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Dominik Schrey
1. Einleitung
Längst ist Nostalgie zu einer zentralen Vokabel der Kulturkritik und allgemeinen
Gegenwartsdiagnostik geworden. Durch die ubiquitäre Verwendung hat der Be-
griff, mit dem nicht nur populärkulturelle Retrotrends, sondern auch restaurative
politische Bewegungen weltweit erklärt werden sollen, einiges an Trennschärfe
verloren. Dabei mangelt es keineswegs an umfangreichen Kulturgeschichten der
Nostalgie, die die Entwicklung des Begriffs detailliert nachzeichnen: von der
tödlichen Heimweherkrankung Schweizer Söldner im Ausland zu der heutigen
eher vage konturierten wehmütigen Verklärung oder Romantisierung der Ver-
gangenheit. Meist wird dabei die These vertreten, dass der semantische Wandel
von einem räumlichen zu einem temporalen Konzept sich erst in der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts vollzogen habe – und zwar mehr oder weniger abrupt
nach einer längeren Phase, in der der Diskurs fast vollständig in Vergessenheit
geraten sei.1 Andernorts habe ich bereits dargelegt, dass die Bruchstelle zwischen
Nostalgie als pathologischem Heimweh und Nostalgie als Sehnen nach einer
verloren geglaubten Vergangenheit früher zu veranschlagen ist und weniger dis-
kontinuierlich beschrieben werden sollte, als es häufig geschieht.2 In wesentlichen
Aspekten gibt es entscheidende Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten zwischen
den beiden Konzeptionen.
Diesem Aufsatz liegt die Überzeugung zugrunde, dass eine tragfähige Theorie
der Nostalgie nur über eine Auseinandersetzung mit der Geschichte des Begriffs
formuliert werden kann und dass die zahlreichen semantischen Verschiebungen,
die das Konzept durchgemacht hat, jeweils distinkte Spuren in diesem hinterlassen
haben. Sie sind auch heute noch – gleichsam als »historische Sedimente« – maß-
geblich, um zu einem besseren Verständnis aktueller nostalgischer Phänomene
zu gelangen. Im Folgenden wird deshalb erneut der historische sowie der gegen-
wärtige Nostalgiediskurs betrachtet, allerdings unter der Prämisse, nicht einfach
das bereits Gesagte zu wiederholen, sondern den Begriff aus der Perspektive eines
anderen Diskursfeldes neu zu erschließen: Nostalgie, so die Ausgangshypothese,
ist sowohl in der ursprünglichen Form als pathologisches Heimweh als auch in
der heutigen sentimentalen Sehnsucht nach der Vergangenheit ein Phänomen,
das auf mehreren Ebenen mimetisch operiert. Nostalgie und Mimesis sind da-
bei – soweit mir bekannt ist – bislang noch nie konsequent zusammengedacht
worden, erweisen sich aber als Verweisungsdynamik gerade für die Analyse
aktueller medialer Retrophänomene und -praktiken als überaus aufschlussreich.
Bereits auf den ersten Blick gibt es trotz der unterschiedlichen Provenienz der
Begriffe auffällige Gemeinsamkeiten: Beide Konzepte sind in der theoretischen
Auseinandersetzung geprägt von »entschiedenen Setzungen«3, etwa von Unter-
scheidungen zwischen guter und schlechter Mimesis bzw. guter und schlechter
(oder reflexiver und restaurativer 4) Nostalgie. Dabei wird sowohl der Mimesis
als auch der Nostalgie vorgeworfen, eine der Innovation entgegengesetzte Kraft
zu sein. In beiden Fällen finden wir Warnungen, sich nicht in nostalgischen oder
mimetischen Exzessen zu ergehen und dabei den Bezug zur Wirklichkeit zu
verlieren. Negativ konnotiert wird Nostalgie insbesondere dann, wenn sie Ver-
gangenes möglichst exakt wiederholen, bis ins scheinbar unwichtige Detail hinein
nachahmen möchte. Denn dann liegt der Verdacht nahe, dass die Vergangenheit,
die restauriert werden soll, in dieser Form gar nicht existiert hat, dass die Nost-
algie also Simulakren erzeugt: Kopien, die sich auf kein Original mehr beziehen.5
Das Verhältnis dieser beiden Begriffe über solch oberflächliche Ähnlichkeiten
hinaus zu erkunden, ist das erklärte Ziel dieses Aufsatzes, der die ›Mimesis der
Nostalgie‹ in den Blick nimmt. Ausgehen werde ich dafür von einer Mikro-
analyse einer Szene aus einer japanischen Zeichentrickserie, um dann einige
entscheidende ›Stationen‹ der Entwicklung des Nostalgiediskurses aus der Per-
spektive der Mimesistheorie neu zu betrachten. Der Aufsatz folgt dabei weniger
genealogischen als vielmehr morphologischen Aspekten, denn genealogische
und diskurshistorische Untersuchungen der Nostalgie gibt es bereits in ausrei-
chender Zahl. Das Interesse dieses morphologischen Ansatzes gilt daher in erster
Linie der Beschreibung der sich wandelnden Formen, in denen Nostalgie sich in
mimetischen Prozessen äußert oder durch mimetische Praktiken ausagiert wird.
