jahren von dem Psychologen Prof. Mervin Smucker zur Behandlung einer PTBS
entwickelt.
6.6 Medikation
Medikamente spielen bei der Behandlung einer PTBS nur eine untergeordnete Rolle. Es gibt nur
sehr wenige Medikamente, welche einen direkten Einfluss auf die PTBS-Kernsymptome habe.
Für die Wirkstoffgruppe der Selektiven-Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI), eigentlich
ein Antidepressivum, ist eine Wirksamkeit auf die PTBS-spezifischen Symptome beschrieben.
94 Kapitel 6 · Traumabewältigung und professionelle Angebote
Aufgrund dessen stellen diese Medikamente auch das Mittel der ersten Wahl dar. Am besten belegt
6 ist die Wirksamkeit von Paroxetin und Sertralin. Eine Zulassung zur Behandlung der PTBS hat in
Deutschland nur das Paroxetin. Weitere Antidepressiva, wie NSRI und trizyklische Antidepressiva,
sollten dann zum Einsatz kommen, wenn eine Behandlung mit einem SSRI nicht ausreichend ist.
Häufig werden, vor allem zur Behandlung der Übererregung Benzodiazepine verschrieben.
Diese angstlösenden Medikamente haben zum einen ein Abhängigkeitspotenzial, können also
bei längerer Einnahme zu einer Sucht führen, zum anderen zeigte sich in Studien, dass die Ein-
nahme, vor allem sehr kurz nach dem Trauma, zu einer erhöhten PTBS-Rate führt. Aufgrund
dessen sollte eine Behandlung mit Benzodiazepinen vorsichtig, gut indiziert und nur nach aus-
führlicher Aufklärung stattfinden.
Weitere Medikamente können bei einer zusätzlichen komorbiden Störung zum Einsatz
kommen. So sollte z. B. bei komorbiden Depressionen eine sinnvolle antidepressive Medikation
eingeleitet werden. Die medikamentöse Behandlung sollte in den Händen einer erfahrenen Psy-
chiaterin oder eines erfahrenen Psychiaters liegen.
Übersicht über Medikamente, die im Rahmen der Behandlung einer PTBS zum Einsatz
kommen können:
Literatur
Das soziale Umfeld einer in der Öffentlichkeit stehenden Person, wie etwa eines Managers, Poli-
tikers oder Schauspielers, kann neben direkten beruflichen und privaten Kontakten, wie etwa
Familie und Freunde, unter Umständen auch die gesamte Gesellschaft sein, in der sich der Betrof-
fene bewegt. Somit muss sowohl die Frage, „wie geht die Gesellschaft mit der Thematik psy-
chologisches Trauma um?“, als auch die Frage, „wie steht das enge persönliche Umfeld dazu?“,
gestellt werden. In der Folge wird dann die eigentlich relevante Frage gestellt: „Was bedeutet dieser
Umgang für den Betroffenen denn eigentlich?“.
Eine Definition „der Gesellschaft“ ist freilich kaum möglich, da diese zu vielfältig und unter
Umständen international verschieden ist. Doch gerade bei solchen Fragen und auf diesem Niveau
besteht eine gewisse gemeinsame Sichtweise in Westeuropa und Nordamerika. Diese ist oftmals
wenig reflektiert, man ignoriert tendenziell die Themen Trauma und Angst und steht ihnen eher
ablehnend gegenüber. Im Zweifelsfall wird es einem Betroffenen als Schwäche ausgelegt. Nicht
zufällig stellt es die Autoren vor eine Herausforderung, Partner für ein Vorwort zu dieser Veröf-
fentlichung aus Öffentlichkeit, Politik und Wirtschaft zu finden. Kaum einer wagt sich, sich allge-
mein und schon gar nicht persönlich in einem solchen Zusammenhang öffentlich zu äußern und
7 somit zu positionieren. Denn dies könnte gegebenenfalls negativ gegen denjenigen verwendet
werden und eine solche Angriffsfläche will gar nicht erst geboten werden. Liberalität und Solida-
rität enden also schnell, sobald man direkt oder indirekt betroffen ist, denn dann geht es darum,
theoretische Standpunkte praktisch unter Beweis zu stellen. Die in diesem Buch beschriebene
Sorge, als Betroffener von Trauma oder PTBS bei unbedachter Kommunikation negative Folgen
erwarten zu müssen, ist also nicht unbegründet. Wie ausgeführt darf dies aber nicht dazu führen,
keine professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Wenn also schon die Gesellschaft tenden-
ziell eher problematisch mit dieser Gesamtthematik umgeht, kommt dem direkten Umfeld eine
umso größere Bedeutung zu.
