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Das Bild Europas in der Gesellschaft der Rumänischen Fürstentümer

(1800-1830)

Florea Ioncioaia

Die Vorstellung von Europa ist nicht einfach ein Bild des einen vom anderen. Europa ist nicht
ein fixer Bezugspunkt, definierbar durch seine einfache Erwähnung oder die Assozierung mit
einigen positiven oder negativen Eigenschaften, einigen Physiognomien. Es ist fast ein
Gemeinplatz, daß kein objektives Bild existiert: Die Bilder sind subjektive, oftmals
konjunkturbedingte Vorstellungen. Die imagologische Aussage erscheint als das Resultat
einer kognitiven Bemühung und drückt mitunter das Informations- und
Rationalisierungsniveau einer gegebenen Realität aus, ein anderes Mal aber erscheint uns
dieses Niveau als Erzeugnis der Einbildung. Daher rührt - in jedem imagologischen Komplex
- die Existenz mehrerer Verstehens- und Vorstellungsebenen.1 In den meisten Fällen ist die
einfache, spiegelmäßige Wiedergabe einer Realität praktisch unmöglich, sowohl weil die
betreffenden Bewohner (die Autoren der imagologischen Aussage) nicht vollen Zugang zur
gegebenen Wirklichkeit haben, als auch dank der Tatsache, daß einem solchen Bild oft die
remanente, par exellence deformierende Erinnerung zugrunde liegt, ganz zu schweigen
davon, daß wir manchmal vor einem rein imaginären, der ideologischen Konversion
unterzogenen Bild stehen.
Das Bild, das wir versuchen aufzuzeigen in der vorliegenden Arbeit, erscheint als ein
Komplex von sowohl expliziten, als auch - vor allem - impliziten Vorstellungen, präsent
sowohl als Spiegelreflexionen einer gegebenen Realität, als auch als Anschauungen (Ideen,
Projekte, Träume), die inzidentell oder symbolisch auf das figurierte Objekt verweisen. Es
geht zum einen um eine aktive Vorstellung, als Resultat eines eigenen Vorstellungsakts, zum
anderen um eine passive, der quasi-mimetischen Reproduzierung einer Realität, so wie sie
dem gemeinen Blick erscheint.
Als historiographische Beschäftigung wird der imagologische Versuch mit einigen
spezifischen Problemen konfrontiert. Zuerst zur Geschichtlichkeit der imagologischen
Aussage: Haben die Bilder wirklich eine Biographie? Kann man einen bestimmten Ursprung,
eine bestimmte Entwicklung feststellen, ganz zu schweigen von der gesellschaftlichen
Bedeutung? Dann, im Zusammenhang mit dem Inhalt und seinen Erscheinungsformen: Kann

1
Einige Daten zur Imagologie und Methodologie der Untersuchung kollektiver Vorstellungen siehe bei Klaus
Heitmann: Das Rumänienbild im deutschen Sprachraum. 1775-1918. Köln Wien 1985 Kapitel I (rum.:
Imaginea românilor în spa]iul lingvistic german. Bucure[ti 1995 S.16ff.).
2

man von einem Bild sprechen als von einer artikulierten, relativ einheitlichen Aussage, oder
nur von disparaten Vorstellungen? Ist es ein sich selbst reproduzierender Diskurs, dem eine
innere Dynamik eigen ist, in dem Sinne, daß es eine kausale Beziehung zwischen seinen
diversen Erscheinungsformen gibt, oder ist es ein rein reaktiver, konjunktureller Diskurs?
Unser Unterfangen hat sich selbstverständlich nicht zum Ziel gesetzt, auf all diese Fragen zu
antworten. Es hat desgleichen auch keinen systematischen Charakter: Wir nehmen uns nicht
der Gesamtheit der möglichen Texte und Aussagen an. In der imagologischen Forschung ist
es schwer zu sagen, welches der Ursache und welches die Wirkung ist, wo der Anfang und
wo das Ende eines Bildes oder eines Vorstellungszyklusses ist. Deswegen sind wir zur
Klassifizierung derselben oft gezwungen, externe Bezugspunkte heranzuziehen (meist
politische Ereignisse). Der Zeitausschnitt, den wir hier vorschlagen, das Ende des 18. bis zur
Mitte des vierten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts, stellte trotzdem ein gut individualisiertes
Intervall dar in der Kulturgeschichte der Fürstentümer, als Übergangszeit von der
postmittelalterlichen Kultur zur „liberalen“ Romantik der Achtundvierziger. Diese Grenzen
überschreiten wir allerdings, wenn es die Wirklichkeit fordert, denn oft vermischen sich die
Tendenzen unentwirrbar. Wir haben im Grunde genommen in diesem Sinne mehrere
Diskurse und Zeitebenen, die koexistieren und manchmal einander entgegentreten.
Was die Quellen betrifft, muß gesagt werden, daß Europa in dieser Zeit nicht im Mittelpunkt
einer eigentlichen öffentlichen Auseinandersetzung stand. Deswegen ist es unmöglich, einen
homogenen Korpus von Texten, die explizit Europa als Projektion der kollektiven
Vorstellung in den Fürstentümern zum Thema haben, zu konstituieren. Es fehlen desgleichen
die Wörterbücher, die Lehrbücher, Bücher der wissenschaftlichen Popularisierung, die
Reisebeschreibungen, die einen wahrhaftig kohärente Perspektive zugelassen hätten auf die
kognitive, elementare Dimension jedwelcher imagologischen Aussage. Wir benutzten
deswegen in der vorliegenden Untersuchung vor allem eine Literatur zweiten Grades,
gebildet aus diversen politischen und literarischen Texten, aus Briefen und ideologischen
Manifesten, Aufzeichnungen und Chroniken, Texte, die sich manchmal auf Europa beziehen,
die bestimmte Vorstellungskanons Europa gegenüber instituieren, aber nicht speziell die
Frage Europas behandeln.
Wir beschränkten uns auf die geschriebenen Texte und ignorierten eine gewisse mündliche
Tradition. Es ist daher klar, daß diese Texte die Anschauungen einer dominanten sozialen
Gruppe ausdrücken: jene der schreibenden Gesellschaft. Das resultierte Bild kann nicht
verallgemeinert werden für die gesamte Gesellschaft der Fürstentümer. Trotzdem definiert es
die intellektuelle Richtung der Gesellschaft, und auch wenn es nicht übereinstimmt mit einer
3

kollektiven Anschauung, ist es dasjenige, welches das Ereignis hervorruft und welches eine
tiefere Grammatik der gesellschaftlichen Vorstellung strukturiert. 2
Was nämlich begünstigt oder, im Gegenteil, hindert das Zustandekommen dieses Bildes? Die
Konstituierung einer kollektiven Vorstellung betreffend einen bestimmten kulturellen
Referenten setzt scheinbar zuerst das - unmittelbare oder vermittelte - Kennenlernen
desselben voraus. Oft aber ist dieses mehr eine Wunsch, wenn es nicht gar als die Projektion
einer Ablehnung, als eine Unmöglichkeit des Kennenlernens oder ein Versagen desselben
erscheint. Selten aber bestimmt die wahre Kenntnis die kollektive Vorstellung.
Es ist völlig unwahrscheinlich, heute zu wissen, welches Anfang des 19. Jahrhunderts das
Niveau der Informationen zum europäischen Raum in den Fürstentümern war. Im
allgemeinen weiß man, daß in den gebildeten Kreisen, die ja ziemlich beschränkt waren,
Popularisierungsschriften im Umlauf waren, die zum aufklärerischen Referenten gehörten. In
Abwesenheit aber eines regelmäßigen Unterrichts und eines intellektuellen Marktes
überschritt der Informationsverkehr mit Sicherheit nicht ein elementares Niveau. 3
Man weiß weiterhin, daß den Mitgliedern der politischen Schicht der osmanischen Welt die
Reisen ins Ausland verboten waren; es war dies ein verbot, daß in bestimmten, stark
gemilderten Formen auch nach 1821 bestehen sollte, als das Phanariotenregime verschwand.4
Es gibt desgleichen eine Reihe von kulturell-religiösen Barrieren, vor allem seitens der
konstantinopolitanischen Patriarchie, die eine Gegnerin des voltaireschen „Kosmopolitismus“
und der Ideen der Französischen Revolution war. 5

2
Siehe auch die Bemerkungen zu diesem Thema von Alexandru Du]u: Modele [i imagini în iluminismul sud-
est european. In: Cultura român\ în civiliza]ia european\ modern\. Bucure[ti 1978 S.100.
3
Siehe, für eine bibliographische Perspektive, {tefan Lemny: Românii în secolul XVIII. O bibliografie. I. Ia[i
1988 passim; was das kulturelle Ambiente betrifft, möchten wir außer den hier zitierten Arbeiten Alexandru
Du]us noch verweisen auf Mircea Anghelescu: Preromantismul românesc (pîn\ la 1840). Bucure[ti 1971 S.31-
39, und Paul Cornea: Originile romantismului românesc. Spiritul public, mi[carea ideilor [i literatura între
1780 [i 1840. Bucure[ti 1972 S.35-65 und passim.; sehr nützlich ist auch das Buch Pompiliu Eliade: Influen]a
francez\ asupra spiritului public din România. Originile. (Paris 1898 für die Originalausgabe) Bucure[ti 1982
(die rumänische Ausgabe, die von uns zitiert wird) S.262f.
4
Es ist kein Zufall, daß sehr häufig in den Reformprojekten dieser Zeit die - manchmal eindringliche -
Forderung auftaucht, den freien Personenverkehr, vor allem jenen der politischen Klasse, zu erlauben, so wie
wir es auch in einem moldauischen Projekt aus dem Jahre 1818 finden: „Tout Moldave pourra séjourner ŕ
l’ętranger(...), sans que nous aucun rapport on puisse porter atteinte ŕ ses droits et ŕ ceux de sa famille en
Moldavie“, in Vlad Georgescu: Mémoires et projets de réforme das les Principautes Roumaines. 1769-1830.
Bucarest 1970 S.71; dieselbe Fragestellung erscheint oft auch in der Korrespondenz Grigore Ghicas, dem
ersten bodenständigen Fürsten nach 1821, wie dies aus einem Brief (1826) desselben an Gentz hervorgeht: „la
Porte regarde comme un crime, les relations des princes avec les étrangers...“, in Vlad Georgescu: Din
coresponden]a diplomatic\ a }\rii Române[ti. 1823-1828. Bucure[ti o.J. S.XIII, 115, 155 und 203; die Gefahr
konnte aber auch von Rußland, der Schutz- und oftmals Besatzungsmacht der Fürstentümer, kommen, so wie
dies eine Aufzeichnung im April 1828 zeigt, die den Einmarsch der Russen in die Moldau festhält und die
Verhaftung eines Bojaren erwähnt, da ihn die Russen im Verdacht haben, „Geheimsekretär des Fürsten in
französischer Sprache in seiner Korrespondenz mit Europa, daß er also etwaige Antworten bei sich trage oder
Briefe gegen Rußland“, in Ilie Corfus: Însemn\ri de demult. Ia[i 1975 S.93.
5
Pompiliu Eliade: Influen]a francez\... S.141 u. passim; A. Du]u: Modele [i imagini... S.100.
4

Trotz dieser Restriktionen beginnen die Bojaren aus den Fürstentümern bereits vor Auflösung
des phanariotischen Regimes, nachher dann massiv „Europa“ unvermittelt zu entdecken: als
politische Flüchtlinge, als Studierende oder als Touristen. Das Beispiel Dinicu Golescus ist
das bekannteste, aber er stellt eine Tendenz dar, die schnell eine profunde kulturelle Mode
werden sollte, ein formatives, quasi-obligatorisches Ritual für die Elite der Fürstentümer. 6
Neben dem direkten Kontakt , durch Reisen, befanden sich die Kolportageliteratur und auch
die Presse in steigendem Umlauf in diesen Jahren. 7 Es ist wahr, die Qualität letzterer (oftmals
bestehend aus vulgarisierenden Almanachen) als auch ihre politische Orientierung (dominant
konservativ) scheinen nicht allzu viele Gründe herzugeben, um sie als Quellen einzustufen,
die die Artikulierung einer veritablen Vorstellung von Europa in den Fürstentümern
stimulieren.8 In der Regel zirkulierten die Informationen - für das gewöhnliche „Publikum“ -
als Gerüchte, durch die militärischen Staffetten, durch die fürstlichen oder kirchlichen
Beschlüsse.9 Die Verbreitung geschah also entweder durch Manuskripte, oder dann durch die
haute voix, seltener durch Drucksachen, was dazu führte, daß sie heute kaum zu
rekonstruieren sind. Es muß betont werden, daß Europa die einzig wahre Informationsquelle
war, die einzige Welt, die ein Bild von sich selber in Umlauf brachte, also als ein aktiver
Raum auftrat.
Man kann hier hinzufügen die Handelsbeziehungen, die ein tatsächliches Kennenlernen
Europas ermöglichten und den Wunsch weckten, seine Lebensweise und sein Erfolgsrezept
nachzuahmen, sowie auch, manchmal in großem Maße, denjenigen der Integrierung in das
westliche Modesystem und seinen Warenmarkt. Wir wissen ja, daß Europa bereits seit den
ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ein begehrter Markt für die Bojaren aus den
Fürstentümern war, wie das ersichtlich ist aus den Bittschriften und politischen Projekten, in
denen man die Liberalisierung des Handels mit Europa forderte. 10
Neben all diesem sind die Siebenbürger und die Griechen die wichtigsten Agenten, die die
Herausbildung in den Fürstentümern eines aktiven Erwartungshorizonts, was Europa betrifft,
beeinflußten. Die transilvanischen Intellektuellen aus den Fürstentümern studierten im
Abendland und benützen die Entdeckung der Latinität, um für die Rumänen, denen ein
historischer Adel - anerkannt in einem Europa des historischen Rechts - fehlte, eine

