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Personalmanagement
Anja Gerlmaier • Katrin Gül • Ulrike Hellert
Tobias Kämpf • Erich Latniak
(Hrsg.)
Praxishandbuch
lebensphasenorientiertes
Personalmanagement
Fachkräftepotenziale in technischen
Entwicklungsbereichen erschließen
und fördern
Herausgeber
Anja Gerlmaier Tobias Kämpf
Dortmund München
Deutschland Deutschland
Ulrike Hellert
Nürnberg
Deutschland
Das diesem Bericht zugrundeliegende Vorhaben wurde mit Mitteln des Bundesministeriums für
Bildung und Forschung und des Europäischen Sozialfonds unter dem Förderkennzeichen 01HH11092-
94 gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autorinnen und
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Geleitwort
V
VI Geleitwort
Gabriele Kossack
VII
VIII Inhaltsverzeichnis
16 Gesund bleiben von Anfang an – erste Erfahrungen aus der Sicht des
Betriebsrats Birlinghoven �������������������������������������������������������������������������������� 299
Claus Hoffmann
Inhaltsverzeichnis IX
18 Lebensphasenorientiertes Personalmanagement
am Beispiel der SAP SE ������������������������������������������������������������������������������������ 323
Heidrun Kleefeld
Mitarbeiterverzeichnis
Christina Goesmann iap – Institut für Arbeit & Personal, FOM Hochschule, Essen,
Deutschland
Ulrike Hellert iap – Institut für Arbeit & Personal, FOM Hochschule, Essen, Deutschland
XI
XII Mitarbeiterverzeichnis
Ute Peters iap – Institut für Arbeit & Personal, FOM Hochschule, Essen, Deutschland
vationspotenziale werden dabei bisher im ungünstigsten Fall eher verschlissen als gepflegt
und weiterentwickelt.
Zudem wird infolge der demografischen Umwälzungen in den nächsten Jahren gerade
in den entwicklungsbezogenen Tätigkeitsfeldern eine Verschärfung von Fachkräfteeng-
pässen erwartet. Auf dem Arbeitsmarkt stehen einem hohen Niveau an Rentenaustritten
vergleichsweise wenige Absolventen der betreffenden Fachrichtungen gegenüber. Lang-
fristige Bedarfsprojektionen deuten daraufhin, dass für die Mathematik-, Informatik-, Na-
turwissenschaften-, Technik(MINT)-Berufe zwar kein allgemeiner und flächendeckender
Fachkräftemangel zu erwarten ist. Die Projektionen ziehen dabei in Betracht, dass durch
zunehmende Frauenerwerbstätigkeit, durch Zuwanderung und durch Prozessinnovationen
in den Unternehmen die in diesen Bereichen eher steigenden Personalbedarfe wenigstens
teilweise kompensiert werden können. Je nach Annahmen und Berechnungsmethoden
werden von den Demografie-Forschern aber insbesondere im Bereich der IT-Anwen-
dungsberatung (BITKOM 2013), im Maschinenbau (BMWi 2013) und bei Elektroinge-
nieuren (Tivig et al. 2013, S. 36) bis zum Jahr 2030 erhebliche Fachkräfteengpässe prog-
nostiziert, die sich zudem regional unterschiedlich auswirken werden (vgl. insgesamt zur
aktuellen Diskussion Neubecker 2014; Zika et al. 2012).
Diese Entwicklungen stellen Technik entwickelnde Unternehmen in den nächsten Jah-
ren vor neue personalpolitische Herausforderungen: Die Unternehmen sind zum einen
darauf angewiesen, trotz stetig steigender Anforderungen ihre Mitarbeitenden über das
gesamte Arbeitsleben hinweg kreativ und beschäftigungsfähig zu erhalten (Rump 2014;
Tempel und Illmarinen 2013; Richenhagen 2007), um die personellen Grundlagen für die
technischen Entwicklungen zu sichern. Zum anderen stehen die Unternehmen vor der
Herausforderung, dabei zunehmend mit den spezifischen Bedürfnissen und Leistungsvor-
aussetzungen einer „bunteren“, vielfältigeren Belegschaft umgehen zu müssen.
Der letztgenannte Punkt lässt sich anhand von Verlaufsdaten des Instituts für Arbeits-
markt und Berufsforschung (IAB o. J.) (vgl. Kap. 2 in diesem Band) illustrieren. Diese
Daten deuten darauf hin, dass es heute schon einen Trend zur „neuen Vielfalt“ in den tra-
ditionell von hoch qualifizierten männlichen Akademikern geprägten technischen Berufen
gibt. Betrachtet man zunächst die Veränderung der Altersstrukturen in den technischen
Entwicklungsberufen, so ist im Zeitraum zwischen 2001 und 2011 insbesondere bei den
IT-Spezialist/inn/en ein massiver Anstieg von Beschäftigten in der Gruppe über 50 Jahre
zu beobachten (2001: 13 %, 2011: 22 %). Der Anstieg von ca. 6 % über 50-Jähriger in der
Gruppe der Techniker/innen beziehungsweise der Ingenieurinnen und Ingenieure im glei-
chen Erhebungszeitraum fällt zwar etwas geringer aus; allerdings war die Anzahl älterer
Techniker/innen mit rund 25 % und die Gruppe der Ingenieurinnen und Ingenieure mit
etwa 22 % im Vergleich zu den Berufsgruppen aus dem IT-Bereich im Jahr 2001 bereits
deutlich größer und sie wächst weiter (vgl. Tab. 1.1). In allen drei Berufsgruppen kann
darüber hinaus eine moderate Internationalisierung beobachtet werden: Insbesondere bei
den Ingenieur/innen stieg im Zehn-Jahres-Zeitraum der Anteil ausländischer Fachkräfte
deutlich von 4 auf fast 6 % an. Bei den Techniker/innen und den Datenverarbeitungsfach-
1 Einleitung 3
leuten ist ein eher geringer Anstieg von unter 1 % zu beobachten, während in der Gesamt-
bevölkerung kein nennenswerter Anstieg von Beschäftigten mit ausländischen Wurzeln
festgestellt werden kann.
Ambivalente Befunde finden sich schließlich zur Frage, inwieweit weibliche Fach-
kräfte den Bereich der Technikentwicklung als Betätigungsfeld erachten, in dem sie län-
gerfristig arbeiten möchten. Man kann für den betrachteten Zeitraum von einem Anstieg
des Frauenanteils um etwa 2 % bei den Ingenieur/innen beziehungsweise um 1 % bei den
Techniker/innen beobachten. Dagegen sank der Anteil weiblicher IT-Spezialistinnen im
gleichen Zeitraum um 2 % von 20 auf 18 % (IAB (o. J.), eigene Berechnungen).
Solche Entwicklungen werden nicht allein von ökonomischen und institutionellen Rah-
menbedingungen wie volkswirtschaftlichen Krisensituationen, der Einwanderungspolitik,
der Bildungspolitik oder von gesellschaftlichen Trends wie der zunehmenden Frauener-
werbstätigkeit beeinflusst. Gerade in Bezug auf ihr Human-Ressource-Management ha-
ben innovative Unternehmen relativ große Spielräume: Ob und in welchem Maße es den
Unternehmen in technischen Entwicklungsbereichen zukünftig gelingt, genügend kreative
Köpfe zu gewinnen und die sich abzeichnende neue Vielfalt ihrer Belegschaften zur Stär-
kung ihrer Innovationskraft zu nutzen, hängt in entscheidendem Maße auch von ihren ei-
genen personalpolitischen Strategien und Maßnahmen ab. Dabei stehen folgende Aspekte
im Mittelpunkt des Interesses:
Diesen Fragen ging das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF)
finanzierte Vorhaben „Arbeitslebensphasensensibles Personalmanagement als Innova-
tionstreiber im demografischen Wandel“ (pinowa) nach, dessen Konzepte, Ergebnisse und
Instrumente in diesem Handbuch für betriebliche Praktiker aufgearbeitet und zusammen-
gefasst sind. Das Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen,
das Institut für Arbeit & Personal (iap) an der FOM Hochschule gGmbH sowie das Institut
für sozialwissenschaftliche Forschung (ISF), München, haben in Kooperation mit einer
Vielzahl betrieblicher Partner lebensphasensensible Personalmanagementkonzepte in den
Schwerpunkten Rekrutierung, Laufbahngestaltung, Teamarbeit und Gesundheitsmanage-
ment untersucht, entwickelt und erprobt. Ein zentrales Ziel bestand darin, passgenaue Pra-
xislösungen für die bis dato eher konzeptionellen Ansätze eines lebensphasenorientierten
Personalmanagements für technische Entwicklungsbereiche und hoch qualifizierte Wis-
sensarbeit zu entwickeln.
1.2 Lebensphasensensibles Personalmanagement –
was ist daran neu?
Die meisten innovativen Unternehmen führen schon heute zum Teil umfangreiche Perso-
nalentwicklungsmaßnahmen durch, um Kompetenzentwicklung, Gesundheit und die Ver-
einbarkeit von Familie und Beruf bei ihren Beschäftigten zu fördern. Diese allgemeinen,
für alle Beschäftigten offenen Angebote und Maßnahmen sind jedoch häufig „blind“ für
die spezifischen Bedürfnisse der Beschäftigten in ihren jeweiligen Berufs- und Lebens-
phasen.
Daraus können für die Unternehmen Probleme entstehen: Beschäftigte können sich
einerseits durch implizite Erwartungen seitens des Betriebs abgeschreckt fühlen, die bei-
spielsweise bei Laufbahnentscheidungen oder Qualifizierungsmaßnahmen zu erfüllen
sind. So sehen sich Berufseinsteiger/innen, die gleichzeitig auch eine Familie gründen
wollen, oder junge Mütter und Väter im Rahmen von Projekten häufig mit weitreichen-
den betrieblichen Ansprüchen an individuelle zeitliche Verfügbarkeit und Mehrarbeit in
der Freizeit konfrontiert (vgl. dazu insbesondere Kap. 8 in diesem Band). Personalentwi-
cklungs- oder Karriereschritte werden dann oft unterlassen, weil die Beschäftigten die-
se mit ihren persönlichen Bedürfnissen und Voraussetzungen nicht in Einklang bringen
können.
Eine geringe Sensibilität der Unternehmen gegenüber den individuellen Lebensphasen
ihrer Beschäftigten kann andererseits dazu führen, dass Personalentwicklungsangebote
„am eigentlichen Bedarf vorbei“ geplant werden, wodurch unnötige Kosten beziehungs-
weise nicht der erhoffte Nutzen entstehen. Beispiele hierfür sind Stresspräventionsan-
gebote an Führungskräfte, die diese wegen Termindruck oder mangels Zeit nicht wahr-
nehmen können. Auch angebotene Trainee-Programme sind nur dann nützlich, wenn es
tatsächlich auch zu Neueinstellungen geeigneter Bewerber/innen kommt, die dies nutzen
1 Einleitung 5
können. Ein drittes Beispiel wären individuelle Erholungsangebote an junge Eltern (wie
z. B. autogenes Training), die diese aufgrund ihrer beruflich-familiären Doppelbelastung
mangels verfügbarer Zeit nicht nutzen können (vgl. dazu Kap. 14 in diesem Band). Diesen
Beispielen ist gemeinsam, dass die gut gemeinten betrieblichen Angebote und die für ihre
Nutzung nötigen individuellen und betrieblichen Voraussetzungen nicht zusammenpassen
oder in der Planung nicht konsequent berücksichtigt wurden. Nur wenige Unternehmen
führen spezifische Bedarfs- oder Nutzungsanalysen durch, um herauszufinden, welche
Beschäftigtengruppen in ihrem Unternehmen überhaupt einen besonderen Handlungsbe-
darf im Hinblick auf personalwirtschaftliche Maßnahmen haben und welche Aktivitäten
geeignet sind, diese Beschäftigten gezielt zu unterstützen.
Ein lebensphasenorientiertes Personalmanagement geht im Gegensatz dazu gerade von
den unterschiedlichen privaten und beruflichen Lebensphasen aus. Es verknüpft diese
mit gegebenenfalls vorhandenen personalpolitischen Instrumenten und Maßnahmen und
ordnet diese neu. In der Literatur findet sich inzwischen eine ganze Reihe von personal-
wirtschaftlichen Konzepten, die sich an den individuellen Lebenszyklen beziehungsweise
-läufen von Beschäftigten orientieren (z. B. Graf 2008; Rump et al. 2014; Flüter-Hoff-
mann 2009; Sattelberger 1995). Sie sind sowohl mitarbeiter- wie auch unternehmensori-
entiert und verfolgen das Ziel, die Leistungsfähigkeit und -bereitschaft der Mitarbeitenden
über die gesamte Dauer ihrer Betriebszugehörigkeit zu fördern und erhalten (vgl. insge-
samt Graf 2008). Lebensphasenorientierte Ansätze sind darauf ausgerichtet, den Mitar-
beitenden in den unterschiedlichen Phasen jeweils ein Umfeld zu bieten, in dem sie die
sich wandelnden Anforderungen im beruflichen und privaten Bereich in Einklang bringen
können (Rump et al. 2014). Kerngedanke ist es, den Beschäftigten erweiterte Handlungs-
möglichkeiten für eine bessere Synchronisation von Arbeiten, Lernen und Leben in jeder
Phase ihres Lebens zu eröffnen. Durch diese Ausrichtung sollen die Innovationspotenziale
wichtiger Know-how-Träger auch in „anspruchsvollen“ Lebensepisoden für das Unter-
nehmen erschlossen und nutzbar gemacht werden. (vgl. Sattelberger 1995).
Das Lebensphasen-Konzept ist insofern als eine übergreifende personalwirtschaftliche
Perspektive zu betrachten, die verschiedene Zielsetzungen im Bereich des Human-Res-
source-Managements zu integrieren versucht und inhaltlich neu ausrichtet. Nach Rump
et al. (2011, S. 17) werden mit einem lebensphasenorientierten Personalmanagement vor
allen Dingen drei strategische Ziele verfolgt:
bestätigen (Hansen 2001a, b). So verweist beispielsweise eine Metaanalyse darauf, dass
unterschiedliche Werte und Vorstellungen in einem Team nicht unbedingt höhere Leistun-
gen, sondern häufig mehr Konflikte mit sich bringen (vgl. Jans 2004). Diese Forschungs-
resultate spiegeln wider, dass die Förderung der Innovationsfähigkeit in Organisationen
ein komplexer und voraussetzungsvoller Prozess ist, der allein über die Einwirkung auf
soziodemografische Variablen (wie z. B. die Erhöhung der Frauen- oder Migrant/innen-
quote) nicht zu verbessern ist.
Ein lebensphasenorientiertes Personalmanagement richtet sich nach unserem Verständ-
nis nicht nur auf die Erhöhung von personeller Vielfalt in Organisationen aus. Vielmehr
wird mit dem Konzept der Versuch unternommen, unternehmenshistorisch gewachsene
Normen, Werte und Regeln der Personalarbeit dort aufzubrechen, wo sich diese als dys-
funktional für die Erschließung von Leistungspotenzialen wie auch für die individuelle
Lebensführung erweisen. Im Mittelpunkt des lebensphasenorientierten Personalmanage-
ments steht damit das Ziel, Organisationen dazu zu befähigen, die Leistungs- und Inno-
vationspotenziale ihrer Beschäftigten unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen beruflichen
und persönlichen Lebensepisoden zu erschließen. Anders als bei manchen Diversity-Ma-
nagement-Konzepten, die eine solche Potenzialerschließung mit der Erzeugung von per-
soneller Vielfalt als beendet ansehen, werden in diesem Handbuch weiterführende Ana-
lysen und Konzepte zur Potenzialerschließung von hochqualifizierten Entwickler/inne/n
in bestimmten Lebensepisoden vorgestellt, zum Beispiel bei der Bewerberauswahl (vgl.
Kap. 11) oder der Karriereplanung (vgl. Kap. 4 und Kap. 13): Sie sollen im Unternehmen
Aufschluss darüber geben, in welchen Episoden der Berufs- und Lebenszyklen die Inno-
vationspotenziale ausgeschöpft und wo diese Leistungspotenziale nicht genutzt werden,
oder wo eine Übernutzung von Know-how-Trägern stattfindet, die deren psychische und
physische Gesundheit langfristig gefährdet (vgl. u. a. Moldaschl 2007; Gerlmaier und
Latniak 2005).
Ziel dieser neuen und differenzierten Betrachtung von Über- und Unternutzung sowie
der Entfaltung von Innovationspotenzialen ist es, die organisationalen Voraussetzungen
für eine bessere Bewältigung anspruchsvoller Arbeits- und Lebensepisoden – wie etwa
die erste Verantwortungsübernahme bei Berufseinsteigern, aber auch familiäre oder ge-
sundheitliche Krisen – zu schaffen. Lebensphasenorientiertes Personalmanagement in
diesem Sinn versteht sich als strategischer Managementansatz, der über eine Neustruk-
turierung von Personalentwicklungsmaßnahmen hinausgeht: Er erfordert gleichermaßen
zielgerichtete Interventionen auf den Ebenen der Unternehmenskommunikation, der Per-
sonalrekrutierung und -entwicklung, der Führung wie auch der Gestaltung von Tätigkei-
ten und Teamprozessen. Dies berührt die Aufbauorganisation, die Ablauforganisation und
vor allem das Wertesystem einer Organisation, ohne die eine solche Lebensphasenorien-
tierung nicht wirklich „gelebt“ werden kann (vgl. exemplarisch die Ergebnisse in Kap. 7
zu Diversity).
Gleichzeitig werden in den dargestellten Handlungsfeldern aber auch erste Spannungs-
verhältnisse in der betrieblichen Praxis erkennbar und aufgezeigt, die bei der Umsetzung
eines solchen integrierten lebensphasensensiblen Ansatzes zu berücksichtigen und zu be-
8 A. Gerlmaier und E. Latniak
In Kap. 12 wird von Christina Goesmann, Ute Peters und Ulrike Hellert in ihrem
Beitrag „KMU Lebensphasen-Check – Ein Instrument zur Messung der Lebensphasen-
orientierung“ vorgestellt, mit dem Organisationen Informationen darüber sammeln kön-
nen, welches Ausmaß tatsächlich gelebter Lebensphasenorientierung intern vorzufinden
ist. Ziel des Verfahrens ist es, das Thema Lebensphasenorientierung in seiner Bedeutung
und Ausgestaltung in den Dimensionen „Maßnahmen und Instrumente“, „Unternehmens-
kultur und Führung“ und „Employer Branding“ zu untersuchen. Hierzu werden die ver-
schiedenen Themen (Kategorien) und Ausprägungen eines lebensphasenorientierten Per-
sonalmanagements im Unternehmen erfasst. Dieses Vorgehen ermöglicht es Schlüsse zu
ziehen, inwiefern die vorhandenen Instrumente ihre Entsprechung in der Kultur des Unter-
nehmens haben und wirklich gelebt werden beziehungsweise inwiefern handlungsleitende
Werte und Normen zwar diffus existieren, jedoch keine Verankerung in konkreten Ver-
haltensweisen und Maßnahmen haben. Zudem kann mit Hilfe des Instruments festgestellt
werden, inwieweit und in welcher Form diese Maßnahmen und ihre Bedeutung in der
Unternehmenspraxis für ein gezieltes Employer Branding genutzt werden sollten.
Wie im Unternehmen Instrumente einer lebensphasensensiblen Laufbahngestaltung
umgesetzt werden können, stellen in Kap. 13 die Autor/innen Katrin Gül, Andreas Boes
und Tobias Kämpf vor. In ihrem Beitrag „Lebensphasensensible Entwicklungs- und Karri-
erekonzepte: Handlungsfelder, Ansätze und Tools“ geben sie auf Basis ihrer Untersuchun-
gen einen Überblick über die in den Unternehmen genutzten Instrumente einer lebenspha-
sensensiblen Personalpolitik, sowohl was die Vereinbarkeit von Arbeit und Leben als auch
was die Förderung der beruflichen Entfaltung angeht. Dabei arbeiten sie vier strategische
Handlungsfelder heraus, die eine zentrale Bedeutung für die Gestaltung lebensphasensen-
sibler Personalpolitik haben und die mit konkreten Handlungsmöglichkeiten und -beispie-
len hinterlegt werden. Dies sind die notwendige Entzerrung der „Rush-Hour des Lebens“,
die Öffnung von horizontalen beruflichen Entwicklungspfaden („Karrieren in die Breite“,
insbesondere von Fachkarrieren), die Nutzung von Potenzialen erfahrener Beschäftigter
gerade für das Innovationshandeln, und schließlich die Schaffung nachhaltiger Arbeitsbe-
dingungen.
Neben lebensphasenübergreifenden Konzepten zur Stressminderung und Erhaltung der
psychischen Gesundheit werden im Instrumententeil des Handbuches von Erich Latniak,
Anja Gerlmaier und Stephan Hinrichs in Kap. 14 evaluierte Instrumente für ein lebenspha-
sensensibles Erholungsmanagement vorgestellt. Im Beitrag werden drei Instrumente vor-
gestellt, die sich in den bei den Partnerbetrieben durchgeführten Präventionsworkshops
als besonders wirkungsvoll erwiesen haben. Hierbei handelt es sich um ein Instrument zur
Erhöhung der individuellen Achtsamkeit („Stressampel“), um Informationen zum Pausen-
management sowie ein Instrument zur Regeneration und Rekreation im Freizeitbereich
(„Checkliste positive Erlebnisse“). Ziel ist es, mit diesen Mitteln ein differenzielles und
individualisiertes Erholungsmanagement bezogen auf die jeweils konkrete Situation des/r
Betroffenen zu ermöglichen („Cafeteria-Ansatz“). Anhand der erhobenen Daten kann
gezeigt werden, dass Beschäftigte in Abhängigkeit von ihren spezifischen Arbeits- und
Lebensphasen unterschiedliche Präferenzen im Hinblick auf Stress-Präventionsangebote
1 Einleitung 13
besitzen und die Wirksamkeit der Methoden nicht unabhängig von der jeweiligen Lebens-
phase ist.
Was Unternehmen konkret tun können, um ein lebensphasenorientiertes Personalma-
nagement oder Elemente in Ihrem Unternehmen implementieren zu können, wird im letz-
ten Abschnitt mit betrieblichen Praxisbeispielen untermauert. In diesem Teil des Prakti-
ker-Handbuchs berichten HR-Verantwortliche und Betriebsrätinnen/Betriebsräte über die
verschiedenen Ansätze von Lebensphasenorientierung und wie damit gesunde und inno-
vative Entwicklungsarbeit in den unterschiedlichen Phasen der Erwerbsbiografie unter-
stützt werden kann.
Das erste Praxisbeispiel in Kap. 15 stammt aus der Pilkington AG. Marco Götz be-
richtet in seinem Beitrag über erste Erfahrungen aus dem Projekt „Demografischer Wan-
del und innovatives Personalmanagement in der Oberpfalz (GENIUS)“. Die Pilkington
Deutschland AG hat sich zum Ziel gesetzt, den zukünftigen Unternehmenserfolg zu si-
chern, indem negativen Auswirkungen des demografischen Wandels frühzeitig entgegen-
gewirkt wird. Im Mittelpunkt stehen drei Handlungsfelder: Unternehmenskultur, Wissens-
management und Gesundheit. Zielsetzung ist es, die gesamte Belegschaft über Folgen,
Konsequenzen, aber auch Chancen des demografischen Wandels aufzuklären und gemein-
sam Handlungsstrategien für die Region, das Unternehmen und die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter zu entwickeln. Im Beitrag wird über erste Erfahrungen berichtet, wie durch
Führungskräfte-Trainings die generationsübergreifende Kommunikations- und Interak-
tionskompetenz gefördert wird. Dabei wurde versucht, unreflektierte, einseitig negative
oder falsche Altersbilder und Stereotypien durch ausgewogene und zutreffende Vorstel-
lungen zu ersetzen, Dadurch soll eine faire und an den tatsächlichen Bedürfnissen der
Beschäftigten ausgerichtete Alterskultur im Unternehmen geschaffen werden. Im Bereich
des Wissensmanagements geht es in diesem Beispiel um die effiziente Wissenserfassung,
-darstellung sowie den Wissenstransfer zwischen den Generationen. Der Bereich Gesund-
heit beschäftigt sich schließlich mit der altersgerechten Gestaltung von Arbeitsplätzen in
Unternehmen. Der Autor beschreibt die Wirkungen dieser lebensphasensensiblen Perso-
nalentwicklungsaktivitäten für die Arbeitgeberattraktivität in einer von Fachkräftemangel
geprägten Region.
Im Kap. 16 berichtet Claus Hoffmann vom Fraunhofer-Institutszentrum Birlinghoven
über erste Erfahrungen, wie durch das Instrument der „Gefährdungsbeurteilung psychi-
sche Belastungen“ ein Beitrag zur Gesunderhaltung insbesondere von hochqualifizierten
Beschäftigten in der beruflichen Orientierungsphase gelingen kann. Ausgangspunkt des
Beitrages „Gesund bleiben von Anfang an – erste Erfahrungen des Betriebsrats am Fraun-
hofer Institutszentrum Birlinghoven mit der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belas-
tungen“ ist die Erfahrung, dass die Arbeitsbedingungen am Fraunhofer-Institut von den
Beschäftigten eigentlich als gut empfunden werden. Probleme bereitete dem Betriebsrat
allerdings, dass der hohe Arbeits- und Leistungsdruck und der dabei erlebte andauern-
de Stress, von dem gerade der Forschungsnachwuchs betroffen ist, eine gesundheitliche
Schädigung bei dieser Personengruppe hervorrufen könnte. Im Beitrag wird berichtet, in-
wieweit die Durchführung einer betrieblichen Gefährdungsanalyse mit dem Schwerpunkt
14 A. Gerlmaier und E. Latniak
Literatur
Aretz, H.-J., & Hansen, K. (2002). Diversity und Diversity-Management in Unternehmen. Eine Ana-
lyse aus systemtheoretischer Sicht. Münster: Lit Verlag.
Boes, A., Kämpf, T., & Trinks, K. (2011). Zeitenwende in der IT-Industrie: Vom Eldorado gesunder
Arbeit zur Burnout-Zone? In A. Gerlmaier & E. Latniak (Hrsg.), Burnout in der IT-Branche:
Ursachen und betriebliche Prävention (S. 19–52). Kröning: Asanger.
Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi). (2013). Engpassanalyse 2013. Besondere
Betroffenheit in den Berufsfeldern Energie und Elektro- sowie Maschinen- und Fahrzeugtech-
nik. Stand Mai 2013. http://www.bmwi.de/BMWi/Redaktion/PDF/Publikationen/fachkraefte/
enpassanalyse-2013,property=pdf,bereich=bmwi2012,sprache=de,rwb=true.pdf. Zugegriffen:
19. Feb. 2015.
1 Einleitung 15
2.1 Problemstellung
Forschungs- und Entwicklungsaufgaben (Tivig et al. 2013, S. 36). Es ist davon auszu-
gehen, dass dieser Fachkräftemangel trotz verstärkter Bemühungen um Ausbildung und
Zuwanderung aus dem Ausland auftreten wird. Gleiches gilt offenbar für spezifische Be-
reiche des IT-Sektors. Nach Angaben des Branchenverbands BITKOM (2013) wird be-
sonders für die IT-Anwendungsberatung, Softwareentwicklung und Programmierung ein
Spezialistenmangel in der Größenordnung von rund 39.000 Stellen konstatiert. Da zu
erwarten ist, dass sich zukünftig die Bedarfe gerade in den Entwicklungsbereichen eher
noch verstärken werden, werden sich auch entstehende Engpässe dort besonders bemerk-
bar machen (vgl. u.a. BA 2012; Bonin et al. 2007; Erdmann und Koppel 2009; VDI 2013).
Deshalb stellt sich die Frage, wie Unternehmen in Deutschland zukünftig in aus-
reichendem Umfang qualifizierte und innovative Mitarbeiter insbesondere für ihre
Entwicklungsbereiche rekrutieren und dauerhaft halten können. Neben eher gesell-
schaftlichen Ansatzpunkten wie der viel diskutierten Arbeitsmigration stellt ein demo-
grafiesensibles Personalmanagement der Unternehmen selbst einen wichtigen Ansatz-
punkt zur Bewältigung der demografischen Herausforderungen dar (Latniak 2013).
Instrumente wie ein systematisches Gesundheitsmanagement, familienfreundliche
Leistungsarrangements, demografiegerechte Karrierewege und diversitätsorientierte
Rekrutierungsstrategien sind Bestandteile einer solchen betrieblichen Personalpolitik.
Sie können dazu beitragen, dass die Innovationspotenziale der Mitarbeitenden in jeder
Lebensphase gefördert und weiterentwickelt werden und dabei gleichzeitig, im Sinne
eines Employer Branding, die Attraktivität des Unternehmens als Arbeitgeber erhöht
werden kann.
Im nachfolgenden Beitrag soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit die Innova-
tionspotenziale der Beschäftigten von den entwickelnden Unternehmen wirklich genutzt
werden. Von besonderem Interesse ist dabei, ob es Phasen innerhalb der Erwerbsbiografie
der untersuchten Berufsgruppen gibt, deren Leistungspotenzial nicht voll erschlossen wird.
Dazu werden die Ergebnisse umfangreicher Analysen von Beschäftigtenbefragungen dar-
gestellt, wobei besonderes Augenmerk auf die unterschiedlichen Arbeitslebensphasen in-
nerhalb der Erwerbsbiografien, wie etwa der Phase des Berufseinstiegs, der mittleren „Fa-
milien“-Phase oder dem späteren Erwerbsabschnitt, gelegt wurde. In der Untersuchung
analysieren wir die für die Technikentwicklung besonders wichtigen Berufsgruppen; dies
sind einerseits Informatiker/innen und IT-Fachkräfte, andererseits Ingenieur/innen sowie
Techniker/innen. Im Anschluss an diese Analyse werden erste Ansatzpunkte für weitere
betriebliche Aktivitäten aufgezeigt.
Zwei Einschränkungen sind bei den folgenden Darstellungen zu berücksichtigen.
Grundsätzlich werden diese Personengruppen auch in anderen betrieblichen Tätigkeits-
bereichen beschäftigt; die verfügbaren Daten lassen hier aber keine differenziertere Aus-
wertung zu. Zudem ist festzuhalten, dass die Analyse berufsbezogene Entwicklungen im
Bereich der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung aufdeckt. Sie lässt darum nur
indirekte Rückschlüsse auf konkrete personalpolitische Praktiken in Unternehmen zu.
2 Entwicklungsberufe im demografischen Wandel 21
Abb. 2.1 Beschäftigtenzahlen 2000 bis 2011 von Ingenieur/innen, DV-Spezialisten und Techniker/
innen. (Quelle: IAB (o. J.). Berufe im Spiegel der Statistik; eigene Berechnungen)
2.2 Vorgehen
1
Dabei wurden die für die Entwicklungsbereiche einschlägigen Berufsgruppen untersucht, etwa
bei den Ingenieuren die Berufsgruppen 601, 602 und 607 der Klassifikation der Berufe, während
die Bau- und Vermessungsingenieure (603, 604) und Bergbau (605) nicht berücksichtigt wurden.
Ähnlich war die Auswahl bei den Technikern (611, 622, 626). Für die DV-Fachleute wurde die
Berufsgruppe 774 gewählt.
22 A. Gerlmaier et al.
2
Aus Datenschutzgründen erfolgte die Auswertung der Mikrozensus-Daten im Datenzentrum der
FOM. Wir danken den Kolleginnen und Kollegen um Prof. Dr. Bianca Krol für ihre tatkräftige
Unterstützung.
2 Entwicklungsberufe im demografischen Wandel 23
zeitbeschäftigung, sowie der Einfluss des Faktors „Kind im Haushalt“ auf die Erwerbs-
tätigkeit, hier im Vergleich der Jahre 2000 und 2009.
Als Indikator für die Erwerbschancen von Fachkräften in den untersuchten Berufsgrup-
pen wurden die Berufseintritte aus der Erwerbslosigkeit und die Berufsaustritte aus einer
Beschäftigung mit Hilfe der Beschäftigtenstichprobe der Deutschen Rentenversicherung
analysiert. Auch hier erfolgte die Untersuchung nach Erwerbsabschnitten und in einem
Vergleich zweier Messzeitpunkte.3
Der Einstieg in den Beruf und die ersten Jahre der beruflichen Orientierung sind die Pha-
se der Berufsbiografie mit den meisten Veränderungen und Wechseln (vgl. Abb. 2.2).
Betrachtet man die untersuchten Berufsgruppen, so wechseln bis zum Alter von 29 Jah-
Abb. 2.2 Verbleibquoten im Beruf, Zeitraum 2009 bis 2010, untersuchte Berufe und restliche
Erwerbsbevölkerung. (Quelle: Deutsche Rentenversicherung (2014). SUF_AKVS2012; eigene
Berechnungen)
3
Zur generellen Entwicklung der Arbeitsmarktdynamik in den vergangenen Jahren vgl. im Über-
blick Knuth 2014.
24 A. Gerlmaier et al.
Abb. 2.3 Wechsel in eine andere Tätigkeit im Erwerbsverlauf; Vergleich untersuchte Berufe und
restliche Erwerbsbevölkerung. (Quelle: Deutsche Rentenversicherung (2014). SUF_AKVS2012;
eigene Berechnungen)
Tab. 2.1 „sonstige Wechsel“ (Abwanderung ins Ausland, Selbstständigkeit usw.) 2012 bis 2004,
Ingenieure/innen, DV-Fachleute, restliche Erwerbsbevölkerung. Quelle: Deutsche Rentenversi-
cherung (2014), SUF_AKVS2012 und SUF_AKVS2004; eigene Berechnungen (der Prozentwert
bezieht sich auf die Statusänderung zum Vorjahr)
Bis 29 30–39 40–49 50–59 Über 60
Jahre (%) Jahre (%) Jahre (%) Jahre (%) Jahre (%)
Ingenieure/innen 2012 4,78 4,3 1,3 0,97 0,8
Ingenieure/innen 2004 4,82 1,49 1,18 1,40 0
Techniker/innen 2012 9,97 3,69 1,14 1,02 1,77
Techniker/innen 2004 16,92 9,32 5,4 2,68 3,26
DV-Fachleute 2012 6,67 3,83 2,2 1,33 1,08
DV-Fachleute 2004 6,76 3,12 1,42 1,71 1,69
Alle Berufe 2012 8,22 5,27 1,54 1,13 1,02
Alle Berufe 2004 8,98 4,2 1,97 1,56 1,6
26 A. Gerlmaier et al.
Tab. 2.2 Wechsel in und aus der Erwerbslosigkeit 2011 bis 2012: untersuchte Berufe und gesamte
Erwerbsbevölkerung im Alter bis 29 Jahre. Quelle: Deutsche Rentenversicherung (2014), SUF_
AKVS2012; eigene Berechnungen
Alter bis 29 Jahre Wechsel in die Erwerbslosigkeit Wechsel aus der Erwerbslosigkeit
(%) (%)
Ingenieure/innen 0,8 0,6
Techniker/innen 0,5 0,7
DV-Fachleute 0,8 0,6
Alle Berufe 1,7 1,4
nen, Techniker/innen und DV-Fachleute gleichermaßen (mit 0,6 bis 0,7 %) deutlich unter
dem Schnitt von 1,4 %.
Für die Entwicklung des Fachkräftepotenzials von Frauen in den untersuchten Berufs-
gruppen in der Lebensphase des Berufseinstiegs zeigen die Daten, dass die Quote weib-
licher Studienanfängerinnen in den Bereichen Informatik und Ingenieurwissenschaften
mit 21 % beziehungsweise 13 % im Jahr 2013 zwar noch relativ niedrig ist, sich aber in
den letzten Jahren leicht erhöht hat. Vergleicht man darüber hinaus die Zahlen der Stu-
dieneinsteigerinnen und der Absolventinnen, so zeigt sich, dass es bei den weiblichen
Studierenden in technischen Fächern offenbar keine höheren Abbruchquoten gibt als bei
den männliche Studierenden (vgl. Abb. 2.4).
Fasst man die Ergebnisse aus der Phase des beruflichen Einstiegs zusammen, so zeigt
sich für die drei untersuchten Berufsgruppen eine relativ große Stabilität der Beschäfti-
gung, da insgesamt eine geringe Abwanderungstendenz festzustellen ist. Insbesondere bei
den Ingenieur/-innen besteht in dieser Phase eine sehr geringe Wechselquote, die über den
ganzen Erwerbsverlauf stabil niedrig bleibt. Diese Berufsgruppen haben auch in jungen
Jahren sehr gute Chancen, aus einer Erwerbslosigkeit schnell wieder in eine fachspezi-
fische Tätigkeit zu wechseln. Auch scheint der Einstieg in den Beruf für junge weibli-
che Fachkräfte in diesen Berufen keine grundsätzliche Barriere darzustellen. Betrachtet
man die Anteile weiblicher Beschäftigter unter 30 Jahren innerhalb der Beschäftigten mit
Hochschul-/FH-Abschluss, so ist ihr Anteil mit über 52 % relativ hoch in Relation zu den
dargestellten Studierendenzahlen. Dieser Anteil weiblicher Beschäftigung wird in keiner
anderen Altersspanne übertroffen, wenn man das gesamte Arbeitsleben betrachtet (vgl.
Abb. 2.5). Dies, und die verglichen mit den Abschlüssen hohe Quote weiblicher Beschäf-
tigter deuten darauf hin, dass gegenwärtig die vorhandenen weiblichen Fachkräftepoten-
ziale dieser Erwerbsphase seitens der Unternehmen weitgehend genutzt werden.
Der mittlere Erwerbsabschnitt mit den Altersgruppen der 30- bis 49-Jährigen ist für viele
Erwerbstätige durch die Herausforderung gekennzeichnet, sich beruflich zu etablieren und
gleichzeitig die Weichenstellungen dafür zu treffen, einen Lebensentwurf mit oder ohne
2 Entwicklungsberufe im demografischen Wandel 27
Abb. 2.4 Anteil der Frauen bei Studienanfängern und Absolventen. (Quelle: Statistisches Bundes-
amt (o. J.). Genesis Tabellen 21311-0012, 21321-0003; eigene Berechnungen)
Abb. 2.5 Anteil von Frauen innerhalb der Beschäftigten mit akademischem Abschluss in den
untersuchten Berufen im Erwerbsverlauf. (Quelle: Deutsche Rentenversicherung (2014). SUF_
AKVS2012; eigene Berechnungen)
28 A. Gerlmaier et al.
Familie umzusetzen. Zwar zeichnet sich seit Jahren ab, dass sich die Zeiten der Familien-
gründung je nach Lebensentwurf und Qualifikationsniveau zunehmend ausdifferenzieren.
Dennoch ist dieser mittlere Erwerbsabschnitt zweifellos die Phase in der Erwerbsbiogra-
fie, die viele Beschäftigte als „Rush-Hour des Lebens“ erfahren. Wie gelingt es den Be-
schäftigten in den von uns untersuchten Berufen, den Spagat zwischen beruflichen Anfor-
derungen und Karriereambitionen einerseits und Bedürfnissen und Notwendigkeiten der
Familiengründung andererseits zu bewältigen?
Die nähere Betrachtung der Beschäftigtenquoten bei den mittleren Altersgruppen zeigt,
dass in allen drei untersuchten Entwicklerberufen eine hohe Beschäftigungsstabilität vor-
zufinden ist. Die höchste Verweilquote in ihrer Tätigkeit haben dabei wieder die Inge-
nieure/innen. Während in der erwerbstätigen Bevölkerung bei den 30- bis 49-Jährigen der
Anteil der Berufswechsler bei etwa 25 % konstant bleibt, liegen die Wechselquoten im
Bereich der Technikentwicklung deutlich niedriger (im Bereich von 8 bis 13 % bei den
30- bis 39-Jährigen), sinken dann aber im Vergleich zu den restlichen Erwerbstätigen, auf
6 bis 9 % bei den 40- bis 49-Jährigen.
Bezogen auf die Ein- und Austritte aus der Erwerbslosigkeit zeigt sich im Zeitraum
2011/2012 bei den Ingenieur/-innen zwischen 30 und 39 Jahren weiterhin die für sie güns-
tige Situation geringer Austritte in die Arbeitslosigkeit (1,1 %), während die Quote des
Wechsels in Beschäftigung bei 0,3 % lag. Bei den Techniker/innen lagen die Ein- und
Austritte in/aus der Erwerbslosigkeit ähnlich wie bei den Ingenieur/-innen bei rund 1,1 %
beziehungsweise 0,6 %, bei den DV-Fachleuten blieben sie annähernd auf gleichem Ni-
veau. Insgesamt ist die Wechselsituation für die Beschäftigten in dieser Altersgruppe
deutlich günstiger als für die restliche Erwerbsbevölkerung. Für die Altersgruppe der 40-
bis 49-Jährigen stellt sich diese Situation in der Tendenz ähnlich dar. Lediglich für die
Techniker/innen ergeben sich für den Wechsel in die Erwerbslosigkeit leicht ungünstigere
Quoten als aus der Erwerbslosigkeit – allerdings bei insgesamt sehr geringer Dynamik
(vgl. Tab. 2.3).
Auffällig ist allerdings, dass sich im mittleren Erwerbsabschnitt die Beschäftigungs-
muster von Männern und Frauen in den Entwicklungsberufen stark ausdifferenzieren.
Ingenieurinnen und Technikerinnen weisen in dieser Erwerbsphase Einbrüche in der Be-
Tab. 2.3 Ein- und Austritte aus der Erwerbslosigkeit im Alter zwischen 30 und 50 Jahren: unter-
suchte Berufe und gesamte Erwerbsbevölkerung; Jahr 2011/2012. (Quelle: Deutsche Rentenversi-
cherung (2014), SUF_AKVS2012; eigene Berechnungen)
Wechsel in die Erwerbslosigkeit Wechsel aus der Erwerbslosigkeit
30–39 Jahre (%) 40–49 Jahre (%) 30–39 Jahre (%) 40–49 Jahre (%)
Ingenieure/innen 1,1 1,0 0,3 0,5
Techniker/innen 1,1 1,9 0,6 0,2
DV-Fachleute 1,3 1,4 0,4 0,7
Alle Berufe 2,5 2,4 2,3 1,9
2 Entwicklungsberufe im demografischen Wandel 29
schäftigtenquote ab einem Alter von 30 Jahren auf (vgl. Abb. 2.5). Dieser Einbruch findet
sich bei männlichen Beschäftigten in den untersuchten Berufsgruppen nicht. Es ist davon
auszugehen, dass dieser Rückgang weiblicher Beschäftigung auf Kindererziehungszei-
ten zurückzuführen ist, die offenbar nach wie vor schwerpunktmäßig von den weiblichen
Fachkräften getragen werden (vgl. insgesamt DGB 2013).
Innerhalb der drei untersuchten Berufe gibt es jedoch Unterschiede, wie diese Phase
bewältigt wird, in der in der Regel die Familiengründung stattfindet. Während bei den
Technikerinnen nach einem Beschäftigungseinbruch in der Altersgruppe von 30 bis 39
Jahren dieser Anteil von etwa 10 % in den nachfolgenden Altersgruppen konstant bleibt,
ist der Anteil der Ingenieurinnen in den höheren Altersgruppen geringer. Dies deutet dar-
auf hin, dass viele Ingenieurinnen offenbar nach den Kindererziehungszeiten nicht in ih-
ren Ursprungsberuf zurückkehren. Bei den DV-Expertinnen ergibt der Gruppenvergleich
ein gänzlich anderes Muster: Hier bleibt die Beschäftigtenquote relativ konstant über alle
Altersgruppen.
Ein Vergleich der Voll- und Teilzeitquoten der drei Berufsgruppen über alle Alters-
gruppen zeigt, dass verglichen mit den anderen Beschäftigten eine unterdurchschnittliche
Nutzung von Teilzeit-Beschäftigung stattfindet. Dabei nutzen weibliche Beschäftigte an-
teilig insgesamt häufiger Teilzeit-Modelle als männliche. Lagen die Quoten 2009 bei den
Männern zwischen 2,6 % (Ingenieure) und 5,3 % (Informatiker) verglichen mit 5,4 % bei
den anderen männlichen Beschäftigten, so betrugen sie bei den Ingenieurinnen 19,3 %,
bei Informatikerinnen 23,4 % und bei Technikerinnen 28 % (verglichen mit 38,1 % bei
den anderen weiblichen Beschäftigten). Die Teilzeit-Nutzung hat zwar für Ingenieurinnen
und Technikerinnen seit 2000 zugenommen. Bei den DV-Expertinnen ist der Anteil der
Teilzeitbeschäftigung in den letzten Jahren aber erheblich gesunken. Dies spricht für eine
starke Tendenz in Richtung Vollzeit-Beschäftigung für diese Berufsgruppe (Quelle: eige-
ne Berechnung auf Basis der Daten des Mikrozensus 2000 und 2009).
Für die Frage nach dem Einfluss eines Kindes im Haushalt auf die Beschäftigung ergab
die Auswertung der Mikrozensus-Daten, dass der Anteil der weiblichen Beschäftigten mit
Kind bei den Ingenieuren von 2000 bis 2009 von 40 auf 45 % zunahm, während er bei den
Informatikerinnen von 48 auf 44 % sank. Weiter zeigt der Vergleich, dass heute Frauen im
Bereich der Technikentwicklung etwa fünf Jahre später Kinder haben (Spitzenwerte in der
Altersgruppe von 41 bis 45 Jahren), als das im Jahr 2000 der Fall war.
Fasst man die Ergebnisse aus dem mittleren Erwerbsabschnitt zusammen, so finden
sich für die Entwicklungsberufe zunächst einmal keine Hinweise darauf, dass den Unter-
nehmen in substanziellem Maße Innovationspotenziale durch Abwanderung (in andere
Berufe, in die Selbstständigkeit oder ins Ausland) verloren gehen. Dies gilt allerdings vor
allem für männliche Beschäftigte. Technikerinnen und Ingenieurinnen in diesem Abschnitt
ihrer Berufsbiografie schränken ihre Beschäftigung anscheinend zugunsten der Kinderer-
ziehung ein. Dabei gilt dies eher vorübergehend für Technikerinnen, während Ingenieu-
rinnen offenbar ihre Ursprungsbeschäftigung häufiger ganz aufgeben. DV-Spezialistinnen
scheinen Probleme bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf in dieser Lebensphase
häufig dadurch zu umgehen, dass sie keine Familie gründen.
30 A. Gerlmaier et al.
Der spätere Erwerbsabschnitt zwischen 50 Jahren und dem Erwerbsaustritt gehört hin-
sichtlich der Beschäftigungsperspektiven zu den ambivalentesten innerhalb der Erwerbs-
biografie. Viele Beschäftigte sind in dieser Altersgruppe auf dem „Plateau“ ihrer Erwerbs-
biografie angekommen, haben berufliche Ziele erreicht und verfügen über gute Verdienst-
möglichkeiten. Andere wiederum erleben erste Einschränkungen ihrer Arbeitsfähigkeit
und damit verbundene Beschäftigungsrisiken. Sie sind unter Umständen mit einem vor-
zeitigen Ende ihrer beruflichen Entwicklung konfrontiert oder finden nach Entlassungs-
wellen nur schwer wieder den Einstieg in ihren alten Beruf. Wie gestaltet sich der spätere
Erwerbsabschnitt für die Technikentwickler? (Tab. 2.4).
Die Analysen zur Nutzung der Arbeitskräftepotenziale ergeben ein zwiespältiges Bild:
Im Hinblick auf die Tätigkeitswechsel zeigt sich für die drei untersuchten Berufsgruppen
weiterhin ein Bild großer Stabilität im Vergleich zu den restlichen Erwerbsgruppen. Auf-
fällig ist allerdings, dass in alle drei untersuchten Berufsgruppen die Spanne zwischen
dem Wechsel in die Arbeitslosigkeit zum Wechsel aus der Arbeitslosigkeit erhöht (vgl.
Tab. 2.4).
Die Beschäftigungsquote insbesondere älterer Ingenieurinnen liegt nur noch etwa halb
so hoch wie bei den Berufseinsteigerinnen. Auch die Quote älterer Technikerinnen ist
deutlich niedriger als die der Berufseinsteigerinnen (vgl. Abb. 2.5). Dieser Trend ist bei
der restlichen Erwerbsbevölkerung so ausgeprägt nicht zu beobachten.
Die Mobilität in eine Erwerbslosigkeit beziehungsweise aus einer Erwerbslosigkeit he-
raus gibt Hinweise auf eine Beschäftigungsdynamik, lässt jedoch keine Rückschlüsse auf
das Ausmaß der Erwerbslosigkeit in dieser Altersspanne zu. Betrachtet man die absoluten
Erwerbslosenzahlen des Institutes für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (2011) für die
drei Entwicklerberufsgruppen, so erhält man Hinweise darauf, in welchem Ausmaß ältere
Fachkräfte dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, die bisher ungenutzt sind (Tab. 2.5).
Hier zeigt sich, dass zum Stichtag 31.12.2011 insgesamt 7.100 IT-Spezialisten (Arbeits-
losenquote 6,2 %), 5.900 Ingenieure (4,0 %) und 3.800 Techniker (4,1 %) erwerbslos ge-
meldet waren. Im Vergleich zu der Gruppe der Berufseinsteiger/innen ist die Erwerbslo-
senquote bei den über 50-Jährigen im Bereich der Technikentwicklung also etwa 1,5-fach
höher. In diesen Berufsgruppen kann also in der Gruppe der über 50-Jährigen ein un-
genutztes Arbeitskräftepotenzial in Höhe von etwa 16.800 Personen beobachtet werden.
2 Entwicklungsberufe im demografischen Wandel 31
Tab. 2.4 Ein- und Austritte aus der Erwerbslosigkeit ab 50 Jahre; untersuchte Berufe und gesamte
Erwerbsbevölkerung; Jahr 2011/2012. (Quelle: Deutsche Rentenversicherung (20149, SUF_
AKVS2012; eigene Berechnungen))
Wechsel in die Erwerbslosigkeit Wechsel aus der Erwerbslosigkeit
50–59 Jahre (%) Ab 60 Jahre (%) 50–59 Jahre (%) Ab 60 Jahre (%)
Ingenieure/innen 1,5 1,9 0,7 1,1
Techniker/innen 2,8 2,5 0,7 1,4
DV-Fachleute 2,0 2,2 1,1 0
Alle Berufe 2,9 3,1 1,8 1,1
Die Ergebnisse der Erwerbsabschnittsanalysen für Berufe aus dem Bereich der Technik-
entwicklung zeigen zunächst, dass die Erwerbsbiografien der untersuchten Beschäftigten-
gruppen im Vergleich zu anderen Beschäftigten insgesamt stabiler sind. Dennoch deuten
die Analysen auch auf ungenutzte Potenziale hin, die von den Unternehmen zur besseren
Fachkräftesicherung erschlossen werden könnten.
Für die Phase des Berufseinstiegs und der beruflichen Orientierung zeigte sich zunächst
eine relative Beschäftigungsstabilität, insbesondere bei den Ingenieure/innen, die bei die-
ser Gruppe über den ganzen Erwerbsverlauf erhalten bleibt. Auch bei den DV-Fachleuten
sind die Wechselwerte in dieser Erwerbsphase günstiger als bei der restlichen Erwerbsbe-
völkerung. Dennoch finden Berufswechsel in den untersuchten Berufsgruppen vor allem
in dieser Phase statt; die relativ höchsten Wechselquoten weisen dabei die Techniker/innen
auf. Diese Befunde sprechen dafür, dass es in dieser Erwerbsphase nur geringe Verluste an
Arbeits- und Innovationspotenzialen gibt. Man kann insofern insgesamt von einer weit-
gehenden Nutzung des Beschäftigungspotenzials in dieser Erwerbsphase ausgehen.
Für die mittlere Erwerbsphase zeigen sich Unterschiede besonders zwischen männ-
lichen und weiblichen Beschäftigungsverläufen. Bei den Männern findet sich stabile Be-
schäftigung und dominierend Vollzeit-Tätigkeit; die Teilzeit-Nutzung ist im Vergleich zu
anderen Berufen insgesamt geringer und wird (wie dort auch) vorwiegend von weiblichen
Beschäftigten genutzt. Mit zunehmendem Alter nimmt bei den Ingenieurinnen die Be-
32 A. Gerlmaier et al.
schäftigungsquote deutlich ab („Babyknick“), während sie bei den Technikerinnen und bei
den IT-Spezialistinnen bis zum Alter von 60 Jahren fast gleich bleibt.
Auffällig ist eine abnehmende Teilzeit-Nutzung bei Informatikerinnen in den letzten Jah-
ren, die einer leichten Zunahme der Teilzeit-Nutzung bei Ingenieurinnen und Technikerinnen
gegenübersteht. Die Teilzeit-Entwicklungen in den Berufsgruppen verweisen darauf, dass in
den Tätigkeitsbereichen offenbar unterschiedliche betriebliche Leistungsanforderungen ver-
folgt werden, die insbesondere im IT-Bereich eher zur Vollzeit-Beschäftigung führen. Teil-
zeit-Angebote, wie sie viele Unternehmen machen, können zwar zur besseren Erschließung
weiterer Beschäftigungspotenziale genutzt werden. Deren Erfolg entscheidet sich aber letzt-
lich an konkreten Kapazitätsplanungen und Leistungsanforderungen in den Unternehmen,
die einer Teilzeit-Nutzung bisher offenbar nicht gerade förderlich waren. Als mögliches be-
triebliches Gestaltungsfeld für diese Erwerbsphase zeichnet sich für die Betriebe ab, nicht
nur die Möglichkeit von Teilzeittätigkeit anzubieten, sondern diese Angebote noch besser
als bisher konkret umsetz- und nutzbar zu machen, etwa durch eine entsprechende Planung
des Personaleinsatzes und der -kapazität. Familienfreundlichere Leistungsarrangements ge-
rade im mittleren Erwerbsabschnitt könnten dazu beitragen, dass mehr weibliche Fachkräf-
te ihre Tätigkeit durchgängig ausüben. So könnte interessierten, insbesondere weiblichen
Fachkräften eine (frühere) Rückkehr in ihre Tätigkeit erleichtert werden.
Für die Entwicklerberufe lässt sich für den späteren Erwerbsabschnitt festhalten, dass sich
hier im Vergleich aller Berufe bei den 50- bis 59-jährigen Ingenieuren und DV-Fachleuten
zwar geringere Werte beim Wechsel in Arbeitslosigkeit feststellen lassen (die Techniker/innen
liegen hier fast im Mittel), allerdings sind auch die Wiedereintrittswerte bei dieser Altersgrup-
pe deutlich niedriger als im Durchschnitt aller Beruf. Insgesamt gibt es in dieser Altersgruppe
ein Potenzial in der Größenordnung von bundesweit insgesamt etwa 16.000 Beschäftigten für
die drei Berufsgruppen, die für suchende Unternehmen erschlossen werden können.
Der verstärkte Einsatz arbeitslebensphasenorientierter Personalmanagementinstrumen-
te wie familienfreundlicherer Leistungsarrangements oder die Rekrutierung Älterer könn-
te einen wichtigen Beitrag dazu leisten, damit entwickelnde Unternehmen auch in Zeiten,
in denen die Effekte des demografischen Wandels zunehmend auf die Personalpolitik der
Unternehmen durchschlagen, zukunftssicher aufgestellt sind.
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Anja Gerlmaier
A. Gerlmaier ()
Universität Duisburg-Essen, Institut Arbeit und Qualifikation,
Gebäude LE, 47048 Duisburg, Deutschland
E-Mail: anja.gerlmaier@uni-due.de
Trägern zu wenig Zeit zur Regeneration und Weiterentwicklung ihrer Kompetenzen ge-
währt und ihnen keine gangbaren individuellen beruflichen Entwicklungswege aufzeigt.
Ein nachhaltiges Innovationsmanagement verlangt folglich nicht nur intelligente
Unternehmensstrukturen und -prozesse (Projektmanagement) und einen Pool „schlauer
Köpfe“. Es muss im gleichen Maße ein Augenmerk auf die Verwertung ihrer Talente im
alltäglichen Prozess der Leistungserbringung richten und hier Arbeitsvoraussetzungen
schaffen, in denen Intuition und Wissen weiterentwickelt werden und dem gesundheit-
lichen Verschleiß vorgebeugt wird. Dies erfordert ein systematisches Personalmanage-
mentkonzept, das Prozesse der Führung, Arbeitsgestaltung, Personaleinsatzplanung und
Technikentwicklung als integrative Bestandteile der Unternehmensstrategie begreift und
eine stetige Verzahnung dieser komplementären Prozesse vorantreibt.
Aus der Innovationsforschung ist bekannt, dass die Aktivierung der Kernelemente kreati-
ven Handelns – Expertise, intrinsische Motivation – in erheblichem Maße vom organisati-
onalen Handlungsrahmen (innovationsfreundliche Organisationskulturen und -strukturen)
determiniert wird. Sowohl die kognitiv-physiologischen Leistungsvoraussetzungen, die
individuellen Motivstrukturen und sozialen Bedürfnisse sowie die Kompetenzen eines
Mitarbeitenden sind im Laufe des Erwerbslebens einem Wandlungsprozess ausgesetzt –
wie sich auch Organisationen heute in einem ständigen Zyklus der Erneuerung befinden.
Zu wenig Beachtung findet in diesem Zusammenhang, dass Arbeits- und Leistungsarran-
gements, die bei jungen Beschäftigten zu einer hohen intrinsischen Motivation führen
und kreatives Handeln befördern, bei älteren Beschäftigten nicht unbedingt die gleichen
Effekte im Hinblick auf eine Potenzialerschließung bewirken müssen. So können bei-
spielsweise erfolgsabhängige Vergütungssysteme von Beschäftigten, die sich in einer ge-
sundheitlichen Krise befinden, eher als überfordernd denn als motivierend erlebt werden.
Die im Wechselspiel von Individuum und Organisationen angelegte Dynamik steht
jedoch in vielen Unternehmen einer Personalmanagementpraxis gegenüber, die noch im-
mer auf standardisierten Karrierepfaden, Belohnungssystemen und Arbeitsplatzbeschrei-
bungen beruht und „blind“ ist für Besonderheiten individueller Arbeits- beziehungsweise
Lebenslagen ihrer Innovationsträger. Dies hat in der Vergangenheit sicherlich dazu beige-
tragen, dass sich gerade in Hightech-Unternehmen hoch selektive Beschäftigtengruppen
(jung, männlich) gebildet haben.
Eine arbeitslebensphasensensible Personalarbeit kann hier dazu beitragen, neue Be-
schäftigtengruppen zu rekrutieren, die Innovationskraft des vorhandenen Personals zu er-
halten und dauerhaft zu sichern.
Innerhalb der Literatur finden sich inzwischen eine Reihe von personalwirtschaftli-
chen Konzepten, die sich am Lebenszyklus von Beschäftigten orientieren (Graf 2008;
Rump et al. 2008; Flüter-Hoffmann 2009). Die lebenszyklusorientierte Personalentwick-
lung ist generell dadurch gekennzeichnet, dass sie sich am individuellen Lebenszyklus
38 A. Gerlmaier
der Mitarbeitenden orientiert. Sie umfasst alle informations-, bildungs- und stellenbezo-
genen Personalentwicklungs(PE)-Maßnahmen, die zur gezielten Entwicklung sämtlicher
Mitarbeitenden eines Unternehmens während ihres gesamten betrieblichen Lebenszyklus
dienen (Graf 2008). Sie versteht sich als mitarbeiter- als auch unternehmensorientiert und
verfolgt das Ziel, die Leistungsfähigkeit und -bereitschaft während der gesamten Dauer
der Betriebszugehörigkeit von Mitarbeitenden zu fördern und erhalten (Graf 2008).
Kerngedanke ist es, je nach Lebenszyklus den Beschäftigten Handlungsmöglichkeiten
zu eröffnen, eine bessere Balance von Arbeiten, Lernen und Leben zu erreichen. Durch
diese Strategie sollen die Innovationspotenziale wichtiger Know-how-Träger im Unter-
nehmen auch in „anspruchsvollen“ Lebensepisoden für das Unternehmen nutzbar sein
(vgl. Sattelberger 1995).
3.3 Der Lebenszyklus-Ansatz
Mit dem Begriff „Lebenszyklus“ werden die typischerweise durchlaufenen und somit recht
genau prognostizierbaren quantitativen und qualitativen Veränderungen im Zeitablauf be-
schrieben (Graf 2008). In der Literatur werden je nach Konzept und Gegenstandsbereich
verschiedene Phasen unterschieden, die durch bestimmte Merkmale oder Merkmalskom-
binationen (phasentypische Gesetzmäßigkeiten) charakterisiert sind. Gegenstandsbereich
können dabei Statuspassagen, Übergänge, Entwicklungsaufgaben oder auch anspruchs-
volle Lebensereignisse sein. Von zentraler Bedeutung ist, dass die jeweils definierten Pha-
sen nicht als starre Konstrukte mit einem klar festgelegten zeitlichen Rahmen angesehen
werden, sondern es sich um Episoden handelt, aus denen sich ein Individuum auch wieder
herausbewegen kann.
Die meisten Lebenszykluskonzepte beinhalten mehrere Teilzyklen, die nebeneinander
laufen und miteinander verschränkt sind. Im Folgenden werden für den individuellen Le-
benszyklus eines Menschen drei verschiedene (Teil-)Lebenszyklen unterschieden (andere
Konzepte finden sich auch bei Sattelberger 1995 sowie Schein 1978). Zu den wichtigsten
Lebensfeldern gehören die individuelle Entwicklung der Leistungsfähigkeit (biosozialer
Lebenszyklus), der Familie (familiärer Lebenszyklus) und der beruflichen Laufbahn, die
den beruflichen, betrieblichen und stellenbezogenen Lebenszyklus betrachtet.
Einen Überblick über die verschiedenen Phasen des Lebenszyklus gibt Abb. 3.1.
und die Bearbeitung von Aufgaben, die das Arbeitsgedächtnis stark beanspruchen, für das
junge Erwachsenenalter die höchsten Leistungspotenziale. Studien zufolge wird das Leis-
tungsplateau im Alter zwischen 30 und 40 Jahren erreicht und sinkt dann kontinuierlich ab
(Freude et al. 2009; Gajewski und Falkenstein 2011). Andere Fähigkeiten und Kompeten-
zen können mit dem Alter aber auch ansteigen und Einbußen in anderen Leistungsberei-
chen kompensieren (vgl. Tab. 3.1). Ein Kompendium des Wandels der Leistungsfähigkeit
in der Erwerbsspanne für betriebliche Praktiker findet sich auch bei Jaeger (2013).
Tab. 3.1 Veränderungen der Leistungsfähigkeit im Alter. Quelle: nach Bruggmann (2000)
Zunehmend Gleich bleibend Abnehmend
Lebens- und Berufserfahrung, Leistungs- und Körperliche Leistungsfähigkeit
betriebsspezifisches Wissen Zielorientierung (Hören, Sehen, Muskelkraft)
Urteilsfähigkeit Systemdenken Geistige Beweglichkeit
Zuverlässigkeit Kreativität Geschwindigkeit der
Informationsaufnahme/
-verarbeitung
Qualitätsbewusstsein Entscheidungsfähigkeit Kurzzeitgedächtnis
Konfliktfähigkeit
Pflicht- und
Verantwortungsbewusstsein
Angst vor Veränderungen
40 A. Gerlmaier
Im Hinblick auf die Innovationsfähigkeit gibt es bisher keine eindeutigen Befunde über
lebensphasenspezifische Veränderungen, was auch daran liegen dürfte, dass es sich nicht
um eine Fähigkeit, sondern um ein mehrdimensionales Merkmalsbündel handelt. Schuler
und Görlich (2007) gehen davon aus, dass Wissenschaftler in der mittleren Erwerbsspanne
das höchste Maß an Innovationsfähigkeit erreichen. Sie begründen dies mit Biografie-
Analysen berühmter Wissenschaftler, die ihre zentralen Innovationen in diesem Alters-
bereich veröffentlichten. Aktuelle Analysen zum Innovationshandeln legen gerade für den
Bereich des Maschinenbaus nahe, dass das Ausmaß an Erfahrung und Expertise mit der
Dauer der beruflichen Tätigkeit ansteigt und gerade ältere Beschäftigte ein hohes Ausmaß
an erfahrungsbasierten Innovationshandeln aufweisen (Böhle et al. 2012).
