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Sabrina 

Krauss
Philipp Plugmann   Hrsg.

Innovationen
in der
Wirtschaft
Trends in Industrie, Bildung und
Gesundheit
Innovationen in der Wirtschaft
Sabrina Krauss · Philipp Plugmann
(Hrsg.)

Innovationen in der
Wirtschaft
Trends in Industrie, Bildung
und Gesundheit
Hrsg.
Sabrina Krauss Philipp Plugmann
SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen SRH Hochschule für Gesundheit
Leverkusen, Nordrhein-Westfalen, Deutschland Leverkusen, Nordrhein-Westfalen, Deutschland

ISBN 978-3-658-37410-5 ISBN 978-3-658-37411-2  (eBook)


https://doi.org/10.1007/978-3-658-37411-2

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Planung/Lektorat: Carina Reibold


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Geleitwort

Organisationen unterliegen einem ständigen Wandel. Sei dies in der Industrie, dem
Bildungssektor oder dem Gesundheitswesen. Damit gehen Herausforderungen für die
davon Betroffenen einher, diese Veränderungen zu gestalten, sie mitzugehen oder selbst
umzusetzen. Die Verlässlichkeit bewährter Erkenntnisse, Methoden, Prozesse oder Ver-
haltensweisen muss daher ständig infrage gestellt und falls notwendig, Neues geschaffen
werden. Hierzu sind Veränderungen sowohl in der Gesellschaft, der Organisation als
Ganzes, der Ebene von Arbeitsgruppen oder Teams sowie beim Einzelnen notwendig.
Die Entstehung von Innovationen und deren Umsetzung, z. B. in Organisationen, ist,
obwohl es oft so scheint, kein rein sach-logischer Vorgang, sondern weitaus stärker
ein psycho-logischer. Hier kommt der „Faktor Mensch“ ins Spiel. Die Psychologie als
Wissenschaft vom Erleben, Verhalten und Bewusstsein des Menschen bietet sowohl
für die Entstehung von Innovationen, deren Akzeptanz und Umsetzung in den ver-
schiedensten Kontexten als auch im individuellen Verhalten viele sinnvolle Erklärungs-
ansätze, Konzepte und Modelle. Hierzu gehören sowohl das psychologische Wissen zu
Kreativität und Innovation als auch zu menschlichen Denk- und Motivationsprozessen,
individuellen Persönlichkeitseigenschaften und Einstellungen, der Interaktion von

V
VI Geleitwort

Menschen im Arbeitskontext oder dem Verhalten von Führungskräften. In diesem Ver-


ständnis ist der Mensch einerseits Akteur, indem er Innovationen schafft, andererseits
auch Umsetzer oder Betroffener von Neuerungen.
Das vorliegende Buch stellt unterschiedliche Innovationsprojekte und -themen dar,
deren Bezug zur Psychologie teils offensichtlich, teils indirekt vorhanden ist. Damit
spielt der menschliche Faktor, also das Individuum, sein Erleben und Verhalten, aber
auch die Chancen, die Veränderungen bieten, in allen drei Kapiteln eine wesentliche
Rolle. Das „Psychologische“ wird somit zur Klammer der Innovationsbereiche, denn
für die Akzeptanz, Umsetzung und Weiterverbreitung dieser innovativen Ideen ist der
Mensch unerlässlich.
Die drei großen Bereiche, in die das Buch aufgeteilt ist, beschäftigen sich mit
Innovationen in der Industrie, dem Bildungssektor und dem Gesundheitswesen. In ihnen
wird ein Innovationsspektrum betrachtet, dass von psychologischen, betriebswirtschaft-
lichen über sozialarbeiterische und pädagogische Themen bis hin zu gesundheitlichen
und gesundheitspolitischen Ideenkomplexen reicht.
Ich wünsche diesem Buch eine weite Verbreitung.

Heidelberg Prof. Dr. phil. habil Ralf Brinkmann


im Januar 2022 SRH Hochschule Heidelberg
Vorwort

Der internationale Wettbewerb ist geprägt durch die Neuentwicklung von Produkten und
Dienstleistungen. Dies betrifft sowohl die privatwirtschaftliche als auch die akademische
Umgebung. Die Zeiten ändern sich schnell durch Digitalisierung, Innovationen und neue
Arbeitsprozesse. Alle Industrien sind von dieser Transformation betroffen, alte Berufs-
felder verschwinden und neue Tätigkeitsbereiche entstehen. Die Herausforderungen
für Innovationen in der Wirtschaft betreffen Start-Up´s, junge und etablierte Unter-
nehmen. Dieses Buch zeigt durch die Beiträge von verschiedenen Autoren aus Wissen-
schaft und Praxis einen Querschnitt von Trends in den drei Bereichen Industrie,
Bildung und Gesundheit. Dabei werden neben dem Einfluss von Innovationen auf die
MitarbeiterInnen und die Unternehmen auch neue Berufsbilder vorgestellt.
Der internationale Wettbewerb ist geprägt durch die Neuentwicklung von Produkten
und Dienstleistungen, dies betrifft privat-wirtschaftliche und akademische Umgebungen
gleichermaßen. Im Zuge der Digitalisierung und der Förderung und Weiterbildung von
Nachwuchskräften werden digitale Open-Innovation Plattformen, dynamische und orts-
unabhängige Arbeitsumgebungen und neu zu gestaltende Arbeits- und Organisations-
architekturen entscheiden, wer sich am Markt durchsetzt und wer nicht. Die Beiträge
in diesem Buch sollen als Impulse dienen und den Lesern Nutzen bringen. Durch
erfahrungsbasierte, anwendungsorientierte oder wissenschaftlich ausgerichtete Beiträge
soll das Potential der Innovationen in der Wirtschaft aufgezeigt werden.
Besonders die immer weiter sinkende Halbwertszeit von Wissen und Konzepten
fordert individuelle Fort- und Weiterbildungen. Es erfordert neue Lernkompetenzen
bis hin zur Verstärkung der Autodidaktik, um im Zeitalter der Digitalisierung und
Innovationen bei der momentanen Veränderungsgeschwindigkeit in den einzelnen
Branchen mithalten zu können. Das lebenslange Lernen ist Realität geworden und alters-
unabhängig. Das Management von Unternehmen und Projekten wird durch zunehmend
flachere Hierarchien und steigenden Ansprüchen der Arbeitnehmerschaft geprägt.
Themenbereiche wie Work-Life-Balance, betriebliches Gesundheitsmanagement,

VII
VIII Vorwort

Unternehmensinfrastruktur und interkulturelle Kommunikationsfähigkeiten gewinnen


an Wichtigkeit. Weiteres wirtschaftliches Wachstum ist ohne Berücksichtigung von
Innovationen vor diesem Hintergrund für die Unternehmen nicht mehr möglich.

Sabrina Krauss
SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen
Philipp Plugmann
SRH Hochschule für Gesundheit
Inhaltsverzeichnis

Innovationen in der Industrie


Die Entstehung von Innovation – Ein Resultat des Persönlichkeitsmerkmals
Kreativität oder des richtigen Kontextes? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
Sabrina Krauss
Identifikation von Objekten – eindeutig, fälschungssicher und innovativ . . . . . 19
Gerd Wintermeyer
Externes Rechnungswesen und Innovationen: Ein Oxymoron? . . . . . . . . . . . . . 43
Jürgen Dahlhoff
Resiliente Supply Chains und der Faktor Mensch: Digitalisierung und
Automatisierung im Rahmen innovativer Logistikkonzepte in Krisenzeiten. . . . 77
Roman Bruno Kremer
Innovation und Trends in Automobilindustrie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
Marcel Engelmann
Controlling von Start-Ups bei Venture Capital-Finanzierung. . . . . . . . . . . . . . . 101
Jörn Littkemann, Christian Geyer und Sabrina Jung

Innovationen im Bildungssektor
11 Thesen zum Lernen der Zukunft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
Markus Dohm
Disruptive Innovationen in der Bildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
Claus Wilke und Stefan Medinger
Innovative Kundenbindungssysteme im Bildungswesen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
Arno Lammerts und Julia Ingwald

IX
X Inhaltsverzeichnis

Das duale Studium Soziale Arbeit – ein an Bedeutung gewinnendes


Modell unter kritisch-distanzierter Beobachtung der Disziplin. . . . . . . . . . . . . . 165
Johannes Emmerich und Janine Linßer
Soziale Innovation als Forschungsansatz der Sozialen Arbeit. . . . . . . . . . . . . . . 183
Bernd Benikowski und Johannes Emmerich

Innovationen im Gesundheitssektor
Das zukünftige Open-Innovation-Konzept im Gesundheitswesen erfordert
die Unterstützung durch Patienten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199
Julia Plugmann und Philipp Plugmann
Medizinische Frühintervention in der Behandlung
alkoholkranker Menschen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215
Arne Lueg
Meditation: Altes Wissen in neuem Kontext. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229
Stefanie Uhrig
Digital Health Start-ups als Treiber der digitalen Transformation –
Herausforderungen aus Perspektive von Gründer:innen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
Sebastian Merkel und Diana Huth
Physician Assistant – ein innovativer akademischer Gesundheitsberuf . . . . . . . 263
Thomas Lichtinger
Vom Personalmangel zu neuer Aufgabenverteilung: Die Rolle
des Physician Assistant im deutschen Gesundheitswesen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269
Henrik Herrmann
Innovative Aufklärungskonzepte in der Prävention – Partizipative
Auswahl von Mundhygienehilfsmitteln und -techniken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281
Thea Rott
Innovationen im betrieblichen Gesundheitsmanagement. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293
Jan Iserloh und Berthold Iserloh
Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Über die Herausgeber

Prof. Dr. Sabrina Krauss  ist Professorin für Psychologie


und leitet seit 2018 die psychologischen Studiengänge der
SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen.
Seit 2020 hat sie zusätzlich die Leitung des SRH Campus
Rheinland inne. Darüber hinaus berät sie Wirtschafts-Unter-
nehmen, coacht Führungskräfte und forscht zu den psycho-
logischen Auswirkungen der Digitalisierung sowie Social
Media und dem Zusammenhang von Langeweile und
Kreativität.

Prof. Dr. med. dent. Dr. scient. med Philipp Plugmann


M.Sc. M.Sc. MBA  ist Zahnmediziner in eigener Praxis in
Leverkusen mit 22 Jahren Erfahrung, mehrfacher Unter-
nehmensgründer und Gutachter für das Bundesgesundheits-
blatt. Seit 2013 ist er externer Research Fellow in der
Abteilung für Parodontologie der Universitätszahnklinik
Marburg und seit Februar 2020 Professor für
interdisziplinäre Parodontologie und Prävention im Studien-
gang Dental Hygienist B.Sc. an der SRH Hochschule für
Gesundheit. Er hält einen Master of Science in
Parodontologie und Implantattherapie (DGParo), einen
MBA mit Schwerpunkt Health Care Management und einen
Master of Science in Business Innovation (beide EBS Uni-
versität für Wirtschaft und Recht). Er hat über 80
Publikationen in den Bereichen Zahnmedizin, Innovation
und Medizintechnik und bereits 8 Bücher herausgegeben.

XI
XII Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Autorenverzeichnis

Prof. Dr. Benikowski, Bernd SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen, Hamm,


Deutschland
Prof. Dr. Dahlhoff, Jürgen  SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen, Hamm, Deutsch-
land
Dohm, Markus  Academy & Life Care, Köln, Deutschland
Prof. Dr. Emmerich, Johannes Fliedner Fachhochschule Düsseldorf, Düsseldorf,
Deutschland
Engelmann, Marcel  Engelmann Ventures Holding GmbH, Wolfsburg, Deutschland
Geyer, Christian M.Sc. Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Unter-
nehmensrechnung und Controlling, FernUniversität in Hagen, Hagen, Deutschland
Prof. Dr. Herrmann, Henrik  Professor für Physician Assistance der SRH Hochschule
für Gesundheit in Gera, Gera, Deutschland
Huth, Diana M. Sc. Fakultät für Sozialwissenschaft, Ruhr-Universität Bochum,
Bochum, Deutschland
Dr. Ingwald, Julia  SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen, Hamm, Deutschland
Dipl. Psych. Iserloh, Berthold  SRH Campus Rheinland, Leverkusen, Deutschland
Iserloh, Jan  SRH Campus Rheinland, Leverkusen, Deutschland
Jung, Sabrina  SCM Professional, SMA Solar Technology AG, Kassel, Deutschland
Prof. Dr. Krauss, Sabrina SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen, Leverkusen,
Deutschland
Prof. Dr. Kremer, Roman Bruno SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen, Lever-
kusen, Deutschland
Prof. Dr. Lammerts, Arno  SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen, Hamm, Deutsch-
land
Prof. Dr. med. Lichtinger, Thomas SRH Hochschule für Gesundheit, Leverkusen,
Deutschland
Prof. Dr. Linßer, Janine Fakultät für Angewandte Geistes- und Naturwissenschaften
Hochschule Augsburg, Augsburg, Deutschland
Prof. Dr. Littkemann, Jörn Fakultät für Wirtschaftswissenschaft, FernUniversität in
Hagen, Hagen, Deutschland
Herausgeber- und Autorenverzeichnis XIII

Lueg, Arne Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, LWL-Klinik Dortmund,


Bochum, Deutschland
Medinger, Stefan Kaufmännischer Leiter, SRH Schulen GmbH, Neckargemünd,
Deutschland
Dr. Merkel, Sebastian  Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland
Plugmann, Julia  SRH Campus Rheinland, Leverkusen, Deutschland
Prof. Dr. med. dent. Dr. scient. med Plugmann, Philipp M.Sc. M.Sc. MBA  Studien-
gang Dental Hygienist, SRH Hochschule für Gesundheit, Leverkusen, Deutschland
Frau Prof. Dr. Rott, Thea M.Sc.  SRH Campus Rheinland, Leverkusen, Deutschland
Dr. Uhrig, Stefanie  FreieWissenschaftsjournalistin, Erbach/Odenwald, Deutschland
Prof. Dr. Wilke, Claus  Prorektor Forschung und Transfer, SRH Hochschule in Nord-
rhein-Westfalen, Hamm, Deutschland
Prof. Dr. Wintermeyer, Gerd SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen, Hamm,
Deutschland
Innovationen in der Industrie
Die Entstehung von Innovation – Ein
Resultat des Persönlichkeitsmerkmals
Kreativität oder des richtigen Kontextes?

Sabrina Krauss

Der schillernde Begriff Innovation verkörpert für viele Menschen etwas Besonderes und ist
gesellschaftlich sehr positiv konnotiert. Doch für Unternehmen sind Innovationen vor dem
Hintergrund des stetig wachsenden wirtschaftlichen Drucks nicht nur angenehm, sondern
in vielen Fällen auch der einzige Weg, um am Markt bestehen (bleiben) zu können.
Gerade im Zeitalter der Digitalisierung, in dem sich technische Hilfsmittel
exponentiell verändern und mehren, jeden Tag neue Apps und Kommunikationsmöglich-
keiten hinzukommen, müssen althergebrachte Produkte oder Dienstleistungen angepasst
oder sogar neue erdacht und etabliert werden. Prototypische Beispiele für radikale Ver-
änderungen der letzten Zeit sind zum Beispiel Konstrukte wie „Free Now“ (Fahrzeuge
digital orten, reservieren und nutzen) oder Airbnb (die Hotel-äquivalente Buchungs-
möglichkeit von Privatwohnungen – meist digital zu buchen). So verwundert es nicht,
dass „Innovationen“ im gesamtgemeinschaftlichen Kosens als notwendig und besonders
wichtig beschrieben werden.

Bedeutung des Begriffs Innovation


Wenn es um Innovationen geht ist manchmal auch von einem „innovativen Unter-
nehmensklima“ die Rede, welches erst durch entsprechende Umstände erschaffen werden
muss, damit die Mitarbeiter kreativ sein können und gute Ideen bzw. Innovationen hervor-
bringen. Der Begriff wird also sowohl als Substantiv, als auch in adjektivistischer Form
benutzt, ein Umstand der auf unterschiedliche Definitionen des Begriffs hindeutet. In den
meisten Fällen werden Innovationen aber wohl mit neuartigen Ideen assoziiert.

S. Krauss (*) 
SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen, Leverkusen, Nordrhein-Westfalen, Deutschland
E-Mail: Sabrina.Krauss@srh.de

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 3


Teil von Springer Nature 2022
S. Krauss und P. Plugmann (Hrsg.), Innovationen in der Wirtschaft,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-37411-2_1
4 S. Krauss

Eine tatsächliche Innovation ist allerdings weit mehr als eine Idee – denn egal wie
innovativ ein Gedanke (also eine Idee) ist, solange er anderen nicht zugänglich gemacht
wird, kann nicht von Innovation gesprochen werden. Wie findet also eine Idee den
langen Weg vom kreativen Gedanken bis hin zum neuen Produkt oder zur neuartigen
Dienstleistung? Auch wenn künstliche Intelligenz immer intensiver diskutiert wird, so
braucht es (momentan) doch noch Menschen, die erstens eine Idee haben und zweitens
aus dieser Idee auch tatsächlich ein Produkt oder eine Dienstleistung erschaffen können
– natürlich sehr häufig mit Unterstützung von Algorithmen und/oder Maschinen.
Der Begriff Innovation leitet sich aus dem lateinischen Wort „innovare“ ab und
bedeutet so viel wie „erneuern“ oder „neuerschaffen“. Im Sinne einer betrieblichen
Innovation können nach Hausschildt und Gemünden (2005) Innovationen in „Produkt-
innovationen“ und „Prozessinnovationen“ unterschieden werden. Produktinnovationen
beziehen sich auf ein neues Produkt oder eine neue Dienstleistung, die den Verbrauchern
neue oder bessere Nutzungsmöglichkeiten bietet, wohingegen die Prozessinnovation
sich auf eine Verbesserung im Prozess der Herstellung eines Produktes bezieht; also eine
Innovation, die der Verbraucher nicht direkt sieht, die sich aber z. B. auf den Preis des
Produktes auswirken kann. Beide Innovationen bedingen, dass jemand eine Idee zur Ver-
besserung des Prozesses oder des Produktes hatte. Im Ursprung muss es also eine gute
bzw. kreative Idee geben, damit eine Innovation entstehen kann.

Innovation und Kreativität


Nach Hennessey und Amabile (2010) bezeichnet der Begriff „Kreativität“ Personen mit
der Fähigkeit, Ideen zu generieren, die sowohl neu als auch den Umständen angemessen
sind. Die Wortherkunft des Begriffs Innovation (innovare) wird – wie schon erwähnt –
mit „Neuerschaffen“ übersetzt. Kreativität und Innovation sind also per Definition art-
verwandte Konstrukte. Artverwandt, aber nicht identisch, obwohl die beiden Begriffe in
der Literatur häufig synonym verwendet werden. Beiden gemeinsam ist die Idee zu einer
Neuerung.
Wie entstehen aber derartige gewünschte, neue und kreative Ideen? Welche Menschen
sind in der Lage kreative Lösungen zu erdenken, aus denen dann Innovationen entstehen
können, und welche Bedingungen müssen dazu vorherrschen? Wirft man einen Blick
in die psychologische Forschung – also die Forschung der Wissenschaft des mensch-
lichen Erlebens und Verhaltens – findet man Hinweise darauf, dass die Entstehung von
Innovationen mit dem Persönlichkeitsmerkmal „Kreativität“ zusammenhängt. Zunächst
sei vorangestellt, dass es sich bei Persönlichkeitsmerkmalen um Eigenschaften handelt,
die einen Menschen ausmachen und über die Zeit hinweg relativ stabil sind. Das bedeutet,
dass jemand, der heute sehr gewissenhaft ist, dies auch in einigen Jahren mit hoher
Wahrscheinlichkeit noch sein wird. Ausnahmen bilden hier Schicksalsschläge, die eine
Änderung der Persönlichkeit hervorrufen können. In der Alltags-Psychologie wird oft
von „Persönlichkeitsentwicklung“ gesprochen, die dann durch spezielle Persönlichkeits-
entwickler – nach eigenem Belieben – auch kurzfristig hervorgerufen werden kann. Der
Begriff „Persönlichkeitsentwicklung“ ist aus der fachlich-psychologischen Perspektive
Die Entstehung von Innovation – Ein Resultat … 5

allerdings durchaus genau zu definieren, da Persönlichkeitseigenschaften (im Gegensatz


zu Zuständen) über die Zeit hinweg mittel- bis langfristig stabil und in einigen Teilen
sogar genetisch bedingt sind. Vielleicht ein Grund, warum die sogenannten Persönlich-
keitsentwickler in den meisten Fällen keine Psychologen sind. Wäre die menschliche
Persönlichkeit so volatil, wie von einigen postuliert, wäre der Einsatz von Persönlich-
keitsfragebögen in der Berufsauswahl reine Geldverschwendung, denn warum sollte es
interessieren, wie die Persönlichkeit des Bewerbers sich heute darstellt, wenn sie doch
morgen schon ganz anders sein kann? Dass die menschlichen Persönlichkeitseigen-
schaften längerfristig als stabil gelten, heißt allerdings nicht, dass sich Menschen nicht
ändern können; vor allem darf Persönlichkeit nicht mit dem Verhalten einer Person gleich-
gesetzt werden. Verhalten geschieht vor dem Hintergrund der Persönlichkeit, aber immer
auch unter Einflussnahme der jeweiligen Situation, in der sich ein Mensch gerade befindet.
So kann eine schüchterne Person je nach Situation – bei gleichbleibender Ausprägung der
Eigenschaft -einmal mehr und ein anderes Mal weniger schüchtern agieren. Wer sich über
das Thema Persönlichkeit umfassender informieren möchte, dem sei das Buch „Psycho-
logie der Persönlichkeit“, von Franz Neyer und Jens Asendorpf (2018) empfohlen.
Die genannten Gesetzmäßigkeiten gelten auch für das Persönlichkeitsmerk-
mal Kreativität, allerdings muss auch hier – wie in der Psychologie üblich – auf die
Definition geachtet werden. Der Begriff Kreativität wird im Sprachgebrauch nicht nur
zur Umschreibung der menschlichen Persönlichkeit verwendet, sondern oft auch zur
Beschreibung eines Produktes oder sogar eines Arbeitsklimas. Schuler und Görlich
(2007) geben hier einen sehr guten Überblick über die unterschiedlichen Arten der
Nutzung des Begriffes Kreativität. Bei genauerer Betrachtung des Begriffes Kreativi-
tät -definiert als Persönlichkeitsmerkmal-, zeigt sich, dass je höher die Ausprägung des
Merkmals bei Personen innerhalb einer Arbeitsgruppe (Schuler et al., 1995) ist, desto
mehr Innovationen erschaffen werden (in der benannten Studie gemessen anhand der
Anzahl eingereichter Patente). Allerdings benötigt eine Innovation nach Schuler und
Görlich (2007) mehr als eine zündende Idee mit Wertschöpfungsqualitäten. Es ist eben-
falls notwendig, andere Personen (Kollegen oder Vorgesetzte) von dieser Idee überzeugen
zu können und so die Umsetzung der Idee anzustoßen und in der Folge eine Innovation
zu etablieren. In der Psychologie spricht man hier in Abgrenzung zur „kreativen Persön-
lichkeit“ auch von der „innovierenden Persönlichkeit“ (Guldin & Gélleri, 2014).
Schuler und Görlich (2007) haben für die jeweiligen Personengruppen Eigenschafts-
listen formuliert, anhand derer man in der beruflichen Eignungsdiagnostik Personen mit
besonders hohem Kreativitätspotenzial oder Personen mit der Begabung zur gelingenden
Umsetzung von Innovationen, erkennen kann. Zur umfangreichen Darstellung empfiehlt
sich dem interessierten Leser an dieser Stelle die vollständige Lektüre des Buches
„Kreativität“ von Schuler und Görlich (2007). Exemplarisch sei hier auf 3 markant
erscheinende Kriterien verwiesen, die das Vorhandensein der jeweiligen Eigenschaften
(Kreativität bzw. Innovationsfähigkeit) beschreiben:
Kreative Personen sind unter anderem eher überdurchschnittlich intelligent und
wissensdurstig und verfügen über viel Fantasie und Vorstellungskraft, wohingegen
6 S. Krauss

innovierende Personen unter anderem eher gut darin sind andere zu überzeugen, über
verkäuferisches Geschick verfügen und unternehmerisches Denken und Handeln zeigen.
Vor dem Hintergrund, dass zur Umsetzung einer Innovation sowohl eine neue Idee, als
auch das „Umsetzungspotenzial“ vorhanden sein muss, kann es durchaus häufiger vor-
kommen, dass eine Innovation nicht allein von einer Person erschaffen wird, sondern
dazu eine gute Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Personen notwendig ist. An
dieser Stelle deutet sich an, dass es für das Zustandekommen von Innovationen nicht
nur kreative und innovierende Mitarbeiter braucht, sondern auch Rahmenbedingungen,
in denen diese Mitarbeiter gut zusammenarbeiten können. Welche Rolle die Kontext-
faktoren spielen wird im späteren Verlauf noch einmal gesondert aufgegriffen (siehe
„Kontextbedingungen für kreative Leistung und Innovation“).

Kreativität und Intelligenz


Wie schon in der Beschreibung einer kreativen Person von Schuler und Görlich (2007)
angeklungen ist, hat Kreativität zudem eine enge Verlinkung zur Intelligenz. Menschen
unterscheiden sich in ihren Persönlichkeitsmerkmalen wie zum Beispiel in den
Dimensionen Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Offenheit für Neues oder Verträglichkeit.
Diese Unterscheidungen – egal in welche Richtung, also hohe Extraversion oder niedrige
Gewissenhaftigkeit, sind in gesellschaftlichen Diskussionen weniger emotional besetzt
als die Diskussion rund um einen hohen oder niedrigen IQ. Diese Emotionalität – in der
Regel handelt es sich dabei um die Emotion Angst – rührt daher, dass ein hoher IQ in der
westlichen Gesellschaft von den meisten Menschen als die bessere Variante angesehen
wird. Also anders als bei hoher Verträglichkeit, die auch (bei sehr hoher Ausprägung) in
eine Art „Harmonie-Sucht“ umschlagen kann, möchte grundsätzlich so ziemlich jeder
sehr intelligent sein. Die Definitionen von Intelligenz sind vielfältig, unterliegen oft
dem Zeitgeist der jeweiligen Epoche in der sie entwickelt wurden und die Messung der
Intelligenz (abgebildet durch den IQ) ist hochkomplex und gehört in jedem Falle in die
Hände von Fachleuten. Wirklich valide IQ-Test finden sich nicht im Internet, sondern in
entsprechenden (psychologischen) Instituten. Die enge Verbindung zwischen Intelligenz
und Kreativität zeigt sich auch in der Entstehungsgeschichte der Kreativitätsmessung:
Joy Paul Guilford (1897–1987) sah die Beschäftigung mit der Kreativität als Erweiterung
– der in den 1950er Jahre vorliegenden -Intelligenzforschung an (Schuler, 2014).
Der Begriff Kreativität ist, wenn auch gemeinhin positiv besetzt, emotional allerdings
nicht so aufgeladen wie der Begriff Intelligenz und für viele Personen ist es eher
annehmbar nicht kreativ zu sein, als nicht intelligent zu sein. Bei genauerer Betrachtung
der Messung von Kreativität wird allerdings deutlich, dass Kreativität – verstanden
als Persönlichkeitsmerkmal – viel mit der Art des menschlichen Denkens zu tun hat.
Kreativität hängt stark mit dem sogenannten divergenten Denken zusammen.

Konvergentes und divergentes Denken


Die beiden Arten des Denkens beziehen sich auf die Lösung von Problemen. Divergentes
Denken wird definiert als Fähigkeit zur Hervorbringung ungewöhnlicher Lösungsansätze
Die Entstehung von Innovation – Ein Resultat … 7

(Gerrig, 2018) und entsteht durch schnelles und flexibles Denken. Divergentes Denken
wird manchmal auch als „Out-of-the-Box-Denken“ bezeichnet. Um diese Art Denkens,
bzw. das Vorhandensein von Kreativität zu messen, werden oft die Kriterien „Einzig-
artigkeit“ und „Ungewöhnlichkeit“ (Runco, 1991) herangezogen.
Demgegenüber meint das konvergente Denken jene Denkprozesse, die dazu führen,
verschiedene Informationsquellen zu bündeln, um ein Problem zu lösen. Auf dieser Art
der „Denkmessung“ beruhen die meisten Intelligenztests.

Der Zusammenhang zwischen Kreativität und anderen personalen Eigenschaften


Um Lösungen zu generieren, die einzigartig du ungewöhnlich sind, bedarf es allerdings
noch weiterer Faktoren. Schuler et al. (2013) benennen in ihrem selbstkonzipierten (und
validierten) Test zur Erfassung von Kreativität (siehe auch Abschnitt „Passende Personal-
auswahl zur Förderung von Innnovation“) neben vorliegender, erhöhter Intelligenz auch
die intrinsische Motivation, Nonkonformität, Selbstvertrauen, Offenheit für Neues und
die eigene Erfahrung als kreativitätsbedingende oder begünstigende Eigenschaften. Im
Besonderen die vorliegende Nonkonformität einer kreativen Person könnte dazu beitragen,
dass die Zusammenarbeit mit ihr nicht immer ganz einfach sein könnte. Es zeigt sich also
ein enger Bezug der Kreativität zu Intelligenz, aber auch zu anderen Persönlichkeitseigen-
schaften. Wie genau und in welcher Weise die genannten Faktoren miteinander in Beziehung
stehen (korrelieren) oder sogar als Voraussetzung angesehen werden können kann an dieser
Stelle nicht vollumfänglich dargestellt werden, eine solch wissenschaftliche Abgrenzung,
bleibt der streng empirisch-wissenschaftlich konzipierten Literatur vorbehalten.

Kreativität und die Entstehung von Innovation


Die Wahrscheinlichkeit, dass Personen mit einer hohen Ausprägung des Persönlichkeits-
merkmals Kreativität, in der Lage sind, kreative Lösungen für Probleme zu entwickeln,
ist also erhöht. Die Eigenschaften einer Person sind allerdings oft nicht „die alleinigen
Verantwortlichen“ für die Entstehung einer kreativen Idee. Wir Menschen neigen aber
dazu, Geschehnisse einzig und allein auf die Person und ihre Eigenschaften zurückzu-
führen und blenden dabei die Situation, in der es zu einer Handlung kam, gerne aus.
Dieses Phänomen wird in der Psychologie „fundamentaler Attributionsfehler“ genannt
(Ross, 1977). Würde im Fall der Entstehung einer kreativen Idee bedeuten, dass man
für die vorliegende kreative Leistung ausschließlich eine Person, bzw. die Eigenschaften
dieser Person, verantwortlich macht. Dieser Fall ist sicherlich nicht ausgeschlossen, es
ist jedoch davon auszugehen, dass in vielen Entstehungsgeschichten einer Innovation
auch die Situation – also zum Beispiel das Klima in der Arbeitsgruppe, die Unter-
stützung durch die Führungskraft, etc. – eine große Rolle gespielt haben.
Die kreativen und/oder innovativen Eigenschaften einer Person sind zwar sehr gute
Voraussetzungen zur Entstehung von Innovationen, also eine notwendige – aber (oft)
noch keine hinreichende Bedingung. Dass die kreative Leistung von Studierenden durch
situative Einflüsse gesteigert werden kann, zeigten Leung und Chiu (2010) in einer Studie,
in der die Studierenden dazu angehalten wurden eine kreative Version des Märchens
8 S. Krauss

„Aschenputtel“ zu erdenken. Es zeigte sich, dass diejenigen kreativer waren, die zuvor
Informationen zu unterschiedlichen Kulturen bekamen (Chinesisch  + Amerikanisch)
- im Gegensatz zu Studierenden, die nur Informationen zu einer Kultur erhalten hatten.
Kritische Denker mögen hier anmerken, dass die Beurteilung, ob es sich um eine kreative
Leistung handelt, zu subjektiv sein könnte und in Abhängigkeit der jeweiligen Jury steht.
Dem sei entgegengestellt, dass sich Menschen – in Hinblick auf die Einordnung kreativer
Leistungen – erstaunlich einig sind (Hennessey & Amabile, 2010).
Im weiteren Verlauf dieses Kapitels werden somit zusätzlich noch die wichtigen
Kontextfaktoren beleuchtet, welche eine Person oder eine Arbeitsgruppe benötigt, um
tatsächlich kreativ sein zu können – bzw. Innovationen hervorbringen können.

Kontextbedingungen für kreative Leistungen und Innovationen


Zusätzlich zu den benannten Persönlichkeitseigenschaften ist es – besonders bei betrieb-
lichen Innovationen – erforderlich, auch die (Arbeits-) Umstände zu betrachten. In
der Literatur werden unter anderem die Einflussgrößen: Art der Organisation bzw.
der Hierarchie, Führung, Unternehmenskultur und Innovationsklima hinsichtlich der
kreativen Leistungen der Mitarbeiter diskutiert (Schuler & Görlich, 2007). Auch hier
zeigt sich, wie schwer Kreativität und Innovation voneinander abzugrenzen sind. Es
handelt sich um zwei getrennte Konstrukte, die dennoch in enger Verbindung stehen und
durch unterschiedliche Rahmenbedingungen begünstigt oder verhindert werden können.
Im Folgenden sollen die Einflussfaktoren Unternehmens- bzw. Organisationskultur und
Führung näher betrachtet werden.

Der Einfluss der Organisationskultur auf Kreativität und Innovation


Die Organisationskultur beinhaltet tief verankerte Werte und Annahmen (Nerdinger,
2014), in Abgrenzung zum Organisationsklima geht es nicht um die „Stimmung im
Unternehmen bzw. der Organisation“, sondern um Normen innerhalb eines Unter-
nehmen, von denen die Mitglieder annehmen, dass diese erwünscht bzw. unerwünscht
sind. Beispielhaft kann hier das morgendliche Händeschütteln benannten werden
(welches zumindest in den Zeiten vor Corona) in einigen Unternehmen als erwünscht
und in anderen als unerwünscht galt. Je nach Organisationskultur. Dabei bildet
das Händeschütteln keinen Selbstzweck, es soll in symbolischer Weise z. B. ein
kommunikatives oder nahes Miteinander repräsentieren.
Je nach Unternehmen und entsprechender Kultur kann es also gewünscht sein, dass
Mitarbeiter neue Ideen einbringen oder aber auch nicht. Besonders in Unternehmen, die
schon lange existieren hören Ideengeber oft Sätze wie „Das haben wir aber noch nie so
gemacht“ oder wahlweise auch „Das haben wir doch schon immer so (und nicht anders)
gemacht!“ und damit endet dann die Umsetzung einer Innovation. Egal wie kreativ
oder innovativ ein Mitglied dieser Organisation dann auch sein mag, innerhalb dieser
Rahmenbedingungen wird es wohl eher selten (oder nie) zu einer Innovation kommen.
Die Entstehung von Innovation – Ein Resultat … 9

Dieses Verhalten wird im Besonderen in Unternehmen gezeigt, die z.  B.


„Konservativität“ im Wertesystem verankert haben. Solche Unternehmenskulturen sind in
doppeltem Sinne für die Entstehung von Innovationen und die Förderung von Kreativität
schädlich: Zum einen nutzen sie das vorhandene kreative und innovative Potenzial nicht
und zum anderen, im Sinne der Mensch-Umwelt-Passung, vergraulen sie die kreativen
Persönlichkeiten.

Der Einfluss von Führung auf Kreativität und Innovation


Unter Führung versteht man die bewusste und zielbezogene Einflussnahme auf
Menschen (von Rosenstiel, 2009). Führung wirkt sich auf das Verhalten der Mitarbeiter
aus. Der Führungserfolg zeigt sich dann unter anderem in der Leistung der Mitarbeiter
(Nerdinger, 2014). Nun haben Mitarbeiter ganz unterschiedliche Aufgaben und die
Wirkung des Führungsverhaltens hängt von der Persönlichkeit des Führenden, dem von
ihm konkret gezeigten Verhalten, der Situation und letztendlich auch von den jeweiligen
Mitarbeitern ab, die das Führungsverhalten „entgegen nehmen“ (vgl. Rahmenmodell
der Führung nach Nerdiger, 2014). Dieser Umstand schließt auch in diesem Bereich
die beliebten alltagspsychologischen und einfachen „Wenn-Dann-Regeln“ aus. Es geht
um komplexe Wirkzusammenhänge, die immer alle beteiligten Komponenten mitein-
beziehen müssen. Trotz aller Multikausalität in der Ursachenentstehung zeigen sich
Zusammenhänge zwischen dem Auftreten von Kreativität und Führungsverhalten.
Förderlich für die Entfaltung des kreativen Mitarbeiterpotenzials hat sich delegatives
Führen (Axtell et al., 2000) gezeigt. Auch der sogenannten Transformationalen Führung
(Gebert, 2004) kommt eine besondere Bedeutung zu.

Transformationale Führung als Faktor der Innovationsförderung


Die Transformationale Führung wird gemeinsam mit der Transaktionalen Führung seit
einigen Jahren besonders intensiv betrachtet (von Rosenstiel & Kaschube, 2014). Ganz
grob dargestellt geht es in im Verständnis der transformationalen Führung in gewisser
Weise darum, Mitarbeiter zu „verwandeln“, also zu transformieren (Die Namensgebung
bzw. der Begriff dieses Führungsstils stammt aus dem amerikanischen und wird von
deutschen Lesern oft als etwas unpassend hinsichtlich eines Arbeitskontextes empfunden).
Die Transformation, die sich im Mitarbeiter durch die Führungskraft vollziehen
soll, wird durch die folgenden 4 Komponenten, auch Techniken genannt, ausgelöst
(Nerdinger, 2014):

1. Idealisierter Einfluss (teilweise erfolgt hier eine Gleichsetzung mit „Charisma“): Die
Führungskraft schafft es, den Mitarbeitern eine Vision zu vermitteln. Die Mitarbeiter
beginnen an diese Vision zu glauben und vertrauen darauf, dass sie gemeinsam
erreicht werden kann. Dadurch beginnen sie, die Ziel- bzw. Visionserreichung selbst-
ständig mit voranzutreiben.
10 S. Krauss

2. Inspirierende Motivierung: Die Führungskraft schafft es, z. B. durch emotionale


Apelle die Mitarbeiter „mitzureißen“.
3. Intellektuelle Stimulierung: Die Führungskraft regt eine kritische Auseinandersetzung
mit Werten, Normen und Erwartungen an.
4. Individualisierte Behandlung: Die Führungskraft berücksichtigt die individuelle
Situation und die Bedürfnisse der jeweiligen Mitarbeiter

Bei dieser Art zu führen soll also der Mitarbeiter in der eigenen Weiterentwicklung –
zugunsten der Zielerreichung der Organisation – unterstützt werden, sodass größere Hand-
lungsspielräume entstehen und der Mitarbeiter ggf. sogar selber (kreative oder innovative)
Wege finden kann, das übergeordnete Ziel (oder die Vision) durch sein Zutun zu erreichen.
Im Besonderen die „Intellektuelle Stimulierung“ soll das Denken der Mitarbeiter dahin-
gehend begünstigen, dass dieser aktuelle Zustände kritisch hinterfragt und eigenständig
Notwendigkeiten zur Veränderung erkennt und diese dann selbstständig einleitet. So zeigt
sich, dass einige Komponenten der Transformationalen Führung dazu beitragen können,
Innovationen bzw. kreative Leistungen zu fördern (Schuler & Görlich, 2007).
Nahezu selbsterklärend erscheint es da, dass die Führungskräfte den Mitarbeitern
genügend Handlungsspielraum und Freiräume zur Umsetzung der eigenen Ideen lassen
müssen und zusätzlich Fehler, die durch Ausprobieren entstehen, nicht bestraft werden
dürfen. Die Fehlerkultur ist Teil der Unternehmenskultur, wird aber zumeist durch die
Führungskräfte aus- bzw. vorgelebt, da nur die Führungskräfte in der Lage sind – im
Gegensatz zu Kollegen – tatsächliche Strafen auszusprechen (Kündigung, Wegfall einer
Bonifikation, etc.). Wenn Fehler aber zu Strafe führen, werden die Mitarbeiter schnell
lernen, sich nie außerhalb der eingeschliffenen Abläufe zu bewegen und das Aus-
probieren neuer Möglichkeiten tunlichst vermeiden. Den Führungskräften kommt also
bei der Entstehung von Innovationen eine wichtige Rolle zu.
Jeder, der schon einmal Führungsverantwortung hatte, hat jetzt wahrscheinlich einen
besonders kritischen Mitarbeiter im Kopf und mag denken: „Oh bitte nicht die anderen auch
noch anregen so zu werden!“. Dazu sei gesagt, dass die Anregung zu kritischem Denken
(Intellektuelle Stimulierung) nicht als Anregung zu dauerhaften Nörgeleien gleichgesetzt
werden kann. Mitarbeiter, die alle eigenen Probleme an die Führungskraft heran tragen und
weitergeben, helfen sich selbst, der Führungskraft und dem Unternehmen nicht weiter.
Solche Mitarbeiter sind vielleicht (noch) nicht zur selbstständigen Lösung der im eigenen
Arbeitsalltag auftretenden Probleme fähig, einige wären es aber möglicherweise, wenn sie
größere Handlungsspielräume bekämen und die Führungskraft klar kommuniziert, dass sie
an (innovativen) Lösungen mehr Freude hat, als an einer extrem detail-tiefen Darstellung
eines Problems. Kurz gesagt soll es bei der intellektuellen Stimulierung um das Finden von
Lösungen – statt um die Beschreibung von Problemen gehen.

Der Einfluss von Arbeitsgruppen auf Innovation


Zur Entstehung von Innovationen braucht es oft nicht nur kreative bzw. innovierende
Persönlichkeiten (siehe auch Abschnitt „Passende Personalauswahl zur Förderung von
Die Entstehung von Innovation – Ein Resultat … 11

Innnovation“), sondern auch eine angemessene Unternehmenskultur und das passende


Führungsverhalten. Vor allem dann, wenn sich der Blick in größere Unternehmen richtet.
In Startups, oder in auch einigen Fällen innerhalb größerer Unternehmen, ist es natür-
lich nicht ausgeschlossen, dass eine Person allein eine Innovation „erfindet“, und in der
Rolle des Eigentümers eines Startups auch in er Lage ist, alles barrierefrei umzusetzen.
Oft werden kreative Ideen aber in einem Team bzw. in einer Arbeitsgruppe erdacht und
müssen auch zunächst dort weiterbearbeitet werden.
Zusätzlich zu den Komponenten Persönlichkeit, Unternehmenskultur und Führungs-
verhalten spielt die direkte Arbeitsumgebung – also die Arbeitsgruppe – eine besondere
Rolle bei Hebung des kreativen bzw. innovativen Potenzials. Je nach Zusammensetzung
und Gruppendynamik der Arbeitsgruppe wird die Entstehung kreativer Ideen oder
Innovationen begünstigt oder gehemmt. Eine heterogene Gruppe zum Beispiel, erweist
sich als innovationsfördernd (Jackson, 1996). Guzzo und Shea (1992) weisen darauf hin,
dass auch die Gruppengröße eine Rolle spielt und darauf geachtet werden sollte, dass die
Gruppe nicht zu klein (ca. 3 Personen), aber auch nicht zu groß (>12 Personen) sein sollte,
damit genügend Unterschiedlichkeit der Meinungen vorhanden, die Kommunikation aber
nicht durch zu viele Personen inneffizient wird. Als kreativitätsförderlich hat sich zudem
die Partizipation aller Gruppenmitglieder erwiesen (Wegge, 2014). Gerade dieser Punkt
steht in engem Zusammenhang mit der Führung der Gruppe. Die Führungskraft muss bei
gegenteiligen Tendenzen – wenn z. B. einzelne Gruppenmitglieder die Meinungsbildung
an sich reißen und den Platz für kontroverse Diskussion und andere Meinungen dadurch
minimieren – moderierend eingreifen, um die kreativen Leistungen der Arbeitsgruppe
nicht zu gefährden. Ein konstruktives Austragen von Kontroversen, die wechselseitige
Unterstützung innerhalb der Gruppe und das Belohnen eines gezeigten innovativen Ver-
halten stellen weitere, kreativitäts- und innovationsförderliche Faktoren dar (Wegge, 2014).

Passende Personalauswahl zur Förderung von Innnovation


Zunächst einmal kann ein Unternehmen natürlich beschließen, ausschließlich kreative
Mitarbeiter einzustellen. Um dieses Vorhaben umzusetzen, könnte zum Beispiel im
Rahmen eines ohnehin stattfindenden, professionellen Assessment Centers – zusätzlich zu
bereits eingesetzten Instrumenten (wie zum Beispiel IQ- oder Persönlichkeitstest) - ein
Test zur Feststellung der Kreativität bzw. zur Innovationsfähigkeit einer Person zum Ein-
satz kommen. Zur Feststellung der Kreativität würde an dieser Stelle unter anderem das
Inventar von Schuler et al., (2013) in Frage kommen. Der sogenannte DBK-PG (Diagnose
berufsbezogener Kreativität – Planung und Gestaltung). Vielen Personalern ist gar nicht
bewusst, dass zur Messung von Eigenschaften „geeichte“ (validierte) Testverfahren zur
Verfügung stehen. Zur Durchführung einer fundierten Eignungsdiagnostik kann die
Hinzuziehung eines Arbeits- und Organisationspsychologen also durchaus nützlich sein.
Zu beachten ist allerdings, dass der Personalauswahl eine fundierte Stellenbeschreibung
bzw. Anforderungsanalyse zu Grunde liegen muss. Ohne zu wissen, was genau die
gesuchte Person können muss und womit sie in ihrem Berufsalltag konfrontiert werden
wird, ist eine gelingende Personalauswahl nicht möglich.
12 S. Krauss

Möglicherweise benötigen Unternehmen aber auch Mitarbeiter mit mehreren ver-


schiedenen Fähigkeiten und Eigenschaften, sodass sie das Vorhandensein von Kreativität
nicht in den Fokus rücken wollen oder können. Denkbar ist auch, dass ein Unternehmen
die eigene Innovationsfähigkeit fördern möchte ohne Neueinstellungen vorzunehmen. In
einer solchen Gemengelage minimiert sich die Variante (Personal-) Selektion.
Unter diesen Voraussetzungen gilt es dann, Wege zu finden, das vorhandene kreative
und innovative Potenzial in Unternehmen besser zu heben oder zu stärken (siehe auch
„Kontextbedingungen für kreative Leistungen und Innovation“).

Passende Personalentwicklungsmaßnahmen zur Förderung von Innovation


Es zeigt sich, dass die Anwesenheit kreativer oder innovierender Personen allein nicht
ausreichend sein kann, um Innovationen hervorzubringen. Die Art der Führung, die
vorherrschende Unternehmenskultur und sogar die Verhältnisse innerhalb der Arbeits-
gruppe, nehmen Einfluss auf die Entfaltung des kreativen Potenzials und die Ent-
stehung von Innovationen. Möchte ein Unternehmen mehr Innovationen hervorbringen,
bzw. die Kreativität der Mitarbeiter bei der vollen Entfaltung unterstützen, sollte
also nicht nur bei der Personalauswahl, sondern auch bei der Personalentwicklung
darauf geachtet werden. Unter Personalentwicklung werden in der Arbeits- und
Organisationspsychologie meist alle Maßnahmen verstanden, die die Qualifikationen
der Mitarbeiter und Führungskräfte sicherstellen sollen (Blickle, 2014). Die Maßnahmen
beinhalten sowohl Analysemethoden wie z.  B. die Potenzialanalyse (welche oft
auch die Erfassung der Persönlichkeit mittels Fragebogen miteinschließt), als auch
Maßnahmen zur Verhaltensmodellierung (z. B. Trainings und Rollenspiele), aber
auch Coaching und Mentoring gehören dazu. Trotz oder gerade wegen dieser Fülle an
Personalentwicklungsmaßnahmen existiert bis heute kein allgemein anerkanntes Klassi-
fikationssystem dieser Art der Maßnahmen (Kaschube & von Rosenstiel, 2004).
Das Thema Personalentwicklung erfreut sich zudem einer multidisziplinärer
Beliebtheit und der Markt der Anbieter ist groß und die Angebote sind mehr als viel-
fältig. Ein guter Gesamtüberblick über die Methoden und Wirkungen fundierter
Personalentwicklungsmaßnahmen findet sich im Lehrbuch der Personalpsycho-
logie (2014) von Heinz Schuler und Uwe Kanning. Wer selbst nicht die Zeit und
Muße hat, sich vertieft mit dem Thema Personalentwicklung zu beschäftigen, kann
einen Arbeits- und Organisationspsychologen hinzuziehen. Vor dem Einsatz einer
Personalentwicklungsmaßnahmen sollte natürlich eine gründliche Situations-, Ziel-
und Bedarfsanalyse erfolgen. Anbieter, die eine Personalentwicklungsmaßnahme
feil bieten, die nach dem 3-(oder mehr)-in-eins-Prinzip angepriesen wird – also eine
Maßnahme und hundert Wirkungen – ist mit Vorsicht zu genießen. Das Angebot
an absurden und grotesken Methoden erscheint unendlich: Von Pferde-gestützter
Führungskräfteentwicklung über die Deutung von Augenbewegungsmustern bis hin zu
waghalsigen Mutproben in Kletterparks, die dann die z. B. die Managementkompetenz
erhöhen sollen, bietet der Markt alles. Sicherlich eignen sich einige dieser Aktivitäten
Die Entstehung von Innovation – Ein Resultat … 13

(gemeinsames Kochen, Kletterpark, Waldbaden, etc.) ggf. für ein erfüllendes Betriebs-
ausflugsprogramm, haben aber mit wirksamen Personalentwicklungsmaßnehmen nichts
gemein. In der Regel gilt: Je verrückter und abenteuerlicher eine Maßnahme daher
kommt, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass hinter den Anbietern Fachleute
(z. B. Psychologen) stehen. Hinter all dem verbirgt sich aber natürlich ein lukratives
Geschäft. Wie absurd und zugleich unwirksam derlei Maßnahmen sein können zeigt
Uwe Kanning anschaulich in seinem Buch „Wenn Manager auf Bäume klettern“
(Kanning, 2013).
Trotz aller gebotenen Vorsicht werden Personalentwicklungsmaßnahmen seit langer
Zeit beforscht und in der einschlägigen Fachliteratur (z. B. Schuler & Kanning, 2014)
diskutiert. Im Folgenden sollen einige Bereiche der Personalentwicklungsmöglichkeiten
skizziert werden, welche sich als „Stellschrauben für die Hebung des kreativen und
innovativen Potenzials“ anbieten können.

Führungskräfteschulungen
Führung meint die bewusste und zielbezogene Einflussnahme auf Menschen (von
Rosenstiel, 2009). Die Führungskräfte und das von ihnen gezeigte Verhalten haben
Einfluss auf das die Mitarbeiter bzw. auf deren Verhalten und Leistung (siehe auch
„Transformationale Führung als Faktor der Innovationsförderung“). Ob Führungs-
kräfte erfolgreich führen bemisst sich zumeist an den beiden Dimensionen „Leistung“
und „Zufriedenheit“ der Mitarbeiter. Man könnte auch sagen: „Führung ist viel, aber
auch nicht alles“ - um direkt den eventuell aufkommenden Allmachtsphantasien ent-
gegenzuwirken. Um also durch Führung auch die kreativen Leistungen und somit auch
die Innovationsfähigkeit zu fördern, ist zu empfehlen, die Führungskräfte dahingehend
zu schulen. Ihnen die Zusammenhänge zwischen Kreativität, Innovation, Kultur und
Führungsverhalten zu vermitteln und Anreizsysteme schaffen, welche die Führungs-
kräfte dazu veranlassen, ein entsprechendes Führungsverhalten zu zeigen. Also die ggf.
notwendige Anpassung des Führungsstils hin zu einem delegativeren Führungsverhalten
bzw. hin zur Transformationalen Führung. Einige Führungskräfte müssen lernen, es aus-
zuhalten, Mitarbeitern Freiräume zu gestatten. Auch die veraltete Annahme, man könne
Wissensarbeiter beim arbeiten – analog einem Fließbandarbeiter – beobachten, sollte
mit den Führungskräften thematisiert werden. Gute Ideen bzw. Innovationen entstehen
nicht bei starrem Blick auf das leere Blatt, manche dieser Ideen finden ihren Weg in das
Bewusstsein beim Joggen, beim Kaffeetrinken oder zu anderen Gegebenheiten, in denen
man eben nicht verkrampft auf ein leeres Blatt schaut.
Durch die Anpassung des Führungsstils könnte sich das Verhalten der Mitarbeiter
langsam wandeln, Mitarbeiter lernen so, (neue) Freiräume zu nutzen, haben keine Angst
mehr vor „Falschen Ideen“ und überdenken den Status Quo eigenständig. Auf diesem
Wege könnte sich eine ganz neue, innovative Unternehmenskultur etablieren. Immer vor
dem Hintergrund, dass Führung vielen Einflussfaktoren unterliegt (vgl. Rahmenmodell
der Führung nach Nerdinger, 2012).
14 S. Krauss

Rolle der Geschäftsleitung


Viele Geschäftsführer oder Vorstände sind so „weit weg“ von den Mitarbeitern – im
Besonderen in größeren Unternehmen – dass die Mitarbeiter nur spekulieren können,
was auf den oberen Ebenen so passiert, gedacht und gewünscht wird.
In Hinblick auf Innovationsförderung erscheint es hier günstig, wenn auch die
„oberste Führungs-Rige“ z. B. in Gestalt des Geschäftsführers deutlich macht, dass
Innovationen erwünscht sind und Fehler, die auf diesem Wege der „Neuerfindung von
Lösungen“ entstehen, in Ordnung sind. Wenn die Mitarbeiter den Eindruck bekommen,
dass zwar die eigene Führungskraft (z. B. der jeweilige Abteilungsleiter) Kreativi-
tät schätzt, sich aber damit gegen den Willen des Vorstands, Geschäftsführer, o.ä. stellt,
kann dies ein ernstzunehmendes Hemmnis darstellen.

Erarbeitung einer gemeinsamen Unternehmens-Vision


Wenn sich z. B. die Unternehmenskultur in einem großen Versicherungs-Konzern – in
dem der Erhalt des bislang gelebten bisher wichtiger war, als die Veränderung der Unter-
nehmenskultur ( z. B. zugunsten einer Marktanpassung), – verwandeln soll, müssen
zunächst sogenannte Trägheitsbarrieren (Snyder & Cummings, 1998) überwunden
werden. Den Führungskräften muss die Notwendigkeit der Veränderung verdeutlicht
werden (siehe „Führungskräfteschulungen“) und sie müssen sodann, sobald es darum
geht, das neue Selbstverständnis der Organisation zu entwickeln, mit eingebunden
und in die Verantwortung genommen werden. Auch Führungskräfte müssen geführt
werden. Im besten Falle verständigen sich die Führungskräfte der erste Ebene auf eine
gemeinsame Vision der Unternehmenskultur und vermitteln diese dann durch ihr eigenen
Führungsverhalten auch den anderen Führungskräften und den Mitarbeitern (siehe auch
„Transformationale Führung als Innovationsförderung“). Damit auch die Mitarbeiter
die neue Vision verinnerlichen können, muss ihnen Zeit gegeben werden und die auf-
tretende Skepsis sollte für einen bestimmten Zeitraum Gehör finden. Veränderungen sind
für Menschen (privat und beruflich) immer eine Herausforderung, besonders dann, wenn
sie nicht selbst gewählt sind. Ein behutsames Vorgehen ist also angeraten. Günstig ist,
zu kommunizieren, wie genau der Zielzustand aussehen soll und welche Vorteile dieser
erreichte Wandeln dann bietet. Die Mitarbeiter brauchen eine gemeinsame Vision im
Sinne eines Zielbildes.
Das eine gemeinsame Vision die Leistung der Mitarbeiter positiv beeinflussen kann
zeigt sich der Forschung zu „Shared Mental Models“ (vgl. Mathieu et al., 2000). Diese
„geteilten mentalen Modelle“ – also zum Beispiel die Vision zur Zukunft des Unter-
nehmens – helfen Mitgliedern eines Team, aufkommende Schwierigkeiten besser zu
überwinden: Wenn man weiß, dass man letztendlich nach Rom möchte, die geplante
Fahrt mit dem Auto aber nicht stattfinden kann, so kann man sich andere, sogar bislang
unbekannte Reisemöglichkeiten erdenken.
Eine typische Aufgabe der Mitarbeiter besteht wohl seltener darin, nach Rom zu gelangen.
Eine wahrscheinlichere Aufgabe, um in dem bereits benutzen Beispiel zu bleiben, könnte
die Beantwortung der Frage: Wie kann eine Versicherung ohne Außendienst bzw. in Zeiten
Die Entstehung von Innovation – Ein Resultat … 15

der Digitalisierung aussehen?“ lauten. Wenn die Mitarbeiter wissen, wie die Zusammen-
arbeit oder die Unternehmenskultur, etc. zukünftig aussehen soll, befähigt sie das, in Ent-
scheidungssituationen – vor allem bei der Auswahl unbekannter Lösungswege – für das
Unternehmen günstigere und passendere Entscheidungen zu treffen. Halten Führungskräfte
solche Vorstellungen über die Zukunft vor den Mitarbeitern „geheim“ oder wissen selbst nicht
genau wie sich das Zielbild gestalten soll – werden die Mitarbeiter häufiger fragen müssen,
weniger selbstständig arbeiten können und mit geringerer Wahrscheinlichkeit (im Sinne
der Transformationalen Führung) intellektuell stimuliert werden. Um die Entstehung von
Innovationen in Zeiten der Veränderung anzuregen, ist die Konstruktion und anschließende
Kommunikation einer Vision oft förderlich.

Teamentwicklung
Wie geschildert hat auch die Arbeitsgruppe auf verschiedenen Ebenen Einfluss auf die
Entstehung von Innovationen. Da Führungskräfte bei der Gestaltung eines innovations-
förderlichen Gruppenarbeitsklimas zwar wichtig, aber nicht die einzige Einflussgröße
sind, sollte die Möglichkeit bestehen, die Gruppendynamik und das Miteinander in
der Gruppe durch entsprechende Teamtrainings bzw. Workshops zur Zusammenarbeit
durch einen Experten zu unterstützen. Anzuraten ist auch – wie oben geschildert – die
Erstellung einer zukunftsfähigen Vision der Zusammenarbeit. Die Gruppe sollte dazu
angeleitet werden, eigene Regeln der Zusammenarbeit festlegen zu können. Auf fach-
licher Ebene können auch verschiedene Techniken (Synektik, Morphologische Analysen,
etc.) unter Anleitung zusammen mit der Gruppe ausprobiert und bewertet werden, ein
Überblick solcher Techniken findet sich unter anderem im Lehrbuch für Personalpsycho-
logie von Schuler und Kanning (2014).
Auch hier sollte (wie bei der Personalauswahl und grundsätzlich allen Personal­
entwicklungsmaßnahmen) darauf geachtet werden, dass die anberaumte Maßnahme einen
sichtbaren Bezug zur Arbeitswelt aufweist. Hilfreich ist es hier, den gesunden Menschen-
verstand nicht auszuschalten. Wenn die Wirkmechanismen einer Maßnahme nicht erklärt
werden können, gibt es wahrscheinlich keine Wirkung, abgesehen vom Bereicherungs-
effekt seitens des Anbieters. Wenn Mitarbeiter im Rahmen eines Workshops gebeten
werden, mittels Kinderspielzeug etwas zu „bauen“, kann die Akzeptanz des Workshops
darunter leiden und das gesetzte Ziel – mehr Innovationen durch spezielle Techniken –
verfehlt werden.

Grundsätzlich gilt für alle Personalauswahl und -entwicklungsmaßnahmen


Kann die Wirkung der Maßnahme nicht erklärt werden, wird die Maßnahme vielleicht
sogar mystifiziert
oder beinhaltet eine Maßnahme eine unglaubliche Vielzahl an Wirkungsfeldern – so
ist davon auszugehen, dass es sich eher um ausgedachte, denn um wissenschaftlich-
fundierte Werkzeuge handelt. Manch einer mag sich denken, dass dies doch wohl klar sei
und man einen Management-Posten wohl nicht erreicht hätte, würde man solch märchen-
haften Angeboten auf den Leim gehen – leider zeichnet die Praxis ein anderes Bild.
16 S. Krauss

In der Personalentwicklung einiger Unternehmen kommen sogar Personal­


entwicklungsmaßnahmen mit einer Art „Zauber-Algorithmus“ zum Einsatz, welcher
nicht nur die Persönlichkeit des Mitarbeiters, sondern auch deren Werthaltung, beruf-
liche Eignung und moralische Ausrichtung ermitteln können soll. Grundsätzlich können
Maßnahmen zur Personalentwicklung das kreative Denken und ggf. die Entstehung von
Innovation anregen, sie sind jedoch kein Allheilmittel und werden auch einen weniger
kreativen Mitarbeiter nicht in einen maximal kreativen Mitarbeiter verwandeln.

Fazit
Es zeigt sich, dass sowohl der Begriff Innovation, als auch der Begriff Kreativität bei
näherer Betrachtung in mehrere Unterfacetten zerfallen. Diese Vielschichtigkeit der
beiden Begriffe gepaart mit der inhaltlichen Schnittmenge beider Konstrukte – die oft
sogar zu einer Gleichsetzung von kreativen Ideen und Innovation führt – erschwert an
vielen Stellen die Bewertung, ob ein Unternehmen innovativ ist oder nicht. Um aussage-
kräftige Antworten liefern zu können, muss festgelegt sein, woran sich die Innovations-
kraft eines Unternehmens bemisst. Ist es die Anzahl der kreativen Ideen? Ist es die Höhe
der tatsächlichen Umsetzungsquote der vorhandenen kreativen Ideen?
Auch die Frage, ob die Innovation nach außen hin sichtbar sein muss ist interessant,
da z. B. die Prozessinnovationen für Außenstehende gar nicht messbar sind.
Die Notwendigkeit der genauen Definition führt zuweilen in der Literatur rund
um Innovationen und Kreativität zu sehr heterogenen und sich vermeintlich wider-
sprechenden Leitsätzen und Ratschlägen. Es erscheint empfehlenswert, vor der
Beschäftigung mit den Themen Innovation oder Kreativität, genau zu prüfen, worin das
eigene Anliegen besteht. Sind Sie der Geschäftsführer eines Startups und möchten die
Innovationsfähigkeit erhöhen, so lohnt sich die Frage: „Woran messe ich Innovations-
fähigkeit und woran würde ich überhaupt merken, dass sie steigt?“ Eine genaue Analyse
des eigenen Anliegens verhindert das Aufspringen auf eine Buzzword-Diskussion, der
am Ende mit plumpen Methodenvorschlägen begegnet wird (z. B. „Nutzen Sie doch ein-
fach mehr Brainstorming und Design Thinking“).
Es zeigt sich weiterhin, dass die Entstehung von Innovationen keine Selbstverständ-
lichkeit ist, dass aber innerhalb eines Unternehmens viel unternommen werden kann, um
kreative Leistungen und Innovationen zu fördern. Sobald ein Unternehmen bzw. die dort
ansässigen Führungskräfte die Wichtigkeit zur Hebung des Innovativen Potenzials erkannt
haben und erste Zusammenhänge zwischen Führungsverhalten und Organisationskultur
klar geworden sind, ist schon einiges erreicht. Allerdings erfordert dies bei einigen – vor
allem bei den schon lange im Amt befindlichen Führungskräften – ein Umdenken, dass
zunächst oft nicht freiwillig erfolgt. Insbesondere wenn der Glaube an die Angemessen-
heit des bisherigen Verhaltens bei den Führungskräften hoch ist (Audia et al., 2000), ist
die Bereitschaft zu einer solchen Veränderung eher sehr gering. Wenn die Notwendigkeit
der Anpassung des Führungsverhaltens und der Änderung der Organisationskultur erkannt
ist, gilt es dann, diesen dadurch entstehenden Change zu managen.
Nach Überwindung aller Hemmnisse kann die Förderung von Innovationen sodann
auf verschiedenen Ebenen angegangen werden:
Die Entstehung von Innovation – Ein Resultat … 17

• Durch die Personalauswahl


• Bei der Auswahl und Entwicklung von Führungskräften
• Bei der Zusammensetzung von Arbeitsgruppen
• Bei der Gestaltung des Arbeitsklimas innerhalb einer Arbeitsgruppe
• Bei der (Weiter-) Entwicklung der Unternehmenskultur
• Durch die Kommunikation und das Agieren der Geschäftsleitung (oder anderer
Organe der Unternehmensführung)

Wichtig ist – wie schon beschrieben – zu Beginn festzulegen, wie genau das anzusteuernde
Ziel formuliert sein soll: Kreative Ideen fördern, um das Potenzial einzelner Mitarbeiter
besser nutzen oder die Erträge des Unternehmens steigern oder durch die Erfindung einer
disruptiven Innovation „berühmt werden“, bzw. „in die Medien kommen“ etc.
Wenn das Ziel festgelegt ist, kann die Auswahl der passenden Möglichkeiten zur
Innovationsförderung begonnen begonnen werden. Als günstige Voraussetzung erweist sich
die Mitbenutzung des „gesunden Menschenverstandes“. Der Wunsch nach mehr Innovation
und Kreativität sollte nicht im Einkauf von Zaubermethoden und Showeffekten münden.
Kreativität und Innovation sind wichtige Komponenten erfolgreicher Unternehmen,
aber es sind nicht die einzigen wichtigen Faktoren. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich
die Anforderungen an Unternehmen, Führungskräfte und Mitarbeiter stetig weiter ver-
ändern ist hoch. Alle anderen erforderlichen Fähigkeiten und Persönlichkeitsmerk-
male zugunsten der hier benannten zu vernachlässigen, kann und soll hier natürlich
nicht empfohlen werden. Unternehmen sind komplex, so auch die geforderten Eigen-
schafts- und Fähigkeitspakete und sogar das menschliche Miteinander selbst. Dennoch
gibt es Mittel und Wege bei an verschiedenen Stellen im Einstellungsprozess, bei der
Personalentwicklung, durch die Unternehmenskultur, etc. Fähigkeiten zu fördern. Diese
Förderung sollte behutsam, humanistisch und unter Benutzung der eigenen kognitiven
Fähigkeiten erfolgen. Gewaltsame Versuche Kreativität und Innovationen zu fördern,
lassen sich sinnbildlich in das „ziehen an wachsenden Pflanzen“ übertragen. Zu viel
Druck führt hierbei nicht zum gewünschten Resultat.

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(Hrsg.), Lehrbuch der Personalpsychologie. Hogrefe.

Prof. Dr. Sabrina Krauss ist Professorin für Psychologie und


leitet seit 2018 die psychologischen Studiengänge der SRH Hoch-
schule in Nordrhein-Westfalen.
Seit 2020 hat sie zusätzlich die Leitung des SRH Campus Rhein-
land inne. Darüber hinaus berät sie Wirtschafts-Unternehmen,
coacht Führungskräfte und forscht zu den psychologischen Aus-
wirkungen der Digitalisierung sowie Social Media und dem
Zusammenhang von Langeweile und Kreativität.
Identifikation von Objekten – eindeutig,
fälschungssicher und innovativ

Gerd Wintermeyer

1 Einleitung

Die Aufgabe einer Supply Chain besteht darin, den Warenfluss, Finanzfluss und
Informationsfluss einer Wertschöpfungskette zu planen, zu steuern und zu koordinieren.
Die Supply Chain erstreckt sich dabei typischerweise von den jeweiligen Erzeugern
der Primärgüter über mehrere Produktionsstufen bis zu dem konsumierenden End-
verbraucher. Dabei muss eine Supply Chain so gestaltet sein, dass diese Aufgabe auch
unter den Bedingungen wettbewerbsintensiver Märkte funktioniert, was in der Regel
hohe Anforderungen an Kosteneffizienz, Flexibilität und Transparenz stellt. Weiterhin
müssen Supply Chains die jeweils gültigen oder in Zukunft absehbaren legalen Rahmen-
bedingungen und gesellschaftlichen Erwartungen einhalten. Das können beispielsweise
Im- oder Exportbeschränkungen sein, Zollregularien, Informationen über anteilige
Treibhausgasemissionen, Land- und Ressourcenverbrauch oder auch die Gewähr für
die Einhaltung von Sozialstandards über alle Wertschöpfungsschritte und beteiligten
Unternehmen hinweg. Zur erfolgreichen Bewältigung dieses breiten Spektrums an Auf-
gaben sind eine Vielzahl organisatorischer, technischer, personeller und infrastruktur-
gebundener Voraussetzungen oder auch Befähigungen notwendig, die mal besser, mal
weniger gut von den an einer Supply Chain beteiligten Unternehmen und Volkswirt-
schaften erfüllt werden.

G. Wintermeyer (*) 
SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen, Hamm, Deutschland
E-Mail: Gerd.Wintermeyer@srh.de

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 19


Teil von Springer Nature 2022
S. Krauss und P. Plugmann (Hrsg.), Innovationen in der Wirtschaft,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-37411-2_2
20 G. Wintermeyer

Es existiert jedoch eine grundlegende Befähigung, die eine Supply Chain besitzen
muss und die in ihrer Bedeutung die anderen Befähigungen überragt bzw. erst möglich
macht. Um im Bild einer Supply Chain – einer Kette – zu bleiben, ist dieses zentrale
Kettenglied die Befähigung, die einzelnen Objekte innerhalb der Supply Chain zu
kennen. Dort, wo lediglich Stückzahlen eines bestimmten Artikels oder einer bestimmten
Charge relevant sind, müssen Mengen, Mengenabweichungen oder geänderte Chargen
gezählt und erkannt werden. Wenn Artikel sich beispielsweise durch eine Serialnummer
unterscheiden, muss der einzelne Artikel korrekt erkannt werden. Wo die Integrität
einer Supply Chain durch den fahrlässigen oder vorsätzlichen Austausch höherwertiger
durch minderwertige Artikel gefährdet ist, muss die Echtheit der Waren wie auch die
Konsistenz des den Warenfluss begleitenden Informationsflusses gewährleistet werden.
Parallel zur Etablierung des Konzeptes der Supply Chain im Lauf der letzten Jahr-
zehnte sind unterschiedliche Technologien entstanden und zum Einsatz gekommen,
die bei der Aufgabe des Identifizierens und Zählens von Supply Chain Objekten unter-
stützen. Einige dieser Technologien sind neu, andere blicken auf eine längere Ent-
stehungsgeschichte zurück, sind jedoch ebenfalls kontinuierlich weiterentwickelt,
verfeinert und an die speziellen Anforderungsprofile aktueller Supply Chains angepasst
worden. Einzelne Technologien wurden in Fachkreisen sowie einer interessierten
Öffentlichkeit zeitweise sehr intensiv diskutiert, nur um später wieder in den Hintergrund
zu rücken und auf eine anschauliche Weise das Wirken des von Gartner beschriebenen
Hype-Zyklus zu illustrieren (vgl. Fenn & Raskino, 2008, S. 8 f.). Als Beispiele seien
hier RFID oder Blockchain genannt. Andere Technologien, die von ihrer praktischen
Bedeutung her den beiden genannten vergleichbar sind oder diese sogar mit Blick
auf Nutzen und Potenzial übertreffen, geraten bei Betrachtungen zum Thema Identi-
fikation in der Logistik schnell in den Hintergrund und sind bestenfalls ausgewählten
Spezialisten bekannt. Im nächsten Kapitel werden funktionale Anforderungen an
Identifikationssysteme beschrieben. Ausgehend von konkreten Prozessanforderungen
innerhalb exemplarisch ausgewählter Supply Chains werden die von der Befähigung
„Identifikation“ geforderten Eigenschaften im Detail dargestellt. Basierend auf
diesen Detailanforderungen wird eine Klassifizierung der funktionalen Anforderung
„Identifikation“ in verschiedene Kategorien vorgenommen, die einen Abgleich mit
den Möglichkeiten der unterschiedlichen verfügbaren Technologien erlaubt. Das
anschließende Kapitel gibt einen Überblick der unterschiedlichen Technologien und
verdeutlicht die grundlegende Funktionsweise. Einzelne Anwendungsfälle der Logistik
werden aufgegriffen und dargestellt, wie unterschiedliche Technologien im Verbund
miteinander eingesetzt werden, um im Laufe der Zeit immer komplexer werdende Auf-
gaben zu erfüllen. Zum Abschluss dieses Artikels wird der Blick auf Anwendungsbei-
spiele innerhalb des Supply Chain Managements gelenkt, die Möglichkeiten, aber auch
Grenzen der Nutzung von Identifikationssystemen zeigen und erkennen lassen, warum
trotz des bereits erreichten technologischen Levels kontinuierlich weitere Entwicklungs-
aufwendungen getätigt werden.
Identifikation von Objekten – eindeutig … 21

2 Grundsätzliche Überlegungen zur Identifikation

2.1 Identifikation in der historischen Entwicklung

Der Vorgang der Identifikation ist gleichbedeutend mit dem Erkennen charakteristischer
Eigenschaften eines Objektes (natürlich oder menschengemacht) oder eines Lebewesens
(Mensch oder Tier) und dem Einteilen in eine bestimmte Kategorie. Die Kategorie kann
eng gefasst ein einzelnes Lebewesen oder Objekt sein, was dann zu der Aussage „das ist
Hans“ oder „das ist das Fahrrad mit der Rahmennummer abc123“ als Folge einer erfolg-
reichen Identifikation führt. Es kann aber auch eine breiter gefasste Kategorie wie „das
ist ein Freund“ oder „das ist eine Amphore Wein aus Phönizien“ sein, die es zu identi-
fizieren gilt.
Ohne technische Unterstützung erfolgt die Identifikation mit Unterstützung unserer
Sinnesorgane. Wir nehmen Informationen auf, die wir abgleichen mit Informationen,
die in unserem Gedächtnis oder anderen zur Identifikation verwendeten Datenträgern
wie Fotos oder schriftlichen Dokumenten gespeichert sind. Die Informationen können
mit dem Auge wahrgenommen werden und Merkmale wie Gesichtszüge oder Aussehen
und Farbe von Artikeln beinhalten, aber auch akustische, haptische oder olfaktorische
Wahrnehmungen umfassen. Wenn die zur Identifikation vorgesehenen Objekte (oder
Lebewesen) keine Merkmale besitzen, die eine ausreichend detaillierte Identifikation
erlauben, können zusätzliche Merkmale angebracht werden.
Beispiele dafür sind uns bereits aus der Antike bekannt und überliefert. Die Skythen,
von denen Herodot in seinen Historien vor über 2400 Jahren berichtete, besaßen
tätowierungsartige Hautverzierung, die ihre Stammeszugehörigkeit und möglicherweise
auch Status oder Funktion aufzeigten (siehe hierzu Parzinger, 2004, S. 7 f. sowie S. 119–
123). Griechische Händler verwendeten bereits in vorrömischer Zeit spezielle Symbole,
um Inhalt und Eigentümerschaft von Fässern und anderen Ladungsträgern anzuzeigen
(Scheibler, 1995, S. 144–148).
Zur Identifikation einzelner Objekte werden spätestens seit dem 19. Jhd. Serien-
nummern verwendet, mit denen einzelne Artikel, aber auch Ausweisdokumente, Bank-
noten oder Vertragsdokumente identifiziert werden. Die Seriennummern werden je nach
Artikeltyp von außen erkennbar so auf dem Objekt angebracht, dass ein Verfälschen
erschwert oder unmöglich gemacht wird. Die Firmen Gustav Becker (Ermert, 2021) wie
auch Singer (Nähzentrum Braunschweig, 2021) verwendeten bereits vor 1870 Serien-
nummern, um ihre Produkte, Uhren bzw. Nähmaschinen, eindeutig zu identifizieren.
Becker startete mit einer dreistelligen Nummer, die später aufgrund des erhöhten
Produktionsvolumens auf 4, dann auf 5 und dann auf 6 Stellen erweitert werden musste.
Singer startete mit einer sechsstelligen Nummer, die später auf sieben Ziffern, dann auf
eine Kombination von sieben Ziffern und einem Buchstaben und dann auf sieben Ziffern
und zwei Buchstaben erweitert wurde. Eine eindeutige Identifikation eines einzelnen
Objektes ist mit diesen frühen Systemen nur möglich, wenn die Objektkategorie bekannt
22 G. Wintermeyer

ist („dies ist eine Singer-Nähmaschine aus dem 19. Jhd.“) und die Systematik der Serien-
nummern rechtzeitig angepasst wurde, bevor Doubletten entstanden. Allein die Aussage,
dies ist die Seriennummer AY123456, reicht nicht zur Identifikation eines Objektes.
Neben firmenspezifischen Verfahren zur Identifikation einzelner Produkte gab
es verschiedene Ansätze, Nachahmern und Fälschern durch Einführung von Klassi-
fizierungsschemata auf der Ebene von Produkten, Produktgruppen oder auch kompletten
Herstellungsländern das Leben zu erschweren. Ein auslösendes Momentum dieser Ent-
wicklung ist verbunden mit der Aussage „Deutsche Waren sind billig und schlecht“
(siehe hierzu Braun, 1985, S. 106–114), die 1876 auf der Weltausstellung von
Philadelphia getätigt wurde. Um vermeintlich minderwertige Waren – unter anderem
aus dem Deutschen Reich – problemlos identifizieren zu können, wurde 1887 vom
englischen Parlament der „Merchandise Marks Act“ verabschiedet (Payn, 1888, S. 1–8),
der die Kennzeichnung von Waren mit einem Herkunftslandkennzeichen wie etwa
„Made in Germany“ verlangte. Ironischerweise führte dies in Zeiten der deutschen
Teilung dazu, dass Produkte aus der DDR teilweise mit „Made in Germany“, teil-
weise aber auch mit „Made in GDR“ und Produkte aus der BRD zur Differenzierung
mit „Made in West Germany“ gekennzeichnet wurden. Auch diese Kennzeichnung der
Waren erfolgt vergleichbar dem Aufbringen einer Seriennummer dergestalt, dass die
Herkunft gut erkennbar und nicht einfach zu verfälschen ist. Eine Weiterentwicklung
der Idee, das Herkunftsland zu identifizieren, stellte das 1891 vereinbarte Madrider
Abkommen über die internationale Registrierung von Marken dar. Hier wurde ein Regel-
werk entwickelt, mit dem weltweit eindeutig Marken (engl.: marks) registriert und als
Identitätsmerkmal zur Kennzeichnung von Produkten verwendet werden können.
Es dauerte mehrere Jahrzehnte, bis Systematiken entwickelt wurden, mit denen
auf eine eindeutige und widerspruchsfreie Art ein Artikel gekennzeichnet und identi-
fiziert werden kann. Das „Uniform Grocery Product Code Council“, ein Verband US-
amerikanischer Unternehmen der Lebensmittelindustrie, führte 1973 den Universal
Product Code (UPC) ein, mithilfe dessen ein Artikel durch eine 12-stellige Nummer
identifiziert wird. In verschiedenen europäischen Ländern wurde ab 1976 die European
Article Number (EAN) in einer dreizehnstelligen Variante (EAN-13) und einer acht-
stelligen Variante (EAN-8) zur Identifikation von Objekten auf der Ebene eines Artikels
verwendet. Sowohl die UPC wie auch die EAN Systematik entstanden im engen
Zusammenhang mit der Entwicklung von Strichcodes, die auf den jeweiligen Artikeln
aufgebracht werden konnten. Beide Codierungssysteme verfolgten dabei mehrere Ziele
gleichzeitig:

• Etablierung einer Systematik, mit der ein Artikel eindeutig benannt ist
• Artikel werden mit einem Merkmal versehen, das eine eindeutige Identifikation
erlaubt
• Unterstützen einer damals noch neuen Technologie, des Erfassen von Strichcodes mit
Lesegeräten, die eine teil- oder vollautomatische Erfassung des Objektes ermöglicht
Identifikation von Objekten – eindeutig … 23

Mit der Einführung von Strichcodes, Lesegeräten, UPC und EAN wurde die Basis für eine
schnelle Ausbreitung dieser Identifikationsmethoden in der Logistik geschaffen. Die Ver-
fügbarkeit dieser Identifikationsmöglichkeiten ist mit dafür verantwortlich, dass das Supply
Chain Management als neu entstehende Disziplin sehr stark durch den Einsatz neuester
technologischer Möglichkeiten geprägt wurde. Eine erfolgreiche Identifikation erzeugt
Informationen über Objekte innerhalb einer Supply Chain. Folgerichtig zeigt die Definition
einer Supply Chain als das Koordinieren von Waren- und Informationsflüssen die enge Ver-
bindung zwischen Identifikationstechnologien und Supply Chain Management.

2.2 Identifikation als systemische Aufgabe

Die im vorigen Kapitel genannten Beispiele zur historischen Entwicklung der Kunst
der Identifikation umfassen ein breites Spektrum unterschiedlicher Ansätze, die teil-
weise miteinander gekoppelt, teilweise unabhängig voneinander zum Einsatz kommen
können. Anhand der aufgezeigten Beispiele lässt sich ableiten, dass die Befähigung zur
Identifikation in unterschiedlichen Kontexten nicht das Resultat einer einzelnen Techno-
logie oder Erfindung ist. Identifikation ist vielmehr eine Aufgabe, die durch ein System
zu lösen ist – ein Identifikationssystem, innerhalb dessen unterschiedliche Komponenten
miteinander zusammenwirken müssen. Die Komponenten können unterschiedlich aus-
geprägt sein, umfassen aber von den Aufgaben her die in den folgenden Abschnitten
beschriebenen vier Themenfelder.

2.2.1 Systematik der Benennung


Die erste Frage, die beim Aufbau eines Identifikationssystem zu klären ist, befasst sich
damit, in welcher Granularität was für eine Kategorie identifiziert werden soll, wie die
Kennung konkret aussieht und wie stark formalisiert das Verfahren der Vergabe einer Identi-
fikationskennung ist. Im einfachen Fall fängt ein phönizischer Weinhändler damit an, seine
Initialen auf seine Amphoren zu schreiben. Alle interessierten Geschäftspartner nehmen
das zur Kenntnis und betrachten die Signatur als eine Art Ursprungsnachweis und Gütever-
sprechen. Wenn sich das Verfahren herumspricht, fangen einige Wettbewerber an, gleich-
artig vorzugehen und ihre eigenen Initialen anzubringen. Möglicherweise werden aber auch
nicht die eigenen, sondern die Initialen eines erfolgreicheren Wettbewerbers angebracht.
Das mag unter dem beschriebenen fiktiven Kontext zwar kein Gesetzesverstoß gewesen
sein, aber immerhin ein früher Versuch des Plagiarismus oder der Produktfälschung.
Ein komplexerer Fall besteht darin, dass beispielweise eine staatliche oder supra-
nationale Organisation ein Klassifizierungsschema vorgibt, mit dem alle einzelnen
Produkte bestimmter Kategorien wie beispielsweise Schusswaffen oder Fahrräder mit
einem Identifikator versehen werden müssen, der in einem Zentralregister vorgehalten
wird. Hier ist Form, Format und Art der Anbringung der Identifikationskennung vor-
gegeben. Eine Täuschung stellt einen Regelbruch dar, der geahndet werden kann.
24 G. Wintermeyer

Mit dem UPC und EAN wurden erste Ansätze eines länderübergreifend eingesetzten
Klassifizierungsschemas geschaffen. In den folgenden Kapiteln werden Verfahren vor-
gestellt, die teilweise Nachfolger von UPC und EAN sind, unterschiedliche Granulari-
täten der Klassifizierung unterstützen und Möglichkeiten der Informations- und
Kommunikationstechnik integrieren.

2.2.2 Aufbringung der Identifikationsmerkmale


Das nächste im Rahmen eines Identifizierungssystems relevante Themenfeld beschäftigt
sich mit der Frage der Aufbringung von Identifikationsmerkmalen. Im einfachsten Fall
muss kein zusätzliches Merkmal aufgebracht werden, ein Lebewesen oder Objekt kann
(mit für den angedachten Zweck ausreichender Sicherheit) auch ohne dieses Merkmal
identifiziert werden. Dies kann bei der Personenidentifizierung durch visuelle oder
systemgestützte Gesichtererkennung erfolgen oder bei einzigartigen Objekten („der
Eiffelturm“) durch ihr unverwechselbares Aussehen. Es kann sich um Vorgaben handeln,
wie eine Fahrgestellnummer oder ein Herkunftslandsiegel auszusehen hat, wie groß sie
zu sein haben und wie diese an dem Objekt anzubringen sind. Um das zu verdeutlichen,
betrachten wir ein Beispiel aus der Logistik.
Abb. 1 zeigt ein Beispiel einer Containernummer, die auf Containern anzubringen ist.
Der internationale Standard ISO 6346 regelt, wie die Containernummer aufgebaut ist
und welche Organisation eindeutige Nummern vergibt. Damit ist in dieser Norm die im
vorigen Abschnitt besprochene Systematik der Identifizierungsmerkmale klar geregelt.
Die Norm ISO 6346 regelt darüber hinaus, wie, in welcher Größe und wo die Container-
nummer an einem Container anzubringen ist und legt damit die Art der Anbringung des
Identifikationsmerkmals fest.
Viele Verfahren zur Aufbringung von Identifikationsmerkmalen stehen im engen
Zusammenhang mit der Art, wie der Erkennungsvorgang oder das Auslesen stattfinden
soll. So macht das Aufbringen eines Strichcodes nur dann Sinn, wenn auch ein Bar-
codeleser in irgendeiner Form verwendet werden soll. Der Einsatz von Transpondern

Abb. 1   Aufbau einer Containernummer gemäß ISO 6346. (Eigene Darstellung)


Identifikation von Objekten – eindeutig … 25

als Identifikationsmerkmal ist gleichfalls ohne dazu passende Lesegeräte nicht vorstell-
bar. In den folgenden Kapiteln werden die verschiedenen Möglichkeiten zur Anbringung
von Identifikationsmerkmalen im Kontext der Beschreibung verschiedener Verfahren zur
automatisierten Identifikation detaillierter behandelt.

2.2.3 Durchführung des Lesevorgangs


Objekte oder Lebewesen, die irgendeinem Identifikationsschema unterliegen, werden
zu bestimmten Ereignissen identifiziert. Jeder Versuch einer Kennung und Identi-
fikation stellt einen Lesevorgang dar. Ein von einer Person durchgeführter Lesevorgang
ist in seiner Umsetzung und Genauigkeit geprägt von unseren Sinnesorganen. Je nach
Art der zu lesenden Identifikationsmerkmale nutzen wir unsere Augen, um Ziffern zu
lesen, Gesichtszüge zu erkennen und gegebenenfalls mit Fotos zu vergleichen oder um
ein Objekt anhand seines charakteristischen und unverwechselbaren Aussehens zu identi-
fizieren. Der Tastsinn kann hinzukommen, wenn etwa eine eingeprägte Seriennummer
gefühlt wird, in selteneren Fällen auch der Geruchssinn oder das Gehör.
Insbesondere im Bereich des Supply Chain Managements gibt es ein breites Spektrum
an technischen Lösungen, die ein maschinelles, automatisiertes Identifizieren ermög-
lichen sollen. Ziel des automatischen Identifizierens, häufig auch als Auto-ID abgekürzt,
ist es, Identifikationen schneller, weniger fehlerträchtig, weniger anfällig für menschliche
Manipulationen und kostengünstiger durchzuführen. Auch wenn Auto-ID häufig nur mit
dem Auslesen von Strichcodes oder von RFID-Transpondern in Verbindung gebracht
wird, kommt dennoch im Prinzip das komplette Spektrum an Sensorik zur Durchführung
eines automatischen Lesevorgangs infrage, das menschliche Sinnesorgane ersetzt.
Darauf aufbauend haben sich zwei Hauptströmungen im Bereich der Auto-ID Ver-
fahren etabliert. Einerseits gibt es die zwei in der Logistik meistverwendeten Ver-
fahren, der Einsatz von optischen Codes und der Einsatz von RFID. Beiden Verfahren
ist gemein, dass die verwendeten, in der Regel an Objekten angebrachten Identifikations-
merkmale (Etiketten mit Codes oder Transponder) von Menschen ohne technische
Unterstützung nicht ausgelesen werden können. Die Entwicklung dieser genannten
Verfahren konzentriert sich darauf, im Wechselspiel zwischen Lesegeräten und anzu-
bringenden Identifikatoren ein Prozessoptimum zu erreichen. Die Entwicklungen in
diesem Umfeld werden im folgenden Kapitel detailliert dargestellt.
Parallel dazu existiert ein breites Feld an Entwicklungen, die zum Ziel haben,
Objekte oder Personen auf eine Weise zu identifizieren, die vergleichbar mit der Identi-
fikation durch menschliche Sinnesorgane ist. Technische Treiber hierbei sind primär
Verfügbarkeit und Preisdegression bei Digitalkameras, die Möglichkeit, große Daten-
mengen zu übermitteln und die rapiden Fortschritte bei der Entwicklung von Software-
algorithmen, die Form- und Mustererkennung durchführen. Ein Beispiel dafür sind die
an Mautbrücken angebrachten Kameras, die nicht nur Digitalbilder der durchfahrenden
Fahrzeuge aufnehmen, sondern mittels Mustererkennung die Nummernschilder erkennen
und die darauf aufgebrachten Kennzeichen identifizieren. Das Verfahren wird Optical
Character Recognition (OCR) genannt. Ein anderes Beispiel sind die in ausgewählten
26 G. Wintermeyer

städtischen Bereichen angebrachten Kameras, die ebenfalls ein Mustererkennungs-


verfahren einsetzen, mit dessen Hilfe jedoch nicht Fahrzeugkennzeichen, sondern
Personen anhand ihrer Gesichtsmerkmale identifiziert werden. Aus Sicht des Supply
Chain Managers ist das Attraktive an diesen Verfahren, dass die Erkennung flexibel
mal manuell, mal automatisch durchgeführt werden kann und auf die Anbringung auf-
wendiger, nur technisch auslesbarer Identifikationsmerkmale verzichtet wird.

2.2.4 Sicherheit des Identifikationsvorgangs


Ein weiteres zu betrachtendes Themenfeld zur Beschreibung von Identifikationssystemen
beinhaltet die Vorkehrungen, die getroffen werden, um vorsätzliche oder versehentliche
Fehllesungen zu vermeiden und Manipulationsversuche zu unterbinden. Fehler oder
Manipulationen können in jedem der drei bisher genannten Themenfelder, der Systematik
und Buchhaltung der Identifikationsmerkmale, der Anbringung der Merkmale und der
Durchführung des Lesevorgangs entstehen. Hinzu kommen noch Risiken bei der Auf-
bereitung und Übermittlung der bei Identifizierungsprozessen entstehenden Daten.
Bereits mit herkömmlichen Systemen zur Identifikation, bei denen Objekte mit
einem Siegel oder Stempel als Kennung versehen sind, droht eine Fälschung durch
Nachahmung der Kennung. Gesellschaften des Mittelalters und der frühen Neuzeit ver-
suchten sich gegen derartige Täuschungsversuche durch schwer zu fälschende Siegel,
aber auch durch gesellschaftliche Ächtung und hohe Strafen zu schützen. Das findet bis
heute einen Widerhall in unserem Strafrecht (DeutscheAnwaltsauskunft, 2021). § 267 –
Urkundenfälschung – greift bereits bei Delikten wie der Fälschung eines Stempels auf
der Hand, um unberechtigt Eintritt zu einer Veranstaltung zu erlangen und ist mit einem
vergleichsweise hohen Strafmaß im Vergleich zu anderen Gesetzesverstößen belegt.
Auch wenn es auf den ersten Blick überraschen mag, ist die besondere Bedeutung der
Behandlung der Urkundenfälschung im Strafrecht zurückzuführen auf das Bestreben,
Fälschungen an Identifikationsmerkmalen zu verhindern.
Vielen aktuellen Methoden im Kontext von Auto-ID Verfahren ist gemeinsam, dass
unter Nutzung von Konnektivitätsmöglichkeiten im Moment der Lesung versucht wird,
die Identifikation im Abgleich mit anderweitig vorgehaltenen Daten zu verifizieren.
Eine weitere Möglichkeit besteht in der Verwendung kryptografischer Methoden,
die sowohl bei der eigentlichen Lesung und Übermittlung der Daten wie auch bei der
Speicherung und Buchführung verwendet werden können. Letzteres wird bei Systemen,
die Blockchains zur Sicherung von Lesevorgängen und damit assoziierten Transaktionen
nutzen, sehr ausgeprägt umgesetzt.

3 Identifikation und Auto-ID

Nachfolgend wird die Entwicklung und Funktionsweise einiger weit verbreiteter Identi-
fikationssysteme beschrieben. Der Terminus „Identifikationssysteme“ impliziert, dass
jeweils alle vier im vorigen Kapitel genannten Merkmale
Identifikation von Objekten – eindeutig … 27

• Systematik der Nummerierung


• Aufbringung der Identifikationsmerkmale
• Lesung
• Sicherheit

Bestandteil dieser Systeme sind. Eine genauere Betrachtung der nachfolgenden Bei-
spiele zeigt jedoch, dass typischerweise einzelne der genannten Merkmale Treiber der
Entwicklung der einzelnen Technologien waren und die anderen Merkmale anderen
Systemen entliehen wurden oder für die betrachtete Technologie nur von untergeordneter
Bedeutung waren.

3.1 Optische Codes

Mit optischen Codes werden Codierungssysteme bezeichnet, bei denen das Auslesen der
Codemerkmale mit optischen Methoden erfolgt. Optische Methoden bedeutet, dass Licht
eingesetzt wird (in der Regel im sichtbaren Bereich, bei einigen Spezialanwendungen
auch Infrarot oder Ultraviolett), das auf den Identifikationsträger gestrahlt wird, von
diesem reflektiert und dann von einem geeigneten fotosensitiven Lesegerät registriert, in
analoge elektrische Signale gewandelt und anschließend weiterverarbeitet wird.
Letztendlich sind auch die bereits in Abschn, 2.2.3 Durchführung des Lesevor-
gangs beschriebenen Methoden der Gesichtererkennung oder der Texterkennung mittels
OCR optische Lesevorgänge. Da dafür jedoch kein explizites Codierungssystem zur
Verschlüsselung von Nutzdaten verwendet wird, werden diese nicht in dem Abschnitt
optische Codes mitbetrachtet.

3.1.1 Strichcodes
Das aktuell weltweit mit großem Abstand meistverwendete Identifikationssystem beruht
auf der Verwendung von Strichcodes, gelegentlich auch Balkencodes, 1D-Codes oder
Barcodes genannt. Das Prinzip eines Strichcodes besteht darin, Nutzzeichen wie etwa
Namen oder Zahlenfolgen gemäß einer Verschlüsselungsvorschrift als Folge von Strichen
oder Lücken, die auf einem Trägermaterial aufgebracht sind, darzustellen. Ziel dieser Art
der Darstellung von Nutzzeichen ist es, eine maschinelle Auslesung der Nutzdaten zu
ermöglichen, die schneller, kostengünstiger und fehlerärmer gegenüber einer manuellen
Auslesung der Nutzzeichen ist. Die Entwicklung und der Einsatz von Barcodes sind
daher eng gekoppelt mit der Entwicklung geeigneter Lesegeräte und Möglichkeiten zum
Weiterreichen und Verarbeiten der Nutzzeichen. Erste Entwicklungen zu Strichcodes gab
es bereits in den 1930er Jahren, die jedoch nie bis zur Einsatzreife gelangt sind. Das erste
Patent wurde 1952 an Norman Joseph Woodland und Bernard Silver für ein Barcode-
system mit einem kreisförmigen Muster erteilt (Woodland & Silver, 1952).
Weiterentwicklungen in den beiden folgenden Jahrzehnten, die sehr stark von der
Lebensmittelindustrie vorangetrieben wurden, führten schließlich bis 1973 bzw. 1977
28 G. Wintermeyer

zu der Entwicklung von Strichcodes, mit denen die bereits erwähnten Produktklassi-
fizierungsschemata UPC in den USA und EAN in Europa durch einen passgenau
konzipierten Strichcode dargestellt werden konnten. Abb. 2 zeigt ein Beispiel eines EAN
Barcodes, der nach dem Zusammenführen der EAN und UPC Schemata im Jahr 2005 als
„Global Trade Item Number“ (GTIN) bezeichnet wird. Die letzte Ziffer des 13-steligen
Codes wird als Prüfziffer bezeichnet. Sie ist nicht Teil der Nutzdaten, sondern berechnet
sich aus den ersten zwölf Ziffern gemäß eines eindeutigen Berechnungsverfahrens (für
die Interessierten: Das exakte Verfahren ist Modulo 10 mit der Gewichtung 3, beginnend
mit der ersten Stelle).
Falls eine der 13 Ziffern während des Lesevorgangs nicht korrekt gelesen wird,
hat das in der Regel zur Folge, dass die Prüfziffernberechnung auf einen Fehler läuft.
Dadurch kann das Lesesystem im Moment der Lesung einen Fehler erkennen und das
Resultat verwerfen. Ein vergleichbares Verfahren der Nutzung von Prüfziffern wird in
den meisten Auto-ID Codierungssystemen verwendet.
Der Aufbau eines Strichcodes ist gekennzeichnet durch Striche und Lücken, die ein
Zeichen ausmachen. Zum nächsten Zeichen gibt es eine Trennlücke, die größer als eine
normale Lücke ist und eine Ruhezone, die den um einen kompletten Strichcode frei-
zuhaltenden Bereich kennzeichnet. Sowohl die Striche wie auch die Lücken können unter-
schiedlich breit sein. Einige Strichcodesysteme unterscheiden lediglich zwischen schmalen
und breiten Strichen bzw. Lücken. Andere hingegen wie GTIN-13 oder GS1-128 ver-
wenden bis zu 4 unterschiedliche Breiten, was einerseits zu einer größeren Informations-
dichte auf den Strichcodes führt, andererseits auch das Risiko einer Fehllesung erhöht.
Die Gesamtmenge der heute verwendeten Strichcodesystem ist schwer überschau-
bar und umfasst genormte, in vielen Bereichen verwendete Systeme wie GTIN-13, aber
auch proprietäre Systeme, die lediglich in einem eingeschränkten Umfeld eingesetzt
werden. Die verschiedenen Systeme unterscheiden sich unter anderem hinsichtlich ihres

Abb. 2   Aufbau des GTIN-13 (vormals EAN-13) Strichcodes


Identifikation von Objekten – eindeutig … 29

verfügbaren Zeichensatzes, der von 10 Zeichen (nur numerisch) über 43 Zeichen (Ziffern
und Buchstaben) bis zum dem kompletten ASCII Zeichensatz von 128 Zeichen reicht.
Insbesondere bei den genormten Systemen mit einer Vielzahl von Anwender-
gruppen gibt es neben Codierungsregeln im Rahmen der jeweiligen Norm weitere Vor-
gaben hinsichtlich der Größe, der Größenverhältnisse zwischen schmalen und breiten
Strichen, Kontrast und Reflexionswert in bestimmten Wellenlängenbereichen. Was unter
Kontrast zu verstehen ist, ist beispielsweise in der Norm DIN 66 236 festgelegt. Eine
zur Bewertung der Qualität von Strichcodes eingesetzte internationale Norm ist die ISO/
IEC 15416. Ziel dieser Normierungsansätze ist es, eine möglichst große Interoperabilität
zwischen Strichcodes und Lesegeräten der unterschiedlichen Hersteller zu erzielen.

3.1.2 Lesesysteme für Strichcodes


Die Triebfeder für die Entwicklung der Standardisierungssysteme UPC und EAN waren
betriebswirtschaftliche Optimierungspotenziale, die bereits frühzeitig von Handels-
unternehmen und der Lebensmittelindustrie erkannt wurden. Um Strichcodesysteme
erfolgreich in die Praxis zu tragen, bedurfte es jedoch noch weiterer technologischer
Durchbrüche.
Woodland und Silver spekulierten in ihrer Patentanmeldung von 1952 noch über
die Möglichkeit, ihre kreisförmigen Strichcodes durch ein fotosensitives Gerät (photo-
sensitive apparatus) (vgl. Woodland & Silver, 1952) auszulesen. Am Ende sollte sich
jedoch eine Lesetechnik durchsetzen, bei der eine Fotozelle nur einen kleinen Teil des
Lesegerätes ausmacht. Ein weiterer Baustein für einen geeigneten Leseapparat wurde
bereits viele Jahre vor Woodland und Silver theoretisch angedacht, stand jedoch erst
nach der Patentanmeldung von 1952 zur Verfügung.
Bereits 1916 beschrieb Albert Einstein die Möglichkeit einer stimulierten Emission
von Photonen und legte damit das theoretische Fundament für den Bau von Lasern. Es
dauerte jedoch bis 1960, um auf Basis dieser quantenmechanischen Überlegungen einen
ersten funktionsfähigen Laser zu entwickeln. Durch die darauffolgende rasanten Ent-
wicklung in der Lasertechnik standen in den 1970er Jahren leistungsfähige und kosten-
günstige Laser zum Einsatz in der Strichcodetechnik zur Verfügung.
Abb. 3 zeigt den grundlegenden Aufbau eines Laserscanners, wie er seit den 1970er
Jahren in den unterschiedlichsten Wirtschaftsbereichen zum Einsatz kommt. Die Grund-
lage des Signals ist ein kohärenter Lichtstrahl, der von einem Laser erzeugt wird. Der
rotierende Polygonspiegel bewirkt, dass der Lichtstrahl über den auszulesenden Bereich
eines Strichcodes hinweg läuft. Die bereits im vorigen Kapitel angesprochenen Unter-
schiede in der Reflexionsfähigkeit zwischen Linien und Lücken bewirken, dass das
reflektierte Licht eine variierende Intensität aufweist, je nachdem, ob eine Lücke oder
ein Strich erfasst wurde. Nach Bündelung durch eine Optik wandelt der Fotosensor den
Lichtstrahl in ein analoges elektrisches Signal um, das anschließend weiterverarbeitet
werden kann. Neben unterschiedlichen Varianten von Laserscannern kommen heute
zunehmend Digitalkameras bzw. die diesen zugrunde liegende Technik, Charge-Coupled
30 G. Wintermeyer

Abb. 3   Schematische Darstellung eines Laserscanners, angelehnt an (Datalogic, 2007, S. 67)

Devices (CCD), zum Einsatz. Damit wird ein Strichcode komplett und auf einmal auf-
genommen, muss aber anschließend mit einem Softwarealgorithmus analysiert werden.

3.1.3 2D und 3D Codes


Die Menge an Nutzdaten, die ein Strichcode transportieren kann, ist meist beschränkt
wie etwa die 12 Stellen bei dem GTIN-13 Code. Auch bei den von der Länge her nicht
begrenzten Strichcodesystemen sind mehr als 30–40 Stellen innerhalb eines Barcodes
im praktischen Einsatz schnell unhandlich. Die Begrenzung des Volumens an Nutzdaten
bei einem Strichcode hat dazu geführt, dass sich seit den 1980er Jahren weitere Codes
etabliert haben, die auch als 2D oder 3D Codes bezeichnet werden und die primär zum
Ziel hatten, das Volumen der einem Code immanierenden Daten zu erhöhen. Abb. 4 zeigt

Abb. 4   Prinzipieller Aufbau von 1D Codes und 2D Codes. (Eigene Darstellung, angelehnt an
Datalogic, 2007, S. 5)
Identifikation von Objekten – eindeutig … 31

schematisch den Aufbau eines Strichcodes oder 1-dimensionalen Codes und im Ver-
gleich dazu 2 Varianten eines 2-dimensionalen Codes.
Der Stapelcode stellt eine folgerichtige Weiterentwicklung des klassischen Strichcodes
dar. Er besteht aus mehreren Strichcodes mit kurzen Strichlängen, die übereinander-
gestapelt sind. Das Nutzdatenvolumen erhöht sich linear mit der Anzahl der Stapelungen.
Ein Matrixcode ist in seiner Struktur ein vollwertiger 2-dimensionaler Code, der
die komplette zur Verfügung stehende Fläche zur Codierung verwendet. Das aktuell
bekannteste Beispiel für einen Matrixcode ist der Quick Response (QR) Code, der 1994
von einem japanischen Automobilzulieferer entwickelt wurde. Abb. 5 zeigt ein Beispiel
eines QR Codes. Er hat einen maximalen Informationsgehalt von 31.329 Bit, von dem
jedoch je nach Fehlerkorrekturlevel nur ein Teil als Nutzdaten verwendet werden kann.
Da es in unterschiedlichen Anwendungsbereichen den Bedarf gibt, noch größere
Mengen an Nutzdaten auf einem optisch lesbaren Code anzubringen, gibt es diverse
Entwicklungen, die mit dem leicht irreführenden Begriff 3D Code bezeichnet werden.

Abb. 5   Beispiel eines Quick


Response oder QR-Codes.
Benutzen Sie, sofern
vorhanden, eine passende App
auf Ihrem Smartphone und
entschlüsseln Sie den Code

Abb. 6   Erste Patentschrift aus dem Jahr 1904 für eine RADAR-Anlage, auch wenn der Begriff
RADAR (radio detection and ranging) noch nicht verwendet wurde
32 G. Wintermeyer

Es handelt sich in der Regel um 2-dimensionale Codes, bei denen Farbeigenschaften


wie Lichtwellenlänge, Sättigung oder Helligkeit für Striche und Lücken als virtuelle 3.
Dimension für einen höhere Informationsdichte pro Flächeneinheit sorgen. Keine dieser
Entwicklungen verfügt bisher über eine große Marktdurchdringung.

3.2 Radiofrequenz Identifikation (RFID)

Der Begriff Radiofrequenz-Identifikation oder RFID umfasst alle Verfahren, die elektro-
magnetische Wellen in den typischerweise für funktechnische Zwecke verwendeten
Frequenzbereichen zur Identifikation verwenden.