Abb. 8.1: Heidis
mimetischer Tanz
gegen das Heimweh
schreibt, unterläuft die exzessive Mimesis »im Akt der perfekten Anschmiegung
an ihr Vorbild dessen unbefragte Autorität, indem sie die Kopie an die Stelle des
Originals setzt und dieses damit als prinzipiell substituierbar erscheinen lässt«16.
Die Nachahmung ist zu dem geworden, was sie nachahmt – bzw. sie scheint zu
dem geworden zu sein, was sie nachahmt, denn tatsächlich ist sie es eben nicht:
Heidi kann diese Fantasie einer totalen Heimkehr nur kurz aufrechterhalten,
bevor sie an die Grenzen der mimetisch generierten Welt stößt und so an die
Unvollkommenheit ihrer Rückkehr erinnert wird. Die Alpenwiese erweist sich als
Phantasma, Heidis intensive Freude weicht dem Schmerz über den nun offenbar
noch tiefer empfundenen Verlust. Sie ist, das wird in diesem Moment deutlich,
nicht einfach nur ein spielendes Kind, sondern auch bereits an einer schweren
Krankheit erkrankt, die sie zu verzehren droht und für die die Mimesis, wie hier
argumentiert wird, gleichermaßen Kur wie Symptom und Verstärker ist. Bekannt
ist diese Krankheit zu dieser Zeit unter dem Namen Nostalgie.
Eingeführt wurde der Begriff 1688 in der medizinischen Dissertation Johan-
nes Hofers, deren diskursbegründende Rolle gut dokumentiert ist.17 Der kurze
auf Latein verfasste Text macht das auch zuvor schon bekannte schmerzliche
Sehnen (algos) nach einer Heimkehr (nostos) zur Angelegenheit der Medizin
und beschreibt es konsequent in der ihr eigenen Terminologie.18 Nostalgie ist
für Hofer eine gefährliche Krankheit, die vor allem männliche junge Schweizer
befällt, wenn sie ins Ausland reisen. Einmal erkrankt, beginnen die Patienten eine
melancholische Stimmung zu entwickeln und sprechen schon bald von wenig
Anderem als den ›Vorzügen des Vaterlandes‹. Die Liste der typischen Symptome
wird im 18. Jahrhundert immer wieder ergänzt, z. B. wird der Somnambulismus
als kennzeichnend für ein fortgeschrittenes Stadium der Krankheit beschrieben.
Auch Heidis Heimweherkrankung äußert sich darin, dass sie – sich träumend
in ihrer Heimat wähnend – durch das Haus der Sesemanns schlafwandelt und
deshalb von den anderen für einen Geist gehalten wird. Heimweh und Heim-
suchung, Nostalgie und Hantologie sind schon hier eng miteinander verwoben.19
Dennoch ist es ein weiter Weg von Hofers Begründung des medizinischen Nost-
algiediskurses zu Spyris Heidi als einem seiner letzten prominenten Zeugnisse.