Ob nun Kollege, Freund oder Familie, ob rein aus wirtschaftlichem oder persönlichem Inte-
resse heraus, ein adäquater Umgang mit dieser Thematik ist von großer Wichtigkeit und hat
wesentliche Bedeutung für den Betroffenen. Ob sich die Gesellschaft mit einem Betroffenen
solidarisiert oder ihn ablehnt und negativ bewertet, hat selten mit tatsächlichen Gründen zu tun
und unterliegt vielen teilweise nicht steuerbaren Faktoren. Im Zweifelsfall muss also ein nega-
tiver Druck erwartet werden, der zusätzlich zur vorhandenen Problematik auf den Betroffenen
negativ und erschwerend einwirkt. Dies geschieht unter Umständen völlig unabhängig von tat-
sächlichen Gründen und Zusammenhängen des traumatischen Hintergrundes. Der Betroffene
soll und kann seine Energien nicht für diesen möglichen Kampf gegen die Gesellschaft verwen-
den, das ist eine Frage der sinnvollen Nutzung eigener und somit natürlich begrenzter Ressour-
cen. Im Optimalfall kann dies an erfahrene Pressesprecher oder andere professionelle und erfah-
rene Dienstleister abgegeben werden. Der Fokus des Betroffenen muss bei sich selbst und der
Problemlösung verbleiben. Auch darf sich der Betroffene von diesem möglicherweise negativen
Umgang der Gesellschaft mit der Thematik und den daraus resultierenden Konsequenzen nicht
abschrecken lassen, aktiv zu werden. Und wenn auch nur in sehr geschütztem Rahmen beispiels-
weise in Zusammenarbeit mit einem persönlichen Coach.
Sofern es eingebunden ist, kommt also dem persönlichen Umfeld eines Betroffenen die wich-
tige Aufgabe zu, diesen zu stabilisieren und zu unterstützen, vielleicht auch abschirmend zu
wirken. Jeder Betroffene ist durchaus in der Lage, auch ohne diesen Rückhalt zurechtzukommen
und zu gesunden, doch wirkt dies natürlich positiv und beschleunigend. Von großer Bedeutung
ist es zuerst einmal, ein umfassendes Verständnis der Lage und Zusammenhänge zu bekommen,
wobei darauf geachtet werden muss, wirklich die Belange des Betroffenen und nicht eher seine
eigenen Interessen und Ängste im Fokus zu haben. Ein möglicherweise negativer und für den
Betroffenen somit womöglich zusätzlich belastender Umgang der Öffentlichkeit kann dabei in
Der Umgang des sozialen Umfelds von Betroffenen mit Traumata
97 7
seiner Bedeutung stark relativiert werden. Wobei auch dem Betroffenen selbst eine wesentliche
Rolle zukommt: Es muss nicht jeder Kommentar in sozialen Netzwerken, TV, Presse oder sons-
tiger Öffentlichkeit ernsthaft wahrgenommen und durchdacht werden. Doch selbstverständlich
fällt dies oftmals schwer. Weder komplette Vermeidung von Kommunikation und Interaktion
noch der Anspruch, alles im Griff haben zu können, ist realistisch annehmbar. Auch gibt es selten
ein klares Richtig oder Falsch. Der Betroffene selbst ist eben betroffen und hat sowieso schon
genug andere Sorgen und benötigt seine Energie an ganz anderer Stelle. Ein positiver Umgang des
sozialen Umfeldes eines Betroffenen mit dem Thema hat somit eine ganz wesentliche Bedeutung
für den Betroffenen, der einen sicheren Raum benötigt, um sich bewegen und kommunizieren
zu können. Dies gilt auch für Betroffene, die nicht zwingend darauf angewiesen sind.
