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GG 22A PSYCHOLOGIE

HKL DIE PSYCHOANALYSE NACH SIGMUND FREUD 06.03.2023

Arbeitsauftrag (Partnerarbeit, 30 Minuten):


Beschreibe die Aspekte sowie Charakteristiken der jeweiligen Instanzen mithilfe der Tabelle (Ma-
terial 1).

Das Instanzenmodell (gekürzt aus: Jaszus et al., 2015, S. 338-340)


Darf ich vorstellen, das sind Sie, das ebenfalls und — ach
ja — das auch! Selbstverständlich ist dies kein Versuch,
Ihnen auf eine freundliche Art und Weise mitzuteilen,
dass Sie unter einer multiplen Persönlichkeitsstörung lei-
5 den, im Gegenteil, nach der Auffassung der Psychoana-
lyse ist es völlig normal, dass — um es frei nach GOETHES
FAUST zu sagen — in jedes Menschen Brust mehrere See-
len wohnen! FREUD nennt diese verschiedenen Seelen
„Instanzen". Gemeinsam bilden diese eine Art psychische
10 Steuerungszentrale für unser Erleben und Verhalten.

Doch diese Steuerungszentrale funktioniert nicht wie beispielsweise eine Steuerungszentrale auf ei-
nem Schiff. Es gibt keinen Kapitän, dem alle anderen, die für die Steuerung zuständig sind, wie der
Navigator oder Steuermann, widerstandslos folgen. Unsere Steuerungszentrale könnte man eher mit
der Regierung eines Staates vergleichen, bei der drei Parteien mit widersprüchlichen Parteiprogram-
15 men gezwungen sind, zum Wohle des Staates zusammenzuarbeiten. Sie können sich vorstellen, dass
hier Konflikte vorprogrammiert sind.

Das ES
Zu allererst sollten Sie das ES kennenlernen. Jeder Mensch wird mit ihm geboren, seine Regentschaft
beginnt folglich mit dem ersten Tag unseres Lebens. Das ist durchaus sehr sinnvoll, denn das ES bein-
haltet unsere Triebe und ist damit unser Energielieferant. So sind wir von Geburt an in der Lage, zu
20 erleben und uns zu verhalten. Leider gibt es da aber ein Problem: Das ES handelt entsprechend dem
Trieb und besetzt ausschließlich solches Verhalten und Erleben mit Energie, welches direkt und ohne
Umwege zur Triebbefriedigung führt. Das macht sein Verhalten impulsiv und rücksichtslos, blind ge-
genüber der Außenwelt bzw. den gegebenen Bedingungen der uns umgebenden Realität.

Das ES verhält sich also nach dem sogenannten Lustprinzip. Jeder weiß, wie Verhalten nach dem Lust-
25 prinzip aussehen kann, wenn er eine Weile einen Säugling oder ein Kleinkind beobachtet. Stellen Sie
sich zum Beispiel vor, eine Mutter ist mit ihrem Kleinkind unterwegs im Auto. Das Kind bekommt Hun-
ger und beginnt zunächst laut zu jammern. Die Mutter möchte jedoch nicht, dass im neuen Wagen
gegessen wird. Sie beginnt, dem Kind gut zuzureden. Doch das nützt alles nichts, das Kind verfällt vom
Jammern ins Weinen und schlussendlich schreit es völlig außer sich. In dieser Situation wird das Ver-
30 halten und Erleben des Kindes ganz vom ES, d. h. vom Lustprinzip, regiert. Das Jammern, Weinen und
Schreien soll zu einer unmittelbaren Befriedigung des Hungers führen. Gegenüber den Bedingungen
der Realität, die in diesem Fall einer sofortigen Befriedigung des Triebs entgegenstehen (kein Essen im
Auto), bleibt das ES dabei blind.

Das ICH
Nun können Sie sich vorstellen, dass wir, allein vom ES regiert, als rücksichtslose, allein auf unsere
35 sofortige Triebbefriedigung ausgerichtete Egomanen in einer Gesellschaft, in der wir zum Überleben

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auf ein soziales Miteinander angewiesen sind, nicht lange bestehen würden. Um uns also vor unserer
eigenen Rücksichtslosigkeit zu schützen, gründen wir etwa ab dem ersten Lebensjahr eine zweite Re-
gierungspartei bzw. eine zweite Instanz: das ICH.

Das ICH entwickelt sich aus der Erkenntnis heraus, dass es eine Realität gibt, in der Verhalten und
40 Erleben, ausschließlich vom Lustprinzip gesteuert, nicht ausreichend ist, um unser psychisches Gleich-
gewicht zu bewahren. Denn steht die Realität einem sofortigen Lustgewinn entgegen (wie im obigen
Beispiel: kein Essen im Auto), entsteht ein zunächst unlösbar erscheinender Konflikt. Um dies zu ver-
meiden, ist eine Auseinandersetzung mit dieser Realität unbedingt notwendig. Diese Aufgabe über-
nimmt das ICH. Es umfasst alle kognitiven1 Prozesse, die für eine Auseinandersetzung mit der Realität
45 notwendig sind, wie Wahrnehmung, Denken und Gedächtnis. Im Sinne des Beispiels des hungrigen
Kleinkinds im Auto bedeutet das konkret, dass das Ich das Kind u. a. in die Lage versetzt, die Bedingun-
gen der Realität wahrzunehmen (es gibt kein Essen im Auto), bereits gemachte Erfahrungen zu erin-
nern (im Auto gab es noch nie etwas zu essen) sowie abzuwägen, welche Möglichkeiten des Verhaltens
und Erlebens zur Triebbefriedigung unter den Bedingungen der Realität bleiben, d. h. welche Möglich-
50 keiten in realistischer Weise umsetzbar sind und welche nicht (z. B. Schreien führt nicht zum Ziel und
wird deshalb eingestellt, die Triebbefriedigung muss zunächst aufgeschoben werden).