Ähnlich wie die Leistungsvoraussetzungen verändern sich auch Motivstrukturen im
Laufe des Lebens. Studien zeigen etwa, dass in der beruflichen Orientierungsphase fi-
nanzielle Anreize wie Boni oder variable Entgeltstrukturen einen positiven Einfluss auf
die Motivation der Beschäftigten ausüben, diese motivationalen Anreize mit zunehmen-
dem Alter jedoch an persönlicher Bedeutsamkeit zu verlieren scheinen (Grube und Hertel
2008). Nach einer niederländischen Studie gewinnen etwa im späteren Erwerbsabschnitt
für die Befragten eher intrinsische Faktoren der Motivation an Bedeutung wie sinnvolle
Aufgaben und ethische Werte (van Dam et al. 2009).
Auch das Maß an Anerkennung sowie die soziale Unterstützung von Kollegen und
Führungskräften werden als zentraler motivierender Faktor gerade für ältere Beschäftigte
identifiziert. Büsch et al. (2010) folgern daraus, dass eine Anpassung des Managements
an die veränderten Bedürfnisse älterer Beschäftigter notwendig ist, was bedeutet, dass
eine positive Einstellung der Führungskräfte gegenüber älteren Mitarbeitern sowie die
Wertschätzung ihrer beruflichen Erfahrungen und Expertise für ein motiviertes Arbeiten
entscheidend sind.
In seinem Konzept der „Development Tasks“ geht Havighurst (1972) davon aus, dass es
Entwicklungsaufgaben des Lebens gibt, die bestimmt sind durch spezifische Zielsetzun-
gen, Anforderungen, die sich aus dem Zusammenspiel von biologischen Entwicklungs-
sequenzen, altersgebundenen Rollenübergängen und sozialen Entwicklungserwartungen
an Rollen und -angeboten ergeben. In der beruflichen Orientierungsphase spielen hier
unter anderem Aspekte wie der Aufbau stabiler sozialer Netzwerke sowie Planungen zur
Gründung einer Familie oder alternative Lebensentwürfe eine Rolle. Im mittleren Er-
wachsenenalter stellen innerhalb des familiären Lebenszyklus beispielsweise die Sorge
um Kinder, häufig gepaart mit der Konsolidierung von beruflicher Karriere und Partner-
beziehung, zentrale Entwicklungsaufgaben dar. Ansatzpunkte für die lebenszyklusorien-
tierte Personalentwicklung ergeben sich insbesondere aus dem Spannungsfeld Beruf und
Familie (z. B. Work-Life-Balance, Dual-Career-Couples).
3 Gesund und innovativ arbeiten in jeder Lebensepisode 41
Der berufliche Lebenszyklus beschreibt die Entwicklung von Mitarbeitenden vom Ein-
tritt ins Unternehmen bis zum Austritt. Er setzt sich in der Regel aus verschiedenen stel-
lenbezogenen Lebenszyklen zusammen und beschreibt die Laufbahn von Mitarbeitenden
innerhalb der Organisation. Der berufliche Lebenszyklus ist im jungen Erwachsenenalter
vor allem durch eine berufliche Orientierungsphase gekennzeichnet. Herausforderungen
stellen die berufliche Sozialisation in einem Betrieb, aber auch häufigere Tätigkeits- und
Stellenwechsel dar. Im mittleren Erwerbsabschnitt ist der berufliche Lebenszyklus häufig
dadurch gekennzeichnet, dass Karrierewege in Richtung einer Führungs- oder Fachkar-
riere eingeschlagen werden. Der spätere Erwerbsabschnitt wiederum birgt für die betrieb-
liche Personalentwicklung die Aufgabe, das Erfahrungswissen der älteren Beschäftigten
gezielt zu nutzen und einen Wissenstransfer vor dem Ausscheiden des Beschäftigten zu
sichern. Ansatzpunkte für die lebenszyklusorientierte Personalentwicklung ergeben sich
hinsichtlich der Förderung und Entwicklung der Mitarbeitenden während der gesamten
Dauer ihrer Unternehmenszugehörigkeit.
3.4 Fragestellungen
In der Literatur wird davon ausgegangen, dass besonders beim Übergang von einer Pha-
se in die nächste (Statuspassage) sowie infolge von Überschneidungen/Interdependen-
zen zwischen den verschiedenen Teilzyklen anspruchsvolle Lebensepisoden entstehen
können. Als Folge kann es zu einer Häufung „anspruchsvoller Situationen“ (Graf 2008,
S. 270) kommen. Dies wäre etwa möglich, wenn ein Karriereaufstieg mit einer Verände-
rung beim familiären Lebenszyklus (z. B. der Geburt von Kindern) zusammenfällt. Dies
bedeutet allerdings nicht, dass der Eintritt in eine neue Lebensepisode immer eine kritische
Veränderung darstellt, die einen personalpolitischen Handlungsbedarf nach sich zieht.
Neuartige Lebensepisoden stellen zwar häufig einen Bruch mit bestehenden Handlungs-
und Denkroutinen dar, sie sind auch oftmals von veränderten Ressourcenkonstellationen
gekennzeichnet. Der Eintritt in neue Lebensepisoden kann von den meisten Individuen
erfolgreich bewältigt werden, wenn ihnen ausreichend Handlungsmöglichkeiten zum
Umgang mit der neuen Situation zu Verfügung stehen. Eine arbeitslebensphasensensible
Personalpolitik kann dazu beitragen, den Arbeitenden geeignete Handlungsmöglichkeiten
aufzuzeigen und Ressourcen zur Verfügung zu stellen, um diese effektiv zu nutzen.
Bei den meisten lebenszyklusorientierten Personalmanagementkonzepten werden
bestimmten Beschäftigtengruppen wie Berufseinsteigern, Müttern/Vätern oder Älteren
spezifische Angebote wie flexible Arbeitszeitregelung, Unterstützungsleistungen zur Ver-
einbarkeit von Familie und Beruf (Care-Programme) oder Qualifizierungsmaßnahmen
(Trainee-Programme, Rückkehrer/innen-Programme) angeboten. Nur wenige Unterneh-
men führen allerdings spezifische Bedarfs- oder Nutzungsanalysen durch, um herauszu-
finden, welche Beschäftigtengruppen in ihrem Unternehmen überhaupt einen besonderen
42 A. Gerlmaier
3.5 Methodisches Vorgehen
In einem ersten Schritt wurden Indikatoren ermittelt, mit deren Hilfe man Anzeichen von
Unternutzung, Übernutzung oder einer Weiterentwicklung von persönlichen Ressourcen
abbilden kann.
Von einer Übernutzung persönlicher Ressourcen wurde ausgegangen, wenn Beschäf-
tigte aufgrund von qualitativer oder quantitativer Überforderung Erschöpfungssymptome
entwickeln. Diese zeichnen sich etwa dadurch aus, dass Beschäftigte angeben, sich nach
der Arbeit erschöpft zu fühlen, das Gefühl haben, die derzeitige Tätigkeit auf Dauer nicht
ausüben zu können, beziehungsweise schon morgens Gefühle von Zerschlagenheit emp-
finden.
Eine Unternutzung persönlicher Ressourcen wurde dann als gegeben gesehen, wenn
Beschäftigte angaben, in hohem Maße ihre Kompetenzen und Fähigkeiten bei ihrer der-
zeitigen Tätigkeit nicht einsetzen zu können. Als Unternutzung wurde auch gewertet,
wenn Beschäftigte das Gefühl hatten, dass ihre Ideen und Vorschläge im Betrieb auf wenig
Interesse stoßen.
3 Gesund und innovativ arbeiten in jeder Lebensepisode 43
Die durch die betrieblichen Experten identifizierten anspruchsvollen Arbeits- und Lebens-
episoden wurden in einem weiteren Analyseschritt anhand von im Rahmen des Vorhabens
pinowa gewonnenen Datensätzen zur Arbeits- und Lebenssituation von Beschäftigten im
Bereich der Technikentwicklung (IT-Spezialisten, Ingenieure, N = 254) zu operationalisie-
ren versucht. Die hierzu verwendeten Instrumente zur Belastungsanalyse (Gerlmaier und
Latniak 2011) beinhalteten neben standardisierten Items offene Antwortmöglichkeiten.
Die Befragten konnten, aufbauend auf dem derzeitigen standardisierten Erhebungsinst-
rument, auf freiwilliger Basis Auskunft über ihre derzeitige Arbeits- und Lebenssituation
geben. Diese methodische Herangehensweise birgt das Risiko, dass eine korrekte Zuord-
nung zu bestimmten Lebensepisoden nicht möglich ist, wenn die Interviewpartner diese
Bereiche nicht in biografischen Interviews benennen.
Die Zuordnung der Interviews zu den Lebensepisoden erfolgte anhand eines Indikato-
renrasters und wurde durch zwei Mitarbeitende des Projektes vorgenommen. Es wurden
nur solche Zuordnungen in die Analyse eingeschlossen, bei denen eine übereinstimmende
Beurteilung beider Mitarbeiter zur Episode erzielt werden konnte.
3 Gesund und innovativ arbeiten in jeder Lebensepisode 45
82 Befragte konnten nicht einer Lebensphase zugeordnet werden. Als weitere Daten-
basis dienten daher 172 biografische Interviews von Beschäftigten aus drei Unternehmen
im Bereich der Anwendungsentwicklung und Produktentwicklung (25 % der Befragten in
der Stichprobe waren weiblich, 74 % lebten in einer festen Beziehung).
Im letzten Analyseschritt wurde untersucht, inwieweit sich Beschäftigte in „anspruchs-
vollen“ Lebensepisoden bezüglich ihres Erschöpfungserlebens (Übernutzung), dem Erle-
ben qualitativer Unterforderung (Unternutzung) sowie der Motivation (persönlicher Res-
sourcenentfaltung) von Befragten der gleichen Altersgruppe unterscheiden.
3.6 Ergebnisse
Betrachtet man die Verteilung der berichteten Erschöpfungssymptome über die Er-
werbsphasen hinweg, so zeigt sich, wie in Abb. 3.3 dargestellt, folgendes Bild: Bei den
jungen Beschäftigten bis zum Alter von 30 Jahren findet sich im vorliegenden Sample mit
33 % ein geringerer Anteil hoch erschöpfter Personen. Im mittleren Erwerbsabschnitt ist
dagegen jeder Zweite hochgradig psychisch erschöpft, während bei den Beschäftigten in
der beruflichen Ausgleitphase das Erschöpfungsniveau geringer ist. Die berufliche Orien-
46 A. Gerlmaier
vieren: Hier sind es 25 %, die sich unterfordert fühlen. Im späteren Erwerbsabschnitt ist
der Anteil von Befragten, die sich im Hinblick auf ihre Kompetenznutzung unterfordert
fühlen, deutlich höher. Es sind interessanterweise Personen mit gering verfügbarem Spe-
zial-Know-how, die im Durchschnitt häufiger angeben, sich hinsichtlich der Nutzung ihrer
Kompetenzen unterfordert zu fühlen (43 %). Auch Personen mit gesundheitlichen Krisen-
erfahrungen erleben ihre Tätigkeit häufig als unterfordernd (41 %). Dies könnte damit
zusammenhängen, dass Führungskräfte bei gesundheitlichen Einschränkungen von Mit-
arbeitenden dazu neigen, diese auf „Schonarbeitsplätze“ zu setzen. Häufig ist mit einem
solchen Tätigkeits- oder Aufgabenwechsel eine Qualifikationsabstufung verbunden (z. B.
Wechsel von Projektarbeit in eine Stabsfunktion). Besonders Personen, die sich in einer
Episode statusbezogenen beruflichen Abstiegs oder in einer beruflichen Spezialisierungs-
falle sehen, weisen ebenfalls überdurchschnittlich hohe Werte von qualitativer Unterfor-
derung auf (67 % bei statusbezogener beruflicher Abstiegserfahrung, 43 % bei beruflicher
Spezialisierungsfalle). Beschäftigte, die kurz vor der Verrentung stehen, zeigten dagegen
kein erhöhtes Niveau im Hinblick auf eine Unternutzung vorhandener Kompetenzen.
Auch die Motivation, die von uns als dritter Aspekt der Nutzung persönlicher Potenziale
analysiert wurde, unterliegt Schwankungen innerhalb der Erwerbsbiografie.
50 A. Gerlmaier
In der späteren Erwerbsphase kann ein insgesamt geringes Ausmaß an erlebter Moti-
vation beobachtet werden: Insbesondere wenn sich Beschäftigte in krisenhaften Gesund-
heitssituationen oder familiären Krisensituationen befinden, scheint sich dies besonders
negativ auf die Motivation auszuwirken. Während sich in dieser Altersgruppe im Durch-
schnitt noch etwas über 30 % der Befragten als hoch motiviert erleben, findet sich unter
den Befragten, die gerade eine krisenhafte Gesundheitssituation oder eine familiäre Kri-
sen durchleben, keiner mit einer hohen Motivation. Ebenfalls geringe Motivierungswerte
können in Episoden einer erlebten beruflichen Sackgasse oder bei Spezialisten mit knap-
pem Know-how beobachtet werden: Hier sind es nur 14 % beziehungsweise 11 %, die sich
hoch motiviert erleben. Dagegen liegt der Anteil der Befragten in der Ausgleitphase (die
in den nächsten 36 Monaten aus dem Unternehmen ausscheiden, in Bezug auf die Moti-
vierung mit 46 % deutlich über dem Altersdurchschnitt.
Eine zentrale Fragestellung war es, zu untersuchen, ob sich bei Entwicklern und IT-Spe-
zialisten Arbeits- oder Lebensepisoden beobachten lassen, in denen diese in überdurch-
schnittlichem Maß von psychischer Erschöpfung oder qualitativer Unterforderung betrof-
fen sind beziehungsweise sich wenig dazu motiviert fühlen, ihre Leistungspotenziale voll
auszuschöpfen. Die dargestellten Analysen liefern Hinweise darauf, dass ein Großteil der
von betrieblichen Experten eingangs als kritisch eingestuften Arbeits- und Lebensepiso-
den auch von den befragten Beschäftigten so eingeschätzt wird, und dort ein Risiko von
Übernutzung, Unternutzung und unzureichender Ressourcenentfaltung besteht.
Hierbei konnten Episoden unterschieden werden, bei denen nur ein Aspekt der Res-
sourcennutzung, wie zum Beispiel eine unzureichende Nutzung vorhandener Kompeten-
zen zu beobachten ist. Daneben ließen sich auch Episoden beschreiben, in denen offen-
bar Über- und Unternutzungsphänomene parallel festzustellen sind, wie dies etwa bei
der Episode mit gering verfügbarem Spezial-Know-how zutraf: Wissensarbeiter in dieser
beruflichen Episode scheinen einerseits durch die Menge von Projekten, in denen sie
ihr Know-how zur Verfügung stellen sollen, überfordert zu sein. Sie haben aber gleich-
zeitig das Gefühl, weitere Kenntnisse, über die sie verfügen, nicht ausreichend einsetzen
zu können. Diese Kombination aus Über- und Unterforderung wiederum hat offenbar
auch Auswirkungen auf die Motivation der Befragten, die im Vergleich zu anderen Be-
schäftigten in der Altersgruppe deutlich geringer war. Daraus folgt, dass es offenbar für
bestimmte Arbeits- und Lebensepisoden ein multiples Belastungsrisiko zu geben scheint.
In Tab. 3.3 sind im Überblick die analysierten Episoden sowie die identifizierten Verwer-
tungsfolgen wie Übernutzung, Unternutzung und unzureichende Ressourcenentfaltung
dargestellt.
Aufgrund der Kumulation von Risikopotenzialen für die Arbeits- und Innovationsfä-
higkeit wären für diese anspruchsvollen beruflichen Episoden besondere personalpoli-
tische Handlungsbedarfe angezeigt. Neben der benannten Phase von knappem Spezial-
52 A. Gerlmaier
In Anlehnung an die Befunde zur Ressourcenverwertung lassen sich für die verschiedenen
anspruchsvollen Episoden Handlungsansätze für die Mitarbeiterführung, die Personalent-
wicklung, Arbeitsgestaltung und im Gesundheitsmanagement entwickeln.
In der Phase zwischen Ausbildung und Beruf sind die jungen Mitarbeitenden motiviert
und wenig überfordert, erleben jedoch häufig, dass sie ihr vorhandenes Wissen und ihre
Ideen nicht in dem Maße in den Arbeitsalltag einbringen können, wie sie dies selbst woll-
ten. Geplante Tätigkeitswechsel in verschiedene Organisationsbereiche könnten dazu bei-
tragen, Einsteigern eine Orientierung dafür zu vermitteln, in welchen Unternehmensberei-
chen sie ihre Kompetenzen am besten einsetzen können. Eine systematische Einbeziehung
junger Hochschulabsolventen in betriebliche, generationsübergreifende „Think Tanks“
wiederum bietet Anreize, die im Rahmen der Ausbildung erworbenen Kompetenzen für
betriebliche Innovationen nutzbar zu machen und die eigene Kreativität zu entfalten.
In der Phase der beruflichen Orientierung stellen vor allem Perioden einer ersten Ver-
antwortung für Projekte sowie sekundäre Qualifizierungsphasen weitere anspruchsvolle
3 Gesund und innovativ arbeiten in jeder Lebensepisode 53
Episoden dar. Die jungen Beschäftigten sind häufig aufgrund mangelnder Praxiserfahrung
im Umgang mit verantwortungsvollen Aufgaben überfordert oder geraten aufgrund der
Doppelbelastung durch die Ausübung einer Tätigkeit in Kombination mit Qualifizierungs-
aufgaben an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit. Hier bieten in beiden Fällen beispiels-
weise Mentoring-Konzepte Ansatzpunkte, um eine in diesen Phasen wichtige Rollen- und
Aufgabenklärung in einem systematisch angelegten Reflexionsprozess zu fördern.
Im mittleren Erwerbsabschnitt sind es vor allem Experten mit gering verfügbarem Spe-
zial-Know-how sowie Beschäftigte in der Familiengründungsphase bei Teilzeittätigkeit,
die durch ein hohes Erschöpfungsniveau, qualitative Unterforderung und eine geringe
Motivierung gekennzeichnet sind. Im Fall eines „engen Spezial-Know-hows“ sind als An-
satzpunkt für eine lebensphasensensible Personalarbeit regelmäßige Entwicklungsgesprä-
che mit dem Vorgesetzten angebracht, um eine Verbreiterung der möglichen Einsatzfelder
zu klären und vorzubereiten. Hilfreich ist auch eine betriebliche Begrenzung des Ein-
satzes von Beschäftigten in parallelen Projekten. Hierdurch können einerseits psychische
Erschöpfungszustände als Folge quantitativer Überforderung verhindert und gleichzeitig
die Voraussetzungen für einen breiteren Aufbau von Qualifikationen geschaffen werden.
Episoden wie eine Familiengründungsphase erfordern wiederum andere personalpoliti-
sche Aktionen: Im Vordergrund steht dabei ein für den jeweiligen Fall maßgeschneidertes
Arrangement von effizienter Aufgabenteilung, flexibler Arbeitszeitregelung und Quali-
fizierung.
Im späteren Erwerbsabschnitt fallen als anspruchsvolle Episoden vor allem krisenhafte
Gesundheitssituationen, familiäre Krisen sowie die Spezialisierungsfalle auf, die sowohl
durch Unternutzungs- als auch Übernutzungsanteile und geringe Motivierung charakteri-
siert sind.
Maßnahmen zur Überwindung der Spezialisierungsfalle können zum Beispiel Tätig-
keitswechsel oder alternative Karrierewege, wie zum Beispiel ein Einsatz als Kunden-
berater oder Mentor, darstellen. Dies setzt jedoch voraus, dass derartige Positionen im
Betrieb auch besetzt werden können. Das frühzeitige Hineinentwickeln von Beschäftigten
in diese Position ist häufig auch mit der Notwendigkeit verbunden, Zusatzqualifikationen
zu erwerben. Regelmäßige Mitarbeitergespräche als Bestandteil der Mitarbeiterführung
sind hier von zentraler Bedeutung, um derartige Laufbahngestaltungen langfristig anzu-
legen. Ein erstaunlicher Befund bestand darin, dass der Berufsaustritt in die Rente im sub-
jektiven Erleben der Beschäftigten weder mit psychischen Fehlbeanspruchungen, noch
mit unzureichender Nutzung von Kompetenzen oder mangelnder Arbeitsmotivierung in
Zusammenhang gebracht wurde. Dennoch sollten Organisationen Personalentwicklungs-
strategien entwickeln, um einen systematischen Know-how-Transfer von den erfahrenen
Mitarbeitern in die Organisation zu sichern.
Die möglichen Ansatzpunkte und Handlungsfelder für eine Maßnahmenplanung im
Hinblick auf die spezifischen Episoden sind in Tab. 3.4 zusammengefasst.
Aufgrund der zum Teil kleinen Fallzahlen bei bestimmten Lebensepisoden wären ver-
tiefende Studien mit größeren Stichproben wünschenswert, um repräsentative Aussagen
für diese Beschäftigtengruppen treffen zu können. Für eine grundlegende Orientierung,
54 A. Gerlmaier
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Immer mehr Unternehmen sehen sich vor die Herausforderung gestellt, ihre Personalpo-
litik auf den Prüfstand zu stellen und an eine sich wandelnde Gesellschaft anzupassen.
Von Relevanz sind hierbei verschiedene gesellschaftliche Entwicklungen, die im Kern
aber alle eines gemeinsam haben: Sie erfordern eine grundlegende Neuausrichtung der
Personalpolitik, welche die Bedürfnisse der Beschäftigten zum Ausgangspunkt macht und
die Unternehmen wieder näher an das Leben ihrer Mitarbeiter bringt. Im Kern einer sol-
chen Modernisierung der Personalpolitik steht die lebensphasensensible Neugestaltung
der Entwicklungs- und Karrierekonzepte. Sie sind der Dreh- und Angelpunkt, wenn es
darum geht, Beschäftigte in das Unternehmen zu integrieren und bei der Entfaltung ihrer
Potenziale nachhaltig zu fördern.
Zu den relevanten Entwicklungen, die eine Neuausrichtung der Personalpolitik erfor-
derlich machen, gehört zum einen die Veränderung der Altersstruktur der Gesellschaft.
Die Unternehmen, mit denen wir im Rahmen unseres pinowa-Teilprojekts zusammen-
gearbeitet haben, berichten alle von einem steigenden Durchschnittsalter ihrer Beleg-
schaften. Damit spiegeln sie die Situation der gesamten Bevölkerung im erwerbsfähigen
Alter wider. So wird hier in den kommenden Jahren mit einer deutlichen Verschiebung
hin zu den Älteren zu rechnen sein (Statistisches Bundesamt 2009).1 Die Unternehmen
sehen sich in der Folge mit einem wachsenden Anteil älterer Beschäftigter konfrontiert.
Während es sich Unternehmen – gerade in der noch recht „jungen“ IT-Industrie – bisher
oftmals leisten konnten, für die wenigen älteren Mitarbeiter jeweils individuelle Entwick-
lungswege und Ausstiegsszenarien zu entwerfen, wird das nun mit dem wachsenden An-
teil älterer Mitarbeiter immer schwieriger. Es wird deutlich, dass es bisher für Mitarbeiter
ab 45 Jahren – wenn überhaupt – nur sehr wenige Entwicklungsperspektiven und -ange-
bote gab. Immer mehr Beschäftigte stellen sich die Frage: „Ich bin jetzt Mitte 40 – welche
Entwicklungsmöglichkeiten habe ich hier im Unternehmen in den nächsten 20 Jahren?“
Es ist allerdings nicht nur der demografische Wandel, der deutlich macht, dass sich die
Personalpolitik modernisieren muss. Die Erwerbsstrukturen verändern sich auch bezogen
auf das Geschlecht. Sichtbar wird dies an einer zunehmenden „Feminisierung der Ar-
beitswelt“ (Maruani 2002, S. 25). So nahm die Erwerbstätigenquote von Frauen zwischen
2002 und 2012 um 9,1 Prozentpunkte auf 67,8 % zu.2 Damit hat sich der Abstand zwi-
schen den Erwerbstätigenquoten von Männern und Frauen in den vergangenen 25 Jahren
halbiert. So liegt die Differenz zur Erwerbstätigenquote der Männer im Jahr 2012 nur
noch bei weniger als 10 Prozentpunkten, während sie in den 1990er-Jahren noch über
20 Prozentpunkte betrug (Bundesagentur für Arbeit 2013, S. 7). Dies korrespondiert mit
einer deutlichen Höherqualifizierung von Frauen: Mittlerweile sind mehr als die Hälfte
der Absolventinnen von Hochschulen und Fachhochschulen, nämlich 51,5 %, weiblichen
Geschlechts (Boes et al. 2013, S. 25). Damit nimmt die Präsenz von gut ausgebildeten
Frauen in den Unternehmen ebenso zu wie der Druck, einer wachsenden Zahl von Frau-
en entsprechende Karrierechancen zu eröffnen (ebd.). Daraus ist jedoch nicht zu schlie-
ßen, dass sich die Karrierechancen von Frauen quasi „als Selbstläufer“ verbessern (ebd.,
S. 26). In der Praxis zeigt sich, dass es vor allem die hohen „Verfügbarkeitserwartungen“
(Bultemeier 2011, S. 65 ff.) in den Unternehmen sind, die zu einem Hemmschuh für die
Karrierechancen von Frauen werden. In den Unternehmen dominiert eine Karrierewelt,
die „Karriere als“ ausschließlich“ konstruiert“ (Bultemeier und Boes 2013, S. 152) und
Unterbrechungen des Karriereprozesses oder eine Reduktion der Arbeitszeit nicht oder
nur sehr eingeschränkt akzeptiert. Viele Frauen, die nach der Elternzeit mit reduzierter
Arbeitszeit in ihren Beruf zurückkehren, erleben in der Folge nicht nur „den Verlust ihrer
Karrieremöglichkeiten, sondern auch spannender Projekte, berufliche Herausforderungen
1
Das Statistische Bundesamt (2009) bezieht in seine Berechnungen zur Bevölkerung im Erwerbsal-
ter die Menschen im Alter von 20 bis 65 Jahren ein. Während heute 49 % der Erwerbspersonen zur
mittleren Altersgruppe von 30 bis unter 50 Jahren gehören und 31 % zur älteren von 50 bis unter 65
Jahren, wird das Erwerbspersonenpotenzial bereits in wenigen Jahren zu gleichen Teilen, nämlich
zu jeweils 40 %, dem mittleren und dem älteren Alterssegment zuzurechnen sein (Statistisches Bun-
desamt 2009, S. 6).
2
Die Erwerbstätigenquote setzt die Zahl der 15- bis unter 65-jährigen Erwerbstätigen zur Gesamt-
bevölkerung im entsprechenden Alter in Beziehung.
4 Lebensphasensensible Entwicklungs- und Karrierekonzepte— ein Schlüssel … 61
duellen Bedürfnisse neue Möglichkeiten der Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben
schaffen. Gleichzeitig bieten sie den Unternehmen die Chance, die Einsatzfähigkeit ihrer
Mitarbeiter über das ganze Erwerbsleben hinweg aufrechtzuerhalten und weiterzuentwi-
ckeln sowie von einer hohen Motivation zu profitieren. Bislang sind die Entwicklungs-
und Karrierekonzepte in der betrieblichen Praxis jedoch meist noch „altersblind“. Sie sind
in der Regel als funktionale Ablaufmuster organisiert und lassen den einzelnen Beschäf-
tigten mit ihren je nach Arbeitslebensphase unterschiedlichen Bedürfnissen und ihren sich
verändernden Kompetenzen und Entwicklungspotenzialen keinen Raum. Hierauf gilt es,
mit einer zukunftsweisenden Personalpolitik zu reagieren.
tur erscheint dann nicht länger funktional. Gefragt ist nicht mehr der „Fürst im Reich“, der
einsam und mitunter despotisch Entscheidungen trifft, sondern eine Professionalisierung
und Versachlichung des Managements, die Verbreitung rationaler Führungsprinzipien und
kollektiver Entscheidungsprozesse.
Die Grundlage für die neue Qualität der systemischen Integration im „Unternehmen
2.n“ ist die fortschreitende Informatisierung und mit ihr die Herausbildung eines weltwei-
ten „Informationsraums“ (Baukrowitz und Boes 1996; Boes und Kämpf 2012). Über den
Informationsraum ist es den Unternehmen möglich, neuartige Prinzipien der Organisation
und der Steuerung zu etablieren (vgl. Boes und Kämpf 2012; Bultemeier und Boes 2013,
S. 97; vgl. auch Boes et al. 2015). Dies hat zum einen weitreichende Auswirkungen dar-
auf, wie Arbeit organisiert wird, und korrespondiert zum anderen mit einem fundamenta-
len Wandel von Karriere und neuen Anforderungen an die Beschäftigten (Bultemeier und
Boes 2013, S. 97).
eine „Dezentralisierung“ (Faust et al. 2000; Minssen 2008) des Unternehmens, wobei die
einzelnen organisatorischen Teileinheiten mehr unternehmerische Verantwortung über-
nehmen (vgl. Bultemeier und Boes 2013, S. 102). Die systemische Integration der organi-
satorischen Teileinheiten gelingt über den Informationsraum: Über ihn wird der Austausch
zwischen den jeweiligen Unternehmensbereichen organisiert (vgl. ebd., S. 103).
Komplementär zu der Steuerung über Kennziffern und Zielvorgaben erfährt das „Prin-
zip der Öffentlichkeit“ als Methode der Koordination in den Unternehmen eine wach-
sende Bedeutung (Bultemeier 2013; vgl. Bultemeier und Boes 2013, S. 104 ff.). Über
Kommunikation und Öffentlichkeit gelingt es den Unternehmen, die komplexen Inter-
dependenzen innerhalb der und zwischen den Organisationseinheiten lebendig zu halten.
Konkret heißt das, dass neben präsenzgebundenen Kommunikationsplattformen wie etwa
Meetings, Daily Scrums oder auch dem informellen Austausch in „Kaffee-Ecken“ der
Informationsraum selbst in den Unternehmen zu einer immer wichtigeren Plattform wird.
Wissensbestände im Unternehmen werden für alle in Wikis zugänglich gemacht und Soci-
al Media werden als Kommunikationsmittel eingesetzt. Ganz im Sinne des sozialen Hand-
lungsraums werden hier vielfältige Räume für die unternehmensöffentliche Kommunika-
tion, den Wissensaustausch und die Interaktion von Mitarbeitern geschaffen. So erfolgt
die komplexe und oftmals schwer vorhersehbare Abstimmung zwischen den Teams und
den einzelnen Bereichen des Unternehmens immer stärker in kommunikativen Prozessen
nach dem „Muster der öffentlichen Aushandlung“ (Bultemeier und Boes 2013, S. 105).
Für die Beschäftigten schafft der Informationsraum als neuer sozialer Handlungsraum
vielfältige Möglichkeiten. So ermöglicht der Informationsraum zum einen eine neue
räumliche Flexibilität, welche die Beschäftigten nutzen können, um Arbeit und Privatle-
ben besser miteinander zu vereinbaren. Der Informationsraum bietet darüber hinaus auch
neue Kommunikationsmöglichkeiten wie etwa Videokonferenzen, die dazu beitragen kön-
nen, Reisen und damit auch Reisezeiten zu reduzieren. Und auch der leichtere Zugang
zum „Wissen der Welt“, der über den Informationsraum möglich wird, unterstützt die Be-
schäftigten in zahlreichen Situationen. Andererseits nehmen viele Beschäftigte aber auch
neue Belastungen wahr. Die neue Öffentlichkeit im Informationsraum führt dazu, dass
der Ergebnisdruck für jeden Einzelnen wächst. Des Weiteren bildet der Informationsraum
die Basis für einen Wandel der Kommunikation: Smartphones, welche den Zugang zu
und die Reaktion auf Mails rund um die Uhr und an allen Orten ermöglichen, gehören
ebenso dazu wie das „Management by E-Mail“: Aufträge, Arbeitsanweisungen und Infor-
mationen werden permanent über E-Mail an die Mitarbeiter weitergeleitet, welche sich in
der Folge oftmals mit einer regelrechten Informationsflut und mit vielen offenen Fragen
konfrontiert sehen. Für viele Beschäftigte entsteht der Eindruck, dass eine permanente
Verfügbarkeit und Erreichbarkeit von ihnen erwartet wird. In der Folge fällt es ihnen zu-
nehmend schwerer, Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben zu ziehen.
So stellen Anja Bultemeier und Andreas Boes fest, dass sich im „Unternehmen 2.n“ ein
weitreichender Neuerungsprozess hinsichtlich der Art und Weise vollzieht, wie Karrie-
ren zustande kommen, wie sie verlaufen und was sie beinhalten (Bultemeier und Boes
2013, S. 97 ff.). Dabei ist der Prozess der Neugestaltung von Karrieren gegenwärtig noch
nicht abgeschlossen, so dass sich in den Unternehmen häufig noch ein Nebeneinander
von tradierten Karrierestrukturen und -verläufen und neuen Karrierekonzepten beobach-
ten lässt (ebd.) Auch Sullivan und Baruch (2009) weisen darauf hin, dass sich gegenwärtig
grundlegend neue Karrieremodelle herausbilden, wobei traditionelle Karrierepfade in der
Unternehmenspraxis immer noch auftreten.
Die traditionelle Gestaltung von Karriere ist wesentlich gekennzeichnet durch das tay-
loristisch-fordistische Unternehmenskonzept (vgl. Bultemeier und Boes 2013, S. 101 ff.).
Hierbei verlaufen Karrieren entlang der Aufbauorganisation der Unternehmen in den
funktionalen „Säulen“ wie etwa Entwicklung, Produktion und Vertrieb. Diese Karrieren
werden als „Kaminkarriere“ beziehungsweise „funktionale Karriere“ bezeichnet (Faust
et al. 2000, S. 177). Dabei ist der schrittweise Aufstieg mit einem Zuwachs an Geld,
Macht und Prestige verbunden. Über die Auswahl der Karrierekandidaten entscheiden die
Führungskräfte in den funktionalen Bereichen weitgehend eigenständig, quasi wie „Fürs-
ten im Reich“ (Bultemeier und Boes 2013, S. 101). Zu den wesentlichen Entscheidungs-
kriterien bei der Auswahl der Karrierekandidaten zählen Seniorität und Leistung, wobei
die jeweilige Führungskraft die Leistungskriterien definiert und interpretiert (Faust 2002,
S. 71, vgl. auch Meier 2001).
Mit der Entwicklung der Unternehmen hin zum „systemisch integrierten Unternehmen
2.n“ und der „Auflösung der tief gestaffelten funktionalen Silos“ (Bultemeier und Boes
2013, S. 115) verliert das traditionelle Karrieremodell seine Grundlage. Anstelle der Ka-
minkarriere gewinnt die Rotationskarriere an Bedeutung (Bultemeier 2013). Rotationen
als neues Phänomen in den Karrieremustern werden bereits bei Faust et al. (2000) mit
Blick auf die Veränderungen in den Unternehmen in den 1990er-Jahren beschrieben. Auch
die Untersuchungsergebnisse von Bultemeier und Boes (2013, S. 115 f.) zeigen, dass es
in den Unternehmen vielfältige Bestrebungen gibt, Beschäftigte dazu anzuhalten, zwi-
schen Funktionen, Bereichen und Standorten zu rotieren. Sowohl von den Beschäftigten
wie auch von den Führungskräften wird zunehmend eine „Erfahrungsbreite“ erwartet und
damit auch ein Wechsel zwischen den Funktionsbereichen des Unternehmens (vgl. ebd.,
S. 115 ff.). Damit verändern sich nicht nur die Karriereverläufe in den Unternehmen,
sondern mit ihnen auch das Karriereverständnis: Die Vorstellung einer „Karriere in die
Breite“, bei der über horizontale Wechsel die persönliche Entwicklung vorangetrieben
wird, gewinnt zunehmend an Bedeutung. Begleitet wird dieser Wandel von einer mas-
siven Reduktion der Karrierepositionen durch eine Verringerung der Hierarchieebenen.
Dabei wächst der Konkurrenzdruck um die knapper werdenden Karrierepositionen. Es
wird für die Unternehmen daher immer wichtiger, ihren Beschäftigten in Zeiten flacher
Hierarchien Weiterentwicklungsmöglichkeiten zu bieten. Andernfalls besteht das Risiko,
dass ambitionierte Mitarbeiter auf der Suche nach einer Aufstiegsmöglichkeit das Unter-
nehmen verlassen und wertvolles Fachwissen mitnehmen könnten. Die Implementierung
66 K. Gül et al.
von alternativen Karrierepfaden, wie etwa der Projekt- oder die Fachlaufbahn, gewinnt
daher in den Unternehmen an Bedeutung (Kleefeld 2011, Meier 2001). Die Fachlaufbahn
kann dabei in einem Unternehmen mehrere Funktionen haben: Erstens ergänzt sie die
Führungslaufbahn um Karrieremöglichkeiten und bietet aufstiegsorientierten Mitarbeitern
eine Entwicklungsperspektive. Zweitens wird dadurch im Unternehmen Fachwissen in
bestimmten Personen und Positionen gebündelt und es werden klare Ansprechpartner für
die jeweiligen Fachthemen identifiziert. Und drittens hilft die Fachlaufbahn zu verhin-
dern, dass karriereorientierte Mitarbeiter, deren Stärken im fachlichen Bereich und nicht
im Bereich der Mitarbeiterführung liegen, in eine Führungskarriere drängen (Domsch,
Ladwig 2011). Alternativ zur Fachlaufbahn ist auch die Projektlaufbahn weit verbreitet.
Hier können als Leiter eines Projektes oder Prozesses erste Führungserfahrungen gesam-
melt werden (Meier 2001). Problematisch ist allerdings, dass in vielen Unternehmen so-
wohl die Fach- wie auch die Projektlaufbahn so konzipiert sind, dass sie von den Beschäf-
tigten als keine echte Alternative zur Führungskarriere erlebt werden, sondern vielmehr
als „Karrierepfad der zweiten Klasse“ wahrgenommen werden. So fühlen sich Fachkräf-
te vom obersten Management weniger wahrgenommen, sie werden selten in strategisch
wichtige Entscheidungen einbezogen und auch die Gehaltsentwicklung ist häufig nicht an
die der Führungskarriere angepasst. Um zu verhindern, dass das Image der Projekt- oder
Fachlaufbahn Schaden nimmt und Beschäftigte demotiviert werden oder aus Frustration
das Unternehmen verlassen, ist es wichtig, für Transparenz über die Entwicklungswege im
Unternehmen zu sorgen und alle Entwicklungswege beispielsweise in einem Modell der
„Integrierten Führungskräfteentwicklung“ abzubilden (Meier 2001).
Neben den Karrierepfaden verändern sich auch die Entscheidungsprozesse über die
Gestaltung von Karrierestrukturen und die Identifikation von Karrierekandidtatinnen
und -kandidaten: Hier lässt sich eine zunehmende Versachlichung und Professionalisie-
rung in den Unternehmen beobachten (vgl. Bultemeier und Boes 2013, S. 118 ff.). Das
wird zum einen daran deutlich, dass Unternehmen versuchen, die Karrierestrukturen über
Funktionsbereiche und Standorte hinweg zu vereinheitlichen und bei den Karrierevor-
aussetzungen sowie bei den Karriereanforderungen mehr Transparenz zu schaffen. Die
HR- und Personalabteilungen definieren und implementieren hierbei auch zentrale Ins-
trumente und Prozesse der Karrieregestaltung, wie etwa das Mitarbeitergespräch oder
das Talent-Management, und legen die Kriterien fest, nach denen die Leistung und das
Potenzial der Mitarbeiter bemessen werden. Zum anderen verändern sich die Prozesse,
in denen die Führungskräfte bei den Karriereentscheidungen mitwirken. Diese gehen bei
der Leistungs- und Potenzialbewertung nicht mehr individuell und funktional autonom
vor, sondern führen die Bewertung im Mitarbeitergespräch entlang einem festgelegten
Verfahren durch. Darüber hinaus wird über das Karrierepotenzial von Mitarbeitern immer
öfter in Gremien entschieden, in denen mehrere Führungskräfte einer Hierarchieebene zu-
sammenkommen. Mit diesen so genannten „Kalibrierungsmeetings“ etabliert sich zuneh-
mend eine an kollektiven Entscheidungen orientierte Methode des Talent-Managements
(Bultemeier 2013). Damit obliegt es nun nicht mehr einer einzelnen Führungskraft, Poten-
zialträger und Karriereanwärter zu identifizieren, sondern die Auswahl findet in einem
kollektiven Entscheidungsprozess statt.
4 Lebensphasensensible Entwicklungs- und Karrierekonzepte— ein Schlüssel … 67
Zunächst einmal ist festzuhalten, dass auch die neuen Karrierekonzepte blind bleiben
für die verschiedenen Lebensphasen und die Bedürfnisse der Beschäftigten. Der Druck,
sich möglichst ohne Unterbrechungen permanent weiterzuentwickeln, und die hohen Ver-
fügbarkeitserwartungen führen dazu, dass das Modell des männlichen Haupternährers im
Normalarbeitsverhältnis nach wie vor den größten Rückhalt findet. Die Personalpolitik
muss sich aber darauf einstellen, dass Karriereförderung auch Adressaten hat, die ihre be-
rufliche Entwicklung nicht zwingend als kontinuierlichen und linearen Aufstieg gestalten
können und wollen. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Beschäftigte, die sich jenseits eines
vertikalen Aufstiegs Entwicklungsperspektiven wünschen und nach Möglichkeiten einer
„Karriere in die Breite“ suchen. Der Bedarf an flexiblen und nicht-linearen Karriere- und
Entwicklungskonzepten ist daher groß.
Dabei bietet die aktuelle Umbruchsituation in den Unternehmen durchaus die Chance,
die Veränderungsprozesse in den Unternehmen systematisch zu nutzen, um quasi „mit der
Welle“ die Entwicklungs- und Karrierekonzepte lebensphasensensibel zu gestalten und
für die Bedürfnisse der Beschäftigten zu öffnen. Die Versachlichung und Professionalisie-
rung des Talent-Managements sowie der Auswahl der Karrierekandidaten ermöglicht es,
bisherige Auswahlprozesse zu hinterfragen und mit Blick auf die Lebensphasensensibili-
tät bewusster zu gestalten. Und auch die Ausdifferenzierung der Karrierepfade mit einem
Fokus auf „Karriere in die Breite“ eröffnet neue Möglichkeiten, um Entwicklungs- und
Karrierekonzepte vielfältiger zu gestalten und stärker an den lebensphasenspezifischen
Bedürfnissen der Beschäftigten auszurichten. Vor allem gilt es aber, die hohen Verfüg-
barkeitserwartungen sowie die Vorstellung von einer kontinuierlichen Karriere ohne
Unterbrechungen zu hinterfragen. Das ist eine zentrale Voraussetzung dafür, dass auch
diejenigen Beschäftigten Karrierechancen erhalten, die aufgrund ihrer eingeschränkten
Verfügbarkeit bisher wenig Beachtung bei der Beteiligung an Förder- und Entwicklungs-
programmen erfuhren.
Deutlich wird vor allem eines: Eine lebensphasensensible Gestaltung der Entwick-
lungs- und Karrierekonzepte ist wichtig, aber kein Selbstläufer. Vielmehr gilt, dass eine
systematische Ausrichtung der Entwicklungs- und Karrierekonzepte an den lebensphasen-
spezifischen Bedürfnissen der Beschäftigten aktiv betrieben werden muss.
Die Idee einer lebensphasensensiblen Personalpolitik ist nicht ganz neu. Seit etwa zwei
Jahrzehnten wird in Deutschland unter verschiedenen Labeln gefordert, die Instrumente
der Personalpolitik stärker an den Beschäftigten und ihren Bedürfnissen auszurichten. Ins-
besondere der demografische Wandel hat die Diskussion über die Notwendigkeit einer le-
bensphasensensiblen Personalpolitik befeuert. So prägte Mitte der 1990er-Jahre erstmals
Thomas Sattelberger (1995) den Begriff der lebenszyklusorientierten Personalentwick-
lung und forderte eine stärke Ausrichtung von Beratungs- und Entwicklungsangeboten
4 Lebensphasensensible Entwicklungs- und Karrierekonzepte— ein Schlüssel … 69
Es stellt sich allerdings die Frage, wie lebensphasensensible Entwicklungs- und Karriere-
konzepte im Konkreten zu gestalten sind. So geht es im Rahmen des Projekts pinowa nicht
lediglich darum, bereits vorhandene Instrumente der Personalentwicklung aufzulisten und
den Beschäftigten „im richtigen Moment“ ihres Lebens(-zyklus) anzubieten. Vielmehr
zielt pinowa darauf, an den individuellen Bedürfnissen von Beschäftigten anzusetzen und
diese zum Ausgangspunkt für die Gestaltung neuer Entwicklungspfade und -konzepte zu
machen. Dabei gilt es, den gegenwärtig zu beobachtenden Umbruch in den Karrieresys-
temen der Unternehmen zu nutzen, um mit den Veränderungen lebensphasensensible Ent-
70 K. Gül et al.
wicklungs- und Karrierekonzepte zu implementieren. Wie das konkret aussehen kann, soll
im Folgenden an zwei Fallbeispielen aus unserer empirischen Untersuchung3 dargestellt
werden.
Also, mit meinem Mann habe ich in Shanghai ausgemacht, dass er bisher immer eigentlich
alles machen konnte, was er wollte, und er hat alle Möglichkeiten gehabt, und wenn ich
zurückkomme mit ihm aus Shanghai, dann habe ich auch jetzt Möglichkeiten.
3
Nähere Angaben zu unseren empirischen Untersuchungen finden sich in Kap. 8 von Gül, Boes,
Kämpf in diesem Band.
4 Lebensphasensensible Entwicklungs- und Karrierekonzepte— ein Schlüssel … 71
Vor allem weibliche Beschäftigte reduzieren in der Familienphase häufig ihre Arbeitszeit
und richten den Fokus auf die Familie, möchten danach aber wieder mit hohem Engage-
ment einsteigen und neue berufliche Ziele entwickeln. In der Praxis machen nach ihrem
beruflichen Wiedereinstieg allerdings viele Beschäftigte die Erfahrung, dass „der Karri-
ere-Zug schon abgefahren ist“. Nach einer Unterbrechung der beruflichen Entwicklung
beziehungsweise bei reduzierter Arbeitszeit bleiben häufig nicht nur Karriereoptionen
verwehrt, sondern auch spannende inhaltliche Aufgaben. Damit werden in den Unterneh-
men die Weichen für Karriere häufig zu früh gestellt und die Weichenstellung erfolgt nur
einmal: Diskontinuierliche Erwerbsverläufe passen nicht zu den traditionellen, linearen
Karrierevorstellungen. Die Möglichkeiten für eine „späte Karriere“ (Bultemeier 2011,
S. 73), also Angebote, die eine Karriere nach der Phase der Familiengründung ab einem
Alter von etwa 40 Jahren befördern könnten, sind meist sehr eingeschränkt oder gar nicht
vorhanden. Dabei bleiben die Potenziale und Talente großer Beschäftigtengruppen unge-
nutzt.
Folgende Handlungsansätze im Sinne einer lebensphasensensiblen Gestaltung der Ent-
wicklungs- und Karrierekonzepte wären zur Unterstützung einer „späten Karriere“ not-
wendig:
nicht nur an der starken Arbeitsbelastung und den Konflikten, die er dabei aushalten
muss. Eine starke Belastung stellt für ihn auch die schwierige Vereinbarkeit von Arbeit
und Privatleben dar. So musste er bei der Rückkehr von einer Auslandsreise erleben,
dass seine Tochter weinend vor ihm davon lief, weil er ihr fremd geworden war. Auf
dem Weg zu einem Kunden erlitt er einen Burnout. Mitten auf der Autobahn stellte
er fest, dass er nicht mehr weitermachen konnte. Er brach die Reise ab und war nach
seinen eigenen Worten für vier Wochen „einfach rausgeschossen“.
Obwohl er inhaltlich sehr an seiner Arbeit interessiert ist, kann sich der IT-Berater
nicht vorstellen, seine Tätigkeit bis zum Erreichen seines Renteneintrittsalters auszu-
üben. Auf die Frage „Können Sie sich vorstellen, Ihre aktuelle Tätigkeit bis zum Er-
reichen Ihres Rentenalters auszuüben?“ antwortet er:
Never ever – nie und überhaupt nicht, nicht mal bis Ende diesen Jahres! Es muss was passie-
ren dieses Jahr. Es geht nicht, nein. Ist nicht machbar.
Der Berater in diesem IT-Unternehmen ist kein Einzelfall. Er hat zahlreiche Kollegen, die
ab einem bestimmten Alter den ausgeprägten Wunsch formulieren, sich beruflich zu ver-
ändern, um den hohen Belastungen ihrer Tätigkeit zu entgehen. In dem Unternehmen fehlt
es bislang an Rollenmodellen oder Karrierepfaden, die es ermöglichen, erfahrene Berater
mit ihrer Expertise im Unternehmen zu halten, ohne sie dauerhaft „auszubrennen“. Die
Beschäftigten müssen sich individuell durchschlagen und fühlen sich in dieser Situation
regelrecht verheizt. Für das Unternehmen besteht die Gefahr, dass es strategisch wichtige
Know-how-Träger verliert, wenn diese Mitarbeiter im Zuge eines Stellenwechsels das
Unternehmen verlassen.
Eine lebensphasensensible Gestaltung der Entwicklungs- und Karrierekonzepte könnte
in diesem Fall folgende Handlungsansätze umfassen:
• eine Öffnung der bisher etablierten Karrierewege und die systematische Entwicklung
von Übergängen in andere Tätigkeitsfelder,
• das Schaffen neuer Rollen in der Beratung (z. B. „Remote Consulting“ oder das Bilden
von altersgemischten Teams),
• das Angebot einer gezielten Beratung und Begleitung der Beschäftigten bei der Pla-
nung ihres Karrierewegs.
und Karrierekonzepten entwickeln. Auf Basis einer umfassenden Analyse der Bedürfnisse
von Beschäftigten in der IT-Industrie (im Teil 2 des vorliegenden Handbuchs), finden sich
im Teil 3 dieses Handbuchs konkrete Handlungsfelder, Tools und Ansätze für lebenspha-
sensensible Entwicklungs- und Karrierekonzepte.
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76 K. Gül et al.
Katrin Gül ist Soziologin und arbeitet seit 2008 als wissenschaftli-
che Mitarbeiterin am Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung
– ISF München. Sie studierte an der Ludwig-Maximilians-Univer-
sität in München Soziologie mit dem Schwerpunkt Arbeits- und
Industriesoziologie. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Belastung
und Gesundheit in der Wissensarbeit, betriebliche Strategien im
Umgang mit dem demografischen Wandel und Informatisierung
von Arbeit. In den letzten sechs Jahren befasste sie sich in verschie-
denen anwendungsorientierten Forschungsprojekten mit der Gestal-
tung nachhaltiger Arbeitsbedingungen in der Wissensarbeit.
5.1 Einleitung
grund unterschiedliche subjektive Bewertungen der Arbeitssituation gibt, die einen Ein-
fluss auf das Arbeitsengagement oder das Stresserleben haben können. Es schließen sich
Handlungsempfehlungen an, was Führungskräfte tun können, um Beschäftigte einerseits
leistungsadäquat einzusetzen und zu fördern, ohne andererseits Gerechtigkeitsnormen im
Team zu verletzen.
5.2.1 Biografische Heterogenität
auch die sozialen Konflikte in Teams zunahmen. Über ähnliche Befunde bei Projektteams
berichten O’Reilly et al. (1998).
Dass gemischte Teams weniger produktiv und innovativ sein sollen, wird in der For-
schung vor allem mit der Theorie der sozialen Kategorisierung von Tajfel und Turner
(1986) erklärt. Dabei wird davon ausgegangen, dass Gruppenmitglieder ein größeres Zu-
gehörigkeitsgefühl entwickeln, wenn Teammitglieder ähnliche Eigenschaften aufweisen
(vgl. den Überblick dazu in Wegge 2008). Als Folge dieser Ähnlichkeitsurteile erleben
sie ein Gefühl der Zugehörigkeit zu merkmalsähnlichen Subgruppen und entwickeln hie-
rüber ihre soziale Identität. Diese Subgruppenbildung wiederum ist der Theorie zufolge
verantwortlich für das Entstehen sozialer Konflikte in der Gruppe und behindert somit die
Innovationsleistung der Teams.
Allerdings ist fraglich, ob allein fehlende Ähnlichkeit verantwortlich für schlechtere
Innovationsleistungen bei biografisch vielfältigen Teams ist. Studien zum Innovations-
verhalten im Erwerbsverlauf deuten beispielsweise darauf hin, dass Ältere unabhängig
von sozialen Spannungen in geringerem Maße an betrieblichen Verbesserungsvorschlägen
beteiligt sind als ihre jüngeren Kollegen (Schat 2006).
Neben der Vielfalt biografischer Merkmale im Team wurde in einer Reihe von Studien
auch untersucht, welche Rolle das Qualifikationsniveau und die Heterogenität der Quali-
fikationen im Team auf die Teamleistung und Teaminnovation ausübt. Aus der persönlich-
keitsorientierten Kreativitätsforschung ist bekannt, dass es einen positiven Zusammen-
hang zwischen der Höhe der Qualifikationen und der individuellen Kreativität gibt: Perso-
nen, die über einen hohen Qualifikationsabschluss verfügten, wiesen danach ein höheres
Maß an Kreativität auf.
In Studien zur Teaminnovation findet sich allerdings kein linearer, sondern ein umge-
kehrt U-förmiger Zusammenhang zwischen der qualifikatorischen Vielfalt im Team und
der Innovationsleistung (Ancona und Caldwell 2009). Die Innovationsfähigkeit ist danach
am höchsten, wenn ein mittleres Ausmaß an Qualifikationsdiversität vorlag. Geringe und
hohe Diversität erbrachten dagegen eine geringere Innovationsleistung.
5.2.3 Interdisziplinarität
Van Knippenberg et al. (2004) sowie West (2002) gehen davon aus, dass die Diversität von
Wissensbeständen sich – anders als biografische Heterogenität – im Team günstig auf die
Innovations- und Leistungsfähigkeit auswirkt. Sie argumentieren, dass dadurch potenziell
mehr Informationsbestände vorliegen und zur Problemlösung genutzt werden können.
Die empirischen Befunde deuten jedoch an, dass Teams nicht allein dadurch innovativer
und leistungsfähiger werden, weil sie eine hohe Interdisziplinarität oder eine heterogene
80 A. Gerlmaier und E. Latniak
benachteiligt fühlen. Offen ist jedoch, ob sich derartige Befunde auch im Bereich hoch-
qualifizierter Arbeit – wie im Bereich der Technikentwicklung üblich – wiederfinden las-
sen, und ob diese sich auch auf das Führungsverhalten in Teams zurückführen lassen.
Aus dieser Befundlage ergibt sich eine Reihe von Fragen für das erfolgreiche Führen
von heterogenen Entwicklungsteams:
5.3 Methodik
Die Datenbasis der Untersuchung bilden 230 Beschäftigte aus dem IT- und Entwicklungs-
bereich, die im Rahmen des BMBF-geförderten Forschungsvorhabens pinowa an team-
bezogenen Belastungs- und Innovationsressourcen-Analysen teilgenommen haben. Die
Teilnehmer/innen stammen aus drei Unternehmen mittlerer Größe (250 bis 700 Mitarbei-
tende). Für die Analyse lagen Daten aus 30 Teams vor. Die Teamgröße variierte zwischen
drei und 17 Teammitgliedern, die durchschnittliche Teamgröße betrug acht Personen. Be-
zogen auf die Teams konnte eine Vollerhebung realisiert werden, d. h. es liegen für jedes
Team Datensätze von allen Teammitgliedern vor.
An der Analyse zur Heterogenität von Teams und dem Innovationsverhalten nahmen
zehn Teamleitende teil, die sich zu den von ihnen geleiteten Teams aus der Beschäftigten-
stichprobe äußerten.
5.3.2 Instrumente
Die Daten wurden mit Hilfe eines für Projektarbeit konzipierten Belastungs- und Res-
sourcenscreenings in Form eines standardisierten Fragebogens gewonnen (vgl. Gerlmaier
82 A. Gerlmaier und E. Latniak
und Latniak 2011). Es setzt sich aus Skalen zur Messung von psychischen Belastungen,
Ressourcen und Beanspruchungsfolgen (mit den Skalen „Stress“, „emotionale Erschöp-
fung“, „psychosomatische Beschwerden“) zusammen. Das Instrument wurde für die spe-
zifische Fragestellung um die Skalen „Innovationklima“, „qualitative Unterforderung“
sowie „Innovationsstress“ erweitert. Für die Fragestellung des Beitrages wurden aus dem
Instrument drei Skalen aus dem Bereich der Belastung-und Ressourcenmerkmale in der
Arbeit näher analysiert. Hierbei handelte es sich um die Skalen Zeitdruck, Qualifikations-
möglichkeiten, Innovationsklima und Führungsqualität.
Die Skala „Arbeitsintensität/Zeitdruck“ umfasst dabei Fragen zu Sachverhalten wie
der Notwendigkeit, sich bei der Arbeit ständig beeilen zu müssen, vom Vorgesetzten bei
der Arbeit angetrieben zu werden oder seine Arbeit nicht gründlich erledigen zu können,
weil man fertig werden muss. In der Skala „Qualifikationsmöglichkeiten“ wird erfragt, ob
der/die Befragte die Möglichkeit hat, an Weiterbildungen teilzunehmen oder sich während
der Arbeit in neue Sachverhalte einzuarbeiten. Die Skala „Innovationsklima“ besteht aus
Items des Team-Klima-Inventars von Brodbeck und Maier (2001). In den vier Items der
Skala wird erfragt, ob im Team kritische Meinungen akzeptiert werden oder das Team
sich Zeit nimmt, neue Ideen zu entwickeln. Die Skala „Führungsqualität“ umfasst die
Einschätzung des/r Arbeitenden, inwieweit er/sie von Vorgesetzten ausreichend informiert
fühlt, er/sie den Eindruck hat, dass Vorgesetzte ihm/ihr ausreichend Rückendeckung und
Anerkennung geben und inwieweit die Befragten das Gefühl haben, dass ihr Vorgesetzter
sich für ihre Gesundheit interessiert. Die Skalen weisen mit einem Cronbachs Alpha zwi-
schen.60 und.90 angesichts der geringen Item-Anzahl pro Skala gute bis befriedigende
interne Konsistenzen auf.
Zur Analyse der Führungskräfte-Einschätzungen zum teambezogenen Innovationsver-
halten wurde ein im Rahmen des Vorhabens pinowa entwickeltes Check-up-Instrument
für Teamkoordinatoren genutzt. Es beinhaltet neben Bewertungen zu Projektmanagement-
praktiken, die sich im Rahmen von Literaturanalysen als kreativitätsförderliche Faktoren
erwiesen, auch eine Skala zur Messung von teambezogenem Innovationsverhalten von
Janssen (2004).
5.4 Ergebnisse
In einem ersten Schritt wurde der Frage nachgegangen, inwieweit die untersuchten Teams
Formen von biografischer Vielfalt aufweisen. Dabei wurde neben einer Altersverteilung
im Erwerbsverlauf ein Blick auf die Verteilung der Geschlechter, auf den Familienstand
und Ethnien geworfen.
5.4.1.1 Alter
Betrachtet man die Altersverteilung unter den Entwicklern im Sample, so dominiert in der
Gesamtstichprobe die Gruppe der zwischen 31- und 50-Jährigen mit 57 %. Im späteren
5 Lebensphasenorientierte Führung 83
Erwerbsabschnitt über 50 Jahren befinden sich 24 % der Befragten, den geringsten Anteil
mit 19 % haben Beschäftigte in der beruflichen Orientierungsphase.
im Hinblick auf die Altersvariabilität in den untersuchten Teams zeigt sich, dass die
Mehrheit der Entwicklungsteams schon heute altersgemischt ist. Jedes zweite Team hat
Teammitglieder aus der Phase der beruflichen Orientierung, dem mittleren und den späte-
ren Erwerbsabschnitt. Acht der 30 untersuchten Teams sind als „junge“ Teams anzusehen;
sie setzen sich nur aus Teammitgliedern in der Altersspanne zwischen 20 und 40 Jahren
zusammen. Weitere fünf Teams bestehen ausschließlich aus Teammitgliedern des mittle-
ren und späteren Erwerbsabschnittes.
5.4.1.3 Migrationshintergrund
In unserer Stichprobe hatten 7 % der Teammitglieder einen Migrationshintergrund, d. h.
sie hatten Eltern mit Migrationshintergrund oder waren zur Aufnahme einer Beschäftigung
nach Deutschland gekommen. Der Anteil der Teammitglieder mit Migrationshintergrund
entspricht dabei in etwa dem Anteil, der auch in anderen Studien aus dem IT-Bereich
berichtet wird (z. B. Bitkom Research 2013). Bei den jungen Beschäftigten ist dabei der
Anteil der Migranten mit 11 % relativ höher als im Gesamtdurchschnitt.
Aufgrund der insgesamt geringen Anzahl von Teammitgliedern mit Migrationshinter-
grund wurde in der nachfolgenden Analyse auf eine Detailanalyse nach Erwerbsphasen
verzichtet.
In einem zweiten Schritt soll nun der Frage nachgegangen werden, ob das Innovations-
verhalten von Teammitgliedern auch deshalb variieren kann, weil diese sich in den unter-
schiedlichen Arbeitslebensphasen auch anderen Arbeitsvoraussetzungen ausgesetzt sehen.
Analysiert wird dabei, wie die Befragten in den Entwicklungsteams innovationskritische
Arbeitsvoraussetzungen (wie hohe Arbeitsintensität, Qualifikationsmöglichkeiten und In-
novationsklima im Team) in Abhängigkeit von ihren eigenen Lebensphasen bewerten.
Betrachtet man das Erleben von Arbeitsintensität im Erwerbsverlauf, so zeigt sich, dass
die Beschäftigten im späteren Erwerbsabschnitt tendenziell mehr Zeitdruck bei der Arbeit
erleben als Kollegen in der beruflichen Orientierungsphase (siehe Tab. 5.1). Ein ähnliches
Bild zeigt sich auch bei den Qualifikationsmöglichkeiten, die eine zentrale Basisvoraus-
setzung für innovatives Verhalten darstellen. Hier geben nur knapp 40 % der Teammit-
glieder im späteren Erwerbsabschnitt an, dass sie ausreichend Qualifikationsmöglichkei-
ten bei ihrer derzeitigen Arbeitsaufgabe haben, während es bei den Berufseinsteigern mit
78 % ein deutlich höherer Anteil ist.
Das Innovationsklima in den Teams wird von den Befragten in den verschiedenen Er-
werbsphasen jedoch nicht unterschiedlich wahrgenommen. Dies deutet darauf hin, dass es
sich bei den eher negativeren Einschätzungen innovationskritischer Arbeitsvoraussetzun-
5 Lebensphasenorientierte Führung 85
beobachtet werden. Bei den Frauen ist eine ähnliche Tendenz festzustellen. Allerdings
ist die Diskrepanz der Qualifikationsmöglichkeiten im Vergleich der beruflichen Orien-
tierungsphase mit dem späteren Erwerbsabschnitt deutlich gravierender ausgeprägt als
bei den männlichen Kollegen: Während in der beruflichen Einstiegsphase noch 90 % der
weiblichen Beschäftigten gute Qualifikationsmöglichkeiten angeben, sind es im der mitt-
leren Erwerbsphase nur noch 39 % und im späteren Erwerbsabschnitt gerade noch 29 %.
Bemerkenswert ist schließlich noch, dass insbesondere Entwicklerinnen in der späteren
Erwerbsphase das Innovationsklima in den Teams weniger positiv wahrnehmen.
5.4.4 Migrationshintergrund
der Erledigung von Aufgaben einen Zusatzaufwand für die Betroffenen darstellen und
bei gleichen Ergebniserwartungen in der Folge zu erheblichem Zeitdruck führen können.
Wenige Unterschiede gibt es beim Erleben der Qualifikationsmöglichkeiten und des In-
novationsklimas in den Teams: Hier geben die Teammitglieder mit Migrationshintergrund
tendenziell leicht schlechtere Einschätzungen über ihre Qualifikationsmöglichkeiten und
über das Innovationsklima ab.
Betrachtet man als weitere Dimension der Diversität schließlich die Qualifikationsdiversi-
tät, d. h. die unterschiedlichen qualifikatorischen Voraussetzungen der Teammitglieder in
den untersuchten Teams, so variiert das Erleben von Arbeitsvoraussetzungen in den unter-
suchten Teams nach den jeweiligen Qualifikationsniveaus (siehe Tab. 5.6). Die Arbeits-
intensität in den Teams wird insbesondere von den Quereinsteigern (54 %) und von den
Teammitgliedern mit akademischer Ausbildung (49 %) als hoch belastend angegeben. Die
Gruppe der Quereinsteiger gibt darüber hinaus häufiger an, geringere Qualifikationsmög-
lichkeiten zu haben (55 %). Auch das Innovationsklima wird in den Teams in Abhängig-
keit von Qualifikationsniveau als sehr unterschiedlich erlebt. Insbesondere Teammitglie-
der mit einer akademischen Ausbildung geben häufiger an, ein gutes Innovationsklima in
ihren Teams vorzufinden.