Hofer spricht von Nostalgie als einer Erkrankung der Imagination, die zu
einer unkontrollierten Produktion mentaler Bilder der Heimat in den feinen
Nervenbahnen des Zentralhirns führt. Aufgrund der ständigen Fixation auf die
Erinnerungen an das ›Vaterland‹ verkümmern die seltener genutzten Bahnen
im Gehirn zunehmend, während die für die Heimatbilder zuständigen und ex-
zessiv genutzten Nervenbahnen sich so stark erweitern, dass sie immer weniger
externer Reize bedürfen, um entsprechende Bilder zu produzieren. Es entsteht
eine Art Teufelskreis, der verursacht, dass die Einbildungskraft der Erkrankten
bald nicht mehr in der Lage ist, sich auf etwas anderes zu richten, was bei aus-
bleibender Therapie schließlich zum Tod führt.20 Zwar weist Hofer den Bildern
einen konkreten Ort im Gehirn zu und auch der Prozess ihrer Erzeugung ist für
ihn rein physiologischer Natur, dennoch bezieht die Krankheit genau besehen
ihre Gefährlichkeit daraus, dass man sich in Trugbildern verliert. Tatsächlich
spricht er im lateinischen Original mehrfach von phantasmata. Was er beschreibt,
ist ein Prozess ungezügelter mimetischer Vervielfältigung, denn die mentalen
Bilder ahmen die Heimat zwar nach, sie befriedigen jedoch die Sehnsucht nach
Heimkehr nicht, sondern steigern diese im Gegenteil noch: »Nostalgia is the
repetition that mourns the inauthenticity of all repetition and denies the repeti-
tion’s capacity to form identity«21, heißt es bei Susan Stewart. Konsequenterweise
ist daher auch die einzige wirklich erfolgversprechende Therapie, die Hofer sich
vorstellen kann, die tatsächliche Heimkehr. Nur sie ist imstande, dem Sog der
außer Kontrolle geratenen mentalen Bilder nachhaltig etwas entgegenzusetzen –
nämlich das Original, dessen Abbilder die Erkrankten heimsuchen.
Fritz Ernst, der erste Kulturhistoriker der Nostalgie, beschreibt 1949 diese Sing-
und Aufführverbote des Kuhreihens als Versuch, »die Soldaten vor der Lorelei der
Alpen zu beschützen«24. Damit verweist er – absichtlich oder nicht – auf ein bis
ins 19. Jahrhundert verbreitetes Erklärungsmuster, das die Kraft des Kuhreihens
als mimetischen Effekt deutet, schließlich ist die Kunstsage der Loreley selbst ge-
wissermaßen ein Widerhall des antiken Mythos von Echo und Narziss, in dessen
Zentrum die Frage nach den Gefahren einer trügerisch naturgetreuen Mimesis
steht: »Echo reproduziert eine Rede in vollständiger Treue nur um den Preis, sie
gleichzeitig zu verstümmeln. Die Verstümmelung ist nun im Mythos die Bedin-
gung für eine verzerrte Kommunikation, die die Mimesis, wie bei Platon, als Ort
des Scheins und des Trugs entlarvt.«25 Genauso verhält es sich letztlich auch mit
dem Kuhreihen, wenn man die überlieferten Textzeugen ernst nimmt: So schreibt
etwa der französische Schriftsteller Bernardin de Saint-Pierre in seinen Études
de la Nature von 1784: »Je m’imagine que ce rans des vaches imite le mugissement
des bestiaux, les retentissements des échos, et d’autres convenances locales qui
faisaient bouillir le sang dans les veines de ces pauvres soldats […].«26 Die starken
körperlichen Effekte der Musik rühren demnach von deren Nachahmung der
Geräuschkulisse der Schweizer Berge her. Der Kuhreihen reproduziert jedoch
nicht einfach nur »mimetisch die Echos in den Alpen«27, wie Bunke schreibt,
sondern er trägt deren Klang gleichsam als Echo in die Ferne. Ähnlich wie in der
eingangs analysierten Szene der Heidi-Adaption ist es also die Unvollkommenheit
der Mimesis, die diese nur als Trugbild erscheinen lässt bzw. – im Sinne der von
Hofer eingeführten Terminologie – die die pathologischen Trugbilder überhaupt
erst hervorruft.