99 8
01
02 Krankheitsprävention
und primäre/sekundäre
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04
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07 Traumatisierung
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8.1 Prävention – 100
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8.2 Sekundäre Traumatisierung – 101
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Literatur – 101
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100 Kapitel 8 · Krankheitsprävention und primäre/sekundäre Traumatisierung
8.1 Prävention
Die Prävention von Krankheiten hat als Ziel, den Gesundheitszustand von Menschen zu erhal-
ten oder zu verbessern. Dabei ist die wichtigste Strategie, dass die Auslöser von Krankheiten
reduziert oder sogar behoben werden. Es wird zwischen der primären, sekundären und tertiä-
ren Prävention unterschieden.
Bei der primären Prävention geht es darum, dass bereits die Entstehung von Krankheiten
verhindert wird. Dies kann durch Aufklärung und Information erreicht werden. Hierunter fällt
z. B. die Aufklärung über die Risiken bei Konsum von Alkohol, was dazu führen soll, dass kein
Alkohol konsumiert wird und dadurch keine Alkoholabhängigkeiten auftreten. Ein weiteres Bei-
spiel wären die Aufklärungsmaßnahmen zum Nikotinkonsum.
Im Rahmen der PTBS sind dies primäre Präventionsmaßnahmen, welche auf eine potenzielle
traumatische Erfahrung vorbereiten.
Im ersten Schritt geht es darum, Personengruppen zu identifizieren, bei denen die Gefahr,
einer traumatischen Situation ausgesetzt zu sein, besonders hoch ist. Derartige Risikogruppen
sind z. B. Mitarbeiter/innnen der Polizei, der Bundeswehr oder des Rettungsdienstes. Diese Perso-
nengruppen sollten über professionelle und strukturierte Maßnahmen vor einer PTBS geschützt
8 werden. Als mögliche Strategien zur primären Prävention einer PTBS sind Folgende zu nennen
(O’Brien 1998; Sorenson 2002):
1. Ausführliches Vorbesprechen der potenziell traumatischen Momente.
2. Die Betroffenen sollten im Vorfeld genau über die mögliche Gefahr eines traumatischen
Momentes informiert sein. Diese Momente sollten mit ihnen durchgesprochen und bereits
im Vorfeld einer kognitiven Bewertung unterzogen werden. Zudem sollte es einen guten
Austausch zwischen erfahrenen und weniger erfahrenen Personen geben.
3. Information und Aufklärung über die Physiologie und Psychologie von traumatischen
Situationen und über die Symptome der PTBS und deren Behandlung.
4. „Trockenübung“ dieser Momente.
5. Situationen, die eine Extrembelastung darstellen und die damit besonders die Gefahr einer
Traumatisierung beinhalten, sollten in Übungssituationen durchgespielt werden, so dass
die Möglichkeit besteht, sich mit solchen Situationen vertraut zu machen, ohne dass ein
Extremstress besteht.
6. Erarbeitung und Einübung der Verhaltensweisen in solchen Momenten.
7. Verhaltensweisen in Situationen mit extremer Belastung sollten immer und immer wieder
eingeübt werden, so dass eine Art Automatisierung entsteht. Hierdurch verfestigt sich ein
Gefühl von Sicherheit.
8. Identifizierung, Benennung, bewusstes Wahrnehmen und Erlernen von Bewältigungs-
strategien (= Copingstrategien) sowie von Strategien zur Anspannungsregulation und
Entspannung.
9. Die bereits vorhandenen Bewältigungs- und Stressregulierungsmechanismen sollten
erkannt, benannt und bewusst eingesetzt werden. Darüber hinaus sollten weitere, noch
nicht vorhandene Copingstrategien und Strategien zur Entspannung erlernt werden.
Im Rahmen der Sekundärprävention ist eine Krankheit, meist im Frühstadium, bereits vorhan-
den und es soll ihr Fortschreiten aufgehalten werden. Dies geschieht durch eine Frühdiagnostik
und eine Frühbehandlung. Brust- und Darmkrebsvorsorgeuntersuchungen sind ein Beispiel für
eine Sekundärprävention.
Unter die Tertiärprävention fallen alle Maßnahmen, die die Schwere oder die Ausweitung
einer Krankheit verringern sollen. Hierunter fällt auch die Rückfallprophylaxe. Ein Beispiel für
eine tertiär-präventive Maßnahme sind Rehabilitationskuren.