Nachdem sich im ersten Analyseschritt bereits gezeigt hat, dass Teammitglieder aus Ent-
wicklungsteams bei der Wahrnehmung ihrer Arbeitssituation in Abhängigkeit von der Be-
rufserfahrung, dem Geschlecht, der Ethnien und den Qualifikationsniveau teilweise nicht
vergleichbar zu sein scheinen, wird nun in einem weiteren Schritt überprüft, ob es auch
Unterschiede beim erlebten Vorgesetztenverhalten gibt (siehe Tab. 5.7 und 5.8).
Im vorliegenden Sample finden sich erste Hinweise darauf, dass das Führungsver-
halten in Abhängigkeit von biografischen „Standort“ unterschiedlich wahrgenommen
wird. Entwickler im späteren Erwerbsabschnitt nehmen etwa das Führungsverhalten ihres
5 Lebensphasenorientierte Führung 89
Tab. 5.7 Erlebte Führungsqualität nach Erwerbsabschnitten, Kindern im Haushalt und Gender.
(Quelle: eigene Erhebung)
Erlebte Berufliche Orientie- Mittlerer Erwerbsab- Späterer Erwerbsab- Gesamt
Führungs- rung (bis 30 Jahre) schnitt (31–49 Jahre) schnitt (50 Jahre und %
qualität älter)
Nach 57 % ( n = 24/42) 53 % ( n = 67/126) 34 % ( n = 17/50) 50 %
Altersstufen
Geschlecht M W M W M W M W
59 % 50 % 50 % 62 % 36 % 29 % 50 52
( n = 19/32) ( n = 5/10) ( n = 46/92) ( n = 21/34) ( n = 13/36) ( n = 4/14)
Kinder im M W M W M W M W
Haushalt?
Ja 100 % ( n = 0) 50 % 80 % 36 % 20 % 51 65
[N = 102] ( n = 5/5) ( n = 22/44) ( n = 12/15) ( n = 5/14) ( n = 1/5)
Nein 50 % 50 % 49 % 47 % 36 % 33 % 46 45
[N = 141] ( n = 13/26) ( n = 5/10) ( n = 23/47) ( n = 9/19) ( n = 8/22) ( n = 3/9)
Teamleiters deutlich häufiger als wenig unterstützend wahr als ihre Kollegen in der be-
ruflichen Orientierungsphase. Im Hinblick auf das Geschlecht zeigt sich zunächst kein
großer Unterschied im Erleben des Führungsverhaltens. Betrachtet man allerdings weib-
liche Teammitglieder mit und ohne Kinder, so ergibt sich hier ein sehr differenziertes Bild:
Während die weiblichen Beschäftigten in der Familienphase hochzufrieden mit dem Vor-
gesetztenverhalten sind, bewerten insbesondere weibliche Teammitglieder ohne Familie
das Führungsverhalten ihres Teamleiters als ungünstig.
Keine großen Unterschiede ergaben sich, wenn man den Aspekt Migrationshintergrund
betrachtet. (Tab. 5.8) Erhebliche Unterschiede im Erleben des Führungsverhaltens gab es
dagegen, wenn man das Qualifikationsniveau der Teammitglieder betrachtete. Insbeson-
dere Quereinsteiger sind mit dem Führungsverhalten eher unzufrieden, während Teammit-
glieder mit einer Hochschulausbildung die Führungsqualität als außerordentlich positiv
bewerten.1
1
Eine differenzierte Berücksichtigung weiterer Aspekte war wegen zu geringer Fallzahlen nicht
möglich.
90 A. Gerlmaier und E. Latniak
In einem letzten Schritt wurde schließlich untersucht, wie Teamleitende die Innovations-
fähigkeit ihrer Teams in Abhängigkeit von biografischer und qualifikatorischer Vielfalt
bewerten. Die Teamleitenden wurden dabei gebeten, zu bewerten, wie ideenreich das
Team ist. Mit Hilfe eines Median-Splits erfolgte dann eine Unterteilung in „hoch kreative“
oder „weniger kreative“ Teams. Anschließend wurde überprüft, ob sich im Hinblick auf
Geschlecht, Alter, Migrationshintergrund und Qualifikation homogene oder heterogene
Teams unterscheiden. Da dazu nur zehn Einschätzungen von Teamleitern vorlagen, sind
die Ergebnisse nicht als repräsentativ zu werten und können lediglich einen beschreiben-
den Charakter für diese Stichprobe haben.
Die Vergleiche zeigten im Hinblick auf die Altersheterogenität, dass altershomogene
Teams tendenziell als ideenreicher bewertet wurden (75 % für altershomogene, 50 % für
altersheterogene Teams). Geschlechtshomogene Teams wurden dagegen tendenziell als
weniger ideenreich von ihren Teamleitern bewertet (50 % für geschlechtshomogene, 67 %
für geschlechtsheterogene Teams). Teams mit heterogenen Ethnien wurden im Hinblick
auf die Ideenfindung von ihren Teamleitern nicht positiver bewertet. Da in der untersuch-
ten Stichprobe allerdings nur drei ethnisch gemischte Teams waren, ist dieser Befund
nicht als allgemeiner Befund zu bewerten.
Im Hinblick auf die qualifikatorische Diversität schätzen Teamleiter Teams mit über-
wiegend akademischer Ausbildung kreativer ein, qualifikationsgemischte Teams liegen
im mittleren Bereich. Teams mit überwiegender Fachausbildung werden als am wenigsten
kreativ bewertet.
5.6 Diskussion
2
Hohe Werte fanden sich auch bei Frauen über 50 Jahren mit Kindern im Haushalt, allerdings bei
sehr geringer Fallzahl.
92 A. Gerlmaier und E. Latniak
che Teams als besonders innovativ war, die altershomogen, geschlechtsgemischt und mit
einem hohen Anteil von Teammitgliedern mit akademischer Ausbildung besetzt sind.
Insbesondere beim letzten Befund ist zu berücksichtigen, dass sich die Teams nicht nur
in ihrer Zusammensetzung, sondern auch hinsichtlich ihrer Aufgaben unterschieden: Dass
Teams, die zu großen Teilen Routineaufgaben bearbeiten, weniger Kreativität entwickeln
können und sollen als „reine“, überwiegend akademisch besetzte Entwicklungsteams ist
naheliegend; dies schlägt sich hier sicher auch nieder.
Auf Grundlage dieser Ergebnisse lassen sich für eine innovationsfreundliche Führung he-
terogener Teams zunächst drei Ansatzpunkte ableiten.
Der erste Ansatzpunkt bezieht sich auf einen reflektierten Umgang mit bestimmten Ste-
reotypien von Führungskräften bezüglich der Leistungsvoraussetzungen unterschiedlicher
Beschäftigtengruppen im Team. Zwar basieren die Ergebnisse unserer Analysen primär
auf Beschäftigteneinschätzungen. Doch gibt es Hinweise darauf, dass Frauen, Ältere,
Quereinsteiger/innen und Eltern im Hinblick auf ihre Arbeitstätigkeiten von den Team-
leitenden unterschiedlich behandelt werden. Eine „Sonderbehandlung“ von Teammitglie-
dern aufgrund ihres Alters, Geschlechts oder ihrer Lebensphase ist dabei von Führungs-
kräften nicht selten mitarbeiterorientiert gedacht, schafft für diese Beschäftigtengruppen
jedoch langfristig Entwicklungsnachteile beziehungsweise kann Konflikte in Teams ver-
ursachen. In Gruppendiskussionen mit den Teams wurde beispielsweise immer wieder
davon berichtet, dass Frauen gerne für Organisations- und Koordinierungsaufgaben im
Team eingesetzt werden, weil ihnen eine hohe Sozialkompetenz und Organisationstalent
zugeschrieben werden. Diese Tätigkeiten sind jedoch häufig hochgradig zeitkritisch und
ein dauerhafter Einsatz in diesem Tätigkeitsfeld führt von der ursprünglichen Basisquali-
fikation weg (Spezialisierungsfalle). Auch wurde uns von Teamleitenden berichtet, dass
sie ältere Beschäftigte gerne im technischen Support einsetzen, um ihnen den Stress in der
Projektarbeit „abzunehmen“. Durch diesen Tätigkeitswechsel werden ältere Beschäftigte
jedoch häufig von Weiterbildungsmöglichkeiten und neuen technischen Entwicklungen
abgeschnitten, was ihre Einsatzflexibilität massiv beeinträchtigt. Solche Stereotypien auf-
zulösen und bewusster mit ihnen umzugehen, wird angesichts zukünftig „bunter“ und
heterogener werdender Teamzusammensetzungen auch in Entwicklungsbereichen ein zu-
nehmend wichtiger und erfolgskritischer Faktor der direkten Mitarbeiterführung werden.
Hier gilt es, durch entsprechende Führungskräfteentwicklung (z. B. durch Trainings
oder durch Coaching) die Reflexionsfähigkeit der Führenden im Hinblick auf stereotype
5 Lebensphasenorientierte Führung 93
Einen zweiten Ansatzpunkt sehen wir in einer gezielteren und systematisierten Laufbahn-
gestaltung durch die Führungskräfte, die stärker auf die Qualifikations- und Entwick-
lungsmöglichkeiten in späteren Erwerbsphasen gerichtet sein sollte. Ziel sollte es sein,
einerseits Spezialisierungsfallen zu vermeiden, wie sie etwa für Spezialisten oder Quer-
einsteiger drohen. Die vermeintliche Kosteneinsparung im Bereich der Weiterbildung, die
über eine hohe Spezialisierung erzielt werden kann, birgt erhebliche Risiken der Einsatz-
flexibilität und der Beschäftigungsfähigkeit im späteren Erwerbsabschnitt. Gleiches gilt
insbesondere auch für die Beschäftigten in der Familienphase mit Kindern. Hier konnten
wir teilweise eine Aufgabenteilung in den Teams beobachten, bei der zeitlich weniger
leicht verfüg- oder einsetzbare Beschäftigte (häufig Mütter) eher mit zum Beispiel ad-
ministrativen Aufgaben betraut wurden. Ein zeitlich längerfristiger Einsatz in eher de-
qualifizierenden Arbeitsbereichen erhöhte das Risiko, im Anschluss an die Familienphase
keine Fach- oder Führungslaufbahn mehr einschlagen zu können. Regelmäßige Stand-
ortgespräche, die einen Fokus auf die aktuelle Arbeits- und Lebenssituation, aber auch
auf zukünftige Entwicklungspfade legen, stellen fruchtbare Werkzeuge der Personalarbeit
dar, die derartige berufliche Sackgassen vermeiden können. Das Instrument wird in vielen
Betrieben insbesondere bei Berufseinsteiger/innen angewendet, jedoch nicht systematisch
über die gesamte Erwerbsspanne hinweg weitergeführt. Ein weiterer Ansatzpunkt im Be-
reich der Mitarbeiterführung, der helfen kann, Leistungs- und Innovationspotenziale von
Teammitgliedern nachhaltig zu fördern, sind regelmäßige und systematische Aufgaben-
wechsel in den Teams. Gerade in Entwicklungsteams mit überwiegend hochspezialisier-
ten Teammitgliedern stößt dieses Instrument bisher sowohl bei den Beschäftigten als auch
bei den Führungskräften auf wenig Gegenliebe. Erstere wollen ungern ihr Aufgabengebiet
und das damit verbundene Know-how („Wissen ist Macht“) verlassen. Letztere befürch-
ten durch Aufgabenwechsel im Team erhöhte Qualifizierungskosten, die angesichts eines
in vielen Betrieben immer größer werdenden Kostenbewusstseins einen erhöhten Begrün-
dungsaufwand gegenüber der Geschäftsführung erzeugen.
Dennoch ist der Ansatz, das notwendige Wissen in den Teams mit wechselnden Aufga-
benstellungen breiter zu streuen und weiterzuentwickeln, aus unserer Sicht unumgänglich,
je heterogener die Teams zukünftig werden. Dies einerseits im Unternehmen zu organisie-
ren und andererseits auch im Team zu kommunizieren wird eine wesentliche Führungs-
aufgabe werden.
94 A. Gerlmaier und E. Latniak
Der dritte und letzte Ansatz zielt auf die Begrenzung der Arbeitsintensität und die Sorge
für ausreichende Erholungsmöglichkeiten inner- und außerhalb der Arbeit ab. Die Ergeb-
nisse unserer Untersuchung deuten darauf hin, dass Führungskräfte durch ihre derzeitige
Praxis, bestimmte Gruppen in den Teams lebensphasensensibel zu führen, gleichzeitig
durch Umverteilung von Arbeit andere Gruppen im Team überlasten. So gab es Hinwei-
se darauf, dass gerade so genannte Leistungsträger in der mittleren Erwerbsphase ohne
Kinder Gefahr laufen, in Überlastsituationen zu geraten, weil Führungskräfte den Berufs-
einsteiger/innen, Älteren oder Teammitgliedern mit Familie bestimmte Aufgaben nicht
zumuten wollen. Eine lebensphasensensible Führung sollte nicht bei einer Belastungsver-
schiebung stehenbleiben: Im Mittelpunkt muss die Prävention psychischer Belastungen
stehen, von der alle Beschäftigtengruppen im Team profitieren können. Nur so kann eine
lebensphasensensible Führung in Teams praktiziert werden, ohne dass es in den Teams zu
Spannungen oder Stigmatisierungen kommt. Wie dies konkret angegangen werden kann
und welche Handlungsmöglichkeiten dafür geschaffen werden können, wird im Kap. 14
in diesem Band ausführlich dargestellt.
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6.1 Einleitung
Der demografische Wandel in Deutschland verändert neben vielen Aspekten auch die
Sicht auf die Personalrekrutierung deutlich. Die höhere Lebenserwartung, die geringe-
ren Geburtenzahlen, das ansteigende Durchschnittsalter der Beschäftigten und die abneh-
mende Anzahl der Erwerbstätigen sind wichtige Gründe für einen Perspektivenwechsel
im Personalmanagement. Zukünftig wird der Pool potenzieller Arbeitskräfte kleiner und
somit steigt für die Unternehmen die Herausforderung, offene Stellen mit geeignetem
qualifiziertem und motiviertem Personal zu besetzen, beziehungsweise das vorhandene
Personal zu binden (Peters et al. 2013).
Im Rahmen des Projektes „pinowa – Arbeitslebensphasensensibles Personalmanage-
ment als Innovationstreiber im demografischen Wandel“ erforschte das iap – Institut für
Arbeit & Personal der FOM Hochschule diversitätsförderliche Strategien zur Personal-
rekrutierung in kleinen und mittleren Innovationsstrukturen. Ziel war es dabei, aktuelle
Rekrutierungsprozesse in kleinen und mittleren Unternehmen zu analysieren und diversi-
tätsförderliche Rekrutierungskonzepte zu entwickeln.
Zunächst wird der Begriff „Employer Branding“ genauer beleuchtet. Dazu werden
Definitionen, Strategien und grundlegende konzeptionelle Entwicklungsschritte
dargestellt. Weiter werden neuroökonomische Forschungsergebnisse erläutert und
auf mögliche Rekrutierungsschritte übertragen. Basierend auf diesen Grundlagen
werden mit Blick auf den Zusammenhang von Lebensphasenorientierung und Emp-
loyer Branding praxisnahe Anwendungsbeispiele für Innovationsstrukturen kleiner
und mittlerer Unternehmen vorgestellt. Hierfür wird als neue Anwendungsform die
Entwicklung des lebensphasenorientierten Employer Branding auf die Struktur des
klassischen Projektmanagements adaptiert.
1
Zur Arbeitsmarktsituation in den Ingenieurs- und Entwicklungsberufen siehe Kap. 2 in diesem
Band.
6 Innovatives Employer Branding durch Lebensphasenorientierung 99
„Die positive Wirkung und Wahrnehmung eines Unternehmens als attraktiven Arbeit-
geber oder „Employer of Choice“ kann zum entscheidenden Erfolgsfaktor im Wetteifer
um gutes Personal werden“ (Andratschke et al. 2009, S. 13). Jedes Jahr bewerben sich
zahlreiche Unternehmen bei verschiedenen Wettbewerben (z. B.: „Great Place to Work“,
„Deutschlands beste Arbeitgeber“, „TOP JOB“) und freuen sich, wenn sie im Ranking vor
ihren Mitbewerbern stehen. Für große Unternehmen ist dieses Ranking fast schon eine
Selbstverständlichkeit.
Wie sieht es aber bei den kleinen und mittleren Unternehmen aus? Haben diese über-
haupt eine Chance, auch als attraktives Unternehmen gegenüber den großen Marken
wahrgenommen zu werden? Bekannte Unternehmen haben dabei natürlich einen großen
Vorteil: Sie werden bereits durch drei Streifen oder einen gewissen Stern erkannt und für
gut befunden. Mit dem Namen von Prominenten werden Produkte verknüpft und diese
Marken werden automatisch mit hoher Unternehmensattraktivität und Loyalität assoziiert
– oder verbinden Sie mit dem Schauspieler George Clooney etwa das Produkt Apfelsaft?
Kleine und mittlere Unternehmen werden kaum die finanziellen Spielräume für pro-
minente Unterstützung haben, aber sie können andere effektive Möglichkeiten des Em-
ployer Branding für eine optimale Personalrekrutierung nutzen und insbesondere auf ihre
spezifischen KMU-Stärken eingehen. So zeichnen sich KMU insbesondere durch hohe
Verantwortung für einzelne Bereiche, familiäres Betriebsklima, direkten Kontakt zur Ge-
schäftsführung, kurze Abstimmungswege, große Handlungs- und Gestaltungsspielräume,
Innovationsfreude oder Flexibilität bei Entscheidungen aus (Achtenhagen et al. 2012).
Und diese positiven Erfolgsfaktoren werden nicht selten von KMU als selbstverständlich
und nicht groß erwähnenswert betrachtet. Jedoch lässt sich gerade hier ein Benefit für das
Employer Branding erzielen, wenn beispielsweise für einen Mitarbeiter in einer belasten-
den Lebensphase das Angebot besteht, für einen begrenzten vereinbarten Zeitraum die
Arbeitszeit von 100 % auf 75 % zu reduzieren.
6.2.1 Begrifflichkeit
hinsichtlich der Rekrutierung und Bindung von Personal im Mittelpunkt. Eine bekannte,
starke Produktmarke kann bereits positive Auswirkungen auf die wahrgenommene Unter-
nehmensattraktivität haben, wie umgekehrt ein Unternehmen mit einer weniger beachte-
ten Produktmarke entsprechend in der Außenwirkung schlechter abschneidet.
Auch die Beschäftigten tragen durch eigene Darstellungen ihres Unternehmens und
durch engagiertes, loyales Auftreten zur positiven Entwicklung der Arbeitgebermarke
nach außen bei. Das Employer Branding beinhaltet somit alle Aktivitäten, die wirksam die
Arbeitgebermarke positiv beeinflussen und gestalten (Andratschke et al. 2009, S. 12 f.).
Somit werden mit dem Employer Branding die Prinzipien der Markenbildung auf das Hu-
man Ressource Management übertragen, wobei Arbeitgeberin und Arbeitgeber als Marke
und die Beschäftigten als Kundinnen und Kunden betrachtet werden.
Nach der Definition der Deutschen Employer Branding Akademie (DEBA) sieht das
Unternehmen die Arbeitgebermarke als Instrument, das einerseits durch kontinuierliche
Verbesserung der Prozesse weiterentwickelt wird und andererseits die gelebte Unterneh-
menskultur beeinflusst:
Employer Branding ist die identitätsbasierte, intern wie extern wirksame Entwicklung und
Positionierung eines Unternehmens als glaubwürdiger und attraktiver Arbeitgeber. Kern des
Employer Branding ist immer eine die Unternehmensmarke spezifizierende oder adaptie-
rende Arbeitgebermarkenstrategie. Entwicklung, Umsetzung und Messung dieser Strategie
zielen unmittelbar auf die nachhaltige Optimierung von Mitarbeitergewinnung, Mitarbeiter-
bindung, Leistungsbereitschaft und Unternehmenskultur sowie die Verbesserung des Unter-
nehmensimages. Mittelbar steigert Employer Branding außerdem Geschäftsergebnis und
Markenwert. (DEBA 2007).
Damit verfolgt das Employer Branding mehrere Ziele. Zum einen soll die Attraktivität des
Arbeitgebers durch ein besonders gutes Image gesteigert werden. Potenzielle Bewerbe-
rinnen und Bewerber sollen auf das Unternehmen durch sein einmaliges, besonders posi-
tives Profil aufmerksam werden. Dies erleichtert die Personalrekrutierung für das Unter-
nehmen, beispielsweise durch eine höhere Anzahl an guten Bewerbungen. Eine positive
Arbeitgebermarke wirkt zudem auch intern. Die bereits im Unternehmen beschäftigten
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeiten gerne bei beliebten Arbeitgebern, die meist in
der Außenwirkung einen hohen Stellenwert haben. Sie identifizieren sich mit ihrem Unter-
nehmen, sind motiviert und loyal und zeigen hohe Bindungsbereitschaft. Fluktuation ist
dadurch gering, was wiederum die Personalbeschaffungs- und Einarbeitungskosten für
das jeweilige Unternehmen reduziert (Andratschke et al. 2009, S. 12).
anderen Unternehmen. Die jeweilige Definition der EVP für Aufbau und Plan der Arbeit-
gebermarke folgt einem bestimmten Zyklus. Nach diesem Employer-Branding-Zyklus
(Trost 2013, vgl. Abb. 6.1) stehen zur Definition der EVP zunächst in einem ersten Ana-
lyseschritt die Ermittlung der Arbeitgebereigenschaften, der Zielgruppenpräferenzen, der
Wettbewerbsposition, des Arbeitgeberimages sowie der Unternehmensmarke an: Warum
arbeiten Menschen gerne bei einem Arbeitgeber? Welche besonderen Angebote zählen zu
den Stärken des Arbeitgebers? Dies muss nicht immer das gute Gehalt sein. Eine sinnvolle
Tätigkeit, die Möglichkeit sich weiterzuentwickeln, aber auch die Option, die unterschied-
lichen beruflichen und außerberuflichen Anforderungen in der jeweils aktuellen Lebens-
phase gut auszubalancieren, zum Beispiel durch flexible Arbeitszeiten, können wirkungs-
volle Stärken eines Arbeitgebers sein. Manchmal sind diese Stärken vorhanden, ohne dass
sie im Unternehmen bewusst wahrgenommen und kommuniziert werden. Daher ist die
Überprüfung möglicher effektiver Faktoren ratsam.
Der zweite Faktor bezieht sich auf die Zielgruppenpräferenzen, die es zu definieren
gilt. Welche Interessen und Wünsche hat die Zielgruppe, die es zu gewinnen gilt? Tech-
nisches Personal wird meist im Umfeld von technischem Personal gesucht und gezielt
angesprochen. Jedoch sollte im Sinne einer diversitätsorientierten Rekrutierungsstrategie
eben auch mal „über den Tellerrand“ geblickt werden. Vielleicht finden sich sehr gute
technisch interessierte Kandidatinnen und Kandidaten, wenn der Scheinwerfer auch auf
Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger, unterschiedliche Altersgruppen oder Personen in
verschiedenen Lebensphasen gerichtet wird.
Die Positionierung als guter Arbeitgeber im Wettbewerb um qualifiziertes Personal ist
weiter wichtig, um sich einen möglichen Vorteil gegenüber anderen Unternehmen zu ver-
schaffen. Wenn ähnliche Unternehmen mit den gleichen Eigenschaften nach der gleichen
102 U. Hellert et al.
Zielgruppe suchen, kann es zu Engpässen kommen. Lässt sich für das eigene Unternehmen
eine besondere Zielgruppe oder eine besondere Arbeitgebereigenschaft generieren, die
selbstverständlich authentisch sein muss, so kann das Arbeitgeberversprechen erfolgreich
positioniert werden. Hierzu sollten sowohl die Unternehmens- beziehungsweise Produkt-
marke als auch das bestehende Arbeitgeberimage berücksichtigt werden. Eine fundiert
analysierte und strategisch ausgerichtete EVP ist im nächsten Schritt in Verbindung mit
der unternehmensspezifischen Strategie zu kommunizieren. Dabei sind die entsprechen-
den Kommunikationsmedien und -wege anzuwenden.
Im Ergebnis bildet die authentisch und differenziert entwickelte EVP somit den Kern
der Employer-Branding-Strategie. Schließlich sollte die EVP, also das entwickelte Allein-
stellungsmerkmal als attraktiver Arbeitgeber, kontinuierlich reflektiert und bei Bedarf an-
gepasst werden (Trost 2013).
1. Cockpit-Check: Das Employer Branding sollte aus der Unternehmens- und Personal-
strategie abgeleitet werden. Die bestehende Unternehmensmarke gilt als strategische
Leitplanke.
2. Runder Tisch: Das Management sollte den Prozess von Beginn an unterstützen und
regelmäßig an entsprechenden Workshops teilnehmen. Die Verzahnung von Personal-
management und Marketing ist besonders wichtig und schafft Synergien.
3. Umfeld erkunden: Markt und Wettbewerb sind zu analysieren, dabei sollten die exter-
nen und internen Zielgruppen, also die Beschäftigten sowie die potenziellen Bewerbe-
rinnen und Bewerber, im Fokus stehen.
4. Ziele ermitteln: Die Positionierung soll zu den Unternehmenswerten und -zielen sowie
zur Unternehmenskultur insgesamt passen. Spezifische Chancen und Risiken sind zu
ermitteln und intern zu testen.
5. Selbstbild überprüfen: Die Arbeitgebermarke sollte authentisch sein. Das offizielle
Selbstbild sollte genau überprüft werden und zur gelebten Realität passen.
6. Starke Marke anstreben: Das Employer Branding sollte stark und prägnant sein,
sowohl in der internen als auch in der externen Wirkung.
7. Vorgehensweise planen: Ein Kreativkonzept soll die einzelnen Planungs- und Umset-
zungsschritte beinhalten und die operativen und taktischen Maßnahmen darstellen.
8. Erfolg messen: Definierte Erfolgsfaktoren ermöglichen eine Überprüfung beziehungs-
weise Nachbesserung einzelner Maßnahmen.
2
Zur konkreten Entwicklung und Umsetzung in der Praxis siehe Abschn. 1.3 Anwendungsbeispiel
für kleine und mittlere Innovationsstrukturen in diesem Beitrag.
6 Innovatives Employer Branding durch Lebensphasenorientierung 103
Studienergebnisse belegen eindeutig die große Bedeutung der Arbeitgebermarke bei der
Arbeitgeberwahl. Die Außenperspektive der Marke verkörpert einen entscheidenden Fak-
tor. Die Gewinnung neuer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wird durch die Attraktivität
des Unternehmens positiv beeinflusst (vgl. Andratschke et al. 2009, S. 124), dies spricht
für die Anwendung des Employer-Branding-Ansatzes auch in KMU.
Der multidisziplinäre Ansatz des Employer Branding ist dabei erfolgversprechend. Die
konsequente Zusammenarbeit und Abstimmung zwischen Personalmanagement, Marke-
ting und Geschäftsführung im Kontext der Unternehmenskultur und -strategie ist hierbei
eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg. Die Unternehmenskultur betrifft dabei nicht
nur die sichtbaren Symbole und Zeichen oder die teils sichtbaren Normen und Leitlinien
des Unternehmens, sondern insbesondere die unsichtbaren Basisannahmen (Schein 2004,
S. 26). Hierzu zählen die meist unbewussten Annahmen über die Umwelt, die handelnden
Menschen, die sozialen Beziehungen oder über Wahrheit und Zeit. Ein wirkungsvolles
und authentisches Employer Branding interagiert mit diesen Basisannahmen.
Beispiel
Ein Unternehmen beschreibt auf seiner Homepage die hervorragende Möglichkeit,
Familie und Beruf zu vereinbaren. Mehrere familienfreundliche Maßnahmen werden
dargestellt und mit entsprechenden Bildern untermauert. Dies wirkt dann authentisch,
wenn sich die Bewerberin oder der Bewerber beispielsweise im Interview auch davon
überzeugen kann. Was hält die Geschäftsführung eigentlich von Homeoffice? Wie vie-
le Männer sind in Elternzeit? Wie viele weibliche und männliche Führungskräfte sind
in Teilzeit beschäftigt? Im Gespräch wird schnell deutlich, ob die familienfreundlichen
Angebote auf der Karriereseite tatsächlich zu den Basisannahmen der Unternehmens-
kultur passen oder ob sie als reine Symbolik entlarvt werden.
6.2.1.3 Psychologische Einflussfaktoren
Um weniger Überstunden machen zu müssen und kürzere Anfahrtszeiten zu haben, hat
sich ein Arbeitnehmer vorgenommen, den Arbeitgeber zu wechseln. Nun erhält er völlig
überraschend ein Angebot seines Lieblingssportartikelherstellers. Was nun? Er ist spontan
total begeistert, absolviert erfolgreich die Interviews und nimmt das Angebot für eine
Führungsposition an. Seine ursprünglichen rationalen Wechselgründe zählen nicht mehr,
die Emotionen haben entschieden.
Wie bei einer Kaufentscheidung, so können auch bei der Entscheidung für oder gegen
einen Arbeitgeber psychologische Einflussfaktoren die ökonomische Nutzenmaximierung
entschärfen (Werth 2004). Der subjektive Wert des Unternehmens oder die subjektive
Arbeitgeberattraktivität kann von der objektiven stark abweichen, beispielsweise wenn
bestimmte Wahrnehmungskanäle positive Assoziationen auslösen. Es ist hinreichend be-
kannt, dass Schokowaffeln nicht in Einzelfertigung von Meisterhand gebacken werden,
wie uns dies die Werbung suggeriert, und doch lassen wir uns als Konsumenten und Kon-
sumentinnen von der gemütlichen, ursprünglichen Backstubenatmosphäre zum Kauf ver-
leiten. Es wirken die visuellen Bilder der nostalgischen Umgebung, die weichen Töne
stimulieren unseren auditiven Kanal und herzliche Szenen mit Kindern bringen uns zudem
in positive Kaufstimmung. Manche können dabei sogar den Duft der Backstube oder den
süßen Geschmack auf der Zunge erspüren.
Welchen Einfluss die Emotionen und Gedanken auf das individuelle Verhalten haben,
wurde inzwischen in neuroökonomischen Studien erforscht. Das Denkmodell des Homo
Oeconomicus als den rationalen Nutzenmaximierenden wurde dabei abermals grundle-
gend hinterfragt. Erkenntnisse der Neuroökonomie liefern interessante, hilfreiche und
fundierte Implikationen für die Entwicklung und Etablierung eines wirkungsvollen Emp-
loyer Branding beziehungsweise untermauern bestehende Empfehlungen. Abb. 6.2 zeigt
fünf relevante psychologische Aspekte, die das Employer Branding beeinflussen können
(Bach und Sterner 2011).
Geeignete Assoziationen zur Unternehmensmarke sind wichtig, da sich im Gehirn
aus dem vorhandenen Wissen zu einem bestimmten Unternehmen so genannte Schema-
ta oder Muster bilden. Das Employer Branding kann somit auf ein bestehendes Sche-
ma zur Unternehmensmarke zurückgreifen und dies verknüpfen. Dies wird in der Praxis
bereits erfolgreich genutzt, indem Unternehmen beispielsweise Werbespots schalten und
die eigenen Beschäftigten direkt in Kontakt mit potenziellen Bewerberinnen und Bewer-
bern treten. Ein mittelgroßes Unternehmen könnte entsprechend Auszubildende in einem
Radiobeitrag zu Wort kommen lassen und so beispielsweise eine Verbindung zwischen
Unternehmensmarke und Arbeitgeber etablieren.
Der Arbeitgeber sollte im Bewerbungsverfahren möglichst positive Bauchgefühle
initiieren. Bei jeder späteren Erinnerung an das Unternehmen werden die vorher gemach-
ten und im Gehirn gespeicherten Zustandserinnerungen wieder aktiviert. Diese so genann-
ten somatischen Marker (griechisch soma = Körper) sind beispielsweise dafür verantwort-
lich, dass der Anblick von Schlangen oder Spinnen bei manchen Menschen einen Schauer
auslöst oder das Bild eines Lieblingsgerichtes den Speichelfluss anregt.
6 Innovatives Employer Branding durch Lebensphasenorientierung 105
Abb. 6.2 Psychologische Aspekte des Employer Branding. Quelle: in Anlehnung an Bach und Ster-
ner 2011
3
Vgl. dazu auch Kap. 11 in diesem Band.
106 U. Hellert et al.
Atmosphäre wirkt hier ganz besonders stark auf das verankerte Gefühl und damit auf die
erwünschte positive Assoziation mit dem potenziellen Arbeitgeber.
Durch die gute, zielgerichtete Kommunikation von Werten kann die Arbeitgeber-
marke ebenfalls emotional aufgeladen werden. Dabei funktioniert die positive emotionale
Bedeutung einer Marke unabhängig von der tatsächlichen Produkterfahrung. Ein großes
Chemieunternehmen kann beispielsweise in den unterschiedlichsten Divisionen tätig
sein, die nicht mit einer Produkterfahrung in Verbindung gebracht werden können. Auf-
grund positiver Berichte von Beschäftigten aus dem Freundes- und Verwandtenkreis kann
jedoch ein guter Ruf, vielleicht als familienfreundliches Unternehmen, und somit eine
gute Employer Brand etabliert werden. Kleine und mittlere Unternehmen könnten die-
sen Effekt nutzen, um auch in ländlichen Regionen qualifiziertes Personal zu rekrutieren.
Bewerberinnen und Bewerber reflektieren die durch das Unternehmen kommunizierten
Werte häufig auch mit ihren eigenen Einstellungen und Überzeugungen. Ergeben sich
dabei Übereinstimmungen, dann fühlt sich die Bewerberin oder der Bewerber zu einem
Unternehmen hingezogen. Die Kommunikation der Unternehmenswerte wird von einigen
Unternehmen daher auch direkt durch die Geschäftsführung auf sehr persönliche Art und
Weise vorgenommen. Hierfür bieten sich vor allem die Internetseiten des Unternehmens
an. Die Botschaften des Unternehmens sollten daher entsprechend angepasst werden.
Die Auswahl von sogenannten Framing-Elementen sollte gezielt erfolgen. Das Fra-
ming bezeichnet im Marketing die Darstellung einer Information in einem bestimmten
Kontext. Die Unternehmensfarben, das Logo oder insgesamt die Corporate Identity
werden wie beispielsweise ein bekanntes Produkt bei Stellenanzeigen eingesetzt. Dies
funktioniert natürlich in erster Linie bei fest etablierten und positiv besetzten Produkten
und Firmenlogos. Ganz unbewusst werden so vertraute Elemente genutzt, um auch als
Arbeitgeber einen vertrauensvollen Eindruck zu machen. Eingebunden in den positiven
Rahmen, können somit weitere Assoziationen erstellt werden. Dabei sollte auf die unter-
schiedlichen individuellen Wahrnehmungsmöglichkeiten geachtet werden. Menschen mit
einer Pollenallergie fühlen sich durch blühende Wiesen sicherlich nicht positiv gestimmt.
Die Aufmerksamkeit einer Entwicklungsingenieurin ist dagegen wahrscheinlich durch
eine besonders innovative technische Abbildung zu gewinnen.
Zusammengefasst spielen unterschiedliche Erkenntnisse eine große Rolle bei der Wirk-
samkeit einer guten Arbeitgebermarke. Erfolgreich kann das Employer Branding jedoch
nur dann entwickelt werden, wenn die unternehmensspezifische Situation, die strategische
Ausrichtung und die Unternehmenskultur im Kontext der Personalplanung und der Perso-
nalbedarfsermittlung berücksichtigt werden.
der Lebenszyklen von Anita Graf (2002) grundsätzlich in biosoziale, familiäre, berufli-
che und betriebliche Phasen. Die Lebensphasen unterliegen mehr denn je einem konti-
nuierlichen Wandel, umso wichtiger ist es, die Lebensphasenorientierung zu nutzen, um
Veränderungen im Lebenslauf gut zu prognostizieren und wichtige Anhaltspunkte für das
strategische Personalmanagement daraus abzuleiten.
Der Begriff der Lebensphasenorientierung wird häufig verwendet, wenn es um die
Gestaltung der Personalentwicklungsstrategie geht (Graf 2007). Er lässt sich jedoch viel
weiter fassen und mit Aspekten des Personalmanagements verbinden: Eine lebensphasen-
orientierte Personalpolitik „nimmt einerseits die unterschiedlichen privaten Lebensphasen
sowie die beruflichen Phasen, in denen sich Beschäftigte befinden, in den Blick“ (Rump
et al. 2014, S. 20) und verknüpft diese bezogen auf die betrieblichen Handlungsfelder mit
den „bereits vorhandenen personalpolitischen Instrumenten und Maßnahmen“ (ebd.).4
Die Lebensphasenorientierung ist somit gut geeignet, das Konzept des Employer Bran-
ding zu reflektieren. Die entwickelte Employer-Branding-Strategie sollte beispielsweise
dahingehend überprüft werden, ob die betrieblichen Angebote und die im Unternehmen-
salltag gelebten Werte auch für konfliktreiche Lebensphasen, in denen unterschiedliche
Anforderungen ausbalanciert werden müssen, unterstützend und hilfreich sind. Die Fa-
miliengründung beispielsweise findet heute im Vergleich zu den früheren Generationen
später statt. Dies kann bedeuten, dass die vor allem zeitlich anspruchsvolle Familienphase
mit einer beruflichen Karrierephase zusammenfällt und somit in eine „Vereinbarkeitskri-
se“ führt. Ferner würden zunehmend Beschäftigte unter geeigneten Rahmenbedingungen
gerne in der dritten Lebensphase bei guter Gesundheit als so genannte „Silver Worker“
weiterhin freiwillig erwerbstätig sein. Durch ein entsprechendes Angebot kann das Unter-
nehmen wichtiges Personalvermögen (als Produkt aus vorhandenen Arbeitsmotivationen
multipliziert mit Qualifikationen) binden und fördert gleichzeitig seine Arbeitgeberattrak-
tivität. Auch die berufliche Orientierung unterliegt einem ständigen Wandel. Für Beschäf-
tigte und Unternehmen hat die Bedeutung der individuellen Weiterbildung zur Sicherung
der Beschäftigungs- und Wettbewerbsfähigkeit deutlich zugenommen. Die berufliche
Qualifikation beispielsweise durch ein duales Studium erfordert zusätzliche Lernzeiten,
die wiederum durch entsprechende flexible Arbeitszeiten gefördert werden können und
sich positiv auf das Employer Branding auswirken. Zahlreiche Innovationen in Unter-
nehmen beeinflussen schließlich auch die betrieblichen Lebensphasen der Beschäftigten.
Neue Technologien, neue Arbeitsformen wirken auf die betrieblichen Abläufe und auf
die Art und Weise, wie die Arbeit erledigt wird. Auch hierbei können gute, partizipativ
entwickelte Rahmenbedingungen nicht nur als Schutzmechanismen dienen, sondern das
Employer Branding nachhaltig stärken.
Existieren entsprechende lebensphasenorientierte Angebote, wie ein gutes betriebli-
ches Gesundheitsmanagement, eine Vertrauensarbeitszeit oder die Option eines Homeof-
fice, dann sollten diese genutzt werden, um das Unternehmen in der Öffentlichkeit, zum
Beispiel auf den Karriereseiten im Internet oder in Stellenanzeigen, in ein positives Licht
4
Konkrete Ausdrucksformen von Lebensphasenorientierung finden sich auch im Anwendungsbei-
spiel (Abschn. 1.3).
108 U. Hellert et al.
zu rücken. Gleichzeitig kann überprüft werden, ob alle Versprechen, die das Employer
Branding formuliert, ihre Entsprechung in der gelebten Unternehmenskultur und den an-
gebotenen Maßnahmen haben. Hierdurch wird gewährleistet, dass nur authentische Ar-
beitgeberversprechen (siehe Abschn. 6.2.1.1) formuliert werden.
Insgesamt ergeben sich somit viele und unterschiedliche nutzbringende Verbindungen
und Überschneidungen aus den beiden Konzepten der Lebensphasenorientierung und ei-
nes soliden Employer Branding, die insbesondere in kleinen und mittleren Innovations-
strukturen wirksam und nachhaltig umgesetzt werden sollten.
Initialisierung
Im ersten Schritt werden der konkrete Handlungsbedarf sowie die Machbarkeit ermit-
telt. Hierzu werden Informationsquellen benötigt, die als Indikatoren für die Beurteilung
des aktuellen Employer Branding verwendet werden können.5 Für die Wirkungsweise des
Personalrekrutierungsprozesses sollten ebenfalls entsprechende Informationen herange-
zogen werden. Beispielsweise kann differenziert ermittelt werden, wie viele Bewerbe-
rinnen und Bewerber sich mit welchen Kompetenzen auf die letzte Stellenausschreibung
gemeldet haben.
Definition
Anschließend werden bei bestehendem Handlungsbedarf die jeweiligen Ziele sowie
die nötigen Arbeitspakete definiert. Ziele sind entsprechend überprüfbar zu definieren
(SMART = spezifisch, messbar, aktiv beeinflussbar, relevant, termingerecht). Geeignete
Indikatoren sind zum Beispiel zur Sicherung der Messbarkeit festzulegen.
Ein mögliches und umfangreiches Arbeitspaket könnte etwa die aktuellen Arbeitge-
bereigenschaften betreffen. Dabei gilt es, auch die weniger bekannten positiven Eigen-
schaften aufzudecken, die vielleicht als Selbstverständlichkeit gelten, jedoch für Außen-
stehende von großer Bedeutung sein könnten. Beispielsweise das stets „offene Ohr“ einer
Führungskraft, die auch in schwierigen privaten Lebensphasen bereits Lösungen mit
5
Zum Beispiel KMU-Lebensphasen-Check, siehe Kap. 12 in diesem Band.
110 U. Hellert et al.
Betroffenen geschaffen hat. Hier zählen die gern erzählten Geschichten („Storytelling“)
aus dem Unternehmen. Diese sollten daraufhin geprüft werden, ob sie sich für ein Arbeit-
geberversprechen eignen. Weiterhin könnte man sich die Frage stellen, welche Eigen-
schaften sich durch das hergestellte Produkt ableiten lassen. Entwicklungsingenieurin-
nen und Entwicklungsingenieure, die hochsensible, technische Apparaturen konstruieren,
könnten das Thema „Vertrauen“ transportieren – denn Vertrauen in das Produkt wird häu-
fig assoziiert mit Vertrauen in den Arbeitgeber. Der Anblick einer hochkomplexen Pro-
duktionsanlage suggeriert beim Betrachter die Eigenschaft einer verantwortungsvollen
und sinnerfüllenden Tätigkeit und dies lässt sich bei guter Kommunikation in Form der
somatischen Marker „erspüren“.
Eine weitere wichtige Arbeitgebereigenschaft könnte durch das Thema Gesundheit de-
finiert sein: Werden Angebote im betrieblichen Gesundheitsmanagement gemacht? Wel-
che Aktivitäten sind im Unternehmen angesiedelt? Dies kann für Bewerberinnen und Be-
werber unterschiedlicher Lebensphasen sehr interessant sein, da es sowohl die Wertschät-
zung für die Arbeitsfähigkeit als auch für eine gute Lebensqualität zum Ausdruck bringt.
Insbesondere ältere Beschäftigte könnten sich besonders angesprochen fühlen. Ähnlich
wirkungsvoll sind Angebote zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die je nach
Lebensphase von großer Bedeutung sind. Die Vielfalt an Lebensentwürfen und somit an
unterschiedlichen Lebensphasen ist in kleinen und mittleren Unternehmen sehr häufig
ebenso gegeben wie in den bekannten DAX-Unternehmen. Beispielsweise kann ein klei-
nes Unternehmen einen Zuschuss zur Kinderbetreuung gewähren und damit einen Beitrag
zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf in der Familienphase leisten. Oder es könnte die
Möglichkeit bieten, einmal pro Woche im Homeoffice zu arbeiten, natürlich nur bei ent-
sprechenden Rahmenbedingungen (u. a. ungestörter Arbeitsplatz, sicherer Datentransport,
vereinbarte Erreichbarkeit). Mit Blick auf die Gesundheit können attraktive Seminare und
Trainingsangebote generiert werden, die sich an konkreten Lebensphasen der Beschäftig-
ten orientieren.6
Im nächsten Schritt sollten die Positionen des Wettbewerbers analysiert werden. Wel-
che Eigenschaften bietet der Mitbewerber an? Wodurch kann sich das eigene Unterneh-
men abgrenzen? Die Analyse der Karriereseiten oder Informationen von Beschäftigten
könnten hierzu Aufschluss geben. Der Vergleich bietet Hinweise für die firmenspezifische
Ausrichtung des eigenen Employer Branding.
Daneben sollten mögliche Präferenzen der potenziellen Bewerberinnen und Bewer-
ber analysiert werden. Was erwartet die 35-jährige Ingenieurin mit zwei schulpflichtigen
Kindern? Welche Interessen hat der 26-jährige Bewerber nach Abschluss seines Physik-
studiums? Hierzu zählen zum Beispiel Qualifikationen für Quereinsteigerinnen und Quer-
einsteiger oder die Möglichkeit zur Nutzung dualer und berufsbegleitender Studiengänge.
6
Weitere inhaltliche Anregungen zum lebensphasenorientierten Personalmanagement finden sich
im Instrumententeil (Teil 3) und den Praxisbeiträgen dieses Bandes.
6 Innovatives Employer Branding durch Lebensphasenorientierung 111
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter lernen lebenslang und qualifizieren sich nach Bedarf in
unterschiedlichen Lebensphasen weiter oder streben eine neue berufliche Ausrichtung an.
Hieraus ergeben sich vielfältige Wünsche und Interessen, die es aufseiten der Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer zunächst zu identifizieren gilt.
Es ist häufig nicht einfach, aufgrund der heterogenen Zielgruppen Besonderheiten zu
extrahieren. Stereotype Denkweisen können schnell in die falsche Richtung führen, daher
sollten die Präferenzen nicht zu einengend sein und sich auch auf die „Ausnahmen“ bezie-
hen. So wünschen sich viele Väter zeitlich befristete Teilzeitstellen, äußern diese Interesse
jedoch häufig nicht explizit aus Furcht vor Karrierenachteilen.
Schließlich ist die geeignete Kommunikationsstrategie zu definieren und mit den für
das Unternehmen realistischen Medien umzusetzen. Kleine und mittlere Unternehmen
können idealerweise ihre Internetseiten entsprechend gestalten und Karriereseiten sowie
Stellenanzeigen nach den erarbeiteten Informationen entwickeln. Hierbei ist nicht nur
Kreativität gefragt, sondern es sollte unbedingt der ehrliche und authentische Weg passend
zur Unternehmenskultur eingehalten werden.
Planung
In der Planungsphase werden die erforderlichen Maßnahmen und Workshops auch ter-
minlich festgelegt. Die Erarbeitung der notwendigen Faktoren für das Employer Branding
lässt sich in mehrere Arbeitspakete aufteilen und gegebenenfalls mit zusätzlich notwendi-
gen Ressourcen (Personalkapazitäten, externe Unterstützung) planen.
Kontrolle
Zur Überprüfung der Vorgehensweise und möglichen Nachbesserung sind regelmäßige
Kontrollen in Form von Ist-/Soll-Abgleichen sinnvoll. Dazu sind die zu Beginn festgeleg-
ten Ziele nach entsprechend definierten Indikatoren zu überprüfen. Bei Diskrepanzen sind
geeignete Maßnahmen vorzunehmen, um die Zielerreichung sicher zu stellen.
Abschluss
Abschließend werden die Ergebnisse präsentiert und münden in mögliche Handlungsan-
weisungen für die betreffenden Fachbereiche. Die überarbeitete Arbeitgebermarke sollte
erneut intern und extern gut kommuniziert werden. Entsprechende öffentlichkeitswirk-
same Pressemeldungen, Newsletter oder Twitter-Meldungen können hier unterstützend
eingesetzt werden. In jedem Fall ist ein Abgleich beziehungsweise eine Zusammenarbeit
zwischen den verantwortlichen Fachbereichen erforderlich. Sowohl die Personalrekrutie-
renden als auch die Führungskräfte in den Innovationsstrukturen sollten die neuen In-
halte in ihre Bewerbergespräche und -kontakte aufnehmen (vgl. Rekrutierungs-Toolbox
in Kap. 11). Darüber hinaus ist die interne und externe Kommunikation wichtig, damit
die Arbeitgebermarke nachhaltig wirkt und die eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
optimal als Botschafter für das Unternehmen auftreten.
112 U. Hellert et al.
6.4 Fazit
Das Thema Employer Branding hat für das Personalmanagement kontinuierlich an Be-
deutung gewonnen. Unternehmen mit einer starken Marke erzielen nicht nur bei Kun-
den Wettbewerbsvorteile, sondern auch auf dem Fachkräftearbeitsmarkt. Zur gezielten
Positionierung eines Unternehmens als attraktiver Arbeitgeber stehen wirksame Hand-
lungsmöglichkeiten zur Verfügung, die den Unternehmen Vorteile im Wettbewerb um die
besten Arbeitskräfte verschaffen können.
Erfolgreiches Employer Branding sollte dabei sowohl die individuellen Lebensphasen
und die betrieblichen Erfordernisse berücksichtigen als auch die vielfältigen Interdepen-
denzen und Ausstrahlungseffekte nutzen.
Insbesondere für Forschungs- und Entwicklungsbereiche bietet sich das Projektma-
nagement für die Entwicklung des Employer Branding nach Lebensphasenorientierung
aufgrund der Komplexität an. Zum einen gehört das Projektmanagement für Beschäftigte
in Innovationsstrukturen zum Tagesgeschäft, zum anderen fördert diese Projektstruktur
durch die partizipative Vorgehensweise eine erfolgreiche und wirksame Etablierung.
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7.1 Einleitung
Die öffentliche Diskussion um das Thema Diversität verschiebt sich zunehmend von An-
sätzen der Chancengleichheit und Gleichstellung hin zu einer stärker ökonomisch gepräg-
ten Debatte. Unternehmen begreifen Vielfalt1 zunehmend als Erfolgsfaktor und nicht zu-
letzt als Lösung des in Wissenschaft, Wirtschaft und Politik diskutierten bevorstehenden
Fachkräftemangels.
Aktuelle Zahlen der Bundesagentur für Arbeit belegen einen Fachkräfteengpass2 für
eine kleine Auswahl von Ingenieurberufen. Besonders in den westlichen Bundesländern
liegt die Vakanzzeit für gemeldete freie Arbeitsstellen in den Bereichen Maschinen- und
1
Die Begriffe Diversität und Vielfalt werden in diesem Beitrag synonym verwendet. In Abgrenzung
dazu wird im Folgenden der Begriff Diversity verwendet, wenn von sich mit Vielfalt befassenden
wissenschaftlichen Konzepten oder Managementansätzen gesprochen wird.
2
Die BA spricht von einem Fachkräftemangel, wenn die Vakanzzeit mind. 40 % über dem Bundes-
durchschnitt aller Berufe liegt und es weniger als 150 Arbeitslose je 100 gemeldeter Stellen gibt
oder es weniger Arbeitslose als gemeldete Stellen gibt. Der Begriff Fachkräfteengpass meint, dass
die Vakanzzeit über dem Bundesdurchschnitt aller Berufe liegt und es weniger als 300 Arbeitslose
je 100 gemeldeter Stellen gibt (Bundesagentur für Arbeit 2013b, S. 7).
3
Eine nach Lebensphasen und Geschlecht differenzierte Analyse des bisher ungenutzten Fachkräf-
tepotenzials auf dem Arbeitsmarkt für Ingenieur/-innen und andere Hightech-Arbeiter/-innen findet
sich in Kap. 2 dieses Bandes.
7 Diversity und Lebensphasenorientierung in der betrieblichen Praxis 119
7.2 Diversität in Organisationen
Damit die Einführung eines DiM erfolgreich gelingt, bedarf es einerseits der Bereit-
schaft aller Beschäftigten, sich mit ihren Ideen und ihrer Kritik einzubringen, und ande-
rerseits der Bereitschaft der verschiedenen Gruppen und einzelnen Personen, einander mit
Wertschätzung und Respekt zu begegnen (Kutzner 2011, S. 267). Dies erfordert zum Teil
ein klares Umdenken bei den Beschäftigten und der Unternehmensführung und kann zur
Politisierung bisher latenter Konflikte führen (ebd., S. 278).
Nach der konzeptionellen Einführung im vorangegangenen Abschnitt kann nun ein Blick
auf die Umsetzung und Verbreitung von Diversity-Ansätzen deutscher Unternehmen
geworfen werden. Von besonderem Interesse sind dabei einerseits die Gewichtung der
einzelnen Diversitätsdimensionen, andererseits die Unterschiede zwischen Großunterneh-
men und KMU. In diesem Abschnitt wird eine Auswahl hierzu veröffentlichter Studien-
ergebnisse referiert.
Der Völklinger Kreis hat eine Untersuchung in Auftrag gegeben, bei der im Abstand
von zwei Jahren (2011 und 2013) Unternehmen zum Entwicklungsstand ihres Diversity
Managements befragt wurden (Kammerer-Jöbges et al. 2014). Die Grundgesamtheit der
Stichprobe waren jene Unternehmen, die die Charta der Vielfalt unterzeichnet und mehr
als 1000 Beschäftigte haben, ergänzt um Kontakte des Völklinger Kreises und des mit der
Befragung beauftragten Instituts. Insgesamt nahmen 109 Unternehmen an der Studie teil.
Bei der Interpretation der Ergebnisse muss berücksichtigt werden, dass viele Unterneh-
men, die nicht an der Befragung teilnehmen wollten, als Grund ein fehlendes oder erst in
der Anfangsphase befindliches DiM angegeben haben (ebd., S. 7). Es wurde festgestellt,
dass 2013 die Anzahl der bearbeiteten Diversitätsdimensionen im Vergleich zum Jahr 2011
zurückgegangen ist. Eine bisher fehlende Verankerung als stringentes HR-Gesamtkonzept
wurde zu beiden Erhebungszeitpunkten festgestellt. Vielmehr sind einzelne Themen in
unterschiedlichen Referaten oder Abteilungen angesiedelt (ebd., S. 10).
Martin Klaffke (2008) hat untersucht, wie Diversity Management in Hamburger Unter-
nehmen verbreitet ist und welche Unterschiede sich hierbei aus der jeweiligen Größe der
Unternehmen ergeben. Von 1030 angeschriebenen Mitgliedern der Handelskammer Ham-
burg haben sich 112 Unternehmen an der Befragung beteiligt. Knapp 80 % der Rückläufe
kamen von KMU4 mit über 50 Beschäftigten. Es hat sich gezeigt, dass einem Drittel der
befragten Unternehmen DiM als Ansatz nicht bekannt ist. Hierbei handelt es sich zu 95 %
um KMU. 10,7 % der Unternehmen, diesmal zu 100 % KMU, sahen keinen Nutzen in
DiM. Ca. ein Drittel der befragten KMU konnte die zukünftige Bedeutung von DiM nicht
einschätzen. Insgesamt wurde festgestellt, dass sowohl die Konzeption als auch die Um-
setzung von Diversitystrategien betreffend große Unternehmen den KMU deutlich voraus
sind (Klaffke 2008, S. 10 ff.).
4
KMU 500-Definition.
7 Diversity und Lebensphasenorientierung in der betrieblichen Praxis 121
In einer weiteren Studie von Ina Tripp und Maika Büschenfeldt (2013) wurden 95
kleine und mittlere Unternehmen5 aus dem MINT-Bereich befragt. Diese Studie ist im
Kontext von pinowa besonders interessant, da sie sich gezielt mit der Zielgruppe unse-
res Projekts (wissensintensive KMU) auseinandersetzt. Annähernd drei Viertel (73 %) der
Unternehmen gaben an, DiM als Konzept nicht zu kennen. Einige Personalbindungsmaß-
nahmen dieser Unternehmen lassen sich jedoch dem Diversity Management zuordnen:
56 % der Unternehmen bieten flexible Arbeitszeitmodelle an, 43 % haben Programme zur
Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben, 21 % bieten Mentoringprogramme an. Auch
Maßnahmen wie die Förderung von Frauen, von Älteren oder der kulturellen Vielfalt, die
aufgrund ihrer Zielgruppenorientierung noch offensichtlicher mit dem Konzept DiM ver-
knüpft sind, finden sich in einigen Unternehmen (Tripp und Büschenfeldt 2013, S. 10 ff.).
Das jährlich durchgeführte Benchmark der DAX-30-Unternehmen von Petra Köppel
(2013) gibt Aufschluss darüber, welche Diversitätsdimensionen im Fokus der Unterneh-
men stehen, die sich bereits intensiver mit DiM auseinandergesetzt haben. Auf den ersten
drei Rängen befinden sich hier Geschlecht/Gender, Kultur/Nationalität und Alter. Quer-
schnittsdimensionen wie Unternehmenskultur, Kompetenzen und Work-Life-Balance ran-
gieren im Mittelfeld, wohingegen Behinderung, sexuelle Orientierung und Religion bisher
nur von wenigen Unternehmen als wichtig angesehen werden (Köppel 2013, S. 8).
5
KMU-250-Definition.
122 C. Goesmann et al.
In den im Projekt pinowa untersuchten Unternehmen gab es keinerlei Form von strategi-
schem oder strukturiertem Diversity Management. Wie bereits von Ina Tripp und Maika
Büschenfeldt (2013, s. o.) für die von ihnen untersuchten KMU festgestellt wurde, gab
es jedoch eine ganze Reihe von Maßnahmen, die als Elemente des DiM gelten. Beispiele
hierfür sind flexible Arbeitszeiten oder Lebensphasenorientierung (vgl. Kap. 12).
An dieser Stelle soll ein Blick auf die gelebte Praxis in der Unternehmenskultur und
dem Führungsverhalten in den Unternehmen geworfen werden. Wir haben uns die Frage
gestellt, wie sich die Unterschiedlichkeit der Individuen in der Interaktion und der Koope-
ration zwischen den Kolleginnen und Kollegen, aber auch zwischen den Hierarchieebenen
zeigen. Hieraus können Rückschlüsse darauf gezogen werden, wie einzelne Diversitäts-
7 Diversity und Lebensphasenorientierung in der betrieblichen Praxis 123
dimensionen, sowie das Thema Vielfalt an sich von den Beschäftigten und den Führungs-
kräften verhandelt und gelebt werden.
Die einzelnen Diversitätsdimensionen haben, so zeigen es die Analysen des erhobenen
Interviewmaterials, eine sehr unterschiedliche Relevanz in der Personalstrategie und der
betrieblichen Praxis der untersuchten KMU. Religion, Kultur und soziale Herkunft spie-
len in den Interviews und Workshops keine Rolle, und auch die räumliche Herkunft der
Beschäftigten wurde nur am Rande erwähnt – mit einer interessanten Ausnahme (s. u.).
Relevant hingegen sind vor allem jene Themen, die mit dem Lebensphasenkonzept erfasst
werden können, wie zum Beispiel Familie und Vereinbarkeit, Karrierephasen oder auch
Geschlecht.
In der Darstellung der Ergebnisse werden zunächst jene Aspekte betrachtet, die auch
Petra Köppel in ihrem Benchmark der DAX-30-Unternehmen identifiziert hat: Kultur/
Nationalität (7.5.1.1), Alter (7.5.1.2) und Geschlecht (7.5.1.3)/Gender (7.5.1.4). Danach
werden beispielhaft zwei Ausprägungen des Querschnittsthemas Lebensphasenorientie-
rung (7.5.2.1, 7.5.2.2) vorgestellt.
Bevor nun ein detaillierter Blick auf einzelne Beispielsequenzen aus den Interviews ge-
worfen wird, ist festzuhalten, dass die untersuchten F&E-Teams relativ homogen sind.
Nur in einem Team gibt es Frauen, hier ist das Geschlechterverhältnis ausgeglichen. Auch
die Herkunft betreffend gibt es nur weniger Unterschiede, lässt man die Binnenmigration
außen vor. Unter den Ingenieurinnen und Ingenieuren gab es nur einen ausländischen
Kollegen. Eine recht große Spannbreite findet sich beim Alter und der Unternehmenszu-
gehörigkeit der befragten Personen. Diese Aspekte (vgl. Abb. 7.1) und ihre Handhabung
in der Unternehmenspraxis sind Thema der folgenden Abschnitte.
Abb. 7.1 Diversitätsdimen-
sionen
124 C. Goesmann et al.
7.5.1.1 Herkunft
Herkunft und kulturelle Vielfalt sind vor allem in großen Unternehmen ein starker Fokus
des Diversity Managements. In unseren Interviews wurde deutlich, dass in den unter-
suchten KMU hier kein strategischer Schwerpunkt liegt. Dennoch findet das Thema seine
Beachtung in den Überlegungen über die Vielfalt im Unternehmen.
Stefan Fuchs6 (Unternehmen 1) berichtet im Vorfeld der im Folgenden zitierten Se-
quenz davon, dass die weiblichen Führungskräfte zu einer Veränderung in der Kommu-
nikation geführt haben. Wo die Produktionsmitarbeiter gegenüber den männlichen Vor-
gesetzten teilweise in einem rüpelhaften Ton kommuniziert hätten, würden die Frauen
zivilisierend auf die Umgangsformen wirken – und das obwohl, wie es Herrn Fuchs zu
erstaunen scheint, neben dem Geschlecht ein weiteres Diversitätsmerkmal die Zusammen-
arbeit beeinflussen könnte:
SF: „Die kann man sogar. Das läuft ja mit, muss ich aufpassen, was ich sage. Die kommen
ja sogar aus den ehemaligen neuen Bundesländern, was ja bei uns immer schon ein bisschen
kritisch ist mit dem Dialekt, ne? Erstens verstehen die uns nicht, und wir wollen die meistens
nicht verstehen. ((Lachen)) (3) Aber kein Thema.“ (SF: Z. 1212–1216)
Der ausgewählten Sequenz ist wie zuvor bereits erwähnt eine Beschreibung der Frauen
in Führungspositionen und ihres Einflusses auf die Kommunikation im Unternehmen vo-
rausgegangen. Diese Frauen scheinen eine besondere Eignung für etwas zu haben, was
dann nicht ausgesprochen wird: „Die kann man sogar.“ Herr Fuchs unterbricht sich an
dieser Stelle, denn „das [Aufnahmegerät] läuft ja mit“. Die Tatsache, dass das Interview
aufgenommen wird, scheint ihn seine Worte mit Bedacht wählen zu lassen. Aus „die kann
man ja sogar“ wird nun „die kommen ja sogar“. Fuchs bezieht sich demnach auf die Her-
kunft der Frauen, diese „kommen ja sogar aus den ehemaligen neuen Bundesländern“. An
dieser Aussage sind verschiedene Aspekte interessant. Der Ausdruck „sogar“ wird ver-
wendet, wenn Dinge überraschend sind oder (im positiven wie auch im negativen) außer-
gewöhnlich, über das normale hinausgehend. Im Kontext des zuvor gesagten, nämlich
des zivilisierenden Einflusses dieser Frauen auf die Kommunikation, stellt sich die Frage,
ob er sich darüber wundert, dass sie zivilisierend wirken, oder dass sie Einfluss nehmen
können. Herr Fuchs ist sich, wie bereits deutlich wurde, im Klaren darüber, dass er sei-
ne Überraschung vorsichtig ausdrücken muss, wenn das Band mitläuft. Möglichweise ist
ihm bewusst, dass seine Verwunderung nur einem Stereotyp entspringt, welches er über
ostdeutsche Frauen (oder auch Männer) im Kopf hat. Sein Versuch, sich vorsichtig aus-
zudrücken, mündet in der Wortschöpfung der „ehemaligen neuen Bundesländer“. Unbe-
wusst drückt Herr Fuchs hier aus, was eigentlich klar sein sollte: Je nach Alter der Frauen
kann man kaum noch sagen, dass sie aus der „ehemaligen DDR“ stammen, wobei es dann
genaugenommen „damalige DDR“ heißen müsste. Doch auch die Bezeichnung der öst-
lichen Bundesländer als „neu“ sollte 25 Jahre nach der Wiedervereinigung überholt sein.
6
Die Namen aller Interviewpartnerinnen und -partner sowie aller Unternehmen wurden anonymi-
siert.