3.2.1 Frühe RFID Systeme


Seit Beginn der Nutzung von Radiowellen für Übertragungszwecke gab es Ansätze, diese
auch zu Identifikationszwecken einzusetzen. Bereits 1904 wurde von Christian Hülsmann
bei dem kaiserlichen Patentamt ein „Verfahren, um entfernte metallische Gegenstände
mittels elektrischer Wellen einem Beobachter zu melden“ angemeldet (Hülsmeyer, 1904).
Es dauerte noch mehr als 30 Jahre, bis darauf aufbauend die ersten funktionsfähigen
Radaranlagen entwickelt wurden, die im 2. Weltkrieg von den hauptkriegsführenden
Parteien zur Identifikation von Schiffen und Flugzeugen verwendet wurden. Das Patent
von Hülsmann wie auch die frühen Radaranlagen basieren darauf, dass von einer
Antenne ein elektromagnetisches Signal ausgestrahlt wird, das von einem zu identi-
fizierenden Objekt reflektiert wird. Das reflektierte Signal wird empfangen und die
Empfangseinheit kann allein auf Basis dieses Signals diverse Aussagen treffen:

• Existenz eines reflektierenden Objektes


• seine Größe oder Reflexionseigenschaften
• anhand der Laufzeit seine Entfernung
• aufgrund der Dopplerverschiebung des reflektierten Signals die Geschwindigkeit

Damit stellen bei einer etwas weiter gefassten Definition RADAR-Anlagen (auch die-
jenigen, die Autofahrer bei Geschwindigkeitsübertretungen erfassen) bereits ein RFID
System dar. Eine Weiterentwicklung hin zu dem, was heute im engeren Sinn unter einem
RFID System verstanden wird, fand ebenfalls bereits während des 2. Weltkriegs statt.
Um zwischen eigenen und fremden Flugzeugen unterscheiden zu können, wurden die
eigenen Flugzeuge mit einem Gerät ausgestattet, das von dem eigenen Radar aktiviert
wurde und ein Signal, versehen mit einer bestimmten Kennung, aussendete. Das
wiederum wurde von der stationären Radaranlage empfangen und ausgewertet.

3.2.2 Funktionsweise von RFID Systemen


Die prinzipielle Funktionsweise dieser Identifikationstechnik ist in Abb. 7 dargestellt. Es
gibt ein Lesegerät, das ein elektromagnetisches Signal aussendet. Dieses wiederum wird
von einer weiteren, zu identifizierenden Einheit, empfangen. Der Empfang des ersten
Identifikation von Objekten – eindeutig … 33

Abb. 7   Prinzipielle Funktionsweise eines RFID Systems

Signals aktiviert die zu identifizierende Einheit und diese sendet ein zweites Signal aus,
das Informationen beinhalten kann, die von der Leseeinheit empfangen und ausgewertet
werden können.
Das zu identifizierende Objekt reflektiert also nicht nur wie bei einer Radaranlage die
elektromagnetischen Wellen, sondern besitzt eine Einrichtung, die ein Sendesignal empfangen
und darauf antworten kann. Diese beiden Funktionen, auf Englisch TRANSmit und
resPOND, führten zu dem Begriff Transponder für das mobile Empfangs- und Sendegerät.
Die Entwicklung im Bereich der Transponder wird anschaulich durch den Vergleich
zwischen einem Beispiel aus dem Jahr 1943 (Abb. 8) mit Transpondern aus dem Jahr
2021, die in Größen unterhalb eines Millimeters Durchmesser gebaut werden können.

3.2.3 Klassifizierung von RFID Systemen


Um zu einer sinnvollen Klassifizierung der unterschiedlichen RFID Systeme zu
kommen, ist es notwendig, kurz darauf einzugehen, was die wesentlichen Vorteile von

Abb. 8   der FuG25a, ein Sende- und Empfangsgerät (Transponder) für deutsche Jagdflieger aus
dem Jahr 1943 (Luftwaffe, 1943, S. 11)
34 G. Wintermeyer

RFID Systemen im Supply Chain Management gegenüber der Verwendung optischer


Methoden wie Strichcodes sind. Prinzipiell bieten RFID Systeme die folgenden zusätz-
lichen Möglichkeiten:

• Das Auslesen eines Transponders kann ohne Sichtkontakt erfolgen


• Mehrere Transponder können gleichzeitig ausgelesen werden, eine Eigenschaft, die
auch Pulkerfassung genannt wird
• Im Rahmen eines Lesevorgangs können Daten nicht nur ausgelesen, sondern auch in
umgekehrter Richtung auf den Transponder geschrieben werden
• Es können größere Datenvolumen gelesen oder geschrieben werden
• Weitere Informationen wie Uhrzeit, Lokation und Sensordaten können vom Trans-
ponder erfasst und übermittelt werden
• Die Sicherheit der Datenübertragung kann durch kryptografische Methoden erhöht
werden

Je nach Anwendungsszenario sind alle oder auch nur einige dieser Möglichkeiten gefordert,
was entsprechenden Einfluss auf die Bauart der Transponder, die Lesegeräte, die ver-
wendeten Frequenzbänder, die Energieversorgung, Kosten pro Transponder und weitere
Charakteristika des für ein spezielles Szenario passenden RFID Systems hat. Die kurze Auf-
zählung einiger der Merkmale eines RFID Systems gibt einen Hinweis darauf, dass viele
Freiheitsgrade bei der Konzeption eines RFID-Systems existieren. Eine Klassifizierung der
verschiedenen RFID-Systeme muss diesen Freiheitsgraden Rechnung tragen. Diese Auf-
gabe wird zusätzlich erschwert durch die rapide technologische Weiterentwicklung, die
sämtlich Komponenten von RFID-Systemen umfassen. Ursache dafür sind immer neue
Anwendungsbereiche für RFID-Technologien, ein kontinuierlich wachsender Markt und
immer mehr Unternehmen, die komplette RFID-Systeme oder einzelne Komponenten her-
stellen und intensive Forschungs- und Entwicklungsaufwände tätigen. Der Weltmarkt für
RFID Systeme umfasst 2021 bereits mehr als 10 Mrd. US $ (Researchandmarkets, 2021)
und wird voraussichtlich um 10 % oder mehr p.a. in den nächsten Jahren weiterwachsen.
Nachfolgend wird eine grobe Klassifizierung von RFID Systemen anhand einzel-
ner ausgewählter Merkmale vorgenommen. Für einen kompletten Überblick über die
aktuellen Entwicklungen und die unterschiedlichen Systeme wird auf die umfangreiche
Einzelliteratur oder zusammenfassende Darstellungen wie das RFID-Handbuch (Finken-
zeller, 2015) verwiesen.

Sende- und Antwortfrequenz


Ein wesentliches Merkmal eines RFID Systems ist die verwendete Lesefrequenz sowie
die Frequenz des Antwortsignals. Die in der Praxis verwendeten Frequenzbänder liegen
in einem sehr weiten Bereich zwischen 100 kHz und 5,8 GHz. RFID Systeme sind Funk-
anlagen, die einer funktechnische Genehmigung bedürfen. Die verwendeten Sende-
frequenzen beschränken sich daher meist auf weltweit zugelassene lizenzfreie Bänder,
die für industrielle, wissenschaftliche und medizinische Zwecke zugelassen sind, die
Identifikation von Objekten – eindeutig … 35

sogenannten ISM (industrial, scientific, medica)-Bänder. Die gewählte Sendefrequenz


hat einen starken Einfluss auf die realisierbare Übertragungsbandbreite, Lesereich-
weite und Gestaltung der Energieversorgung der Transponder. Höhere Sendefrequenzen
erlauben eine größere Lesereichweite und die Übertragung größerer Datenmengen. Bei
AUTO-ID Verfahren im Supply Chain Management haben sich in den letzten Jahren aus
Gründen der Übertragungsbandbreite vorwiegend Systeme durchgesetzt, die entweder
im Hochfrequenzbereich (HF) bei 13,56 MHz oder im Ultrahochfrequenzbereich (UHF)
bei etwa 860 MHz bis 960 MHz liegen.

Speicher des Transponders


Transponder lassen sich nach der Art der Daten, die sie speichern und übertragen
können, in 3 Kategorien einteilen:

• Read Only Memory (ROM): der Transponder besitzt eine Identifikationsnummer, die
vom Hersteller bei der Produktion des Transponders in den digitalen Festwertspeicher
des Chips aufgebracht wird und die nicht verändert werden kann
• Write Once, Read Multiple (WORM): der Transponder kann von dem Anwender ein-
malig mit Daten beschrieben werden, die dann wiederholt ausgelesen werden können
• Read/write: ein read/write Transponder kann je nach Anwendungsfall wiederholt
beschrieben und ausgelesen werden

Energieversorgung der Transponder


Transponder benötigen Energie, um die für das Response-Signal erforderlichen elektro-
magnetischen Wellen zu erzeugen. In Bezug auf die Energieversorgung existieren zwei
unterschiedliche Varianten von Transpondern, aktive und passive Transponder. Gelegent-
lich werden Mischformen von aktivem und passivem Transponder als dritte Variante
bezeichnet. Aktive Transponder besitzen eine eigene Energiequelle, meist eine Batterie,
zum Betrieb des Mikrochips und zum Senden der Daten an das Lesegerät. Passive Trans-
ponder besitzen keine eigene Energieversorgung. Sie werden durch die Energie der vom
Lesegerät erzeugten elektromagnetischen Wellen aktiviert und verwenden diese zur
Datenübertragung zurück an das Lesegerät. Je nach verwendeter Lesefrequenz erfolgt
die Energieübertragung entweder durch induktive Kopplung bei geringer Lesereich-
weite und niedriger Frequenz oder durch elektromagnetische Kopplung im UHF Bereich.
Mischformen können beispielsweise eine separate Stromversorgung für den Betrieb des
Mikrochips oder weiterer Sensoren besitzen und passive Energieübertragung für den
reinen Lesevorgang nutzen. Passive Transponder sind langlebiger, wartungsärmer und in
der Regel kostengünstiger als aktive Transponder.

Antikollisionsverfahren
Im Umfeld des Supply Chain Managements und darüber hinaus gibt es Anwendungs-
fälle, bei denen im Rahmen eines einzelnen Lesevorgangs mehrere RFID Transponder
gleichzeitig ausgelesen werden sollen, ohne dass im Vorhinein bekannt ist, wie viele zu
36 G. Wintermeyer

identifizierende Objekte sich im Lesebereich befinden. Wenn mehrere vom Aufbau her
identische Transponder gleichzeitig ein Lesesignal empfangen, werden sie gleichzeitig
ihr Antwortsignal (mit je Transponder unterschiedlichen Informationen) zurückschicken
und durch Kollision der Signale ein Lesen erschweren. Antikollisionsverfahren sollen
das Verhindern und ein genaues Auslesen und Zählen aller Transponder durch das Lese-
gerät ermöglichen. Es existieren unterschiedliche Antikollisionsverfahren, die jeweils
spezielle sowohl von den Lesegeräten als auch den Transpondern zu unterstützende
Logiken einsetzen. Eines der Meistverwendeten ist das Time Division Multiple Access.
Die Grundidee bei diesem Verfahren ist, dass die Transponder nach empfangenen Lese-
impuls nicht sofort antworten, sondern erst nach Ablauf einer Zeit, die für jeden Trans-
ponder unterschiedlich lang und zufallsgesteuert ist, ihr Antwortsignal senden, das dann
kollisionsfrei von dem Lesegerät ausgewertet werden kann.

4 Von der Identifikationsnummer zum Internet der Dinge

In den vorigen Kapiteln wurden verschiedene Benennungssysteme vorgestellt, die


zur Identifikation einzelner Objekte (Singer Nähmaschine 123) oder Gruppen von
Objekten wie ein EAN Code verwendet werden. Diese herkömmlichen Benennungs-
systeme besitzen Überschneidungen und ein Identifikator verweist nur dann eindeutig
auf ein Objekt, wenn das jeweilige Benennungssystem bekannt und verstanden ist. Zur
Minimierung von Missverständnissen, Fehlern und Verwechslungen wäre es wünschens-
wert, weg von vielen unterschiedlichen Benennungssystemen und hin zu einem Schema
zur universellen und individuellen Identifikation von Objekten zu kommen. Die GS1,
eine weltweit tätige Organisation, die Standards für unternehmensübergreifende
Geschäftsprozesse entwickelt, hat mit dem Electronic Product Code (EPC) ein Identi-
fikationsschema entwickelt, das diesem Anspruch sehr nahekommt.
GS1 formuliert den Anspruch des EPC wie folgt:
„The EPC is a universal identifier that provides a unique identity for any physical
object. The EPC is designed to be unique across all physical objects in the world, over
all time, and across all categories of physical objects“ (GS1, 2017, S. 17).
Die konkrete Art, wie dieser Identifikator dargestellt wird, kann je nach Situation oder
Anwendungsfall unterschiedlich sein. Er kann beispielsweise als Strichcode dargestellt
werden, als Datensatz in RFID Transpondern gespeichert und in informationstechnischen
Systemen verarbeitet werden oder in Klarschrift auf ein Objekt geschrieben werden.
Wesentlich ist die Grundidee, nur noch eine Benennungsmethodik zu verwenden, die
ein Objekt über seinen kompletten Lebenszyklus hinweg unverwechselbar mit einem
Identifikator „verheiratet“. Zu dem Erfolg des EPC Codes tragen seine Kompatibilität
mit früheren Nummerierungssystemen wie EAN/UPC sowie seine Darstellungsform
als „Pure Identity EPC URI“, die sich anlehnt an Darstellungsformate aus der Welt des
Internet und World Wide Web, bei.
Identifikation von Objekten – eindeutig … 37

4.1 EPC Aufbau und Struktur

Die GS1 Organisation hat verschiedene Nummerierungsschemata entwickelt, die zur


Identifikation einzelner Objekte oder Gruppen von Objekten in einem geschäftlichen
Kontext verwendet werden können. Das bekannteste Schema ist EAN, das seit 2005
unter der Bezeichnung Global Trade Item Number (GTIN) zur Identifikation einer
Gruppe von Objekten, die alle Exemplare des gleichen Artikels sind, verwendet wird.
Um genau ein einzelnes Exemplar eines Artikels zu identifizieren, stellt GS1 ein weiteres
Schema, Serial Global Trade Item Number(SGTIN), zur Verfügung, das aus einer
Kombination von GTIN und Seriennummer besteht. GS1 stellt weitere Schemata wie
Global Returnable Asset Identifier(GRAI) oder Global Document Type Identifier(GDTI)
zur Verfügung, über die einzelne Objekte wie eine Mehrwegpalette oder ein Dokument
identifiziert werden können. EPC als universell angedachtes Identifikationssystem ver-
wendet existierende GS1 Schemata zur Bezeichnung einzelner Objekte. Ein EPC
Identifikator besteht aus einer Bezeichnung des GS1 Schemas wie beispielsweise SGTIN
und der innerhalb des Schemas gültigen eindeutigen Identifikationsnummer. Im Falle
eines SGTIN Objektes ist daher der Identifikator eine Kombination aus

• dem Schema SGTIN


• der GTIN Nummer des Artikels und
• der Seriennummer des konkreten Exemplars.

Abb. 9 stellt den Zusammenhang zwischen den Objekten innerhalb eines GS1 Schemas
und dem EPC als Obermenge aller denkbaren Objekte dar.
Ein EPC Schema kann nur ein GS1 Schema sein, das einzelne Objekte identifiziert,
wie dies beispielsweise durch SGTIN erfolgt. GTIN hingegen bezeichnet eine Klasse
von Objekten, alle Artikel mit der gleichen Artikelnummer, und ist daher nicht als
Schema für EPC geeignet. Es können Schemata außerhalb des GS1 Systems für EPC
verwendet werden, wie dies beispielsweise mit dem Schema USDOD des US-Ver-
teidigungsministeriums geschieht. Zusätzlich können neue EPC Schemata definiert
werden, um zusätzliche Klassen von Objekten zu erfassen, die bisher keinem einheit-
lichen Identifikationssystem unterliegen.

4.2 Vom Electronic Product Code zum Internet der Dinge

Der EPC stellt Möglichkeiten zur Verfügung, mithilfe derer jeder erdenkliche Gegen-
stand eindeutig identifiziert werden kann, wobei „Identifizieren“ hier gleichbedeutend
mit „eindeutig benennen“ ist. Identifikationsmethoden für Objekte sind eine Vorstufe
für weitergehende Konzepte wie das das „Internet der Dinge“, häufiger auch „Internet of
Things“ oder einfach IoT genannt. Um diese reibungslos umsetzen zu können, benötigen
38 G. Wintermeyer

Abb. 9   Der Zusammenhang zwischen EPC und GS1 Schemata, die auf einzelne Objekte ver-
weisen. (Eigene Darstellung, angelehnt an GS1, 2017, S. 21)

wir eine Verknüpfung zwischen der gewählten Identifikationsmethode für Objekte und
der Art und Weise, wie Ressourcen in der „Internet Community“ dargestellt werden.
Um diese Verknüpfung herzustellen, betrachten wir den Request for Comment
(RFC)3986 (Berners-Lee, 2005), der eine Beschreibung des für das World Wide Web
grundlegenden Konzeptes eines „Uniform Resource Identifier“ (URI) liefert.
Danach ist eine URI eine „compact sequence of characters that identifies an abstract
or physical resource“.
URI ist demnach ein Konstrukt, mit dem alles identifizieren werden kann, was in
irgendeiner Form identifizierbar ist. Das kann ein Zugriff auf eine Webseite sein, eine
abstrakte Idee, eine Veröffentlichung, das Grundgesetz, eine ISBN Buchnummer oder
ein Name für ein einzelnes Objekt wie die Büste der Nofretete.
URI verwendet unterschiedliche Schemata für die zu benennenden Konstrukte. Zur
Benennung von Objekten wird das Schema Uniform Resource Name (URN) verwendet.
Eine durch einen URN benannte Ressource kann ein physisches Objekt, das einen EPC
besitzt, aber auch etwas ganz anderes wie beispielweise ein abstraktes Konzept sein.
Innerhalb des Schemas URN muss daher als nächster Schritt ein Namensraum oder
Namespace Identifier (NID) festgelegt werden. EPC kann als ein NID des URI Schemas
URN beschrieben werden. In URI-konformer Schreibweise kann daher ein konkretes
durch EPC identifiziertes Objekt wie folgt beschrieben werden:
urn:epc:id:sgtin:0123456.222222.100.123
Der erste Teil urn gibt das URI Schema an, der Identifier ist epc, der Electronic
Product Code, innerhalb der EPC Notation wird in dem Beispiel das EPC Schema SGTIN
Identifikation von Objekten – eindeutig … 39

(serialisierte Global Trade Item Number) verwendet und die nachfolgenden Ziffern
stehen für die GTIN Produktnummer und die Seriennummer des einzelnen Objektes.
In dieser Darstellungsform können Internet-konform Bezeichnungen für Objekte auto-
matisch erfasst, als Teil von Schnittstellenbeschreibungen zwischen IT-Systemen aus-
getauscht und mit weiteren objektspezifischen Informationen, die gegebenenfalls anderen
URI Schemata angehören, angereichert werden. Die Verknüpfung zwischen Objekten
der realen Welt und der informationstechnischen Darstellung als Basis des Internets der
Dinge ist damit geschaffen worden.

5 Identifikationssysteme in der Praxis

Das Instrumentarium zur durchgängigen Identifikation von Objekten entlang einer unter-
nehmensübergreifenden Lieferkette steht, wie die vorigen Kapitel zeigen, zur Verfügung.
Sind damit Supply Chains, die sich der aufgezeigten Mechanismen bedienen, auto-
matisch fehlerfrei?
Mit dieser Frage hat sich im Rahmen des Projektes Zipper (Patton et al., 2018) die
Auburn University beschäftigt. Untersucht wurde der Nutzen von RFID-basierten
Identifikationssystemen innerhalb von Supply Chains, an denen namhafte und techno-
logisch „state of the art“ ausgestattete Konsumgüterhersteller und Handelsunter-
nehmen beteiligt waren. Das überraschende Ergebnis war, dass im untersuchten
Kontext lediglich 31(!) % der zwischen den Unternehmen ausgetauschten Lieferavisen
(Advanced Shipping Notification) komplett fehlerfrei waren. Die übrigen 69 %
waren nicht komplett falsch, sondern wiesen zumeist bei einzelnen Positionen leichte
Abweichungen der Zahlen auf. Die Ursachen für die Abweichungen waren vielfältig,
Mehr- und Mindermengen bei der Kommissionierung, nicht gelesene Transponder,
doppelt gelesene Transponder, abgefallene oder beschädigte Transponder, um nur einige
der gefundenen Fehlerquellen zu nennen. Die Ergebnisse bedeuten nicht, dass der Ein-
satz der existierenden Identifikationstechniken innerhalb der untersuchten Supply
Chain vergebens ist. 31 % komplett fehlerfreie Lieferavisen und 69 % weitgehend
richtige Lieferavisen stellen eine höhere Genauigkeit dar, als sie typischerweise mit rein
manuellen Methoden zu erreichen ist. Viele schnelldrehende Lieferketten geringwertiger
Gütern können auch mit einer Akkuratesse, wie sie im Projekt Zipper gemessen wurde,
gut leben.
Trotz all dem sind die Ergebnisse nicht gut genug für eine Supply Chain mit hoch-
wertigen oder kritischen Gütern wie beispielsweise Pharmazeutika oder zeitkritischen
Ersatzteilen. Gegenüber einer mit modernsten Identifikationsmöglichkeiten aus-
gestatteten und automatisierten Supply Chain besteht eher die berechtigte Erwartungs-
haltung einer Genauigkeit von annähernd 100 % der registrierten Objekte. In einer
Folgestudie beschäftigte sich die Auburn University mit der Frage, welche Identi-
fikationsmöglichkeiten denn einzusetzen sind, um eine deutlich bessere Genauigkeit bei
der Verfolgung der Supply Chain Objekte zu erreichen (Hardgrave et al., 2020).
40 G. Wintermeyer

Das Ergebnis dieses Proof of Concept lässt sich etwas vereinfacht in dem Diktum
zusammenfassen: „viel hilft viel“.
Die Objekte der Supply Chain werden häufiger identifiziert. Sie werden individuell
mit Seriennummern über eine SGTIN Nummer gekennzeichnet. Zum Datenaustausch
werden von GS1 vorgeschlagene informationstechnische Schnittstellenformate, EPCIS
(EPC Information Services), verwendet. Zusätzlich werden die Daten zwischen den
teilnehmenden Unternehmen über eine Blockchain Plattform fälschungssicher und
konsistent ausgetauscht.

6 Ausblick

Unser kurzer Streifzug durch die Welt der Identifikationssysteme macht deutlich, dass
dieses Themengebiet sich seit Jahrhunderten durch Innovationen aus den unterschied-
lichsten Wissensgebieten kontinuierlich weiterentwickelt. In der Vergangenheit waren
Mechanik und Ingenieurwissenschaften die Treiber, unterstützt durch gesellschaftliche
Entwicklungen wie die Ächtung von Urkundenfälschungen. In neuerer Zeit liefern Ent-
wicklungen in der Lasertechnik, digitale Bildaufnahmen, Informationstechnik und Inter-
net die Werkzeuge für Innovationen in der Identifikation von Objekten. Wohin geht die
Reise in den kommenden Jahren? Die Ergebnisse der beiden Studien der Auburn Uni-
versity unterstreichen zwei Dinge:

• Zum einen existiert auch dort, wo aktuell „state of the art“ Identifikationssysteme ein-
gesetzt werden, Bedarf an „besseren“ Systemen, um in dem genannte Beispiel über
31 % Korrektheit der ausgetauschten Lieferavisen zu kommen.
• Zum anderen zeigt die „Chip“ Studie einmal mehr, dass eine erfolgreiche Identi-
fikation eines systemischen Ansatzes bedarf, in der die Komponenten Identifikations-
merkmal, Benennungssystem, Lesevorgang und Sicherheitskonzept intelligent
miteinander zusammenzuwirken haben.

Der zukünftige Fokus der Entwicklung wird daher, neben einer allfälligen Weiter-
entwicklung der einzelnen Komponenten, insbesondere im systemischen Bereich
liegen. Wie kann sichergestellt werden, dass die einzelnen Komponenten eines Identi-
fikationssystems nahtlos ineinandergreifen? Wie können Daten aus einem Lesevorgang
aufbereitet und derart bereitgestellt werden, dass zukünftige Lesevorgänge mehr Sicher-
heit durch Zugriff auf diese Daten erhalten? Wie können zusätzliche, augmentierte
Informationen über den komplette Lebenszyklus eines Objektes gesammelt und unter
Beachtung von Datensicherheitsaspekten berechtigten Parteien zur Verfügung gestellt
werden? Die für diese Aufgaben benötigten Werkzeuge kommen aus dem Bereich der
Kryptographie, des Cloud-Computings und der Sensorik.
Auf der Anwendungsseite sind neben einer Abrundung des Einsatzes innerhalb
existierender Supply Chains unterschiedliche Schwerpunkte vorstellbar:
Identifikation von Objekten – eindeutig … 41

• Im Bereich der Retrologistik kann eine verbesserte Identifikation dazu beitragen, dass
auch noch Jahrzehnte nach der Herstellung irgendwelcher Produkten bei deren Zer-
legung einzelne Komponenten fehlerfrei identifiziert und einer zielgerichteten Auf-
bereitung zugeführt werden.
• In gesellschaftlich hochsensiblen Themenfeldern wie dem Umgang mit kolonialer
Raubkunst oder der Restitution von Kulturgütern, die infolge der national-
sozialistischen Gewaltherrschaft enteignet wurden, können Innovationen der Identi-
fikation die Provenienzforschung unterstützen.

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42 G. Wintermeyer

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patent/US2612994A/en.

Prof. Dr. Gerd Wintermeyer hat an der Ruprecht-Karls-Uni-


versität Heidelberg Physik studiert, über atomare Prozesse bei
Schwerionenstößen promoviert und sich anschließend mehrere
Jahre als Research Fellow an der University of KwaZulu-Natal,
Südafrika mit dem Verhalten von Niedertemperaturplasmen
beschäftigt.
Die nächsten Karriereschritte unternahm Gerd Wintermeyer
in der Logistik- und IT Beratung. Nach einer mehrjährigen Tätig-
keit als Softwareentwickler, IT-Berater und Projektleiter baute er
als Bereichsleiter das Leistungsangebot „SAP basierte Logistik-
systeme“ bei der damaligen Heyde AG auf. Von 2005 bis 2014 war
er Vorstand der inconso AG. Er hat die erfolgreiche Entwicklung
der inconso AG als führendes IT- und Beratungshaus für IT und
Logistik begleitet und verantwortete das SAP-Beratungsangebot
und den Vertrieb. 
2014 erfolgte die Berufung als Professor für technische Logistik
an der SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen. Seine aktuellen
Forschungsthemen sind sowohl von seinem Hintergrund in Atom-
und Plasmaphysik wie auch von seiner langjährigen Erfahrung bei
der Entwicklung informationstechnischer Lösungen für Unter-
nehmen geprägt. Schwerpunkt sind Möglichkeiten der Gestaltung
digitaler Supply Chains und die dabei auftretenden technischen und
naturwissenschaftlichen Limitierungen.
Externes Rechnungswesen und
Innovationen: Ein Oxymoron?

Jürgen Dahlhoff

1 Einführung

Das externe Rechnungswesen ruft unterschiedliche Reaktionen hervor. Für die diesem
Fach zugewandten Personen ist es das Rückgrat eines jeden Unternehmens, ohne das
kein Unternehmen vernünftig geführt werden kann. Das Rechnungswesen als modell-
hafte Abbildung der betrieblichen Realität dokumentiert alle Finanztransaktionen,
sowie die materiellen und immateriellen Güterbewegungen eines Unternehmens. Ohne
Rechnungswesen wäre es nicht möglich, über ökonomische Kenngrößen wie Vermögen,
Schulden, Eigenkapital und Gewinn zu reflektieren. Es ist die Quelle, aus der sich
„derivative“ Fächer wie Kostenrechnung (internes Rechnungswesen) oder Controlling
entwickelt haben, die ihrerseits Unterstützung und Grundlage für unternehmerische Ent-
scheidungen jeglicher Art sind. Die dem Fach abgeneigten Personen nehmen es eher
als stark formalistisches und überkomplexes System wahr, welches durch seine Regeln
Unternehmen in ein bürokratisches Korsett zwängt. Zudem kostet es viel Geld, welches
für Buchhalter, Steuerberater, Wirtschaftsprüfer und die notwendige Software aus-
gegeben wird. Erschwerend gilt die Disziplin der Buchführung als eher langweilige und
eintönige Tätigkeit. Es ist Pflicht, nicht Kür, aufgrund gesetzlicher Vorgaben.
Diese unterschiedliche Wahrnehmung wird von Schriftstellern geteilt, die sich
mit dem Kaufmannsberuf auseinandergesetzt haben. Goethe lobt die Buchführung in
Wilhelm Meisters Lehrjahren schwärmerisch als eine der schönsten Erfindungen des

J. Dahlhoff (*) 
SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen, Hamm, Deutschland
E-Mail: Juergen.Dahlhoff@srh.de

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 43


Teil von Springer Nature 2022
S. Krauss und P. Plugmann (Hrsg.), Innovationen in der Wirtschaft,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-37411-2_3
44 J. Dahlhoff

menschlichen Geistes (Goethe, 1795, S. 35). Melville (1853) zeichnet mit der Figur
des Bartleby das Bild eines pflichtbewussten, langweiligen, wenig emotionalen und
unflexiblen Menschen. Zwar bezieht er sich auf einen Kopisten bei einem Rechtsanwalt,
aber man könnte aus dem Schreiber Bartleby einen Buchhalter machen und wäre nicht
überrascht. „Erbsenzähler“ ist eine Bezeichnung, die gerne Fachkräften im Rechnungs-
wesen zugewiesen wird. Ein weiteres Vorurteil über Buchhalter ist, dass sie unscheinbar
seien, fleischgewordene Pendants zur Disziplin der von ihnen praktizierten Buchführung.
In Gustav Freytags Roman Soll und Haben über den Kaufmannsstand etwa zur Mitte des
19. Jahrhunderts wird ein Kontor beschrieben, in dem ein Buchhalter namens Liebold
arbeitet. Er wird charakterisiert als „ältlicher kleiner Mann mit einer feinen Stimme und
einem bescheidenen Lächeln, durch welches er die Welt um Vergebung bat, dass er sich
die Freiheit nehme zu existieren.“ (Freytag, 1855, S. 40).
So unterschiedlich diese Einschätzungen sein mögen: Die Vertreter dieser
Zuschreibungen wären sich sicher einig, dass Rechnungswesen oder enger Buchführung,
nicht mit dem Begriff der Innovation in Verbindung gebracht werden können. Das klingt
nach einem Oxymoron, einer Wortfigur von zwei Begriffen, die sich widersprechen,
wie z. B. Ausnahmeregel, Weniger ist mehr, rasender Stillstand, ohrenbetäubende Stille,
geschäftige Inaktivität, Laufruhe oder der stumme Schrei.
Aber ist das wirklich so? Passen diese Begriffe nicht zusammen? Schließen sie sich
aus? Oder kann es sein, dass sich Rechnungswesen und Innovation wechselseitig beein-
flusst haben? Ist es sogar möglich, dass die Untersuchung des Zusammenwirkens von
Rechnungswesen und Innovation auch Antworten zur Weiterentwicklung des Fachs
bereithält?
Mit diesen Fragestellungen beschäftigt sich dieser Artikel. Nach einem Kurzüberblick
über das heutige Rechnungswesen und einer Einführung des Innovationsbegriffs, erfolgt
eine Betrachtung der historischen Entwicklung des Rechnungswesens. Es werden drei
Phasen identifiziert, in denen Rechnungswesen sehr unterschiedlich betrieben wurde und
in denen die Innovation als Treiber der Übergänge in die jeweils nächste Phase inter-
pretiert werden kann. Weiterhin wird dargelegt, dass Rechnungswesen und Innovation
sich gegenseitig befruchten, wobei nicht ganz klar ist, ob neue Anforderungen an das
Rechnungswesen innovative Lösungen erforderten oder umgekehrt, ob Innovationen
auch im Rechnungswesen übernommen wurden, um es auf ein neues Level zu heben.
Es handelt sich hierbei um das klassische „Henne-Ei-Problem“. Wie auch immer, es
wird gezeigt, warum Rechnungswesen sich anpassen und mit innovativen Lösungen den
Erfordernissen der Unternehmensführung und des Gesetzgebers gerecht werden musste.
Abschließend wird die Frage erörtert, ob die Trias Rechnungswesen, Technik und Recht
nicht auch Hinweise für die Weiterentwicklung des Fachs bereithält. Natürlich ist der
Autor nicht so verwegen, genaue Prognosen abgeben zu wollen – daran kann man nur
scheitern – aber vielleicht kann man auf Basis der bisherigen Entwicklung einige Trends
für die kommenden Jahre ableiten. Der Aufsatz schließt mit einem Fazit.
Externes Rechnungswesen und Innovationen: Ein Oxymoron? 45

2 Überblick zum externen Rechnungswesen

Unternehmen sind gesetzlich verpflichtet, ihre laufenden Geschäftsvorfälle aufzu-


zeichnen (§ 238 HGB). Um dieser Pflicht nachzukommen, betreiben sie eine Buch-
führung. Die Buchführung ist eine Zeitraumrechnung, die alle Transaktionen eines
Jahres chronologisch, lückenlos und geordnet aufzeichnet. Diese Dokumentations-
funktion erfolgt durch die Verbuchung aller Geschäftsvorfälle nach dem Prinzip der
doppelten Buchführung, also der Verbuchung eines Geschäftsvorfalls auf verschiedenen
Konten im Soll und Haben, sowie des zweifachen Erfolgsausweises in der Bilanz und
der Gewinn- und Verlustrechnung. Am Ende des Geschäftsjahres wird eine Schlussbilanz
erstellt, die Vermögen, Eigenkapital und Schulden des Unternehmens in aggregierter
Form darstellt. Weitere Bestandteile sind die Gewinn- und Verlustrechnung, die Erträge
und Aufwendungen sowie den Gewinn darstellt, und abhängig von Rechtsform auch
noch Anhang, Lagebericht, Kapitalflussrechnung, Eigenkapitalspiegel und ggfs. eine
Segmentberichterstattung. Der Jahresabschluss gilt als eine der bedeutsamsten Auf-
gaben des externen Rechnungswesens, da durch ihn Rechenschaft über das abgelaufene
Geschäftsjahr abgelegt wird und beurteilt werden kann, ob das Unternehmen gut gewirt-
schaftet hat. Neben dem Jahresabschluss gibt es den rechtlich nicht vorgeschriebenen
und weniger aufwendigen Monatsabschluss, der unterjährig die Geschäftsführung und
das Controlling mit wichtigen Zahleninformationen versorgt. Zu dieser Informations-
funktion gesellen sich dann noch die Ausschüttungs- und die Steuerbemessungsfunktion
des Jahresabschlusses. Hat das Unternehmen erfolgreich gewirtschaftet, ist der erzielte
Gewinn die Basis für die Höhe der möglichen Gewinnausschüttung an die Unter-
nehmenseigentümer. Weiterhin ist der nach HGB-Normen erstellte Jahresabschluss Aus-
gangsbasis für die Steuerbilanz, welche für den Fiskus Grundlage zur Ermittlung des
steuerpflichtigen Gewinns ist. Dieser wird herangezogen, um die zu entrichtende Körper-
schafts- und Gewerbesteuer ermitteln zu können. Das Rechnungswesen ruht auf diversen
Normen, die sich über einen langen Zeitablauf entwickelt haben. Man unterscheidet die
Normensysteme Handelsrecht (Grundlage ist das Handelsgesetzbuch), Steuerrecht (z. B.
mit Einkommensteuer-, Körperschaftssteuer- und Gewerbesteuergesetz), sowie inter-
nationale Rechnungslegungsvorschriften, wie die in der EU geltenden IAS/IFRS. Ggfs.
kommen weitere Rechtsnormen hinzu, wenn beispielsweise ein Unternehmen Tochter-
gesellschaft eines US-amerikanischen Unternehmens ist (US-GAAP). Eine weitere
Unterscheidung bezieht sich darauf, ob sich der Jahresabschluss auf ein einziges Unter-
nehmen konzentriert (Einzelabschluss) oder eine Vielzahl von Unternehmen inkludiert
(Konzernabschluss). Eigens für Konzernabschlüsse wurde die sog. Konzernrechnungs-
legung entwickelt, die weitere Anforderungen für das Rechnungswesen bereithält, denn
es müssen Einzelabschlüsse einer Vielzahl von Tochtergesellschaften (manchmal sogar
mehr als tausend Gesellschaften), die in unterschiedlichen Ländern angesiedelt sind, zu
einem Konzernabschluss zusammengeführt werden. Diese wenigen Ausführungen lassen
46 J. Dahlhoff

erahnen, dass das Rechnungswesen der Gegenwart eine recht komplexe Angelegen-
heit ist, insbesondere für größere Unternehmen. Man kann davon ausgehen, dass
mit der Größe des Unternehmens auch die Anforderungen an das Rechnungswesen
steigen. Ist es in einem Kleinunternehmen noch überschaubar – häufig ausgelagert an
eine Steuerberatung – beschäftigen Konzerne Hundertschaften von Spezialisten, um
den Anforderungen an ein zeitgemäßes Rechnungswesen nachkommen zu können.
Vorgreifend kann man bereits sagen, dass ohne Innovationen ein solches komplexes
Gebilde – welches in einem Großunternehmen Millionen (bei manchen Großkonzernen
im Einzelhandel sogar Milliarden) an Geschäftsvorfällen im Jahr verarbeiten muss –
schlichtweg nicht operabel wäre.

3 Zum Begriff der Innovation

Wer von Innovation spricht, meint meistens Technikinnovationen, wie z.  B.


maßgeschneiderte Sportschuhe aus dem 3D-Drucker, Peilsender für den Schlüsselbund,
Flugtaxis, ein neues Medikament zur Bekämpfung eines tödlichen Virus, oder den Ein-
satz der Künstlichen Intelligenz bei der Klassifikation von Gurken. Innovationen dieser
Art sind im Regelfall durch Patente und andere Rechte geschützt.
Tatsächlich ist der Innovationsbegriff weiter zu fassen. So unterscheiden Hauschildt
et al., (2016, S. 6 ff.) Produkt-, Prozess-, und Dienstleistungsinnovationen. Die Produkt-
innovation bezieht sich auf neuartige Produkte, die sich am Markt durchsetzen müssen.
Darunter fallen die weiter oben genannten Beispiele. Eine Prozessinnovation ist inner-
betrieblicher Art und zeichnet sich durch eine neuartige Kombination der Produktions-
faktoren aus. Ziel ist es, einen Prozess kostengünstiger oder schneller zu machen.
Die Einführung der Fließbandfertigung für die Produktion von Automobilen durch
Henry Ford im Jahr 1913 ist ein Beispiel für eine Prozessinnovation. Dadurch gelang
der Einstieg in die Massenproduktion mit Produkten zu erschwinglichen Preisen.
Dienstleistungsinnovationen beziehen sich auf innovative Angebote jenseits von Produkt-
verkäufen. Sie sind eine Kombination von Produkt- und Prozessinnovation. Beispiels-
weise verkauft ein Softwareunternehmen nicht mehr Software, sondern bietet Lizenzen
mit dem Versprechen an, die Software regelmäßig upzugraden und zu warten. Das
Produkt Software erbringt nicht nur einen Einmalumsatz beim Verkauf, sondern bindet
den Käufer durch den Lizenzerwerb dauerhaft an die Software und sorgt für einen
regelmäßigen Einkommensstrom durch die Lizenzerlöse.
Eine weitere interessante Sichtweise ist die Betrachtung von Systemen und Ver-
änderung von Systemeigenschaften durch Innovationen (Hauschildt et al., 2016, S. 8 ff.).
Dabei kann das Gesamtsystem selbst in einer innovativen Weise verändert werden, es
können aber auch einzelne Systembestandteile in einer neuartigen Form verändert, ver-
bunden oder erweitert werden. Als Beispiel ist die Entwicklung eines neuen Geschäfts-
modells zu nennen. Ein besonders spektakuläres Praxisbeispiel dazu ist die Veränderung
Externes Rechnungswesen und Innovationen: Ein Oxymoron? 47

der Preussag, die sich im wahrsten Sinne des Wortes mehrfach neuerfunden hat. Sie
wurde 1924 als Bergbaukonzern gegründet, entwickelte sich dann ab den 1960ziger zu
einem Mischkonzern mit Aktivitäten in Logistik, Maschinenbau, Stahl und Konsum-
gütern, und ist seit 1999 fast ausschließlich im Touristikbereich unter dem Namen TUI
tätig (Tuigroup, o. J.).
Ein weiterer Ansatz sind Innovationen jenseits der Technik (Hauschildt et al., 2016,
S. 10 f.). Das inkludiert natürlich auch die Technik, die als Kern von Innovationen und
daher als Abgrenzung gesehen wird, erweitert aber die Sichtweise auf organisationale
(z. B. interne Strukturen, Kultur) und geschäftsbezogene Innovationen (z. B. Markt-
struktur oder Spielregeln). Neue Spielregeln können z. B. erstmalige Gesetze in vor-
mals unregulierten Bereichen sein. Sie bewirken Verhaltensänderungen bei den
Marktteilnehmern. Beispielsweise wurden im Jahr 1906 landesweit geltende rechtliche
Regelungen zum Führen eines Kraftfahrzeugs durch das Reichsstempelgesetz ein-
geführt. Dieses Gesetz war ein wichtiger Meilenstein in der Schaffung eines rechtlichen
Rahmens für den Straßenverkehr. Es wurde die Zulassung zur Nutzung von Fahrzeugen
im Straßenverkehr geregelt („Erlaubniskarten“), als auch erstmalig eine Kfz-Steuer ein-
geführt („Stempelabgabe“). Das Gesetz war insoweit eine soziale Innovation, da Auto-
mobile und Krafträder noch zwanzig Jahre zuvor vollkommen unbekannt waren und ihr
Verkehr aufgrund ihrer fortschreitenden Verbreitung nun reguliert werden musste.
Weiterhin zeichnen sich Innovationen dadurch aus, dass es sich um neuartige Zweck-
Mittel-Kombinationen handelt. Neuartigkeit allein reicht nicht aus, da die Innovation
einen konkreten Zweck haben muss und sich dann am Markt, z. B. als Produkt-
innovation, oder im Unternehmen, z. B. als Prozessinnovation, durchsetzen muss.
Gelingt das nicht, handelt es sich um eine Invention oder nur eine Idee, die immer vor
der Innovation stehen. Aus der Erfindung wird eine Innovation, wenn sie angewendet
wird und Nutzer findet (Hauschildt et al., 2016, S. 4). Beispielsweise gilt Carl Benz als
Erfinder des Automobils, der es dann als Innovation ab 1886 auf den Markt brachte und
seine ersten Kunden gewann. Tatsächlich haben sich Tüftler mit der Invention Automobil
schon jahrzehntelang vor Benz beschäftigt und teilweise kuriose Fahrzeuge entwickelt,
die es aber nicht zur Marktreife und damit Innovation brachten. Als weiteres Beispiel
sei Leonardo da Vinci genannt, den man für seine vielen Ideen bewundert, die seiner
Zeit weit voraus waren, wie Fluggeräte. Es dauerte aber dann noch knapp 400 Jahre bis
erste Flugzeuge abhoben, also bis aus Ideen und der folgenden Invention eine Innovation
geschaffen wurde. Die Erfindung des binären Zahlensystems Ende des 17. Jahrhunderts
wird auf den deutschen Mathematiker Leibniz zurückgeführt. Tatsächlich hat es noch
mehr als 200 Jahre gedauert, bis erste Rechenmaschinen dieses Binärsystem anwendeten
und sich daraus die Computerindustrie entwickeln konnte. Häufig liegen viele Jahre
zwischen Invention und Innovation, manchmal Jahrhunderte.
Diese Sichtweisen sind für das vorliegende Thema Rechnungswesen und
Innovationen hilfreich, denn sie erweitern den Spielraum für dieses Begriffspaar und
lassen ihr Zusammenwirken besser nachvollziehen.
48 J. Dahlhoff

4 Innovation im Rechnungswesen

Dieser Artikel fokussiert sich auf die Innovation im Rechnungswesen, also die nutz-
bringende Anwendung einer Erfindung. Der „Urknall“ im Rechnungswesen war die
Anwendung der doppelten Buchführung durch handeltreibende Kaufleute. Dieses neue
System ermöglichte es Unternehmern, über ein aussagefähiges Informationssystem zu
verfügen, mit dessen Hilfe sie ihre Unternehmen lenken konnten.
Im Folgenden wird dargelegt, dass sich die Beziehung zwischen Rechnungswesen
und Innovation in drei Phasen aufteilen lässt:

• Phase 1, das manuell geprägte Rechnungswesen, startete um 1300 und wurde durch
handschriftliche Aufzeichnungen geformt. Tintenfass, Feder, Stift und Papier waren
das Handwerkszeug des Buchhalters.
• Phase 2, das analog geprägte Rechnungswesen, startete um 1890 und war beein-
flusst durch das Aufkommen von mechanisch funktionierenden Maschinen, die
in allen Bereich der Wirtschaft Einzug hielten, so auch im Rechnungswesen. Die
Beschäftigten im Rechnungswesen wurden unterstützt durch Büromaschinen wie
Lochkartensysteme oder Buchungsautomaten.
• Phase 3, das digital geprägte Rechnungswesen, startete um 1951 und erhielt viele
Impulse durch die Verbreitung der Informations- und Datenverarbeitung. Computer
wurden erschwinglich und dadurch attraktiv für die Masse der Unternehmen. Diese
Phase mit ihren Innovationen hob das Rechnungswesen auf ein neues Niveau.

Natürlich lassen sich die zeitlichen Grenzen nicht exakt auf genau diese Jahre fest-
legen, sie sind fließend. Sie orientieren sich an der kommerziellen Verwendung dieser
Innovationen. Ideen, Inventionen, Entwicklungen und Experimente in diesen Phasen
können durchaus früher datiert werden. Das Jahr 1300 wurde gewählt, da sich um dieses
Jahr herum die doppelte Buchführung erstmalig in den Büchern der Florentiner Kauf-
mannsfamilien Giovanni Farolfi und Rinieri Fini nachweisen lässt (Gleeson-White,
2012, S. 29). Das Jahr 1890 ist deshalb bemerkenswert, da in diesem Jahr erstmalig
eine Lochkartenmaschine des Erfinders Herman Hollerith in einer großen Anwendung
eingesetzt wurde, der amerikanischen Volkszählung in jenem Jahr (De Beauclair,
2005, S. 36 f.). Das Jahr 1951 ist wiederum ein wichtiger Zeitpunkt, da die ersten
kommerziellen Rechenanlagen auf den Markt kamen, die das digitale Zeitalter ein-
läuteten. Der Rechner Univac des amerikanischen Computerherstellers Remington Rand
revolutionierte die Wirtschaftswelt, ausgehend von den USA, durch seine Geschwindig-
keit, die Genauigkeit der Verarbeitung und der Automatisierung von Büroarbeiten, für
die vorher viele Mitarbeiter notwendig waren. Nun war „die bürokratische Massenver-
arbeitung von Daten am digitalen Fließband“ möglich (Gugerli, 2018, S. 11 ff.). Weiter-
hin koexistier(t)en ältere Phasen zusammen mit den jüngeren Phasen. Beispielsweise
waren Rechenanlagen in den 1950ziger und 1960ziger Jahren nur für Großunternehmen
erschwinglich. Kleinunternehmen mussten weiterhin den Hauptteil ihrer Arbeit im
Externes Rechnungswesen und Innovationen: Ein Oxymoron? 49

Rechnungswesen manuell oder mit Lochkarten erledigen. Das sollte bei der Rezeption
dieses Artikels immer beachtet werden. Es waren Pionier-Kaufleute oder -Unternehmen,
die zuerst innovative Entwicklungen in ihrem Rechnungswesen einführten. Neben diesen
„Early-Adopters“ gab es immer die große Mehrheit der anderen Unternehmen, die erst
nach und nach Neuerungen zuließen. So wendeten vermutlich viele kleine Unternehmen
im 18. und 19. Jahrhundert noch nicht die doppelte Buchführung an, da sie schlichtweg
zu aufwendig zu betreiben und auch nicht nötig für den vorindustriellen Kaufmann war
(Gorißen, 2002, S. 340).
In diesem Artikel geht es um das Aufzeigen von Veränderungen, die mit diesen neuen
Phasen im Rechnungswesen einhergingen. Es sind gravierende Umgestaltungen durch
Innovationen gewesen, die neue Anforderungen an das Rechnungswesen stellten und es
leistungsfähiger machten. Leistungsfähiger im „olympischen“ Sinne von schneller (z. B.
die heute übliche Verbuchung in Echtzeit), größer (z. B. umfangreichere Datenmengen
durch mehr zu bewältigende Geschäftsvorfälle) und besser (z. B. das Konzept der „Ent-
scheidungsnützlichkeit“ von Informationen aus dem Rechnungswesen).
Warum gab es diesen Wandel im Rechnungswesen? Vier Entwicklungen spielten hier
eine Rolle.
Der Beginn des kaufmännischen Rechnungswesens hängt eng zusammen mit der sog.
Handelsrevolution des 13. Jahrhunderts, als in ganz Europa, ausgehend in Norditalien,
die Handelsvolumina und die Bargeldmengen stark zunahmen, und Kaufleute Waren und
Luxusgüter für ihre Kundschaft aus aller Welt heranschafften. In dieser Zeit entwickelten
sich die „ausgeklügeltsten norditalienischen Innovationen“, wie das internationale Bank-
wesen, das Versicherungswesen und die Buchführung (Spufford, 2002, S. 14).
Die Phasen 2 und 3 wurden durch die Veränderung von Wirtschaft und Gesellschaft
durch die industriellen Revolutionen, die durch Basisinnovationen geprägt waren,
wie die erste industrielle Revolution, als deren Symbol die Dampfmaschine gilt (ab
ca. 1780), ausgelöst.1
Drittens war die Rechtsentwicklung ein weiterer wichtiger Innovationstreiber. Die
Erfüllung der Anforderungen des Gesetzgebers an die Rechnungslegung war nur durch
eine veränderte Leistungsfähigkeit im Rechnungswesen zu erreichen. Hier kann man
von einer sozialen Innovation, eingeführt vom Staat, sprechen, denn Rechnungslegungs-
Rechtsvorschriften für Unternehmen gab es in den ersten Jahrhunderten seit Erfindung
der doppelten Buchführung höchstens vereinzelt. Als ein wichtiges Datum kann man
das Jahr 1861 festmachen, in welchem ein Kaufmannsrecht mit der Schaffung des All-
gemeinen Deutschen Handelsgesetzbuchs (ADHGB) eingeführt wurde. Auch die Ein-
führung der Rechtsform der Aktiengesellschaft, die bereits vor dem ADHGB erfolgte, ist

1 Manche Autoren wie Nefiodow (2001) machen bis heute fünf industrielle Revolutionen aus, die
Wirtschaft und Gesellschaft durch lange Konjunkturzyklen beeinflussten („Kondratieff-Wellen“).
Jede Basisinnovation löste einen Schub an Folgeinnovationen aus, die viele Berufs- und Lebens-
bereiche beeinflussten und technisierten, also auch das Rechnungswesen.
50 J. Dahlhoff

ein wichtiger Meilenstein. Haftungsbegrenzung und Trennung zwischen Eigentümer und


Management stellten höhere Anforderungen an die Ausübung des Rechnungswesens.
Lokal auf Preußen bezogen, kann man dazu das Jahr 1843 mit dem Preußischen Aktien-
recht heranziehen, gleichwohl die Gründung einer größeren Anzahl von Aktiengesell-
schaften sich erst ab 1870 mit den Jahren des Gründungsbooms einstellte (Reckendrees,
2012).
Viertens erhöhten sich die Anforderungen von Unternehmern und angestellten
Führungskräfte an ihre Buchhaltungsabteilungen. Es erschall der Ruf der Wirtschaft
nach akademisch ausgebildeten Kaufleuten, die in der Lage sein würden, Unternehmen
wirtschaftlich zu führen. 1898 erfolgte die Gründung der ersten Handelshochschule in
Leipzig. Die Betriebswirtschaftslehre war geboren, gleichwohl das Studium noch nicht
so genannt wurde. So nannte die Handelshochschule Aachen, die auch 1898 gegründet
wurde, ihr kaufmännisches Studium Handelswissenschaften (Zander, 2004, S. 93).2 Der
Name Betriebswirtschaftslehre wurde erstmalig 1919 an der Universität Köln verwendet
(Schweitzer & Wagener, 1999, S. 18). Auf den Lehrplänen in Leipzig und Aachen stand
als eines der Hauptfächer Buchführung. Auch die anderen acht Handelshochschulen, die
in den Folgejahren bis 1919 gegründet wurden, boten dieses Fach als ein Kernfach an.
Die Absolventen waren diplomierte Kaufleute oder Handelslehrer (Zander, 2004, S. 85).
Ging es noch bei den Innovationen in Phase 1 primär um Verbesserungen in der hand-
werklichen Ausübung der Buchführung, waren die Phasen 2 und 3 durch eine Symbiose
zwischen Rechnungswesen und Technik geprägt. Mit Hilfe von Technik erreicht das
Rechnungswesen von heute eine Leistungsfähigkeit, die noch vor wenigen Jahren
undenkbar gewesen wäre.

5 Phase 1: Das manuell geprägte Rechnungswesen

Das Rechnungswesen in seiner Ausprägung der doppelten Buchführung lässt sich erst-
mals um 1300 in Florenz nachweisen, eine andere Quelle führt Genua im Jahr 1340
an (Gleeson-White, 2012, S. 20; Penndorf, 1916, S. 8). Sie wurde in der Praxis von
handeltreibenden italienischen Kaufleuten aus Venedig, Genua, Florenz, Mailand und
Pisa angewendet. Es blieb knapp zwei Jahrhunderte eine exklusive Technik italienischer
Händler, die äußerst erfolgreich Handel mit dem Orient trieben und ihre Städte reich
machten. Italien zu jener Zeit (Spätmittelalter und Renaissance) galt mit Handels-
städten wie Venedig und Genua über einen Zeitraum von 500 Jahren (1000–1500
n. Chr.) als kommerzielle Drehscheibe zwischen den christlichen Großreichen der
Franken und Byzanz einerseits und der muslimischen Welt andererseits. Italienische

2 Ein weiterer damals gebräuchlicher Name war Privatwirtschaftslehre.


Externes Rechnungswesen und Innovationen: Ein Oxymoron? 51

Kaufleute handelten Luxusgüter jeglicher Art (Textilien, Seide, Wolle, Gewürze,


Gold, Silber), aber auch Getreide, Waffen oder Sklaven. Sie stellten ihre Schiffe für
Überfahrten der Kreuzfahrerheere zur Verfügung, die es nach Jerusalem drängte. Sie
galten als pragmatische, wendige und gewinnorientierte Kaufleute. Eine Technik wie
die doppelte Buchführung, die in Italien „scrittura alla veneziana“ (Buchführung nach
venezianischer Art) genannt wurde, kam ihnen recht, um die vielfältigen Geschäfts-
aktivitäten im Überblick zu behalten (Penndorf, 1916, S. 42). Nach Pacioli verschaffte
ihnen das System der doppelten Buchführung „Geistesruhe“ in dem Sinne, dass sie sich
nicht dauernd Sorge um ihre Geschäfte machen mussten, da jetzt alles geordnet und
übersichtlich dokumentiert werden konnte (Pacioli, 1494, S. 89). Das erlaubte ihnen
einen ausreichenden Überblick über ihre vielfältigen Aktivitäten. Diese Innovation
war nur möglich, weil erst knapp 100 Jahre zuvor das Dezimalzahlensystem mit den
Zahlen 0 bis 9 von dem italienischen Mathematiker Fibonacci aus dem arabischen
Raum nach Italien gebracht und in einem Buch („Liber abaci“) veröffentlicht wurde
(Gleeson-White, 2012, S. 19). Zuvor wurde nach dem umständlichen und unpraktischen
römischen Zahlensystem gerechnet. Es ist offensichtlich, dass die Zahl 3483 handbarer
als MMMCDLXXXIII ist. Die Dokumentationsfunktion der Buchführung setzte voraus,
dass Kaufleute und Handwerker lesen, schreiben und rechnen konnten. Der Wirtschafts-
historiker Spufford geht davon aus, dass die Buchführung einen Anteil an der Alpha-
betisierung von Teilen der Bevölkerung hatte, denn nun blühte auch die Schulbildung
in Norditalien auf (Spufford, 2002, S. 23 f.). Es hat dann nochmals knapp zweihundert
Jahre gedauert, bis der Franziskanermönch und Mathematiker Luca de Pacioli, ein
Lehrer von Leonardo da Vinci, die Geheimnisse der doppelten Buchführung offenlegte
und in seinem Werk Summa de arithmetica im Jahr 1494 veröffentlichte (Pacioli, 1494).
Einer raschen Verbreitung im damaligen Europa stand damit nichts mehr im Weg, da
praktischerweise der Buchdruck um 1450 von Johannes Gutenberg erfunden wurde. So
wurden von Paciolis Werk mehr als 2000 Exemplare gedruckt, die sich gut in Europa
verkauften.
Die Möglichkeiten der doppelten Buchführung waren in mehrfacher Hinsicht
bemerkenswert. Zum einen wurden mit diesem neuen System sechs Merkmale ein-
geführt, die bis heute Gültigkeit haben, so der Wirtschaftshistoriker G.A.Lee (Gleeson-
White, 2012, S. 20 f.). Diese Merkmale waren:

• Kaufmännische Rechtsform als Grundlage für doppelte Buchführung zur


Registrierung aller Geschäftsvorfälle mit Dritten.
• Die Möglichkeit, alle Geschäftsvorfälle in einer Währung zu erfassen und zu addieren.
• Buchung der Zu- und Abnahme von Geld und Waren, sowie Verbindlichkeiten gegen-
über Dritten.
• Ausweis des Eigenkapitals als Differenz zwischen Gesamtkapital (= Bilanzsumme)
und Verbindlichkeiten.
• Gewinn als Erhöhung des Eigenkapital bzw. Verlust als Reduzierung des Eigenkapitals.
• Ausweis des Gewinnes (oder Verlustes) als Ergebnis einer definierten Periode.
52 J. Dahlhoff

Der Name doppelt rührt daher, dass man darunter ursprünglich einen Geschäftsvorfall,
der in zwei Büchern eingetragen wird, verstanden hat. Nach heutiger Auffassung ver-
wendet man diesen Begriff, um auf die Buchung auf zwei Konten hinzuweisen (jeweils
eine Soll- und eine Habenbuchung; kurz Soll an Haben) und auf den zweifachen
Gewinnausweis in der Bilanz und der Gewinn- und Verlustrechnung.
Weniger bekannt ist eine zweite Grundidee der doppelten Buchführung. Sie diente
auch als Möglichkeit, um Fehler in der Buchführung zu eliminieren. Durch die Ver-
buchung eines Geschäftsvorfalls auf zwei Konten (eine Soll- und eine Habenbuchung)
musste die Balance der eingetragenen Zahlen 0 ergeben. Buchte man beispielsweise
Ware an Kasse, also einen sog. Aktivtausch, wurde im Soll der gleiche Betrag erfasst
wie im Haben. Der resultierende Saldo ergab 0. In den zuvor angewendeten ein-
fachen Systemen wurden Zahlen häufig in den Büchern falsch eingetragen und es war
aufwendig, Fehler zu finden und zu korrigieren. Es ist daher nicht zufällig, dass ein
Mathematiker wie Pacioli von dieser Technik fasziniert war und sie erstmalig in einem
Mathematikbuch beschrieb, denn es war eine elegante Methode, um Fehler zu vermeiden.
Ein dritter Vorteil der doppelten Buchführung, war die Möglichkeit, dass Kaufleute
nun bewusst mit Hilfe eines Informationssystems über Gewinn und Verlust reflektieren
konnten. Ökonomen wie Werner Sombart sahen in der Buchführung einen unschätzbaren
Wettbewerbsvorteil für Unternehmen, insbesondere seit der Industriellen Revolution,
als Unternehmen größer und komplexer wurden. Mit der doppelten Buchführung war es
möglich, das wirtschaftliche Geschehen in einem Unternehmen in einem geschlossenen
System abzubilden. Weiterhin gab es den Drang zu einem aktiven Erwerbsstreben. In der
Konsequenz wurde ökonomisch gedacht, der rational handelnde Kaufmann war geboren.
Sombart, einer der bekanntesten Ökonomen in der Wilhelminischen Kaiserzeit und
mit seinen Werken wichtiger Chronist der kapitalistischen Wirtschaftsweise, war von
der wesentlichen Rolle der doppelten Buchführung bei der Entwicklung des Kapitalis-
mus überzeugt: „Man kann schlechthin Kapitalismus ohne doppelte Buchhaltung nicht
denken: sie verhalten sich wie Form und Inhalt zueinander. Und man kann im Zweifel
sein, ob sich der Kapitalismus in der doppelten Buchhaltung ein Werkzeug, um seine
Kräfte zu betätigen, geschaffen oder ob die doppelte Buchhaltung erst den Kapitalis-
mus aus ihrem Geist geboren habe.“ Er führte dann weiter aus:“…daß abermals durch
die doppelte Buchhaltung Möglichkeiten und Anregungen geschaffen wurden, damit
die dem kapitalistischen Wirtschaftssystem innewohnenden Ideen zur vollen Entfaltung
kommen konnten: die Erwerbsidee und die Idee des ökonomischen Rationalismus. […]
In der doppelten Buchhaltung gibt es nur noch einen einzigen Zweck: die Vermehrung
eines rein quantitativ erfassten Wertbetrages.[…] Man kann also sagen, daß vor der
doppelten Buchführung die Kategorie des Kapitals nicht in der Welt war, und daß sie
ohne sie nicht da sein würde.“ (Sombart, 1917, S. 118–120) Dieser Sprachduktus war
sicher übertrieben, gleichwohl in der hypertrophen Wilhelm II.-Kaiserzeit durchaus
verbreitet, dennoch hatte Sombart einen Punkt: Die Buchführung war das wichtigste
Informations- und Steuerungssystem in kapitalistisch geprägten Unternehmen, deren
Zweck im Erwerbsstreben lag.
Externes Rechnungswesen und Innovationen: Ein Oxymoron? 53

Pacioli beschreibt in seinem Werk auch die Aufteilung der Buchhaltung in diverse
Bücher, die sich in dieser Form bis heute in modernen Buchhaltungsprogrammen
wiederfinden lassen:
Dazu gehören das Inventarverzeichnis, in dem Vermögen und Schulden aufgeführt
sind, das Grundbuch, in dem jeder Geschäftsvorfall chronologisch aufgezeichnet
wird, das Hauptbuch mit diversen Sachkonten und Nebenbücher, in denen Schuldner
(Debitoren) und Gläubiger (Kreditoren) verzeichnet sind (Pacioli, 1494, S. 88 ff.). Damit
sind auch die wesentlichen Teile beschrieben, die in der Gegenwart mit der handelsrecht-
lichen Buchführungspflicht verknüpft sind: Erstellung eines Inventars (§ 240 HGB),
Betreiben einer laufenden doppelten Buchführung (§ 238 (1) HGB) und Erstellung eines
Jahresabschlusses (§ 242 HGB).
Die doppelte Buchführung war nicht von Beginn an in seiner uns heute bekannten
Form ausgebildet, sondern entwickelte sich inkrementell über einen Zeitraum von Jahr-
zehnten, wie Penndorf (1916, S. 41 ff.) anhand von diversen Originaldokumenten nach-
zeichnet. Die Buchungen erfolgten doppelt (Soll an Haben), sie wurden auf Personen- und
Sachkonten vorgenommen, es erfolgten Übertragungen zwischen den Konten, es ent-
stand das Gewinn- und Verlustkonto, welches ab 1426 nachgewiesen ist, auch Inventuren
wurden regelmäßig durchgeführt (Penndorf, 1916, S. 43). Die Vielfalt der verwendeten
Nebenbücher nahm zu (Warenbuch, Kassenbuch, Wechselbuch, Debitoren, Kreditoren).
Dieses umfangreiche Aufzeichnungssystem von Geschäftsvorfällen entsprach der Idee der
Abbildung betrieblicher Wirklichkeit in einem geschlossenen System.
Das System der doppelten Buchführung wurde auch ausführlich von dem in Neapel
tätigen Kaufmann Benedetto Cotrugli im Jahr 1458 in seinem Buch „Della Mercatura es
del Mercante perfetto“ beschrieben, der festhält, dass eine Buchführung den Kaufmann
unterstützt und ihm hilft, Streitigkeiten und Ärgernissen vorzubeugen. Kheil beschreibt
in einer Abhandlung über Cotrugli: „Ordentlich geführte Buchungen unterstützen das
Gedächtnis des Kaufmanns in seinen Handlungen, erinnern ihn an seine Forderungen
und Schulden, belehren ihn über den Preis der Waren und lassen ihn seine Gewinne
und Verluste erkennen. Der Kaufmann hat drei Bücher zu führen: Das Hauptbuch mit
seinem Index, das Journal und das Memorial.“3 (Kheil, 1906, S. 23 ff.) Auch über die
Aufbewahrung von Belegen, die die Existenz von Geschäftsvorfälle beweisen, machte
sich Cotrugli Gedanken, und empfahl die Lagerung von Kontrakten, Urkunden, Hand-
schriften, Rechnungen und Policen, „nach dem Brauche wahrer Kaufleute“.4 (Penndorf,
1916, S. 46) Damit existierte eine schon relativ ausgereifte doppelte Buchführung

3 Anm.: Cotruglis Werk wurde erst 1573 veröffentlicht, also 115 Jahre nach Verfassen des Skripts.
Dadurch gilt Pacioli zu Recht als erster Verfasser einer Abhandlung über das System der doppelten
Buchführung.
4 Heute ist das in den §§ 238 und 257 HGB geregelt.
54 J. Dahlhoff

in Italien, wie sie sich ab Mitte des 15. Jahrhunderts in Europa, auch in Deutschland,
verbreitete. In Deutschland waren es die Kontore der Kaufmannsfamilie der Fugger,
in denen das Rechnungswesen angewendet wurde. Hier war es insbesondere Matthäus
Schwarz, der Chefbuchhalter der Fugger, der ab 1516 in der Buchhaltung arbeitete
und die Technik der doppelten Buchführung weiterentwickelte. Er hatte in Mailand,
Genua und Venedig um 1514 die Grundlagen der Buchführung kennengelernt. Er war
mit seinen Lernerfahrungen nicht zufrieden und begann ab 1518 die Buchführung der
Fugger zu verbessern (Penndorf, 1916, S48 ff.). Hier erfolgten weitere inkrementelle
Entwicklungen, wie z. B. das „Schwarze Buch“, welches bei den Fuggern zweifelhafte
und uneinbringliche Forderungen enthielt und z. B. ab 1527 dokumentiert ist (Penndorf,
1916, S. 60). Auch das eine sinnvolle Aufteilung, die sich bis heute in den Buchhaltungs-
systemen findet, in denen man nach vollwertigen, zweifelhaften bzw. dubiosen und
uneinbringlichen Forderungen unterscheidet. Auch beschäftigten sich die Fugger bereits
mit Jahresabschlussarbeiten, um die Bilanz auf- und den Gewinn festzustellen. Es finden
sich ferner eine Berechnung zur Auszahlung eines Gesellschafters im Jahr 1562 und
sogar Arbitragegeschäfte, wie Penndorf beschreibt. Das Rechnungswesen der Fugger in
der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts war bereits auf einem hohen Niveau, wie Penndorf
ausführlich anhand vieler erhaltener Fugger-Dokumente dokumentiert (Penndorf, 1916,
S. 46 ff.). Die Grundelemente einer doppelten Buchführung waren damit bereits vor
450 Jahren vorhanden. Dieser Entwicklungsstand sollte sich bis weit ins 19. Jahrhundert
halten, also über einen Zeitraum von etwa 300 Jahre, der von Penndorf als Periode des
Stillstandes bezeichnet wurde (Penndorf, 1916, S. 189). Der nächste große Innovations-
schub im Rechnungswesen erfolgte dann mit der Industrialisierung.

6 Phase 2: Das analog geprägte Rechnungswesen

Grundlegende handwerkliche Techniken zur Anwendung der doppelten Buchführung


im Rechnungswesen wurden in Phase 1 entwickelt. In Phase 2, dem Zeitalter der
Industrialisierung, hatten Unternehmen nun mit dem Problem zu kämpfen, dass die Unter-
nehmen rasch wuchsen, vorher nie gekannte Größen entwickelten (Umsätze, Mitarbeiter-
zahl, Fabrikflächen u.v.m.), neue Betriebsformen mit einer Produktion betrieben (ante
Industrialisierung vorwiegend Handel und Kleingewerbe), und in der Folge immer mehr
Geschäftsvorfälle zu bewältigen hatten. Es ist nachvollziehbar, dass erhöhte Umsätze zu
einem Anstieg an Ausgangsrechnungen führten, die gebucht werden mussten oder dass
eine größere Anzahl an Mitarbeitern zu mehr Personalabrechnungen und einem höheren
zu buchenden Personalaufwand führte. Auch wurde mehr investiert, denn Fabriken hatten
einen großen Bedarf an Maschinen und Gebäuden im Gegensatz zu den Händlern aus
vorindustriellen Zeiten. Das Anschwellen von Investitionen führte im Rechnungswesen
zu einem Anstieg von Zugängen im Anlagevermögen. Auch nahmen die rechtlichen
Externes Rechnungswesen und Innovationen: Ein Oxymoron? 55

Anforderungen an das Rechnungswesen zu, da in der sog. Gründerzeit (ab ca. 1848)


unzählige Unternehmen gegründet und neue Rechtsformen mit Haftungsbegrenzung, wie
die Aktiengesellschaft, immer populärer wurden.
Es war klar, dass technische Lösungen – Innovationen – gefunden werden mussten,
um die Produktivität im Rechnungswesen zu erhöhen. Dank der Technisierung der
Wirtschaft gab es unzählige neue Anwendungen in allen möglichen Lebensbereichen.
Medizin, Maschinenbau, Chemie, Elektrotechnik, Kommunikation, Verkehr, um nur
einige Bereiche zu nennen, waren mit vielen Innovationen konfrontiert. Forscher wie
Virchow, Koch, Röntgen, Planck, von Laue oder Unternehmer wie Siemens, Krupp,
Borsig, Linde, Stinnes und Rathenau galten als wichtige Antreiber der Industrialisierung
in Deutschland, die ihren Schwerpunkt in den Jahren 1848 bis 1914 hatte (sog. Gründer-
zeit von 1848 bis 1871, Kaiserzeit 1871–1914 bis zum Eintritt in den 1. Weltkrieg).
Auch die administrativen Bereiche wurden mit den Errungenschaften der Technik
konfrontiert. In die Buchhaltungen hielten im 19. und frühen 20. Jahrhundert beispiels-
weise Buchungsmaschinen, Schreibmaschinen, Schreibmaschinen mit Aufsatz (als
Ersatz für die teureren Buchungsmaschinen), Rechenmaschinen, die Addieren oder
sogar Multiplizieren und Dividieren konnten, Durchschreibegeräte zum Übertragen
von Buchungssätzen, Lochkartensysteme mit Locher, Sortier- und Tabelliermaschine,
sowie automatischer Kartenzuführung, Lochstreifenapparate, Schreibautomaten und die
Mikroform Einzug. Diese Geräte rationalisierten den Arbeitsprozess, da manuelle durch
maschinelle Tätigkeiten unterstützt oder ersetzt wurden.
Lochkartensysteme gehörten technologisch zum Höhepunkt dieser Phase, denn
sie ermöglichten es, gleichartige Sortier- und Summenvorgänge, die sich regelmäßig
wiederholten, in hoher Geschwindigkeit und Genauigkeit durchzuführen. Damit war die
Massenverarbeitung von Informationen möglich geworden. Zentral war die Lochkarte, in
die als Datenträger die zu erfassenden Informationen gestanzt wurden. Dies geschah mit
mechanischen Maschinen wie Lochkartenstanzern. Die gelochten Karten wurden dann in
Tabelliermaschinen gelegt, die mit hoher Geschwindigkeit die Lochkarten auswerteten
(Zählen, Sortieren, Selektieren, Rechnen). Diese Maschinen konnten auch drucken. Im
Laufe der Zeit wurden diese Systeme immer raffinierter, da Lochkarten und die dazu-
gehörigen Maschinen immer weiter optimiert wurden (De Beauclair, 2005, S. 35 ff.). Die
Lochkartentechnik wurde noch bis in die 1980ziger Jahre in Unternehmen eingesetzt,
allerdings hatte sie da bereits ihren Zenit weit überschritten, denn die elektronische
Datenverarbeitung löste sie sukzessive ab.
Lochkartensysteme bewiesen ihre Tauglichkeit erstmalig während der amerikanischen
Volkszählung von 1890, als sie in zwei Jahren knapp 63 Mio. Fragebögen auswerteten,
während die letzte Volkszählung von 1880 noch 8 Jahre für die Auswertung von 50 Mio.
Einwohnern benötigte. Der Erfinder Hermann Hollerith gründete folgerichtig 1896 ein
Unternehmen zur Vermarktung dieser Technik, welches ab 1911 nach der Fusion mit
anderen Firmen zur International Business Machines Corporation (IBM) wurde. Erster
56 J. Dahlhoff

Anwender der Hollerithmaschinen für kaufmännische Aufgaben in Deutschland war im


Jahr 1910 die Firma Bayer (De Beauclair, 2005, S. 36). Ein Manko hatten diese Systeme
trotz ihrer unbestreitbaren Vorteile gegenüber den Zeiten ohne Lochkarten. Ihr Betreiben
war mit großem Aufwand verbunden. Es kam in den Abteilungen zu Doppelarbeiten,
weil handgeschriebene Geschäftsvorgänge, z. B. Bestellungen oder Rechnungen mit der
Datenverarbeitung eines Lochkartensystems verbunden werden mussten. Das bedeutete,
dass handgeschriebene Vorgänge in einem Schreibsaal von Mitarbeitern für das Loch-
kartensystem erfasst und die erstellten Lochkarten dann weiterverarbeitet wurden, z. B.
in der Buchhaltung. Die Ergebnisse, etwa ausgedruckte Listen, wurden dann wieder an
die Abteilungen zurückgegeben, wo sie auf Fehler geprüft wurden. Statt ausgedruckter
Listen konnten auch neue Lochkarten erstellt werden, die in der Buchhaltung für die
Buchung von Debitoren, Kreditoren oder den Zahlungsverkehr verwendet wurden. Diese
Prozedere mit dafür notwendigen großen Mengen an Lochkarten wären heute unvor-
stellbar, da im Rechnungswesen des 21. Jahrhunderts nahezu jeder Geschäftsvorfall nur
noch einmal erfasst wird – in der Regel am Ort des Geschehens, wie Wareneingang, Ein-
kauf oder Vertrieb – und dann über die vernetzte Software auch automatisch das Buch-
haltungssystem des Unternehmens mit Daten speist. Aber dazu später mehr, wenn es um
die Beschreibung der Phase 3 geht. Insgesamt aber wurde mit Lochkartensystemen der
Einstieg in die automatische (später elektronische) Datenverarbeitung eingeleitet, die es
möglich machte, dass das Rechnungswesen weiter wirtschaftlich und effizient betrieben
werden konnte.
Allerdings kosteten die Anschaffung und das Betreiben von Technik viel Geld. Die
Finanzkraft war ein Separator zwischen Unternehmen, die sich eine bessere technische
Büroausstattung leisten wollten und konnten und den anderen. Die Preise für Büro-
maschinen waren sehr unterschiedlich. Ein Besuchsbericht von der Internationalen Büro-
Ausstellung (IBA) in Berlin aus dem Jahre 1928 vermerkt für eine Kleinschreibmaschine
einen Preis ab 125 Mark, während für eine automatische Schreibmaschine 5.000 Mark
angegeben wurden. Rechenmaschinen kosteten zwischen 450 und 11.000 Mark. Loch-
kartenmaschinen sogar 57.000 Mark (Pleitgen, 2005, S. 87). Bei diesen Preisen war klar,
dass nur größere, finanzkräftigere Unternehmen sich teure Systeme für ihr Rechnungs-
wesen leisten konnten, während die kleineren sich eher Geräte für marginale technische
Verbesserungen anschafften – wie Schreibmaschinen oder Additionsmaschinen –
ansonsten aber wie die Vorväter Rechnungswesen betreiben mussten. Auch stiegen
die laufenden Kosten für diese neue Technikabteilungen stark an, da spezialisiertes
Bedienungspersonal und Erfassungskräfte für die Erstellung von Lochkarten bezahlt
werden mussten.
Pleitgen hat die Entwicklung des Rechnungswesens am Beispiel von drei Unter-
nehmen detailliert für die Jahre 1890 bis 1940 nachvollzogen. Die Firmenbeispiele
zeigen anschaulich, dass sich das Rechnungswesen inhaltlich über die Jahre immer
weiter ausdifferenzierte und dass es zudem gleichzeitig eine sehr mühselige Arbeit war,
den verschiedenen Aufgaben nachzukommen. Beispielsweise sind im Laufe der Jahre
die Anforderungen an das Berichtswesen gestiegen, da Geschäftsführungen aus der
Externes Rechnungswesen und Innovationen: Ein Oxymoron? 57

Buchhaltung Monatsbilanzen und eine Vielzahl von Statistiken benötigten (z. B. Ver-
käufe nach Umsatz und Absatz, Produktionszahlen, Mitarbeiterangaben, Anzahl der
Kunden nach Vertriebskanälen usw.). Die von der Buchhaltung geführten Bücher wurden
im Laufe der Zeit vielfältiger. So verwendete beispielsweise die Buchhaltung der Firma
Farina (Hersteller des Parfüms Kölnisch Wasser) Hauptbuch, Journal, Bestell-, Ver-
kaufs- und Versandbücher, Lagerbücher, Kontokorrentbücher, Kassenbücher, Hilfs- und
Nebenbücher, Gesellschafterbücher und Geheimbücher (Pleitgen, 2005, S. 105). Ähn-
lich umfangreich sah es bei dem zweiten beschriebenen Mittelständler, der Firma Joh.
Scheidt, eine Kammgarnspinnerei und Tuchfabrik, aus. Noch komplexer war die Situation
bei der Gussstahlfabrik von Friedr. Krupp, die allein aufgrund ihrer Größenordnung
höhere Anforderungen an das Rechnungswesen hatte. Die Abläufe im Rechnungswesen
in der Firma Krupp waren ab den 1920ziger Jahren nicht mehr nach der traditionellen
Buchführung mit handschriftlichen Eintragungen zu bewältigen. Beispielsweise dauerte
es bis zu einem Jahr (!), bis Rechnungen an Kunden verschickt wurden. Es mangelte an
Geschwindigkeit, es gab Übertragungsfehler, das Auffinden von Konten gestaltete sich
langwierig (Pleitgen, 2005, S. 203). In einem Groß- und Industriebetrieb wie Krupp zeigte
sich, dass die jahrhundertelang von Händlern praktizierte manuell geprägte Buchhaltung
an ihre Grenzen geriet. Nur durch den Einsatz von Technik ließ sich das Rechnungswesen
mit seinen Aufgaben Dokumentation und Information weiterentwickeln. Auch hatten
die Eigentümer einen erhöhten Informationsbedarf, der in Wochen, nicht wie früher in
Monaten befriedigt werden sollte [Anm.: heute schafft man das in wenigen Tagen oder
Stunden, viele Anwendungen lassen sich sogar in Echtzeit abrufen], um ihre Unter-
nehmen durch die wirtschaftlich schwierigen 1920ziger Jahre zu manövrieren. Daher
setzte die Firma Krupp auf erhöhten Technikeinsatz im Rechnungswesen, der ab 1927 mit
der Nutzung von Lochkartensystemen und Buchungsmaschinen einsetzte. Es wurde eine
Hollerithabteilung eingerichtet, die diverse Aufgaben aus dem Rechnungswesen über-
nahm. Als Ergebnis erhöhte sich die Geschwindigkeit der Verarbeitung von Geschäfts-
vorfällen in erstaunlicher Weise. Es konnten monatlich 800.000 Lochkarten erstellt, pro
Stunde 24.000 Karten sortiert und viermal pro Monat ausgewertet werden (Pleitgen, 2005,
S. 207).
Im Gegensatz zu Krupp setzten die Firmen Farina und Joh. Scheidt erst spät erste
Buchungsmaschinen ein; Farina im Jahr 1934, Joh. Scheidt ab 1930. Ein Lochkarten-
system wollten oder konnten sie sich nicht leisten. Wahrscheinlich erlaubte ihnen ihre
überschaubare Größe noch gut mit dem manuell geprägten Rechnungswesen leben.
Andere Maschinen, wie Schreibmaschinen oder Additionsmaschinen wurden sicher in
allen drei Betrieben eingesetzt.
Die drei Beispiele zeigen deutlich, dass das Rechnungswesen im Laufe der zweiten
Phase differenzierter und aufwendiger zu betreiben war, und dass größere Betriebe
an ihre Grenzen stießen, wenn sie weiter nach Art der Phase 1 ihr Rechnungswesen
durchführten. Zudem belegt auch die weiterhin getrennte Führung von Büchern, dass
die einzelnen Teilelemente des Rechnungswesens in dem Sinne unverbunden waren,
dass Geschäftsvorfälle von einem in ein anderes Buch oder mehrere andere Bücher
58 J. Dahlhoff

übertragen werden mussten. Das alles war mit hohem Aufwand verbunden. Es lässt
sich festhalten, dass die technischen Lösungen der Phase 2 noch Insellösungen waren.
Zwar gab es Techniken, wie Durchschreibebuchführung und Durchschreibegeräte, um
diese Übertragungen schneller und fehlerfreier zu bewältigen, aber der entscheidende
Durchbruch fehlte. Wie später gezeigt wird, wurden in der dritten Phase für genau diese
Probleme intelligente Lösungen gefunden. Die Systemteile, einmal bezogen auf das
Unternehmen insgesamt (Einkauf, Produktion, Vertrieb, Buchführung) und spezifischer
die verschiedenen Bücher des Rechnungswesens, wurden miteinander vernetzt. Erneut
waren es technische Innovationen, die das Rechnungswesen moderner werden ließen.
Zusätzlich zur Technisierung der Unternehmen folgten erhöhte Anforderungen an die
Rechnungslegung der Unternehmen durch den Gesetzgeber. Ob das als soziale Innovation
zu bezeichnen ist, mag umstritten sein. Innovationen im Recht sind kein Thema der
nicht-rechtswissenschaftlichen Innovationsforschung. Man kann die Meinung vertreten,
dass Neuerungen im juristischen Bereich Rechtsfortentwicklung und keine Innovation
sind. Gleichwohl lehnen sich Befürworter der These von Innovationen im Recht an den
klassischen Innovationsbegriff an, nach der eine Innovation neuartig und signifikant
sein muss. Sie betonen allerdings auch, dass eine rechtliche Neuerung nicht objektivier-
bar, sondern ein soziales Konstrukt ist, welches aus dem Blickwinkel der Rechtspraxis
gesehen werden muss (Hoffmann-Riehm, 2016, S. 11 ff.). Mit so einer Neuheit waren die
Unternehmen ab 1861 konfrontiert, als erstmalig landesweit gesetzliche Regelung für das
Handelsrecht und die Buchhaltung geschaffen wurden. Das sog. Allgemeine Deutsche
Handelsgesetzbuch (ADHGB) kodifizierte eine Reihe von Vorschriften für gewerb-
liche Unternehmen. Diese Vorschriften wurden ab 1869 von den Mitgliedern des Nord-
deutschen Bundes übernommen und ab 1871 ins Deutsche Reich überführt. Innovativ an
diesem Kaufmannsrecht (selbst eine Innovation) war die Pflicht von Vollkaufleuten, eine
ordnungsgemäße Buchführung zu betreiben. Artikel 28 des ADHGB schrieb vor: „Jeder
Kaufmann ist verpflichtet, Bücher zu führen, aus welchen seine Handelsgeschäfte und die
Lage seines Vermögens vollständig zu ersehen sind.“ Es gab zwar in den Jahrhunderten
davor immer wieder Vorschriften, aber es waren Stadt- oder Landrechte, also lokale
Regelungen in einem in viele Kleinstaaten zersplitterten Deutschland. Es waren Zeiten
mit wenig Regulierung. Insofern handelte es sich bei diesem Gesetz um eine soziale
Innovation, da sie einheitliche Vorschriften für das Rechnungswesen schaffte und der
rechtlichen Vielfalt ein Ende bereitete. Die soziale Innovation eines landesweit geltenden
Handelsrechts führte die Verrechtlichung in das Rechnungswesen ein.
Ab da setzte dann eine Rechtsfortentwicklung ein – z. B. die Einführung des Handels-
gesetzbuchs ab 1900 und weitere Reformen – die bis heute anhält. Das ADHGB und
später das HGB beschäftigten sich beispielsweise mit Bewertungsfragen, wie das
Niederstwertprinzip, welches für Kapital- und Personengesellschaften verbindlich
regelte, dass Vermögensgegenstände vorsichtig zu bewerten sind (Vorsichtsprinzip in
den Ausprägungen Realisations- und Imparitätsprinzip; s. § 252 Abs. 1 HGB). Diese
Norm führte zu einer konservativen Bilanzierung, und diente damit dem Gläubigerschutz
(z. B. Banken und Lieferanten), ganz im Gegensatz zur angelsächsischen Bilanzierung,
Externes Rechnungswesen und Innovationen: Ein Oxymoron? 59

die eher an den Interessen der Eigentümer orientiert ist. Weiterhin entwickelten sich die
Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung (sog. GoB; § 243 Abs. 1 HGB, § 264 Abs. 2
HGB), welche verbindliche Regeln zur Durchführung der Buchführung und dem Auf-
stellen des Jahresabschlusses regelten. Damit wurden diverse individuelle Lösungen in
den Unternehmen eingehegt und galten für alle Kaufleute, die dem HGB-Recht unter-
lagen. Diese Regelungen betrafen Dokumentation, Bilanzierung, Bewertung und Ansatz-
grundsätze. Weiterhin wurden Systemgrundsätze festgelegt, wie der Grundsatz der
Unternehmensfortführung („going concern“), Pagatorik und Einzelbewertung von Ver-
mögensgegenständen inklusive des Problems der Abschreibungen. Diese GoB waren
natürlich mit Einführung des ADHGB und HGB nicht in Gänze sofort vorhanden,
sondern entwickelten sich sukzessive im Zeitablauf und wurden geprägt durch gesetz-
liche Rechtsanpassungen, Rechtsprechung von Gerichten, Veröffentlichungen durch das
Wirtschaftsprüferinstitut, wissenschaftliche Einflüsse durch spezialisierte Lehrstühle
und durch die Bilanzierungspraxis. Es gab viele weitere Regelungen, die sich auf die
Praxis des Rechnungswesens auswirkten (z. B. Kontenrahmen, Entwicklung von Bilanz-
theorien, Einzelprobleme der Bilanzierungspraxis). Auch die Jahresabschlussprüfungs-
pflicht durch Wirtschaftsprüfer wurde 1931 eingeführt und gilt als Geburtsstunde der
Wirtschaftsprüfung (Weyershaus, 2007, S. 90 ff.). Eine weitere eigene „unendliche“
Geschichte an Vorschriften für das Rechnungswesen erfolgte durch das Steuerrecht, auf
welches in diesem Aufsatz nicht weiter eingegangen wird.5

7 Phase 3: Das digital geprägte Rechnungswesen

In Phase 3 vollzog sich mit dem Einzug digital basierter Rechenanlagen ein radikaler
Wandel in der betrieblichen Realität. Computerisierung und Digitalisierung sorgten
dafür, dass „die Welt in den Computer“ kam, um eine Formulierung von Gugerli (2018,
S. 7) und dem Technikhistoriker Mahoney zu verwenden. Um diesen Wandel und seine
Auswirkungen auf das Rechnungswesen zu verstehen, lohnt es sich, einen kurzen
Augenblick bei der Entwicklung der Hardware und der Software zu verweilen. Deren
Innovationseinfluss hob das Rechnungswesen auf ein gänzlich anderes Niveau.
Die Veränderungen entwickelten sich über einen jahrzehntelangen Prozess, der bis
heute anhält, aber viele Grundideen lassen sich bereits an einer der ersten kommerziellen
Computeranlagen festhalten, dem UNIVAC („Universal Automatic Computer“) von
Remington Rand, der ab 1951 in die Betriebe und andere Großorganisationen (Staat
und Militär) Einzug hielt. Diese Rechenanlage verfügte u. a. über eine Hardware,

5 
Einen exzellenten Überblick über das Rechnungswesen mit den einschlägigen handels- und
steuerrechtlichen Vorschriften, sowie Angaben zur internationalen Rechnungslegung bieten die
Werke „Einführung in das Rechnungswesen“ und „Jahresabschluss und Jahresabschlussanalyse“
von Coenenberg et al. (2018a, b), die regelmäßig neu aufgelegt werden.
60 J. Dahlhoff

deren Rechenoperationen auf dem Binärsystem basierten, über miteinander ver-


netzte Hardwarekomponenten, die Eingabe, Verarbeitung, Ausgabe und Speicherung
beherrschten und über die erstmalige Anwendung von Softwareprogrammen, die den
Maschinen mittels Programmiercode mitteilten, was sie zu tun hatten. Der Beruf des
Programmierers entstand (Gugerli, 2018, S. 10 ff.). In rascher Folge entwickelten sich
immer leistungsfähigere Computer, die kleiner, schneller und leistungsfähiger wurden.
Beispielsweise wurde das Speicherproblem gelöst, der immer knapp war, aber mittler-
weile nahezu unbegrenzt verfügbar ist.
Der technische Durchbruch in das Computerzeitalter gelang mit den Transistoren,
die 1947 erfunden wurden und sich ab den 1960ziger Jahren als integrierte Schaltkreise
zu immer leistungsfähigeren Bauteilen entwickelten. Der Vorteil von Transistoren war,
dass keine mechanische Bewegungsenergie benötigt wurde, wie für analoge Maschinen,
sondern dass nur noch elektrische Signale in Stromkreisen im Transistor bewegt wurden.
Weiterhin galten sie als zuverlässig, kostengünstig und waren klein, was hilfreich war, da
die neuen Computer nicht mehr große Räume beanspruchten. Die Digitalisierung nahm
ihren Anfang. 1971 wurde von Intel der erste Mikroprozessor unter dem Namen 4004
entwickelt und der Öffentlichkeit bekannt gemacht. Das Patent wurde am 28. Juni 1974
durch das US-Patentamt erteilt (Ceruzzi, 2016, S. 140 ff.). Seit dieser Zeit verdoppelt
sich etwa alle 24 Monate die Transistorzahl eines Chips und damit dessen Leistungs-
fähigkeit (Moore’s Law). Computeranlagen wurden einsetzbar für den Massenbetrieb in
den Unternehmen. Nahmen sie vor der Entwicklung der Mikroprozessoren wegen der
Verwendung von tausenden von Elektronenröhren und mechanischen Relais in einem
Rechner noch die Größe von Schrankwänden ein, konnten nur von wenigen Spezialisten
bedient werden, und waren nur für Großbetriebe erschwinglich, wurden sie jetzt kleiner
(„Miniaturisierung“), anwendungsfreundlicher und günstiger. Mit der Einführung des
ersten PC durch IBM im Jahr 1981 für knapp 3.000 US$ setzten sich die Computer in
den Betrieben durch.
Neben dieser Hardwarerevolution entwickelte sich parallel eine immer leistungs-
fähigere Software, die Aufgaben in einem Betrieb miteinander vernetzen konnte. Soft-
ware ermöglichte es, mit Hilfe von Programmiersprachen, der Hardware sinnvolle und
flexible Anweisungen durch Programmiercode zu erteilen, die zu immer leistungs-
fähigeren Anwendungen führten. Die Auswirkungen der digitalen Entwicklung
betrafen alle Bereiche des Unternehmens und wurden beispielsweise zur Steuerung von
Maschinen in der Fertigung eingesetzt. Computer wurden durch Softwareprogramme,
wie einer Auftragsabwicklung oder einem Einkaufssystem anwendungsfreundlicher
und konnten nun auch von Nicht-Computerexperten bedient war. Sachbearbeiter in ver-
schiedenen Abteilungen, wie in der Buchhaltung, konnten ihre Aufgaben direkt am PC
mit spezialisierter Software erledigen. Die Geschäftsvorfälle wurden direkt am Ort des
Geschehens erfasst (z. B. in den Bereichen Wareneingang, Einkauf, Fertigung, Vertrieb)
und konnten in digitalisierter Form der Buchhaltung automatisch zur Verfügung gestellt
werden. Die Vernetzung von Geschäftsabläufen zwischen verschiedenen Abteilungen
wurde möglich. Es entstanden Buchhaltungsprogramme, die auf leistungsfähiger
Externes Rechnungswesen und Innovationen: Ein Oxymoron? 61

Soft- und Hardware basierten. Um dahin zu kommen – man ist bereits in den 1970ziger
Jahren bei Großunternehmen und in den 1980ziger Jahren im Mittelstand – musste eine
lange Entwicklungsphase durchlaufen werden.
Erneut befruchteten Technikinnovationen das Rechnungswesen, wie in diesem Fall
aus der sich entwickelnden Computerindustrie mit den Komplementären Hard- und Soft-
ware. Das Buchführungssystem eines Unternehmens war in vielen Fällen Ausgangspunkt
und Motivation für Unternehmen, sich moderne Rechenanlagen und Programme anzu-
schaffen. Auch der Kern von SAP, welches im Jahr 1972 gegründet wurde, geht auf ein
Buchhaltungssystem zurück. Das erste von SAP programmierte Standardpaket war die
1974 auf den Markt gebrachte Finanzbuchhaltung (RF). In rascher Folge folgten weitere
Pakete, wie Materialwirtschaft (RM), Anlagenbuchhaltung (RA; auch ein Teilgebiet des
Rechnungswesens) und Auftragsverwaltung (RV) (Leimbach, 2010, S. 293). Ziel von
SAP war es von Beginn an, eine integrierte Software zu schaffen, die als Standardsoft-
ware in Echtzeit („real-time“) arbeitet und die Abläufe in einem Betrieb integriert, also
miteinander verknüpft bzw. vernetzt. Dieses Ziel wird bis heute von Softwareunter-
nehmen – neben SAP gibt es eine Vielzahl weiterer Anbieter – verfolgt und immer weiter
optimiert. Es bedeutet z. B., dass Stammdaten zentral gespeichert und dann allen anderen
Anwendungen zur Verfügung gestellt werden. Es bedeutet, dass ein Geschäftsvorfall nur
einmal erfasst und dann in anderen Anwendungen, z. B. im Buchhaltungssystem auto-
matisch verbucht wird. Es bedeutet, dass die Verarbeitung in Echtzeit erfolgt. Das ist erst
seit ca. Anfang der 2000er-Jahre möglich und jetzt State of the Art, vorher gab es Ver-
buchungsläufe als Stapelverarbeitung nach Betriebsschluss (sog. „Nachtläufe“) oder an
Wochenenden.
Ähnlich wie bei den ersten Computeranlagen, die nur von finanzkräftigen Unter-
nehmen eingesetzt werden konnten, war die Entwicklung von Software noch einzel-
fallbezogen, d. h. es wurden Individuallösungen für Einzelfirmen programmiert. Diese
Phase reichte bis in die Mitte der 1960ziger Jahre. Daran schloss sich eine Phase der
Entwicklung von standardisierter kommerzieller Software an, die an verschiedene
Unternehmen verkauft werden konnten. Dieser Zeitabschnitt erstreckte sich bis nahezu
zum Ende der 1970ziger Jahre (Leimbach, 2010, S. 42). Die Jahre 1969 bis 1972 sahen
besonders viele Unternehmensneugründungen im Bereich Software mit jeweils zwischen
15 und 22 Gründungen. Darunter bekannte Unternehmen wie die Software AG (Gründung
1969), PSI (Gründung 1969) oder SAP (Gründung 1972) (Leimbach, 2010, S. 178 f.).
Diese Phase war, beiläufig bemerkt, auch die Chance von SAP gewesen, deren
Gründer zuvor noch als Softwareexperten von IBM unterwegs waren und im Jahr 1971
ein einzelfallbezogenes Projekt bei ICI in Östringen für verschiedene Abteilungen ent-
wickelten. Hier kamen sie auf die Idee, eine standardisierte und integrierte Software zu
entwickeln, die auch anderen Unternehmen angeboten werden konnte. So formulierten
die Gründer Hopp und Plattner 1972 noch für ihren Arbeitgeber IBM eine Idee, die
dann der Kern von SAP wurde:“ Für viele Unternehmen ergibt sich mit dem Einsatz
von Datenverarbeitungsanlagen die Notwendigkeit, die Arbeitsabläufe in den einzel-
nen Bereichen nicht getrennt zu organisieren, sondern eine integrierte Organisation
62 J. Dahlhoff

anzustreben, in der verschiedene Aktivitäten, aber auch Informationen koordiniert


zusammenfließen.“ (Leimbach, 2010, S. 289) Da ihr Arbeitgeber IBM an ihren Ideen
wenig interessiert war, verließen sie ihn und gründeten SAP. Mit Unternehmen wie
SAP und anderen Softwareunternehmen, wurden nun standardisierte Softwaresysteme
für Unternehmen entwickelt. Diese Lösungen waren entweder integrierte Lösungen
oder Insellösungen, die dann über Schnittstellen mit anderen Softwareanwendungen
verbunden waren. Der Durchbruch von Soft- und Hardware für betriebswirtschaftliche
Anwendungen inklusive Finanzbuchhaltung startete mit erschwinglichen PCs zu Beginn
der 1980ziger Jahre und einer immer raffinierter werdenden Software, die die bereits
beschriebene Integration und Vernetzung von Prozessen im Betrieb weiter verbesserte.
Für das Rechnungswesen war nun die Vernetzung mit anderen Bereichen im Unter-
nehmen möglich und damit die Bewältigung großer Mengen an Geschäftsvorfällen
ohne manuelles Eingreifen durch Buchhaltungsfachkräfte. Beispielsweise wurden Aus-
gangsrechnungen im Vertrieb erstellt. Mit ihrer Erzeugung erfolgte gleichzeitig eine
automatische Übermittlung an das Finanzbuchhaltungssystem oder -modul mit Ver-
buchung auf den entsprechenden Debitorenkonten. Diese wiederum waren direkt ver-
knüpft mit sog. Mitbuchkonten in der Hauptbuchhaltung und wurden dort ebenfalls auf
Forderungskonten verbucht. Notabene wurde die Mehrwertsteuer automatisch auf ent-
sprechenden Steuerkonten erfasst. Ein Geschäftsvorfall, der noch vor der Digitalisierung
mehrfach erfasst werden mussten, kaskadierte sich direkt ohne manuelle Eingriffe in ver-
schiedene Teilsysteme der Buchführung. Auch die zu diesem Geschäftsvorfall gehörigen
Buchungen auf der Aufwandsseite konnten nun automatisch verarbeitet werden. Wurde
beispielsweise eine Ausgangsrechnung erzeugt, deren Erstellungssignal der soeben
erfolgte Warenausgang war, also Verschickung der Ware an den Kunden, so wurde direkt
der Warenabgang verbucht und damit eine Lagerbestandsreduzierung. Diese Information
ging ebenfalls automatisch auf ein Materialaufwandskonto in der Buchhaltung und
erzeugte dort eine Materialaufwandsbuchung, während der veränderte Lagerbestand
ebenfalls automatisch auf dem zugeordneten Bilanzkonto verbucht wurde. Das Software-
system folgte den klassischen Anweisungen der doppelten Buchführung, indem es auto-
matisch die Ausgangsrechnungen mit dem Buchungssatz Forderungen aus Lieferungen
und Leistungen an Umsatzerlöse und Umsatzsteuer verbuchte, und die Lagerreduzierung
als Herstellungsaufwand an Vorräte [Anm.: bei Anwendung des Umsatzkostenverfahrens].
Betriebe haben heutzutage hunderte, wenn nicht zehntausende von Ausgangs-
rechnungen pro Tag zu bewältigen, je nach Umsatzgröße und Produktkategorie. Das
Rechnungswesen muss nicht mehr manuell eingreifen, da der Geschäftsvorfall Verkauf
von Ware auf diversen Erfolgs- und Bilanzkonten direkt verbucht wird. Eine Rechnung
wird in der Vertriebsabteilung erstellt und ausgelöst, parallel erfolgt der Eintrag auf
den verknüpften Konten in der Finanzbuchhaltung. Man denke nur an große Ketten im
Lebensmitteleinzelhandel, bei denen jeden Tag hunderte oder tausende von Kunden
ihre Einkäufe pro Filiale abrechnen. Allein Lidl hat mehr als 3.000 Filialen in Deutsch-
land und würde bei angenommenen 1.000 Kunden pro Filiale 3 Mio. Geschäftsvorfälle
pro Tag (!) allein aus dem Verkauf haben. Jeder Verkauf ein Geschäftsvorfall, der auto-
Externes Rechnungswesen und Innovationen: Ein Oxymoron? 63

matisch in diversen Teilsystemen abgerechnet und auch direkt in der Finanzbuchhaltung


verbucht wird. Die Zahlung an der Kasse wird in Echtzeit auf eingerichteten Geldkonten
verbucht, Umsatz und Mehrwertsteuer auf entsprechenden GuV- und Bilanzkonten.
Gleichzeitig werden die Lagerbestände korrigiert, die als bewerteter Vorratsbestand in
der Bilanz ausgewiesen werden. Wiederum zeitnah erfolgen Bestellvorschläge im Ein-
kauf, um die Lagerbestände aufzufüllen. Die ausgelösten Bestellungen führen nach
Lieferung durch die Lieferanten automatisch zu Buchungen in der Finanzbuchhaltung
(Ware an Verbindlichkeiten aus Lieferung und Leistungen), da die Wareneingänge in der
Eingangslogistik erfasst werden und Buchungsanweisungen automatisch in der Finanz-
buchhaltung erzeugen. Auch hier auf der Wareneingangsseite geschehen zahlreiche
Geschäftsvorfälle pro Tag, die ohne Eingreifen der Buchhaltung direkt auf Kreditoren-,
Bilanz- und Erfolgskonten verbucht werden. In Industriebetrieben gilt Gleiches für die
Produktion, in der zahllose bewertete Produktionsaufträge auch mit den Systemen der
Finanzbuchhaltung verknüpft sind, um Materialaufwendungen und Halb- und Fertig-
erzeugnisse automatisch buchen zu können.
Auch an anderer Stelle gibt es Massenbuchungen. Man denke nur an die
Abschreibungen auf Anlagevermögen, bei denen monatlich die Abschreibungen für
tausende von Anlagegütern als Sammelbuchung hochverdichtet auf den entsprechenden
GuV- und Bilanzkonten verbucht werden. Diese Posten werden über einen sog.
„Abschreibungslauf“ in der Buchhaltung ausgelöst und automatisch verbucht. Auch
die Menge an Personalbuchungen kann dem Massengeschäft zugeordnet werden. Hier
werden monatlich aus dem Personalabrechnungssystem über Schnittstellen (sog. „Lohn-
schnittstelle“) alle Personalaufwendungen und Gehaltszahlungen für jeden einzelnen Mit-
arbeiter auf GuV- und Bilanzkonten anonymisiert und verdichtet in die Finanzbuchhaltung
übertragen und verbucht. Die Buchhaltung greift kaum noch ein, sondern prüft über
Plausibilitätschecks und Fehlerlisten, ob alles ordnungsgemäß verbucht wurde. Weiter-
hin kommen monatliche Abgrenzungsbuchungen für Rückstellungen und Rechnungsab-
grenzungsposten in großer Zahl vor. Diese werden ebenfalls im Buchhaltungsprogramm
einmal monatlich angestoßen und dann auf vielen Konten und Kostenstellen verbucht.
Mit dem Massengeschäft von Geschäftsvorfällen in diversen Unternehmensbereichen
ist ein wichtiges Anliegen im Rechnungswesen realisiert worden: die automatisierte Ver-
buchung von Geschäftsvorfällen. Je mehr automatisiert werden kann, umso schlanker
kann man Buchhaltungsabteilungen halten und umso mehr können sie sich um andere
Aufgaben kümmern. Das Thema ist bis heute in den Buchhaltungsabteilungen elementar,
da man natürlich so viele Geschäftsvorfälle wie möglich zu automatisieren versucht. Der
Entwicklungsstand in den Betrieben ist unterschiedlich hoch. Beispielsweise ist die auto-
matische Verbuchung von Zahlungseingängen der Kunden nur teilweise realisiert. Viele
Betriebe buchen noch direkt vom Kontoauszug die Debitorenzahlungen – bearbeiten also
manuell die Geldeingänge – gleichwohl es hier schon seit vielen Jahren Lösungen gibt
und diverse Unternehmen gute Fortschritte gemacht haben.
Das Rechnungswesen ist rechtlich ebenfalls weiter reguliert worden. Ging es in
Phase 2 i.W. um nationale Normen (HGB, Steuerrecht, Aktiengesetz etc.), lässt sich in
64 J. Dahlhoff

Phase 3 als wesentliche Entwicklungslinie die Internationalisierung des Rechnungs-


wesens benennen. Das zusammenwachsende Europa verfügt seit 1993 über einen ein-
heitlichen Binnenmarkt, der u. a. durch einen freien Kapitalverkehr gekennzeichnet ist.
Um leichter Kapital von in- und ausländischen Investoren für international tätige Unter-
nehmen zu gewinnen, strebte man eine internationale Harmonisierung von Rechnungs-
legungsvorschriften an. Damit wäre es z. B. für einen englischen Investor leichter, die
Jahresabschlüsse eines deutschen mit einem französischen oder spanischen Unternehmen
zu vergleichen und zu beurteilen. In Deutschland nahm dieses Bestreben insbesondere
seit der IAS-Verordnung im Jahr 2002 (EG-Verordnung Nr. 1606/2002 des Europäischen
Parlaments vom 19. Juli 2002) Fahrt auf, weil diese verfügte, dass Konzernabschlüsse
für kapitalmarktorientierte Unternehmen für Geschäftsjahre ab 2005 verbindlich nach
den IAS/IFRS-Vorschriften zu erstellen sind.6 Internationale Rechnungslegungsvor-
schriften sind insofern eine soziale Innovation für deutsche Unternehmen, als durch
die Harmonisierung eine andere Rechtstradition, die anglo-amerikanische, in das
Rechnungswesen Einzug gehalten hat. Der anglo-amerikanische Ansatz ist insbesondere
an den Interessen der Investoren orientiert und verfolgt primär das Ziel der Informations-
vermittlung und Entscheidungsnützlichkeit für diese Gruppe. Dagegen steht die deutsche
Bilanzierungstradition mit dem Gläubigerschutz und dem Vorsichtsprinzip (Küting
et al., 2011). Auf den Punkt gebracht, bilanziert man nach den IAS/IFRS-Vorschriften
„offensiver“ als nach dem HGB. Die Ergebnisunterschiede zwischen einer HGB- und
einer IFRS-Bilanzierung können gravierend sein. Abschlüsse nach IAS/IFRS gelten als
„ehrlicher“, da sie bei der Bewertung näher am Markt ausgerichtet sind und eine frühere
Gewinnrealisierung erlauben als die konservativen HGB-Vorschriften. Kapitalmarkt-
orientierte Unternehmen müssen zweigleisig fahren. Die Einzelabschlüsse für deutsche
Gesellschaften werden nach den HGB-Vorschriften erstellt, die Konzernabschlüsse nach
IAS/IFRS. Man kann davon ausgehen, dass in größeren kapitalmarktorientierten Unter-
nehmen Mitarbeiter oder einzelne Führungskräfte über eine Spezialausbildung ver-
fügen, wie z. B. das WP-Examen, um die Vorschriften korrekt anwenden zu können. Zur
Darstellung und Bewertung jeder einzelnen Bilanzposition gibt es einen oder mehrere
Standards. Allein der reine Text der IAS/IFRS-Standards umfasst heute knapp 1.000
Seiten. Die Rechnungslegung nach IAS/IFRS gilt als sehr komplex und anspruchs-
voll. Ihre Anwendung kann zu vielen Fehlern führen, wie sie die Deutsche Prüfstelle
für Rechnungslegung (DPR) regelmäßig feststellt und im Bundesanzeiger veröffent-
lichen lässt. National gab es weitere größere Reformen, neben vielen kleineren, wie das

6 Die Harmonisierungsbestrebungen der Rechnungslegung lassen sich bis zum Jahr 1973 zurück-
führen, als das International Accounting Standards Committee (IASC) von WP-Organisationen
aus zehn Ländern gegründet wurde. Bis die dort entwickelten Standards IAS 1 etc. (später IFRS)
aber rechtlich verbindlich akzeptiert wurden, vergingen noch knapp drei Jahrzehnte. Siehe zu der
babylonischen Vielfalt internationaler Rechnungslegungsvorschriften Mueller et. al. (1994).
Externes Rechnungswesen und Innovationen: Ein Oxymoron? 65

Bilanzrichtliniengesetz (BiRiLiG) von 1985 oder das Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz


(BilMoG) von 2009, welche das HGB weiterentwickelt haben.
Zieht man ein vorläufiges Fazit über 700 Jahre Rechnungswesen kann man Folgendes
festhalten: In Phase 1 wurden Geschäftsvorfälle wie oben beschrieben, noch handschrift-
lich in verschiedenen Büchern eingetragen, bei seinerzeit geringerer Komplexität, weniger
Volumen und geringer Regulierung. In Phase 2 wurden Geschäftsvorfälle aus dem
Massengeschäft auf Lochkarten erfasst, bei großer Fehleranfälligkeit und vorherrschenden
Insellösungen. Das Rechnungswesen wurde erstmalig durch landesweit geltende Gesetze
reguliert. In Phase 3 war es endlich möglich, vernetzt und integriert bei gleichzeitig
hohem Volumengeschäft zu arbeiten. Da sich die Leistungsfähigkeit von Hard- und Soft-
ware immer weiter erhöhte, gleichzeitig aber auch die Kosten stark abnahmen, wurde
Software für die Finanzbuchhaltung und Betriebe allgemein ab den 1980ziger Jahren zur
Massenware. Mittlerweile gibt es einfache Finanzbuchhaltungslösungen selbst für Klein-
unternehmer, Freiberufler und Unternehmensgründer, die für wenige Euro Lizenzgebühr
pro Nutzer und Monat über die Cloud betrieben werden können. Großunternehmen setzen
aufgrund ihrer Komplexität leistungsfähigere Systeme ein, die aufwendiger und mit hohen
Kosten zu betreiben sind. Die rechtlichen Anforderungen an die Durchführung eines
Rechnungswesens wurden in Phase 3 weiter kompliziert durch die Einführung der inter-
nationalen Rechnungslegung nach IAS/IFRS (Tab. 1).
Die Tabelle zeigt den Einfluss von Innovationen auf das Rechnungswesen. Es handelt
sich um Wesentlichen um die Erfindung der Technik der doppelten Buchführung,
sowie um technische und soziale Innovationen, die seit der industriellen Revolution das
Rechnungswesen prägen (siehe Abb. 1).
Diese Abbildung zeigt wichtige Zeitpunkte in der Entwicklung des Rechnungswesens
und verdeutlicht, dass besonders viel Innovation in den letzten 150 Jahren erfolgt ist.