6
Siehe zur Reiseliteratur den rezenten Beitrag von Florin Faifer: Semnele lui Hermes. Memorialistica de c\l\
torie pîn\ la 1900 între real [i imaginar. Bucure[ti 1993.
7
Vergl. Fußn.3.
8
Grigore Ghica schrieb dem russischen Botschafter in Konstantinopel, Ribeaupierre, im Februar 1827: „Les
journaux que je reois sont Le Constitutionell et l’Etoile, en franais, l’Observateur Autrichien et La Gazette
Universelle, en allemand“, in Vlad Georgescu: Din coresponden]a... S.233.
9
Ilie Corfus: Introducere. Zu: Cronica me[te[ugarului Ioan Dobrescu. 1802-1830. Bucure[ti 1966 S.314.
10
Vergl. Vlad Georgescu: Mémoires et projets... passim.
5

ehrenhafte Identität zu behaupten. Europa stellte in ihrer Sicht ein Modell der nationalen
Emanzipation durch Aufklärung dar, aber vor allem eine natürliche historische Gemeinschaft
für die Rumänen, ein politisches Gegengewicht zur fremden Herrschaft. Es sicherte ein neues
identitäres Prinzip: die Romanität, also die Abstammung aus einer großen europäischen
Zivilisation. Dieses Prinzip sollte das Fundament eines messianischen Bewußtseins werden,
was die Rolle und die Berufung der Rumänen in der modernen Zivilisation betrifft. Durch
ihre illustre Herkunft und durch ihre Zahl konnten die Rumänen Anspruch auf ein Statut der
Egalität mit den anderen Völkern Europas erheben. 11
Gleichzeitig war Europa, für die Vertreter der neo-hellenistischen Kultur, die in den
Fürstentümern lebten, ein Raum der Freiheit, der Kultur und der Diaspora und nicht zuletzt
auch eine Stütze für die Befreiung von der osmanischen Herrschaft. Nicht zufällig begann
Europa sich für die Rumänen zu interessieren vor allem zur Zeit Napoleon. 12
Es ist aber gewiß so, daß das Europabild, das sich in den Fürstentümern konstituierte, vom
Europabild, das generell in den gebildeten Kreisen Europas (aber nicht nur da) existierte,
nicht getrennt werden kann. Ende des 18. Jahrhunderts befinden wir uns in vollem
Europazentrismus auf dem ganzen Kontinent, was sich dadurch äußert, daß Europa seine
Überlegenheit den anderen Kontinenten gegenüber behauptete, aber auch durch die
Beschränkung des Europabildes auf den westlichen Teil des Kontinents. Der
Europazentrismus behauptete sich als ein neuer Universalismus. Die europäische Zivilisation
und die weiße Rasse verkörperten das höchste Humanitätsideal. Wie Denis de Rougement
bemerkte, setzte die Aufklärung die Vorstellung von der absoluten Überlegenheit durch, „de
la réligion européenne, de la race blonde et de la langue franaise“.13 Hinzu kam der Impakt
der Französischen Revolution, allerdings ein zweischneidiges Schwert, führte diese doch
gleichermaßen zu negativen Reaktionen und, wie bereits gesehen, zum Mythos Napoleons, als
Figurentyp, der ein pan-europäisches Ideal repräsentierte.
Die Wahrnehmung Europas muß also im Zusammenhang mit der Identitätskrise gesehen
werden, die es in den Fürstentümern in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts gab,
sowie auch mit dem Ideal der Aufklärung als Instrument des Zugangs zu Zivilisation und
Fortschritt.14 Die Apperzeption der Notwendigkeit einer Reformierung der Gesellschaft
11
Vergl. Teodor Racoce: În[tiin]are (1817). In I. Lupa[: Contribu]iuni la istoria ziaristicei ardelene. Sibiu 1926
S.23; für die messianischen Andeutungen der Siebenbürger siehe auch Adrian Marino: Pentru Europa.
Integrarea României. Aspecte ideologice [i culturale. Ia[i 1995 S.168f., sowie auch P. Eliade: Influen]a
francez\... S.227, und für die Haltung Napoleon und der Franz. Rev. gegenüber S.191ff.
12
P. Cornea: Originile romantismului... S.48f.; Adrian Marino: Pentru Europa... S.173f.
13
D. de Rougement: Vingt-huit sičcle d’Europe. La conscience européenne ŕ travers des textes, depuis Hesiod
ŕ nos jours. Paris 1961 S.143f.
14
Zur Wichtigkeit dieser Vorstellung in jener Zeit vergl. Al. Du]u: Modele [i imagini... S.97f.; A. Marino:
Pentru Europa... S.168f. u. passim.
6

wurde assoziert mit dem Auftreten einer Sensibilität des Neuen: das Gefühl, daß das 19.
Jahrhundert, dann die bodenständigen Herrscher eine neue Zeit einleiteten. „Seine Hoheit
ermutigt euch, würdig zu werden für eine neue Epoche“, verlangte Petrache Poenaru den
Schülern des Kollegiums Sf. Sava aus Bukarest, „indem ihr euch bemüht, den Geist dieser
Zeit aufzunehmen, welches ist der Geist der Wissenschaft, der Ruhe, der Menschenliebe, der
Unterordnung gegenüber dem Gesetz und den Herrschenden“.15 Die Emanzipierung, die
Modernisierung wurden instinktiv vorläufig in Zusammenhang mit dem Verlassen des
griechisch-osmanischen kulturellen Kontexts gesehen.
Es kann desgleichen nicht die Notwendigkeit eines Modells, eines Bezugspunkts, wie sie sich
zu jener Zeit bemerkbar machte, negiert werden. Um sich und vor allem nach Europa zu
sehen schien eine Bedingung des Fortschritts. „Ich alleine, ich weiß nicht warum, sowie ich
erwachte, hatte als süßeste Beschäftigung das Lesen der Geschichtsbücher, das Lesen der
Verfassungen und Gesetze anderer Völker, um zu finden die Ursachen der Übel, unter denen
wir uns beugen, und um zu erfahren ihre Heilung“, schrieb im August 1829 in einem Brief
Ionic\ T\utul, einer der bedeutendsten Ideologen jener Zeit. 16 Andererseits finden wir in dieser
Zeit ein Vertrauen nicht nur in die Modelle, sondern auch in die Kraft des Bildes als
pädagogische Quelle, eine Idee, die der aufklärerischen Überzeugung von der Möglichkeit
der unendlichen Modellierung der menschlichen Natur durch Erziehung und Vorbild
entsprang.17
Es liegt außerhalb der Absicht dieser Untersuchung, hier alle Bedeutungskomponenten des
Begriffs „Europa“ sowie seiner Wortfamilie zu diskutieren. Der Kontext ist hier wichtiger als
die lexikalische Vielfalt. Trotzdem sind die semantischen Mutationen ein ausgezeichnetes
Indiz der Art und Weise, wie ein Vorstellungssystem funktioniert. Deshalb auch ist es für
einen Versuch wie den unseren unerläßlich, festzustellen, wann ein Begriff als solcher
auftaucht, in was für einem Kontext und mit welchem Wert, mit welchem Sinn und welchen
kulturellen Bedeutungen er verwendet wird.

15
Es geht um eine Rede, gehalten 1836, zur Eröffnung des Schuljahres, vergl. V. A. Urechia: Istoria [coalelor
de la 1800-1864. Bucure[ti 1892 S.317.
16
Ionic\ T\utu: Scrieri social-politice. Cuvînt înainte, studiu introductiv, note de Emil Vîrtosu. Bucure[ti 1974
S.261; die gleiche Ansicht finden wir auch bei seinem muntenischen Pendant, Dinicu Golescu: „Und dann
werden wir, jeder von uns, die wahre Ehre und Beglückung gewinnen, und das Volk wird in wenigen Jahren
zweifellos auf jenen Stand gelangen, auf dem sich die anderen Völker Europas befinden, sowie auch zu jener
angemessenen Aufklärung wird es gelangen, wenn wir uns ein Beispiel nehmen an anderen Völkern...“, Dinicu
Golescu: Însemnare a c\l\toriei mele. In: Scrieri. Bucure[ti 1990 S.52.
17
„Ach, könnte ich dir doch beschreiben die Ikone dieser unbescholtenen Schweiz,“ schreibt der junge Br\iloiu
seinem Vater, ein hervorragender muntenischer Bojare, im Mai 1828, „Du würdest fühlen, wie in Dir mit
größerer Kraft jenes patriotische Gefühl erwacht, von dem ich weiß, daß es Dir angeboren ist, und das mich
beseelt“, P. Eliade: Histoire de l’esprit public en Roumanie. Tome I (1821-1828). Paris 1905 S.268.
7

In seinem gewöhnlichen, weit verbreiteten Sinn erschien Europa als ein Begriff mit
ungenauer Semantik, der zuerst mimetisch aus dem allgemeinen Sprachgebrauch der Zeit
übernommen wurde, so wie sich dies in den Fürstentümern widerspiegelte; ein mechanisch
reproduzierter Ausdruck, dessen Erwähnung nicht eindeutig auf einen präzisen Referenten
verwies. Es ist deshalb notwendig, mindestens methodologisch, die begriffliche, rein
semantische Ebene einer Vorstellung zu trennen von ihrer imagologischen Expression: ein
Bild entwickelt sich nicht selten unabhängig von seiner denominativen Referenz, wie es auch
Situationen gibt, wenn diese nicht klar auf ein artikuliertes Bild verweist.
Es ist schwer zu sagen, wann genau der Begriff Europa begann, in tatsächlich bedeutsamer
Weise im öffentlichen Diskurs der Fürstentümer verwendet zu werden. In der post-
mittelalterlichen Tradition des 18. Jahrhunderts wurde Europa noch mit der „christlichen
Welt“ assoziert, bzw. entweder mit dem sich der islamischen Welt widersetzenden Block,
oder dann, in pejorativem Sinne, mit der katholisch-protestantischen, gegnerischen Welt. Die
These von der paneuropäischen christlichen Solidarität blieb bestehen im Kern der
verschiedenen ideologischen Aussagen18, sie verlor aber nach und nach an Intensität und
Bedeutung in dem Maße, als das Osmanische Reich nicht mehr eine solche Gefahr darstellte,
als ehedem. Die Berufung auf diese These blieb irgendwie spezifisch für eine verspätete
mittelalterliche Tradition. Der Begriff begann relativ häufig verwendet zu werden in den
außenpolitischen Kommentaren der Chronisten oder in diversen Aussagen ohne einen
bestimmten Wert Ende des 18. Jahrhunderts, als ein Klischee-Ausdruck (Europa
toat\ /ganz .../, întreaga Europ\ /das gesamte.../), der ein gewisses geopolitisches Areal
festlegte und weniger einen kulturellen Raum. Dem fügte sich beginnend mit dem dritten
Jahrzehnt der Ausdruck „Europa luminat\“(„das aufgeklärte...“) hinzu, welcher nicht mehr
bloß auf einen geographischen oder politischen Raum verwies, sondern auch den
symbolischen Sinn eines kulturellen Modells hatte.19
Es ist offensichtlich, daß - zum Unterschied von den anderen Kontinenten und ganz gleich,
auf welchen Aussagetypus wir uns beziehen - das Interesse für Europa in diesen Jahrzehnten
unendlich größer war. Asien erschien bloß selten und dann meist in negativem Sinne, und
Amerika wurde, hin und wieder, erst nach 1821 in bestimmten Texten, aber desgleichen in
Zusammenhang mit Europa, erwähnt. Im allgemeinen zeigte die stetig wachsende Benutzung
der Vokabel, so wie wir es in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts feststellen können,
ein bestehendes Interesse an, unabhängig von Benutzer oder Kontext; paradox aber ist, daß

18
Es geht um Antim Ivireanul, ein hoher orthodoxer Prälat aus Muntenien, mit seinen Sfaturi cre[tine-politice.
Vergl. Al. Du]u: Modele [i imagini... S.157.
19
Adrian Marino: Ilumini[tii români [i „afacerile Europei“. In: Lumea Nr.39 1965 S.25.
8

dies gleichzeitig auch einen Zustand der Unvertrautheit anzeigte, zurückzuführen sowohl auf
die sehr oberflächliche Kenntnis der europäischen Welt, als auch auf ein Gefühl der
Adversität oder wenigstens der Differenz. Trotzdem wurden dem Begriff an und für sich am
häufigsten positive Bedeutungen zugemessen. Andererseits aber schien die Vorstellung von
Europa in den Fürstentümern an einer theoretischen und kulturellen Impräzision zu leiden.
Was jedoch war Europa? Welches war sein Bereich? Wo befanden sich, in Bezug darauf, die
Fürstentümer?
Es gibt in der Art, Europa darzustellen, mehrere intellektuelle und zeitliche Ebenen. Die
Bedeutungen unterschieden sich sowohl chronologisch, als auch von einer typologischen
Textkategorie zur anderen. Aus geographischer Sicht erschien Europa gewöhnlich als ein
vager Raum, fast nie mit klar umrissenen Grenzen; gewöhnlich war es die nicht-osmanische
Welt, die jenseits der Karpaten, also mit Siebenbürgen, begann20, die aber manchmal sowohl
die Türkei als auch Rußland umfaßte. In diesem Zusammenhang und was die Zugehörigkeit
zur europäischen Welt betrifft, während der gesamten hier zur Diskussion stehenden
Zeitspanne, blieb ein ernshaftes Dilemma bestehen, das im Grunde genommen die Redner
definierte. Der geopolitische Aspekt verwebte sich mit den kulturellen Kriterien, während
eine „wissenschaftliche“ Sicht gänzlich fehlte.
Die ersten Versuche, die Grenzen Europas zu ziehen, kennen wir bereits seit dem Ende des
18. Jahrhunderts, vorerst, was den Osten betrifft: „Und dieses Wasser, das Don heißt, teilt
Asien von Europa, so wie bei Konstantinopel der Bosporus: diesseits Konstantinopel mit
Galatha in Europa, jenseits Skutari in Asien“, wie es in einer Aufzeichnung des moldauischen
Hofmarschalls Toader Jora um das Jahr 1786 hieß.21
Um das Jahr 1800 war Naum Râmniceanu wohl einer der ersten, der Europa territorialisierte,
es aus geographischer Sicht definierte und seine Grenzen und seine politisch-staatliche
Zusammensetzung beschrieb.22 Seine Geste, die gewissermaßen einzigartig blieb, vermag
anzudeuten, daß die Präzision fehlte, die mentale Festlegung einer bis dahin quasi-fiktiven
Vorstellung.
Obwohl in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts noch die Vorstellung von Europa als
Block-Bild vorherrschte, fand nach und nach eine Kolonisierung dieser nominellen

20
Siehe hierzu die Briefe einiger muntenischer Bojaren aus den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts, in denen
die Schulen aus Hermannstadt, oftmals bloße private Pensionate, als europäische Schulen bezeichnet wurden.
N. Iorga: Contribu]ii la istoria înv\]\mîntului în ]ar\ [i str\in\tate. 1780-1830. In: AARMSlit t.XXIX 1906 S.45
u. passim.
21
Ilie Corfus: Însemn\ri de demult... S.17.
22
Diesem niederen Kleriker verdanken wir in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die vollständigste
Vision von Europa. Vergl. Cronica inedit\ a protosinghelului Naum Râmniceanu. Partea I-a. Text înso]it de un
studiu introductiv de {tefan Bezdechi. Cluj-Sibiu 1944, vor allem die Kapitel 5-10.
9

Vorstellung mit „lebendigen“ imagistischen Bezugspunkten statt, durch das tiefere