Literatur
101 8
8.2 Sekundäre Traumatisierung
Von einer sekundären Traumatisierung spricht man dann, wenn bei einem Menschen Symptome
einer PTBS auftreten, dem eine traumatische Situation von Betroffenen geschildert wurde. Dieser
Mensch selbst hat also nie eine traumatische Situation erlebt, er entwickelt aber eine PTBS, weil
ihm, z. B. als Psychotherapeut, solche Momente erzählt werden. Bis zu einem bestimmten Grad
sind das Auftreten von Symptomen einer PTBS oder PTBS-ähnliche Symptome, nach der Kon-
frontation mit dem Trauma des eigentlich Betroffenen, normale Reaktionen. Betroffene einer
solchen sekundären Traumatisierung sind häufig jene, die berufsbedingt mit Traumaopfern zu
tun haben, z. B. Psychotherapeuten, Polizisten, Seelsorger.
Zur Prävention einer sekundären PTBS empfehlen sich folgende Maßnahmen:
1. Selbstbeobachtung und Selbstverbalisierung
Die emotionalen, kognitiven und körperlichen Reaktionen bei und nach der Arbeit mit
Betroffenen einer PTBS sollten genau beobachtet und auch benannt werden. Es sollte
darauf geachtet werden, ob diese Reaktionen etwas mit den Schilderungen und Reaktionen
des Gegenübers zu tun haben.
Die Fähigkeit, bei der Arbeit mit Betroffenen einer PTBS, zu erkennen, ob die eigene
Reaktion etwas mit dem Gegenüber zu tun hat oder nicht, sollte durch eine gute und
fundierte Selbsterfahrung (z. B. im Rahmen der Psychotherapeutenausbildung) erlangt
werden.
2. Selbstführsorge/Selbstschutz
In der direkten Arbeit mit den PTBS-Betroffenen, als auch danach, ist es von großer
Wichtigkeit, dass auf Selbstfürsorge/-schutz geachtet wird. Es sollte jederzeit eine Distan-
zierung zur Geschichte des Gegenübers möglich sein. Sollte im Rahmen der Arbeit mit
PTBS-Betroffenen das Gefühl entstehen, überfordert zu sein, ist es legitim und nötig,
frühzeitig „Stopp“ zu sagen. Das, was für die PTBS-Betroffenen gilt, muss auch für den
Zuhörer gelten. Hierbei sollte man sich auch immer seiner Funktion als Rollenmodell
bewusst sein. Durch das Stoppsagen können die PTBS-Betroffenen lernen, dass es
vollkommen in Ordnung und sogar gut ist, frühzeitig auf den Selbstschutz und die Selbst-
fürsorge zu achten.
3. Organisation der Arbeit/Supervision/Intervision
Soweit es möglich ist, sollten die Kontakte zu PTBS-Betroffenen so gelegt werden, dass es
davor und danach einen Moment der Ruhe geben kann. Vielleicht sollte auch gezielt eine
kleine Distanzierungs- oder Entspannungsübung durchgeführt werden, wenn der PTBS-
Betroffene wieder gegangen ist.
Zudem sollten regelmäßige Supervisionen und Intervisionen stattfinden. Der Austausch
mit Kolleginnen und Kollegen sowie das erneute Betrachten der Arbeit mit PTBS-Betrof-
fenen durch eine Supervisor bringen Entlastung und Raum für die eigene Person.
4. Freizeitgestaltung
Die Arbeit mit PTBS-Betroffenen kann schön, befriedigend und erfüllend sein, aber sie ist
auch immer belastend und kostet Kraft. Es sollte auf einen bewussten Ausgleich geachtet
werden. Wo sind die eigenen Ressourcen? Wie wird die eigene Resilienz gestärkt?
Literatur
O’Brien, S. L. (Hrsg.). (1998). Traumatic events and mental health. Cambridge: University Press.
Sorenson, S. B. (2002). Preventing traumatic stress: Public health approaches. Journal of Traumatic Stress, 15, 3–7.