Es ist Rousseau, der mit dieser Interpretation bricht. Er bespricht den »Rans-
des-Vaches« in seinem Dictionnaire de musique von 1768 an prominenter Stelle –
nämlich unter dem zentralen Lemma »musique« – und verhilft ihm so zu inter-
nationaler Bekanntheit. Fast überrascht stellt er fest, dass er vergebens nach
Elementen innerhalb der Musik selbst gesucht habe, die in der Lage seien, die
erstaunlichen Effekte hervorzurufen, die der Melodie zugeschrieben werden. Statt-
dessen entfalte der Kuhreihen seine emotionale Kraft nur dann, wenn mit der
Melodie auch eigene Kindheitserinnerungen verbunden seien. Rousseau folgert
daraus, dass es sich für nicht in den Schweizer Bergen sozialisierte Hörerinnen
und Hörer um ein letztlich austauschbares Musikstück handelt. Der Kuhreihen ist
für Rousseau deshalb ein »signe mémoratif«28, dessen Wirkung in einer Dynamik
von Zuschreibungen und Sensibilitäten zu suchen sei.29
Damit setzt eine Sentimentalisierung der Nostalgie ein, die bis heute maßgeblich
für den Diskurs geblieben ist.30 Insbesondere die Schweizer Hirtenweise wird schon
bald nicht nur zu einem integralen Bestandteil des Diskurses und zum Gegenstand
zahlreicher wissenschaftlicher Untersuchungen, sondern auch zum Vorbild für
künstlerische Nachahmung.31 Wie Dodman schreibt, lässt sie sich geradezu als
›musikalisches Leitmotiv‹ der Bewegung der Romantik begreifen.32 Aufgerufen
wird mit dem Kuhreihen nun nicht mehr das tödliche Heimweh, sondern eine
innige Sehnsucht nach Natur und dem einfachen, richtigen Leben; der Mythos
des sentimental-patriotischen Schweizers. So betrachtet zeichnet sich bereits im
19. Jahrhundert jene wichtige Unterscheidung ab, die Paul Grainge 2002 beschreibt:
zwischen Nostalgie als hochgradig konventionalisiertem ästhetischen Modus auf
der einen Seite und Nostalgie als Gefühl oder sentimentaler Stimmung auf der an-
deren Seite – wobei aus dem einen nicht zwingend das andere hervorgehen muss.33
verlassen. Das Problem liegt also nicht bei den Schweizern, sondern es ist eine
geradezu notwendige Konsequenz der besonderen Qualität der Schweizer Luft.
Die Umdeutung der »zuvor eher bedrohlichen Schweizer Alpen«35 zum »Asylum
languentium«36 und schließlich zu heilenden Zauberbergen nimmt hier ihren
Ausgang und verbindet sich im 18. Jahrhundert zunehmend mit den bereits be-
schriebenen Vorstellungen vom naturverbundenen Leben in den Bergen. Als The-
rapie für die Nostalgie ist Scheuchzer zufolge alles hilfreich, was auf den Körper
einen ähnlichen Effekt hat wie die Schweizer Höhenluft. Als Beispiele nennt er
neben der Einnahme von auf Salpeter basierenden Medikamenten vor allem das
Ersteigen hoher Türme und Spaziergänge in nahegelegenen Berglandschaften.37
Diese ätiologische Umdeutung stellt einen entscheidenden Einschnitt in der
Geschichte der Nostalgie dar. Denn neben die Heimkehr als einziges Heilmittel tritt
hier erstmals eine – gerade im militärischen Kontext – wesentlich ökonomischere
Therapie, die wiederum in einem mimetischen Verfahren besteht: So gilt es nun,
die entscheidende Qualität des nostalgischen Bezugspunkts auszumachen und in
einem System von Ähnlichkeiten zu substituieren. Linda Austin vertritt in ihrem
Buch Nostalgia in Transition die These, dass ab dem späten 18. Jahrhundert eine
ausgeprägte »tolerance for inauthenticity« kennzeichnend für die Krankheit wird:
Angelegt findet sich diese Bereitschaft, die Krankheit durch Mimesis zu thera-
pieren, jedoch offenbar bereits bei Scheuchzer. Statt der eigentlichen Heimkehr
werden nun zunehmend »Ersatzheimaten« geschaffen oder »Ersatzhandlungen«
für den Akt der Rückkehr inszeniert. Gerade die Phantasmen, die als Symptom
der Krankheit galten, können nun als Kur eingesetzt werden.