Doch wie macht das ICH das? Das ICH ist in der Lage, dem ES Energie zu entziehen und diese kurzerhand
„um zu nutzen“. Das ICH setzt dabei die Energie des ES für kognitive Prozesse wie Denkarbeit ein, um
eine realitätskonforme Lösung zur Triebbefriedigung zu finden und diese anschließend mit Energie zu
55 besetzen. Das ICH handelt also nach dem Realitätsprinzip. Das ICH hebt dabei das Ziel der Erhaltung
des psychischen Gleichgewichts nicht auf, im Gegenteil, es mach die Verfolgung des Ziels effizienter.
Es löst drohende Konflikte zwischen den Anforderungen des ES und der Realität.

Das Über-ICH
Sie fragen sich jetzt sicher, wozu wir denn noch eine dritte
Partei in unserer Regierung benötigen.

60 Dank des ICHs wären wir zwar nicht mehr blind gegen-
über der Realität, jedoch leider weiterhin Egomanen:
Nehmen wir an, neben dem hungrigen Kind sitzt sein Ge-
schwisterchen im Auto. Dieses hat nach dem gerade er-
folgreich absolvierten Arztbesuch einen Lutscher bekom-
65 men und darf diesen jetzt ausnahmsweise im Auto genie-
ßen.

Das Ich des hungrigen Kindes wägt nun die Möglichkeiten zur Triebbefriedigung unter Berücksichti-
gung der realen Bedingungen ab. D. h., außer dem Lutscher befindet sich nichts Essbares im Auto.
Dieser ist aber für das hungrige Kind gut zu erreichen. Außerdem ist das Geschwisterchen schwächer
70 als das hungrige Kind und so wäre mit wenig Gegenwehr zu rechnen, wenn das hungrige Kind den
Lutscher an sich nehmen würde. Des Weiteren ist die Mutter mit dem Fahren beschäftigt und könnte
folglich, trotz möglicher Klagen des Geschwisterchens, in das Geschehen nicht unmittelbar eingreifen.
Der Plan, den Lutscher kurzerhand zu entwenden, wäre gefasst und der Beweis erbracht, dass ein Ab-
stimmen unserer Triebbefriedigung mit den gegebenen realen Bedingungen noch kein sozial akzep-
75 tiertes Verhalten garantiert. Selbstverständlich würde eine Mutter ein solches Verhalten ihres Zöglings

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jedoch nicht gutheißen. Sie würde es ahnden und das Kind zumindest verbal zurechtweisen, auch wenn
sie aktuell mit dem Fahren des Autos beschäftigt wäre.

Solche Erfahrungen, d. h. Erfahrungen, die uns gesellschaftliche Werte und Normen sowie Ideale ver-
mitteln, verdichten sich nach und nach in unserem ICH zu einem eigenständigen Bereich. Dieser Be-
80 reich umfasst Werte, Normen, unser Gewissen und eine Vorstellung davon, wie wir als Mensch sein
möchten (= Ich-Ideal). Dieser Bereich wird schlussendlich vom ICH abgespalten. Er bildet unsere dritte
Partei bzw. Instanz, das Über-ICH. Das Über-ICH kann als eine Art Kontrollinstanz verstanden werden.
Als ursprünglicher Teil des ICHs umfasst das Über-ICH ebenfalls kognitive2 Prozesse, die es ihm ermög-
lichen, Handlungen im Hinblick auf seinen moralischen Wert und die Erreichung unseres Ich-Ideals hin
85 zu überprüfen und zu bewerten. In unserem Beispiel mit dem hungrigen Kind würde unser Über-Ich
also das „Stehlen“ des Lutschers des Geschwisterchens als moralisch verwerflich bewerten und auf
aufs Strengste verurteilen. Es handelt daher nach dem sogenannten Moralitätsprinzip.

Doch welche Rolle spielt so eine Verurteilung? Geht es unserer Regierung nicht ausschließlich um die
realitätsadäquate Triebbefriedigung bzw. um die die Erhaltung unseres psychischen Gleichgewichts?
90 Selbstverständlich, doch wie sie sich bereits denken können, trägt eine Verurteilung durch unser Über-
ICH nicht im Geringsten zum Erhalt unseres psychischen Gleichgewichts bei. Im Gegenteil, es verschafft
uns ein schlechtes Gewissen. […]

Zusatz-Info:
Unbewusstes, bewusstes und vorbewusstes Zusammenwirken der Instanzen:
Alle Instanzen haben nach Freud unbewusste, vorbewusste und bewusste Anteile. Das Zu-
sammenwirken und damit die Steuerung unseres Verhaltens und Erlebens kann deshalb ent-
sprechend dem Eisbergmodell bewusst, vorbewusst und/oder unbewusst stattfinden.

Dabei geht FREUD davon aus, dass das ES den größten unbewussten und das ICH den größten
bewussten Anteil besitzt. Somit agiert das ES im Prozess des Zusammenwirkens überwiegend
unbewusst und das Ich bewusst.

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Material 1:

Die Instanzen im Überblick


Instanz Ursprung Inhalt Prinzip Aufgaben/Ziele

ES

ICH

Über-ICH

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