103 9
9.2 Literarische Werke mit der Thematik Trauma und PTBS – 106
Traumata, Traumafolgestörungen und auch die PTBS im Speziellen kommen in vielen Filmen
und Büchern vor. Meist wird die Traumafolgestörung, bzw. PTBS, nicht direkt genannt, sondern
nur in der Symptomatik beschrieben. Durch die Erfahrungen des Vietnamkriegs geprägt, ent-
standen insbesondere in den 1970er- und 1980er-Jahren Filme, welche die PTBS zum Thema
hatten. Diese Filme setzen sich mit den individuellen Biografien von Vietnamkriegsveteranen
auseinander. Die Symptome, das Leid, aber auch die Schwierigkeiten bei der Bewältigung des
Alltags nach dem Erleben des Krieges sind die zentralen Themen der Filme. Aber auch schon
vor und nach dem Vietnamkrieg setzten sich Filmemacher, Drehbuchautoren, Schriftsteller und
andere Künstler mit dem Thema Traumatisierung, Traumafolgestörung und PTBS auseinander.
Es folgt nun eine kleine Auswahl an Filmen und literarischen Werken, in denen eine Traumati-
sierung, bzw. eine PTBS, eine wichtige Rolle spielt.
z „Geboren am 4. Juli“
Originaltitel: „Born on the Fourth of July“
Erscheinungsjahr: 1989
Regie: Oliver Stone, Ron Kovic
Drehbuch: Oliver Stone
9 Kamera: Robert Richardson
Schauspieler: Tom Cruise (Ron Kovic)
z „Rambo“
Originaltitel: „First Blood“
Erscheinungsjahr: 1982
Regie: Ted Kotcheff
Drehbuch: Michael Kozoll, William Sackheim, Sylvester Stallone
Kamera: Andrew Laszlo
Schauspieler: Sylvester Stallone (John J. Rambo), Richard Crenna (Col. Samuel Trautman), Brian Dennehy
(Sheriff Will Teasle).
z Copykill
Originaltitel: „Copycat“
Erscheinungsjahr: 1995
Regie: Jon Amiel
Drehbuch: Ann Biderman, David Madsen
Kamera: László Kovács
Schauspieler: Sigourney Weaver (Helen Hudson), Holly Hunter (M. J. Monahan).
z Mystic River
Originaltitel: „Mystic River“
Erscheinungsjahr: 2003
Regie: Clint Eastwood
Drehbuch: Brian Helgeland
Kamera: Tom Stern
Schauspieler: Sean Penn (Jimmy Markum), Tim Robbins (Dave Boyle), Kevin Bacon (Sean Devine), Laurence
Fishburne (Sgt. Whitey Powers).
z „Macbeth“
Originaltitel: „The Tragedy of Macbeth“
Originalsprache: Englisch
Autor: William Shakespeare
Erscheinungsjahr: 1623
02 Zukunftsperspektive, Manage
Business und Alltag
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08
10.1 Was kann ich tun? – 110
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110 Kapitel 10 · Zukunftsperspektive, Manage Business und Alltag
Auch wenn es oftmals aus Sicht der Betroffenen äußerst unwahrscheinlich erscheint: Ja, es ist
möglich, eine PTBS zu überwinden und völlig zu gesunden – egal wie weit fortgeschritten.
Das ist definitiv eine positive Zukunftsperspektive, die vom Betroffenen selbst aus gut nach-
vollziehbaren Gründen oft nicht so leicht gesehen werden kann. Und nein, dies zu erreichen,
ist nicht einfach. In den seltensten Fällen gelingt dies von alleine, weder durch Augenverschlie-
ßen noch Aussitzen. Aktives Handeln, Fokussierung und gezieltes Einsetzen innerer Ressour-
cen ist notwendig.
Business und Alltag können nicht einfach weiterlaufen wie zuvor. Aber umgestellt und auf die
neuen Bedürfnisse angepasst kann man beides gut und auch erfolgreich meistern. Ein einfaches
„Weiter so!“ führt meist zu einer Verschlimmerung der Situation auf allen Ebenen. Eine radikale
Akzeptanz der neuen Situation ist Voraussetzung für eine erfolgreiche Umstrukturierung und
das Legen einer neuen Basis. Ob man nach einer erfolgreichen Bearbeitung und vielleicht sogar
Überwindung eines Traumas oder einer PTBS überhaupt in alte Muster zurückkehren will, ist
eine andere Frage, die sich später stellt.