Kennenlernen des Kontinents, sowie auch unter dem Einfluß kultureller und politischer
Konjunkturen. Dies beweist eine Entwicklung des Bildes an und für sich. So gab es Regionen
und Städte, die Europa besser definierten als andere. Wien, aber vor allem Paris, „Europas
Vaterland“, wie es bei Dionisie dem Ekklesiarchen hieß, gehörten voll und ganz, sowohl
kulturell, als auch geographisch oder politisch zur europäischen Welt23; es gab desgleichen
Länder oder Völker, die Europa an und für sich bedeuteten, während anderen selbst das Statut
eines europäischen Landes oder Volkes verwehrt wurde. Die Kriterien waren konjunkturell,
es dominierte aber eine Vision von Europa, das grosso modo mit der Zivilisation identifiziert
wurde.
Europa aber bedeutete nicht nur Geographie oder Zivilisation, sondern auch Politik. Es gab
ein Europa, das weder das große geographische Europa war, noch das Europa der
Zivilisation, beschränkt, wie wir sehen werden, auf das Abendland. Im großen und ganzen
erschien das politische Europa als eine Bühne, auf der einander die bedeutendsten Mächte der
Welt entgegentraten; eine Bühne, auf der oft äußere Kräfte mitwirkten, die dann darin
endeten, daß sie in den Vordergrund der Aufmerksamkeit des Kontinents gelangten. Es war
ein Machtraum, in welchem, um repräsentiert zu sein, das Maß der Teilnahme an den
politisch-diplomatischen Geschäften Europas zählte. So erklärt es sich, daß gewöhnlich
Rußland und die Türkei einbezogen wurden ins europäische Konzert. 24
Meist erschien das politische Europa als eine Gemeinschaft der Souveräne: der Kaiser, der
Könige und, eventuell, der Fürsten. Die napoleonischen Kriege wurden als Konflikte
zwischen den europäischen Führern des Augenblicks gesehen, fast so, als wären es zivile
Konflikte. Dionisie Eclesiarhul übernahm aus einer Bekanntmachung Alexanders II. die Idee,
daß Napoleon „Aufruhr in ganz Europa macht“, indem er sich außerhalb der gängigen
Kanons („ohne das Wissen der Kaiser Europas“) zum Kaiser proklamierte.25 Es muß dabei
bemerkt werden, daß „Europa“ immer dann invoziert wurde, wenn eine allgemeine Gefahr
auftauchte, seien es die Türken, sei es Napoleon, oder dann die Griechen mit ihren
revolutionären Versuchen.26

23
Dionisie Eclesiarhul: Hronograf. 1764-1815. Ed. de Dumitru B\la[a [i Nicolae Stoicescu. Bucure[ti 1981
S.116.
24
Wie dies in einer anonymen muntenischen Bittschrift (etwa. 1820) heißt. Vlad Georgescu: Mémoires et
projets...S.100f., 108 u. passim; vergl. auch Ders.: Din coresponden]a... S.165, 198 u. passim.
25
Dionisie Eclesiarhul: Hronograf... S.89, 95f.
26
Sich an Alexander I. von Rußland wendend, nannten die nach Kronstadt (Bra[ov) emigrierten muntenischen
Bojaren diesen 1821 „der Souverän, den das anerkennungsvolle Europa als seinen Befreier ausgerufen hat“,
Vlad Georgescu: Mémoires et projets... S106; „unserem barmherzigen Beschützer, der in seinen Händen die
Waage der Gerechtigkeit ganz Europas hält“, Emil Vîrtosu: 1821. Date [i fapte noi. Bucure[ti 1932 S.140.
10

In dieser Welt der Mächtigen, war z.B. Griechenland Teil „eines zu geringen Teilchens
Europas“ und konnte sich in diesem Sinne nicht einmal mit den Fürstentümern vergleichen,
wie es in einem Pamphlet Anfang der 20er Jahre hieß. Dies, weil es seine Staatlichkeit
verloren hatte, seinen Namen, seine politischen Rechte.27 Aber häufig blieb die Ambiguität
bestehen, was die geographische oder politische Sicht betraf: Griechenland oder Italien
wurden weiterhin erwähnt, obwohl sie nicht mehr existierten als Staaten. Wenn es keine
„Nationen“ gab, im modernen Sinne des Begriffs, machte sich im Europa der Souveräne eine
neue Macht bemerkbar, die es singularisierte: die öffentliche Meinung. Europa war ein Raum,
in dem die Ereignisse ein Echo hatten; es gab ein moralisches Bewußtsein, eine öffentliches
Gewissen. Diese Bühne der Welt reagierte auf jedes auf ihr oder außerhalb ihrer stattfindende
Ereignis. Neu ist, daß die Vernunft und die Ideen oder moralischen Werte politische Gesten
begründen konnten. Deswegen schien es, diese Welt könne verstanden werden, und ihre
Taten seien vorhersehbar.28 Wie Naum Râmniceanu zeigte, waren, anders als die Griechen,
„die Mächte Europas gänzlich gegen den apostatischen Geist/der Revolution, der
Unordnung/, die dieses Jahrhundert gebar“, da „die aufgeklärten Völker sich bemühen, ihr
Glück durch Wohlstand zu begründen“.29
Trotzdem schloß diese konventionelle, homogenisierende Perspektive das Thema der
Differenz nicht aus, die sich vor allem in den Jahren nach der Revolution Tudor
Vladimirescus bemerkbar machte. Es gab in Europa nicht nur zwei von Religionen und
gegensätzlichen kulturellen Paradigmen getrennte Welten, sondern auch zwei politische
Modelle, die einander widerstritten: das Modell des orientalischen Despotismus, repräsentiert
von der Türkei, die bloß darauf bedacht war, ihre politische Herrschaft über etliche christliche
Völker zu wahren, und das Modell des rationalen Staates, auf das Glück seiner „Untertanen“
bedacht, auf die Moral und die Werte der Zivilisation. Zu diesem Europa, aus welchem die
Türkei ausgeschlossen war, gehörten auch Österreich und die wichtigsten westlichen Mächte.
In einem anti-griechischen Pamphlet wohl aus dem Jahre 1822, stellte Naum Râmniceanu
fest, daß das von Griechen bewohnte Rumelien zum türkischen Europa („Europa Turchiia“)
gehörte, also nicht zum wahren Europa.30 Ionic\ T\utul sah die Moldau als „dem osmanischen
Reiche untertan und umgeben von Provinzen zweier verschiedener europäischer Reiche...“. 31

27
E. Vîrotsu: 1821... S.189.
28
Vergl. die häufigen diesbezüglichen Ausführungen der im dritten Jahrzehnt nach Kronstadt emigrierten
Bojaren. Ebd. S.123 u. passim.
29
Naum Râmniceanu: Coresponden]a Moldoveanului cu Munteanul. Izbucnirea [i urm\rile zaverei din
Valahia. In G.D Iscru (Hrsg.) et alii: Izvoare narative privind revolu]ia din 1821 condus\ de Tudor
Vladimirescu. Craiova 1987 S.67 infra.
30
Ebd. S.55.
31
V. Georgescu: Mémoires et projets... S.108.
11

Dinicu Golescu sprach seinerseits auch von den Christen, „die unglücklicherweise im
türkischen Europa wohnen“, und von der glücklichen Lage, „in der sich die Völker des
anderen Europas befinden“.32 Was die europäischen Modellstaaten betraf, so dominierten
anfangs die Bezugnahmen auf Italien oder Österreich, die entweder auf die gemeinsame
antike lateinische Kultur verwiesen, oder dann auf das Vorbild eines rationalen Staates und
der Zivilisation; im dritten Jahrzehnt folgten die Schweiz, Bayern, aber ganz besonders,
beginnend mit den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts, Frankreich, welches in den Augen der
Gesellschaft der beiden Fürstentümer zum Symbol Europas wurde. Eine neutrale,
zweideutige Stelle wurde vorläufig Rußland eingeräumt. Teilweise gebunden an diese
Wahrnehmung war auch das Bild Europas als ein Ort des Asyls, als Schutzraum, wohin die
Mitglieder der politischen Klasse flüchten konnten, wie es vor allem während der
militärischen Invasionen oder den ziemlich häufigen internen Unruhen in den Fürstentümern
dieser Zeitspanne erschien.33
Bedeutsam ist hier die Karriere des Begriffs Abendland (rum. Apus) bzw. Okzident, wenn
auch noch nicht die Dimensionen der nächsten Jahrzehnte erreicht wurden, als das
Abendland/der Okzident zum absoluten Synonym Europas wurde. Das Abendland bedeutete
in dieser Zeit sowohl das katholische Europa, als auch, vor allem, das außerhalb der
osmanischen Welt befindliche Territorium, eine Welt der Politik, die Bühne der
Konfrontation zwischen den Großmächten. Die Geographie war nicht von Anfang an das
Grundkriterium. Rußland wurde akzeptiert dank seines Einflusses. „Viele nutzbringende
Einrichtungen schuf Kaiser Alexander unter den Königen und Kaisern des Abendlandes, und
alle haben seine Hoheit als den größeren unter sich und sind sich einig, das Reich Rußlands
als das größere zu bezeichnen“, schrieb um das Jahr 1815 Dionisie Eclesiarhul, nach der
Besiegung Napoleons. Derselbe erinnerte daran, daß, „da die Franzosen besiegt und nun
Frieden unter den Kaisern des Abendlandes war, alswie gezeigt, Kaiser Alexander Serbien
nicht den Türken zur Beherrschung / überließ/, ist es doch ein Land mit Christen...“. 34 Das
Abendland war also in dieser Auffassung aus dem zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts das
politische Europa; es schloß die Türken aus, genauso wie auch die kleinen Völker und
Staaten, die nicht teilnahmen am europäischen diplomatischen Spiel.
Die Verwendung des Begriffs Abendland belegte sowohl ein Bewußtsein der Zugehörigkeit
zum geographischen Europa, als auch der Unterscheidung vom profunden Europa. Der
32
Dinicu Golescu: Însemnare a c\l\toriei mele... S.61.
33
Das Thema taucht in einer Bittschrift der muntenischen Bojaren, gerichtet an den Wiener Hof, auf, ist aber
vor allem nach 1821 häufig präsent, obwohl der Bezug auf Europa bloß ein impliziter ist, V. Georgescu:
Mémoires et projets... S.45; vergl auch Ders.: Din coresponden]a... passim.
34
Dionisie Eclesiarhul: Hronograf... S.114f, 121.
12

Begriff schloß die Türken oder die Griechen aus, aber auch die Bewohner der Rumänischen
Fürstentümer, wenn auch in kleinerem Maße. Dabei gilt ja auch, daß sein Bild nicht gänzlich
positiv war. Das Abendland war ein geographischer wie auch ein kultureller Topos, der sich
vom türkisch-orthodoxen Orient (oftmals der Ort aller „Häresien“ und geistigen Verirrungen)
unterschied oder diesem gar entgegengesetzt war. Man sprach vom Abendland vor allem,
wenn es darum ging, die Legitimität der rechtgläubigen Religion zu zeigen sowie die
katholische oder protestantische Abweichung. Bei Naum Râmniceanu war das Abendland ein
Raum, wo jede Häresie möglich war, eigentlich war es genau der Raum der Häresie, der
Idolatrie und der Atheismen, denn, sagte er, da wo Weisheit ist, ist auch entsprechend Irrsinn.
Interessant ist dabei, daß Naum Râmniceanu, sooft er die geistigen Tendenzen des Westens
kritisierte, den Begriff Abendland benützte und weniger Europa.35 Der Begriff hatte den
Vorteil, Rußland, das als Protektorin der Orthodoxie galt, nicht einzuschließen.
Wir haben im Grunde genommen aus geo-kultureller Sicht zwei Europas und zwei Bilder: ein
Europa in weitem Sinne, vom Bosporus bis nach Gibraltar und vom Don bis zum Atlantik,
sowie ein auf den nicht-osmanischen oder gar katholischen, westlichen Raum sich
beschränkendes Europa; was die Vorstellung von Europa betrifft, gab es ein Bild, daß Europa
als physischen, als eminent geographischen oder politischen Raum betrachtete, sowie ein
anderes, das diesen Raum einschränkte gemäß einer, vorläufig schüchtern auftretenden,
ideologischen Norm.
Diesem Europa mit variabler Geometrie gehörte im dritten Jahrzehnt das Bild vom
aufgeklärten Europa, dessen Grenzen noch eingeschränkter waren als der Inhalt des Begriffs
Abendland. Diese Vorstellung ist äußerst bedeutsam, denn sie suggeriert die klare Präsenz
eines axiologischen Urteils. Das kulturelle Kriterium ist hier souverän. Europa war der Raum,
woher die Aufklärung (im Sinne eines modernen savoir-faire), die Wissenschaft (also die
Informationen, das Wissen, der Zugang zur Vernunft), die Zivilisation (ein savoir-vivre, die
Gesellschaft der Vernunft), der Fortschritt (der Sinn/die Finalität/Zielgerichtetheit der
Geschichte, das Instrument der Vernunft) kamen.
Den Ursprung dieser Vorstellung müssen wir in der Figur des zivilisierten Europas, dem
Produkt des 18. Jahrhunderts, suchen. In den Fürstentümern existierten sie bereits Anfang des
19. Jahrhunderts, so wie wir dies feststellen in einer Antwort des muntenischen Fürsten
Constantin Ipsilanti: „Sie werden zufriedener sein in Jassy, wo Sie alles an das zivilisierte
Europa erinnern wird“, sagte dieser um das Jahr 1806 der Begleiterin Reinhardts, des