8 Rechnungswesen und Innovation – Quo vadis?

Wenn man knapp 720 Jahre Revue passieren lässt, ergeben sich Hinweise auf die
Weiterentwicklung des Fachs, und damit zu der Beziehung zwischen Innovation und
Rechnungswesen.
Die wesentlichen Entwicklungslinien sieht der Autor auf folgenden vier Gebieten:

• Digitalisierung
• Recht
• Organisation Buchhaltung und Berufsfortentwicklung
• Projektfähigkeiten im Rechnungswesen

Die Digitalisierung beeinflusst das Rechnungswesen seit Jahrzehnten. Es spricht wenig


dagegen, dass es auf diesem Gebiet keine neuen Impulse für das Rechnungswesen geben
wird. Einige Beispiele werden später dargestellt.
66
Tab. 1  Phasen im Rechnungswesen und Einfluss von Innovationen
Zusammenspiel Rechnungswesen und Innovation
Phase Zeitraum Basisinnovationen (Bei- Technische Innovationen Innovationen im Ergebnisse
spiele) (Beispiele) Rechnungswesen Innovationen im
Rechnungswesen
Manuelles ca. 1300–1890 Arabisches Zahlensystem Wind- und Wassermühlen, System der doppelten Schaffung eines
Rechnungswesen Handelsrevolution Erfindung Webstuhl, Taschenuhr, Buchführung Steuerungs- und
des Buchdrucks Brille, Kompass Informationssystem
für den rational
handelnden Kaufmann
Analoges ca. 1890–1951 Dampfmaschine, Stahl, Maschinengetriebene Analoge Geräte zur Bewältigung von
Rechnungswesen Eisenbahn, Chemie, Fahrzeuge aller Art, Durchführung der Massentransaktionen
Elektrische Energie Elektrifizierung von Buchführung, z. B. Verbindliche Vorgaben
Städten und Fabriken, Lochkartensysteme zur Rechnungslegung
Telegramm und Telefon Verrechtlichung des im Handels- und
Rechnungswesens Steuerrecht
Digitales ca. 1951 bis heute Informations- und Kommunikationshilfs- Einsatz Automatisierung von
Rechnungswesen Kommunikationstechnologie mittel wie Smartphone, Personalcomputer und Geschäftsvorfällen
Digitale Technologien Nach- E-Mail, Internet, soziale integrierte Software im Echtzeit-Rechnungs-
haltige Technologien Medien, Computer, Rechnungswesen Inter- wesen und sofortige
Erneuerbare Energien nationalisierung der Verfügbarkeit von
(z. B. Solarzelle), Rechnungslegung Informationen Inter-
Recycling, Medikamente nationalisierung der
aus der Pharmaforschung Rechnungslegung
J. Dahlhoff
Externes Rechnungswesen und Innovationen: Ein Oxymoron? 67

Abb. 1   Wichtige Meilensteine im Zusammenspiel zwischen Rechnungswesen und Innovation


(Eigene Erstellung)

Rechtliche Anforderungen bestimmen spätestens seit 1861 mit dem ADHGB


maßgeblich die Agenda im Rechnungswesen. Es ist realistisch anzunehmen, dass die
Rechtsfortentwicklung im Rechnungswesen weiter voranschreiten wird.
Buchhaltungsabteilungen waren spätestens seit Phase 2 organisatorischen Änderungen
ausgesetzt. Sie waren signifikant, aber nicht so einschneidend, wie in anderen
Abteilungen eines Unternehmens, z. B. in der Produktion. Das dürfte überholt sein, da
68 J. Dahlhoff

neue technische Möglichkeiten wesentlichen Einfluss auf die Buchhaltungsabteilungen


haben dürften.
Rechnungswesen ist schon lange nicht mehr eine gemächlich, vor sich hinfließende
Angelegenheit, wenn sie es denn je war. Der Dauermodus, insbesondere in größeren
kapitalmarktorientierten Unternehmen, ist heutzutage Veränderung. Das geschieht durch
die zuvor beschriebenen Entwicklungslinien. Veränderungen in Organisationen werden
durch Projekte eingeführt. Dazu sollte man auch einschlägige Projektfähigkeiten im
Rechnungswesen haben, wie später ausgeführt wird.

Digitalisierung:
Das manuelle Rechnungswesen im Sinne des Handwerks, wie es heute ausgeübt wird
(Phase 1), ist relativ ausgereift. Hier dürften sich nur noch marginale Veränderungen
ergeben. Das analoge Rechnungswesen (Phase 2) ist weitgehend durch das digitale
Rechnungswesen (Phase 3) abgelöst worden. Phase 3 hält noch auf unbestimmte Dauer
an. Hier könnte es weitere Innovationen geben, wie sie bereits in größeren Organisationen
ausprobiert werden, z. B. die Prozessautomation (s. später), raffinierte Algorithmen,
Künstliche Intelligenz und technische Hilfsmittel bei Randaktivitäten des Rechnungs-
wesens, wie die Inventur. Hier lohnt es sich, auf Pionierunternehmen zu schauen, denn sie
zeigen, was das Rechnungswesen der Zukunft in weiteren Unternehmen prägen könnte.
Ein Beispiel ist die Nutzung von Drohnentechnologie bei der Inventur. Drohnen
können in geeigneten Hochregallagern die Bestände anfliegen, die Lagerware per Bar-
code direkt scannen und die Daten einem Analyseprogramm zur Verfügung stellen.
Mit dieser Technik erhofft man sich eine größere Genauigkeit und die Möglichkeit,
Inventuren häufiger und schneller durchführen zu können. Auch können Lagerorte im
Freien oder auf Baustellen besser überwacht werden. Traditionell sind Inventuren sehr
zeitaufwendig für Unternehmen und die als Beobachter teilnehmenden Wirtschafts-
prüfer. Weiterhin sind sie fehler- oder sogar manipulationsanfällig. Mit der neuen
Technik, die noch nicht ausgereift ist, kann man die Inventur weiterentwickeln. Bei-
spielsweise forscht das Fraunhofer Institut für Materialfluss und Logistik (IML) an
diesem Thema und es gibt erste Start Ups, die diese Technik bereits verkaufen.7
Ein weiteres Beispiel ist die Verwendung von Softwaretools, um Manipulationen im
Rechnungswesen früher aufdecken zu können. Das Rechnungswesen ist leider immer
wieder erschüttert worden durch Bilanzskandale. Wirtschaftskriminelles Handeln
geschieht häufig in diesem Unternehmensbereich.8 Neben den Unternehmen selbst,

7 Das Unternehmen doks.innovation GmbH in Kassel ist beispielsweise ein neugegründetes Unter-
nehmen aus diesem Bereich.
8 Einer der jüngeren Fälle ist im Dax-Unternehmen Wirecard aufgedeckt worden, bei dem durch

Bilanzmanipulationen ein Schaden von mehr als 2 Mrd. € entstanden ist. Der Fall wurde im Jahr
2020 öffentlich bekannt.
Externes Rechnungswesen und Innovationen: Ein Oxymoron? 69

sind Steuerbehörden und Wirtschaftsprüfer an diesen Tools interessiert. Mathematische


Verfahren werden bereits von den Steuerbehörden und WP-Gesellschaften eingesetzt,
wie das Benfordsche Gesetz, bei dem man erwartete und tatsächliche Häufigkeiten
von Zahlen vergleicht. Kommen beispielsweise bestimmte Umsatzzahlen häufiger vor
als nach der Benford-Verteilung erwartet, könnte dahinter eine Manipulation stecken.
Auch werden Softwarelösungen Wirtschaftsprüfer dabei unterstützen, historische Buch-
haltungsdaten, Geschäfts- und IT-Prozesse zu untersuchen. Tools dieser Art werden
bereits eingesetzt und laufend verbessert.
Weitere Entwicklungen beschäftigen sich mit dem automatischen Auslesen von Ein-
gangsrechnungen mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz, bei der Algorithmen anhand
des Textes Zahlen und Informationen identifizieren können und diese ohne manuellen
Eingriff direkt auf den entsprechenden Sachkonten verbuchen. Auch monatlich wieder-
kehrende Routinerechnungen können mit dieser Belegerkennung behandelt wird.
Texterkennung wird auch in anderen Bereichen wichtig sein, wie im Vertragswesen.
Beispielsweise sind Leasingverträge für die Buchhaltung wichtig, da die dort enthaltenen
Informationen eine entscheidende Rolle bei der Verbuchung von Leasinggütern haben.
Die Leasingbilanzierung nach IFRS 16 gilt als sehr aufwendig. Leasingobjekte müssen
seit 2019 auch beim Leasingnehmer (vorher nur bei eng definierten Fällen) bei der Erst-
bewertung als Nutzungsrecht aktiviert und als Leasingverbindlichkeit passiviert werden.
In der Folgebewertung erfolgt eine Abschreibung des Nutzungsrechts und ein Abtrag der
Leasingverbindlichkeit, ausgelöst durch die Leasingzahlungen.
Weiterhin wird es verstärkten direkten Datenaustausch mit Lieferanten und Kunden
geben. Zwar ist das keine neue Entwicklung – EDIFCAT u.ä. gab es schon in den
1990ziger Jahren – aber die Vernetzung wird sich weiter intensivieren und sich auf
andere Bereiche neben der Faktura ausdehnen.
Spracherkennung à la „Alexa“ wie im privaten Bereich könnte auch eine Rolle spielen.
So könnte eine Buchhaltungskraft in ausgewählten Bereichen verbal Anweisungen an
das System erteilen und damit Buchungen auslösen. Gleichzeitig wird der Vorgang
dokumentiert, um einer Kernforderung des Rechnungswesens „keine Buchung ohne
Beleg“ nachzukommen. Denkbar wäre der Beleg dann als Audiodatei.
Es ist wahrscheinlich, dass viele Entwicklungen aus der KI und anderen Data
Science-Bereiche auch in das Rechnungswesen Einzug halten werden. KI-Algorithmen
können beispielsweise trainiert werden, Prognosen abzugeben und diese laufend zu ver-
bessern. Im Working Capital Management kann dies bedeuten, dass Ausfallwahrschein-
lichkeiten von Kunden (Forderungen aus Lieferungen und Leistungen) und Lieferanten
(Vorratslieferungen und Verbindlichkeiten aus Lieferungen und Leistungen) laufend
ermittelt werden können. Das ermöglicht dem Debitoren- und Kreditorenmanagement
früher eingreifen zu können, um mögliche Forderungsverluste zu reduzieren oder aus-
bleibende Lieferungen zu verhindern.
Weiterhin wird es erhöhte Anforderungen an das interne Reporting geben, um eine
erhöhte Transparenz zu erhalten. Mit einem Echtzeit-Berichtswesen zu verschiedenen
Sachverhalten aus dem Rechnungswesen, welches man sich über eine App jeder-
70 J. Dahlhoff

zeit aufrufen kann, wird man schneller Entscheidungen treffen können. Eine weitere
jüngere Entwicklung ist das Konzept des „Continuous Accounting“, bei dem Prozesse
beschleunigt werden. Buchhaltungsdaten werden automatisch abgestimmt und validiert.
Genehmigungen werden schneller erteilt und Kontrollen automatisiert durchgeführt.
„Continuous“ bedeutet, dass sich das Rechnungswesen permanent um Prozessver-
besserungen im Tagesgeschäft und bei Periodenabschlüssen bemüht.

Recht:
Man kann ferner davon ausgehen, dass es eine Rechtsfortentwicklung im externen
Rechnungswesen geben wird. Die vergangenen Jahrhunderte haben folgende Ent-
wicklungslinien in der Gesetzgebung für das Rechnungswesen gehabt: Relativ wenig
Regulierung in den ersten knapp sechshundert Jahren seit der Erfindung der doppelten
Buchführung, danach Einführung eines nationalen Bilanzrechts ab 1861. Es folgte die
Europäisierung des deutschen Bilanzrechts spätestens mit dem Bilanzrichtliniengesetz
von 1985. Zu guter Letzt erfolgte eine Globalisierung des deutschen Bilanzrechts mit
der verpflichtenden Anwendung internationaler Rechnungslegungsstandards (IAS/IFRS)
ab dem Jahr 2005, die für kapitalmarktorientierte Unternehmen der Europäischen Union,
also i.W. Aktiengesellschaften, gelten.
Im Jahr 2021 kann man festhalten, dass sehr viele Länder – auch außerhalb der
Europäische Union – ihre kapitalmarktorientieren Unternehmen nach den IAS/IFRS-
Standards bilanzieren lassen oder sich daran orientieren (Pacter, 2017). Der andere große
Standardsetter von Rechnungslegungsnormen sind die USA, die nach ihrem Standard US
GAAP Unternehmen die Bücher führen lassen. Das Fernziel wird sein, dass es weltweit
nur noch einen Bilanzierungsstandard geben wird. Das wäre eine gravierende Innovation
im Bilanzrecht, denn auf welchen anderen Rechtsgebieten gibt es sonst einen Welt-
standard? Der langjährige Vorsitzende des IASB, Sir David Tweedie, schreibt:“…and to
ensure that all countries have the same accounting standards, the International Accounting
Standards Committee has been reconstituted with effect from 2001 to form a virtually
full-time International Accounting Standards Board, the main mission of which is to seek
convergence of accounting standards throughout the world.“ (Nobes & Nobes, 2016, Vor-
wort) Dies entspricht der Vision der IFRS Foundation, die für die Entwicklung der IAS/
IFRS-Standards zuständig ist und ihr Ziel von „global accounting standards“ bereits in
ihrer „Unternehmensverfassung“ aus dem Jahr 2001 niedergelegt hat (Pacter, 2017, S. 9).
Da die Entwicklungslinien für bedeutsame Rechtsanpassungen lang sind, könnte es ein
einheitliches international geltendes Bilanzrecht eher um das Jahr 2050 geben als etwa ab
dem Jahr 2025. Nur der Vollständigkeit halber noch der Hinweis, dass natürlich alle Unter-
nehmen weltweit weiterhin ihre jeweiligen nationalen Bilanzierungsnormen anwenden,
wie deutsche Unternehmen das nationale HGB, da sie gesetzlich vorgeschrieben sind.

Organisation Buchhaltung und Berufsfortentwicklung:


Eine bereits eingesetzte Entwicklung betrifft die Mitarbeiter im Rechnungswesen selbst.
Hier arbeiten Unternehmen an Prozessinnovationen, um Tätigkeiten und Abläufe zu
Externes Rechnungswesen und Innovationen: Ein Oxymoron? 71

automatisieren. Es ist nicht so, dass das Personal in Buchhaltungen in den beschriebenen
Phasen nie von Innovationen und Änderungen betroffen war. Das Gegenteil war der Fall.
Neue Berufsbilder entstanden, alte verschwanden. Bediener von Lochkartensystemen oder
Datentypistinnen zur Erfassung von Geschäftsvorfällen gibt es schon lange nicht mehr, da
diese Jobs durch Technisierung nach und nach überflüssig wurden. Der Bilanzbuchhalter
International ist dagegen eine junge und begehrte Zusatzausbildung für Buchhalter in
Unternehmen, die nach internationaler Rechnungslegung bilanzieren. Ein „Upgrading“ der
Qualifikationen ist nötig, um höher qualifizierte Buchhalter einsetzen zu können, die das
Rechnungswesen der Gegenwart gestalten können.
Das Outsourcing ist ein schon etabliertes Instrument, welches im Rechnungswesen
angewendet wird. Es bedeutet, dass Tätigkeiten im Rechnungswesen an einem Ort im
In- oder Ausland konzentriert werden, in einem sog. Shared Service Center (SSC). Nicht
mehr dezentral in den vielen Tochtergesellschaften eines Konzerns, sondern zentral in
einer eigens gegründeten Gesellschaft, die buchhalterische Dienstleistungen für die
Gruppe erbringt. In diesen SSC werden ausgewählte repetitive Massentransaktionen
abgewickelt, z. B. die Debitoren- oder Kreditorenbuchhaltung. Das Outsourcing rechnete
sich primär nur für Großunternehmen, die relativ stark besetzte Buchhaltungsmann-
schaften haben und diese an einem Ort konzentrieren können. Ein durch den Controller-
preis 2012 bekanntgewordenes Anwendungsbeispiel stammt von der Otto-Gruppe, die
über eine hoch automatisierte und standardisierte Kreditorenbuchhaltung verfügt. Diese
verarbeitet in ihrem Shared Service Center Lieferantenverkehr mit 42 Mitarbeiter knapp
450.000 Belege p.a. für 10 Otto-Gesellschaften aus dem Segment Multichannel Einzel-
handel und einem Einkaufsvolumen von 2 Mrd. € (Otto-Gruppe, 2012).
Eine junge Entwicklung ist die Robotic Process Automation-Technik (RPA), die
sich vermehrt seit etwa 2015 in Großunternehmen verbreitet. Mit dieser Technik
will man Abläufe ohne menschlichen Eingriff automatisieren. Solche Prozesse sind
schneller, genauer und kostengünstiger als bisherige Abläufe. RPA soll Entlastung bei
standardisierten und repetitiven Prozessen ermöglichen. Vorteile von RPA sind schnelle
und fehlerfreie Erledigung von einfachen Aufgaben, Entlastung von Mitarbeitern und
Hinterfragung und Verbesserung von Arbeitsabläufen. Mitarbeiter können für die
Bearbeitung qualitativ hochwertigerer Arbeiten eingesetzt werden. Der Begriff Robotic
ist nicht zufällig gewählt, da RPA das administrative Pendant zum Roboter in der Fabrik-
halle ist. Dort wird der (Hardware-)Roboter bereits im Großeinsatz in der Fertigung
eingesetzt. Der Kollege Roboter in der Administration ist ein virtueller (=Software-)
Roboter, der Büro- und Buchhaltungstätigkeit automatisiert durchführen kann. Die Soft-
ware können Makros, Skripts, Bots, Cognitive Automation und andere technische Tools
sein, die einen Prozess automatisiert ablaufen lassen. Unternehmen verfolgen diesen
Weg, um sogenannte nicht-strategische Kosten, wie sie z. B. in Verwaltungen, also
auch der Buchhaltung, entstehen, zu senken oder zumindest nicht weiter ansteigen zu
lassen. Als einen Weg sieht man die Ablösung von Arbeitskraft durch virtuelle Roboter,
Wie gravierend die Auswirkungen auf Buchhaltungen sein werden, ist umstritten. Man
kann grob sagen, dass Beschäftigungen mit einem großen Anteil an Routinearbeiten
72 J. Dahlhoff

leichter substituierbar sind als Beschäftigungen mit großer Arbeitsvielfalt. RPA und
andere Techniken sind Innovationen, die das Rechnungswesen produktiver machen und
es ihm ermöglichen, weiter den jeweiligen Herausforderungen gewachsen zu sein. Inso-
weit könnte man sogar argumentieren, dass diese Techniken benötigt werden, um das
Rechnungswesen weiterzuentwickeln, wie beispielsweise die Lochkartentechnik, die
vor hundert Jahren den Sprung von der manuellen zur analogen Buchführung ermög-
licht hat. Die Zeitersparnisse durch RPA sind enorm. Vorgänge können um ein Viel-
faches beschleunigt werden, wie etwa die Verkürzung der Rechnungsbearbeitung von
6 bis 8 min auf 30 s oder die Verkürzung eines Reportingprozesses von 2 Tagen auf
15 min (Smeets et al., 2019).9 Andere Bots helfen bei der Stammdatenanlage und
-pflege, können automatisch Kreditlimits pro Kunde festlegen oder E-Mails auslesen
und in strukturierte Daten umwandeln. Gelänge es beispielsweise einem Unternehmen,
30 Prozesse zu automatisieren, würde man 30 Bots oder virtuelle Roboter im Einsatz
haben, die diese Leistung erbrächten. RPA ist eine interessante Innovation mit großem
Potenzial. Ob sie sich schnell verbreitet, bleibt abzuwarten, denn das Auffinden von
geeigneten Prozessen und die Umstellung sind relativ mühselige Aufgaben.

Projektfähigkeiten im Rechnungswesen:
Dieser Punkt mag überraschen, doch die Abwicklung von Projekten ist mittlerweile zur
Routine im Rechnungswesen von Unternehmen geworden. Ständig neue Anforderungen
durch den Gesetzgeber oder die Unternehmensführung verlangen von dieser Abteilung,
dass sie Änderungen, häufig soziale Innovationen, fehlerfrei im Rechnungswesen
integrieren. Fehler können sich die Unternehmen nicht erlauben, denn diese könnten
Sanktionen seitens der Behörden auslösen.

Einige Beispiele aus den letzten knapp 20 Jahren:

I. Bilanzskandale und Firmeninsolvenzen haben ab 1998 mit dem Gesetz zur


Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich (KonTraG) zu einer Kaskade
von Gesetzen geführt, die das Risikomanagement in Unternehmen sukzessive ver-
bessert haben. Damit einhergehend ergaben sich erhöhte Kontrollanforderungen
insbesondere im Rechnungswesen, die regelmäßig durchgeführt, dokumentiert
und abgezeichnet werden müssen. Risikomanagementsysteme werden von Wirt-
schaftsprüfern im Rahmen der Abschlussprüfung beurteilt (§ 317 (4) HGB i.V.m.
IDW-Standard 340).

9 Dieses Werk bietet einen umfassenden Überblick zu RPA mit dem Fokus auf die Finanzbranche.
Externes Rechnungswesen und Innovationen: Ein Oxymoron? 73

II.  Ab Anfang 2002 wurden Unternehmen verpflichtet, den Betriebsprüfern im


Rahmen von Außenprüfungen elektronischen Datenzugriff auf die Finanz-
buchhaltung zu ermöglichen. Die Umsetzung dieser Regelung nach § 147 (6) AO
und den sog. GDPdU (Grundsätze zum Datenzugriff und zur Prüfbarkeit digitaler
Unterlagen; diese waren gültig bis 31.12.2014) erforderte seinerzeit viel Vor-
bereitungszeit, um den Vorschriften Genüge zu tun.
III. Mitwirkung an der jährlichen Erstellung der Verrechnungspreis-Dokumentation,
die seit 2003 für Betriebe verpflichtend ist. Die Erstellung einer solchen Trans-
ferpreisdokumentation nach § 90 (3) AO soll den Finanzbehörden belegen, dass
grenzüberschreitende Lieferungen zu Marktpreisen erfolgen und die Gewinne
daraus im Inland versteuert worden sind und nicht im steuergünstigeren Aus-
land kommt (§ 1 (1) AStG, § 8 (3) KStG). Die Dokumentationserstellung ist
aufwendig und muss inhaltlich den Vorgaben der Finanzbehörden entsprechen
(erstmalig im BMF-Schreiben vom 12. April 2005 konkretisiert).
IV. Umstellung auf internationale Rechnungslegung ab 2005 nach den IAS/IFRS-
Vorschriften. Die vorbereitenden Projektarbeiten mussten Jahre vorher im
Rechnungswesen gestartet werden.
V.  Umsetzung der HGB-Reform durch das Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz
(BilMoG) aus dem Jahr 2009.
VI.  Seit 2012 müssen Unternehmen verpflichtend eine sogenannte Elektronische
Bilanz erstellen, die verpflichtend an das jeweils zuständige Finanzamt per Daten-
übertragung übermittelt werden muss. Zur Umsetzung waren umfangeiche Vor-
bereitungsaufgaben in den Buchhaltungen zu treffen.
VII. Bis August 2014 musste SEPA („Single Euro Payments Area“) in den Unter-
nehmen eingeführt sein. Jedem Kreditor und Debitor wurden europaweit
standardisierte IBAN- und BIC-Nummern zuordnet werden, um weiterhin
Überweisungen und Lastschriftverfahren durchführen zu können. Die internen
Umstellungen waren teilweise signifikant, u. a. mussten Kunden- und Lieferanten-
stammdaten geändert werden.

Die letzten größeren Projekte betrafen IAS/IFRS-Projekte, wie die Einführung der
aktualisierten bzw. neuen Standards IFRS 15 (Erlöse aus Verträgen mit Kunden), anzu-
wenden ab 1. Januar 2018 und IFRS 16 (Leasing), anzuwenden ab 1. Januar 2019.
Auch diese Projekte nahmen mehrere Jahre an Vorbereitung im Rechnungswesen der
von diesen Standards betroffenen Unternehmen in Anspruch. Ein weiteres Beispiel:
Im Rahmen der Corona-Pandemie musste nahezu ad hoc in wenigen Monaten bis zum
Jahresende 2020 eine temporäre Mehrwertsteuersenkung von 19 auf 16 % bewältigt
werden. Ein sicher kleineres Projekt, aber auch ein Beispiel, dass in der Buchhaltung
Geschwindigkeit und Flexibilität gefragt ist, um solche Umstellungen zu stemmen. Last
but not least gibt es in den Unternehmen gelegentlich eine Umstellung auf ein neues
74 J. Dahlhoff

ERP-System oder eine neue Finanzbuchhaltung. Projekte dieser Art stellen ebenfalls
hohe Anforderungen an die Buchhaltungsabteilung. Der Wandel ist mittlerweile im
Rechnungswesen der Normalfall.

9 Fazit

Das Rechnungswesen ist einen weiten Weg gegangen von der Erfindung der doppelten
Buchführung und ihrer praktischen Anwendung durch italienische Kaufleute in der
Renaissance bis zum heutigen Echtzeit-Computing, welches die Verbuchung unzähliger
Geschäftsvorfälle bereits mit ihrer Werdung ermöglicht. Mühselig war das Buch-
haltungsgeschäft am Anfang, als Geschäftsvorfälle handschriftlich auf Papierblättern,
die durch Pergamentumschläge zusammengebunden waren, eingetragen wurden.
Kompliziert ist das Betreiben des Rechnungswesens in der Gegenwart, mit unterschied-
lichen Technologien, komplexen Softwarearchitekturen und einer unübersehbaren
Vielzahl von Rechtsvorschriften bei gleichzeitiger Anforderung, hohe Datenvolumina
zu verarbeiten, zudem rasch Zahlen liefern zu können („fast close“), und das in einer
permanent hohen Qualität. Ohne technische und soziale Innovationen wären diese Ent-
wicklungen nicht möglich gewesen. Es spricht viel dafür, dass sich das Rechnungswesen
weiter dynamisch entwickeln wird.
Am Anfang dieses Aufsatzes stand die Frage, ob Rechnungswesen und Innovation ein
Oxymoron sind. Die Antwort ist eindeutig beantwortet worden: Nein, denn Innovationen
liefern wichtige Impulse zur Weiterentwicklung des Rechnungswesens. Durch sie hat
das Rechnungswesen ein Leistungsniveau erreicht, welches für frühere Generationen
undenkbar gewesen wäre.

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Weyershaus, H. A. (2007). Wirtschaftsprüfung in Deutschland und erster europäischer


Zusammenschluß in den Jahren 1931 bis 1961, Dissertation, Heinrich-Heine-Universität
Düsseldorf.
Zander, G. H. (2004). Gründung der Handelshochschulen im deutschen Kaiserreich (1898–1919),
Dissertation, Universität zu Köln.

Prof. Dr. Jürgen Dahlhoff lehrt Controlling, Kostenrechnung,


Externes Rechnungswesen, Corporate Finance und International
Business an der SRH Hochschule Nordrhein-Westfalen am Standort
Hamm. Er unterrichtet in deutsch- und englischsprachigen
Bachelor- und Masterstudiengängen. Er ist weiterhin Studiengangs-
leiter für den neu entwickelten Bachelor-Studiengang Business
Analytics (deutsch- und englischsprachig), der zum WS 2021/22
gestartet wurde. Vor seiner Tätigkeit im Hochschulbereich hat er
mehr als 25 Jahre praktische Tätigkeiten in international aus-
gerichteten Unternehmen (DAX 30, FTSE 100, Mittelstand) im
Kaufmännischen Bereich ausgeübt, davon knapp 18 Jahre als Kauf-
männischer Leiter bzw. Finance Director für in- und ausländische
Gesellschaften.
E-Mail: juergen.dahlhoff@srh.de
Resiliente Supply Chains und der
Faktor Mensch: Digitalisierung und
Automatisierung im Rahmen innovativer
Logistikkonzepte in Krisenzeiten

Roman Bruno Kremer

1 Globalisierung, permanente Krise und der Klimawandel

Wenn Sie an der deutschen Nordseeküste ein Krabbenbrötchen mit Nordesskrabben kaufen,
haben diese bereits eine weite Reise hinter sich: rund 90 % der in Deutschland gefangenen
Nordseekrabben werden nach dem Fang nach Marokko transportiert, dort gepult und dann
zum Verkauf wieder nach Deutschland transportiert (Seekamp & Seidel, 2020).
Da die Lohnkosten in Marokko deutlich niedriger liegen als in Deutschland, rechnet
sich dieser Prozess trotz der zusätzlichen Transportkosten – zumindest bislang. Durch
die Covid-19-Pandemie fielen 2020 stellenweise bis zu zwei Drittel der marokkanischen
Pulkapazitäten aus, viele Krabbenfischer*innen gerieten in große wirtschaftliche
Schwierigkeiten. Inzwischen wird laut darüber nachgedacht, das Krabbenpulen wieder
nach Deutschland zu holen – mit maschineller Unterstützung (Seekamp & Seidel, 2020).
Die Nordseekrabben stehen beispielhaft für eine Entwicklung, die sich aktuell in einer
Vielzahl globaler Lieferketten zeigt. Der Fokus auf günstige Lohnkosten und niedrige
Bestände, idealerweise sogar eine Just-in-time-Lieferung (JIT) der notwendigen Roh-
stoffe und Teile (meist aus Ostasien/Südostasien) hat Lieferketten zwar effizient, aber
auch anfällig für Störungen gemacht. Nicht nur durch die Covid-19-Pandemie bedingt
sind in den Jahren 2020 und 2021 Großstörungen des globalen Warenflusses aufgetreten,
die auch in Deutschland spürbare Konsequenzen hatten und haben. Auf die sechstägige

Beitrag zu „Innovationen in der Wirtschaft – Trends in Bildung, Gesundheit und Industrie“

R. B. Kremer (*) 
SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen, Leverkusen, Deutschland
E-Mail: Roman.Kremer@srh.de

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 77


Teil von Springer Nature 2022
S. Krauss und P. Plugmann (Hrsg.), Innovationen in der Wirtschaft,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-37411-2_4
78 R. B. Kremer

Blockade des Suezkanals, über den rund 12 % des Welthandels fließen, durch die
Havarie des Frachtschiffs „Ever Given“ im März 2021 folgte ein Rückstau von über 400
Schiffen. Nach Schätzungen der Fachzeitung Lloyds List entspricht jeder Tag Stillstand
im Suezkanal einem Wert von 9,6 Mrd. US-$, die nicht transportiert werden (Meade,
2021). Der Versicherer Allianz prognostiziert allein durch diesen isolierten Vorfall ein
potenzielles Schrumpfen des jährlichen Wachstums des weltweiten Handels um 0,2 bis
0,4 Prozentpunkte (Hein, 2021). Im Mai 2021 wurde dann der Hafen von Yantian, über
den 90 % aller Elektronikexporte aus China laufen, einen Monat lang gesperrt (Shen,
2021b). Als im drittgrößten Containerhafen der Welt in Ningbo-Zhousan ein Arbeiter
positiv auf das Coronavirus getestet wurde, folgte im August 2021 eine zweiwöchige
Schließung, deren Folgen zum Zeitpunkt der Abfasung dieses Artikels noch nicht abseh-
bar sind (Shen, 2021b). Inzwischen sind neben Halbleitern und Chips auch Magnesium,
das u. a. in der Aluminiumverarbeitung und damit im Fahrzeugbau eine große Rolle
spielt, Mangelware (Spinnler, 2021). In vielen Branchen herrscht ein Auftragsstopp; die
Lieferzeiten im Automobilbereich betragen teilweise bis zu 14 Monate (Kay, 2021).
Diese Beispiele für in rascher Folge auftretende Störungen verdeutlichen etwas, das
in der Forschung zu globalen Supply Chains seit langem bekannt und unumstritten ist:
globale Lieferketten sind besonders störanfällig und erfordern daher ein gezieltes Risiko-
management sowie eine entsprechend angepasste Strategie. Um Risikofaktoren wie
Extremwetterereignisse, Unfälle, Pandemien, Naturkatastrophen oder politische Unruhen
in Supply Chains angemessen zu begegnen, hat sich hierzu eine eigene Forschungs-
richtung entwickelt, die einer rein effizienzbasierten Sichtweise auf die Supply Chain
eine Perspektive hinzufügt, die meist mit den (nicht deckungsgleichen) Begriffen
„Resilienz“ („resilience“) und „Nachhaltigkeit“ („sustainability“) beschrieben wird.
Überlegungen zu resilienten Lieferketten gibt es dabei genau so lange wie die
Logistik selbst. Im Militärwesen, wo Störungen der teilweise globalen Lieferketten oft
kriegsentscheidend sein können und oft gewesen sind, wurde die notwendige Robustheit
der Nachschub- und Versorgungslinien schon immer mitgedacht. Durch die statistische
Häufung globaler Störungen in den Jahren 2020 und 2021, die durch den Klimawandel
zudem absehbar immer häufiger vorkommen werden, ist das Thema aber auch in der
marktwirtschaftlich geprägten Logistik wieder akut geworden. Schon jetzt sind massive
Lieferverzögerungen gerade in den Bereichen Automotive und Consumer Electronics
an der Tagesordnung. Zunächst klein anmutende Ereignisse an weit entfernten Orten
können dramatische Auswirkungen haben. Der sprichwörtliche Sack Reis, der in China
umfällt, steht für gewöhnlich für ein unwichtiges Ereignis. Seit sich gezeigt hat, dass ein
an Covid-19 erkrankter Chinese ausreicht, um den drittgrößten Containerhafen der Welt
stillzulegen, sollte der Gebrauch des Sprichworts vielleicht überdacht werden.
Doch welche Folgen ergeben sich aus diesen Ereignissen für ein Supply Chain
Management der Zukunft? Können derartige Störungen in Zukunft besser abgefangen oder
sogar ganz vermieden werden? Auch wenn in diesem Rahmen nicht auf die Vielzahl der
in der Wissenschaft diskutierten Ansätze zum Gestalten von „resilient supply chains“ (dt.
etwa „resiliente Lieferketten“, vgl. etwa Adobor & McMullen, 2018; Christopher & Peck,
Resiliente Supply Chains und der Faktor … 79

2004; Biedermann, 2018; van Hoek, 2020) eingegangen werden kann, soll im Folgenden
ein kurzer, praxisnaher Überblick über die wichtigsten Konzepte, Entwicklungen und
Innovationen gegeben und vor allem die Frage beantwortet werden, welche Folgen sich für
Supply Chain Manager weltweit aus den Erschütterungen der letzten Jahre ergeben.

2 Automatisierung als Gegenthese zu Billiglohn

Die oben genannten Beispiele aus der Seefracht zeigen: Der Mensch ist (oft) das
schwächste Glied der Lieferkette. Eine naheliegende Folge ist es daher, den mensch-
lichen Faktor in der Supply Chain zu minimieren. Durch rasante Fortschritte im Bereich
der Materialflusstechnik ist es inzwischen in nahezu allen Teilen der Supply Chain
möglich, Menschen durch automatisierte Lösungen zu ersetzen. Als Stichworte seien
hier Automated Guided Vehicles (AGVs), Autonomous Mobile Robots (AMRs), selbst-
fahrende LKW, Kommissionierroboter, automatisierte Packstraßen, Palletizer und Sorter,
ATLS (Automatic Truck Loading Systems) oder Automatiklager genannt. In vielen
Apotheken gehört es inzwischen zum Standard, dass das angeforderte Medikament auf
Knopfdruck ausgegeben wird. Vergleichbare Technik existiert in der Logistik auch in
deutlich größeren Maßstäben, etwa für Paletten, und wird durch neue Entwicklungen
auch immer verbreiteter.
Bislang war das größte Hemmnis für derartige Automatisierungslösungen, dass
günstigere Lösungen auf dem Markt existierten. In der Regel bedeutete das, dass
arbeitsintensive Teile der Supply Chain (z. B. Produktion oder besonders personal-
intensive Fertigungsschritte) in Länder mit niedrigen Lohnkosten ausgelagert werden
konnten. Dieses Modell wird nun zunehmend in Frage gestellt. Während die Kosten
für Automatisierungslösungen durch innovative Neuentwicklungen und Skaleneffekte
langsam, aber beständig absinken, steigen die Löhne in vielen Staaten in Ostasien seit
Jahren an. Beispielsweise haben sich die Löhne in China, das lange als „verlängerte
Werkbank der Welt“ galt, zwischen 2008 und 2019 verdoppelt (Specht, 2020). Hinzu
kommen gestiegene Ausfallrisiken durch Krankheit, Pandemien, Naturkatastrophen
und juristische oder politische Unabwägbarkeiten. Für den europäischen Markt
werden lokale Automatisierungslösungen so oft attraktiver als weit entfernte manuelle
Bearbeitung – insbesondere, da auch die Transportkosten bei steigender CO2-Bepreisung
der Treibstoffe absehbar immer stärker steigen werden und sich durch lokale Lösungen
weitgehend vermeiden lassen. Schon jetzt sind die Containerpreise von Asien nach
Europa bedingt durch die Entwicklung der internationalen Lage von einem langjährigen
Schnitt von 3000 bis 4000 US$ pro großem Container auf bis zu 16.000 US$ gestiegen –
also eine Vervierfachung der Transportkosten (Pressberger, 2021).
Automatisierung wird daher zunächst in konsumstarken Märkten weiter ausgebaut
werden und rein aus Kostengründen ausgelagerte Produktion – man denke an die in
Marokko gepulten Krabben – durch lokale Lösungen ersetzen. Manuelle Lösungen
werden hingegen dort bestehen bleiben, wo für den lokalen Markt produziert wird und
80 R. B. Kremer

die Lohnkosten weiterhin mit Automatisierungslösungen konkurrenzfähig sind. Doch


die Stoßrichtung an sich ist klar – der Anspruch, den Shoshanna Zuboff bereits 1988 als
„Zuboffs first law“ artikuliert hat, rückt immer näher: „everything that can be automated
will be automated” (Zuboff, 2013).
Mit einer lokalen Automatisierung lassen sich neben dem „Faktor Mensch“ zudem
noch weitere Risikopotenziale reduzieren. Hohe Lagerbestände gelten etwa im Lean
Management als Verschwendung (jap. „Muda“) (Wannenwetsch, 2021, S. 298), sind aus
Sicht einer resilienten Supply Chain aber im Sinne einer Redundanz bei Ausfall einer
oder mehrerer Lieferungen eine möglicherweise sinnvolle Investition (Biedermann,
2018, S. 175). Moderne Automatiklager reduzieren durch ihren hohen Verdichtungsgrad
und die potenziell erreichbaren Höhen in der Regel auch die Lagerkosten je Kubikmeter
deutlich, wodurch redundante Bestände auch in Gebieten mit bislang hohen Flächen-
kosten zu einer gangbaren Möglichkeit werden (sieht man von der Kapitalbindung durch
die Bestände einmal ab).
Tatsächlich ließ sich bereits in den Jahren 2020 und 2021 beobachten, dass viele
Firmen nicht länger auf die Just-in-time-Lieferung aus China vertrauen wollten und statt-
dessen wieder mehr in Lagerbestände in heimischen Gefilden investieren wollten. Im
SCI/Logistikbarometer, einer regelmäßigen Umfrage unter repräsentativ ausgewählten
deutschen Logistik-Unternehmen, gaben im Januar 2021 rund 52 % der Befragten an,
in Zukunft verstärkt in Lagerhallen investieren zu wollen (SCI, 2021, Februar) - im Jahr
2019 waren es noch 33 % gewesen (SCI, 2019, Februar).
Stärker noch strahlt jedoch ein Trend aus, der sich schon seit geraumer Zeit
abzeichnet: 2021 gaben 69 % der Befragten an, in Zukunft verstärkt in Logistik-Soft-
ware investieren zu wollen. Tatsächlich gibt es gute Gründe dafür, dass der zukünftige
Logistikmarkt noch sehr viel stärker durch Software geprägt werden wird als durch
„Hardware“ im Sinne von Automatisierungstechnik.

3 Supply Chain Software: Visibility wird zu Control

Wie sehr Software die Zukunft der Logistik prägen wird, mag an einem drastischen Bei-
spiel deutlich werden, das beinahe das Geschäftsmodell eines renommierten Herstellers
von Automatisierungslösungen in Frage gestellt hätte. Ein Star am Himmel der der-
zeitigen Automatisierungstechnik ist der norwegische Hersteller Autostore, der mit
einer hochverdichteten automatisierten Lagerlösung bekannt geworden ist. Dabei
werden Behälter in einem Aluminiumraster übereinandergestapelt und von Robotern,
die auf dem sogenannten „Grid“ fahren, bei Bedarf herausgeholt und an Kommissionier-
stationen bereitgestellt (Ware-zur-Person-System).
Da die Integration in der Regel von einem lokalen Anbieter übernommen wird,
macht Autostore selbst vor allem über den Verkauf des Aluminiumrasters samt der dazu-
gehörigen Roboter Umsatz. Die dazugehörige Steuerungssoftware „Planner™“ gibt
Fahraufträge an die Roboter weiter, die diese Befehle dann umsetzen. 2020 entwickelte
Resiliente Supply Chains und der Faktor … 81

das Unternehmen die neue Steuerungssoftware „Router™“, die die Routen der Roboter
in Echtzeit berechnet und dynamisch anpasst. Das Problem daran: Die Software
funktioniert derart gut, dass das Autostore-System bis zu 40 % effizienter agieren kann
als zuvor (AutoStore System GmbH, 2020). Mit anderen Worten: Durch die neue Soft-
ware müsste Autostore 40 % weniger Roboter verkaufen, um die gleiche Leistung zu
erzielen – eine fatale Entwicklung für das Geschäftsmodell.
Autostore löste das Problem dahingehend, dass die neue Software nur gegen einen
deutlichen Aufpreis vertrieben wird und die alte Software weiterhin erhältlich bleibt.
Das Beispiel zeigt aber auf, wie stark eine gute Software-Steuerung bereits im Kleinen
Logistikabläufe vereinfachen und drastisch beschleunigen kann. Es ist absehbar, dass
zukünftige innovative Lösungen auf dem Logistikmarkt weniger im Feld der Hardware
als vielmehr in dem der Software, die die darunterliegende Hardwareschicht steuert,
liegen werden. Die von Autostore entwickelte neue Roboterserie „Black Line“ erreicht
gegenüber dem Vorgängermodell „Red Line“ „nur“ eine bis zu 20 % bessere Leistung
– also halb so viel, wie durch die reine Softwarelösung „Router™“ erzielt werden
kann (AutoStore Introduces Newer, Faster Robot Model, 2019). Die in der Logistik ein-
gesetzten Technikplattformen ähneln sich zudem bereits jetzt immer stärker – einen
leistungsfähigen Roboter zu bauen, ist nur ein Teil der Lösung. Das mit Abstand größte
Potenzial wird in der smarten Steuerung und Vernetzung dieser Hardware durch Soft-
warelösungen liegen, ähnlich wie in der Automobilbranche inzwischen die Steuerungs-
software zunehmend wichtiger wird als die reine „Hardware“ des Autos selbst.
Die Grundvoraussetzung einer umfassenden Softwaresteuerung ist ein nahtloser
Informationsfluss. Dieser Gleichschritt von physischer und digitaler Bewegung ist in
den letzten Jahren über immer größere Abschnitte der Supply Chain ausgedehnt worden,
obschon es auch Rückschläge gab. Das Ziel lautet dabei, den Aufenthaltsort einer Ware
zu jedem beliebigen Zeitpunkt möglichst exakt bestimmen zu können – eine Art globales
und ubiquitäres Track&Trace also.
Die technischen Voraussetzungen hierzu liegen allesamt vor – Probleme liegen nach
wie vor an der Uneinheitlichkeit und vor allem Unwirtschaftlichkeit der aktuell erhält-
lichen Positionierungssysteme. Wenn jede Packung Trockenobst mit einem GPS-Sender
ausgestattet wäre, ließe sich zwar ein echtes Tracking and Tracing bis herab zur einzel-
nen Packung realisieren – die Kosten für die zusätzliche Technik dürften jedoch um ein
Vielfaches höher liegen als der Warenwert. Auch die RFID-Technik, von der sich schon
2007 Quantensprünge versprochen wurden (Bullinger & ten Hompel, 2007, S. XXIV),
ist nach wie vor preislich für die meisten Einsatzszenarien uninteressant und nur im
Bereich von hochpreisiger (z. B. Spezialmaschinen) oder wiederverwendbarer (z. B.
Paletten) Ware wirtschaftlich sinnvoll einsetzbar. Nach wie vor sind Barcodes mit den
entsprechenden Standards (SSCC, GS1, EAN-128 usw.) die am häufigsten zur Identi-
fikation von Waren eingesetzte Technik. Da es sich bei Barcodes um eine rein passive
Technik handelt, ist eine exakte Echtzeit-Bewegung der Ware kaum abbildbar – daten-
technisch befindet sich Ware immer „zwischen zwei Scans“. Kommt Ware in einem
Lager an, wird sie mit einem Wareneingangsscan vereinnahmt. Bevor aber nicht der
82 R. B. Kremer

Ziellagerplatz gescannt wurde, ist lediglich bekannt, dass die Ware sich irgendwo
zwischen Wareneingang und Lagerplatz befindet.
Erfolgsversprechender ist es, die Transportmittel selbst (Stapler, Kommissionierer,
LKW) mit entsprechender Technik zu verfolgen – so, wie es im Bereich der KEP-
Dienstleister für Track&Trace verwendet wird (das Tracking verfolgt das Fahrzeug, mit
dem die Ware qua Scan „verheiratet“ wurde). Durch deutliche Entwicklungssprünge und
immer niedrigere Kosten im Bereich der Sensorik (insbes. Kameratechnik und Scanner)
ist zudem davon auszugehen, dass sich die Scanfrequenz in Zukunft erhöhen und damit
eine genauere Positionierung ermitteln lässt. Die Ubiquität mobiler Endgeräte wie
Smartphones oder Smartwatches mit GPS-Chip macht das Verfolgen der Personen oder
Fahrzeuge, die Ware transportieren, dabei immer wirtschaftlicher. Ein Quantensprung
wird hier mit dem Einführen des 5G-Standards eintreten, mit dem auch in Innenräumen
zentimetergenaue Lokalisierung möglich sein wird (Müller, 2020) – doch wird diese
Lokalisierungsfunktion wohl vorerst weiterhin an übergeordneten Einheiten und weniger
an der Ware selbst Verwendung finden.
Ein weiteres Hindernis für transparente Warenflüsse ist dem Unwillen einzelner Teil-
nehmer einer Lieferkette geschuldet, für alle anderen Teilnehmer transparent zu werden
bzw. sich auf eine einheitliche Softwarelösung zu verpflichten. In einzelnen Branchen
wie der Automobilindustrie mag sich dies noch mit Druck gegenüber den Zulieferern
erzwingen lassen. Global betrachtet wird aber eher die Entwicklung von cloudbasierten
Softwarelösungen, die über Webservices weltweit zugänglich sind und oft keine lokale
Installation oder aufwendige Schnittstellenprogrammierung mehr erfordern, der Trans-
parenz zum Durchbruch verhelfen. Zumindest lässt sich ausgehend von diesen aktuellen
Entwicklungen des Softwaremarkts vorhersagen, dass sowohl in den Bewegungsdaten
auf operativer Ebene als auch in den softwaregesteuerten Informationsflüssen auf der
übergeordneten Ebene eine anhaltende Bewegung hin zu globaler Transparenz und Ver-
folgbarkeit stattfindet.
Jedoch ist schon jetzt ebenfalls absehbar, dass die Entwicklung nicht dabei anhalten
wird (und darf), Warenflüsse transparent und nachverfolgbar zu machen. Dieser erste
Schritt schafft erst die Voraussetzung dafür, Transporte zu optimieren. In dem Moment,
in dem eine komplette Informiertheit eintritt, wird der nächste Schritt das aktive Ein-
greifen und Steuern von Bewegungen aus einer übergreifenden Verkehrsperspektive
sein. Im Beispiel von Autostore entsteht der Mehrwert der Software „Router™“ ja
nicht etwa dadurch, dass die exakte Positionierung der Roboter und der Ware bekannt
ist (Information), sondern durch das lenkende Eingreifen und Optimieren des Verkehrs-
flusses in Echtzeit (Steuerung).
Derartige softwaregestützte „Verkehrssteuerungen“ existieren bereits vielerorts –
jedoch handelt es sich hier in der Regel um Inselsysteme, die nur einen sehr kleinen Teil
der Lieferkette steuern. „Fleet Controller“-Software steuert die AGVs in einem Lager-
haus, weiß aber nichts vom menschlichen Kommissionierer, der seine Befehle aus dem
Warehouse Management System erhält. Das Staplerleitsystem steuert die Bewegungen
des Staplerfuhrparks, weiß aber nichts von der Steuerung der Fördertechnik durch den
Resiliente Supply Chains und der Faktor … 83

Materialflusscontroller. Das Yard-/Dock-Management übernimmt die Kontrolle über den


Verkehr auf dem eigenen Hof, während das Navigationssystem den LKW möglichst ver-
kehrsgünstig an Staus vorbei zu lotsen versucht. Schnittstellen zwischen den einzelnen
Systemen sind selten und meist auf zwei oder drei Systeme beschränkt (z. B. Warehouse
Management System zu Material Flow Controller).
Lokale Optimierungen haben aber nur wenig Einfluss auf das Gesamtbild der Supply
Chain bzw. können sogar schädliche Wirkung entfalten, wenn dadurch Flaschen-
hälse überlastet werden (Verma, 1997). Erst eine globale Betrachtung der gesamten
Supply Chain ermöglicht, Flaschenhälse („bottlenecks“) zu identifizieren und die
für die gesamte Supply Chain optimale Strategie zu wählen. Hierzu wird es zukünftig
notwendig sein, neben einem übergreifenden Informationsfluss auch übergreifende
Steuerungslogiken zu implementieren. Es ist dabei jedoch als unrealistisch zu bewerten,
dass alle Bewegungen in einer komplexen globalen Lieferkette aus einem einzigen
System heraus gesteuert werden können. Vielmehr werden voraussichtlich viele Spezial-
lösungen zunächst bestehen bleiben, jedoch über Standardschnittstellen immer stärker
miteinander (horizontale Integration) oder mit einem übergeordneten Lenkungssystem
(vertikale Integration) kommunizieren.
Dabei wird sich ein volles Ausschöpfen des Potenzials letztlich nur durch eine über-
geordnete Steuerung (vertikale Integration) realisieren lassen. In der Praxis ist dies oft
eher eine politische als eine technische Frage – sind die Marktteilnehmer bereit, auf
einen Teil ihrer Autonomie zu verzichten, um eine global optimale Lösung zu erreichen,
oder nicht? In der Literatur (Hausladen, 2020, S. 246) wird in diesem Zusammenhang oft
von einem „Supply Chain Execution System“ (SES) gesprochen, das die gesamte Liefer-
kette als Aneinanderreihung physischer Transporte begreift und steuert (im Gegensatz zu
„Enterprise Ressource Planing Systems“ (ERP), die weniger die physische Bewegung als
vielmehr die wertmäßige Buchung begleiten). Das soll allerdings nicht darüber hinweg-
täuschen, dass eine vollintegrierte softwarebasierte Transportsteuerung über die gesamte
Supply Chain hinweg trotz des modisch anmutenden SES-Begriffs im Jahr 2021 noch
Zukunftsmusik ist.
Vorstufen zu diesem Modell sind jedoch bereits in Entwicklung und auf dem
Markt vorgestellt worden. SAP bietet mit dem Produkt „SAP Supply Chain Execution
Platform (SAP SCE)“ eine Lösung an, die verschiedene SAP-Produkte zu Lagerführung,
Yardmanagement, Tourenplanung und Track&Trace bündelt, jedoch selbst keine über-
greifenden Lenkungsaufgaben übernimmt (Mit SAP SCE (Supply Chain Execution) zu
effizienten Warenflüssen, 2021). Das 2020 von der Ehrhardt + Partner Group vorgestellte
Produkt „EPG | Suburban“ hingegen zielt auf eine übergreifende Verkehrsplanung in der
Intralogistik. Anstelle eines separaten WMS, das menschliche Kommissionierer*innen
mit Aufträgen versorgt, eines Fleet Controllers für AGVs und eines Materialfluss-
controllers für Automatiklager soll mit „Suburban“ auf Basis einer Lagerkarte (Open
Street Map) eine übergreifende Verkehrsplanung für das gesamte Lager erfolgen, bei
der aus den Informationen der jeweiligen Subsysteme, die zentral zusammenfließen,
eine global optimierte Verkehrsflussplanung entsteht (Ehrhardt + Partner Group, 2021).
84 R. B. Kremer

Damit unterliegen dann alle Prozesse der Intralogistik einer gemeinsamen, aufeinander
abgestimmten Steuerung.
Es existieren also bereits Softwarelösungen, die Transporte aus untergelagerten
Systemen bündeln und – zumindest in einem begrenzten Rahmen – aus übergeordneter
Sicht steuernd und optimierend eingreifen. Der nächste logische Schritt wird es sein,
„Transporte“ an sich global zu betrachten und zu steuern – also ein übergreifendes System
zu schaffen, das Transporte von der Quelle bis zur Senke auf der Straße und der Schiene,
in der Luft und auf der See, im Lager, auf dem Hof (Yard) und außerhalb des Lagers
steuert und das Funktionalitäten einer Tourenplanung, Frachtbörse, Lagerverwaltung und
Materialflusssteuerung bündelt. Aktuell existieren insbesondere in Lieferketten, die weit-
gehend von einem Akteur (z. B. Amazon Fulfillment) beherrscht werden, Systeme, die
eine solche Optimierung von einer gewissen „Flughöhe“ aus beherrschen. Diese Order
Management Systeme (OMS) weisen beispielsweise einen online auf einer Website
getätigten Einkauf automatisch dem Fullfillment-Center zu, das sich in der größten räum-
lichen Nähe zum jeweiligen Endkunden befindet und die kürzeste Lieferzeit verspricht
(Stichwort „same day delivery“). Von einer tiefen Integration mit den ausführenden
Systemen, die die einzelnen Transporte steuern, kann hier aber noch keine Rede sein.
Mit zunehmendem Automatisierungsgrad (etwa durch selbstfahrende LKW) werden
jedoch auf dieser Basis hochkomplexe Steuerungseinheiten entstehen, die „Transport“
als wesentliches Grundelement der Logistik in jeder Distanz und Ausprägung nicht nur
abbilden, sondern auch steuern. Alleinstellungsmerkmal gegenüber ERP-Systemen ist
dabei der Fokus auf den physischen Transport anstelle der wertmäßigen Buchung. Die
eingangs konstatierte Bewegung hin zu mehr Automatisierung und räumlich oft kürzeren
Lieferketten wird also absehbar durch innovative Softwarelösungen zentralisiert gesteuert
und gelenkt werden.
Mit den gewaltigen Umbrüchen, die im Bereich der Supply Chain in den nächsten
Jahren zu erwarten sind, ändern sich auch die Anforderungen, die an die mit dem
Management der Supply Chain betrauten Menschen gestellt werden. Daher soll
abschließend noch ein Ausblick gewagt werden, inwiefern die Veränderungen durch
Automatisierung und vernetzte Software auch den „Faktor Mensch“ beeinflussen und
von diesem beeinflusst werden.

4 Digitale Logistik und der Mensch

Weiter oben wurde bereits das erste Zuboff’sche Gesetz „everything that can be
automated will be automated” erwähnt. Der Motivationsredner Tariq Qureishy hat dieses
in einem Vortrag 2017 noch um einen treffenden Nachsatz ergänzt: „Anything that can
be automated will be automated, and anything that’s left will become 100 times more
valuable“ (Churchill, 2017).
Werden Automatisierung und Digitalisierung Menschen im Supply Chain Management
überflüssig machen? Sicher nicht. Aber die Stellen, die nach der Automatisierung
Resiliente Supply Chains und der Faktor … 85

verbleiben werden, werden tatsächlich überwiegend hochqualifizierte Stellen für hervor-


ragend ausgebildete Spezialist*innen sein. Bereits die „klassische“ Stellenbeschreibung
eines Supply Chain Managers erfordert breit gestreute Kenntnisse in verschiedenen
Disziplinen, vor allem im Bereich der Logistik („Supply Chain“) sowie der Betriebswirt-
schaft („Management“). Die mit der Stelle einhergehende Notwendigkeit zum Aufbauen
und kommunikativen Etablieren von internationalen Netzwerken setzt zudem ein breit
gefächertes Portfolio in dem voraus, das man gemeinhin „Soft Skills“ nennt.
Hierzu wird immer stärker auch die Notwendigkeit treten, sich in IT-Themen sicher
zurechtzufinden. Logistiker*innen von morgen werden um eine informatische Grund-
kompetenz nicht umhinkommen - „Logistics needs IT“ (Hausladen, 2020, S. 14) hat Iris
Hausladen diesen Zusammenhang einmal recht treffend genannt. Damit ist eine Ent-
wicklung beschrieben, die nicht nur die Logistik betrifft: Im digitalen Zeitalter „muss
das Set der Managementkompetenzen in den Unternehmen um die Fertigkeiten grund-
legender Programmierkenntnisse bzw. ein Algorithmusverständnis erweitert werden“
(Lemke et al., 2017, S. 30). Das Supply Chain Management wird absehbar immer
näher an Disziplinen wie die Wirtschaftsinformatik und Data Science heranrücken.
Da sich Lieferketten nicht mehr analog abspielen werden, muss sich das Management
dieser digitalisierten Lieferketten in einem höheren Maße als bisher auch in technischen
Zusammenhängen verorten. Die Curricula für die Ausbildung von Logistiker*innen an
Berufsschulen, Fachhochschulen und Universitäten werden diesen geänderten Rahmen-
bedingungen ebenfalls Rechnung tragen und die Fachdidaktik sich entsprechend neu
orientieren müssen.
Das bedeutet jedoch nicht, dass die bekannten, einfachen manuellen Tätigkeiten
gänzlich aus der Logistik verschwinden werden. Zumindest ist vorerst trotz technischer
Fortschritte und Skaleneffekten nicht absehbar, dass das Preisniveau für Auto-
matisierungstechnik weltweit so stark sinkt, dass der Einsatz unter allen Umständen
wirtschaftlich ist. Es wird auch weiterhin Länder und/oder spezielle Einsatzszenarien
geben, in denen Menschen operativ „auf der Fläche“ tätig sein werden – allerdings in
der Regel nicht, weil sich ihre Tätigkeiten prinzipiell einer Automatisierung entziehen
würden, sondern vielmehr, weil die Automatisierung in diesen Ländern oder in dieser
Branche nicht wirtschaftlich wäre.
Manuelle Tätigkeiten werden in Zukunft also nicht mehr von Menschen ausgeführt,
weil Maschinen diese prinzipiell nicht auch durchführen könnten, sondern weil mensch-
liche Arbeitskräfte in diesen Einsatzszenarien (noch) ein besseres Kosten-Nutzen-Ver-
hältnis aufweisen, das sich freilich voraussehbar immer mehr zu ihren Ungunsten
verschiebt. Durch die inzwischen auf dem Markt anzutreffende Möglichkeit, Roboter
zu leasen oder sogar „on demand“ zum Ausgleich von Auftragsspitzen auszuleihen
(auch „Robot as a service“/RaaS genannt), wird die Konkurrenz von Automatisierungs-
lösungen zu menschlichem Personal tatsächlich oft auf eine simple Kosten-/Nutzen-
Rechnung reduziert.
Gleichzeitig werden die operativen Tätigkeiten immer stärker mit der digitalen
Welt verflochten sein. Während im letzten Jahrhundert in Lagerhäusern noch vielerorts
86 R. B. Kremer

Festplätze vergeben wurden, die Kommissionierer auswendig lernen mussten, werden


Menschen heute in der Regel von einer Software zu den passenden Lagerplätzen geleitet
– sei es über eine gedruckte Liste, ein MDE-Gerät, das eigene Handy oder eine Pick-
by-Voice- oder Pick-by-Vision-Lösung. Pick-by-light- und Put-to-light-Lösungen
leuchten die passenden Fächer aus, während Software die Laufwege kontinuierlich
überwacht und optimiert. Immer häufiger arbeiten Menschen dabei auch neben oder
sogar mit Roboterlösungen bzw. cyberphysischen Systemen, die softwaregestützt mit
der physischen Welt interagieren. Der auf Schuhkartons spezialisierte Kommissionier-
roboter Magazino Toru kann beispielsweise in der gleichen Fachbodenanlage arbeiten
wie menschliche Kommissionierer und parallel die gleichen Tätigkeiten durchführen.
Andere kollaborative Lösungen wie selbstfahrende Transportwagen folgen menschlichen
Kommissionierer*innen selbstständig und entlasten diese vom Tragen oder Schieben der
Ware.
Gleichzeitig wird auch deutlich, dass die Rolle für Menschen in diesen Systemen
immer stärker eingeschränkt wird. Mussten Kommissionierer früher, um beim Bei-
spiel der Lagerlogistik zu bleiben, neben den mechanischen Tätigkeiten „laufen“ und
„greifen“ auch noch kognitive Tätigkeiten wie „Laufwege finden“, „Artikel identi-
fizieren“ oder „Fehlmengen buchen“ durchführen, reduzieren moderne Kommissionier-
systeme den menschlichen Faktor auf das rein mechanische Greifen und Laufen, wobei
letzteres durch die zunehmende Verbreitung von Ware-zur-Person-Systemen immer
stärker ins Hintertreffen gerät.
Vor dem Hintergrund, dass der menschliche Beitrag zur operativen Logistik in
Zukunft auf einzelne, repetitive und stark durch Software optimierte Arbeitsschritte
beschränkt sein wird, wird zunehmend die Frage gestellt, wie diese Tätigkeiten mög-
lichst „menschengerecht“ gestaltet werden können. Stehen Menschen den ganzen Tag
nur an einer Stelle und beschränken sich darauf, Dinge aus Kisten zu holen, hat dies
deutliche Auswirkungen auf Physis und Psyche. Inzwischen spielen daher bei Auto-
matisierungsprojekten auch immer stärker Fragen der Ergonomie eine Rolle, um dem
Risiko eines hohen Krankenstands und einer hohen Fluktuation zu begegnen. Neben
altbewährten Anti-Ermüdungs-Matten für Steharbeitsplätze und höhenverstellbaren
Tischen lassen sich auch neuere Systeme als Beispiel anführen. Das Hochleistungs-
Kommissioniersystem „Rotapick“ der psb GmbH etwa weitet den menschlichen
Arbeitsbereich von einem festen Stehplatz auf eine größere Grundfläche aus. Der Ware-
zur-Person-Transport wird hier um einen (kleinen) menschlichen Weganteil ergänzt, der
logistisch zwar vermeidbar wäre, aber ergonomisch deutlich zielführender ist als ein
ganztägiges Verharren auf der Stelle.
Doch sind die meisten der Bemühungen auf dem Markt noch immer auf den mensch-
lichen Körper ausgerichtet. Erst allmählich findet auch die Psyche verstärkt Beachtung.
Die Wirtschaftspsychologie hat in den letzten Jahren ein Konzept der Videospiel-
industrie in den Fokus genommen, das gleichförmige und eintönige Tätigkeiten mit
Resiliente Supply Chains und der Faktor … 87

einem Gefühl des Fortschritts und persönlichen Erfolgs auflädt, die „Gamification“.
Dabei werden Konzepte wie das Sammeln von Erfahrungspunkten, das Erreichen von
Levels und „Achievements“ sowie das regelmäßige Belohnen in die Arbeitswelt trans-
feriert (für eine Übersicht vergleiche Warmelink, 2020, sowie Narayanan, 2014). Als
erstes größeres Warehouse Management System wirbt „Manhattan Active Warehouse
Management“ ausdrücklich damit, Gamification-Elemente in die Logistik zu über-
tragen (Gamification of the warehouse, 2020) - ein vielversprechender Trend, der
sich in den nächsten Jahren sicher fortsetzen wird. Je eintöniger die verbleibende von
Menschen zu erledigende Arbeit in der Logistik wird, desto mehr müssen Supply Chain
Manager*innen auch proaktiv bereit sein, Ideen aus der Wirtschaftspsychologie zu
adaptieren, um die Arbeitsbedingung neben der rein physischen Ergonomie auch auf eine
geistig halbwegs erfüllende Erträglichkeit hin zu gestalten. In einigen Lagerhäusern wird
an den von Menschen besetzten Packstraßen inzwischen gelegentlich sogar Musik von
DJs aufgelegt, wobei Mitarbeiter*innen im Vorfeld Musikwünsche äußern können. Die
Logistik der Zukunft wird vom Wettbewerb um die besten Köpfe geprägt sein – Digital-
experten im Management, aber auch körperlich und geistig gesunde und zufriedene Mit-
arbeiter*innen im operativen Bereich.

5 Zusammenfassung und Ausblick

Durch die aktuelle weltpolitische Lage ist deutlich geworden, dass globale Lieferketten
neben großem Nutzen auch große Risiken bergen. Die Logistik der Zukunft wird diesen
Entwicklungen Rechnung tragen müssen. Dazu gehört zunächst eine genaue Prüfung,
wo globale Lieferketten überhaupt notwendig sind und wo sie absehbar durch lokale
Automatisierungslösungen, die Produktion und Lagerung auch in Hochlohnländern
wieder konkurrenzfähig machen, ergänzt und ersetzt werden können. Durch die rasante
Weiterentwicklung insbesondere im Bereich autonomer Roboter und hochverdichteter
Lagerlösungen einerseits und den steigenden Transportkosten und -risiken anderer-
seits besteht hier die Möglichkeit, Leistungen näher am Zielmarkt bei vergleichbaren
bis besseren Leistungen und Kosten zu erbringen. Das größte und noch weitgehend
ungehobene Optimierungspotenzial besteht aber in einer softwaregesteuerten Trans-
portplanung von der Quelle bis zur Senke, die über möglichst große Teile der Liefer-
kette und über sämtliche Transportwege und -mittel hinweg in Echtzeit auf ein globales
Optimum hinarbeitet. Die zukünftige omnipräsente Durchdringung der Logistik mit
Softwarelogiken stellt dabei erweiterte Anforderungen an die Rolle des Supply Chain
Managements, das auch curricular vorausschauend auf eine digitale und algorithmen-
orientierte Zukunft vorbereitet werden muss. Schließlich wird es auch herausfordernd
sein, eine Rolle für die verbleibenden operativen Mitarbeiter*innen in einer von Auto-
matisierung und Digitalisierung geprägten Logistikwelt zu finden. Die Tätigkeiten sind
88 R. B. Kremer

dabei so auszugestalten, dass Menschen trotz immer wiederkehrender, von Autonomie-


defiziten geprägten Aufgaben körperlich und geistig gesund arbeiten können. Hier bieten
insbesondere Ansätze der Wirtschaftspsychologie und Game Studies vielversprechende
Ansätze, die in Zukunft verstärkt in die Logistik einfließen können und werden.

Literatur

Adobor, H., & McMullen, R. S. (2018). Supply chain resilience: A dynamic and multidimensional
approach. The International Journal of Logistics Management, 29(4), 1451–1471.
Biedermann, L. (2018). Supply Chain Resilienz. Konzeptioneller Bezugsrahmen und Identifikation
zukünftiger Erfolgsfaktoren. Springer Gabler.
Bullinger, H.-J., & ten Hompel, M. (2007). Internet der Dinge. Springer.
Christopher, M., & Peck, H. (2004). Building the resilient supply chain. The International Journal
of Logistics Management, 15(2), 1–14.
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90 R. B. Kremer

Prof. Dr. Roman B. Kremer ist Professor für Logistik und


Informationssysteme an der SRH Hochschule in Nordrhein-West-
falen. Er lehrt und forscht im Bereich strategisches Supply Chain
Management, Logistiksoftware, Industrie 4.0 und Prozess-
management. Er unterrichtet in deutsch- und englischsprachigen
Bachelor- und Masterstudiengängen. Vor seiner akademischen
Tätigkeit war Prof. Kremer in der Industrie als Trainer und Berater
im Bereich Supply Chain Execution-Software (insbes. WMS) sowie
in der Lagerplanung und -optimierung tätig. Stetige Innovationen
gehören für ihn zur DNA der Intralogistik und bilden daher seit
Jahren einen festen Bestandteil seiner Arbeit.
Innovation und Trends
in Automobilindustrie

Marcel Engelmann

1 Einleitung

Die Themen Sicherheit, Gesundheit, Digitalisierung und Nachhaltigkeit gewinnen an


Bedeutung (Nobis, 2007). Nach wie vor ist das Bedürfnis nach individueller Mobilität
in der Gesellschaft ungebrochen. Jedoch verändern sich die Anforderungen, welche an
die Mobilitätsträger gestellt werden (König & Dreßler, 2021). Trotz aller Kritik erfreut
sich das Auto weiterhin großer Beliebtheit, um das Bedürfnisse nach individueller
Mobilität zu erfüllen. Dies zeigt auch eine Studie vom Statistischen Bundesamt aus
dem Jahr 2021, welche dem Auto den größten Anteil an dem individuellen Personen-
verkehr zuschreibt (Statistisches Bundesamt, 2021). Allerdings kann auch beim Auto
beobachtet werden, dass sich die Anforderungen der Nutzer in den vergangenen Jahren
deutlich verändert hat. Durch verschiedene technologische Entwicklung haben sich
neue Erwartungshaltungen bei den Menschen in den Bereichen Software und Benutzer-
freundlichkeit herausgebildet (Llopis-Albert et al., 2021). Menschen erwarten heute ein
Auto, welches nach der Auslieferung kontinuierlich mit Aktualisierungen der Fahrzeug-
software versorgt wird und jederzeit Informationen über das Internet austauschen kann
(Kook, 2021). Außerdem haben die Veränderungen des weltweiten Klimas eine Viel-
zahl von Menschen zunehmend dafür sensibilisiert mit den vorhandenen Ressourcen
sorgsamer umzugehen und den Ausstoß von schädlichen Gasen zu reduzieren. Daraus
ergeben sich auch neue Anforderungen in Hinblick auf den Ressourceneinsatz in der

M. Engelmann (*) 
Engelmann Ventures Holding GmbH, Wolfsburg, Deutschland
E-Mail: marcel.engelmann@menux.de

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 91


Teil von Springer Nature 2022
S. Krauss und P. Plugmann (Hrsg.), Innovationen in der Wirtschaft,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-37411-2_5
92 M. Engelmann

Wertschöpfungskette eines Automobilherstellers und darüber hinaus (Wissuwa &


Durach, 2021). Ein weiteres Beispiel für die Veränderung der Kaufentscheidungen
beim Auto ist der globale Anstieg beim Bedarf an Elektrofahrzeugen. Einhergehend mit
der Nachfrage reagieren die meisten Automobilhersteller und bringen in 2021 so viele
Elektrofahrzeugmodelle heraus, wie in keinem Jahr zuvor (Bhardwaj & Gupta, 2021).
Bewegt durch die vielen Veränderungen in der Automobilindustrie ist diese Publikation
entstanden, um einen Überblick über die Trends und Innovation zu geben. Dabei geht
es vor allem um 1) das Connected Car und die dazugehörigen Connected Services, 2)
das Autonome Fahren und dessen Auswirkungen, 3) die Weiterentwicklung der Sharing
Economy, 4) die aktuellen Entwicklungen bei der Elektrifizierung des Antriebs, 5) die
datenbasierten Mehrwertdienste auf der Grundlage von Fahrzeugdaten, sowie 6) die
Anwendungen von Fahrzeugdaten für die Smart City.

2 Connected Car & Services

Immer mehr Fahrzeuge sind Connected Cars (Bohnsack et al., 2021). Das besondere
an diesen Fahrzeugen ist die Anbindung an das Internet. Mit der Internetverbindung
des Fahrzeugs wird der Austausch von Daten mit anderen Services ermöglicht. Das
Connected Car ist unter anderem die Grundlage für die Aktualisierung der Fahrzeug-
software, der Navigationskarten oder auch von Streaming Inhalten (Coppola & Morisio,
2016).
Besonders die Aktualisierung der Fahrzeugsoftware „Over-the-Air“ ist in den letzten
Jahren in den Fokus gerückt (Chowdhury, et al., 2018). Während in der klassischen
Automobilentwicklung ein Fahrzeug erst fertig entwickelt und anschließend ohne große
Änderungen über mehrere Jahre verkauft wird, hat sich die Erwartung des Kunden
deutlich gewandelt und stellt die klassischen Automobilhersteller vor große Heraus-
forderungen. Früher konnte die Software fertig entwickelt, getestet und anschließend
ohne weitere Änderung einmalig pro Fahrzeug auf eines der vielen Steuergeräte
installiert werden. Heute erschwert die komplexe Elektronik Architektur in den Fahr-
zeugen vielen Hersteller die Aktualisierung von Software über das Internet, welche
jedoch von den Nutzern erwartet wird. Aus diesem Grund lohnt es sich als Automobil-
hersteller die Anzahl an Steuergeräten zu reduzieren und die Komplexität der ein-
gesetzten Elektronikkomponenten möglichst gering zu halten (Odat & Ganesan, 2014).
Deswegen haben auch einige Hersteller, wie Volkswagen, Tesla, Mercedes-Benz oder
BMW damit angefangen ihr eigenes Auto-Betriebssystem inklusive der dazugehörigen
Rechnerarchitektur zu entwickeln. Ziel der Hersteller ist es die Software im Auto, wie
beim Smartphone, immer wieder anzupassen und dem Nutzer dadurch neue Funktionen
bereit zu stellen. Beispiele hierfür sind unter anderem die Freischaltung von software-
seitig beschränkten Hardwarefunktionen, wie eine Hinterradlenkung, eine Steigerung
der Leistungsfähigkeit von Elektromotoren, eine 360° Kamera-Ansicht, ein Massage-
sitz oder vieles mehr. Zudem werden immer mehr reine Softwarefunktionen entwickelt,
Innovation und Trends in Automobilindustrie 93

welche dem Entertainment während der Fahrt dienen. Vom Streaming von Musik, über
Office Anwendungen bis hin zu Spielen für die Mitfahrer auf der Rücksitzbank und dem
Beifahrersitz sind diverse Entwicklungen zu beobachten. Vor allem mit den digitalen
Inhalten sollen in Zukunft Umsätze für die Automobilkonzerne erzielt werden (Zurawka
et al., 2016).

3 Autonomes Fahren

Das automatisierte oder auch autonome Fahren ist eines der größten Herausforderungen
für die Automobilindustrie. Neben den klassischen Automobilhersteller haben sich vor
allem Technologieunternehmen auf diesen Teil der Fahrzeugfunktionen spezialisiert. Ziel
der Automobilhersteller als auch der Technologieunternehmen ist es alle Fähigkeiten
zum Fahren eines Fahrzeugs durch verschiedene Computerprogramme automatisiert aus-
führen zu lassen (Beiker, 2012).
Das autonome Fahren ist dabei in fünf Stufen aufgeteilt. In der ersten Stufe handelt
es sich um assistiertes Fahren. In dieser Stufe beherrscht der Fahrer oder die Fahrerin
das Fahrzeug ständig. Der Fahrer oder die Fahrerin muss den Verkehr ständig im
Blick behalten. Für Verkehrsverstöße und Schäden haftet der Fahrer oder die Fahrerin.
Einzelne Assistenzsysteme unterstützen bei bestimmten Fahraufgaben. Bei der zweiten
Stufe handelt es sich um teilautomatisiertes Fahren. Auch hier beherrscht der Fahrer oder
die Fahrerin das Fahrzeug ständig. Zudem hat der Fahrer oder die Fahrerin den Verkehr
ständig im Blick. Weiterhin haftet der Fahrer oder die Fahrerin für Verkehrsverstöße
und Schäden. Unter definierten Bedingungen hält das Fahrzeug die Spur, bremst und
beschleunigt. In der dritten Stufe wird von hochautomatisiertem Fahren gesprochen.
Der Fahrer darf sich vorübergehend von Fahraufgabe und Verkehr abwenden. In vom
Hersteller vorgegebenen Anwendungsfällen fährt der Pkw selbstständig. Der Fahrer
muss auf Anforderung durch das System kurzfristig übernehmen. Die vierte Stufe ist
das vollautomatisierte Fahren. Der Fahrer kann die Fahrzeugführung komplett abgeben
und wird zum Passagier. Das Fahrzeug bewältigt Fahrten auf bestimmten Strecken (z. B.
Autobahn, Parkhaus) völlig selbstständig. Es darf dann auch ohne Insassen fahren. Die
Passagiere dürfen schlafen, ihr Smartphone verwenden oder Zeitung lesen. Das System
erkennt seine Grenzen so rechtzeitig, dass es regelkonform einen sicheren Zustand
erreichen kann. Die Passagiere haften während der vollautomatisierten Fahrt nicht für
Verkehrsverstöße oder Schäden. Die fünfte Stufe ist das autonome Fahren. Es gibt nur
noch Passagiere ohne Fahraufgabe. Fahrten ohne Insassen sind möglich. Die Technik im
Auto bewältigt alle Verkehrssituationen. (Thomas Paulsen, 2021).
Aktuell werden vor allem Systeme der Stufe 2 und 3 in Fahrzeugen von Auto-
mobilhersteller eingebaut. In den USA wird unter anderem von dem Google-Tochter-
unternehmen Waymo erste Fahrzeuge mit dem Level 4 getestet. Allerdings scheint die
Skalierung von autonomen Fahrzeugen auf unbekannte Straßenabschnitte immer noch
eine große Herausforderung zu sein. Zudem ist die Rechtsprechung im Bereich des
94 M. Engelmann

autonomen Fahrens noch sehr eingeschränkt und die Haftungsfragen nicht vollständig
geklärt. Die ungeklärten Rechtsfragen bezüglich der Haftung sind ein weiterer Grund,
warum autonome Fahrzeuge in vielen Teilen der Welt nicht auf öffentlichen Straßen
zu sehen sind. Es ist daher zu erwarten, dass die breite Masse noch einige Jahre warten
muss, bis Sie die Verantwortung für das Führen des Fahrzeugs vollständig an ein
Computersystem abgeben kann (Shladover, 2016).

4 Sharing Economy

Immer mehr Menschen, vor allem in Städten, entdecken die Möglichkeit der zeit-
lich beschränkten Miete von Fahrzeugen. Dabei gibt es verschiedene Abstufungen und
Modelle, welche sich über die Jahre entwickelt haben. Einige dieser Modelle sollen in
dieser Publikation nun beleuchtet werden. Unter anderem das Autoabo, die klassische
Fahrzeugmiete, das Car Sharing, das Ride Sharing und das Mobilitätsabo.
Das Autoabo ist in den letzten Jahren in seiner Relevanz deutlich gestiegen. Immer
mehr Menschen möchten einen fixen Preis für die Nutzung eines Fahrzeugs bezahlen
und sich nicht um die Wartung des Fahrzeugs kümmern. In den Kosten für ein Autoabo
sind deshalb meistens alle Wartungskosten, Versicherungen, Zulassungskosten, sowie
Nutzungskosten eingerechnet (Szamatowicz & Paundra, 2019). Der Nutzer dieser Sharing
Variante muss allerdings darauf verzichten das Fahrzeug individuell zu konfigurieren und
erhält in vielen Fällen keinen Neuwagen, sondern ein Fahrzeug aus dem Pool, welches
aktuell verfügbar ist. Dafür erhält der Nutzer oder die Nutzerin die Flexibilität das Fahr-
zeug nach einer kurzen Haltedauer von einem Monat bis sechs Monaten wieder zurückzu-
geben oder gegen ein anderes Fahrzeug zu tauschen. Besonders die Flexibilität wird dabei
von den Kundinnen und Kunden geschätzt.
Des Weiteren gibt es innerhalb der Sharing Economy in Bezug auf Autos die
klassische Fahrzeugmiete. Bei dieser Variante des Teilens wird ein fester Betrag für die
Nutzung eines Fahrzeugs bezahlt, welches sich an der gewünschten Fahrzeugausstattung,
der Kilometeranazahl, der Dauer, sowie weiteren Faktoren berechnet. Jedoch hat sich
auch die klassische Fahrzeugmiete in den Jahren verändert. Verschiedene Anbieter
ermöglichen einen ähnlichen Service, wie die Autoabos, jedoch mit geringer Laufzeit.
Beispiel dafür ist der Anbieter Sixt, welcher das gesamte Angebot von klassischer Miete,
über Kurzzeitmiete, Autoabo und auch Car Sharing anbietet. Der Übergang zwischen
einer Langzeitmiete, Kurzzeitmiete, Autoabo und Car Sharing ist dabei fließend und
wird als innovatives Konzept von den Kundenwahrgenommen (Lazov, 2017). Zudem
bieten immer mehr Autovermieter die Möglichkeit an flexibel zwischen Autoabo, Lang-
zeitmiete, Kurzzeitmiete und Car Sharing ohne große Aufwände zu wechseln.
Beim Car Sharing handelt es sich um eine Flotte an Fahrzeugen, welche zur Nutzung
von einem Pool an Nutzern zur Verfügung steht. Beim Car Sharing ist die Idee, dass
ausschließlich die Nutzung bezahlt wird und damit die Anzahl an Fahrzeugen in Städten
reduziert werden kann (Bardhi & Eckhardt, 2012). Grundlage dieser Bestrebung ist, dass
Innovation und Trends in Automobilindustrie 95

ein Fahrzeug mehr 90 % der Zeit steht und nicht genutzt wird. Besonders in Großstädten
ist das Angebot von diversen Car Sharing Anbietern sehr groß. Jedoch ist die Auslastung
der Fahrzeuge nach wie vor bei vielen Anbietern zu gering, um nachhaltig die Flotte
betreiben zu können. Gleichzeitig sind die Kunden von Car Sharing Angeboten sehr
preissensitiv, was zusätzlich den Druck auf diese Anbieter erhöht. Besonders durch die
Verbindung mit anderen Formen des Sharings scheint jedoch die Profitabilität verbessert
werden zu können.
Ride Sharing beschreibt die Möglichkeit, eine Fahrt mit anderen Menschen zu teilen.
Dabei reduzieren sich die Kosten für jeden Mitfahrer, je mehr Menschen in dem Fahr-
zeug die gleiche Strecke zurücklegen (Kooti. et al., 2017). Durch das Teilen der Fahrt
kann sich die Fahrstrecke und damit auch die Fahrtzeit verlängern. Kunden von Ride
Sharing weisen eher eine hohe Preissensitivität auf und sind bereit auf Komfort zu ver-
zichten, um einen günstigeren Preis für eine Transportleistung zu bezahlen.
Eine weitere Möglichkeit ein Auto oder darüber hinaus auch andere Mobilitäts-
angebote mit einer größten Gruppe zu nutzen ist das Mobilitätsabo. Dabei handelt es
sich um ein festes Budget oder eine Flatrate, welche für die Nutzung eines Mobilitäts-
angebotes oder mehrerer Mobilitätsangebote genutzt werden kann (Ratilainen, 2017).
Besonders als Ersatz für den Dienstwagen im geschäftlichen Umfeld finden sich ver-
schiedene Arten von Mobilitätsabos. Ziel ist es hierbei dem Nutzer die volle Flexibilität
zu bieten und gleichzeitig die Kosten zu begrenzen.

5 Elektromobilität

Immer mehr Autohersteller geben bekannt, dass Sie die Produktion von Elektro-
autos fokussieren oder vollständig von der Produktion von Verbrennerfahrzeugen
auf die Produktion von Elektroautos in den kommenden Jahren wechseln wollen.
Getrieben durch den amerikanischen Elektroautohersteller Tesla hat sich das Ansehen
von Elektroautos innerhalb von 15 Jahren deutlich geändert (Guarnieri, 2012). Zudem
verfügen immer mehr Elektroautos ähnliche oder bessere Werte in der Reichweite,
Beschleunigung und Sicherheit wie vergleichbare Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor
(Holtsmark & Skonhoft, 2014). Besonders wichtig bei der Elektromobilität ist neben der
Batteriekapazität und damit der Reichweite der Ausbau des Ladenetzes. Auch hier lässt
sich feststellen, dass die Möglichkeiten ein Elektroauto in kurzer Zeit wieder mit aus-
reichend Energie zu versorgen deutlich verbessert haben (Larson et al., 2014). Jedoch
ist das Ladenetz in Deutschland, aber auch in ganz Europa bei weitem noch nicht so
groß, wie die Abdeckung mit klassischen Tankstellen für Autos, welche mit Benzin oder
Diesel angetrieben werden. Zugleich wird ein großes Augenmerk auf die Reduktion des
Luftwiderstands eines Fahrzeugs beim Design und der Konstruktion gelegt. Ein geringer
Luftwiederstand sorgt für einen geringen Verbrauch von Elektrizität, besonders bei
höheren Geschwindigkeiten. Nicht ohne Grund ist das Serienauto mit dem geringsten
Luftwiederstand der Welt ein Elektroauto. Dies führt jedoch auch dazu, dass das Design
96 M. Engelmann

der Fahrzeuge sich immer weiter ähnelt und die Differenzierung zwischen den ver-
schiedenen Autohersteller schwieriger wird.
Neben den technischen Spezifikationen von Fahrzeugen ist ein besonders wichtiger
Faktor für den Kauf eines Fahrzeugs durch einen Kunden der Preis. Die stetig sinkenden
Preise treiben dabei die Verbreitung von Elektroautos. Durch die staatliche Förderung
in Deutschland konnte zudem der Absatz von Elektrofahrzeugen gesteigert werden
(Propfe et al., 2013). Außerdem sorgt der steigende Preis für Benzin und Diesel dafür,
dass das Elektroauto unter Berücksichtigung aller Kosten in immer mehr Fällen
günstiger ist als ein ähnliches Fahrzeug mit Verbrennungsmotor. Zudem werden die Ein-
schränkungen für die Nutzung von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor immer größer.
Schon seit einigen Jahren dürfen in einigen deutschen Städten Dieselfahrzeuge wegen
der hohen Feinstaubpartikelbelastung nicht mehr einfahren (Waluś et al., 2018). Diese
Begrenzungen führen zu einem deutlichen Anstieg in der Nachfrage nach Elektroautos,
aber auch Fahrzeugen mit Benzinantrieb. Der Absatz von Fahrzeugen mit Dieselantrieb
sinkt in den letzten Jahren. Durch die veröffentlichen Strategien der Automobilhersteller
wird zudem klar, dass der Elektroantrieb in den nächsten Jahren dominieren wird und
im Fokus des Automobilbaus ist (Li et al., 2015). Eingeschränkt wird das Wachstum im
Bereich Elektroautoverkäufe vor allem von der Knappheit der benötigten Rohstoffe und
Zwischenprodukte. Besonders bei der Batterie kommt es schon heute zu einer großen
Konkurrenzsituation zwischen den verschiedenen Automobilhersteller. Aus diesem
Grund ist es unabdingbar, sich als Automobilhersteller mit dem Aufbau einiger Batterie-
kapazitäten und dem Ausbau von Kompetenzen rund um den elektrischen Antrieb zu
kümmern (Berckmans et al., 2017). Nur wer die Kosten für die Produktion von hoch-
wertigen Batterien deutlich senken kann wird in Zukunft ausreichende Renditen erwirt-
schaften, um langfristig am Markt zu bestehen.

6 Datenbasierten Mehrwertdienste

Ein weiteres spannendes Feld im Umfeld des Automobils sind die Daten, welche durch
die Nutzung des Fahrzeugs erzeugt, gesammelt, ausgewertet und weiterverarbeitet
werden können. Immer mehr Automobilhersteller erkennen, dass Sie einen Mehrwert
für andere Unternehmen oder Menschen schaffen können, indem Sie Informationen
aus dem Fahrzeug zusammenfassen und mit weiteren Daten verschneiden. Besonders
die Versicherungswirtschaft hat früh erkannt, dass sich basierend auf realen Fahrzeug-
daten die Risikoprofile der Kunden besser berechnen lassen (Remane et al., 2017). Mit
Hilfe dieser Information ist es möglich genauer abzuschätzen nach wie vielen Kilo-
meter durchschnittlich ein Unfall passiert und dementsprechend die Prämie für die Ver-
sicherung anzupassen. Ein anderes Beispiel für einen Mehrwertdienst basierend auf
Fahrzeugdaten ist die Werbeindustrie (Liu & Wang, 2017). Zunehmend werden wir
sehen, dass wir Angebote auf den Displays angezeigt bekommen, welche im direkten
Bezug auf den Standort des Fahrzeugs stehen. Diese Art der Anwendung ist bereits aus
Innovation und Trends in Automobilindustrie 97

der ­Internetwerbebranche bekannt und hat dort bewiesen für eine bessere Steuerung
von Werbemitteln zu führen. In Zukunft werden wir noch viele weitere Mehrwert-
dienste basierend auf Fahrzeugdaten sehen. Besonders in Europa werden allerdings die
Hürden deutlich größer sein, da der deutsche Datenschutz sehr strikte Regeln für die Ver-
wendung von Daten den jeweiligen Unternehmen auferlegt (Wachter et al., 2017).

7 Smart City

Ein großer Fokus der Automobilhersteller liegt auf der Entwicklung von Anwendungen
für Städte (Benevolo et al., 2016). Diese Anwendungen basieren meistens, wie die
datenbasierte Mehrwertdienste auch auf den Daten der Fahrzeugflotte des Herstellers.
Besonders für Städte ist die Auswertung und Weiterverbreitung von Fahrzeugdaten
interessant, da Sie die Infrastruktur verwalten und pflegen müssen. Zudem sind Sie gesetz-
lich dazu verpflichtet die Infrastruktur in einem Zustand zu halten, welche die Nutzung
ermöglicht. Autos bieten sich dabei als Datensammler vor allem deshalb an, da diese
mit sehr vielen Sensoren ausgestattet sind. Die Mange an Sensoren ist auch auf Grund
der steigenden Anzahl an Assistenzsysteme, besonders für die Vorstufen des autonomen
Fahrens, deutlich angestiegen. Des Weiteren sind immer mehr Fahrzeuge Connected Car,
als mit dem Internet verbunden. Die Kombination aus vielen Sensoren, der Möglichkeit
der Übertragung der Sensordaten über das Internet und die sinkenden Kosten der Daten-
speicherung ermöglichen zunehmend diverse Anwendungen für Städte. Beispiel für Smart
City Anwendungen ist die intelligente Verkehrssteuerung (Zhao et al., 2019). Ampeln
können je nach Verkehr anders geschaltet werden, um durchschnittliche Fahrzeit inner-
halb einer Stadt zu reduzieren. Des Weiteren können Gefahrenstellen im Straßennetz durch
die Fahrzeugsensoren erkannt werden und anschließend passende Maßnahmen zur Ver-
besserung der Verkehrssicherheit umgesetzt werden. Auch in Zukunft wird dieses Thema
an Relevanz gewinnen und bei Automobilherstellern in den Fokus rücken.

Zusammenfassung
Das Auto wird zunehmend vernetzter, digitaler und elektrischer. Besonders im Bereich
der Digitalisierung und der Softwareentwicklung müssen Automobilhersteller weitere
Kompetenzen aufbauen, um konkurrenzfähig zu bleiben. Auch bei den Kompetenzen
im Bereich der Elektromobilität sind weiterhin hohe Investitionen nötig, um die Nach-
teile zu einem Verbrennerfahrzeug zu reduzieren oder vollständig aufzulösen. Mittel-
fristig werden nur sehr wenige Menschen autonom fahren. Langfristig geht auf Grund
der hohen Verkehrstoten kein Weg an der vollständigen Automatisierung von Fahrzeugen
herum. Aus diesem Grund sollten sich schon heute mehr Menschen Gedanken machen,
was mit der Zeit angefangen werden kann, welche anschließend für andere Tätigkeiten
frei wird. Besonders das Thema Mehrwertdienste und Smart City wird in den nächsten
Jahren an Bedeutung gewinnen. Auch hier wird es nötig sein die richtigen Rahmen-
bedingungen zu schaffen, um Technologie so einzusetzen, dass Sie dem Menschen dient.
Es bleibt weiterhin eine spannende Zeit der Transformation.
98 M. Engelmann

Offenlegung
Marcel Engelmann ist Arbeitnehmer bei der Mercedes-Benz AG in Deutschland und
besitze Aktien von diversen Unternehmen im Bereich Mobilität, Technologie und Digital
Services. Bei der Erstellung der Publikation wurde größte Mühe aufgewandt, um die
Inhalte unabhängig, objektiv und ohne eigene Meinung darzustellen. Die Daten dieser
Veröffentlichung kommen von öffentlich zugänglichen Quellen und sind vollständig im
Anhang diese Publikation offengelegt.

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Marcel Engelmann  ist Experte für Innovationen und Digitalisierung


mit dem Fokus auf Produktion, Mobilität und Logistik. Als Berater
für das Top-Management der Mercedes-Benz AG darf er weg-
weisende Projekte für die Mobilität von Morgen begleiten. In seinem
Buchbeitrag zeigt Herr Engelmann verschiedene Innovationen der
Automobilbranche auf und gibt einen Ausblick auf die zukünftigen
Trends.
Controlling von Start-Ups bei Venture
Capital-Finanzierung

Jörn Littkemann, Christian Geyer und Sabrina Jung

1 Einleitung

Digitalisierung und Start-Up-Kultur sind weiterhin in aller Munde. Erfolgsgeschichten


wie die von Google, Apple, Netflix oder Facebook wecken das Interesse an innovativen
Neugründungen. Auch in Deutschland zeichnet sich in den letzten Jahren grundsätzliche
eine positive Entwicklung des Startup-Ökosystems ab (Kollmann et al., 2020, S. 17).
Daten der KfW zeigen beispielsweise, dass der Bestand an Start-Ups in Deutschland
zwischen 2016 und 2019 kontinuierlich angewachsen ist, bevor er vor allem bedingt
durch den Beginn der Corona-Pandemie im Jahr 2020 leicht einbrach (Metzger, 2021,
S. 2). Die Corona-Krise stellt Start-Ups und das gesamte Ökosystem weiterhin vor
enorme Herausforderungen. Gleichzeitig ist die aktuelle Phase aber auch als Treiber
bestehender Trends einzustufen und sorgt für einen Digitalisierungsschub in Wirtschaft
und Gesellschaft (Hirschfeld & Gilde, 2020), wodurch das Startup-Ökosystem weiter an
Relevanz gewinnt.

J. Littkemann (*) 
Fakultät für Wirtschaftswissenschaft, FernUniversität in Hagen, Hagen, Deutschland
E-Mail: joern.littkemann@fernuni-hagen.de
C. Geyer 
Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Unternehmensrechnung und Controlling,
FernUniversität, Hagen, Deutschland
E-Mail: philipp.plugmann@srh.de
S. Jung 
SCM Professional, SMA Solar Technology AG, Kassel, Deutschland
E-Mail: philipp.plugmann@srh.de

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 101
Teil von Springer Nature 2022
S. Krauss und P. Plugmann (Hrsg.), Innovationen in der Wirtschaft,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-37411-2_6
102 J. Littkemann et al.

Vor allem die großen deutschen Start-Ups wie Zalando, DeliveryHero, Auto1 und
HelloFresh gelten hierzulande als Vorbilder für Gründer, da diese Unternehmen es
geschafft haben, in kurzer Zeit ein milliardenschweres Geschäft aufzubauen. Doch nicht
jedes Start-Up schafft es, sich am Markt zu etablieren. Die Gründe für das Scheitern
sind vielfältig. Als eine der Hauptursachen für ein nicht erfolgreiches Start-Up wird
das Fehlen eines innovationsunterstützenden Controllingsystems angesehen (Vietor &
Wagemann, 2017, S. 8 ff.; Weber & Tilch, 2020, S. 3 ff.; Diehm, 2016, S. 2; Achleitner
& Bassen, 2002, S. 1192; Kerschenbauer et al., 2016, S. 1642; Littkemann, 2005,
S. 12 ff.). Der Online-Modehändler Zalando begründet seinen Erfolg beispielsweise
u. a. darin, dass bereits zu Gründungsbeginn ein finanzwirksames Controlling im Unter-
nehmen installiert wurde, welches stets einen Überblick über die aktuelle Liquidität und
den Bedarf an finanziellen Mitteln ermöglichte (Kemper & Schäffer, 2013, S. 49). Wie
eine effektive und effiziente Gestaltung eines Controllingsystems in Start-Ups konkret
realisiert werden kann, wird in der aktuellen Forschungsliteratur rege diskutiert. Auf-
grund der besonderen Merkmale von Start-Ups, wie fehlende Vergangenheitsdaten oder
ein hohes Maß an immateriellen Vermögenswerten, können die für etablierte Unter-
nehmen gültigen Empfehlungen nicht ohne weiteres auf das Controlling eines Start-Ups
übertragen werden.
Der Kapitalbedarf von Start-Ups wird zumeist aufgrund mangelnder Sicherheiten
und des hohen Insolvenzrisikos größtenteils durch sog. Risikokapital, welches oft durch
Venture Capital-Gesellschaften (VCG) bereitgestellt wird, gedeckt. Venture Capital-
Investitionen stiegen in Deutschland zuletzt kontinuierlich an und haben sich zwischen
den Jahren 2015 und 2019 mehr als verdoppelt (Dealroom, 2020). Alleine im Jahr 2020
wurde von VCG ein Investitionsgesamtvolumen von ca. 1,9 Mrd. € in Start-Ups getätigt
(Bundesverband Deutscher Kapitalbeteiligungsgesellschaften e.  V., 2021). Sowohl
Zalando als auch Auto1, DeliveryHero und HelloFresh wurden durch VCG finanziert
(Thomas, 2018, S. 142 ff.).

2 Definitorische Grundlagen

Der Begriff Start-Up (engl.: to start up = „gründen, in Gang setzen“) wurde gegen Ende
des vergangenen Jahrhunderts im Silicon Valley in den USA geprägt, als sich dort auf-
grund des technologischen Fortschritts, insbesondere des Internets, tausende Unter-
nehmen mit innovativen Vorhaben neu gründeten (Beige, 2016).
Achleitner (o. J.) beschreibt Start-Ups als „junge, noch nicht etablierte Unternehmen,
die zur Verwirklichung einer innovativen Geschäftsidee (häufig in den Bereichen
Electronic Business, Kommunikationstechnologie oder Life Sciences) mit geringem
Startkapital gegründet werden und i. d. R. sehr früh zur Ausweitung ihrer Geschäfte und
Stärkung ihrer Kapitalbasis entweder auf den Erhalt von Venture Capital (VC) bzw. Seed
Capital (evtl. auch durch Business Angels) angewiesen sind. Aufgrund der Aufnahme
externer Gelder wie Venture Capital ist das Unternehmen auf einen Exit angewiesen,
Controlling von Start-Ups bei Venture Capital-Finanzierung 103

im Zuge dessen die Kapitalgeber ihre Investments realisieren.“ Sie legt damit den
Schwerpunkt auf die Innovation, die zeitliche Komponente und die Finanzmittelknapp-
heit. Eine weitere Definition geben Blank und Dorf (2014, S. XXI): „Ein Startup ist
eine temporär existierende Organisation auf der Suche nach einem skalierbaren, nach-
haltigen, profitablen Geschäftsmodell.“ Sie heben dabei die zeitliche Komponente
sowie die Wachstumsorientierung hervor. Ries (2017, S. 27) bezeichnet ein Start-up als
“… a human institution designed to deliver a new product or service under conditions
of extreme uncertainty”. Das Hauptaugenmerk dieser Definition liegt wie bei Achleitner
auf der Innovation sowie auf den damit verbundenen extrem unsicheren Umwelt-
bedingungen. Diese unterschiedlichen Sichtweisen verdeutlichen, wie breit der Inter-
pretationsspielraum zur begrifflichen Eingrenzung eines Start-Ups ist.
Die von Achleitner und Blank & Dorf hervorgehobene, zeitliche Komponente
ist ein wichtiges Abgrenzungskriterium für ein Start-Up. Die Literatur liefert hier-
für allerdings keine eindeutige zeitliche Eingrenzung. Der Bundesverband Deutsche
Startups e. V. definiert ein Start-Up als jünger als 10 Jahre (Kollmann et al., 2018, S. 18).
Andere Autoren nennen eine Zeitspanne von bis zu 20 Jahren (Volkmann & Tokarski,
2006, S. 15). Die Einbeziehung des Lebenszyklusmodells für Unternehmen ermög-
licht eine idealtypische Einordnung des Start-Ups in bestimmte Lebenszyklusphasen
(Wittenberg, 2006, S. 23 ff.). Da ein Start-Up nach Achleitner jung und noch nicht
etabliert sowie laut Blank & Dorf skalierbar und auf der Suche nach einem profitablen
Geschäftsmodell ist, befindet es sich gemäß den Definitionen entweder in der Grün-
dungs- oder Wachstumsphase. Hier findet eine Abgrenzung zu etablierten Unternehmen
statt, die sich überwiegend in späteren Lebenszyklusphasen befinden, auf eine längere
Unternehmenshistorie zurückblicken können und ihr Geschäftsmodell i. d. R. bereits
umgesetzt haben.
Die Gründungsphase gliedert sich in eine Seed- und eine Start-Up-Phase und dient
der Ideenfindung, -formulierung und -umsetzung (Kollmann, 2016, S. 46). In der
Seed-Phase wird das Geschäftsmodell geplant, der Markt analysiert und ein Business-
plan, welcher das Geschäftsmodell beschreibt und meist als Grundlage zur externen
Finanzierung dient, erstellt (Reißing-Thust, 2003, S. 12 ff.). Erste Forschungs- und
Entwicklungsarbeiten (F&E) werden durchgeführt und Produktprototypen aufgebaut
(Vogelgesang et al., 2018, S. 325 ff.; Klandt, 2006, S. 141 ff.). Die anschließende
Start-Up-Phase beginnt mit der formal-rechtlichen Gründung des Unternehmens,
gefolgt von der praktischen Umsetzung der Planung mit ersten Produktverkäufen. Zum
Gründungszeitpunkt besteht das Unternehmen oftmals nur aus einer kleinen Gruppe
von Mitarbeitern, meist den Gründern selbst. Es herrschen flache Hierarchien und der
anfallende Arbeitsaufwand muss mit einer geringen Personalkapazität bewerkstelligt
werden (Grichnik et al., 2010, S. 311 f.). Weiterhin ist es für die Gründungsphase
charakteristisch, dass oft erst gegen Ende der Phase erste (meist kleinere) Umsätze
erzielt werden. Die zu Beginn der Gründungsphase notwendigen, hohen Ausgaben für
F&E können somit nicht aus Verkaufserlösen gedeckt werden. Folglich ist das Start-Up
durch knappe finanzielle und auch personelle Ressourcen gekennzeichnet. Sofern das
104 J. Littkemann et al.