7 Diversity und Lebensphasenorientierung in der betrieblichen Praxis 125
Der Ausdruck „ehemalige […] neue Bundesländer“ drückt damit eine Ambivalenz aus
zwischen dem Wissen, dass diese Länder schon lange ein Teil der Bundesrepublik sind,
und dem Gefühl, dass der Osten doch noch nicht hundertprozentig dazu gehört. Statt die
jeweiligen Bundesländer zu benennen, aus denen die Frauen stammen, macht Herr Fuchs
daher den Verweis auf das andere Deutschland als Herkunft.
Diese Deutung wird im Folgenden etwas neutralisiert, weil es auch objektive, aus der
Herkunft resultierende Sprachprobleme geben kann. Der im Unternehmensalltag gespro-
chene regionale Dialekt kann für Außenstehende mitunter schwer verständlich sein. Doch
scheint dieses objektive Verständigungsproblem ergänzt zu werden durch ein vorgescho-
benes: „Und wir wollen die meist nicht verstehen.“ Obwohl Herr Fuchs diese Aussage
durch ein Lachen abschwächt, wird deutlich, dass seitens der regionalen Bevölkerung
(„wir“) ein Signal der Abgrenzung gesendet wird. Indem vorgegeben wird, das Gegenüber
nicht zu verstehen, wird es einerseits darauf hingewiesen, dass es nicht hierhin gehört und
andererseits, dass man nicht bereit ist, sich beim Zuhören entsprechend Mühe zu geben,
um den Unterschied der Sprache zu überbrücken.
Jedoch – und dies macht vielleicht die Verwunderung aus, die Herr Fuchs zu Beginn
der Sequenz äußert – haben die Frauen diese Probleme nicht. Sie scheinen von der Beleg-
schaft respektiert zu werden, was einerseits dazu führt, dass diese ihnen gegenüber eine
Sprache wählen, die dem Hochdeutschen etwas näher kommt, als es ihre Alltagssprache
tut. Andererseits sieht die Belegschaft keinen Anlass, durch behauptete Verständigungs-
probleme der ostdeutschen Dialekte die Frauen auszugrenzen. Die von Herrn Fuchs ver-
mutete Barriere in den Köpfen der Beschäftigten scheint also – zu seiner Verwunderung
– in diesem Fall „kein Thema“ zu sein.
Dieses Phänomen der über die sprachliche Verständigung definierten Andersartigkeit
der Ostdeutschen findet sich auch in Unternehmen 3. Bevor es im Interviewverlauf zu der
hier zitierten Sequenz kommt, spricht der polnische Ingenieur Tomasz Varol, nachdem
er nach der Diversität der Teamzusammensetzung gefragt wurde, darüber, dass im Team
trotz der sehr unterschiedlichen Charaktere nicht zuletzt aufgrund klarer Arbeitsteilung
alle sehr gut und sachorientiert zusammenarbeiten. Im Anschluss berichtet Herr Varol über
seine Verwunderung, wie unterschiedlich jedoch er und der ostdeutsche Kollege im Team
manchmal behandelt werden.
TV: „Wir haben zum Beispiel einen Kollegen aus Ostdeutschland. Aus Dresden. Und was
ich lustig finde, ist, da wird ein bisschen, also ich sage auch manchmal so lustige Sachen
einfach wegen meine Deutschkenntnisse. Und. Aber da wird weniger darüber gelacht oder
vorsichtiger als wenn er irgendwas erzählt dann mit seinem Akzent irgendwie so. Ist so.“
(TV: Z. 467–472)
Als „Beispiel“ führt Herr Varol nun einen „Kollegen aus Ostdeutschland“ an und spezifi-
ziert, dass dieser aus Dresden kommt. Es gibt also auch hier, wie in der zuvor betrachteten
Sequenz aus dem Interview mit Herrn Fuchs, den Verweis auf einen Ostdeutschen, wenn
es um die Verschiedenheit der Teammitglieder geht. Herr Varol fährt nun fort und bemerkt,
126 C. Goesmann et al.
dass er etwas im Zusammenhang hiermit lustig findet, wobei „lustig“ einmal wörtlich als
„witzig“, aber auch im Sinne von „bemerkenswert“ verwendet werden kann. Es folgt die
Passivkonstruktion „da wird ein bisschen“, bei der grammatikalisch sowohl das Partizip
als auch das Objekt fehlen. Passivsätze werden vor allem dann verwendet, wenn das im
Aktivsatz notwendige Subjekt nicht relevant ist, wie es zum Beispiel in Sachtexten oft
der Fall ist, oder wenn das Subjekt nicht genannt werden soll. Das Objekt des Satzes fehlt
hier, da Herr Varol sich selbst unterbricht, um eine Erklärung einzuschieben. Offenbar teilt
er sich mit dem ostdeutschen Kollegen die Eigenschaft, „manchmal so lustige Sachen“
zu sagen, jedoch führt er dies in seinem Fall auf seine Sprachkenntnisse zurück. Der Ost-
deutsche hingegen hat diese „Ausrede“ nicht. Diesen Unterschied sehen offenbar auch die
Kollegen, denn über Herrn Varols „lustige“ Äußerungen „wird weniger […] gelacht oder
vorsichtiger“ als über die seines Kollegen, der aufgrund seines Akzents für Erheiterung
sorgt. Während beide, sowohl Herr Varol als auch sein Kollege, aufgrund ihrer Herkunft
so sprechen, dass es von den anderen Personen im Team als „lustig“ und anders wahrge-
nommen wird. Während es die Höflichkeit verbietet, sich über jemanden lustig zu machen,
der Anstrengungen unternimmt (erlernen der Sprache), scheint es als unkritisch angesehen
zu werden, dies bei jemandem zu tun, der die (hoch-)deutsche Sprache können müsste.
Auch in Unternehmen 2 gaben zwei der drei Befragten einen Hinweis darauf, dass bei
ihnen in der Belegschaft (jedoch nicht im F&E-Team) ein ostdeutscher Mitarbeiter tätig
ist. Bei den Beschäftigten aus anderen Ländern wird hier stets ohne weitere Kommentare
nur die Nationalität genannt, lediglich die Herkunft der Ostdeutschen scheint nicht ohne
weitere Erklärungen stehen zu können. Dieses Phänomen findet sich in allen drei unter-
suchten Unternehmen.
Das Interviewmaterial selbst liefert keine Hinweise auf Gründe für die Hervorhebung
der Herkunft der ostdeutschen Beschäftigten, daher können an dieser Stelle nur vage The-
sen zu Erklärung formuliert werden. Möglich ist, dass in den untersuchten Unternehmen
bereits der Ostdeutsche aus Mangel an Zugewanderten aus anderen Ländern als „fremd“
konstruiert wird. Andererseits kann es sich um eine tatsächliche gefühlte Andersartigkeit
handeln und der „Riss im Land“ in den Köpfen noch immer vorhanden sein, obwohl es
seit 25 Jahren keine DDR mehr gibt. Möglichweise reicht bei vielen Nationalitäten die
Nennung der Herkunft ohne weitere Erläuterungen aus, da sie den Westdeutschen auf-
grund der Geschichte der Migrationsbewegungen aus diesen Ländern auch heute noch viel
vertrauter als die Menschen aus dem östlichen Teil des eigenen Landes sind. Diese These
ist nicht ganz abwegig, wirft man einen Blick auf die mediale Aufarbeitung der Wende,
wie sie im vergangenen Jahr zum 25-jährigen Jubiläum der Wiedervereinigung stattfand.
So verdeutlicht beispielsweise die Reihe des Zeitmagazins „Die ersten 25 Jahre“, in deren
Auftakt mit dem Titel „Tut doch nicht so, als sei alles in Ordnung“ junge Ostdeutsche
über ihre Erfahrungen, unter anderem über anhaltenden Spott und auch Diskriminierung
im geeinten Deutschland berichten (Malter et al. 2014). Das Phänomen scheint sich jeden-
falls nicht auf die untersuchten Unternehmen zu beschränken, sondern folgt einer weit
verbreiteten Praxis.
7 Diversity und Lebensphasenorientierung in der betrieblichen Praxis 127
I: „[…] man hört oft aus anderen Unternehmen, dass es gerade so zwischen Älteren und Jün-
geren dann doch schon mal Konflikte gibt, weil die Arbeitsweise unterschiedlich ist oder. (..)
Ja. Warum klappt das hier so gut?“
WU: „Also, die Älteren, die jetzt weg sind, die hatten noch andere Arbeitsweisen. Ich
behaupte mal schlicht und ergreifend, die, die jetzt älter sind, so wie ich oder so, ich fühle
mich auch nicht alt, ne? Ich fühle mich auch noch. Also ich denke, dass ich von den Arbeits-
weisen her durchaus da locker mithalten kann mit dem, was die jungen Kollegen machen,
ne? Klar, die haben natürlich Sachen drauf, die ich nicht drauf habe, ja? Aber denen kann ich
auch noch was zeigen. Insofern funktioniert das schon, dass man voneinander lernen kann.
Ne?“ (WU: Z. 360–371)
Diese Sequenz wird von der Frage der Interviewerin eingeleitet, warum es im Unterneh-
men keine Konflikte zwischen den Generationen gibt, wie sie sie in anderen Unterneh-
men vermutet. Als möglichen Grund für solche Konflikte gibt sie eine unterschiedliche
„Arbeitsweise“ an, ohne zu erläutern, was damit gemeint sein soll. Diese Begründung
wird von Herrn Uhlig aufgenommen, ebenfalls ohne den Begriff „Arbeitsweise“ näher
zu erklären. Die Kollegen, auf die das zutrifft („die Älteren“), sind jedoch inzwischen aus
dem Unternehmen (oder dem Team) ausgeschieden.
Herr Uhlig spricht von denjenigen, „die jetzt älter sind“, die also die vorhergehende äl-
tere Generation mit den anderen Arbeitsweisen abgelöst haben und zu denen er sich selbst
auch zählt. Bevor er weiter spricht, macht er jedoch einen Einschub, in dem er klarstellt,
dass er sich nicht alt fühlt, obwohl er zu den älteren gehört. „Älter“ wird damit von einer
absoluten zu einer relativen Beschreibung, die nicht „alt“, sondern nur „älter als andere“
bedeutet. Er kehrt nun zum Einstieg seiner Aussage zurück und sagt, „dass [er] von den
Arbeitsweisen her durchaus da locker mithalten kann mit dem, was die jungen Kollegen
machen“. An dieser Stelle lichtet sich also das Rätsel um den Begriff „Arbeitsweisen“.
Es scheint sich hierbei um die Arbeitsleistung zu handeln („mithalten“). Unterschiedliche
Arbeitsweisen markieren also weniger ein reines „Anders“ im Sinne einer horizontalen
Differenz, als vielmehr einen vertikalen Unterschied von mehr oder weniger an Arbeits-
menge, Arbeitstempo und Arbeitsqualität. Herr Uhlig ist jedoch davon überzeugt, dass er
diesbezüglich den jungen Kollegen in nichts nachsteht. Indem das Leistungsniveau gleich
7
Siehe dazu auch Gerlmaier et al. in diesem Band.
128 C. Goesmann et al.
ist, befinden sich die Älteren in keinem Konkurrenzkampf, den sie aufgrund ihres Alters
zu verlieren fürchten. Vielmehr scheinen sich die Jüngeren und die Älteren diesbezüglich
ebenbürtig zu sein.
Doch es folgt noch eine weitere Erklärung, warum die Zusammenarbeit nicht von
Generationenkonflikten beeinträchtigt wird. Es gibt im Team – trotz Leistungsegalität –
Unterschiede zwischen Herrn Uhlig und den Jüngeren, was ihre inhaltlichen Kenntnisse
oder Methoden betrifft. Diese Unterschiede führen jedoch ebenfalls nicht zu einer Asym-
metrie, da auch Herr Uhlig Dinge beherrscht, welche die Jüngeren noch nicht kennen.
Entscheidend ist hier, dass es nicht nur ein Gleichgewicht zwischen den Generationen
gibt, was das Wissensniveau betrifft, sondern dass die beiden Gruppen vom Wissen der
jeweils anderen profitieren, da „man voneinander lernen kann“. Dies scheint der entschei-
dende Punkt zu sein: Es gibt im Team weder den Anspruch der Älteren, die Jüngeren mit
ihrer Erfahrung auszustechen, noch Bestrebungen der Jüngeren, sich gegenüber den Älte-
ren durch neueres Wissen einen Vorteil zu verschaffen. Die Zusammenarbeit ist vielmehr
durch einen reziproken Austausch und die wechselseitige Anerkennung des Wissens und
Könnens gekennzeichnet.
So fruchtbar, wie die Kooperation zwischen den Generationen in diesem Beispiel be-
schrieben wird, scheint sie jedoch nicht überall zu sein. In Unternehmen 1 ergaben sich
im Interview mit dem jungen Ingenieur Lukas Adler kritischere Töne. Dieser bezog sich
jedoch nicht auf die Zusammenarbeit im Team, sondern zwischen unterschiedlichen Ab-
teilungen. Ausgangspunkt war die Frage der Interviewerin, ob es Faktoren gibt, die ihn
belasten.
Es gibt laut Herrn Adler im Unternehmen zwischen den Abteilungen Unterschiede in der
„Denkweise“ und der „Führungskultur“. Es scheint also Unterschiede zu geben, die sich
aus einer unterschiedlichen Sozialisation ergeben, sowohl was grundlegende Anschauun-
gen (Denken) als auch die betriebliche Handlungspraxis (Führung) betreffen. Das Denken
wird in erster Linie durch die Erziehung und die Erfahrungen geprägt, die ein Mensch
im Laufe seines Lebens macht. Die Führungskultur hingegen wird durch die Werte im
Unternehmen – zumindest zu einem Teil beeinflusst, denn hier scheint es keine abtei-
lungsübergreifende Führungskultur zu geben. Im Gegenteil sind die Kulturen zwischen
den Abteilungen so unterschiedlich, dass sie als Antwort auf die Frage nach belastenden
Faktoren aufgeführt werden. Obwohl er es nicht explizit ausspricht, kann davon ausgegan-
gen werden, dass Herr Adler sich nicht allgemein auf andere Abteilungen, sondern gezielt
auf die Abteilungsleitungen bezieht, da er konkret die Führungskultur benennt, statt bei
seinem ersten Ausdruck „Denkweise“ zu bleiben, der genereller für alle Abteilungsange-
hörige gelten könnte.
7 Diversity und Lebensphasenorientierung in der betrieblichen Praxis 129
Herr Adler grenzt an dieser Stelle jedoch ein, dass ihn diese Unterschiede nicht belas-
ten, wohl aber stören und er „so ein bisschen“ seine „Probleme“ damit hat. Diese Störung
tritt vor allem dann auf, wenn er mit diesen anderen Abteilungen zusammenarbeiten muss,
wenn man „zusammen was bewegen“ muss. Nun beschreibt er konkret das Problem, was
darin besteht, dass „man permanent gebremst“ wird. In seinen Augen fallen also die Auf-
gabenstellung und die Umsetzung komplett auseinander: Zu bremsen, wenn man etwas
bewegen will, erscheint paradox.
Herr Adler hat einen Grund für diesen Konflikt: „irgendwelche Alteingesessenen“. Als
ob er sich der Härte der Zuschreibung bewusst wird, steuert er etwas entgegen, indem er
sich selbst im Redefluss unterbricht und aus den „Alteingesessenen“ ein „alteingesessenes
Gedankengut“ macht. Er rückt also von der Identifizierung von konkreten Schuldigen ab
und entscheidet sich für die Benennung einer unpersönlichen Ursache, die sich in die Rei-
he der Störungen (Denkweise, Führungskultur, Gedankengut) einreiht.
Es wird nicht ausgesprochen, jedoch scheint der (gefühlte) Kern der Kooperations-
schwierigkeiten in der unterschiedlichen Dauer der Unternehmenszugehörigkeit zu liegen.
Möglicherweise werden diejenigen, die schon lange im Unternehmen sind, von den später
Eingestellten als unflexibel wahrgenommen. Das Alter der Beteiligten beziehungsweise
das Alter der Denkweisen ist hier hingegen eher als eine Metapher für unterschiedliche
Herangehensweisen an eine Aufgabenstellung zu betrachten als für einen konkreten, in
Jahren messbaren Unterschied. Das Problem scheint also weniger zu sein, dass Führungs-
kräfte mit unterschiedlichen sozialisatorischen Hintergründen zusammenarbeiten müssen,
sondern viel mehr, dass vor Beginn der Kooperation kein gemeinsamer Handlungsrahmen
ausgehandelt wird. Dadurch fühlen sich beide Seiten leicht missverstanden und übergan-
gen. Dass es zwischen Raserei und Stillstand, zwischen Aktionismus und Tatenlosigkeit
viele Nuancen gibt, wird von den Parteien nicht erkannt, obwohl Herr Adler die gemä-
ßigten Begriffe selbst verwendet (bewegen und bremsen). Aufgrund dieser Polarisierung
findet keine Verständigung auf ein gemeinsames, für beide Seiten geeignetes Tempo statt.
7.5.1.3 Geschlecht
Unter den untersuchten Unternehmen war es nur Unternehmen 1, in welchem Ingenieu-
rinnen arbeiten. Hier waren die Führungspositionen auf der Ebene der Abteilungsleiter
paritätisch mit Frauen und Männern besetzt. In den beiden anderen Unternehmen gab es
keine Frauen im technischen Bereich.
In einem der Interviews hat sich ein Einblick in eine Praxis eröffnet, die zwar in dem
untersuchten Unternehmen 3 keine Rolle zu spielen scheint, jedoch nach Einschätzung
des Interviewpartners dennoch weit verbreitet ist. Das Thema des Abschnitts, welchem
der folgende Interviewauszug entnommen ist, war die Diversität in der Forschungsabtei-
lung, zunächst bezogen auf die berufliche Qualifikation, dann wurde zu anderen Diversi-
ty-Dimensionen übergeleitet, wo es jedoch wenig Variation gibt. Das Interview wurde ge-
meinsam mit dem Leiter der F&E-Abteilung Andreas Sauer und dem Personalchef Achim
Tannenbaum geführt.
130 C. Goesmann et al.
AS: „[…] Wir haben keine Frauen. Wir haben. Weil. (..)“
AT: „Da möchte ich: (AS: Gern.) Komma: weil! Also da solltest du eben kurz das relativie-
ren.“ 01:32:04–4
AS: (.) „Weil, wir waren begeistert über jede Bewerbung von Bewerberinnen, die wir bekom-
men haben. Das ist jetzt ohne Flachs und ohne irgendwie diskriminierend oder irgendwie
sonst zu sein. Wir haben uns einige Bewerbungen angeschaut, (..) die haben wir uns ganz
ehrlich nicht mit der Absicht angeschaut: Mal gucken, wie so eine junge Ingenieurin heute
aussieht, ja? Sondern die haben wir wirklich mit der Absicht, wenn es passt, einzustellen,
uns angeschaut. Weil, ich kenne viele Fälle, wo man sagt: ‚Na komm, lass sie mal kommen
und führen wir mal ein nettes Gespräch‘ und, nein, wir haben das wirklich ergebnisoffen uns
angeschaut.“ (AS/AT: Z. 1078–1089)
Herr Sauer berichtet, dass es keine Frauen im Team gibt. Bevor er seine Aufzählung weiter
fortsetzt, unterbricht er sich selbst, um eine Begründung für das Fehlen von Frauen nach-
zuschieben. Hierzu scheint auch Herr Tannenbaum eine Notwendigkeit zu sehen, da er
eine Begründung fordert. Er spricht dann jedoch nicht von „begründen“, sondern fordert
von Herrn Sauer, dieser solle „relativieren“. Der Ausdruck scheint hier im Kontext etwas
deplatziert, da Fakten nicht relativiert werden können. Herr Tannenbaum scheint damit
also vermutlich eher auf den Eindruck abzuzielen, den das Fehlen von Frauen auf Außen-
stehende (in diesem Fall die Interviewerinnen) machen kann.
Beide Interviewpartner scheinen einen unausgesprochenen Vorwurf zu antizipieren,
den sie zu widerlegen versuchen.
Dieser antizipierte Vorwurf wird im nächsten Satz deutlich. Herr Sauer sieht offenbar
eine Notwendigkeit zu erwähnen, dass Bewerberinnen im Unternehmen 3 professionell
und respektvoll empfangen werden, statt sich ihnen gegenüber sexistisch zu verhalten.
Statt die Frau als Objekt männlicher Neugierbefriedigung zu behandeln („wie so eine
junge Ingenieurin heute aussieht“), scheinen Bewerberinnen tatsächlich eine Chance auf
Einstellung zu haben. Aus einer Selbstverständlichkeit wird hier also etwas Erwähnens-
wertes – weil es eben nicht als Selbstverständlichkeit betrachtet wird. Im Folgenden wird
deutlich, warum. Offenbar scheint diese Praxis, Bewerberinnen zur Unterhaltung der am
Auswahlgespräch Beteiligten einzuladen, weit verbreitet zu sein. Da Herr Sauer diese
Art des Umgangs mit Bewerberinnen in anderen Unternehmen beobachtet hat, hat er das
Bedürfnis, sich davon abzugrenzen und zu betonen, dass dieses misogyne Vorgehen in
seinem Unternehmen nicht praktiziert wird.
In Unternehmen 1 vollzog sich die Veränderung hin zur Rekrutierung von Frauen bereits
Anfang der 1990er Jahre, wie von einer damals eingestellten Ingenieurin berichtet wird.
BE: „Also ich war damals die erste Ingenieurin, aber ich habe mir darauf nichts eingebildet.
Die brauchten jemanden und ich war zufällig da. (…) Aufgrund damals schon des demo-
grafischen Wandels, dass auch nicht viele Ingenieurswesen studieren wollten, ergab sich dann
auch, dass man doch auf die Frauen zurückgreifen musste und in den Bewerbungsgesprächen
hatten wir dann die Situation, dass sich mehr Frauen beworben haben wie Männer. Und die
Akzeptanz von Frauen in der Produktion war schon gegeben.“ (BE: Z. 302–308)
7 Diversity und Lebensphasenorientierung in der betrieblichen Praxis 131
Britta Eckert berichtet, sie sei die erste Ingenieurin im Unternehmen gewesen. Statt zu
verdeutlichen, warum sie sich gegen andere (männliche) Mitbewerber durchsetzen konn-
te, gibt sie sich bescheiden und begründet ihren Erfolg mit ihrer Verfügbarkeit („ich war
zufällig da“). Auch die weitere Einstellungspraxis im Unternehmen schien in erster Linie
pragmatischen Gesichtspunkten zu folgen, da zunächst durch einen Mangel an Ingenieu-
ren und dann zusätzlich durch ein großes Angebot an Ingenieurinnen vermehrt Frauen ein-
gestellt wurden. Auch findet sich keinerlei Hinweis darauf, dass diese Neueinstellungen
zu Aufregung in irgendeiner Form geführt hätten, war doch „die Akzeptanz von Frauen in
der Produktion“ seit der Einstellung von Frau Eckert „schon gegeben“.
Im Vergleich zur vorhergehenden Sequenz aus dem Interview im Unternehmen 3 fällt
im Gespräch mit Frau Eckert die Nüchternheit und Unaufgeregtheit auf, mit der sie den
Wandel in der Einstellungspolitik beschreibt. Es scheint hier keinerlei normative oder di-
versitätsorientierte Überlegungen gegeben zu haben; allein ein pragmatisches Prinzip von
Angebot und Nachfrage hat zur Einstellung der Ingenieurinnen geführt.8
7.5.1.4 Geschlechtsidentität
Wir haben in keinem der Interviews Hinweise darauf gefunden, dass sich unter den Inge-
nieurinnen und Ingenieuren eine LGBT-Person9 befindet, Aussagen über diesen Aspekt
des Umgangs mit Diversität sind daher für die Beschäftigtengruppe aus dem Bereich F&E
nicht möglich. Das Beispiel eines Mitarbeiters aus der Produktion in Unternehmen 1 zeigt
jedoch den Umgang der HR-Abteilung mit Transphobie in der Belegschaft. Herr Fuchs
berichtet von einem Leiharbeiter10, der während der Arbeit in männlicher Kleidung, im
Privaten und auch bei der Ankunft im Betrieb jedoch weiblich gekleidet auftritt. Herr
Fuchs schildert nicht konkret, wie die Kollegen diesem Mitarbeiter gegenübergetreten
sind, jedoch habe dessen flexibler Umgang mit Geschlechterrollen „ein bisschen zu Irrita-
tionen geführt“. Nach Absprache mit dem Leiharbeiter wurde das Thema im Unternehmen
offen angesprochen.
SF: „Dann haben wir einfach die Schicht zusammengeholt, haben gesagt: ‚Leute, wir haben
hier jemanden. Ihr wisst, glaube ich, von wem wir reden, der sich einfach als Frau fühlt und
ich denke, das sollten wir einfach alle so akzeptieren und jetzt nicht darüber lustig machen‘,
habe ich gesagt. ‚Weil, ich könnte mir vorstellen, dass das für den genug psychisch belas-
tend ist, mit so einer Situation umzugehen. Und ich glaube, wir sind nicht Fünfjährige, wo
ich das noch verstehen würde, sondern ihr seid alle erwachsene Leute. Also schaut, dass ihr
mit dem Thema umgehen können‘. So, dann war das aber auch nie mehr ein Thema.“ (SF:
Z. 1168–1175)
8
Für weitere Genderaspekte siehe Abschnitte Abschn. 7.5.1.4 und Abschn. 7.5.2.1.
9
LGBT (Lesbian, Gay, Bisexual, Trans) ist eine häufig von lesbischen, schwulen, bisexuellen,
transsexuellen und transgender Menschen verwendete Selbstbezeichnung und bezieht sich sowohl
auf die Geschlechtsidentität als auch die sexuelle Orientierung (Charta der Vielfalt 2011).
10
In der Analyse wird die männliche Form verwendet, da der Mitarbeiter während der Arbeit als
Mann aufgetreten ist.
132 C. Goesmann et al.
Herr Fuchs beschreibt nun diese – auffallend unaufgeregte – Intervention: Man habe „ein-
fach die Schicht zusammengeholt“. Diese Beschreibung wirkt fast beiläufig, in den All-
tag eingebunden. Dieser Eindruck setzt sich fort und wird verstärkt durch die Wiederho-
lung des Ausdrucks „einfach“, hierdurch wird nicht nur die Intervention selbst als etwas
Normales gestaltet, auch die Botschaft wird entdramatisiert: Das ist einfach so, und wir
nehmen das einfach so hin. Die Betonung liegt hierdurch auf der Akzeptanz des Mit-
arbeiters: Er soll nicht nur toleriert werden, was einer (möglicherweise widerwilligen)
Duldung gleichkäme, vielmehr fordert das Unternehmen von seinen Beschäftigen, dass
sie den Kollegen „akzeptieren“. Diese Betonung der Akzeptanz ist ein Schritt hin zur ge-
lebten Inklusion zunächst als „anders“ definierter Beschäftigter.
Nach diesem Appell ermöglicht Herr Fuchs den Beschäftigten einen Perspektiven-
wechsel, indem er veranschaulicht, welche Wirkung Spott auf den Kollegen haben kann,
da er aufgrund seiner Abweichung vom Mainstream einer generell psychisch belastenden
Situation ausgesetzt ist. Herr Fuchs versucht also, den Betrieb als einen geschützten Ort
zu gestalten, an dem sich der Mitarbeiter gefahrlos aufhalten kann, ohne mit Abwertung
oder Angriffen rechnen zu müssen.
Neben der normativen Forderung nach Akzeptanz appelliert Herr Fuchs auch an die
Vernunft der Kollegen und weist sie darauf hin, dass sie selbst die Verantwortung für ihr
eigenes Handeln tragen, da sie „erwachsene Leute“ sind. Dieses Erwachsensein bedeutet
zweierlei: Einmal heißt es, dass die Beschäftigten es aushalten müssen, wenn jemand in
ihrer Umgebung von ihrer eigenen Vorstellung von Normalität abweicht, und zweitens
müssen sie ihre Reaktion kontrollieren: Nicht das Gegenüber verhält sich provozierend,
sondern die eigene Reaktion ist aufgrund fehlender Akzeptanz unangemessen.
Diese Strategie scheint funktioniert zu haben, denn nach der Intervention war die Ge-
schlechtsidentität des Mitarbeiters „auch nie mehr ein Thema“ im Unternehmen.
7.5.2 Lebensphasenorientierung
I1: „Wäre es möglich, theoretisch hier als Ingenieur mit einer halben Stelle zu arbeiten, also
vom Arbeitsaufwand. Dass man sagt, man hat jetzt zwei Leute, die teilen sich eine Stelle?“
RD: „Ja. Was glauben Sie, welche Gespräche ich mit meinen Damen führe?“ (RD:
Z. 631–636)
Die Frage wird zunächst nicht konkret beantwortet. Stattdessen schließt sich eine rheto-
rische Gegenfrage an, die als Kritik an der Frage aufgrund der Selbstverständlichkeit der
Antwort (die ausbleibt) gelesen werden kann. Die Selbstverständlichkeit allerdings gilt
nicht für alle, sondern scheint sich nur auf die Frauen zu beziehen, obwohl in der Frage
von „Ingenieur“ die Rede ist, also entweder Männer oder aber als generischem Maskuli-
num11 Frauen und Männer gemeint sein können.
Einige Zeilen weiter im Interviewprotokoll führt Herr Dellinger aus, wie die Themen
Geschlecht und Arbeitszeit für ihn verknüpft sind:
RD: „Wir haben ja. Sie werden es ja mitgekriegt haben, dass wir momentan nicht unbedingt
in der wirtschaftlich tollsten Situation sind. Und dementsprechend ist natürlich auch hinter
manche Stelle ein Fragezeichen. […] So, und dann hat man ja so Damen im gebärfreudigen
11
Man kann berechtigterweise einwenden, dass es – obwohl fälschlicherweise oft verwendet – kein
generisches Maskulinum bei Personenbezeichnungen gibt (vgl. Stefanowitsch 2011). Jedoch würde
dies die folgende Argumentation nicht beeinträchtigen. Diese würde eher verstärkt, sollte sich die
Frage tatsächlich nur auf die Männer im Unternehmen gerichtet haben.
134 C. Goesmann et al.
Alter, @(.)@ ohne jetzt abwertend. Aber natürlich, die haben ja, also zum einen werden
sie nicht geheiratet haben, die meisten haben ja doch im Hintergrund irgendwann vielleicht
Familie mit Kindern. Und auf der anderen Seite haben sie nicht studiert, um dann nach fünf
Jahren Berufsleben daheim zu sein und zehn Kinder großzuziehen. […] Wir haben ja dieses
Jahr über Personalreduzierungsmaßnahmen geredet und dann habe ich zu meinen Mädels
gesagt, (.) weil sie halt natürlich auch Bedenken gehabt haben: Sind sie dabei, die neuesten
Eingestellten und so? Dann haben wir gesagt: ‚Silke, Melanie, wenn ich mal mit euch darüber
rede, dass ihr eventuell die Pille absetzen sollt, dann ist es so weit.‘ (alle: @(.)@) (2) Ja? Also
ich nehme das ein bisschen spaßig, aber eigentlich ist es ein ernstes Thema, ja? So. Aber für
mich ist das zum Beispiel schon ganz klar, sage ich: ‚Ja, ich setze lang-, mittelfristig auf die
Damen, dass die in die Nachfolge bei uns hereinkommen, aber das kann ich ja kombinieren
mit Familien‘, ja?“ (RD: Z. 640–669)
Zunächst scheint sich Herr Dellinger unklar darüber zu sein, welche Erklärungen not-
wendig sind und wie seine Argumentation aufgebaut werden kann. Er steigt thematisch
mit der wirtschaftlichen Lage des Unternehmens ein und richtet (nach einer hier heraus-
gekürzten Beschreibung des Alters der weiblichen Mitarbeiterinnen) den Blick auf die
„Sondergruppe der Gebärfähigen“. Das schließende und in diesem Fall gleichzeitig öff-
nende „so“ markiert die Zäsur zwischen den Gruppen. Bei der Beschreibung der zweiten
Gruppe wird Herr Dellinger sich gewahr, dass die von ihm gewählte Ausdrucksweise dem
Kontext nicht gerecht wird (nonverbal: Lachen (RD 649)) und untermauert dies sprachlich
(„ohne jetzt abwertend“).
Nun folgt eine differenzierte Betrachtung der „Gebärfähigkeit“ bezüglich der (von
Herrn Dellinger unterstellten) Motive seiner Mitarbeiterinnen, aber auch von Frauen all-
gemein. Die Normalität besteht darin, dass Heirat automatisch an die Zeugung und Pflege
von Kindern geknüpft ist. Dieser Erklärungsansatz legitimiert die vorangegangene unan-
gemessene Äußerung zur „Gebärfähigkeit“: Für Herrn Dellinger sind Ehe und Familien-
gründung untrennbar miteinander verknüpft. Doch schon im nächsten Satz erkennt man
die Dualität des Wertebildes des Sprechers. Die Aussage zu den beruflichen Ambitionen
ist insgesamt sprachlich stabiler als die zur Familiengründung; die Erkenntnis, dass die
Frauen arbeiten wollen, scheint in seinem Weltbild also ebenfalls fest verankert zu sein.
Dennoch bleibt eine Einschränkung bestehen, denn der Wunsch nach Familie wird nicht
generell in Frage gestellt, lediglich die Familiengröße passt sich den beruflichen Vorstel-
lungen der Frauen an.
Die Haltung Herrn Dellingers wird nun an dieser Stelle verstärkt, indem er sich aktiv
in die Familienplanung der Mitarbeiterinnen einmischt. Dieser Vorstoß ins Private kehrt
den Anspruch der Vereinbarkeit vollständig um, da es nun nicht mehr das Unternehmen
ist, welches flexibel auf die Bedürfnisse der Beschäftigten eingehen soll, sondern ver-
sucht, intime Lebensentscheidungen dem ökonomischen Rhythmus des Unternehmens zu
unterwerfen.
Die Analyse der vorliegenden Sequenz zeigt einerseits eine klare Einschränkung des
Verständnisses von Teilzeitarbeit als auch ein stark traditionelles Bild von Ehe und Fami-
lie. Der Schnittpunkt der beiden Themen ist die Rolle der Frau in der Familie. Ehe wird
gleichgesetzt mit Kinderwunsch, ein Kinderwunsch wiederum bedeutet (wenn auch nicht
7 Diversity und Lebensphasenorientierung in der betrieblichen Praxis 135
die vollständige Aufgabe, so doch) eine Einschränkung der beruflichen Aktivitäten der
Frau. Somit ist Teilzeit in dieser Betrachtung ein reines Frauen- beziehungsweise weib-
liches Familienthema. Andere Gründe für einen möglichen Wunsch nach Teilzeit wer-
den nicht in Betracht gezogen. Ebenfalls werden an keiner Stelle Überlegungen zu einem
möglichen Wunsch männlicher Beschäftigten nach einer Reduzierung der Arbeitszeit an-
gestellt, weder aus Vereinbarkeits- noch aus anderen Gründen heraus.
Trotz dieser konservativen Haltung ist die Intention hinter den Überlegungen Herrn
Dellingers eine durchaus fortschrittliche, will der es doch den Ingenieurinnen ermögli-
chen, sich im Unternehmen weiterzuentwickeln und Führungsaufgaben zu übernehmen
– auch wenn sie nicht kontinuierlich in Vollzeit zur Verfügung stehen.
Auch in den anderen Unternehmen wurde die Frage nach möglicher Teilzeitbeschäfti-
gung für die Beschäftigten der F&E-Abteilungen in erster Linie theoretisch beantwortet.
Die Befragten standen dem Thema jedoch ebenfalls aufgeschlossen gegenüber und es
gab ein Bewusstsein über andere mögliche Gründe neben der Familiengründung, warum
Beschäftige den Wunsch nach Teilzeitarbeit hegen könnten, wie zum Beispiel Zeiten der
Weiterbildung oder die Pflege älterer Angehöriger.
PO: „[…] man sagt ja immer, man müsste sich rein theoretisch drei Jahre auf = ne Rente vor-
bereiten, (.) weil er steht auf einmal da ohne Arbeit, man sagt zwar, ich kann mich dann zu
Hause irgendwie beschäftigen, aber (.) mit dem zweiten, dritten Tag oder der dritten Woche
hört das mit dem Beschäftigen auf. (.) Und dann (.) fällt man in = n tiefes Loch. Und das (.)
darf nicht passieren. U::nd (.) das versuche ich, mit ihm auch so immer so = n bisschen zu
kommunizieren, u:nd (..) je nachdem hat man natürlich Möglichkeiten, wenn er in Rente ist
und wirklich in = n Loch fällt, der kann hier auf 400-Euro-Basis (.) versuchen, zu arbeiten,
das haben wir ihm auch angeboten, und (.) jetzt müssen wir da den Weg mal (..) abwarten.“
(PO: Z. 234–243)
Herr Ortwig stellt der Beschreibung seines Handelns eine Theorie in Form theoretisierten
Alltagswissens voran, dass der Übergang in die Rente eine langwierige Umstellung be-
deutet, denn man „steht auf einmal da ohne Arbeit“. Obwohl es zunächst paradox wirkt,
dass ein Zustand plötzlich eintreten kann, wenn man sich drei Jahre auf ihn vorbereitet
hat, scheint es für Herrn Ortwig kein Widerspruch zu sein, da er vermutet, dass die Fähig-
keit, diesen Übergang von einer Lebensphase in die nächste gut zu bewältigen, begrenzt
ist. Auch wenn vorher Überlegungen angestellt wurden, wie die freiwerdende Zeit gefüllt
136 C. Goesmann et al.
werden kann, würde dieser Plan seiner Erfahrung nach nur wenige Tage oder Wochen
funktionieren, „[u]nd dann fällt man in ein tiefes Loch“. Herr Ortwig hat also eine recht
deutliche Vorstellung davon, wie der Übergang in die Rente verläuft – und ebenfalls da-
von, wie er verlaufen oder nicht verlaufen sollte. Der Kern dieser Überlegungen scheint
die Bedeutung zu sein, die er der Arbeit zumisst, führt einen das Wegbrechen dieser Arbeit
doch in eine Tätigkeitsflaute, oder möglicherweise noch schlimmer: In eine Sinnkrise.
Das Ende der Notwendigkeit zur Erwerbsarbeit wird hier nicht als Befreiung gedeutet,
sondern als Bedrohung.
Herr Ortwig scheint sich aber im Klaren darüber zu sein, dass diese Deutung nicht
zwangsläufig für alle gelten muss, denn er versucht, „mit ihm [dem Mitarbeiter, Anm.
der Autorinnen] auch so immer so = n bisschen zu kommunizieren“. Diese Formulierung
bleibt sehr vage und lässt keine Schlüsse darüber zu, warum diese Kommunikation ein
Versuch bleibt und wie sie genau abläuft. Weiterhin scheint es kein Ergebnis zu geben,
denn auch der Plan, den Herr Ortwig formuliert, scheint nur eine Art Angebot zu sein, zu
dem sich der Mitarbeiter weder positiv noch negativ geäußert hat. Seitens des Unterneh-
mens gibt es jedenfalls das Angebot, dass der Mitarbeiter auch nach seiner Verrentung
weiter geringfügig beschäftigt bleiben kann.
Der Übergang in den Ruhestand ist – wie die Analyse der vorliegenden Sequenz un-
terstreicht – ein Ereignis, das von Unsicherheit geprägt ist. Er liegt nicht nur in der Zu-
kunft, sondern ist auch mit keiner der vorherigen Lebensphasen vergleichbar. Besonders
in Lebensentwürfen, die stark auf die Erwerbsarbeit konzentriert sind, kann der Verlust
dieser Arbeit eine Sinnkrise verursachen. Diese Gefahr scheint Herr Ortwig bei dem kon-
kreten Mitarbeiter zu vermuten. Diese Unsicherheitsfaktoren und Gefahren werden vom
Unternehmen ein Stück weit aufgefangen, indem ihnen das konkrete Angebot der Wei-
terbeschäftigung gegenübergestellt wird. Der Mitarbeiter kann somit dem Beginn seiner
nächsten Lebensphase ein Stück gelassener gegenübertreten, da ihn kein abrupter Schnitt
erwartet, sondern er bei Bedarf den Übergang fließend gestalten kann.
In dieser Sequenz nicht angesprochen ist der Nutzen, den das Unternehmen von einem
solchen Arrangement haben kann. Nicht nur der Beschäftigte kann hiervon profitieren,
auch das Unternehmen kann das Wissen und die Kompetenzen der Ruheständler und Ru-
heständlerinnen im Arbeitsalltag und zur Einarbeitung von Nachfolgerinnen und Nachfol-
gern weiter nutzen (vgl. hierzu z. B. Morschhäuser und Huber 2008, S. 128 ff.).
demnach auch für kleine und mittlere Unternehmen das Mittel der Wahl, um etablierte
Handlungsmuster, die Diversität konterkarieren können, zu verändern. Aus den Analysen
lassen sich jedoch einige Hinweise ableiten, wie auch ohne ein strukturiertes DiM auf die
Bedürfnisse unterschiedlicher Menschen in unterschiedlichen Lebensphasen eingegangen
werden kann.
Auf den ersten Blick erscheinen die betrachteten Themen sehr heterogen, zusätzlich
werden stark individuelle Lösungen für die jeweiligen Konflikte gesucht. Dennoch lässt
sich eine verallgemeinerbare Strategie des Umgangs mit aus Verschiedenheit und unter-
schiedlichen Lebenssituationen herrührenden Konflikten herausfiltern. Besonders das
Beispiel des transgender Mitarbeiters bietet eine Lösung, die sich in ihrer Logik auf alle
anderen Situationen übertragen lässt: Wird ein Beschäftigter von den Kolleginnen und
Kollegen aufgrund seiner „Andersartigkeit“ gemobbt, nimmt man diesen den Wind aus
den Segeln, indem man ihr Verhalten offen anspricht und ihnen die Verantwortung für ihr
Handeln vor Augen führt. Ähnlich gelagert ist der Fall des Vorgesetzten, der sich um die
Fähigkeit seines Beschäftigten sorgt, den Übergang in die Rente gut zu meistern. Auch
hier wird ein (vermutetes) Problem offen angesprochen, wobei im Gegensatz zu dem
vorherigen Beispiel in der Analyse Zweifel daran aufkamen, ob die Notwendigkeit zur
Intervention auch vom Beschäftigten selbst gesehen wurde. Und selbst die oben als pro-
blematisch eingestuften Äußerungen über die Familiengründungen der weiblichen Füh-
rungskräfte folgt im Kern einer Diversitäts- und Lebensphasenorientierung, da der Vorge-
setzte sich Gedanken darüber macht, wie er familiäre Bedürfnisse der Beschäftigten und
betriebliche Belange miteinander in Einklang bringen kann – hier liegt die Problematik
in der fehlenden Kommunikation über die konkreten Wünsche der Mitarbeiterinnen, und
damit zusammenhängend einer stereotypen Geschlechterzuschreibung bezüglich mögli-
cher Lebensentwürfe. Fehlende Kommunikation scheint auch der Grund für den Konflikt
zwischen der jungen und der „alteingesessenen“ Führungskraft zu sein, da vor Beginn der
Kooperation die jeweiligen Erwartungen nicht diskutiert und daher kein gemeinsames
Verständnis der Aufgabe erreicht wurde. Zur Sichtweise des Ostdeutschen in Unterneh-
men 3, dessen Dialekt bei den Kollegen zu Belustigung führt, lag kein Interviewmaterial
vor, da weder er selbst noch die anderen direkt an der Interaktion beteiligten Personen
befragt wurden. Doch auch hier kann ein einfaches Erfragen von deren Perspektiven Auf-
schluss darüber geben, wie die Situation erlebt wird.12
Die Lösung aller beschriebener Konflikte scheint an dieser Stelle also so banal wie ent-
scheidend zu sein: Kommunikation und Offenheit für andere Perspektiven.
12
Die beiden zum Thema Geschlecht betrachteten Fälle nehmen eine Sonderrolle ein, da in ihnen
keine Interaktion zwischen Beschäftigten oder mit Vorgesetzten beschrieben wird. Jedoch scheinen
sie die Spannbreite abzudecken, in welcher man eine Diversitätsdimension diskutieren kann. Auf
der einen Seite der Skala kann die Rekrutierung von Frauen noch eine solche Besonderheit sein,
dass die Bereitschaft zum diskriminierungsfreien Umgang betont werden muss. Auf der anderen
Seite haben ökonomische Notwendigkeiten den Weg in die Unternehmen für Frauen schon vor so
langer Zeit geebnet, dass sie selbst ihr Geschlecht im Rahmen des Arbeitskontextes als irrelevant
betrachten.
138 C. Goesmann et al.
Ein weiteres Ergebnis ist allen Analysen gemein. Probleme entstehen offenbar immer
dann, wenn der Diversitätsdimension Vorrang vor der Individualität gewährt wird, statt
diese beiden Aspekte ausgewogen einzubeziehen. Aus bestimmten Gruppenzugehörigkei-
ten können besondere Bedürfnisse entstehen, müssen es aber nicht. Sobald stereotype Zu-
schreibungen handlungsleitend werden, ist die Gefahr groß, dem Individuum nicht mehr
gerecht zu werden.
7.7 Fazit
Wie bereits oben festgestellt, konnten in den Interviews keine Hinweise auf intendierte
Diskriminierung gefunden werden. Dennoch wurden in den Analysen kulturelle Hand-
lungsmuster identifiziert, die ein diversitätsorientiertes und wertschätzendes Miteinander
erschweren können. Bisher wurden manche Probleme in den Unternehmen aufgedeckt,
andere bleiben bestehen. Dies liegt möglicherweise daran, dass das Personalmanagement
in den untersuchten Unternehmen weniger mit allgemein verbindlichen Maßnahmen, als
vielmehr mit individuellen Lösungen arbeitet.13 Der Nachtteil eines solchen individua-
lisierten Vorgehens ist, dass Angebote möglichweise nicht für alle uneingeschränkt zu-
gänglich, sondern im Zweifel von persönlichen Beziehungen abhängig sind. Gerade für
Angehörige benachteiligter Gruppen können sich hieraus zusätzliche Hürden ergeben.
Daher empfiehlt es sich, wenn schon nicht das Angebot, so doch zumindest die Abfrage
von Bedarfen zu institutionalisieren und in regelmäßigen Abständen alle Führungskräfte
aufzufordern, sich bei ihren Beschäftigten nach deren Lebens- und Arbeitssituation zu er-
kundigen. Die Institutionalisierung dieses Bewusstseins für Vielfalt und die Überprüfung
der praktizierten Personalpolitik und bereits vorhandener HR-Instrumente kann daher
einen möglichen ersten Schritt hin zu mehr Diversitäts- und Lebensphasenorientierung
darstellen – sozusagen ein Diversity Management light.
Um schon bei der Einstellung von neuem Personal auf eine Stärkung der Vielfalt im
Unternehmen hinzuarbeiten, empfiehlt sich – unabhängig vom Entwicklungsstand der
Diversity-Strategie – die Anwendung der pinowa-Rekrutierungstoolbox (vgl. Kap. 11 in
diesem Band). Sie ist geeignet, um im Rekrutierungsprozess stereotype Denkmuster, die
unbewusst zu einem Ausschluss prinzipiell gut geeigneter Bewerberinnen und Bewerber
führen, zu erkennen und zu minimieren. Auf diese Weise wird einerseits die Vielfalt im
Unternehmen erhöht und andererseits der Pool an möglichen Bewerberinnen und Bewer-
bern erweitert, was den drohenden Fachkräftemangel deutlich abmildern kann.
13
Ein mögliches Instrument, mit dem sich unter anderem überprüfen lässt, inwiefern die Unter-
nehmens- und Führungskultur lebensphasenorientiert geprägt ist und ob sie eine Entsprechung in
für alle Beschäftigten gleichermaßen zugänglichen HR-Maßnahmen hat, ist der im Projekt pinowa
entwickelte KMU-Lebensphasen-Check (vgl. Kap. 12 in diesem Band). Die Frage lautet hierbei
immer: Sind die jeweiligen Angebote prinzipiell für alle zugänglich oder wird der Zugang zu ihnen
durch stereotype Vorannahmen beschränkt (Beispiel: Teilzeit für Frauen und Männer).
7 Diversity und Lebensphasenorientierung in der betrieblichen Praxis 139
Auf lange Sicht empfiehlt sich auch für kleine und mittlere Unternehmen ein struktu-
riertes Diversity Management, um die Vielfalt im Unternehmen zu steigern und produktiv
zu nutzen. Dies betrifft (neben der Überprüfung und Anpassung der HR-Strategie) den all-
täglichen Umgang aller Unternehmensmitglieder miteinander, die durch Diversity-Trai-
nings sensibilisiert lernen können, ihr eigenes Handeln zu reflektieren und zu verändern
und somit die Unternehmenskultur positiv mitzugestalten.
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140 C. Goesmann et al.
Ausgehend von einer grundlegenden Analyse der Bedürfnisse der Beschäftigten lässt sich
jedoch nicht nur der Handlungsbedarf aus Sicht der Beschäftigten bestimmten. Eine der-
artige Untersuchung ermöglicht es auch, bisher ungenutzte Gestaltungsspielräume in den
Unternehmen zu identifizieren. Auf Basis dieser Erkenntnisse lassen sich dann neue An-
sätze von lebensphasensensiblen Entwicklungs- und Karrierekonzepten entwickeln.
Tab. 1.1 Sample der Tiefeninterviews mit den IT-Beschäftigten. (Quelle: eigene Erhebungen)
Männlich Weiblich Gesamt
Berufseinsteigerinnen und -einsteiger (bis 30 Jahre) 11 7 18
Beschäftigte in der „Rush-Hour“ (31 bis 45 Jahre) 23 11 34
Erfahrene Beschäftigte (ab 46 Jahre) 23 9 32
Gesamt 57 27 84
dieses qualitative methodische Vorgehen darauf, gemeinsam mit den Befragten in einem
schrittweisen und iterativen Vorgehen Themen zu reflektieren, die sich nicht standardisiert
abfragen lassen. Im Sinne eines gemeinsamen Reflexionsprozesses wird im dialogischen
Vorgehen den Interviewten selbst die Möglichkeit gegeben, relevante Themen zu setzen
und Zusammenhänge zu reflektieren. Zentrale Themenfelder der 90- bis 120-minütigen
Tiefeninterviews waren unter anderem die Arbeitsorientierung und berufsbiografische
Orientierung, die subjektive Wahrnehmung der Belastungssituation, die Vereinbarkeit von
Arbeit und Privatleben sowie die Möglichkeiten der beruflichen Entfaltung. Neben den 84
Tiefeninterviews wurden in den Unternehmen 17 Interviews Expertinnen und Experten
(vgl. dazu Trinczek 2002) geführt. Zu den befragten Expertinnen und Experten gehörten
Vertreterinnen und Vertreter des Managements, der Personalabteilungen sowie des Be-
triebsrats. Die etwa 90-minütigen Interviews mit Expertinnen und Experten dienten dazu,
die Entwicklung der Altersstruktur in den Unternehmen in Erfahrung zu bringen sowie
Good Practices und Herausforderungen für eine lebensphasensensible Personalpolitik aus
verschiedenen Perspektiven nachzuvollziehen.
Die Tiefeninterviews mit den Beschäftigten sowie die Interviews mit Expertinnen und
Experten wurden zwischen 2012 und 2014 durchgeführt. Alle Interviews wurden durch
einen Interview-Leitfaden strukturiert, welcher auf Basis der konzeptionellen Vorüber-
legungen entwickelt worden war. Sie konnten sämtlich elektronisch aufgezeichnet werden
und wurden vollständig transkribiert. Zur gründlichen und detaillierten Auswertung der
Interviews wurde das Software-Tool MAXQDA benutzt.
Spricht man mit jungen Beschäftigten in der IT-Branche, so wird deutlich, dass die ers-
ten Berufsjahre von zwei wichtigen Themen dominiert werden: Zum einen sondieren sie
in diesen Jahren ihre persönlichen Neigungen und Entwicklungswünsche. Sie lernen das
Unternehmen nach und nach kennen und beginnen sich eine Vorstellung davon zu ma-
chen, in welche Richtung sie sich entwickeln könnten. Zum anderen sind die ersten Jahre
davon geprägt, dass die jungen Beschäftigten im Unternehmen ihre Leistungsbereitschaft
unter Beweis stellen. Gerade zu Beginn ihrer Beschäftigung im Unternehmen wollen viele
146 K. Gül et al.
Beschäftigte zeigen, dass sie motiviert und leistungsfähig sind und dass das Unternehmen
auf den oder die „Richtige“ gesetzt hat. Begleitet wird diese Phase aber auch von einer
Erwartungshaltung der Berufseinsteigerinnen und -einsteiger an das Unternehmen: Die
jungen Beschäftigten erwarten für ihr hohes Engagement nicht nur Anerkennung, sondern
auch Entwicklungsperspektiven vonseiten des Unternehmens. Diese Verknüpfung von ho-
her Einsatzbereitschaft und hoher Anspruchshaltung erzeugt einen Druck, der die jungen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter immer wieder an ihre Grenzen stoßen lässt.
Ich bin halt eben so eine Person, also jetzt nur auf mich bezogen, die gerne zu viele Sachen
annimmt. Also ich bin so einer, der die Herausforderungen sucht und zu vielen Sachen ja sagt
und dann aber auch vielleicht zu viel Arbeit hat. (A_T_40: 107–110)
Deutlich wird auch, dass die ersten Berufsjahre in hohem Maße von dem Glauben an das
Aufstiegsversprechen geprägt sind. Nach dem Motto „Mit der Leistung kommt der Auf-
stieg“ investieren viele Beschäftigte in dieser Phase besonders viel Zeit und Kraft in ihre
Arbeit und erhoffen sich davon Anerkennung in Form von Verantwortungszuwachs und
Karrierefortschritten. Gerade junge Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erleben es als Bestä-
tigung ihrer Fähigkeiten und ihrer Leistungsbereitschaft, wenn sie die Verantwortung für
Teilprojekte oder für kleine Teams übertragen bekommen beziehungsweise als Experten/
innen für bestimmte Themen benannt werden. Sie werten dies als Signal, dass die Vor-
gesetzten besonderes Vertrauen in die Fähigkeiten des jungen Mitarbeiters beziehungs-
weise der Mitarbeiterin setzen. Dabei handelt es sich aber nicht nur um Anerkennung für
zuvor erbrachte Leistungen, sondern durchaus auch um Bewährungsproben (vgl. hierzu
Bultemeier und Boes 2013), in denen sich die jungen Beschäftigten beweisen können
und müssen. Wer diese Bewährungsproben mit Erfolg meistert, empfiehlt sich damit für
weitere Karriereschritte. Das spornt die Berufseinsteigerinnen und -einsteiger dazu an,
sich in besonderer Weise zu engagieren. Das folgende Zitat eines jungen Mitarbeiters, der
eine Expertenfunktion zugewiesen bekommen hat, zeigt sehr deutlich den Zusammenhang
zwischen Verantwortungszuwachs, wahrgenommener Anerkennung, erhöhter Leistungs-
bereitschaft und ausgedehnten Arbeitszeiten:
Wenn’s um gewisse schwierige Sachen geht, ist es einfach so, dann kommen sie zu mir, weil
sie genau wissen, da war ich schon mal unterwegs und da könnte ich eine Lösung sehen. Und
wenn schon jemand zu mir kommt und das mich fragt, dann ist das für mich so, ich werde
von dem respektiert und werde für so Sachen einfach gefragt. Und das ist einfach was, was
8 Lebensphasensensible Entwicklungs- und Karrierekonzepte 147
mich immer so ein bisschen anspornt jeden Tag. (…) Es ist halt eben schon so, da man dann
ein Experte ist, dann kommt es schon öfter vor, dass man dann halt eben mal ein paar Über-
stunden schiebt. (A_T_40: 64–87)
Unsere Untersuchung zeigt, dass auf diese Weise bereits Berufseinsteigerinnen und -ein-
steiger in eine Situation der lang anhaltenden Überlastung geraten. Unter dem hohen
Druck, beweisen zu wollen, dass man der Aufgabe gewachsen ist und „Potenzial“ für
weitere Entwicklungsschritte mitbringt, sehen sich junge Beschäftigte mit Aufgaben kon-
frontiert, die im Rahmen der normalen Arbeitszeit nicht zu leisten sind. Überrascht hat
uns, dass sich diese Überlastungszustände selbst bei den jungen Beschäftigten bereits auf
die Gesundheit niederschlagen. So berichten die befragten Beschäftigten nicht nur von
jungen Kolleginnen und Kollegen in ihrer Abteilung, die einen Burnout hatten, sondern
schildern auch selber, wie sich die Folgen der Überlastung bei ihnen gesundheitlich be-
merkbar machen. Beispielsweise schilderte ein junger Software-Architekt, der seit Län-
gerem unter hohem Zeitdruck steht und unter der schwachen Personalausstattung seines
Entwicklerteams leidet, auf die Frage nach seiner Wochenarbeitszeit folgende Episode:
Also ich kann Ihnen mal ein Beispiel nennen: Kürzlich war ja Ostern. Da hatten wir eine Vier-
tagewoche. Am vierten Tag lag ich dann nachmittags im Bett mit starken Kopfschmerzen und
hab den Rest des Tages geschlafen; das heißt, ich hab eigentlich dreieinhalb Tage gearbeitet.
In den dreieinhalb Tagen hab ich trotzdem 40 Arbeitsstunden geschafft. Das dürfte auch die
Kopfschmerzen am vierten Tag erklären. (A_T_77: 161–165)
Neben gesundheitlichen Problemen äußert sich die Überlastung bei den jungen Beschäf-
tigten vor allem in Schwierigkeiten bei der Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben.
Zwar haben die befragten Berufseinsteiger beziehungsweise Berufseinsteigerinnen durch-
weg noch keine Kinder, dennoch berichten einige von einer deutlichen Vereinbarkeits-
problematik. Schwierig ist für sie vor allem, dass sie aufgrund ausufernder Arbeitszeiten
ihren privaten Verpflichtungen nicht in ausreichendem Maße nachkommen können oder
ihnen zu wenig Zeit zur Verfügung steht, um überhaupt ein soziales Umfeld zu pflegen.
Ein junger Berater, der für die Arbeitsstelle neu an den Unternehmensstandort gezogen ist,
hat aufgrund seiner umfassenden Reisetätigkeit und starken Beanspruchung kaum Mög-
lichkeiten, an seinem neuen Wohnort private Kontakte zu knüpfen:
Also ich bin jetzt momentan freitags schon hier vor Ort, aber ich habe jetzt fünf Tage Projekt-
woche, also ich muss am Freitag auch noch voll rankloppen und reise momentan auch immer
am Sonntagabend schon wieder ab zum Kunden. Von daher ist das schon sehr wenig Freizeit.
Und ich merke das halt, weil ich jetzt hier neu zugezogen bin, merke ich das, dass ich eigent-
lich gar kein richtiges Umfeld aufbauen kann oder konnte. Das man da so ein Umfeld mit
Freundeskreis etabliert, das geht eigentlich gar nicht. Also für mich funktioniert es auf jeden
Fall nicht. (A_T_34: 242–250)
In besonders zugespitzter Weise erfährt dies eine junge Beschäftigte, die mit Ende 20 als
Teamleiterin erste Führungsverantwortung übernommen hat. Sie strebt eine Führungs-
karriere an und sieht diese Position nun als Chance, zu beweisen, dass sie für diesen Kar-
148 K. Gül et al.
riereweg geeignet ist. Problematisch ist allerdings, dass das Team zum einen sehr groß
und zum anderen über verschiedene Standorte verteilt ist. Durch einen hohen Zeiteinsatz
versucht sie, nicht nur ihrer Rolle als Teamleiterin, sondern auch ihren anderen täglichen
Aufgaben in der Arbeit gerecht zu werden. Dies funktioniert für sie so lange, wie in ihrem
Privatleben alles in Ordnung ist und sie „den Rücken für die Arbeit frei hat“. Als ein nahes
Familienmitglied jedoch einen Unfall hat und gepflegt werden muss, gerät sie enorm unter
Druck und fürchtet, durch eine Reduktion ihres Arbeitseinsatzes ihre Stelle zu verlieren:
Aber dieses Jahr, Anfang des Jahres, das hat mich auch stark gebeutelt, deswegen war das
auch so stressig für mich – meine Oma ist gestürzt und war schwer verletzt. Und das war für
mich … das bringt mich total aus der Fassung, also wenn es daheim … irgendwas problema-
tisch wird. Und deswegen sage ich, also wenn daheim alles stimmt, dann empfinde ich das
gar nicht als schlimm, was hier im Geschäftsleben abgeht. Aber wenn das Privatleben nicht
stimmt, dann passt das alles nicht mehr zusammen. (…) Dann kann der … dann, muss ich
sagen, man hat ja dann auch immer gleich Angst, man verliert den Job. (B_b_4: 995–1001)
In der Interviewpassage mit dieser Mitarbeiterin wird deutlich, dass der Bewährungs-
druck, den die jungen Beschäftigten wahrnehmen, nicht immer nur frei gewählt ist. Es
geht nicht nur darum, sich durch ein besonderes Engagement für eine höhere Position zu
empfehlen, um die man sich freiwillig bemüht. Der Druck, den die Beschäftigten wahr-
nehmen, geht durchaus auch mit der Angst vor einer gefährdeten beruflichen Existenz
im Unternehmen einher, wenn man den Leistungserwartungen nicht gerecht wird. Die
Beschäftigten erleben sich in einem „System der permanenten Bewährung“ (Boes und
Bultemeier 2010), das sie dazu antreibt, immer wieder neu zu zeigen, dass sie es wert sind,
zum Unternehmen dazuzugehören.
erfahreneren Kolleginnen ihn darin bestärkt haben, auch einmal nein zu sagen, wenn die
Arbeitslast zu groß wurde:
Weil ganz am Anfang war man Grünschnabel und hat halt eben versucht, immer so viel wie
möglich an sich zu reißen. Mittlerweile mache ich wirklich Abstriche und sag, das mach
ich nicht. (…) Das hab ich nicht selbst gelernt, ich hab’s durch die Kollegen gelernt, weil
Kollegen mich da aufmerksam gemacht haben und gesagt haben, hör mal zu, du kannst jetzt
nicht noch mehr aufnehmen, das geht jetzt nicht. Und das ist auch immer so eine Sache, dass
Kollegen so was zu dir sagen, was mich halt eben dann auch motiviert, weil du dann weißt,
da steht einer hinter dir und sagt das dann, wenn du es nicht siehst, und das ist was, ja, was
ich auch schätze. (A_T_40: 147–171)
Diese Unterstützung erfahren aber bei Weitem nicht alle jungen Beschäftigten. Es gibt
zahlreiche Fälle, in denen sich die Beschäftigten in Situationen starker Überlastung allein
gelassen fühlen, wie das folgende Zitat eines jungen Software-Architekten zeigt:
Ich rede mit meinem Chef regelmäßig darüber. Und das Feedback, was ich da kriege, ist
im Wesentlichen: Ja, wir wissen, dass das nicht gut ist, aber ihr müsst halt das Beste draus
machen. Dass im Endeffekt das Meiste dann an mir hängenbleibt und welche Auswirkungen
das hat, darüber sind sich meines Erachtens die beiden Chefs nicht so wirklich bewusst.
(A_T:77: 235–240)
Zufrieden sind die Beschäftigten damit nicht: Selbst sehr junge und noch kinderlose Mit-
arbeiterinnen und Mitarbeiter reflektieren ihre berufliche Zukunft im Unternehmen sehr
kritisch im Hinblick auf ihre aktuelle Belastungssituation. So stellt sich der im Folgenden
zitierte Berater angesichts der hohen Belastungen, die seine Arbeit mit sich bringt, die
Sinnfrage. Zwar ist er sehr erfolgreich und seine Arbeit macht ihm grundsätzlich Spaß,
doch er sorgt sich darum, wertvolle Zeit für sein Privatleben verstreichen zu lassen oder
den richtigen Zeitpunkt für einen alternativen Karriereweg zu verpassen:
Wenn ich es so vergleiche mit Freunden von mir, die machen da irgendwie um 17 oder 18 Uhr
Feierabend und tagsüber arbeiten die auch nicht so hart wie ich jetzt zum Beispiel, sondern
die lesen dann mal gemütlich im Internet irgendwelche Nachrichten durch oder so, das mache
ich alles gar nicht. Da komme ich gar nicht dazu. Und dann denke ich mir halt auch, hm, ist
ja irgendwie komisch. Weil so viel mehr verdiene ich dann vielleicht doch nicht. Und ja,
manchmal denke ich mir dann, ob das so die beste Entscheidung ist, das so zu machen, oder
ob ich irgendwie so mein Leben da liegen lasse. Das ist halt, ja, macht man sich schon seine
Gedanken. Oder ob man irgendwie sein Leben verpasst und dann irgendwann mit 40 oder so
dann sagt, so, jetzt mache ich keine Beratung mehr. Ach Mist, jetzt bin ich ja schon voll alt.