Gehen Sie zuerst einmal kleine Schritte. Es muss nicht alles sofort entschieden und organisiert
werden. Nehmen Sie an, dass Sie erkrankt sind und Gesundung benötigen. Und dass dies nicht
wie bei einer Erkältung kurzfristig machbar oder vielleicht sogar ignorierbar ist. Organisieren
Sie sich Ihr Umfeld neu und Ihren Bedürfnissen angepasst. Dies zudem so, dass Ihnen persön-
10 liche und zeitliche Freiräume bleiben. Überlegen Sie, ob in Ihrem Fall externe Unterstützung
hilfreich sein kann. Wenn ja: Welche Form kommt für Sie infrage? Wenn Sie dabei Unterstüt-
zung benötigen, holen Sie sich diese. Versuchen Sie, kurzfristige, einfache Lösungen zu vermei-
den und setzen Sie auf Nachhaltigkeit. Das primäre Ziel sollte es sein, völlig gesund zu werden.
Zweitrangig sind Ihre Familie und gegebenenfalls Ihre Karriere. Drittrangig ist Ihr Beruf im
Allgemeinen sowie Ihr soziales Umfeld. Setzen Sie Prioritäten, erstellen Sie Ihren ganz persön-
lichen Notfallplan. Wenn Sie dabei professionelle Unterstützung benötigen, zögern Sie nicht.
Jetzt schaffen Sie Grundlagen. Ohne Gesundheit haben alle anderen Faktoren keine Bedeutung
und können auf nichts aufbauen. Einfach anzunehmen, „es wird schon gehen“, kann schnell
überfordern und die Situation deutlich verschlimmern. Eine objektive Abschätzung der Sach-
lage ist dem Betroffenen zu diesem Zeitpunkt kaum möglich, da zu viele unbekannte Faktoren
hineinspielen und er nicht auf Erfahrungswerte zurückgreifen kann. Dies ist selbst dann der
Fall, wenn der Betroffene es schaffen sollte, eine völlig unabhängige, außenstehende Sicht auf
die Situation einzunehmen. Aber auch dies ist eigentlich kaum möglich. Akzeptieren Sie, was
geschehen ist, und versuchen Sie, zu bestimmen, wo Sie stehen – völlig unabhängig von mög-
lichen Gründe, warum es dazu gekommen ist. Definieren Sie Ihren Status quo mit Blick in die
Zukunft. Wenn Ihnen hierbei Unterstützung als hilfreich erscheint, organisieren Sie sich diese.
Treffen Sie auf diesem Ergebnis basierend Ihre Entscheidungen. Dies ist ein typisches, vertrau-
tes Vorgehen; so würden Sie es auch als Manager in einer Krisensituation machen. Alle Punkte
können rein rational angegangen und erledigt werden. Ein möglicherweise überfordernder
emotionaler Einsatz ist nicht notwendig. Das Ziel sollte es sein, Grundlagen zu schaffen und
Weichen zu stellen, damit Sie einen Weg gehen können, der zu Ihrer Gesundung führen kann.
Alles andere ist zwar unter Umständen ebenfalls wichtig und zu bedenken, aber es kann nur
nachrangig hierzu sein.
10.2 · Das Verstehen als erster Schritt zur Lösung
111 10
10.2 Das Verstehen als erster Schritt zur Lösung
„Verstehen“ – ja, aber was eigentlich? Das Verstehen der neuen Situation? Aber wie ist die eigent-
lich? Und nach welchen Parametern kann diese quantitativ und qualitativ messbar eingeordnet
werden? Oder ist diese Einordnung einfach nur „nach Gefühl“ möglich, quasi eine Schätzung?
Es ist sicherlich eine Mischung aus allem und weder ein rein rationaler, noch ein rein emotio-
naler Ansatz kann ein korrektes Gesamtbild ergeben. Um überhaupt sinnvolle Einschätzungen
vornehmen zu können, ist ein erstes Verständnis des Geschehenen sowie der daraus resultieren-
den Folgen notwendig. Gerade Personen in Management und Öffentlichkeit ist dies – intellek-
tuell gesehen –leichter möglich, doch praktisch betrachtet sehen diese Menschen oft „den Wald
vor lauter Bäumen“ nicht und vertrauen ihren Intuitionen zu wenig. Denn gerade diese sind doch
momentan durcheinandergeraten und somit schwer einschätzbar geworden.