35
Cronica protosinghelului Naum Râmniceanu... S.66f.
13

französischen Konsuls in den Fürstentümern.36 Diese Vorstellung setzte eine neue Art
Humanität voraus, denn: „Die Lehrer Europas sind strebsame und lobwürdige Menschen“,
schrieb Ien\chi]\ V\c\rescu 1794, in seiner Geschichte der allmächtigen osmanischen Kaiser
(„Istorie a preaputernicilor împ\ra]i otomani“). Oder, wie Grigore Arhimandritul begeistert
notierte in seinem etwa 1798 erschienen Triodul, daß „die Menschen Europas scharfen
Verstand haben, unzögerlich und tapfer sind; und wie daselbst so viele Weise geboren
wurden, so viele Gesetzesgeber, Doktoren, auserwählte Redner und Fürsten, die alle anderen
Völker der Welt mit der Kraft ihres Verstandes, ihrer Sprache und ihrer Hände gebändigt,
gelehrt und bezwungen haben; wie daselbst sich die beiden berühmten Reiche der Griechen
und der Römer befunden; daselbst die Wissenschaften, die Handwerke, die guten Sitten und
die gute Unsterblichkeit erblühten und erblühen; wie also es sich gehört, dieses Europa die
Zierde der Welt zu nennen“.37
Erst mit Naum Râmniceanu fand aber eine richtige Mythologisierung Europas statt, daß in
seiner doppelten Natur (geographisch und kulturell) verstanden wurde und das
unwiderlegbare Zentrum der Welt war. In seiner Vorstellung fusionierten die antike
heidnische griechisch-römische Vergangenheit, die mittelalterliche christliche Epopöe und die
Zivilisation der modernen Epoche. Es ist wahr, er assozierte vorläufig noch nicht klar das
Abendland oder einen bestimmten Teil Europas mit der Zivilisation und dem historischen
Sinn. Es war eher eine eurozentrische, denn eine westeuropazentrierte Perspektive. Naum
Râmniceanu lobte das „Europa der Zivilisation“, aber er vollzog keine kulturelle und
geographische Diskriminierung. Wie auch einer seiner Vorgänger, der moldauische Kleriker
aus dem 18. Jahrhundert, Amfilohie Hotiniul, war er ein diskreter Philo-Abendländer, der
dem Orient bloß durch seinen orthodoxen Glauben verbunden blieb..
Ein Vorwort zum Bild des aufgeklärten Europas ist die Vorstellung von Europa als ein Raum
der Lehre, wohin die großen Bojaren der Fürstentümer ihre Kinder zum Studium schickten,
„um die Säfte der Philosophie zu trinken“, der Weisheit und des Wissens.38 „Obwohl wir die
meisten von uns ohne Mittel und arm sind, lassen wir alles, auch das Vaterland, auch die
Blutsverwandten und alles Häusliche, mißachten jedwelches Unglück und Leid und gehen an
die Universitäten Europas, um uns aufzuklären“, gestand Anfang des 19. Jahrhunderts der
große Hofmarschall Alexandru Mavrocordat.39 Über die phanariotischen Griechen hieß es in
36
Vergl. Christian Reinhardt: O pagin\ din via]a româneasc\ sub Moruzi [i Ipsilanti. Scrisori. Trad. de D.
Sturdza. Bucure[ti o.J. S.18.
37
Vergl. Ion Bianu, Nerva Hodo[: Bibliografie româneasc\ veche. Bucure[ti II 1910 S.406.
38
Vergl. die Rede Grigore Brâncoveanus zur Eröffnung der Kurse an Gheorghe Laz\rs Schule im Jahre 1818.
In N. Iorga: Etudes roumaines. Paris 1924 II S.61.
39
Ders.: Am\nunte din istoria înv\]\mîntului în ]ar\ [i str\in\tate. 1780-1830. In: ARMSlit t.XXXVII 1916
S.381f.
14

einer muntenischen Bittschrift aus der gleichen Zeit, daß sie „in Laufe einiger Jahrhunderte,
indem sie aus Europa Gelehrtheit bezogen“, ihre natürlichen diabolischen Neigungen
verbergen konnten.40
Was den Griechen für ihre hinterlistigen Ziele nützlich war, war verpflichtend für die
Bewohner der Fürstentümer. Europa war die geistige Metropole der Welt. Denn „alle Völker
Europas sind glänzend in den Lehren“, und der Zugang zur Zivilisation wurde vom Besitz
dieser „Lehren“ bestimmt, da „wir sehen mittels des Lichts der Wissenschaften, das wir bei
ihnen erzielen“ /Unt.F.I./, wie der Dichter Barbu Paris Mumuleanu bemerkte. 41 Und derselbe
schrieb 1825, in seinen Caracteruri: „Wenn wir alle Völker Europas betrachten, sehen wir,
daß durch das Licht der Lehre sie das Fahren auf dem Meer wie auf dem Festland gefunden,
sie haben die Höhe und die Größe der Sonne gemessen, haben Wissenschaften noch und noch
vollendet und Mengen von nützlichen Handwerken erfunden in der Gesellschaft, worüber
unser Verstand nur erschrecken kann“. Diese Zeitspanne gab treu diese Vorstellung wieder
bis hin, sie in eine Mode zu verwandeln. Deswegen begann ein einfacher formativer
Aufenthalt in Europa (sei es auch nur in Hermannstadt, umso mehr aber in Paris oder Wien)
eine entscheidende Bedeutung zu haben für die adligen Familien zur Erwerbung eines
veritablen sozialen Prestiges. Ein Scheitern war deswegen entsprechend schmerzlich. Aus
Craiova schrieb Nicolae Br\iloiu etwa 1823, unzufrieden mit den schulischen Leistungen
seines Sohnes: „ich schäme mich zu sagen, daß ich Kinder in der Schule hatte, in Europa
/Unt.F.I./, schade um die Ausgaben, die wir machen!“42
Der Übergang von Europa als Ausdruck einer höheren Zivilisation zu Europa als Figur, als
Bezugspunkt eines ideologischen Projekts war spezifisch für das Jahrzehnt nach 1821. Diese
Zeit kennzeichnete sich durch ein akutes normatives Bestreben, und die Identifizierung des
Modells ließ keinen Platz für Zweifel. Europa war der wahre Ort, an dem „die aufgeklärten
Völker sich bemühen, ihr Glück durch Wohlstand zu begründen“, wie Naum Râmniceanu
sagte, während Constantin Moroiu glaubte, daß „die Liebe für die Menschheit, Grundlage der
sozialen Tugenden, die jetzt in fast ganz Europa bei allerlei Personen anzutreffen ist“ das
charakteristische Phänomen der Zeit sei.43
Dinicu Golescu war der erste, der Europa in zwei antithetische Welten teilte und die Position
der Fürstentümer diesen gegenüber festlegte. Er sprach von der tragischen Lage, in der sich
die Christen des „türkischen Europas“ befanden und von der glücklichen Lage „des anderen
Europas“, des wahren, des aufgeklärten Europas, welches in seinen Augen jenseits der
40
Vîrtosu: 1821... S.119.
41
Marino: Pentru Europa... S.174.
42
N. Iorga: Contribu]ii la istoria înv\]\mîntului...S.45.
43
Paul Cornea: Originile romantismului românesc...S.240.
15

Karpaten begann, in tieferem Sinne aber mit Wien, ohne eine präzise geographische
Dimension an und für sich zu haben.44 Es war ein symbolischer Raum, der sich in großen
Zügen mit der westlichen Welt deckte.
Wenn man die beiden Welten trennt, wie Dinicu Golescu dies tat, muß man sich fragen:
welches war die Position der Fürstentümer, gehörten sie zu Europa oder nicht? Die Antwort
unterscheidet sich je nach dem intellektuellen und politischen Projekt, dessen Befürworter die
Sprecher waren, was zu mehreren Arten der Reaktion führte, mit natürlichen intermediären
Unterscheidungen, drückte doch jede Art gleichzeitig eine bestimmte Haltung den
anscheinend von Europa verkörperten Werten gegenüber aus. Im Grunde genommen aber gab
es, wie auch bei Dinicu Golescu, mehrere gleichzeitige Möglichkeiten zu antworten.
Offensichtlich war die Haltung Europa gegenüber verbunden mit dem Bild desselben. Das
Bewußtsein der europäischen Gemeinschaft war wahrscheinlich diffus stets präsent in den
Reihen der Elite des 18. Jahrhunderts, aber Europa wurde nicht als ein Schlüsselelement,
imstande entscheidend die Lage der Fürstentümer zu beeinflussen, und auch nicht als
vorbildhafte Nachbarschaft gesehen. Ende des 18. Jahrhunderts dominierte noch eine
regionaliserende und politische Vision. Europa existierte fast nicht in der kollektiven
Vorstellung. In einem fürstlichen Beschluß aus dem Jahre 1797 zur Verfassung einer
Geschichte und einer Geographie der Walachei wurde verlangt, „die Geographie des Landes“
zusammenzustellen, „wie es sich fügt mit denen außerhalb seiner, also: mit dem Allmächtigen
Reich und mit dem fremden Boden, sowie die Grenzen des Landes zum Banat und zu
Transilvanien...“. Die europäische Welt befand sich außerhalb des Horizontes.45
In den ersten Dezennien des 19. Jahrhunderts wurde die Ordnung der Dinge weiterhin vom
Orient diktiert. Es gab zwei Zeitmaße: die türkische Zeit (die auch gewöhnlich im Gebrauch
war) und die europäische Zeit, sowie auch zwei Arten von Kleidung, wobei die Kleider
europäischer Art mit Fremdsein assoziert wurden; ganz zu schweigen von den Konfessionen,
politischen Praktiken und kulturellen Mentalitäten, die in irreduktiblen Beziehungen
zueinander standen.46 Sogar die Schrift (Kyrillisch) oder das Notensystem waren verschieden
von den „europäischen“.47

44
Dinicu Golescu: Însemnare a c\l\toriei mele... S.3f., 61 u. passim.
45
V. A. Urechia: Istoria Românilor VII Bucure[ti 1894 S.55 infra.
46
Vergl. Vlad Georgescu: Din coresponden]a... S.77 u. passim; zur Wahrnehmung der Kleidung vergl. aus der
reichhaltigen Literatur Stela M\rie[: Importan]a catagrafiei din anii 1824-1825 pentru problema sudi]ilor evrei
din Moldova. In: Silviu Sanie, Dumitru Vitcu (Hrsg.): Studia et acta Historiae Judaerom Romaniae.
o.E.ort./Bucure[ti?/ 1996 S.51-135.
47
Erst 1829 wird ein Lehrbuch veröffentlicht mit dem Titel „Gramatic\ româneasc\ de note pentru
fundamentul chitarei, compus\ dup\ cea europeneasc\, de Teodor Burada, sluger, anul 1829“. Die Schrift aber
bleibt slawonisch bis in die 6oer Jahre des vorigen Jahrhunderts.
16

Paradox aber ist, daß die Idee von einer tiefen kulturellen Differenz zwischen den
Fürstentümern und der europäischen Welt kaum präsent war im Diskurs dieser Zeit. Dies,
zum einen, weil Europa eindeutig als ein vielfältiger Raum wahrgenommen wurde, als eine
kulturelle Dualität, zum anderen, weil das reformerische Pflichtgebot, also die Notwendigkeit
eines Modells und einer referentiellen Gemeinschaft, quasi inexistent war. Die Adoptionen,
wie im Falle des Zivilgesetzbuchs der Moldau, das nach österreichischem Modell geschaffen
wurde, wurden als natürliche Gesten gewertet, sie verlangten kein Erklärungsmuster. Man
ahmte nicht ein Gesellschaftsmodell an und für sich nach.
Es ist deshalb schwer zu sagen, wann genau Europa begann, als ein Vergleichsmoment für die
Gesellschaft der Fürstentümer gesehen zu werden. Am wahrscheinlichsten ist, daß die
Anfänge wohl mit der Französischen Revolution und den napoleonischen Kriegen
zusammenfallen, wenngleich Anfang des 19. Jahrhunderts Europa in den Fürstentümern als
Unruhequelle erschien (die Revolution, die napoleonische Expansion), als Ausdruck einer
religiösen (des Katholizismus) und politischen Alterität.48 Durch die Figur Napoleons aber
wurde die europäische Welt (im Sinne des Abendlandes) das Objekt einer unerwarteten
Aufmerksamkeit seitens einiger muntenischer und moldauischer Bojaren. Es war eine erste
Vorstellung von Europa als einem möglichen politischen Gegengewicht zu den regionalen
Mächten, die einander ihren Einfluß in den Fürstentümern streitig machten. 49
Es ging aber nicht um ein Gefühl der Gemeinschaft, Ausdruck wahrhaftiger Wertschätzung.
Trotzdem kann man feststellen, daß die Sympathie für die europäische Welt zurückreichte bis
zum Ende des 18. Jahrhunderts, auch wenn sie vorläufig nur durch vage und wenig
verbreitete Erwähnungen ihren Ausdruck fand. Wenn wir akzeptieren, daß der einfache
Bezug implizite auch ein Zeichen der Zuwendung und Sympathie ist, können wir auf eine
Reihe von Bojaren und Intellektuellen wie Ien\chi]\ V\c\rescu, Amfilohie Hotiniul, Alexandru
Mavrocordat, Dionisie Eclesiarhul etc. verweisen, die Interesse zeigten für die europäische
Welt. Es ging aber um ein Europa der Ideen und der Gelehrten, höchstens noch um ein
politisches Europa, keineswegs aber um einen Modell-Raum. Europa erschien zweideutig bei
ihnen, denn wir wissen nicht, ob es sich um Europa im allgemeinen handelte oder um das
abendländische.
Die erste tiefe Bresche im postmittelalterlichen Vorstellungssystem verdanken wir Naum
Râmniceanu und vor allem dem Jahr 1821, als in einem Augenblick fehlenden Schutzes das
Bewußtsein der Zugehörigkeit zu Europa oft als eine wünschenswerte Wirklichkeit erscheint.
48
Vergl. auch Radu Rosetti: Arhiva senatorilor din Chi[in\u [i ocupa]ia ruseasc\ dela 1806-1812. I. Bucre[ti
1909 S.36, 71ff., 79.
49
Zum allgemeinen Kontext vergl. Pompiliu Eliade: Influen]a francez\ ...Kap.III, Teil III; vergl. auch Vlad
Georgescus Einführung zu: Mémoires et projets... S.VI.
17

Es herrschen allerdings auch jetzt die politischen Referenzen vor (Hilfeforderugen, der
Vergleich mit den politischen Praktiken Europas, Ort der Zuflucht, etc.). 50 Die Idee der
europäischen Gemeinschaft, wie sie zuvor Naum Râmniceanu formuliert hatte, wenngleich
sie auch in einer fabelhaften Aura auftrat, wurde als ein Zeichen des Prestiges, der ethnischen
Vornehmheit gewertet. Rumäne zu sein begann damit verbunden zu werden, europäisch zu
sein, was einen Bruch mit der griechisch-osmanischen Welt bedeutete.
Anfang des 19. Jahrhunderts war die Voraussetzung, von der Naum Râmniceanu ausging,
diejenige, daß die Rumänen zu Europa gehörten geradewegs durch ihre biblische
Abstammung („aus dem Geschlechte Jafets“), neben den „anderen Sprachen Europas, außer
den Türken, den Juden, den Griechen...“. Die europäische Zugehörigkeit der Rumänen kam
also von ihrer Latinität und der italischen Herkunft der Begründer. Geographisch dann und
politisch „zählen besonders zu den Fürstentümern Europas auch die Herrschaft der Moldau
und die Herrschaft der Walachei“, da sie einer europäischen Ordnung angehörten. 51 Im Geiste
seiner Allegorie zeigte Naum Râmniceanu, daß „unser Geschlecht der Römer, aus den Armen
Europas hervorgegangen, sich auf die Verkleidung ihrer Kleider festsetzte, wo es sich im
Schatten des Göttlichen befindet, aber auch sich unverletzt bewahrt vor den reißenden Wölfen
vieler Art Häresien und Feindlichkeiten, die ihm seine Ruhe mißgönnen, ewig siegreich es
zeigend gegen diese“.
Jedoch Europa gegenüber? Die Identität mit Europa zielte nicht auf ein politisches Projekt
hin, sondern auf eine symbolische, rein konventionelle Gemeinschaft. Naum Râmniceanu
hatte, wie auch die anderen, nicht das Bewußtsein eines radikalen Bruchs mit der
europäischen Welt und folglich imaginierte er kein Integrationsprojekt. Keiner kannte Europa
direkt. Ihre Anschauungen drücken ein undeutliches Europa aus, das einschloß, aber nicht
trennte, wenigstens nicht in einer offensichtlichen Weise.
Der Bezug auf ein Modell „richtiger Aufklärung“ implizierte nicht auch einen entschiedenen,
freiwilligen Bruch mit dem „türkischen Europa“. Was man von Europa erwartete sagt uns
wieder B. P. Mumuleanu in seinem Gedichtband aus dem Jahre 1822:
„Tineri, b\trîni îndemnînd „Die Jungen die Alten ermunternd
Patria s-o folosim Dem Vaterland zu dienen
La izvor nou alergînd Zu neuer Quelle hin zu eilen
{tiin]e s\ dobîndim. Wissen zu erzielen.
Pild-avem pe evropei Beispiel sind die Europäer,