(A_T_34: 509–519)
Sind die Belastungen dauerhaft zu hoch, ziehen einige junge Beschäftigte auch einen
Unternehmenswechsel in Erwägung. Sie hoffen, auf diesem Wege eher die Chance zu
haben, eine ausgeglichene Work-Life-Balance zu erreichen. Eine Führungskraft aus der
IT-Beratung beobachtet, dass immer wieder junge Mitarbeiter aufgrund der hohen Belas-
tungen das Unternehmen verlassen:
150 K. Gül et al.
Also mein Eindruck ist, dass wir sehr viele junge Mitarbeiter nach drei bis fünf Jahren bereits
wieder verlieren. Unsere Erwartungshaltung ist eine sehr hohe. (…) Wenn ich an meine eige-
nen Mitarbeiter so in den letzten Jahren denke, da war der eine oder andere jüngere Kollege
dann eben auch dabei, der das vier, fünf Jahre gemacht hat und dann gesagt hat, er will nicht
mehr aus dem Koffer leben. (A_T_18: 339–350)
ich das alles tue“, begründete ein junger Mitarbeiter seinen Wunsch nach einer Fachkarrie-
re. Des Weiteren legen die jungen Beschäftigten Wert darauf, eine nach außen hin sichtbare
Bezeichnung für das Kompetenzprofil und das Aufgabenportfolio zu haben. Das steigert
die Motivation, sich für bestimmte Aufgaben verantwortlich zu fühlen und sie nicht nur als
Mehraufwand zu begreifen. Deutlich wird in den Gesprächen mit den Berufseinsteigerin-
nen vor allem, dass fachliche Zusatzfunktionen eine Fachlaufbahn nicht ersetzen können.
Sie erleben solche Zusatzfunktionen als zusätzlichen Aufwand, ohne dafür die entspre-
chende Anerkennung und Reputation in Form einer formellen Position und Gratifikation
zu erhalten. Darüber hinaus versprechen sich die jungen Beschäftigten von einer Fachlauf-
bahn aber auch Transparenz. Sie wollen genau wissen, was sie tun müssen, um den nächs-
ten Karriereschritt beziehungsweise die nächste Tarifgruppe erreichen zu können.
Gerade die Frage, wann die nächste Tarifgruppe erreicht ist beziehungsweise die nächs-
te Gehaltssteigerung ansteht, treibt die jungen Mitarbeiter um. Während die älteren Ge-
nerationen in den untersuchten IT-Unternehmen sich im Laufe ihres Erwerbslebens noch
über deutliche Gehaltssteigerungen freuen konnten, bleibt dies den jungen Beschäftigten
heutzutage in der Regel verwehrt. Dies erzeugt vor allem bei hoch motivierten jungen
Beschäftigten Frustration, die sich bei ihnen in einem regelrechten Motivationsproblem
niederschlägt:
Motivation ist das größte Problem, echt. Also ich habe es wirklich sehr in letzter Zeit, ein
richtiges Motivationsproblem (…). So sehe ich das auch durch das Unternehmen weg. Das
hängt sicherlich auch damit zusammen, dass wir hier keine Perspektive aufgezeigt kriegen.
Keine, wirklich keine. Es ist ein jährliches Jammern um eine Tarifgruppenerhöhung. (B_a_1:
430–435)
Eine ältere Führungskraft zeigt Verständnis für die Unzufriedenheit der jungen Kollegin-
nen und Kollegen mit dieser Situation:
Früher gab es sowas wie Gehaltserhöhungen. Dementsprechend geht es mir gehaltlich eini-
germaßen. Das kann ich natürlich nicht verallgemeinern für die jungen Leute, die heute anfan-
gen, die diese Sprünge, die ich damals gemacht habe, nie haben werden. Für die jüngeren
Leute ist das ein Thema. Weil die einfach dann mit Gehaltserhöhungen zwischen zwei und
drei Prozent – da brauchen wir nicht zu diskutieren, da kommen sie nicht voran. (A_T_76:
743–748)
Für die motivierten Berufseinsteiger und Berufseinsteigerinnen ist es ein bitterer Moment,
wenn sie erleben, dass der erwartete Automatismus „Bei entsprechender Leistung kommt
der Aufstieg“ – in Form von Karrierefortschritten beziehungsweise Gehaltserhöhungen
– nicht eintritt. Viele der Berufsanfänger/innen schildern dies als einen regelrechten Er-
kenntnisprozess, so wie diese junge Beschäftigte:
In diesem Unternehmen muss man fordern. Das war ein Learning, was ziemlich lange bei
mir gedauert hat. Also zu erkennen, Sie fangen an und glauben, alle meinen es gut mit Ihnen
und wenn Sie Ihre Arbeit toll erfüllen, dann kommen automatisch auch die entsprechenden
Karriereschritte. Aber so ist es leider nicht. (…) Man muss alles auch einfordern, man muss
sich – mit dem vielleicht etwas negativen Wort belastet – verkaufen. (A_T_67)
152 K. Gül et al.
Einem jungen Kollegen würde ich sagen: Schau, dass du so Themen wie Selbstdarstellung
besser hinkriegst, dass du gut rüberkommst, dass du dich gut präsentieren kannst, dass du
Themen gut darstellen kannst. Das Wichtigste ist, dass das Thema verkauft wird. Tue Gutes
und sprich darüber! Weil ich den Eindruck habe, andere, die machen ja wirklich aus jeder
Mücke einen Elefanten und machen 50 Powerpoints und stellen sich da in Glanz und Gloria
dar – das bringt unser Unternehmen zwar nicht weiter, aber die Person. (B_a_3: 717–724)
Vielen jungen Beschäftigten ist es zu Beginn ihres Berufslebens nicht bewusst, dass sie
in hohem Maße Eigeninitiative beziehungsweise Eigenverantwortung für ihr berufliches
Weiterkommen übernehmen müssen. Nur selten gibt es eine Person, die „sich kümmert“
oder einen „Mentor“ beziehungsweise eine Mentorin, der oder die einen fördert. Unter-
stützt wird diese Entwicklung durch häufige Reorganisationen in den Unternehmen, wo-
durch junge Beschäftigte immer wieder wechselnde Führungskräfte haben und daher
schnell auch wieder einer solchen Förderung verlustig gehen können.
Zusammenfassung
Nachhaltige Arbeitsbedingungen schaffen: Während Beschäftigte im Berufs-
einstieg im Allgemeinen „automatisch“ als hoch belastbar gelten, zeigt die Aus-
wertung unserer Empirie deutlich, dass in der Praxis viele junge Beschäftigte an
den hohen Belastungen leiden und bereits eine Risikogruppe für Burnout sind. Sie
sind in besonderem Maße anfällig für das „System der permanenten Bewährung“
(Boes und Bultemeier 2010). Nachhaltige Arbeitsbedingungen sind daher bereits
für Berufseinsteigerinnen und -einsteiger von großer Bedeutung. Eine wichtige
Rolle spielt hierbei das unmittelbare Arbeitsumfeld der jungen Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter.
Flexible Entwicklungspfade anbieten: Vor allem zu Beginn ihrer beruflichen
Laufbahn können junge Beschäftigte von flexiblen Entwicklungspfaden profitieren,
welche Bereichs- und Positionswechsel ermöglichen. Dadurch haben Mitarbeiter
die Möglichkeit, andere Unternehmens- und Aufgabenbereiche im Unternehmen
kennen zu lernen und für sich selbst konkretere Vorstellungen über die eigenen Ent-
wicklungswünsche zu gewinnen.
Fachkarriere ausbauen: Die jungen Beschäftigten sprechen sich deutlich für
einen Ausbau der Fachkarriere aus. Sie versprechen sich davon einen Karriereweg,
der kontinuierlich einen engen Bezug zu fachlich-inhaltlichen Themen ermöglicht,
der ein sichtbares Kompetenzprofil und Reputation erzeugt sowie Transparenz über
die Gehaltsentwicklung schafft.
8 Lebensphasensensible Entwicklungs- und Karrierekonzepte 153
Die Phase im Alter zwischen 30 und 45 Jahren ist davon geprägt, dass sowohl in der
Arbeit als auch im Privatleben die entscheidenden Weichen gestellt werden. So ist die
„Rush-Hour des Lebens“ davon gekennzeichnet, dass innerhalb weniger Jahre zahlrei-
che Lebensaufgaben, wie die „berufliche Konsolidierung, Beziehungsintensität, Kinder
großziehen und die Pflege alter Eltern immer wieder problematisch aufeinanderstoßen“
(Siebter Familienbericht 2006, S. 244). Dementsprechend hat das Thema „Vereinbarkeit
von Arbeit und Privatleben“ in dieser Phase für die Beschäftigten einen hervorgehobenen
Stellenwert. Neben der Vereinbarkeitsproblematik steht aber auch die Entwicklung der
Karriere in dieser Lebensphase im Fokus. So dominiert in dieser Phase die Erwartungshal-
tung: Wenn Karriere gemacht wird, dann jetzt. Dementsprechend frustrierend und demo-
tivierend ist es für die Beschäftigten, wenn sie aufgrund ihrer eingeschränkten zeitlichen
Verfügbarkeit aus dem Raster der Karriereförderung herausfallen oder wenn der erhoffte
Karriereaufstieg ausbleibt.
Vereinbarkeit von Arbeit und Familie: Dienstags dürfen die Kinder nicht krank wer-
den …
Aus den Gesprächen mit den Beschäftigten geht deutlich hervor: Gerade Beschäftigte mit
kleinen Kindern haben spezielle Bedürfnisse hinsichtlich ihrer Arbeitszeit. Während es
vor allem die jungen Mütter sind, die nach der Rückkehr aus der Elternzeit ihre Arbeits-
zeit in verschiedenen Ausprägungen reduzieren und auf planbare Arbeitszeiten angewie-
sen sind, spielt bei den jungen Vätern eher das Thema flexible Einteilung der Arbeitszeit
eine wichtige Rolle. Unsere Empirie zeigt aber auch: In den untersuchten Unternehmen
unterscheidet sich die Aufgeschlossenheit gegenüber den spezifischen Arbeitszeit-Bedürf-
nissen von Beschäftigten mit kleinen Kindern je nach Bereich beziehungsweise Abteilung
stark. Während in manchen Bereichen große Spielräume bei Umfang, Lage und Verteilung
der Arbeitszeit gewährt werden, gibt es ebenso Bereiche, in denen sich die Beschäftigten
durch eine starke Verfügbarkeitserwartung bei der Vereinbarkeit von Arbeit und Familie
blockiert sehen.
So berichtet ein IT-Beschäftigter mit zwei kleinen Kindern, dass er von seinem Vor-
gesetzten und von seinen Kolleginnen und Kollegen großes Verständnis dafür bekommt,
dass er seine Arbeitszeit an den Betreuungszeiten für seine beiden Kinder ausrichten muss.
Es wird beispielsweise allgemein akzeptiert, dass er regelmäßig Überstunden aufbaut, um
seine Kinder in den Ferienzeiten halbtags betreuen zu können. Er kennt jedoch im selben
Unternehmen auch Väter, denen ein negatives Signal gegeben wurde, als sie Elternzeit
beantragen wollten, sowie junge Mütter, bei denen die Durchsetzung ihrer Teilzeitstelle
zu Konflikten geführt hat:
Also es funktioniert deswegen gut, weil meine Führungskraft dafür Verständnis hat. Das sind
Dinge, die von der Führungskraft getragen werden, auch von meinen Kollegen. Dass eben
solche Dinge akzeptiert werden, dass ich morgens mal später komme, weil da halt irgendwas
war, oder halt auch pünktlich gehen muss. Also das ist okay. Halt auch, dass ich dann halb-
tags in den Ferien arbeite, und das ist ja nicht wenig, das sind drei Monate im Jahr. (…) Aber
154 K. Gül et al.
das hängt schon sehr stark an den einzelnen Protagonisten, würde ich sagen. Also wenn ich
jetzt eine andere Führungskraft hätte, die da jetzt weniger Verständnis dafür hat, hätte ich da
sicherlich ein Problem. Ich kenne auch Kollegen, die jetzt Nachwuchs bekommen haben,
die jetzt dann – also als Mann – über Elternzeit nachgedacht haben und denen ganz klar
signalisiert wurde, dass das nicht so gern gesehen ist, also auch solche Fälle gibt es. (B_a_5:
346–364)
Die Möglichkeiten für die Vereinbarkeit von Arbeit und Familie hängen also stark von
den jeweiligen Vorgesetzten ab. Für die Beschäftigten wird es damit ein Stück weit zur
„Glückssache“, wie flexibel sie die Betreuung ihrer Kinder mit ihrer Arbeitszeit in Ein-
klang bringen können.
Doch selbst dann, wenn den Beschäftigten eine hohe Flexibilität bei Umfang und Lage
der Arbeitszeit eingeräumt wird, wird die Vereinbarkeit von Arbeit und Familie schnell
zu einem „Ritt auf Messers Schneide“. Die Beschäftigten berichten von komplexen und
häufig auch fragilen Arrangements, um Familie und Beruf unter einen Hut zu bekommen.
In besonders zugespitzter Weise wird dies an der Schilderung einer IT-Beraterin deutlich.
Sie hat zwei kleine Kinder und arbeitet an drei vollen Tagen pro Woche, wobei sie mon-
tags und dienstags meistens zu Kunden verreisen muss. Ihr Mann, ebenfalls Berater, kann
die Kinder am Dienstagmorgen noch in die Kindertagesstätte bringen, muss danach aber
selber verreisen. Der Dienstag wird damit zum „kritischen Tag“ in der Woche der Familie,
an dem die Kinder nicht krank werden dürfen:
Also es ist extremst gut durchgeplant und durchgetaktet. Aber es darf halt auch nicht viel
schiefgehen, dann haben wir ein echtes Problem. Meine Schwiegereltern arbeiten beide noch,
das heißt, die können auch nicht einfach mal so eben dann alles liegen lassen und die Kinder
abholen. Und mein Mann, wie gesagt, der bringt die Kinder dienstags noch weg, aber fliegt
dann selber. Das heißt, eigentlich haben wir dienstags den Engpass, da darf kein Kind krank
werden, nicht von der Leiter fallen oder irgendwas. Das ist bisher auch Gott sei Dank noch
nicht vorgekommen, aber das steht natürlich immer so ein bisschen im Raum, hoffentlich
geht alles glatt an dem Tag. Weil ich bin dann, wenn ich unterwegs bin, ja auch nicht, dass
ich direkt zurück kann. Und wenn das auch lange dauert, also von daher, da haben wir schon
einen Engpass. (A_T_37: 329–344)
Im Augenblick sind sie von der Lebensphase her schwierig, diese externen Projekte. Ich bin
jetzt Vater von einem Kind, (…) und da ist natürlich auch der Druck privat sehr groß, mög-
lichst viel Zeit mit dem Kind zu verbringen. Von daher ist natürlich diese Reisetätigkeit oder
diese fünf Tage aus dem Haus von der Work-Life-Balance her im Augenblick sehr schwierig
zu realisieren. (A_T_17: 47–51)
Viele Beraterinnen und Berater wünschen sich daher mehr Vor-Ort-Projekte oder die Aus-
weitung der Remote-Tätigkeit, sobald sie Kinder haben. Ein Gesprächspartner schilderte,
wie er dieses Thema sehr offensiv anging und über die Ausweitung der Remote-Beratung
seine Reisezeiten reduzieren konnte. Dabei ist es ihm gelungen, sowohl den Kunden wie
auch den Projektleiter und seine Kollegen von seinem Modell der Remote-Beratung zu
überzeugen:
Ich habe dann dem Projektleiter und dem Kunden gesagt: Hier, hört zu, ich werde Papa. Also
so, wie ich das sehe, kann ich auch sehr viel remote machen. Also das heißt, ich bin maxi-
mal noch alle zwei Wochen überhaupt vor Ort anwesend. Ja? War erst mal so kein Problem,
sowohl für den Kunden als auch jetzt intern für die Kollegen. Es hat sich aber sogar gezeigt,
dass nicht mal das sein musste. So, de facto war ich dieses Jahr, weiß ich nicht, zwei oder
drei Mal beim Kunden, obwohl ich aber wirklich fast noch jede Woche für den Kunden was
mache. Ja, also das geht ganz gut. (…) Was natürlich jetzt ziemlich gut ist für mich. Also
ich genieße es. Heißt auf der einen Seite finanzielle Einbußen, aber ja mei, einen Anzug mal
aus dem Schrank anzuziehen anstatt aus dem Koffer ist auch sehr, sehr schön. Und vor allen
Dingen abends bei seinem Kind mal zu sein hat auch was. (A_T_33: 83–110)
Diesem Berater ist es also gelungen, für sich ein lebensphasensensibles Beratungskonzept
umzusetzen und seine Reisezeiten deutlich einzuschränken. An dieser Schilderung wird
deutlich, dass auch in Arbeitsbereichen, die aufgrund ihrer umfangreichen Reisetätigkeit
traditionell als wenig familienfreundlich gelten, Gestaltungspotenziale stecken, um die
Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben zu verbessern. Dabei gilt es vor allem die aus-
geprägten Verfügbarkeitserwartungen zu hinterfragen.
Also es gibt einen wirklich ganz deutlichen Karriereknick, seitdem ich in Elternzeit war. Ganz
klarer Karriereknick. Und es gibt auch kaum Möglichkeiten, aus diesem Karriereknick raus-
zukommen. Oder es gibt Möglichkeiten, aber es ist echt schwer, weil es hier eine sehr starke
Kultur gibt, von bestimmten Positionen, bestimmte Themen kann man nur machen, wenn
man Vollzeit arbeitet und eben einfach keine Zeitbeschränkungen hat. (A_T_59: 504–509)
Ein wichtiger Grund für fehlende Karrierefortschritte bei Beschäftigten, die in Teilzeit
arbeiten, sind demnach die ausgeprägten Verfügbarkeitserwartungen in den Unternehmen.
Auf den Zusammenhang zwischen einer starken Verfügbarkeitskultur in den Unterneh-
men und mangelnden Karrierechancen von Frauen haben bereits Bultemeier und Boes
(2013) hingewiesen. So sind in den Unternehmen vor allem jene Themen an Vollzeit-
stellen gekoppelt, die es den Beschäftigten ermöglichen, „sichtbar“ zu werden, sich im
Unternehmen zu positionieren und damit für weiterführende Positionen zu empfehlen
(vgl. Bultemeier und Boes 2013). Dieser Zusammenhang zwischen einer umfassenden
Verfügbarkeitserwartung und den Chancen, Karriere zu machen, war in den Gesprächen
mit Frauen in der „Rush-Hour“ ein häufiges Thema. So befürchtet eine Beschäftigte, die
zum Zeitpunkt des Interviews noch keine Kinder hat und Vollzeit arbeitet, dass sie ihre
aktuelle Tätigkeit aufgrund der Verfügbarkeitskultur im Unternehmen nicht in Teilzeit
ausüben könnte:
Ich glaube, das ist diese Mentalität, dieses Rund-um-die-Uhr-Erreichbarsein und immer zeit-
nah reagieren können, und das ist auch, glaube ich, das, was mir dann so Probleme macht, wo
ich denke, ob das mit Teilzeit geht, weil rund um die Uhr erreichbar, wenn man Kinder hat
und die irgendwie gerade aus dem Kindergarten abholt, das geht halt einfach nicht. (A_T_68:
1134–1138)
Auch zwei weitere Interviewpartnerinnen erleben die Situation im Unternehmen so, dass
die Karrierechancen von Frauen in Teilzeit eingeschränkt sind. Ihrer Beobachtung nach
werden Frauen, die ihre Arbeitszeit reduzieren, von vornherein nicht für weiterführende
Karriereschritte oder bestimmte Positionen vorgesehen:
Nur dieses Thema „Mutter und Teilzeit“ – ich denke schon, dass es im Moment einfach eine
Barriere gibt, die sagt, na ja, also, die gucken wir jetzt mal von vorneherein nicht unbedingt
für irgendwelche nächsten Schritte oder irgendwas an. (A_T_63: 559–562)
Auf der anderen Seite muss man auch ganz klar sagen, dass, wenn es um das Thema Karriere
geht, es natürlich ein Riesenproblem ist, wenn man als Frau zeitlich nicht so flexibel ist, eben
wegen Familie. (A_T_80: 279–284)
Diese Zitate bringen das zum Ausdruck, was Anja Bultemeier (2011) als die „Ausschließ-
lichkeit“ moderner Karrieren identifiziert hat. Demnach dominiert in den Unternehmen
die Vorstellung, dass Beschäftigte, die Karriere machen wollen, den Karriereprozess mög-
lichst nicht unterbrechen sowie eine hohe zeitliche Verfügbarkeit und lange Präsenzzeiten
vorweisen sollen (Bultemeier und Boes 2013, S. 136). Dies führt gerade bei den Teil-
zeitkräften, die vor ihrer Elternzeit ein ausgeprägtes berufliches Engagement gezeigt und
8 Lebensphasensensible Entwicklungs- und Karrierekonzepte 157
bereits erste Karriereschritte gemacht haben, zu einer hohen Frustration und Demotiva-
tion. Sie erleben eine Entwertung ihrer bisher geleisteten Arbeit und der dabei erworbenen
Kompetenzen. Dies und die eingeschränkten Entwicklungsperspektiven führen bei diesen
Beschäftigten zu Sinnverlusten in der Arbeit. Frustration über fehlende Entwicklungs-
möglichkeiten ist jedoch nicht nur bei Teilzeitbeschäftigten ein wichtiges Thema. Die be-
ruflichen Entwicklungsmöglichkeiten sind für alle Beschäftigten in der „Rush-Hour“ ein
wichtiges Thema.
Also Personalmanagement findet meiner Meinung nach eigentlich gar nicht statt. Also das
ist sehr, sehr dünn, was da passiert. Und ja, das spielt in den ersten fünf Jahren wenig eine
Rolle. Wenn man jetzt wie ich 14 Jahre dabei ist, dann denkt man irgendwann auch, ja, ob ich
jetzt noch mal 20 Jahre den Job mache oder kündige oder irgendwas, es interessiert eigent-
lich keinen. Meinen Chef vielleicht noch – monetär –, aber das war es auch schon. Also
HR-seitig ist da eigentlich nichts. Zumindest von meinem Gefühl her. Ich weiß gar nicht, den
letzten HR-Mitarbeiter habe ich, glaube ich, vor vielleicht fünf Jahren mal getroffen oder so.
(A_T_32: 94–101)
Also ich bin jetzt seit elf Jahren im Unternehmen, ja. Und ich muss ehrlich sagen, Karriere-
möglichkeiten sind mir nicht angeboten worden. Das ist vielleicht das, worauf ich ein biss-
chen sauer bin, dass man halt niemanden hat, der sich um einen kümmert. So ein Kümmerer,
der sagt, guck mal, würde dir das nicht Spaß machen oder das. (A_T_16: 941–948)
Ein Problem für die mangelhafte Weiterentwicklung ist in den Augen der Beschäftigten,
dass die unmittelbaren Vorgesetzten in der Regel so stark mit administrativen Aufgaben
ausgefüllt ist, dass ihnen zu wenig Zeit bleibt, um die persönliche Entwicklung der Mit-
arbeiterinnen und Mitarbeiter zu fördern. In den Gesprächen mit den Beschäftigten wird
deutlich, dass ihnen dabei weniger Weiterbildungsangebote fehlen, sondern vielmehr eine
umfassenden Beratung bezüglich ihrer persönlichen Laufbahn. Auch hier sind die unmit-
telbaren Vorgesetzten häufig überfordert, da sie oftmals gar nicht den Überblick über die
Entwicklungsmöglichkeiten der jeweiligen Person im Unternehmen haben, wie in dem
folgenden Zitat eines IT-Beraters deutlich wird:
158 K. Gül et al.
Mein Vorgesetzter hat kein Interesse daran, hat auch nicht das Know-how, würde ich mal
behaupten, ja? Er ist zwar Manager, hat Personalverantwortung, aber er hat nicht das Know-
how, um einem wirklich eine Karriereberatung anzubieten oder so. Das funktioniert nicht.
Auf dem Papier soll das alles so sein, aber das funktioniert nicht. Der weiß nicht viel mehr als
ich, was das angeht, wenn man es jetzt mal so ausdrückt. In dem Bereich. Also wenn man es
nicht selbst in die Hand nimmt, passiert auch nichts. (A_T_32: 749–754)
Die gleiche Frage stellt sich auch für mich persönlich, wo geht es denn noch hin? Ich bin
jetzt Anfang 40, was will ich machen die nächsten 20, 25 Jahre? Gute Frage. Nächste Frage.
(A_T_64: 185–187)
Für die Beschäftigten wären Führungspositionen, die in kleineren Schritten einen Ver-
antwortungszuwachs ermöglichen, sehr interessant. Ein Mitarbeiter macht deutlich, dass
sich viele seiner Kollegen und Kolleginnen eine Führungskarriere in kleinen Schritten
wünschen würden, es aber an passenden Angeboten fehlt:
Die Zwischenfunktionen zwischen ‚ich bin normaler Mitarbeiter‘ und gleich Führungskraft,
die fehlt einigen auch. Also da sind durchaus einige dabei, grad jetzt im jüngeren Bereich oder
im jüngeren Abschnitt, die 25 bis 35 Jahre alt sind oder vielleicht noch auch darüber, die sagen:
‚Hey, ich könnte mir schon vorstellen, da ein bisschen mehr zu tun, mich zu entwickeln, viel-
leicht in Richtung Projektleitung, vielleicht in Richtung Teamsteuerung‘, da wird aber relativ
wenig angeboten. Also man könnte diese Projektleiterqualifizierung machen, dann kommt’s
aber auch immer drauf an, gibt es grad Projekte in der Größenordnung? (B_a_2: 814–822)
1
vgl. hierzu Kap. 4 von Gül, Boes, Kämpf in diesem Band.
8 Lebensphasensensible Entwicklungs- und Karrierekonzepte 159
Den Beschäftigten mangelt es jedoch auch über die klassische Führungskarriere hinaus an
Entwicklungsperspektiven. Nicht jede und jeder kann und will in den Bereichsvorstand.
Auch jenseits der „vertikalen Aufstiegskarriere“ wünschen sich die Beschäftigten interes-
sante Entwicklungsoptionen und spannende Tätigkeiten. Vor allem in Unternehmen, die
das Ziel verfolgen, Hierarchien abzuflachen und Microteams zu vermeiden, stellt sich in
verschärfter Weise die Frage, wie man das Thema „Weiterentwicklung“ transparent ma-
chen und institutionell absichern kann. Neben einer Fachlaufbahn für technisch-fachlich
interessierte Beschäftigte sind es vor allem Entwicklungsmöglichkeiten „in die Breite“,
die für die Beschäftigten an Bedeutung gewinnen. Eine „Karriere in die Breite“ kann eine
interessante Alternative zur vertikalen Karriere sein, indem sie den Beschäftigten eine
sinnhafte Entwicklungsperspektive aufzeigt. Wichtig ist jedoch auch bei der „Karriere
in die Breite“, dass sie in ihrer Ausgestaltung transparent sowie mit Formen der Aner-
kennung für erbrachte Leistungen verknüpft ist. Beschäftigte, die hohes Engagement und
gute Leistungen für das Unternehmen erbringen, erwarten in allen Phasen ihres Erwerbs-
lebens eine entsprechende Anerkennung dafür. Dies bringt ein Mitarbeiter deutlich auf
den Punkt, der in der fehlenden Anerkennung für berufliches Engagement einen zentralen
Grund für die „innere Kündigung“ vieler Beschäftigter sieht:
Aber wenn ich eben das Gefühl habe, ich arbeite wie ein Blöder und mein Chef erkennt
das nicht an, auch nicht durch kleine Gehaltserhöhungen, dass ich immer noch wertvoll bin
für die Firma, dann bin ich ruckzuck weg in Anführungsstrichen, zumindest geistig. Meine
Frau sagt immer so schön, dann ist man irgendwann im Pensionserwartungsbunker. (A_T_64:
273–277)
Also meine Jungs sind drei und fünf, und in der Phase, als mein Großer geboren worden
ist, hatte ich dann auch eben diese zusätzliche Projektverantwortung und den Karriereschritt
gemacht zum Management letztendlich. Also innerhalb dieser, ich sage mal, drei Jahre, ja,
von Kind Nummer eins bis zu Kind Nummer zwei so mehr oder weniger, habe ich die größ-
160 K. Gül et al.
ten Karriereentwicklungen gemacht. (…) Im Jahr 2010 ist mir die Work-Life-Balance dann
komplett aus der Hand genommen worden, in Anführungsstrichen, eben durch den erhöhten
Druck. Und da hat mir die Familie deutlich dann irgendwann mal signalisiert, so bis hierhin
und nicht weiter, und wenn du jetzt noch einen Schritt weitergehst, dann hast du ein Problem.
Und das ist eine Erkenntnis, die ich gewonnen habe. Deswegen sage ich jetzt da auch, zum
Beispiel, ich muss nicht Manager sein, schon gar nicht in dieser Firma, weil eben mit einem
Manager auf der Ebene dann auch ein sehr hoher Erwartungsdruck einhergeht. (…) Also
Leistung und Gegenleistung müssen passen, es muss sich die Waagschale halten und das tut
es eben nicht mehr irgendwann. Der Preis ist mir dann zu hoch. Dazu bin ich nicht bereit. Ich
habe auch Jobangebote deswegen abgelehnt. (A_T_64: 883–916)
In einem anderen Unternehmen gibt es sogar ganze Bereiche, die Schwierigkeiten haben,
Nachwuchsführungskräfte zu bekommen. In einem Bereich war seit mehreren Jahren nie-
mand mehr im Führungskräftenachwuchsprogramm, weil die Position aufgrund der hohen
Belastungen als sehr unattraktiv gilt. Das Unternehmen sah sich in der Vergangenheit
mehrfach dazu gezwungen, externe Führungskräfte einzustellen, weil es den Bedarf intern
nicht decken konnte. Ein Mitarbeiter aus diesem Bereich schildert seine Perspektive auf
die Position der Abteilungsleiter so:
Also ich glaube, der undankbarste Job hier, das ist der Abteilungsleiter. Also die kriegen ja
von oben und von unten Druck. Die sind so richtig mittendrin. Und die müssen auch, puuh,
also ich möchte es nicht machen. (B_b_1: 691–701)
Diese Situation ist nicht nur für die Beschäftigten unbefriedigend, sondern auch für die
Unternehmen problematisch. So besteht für sie in dieser Situation das Risiko der Negativ-
selektion: Nicht diejenigen Beschäftigten kommen weiter, die für eine Position besonders
geeignet sind, sondern diejenigen, die bereit sind, den hohen Preis für diese Stelle zu be-
zahlen und damit auf eine ausgeglichene Work-Life-Balance zu verzichten.
8 Lebensphasensensible Entwicklungs- und Karrierekonzepte 161
8.3.3 Erfahrene Beschäftigte
Bei den erfahrenen Beschäftigten ab 45 Jahren stehen drei große Themen im Mittelpunkt.
Das erste Thema beschäftigt vor allem die jüngeren unter den erfahrenen Beschäftigten.
Sie fragen sich, in welche Richtung sie sich in den verbleibenden zwei Jahrzehnten ihres
Berufslebens noch entwickeln können. Sie wollen ihre Zeit nicht einfach nur „absitzen“
und 20 Jahre auf die Rente warten, sondern Verantwortung übernehmen und sich weiter-
entwickeln. Ein zweites Thema sind die Ängste, die viele Beschäftigte äußern: Sie be-
fürchten, mit dem technologischen Wandel nicht Schritt halten zu können und im Unter-
nehmen „abgehängt“ zu werden. Vor allem für die älteren unter den erfahrenen Beschäf-
tigten ist drittens der Übergang in die Rente ein Thema: Sie fragen sich, wie sie den Über-
gang vom Arbeitsleben in die neue Lebensphase gestalten können und welche Optionen
das Unternehmen hierbei bietet.
162 K. Gül et al.
Ich stelle fest, dass es dieses Angebot nicht gibt, dass man hier sich Gedanken macht, brauche
ich diese älteren, erfahrenen Mitarbeiter oder brauche ich sie nicht. (…) Ich denke, da hat die
Firma noch keine klare Antwort. (A_T_36: 482–487)
Erfahrene Mitarbeiter ab 45 Jahren stehen in den Unternehmen nicht im Fokus der Per-
sonalentwicklung. Viele Beschäftigte erleben dies als mangelnde Anerkennung und Wert-
schätzung. Sie fragen sich: Was ist meine Erfahrung noch wert? Bin ich hier im Unterneh-
men überhaupt noch gewollt? Für die Beschäftigten ist diese fehlende Anerkennung und
Wertschätzung ein zentraler Belastungsfaktor. Deutlich wird dies an dem folgenden Zitat
eines Softwareentwicklers, der noch 13 Jahre Berufsleben vor sich hat, für sich jedoch
keine Entwicklungsperspektive im Unternehmen sieht:
Die Perspektivlosigkeit im Moment, die macht mir zu schaffen. Ich meine, in der IT macht’s
mir ja Spaß, sonst hätte ich das ja nicht studiert. Früher war es ja noch EDV. Nein, ich bin
schon technikaffin, so ist das nicht. Weil, ich bin jetzt 52. Man möchte noch ein paar interes-
sante Jahre haben und nicht absitzen bis 65 oder so. (B_c_6: 517–527)
Viele Beschäftigte, die sich bereits in der zweiten Hälfte ihres Erwerbslebens befinden,
berichten, dass ihnen Entwicklungsperspektiven fehlen. Dabei geht es ihnen nicht nur um
vertikale Karriereschritte. Die Beschäftigten suchen vielmehr nach neuen Herausforde-
rungen und Möglichkeiten, sich beruflich weiterzuentwickeln. Entwicklungsperspektiven
in die Breite gewinnen dabei an Bedeutung. So weisen viele Beschäftigte im Gespräch
darauf hin, dass sie sich eine „Karriere in die Breite“ und damit verbundene neue Heraus-
forderungen vorstellen können. Dabei sind den Beschäftigten jedoch zwei Dinge wichtig:
Zum einen erhoffen sie sich mittel- bis langfristig Transparenz bezüglich ihrer Entwick-
lungsmöglichkeiten. Der eingeschlagene Pfad darf nicht in einer Sackgasse enden. Zum
anderen thematisieren auch die erfahrenen Beschäftigten, ebenso wie ihre jüngeren Kolle-
ginnen und Kollegen, dass für sie Formen der Anerkennung – nicht unbedingt finanzieller
Art – ein wichtiger Motivationsfaktor sind.
Neben einer Karriere in die Breite denken erfahrene Beschäftigte auch über spezifische
Funktionen beziehungsweise Rollenprofile nach, die es ihnen ermöglichen könnten, ihre
Stärken und Kompetenzen gezielt in das Unternehmen zurückzuspielen. Vor allem in der
8 Lebensphasensensible Entwicklungs- und Karrierekonzepte 163
IT-Beratung gibt es ab einem höheren Erfahrungsgrad den Wunsch, aus den alltäglichen
Bonusplänen auszuscheren und in einer veränderten Rolle neue inhaltliche Herausfor-
derungen anzunehmen sowie die persönliche Projekt- und Lebenserfahrung ins tägliche
Beratungsgeschäft einfließen zu lassen. Die befragten Beraterinnen und Berater nannten
hier als Beispiel Spoteinsätze in zeitkritischen Projekten, Risk-Management in problema-
tischen beziehungsweise konflikthaften Projekten oder auch die Funktion eines Coaches
oder Sparringspartners für jüngere Kolleginnen und Kollegen.
Und ich hab jetzt, wenn man sagt, bis zur Rente, wirklich auch gewisse Ängste. Dahingehend,
dass gewisses Know-how, technisches Know-how, natürlich von den Jungen schon vorhan-
den ist, und ich muss mir das jetzt auch noch mal erarbeiten. Und dass dann diese Position,
die man hat, dass man da zurückgesetzt wird. Dass man nur noch ein teurer Mitarbeiter ist.
Und eventuell Erfahrungen, die man hat, einfach nicht mehr honoriert werden. (…) Manch-
mal sehe ich’s bei älteren Mitarbeitern so, dass die sich dann zurückziehen und (…) dass da
eine gewisse innerliche Kündigung kommt dadurch. Und das möchte ich hoffentlich ver-
meiden. Denn nämlich dann wird’s lang bis zur Rente. Und ich möchte halt hier schon noch
Verantwortung bekommen und übernehmen können. Und auch trotzdem meine Karriere, in
Anführungszeichen, weiterverfolgen. Nicht automatisch von irgendwelchen Möglichkeiten
ausgeschlossen werden, nur weil ich älter bin. (A_T_78: 617–636)
Dieses Zitat macht deutlich: Die Beschäftigten nehmen gerade in der technologisch
schnelllebigen IT-Industrie schon vergleichsweise früh bezüglich des technologischen
Know-hows eine Distanz zu den jüngeren Beschäftigten wahr. Auch die im Folgenden zi-
tierte Entwicklerin in einem Scrum-Team äußert Ängste, dass sie als „ältere“ Entwicklerin
„abgehängt“ werden könnte. Es wird für sie immer schwieriger, auf dem neuesten Stand
der Technik zu bleiben. Sie beobachtet, dass ihre jüngeren Kolleginnen und Kollegen sehr
viel unbefangener an technische Neuerungen herangehen:
Jüngere Kollegen gehen viel lockerer mit neuen Sachen um. Das ist nicht abzustreiten. Die
haben weniger Berührungsängste und sind viel relaxter. Ich bin so, und einige meiner älteren
Kollegen auch, dass, ach schon wieder was Neues und wie geht das und da muss man sich
wieder rein arbeiten und ein bisschen, ja, kriegt man, ja, kalte Füße. Man geht schon mit ein
bisschen Vorbehalt an die Sachen ran. (A_T_70: 127–134)
164 K. Gül et al.
Bei den erfahrenen Beschäftigten findet sich also auf der einen Seite die Sorge, dass sie
verglichen mit ihren jüngeren Kolleginnen und Kollegen mehr investieren müssen, um
mit dem technologischen Wandel Schritt halten zu können, und dass ihnen dadurch Kar-
riere- und Entwicklungsmöglichkeiten verwehrt bleiben könnten. Auf der anderen Seite
verspüren sie aber auch eine steigende Unsicherheit: Sie befürchten, dass ihre Chancen,
außerhalb des Unternehmens einen Arbeitsplatz zu finden, mit zunehmendem Alter sin-
ken. Erschwerend kommt noch hinzu, dass die Mobilitätsbereitschaft bei älteren Beschäf-
tigten häufig deutlich stärker eingeschränkt ist als bei Jüngeren. Viele haben in diesem
Alter ein Eigenheim, schulpflichtige Kinder oder auch pflegebedürftige Eltern, die ihre
Zeit beanspruchen.
Das Vorhandensein dieser Ängste und Sorgen bei erfahrenen Mitarbeitern bringt deut-
lich zum Ausdruck, dass in den Unternehmen eine Akzeptanz des Alterns fehlt. So ist es
weit verbreitet, auf eine einseitige Art Vergleiche zu den jüngeren Beschäftigten zu ziehen,
wobei die Stärken und Potenziale der erfahrenen Beschäftigten wenig Beachtung finden.
In den Unternehmen ist es beispielsweise weit verbreitet, dass junge Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter in schwierigen Situationen Mentorinnen beziehungsweise Mentoren oder
Coaches an die Seite gestellt bekommen, um aus derartigen Herausforderungen positive
Lernerfahrungen zu ziehen und zu wachsen. Demgegenüber fehlt es jedoch an Initiativen
und Maßnahmen, die Ängste und Probleme der erfahrenen Beschäftigten aufzugreifen
und damit produktiv umzugehen. In einem Unternehmen fanden sich jedoch auch zwei
Positiv-Beispiele, wie man mit Schwächen Einzelner im Team umgehen kann. Ein junger
Produktmanager beschreibt beispielsweise, wie er und zwei junge Kollegen „Innovations-
workshops“ für ihre Teamkollegen organisieren, in denen sie neue technologische The-
men und Innovationen so aufbereiten, dass alle Teammitglieder nicht nur einen schnellen
und unkomplizierten Einblick in diese Themen erhalten, sondern auch Ängste vor neuen
Technologien verlieren:
Wir haben zum Beispiel letztes Jahr mit zwei Kollegen zusammen von Mittwoch bis Freitag,
da haben wir zwei Nächte in Garmisch verbracht, und haben dann erst mit so Live-Kinetik
gestartet mit einem Vortrag und haben dann zum Beispiel in einem anderen Raum vier Inno-
vationsthemen aufgebaut. Das war zum Beispiel ein Spiel, wo man mit Gestensteuerung um
die Wette laufen konnte oder Tischtennis spielen. Oder mit Second Screen – nennt sich das
–, mit Apple-TV Spiele gegeneinander spielen konnte. Oder Lead Motion, heißt das, das ist
so ein Würfel, wo man mit seinen Händen quasi so den PC steuern kann. Also der erkennt
dann alle Finger und so weiter, ist ganz witzig. Und so haben wir die ganzen Leute dann auch
live testen lassen, damit man auch ein bisschen Erfahrung bekommt und so ein bisschen die
Angst vor der Technik verliert. Und ich glaube, das ist auch ein wichtiger Punkt, dass man da
auch mitreißen kann. Ich kriege es halt immer nur von unserem Bereich mit, dass da auch alle
mitziehen. (B_d_2: 653–667)
Ein Teamleiter aus einem anderen technischen Bereich kam auf eine ähnliche Idee, als
er sich mit der Herausforderung konfrontiert sah, seinen Teammitgliedern neue techno-
logische Themen näherzubringen und sie bei der Weiterentwicklung ihrer Fähigkeiten zu
fördern:
8 Lebensphasensensible Entwicklungs- und Karrierekonzepte 165
Ich habe mich halt einfach hingesetzt und habe Termine eingetragen und habe gesagt, so, jetzt
machen wir alle zwei Wochen einen Termin, und in jedem Termin einigen wir uns, was ist
das nächste Thema, das wir durchsprechen. So können Vorschläge gemacht werden und dann
bereitet sich da jemand vor, und der erklärt das Thema. Und das wird halt mit Workshop-Cha-
rakter durchgegangen und wird nicht jetzt nicht irgendwie so eine, so eine Frontbeschallung,
sondern dass halt wirklich alle mitarbeiten und sich ein bisschen mit einbringen. Und das
machen wir jetzt seit einem halben Jahr, und das klappt eigentlich ganz gut, also gute Reso-
nanz, ist aber jetzt nichts, das, das irgendwie von, ja von oben diktiert worden ist. Einfach, um
solche Themen den Leuten näherzubringen. (B_b_6: 92–106)
Diese Technologie-Workshops werden nach Einschätzung des Teamleiters von den Mit-
arbeitern gut angenommen und verlaufen ausgesprochen erfolgreich. Diese Beispiele zei-
gen: Eine wichtige Ressource sowohl für die erfahrenen als auch für die jüngeren Beschäf-
tigten ist ein beständiges Team, in dem eine vertrauensvolle Zusammenarbeit möglich ist
und die Schwächen Einzelner solidarisch gemeistert werden.
Ich meine, dann rutscht man so in verschiedene Projekte rein und sagt, oh, das ist toll und das
will ich unbedingt stemmen und so, bisschen Ehrgeiz. Ja, und dann ist man so bei 50, 60 h die
Woche. Manchmal bis tief in die Nacht, manchmal auch nicht. Und erstens merkt man, dass
es nach hinten raus, also auf die Qualität und den Fertigstellungstermin von Projekten, wenig
Einfluss hat. Und zweitens merkt man, dass es auch … dass man nicht mehr 20 ist und dann
für die Gesundheit auch nicht zuträglich ist. (…) Ich hab Herzrhythmusstörungen bekommen.
Und zwar die dauerhaften Herzrhythmusstörungen, da musste auch wirklich was gemacht
werden. Ja, und das hat dann drei Jahre gedauert, bis das behoben war. Ja, und dann hab ich
natürlich … ich war sechsmal im Krankenhaus und hatte natürlich auch genug Zeit, darüber
nachzudenken, was wichtig ist und was nicht. Ja, und da schiebt sich schon relativ schnell die
Arbeit ein bisschen nach hinten. (B_b_3: 316–329)
Dieser Beschäftigte achtet mittlerweile sehr auf eine Begrenzung seiner Arbeitszeit und
vermeidet Überstunden. Neben extensiven Arbeitszeiten, die wenig Raum für Regenera-
tion lassen, sind es jedoch auch nächtliche Einsätze im Rahmen von Bereitschaftsdiensten,
wie sie beispielsweise im Rechenzentrumsbereich vorkommen, welche mit zunehmendem
Alter als besonders belastend empfunden werden. Auch jüngere Beschäftigte empfinden
nächtliche Einsätze als anstrengend und belastend, wenn sie sich zu sehr häufen. In den
166 K. Gül et al.
Erzählungen der Befragten wird aber deutlich, dass es Älteren offenbar schwerer fällt,
innerhalb kurzer Zeit wach und arbeitsfähig zu sein sowie nach dem Arbeitseinsatz wieder
in einer angemessenen Zeit zur Ruhe zu finden. Ein älterer Mitarbeiter beschreibt seine
nächtlichen Einsätze so:
Sie wissen nie, was wann kommt. Früher hat das nicht so viel ausgemacht, aber jetzt, so im
fortgeschrittenen Alter, sage ich mal, das wird dann schon, wenn du da jetzt nachts um zwei
raus geklingelt wirst, da musst du gleich, musst du gleich topfit sein. (B_b_1: 100–104)
Während die Leistungsbereitschaft im höheren Erwerbsalter also nach wie vor hoch ist,
wird dennoch das Interesse an nachhaltigen Arbeitsbedingungen deutlicher formuliert als
in jüngeren Erwerbsjahren. Wie die Ergebnisse zu den Beschäftigten in den vorangehen-
den Erwerbsphasen gezeigt haben, besteht zu allen Zeiten des Erwerbslebens ein hohes In-
teresse an einer Arbeitsumgebung, die ausreichend Raum für die Vereinbarkeit von Arbeit
und Privatleben sowie für Regeneration lässt. Beschäftigte, die entweder am eigenen
Leib oder in ihrem unmittelbaren Kolleg/innenkreis bereits gravierende gesundheitliche
Beeinträchtigungen erlebt und damit auch die Endlichkeit ihres Seins auf eindringliche
Weise erfahren haben, äußern ihre Bedürfnisse hinsichtlich einer gesundheitsförderlichen
Arbeitsumgebung mit einer größeren Klarheit.
2
Eine detaillierte Beschreibung der Zeitkontenmodelle sowie der Arbeitszeitregelung „55+“ bei der
Software AG findet sich in dem Kap. 17 von Monika Neumann und Susanne Murmann in diesem
Band.
8 Lebensphasensensible Entwicklungs- und Karrierekonzepte 167
8.4 Resümee
Die Untersuchungsergebnisse zeigen, dass es für die Unternehmen wichtig ist, die Be-
dürfnisse von Beschäftigten in verschiedenen Lebensphasen differenziert in den Blick zu
nehmen. Dies bietet die Grundlage dafür, Entwicklungs- und Karrierekonzepte lebens-
phasensensibel zu gestalten. In vielen Gesprächen wurde deutlich, dass die Beschäftigten
in unterschiedlichen Phasen des Erwerbslebens immer wieder Schwierigkeiten haben, die
Sphäre der Arbeitswelt mit ihrer individuellen Lebenswelt in Einklang zu bringen. Dabei
besteht das Risiko, dass Unternehmen diese Beschäftigten im Laufe ihres Erwerbslebens
„verlieren“: Anhaltend hohe Arbeitsbelastungen veranlassen beispielsweise gerade die
jüngeren Beschäftigtengruppen dazu, über einen Unternehmenswechsel nachzudenken
oder Karriereschritte abzulehnen. Motivierte und hochqualifizierte Beschäftigte in der Fa-
milienphase werden von den hohen Verfügbarkeitserwartungen ausgebremst und zeigen
sich darüber frustriert. Und fehlende Entwicklungsperspektiven bergen vor allem bei den
erfahrenen Beschäftigten die Gefahr der „inneren Kündigung“.
Die grundlegenden Umbruchprozesse3, die wir gegenwärtig in modernen Unterneh-
men beobachten, (Boes et al. 2015; Bultemeier und Boes 2013) bieten jedoch durchaus
die Chance, auch die Entwicklungs- und Karrierekonzepte neu zu denken und in neuer
Qualität lebensphasensensibel zu gestalten. So beginnen die Unternehmen im Zuge dieser
Veränderungen nicht nur ihre Unternehmensorganisation zu verändern, sondern auch die
Rahmenbedingungen von Arbeit und von Karriere (Bultemeier und Boes 2013, S. 95 ff.).
In dieser Veränderungsdynamik entsteht ein Möglichkeitsraum, der es erlaubt, bei der
Gestaltung von Entwicklungs- und Karrierekonzepten den Bedürfnissen der Beschäftig-
ten in verschiedenen Lebensphasen ein stärkeres Gewicht zu verleihen. Damit können
Unternehmen die vielfältigen Potenziale ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über den
gesamten Erwerbsverlauf besser nutzen. Und zugleich bietet dies die Chance, die Unter-
nehmen wieder näher an das Leben der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu bringen.
Literatur
Boes, A., & Bultemeier, A. (2010). Anerkennung im System permanenter Bewährung. In H.-G.
Soeffner (Hrsg.), Unsichere Zeiten. Herausforderungen gesellschaftlicher Transformationen.
Verhandlungen des 34. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (CD_ROM). Wies-
baden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Boes, A., & Lühr, T. (2013). Karrierechancen von Frauen erfolgreich gestalten – Good Practices der
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erfolgreich gestalten (S. 198–228). Wiesbaden: Springer Gabler.
Boes, A., & Trinks, K. (2006). „Theoretisch bin ich frei!“ Interessenhandeln und Mitbestimmung in
der IT-Industrie. Berlin: edition sigma.
3
vgl. hierzu Kap. 4 von Gül, Boes, Kämpf in diesem Band.
8 Lebensphasensensible Entwicklungs- und Karrierekonzepte 169
Boes, A., Kämpf, T., & Lühr, T. (2015). Von der „großen Industrie“ zum „Informationsraum“: Infor-
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fitieren? In A. Boes, A. Bultemeier, T. Kämpf, & R. Trincek (Hrsg.), Strukturen und Spielregeln
in modernen Unternehmen und was sie für Frauenkarrieren bedeuten (können). Arbeitspapier 2
des Projekts „Frauen in Karriere“ (S. 45–81). München: ISF München.
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siken für Frauen. In A. Boes, A. Bultemeier, & R. Trinczek (Hrsg.), Karrierechancen von Frauen
erfolgreich gestalten (S. 95–165). Wiesbaden: Springer Gabler.
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für eine lebenslaufbezogene Familienpolitik. http://www.bmfsfj.de/doku/Publikationen/famili-
enbericht/download/familienbericht_gesamt.pdf. Zugegriffen: 26. Jan. 2015.
Trinczek, R. (2002). Wie befrage ich Manager? Methodische und methodologische Aspekte des
Experteninterviews als qualitativer Methode empirischer Sozialforschung. In A. Bogner, B. Lit-
tig, & W. Menz (Hrsg.), Das Experteninterview. Theorie, Methode, Anwendung (S. 209–222).
Opladen: Leske + Budrich.
Katrin Gül ist Soziologin und arbeitet seit 2008 als wissenschaftli-
che Mitarbeiterin am Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung
– ISF München. Sie studierte an der Ludwig-Maximilians-Univer-
sität in München Soziologie mit dem Schwerpunkt Arbeits- und
Industriesoziologie. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Belastung
und Gesundheit in der Wissensarbeit, betriebliche Strategien im
Umgang mit dem demografischen Wandel und Informatisierung von
Arbeit. In den letzten sechs Jahren befasste sie sich in verschiedenen
anwendungsorientierten Forschungsprojekten mit der Gestaltung
nachhaltiger Arbeitsbedingungen in der Wissensarbeit.
Anja Gerlmaier
9.1 Problemstellung
A. Gerlmaier ()
Universität Duisburg-Essen, Institut Arbeit und Qualifikation,
Gebäude LE, 47048 Duisburg, Deutschland
E-Mail: anja.gerlmaier@uni-due.de
In der Literatur zu Innovation und Kreativität findet sich eine Vielzahl von Definitio-
nen, die sich vor allem darin unterscheiden, was eine neue Idee oder kreative Lösung
ausmacht. Ihnen gemeinsam ist, dass zwischen Kreativität und Innovation unterschieden
wird. Als „Kreativ-Leistungen“ in Organisationen werden von Amabile (1996) solche Ak-
tivitäten definiert, welche die Schaffung neuartiger und adäquater Ideen in allen Bereichen
menschlichen Lebens beinhalten. Als neuartig werden dabei solche Ideen bezeichnet, die
abweichend sind von dem, was bisher geschaffen wurde. Die Angemessenheit der Ideen
wird dann als gegeben gesehen, wenn sie sich als nützlich erweisen.
Diese Definition weist zunächst einmal eine gewisse Plausibilität auf. Im konkreten
Fall dürfte es allerdings schwierig sein, herauszufinden, ob bestimmte Ideen objektiv tat-
sächlich neuartig sind. Ebenso wenig lässt sich zu Beginn eines Ideenfindungsprozesses
vermutlich feststellen, inwieweit eine Idee sich letztlich nach einer Umsetzung als nütz-
lich erweist.
Kädtler (2009), Oldham und Cummings (1996) sowie Staw und Boettger (1990) unter-
scheiden Kreativität und Innovation voneinander: Kreativität stellt danach eher eine Leis-
tung auf individueller Ebene dar, während die Umsetzung einer Idee im betrieblichen Kon-
text als Innovation zu bezeichnen wäre. Uneinigkeit besteht allerdings darüber, was eine
Innovation in Organisationen auszeichnet. Kädtler (2009) formuliert in einer sehr radika-
len Definition, dass es sich bei Innovationen um Produkte und Handlungs- und Nutzungs-
möglichkeiten handelt, die es eigentlich noch gar nicht gibt. Dagegen gehen Schuler und
Görlich (2007) davon aus, dass vor allem das Aufwerfen neuer Fragen und neuer Möglich-
keiten sowie die Betrachtung alter Fragen aus einem neuen Blickwinkel schon zentrale
Basisvoraussetzungen für Innovationen und wissenschaftlichen Fortschritt darstellen.
Trotz der vergleichsweise großen Unterschiede im Hinblick auf die Frage, welche be-
trieblichen Handlungen als Innovationen zu bezeichnen sind, besteht Einigkeit darin, dass
eine gute Idee alleine noch keine Innovation ausmacht, sondern dass Innovation einen
Prozess darstellt.
Kernfaktoren eines Innovationsprozesses bestehen nach Hardt et al. (2011) aus einer
Ideenfindungsphase, einer Phase der Ideenbewertung und der Phase der Ideenumset-
zung. West (1990) schließt in seinem Vier-Phasen-Modell eine weitere Phase an. Sein
Prozessmodell unterteilt sich in die Ideengenerierung, die Kommunikation und Weiter-
entwicklung der Ideen, die Implementierung (Ideenumsetzung) sowie die Stabilisierung
(Routinisierung). Fasst man Erkenntnisse aus den vorliegenden Modellen zusammen, so
können verschiedene aufeinander aufbauende Kernelemente eines Innovationsprozesses
angenommen werden (ausführlich in Schuler und Görlich 2007). Ein Ziel der nachfolgen-
den Untersuchung ist es, zu überprüfen, inwiefern die beschriebenen Phasenmodelle ge-
eignet sind, Innovationsprozesse im Entwicklungsbereich abzubilden. Die beschriebenen
Modelle werden hierfür zunächst als Gliederungsgrundlage herangezogen.
174 A. Gerlmaier
Innovationen sind gerade im Entwicklungsbereich selten das alleinige Produkt von Ein-
zelpersonen. Dies bedeutet im Umkehrschluss jedoch nicht, dass die Entwicklung von
einer guten Idee zu einem Produkt oder einer Dienstleistung durch die Bearbeitung von
Teams immer zu besseren Erfolgen führt. Mit der zunehmenden Durchdringung team-
förmiger Arbeitsformen werden die möglichen Schattenseiten dieser Form der Arbeits-
teilung offenkundig. Aus der Sozialpsychologie ist bekannt, dass in Gruppen gemeinsam
getroffene Entscheidungen sich häufig als schlechtere Wahl erweisen als Entscheidungen
einzelner Gruppenmitglieder („Group Thinking“). Auch kann das Phänomen der Verant-
wortungsdiffusion in Teams dazu führen, dass sich die einzelnen Teammitglieder für die
Bewältigung von Aufgaben nicht verantwortlich fühlen.
Andererseits – das zeigen vielfältige Befunde zu Teaminnovation – können Beiträge
von Teammitgliedern in der Gruppe dazu beitragen, dass Ideen einzelner qualitativ aufge-
wertet und mit tatkräftiger Unterstützung des Teams auch wirkungsvoll umgesetzt werden
können. Ein zentraler förderlicher Faktor, der die Entwicklung von Innovationen im Team
bestärkt, besteht in der Erzeugung von Emergenz: Von Emergenz wird dann gesprochen,
wenn durch Beiträge einzelner Teammitglieder in der Gruppe aus einer Anfangsidee eine
qualitativ bessere Idee entwickelt wird.
Daraus folgt, dass die Entscheidung, ob eine Innovation effizienter von Einzelpersonen
oder einer Gruppe umgesetzt werden kann, eine situativ abhängige Einzelentscheidung
darstellt. Ist eine Idee etwa durch den Innovator weitgehend durchgeplant und selbst von
ihm technisch umsetzbar, ohne dass die Kooperation mit Teammitgliedern notwendig ist,
so würde eine Einbeziehung des Teams keine Vorteile für den Innovationsprozess ergeben.
Ein anderes Bild ergibt sich, wenn es sich um eine komplexe Problemlösung handelt, bei
der Expertise im Team genutzt werden sollte und bei der auch die Mitarbeit von weiteren
Teammitgliedern sinnvoll ist. In diesem Fall überwiegen die Vorteile der Einbeziehung
des Teams.
Inzwischen existieren verschiedene Modelle zur Erklärung von Einflussfaktoren in
Teams, welche die Produktivität und Kreativität begünstigen oder auch blockieren kön-
nen. Im Folgenden wird anhand des integrativen Modells der Kreativität von West (2002)
skizziert, was aus Sicht der Wissenschaft zentrale Erfolgs- und hemmende Faktoren der
Teaminnovation sind. Weitere Modelle zur Erklärung von Teaminnovation finden sich
auch bei Anderson et al. (2014) in einem vergleichenden Überblick.
Das integrative Modell der Kreativität nach West (2002) zählt in der Teamforschung zu
den empirisch gut fundierten und anerkannten Modellen zur Erklärung von Teaminnova-
tion. Es umfasst drei zentrale Wirkfaktoren, die nach West in Zusammenhang mit Team-
effektivität und Teaminnovation stehen. Dazu zählen die Aufgabencharakteristiken und
kollektive Wissensbestände, wie etwa Diversität von Gruppenwissen, die über integrieren-
9 Was macht Entwicklungsteams wirklich innovativer 175
9.3.2 Empirische Befundlage
Die in dem Modell postulierten förderlichen und hemmenden Wirkfaktoren auf das In-
novationsverhalten in Teams und Organisationen sind in zahlreichen Studien empirisch
überprüft worden.
Nachfolgend wird ein kurzer Überblick über Wirkfaktoren gegeben, die sich auf der
Teamebene als bedeutsam erwiesen haben. Dabei wird in Anlehnung an West (2002) eine
Unterscheidung zwischen Personenmerkmalen (kollektive Wissensbestände der Teammit-
glieder), integrativen Gruppenprozessen und Aufgabencharakteristika im Team und Orga-
nisationsmerkmalen (Organisationsklima, Entlohnungssysteme) vorgenommen.
9.3.2.1 Personenbezogene Ressourcen/Wissensbestände
Welche Innovationsleistung Gruppen erzielen können, hängt zunächst einmal davon ab,
welche Innovationspotenziale die einzelnen Teammitglieder mitbringen. In der Persön-
lichkeitsforschung sind seit längerem bestimmte persönliche Kompetenzen und Eigen-
schaften bekannt, die eine „kreative Persönlichkeit“ ausmachen sollen (u. a. Amabile
1996). Nach Meta-Analysen von Harrison (2006) stellen folgende Person-Variablen
wichtige Basisfaktoren für die Entwicklung kreativer Ideen dar: Offenheit für Erfahrung,
intrinsische Motivation, arbeitsbezogene und kreative Selbstwirksamkeit sowie Ziel-
orientierung. Auch weisen Intelligenz und Qualifikation positive Zusammenhänge zu
176 A. Gerlmaier
Kreativität auf (ausführlich in Herbig et al. 2008; Schuler und Görlich 2007). Insbesondere
die fachliche Expertise beziehungsweise die Innovationsexpertise (Böhle et al. 2012) gel-
ten als ein zentraler Bestimmungsfaktor für die Innovationsfähigkeit von Teammitgliedern.
Aktuelle Studien deuten allerdings darauf hin, dass es offenbar keine generalisierten
Innovationskompetenzen gibt, sondern je nach Innovationsphase unterschiedliche Kom-
petenzen für die Umsetzung der Innovation von Bedeutung sind. So finden Hardt et al.
(2011) im Rahmen von Interviews mit betrieblichen Experten heraus, dass in der Phase
der Ideengenerierung eher fachliche und persönliche Kompetenzen eine wichtige Rolle
spielen, während in der Phase der Ideenbewertung vor allem soziale Kompetenzen von
Belang sind. Diese unterstützen die Weiterentwicklung von Ideen im Team. Auch in der
Ideenimplementierungsphase haben sich soziale Kompetenzen als bedeutsam erwiesen,
hier spielt jedoch eher die Durchsetzungsfähigkeit im Team eine Rolle. Aber auch die
fachlichen Kompetenzen sind hier wiederum von Bedeutung, um etwa gegenüber Dritten
die technischen oder wirtschaftlichen Vorteile der Innovation begründen zu können.
Daraus folgt, dass eine wesentliche Herausforderung für die Teamzusammensetzung
darin besteht, eine der Teamaufgabe angemessene Mischung unterschiedlicher Kompeten-
zen und Persönlichkeiten zu erreichen. Hier kommt insbesondere in projektförmig organi-
sierten Arbeitsbereichen wie in der Entwicklung erschwerend hinzu, dass eine Teambeset-
zung nicht immer entlang von Kompetenzen, sondern entlang der aktuellen Verfügbarkeit
von Projektbeschäftigten erfolgen kann.
Auch die Diversität der Qualifikationen wird als förderlicher Wirkfaktor in empiri-
schen Untersuchungen belegt. Van Knippenberg et al. (2004) gehen davon aus, dass die
Diversität von Kompetenzen sich deshalb günstig auf die Innovations- und Leistungsfä-
higkeit auswirkt, weil potenziell mehr Informationsbestände vorliegen und zur Problemlö-
sung genutzt werden können. Heterogenität von Fachwissen begünstigt darüber hinaus die
Lern- und Reflexionsfähigkeit. In Studien findet sich allerdings ein umgekehrt U-förmiger
Zusammenhang zwischen aufgabenbezogener Diversität und Innovation (Ancona und
Caldwell 2009). Die Innovationsfähigkeit ist danach am höchsten, wenn ein mittleres Aus-
maß an Qualifikationsdiversität vorlag. Geringe und hohe Diversität erbrachte dagegen
eine geringere Innovationsleistung. Interdisziplinarität in Teams stellt folglich nicht per se
ein Innovationstreiber dar, sie erfordert häufig den Aufbau einer gemeinsamen „Sprache“
und Vermittlung disziplinenspezifischer Denkmuster, um das Potenzial der Vielfalt von
Denkweisen nutzen zu können.
zur Kommunikation mit Externen, zum Beispiel Kollegen aus anderen Abteilungen oder
Kunden, ermöglicht dabei dem Team Zugang zu neuen Informationen, neuem Wissen
und anderen Perspektiven (Keller 1992; Shalley und Perry-Smith 2008). Nach Maier und
Hülsheger (2012) ist diese Form der Kommunikation wichtig, um eine Abschottung der
Gruppe von anderen Gruppen sowie dem Gruppendenken vorzubeugen. Sie fanden in
Metaanalysen signifikante Zusammenhänge zwischen der Kommunikationsdichte und der
Innovationsfähigkeit in Teams.