Im militärmedizinischen Kontext, der im 18. Jahrhundert im Zentrum des
Diskurses steht, ist dieser Zusammenhang maßgeblich, denn hier spielt die
Mimesis der Nostalgie eine gleich doppelte Rolle. Schließlich hatte Hofer nicht
nur eine Diskursfigur vorgegeben, sondern gewissermaßen eine ganze Choreo-
grafie. Die Symptome der Krankheit, die nur durch sofortige Heimkehr geheilt
werden kann, werden von den Söldnern und Soldaten mitunter nachgeahmt,
lediglich vorgegeben in der Hoffnung auf ein Ende der Strapazen des Kriegs-
Abb. 8.2: »Pictures from Home«, Print-Werbung der Firma Eastman Kodak Co.
aus dem Jahr 1917
180 S chrey
Abb. 8.3: »Visit your man in the service with snapshots«, Print-Werbung der Firma
Kodak aus dem Jahr 1945
M imesis , M edie n , N o stalgie 181
Interessant ist dieser Umstand nicht nur vor dem Hintergrund der geschickten
Kommerzialisierung nostalgischer Befindlichkeiten, sondern auch und gerade
im Kontext der hier diskutierten mimetischen Dimension der Nostalgie. Man
mag sich bei diesen Werbeanzeigen an Roland Barthes’ berühmte Formulierung
der Fotografie als »Nabelschnur«, die unseren Blick mit dem Fotografierten ver-
bindet, erinnert fühlen:43 Die »pictures from home« werden explizit beworben
nicht als Abbilder der »Heimat«, sondern als deren Ebenbilder.44 Die Werbebilder
versprechen mehr als nur die Aktualisierung von Erinnerungen, wie dies etwa
Rousseau im Zusammenhang seiner Entzauberung des Kuhreihens beschreibt.
»Die PHOTOGRAPHIE ruft nicht die Vergangenheit ins Gedächtnis zurück
(nichts Proustisches ist in einem Photo)«45, wie es bei Barthes heißt. Genau diese
Denkfigur, die das fotografische Bild als Realität und nicht als Realismus begreift,
wird in der Fotografietheorie häufig als Abwendung von der Mimesis beschrie-
ben.46 An deren Stelle tritt bei Dubois und anderen das Paradigma der Spur bzw.
des Index, das dann nur wenig später als in den Datenströmen der Digitalisie-
rung verlorengegangen betrauert wird, obwohl sich digitale Fotografien genauso
ikonisch und in ähnlicher Weise indexikalisch zu ihren Referenten verhalten
wie analoge.47 Auf diese »analoge Nostalgie« wird noch zurückzukommen sein.
Zunächst bleibt zu den Kodak-Anzeigen zu sagen, dass Mimesis hier noch in
einer anderen Dimension eine Rolle spielt, die weniger auf der ontologischen,
sondern eher auf einer praxeologischen Ebene verortet ist: Die Texte unter den
Anzeigen richten sich offenbar an die Angehörigen an der »Heimatfront«, die
mit dem Verschicken von Schnappschüssen auf Kodak-Film die Gelegenheit be-
kommen, ihren kleinen Beitrag zum Kriegsausgang zu leisten: »That’s about the
least we can do. Right? Send new snapshots regularly – in every letter.« Anders als
in der Kampagne aus der Zeit des ersten Weltkriegs, die zum Teil noch einsame
Soldaten sentimental auf Fotografien blicken ließ, zeigen die Anzeigen aus dem
zweiten Weltkrieg ausschließlich Gruppen von Soldaten, die fröhlich lachend
gemeinsam ihre Fotos betrachten. Diese Bildmotive scheinen ein anderes Publi-
kum, nämlich die Soldaten an der eigentlichen Front zu adressieren. Sie fordern
zur Nachahmung auf, insofern sie einen »gesunden«, d. h. der Truppenmoral
zuträglichen Umgang mit den ›Bildern von zuhause‹ nahelegen. Das Regiment
wird hier inszeniert als Ersatzfamilie, die genau den Rückhalt stiften kann, der
sonst durch Nostalgie bzw. Heimweh unterminiert würde.48
Ich hatte das Verfahren der Impfung mehrmals in meinem inneren Leben als heil-
sam erfahren; ich hielt mich auch in dieser Lage daran und rief die Bilder, die im
Exil das Heimweh am stärksten zu wecken pflegen – die der Kindheit – mit Absicht
in mir hervor. Das Gefühl der Sehnsucht durfte dabei über den Geist ebensowenig
Herr werden wie der Impfstoff über einen gesunden Körper. Ich suchte es durch
die Einsicht, nicht in die zufällige biographische[,] sondern in die notwendige ge-
sellschaftliche Unwiederbringlichkeit des Vergangenen in Schranken zu halten.50
Rückkehr in das zivile Leben nicht recht gelingen mag und die daher Heimweh nach der
Ersatzfamilie, die sie in der Armee gefunden hatten, entwickeln. Vgl. hierzu Dodman 2018: 121.