Das Verstehen von Gründen und Zusammenhängen erleichtert den Umgang mit der neuen
Situation. Eine hohes Maß an Fähigkeit zur Introspektion kann an dieser Stelle erleichternd
wirken, ist aber nicht zwingend notwendig. Der Wille, zusammen mit der aktiven Umsetzung ein
möglichst umfassendes Verständnis zu erlangen, ist ausreichend und ein erster wichtiger Schritt.
Auf diesem aufbauend können erste Entscheidungen, wie etwa die Einbindung externer, unter
Umständen professioneller Unterstützung, getroffen werden.
113
Serviceteil
Literaturempfehlungen – 114
Stichwortverzeichnis – 115
Literaturempfehlungen
Butollo, W., Hagl, M. (2003). Trauma, Selbst und Therapie. Kon-
zepte und Kontroversen in der Psychotraumatologie. Bern:
Huber.
Hayes, S. C., Smith, S. (2007). In Abstand zur inneren Wortma-
schine. Ein Selbsthilfe- und Therapiebegleitbuch auf der
Huber, M. (2006). Wege der Traumabehandlung. Trauma und
Traumabehandlung Teil 2 (3. Aufl.). Paderborn: Junfer-
mann.
Huber, M. (2007). Trauma und die Folgen. Trauma und Trauma-
behandlung. Teil 1 (3. Aufl.). Paderborn: Junfermann.
Kabat-Zinn, J. (2009). Gesund durch Meditation. Das große Buch
der Selbstheilung. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Ver-
lag.
Linehan, M. (1996). Dialektisch-Behaviorale Therapie der Bord-
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Maercker, A. (2013). Posttraumatische Belastungsstörungen.
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Matten, S. J., Pausch, M. J. (2017). Angst- uns Panikstbergtungs-
stapie. Stuttgart: Kohlhammer.
Reddemann, L. (2007). Imagination als heilsame Kraft. Zur
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Verfahren (13. Aufl.). München: Klett-Cotta.
Sachsse, U. (Hrsg.) (2004). Traumazentrierte Psychotherapie.
Theorie, Klinik und Praxis. Stuttgart: Schattauer.
Sasse, U. (2004). Traumazentrierte Psychotherapie. Theorie,
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Schmucker, M., Köster, R. (2015). Praxishandbuch IRRT Ima-
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Shapiro, F. (2013a). EMDR ocessing Therapy bei Traumafolg-
estr/43130” esourcenorientierten Verfahren Paderborn:
Junfermann.
van der Hart, O., Nijenhuis, R. S. E., Steele, K., Kierdorf, T, (2008).
Das verfolgte Selbst: Strukturelle Dissoziation und die
Behandlung chronischer Traumatisierung. Paderborn: Jun-
fermann Verlag.
115 A-K
Stichwortverzeichnis
100-minus-7-Übung 63
3-2-1-Übung 62 D G
Daueranspannung 32 Gedankenkreisen 77
A Debriefing 22
–– Phasen 22
Gefahr 14
Gefühl 14
Definition 4 Gegenreiz (Skill) 62
A1-Kriterium 9
Dell 37 Gehmeditation 87
Abhängigkeitserkrankung 46
Denkfalle 56 generalisierte Angststörung 43
–– Komorbidität 48
Depression 44 Geschmacksintrusion 62
Abspalten 19
–– Komorbidität 45 Gesellschaft 96
Achtsamkeit 85
DESNOS 8 Gewaltverbrechen
Agoraphobie 40
Diagnostische Kriterien –– Häufigkeit 10
aktive Kommunikation 57
–– DIS 37 Großhirn 16
akute Belastungsreaktion 7
DIS (dissoziative Grübelbuch 77
akzidentielle Traumata 5
Identitätsstörung) 36 Grübeln 77
Albtraum 32
–– Charakteristika 37
Alkoholabhängigkeit 45
Dissoziation 16–17, 19, 36, 72
American Psychiatric
Association 5
–– Angehörige 74
Dissoziationskette 73
H