Als ebenso wichtige Gruppenvariable für den Innovationserfolg wird in mehreren Stu-
dien auch das Teamklima identifiziert. So konnten Brodbeck und Maier (2001) bei einer
Untersuchung mit Innovationsteams zeigen, dass eine aus der Diversität entspringende
Innovationsleistung nur dann entsteht, wenn ein positives Innovationsklima in Teams
vorzufinden ist. Positive Effekte finden sich vor allem bei einer hohen Reflexionsfähig-
keit im Team, Unsicherheitsreduktion im Hinblick auf Marktrisiken, partizipativen Ent-
scheidungsprozessen und einem fairen Umgang mit Minoritäteneinfluss. Auch in anderen
Studien konnte gezeigt werden, dass soziale Gruppenprozesse und daraus resultierende
Effekte für das Teamklima eine wichtige Ressource dafür darstellen, ob individuelle In-
novationspotenziale tatsächlich zu Innovationen führen (vgl. Ries et al. 2013). Es darf
jedoch nicht verschwiegen werden, dass das Teamklima auch negative Effekte im Sinne
von Handlungsbarrieren in sich bergen kann und ein innovationsförderliches Teamklima
unter Umständen von einzelnen als überfordernd und stressauslösend erlebt werden kann.
Negative Effekte des Teamklimas auf die Innovationsfähigkeit stellte zum Beispiel Jans-
sen (2004) fest. In Teams, in denen ein geringes Ausmaß an Erleben prozeduraler Gerech-
tigkeit vorhanden ist, werden danach weniger Ideen kommuniziert und die Beschäftigung
mit Innovation als belastend erlebt.
Bisher unerforscht ist, inwieweit beispielsweise eine hohe Aufgabenorientierung im
Team, die einzelne Mitarbeitende zu hoher Zielbindung und exzellenter Leistung ver-
pflichtet, nicht dauerhaft zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen und Problemen mit der
Vereinbarkeit von Familie und Beruf führen kann. Befunde, die in diese Richtung weisen,
finden sich unter anderem bei Gendolla und Krüsken (2000).
Ein weiterer, zweifellos bedeutungsvoller Einflussfaktor, der sich sowohl auf die In-
novationskulturen in Teams wie auch direkt auf die Innovationsfähigkeit von Teams aus-
wirkt, stellt das Führungsverhalten dar. Nicht nur für die Sozialbeziehungen im Team,
sondern auch für das Verhältnis von Vorgesetzten zu Mitarbeitenden („Leader Member-
ship Relation“) finden sich deutliche Zusammenhänge.
So stellen Amabile et al. (2003) einen Zusammenhang zwischen einem partizipativen
Führungsstil und dem Innovationsklima in Teams fest. Von ähnlichen Ergebnissen be-
richten auch Axtell et al. (2000) bei Instandhaltungsteams. Das Führungsverhalten scheint
sich dabei nicht nur günstig auf das Innovationsklima auszuwirken. Van Dyne et al. (2002)
fanden bei Dienstleistungsteams heraus, dass ein mitarbeiterorientierter Führungsstil mo-
derierende Effekte auf Beanspruchungen hatte, die auf dem persönlichen Kontext des
Arbeitenden beruhten und sich ungünstig auf die Kreativitätsleistungen auswirkten.
178 A. Gerlmaier
sowie der Lernförderlichkeit der Arbeitstätigkeit (Länsisalmi et al. 2004) dar. Die Auf-
gabenmerkmale bergen aber auch Innovationhemmnisse in sich. Viele Studien haben sich
mit dem Einfluss von Zeitdruck auf die Kreativitätsleistungen in Teams befasst. Fasst
man die Ergebnisse zusammen, so bewirkt ein sehr hoher Zeitdruck ebenso Einbußen bei
der Ideenfindung wie ein hoher Grad an Standardisierung von Arbeitsabläufen (Amabile
1988). Neuere Studien zeigen allerdings, dass ein moderater Zeitdruck sich offenbar auch
kreativitätsförderlich auswirken kann (Herbig et al. 2008; Baer und Oldham 2006). Un-
klar bleibt bei diesen Studien, ab welchem Grad von Zeitdruck der kreativitätsförderliche
Effekt von Zeitdruck sich in einen hemmenden wandelt.
Neben dem Zeitdruck ist ein hoher Formalisierungs- beziehungsweise Standardisie-
rungsgrad in der Arbeitsorganisation als zentraler Hemmfaktor kreativen Handelns in
Teams beschrieben worden (u. a. Gilson et al. 2005). Dieser Faktor sollte bei hochqualifi-
zierter Entwicklungsarbeit eigentlich keine Rolle spielen. Jedoch ist gerade im IT- Bereich
ein Trend zu beobachten, der durch neue Abrechnungssysteme, welche die Abwicklung
von Arbeitstätigkeiten in Tickets vorsehen, eine neue Form der Standardisierung nach
sich zieht. Zu überprüfen wäre hier, inwieweit sich dies auf die Innovationsfähigkeit von
Teams auswirkt.
Die vorgestellten empirischen Befunde zu den förderlichen und hemmenden Faktoren der
Teaminnovation aus den letzten 20 Jahren bietet einen guten Überblick über grundlegende
Beziehungen zwischen Arbeits- und Teammerkmalen und ihren Effekten auf die Innovati-
onsfähigkeit von Teams. Die zentralen Erkenntnisse werden in Tab. 9.1 nachfolgend noch
einmal zusammengefasst.
Für die nachfolgende Fragestellung, wie Entwicklungsteams dauerhaft in hoch belas-
tenden Kontextbedingungen innovativ bleiben können, sind diese Erkenntnisse in mehrfa-
cher Hinsicht bedingt aussagekräftig:
1. Kontextbezug Sowohl das Modell von West als auch die empirischen Studien gehen
von „Universal-Ressourcen“ aus, die in jedem Team bestehen beziehungsweise in unter-
schiedlichen Arbeitsbereichen und Sektoren gleichermaßen wirksam sind. Maier und
Hülsheger (2009) finden in Metaanalysen allerdings Hinweise darauf, dass bestimmte
arbeitsbezogene Wirkfaktoren auf die Teaminnovation in Abhängigkeit von der unter-
suchten Stichprobe unterschiedlich hohe Zusammenhänge besitzen. Auch scheint es bei
einigen Wirkfaktoren, wie zum Beispiel der Diversität der Qualifikationen oder dem Zeit-
druck, keine linearen Zusammenhänge zur Teaminnovation zu geben. In Anlehnung an
das Modell der „multiplen sozialen Domänen“ von Ford (1996) wird für die nachfolgende
Untersuchung davon ausgegangen, dass Organisationen als soziale Gebilde einen spezi-
fischen gemeinschaftlichen Rahmen des Denkens und Handelns besitzen, der als „soziale
Domäne“ bezeichnet wird. Dies bedeutet, dass „soziale Domänen“ in Entwicklungsbe-
180 A. Gerlmaier
kräfte erhalten jedoch nur wenig Informationen darüber, wie sie mit ihren vorhandenen
Handlungsmöglichkeiten (Befugnisse) diese Faktoren beseitigen oder überwinden kön-
nen, falls sie keinen Einfluss auf diese Gegebenheiten haben. Hier besteht Forschungsbe-
darf, welche Formen der Bewältigung von Widerstandsquellen heute in Teams praktiziert
werden, die zu einer Weiterführung von Innovationsprozessen beitragen können.
a) Der Kernprozess der Koordination umfasst die Abstimmung und Steuerung von Teil-
aktivitäten in Hinblick auf ein übergeordnetes Ziel. Aufgaben sind unter anderem die
Lösung von Verteilungskonflikten, die Vermeidung von Doppelarbeit sowie der Aus-
gleich von Wissens- und Wahrnehmungsunterschieden unter den Organisationsmitglie-
dern (in Anlehnung an Gabler Wirtschaftslexikon 2014).
b) Das zweite Bestimmungsstück des Modells besteht in der teambezogenen Kollabo-
ration. Sie beschreibt eine Form teambezogener dezentraler temporärer Zusammen-
arbeit. Anders als bei einer Kooperation wird kein gemeinsames Ziel verfolgt und die
182 A. Gerlmaier
Aufgabe nicht vorher aufgeteilt, sondern jeder trägt mit seinen individuellen Fähigkei-
ten und Kenntnissen zum Ergebnis bei. Dies bedeutet, dass Rollen und Akteure dabei
nur temporär miteinander verbunden sind und sich die Aufgaben dynamisch aus dem
Arbeitsprozess heraus entwickeln (in Anlehnung an Bornemann 2014).
c) Unter dem Begriff des kollektiven Kompetenzpools werden alle im Team verfügba-
ren Kompetenzen, Fähigkeiten, Motivationen und Wissensbestände zusammengefasst,
die für die Innovationsentwicklung von Bedeutung sind. Das Konzept des kollekti-
ven Kompetenzpools geht über den von West (2002) geprägten Begriff der kollektiven
Wissensbestände insofern hinaus, als dass für die erfolgreiche Innovationsumsetzung
nicht nur das Wissen einzelner Teammitglieder von zentraler Bedeutung ist, sondern
vor allem das kompetenzbasierte Innovationshandeln in einem interaktiven, sozialen
Prozess (vgl. auch Böhle et al. 2012).
9.5 Methodik
Die Daten für die nachfolgende Untersuchung wurden anhand von Innovationsprozess-
analysen erhoben. Diese erfolgten in insgesamt acht Entwicklungsteams dreier Unterneh-
men aus dem Bereich IT-Dienstleistung und Produktentwicklung. An der Untersuchung
nahmen insgesamt 65 Beschäftigte aus acht Teams teil. Die Gruppengröße der Teams
variierte zwischen fünf und neun Beschäftigten. Die explorative Studie basiert auf Grup-
pendiskussionen in den Teams, in denen retrospektiv ein Beispiel einer erfolgreichen
Innovation rekonstruiert wurde. Die Daten wurden im Rahmen des BMBF-geförderten
Forschungsvorhaben pinowa (Arbeitslebensphasensensibles Personalmanagement als In-
novationstreiber im demografischen Wandel) gewonnen. In Tab. 9.2 werden die acht Fälle
Teams, Gruppengröße und die Innovation näher beschrieben.
9 Was macht Entwicklungsteams wirklich innovativer 183
vollständigen Produkt oder einer Lösung umgesetzt und zum Teil auch in Untervarianten
weiterentwickelt.
Eine Ausnahme von den vier Stufen bilden die zwei Innovationsbeispiele aus dem Be-
reich der Produktentwicklung: Hier stand zu Beginn des Projektes nicht eine Idee, viel-
mehr wurde ein interaktiver Versuch der Problemeingrenzung und anschließend eine ge-
meinsame Lösungsfindung unternommen. In beiden Projekten stand zu Projektbeginn
noch nicht fest, wie die technische Lösung des Problems aussehen könnte und wie hoch
die Wahrscheinlichkeit ist, dass das jeweilige technische Problem überhaupt gelöst werden
kann. In einem der beiden Fälle wurde die Idee, die letztlich die technische Innovation aus-
machte, erst nach mehreren Versuchen und einer Auseinandersetzung mit den Ergebnissen
dieser Versuche entwickelt. In einem Fall einer komplexen Produktentwicklung konnte
im Nachhinein nicht mehr identifiziert werden, wer innerhalb der Experimentierphase der
Ideengebende war, der die eigentliche Innovationsidee hatte. Es ist davon auszugehen,
dass in komplexen Innovationsprozessen innerhalb der Produktentwicklung häufig nicht
ein einzelner Mitarbeitender der Ideengebende ist, sondern dass verschiedene Ideen unter-
schiedlicher Teammitglieder aufeinander aufbauend die eigentliche Innovation erzeugen.
Da sich in sechs der acht Fälle eine vierstufige Vorgehensweise im Innovationsprozess
vorfindet und sich die beiden Fälle aus dem Bereich der Produktentwicklung in diese
Phasen eingliedern ließen, wurde im Folgenden eine Unterteilung der förderlichen und
hemmenden Kernfaktoren im Prozess des Innovations-Engineerings entsprechend eines
Vier-Phasen-Modells vorgenommen.
Zur besseren Verständlichkeit der Ergebnisse sind die Einflussfaktoren auf die Teamin-
novation entlang der Kernprozesse Koordination, Kollaboration und kollektiver Kompe-
tenzpool gegliedert.
9.7.1 Phase 1: Ideenfindung
Die Phase der Ideenfindung war in fast allen Fallbeispielen durch einen Suchprozess nach
neuen Lösungen beziehungsweise der Entfaltung neuer Ideen geprägt. Es handelte sich
in keinem Fall um eine intentionale, zielgerichtete Suche nach innovativen Lösungen. In
sechs der acht Fälle erfolgte die Entwicklung der Idee spontan. Dies bedeutet jedoch nicht,
dass die Ideen „aus heiterem Himmel“ kamen.
9.7.1.1 Koordination
Wir haben da so ganz viele Ideen nach dem Motto ‚das müsste man mal machen‘, aber wenn
dann kein Kunde kommt, der das haben will, dann schläft es ganz schnell wieder ein. (TM
Oberfläche)
„anzuweisen“. Auch die Qualität von Ideen, die aus einem unspezifischen systematisier-
ten Ideenfindungsprozess durch Kreativitätstechniken stammen, scheint nicht optimal zu
sein, wenn kein konkreter Anlass vorliegt, neue Ideen zu entwickeln. Eine elementare
Koordinationsleistung im Ideenfindungsprozess besteht den Analysen zufolge eher darin,
Beschäftigten Inspirationsräume zu verschaffen. Diese Räume der Ideenfindung können
sowohl innerhalb der Arbeit (z. B. in der Auseinandersetzung mit Kollegen oder neuen
fachlichen Erkenntnissen), aber auch in der Freizeit liegen und sind stark abhängig von
individuellen Präferenzen. In Tab. 9.3 sind exemplarisch Innovationsräume dargestellt,
die die Befragten als Orte angaben, an denen sie selbst häufig gute Ideen entwickelt haben.
9 Was macht Entwicklungsteams wirklich innovativer 187
Beteiligungsorientiertes Führungsverhalten
Eine inspirationssteigernde Koordinationsleistung bestand, neben der Ermöglichung einer
Auseinandersetzung mit neuen Problemen und der Gewährung zeitlicher Freiräume für die
Ideenfindung, auch in einem partizipationsorientierten, motivierenden Führungsverhalten.
Insbesondere in den Fällen, in denen die Mitarbeitenden eines Teams Ideen generierten,
erwies es sich als förderlich, wenn die Führungskraft die Idee positiv aufnahm und den
Ideengeber motivierte die Idee ins Team zu tragen (drei Fälle). Dieser partizipative Füh-
rungsstil erübrigte sich in den Innovationsfällen, in denen die Führungskraft die Idee hatte.
9.7.1.2 Kollaboration
Kollektive Entwurfsplanung
In der Ideenfindungsphase spielte die Form der Kollaboration im Vergleich zu den ande-
ren beiden Kernprozessen eine eher untergeordnete Rolle. Waren Ideen generiert worden,
so erwies es sich jedoch unter dem Aspekt der Kollaboration als Erfolgsfaktor, wenn eine
Entwurfsplanung im Arbeitstandem erfolgte. Bei dieser spezifischen Form der Kollabo-
ration erarbeitete der Ideengeber gemeinsam mit einem Kollegen einen Entwurf, bevor er
die Idee seinem Vorgesetzten oder seinen Teamkollegen vorstellte.
Die Strategie, die jeweilige Idee nicht sofort mit dem Team oder dem Vorgesetzten aus-
zutauschen, sondern zunächst mit einem Kollegen eine Entwurfsplanung vorzunehmen,
wurde von den Teilnehmern der Gruppendiskussion als äußerst wichtiger Erfolgsfaktor
für die nächsten Innovationsschritte angesehen.
Eine Idee ist ja erst einmal unsichtbar. Aber wenn man dann etwas hat, was man auf den Tisch
stellen kann, da kann man sich dann auch Meinungen und Kritik einholen. (stellvertretender
Teamleiter Design)
9.7.1.3 Kollektiver Kompetenzpool
Expertise/Erfahrungswissen
Auch was die Zusammensetzung der im Team vorhandenen Kompetenzen und Motiv-
strukturen der Teammitglieder angeht, fanden sich einige offenbar bedeutungsvolle Ein-
flussfaktoren. So konnte etwa beobachtet werden, dass in sechs von sieben untersuchten
Fällen der Ideengeber über 40 Jahre alt war und über eine überdurchschnittliche fachliche
Expertise verfügte. Dies lässt den Schluss zu, dass das Vorhandensein erfahrungsbasierten
Wissens für die Ideengenerierung ein vielleicht bedeutsamerer Einflussfaktor ist, als das
Vorhandensein reinen Fachwissens.
Fachübergreifendes Know-how
Neben dem altersbedingt anwachsenden Erfahrungswissen erwies sich als weiterer för-
derlicher Faktor aus dem Bereich der kollektiven Kompetenzen das Vorhandensein von
fachübergreifendem Wissen als bedeutsam. Es zeigte sich in der Analyse, dass alle Ideen-
188 A. Gerlmaier
geber sich dadurch auszeichneten, im Vergleich zu ihren Teamkollegen über mehr fach-
übergreifende Wissensbestände zu verfügen. Diese fachübergreifenden Wissensbestände
resultierten zum einen daraus, dass sie Zusatzqualifikationen besaßen, sie Leitungsfunkti-
onen einnahmen und hierdurch über andere betriebsbezogene Wissensbestände verfügten
oder dass sie bereits in anderen Betrieben gearbeitet hatten und hierdurch spezifisches
Betriebs-Know-how übertragen konnten.
Intrinsische Motivation/Zielorientierung
Nicht zuletzt stellten auch die hohe intrinsische Motivation und das Festhalten an einer
Zielumsetzung einen bedeutsamen förderlichen Faktor dar. So wurden in sechs der sieben
Fälle, in denen es zu einem Roll-out kam, die Ideen vor allem deshalb bis zu einer Umset-
zung der Innovation weitergetrieben, weil der Ideengeber eine hohe Zielbindung aufwies,
seine Idee kontinuierlich, zum Teil trotz verschiedener Widerstände, weiterzuverfolgen.
Er forcierte insbesondere in den Rationalisierungsprojekten die Umsetzung der Idee in
fachlicher Hinsicht und war in diesen Fällen auch an der Koordination der Arbeitsschritte
und Kommunikationsprozesse maßgeblich beteiligt
Fachliche Wissensüberlappung/Redundanz
Eine weitere Schlüsselressource im Bereich des kollektiven Kompetenzpools stellte in der
Phase der Ideenfindung auch die Gestaltung der Aufgabenbereiche im Team dar. Besonders
förderlich für den späteren Umsetzungserfolg erwies es sich hierbei, wenn in den Teams
eine fachliche Redundanz von Wissensbeständen vorlag. In sieben der acht Fälle fand der
Ideengeber in seinem Team einen Kollegen vor, der über ähnliche fachliche Wissensbe-
stände wie er selbst verfügte und mit dem er bestimmte Aufgabenbereiche teilte. Die fach-
liche Überlappung ermöglichte es dem Ideengeber in fast allen Fällen, seine Idee im Aus-
tausch mit dem Fachkollegen weiterzuentwickeln und in eine Entwurfsfassung zu bringen.
9.7.2 Phase 2: Ideenbewertung
Die Phase der Ideenbewertung war in den Fallbeispielen dadurch gekennzeichnet, dass der
Ideengeber seine Idee in einem groben Entwurf dem Team und der Teamleitung vorstellte.
Bei Innovationen, bei denen die Umsetzung nur durch die Mitwirkung von Teamkollegen
bewältigt werden kann, entscheidet sich oft in dieser Phase, ob eine Idee weitergeführt
wird oder nicht.
Gerade bei Innovationsvorhaben, für die es keinen offiziellen Auftrag gibt, können
Ideengeber auf eine Reihe von Hürden und Klippen treffen. Es gilt, Vorgesetzte und Kol-
legen von dem Nutzen der Innovation zu überzeugen und sie für die Mitarbeit an der
Innovation zu gewinnen, obwohl dies zunächst einmal mehr Aufwand für sie bedeutet.
Häufig kommt es in dieser Phase aber auch zu einer Weiterentwicklung der Idee, das heißt,
im Team wird durch das Vorhandensein von Emergenz eine bessere Lösung geschaffen als
das, was der Ideengeber zunächst entwickelt hat.
9 Was macht Entwicklungsteams wirklich innovativer 189
9.7.2.1 Kollaboration
Während in der Phase der Ideenfindung vor allem die Suche und Mobilisierung von im
Team vorhandenen Kompetenzen und Motivationen in einem koordinierten Prozess im
Vordergrund standen, gewinnen in der Phase der Ideenbewertung die Kollaborationsprak-
tiken eines Teams zunehmend an Bedeutung
„Einige tragen mir etwas vor, und ich sage ‚das ist falsch‘, nur weil ich das nicht verstehe.“
(Teammitglied Verbinden über seinen Abteilungsleiter).
Auch in einem anderen Team wissen die Teammitglieder von mangelndem Problembe-
wusstsein ihres Vorgesetzten als Innovationshemmnis für neue Ideen zu berichten:
Da muss man den Chef erst mal von überzeugen, wenn er das selber nicht machen muss,
interessierte ihn das auch nicht. Dann haben wir erst einmal Kontaktdaten gesammelt. Sobald
man dann mit Zahlen kommt, geht das relativ fix. (Team Anwendungen Zertifikate)
Im beschriebenen Fall bewältigte das Team diese Barriere, indem zwei Teammitglieder
die ökonomischen Vorteile der Innovation anhand von Betriebsdaten nachweisen konnten.
Diese Überzeugungsarbeit ist oft mit erheblichen argumentativen und zeitlichen Auf-
wänden für die Ideengeber verbunden. Sie wird zudem als frustrierend erlebt, weil etwas
im Sinne der Organisation Bedeutungsvolles (z. B. neue Produkte entwickeln) unternom-
men wird, sie aber daran von den Organisationsverantwortlichen gehindert werden.
Da muss man erst mit seinem Chef diskutieren, dann sagte er ‚na gut, dann macht’s‘ und in
der Zeit hätte man schon längst fertig sein können. (Team Anwendungen Zertifikate)
9.7.2.2 Koordination
Wichtige Kernprozesse der Koordination in der Bewertungsphase stellten vor allem eine
Rollenklärung und -zuweisung für die nachfolgenden Innovationsschritte, die Beschaf-
fung von Ressourcen sowie die Eröffnung von Handlungsspielräumen, innerhalb derer die
Teammitglieder sanktionsfrei agieren konnten, dar.
9 Was macht Entwicklungsteams wirklich innovativer 191
Rollenklärung in Innovationsprozessen
Zu den zentralen Koordinationsaufgaben innerhalb der Bewertungsphase zählte es auch,
dass die Führungskraft für das Innovationsprojekt die jeweiligen Rollen und Aufgaben
der beteiligten Teammitglieder definierte. Ein auffälliger Befund war dabei, dass in den
erfolgreich verlaufenden Projekten bis auf zwei Ausnahmen der Ideengeber auch die Rolle
des Promotors für den weiteren Innovationsprozess einnahm. Das Zusammenfallen der
Rolle des Ideengebers und des Innovationskoordinators wird in einigen Innovationsma-
nagement-Handbüchern als kritisch bewertet. Die Diskussionsteilnehmenden betrachteten
dies allerdings als wichtigen förderlichen Faktor, insbesondere bei kleinteiligen Innova-
tionsvorhaben. Der stellvertretende Teamleiter des Teams Design begründet dies so:
Der Einzige, der Verantwortung für die Idee hat, ist doch immer der, der die Idee auch hatte.
192 A. Gerlmaier
In einem Fall wurde für die Koordination des Innovationsprozesses ein Koordinator be-
nannt. In einem weiteren Fall übernahm die Abteilungsleitung die Koordination des In-
novationsprozesses, die auch die Schnittstelle zu den am Vorhaben beteiligten Kunden
darstellte.
9.7.2.3 Kollektiver Kompetenzpool
9.7.3 Phase 3: Pilotphase
In allen berichteten Fallbeispielen erfolgte vor der eigentlichen Umsetzung der Innovation
zunächst eine Erprobung oder Pilotphase. Im Mittelpunkt der Pilotphase stand dabei die
Umsetzung der konzeptionellen Ideen, die in der Bewertungsphase entwickelt wurden, in
eine technische Lösung. Die Vorgehensweise, Innovationen zunächst im Rahmen einer
Pilotphase zu testen, war in einigen Teams auch bereits systematisch angelegt und als
wichtiger Erfolgsfaktor bei Innovationsprojekten identifiziert worden.
Wir prototypen sozusagen eine Lösung und die wird dann weiterentwickelt. (stellvertretender
Teamleiter)
9.7.3.1 Kollaboration
Dual-iterativer Kollaborationsprozess
In allen acht Fallbeispielen erprobten die Befragten, in der Regel zwei oder mehr Team-
mitglieder, in einem iterativen Kollaborationsprozess basierend auf Versuch und Irrtum,
inwieweit sich die innovative Idee umsetzen lässt.
Charakteristisch war für diese Phase, dass bei den Teammitgliedern ein hohes Maß
an Ungewissheit darüber bestand, wie die Ideen, die sie entwickelt hatten, sich in die
Praxis umsetzen lassen. Es mussten zum Teil alte Problemlösungsroutinen verlassen und
gänzlich neue methodische Herangehensweisen erarbeitet werden. Die Vorgehensweise,
in kurzen Zeitabständen einzelne Verfahrensschritte auszuführen und sie dann mit einem
Fachkollegen auszutauschen, wurde als wichtiger Erfolgsfaktor der gemeinsamen Kolla-
boration erachtet.
9 Was macht Entwicklungsteams wirklich innovativer 193
Vorher hattest du ein Problem, das muss dahin, das muss dahin, erst durch die Frage ‚wo
bewegte sich was hin?‘, sind wir überhaupt weitergekommen. (Teammitarbeiter Verbinden)
Bei dem Seminar waren wir nah am Kriminellen, wenn da etwas passiert wäre mit einer
Klage, wir waren völlig ungeschützt. Wir waren ja völlig arglos, wir wussten ja gar nicht, was
passieren kann. (Teamleiterin Design)
Die Zusammenarbeit mit den Mitarbeitenden des Auftraggebers erzeugten nach Ein-
schätzung der Diskussionsteilnehmer insbesondere in der Pilotphase erhebliche Probleme
in der Zusammenarbeit. Die sehr enge Form der Kollaboration bedeutete für viele Team-
mitglieder einen erheblichen zeitlichen Mehraufwand, weil Sprachbarrieren überbrückt
und ungeplante Reporting-Pflichten gegenüber dem Auftraggeber erfüllt werden mussten.
Die Teams entschieden sich trotz anfänglicher Bedenken wegen möglicher Industriespio-
nage dafür, vom Kunden entsendete Mitarbeiter vollständig in den Entwicklungsprozess
zu integrieren. Dabei wurde ein Tandem-Modell gewählt, bei dem ein Mitarbeiter des
Kunden einem Teammitglied zugeordnet wurde und diesem assistieren konnte. In beiden
Fallbeispielen erwies sich diese Form der Kollaboration als erfolgreich, da im späteren
Projektverlauf die mit der Kooperation zufriedenen Kunden trotz Budgetüberschreitung
das Projekt weiterfinanzierten.
9.7.3.2 Koordination
Monitoring
Auch in der Pilotphase erweist sich das Führungsverhalten als eine wichtige Größe, die In-
novation weiterzuführen. Während in den ersten beiden Phasen das Einbeziehen der Team-
mitglieder in den Innovationsprozess und das Schaffen von Arbeitsvoraussetzungen von
großer Bedeutung sind, werden in der Pilotphase vor allem die regelmäßige Erfolgskont-
rolle und zum Teil auch kritisches Feedback als förderliche Faktoren angesehen. So wird
es in vier der acht Fallbeispiele als wichtige Ressource bewertet, dass die Führungskraft
den Projektprozess kontinuierlich überwacht und zum Teil auch kritisches Feedback gibt.
An der Stelle war auch wichtig, dass die Leitungsebene eingegriffen hat, dass die gesagt
haben ‚wir arbeiten jetzt die verschiedenen Varianten, wir müssen uns jetzt mal auf eine kon-
zentrieren‘. Wir machen die Vielfalt jetzt mal ein bisschen kleiner, wir konzentrieren uns auf
eine erfolgversprechende Lösung. (Team Minimieren)
Verstetigung in Gebrauchsroutinen
In den Rationalisierungsprojekten erweist es sich zudem als wichtige Koordinationsaufga-
be, die bereits als Pilot erstellten Lösungen in eine konkrete Nutzung zu bringen. In zwei
der Rationalisierungsinnovationen drohte die Umsetzung der Innovation zu scheitern,
weil die in der Pilotphase entwickelten Tools von den Teammitgliedern nicht regelmäßig
genutzt und weiterentwickelt wurden. Hier erwies es sich als wichtiger förderlicher Fak-
tor, dass Führungskräfte in regelmäßigen Teamsitzungen die Anwendung der Instrumente
kontrollierten, um die Nutzung des Instrumentes zu verstetigen.
tionsprozessen zu einer deutlichen Verzögerung, wenn nicht sogar zu einem Scheitern des
Innovationsprozesses geführt, wie auch ein Teammitglied äußert:
Die Leute wurden auf Zuruf dazu geholt, wenn man sie brauchte, und waren dann, das war
der Glücksfall, auch immer verfügbar.
Redundanz/Verantwortungsüberlappung
Ähnlich wie auch in der Bewertungsphase erwies sich in der Pilotphase Redundanz bezie-
hungsweise das Überlappen von Wissensbeständen im Team als ein wichtiger Promotor
für den Innovationsprozess. Insbesondere in den Produktentwicklungs-Projekten stellte
es sich als wichtiges Managementprinzip heraus, dass Fachexperten ihren Kollegen auch
noch dann fachlich zur Seite stehen konnten, wenn das Projekt bereits einen Projektab-
schnitt erreicht hat.
Es gab auch immer jemanden, der sich weiter verantwortlich gefühlt hat. Es gab nie so eine
Art Staffelübergabe, das wäre an einigen Stellen schwierig geworden, zum Beispiel mit dem
Dokumentieren. Es wurde versucht, immer so zwei Leute für ein Prozessthema zu haben. Am
Anfang hatten wir das noch nicht, aber im Projekt wurde dann relativ frühzeitig beschlossen,
dass wir so eine Art Redundanz haben.
9.7.3.3 Kollektiver Kompetenzpool
Networking-Kompetenzen
In der Pilotphase wurden unter dem Aspekt relevanter Kompetenzen vor allem kommu-
nikative Fähigkeiten der Teammitglieder als wichtige Ressourcen beschrieben. Nur durch
den Einsatz sozialer Kompetenzen wie Networking gelang es in drei Fallbeispielen, Kol-
legen aus anderen Abteilungen für eine fachliche Bewertung der bisherigen Projektergeb-
nisse zu gewinnen.
Dann holen wir uns aus dem Institut auch andere Leute aus anderen Bereichen, quasi als
externe Berater, weil die haben darauf auch einen anderen Blick (Design, stellvertretender
Teamleiter).
9.7.4 Phase 4: Roll-out:
Nach der Pilotphase, in der die Entwicklungen häufig an einem Testfall oder Modellen
zunächst erprobt wurden, wurde in sieben von acht Fällen ein Roll-out vorgenommen.
Der Umfang der Verbreitung der neuen Entwicklung gestaltete sich in den Fallbeispielen
außerordentlich differenziert. In vier der sieben Roll-out-Fälle beschränkte sich der Ein-
satz der Innovation auf die Teamebene, wenngleich die innovative Lösung für das Unter-
nehmen oder auch für andere Kunden nützlich gewesen wäre. In drei Fällen wurde die
Innovation nicht nur in dem Umfang im Unternehmen oder auf dem Markt eingeführt, wie
es zunächst geplant war. Vielmehr stellte die Entwicklung eine Basiskomponente dar, um
neue Versionen oder neue innovative Dienstleistungen darauf aufzubauen.
196 A. Gerlmaier
9.7.4.1 Kollektiver Kompetenzpool
Sie haben mich auch ausgebuht, das, was sie da machen, ist doch keine Ausbildung und das
kann nicht funktionieren! Erst als das erste Seminar X0.000 € an Geldern eingebracht hat, da
wollten sie dann, dass das nochmal passiert.
9.7.4.2 Koordination
Allianzbildung/Customer-Relation
Der entscheidende Faktor, warum Innovationen letztlich umgesetzt und weitergeführt
wurden, stellte in allen vier Beispielen, in denen es zu einem Roll-out in den Markt kam,
das Führungsverhalten dar. Nur in solchen Teams, in denen die Teamleitung oder Abtei-
lungsleitung es vermochten, mit Befürwortern der Innovation oder Kunden Allianzen zu
schmieden, konnte eine Weiterführung der Innovation beobachtet werden.
9.7.4.3 Kollaboration
Kundenfeedback
Nicht zuletzt stellte das Feedback über die Wirkung der Innovation einen erheblichen
förderlichen Faktor dafür dar, dass die Innovation dauerhaft implementiert und weiter-
entwickelt wurde. In mehreren der Fallbeispiele wurde etwa berichtet, dass ein positives
Feedback von Kunden das Team dazu veranlasst hatte, weitere Versionen des Produktes zu
entwickeln oder mit einem neuen Instrument, zum Beispiel einem Instrument zur Kunden-
akquisition, weiterzuarbeiten.
9 Was macht Entwicklungsteams wirklich innovativer 197
9.7.4.4 Umweltfaktoren
9.8 Diskussion
Die Untersuchung ist als explorative Studie angelegt, um für den spezifischen Kontext
der Technikentwicklung erfolgsfördernde und -hemmende Faktoren beim Prozess des
Innovations-Engineering in Teams zu identifizieren. Aufgrund der kleinen Fallzahl von
acht Gruppen kann von einer generellen Übertragbarkeit der Befunde nicht ausgegangen
werden. Durch die Prozessanalyse konnten jedoch wichtige Erkenntnisse für die Praxis
gewonnen werden, welche Faktoren der Teamorganisation dazu beitragen können, Inno-
vationen erfolgreich umzusetzen. Der methodische Ansatz, sich bei den Innovationspro-
zessanalysen gezielt auf gute Praxisbeispiele zu konzentrieren, führt jedoch dazu, dass
keine Aussagen über die Verbreitung von Hemmfaktoren bei Teaminnovationen getroffen
werden können. Ein Überblick hierüber findet sich vertiefend bei Länsisalmi et al. (2004).
Ausgangspunkt der Analyse war die Frage, inwieweit in den verschiedenen Phasen
des Innovationsprozesses unterschiedliche förderliche und hemmende Faktoren zu beob-
achten sind. Bisherige konzeptionelle Ansätze gehen davon aus, dass es von der Innova-
tionsphase unabhängige Universal-Ressourcen gibt. Erste Hinweise für phasenspezifische
Unterschiede stellte dagegen Hardt et al. (2011) für den Bereich der Innovationskompe-
tenzen fest. Die vorliegende Studie liefert Hinweise darauf, dass in Abhängigkeit von den
jeweiligen Innovationsphasen unterschiedliche Erfolgsfaktoren und -konstellationen über
den Fortgang der Innovation entscheiden.
Während in der Phase der Ideenbewertung die im Team existierenden Kompetenzen
(kollektiver Kompetenzpool) eine große Relevanz besitzen, wirken sich in der Phase der
Ideenbewertung eher die teambezogenen Kollaborationspraktiken förderlich auf den Fort-
gang der Innovation aus. In der Pilotphase wiederum beeinflussen den Innovationsprozess
vor allem die organisationalen Steuerungs- und Koordinierungsprozesse. Die Implemen-
tierungsphase ist wiederum sehr stark davon geprägt, in welchem Maße das Team oder
198 A. Gerlmaier
Eine weitere Fragestellung der Analyse bestand darin, zu überprüfen, ob sich die Erfolgs-
und Hemmfaktoren beim Innovations-Engineering in Abhängigkeit vom Innovationsty-
pus unterscheiden. Im Sample konnten Fälle von Rationalisierungsinnovationen, Dienst-
leistungsinnovationen und Produktinnovationen festgestellt werden. Die drei Innovations-
typen wiesen Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Erfolgsfaktoren auf. Es fanden sich aber
insbesondere bei den Hemmnissen deutliche Kontextunterschiede.
Besonders bei den Rationalisierungs- und Dienstleistungsprojekten wurde von ver-
mehrten Hemmnissen und Barrieren berichtet. Ein zentrales Problem war, dass das Ge-
nerieren neuer Ideen und deren Umsetzung in einem durchrationalisierten Arbeitsprozess
nicht vorgesehen sind und Störfaktoren darstellen. Vor allem ein hoher Profitabilitätsdruck
und ein damit einhergehendes Kostendenken wurden als zentrale Behinderungsfaktoren
von Innovationen in allen Prozessstufen angesehen. Hier zeichneten sich die erfolgreich
umgesetzten Innovationsprojekte dadurch aus, dass Führungskräfte und Teammitglieder,
insbesondere in den Rationalisierungsprojekten, vielschichtige „Überlebensstrategien“
entwickelten, um ihr Vorhaben doch noch zu realisieren. Die mobilisierten Bewälti-
gungsressourcen reichten dabei vom Umfunktionieren betrieblicher Kostenstellen über
Abschottungsstrategien bis hin zur Allokation betriebswirtschaftlichen Know-hows aus
anderen Unternehmensbereichen.
Diese Hemmfaktoren spielten bei den Produktentwicklungsinnovationen eine eher
untergeordnete Rolle. Dort erwies es sich als besondere kontextspezifische Herausforde-
rung, die Entwicklungsaufgaben in enger Kooperation mit dem ausländischen Auftragge-
9 Was macht Entwicklungsteams wirklich innovativer 199
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9 Was macht Entwicklungsteams wirklich innovativer 203
verbreitet. Diese Bedarfsanalysen können jedoch dazu beitragen, Kosten für unnötige,
weil am Bedarf vorbei geplante Aktivitäten zu reduzieren und stattdessen eine zielgerich-
tete und bedarfsoptimierte PE-Planung zu ermöglichen.
Das Instrument der „Lebensphasenorientierten Potenzialanalyse“ soll einen Beitrag zu
einer effektiveren und bedarfsorientierten PE-Strategie entlang von Lebensphasen leisten.
Kerngedanke von lebenslauforientierten Personalmanagementkonzepten ist es, Beschäf-
tigten entsprechend ihrer persönlichen Arbeits-und Lebenssituation Handlungsmöglich-
keiten für eine bessere Balance von Arbeiten, Lernen und Leben zu eröffnen. Die Motiva-
tion und die Leistungsfähigkeit wichtiger Know-how-Träger/innen in solchen anspruchs-
vollen Lebensepisoden (z. B. gesundheitlichen Krisenerfahrungen, beruflicher Aufstieg
in der Familienphase, vgl. dazu Kap. 3 in diesem Bd.) soll für Unternehmen weiterhin
erhalten bleiben.
Dass dies auch bei hochqualifizierten Beschäftigten wie Ingenieur/innen oder Informati-
ker/innen nicht immer gelingt, darauf deuten Befunde aus dem pinowa-Verbundprojekt hin.
Es zeigte sich, dass etwa Phasen erster Verantwortungsübernahme, Familiengründungspha-
sen bei karriereorientierten Eltern oder gesundheitliche Krisenerfahrungen anspruchsvolle
Lebensepisoden darstellten, die die Beschäftigten an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit
brachten (vgl. auch die Kap. 3, 4 in diesem Bd.). Bisher liegen keine praxistauglichen
Instrumente vor, die es Personalverantwortlichen erlauben, mögliche Risikopotenziale der
Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit in anspruchsvollen Lebensepisoden zu identifizieren.
Mit der „Lebensphasenorientierten Potenzialanalyse“ (LPA) soll diese Lücke geschlos-
sen werden. Als orientierendes Verfahren baut es analytisch auf Einschätzungen betrieb-
licher Expert/innen und Führungskräften auf. Im Fokus der Analyse steht dabei die Be-
wertung der Auftretenshäufigkeit von Personengruppen in bestimmten Lebensphasen so-
wie eine Einschätzung der Über- oder Unternutzung beziehungsweise der Entfaltung von
Leistungspotenzialen. Das Instrument ermöglicht eine zeit- und ressourcenökonomische
Analyse vorhandener Handlungsbedarfe, kann für eine ganzheitlich ausgerichtete Perso-
nalplanung nützliche Informationen liefern und bildet zudem eine gute Voraussetzung um
mit unterschiedlichen Akteursgruppen im Unternehmen über Handlungsbedarfe in Aus-
tausch und Klärungsprozesse zu treten.
Ziel der LPA ist es, über Altersstrukturanalysen hinausgehende Informationen über die
Nutzung von Leistungspotenzialen der Beschäftigten im Unternehmen in unterschiedli-
chen Lebensphasen zu erhalten. Mittels der Einschätzungen betrieblicher Experten wer-
den mit dem Instrument Informationen darüber zusammengetragen, ob bei Beschäftigten
in bestimmten Lebensphasen ein besonderer Handlungsbedarf im Hinblick auf die Mög-
lichkeiten der Ressourcenentfaltung, aber auch im Hinblick auf eine potenzielle Unternut-
zung vorhandener Kompetenzen oder eine Übernutzung im Sinne psychischer Überforde-
rung vorhanden ist. Auf Basis der Ergebnisse können im Weiteren lebensphasenbezogene
Ansatzpunkte ermittelt und im Rahmen einer lebensphasenorientierten Personalstrategie
konkrete Umsetzungsmaßnahmen durchgeführt werden.
auf Dauer nicht ausüben zu können. Eine Unternutzung persönlicher Ressourcen liegt
vor, wenn etwa Beschäftigte ihre Kompetenzen und Fähigkeiten bei ihrer derzeitigen
Tätigkeit nicht einsetzen können. Eine Entfaltung und Weiterentwicklung von persön-
lichen Ressourcen – etwa durch Weiterbildung oder bei Übernahme neuer Aufgaben
– schlägt sich insbesondere bei Motivation und Commitment der Beschäftigten nieder
(vgl. Kap. 3).
Bei der LPA werden im Wesentlichen zwei Merkmalsdimensionen ermittelt: Erstens das
Vorhandensein anspruchsvoller Lebensepisoden sowie zweitens Einschätzungen über
die Potenzialerschließung in diesen Lebensepisoden. Zur Ermittlung anspruchsvoller
Lebensepisoden wurden im Rahmen des Teilvorhabens der Universität Duisburg-Essen
Expertenratings mit betrieblichen Akteuren wie Personalverantwortlichen, HR-Akteu-
ren sowie Betriebsräten aus unterschiedlichen Wirtschaftsbereichen durchgeführt (vgl.
Kap. 4).
10 Lebensphasenorientiertes Personalmanagement 211
10.5 Vorgehensweise
Die LPA basiert auf einer dreischrittigen Vorgehensweise, die im Folgenden vorgestellt
wird.
212 E. Latniak und A. Gerlmaier
Im Ergebnis entsteht ein tabellarisches Profil für den jeweils untersuchten Bereich, in dem
entlang der thematisierten Faktoren für jede der untersuchten Episoden beziehungswei-
se Zielgruppen die Einschätzungen einer Potenzialüber- oder -unternutzung festgehalten
werden. Das Instrument ermöglicht so zeit- und ressourcenökonomisch eine erste Identi-
fizierung von potenziellen Handlungsbedarfen.
10.5.3 Schritt 3: Dialogwerkstatt
Im dritten und letzten Schritt werden die Bewertungen der betrieblichen Experten zusam-
mengefasst und grafisch aufbereitet. Sie dienen als Datenbasis für eine Dialogwerkstatt, in
der für das Human-Ressource(HR)-Management zuständige Akteure sowie Führungskräf-
te auf Basis der betrieblichen Daten den spezifischen Handlungsbedarf und Umsetzungs-
maßnahmen entwickeln und planen können. Dabei ist festzuhalten, dass die Ergebnisse
der jeweiligen LPA ausschließlich auf den Einschätzungen und der Expertise der ausfül-
lenden Personen, und nicht auf Messwerten oder geprüften Metriken basieren. Insofern
bietet es sich hier bei Bedarf an, dass zur Sicherung der Ergebnisse mehrere Experten
10 Lebensphasenorientiertes Personalmanagement 213
10.6 Exemplarisches Beispiel
Ein weiterer bemerkenswerter Punkt ist die große Bedeutung von spezialisiertem
Know-how in diesem Unternehmen. Hierfür sind vor allem zwei Phasen interessant:
Einerseits findet man in allen Bereichen Beschäftigte mit „spezialisiertem und knappem
Know-how“, was angesichts der Forschungsorientierung des Unternehmens auch nahe-
liegend ist. In zwei der Bereiche finden sich allerdings auch Beschäftigte in einer „Spezia-
lisierungsfalle“, die ihre Kenntnisse zwar eingesetzt, über einen längeren Zeitraum aber
nicht systematisch weiterentwickelt haben.
Beschäftigte in einer „familiären Krisensituation“ gibt es in zwei der vier untersuchten
Bereiche, und in einem Bereich finden sich Beschäftigte in einer „gesundheitsbedingten
Krisensituation“. Das insgesamt eher jüngere Beschäftigungsprofil des Unternehmens
schlägt sich schließlich auch im Fehlen von Beschäftigten in der Altersübergangsphase
nieder. Auch Beschäftigte, die mit der Erfahrung eines berufsbezogenen Abstiegs kon-
frontiert sind, werden in dem Unternehmen offensichtlich nicht angetroffen. Dies hat
einerseits mit der relativen Stabilität des Unternehmens in den letzten Jahren zu tun, ande-
rerseits auch mit der Tatsache, dass viele Beschäftigte nach Qualifizierungsschritten das
Unternehmen verlassen.
Anzumerken bleibt hier, dass bedingt durch die Erhebung keine Informationen zur Zahl
der betroffenen Beschäftigten in den untersuchten Bereichen vorliegen; es gibt nur die
Information, dass es Personen in solchen anspruchsvollen Lebensphasen gibt. Das be-
deutet auch, dass über die Schwere der jeweiligen Betroffenheit von Personen (z. B. bei
Erkrankungen) auch keine Informationen erhoben wurden. Dies wäre gegebenenfalls er-
10 Lebensphasenorientiertes Personalmanagement 215
gänzend zu untersuchen. In jedem Fall sind diese Einschränkungen zum Beispiel bei der
Priorisierung von abgeleiteten Maßnahmen zu berücksichtigen.
Ausgehend von diesem ersten Überblicksprofil kann man nun, in einem zweiten Ana-
lyseschritt, anhand einer Gruppierung der identifizierten Beschäftigtengruppen nach Er-
werbsabschnitten die Ressourcenüber- und -unternutzung im Unternehmen detaillierter
darstellen. Dies bietet sich an, um vergleichbare Potenzialnutzungsmuster über die unter-
suchten Bereiche des Unternehmens hinweg zusammenzuführen, und aufbauend darauf
die Handlungsbedarfe für die untersuchten anspruchsvollen Arbeitslebensphasen bezie-
hungsweise Episoden übergreifend und unternehmensweit zu konkretisieren.
Die Ergebnistabellen Tab. 10.1, 10.2, und 10.3, gegliedert nach den drei großen Er-
werbsabschnitten – erstens: der beruflichen Orientierung, zweitens: dem mittleren Er-
werbsabschnitt, und schließlich: dem späten Erwerbsabschnitt mit dem Übergang zum
Ruhestand – zeigen hier erste Ansatzpunkte.
• Trainingsmaßnahmen, die die Beschäftigten auf die fachlichen und sozialen Herausfor-
derungen der neuen Aufgaben vorbereiten. Denkbar sind zum Beispiel verpflichtende
Projektmanagement-Schulungen bei Übernahme neuer Positionen. Sie können helfen,
die Voraussetzungen für die Bewältigung der bestehenden Anforderungen zu sichern.
• Hilfreich wären auch Stressbewältigungstrainings, die bei den betroffenen Beschäf-
tigten die Verarbeitung von und Regeneration nach belastenden Phasen unterstützen
können.
• Zweckmäßig und bewährt wäre bei Übernahme neuer Aufgaben auch ein Mentoring
der Anfänger, d. h. eine regelmäßige Begleitung durch erfahrenere Kolleg/innen, um zu
vermeiden, dass die jungen Kolleg/innen bei ihren neuen Aufgaben mit unklaren Situa-
tionen oder Rollenanforderungen allein zurechtkommen müssen – dies ist eine typische
Ursache von Beeinträchtigungen in solchen innovationsorientierten Arbeitskontexten
(vgl. Gerlmaier 2011).
• Denkbar wäre schließlich auch eine Arbeit im Tandems bei Neueinstieg in fachliche
oder personale Führungsaufgaben, so dass einerseits eine wechselseitige Unterstützung
der beiden Beschäftigten möglich wird, andererseits der Informationsfluss im Projekt
beziehungsweise in den Bereichen verbessert wird, und schließlich auch krankheitsbe-
dingte Ausfälle weniger zu Problemen führen, da dann in der Regel eine eingearbeitete
Vertretung verfügbar wäre.
Neben diesen Überlastungsaspekten ist für eine Reihe von Beschäftigten aktuell auch die
Vereinbarkeit der beruflichen Tätigkeit mit einer parallelen Familiengründung zu bearbei-
ten, was sich in einzelnen Bereichen an Über- und Unternutzungshinweisen erkennen lässt.
Angesichts der im Unternehmen bereits bestehenden Regelungen zu flexibler Arbeitszeit
sowie einem bestehenden Kinderbetreuungsangebot sind hier organisatorische Verbesse-
rungsmöglichkeiten im konkreten Beispiel schwerer zu finden. Die für Forschungsbe-
reiche typische Konstellation aus hohem Anforderungsdruck in der Arbeit (z. B. durch
10 Lebensphasenorientiertes Personalmanagement 219
• eine verbindliche Regelung zur Möglichkeit von Teleheimarbeit und dem Zugriff auf
technische Ressourcen von zu Hause aus; dies könnte für diese Beschäftigten die Orga-
nisation von Betreuungssituationen vereinfachen und entspannen,
• eine andere Arbeitsteilung bei neuen Aufgaben (vgl. o. zu Tandems), die eine Unterstüt-
zung und Entlastung bei der Aufgabenbewältigung ermöglichen würde und Sicherheit
bei Rollenunklarheiten schaffen kann, sowie
• eine Sensibilisierung der Führungskräfte für Stressphänomene, um so die Regeneration
und Stressbewältigung der betroffenen Beschäftigten auch führungsseitig besser zu un-
terstützen; dies sollte zusammen mit Stressbewältigungstrainings, die den Beschäftig-
ten konkrete Handlungsmöglichkeiten zur Entlastung vermitteln, angegangen werden.
Solche oder ähnliche Punkte können nun auf Grundlage des relativ einfachen, orientieren-
den LPA-Verfahrens zielgruppengenau ausgerichtet werden, was insgesamt eine höhere
Wirksamkeit verspricht. Dies sollte nach Klärung und Diskussion der Analyseergebnisse
in einer Dialogwerkstatt geschehen, in der die Personalverantwortlichen, die für Perso-
nalentwicklungsfragen Zuständigen und die Personalvertretungen oder Betriebsräte ver-
treten sein sollten (hier sind formale Mitbestimmungsregelungen zu berücksichtigen!).
Auf Basis einer solchen „Vergemeinschaftung“ der Ergebnisse, das heißt: dem Entstehen
eines gemeinsamen Bildes der Potenzialnutzung und der möglichen Ansatzpunkte für ge-
zielte Fördermaßnahmen, können dann Schwerpunktsetzungen für konkrete Maßnahmen
getroffen werden. Mit der LPA und einer Auswertung der Ergebnisse wie im geschilderten
Beispiel wird dies effizient unterstützt.
Die lebensphasenorientierte Potenzialanalyse (LPA) ist als Papierversion sowie als am
Computer ausfüllbare pdf-Variante zu beziehen. Sie kann auf den Webseiten des Verbund-
vorhabens pinowa (www.pinowa.de) kostenfrei abgerufen werden. Weitere Informationen
zum Instrument sowie Unterstützungsleistungen beim betrieblichen Einsatz des Verfah-
rens erhalten Sie bei den Autoren.
Literatur
Bohrmann, M., Fuchs, F., & Rottinger, S. (2013). Altersgerechte nachhaltige Personalwirtschaft –
im Fokus: Personalpolitik, Arbeitsorganisation und Gesundheitsmanagement. In J. Hentrich &
E. Latniak (Hrsg.), Rationalisierungsstrategien im demografischen Wandel: Handlungsfelder,
Leitbilder und Lernprozesse (S. 141–151). Wiesbaden: Springer Gabler.
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Gerlmaier, A. (2011). Psychische Erschöpfung in der IT-Arbeit – Welche Rolle spielt die individuel-
le Arbeits- und Lebensphase? In A. Gerlmaier & E. Latniak (Hrsg.), Burnout in der IT-Branche:
Ursachen und betriebliche Prävention (S. 153–181). Kröning: Asanger.
Gerlmaier, A., & Latniak, E. (2005). Eine Bilanz gesunder Mitarbeiter. Personalwirtschaft, 32(7),
24–26.
Graf, A. (2002). Lebenszyklusorientierte Personalentwicklung. Ein Ansatz für die Erhaltung und
Förderung von Leistungsfähigkeit und -bereitschaft während des gesamten betrieblichen Le-
benszyklus. Bern: Verlag Paul Haupt.
Latniak, E. (2013). Bausteine zu einer demografiefesten Personalpolitik – Ansätze, Maßnahmen,
Erfahrungen. In J. Hentrich & E. Latniak (Hrsg.), Rationalisierungsstrategien im demografi-
schen Wandel: Handlungsfelder, Leitbilder und Lernprozesse (S. 155–179). Wiesbaden: Springer
Gabler.
11.1 Einleitung
Aktuelle Zahlen der Bundesagentur für Arbeit belegen, dass es im Gegensatz zu den meis-
ten anderen Berufen im Ingenieurbereich in zahlreichen Gegenden und Fachrichtungen
einen Fachkräftemangel gibt. Allerdings scheinen viele in diesem Umfeld tätige Unterneh-
men nach wie vor den jungen, männlichen Bewerber zu suchen. Denn trotz der insgesamt
sehr niedrigen Arbeitslosenquote von Ingenieurfachkräften (3,1 % in 2012), sind Frauen
und ältere Fachkräfte häufiger von Arbeitslosigkeit betroffen, als ihre jungen männlichen
Kollegen. Somit könnte eine Änderung der Rekrutierungspraxis hin zu mehr Diversität
helfen, den Fachkräftemangel in technischen Berufen zumindest abzuschwächen (Bun-
desagentur für Arbeit 2013, S. 25 ff.).
Ziel des iap – Institut für Arbeit & Personal der FOM war es im Rahmen des Projekts
daher, in Zusammenarbeit mit Partnerunternehmen aus wissensintensiven Branchen zu
analysieren, wie Diversität in kleinen und mittleren Unternehmen (KMU)1 schon bei der
Rekrutierung gefördert werden kann. Es sollten auch diejenigen Personen bei der Perso-
nalauswahl vermehrt berücksichtigt werden, die bisher kaum in Betracht gezogen wurden.
Dazu gehören unter anderem Frauen, ältere Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, Quer-
einsteiger und Quereinsteigerinnen und Menschen mit diskontinuierlichen Erwerbsver-
läufen.
1
KMU-250-Definition der EU.
11.1.1 Rekrutierung in KMU
11.1.2 Personalauswahl in KMU
Zwei Methoden zur Personalauswahl werden in allen im Rahmen des Projekts pinowa
untersuchten Unternehmen eingesetzt: die Analyse der Bewerbungsunterlagen und die
Durchführung von Einstellungsinterviews. Wie der gesamte Rekrutierungsprozess folgen
auch die Einstellungsgespräche einer bestimmten Logik, die sich oft aus einer jahrelangen
Zusammenarbeit zwischen Personal- und Fachabteilung ergeben hat. Weder die Rollen-
aufteilung während des Interviews noch der Inhalt und die Abfolge der Fragen sind dabei
aber festgeschrieben. In der Regel gibt es keinen strukturierten Interviewleitfaden. Nach
Aussage der im Rahmen des Projekts beteiligten Entscheidungsträger werden Personal-
entscheidungen nach dem Einstellungsinterview häufig intuitiv getroffen. Das Bauchge-
fühl entscheidet, ob eine Person eingestellt wird oder nicht, und bisher sind die Unterneh-
men mit dieser Einstellungspraxis durchaus zufrieden.
Intuition kann in vielen Situationen helfen, gute und eventuell auch bessere Entschei-
dungen zu treffen, als das bei analytischem Vorgehen der Fall wäre, bei dem alle zur
Verfügung stehenden Informationen berücksichtigt werden (Gigerenzer 2008, S. 15 ff.).
Allerdings ist es gerade bei Personalentscheidungen, die weitreichende Konsequenzen
haben, wichtig, sich der Intuition bewusst zu werden. Denn auch bei vermeintlich ratio-
nalen Urteilen werden häufig relevante Informationen vernachlässigt, obwohl sie bekannt
sind. Stattdessen werden Vereinfachungen und Faustregeln, so genannte Heuristiken, als
Entscheidungsgrundlage herangezogen (Werth 2004, S. 1). Solche Heuristiken sind im
Alltag durchaus hilfreich, können aber zu schwerwiegenden und systematischen Feh-
lern führen (Tversky und Kahnemann 1974, S. 1124). Im Rahmen von wirtschaftlichen
Entscheidungsprozessen sind insbesondere folgende Heuristiken von Bedeutung (Werth
2004, S. 2 ff.):
224 U. Peters et al.
Neben den geschilderten Heuristiken, die sich auf die Personalauswahl auswirken können,
gibt es weitere Effekte, die zu Verzerrungen führen können und dann von erheblicher
Bedeutung sind, wenn, wie im Projekt pinowa, Diversität schon bei der Rekrutierung ge-
fördert werden soll (vgl. hierzu Krell et al. 2011, S. 267; Voß o. J.):
Die genannten Heuristiken und Verzerrungseffekte lassen sich kaum vollständig verhin-
dern. Allerdings sollte das Ziel jeder Personalauswahl sein, Bewerberinnen und Bewerber
möglichst objektiv zu beurteilen, um Entscheidungen fair zu treffen und die Stelle optimal
zu besetzen. Dazu ist es notwendig, dass die Entscheidungsträger und Entscheidungsträ-
gerinnen in Unternehmen die meist unbewusst ablaufenden psychischen Prozesse erken-
nen, um diese dann bewusst mit geeigneten Methoden zu minimieren. Die im Rahmen
des Projekts pinowa entwickelte Rekrutierungstoolbox kann hier einen Beitrag leisten,
indem zu allen Schritten im Rekrutierungsprozess Handlungsleitfäden zur Verfügung ge-
stellt werden, die sich ohne großen Aufwand anwenden lassen und helfen, den erwähnten
Effekten entgegenzuwirken.
11.2 Rekrutierungstoolbox
Das Vorgehen bei der Personalgewinnung verläuft bei den am Projekt beteiligten Unter-
nehmen unterschiedlich. Es lassen sich aber dennoch vier Schritte im Rekrutierungspro-
zess identifizieren, die in allen Unternehmen vorkommen: Bedarfsermittlung, Bewerbe-
rinnen- beziehungsweise Bewerberansprache, Auswahlprozess und Einarbeitung. Abbil-
dung 11.1 macht deutlich, wie sich die einzelnen Elemente der Rekrutierungstoolbox:
Anforderungsprofil, Stellenanzeige, Bewerbungsmanagement und Einstellungsinterview,
den einzelnen Rekrutierungsschritten zuordnen lassen.2
In der Managementliteratur und im Internet sind bereits sehr viele Anleitungen und
Checklisten zu den jeweiligen Themen vorhanden, die aber von den Unternehmen, das
2
Der Schritt Einarbeitung wird in der Toolbox nicht berücksichtigt, da die Einarbeitung Teil der
Personalentwicklung ist.
226 U. Peters et al.
legen zumindest die pinowa-Befragungen in KMU nahe, bisher kaum genutzt werden. Ge-
spräche mit Vertretern der KMU lassen vermuten, dass der Aufwand, die Instrumente auf
die eigenen Bedarfe anzupassen, zu hoch beziehungsweise die Literatur zu umfangreich
ist. Die hier vorgestellte Rekrutierungstoolbox soll diese Lücke schließen, indem praxis-
taugliche und zugleich wissenschaftlich fundierte Handlungsleitfäden zur Verfügung ge-
stellt werden. Diese sind ohne vorhergehendes Studium umfangreicher Theorie anwend-
bar und bedienen daher den Bedarf an einfach anzuwendenden Instrumenten. Diese sollen
es KMU ermöglichen, ihren Rekrutierungsprozess zu optimieren und so den Auswirkun-
gen des drohenden Fachkräftemangels effektiv zu begegnen.
Das Tool verhindert an verschiedenen Stellen im Rekrutierungsprozess das Greifen
jener Heuristiken, die den Fokus bei der Personalauswahl von vorneherein einschränken
und Unternehmen dazu verleiten, sich auf den vermeintlich optimalen, männlichen, jun-
gen Bewerber zu konzentrieren. Vielmehr sollen die Entscheidungsträger und Entschei-
dungsträgerinnen dazu angeleitet werden, auch solche Personen im Entscheidungsprozess
zu berücksichtigen, die bisher wenig oder gar nicht beachtet wurden. So kann der oben
erhobenen Forderung nach mehr Diversität in Unternehmen Rechnung getragen werden.
Grundlage aller weiteren Instrumente der Toolbox ist immer das im ersten Schritt er-
stellte Anforderungsprofil. Welche der folgenden Module (Stellenanzeige, Bewerbungs-
management, Einstellungsinterview) weiterhin genutzt werden, kann von den Unterneh-
men situativ entschieden werden. Es ist also durchaus möglich, zum Beispiel nur die
Elemente Anforderungsprofil und Einstellungsinterview zu verwenden und auf die Kom-
ponenten Stellenanzeige und Bewerbungsmanagement zu verzichten, wenn hier bereits
geeignete Instrumente vorhanden sind. Um den Rekrutierungsprozess zu strukturieren und
zu optimieren, ist jedoch die Nutzung der gesamten Toolbox sinnvoll.
11.2.1 Anforderungsprofil
Bei den pinowa-Erhebungen hat sich gezeigt, dass ein vorhandener Personalbedarf in der
Regel von der Fachabteilung an die Personalabteilung kommuniziert wird. Diese Meldung
erfolgt überwiegend in unstrukturierter Form, so dass nicht sichergestellt ist, dass beide
Abteilungen ein gemeinsames Verständnis über die von der Bewerberin beziehungsweise
von dem Bewerber zu erfüllenden Anforderungen haben. In zwei von drei Unternehmen
fehlt ein schriftliches Anforderungsprofil, das ein möglichst umfassendes Bild über die zu
besetzende Stelle und die damit verbundenen Anforderungen liefert.
Der im Rahmen von pinowa entwickelte Handlungsleitfaden stellt sicher, dass Unter-
nehmen auf möglichst einfachem Weg ein für ihre Zwecke passendes Anforderungsprofil
erstellen können. Grundvoraussetzung während des gesamten Prozesses ist die intensive
Zusammenarbeit zwischen Fach- und Personalabteilung, damit alle relevanten Informa-
tionen vorliegen und ein Konsens über die festgelegten Anforderungskriterien erreicht
werden kann.
11 Diversitätsförderliche Rekrutierungstoolbox für KMU 227
Das Anforderungsprofil führt dabei alle Kriterien zusammen und vereinheitlicht die
Vorstellungen der Entscheidungsträger und Entscheidungsträgerinnen (Weuster 2012,
S. 37). Es bietet dadurch drei wesentliche Vorteile (Jetter 2008, S. 112):
Durch die Formulierung eines Anforderungsprofils wird auf der einen Seite der Schritt
der Bedarfsermittlung (s. Abb. 11.1) strukturiert und auf der anderen Seite die Erwartung
an den Bewerber beziehungsweise die Bewerberin klar definiert. So stehen die objektiven
Auswahlkriterien stärker im Vordergrund und die Chance, dass die Personalentscheidung
unabhängiger von Faktoren wie Geschlecht, Alter oder Herkunft getroffen wird, steigt.
Darüber hinaus fördert das Tool die Diversität in Unternehmen, indem zu starke Ein-
schränkungen bei der Formulierung der Anforderungen vermieden werden.
Das Vorgehen bei der Erstellung eines Anforderungsprofils ist in Abb. 11.2 dargestellt:
Die Festlegung der Stellenbezeichnung ist besonders in solchen Fällen interessant, bei
denen es nicht nur um die Nachbesetzung einer Stelle geht. Ändern sich Umfang oder
Aufgabenbereiche der Stelle kann es sinnvoll sein, auch die Benennung anzupassen.