Abb. 1   Unternehmensphasen eines Start-Ups (in Anlehnung an Schefczyk, 2006, S. 42)

Start-Up mit geringem Startkapital gegründet wurde, wird an dieser Stelle im Regelfall
eine Finanzierung durch Venture Capital erforderlich (Pape, 2018, S. 35).
Die folgende Wachstumsphase ist durch den Produktionsbeginn und steigende
Umsätze gekennzeichnet. Erste Gewinne können erzielt werden. Das Start-Up muss sich
organisatorisch an die wachsenden Anforderungen anpassen und benötigt Kapital für die
Wachstumsfinanzierung. Abb. 1 gibt einen Überblick über die idealtypischen Lebens-
zyklusphasen eines Start-Ups.
Ein weiteres wichtiges Abgrenzungskriterium eines Start-Ups ist die von Achleitner
und Ries genannte Innovation. Start-Ups sind gekennzeichnet durch neue Produkte, neue
Verfahren oder innovative Dienstleistungen, häufig in technologiebasierten Bereichen.
Diese sind i. d. R. mit hohen F&E-Kosten verbunden und stellen einen immateriellen,
schwer bilanzierbaren Vermögensgegenstand dar (Rieg, 2004, S. 110; Littkemann, 2005,
S. 25 ff.). Anhand des Innovationsgrades von Start-Ups findet eine klare Abgrenzung
zu anderen Unternehmensgründungen, welche keinen innovativen, sondern imitativen
Charakter haben, statt. Schlussfolgernd lassen sich anhand der angeführten Definitionen
und unter Einbeziehung des Lebenszyklusmodells von Unternehmen folgende
Abgrenzungsmerkmale eines Start-Ups ableiten (siehe Tab. 1):

Tab. 1  Abgrenzungsmerk- Abgrenzungsmerkmale eines Start-Ups


male eines Start-Ups. (Eigene
Darstellung) – Zustand der Gründungs- oder Wachstumsphase
– Innovative Geschäftsidee
– Knappe finanzielle und personelle Ressourcen
– Wachstumsorientierung
– Unsichere Unternehmensumwelt
Controlling von Start-Ups bei Venture Capital-Finanzierung 105

3 Start-Up-Finanzierung: Möglichkeiten und


Besonderheiten

Die Deckung des Kapitalbedarfs eines Unternehmens kann aus verschiedenen Quellen
stammen. Diese können aufgrund der Mittelherkunft grundsätzlich in Innenfinanzierung
und in Außenfinanzierung unterteilt werden (Pape, 2018, S. 36 f.). Bei der Innen-
finanzierung erfolgt die Kapitalbedarfsdeckung i. d. R. aus der Einbehaltung erwirt-
schafteter Gewinne (Selbstfinanzierung). Bezogen auf ein Start-Up ist diese Art der
Selbstfinanzierung zu vernachlässigen, da ein Start-Up meist erst in der Wachstums-
phase eigene operative Erlöse erzielt und die Gewinnschwelle überschreitet (Grichnik
& Kraschon, 2002, S. B9). Der Kapitalbedarf tritt jedoch meist aufgrund hoher
Anfangsinvestitionen bereits in den früheren Phasen auf. Somit konzentrieren sich die
Finanzierungsmöglichkeiten der Start-Ups auf die Bereiche der Außenfinanzierung.
Da ein Start-Up in den frühen Phasen kaum Sicherheiten vorweisen kann, das Risiko
einer möglichen Insolvenz beträchtlich ist und eine klassische Unternehmensbewertung
aufgrund des hohen Innovationsgrades sowie den unsicheren Umweltbedingungen für
potenzielle Fremdkapitalgeber nur schwer möglich ist, kommt die traditionelle Fremd-
kapitalfinanzierung für Start-Ups zumeist nicht infrage (Hof, 2017, S. 17 f.).
Eine Mezzanine-Finanzierung stellt für Start-Ups eine gute Alternative dar, um
Kapital zu beschaffen ohne Firmenanteile abgeben zu müssen (Hahn, 2018, S. 35 ff.).
Allerdings kann durch diese Form der Finanzierung i. d. R. nicht der komplette Kapital-
bedarf des Start-Ups gedeckt werden (Schüle, 2015, S. 72). Das größte Potenzial der
Kapitalbedarfsdeckung liefert somit die Eigenkapitalfinanzierung.
Dabei finanzieren sich die Start-Up-Gründer zunächst durch ihre eigenen Einlagen.
Übersteigt jedoch der Kapitalbedarf die von den Gründern eingebrachten Mittel, so
gibt es die Möglichkeit der Beteiligungsfinanzierung durch Venture Capital. Bei dieser
Finanzierungsform investieren externe Kapitalgeber eine hohe Summe in das Unternehmen
und erwerben im Gegenzug entsprechende Unternehmensanteile. VC-Geber sind als
Eigentümer direkt am Erfolg bzw. Misserfolg des Unternehmens beteiligt. Je nach Rechts-
form haften die Eigentümer im Falle einer Insolvenz in Höhe ihrer Einlage oder sogar
darüber hinaus und werden bei der Befriedigung der Gläubigerforderungen nachrangig
behandelt (Pape, 2018, S. 39). Diesem hohen Risiko des Totalverlusts steht eine überdurch-
schnittliche Renditeerwartung durch einen hohen Exit-Erlös gegenüber, sofern das Start-
Up skaliert und sich erfolgreich am Markt etabliert. Weiterhin werden den VC-Gebern klar
definierte und im Beteiligungsvertrag rechtlich gesicherte Informations-, Mitwirkungs- und
Kontrollrechte am Start-Up gewährt (Hahn, 2018, S. 36 f.). Zu den wichtigsten Kapital-
quellen der VC-Finanzierung zählen Business Angels und Venture Capital-Gesellschaften.
Bei Business Angels handelt es sich um Privatpersonen, die Teile ihres Privatver-
mögens in das Start-Up investieren und dafür Unternehmensanteile erwerben (Pape,
2018, S. 83 f.). Business Angels bringen meist ein hohes Maß an Branchenerfahrung mit
106 J. Littkemann et al.

Abb. 2   Finanzierungsformen nach Unternehmensphase (in Anlehnung an Schefczyk, 2006, S. 42)

und verfügen über weitreichende branchenrelevante Kontakte. Sie liefern dem Start-Up
sowohl Kapital als auch Know-How. Der Zweck dieses informellen Investments dient
zum einen der potenziellen Gewinnerzielung und zum anderen der Unterstützung des
Managements. Die Investitionssummen liegen in Deutschland zwischen ca. 10.000 und
500.000 € (Volkmann & Tokaski, 2006, S. 319 ff.).
VCG investieren dagegen sehr hohe Summen (ab ca. 500.000 €) in das Start-Up, werden
im Gegenzug Gesellschafter des Unternehmens und erhalten weitreichende Informations-,
Kontroll- und Mitspracherechte (Pape, 2018, S. 84). Die finanziellen Mittel erhalten sie
von unterschiedlichen Investoren. Ziel der VCG ist es, eine möglichst hohe Rendite aus der
zukünftigen Veräußerung der Unternehmensanteile für die Investoren zu erwirtschaften.
Abb. 2 zeigt, in welcher Unternehmensphase welche Finanzierungsform typischer-
weise zum Einsatz kommt.
Es wird deutlich, dass die eigenen Mittel der Gründer in der Regel nur den Kapital-
bedarf in der frühen Gründungsphase decken können, wohingegen die Fremdkapital-
finanzierung aufgrund fehlender Sicherheiten erst ab Ende der Wachstumsphase eine
Rolle spielt. Für die Wachstumsfinanzierung steht dementsprechend die Finanzierung
durch die Crowd, über Business Angels oder durch VCG zur Verfügung. Aufgrund der
geringen Investitionssummen von Business Angels und der Crowd können diese i. d. R.
nicht den kompletten Kapitalbedarf eines Start-Ups decken. Die VCG stellen schluss-
folgernd die wichtigste Kapitalquelle für wachstumsorientierte Start-Ups dar.

4 Controllingspezifische Besonderheiten innerhalb eines


Start-Ups

In den ersten beiden Kapiteln wurden die für Start-Ups charakteristischen Merkmale dar-
gestellt. Aus diesen Merkmalen lassen sich Besonderheiten ableiten, die das Controlling
in einem Start-Up beeinflussen.
Aufgrund der kurzen Unternehmenshistorie stehen dem Controlling in der
Gründungsphase keine Vergangenheitsdaten zur Verfügung, die es für Vergleiche oder
Controlling von Start-Ups bei Venture Capital-Finanzierung 107

Trendentwicklungen heranziehen kann. Es liegen nur geringe Erfahrungswerte vor


(Achleitner & Bassen, 2002, S. 5). Im Laufe der Unternehmensentwicklung nimmt der
Bestand an Vergangenheitsdaten zu, so dass bereits in der Wachstumsphase auf eine
(wenn auch kurze) Unternehmenshistorie zurückgeblickt werden kann. Das Controlling
muss diesen Prozess begleiten und sich entsprechend anpassen.
Aufgrund der innovativen Geschäftsidee agieren Start-Ups in wettbewerbsintensiven
Märkten, die es notwendig machen, die Innovation stets weiter voranzutreiben. Hier-
für investiert das Start-Up meist in F&E-Bereiche und baut dadurch ein hohes Maß an
immateriellen Vermögensgegenständen auf, die wertmäßig nur schwer erfasst werden
können (Stoi, 2003, S. 175 ff.).
Die finanzielle Ressourcenknappheit resultiert aus den hohen Aufbauinvestitionen in
die Organisationsstruktur und F&E-Tätigkeiten, gepaart mit noch fehlenden Umsätzen.
Dementsprechend werden keine Gewinne erwirtschaftet und der Cashflow ist negativ.
Zusätzlich steigt der Bedarf an VC, welches dazu führt, dass VCG oftmals spezifische
Anforderungen an das Controllingsystem in Start-Ups geltend machen.
Die personelle Ressourcenknappheit begründet, dass ein Großteil der anfallenden
Aufgaben von den Gründern selbst erledigt wird. Daraus resultiert, dass die Ent-
scheidungsprozesse in einem Start-Up deutlich durch die Gründerpersönlichkeiten
geprägt sind. Sofern die Gründer keine betriebswirtschaftliche Ausbildung erfahren
haben, können Defizite im kaufmännischen Bereich bestehen, die sich auf die Gestaltung
von Controllingsystemen auswirken können (Achleitner & Bassen, 2002, S. 5 f.).
Die Wachstumsorientierung, die ein skalierbares Start-Up aufweist, birgt ein hohes
Wachstumspotenzial sowie ein hohes Risiko, welches bewertet und gesteuert werden
muss. Das Start-Up agiert in einer extrem unsicheren Unternehmensumwelt, da der
Markt zum Teil noch nicht erforscht ist und neue Konkurrenten in den Markt drängen.
Dies erfordert eine schnelle Reaktion auf äußere Einflüsse (Blank & Dorf, 2014, S. XXI;
Ries, 2017, S. 27).
Zusammenfassend lassen sich folgende controllingrelevante Besonderheiten aus den
Merkmalen ableiten (Tab. 2):

Tab. 2  Controllingrelevante Controllingrelevante Besonderheiten von Start-Ups


Besonderheiten von Start-Ups
(in Anlehnung an Achleitner & – Keine Vergangenheitsdaten
Bassen, 2002, S. 9) – Immaterielle Vermögensgegenstände
– Keine Gewinne/negative Cashflows
– VC-Finanzierung
– Gründergeprägte Unternehmensstruktur
– Kaufmännische Defizite der Gründer
– Hohes Wachstumspotential/hohes Risiko
– Unsichere Unternehmensumwelt
108 J. Littkemann et al.

5 Besonderheiten aufgrund der Finanzierung durch Venture


Capital-Gesellschaften

Bei der Finanzierung durch VCG handelt es sich um eine spezielle Form der
Beteiligungsfinanzierung an nicht-börsennotierten Unternehmen (Achleitner &
Nathusius, 2004, S. 8). Vorrangiges Ziel der VCG ist es, eine hohe Gesamtrendite an
die Investoren auszuschütten. Um dies zu erreichen, müssen VCG eine kritische Unter-
nehmensbewertung potenzieller Portfoliounternehmen durchführen und diese gemäß
ihres Wachstumspotenzials einschätzen. Eine Investition lohnt sich aus der Perspektive
der VCG meist nur in Start-Ups mit hohem Wachstumspotenzial, da hier i. d. R. hohe
Kapitalgewinne durch den Verkauf der Unternehmensanteile bei einem Exit realisiert
werden können. Grundlage für die Unternehmensbewertung ist oftmals der Businessplan
des Start-Ups, welcher alle unternehmensrelevanten Eckpunkte sowie Informationen zur
Zukunftsplanung des Unternehmens enthält. Im Vorfeld der Finanzierung findet die ver-
tragliche Ausgestaltung der Beteiligung statt. Die Konditionen umfassen einerseits die
Beteiligungshöhe sowie die Informations-, Mitsprache- und Kontrollrechte (Volkmann
& Tokarski, 2006, S. 333 f.). Andererseits wird festgelegt, in welchen Bereichen und
in welcher Form VCG das jeweilige Start-Up mit ihrer fachlichen Kompetenz unter-
stützen soll. Durch eine umfassende Unterstützungstätigkeit kann für das Start-Up ein
Value Added entstehen, welcher den Erfolg des Start-Ups beeinflussen kann (Neubecker,
2006, S. 235 ff.). Aufgrund des hohen Verlustrisikos und der bestehenden Informations-
asymmetrien lassen sich VCG weitreichende Informations-, Kontroll- und Mitsprache-
rechte einräumen (Achleitner & Nathusius, 2004, S. 9). Informationsasymmetrien
entstehen gemäß des Prinzipal-Agenten-Ansatzes dadurch, dass die Gründer des Start-
Ups (Agenten) einen Informationsvorsprung bzgl. des eigenen Unternehmens und des
eigenen Verhaltens gegenüber den Kapitalgebern (Prinzipale) haben. Dieser Wissensvor-
sprung kann sich durch das opportunistische Ausnutzen von Vertragslücken bzw. durch
gezielt schädigende Handlungen der Gründer negativ auf das Ziel der VCG (Unter-
nehmenswertsteigerung) auswirken. VCG können z. B. bei Auftreten eines Problems
nicht genau beurteilen, ob dieses durch das Verhalten der Gründer oder durch äußere
Einflüsse ausgelöst wurde. Die Informationsasymmetrien können durch ein definiertes
Monitoring und Berichtswesen sowie der Verknüpfung weiterer Finanzierungssummen
an das Erreichen bestimmter Ereignisse, sog. Meilensteine, abgebaut werden (Lycko &
Mahlendorf, 2017, S. 27 ff.).
Darüber hinaus handeln VCG als Finanzintermediäre und muss die Bedürfnisse
der Investoren befriedigen. Diese sind vor allem an einer möglichst hohen Rendite
ihrer Investition interessiert und erwarten eine informative und transparente Auf-
bereitung des aktuellen und zukünftigen Werts ihrer Investments. Es ist die Aufgabe
von VCG diese Daten zu erheben, aufzubereiten und den Investoren zur Verfügung zu
stellen. Die Datengrundlage hierfür liefern wiederum die einzelnen Portfoliounter-
nehmen (Achleitner & Bassen, 2003, S. 7). Somit muss ein Start-Up in der Lage sein,
Controlling von Start-Ups bei Venture Capital-Finanzierung 109

Tab. 3  Controllingrelevante Besonderheiten von Venture Capital-Gesellschaften. (Eigene Dar-


stellung)
Controllingrelevante Besonderheiten von Beschreibung
Venture Capital-Gesellschaften
Unternehmenswertorientierung Das oberste Ziel der VCG ist die Unter-
nehmenswertsteigerung bis zum Exit, um eine
möglichst hohe Kapitalrendite zu erzielen
Informationsasymmetrien Es besteht ein Informationsungleichgewicht
zwischen Gründern und VCG. Um dies zu
minimieren, fordern VCG umfangreiche
Informations- und Kontrollmaßnahmen
Festlegung von Meilensteinen Weitere Auszahlungen in der Zukunft werden
an das Erreichen von Meilensteinen geknüpft,
um das Verlustrisiko zu minimieren
Schnittstellenübergreifendes Reporting VCG agieren als Intermediär zwischen
Start-Ups und Investoren und berichtet an die
Investoren. Aus Effektivitäts- und Effizienz-
gründen sollte das Controlling der Start-Ups
auf die nachgelagerten Akteure abgestimmt
sein
Unterstützungsfunktion VCG können Start-Ups weitreichende fachliche
Kompetenz bieten, die positiven Einfluss auf
den Erfolg haben kann

die Informationsanforderungen von VCG zu decken. Weiterhin sollte eine effektive und
effiziente Datenübermittlung z. B. in Form von Schnittstellen realisiert werden (Stahl,
2003, S. 424 ff.; Hipp, 2004, S. 620 f.).
Anhand der vorangestellten Erläuterungen lassen sich folgende controllingrelevante
Besonderheiten von VCG ableiten (Tab. 3):

6 Anforderungsprofil an das Controllingsystem in durch


Venture Capital-Gesellschaften finanzierte Start-Ups

Aufgrund der kurzen Existenz eines Start-Ups liegen keine Vergangenheitswerte


zu Planungs-, Steuerungs- und Kontrollzwecken vor. Ein neues Controllingsystem,
ohne historische Daten, muss entwickelt werden. Zusätzlich werden die Gründer,
welche häufig unzureichende kaufmännische Fähigkeiten vorweisen, das Controlling-
system selbst betreiben (müssen). Daher ist ein einfaches und verständliches System
zweckmäßig. Mit fortschreitendem Entwicklungsstand des Start-Ups und einem umfang-
reicheren Datenbestand kann das Controllingsystem auch komplexere Formen annehmen
(Wittenberg, 2006, S. 101).
110 J. Littkemann et al.

Der innovative Charakter eines Start-Ups bergründet ein hohes Wachstumspotenzial.


Mit dem Eintreten in die Wachstumsphase ergeben sich normalerweise deutliche
Änderungen in der Unternehmensstruktur. Prozesse verändern sich, Personal wird auf-
gebaut, Organisationstrukturen werden angepasst etc. Zusätzlich wirken aufgrund
der unsicheren Umwelt externe Einflüsse, unter der Prämisse sich erst formierender
Branchen, auf das Unternehmen ein. Um diesen Veränderungsprozessen im Zeitablauf
gerecht zu werden, ist ein anpassungsfähiges und flexibles Controllingsystem not-
wendig. (Achleitner & Bassen, 2002, S. 10; Kemper & Schäffer, 2013, S. 47; Lycko &
Mahlendorf, 2017; S. 25; Littkemann, 2005, S. 28 ff.).
Die immateriellen Vermögensgegenstände bilden mehrheitlich das Herzstück eines
Start-Ups. Sie beinhalten die innovative Idee und das produktspezifische Know-How
und spiegeln den eigentlichen Wert des Unternehmens wider. Immaterielle Vermögens-
gegenstände sind nicht rein quantitativ messbar und somit schwer bilanzierbar. Um den
realistischen Wert des Start-Ups ermitteln zu können, bedarf es der qualitativen Aus-
wertung der immateriellen Vermögensgegenstände und deren Übertrag in messbare
Erfolgsgrößen (Diehm, 2017, S. 22).
Negative Cashflows und fehlende Gewinne verzerren den realistischen Wert des
Unternehmens. Um den Erfolg des Start-Ups trotzdem bewerten zu können, sollte das
Controllingsystem modifizierte Erfolgsgrößen, wie z. B. Kundenzufriedenheit, Web-
Site-Besuche, etc. darstellen können (Achleitner & Bassen, 2003, S. 11). Eine häufige
Folge aus negativen Cashflows sind Liquiditätsengpässe, die die Existenz des Start-Ups
gefährden. Um die Zahlungsfähigkeit des Unternehmens stets gewährleisten und notfalls
rechtzeitige Finanzierungsrunden einleiten zu können, ist die Abbildung und Kontrolle
der Liquidität des Unternehmens zwingend erforderlich (Wittenberg, 2006, S. 103).
Grundsätzlich wird von einem Controllingsystem gefordert, dass es auf die Bedürf-
nisse der Empfänger zugeschnitten ist (Littkemann, 2018, S. 40 ff.). Da ein Start-Up
stark gründerorientiert agiert, sollte auch das Controllingsystem dem Informationsbedarf
und Kenntnisstand der Gründer angepasst sein. Zusätzlich sollte das Controlling-
system bei durch VCG finanzierte Start-Ups auch auf die Bedürfnisse der Kapitalgeber
zugeschnitten sein. Die Unternehmenswertorientierung der VCG fordert die Abbildung
unternehmenswertorientierter Erfolgsgrößen.
Um die bestehenden Informationsasymmetrien abzubauen, bedarf es einem
kontinuierlichen Reporting, welches standardisierte Kennzahlen erfasst und in
regelmäßigen Zeitabständen aufbereitet wird.
Dieses standardisierte Berichtswesen sollte aus Effizienzgründen direkt an das
Controlling der VCG übermittelt werden. Somit besteht die Anforderung an eine
Integrierbarkeit des Controllingsystems des Start-Ups in das Controlling der Gesellschaft
(Achleitner & Bassen, 2002, S. 11).
Weiterhin muss das Controllingsystem in der Lage sein, die im Beteiligungsvertrag
definierten Meilensteine abzubilden, um Folgefinanzierungen gewährleisten zu können
und den Unternehmensfortschritt zu dokumentieren.
Controlling von Start-Ups bei Venture Capital-Finanzierung 111

Tab. 4  Anforderungsprofil an ein Controllingsystem in durch VCG finanzierte Start-Ups. (Eigene


Darstellung)
Institution Anforderungen
Start-Up – Einfaches, verständliches System
– Anpassungsfähiges, flexibles System
– Abbildung immaterieller Vermögensgegenstände
– Darstellung modifizierter, qualitativer Erfolgsgrößen
– Abbildung der Liquidität
Venture Capital-Gesellschaft – Abbildung unternehmenswertorientierter
Erfolgsgrößen
– Regelmäßiges Standardreporting
– Darstellung des Unternehmensfortschritts
– Integrierbares System

Zusammenfassend lässt sich aus den controllingrelevanten Besonderheiten das


folgende Anforderungsprofil ableiten (Tab. 4):

7 Das Controlling-Cockpit als externes Reporting für


Venture Capital-Gesellschaften

Im vorherigen Kapitel wurde herausgearbeitet, dass die VC-Geber ein kontinuierliches


und regelmäßiges Reporting mit standardisierten Kennzahlen fordern, welches in das
Controllingsystem der VCG integriert werden kann. Um dieser Anforderung gerecht zu
werden, wird mit einem Controlling-Cockpit ein betriebswirtschaftliches Steuerungs-
element erarbeitet, welches als externer Report an die VCG übermittelt werden kann.
Ziel ist es, alle für die VCG relevanten Daten strukturiert aufzubereiten und diese den
VCG so zur Verfügung zu stellen, dass eine automatische Weiterverarbeitung der Daten
innerhalb des Controllingsystems der VCG möglich ist. Das Reporting dient somit dem
Abbau der bestehenden Informationsasymmetrien zwischen Gründern und VCG und
der Senkung der Kontrollkosten der VCG durch ein schnittstellenübergreifendes, auto-
matisiertes Controlling (Stahl, 2003, S. 427 ff.). Zusätzlich soll durch das Controlling-
Cockpit ein einfacher Standardbericht angelegt werden, der sich im Laufe der
Unternehmensentwicklung ohne großen Aufwand phasengerecht anpassen lässt. Der
Inhalt des Cockpits richtet sich an die Bedürfnisse der VCG und ist zwingend mit dieser
abzustimmen. Um einen Gesamtüberblick über den Entwicklungsstand des Unter-
nehmens liefern zu können, empfiehlt sich folgender Aufbau eines Reportings (siehe
Abb. 3):
Es bietet sich an, zunächst eine zusammenfassende Übersicht des Reports zu erstellen
(hier Cockpit genannt), bevor in weiteren Bestandteilen des Reportings genauer auf
bestimmte Sachverhalte eingegangen wird. Ein Cockpit ist eine einfache Form, um
112 J. Littkemann et al.

Abb. 3   Reporting-Cockpit (in Anlehnung an Nietzer, 2003, S. 450)

Messwerte oder Ist-Werte von Kennzahlen oder berechnete und aggregierte Kennzahlen
auf einer Seite darzustellen und sollte einen Überblick über die aktuelle Unternehmens-
situation liefern. Hierfür sollten Key Performance Indicators (KPIs) u. a. für die Bereiche
Kunden/Markt, Liquidität, Erfolgsgrößen, F&E und Meilensteine abgebildet werden
(Nietzer, 2003, S. 448). KPIs sind unternehmensindividuelle Kennzahlen, die zwischen
dem Start-Up und der VCG definiert werden müssen und zur globalen Steuerung des
Start-Ups geeignet sind. Wichtig ist eine Auswahl weniger, aber aussagekräftiger KPIs,
die in der jeweiligen Unternehmensphase für das Start-Up relevant sind (Vietor & Wage-
mann, 2017, S. 11; Lüdtke, 2017, S. 35). Im Bereich Kunden/Markt bieten sich kunden-
relevante KPIs an, die das Kundeninteresse und somit das Marktpotenzial darstellen. Ein
Beispiel für ein SaaS-Start-Up („Software as a Service“) ist die Anzahl der Downloads
einer App oder die Churn-Rate (Abwanderungsquote), die angibt, wie viele Kunden
eines Unternehmens über einen bestimmten Zeitraum im Vergleich zum bestehenden
Kundenstamm abgesprungen sind (Grummer & Brorhilker, 2014). Auch die Messung
eines Net Promoter Scores, welcher als Maßstab der realisierten Kundenzufriedenheit
dient, erscheint sinnvoll. Beim Übergang in die Wachstumsphase können diese durch
eher quantitative Größen ergänzt oder ersetzt werden. Der Bereich Liquidität bildet die
Zahlungsfähigkeit des Start-Ups ab. Geeignete Indikatoren sind z. B. die Cash-Burn-
Rate, welche angibt, wie lange dem Start-Up noch finanzielle Mittel bereitstehen (Binder
Controlling von Start-Ups bei Venture Capital-Finanzierung 113

& Högsdal, 2016, S. 48 f.). Obwohl die klassischen Erfolgsgrößen für sich genommen
wenig über den tatsächlichen Erfolg des Start-Ups aussagen, geben sie im Kontext
wichtige Informationen zum aktuellen Stand des Unternehmens. Für die Ebene der
Erfolgsgrößen bieten sich klassische KPIs wie EBIT bzw. EBITDA, Umsatzrentabili-
tät etc. an (Nietzer, 2003, S. 449). Im Bereich F&E können Angaben zum aktuellen
Forschungsstand gemacht werden. Auch eine Darstellung immaterieller Vermögens-
gegenstände des Innovation Capitals (Software, Patente, ungeschützte Rezepturen)
liegt nahe (Eierle et al., 2018, S. 387). Im letzten Bereich des Cockpits ist es sinnvoll,
die finanzierungsrelevanten, vertraglich vereinbarten Meilensteine mit dem wahrschein-
lichen Erfüllungszeitpunkt aufzulisten (Heinemann & Schäffer, 2017, S. 18). Additiv
sollte zu jedem der aufgeführten Bereiche ein Soll-Ist-Abgleich dargestellt werden, dem
über eine Kommentarfunktion manuelle Bemerkungen hinzugefügt werden können.
An dieser Stelle sei erwähnt, dass es sich bei den genannten Bereichen des Cockpits
um einen Vorschlag handelt, welcher gemäß den zuvor erarbeiteten Kontextfaktoren
den Gesamtentwicklungsstand eines Start-Up-Unternehmens bestmöglich abbildet. In
der Praxis wird es jedoch erforderlich werden, die einzelnen Bereiche unternehmens-
individuell anzupassen.
Um die Entstehung der ausgewiesenen Werte nachvollziehen zu können, benötigen
die VCG tiefergehende Informationen aus dem Start-Up. Es ist sinnvoll, die zu den
Bereichen des Cockpits passenden Teilreports dem Gesamtreport hinzuzufügen. Die
Teilreports sollten entsprechende Angaben zu Kunden und Markt, eine rollierende
Liquiditätsrechnung, eine GuV, eine Bilanz, ein F&E-Factsheet und die Meilensteinana-
lyse enthalten. Dieses Standardreporting sollte monatlich aufbereitet werden. Dies ist
konform mit der in der Praxis durch die VCG geforderte Häufigkeit der Informations-
übertragung (Grummer & Brorhilker, 2014).
Durch die Einbindung der VCG bei der Implementierung des Controllingsystems
sowie des Standardreports können die Anforderungen der VCG bestmöglich berück-
sichtigt werden. Ebenfalls ist eine Abstimmung der IT-Systeme erforderlich, damit eine
automatisierte Datenaufbereitung und -übermittlung gewährleistet wird.

8 Zusammenfassung

In diesem Beitrag wurde herausgearbeitet, dass VCG einen bemerkenswerten Ein-


fluss auf das Controllingsystem in Start-Ups haben. VCG lassen sich im Gegenzug
für das hohe Verlustrisiko, welches sie mit ihrer Investition eingehen, weitreichende
Informations-, Kontroll- und Mitspracherechte rechtlich zusichern, um eine erfolg-
reiche Unternehmenssteuerung zu gewährleisten. Das Hauptziel der VCG ist die Unter-
nehmenswertsteigerung des Start-Ups. Diese Zielsetzung macht es erforderlich das
Start-Up entsprechend erfolgsorientiert zu steuern und die dafür notwendigen Planungs-,
Kontroll- und Informationswerkzeuge zu implementieren. Als konkrete Anforderungen
114 J. Littkemann et al.

der VCG an das Controlling eines Start-Ups konnten die Abbildung unternehmens-
wertorientierter Erfolgsgrößen, die Darstellung des Unternehmensfortschritts, ein
regelmäßiges Standardreporting und die Integrationsmöglichkeit des Controllingsystems
in das System der VCG ermittelt werden.
Unter Berücksichtigung der Einflussnahme von VCG und den controllingspezifischen
Anforderungen eines Start-Ups wurde eine mögliche Gestaltung eines Controlling-
systems vorgestellt. Dabei konnten folgende Besonderheiten in Bezug auf den Ein-
fluss von VCG herausgearbeitet werden: Start-Ups, die sich durch externe Kapitalgeber
finanzieren möchten, müssen sich im Gegensatz zu anderen jungen Unternehmen, bereits
frühzeitig, in Form eines Businessplans, mit der betriebswirtschaftlichen Disziplin des
Controllings auseinandersetzen. Weiterhin muss die von den VCG geforderte Unter-
nehmenswertsteigerung abgebildet, nachvollzogen und gesteuert werden können. Dies
bedarf einer Implementierung geeigneter Controllinginstrumente zur zielorientierten
Unternehmenssteuerung. Aufgrund der Anforderung an ein aussagekräftiges Reporting
an die VCG müssen steuerungsrelevante, auf das Start-Up zugeschnittene KPIs definiert
werden. Abgebildet werden können diese Instrumente bspw. durch ein Controlling-
Cockpit. Die Integrierbarkeit der Systeme erfordert die frühzeitige Installation IT-
gestützter Systeme. Subsummierend konnte festgestellt werden, dass aufgrund der
Anforderungen der VCG an das Controlling eines Start-Ups und der fachbezogenen
Unterstützung durch die VCG ein effektives und bedarfsgerechtes Controllingsystem in
Start-Ups aufgebaut werden kann, welches ohne den Einfluss der VCG u. a. aufgrund
von mangelndem Know-How der Gründer, Personalmangel oder Finanzmittelknappheit
zumeist nicht errichtet wird.

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Controlling von Start-Ups bei Venture Capital-Finanzierung 117

Jörn Littkemann Prof. Dr.  ist Inhaber des Lehrstuhls für Betriebs-
wirtschaftslehre, insbesondere Unternehmensrechnung und
Controlling, FernUniversität in Hagen.

Christian Geyer, M.Sc. ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl von Prof. Dr.


Littkemann, Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Unternehmensrechnung und
Controlling, FernUniversität in Hagen.

Sabrina Jung  ist SCM Professional bei der SMA Solar Technology AG, Kassel.
Innovationen im Bildungssektor
11 Thesen zum Lernen der Zukunft

Markus Dohm

Eine in den 90er-Jahren erstmals formulierte Vermutung ging davon aus, dass die Hälfte
des in der Schule erworbenen Wissens nach zwei Jahrzehnten, die Hälfte des nutzbaren
technologischen Wissens bereits nach zwei bis drei Jahren verfällt. IT-Wissen wird
angesichts der rasanten technologischen Entwicklung sogar nur eine Halbwertszeit von
weniger als zwei Jahren zugestanden. Grund dafür ist die Tatsache, dass wir in immer
kürzeren Abständen immer mehr neue Erkenntnisse gewinnen. Geschätzt verdoppelt sich
das Wissen der Welt heute alle fünf bis zwölf Jahre, Tendenz steigend. Noch schneller
summieren sich die technischen Kapazitäten zur Speicherung, Verarbeitung und Über-
tragung. Laut einer Studie aus dem Jahr 2003 stieg die gespeicherte Datenmenge
zwischen 1999 und 2002 jährlich um 30 %, auf 5 Exabyte, zu 92 % auf magnetischen
Datenträgern.1 Doch wird dadurch bereits erworbenes Wissen tatsächlich infrage
gestellt? Oder gar obsolet?
„Nein“, findet Soziologe Prof. Dr. Robert Helmrich, der dieser Frage anhand
theoretischer Annahmen und empirischer Befunde auf den Grund gegangen ist. Sein

1 Anon(2016). I. Das Informationsproblem. In Bibliothekarisches Grundwissen (S. 355–361). Berlin,


Boston: De Gruyter Saur. https://doi.org/10.1515/9783110321500-021; https://de.wikipedia.org/wiki/
Informationsexplosion;

M. Dohm (*) 
TÜV Rheinland Academy & Life Care, Köln, Deutschland
E-Mail: markus.dohm@de.tuv.com

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 121
Teil von Springer Nature 2022
S. Krauss und P. Plugmann (Hrsg.), Innovationen in der Wirtschaft,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-37411-2_7
122 M. Dohm

Fazit: „Tatsächlich besitzt die These der Halbwertszeit keinerlei empirische Grundlage.“2
Seiner Ansicht nach verliert Wissen keinesfalls an Bedeutung, sondern wird weiter-
entwickelt und verändert. Und selbst Wissen, das kein Mensch mehr abfragt, bleibt letzt-
lich Wissen – „und niemand kann sagen, ob es nicht eines Tages doch wieder benötigt
wird“, sagt der Soziologe der Universität Bonn.
Trotzdem steht natürlich außer Frage, dass sich unser Wissen einerseits rasant ver-
mehrt und andererseits gewonnene Erkenntnisse schneller veralten – vorwiegend im
Bereich Technologie und Informationstechnik. Beim Lernen und der beruflichen Weiter-
bildung geht es heute auch nicht mehr darum, möglichst viel Wissen anzuhäufen.
Konnten Universalgelehrte im 16. und 17. Jahrhundert noch die gesamte Welt erklären,
geht der Trend beim lebenslangen Lernen in Richtung Spezialisierung und zum Erwerb
von problem- oder lösungsspezifischen Kompetenzen.
Doch das sind nur zwei von mehreren Aspekten, die die betriebliche Weiterbildung
beeinflussen werden. Im Nachfolgenden elf Thesen zum Lernen der Zukunft.

These 1: Lernen wird sich weiter individualisieren

Der Zeithorizont von Senecas Sinnspruch „Non scholae, sed vitae“ hat sich in der
Wissensgesellschaft dramatisch verkürzt. Bildung ist nie „zu Ende“, Lernen ist ein
lebenslanges, permanentes Ziel und zum Megatrend geworden, der viele Bereiche
unseres Lebens beeinflusst. Die Frequenz, in der sich Wissen und Qualifikation erneuern
müssen, wird immer kürzer. Wir lernen nicht mehr fürs Leben, sondern für den Augen-
blick, in der Regel für die individuelle augenblickliche berufliche Situation. Das
bedeutet, auch das Lernen wird sich weiter individualisieren. Der Einzelne kann heute
entscheiden, wann er lernt (24/7, während der Arbeit oder in der Freizeit), wie er lernt
(digital oder analog, in der Theorie oder praktisch), wo er lernt (am Arbeitsplatz oder im
Home-Office) und was er lernt. Möglich wird dies primär durch die Digitalisierung.
Und: Wer heute als berufserfahrene Kraft eine neue Beschäftigung antritt, will keine
langwierigen Lehrgänge mehr durchlaufen, mit Inhalten, die unter Umständen gar nicht
mehr à jour sind. Eine Fachkraft will immer häufiger genau das Delta dessen lernen, was
sie im neuen Job ggf. noch zusätzlich benötigt. Die Voraussetzung ist, dass ihr klar ist,
welches Know-how und welche Kompetenzen gerade gefragt sind und wo sie noch nach-
bessern darf. Beides sollte Gegenstand eines professionellen Kompetenzmanagements in
Unternehmen sein und gehört zum Portfolio jeder externen Kompetenzbegleitung.

2 
Helmrich, R. & Leppelmeier, I. (2021). Sinkt die Halbwertzeit von Wissen? Theoretische
Annahmen und Befunde. BIBB-Publikationen. Abgerufen am 18. Oktober 2021, von https://www.
bibb.de/dienst/veroeffentlichungen/de/publication/show/16571
11 Thesen zum Lernen der Zukunft 123

Diese Entwicklung wird Auswirkungen haben, sowohl auf die Angebote von Lern-
anbietern als auch auf das Angebot betrieblicher Weiterbildung in Unternehmen.
Wissen wird in kleine Happen unterteilt werden müssen, damit die Einzelne noch ziel-
gerichteter wählen kann, was sie lernen will und muss. Diese „Lern-Nuggets“ werden
aufgrund der Individualisierung der Inhalte noch häufiger sowohl in Präsenz als auch
digital angeboten werden, die Zahl von Kombinationsmöglichkeiten für den Einzelnen
wird – analog zur Losgröße 1 in der Smart Factory – noch steigen. Wirtschaftlichkeit
und Effizienz von Lernanbietern und HR-Kapazitäten von Unternehmen wird das auf die
Probe stellen.

 hese 2: Gekommen um zu bleiben – Digital Learning wird


T
elementarer Bestandteil der betrieblichen Weiterbildung

Ob Universität oder betriebliche Weiterbildung in Unternehmen: Lange war Präsenz


die beliebteste Form des Lernens in Deutschland. Teilnehmende zeigten bis 2020 kaum
Interesse an Virtual Classrooms oder E-Learnings. Spätestens seit der Pandemie ist
Digital Learning neuester Stand der Technik. Digitale Lern-Formate haben es deutlich
leichter als in der Vergangenheit. Zumindest in Deutschland hat uns die Pandemie in der
Marktakzeptanz digitalen Lernens mindestens fünf Jahre nach vorn katapultiert.
Wir dürfen allerdings davon ausgehen, dass das Pendel auch wieder zugunsten der
Präsenz-Trainings zurückschwingen wird. Die Menschen werden einiges nachzu-
holen haben: Teilnehmende brauchen den Austausch untereinander und Trainer oder
Trainerinnen erhalten über die Resonanz der Teilnehmenden eine Erfolgskontrolle, ob
das Vermittelte auch wirklich bei den Rezipierenden ankommt. Fazit: Hybride Lern-
formate wie das Blended Learning werden sich weiterverbreiten, weil es unser natür-
liches Lernverhalten sehr gut unterstützt. Die Inhalte werden dabei in einer Kombination
aus Präsenz- und Onlinephasen vermittelt. Das ermöglicht einerseits eine flexiblere und
ortsunabhängigere Teilnahme am Unterricht im Virtual Classroom, befriedigt anderer-
seits aber auch den Bedarf nach sozialem Austausch. Und optimal gestaltet, ebnet
Blended Learning auch den Weg zu niedrigeren Kosten im Unternehmen und höheren
Lernerfolgen bei den Mitarbeitenden. Ein weiterer großer Vorteil des Blended Learning
besteht darin, dass sich Weiterbildungsangebote gezielt an den individuellen Bedürf-
nissen der einzelnen Mitarbeitenden ausrichten lassen. Statt überflüssige Informationen
per Gießkannenprinzip zu konsumieren, lernt jede und jeder nur das, was für den
konkreten Job auch wirklich benötigt wird.
Wichtig: Integrierte Lernkonzepte wie Blended Learning vermitteln Wissen durch
eine logische Verknüpfung unterschiedlicher Lernformen. Damit das gelingt, müssen
spielerische Simulationen, virtuelle Exkursionen und soziale Zusammenarbeit naht-
los ineinandergreifen. Anders gesagt: Blended Learning ist ein Prozess. Es reicht nicht,
124 M. Dohm

die Angebote verfügbar zu machen. Sie müssen auch kontinuierlich betreut und weiter-
entwickelt werden. Präsenzveranstaltungen sind bestens geeignet, um online erworbene
Kenntnisse durch Rollenspiele oder Diskussionen zu vertiefen. Innovative Technologien
wie Augmented und Virtual Reality ermöglichen zudem „Learning by Doing“ in risiko-
freien Umgebungen. Und: Der Prozess des Blended Learning ist ein kontinuierlicher.
Dementsprechend wichtig ist es, nach Abschluss entsprechender Programme den Lern-
erfolg der Mitarbeitenden zu überprüfen – am besten wieder in Form einer unabhängigen
Kompetenzmessung (siehe These 7).

 hese 3: Nicht das Wissen selbst, sondern die Anwendung von


T
Wissen wird künftig im Mittelpunkt der Vermittlung stehen

Die Wissensgesellschaft beinhaltet einen Wechsel der Paradigmen. Exaktes Wissen3


ist heute ubiquitär und oft auch kostenlos im Netz verfügbar. Aber reines Fach- und
Methodenwissen reichen nicht mehr aus, um die Herausforderungen in der Zukunft
zu bewältigen. Wichtiger ist, was Menschen aus ihren Fähigkeiten machen, wie sie
Problemstellungen in der Praxis angehen. Empirisches Wissen4 – Wie setze ich die
Dinge um, wie wende ich das Wissen an? Wie kann ich es in meinem Beruf integrieren?
Wie kann ich es implementieren? – wird immer wertvoller und zum Wettbewerbsvorteil
für den Einzelnen wie auch für die Organisation. Vor allem in komplexen Situationen,
in denen die bekannten Regeln, die herkömmlichen Kenntnisse und Fertigkeiten nicht
mehr zur Problembewältigung ausreichen, müssen Mitarbeitende selbstorganisiert die
unbekannte Herausforderung lösen können.
Und genau dafür brauchen sie die entsprechende Kompetenz und das gleich in
mehreren Handlungsfeldern. Deshalb wird projektbezogenes Lernen und Lernen anhand
von Fallbeispielen und konkreten Unternehmenssituationen in der betrieblichen Weiter-
bildung weiter an Bedeutung gewinnen.
Qualitäts- oder Arbeitsschutz-Managerinnen etwa wollen mit den Dozenten nicht die
ISO-Normen in der Theorie besprechen, die sie vorher bereits im Netz studiert haben,
sondern anhand einer bestimmten Simulation in Bezug auf Unternehmen, Branche und
Unternehmensgröße begreifen, wie ein solches Managementsystem konkret zu ent-
wickeln und implementieren ist, welche Hürden dabei zu bewältigen sind und wie eine
Implementierung trotzdem gelingen kann. Das Erfassen der Norm geschieht so nahezu

3 Vgl. Schlageter, W. (2013). Wissen im Sinne der Wissenschaften: Exaktes Wissen, Empirisches
Wissen, Grenzen des Wissens.: Bd. 1. Edition [E-Book]. Frankfurter Literaturverlag. Abschn. 5.1
4 Vgl. Schlageter, W. (2013). Wissen im Sinne der Wissenschaften: Exaktes Wissen, Empirisches

Wissen, Grenzen des Wissens.: Bd. 1. Edition [E-Book]. Frankfurter Literaturverlag. Abschn. 5.2
11 Thesen zum Lernen der Zukunft 125

„spielerisch“ und fast nebenbei. Um diesen Lernpfad zu beschreiten, bedarf es modularer


und hybrider Lern-Pakete. Denn ein Großteil des Lernens findet heute nach wie vor am
Arbeitsplatz oder durch soziale Interaktion statt. Berufsbegleitende Trainings sind ein
wichtiger Schlüssel zur Maximierung der Lernergebnisse aus den anderen beiden Lern-
quellen.

 hese 4: Die Learning Journey muss neu definiert und


T
zielgruppenorientierter werden

Künftig wird es noch wichtiger werden, sich differenzierter und agiler mit den Belangen
inhomogener Zielgruppen auseinanderzusetzen, um überzeugende Lernerlebnisse zu
schaffen und die Teams zu befähigen, im dynamischen digitalen Wandel nicht nur mitzu-
halten, sondern ihn aktiv zu gestalten.5
In den Reihen der Best Ager gibt es nach wie vor Menschen, die lieber mit Papier
und in Präsenz lernen und neben der visuellen und akustischen eine haptische Erfahrung
benötigen. Andere, durchaus technisch orientiertere Zielgruppen, gilt es künftig noch
dosierter abzuholen und ihnen die Scheu vor digitalen Formaten auf spielerische Weise
zu nehmen.
Auch hier bietet Blended Learning ideale Lösungsmöglichkeiten. Der Einstieg in eine
Trainingsmaßnahme kann etwa homöopathisch über eine Smartphone-App erfolgen. Der
Umgang mit dem Smartphone ist gelernt, noch dazu ist es ein digitales Medium, das
stets zur Hand ist. Im Anschluss daran könnten Videotrainings weitere fachliche Grund-
lagen legen, bevor es etwa im Virtual Classroom gemeinsam mit den Trainerinnen an die
Praxis geht (siehe beispielsweise die Anwendungsfälle der TÜV Rheinland Akademie).
Unternehmen, die verstärkt auf digitale betriebliche Weiterbildung setzen und ein
Interesse an der Weiterentwicklung ihrer Mitarbeitenden haben, müssen sich künftig
noch stärker fragen: Haben unsere Mitarbeitenden die erforderlichen Fähigkeiten oder
müssen wir in der Learning Journey anders und früher ansetzen, um die gewünschten
Ergebnisse zu erreichen?
Früher hatten sich die Teilnehmenden örtlich und zeitlich dem Seminarangebot anzu-
passen, heute steht den Menschen eine Learning Journey offen, bei der der Weg das
Ziel ist und die kein echtes Ende kennt. Teilnehmende können künftig noch dosierter
an ein Thema herangeführt werden und zwar unabhängig von Zeit und Ort. Wie diese
Reise verläuft, welche Medien zum Einsatz kommen, ist in der VUCA-Gesellschaft
(VUCA =  Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity) vor allem der Kreativität

5 Friedrichs,
C. (2021). Deutschland hinkt bei digitaler Weiterbildung hinterher. Human Resources
Manager. Abgerufen am 18. Oktober 2021, von https://www.humanresourcesmanager.de/news/
haufe-studie-wert-der-weiterbildung-deutschland-hinkt-bei-digitaler-weiterbildung-hinterher.html
126 M. Dohm

und dem pädagogischen Know-how des Lernanbieters überlassen. Die Digitalisierung


ermöglicht es, nicht nur unterschiedlichste Lernformate miteinander zu verknüpfen,
sondern auch von einem Thema zum nächsten zu leiten und die Lernreise deutlich länger
aufrechtzuerhalten als dies bei Präsenz-Seminaren jemals der Fall war.

 hese 5: Weiterbildung ist der Schlüssel zum Erhalt der


T
Beschäftigungsfähigkeit von Einfacharbeitenden

Handwerk, Handel, Dienstleistung und Industrie klagen über fehlende Auszubildende.


Alleine 60.000 Lehrstellen blieben 2020 unbesetzt. Durch die demografische Ent-
wicklung verschärft sich der Fachkräftemangel, wenn die Babyboomer in Rente gehen.
Vor allem kleine und mittlere Unternehmen (KMU) werden deshalb immer öfter keine
Bewerbungen auf ihre Stellenausschreibungen erhalten. Eine mögliche Auffangstrategie
ist die Weiterbildung von Einfacharbeitenden. Gerade im Bereich Basic Work6 gibt es
großes Potenzial, die Kompetenzen dieser Arbeitskräfte durch qualifiziertere Weiter-
bildung für betriebliche Wertschöpfung zu erschließen. Die in Deutschland über sechs
Millionen Einfacharbeitenden könnten durch qualifizierende Weiterbildung künftig
Fachkräfte noch stärker entlasten oder selbst zu Fachkräften aufqualifiziert werden.
Für dieses Ziel müssen Unternehmen eine aktive Lernkultur entwickeln und pflegen.
Jeder Betrieb ist idealerweise vom Verständnis geprägt, dass er nur zukunftssicher ist,
wenn sich seine Mitarbeitenden weiterentwickeln. Damit sie technologische Ver-
änderungen erfolgreich bewältigen und Kompetenzdefizite im Team durch Weiterbildung
individuell kompensieren können, ermitteln vorausschauende Arbeitgeber mit dem
Kompetenzmodell präzise, welche aktuelle Tätigkeit ihre Mitarbeitenden ausüben und
was diese genau beinhalten. Erst auf dieser Basis können sie sicher entscheiden, welche
Weiterbildungsangebote im Interesse der Mitarbeitenden und des Unternehmens sinnvoll
sein könnten. Je spezifischer also die Anforderung im Betrieb, desto fokussierter sollten
die Weiterbildungsangebote sein.
Zu den Herausforderungen wird es gehören, Einfacharbeitende zur Weiterbildung zu
motivieren. Als Erwachsene verstehen sie Arbeit als Mittel zum Gelderwerb und nicht
als lebenslanges Lernen, das dem Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit dient. Eine Aus-
einandersetzung mit den eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten für die individuelle und
berufliche Entwicklung findet nur selten statt. Eine zentrale Aufgabe nach der Ermittlung
von Qualifizierungsbedarfen ist daher die Qualifizierungsberatung.

6 Vgl. Mährle, J. (2021). Basic Work. DGB Köln. Abgerufen am 18. Oktober 2021, von https://

koeln-bonn.dgb.de/im-fokus/++co++1b2c3fac-9c13-11e9-b5c3-52540088cada
11 Thesen zum Lernen der Zukunft 127

 hese 6: Die Infrastruktur in Unternehmen ist der bislang


T
unterschätzte X-Faktor in der betrieblichen Weiterbildung

Digitales Lernen bedeutet, Teilnehmenden für die Aus- und Weiterbildung andere
Medien zur Verfügung zu stellen als in Präsenz-Trainings. Digitales Lernen sollte
auch bedeuten: Im Sinne der betrieblichen Teilhabe hat jede Mitarbeitende Zugang zu
digitaler Hardware. Nur ist das in der Realität noch zu selten flächendeckend der Fall.7
Das Ergebnis: Die Beteiligung an der betrieblichen Weiterbildung könnte künftig
deutlich höher sein – würden bestimmte einschränkende Faktoren in der Planung des
Wissens- und Lernmanagements deutlich vorausschauender berücksichtigt.
Noch treten längst nicht alle Mitarbeitenden im Unternehmen die digitale Learning
Journey an. Das hat unterschiedliche Gründe. Scheitern kann es zum Beispiel an der
mangelnden Verfügbarkeit geeigneter Endgeräte. Das Display eines Smartphones etwa
ist in der Regel schlicht zu klein, um darauf eine Gamification-Anwendung abzuspielen.
Die Stärke von Virtual Reality-Anwendungen, die Immersion, ist nicht an Laptop oder
Desktop erlebbar, sondern erfordert Datenbrillen, die in den wenigsten Unternehmen
überhaupt ausreichend verfügbar sind.
Und Menschen in Blue-Collar-Jobs haben weder im Betrieb noch zu Hause zwingend
einen Laptop, einen Desktop-Rechner oder ein Tablet zur Verfügung, die es ihnen
ermöglichen, für die nächste Karrierestufe zu lernen. Auch der Standort des Unter-
nehmens oder die Nutzung von Weiterbildungsangeboten im Home-Office kann durch
eine eingeschränkte Bandbreite deutlich limitiert sein.
Bevor Unternehmen also ein umfassendes Angebot digitaler Lernformate ausrollen,
sollten sich die Organisatoren mehrere für den Lernerfolg ganz zentrale Fragen stellen:
Verfügen wir über die technischen und organisatorischen Bedingungen zur wirtschaft-
lichen Bereitstellung und den Betrieb einer lernförderlichen und alltagstauglichen IT-
Infrastruktur? Verfügen unsere Mitarbeitenden über die Endgeräte, die sie für die digitale
Lernerfahrung benötigen? Sind unsere Lernangebote unserer Infrastruktur angepasst
oder haben wir hier Nachholbedarf? Sollten wir als Unternehmen z. B. Leih-Geräte wie
Tablets bereitstellen oder eher auf eine mobilfähige Unterweisungsplattform wechseln,
die jede:r Mitarbeitende auch mit seinem Smartphone nutzen kann? Bewegen wir uns
rechtlich und in Abstimmung mit dem Betriebsrat auf sicherem Boden? Verfügen die
Mitarbeitenden überhaupt über die Skills, um digitale Lernangebote in vollem Umfang
wie gewünscht wahrzunehmen?

7 Vgl.Hilker, C. (2021). Digitalisierung: Bain Studie zur digitalen Transformation, Digitalisierungs-


grad des Unternehmens. Hilker Consulting. Abgerufen am 18. Oktober 2021, von https://www.
hilker-consulting.de/digitalisierung/digitalisierung-bain-studie-zur-digitalen-transformation
128 M. Dohm

Für Lernanbieter, die solche Anwendungen entwickeln und damit langfristig erfolg-
reich sein wollen, gilt: Wer eine überzeugende Learning Experience anbieten und diese
flächendeckend durchsetzen will, wird sich mit der Einrichtung von Infrastrukturen und
Technologien auseinandersetzen oder entsprechende Partnerschaften aufbauen müssen.
Mit One Stopp-Solutions, die sowohl Content als auch Technologie berücksichtigen,
wird es am ehesten gelingen, digitale Weiterbildung wirklich nachhaltig zu gestalten und
alle Ebenen in der Organisation zu durchdringen.
Mit der Vermischung von Mensch und Technik, privat und geschäftlich, flexiblen
und starren Arbeitszeiten verschwimmen aber auch die Grenzen. Arbeitsschutz,
Informationssicherheit und Datenschutz werden Unternehmen zunehmend noch ganz-
heitlicher betrachten müssen – eine Erkenntnis, die sich seit der flächendeckenden Ver-
breitung von Home und Flex Office in der Pandemie ohnehin zunehmend durchsetzt.8
Auch hier gilt es, die Kompetenzen der Mitarbeitenden sowie insbesondere auch deren
Sensibilität für diese Themenfelder stetig weiter zu schulen und auszubauen. Ein-
hergehen muss dies selbstredend mit der Einführung entsprechender Informations-
managementsysteme und gesetzeskonformen Datenschutzmanagementsystemen.

 hese 7: Die Überprüfung erworbenen Wissens und der


T
fälschungssichere Nachweis gewinnen weiter an Bedeutung

Immer weniger Menschen sind heute noch in der Lage, die aktuellen Schlüssel-
kompetenzen innerhalb einer Branche oder gar branchenübergreifend zu überschauen.
Umso wichtiger ist es, dass Experten einen unabhängigen Nachweis über den Erwerb
ihrer Kenntnisse und Fertigkeiten liefern können.
Einen solchen Nachweis bieten Personenzertifizierungen.9 Ihre Bedeutung in der
Personalentwicklung wie in der Qualitätssicherung von Unternehmen und öffentlicher
Hand wird künftig noch steigen. Denn Personenzertifizierungen unterstützen die Ein-
führung unternehmensweit einheitlicher Standards, denn die Zertifikate sind global nach-
vollziehbar und vergleichbar. Geschäftspartnerinnen und Kund:innen gegenüber lässt
sich so verdeutlichen, dass die eigenen Mitarbeitenden in puncto Kompetenzen bestens
geschult sind. Die Abschlusszertifikate einer Personenzertifizierung, die je nach Anbieter

8 Vgl.Quell, S. (2021). infodas Umfrage zur Bewertung von IT Sicherheit & Digitalisierung nach
Covid-19. infodas GmbH. Abgerufen am 18. Oktober 2021, von https://www.infodas.de/aktuelles/
pressemitteilungen/covid-19-umfrage-it-sicherheit.
9 Wer braucht Personenzertifizierung als Weiterentwicklung? (2020). TÜV Rheinland PersCert.

Abgerufen am 18. Oktober 2021, von https://www.tuv.com/germany/de/lp/tuv-rheinland-academy/


main-navigation/personnel-certification/content-pages/wer-braucht-personenzertifizierung.html.
11 Thesen zum Lernen der Zukunft 129

inzwischen auch digital erfolgt, haben zudem eine begrenzte Laufzeit. Voraussetzung
für die Rezertifizierung nach Ablauf der Gültigkeit ist, dass die Zertifizierte die ent-
sprechenden Kenntnisse aktuell hält.
Der digital logische nächste Schritt, der sich in der nächsten Zeit noch stärker durch-
setzen wird, ist die fälschungssichere Hinterlegung von Zeugnissen und Personenzerti-
fikaten in der Blockchain10, so wie es beispielsweise Certif-ID11 oder andere Anbieter
heute schon ermöglichen.
Jede Bescheinigung verfügt dabei über einen einzigartigen Hashcode und damit über
eine Art einzigartigen Fingerabdruck. Das Personenzertifikat ist somit sicher und transparent
rückverfolgbar – und unmöglich zu manipulieren. Die Authentizität und Gültigkeit der
erlangten Qualifikation kann somit jederzeit verlässlich nachgewiesen werden. Nachträgliche
Beglaubigungen von Zertifikaten gehören mit dieser Technologie der Vergangenheit an.
Der Einsatz der Blockchain nutzt gleich mehreren Interessengruppen: Schulungs-
anbieter können ihren Zertifizierungsprozess optimieren und digitale Zertifikate aus-
stellen. Unternehmen und/oder Personalvermittlern wird die Suche nach spezifischen
Qualifikation erleichtert und das Ausfallrisiko reduziert. Die Trägerinnen der Zertifikate
können ihre Kompetenzen und Kenntnisse digital verwalten, aktualisieren und ihren
Lern- und Karriereweg effizienter nachhalten, gestalten oder via social media teilen.

 hese 8: Künstliche Intelligenz wird Weiterbildung ausbauen,


T
aber den Menschen nicht ersetzen

Künstliche Intelligenz (KI) in der betrieblichen Weiterbildung befindet sich in Deutsch-


land derzeit noch in den Kinderschuhen. Eine Wachstumsbremse ist vor allem das
mangelnde Know-how und der erhebliche Schulungsbedarf in vielen Unternehmen rund
um Artificial Intelligence (AI).
Unbestritten wertvoll ist der Einsatz von KI bei kostenintensiven, repetitiven bzw.
nicht originär schöpferischen Prozessen, etwa bei der AI-gestützten Auswertung von
Kursdaten oder im Bereich Kostenersparnis etwa bei der Internationalisierung des
Contents. Der als stets verfügbare „persönliche“ Ansprechpartner empfundene Chatbot
stößt in der Praxis semantisch doch noch früh seine Grenzen. Interessant ist der Einsatz
von KI aber im Bereich individueller Lernempfehlungen, beim Performance Support
oder in der Lernprozessanalyse.

10 Baumann, D. C. (2018). Personenzertifikate per Blockchain organisieren. Teletrust. Abgerufen

am 18. Oktober 2021, von https://www.teletrust.de/fileadmin/docs/veranstaltungen/Blockchain/


Blockchain-2018/04_TeleTrusT-Informationstag_Blockchain_Baumann-AustriaPro-WKO.pdf.
11 https://certif-id.com/
130 M. Dohm

Bis eine KI die vollwertige Rolle von Trainerinnen und Tutoren übernehmen kann,
dürfte es noch dauern. Noch ist es niemand gelungen, eine KI zu programmieren, die
die intellektuellen Fähigkeiten des Menschen auch nur annähernd simulieren kann.
Eine starke KI müsste in der Lage sein, logisch zu denken, Entscheidungen auch tat-
sächlich wie ein Mensch zu fällen, also abzuwägen beispielsweise zwischen zwei gleich
schlechten Alternativen. Sie müsste sich planvoll neue Wissensgebiete erschließen und
sich systematisch selbst anlernen. Vor allem aber müsste sie in natürlicher Sprache
selbstständig Ideen formulieren können und alle ihre Kompetenzen auch in ein Werte-
system einordnen und einem höheren oder ferneren Ziel unterordnen können. Kurzum:
Sie müsste nach ethischen, moralischen und sozialen Kategorien ihr Verhalten und ihre
Entscheidungen verantwortungsvoll selbst steuern. Das bedeutet: Ohne den Faktor
Mensch wird es bei aller Dynamik auch in Sachen KI in der betrieblichen Bildung auf
absehbare Zeit nicht gehen.
„Der Schlüssel zu guter Arbeit im KI-Zeitalter liegt in der Qualifizierung. Ziel ist
zum einen, die Beschäftigten in die Lage zu versetzen, neue und eventuell höherwertige
Aufgaben zu übernehmen. Zum anderen sollen die Menschen kompetent mit den KI-
Systemen umgehen können. Nicht alle Beschäftigten müssen sich zu KI-Expertinnen
und -Experten weiterentwickeln, aber ein Grundverständnis der Technologie, ihrer
Grenzen und Möglichkeiten ist auch außerhalb der IT-Abteilungen notwendig“, sagt
Wilhelm Bauer, Leiter des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation
IAO und Leiter der Arbeitsgruppe „Arbeit, Qualifikation und Mensch-Maschine-Inter-
aktion“.12

These 9: IIoT muss als Mensch-Maschine-System geplant werden

Ob Smart-Manufacturing-Konzepte, Smart-Maintenance-Beratung oder Smart-Testing-


Service – die Nachfrage nach IIoT (Industrial Internet of Things) Lösungen steigt.
Erfolgreiche IIoT-Projekte entstehen aber nicht allein dadurch, dass IT-Expertinnen
Maschinen, Produktionsplanungs- oder Manufacturing Executions Systeme (PPS/MES)
mit einer IIoT-Lösung vernetzen. Anders als in der industriellen Massenproduktion,

12 Bauer, W. (2021), Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO und Leiter
der Arbeitsgruppe „Arbeit, Qualifikation und Mensch-Maschine-Interaktion“. Fit für Künst-
liche Intelligenz (KI). Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung: Das Fachportal | QZ-online.
de. Abgerufen am 18. Oktober 2021, von https://www.qz-online.de/a/news/fit-fuer-kuenstliche-
intelligenz-ki-348262
11 Thesen zum Lernen der Zukunft 131

in der immer die gleichen Handgriffe für die Fertigung hoher Stückzahlen identischer
Produkte nötig sind, brauchen Mitarbeitende in einer IIoT-Fertigung die Bereitschaft zu
ständiger Veränderung und dem Erwerb neuer Fähigkeiten.
Managerinnen und Fachkräfte müssen ihre Aufgaben eigenverantwortlicher und in
ständiger Veränderung schneller und flexibler wahrnehmen. In Routinearbeiten werden
sie durch Algorithmen, Soft- und Hardware sowie immer häufiger durch Roboter
und Bots entlastet. Vor allem diese Kooperation und Interaktion mit maschinellen
Kollegen erfordern Kompetenzen, die Industriefacharbeitende in ihrer Ausbildung kaum
erwerben. Ausbildungskonzepte in Mittelstand und Konzernen müssen sich diesen neuen
Kompetenzanforderungen anpassen und Facharbeiter noch besser auf die Industrie 4.0
vorbereiten.
Weil es noch unüberschaubar ist, welche Kompetenzprofile für die Industrie 4.0
gefragt sind, ist es von zentraler Bedeutung, mit der Einführung von IIoT neue Aus- und
Weiterbildungsstrategien und -Module zu entwickeln, mit maßgeschneiderten kleinen
Lerneinheiten und hohem Praxisbezug, die „on the Job“ neue Fähigkeiten und Kennt-
nisse vermitteln. Damit sie wirksam werden, sind diese Bildungskurven in den Arbeits-
prozess zu integrieren und mit der Umstellung auf eine IIoT-Fertigung einzuplanen.
Noch schwieriger als der Aufbau Produktions-notwendiger Fähigkeiten ist die
Entwicklung persönlicher Kompetenzen. Kommunikationsfähigkeit, der proaktive
Umgang mit Wissen, Offenheit für permanente Veränderungen und eine neue Führungs-
kultur bedeuten eine Verhaltensentwicklung und sind abhängig von der Motivation der
Führungskräfte. Unternehmen haben die Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen
Führungskräfte ihr Know-how und sich persönlich weiterentwickeln. Mit dem Ver-
lagern von Verantwortung und einer stärkeren Spezialisierung einzelner Mitarbeitender
überholen sich alte Führungskonzepte. Klassische Führungsaufgaben wie Arbeits-
anweisungen und Kontrolle reduzieren sich. Projektarbeit mit gemischten Teams ersetzt
klassische Abteilungsstrukturen. Führungskräfte managen künftig auf Zeit zusammen-
gestellte Projektteams, die sich ihre Arbeiten selbstorganisiert aufteilen.
Manager und Managerinnen agieren in solchen Arbeitsstrukturen eher als
Moderatoren, Mentorinnen oder Coaches, die Ressourcen koordinieren und die
Gruppendynamik begleiten. Angesichts dieser neuen Anforderungen an Fach- und
Führungskräfte kommen Unternehmen künftig nicht umhin, für jede Ebene fachspezi-
fische Qualifizierungsangebote anzubieten, und zwar im richtigen Timing. Sie sind
gefordert, eine Kultur zu entwickeln, in der Lern- und Veränderungsbereitschaft ein
zentraler Teil der Unternehmensleitlinien sind. Parallel zu einer IIoT-Einführung muss
deshalb eine Qualifizierungsinitiative für einen rollenspezifischen Kompetenzaufbau
der Mitarbeitenden sorgen. Idealerweise wird der Veränderungs-Prozess einer IIoT-
Einführung durch ein Schulungssystem begleitet, das die Mitarbeitenden zeitgerecht mit
Virtual Classrooms und hybriden Lernformen auf die neue Welt vorbereitet. In sicher-
heitsrelevanten Bereichen sind neben Schulungen und Weiterbildungsmaßnahmen auch
Personenzertifizierungen sinnvoll, um die Befähigung der Mitarbeitenden zu prüfen und
132 M. Dohm

einen Nachweis zu führen. Das Ziel: Mit dem Start des Live-Betriebs verfügen alle Mit-
arbeitenden über ein ihrer Rolle angepasstes und dennoch einheitliches Verständnis der
Prozesse.

 hese 10: Lebenslanges Lernen wird zum entscheidenden


T
Erfolgsfaktor für Innovation im Unternehmen

Eine Lehre aus der Corona-Pandemie lautet: Innovative Organisationen bewältigen


Krisen besser. Aber was machen sie anders? Und wie können Unternehmen der Not-
wendigkeit zur Innovation entsprechen? Innovation leitet sich aus dem lateinischen
„innovare“ ab und heißt erneuern. Im heutigen Sprachgebrauch bedeutet es die geplante
und kontrollierte Steuerung von Veränderungsprozessen. Ziel ist es, auf plötzliche Ereig-
nisse und geänderte Marktbedingungen vorbereitet zu sein, statt daran zu scheitern. Die
Pandemie war und ist so ein plötzliches Ereignis mit geänderten Marktbedingungen. Sie
hat gezeigt: Nur Organisationen, die fähig sind, voneinander zu lernen, sich intern und
extern zu vernetzen, neue Lösungen schnell zu identifizieren und zu adaptieren, werden
weiterhin erfolgreich sein.
Innovationsmanagement ist harte Arbeit und stellt große Anforderungen an
Organisationen und ihre Beschäftigten. Menschen, die in Innovationsprojekten erfolg-
reich mitarbeiten wollen, brauchen neben ihrer fachlichen Expertise dafür vor allem
ein agiles Mindset. Sie müssen aufgeschlossen sein für Veränderungen. Sie müssen mit
internen und externen Partnern kooperieren. Sie brauchen eine Portion Neugier und die
Bereitschaft für agile und inkrementelle Entwicklungsschritte, sie sollten Teamplayer
sein. Dem lebenslangen Lernen kommt in diesem Kontext eine Schlüsselrolle zu, denn
nur wer bereit ist, seinen Horizont zu erweitern, verfügt im entscheidenden Moment über
das Wissen und die Ressourcen, um Veränderungen zu gestalten statt sie zu erleiden.
Allerdings: In Zukunft wird es eine Herausforderung sein, das digitale Lernen und
das private digitale Leben vom digitalen Arbeiten zu trennen. Schon heute sind Mit-
arbeitende und ihr privates Smartphone eine kaum zu trennende Einheit- sowohl zu
Hause als auch am Arbeitsplatz. Mit steigender Technologisierung wie Smart Watches
oder digitalen Brillen wird es auch immer schwieriger, Menschen und Devices
per Konzernbetriebsvereinbarung oder sonstiger Regelung zu trennen. Technische
Symbiosen, die Risiken für die individuelle Gesundheit bergen. Hier muss die Arbeits-
medizin über begleitende Psychologinnen in die Entwicklung geeigneter Konzepte ein-
greifen oder sie noch besser selbst gestalten und bei der Implementierung unterstützen,
um frühen Anzeichen für Überreizungen gezielt entgegenzuwirken. Digitale Weiter-
bildung wird in Zukunft noch viel stärker Hand in Hand gehen müssen mit Arbeits-
medizin, geeigneten Arbeitsumgebungen und frühzeitiger Prävention im Sinne von
Mental Health und hier auch geeignete Angebote unterbreiten dürfen.
11 Thesen zum Lernen der Zukunft 133

 hese 11: Fehlerkultur ist ein unerlässlicher Bestandteil des


T
lebenslangen betrieblichen Lernens

Zunehmende Komplexität globaler Märkte und beschleunigte Prozesse befeuern den Druck,
immer schneller zu agieren. Damit steigt die Fehlergefahr – erst recht in Digitalisierungs-
projekten. Aber: Fehler sind wertvoll, wenn Verursacher und ihre Organisationen aus ihnen
lernen. Dafür brauchen Unternehmen allerdings eine konstruktive Fehlerkultur. Denn erst
dadurch lassen sich Wiederholungen verhindern, finanzielle und Reputationsschäden
minimieren. Eine konstruktive Fehlerkultur wird zum kritischen Erfolgsfaktor für die
lernende Organisation. Eine gute Orientierung bieten dabei agile Entwicklungskonzepte:
Sie sind anfangs relativ fehlertolerant und organisieren nach jedem Entwicklungs-
abschnitt, sogenannten Sprints, schnelle Feedback-Schleifen. Statt in die Fehlervermeidung
zu investieren, sind in agilen Methoden Evaluation und schnelles Testmanagement in
inkrementellen Prozessen integriert. Das führt zu einem entspannten Umgang in Projekt-
teams mit Fehlern. Ein Schwarzer-Peter-Spiel, um einzelnen Teammitgliedern Versagen
nachzuweisen, wird überflüssig. Durch die Einbindung der Auftraggeber in das Test-
management erhöht sich die Transparenz. Und mit dieser Fehlerkultur entsteht ein offener
Umgang und eine schnelle Korrektur, was im Ergebnis das Entwicklungstempo erhöht.
Auch auf dieser Ebene sollten sich Unternehmen als lernende Organisation definieren,
die mit Fehlern offen umgeht, intern auf allen Hierarchieebenen konstruktive Kritik
fördert und eine transparente Kommunikation im Umgang für Fehlern anstrebt.
Strukturell sollte ein einfaches System gegenseitig-kollegialer Evaluation dafür
sorgen, dass Fehler rechtzeitig identifiziert und besprochen werden können. Wichtig ist,
dass alle Beteiligten den Mehrwert erkennen, den ein strukturelles Fehlermanagement
bietet. Denn mit der Erfahrung, dass sich positive Entwicklungen ergeben und alle davon
profitieren, steigt auch die Bereitschaft und Motivation zu Veränderungen.
Die vielleicht schwierigste Herausforderung ist, eine Fehlerkultur auch im Management
auf allen Führungsebenen zu etablieren. Denn mit reinen Selbstverpflichtungen und
Sonntagsreden auf Betriebsversammlungen ist es nicht getan. Als Vorbilder ist ihr Ver-
halten und ihr Umgang mit Fehlern entscheidend, wie sich eine Fehlerkultur tatsächlich
in einem Unternehmen in die Praxis umsetzen lässt. Um Manager:innen zu einer offenen
Fehlerkultur zu bewegen, haben sich Schulungs- und Coachingangebote sowie arbeits-,
betriebs- und organisationspsychologische (ABO-psychologische) Analysen bewährt.
Hierbei begleiten Arbeitspsychologen auf verschiedenen Ebenen Führungskräfte und ihre
Teams. Mit ihrer Expertise, individuellen oder Gruppenberatungen können sie den Prozess
positiv befördern, damit sich ein Fehlermanagement erfolgreich etabliert.
Übrigens: Zur einem transparenten Umgang mit Fehlern gehört auch eine trans-
parente Kommunikation der Unternehmensstrategie und der damit verbundenen Unter-
nehmensziele. Die Belegschaft muss erkennen können, wie sich das Umfeld verändert,
der Wandel voranschreitet und warum es notwendig ist, auch im Rahmen der Sicherung
der Arbeitsplätze einen kontinuierlichen Wandel zu vollziehen.
134 M. Dohm

 raxisbeispiele: Neue Learning Journey bei der TÜV Rheinland


P
Akademie

Ein Beispiel für eine neu definierte Learning Journey ist unter anderem das Training im
Bereich Umwelt- und Energiemanagement der TÜV Rheinland Akademie. Der oder die
Teilnehmende absolviert zunächst selbstbestimmt in einem fest definierten Zeitraum
seine erste Lern-Einheiten (Nuggets) auf der Lernplattform myCompetence.
Haben die Teilnehmenden die Einheiten rund um das Managementsystem durch-
gearbeitet, werden die automatisiert freigeschaltet für den Praxis-Teil. Dieser findet
wahlweise in einem der bundesweiten Seminar-Zentren oder in einem Virtual Classroom
statt. Der Praxis-Teil beinhaltet unter anderem eine weitere interaktive digitale
Komponente, und zwar die Vorstellung der Unterweisungsplattform von TÜV Rhein-
land (https://unterweisung.tuv.com), die die Teilnehmenden darin unterstützt, bestimmte
Themen im eigenen Unternehmen zu implementieren – und die auch verdeutlicht, wie
flexibel und zeitunabhängig Wissen im Betrieb heute vermittelt werden kann.
Außerdem werden die Teilnehmenden fachlich engmaschig per Smartphone begleitet.
Mit der „Fit-for-Test“-App, die ab dem ersten Tag freigeschaltet ist und den Teil-
nehmenden bis zur Prüfung mit Fragen und Antworten begleitet, kann er seine Lern-
fortschritte 24/7 selbst überprüfen und feststellen, wann der beste Zeitpunkt für die
abschließende Prüfung ist. Sie findet nicht vor Ende des Moduls statt. Die App simuliert
die Prüfung und reduziert so die Angst vor der Prüfung und vor dem Scheitern.
Ein weiteres Beispiel für einen fortgeschrittenen interaktiven Lernpfad ist die
Integration von Virtual Reality. Brandschutzkonzepte etwa vermittelt die TÜV Rhein-
land Akademie inzwischen nicht mehr allein in der Theorie und indem sie anschließend
die Teilnehmenden durchs Gebäude schleust und in Übungssituationen bringt. Der
praktische Teil findet inzwischen auch über die Datenbrille statt. Der Teilnehmende
erlebt per VR die Simulation eines Brandes im Gebäude. Das Erlernte verankert sich
deutlich besser im Gehirn, außerdem ist Interaktion möglich, ohne den laufenden Betrieb
zu stören: Wie ist der Rettungs- und Fluchtplan zu lesen? Wo ist der Feuerlöscher, wie
setze ich ihn am besten ein? Was muss ich bei der Evakuierung beachten?
Weiterhin experimentiert die TÜV Rheinland Akademie derzeit auch mit Socializing-
Tools wie www.gathertown.de und überprüft sie auf ihre Eignung für den betrieblichen
Einsatz, darunter mit 3D-Chatrooms, bei dem sich die Teilnehmenden im Rahmen von
Workshops oder Teamevents einen persönlichen Avatar geben und über diese Charaktere
in den sozialen Austausch gehen und sich in unterschiedlichen Projekträumen treffen
können. In Zeiten von Corona trafen sich die Mitarbeitenden als Avatare am Lager-
feuer. Über Spiele wurde der soziale Zusammenhalt gestärkt, der Austausch war deut-
lich persönlicher als über Videos. Diese Formate eignen sich bei Seminaren mit einer
längeren oder modularen Dauer als hervorragendes Bildungselement, ohne lange Reisen
in Kauf nehmen zu müssen.
11 Thesen zum Lernen der Zukunft 135

Über Markus Dohm und TÜV Rheinland Academy & Life Care

Markus Dohm ist Leiter des Geschäftsbereichs Academy & Life Care bei TÜV Rhein-
land. In Deutschland ist die TÜV Rheinland Akademie der führende technisch orientierte
Lerndienstleister und verknüpft analoge und digitale Lernlösungen (u. a. E-Learnings &
Gamification) mit maßgeschneiderten Plattformangeboten für das systematische betrieb-
liche Weiterbildungsmanagement. Mit umfassenden Angeboten zum Betrieblichen
Gesundheitsmanagement und der Qualifizierung von Menschen leistet TÜV Rhein-
land einen wichtigen Beitrag dazu, dass der Einzelne ebenso wie Organisationen die
digitale Transformation meistern und ihre Chancen nutzen können. Als Business Angel
und Gründer engagiert sich Markus Dohm zudem seit vielen Jahren für eine stärkere
Digitalisierung und Nutzung moderner Technologien, insbesondere im Gesundheits-
schutz und der Aus- und Weiterbildung.

Literatur

Bauer, W. (2021). Fit für Künstliche Intelligenz (KI). Qualitätsmanagement und Qualitäts-
sicherung: Das Fachportal | QZ-online.de. https://www.qz-online.de/a/news/fit-fuer-
kuenstliche-intelligenz-ki-348262. Zugegriffen: 18. Okt. 2021.
Baumann, D. C. (2018). Personenzertifikate per Blockchain organisieren. Teletrust. https://www.
teletrust.de/fileadmin/docs/veranstaltungen/Blockchain/Blockchain-2018/04_TeleTrusT-
Informationstag_Blockchain_Baumann-AustriaPro-WKO.pdf. Zugegriffen: 18. Okt. 2021.
Friedrichs, C. (2021). Deutschland hinkt bei digitaler Weiterbildung hinterher. Human Resources
Manager. https://www.humanresourcesmanager.de/news/haufe-studie-wert-der-weiterbildung-
deutschland-hinkt-bei-digitaler-weiterbildung-hinterher.html. Zugegriffen: 18. Okt. 2021.
Gruyter Saur, D. (2016). Bibliothekarisches Grundwissen. https://doi.org/10.1515/9783110321500-
021. Zugegriffen: 18. Okt. 2021.
Helmrich, R., & Leppelmeier, I. (2021). Sinkt die Halbwertzeit von Wissen? Theoretische
Annahmen und Befunde. BIBB-Publikationen. https://www.bibb.de/dienst/veroeffentlichungen/
de/publication/show/16571. Zugegriffen: 18. Okt. 2021.
Hilker, C. (2021). Digitalisierung: Bain Studie zur digitalen Transformation, Digitalisierungs-
grad des Unternehmens. Hilker Consulting. https://www.hilker-consulting.de/digitalisierung/
digitalisierung-bain-studie-zur-digitalen-transformation. Zugegriffen: 18. Okt. 2021.
Mährle, J. (2021). Basic Work. DGB Köln. https://koeln-bonn.dgb.de/im-fokus/++co++1b2c3fac-
9c13-11e9-b5c3-52540088cada. Zugegriffen: 18. Okt. 2021.
Quell, S. (2021). infodas Umfrage zur Bewertung von IT Sicherheit & Digitalisierung nach Covid-
19. infodas GmbH. https://www.infodas.de/aktuelles/pressemitteilungen/covid-19-umfrage-it-
sicherheit. Zugegriffen: 18. Okt. 2021.
Schlageter, W. (2013). Wissen im Sinne der Wissenschaften: Exaktes Wissen, Empirisches Wissen,
Grenzen des Wissens.: Bd. 1. Edition [E-Book]. Frankfurter Literaturverlag.
Wer braucht Personenzertifizierung als Weiterentwicklung? (2020). TÜV Rheinland PersCert.
https://www.tuv.com/germany/de/lp/tuv-rheinland-academy/main-navigation/personnel-
certification/content-pages/wer-braucht-personenzertifizierung.html. Zugegriffen: 18. Okt. 2021.
136 M. Dohm

Markus Dohm  ist Leiter des Geschäftsbereichs Academy & Life


Care bei TÜV Rheinland. In Deutschland ist die TÜV Rheinland
Akademie der führende technisch orientierte Lerndienstleister und
verknüpft analoge und digitale Lernlösungen (u. a. E-Learnings &
Gamification) mit maßgeschneiderten Plattformangeboten für das
systematische betriebliche Weiterbildungsmanagement. Mit
umfassenden Angeboten zum Betrieblichen Gesundheits-
management und der Qualifizierung von Menschen leistet TÜV
Rheinland einen wichtigen Beitrag dazu, dass der Einzelne ebenso
wie Organisationen die digitale Transformation meistern und ihre
Chancen nutzen können. Als Business Angel und Gründer engagiert
sich Markus Dohm zudem seit vielen Jahren für eine stärkere
Digitalisierung und Nutzung moderner Technologien, insbesondere
im Gesundheitsschutz und der Aus- und Weiterbildung.
Disruptive Innovationen in der Bildung

Claus Wilke und Stefan Medinger

1 Einleitung

Das Bildungswesen ist seit jeher geprägt von einer systemimmanenten Kontinuität,
die einerseits Verlässlichkeit für die am Bildungswesen beteiligten Akteure auf allen
Ebenen bedeutet, jedoch gleichzeitig innovationshemmend wirkt. Es fehlen Anreize
zur Schaffung von Ideen, deren Umsetzung sowie Etablierung. Letztlich sind es häufig
externe Effekte, die zu der Durchsetzung innovativer Konzepte sowie Technologien
führen. Dies wird aktuell umso mehr deutlich durch die Corona-Pandemie und die
dadurch notwendig gewordenen Maßnahmen der Online-Lehre in allen Schulformen.
Prinzipien der traditionellen Wissensvermittlung werden aufgebrochen. Während die
Online-Lehre bislang nur wenigen spezialisierten Anbieternim Bereich Hochschule und
Weiterbildung vorbehalten war, findet die Technologie nun auch in weiterführenden
Schulen sowie in der Primarstufe Einzug. Derartige Innovationen wurden schon vielfach
als disruptiv benannt1 und für den Bereich des Bildungswesens diskutiert und vereinzelt
eingesetzt. Die Breite indes konnte jedoch nie erreicht werden.

1 Siehe hierzu Christensen et al., (2006) sowie Jacoby (2014).

C. Wilke (*) 
Prorektor Forschung und Transfer, SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen,
Hamm, Deutschland
E-Mail: Claus.Wilke@srh.de
S. Medinger 
Kaufmännischer Leiter, SRH Schulen GmbH, Neckargemünd, Deutschland
E-Mail: Stefan.Medinger@srh.de

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 137
Teil von Springer Nature 2022
S. Krauss und P. Plugmann (Hrsg.), Innovationen in der Wirtschaft,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-37411-2_8
138 C. Wilke und S. Medinger

Die aktuelle Entwicklung, die die Möglichkeit des Aufbrechens bestehender


Strukturen und Konzepten aufgezeigt hat, ermutigt zur weiteren Betrachtung gerade dis-
ruptiver, also marktverändernder, Innovationen im Bildungssektor. Speziell für private
Bildungsanbieter sind disruptive Innovationsansätze von besonderem Interesse, da diese
gleichzeitig bestehende Geschäftsmodelle betreffen können.2 Der Spagat zwischen der
Bewahrung von Bestehendem und dem Antrieb bzw. Anspruch Marktreiber3 zu sein,
stellt dabei eine große Herausforderung für die Zukunft dar.
Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit einem definitorischen Bezugsrahmen
gerade im Hinblick auf Bildung und will mithilfe einer qualitativen Studie mögliche
künftige Entwicklungen identifizieren und diskutieren. Dabei sollte ein Fokus nicht
allein auf technologische Innovationen gelegt werden, was herkömmlich bei dem Begriff
der Innovation vermutet wird, und auch soziale Aspekte mit einbeziehen.

2 Der Bildungsmarkt

Der Bildungsmarkt in Deutschland beschäftigte 2017 rund 2,5 Mio. Menschen. Damit


waren 5,6 % der Erwerbstätigen im Bildungsmarkt beschäftigt – oder jeder 18. Erwerbs-
tätige in Deutschland. Die Bruttowertschöpfung betrug dabei 133,3 Mrd. € oder 4,6 %
der gesamten Bruttowertschöpfung in Deutschland. 81 % der Wertschöpfung oder
108,4 Mrd. € entfallen auf den Kernbereich des Bildungsmarktes und somit auf die
formale Bildung. Unter Kernbereich und formaler Bildung wird hier die Bruttowert-
schöpfung im Elementar-, Primar-, Sekundarbereich I und II sowie im Tertiärbereich
verstanden. Die restlichen 19 % entfallen auf den erweiterten Bereich der Bildungswirt-
schaft, unter dem non-formale Bildungsleistungen, bildungsunterstützende Waren und
Dienstleistungen sowie die Bereitstellung bildungsrelevanter Infrastruktur verstanden
wird (Legler et al., 2018).
Während der erweiterte Bereich des Bildungsmarktes von privaten Unternehmen
geprägt ist, wird der Kernbereich von staatlichen Akteuren dominiert. Der Staat prägt,
reguliert und reglementiert den Kernbereich der Bildung in Deutschland. Diese starke
staatliche Durchdringung des Bildungswesens ist Ergebnis der historischen Entwicklung
seit der Entstehung von Nationalstaaten im 18. Und 19. Jahrhundert. Trotz der bis zur
Reichsgründung 1870 starken staatlichen Zersplitterung Deutschlands kommt es im

2 „To manage disruption requires leaders to balance the tension between exploiting a core business
that generates reliable, short-term results, and exploring into new areas where results are uncertain,
even if the long-term payoff may prove to be attractive.“ (O'Reilly & Bins, 2019).
3 Der Begriff des Markttreibers zielt auf das Strategiekonzept ‚market driving‘ vs. ‚market driven‘

ab. Unternehmen werden als „market driving“ bezeichnet, wenn diese proaktiv Bedürfnisse aus
dem Markt aufnehmen und dadurch Märke formen können (Jaworski et al., 2000).
Disruptive Innovationen in der Bildung 139

Vergleich zu anderen europäischen Staaten früh zur Einführung der allgemeinen Schul-
pflicht. Mit dem Generalschulreglement wird unter Friedrich II in Preußen 1772 die
Grundlage für das Volksschulwesen gelegt und damit eine Vorstufe zur allgemeinen
Schulpflicht für alle Untertanen des Staates etabliert. Andere deutsche Staaten folgen und
führen ebenfalls eine Volksschule ein, so beispielsweise Österreich 1774. Bis ca. 1850
wird die Schulpflicht in allen deutschen Ländern durchgesetzt.
Die Reichseinheit 1871 führte zwar zur Gründung eines deutschen Nationalstaates,
die föderale Gliederung des Staates mit den jeweiligen Einzelstaaten blieb aber erhalten.
Den Bundesländern des deutschen Reiches blieb als Länderhoheit auch die Zuständigkeit
für das staatliche Schulwesen. Diese förderale Gliederung wird auch in der Weimarer
Republik und in der Bundesrepublik Deutschland beibehalten. Gemäß Artikel 7 Abs. 1
des Grundgesetzes steht das gesamte Schulwesen unter der Aufsicht des Staates. Dabei
haben die Bundesländer die primäre Zuständigkeit für die Gesetzgebung und Verwaltung
für das Schul- und Hochschulwesen. Diese Kulturhoheit wird dabei als Kernstück der
Eigenstaatlichkeit der Länder verstanden und schlägt sich bereits darin nieder, dass 86 %
aller Bildungsausgaben durch Länder und Kommunen getätigt werden. Durch die eigen-
verantwortliche Gestaltung des Schulwesens durch die einzelnen Bundesländer soll es
zu einem föderalen Wettbewerb um die innovativsten Ideen und Konzepte kommen. Tat-
sächlich haben die unterschiedliche Prioritätensetzung in den Bundesländern über die
Jahrzehnte eine sehr ausdifferenzierte Bildungslandschaft entstehen lassen, die aufgrund
ihrer Vielgestaltigkeit erhebliche Unterschiede in der Qualitäts- Gerechtigkeits- und
Leistungsstandards aufweist (Hepp, 2013).

3 Disruptive Innovationen

Der Begriff der ‚disruptiven Innovation‘ geht zurück auf Clayton Christensen und
seinem Buch „The Innovators Dilemma“ (1997)4. Um disruptive Innovationen handelt
es sich demnach, wenn durch diese Märkte verändert werden können, d. h. bestehende
Produkte ersetzt werden oder Technologien dadurch veralten. Eine disruptive Innovation
besitzt also einen ablösenden Charakter, sie definiert neue Entwicklungsprozesse bzw.
durchbricht diese (Christensten & Bower, 1996). Ein inkrementeller Ansatz, dem
bei Innovationen einen eher optimierenden Charakter haben, wird dabei außer Acht
gelassen. Diese wird auch Sustaining Innovation genannt und beinhaltet keine Ver-
änderung des Marktes.

4 Christensen (1997), siehe auch: Christensen et al., (2015); Christensen und McDonald (2018);

Christensen und Raynor (2003).


140 C. Wilke und S. Medinger

Mit disruptiven Innovationen werden in der Regel Technologien verknüpft. Die in


der Literatur genannten Beispiele sind zumeist auf Produktinnovationen bezogen, die
ein neues technologisches Zeitalter beschreiben (CDs, Digitalfotografie, LEDs, Online-
Informationsdienste, Mobiltelefon, Smartphone). Allerdings werden auch soziale
Faktoren in die Betrachtung von disruptiven Innovationen aufgenommen (Christensen
et al., 2006), was gerade vor dem Hintergrund des Bildungsmarktes von Bedeutung ist.

4 Identifikationen von Potenzialen disruptiver Innovation


und Herausforderungen im Bildungsmarkt

Methodik
Für die Identifikation innovativer Tendenzen sowie Herausforderungen im Bildungs-
markt wurden sowohl Primärdaten als auch Sekundärdaten erhoben. Der Fokus der
Datensammlung lag dabei auf der Durchführung qualitativer explorativer Experteninter-
views, da diese sowohl konkrete Nachfragen als auch eine zielgerichtete Ausrichtung auf
den Untersuchungsgegenstand ermöglichen.
Der Experte verfügt dabei über Wissen, welches für ein bestimmtes Gebiet bedeut-
sam ist. Er besitzt einen Überblick über einen Sonderwissensbestand und kann innerhalb
dessen Problemlösungen anbieten bzw. auf Einzelfragen anwenden.
Methodisch wird dabei auf eine offene Interviewform zurückgegriffen. Ein offenes
Interview wird als neutral verstanden und anhand von geschlossenen bzw. und
standardisierten Frageformen unterschieden. Im offenen Interview ist der Anteil an offenen
Fragen höher, wodurch die Befragten auch aktiver in das Geschehen eingebunden sind.
Mithilfe eines halbstandardisierten Interviewleitfadens wurden die Experten zunächst
durch die Frage nach dem eigenen Bezug zum Thema Bildung mit der Thematik der
Untersuchung vertraut gemacht. Dadurch ist es möglich, etwas über das Vorwissen des
Befragten herauszufinden sowie schon erste fundierte Informationen zu bekommen.
Die weiteren Fragen bezogen sich auf die Bereiche „Barrieren und Lösungen für den
Bildungssektor“ im Allgemeinen, „Online-Lehre“, „Konkretisierung von Lösungen“ und
der Beschreibung einer Zukunftsvision. An den Interviews nahmen sieben Experten mit
unterschiedlichem Bezug zur Bildung und Lehre sowie Bildungsmanagement teil. Die
Interviews wurden alle Online mittels MS Teams durchgeführt und haben zwischen
30 min und einer Stunde in Anspruch genommen. Die Analyse erfolgte zunächst über
eine Datenaggregation der jeweiligen Interviews. Die Antworten wurden geclustert und
zu Mustern gefügt, um für das jeweilige inhaltliche Thema Kernaussagen zu erreichen.

Analyse
Im Kern lassen sich vier Bereiche identifizieren, welche für die Befragten einen dis-
ruptiven Charakter in der Bildung aufweisen. Hierzu gehört das Verhältnis von Online
und Präsenzlehre. Während in der Vergangenheit der Fokus auf „oder“ lag, werden
Disruptive Innovationen in der Bildung 141

zunehmend gemeinsame Modelle in Betracht gezogen. Der beschleunigte digitale


Wandel führt zudem auch zu weiteren Konzepten der Kompetenzvermittlung. Ein viel
diskutierter Ansatz bieten dabei die Micro Degrees. Auch wurden auch die Lernorte
thematisiert. Sind Hörsäle und Lehranstalten noch zeitgemäß? Letztlich ist die Künst-
liche Intelligenz als Querschnittsaufgabe zu den vorher genannten ein wichtiges Stand-
bein künftiger Innovationsbemühungen.
Der persönliche Austausch erhält nach wie vor oder gerade seit den Erfahrungen aus
Corona einen immens hohen Stellenwert. Einerseits liegt die Erkenntnis vor, dass bei-
spielsweise Online-Lehre technisch möglich ist und auch durch immer fortschreitende
Technik und Innovation ein realitätsnahes Umfeld geschaffen werden kann. Allerding
ist der persönliche Austausch ohne Zwischenmedium ein entscheidender Erfolgs-
faktor für die Erreichung bildungsbezogener Ziele und spezifischen Kompetenzerwerb.5
Anforderungen spezifischer Studien- und Ausbildungsgänge wie zum Beispiel der
Medizin oder Physiotherapie lassen sich nur bedingt online erfüllen. Beispielsweise
gibt es im Kontext der Arbeit mit Menschen mit körperlichen Einschränkungen körper-
therapeutische Anwendungen, für die der Präsenzcharakter unabdingbar ist. Auch liegt
der Teilnahme an Online-Lehre ein gewisser Grad an Freiwilligkeit zugrunde. Schüler
und Studierende können sich einfach entziehen. Die Motivation zur aktiven Teilnahme
an Lehre hat demnach einen erhöhten Schwierigkeitsgrad gegenüber der Präsenz-
lehre, bei der derzeit die Anwendung motivierender Methodiken gängiger ist. Auch die
Zusammenarbeit von Studierenden kann nicht allein durch Online-Kollaborationstools
ersetzt werden.6
Generell werden die Online-Lehre und die damit einher gehenden Möglichkeiten der
Kompetenzvermittlung als positiv angesehen. Der Königsweg liegt in der Mitte, in der
geeigneten Anwendung von virtuellen Angeboten in Verbindung mit Präsenzelementen zum
individuellen Austausch. Die Findungsphase diesbezüglich hat bereits begonnen und wird
viele Konzepte hervorbringen. Ein Erfolg wird allerdings nur den Konzepten zugeschrieben,
welche auch didaktische Grundprinzipien zur Basis haben. Online-Elemente, in welcher
Form auch immer, dienen letztlich nur einem zuvor definierten Zweck.
Ein weiterer disruptiven Charakter wird der Beobachtung zugeschrieben, dass
erworbenen „Einzel-Kompetenzen“ ein immer höherer Stellenwert zugeschrieben wird,
gerade im Verhältnis zu Abschlussgraden, welche letztlich ein formaler Beleg für den

5 Experte/in: „Die soziale Nähe fehlt. Dies ist umso schwieriger, je weniger sich die Teilnehmer
kennen; insbesondere in kreativen Prozessen zeigen sich Schwächen von Online-Formaten; Online
Meetings sind i. d. R. auf Effizienz ausgerichtet, es fehlt der gesamte Bereich der sozialen Inter-
aktion (Flurgespräche etc.).
6 
Experte/in: „Studierende müssen sich ‚riechen‘ können, d. h. sie lernen mehr von- und mit-
einander als durch den Professor; Studierende müssen auch Konflikte austragen mit denen, die sie
nicht ‚riechen‘ können“.
142 C. Wilke und S. Medinger

Erwerb curricular verankerter Kompetenzen über einen langen Zeitraum darstellt.7 Treffen
die Abschlussgrade die Anforderungen der Nachfrage im Arbeitsmarkt? Oder sind diese
nur der Ausdruck tradierter Überzeugungen, dass die Vorbereitung auf das Berufsleben
nur abgeschlossen sein kann, wenn ein damit erworbener Titel einher geht. Die Möglich-
keit des Erwerbs von Micro-Degrees stellt bereits ein Schritt in diese Richtung dar. Laut
Position der Hochschulrektorenkonferenz vom 24.11.20208 liegen unterschiedliche
Begriffsverständnisse zu Micro-Degrees vor. Grundlegend für die Definition ist dabei die
Möglichkeit der Modularisierung und Wiederzusammenführung von Lehrinhalten. Als
Voraussetzung für die Durchführung bzw. Erteilung von Micro Degrees wird dabei ein
digitale Lehrangebot genannt, welche in der Regel die Integration von Online-Plattformen
notwendig machen.
Ein dritter diskutierter Punkt sind die möglichen Konsequenzen für Lernräume.
Während das gemeinsame zentrale Lernen in dafür vorgesehenen Gebäuden und Hör-
sälen und Seminarräumen üblich ist, würde eine künftige weitere Digitalisierung das zur
Verfügung stellen von dezentralen Lernräumen ermöglichen, in denen hybrides Lernen
mit den Möglichkeiten des persönlichen Austauschs verbunden werden kann. Gerade
für Bildungsbereiche, in denen auch eine intensive Betreuung der Schüler notwendig
ist, kann Bildung in gewohnten Sozialräumen stattfinden9. Ein Einfluss wird auch auf
das „Vorhalten“ von Lernräumen angemerkt. So wird von einer Universität berichtet, die
Investitionen in neue Hörsäle in einem erheblich geringeren Umfang plant wie ursprüng-
lich, d. h. der Vor-Corona-Zeit, angedacht.
Die Künstliche Intelligenz (KI; englisch Artificial Intelligence; AI) ist ein Gebiet
der Informatik, das sich „mit dem menschlichen Denk-, Entscheidungs- und Problem-
lösungsverhalten beschäftigt, um dieses durch computergestützte Verfahren ab- und
nachbilden zu können“ (Görz et al., 2013). KI wird allgemein als eine der disruptiven
Technologien betrachtet, die Gesellschaft, Wirtschaft und das Bildungswesen nachhaltig
verändern wird. Trotz dieses Befundes ist der derzeitige Einsatz in den Hochschulen

7 
Experte/in: Personalisiertes Lernen ist notwendig; die Messung der Wirkung von
Bildungsmaßnahmen wichtig zur Optimierung der Lernwege; in dem Zusammenhang sollte es
eine Abkehr von formalisierten Ausbildungswegen mit Fokus auf Abschlüssen geben. Allerdings
ist hier ein Umdenken der Industrie dafür notwendig. Was dafür so spricht: Arbeitgeber bzw.
Industrie benötigen schon heute Arbeitnehmer, die es auf dem Markt nicht gibt; d. h., man wird
weggehen vom Abschlussgedanken, hin zu Kompetenz/Skills-Gedanken. Es wird künftig ein
personalisiertes Berufsbild geben, das lösungsbezogen ist.
8 https://www.hrk.de/positionen/beschluss/detail/micro-degrees-und-badges-als-formate-digitaler-

zusatzqualifikation (Abruf am 06.09.2021); siehe auch die darin genannte Literatur.


9 Experte/in: „Es ließen sich Leistungen der Betreuung und Pflege dezentral erbringen und die

Lehre erfolgt dann zentral.“


Disruptive Innovationen in der Bildung 143

gering, obwohl KI ein Werkzeug sein könnte, die großen sozialen Herausforderungen
und politischen Anforderungen, die an Sie gestellt werden, gerecht zu werden. Bei-
spielhaft seien hier die weiter steigenden Zahlen von Studierenden, die heterogener
werdenden Studierenden und die Etablierung von Lebenslangem Lernen genannt. Einige
Anwendungsgebiete sollen nachfolgend aufgezeigt werden.
Unter Learning Analytics wird die Erhebung, Analyse, Aggregation und Auswertung
von Daten über Lernende und ihren Lernkontext verstanden. Durch KI gestützte und
visualisierte Aufarbeitung von Daten können Handlungsoptionen aufgezeigt werden,
die den Lehr- und Lernprozess unterstützen. Für den Lernenden besteht die Möglich-
keit, frühzeitig eine systemgestützte Rückmeldung zu seinem Wissensstand zu erhalten
und seine Lernstrategie anzupassen. Der Lehrende nutzt den Wissenstand seines Kurses
für die Anpassung der weiteren Vorlesungen und vermindert damit auch Abbruchs- und
Durchfallquoten.
Das derzeit standardisierte Studiengangportfolio kann durch KI Unterstützung durch
Studiengänge und Module ersetzt werden, die den individuellen Bedürfnissen und
Interessen des Studierenden stärker entsprechen und mehr auf seine Fähigkeiten und
Motivation eingehen. Der Aufbau der Kompetenzen und des notwendigen Wissens wird
durch wissensbasierte Systeme des maschinellen Lernens unterstützt und automatisch
kuratiert. Dabei sollte der/die Studierende die Steuerung der Nutzung der KI-gestützten
Dienstleistung selbst in der Hand haben und die Auswahlmöglichkeit behalten.
Die Rolle der Lehrenden verändert sich vom Gatekeeper des Wissens zu Begleitern
und Gestaltern des Lernprozesses des Lernenden, mit dem die Inhalte als auch die
Zugänge zu Methoden und Medien abgestimmt werden.

5 Fazit

Disruptive Innovationen sind selten anzutreffen im Bildungsmarkt. Neben einem


innovationshemmenden System mit Barrieren auf unterschiedlichen Ebenen gefährden
marktverändernde Innovationen Geschäftsmodelle von Bildungsanbietern. Innovative
Disruption, sei es in technischer oder sozialer Hinsicht, geht in der Regel von Unter-
nehmen aus, die zunächst Nischen besetzen. In dem vorliegenden Beitrag wird der
Bildungsmarkt im Hinblick auf disruptive Innovationen und deren Konsequenzen unter-
sucht. Ansätze zur Disruption werden auf Basis von qualitativen Interviews identifiziert
und beschrieben. Neben der bereits existierenden Durchdringung und extern bedingter
disruptiven Einzug der Nutzung von Online-Technologien, welche letztlich die Frage
nach dem geeigneten Austarieren von Präsenz- und Onlinelehre mit sich bringt, werden
auch weitere Konzepte vorgestellt, welche Potential zur Disruption besitzen. Die mög-
liche Abkehr von einem Abschlussgedanken hin zum reinen nachfragebedingten
Kompetenzerwerb würde gesellschaftlich und im gesamten Bildungsmarkt zu enormen
144 C. Wilke und S. Medinger

Änderungen führen. Ein Abschlussgrad, welcher eine Signaling-Funktion10 für den


Arbeitsmarkt entfalten soll, wird substituiert durch individuell und nachfrageorientiert
erworbene Kompetenzen.
Disruptive Entwicklungen in der Bildungslandschaft treffen in Deutschland auf
gewachsene Strukturen, Konventionen und eine Vielzahl von Akteuren, die im demo-
kratisch verfassten, föderalistischen Staat, Mitsprache- und Mitgestaltungsrecht
einfordern können. Dadurch besteht die Gefahr, dass Innovationen langsam und unvoll-
ständig umgesetzt und mitunter verzögert oder sogar verhindert werden. Anderer-
seits besteht die Möglichkeit, vielfältige Akteure, Meinungen und Perspektiven in die
demokratischen Entscheidungsprozesse einzubinden, Konsens in einem der zentralen
politischen Gestaltungsfelder herzustellen und mitunter schädliche und unerwünschte
Begleiterscheinungen von Innovationen zu erkennen und zu vermindern. Lernen und
Bildung geschieht auf vielen Ebenen und hat mehr Ziele als die reine Befähigung sich
auf dem Arbeitsmarkt zurechtzufinden – dies ist die Erkenntnis nach mehr als einem Jahr
Bildung unter Corona Bedingungen: Menschen brauchen andere Menschen und Ent-
faltungsraum. Es benötigt eine Ausgewogenheit zwischen Lernen mit und ohne Techno-
logie, physischem und sozialem Lernen.