50
Vergl. Vîrtosu: 1821... S.189, passim.
51
Cronica protosinghelului Naum Râmniceanu... S.63, 65, 68.
18

Ast\zi s-au descoperit Denn man fand ja nun


Un izvor prea minunat.“ Eine Quelle gar so schön.“

Die Nachahmung bedeutet Achtung, aber ein Bezug dieser Art ist oftmals eine mechanische
Geste und keineswegs Ausdruck einer wahren Kenntnis des „Modells“ sowie einer profunden
Option. Welcher Welt gehörten die Fürstentümer also an? Die Antwort erscheint gut umrissen
Ende des dritten Jahrzehnts.
Zuerst bei Dinicu Golescu, der diese Beziehung auf zwei Ebenen sah: einerseits teilte er
Europa in zwei, wobei seine Aufmerksamkeit nur dem „aufgeklärten Europa“ gehörte;
andererseits zeigte er ein akutes Gefühl der Differenz zu diesem Europa, mit dem er sich im
Idealen identifizierte und das er nachahmen wollte, von dem er aber wußte, daß er ihm nicht
angehören konnte dank seiner fatalen kulturellen Genealogie. Er schien fast in der Schwebe
zwischen diesen irreduktiblen Bestimmungen. Als er nach Leybach und Lublijana kam,
bemerkte er: „Diesen Stadtnamen werden weder wir, die Enkel, noch die Kinder und alle
Urenkel vergessen, denn hier entschied sich das tyrannische Joch der Christen, die zu ihrem
Unglücke im türkischen Europa wohnen.“ Er nahm als erster in den Fürstentümern das
schmerzliche Handikap der Trennung vom „aufgeklärten Europa“ wahr, dank seiner
erzwungenen Zugehörigkeit zum „türkischen Europa“. Diese Wahrnehmung deutete hin auf
die Entwicklung des Europabildes von der einfachen geographischen Perspektive zur
Vorstellung eines magischen, ausschließenden Territoriums: „das aufgeklärte Europa“ , „das
andere Europa“. Von da kamen auch „wahre Ehre und Glück“, das „sich ziemende Licht“, der
Rhythmus der Geschichte.52 Dieses Bild hatte eine tiefe politische Bedeutung, trotz seiner
kulturellen Aura, in der es auftrat.
Kaum erst wahrgenommen, wurde das Gefühl des Ausgeschlossenseins aus dieser Welt zum
Drama. „Müssen nun wir Rumänen“, fragte sich ein naher Bekannter Dinicu Golescus, „ewig
getrennt bleiben von den aufgeklärten Völkern, getrennt von unseren europäischen
Brüdern?“53 Dies war keine naive Feststellung. Die Differenz wurde vor allem als eine
Warnung und als ein Programm verkündigt. Was interessierte, war die Zugehörigkeit zu
dieser Welt. Sie drückte im Grunde genommen ein akutes Bewußtsein von Europa aus, dabei
wurde aber ein Unterschied gemacht zwischen physischer (geographischer) Zugehörigkeit
und wirklicher, durch die Werte, die eine Gesellschaft annimmt. Dies wurde bis spät als ein
52
Wir beziehen uns vor allem auf die erste Bedeutung von den drei dem kulturellen Modell zugeordneten
Vorstellungen, bzw. jene einer Leitidee und eines normativen Ideals, die Beispiele suggeriert, zu befolgende
Wege; eines ideologischen Systems, das einheitlich, gemäß einer Grundstruktur, alle Daten seines
Aktionsbereichs organisiert; eines theoretischen Schemas schließlich, das, autonom und abstrakt, gemäß seiner
internen „Logik“ funktioniert. Vergl. Al. Du]u: Modele [i imagini... S.186.
53
Vergl. G. Dem. Teodorescu: Viea]a [i operile lui Eufrosin Poteca. Bucure[ti 1889 S.576.
19

Zustand der Reifung betrachtet, der Überwindung von Anachronismus und Juvenilismus.
„Aus der Dummheit, aus der Kindheit werden wir uns rausziehn und (...) werden vollendete
und weise Männer sein, und in einer Reihe mit den weisen, aufgeklärten und großen Völkern
Europas werden wir sein“, schrieb der Fabeldichter Dimitrie }ichindeal. 54
Mit Dinicu Golescu und den Aufklärern Ende des dritten Jahrzehnts wurde diese Art Haltung
in eine Leitidee umgewandelt. Sehr klar drückte dieses der Muntenier Grigore Ple[oianu aus
in seinem Vorwort zu einer Übersetzung aus Marmontel (1829): „Gebe Gott von nun an, daß
wir die Europäer näher befolgen, auf daß wir auch Europäer genannt werden können auch in
den Taten, nicht nur dem Namen nach“.55 Europa wurde zum Bezugspunkt jedwelchen
reformerischen Versuchs. Ausdrücke wie: „wie es auch bei den anderen Völkern Europas
befolgt wird“, „von denen, die auch in Europa befolgt werden“ tauchten häufig auf in den
Texten, die eine Veränderung der Zustände in den Fürstentümern verlangten oder die eine
oder die andere Erfindung zu erklären versuchten.56 Denn, fragte sich Gheorghe Asachi in der
ersten Ausgabe (Juni 1829) der Albina Româneasc\: „Wer fühlt nicht in unserem Lande das
Fehlen der Einrichtungen, durch deren Arbeit wir, so wie wir es politisch sind, auch
moralisch nützliche Mitglieder werden der europäischen Familie, deren Strahlen der Lehre
seit soviel Jahrhunderten auf unseren Horizont scheint?“
In diesem fieberhaften und zugleich hoffnungslosen Zustand erschien die Nachahmung wie
ein messianisches Projekt, ein Pflichtgebot, eine zivilisatorische Tat. Aus London schrieb
Petrache Poenaru (wohl 1831), es erwarte ihn nach seiner Rückkehr „eine der härtesten
Arbeiten, muß ich mich doch bemühen meinem Vaterland Dankbarkeit zu erweisen für seine
Hilfe, indem ich ihm irgendwie weitergebe von dem Lichte der zivilisierten Nationen.“57 C.
{u]u, Mitgleid der Ephorie der Schulen, verlangte 1832, daß man sich schnellstens anschließe
„diesem starken und aufgeklärten Europa, zu dem wir geographisch gehören und das wir
nachzuahmen wünschen in den Institutionen, dem Glück, in den Wissenschaften...“. 58
„Können denn wir, neben dem, was wir wissen, nicht noch einiges von ihnen /den Europäern,
Anm.F.I./ entlehnen?“, fragte sich auch Eufrosin Poteca. 59
Die Nachahmung war, bewußt oder nicht, ein Akt der Sympathie, der Identifizierung mit dem
Modell; sie war also Ausdruck eines Wunsches nach Gleichheit, nach Anerkennung. Durch

54
D. }ichindeal: Filosofice[ti [i politice[ti prin moralnice înv\]\turi. Bucure[ti 1838 S.271 (Fabel 120: Înv\]\
tura)
55
A. Marino: Pentru Europa... S.183.
56
E. Vîrtosu: 1821... S.164, 200, 204, 209 u. passim.
57
N. Iorga: Contribu]ii la istoria literaturii române în veacul al XVIII-lea [i al XIX-lea. II. Scriitori mireni. In:
AARMSLit seria a II-a t.XXVII Bucure[ti 1906 S.18f.
58
V. A. Urechia: Istoria [coalelor IV S.260, apud Adrian Marino: Despre Europa... S.182.
59
Vergl. Ebd. Anm. 53.
20

den Anschluß an Europa erstrebten die Rumänen eine universelle Bestätigung, ein Bild zu
haben im Weltbewußtsein, akzeptiert zu werden als Subjekt der Geschichte. Verwandt mit der
Figur des Modell-Europas ist das Thema Europa als Spiegel und höchster Richter der
kollektiven Verhaltensweisen. Um das Jahr 1815, als er Bezug nahm auf das Verhalten eines
muntensichen Bojaren in Wien, wies Tudor Vladimirescu, der spätere Anführer der Revolte
von 1821, darauf hin, daß all „den großen Ruhm, den die Rumänen in Europa haben, er völlig
zerstört hat“.60
Das Europa, daß uns betrachtet und beurteilt erschien 1821 und in den darauffolgenden
Jahrzehnten als ein Leitmotiv. Seine Wiederbelebung muß im Einfluß der griechischen
politischen Manifeste dieser Zeit gesucht werden, in denen Europa oft als Hauptstütze gegen
die Türken erschien.61 Von der negativen Glorie der griechischen Teilnehmer an der
Hetäristenbewegung in den Fürstentümern berichteten die gleichen Bojaren: ihre Taten seien
so gravierend gewesen, daß „sie in ganz Europa erfahren wurden“. 62 Auch Naum Râmniceanu
glaubte, daß letztlich die hetäristische Aktion in den Fürstentümern Europa das wahre Gesicht
der Griechen gezeigt habe63, während Zilot Românul /der Rumäne/ C. Hangerli beschuldigt,
die Walachei in den Augen Europas kompromittiert zu haben:
„Stricase acea m\rire ce are acest Principat „Er zerstörte jenen großen Ruhm
Care la toat\ Evropa e vestit [i l\udat.“64 Den Europa zumaß unsrem Fürstentum.“

Trotzdem war Europa einziger Zeuge der rumänischen Identität: „Rumänen sind wir, Brüder,
zweifelsohne und mit gutem Beweis, die Geschichtsbücher bestätigen uns und alle Völker
Europas kennen uns!“. Um aber integriert zu werden in seine Familie, verlangte Europa den
Rumänen jedoch ein bestimmtes Verhalten: Sein Bild suggerierte zugleich einen
Verhaltenskodex. In seinem Vorwort zu einem Buch aus dem Jahre 1822, über den
Patriotismus, wandte man sich an die Patrioten der Fürstentümer: „So wir alle einen Wunsch
haben und einig sind im Vermehren alles Guten für die ganze Gemeinschaft, sollen wir
gewünschtes Glück erreichen mit der Erhöhung des rumänischen Volkes, auf daß es gelobt
werde in ganz Europa, da wundert soviel Unsorgsamkeit unsererseits!“.65 In einem ähnlichen

60
Tudor Vladimirescu: Scrieri. Ed. de Tudor Nedelcea. Craiova 1993 S.34.
61
Vergl. Emil Vîrtosu: 1821... S.144.
62
Ebd. S.123.
63
Naum Râmniceanu: Scrisoarea de r\spuns a munteanului... 1987 S.29.
64
B.-P. Ha[deu: Ultima cronic\ român\ din epoca fanario]ilor. Bucure[ti 1989 S.5, apud Marino: Despre
Europa... S.184.
65
Naum Râmniceanu (mutmaßlich): Predoslovie la o carte despre patriotism. In Vîrtosu: 1821... S.222; einen
identischen Aufruf finden wir im gleichen Jahr auch in einem anderen Vorwort (von C. Herescu) zu einer
Übersetzung aus dem Griechischen eines anderen Buches über Patriotismus, danach „unser Vaterland, das
ganze rumänische Volk und gesamt Europa setzen gute Zuversicht in die Person“ eines jeden Rumänen und
Patrioten, vergl. Ebd. S.143ff.
21

Geiste war auch der „Aufruf zur Vereinigung“ verfaßt, ein anonymer muntenischer Text aus
dem Jahre 1822. Er drückte die Überzeugung einer Epoche aus: „Die Griechen haben auf jede
erdenkliche Weise sich stets bemüht, der Welt zu beweisen, daß sie ein großes glanzvolles
Volk sind in Europa, herstammend von den alten Hellenen, auf daß sie hierdurch wohl auch
erringen könnten die Rechte, die andere Völker haben. Doch mußten sie lernen, daß ihr
Bemühen vergebens, und sie verstanden, daß Europa anders urteilt über sie, die zwar ehemals
ein Volk gewesen, aber in Sklaverei fallend unter den siegreichen Waffen des Osmanischen
Reiches, was sie seit fast vier Jahrhunderten sind, hörten sie seither auf zu sein und ein Volk
zu heißen, und an ihrer Stelle kennt man die Türken in Europa als glanzvolles Volk, so daß in
allen Geographien Europas die Türkei und nicht Griechenland gezeigt wird. Anders das Volk
der Rumänen und der Moldauer, das, auch wenn es sich unter der Herrschaft der osmanischen
Pforte weiß, diese Herrschaft selbst gefordert und akzeptiert hat, bloß zum Schutze, gehandelt
und festgesetzt in Verträgen, deshalb haben sie ihre Regierung in eigenen Häuptern, mit
bodenständigen Gesetzen und Bräuchen...(...) Dieses gerechte Urteil Europas hat umso mehr
den Groll der Griechen gegen diese Länder der Moldau und der Walachei angefacht (...). Es
ist überflüssig uns weiter auszustrecken mit unserer Geschichte, denn was immer wir auch
sagen werden, wir sagen es für die Ohren derer, die dies alles wissen, vielleicht gar besser als
wir, und haben es heute vor ihren Augen! Auch noch ganz Europa wird über das, was es
sieht, in Staunen versetzt!“66 Mit den folgenden Jahrzehnten wurde die Vorstellung von
Europa als unfehlbarer Zensor zum Gemeinplatz im öffentlichen nationalen Diskurs. 67
Wie Adrian Marino feststellte, erwartete man in den Fürstentümern drei Dinge von Europa:
die Rehabilitierung nach den Jahren der Vergessenheit während des phanariotischen Systems,
Ansporn und Nachahmung seines Modells. Andererseits aber konnten, neben diesem Stil
allgemeiner Verführung, der Gemeinschaft und des grenzenlosen Vertrauens, die Arme und
Kleider Europas, in die Naum Râmniceanu die Fürstentümer verkörpert hatte, das Gefühl
eines obskuren, geschichtsüberlasteten Landes, in dem jeglicher Ehrgeiz ausgeschlossen ist,
nicht verdrängen: “wir, ein kleiner Staat Europas, und wie unser Land denn auch paßt neben
die Königs- und Kaiserreiche Europas!“. 68 Die „Aufholjagd“, auf die sich die Fürstentümer
begaben nach der Aufzeigung des Handikaps, das sie Europa gegenüber hatten, zeitigte
nichtsdestoweniger auch perverse Auswirkungen. Darunter befand sich auch die
Herausbildung eines ernsthaften Komplexes der kulturellen Inferiorität und des unschuldigen
66
Ebd. S.192f.
67
Iancu, einer der Dichter aus der Familie V\c\rescu, schrieb Ende des dritten Jahrzehnts: „Cîte curînd v\ în\
l]a]i/Europa v\ prive[te“ („Wieviel bald ihr euch erhebt/Europa euch betrachtet“. Iancu V\c\rescu: Mar[ul
românesc. In Poe]ii V\c\re[ti: Scrieri alese. Ed. Elena Piru. Bucure[ti 1961 S.110.
68
Cronica protosinghelului Naum Râmnceanu... S.99.
22