Im nächsten Schritt werden die Aufgaben und Zuständigkeiten der Stelle aufgeführt,
damit alle Beteiligten einen Überblick über die Inhalte der Position bekommen. Wichtig
ist dabei nicht nur, die Hauptaufgaben zu beschreiben, sondern auch die Nebentätigkeiten
und gegebenenfalls die Schnittstellen zu anderen Unternehmensbereichen zu beachten.
Diese beinhalten in der Regel weitere Anforderungen, die notwendig sind, um die Posi-
tion erfolgreich zu bewältigen. Grundlage für diesen Teil des Anforderungsprofils ist die
Stellenbeschreibung, die unbedingt durch die Befragung des aktuellen Stelleninhabers be-
ziehungsweise der aktuellen Stelleninhaberin und der/des Vorgesetzten ergänzt werden
sollte. Ergeben sich beispielsweise aus der strategischen Planung neue Zuständigkeiten
oder fallen Aufgabenbereiche der Stelle weg, besteht hier die Möglichkeit, diese Änderun-
gen aufzunehmen, so dass sie bei der Neubesetzung der Position beachtet werden können
(Weuster 2012, S. 40).
Bei der Festlegung der Anforderungen, die der Bewerber beziehungsweise die Bewer-
berin erfüllen soll, werden fachliche und soziale/kognitive Anforderungen unterschieden
(Stock-Homburg 2008, S. 94). Abbildung 11.3 gibt einen Überblick über die verschiede-
nen Anforderungsarten.3
Die für die Stelle notwendigen fachlichen Anforderungen ergeben sich im Allgemeinen
direkt aus den Aufgaben. Sie werden unterteilt in Fachkompetenzen (Ausbildung, Stu-
dienabschluss, Sprach- und EDV Kenntnisse), methodische Kompetenzen (z. B. Präsen-
tationstechniken, Projektmanagement), Berufserfahrung und Unternehmens- beziehungs-
weise Branchenkenntnisse (Stock-Homburg 2008, S. 94). Für das weitere Einstellungs-
3
Im Gegensatz zur Originaldarstellung wurde hier ein anderer, für das Instrument geeigneterer Zu-
schnitt der Kompetenzen vorgenommen.
11 Diversitätsförderliche Rekrutierungstoolbox für KMU 229
Ausbildung Muss-Kriterium
Werkzeugmechanikerin/Werkzeugmechaniker Nein
Studium Muss-Kriterium
Abgeschlossenes Ingenieurstudium, Schwerpunkt Konstruktionstechnik Ja
Zusatzqualifikation Muss-Kriterium
CAD-Konstrukteur/-Konstrukteurin Nein
Sprachkenntnisse Muss-Kriterium
Englisch Ja
EDV-Kenntnisse Muss-Kriterium
CATIA V5/V6, MS Office Ja
Im Gegensatz zur Ableitung der fachlichen Anforderungen aus den Aufgaben der Stelle ist
die Identifikation der sozialen und kognitiven Anforderungen wesentlich aufwendiger und
erfordert mehr Zeit. Um herauszufinden, welche Anforderungskategorien tatsächlich bei
der Stellenbesetzung berücksichtigt werden müssen, empfiehlt sich der Einsatz des „An-
forderungs-Ermittlungs-Dialogs“. Diese von Wolfgang Jetter (2008) entwickelte und im
Folgenden beschriebene Vorgehensweise beruht in Teilen auf der Methode der „Critical
Incidents“ von John C. Flanagan (1954), lässt sich jedoch von Praktikern wesentlich einfa-
cher anwenden (Jetter 2008, S. 123 ff.). Besonders an dieser Stelle ist die Zusammenarbeit
von Personal- und Fachabteilung wichtig. Um zu verhindern, dass Standardlisten sozialer
Kompetenzen verwendet werden, die in der Regel aus Worthülsen bestehen, sollten beide
Abteilungen in einen Dialog treten und ein gemeinsames Verständnis über die Anforde-
rungskriterien entwickeln. Zunächst geht es darum, erfolgsentscheidende Situationen der
Position zu ermitteln: Welche Situationen stellen die größten Herausforderungen dar? In
230 U. Peters et al.
• Handlungsweisen, die sich auf den Arbeitsplatz beziehen, liefern die Begründung für
die Auswahl eines Anforderungskriteriums.
• Die Entscheidungsträger und Entscheidungsträgerinnen haben ein gemeinsames Ver-
ständnis über die Bedeutung der Anforderungskriterien.
• Anforderungskriterien werden beobachtbar.
Am Ende des Prozesses werden die Anforderungskriterien auf einer Skala von 1 = unver-
zichtbar bis 3 = wichtig gewichtet, um zu verdeutlichen, welche Anforderungskriterien ein
Muss-Kriterium darstellen (ebd., S. 126 f.).
Da sich in den pinowa-Erhebungen in KMU gezeigt hat, dass das Thema Arbeitszeit für
die Beschäftigten eine besonders große Bedeutung hat, wird im Rahmen des Tools spe-
ziell darauf eingegangen. Die Unternehmen sind aufgefordert, über Alternativen zu star-
ren Vollzeitmodellen nachzudenken. So lassen sich mit flexiblen Arbeitszeitmodellen ge-
gebenenfalls mehr Bewerberinnen und Bewerber ansprechen. Werden diese Alternativen
schon im Anforderungsprofil festgehalten, können sie bereits bei der Formulierung der
Stellenanzeige berücksichtigt werden.
11.2.2 Stellenanzeige
Der Aufbau einer Stellenanzeige richtet sich in erster Linie nach ihrer Funktion. Sie soll
die potenzielle Bewerberin oder den potenziellen Bewerber über das Unternehmen, die
Stelle, die Anforderungen, die angebotenen Leistungen und das Bewerbungsprocedere in-
formieren (Walz 2013).
Stellensuchende sind auf der einen Seite auf der Suche nach einer interessanten und
gutbezahlten Arbeit, auf der anderen Seite suchen sie aber auch nach einem Arbeitgeber.
Für kleinere Unternehmen, die nicht schon durch ihr Produkt einen Namen haben, ist eine
Stellenanzeige oftmals der erste Kontakt zu diesen Suchenden. Daher sollte die Anzeige
auch eine Employer-Branding-Funktion erfüllen.4
Abbildung 11.4 gibt einen Überblick über das Vorgehen bei der Formulierung einer
Stellenanzeige.
4
Für eine tiefere Betrachtung der Funktionen und der Ausgestaltung des Employer Brandings siehe
Kap. 6 in diesem Band.
232 U. Peters et al.
Bei der Vorstellung des Unternehmens können Hinweise auf die Unternehmenskultur
und das Unternehmensleitbild gegeben werden, und bei der Darstellung der angebote-
nen Leistungen bietet sich eine Auflistung der angewendeten lebensphasen- und diversi-
tätsorientierten Maßnahmen des Personalmanagements an. Hierbei lohnt es sich, konkret
zu werden, damit Interessentinnen und Interessenten einen ansprechenden und realisti-
schen Eindruck davon bekommen, wie sich der Alltag im Unternehmen gestaltet. Da eine
Stellenanzeige meist wenig Raum lässt, kann hier ein Verweis auf die Karriereseiten des
Unternehmens erfolgen. Es versteht sich von selbst, dass diese dann entsprechend inhalt-
lich und optisch gestaltet sein müssen.
Arbeitgeber, die kein strukturiertes Employer Branding haben, aus dem sie Formu-
lierungen für die Stellenanzeige ableiten können, haben eine einfache Alternative. Sie
können aktuell Beschäftigte fragen, warum sie gerne in ihrem Unternehmen arbeiten. Die
Antworten bieten eine gute Grundlage für die Stellenausschreibung.
Nach der Vorstellung des Unternehmens folgt üblicherweise die Stellenbezeichnung.
Sie ist die genaue Benennung der Position, wie sie auch später geführt werden soll, und
beschreibt die Tätigkeit so konkret wie möglich. Hierzu gehören die Aufgabenbereiche,
die hierarchische Positionierung, Befugnisse, gegebenenfalls Budget- und Führungsver-
antwortung, der Stellenumfang und der Umfang von Reisetätigkeiten (Heidenberger o. J.).
Die formulierten Anforderungen an die Kandidatinnen und Kandidaten können dem
Anforderungsprofil entnommen werden, welches zu Beginn eines jeden Rekrutierungs-
verfahrens anzufertigen ist (s. o.). Um einen möglichst großen und vielfältigen Bewerbe-
rinnen- und Bewerber-Pool zu gewinnen, sind die folgenden Hinweise hilfreich:
In der Ausschreibung sollten die Alternativprofile beziehungsweise die Alternativqua-
lifikationen benannt werden, die neben dem „Perfect Fit“ (dem optimalen Bewerber bezie-
hungsweise der optimalen Bewerberin) für die Stelle in Frage kommen. Dabei sollte auch
die Differenzierung zwischen Muss- und Wunschanforderungen aus dem Anforderungs-
profil übernommen werden, um gleichzeitig möglichst passende, aber auch möglichst
vielfältige Bewerberinnen und Bewerber anzuziehen.
Weiterhin sollten leere Phrasen vermieden werden, da sie zu viel Interpretationsspiel-
raum lassen. Die gern verwendete Formulierung „flexibel und belastbar“ zum Beispiel
bedeutet im besten Fall nichts, weil sie unüberlegt aufgenommen wurde, im schlechtes-
ten Fall, dass die Arbeitseinsätze ungeplant verlaufen und die Arbeitsmenge innerhalb
der vertraglichen Arbeitszeit nicht zu schaffen ist. Es lohnt sich daher, sich so konkret
wie möglich auszudrücken. Bei der Verwendung von Adjektiven dienen die sozialen und
kognitiven Anforderungen, wie sie im Anforderungsprofil festgelegt wurden, als Orien-
tierung.
Doch nicht nur leere, sondern auch zu stark besetzte Begriffe können problematisch
sein. Forscherinnen der TU München haben nachgewiesen, dass viele Frauen sich nicht
auf Stellenausschreibungen bewerben, in denen überwiegend mit männlich konnotierten
Adjektiven gearbeitet wird, obwohl sie für die Stelle qualifiziert sind. Es ist daher ratsam,
stereotype Begriffe zu vermeiden und stattdessen neutrale Begriffe zu verwenden oder die
11 Diversitätsförderliche Rekrutierungstoolbox für KMU 233
Anforderungen ausgewogen zu formulieren (Welpe und Peus 2014, S. 17). Ein Beispiel:
Eine Führungskraft sollte nicht nur durchsetzungsstark und analytisch, sondern auch kom-
munikationsstark und empathisch sein. Analog dazu sollten auch solche Begriffe, die auf
das Alter, die Herkunft oder den Gesundheitszustand anspielen, vermieden werden (Euro-
päische Kommission 2009, S. 73). Das Gleiche gilt auch für die Bildsprache. Wenn Bilder
von Personen für die Stellenanzeigen verwendet werden, sollten diese viele unterschied-
liche Gruppen repräsentieren. Möglichweise sind auch die aktuellen Beschäftigten des
Unternehmens bereit, sich abbilden zu lassen? Damit kann die Authentizität der Anzeige
erhöht werden (Wolf 2013, S. 198).
Die Anzeige ist ferner konform mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes
(AGG) zu verfassen (Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz 2006). Damit ist die Stellen-
anzeige nicht nur rechtlich auf der sicheren Seite. Gleichzeitig kann mit inkludierenden
Formulierungen die Chance erhöht werden, dass sich möglichst viele verschiedene Men-
schen von ihr angesprochen fühlen.
Nicht weniger interessant als die Stellenbeschreibung sind für Bewerberinnen und Be-
werber die Leistungen, die sie von ihrem zukünftigen Arbeitgeber für ihre Arbeit erhalten
(Walz 2013). An diesem Punkt der Stellenanzeige sollte daher so anschaulich wie mög-
lich über Gehalt und Zusatzleistungen, über Aufstiegs- und Weiterbildungsmöglichkeiten
sowie über lebensphasenorientierte Angebote und Arbeitszeitmodelle informiert werden.
Auch ein vorhandenes Diversity Management kann hier erwähnt werden, um Bewerberin-
nen und Bewerbern aus benachteiligten Gruppen zu signalisieren, dass sie im Unterneh-
men nicht mit Diskriminierung konfrontiert sind, sondern sich ihren Potenzialen entspre-
chend entwickeln können (Krell und Sieben 2011, S. 161 f.).
Zum Schluss ist eine Ansprechpartnerin oder ein Ansprechpartner inklusive Telefon-
nummer und E-Mail-Adresse anzugeben, die/der im Zeitraum des Verfahrens gut zu er-
reichen ist. Bewerberinnen und Bewerber erwarten außerdem klare Informationen zum
Bewerbungsverfahren bezüglich der Form (per Mail, Online oder per Post), der Fristen
und der gewünschten Unterlagen (Walz 2013). Hier kann noch einmal die Diversität des
Bewerber/innenpools vergrößert werden, indem ausdrücklich auf ein Foto verzichtet wird.
Dieses kann nämlich mitunter unbewusst die Vorauswahl bei der ersten Durchsicht der
Unterlagen beeinflussen.
Eine freundliche Schlussformel kann die Ausschreibung abrunden.
11.2.3 Bewerbungsmanagement
Diese Ergebnisse decken sich mit Studien, die belegen, dass die Vorauswahl von Be-
werberinnen und Bewerbern vorwiegend unstrukturiert erfolgt (Stephan und Westhoff
2002, zitiert in Weuster 2012, S. 97) und die aufgewendete Zeit zur Analyse der einzelnen
Bewerbungsunterlagen bei über der Hälfte der Unternehmen bei maximal fünf Minuten
liegt (Dahlinger 1995, zitiert in Weuster 2012, S. 98 f.).
Dies ist insofern erstaunlich, da die Vorauswahl erheblichen Einfluss auf die Endaus-
wahl hat. Personen, die in diesem Schritt des Rekrutierungsprozesses vorschnell ausge-
sondert werden, stehen dem Arbeitgeber im weiteren Verlauf nicht mehr zu Verfügung
(Weuster 2012, S. 97). Es empfiehlt sich daher, schon bei der Vorauswahl strukturiert
vorzugehen und sich für die Analyse der Unterlagen genügend Zeit zu nehmen.
Um eine solche Strukturierung zu vereinfachen, bietet die Toolbox zwei Checklisten
an. Die erste ermöglicht die Analyse jeder einzelnen Bewerbungsunterlage anhand des
Anforderungsprofils, die zweite bietet eine Übersicht über alle für die Stelle eingegange-
nen Bewerbungen und den jeweiligen Stand der Bearbeitung. Das Ausfüllen der Check-
listen soll die Personalverantwortlichen dazu veranlassen, sich ausreichend Zeit für die
Vorauswahl zu nehmen und die wichtigsten Informationen stichpunktartig festzuhalten.
Da das Anforderungsprofil die Grundlage für die Vorauswahl bildet, soll außerdem ver-
hindert werden, dass rein äußerliche Kriterien wie Aussehen der Bewerbungsmappe oder
ein Knick im Anschreiben sofort zum Ausschluss des Bewerbers oder der Bewerberin
führen. Der Fokus wird stattdessen auf die Qualifikationen, Fähigkeiten und Fertigkeiten
gelegt. So wird die Chance erhöht, dass tatsächlich diejenigen Bewerberinnen und Be-
werber zum Einstellungsinterview eingeladen werden, die den Anforderungen der Stelle
am besten genügen.
11.2.4 Einstellungsinterview
Zu beachten ist, dass der Interviewleitfaden die Struktur und die Themen (z. B. An-
forderungskriterien) für das Gespräch vorgibt. Dabei müssen bestimmte Fragen bei allen
Bewerberinnen und Bewerbern gestellt werden um die Vergleichbarkeit zu sichern. Den-
noch ist der Leitfaden für jede Person individuell anzupassen, da während des Interviews
immer Bezug auf die Erfahrungen der einzelnen Kandidatin beziehungsweise des einzel-
nen Kandidaten genommen wird.
Die Phasen des Interviews bestehend aus Vorbereitung, Durchführung und Nachberei-
tung stehen im Fokus der folgenden Abschnitte.
11.2.4.1 Vorbereitung
Die Erstellung des Interviewleitfadens bildet den Schwerpunkt der Vorbereitung des In-
terviews. Dazu sollten alle notwendigen Informationen vorliegen: Die Bewerbungsun-
terlagen inklusive der Ergebnisse der Analyse dieser Unterlagen (Bewerbungsmanage-
ment) und das Anforderungsprofil. Alle am Interview beteiligten Personen haben damit
ein klares Bild über die zu besetzende Stelle und können aus den Bewerbungsunterlagen
die früheren Stellen der Bewerberin beziehungsweise des Bewerbers identifizieren, die
besonders aussagekräftig und relevant erscheinen (Jetter 2008, S. 139 f.). Offene Fragen
und Bemerkungen, die sich aus dem Vergleich von Anforderungsprofil und Bewerbungs-
unterlagen ergeben, können schon jetzt als anzusprechende Punkte für das Interview fest-
gehalten werden.
Abbildung 11.5 gibt einen Überblick über Schritte zur Erstellung des Interviewleitfa-
dens.
Zunächst sollte eine Begrüßungsformel festgelegt werden, damit die Intervieweröff-
nung für alle Bewerberinnen und Bewerber gleich gestaltet ist. Die Begrüßung bezie-
hungsweise Vorstellung sollte generell möglichst kurz gehalten werden, damit durch zu
viele persönliche Informationen nicht die in Abschn. 11.1.2 beschriebenen Heuristiken
und Verzerrungseffekte aktiviert werden. Eine kurze Nachfrage zur Anfahrt, oder eine
allgemeine Aussage zum Wetter sollte hier ausreichen, um eine angenehme Atmosphäre
zu schaffen. Nach der Vorstellung der beteiligten Gesprächsteilnehmer und Gesprächs-
teilnehmerinnen wird der Ablauf des Gesprächs skizziert und es besteht die Möglichkeit,
durch einige allgemeine Informationen das Unternehmen kurz vorzustellen. Grundsätz-
lich empfiehlt es sich, allen Bewerberinnen und Bewerbern das Gefühl zu geben, will-
kommen zu sein. Denn auch wenn es nicht zu einer Einstellung kommt, wird ein Eindruck
des Unternehmens entstehen, der nicht nur bleibt, sondern auch extern weiter kommuni-
ziert wird.5
Bei der Klärung der fachlichen Anforderungen bietet sich die Gelegenheit, Nachfragen
zu den Bewerbungsunterlagen zu stellen und weitere Informationen über beispielswei-
se die Motivation zu erhalten, warum gerade die zu besetzende Stelle von Interesse ist
(Jetter 2008, S. 141 f.). Auch die offenen Fragen, die sich aus dem Vergleich von An-
forderungsprofil und Bewerbungsunterlagen ergeben haben (s. o.), können hier gestellt
werden. Außerdem bietet sich die Möglichkeit, kreative Techniken einzusetzen, um dem
Bewerber beziehungsweise der Bewerberin die Chance zu geben, die für ihn/sie wichtigs-
ten beruflichen Meilensteine darzustellen. So kann es hilfreich sein, durch die Skizzierung
des Lebenslaufs (z. B. in Form einer Linie) an einem Flip-Chart, herauszufinden, welche
beruflichen Schwerpunkte relevant sind und wo besondere Interessen liegen. Außerdem
bekommt man auf diesem Weg einen Eindruck über die Präsentationsfähigkeiten der Be-
werberinnen und Bewerber. Welche Fragen gestellt und welche Techniken eingesetzt wer-
den sollen, wird im Leitfaden festgehalten.6
Sowohl was die Erstellung, als auch was den Umfang während des Interviews angeht,
nehmen die Fragen zu den sozialen und kognitiven Anforderungen, also zu den Anforde-
rungskriterien, die meiste Zeit in Anspruch. Um herauszufinden, ob die Kandidatin oder
der Kandidat in der Lage ist, zukünftige berufliche Herausforderungen zu bewältigen, wird
nach vergleichbaren früheren Situationen gefragt. Dabei spielen die im Anforderungspro-
fil definierten Verhaltensweisen, durch die das Vorhandensein eines Anforderungskrite-
riums beobachtbar wird, eine wichtige Rolle. Diese erfolgskritischen Verhaltensweisen
werden in Interviewfragen umgewandelt. Dabei folgt jede Frage dem Ziel herauszufinden,
ob das Anforderungskriterium bei der Bewerberin beziehungsweise dem Bewerber vor-
handen ist (Jetter 2008, S. 138 ff.).
5
Zu Bedeutung emotionaler Erlebnisse für das Employer Branding siehe Kap. 6 in diesem Band.
6
Neben den Erhebungen in den Unternehmen und Literaturstudien wurden auch Ideen und Anre-
gungen von FOM Masterstudierenden aus Nürnberg in die Entwicklung des Interviewleitfadens
einbezogen.
11 Diversitätsförderliche Rekrutierungstoolbox für KMU 237
Anforderungskriterium Kreativität
Erfolgskritische Geht erfolgreich neue Wege, lässt sich nicht entmutigen
Verhaltensweisen Macht unkonventionelle Lösungsvorschläge
Fragen Welche gestalterischen Spielräume bietet Ihre Tätigkeit? Wie
haben Sie diese bisher ausgenutzt (Beispiele)?
Welche konkrete Neuerung haben Sie selbst in Ihrem Unterneh-
men eingeführt beziehungsweise an welcher hatten Sie maßgeb-
lichen Anteil?
Was war Ihre bislang kreativste/originellste Idee? Wie haben Sie
sie realisiert? Was kam dabei heraus?
Für jedes Anforderungskriterium sollten zwei bis vier Fragen formuliert und im Inter-
viewleitfaden notiert werden. Das hier beschriebene Vorgehen orientiert sich an dem von
Wolfgang Jetter entwickelten Verfahren zur Erstellung eines anforderungsorientierten
Interviewleitfadens (Jetter 2008, S. 138 ff.).
Da es bei den Vorstellungsgesprächen auch darum geht, die Kandidatinnen und Kan-
didaten vom Unternehmen als Arbeitgeber zu überzeugen (Trost 2012, S. 51), sollten die
Interviewer und Interviewerinnen vorab festlegen, wie das Unternehmen und die zu be-
setzende Stelle präsentiert werden können. Informationen zu Aufgaben, Verantwortungs-
bereich, Verortung der Stelle im Unternehmen, Entwicklungsmöglichkeiten und Rahmen-
bedingungen wie Arbeitszeit, Entlohnung etc. spielen hier eine wichtige Rolle. Außerdem
bietet sich nun die Gelegenheit, die Produktmarke vorzustellen und auf weitere Besonder-
heiten des Unternehmens (z. B. Arbeitszeitmodelle, Gesundheitsprogramme) hinzuwei-
sen, um einen positiven Eindruck zu hinterlassen.7
Die Abschlussphase des Interviews dient dazu, Formalitäten wie zum Beispiel Kün-
digungsfristen zu klären, das weitere Vorgehen festzulegen und noch offene Fragen des
Bewerbers beziehungsweise der Bewerberin zu beantworten.
Damit es während des Gesprächs nicht zu Missverständnissen kommt, werden die Rol-
len zwischen den Interviewern und Interviewerinnen schon im Vorfeld eindeutig verteilt
und abgestimmt (Wer stellt welche Fragen?) (Jetter 2008, S. 152).
Um bei der Bewertung – die erst nach dem Interview stattfindet und strikt von der
Informationssammlung getrennt werden sollte – noch alle wichtigen Informationen zur
Verfügung zu haben, ist es unabdingbar, während des Interviews ein Protokoll zu führen,
das stichpunktartig die Antworten auf die gestellten Fragen zusammenfasst (Kay 2011,
S. 255). Der Interviewleitfaden bietet dafür ausreichend Platz.
11.2.4.2 Durchführung
Damit die während der Interviews gewonnen Informationen vergleichbar sind, sollten der
Inhalt und soweit realisierbar auch die Reihenfolge der Fragen möglichst standardisiert
7
Zur Positionierung von Unternehmen als attraktiver Arbeitgeber siehe auch Kap. 6 in diesem Band.
238 U. Peters et al.
gehalten werden. Der Inhalt der Fragen bezieht sich dabei ausschließlich auf die definier-
ten Anforderungen. So werden Anschlussfragen verhindert, die keinen Arbeitsplatzbezug
haben und gegebenenfalls dazu führen, dass durch Verzerrungseffekte eine objektive Be-
urteilung unmöglich wird (Kay 2011, S. 255).
Ziel des Interviews ist es, zu jedem Anforderungskriterium (Bereich soziale/kogniti-
ve Kompetenzen) möglichst viele aussagekräftige Verhaltensstichproben zu erhalten. So
kann eingeschätzt werden, ob der Bewerber beziehungsweise die Bewerberin in der Lage
ist, die Stelle erfolgreich zu meistern. Eine Verhaltensstichprobe besteht aus drei Elemen-
ten: Verhalten (was wurde getan), Situation (unter welchen Bedingungen wurde etwas ge-
tan) und Ergebnis (was kam dabei heraus). Wichtig ist, dass tatsächlich Informationen zu
allen drei Elementen vorliegen. Ansonsten ist die Verhaltensstichprobe nicht vollständig
und oft unbrauchbar. Der Interviewer beziehungsweise die Interviewerin ist hier aufgefor-
dert so lange nachzufragen, bis alle Bereiche zufriedenstellend beantwortet wurden (Jetter
2008, S. 161 ff.).
Da es während des Interviews vorkommen kann, dass der Bewerber beziehungsweise
die Bewerberin bei der Beantwortung einer Frage gegebenenfalls schon eine weitere Fra-
ge mitbeantwortet, sollte die Interviewerin beziehungsweise der Interviewer den Leitfa-
den so flexibel wie nötig einsetzen. Hier ist es wichtig, sich nicht um jeden Preis an den
Leitfaden zu halten, sondern Fragen vorzuziehen, wenn es Sinn macht, und eventuell auch
Fragen zu streichen, die bereits im Gespräch beantwortet wurden. Der Leitfaden dient
als roter Faden, der sicherstellt, dass kein Anforderungskriterium und keine wesentlichen
Fragen vergessen werden (Jetter 2008, S. 158 ff.).
Bei der Durchführung des Interviews gilt es außerdem darauf zu achten, dass Fra-
gen vermieden werden, die laut Allgemeinem Gleichbehandlungsgesetzt nicht zulässig
sind (Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz 2006). Dazu zählen unter anderem Fragen
zu Themen wie Schwangerschaft, Familienplanung, sexueller Identität, Konfession sowie
Partei-/Gewerkschaftszugehörigkeit (Burkard in Brenner 2009, S. 246 ff.)
11.2.4.3 Nachbereitung
Für die Interviewnachbereitung bietet der Leitfaden die Möglichkeit, Stimmungen und
Assoziationen, die während des Interviews auftreten, sofort festzuhalten. Wie in Ab-
schn. 11.1.2 dargelegt, können Stimmungen Entscheidungen wesentlich beeinflussen,
auch wenn sie mit dem eigentlichen Entscheidungsgegenstand (hier dem Bewerber bezie-
hungsweise der Bewerberin) nicht in Zusammenhang stehen. Verhindern lässt sich dieses
Phänomen, indem man sich der Ursache der Stimmung bewusst wird. Durch die Ver-
schriftlichung wird erreicht, dass aufgetretene Stimmungen auch nach längerer Zeit noch
nachvollziehbar sind.
Außerdem wird nach dem Interview festgehalten, in welchem Umfang die Anforde-
rungskriterien erfüllt wurden. Dazu steht für jedes Kriterium eine Skala von 1 = Kriterium
nicht erfüllt bis 5 = Kriterium optimal erfüllt zur Verfügung. Die Bewertung findet erst
nach Abschluss des Interviews statt, da sich bis zum Ende des Gesprächs noch wichti-
ge Informationen zu den Anforderungskriterien ergeben können. Zusammen mit der Ge-
11 Diversitätsförderliche Rekrutierungstoolbox für KMU 239
11.3 Fazit
Ziel des pinowa-Projekts ist es, die Diversität in KMU durch geeignete Rekrutierungsin-
strumente zu erhöhen, um damit dem drohenden Fachkräftemangel in wissensintensiven
Bereichen zu begegnen.
Die Toolbox wird diesem Ziel gerecht, da Anforderungskriterien in den Mittelpunkt
der Personalentscheidung gerückt und Verzerrungseffekte somit vermieden werden. Die
Entscheidungsträger und Entscheidungsträgerinnen in KMU haben durch die angebotenen
Instrumente die Möglichkeit, den Rekrutierungsprozess strukturierter und objektiver zu
gestalten. So können auch diejenigen Personengruppen berücksichtigt werden, die bisher
entweder gar nicht angesprochen wurden oder die im Laufe des Bewerbungsverfahrens
aus subjektiven Gründen vorzeitig aussortiert wurden (s. Abschn. 11.1.2).
Neben der Steigerung der Objektivität und der Vergleichbarkeit werden durch die Inst-
rumente auch die Rahmenbedingungen der Stelle in den Fokus gerückt.
Schon jetzt bieten viele KMU ihren Beschäftigten zahlreiche Maßnahmen zur Verbes-
serung der Arbeitsbedingungen an, allerdings werden diese bisher für die Rekrutierung
unzureichend genutzt. Der Einsatz der Rekrutierungstoolbox ermöglicht es Unternehmen,
auf relativ einfachem Weg mehr Bewerberinnen und Bewerber und vor allem neue Bewer-
bergruppen für die Unternehmen zu gewinnen und die Personalauswahl diversitätsorien-
tiert zu gestalten.
Hinweis
Die pinowa-Rekrutierungstoolbox wird in Form eines Arbeitsordners erscheinen, der
neben thematischen Texten und einem Glossar die Instrumente selbst als entnehmbare
Kopiervorlagen bereithält. Hierdurch wird erneut die Idee aufgegriffen, dass die Anwen-
dung der Instrumente möglichst wenig Kosten im Sinne zeitlicher Vorbereitung verursa-
chen soll. Neben der Printversion wird die Toolbox auch in einer elektronischen Version
angeboten. Die darin enthaltenen Materialien können direkt am Computer ausgefüllt und
anschließend als PDF gespeichert oder gedruckt werden.8
8
Die Toolbox kann über www.pinowa.de bezogen werden.
240 U. Peters et al.
Literatur
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2006.
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11 Diversitätsförderliche Rekrutierungstoolbox für KMU 241
12.1 Ausgangslage
1
Für eine ausführliche Erläuterung des Modells siehe Kap. 3 in diesem Band.
men zur Förderung der Vereinbarkeit und der Vielfalt im Unternehmen, Personalentwick-
lungsangebote oder Instrumente des Gesundheitsmanagements. Hierdurch – so die Grund-
annahme des Projekts – lässt sich die Gesundheit und Innovationskraft der Beschäftigten
dauerhaft erhalten und fördern.
Lebensphasenorientierung ist in den im Projekt pinowa untersuchten Unternehmen
durchaus vorhanden, wird jedoch nicht als Konzept erfasst. Einzelne Elemente werden in
allen Unternehmen angewendet, darunter besonders Vereinbarkeitsthemen, Arbeitszeitre-
gelungen und Partizipation. Teilweise werden diese Maßnahmen allgemeinverbindlich für
alle Beschäftigten angeboten, häufiger jedoch entsprechend des aktuellen Bedarfs indivi-
duell mit einzelnen Beschäftigten vereinbart.
In der Empirie zeigt sich, dass die einzelnen Themen des lebensphasenorientierten Per-
sonalmanagements nicht immer stringent verfolgt werden und es dadurch zu Widersprü-
chen zwischen den konkreten Instrumenten und der gelebten Unternehmenskultur kom-
men kann. Es ist möglich, dass diese Widersprüche zu Problemen führen, zum Beispiel
wenn informelle Regelungen nur für einen Teil der Beschäftigten zugänglich sind, oder
wenn in der Außendarstellung ein Arbeitgeberversprechen gegeben wird, das sich im All-
tag nicht halten lässt. Es kann daher sinnvoll sein, Inkongruenzen aufzudecken und näher
zu betrachten.
Im Folgenden werden einige Beispiele aus den Unternehmenserhebungen im Projekt
vorgestellt, an denen sich nachvollziehen lässt, wie sich diese Widersprüche ausdrücken
können. So ist es beispielsweise möglich, dass auf dem Papier Instrumente existieren,
diese aber im Unternehmensalltag keine Anwendung finden.
Beispiel Arbeitszeit
Bei Gesprächen zum Thema Arbeitszeit wurde in einem Unternehmen seitens der Per-
sonalleitung berichtet, es gäbe ein flexibles Arbeitszeitmodell, vor allem um mit Kun-
den in Übersee kommunizieren zu können. Dies deckt sich jedoch nicht mit den Aus-
sagen, dass in der Praxis erwartet wird, alle Beschäftigten sollten morgens spätestens
um acht Uhr anwesend sein.
Der umgekehrte Fall ist auch möglich – dies findet man gerade bei den untersuchten KMU
häufig – dass Beschäftigte in individueller Absprache mit der Führungskraft starke Unter-
stützung erfahren, sich hieraus aber kein Angebot für alle Beschäftigten ableitet.
Beispiel Vereinbarkeit/Arbeitszeit
Teilzeitregelungen für Führungskräfte sind in keinem der Unternehmen vorhanden.
Jedoch gibt es auch hier individuelle, auf die Lebenssituation der Beschäftigten zu-
geschnittene Vereinbarungen. So wurde dem verwitweten Werksleiter eines Unterneh-
mens ermöglicht, für einen bestimmten Zeitraum seine Arbeitszeit zu halbieren, damit
er seine noch sehr jungen Kinder nicht ganztags fremdbetreuen lassen muss.
12 KMU-Lebensphasen-Check – ein Instrument zur Messung … 245
Beispiel Weiterbildung
Es gibt in einem der Unternehmen bis auf die gesetzlich vorgeschriebenen Zertifikate
keine Regelungen bezüglich Weiterbildung. Der Leiter der F&E-Abteilung unterstützt
seine Mitarbeiter jedoch dabei, Zugang zu Weiterbildungen zu erhalten, indem er argu-
mentativ begründete Weiterbildungswünsche der Beschäftigten weiterleitet und gegen-
über der Geschäftsführung verteidigt. Innerhalb des F&E-Teams findet zudem sehr viel
interne beziehungsweise informelle Weiterbildung statt, indem sich einzelne Mitarbei-
ter in neue Themen einarbeiten und das neue Wissen an ihre Kollegen weitergeben.
Keines der im Projekt untersuchten Unternehmen hat ein stringentes Employer Branding.
Auch vorhandene Stärken der Lebensphasenorientierung werden bisher nur sehr wenig bis
gar nicht genutzt, um die Unternehmen nach außen als attraktive Arbeitgeber darzustellen
– mit einer Ausnahme:
Beispiel Gesundheit
Eines der Unternehmen vermarktet sein stark entwickeltes und von allen Führungs-
kräften gefördertes Gesundheitsmanagement sehr proaktiv. Die Werksleitung und die
Personalabteilung präsentieren das Konzept auf diversen Veranstaltungen. Hierdurch
wird ihnen ein gewisser Expertenstatus in diesem Bereich zugesprochen, und Vertreter/
innen anderer Unternehmen informieren sich bei ihnen über die Konzepte und Maß-
nahmen.
Auch wenn viele kleine und mittlere Unternehmen kein strukturiertes Lebensphasenkon-
zept verfolgen, welches ihre Personalpolitik leitet, wäre es also falsch, anzunehmen, dass
sich nicht auch hier viele Elemente aus diesem Konzept wiederfinden – nur eben nicht
unter diesem Label. Um diese Elemente sichtbar und damit einer Bewertung und Verän-
derung zugänglich zu machen, wurde gemeinsam mit einem der am Projekt beteiligten
Unternehmen der KMU-Lebensphasen-Check entwickelt.
12.2 Der KMU-Lebensphasen-Check
77 Der KMU-Lebensphasen-Check dient der Erhebung, Reflexion und Bewertung der Per-
sonalstrategie eines Unternehmens bezogen auf die Lebensphasenorientierung. Es handelt
sich um ein Analysetool zur Identifizierung von Stärken und Schwächen der Lebenspha-
senorientierung auf den Dimensionen Instrumente & Maßnahmen, Unternehmenskultur &
Führung und Employer Branding.
Das Instrument beruht auf einem im Projekt entwickelten Modell, welches als analytisches
Schema für die Auswertungen von Beschäftigten- und Führungskräfteinterviews diente.
Dieses wissenschaftlich erprobte Analyseschema wurde so aufbereitet, dass es einfach
anzuwenden ist und keine theoretischen Vorkenntnisse des Gegenstands erfordert. Es kann
246 C. Goesmann et al.
beispielsweise gut in KMU angewendet werden, die keine großen personalen und finan-
ziellen Ressourcen zur Verfügung haben, sich Expertenwissen im Bereich lebensphasen-
orientierter Personalstrategien und Rekrutierung anzueignen. Konkret bedeutete dies, das
theoretische und empirische Wissen aus dem Projekt unter Verwendung allgemeinver-
ständlicher Begriffe in eine überschaubare Form zu bringen.
12.2.1 Konzeptionelle Grundlagen
2
Siehe dazu auch Kap. 6 in diesem Band.
3
Bezug der Toolbox über www.pinowa.de.
248 C. Goesmann et al.
Anhand dieser Beschreibung können die Unternehmen einschätzen, inwieweit sie selbst
über lebensphasenorientierte Maßnahmen & Instrumente verfügen und diese Selbstein-
schätzung in der Tabelle notieren:
Arbeitsanweisung
Verwenden Sie die Zeichen +++/++/+ (Plus) je nach Ausprägung des Themas. Geben
Sie eine 0 (Null) an, wenn das Thema nicht vorhanden ist. Geben Sie ein – (Minus)
an, wenn Sie durch das Fehlen des Themas bereits negative Folgen verbuchen mussten
(z. B. Konflikte, Kündigungen).
Während der Entwicklung hat sich die Frage gestellt, ob für die Selbsteinschätzung mit
Kennzahlen (z. B. fünftstufige Skala von 2 bis − 2) oder mit Symbolen (+++/++/+/0/−)
gearbeitet werden soll, um abzubilden, wie stark ein Thema ausgeprägt ist. Die Entschei-
dung ist auf die Verwendung von Symbolen gefallen, da Zahlen an dieser Stelle eine
Objektivität oder Vergleichbarkeit vortäuschen würden, die das Instrument nicht abbil-
den kann. Dies ist der Tatsache geschuldet, dass eine numerische Zuordnung (z. B. fünf
vorhandene Instrumente zur Förderung der Vereinbarkeit führen zu einer Bewertung von
„stark ausgeprägt“ = 2 Punkten) aufgrund der unterschiedlichen Unternehmensgrößen und
des damit zusammenhängenden unterschiedlichen Handlungsspielraums nicht sinnvoll
ist. Die schließlich gewählten Symbole werden der Subjektivität und Kontextabhängig-
keit der Selbsteinschätzung daher eher gerecht.
12 KMU-Lebensphasen-Check – ein Instrument zur Messung … 249
Nach demselben Prinzip wie bei der Dimension Maßnahmen & Instrumente werden
auch die Felder der Dimensionen Unternehmenskultur & Führung sowie Employer Bran-
ding ausgefüllt. Ist das geschehen, liegt ein konkretes Bild der IST-Situation im Unter-
nehmen bezüglich der Lebensphasenorientierung vor. Hieraus lassen sich konkrete Hand-
lungsbedarfe ableiten. Zunächst sollten jene Bereiche in Angriff genommen werden, in
denen ein – (Minus) eingetragen werden musste, da diese Punkte bereits zu negativen
Konsequenzen geführt haben. Anschließend können Bereiche ausgewählt werden, in
denen a) fehlende Übereinstimmungen zwischen den Dimensionen festgestellt wurden
oder b) ein als zu niedrig befundener Level identifiziert wurde. Was als ausreichend oder
zu niedrig definiert wird, hängt von den Zielen und dem jeweiligen Kontext ab. Es emp-
fiehlt sich, die ermittelten Bereiche als Change-Management-Projekt gemeinsam mit den
Beschäftigten anzugehen.
Zur Evaluation des Change-Prozesses ist es möglich, durch erneutes Ausfüllen des
Tools nach einer festgelegten Zeitspanne den Fortschritt zu visualisieren.
12.2.3 Anwendungsbeispiel
Um die Möglichkeiten des Tools zu veranschaulichen, werden im Folgenden drei der acht
Themen des Lebensphasen-Checks anhand von Ergebnissen aus den Unternehmensanaly-
sen in pinowa näher erläutert.
Vereinbarkeit mit Familienaufgaben (vgl. Abb. 12.3):
• Maßnahmen & Instrumente: Es gibt keine offiziellen Programme zur Stärkung der Ver-
einbarkeit, jedoch eine Reihe von Sonderregelungen, die in Ausnahmesituationen zur
Anwendung kommen. Es gibt Überlegungen, einen Werkskindergarten einzurichten,
jedoch wurde hier noch keine Entscheidung getroffen. ((+))
250 C. Goesmann et al.
Die durchaus als positiv zu bewertenden Ergebnisse auf den Dimensionen Maßnahmen
& Instrumente sowie Unternehmenskultur & Führung wurden aufgrund der Fokussierung
der Vereinbarkeitsthemen auf weibliche Beschäftigte eingeklammert: Sowohl das Thema
Teilzeit als auch die Kinderbetreuung wurden fast ausschließlich als Frauenthemen ver-
handelt.
Arbeitszeit (vgl. Abb. 12.4):
Diese Analyse kann nun als Aufhänger dienen, einen Change-Prozess im Unternehmen
anzustoßen, da sich dank der Bewertung der einzelnen Felder deutlich ablesen lässt, an
welchen Punkten Veränderungen dringend sind. Dort, wo es bereits negative Auswirkun-
gen (-) gibt, sollte zuerst interveniert werden. Im vorgestellten Beispiel könnten also die
252 C. Goesmann et al.
Informationen auf den Karriereseiten des Unternehmens überarbeitet werden, so dass sie
ein realistisches Bild der vorhandenen Karrieremöglichkeiten widerspiegeln.
Ein weiterer Aspekt, der sich aufgrund der vorgestellten Analyse zu dringender Inter-
vention anbietet, ist die unterschiedliche Betrachtung der Bedürfnisse von Männern und
Frauen, was die Themen Vereinbarkeit und Arbeitszeit betrifft. Da dies tiefsitzende Vorstel-
lungen von Geschlechterrollen betrifft, gibt es hier keine schnelle Lösung wie zuvor beim
Thema Karriere – doch der erste Schritt ist dank der Identifizierung des Problems getan.
12.3 Fazit
Mit dem KMU-Lebensphasen-Check haben kleine und mittlere Unternehmen ein Instru-
ment an der Hand, welches mit überschaubarem Aufwand einen detaillierten Blick auf das
Ausmaß und die Gestaltung der Lebensphasenorientierung ihrer Personalpolitik erlaubt.
Er offenbart Stärken, Schwächen und Widersprüche und bietet dadurch eine gute Aus-
gangsbasis für mögliche Change-Prozesse und strategische Entscheidungen. Durch die
Anwendung in einer Arbeitsgruppe wird gewährleistet, dass unterschiedliche Perspekti-
ven einbezogen werden und ein möglichst ganzheitliches Bild gezeichnet wird.
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Der Blick in die Unternehmen zeigt: Die Leitidee einer lebensphasensensiblen Perso-
nalpolitik beginnt in den Unternehmen immer mehr Raum zu greifen. So wächst das
Bewusstsein dafür, dass mit einer lebensphasensensiblen Personalpolitik nicht nur die
Arbeitszufriedenheit und die Motivation der Beschäftigten gesteigert werden kann, son-
dern auch ihre Potenziale über das ganze Erwerbsleben hinweg besser genutzt werden
können. Wir haben im Rahmen unserer Untersuchungen in der IT-Industrie festgestellt,
dass es in vielen Unternehmen bereits eine breite Palette an Angeboten gibt, um auf die
lebensphasenspezifischen Bedürfnisse der Beschäftigten einzugehen. So gibt es ein um-
fangreiches Angebot an Instrumenten, welche der besseren Vereinbarkeit von Arbeit und
Privatleben dienen:
mit auseinandersetzen, wie sie die Potenziale ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
besser fördern und nutzen können: So sah sich ein IT-Unternehmen beispielsweise mit
der Herausforderung konfrontiert, ein Fachkarrierekonzept aufzusetzen und damit mehr
Entwicklungsmöglichkeiten für fachlich interessierte Beschäftigte zu schaffen. In einem
anderen Unternehmen konzentriert sich eine Arbeitsgruppe darauf, einen „Senior-Expert-
Service“ einzurichten, der ehemalige Beschäftigte, die bereits in Rente sind, auf temporäre
Projekteinsätze vermittelt. Dabei soll das spezifische Know-how dieser verrenteten Mit-
arbeiterinnen und Mitarbeiter genutzt werden, um zeitlich befristete Personal-Engpässe in
Projekten zu überbrücken. Und in allen untersuchten Unternehmen gab es Überlegungen
dazu, wie man die Zusammenarbeit und insbesondere auch den Wissenstransfer zwischen
den Generationen verbessern kann. In den Unternehmen ist also viel in Bewegung, um
die beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten der Beschäftigten auszuweiten und davon zu
profitieren.
Diese Ausgangssituation gilt es für die lebensphasensensible Gestaltung von Ent-
wicklungs- und Karrierekonzepten zu nutzen. Zugleich besteht in diesem Punkt großer
Handlungsbedarf. Viele Beschäftigte haben mit hohen Belastungen sowie mit Schwierig-
keiten bei der Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben zu kämpfen. Wir haben im Projekt
pinowa untersucht, was die Beschäftigten brauchen, um sich in verschiedenen Lebenspha-
sen beruflich optimal entfalten zu können. Auf Basis unserer Untersuchungen haben wir
festgestellt: Es lassen sich vier zentrale Handlungsfelder identifizieren, die jeweils eigene
Ansatzpunkte und Tools umfassen:
Ausgangssituation
Die „Rush-Hour des Lebens“, also die erste Hälfte des Erwerbslebens, ist davon geprägt,
dass sowohl in der Arbeit wie auch im Privatleben die entscheidenden Weichen gestellt
werden. Für die Beschäftigten bedeutet dies, dass sie sich in dieser Phase meist nicht nur
intensiv mit der Vereinbarkeit von Arbeit und Familie auseinandersetzen müssen, sondern
sich zugleich auch mit der Erwartungshaltung konfrontiert sehen, in dieser Phase die zen-
tralen Karriereschritte zu machen. Dieser Erwartungsdruck wird dadurch befördert, dass
die Personalentwicklungsmaßnahmen einen starken Fokus auf die erste Hälfte des beruf-
lichen Lebenslaufes haben, also auf ein Lebensalter zwischen 25 und 45 Jahren. Dagegen
mangelt es an Perspektiven für Beschäftigte in der zweiten Hälfte des Erwerbslebens.
Zugleich machen die Beschäftigten die Erfahrung, dass Karriere in den Unternehmen
häufig mit einer „Ausschließlichkeit“ (Bultemeier und Boes 2013, S. 152) verbunden ist:
258 K. Gül et al.
So wird gerade für interessante Tätigkeitsfelder, die mit einem hohen Entwicklungspoten-
zial einhergehen, eine Vollzeiterwerbstätigkeit erwartet. Das bedeutet, dass Mitarbeiterin-
nen und Mitarbeiter, die ihre Arbeitszeit – zum Beispiel nach der Elternzeit – reduzieren,
häufig einen deutlichen Karriereknick erleben.
Die starke Konzentration der beruflichen Entwicklungsangebote auf die „Rush-Hour“
des Lebens sowie die hohen Verfügbarkeitserwartungen bewirken, dass motivierte Be-
schäftigte aus dem Raster der Entwicklung und Förderung herausfallen und vorzeitig aus-
gebremst werden: Entweder, weil sie in der „Rush-Hour“ aufgrund der Doppelbelastung
von Familie und Beruf nicht vollzeiterwerbstätig beziehungsweise permanent verfüg-
bar sein können – oder, weil sie sich aufgrund ihres Alters bereits jenseits des Fokus der
Personalentwicklungsmaßnahmen befinden. Eines der zentralen Handlungsfelder für die
lebensphasensensible Gestaltung von Entwicklungs- und Karrierekonzepten ist daher die
Entzerrung der Rush-Hour.
Beratung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auszubauen, um diese konkret bei der
Identifikation von Entwicklungsmöglichkeiten zu unterstützen (vgl. dazu auch Bulte-
meier 2013).
Ausgangssituation
Die klassische Führungskarriere ist für viele Beschäftigte heute keine attraktive Entwick-
lungsoption: Zum einen werden die Führungspositionen knapper, weil in Folge der Abfla-
chung der Hierarchien in den Unternehmen entsprechende Stellen abgebaut werden. Zum
zweiten sind die Belastungen, die mit Führungspositionen verbunden sind, ausgesprochen
hoch und verschärfen die Vereinbarkeitsproblematik. Und zum dritten gibt es auch viele
Beschäftigte, die den Bezug zu fachlichen Themen nicht verlieren wollen. Die Beschäf-
tigten wünschen sich daher auch jenseits der Führungskarriere interessante Entwicklungs-
optionen und spannende Tätigkeiten.
Unsere Untersuchungsergebnisse haben gezeigt, dass über alle Altersgruppen hinweg
ein großer Bedarf an beruflichen Perspektiven besteht, …
• … die es ermöglichen, die eigenen Potenziale zu entfalten und unter Beweis zu stellen,
• … die mit einer entsprechenden Anerkennung der erbrachten Leistung verknüpft sind
und
• … die in Phasen beruflicher Veränderung Planungssicherheit geben.
Dabei geht es den Beschäftigten um eine sinnhafte berufliche Entfaltung in allen Phasen
ihres Erwerbslebens auch jenseits der klassischen Führungskarriere.
Ansatzpunkte: Perspektiven und Sinn über ein ganzes Erwerbsleben hinweg schaf-
fen
Die folgenden Ansatzpunkte zielen darauf ab, den Beschäftigten Sinnperspektiven und
Entwicklungswege über ein ganzes Erwerbsleben hinweg aufzuzeigen.
Beispiel aus der Praxis: Etablierung einer Fachkarriere, die im Unternehmen „gelebt wird“
Eine Fachkarriere kann für fachlich interessierte und aufstiegsorientierte Beschäftigte
eine wichtige Alternative zur klassischen Führungskarriere sein. In einem unserer Part-
nerunternehmen wurde dies bereits vor Längerem erkannt und eine Fachkarriere ein-
geführt. Problematisch ist allerdings, dass die Fachkarriere in dem Unternehmen bisher
nicht das gleiche Ansehen genießt, wie die Führungskarriere. Wenn eine Führungskraft
in eine Expert/innen-Rolle wechselt, wird das als ein Abstieg auf der Karriereleiter
gewertet. In der Folge wird im Unternehmen nach Wegen gesucht, die Fachkarriere
attraktiver zu gestalten.
Die Verbesserung des Ansehens der Fachkarriere sowie eine Angleichung der Fach-
karriere an die Führungskarriere haben sowohl für das Unternehmen wie auch für die
Beschäftigten Vorteile. Die Beschäftigten können von einer höheren Durchlässigkeit
der angebotenen Karrierepfade im Unternehmen profitieren und den Karrierepfad nicht
nur an ihre persönlichen Interessen und Neigungen anpassen, sondern auch an ihre
lebensphasenspezifischen Bedürfnisse. Beschäftigte in der Familienphase könnten bei-
spielsweise zeitweise von einer Managementrolle in eine Expert/innen-Rolle wechseln
und damit in einer Umgebung mit moderateren Verfügbarkeitserwartungen arbeiten,
ohne dabei einen Karriereabstieg befürchten zu müssen. Auch das Unternehmen sieht
für sich Vorteile in einer attraktiven Fachkarriere: Wenn die Fachkarriere als ein gleich-
wertiger Karrierepfad zur Führungskarriere wahrgenommen wird, dann haben auf-
stiegsorientierte Beschäftigte die Möglichkeit, ihren Karriereweg entsprechend ihren
tatsächlichen Fähigkeiten zu wählen. In der Folge steigen die Chancen, dass diejenigen
Beschäftigten in die entscheidenden Positionen gelangen, welche am besten für diese
Stellen geeignet sind.
Dabei hat das Unternehmen bei der Konzeption der Fachkarriere eine wichtige
Lernerfahrung gemacht: Es reicht nicht, eine Fachkarriere zu definieren und in Jobpro-
filen zu hinterlegen. Damit ein neuer Karrierepfad von den Beschäftigten angenommen
wird, bedarf es eines ganzheitlichen Ansatzes, der sicherstellt, dass der neue Karriere-
weg auch gelebt wird. Das bedeutet konkret:
262 K. Gül et al.
Ausgangssituation
In den Unternehmen zeigt sich: Die Expertise und das Know-how erfahrener Mitarbei-
terinnen und Mitarbeiter werden häufig zu wenig genutzt. Dabei besteht für die Unter-
nehmen das Risiko, dass mit Renteneintritt der Beschäftigten wichtige Erfahrungen und
Kenntnisse verloren gehen. Die Beschäftigten erleben dies oftmals als mangelnde An-
erkennung und Wertschätzung und fragen sich: „Was ist meine Erfahrung noch wert?“
Darüber hinaus setzen sich die erfahrenen Beschäftigten mit der Frage auseinander, in
welche Richtung sie sich in den verbleibenden zwei Jahrzehnten ihres Berufslebens noch
entwickeln können. Sie wollen ihre Zeit nicht einfach nur „absitzen“, sondern Verantwor-
tung übernehmen und sich in das Unternehmen einbringen.
Darüber hinaus haben unsere Untersuchungsergebnisse gezeigt, dass in den Unterneh-
men ein wertschätzender Umgang mit dem Altern fehlt. So ist es innerhalb der Unterneh-
men weit verbreitet, auf eine einseitige Art Vergleiche zu den jüngeren Beschäftigten zu
ziehen, wobei die Stärken und Potenziale der erfahrenen Beschäftigten wenig Beachtung
finden. In der Folge äußern viele erfahrene Beschäftigte Ängste, dass sie befürchten, mit
dem technologischen Wandel nicht Schritt halten zu können und im Unternehmen „abge-
hängt“ zu werden.
Vor allem für die älteren unter den erfahrenen Beschäftigten ist ein weiterer wichtiger
Punkt die Gestaltung des Übergangs vom Erwerbsleben in die Rente. Für die Beschäftig-
ten ist der Übergang vom Erwerbsleben in die Rente oftmals nur schwer planbar, da die
Gestaltung des Übergangs in die Rente in den Unternehmen bisher sehr individuell und
fallbezogen erfolgte. So ist sich der/die einzelne Beschäftigte lange im Unklaren darüber,
wie sich sein/ihr Austritt aus dem Berufsleben gestalten wird.
Beispiel aus der Praxis: Seminar „Wenn das Wochenende sieben Tage hat“
Der Übergang vom Erwerbsleben in die Rente ist für die Beschäftigten ein wichtiger
Schritt in eine neue Lebensphase, der oftmals nicht ohne Krisen verläuft. Umso wich-
tiger ist es für die Beschäftigten, sich auf diesen Übergang in einen neuen Lebensab-
schnitt vorzubereiten und einzustellen.
Diesem Bedürfnis der ausscheidenden Beschäftigten kommt eines unserer Partner-
unternehmen nach. Es handelt sich um einen großen Softwarehersteller, der in den ver-
gangenen Jahren in die Situation geriet, dass immer mehr Beschäftigte auf einmal sich
mit der Frage konfrontiert sahen, wie sie den Übergang in die Rente gestalten können.
Darauf reagierte das Unternehmen und bietet seinen Beschäftigten nun zwei bis drei
Jahre vor Renteneintritt ein Seminar unter dem Titel „Wenn das Wochenende sieben
Tage hat“ an. Das Seminar verfolgt zwei wichtige Ziele:
1. Vermittlung von Informationen über wichtige Vorgänge, die in den letzten Jahren
des Erwerbslebens zu erledigen und zu organisieren sind
2. Raum für Reflexion und Austausch: Es wird die Möglichkeit geboten, über die per-
sönlichen Perspektiven im Anschluss an das Erwerbsleben nachzudenken sowie ge-
meinsam mit anderen Beschäftigten über das Erleben dieser Phase zu reflektieren.
Das Seminar ist in dem Unternehmen ein großer Erfolg und wird von den Mitarbeite-
rinnen und Mitarbeitern gerne genutzt.
13 Lebensphasensensible Entwicklungs- und Karrierekonzepte 265
Ausgangssituation
Unsere Untersuchungsergebnisse haben deutlich gemacht, dass hohe Belastungen auf ver-
schiedene Weise eine gelingende berufliche Entwicklung verhindern können. Der Druck,
sich bewähren zu müssen, treibt viele Beschäftigte zu einem ausufernden Arbeitszeit- und
Leistungsverhalten an. Es wird für sie immer schwerer, Grenzen zu ziehen, und ihre Work-
Life-Balance gerät dabei unter Druck. In der Folge laufen vor allem hoch motivierte Leis-
tungsträger/innen Gefahr, gesundheitliche Beeinträchtigungen – bis hin zu einem Burn-
out – zu erleiden. Vor diesem Hintergrund reflektieren viele Beschäftigte ihre Karriere-
erwartungen und -wünsche sehr kritisch in Zusammenhang mit ihrer Belastungssituation:
Einige berichteten uns von einem bewussten Karriereverzicht oder tragen sich mit dem
Gedanken, das Unternehmen zu wechseln.
Dies zeigt: Eine lebensphasensensible Gestaltung der Entwicklungs- und Karrierekon-
zepte setzt voraus, dass das Thema berufliche Entwicklung und Karriere breiter gedacht
wird. Die Basis einer gelingenden beruflichen Entwicklung ist daher, dass die Arbeits-
bedingungen nachhaltig sind und dass die Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben ge-
währleistet wird. Damit sind lebensphasensensible Entwicklungs- und Karrierekonzepte
untrennbar mit einer nachhaltigen Gestaltung der Arbeitsbedingungen verbunden.
• Belastungssituation transparent machen: Ein wichtiger Ansatz ist es, die Belas-
tungssituation im Unternehmen durch geeignete Monitoring-Instrumente transparent
zu machen. Die in den Unternehmen vorhandenen Daten bilden die Situation häufig
nur unzureichend ab. Nötig sind Instrumente, die es den Beschäftigten ermöglichen,
ihre Belastungssituation zu artikulieren.
• Prozesse verbessern: Unsere Untersuchungen zeigen, dass in vielen Unternehmen in-
effiziente Prozesse einen maßgeblichen Belastungsfaktor darstellen. Hier gilt es, eine
Kultur zu etablieren, die auf eine kontinuierliche Verbesserung betrieblicher Abläufe
setzt und in der Beschäftigte Verbesserungsvorschläge artikulieren können.
• Führungskräfte als Risikogruppe ernst nehmen: Führungskräfte sind nicht nur
selbst in hohem Maße von psychischen Belastungen bis hin zu Burnout betroffen, son-
dern sie haben ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gegenüber auch eine wichtige
Gatekeeper-Funktion. Zum einen tragen sie eine große Verantwortung, diese vor Über-
266 K. Gül et al.
lastung zu schützen, zum anderen nehmen sie auch eine wichtige Vorbildfunktion in ih-
rem Arbeitszeitverhalten ein. Aus der Perspektive nachhaltiger Gesundheitsförderung
bedeutet dies, Führungskräfte sowohl als „Verursachende“ hoher Belastung als auch
als Betroffene im Sinne einer eigenen Zielgruppe zu adressieren und für ihre Rolle als
„Gatekeeper“ von Belastung zu sensibilisieren. Damit die Stärkung und Betonung die-
ser Rolle jedoch nicht zu einer weiteren Belastung für die Führungskräfte wird, muss
damit auch ein Empowerment verbunden sein: Nur wenn die Handlungs- und Gestal-
tungsfähigkeit für Führungskräfte gegeben ist, können sie als „Gatekeeper“ ihr Team
oder ihre Abteilung vor Stress und Überlastung schützen.
• Empowerment der Beschäftigten: Von grundlegender Bedeutung ist es darüber hin-
aus, die Beschäftigten zum Schutz ihrer eigenen Gesundheit zu befähigen. Es geht dar-
um, sie darin zu unterstützen, ihre Work-Life-Balance zu wahren und Stress abzufedern.
Literatur
Bultemeier, A. (2013). Öffentlichkeit, systemische Entscheidungen („Kalibrierung“) und individu-
elle Positionierung als zentrale Bausteine eines neues Karrieremechanismus. Unveröffentlichtes
Manuskript. Freising.
Bultemeier, A., & Boes, A. (2013). Neue Spielregeln in modernen Unternehmen – Chancen und Ri-
siken für Frauen. In A. Boes, A. Bultemeier, & R. Trinczek (Hrsg.), Karrierechancen von Frauen
erfolgreich gestalten (S. 95–165). Wiesbaden: Springer Gabler.
Katrin Gül ist Soziologin und arbeitet seit 2008 als wissenschaftli-
che Mitarbeiterin am Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung
– ISF München. Sie studierte an der Ludwig-Maximilians-Universi-
tät in München Soziologie mit dem Schwerpunkt Arbeits- und Indus-
triesoziologie. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Belastung und
Gesundheit in der Wissensarbeit, betriebliche Strategien im Umgang
mit dem demografischen Wandel und Informatisierung von Arbeit.
In den letzten sechs Jahren befasste sie sich in verschiedenen anwen-
dungsorientierten Forschungsprojekten mit der Gestaltung nachhalti-
ger Arbeitsbedingungen in der Wissensarbeit.
Zwischen den gesundheits- und den innovationsförderlichen Faktoren in der Arbeit gibt es
große Überschneidungen. So ist zum Beispiel als gesichert anzusehen, dass psychisches
Wohlbefinden ein Prädiktor für Kreativität ist (Herbig et al. 2008, S. 31): Wohlbefinden
und Entspannung sind zentrale Voraussetzungen, um neue Ideen oder Problemlösungen
entwickeln zu können. Die für Kreativität notwendige Offenheit gegenüber unterschiedli-
chen Erfahrungsebenen sowie klare Wahrnehmungen und Gefühle sind unter Stress kaum
gegeben.1 Es ist davon auszugehen, dass neben einer geeigneten Arbeitsstrukturierung
gerade die gezielte Förderung von Entspannung und Regeneration während und außerhalb
der Arbeit für die Kreativität und damit für die Innovationsleistung förderlich ist. An-
gesichts zunehmend verdichteter Arbeitsvolumina in vielen Entwicklungsbereichen, die
mit ständigem Zeitdruck und häufigen Arbeitsunterbrechungen einher gehen (Gerlmaier
2011a, S. 71 ff.), und einer gleichzeitig zunehmenden zeitlichen und räumlichen „Entgren-
1
vgl. zu den Voraussetzungen von Kreativität und Intuition allgemein zum Beispiel Spath et al.
2004, S. 7 ff.
zung“ der Arbeit durch den Einsatz von IT-basierten Kommunikationstechniken gewinnen
ein effektives Erholungsmanagement und eine bewusstere Gestaltung des Wechsels von
Arbeits- und Regenerationsphasen massiv an Bedeutung.
Erholung und Regeneration lassen sich in vielen Entwicklungsbereichen allerdings im-
mer weniger durch einheitliche Vorgaben oder Regelungsmuster für alle Beschäftigten
erreichen, denn auch dort werden die Belegschaften bedingt durch den demografischen
Wandel und die Internationalisierung der Entwicklungsarbeiten zunehmend bunter: Das
bisher eher von jungen männlichen Nachwuchskräften dominierte Tätigkeitsfeld Entwick-
lung wird sich in den nächsten Jahren stärker gegenüber Frauen, Älteren und Migranten
öffnen müssen, da vergleichsweise weniger junge männliche Fachkräfte aus den Hoch-
schulen einem steigenden Bedarf gegenüberstehen werden. Dies führt nicht nur zu verän-
derten Anforderungen an die Personalführung dieser Bereiche (vgl. dazu Kap. 5 in diesem
Band), sondern auch zu einer zunehmenden Ausdifferenzierung von Belastungsmustern
und Unterstützungsbedarf in Zusammenhang mit Erholung: Mit dem absehbaren Zuwachs
an Frauen, Migranten und Älteren kommen Personen mit anderen individuellen Voraus-
setzungen in diesen Bereichen zum Einsatz und erleben dort unterschiedliche Belastungs-
muster in den verschiedenen Phasen und Episoden ihres Arbeitslebens.