Literatur

Christensen, C. M. (1997). The innovator’s Dilemma: When new technologies cause great firms to
fail. Harvard Business School Press.
Christensen, C. M., & Raynor, M. (2003). The innovator’s solution: Creatind and sustaining
successful growth. Harvard Business School Press.
Christensen, C. M., Baumann, H., Ruggles, R., & Sadtler, T. M. (2006). Disruptive innovation for
social change. Harvard Business Review, 84(12), 8.
Christensen, C. M., McDonald, R., Altman, E. J., & Palmer, J. E. (2018). Disruptive innovation:
An intellectual history and directions for future research. Journal of Management Studies,
55(7), 1–36.
Christensen, C. M., Raynor, M., & McDonald, R. (2015). What is disruptive innovation? Harvard
Business Reveiw, 93(12), 44–53.
Christensten, C. M., & Bower, J. L. (1996). Customer power, strategic investment, and the failure
of leading firms. Strategic Management Journal, 17(3), 197–218.
Görz, G., Schneeberger, J., & Schmid, U. (2013). Handbuch der Künstlichen Intelligenz. De
Gruyter Oldenbourg.
Hepp, G. (2013). Wie der Staat das Bildungswesen prägt. Bundeszentrale für politische Bildung.
https://www.bpb.de/gesellschaft/bildung/zukunft-bildung/145238/staat-als-akteur?p=all.

10 Der Begriff Signaling entstammt dem Forschungsbereich der Informationsökonomie. Bei Vor-
liegen von Informationsasysmmetrien versucht der Marktteilnehmer mit Informationsvorsprung
über bestimmte Signale Unsicherheiten auf der anderen Vertragsseite zu reduzieren.
Disruptive Innovationen in der Bildung 145

Jacoby, J. (2014). The disruptive potential of the massive open online course: A literature review.
Journal of Open, Flexible, and Distance Learning, 18(1), 73–81.
Jaworski, B., Kohli, A., & Sahay, A. (2000). Market-driven versus driving markets. Journal of the
Academy of Marketing Science, 28(1), 45–54.
Legler, B., Hofmann, S., Seibert, D., & Laukhuf, A. (2018). Analyse der deutschen Bildungs-
wirtschaft im Zeichen der Digitalisierung - Wirtschaftliche Bedeutung, Potentiale und
Handlungsbedarf. WifOR GmbH. https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Publikationen/
Studien/analyse-der-deutschen-bildungswirtschaft-im-zeichen-der-digitalisierung.pdf?__
blob=publicationFile&v=12. Zugegriffen: 8 16. Okt. 2021.
O’Reilly, C., & Bins, A. J. (2019). The three stages of disruptive innovation: Idea generation,
incubation, and scaling. Carlifornia Management Review, 6(13), 49–71.

Prof. Dr. Wilke  ist Prorektor für Forschung und Transfer an der
SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen. Im Rahmen seiner
Professur für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre lehrt er Grund-
lagenfächer sowie Vertiefungsfächer im Bereich der Markt-
forschung, Marketing und Praxismodule. Er unterrichtet in
deutsch- und englischsprachigen Bachelor- und Masterstudien-
gängen. Vor seiner Tätigkeit im Hochschulbereich verbrachte Prof.
Wilke mehrere Jahre in der Industrie, vornehmlich mit vertrieb-
lichen und IT-Schwerpunkten. Das Thema Innovation beschäftigt
Prof. Wilke in seiner Funktion als Prorektor sowie auch als Mitglied
des Gutachtergremiums des Gründerstipendiums NRW.

Herr Stefan Medinger hat Gesundheitsökonomie an der Uni-


versität Bayreuth studiert. Nach mehrjähriger kaufmännischer
Tätigkeit für einen großen Dienstleister der Altenpflege ist Herr
Medinger seit 2016 bei der SRH Schulen GmbH beschäftigt, zuletzt
in der Funktion als kaufmännischer Leiter und Prokurist.
Innovative Kundenbindungssysteme im
Bildungswesen

Arno Lammerts und Julia Ingwald

1 Einleitung

Bildungswesen, innovativ, Kundenbindung: Drei Begrifflichkeiten, die sich auf den


ersten Blick gefühlt ausschließen. Was hat das Bildungswesen mit Kunden und noch
dazu mit deren Bindung zu tun? Was daran ist innovativ? Wie passen die Begriffe inhalt-
lich überhaupt zueinander? Diesen Fragen gehen wir im Folgenden auf dem Grund.
Die Bindung von Kunden erscheint auch im Bildungswesen sinnvoll, aber oftmals
werden Studierende an Hochschulen oder Auszubildende in Bildungswerken nicht als
(zahlende) Kunden angesehen, sondern eher als Anspruchsgruppe. Dementsprechend
könnte allein die Anwendung von Methoden aus dem Kundenbindungsmanagement
schon als innovativ bewertet werden. Denn die Neuartigkeit einer Innovation ist häufig
eine subjektive Betrachtung und Frage der Perspektive. Eine Innovation kann für eine
Branche wie das Bildungswesen als neu gelten – die Anwendung einer in anderen
Branchen längst etablierten Methode wie das Kundenbindungsmanagement in einer
solchen Branche also durchaus auch als innovativ.
Im vorliegenden Beitrag fokussieren wir auf das private Bildungswesen (z. B.
private Schulen und Hochschulen, private Fachschulen oder Bildungswerke). Hier
ist der Gedanke an den (zahlenden) Kunden schon wesentlich weiter verbreitet als in
öffentlichen Bereichen, obgleich der Grundgedanke des Marketings auch für letzteren
Bereich seit langem Gültigkeit hätte (Kotler & Levy, 1969). Denn auch im öffentlichen
Bildungswesen können über positive word-of-mouth-Kommunikation und Weiter-
empfehlung neue Kunden generiert werden. Auch kann eine hohe Kundenzufriedenheit

A. Lammerts (*) · J. Ingwald 
SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen, Hamm, Deutschland
E-Mail: Arno.Lammerts@srh.de

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 147
Teil von Springer Nature 2022
S. Krauss und P. Plugmann (Hrsg.), Innovationen in der Wirtschaft,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-37411-2_9
148 A. Lammerts und J. Ingwald

die Realisierung von Cross-Selling Potenziale unterstützen. Wo also liegt die Innovation?
Im Bildungswesen ist es aufgrund der oben genannten Unterschiede wichtig, die
Methoden zur Kundenbindung anders einzusetzen als es in anderen Branchen üblich ist.
Die Maßnahmen sollten anders verknüpft und umgesetzt werde.
Im Folgenden gehen wir zunächst auf die vier klassischen Kundenbindungs-
ansätze ein und zeigen auf, dass die bestehenden Kundenbindungsmaßnahmen im
privaten Bildungswesen nur in Kombination zum Erfolg führen können. Anhand
von zwei Fallbeispielen beschreiben wir dann, wie mithilfe der Digitalisierung
Kundenbindungsmaßnahmen genutzt werden können. Das erste Fallbeispiel handelt
von einer App, die McDonalds einsetzt, um seine Kunden an das Unternehmen zu
binden. Das zweite Fallbeispiel ist ebenfalls einer App gewidmet und zeigt, wie
Kundenbindungsmaßnahmen nahtlos miteinander verknüpft und so Kundenbindungs-
systeme im Bildungswesen erfolgreich umgesetzt werden können. Ein Fazit schließt den
Beitrag ab.

2 Klassische Kundenbindung

Das Konzept der Kundenbindung ist so alt wie der Handel mit Waren selbst. Hersteller
von Leistungen arbeiten seit jeher an der Optimierung des Austauschprozesses. So
kommt Strong bereits 1925 zu der Erkenntnis, “that the objective of selling is not a
single sale but a customer” (Strong, 1925, S. 79). In Zeiten des Nachfrageüberhangs,
bspw. in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts, richteten sich diese Bemühungen
allerdings eher auf die Produktions- und Produktoptimierung (Musiol & Kühling,
2009). Die Marktlage entwickelte sich dann relativ zügig von einem Nachfrageüber-
hang hin zu einem Angebotsüberschuss. Mit zunehmender Sättigung der Märkte enstand
ein Wachstumsproblem. Neue Kunden zu werben, wurde zur neuen Herausforderung –
die Bedürfnisse der Kunden zum neuen Mittelpunkt des Agierens (Krafft, 2007). Das
Konzept der Kundenorientierung trat in den Vordergrund und der Wandel vom Massen-
zum Beziehungsmarketing fand statt (Pferdekämper & Lammerts, 2006). Mit ihm voll-
zog sich ein Paradigmenwechsel im Marketing vom 4P-orientierten Marketing-Mix hin
zu einem Beziehungsmarketing mit dem Ziel der Kundenbindung (Grönroos, 1994).
Im privaten Bildungssektor zeigt sich ein ähnliches Marktbild. Zwar steigt die Zahl
der Studienanfänger sowie Studierenden. bspw. bei privaten Hochschulen, seit 1995
kontinuierlich an. Gleichzeitig intensiviert sich aber der Wettbewerb, z. B. in Form neuer
privaten Hochschulen oder dem Studium im Ausland. Zudem konkurriert in Deutschland
das private Bildungswesen mit öffentlichen und damit oftmals kostenlosen Angeboten
(z. B. öffentliche Fachhochschule vs. private Fachhochschule). Der sich für private
Bildung Interessierende wird zum potenziellen Kunden. Den Kunden zu werben und zu
binden, wird ebenfalls zu einer neuen Herausforderung. Entsprechend sollte aufgrund
der angeführten Marktveränderungen im privaten Bildungswesen ebenfalls ein Para-
digmenwechsel vom 4P-orientierten Marketing-Mix hin zu einem Beziehungsmarketing
Innovative Kundenbindungssysteme im Bildungswesen 149

mit dem Ziel der Kundenbindung vollzogen werden. Die Vorteile der Kundenbindung
sind vielfach analysiert worden und würden auch im privaten Bildungssektor greifen.
Insbesondere die nachstehenden drei Vorteile seien hier genannt (Bliemel & Eggert,
1998):

• Die Bindung von bestehenden Kunden ist weniger aufwendig als die Gewinnung
neuer Kunden. Man spricht von fünfmal höheren Kosten der Neukundengewinnung
im Vergleich zu Maßnahmen der Kundenbindung. Entsprechend sind bestehende,
“wiederkaufende” Kunden profitabler. Im Bildungswesen leuchtet dies schnell ein.
Betrachtet man einen Bachelorabsolventen der eigenen Hochschule, so betrachtet
man gleichzeitig einen potenziellen Kunden für einen Masterstudiengang. Allerdings
ist der Zugang zu diesem wesentlich einfacher als zu einem externen potenziellen
Kunden. Des Weiteren lässt sich durch frühzeitige bindende Maßnahmen ein Funda-
ment für die Aufnahme eines weiteren Studiums bauen.
• Abhängig von der Form der Bindung gelten gebundene Kunden als weniger preis-
sensibel. Preisanpassungen lassen sich besser durchsetzen.
• Die Gefahr der Abwanderung zum Wettbewerb wird verringert.

Das Konzept der Kundenbindung sollte somit auch im privaten Bildungswesen ein-
gesetzt werden. Aber wie können private Hochschulen oder Bildungswerke Kunden-
bindung gestalten und leben?
Grundsätzlich lassen sich vier Kundenbindungsansätze unterscheiden (Hoffmann,
2008):

• formal-juristische Kundenbindungsansätze
• technisch-funktionale Kundenbindungsansätze
• ökonomische Kundenbindungsansätze
• psychologische Kundenbindungsansätze.

Die drei erstgenannten Ansätze fokussieren insbesondere auf den Aufbau von Wechsel-
barrieren (Homburg & Krohmer, 2017). Diese werden zwar einerseits kritisch gesehen,
andererseits sind sie weit verbreitet und durchaus erfolgreich. Zu nennen wären hier
bspw. günstige Tintenstrahldrucker, die jedoch nur mit relativ teurer Tinte des Herstellers
drucken. Oder Nassrasierer, deren Erstbeschaffung äußerst günstig ausfällt, deren im
Laufe der Nutzung neu zu beschaffenden Klingen jedoch hochpreisig sind. Gleiches
findet sich bei Pad-betriebenen Kaffeemaschinen sowie elektrischen Zahnbürsten und
den notwendigen Aufsatzbürsten als auch bei Staubsaugern und deren Beuteln (Irle &
Litz, 2009). In der Regel beruhen diese Kundenbindungssysteme auf einem sogenannten
lock-in-Effekt. Der Konsument kauft sich durch das vermeintlich günstige Basisgerät
in ein System ein und begibt sich damit gleichzeitig in eine gewisse Abhängigkeit. Ein
Wechsel zu einem anderen System ist mit zusätzlichen Kosten verbunden und wird aus
diesem Grund häufig vermieden.
150 A. Lammerts und J. Ingwald

Formal-juristisch findet eine Kundenbindung häufig in Form eines längerfristigen Ver-


trages statt. Diese finden sich bspw. in Form von Abonnements bei Zeitschriften wie
auch bei Mobilfunkverträgen mit einer bestimmten Mindestlaufzeit. Auch im privaten
Bildungswesen ist eine solche Form der Kundenbindung vorhanden: so schließen
private Hochschulen mit ihren Studierenden Verträge ab, welche die Zahlungs- und Aus-
bildungsmodalitäten regeln. Zwar ist eine Kündigung eines solchen Vertrages in der
Regel immer möglich, jedoch häufig aus Sicht des Konsumenten wenig sinnvoll (z. B.
da die Anerkennung der bisherigen Leistung durch andere Hochschulen im Falle eines
Wechsels nicht eindeutig geregelt ist).
Um von den positiven Effekten der Kundenbindung zu profitieren, ist jedoch mehr als
der Aufbau von Wechselbarrieren notwendig. Dies zeigt ein Blick auf eine grundsätz-
liche Definition von Kundenbindung: “Kundenbindung umfasst sämtliche Maßnahmen
eines Unternehmens, die darauf abzielen, sowohl die bisherigen Verhaltensweisen als
auch die zukünftigen Verhaltensabsichten eines Kunden gegenüber einem Anbieter
oder dessen Leistungen positiv zu gestalten, um die Beziehung zu diesem Kunden für
die Zukunft zu stabilisieren bzw. auszubauen” (Homburg & Bruhn, 2017, S. 8). Um
nun derzeitige Verhaltensweisen wie auch zukünftige Verhaltensabsichten positiv zu
beeinflussen und zu gestalten, spielt die Zufriedenheit des Kunden eine zentrale Rolle.
Denn es besteht ein positiver Zusammenhang zwischen der Zufriedenheit eines Kunden
und dem Wiederkauf (Homburg et al., 1998). Die Nutzung eines Produktes oder einer
Leistung gilt im Allgemeinen auch als “moment of truth”. Es ist der Moment, in dem
ein Abgleich stattfindet zwischen dem werblichen Versprechen und der Realität. Ver-
einfacht gesagt findet quasi ein Soll-Ist-Vergleich zwischen der erwarteten und der
erhaltenen Leistung statt. Diese kann bestätigt oder gar überfüllt werden und führt so zu
Zufriedenheit. Oder die Erwartungen werden enttäuscht und der Kunde entwickelt eine
Unzufriedenheit. Zufriedene wie auch unzufriedene Kunden gehen unterschiedlich mit
ihrer Erfahrung um (siehe Abb. 1). Ist ein Kunde zufrieden, so ist die Wahrscheinlichkeit
hoch, dass sich dieser positiv über das Produkt äußert (positive word-of-mouth) und das
Produkt oder die Leistung zukünftig nochmals in Anspruch nimmt, sprich das Produkt
nochmals kauft und der Marke somit treu bleibt. Ein unzufriedener Kunde dagegen
würde sich tendenziell eher negativ über das Produkt äußern. Er ist “wechselgefährdet”
und häufig können Unternehmen diese Kunden nur halten, wenn sie die Beschwerde des
Kunden zu seiner Zufriedenheit lösen können. Dafür muss sich der Kunde aber erstmal
beschweren.
Auch ein unzufriedener Kunde kann also zum Wiederkäufer werden, wenn man als
Unternehmen in Interaktion mit dem Kunden steht und dieser dem Unternehmen die
Chance bietet, auf eine Beschwerde zu reagieren. Vielfach besteht diese Interaktion
nicht und der Kunde wechselt stillschweigend und unzufrieden.
Einen Wiederkauf allein sollte man allerdings nicht als Garant für erfolgreich durch-
geführte Kundenbindung verstehen. Ein wiederkaufender Kunde muss nicht zwingend
eine positive Einstellung gegenüber dem Unternehmen haben. Und er muss auch
kein loyaler Kunde sein. Die Bindung kann wie oben bereits beschrieben auf einem
Innovative Kundenbindungssysteme im Bildungswesen 151

Abb. 1   Wirkungsweisen von Zufriedenheit und Unzufriedenheit (Homburg et al., 1998)

lock-in-Effekt beruhen. Der Wiederkauf findet also unter einem gewissen Zwang statt.
Notwendig ist demnach auch eine positive Einstellung des Kunden gegenüber dem
Unternehmen. Diese positive Einstellung schlägt sich dann ebenfalls positiv auf die
Bereitschaft zu Folgetransaktionen nieder (Diller, 1996). Erreicht man diese positive
Einstellung beim Kunden durch entsprechende Kundenbindungsmaßnahmen, dann ist
auch ein lock-in-Effekt nicht unbedingt als negativ zu bewerten. Hiermit erklärt sich
auch der Erfolg bereits genannter Systeme bei beliebten Marken wie zum Beispiel
Gillette, Nespresso oder Vorwerk.
Auf das private Bildungswesen bezogen zeigt dies, dass eine rein formal-juristische
Bindung, bspw. von Studierenden an private Hochschulen, nicht ausreichend ist.
Ein Vertrag ist zwar allein schon zur gegenseitigen Absicherung notwendig, beein-
flusst aber nicht auf Dauer die positive Einstellung des Studierenden gegenüber seiner
Hochschule. Für die Hochschule jedoch ist insbesondere die positive Mund-zu-Mund
Propaganda für die Vermarktung ihrer Leistungen wichtig, da sich Interessierte in der
Regel zum Beispiel mithilfe digitaler Bewertungsportale über die Qualität einer Hoch-
schule informieren. Positive Mund-zu-Mund-Propaganda zufriedener Studierender stellt
also einen relevanten Faktor in der Akquise zukünftiger Studierender, sprich Kunden,
dar. Aus Sicht der Hochschule macht es nun Sinn, zum einen die Studierenden im oben
beschriebenen Soll/Ist-Abgleich nicht zu enttäuschen. Wenn also beispielsweise mit
kleinen Studierendengruppen in modernen Studienräumen und einer hohen Betreuungs-
quote geworben wird, dann sollte sich dies für den Studierenden in seinem Studium auch
so darstellen. Zum anderen sollten Maßnahmen getroffen werden, die das Erwartete
übererfüllen und damit Begeisterung bei den Studierenden auslösen. Der zufriedene oder
gar begeisterte Studierende wird sich aktiv positiv über die Hochschule äußern und so
zu einem Botschafter des Hochschulangebots wandeln. Zusätzlich ergeben sich im Sinne
152 A. Lammerts und J. Ingwald

des Wiederkaufs bei diesen Studierenden weitere Potenziale im Sinne eines Wiederkaufs
(z. B. Verkauf eines Anschlussstudiums oder von Zertifizierungskursen).
Es stellt sich also die Frage, mit welchen Kundenbindungsmaßnahmen ein Bildungs-
unternehmen die Zufriedenheit seiner Kunden bis zur Begeisterung forcieren kann.

3 Kundenbindungsmaßnahmen

Die Palette an Kundenbindungsinstrumenten ist groß, zumal sich innerhalb des


Marketingmix zahlreiche Ansatzpunkte finden lassen, mit derer Hilfe sich die Beziehung
zum Kunden positiv beeinflussen lässt. Hier wären zu nennen:

• Newsletter-Marketing
• Kundenmagazin
• Kundenintegration in Produktentwicklung
• Events
• Kundencenter als Service-Anlaufstelle oder Beschwerdemanagement
• Coupons, Sammel- oder Rabattkarten
• Vorteilsprogramme
• etc.

An dieser Stelle sollen jedoch weniger einzelne Maßnahmen als integrative Konzepte
im Fokus stehen, deren Hauptanliegen es ist, einen quasi emotionalen lock-in Effekt
zu erzeugen. Der Kunde soll also nicht durch Systeme in eine künstliche Abhängig-
keit gebracht werden, sondern durch seine positive Einstellung an das Unternehmen
gebunden werden. Erste Ansätze solch integrativer Loyalitätssysteme waren bereits früh
am Markt vertreten. Der Fokus lag hier häufig auf Interaktion und Belohnung (Hom-
burg & Krohmer, 2017, S. 780). Ende der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts führten
amerikanische Airlines als erste Unternehmen Treueprogramme ein. 1981 lud American
Airlines seine Kunden ein, virtuelle Flugmeilen zu sammeln, die später gegen Freiflüge
eingelöst werden konnten. Der Einzelhandel folgte diesem Beispiel, später dann das
Hotelgewerbe und der Finanzsektor (Szczepánska & Gawron, 2011, 89 ff.). Kunden wird
in diesen Fällen für ihr loyales Verhalten eine Belohnung zugesprochen. In Kombination
mit Interaktion, bei der die Kunden zum Beispiel auf mögliche Reiseziele oder
besonders günstige Flugreisen hingewiesen werden, wird aus einem Treueprogramm
auch schnell ein Kundenclub. Und eine Kundenkarte das Identifikationsmerkmal, einem
Club zugehörig zu sein.
Als integratives Kundenbindungskonzept erfreuten sich Kundenclubs vor allem rund
um die Jahrtausendwende großer Beliebtheit. Aus Sicht der Unternehmen bot der Kunden-
club viele Vorteile: aus zum Teil anonymen Kunden wurden Mitglieder, mit denen eine
dialogorientierte Kommunikation forciert werden konnte; der Kunde wurde transparenter
Innovative Kundenbindungssysteme im Bildungswesen 153

und das Unternehmen erhielt Erkenntnisse über Eigenschaften und Präferenzen des
Kunden. Nicht zuletzt erzielt ein Club eine stärkere Identifikation mit dem Unternehmen,
welches auf diese Weise sein Image verbesserte (Tomczak et al., 2017).
Ein solcher Club wurde in Deutschland bereits 1950 mit dem Bertelsmann Lese-
ring etabliert. Der Club zählte bis zu sieben Millionen Mitglieder und erreichte mit über
300 Filialen rund 700 Mio. Euro Umsatz. Die Mitglieder – und eine Mitgliedschaft war
eine zwingende Voraussetzung – erhielten Bücher (trotz Buchpreisbindung) zu einem
um 10 % bis 20 % vergünstigten Preis. Ein klarer Vorteil also für Vielleser. Allerdings
bestand auf der anderen Seite auch der Zwang, pro Quartal ein Buch zu erwerben. Diese
Form der Bindung entsprach jedoch nicht dem Wunsch der Mitglieder. Im Laufe der
Jahre schrumpfte die Zahl der Mitglieder immer mehr. 2015 zählte der Club nur noch
eine Million Mitglieder und generierte einen Umsatz von “nur noch” 100 Mio. Euro. Zu
wenig für die Begründer des Bertelsmann Lesering. Der Club wurde 2015 geschlossen.
Ein weiteres prominentes Beispiel für ein Loyalitätsprogramm in Deutschland ist
sicherlich das Miles-and-More-Programm der deutschen Lufthansa. Die Funktions-
weise ist denkbar einfach: Für jede mit der Lufthansa oder deren Partner geflogene Flug-
meile erhält der Flugreisende Meilen auf sein Miles-and-More-Konto gutgeschrieben.
Die Meilen lassen sich dann bei weiteren Flugreisen oder für den Bezug von Prämien
aus einem umfangreichen Onlineshop einsetzen. In einem Jahr geflogene Meilen dienen
auch zur Erlangung eines Status. So unterscheidet das Programm zwischen Teilnehmern,
Frequent Travellern, Senator oder HON Circle Member. Ab dem Status Frequent
Traveller erhält der Miles-and-More Kunde exklusive Privilegien wie beispielweise den
Zugang zu Lounges an Flughäfen, eine höhere Freigepäckmenge oder die Nutzung einer
exklusiven Servicehotline.
Im Zuge der Digitalisierung setzen sich immer mehr smarte Kundenclubs durch.
Für diese werden keine Kundenkarten mehr benötigt. Stattdessen installiert der Kunde
eine App auf dem Smartphone. Statt einer Mitgliedschaft erfolgt eine Registrierung.
Auf diese Weise ist ein Unternehmen nun sehr nah an seinem Kunden, kann mit ihnen
interagieren, sie informieren, ihre Loyalität belohnen sowie weitere Mehrwerte durch
Funktionalitäten der App schaffen. Es besteht also die Möglichkeit, verschiedene
Maßnahmen der Kundenbindung miteinander in einer App zu verknüpfen. Das Fall-
beispiel McDonald’s zeigt die Funktionsweise einer solchen App auf. Das zweite Fall-
beispiel mitradoX beschreibt dann die Anwendbarkeit eines Kundenbindungssystems per
App für private Bildungsunternehmen.

4 Kundenbindung – das Fallbeispiel McDonald’s

McDonald’s hat bereits jahrelange Erfahrungen mit Bonusheften und Rabattmarken.


So wurden in der Vergangenheit oftmals Rabattmarken als Beilage in Zeitschriften oder
Zeitungen beigelegt. Diese konnten dann bei Kauf eines Produktes eingesetzt werden.
154 A. Lammerts und J. Ingwald

Zur Anregung von Käufen und Wiederkäufen waren diese Aktivitäten sicherlich erfolg-
reich. Eine Bindung des Kunden fand jedoch weniger statt und auch blieb der Kunde
stets ein anonymer Kunde gegenüber dem Anbieter.
Neuerdings führt McDonald’s diese Aktivitäten in einer eigenen App zusammen,
was zu völlig neuen Möglichkeiten führt. So beschreibt das Unternehmen das neue
Programm “MyMcDonald’s Rewards” auch selbst als “next level Punkte sammeln”
(o.V., 2021). (Abb. 2)
Im Mittelpunkt des neuen Programms steht die McDonald’s App, welche der Nutzer
in den üblichen App-Shops zum Download erhält. Nach der Registrierung erhält der
Nutzer den Zugriff auf eine Vielzahl von Funktionen:

• mithilfe der “Bestellen”-Funktion kann der Nutzer in einem dem Standort oder Ziel-
ort nahegelegenen Restaurant eine Bestellung auslösen. Ist der App-Nutzer unter-
wegs, so wird die Bestellung erst dann ausgelöst, wenn sich der Nutzer in der Nähe
des Restaurants befindet. Auf diese Weise kann frühzeitig bestellt und trotzdem die
Ware pünktlich zur Abholung frisch zubereitet werden.
• durch Hinterlegung einer Zahlungsmöglichkeit kann die Bestellung direkt
berührungslos bezahlt werden.
• ein Newsfeed macht einerseits auf Neuigkeiten (z. B. saisonale Produkte) und
andererseits auf spezielle Aktionen (z. B. zwei Produkte für 2 €) oder auch laufende
Gewinnspiele (z. B. “becherweise Feierpreise”) aufmerksam. Die Informationen
gelangen direkt auf das Handy der Kunden. Diese können an den Aktionen ohne Ver-
zögerung per Klick ganz ohne Medienbruch teilnehmen.

Abb. 2   Eindrücke der


offiziellen McDonald’s App
Innovative Kundenbindungssysteme im Bildungswesen 155

• Einen spielerischen Kaufanreiz schafft McDonald’s durch das Reward System, dessen
Funktionsweise schlicht und simpel gehalten ist: Für jeden bei McDonald’s aus-
gegebenen Euro erhält man in der zugehörigen App 10 Punkte. Die angesammelten
Punkte wiederum kann man in Prämien – bislang allesamt McDonald’s Produkte –
umwandeln. Der Wert der Punkte ist transparent gestaltet. Zum Beispiel erhält man
für 200 gesammelte Punkte eine kleine Portion Pommes, einen kleinen Kaffee
oder einen Cookie. 800 Punkte lassen sich direkt in einen Big Mac eintauschen.
Ein regelmäßiger McDonald’s Kunde wird also immer wieder ein Produkt seiner
Bestellung kostenlos in Form einer Prämie erhalten oder animiert sein, sich zu seiner
Bestellung, bspw. einen kostenlosen Kaffee, dazu zu bestellen.

McDonald’s schafft sich mithilfe der App die Möglichkeit, direkt mit dem Kunden zu
kommunizieren und ihn auf mögliche Angebote aufmerksam zu machen. Auf spielerisch
emotionaler Weise schafft das Unternehmen Anreize, das präsentierte Angebot wahr-
zunehmen. Sei es durch Lesen der News, bestellen von Produkten oder Teilnahme am
Gewinnspiel: der Nutzer beschäftigt sich ausgiebig mit der Marke McDonald’s. Mehr-
werte erhält der Nutzer durch die vereinfachte Bestell- und Zahlungsmöglichkeit,
Informationen über bestehende Aktionen mit direkter Möglichkeit, an diesen teilzunehmen
sowie dem Belohnungssystem des Bonusprogrammes. Gleichzeitig hebt McDonald’s die
Anonymität seiner Kunden auf und profitiert so von Informationen über ihre Kunden, die
ohne App bisher nicht zugänglich waren. Nutzer, die am Bonusprogramm teilnehmen,
stimmen auch der Nutzung vieler ihrer Daten zu. So darf McDonald’s laut Datenschutz-
richtlinie das Nutzungsverhalten innerhalb der App sowie das Einlösen von Coupons aus-
werten. Die Daten werden verarbeitet, um nutzergerechte Angebote zu schaffen sowie
eigene als auch Produktempfehlungen von Drittanbietern zu geben.
Die McDonald's-App schafft Mehrwerte – sowohl für den Kunden als auch für das
Unternehmen. Inwiefern eine solche win–win-Situation auch im Bildungssystem
geschaffen werden kann bzw. ein integratives Bindungssystem auch dort möglich
erscheint, soll im Folgenden diskutiert werden.

5 Eine App zur Kundenbindung – das Fallbeispiel mitradoX


an der Hochschule SRH

Wie das Fallbeispiel McDonald’s zeigt, können Unternehmen über Gamification und
Belohnung ihre Kunden zu wiederholten Käufen eines Produktes animieren. Was
aber, wenn der Kauf einmalig ist, es sich nicht um ein Produkt, sondern eine Dienst-
leistung handelt und die Nutzung sich nicht auf wenige Minuten, sondern auf mehrere
Jahre bezieht? Wie bindet man solche Kunden an das Unternehmen? Das Fallbeispiel
mitradoX an der Hochschule SRH soll verdeutlichen, wie man mithilfe einer App die
Kundenbindung erhöht (Ingwald & Lammerts, 2021).
156 A. Lammerts und J. Ingwald

Die SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen (im Weiteren kurz: SRH in NRW


oder SRH) ist eine private, staatlich anerkannte Fachhochschule. Über 800 Studierende
aus aller Welt studieren an den Standorten Hamm, Münster und Leverkusen. Die SRH
möchte den Kontakt zu ihren Studenten auch außerhalb der Lehrveranstaltungen pflegen.
Sie möchte, dass die Studierenden nicht nur mit dem Studium zufrieden sind, sondern
auch mit dem Campusleben. Sie sollen sich in der Gemeinschaft wohlfühlen, gezielt
informiert werden und miteinander kommunizieren und interagieren. Die Hochschule
geht dabei davon aus, dass über die Bildung einer Community eine Identifikation und
Bindung der Studierenden an die Hochschule gelingen kann. Dies geht auch über das
Studium hinaus wie zum Beispiel als Alumni-Netzwerk.
Um die Ziele zu erreichen, gründete die Hochschule eine Taskforce und beauftragte
sie, Ansätze zu finden, um eine interaktive, digitale Community aufzubauen. Zunächst
ermittelte die Taskforce die Anforderungen, die eine digitale Lösung erfüllen muss.
Insgesamt sollte die Lösung sowohl informieren und zur Interaktion anregen als auch
bestehende Prozesse im Hochschulalltag erleichtern. Dazu gehörte u. a.

• eine berührungslose Erfassung, zum Beispiel bei Gebäudeeintritt,


• die Ankündigung von Events und Anmeldung per Klick,
• ein interner Social-Media-Kanal als Newsfeed,
• eine Chat-Funktion für den Studierendenservice sowie
• ein Ansatz zur Motivation der Nutzer, aktiv an der Lösung teilzunehmen.

Bei der Suche nach einer passenden digitalen Lösung stieß die SRH in NRW auf die
App mitradoX. mitradoX wurde von der ivaya GmbH entwickelt, um Kunden erfolgreich
an Unternehmen zu binden und die Customer Experience zu erhöhen. Zielgruppe der
App sind eigentlich B2B-Unternehmen. Da die Mechanismen der App aber auf andere
Branchen übertragbar sind, die von der SRH festgelegten Anforderungen erfüllt sind und
die App darüber hinaus weitere Funktionen anbietet, entschied die SRH in NRW sich
für mitradoX. Heute trägt die App den Namen SRH ALLSTAY App und erscheint im
SRH-Design. Dies war für den Wiedererkennungseffekt und den Aufbau der digitalen
Community wichtig.

Studierende gezielt ansprechen


Um Studierende gezielt anzusprechen, entschied sich die SRH für die Funktionen News-
feed und FAQ. Mit dem Newsfeed kommuniziert sie über einen Kanal direkt auf das
Smartphone ihrer Studierenden. Sie kündigt Vorträge oder Exkursionen an, informiert
über Änderungen an der Hochschule und veröffentlicht den wöchentlichen Mensaplan.
Die Studierenden sind dank des Newsfeeds immer auf dem neuesten Stand. (Abb. 3).
“Wir posten jede Woche mindestens eine Neuigkeit. Das einfache Anlegen und
Planen der Mitteilungen im Backend erleichtert uns die Arbeit immens”, sagt Prof. Dr.
Claus Wilke. Die Posts bereiten die Mitarbeiter in deutscher und englischer Sprache vor
und versenden sie zielgruppengenau mithilfe der Segmentierung. “Wir können Nach-
Innovative Kundenbindungssysteme im Bildungswesen 157

Abb. 3   Der Newsfeed bei mitradoX

richten an alle, an eine ausgewählte Gruppe oder gezielt an einzelne Personen schicken.
So sprechen wir unserer Studierenden abgestimmt auf ihre Präferenzen an und sie fühlen
sich abgeholt”, so Prof. Dr. Claus Wilke weiter.
Ein zweiter Informationskanal ist der FAQ-Bereich. Hier stellt die SRH ihren
Studierenden Informationen zu besonders häufig gestellten Fragen oder auftretenden
Problemen zusammen. Das entlastet nicht nur ihre Mitarbeiter, sondern freut auch die
Studenten, denn diese können die meisten Fragen durch einen Blick in die FAQ von
allein beantworten. Da die FAQ umfangreich und 24/7 abrufbar sind, ist die Gefahr von
langen Antwortzeiten und damit das Potenzial für Unzufriedenheit minimiert worden.

Interaktionen zwischen Studenten und Hochschule erhöhen


Ein Interaktionskanal ist der Chat. Dieser ist ähnlich dem Messengerdienst WhatsApp auf-
gebaut, bietet aber den wesentlichen Vorteil, dass die Nachrichten end-to-end verschlüsselt
sind. Fragen von Studierenden können in Echtzeit beantwortet werden, Probleme werden
im Dialog schnell und einfach gelöst. So werden auch Beschwerden von unzufriedenen
Studenten direkt beantwortet, und zwar, bevor sie zum Problem werden können.
Die SRH möchte aber nicht nur auf Fragen reagieren, sondern aktiv mit ihrer
Community in Kontakt treten. Dafür sendet sie über Broadcast-Listen Nachrichten
an viele Kontakte, ohne vorher eine Gruppe anzulegen. Und wenn Sie doch Gruppen
eröffnen möchte, legt sie diese einfach als öffentliche oder private Gruppen an, zum Bei-
spiel für die Kommunikation in Projektseminaren.
Darüber hinaus kann die Hochschule mit Studierenden interagieren. Die Studierenden
können Neuigkeiten nicht nur lesen, sondern auch liken, teilen und kommentieren. Mit
den Buttons reagieren sie auf die News und treten so in einen Dialog. Da diese Aktionen
aus den Social-Media-Kanälen bekannt sind, findet die Nutzung intuitiv statt. Durch die
158 A. Lammerts und J. Ingwald

Interaktionsmöglichkeiten haben die Studierenden das Gefühl, aktiv am Campusleben


teilzunehmen, was wiederum das Wir-Gefühl stärkt.
Per Klick können sich Studierende zudem bei Veranstaltungen anmelden. Kommt
doch mal etwas dazwischen, melden sie sich genauso mühelos per Klick wieder ab. Eine
Mail schreiben, Telefonat führen oder vor Ort Bescheid geben, entfällt auf diese Art
und Weise. Im Backend wird automatisch eine Liste aller Teilnehmer erstellt, was die
Planung des Events vereinfacht.

Den Hochschul-Alltag erfolgreich vereinfachen


Die App erleichtert auch die Prozesse an der Hochschule. So ist zum Beispiel ein digitaler
Studentenausweis hinterlegt, der wie ein individueller Fingerabdruck agiert. Hier werden
alle wichtigen Daten in einem QR-Code gespeichert. Der Ausweis wird in der App in
einem extra Tab abgebildet und ist jederzeit abrufbar. So sehen die Studierenden nicht nur
den QR-Code, der sich regelmäßig verändert, sondern auch auf einen Blick, auf welchem
Platz im Ranking sie sind und wie viele Bonuspunkte es pro Aktion gibt. (Abb. 4).
Mit dem QR-Code können die Studierenden die SRH-Gebäude kontaktlos betreten,
ihre Teilnahme an Events bestätigen oder Punkte erhalten. Dafür halten sie einfach ihr
Smartphone mit dem QR-Code unter den externen Scanner oder ein anderes Smartphone
und schon sind alle relevanten Daten, bspw. ID-Nummer, Datum und Uhrzeit des Ein-
tritts, gesichert. Die Daten sind im Backend gespeichert und können bei Bedarf herunter-
geladen werden.

Die Nutzung der App spielerisch sichern


Die Funktionen der App sind vielfältig, aber wenn die Studierenden und Mitarbeiter der
SRH sie nicht aktiv nutzen, können selbst die besten Maßnahmen in der App nicht zur
Kundenbindung beitragen. Aber jeder von uns kennt das Phänomen: Wir laden schnell

Abb. 4   Der digitale Studentenausweis bei mitradoX


Innovative Kundenbindungssysteme im Bildungswesen 159

eine App herunter, melden uns an und nutzen sie direkt. Doch nach dem ersten Gebrauch
bleiben viele von uns inaktiv, denn wir fühlen uns bald gelangweilt.
Damit die Studierenden die App auch motiviert und begeistert nutzen, bietet sie ver-
schiedene Elemente aus der Gamification und der Belohnung an. Viele Menschen haben
eine hohe Affinität zu Spielen und den positiven Emotionen, die spielerische Elemente
auslösen. Zudem werden wir gerne direkt belohnt.
Die SRH entschied sich für Ranglisten, dem so genannten Highscore, und ein Bonus-
system. Sie definierte Aktionen innerhalb der App, die Bonuspunkte erhalten. So führen
liken, teilen und kommentieren automatisch zu Punkten. Aber auch eine manuelle
Punktevergabe durch Dozenten ist möglich, bspw. für ein besonderes Engagement.
Diese gesammelten Punkte werden in einem Highscore angezeigt. Jeder Student sieht zu
jeder Zeit, auf welchem Platz er gerade ist und wie viele Punkte ihn vom nächsten Platz
trennen. Das motiviert, in der App aktiv zu sein und weitere Punkte zu sammeln. Die
Punkte können Studierende aber auch gegen attraktive SRH-Prämien einlösen.
Jedes Semester findet zusätzlich ein Wettbewerb um einen Hauptpreis statt. Es
gewinnt der Nutzer mit den meisten Punkten im jeweiligen Semester. Das stärkt die
Bindung zwischen Studierenden und Hochschule.

Die Campus-Community geht online


Pünktlich zum Wintersemester 2020 führte die SRH in NRW die App ein. Zuvor wurden
für die über 800 Studierenden und Mitarbeiter Accounts angelegt und die Zugänge per
E-Mail verschickt. Um die Registrierung datenschutzkonform abzuwickeln, wurde jeder
Benutzer darauf aufmerksam gemacht, ein neues Passwort anzulegen. Diese Aktion
aktivierte die App. Die Taskforce, die nun für die App zuständig ist, verzeichnete in den
ersten paar Tagen eine hohe Registrierungsquote.
Innerhalb von einem Jahr verdoppelte sich die Nutzerzahl. Dies liegt nicht nur daran,
dass sich neue Studierende anmelden. Absolventen, die die Fachhochschule erfolgreich
verlassen, bleiben der SRH ALLSTAY App treu und treten der Gruppe “Alumni” bei.
Der Aufbau eines Netzwerks hat damit begonnen.
Die SRH postet zweimal in der Wochen News und kündigt Events an. Bis zum
Wintersemester 2021 erreichten diese über 5700 Likes und wurden mehr als 1400-mal
geteilt. Die News erhielten im Durchschnitt rund 20 Kommentare, die von Emojis bis
zu kurzen Texten reichten. Zum Beispiel wurde in einer Newsmeldung der erste inter-
nationale Studierende in einem neuen Fachbereich vorgestellt. Die Studierenden hießen
ihn über die App herzlich willkommen und wünschten ihm viel Erfolg. Auch die Chat-
Funktion und der FAQ-Bereich werden zahlreich genutzt.
Auf Seiten der Taskforce war bei Einführung die Sorge groß, dass mit der App ein
weiterer Kanal geschaffen wurde, der befüllt werden musste. Mehraufwand drohte. Nach
vier Wochen stellte sich jedoch heraus, dass die App die Kommunikation sogar verein-
fachte. Zum einen wurden Gruppen in diversen Social-Media-Kanälen mit dem Hinweis
auf die App geschlossen. Darüber hinaus verringerten sich Anfragen per Telefon oder
160 A. Lammerts und J. Ingwald

Mail im Studentensekretariat. Diese wurden nun automatisch im FAQ beantwortet oder


im Chat gestellt.
Dank der App tauschen sich die Studierenden untereinander und mit den SRH-
Mitarbeitern häufiger aus. Sie werden zeitnah über Events und Neuigkeiten informiert
und gestalten über das Liken, Teilen und Kommentieren das Campusleben aktiv mit.
Die spielerischen Elemente der App motivieren die Nutzer, aktiv zu bleiben. Die Inter-
aktionen und auch die Fragen im Chat sind wiederum für die SRH in NRW wertvoll,
denn sie geben ein direktes Feedback. Dieses wertet die Hochschule aus und nutzt es für
etwaige Anpassungen.

6 Fazit

Kundenbindung ist ein relevantes Tool, auch für den privaten Bildungssektor.
Empfehlenswert ist an dieser Stelle sicherlich statt einzelner Maßnahmen ein integratives
System, welches mehrere Kundenbindungsinstrumente beinhaltet und diese intelligent
miteinander verknüpft. Naheliegend ist in heutigen Zeiten die Nutzung einer – mög-
lichst eigenen – App. Als geschlossenes System bietet diese dann privaten Bildungs-
anbietern die Möglichkeit, eine Community mit und unter seinen Kunden bzw. Nutzern
aufzubauen bzw. zu stärken. Damit eine solche App auch langfristig genutzt wird, ist
es wichtig, dem Nutzer besondere Mehrwerte zu bieten. Im besten Fall wird die App
ein notwendiger Begleiter im Studium oder in der Ausbildung und es erfolgt ein lock-
in Effekt aufgrund des Mehrwertes. Mit Blick auf andere Branchen und bestehender
Lösungen sind die Möglichkeiten vielfältig:

• Digitaler Studierendenausweis, z. B. bei einer möglichen Eingangskontrolle


• Vereinfachung von Prozessen, z. B. Anmeldung und Abmeldung zu Events per Klick
• Einbindung des individuellen Stundenplans
• Mensaplan
• Praktikumsbörse
• Newsfeed und FAQ-Bereich für umfassende Informationen
• Chat-Funktion, der direkte Kontakt zu Dozenten oder anderen Studierenden
• u. v. m.

Die Begrenzung möglicher Funktionen liegt dabei in der Regel eher in der Wirtschaftlich-
keit sowie der Anknüpfungsmöglichkeiten an bestehenden Systemen begründet als in der
technischen Machbarkeit. Neben rein funktionellen Mehrwerten sollte ein solches System
gleichzeitig emotionale Mehrwerte vermitteln. Ein integriertes Bonussystem mit einem
Gamification-Ansatz kann einen solchen emotionalen Mehrwert bieten. Natürlich müssen
als Boni dann auch entsprechende Anreize bereitstehen. Ein weiterer zentraler Punkt, und
auch Unterschied zu anderen Branchen, ist die Relevanz der Interaktion. Da ein Wieder-
kauf nicht laufend stattfinden kann, geht es viel stärker um eine Identifikation und eine lang-
Innovative Kundenbindungssysteme im Bildungswesen 161

fristige Bindung. Hier spielt die Interaktion zwischen Bildungsanbieter und Kunde eine
wesentliche Rolle. Dem (anonymen) Kunden sollte das Gefühl vermittelt werden, Teil einer
Community zu sein. Dies kann vor allem über viele und möglichst einfache Interaktions-
möglichkeiten geschehen. Interaktionen wie liken, teilen und kommentieren sind dabei die
gängigsten Methoden, da sie von der Zielgruppe aus den sozialen Medien gelernt wurden.
Einen Schritt weiter kann man gehen, wenn man eine direkte Chat-Möglichkeit – bspw. mit
dem Studierendensekretariat oder den Dozenten – schafft. Verbindet man diese Interaktions-
möglichkeiten nun noch mit einem Bonussystem schafft man Anreize für die Interaktion
und verstärkt darüber die Bildung einer Community sowie die Nutzung der App. Mithilfe
einer durchdachten App können somit funktionale und emotionale Mehrwerte vermittelt
werden sowie ein entscheidender Beitrag zur Bildung einer Community geleistet werden.
Mehrwert wird aber nicht nur für den Nutzer generiert, sondern auch für den Anbieter.
Eine App kann die Kommunikation und Prozesse durch Digitalisierung und Auto-
matisierung vereinfachen, zum Beispiel:

• Wenn die Kommunikation an die Kundengruppe vollständig über die App erfolgt,
fallen manuell erstellte Aushänge oder schwierig zu pflegende E-Mail-Verteiler
weg. Auch können Gruppen in Social-Media-Kanälen, z. B. Facebook-Gruppen, die
schwierig zu kontrollieren sind, geschlossen werden.
• Wenn sich Teilnehmer über eine App zu Events anmelden, erfolgt die Hinterlegung
einer Teilnehmerliste im Backend automatisch. Auch jegliche Änderung, zum Bei-
spiel ein Abmelden von der Veranstaltung, wird automatisch verzeichnet. Von Hand
geschriebene Anmeldelisten für ein Event entfallen.
• Die Analyse der Interaktionen, z. B. welche News am meisten geteilt oder geliked
wurde, erzielt wichtige Erkenntnisse über die Präferenzen der Zielgruppe. Diese
können ausgewertet werden und in zukünftige Marketingmaßnahmen einfließen.
• Analysiert man den Chat-Bereich, so lassen sich immer wiederkehrende Fragen
entweder durch eine verbesserte Kommunikation oder eine Prozessverbesserung
zukünftig ausschließen. So kann man beispielsweise den FAQ-Bereich mit Fragen
und Antworten erweitern, die für die Zielgruppe eine hohe Relevanz haben.

Ein integratives Kundenbindungssystem in Form einer App, wie sie hier vorgestellt wurde,
wirkt sich somit doppelt positiv aus: sie steigert die Zufriedenheit und Loyalität der Kunden
und gleichzeitig die Effizienz des Bildungsunternehmens, welches die App betreibt.

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Prof. Dr. Arno Lammerts  ist Professor für Unternehmensführung


und Marketing an der SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen. Im
Anschluss an seine Promotion an der TU Dortmund im Fachbereich
Marketing arbeitete er viele Jahre in Führungspositionen ver-
schiedener globaler Unternehmen. Prof. Lammerts ist Gründer
zweier Unternehmen, die sich mit Market Intelligence sowie Digital
Marketing & E-Commerce befassen.
Innovative Kundenbindungssysteme im Bildungswesen 163

Dr. Julia Ingwald  ist Senior Consultant der ivaya GmbH. Nach


ihrer Promotion im Marketing-Management arbeitete sie in ver-
schiedenen Management- und Führungspositionen in Unternehmen
der Baustoff- und Maschinenbranche sowie in Agenturen. Bei ivaya
ist sie für Projekte rund um Digital [Sales] Excellence und für die
Kundenbindungs-App mitradoX zuständig. Als Leiterin des Projekts
mitradoX@SRH war sie die Schnittstelle zwischen der Task Force
und den Entwicklern.
Das duale Studium Soziale Arbeit – ein
an Bedeutung gewinnendes Modell
unter kritisch-distanzierter Beobachtung
der Disziplin

Johannes Emmerich und Janine Linßer

1 Einleitung

In Praxis und Wissenschaft wird das duale Studium Soziale Arbeit als ein zentrales
Instrument zur Fachkräftegewinnung und -sicherung diskutiert und erfährt enormen
Zuwachs. Gab es im Wintersemester 2008/2009 erst ein duales Angebot für ein
Bachelorstudium Soziale Arbeit, sind für das Wintersemester 2017/2018 entsprechende
Angebote an elf Hochschulen zu verzeichnen (Meyer, 2018). Insgesamt erfreut sich
das duale Modell zunehmender Beliebtheit auf Träger- und Studierendenseite (Belz &
Hinssen, 2020; Hoffmeyer, 2020).
Gleichzeitig wird die Zunahme der dualen Angebote vor allem in der Disziplin
Sozialer Arbeit mit Sorge betrachtet (beispielhaft: Otto, 2018). Vor dem Hintergrund
dessen, dass Studieninhalte teilweise funktional und einseitig auf die spezialisierten
Bedarfe einzelner Handlungsfelder oder gar Arbeitgeber zugeschnitten wurden bzw.
werden, ist eine kritische Beobachtung auch verständlich. Die von Otto (2018, S. 298)
jedoch grundlegend geäußerte Kritik an dualen Studienmodellen, die zu „einem Ende der
wissenschaftlich-systematischen Grundlegung einer modernen Sozialen Arbeit“ führten,
ist zu pauschal. Einer curricularen und organisationalen Einflussnahme von Trägern über
die Hochschulgremien wird zum einen bei vielen Anbietern dualer Studienangeboten

J. Emmerich (*) 
FliednerFachhochschule Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland
E-Mail: emmerich@fliedner-fachhochschule.de
J. Linßer 
Fakultät für Angewandte Geistes- und Naturwissenschaften Hochschule Augsburg,
Augsburg, Deutschland
E-Mail: janine.linsser@hs-augsburg.de

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 165
Teil von Springer Nature 2022
S. Krauss und P. Plugmann (Hrsg.), Innovationen in der Wirtschaft,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-37411-2_10
166 J. Emmerich und J. Linßer

explizit vorgebeugt. Zum anderen geht das duale Studienmodell nicht automatisch mit
einer Absenkung der wissenschaftlichen Standards einher.
Inwiefern das duale Studium Soziale Arbeit dazu beitragen kann, dem Fachkräfte-
bedarf in der Praxis zu begegnen, wird im vorliegenden Aufsatz erörtert. Auf eine
einsteigende Begriffsklärung und Gegenstandsbestimmung des Studiums folgt eine Dar-
stellung des in der Disziplin Sozialer Arbeit geführten Diskurses um dieses Studien-
format. Im Anschluss daran erfolgt eine Fokussierung der besonderen Möglichkeiten der
Theorie-Praxis-Relationierung im dualen Studium Soziale Arbeit. Daran Anknüpfend
werden ausgewählte Erkenntnisse einer im Wintersemester 2020/2021 durchgeführten
Befragung von Studierenden und Alumni an der SRH Hochschule in Nordrhein-West-
falen (nachfolgend: SRH in NRW) im Hinblick auf ihre Kompetenzentwicklung
präsentiert. Befragt wurden Studierende aus allen Studienformaten des Fachbereichs,
was eine Kontrastierung der Antworten der Dualstudierenden mit Studierenden aus dem
regulären Vollzeitstudiengang und dem berufsintegrierenden Studiengang ermöglicht.

2 Das duale Studium – begriffliche Grundlagen

Duale Studiengänge gelten als Studiengänge „mit besonderem Profilanspruch“


(Akkreditierungsrat, 2010). Unter dieser Kategorie werden im Grunde alle Studiengänge
subsummiert, die vom regulären Vollzeit-Präsenz Modell abweichen, also zum Beispiel
Fernstudiengänge, berufsbegleitende Programme, Teilzeitvarianten und nicht zuletzt
duale Studiengänge. Eine klare Abgrenzung der einzelnen Profilansprüche wurde längere
Zeit als „weder möglich noch geboten“ angesehen (Akkreditierungsrat, 2010, S. 3). In
der Folge wurden daher lediglich Systematisierungsempfehlungen formuliert, wobei
mit Blick auf das duale Studium die Empfehlungen des Wissenschaftsrates (2013) weite
Verbreitung und Anwendung fanden. Der Wissenschaftsrat schlägt grob zusammen-
gefasst vor, zwischen ausbildungsintegrierenden (Erstausbildung mit Berufsausbildung),
praxisintegrierenden (Erstausbildung oder Weiterbildung mit Praxisanteilen) und berufs-
integrierenden (Weiterbildung mit Berufstätigkeit) Programmen zu unterscheiden.
Die Anzahl dualer Studiengänge ist disziplinübergreifend in Deutschland in den ver-
gangenen Jahren stark gestiegen. Die AusbildungPlus-Datenbank des Bundesinstituts
für Berufsbildung (Hofmann et al., 2020) zählte 879 duale Studiengänge in der Erstaus-
bildung im Jahr 2011 mit nahezu 60.000 eingeschriebenen Studierenden. Bis zum Jahr
2019 stieg die Zahl der dualen Studiengänge auf 1662 mit inzwischen über 108.000
Studierenden. Mit diesem Zuwachs stieg auch die Vielfalt der Ausgestaltung der dualen
Studiengangprofile. Von Seiten des Akkreditierungsrates wurde auf diese Entwicklung mit
einer neuen Rahmensetzung in der Musterrechtsverordnung reagiert, die vor allem den
in den bildungspolitischen Debatten als zentrales Charakteristikum dualer Studiengänge
identifizierten Begriff der „Verzahnung“ der Lernorte Hochschule und Praxis aufnimmt. In
der Begründung zur Musterrechtsverordnung heißt es mit Bezug auf § 12 Abs. 6 MRVO:
„Ein Studiengang darf als ‚dual‘ bezeichnet und beworben werden, wenn die Lernorte
Das duale Studium Soziale Arbeit – ein an Bedeutung … 167

(mindestens Hochschule/Berufsakademie und Betrieb) systematisch sowohl inhaltlich


als auch organisatorisch und vertraglich miteinander verzahnt sind“ (Kultusminister-
konferenz, 2017, S. 21). Die Verwendung des Begriffs „duales Studium“ in diesem Beitrag
folgt dem Systematisierungsvorschlag des Wissenschaftsrates und der Rahmensetzung
der Musterrechtsverordnung. Das an der SRH in NRW ebenfalls angebotene berufs-
integrierende Bachelorstudium Soziale Arbeit fällt hingegen nicht in die Kategorie „dual“,
da die Praxismodule zwar inhaltlich mit den Studieninhalten verzahnt sind, jedoch keine
vertraglichen Vereinbarungen mit Kooperationspartner existieren. Dieses Studienformat
fordert zudem eine abgeschlossene Berufsausbildung als Zugangsvoraussetzung.

3 Das duale Studium Soziale Arbeit (B.A.) – Entwicklung und


aktueller Stand

Seit geraumer Zeit stehen Träger der Sozialen Arbeit, insbesondere die Allgemeinen
Sozialen Dienste (ASD)1 der Kommunen, vor der Herausforderung, „Fachkräfte nicht
nur gewinnen, sondern auch halten“ (Mühlmann, 2020, S. 11) zu müssen. Neben einem
quantitativen Mangel an Fachkräften ist gleichzeitig festzustellen, dass frei werdende
Stellen aufgrund unzureichender fachlicher oder persönlicher Qualifikationen häufig
nicht nachbesetzt werden können. Vor dem Hintergrund des beginnenden Renteneintritts
der geburtenstarken Jahrgänge wird sich die Situation noch weiter verschärfen (Fuchs-
Rechlin & Schilling, 2018). Als Gründe für die hohe Fluktuation und eine unzureichende
Bewerbungslage führen Fachkräfte bspw. die mangelnde Wertschätzung der Tätigkeit in
der Öffentlichkeit und eine zu geringe Vergütung an. Darüber hinaus zeigt sich in ver-
schiedenen Untersuchungen der ASD, dass gestiegene Verwaltungsanforderungen und das
Fallzahlaufkommen an sich zu hoher zeitlicher und auch psychischer Belastung der Fach-
kräfte führen (Kindler, 2018). Auch zeigt sich, dass die Einarbeitung neuer Mitarbeitender
von den Fachkräften als unzureichend eingeschätzt wird (Beckmann et al., 2018). Die
neuen Mitarbeitenden müssen zur Entlastung des Teams recht schnell in die Fallver-
antwortung. Dies erhöht wiederum das Belastungserleben und begünstigt Fluktuation.
Organisationen der Sozialen Arbeit beschäftigt daher schon länger die Frage, wie
neue Mitarbeitende gewonnen und auch gehalten werden können. In Praxis und Wissen-
schaft wird dabei das duale Studium als ein zentrales Instrument zur Fachkräfte-
gewinnung und -sicherung diskutiert und erfreut sich zunehmender Beliebtheit auf
Träger- und Studierendenseite (Belz & Hinssen, 2020, Hoffmeyer, 2020). Studierende
schätzen diese Studienoption, da sie den Praxisbezug im dualen Modell gut verwirklicht
sehen (Harmsen, 2014). Gab es im Wintersemester 2008/2009 erst ein duales Bachelor-

1 Im vorliegenden Beitrag wird der Begriff „Allgemeiner Sozialer Dienst“ verwendet. Wenngleich
die Begriffe Kommunaler oder Regionaler Sozialdienst teilweise synonym verwendet werden, hat
sich der Begriff Allgemeiner Sozialdienst weitestgehend durchgesetzt.
168 J. Emmerich und J. Linßer

studium Soziale Arbeit der staatlichen Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW)


(826 Studierende), sind für das Wintersemester 2017/2018 entsprechende Angebote
an elf Hochschulen zu verzeichnen (3678 Studierende) (Meyer, 2018). Aufgrund der
skizzierten Entwicklung prognostiziert Meyer (2018, S. 301): „Das duale Studienmodell
wird […] angesichts des starken Wachstums weiter an Bedeutung gewinnen“. Auch
persönliche Gespräche der Autorin bzw. des Autors mit verschiedenen Verantwortlichen
aus der Praxis, die bereits Erfahrungen mit dem dualen Studienmodell gesammelt haben,
geben Anlass zur Annahme, dass sich der Aufwärtstrend fortsetzen wird.
Duale Angebote werden vor allem in der Disziplin Sozialer Arbeit aber auch kritisch
beäugt (beispielhaft Otto, 2018). Durchaus mit Recht, angesichts einiger Bestrebungen,
Trägerinteressen, die der wissenschaftlichen Autonomie und Erfahrung widersprechen,
durchzusetzen und die Studieninhalte funktional und einseitig auf die spezialisierten Bedarfe
einzelner Handlungsfelder oder gar Arbeitgeber zuzuschneiden. Die von Otto (2018, S. 298)
jedoch grundlegend geäußerte Kritik an dualen Studienmodellen, die zu „einem Ende der
wissenschaftlich-systematischen Grundlegung einer modernen Sozialen Arbeit“ führten, ist
zu pauschal. „Nicht die jeweilige Form, sondern die disziplinär verbindlichen Inhalte sind
entscheidend“ (Böllert, 2020, S. 57) für eine professionalisierte Soziale Arbeit.

4 Das duale Studium Soziale Arbeit (B.A.) an der SRH


Hochschule in Nordrhein-Westfalen

Die SRH in NRW bietet seit dem Wintersemester 2015/16 ein Bachelorstudium der
Sozialen Arbeit in drei Studienformaten an: regulär, dual, berufsintegrierend (jeweils
180 ECTS, 6 Semester). Im dualen Studium absolvieren die Studierenden vom ersten
bis einschließlich fünften Semester im Blockmodell jeweils zunächst ein Theoriemodul
(20 ECTS-Punkte), an welches sich ein inhaltlich darauf aufbauendes Praxismodul
(10 ECTS-Punkte) anschließt. Innerhalb eines Theoriemoduls und zwischen Theorie-
und Praxismodulen sind Selbststudienzeiten vorgesehen. Im abschließenden sechsten
Semester ersetzt die Bachelorarbeit das Praxismodul. Somit werden 50 von insgesamt
180 ECTS-Punkten in den Praxisphasen erbracht.2 Inhalt, Struktur und Organisation des
Studiengangs wurden auf Grundlage der Empfehlungen des Wissenschaftsrats (2013)
sowie des Positionspapiers der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit (DGSA)
(2019) (weiter)entwickelt. Das Studium ist generalistisch angelegt, ausgerichtet am
Kerncurriculum der DGSA (2016), sowie den vom Fachbereichstag Soziale Arbeit
(FBTS) (2016) verabschiedeten Kompetenzzielen.

2 Im berufsintegrierenden Studium umfassen die Praxismodule ebenfalls 50 ECTS-Punkte, das


reguläre Studium sieht drei Praxismodule mit jeweils 10 ECTS-Punkten vor.
Das duale Studium Soziale Arbeit – ein an Bedeutung … 169

5 Theorie-Praxis-Relationierung im dualen Studium

Anwendungsbezogenheit gilt gemeinhin als besonderes Spezifikum von Studiengängen


an Fachhochschulen. Entsprechend sind die hier traditionell angebotenen Studiengänge
durch einen hohen Praxisanteil in Form von Praktika gekennzeichnet. Für das Studium
der Sozialen Arbeit gilt das noch einmal in besonderem Maße, da die für das Handlungs-
feld der Kinder- und Jugendhilfe zumeist unabdingbare staatliche Anerkennung in Nord-
rhein-Westfalen den Nachweis von mindestens 100 Vollzeittagen in angeleiteter Praxis
verlangt (§ 2 Abs. 2 SobAG). Studierende der Sozialen Arbeit sind aufgrund dieser
hohen Praxisnähe früh mit der Aufgabe der Verknüpfung der beiden eigenständigen,
jedoch wechselseitig aufeinander bezogenen Bereiche Disziplin und Profession
konfrontiert, was dann in Modulhandbüchern und Studiengangbeschreibungen oft als
Theorie-Praxis-Transfer oder Theorie-Praxis-Vermittlung bezeichnet wird.
Derartige „Vermittlungs- und Transfervorstellungen“ (Dewe, 2012, S. 111) verkennen
die Eigenlogik und Komplexität der Wissensbestände der Disziplin wie auch der Profession.
Soziale Arbeit ist keine angewandte Praxis, die wissenschaftliches Wissen anwendet i. S. v.:
Wenn Problem X vorliegt, bringt Konzept Y beruhend auf Theorie Z mit hoher Wahrschein-
lichkeit die erwünschte Lösung. Die Theorie-Praxis-Vermittlung in der Sozialen Arbeit
wird angemessener mit dem Gedanken der Relationierung der Handlungssysteme Disziplin
und Profession erfasst. Relationierung meint, dass diese Handlungssysteme gleichwertig
zueinander in Bezug gesetzt werden (von Spiegel, 2013). Professionelles Handeln stützt
sich demnach zwar auf wissenschaftliches Wissen, lässt sich aber nicht nach dem Muster
wissenschaftlicher Forschungsprozesse ordnen. Ein reflexives Konzept der Ausbildung
von Fachkräften der Sozialen Arbeit geht entsprechend davon aus, dass sozialarbeiterische
Handlungskompetenz nicht allein an Hochschulen erworben werden kann. Wohl aber
kann eine auf wissenschaftlichem Wissen beruhende „Beobachtungs- und Beurteilungs-
kompetenz“ (Dewe, 2012, S. 115) vermittelt werden, die es Studierenden ermöglicht, neue
und alternative Perspektiven und Beurteilungen auf Situationen und Probleme der Berufs-
praxis zu entwickeln, bspw. durch Rekonstruktion von Fallgeschichten und Methoden
forschenden Lernens. Auf diese Weise entwickelt sich Professionswissen:

Professionelles Wissen wird in dieser Konzeption als ein eigenständiger Bereich aufgefasst
zwischen praktischem Handlungswissen, mit dem es den permanenten Entscheidungs-
druck teilt, und dem systematischen Wissenschaftswissen, mit dem es einem gesteigerten
Begründungszwang unterliegt. Im professionellen Handeln begegnen sich wissenschaft-
liches und praktisches Handlungswissen und machen die Professionalität zu einem Bezugs-
punkt …. Aus dieser Kennzeichnung professionalisierten Handelns ergibt sich zwingend,
dass sich eine Realisierung nur außerhalb des Bereichs deduktiver Theorieanwendung und
Technologisierung, aber auch nur jenseits bürokratischer Handlungsmaximen vollziehen
kann (Dewe & Otto, 2015, S. 1253).

Für die curriculare Gestaltung eines dualen Bachelorstudiengangs Soziale Arbeit folgt
daraus, dass die Lernorte Hochschule und Praxis wechselseitig aufeinander bezogen werden
müssen. Die Reflexion der Praxisphasen muss auf persönlicher Ebene und auf theoretischer
170 J. Emmerich und J. Linßer

Ebene erfolgen. Zudem müssen die sozialen Probleme, mit denen Studierende in der
Praxis konfrontiert werden, kontextualisiert werden: Wo kann ich aktiv werden, wo liegen
die Grenzen? An welchen Ebenen kann ich kurzfristig (bspw. in konkreter Interaktion in
Beratungskontexten) ansetzen (Mikro-Ebene), an welchen Ebenen muss langfristig und
präventiv angesetzt werden (Sozialraum, Gesellschaft – Meso- und Makro-Ebene)?
Im dualen Studium an der SRH in NRW wird dies durch eine enge strukturelle und
inhaltliche Verzahnung der Lernorte Hochschule und Praxis umgesetzt. Auf struktureller
Ebene schließen Hochschule und Praxispartner Kooperationsverträge. Inhaltlich
sichern die Praxispartner den Dualstudierenden eine fachlich qualifizierte Anleitung
zu. Angelehnt an die Empfehlungen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Praxisreferate
an (Fach-)Hochschulen für Soziale Arbeit zur Praxisanleitung (BAG, 2019) wurden
hierzu vom Fachbereich entsprechende Richtlinien für die Einrichtungen entwickelt. Die
Kooperationsverträge legen zudem fest, dass die Erstauswahl der Studierenden durch die
Praxispartner erfolgt, die Hoheit über den gesamten Auswahlprozess der Studierenden
aber bei der Hochschule liegt. Ein weiterer fester Bestandteil der Kooperation ist das
regelmäßige Praxispartnertreffen als Forum für Austausch, Ideensammlung und kritische
Reflexion. Am Lernort Hochschule wird die Theorie-Praxis-Relationierung im Rahmen
von Lehrveranstaltungen mit Praxisbezug, Reflexionstagen an der Hochschule während
der Praxisphasen und Portfolioarbeit vorgenommen. Das Portfolio beinhaltet zum
einen selbstreflexive Elemente, bspw. in Form von Lerntagebüchern und Fallarbeiten,
in denen Studierende ihre Praxiserlebnisse anhand gezielter Fragen versprachlichen
und so persönliche Reflexionsprozesse in Gang bringen. Zum anderen umfasst das
Portfolio einen nach Standards des wissenschaftlichen Arbeitens zu verfassenden
Praxisbericht, in dem die Studierenden die in der Praxis gesammelten Erfahrungen in
Bezug setzen zu dem in dem vorhergehenden Theoriemodul erworbenen wissenschaft-
lichen Wissen. Durch das Einbringen des wissenschaftlichen Wissens im Bericht erfolgt
eine Perspektiverweiterung. Eine Untersuchung der DHBW deutet darauf hin, dass
gerade die Praxiserfahrungen im dualen Studium Soziale Arbeit „die theoretisch-fach-
liche Auseinandersetzung an der Hochschule bereichern und ein vertieftes Verständnis
der Theorien ermöglichen“ (Rahn & Meyer, 2019, S. 220). Vor dem Hintergrund, dass
aktuelle Untersuchungen (Brielmaier, 2019; Ghanem et al., 2018; James et al., 2019)
Ergebnisse aus den 1990er Jahren3 bestätigen und zeigen, dass die Handlungspraxis
von Fachkräften der Sozialen Arbeit in der Regel kaum theorie- oder empirieinformiert
ist, ein beachtenswerter Befund. Die seit dem Wintersemester 2015/2016 gesammelten
Erfahrungen mit dem dualen Studium an der SRH in NRW haben auch Grund zur
Annahme gegeben, dass die vorgenommene Verzahnung zwischen praktischem Hand-

3 BereitsEnde der 1990er Jahre sind Ackermann & Seeck (1999) und Thole & Küster-Schapfl
(1997) zu dem Ergebnis gekommen, dass Wissensbestände aus dem Studium der Sozialen Arbeit
keine Handlungsmuster in der Praxis generieren.
Das duale Studium Soziale Arbeit – ein an Bedeutung … 171

lungswissen und systematischem wissenschaftlichem Wissen in hohem Maße zur


Aneignung bzw. Vertiefung des professionellen Wissens beiträgt. Auch gab es Grund
zur Annahme, dass der befürchteten unreflektierten Übernahme von Handlungsroutinen
und einer vorschnellen Fixierung auf die Praxis im dualen Studium (Voigtsberger,
2019) erfolgreich entgegengewirkt werden kann. Die sich semesterweise wieder-
holende Theorie-Praxis-Relationierung scheint Studierende in hohem Maße dazu zu
befähigen, akademisches Wissen und berufspraktisches Handeln eng zu verzahnen und
somit professionell mit komplexen und oft widersprüchlichen Erfahrungen der sozial-
arbeiterischen Praxis umgehen zu können. Die Studierenden selbst melden zurück, dass
ihre frühe Einbindung in kollegialen Austausch, kollegiale Beratung und Supervision die
reflexive Auseinandersetzung mit dem Tätigkeitsbereich und die Bindung an denselben
unterstützt. Auch das Belastungserleben scheint gering ausgeprägt zu sein. Darüber
hinaus weisen die Rückmeldungen der Praxispartner und Absolvierenden darauf hin,
dass das duale Modell insbesondere zu einer gelingenden Berufseinmündung beiträgt.
Zu den vorgenannten Aspekten fehlen jedoch bislang belastbare empirische Erkenntnisse.
Um dem entgegenzuwirken, wurde eine Befragung von Studierenden und Absolvierenden
aller Studienformate der Sozialen Arbeit an der SRH in NRW geplant und durchgeführt.

6 Methode

An der im Wintersemester 2020/2021 durchgeführten Online-Befragung4 nahmen 825


Personen teil. Knapp 80 % sind weiblich. Das Alter der Befragten liegt zwischen 19 und
52 Jahren (wobei 67 % der Personen 19 bis 26 Jahre alt sind). Die Verteilung auf die ver-
schiedenen Studienformate (43 % dual, 27 % berufsintegrierend, 30 % regulär) spiegelt
annähernd die reale Verteilung der Studierenden an der SRH in NRW auf die Formate
im Studiengang Soziale Arbeit wider. 19 der Teilnehmenden sind Alumni. Der Anteil
Studierender mit Migrationsvorgeschichte ist unter den berufsintegrierend Studierenden
deutlich höher im Vergleich zu den Studierenden der anderen Formate. 43 % der Väter
und 38 % der Mütter wurden im Ausland geboren.6

4 Die Befragung wurde mit EFS-Survey geplant und durchgeführt. Der Fragebogen umfasste 30
Seiten, die durchschnittliche Dauer der Bearbeitung lag bei 21 min. Alle Skalen sind, wenn nicht
anders angegeben, fünfstufig Likert-skaliert, von 1 „trifft gar nicht zu“ bis 5 „trifft voll und ganz zu“.
5 Von insgesamt 321 angeschriebenen Personen haben 140 Personen die Einladung zur Online-

Befragung angenommen. Wiederum 30 Personen haben die Befragung direkt nach Durchlesen
der Willkommensseite abgebrochen, weitere Abbrüche von 28 Personen erfolgten im Verlauf der
Befragung. Insgesamt haben somit 82 Personen die Befragung vollständig abgeschlossen. Die
Rücklaufquote lag bei 58,6 %.
6 Bei den regulär Studieren 17 % der Väter und 9 % der Mütter im Ausland geboren, bei den dual

Studierenden 12 % der Väter und 6 % der Mütter.


172 J. Emmerich und J. Linßer

Im Rahmen der Befragung wurde ein besonderes Augenmerk auf folgende Aspekte
gelegt: vermittelte/vertiefte Kompetenzen, Wissensbestände und Haltungen sowie
Theorie-Praxis-Relationierung; Rahmenbedingungen der Arbeit; Bleibeperspektive/-
absicht und Identifikation mit dem Arbeitsfeld.
In Anlehnung Böllert (2020, S. 37), die darauf hinweist, dass „nicht die jeweilige
Form, sondern die disziplinär verbindlichen Inhalte entscheidend sind“ war die Annahme
forschungsleitend, dass sich keine Unterschiede zwischen den Studierendengruppen
der verschiedenen Formate in den untersuchten Skalenbereichen nachweisen lassen. Im
nachfolgenden Kapitel folgt die Ergebnisdarstellung.

7 Ergebnisse

Die geringe Gruppengröße in den einzelnen Formaten lässt inferenzstatistische Analysen


zum gegebenen Zeitpunkt nicht zu, weswegen die folgende Darstellung auf deskriptiver
Ebene bleibt. Es ist jedoch angedacht, den Datenkorpus stetig zu erweitern, um mit
einem größeren Datensatz inferenzstatistische Auswertungen vornehmen zu können.

7.1 Motive der Studienwahl

Die Studierenden wurden gefragt, welche Motive ihrer Studienwahl zugrunde liegen7. Hier
zeigen sich keine nennenswerten Unterschiede zwischen den Gruppen. Bei den Studierenden
aller Formate dominieren intrinsische und soziale Motive wie „Die Berufstätigkeit in der
Sozialen Arbeit entspricht meinen Begabungen“ (M = 4.47; SD = .62) und „Ich möchte Ein-
fluss auf gesellschaftliche Veränderungen nehmen“ (M = 4.19; SD = .74) vor extrinsischen
Motiven wie „Ich möchte gute Verdienstchancen erreichen“ (M = 3.49; SD = 1.12).

7.2 Im Studium erlernte oder vertiefte Wissensbestände,


Kompetenzen und Haltungen

Die Befragten aller Formate wurden gebeten anzugeben, inwiefern bestimmte


Kompetenzen, Wissensbestände, Fähigkeiten, Fertigkeiten oder Haltungen im Studium
vermittelt, erweitert oder vertieft wurden.8 Jede der sieben Skalen besteht aus drei Items.

7 Die Items wurden an eine Befragung von Mühlmann (2010) angelehnt.


8 Nach Moch (2013). Die Items sind an den Qualifikationsrahmen Soziale Arbeit angelehnt. Jede
der sieben Skalen besteht aus drei Items.
Das duale Studium Soziale Arbeit – ein an Bedeutung … 173

5,00

4,00

3,00

2,00

1,00
Wissen und Beschreibung, Planung und Recherche und Organisaon, Professionelle Persönlichkeit
Verstehen Analyse und Konzepon Forschung Evaluaon und Haltungen
Bewertung Durchführung

regulär dual berufsintegrierend

Abb. 1   Im Studium erlernte/vertiefte Wissensbestände, Kompetenzen und Haltungen. (Dar-


stellung der Mittelwerte in den drei Formaten)

Hierbei zeigt sich, dass die Selbsteinschätzung über alle Formate hinweg recht hoch
ausfällt (Abb. 1). Die Mittelwerte über alle Gruppen hinweg liegen zwischen M = 3,52
(SD = .64) im Bereich Recherche und Forschung und M = 4,19 (SD = .72) im Bereich
professionelle Haltungen. Optisch zeigen sich sehr geringe Unterschiede zwischen den
Gruppen. Dieser Befund kann dahingehend gedeutet werden, dass der Kompetenzerwerb
in den verschiedenen Formaten vergleichbar ist, weswegen die formulierte Skepsis
gegenüber dem dualen Studiengangsprofil nicht angebracht erscheint.9

7.3 Vorbereitung auf die Praxis im Studium

Auch die Antworten auf die Fragen danach, inwieweit das Studium auf eine Tätigkeit
in der Praxis der Sozialen Arbeit vorbereitet10, weisen hohe Zustimmungswerte über
die drei Formate hinweg auf (Abb. 2). Die Mittelwerte rangieren zwischen M = 3,55
(SD = .92) („Mein Studium bereitet mich gut auf die Verfahrensabläufe zur Sicher-
stellung des Kindeswohls vor bzw. hat mich gut darauf vorbereitet“) und M = 4,00
(SD = .86) („In meinem Studium findet/fand eine enge Relationierung von Theorie und

9 Dieser Befund gilt vorbehaltlich der Annahme, dass sich auch in späteren inferenzstatistischen
Prüfungen mit einer größeren Stichprobe die gefundenen Unterschiede als zufällig und nicht signi-
fikant herausstellen werden.
10 Die Formulierung der unteren vier Items erfolgte in Anlehnung an Klomann (2014).
174 J. Emmerich und J. Linßer

Mein Studium bereitet mich gut auf die


Verfahrensabläufe zur Sicherstellung des Kindeswohls
vor bzw. hat mich gut darauf vorbereitet.

Mein Studium bereitet mich gut auf den Umgang mit


komplexen Problemlagen bei den Adressat*innen vor
bzw. hat mich gut darauf vorbereitet.

In meinem Studium findet/fand eine enge


Relaonierung von Theorie und Praxis sta.

In meinem Studium lerne/lernte ich Theorien der


Sozialen Arbeit kennen, die mir als Grundlage für mein
Handeln dienen.

Die Gestaltung einer professionellen Helfer*innen-


Adressat*innen-Beziehung ist/war wesentlicher
Bestandteil des Studiums.

Im Studium habe/hae ich die Möglichkeit, mich


intensiv mit verschiedenen Handlungsfeldern
auseinanderzusetzen.

Das im Studium Gelernte stellt eine gute Basis für die


praksche Arbeit dar.

Ich fühle/fühlte mich durch das Studium insgesamt sehr


gut auf eine Tägkeit in der Praxis der Sozialen Arbeit
vorbereitet.

1,00 2,00 3,00 4,00 5,00

berufsintegrierend dual regulär

Abb. 2   Vorbereitung auf eine Tätigkeit in der Praxis der Sozialen Arbeit durch das Studium.
(Darstellung der Mittelwerte in den drei Formaten)

Praxis statt“). Die Unterschiede zwischen den Gruppen fallen auch hier gering aus und
sprechen dafür, dass die drei Formate in vergleichbarer Weise auf die Handlungspraxis
vorbereiten.

7.4 Verweildauer im Arbeitsfeld

Die Fragen dieser Rubrik und die Fragen der Abschn. 5.6 bis einschließlich 5.7 wurden
nur den dual und berufsintegrierend Studierenden sowie den Alumni gestellt.
Die dual und berufsintegrierend Studierenden bzw. Alumni wurden danach gefragt,
wie lange sie im aktuellen Handlungsfeld zu verbleiben gedenken. 52 % der befragten
Das duale Studium Soziale Arbeit – ein an Bedeutung … 175

Wenn ich noch einmal von vorne anfangen würde,


würde ich mich wahrscheinlich für einen anderen Beruf
entscheiden.

Ich fühle mich in meiner Einrichtung wohl.

Ich suche gegenwärg nach einer anderen


Beschäigung bei einem anderen Arbeitgeber/in einem
anderen Handlungsfeld.
Ich verspüre eine hohe Idenfikaon mit dem Aurag
des Handlungsfeldes und den rechtlichen und fachlichen
Grundlagen.
Bei einem arakven Angebot (Gehalt, Tägkeit, etc.) in
einem anderen Handlungsfeld der Sozialen Arbeit häe
ich kein Problem damit, zu wechseln.

Ich habe mich bewusst für eine Tägkeit im aktuellen


Handlungsfeld entschieden.

1,00 2,00 3,00 4,00 5,00

berufsintegrierend dual

Abb. 3   Identifikation mit dem Handlungsfeld. (Darstellung der Mittelwerte in den Formaten dual
und berufsintegrierend)

dual Studierenden und 62 % der berufsintegrierend Studierenden geben an, „so lange
wie möglich/unbegrenzt“ im aktuellen Feld verbleiben zu wollen. Nur 15 % der dual
und 29 % der berufsintegrierend Studierenden gaben an, „nicht länger als nötig“ im Feld
verbleiben zu wollen. Die noch verbleibenden nahmen unter „Sonstiges“ Eintragungen
konkreter Jahre vor, bspw. „2–4 Jahre“, „ca. 5 Jahre“ oder tätigten Eingaben wie „bis
zur eigenen Familiengründung“ oder „zumindest über die Projektdauer von 3 Jahren“.
Der Befund zeigt eindeutig, dass sich das duale Studium als Instrument zur Fachkräfte-
gewinnung und -sicherung sehr gut eignet.

7.5 Identifikation mit dem Handlungsfeld

Auch die Antworten auf die Identifikation mit dem Handlungsfeld11 fallen bei den
Befragten sehr hoch aus (Abb. 3). Die Zustimmungswerte liegen gemittelt über beide
Gruppen zwischen M = 3,91(SD = 1.25) („Ich habe mich bewusst für eine Tätigkeit
im Handlungsfeld entschieden“) und M = 4,39 (SD = .86) („Ich fühle mich in meiner

11 Die Formulierung der Items erfolgte in Anlehnung an Klomann (2014).


176 J. Emmerich und J. Linßer

Meine Arbeit wird von der Gesellscha anerkannt.

Die Qualitätsstandards meines Arbeitsbereiches erachte


ich als fachlich sinnvoll.
Ich erlebe meine tägliche Arbeit als sinnvoll und
bedeutsam.
Veränderungen und neue Herausforderungen bei
meiner Arbeit kann ich gut bewälgen.
Ich bin für die Erledigung meiner täglichen Aufgaben gut
qualifiziert.
Ich kann bei meiner Arbeit mein Wissen und Können voll
einsetzen.
Meine Arbeit gibt mir die Möglichkeit, Aufgaben in
Gänze durchzuführen.
Ich kann den Ablauf meiner Arbeit selbständig planen
und einteilen.
Ich habe Einfluss darauf, welche Arbeit mir zugeteilt
wird.

1,00 2,00 3,00 4,00 5,00

berufsintegrierend dual

Abb. 4   Qualifikation, Sinnhaftigkeit und Handlungsspielräume. (Darstellung der Mittelwerte in


den Formaten dual und berufsintegrierend)

Einrichtung wohl“), die Unterschiede zwischen den Gruppen fallen gering aus. Auch
dieser Befund stärkt die Annahme, dass das duale Studium als Instrument der Fach-
kräftegewinnung und -sicherung greift.

7.6 Aussagen zu Handlungsspielräumen, Sinnhaftigkeit und


Qualifikation für die eigene Tätigkeit

Studierende beider Gruppen schätzen die Handlungsspielräume, die mit ihrer Tätigkeit
verknüpft sind, die Sinnhaftigkeit ihrer Tätigkeit und ihre eigene Qualifikation für diese
Tätigkeit hoch ein (Abb. 4)12. Über beide Gruppen gemittelt liegen die Zustimmungs-
werte zwischen M = 3,23 (SD =  .95) („Meine Arbeit wird von der Gesellschaft
anerkannt“) und M = 4,33 (SD = .93) („Ich erlebe meine tägliche Arbeit als sinnvoll

12 
Die Formulierung der Items ist der Arbeitshilfe zur Erhebung psychischer Belastungen im
Sozial- und Erziehungsdienst (ver.di 2010) entnommen.
Das duale Studium Soziale Arbeit – ein an Bedeutung … 177

und bedeutsam“). Auch die Zustimmung zu dem globalen Item „Wie zufrieden sind Sie
gegenwärtig – alles in allem – mit Ihrer Arbeit?“ fällt mit M = 3,91 (SD = .96) in der
Gruppe dual und M = 4,10 (SD = 1.00) in der Gruppe berufsintegrierend sehr hoch aus.
Insgesamt fällt hier auf, dass die Zustimmungswerte der berufsintegrierend Studierenden
gegenüber den dual Studierenden erhöht sind.13 Dies könnte auf die längere Berufstätig-
keit im Feld und den damit einhergehenden höheren Grad der Verantwortungsübernahme
bei berufsintegrierend Studierenden zurückzuführen sein.

7.7 Aussagen zu inhaltlichen, zeitlichen und emotionalen


Anforderungen der Tätigkeit sowie Störfaktoren

Die Antworten auf die Fragen nach Anforderungen und Störfaktoren in der Arbeits-
tätigkeit14 fallen wenig besorgniserregend aus (Abb. 5). Die Aussage: „Das Arbeits-
aufkommen ist insgesamt kaum noch zu bewältigen“ wird zum Beispiel von den
Studierenden über beide Gruppen gemittelt eher abgelehnt (M = 2,28; SD = 1.00).
Auch die Zustimmung zu Unterbrechungen auf der Arbeit fällt gering aus: „Ich werde
bei meiner eigentlichen Arbeit immer wieder unterbrochen“ (M = 2,43; SD = 1.10). Nur
wenigen Studierenden in beiden Gruppen fällt es schwer, nach der Arbeit abzuschalten
(M = 2,07; SD = 1.01), wenngleich hier die Zustimmung bei den berufsintegrierend
Studierenden gegenüber den dual Studierenden etwas höher ausfällt.

8 Ausblick

Das duale Studium Soziale Arbeit (B.A.) hat sich im vergangenen Jahrzehnt auch für die
Soziale Arbeit als eine innovative Möglichkeit der Gewinnung von Fachkräften etabliert,
trotz Bedenken von Seiten der Disziplin. Die Diskussion über das duale Studium bewegt
sich allerdings noch auf recht dünner empirischer Basis. An der SRH in NRW wurden
daher im Wintersemester 2020/2021 Bachelorstudierende der Sozialen Arbeit zu ihrem
sozialen Profil, ihren Fähigkeiten und Wissensbeständen sowie Berufsperspektiven und
Herausforderungen der Praxis befragt. Die Analyse der Befragung zeigt unter anderem,
dass duale Studiengänge tatsächlich zur Fachkräftegewinnung und insbesondere auch

13 Auch dieser Befund muss zukünftig anhand einer größeren Stichprobe inferenzstatistisch über-

prüft werden.
14 Die Formulierung der Items ist der Arbeitshilfe zur Erhebung psychischer Belastungen im
Sozial- und Erziehungsdienst (ver.di 2010) entnommen.
178 J. Emmerich und J. Linßer

Personal fällt häufig aus, was zur Überlastung Einzelner


führt.

Ich werde bei meiner eigentlichen Arbeit immer wieder


unterbrochen.

O€ stehen mir die benö gten Informa onen,


Materialien und Arbeitsmi“el nicht zur Verfügung.

Mir fällt es schwer, nach der Arbeit abzuschalten.

Bei meiner Arbeit verspüre ich Druck, der durch die


Öffentlichkeit und die Medien erzeugt wird.

Bei meiner Arbeit kommt es o€ vor, dass ich belastende


Situa onen aushalten muss.

Durch meine viele Arbeit kommt es zu Einschränkungen


in meinem Privatleben.
Der Aufwand für Dokumenta on/Verwaltung ist zu hoch
und steht nicht im Verhältnis zur direkten Arbeit mit den
Klient*innen.
Das Arbeitsauƒommen ist insgesamt kaum noch zu
bewäl gen.

Es gibt o€ Situa onen, bei denen ich eine hohe


Verantwortung habe.

Meine tägliche Arbeit erfordert ein hohes Maß an


Stressregula on.

Bei meiner Arbeit gibt es Dinge, die sehr schwierig und


komplex sind.

1,00 2,00 3,00 4,00 5,00

berufsintegrierend dual

Abb. 5   Inhaltliche, zeitliche, und emotionale Anforderungen und Störfaktoren. (Darstellung der
Mittelwerte in den Formaten dual und berufsintegrierend)

zur Fachkräftebindung beitragen können. Zudem zeigt sich, dass das Belastungs-
erleben dual Studierender gering ausfällt. Das sind erste Indizien dafür, dass sich mit
dem dualen Studium Soziale Arbeit ein zukunftsträchtiges Studienmodell etabliert. Die
geschilderten Befunde bewegen sich allerdings aktuell noch auf deskriptiver Ebene.
Inferenzstatistische und Längsschnitt-Analysen bleiben erforderlich, um die Ergebnisse
zu erhärten und zu vertiefen. Mit dem hier vorgestellten Erhebungsverfahren liegt ein
bewährtes Instrument vor, das die Gewinnung von Befragungsdaten für entsprechende
Analysen ermöglicht.
Das duale Studium Soziale Arbeit – ein an Bedeutung … 179

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Das duale Studium Soziale Arbeit – ein an Bedeutung … 181

Prof. Dr. Johannes Emmerich, Dipl.-Soz.Päd./Soz.Arb., ist seit


Wintersemester 2021/22 Professor für Grundlagen und Handlungs-
konzepte der Sozialen Arbeit an der Fliedner Fachhochschule
Düsseldorf. Zuvor war er fünf Jahre Professor für Soziale Arbeit an
der SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen. Vier Jahre ver-
antwortete er als Dekan u. a. die Etablierung und Weiterentwicklung
des dualen Bachelorstudiengangs am Fachbereich Sozialwissen-
schaft.
emmerich@fliedner-fachhochschule.de

Prof. Dr. Janine Linßer,  Dipl.-Soz.Päd./Soz.Arb., ist seit Winter-


semester 2021/2022 Professorin für Wissenschaftliche Grundlagen
der Sozialen Arbeit an der Hochschule Augsburg. Von April 2018
bis Juni 2021 war die Autorin Professorin für Soziale Arbeit an der
SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen. Sie war Studiengang-
leitung des berufsintegrierenden Studiengangs und hat die
qualitative Weiterentwicklung des dualen Studiengangs mit ver-
antwortet.
janine.linsser@hs-augsburg.de
Soziale Innovation als Forschungsansatz
der Sozialen Arbeit

Bernd Benikowski und Johannes Emmerich

Eine moderne Gesellschaft ist ohne ständige Innovationen kaum vorstellbar. Die
aktuellen großen Herausforderungen wie etwa der Klimawandel verlangen neue
Ideen und Abkehr von altgewohnten Denkweisen. Innovation ist dabei nicht nur ein
technischer Prozess, sondern bezieht die betroffenen Menschen als Gestalterinnen und
Gestalter, Anwenderinnen und Anwender oder Nutzerinnen und Nutzer unmittelbar
in den Entwicklungsprozess mit ein. Streng genommen ist Innovation selten ein rein
technischer Prozess. In der Anwendung oder auch der Verweigerung zeigen sich die
individuellen Interessen aus der subjektiven menschlichen Perspektive. Menschen früh
an innovativen Entwicklungen zu beteiligen, ihre Kreativität und ihr Engagement ein-
zubeziehen wird als soziale Innovation bezeichnet. Der Entwicklungsimpuls geht von
Menschen aus und wird nicht von technischen Restriktionen vorbestimmt. „Wer an
„Innovationen“ denkt, stellt sich meist technische Innovationen vor. Wenn es darum
geht, wie unsere Mobilität umweltschonender, Krankheiten weniger bedrohlich oder
die Energiewende erfolgreicher werden sollen, suchen die meisten nach technischen
Lösungen, anstatt neue soziale Praktiken zu entwickeln und Lebensstile zu verändern.
Ein einseitig nur auf Technologie ausgerichtetes Innovationsverständnis begrenzt jedoch
das Lösungsspektrum. Ohnehin sind komplexe Probleme mit technischen Innovationen

B. Benikowski (*) 
SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen, Hamm, Deutschland
E-Mail: Bernd.Benikowski@srh.de
J. Emmerich 
FliednerFachhochschule Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland
E-Mail: emmerich@fliedner-fachhochschule.de

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 183
Teil von Springer Nature 2022
S. Krauss und P. Plugmann (Hrsg.), Innovationen in der Wirtschaft,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-37411-2_11
184 B. Benikowski und J. Emmerich

allein nicht zu lösen. Bildung, gesellschaftliche Integration und gute Arbeit brauchen
vor allem neue Denkweisen (Change of Mentalities) und verändert Praktiken“ (Howaldt,
2021).
Im folgenden Artikel werden Forschungskonzepte vorgestellt, die Fragen sozialer Ver-
änderung thematisieren und in unterschiedlicher Weise die jeweils betroffenen Menschen
bzw. Personengruppen methodisch einbeziehen. Es ist notwendig, die Perspektive von
Anwendern und Anwenderinnen, von Nutzern und Nutzern in die Entwicklung von
Lösungen unmittelbar und stärker zu berücksichtigen. Im ersten Beispiel wird ein
Forschungskonzept vorgestellt, das die Veränderung von Sozialräumen durch neue
Mobilitätsbedarfe aufgreift. Das zweite Beispiel bezieht sich auf eine neue Perspektive
der Entwicklung von Weiterbildungsarchitekturen in Betrieben. Abschließend wird das
Konzept eines digitalen Innovationsworkshops im Handlungsfeld geriatrischer Ver-
sorgung vorgestellt.

Digitale Transformation von Stadtteilzentren zur Verbesserung sozialer und


kultureller Teilhabe – Beispiel 1
Mobilität ist ein zentrales Wesensmerkmal moderner Gesellschaften und führt dazu,
dass der tradierte und der individuelle sozial vernetzte Sozialraum von vielen Menschen
verlassen wird und neue soziale Bezüge geschaffen werden müssen. Menschen, die
wandern, haben eine biographische und kulturelle Geschichte sowie soziale Bezüge,
die sie aufgeben. Dies hat Auswirkungen auf die Lebensqualität in den verschiedenen
Sozialräumen, unabhängig davon, ob sie aufgrund weltweiter Migrationsbewegungen
oder durch Binnenmigration entstehen. Auf der einen Seite kann diese Mobilität zwar
die Employability des Individuums erhöhen, auf der anderen Seite entstehen aber auch
zunehmend Prozesse der Entwurzelung, Isolation und ein neues arbeits- und karriere-
orientiertes Nomadentum. Im Kontext der neuen digitalen Medien geht es im Verständnis
von Sozialraum vermehrt auch um immaterielle globale Welten, den Cyberspace und das
„globale Dorf“ als Raumerweiterungen. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang daher
auch ein breites Verständnis des öffentlichen Raums (z. B. dynamischer Raumbegriff
nach Löw, 2000).
Neben den Chancen einer mobilen Gesellschaft dürfen diese Probleme und Heraus-
forderungen nicht übersehen werden, da Vereinzelungsbiographien auch in extremen
Verhaltensweisen oder Orientierungen münden können. So gibt es in Japan eine
wachsende Gruppe von jungen Menschen, die die eigene Wohnung nicht mehr ver-
lässt (Hikikomori-Phänomen) und nur über das Internet nach außen kommuniziert. In
einer zukünftigen Gesellschaft wird es daher zunehmend an Bedeutung gewinnen, die
gewachsenen sozialen Traditionen und Beziehungsgefüge mit den Anforderungen nach
Mobilität und Wohnortwechsel zu verbinden. Die Überlegungen gelten in gleicher Weise
für Menschen in Stadt und Land, die aufgrund ihrer sozialen Verwurzelung ihren Sozial-
raum nicht verlassen möchten oder sich mit der Welt außerhalb des Herkunftsortes nicht
verbunden und eher vernachlässigt fühlen. Zu berücksichtigen sind hierbei auch Aspekte,
die einen Ort besonders lebenswert machen. Ein gutes Kulturangebot wird hierbei von
Soziale Innovation als Forschungsansatz der Sozialen Arbeit 185

knapp der Hälfte der Befragten als Aspekt für Lebensqualität genannt (Vgl. Horizont
2019).
Menschen suchen Orte der Begegnung und soziale Kontakte. Ein als Begegnungsort
und Anlaufstelle für Alle verstandenes Stadtteilzentrum (synonym: Gemeinde-, Nach-
barschafts-, soziokulturelles Zentrum) kann es ermöglichen, verschiedene Kulturen,
Religionen, Generationen und politische Überzeugungen zu verbinden, ohne unter-
schiedliche Traditionen und Prägungen aufzugeben. Ein Projekt als soziale Innovation
sollte, hiervon ausgehend, dazu dienen, lebendige Treffpunkte für Menschen aller
Generationen und Herkunft (weiter) zu entwickeln, in denen alle aus der Nachbar-
schaft willkommen sind und Raum finden, sich zu treffen. Diese Treffpunkte verstehen
sich hierbei als Orte des Austausches zwischen Menschen aller Generationen, sozialen
Schichten und biografischer Herkunft. Sie liefern damit einen sozial innovativen
Handlungsansatz, wie – auch unterstützt durch den Einsatz digitaler Technologien –
Zusammenhalt und soziale Teilhabe vor Ort chancengleich gestärkt werden können, um
soziale Disparitäten zu reduzieren bzw. zu verhindern.
Allerdings sind die Stadtteilzentren immer noch als physikalischer Ort im Sozial-
raum präsent: Begegnungen, Austausch, Kontakt und Gestaltungs- und Kulturangebote
finden im Zentrum statt. Menschen in einer mobilen Gesellschaft nutzen zunehmend
digitale Kommunikationskanäle. Der Sozialraum des einzelnen Menschen ist nicht mehr
ausschließlich geographisch definiert, sondern spielt sich auch in einem digitalen Raum
über digitale Medien ab.
Durch eine digitale Transformation der Stadtteilzentren können mobile Menschen
unabhängig von ihrem aktuellen Ort am Leben im Sozialraum teilhaben. Im Rahmen
eines sozialinnovativen Projektes sollten folgende Bereiche erforscht, entwickelt und
modellhaft erprobt werden:

• Digitale Zugänge: Neue Formen der Kontaktaufnahme und Bildung von Interessens-
und Bedarfsgruppen (Avatare, virtuelle Führungen etc.).
• Digitale Begegnungen: Neue Formen der Begegnung, der Interaktion und des Aus-
tausches (3-D-Szenarien, Gaming, Virtuell Reality, Simulations-Stammtisch etc.).
• Digitale kulturelle Teilhabe: Entwicklung neuer Formen kultureller Veranstaltungen in
hybriden Räumen (Hybride Theater und Videoangebote, Szenische Darstellungen mit
Hologrammen, VR etc.).

Die im Rahmen des Projekts zu entwickelnden sozialen Innovationen zielen darauf ab,
die Chancen auf soziale und kulturelle Teilhabe in einem dynamisch-digitalen Sozial-
raum zu verbessern. Der Sozialraum wandelt sich in modernen Gesellschaften: Er
wird dynamischer aufgrund zunehmender Mobilität und er wird digital erweitert. Mit
digitaler Erweiterung des Sozialraums ist gemeint, dass soziale Beziehungen und soziale
Verortungen parallel im virtuellen Raum stattfinden oder sogar gänzlich dorthin ver-
lagert werden. Soziale Innovationen der sozialraumorientierten Sozialen Arbeit müssen
dieser Entwicklung Rechnung tragen. Zielgruppe des Projekts sind Mitglieder eines
186 B. Benikowski und J. Emmerich

Sozialraums, deren Teilhabemöglichkeiten aufgrund vielfältiger Gründe erschwert


werden: altersbedingte Mobilitätseinschränkungen, arbeitsplatzbedingte räumliche
Mobilitätanforderungen, fehlende ökonomische Ressourcen, milieu- und herkunfts-
bedingte Kommunikationsmuster, die nicht immer den Mustern der Angebotsstrukturen
entsprechen, u. v. m. Konkret verfolgt das Projekt die folgenden Ziele:

Teilhabechancen für alle Mitglieder eines Sozialraums verbessern


Sozialräume sind in unterschiedlichem Maße von Vielfalt und sozialer Ungleich-
heit geprägt. Der Erfolg sozialer Innovationen und damit auch das Ziel dieses Projekts
bemessen sich daran, inwiefern es gelingt, gleiche Teilhabechancen zu ermög-
lichen. Die sozialen Innovationen müssen so gestaltet werden, dass die Nutzung
nicht durch milieubedingte Unterschiede insbesondere in der Ressourcenausstattung
und im Kommunikationsverhalten erschwert wird. Positiv gewendet: Ziel ist es,
diversitätssensible Innovationen zu entwickeln, die stigmatisierungsfrei soziale und
kulturelle Teilhabe ermöglichen.

Identitätsstiftung und Zugehörigkeit: Der Sozialraum wirkt identitätsstiftend und


entspricht dem Bedürfnis von Menschen nach Zugehörigkeit. Diese Funktionen kann
potenziell auch ein dynamischer und digital erweiterter Sozialraum übernehmen. Ziel
des Projekts ist es zu eruieren, welche Bedingungen gegeben sein müssen, damit diese
zentrale Funktion des Sozialraums bewahrt werden kann.

Digitale Transformation von Stadtteilzentren: neue Formen der Kontaktauf-


nahme und digitale Begegnungsräume: Gemeinde- und Stadtteilzentren bilden den
institutionellen Kern einer sozialraumorientierten Sozialen Arbeit. Sie erfüllen eine
elementare Integrations- und Bindungsfunktion in städtischen wie auch in ländlichen
Sozialräumen. Ziel des Projekts ist es, Konzepte für die digitale Transformation der
Stadtteilzentren zu entwickeln. Es werden innovative Ansätze erarbeitet und erprobt,
mit denen die Stadtteilzentrumsarbeit auf die veränderten Rahmenbedingungen eines
dynamisch-digitalen Sozialraums reagieren kann und die Teilhabe am Sozialraum
auch für mobile Menschen ermöglicht, die aufgrund beruflicher Mobilität selten im
physischen Sozialraum präsent sind. Dazu zählen neue digitale Formen der Kontaktauf-
nahme und neue digitale Räume der Begegnung und Interaktion.