Opfers. Seine Effekte waren manchmal dramatisch, bis hin zur eigenen Ablehnung. Dinicu
Golescu erzählte begeistert (wenn auch eher, um zu provozieren) vom Entschluß eines
muntenischen Bojaren, nicht mehr zurückzukehren in sein Geburtsland, da er es vorzog
Gärtner in Wien zu sein als Ban in der Walachei.
Parallel dazu trat das Gefühl der Ungerechtigkeit auf, mit welcher Europa die Welt der
Fürstentümer behandelte: eben der Komplex des untadelhaften Opfers. In einem anonymen
muntenischen Text aus dem Jahre 1822 wurde die fehlende Selbstachtung der Rumänen
beklagt: „Sollte es stimmen, daß die Rumänen weniger ehrwürdig sind, als Menschen, wie die
Menschen der anderen Völker?“ Die Antwort war natürlich eine negative. Denn, „urteilend
ohne Parteinahme, welchen Rumänen seines Standes und Rangs man auch nehme, und sei er
auch ungebildet, er ist gleich einem Europäer zu beurteilen, ja mitunter viel besser als jeder
aus Europa in der Reinheit seines Herzens, welches der teuerste Schatz ist, der dem Menschen
geschenkt worden“.69 Mit der Zeit verwandelte sich, unter dem Einfluß eines bestimmten
Rousseauismus, sogar das Handikap des Rückstands in ein Verdienst.
Das Gefühl des betrogenen Opfers ging zusammen mit dem der Undankbarkeit. In der
Korrespondenz zwischen Girgore Ghica, dem Fürsten der Walachei nach 1821, und Ritter
von Gentz, zeigte sich der rumänische Herrscher unzufrieden mit dem Verhalten des
englischen Außenministers, Lord Strangford, etwas Unverständliches bei einem höheren
Geiste: „Je n’aurrais jamais cru que l’amour propre pourrait encore aveugler un européen, un
anglais...“.70
Den Europäern wurde dann vorgeworfen, daß sie die spezifischen Realitäten in den
Fürstentümern nicht gut genug kannten, weswegen ihre Entscheidungen manchmal
unglücklich waren. Wo er sich auf die Verfügungen des Abkommens von Akerman (1827)
zur Wahl des Herrschers in den Fürstentümern bezog, zweifelte Ionic\ T\utul an deren
Wirksamkeit und stellte fest: „Die Europäer wissen nicht, daß unser Diwan nichts anderes
mehr als ein Gericht ist und keineswegs Leib der Nation, wie sie es glauben“. 71 Es fehlten
vorläufig die späteren richtig harten Vorwürfe, was die gleichgültige Haltung Europas den
Fürstentümern gegenüber betraf.
Europa war, voller Versprechungen, der Garten der Köstlichkeiten wie auch der
unermeßlichen Freiheit. „Erhielten sie irgendeines der guten Geschenke Europas?“, fragte der
oltenische Bojare N. Glogoveanu einen Hermannstädter Lehrer (wohl 1827), „denn Europa
wahrhaftig hat viel Gutes, das leicht zu lernen ist, aber für die tüchtig und strebsam sind; aber

69
Vîrtosu: 1821... S.200.
70
Vlad Georgescu: Din coresponden]a... S.110.
71
Ionic\ T\utu: Scrieri social-politice... S.267.
23

das gleiche hat auch viele, ungezählte Mängel, für die faul sind und hingezogen zur
Ausschweifung“.72
Ebenfalls eine Gefahr stellt natürlich auch die rein mechanische Nachahmung dar. Die
Warnung davor finden wir ziemlich früh schon in den verschiedenen moralisierenden
Aussagen aus den kirchlichen oder intellektuellen Kreisen.73 Für die hier abgesteckte
Zeitspanne haben wir auf jeden Fall keinen artikulierten Diskurs der Ablehnung Europas in
seiner vorherrschenden Bedeutung als Modell, als Bezugs-Welt. Es gab kein satanisches
Europa. Sicher, die Begeisterung und die Zustimmung für die Europa-Mythologie waren
keineswegs allgemein. Trotzdem schafften die negativen Reaktionen kein Gegen-Bild oder
höchstens erst in den Jahrzehnten vier und fünf. Vorläufig trat die Negation bloß klein auf,
indem Europa als ein Ort der Moden (des Ephemeren), der Unordnung oder der Revolution
dargestellt wurde. Naum Râmniceanu warf Europa die häretische Versuchung oder gar die
atheistische vor und sprach vom „Abgrund der Häresien des Abendlandes“, als Folge des
Einflusses „Satans und der Entfremdung der Häretiker vom Wege der Wahrheit“, bzw. die
katholische Dissidenz, die protestantischen Wellen und vor allem der Atheismus, ein neues
Phänomen, daß er in Frankreich identifizierte. 74 Dabei ging es aber nicht um einen Versuch
der Kulpabilisierung.
Ein natürliches Gefühl der Vorsicht war auch hier präsent, vor allem was die Annahme von
politischen Institutionen betraf. Die vergleichende Lektüre der geopolitischen Realität
veranlaßte T\utul dazu, festzustellen, daß eine Übernahme tale quale der europäischen
Institutionen in den Fürstentümern nicht möglich sei. „Die Nachbarschaft Rußlands,
Österreichs, der Türkei kann nicht die gleichen Dinge annehmen, die in Amerika, in England,
in Frankreich eingerichtet werden können.“75
Obwohl es nicht zu einer umfassenden Auseinandersetzung zu diesem Thema kam, kann man
feststellen, daß das Bild Europas zu einer Spannung in den Kollektivvorstellungen führte, daß
es ideologische Klüfte und unterschiedliche kulturelle Etagen aufzeigte oder schaffte. Das
Interesse für die europäische Welt, die existierende intellektuelle Öffnung und die
Vorstellungskraft lassen auf drei Vorstellungsklassen schließen: eine der spontan-
traditionalistischen Wahrnehmung und Vorstellung; eine pragmatischere, ausgearbeitete, die
wir in den Kreisen der Führungsklasse antreffen; und eine dritte, die wir „liberal-
72
N. Iorga: Contribu]ii... S.47.
73
Dinicu Golescu, der einen „Schrei“ der Entrüstung Eufrosin Potecas wiedergibt hinsichtlich der Weise der
rumänischen Elite sich zu kleiden, verweist darauf, „daß Tuch in ganz Europa die Komödianten tragen“,
keineswegs die hohen Persönlichkeiten. Dinicu Golescu: Însemnare a c\l\toriei mele...S.36. Einige Reaktionen
siehe auch bei Pompiliu Eliade: Histoire de l’esprit public... S.51 u. passim.
74
Cronica protosinghelului Naum Râmniceanu... S.66-77, 100 u. 101.
75
Vergl. den Brief an Ilie Ilschi (August 1829), in I. T\utu: Scrieri... S.262.
24

europäisierend“ heißen könnten und die wir bei einer heterogenen, zahlenmäßig relativ
kleinen, aber intellektuell dominanten sozialen Kategorie finden, bestehend aus den
Vertretern einer späten Aufklärung, die offen und relativ bewußt einen militanten
Europäismus praktizierten. Diese Taxonomie hatte keine festen Grenzen und drückte nicht
immer verschiedene politische Anschauungen aus, wenngleich sie auch mitunter
entgegengesetzte Projekte generierte.
Die erste Klasse kennzeichnete ein konservativer Ton, geprägt von ewigen Überzeugungen.
Vertreten ward sie von einer verspäteten Chronistik und kam aus den Kreisen des niederen
Klerus, der Kleinbojaren aus der Provinz oder aus der obskuren Schicht der Städter
(Kaufleute, Beamte, etc.). Das Interesse an Europa war konjunkturell. Der Horizont dieser
Anschauung war konzentrisch, selten freiwillig ausgerichtet, und die Wahrnehumng intuitiv,
epidermal, so daß Europa in den meisten Fällen als ein zufälliger und ungenauer Bezugspunkt
erschien: ein nebulöser Hintergrund, der die Fürstentümer sowohl ein- als auch ausschloß.
Dieser Wahrnehmung entsprach im allgemeinen eine anti-katholische, pro-russische und pan-
orthodoxe Haltung.76
Innerhalb dieser Klasse wurde Europa gewöhnlich mit der nicht-osmanischen Welt
identifiziert. Dabei war die dominante Eigenschaft die, eine Art Substitut der Idee von Welt
schlechthin zu sein. Selten repräsentierte Europa einen wahren axiologischen Bezugspunkt.
Zu den herausragendsten Vertretern dieser Anschauung gehörte Dionisie Eclesiarhul, der
seine Chronik Mitte des 18. Jahrhunderts begann und 1815 abschloß. Sein Europa war eines
der Kaiser und Könige, die Schlüssel-Personen seiner geopolitischen Vision. Das Interesse an
den internationalen Beziehungen bestand vor allem wegen der Französischen Revolution und
der Verwicklung Rußlands in den dadurch entstandenen europäischen Konflikt. Gleich der
Geschichte im allgemeinen erschienen die napoleonischen Kriege als Konflikte zwischen
Kaisern, zwischen den Exzessen des menschlichen Stolzes und dem strengen göttlichen
Urteil. Über Napoleons Kampagne in Rußland und die Gründe der Niederlage schrieb
Dionisie Eclesiarhul: „denn zu hoch hinaus haben sie sich in ihrem Stolz gehoben, da sie
dachten, ganz Europa zu unterwerfen. Und Gott, der die Mächtigen von ihren Thronen holt,
wird auch ihn herunterholen, um seinen Stolz zu brechen“.77 Er war der letzte aus seiner Zeit,
der den Begriff Abendland noch in seiner traditionellen Bedeutung verwendete, für die nicht-
osmanische, aber auch nicht-orthodoxe Welt, obwohl manchmal, wohl aus einem Fehler

76
Wir beziehen uns hier auf eine relativ homogene Kategorie von Texten, zusammengesetzt aus den von Ilie
Corfus edierten Chroniken, aus Dionisie Eclesiarhuls Chronik, den Chroniken und Pamphleten Naum
Râmniceanus, den Briefen Tudor Vladimirescus.
77
Dionisie Ecclesiarhul: Hronograf... S.111.
25

heraus, Rußland auch zum Abendland gerechnet wurde. Er rezipierte Europa passiv und
unmittelbar, ohne zu versuchen, es sich vorzustellen oder zu erklären.
Tudor Vladimirescu, der zukünftige Protagonist der Ereignisse des Jahres 1821 in den
Fürstentümern, hatte als einer der ersten eine Anschauung, die in direkter Verbindung zur
europäischen Welt stand, wenn auch ebenfalls in postmittelalterlicher Manier. Er hatte die
Gelegenheit, mehrere Monate in Wien zu weilen, verstand aber, stets auf dem Rückzug, diese
ihm allzu wenig vertraute Welt nicht, obwohl er manchmal deren Verdienste anzuerkennen
schien. Erbittert über den österreichischen Justizvollzug, der ihn in Wien zurückhielt,
beklagte er in einem Brief (Juni 1814) „die Gerichtsverhandlungen der Europäer, die sich
Jahre hinausziehn“ und hoffte so bald wie möglich diesem „teuflischen Verfahren“ zu
entkommen. Für ihn war Europa ein Raum der Frivolität, wo die Kleidung „sich jeden Tag
ändert“, der Bürokratie und der Formalitäten.78 Gleich vielen seiner Zeitgenossen, suchte
auch Tudor Vladimirescu die Ähnlichkeit und selten die Differenz: Die Alterität hatte keine
didaktische Funktion, sondern eher eine opressive. Was ihn von dieser Welt trennte, schien
ihm nicht immer wert, in seinem Land wiedergegeben zu werden.
Eine betont autochthon ausgerichtete Anschauung finden wir in der Cronica Androne[tilor:
Es ist dies eine Folge von fast täglichen Aufzeichnungen einer Familie muntenischer
Kleinbojaren, die Ende des 18. Jahrhunderts und in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts
gemacht wurden.79 In diesen Aufzeichnungen, darunter einige besonders ewigkeitslastig sind,
erschien Europa diffus, als Echo einer exotischen Welt. Als es um die Bestrafung einer Frau
ging, die ihren Mann umgebracht hatte, beschrieb Grigore Andronescu die unerhörte und
grauenhafte Weise, in der dies geschah, „so, wie man es hier noch nie gesehen, eine
europäische Sache“ (die Aufzeichnung ist aus dem Jahre 1832); er erwähnte die Änderung
der Uniform der walachischen Miliz/Armee in den 30er Jahren, die „europäisch“ wurde, und
übernahm die Meinung eines türkischen Würdenträgers, der 1834 in Bukarest weilte,
derzufolge „es sich nun gehöre, daß von nun an die asiatischen Zeremonien ausbleiben“ aus
dem öffentlichen Leben der Fürstentümer.
Die Informationen Grigore Andronescus zu Europa nahmen zu im vierten und fünften
Jahrzehnt, vor allem auf frankophoner Linie (Frankreich verkörperte nun das Bild Europas),
aber seine Sicht erschien eher abweisend: „Heute, am 20. April 1838, als ich die rumänische
Zeitung las“, notierte er ironisch, „sah ich diese Statistik für Frankreich, zur Erinnerung
daran, was für tüchtige Menschen sie sind, von denen man sagt, sie seien ein aufgeklärtes
78
Tudor Vladimirescu: Scrieri... S.24, 26 für den Brief vom Juli 1814, passim für den Rest der Korrespondenz
der Jahre 1814-1815.
79
Es geht um {erban Andronescu und seinen Sohn Grigore: Însemn\rile Androne[tilor. Hrsg. u. eingel. von Ilie
Corfus. Bucure[ti 1947.
26