Amygdala 31 Heftigkeit 4
dissoziative Identitätsstruktur 39
Angst 65, 78 Herausforderung 15
Distanzierungstechnik 88
Angstbewältigung 67, 78 Hippocampus 17
DSM 5, 9
Angststörung 40 Hochrisikohypothese 46
DSM-5 10
–– generalisierte 43 Hochrisikoverhalten 50
–– Komorbidität 43 Hyperarousal 28, 31–33, 67
Angstzustand 28
ANP (atriales natriuretisches E
Peptid) 20
Anpassungsstörung 8
Ego-State 36
EMDR (Eye Movement
I
Atemübung 68 Desensitization and ICD-10 5, 7
Ausweglosigkeit 4 Reprocessing) 90 –– DIS 37
autogenes Training 70 Emotion 15 –– F43.1 7
Emotionsforschung 14 Imagery Rescripting and
Reprocessing Therapy
B Empfindlichkeitshypothese 46
Entwöhnungsbehandlung 47 (IRRT) 84, 93
Entzugsbehandlung 47 Imaginationsübung 69
Bedrohung innerer sicherer Ort 69
EP (evozierte Potenziale) 20
–– existenzielle 16 intentionale Traumata 5
Erinnerung 28
Behandlungsmöglichkeit 61 Introspektion 111
existenzielle Bedrohung 16
Betäubungsgefühl 20 Intrusion 28–30, 32–33, 61
Extremsituation 16
Betroffene 28 IRRT (Imagery Rescripting and
Bewältigungsmechanismus 20 Reprocessing Therapy) 84, 93
Beziehungstraumatisierung 5
Bildschirmtechnik 92 F
Bildschirmübung 64
Bindungssystem 17
Fallbeispiel 18, 24, 30, 32–34, 39, 43,
45, 48–49, 51
K
Body-Scan- Film 104 Kampf 16–17
Meditation 87 Flash-Back 29, 32 Kernsymptom 8, 29
Broca-Sprachzentrum 17 Flash-Back-Kette 62 kognitive Falle 75
Buch 104 Flucht 16–17 kognitive Verarbeitungstherapie 84
Business 110 Frühintervention 21–22 kognitive Verhaltenstherapie 84
116 Stichwortverzeichnis
L radikale Akzeptanz 86
late-onset-PTBS 21
railway spine syndrome 11
Realitätskontrolle 63
U
Leidensdruck 15 Reorientierung 90 Übererregung 31, 67
Resilienz 23 Übergewicht
Ressource 81 –– Komorbidität 49
M Ressourcendiagramm 82
Risikofaktor 25
Überleben 16
Überlebenden-Syndrom 11
man-made-disaster 5
Manager 56
Mandelkern 31
Medikamente 93
S V
Schlafstörung 31, 80 Vergewaltigung
Schmerz 79 –– Häufigkeit 10
N Schuld 56
Schwäche 54
Vermeidung 65
Vermeidungsverhalten 28, 32–33
NET 91 Schweigegebot 56 –– Reduktion 66
Notfallplan 110 sekundäre Traumatisierung 101
Notfallpsychologie 21 Selbsthilfegruppe 47
Selbstmedikationshypothese 46
Selbstmordgedanke 51
W
P selbstverletzendes Verhalten 50 Was-Fertigkeiten 86
Widerstandsfähigkeit 23
Selbstvertrauen 24
Panikstörung 41 Skill 74 Wie-Fertigkeiten 86
Phobie somatische Erkrankung 49 wise mind 86
–– soziale 41 soziale Phobie 41
–– spezifische 42 soziales Netz 24, 54
PITT (psychodynamisch-imaginative soziales Umfeld 96
Trauma-Therapie) 84, 91 spezifische Phobie 42
Plötzlichkeit 4 Stabilisierung 85
Post Traumatic Stress Disorder 6 Stärke 54
posttraumatische Belastungsstö- Stimmung 15
rung 7–8 Sucht 81
Powernapping 65 Suchttherapeut 47
Prävention 100 Suizidgedanke 50
–– primäre 100 Symptom 28, 54
–– sekundäre 100
–– sekundäre Traumatisierung 101
–– tertiäre 100
Problemlösung 56
T
Prodromi 61 Täterintrojekt 50
Progressive Muskelentspannung 71 Therapieziel 82
prolongierte Exposition 84 traumafokussierte kognitive Verhal-
psychodynamisch-imaginative Trau- tenstherapie 84
ma-Therapie 84, 91 Traumafolgestörung 6
Psychoedukation 22 Traumanetzwerk 18
psychomotorische Überregung 20 traumatische Zange 19
Psychotherapiephasen 83