Neue digitale Formate der kulturellen Teilhabe: Die digitale Transformation des


Sozialraums hat auch Auswirkungen auf klassische kulturelle Veranstaltungen im Sozial-
raum. Gefordert sind daher Innovationen zur kulturellen Teilhabe in einem dynamisch-
digitalen Sozialraum. Ziel eines Teilprojekts ist es daher, digitale und diversitätssensible
Formate zu entwickeln, wie Kultur niedrigschwellig in den Sozialraum getragen werden
kann.
Soziale Innovation als Forschungsansatz der Sozialen Arbeit 187

Einsatz diversitätssensibler partizipativer Verfahren bei der Innovationsent-


wicklung
Die Entwicklung der sozialen Innovationen erfolgt partizipativ. Für die Mitglieder des
Sozialraums sollen also nicht nur die Teilhabechancen verbessert werden, sondern sie
werden auch bereits an den konkreten Entwicklungsprozessen beteiligt (Vgl. Thiersch 2015).
Angesichts der Vielfalt von Sozialräumen müssen diese partizipativen Verfahren diversitäts-
sensibel gestaltet werden, sodass herkunftsbedingte Unterschiede im Kommunikationsver-
halten den Partizipationsprozess geringstmöglich verzerren und Menschen unabhängig ihrer
Mobilitätsressourcen Partizipationsmöglichkeiten geschaffen werden.
Wie können Stadtteilzentren durch digitalisierte Angebote, Leistungen und Unter-
stützungsformen auf neue Bedarfe und Anforderungen dynamischer (mobilisierter)
Sozialräume reagieren und die Lebensqualität durch den Aufbau sozialer Vernetzungs-
und Teilhabeprozesse verbessert werden?
Primäre Zielgruppe des Forschungsprojekts sind die Menschen eines Sozial-
raums, denen der Zugang zur Teilhabe an sozialen, kommunikativen und kulturellen
Angeboten, Prozessen und Interaktionen des Sozialraums erschwert ist. Gründe ergeben
sich aus zunehmenden individuellen Mobilitätsanforderungen, die Teilhabeprozesse
beeinflussen und behindern können aber auch fehlende partizipative Kompetenzen der
Bewohner*innen.
Sekundäre Zielgruppe sind alle Personen und soziale Gruppen eines definierten
Sozialraums. Folglich wird die Lebensqualität eines konkreten Sozialraums verbessert.
Die Verfestigung sozialer Strukturen, sowie der Aufbau neuer und die Adaption alter
Traditionen werden unterstützt, Partizipationsmöglichkeiten für benachteiligte Gruppen
gefördert und Zugänge zur sozialen und kulturellen Teilhabe verbessert.
Die wissenschaftliche Forschung hat die Organisation und Wirksamkeit von
Stadteilzentren bzw. soziokulturellen Zentren als zentrale Interaktionsplattform
in Sozialräumen bisher noch wenig in den Fokus gerückt. Dennoch finden sich
einige interessante Ergebnisse bzw. Hinweise zu weiteren Forschungsaufgaben und
Umsetzungsszenarien im Rahmen des Bund-Länder-Programms „Förderung von Stadt-
teilen mit besonderem Entwicklungsbedarf – die Soziale Stadt“ (BBSR 2019). Ziel des
Programms ist es, neue Impulse für die sozialräumlich integrierte Stadtpolitik zu setzen
(vgl. Häussermann, 2011, S. 275 f.). Eine integrierte Stadt- bzw. Quartierspolitik stellt
sich der Herausforderung, die Komplexität der Probleme eines Stadtteils – z. B. Armut,
soziale Entmischung, Isolation, Gewalt, baulicher Verfall – in den Fokus zu rücken.
Sie greift dabei auf Prinzipien einer sozialraumorientierten Sozialen Arbeit zurück, die
den Sozialraum als Ressource begreift und Menschen aktiviert, diesen partizipativ zu
gestalten. Zudem zielt eine sozialraumorientierte Soziale Arbeit auf eine nachhaltige
Vernetzung und Integration der verschiedenen sozialen Dienste im Sozialraum ab und
schreibt Stadtteilzentren hier eine wichtige Funktion zu (vgl. Hinte 2017, S. 95).
In den vergangenen Jahren wurden zahlreiche innovative Projekte integrierter Stadtteil-
politik realisiert, wie zum Beispiel der „Aktionsplan Soziale Stadt“ der Stadt Dortmund (vgl.
Certa, 2009) oder das integrierte Handlungskonzept „Heimat bleiben – Heimat werden“ in
188 B. Benikowski und J. Emmerich

Hamm-Weststadt (vgl. Stadt Hamm 2016). Die Evaluation dieser und anderer Projekte unter-
streicht, dass Partizipation ein entscheidendes Element erfolgreicher Stadtteilentwicklung
darstellt (vgl. BBSR 2017, S. 111 f.). Nachgewiesen wird zudem, dass infrastrukturelle Ver-
besserungen zur Stabilisierung der sozialen Dienste im Sozialraum beitragen. Jedoch spielen
Stadtteilzentren bei den meisten Konzepten eine eher untergeordnete Rolle. Zudem wird im
Rahmen bestehender Projekte die Verbesserung der Infrastruktur in erster Linie „offline“
als städtebauliche Modernisierung und Vernetzungsoptimierung gedacht. Angesichts fort-
schreitender Digitalisierung muss moderne integrierte Stadtpolitik den Sozialraum erweitert
als „digitalen“ Sozialraum begreifen, der neue und andere Integrations- und Vernetzungs-
formen und -möglichkeiten bereithält.
Bei der Nutzung technischer digitaler Szenarien zur Transformation der beteiligten
Stadtteilzentren wird die Robustheit der technischen Optionen ein zentrales Kriterium
sein. Video-, Projektions- Präsentation- und Konferenztechnologien sind seit Jahren
in der Anwendung. Darüber hinaus wird auch die wirtschaftliche Komponente von
Relevanz sein. Im Rahmen der Nutzung verlässlicher und erprobter Technologien zur
digitalen Transformation von Stadtteilzentren werden folgende neuere Techniken in
Betracht gezogen und überprüft:

Technologie Beschreibung Optionen Projekt


Virtual Reality Bewegung in künstlichen Welten Rundgänge, Begegnungsräume,
durch VR Brillen virtuelle Theater, niederschwelliger
Zugang
Augmented Reality Reale Bilder werden durch virtuelle Rundgänge, Führungen,
Motive ergänzt Simulations-Stammtisch, Zugangs-
form
Motion Capture Übertragung von Bewegungs- Ansprechpartner, Begleitfiguren,
mustern realer auf virtuelle Figuren Kontaktaufbau, Zugang
3D-Animation Darstellung dreidimensionaler Hologramme in Kulturangeboten,
Räume und Figuren Präsentationen, Begegnungsräume
Sensorik Ergänzung visueller und haptischer Spiel- und Bewegungsszenarien im
Erfahrungen virtuellen Raum
Gaming Unterschiedlicher Computer- Gemeinsame spielerische Aktivi-
basierte Spiele täten, Begegnung

Im Rahmen eines Projektes der sozialen Innovation werden auf der Grundlage eines
partizipativen Prozesses mit Personen bzw. sozialen Gruppen eines dynamischen Sozial-
raums Szenarien für digitalisierte Angebote und Leistungen eines Stadtteilzentrums ent-
wickelt, modellhaft erprobt und wissenschaftlich ausgewertet.
Durch eine digitale Transformation der Stadtteilzentren können mobile Menschen
unabhängig von ihrem aktuellen Ort am Leben im Sozialraum teilhaben. Im Rahmen des
Projekts werden folgende Bereiche erforscht, entwickelt und modellhaft erprobt werden:
Soziale Innovation als Forschungsansatz der Sozialen Arbeit 189

Digitale Zugänge: Neue Formen der Kontaktaufnahme und Bildung von Interessens-
und Bedarfsgruppen (Avatare, virtuelle Führungen etc.).
Digitale Begegnungen: Neue Formen der Begegnung, der Interaktion und des Aus-
tausches (3-D-Szenarien, Gaming, Virtuell Reality, Simulations-Stammtisch etc.).
Digitale kulturelle Teilhabe: Entwicklung neuer Formen kultureller Veranstaltungs-
formen (Hybride Theater und Videoangebote, szenische Darstellungen mit Holo-
grammen, VR etc.).
Forschungsaufgaben:

1. Theoretische Begründung der Erweiterung des Sozialraumbegriffs um eine


dynamische Dimension aufgrund erhöhter Mobilitätsanforderungen einer Gesell-
schaft. Dabei werden insbesondere die Qualitäten einer digitalen Teilhabe untersucht.
Instrumente hierzu sind Workshop mit Sozialraumbewohner*innen und Expert*innen-
interviews.
2. Durchführung einer sozialräumlichen Interessens- und Bedürfnisanalyse. Dazu
werden diversity-sensible und nicht-sprachlich orientierte partizipative Verfahren und
Methoden ausgewählt, angepasst und entwickelt.
3. Auf der Grundlage dieser diversity-sensiblen Partizipationsverfahren werden
Umsetzungsszenarien für digitalisierte Angebote, Leistungen, Optionen und
Ressourcen erarbeitet.
4. Modellhafte Umsetzung: Die entwickelten Sozialraumszenarien werden in den drei
Forschungsregionen mit den jeweiligen Schwerpunkten (digitaler Zugang, digitale
Begegnung und kultur-digitale Teilhabe) umgesetzt und erprobt. Dazu sind vor-
bereitend technische Voraussetzungen zu überprüfen und aufzubauen.
5. Wissenschaftliche Auswertung, Bewertung unterschiedlicher Szenarien, Evaluation.

Szenarien betrieblicher Weiterbildung und soziale Innovation – Beispiel 2


Lernen ist zu einem ständigen Begleiter geworden. Das Leben ist durchdrungen von
technischen und sozialen Entwicklungen, die immer wieder neue Kenntnisse und
Kompetenzen verlangen. Das neue Smartphone, das Kassensystem im Einzelhandel
oder der Scanner in der Logistikbranche können nur sinnvoll benutzt werden, wenn die-
jenigen, die die Geräte nutzen, die Bedienung erlernt haben. Auch in sozialen Bereichen
sind Menschen gefordert, sich an neue Bedingungen anzupassen und Bewältigungs-
strategien zu entwickeln, etwa im veränderten Umgang mit Kunden oder hinsichtlich
der Bewältigung von psychischen Belastungen. Dies führt auch zu einer radikalen Ver-
änderung der Organisation von Bildungsanbietern und ihrer Lernprozesse.
Lernen ist ein permanenter Prozess, der nicht nur in Seminarräumen stattfindet. Eine
notwendige Aufgabe der Zukunft wird es sein, alle Beschäftigten eines Unternehmens in
kontinuierliche Weiterbildung einzubeziehen(vgl. Griese und Marburger 2011). Es werden
neue innovative Lernformen jenseits des Formats „Seminar“ eine wichtige Rolle spielen,
die das Lernen stärker an den Arbeitsplatz verlagern und mit dem beruflichen Handeln
190 B. Benikowski und J. Emmerich

verbinden. Dabei wird es aus der Perspektive der sozialen Innovation von Bedeutung sein,
die „Lernenden“ aktiv an Planungsprozessen zu beteiligen.
Eine weitere zentrale Frage wird es sein, wie jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter
in einen permanenten Lernprozess einbezogen werden kann. Dies betrifft besonders
die gering qualifizierten Beschäftigten, deren Anteil an Weiterbildungsaktivitäten
immer noch unter dem Durchschnitt liegt. Menschen, die einen Hauptschulabschluss
besitzen, nehmen deutlich seltener an Weiterbildungsveranstaltungen teil (vgl. Ambos,
2005, S. 4 f.; Weber et al. 2012, S. 41 f.). Dieser Personenkreis ist außerdem vor eine
besondere Hürde gestellt. Durch die geringeren Einkommen ist die Teilnahme an teuren
Bildungsangeboten noch einmal erschwert.
Es sind Bildungsangebote zu entwickeln, die jedem Menschen einen angemessenen
Zugang zur permanenten Weiterbildung ermöglichen. Dies ist sowohl eine gesellschaft-
liche Aufgabe als auch eine Forderung an Unternehmen, in ihre Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter mehr zu investieren. Unternehmen müssen lernen, die Entwicklung
ihrer Beschäftigten als Aufgabe der Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit ihres Unter-
nehmens zu begreifen. Dazu gehören, natürlich neben der finanziellen Investition, der
Aufbau geeigneter Qualifizierungskonzepte, wie der regelmäßigen Weiterbildungs-
bedarfsplanung oder der zielgerichteten Personalentwicklung (vgl. Arnold et al. 2008).
Auch hier wird die Rolle eines Bildungsträgers neu zu überdenken sein. Der Dienst-
leistungscharakter wird an Bedeutung gewinnen, da neue Formate naturgemäß weniger
standardisiert sind und mehr Planung und Vorbereitung (und Kommunikation mit
Lernenden oder Unternehmen) verlangen.
Neben der Verbesserung dieser Rahmenbedingungen ist über die Mikro-Ebene der
Weiterbildung intensiver nachzudenken. Wie können etwa geeignete methodische
Ansätze aussehen, die die Attraktivität der Teilnahme an einem Lernangebot erhöhen?
Betriebliche Weiterbildung ist nicht mehr an traditionelle Lernformen wie Schule oder
Seminar gebunden (vgl. Benikowski 2014; Benikowski und Rauball 2011). Aber immer
noch sind die Alternativen selten. Der Arbeitsplatz wird als ein Bereich gesehen, in
dem unterschiedlichste informelle Lernprozesse stattfinden (vgl. Dybowski et al., 1999,
S. 245 f., Egetenmeyer, 2008. S. 33 ff., Eraut, 2000, S. 12 ff., Livingstone, 1999, S. 68),
aber mehrheitlich wird Weiterbildung mit Dozent und Seminarraum gleichgesetzt.
Selbstgesteuertes Lernen, die Nutzung digitaler Medien – wie Blogs oder Online-Lern-
Communities – sind Gestaltungsvariablen, die möglicherweise in Zukunft Lernen und
Bildung völlig anders aussehen lassen. Lernen wird aber immer ein sozialer Prozess sein,
in dem Menschen voneinander lernen (vgl. Schiersmann, 2007, S. 110), für Motivation
und Einsichten sorgen, Rückmeldungen geben und Neugierde wecken.
Ein Projekt mit dem Ziel der sozialen Innovation könnte folgenden Aufbau vor-
weisen: In einem wissenschaftlichen Grundlagenteil wird das experimentelle Design
entwickelt. Hieraus ergeben sich Vorgaben für eine prototypische Gestaltung von Lern-
systemen mit spezifisch variierten Parametern. Die Inhalte sollen sich dabei auf sozial-
kommunikative Kompetenzen beziehen. Dies hat zum einen den Grund der Herstellung
einer Übertragbarkeit: Sozial-kommunikative Kompetenzen sind weder branchen- noch
Soziale Innovation als Forschungsansatz der Sozialen Arbeit 191

berufsabhängig – Ergebnisse in diesem Bereich sind dabei prinzipiell auf alle beruflichen
Bereiche übertragbar.
Zum anderen geht es auch darum, nicht punktuell explizites Wissen zur Ausführung
einer Arbeitshandlung zu vermitteln, sondern subjektives Handlungswissen, das in unter-
schiedlichen Kontexten des Arbeitsvollzuges, aber auch des Privatlebens eingesetzt
werden kann. Ein Modell, das in der Lage ist, so berufliches Wissen zu vermitteln, das
auch im Privatleben nutzbar ist, kann im besten Sinne als persönlichkeitsförderlich (z. B.
Hacker, 1986) bezeichnet werden.
Für die beteiligten Personengruppen und Inhaltsbereiche werden je ein Lern-
programm mit verschieden skalierbaren Variablen (z. B. mit unterschiedlichem Medien-
einsatz, unterschiedlicher Dauer, Instruktionen etc.) entwickelt und in einem Experiment
unter Realbedingungen erprobt.
Die Umsetzung des experimentellen Designs ist dabei nicht trivial, da die Studie
zwar experimentell angelegt ist, aber nicht unter vollständig kontrollierten (Labor-)
Bedingungen ablaufen kann. Authentischer Realitätsbezug ist eine der Kernvoraus-
setzungen für die Parameter „Nutzen“ und „Handlung“ und kann nur in einem realen
Kontext der Unternehmen erzeugt werden.
Das soziale Experiment wird in fünf Durchgängen mit verschiedenen Parameter-
kombinationen durchgeführt. Auf Basis des Evaluationskonzeptes werden zu definierten
Zeiten Befragungen und Messungen hinsichtlich verschiedener Kriterien des Lern- bzw.
Bildungserfolgs durchgeführt. Diese werden multivariat ausgewertet, um Wirkungen der
Gestaltungsvariablen zu isolieren und Wechselwirkungen zu bestimmen. Auf der Basis
der Ergebnisse wird einerseits ein wissenschaftlich anschlussfähiges Modell offener
Lernsysteme entwickelt, anderseits ein Handlungsleitfaden für Bildungsanbieter für den
unmittelbaren Transfer in die Weiterbildungspraxis.
Insgesamt ist es wichtig, dass durch partizipative Methoden die Perspektive der
beteiligten Menschen aufgenommen und ihre subjektiven, individuellen Interessen
berücksichtigt werden können. Soziale Innovation bedeutet, Menschen zum Gestalter
ihrer Lebenswelten zu machen und sie dabei ausreichen (methodisch) zu unterstützen.

Einsatz von Innovationsworkshops in Einrichtungen der geriatrischen Versorgung –


Beispiel 3
Im Rahmen des Projektes „Zukunft Geriatrie“ werden neue Formen digitaler
Kommunikation zwischen den verschiedenen Professionen und Mitarbeitergruppen,
aber auch den Patienten und Klienten entwickelt. Der zentrale Ansatzpunkt in diesem
Projekt ist die Berücksichtigung der Perspektive der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
aus den unterschiedlichen Professionen der geriatrischen Gesundheitsversorgung in
Krankenhäusern, Seniorenwohnheimen und ambulanten Einrichtungen der Altenhilfe.
Die Umsetzung des Projektes wird durch den Europäischen Sozialfonds und Mittel des
Landes NRW ermöglicht.
Besonders der Einsatz digitaler Kommunikation ist auf eine hohe Akzeptanz der
Nutzer*innen und Anwenderinnen und Anwender angewiesen. Es zeigen sich sehr oft in
192 B. Benikowski und J. Emmerich

den von externen Planern entwickelten Kommunikationsszenarien skeptische Haltungen


bei den späteren Anwendern. Daher soll in diesem Projekt konsequent die Perspektive
der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Entwicklung, Umsetzung und Auswertung mit
einbezogen werden. Es sind dazu geeignete Workshops zu entwickeln, die es ermög-
lichen, dass in einer kreativen Arbeitsatmosphäre Vertreterinnen und Vertreter unter-
schiedlicher Professionen gemeinsam an Visionen digitaler Kommunikation arbeiten
können. Es sollen die Interessen von Pflegekräften, Medizinern, Therapeuten, aber auch
von Patienten und Angehörigen in die digitalen Kommunikationsszenarien einfließen
und sich sinnvoll ergänzen.
Die digitale zukünftige Kommunikationswelt der beteiligten Einrichtungen wird von
den betroffenen Personenkreisen selbst entwickelt und dadurch eine hohe Akzeptanz
und Identifikation mit den Ergebnissen aufgebaut. Die Resultate sind das Ergeb-
nis der unmittelbaren Perspektive der beteiligten Akteure – eine wichtige Grundlage
der sozialen Innovation. Die Gestaltung wird nicht als fremdbestimmt hingenommen,
sondern wird selbstbestimmt erarbeitet. Aufwendige Akzeptanzphasen nach der Ent-
wicklung technischer oder betrieblicher Innovation sind nicht mehr erforderlich. Ver-
fahren der sozialen Innovation sind oftmals aufwendig und benötigen einen größeren
Zeitrahmen. Diese „soziale Investition“ wird aber durch ein direktes Nutzerverhalten und
große Akzeptanz ausgeglichen.
Das Ziel der insgesamt 15 durchzuführenden Innovationsworkshops ist die Ent-
wicklung konkreter digitaler Kommunikationsszenarien. Diese werden zunächst
nicht in eine technische Beschreibung überführt, sondern die Ideen und Vorstellungen
der Teilnehmer und Teilnehmerinnen werden in einer Illustration dargestellt. Die
Reduktion auf eine technische Beschreibung kann zum Verlust von Ideen führen, die
eher für die sozialen oder emotionalen Dimensionen relevant sein können. Es steht
nicht ausschließlich die Technik im Vordergrund, sondern der soziale und technische
Nutzen der Anwender. Dies wird in den Ergebnissen deutlich: In einem Szenario ent-
wickelten die Teilnehmer und Teilnehmerinnen eines Workshops einen „digitalen Ohren-
sessel“. Der Ansatzpunkt sind die im Rahmen der Corona-Pandemie eingeschränkten
Kommunikationsmöglichkeiten zwischen alten Menschen in einer Senioreneinrichtung
und ihren Angehörigen. Es reiche nicht aus, nur Tablets mit Internetanschluss zu ver-
teilen, um dann in Video-Meetings Kontakt halten zu können. Vielmehr geht es auch
um die psychosoziale Gesamtsituation. Die Idee war also, einen Ohrensessel mit einem
Gelenkarm auszustatten, an dem ein Tablet angebracht ist. Der Senior oder die Seniorin
können in angenehmer Weise sitzen, einen Kaffee trinken und digital kommunizieren.
Eine Innovationswerkstatt basiert auf der Kreativität und den Ideen der Teilnehmer
und Teilnehmerinnen. Der Moderator bzw. die Moderatorin hat dafür zu sorgen, dass
der Denk- und Arbeitsprozess der Gruppenteilnehmer unterstützt und gefördert wird.
In der digitalen Form sollte die Teilnehmerzahl zwischen 5 und 8 Personen liegen. Für
die digitale Umsetzung ist eine Konferenzsoftware notwendig, die ein für alle sichtbares
Whiteboard beinhalten sollte. Der Innovationsworkshop besteht aus der Vorbereitungs-
phase, der Bestandsaufnahme (Beschreibung der Ausgangssituation), der Utopiephase
Soziale Innovation als Forschungsansatz der Sozialen Arbeit 193

und der Realisierungs- und Visualisierungsphase. Diese Phase basieren auf dem Konzept
der Zukunftswerkstätten (Jungk 1994) und sind in vielen Varianten weiterentwickelt und
angewandt worden.

• Moderationsaufgaben in der Vorbereitungsphase: Aufbau einer vertrauensvollen


Atmosphäre, Bedeutung der partizipativen Methode, Erklärung der Ziele des Work-
shops, Nutzung der Ergebnisse.
• Moderationsaufgaben der Bestandsaufnahme: Erklärung der Arbeitsschritte,
Dokumentation der Ergebnisse auf einem Flipchart oder (online) Whiteboard,
Lösungen erst im folgenden Arbeitsschritt, Schwierigkeiten oder Verbesserungs-
potenziale sichtbar machen.
• Moderationsaufgaben Utopiephase: Auswahl von 1 bis 3 Themen (zeitabhängig) für
die innovative (digitale) Szenarien entwickelt werden sollen, Schaffung einer ver-
trauensvollen Arbeitsatmosphäre, auf Einhalten der Regeln achten, jeder Teilnehmer
soll aussprechen, motivieren.
• Moderationsaufgaben Realisierung und Visualisierung: Übersetzung der „utopischen“
Ideen in realisierbare Projekte, Entwicklung konkreter Ansatzpunkte, Erarbeitung
einer Informationsliste für die Visualisierung und Entwicklung einer Visualisierung.

Innovations- oder Zukunftswerkstätten beziehen die betroffenen Menschen unmittel-


bar in die Entwicklung und Gestaltung ein. Der Mittelpunkt ist der Mensch und die
technische Innovation dient seinen Interessen und Bedürfnissen. Die technischen Ent-
wicklungen folgen der sozialen Idee.

Soziale Innovation in der Sozialen Arbeit – ein Schlusswort


In der Sozialen Arbeit geht es oftmals um die Gestaltung der Lebenswelten der Klienten.
Es ist naheliegend, dass durch partizipative Prozesse die Perspektiven der betroffenen
Menschen einbezogen werden und auch im Rahmen von Forschungs- und Entwicklungs-
projekten berücksichtigt werden müssen. Die Idee der sozialen Innovation ist aber nicht
auf die Soziale Arbeit beschränkt. Vielmehr geht es darum, die Menschen stärker in
Veränderungs- und Modernisierungsprozesse unmittelbar mit einzubeziehen. Noch sehr
oft ist die Dominanz technischer oder wirtschaftlicher Interessen zu beobachten. Techno-
logische Innovationen sind kein Selbstzweck, sondern dienen letztlich immer mensch-
lichen Interessen. Und eben diese sollten in den Vordergrund rücken. In vielen modernen
Arbeitsmethoden wie „Design-Thinking“ oder „Agile Führung“ zeigt sich zunehmend
ein Verständnis, Kreativität und soziale Sensibilität stärker in innovativen Prozessen zu
nutzen. Letztlich hängt der Erfolg von technischen Lösungen immer von der Akzeptanz
der Nutzer und Nutzerinnen und ihre Bereitschaft zur Veränderung gewohnter mensch-
licher Verhaltensweisen ab – und nicht allein von der reibungslosen Funktionsfähigkeit
einer Innovation.
194 B. Benikowski und J. Emmerich

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Prof. Dr. Bernd Benikowski  ist Professor für Soziale Arbeit an der
SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen (seit 2015). Er ist u. a.
geschäftsführender Gesellschafter des Forschungs- und Bildungs-
instituts gaus gmbh (2001 bis 2020) und übernimmt Forschungs-
projekte im Bereich von Bildung und Digitalisierung.

Prof. Dr. Johannes Emmerich, Dipl.-Soz.Päd./Soz.Arb., ist seit


Wintersemester 2021/22 Professor für Grundlagen und Handlungs-
konzepte der Sozialen Arbeit an der Fliedner Fachhochschule
Düsseldorf. Zuvor war er fünf Jahre Professor für Soziale Arbeit an
der SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen. Vier Jahre ver-
antwortete er als Dekan u. a. die Etablierung und Weiterentwicklung
des dualen Bachelorstudiengangs am Fachbereich Sozialwissen-
schaft.
emmerich@fliedner-fachhochschule.de
Innovationen im Gesundheitssektor
Das zukünftige Open-Innovation-
Konzept im Gesundheitswesen erfordert
die Unterstützung durch Patienten

Julia Plugmann und Philipp Plugmann

1 Einleitung

Die Covid-19-Pandemie hat gezeigt, dass eine globale Krise im Gesundheitswesen lang-
fristig massive wirtschaftliche, soziale und psychologische Probleme verursachen kann.
Angesichts der Folgen von Covid-19 mit zahlreichen Toten und langfristigen Gesund-
heitsproblemen auf der ganzen Welt ist uns eines bewusst geworden: Es ist eine Sache,
eine hochleistungsfähige Life-Science-Industrie aufzubauen, die etablierten Unter-
nehmen und Start-up-Firmen in dieser Branche bessere Bedingungen bietet – aber es
gibt auch andere wichtige Faktoren. Beispielsweise die Geschwindigkeit der Daten-
erfassung, um aufzuzeigen, was passiert, sobald eine lokale, nationale oder globale Krise
im Gesundheitswesen beginnt, sowie die Fähigkeit der Industrie, Produkte zu entwickeln
und zu liefern, die die Sicherheit der Bevölkerung gewährleisten. Epidemiologische
Forschungseinrichtungen, Zulassungsbehörden und Krankenhäuser, die klinische Studien
durchführen, müssen darauf vorbereitet sein, sehr schnell zu reagieren. Dieses Mal
hatten wir vielleicht Glück, weil die Sterblichkeitsrate gering war und das Virus sich
relativ langsam in der Welt ausgebreitet hat. Aber beim nächsten Mal könnte das Virus
sich unerwartet verhalten, sich schneller ausbreiten und aggressiver sein. Dieses Kapitel
konzentriert sich darauf, dass die Unterstützung durch Patienten so schnell wie mög-
lich erfolgen muss. Heutzutage hat jeder ein Smartphone, mit dem er personenbezogene

J. Plugmann 
SRH Campus Rheinland, Leverkusen, Deutschland
P. Plugmann (*) 
Studiengang Dental Hygienist, SRH Hochschule für Gesundheit, Leverkusen, Deutschland
E-Mail: philipp.plugmann@srh.de

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 199
Teil von Springer Nature 2022
S. Krauss und P. Plugmann (Hrsg.), Innovationen in der Wirtschaft,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-37411-2_12
200 J. Plugmann und P. Plugmann

Gesundheitsdaten zeitnah in eine Open-Innovation-Plattform einspeisen könnte. Diese


Daten könnten dann von Life-Science-Unternehmen, staatlichen Einrichtungen und
Forschungsgruppen in Theorien und Modellierungen verwendet werden, um in Co-
Creation mit KI die Forschung und Entwicklung innovativer Arzneimittel und Verfahren
zur medizinischen Behandlung voranzutreiben.
Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um Patienten auf der ganzen Welt zu schnellem
Handeln zu motivieren, weil jeder von dieser schnellen Datenerfassung profitiert, wenn
eine lokale, nationale oder globale Krise im Gesundheitswesen auftritt. Zukünftige
Worst-Case-Szenarien wie Krisen im Gesundheitswesen, die mit einem Stromaus-
fall oder weltweiten Börsencrash zusammentreffen, würden noch mehr Probleme mit
sich bringen. Die Industrie und politische Entscheidungsträger müssen Pläne für diese
Szenarien erstellen, um massive Konflikte zu verhindern, die solche Situationen ver-
ursachen könnten.
Die beiden folgenden Studien wurden auf zwei Konferenzen vorgestellt, und zwar
auf der „2nd Annual World Open Innovation Conference (WOIC)“ im Jahr 2015,
die vom Garwood Center for Corporate Innovation der renommierten Berkeley Haas
School of Business an der University of California, Berkeley (USA), in Santa Clara/
Silicon Valley organisiert wurde, und im Oktober 2021 und Folgemonaten auf dem
„AI-Clash“ der Technischen Hochschule Deggendorf (THD) bei Meetings und Work-
shops internationaler Expertenteams aus verschiedenen Disziplinen, die zum Bereich
„Technologien im Gesundheitswesen“ unter der Leitung von Prof. Dr. Patrick Glauner,
einem der jüngsten Professoren in Europa für Künstliche Intelligenz, Lösungsansätze
und Prototypen entwickelten. In Verbindung mit weiteren Anregungen führen sie uns
zu einer neuen Sichtweise, nämlich zu der Erkenntnis, dass es notwendig ist, dass sich
die Bevölkerung freiwillig daran beteiligt, Daten an eine Open-Innovation-Plattform zu
übermitteln, um in Krisensituationen im Gesundheitswesen eine schnelle Lösung für alle
zu ermöglichen. Das erfordert als vorbeugende Investition eine Informationskampagne,
um Menschen zu motivieren, diese Datenerfassungssysteme in Zukunft zu unterstützen.
In diesem Fall sind also nicht innovative Verfahren oder Arzneimittel der begrenzende
Faktor, sondern das Verhalten von Patienten oder Menschen im Kontext einer großen
Gruppe. Unsere Forschungstätigkeit richtete sich zunächst in Form eines Angebots an
Patienten, wobei sie entscheiden konnten, ob sie teilnehmen oder nicht:

2 Studie 1

Unsere erste Studie wurde im November 2015 auf der „2nd WOIC“ in den USA als
erweiterte Zusammenfassung vorgestellt, die vor der Annahme zu dieser internationalen
Konferenz nach Einreichung eines „Extended Abstracts“ überprüft worden war. Sie trug
den Titel „Users (patients) willingness to transfer personal data to a future IT service
of open innovation driven IT health care companies to receive an efficient service – a
Das zukünftige Open-Innovation-Konzept im Gesundheitswesen … 201

follow-up study“. Die Präsentation erfolgte in Form eines Posters, wobei Konferenz-
besucher aus der Industrie und Wissenschaft anwesend waren und erkenntnisreiche
Diskussionen ergaben, die motivierend wirkten auch in den Folgejahren in diesem
Forschungsbereich aktiv zu sein.

1. Einleitung
Forschungen haben gezeigt, dass Technologiefirmen, unter anderem im Gesundheits-
wesen, ein eingeschränktes Open-Innovation-Konzept anwenden (West, 2003), um
Forschungs- und Entwicklungskosten zu reduzieren und auch um höhere Gewinne zu
erzielen (Chesbrough, 2006). Die Einbindung der Öffentlichkeit in die Forschung und
Entwicklung im Gesundheitswesen wird für den Innovationsfortschritt als unverzichtbar
erachtet (Bullinger et al., 2012). Die einzige Möglichkeit, höhere Gewinne zu erzielen,
sind neue Produkte und Dienstleistungen für den Markt, die gegenüber Wettbewerbern
einen Vorsprung bieten und den Bedürfnissen der Nutzer gerecht werden. Heute ist das
gleichbedeutend mit mobiler Gesundheit (mHealth – Estrin & Sim, 2010), weil durch
das Erschließen einer mHealth-Architektur Zugangsbarrieren abgebaut werden und die
Mitwirkung der Öffentlichkeit dazu beiträgt, neue Hilfsmittel und mHealth-Apps zu ent-
wickeln.
Diese IT- und Technologiefirmen beziehen Nutzer und Pionieranwender als Weg-
bereiter ein (Bogers et al., 2010), um neue Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln.
Besonders die Rolle von Pionieranwendern kann dazu beitragen, sowohl neue Produkte
und Dienstleistungen hervorzubringen, die sich nicht im Blickfeld von Marktforschern
oder internen Innovationsteams befinden, als auch Durchbrüche zu erreichen (von Hippel
et al., 1999). Um eine bessere medizinische Versorgung zu erhalten, sind nach unseren
Erkenntnissen viele Nutzer (Patienten) bereit, alle ihre personenbezogenen Daten –
medizinische und nichtmedizinische – an einen zukünftigen IT-Service zu übermitteln,
der von einem Open-Innovation-orientierten, im Gesundheitswesen tätigen IT-Unter-
nehmen angeboten wird.

2. Theoretischer Hintergrund
In dieser Abhandlung analysieren wir die Bereitschaft von Nutzern (Patienten), zu
einer radikalen Innovation beizutragen, indem sie alle ihre Daten an einen zukünftigen
IT-Service übermitteln, der von einem Open-Innovation-orientierten, im Gesund-
heitswesen tätigen IT-Unternehmen angeboten wird (Lettl et al., 2006). Das Open-
Innovation-Konzept mit Nutzern und Pionieranwendern war in der Vergangenheit
unter bestimmten Bedingungen sehr erfolgreich (Reichwald & Piller, 2005; Baldwin
& von Hippel, 2011; van de Vrande et al., 2009). Aber noch immer müssen die Open-
Innovation-Architektur und -Prozesse neu aufgebaut werden, und es besteht Ungewiss-
heit, ob Nutzer (Patienten) einen zukünftigen IT-Service unterstützen werden, der nicht
nur medizinische, sondern auch nichtmedizinische Daten erfasst. Die Ergebnisse dieser
Studie können Unternehmern aus der IT-Branche im Gesundheitswesen dabei helfen,
202 J. Plugmann und P. Plugmann

auf der Grundlage eines Open-Innovation-Konzepts einen zukünftigen IT-Service aufzu-


bauen und zu entscheiden, wie offen er werden kann (West, 2003). Sie tragen dazu bei,
die Anforderungen der Nutzer zu verstehen, die sie an das Übermitteln medizinischer
und nichtmedizinischer Daten im Rahmen eines gesamtheitlichen IT-Service-Konzepts
im Gesundheitswesen stellen.

3. Aufbau der Studie


Diese Anschlussstudie basiert auf der ersten Studie, die 2014 vorgestellt wurde. In der
ersten Studie wurde die Bereitschaft von Nutzern (Patienten) untersucht, medizinische
Daten in eine innovative Gesundheits-App einzugeben. Die vorliegende Studie unter-
sucht die Bereitschaft, medizinische und nichtmedizinische Daten in eine Open-
Innovation-App einzugeben, um eine bessere medizinische Versorgung zu erhalten.

Erste Studie
Die erste Studie wurde von uns auf der 12. Open and User Innovation (OUI) Conference
vorgestellt, die vom 28. bis 30. Juli 2014 in Boston (USA) an der Harvard Business
School (HBS) stattfand. Sie beschäftigte sich mit der Bereitschaft von Nutzern
(Patienten), medizinische Daten in eine Gesundheits-App einzugeben. Diese Studie
bekräftigt unsere Ansicht, dass es in Zukunft verschiedene Interaktionsszenarien
zwischen Nutzern (Patienten) und IT-Unternehmen im Gesundheitswesen und ihrer
Anwendungssoftware geben wird. Die zukünftigen Szenarien und Prototypen tragen
dazu bei, die Nutzer zu verstehen und einzubeziehen sowie neue Produkte und Dienst-
leistungen hervorzubringen (Kanto et al., 2014; Parmentier & Mangematin, 2014; Steen
et al., 2014):

1. Zukunftsszenario: Der Nutzer (Patient) entscheidet, ob der Arzt oder Zahnarzt zusätz-
lich zum Patienten selbst Informationen in diese App eingibt. Außerdem entscheidet
er, wer sich – abhängig von der IT-Anwendungssoftware –die eingegebenen Daten
und die Ergebnisse der Datenanalyse ansehen darf.
2. Zukunftsszenario: Die Krankenkasse (oder ein sonstiges Dienstleistungsunternehmen
aus dem Gesundheitswesen) bietet dem Nutzer der App einen ermäßigten Monats-
beitrag an, wenn er die App des Unternehmens nutzt.
3. Zukunftsszenario: Das IT-Entwicklungsunternehmen bietet genau die Art von
Gesundheitsdaten-App an, die die Nutzer möchten und in Auftrag geben, wobei die
Nutzer Merkmale und Funktionen individuell festlegen können.

Diese drei Zukunftsszenarien und die Forschungsergebnisse der Studie hinsichtlich


der Bereitschaft der Nutzer (Patienten), ihre personenbezogenen Gesundheitsdaten in
eine innovative App einzugeben, um eine bessere medizinische Versorgung zu erhalten,
wurden im Juli 2014 vorgestellt. Dazu wurden von Januar bis Dezember 2013 in einer
Multicenterstudie (4 Zahnkliniken) in Deutschland 528 Patienten, die an Parodontitis
erkrankt waren, in zwei Gruppen befragt: In der ersten Gruppe (n = 244) hatte keiner
Das zukünftige Open-Innovation-Konzept im Gesundheitswesen … 203

der Nutzer eine bereits zuvor vorhandene Allgemeinerkrankung (z. B. Diabetes,


koronare Herzerkrankung). Dagegen hatten die Patienten der zweiten Gruppe (n = 284)
mindestens eine Allgemeinerkrankung.
Wir stellten fest, dass 93 % der zweiten Gruppe bezeichnenderweise (p < 0,02) ihre
persönlichen Gesundheitsdaten in eine solche innovative App eingeben würden. Sie
würden dem Arzt und dem Zahnarzt gestatten, bestimmte medizinische Parameter ein-
zugeben, und außerdem täglich/wöchentlich Informationen eingeben, z. B. wie sie sich
fühlen, was sie essen und ob sie immer noch rauchen. In der ersten Gruppe würden 32 %
ihre persönlichen Gesundheitsdaten in eine solche innovative App eingeben.

Anschlussstudie
Die erste Studie berücksichtigte nur den Fluss der Gesundheitsdaten vom Patienten,
Arzt und Zahnarzt in Interaktion mit einer Software (App) und unter Verwendung
mobiler Endgeräte. Nachdem wir in der ersten Studie festgestellt hatten, dass sehr
viele (93 %) Nutzer (Patienten) bereit waren, ihre personenbezogenen Gesundheits-
daten in eine innovative App einzugeben, um eine bessere medizinische Versorgung zu
erhalten, stellte sich die nächste Frage: Was wäre, wenn die Datenerfassung erweitert
würde, um ein gesamtheitliches Konzept zu erstellen? Das gesamtheitliche Konzept, das
zum Ziel hat, dem Nutzer (Patienten) eine bessere medizinische Versorgung zu bieten,
würde medizinische und nichtmedizinische Daten über den Nutzer benötigen. Der Ein-
fluss einer solchen zukünftigen Nutzer-Community und die möglichen Ergebnisse aus
Forschungsdaten, die auf dem zukünftigen IT-Service basieren, könnten auch dazu
beitragen, Open-Innovation-Prozesse zu entwickeln und zukünftige Forschungen im
Bereich Open Innovation voranzutreiben (Chesbrough & Bogers, 2014).

Wissenschaftliche Fragestellung.  Wir entwickelten einen Prototyp eines zukünftigen IT-


Gesundheitsservices, der von einem Open-Innovation-orientierten IT-Unternehmen im
Gesundheitswesen angeboten werden könnte. Abhängig von der Elektronik und Sensor-
technik würde dieses IT-Produkt (IT-Service) alle personenbezogenen medizinischen
und nichtmedizinischen Daten sammeln, die es erfassen könnte – mit Zustimmung der
betreffenden Person. Die wissenschaftliche Fragestellung war, ob Nutzer bereit wären,
alle ihre medizinischen und nichtmedizinischen Daten an einen zukünftigen IT-Service
zu übermitteln, der von einem Open-Innovation-orientierten, im Gesundheitswesen
tätigen IT-Unternehmen angeboten wird. Erfüllt der Prototyp eines solchen zukünftigen
IT-Services die Anforderungen der Nutzer? Und führt er zu einer hohen Bereitschaft, alle
Daten an ein Open-Innovation-orientiertes, im Gesundheitswesen tätiges Unternehmen
zu übermitteln, das diesen Service anbietet?

Sekundärdaten.  In einer Multicenterstudie (4 Zahnkliniken und 6 Arztpraxen) in


Deutschland befragten wir von Februar 2014 bis Februar 2015 in Köln und Bonn 821
Patienten, für wie wichtig sie verschiedene Faktoren halten. Von mehr als 2439 Patienten
erfüllten nur 821 die Einschlusskriterien. Die Einschlusskriterien für Patienten waren
204 J. Plugmann und P. Plugmann

folgende: eine vorliegende zahnmedizinische und medizinische Erkrankung; 20 bis


75 Jahre alt; mindestens eine chronische medizinische Erkrankung (z. B. Diabetes
oder koronare Herzerkrankung); erfahren in der IT-Nutzung; und eine positive Ein-
stellung zu IT-Services. Unter Daten sind in dieser Studie alle Daten zu verstehen, die
so erfasst werden können, dass sie für ein gesamtheitliches IT-Service-Konzept im
Gesundheitswesen sinnvoll zu verwenden sind. Dazu gehören beispielsweise folgende
Informationen: Ernährung, Zubereitung von Speisen, Gewicht, Sport, Gesundheits-
daten und Krankengeschichte, Stressprofil, genetische Risiken (falls Test vorhanden),
Umgebung, Dauer und Qualität des Schlafs, Regenerationsprofil, Hygieneprofil,
Sonnenexposition und Sonnenschutz. Notwendig ist die Einbeziehung verschiedener
elektronischer Sensoren und Geräte. Wir schickten E-Mails mit der Bitte um ein
Gespräch an 67 Geschäftsführer kleiner und mittelständischer Technologieunternehmen
in Deutschland und Belgien, die im Gesundheitswesen tätig sind. Es antworteten ledig-
lich 17, von denen 8 einem Gespräch zustimmten.

Primärdaten.  Diese Anschlussstudie führten wir als Multicenterstudie in zwei Schritten


durch. Zuerst wandten wir eine qualitative Forschungsmethode an, wobei wir mit
acht Geschäftsführern kleiner und mittelständischer Technologiefirmen in Deutsch-
land und Belgien sprachen, die im Gesundheitswesen tätig sind. Wir fragten sie,
welche Vorstellungen sie von Zukunftsszenarien technischer Produkte und Dienst-
leistungen für Patienten haben, die auf bereits vorhandenen oder zukünftigen Verfahren
und Konzepten basieren. Parallel dazu sprachen wir mit 16 Patienten, die gleichzeitig
an einer zahnmedizinischen und einer medizinischen Erkrankung litten, über ihre
Erwartungen hinsichtlich solcher Produkte in der Zukunft und über ihre Bereitschaft,
ihre personenbezogenen Daten an ein Open-Innovation-orientiertes Unternehmen zu
übermitteln, das im Gesundheitswesen tätig ist. Danach gruppierten wir die Gespräche
in drei Hauptbereiche auf der Unternehmens- und der Patientenseite. Als nächstes ent-
wickelten wir den Prototyp eines IT-Modells, und im zweiten Schritt der Studie legten
wir ihn Patienten vor, die unsere Einschlusskriterien erfüllten. Unter Anwendung einer
quantitativen Forschungsmethode stellten wir ihnen Fragen aus einem standardisierten
Fragebogen, der auf Grundlage der Erfahrungen aus den Gesprächen erstellt worden war.

Datenanalyse.  Nach den Gesprächen (Schritt 1) wurden die besprochenen Hauptthemen


ermittelt und schriftlich festgehalten. Später wurden die Hauptthemen der Gespräche
kodiert. Die Kodierung hilft, Muster zu erkennen und eine Liste von Standards zu
erstellen, die den Blickwinkel der Industrie und des Nutzers berücksichtigt.
Der bei der Befragung der Nutzer (Schritt 2) verwendete Fragebogen war auf Grund-
lage der Erfahrungen aus den Gesprächen erstellt worden. Er spiegelte die wichtigsten
Themen wider, die in den Gesprächen aufkamen. Abschließend wurden die Antworten
der Nutzer auf die Fragen aus dem standardisierten Fragebogen unter Verwendung von
Software zur statistischen Analyse (IBM SPSS 22.0) untersucht.
Das zukünftige Open-Innovation-Konzept im Gesundheitswesen … 205

Prototypmodell eines zukünftigen IT-Services im Gesundheitswesen


Dieses Prototypmodell eines zukünftigen IT-Gesundheitsservices bezog sowohl bereits
vorhandene IT-Anwendungssoftware als auch derzeit zur Verfügung stehende Sensor-
technik und Elektronik mit ein, aber das Konzept selbst, sie miteinander zu kombinieren,
liegt derzeit noch nicht vor und stellt einen Denkansatz für zukünftige Technik dar.
Dieses Zukunftskonzept erlaubt Nutzern (Patienten) als rechtmäßigen Eigentümern
ihrer Daten, alle ihre zahnmedizinischen, medizinischen und sonstigen Daten, die sie
und das Unternehmen als relevant festlegen, an das Gesundheitsunternehmen zu über-
mitteln (vorbehaltlich der Zustimmung des Nutzers), um eine gute medizinische Ver-
sorgung zu erhalten. Der Open-Innovation-Prozess erlaubt es jedem einzelnen Nutzer,
sich anonymisierte Daten anderer Kunden anzusehen, um von Forschungsergebnissen
zu profitieren, die auf Resultaten aus dem gemeinsamen Datenbestand dieser konkreten
Nutzer-Community basieren. Außerdem kann jeder Nutzer direkt mit dem Unternehmen
kommunizieren, um Nutzerwünsche zu übermitteln. Anhand dieser Wünsche kann dann
in sehr kurzer Zeit ein individuelles, weiterentwickeltes Modell erarbeitet werden, das
die Nutzeranforderungen erfüllt.

4. Ergebnisse
Nutzerseitig zeigten die Ergebnisse, dass es 91,1 % (n = 748) der Patienten wichtig
war, den zukünftigen IT-Service im Gesundheitswesen durch einen Open-Innovation-
Prozess beeinflussen zu können. An zweiter Stelle kam mit 89,4 % (n = 734) die Sicher-
heit der IT-Daten. Den dritten Platz belegte mit 86,6 % (n = 711) die Möglichkeit, von
wissenschaftlichen Forschungsergebnissen zu profitieren, die auf dem Datenbestand der
Community des zukünftigen IT-Services basieren. Wenn diese drei wichtigen Standards
eines Open-Innovation-Prozesses, die IT-Sicherheit und wissenschaftliche Ergebnisse
aus dem Datenbestand der Community gewährleistet wären, wären insgesamt 87,8 %
(n = 721) der Patienten bereit, alle ihre medizinischen und nichtmedizinischen Daten wie
oben erwähnt zu übermitteln, um eine gute medizinische Versorgung zu erhalten.

5. Fazit
Die Ergebnisse der Abhandlung zeigen, dass Patienten, die die Einschlusskriterien
erfüllten, nur bei Einhaltung dreier wichtiger Faktoren als erforderlichem Standard bereit
gewesen wären, ihre medizinischen und nichtmedizinischen Daten zu übermitteln. Diese
Faktoren sind ein Open-Innovation-Prozess, der Nutzer und ihre Ideen einbezieht, die IT-
Sicherheit und die Möglichkeit, vom Datenbestand (von den Forschungsergebnissen) der
Nutzer dieses Services zu profitieren. Unter der Voraussetzung, dass diese drei Standards
erfüllt sind, zeigt die empirische Studie deutlich, dass bei Nutzern (Patienten) eine hohe
Bereitschaft besteht, personenbezogene medizinische und nichtmedizinische Daten an
einen zukünftigen, von Open-Innovation-orientierten Unternehmen im Gesundheits-
wesen angebotenen IT-Service zu übermitteln, um eine gute medizinische Versorgung zu
erhalten.
206 J. Plugmann und P. Plugmann

Diese Abhandlung leistet einen Beitrag zum Verständnis folgender Punkte: Wie
wichtig sind Nutzer im Open-Innovation-Prozess, und wie hoch ist ihre Bereitschaft,
daran teilzunehmen (von Hippel et al., 1999) ? Welche Standards werden aus Sicht des
Nutzers im Open-Innovation-Prozess erwartet (Chesbrough und Bogers, 2014) ? Wie
weit müssen sich Unternehmen im Open-Innovation-Prozess öffnen (West, 2003), um im
zukünftigen Markt für medizinische Dienstleistungen erfolgreich zu sein ?

3 Studie 2

Auf Grundlage der „Studie 1“ konzentrierten wir unsere Forschung in den folgenden
Jahren auf die Akademiker, die möglicherweise am Open-Innovation-Prozess beteiligt
wären. Diese „Studie 2“ wurde im Oktober 2021 und Folgemonaten auf dem „AI-Clash“
der Technischen Hochschule Deggendorf (THD) bei Meetings und Workshops inter-
nationaler Expertenteams aus verschiedenen Disziplinen präsentiert und besprochen,
die zum Bereich „Technologien im Gesundheitswesen“ unter der Leitung von Prof. Dr.
Patrick Glauner, einem der jüngsten Professoren in Europa für Künstliche Intelligenz,
Lösungsansätze und Prototypen entwickelten. Sie trägt den Titel „Academics’
Willingness to Participate in an Open Innovation Ecosystem Platform Which Develops
Medical Technology Products“.

1. Einleitung
Der Aufbau eines Open-Innovation-Ökosystems kann ein lokales oder globales Konzept
einbeziehen (Chesbrough et al., 2014). Durch Wissenstransfer (Bacon et al., 2019),
Beziehungen zwischen Organisationen (Radziwon & Bogers, 2019), Forschungs-
möglichkeiten (West & Bogers, 2017), Auswirkungen auf die Unternehmerschaft
(Nambisan et al., 2018) sowie Vernetzung von Unternehmen und Communities (Gupta
et al., 2017) böte sich ein enormes Potential für Open-Innovation-orientierte Ökosystem-
Plattformen, die zur Entwicklung medizintechnischer Produkte dienen.
Die wissenschaftliche Fragestellung ist motiviert durch Open-Innovation-Platt-
formen in anderen Branchen, wie etwa Local Motors in der Automobilbranche (https://
localmotors.com), in denen technische Produkte mit Hilfe eines wirksamen Marketing-
konzepts gebaut wurden, das Gestalter und Wegbereiter anlockte (https://www.youtube.
com/watch?v=azCRuwtE_n0). Die wissenschaftliche Fragestellung lautet: Wie groß ist
die Bereitschaft von Akademikern, an einer solchen Plattform zur Entwicklung medizin-
technischer Produkte mitzuwirken? Unter „medizintechnischen Produkten“ ist in dieser
Studie eine zukünftige Medizintechnik zu verstehen, die ernste gesundheitliche Krisen
wie Krebs oder traumatische Verletzungen auf neue Weise bewältigen könnte, indem
verschiedene bereits vorhandene und zukünftige Verfahren mit KI im Mittelpunkt
kombiniert werden – wie beispielsweise die „Med-Bay“ im Film Elysium (https://www.
youtube.com/watch?v=ZK1r6VP49qI).
Das zukünftige Open-Innovation-Konzept im Gesundheitswesen … 207

2. Theoretischer Hintergrund
In dieser Abhandlung analysieren wir die Bereitschaft von Akademikern, sich an einer
Open-Innovation-orientierten Ökosystem-Plattform zu beteiligen, daran mitzuwirken
und sie mitzugestalten, um gemeinsam mit anderen Menschen, Gruppen, Communities
und Unternehmen neue medizintechnische Produkte zu entwickeln. Das Potential
radikaler Innovation durch Open Innovation (Kennedy et al., 2017), die Vorteile der
Suche nach externem Wissen und der Aufnahmefähigkeit (Flor et al., 2018) sowie die
heterogenen Komponenten intellektuellen Kapitals (Agostini & Nosella, 2017) haben
beträchtliche Auswirkungen, die Open Innovation sowohl KMUs als auch der Weltwirt-
schaft beschert (Vanhaverbeke et al., 2018).
Es ist noch viel ungenutztes Potential vorhanden, das von der Mitwirkung von
Akademikern abhängt. Innovationshindernisse (Smith & Sandberg, 2018), gescheiterte
Umsetzungen (von Briel & Recker, 2018) sowie althergebrachte soziale und kulturelle
Strukturen sind nur einige der Herausforderungen, die eine Open-Innovation-orientierte
Ökosystem-Plattform bewältigen muss, um erfolgreich zu sein. Für das weitere Vorgehen
ist es am besten, Akademiker zu fragen, ob sie möglicherweise teilnehmen würden und
welche Faktoren ihre Teilnahmebereitschaft erhöhen würden.

3. Aufbau der Studie


Diese Studie basiert auf drei Büchern, die bei Springer International erschienen sind:
„Innovative Technologies for Market Leadership“ (Glauner & Plugmann (Hrsg.),
2020), „Creating Innovation Spaces“ (Nestle et al. (Hrsg.), 2021) und „Digitalization
in Healthcare“ (Glauner et al. (Hrsg.), 2021). Mehr als 60 Mitverfasser steuerten
interessante Kapitel bei, aber bestand auch die Bereitschaft, an einer Open-Innovation-
orientierten Ökosystem-Plattform mitzuwirken, um ein neues und radikales medizin-
technisches Produkt zu entwickeln? Anfängliche persönliche Gespräche mit diesen
Menschen zeigten keine klare Motivation oder Bereitschaft, an einer solchen Open-
Innovation-orientierten Ökosystem-Plattform mitzuwirken. Daher beschlossen wir,
Akademiker verschiedener Fachgebiete hinsichtlich ihrer Teilnahmebereitschaft zu
befragen und Schlüsselfaktoren zu benennen, die ihre Bereitschaft steigern würden.

Wissenschaftliche Fragestellung. Wir erwarten, dass die Ergebnisse einen beträcht-


lichen Einfluss auf das Erstellen Open-Innovation-orientierter Ökosystem-Plattformen
zur Entwicklung radikaler medizintechnischer Produkte haben. Für ein solches Projekt
benötigen wir Akademiker, die nicht nur bereit zur Teilnahme sind, sondern auch äußerst
motivierte Menschen, die sich durch Fehlschläge, Hindernisse und Konflikte über einen
längeren Zeitraum nicht beirren lassen.
Die wichtigsten Fragen waren folgende:

1. Wären Sie an einer Teilnahme interessiert?


2. Würden Sie sich die nötige Zeit nehmen und ein Jahr lang teilnehmen?
3. Würden Sie sich die nötige Zeit nehmen und länger als ein Jahr teilnehmen?
208 J. Plugmann und P. Plugmann

4. Wäre die Sprache ein Hindernis, wenn sie nicht Deutsch oder Englisch wäre?
5. Könnten Sie einen Projektleiter akzeptieren?
6. Wäre Geld in diesem Zusammenhang ein Motivationsfaktor für Sie?
7. Wäre Spaß in diesem Zusammenhang ein Motivationsfaktor für Sie?

Primärdaten.  Von Februar 2019 bis Februar 2021 führten wir in Nordrhein-Westfalen
(Deutschland) über einen Zeitraum von zwei Jahren Befragungen per Telefon oder
Videoanruf durch. Für unsere Studie befragten wir in Köln, Bonn, Leverkusen und
Düsseldorf 306 Akademiker aus den folgenden 6 Fachgebieten:

1. Ingenieurwesen und Biotechnik (50).


2. Informatik (52).
3. Medizin und Biologie (51).
4. Physik und Chemie (50).
5. Design (53).
6. Philosophie (50).

Das Einschlusskriterium für diese Akademiker war, dass sie nach Abschluss ihrer
Prüfungen bereits mehr als 3 Jahre gearbeitet hatten, und zwar an der Universität, in
einem Unternehmen oder teilzeitlich in beiden. Das Alter war kein Ausschlusskriterium.
Die Akademiker wurden zufällig auf den Sozialplattformen LinkedIn und XING aus-
gewählt und per E-Mail angeschrieben. Wenn sie einverstanden waren, wurden sie
danach per Telefon oder Videoanruf kontaktiert. In der ersten Runde schrieben wir 941
Akademiker per E-Mail an und erhielten 213 Antworten. Nach der zweiten Runde hatten
wir vier Wochen später schließlich 306 Akademiker, die an der Umfrage teilnahmen.
Bevor wir einen Fragebogen als quantitatives empirisches Hilfsmittel verwendeten,
begannen wir eine informative Voruntersuchung als qualitative Methode zur Ermittlung
von Clustern oder Schlüsselfaktoren, die es vor dem Erstellen des Fragebogens zu
berücksichtigen galt. Für diese informative Voruntersuchung organisierten wir 7 direkte
Gespräche mit erfahrenen Akademikern. Sie hatten alle mehr als 15 Jahre Industrie-
oder Universitätserfahrung mit wissenschaftlichen und industriellen Projekten, die sich
mit der Entwicklung neuer technischer Verfahren und der Verwirklichung innovativer
Produkte und Dienstleistungen beschäftigten. Per E-Mail baten wir 42 Akademiker aus
kleinen und mittelständischen Technologiefirmen oder Universitäten in Nordrhein-West-
falen (Deutschland) um Gespräche. Davon antworteten 26, von denen 7 einem Gespräch
zustimmten. Diese Akademiker stammten aus unseren persönlichen Netzwerken, und wir
kannten alle seit mehr als 5 Jahren.
Jedes Gespräch dauerte etwa 30 min, und wir unterhielten uns allgemein über
Erfahrungen und die Schlüsselfaktoren, die die Bereitschaft von Akademikern erhöhen,
an einer Open-Innovation-orientierten Ökosystem-Plattform zur Entwicklung medizin-
technischer Produkte mitzuwirken.
Das zukünftige Open-Innovation-Konzept im Gesundheitswesen … 209

Datenanalyse.  Nach den Gesprächen (Schritt 1) wurden die Hauptthemen schriftlich


auf Papier festgehalten. Später wurden die Hauptthemen der Gespräche kodiert. Die
Kodierung hilft uns, Muster zu erkennen und eine Liste möglicher Faktoren zu erstellen,
die den Blickwinkel der Akademiker berücksichtigt.
Der bei der Befragung der Akademiker (Schritt 2) verwendete Fragebogen basierte
auf den Ergebnissen der Gespräche und deckte die wichtigsten Themen ab, die sich aus
den Gesprächen ergaben. Die Faktoren waren Zeit, Geld sowie soziale und kulturelle
Anforderungen. Abschließend wurden die Antworten der Akademiker auf die Fragen aus
dem standardisierten Fragebogen unter Verwendung von Statistiksoftware (IBM SPSS
27.0) analysiert.

Open-Innovation-orientierte Ökosystem-Plattform zur Entwicklung medizin-


technischer Produkte
Diese zukünftige Plattform steht Akademikern offen, um an der Entwicklung medizin-
technischer Produkte mitzuwirken und zu diesem Zweck zusammenzuarbeiten und mit-
einander zu kommunizieren. Diese Produkte könnten Menschen helfen, gesundheitliche
Krisen, die sie durchleben (wie Krebs oder traumatische Verletzungen), zu bewältigen –
und zwar sehr schnell, sehr gut, sehr sicher und absolut erschwinglich. Das erfordert
interdisziplinäre Konzepte und Akademiker aus allen Fachgebieten mit unterschied-
lichem Erfahrungsniveau und ohne Diskriminierung aufgrund des Alters. Akademiker
stecken ihre Arbeit und Zeit völlig freiwillig in diese Projekte, und es entstehen keine
Konflikte mit den Universitäten oder Unternehmen, für die sie arbeiten. Sie sind
Open-Innovation-orientiert. Diese Menschen stellen ihre Freizeit, ihr Wissen und ihr
Engagement für ein gemeinsames Ziel zur Verfügung – die Entwicklung eines neuen,
radikalen medizintechnischen Produkts.

4. Ergebnisse
Die Ergebnisse zeigen, wie viele aller befragten Akademiker (n = 306) die 7 Fragen mit
Ja beantworteten.

1. Wären Sie an einer Teilnahme interessiert? 85,95 % (n = 263).


2. Würden Sie sich die nötige Zeit nehmen und ein Jahr lang teilnehmen? 46,41 %
(n = 142).
3. Würden Sie sich die nötige Zeit nehmen und länger als ein Jahr teilnehmen? 19,93 %
(n = 61).
4. Wäre die Sprache ein Hindernis, wenn sie nicht Deutsch oder Englisch wäre?
59,48 % (n = 182).
5. Könnten Sie einen Projektleiter akzeptieren? 69,93 % (n = 214).
6. Wäre Geld in diesem Zusammenhang ein Motivationsfaktor für Sie? 18,63 %
(n = 57).
7. Wäre Spaß in diesem Zusammenhang ein Motivationsfaktor für Sie? 75,49 %
(n = 231).
210 J. Plugmann und P. Plugmann

Wir stellten fest, dass 85,95  % (n  = 263) der befragten Akademiker (n  = 306)
bezeichnenderweise (p < 0,04) an einer Open-Innovation-orientierten Ökosystem-Platt-
form mitwirken würden, die zur Entwicklung medizintechnischer Produkte dient.
46,41 % (n = 142) würden ihre Zeit investieren und ein Jahr lang teilnehmen,
und 19,93 % (n = 61) würden Zeit investieren und länger als ein Jahr teilnehmen. Für
59,48 % (n = 182) wäre die Sprache ein Hindernis, wenn sie nicht Deutsch oder Englisch
wäre. 69,93 % (n = 214) könnten einen Projektleiter akzeptieren, für 18,63 % (n = 57)
wäre Geld ein Motivationsfaktor, und 75,49 % (n = 231) antworteten, dass Spaß ein
Motivationsfaktor wäre. Die Kontingenztafeln, die die Beziehung zu den sechs ver-
schiedenen Fachgebieten zeigen, sind Bestandteil noch laufender Arbeiten.

5. Fazit
Die Ergebnisse der Abhandlung zeigen, dass Akademiker eine hohe Bereitschaft
besitzen, an einer Open-Innovation-orientierten Ökosystem-Plattform zur Entwicklung
eines medizintechnischen Produkts mitzuwirken, und dass ihre Bereitschaft abnimmt,
wenn das Projekt länger als ein Jahr dauert. Eine andere Projektsprache als Deutsch oder
Englisch könnte ein Hindernis darstellen. Geld stellt für Akademiker keinen Schlüssel-
faktor für die Teilnahme dar, aber Spaß zu haben schon.
Diese Abhandlung leistet einen Beitrag zum Verständnis, wie wichtig die Dauer des
Projekts (Zeit), materielle Anreize (Geld) sowie soziale und kulturelle Faktoren (Spaß)
sein können, um die Bereitschaft von Akademikern zu erhöhen, am Open-Innovation-
Prozess mitzuwirken (von Hippel et al., 1999).

4 Studie 3

Auf Grundlage der Ergebnisse und Schlussfolgerungen dieser Studien der letzten Jahre,
die auf internationalen Konferenzen bzw. in internationalen Arbeitsgruppen vorgestellt
wurden, sowie unserer eigenen Veröffentlichungen und Bücher, die mit verschiedenen
Mitherausgebern herausgegeben wurden, gelangten wir zu einer neuen Sichtweise: näm-
lich zu der Erkenntnis, dass es notwendig ist, dass sich die Bevölkerung freiwillig daran
beteiligt, gesundheits- und personenbezogene Daten an eine Open-Innovation-Plattform
zu übermitteln, um eine schnelle Lösung für alle zu ermöglichen – in Krisensituationen
und -szenarien im Gesundheitswesen, die wir uns aus heutiger Sicht vielleicht gar
nicht vorstellen können. Das erfordert als vorbeugende Strategie eine fortlaufende
Kommunikationskampagne mit Informationen zur Unterstützung der Öffentlich-
keit sowie Investitionen aus dem öffentlichen und privaten Sektor, um Menschen zu
motivieren, diese Datenerfassungssysteme in der Zukunft zu unterstützen. Diesmal sind
also nicht innovative Technik oder Arzneimittel der begrenzende Faktor für Lösungs-
konzepte, sondern das Verhalten von Patienten oder Menschen im Kontext einer großen
Gruppe, die große Datenmengen (Big Data) liefert.
Das zukünftige Open-Innovation-Konzept im Gesundheitswesen … 211

Die dritte Studie ist bereits im Gange, und wir erwarten, Ende 2022 vorläufige Ergeb-
nisse vorstellen zu können. In Bezug auf die praktischen Auswirkungen denke ich, dass
sich Menschenrechte in Zukunft nicht nur auf die individuelle Sichtweise konzentrieren
dürfen, sondern es auch eine neue, innovative, gemeinschaftsorientierte Gesetzgebung
geben könnte, um die Notwendigkeit von Big Data für die Entwicklung schneller
Lösungskonzepte zu berücksichtigen. Zweifellos wird das ein langwieriger Prozess sein,
und wir können hoffen, durch neu aufkommende Krisen aller Art neue positive Ideen zu
bekommen, um die Gesundheit der Menschen aller Nationen zu schützen. Insbesondere
die Raumfahrt und ein zukünftiges Leben unserer Spezies auf mehreren Planeten hängen
davon ab, dass Bevölkerungen verstehen, dass das Bereitstellen von Daten innerhalb
des Konzepts einer Open-Innovation-Plattform nicht nur die Zukunft des Gesundheits-
wesens bestimmt, sondern auch die Wahrscheinlichkeit, dass unsere Spezies in Szenarien
überlebt, in denen eine Kombination aus verschiedenen Krisen auftritt, die sich heute
niemand vorstellen kann.

Literatur

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Das zukünftige Open-Innovation-Konzept im Gesundheitswesen … 213

Julia Plugmann  nach ihrem Medizinstudium an den Universitäten


Duisburg-Essen und Köln, dem Staatsexamen an der Universität zu
Köln, arbeitet sie seit mehreren Jahren als Ärztin (Innere Medizin)
im Krankenhaus.
Zusätzlich beschäftigt sie sich mit Innovationen und
Digitalisierung im Gesundheitswesen. Einige Publikationen,
Abstracts und Präsentationen in diesem Bereich konnte sie bereits
beitragen, u. a. 2014 auf der „12th Open and User Innovation
Conference“ an der Harvard Universität in Boston/USA.
E-Mail: plugmann@gmx.de

Prof. Dr. med. dent. Dr. scient. med Philipp Plugmann M.Sc.
M.Sc. MBA  ist Zahnmediziner in eigener Praxis in Leverkusen
mit 22 Jahren Erfahrung, mehrfacher Unternehmensgründer und
Gutachter für das Bundesgesundheitsblatt. Seit 2013 ist er externer
Research Fellow in der Abteilung für Parodontologie der Uni-
versitätszahnklinik Marburg und seit Februar 2020 Professor für
interdisziplinäre Parodontologie und Prävention im Studiengang
Dental Hygienist B.Sc. an der SRH Hochschule für Gesundheit. Er
hält einen Master of Science in Parodontologie und Implantat-
therapie (DGParo), einen MBA mit Schwerpunkt Health Care
Management und einen Master of Science in Business Innovation
(beide EBS Universität für Wirtschaft und Recht). Er hat über 80
Publikationen in den Bereichen Zahnmedizin, Innovation und
Medizintechnik und bereits 8 Bücher herausgegeben.
E-Mail: philipp.plugmann@srh.de
Medizinische Frühintervention in der
Behandlung alkoholkranker Menschen

Arne Lueg

Die Ausgangssituation
Alkohol als berauschende Substanz wird seit Menschengendenken konsumiert
und gehört in der abendländischen Kultur zum festen Bestandteil von Festivitäten,
Restaurantbesuchen oder schlicht zu abendlichen Treffen. Wer in unserer Gesell-
schaft und gerade im Ruhrgebiet, mit seiner hohen Dichte an Brauereien und Schnaps-
brennereien, auf Alkohol verzichtet, wird mitunter misstrauisch beäugt. So wird die
Aussage „ich trinke keinen Alkohol“ auf einer Feier zum Teil nur dann akzeptiert, wenn
sie mit dem Zusatz „ich bin heute der Fahrer“ versehen wird; und selbst dann kann es
dazu kommen, dass der „Alkoholverweigerer“ genötigt wird, doch ein oder zwei kleine
alkoholische Getränke zu sich zu nehmen, um auf den Gastgeber oder das Geburtstags-
kind anzustoßen, da man ja auch mit einer geringen Menge Alkohol im Blut noch Auto-
fahren könne.
Hätten wir eine Zeitmaschine und würden einige tausend Jahre zurückreisen, in
eine Zeit in der die Menschheit gerade auf dem Weg zur Sesshaftigkeit war aber mit-
unter auch noch ihrem Trieb zum Sammeln und Jagen nachging, so würden wir fest-
stellen, dass das erste Zahlungsmittel unserer Art ein aus Getreide gegorener Brei war
(Wartmann, 2003), welcher dem heutigen Bier nicht unähnlich, schon damals dem am
Beginn seiner kulturellen Entwicklung stehenden Menschen half, Geselligkeit zu ent-
wickeln und zwischenmenschlichen Austausch zu fördern. Und auch heute noch werden
Brauereigesellen nicht nur finanziell entlohnt, sondern erhalten ihr regelmäßiges Deputat
in Form dieses funktionellen Gerstensaftes.

A. Lueg (*) 
Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, LWL-Klinik Dortmund, Bochum, Deutschland
E-Mail: arne.lueg@lwl.org

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 215
Teil von Springer Nature 2022
S. Krauss und P. Plugmann (Hrsg.), Innovationen in der Wirtschaft,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-37411-2_13
216 A. Lueg

Man kann unschwer erkennen, dass der Alkohol auch in unserer heutigen Zeit viele
Funktionen hat. Er macht die Menschen mutig und verleiht Selbstbewusstsein. Er schafft
ein Gefühl der Zugehörigkeit. Er lindert Schmerzen, sowohl körperliche als auch seelische,
lindert Ängste und vieles mehr. So schreiben wir dem Alkohol, in allen seinen Varianten,
viele positive Eigenschaften zu und der überwiegende Teil unserer Bevölkerung würde
nicht im Traum daran denken auf ihn zu verzichten. Trotzdem sind auch die negativen
Wirkungen und Folgen des Alkohols nahezu jedem erwachsenen Menschen bewusst.
Es ist allgemein bekannt, dass Alkohol toxisch, also ein Zellgift ist, welches unsere
Leber und unser Nervensystem auf zellulärer Ebene schädigt. Es ist auch bekannt, dass
Menschen unter Alkoholeinfluss zum Teil unkontrolliert agieren, das Aggressions-
potenzial steigt und die Hemmschwelle zur Gewalttätigkeit sinkt. Manche Gefühle
werden intensiver erlebt und einige, die es übertreiben, geraten in einen Taumel aus
Melancholie und Selbstmitleid. Die negativen Eigenschaften des Alkohols kann man
am einfachsten anhand nackter Zahlen ablesen, wenn man sich die bekannten Verkehrs-
statistiken ansieht (DHS, 2021, S. 157–163). So ereigneten sich im Jahr 2019 insgesamt
13.949 Unfälle unter Alkoholeinfluss. Bei 4,6 % aller Unfälle mit Personenschaden
handelt es sich um Alkoholunfälle. Bei diesen Unfällen verunglückten insgesamt 17.411
Personen, 1,3 % davon wurden getötet und 26,4 % schwer verletzt. Festzuhalten ist,
dass Alkoholunfälle mit Personenschaden insgesamt 1,6-mal häufiger tödlich enden als
Unfälle mit Personenschaden insgesamt. Zwar hat die Zahl der Alkoholunfälle von 2010
bis 2019 um 7,4 % abgenommen, allerdings mit einem Anstieg um 5,4 % gegenüber
2015. Erwähnenswert erscheint auch, dass in der Altersgruppe der 25- bis 34-jährigen
Unfälle unter Alkoholeinfluss am häufigsten auftreten, also genau in der Zeit in der ein
Mensch, welcher problematisch Alkohol konsumiert, dies für sich häufig noch nicht
erkannt hat. Die volkswirtschaftlichen Kosten des Alkoholkonsums belaufen sich neben-
bei gesagt übrigens auf etwa 57,04 Mrd. Euro (DHS, 2020, S. 225–234).
Und doch, trotz aller Erkenntnisse, hat der Alkohol keinen so schlechten Ruf. Es
gibt in unserer Gesellschaft eine stillschweigende Vereinbarung. Nicht der Alkohol ist
böse und schädlich, sondern derjenige, der nicht in der Lage ist mit ihm umzugehen ist
schwach, charakterlich und mental. Das perfide an dieser Situation ist, dass Menschen,
die bereits in frühen Jahren einen schädlichen Umgang mit Alkohol erkennen lassen, von
ihrem Umfeld darin zum Teil noch bestärkt werden, da zunächst einmal jemand der viel
trinken kann, ein gewisses Ansehen und Respekt erhält. Einem Menschen, der in Trauer
ist, wird empfohlen sich doch „einen zu trinken“ um das Leid zu lindern und auf andere
Gedanken zu kommen. Und noch bis heute hält sich standhaft das Gerücht, dass ein
Glas Wein am Tag förderlich sei für den Blutdruck und die Gesundheit im Allgemeinen,
sodass selbst Ärzte ihren Patienten den Rat geben, täglich doch ein Glas zu trinken. Eine
tatsächliche Menge, die ggf. noch unbedenklich wäre, wird an dieser Stelle dann meist
nicht definiert. Als Mediziner muss man es eigentlich etwas genauer nehmen. Man kann
sagen, dass ein riskanter Konsum bei 12 g Reinalkohol pro Tag für Frauen bzw. 24 g für
Männer beginnt (DHS, 2021, S. 36 f., 116, 577–584). Die leberschädigende Alkohol-
menge pro Tag dagegen beträgt für Frauen 20 g Reinalkohol und für Männer 40 g.
Medizinische Frühintervention in der Behandlung … 217

Aus psychodynamischer Sicht unterliegen wir gesellschaftlich einem Konflikt.


Wir alle, oder zumindest die meisten erwachsenen Menschen, konsumieren Alkohol,
obwohl wir uns der schädlichen Wirkung und der Folgen bewusst sind. Und ja, der über-
wiegende Teil dieser Konsumenten erlebt diese schädlichen Folgen weniger am eigenen
Körper, vielleicht bis auf einen schweren „Kater“ am nächsten Tag. So gehen wir mit
denen, die eine Abhängigkeit von Alkohol im medizinischen Sinne haben, besonders hart
ins Gericht. Die Störung wird, so berichten es viele Betroffene, eher nicht als Krank-
heit, sondern weiterhin als Charakterschwäche betrachtet. Dies hat bei vermeintlich
„gesundem“ Konsum von Alkohol den Effekt, dass der Konsument diesen noch als
positiv erlebt und die negativen Folgen verleugnen, verdrängen oder von sich abspalten
kann und denen zuschreibt, die ein Alkoholproblem haben. Denn: „Der Alkohol selbst ist
ja nicht schädlich, sondern nur mein Umgang mit ihm“.
An dieser Stelle sei noch einmal auf aktuelle Statistiken hingewiesen (DHS, 2021,
S. 9–20).
Deutschland liegt beim Gesamtalkoholkonsum ländervergleichend im oberen Drittel
auf Platz neun. D. h. in den Jahren 2008–2018 bestand bei Erwachsenen ab 15 Jahren
ein Alkoholkonsum von 10,8 Litern pro Kopf. Spitzenreiter ist Lettland mit 12,6 Litern.
Die 30-Tage-Prävalenz für riskanten Konsum beträgt 12,6 %, für Rauschtrinken (das
sind Tage mit 5 oder mehr eingenommenen Gläsern Alkohol) 22,3 % für 1 bis 3 Tage,
bzw. 12,3 % für 4 oder mehr Tage (Seitz et al., 2019). Die Prävalenz alkoholbezogener
Störungen nach DSM-IV, bei Erwachsenen zwischen 18 und 65 Jahren, lag laut
Statistischem Bundesamt, mit Stichtag: 31.12.2017, für Missbrauch bei 2,8 % und für
Abhängigkeit bei 3,1 % (DHS, 2021, S. 36, 116, 577–584).
Doch wer ist eigentlich Alkoholiker und wer nicht? Entscheidet allein die Konsum-
menge darüber, dass ich ein Problem habe oder der Grund, aus dem ich trinke? Was
bedeutet überhaupt „Sucht“ und was ist der Unterschied zur Abhängigkeit?
„Sucht“, im eigentlichen Wortsinn, geht zurück auf das Wort „siech“ was so viel
bedeutet wie „an einer Krankheit leiden“. Wir kennen zum Bespiel den Ausdruck „dahin-
siechen“. Auch steckt die „Sucht“ beispielsweise in den Bezeichnungen „Schwind-
sucht“ oder „Magersucht“. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert Sucht
als einen „Zustand periodischer oder chronischer Vergiftung, hervorgerufen durch den
wiederholten Gebrauch einer natürlichen oder synthetischen Droge“. 1968 ersetzte
die WHO den Begriff „Sucht“ durch „Abhängigkeit“ (Möller et al., 2005). Die inter-
nationale Klassifikation der Krankheiten (ICD) definiert in ihrer 10. Ausgabe die sechs
sogenannten Diagnosekriterien der Abhängigkeit.
Diese sind:

1. Ein starker Wunsch und/oder Zwang die Substanz zu konsumieren,


2. der Kontrollverlust über Beginn, Menge und/oder Beendigung der Einnahme der
Substanz,
3. körperliche Entzugssymptome,
218 A. Lueg

4. eine Toleranzentwicklung, welche üblicherweise mit einer Dosissteigerung einher-


geht,
5. die Vernachlässigung von Interessen oder Pflichten, zugunsten das Konsums
6. die Fortsetzung des Konsums, trotz bestehender körperlicher und/oder psychosozialer
Folgeschäden.

Werden diese Kriterien berücksichtigt, darf ein Arzt die Diagnose „Abhängigkeit von
Alkohol“ dann stellen, wenn sein Patient in einem Zeitraum von 12 Monaten, drei der
sechs Kriterien erfüllt. Schwierigkeiten in dieser Hilfestellung zur Diagnosefindung
bleiben, da sie in hohem Maße an die subjektiven Angaben des jeweiligen Betroffenen
gebunden sind. Eine Binsenweisheit der Suchtmediziner besagt, dass der Patient
immer als letzter bemerkt, dass er ein Problem hat. Und tatsächlich erscheinen in den
Ambulanzen der Kliniken, Betroffene erfahrungsgemäß in Begleitung ihrer Familie, da
diese das bestehende Verhalten zuerst als problematisch wahrnehmen und um Hilfe für
ihren Angehörigen bitten.

Die Behandlung
Die Hilfen, die ein alkoholkranker Mensch in Anspruch nehmen kann, sind in Deutsch-
land vielfältig und umfassend. Und nicht immer ist der erste Schritt gleich der in die
Klinik. Tatsächlich werden Betroffene einer stationären Entzugsbehandlung meist
erst nach vielen Jahren oder gar Jahrzehnten zugewiesen, zu einem Zeitpunkt, an dem
bereits deutliche Folgeschäden der Erkrankung sichtbar werden. So gibt es in Deutsch-
land, neben dem Angebot einer stationären Behandlung, ein flächendeckendes Sucht-
hilfesystem. Dieses Suchthilfesystem umfasst Suchtberatungsstellen, Selbsthilfegruppen,
suchtmedizinische Ambulanzen, Einrichtungen der Rehabilitation Suchtkranker und
eben den bereits erwähnten stationären qualifizierten Entzug. Des Weiteren gibt es
mittlerweile auch in größeren Firmen und bei größeren Arbeitgebern, Suchtberater, ein-
gebettet in ein internes Gesundheitsmanagement.
Doch der Konflikt dem sich ein Suchtkranker ausgesetzt sieht, sich preisgeben zu
müssen, trotz der gesellschaftlichen Abwertung, die er durch eine Offenbarung seiner
Erkrankung erfährt, verhindert oftmals die richtigen Schritte zu gehen und in unserem
Suchthilfesystem anzukommen. Und so passiert es nicht selten, dass nach vielen Jahren
des Alkoholkonsums, eine stationäre Behandlung notwendig wird. Die Gründe dafür
sind vielfältig. Oft sind Familie oder Freunde nicht mehr in der Lage den hochgradigen
Alkoholkonsum zu tolerieren, geschweige denn zu kompensieren, der Hausarzt rät zu
einer stationären Behandlung aufgrund der hochgradig erhöhten Leberwerte, der Job-
verlust droht aufgrund der Fehlzeiten oder der Alkoholisierung am Arbeitsplatz oder
der Betroffene wird gar gegen seinen Willen fremdeingewiesen, da er alkoholisiert Auto
gefahren ist und sich in der Polizeikontrolle aggressiv verhält. Oftmals wird erst dann
eine stationäre Behandlung in Anspruch genommen.
Kommt es also zum oben beschriebenen Fall und ein alkoholkranker Patient stellt sich
in der Notaufnahme eines Krankenhauses oder einer spezialisierten Ambulanz vor, ist
Medizinische Frühintervention in der Behandlung … 219

der erste ärztliche Kontakt wichtig und sollte nicht abschrecken. Im besten Fall erscheint
der Patient freiwillig, aus eigenem Antrieb oder motiviert durch die Angehörigen. Die
Aufnahme zur stationären Behandlung erfolgt dann nach Abklärung der Diagnose-
kriterien.
Aktueller Goldstandard in der Krankenhausbehandlung Alkoholkranker ist, die oben
erwähnte, qualifizierte Entzugsbehandlung. Sie erfolgt nach den geltenden S. 3-Leit-
linien (DGPPN & DG-SUCHT, 2020, S. 85–89). Der qualifizierte Entzug von Alkohol
beginnt in der Regel mit der Einweisung eines niedergelassenen Arztes und stellt eine
eigenständige Behandlungsform für suchtkranke Menschen dar, welche sich frei-
willig auf das Behandlungsprogramm in einem streng suchtmittelfreien Raum ein-
lassen können. Das Behandlungsteam auf einer spezialisierten Suchtstation besteht aus
ausgebildetem pflegerischen Fachpersonal, Ergotherapeuten, Bewegungstherapeuten,
Sozialarbeitern, psychologischen Psychotherapeuten und Ärzten.
Neben den diagnostischen Maßnahmen, begleitet dieses Behandlungsteam den
körperlichen Entzug und leitet die Therapie mit einem vorwiegend psychoedukativen
Ansatz. Durch die Aufklärung über das Krankheitsbild, eine motivierende Gesprächs-
führung und stützende Gespräche soll der Wille zur Abstinenz, bzw. die Abstinenz-
motivation des Patienten gefördert werden. Dazu gehören gezielte Informationen zur
Suchterkrankung, sowie zu Suchtfolgeschäden. Das psychotherapeutische Milieu in der
Suchtmedizin findet traditionell in einem gruppenorientierten Setting statt. Aber auch
therapeutische Einzelgespräche und die konkrete Planung weiterer Therapieschritte sind
Grundlage der Behandlung.
Um es einmal an einem konkreten Beispiel plastisch darzustellen: Frau B. trinkt seit
ihrem 16. Lebensjahr Alkohol. Sie ist mit ihren zwei älteren Schwestern in behüteten
Familienverhältnissen aufgewachsen. Ihr Vater war berufstätig und ihre Mutter ver-
sorgte die Kinder und den Haushalt. In Frau B. Familie wurde schon immer viel und
gerne getrunken. So gehörte der Alkohol zu sämtlichen Geburtstagsfeiern und ihr Vater
trank nach der Arbeit regelmäßig sein sog. „Feierabendbier“. Frau B. war stolz, als ihr
an ihrem 16. Geburtstag zum ersten Mal, im Kreis der Familie, ein Glas Sekt angeboten
wurde, da sie nun offiziell Alkohol trinken durfte. Ihren ersten Vollrausch erlebte sie
einige Zeit später bei gemeinsamen Treffen mit ihren Freunden. Im Weiteren blieb ihr
Alkoholkonsum aber auf das Wochenende beschränkt.
Frau B. wuchs in eher konservativ katholisch geprägten Verhältnissen auf und ver-
innerlichte ein traditionell geprägtes Familienbild. Ihre beiden älteren Schwestern
heirateten bereits mit Anfang 20 und führten dieses Familienbild fort. Frau B. machte
ihre Homosexualität daher ihren Eltern gegenüber nie offen. Nach dem Abitur
begann Frau B. ein Studium der Soziologie. Sie begann vorübergehend mit weichen
Drogen zu experimentieren, Alkohol blieb aber ihr Hauptkonsummittel. Im Zuge des
Studiums, steigerte Frau B. ihren Konsum. Sie trank nun auch unter der Woche. Ihren
Kommilitonen fiel auf, dass sie ab und an alkoholisiert Vorlesungen besuchte und
wichtige Seminare verpasste. Darauf angesprochen äußerte sie, dass sie den Alkohol
benötige, um „Probleme“ zu beseitigen, um z. B. den lästigen Fragen der Familie aus
220 A. Lueg

dem Weg zu gehen. Manchmal fiel es ihr sogar schwer ohne Alkohol ihre Wohnung zu
verlassen. Dies führte zunehmend zu Problemen im Studium. Mit 28 Jahren musste sie
ihr Studium abbrechen und begann eine Ausbildung zur Bibliothekarin. In dieser Zeit
blieb sie weitgehend alkoholfrei und erhielt letztlich sogar eine Anstellung in einer
kleinen Bücherei. Mit Mitte 30 begann sie ihren Alkoholkonsum erneut zu steigern, was
wiederum zu Problemen mit ihrem Arbeitgeber führte. Frau B. verlor daraufhin ihren
Job. Sie konsumiert seitdem in Phasen von mehreren Wochen hochdosiert Alkohol.
Meist beendet sie ihren Konsum nach einiger Zeit abrupt und bleibt dann, manchmal
sogar für mehrere Monate, abstinent. Frau B. ist mittlerweile 52 Jahre alt.
So oder so ähnlich könnte eine klassische Suchtanamnese aussehen.
Bei einem Verlauf wie bei unserer Patientin wird auch ein Laie unschwer erkennen
können, dass eine Therapie empfehlenswert wäre. Doch welche Möglichkeiten der
Behandlung hat Frau B. nun?
Dass eine Alkoholentzugstherapie wirksam ist, konnte schon im Zusammenhang mit
der sog. MEAT-Studie (Münchener Evaluation der Alkoholismustherapie) 1989 nach-
gewiesen werden. Hier wurde aufgezeigt, dass nach einer Alkoholtherapie, in Zeit-
fenstern von einem halben Jahr, innerhalb eines definierten Katamnesezeitraumes,
jeweils eine Abstinenzrate von ca. 66 % erreicht wurde (Küfner & Feuerlein, 1989).
Tatsächlich ist eine Abhängigkeit von Alkohol aber die bis dato einzige Erkrankung,
deren Ursache im Rahmen einer Rehabilitationsbehandlung nach Sozialgesetzbuch VI,
also finanziert durch die Rentenversicherung, behandelt wird (DGPPN & DG-SUCHT,
2020, S. 86–88) und genießt dadurch eine zweifelhafte Sonderstellung. Im Zuge einer
Krankenhausbehandlung nach Sozialgesetzbuch V, kann lediglich die Behandlung des
akuten Entzugssyndroms und eine Vorbereitung auf die dann folgende Therapie im
Rahmen einer qualifizierten Entzugsbehandlung erfolgen. Die qualifizierte Entzugs-
behandlung sollte leitliniengerecht mindestens 3 Wochen umfassen, kann sich aber bei
kompliziertem Verlauf auf bis zu 6 Wochen ausdehnen (DGPPN & DG-SUCHT, 2020,
S. 85–89).
Frau B. würde also, sofern genug Eigeninitiative und Motivation vorhanden ist, in
einer entsprechenden Ambulanz vorstellig und erhält einen Termin für eine stationäre
Aufnahme. Die eigentliche Krankenhausbehandlung beginnt dann mit einem ärzt-
lichen Erstkontakt. Bei dieser Aufnahmeuntersuchung wird der aktuelle körperliche
Zustand beurteilt und die Patientin beginnt mit einem Trinkstopp. Menschen, die einen
chronischen Alkoholkonsum betreiben, entwickeln im Laufe ihres Lebens eine Alkohol-
toleranz, welche im Weiteren eine Steigerung der Konsummenge verursacht. Der
erwähnte Trinkstopp, also das plötzliche Auslassen von Alkohol, führt, vermittelt durch
eine fehlende inhibierende Wirkung GABAerger Rezeptoren und durch überschießende
Einflüsse von NMDA-Rezeptoren, zu einer erhöhten Erregbarkeit. Auch wird eine
sympathoadrenerge Hyperaktivität durch eine fehlende inhibierende Wirkung des
noradrenergen Locus coereleus angenommen (Benkert & Hippius, 2016, S. 669–672).
Das akute Alkoholentzugssyndrom geht dann in der Regel mit einem erhöhten Blutdruck
und Puls, Zittern, Schweißausbrüchen und Unruhezuständen einher. Bei sehr schweren
Medizinische Frühintervention in der Behandlung … 221

Verläufen kann es zu epileptischen Anfällen oder dem sog. Delirium tremens kommen
und unbehandelt zum Tode führen. Eine medikamentöse Behandlung mit Beruhigungs-
mitteln wie Benzodiazepinen oder Clomethiazol ist daher Mittel der Wahl (DGPPN &
DG-SUCHT, 2020, S. 90–117).
Häufig sind Betroffene im Rahmen ihrer Erkrankung noch sehr ambivalent und
nicht in der Lage die Abhängigkeit von Alkohol als Diagnose für sich anzunehmen. Die
Gründe dafür sind individuell weitreichend und werden gestützt durch den, bereits ein-
gangs dargelegten, Konflikt zwischen der allgemeinen gesellschaftlichen Akzeptanz
von Alkohol und der gleichzeitigen Abwertung eines problematischen Konsums. Im
Zustand dieser Ambivalenz ist es möglich durch eine spezielle Technik, das Motivational
Interviewing (MI), Veränderungsbereitschaft herzustellen. Hier wird, den Patienten
gegenüber, eine wohlwollende, offene, patientenzentrierte Haltung eingenommen. Auf
geschlossene Fragen, die das Gegenüber unter Druck setzten wird verzichtet, damit
Betroffene die sich entwickelnde Veränderungsmotivation als intrinsisch erleben.
Ist diese Veränderungsbereitschaft gegeben und möchte der Patient auf ein alkohol-
freies Leben hinarbeiten, so erfolgt die eigentliche psychotherapeutische Behandlung
der Abhängigkeit in einer medizinischen Rehabilitationsbehandlung. An dieser Stelle
sei erwähnt, dass die Abhängigkeit von Alkohol erst im Jahr 1951 durch die Arbeit von
Elvin M. Jellinek über die WHO offiziell als Erkrankung anerkannt wurde.
In der Bundesrepublik Deutschland können die Behandlungs- und Hilfemöglich-
keiten, in Bezug auf die Alkoholabhängigkeit, zusammengefasst in drei Säulen gegliedert
werden:

1. das ambulante Suchthilfesystem,


2. die stationäre Entzugsbehandlung und
3. die medizinische Rehabilitation Sucht.

Im Idealfall sind alle drei Bereiche eng miteinander verknüpft und Betroffene blieben so,
auch nach erfolgreichem Abschluss einer Rehabilitationsbehandlung, eingebunden in das
ambulante Hilfesystem.
Frau B. würde also im Idealfall zunächst einen dreiwöchigen qualifizierten Entzug
durchführen, in welchem sie hinsichtlich ihres Alkoholkonsums eine Veränderungsbereit-
schaft entwickelt und sich vornimmt künftig alkoholabstinent zu leben. Im Rahmen der
Entzugsbehandlung erfolgt dann die Beantragung einer medizinischen Rehabilitation
Sucht und bei vorliegender Kostenzusage dafür seitens des Rententrägers, die direkte
Vermittlung in eine Rehabilitationsbehandlung. Dort würde Frau B. eine mehrwöchige
Psychotherapie durchlaufen und sich auf ein alkoholfreies Leben vorbereiten. Nach
Beendigung der Therapie erfolgt die Eingliederung in das Suchthilfesystem und damit die
eigentliche Arbeit in der Auseinandersetzung mit der Lebenswirklichkeit, gestützt durch
regelmäßige Kontakte mit einer Suchtberatungsstelle oder in einer Selbsthilfegruppe.
Als zwei Bereiche, auf die wir bisher weniger eingegangen sind, wäre nun die Prä-
vention und die Frühintervention zu nennen. Traditionell werden diese Bereiche dem
222 A. Lueg

ambulanten Suchthilfesystem zugeordnet. Dieses besteht aus einem gut vernetzten


System von Suchtberatungsstellen, welche sich beispielsweise aus öffentlichen Geldern
oder durch gemeinnützige Vereine finanziert, der flächendeckend etablierten Selbst-
hilfe in Form von Selbsthilfegruppen wie den Anonymen Alkoholikern, aber auch aus
Kontaktstellen in Kliniken mit spezialisierten Ambulanzen. Die Möglichkeit einer weit-
reichenden, durch die Krankenkassen finanzierten Prävention oder Frühintervention,
fehlt indes und geht in der Regel nicht über kurze ärztliche Kontakte, zur Klärung der
aktuellen Situation und Vermittlung in spezialisierte stationäre Angebote, hinaus.
Auch eine fortlaufende ambulante Behandlung, zum Beispiel in Form supportiver
Gespräche, wird eher frequentiert von Patienten mit bereits diagnostizierter Abhängig-
keit von Alkohol, welche bereits einige Entzugsbehandlungen durchlaufen haben und
mitunter an komorbiden Störungen wie Depressionen oder Ängsten leiden. Die Früh-
erkennung von Alkoholismus und insbesondere die Frühintervention, ist daher im Sektor
der krankenkassenfinanzierten Behandlungsmöglichkeiten deutlich unterrepräsentiert.
Und das obwohl, schon bei Ausbruch der Erkrankung, krankheitsimmanent von einer
Chronifizierung und damit einhergehender Folgeschäden, auszugehen ist, welche das
Gesundheitssystem enorm belasten.

Die Frühintervention
Präventive Maßnahmen und Frühinterventionen sind in der Entwicklung einer Alkohol-
abhängigkeit, in nennenswertem Umfang in Deutschland, in der Arbeit mit Kindern und
Jugendlichen etabliert, zu nennen ist hier beispielsweise das Projekt HaLT – Hart am
LimiT (Villa Schöpflin GmbH, 2017). Unser Gesundheitssystem sollte aber auch im
Erwachsenenbereich ein erweitertes, durch die gesetzlichen Krankenkassen finanziertes,
therapeutisches Angebot bieten.
Die klinische Erfahrung zeigt uns auf, dass Menschen mit Alkoholproblemen sehr
spät, meist erst nach mehreren Jahren oder Jahrzehnten, den Kontakt zum Suchthilfe-
system suchen oder einer Alkoholentzugsbehandlung zugewiesen werden. In der Regel
befindet sich der Betroffene dann in einem deutlich fortgeschrittenen Stadium seiner
Erkrankung. D. h. eine zielgerichtete Behandlung beginnt bei Erwachsenen erst mehrere
Jahre nach Ausbildung einer Alkoholabhängigkeit im Sinne der ICD-10. So liegt es auf
der Hand, dass es erforderlich ist, den Zugang zu einer suchtmedizinischen Behandlung
zu erweitern und damit zu erleichtern. So würde in einer frühen Phase in der Ent-
wicklung zur Alkoholabhängigkeit, über ein definiertes therapeutisches Konzept, eine
Verbesserung im Umgang mit Alkohol erzielt werden können.
Diese therapeutische Intervention könnte beispielsweise konkret über eine kon-
zeptuelle Neuausrichtung oder Erweiterung des Angebotes einer spezialisierten
Ambulanz erzielt werden. Denkbar wären auch Angebote in medizinischen Versorgungs-
zentren (MVZ) oder durch niedergelassene Ärzte.
Schwierigkeiten, die hier zu nennen sind, liegen vor allem im Bereich der Patienten-
akquise, aber auch in einer kontinuierlichen therapeutischen Bindung.
Medizinische Frühintervention in der Behandlung … 223

An dieser Stelle soll das sich in Aufbau befindende, ambulante Projekt „Frühinter-
vention Alkohol“, kurz gesagt „FrIntA“, der suchtmedizinischen Abteilung der LWL-
Klinik Dortmund vorgestellt werden.
Durch dieses Projekt sollen Personen über verschiedene Zugangswege erreicht
werden, die ihren aktuellen Alkoholkonsum zwar als fragwürdig und problematisch
erleben, die Diagnose einer Alkoholabhängigkeit für sich aber nicht oder noch nicht
annehmen. Zielsetzung ist es, den Zugang zu einer ersten alkoholbezogenen Behandlung
zu erleichtern, die alkoholbezogene Diagnose zu klären, sowie die Motivation für einen
risikoarmen Umgang mit Alkohol gezielt zu fördern und einen neuen Umgang mit
Alkohol zu erlernen.
Widmen wir uns nun zunächst dem Problem der Patientenakquise, der Frage also: „Wie
erreichen wir Betroffene, die zum aktuellen Zeitpunkt, in Bezug auf ihren problematischen
Alkoholkonsum, noch kein Problembewusstsein entwickelt haben?“
Doch wie definieren wir die Bezeichnung „problematischer Alkoholkonsum“?
Klinisch betrachtet handelt es sich dabei um Personen, die einen schädlichen Gebrauch
oder einen riskanten Konsum von Alkohol betreiben. Die ICD-10 beziffert Erkrankte mit
dem Diagnoseschlüssel F10.1, wenn ein schädlicher Gebrauch vorliegt, den riskanten
Konsum ordnet man dem Diagnoseschlüssel F10.8 zu (Dilling et al., 2011, S. 110–124).
Einen schädlichen Gebrauch betreiben Personen, die aufgrund ihres Alkoholkonsums
einen Schaden erleiden oder erlitten haben, aber ihren Konsum trotzdem nicht beenden.
Klassisches Beispiel wäre ein fortgesetzter Alkoholkonsum, bei bereits diagnostizierten
äthyltoxisch erhöhten Leberwerten. Der riskante Konsum beginnt, wie erwähnt, mit
einer täglichen Trinkmenge von 12 g Reinalkohol für Frauen bzw. 24 g für Männer,
kann in seiner Definition aber durchaus erweitert werden, da beispielsweise Betroffene,
die Alkohol konsumieren, obwohl ein Verwandter ersten Grades an einer Alkoholab-
hängigkeit leidet, ebenfalls einen riskanten Konsum betreiben. Um diese Personen zu
erreichen, bedarf es dem Mittel der Aufklärung, welche aber nicht abschrecken soll,
sondern im Gegenteil, fachlich neutral oder sogar ansprechend bis ironisch-augen-
zwinkernd konzipiert sein könnte. Das Projekt FrIntA versucht dies einerseits über eine
fachlich seriöse Aufklärung zu erreichen, zum Beispiel in Form einer Broschüre welche
in Arztpraxen, Beratungsstellen oder durch Kontaktstellen in Firmen, wie dem betriebs-
ärztlichen Dienst oder durch firmeninterne Suchtbeauftragte ausgehändigt wird. Des
Weiteren über Aushänge im öffentlichen Raum, die auf das Projekt aufmerksam machen.
Andererseits aber auch über gezielte „Werbemaßnahmen“, durch sogenannte Citycards
oder aufklärende Videos im Bereich der bekannten sozialen Medien. Hier wird das
Angebot eher in einer humoristisch konfrontativen Art und Weise präsentiert, um so ein
gewisses Problembewusstsein bei den Betroffenen zu erzeugen.
Sind diese Maßnahmen erfolgreich, so würde sich die an der Frühintervention
Alkohol interessierte Person in die Institutsambulanz der LWL-Klinik Dortmund
begeben und dort im Erstkontakt durch einen Mitarbeiter über eine kurze Checkliste
beurteilt. Diese Checkliste überprüft die Eignung des Interessierten für das Projekt
FrIntA. Zum allgemeinen Verständnis sei noch einmal erwähnt, dass nur Patienten ein-
224 A. Lueg

geschlossen werden, die einen auf den Kriterien basierenden problematischen Kosnum
betreiben. Menschen, die bereits die Diagnose Alkoholabhängigkeit für sich akzeptiert
haben, kommen nicht in Frage und werden stattdessen auf etablierte Behandlungs-
möglichkeiten, wie die qualifizierte Entzugsbehandlung , verwiesen.
Wird der Patient in das Programm eingeschlossen, so erfolgt zeitnah eine ärztliche
Eingangsuntersuchung. Hier werden die wichtigsten Befunde erhoben. Neben der
Kontrolle des Atemalkoholwertes erfolgt die ärztliche Überprüfung der Einschluss-
kriterien und die Abklärung etwaiger Ausschlusskriterien. Als Ausschlusskriterien gelten,
wie erwähnt, die patientenseits akzeptierte Diagnose einer Abhängigkeit von Alkohol,
aber auch die Abhängigkeit von illegalen Suchtmitteln oder schwere anderweitige
psychische Erkrankungen, wie eine Psychose. Anschließend erfolgt die Erhebung einer
erweiterten Anamnese durch einen standardisierten Fragebogen. Neben biografischen
Eckdaten und der allgemeinen Suchtanamnese, wird der Alkoholkonsum in der Woche
vor Therapiebeginn erfragt. Wichtige Bezugsparameter sind hier die Tagesmenge an
getrunkenem Alkohol und die Häufigkeit von Rauschtrinken innerhalb des letzten
Quartals, sowie innerhalb der letzten sechs Wochen. Anschließend wird der Teilnehmer
des Programms „auf Herz und Nieren geprüft“.
Durch eine orientierende körperliche Untersuchung werden die basalen Befunde
wie Herzschlag, Puls, Beschwerden im Bereich der Lunge oder des Magen- Darm-
traktes erhoben. Hier lässt sich beispielsweise beurteilen, ob bei dem Patienten ein
etwaiges körperliches Entzugssyndrom besteht, sodass, wenn erforderlich, auch eine
stationäre Entzugsbehandlung eingeleitet werden könnte. Des Weiteren erfolgt die
Untersuchung bestimmter Laborparameter aus dem Blutserum. Dazu zählen die Leber-
werte, ein Blutbild und das Carbohydrate Deficient Transferrin (CDT) (MD Institut für
Medizinische Diagnostik Berlin-Potsdam GbR, o. J.). Bei der Beurteilung dieser Labor-
werte lassen sich bereits einige Rückschlüsse ziehen. Die Untersuchung der Leberwerte
erscheint naheliegend, da diese im Rahmen eines chronischen Alkoholkonsums häufig
erhöht sind. Genauer betrachtet bestehen die Leberwerte, aus drei relevanten Leber-
enzymen. Die gamma-Glutamyl-Transpeptidase (GGT) befindet sich an der Membran
der Leberzellen und wird schon bei leichten Leberschädigungen auffällig, die Glutamat-
Oxalacetat-Transaminase (GOT) und die Glutamat-Pyruvat-Transaminase (GPT) hin-
gegen befinden sich im Zellinneren und zeigen eine schwere Leberschädigung an. Der
relevante Parameter im Blutbild ist das Mean Corpuscular Volume (MCV) der roten
Blutkörperchen, welches bei chronischem Alkoholkonsum vergrößert ist. Interessant ist
die Beurteilung des CDT-Wertes. Das carbohydratedeficient- (Kohlenhydratdefizientes)
Transferrin ist ein eisentransportierendes Glykoprotein, welches hauptsächlich in der
Leber synthetisiert wird. Bei Alkoholismus sind die CDT-Werte im Serum erhöht und
zeigen eine mindestens einwöchige Aufnahme von täglich mehr als 60 g reinem Ethanol
auf, was in etwa einem täglichen Konsum von 1,5 l Bier, 0,6 l Wein oder 0,2 l an harten
Spirituosen mit 40 Vol.-% entspricht. Der CDT-Wert normalisiert sich in der Regel erst
wieder nach 2–4-wöchiger Abstinenz (IMD Berlin). Letztlich erfolgt noch die Unter-
Medizinische Frühintervention in der Behandlung … 225

suchung des Ethylglucuronids (ETG) im Urin. Das ETG ist ein direktes Stoffwechsel-
produkt des Trinkalkohols und entsteht in der Leber durch den Abbau von Alkohol. Es
wird bereits durch Konsum geringer Mengen Alkohol gebildet und zeigt diesen verläss-
lich noch nach 1–3 Tagen an (Dangel, 2020).
Wir sehen also, dass über die Bestimmung einiger Laborparameter, Aussagen über
Konsumverhalten und bestehende körperliche Schädigungen getroffen werden können.
Neben der Erhebung dieser eher technischen Befunde, wird ebenso die zurückliegende
und aktuelle psychische Situation überprüft. Um dies zu erreichen, erhält der FrIntA-
Teilnehmer einen Fragebogen zur Selbstauskunft über seinen Alkoholkonsum, den
Alcohol Use Disorders Identification Test (AUDIT), des Weiteren den Fragebogen zum
Funktionalen Trinken (FFT), das Beck-Depressions-Inventar (BDI-II) zur Beurteilung
einer etwaigen Befindlichkeitsstörung, sowie ein Trinktagebuch, um das Trinkverhalten
im Laufe des Therapie-Programms festzuhalten.
Mit Abschluss dieser ersten ärztlichen Eingangsuntersuchung, werden die Teilnehmer
in das 6–15-wöchige Behandlungsprogramm eingebunden, welches in 6 Module, mit
jeweils separaten spezifischen Inhalten, aufgeteilt ist.
Im Zuge der ersten Studienphase, werden die Teilnehmer randomisiert einer
bestimmten Behandlungsform zugewiesen. Diese besteht entweder aus einem Gruppen-
setting mit 5–10 Teilnehmern und einer therapeutischen Intervention über 100 min. oder
einem Einzelsetting mit 50 min. therapeutischer Intervention. Nach Ablauf eines Jahres
soll ein Vergleich zwischen beiden Behandlungsformen gezogen werden. Die Fragen, die
uns hier beschäftigen lauten, ob im Allgemeinen eine signifikante Trinkmengenreduktion
erzielt werden kann, sowie eine Reduktion der Tage an welchen Rauschtrinken statt-
findet, und ob Teilnehmer, die das Behandlungsprogramm im Gruppensetting bzw. im
Einzelsetting durchlaufen, sich in diesen Parametern unterscheiden.
In beiden Behandlungsformen gleichen sich die therapeutischen Module inhalt-
lich. Die therapeutische Basis der Frühintervention Alkohol ist in ihren Grundsätzen
kognitiv-verhaltenstherapeutisch aufgebaut und nutzt einen psychoedukativen Ansatz,
mit motivierender Gesprächsführung im Sinne des Motivational Interviewing.
Hier ein kurzer Überblick über die einzelnen Themenkomplexe der Therapiemodule:
Modul A

• Abbau von Alkoholmythen


• Alkoholkonsum und bio-psycho-soziale Folgeschäden
• Tag-Nacht-Rhythmus
• Vor- und Nachteile eines alkoholfreien Haushaltes

Modul B

• Aufklärung über die Diagnosen: Schädlicher Gebrauch, riskanter Konsum und


Abhängigkeit von Alkohol
• Auslösefaktoren, die eine Suchtentwicklung begünstigen
226 A. Lueg

• Störungsbild, Alkoholabhängigkeit kann viele Gesichter haben


• Alkohol und komorbide Störungsbilder

Modul C

• Strategien, Chancen und Risiken eines kontrollierten Alkoholkonsums


• Bio-psycho-soziales Erklärungsmodell
• Rückfallprophylaxe
• Risikosituationen
• Frühwarnsysteme

Modul D

• Ablehnungstraining, Rollenspiele,
• Elemente aus dem Gruppentraining soziale Kompetenzen (GSK)
• Abgrenzung, Selbstfürsorge

Modul E

• Ressourcenaktivierung- und Etablierung nach Prof. U. Willutzki:


Welche Kompetenzen stehen den Klienten zur Verfügung? Was kann der Klient gut,
was traut er sich zu?
• Die 7 Säulen von W. Jänicke
• Das Handwerkszeug von A. Lippert

Modul F

• Überblick über das Suchthilfesystem


(Suchtberatungsstellen, stationärer Alkoholentzug, Suchtambulanz, Selbsthilfe-
gruppen, medizinische Rehabilitation Sucht, soziotherapeutische Angebote)
• Vorstellung von Selbsthilfegruppen

Zu erwähnen ist, dass bei allen Teilnehmern zu jedem Modulbeginn ein Atemalkohol-
test durchgeführt und dokumentiert wird. Des Weiteren erfolgt wöchentlich die Kontrolle
und Dokumentation des Ethylglucuronids (ETG) im Urin. Dieses Procedere erfüllt einer-
seits den Zweck einer gewissen Selbstkontrolle, welche sich wiederum positiv auf das
Trinkverhalten auswirken kann, andererseits sind so bereits während der Therapie Rück-
schlüsse in Bezug auf ein verändertes Trinkverhalten möglich. Ebenso wird im Rahmen
der Module eine Besprechung des Trinktagebuches sowie ein gemeinsamer Rückblick
auf die Ereignisse der vorangegangenen Woche vorgenommen. Dadurch sollen Risiko-
faktoren in Bezug auf das Trinkverhalten erkannt und analysiert, die kritische Aus-
einandersetzung des Teilnehmers mit seinem Alkoholkonsum gefördert und letztlich ein
besserer Umgang mit Alkohol erzielt werden.
Medizinische Frühintervention in der Behandlung … 227

Haben die Teilnehmer nun im Laufe der 6–8 Behandlungswochen alle Module
durchlaufen, so erfolgt die ärztliche Abschlussuntersuchung. Im Zuge dieser werden
einige Aspekte der Eingangsuntersuchung wiederholt. Erneut erfolgt die Kontrolle von
Alkohol in der Atemluft sowie eine orientierende körperliche Untersuchung. Besonders
wichtig in der Beurteilung des Behandlungserfolges sind die bereits erwähnten labor-
chemischen Untersuchungsbefunde: Leberwerte, Blutbild (bzw. MCV) und das Carbo-
hydrate Deficient Transferrin (CDT) im Blut sowie Ethylglucuronid (ETG) im Urin.
Insbesondere die Leberwerte und das CDT sollten bei Therapieerfolg, im Sinne einer
Trinkmengenreduktion, eine Tendenz zur Normalisierung erkennen lassen. Auch
erhalten die Teilnehmer erneut die entsprechenden Fragebögen: Alcohol Use Disorders
Identification Test (AUDIT), der Fragebogen zum Funktionalen Trinken (FFT) und das
Beck-Depressions-Inventar (BDI-II). Diese werden im Nachgang des FrIntA-Programms
ausgewertet und mit den Ergebnissen der Eingangsuntersuchung verglichen. Ebenso
werden, im Vergleich zur Eingangsuntersuchung, Daten zum Alkoholkonsum aus den
vorangegangenen sieben Tagen bzgl. Tagesmenge erhoben und die Häufigkeit von
Rauschtrinken innerhalb der letzten sechs Wochen erfragt.
Mit der ärztlichen Abschlussuntersuchung beenden die Teilnehmer die Frühinter-
vention Alkohol. Zur Überprüfung des Behandlungserfolges findet, nach Ablauf von drei
Monaten, eine sog. Follow-up Gespräch statt. Dieses erfragt noch einmal den aktuellen
Konsum von Alkohol innerhalb der letzten sieben Tage bzgl. Tagesmenge sowie die
Häufigkeit von Rauschtrinken innerhalb des letzten Quartals, um einen Vergleich mit den
Ausgangswerten zu ziehen. Auch wird eine erneute Evaluation mittels AUDIT und FFT
Fragebögen durchgeführt und eine Befindlichkeitsstörung mittels BDI II abgeklärt.
Ebenso werden die relevanten Laborparameter: Leberwerte, Blutbild (bzw. MCV),
CDT im Serum und ETG im Urin erhoben und mit den Ausgangs-, bzw. Verlaufswerten
verglichen.
Mit dem Abschluss dieser Datenerhebung würde die Frühintervention Alkohol der
LWL-Klinik Dortmund enden. Zeigen die erhobenen Befunde, dass im Zuge der Inter-
vention und auch im Nachgang, bei den Teilnehmern ein besserer Umgang mit Alkohol
erzielt wird, so stünde einer Etablierung des Behandlungsprogramms nichts im Wege
und es könnte zu einem regulären und regelmäßigen Angebot des Suchthilfesystem
werden.