Volk...“. In der vom Autor wiedergegebenen Statistik ging es um die ehelichen Beziehungen
in der französischen Gesellschaft: Das Fazit war kein günstiges. Sein moralisierend
europakritischer Kommentar: „Was sollen denn wir sagen, die Unwissenden, wie uns die
Europäer heißen, wenn bis heute doch sich noch hält zwischen uns diese Ruhe?!“
Europa blieb für Grigore Andronescu der gleiche Raum außerhalb der osmanischen Welt,
wohin Fürst Milos von Serbien „aus Angst flüchtet“, da ihn die Türken der Revolte
verdächtigten (Aufzeichnung a. d. J. 1841). Es war die Vorstellung eines mehr intuierten
denn gekannten Territoriums. Etwa 1842 sprach Grigore Andronescu von Europa als von
irgendeinem geographischen Ort (er erwähnte gewisse Flugblätter gegen den damaligen
muntenischen Fürsten Gheorghe Bibescu, in denen es hieß, dieser habe seine Gattin „in
Europa, im Irrenpensionat“ gelassen), der, wenn auch relativ vertraut, doch eine fremde Welt
blieb.
Noch radikaler war die Vorstellung des Handwerkers Ioan Dobrescu, Autor einer Chronik aus
dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. Er warf den Ideen und Vorbildern, die von überallher
kamen, einschließlich aus dem westlichen Europa, vor, Gottes Zorn und des Landes
Katastrophe herbeigerufen zu haben.80 Ioan Dobrescu war ein Gegner der Erneuerungen,
seien es moralische, seien es auch „technologische“. Er sah in ihnen die Zeichen Satans: „Erst
waren die Häuser in Holz gekleidet, dann haben wir sie in Eisen gekleidet... Dann kam die
grausame Hungersnot. Und wir gaben uns immer noch nicht Rechenschaft. Ewig die Angst in
der Brust, hat nicht viel gefehlt, daß uns die Heiden unterwerfen. Ja, und dann? Die Weiber
mit entblößten Häuptern* /*die verheirateten Frauen durften laut Brauch nicht mit entblößtem
Kopf gesehen werden!/ und mit geschnittenen Haaren, frei bis zu den Hüften. Die Leute
gaben ihre Tracht auf und nahmen eine fremde an, wie die Heiden, einige die französische,
andere sonstwas, mit geschnittenem Haar, mit Locken wie die Weiber. Dann vermengten wir
uns mit ihnen, und die beschlagensten lernten ihre Bücher, einige französisch, andere deutsch,
andere italienisch. Und es drang ein die Lehre Voltärs, der von Gott gehaßte, den sie, die
Heiden, wie einen Gott hielten. Und die heiligen Fasten achteten sie nicht mehr. Immer
Fleisch bei Tisch. In die Kirche gingen wir alswie zu einer Schau, ein jeder mit seinen besten
Kleidern, die Weiber mit vielerart teuflischem Schmucke, und nicht traten wir ein in die
Kirche mit Gottesfurcht, um für unsere Sünden zu beten. Kurz gesagt, der Stolz hatte seinen
Thron nach Bukarest gestellt. Wir glaubten nicht an Gott, nur an Mauern, Kleider, an
Betrügereien, an gutes Essen, an Trinkgelage und insbesondere an die Heuchelei. Dies hatten
wir allgemein zur Gewohnheit gemacht. Und unsere Größten mit den Intrigen, daß es nicht

80
Vergl. Ilie Corfus: Cronica me[te[ugarului Ioan Dobrescu (1802-1830). Bucure[ti 1966 S.33f., 67 u. passim.
27

mehr auszuhalten war, und nicht nur der weltliche Teil, sondern auch der geistliche. Dabei
sind all diese nur der Heiden, denn sie sind ohne Hoffnung, und nicht aber unser, der
Christen. Wir müssen demütig sein, denn für die Demut kommen uns solche Nöte.“
Die Katastrophen (Kriege, Erdbeben, Feuersbrünste, etc.) waren in dieser Vorstellung nichts
als Zeichen der göttlichen Erbitterung, infolge der Nachahmung einer fremden Zivilisation.
Trotzdem war Dobrescu ein treuer Spiegel für die Zwangslagen, in denen sich seine Welt
befand. Die „europäischen“ Erneuerungen wurden akzeptiert, wenn sie die Erlaubnis der
Autoritäten hatten, sei es die Patriarchie in Konstantinopel, sei es die Pforte. Sie begannen
aber mit dem Ende des dritten Jahrzehnts zu fast normalen Gesten zu werden. „Und sie
machten (...) also ein reguläres Heer mit Musterung, wie die Europäer“, schrieb er 1826 über
die Janitscharenreform in der osmanischen Armee. Dies zeigt, wie sehr sich der westliche
Bezug durchgesetzt hatte in der gemeinsamen Kultur der Fürstentümer.
Einen Diskurs der Übergangszeit von der postmittelalterlichen Perspektive zu einer
europäischen Vision finden wir bei Naum Râmniceanu. Diesem niederen Kleriker, mit einer
eher konservativen Einstellung, verdanken wir für den Anfang des 19. Jahrhunderts die
vollständigste Vorstellung von Europa. Es ist eine märchenhafte Wahrnehmung, aber voller
Ausdruckskraft und Sympathie.81
Für Naum Râmniceanu hatte Europa eine originäre Einheit, denn fast alle seine Völker
stammen aus „dem Geschlechte Jafets“, dem biblischen Ahnherrn, ausgenommen - und dies
war bezeichnend für sein allgemeines Denken - die Türken, die Juden und die Griechen. Gott-
Vater selbst habe seine Zustimmung für die Bevölkerung des Kontinents durch dieses
Geschlecht gegeben. Ein Kontinent, der nicht zufällig ganz christlich war - mit den erwähnten
Ausnahmen.
In Kapitel 9 seiner Cronica bemerkte er, daß „die Herzen, welche Europa zu kennen
wünschen, auch seine Grenzen zu wissen haben“. Diese waren: im Osten die Ägäis, der
Bosforus, das Schwarze Meer, die Donmündung („welche Asien von Europa trennt durch das
Russenland“) und das Weiße Meer, „wodurch Asien von Europa getrennt wird“; im Süden,
„das innere Meer“, also das Mittelmeer, Gibraltar und der „atlantische Ozean“, der sich auch
gen Westen erstreckt; im Norden, begrenzt Europa „das gefrorene Meer“. Interessant war
seine Vorstellung, was „die Länder, die jeweils am Rande Europas liegen“, betrifft, bzw. „im
Westen Spanien, im Norden Frankreich, Deutschland und Sarmatien; im Süden Hellas (...),

81
Naum Râmniceanu werden mehrere, zu verschiedenen Zeitpunkten geschriebene Texte zugesprochen; unser
Interesse gilt seiner Chronik vom Anfang des Jahrhunderts, sowie den militanten Texten vom Anfang der 20er
Jahre. Vergl. Cronica inedit\ ...S.67f., 85, passim; Coresponden]a Moldoveanului cu... S.21-128.
28

Italien, die Lombardei; im Osten Konstantinopel mit seinen Provinzen, und in der Mitte
Illyrien, Dakien, Pannonien.“
Nach der Festlegung der Grenzen, gab er das allegorische Bild Europas wieder, angeregt von
den „neuesten Geographien“: „sehr schön, vorzustellen als eine Frau, die auf einem Stuhl
sitzt, deren Kopf Spanien ist, Hals das äußere Frankreich, als ein Teil der sich unter den
Pyrenäen erstreckt, Brust - Frankreich selbst, Arme - Italien und die Bretagne, Bauch -
Deutschland, Nabel - Böhmen, und der restliche Körper, der sich mit langen Kleidern bedeckt
rund um den Stuhl, ist Norwegen, Dänemark, Schweden, Finnland, Livland, Litauen,
Preußen, Polen, Ungarn und Slawonien, Kroatien, Dalmatien, Rumelien, Serbien, Bulgarien,
Siebenbürgen, die Walachei, die Moldau, usw..“
Was die politische Organisierung Europas betrifft, zeigte Naum Râmniceanu die gleiche
vorwiegend mittelalterliche Auffassung: „Europa teilt sich nicht nur in Arten von Provinzen
und Länder auf, sondern auch in Arten von Kaiserreichen, Königreichen und Herzogtümern.
Also zählen die Geographen in Europa drei Kaiserreiche, zehn Königreiche und 11
Herzogtümer.“ Seine Vorstellung war manchmal nebulös, drückte aber das geopolitische
Bewußtsein seiner Zeit relativ genau aus: „Im Osten befindet sich Konstantinopel; im Westen,
der Cäsar Roms, der jetzt der deutsche Kaiser ist, und woher der Nordost weht, das
Russenreich“. In dieser seiner Hierarchie folgten dann die Königreiche („Portugals, Spaniens,
der Franzosen, der Engländer, der Polen, Brandenburg, Dänemarks, Schwedens, Pommerns
und der Ungarn“), die italienischen und deutschen Herzogtümer, sowie auch die „anderen
kleinen Herzogtümer und Fürstentümer“, die er nicht mehr erwähnte, da sie „Sache der
Geographen“. Vier große linguistische Familien (hellenische, lateinische, germanische und
slawische) bevölkerten diesen Kontinent, sowie auch drei „Gesetze“ (Religionen), resp. jene
„der Christen, der Juden und der Türken“, wobei er hinzufügte die häretischen Tendenzen
(die Arianer, die Katholiken, die Calvinisten, die Lutheraner und die Unierten), „die
Götzendiener, und schließlich die völlig gottlosen (die Atheisten), an deren Spitze sich
unlängst die Freimaurer gesetzt haben und ihre Lehrer, die Franzosen...“. Diesen gegenüber
war Naum Râmniceanu sehr streng, „denn alleine werden sie nie aus der Grube steigen
können, in die sie gefallen sind, wofür zu schreiben ein ganzes Leben nicht reicht, reich, wie
das Wort ist“.
Die Beschreibung „der Geschenke der Erde Europas“ bot ihm Gelegenheit zu einer wahren
Lobrede: „Europa unterscheidet sich den Geographen zufolge viel von anderen Teilen der
Welt, sowohl durch die Schönheit der Landschaften, als auch durch die gut passende Luft und
durch die große Angemessenheit der Bauten. Desgleichen überwältigt auch seine unzählige
29

Menge von Menschen, bei denen stets die natürlichen Gaben geglänzt haben, in den guten
Sitten, in der Kenntnis der Lehren, in der Geschicklichkeit der Waffen, und in allen
nützlichen Dingen im Leben der Menschen. Man hat in Europa fast alle Handwerke erfunden,
und mehr noch verdienen großes Lob - die Schiffsflotten und der Kompaß, der mit seinem
Finger die Geistesschärfe der Europäer anzeigt; den Druck erfand man 1440 nach Christus,
das Schießpulver von einem gewissen Berthold im Jahre 1390, wie auch jene Werkzeuge für
den Krieg“. Livresk und positiv, scheint sein Bild von Europa inkompatibel mit seiner
Vorstellung aus den 20er Jahren.
Ohne verschieden zu sein, war das Bild Europas, so wie es in den Texten der politischen
Klasse der Fürstentümer erschien, weitaus weniger plastisch; oft zweideutig, aber aktiver. Wir
wurden auf zwei Arten von politischen Texten aufmerksam. Eine Kategorie drückt eine
direkte reformerische Haltung aus (Projekte, Denkschriften, etc., also Texte, die vor allem an
die Großmächte gerichtet waren - an Rußland, Österreich, die Türkei, oder an europäische
Mächte - vor allem das napoleonische Frankreich); eine andere Kategorie stellen die
narrativen Texte dar, geschrieben von jenen, die die politische Entscheidung hatten in den
Fürstentümern (Pamphlete, Briefe, etc.).
Desgleichen haben wir dieser Wahrnehmung entsprechend zwei imagologische Ebenen:
zuerst die Vorstellung einer fremden und exotischen Welt, ohne eine klare Physiognomie,
oder höchstens als ein einfacher Bezugsraum, dem ein besonderer ideologischer Wert fehlte;
dann jene, auf der Europa als eine Bühne der Politik gesehen wurde, als der Ort, woher die
politischen Einflüsse, die Ideen und manchmal, vage, Zeichen der Solidarität kamen. In
beiden Fällen ging es nicht um ausgefeilte Anschauungen. Man kann trotzdem eine
Entwicklung feststellen von den Texten, die zwischen 1802 und 1807 an Napoleon gerichtet
wurden, in denen Frankreich als eine Gegenmacht zu jener der Türkei und Rußlands - die
beiden obsessiven Bezugspunkte der politischen Vorstellungen der Rumänen zu jener Zeit -
gesehen wurde, also streng als Machtzentrum, zu der Vorstellung von Europa als Raum einer
politischen Norm, der Vernunft, der Ideen und der öffentlichen Meinung, Eigenschaften, die
diese Welt stark unterschieden vom osmanischen, russischen oder auch österreichischen
Raum. Neben diesen Vorstellungen erschien - in einer sehr instabilen Welt - oftmals das Bild
Europas als Asyl für die oft bedrohte politische Klasse der Fürstentümer.
Wenn wir uns bloß auf die politischen Texte der ersten beiden bodenständigen Herrscher
beziehen - Ioni]\ Sandu Sturdza und Grigore Ghica -, die in der Moldau und in der Walachei
zwischen 1822 und 1828 herrschten, bezeugen ihre Korrespondenz und ihre wichtigsten
Handlungen ein wachsendes Interesse am europäischen Kontinent und an der
30

abendländischen Welt, ohne sich aber als Versuch einer Annäherung oder allzu
herausfordernder Sympathie zu kristallisieren, vor allem, da auch der politische Rahmen, in
dem sie agierten, dies nicht erlaubte.82 Wie auch sein Vorgänger, der phanariotische Fürst
Gheorghe Caragea (1812-1818), hatte vor allem Grigore Ghica einen privaten
Korrespondenten in Wien - den berühmten Ritter von Gentz, der ihn informierte (wenn auch
auf Geheiß der Pforte) über die diplomatische Aktualität in Europa. 83
Das Europa Grigore Ghicas erschien als ein ambivalentes Territorium: einerseits als ein
Machtzentrum, von dem man immer mehr Unterstützung erhoffte, als ein ideologischer
Leitfaden, andererseits als eine Welt, die verschieden war von jener, zu der die Fürstentümer
gehörten, die also bestimmte Handlungen inspirieren konnte, aber zu verschieden war, um
nachgeahmt zu werden. Im allgemeinen bestand für Grigore Ghica Europa aus den
Großmächten, vor allem Westeuropa und insbesondere die Heilige Allianz, zu der England
natürlich hinzukam. Er suchte ein konservatives Europa der Ordnung, in das er fast unbewußt
auch Rußland einfügte, aber auch ein Europa der Zeitungen und der öffentlichen Meinung,
verstanden in seiner Art, vor allem aber ein Europa der Harmonie und der Vernunftpolitik,
ein natürliches Echo eines tiefen Verlangens nach Sicherheit. Als Wiege der Zivilisation warf
er dem politischen Europa oft die fehlende Handlungseinheit vor, Rußland oder der Türkei
gegenüber, wie auch seine Verletzbarkeit infolge der Naivität der europäischen Politiker.
Trotzdem war Europa für ihn eine reale Welt. Er war auf dem laufenden mit der gesamten
europäischen Problematik, da er die wichtigsten Gazetten der Zeit abonniert hatte. Es war
offensichtlich, daß Ghica, trotz seiner gespaltenen Vorstellungen, nicht mehr das tiefe
Bewußtsein der Zugehörigkeit zur osmanischen Welt hatte, wie das bei Ioan Caragea noch zu
spüren war.84 Im Gegenteil, er zeigte oft ein klares Bewußtsein seiner Gemeinschaft mit der
„untrennbaren Familie“ der europäischen Völker. Als er sich im März 1827 auf die
griechische Revolte bezog, warnte der walachische Fürst: „Le feu brűle pas en Amerique, il
est en Europe et la situation physique des pays agités est telle, que tôt ou tard elle peut sans
qu’on s’en aperçoive amener des complications.“85
Grigore Ghicas Vorstellung von Europa war also eine ausschließlich politisch geprägte. Er
zeigte Interesse für jedes europäische Problem, das Auswirkungen auf sein Land haben
könnte: der griechische Aufstand, die spanische Krise, die potugiesische Frage, die russisch-