49 Vgl. Hansen 1999.
50 Benjamin 1991b: 385.
51 Benjamin 1991d: 211.
M imesis , M edie n , N o stalgie 183
Doch während diese performative Mimesis bei Heidi, die sich bereits fern
ihrer ersehnten Heimat befindet, unweigerlich tiefer in die Krankheit führen
muss, versucht Benjamin sich gegen den unkontrollierbaren Bilderstrom, der von
Anfang an kennzeichnend für den Nostalgie-Diskurs war, zu wappnen, indem
er die Bilder der Heimat aufsucht, noch bevor sie ihn heimsuchen können. Die
mimetische Substitution des ersehnten Referenten findet hier also gewissermaßen
in dessen Anwesenheit statt: »Die Kunst aber wäre, Heimweh zu haben ob man
gleich zu Hause ist. Dazu muß man sich auf Illusion verstehen«52, zitiert Benjamin
an anderer Stelle Kierkegaard. Diese Idee der »Miniaturisierung«53 des poten-
ziellen Konflikts dagegen übernimmt er von Freud, in dessen Schriften sich in
verschiedenen Variationen Beschreibungen der Ersetzung einer echten Krankheit
durch eine artifizielle finden, die in kontrolliertem Rahmen nachgestellt und so
gelindert oder geheilt werden kann.54 Das Konzept der »psychischen Impfung«55
spielt in Benjamins Werk wiederholt eine zentrale Rolle: Sie immunisiert gegen
den Effekt einer zu erwartenden Schockerfahrung – etwa der des Alptraums,
des modernen Großstadtlebens oder der Technisierung –, indem es diese in
abgeschwächter bzw. kontrollierbarer Form nachahmt.
Auch die Nostalgie wird immer wieder als Konsequenz individueller und kol-
lektiver Schockerfahrungen beschrieben oder lässt sich nachträglich so deuten. Im
militärpsychiatrischen Kontext wird sie im Europa des frühen 20. Jahrhunderts
abgelöst von der Diagnose des shell shock. Dieser wiederum wird ersetzt durch
die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS ), gegen die Soldaten heute be-
reits vor ihrem Kriegseinsatz Resilienz aufbauen sollen, indem sie mit virtuellen
Simulationen auf die potenziell traumatisierenden Erlebnisse vorbereitet werden,
die ihnen im Fall einer tatsächlichen Traumatisierung die Gelegenheit zum the-
rapeutischen Reenactment in kontrolliertem Rahmen bieten, wie etwa Harun
Farocki in seiner Reihe Serious Games (2009/10) zeigt.56 Dabei ist zu beobachten,
dass das Ziel der an Computerspiele erinnernden Simulationssoftware weniger
darin liegt, das Kriegsgeschehen möglichst realistisch zu imitieren, als vielmehr
die tatsächliche Realität des Krieges für die Soldaten weniger real erscheinen zu
lassen.57 Interessant im Kontext einer Mimesistheorie der Nostalgie ist jedoch
vor allem die im dritten der insgesamt vier Zweikanal-Videos gezeigte nach-
gestellte Therapiesitzung, in der ein aus dem Irak heimgekehrter PTBS -Patient
per VR -Brille – virtuell – an den Ort des Traumas zurückkehrt. Auch in diesem
Fall soll letztlich eine medientechnologisch vermittelte Heimkehr erfolgen – eine
Heimkehr, die nicht durch Traumata vereitelt wird. Dafür ist der Umweg über
das kontrollierte »acting out«58 der traumatischen Erlebnisse innerhalb der in
schlichter 3D-Grafik gehaltenen virtuellen irakischen Stadt notwendig, aus der
der Patient dann – so das Konzept der VRET – nach dem Abnehmen der VR -
Brille endlich tatsächlich zurückkehren kann.
Ein Comeback als kulturdiagnostisches Konzept erlebt die Nostalgie in Form
der »nostalgia wave«, die Alvin Toffler 1970 als komplementäre Erscheinung
zu dem von ihm ausgerufenen future shock beschreibt:59 Diesen versteht er als
Auch für Fredric Jameson, der in den 1980er Jahren die Diskussionen um die
Ästhetik der Postmoderne prägte, ist Nostalgie Resultat eines Schocks: nämlich
des Schocks des Verlusts der »wirklichen Geschichte«. Ausdruck verschafft sich
die »postmoderne nostalgische Kunstsprache« ihm zufolge in einem inflationären
Gebrauch des Pastiche. Anders als etwa Gerard Genette, bei dem das Pastiche
neutral als »Mimetismus«61 beschrieben wird, der sich erkennbar auf einen
aus einem konkreten Korpus abstrahierten Idiolekt bezieht, begreift Jameson
diese Praxis – als »Kunst der Imitate, denen ihr Original entschwunden ist«62.