Literatur

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Aufl.). Springer.
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halt.de/halt-programm/was-ist-halt.html.
Wartmann, M. (2003). Warum Gerste flüssig wird. Abgerufen von https://www.pilgrim.ch/geschichte-
des-bieres/.

Arne Lueg ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und


seit 2010 in der LWL-Klinik Dortmund tätig. Im Fachbereich
Suchtmedizin leitet er ärztlich und therapeutisch den Entzug von
„legalen Drogen“ und beschäftigt sich über den Arbeitskreis gegen
Spielsucht e. V. mit der ambulanten Rehabilitation Glücksspiel-
abhängiger. Schwerpunkt seiner Tätigkeit ist die Arbeit mit
alkoholabhängigen Patienten. Diese umfasst, neben etablierten Ver-
fahren wie der Qualifizierten Entzugsbehandlung, ebenso die
Bereiche Früherkennung und Frühintervention.
Meditation: Altes Wissen in neuem
Kontext

Stefanie Uhrig

Warum sprechen wir im Zusammenhang mit Innovationen überhaupt über Meditation?


Die Meditationspraxis an sich ist schließlich nicht neu. Aber: In der Art ihrer
Anwendung und vor allen in Bezug auf einen möglichen medizinischen Nutzen hat die
Meditation in den letzten Jahren eine neue Bedeutung bekommen.
Zudem wird die Frage der wissenschaftlichen Evidenz immer wichtiger. Es reicht
nicht mehr, auf Erzählungen von den wunderbaren Folgen der Meditation zu vertrauen.
Wir wollen wissen: Auf welche Weise beeinflusst die Meditation unser Leben und
unseren Körper tatsächlich? Und dazu gibt es durchaus gemischte Ergebnisse.

1 Worüber wir sprechen

Zunächst sollten wir uns ansehen, worüber wir genau sprechen. Es gibt unzählige
Arten und Varianten von Meditation. Manche bestehen seit tausenden von Jahren,
andere wurden erst vor kürzerer Zeit entwickelt oder sind veränderte Versionen früherer
Methoden. Auch in der medizinischen Praxis gibt es hunderte von Meditationstrainings,
-therapien und -programmen (Allen et al., 2021). Das macht es natürlich schwer,
die Erfolge zu bewerten und zu vergleichen. In wissenschaftlichen Untersuchungen
finden wir oft die Loving-Kindness-Meditation (auch Liebe-Güte-Meditation oder
Metta genannt) und die Achtsamkeits- oder Mindfulness-Meditation. Auch das sind

S. Uhrig (*) 
FreieWissenschaftsjournalistin, Erbach/Odenwald, Deutschland
E-Mail: info@stefanie-uhrig.de

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 229
Teil von Springer Nature 2022
S. Krauss und P. Plugmann (Hrsg.), Innovationen in der Wirtschaft,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-37411-2_14
230 S. Uhrig

Überbegriffe für sehr diverse Umsetzungen, aber sie geben eine gewisse Richtung vor,
unter der wir uns etwas vorstellen können:

Loving-Kindness Meditation (LKM)


Diese Meditationsart kommt aus dem Buddhismus (Galante et al., 2014; Hofmann et al.,
2011). Das Ziel ist es letztendlich, sich selbst und allen Lebewesen mit bedingungs-
loser Güte zu begegnen. Konkret bedeutet das, in der Meditation zunächst Zuneigung
für sich selbst zu empfinden, etwa durch Sätze wie „Ich wünsche mir Frieden und
Freude.“. Danach richten die Meditierenden die gleichen guten Wünsche nacheinander
an Menschen, die ihnen nahestehen, an Bekannte, an Unbekannte, an Menschen, mit
denen sie ein schwieriges Verhältnis haben, und letztendlich an alle Lebewesen.
Wie genau die Meditation abläuft, auf welche Art die Liebe und Güte empfunden und
gesendet wird, und auch, wie oft die Meditierenden praktizieren, unterscheidet sich von
Fall zu Fall.

Achtsamkeitsmeditation
Bei der Achtsamkeitsmeditation ist es noch schwieriger, ein allgemeines Konzept zu
beschreiben, denn es existieren viele verschiedene Definitionen (Gibson, 2019). Grund-
sätzlich geht es darum, den Moment und die eigenen Gedanken und Gefühle wahrzu-
nehmen, sie aber nicht zu bewerten. Was die Technik angeht, lassen die Meditierenden
etwa die Gedanken kommen und gehen, fokussieren sich auf ihre Atmung, auf ihren
Körper oder einzelne Körperteile. Das muss nicht einmal unbedingt im Sitzen geschehen,
auch Gehen oder achtsame Bewegungen (wie Yoga) sind möglich (Kabat-Zinn, 1990).

Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion (Mindfulness-Based Stress Reduction, MBSR)


Zur Behandlung von Depressionen, Angststörungen und anderen Erkrankungen gewinnt
die achtsamkeitsbasierte Stressreduktion (Mindfulness-Based Stress Reduction, MBSR)
an Bedeutung. Darunter verstehen wir ein strukturiertes Achtsamkeitstraining, das 1979
von Jon Kabat-Zinn, mittlerweile emeritierter Professor für Medizin an der University of
Massachusetts, entwickelt wurde (Nehra et al., 2013; Shapero et al., 2018). Kabat-Zinn
verband darin die buddhistische Achtsamkeitsmeditation mit klinischen und psycho-
logischen Methoden.
Das Programm beinhaltet an sich verschiedene Arten der Achtsamkeitsübungen. Auch
kurze Momente über den Tag verteilt, in denen die Gedanken aktiv auf die Gegenwart
gelenkt werden, gehören dazu. In seiner Grundform besteht MBSR aus einem acht-
wöchigen Programm, in denen sich die Teilnehmenden etwa 2,5 Stunden pro Woche
zu einer Gruppensitzung treffen. Dort geht es darum, Kommunikationsfähigkeiten
zu verbessern, Selbst-Mitgefühl zu lernen, den Umgang mit Stress zu üben und diese
Konzepte in den Alltag zu integrieren. Dazu kommt ein sechsstündiger Retreat zwischen
der sechsten und siebten Woche. Die Teilnehmenden bekommen außerdem die Aufgabe,
mindestens 45 Minuten pro Tag mit Achtsamkeitsübungen zu verbringen – angeleitet von
Tonaufnahmen.
Meditation: Altes Wissen in neuem Kontext 231

Achtsamkeitsbasierte kognitive Therapie (Mindfulness-Based Cognitive Therapy,


MBCT)
Wie MBSR dauert eine MBCT acht Wochen mit einer wöchentlichen Sitzung von etwa
zwei Stunden (Shapero et al., 2018; Sipe & Eisenrath, 2012). Auch 45 Minuten „Haus-
aufgaben“ pro Tag gehören dazu. Der Unterschied zu MBSR: MBCT beinhaltet zusätz-
lich Elemente der kognitiven Therapie und Informationen über psychische Erkrankungen
– je nach Grund der Behandlung. Die Teilnehmenden lernen dabei etwa, dass es schäd-
lich sein kann, unerwünschte Gedanken oder Gefühle zu verdrängen, anstatt sich mit
ihnen zu beschäftigen. Anders als bei traditioneller kognitiver Therapie geht es nicht
darum, den Inhalt der Gedanken zu verändern. Vielmehr sollen die Teilnehmenden ein
bewussteres Verhältnis zu ihren Emotionen entwickeln und so auch die Warnzeichen
erkennen, wenn sich ihre Symptome verschlechtern, und entsprechend gegensteuern.

u Meditationsarten in der Medizin (Auswahl) 

• Loving-Kindness Meditation (LKM): sich selbst und anderen bewusst


positive Gedanken und Wünsche schicken
• Achtsamkeitsmeditation: Gedanken und Gefühle wahrnehmen und ohne
Bewertung beobachten
• MBSR, achtsamkeitsbasierte Stressreduktion: in der Reinform ein
8-wöchiges Programm mit Gruppensitzungen und Übungen für einen
achtsamen Alltag
• MBCT, achtsamkeitsbasierte kognitive Therapie: Adaption von MBSR
mit zusätzlichen Elementen aus der kognitiven Therapie

2 Was wir nicht wissen

Intuitiv klingt das alles stimmig und vielversprechend. Sicher fördert es die Gesundheit,
wenn wir uns und anderen freundliche Gedanken schicken oder lernen, unsere Gefühle
anzunehmen, oder? Aber in der Medizin bedeutet Innovation oft auch: wenige Daten zur
tatsächlichen Wirksamkeit. Glauben wir nur, dass Meditation die Symptome psychischer
Erkrankungen erleichtert und Stress vermindert? Oder können wir es eindeutig nach-
weisen?
„Wir bräuchten mehr Studien von besserer Qualität, um eine fundierte Aussage treffen
zu können.“ Dieser Schlussfolgerung begegnen wir in verschiedenen Varianten in vielen
Übersichtsarbeiten zum Thema Meditation (Allen et al., 2021; Barmherzig & Rajapakse,
2021; Conversano et al., 2021; Hilton et al., 2017; Kriakous et al., 2020; Liu et al., 2021;
Pedro et al., 2021; Reangsing et al., 2021; Reddy et al., 2019; Suh et al., 2021; Sun et al.,
2021). Sie zeigt deutlich die Realität: So sehr wir uns die Meditation als Unterstützung
bei psychischen Problemen wünschen, so unsicher ist die Studienlage. Woran liegt das
eigentlich?
232 S. Uhrig

Unerreichbarer Goldstandard
Um die Wirksamkeit von Interventionen zu testen, hätten wir am liebsten doppelt-
verblindete randomisierte Studien. Die Randomisierung ist hier kein großes Problem:
Die Teilnehmenden werden (fast) zufällig in zwei oder mehrere Gruppen aufgeteilt, von
denen jede eine andere Intervention erhält oder als Kontrolle dient. Dabei wird darauf
geachtet, dass sich die Gruppen im Durchschnittsalter, Verteilung der Geschlechter und
weiteren Kriterien möglichst genau gleichen. So lassen sie sich besser verleichen, ohne
das solche äußeren Faktoren die Ergebnisse beeinflussen. Randomisierung finden wir
zwar nicht bei allen Studien über Meditation, aber doch bei sehr vielen.
Problematisch wird es bei der Verblindung (Smith & Langen, 2020). Idealerweise
wüssten weder die Teilnehmenden noch die Forschenden, welche Behandlung jede
einzelne Person erhält. Das funktioniert wunderbar bei Medikamenten, wenn eine
Gruppe statt des Wirkstoffes ein Placebo bekommt. Bei Meditation geht das natürlich
nicht – wir können keine Achtsamkeit üben, ohne es zu bemerken. Somit lässt sich
schwer sagen, ob die Effekte der Meditation tatsächlich auf die Übungen zurückzuführen
sind. Vielleicht sorgt allein die Erwartung der Teilnehmenden, dass die Meditation ihnen
hilft, für positive Ergebnisse. Die Verblindung soll mithilfe der Placebo-Gruppe für
diese mögliche Verzerrung kontrollieren. In Meditationsstudien müssen wir uns dagegen
mit dem Gedanken abfinden, dass zumindest ein Teil der Resultate Placebo-Effekte
sind. Bei „echten“ Medikamenten kommt ebenfalls immer ein Teil der Wirkung durch
Placebo-Effekte zustande. Die Studien sollen daher zeigen, ob die Behandlung auch über
den Effekt hinaus wirksam ist. Und genau das ist schwierig, wenn alle Gruppen genau
wissen, welche Therapie sie bekommen.
Das ist natürlich kein spezielles Problem der Meditation: Bei vielen verschiedenen
Interventionen ist eine Verblindung schlechtweg nicht möglich, beispielsweise auch,
wenn es um die Wirkung von Sport geht. Oft helfen gut gewählte Kontrollgruppen, die
fehlende Objektivität zumindest zu einem Großteil auszugleichen. Darauf gehen wir
gleich noch ein.

Die Testpersonen
Viele Studien zur Wirksamkeit von Meditation analysieren nur eine geringe Anzahl von
Testpersonen. Auch dieses Problem finden wir bei allen möglichen Untersuchungen,
gerade wenn es sich um aufwendige Test-Designs handelt. Warum die Aussagekraft der
Analysen leidet, liegt auf der Hand. Menschen sind sehr unterschiedlich. Befragen wir
etwa fünfzehn beliebige Personen zu einem bestimmten Thema, können wir komplett
andere Ergebnisse bekommen, wenn wir daraufhin fünfzehn andere Personen testen.
Je mehr Menschen wir uns ansehen, desto eher können wir die Ergebnisse auf die all-
gemeine Bevölkerung übertragen. Wie viele Testpersonen für eine Untersuchung aus-
reichen, unterscheidet sich je nach Ziel der Studie, Fragestellung und der Methode selbst.
Jedoch spielt nicht nur die Anzahl der Teilnehmenden eine Rolle, sondern auch
die Auswahl. Sind es Studierende, ältere Menschen, oder solche, die mindestens zwei
depressive Episoden durchlebt haben? Je nachdem, welche wissenschaftliche Frage
Meditation: Altes Wissen in neuem Kontext 233

wir untersuchen wollen, müssen wir ganz genau überlegen, welche Testpersonen wir
brauchen. Und von dieser Sorte Menschen müssen wir dann genügend zusammen-
bekommen, die sich die notwendige Zeit nehmen können und möchten. Auch dadurch
ist die Anzahl der Teilnehmenden oft beschränkt. Wer hat schon Zeit für wissenschaft-
liche Studien? Geht es etwa darum, ob Meditation gegen Alltagsstress hilft, müssten wir
uns Menschen ansehen, die mit Job und/oder Familie einen ausgefüllten Tag haben –
und somit vermutlich wenig Interesse daran, ihre wertvolle Zeit mit wissenschaftlichen
Untersuchungen zu verbringen.
Grundsätzlich gilt: Je zahlreicher und je diverser die Auswahl der Testpersonen ist,
desto eher zeigen die Ergebnisse einen verallgemeinerbaren Durchschnitt.

Kontrollen
Kommen wir wie versprochen zu den Kontrollgruppen.
Um zu verstehen, wie wirkungsvoll etwas ist, müssen wir es vergleichen. Das geht
beispielsweise durch eine Art vorher-nachher-Analyse: Fühlen sich die Teilnehmenden
nach der Meditation besser als vorher? Aber das ist eine ziemlich ungenaue und
subjektive Frage, die sich schlecht auf viele Menschen verallgemeinern lässt und bei
der sich manche äußeren Einflüsse kaum kontrollieren lassen. Stichwort „kontrollieren“:
Dafür sind die bereits erwähnten Kontrollgruppen da. Leider fehlen sie in einigen
Meditationsstudien gänzlich. Und wenn es welche gibt, müssen wir trotzdem genau auf-
passen. Denn recht beliebt ist die „Warteliste-Kontrolle“. Das bedeutet, eine Gruppe
wird in Meditationsübungen angeleitet, während eine zweite Gruppe nichts tut. Diese
Kontrollpersonen dürfen zwar nach Ende der Studie ebenfalls an einem Meditations-
unterricht teilnehmen. Aber zum Zeitpunkt der Untersuchung leben sie ihren gewohnten
Alltag – während die Meditationsgruppe etwas Neues ausprobiert, andere Menschen
bei den Gruppenübungen trifft und sich allgemein mit sich selbst und den eigenen
Erwartungen und Bedenken auseinandersetzt. Allein diese Beschäftigung mit sich und
der Welt könnte einen Einfluss auf das Befinden haben, unabhängig von der Meditation.
Um wirklich zu sehen, ob die Übungen das Leben der Teilnehmenden irgendwie
beeinflussen, brauchen wir daher aktive Kontrollen. So könnten Forschende vergleichen,
ob Loving-Kindness-Meditation besser wirkt als klassische Achtsamkeitsmeditation oder
Sport – Yoga, Laufen, Schwimmen, was auch immer in die Studie passt.
Im medizinischen Kontext ist es vor allem wichtig, Methoden zur Verbesserung oder
Unterstützung der Therapien zu finden. Dazu lassen sich etwa MBSR Techniken mit
MBCT vergleichen, oder klassische Therapie mit und ohne Meditation. Möglichkeiten
gibt es, aber aktive Kontrollen sind aufwendiger als passive Wartelisten und müssen
zudem gut durchdacht sein.

Die Erwartungen der Lehrenden


Bei der Meditation hängt der Erfolg auch von den Lehrenden ab. Das lässt sich leicht vor-
stellen: Vermutlich hatte jede und jeder von uns bestimmte Lehrer*innen in der Schule,
die besonders motivierend waren und bei denen wir einfach mehr und begeisterter
234 S. Uhrig

gelernt haben. Hier geht es aber um mehr als die Frage, wie gut die Beziehung zwischen
Lehrenden und den Meditationsschüler*innen ist. Denn sogar die Erwartungen der
Lehrenden können Studienergebnisse beeinflussen. Das wissen wir aus einer Analyse
von Meditations-Studien aus 2018 (Kreplin et al., 2018). Wissenschaftler*innen hatten
hier die Frage gestellt, inwiefern die Meditationspraxis soziales Verhalten fördert. Dazu
gab es bereits einige Studien, aber wie aussagekräftig waren sie wirklich? Nicht sehr,
zeigte die Auswertung. Von fünf untersuchten sozialen Eigenschaften schien Meditation
nur zwei (Mitgefühl und Einfühlvermögen) tatsächlich zu verändern. Die Autor*innen
sahen sich die Studien zum Mitgefühl daraufhin genauer an – bei der Empathie gab es
nicht genügend Material für eine weitere quantitative Analyse. Nun fanden sie heraus, dass
Meditation das Mitgefühl nur unter zwei Bedingungen verbesserte: Wenn die Meditations-
Lehrenden gleichzeitig auch an der Publikation mitgeschrieben hatten und wenn mit einer
passiven Kontrollgruppe verglichen wurde. Die Autor*innen der Studie erklären sich den
Befund damit, dass die Lehrenden unbewusst ihre eigene Hoffnung – ein positiver Effekt
von Meditation auf das Sozialverhalten – während der Übungen an die Teilnehmenden
weitergaben und somit für deutlichere Ergebnisse sorgten. Wohlgemerkt ohne bösen
Willen, es geht hier nicht um Betrug, sondern rein um menschliche Regungen. Idealer-
weise sollten also die Lehrenden über die Meditation hinaus nicht an der Studie beteiligt
sein und somit auch keine spezifischen Erwartungen haben. Nur: Oft erfahren wir aus den
Erklärungen der Studien gar nicht, wer genau die Übungen angeleitet hat.

Vergleichbarkeit
Wenn Studien zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, wollen wir natürlich wissen,
woran das liegt. Dazu vergleichen wir im Idealfall die Methodik und finden etwa heraus:
„Aha, an Studie 1 nahmen fast nur Frauen teil, bei Studie 2 waren Frauen und Männer
gleich verteilt.“ Dann könnten wir daraus schließen, dass der Effekt bei Männern und
Frauen möglicherweise unterschiedlich ist, und diese Frage in einer weiteren Unter-
suchung analysieren. Das funktioniert aber nur so lange, wie sich erstens nicht zu viele
Unterschiede finden – sonst wird es schwierig, festzustellen, welche davon nun aus-
schlaggebend für die Diskrepanzen waren. Und zweitens müssen die Methoden so exakt
beschrieben sein, dass sie sich überhaupt miteinander vergleichen lassen. Wann genau
und für wie lange fanden die Meditationstrainings statt? Wer waren die Lehrenden?
Diese und andere Fragen werden manchmal gar nicht oder nur unzureichend geklärt
(Kreplin et al., 2018; Sun et al., 2021).
Dass sich auch die Meditationspraktiken stark unterscheiden und selbst bewährte
Techniken abhängig von den Lehrenden variieren können, erschwert die Vergleichbarkeit
zusätzlich. Dadurch kommen wir zu weniger allgemeinen Erkenntnissen. Wir können
dann „nur“ spezifischere Aussagen treffen, die sich aus den einzelnen Publikationen
ergeben. Also etwa, dass diese oder jene Meditationsart über einen bestimmten Zeit-
raum diese oder jene Effekte auf Menschen in dieser oder jener Situation hat. Aber eben
nicht, dass Meditation im Allgemeinen bei Stress oder Erkrankungen hilft – da fehlen die
Nuancen.
Meditation: Altes Wissen in neuem Kontext 235

Woher kommt das Geld?


Last but not least: Wer hat eigentlich die Studie finanziert? Das zumindest muss in den
Publikationen genau angegeben werden. Eine „Declaration of Interest“ gehört eben-
falls dazu, in der die Autor*innen angeben, ob sie in irgendeiner Form beeinflusst
sein könnten. Meist finden sich diese Informationen leicht, manchmal muss man aber
auch ein wenig danach suchen. So beschreiben etwa mehrere Wissenschaftler*innen
um Bashar W. Badran von der University of South Carolina eine Methode, die sie
„E-Meditation“ nennen (Badran et al., 2017). Dabei soll transkranielle Gleichstrom-
stimulation (tDCS, transcranial direct current stimulation) nicht-invasiv und schmerz-
frei das Gehirn stimulieren und dadurch die Achtsamkeitsmeditation verbessern. Das
klingt spannend, und ist es möglicherweise auch. Aber: In einer Pressemeldung dazu
(American Association for the Advancement of Science (AAAS), 2019) erfahren wir,
dass Badran und sein Kollege Baron Short ein Start-up gegründet haben, um genau die
Geräte zu entwickeln, die für ihre E-Meditation benötigt werden. In der Publikation fehlt
diese Information, und wenn wir nicht auf die Idee kommen, im Internet nach Badran
und Short zu suchen, entgeht sie uns leicht. Das bedeutet natürlich nicht, dass die Studie
wertlos ist. Dennoch zeigt es, dass die beiden Wissenschaftler ein Interesse daran haben,
dass die Methode gut funktioniert und entsprechend wahrgenommen wird – näm-
lich ein starkes finanzielles Interesse. Es wäre also hilfreich zu sehen, ob unabhängige
Forschende zu ähnlichen Ergebnissen kommen.
Allgemein zeigt das Beispiel, wie wichtig es auch bei wissenschaftlichen Publikationen
ist, genau hinzusehen, woher das Geld kommt.

u Checkliste: Qualität von Meditations-Studien bewerten 


Sind sie randomisiert (also die Teilnehmenden zufällig verteilt – aber so,
dass Kriterien wie Alter und Geschlecht zwischen den Gruppen möglichst
gleich sind)?
Ist die Anzahl der Testpersonen für die Fragestellung ausreichend und sind
die Teilnehmenden gut ausgewählt?
Gibt es aktive Kontrollgruppen?
Sind die Meditations-Lehrenden unabhängig?
Ist die Studie finanziell unabhängig und besteht kein Interessenkonflikt?

3 Wo Meditation helfen könnte

Bei allen Limitationen gibt es dennoch Hinweise darauf, dass bestimmte Meditationen in
bestimmten Situationen helfen können.

Meditation gegen Depressionen


Besonders gut untersucht ist das bei Patient*innen mit Depressionen. Die MBCT-
Intervention wurde sogar spezifisch entwickelt, um Rückfällen bei starken Depressionen
236 S. Uhrig

(MDD, major depressive disorder) vorzubeugen (Shapero et al., 2018; Teasdale


et al., 2000). Seitdem gibt es einige Untersuchungen dazu. Ein schönes Beispiel: Eine
chinesische Studie analysierte, wie sich eine Kombination aus achtsamkeitsbasierter
kognitiver Therapie (MBCT) und Loving-Kindness-Meditation (LKM) auf das Befinden
von depressiven Patient*innen auswirkt (Wang et al., 2021). Teilnehmende in der
Kontrollgruppe durchliefen eine konventionelle psychologische Intervention mit Auf-
klärung über verschiedene Themen der Depression (wie etwa übliche Medikamente
und mögliche Nebenwirkungen) und zusätzlicher Gesprächstherapie. Die Meditations-
Gruppe hingegen praktizierte täglich eine Stunde lang LKM. Dazu kam eine MBCT-
Sitzung pro Woche und selbstständige Aufgaben für die restlichen sechs Tage. Nach
Ende der Behandlung fragten die Forschenden zwei Monate lang das Befinden alle zwei
Wochen ab. Dazu nutzten sie verschiedene Skalen und Diagnosewerkzeuge, um eine
Bandbreite an Aspekten abzudecken.
Es zeigte sich, dass die Meditationsbehandlung tatsächlich depressive Symptome
verbesserte, Grübeln verminderte und die Lebensqualität der Patient*innen erhöhte.
Außerdem fühlten sich die Teilnehmenden achtsamer, weniger stigmatisiert und konnten
sich selbst besser annehmen.
Mit Gruppengrößen von 63 und 62 Teilnehmenden und einer aktiven Kontrollgruppe
ist diese Studie schon vielen anderen voraus. Auch hier gibt es Einschränkungen – es
kommt beispielsweise nicht ganz deutlich heraus, klingt allerdings danach, dass die
Meditationen von Co-Autor*innen der Publikation durchgeführt wurden. Aber insgesamt
erfüllt die Studie viele Voraussetzungen für solide Ergebnisse.
Auch Meta-Analysen (also eine statistische Zusammenfassung mehrerer Studien zu
einem klar definierten Thema) und systematische Reviews kommen zu dem Schluss,
dass bestimmte Formen von Meditation zumindest hilfreich bei Depressionen sein
können. Eine amerikanische Meta-Analyse zeigt etwa, dass Achtsamkeitsinterventionen
leichte Verbesserungen von depressiven Symptomen bei Jugendlichen bewirken können
(Reangsing et al., 2021). Solche Meditationstrainings könnten daher als zusätzliche
Behandlung oder zur Prävention bei gefährdeten Jugendlichen helfen. Allerdings merken
die Autor*innen auch an, dass die Effekte in den Studien stark von anderen Faktoren
beeinflusst waren: der Finanzierung der Studie, der Art der Achtsamkeitsintervention, der
individuellen Beratung und der Zeitspanne bis zum Folgegespräch.
Bereits 2018 analysierten Wissenschaftler*innen 171 Studien, in denen es um
Meditation bei psychischen Erkrankungen ging (Goldberg et al., 2018). Wir haben schon
besprochen, wie schwierig es ist, Studien zu einem bestimmten Thema zu vergleichen.
Hier ging es um eine noch viel größere Bandbreite, denn „psychische Erkrankungen“
sind ein weites Feld und die Schwere der Symptome sowie die Behandlungsmöglich-
keiten unterscheiden sich teils deutlich. Die Forschenden haben versucht, das mit
statistischen Mitteln übersichtlicher und nachvollziehbarer zu machen. Bei der
Auswertung aller Studien gemeinsam fanden sie, dass achtsamkeitsbasierte Inter-
ventionen gleichwertig zu evidenzbasierten (also mit wissenschaftlichen Fakten
Meditation: Altes Wissen in neuem Kontext 237

belegten) Behandlungen waren – und definitiv besser als gar nichts zu tun oder nur
kurze Gespräche mit den Patient*innen zu führen. Daraufhin sahen sie sich die einzel-
nen Erkrankungen genauer an. Und siehe da: Die deutlichsten und stabilsten positiven
Effekte zeigten sich bei Patient*innen mit Depressionen. Auch bei Schmerzen und gegen
Suchtverhalten waren Achtsamkeitsübungen offenbar häufig hilfreich.

Weiterhin Fragezeichen bei verschiedenen Erkrankungen


Bei den Schmerzen geht es vorrangig um chronische Schmerzerkrankungen. Hier fand
eine Meta-Analyse und systematischer Review aus 2017 ebenfalls Anzeichen dafür, dass
Achtsamkeitsmeditation die Schmerzen, sowie depressive Symptome und die Lebens-
qualität verbessert (Hilton et al., 2017). Die Grundlage für die Untersuchung waren
38 randomisierte, kontrollierte Studien – und trotzdem schränken die Autor*innen ein:
Die Befunde seien nur von geringer Qualität. Das führt uns wieder zu den Punkten des
Nicht-Wissens. Um echte Aussagen zu treffen, würden sie sich große randomisiert-
kontrollierte Studien wünschen, die gut durchdacht und gründlich durchgeführt sind.
Ähnlich sehen es Wissenschaftlerinnen, die 2020 einen Blick auf Analysen von MBSR
bei chronischen Rückenschmerzen geworfen haben (Smith & Langen, 2020). Zwar
schlossen sie in ihrem systematischen Review ebenfalls auf deutliche Verbesserungen
der Schmerzen, Lebensqualität und der psychischen Gesundheit durch MBSR-
Interventionen. Aber auch sie fanden deutliche Einschränkungen bei den untersuchten
Studien. Zudem scheinen MBSR und MBCT gegen Migräne zu helfen (Barmherzig &
Rajapakse, 2021) – doch die Leier bleibt die gleiche, es sind mehr solide Studien nötig,
bevor wir solche Aussagen mit Überzeugung treffen können.
Zu ähnlichen Ergebnissen (kleine bis moderate Verbesserungen, unzureichende
Studienlage) kommen Forschende für verschiedene andere Krankheiten. Hauptsäch-
lich untersucht werden im Zusammenhang mit Meditation psychische Erkrankungen.
Neben Depressionen gibt es beispielsweise Analysen zu Angststörungen (Liu et al.,
2021; Reddy et al., 2019; Li et al., 2021; Vancampfort et al., 2021), Zwangsstörungen
(OCD, Obsessive Compulsive Disorder)(Reddy et al., 2019; Vancampfort et al., 2021),
posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS)(Kearney et al., 2021; Lang et al., 2019;
Sun et al., 2021), Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) (Oliva et al.,
2021; Vancampfort et al., 2021) und Schizophrenie (Sabe et al., 2019; Vancampfort et al.,
2021). Interessanterweise untersuchte eine Gruppe, wie sich MBCT auf das Stigma aus-
wirkt, welches Patient*innen mit Schizophrenie oft von außen verspüren und dann so
internalisieren, dass sie sich sogar selbst stigmatisieren (Tang et al., 2021). Offenbar
konnten die Patientinnen in der Studie durch MBCT ihre Wahrnehmung so verbessern,
dass sie weniger Stigma auf sich projizierten und sich weniger aus dem Leben zurück-
zogen als vorher. So könnte die Meditation also auch helfen, indem sie an Stellen
ansetzt, die nur indirekt mit der Erkrankung selbst zu tun haben. Ein kurzer Warnhin-
weis: Es geht hier wieder einmal um eine Studie mit relativ wenigen Teilnehmerinnen,
nämlich insgesamt 62, aufgeteilt auf die Kontroll- und die MBCT-Gruppe.
238 S. Uhrig

Vorsicht vor voreiligen Schlüssen


Dass wir bei einzelnen Studien nicht sofort auf große Erkenntnisse schließen können
und den Methodenteil genau betrachten sollten, haben wir besprochen. Es gibt aber
auch Wissenschaftler*innen, die vielleicht ein wenig zu begeistert von ihren eigenen
Ergebnissen sind. So etwa bei einer amerikanischen Studie von 2019, in der Forschende
die Auswirkungen von Achtsamkeitsmeditation und Loving-Kindness-Meditation
(LKM) auf die Länge von Telomeren untersucht haben (Nguyen et al., 2019). Ganz
kurz: Telomere sind vereinfacht gesagt Stücke an den Enden von Chromosomen, die
im Alter immer weiter abgebaut werden und die Hauptteile der Chromosomen vor dem
Verfall schützen. Die Forschenden fanden nun heraus, dass LKM offenbar den Abbau
von Telomeren verlangsamte. Ungefähr so steht es auch in der Zusammenfassung, aber
der Titel „Loving-kindness meditation slows biological aging in novices: Evidence from
a 12-week randomized controlled trial“ sagt deutlich, dass LKM nach nur 12 Wochen
bereits den biologischen Alterungsprozess verlangsamt. Eine Aussage, die weit über
die tatsächlichen Ergebnisse hinausgeht, finden auch Wissenschaftler, die eine Antwort
auf die Publikation verfasst haben (Friedman et al., 2019). Abgesehen von einigen
methodischen Bedenken bemängeln sie, dass die Unterschiede recht klein waren und es
zudem nicht unbedingt sinnvoll ist, die Länge der Telomere als Indiz für biologisches
Altern zu nutzen. In ihrem Schreiben sei nicht einmal genug Platz für ihre ganzen
Einwände gewesen. Der Text endet mit: „Wir schließen, dass die außergewöhnliche
Behauptung der Publikation nicht durch überzeugende Nachweise untermauert wird,
und wir halten dazu an, keine außergewöhnlichen Behauptungen ohne Beweise aufzu-
stellen.“

Einiges an Selbstdisziplin
Bei der Überlegung, ob Meditation bei Erkrankungen helfen kann, habe wir uns bisher
noch nicht damit beschäftigt, was das genau für die Patient*innen bedeutet. Immerhin
bringt es nichts, sich einmal für eine Stunde mit einer Meditationslehrerin oder einem
Lehrer zusammenzusetzen und intensiv zu meditieren – und schon ist alles gut. Die
Idee ist ja vielmehr, dass die Betroffenen die Techniken erlernen, regelmäßig üben und
in ihren Alltag integrieren. Aber gerade dieses regelmäßige Training kann eine Heraus-
forderung sein. Das können sich vermutlich alle Menschen vorstellen, die sich schon ein-
mal vorgenommen haben, öfter Sport zu treiben, oder zumindest zwei Minuten nach dem
Aufstehen Kniebeugen zu machen. Dann kommt dies und das dazwischen, wir vergessen
es schlichtweg, haben keine Lust oder finden andere Ausreden. Denken wir nun daran,
dass ein klassisches MBSR-Training acht Wochen lang geht, mit jeweils 45 Minuten
angeleiteter Meditation pro Tag und einer wöchentlichen 2,5-Stunden-Sitzung (Nehra
et al., 2013). Das ist eine ganze Menge Zeit, welche die Patient*innen teils sogar zusätz-
lich zu der Zeit für andere Therapieformen aufbringen müssen. Und selbst danach
wissen wir nicht so genau, wie lange die Effekte anhalten (wenn es denn welche gibt).
Sollten die Patient*innen also nach Ende der Therapie selbstständig weitermachen? Sich
eine Meditationsgruppe suchen? Oder die Achtsamkeit nur im Alltag immer wieder ins
Meditation: Altes Wissen in neuem Kontext 239

Gedächtnis rufen? Bei jeder Form des Weiterführens ist Selbstdisziplin notwendig, damit
die Sache nicht irgendwann im Sand verläuft.
Um die Situation für Betroffene besser zu verstehen, werfen wir einen Blick auf eine
Studie aus den Niederlanden (Geurts et al., 2021). Die Forschungsgruppe wollte wissen,
wie sich MBCT im klinischen Alltag bei Patient*innen mit psychischen Störungen
auswirkt. Sie untersuchten dazu 998 Menschen mit mindestens einer psychiatrischen
Diagnose. Eine Kontrollgruppe gab es dabei nicht, weshalb das Ergebnis „insgesamt
verbesserten sich die Symptome“ nicht unbedingt aussagekräftig ist, wie wir schon
besprochen haben. Spannend ist allerdings, dass die Meditation offenbar umso besser
wirkte, je stärker die Symptome zu Beginn waren. Klar, da war eben Luft nach oben,
könnte man sagen. Aber dann müssen wir daran denken, dass es schwieriger ist,
regelmäßige Routinen und vor allem konzentrationsintensive Übungen durchzuhalten,
wenn es jemandem schlecht geht. Unter der richtigen Anleitung scheint das aber kein
Hinderungsgrund zu sein.
Die Forscher*innen sahen sich zudem an, ob die Teilnehmenden es schafften, sich bis
zum Schluss an das Studienprotokoll zu halten. Das klappte tatsächlich sehr gut: 94 %
hielten bis zum Ende durch. Ein Resultat, das Hoffnung für MBCT und ähnliche Inter-
ventionen im klinischen Alltag macht, zumindest während der eigentlichen Laufzeit der
Therapie. Die niederländische Gruppe schaute außerdem darauf, welche Faktoren eher
dazu führten, dass die Teilnehmenden sich nicht an den vorgegebenen Meditations-
plan hielten: ein geringerer Bildungsstand, mehrere Begleiterkrankungen, und ADHS.
Solche Beobachtungen sind wichtig. Wenn die behandelnden Ärzt*innen darüber
informiert sind, können sie möglicherweise die Betroffenen besser dabei unterstützen,
eben doch durchzuhalten, und potenzielle Hürden besprechen und vermindern. Gerade
bei Patient*innen mit ADHS, für die verschiedene Achtsamkeitsinterventionen eben-
falls untersucht werden (Oliva et al., 2021). Zumindest als Zusatz für konventionelle
Therapien gibt es hier vielversprechende Ergebnisse, auch wenn – ja, hier kommt es
wieder – weitere Studien mit besseren Umsetzungen wichtig wären.

Ungeklärte Mechanismen
Es bleibt die Frage, wie Meditation helfen kann. Ein Bereich, der noch unsicherer ist
als das „ob“. Besonders schwierig ist es, weil die unterschiedlichen Meditationsarten
auch verschiedene Ansätze haben und Ziele verfolgen. Dennoch gibt es einige Analysen
zu den Wirkmechanismen, und zwar aus mehreren Perspektiven (Shapero et al., 2018):
Einerseits geht es um psychologische und kognitive Aspekte, andererseits um das Gehirn
selbst. Schauen wir uns das mal für die Achtsamkeitsmeditation an.
Bei den psychologischen Mechanismen erinnern wir uns zuerst daran, was das Ziel
der Achtsamkeitsmeditation ist: Gedanken kommen und gehen zu lassen, zu verstehen,
dass sie vorübergehend sind, und sie anzunehmen, ohne sie zu bewerten. Das zu erlernen
und zu verinnerlichen, könnte die negativen Gedankengänge und das Grübeln ver-
mindern, unter dem Menschen mit Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen
häufig leiden. Zudem kann es helfen, sich selbst besser zu verstehen und dadurch
240 S. Uhrig

schneller zu erkennen, was guttut und was nicht. Und auch bei der Kontrolle der eigenen
Emotionen könnte das Meditieren unterstützen.
Auf der kognitiven Seite deuten Studien darauf hin, dass MBCT die Aufmerksam-
keit verbessern kann (Morais et al., 2021). Menschen mit Depressionen tendieren dazu,
sich vor allem auf negative emotionale Dinge zu konzentrieren. Dort könnte MBCT
gegensteuern. Es unterstützt möglicherweise die Fähigkeit, sich an spezifische autobio-
graphische Details zu erinnern – etwas, das Menschen mit Depressionen oft schwerfällt.
Untersuchungen mit gesunden Teilnehmenden haben zudem Verbesserungen im Arbeits-
gedächtnis, in der kognitiven Flexibilität und bei der Unterdrückung von Impulsen
gefunden. Ob das auch bei psychischen Erkrankungen funktioniert und welche Aus-
wirkungen das für die Betroffenen hätte, ist allerdings bisher unbekannt.
Insgesamt gibt es hier viele Theorien, die zwar intuitiv logisch erscheinen, jedoch
noch nicht sicher nachgewiesen sind. Sie zeigen dennoch einen großen Vorteil von Inter-
ventionen, die etwa negative Gedankengänge und kognitive Beeinträchtigungen angehen:
Diese Symptome sind nicht einzigartig für Depressionen, sondern weit verbreitet bei ver-
schiedenen psychischen Erkrankungen. Somit könnten sie – zumindest als zusätzliches
Therapieangebot – vielen Patient*innen mit unterschiedlichen Diagnosen helfen.
Verändert Meditation auch die Strukturen oder die Aktivität des Gehirns? Das zu
untersuchen, ist gar nicht einfach. Mit der Magnetresonanztomografie (MRT) können
Wissenschaftler*innen sich die Strukturen ansehen, die funktionelle MRT (fMRT)
kann die Aktivität abbilden (Shapero et al., 2018). Aber wer sollte getestet werden? In
manchen Studien geht es speziell um Menschen, die vorher überhaupt keine Erfahrung
mit Meditation hatten. In anderen wurden geübte Meditator*innen untersucht. Teils
sollen die Teilnehmenden während der fMRT meditieren, um die akuten Veränderungen
zu sehen, teils gibt es einen Scan vor Start eines Meditationstrainings und einen weiteren
danach. Und sobald unterschiedliche Meditationen, Zeitpunkte, Personengruppen oder
Meditations-Vorerfahrungen analysiert werden, lassen sich die Studien kaum noch ver-
gleichen. Für sich genommen sind viele Ergebnisse aber wenig aussagekräftig, zumal
MRT-Scans aufwendig und zeitkonsumierend sind und daher meist nur eine geringe
Anzahl an Testpersonen untersucht werden.
Immerhin gibt es Hinweise darauf, dass Meditation langfristig verschiedene Gehirn-
regionen verändert. Etwa solche, die mit dem Selbstgefühl, dem Körpergefühl, dem
Gedächtnis und der Emotionskontrolle zu tun haben – das zeigte eine Meta-Analyse von
21 Studien (Fox et al., 2014). Es ist aber nicht klar, ob die Veränderungen tatsächlich
durch die Meditation entstanden waren, oder ob andere Gründe dafür gesorgt hatten.
Und selbst, wenn es eindeutig wäre: Wir wüssten nicht, ob diese strukturelle Ver-
änderung Auswirkungen auf die Gehirnaktivität oder gar das Verhalten haben.
Dabei könnte die fMRI-Analyse helfen. Auch hier gab es eine Meta-Analyse, bei der
78 Studien einbezogen und verschiedene Meditationsarten untersucht wurden (Fox et al.,
2016). Es sieht tatsächlich danach aus, dass je nach Art unterschiedliche Gehirnregionen
mehr oder weniger aktiviert werden. Manche, wie die Insula (wichtig für die Selbstwahr-
nehmung), wurden bei einer Reihe von Meditationstechniken aktiver. Doch wie so oft
Meditation: Altes Wissen in neuem Kontext 241

kommen die Autor*innen zu dem Schluss: Bessere Studien wären nötig, um die Ver-
änderungen im Gehirn wirklich zu verstehen.

u Meditation als Therapie 


Wogegen?
Vor allem bei Depressionen scheint Meditation eine Wirkung zu haben. Bei
anderen psychischen Erkrankungen und bei chronischen Schmerzen gibt
es zumindest Hinweise auf Linderung der Symptome.
Studienlage
Bessere Studien wären nötig. Vorsicht bei zu enthusiastischen Inter-
pretationen.
Bedeutung für die Patient*innen
Oft hoher Zeitaufwand, daher gute Selbstdisziplin gefragt.
Faktoren wie die Bildung, Begleiterkrankungen und ADHS beeinflussen das
Durchhaltevermögen.
Wirkmechanismen
Psychologisch: z.B. Verminderung von negativen Gedankengängen und
Grübeln
Kognitiv: z.B. Lenkung der Aufmerksamkeit auf positive emotionale
Gedanken
Neuronal: Struktur und Aktivität bestimmter Gehirnregionen könnte ver-
ändert sein, aber sehr abhängig von der Untersuchung und der Art der
Meditation.

4 Meditation: Nicht die Lösung für alle(s)

Bisher haben wir über Meditation als Therapie für Erkrankungen gesprochen. Oft
soll sie aber auch das Wohlbefinden von gesunden Menschen steigern oder den Stress
reduzieren. So gibt es Untersuchungen dazu, ob Achtsamkeit die Qualität des Schlafes
verbessert (Jiang et  al., 2021; Kennett et  al., 2021), bei Gesundheitsfachkräften
(Kriakous et al., 2020) oder Medizinstudent*innen (Polle & Gair, 2021) den Stress
vermindert, angehende Chirurg*innen resilienter macht (Luton et al., 2021), oder bei
Studierenden die Konzentration steigert (Morais et al., 2021).
Das klingt natürlich in der Theorie wunderbar. Wir meditieren einfach und schon
gehen wir entspannt und gestärkt durch den Alltag. Ja, das kann funktionieren. Fragen
wir regelmäßig Meditierende, berichten sie mit Sicherheit von solchen Effekten. Aber:
In Studien sind diese positiven Wirkungen nicht eindeutig nachgewiesen, aus den bereits
besprochenen Gründen. Außerdem sind die Menschen sehr unterschiedlich – manche
würden gar nicht erst an derartigen Untersuchungen teilnehmen, weil sie von Meditation
nichts halten. Sie würden mit großer Wahrscheinlichkeit schon durch ihre Grundein-
stellung nicht profitieren. Und selbst, wenn sie es wollten, haben manche Menschen
242 S. Uhrig

schlicht zu viel Stress, um ihren Stress zu reduzieren. Die Studie über angehende
Chirurg*innen startete mit 24 Teilnehmenden (Luton et al., 2021). Zehn davon brachen
den fünfwöchigen Kurs zur Resilienz-Bildung vorzeitig ab. Als Gründe führten sie
anstrengende und inflexible Bereitschaftsdienste, Zeitdruck aufgrund von akademischen
Anforderungen und die Covid-19 Pandemie auf. Anders gesagt: Keine Zeit für Resilienz.
Das führt uns zu einem Problem mit der Meditation. Zu sagen, man müsse nur
meditieren und achtsamer werden, um weniger Stress zu verspüren, wälzt die Ver-
antwortung auf die einzelne Person ab. Stress im Studium? Warum meditierst du nicht
abends? Stress mit der Familie? Einfach tief durchatmen und ein bisschen Achtsamkeit
trainieren, dann wird das schon. Studien untersuchen auch, ob Meditationsinterventionen
Kindern und Jugendlichen mit dem Stress in der Schule helfen kann. Eine Meta-Analyse
legt dabei nahe, dass Meditation bei Jugendlichen helfen könnte, psychischen Problemen
vorzubeugen (Van Loon et al., 2021). Aber warum ist das überhaupt nötig?
Wenn wir Meditation als Mittel gegen Stress einsetzen, behandeln wir bestenfalls die
Symptome. Ja, wir leben in einer stressigen Welt und es kann sinnvoll sein, Techniken
zur Stressbewältigung zu erlernen. Aber wäre es nicht mindestens genauso wichtig, zu
sehen, an welchen Stellen wir den Stress an sich reduzieren können? Es ist nicht die
Schuld der Schulkinder, wenn sie permanent in Hektik sind und ihre Aufgaben kaum
bewältigen können. Es ist nicht die Schuld der Frauen, dass es noch immer schwierig ist,
Kindererziehung und Arbeit gleichzeitig zu meistern. Es ist nicht die Schuld der Arbeit-
nehmenden, wenn die Anforderungen im Job immer weiter wachsen. Während wir nach
Wegen suchen, besser mit Stress umzugehen, sollten wir vielleicht darüber nachdenken,
wie wir eine Gesellschaft schaffen, in der das nicht in diesem Maße notwendig ist.
Immerhin kommt dieser Gedankengang immer mehr in das Bewusstsein von
Forschenden und der allgemeinen Bevölkerung. Ronald Purser, Professor of Management
an der San Francisco State University, beschreibt das beispielsweise in seinem Buch
„McMindfulness: How Mindfulness Became the New Capitalist Spirituality“ (Purser,
2019).

Die Nebenwirkungen
Zuletzt dürfen wir nicht außer Acht lassen, dass auch Meditation Nebenwirkungen haben
kann. Angstzustände, verzerrte Emotionen und Gedanken oder eine veränderte Selbst-
oder Weltansicht können durch Meditation entstehen und für die Betroffenen sehr unan-
genehm sein. Die Erkenntnis der negativen Effekte von Meditation ist nicht neu, aber
auch noch nicht gut untersucht. Das liegt teils daran, dass es keine klare Einordnung gibt
(Britton et al., 2021): Was zählt als negative Erfahrung und wie werden sie gemessen?
Somit lässt sich nicht genau sagen, wie oft Meditation zu schädlichen Ergebnissen führt
und ob diese negativen Effekte andauern.
Eine Forschungsgruppe hat sich allerdings daran gemacht, bessere Definitionen und
Messungen zu entwickeln, um diese Wissenslücke zu schließen (Britton et al., 2021).
In ihrer Studie untersuchten sie die negativen Effekte von einem achtwöchigen MBCT-
Programm bei Patient*innen mit mittleren bis schweren Depressionen. Dabei zeigte
Meditation: Altes Wissen in neuem Kontext 243

sich: Über die Hälfte der Teilnehmenden berichtete von unangenehmen Erfahrungen,
bei mehr als einem Drittel wirkte es sich negativ auf ihre Funktionstüchtigkeit aus. Bei
bis zu 14 Prozent dauerten die negativen Effekte länger an (LBE, lasting bad effect).
Diese LBE traten bei denjenigen Teilnehmenden häufiger auf, die öfter informell – ohne
Anleitung während ihrer täglichen Aktivitäten – Achtsamkeit übten.
Eine andere Analyse von über 1000 regelmäßig Meditierenden stellte negative
Erfahrungen bei etwa einem Viertel der Befragten fest (Schlosser et al., 2019). Die
genauen Zahlen hängen unter anderem davon ab, wer untersucht oder befragt wird,
welche Daten erhoben werden, und welche Arten von Meditation in der Untersuchung
vertreten sind. Ein Vergleich verschiedener Meditationsweisen legt beispielsweise
nahe, dass Achtsamkeitsmeditation und LKM weniger negative Erfahrungen hervor-
rufen als sogenannte „dekonstruktive Meditationen“ (z. B. Vipassana), bei denen die
Meditierenden ihre Gedanken analytisch betrachten, anstatt sie ohne Bewertung wahrzu-
nehmen.
Egal, welche Untersuchungen wir uns ansehen: Insgesamt klingt es zunächst nach
recht vielen negativen Erfahrungen für eine Methode, die eigentlich Stress reduzieren
und Entspannung fördern soll. Aber: Die Zahlen sind vergleichbar mit anderen psycho-
logischen Interventionen. In einer deutschen Studie von 2020 etwa berichteten über
ein Drittel der befragten Patient*innen in stationärer Behandlung von mindestens einer
Nebenwirkung der Psychotherapie, unter ambulant behandelten Patient*innen waren es
immerhin nur etwa 15 Prozent (Gerke et al., 2020).
Es ist letztendlich nicht verwunderlich, dass Meditationsinterventionen genau wie
andere Therapien mit dem Risiko von Nebenwirkungen einhergehen. Warum sollten sie
eine Ausnahme sein? Gerade, wenn sich Menschen intensiv mit sich selbst beschäftigen,
können Ängste und negative Gefühle aufkommen, wie auch in einer Psychotherapie.
Gute Psychotherapeut*innen können diesen Prozess begleiten und möglicherweise so die
negativen Erfahrungen vermindern oder auflösen. Problematisch könnte es werden, wenn
Patient*innen selbstständig und ohne Anleitung meditieren. Menschen ohne Erkrankung
sollten ebenfalls genau darauf achten, was die Meditation mit ihnen macht. Verschiedene
Apps machen es mittlerweile möglich, auf eigene Faust Achtsamkeit oder eine andere
Form der Meditation zu üben. Ausprobieren sollte normalerweise kein Problem sein,
aber sobald man sich unwohl fühlt, wäre es vielleicht ratsam, aufzuhören oder mit einer
Fachperson darüber zu sprechen.

u Gründe gegen Meditation als Allheilmittel 

• Verantwortung wird auf die Einzelperson geschoben


• Behandlung der Symptome (Stress), statt Bekämpfung der Ursachen
• Mögliche Nebenwirkungen: Angstzustände, verzerrte Emotionen und
Gedanken, veränderte Selbst-/Weltansicht
• Häufigkeit von Nebenwirkungen schwer einzuschätzen, je nach Situation
und Untersuchung unterschiedlich
244 S. Uhrig

Fazit: Meditation kann eine gute und hilfreiche Erfahrung sein und im klinischen
Kontext Symptome lindern. Sie sollte allerdings gerade bei psychischen
Erkrankungen von Expert*innen angeleitet sein.
Bei Menschen ohne Erkrankung gilt: Wer es ausprobieren möchte, kann das
bedenkenlos tun – aber dennoch immer auf mögliche negative Effekte achten und
im Zweifelsfall professionelle Hilfe suchen.

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Stefanie Uhrig ist Wissenschaftsjournalistin und promovierte


Neurowissenschaftlerin. In ihren Texten beschäftigt sie sich am
liebsten mit dem Gehirn und der Psyche. Mit der Meditation
sammelt sie durch die koreanische Kampfkunst Shinson Hapkido
Erfahrung, beschäftigt sich aber ebenso gerne mit der Wissenschaft
dahinter und mit der Frage: Was wissen wir wirklich?
Digital Health Start-ups als Treiber
der digitalen Transformation –
Herausforderungen aus Perspektive von
Gründer:innen

Sebastian Merkel und Diana Huth

1 Einleitung

In der Gesundheitsbranche gilt bislang das Narrativ, der Sektor sei im direkten Ver-
gleich zu anderen Branchen wenig durchdrungen von der Digitalisierung (Baierlein,
2017). Besonders deutlich zeigt sich dies im internationalen Vergleich. Hier attestieren
einige Studien Deutschland eine Zurückhaltung im Hinblick auf digitale Produkte
und digitalisierte Prozesse. Vor allem eine 2018 erschienene Studie von Bertelsmann
hat national für Aufsehen gesorgt, landete Deutschland hier unter den 17 Vergleichs-
ländern auf dem vorletzten Platz (Thiel et al., 2018). Wenngleich solche internationalen
Branchenstudien und intersektoralen Vergleiche im Hinblick auf ihre Aussagekraft
immer methodischen und konzeptionellen Limitationen ausgesetzt sind, so sind diese
doch oftmals Ausgangspunkt entsprechender Debatten.
Der Diskurs um die „digitale Transformation“ des Gesundheitssektors scheint in
Deutschland bislang vor allem durch die Rückständigkeit bzw. Langsamkeit gekenn-
zeichnet, mit der sich ebendiese vollzieht. Hier wird oft die Frage aufgeworfen, wie –
und durch welche Akteure – diese Rückständigkeit adressiert werden kann. Wenngleich
es sehr vielfältige Antworten auf diese Frage gibt, so wird oftmals auf Start-ups als

S. Merkel (*) 
Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland
E-Mail: Sebastian.Merkel@ruhr-uni-bochum.de
D. Huth 
Fakultät für Sozialwissenschaft, Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland
E-Mail: diana.huth@triquency.de

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 249
Teil von Springer Nature 2022
S. Krauss und P. Plugmann (Hrsg.), Innovationen in der Wirtschaft,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-37411-2_15
250 S. Merkel und D. Huth

Innovationstreiber verwiesen, auch im Gesundheitssektor (siehe u. a. Hanneken, 2018;


Waldschmitt, 2017).
Ebenso wie in anderen Wirtschaftsbereichen gelten junge Unternehmen als zentrale
Akteure der Digitalisierung, da diese als Träger digitaler Innovationen angesehen werden
(Kollmann & Schmidt, 2016) und mit neuen Geschäftsmodellen und häufig neuartigen
technischen Ansätzen bestehende Unternehmen oder ganze Märkte herausfordern.
Solche disruptiven Innovationen, um einen vielzitierten Begriff zu verwenden, finden
sich bereits in anderen Branchen, deren etablierte Strukturen von Start-ups nachhaltig
umgestaltet wurden (beispielhaft können hier der Einzelhandel, der Tourismusbereich
oder auch der Finanzsektor genannt werden). Im Gesundheitssektor, so scheint es, voll-
zieht sich das Innovationsgeschehen eher inkrementell als disruptiv – und das, obwohl
die Anzahl an Start-ups in Gesundheit und Medizin kontinuierlich zunimmt (Kollmann
et al., 2021).
Dies liegt, so die zentrale These dieses Beitrags, vor allem an den speziellen Heraus-
forderungen, die der Sektor mit sich bringt. (Angehende) Gründer:innen benötigen ent-
sprechende Branchenkenntnisse, die jedoch gerade im ersten Gesundheitsmarkt – also
bei Leistungen, die durch Gesetzliche Krankenversichzerung (GKV) oder die Private
Krankenversicherung (PKV) erstattet werden – ungleich komplexer ausfallen können, als
in anderen Bereichen und die es notwendig machen, entsprechendes Wissen auf unter-
schiedlichen Kanälen zu erwerben.
Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, zunächst solche Herausforderungen näher
zu beleuchten. Dies erfolgt zum einen abstrakt auf Basis einer unsystematischen Aus-
wertung bestehender Literatur und weiterer Datenquellen wie u. a. Online-Datenbanken
und zum anderen konkret anhand des Fallbeispiels eines Start-ups. Im zweiten Teil
berichtet daher ein (angehendes) Gründungsteam von dessen praktischen Erfahrungen.

2 Digitalisierung, digitale Transformation und digital health


Start-ups – Annäherungen an Konzepte und Begriffe

Da die hier verwendeten Konzepte und Begriffe alles andere als trennscharf abgegrenzt
werden können, erfolgen zunächst Begriffsbestimmungen in Form von Arbeits-
definitionen. Ein Blick in die Literatur unterstreicht diese Notwendigkeit. Denn bereits
der Digitalisierungsbegriff wird sehr unterschiedlich verwendet, was vor allem die ein-
gangs bemühten Branchenvergleiche vor konzeptionelle Herausforderungen stellt.
Pfeiffer (2019: 383) verweist auf die Unschärfe des Digitalisierungsbegriffes und erkennt
auf Basis der aktuellen Debatte zwei Deutungen: Einerseits die Durchdringung von
informationstechnologischen Artefakten und Technologien (u. a. Künstliche Intelligenz
[KI]) und andererseits die damit verbundenen Erwartungen an die Veränderung von Wirt-
schaft und Gesellschaft. Hier zeigt sich bereits die normative Dimension, die mit der
Digitalisierung bzw. der digitalen Transformation immanent zu sein scheint.
Digital Health Start-ups als Treiber der digitalen Transformation … 251

Der Begriff der (digitalen) Transformation hat Konjunktur und findet sich sowohl in
öffentlichen Debatten wie auch im wissenschaftlichen Diskurs. Häufig wird von einer
digitalen Umwälzung unterschiedlichster gesellschaftlicher Teilbereiche gesprochen,
wobei hier aktuell nicht nur Wandel innerhalb des Systems, sondern auch der Wandel
des Systems diskutiert wird (Reißig, 2009). Transformation bzw. „Umformung“ meint
dabei zunächst einen Veränderungsprozess von einem Status quo hin zu einem neuen,
ggf. noch unbekannten, Zielzustand. Wie genau der Begriff definiert wird, bzw. was
Gegenstand eines solchen Transformationsprozesses sein kann, unterscheidet sich dabei
nicht zuletzt in Abhängigkeit des Betrachtungswinkels bzw. der jeweiligen Disziplin.
So stellt auch die Soziologin Pfeiffer (2019) fest, der Transformationsbegriff habe,
getrieben durch den Diskurs zur Digitalisierung, erneut Aufwind erhalten. Die neueren
Diskussionen entspringen dem Einfluss der Digitalisierung und den damit verbundenen
Transformationsprozessen, weshalb häufig von der digitalen Transformation gesprochen
wird. Hier zeigt sich bereits, dass beide Begriffe im aktuellen Diskurs meist in direktem
Zusammenhang verwendet werden.
Auch in den Diskussionen rund um die Digitalisierung des Gesundheitssektors findet
sich der Begriff. So verstehen Wiegerling und Heil (2019: 215) unter der digitalen
Transformation „alle Bereiche des Lebens unter der Perspektive von Gesundheit und
Leistungsfähigkeit zu vermessen und miteinander zu verknüpfen.“ Kraus et al. (2021)
verstehen in Anlehnung an Vial (2019: 118) darunter „a process that aims to improve
an entity by triggering significant changes to its properties through combinations of
information, computing, communication, and connectivity technologies“. Bei beiden
ausgewählten Definitionen zeigt sich erneut die bereits erwähnte Erwartungshaltung,
dass aus dem Transformationsprozesses eine Verbesserung – die sehr unterschied-
liche ausgelegt wird – hervorgeht. Ein weiteres entscheidendes Merkmal, dass sich in
vielen Definitionen der digitalen Transformation findet, ist der Fokus auf Informations-
und Kommunikationstechnologie (IKT), meist mit dem Ziel der Vernetzung, bzw. auf
konkrete Technologiefelder wie bspw. KI, Telemedizin, etc. (Merkel & Müller-Mielitz,
2021). Diese Technologiefelder werden häufig genutzt, um die erwarteten Potenziale
zu konkretisieren und gleichzeitig bestehende Herausforderungen aufzuzeigen. Dabei
handelt es sich nicht notwendigerweise um rein wirtschaftliche Interessen. Vor allem im
Gesundheitsbereich findet sich das Bestreben, die Versorgungssituation zu verbessern
oder die Rolle von Patient:innen zu stärken (ebenda).
Dass vor allem Start-ups in der digitalen Transformation eine besondere Bedeutung
zugeschrieben wird, resultiert nicht zuletzt daraus, dass gerade junge Unternehmen als
besonders affin gegenüber digitalen Technologien gelten. Diese Technologien sind
oftmals Produkt und gleichzeitig Basis des Geschäftsmodells. Daher wird im Gesund-
heitssektor auch von digital health Start-ups gesprochen. Was genau unter einem Start-
up verstanden wird bzw. wann ein Unternehmen als ebensolches gilt, ist allerdings
umstritten. Während in den meisten Definitionen messbare Kriterien wie z. B. Alter seit
Gründung, Anzahl der Mitarbeitenden oder Umsatz herangezogen werden, finden sich
auch andere Eigenschaften, wie z. B. Innovationsgrad (Kollmann et al., 2021) oder das
252 S. Merkel und D. Huth

Bestreben ein skalierbares Produkt bzw. Geschäftsmodell zu entwickeln und dies in


einem unsicheren Umfeld zu erproben (Unterkalmsteiner et al., 2016). Ein wichtiges
Merkmal von Start-ups, das gleichzeitig auch ein Distinktionsmerkmal zu anderen
Formen der Existenzgründung darstellt, ist die Motivation der Gründer:innen. Hier
steht oftmals weniger die Existenzsicherung im Mittelpunkt und stärker die intrinsische
Motivation (hoch-)innovative Ideen umzusetzen (BMWI, 2018).
Abschließend lässt sich auf Grundlage dieser Annäherungen an die Definitionen und
Konzepte festhalten, dass alle hier erwähnten Begriffe nicht trennscharf sind und kein
allgemeingültiges Verständnis vorliegt. Dementsprechend scheint es wenig zielführend
von der Digitalisierung oder der digitalen Transformation zu sprechen. Wenn also digital
health Start-ups im Fokus dieses Beitrags stehen, so werden hierunter im Sinne einer
Arbeitsdefinition solche Unternehmen verstanden, die mittels digitaler Technologien
innovative Produkte, Dienstleistungen und/oder Geschäftsmodelle im Gesundheitssektor
entwickeln und hiermit bestimmte Zielsetzung verfolgen, die über reinen wirtschaft-
lichen Erfolg hinausgehen.

3 Start-ups, deren strukturpolitische Bedeutung und die


besondere Rolle von Hochschulen

Betrachtet man aktuelle Kennzahlen der Start-up-Landschaft, so lassen sich einige


Trends erkennen. Exemplarisch anhand des Bundeslandes Nordrhein-Westfalens kann
den Bereichen Medizin und Gesundheit ein Bedeutungszuwachs bei Gründungen
attestiert werden: Wenngleich der Start-up Report NRW 2020 für „Medizin“ einen
leichten Rückgang im Vergleich zum Jahr 2019 verzeichnet (von 50 in 2019 auf
48 Gründungen in 2020), so steht die Branche hinter Software (78 bzw. 83) und
eCommerce (39 bzw. 64) an dritter Stelle (bezogen auf die Anzahl an Gründungen im
Bereich Medizin liegen die Städte Düsseldorf (11) und Köln (10) vor Dortmund (4),
Münster (4) und Bonn (3). Betrachtet man allerdings die finanzierten Start-ups – hierzu
zählt der Report diejenigen Neugründungen, die externes Kapitel erhalten – so liegt
Medizin an der Spitze. Dies wird vor allem durch die längeren Entwicklungszyklen
erklärt, die vor allem im pharmazeutischen und medizintechnischen Bereich durch-
laufen werden müssen. Da aber in Rahmen der Studie der Bereich „Medizin“ nicht näher
differenziert wird, bleibt unklar, wie hoch deren Anteil an den Neugründungen tatsäch-
lich ist.
Insgesamt geht die Gründungsaktivität in Deutschland in den letzten Jahren allerdings
zurück (Institut für Mittelstandsforschung, 2021), was aus strukturpolitischer Sicht die
Notwendigkeit mit sich bringt, vor allem Hochqualifizierte verstärkt für Gründungen
zu motivieren und durch den Aufbau entsprechender Förderstrukturen den Weg in die
Selbstständigkeit zu erleichtern (Arndt et al., 2015). Die Etablierung und Förderung
einer Gründungskultur spielen daher eine zunehmend große Rolle in strukturpolitischen
Debatten. Gründer:innen schaffen nicht nur Arbeitsplätze und binden gut ausgebildetes
Digital Health Start-ups als Treiber der digitalen Transformation … 253

Personal an die entsprechenden Regionen, sondern beleben die regionale Wirtschafts-


landschaft, indem neue Geschäftsbeziehungen entlang der Wertschöpfungskette gebildet
werden und fördern den Wettbewerb mit etablierten Unternehmen, was wiederum deren
Innovationstätigkeiten antreiben kann (Arndt et al., 2015; BMWi, 2018).
Laut des Bundesverbands Deutscher Innovations-, Technologie- und Gründer-
zentren finden sich mittlerweile 351 Zentren in Deutschland, die Gründer:innen betreuen
(2021). Dabei ist der Erfolg regional nicht gleich verteilt: Vor allem in Berlin, Hamburg,
München, aber auch dem Ruhrgebiet finden sich die meisten Gründungen (Kollmann
et al., 2021). Hierbei kommt vor allem Hochschulen eine besondere Bedeutung zu, da
wissensintensive Ausgründungen oftmals hier ihren Ursprung haben und über zunehmend
mehr Gründungszentren verfügen. Ausgründungen haben so für viele Hochschulen in
den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen und deren Förderung ist mittlerweile fester
Bestandteil der Transferstrategien von Hochschulen. Laut des Gründungsradars 2020
steigt die Zahl der Gründungen und Gründungsvorhaben an Hochschulen weiter an
(Frank & Schröder, 2021). Dies hat u. a. dazu geführt, dass Strukturen wie Beratungs-
und Förderangebote errichtet wurden, die den Wissenstransfer aus der Hochschule in
Start-ups unterstützen und begleiten sollen.
Generelle Bedarfe von Start-ups sind gut dokumentiert und umfassen den Zugang zu
Personal, vor allem von (hoch-)qualifizierten Mitarbeitenden, die Möglichkeit auf Infra-
strukturen zurückzugreifen (hierzu zählen u. a. Büroräume, wenngleich dieser Aspekt
mit Zunahme an dezentralen Arbeiten in Abhängigkeit vom jeweiligen Geschäftsmodell
an Relevanz verlieren dürfte), Zugang zu Kooperationspartnern wie bspw. Hochschulen,
Marktzugänge bzw. Zugang zu Kunden, aber auch anderen Start-ups, um Erfahrungen
auszutauschen, sowie Kapitalsicherung bspw. durch Investoren, aber auch durch
öffentliche Förderangebote wie u. a. EXIST oder regionale Förderprogramme (BMWi,
2018). Die Gründungszentren der Hochschulen decken eine große Bandbreite hiervon
ab. Dies umfasst generelle Aspekte der Gründungsförderung wie die Erstellung von
Businessplänen, über IP- und Patentberatung, Hilfestellung bei der Identifikation und
Beantragung von Fördermitteln, etc. Meist konzentrieren sich diese Angebote vor allem
auf die Phase vor der eigentlichen Gründung bzw. auf die Early Stages oder Frühphasen.
Gerade diese Phasen sind jedoch bereits entscheidend für die spätere strategische Aus-
richtung.
Die skizzierten Entwicklungen verdeutlichen, dass es primär in den letzten Jahren
zu einem verstärkten Ausbau der Strukturen der Gründungsförderung an Hochschulen
gekommen ist. Hier muss allerdings differenziert werden zwischen generellen Förderung
und Beratung, sowie einer Verankerung von Entrepreneurial Education im Rahmen der
Lehre und der spezifischen Beratung von Gründer:innen in speziellen Branchen. Weiter-
hin spielen die Entwicklungsphasen von Start-ups eine Rolle. Hier stellt sich die Frage,
ob solche Beratungs- und Unterstützungsleistungen insbesondere in den Phasen nach
erfolgter Gründung überhaupt im Aufgabenbereich von Hochschulen liegen. Da aber
nicht nur vermehrt in Basisstrukturen investiert wird, sondern ebenso in Gründungs-
zentren bzw. Inkubatoren mit entsprechenden thematischen Fokussierungen – siehe
254 S. Merkel und D. Huth

exemplarisch die Exzellenz Start-up Zentren in Nordrhein-Westfalen1 – so gibt es hier


zumindest Bestrebungen einzelner Hochschulen.

4 Digital Health Start-ups und Herausforderungen für


Gründer:innen in der Gesundheitsbranche

Bislang finden sich kaum Studien, die sich mit Biografien bzw. konkreten Heraus-
forderungen von Start-ups im Bereich digital health beschäftigen. Im internationalen
Kontext gelangen auch Chakraborty et al. (2021) zu dieser Einschätzung. Sie konzentrieren
sich allerdings auf Start-ups im Bereich der „healthcare service delivery“ und sehen hier
junge Unternehmen hauptsächlich als Treiber von Innovationen in Entwicklungsländern,
die Versorgungsdefizite gezielt angehen und die Geschäftsmodellentwicklung an diesen
orientieren. Im Rahmen eines Scoping Reviews haben die Autor:innen fünf Paper identi-
fizieren können, die sich health-tech Start-ups widmen. Von diesen hat sich zumindest
eines systematisch mit den Herausforderungen von Start-ups in der (digitalen) Gesund-
heitswirtschaft beschäftigt (Vannieuwenbourg et al., 2017). In dem Fallbeispiel stand
eine telemedizinische Anwendung im Mittelpunkt bei deren Entwicklung die Autor:innen
vier Bereiche ausmachten, in denen sie potenzielle Hürden sehen – technische Heraus-
forderungen, regulatorische Rahmenbedingungen, unklare Werteversprechen für die Stake-
holder, sowie die Komplexität des Akteurnetzwerks.
Ein Defizit der bestehenden Literatur scheint jedoch die mangelnde Trennung
zwischen Herausforderungen bei der Implementation von Technologien im Gesundheits-
sektor und spezifischen Schwierigkeiten, die Gründer:innen überwinden müssen, darzu-
stellen. Wenngleich sich hier Überschneidungen ergeben, untermauert diese Feststellung
die Komplexität des Gesundheitssektors. Junge Unternehmen sehen sich nicht nur
der Schwierigkeit gegenüber, ihr konkretes Produkt in den Markt zu bringen, sondern
vielmehr die eigentliche Technologie. Telemedizin existiert als Konzept bereits seit
mehreren Jahrzehnten, dennoch kam es erst in jüngerer Zeit zu einem flächendeckenden
Einsatz – wenngleich noch häufig in Projektstrukturen. Weiterhin vermag eine solche
Klassifikation bestehender Herausforderungen hilfreich zur Strukturierung sein, ver-
langt aber gleichzeitig nach einer weiteren Differenzierung. Hier zeigt sich jedoch, dass
es bislang an systematischen Beschreibungen der konkreten Problemlagen von Start-
ups in der Gesundheitswirtschaft mangelt. Primär fehlt es an einem systematischen
Monitoring speziell für den Bereich der Gesundheitswirtschaft bzw. digital health. Ein
solches erlaubt es, die tatsächlichen Herausforderungen der Start-ups systematisch
zu erfassen und entsprechende Angebote zu erstellen. Vor allem mit der zunehmenden
Bedeutung von Gesundheit und Medizin ergibt sich die Notwendigkeit möglichst früh,
also bereits in den Frühphasen, für die spezifischen Rahmenbedingungen der Branche zu

1 https://www.exzellenz-start-up-center.nrw
Digital Health Start-ups als Treiber der digitalen Transformation … 255

sensibilisieren, sodass die Produktentwicklung und Geschäftsmodellierung bereits von


Beginn an auf potenzielle Stolpersteine vorbereitet ist bzw. reagieren kann. Dies muss
nicht zwingend im Rahmen der Gründungsförderung an Hochschulen erfolgen; gerade
wenn jedoch im Bereich Gesundheit und Medizin Schwerpunkte in der Gründungs-
förderung gesetzt werden, bedarf es nicht nur einer allgemeinen Beratung, sondern ent-
sprechender fachlicher Kompetenzen. Ein solches Monitoring kann dabei nicht nur die
generelle Entwicklung erfassen, also die Quantifizierung der Landschaft, sondern sollte
im Idealfall auch die jeweiligen Unternehmensbiografien nachvollziehbar machen.
Insbesondere die regulatorischen Rahmenbedingungen und der Marktzugang sind für
das Gesundheitswesen von zentraler Bedeutung. In den letzten Jahren wurden seitens
des Gesetzgebers vielfältige neue Möglichkeiten geschaffen, die auch für Gründer:innen
neue Möglichkeiten darstellen, ihre Produkte in die Refinanzierung zu bringen. Auf-
grund der Komplexität kann hier keine tiefer gehende Betrachtung erfolgen (siehe
hierzu u. a. Brönneke et al., 2020). Beispielhaft können hier vor allem die sogenannten
Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) genannt werden, mit denen eine vollständig
neue Möglichkeit der Finanzierung geschaffen wurden und die hauptsächlich zu Beginn
stark von Gründer:innen nachgefragt wurden. Allerdings hat sich nach einem Jahr
herausgestellt, dass der Prozess zahlreiche unvorhergesehene Herausforderungen und
ungeklärte Herausforderungen mit ich bringt.

5 Erfahrungsbericht: Innovationen durch E-Health Start-ups


am Beispiel ACTitude

Wie schaffe ich es, Evidenz-basierte psychologische Verfahren medial ansprechend


aufzubereiten? Kann ich Menschen individualisierte Angebote machen, bei denen sie
gleichzeitig wissen, dass ihre Daten geschützt sind? Als klinische Psychologin und
Medienproduzentin wollte ich schon immer beide Welten verbinden und etwas Neues
schaffen. Wissenschaftliche Onlineangebote wirken altbacken in ihrer Erscheinung und
medial ansprechenden Angeboten fehlt es meist an Wissenschaftlichkeit.
Das Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) ermöglicht seit Dezember 2019, mit digitalen
Angeboten den Gesundheitsmarkt zu ergänzen. Sogenannte DiGA, die auf Rezept ver-
schieben werden können, bieten Patient:innen die Möglichkeit auch abseits der Sprech-
stunde Unterstützung und Antworten auf ihre Fragen zu bekommen. Gerade im Bereich
der psychischen Gesundheit sind DiGAs sehr beliebt. Das ist wenig überraschend, da die
durchschnittliche Wartezeit auf einen Psychotherapieplatz in Deutschland fünf Monate
beträgt (BPtK, 2018).

Präventionsangebote im Bereich psychische Gesundheit


In Deutschland sind laut DGPPN (2018) jährlich etwa 18 Mio. Menschen psychisch
belastet, wovon nur etwa drei Millionen in Behandlung gehen. Grund für diese Dis-
krepanz zwischen Bedarf und Inanspruchnahmen kann neben den langen Wartezeiten
256 S. Merkel und D. Huth

auch die anhaltende Stigmatisierung psychischer Erkrankungen sein. Auch ein Beamten-
status, eine Berufsunfähigkeits- oder eine private Krankenversicherung können aufgrund
einer bestehenden Psychotherapie verwehrt werden. Gleichzeitig machen die Kosten für
Ausfälle und Produktivitätseinbußen durch psychische Erkrankungen fast 90 Mrd. Euro
in der deutschen Volkswirtschaft aus, Tendenz steigend (DGPPN, 2018).
Deshalb braucht es Maßnahmen, die unterstützen, bevor eine klinische Indikation auf-
tritt. Das lässt sich wiederum nicht mit einer DiGA vereinbaren, da die Voraussetzung
für das Verschreiben auf Rezept eine klinische Diagnose ist. Aktuell gibt es im Bereich
Prävention nach § 20 SGB V zertifizierte und von Krankenkassen anerkannte Gesund-
heitskurse für folgende Handlungsfelder: Bewegung, Ernährung, Stressbewältigung
und Suchtmittelkonsum. Das Feld der psychischen Belastungen, die zu psychischen
Erkrankungen führen können, umfasst allerdings deutlich mehr als die genannten
Handlungsfelder. Daher wollen wir mit ACTitude eine digitale Plattform schaffen,
die Menschen hilft, schwierige Situationen in unterschiedlichen Lebensbereichen zu
meistern.

Die Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT) als innovativer und transdiagnostischer


Ansatz
Im Rahmen der dritten Welle der Verhaltenstherapie entstanden in den 1990ern neue
Behandlungskonzepte, die eine zunehmende Berücksichtigung von Achtsamkeit und
Akzeptanz kennzeichnet. Die drei Phasen oder Wellen der Verhaltenstherapie sind nach
Heidenreich und Michalak (2013):

1. die behaviorale Phase


2. die kognitiv-behaviorale Phase und
3. die »dritte Welle« mit zunehmender Berücksichtigung von Achtsamkeit und
Akzeptanz

Eines dieser innovativen Behandlungskonzepte ist die Akzeptanz- und Commitment-


Therapie (ACT) nach Hayes et al. (1999). Neben Achtsamkeit und Akzeptanz hat sie
auch einen starken Wertebezug. Sie zeichnet sich durch viele praktische Übungen und
Metaphern zur Veranschaulichung aus und ist ein transdiagnostischer Ansatz. Damit
eignet sich die ACT sehr gut, um Menschen mit verschiedenen Alltagsbelastungen
abzuholen und ihnen einen einfachen Einstieg in psychologische Interventionen zu
ermöglichen. Das Ziel der ACT ist die psychische Flexibilität, eine selbstgewählte
Anpassungsfähigkeit in schwierigen Situationen. Dabei werden unangenehme Zustände
wahrgenommen (Achtsamkeit) und akzeptiert, wenn die eigenen Einflussmöglich-
keiten keine Veränderung herbeiführen können (Akzeptanz). Gleichzeitig wird versucht,
sich von der Situation zu lösen, statt in destruktiven Negativspiralen zu verweilen. Der
gewonnene Abstand wird genutzt, um Dinge zu tun, die einem wichtig sind (Werte-
bezug). Die ACT unterscheidet hierbei zwischen dem „sauberen“ (auch natürliches)
und „schmutzigen“ (auch selbstgewähltes) Leid. Ersteres ist unvermeidbar (z. B.
Digital Health Start-ups als Treiber der digitalen Transformation … 257

Bewegungseinschränkungen durch ein gebrochenes Bein), während letzteres erst durch


weiterführende Gedanken (z. B. „Ich bin so ein Tollpatsch, dass ich gestürzt bin, nichts
mache ich richtig.“) oder das Bemühen, es loswerden zu wollen, entsteht. Die Arbeit
mit Gedanken, Gefühlen und deren Entschärfung – als Defusion bezeichnet – ist ein
zentraler Bestandteil der ACT. Dies lässt sich auch medial leicht aufbereiten.

Datengetriebene Onlinekurse angepasst an die Wünsche und Bedürfnisse der Nutzer:innen


Als digitale Plattform bietet ACTitude verschiedene Möglichkeiten, sich einem Thema
zu nähern. Häufig suchen Menschen zunächst im Internet nach Hilfe. Deswegen nutzen
wir häufige Suchanfragen, um daraus Ideen für Inhalte zu generieren. Diese werden dann
als kostenfreie Artikel zur Verfügung gestellt und beinhalten auch Videos oder Podcast-
folgen, welche die Themen oberflächlich aufgreifen und häufige Fragen beantworten.
Mittels User Research identifizieren wir inhaltliche und technologische Wünsche für die
Plattform und die Kurse. Unsere ersten Erhebungen ergaben, dass Stressbewältigung das
gefragteste Thema ist und dass eine reale Person gegenüber Animationsvideos präferiert
wird. Daher ist unser erster Onlinekurs „Multimodales Stressmanagement“ und ACTitude
eine Personenmarke. Als Psychologin und Moderatorin verstehe ich mich als Bindeglied
zwischen Nutzer:innen und Expert:innen. In vielen Podcastfolgen und Onlinekursen laden
wir Psychotherapeut:innen, Wissenschaftler:innen und Psycholog:innen ein, die über
Spezialwissen und Erfahrung in den jeweiligen Themen verfügen. Ich frage bei Fach-
begriffen nach und versuche theoretische Konzepte leicht verständlich zusammenfassen.
Auf eine persönliche Beratung verzichten wir, da wir ACTitude als digitale Ergänzung
zur Regelversorgung verstehen und skalieren wollen. Stattdessen sind thematisch aus-
gerichtete Livestreams angedacht und einzelne Workshops/Trainings in Unternehmen.
Da der Stressbewältigungskurs als IKT-Selbstlernprogramm die Vorgabe hat, dass ein:e
zertifizierte:r Stresstrainer:in pro Teilnehmer:in 20 min persönlich zur Verfügung stehen
muss, gibt es dennoch die Möglichkeit der direkten Kontaktaufnahme. Primär verweisen
wir auf andere Anlaufstellen und arbeiten auch mit der Deutschsprachigen Gesellschaft
für kontextuelle Verhaltenswissenschaften e. V. (DGKV) zusammen, um konkrete ACT-
Therapeut:innen empfehlen zu können.

Personalisierte Lernpfade zur Aufrechterhaltung der Motivation


Es zeigt sich immer öfter, dass psychologische Online-Interventionen eine Verbesserung
von Symptome erzielen können, dass die Motivation, digitale Programme zu nutzen
jedoch stark abnimmt. Laut Lüdtke et al. (2018) verwendeten 39 % der Nutzer:innen
einer Selbsthilfe-App diese nicht regelmäßig obwohl die Studie eine signifikante Ver-
besserung der psychischen Gesundheit durch die Nutzung ergab. Dem begegnen wir bei
ACTitude mit zwei Ansätzen:

• Anreize schaffen durch belohnende Elemente (Gamification)


• Individuelles Nutzer:innenerlebnis angepasst an eigene Präferenzen durch Umfragen
und maschinelles Lernen
258 S. Merkel und D. Huth

Belohnende Elemente sind weit verbreitet und nicht neu. In Schulklassen werden
bestimmte Stempel verteilt, wenn Hausaufgaben erledigt wurden. In Lernprogrammen
werden Inhalte erst freigeschaltet, wenn vorherige Lektionen erfüllt worden sind. Die
beliebte Meditations-App 7Mind2 verteilt digitale Sticker, wenn Nutzer:innen mehrere
Tage in Folge meditieren. Solche Elemente integrieren wir ebenfalls und wollen zusätz-
lich von unseren Nutzer:innen lernen, was sie motiviert. Durch das Evaluieren von
Übungen können wir Anreize schaffen, indem wir weitere Inhalte anbieten, die ihren
Lieblingsübungen ähnlich sind. Diesen Mechanismus machen wir uns auch für den
generellen Kursaufbau zu Nutze. Wenn Nutzer:innen ihre persönlichen Präferenzen
angeben, bekommen sie entsprechende Kursinhalte gezeigt. Beim Stressbewältigungs-
kurs fragen wir eingangs, ob Nutzer:innen Stress am liebsten mit Entspannungsübungen,
Sport oder kognitiven Prozessen wie Umdenken oder Zeitmanagement abbauen und
dann die Kursinhalte entsprechend gestalten. Genauso könnte die Frage nach der
Präferenz der medialen Aufbereitung dazu führen, dass Inhalte eines bestimmten
Medientyps verstärkt ausgespielt werden. Selbst wenn Nutzer:innen keine Angaben zu
ihren Präferenzen machen, hätten wir – bei entsprechender Einwilligung – die Möglich-
keit, Nutzer:innenverhalten zu analysieren und Kursinhalte entsprechend anzupassen
(automatisiert und anonym durch maschinelles Lernen).

Markteintritt und Zugang zum Gesundheitsmarkt


Die angestrebte Flexibilität bei der Kursgestaltung macht eine Zertifizierung als Prä-
ventionskurs allerdings schwieriger, weshalb wir die individuellen Lernpfade vorerst nur
bei Kursen, die aktuell nicht zertifiziert werden können, umsetzen. Gesundheitskurse, die
selbst bezahlt werden müssen, haben gleichzeitig schlechtere wirtschaftliche Erfolgs-
aussichten. Unter den Teilnehmenden des Präventionskurses „Multimodales Stress-
management“ erhoffen wir uns Pilotkunden:innen für den ersten Selbstzahler:innenkurs
„Selbstwert stärken“ gewinnen zu können. Mit den ersten Erfahrungen und Ergebnissen
aus diesen Kursen gehen wir dann sowohl auf Krankenkassen zu, mit dem Ziel einen
Selektivvertrag für Einzelkurse und/oder Abonnements abzuschließen, und auf Unter-
nehmen, die im Rahmen der Betrieblichen Gesundheitsförderung (BGM) Lizenzen für
ihre Mitarbeitenden erwerben.
Der Schutz der Personen- bzw. Gesundheitsdaten ist für uns sowohl in Bezug auf
Einzelanwender:innen als auch im Unternehmen essentiell wichtig. Daher orientieren
wir uns an den strengen Vorgaben für DiGAs und verarbeiten Daten nur mit Ein-
willigung und im Interesse der Nutzer:innen bzgl. der individualisierten Lernpfade bzw.
zu Forschungszwecken in anonymisierter Form.

2 https://www.7mind.de/en
Digital Health Start-ups als Treiber der digitalen Transformation … 259

Ausblick: Gezielte Unterstützung in der Hosentasche und Emotionsregulation und Identi-


tätsentwicklung für Kinder und Jugendliche
Sobald die Web-Plattform etabliert ist, streben wir die Entwicklung einer App an, die
eine noch gezieltere Unterstützung bieten kann. Zum einen kann dann noch leichter
unterwegs gelernt und geübt werden und zum anderen können – bei entsprechender Ein-
willigung – weitere Daten berücksichtigt werden. Denkbar ist eine Standortverarbeitung,
die Nutzer:innen Hilfestellungen im Sinne ihrer Ziele bietet. Möchte jemand einen
Monat keinen Alkohol trinken, könnten per Benachrichtigung Vorschläge für beliebte,
alkoholfreie Getränke gesendet werden, sobald man ein Restaurant betritt. Auch die
Nutzung von Shopping und Social Media Apps könnte analysiert und mit Impulsen wie
„Wie wäre es mit einer kurzen Audioübung zur Entspannung?“ unterbrochen werden.
Da wir mit ACTitude einen Beitrag zur Entwicklung von Gesundheitskompetenzen
leisten wollen, halten wir es für wichtig, perspektivisch auch Angebote für Kinder
und Jugendliche zu machen. Während der COVID-19 Pandemie stieg das Risiko für
psychische Auffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen von rund 18 % auf 30 %
(Ravens-Sieberer et al., 2020). Gerade im Bereich der Emotionsregulation und der
Identitätsentwicklung von Kindern und Jugendlichen ist die ACT eine vielversprechende
Methode, die aktuell verstärkt Aufmerksamkeit bekommt. Auch Eltern müssen hier-
bei berücksichtigt werden, denn Daks und Rogge (2020) zeigten, dass sich psychische
Flexibilität positiv auf Familien auswirkt.

6 Fazit

Der vorliegende Beitrag zeigt die Bedeutung von Start-ups im Gesundheitssektor auf
und skizziert grob bestehende Herausforderungen. Die Herausforderungen, so unsere
Argumentation, sind in dem Sektor besonders hoch und bedürfen entsprechender Unter-
stützungsstrukturen. Hochschulen können hier eine zentrale Rolle spielen, müssen
jedoch entscheiden, wie sich solche Strukturen konkret ausgestalten: Fokussieren sich
diese vor allem auf generelle Gründungsberatung und Entrepreneurship Education
oder werden auch spezialisierte Angebote eventuell in Kooperation mit Akteuren wie
der Wirtschaftsförderung oder aus dem privatwirtschaftlichen Bereich aufgebaut.
Solche Kooperationsstrukturen können helfen, zentrale Fragen von Gründer:innen zu
beantworten, die bereits frühzeitig adressiert werden müssen. Denn nur, wenn innovative
Produkte auch mit entsprechenden Geschäftsmodellen und Marktstrategien hinter-
legt sind, können diese tragfähig und nachhaltig sein. Seitens der Politik wurden in den
letzten Jahren vielfältige Möglichkeiten geschaffen, die digitale Transformation von
Gesundheit und Medizin zu beschleunigen. Diese gilt es zu nutzen, um Innovationen zu
erproben und umzusetzen.
260 S. Merkel und D. Huth

Literatur

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Sebastian Merkel ist Inhaber der Juniorprofessur für Gesundheit


und E-Health an der Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Uni-
versität Bochum. Die Juniorprofessur erforscht die Auswirkung der
Digitalisierung auf den Gesundheitssektor. Im Mittelpunkt stehen
dabei Fragen danach, wie (digitale) Technik partizipativ entwickelt
und gestaltet werden kann und welche Faktoren sich auf die
Implementation digitaler Technik wie auswirken. Start-ups kommen
hierbei eine besondere Bedeutung. Sebastian Merkel ist Mentor für
junge Unternehmen in der (digitalen) Gesundheitswirtschaft und hat
u.a. das Projekt „Healthcare Start-up Ökosystem NRW 2020“
durchgeführt, in dessen Rahmen ein eigenes Portal „digihealthstart.
nrw“ initiiert wurde, das Start-ups helfen soll, sichtbarer zu werden
und sich zu vernetzen.
262 S. Merkel und D. Huth

Diana Huth ist Psychologin (M.Sc.), Medienproduzentin (B.A.)


und Co-Founderin der ACTitude GmbH. Sie studierte an der Ruhr-
Universität Bochum, der Technischen Hochschule Ostwestfalen-
Lippe und der University of Westminster, London. Während ihrer
Arbeit als Psychologin in der Rehaklinik MediClin Rose lernte sie
durch eine Patientin die Akzeptanz- und Commitment-Therapie
(ACT) kennen. Nachdem sie in einigen Marketing- und Kreativ-
agenturen und beim Verlag Gruner und Jahr gearbeitet hat, ent-
schloss sie sich ACTitude zu gründen um damit digitale Angebote
zu Prävention psychischer Erkrankungen zu schaffen, indem sie
moderne Mediengestaltung mit Psychologie verbindet. Für diese
Idee wurde sie und ihr Team vom Bundesministeriums für Wirt-
schaft und Klimaschutz gefördert und als „Kultur- und
Kreativ*pilotinnen 2021“ ausgezeichnet. Die ersten Onlinekurse zu
den Themen Stressbewältigung und Selbstwert werden über
ACTitude.de angeboten.
Physician Assistant – ein innovativer
akademischer Gesundheitsberuf

Thomas Lichtinger

Physician Assistant
Der englische Begriff „Physician Assistant“ kann am besten mit „Arztassistent/in“ über-
setzt werden. In Deutschland haben Physician Assistants (PA) oder Arztassistenten/innen
in der Regel einen Gesundheitsfachberuf erlernt und anschließend das Hochschulstudium
Physician Assistant abgeschlossen. Das Studium beträgt sechs Semester und schließt
mit einem Bachelor (B. Sc.) ab. Im Studium werden wissenschaftliche und praktische
Inhalte nach den Vorgaben der Bundesärztekammer und der Kassenärztlichen Bundes-
vereinigung vermittelt. Inzwischen gibt es an den Hochschulen zudem erste Schritte das
Studium auch in Deutschland als Masterstudium (M. Sc.) anzubieten.
In Deutschland ist der Physician Assistant ein junger Beruf. Das erste Ausbildungs-
programm besteht seit circa 15 Jahren, wobei in den letzten Jahren immer mehr Hoch-
schulen diesen Studiengang eingerichtet haben oder akkreditieren lassen. Es gibt
inzwischen circa 600 Absolventen und über 1000 Studierende. Sowohl die Hoch-
schulen als auch die Physician Assistants organisieren sich in Verbänden. Die Physician
Assistants arbeiten meistens in Kliniken und auf Delegationsbasis.
Vorbild für den deutschen Physician Assistant ist unter anderem die Situation in den
USA. Dort gibt es den Beruf des Physician Assistant seit Anfang der 60er Jahre. In den
folgenden Jahrzehnten wurden modernere Ausbildungsprogramme entwickelt, Tätig-
keitskompetenzen geregelt, Zertifizierungsverfahren durchlaufen, Examen vereinheit-
licht und Verbände gegründet. Aktuell bestehen über 240 Ausbildungsprogramme für
Physician Assistants in den USA und es sind über 100.000 Physician Assistants in den

T. Lichtinger (*) 
SRH Hochschule für Gesundheit, Leverkusen, Deutschland
E-Mail: Thomas.Lichtinger@srh.de

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 263
Teil von Springer Nature 2022
S. Krauss und P. Plugmann (Hrsg.), Innovationen in der Wirtschaft,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-37411-2_16
264 T. Lichtinger

USA ambulant und stationär tätig. Sie können ärztliche Leistung eigenverantwortlich im
Sinne der Substitution durchführen. Physician Assistants sind inzwischen ein unverzicht-
barer Bestandteil des medizinischen Versorgungssystems in den USA.

Physician Assistants in der Klinik


Physician Assistants sind dem ärztlichen Dienst unterstellt und übernehmen
medizinische Aufgaben nach ärztlicher Delegation und unter ärztlicher Aufsicht.
Tätigkeiten, die aufgrund ihrer Schwierigkeit und Gefährlichkeit für die Patienten/
innen eine spezielle ärztliche Fachkenntnis und Erfahrung erfordern, sind nicht auf
Physician Assistants delegierbar. Zudem besteht für manche Tätigkeiten ein Arzt-
vorbehalt aufgrund gesetzlicher Bestimmungen (z. B. in der Röntgenverordnung).
Physician Assistants können trotzdem viele ärztliche Leistungen übernehmen und bei
komplexen Tätigkeiten mitwirken. Es besteht ein Spielraum für Ärzte/innen welche
Tätigkeiten sie an Physician Assistants delegieren. Immer muss sichergestellt sein,
dass die Arztassistenten/innen aufgrund ihrer Qualifikationen, Fähigkeiten und Kennt-
nisse die delegierten Aufgaben auch erfüllen können. Die delegierenden Ärzte/innen
müssen dies berücksichtigen und überprüfen. Allgemein sind Physician Assistants in
allen medizinischen Bereichen eines Krankenhauses einsetzbar. Aktuell werden die
meisten Physician Assistants in den großen klinischen Fachgebieten Chirurgie und
Innere Medizin beschäftigt. Auch in kleineren und in patientenfernen Fachgebieten sind
Physician Assistants erfolgreich einsetzbar.
Physician Assistants können den ärztlichen Bereich in ganz erheblichem Umfang
unterstützen. Neben der üblichen Basisarbeit (Blutentnahmen, Legen von Zugängen,
Verbandswechsel, Assistieren bei Operationen, Dokumentieren, Vorbereiten von Arzt-
briefen und Kodierungen, etc.) können Physician Assistants auch sehr anspruchsvolle
Aufgaben übernehmen. Sie können spezifische Techniken in verschiedenen Bereichen
(Chirurgie, Innere Medizin, Notfallambulanz, Anästhesie, Intensivmedizin, Funktions-
diagnostik, etc.) erlernen und anwenden. Physician Assistants können orientierende
Ultraschall-Untersuchungen und überschaubare Eingriffe durchführen. Exemplarisch
entnimmt in einer eidgenössischen herzchirurgischen Klinik ein Arztassistent
routinemäßig die zur Bypass-Operation benötigten Venen am Bein während zeitgleich
am Herzen operiert wird. Die praktische Ausbildung für diesen Eingriff für andere
Physician Assistants und auch für Ärzte/innen in der Weiterbildung wird ebenfalls
durch den erfahrenen Physician Assistant sichergestellt. Auch Kommunikations- und
Organisationsaufgaben können von Physician Assistants übernommen werden. Bei-
spielsweise hat sich durch den Einsatz einer Physician Assistant innerhalb einer größeren
neurochirurgischen Abteilung der Informationsfluss verbessert und damit die Verweil-
dauer der Patienten im Krankenhaus verkürzt.

Physician Assistants im ambulanten Bereich


Wie in den Krankenhäusern können Physician Assistants im ambulanten Bereich viele
ärztliche delegierbare Tätigkeiten übernehmen und die niedergelassenen Ärzte/innen
Physician Assistant – ein innovativer akademischer … 265

deutlich entlasten. Neben der administrativen Unterstützung wünscht sich vor allem der
ärztliche Nachwuchs in den Praxen eine verstärkte Entlastung, eine bessere Vereinbarkeit
von Familie und Beruf und mehr Möglichkeiten zur Teilzeittätigkeit. Insofern können
Physician Assistants zu einer Steigerung der ärztlichen Berufszufriedenheit auch im
ambulanten Bereich beitragen. In einigen Ländern werden Hausbesuche von Physician
Assistants durchgeführt. Die Ärzte werden entlastet und die medizinische Versorgung hat
sich insbesondere in den ländlichen Gebieten verbessert.

Physician Assistants und die Ärzteschaft


Physician Assistant ist ein neuer Gesundheitsberuf und damit für die anderen Berufs-
gruppen zunächst ungewohnt und mit Unsicherheiten verbunden. Physician Assistants
werden aber umso besser bewertet, je mehr Erfahrungen die einzelnen Berufsgruppen
mit Physician Assistants haben. Im ärztlichen Bereich finden Physician Assistants ins-
besondere bei den leitenden Ärzten eine gute Akzeptanz. Diese schätzen insbesondere
die Informationsweitergabe, die Personalkontinuität und die Erledigung administrativer
Aufgaben. Ärzte/innen in der Weiterbildung sehen Physician Assistants etwas kritischer.
Einerseits können sie sich durch den Einsatz von Physician Assistants besser auf ihre
ärztlichen Kernleistungen konzentrieren, andererseits befürchten sie auch eine Ein-
schränkung ihrer Weiterbildung und eine generelle Reduktion der ärztlichen Stellen.
Oberärzte/innen liegen in der Beurteilung der Physician Assistants zwischen den oben
genannten Gruppen.

Physician Assistants und die Pflege


Pflegeverbände haben Physician Assistants zunächst skeptisch beurteilt. Die anfängliche
Ablehnung beruhte auf Besorgnisse über die Absenkung der medizinischen Qualität,
Kompetenzstreitigkeiten und unklare Strukturen in der Patientenversorgung. Im tatsäch-
lichen Einsatz werden Physician Assistants von den Pflegenden aber positiv beurteilt,
da vor allem eine verbesserte Personalkontinuität auf den Stationen und eine bessere
Kommunikation mit dem ärztlichen Bereich durch die Physician Assistants gewährleistet
wird. Zudem kommt es zu einer Arbeitsentlastung, da eher ärztliche Aufgaben nicht
mehr aus Ärztemangel von den Pflegekräften durchgeführt werden müssen.

Physician Assistants und die akademischen Pflegeberufe


Deutschland hinkt bei der Akademisierung der Pflegeberufe im internationalen Vergleich
deutlich hinterher. Die Schätzungen über den Anteil an Pflegenden mit akademischem
Abschluss liegen zwischen einem und vier Prozent. Aktuell treffen in Deutschland also
wenige Physician Assistants auf wenige akademisierte Pflegekräfte. Dies wird sich in
den nächsten Jahren ändern, da beide Berufsgruppen in ihrer Anzahl zunehmen werden.
Der Wissenschaftsrat empfiehlt beispielsweise eine Erhöhung der Akademisierungs-
quote in der Pflege auf bis zu 20 %. Eine strukturierte teamorientierte Zusammenarbeit
dieser akademischen Berufe wird erforderlich. Durch die Vorgaben der Bundesärzte-
kammer und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung lassen sich die Tätigkeitsprofile
266 T. Lichtinger

der Physician Assistants vom Pflegebereich abgrenzen. Etwaige Schnittmengen wird


man konstruktiv nutzen, um die höheren Anforderungen durch die zunehmende Anzahl
geriatrischer und multimorbider Patienten gemeinsam zu bewältigen.

Physician Assistants und Patienten/innen


Von Patienten wird vor allem die verbesserte Kommunikation und Personalkontinui-
tät durch den Einsatz von Physician Assistants geschätzt. Physician Assistants haben
in der Regel gute soziale Kompetenzen im Umgang mit Patienten. Sprachliche und
kulturelle Schwierigkeiten, wie sie von Patienten im Umgang mit ausländischen ärzt-
lichen Kollegen/innen manchmal wahrgenommen werden, sind nicht zu erwarten. Es ist
keine Verschlechterung der medizinischen Versorgung zu befürchten und es besteht keine
Risikoerhöhung für die Patienten. Klinikaufenthalte werden durch die koordinierende
Tätigkeit von Physician Assistants verkürzt. In strukturschwachen Regionen kann durch
Physician Assistants die medizinische Versorgung verbessert werden. Die ausbildenden
Hochschulen werden in Zukunft den Einfluss von Physician Assistants auf die Ver-
sorgungsqualität einzelner Patientengruppen detaillierter evaluieren.