82
Vergl. I. C. Filitti: Coresponden]a domnilor ][i boierilor români cu Metternich [i cu Gentz între anii 1812-
1828. In: AARMSLit T.XXXVI Bucure[ti 1914.
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Vergl. Vlad Georgescu: Din coresponden]a... passim.
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Siehe die Korrespondenz Carageas ,aus dem Jahre 1814, mit Metternich in I. C. Filitti: Coresponden]a
domnilor... S.941, 984f.
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Vlad Georgescu: Din coresponden]a S.163.
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ösetrreichischen Beziehungen, etc., aber auch für banale Ereignisse wie die
Überschwemmungen in Frankreich oder Deutschland. Denn, wie er in einem Brief vom März
1824 bemerkte, „aucune affaire ne peut ętre discutée en Europe sans attirer plus ou moins
l’attention générale...“. Vorläufig war er daran interessiert, auf dem laufenden zu sein mit der
diplomatischen Aktualität Europas, und weniger daran, ein explizites europäisches
Engagement zu definieren.
Spektakulärer und deswegen auch täuschender, da er oft als dominante Tendenz gewertet
wurde, erschien der europäische Diskurs. Charakteristisch für diese Aussagen war der
gemeinsame Wunsch, die europäische Welt zu kennen und zu beschreiben, vor allem aber,
die Fürstentümer innerhalb eines gemeinsamen Projekts vorzustellen. Vertreten wurde die
Anschauung, daß ein Modernisierugsprojekt als Grundlage eine Nachahmung der
„Leistungsmodelle“, die sich im Westen bereits behauptet hatten, haben mußte, bzw. das
aufgeklärte Europa. Exklusiv von der abendländischen Kultur vertreten, begann dieses
Europa der Aufklärung mit Kronstadt (Bra[ov) und schloß Rußland, Polen, den Norden und
den extremen Süden (Spanien oder Sizilien, etc.) aus.
Zeugnisse der Sympathie und der Annäherung an die europäische Welt finden wir in leicht
obskurer Form bei verschiedenen Autoren, bereits zu Beginn der abgesteckten Zeitspanne,
aber nur sporadisch und ohne eine artikulierte Aussage zu bilden. Naum Râmniceanu war der
früheste Ausdruck dieser Anschauung, gefolgt von der intellektuellen „Generation“ des
Augenblicks 1821. Der exemplarische Fall für die gesamte rumänische Kultur des 19.
Jahrhunderts blieb Dinicu Golescu. Seine berühmte Însemnare a c\l\toriei mele...
/Aufzeichnung meiner Reise.../, erschienen 1826, die in staunendem und ekstatischem Ton
die „Expedition“ eines gebildeten Bojaren aus den Fürstentümern ins westliche Europa und
den Kontakt mit dieser Welt beschreibt, nimmt in der rumänischen Kultur den Stellenwert
eines grundlagenstiftenden Werks ein.
Mit Dinicu Golescu fand eine wahre Translation von Europa als Welt, als überlegene
Zivilisation, zu Europa als Semnifikant eines ideologischen Projekts statt. Selbst die Idee
seiner märchenhaften Reise verdanken wir dem Beispiel der unzähligen „umfassenden
Reisebücher der Europäer“, davon „Europa voll ist, wie auch von anderem“.
In seinem Text kreierte Golescu das Bild eines absoluten Europas, als Modell administrativer,
politischer und technologischer Effizienz, aber auch als Modell gesellschaftlicher
Beziehungen, der Förderung der kollektiven Identität sowie seiner Werte etc. Er beschrieb
nicht einfach: Er verglich, inszenierte die Differenz. „Welch ein Unterschied zu uns...“
wiederholte er oft. Der Vergleich entmutigte ihn: „Ein sehr tüchtiger, gottesfürchtiger Bojare
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sagte mir, daß er zufriedener ist, Gärtner in diesem Garten zu sein, als Ban und hoher
Beamter, zweite Person der administrativen Hierarchie des muntenischen Staates in der
nichtswürdigen Walachei. Wie sehr hat mir dies gefallen!“
Wie man gleich bemerkt, war Dinicu Golescu nicht an und für sich interessiert,
Reiseerinnerungen zu schreiben. Für den muntenischen Bojaren war die Reise eine Öffnung
gegenüber „dem Raum der verwirklichten Utopie“, und das war das aufgeklärte Europa. Er
verglich, suchte Zeichen des Unterschieds, um eine Vorstellung zu schaffen. Als Anhänger
eines westeuropazentrierten Schemas war er nicht daran interessiert, eine Lobrede auf die
besuchte Welt zu halten, sondern, indem er als Beispiel „das wahre Glück dieser Völker“
nahm, seiner Heimat ein „Zukunfts“-Projekt zu bieten. Im Namen dieser Zukunft negiert er
die „Gegenwart“, in der sein Vaterland sich befand und die er für einen Anachronismus hielt.
Die kulturelle Differenz zwischen den beiden Welten bestand also in einer temporalen
Beziehung: in der Desynchronie. Gleichzeitig schlug der muntenische Bojare ein
Verhaltensmodell vor als Bedingung für den Zugang zur geschichtlichen Zeit der Welt.
Folglich war das, was Dinicu Golescu offenlegte, der durch den Kontakt mit einer
bemerkenswerten und verschiedenen Zivilisation hervorgerufene Schock, aber statt eines
erschreckten Rückzugs proklamierte er das Pflichtgebot der Identität mit dieser Zivilisation,
durch Nachahmung und Annahme einer rationalen Politik.
Neben Dinicu Golescu, waren es noch Barbu Paris Mumuleanu, Eufrosin Poteca, Petrache
Poenaru, die ein Bild des aufgeklärten Europas im öffentlichen Diskurs durchsetzten. Ihre
Aussagen haben eine stark utopische Anfärbung, aber sie müssen in ihrem normativen,
programmatischen, sogar provozierenden Wert verstanden werden, als Mittel eines
intellektuellen und reformerischen Diskurses. Sowohl die Ermutigungen, als auch die Gesten
Dinicu Golescus fanden einige Versuche pragmatischer Projektion in der Epoche. Die
Aufklärung und die europäische Aussage waren fast synonym.

Schlußfolgerungen
Der Fall Golescu hinterläßt ein Dilemma: Ging es tatsächlich um eine „Entdeckung“ Europas,
durch seine unmittelbare Erforschung, oder erfand der walachische Bojare es bloß, unter dem
Vorwand einer Reise, zum Gebrauch seiner Landsleute? War der Kontaktschock real oder
gespielt? Eine eindeutige Antwort kann nicht gegeben werden. Die „Entdeckung“, bzw. die
absolute Neuheit war gewissermaßen ein simulierter Akt, dazu bestimmt, die Distanz
zwischen den beiden Welten zu dramatisieren. Es ist gewiß, daß die Informationen über
Europas Wirklichkeit in dieser Epoche zirkulierten. Die Erfindung erscheint sowohl
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ungewollt, aus Informations- oder aus Erklärungsnot, als auch gewollt, aus ideologischer
Notwendigkeit. Es darf nicht ignoriert werden, daß lange Zeit die Vorstellung von Europa
durch Kolportageliteratur vermittelt wurde. Das Kennenlernen, die Entdeckung geschah
eingangs mittels der Imagination. Die Schärfe dieser Wahrnehmung war direkt proportional
mit der Intensität ihrer ideologischen Motivation. Das Imaginäre war in diesem Fall nicht
unschuldig, und Dinicu Golescu kein isolierter Fall seiner Zeit.
Trotzdem müssen, wenn wir von dieser kulturellen „Erfindung“ des aufgeklärten Europas
sprechen, diese beiden historiographischen Klischees berichtigt werden: Wir befinden uns
nicht vor einem kollektiven und die Epoche dominierenden Gefühl, sondern vor einem
Produkt des dritten Jahrzehnts der aufgeklärten Elite, die selbst kein so großes Gewicht hatte;
andererseits ging es oft nicht um einen freiwilligen Akt, sondern um eine diffuse Mode, um
die Sensibilität einer Antwort auf die geschichtliche Herausforderung der Zeit. Der Begriff
Erfindung bezieht sich auf eine Praxis der kollektiven Vorstellung, die Realität durch ein
Raster zu sehen, das außerhalb seines Diskurshorizonts herstammt, sei es nun ein religiöses,
ein politisches usw.
Welches ist im Grunde genommen die Kraft eines Bildes, wodurch wird es eine historische
Tatsache? Eine Vorstellung wird zur kollektiven Geste bloß dann, wenn sie sich als
Kolportagethema instituiert, wenn sie von einer intellektuellen Richtung vereinnahmt wird.
Die Quellen, die eine Bildaussage hervorbrachten, waren fast ausnahmslos einzelne
Individuen: Chronisten, Kleriker, aufgeklärte Politiker, aber sie repräsentierten, wie wir
gesehen haben, kulturelle Typologien. Ihr Impakt in der Epoche muß mit großer Vorsicht
gesehen, darf aber auf keinen Fall ignoriert werden. Man kann feststellen, daß, von einer
einfachen Erwähnung, die vielleicht unbewußt erfolgte und einen konventionellen
geographischen oder kulturellen Bezug herstellte, sich die Vorstellung mit der Zeit zu einem
fast magischen, wenn auch noch diffusen Bild entwickelte, wenigstens bis 1821. Es ist
interessant, daß das Bild Europas besser ausgeprägt schien in der Walachei als in der Moldau,
falls dies nicht eine Täuschung ist, dank der fehlenden Homogenität der zugänglichen
Quellen.
Das Bild Europas verband sich mit einer bestimmten Raum- und Zeitvorstellung. Wir haben
also, in den spontanen Vorstellungen, einen Raum des Bizzaren, genauer der
Konsumgesellschaft, als der Ort, woher die Mode, die Luxusartikel und die technologischen
Innovationen kamen, aber dann auch, in den ausgearbeiteten Darstellungen, den Raum der
Vernunft, wo der Komfort nicht synonym war mit Luxus, in dem Sicherheit der Person,
Ereignisse, öffentliches Leben existierten. Es gab eigentlich drei Vorstellungen des
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europäischen Raumes: eine, die Europa als einen geopolitischen Block festlegte, der auch die
Türkei und Rußland einschloß, aber die nichtsouveränen und realpolitisch einflußlosen
Staaten ausschloß; eine, die Europa bloß innerhalb der Grenzen der Zivilisation und der
Aufklärung ansiedelte, ihm aber dafür einen außerordentlichen symbolischen Wert beimaß;
und eine dritte, die Europa in einer maximalen geographischen Dimension sah, in seiner heute
anerkannten physischen Ausdehnung. Der finale Triumph des aufgeklärten Europas über
letztere Vorstellung war mehr eine Auswirkung der kulturellen Illusion, denn die drei
Vorstellungen scheinen verschiedene und selten dialogierende Wahrnehmungsebenen
ausgedrückt zu haben..
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts existierte der Raum nicht autonom, er war Ausdruck
einer zeitlichen Beziehung. Die Menschen lebten nicht in verschiedenen Regionen, Ländern
oder Welten, sondern in unterschiedlichen Epochen. Die Entdeckung Europas, vor allem
seitens der Aufklärer, gegen das Ende der hier behandelten Zeitspanne, war eine analoge
Tatsache zur Entdeckung der geschichtlichen Zeit, bzw., ein Übergang von der homogenen
Dauer der Geschichte, im Einklang mit Gott, zur Historizität, der menschliche Handlungen
und Ursachen zugrunde liegen. Durch Europas Bild entdeckten die Aufklärer der
Fürstentümer die Zeit der Welt, die exemplarische, organische Zeit, assoziert mit der Idee des
Fortschritts und mit einer Zukunftsvorstellung. Die Nachahmung Europas war ein
Anschlußversuch an die Gegenwart, bzw. an die Zeit der Welt. Mehr noch, diese Tatsache
deutete an, daß das geschichtliche Werden eine freiwillige, menschliche Handlung sein
konnte, die den Völkern offen stand. Die Mythologie der Nationalen Renaissance, die ihre
Anfänge in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts hatte, kann nicht getrennt werden von
diesem Bild einer positiven Geschichte, gestaltbar einfach durch den menschlichen Willen.
Auch die Idee der Zukunft als Objekt der Träumerei und als Zeit des Wünschbaren, war eine
Erfindung dieser Zeit. Hier stellte Europa nie eine Regression dar.
Das Bild Europas war aber gleichzeitig auch ein Bild von sich selbst; es deckte ein Bedürfnis
nach Identität und ermöglichte dadurch die Loslösung vom post-byzantinischen
Universalismus, der in seinem Kern die orthodoxe Gemeinschaft und die griechische Kultur
hatte, sowie die Annahme neuer Identitätsprinzipien, wie jenes der Latinität eines war,
welches implizite die (originäre) Gemeinschaft mit der westlichen Welt andeutete. Die
griechische Tradition des Zentrums der Welt (Byzanz) wurde ersetzt von einer westlichen,
europozentrischen Vision. Europa war der Spiegel, in dem die Fürstentümer ihr Antlitz
suchten. Intellektuell gesehen diente diese Anschauung der Aufgabe des Erklärungsschemas,
demzufolge die Geschichte den drei benachbarten Mächten gehörte, die einander ihren
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Einfluß in den Fürstentümern streitig machten. Europa war ein Subjekt der Träumerei, aber
auch eine potentielle politische Stütze. Es ist wahr, daß eine Translation im Eiltempo eine
neue Art von kultureller Pathologie hervorrufen sollte, verkörpert in einem
Minderwertigkeitssyndrom.
Rief aber, in dem Maße, in dem sie einen Wunsch kultureller und politischer Erneuerung
darstellte, diese ekstatische „Entdeckung“ Europas nicht eine Spannung hervor zu den
einheimischen Traditionen, eine Gegen-Reaktion dieser? Die negative Anschauung trat diffus,
durch die Behauptung der geographischen Gemeinschaft, aber durch die Ablehnung der
kulturellen Adoptionen in Erscheinung, während die aufgeklärte , Europa zugeneigte Position
das Bild Europas unter Ignorierung seiner Geographie konstruierte, zugunsten einer
symbolischen Gemeinschaft. Die Ablehnungsreaktionen waren gewöhnlich spontan,
widersprüchlich und ohne kulturelle Wirkung, beschränkt auf eine Reihe von ewigkeitslastige
Anschwärzungen. Das Bild Europas wurde, in seinem ideologischen Sinne, noch nicht als ein
opressives wahrgenommen. Im Gegenteil, es stellte in dieser Zeitspanne den Bezug dar für
die wichtigsten politischen Modernisierungsprojekte. Der Tradition, dem Orient verblieben
der - im allgemeinen passive - orthodoxe Glauben, sowie auch die Vergangenheit, verstanden
als Ahnenkult.

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