Mimetische Bildpraktiken sind hier demnach wieder pathologisches Symptom,
die Krankheit wird jedoch einer ganzen Gesellschaft diagnostiziert. Doch im
Gegensatz zu Hofer, bei dem sich selbst die Trugbilder stets noch auf einen echten
Referenten bezogen haben, ist die (authentische) »Vergangenheit als ›Referent‹«63
bei Jameson vollkommen ausgelöscht. Sie bildet in seiner kulturpessimistischen
Perspektive nur noch ein Reservoir an zu plündernden Stilen, die nun nach Be-
lieben und ohne Rücksicht auf ihre ursprünglichen Kontexte und Bedeutungen
imitiert und kombiniert werden können.
Die Retropraktiken des »digitalen Zeitalters« wiederum werden von jüngeren
Kulturkritikern wie Simon Reynolds und Mark Fisher – unter Rekurs sowohl
auf Toffler als auch Jameson – als »Shock of the old«64 tituliert: Schockierend
sei an der gegenwärtigen Populärkultur – insbesondere der Musik – vor allem,
dass alles bereits bekannt wirke und nur noch nostalgisch recycelt werde: »It
is the very sense of future shock which has disappeared.«65 Für Fisher hat die
Populärkultur die Innovation verlernt, ist gleichsam gefangen in einer Schleife
endloser Wiederholungen von bereits Vorhandenem. Nichts werde mehr ver-
gessen, verlorengegangen sei daher die Möglichkeit der Verlusterfahrung selbst.
Nur in den Gebrauchsspuren alternder analoger Aufnahmen sei diese Verlust-
erfahrung heute überhaupt noch nachvollziehbar, weshalb diese zunehmend
fetischisiert würden.66 Auch diese Fetischisierung des Analogen, für die sich der
Begriff »analoge Nostalgie« etabliert hat,67 basiert auf vielfältigen mimetischen
Prozessen, insbesondere dann, wenn die charakteristischen Gebrauchsspuren
analoger Medien nicht mehr lediglich provoziert und ausgestellt, sondern digital
nachgeahmt werden, wie es etwa in den Retrofiltern zahlreicher Smartphone-
Foto-Apps geschieht.68 Diese imitieren Störungen, Rauschen, Farbverzerrungen
etc. und damit gerade das, was traditionell als einer getreuen Abbildung der
Wirklichkeit im Weg stehend verstanden wird. Sie fügen dem Abbild der Wirk-
lichkeit etwas hinzu, was weder ikonisch noch indexikalisch auf das Abgebildete
verweist, sondern die Aufmerksamkeit auf den Prozess der Medialisierung und
dadurch auf die Unvollkommenheit der Mimesis lenkt.69 Doch gerade diese im
platonischen Sinne »mindere Mimesis«70, die die Transparenz der Vermittlung
scheinbar untergräbt oder unterbricht, kann auch eine »originalgetreue« Abbil-
dung suggerieren – jedoch nicht mehr einer idealisierten vormedialen Realität,
sondern einer Wirklichkeit, die als stets schon medial vermittelt gedacht wird.71
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Filmografie
Arupusu no Shōjo Haiji (dt. Heidi). JP 1974, Isao Takahata (Zuiyo Eizo). 52 Episoden.
M imesis , M edie n , N o stalgie 189
Abbildungsverzeichnis
Abb. 8.1: Heidis mimetischer Tanz gegen das Heimweh. Screenshot aus Arupusu no Shōjo
Haiji (dt. Heidi). JP 1974, Isao Takahata (Zuiyo Eizo), Episode 22: »Heimweh«.
Abb. 8.2: »Pictures from Home«. Print-Werbung der Firma Eastman Kodak Co. aus dem
Jahr 1917. Quelle: Photoplay 13.1, Dezember 1917, S. 99.
Abb. 8.3: »Visit your man in the service with snapshots«. Print-Werbung der Firma Kodak
aus dem Jahr 1945. Quelle: Life 29. 01. 1945, S. 41.