Physician Assistants und die Digitalisierung


Aktuell wird circa 40 % der ärztlichen Arbeitszeit mit administrativen Dingen ver-
bracht. Immer mehr Dokumentationsaufgaben binden die Ärzte/innen und die Physician
Assistants an den digitalen Arbeitsplatz zur Bedienung der Krankenhausinformations-
systeme. Eine Erleichterung ist aktuell nicht absehbar.
In der praktischen medizinischen Versorgung wird die digitale Entwicklung den
Arbeitsalltag von Physician Assistants erleichtern. Physician Assistants nutzen
zunehmend digitale Medien als Informationsquelle, da wissenschaftliche und
medizinische Informationen inzwischen kurzfristig und mobil verfügbar sind. Evidenz-
basierte medizinische Entscheidungshilfen sind digital erhältlich. Die telemedizinische
Übertragung von Gesundheitsdaten wird neue Möglichkeiten für den von der Klinik oder
der Praxis ortsunabhängigen Einsatz von Physician Assistants ermöglichen. Im Rettungs-
dienst werden jetzt schon medizinische Parameter telemedizinisch vom Einsatzort an
ortsferne Ärzte/innen übermittelt. Diese können dann den Rettungsdienst am Einsatzort
beraten und anleiten. Die Versorgung schwerkranker Patienten wurde durch diese neuen
digitalen Möglichkeiten verbessert.

Physician Assistants und ihre Motivation und ihre Berufsaussichten


Für Physician Assistants ist in erster Line die fachliche Weiterentwicklung motivierend.
Aufstiegsmöglichkeiten und bessere Verdienstmöglichkeiten sind ebenso wichtig. Die
staatliche Weiterbildungsbezeichnung und der Hochschulgrad sind zusätzliche Beweg-
gründe für das Studium. Physician Assistants finden schnell eine Anstellung und
werden in höhere Tarifgruppen als vor dem Studium eingeordnet. Dies bedeutet nicht
Physician Assistant – ein innovativer akademischer … 267

automatisch einen höheren Verdienst, da Physician Assistants nur teilweise in Wochen-


ende- oder Bereitschaftsdiensten eingesetzt werden und somit finanzielle Zulagen ent-
fallen. Der Vorteil besteht dann in geregelten Arbeitszeiten.
Durch den relativen Ärztemangel in Deutschland wird sich der Arbeitsmarkt für
Physician Assistants weiterhin positiv entwickeln. Der Beruf erfährt eine zunehmende
Internationalisierung mit Ausbildungsprogrammen in über fünfzig Ländern. Die globale
Zunahme von älteren Bevölkerungsgruppen und von Wohlstandserkrankungen erhöht
den Bedarf an Physician Assistants perspektivisch weltweit.
Eine akademische Weiterbildung in Form eines Masterstudiums im In- und Aus-
land nach dem Bachelor-Abschluss ist möglich. Durch die erworbene allgemeine
Hochschulzugangsberechtigung eröffnen sich zusätzliche neue Studiermöglichkeiten
für die Absolventen. Nichtakademische berufliche Weiterqualifikationen sind davon
unbenommen möglich.

Physician Assistants und die Zukunft


Es spricht vieles dafür, dass sich das Berufsbild Physician Assistant mittel- bis lang-
fristig auch in Deutschland fest etablieren wird. Die meisten Physician Assistants werden
in den großen Fächern Innere Medizin und Chirurgie und im stationären Bereich tätig
sein. Mit zunehmender Akzeptanz werden auch kleinere Fächer Physician Assistants
beschäftigen. Krankenhäuser werden Physician Assistants auch aus ökonomischen
Gründen einsetzen. Insbesondere in den ländlichen Bereichen wird aufgrund des Ärzte-
mangels ein weiterer Bedarf an Physician Assistants entstehen. Im ambulanten Sektor
kann der Bedarf an Physician Assistants deutlich ansteigen, wenn die Vergütungs-
strukturen für ambulante Leistungen angepasst werden. Unterversorgte Regionen werden
hier eine Vorreiterrolle spielen können. Gegebenenfalls werden gerade auf dem Land die
Möglichkeiten der Telemedizin zu einer Beschleunigung des Einsatzes von Physician
Assistants führen. Man kann mittelfristig einen internationaleren Arbeitsmarkt für
Physician Assistants erwarten.

Physician Assistants und die Hochschulen


Aktuell bieten circa zwanzig Hochschulen in privater bzw. freier Trägerschaft den
Studiengang Physician Assistant an. Von einigen Hochschulen werden die Studien-
gänge an mehreren Studienorten gleichzeitig angeboten. Insgesamt besteht in Deutsch-
land ein flächendeckendes Angebot für die Studierenden. Der Zugang zum Studium
unterscheidet sich an den verschiedenen Hochschulen und in den einzelnen Bundes-
ländern. Nicht immer ist ein Abitur oder ein Fachabitur erforderlich. Auch angemessene
Erfahrungen in einem erlernten Gesundheitsfachberuf in Kombination mit einer Ein-
gangsprüfung ermöglichen die Zulassung zum Studium. Die akademische Ausbildung
zum Bachelor (B. Sc.) wird von einigen Hochschulen zum Masterabschluss (M. Sc.)
weiterentwickelt.
268 T. Lichtinger

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Prof. Dr. med. Thomas Lichtinger ist seit 2020 Professor im


Bachelorstudiengang Physician Assistant (PA) an der SRH Hoch-
schule für Gesundheit. Leiter des Studienganges PA am Campus
Leverkusen.
Studium der Humanmedizin in Bochum und Essen. Weiter-
bildung zum Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie an der
Universitätsklinik in Essen. Promotion 1998. Tätigkeiten als Ober-
arzt in Essen, München und Neuss. Leitender Oberarzt am Uni-
versitätsklinikum Bochum. Chefarzt in Gütersloh und Bottrop. Seit
2020 niedergelassener Arzt und Partner im Gelenk Center Bielefeld.
Vom Personalmangel zu neuer
Aufgabenverteilung: Die Rolle des
Physician Assistant im deutschen
Gesundheitswesen

Henrik Herrmann

Die Gesundheitswirtschaft ist einer der wichtigsten und größten Wirtschaftsbereiche


in Deutschland von zunehmender Bedeutung und hoher Innovationskraft. Treiber
sind der demographische Wandel, der zu einem steigendem Bedarf an medizinischen
Leistungen führt, sowie der medizinische Fortschritt, der zu neuen diagnostischen und
therapeutischen Verfahren führt. Die Bruttowertschöpfung der deutschen Gesund-
heitswirtschaft ist für das Jahr 2020 mit 364,5 Mrd. € angegeben, was einer Rate von
12,1 % des Bruttoinlandprodukts in Deutschland entspricht (Bundesministerium für
Wirtschaft und Energie, 2021, S. 8). Über Jahre zeigen sich dabei überdurchschnitt-
liche Wachstumsraten. Gerade die Corona-Pandemie zeigt neben der ökonomischen
Bedeutung die herausragende Stellung eines hoch effizienten Gesundheitssystems zur
Versorgung der Bevölkerung auf. Über die Corona-Pandemie hinaus wird das deutsche
Gesundheitswesen und damit die Gesundheitswirtschaft mit einer zunehmenden Zahl
von älter werdenden Patientinnen und Patienten konfrontiert werden, da die sogenannten
Baby-Boomer jetzt in das Rentenalter kommen und vermehrt akute, aber vor allem auch
chronische Krankheiten aufzeigen werden. Parallel wird der medizinische Fortschritt
neue personalisierte Therapieoptionen bringen, die eine Behandlung auch im hohen Alter
mit einem vertretbaren Nebenwirkungsprofil ermöglichen werden. Die Durchführungen
dieser Behandlungen samt Beratung, Aufklärung, Begleitung und Nachsorge werden
neben zunehmenden präventiven Maßnahmen personalintensiv sein, zumal sich die

H. Herrmann (*) 
Professor für Physician Assistance der SRH Hochschule für Gesundheit in Gera, Gera,
Deutschland
E-Mail: Henrik.Herrmann@srh.de

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 269
Teil von Springer Nature 2022
S. Krauss und P. Plugmann (Hrsg.), Innovationen in der Wirtschaft,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-37411-2_17
270 H. Herrmann

autonomen Patientinnen und Patienten sowie deren Angehörige als individuelle aktive
Beteiligte sehen und diese Rolle auch einnehmen.
Dafür braucht das Gesundheitswesen hohe personelle Ressourcen. Kaum ein Wirt-
schaftsbereich ist auf so viele qualifizierte Mitarbeitende angewiesen, weswegen in
Deutschland die gesamte Gesundheitswirtschaft Arbeitgeber für fast 7,4 Mio. Menschen
ist, davon 4,6 Mio. allein in der direkten medizinischen Versorgung (Bundesministerium
für Wirtschaft und Energie, 2021, S. 7). Dabei sind vor allem patientennah kaum
andere Möglichkeiten eines Personalersatzes realisierbar. Der digitale Wandel und
die zunehmende Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen einschließlich der
Inanspruchnahme von algorithmenbasierten Programmen und künstlicher Intelligenz
kommt stetig voran und wird vermehrt akzeptiert. Dies wird bestimmte Prozesse in
der Versorgung vereinfachen und auf Dauer auch das medizinische Personal entlasten.
Darüber hinaus gibt es erste Erfahrungen mit Robotern, die einfache Dienstleistungen
am Patienten erbringen können oder in therapeutischen, insbesondere operativen, und
rehabilitativen Bereichen eingesetzt werden. Dieser Einsatz wird jedoch von vielen
Betroffenen kritisch gesehen und führt zu Widerspruch. Gründe dafür sind ethische und
empathische Bedenken einer entmenschlichten Medizin. Deshalb wird auf absehbarer
Zeit der behandelnde, begleitende und betreuende Mensch in der Gesundheitsversorgung
nicht ersetzbar sein und es somit nicht zu einer nennenswerten Personaleinsparung
kommen.
Damit wird ein Hauptproblem in der ärztlich-medizinischen Versorgungsrealität
evident. Der Personalmangel vor allem im ärztlichen und pflegerischen Bereich zeigt
sich schon seit einigen Jahren. Beginnend im ländlichen Bereich, ist er jetzt auch in
den Metropolregionen angekommen. Besonders im Vordergrund steht dabei der Pflege-
bereich, bei dem jetzt schon im stationären Bereich Personaluntergrenzen definiert
werden müssen, um eine einigermaßen adäquate pflegerische Versorgung zu gewähr-
leisten. Bis zum Jahr 2035 wird in der stationären Versorgung ein Mangel von rund
307.000 Pflegekräften prognostiziert, im gesamten Pflegebereich sogar bis zu 500.000
(Radtke, 2020). Diese Zahlen sind umso bemerkenswerter, da die Ausbildungsraten im
Pflegeberuf jährlich steigen, von 2018 auf 2019 um 8,2 % auf 71.300 (Destatis, 2020a).
Auch die Anzahl der Anerkennungen von Gesundheits- und Krankenpflegekräfte, die
im Ausland ausgebildet wurden, erhöhte sich in diesem Zeitraum deutlich um 49 %
auf 15.500 (Destatis, 2020b). Diese Entwicklungen reichen jedoch nicht aus, um den
Personalmangel in den Pflegeberufen auszugleichen.
Die Anzahl der Ärztinnen und Ärzte wächst ebenfalls kontinuierlich an, von 2019 auf
2020 um 2,1 % (Bundesärztekammer, 2021a, S. 11). In der hausärztlichen Versorgung
sind jetzt aber bereits 2300 Arztsitze nicht nachbesetzt. Die Zahl der Hausärztinnen und
Hausärzte liegt seit 2017 konstant zwischen 55.012 und 55.072, das Durchschnittalter
ist mit 55,4 Jahre 2020 höher als der Gesamtdurchschnitt aller Niedergelassenen mit
54,2 Jahre (Kassenärztliche Bundesvereinigung, 2021a). Viele Mittelbereiche in jeden
Bundesland zeigen schon jetzt einen Versorgungsgrad unter 90,6 % auf (Abb. 1). Bis
2030 werden ungefähr die Hälfte der Allgemeinmediziner aus dem Berufsleben aus-
Vom Personalmangel zu neuer Aufgabenverteilung … 271

Abb. 1   Hausärzte, Versorgungsgrad in Prozent, Mittelbereiche, 2020. (Quelle: BPL-Umfrage der


KVen, 31.12.2020, KBV)

scheiden, im ländlichen Bereich werden sogar 70 bis 80 % der Hausärzte fehlen (Dostal
et al., 2019). Die in einigen Bundesländer jetzt eingeführte sogenannte Landarztquote,
die einen Studienplatz in Humanmedizin ohne Numerus clausus vergibt, wenn man sich
später als Hausärztin oder Hausarzt in ländlichen, unterversorgten Bereichen niederlässt,
wird kaum Entlastung bringen, da die Studienzeit mindestens 6 Jahre und die allgemein-
medizinische Weiterbildungszeit mindestens 5 Jahre benötigt, also eine Niederlassung
hausärztlicherseits frühestens 2032, realistisch erst ab 2035 möglich sein wird. Auch ist
es fraglich, ob in den kommenden Jahren vermehrt neue Studienplätze in Humanmedizin
geschaffen werden über die bisher rund 11.000 jedes Jahr besetzten hinaus, wobei
erste weitere Kapazitäten geschaffen werden wie die neue Medizinfakultät an der Uni-
versität Bielefeld oder wie die Berlin Medical School als private Hochschule. Dabei liegt
Deutschland 2017 mit einer relativen Anzahl der Medizinabsolventen von 12,0 unter
dem Durchschnitt der OECD-Staaten von 13,1 (OECD, 2019). Allerdings wäre auch hier
ein langer zeitlicher Vorlauf zu verzeichnen, ehe diese neu ausgebildeten Ärztinnen und
Ärzte insbesondere in die ambulante Versorgung gelangen.
272 H. Herrmann

Vor dem Hintergrund dieser Zahlen und Entwicklungen ist festzuhalten, dass der
Personalmangel im ärztlichen und pflegerischen Bereich nicht auf absehbare Zeit
ausgeglichen werden kann und das ärztliche Tätigkeiten nicht in einem nennens-
werten Umfang auf die Pflegeberufe delegiert werden können, zumal die pflegerische
Kompetenz selbst in der Pflege dringend benötigt wird. Hier müssen andere Wege
gefunden werden, um die Versorgung im stationären und insbesondere im ambulanten
Bereich zukunftssicher zu machen, den Bedarf zu decken und die Wachstumsbranche
Gesundheitswirtschaft agil zu halten. Neben verbesserter digitaler Prozesse und
struktureller Veränderungen wie eine stringentere Krankenhausplanung sowie eine Über-
windung und Verbindung der Sektoren gehören auch konkrete personelle Entwicklungen
durch neue Berufsbilder, die zu einer Neuverteilung der Aufgaben und zu einer Ent-
lastung des ärztlichen Bereichs führen, der die hochrangigste und teuerste Personal-
ressource darstellt. In dieser Diskussion wird häufig an den Ersatz ärztlicher Leistungen
durch andere akademische oder nichtakademische Gesundheitsfachberufe gedacht,
die als Modellvorhaben bereits im Sozialgesetzbuch V hinterlegt sind. Doch selbst die
Modellvorhaben sind nur rudimentär erprobt worden, da in diesem Zusammenhang die
Frage der Verantwortung, Haftung und Budgetzuordnung eine besondere Bedeutung
hat. Wenn selbstverantwortlich Tätigkeiten am Patienten von anderen Gesundheitsfach-
berufen durchgeführt werden, gehen auch die Verantwortlichkeiten für diese Durch-
führung, für die Haftung und für die finanziellen Mittel auf diese Gesundheitsfachberufe
über. Beispiele für einen solchen Übergang könnten die selbstständige und eigenver-
antwortliche Übernahme von einer Wund- oder Diabetesversorgung durch entsprechend
qualifizierte Pflegekräfte oder der Direktzugang zu einer Physiotherapie ohne vorherigen
ärztlichen Kontakt sein. Wegen eventueller rechtlicher Fragestellungen und der voll-
ständigen Übernahmeverantwortlichkeit werden diese Ansätze jedoch nur im geringen
Ausmaß in konkreten Projekten durchgeführt und tragen wenig zu einer Entlastung des
ärztlichen Bereichs bei. Eine generelle Einführung vollkommen selbstständiger Tätig-
keiten von Gesundheitsfachberufen in der Versorgung wird noch lange dauern und das
Ausmaß ist kaum absehbar.
Eine weitere Möglichkeit ist die Übertragung ärztlicher Tätigkeiten im Rahmen der
Delegation, bei der die Endverantwortung im ärztlichen Bereich bleibt. Dies geschieht
im ambulanten Bereich täglich in der Praxis, wo letztlich unter ärztlicher Aufsicht
medizinische Fachangestellte ärztlich delegierte Tätigkeiten wie Blutentnahmen, einfache
instrumentelle Untersuchungen, Injektionen und Hausbesuche durchführen. Hier werden
etablierte Strukturen mit klar zugeordneter Letztverantwortung, Haftung und budget-
technischen Zuordnungen genutzt, mit denen jahrzehntelange Erfahrungen bestehen.
Dennoch gibt es immer wieder die Problematik, wie weit diese Delegation gehen darf,
also was delegierbar ist und was nicht. Antworten auf diese Fragen geben gesetzliche
Regelungen, die eindeutig einen Arztvorbehalt festlegen. Dazu gehören die Gabe von
Blut und Blutprodukten (Transfusionsgesetz), die Anwendung von Röntgenstrahlen und
deren Indikation (Röntgenverordnung), wobei deren technische Durchführung durch
medizinische Technologinnen und Technologen möglich ist, die Vornahme einer künst-
Vom Personalmangel zu neuer Aufgabenverteilung … 273

lichen Befruchtung (Embryonenschutzgesetz), eine genetische Beratung (Gendiagnostik-


gesetz), Verschreibung und Abgabe von Betäubungsmitteln (Betäubungsmittelgesetz)
und Verschreibung von Arzneimitteln (Arzneimittelgesetz). Daneben gibt es weitere
ärztliche Vorbehalte für bestimmte Maßnahmen wie zum Beispiel Schwangerschaftsab-
bruch, Behandlungen übertragbarer Krankheiten und im Rahmen von Transplantationen.
Neben diesen ausgesuchten gesetzlichen Vorgaben gibt es definierte Empfehlungen der
Bundesärztekammer und der kassenärztlichen Bundesvereinigung, was generell nicht
delegationsfähig ist (Bundesärztekammer & Kassenärztliche Bundesvereinigung, 2008).
Darunter fallen die Erhebung einer Anamnese, körperliche Untersuchung, Befundung,
Stellung einer Diagnose und Festlegung einer Therapie, die Aufklärung von Patientinnen
und Patienten sowie die Durchführung von speziellen diagnostischen und therapeutischen
Maßnahmen. Bereits 1975 hat der Bundesgerichtshof jedoch festgelegt, dass ein Arzt
an qualifiziertes, nichtärztliches Personal delegieren darf, soweit die betreffenden
Maßnahme nicht „gerade dem Arzt eigene Kenntnisse und Kunstfertigkeiten voraussetzt“
(Bundesgerichtshof, Urteil vom 24.06.1975, Absatz 23). Daraus lässt sich schließen,
dass alles delegiert werden darf, wenn kein Arztvorbehalt vorliegt oder dem Arzt eigene
Kenntnisse und Fertigkeiten vorauszusetzen sind, insbesondere bei Maßnahmen, die
aufgrund ihrer Schwierigkeiten, Gefährlichkeit oder der Unvorhersehbarkeit etwaiger
Reaktionen oder Komplikationen ein professionelles ärztliches Fachwissen unabdingbar
machen. Auf der anderen Seite bedeutet das im Rahmen einer Delegation, dass eine für
die Durchführung der delegierten Maßnahme ausreichende Qualifikation vorzuliegen hat,
eine ärztliche Anordnung der Delegation erfolgt ist und eine Aufsicht ärztlicherseits vor-
genommen wird bzw. zeitnah stattfinden kann.
Dabei kommt der Qualifikation eine herausgehobene Bedeutung zu. Fast alle
Gesundheitsfachberufe als meist dreijährige Ausbildungsberufe sind dem Niveau 4 des
Deutschen Qualifikationsrahmens zugeordnet, eine Akademisierung mit einem Bachelor-
Abschluss entspricht dem Niveau 6 und ermöglicht auch einen weiteren Aufstieg in das
Niveau 7 mit einem Master-Abschluss oder in das Niveau 8 mit Promotion als höchstem
Niveau. Je höher also die berufliche Erfahrung und je höher das Niveau des Quali-
fikationsrahmens ist, desto leichter können Maßnahmen durchaus auch komplexerer
Natur delegiert werden und umso geringer ist das Haftungsrisiko. Das spricht für eine
Akademisierung oder Teilakademisierung von Gesundheitsfachberufen, die damit
ein deutlich höheres Qualifikationsniveau erreichen und selbstständiger im Rahmen
einer Delegation tätig werden können. Dabei findet diese Akademisierung im eigenen
professionellen Umfeld statt, welches nur geringe Schnittmengen mit der ärztliche Tätig-
keit hat und nur Teilaspekte ärztlichen Handelns wiederspiegelt. Beispiel dafür sind die
Advanced Nurse Practitioners, die akademisiert Tätigkeitsfelder von Pflegenden aus-
weiten und auch bestimmte bisher ärztliche Tätigkeiten eigenverantwortlich ausüben
könnten, was den ärztlichen Bereich entlastet. Sie sind aber nicht primär dem ärztlichen
Bereich zugeordnet und es besteht damit die Gefahr, dass eine weitere vertikale Säule
im deutschen Gesundheitswesen entsteht. Solche Konzepte bedürfen einer starken,
strukturierten horizontalen Verknüpfung aller an der Patientenversorgung Beteiligter mit
274 H. Herrmann

festen Kommunikationswegen, was derzeit in einigen Projekten evaluiert werden soll,


jedoch noch nicht in der Regelversorgung angekommen ist.
Einen innovativen Ansatz stellt dabei der Physician Assistant (PA) dar, der nur im
direkten ärztlichen Team tätig ist, genauso wie die medizinische Fachangestellte –
allerdings nach einer abgeschlossenen dreijährigen grundständigen Ausbildung in einem
Gesundheitsfachberuf und einem dreijährigen Vollzeitstudium mit dem Abschluss eines
Bachelor of Science. Diesen in Deutschland noch relativ neuen akademischen Gesund-
heitsfachberuf gibt es bereits seit über 50 Jahren, historische Vorbilder bereits seit Jahr-
hunderten als Feldscher, der seit dem Mittelalter insbesondere in der Versorgung von
Verletzten in Kriegen eingesetzt wurde. Seit 1965 wurden in den USA die ersten PA
strukturiert akademisch ausgebildet, welche im Militärdienst eine medizinische Grund-
ausbildung erhalten hatten und umfangreiche Vorerfahrungen in der Versorgung ver-
letzter Soldaten im Vietnamkrieg besaßen. Es ging dabei nicht nur um eine adäquate
Einsatzmöglichkeit der PA in der normalen Versorgungsrealität, sondern auch von
vornherein um eine Unterstützung und Entlastung im ärztlichen Bereich bei einem
zunehmenden Mangel an Hausärzten in den USA. Heute gibt es weit über 130.000 PA
in den USA, die ein unverzichtbarer Bestandteil in der stationären und ambulanten Ver-
sorgung sind. Eine weite Verbreitung erfährt der PA auch in Kanada, im Vereinigten
Königreich und in den Niederlanden. Der erste PA-Studiengang in Deutschland startete
2005 an der Steinbeis-Hochschule Berlin, einige weitere Studienstandorte etablierten
sich in den nächsten Jahren. Einen deutlichen Schub erfolgte 2017, als ein Konsens-
papier von der Bundesärztekammer und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung mit
dem Titel „Physician Assistant – Ein neuer Beruf im deutschen Gesundheitswesen“ ver-
abschiedet wurde (Bundesärztekammer & Kassenärztliche Bundesvereinigung, 2017,
S. 4–22). Hierin wurden eine Begründung des Berufsbildes, der Tätigkeitsrahmen, die
Studieninhalte samt Kompetenzprofile und Qualitätskriterien definiert. Seitdem steigt
die Zahl der PA-Studierenden deutlich an und liegt jetzt bereits um die 1000, weitere
Studienstandorte wurden eröffnet, darunter auch durch die SRH Hochschule für Gesund-
heit in Leverkusen, Heidelberg und Heide.
Bevor der PA-Studiengang der SRH Hochschule für Gesundheit am Studienzentrum
Heide startete, wurde vom Westküstenklinikum Heide eine Machbarkeitsstudie über eine
externe Unternehmensberatung durchgeführt (ZEQ, 2018). Dabei sollte das Entlastungs-
potenzial für den ärztlichen Bereich durch den Einsatz von PA ermittelt werden, da es
seit Jahren schwierig ist, ausreichend Ärztinnen und Ärzte in einer ländlichen Gegend
wie Heide anzustellen. Hierfür wurden konkrete Tätigkeiten auf den Stationen und in
den Funktionsbereichen ermittelt, die von einem PA in Delegation übernommen werden
können. Für eine internistische Station mit 30 Patienten ergeben sich dabei 8,03 Stunden
(h), also eine Vollkraft könnte dort eingesetzt werden. Der ärztliche Bereich wird
dadurch um 5,1 h entlastet, da bestimmte PA-Tätigkeiten zusammen mit dem ärztlichen
Bereich wie zum Beispiel Visiten stattfinden, also eine Gleichzeitigkeit gegeben ist. Es
verbleiben damit knapp 3 h für einen frei gewordenen ärztlichen Einsatz, der für Tätig-
keiten im Funktionsbereich oder für Fort- und Weiterbildung zur Verfügung steht. Auf
Vom Personalmangel zu neuer Aufgabenverteilung … 275

Abb. 2   Gesamtentlastung ärztlicher Dienst im Westküstenklinikum Heide. (Quelle: ZEQ – Mach-


barkeitsstudie)

alle somatischen stationären Bereiche des Westküstenklinikums Heide bedeutet das eine
Gesamtentlastung des ärztlichen Dienstes um 9,16 Vollkräfte (Abb. 2). Das bedeutet auf
keinen Fall, das damit diese 9,16 Arztstellen umzuwidmen sind und wegfallen, sondern
das Kapazitäten frei werden, die im ärztlichen Bereiche dazu führen, dass Zeit für die
ärztliche Weiterbildung und Qualifikationen, für Beratungsgespräche und Qualitätsauf-
gaben frei wird, die bislang vernachlässigt werden und zur Unzufriedenheit führt. Laut
einer aktuellen Umfrage des Marburger Bundes vom Oktober 2021 geben 84 % der
befragten Weiterzubildenden an, dass Personalmangel die Weiterbildung erschweren,
und 45 %, dass sie kein Feedback durch den Weiterbilder bekommen – beides beruht auf
einen deutlichen Personal- und Zeitmangel (Marburger Bund, 2021). Diese Problematik
kann durch eine Entlastung durch den PA abgemildert werden.
Während der PA im stationären Bereich in Deutschland sich etabliert hat und
zunehmend zum Einsatz kommt, ist er im ambulanten Sektor in Deutschland noch
eine Rarität. Während in den angloamerikanischen Ländern gerade der hausärzt-
liche Bereich eine wichtige Triebfeder zur Etablierung des PA war und heutzutage der
PA in der ambulanten Versorgung insbesondere in den USA und Kanada einen hohen
und wichtigen Stellenwert hat, ist er in Deutschland noch so gut wie gar nicht dort ein-
gesetzt. Gründe dafür dürften insbesondere Abrechnungsmodalitäten sein, obwohl eine
276 H. Herrmann

höchstpersönliche ärztliche Leistungserbringung nicht immer notwendig ist und im


Rahmen einer Delegation erbracht werden darf, sowie Unsicherheiten im Einsatz des
PA. Dabei haben PA eine höhere Qualifikation als medizinische Fachangestellte, selbst
wenn diese eine Zusatzweiterbildung zur nichtärztlichen Praxisassistenz oder zum Fach-
wirt für ambulante medizinische Versorgung haben. Akademisierungsmöglichkeiten wie
zum Fachwirt im Gesundheits- und Sozialwesen vermitteln Kompetenzen im Personal-,
Qualitäts- und Schnittstellenmanagement und bereiten auf administrative und leitende
Aufgaben vor. Der vor allem patientennah qualifizierte PA bietet ein größeres Spektrum
an patientennahen, praktischen Tätigkeiten, die auch außerhalb einer Praxis durchgeführt
werden können. Dazu gehören selbstständige Hausbesuche, Beurteilung von Verläufen,
diagnostische Verfahren wie Sonographie, Punktionstechniken wie Aszitespunktionen
oder Gabe von Infusionen, immer im Rahmen einer Delegation über den betreuenden
Hausarzt, auch wenn dieser nicht in der Nähe ist. Dies Distanz lässt sich technisch
über telemedizinische Anwendungen überbrücken, sodass jederzeit eine Zuschaltung
des Hausarztes per Video möglich ist, falls Unklarheiten oder ein Patientenwunsch
hinsichtlich eines ärztlichen Kontaktes bestehen. Erste Erfahrungen mit solchen tele-
medizinischen Verfahren durch eine nichtärztliche Praxisassistenz zeigen eine sichere
Durchführbarkeit und hohe Akzeptanz von der Patientenseite. Die Möglichkeiten eines
PA gehen deutlich weiter und entlasten Hausärzte mehr. Ein konkretes Beispiel dafür:
Dagebüll in Nordfriesland (Schleswig-Holstein) hat Ende 2020 knapp 900 Einwohner, in
den Ferienzeiten aufgrund des ausgeprägten Tourismus und den Fähranbindungen nach
Föhr und Amrum mit mehreren tausend Menschen deutlich mehr, aber nie eine haus-
ärztliche Praxis vor Ort gehabt. Die nächste hausärztliche Versorgung ist 12 km entfernt.
Hier kam vor 2 Jahren die Idee auf, eine Praxis ohne Arzt in Dagebüll mit einer tele-
medizinischen Anbindung an die nächstgelegenen Hausarztpraxen zu eröffnen. In einer
solchen Praxis ohne Arzt würde idealerweise ein PA, der als grundständige Ausbildung
ein medizinischer Fachangestellter ist, eingesetzt werden können, um vor Ort Patienten
zu beurteilen, zu beraten und gegebenenfalls in die Hausarztpraxis weiterzuleiten, wenn
ein direkter ärztlicher Kontakt notwendig ist. Bedingt durch die Corona-Pandemie ist
diese Idee zunächst nicht weiterverfolgt worden, ein Hausarzt aus dem 12 km entfernten
Niebüll hat eine seiner medizinischen Fachangestellte vom PA-Studium überzeugt und
unterstützt deren Studium mit der Option, später eventuell in einer solchen Praxis in
Dagebüll eingesetzt zu werden.
Neben solchen konkreten Projekten im ländlichen Raum wird die Bildung von
Gesundheitszentren und transprofessionellen Teams einen zunehmenden Stellenwert
in der ambulanten hausärztlichen, aber auch fachärztlichen Versorgung in Deutsch-
land erlangen. Um das Wegbrechen von Hausarztsitzen zu vermeiden, die aus ver-
schiedenen Gründen nicht nachbesetzt werden können, kommt es vermehrt zu Bildung
von kommunalen Gesundheitszentren, die ärztliche Versorgung unter Einbezug weiterer
Gesundheitsfachberufe unter einem Dach vereinigen und von dritter Seite aus gemanagt
werden, in Schleswig-Holstein vor allem von der Ärztegenossenschaft Nord. Dieses
Modell ist attraktiv, Ärzte haben die Wahl, angestellt oder auch selbstständig dort
Vom Personalmangel zu neuer Aufgabenverteilung … 277

tätig zu sein, und arbeiten im Team. In solchen Teams werden zukünftig auch PA ein-
gesetzt werden und eine große Rolle spielen, um qualifiziert Leistungen zu erbringen,
die bislang ärztlicherseits erbracht wurden oder aus Zeitgründen bislang nicht erbracht
werden können. Um zukunftssicher zu sein, reichen die bisherigen Strukturen in der
Versorgungslandschaft nicht aus und können die Herausforderungen der nächsten Jahre
nicht erfüllen. Ein Wandel im Denken und Handeln ist deshalb unabdingbar. Dieser
Wandel im Gesundheitswesen und in der Versorgungsrealität wird angetrieben durch
den Fachkräftemangel, der zunehmenden Ambulantisierung, einer stärkeren Patienten-
zentrierung sowie neuen medizin-technischen Möglichkeiten und neuen medizinischen
Akteuren. Dies sei an einem noch fiktiven Beispiel dargestellt, analog einem Beispiel
zur Gesundheitsversorgung aus der Schweiz (Schulthess & Bieri, 2018, S. 70–73).
Martha Nagel sei 85 Jahre alt, lebt alleinstehend in einer ländlichen Gemeinde an der
Westküste in Schleswig-Holstein und hat seit vielen Jahren einen Diabetes mellitus
Typ 2 mit Folgeerkrankungen. Früher war in dieser Gemeinde ein Hausarzt tätig, der
Frau Nagel versorgt hat, seine Praxis hat er altersbedingt aufgegeben und diese konnte
nicht nachbesetzt werden. Nun wird sie von einem Gesundheitszentrum 20 km ent-
fernt betreut, in dem Hausärzte, Fachärzte, Fachpflege, Therapeuten und PA zusammen
arbeiten. Martha Nagel wendet Videotelefonie an und nimmt darüber Kontakt mit dem
Gesundheitszentrum auf, meistens zuerst mit dem PA, um Fragen und gesundheitliche
Anliegen zu besprechen. Der Hausarzt kommt erst sekundär hinzu, falls die Anliegen
die Kompetenz des PA übersteigen. Können Anliegen konkret nicht über Videotelefonie
geklärt werden, kommt zunächst der PA zu einem Hausbesuch, es sei denn, es ergeben
sich aus der Schilderung Hinweise, dass ein zeitnaher ärztlicher Hausbesuch statt-
finden muss. Vitalparameter von Martha Nagel wie Puls, Blutdruck, Blutzucker sowie
die Gehstrecke werden über ihr Mobiltelefon und Wearables aufgezeichnet, direkt an
das Gesundheitszentrum gesendet und in ihrer elektronischen Patientenakte (ePA) archi-
viert, auf die sie selber sowie alle am Behandlungsprozess Beteiligten Zugriff haben. Bei
kritischen Werten oder Entwicklungen wird Martha Nagel von dem PA informiert und
ein weiteres Vorgehen besprochen. Die Medikamentencompliance und -versorgung wird
ebenfalls über ihr Mobiltelefon gesteuert. Sollte Martha Nagel eine Impfung benötigen,
sucht sie eine Praxiszweigstelle im nahegelegen Supermarkt auf. Dort befindet sich
eine kleine ambulante medizinische Einrichtung mit telemedizinischer Anbindung an
das Gesundheitszentrum, die zu definierten Zeiten mit einem PA besetzt ist, der diese
Impfung dort vornimmt, eventuell weitere Untersuchungen durchführt und alles in der
elektronischen Patientenakte (ePA) dokumentiert, ohne das ein Hausbesuch oder ein
Besuch im weit entferntem Gesundheitszentrum notwendig ist. Falls im ambulanten
Bereich eine stärkere Versorgungsnotwendigkeit vorliegt, zum Beispiel bei einem
diabetischen Fußsyndrom, dann sucht ein interdisziplinäres Team aus Wundexperten,
PA, Podologen und eventuell weiteren Fachexperten Martha Nagel zu Hause auf und
führt die Behandlung vor Ort durch. Dabei ist eine horizontale Vernetzung und enge
Kommunikation aller Beteiligten notwendig, damit keine Informationen verloren gehen
und alle, insbesondere auch Ärztinnen und Ärzte, eingebunden sind. Sollte sich der
278 H. Herrmann

Zustand von Martha Nagel weiterhin verschlechtern und ein Krankenhausaufenthalt not-
wendig sein, können alle notwendigen Daten über die ePA an das Krankenhaus gesendet
werden. Im Krankenhaus selber trifft sie teilweise auf die gleichen transprofessionellen
Teamstrukturen wie im ambulanten Bereich, die Informationen von ihrem Mobil-
telefon und Wearables können dort ebenfalls genutzt werden, alle Dokumentationen
erfolgen in derselben ePA. So haben alle Beteiligten, ambulant wie stationär, die
gleiche Dokumentationen und Informationen ohne weiteren Aufwand. Das gilt auch,
wenn Martha Nagel wieder entlassen wird und sich ihr ambulantes Team weiter um sie
kümmert. Sie steht im Zentrum des Behandlungsprozesses, umgeben von einer persön-
lichen und personalisierten Medizin unter Einbezug digitaler Anwendungen. Martha
Nagel ist so gut versorgt und kann so lange wie möglich in ihrem häuslichen Umfeld
sicher leben.
Versorgung, wie sie heute stattfindet, ist geprägt durch vertikale Säulen und Sektoren
mit unzureichender Vernetzung, Reibungsverlusten und der Gefahr von Informations-
defiziten. Erschreckend sind die zunehmende Demotivierung aller an der Gesundheits-
versorgung Beteiligter aufgrund von Personal- und Zeitmangel und die zunehmende
Unzufriedenheit aufseiten der Patienten und deren Angehörigen. Zugrunde liegt
ein Systemfehler, der durch eine Vernetzung der Strukturen, zunehmende sinnvolle
Digitalisierung im Gesundheitswesen und durch neue kooperative Teams unter Ein-
bezug neuer Berufsbilder wie den PA begegnet werden muss. Neue transprofessionelle
Teamstrukturen führen zu einer zielführenden, ressourcenschonenden und kompetenz-
adaptierten Versorgungsrealität, in deren Mittelpunkt die Betroffenen und deren
Bedürfnisse stehen. Dadurch erhalten alle einen Mehrwert. Gerade im ärztlichen und
pflegerischen Bereich können damit Kernkompetenzen wieder verstärkt ausgeübt,
Personalengpässe abgemildert und die Arbeitszufriedenheit erhöht werden. Diesen Ver-
änderungsprozess zu gestalten, wird eine vordringliche Aufgabe der nächsten 5 Jahre
sein, die Zeit läuft vor dem Hintergrund der eingangs geschilderten Personalprobleme.
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung und die Bundesärztekammer haben darauf
bereits reagiert. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung hat zusammen mit den Kassen-
ärztlichen Vereinigungen auf Landesebene in ihrem Konzeptpapier KBV 2025 klar die
„Weiterentwicklung delegierbarer Leistungen an besonders qualifizierte Hilfsberufe
wie den Physician Assistant (PA) oder die akademisierte MFA“ (KBV, 2021b, S. 8)
adressiert und Kriterien dafür festgelegt. Die Bundesärztekammer hat nicht nur 2017
den Bedarf des PA als einen Teil dieses Veränderungsprozesses dargestellt, sondern
in einem Positionspapier 2020 Thesen zur „Kooperation zwischen Ärzteschaft und
Gesundheitsfachberufen“ aufgestellt, die durch Werkstattgespräche mit Akteuren im
deutschen Gesundheitswesen wie Fachgesellschaften, Gesundheitsfachberufen, Kosten-
trägern und Gesundheitspolitikern bestätigt und Anfang November 2021 auf dem 125.
Deutschen Ärztetag als Sachstandsbericht vorgetragen wurden (Bundesärztekammer,
2021b, S. 1–23). Darin ist das Erfordernis eines interdisziplinären, multiprofessionellen
und ganzheitlichen Behandlungs- und Betreuungsansatzes in der Versorgung dargestellt,
welche die Übernahme von definierten Aufgaben von anderen Gesundheitsfachberufen
Vom Personalmangel zu neuer Aufgabenverteilung … 279

samt Direktzugang innerhalb eines vorgegebenen Handlungsrahmen beinhaltet, wenn


erforderliche Kompetenzen vorhanden und nachgewiesen werden. Deren Grundlage
sind die Ausbildungs- und Prüfungsordnungen der Gesundheitsfachberufe mit ihren
Inhalten. Der Bachelorstudiengang PA erfüllt diese Anforderungen, zumal größtenteils
ärztliche Dozierende in diesem Studiengang eingesetzt werden. Der PA als integraler
Bestandteil des ärztlichen Teams und somit Mitglied in einem transprofessionellen Team
erfüllt diese Vorgaben und stellt eine Innovation im deutschen Gesundheitswesen dar.
Das ist auch ein Beitrag, um die deutsche Gesundheitswirtschaft zu stärken und weiteres
Wachstum zu ermöglichen, indem neue Aufgabenverteilungen umgesetzt werden und
Versorgung zukunftssicher gestaltet wird.

Literatur

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neuer Beruf im deutschen Gesundheitswesen. https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/
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berufen: 71300 Menschen haben 2019 eine Ausbildung begonnen. https://www.destatis.de/Presse.
Dostal, A., et al. (2019). Lösung des Ärztemangels auf dem Land: Zahlen, Daten & Fakten
(2. Aufl., S. 7). Xundland-Verlag.
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html/konzept_kbv2025.php.
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bundesverband/pressemitteilung/aerztliche-weiterbildung-leidet-unter-personal-und-zeitmangel.
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Radtke, R. (2020). Bedarf an Pflegekräften in Deutschland bis 2035. https://www.de.statista.com.
Suchbegriff: Pflegekräfte.
Schulthess, M., & Bieri, B. (2018). Bedeutende Veränderungen kommen auf uns zu. Clinicum,
2018(2), 70–73.
ZEQ. (2018). Machbarkeitsstudie für die Gründung einer Hochschule für Physician Assistants für
die Westküstenkliniken Brunsbüttel und Heide gGmbH, S. 5–91. Unveröffentlicht. Beim Ver-
fasser.
280 H. Herrmann

Prof. Dr. Henrik Herrmann  ist Studiengangsleiter des Studien-


gangs Physician Assistance am Studienzentrum Heide der SRH
Hochschule für Gesundheit. Im Rahmen seiner Professur für
Physician Assistance lehrt er verschiedene theoretische und
klinische Module in diesem Studiengang. Er ist Facharzt für Innere
Medizin mit den Zusatzbezeichnungen Geriatrie, Diabetologie,
Palliativmedizin, Intensivmedizin, Notfallmedizin und ärztliches
Qualitätsmanagement und war fast 30 Jahre in leitender Position
am Westküstenklinikum Brunsbüttel und Heide tätig. Daneben
engagiert er sich in der ärztlichen Berufspolitik und ist zur Zeit
Präsident der Ärztekammer Schleswig-Holstein. Er ist Mitvor-
sitzender der ärztlichen Weiterbildungsgremien auf Bundesebene
und Mitglied des Bundesvorstandes des Marburger Bundes. Auf-
grund dieser berufspolitischen Funktionen beschäftigt sich Prof.
Herrmann intensiv mit Veränderungsprozessen und Innovationen
im deutschen Gesundheitswesen.
Innovative Aufklärungskonzepte in der
Prävention – Partizipative Auswahl
von Mundhygienehilfsmitteln und
-techniken

Thea Rott

Eine adäquate Mundhygiene gilt als essenzieller Bestandteil einer funktionierenden


Karies-, Parodontitis- und Periimplantitisprävention. Verhaltensweisen wie das tägliche
Zähneputzen oder die Verwendung einer Mundspülung oder Interdentalbürste seitens der
Patient.innen sind von grundlegender Bedeutung für die Erreichung und Sicherung einer
lebenslangen Mundgesundheit. Es liegt in der Hand der Behandler.innen, die Motivation
ihrer Patienten.innen hierzu herzustellen und langfristig aufrechtzuerhalten.
Klassischerweise beinhaltet die Patient.innenaufklärung, z. B. in der Parodontologie,
eine Information über die zugrunde liegende Krankheit und eine Instruktion und Unter-
weisung in Mundhygienemethoden und –techniken (Rylander & Lindhe, 2003). Obwohl
kurzfristige Effekte dieses Protokolls ausführlich dokumentiert sind, gibt es für einen
langfristigen Effekt, insbesondere im Hinblick auf den Kosten-Nutzen-Faktor, wenig
bis keine Evidenz (Watt & Marinho, 2002). Es ist also davon auszugehen, dass es
Optimierungsmöglichkeiten in diesem Bereich gibt, wenn das Ziel die Steigerung der
Effektivität der häuslichen Mundhygiene mit möglicherweise positiven Auswirkungen
auf Entzündungen in der Mundhöhle ist.
Es hat sich in der Vergangenheit gezeigt, dass die Patient.innenadhärenz, als Ausmaß
der Übereinstimmung zwischen dem Patient.innenverhalten und dem mit den Behandler.
innen vereinbarten Behandlungsplan, von einer patient.innenzentrierten Ausgestaltung

T. Rott (*) 
SRH Campus Rheinland, Leverkusen, Deutschland
E-Mail: Thea.Rott@srh.de

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Teil von Springer Nature 2022
S. Krauss und P. Plugmann (Hrsg.), Innovationen in der Wirtschaft,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-37411-2_18
282 T. Rott

der Therapie profitiert (Martin et al., 2005). Patient.innenzentriertheit zeichnet sich


dabei durch unterschiedlichste Aspekte aus, die ihren Schwerpunkt in der Etablierung
einer guten Ärzt.innen-Patient.innen-Beziehung haben und insbesondere kommunikative
Aspekte abdecken (Scholl et al., 2014). Eine patient.innenzentrierte Ausgestaltung der
Therapie kann wiederum zu einer Steigerung der Patient.innenzufriedenheit führen
(Pinto et al., 2012). Grundvoraussetzung für ein hohes Maß an Adhärenz ist die verständ-
liche Vermittlung von, die Patient.innen betreffende Gesundheitsinformationen und die
Fähigkeit der Patient.innen diese entsprechend einzuordnen und zu verarbeiten, sprich
das Vorhandensein einer gewissen Gesundheitskompetenz (Martin et al., 2005).
Speziell für chronische Erkrankungen wie Parodontitis oder Periimplantitis, bei denen
anfänglich kaum von den Patient.innen spürbare Symptome bestehen, ist die Motivation für
gesundheitsförderliche Verhaltensänderungen, wie die Verbesserung der häuslichen Mund-
hygiene, mangels unmittelbar erlebbarer Verbesserungen häufig schwieriger zu erzielen.
Vielmehr geht es hierbei darum, auf langfristige Ziele hinzuarbeiten, was nur durch eine
Steigerung der intrinsischen Patient.innen-Motivati (Ryan & Deci, 2000) on machbar ist
und für die Patient.innen-Behandler.innnen-Kommunikation und –Beziehung eine der
größten Herausforderungen darstellt. Sowohl aus Patient.innen- als auch aus Behandler.
innensicht hat sich in der Vergangenheit gezeigt, dass die Bereitstellung individueller
Informationen unter Nutzung verschiedener Arbeitsmittel, die es den Patient.innen
erleichtern, komplexe Gesundheitsinformationen zu verarbeiten, diesen Kommunikations-
prozess positiv unterstützen kann (Abrahamsson et al., 2008, Stenman et al., 2010). Die
respektvolle Einbeziehung von patient.innenindividuellen Präferenzen, Bedürfnissen und
Werten in die klinische Entscheidungsfindung ist der Inbegriff patient.innenzentrierter
(Zahn-)medizin, was wiederum die Grundlage der oben genannten Motivations- und
Kommunikationsprozesse darstellt (Ekman et al., 2011). In der Parodontitisprävention
ist bereits seit längerem das Prinzip der motivierenden Gesprächsführung („Motivational
Interviewing“) bekannt. Aus anderen Bereichen der Zahnmedizin wissen wir, dass die
partizipative Entscheidungsfindung, als Element einer patient.innenzentrierten Zahn-
medizin, zur Steigerung von Gesundheitsparametern führen kann (Hibbard & Greene,
2013, Wicht & Noack, 2017), was sich möglicherweise auch auf den Bereich der Prä-
vention übertragen lassen könnte.

1 Motivational Interviewing

Es handelt sich beim Motivational Interviewing um einen den oben dargestellten


Anforderungen entsprechenden patient.innenzentrierten Ansatz, der als Teil eines
Therapiekonzepts zu sehen ist und darauf abzielt Patient.innen anhand einer Selbst-
erkenntnis zur Überwindung ambivalenter Verhaltensmuster zu befähigen, die Motivation
für diese Verhaltensänderung zu bestärken und ein Vertrauen in die eigene Selbstwirk-
samkeit in der Durchführung des wünschenswerten Verhaltens zu entwickeln (Miller &
Rollnick, 2002).
Innovative Aufklärungskonzepte in der Prävention … 283

Voraussetzung für ein Gelingen ist eine vertrauensvolle Behandler.innen-Patient.


innen-Beziehung und -Kommunikation, die insbesondere durch typische Aspekte, wie
offene Fragen, aktives Zuhören und empathische Zuwendung befördert wird.
Das Motivational Interviewing ist ein, im Zusammenhang mit der Parodontitis-
prävention bereits seit langer Zeit etabliertes Kommunikationskonzept, insbesondere
dann, wenn es um die Optimierung der häuslichen Mundhygiene geht. Im Hinblick
auf klinische parodontale Parameter, wie Plaquewerte oder gingivale und parodontale
Entzündungszeichen, sowie für psychologische Parameter konnte in einem kürzlich
erschienen systematischen Review ein positiver Effekt des Motivational Interviewings
dargestellt werden, allerdings nur auf einem niedrigen Evidenzlevel (Kopp et al., 2017),
sodass sich dieses Konzept in Zukunft noch in prospektiv angelegten Studien bewähren
muss.

2 Partizipative Entscheidungsfindung

Spätestens seit Inkrafttreten des Gesetzes zur Verbesserung der Rechte von Patient.innen
(„Patientenrechtegesetz“) in 2013 ist unter anderem die ausführliche Information und
individuelle Aufklärung unserer Patient.innen über vorgesehene Behandlungen, sowie
deren selbstbestimmte Einbindung in die Therapieentscheidung nicht nur Patient.innen-
Service, sondern im Bürgerlichen Gesetzbuch verankertes grundlegendes Recht der
Patient.innen (§§ 630 a ff BGB). Das Ärzt.innen-Patient.innen-Verhältnis wird dort als
eigener Vertrag verankert (Bundesministerium der Justiz, 2017).
Im Spannungsfeld dieses Vertragsverhältnisses, kommt es immer wieder dazu, dass
insbesondere besonders fürsorgliche Ärzt.innen dazu neigen, anzunehmen, genau zu
wissen, was das Beste für Ihre Patient.innen ist, sodass es Ihnen schwerfällt, die aus
der individuellen Sicht der Patient.innen wichtigen Aspekte zu sehen (Donner-Banzhoff
et al., 2008).
Traditionell entspringt diese Einschätzung dem lang geltenden Grundsatz, dass Ärzt.
innen als Gesundheitsexpert.innen die Entscheidung über das medizinische Schicksal
ihrer Patient.innen obliegt. Schon strukturell verankert bestand in der Vergangenheit –
zum Teil jedoch auch noch heutzutage – eine ausgeprägte Asymmetrie zwischen der
Ärzt.innen- und der Patient.innen-Rolle. Begriffe wie „Halbgott in Weiß“ zeugen nicht
nur von dem gesellschaftlichen Prestige, den der Beruf des Arztes/der Ärztin ausstrahlte,
sondern deuten auch an, welche Machtstellung Ärzt.innen gegenüber ihren Patient.
innen einnahmen. Dass aus Patient.innenperspektive wichtige Sorgen, Vorstellungen
oder Erwartung, sowie die Auswirkung von Diagnosen oder Therapien auf den Patient.
innen-Alltag oder deren Lebensqualität bei dem traditionellen Ärzt.innen-Patient.innen-
Verhältnis häufig zu kurz kamen, wurde in der Vergangenheit in der Regel akzeptiert,
solange die Gesundung der Patient.innen im Vordergrund stand.
284 T. Rott

Abb. 1   Immer mehr


Patient.innen wünschen eine
gleichberechtigte Einbindung
in die Entscheidungsfindung
vor Therapie (mod. nach Deber
et al. 2007

Während es Patient.innen in der Vergangenheit an Möglichkeiten mangelte, sich


umfassend über ihre Symptome oder ihre eigene durch Ärzt.innen diagnostizierte
Erkrankung, nebst Therapieoptionen, Prognosen oder Alternativen zu informieren,
bestehen inzwischen weitreichende Optionen bei „Dr. Google“ nachzulesen und
eigene Kompetenzen aufzubauen. Vielleicht lässt sich hierauf auch ein Stück weit der
zunehmende Perspektivwechsel in der Ärzt.innen-Patient.innen-Beziehung zurück-
führen. Immer mehr Patient.innen wünschen sich eine Einbindung in den Entscheidungs-
prozess über ihre Therapie und möchten als gleichberechtigte Partner in dieser
Beziehung mitwirken (Abb. 1).
Zentral dabei ist der Informationsaustausch zwischen Ärzt.innen und Patient.innen.
Während traditionell der Schwerpunkt der Informationsgewinnung auf ärztlicher Seite
lag und darauf abzielte, Symptome der Patient.innen zu sammeln, zu kategorisieren und
„gesund“ von „krank“ zu unterscheiden, um dann ohne Berücksichtigung der Patient.innen-
perspektive die „richtige“ Therapieentscheidung zu treffen (➔ Paternalismus, Abb. 2), hat
sich in der modernen Medizin das Prinzip der Partizipativen Entscheidungsfindung etabliert,
dass auf einer beiderseits stattfindenden Zurverfügungstellung von Informationen beruht
und die auf Grundlage dieser Informationen zu treffende (Therapie-)Entscheidung auf zwei
gleichberechtigte Partner.innen verteilt (➔ Partizipative Entscheidungsfindung, Abb. 2).
Das Kommunikationskonzept der Partizipativen Entscheidungsfindung hat das Ziel
der gemeinsamen Erarbeitung eines Behandlungsplans, unter Berücksichtigung der
für den Fall besten verfügbaren medizinischen Evidenz, der klinischen Erfahrung der
Behandler.innen, als auch der patient.inneneigenen Prioritäten. Der kommunikative
Prozess umfasst dabei die folgenden Grundvoraussetzungen (Scheibler et al., 2003):
Innovative Aufklärungskonzepte in der Prävention … 285

Abb. 2   „Konzeptuelles Modell“ mod. nach Elwyn et al. (Elwyn & Charles, 2001): Je nach Ort
der Entscheidung und Informationsverteilung lassen sich verschiedene Arten des Ärzt.innen-
Patient.innen-Verhältnisses unterscheiden und einordnen. Die bekannteren Modelle „Paternalis-
mus“, bei dem Ärzt.innen informiert sind und entscheiden, und „informed choice“, wobei Patient.
innen über die relevanten Informationen verfügen und ihre Entscheidung entsprechend fällen,
werden von dem Modell der „Dominanz“, bei dem von Ärzt.innen über den Kopf informierter
Patient.innen hinweg die Entscheidung für eine Therapie gefällt wird, und des „Consumerism“,
einem Modell, bei dem Ärzt.innen lediglich für die Bereitstellung der Therapie nach möglicher-
weise uninformierter Auswahl durch die Patient.innen benötigt werden unterschieden. Das Prinzip
der „Partizipativen Entscheidungsfindung“ setzt genau im Mittelpunkt dieser Modelle an. Nach
beiderseitigem Informationsaustausch, versetzt es die an der Entscheidung beteiligten Parteien in
die Lage, einen konsentierten Beschluss über das weitere Vorgehen zu fällen

– Mindestens zwei Parteien


– Beiderseitiger Informationsaustausch
– Beiderseitiges Bewusstsein über Wahlrecht bezüglich der schlussendlichen Ent-
scheidung
– Beiderseitige Kommunikation der Entscheidungskriterien
– Beiderseitige Verantwortung für die letztendliche Entscheidung

Das strukturierte Vorgehen bei der Partizipativen Entscheidungsfindung kann in


Kommunikations-Curricula erlernt werden und hat in der Zwischenzeit auch schon
vielerorts Einzug in die hochschulische Ausbildung (zahn-)medizinischer Fachkräfte
gehalten (Abb. 3).
Für chronische Erkrankungen, wie z. B. Diabetes mellitus Typ2, konnte bereits
gezeigt werden, dass eine solche Partizipative Entscheidungsfindung einen positiven
Effekt auf die Einstellung erkrankungsrelevanter Parameter (HbA1C-Wert) hat
(Parchman et al., 2010). Die größte Rolle spielte hierbei die Adhärenz zur regelmäßigen
Medikamenteneinnahme, die insbesondere bei erfolgreicher Patient.innenaktivierung
hoch war. Patient.innenaktivierung bedeutet in diesem Zusammenhang die Vermittlung
286 T. Rott

Abb. 3   9 Handlungsschritte im Prozess der partizipativen Entscheidungsfindung, mod. nach


Giersdorf et al. 2004

der Fähigkeiten und des Selbstvertrauens, das die Patient.innen dazu befähigt, sich aktiv
in ihre eigene gesundheitliche Versorgung einzubringen (Hibbard & Greene, 2013). In
der oben genannten Studie war die Patient.innenaktivierung bei den Behandler.innen
besonders hoch, die ihre Patient.innen mittels einer Partizipative Entscheidungsfindung
in den Therapieplan mit eingebunden hatten.
Ein weiterer positiver, in Studien dokumentierter Effekt der Partizipative Entscheidungs-
findung ist eine höhere Patient.innenzufriedenheit bei Anwendung des Kommunikations-
konzeptes (Kupke et al., 2013, Wicht & Noack, 2016, Shabason et al., 2014).
Nicht nur für weitreichende Therapien, wie zum Beispiel der Entscheidung für eine
chirurgische oder eine konservative Vorgehensweise bei onkologischen Diagnosen,
sondern auch für die Entscheidungsfindung in der Zahnmedizin hat das Vorgehen der
Partizipativen Entscheidungsfindung in der Zwischenzeit viele Vorteile gezeigt. Für den
Bereich der zahnärztlichen Prävention ist eine Denkweise, bei der der „Goldstandard“
der zu empfehlenden Hilfsmittel für die häusliche Mundhygiene, von einer patient.innen-
zentrierten Auswahl der für die eigenen Vorstellungen am besten passenden Utensilien
aufgrund einer evidenzbasierten Information durch das zahnmedizinische Team abgelöst
wird, jedoch noch weitestgehend unbekannt.
Obwohl insbesondere in der häuslichen Mundpflege eine Aktivierung der eigenver-
antwortlichen gesundheitlichen Vorsorge wünschenswert wäre und die Adhärenz zu
entsprechenden Mundhygienehilfsmitteln oft ausbaufähig ist, gibt es bislang keinen
dokumentierten Einsatz des Konzeptes der Partizipativen Entscheidungsfindung in
der Mundhygieneberatung. Im Hinblick auf die dokumentierten Verbesserungen von
Innovative Aufklärungskonzepte in der Prävention … 287

klinischen Parametern bei anderen chronischen Erkrankungen, wäre eine Etablierung in


der Parodontologie oder der Prävention und Therapie periimplantärer Erkrankungen gut
vorstellbar.

2.1 Entscheidungshilfen in der partizipativen


Entscheidungsfindung

Zur Unterstützung des Prozesses der Partizipativen Entscheidungsfindung haben sich


speziell für die Vermittlung komplizierterer medizinischer Fakten unterschiedlichste
Entscheidungshilfen etabliert. Die Wirksamkeit solcher Entscheidungshilfen ist in
klinischen Studien ausreichend belegt. Zusammenfassend konnte ein systematischer
Review der Cochrane Library zeigen, dass Patient.innen, die mit einer Entscheidungs-
hilfe beraten wurden nicht nur mehr Wissen über Therapieoptionen hatten als Patient.
innen, die ohne ein solches Instrument aufgeklärt wurden, sondern auch, dass Ent-
scheidungskonflikte seitens der Patient.innen effektiv reduziert werden konnten (Stacey
et al., 2014).
Weit verbreitet sind neben Aufklärungsvideos, -grafiken oder -broschüren sogenannte
„Decision boards“. Insbesondere in der Allgemeinmedizin finden solche Decision
Boards bereits seit Längerem Anwendung, z. B. in der Onkologie (Whelan et al.,
2003). Sie enthalten neben medizinischen Informationen über die zugrunde liegende
Erkrankung in der Regel Details über die zur Option stehenden Therapien mit Vor- und
Nachteilen und Prognosen. Für den zahnmedizinischen Bereich liegen bislang zwei
publizierte Decision Boards aus dem Zentrum für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde,
Abteilung für Zahnerhaltung und Parodontologie der Uniklinik Köln (Kupke et al.,
2013, Derman et al., 2019), sowie ein Decision Board zur Entscheidungsfindung bei
Vorliegen einer irreversiblen Pulpitis vor (Johnson et al., 2006). Bei allen findet man
zusätzliche Informationen zu Kosten, Zeitaufwand, Art des Eingriffs, möglichen Risiken
oder Nebenwirkungen. Außerdem ist allen zahnmedizinisch orientierten Decision
Boards gemein, dass jeweils eine wählbare Option das Unterlassen einer Intervention/
Belassen der Situation ist. Die zur Verfügung gestellten Informationen orientieren sich
dabei immer an den jeweils aktuellen systematischen Reviews zur Behandlungsthematik,
sodass eine Einbettung in den Kontext der evidenzbasierten Medizin gewährleistet
ist. Die einzelnen Aspekte werden sowohl schriftlich als auch in intuitiv erfassbaren
Grafiken dargestellt. Zusätzlich werden die Patient.innen durch ihre Behandler.innen in
der Nutzung der Entscheidungshilfen unterstützt. Grundvoraussetzung hierfür ist eine
Schulung der Behandler.innen in Partizipativer Entscheidungfindung, um den der Ent-
scheidung zugrundeliegenden Kommunikationsprozess von Anfang an zu strukturieren
und möglich zu machen. Aus den Untersuchungen zu den oben genannten Decision
Boards wurde deutlich, dass Patient.innen in vielerlei Hinsicht von der Verwendung
eines Decision Boards profitieren: Sie sind auch im Nachhinein noch in der Lage sie
288 T. Rott

betreffende, komplexere Gesundheitsinformation zu rekapitulieren, verfügen über eine


höhere Zufriedenheit mit dem Aufklärungsprozess und bereuen die im Rahmen der
Partizipativen Entscheidungsfindung getroffene Entscheidung seltener (Kupke et al.,
2013, Derman et al., 2019).
Für den Prozess der Mundhygieneinstruktion gibt es zwar ausreichend, zum Teil
hochwertige visuelle Aufklärungsmaterialien, bei keinem werden jedoch die Patient.
innen aktiv in die Entscheidung für oder gegen ein Hilfsmittel einbezogen. Selten
werden Vor- oder Nachteile von Hilfsmitteln oder deren Wirksamkeit im Vergleich
zueinander objektiviert dargestellt, sodass hier bislang noch eine Lücke für ein ent-
sprechendes Decision Board zur Unterstützung der patient.innenzentrierten Aufklärung
über Mundhygieneartikel bestand. Aus langjähriger präventiv-zahnmedizinischer Tätig-
keit in verschiedensten Kontexten ist das „Decision Board zur partizipativen Auswahl
von Mundhygienehilfsmitteln und -techniken“ nach Rott et al. entstanden (Abb. 4),
dessen Ziel eine strukturierte Information über die zur häuslichen Mundhygiene zur Ver-
fügung stehenden Hilfsmittel anhand evidenzbasierter Kriterien ist und dessen Einsatz
im Rahmen einer Partizipativen Entscheidungsfindung zur Festlegung der präferierten,
individuellen Mundhygienestrategie der Patient.innen sinnvoll ist.

Abb. 4   Klinischer Einsatz des „Decision Boards zur partizipativen Auswahl von Mundhygiene-
hilfsmitteln und -techniken“ nach Rott et al. durch die zahmedizinische Fachkraft für Prävention.
Die Patientin wurde zuvor über ihre Diagnosen aufgeklärt. Auf das Angebot gemeinsam eine mög-
liche Optimierungsstrategie für die häusliche Mundhygiene festzulegen, ging sie dankend ein.
Anhand der visuellen Entscheidungshilfe kann die Patientin nun die Vor- und Nachteile der zur
Verfügung stehenden Hilfsmittel abwägen und sich für oder gegen eine Instruktion mittels der vor-
gestellten Hilfsmittel und Techniken entscheiden
Innovative Aufklärungskonzepte in der Prävention … 289

3 Beispiel für den Einsatz des „Decision Boards zur


partizipativen Auswahl von Mundhygienehilfsmitteln und
-techniken“

Szenario: Aufklärung zu den Optionen bei periimplantärer Mukositis


Frau M. stellte sich bei ihrer behandelnden Dentalhygienikerin zur professionellen Zahn-
reinigung vor. Seit etwa 4 Wochen stellte sie eine lokale Blutung beim Zähneputzen an
einer vor etwa 5 Jahren erhaltenen Implantatkrone fest. Nach der gründlichen Unter-
suchung konnte Frau M.‘s Dentalhygienikerin gemeinsam mit der verantwortlichen
Zahnärztin eine periimplantäre Entzündung ohne Knochenbeteiligung (Mukositis)
diagnostizieren. Ursache für die Entzündung war an der Implantatkrone befindlicher
bakterieller Biofilm. Nach Erläuterung der Diagnosen und der Durchführung einer
gründlichen Implantatreinigung während der professionellen Zahnreinigung, erläutert
Frau M.‘s Dentalhygienikerin im Rahmen einer Partizipativen Entscheidungsfindung
die zur Verfügung stehenden Optionen zur Optimierung der häuslichen Mundhygiene
mit den jeweiligen Vorteilen für die Verbesserung der Entzündung an dem betroffenen
Implantat unter Zuhilfenahme des „Decision Boards zur partizipativen Auswahl von
Mundhygienehilfsmitteln und -techniken“. Frau M entschied sich zusammen mit ihrer
Dentalhygienikerin, unter Abwägung der zur Verfügung stehenden Optionen, für
eine ergänzende Verwendung einer Zwischenraumbürste. Dass sie nun wusste, dass
eine zusätzliche Nutzung zu einer Entzündungsreduktion führt, überzeugte Frau M.
besonders. Ihre Dentalhygienikerin instruierte sie in der Anwendung der Bürste.
Bei der Wiedervorstellung im Rahmen der regulären Nachsorge zeigte sich an der
zuvor betroffenen Stelle eine Remission der Entzündung. Frau M. nutzte seit der Auf-
klärung regelmäßig die Interdentalbürste. Sie war auch zum Zeitpunkt der Wiedervor-
stellung nach wie vor überzeugt von ihrer Wahl. Auch an allen anderen Stellen nutzte sie
nun die Zwischenraumbürste.

4 Fazit

Die Anwendung patient.innenzentrierter Strategien bei der Auswahl von Mund-


hygienehilfsmitteln und -techniken ist eine gute Möglichkeit, die Beratung bei der
Mundhygieneinstruktion zu professionalisieren. Durch die Partizipative Entscheidungs-
findung, vor allem unter Anwendung einer Entscheidungshilfe, lässt sich dieser Prozess
darüber hinaus strukturieren. Welchen Einfluss eine solche partizipative Auswahl von
Mundhygienehilfsmitteln und -techniken auf die langfristige Mundgesundheit und
das Motivationslevel von Patient.innen hat, muss zukünftige klinische Forschung noch
belegen.
290 T. Rott

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Frau Prof. Dr. Thea Rott, M.Sc. leitet als Professorin für


Interdisziplinäre Parodontologie und Prävention den Bachelor-
studiengang „Dental Hygienist“ an der  SRH Hochschule für
Gesundheit. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Dr. M. Bäumer, MSD
(USA) führt sie eine auf Parodontologie und Implantologie
spezialisierte Praxis in Köln. Nach Ihrem Studium der Zahnmedizin
an der Universität zu Köln, war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin
und Assistenzzahnärztin in der Abteilung für Zahnerhaltung und
Parodontologie des Universitätsklinikums Köln, wo sie später auf
dem Gebiet der regenerativen Parodontitistherapie promovierte.
Später war Frau Prof. Dr. Thea Rott als Oberärztin im Fachbereich
Parodontologie neben der Patientenversorgung auch für die
kontinuierliche theoretische und praktische Ausbildung von
Studierenden der Zahnmedizin sämtlicher Studienabschnitte im
292 T. Rott

Fach Parodontologie verantwortlich. Als zertifizierte Prüferin


konzipiert und betreut sie zudem präklinische und klinische Studien.
Ihr Forschungsschwerpunkt ist dabei die parodontale Regeneration,
sowie die Prävention parodontaler und periimplantärer
Erkrankungen. Seit 2017 ist sie außerdem Ausbilderin der Baustein-
fortbildung für Dentalhygieniker*innen der Zahnärztekammer
Nordrhein. Prof. Dr. Thea Rott ist Mitglied in zahlreichen Berufs-
und Fachverbänden, war insbesondere seit 2017 Mitglied des Junior
Komitees der Deutschen Gesellschaft für Parodontologie und wurde
Anfang 2022 in den wissenschaftlichen Beirat des Bundesverbands
zahnmedizinischer Fachkräfte in der Prävention berufen.
Innovationen im betrieblichen
Gesundheitsmanagement
Vom „Müssen zum Wollen“: Chancen der Psychischen
Gefährdungsbeurteilung

Jan Iserloh und Berthold Iserloh

1 Gesetzliche Verpflichtung/Historie

Die Industrialisierung ist ein Meilenstein in der Evolutionsgeschichte des Menschen. Mit
Beginn der Industrialisierung wandelt sich unsere Welt in immer größeren Schritten und
gleichzeitig kürzeren Zeitabständen. Letztlich resultiert hieraus Fortschritt, verbunden
aber auch mit Nachteilen. Einem Nachteil, der gesundheitlichen Beeinträchtigung durch
die damals neuen Arbeitsformen, wurde bereits 1883 und 1884 versucht, durch Gesetze
zu begegnen. Am 15.06.1883 wurde im Reichtags ein Gesetz zur Krankenversicherung
durch den Arbeitgeber und am 06.07.1884 das Unfallversicherungsgesetz beschlossen.
Der Grundstein der Haftung des Arbeitgebers für die Gesundheit der Mitarbeiter war
gelegt und gleichzeitig auch der Grundstein für die Berufsgenossenschaften, die die ver-
antwortlichen Träger dieser Gesetze wurden.
Neunzig Jahre später trat am 01.12.1974 das Arbeitssicherheitsgesetz (ASiG)
in Kraft, das sich mit den Akteuren des Arbeitsschutzes befasst. Der Titel des am
12.12.1973 erlassenen Gesetzes lautet: Gesetz über Betriebsärzte, Sicherheitsingenieure
und andere Fachkräfte für Arbeitssicherheit. Der Leitgedanke dieses Gesetzes wird in
§ 1 beschrieben und umfasst im Wesentlichen die arbeitsmedizinischen und sicherheits-
technischen Aspekte des Arbeitsschutzes und die Unfallverhütung. Zu dieser Zeit lag der

J. Iserloh (*) · B. Iserloh 
SRH Campus Rheinland, Leverkusen, Deutschland
E-Mail: iserloh.jan@gmx.de
B. Iserloh 
E-Mail: berthold.iserloh@targobank.de

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein 293
Teil von Springer Nature 2022
S. Krauss und P. Plugmann (Hrsg.), Innovationen in der Wirtschaft,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-37411-2_19
294 J. Iserloh und B. Iserloh

Schwerpunkt noch auf der körperlichen Belastung durch die Arbeit. In der Folge wurde
eine gesetzliche Verpflichtung erlassen, die die Arbeitgeber zwingt, Betriebsärzte und
Fachkräfte für Arbeitssicherheit einzustellen bzw. diese Aufgabe an externe Anbieter zu
übertragen. Die Übertragung der Aufgabe an externe Fachkräfte entlässt den Arbeitgeber
allerdings nicht aus der Verantwortung, die sich aus den Gesetzen ergibt.
Weitere 22 Jahre später wurde am 07.08.1996 das Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG)
erlassen, das zwei Wochen später, am 21.08.1996, in Kraft trat. Zwei europäische Richt-
linien des Rates über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicher-
heit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer bei der Arbeit machten dieses neue
Gesetz notwendig. Die Richtlinie 89/391/EWG trat am 19.06.1989 und die Richtlinie
91/383/EWG am 25.06.1991 in Kraft. Beide Richtlinien sollten bis zum 31.12.1992
auf nationaler Ebene umgesetzt werden. Das deutsche Arbeitsschutzgesetz befasst sich
mit den Bedingungen der Arbeit. Ziel ist es, Arbeitsbedingungen so zu gestalten, dass
der Mitarbeiter sicher arbeiten kann, Unfälle vermieden werden und arbeitsbedingte
Erkrankungen ausgeschlossen werden können, kurz: Arbeit soll und darf nicht krank
machen.
Beide Gesetze geben klare Rahmenbedingungen vor, lassen aber genug Gestaltungs-
spielraum, damit Arbeitgeber und Arbeitnehmervertretungen individuell auf das einzelne
Unternehmen zugeschnittene Konzepte entwickeln können. Die Diskrepanz zwischen
gesetzlichen Vorgaben und Gestaltungsspielraum zeigt sich besonders in einer Gesetzes-
änderung vom 25.10.2013, als implizit die psychischen Gefährdungen mit in das Arbeits-
schutzgesetz aufgenommen wurden. Der § 5(3) wurde um einen weiteren, sechsten
Punkt ergänzt. Eine Gefährdung kann sich durch folgende Bereiche ergeben (ArbSchG
§ 5, Abs. 3):

1. die Gestaltung und die Einrichtung der Arbeitsstätte und des Arbeitsplatzes,
2. physikalische, chemische und biologische Einwirkungen,
3. die Gestaltung, die Auswahl und den Einsatz von Arbeitsmitteln, insbesondere von
Arbeitsstoffen, Maschinen, Geräten und Anlagen sowie den Umgang damit,
4. die Gestaltung von Arbeits- und Fertigungsverfahren, Arbeitsabläufen und Arbeitszeit
und deren Zusammenwirken,
5. unzureichende Qualifikation und Unterweisung der Beschäftigten,
6. psychische Belastungen bei der Arbeit.

Dass Arbeit auch psychisch krank machen kann, ist nun gesetzlich festgelegt. Wie diese
Beurteilung der psychischen Gefährdung aussehen kann und wie oft und auf welche Art
sie durchgeführt werden muss, ist im Gesetz nicht geregelt. Der Vorteil dieser fehlenden
gesetzlichen Vorgabe ist, dass Arbeitgeber und Betriebsräte einen hohen Spielraum
haben, diese psychische Gefährdungsbeurteilung auszugestalten. Wichtig ist, dass die
Verantwortung nicht alleine beim Arbeitgeber liegt. Betriebsräte haben nicht nur ein Mit-
bestimmungsrecht, sondern auch eine Mitbestimmungspflicht. Der Betriebsrat hat bei
der Ausführung der Bestimmungen des Arbeitsschutzgesetzes nach § 87 Abs 1 Nr 7
Innovationen im betrieblichen Gesundheitsmanagement 295

BetrVG mitzubestimmen. Der Grund, warum auch heute noch eine Vielzahl von Unter-
nehmen der Verpflichtung zur psychischen Gefährdungsbeurteilung nicht nachgekommen
sind (Beck & Schuller, 2021), liegt schlicht und einfach darin, dass ein kleiner Teil von
dieser Verpflichtung noch nichts gehört hat und dem restlichen (größeren) Teil schlicht
und ergreifend die Phantasie fehlt, wie eine psychische Gefährdungsbeurteilung im
eigenen Unternehmen durchgeführt werden kann. Auch wenn die Aufgabenbeschreibung
der Psychologie (Psychologie ist die Wissenschaft zur Beschreibung, Erklärung und
Vorhersage des menschlichen Verhaltens und Erlebens) recht einfach klingt, so sind die
Wirkmechanismen kompliziert und komplex. Dass, was den Einen stresst, kann den
Anderen entspannen und umgekehrt. Wie soll man nun herausfinden, welche Faktoren
Menschen belasten und welche die Gesundheit der Mitarbeiter gefährden können?
Die gesetzlichen Grundlagen geben nur eine Verpflichtung zur Durchführung vor,
beschreiben aber nicht wie, wann und womit die psychischen Belastungen erhoben werden
müssen. Ebenso wenig wird gesetzlich geregelt, welche Maßnahmen ein Unternehmen
ergreifen muss, um Gefährdungen abzustellen. Ein Grobkonzept zum Ablauf wird aber in
der Technischen Regel für Arbeitsstätten – Gefährdungsbeurteilung (ASR V3) in 8 Schritten
vorgegeben, die auch für psychische Gefährdungsbeurteilungen anzuwenden sind (Abb. 1).
Auch wenn nun seit dem 25.10.2013 Unternehmen gesetzlich dazu verpflichtet sind,
psychische Belastungen durch die Arbeit zu beurteilen und Gefahren abzustellen, sollte
das Geset allein nicht Grund für die Durchführung von psychischen Gefährdungs-
beurteilungen sein. Wurde die psychische Gefährdungsbeurteilung als Bestandteil der
allgemeinen Gefährdungsbeurteilung bisher nicht durchgeführt, können Bußgelder ver-
hängt werden. Überprüft werden die psychischen Gefährdungsbeurteilungen durch
Berufsgenossenschaften, Sozialversicherungsträger und Gewerbeaufsichtsämter. In der
Regel erfolgt zunächst ein Hinweis darauf, diese seit 2013 ergänzende Gefährdungs-
beurteilung auch durchzuführen. Erst wenn man dieser Aufforderung nicht nachkommt,
ist mit Konsequenzen zu rechen.

Abb. 1   Schematische Darstellung der Prozessschritte der Gefährdungsbeurteilung (https://www.


baua.de/DE/Angebote/Rechtstexte-und-Technische-Regeln/Regelwerk/ASR/pdf/ASR-V3.pdf?__
blob=publicationFile&v=3)
296 J. Iserloh und B. Iserloh

Tatsächlich hat aber das Nichtdurchführen von psychischen Gefährdungs-


beurteilungen bereits vor der behördlichen Überprüfung empfindliche Nachteile für
Unternehmen. Psychische Erkrankungen haben sich in den letzten 20 Jahren verdoppelt
-Tendenz steigend- und haben einen hohen Anteil an Fehlzeiten von Mitarbeitern.
Kümmere ich mich nicht rechtzeitig um die psychischen Belastungen meiner Mit-
arbeiter, spiele ich mit einem der wichtigsten Produktionsfaktoren des Unternehmens.

2 Haben wir heute mehr Stress, als früher?

Wenn die gesetzlichen Bestimmungen psychische Gefährdungsanalysen vorschreiben,


dann sollte es auch ein nachvollziehbarer Grund für diese neuen Gesetze geben.
Kann Arbeit tatsächlich zu psychischen Krankheiten führen und haben psychische
Erkrankungen in den letzten Jahren zugenommen? Spielen psychische Erkrankungen
eine (wichtige) Rolle in Bezug auf die Fehlzeiten von Beschäftigten?
Die Gesundheitsberichte der deutschen Krankenkassen zeigen hier alle einen ähn-
lichen Verlauf auf: Während sich die durch Verletzungen, Rücken-, Atemwegs – und
Magen-Darm-Erkrankungen verursachten Fehlzeiten in den letzten 20 Jahren nicht
wesentlich verändert haben, stechen die Fehlzeiten aufgrund psychischer Erkrankungen
deutlich negativ heraus. Schwankungen über die Jahre kann man zwar bei den
Erkrankungen des Atemsystems erkennen, diese beruhen aber auf unterschiedlich stark
ausgeprägten Grippe- und Erkältungswellen der vergangenen Jahre und liegen im Jahr
2020 nur etwas mehr als 10 % über dem Ausgangswert von 2000. Deutlich geringere
Schwankungen zeigen die Erkrankungen des Verdauungssystems mit einem Rückgang
von über 20 % im Vergleich zum Ausgangsjahr 2000.
Die psychischen Erkrankungen und Verhaltensstörungen liegen allerdings 2020
aber im Vergleich zum Ausgangsjahr 2000, also vor 20 Jahren, um 109 % höher, mit
steigender Tendenz. Psychische Erkrankungen verursachen inzwischen den Hauptanteil
der Fehlzeiten von Beschäftigten (Abb. 2).
Auch wenn die Auswertungen aller Krankenkassen ähnliche Ergebnisse aufweisen,
bleibt die Frage, ob die heutigen Belastungen tatsächlich höher sind und dadurch mehr
psychische Erkrankungen und Verhaltensstörungen zur Folge haben und ob diese in
Zusammenhang mit der Arbeit gebracht werden können. Haben wir heute wirklich mehr
Stress, oder jammern wir nur mehr?
Der Begriff Stress wurde erstmals 1950 von Hans Selye im Wissenschaftsbereich der
Psychologie eingeführt (Selye, H., 1950). Der Begriff des Burnouts wurde erst 1969 von
Bradley (Bradley, H.B., 1969) und später von Herbert Freudenberger (Freudenberger,
H., 1974) in der Psychologie eingeführt. Die Forschungsergebnisse im Themenkomplex
Stress und Burnout zeigen deutliche Zusammenhänge zwischen (falsch gestalteter)
Arbeit und psychischen Erkrankungen. Nimmt man die Forschungsergebnisse aus
der Arbeitslosenforschung hinzu, wird es umso komplexer: nicht zu arbeiten macht
auch nicht gesund, sondern führt ebenso zu deutlich mehr psychischen Erkrankungen.
Innovationen im betrieblichen Gesundheitsmanagement 297

Abb. 2   Relative Veränderungen der Fehlzeiten in relevanten Diagnosekapiteln – Berufstätige mit


Mitgliedschaft in der TK, standardisiert (https://www.tk.de/resource/blob/2125010/da11bbb6e19aa
012fde9723c8008e394/gesundheitsreport-au-2022-data.pdf)

Die Lösung liegt in der Arbeitsgestaltung. Es ist weniger die Frage, ob wir arbeiten, als
mehr die Frage, wie wir arbeiten. Kurz zusammengefasst, kann man festhalten, dass
schlecht gestaltete Arbeitsbedingungen krank machen können.
Die späte Einführung der Begriffe in die Forschungsfelder der Psychologie lässt
allerdings auch den Schluss zu, dass in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts vermehrt über
Stress gesprochen wurde und erst dadurch häufiger Stress und Burnout als Ursache für
psychische Erkrankungen diagnostiziert wurde, mit der Vermutung, dass wir heute nicht
mehr psychische Erkrankungen und Verhaltensstörungen haben als früher, sondern,
dass wir nur mehr darüber reden und folglich auch mehr Erkrankungen diagnostizieren.
Warum sollten heutzutage auch mehr Menschen in Deutschland unter Depressionen
leiden, die den größten Anteil der psychischen Erkrankungen ausmachen, als Menschen
nach dem 2. Weltkrieg? Zunächst scheinen diese Schlussfolgerungen einleuchtend: Wir
haben heutzutage nicht mehr Stress als früher, wir reden nur mehr darüber. Tatsächlich
haben sich aber mit dem Beginn der Industrialisierung nicht nur die Arbeitsbedingungen
deutlich verändert. Bis ca. 1900 blieben die Arbeits- und Lebensbedingungen über Jahr-
tausende ziemlich konstant. Natürlich gab es auch im Mittelalter neue wissenschaftliche
Erkenntnisse und Fortschritt. Aber bis 1900 stieg die Weltbevölkerung nur langsam auf
ca. 2 Mrd. Menschen weltweit an. Die durchschnittliche Lebenserwartung lag 1900 bei
ca. 40 Jahren bei einem Mann, Frauen wurden ca. 44 Jahre alt. Diese Lebenserwartung,
hat sich aber seit 1900 verdoppelt, und die Weltbevölkerung hat sich mit ca. 7,5 Mrd.
fast vervierfacht. Gleichzeitig explodieren auch die wissenschaftlichen Entwicklungen,
Erkenntnisse und Erfindungen. Derek de Solla Price geht davon aus, dass die Ver-
dopplungszeit des Wissens seit dem 17. Jahrhundert bei ca. 15 Jahren liegt und damit
298 J. Iserloh und B. Iserloh

+
Komplexität
mehr
Dynaxität
- Anzahl Auswirkungen auf den Mensch:
- Vielfalt psychische Beeinträchgungen,
- Vernetzung BurnOut

Flexibilität
Entgrenzung
Mobilität

Entwicklung Technisierung
Wissenscha
Forschung Kommunikaon

Globalisierung

Sll- schneller +
stand Dynamik
- Veränderungsgeschwindigkeit
Abb. 3   Dynaxität https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=92927845

exponentiell zunimmt (Schramm, 2011). Das Zusammenspiel von immer schnellerer und
komplexerer Entwicklung der Wissenschaft, Gesellschaft und technischer Entwicklung
spiegelt sich in zunehmender Dynaxität wider, die auf individueller Ebene zunehmenden
psychischen Stress und Burnout als Folge hat. Stress ist also eine Folge der immer
schnelleren und komplexeren Entwicklung, für deren Bewältigung unser Körper und ins-
besondere unser Gehirn vor immer größere Herausforderungen gestellt wird (Abb. 3).

3 Kann man Stress messen?

Wenn psychische Erkrankungen und Verhaltensstörungen ursächlich in der Zunahme


von Stress begründet sind, scheint es wichtig zu erfassen, wie hoch das jeweilige Stress-
niveau einer Person ist. Ähnlich der Gewichtskontrolle mittels einer Waage sollte es
möglich sein, zu messen, ob der Stresswert einer Person im Normalbereich liegt oder
einen Schwellenwert überschritten hat und dadurch gesundheitsgefährdende Aus-
wirkungen drohen.
Was Stress in unserem Körper physiologisch auslöst, ist inzwischen wissenschaftlich
gut untersucht und dokumentiert. Stressauslösende Ereignisse steuern über verschiedene
Innovationen im betrieblichen Gesundheitsmanagement 299

Hirnregionen (Limbisches System-Hypothalamus) den Ausstoß von Adrenalin und Nor-


adrenalin aus dem Nebennierenmark und die Produktion von Cortisol in der Nebennieren-
rinde. Beide Hormone ermöglichen uns körperliche Höchstleistungen und lassen sich im
Körper nachweisen. Adrenalin hat allerdings eine kurze Halbwertszeit von nur ca. 2 min,
die Halbwertzeit von Cortisol beträgt mehrere Stunden. Gleichzeitig kann man Stress-
reaktionen an einem Organismus feststellen, die sich nochmals in kurz- und langfristige
Reaktionen aufteilen lassen. Kurzfristig beschleunigt sich der Puls und der Blutdruck
steigt, die peripheren Blutgefäße verengen sich, man wird blass. Langfristige negative
Auswirkungen von Stress sind verständlich, wenn unser Körper durch Stresshormone
in Alarmbereitschaft versetzt wird und auf körperliche Höchstleistungen vorbereitet
wird, aber tatsächlich keine physiologische Reaktion erfolgen kann. Stresshormone, die
uns in den vergangenen Jahrhunderten evolutionäre Vorteile verschafft haben, sind in
der modernen Welt eher ein Nachteil, da wir weniger körperlich, sondern mehr geistig
gefordert bzw. überfordert sind. Durch die ständige Alarmbereitschaft des Körpers drohen
langfristig z. B. Bluthochdruck, Schlafstörungen und Verdauungsprobleme.
Leider treten viele der kurz- und langfristigen Stressreaktionen auch nach anderen
Ereignissen, z. B. körperlicher Anstrengung (Sprint etc.) auf. Diese Stressreaktionen
sind zudem individuell sehr unterschiedlich und eignen sich daher wenig für valide
Messungen. Es gibt allerdings Fragebogen (Stresssymptom- und -cheklisten),  die Hin-
weise auf vermehrtes Stresserleben geben. Die Auslöser für die langfristigen Stress-
reaktionen sind aber nicht eindeutig zuordbar. Kurzfristige Stressreaktionen können
leichter mit einem parallel vorhandenen Reiz in Verbindung gesetzt werden. Objektiv
messbar ist allerdings nur der Cortisolspiegel mittels einer Speichelprobe. Die Speichel-
probe eignet sich im betrieblichen Kontext nur bedingt, da auch die Auswertung auf-
wendiger ist, zeitlich wie finanziell.
Neben der Cortisolmessung hat sich in den letzten Jahren die Analyse der Herzraten-
variabilität durchgesetzt. Hier wird mittels eines kleinen EKG’s (vier Messelektroden
an Hand- und Fußgelenken) die Variabilität der Herzschläge über einen Zeitraum von
ca. 2 min ausgewertet. Die Logik ist, dass dauerhaft hohe Cortisolwerte das Herz in
erhöhte Alarmbereitschaft versetzen und es zu Herzschlägen mit gleichbleibendem
Rhythmus kommt. Ein Herz, das selten Stress ausgesetzt ist, wird dagegen mit einer
höheren Variabilität schlagen, mal schneller, mal langsamer, so wie es die Situation
gerade fordert. Dieser Unterschied ist sehr gut zu erfassen und ermöglicht eine genaue
Auswertung des Dauerstresslevels der gemessenen Person.
HRV-Messungen sind inzwischen über Wearables, z. B. Fitnessuhren möglich.
Krankenkassen bieten Herzratenvariabilitätsmessungen (HRV-Messungen) im Rahmen
von Aktionen im betrieblichen Gesundheitsmanagement an. Messungen an größeren
Gruppen lassen gegebenenfalls Rückschlüsse auf die Stressbelastungen einer Personen-
gruppe zu.
HRV-Messungen sind zwar einfacher durchzuführen, als Cortisolmessungen,
allerdings deutlich aufwendiger, als Fragebogen.
300 J. Iserloh und B. Iserloh

Das Ergebnis einer individuellen Stressmessung (Beanspruchung) sagt allerdings


noch nichts über die zugrunde liegende Belastung aus. Konkret steht zwar die von
außen einwirkende Belastung und die subjektiv erlebte Beanspruchung im kausalen
Zusammenhang, allerdings findet die Bewertung der erlebten Belastung im Körper
und damit für einen Außenstehenden nicht sichtbar statt. Hohe gemessene Stresswerte
können also aus belastenden Arbeitssituationen und ebenso aus belastenden privaten
Situationen entstehen. Auch können Belastungen, die zu hohen Stressreaktionen führen,
auf den ersten Blick nicht als solche zu erkennen sein.
Individuelle Stressmessungen können also einen ersten Eindruck geben, ob Mit-
arbeiter belastet sind. Dieser individuelle Stressindex sagt allerdings nichts über die
ursächlichen Belastungen aus. Sie können allenfalls einen Hinweis geben, ob eine
Gruppe insgesamt hohen Belastungen ausgesetzt ist. Für die einzelne Person ist eine
Rückmeldung über den persönlichen Stresslevel sinnvoll, um selbst aktiv zu werden, um
Stress zu vermeiden bzw. besser zu verarbeiten.

4 Meß- und Analyseverfahren in der psychischen


Gefährdungsbeurteilung

Da die individuelle Stressmessung keinen Rückschluss auf zugrunde liegende


Belastungen gibt, müssen mit der psychischen Gefährdungsbeurteilung die Belastungen
durch die Arbeit erfasst werden.
Die einfachste Methode ist, die Beschäftigten zu befragen, welche Belastungen sie
erleben. Die Methoden hierzu sind einfach und vielfach erprobt: Durch die Befragung

• einzelner Mitarbeiter im Interview kann man gezielt Belastungen erfassen, nachfragen


und auch Themenbereiche ansprechen, die dem Interviewten zunächst nicht in den
Blick kommen.
• Im Workshop besteht die Möglichkeit gemeinsam mit Mitarbeitern und Führungs-
kräften bzw. fachkundigen Experten relevante Belastungen zu diskutieren.
• Mit einem schriftlichen (online) Fragebogen können Belastungen mit geringem zeit-
lichem Aufwand erfasst werden, und es ist einfacher möglich, alle Beschäftigten in
die Analyse mit einzubeziehen. Allerdings geben die Beschäftigten nur Antworten
auf die Fragen, die gestellt werden. Manchmal kann es sinnvoll sein, über den Teller-
rand hinauszuschauen. Insbesondere, wenn es darum geht, bisher nicht bekannte
Belastungen zu erfassen, kommen Fragebogen schnell an ihre Grenzen.

Allerdings besteht auch die Gefahr, dass Beschäftigte Belastungen gar nicht als solche
erkennen und sie damit als Analyseergebnis gar nicht erst erscheinen. In diesem Fall
bieten sich Beobachterinterviews an. Fachlich qualifizierte Personen beobachten
Beschäftigte während ihrer Arbeitstätigkeit und beurteilen die Belastungen. Die
Beobachtungen sollten über Interviews mit den Betroffenen ergänzt werden, um
Innovationen im betrieblichen Gesundheitsmanagement 301

­ öglichst alle Belastungen, auch die, die im beobachteten Zeitraum nicht aufgefallen
m
sind, zu erfassen.
Einen guten Überblick über die Analyseverfahren gibt die nachfolgende Tabelle über
Stärken und Grenzen der Vorgehensweisen im Überblick, die in den Empfehlungen
zur Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung der Gemeinsamen
deutschen Arbeitsschutzstrategie veröffentlicht wurde (Abb. 4):
Die Auswahl der Analysemethode richtet sich nach unterschiedlichen Kriterien.
Gerade bei der ersten Durchführung einer psychischen Gefährdungsbeurteilung kann es
sinnvoll sein, sich zuerst einen groben Überblick über psychische Belastungen im Unter-
nehmen zu verschaffen und danach detaillierter nachzufassen. Für einen ersten Überblick
sind standardisierte Fragebogen geeignet, für die bereits Erfahrungswerte aus anderen

Abb. 4   Übersicht: Stärken und Grenzen der Vorgehensweisen im Überblick (https://www.gda-


psyche.de/SharedDocs/Downloads/DE/empfehlungen-zur-umsetzung-der-gefaehrdungsbeurteilung-
psychischer-belastung.pdf?__blob=publicationFile&v=1)
302 J. Iserloh und B. Iserloh

Unternehmen vorliegen. So kann schnell beurteilt werden, ob Belastungen kritische


Grenzen überschreiten und tiefer gehende Analysen notwendig sind.
Für jede der oben genannten Analysemethoden steht eine Vielzahl validierter
Instrumente zur Verfügung. Im Forschungsprojekt „Instrumente zur Erfassung und
Bewertung psychischer Belastung: Aktualisierung der Toolbox Version 1.0“ – Projekt F
1965 – der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin sind diese Instrumente
mit Stand von 2010 aufgelistet und beschrieben (https://d-nb.info/101212276X/34).
Schwierig wird es, wenn Beschäftigte aus den unterschiedlichsten Gründen sich nicht
trauen auf Belastungen hinzuweisen. In diesen Fällen ist es zwingend notwendig, die
Anonymität und Vertraulichkeit sicherzustellen.
Der Eindruck, dass psychische Belastungen nur in gesonderten Analysen erfasst bzw.
von Beschäftigten berichtet werden, ist falsch. In Mitarbeitergesprächen und Team-
meetings weisen Beschäftigte regelmäßig auf Belastungssituationen hin, in der Regel
werden diese jedoch nicht routinemäßig erfasst und in die psychischen Gefährdungsana-
lysen mit einbezogen. Als ergänzende Methode ist es empfehlenswert, unabhängig vom
Befragungszyklus (psychische) Beschäftigte darauf hinzuweisen Belastungsthemen,
jederzeit, ähnlich eines betrieblichen Vorschlagwesens, an einen Verantwortlichen
(Betriebsarzt, Fachkraft für Arbeitssicherheit, Gesundheitsmanager o. ä.) zu melden.

5 Ablauf einer psychischen Gefährdungsbeurteilung

Für die Durchführung psychischer Gefährdungsbeurteilungen gibt es wenig gesetzliche


Vorgaben. Einerseits bietet dies den Vorteil die Gefährdungsbeurteilung so zu planen,
wie es für das eigene Unternehmen am effektivsten und effizientesten ist. Anderer-
seits wird es dadurch erschwert, überhaupt erstmal anzufangen, da die Psyche für die
meisten Menschen eine Blackbox ist, die schwer zu erfassen ist. Im Ergebnis kommt
die Forschergruppe des Feldforschungsprojekts „Gefährdungsbeurteilung psychischer
Belastungen in der Praxis“ zu dem Ergebnis, dass nur wenige Betriebe psychische
Gefährdungsbeurteilungen überhaupt durchgeführt haben. Je kleiner das Unternehmen,
umso geringer die Umsetzungswahrscheinlichkeit (Beck & Lenhardt, 2019). Als Gründe
dafür, sich nicht mit den psychosozialen Risiken auseinanderzusetzen, geben Führungs-
kräfte zu

• 59 % die Brisanz des Themas,


• 55 % das fehlende Wissen/Qualifikationen,
• 54 % fehlende Zeit- und Personalressourcen und zu
• 51 % mangelndes Problembewusstsein an (EuropeanAgencyforSafetyandHealthatW
ork, 2010).
Innovationen im betrieblichen Gesundheitsmanagement 303

Um psychische Gefährdungsanalysen erfolgreich durchführen zu können, ist es


empfehlenswert, die Aufgabe in fachkompetente Hände zu legen. Die Umsetzungswahr-
scheinlichkeit steigt, wenn

• eine Fachkraft für Arbeitssicherheit vorhanden ist,


• wenn ein Betriebsarzt/eine Betriebsärztin bestellt ist und
• wenn ein Aufsichtsdienst den Betrieb innerhalb der letzten zwei Jahre besucht
und die Berücksichtigung psychischer Belastung in der Gefährdungsbeurteilung
angesprochen hat (Beck & Lenhardt, 2019).

Es gibt zunächst nur die gesetzliche Vorgabe, eine psychische Gefährdungsbeurteilung


überhaupt durchzuführen. Wie, wann und wie oft wird hierbei nicht geregelt. Die
Technische Regel für Arbeitsstätten – Gefährdungsbeurteilung (ASR V3) gibt den Grob-
ablauf in 8 Schritten vor und ist bereits weiter oben erwähnt, und findet auch explizit
Anwendung bei der Durchführung der psychischen Gefährdungsbeurteilung (Abb. 5).
Umfangreiche Unterstützung bei der Umsetzung der psychischen Gefährdungsanalysen
bieten die Unfallversicherungsträger, Berufsgenossenschaften, Krankenversicherungen,
Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften, so zum Beispiel durch Online-Tools zur Ana-
lyse der psychischen Belastungen.

Abb. 5   Schritte der psychischen Gefährdungsbeurteilung (https://www.vbg.de/DE/3_Praevention_


und_Arbeitshilfen/2_Themen/11_Gefaehrdungsbeurteilung/9_GefBU_psych_Bel/Gef_BU_psych_
Bel_node.html;jsessionid=5C898A794AEA3FCC59E278E0618EFCEC.live4)
304 J. Iserloh und B. Iserloh

Die Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie hat einen Handlungsleit-


faden herausgegeben, der detaillierte Empfehlungen zur Umsetzung der psychischen
Gefährdungsbeurteilung gibt.
Psychische Gefährdungsbeurteilungen sollten regelmäßig wiederholt werden, da sich
in sehr kurzer Zeit Arbeitsbedingungen komplett ändern können und damit bisherige
Belastungen wegfallen und neue Belastungen auftreten können. Eine zeitliche Vor-
gabe hierzu gibt es nicht. Grundsätzlich kann man aber empfehlen, spätestens alle drei
bis fünf Jahre die psychische Gefährdungsbeurteilung neu durchzuführen. Bei Wieder-
holungen reicht es im Allgemeinen aus, bisherige Belastungsfelder zu erfassen, ohne
aber neu hinzugekommene zu vernachlässigen.

6 Ursachen von Stress, Maßnahmen & Bringt eine


psychische Gefährdungsanalyse auch tatsächlich Vorteile?

Die Ursachen von erlebtem Stress sind nicht immer eindeutig zuzuordnen. Zwar besteht
für ein Unternehmen nur die gesetzliche Pflicht, arbeitsbedingte Belastungen abzustellen
und zu minimieren, die krank machen können. Wenn der Stress aber aus dem privaten
Bereich kommt, können sich die Effekte genauso in der beruflichen (Minder-)Leistung
zeigen. Es kann also für ein Unternehmen sinnvoll sein, Belastungen für Beschäftigte
grundsätzlich zu reduzieren, egal aus welchem Bereich die Belastungen kommen.
Allgemeinwirkende Angebote sind

• Mitarbeiterunterstützungsprogramme (EAP), bei denen Mitarbeiter in unterschied-


lichen Lebenslagen schnell, unkompliziert und anonym Beratung und Unterstützung
bekommen können.
• Seminare und Workshops zum Themenbereich Stress, die Führungskräften und
Beschäftigten zu mehr Resilienz, also psychischer Widerstandsfähigkeit verhelfen und
Methoden vermitteln, mit Stress anders bzw. besser umzugehen, helfen Basiskompetenzen
aufzubauen, unabhängig von identifizierten arbeitsbedingten Belastungsfaktoren.
• Führungskräfteseminare zum Themenkomplex „Gesund Führen“, da Führungskräfte
als Vorbild und Multiplikatoren im Unternehmen wirken.

Gesetzliche Krankenkassen sind nach § 20b SGB V verpflichtet, Unternehmen beim


Aufbau und Stärkung gesundheitsförderlicher Strukturen zu unterstützen und dafür Geld
zu investieren. Aufgrund der Erfahrung im Auf- und Ausbau dieser Strukturen in den
unterschiedlichsten Firmen, bieten sich gesetzliche Krankenkasse und Berufsgenossen-
schaften als Partner an.
Neben der betrieblichen Gesundheitsförderung bieten gesetzliche Krankenkasse ihren
Mitgliedern Unterstützung bei der Gesunderhaltung in den Bereichen Stress, Bewegung,
Ernährung und Sucht. Diese Angebote sind bei jeder gesetzlichen Krankenkasse abrufbar
und werden durch die Krankenkassen bezuschusst, wobei das Mitglied einen Eigenanteil
Innovationen im betrieblichen Gesundheitsmanagement 305

zu tragen hat. Einige Krankenkassen bieten spezielle Onlinetrainings und -coachings


zum Umgang mit Stress an.
Der ökonomische Vorteil psychischer Gefährdungsbeurteilungen lässt sich nur schwer
nachweisen. Zur ökonomischen Bewertung betrieblicher Gesundheitsförderung gibt es
verschiedene Studien und praktische Ansätze zur Bewertung. Neben der ökonomischen
Evaluation mittels der Balanced Scorecard (Horvath et al., 2021) lassen sich öko-
nomische Effekte auch durch die Mehrebenen-Evaluation von Maßnahmen der betrieb-
lichen Gesundheitsförderung (Fritz, 2004). bewerten. Die Schwierigkeit liegt darin, dass
sich durch Maßnahmen zur Reduktion psychischer Belastungen im Wesentlichen weiche
Faktoren ändern, deren finanzieller Nutzen nur schwer umrechenbar ist.
Metaanalysen zeigen, dass insbesondere eine hohe Arbeitsintensität, ein geringer
Handlungsspielraum, häufige Arbeitsunterbrechungen, Emotionsarbeit und mangelnde
soziale Unterstützung mit einem erhöhten Risiko für psychische Beeinträchtigungen und
negativen Folgen für die Sicherheit und Leistungsfähigkeit der Beschäftigten verbunden
sind (Gilbert et al., 2021).
Die Reduktion von psychischen Belastungen führt also zu einer höheren Arbeits-
leistung und geringeren Fehlzeiten von Beschäftigten. Nutzt man die psychische
Gefährdungsbeurteilung also nicht nur dazu, um krankmachende Belastungen abzu-
stellen und den gesetzlichen Verpflichtungen zu entsprechen, sondern auch, um darüber
hinaus die Arbeit für Beschäftigte attraktiv zu gestalten, so können sich daraus Wett-
bewerbsvorteile ergeben, die gerade in einer sich immer schneller entwickelnden
Umwelt entscheidende Wirtschaftsfaktoren sein können.

Literatur

Beck, D., & Lenhardt, U. (2019). Consideration of psychosocial factors in workplace risk assess-
ments: Findings from a company survey in Germany. International Archives of Occupational
and Environmental Health, 92(3), 435–451.
Beck, D., & Schuller, K. (2021). Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung in der betrieb-
lichen Praxis. Erkenntnisse und Schlussfolgerungen aus einem Feldforschungsprojekt. BAUA.
https://www.baua.de/DE/Angebote/Publikationen/Bericht-kompakt/F2358.html.
Bradley, H. B. (1969). Community-based treatment for young adult offenders. Crime &
Delinquency, 15(3), 359–370.
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Work, Bilbao.
Freudenberger, H. (1974). Staff Burn-Out. Journal of Social Issues, 30(1), 159–165.
Fritz, S. (2004). Mehrebenen-Evaluation von Maßnahmen der betrieblichen Gesundheits-
förderung, Dissertation, Universität Dresden, Fakultät für Naturwissenschaften und
Mathematik.
Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie. (2021). Empfehlungen zur Umsetzung der
Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung. GDA. https://www.gda-psyche.de/SharedDocs/
306 J. Iserloh und B. Iserloh

Downloads/DE/empfehlungen-zur-umsetzung-der-gefaehrdungsbeurteilung-psychischer-
belastung.pdf?__blob=publicationFile&v=1.
Gilbert, K., Kirmse, K. A., Pietrzyk, U., & Steputat-Rätze, A. (2021). Gestaltungshinweise für die
praktische Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung. Springer. https://doi.
org/10.1007/s41449-020-00201-2.
Horváth, P., Gamm, N., Möller, K., Kastner, M., Schmidt, B., Iserloh, B., Kliesch, G., Otte, R.,
Braun, M., Matter, M., Pennig, S., Vogt, J., & Köper, B. (2021). Betriebliches Gesundheits-
management mit Hilfe der Balanced Scorecard. BAUA. https://www.baua.de/DE/Angebote/
Publikationen/Berichte/F2126.html.
Schramm, M. (2011). Langfristiges exponentielles Wachstum der Wissenschaft? Historical Social
Research, 36(2), 299–308. https://doi.org/10.12759/hsr.36.2011.2.299-308.
Selye, H. (1950). The physiology and pathology of exposure to stress. Acta, Inc.

Jan Iserloh, Psychologiestudent studiert nach einer kauf-


männischen Lehre Psychologie und arbeitet als freier Mitarbeiter im
Institut für Gesundheits- und Leistungsmanagement.

Berthold Iserloh, Dipl. Psych. ist Bankkaufmann sowie Psycho-


loge. Er arbeitet als Gesundheitsmanager und Arbeitspsychologe für
die Targobank Deutschland.

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