Aufbauend auf aktuellen Untersuchungsergebnissen und Experteneinschätzungen
wurden im Projekt pinowa „anspruchsvolle“ Lebensphasen und Episoden identifiziert
(vgl. Kap. 3 in diesem Band): Personen, die solche Phasen oder Episoden durchleben,
sind damit mögliche Zielgruppen für differenziert ansetzende Präventionsmaßnahmen.
Anhand der Beispiele in Kap. 3 wird deutlich, dass in diesen Episoden unterschiedli-
che Kombinationen von Bedingungen und Belastungen vorliegen und sich überlagern.
Die Befunde verweisen darauf, dass differenzierte Anforderungen an Unterstützung und
Erholungsmöglichkeiten auch ein breiteres Spektrum an Maßnahmen erfordern, die auf
die spezifischen Bedarfe des Einzelfalles und den individuellen Präferenzen abgestimmt
werden sollten.
Gegenüber solchen differenzierten Unterstützungsbedarfen sind bisherige Präventions-
ansätze weitgehend blind, insofern sie häufig von universell wirksamen Unterstützungs-
möglichkeiten und Ressourcen ausgehen. Im Gegensatz dazu soll der „Cafeteria“-Ansatz
eine Antwort auf differenzierte Bedarfe geben (vgl. Gerlmaier und Latniak 2011): Grund-
idee dieses Ansatzes ist es, ein breites Spektrum an verhaltens- und verhältnispräventiven
Maßnahmen zur individuellen Nutzung vorzuschlagen, aus dem sich die Teilnehmenden
nach ihren Präferenzen und Möglichkeiten geeignete Aktivitäten wählen und erproben
können, um ihre Arbeits- und Erholungssituation zu verbessern.
Ein Ziel der Angebotsvielfalt des „Cafeteria“-Ansatzes ist es, eine höhere Achtsamkeit
bei den Beschäftigten für ihre individuellen körperlichen und psychischen Reaktionen in
belastenden Situationen zu erreichen. Daneben sollen ihre Handlungsorientierung gestärkt
und ihr Handlungsrepertoire durch Information und praktische Erprobung erweitert sowie
konkrete Veränderungen initiiert werden, die ihre Belastungs- und Erholungssituation ver-
bessern. Die Teilnehmenden werden ermutigt, auf Grundlage ihrer mit einem Screening-
Instrument identifizierten Bedarfe („Belastungs-/Ressourcen-Check“, vgl. dazu Gerlmai-
er 2011a, S. 65 f.) individuelle Lösungen zur Belastungsreduktion oder zum Ressourcen-
aufbau zu entwickeln, die sie im Anschluss praktisch erproben sollten. Wenn sich positive
Wirkungen einstellen, sollten die Lösungen stabilisiert und weitergeführt werden. In den
Trainings wurden dafür verschiedene Methoden wie Gruppen- und Einzelarbeit, sowie
unterschiedliche Inputs kombiniert. Dies wurde in ein modulares Workshop-Konzept in-
tegriert, das auf Module zu vier ausgewählten Themenschwerpunkten basiert:
Die Workshops wurden während der Arbeitszeit durchgeführt, jeweils möglichst in zu-
sammenarbeitenden Teams. In der Mehrzahl der Teams nahmen die Teamleiter an den
Workshops nicht teil. Für die beiden ersten Module wurde jeweils etwa ein halber Arbeits-
tag angesetzt, die Module 3 und 4 waren kürzer. Während die beiden ersten Module am
gleichen Tag stattfinden konnten, sollten die Folgemodule jeweils mit zeitlichem Abstand
von (idealerweise) zwei bis drei Wochen durchgeführt werden.
Im Rahmen des Cafeteria-Ansatzes fanden unter anderem drei Instrumente zum The-
ma Erholungsmanagement Verwendung. Diese konzentrierten sich auf die Erhöhung der
Selbstachtsamkeit, die Erholung während der Arbeit und die Regeneration außerhalb der
Arbeitszeit. Bei den Instrumenten handelte es sich um die so genannte „Stress-Ampel“,
das Modul zum Pausenmanagement und die Checkliste zu „positiven Erlebnissen“ aus
dem Modul zur Regeneration in der Freizeit. Diese werden im Folgenden ausführlich
dargestellt.
272 E. Latniak et al.
Damit die Beschäftigten zielgerichtet handeln und Ansatzpunkte finden können, um Akti-
vitäten zur Verbesserung der Belastungs- beziehungsweise Erholungssituation zu starten,
müssen sie eine bewusste Vorstellung davon haben, wie es ihnen jeweils akut geht. Im
betrieblichen Alltag werden verhaltens- oder gesundheitsbezogene Anhaltspunkte, die auf
Stress und eine änderungsbedürftige Arbeitssituation hindeuten, von den Beschäftigten
häufig ignoriert oder falsch interpretiert. Aber gerade eine frühzeitige Intervention kann
verhindern, dass chronischer Stress entsteht.
An diesem Punkt setzt die so genannte „Stress-Ampel“ (Gerlmaier 2008) an. Abgeleitet
aus den dokumentierten und belegten Hinweisen zu psychischen und körperlich-somati-
schen Stressanzeichen und -folgen (vgl. dazu u. a. Kaluza 2011, S. 11 ff.; Nerdinger et al.
2014, S. 517 ff.; Burisch 2014, S. 75 ff.) wurde die „Stress-Ampel“ als ein Instrument ent-
wickelt, das zur verbesserten Selbsteinschätzung beitragen soll. Ziel der Stress-Ampel ist
es, die Nutzenden für individuelle stressbedingte Reaktionen zu sensibilisieren und ihnen
eine Reflexionsmöglichkeit und Orientierung zu geben, um sich über ihren psychischen
und somatischen Befindenszustand bewusster zu werden. Ausgehend davon können dann
frühzeitig geeignete Verbesserungen im Arbeitsumfeld angestoßen und Regenerations-
maßnahmen genutzt werden.
Bei der „Stress-Ampel“ handelt es sich um ein Schema (vgl. Tab. 14.1), mit dem be-
obachtbare physische oder psychische Reaktionen auf akuten oder chronischen Stress zu
„Stufen“ zugeordnet werden. Diese reichen von einem Zustand psychophysiologischen
Gleichgewichts („Stufe 0“) bis hin zur Endstufe eines „Burnouts“ („Stufe 5“). Ihren Na-
men bekam sie durch die (hier nicht wiedergegebene) Farbcodierung der Stufen von 0
(„grün“) bis 5 („schwarz“). Die Stufen dienen dabei lediglich der einfacheren Orientie-
rung des/r Nutzenden: Sie sind nicht strikt voneinander abgegrenzt, sondern eher als Kon-
tinuum zu begreifen.
Vorbereitend für Einführung und Nutzung der „Stress-Ampel“ in den Trainings ist ein
Input zum Stressbegriff und zur physiologischen Stressreaktion. Dieser verbessert den
Kenntnisstand der Teilnehmenden über physiologische Grundlagen und psychische und
somatische Auswirkungen von Stress. Bei der anschließenden Einführung der Stress-
Ampel werden zwei Informationen gegeben, die zur Einschätzung und Bewertung des
jeweiligen individuellen Zustands bei der Nutzung des Instruments notwendig sind und
berücksichtigt werden müssen:
1. Für die Selbsteinschätzung sind die Schwere und Auftretenshäufigkeit des jeweiligen
Symptoms immer gleichermaßen zu berücksichtigen: So sind zum Beispiel einma-
lige Einschlafprobleme kein Alarmzeichen. Wenn aber wiederkehrend die „Gedanken
vor dem Einschlafen kreisen“ und damit die Erholungsfähigkeit beeinträchtig wird,
dann ist dies ein Indikator für eine beginnende Erholungsunfähigkeit. Auch einma-
lige Durchschlafprobleme sind noch kein Hinweis auf chronischen Stress. Häufige
Durchschlafprobleme, verbunden zum Beispiel mit Aufwachen und gedanklicher
14 Arbeitslebensphasensensibles Erholungsmanagement 273
In den meisten Teams, mit denen wir gearbeitet haben, zeigte es sich, dass Erfahrungen
mit fast allen Stufen (i. d. R. außer der terminalen Burnout-Stufe) vorhanden waren und
die betroffenen Personen präzise Schilderungen ihrer Erfahrungen beitragen konnten.
Stress ist eine Alltagserfahrung in den Entwicklungsteams, mit der alltäglich umgegangen
werden muss und kann.
Pausen sind ein wichtiger Ansatzpunkt für Prävention in den Unternehmen. Die bisherige
Erholungspraxis ist allerdings vielerorts davon gekennzeichnet, dass elementare Kennt-
nisse, etwa über die Wirkung von Kurzpausen bei geistiger Arbeit, nicht vorhanden sind.
Die Unterschiede zwischen Erholung von körperlicher Aktivität (muskuläre Entspannung)
und dem eher präventiven Einsatz von Pausen bei geistiger Arbeit, die Ermüdung vorbeu-
gen und vermeiden sollen, sind kaum verbreitet. Zum anderen war aus vorangegangenen
Untersuchungen bekannt, dass Beschäftigte in IT- und Entwicklungsbereichen die Pausen
in Phasen der Arbeitsverdichtung häufig als Puffer betrachten und unter Zeitdruck einfach
ausfallen lassen (Gerlmaier 2011a). An diesem Punkt setzte das Modul zur Pausengestal-
tung an: Aufbauend auf einer Reflexion des bisherigen Pausenverhaltens und einem Input,
wie Pausen bei geistiger Arbeit sinnvollerweise genutzt werden, sollten konkrete Verän-
derungen im Pausenverhalten angestoßen werden.
Zunächst erfolgte ein Informations-Input zur Pausengestaltung, der auf Forschungs-
ergebnissen zu Pausen bei geistiger Arbeit (vgl. dazu u. a. Boucsein und Thum 1997;
Dababneh et al. 2001; Henning et al 1997; Kopardekar und Mital 1994; Tucker 2003)
sowie zu den psychophysiologischen Grundlagen von Leistungs- und Erholungszyklen
(vgl. dazu u. a. Braun et al. 2003; Spath et al. 2004, insb. S. 115 ff.; Semmer et al. 2010)
aufbaute. Hier wurde unter anderem vermittelt, dass ein Weiterarbeiten unter zunehmen-
der Müdigkeit und Erschöpfung immer mehr Energieaufwand erfordert: Mit steigendem
Energieaufwand wird gegen zunehmende Ermüdung „angearbeitet“ und so die Erschöp-
fung beschleunigt. Gerade bei Zeitdruck sollten deshalb mehrere kleine Kurzpausen ein-
gelegt werden, um Ermüdung und Leistungsabfall vorzubeugen (vgl. Claus und Willa-
mowski 2002; Hüttges et al. 2005). Solche Pausen sind hilfreich, um über den ganzen Tag
hinweg leistungsfähig zu bleiben.
Aufbauend darauf entwickelte sich in den Workshops meistens eine rege Debatte über
die Pausenpraxis – was auch intendiert war. Anschließend wurden allgemeine Empfehlun-
gen zu Pausengestaltung gegeben, etwa zur über den Tag verteilten Nutzung von Kurzpau-
sen, die zudem möglichst mit Muskelaktivität verbunden sein sollten (vgl. Sundelin und
Hagberg 1989). Ergänzt wurde dies durch Hinweise zum Beispiel zur physiologischen
Leistungsfähigkeit über den Tagesverlauf (vgl. u. a. Seiwert 1999, S. 62): So konnte ver-
mittelt werden, dass es über den Tag individuelle Muster von Leistungshochs und -tiefs
gibt, die für eine entsprechende Arbeitseinteilung und Planung genutzt werden können:
14 Arbeitslebensphasensensibles Erholungsmanagement 275
Wenn die Teilnehmenden wissen, wann sie selbst ihre Leistungshochs haben, können sie
bewusster konzentrationsintensive Tätigkeiten in diese Phasen legen und gleichzeitig ver-
suchen, diese Phasen störungsfreier zu gestalten.
Bemerkenswert sind vor allem drei wiederkehrende Diskussionspunkte aus den Work-
shops. Dies betrifft zunächst die Unsicherheit darüber, worin sich eine bloße Arbeitsun-
terbrechung von einer Pause unterscheidet. Der Unterschied ist die Erholung: Eine Pause
ist eine bewusste Arbeitsunterbrechung zur Erholung. (vgl. z. B. Quaas 1997, S. 351 f.)
Genau genommen sind damit Unterbrechungen in Teammeetings, in denen Mails abgeru-
fen und gelesen werden, oder in denen weiter über die Inhalte des Meetings gesprochen
wird, keine Pausen – sie dienen nicht wirklich der Erholung. Entsprechend empfiehlt es
sich, zur Erholung den Arbeitsraum zu verlassen und etwas Nicht-Arbeitsbezogenes zu
tun, sich zum Beispiel zu bewegen oder wenigstens zu dehnen.
Zweiter Punkt ist das verbreitete Missverständnis von Pause als Puffer, den man unter
Last quasi „einsparen“ könne, um mehr Leistung zu erbringen. Hier erwies es sich als
sinnvoll, mit einer plakativen Formel wie „Wer gut arbeitet, muss sich auch gut erholen!“
auf den Zusammenhang von Verausgabung und Regeneration (vgl. Semmer et al. 2010) zu
verweisen, um so für eine konsequentere und präventive Nutzung von Pausen zu werben.
Dabei zeigte es sich wiederholt, dass die Art, wie im Team oder in der Organisation mit
Pausen umgegangen wird („Pausenkultur“), einen großen Einfluss auf die individuelle
Pausengestaltung und -nutzung hat. Dies beginnt mit der Pausenplanung bei längeren Sit-
zungen und endet mit der Frage nach dem Interesse an gemeinsamen Pausen. Hier können
bestimmte Pausenregeln im Team getestet werden, denn kollegiale Pausenroutinen unter-
stützen eine regelmäßige Durchführung von Pausen.
Ein dritter Punkt ist das allgemeine Erstaunen über unterschiedliche Erholungsmuster
bei körperlicher und geistiger Arbeit: Während der Körper nach eine Muskelermüdung
durchaus in der Lage ist, sich vergleichsweise zügig wieder zu regenerieren, erwies sich
die empfohlene präventive Pausennutzung als Punkt, der von den Beteiligten eher mit
Skepsis betrachtet wird. Der Vorschlag, so ein Kurzpausensystem selbst zu erproben, half
hier weiter – wenn die Teilnehmenden selbst erfahren, dass sie mit Kurzpausen besser
über den Tag kommen und abends für private Aktivitäten noch Energie haben, wird eine
solche Praxis eher übernommen und beibehalten.
Häufig wurde in den Workshops berichtet, dass Beschäftigte in IT- oder Entwicklungs-
bereichen insbesondere in „Hochlast“-Phasen (wie z. B. kurz vor Projektende mit großem
Termindruck) ihre Freizeitaktivitäten gänzlich einstellen oder nach langen Arbeitstagen
nicht mehr in der Lage sind, zu Hause noch Erholungsaktivitäten zu starten beziehungs-
weise mehr als ein „Minimalprogramm“ aufrecht zu erhalten. Zum Teil werden dabei
selbst vereinbarte private Termine oder regelmäßige Freizeitaktivitäten (Sport, Musik,
276 E. Latniak et al.
Treffen mit Freunden) abgesagt und gänzlich eingestellt. Ähnlich wie bei den Pausen wer-
den die Freizeitaktivitäten und die damit verbundene Regeneration quasi aufgeschoben
und bis nach Ende der Lastphase suspendiert. Dieses Verhaltensmuster hat zumindest zwei
kritische Konsequenzen: Zum einen ist in der Regel nicht absehbar, dass anschließend
an solche Lastphasen tatsächlich auch eine ausreichende Regeneration möglich ist: Häu-
fig wurde berichtet, dass es nicht mehr „ruhigere“ Einstiegs- oder Ausgleitphasen in den
Projekten gibt. Regeneration nach Projektende ist oft nur noch dann möglich, wenn eine
Urlaubsreise zu diesem Zeitpunkt fest gebucht ist. Zum anderen wird in Hochlast-Phasen,
in denen die Leistungsfähigkeit optimal sein sollte, auf die notwendige Erholung, Rege-
neration und (psychische) Distanzierung von der Arbeit verzichtet. Zudem leiden darunter
die familiären und sozialen Bindungen.
Um an solchen Punkten für Regeneration zu sorgen, ist es zum einen notwendig, die
Bedeutung privater und auf Erholung gerichteter Aktivitäten zu betonen und zu erhöhen.
Dies wurde im entsprechenden Trainingsmodul („Belastungsausgleich durch Zufrieden-
heits- und Erholungserlebnisse“) gefördert. So wurde unter anderem empfohlen, den pri-
vaten Terminen grundsätzlich den gleichen Stellenwert zukommen zu lassen wie den be-
ruflichen. Um dies zu unterstützen und andererseits den Teilnehmenden eine Reflexions-
möglichkeit und Hilfestellung beim Finden und Umsetzen solcher Aktivitäten zu geben,
haben wir die „Checkliste Positive Erlebnisse“ genutzt (Hofmann 2001, S. 112–123; vgl.
dazu ähnlich Kaluza 2011, insb. S. 150 ff. „Ich nehme mir was Schönes vor“). Diese Liste
nennt eine Vielzahl möglicher Freizeitaktivitäten, die als attraktive und erholende Betä-
tigungen der Teilnehmenden in Frage kommen, so etwa sportliche und kulturelle Aktivi-
täten, Aktivitäten mit anderen Menschen oder individuelle Tätigkeiten, die man allein zu
Hause tun kann. Mit Hilfe dieser Liste wurde individuell nach Aktivitäten gesucht, die von
den Teilnehmenden zwar gern, aber eher selten gemacht werden. Finden sich dafür Bei-
spiele, so werden diese zum Anlass genommen, diese Aktivitäten unmittelbar zu planen
oder vorzubereiten (z. B. wurden in einigen Teams ein gemeinsamer Spieleabend oder ein
gemeinsamer Besuch im Fußballstadion am Wochenende angestoßen). Wichtig ist dabei,
besonders bei Teilnehmenden, die schon Beanspruchungssymptome zeigen, auf eine mög-
lichst baldige Umsetzung hinzuwirken.
• In welchem Ausmaß werden die drei Instrumente zum Erholungsmanagement ein hal-
bes Jahr nach Abschluss der Präventionsworkshops genutzt?
• Gibt es Unterschiede in der Nutzung der Erholungsmanagement-Instrumente in Abhän-
gigkeit von Arbeits- und Lebensepisoden?
• In welchen „anspruchsvollen“ Arbeits- und Lebensepisoden erweisen sich die Instru-
mente als wirkungsvoll, in welchen stoßen sie gegebenenfalls an ihre Grenzen?
Die Ergebnisse zur Awareness zeigen zunächst, dass nach den Workshops 58 %2 der Be-
fragten bei sich selbst Stress-Symptome besser erkennen. Beim Erkennen von Stress-
Symptomen bei Kollegenliegen die Verbesserungswerte bei 42 % der Befragten. Für das
Wissen über Methoden der Stressminderung geben 70 % der Befragten an, jetzt besser
informiert zu sein. Offenbar hat sich damit die Sensibilisierung der Teilnehmenden für
Stresssymptome insgesamt verbessert.
Hinsichtlich des individuellen Pausenverhaltens – operationalisiert über Fragen nach
der Nutzung kleiner Pausen über den Tag, nach gemeinsamen Pausen mit Kollegen und
nach der Berücksichtigung der biologischen Leistungskurve – gaben zwischen 24 und
34 % der Beschäftigten an, Verbesserungen erreicht zu haben. Die vorgeschlagenen Pau-
senlösungen trafen also in den Teams auf Resonanz und wurden etwa von einem Viertel
bis einem Drittel der Befragten für Verbesserungen genutzt.
Was die Maßnahmen zum Erholungsmanagement im Freizeitbereich angeht, so zeigt
sich, dass 20 % der Befragten angaben, ihre Ausdauersport-Aktivitäten verbessert zu ha-
ben. Ein aktiveres Freizeit- und Erholungsverhalten in Lastsituationen wird von 32 %
der Befragten berichtet. Insgesamt zeigen diese ersten Ergebnisse, dass es mit den Maß-
nahmen gelungen ist, eine bewusstere Wahrnehmung von Stresssymptomen sowie ein
aktiveres Bewältigungsverhalten bei den Teilnehmenden zu fördern und Aktivitäten zur
Verbesserung ihrer Arbeitssituation anzustoßen. Die Abb. 14.1 zeigt die Ergebnisse im
Überblick.
in einem weiteren Schritt wurde der Frage nachgegangen, ob die beschriebenen Instru-
mente zum Erholungsmanagement lebensphasensensibel sind. Im Rahmen der Untersu-
chung wurden dabei verschiedene Arbeits- und Lebensepisoden untersucht, von denen
in vorangegangenen Untersuchungen bekannt ist, dass sie im Hinblick auf psychische
Beanspruchungen oder unzureichenden Einsatz vorhandener Kompetenzen ein Risiko-
potenzial aufweisen. Die Episoden und die dahinter liegenden konzeptionellen Überle-
gungen werden im Kap. 3 dieses Bandes von Anja Gerlmaier ausführlich beschrieben. Im
Folgenden wurde ein besonderes Augenmerk auf vier Arbeits-und Lebensepisoden gelegt.
Hierbei handelte es sich um Beschäftigte in den Episoden Berufseinstieg, Familiengrün-
dung in Vollzeit, Episoden mit gering verfügbarem Spezial-Know-how sowie gesundheit-
liche Krisen.
Insgesamt zeigen sich für die untersuchten Episoden trotz der relativ geringen Fallzah-
len durchaus plausible und charakteristische Muster bei den hier im Vordergrund stehen-
2
Alle Prozentangaben sind zu vollen Prozent aufgerundet.
14 Arbeitslebensphasensensibles Erholungsmanagement 279
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Tab. 14.2 Überblick über die Ergebnisse nach Lebensphasen beziehungsweise Episoden
Verbessert in % Berufsein- Familien- Episode mit gering Gesund Gesamt
(aufgerundet) stieg ( N = 9) gründung in verfügbarem heitskrise ( N = 143)
nach Arbeits- und Vollzeit Spezial-Know-how ( N = 10)
Lebensepisode ( N = 11) ( N = 23)
Erkennen von 56 55 57 70 58
Stress bei sich
selbst
Erkennen von 23 64 40 40 42
Stress bei Kollegen
Wissen über 45 46 79 80 70
Methoden zur
Verminderung von
Stress
Aktives Freizeit- 23 0 40 50 32
verhalten auch in
Lastsituationen
Ausdauersport 34 0 22 10 19
treiben
Kurzpausen über 12 46 44 50 34
den Tag einlegen
Pausen mit Kolle- 45 28 28 20 24
gen machen
Arbeit nach bio- 56 28 31 40 25
logischer Uhr
Pausen über den Tag. Häufiger berichten diese Beschäftigten allerdings von keinen Ver-
änderungen oder Verschlechterungen nach dem Training. Dies betrifft neben den Themen
Wissen über Stressminderung (lediglich 46 % Verbesserung statt 67 % insgesamt) insbe-
sondere das aktive Freizeitverhalten und mehr Sport (jeweils keine Verbesserung). Auf-
fällig ist insgesamt, dass Personen in dieser Episode relativ häufig Verschlechterungen
angeben. Dies gilt insbesondere für Sport, bei dem 37 % eine Verschlechterung angeben.
Mit diesen Zahlen bestätigt sich ein Eindruck aus den Workshops, dass diese Zielgruppe
wenig Chancen hat, ihre individuelle Regeneration überhaupt zu verbessern – dem stehen
offensichtlich die beruflichen wie die familiären Pflichten entgegen. Die Möglichkeiten,
bei der Arbeit Verbesserungen zu erreichen, scheinen auf die Pausennutzung beschränkt
zu bleiben. Diese letzten Aspekte konnten in den Workshops zwar thematisiert werden, am
Grundproblem strukturell begrenzter Regenerationschancen für diese Personengruppen
kann das aber nichts entscheidend ändern.
Beschäftigte wurden der „Episode mit gering verfügbarem Spezial-Know-how“ zu-
geordnet, wenn sie in den Interviews davon berichteten, dass sie über spezifische, für
das Unternehmen wichtige, aber nur bei ihnen vorhandene Kenntnisse verfügen und sie
daher in verschiedenen Projekten parallel eingesetzt werden. Für die Beschäftigten in
14 Arbeitslebensphasensensibles Erholungsmanagement 281
14.4 Ausblick
Die dargestellten Ergebnisse zeigen, dass die Instrumente eine nach Arbeits- und Lebens-
episoden differenzierte Wirkung entfalteten. So wurden die Angebote aus dem Modul
zum Pausenmanagement in allen dargestellten Episoden differenziert aufgenommen.
Das Sensibilisierungs-Modul mit der Stress-Ampel hat insbesondere bei den Beschäftig-
ten in einer Gesundheitskrise Verbesserungen angestoßen, während das Modul zur Re-
generation in der Freizeit mit der Check-Liste für positive Erlebnisse insbesondere bei
den Berufseinsteigern (Ausdauersport) und den Beschäftigten in einer Gesundheitskrise
(Aktives Freizeitverhalten) zu Verbesserungen beigetragen hat. Insofern hat sich unser
Cafeteria-Ansatz bewährt: Die Teilnehmenden haben sich die Elemente herausgegriffen,
die für sie in ihrer jeweiligen Episode hilfreich waren. Eine Orientierung an Arbeits- und
Lebensepisoden geht analytisch und praktisch über die für HR-Maßnahmen übliche Aus-
richtung an soziodemografischen Angaben (Geschlecht, Alter etc.) hinaus. Beschäftigte in
den dargestellten Episoden nutzten die Angebote jeweils bedarfsspezifisch. Bezogen auf
die Episoden lassen sich deshalb zielgruppenspezifische Personalentwicklungsangebote
in den Unternehmen entwerfen.
282 E. Latniak et al.
Dies ist jedoch immer vor dem betrieblichen Hintergrund und Bedarf zu prüfen. Hin-
sichtlich der Nutzung und der Wirksamkeit der Maßnahmen macht es einen großen Unter-
schied, ob beispielsweise Berufseinsteiger die empfohlenen Kurzpausen wenig nutzen,
weil sie diese als nicht hilfreich ansehen oder weil sie diese bedingt durch die Arbeits-
strukturierung nicht machen können. An der Motivation kann in den Workshops durchaus
gearbeitet werden, während die strukturellen Voraussetzungen von den Führungskräften
und betrieblichen Rahmenbedingungen geschaffen werden müssen.
Am Beispiel der aktiveren Freizeitgestaltung zeigte sich zudem, dass auch der beste
Impuls nicht helfen kann, wenn seitens der Betroffenen notwendige Handlungsvorausset-
zungen nicht gegeben sind: Die Vollzeitbeschäftigten in der Familienphase waren wegen
des schlichten Fehlens von individuell nutzbaren Zeitpuffern in Arbeit und Privatleben
kaum in der Lage, aus dem entsprechenden Angebot Nutzen zu ziehen. Hier stößt das
Workshop-Konzept an seine Grenzen: Möglicherweise ist es für die betroffenen Beschäf-
tigten in eine solcher Problemlage zweckmäßiger, in einem individuellen Coaching, das
diesen Punkt fokussiert, an der Lösungssuche zu arbeiten.
Angesichts der begrenzten empirischen Basis und geringen Fallzahlen sollte die Ergeb-
nisse nicht als wissenschaftlich abgesicherter Befund überinterpretiert werden. Dennoch
zeigt unser Vorgehen, dass eine Ausdifferenzierung präventiver Maßnahmen nach den
Episoden ein erfolgversprechender Ansatz ist, um zielgenauere und bedarfsnähere Unter-
stützungsangebote zu machen. Die Befunde illustrieren, dass ein entsprechend ausgerich-
tetes arbeitslebensphasensensibles Präventions- und Erholungsmanagement unterschied-
liche und individuell sinnvoll kombinierbare Angebote bieten kann, um den variierenden
Bedarfen der dargestellten Zielgruppen gerecht zu werden.
Literatur
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284 E. Latniak et al.
Marco Götz
15.1 Einleitung
Die NSG Group ist einer der führenden Hersteller von Glas und Glasprodukten weltweit.
Schwerpunkte der Geschäftstätigkeit sind die Bereiche Automotive (Erstausrüster- und
Fahrzeugglasersatzteilgeschäft) sowie Architectural und Technical Glass (das umfasst
eine breite Palette hoch veredelter Gläser für Neubauten und Renovation, Displays, Solar-
energie und Optoelektronik). Die NSG Group insgesamt erwirtschaftete im Geschäftsjahr
2013/2014 einen Umsatz von rund 606 Mrd. Yen (ca. 4,5 Mrd. €) und beschäftigt weltweit
etwa 27.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Das Unternehmen hat Produktionsstandor-
te in 30 Ländern und Vertriebsaktivitäten in 130 Ländern.
Das 1918 gegründete Unternehmen NSG hat Pilkington im Juni 2006 übernommen.
Das Werk Weiherhammer der Pilkington Deutschland AG beschäftigt sich seit seiner
Gründung 1979 mit der Produktion von Flachglas. Am Standort Weiherhammer sind der-
zeit 470 Personen (davon 30 Auszubildende) beschäftigt. Der Standort Weiherhammer ist
im Konzern einer der wenigen Standorte mit diesem breiten Produktspektrum, welches
die Solar-, Bau- und Automobilindustrie bedienen kann. Dies hat im Wesentlichen mit der
Qualifikation der Beschäftigten sowie mit deren hoher Identifikation mit dem Unterneh-
men am Standort Weiherhammer zu tun.
M. Götz ()
Pilkington Deutschland AG, Flachglasstraße 3, 92729 Weiherhammer, Deutschland
E-Mail: marco.goetz@nsg.com
In der Oberpfalz zeichnen sich erhebliche, zum Teil dramatische Einbrüche der Wirt-
schaftskraft durch den Rückgang der prognostizierten Bevölkerungszahl ab. In Bayern
sind in der Bevölkerungsvorausberechnung große Schwankungen zwischen den Regie-
rungsbezirken, aber auch innerhalb der Bezirke zu verzeichnen. In Gebieten wie den
großen Wirtschaftsmetropolen im Großraum München, dem Städtedreieck Nürnberg-
Fürth-Erlangen, dem Raum Regensburg sowie den mittelgroßen Städten Ingolstadt und
Landshut, wird die Bevölkerungszahl sogar steigen. Während sich beispielsweise im Re-
gierungsbezirk Oberbayern die Bevölkerung bis 2032 um 10,1 % erhöhen wird, müssen
die Bezirke Oberpfalz (− 1,7 %), Oberfranken (− 8,1 %) und Unterfranken (− 5,2 %) mit
einem Einbruch der Einwohnerzahl bis 2032 rechnen (Bayerisches Landesamt für Statis-
tik und Datenverarbeitung 2014). Die Region Oberpfalz zählt insgesamt zum ländlichen
Raum mit einer niedrigen Bevölkerungsdichte und einer weniger gut ausgebauten Infra-
struktur. Ein flächendeckender Breitbandanschluss ist bisher nicht vorhanden, aufgrund
der ungünstigen Arbeitsplatzsituation kommt es zu einer zunehmenden Abwanderung von
jungen Menschen und Betrieben.
Aus diesem Grund muss sich die Region stärker als bisher mit den Herausforderungen
des demografischen Wandels auseinandersetzen. Auch Ladenschließungen, die zuneh-
mende Auflösung der Familienverbände und der Rückgang des Engagements in Vereinen
und Verbänden führen dazu, dass der demografische Wandel immer deutlicher wahrge-
nommen wird.
Aufgrund dieser Veränderungen besteht Handlungsbedarf zur Entwicklung nachhalti-
ger Steuerungsmechanismen, die in der Lage sind, diese für die Region negativen Verän-
derungen aufzuhalten, zu verzögern und Handlungsempfehlungen zu entwickeln, die eine
aktive Gestaltung des demografischen Wandels zugunsten einer positiven Entwicklung
der Region erlauben.
Viele junge Menschen verlassen den ländlichen Raum und ziehen für das Studium,
die Ausbildungs- oder Arbeitsstelle in Metropolregionen. Diese Umverteilung hat natur-
gemäß Konsequenzen für die Geburtenrate in den ländlichen Gebieten. Die Anzahl an
potenziellen Eltern wird durch dieses Bildungswandern verringert. Für die Unternehmen
in den ländlichen Regionen wird es dadurch immer schwieriger, Nachwuchskräfte zu re-
krutieren, zu schulen, fortzubilden und nachhaltig zu beschäftigen. Deshalb wird es für
den Unternehmenserfolg der in derartigen Regierungsbezirken mit sinkenden Bevölke-
rungszahlen ansässigen Wirtschaftsunternehmen entscheidend sein, rechtzeitig entspre-
chende Maßnahmen zur erfolgreichen Personalgewinnung und -erhaltung umzusetzen.
Darüber hinaus müssen Unternehmen gestaltend auf wichtige soziale und kommunale
Umgebungsfaktoren einwirken, die im Wettbewerb um die besten Arbeitskräfte entschei-
dend sein können. Da auch die nördliche Oberpfalz zu den Regionen mit prognostiziertem
Bevölkerungsrückgang zählt, stellt sich die Frage, durch welche Maßnahmen Unterneh-
15 Praxisbeispiel Pilkington 289
men an einem Standort wie diesem trotz der zur erwartenden einschneidenden regionalen
demografischen Veränderungsprozesse wettbewerbsfähig und attraktiv bleiben können.
Das Werk Weiherhammer ist als Industrieunternehmen in der Glasbranche auf die Inno-
vationen durch Fachkräfte angewiesen, um am Markt weiterhin bestehen zu können. In
diesem Zusammenhang stellen sich einige Fragen:
• Ist der demografische Wandel für das Unternehmen überhaupt signifikant spürbar?
• Wenn ja, wie wirkt sich dieser am Standort Weiherhammer und in der Region Ober-
pfalz, dem Einzugsgebiet für die Personalakquise, konkret aus?
• Besteht aktuell und/oder zukünftig Handlungsbedarf zur Optimierung der Strategien
des Human Resource Management, und wenn ja, wie und durch welche personalpoli-
tischen Instrumente können negative Auswirkungen vermieden beziehungsweise wie
kann ihnen am besten entgegengewirkt werden?
Nach der Einspeisung der Daten und der Simulation mit den genannten Prämissen ergibt
sich die Altersstrukturanalyse für das Werk Weiherhammer, wie Abb. 15.1 zeigt:
Wie Abb. 15.1 zu entnehmen ist, verschiebt sich bis zum Jahre 2020 der größte Be-
schäftigtenanteil von der Alterskohorte „46 bis 50 Jahre“ auf die Alterskohorte der 51- bis
55-Jährigen. Der Anteil in den zusammengefassten Alterskohorten „51 bis 60 Jahre“ steigt
von ca. 20 % im Jahre 2010 auf über das Doppelte mit ca. 41 % im Jahre 2020. Auch der
Anteil der über 60-Jährigen wird binnen zehn Jahren von unter 1 % auf ca. 15 % ansteigen.
Im gleichen Zeitraum verändert sich das Durchschnittsalter von aktuell knapp 42 Jahren
auf ca. 49 Jahre und stellt somit eine veränderte Anforderungssituation für das Werk Wei-
herhammer dar. Auch durch die Austritte entstehen neue Herausforderungen für das Werk,
da bis 2020 rein altersbedingt 80 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter das Unternehmen ver-
lassen werden. Dies bedeutet, dass ein Anteil von 17 % der Belegschaft ausscheiden wird
und diese Stellen wieder neu besetzt werden müssen.
Nach dem Jahre 2020 werden dann innerhalb von zehn Jahren knapp 41 % der Beleg-
schaft aufgrund des Renteneintritts das Werk verlassen. Zusammengefasst werden inner-
halb der nächsten 20 Jahre allein aufgrund des Rentenalters knapp 60 % der Mitarbeiter
das Werk Weiherhammer verlassen. Das sind 314 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aller
Berufsgruppen, sowohl mit als auch ohne Führungsverantwortung, Fachkräfte wie un-
gelernte Arbeiter und Arbeiterinnen. Sie reichen von Glasarbeitern, wie Brechern oder
Packern, über Vorarbeiter und Schichtmeister bis hin zu Ingenieuren und Ingenieurinnen.
Allein von 2025 bis 2030 werden knapp 20 % der Beschäftigten aus dem Unternehmen
ausscheiden, und damit wird in einem relativ kurzen Zeitraum sehr viel Erfahrung und
Wissen das Unternehmen verlassen. Zudem erhöht sich der Anteil von Mitarbeitern und
Mitarbeiterinnen über 60 Jahren nochmals von 15 % im Jahre 2020 auf 21 % im Jahre
2030.
Die Analyse macht deutlich, dass schon jetzt geeignete Strategien entwickelt werden
müssen, um zu verhindern, dass das Werk unvorbereitet von der zukünftigen Situation
getroffen wird.
15.2.1 Projekt GENIUS
Zielsetzung
Folgende Ziele will das Projekt GENIUS erreichen:
• Die gesamte Belegschaft über Folgen, Konsequenzen, aber auch Chancen des demo-
grafischen Wandels aufzuklären und gemeinsam Handlungsstrategien für die Region,
das Unternehmen und die einzelnen Personen zu entwickeln.
• Bewusstsein bei allen Beschäftigten des Unternehmens dafür zu schaffen, dass Per-
sonen nicht nur individuums-, sondern auch alterskohortenspezifisch unterschiedli-
che Erlebnis-, Einstellungs- und Bedürfnislandkarten besitzen. Diese müssen in der
arbeitsbezogenen Kommunikation und Interaktion berücksichtigt und mit dem eigenen
Erlebens- und Verhaltensstil reflektiert werden, damit Prozess- und Ergebnisqualität
von interaktiven Arbeitsabläufen langfristig optimiert und im Zuge der demografischen
Veränderung auch beibehalten werden können.
• Unzutreffende und unreflektierte, einseitig negative beziehungsweise falsche Altersbil-
der und Stereotypen durch ausgewogene und zutreffende Altersbilder zu ersetzen, um
dadurch eine faire und evidenzbasierte Alterskultur im Unternehmen zu schaffen.
Das Vorgehen im Projekt GENIUS orientiert sich am klassischen Change-Prozess, ist je-
doch auf den demografischen Kontext abgestimmt. Das Prozesskonzept ist in Abb. 15.2
dargestellt.
294 M. Götz
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Der Prozess beginnt mit der notwendigen Voraussetzung, dass das Unternehmen den
demografischen Handlungsbedarf identifiziert und sich über die möglichen Veränderun-
gen und Auswirkungen bewusst wird (Schritt 1). Die Analyse der unternehmensspezifi-
schen demografischen Situation erfolgt in Schritt 2, um im Folgenden den Veränderungs-
bedarf der Organisation zu erkennen. Nach dieser Analyse werden die personalpolitischen
Handlungsfelder für den Veränderungsprozess festgelegt.
Der vollständige Handlungsrahmen sowie die Schritte 1 und 2 bilden die Basis des
demografischen Change-Prozesses im Unternehmen. Die Analyseergebnisse der Perso-
nal- und Altersstrukturdaten sowie die Notwendigkeit demografischen Handelns wurden
in den Abschn. 15.1.2 und 15.1.2.1 ausführlich dargestellt.
In Schritt 3 werden die identifizierten Problemfelder der Organisation detailliert reflek-
tiert und hinterfragt. Innerhalb der Unternehmen können im Sinne eines integrativen Age-
Management-Ansatzes fünf verschiedene Handlungsfelder abgeleitet werden. Bereich I
betrifft die Unternehmenskultur. Während die Bereiche II „Wissensmanagement“ und III
„Gesundheit“ spezifische individuumszentrierte, prozess- und systemorientierte Maßnah-
men umfassen, beinhalten die Bereiche IV „Attraktivität“ und V „Soziales“ strukturelle
und organisatorische Maßnahmen in Unternehmen.
Das Projekt GENIUS stellt die Bereiche „Unternehmenskultur“, „Wissensmanage-
ment“ und „Gesundheit“ (alternsgerechte Arbeitsplätze) in den Fokus.
15 Praxisbeispiel Pilkington 295
Unternehmenskultur
Im Bereich „alterstolerante Unternehmenskultur“ werden die Voraussetzungen in einer
Organisation geschaffen, um unzutreffende negative Altersstereotypen zu reflektieren,
wodurch Platz für eine altersfaire Unternehmenskultur geschaffen wird.
Weiterhin soll die Sensibilität für die Bedeutung alterspezifischer Veränderungen und
die Bedeutung von Einflüssen auf das Kommunikations- und Interaktionsverhalten von
Menschen geschärft werden.
Führungskräfte versuchen, altersrelevante Aspekte der Personalführung für gewöhn-
lich intuitiv zu behandeln, gehen dabei aber häufig von falschen beziehungsweise negati-
ven Altersbildern aus. Zudem wurde bisher die Altersstruktur der Organisationseinheiten/
Gruppen/Teams nicht gezielt gemanagt. Dies wird bei der prognostizierten Alterszunahme
der Belegschaften in einzelnen Abteilungen zu einem Transferproblem von Erfahrungs-
wissen führen, das die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Weiherhammer insgesamt ge-
fährden kann.
Entscheidend für den Erfolg ist, dass innerhalb des Unternehmens Veränderungen der
demografischen Rahmenbedingungen sichtbar gemacht und anschaulich an die gesamte
Belegschaft kommuniziert werden. Da die nachhaltige Implementierung einer fairen Al-
ters- und Unternehmenskultur Problembewusstsein bei allen Beteiligten erfordert, muss
darauf hingewiesen werden, wie diese Veränderungen aussehen und welche Auswirkun-
gen diese auf die Organisation und jeden Einzelnen haben.
Mittels gezielt ausgerichteter Workshops wird zum einen das Problembewusstsein an
die gesamte Belegschaft des Unternehmens vermittelt und zum anderen werden die Er-
kenntnisse im Hinblick auf Führung und Verhalten nachhaltig implementiert. In den Work-
shops werden von den Teams bereits Aktionspläne erarbeitet, wie die Herausforderungen
des demografischen Wandels, bezogen auf das eigene Team, bewältigt werden können.
Im Rahmen der Maßnahmenworkshops werden dann die Aktionspläne detailliert ausge-
arbeitet und in die Praxis umgesetzt. Hier ist das Monitoring durch die Führungskraft ein
zentraler Punkt, damit im Anschluss an die Umsetzungsphase eine detaillierte Aussage
getroffen werden kann: Was hat bei der Umsetzung der Maßnahmen gut funktioniert und
wo gab es Probleme aufgrund der Altersunterschiede im Team?
Wissensmanagement
Der Bereich Wissensmanagement beinhaltet die effiziente Erfassung und Darstellung
sowie den Transfer von Wissen zwischen den Generationen. Beschäftigte in Unterneh-
men müssen immer mehr Wissen in immer kürzerer Zeit aufnehmen und verarbeiten. Des
Weiteren gibt es immer mehr singuläre Wissensträger in den Unternehmen, die im Falle
des Unternehmensaustritts ihr Wissen „mitnehmen“. So entsteht ein hohes Risiko für das
Unternehmen. Bedingt durch den demografischen Wandel sowie den zurzeit eher arbeit-
nehmerfreundlichen Arbeitsmarkt wird die Fluktuation in den Unternehmen zunehmen.
Das Handlungsfeld Wissensmanagement zielt darauf ab, den Wissenstransfer zwischen
296 M. Götz
den Generationen zu fördern und den Risiken des „Wissensverlusts“ beim Unternehmens-
austritt entgegenzuwirken.
Im Mittelpunkt dieses Prozesses steht der Wissenstransferprozess, der im Rahmen
von Workshops zwischen Wissensmoderator, Mentor (Wissenshalter) und Mentee durch-
geführt wird. Dabei werden vom Mentor, durch den Wissensmoderator strukturiert, die
Wissenselemente (Aufgaben, Methoden usw.) erfasst. Die danach stattfindende Auswer-
tung und der Abgleich mit den Wissenselementen des Mentees ermöglichen dann eine
Darstellung der Wissenslücken des Mentees. Im Anschluss werden durch einen gezielten
Transferplan diese Wissenslücken geschlossen. Mit Hilfe des Wissenstransferprozesses
kann Erfahrung und Wissen im Unternehmen gehalten werden und der Wissenstransfer
effizient durchgeführt werden.
Gesundheit
Ein wesentlicher Baustein zur aktiven Gestaltung des demografischen Wandels ist die
physische Erhaltung der Arbeitsfähigkeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über den
gesamten Zeitraum des Erwerbslebens. Dieser Prozess wird bei der Pilkington Deutsch-
land AG bereits durch das Programm Pilkington Aktiv, einen Baustein des Gesundheits-
managements der Pilkington AG, unterstützt. Eine zweite wichtige Säule ist die Gestal-
tung alternsgerechter Arbeitsplätze. In Form von Workshops werden Arbeitsplätze ana-
lysiert und alternsgerecht gestaltet. Mit Hilfe externer Experten und der Beschäftigten des
Unternehmens sollen Lösungsansätze gemeinsam erarbeitet und umgesetzt werden.
Age-Management-Maßnahmen können, wie alle Change-Management-Projekte, nur
dann langfristig erfolgreich sein, wenn sie von dem gesamten Unternehmen mitgetragen
werden. Aus diesem Grund versteht sich das Projekt GENIUS als ein inklusives Vorhaben,
in das alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unabhängig von Alter und Geschlecht einge-
bunden werden. Eine faire Alterskultur kann in Unternehmen nur dann geschaffen werden,
wenn dieses Thema nicht als segmentierende und potenziell stigmatisierende Einzelmaß-
nahme – wie beispielsweise EDV-Schulungen für Mitarbeiter über 50 Jahre – gefasst wird,
sondern als die langfristige Entwicklung eines Werte- und Einstellungssystems in einem
Unternehmen. Alter und Altersheterogenität sollen nicht als Bürde, sondern als Bereiche-
rung erlebt werden, und dies soll sich in dem Verhalten der Beschäftigten widerspiegeln.
Dabei wirkt die Unternehmensleitung nicht nur durch das Bereitstellen entsprechender
Ressourcen und Tools zur Erhebung der Daten und deren Rückmeldung an die Beschäftig-
ten unterstützend, sondern auch durch die Bestellung eines internen Projektkoordinators,
der durch externe Weiterbildungsmaßnahmen derart qualifiziert wird, dass er die Nachhal-
tigkeit des Projektes auch nach dessen Ende sicherstellen kann (z. B. durch strukturierte
Evaluationen, alterspezifische Beratungen und Schulung neuer Mitarbeiter etc.).
Das Projekt GENIUS bietet Pilkington die Möglichkeit, das Werk für den demografi-
schen Wandel zu stärken. Das Projekt pinowa fügt sich hier nahtlos an, da dort untersucht
wurde, wie die vorhandenen Stärken für die Rekrutierung von Fachkräften genutzt werden
können.
15 Praxisbeispiel Pilkington 297
Rekrutierungsprozess
Der Rekrutierungsprozess folgt einem etablierten Muster und ist in erster Linie aus der
langjährigen Zusammenarbeit von Personal- und Fachabteilung gewachsen. Damit ist das
Rekrutierungswissen vor allem Erfahrungswissen und stark personengebunden. Da sich
dieses Vorgehen bewährt hat, sollte es nicht komplett umstrukturiert werden. Das Ziel war
es vielmehr, Schwachstellen zu finden und dann einzelne Elemente stärker zu strukturie-
ren und diese in den etablierten Prozess einzufügen. Gemeinsam mit dem iap wurde daher
die pinowa-Rekrutierungstoolbox entwickelt. Durch laufende Rückmeldungen wurden
die Instrumente abgestimmt und auf ihre Praxistauglichkeit überprüft.1 Die Instrumente
der Toolbox ermöglichen es, bereits bei der Formulierung des Anforderungsprofils den
Blick zu weiten, Alternativprofile in Betracht zu ziehen und somit den Pool möglicher
Bewerberinnen und Bewerber zu vergrößern. Durch diese Orientierung auf ein möglichst
diversitätsförderndes Vorgehen kann die Toolbox helfen, den Fachkräftebedarf bei Pil-
kington zu sichern.
Employer Branding
Außerdem wurde als weiteres Handlungsfeld das Thema Employer Branding identifiziert.
Bisher gab es keinen Schwerpunkt „Employer Branding“ innerhalb des Personalmanage-
ments. Angesichts der beschriebenen demografischen Herausforderungen hat sich jedoch
die Frage gestellt, wie diesen nicht nur werksintern zu begegnen ist, sondern wie Pilking-
ton sich auch nach außen als attraktiver Arbeitgeber präsentieren kann. Bei der Befragung
der Beschäftigten gab es besonders zu den Themen Vereinbarkeit, Diversität, Weiterbil-
dung, Arbeitszeit und Gesundheit positive Rückmeldungen. Diese positiven Aspekte wer-
1
Zur detaillierten Beschreibung der Toolbox siehe Peters et al. in diesem Band.
298 M. Götz
den – bis auf das Thema Gesundheit – jedoch bisher nicht für das Employer Branding
genutzt. Im Rahmen des Workshops wurden daher erste Ansätze entwickelt, wie sich diese
Themen im Rahmen des Employer Branding sowohl nach außen als auch ins Unterneh-
men tragen lassen. Wie in Abschn. 15.1 beschrieben, spielt in Zeiten des demografischen
Wandels die Arbeitgeberattraktivität eine immer bedeutendere Rolle. Dies gilt sowohl für
die Rekrutierung neuer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als auch für die Bindung aktuell
Beschäftigter.
Neben der konkreten Verbesserung des Rekrutierungsprozesses wurde damit auch die
Brücke zu bereits bestehenden Veränderungsmaßnahmen im Unternehmen geschlagen.
15.3 Fazit
Sowohl das Projekt pinowa als auch das Projekt GENIUS tragen dazu bei, die schwierigen
Rahmenbedingungen im Werk Weiherhammer zu bewältigen und den Standort langfristig
zu sichern. Durch den Einsatz der pinowa-Rekrutierungstoolbox erhöhen sich die Chan-
cen, geeignete Fachkräfte zu gewinnen und die Diversität im Unternehmen zu erhöhen.
Die Einbindung möglichst aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in das Projekt GENIUS
wirkt sich positiv auf die Motivation der Beschäftigten aus und trägt damit zusammen mit
den im Projekt umgesetzten Maßnahmen auch zur Steigerung der Arbeitgeberattraktivität
bei. Diese ist notwendig, um aktuell Beschäftigte langfristig zu binden und neue Bewer-
berinnen und Bewerber anzusprechen.
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fen: 13. Nov. 2014.
Claus Hoffmann
Das Fraunhofer-Institutszentrum Birlinghoven (IZB) in Sankt Augustin bei Bonn hat ca.
700 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Das Institutszentrum besteht aus drei Instituten,
zwei Teilinstituten, einer eigenen Verwaltungseinheit sowie Teilen der Fraunhofer-Zentra-
le. Im Institutszentrum werden zahlreiche wissenschaftliche Themen bearbeitet, die vor-
wiegend im Zusammenhang mit Informations- und Kommunikationstechnologien (IuK)
stehen.
Die Fraunhofer-Gesellschaft ist die größte Organisation für angewandte Forschung in
Europa. Sie betreibt derzeit 67 Institute und Forschungseinrichtungen. Internationale Nie-
derlassungen sorgen für Kontakt zu den wichtigsten gegenwärtigen und zukünftigen Wis-
senschafts- und Wirtschaftsräumen. Die Fraunhofer-Gesellschaft beschäftigt rund 23.000
Mitarbeiter/innen mit überwiegend natur- oder ingenieurwissenschaftlicher Ausbildung.
Das jährliche Forschungsvolumen beträgt über 2 Mrd. € jährlich, davon 1,7 Mrd. € im
Leistungsbereich Vertragsforschung.
Weitere Informationen…
C. Hoffmann ()
Fraunhofer Institutszentrum Schloß Birlinghoven IZB,
Schloss Birlinghoven, 53757 Sankt Augustin, Deutschland
E-Mail: claus.hoffmann@izb.fraunhofer.de
Daher können die gewünschten Ergebnisse mit den vorhandenen Ressourcen oft nicht voll
erreicht werden. Hinzu kommt, dass die Projektmitarbeiter sich ständig bewähren müs-
sen. Oft hängt die Verlängerung ihres Arbeitsvertrags nicht nur an den Projektergebnissen,
sondern zusätzlich am Erfolg einer weiteren Projektakquise, die in der Regel während der
Abarbeitung aktueller Projekte durchgeführt werden muss.
Es stellt sich die Frage, warum eigentlich die Betroffenen die negativen Seiten der Pro-
jektarbeit, die befristeten Arbeitsverträge und eine im Verhältnis zur Industrie vergleichs-
weise geringe Bezahlung überhaupt in Kauf nehmen. Insgesamt herrscht eine sehr hohe
Motivation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, wissenschaftlich zu arbeiten. Für eini-
ge besteht sogar die Möglichkeit, ihr eigenes wissenschaftliches Thema voranzutreiben.
Nicht selten ist eine Promotion geplant. Diese Motivation ist für den Arbeitgeber und für
den Erfolg der wissenschaftlichen Arbeit ein wichtiger Faktor.
Am IZB gilt ein flexibles Arbeitszeitmodell – mit all seinen Vor- und Nachteilen. Die
dadurch mögliche Flexibilität ist für viele der Betroffenen wichtig. Sie erleichtert bei-
spielsweise die Vereinbarung von Familie und Beruf. Sie kann jedoch auch zu ausufern-
den Arbeitszeiten führen.
Auf der Positivseite zu verbuchen sind ein breites (durch den Arbeitgeber unterstütztes)
und durch Kolleginnen und Kollegen organisiertes Sportangebot, eine gute Kantine und
ein insgesamt ruhiger und angenehmer Betriebsort. Besonders wichtig ist, dass das Sozi-
alklima am IZB in der Regel als gut empfunden wird. Der damit verbundene „Sozialkitt“
gleicht vieles aus und stellt für die meisten eine wichtige Ressource dar.
16 Gesund bleiben von Anfang an – erste Erfahrungen aus … 301
16.3.1 Junge Beschäftigte
Gemeint sind hier die vielen, in der Regel sehr ehrgeizigen wissenschaftlichen Nach-
wuchskräfte, die zum großen Teil direkt von der Universität kommen. Das Wissenschafts-
zeitvertragsgesetz (WissZeitVG), das vom Gesetzgeber extra für diese Personengruppe
eingeführt worden ist, ermöglicht dem Arbeitgeber, zusätzlich zu den üblichen Befristun-
gen, weitere Befristungsmöglichkeiten bis zu sechs Jahren. Das ist wohl auch der Haupt-
grund dafür, dass besonders in Wissenschaftseinrichtungen so viele Beschäftigte mit be-
fristeten Verträgen zu finden sind.
Diese teilweise kurz befristeten Verträge führen oft zu einem großen Druck auf die
Einzelnen. Es besteht die fortwährende Notwendigkeit, sich zu bewähren. Die nächste
Vertragsverlängerung ist für die jüngeren Beschäftigten fast immer von existenzieller
Bedeutung und die Ausschöpfung der Befristungsmöglichkeiten mittels einer Aneinan-
derreihung von zum Teil kurzen Einzelbefristungen verhindert für die Betroffenen eine
gesicherte Lebensplanung, gerade in einer Zeit, in der oft wesentliche Weichen für ihre
Zukunft gestellt werden.
Aus arbeitswissenschaftlicher Sicht ist besonders hier Prävention notwendig. Denn ge-
rade der wissenschaftliche Nachwuchs neigt oft dazu, Raubbau an seiner Gesundheit zu
treiben. Bisweilen legt auch die Unternehmenskultur mit ihrem enormen Leistungsdruck
gesundheitswidriges Verhalten nahe.
Wichtig ist, dass schon junge Leute lernen, gesundheitsförderlich zu arbeiten. Schließ-
lich benötigen sie doch ihre Arbeitskraft noch für ein langes Berufsleben (Stichwort: Ren-
te mit 67).
Beschäftigte mittleren Alters gehen aufgrund ihres Erfahrungswissens in der Regel routi-
nierter an die Aufgaben heran als die jungen Kolleginnen und Kollegen.
Allerdings kommen gerade für diese Beschäftigtengruppe zu der ohnehin großen
Arbeitsbelastung häufig zusätzlich Probleme der Balance zwischen Privatleben und Beruf
hinzu. Oft ist ein Spagat notwendig zwischen beruflichen Herausforderungen und Kinder-
betreuung oder der Pflege von Angehörigen. Das Templiner Manifest der Gewerkschaft
Erziehung und Wissenschaft (GEW 2010) bemerkt richtigerweise dazu:
302 C. Hoffmann
Wissenschaft ist ein normaler Beruf, auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben
ein Recht auf eine Work-Life-Balance.
Zusätzlicher Druck entsteht durch spürbar abnehmende Chancen auf dem externen Arbeits-
markt. In der Regel ist es für Beschäftigte mittleren Alters wesentlich schwieriger, einen
neuen Job zu finden, als für die jüngeren Kolleg/innen. In diese Beschäftigungsgruppe fal-
len beispielsweise auch sogenannte „Postdocs“ (bereits promovierte Beschäftigte, die im
Wissenschaftsbereich an Forschungsthemen arbeiten). Im Templiner Manifest wird beson-
ders auf die Probleme dieser Beschäftigtengruppe hingewiesen und Lösungen gefordert:
16.3.3 Ältere Beschäftigte
Mitglieder der älteren Beschäftigungsgruppe haben in der Regel viel Erfahrung in Projekt-
akquise und -durchführung, denn sie haben meist viele Jahre in nationalen und internationa-
len Forschungs- und Entwicklungsprojekten mitgearbeitet und diese teilweise sogar geleitet.
Dieser Erfahrungsschatz sollte als ein wertvolles Potenzial für jeden Betrieb begriffen wer-
den. Jedoch sehen sich die Angehörigen dieser Beschäftigtengruppe oft mit Vorurteilen kon-
frontiert, indem ihnen nicht mehr die volle Leistungsfähigkeit zugetraut wird. Sie sind in Ge-
fahr, in aktuellen Forschungs- und Entwicklungsprojekten nicht mehr eingesetzt zu werden.
Die Realität ist jedoch: Ältere Arbeitnehmer/innen sind in der Regel nicht weniger,
sondern nur anders belastbar als jüngere. Allerdings sollten sie gezielt gefördert werden.
In einer Umfrage der BKK im Jahr 2002 wurde die Beschäftigtengruppe der älteren
Arbeitnehmer/innen untersucht. Ergebnisse waren: Ursachen von Krankheitstagen bei
älteren Arbeitnehmer/innen waren in erster Linie Rücken- oder Gelenkbeschwerden,
grippale Infekte oder allgemeine Erkältungsbeschwerden. Zu schaffen machte den älte-
ren Arbeitnehmer/innen insbesondere Zeitdruck beziehungsweise hoher Arbeitsanfall und
dadurch verursachtes hohes Tempo beim Arbeiten (Maus 2002).
Insgesamt bezeichneten die meisten befragten Arbeitnehmer/innen ihren körperlichen
Zustand und ihre geistige Fitness als gut oder im Mittel. Mehr als die Hälfte der älteren
Arbeitnehmer/innen wünschte sich bessere Weiterbildungsmöglichkeiten. Die Mehrzahl
der Älteren betrachtete neue Technologien als Herausforderungen und erklärte sich bereit,
sich ihnen zu stellen. Zu beobachten ist in der Regel auch ein gutes Auskommen der älte-
ren Kollegen mit jüngeren Kolleginnen und Kollegen und auch Vorgesetzten.
Das alles trifft auch auf das Institutszentrum Birlinghoven zu: Sämtliche Analyseins-
trumente, die dem Betriebsrat zur Verfügung stehen, zeigen beispielsweise, dass jüngere
und ältere Kolleginnen und Kollegen von ihren Vorgesetzten in ihrer Leistungsfähigkeit
im Wesentlichen gleich bewertet werden.
16 Gesund bleiben von Anfang an – erste Erfahrungen aus … 303
Es ist unbestritten, dass der Mensch im Alter körperlich abbaut (z. B. eine geringere Seh-
schärfe entwickelt) und die Muskeln nicht mehr so belastbar sind. Der körperliche Verschleiß
ist besonders sichtbar, wenn unter Zeitdruck gearbeitet werden muss. Der Grundstein für
diese stressbedingten Folgeerscheinungen wird bereits in jungen Jahren gelegt. Deshalb ist es
wichtig, das Thema Gesundheit im Betrieb großzuschreiben.
Aus diesem Grund musste der Betriebsrat mit Hilfe seiner Berater ein neues, auf den
Wissenschaftsbereich, den Verwaltungsbereich und dem Infrastrukturbereich zugeschnit-
tenes umfassendes Konzept entwickeln.
Wichtige Punkte des Verfahrens sind:
Als Stressoren (Stressfaktoren) werden die Reize bezeichnet, die in einem Individuum
Stress verursachen. Es ist belastend für den Betroffenen, wenn einzelne Stressoren (zum
Beispiel hoher Zeitdruck) vorliegen. Noch viel belastender ist es, wenn ein Betroffener
gleichzeitig mehreren Stressoren ausgesetzt ist (z. B. hohem Zeitdruck in Kombination
mit vielen Arbeitsunterbrechungen und geringer Unterstützung durch die Führungskraft).
Man spricht dann von einer Mehrfachbelastung. Dadurch kann das Erkrankungsrisiko er-
heblich steigen.
Für den Wissenschaftsbereich wurden die dort anzutreffenden Stressoren identifiziert:
Ein psychologischer Vertrag wäre beispielsweise verletzt, wenn bei der Einstellung
suggeriert würde, dass es im Rahmen eines Projekts eine gute Promotionsmöglichkeit
gebe, und dieses Versprechen dann im Arbeitsalltag nicht eingehalten werden kann.
• Mangelnde Identifikation mit den beruflichen Aufgaben:
Obwohl am IZB eine Vielzahl von Themen bearbeitet wird, ist es doch nicht jedem
möglich, genau das Thema zu bearbeiten, das sich mit den eigenen (wissenschaftli-
chen) Interessen deckt.
• Fehlende Perspektive/Weiterentwicklung:
Nicht jede Arbeitsaufgabe ist dazu geeignet, die Kompetenzen des Betroffenen weiter-
zuentwickeln. Auch wird manche Arbeitsaufgabe mit der Zeit zur Routine. Ferner sind
die Aufstiegsmöglichkeiten außerhalb der Uni-Karriereleiter sehr begrenzt, da es nur
wenige, meistens zwei Führungsebenen gibt und diese in der Regel durch erfahrene
Mitarbeiter/innen auf lange Zeit wahrgenommen werden. So fühlen sich einige Kolleg/
innen in einer Sackgasse, da ihnen die beruflichen Perspektiven fehlen.
• Unzureichende Qualifizierung:
Insbesondere in der Informations- und Kommunikationstechnologie ändern sich die
Themen und das zu ihrer Bearbeitung notwendige Wissen sehr schnell. Da fällt es nicht
immer leicht – insbesondere den Älteren –, damit Schritt zu halten.
• Der Gestaltungsspielraum ist zu eng oder unzureichend:
Oft ist es nicht möglich, in der gewünschten Weise auf Arbeitsinhalt oder Arbeitsweise
Einfluss zu nehmen.
• Ungünstige Arbeitsumgebung:
Obwohl die Arbeitsumgebung in der Regel recht gut ist, gibt es auch Ausnahmen. Auch
am IZB gibt es einzelne Arbeitsplätze, bei denen die Kolleg/innen zeitweise Hitze oder
Lärm ausgesetzt sind.
• Arbeitshindernisse:
Unzureichende Organisation der Abläufe, mangelhafte Software usw. können die Ar-
beit erheblich behindern.
• Unzureichende Vergütung:
In einer Wissenschaftseinrichtung gehört man in der Regel nicht zu den Topverdienern.
Das wird von den meisten in Kauf genommen und stellt an sich keine Belastung dar.
Dagegen kann es durchaus belasten, wenn die Verteilung der zusätzlich zum Gehalt
gezahlten Sonderleistungen des Arbeitgebers als undurchschaubar oder ungerecht emp-
funden wird.
Mit Hilfe der Berater wurde ein vierseitiger Fragebogen entwickelt, der zur Selbstein-
schätzung der Kollegen verwendet wird. Er dient zur Abfrage von Belastungen durch die
Stressoren.
16 Gesund bleiben von Anfang an – erste Erfahrungen aus … 307
16.6.3 Geeignete Fachkraft
Arbeitgeber und Betriebsrat einigen sich auf eine geeignete, externe Fachkraft. Diese
Fachkraft muss mehrere Voraussetzungen erfüllen. Unabdingbar ist, dass sie sowohl das
Vertrauen des Arbeitgebers als auch des Betriebsrats besitzt. Weiterhin ist es wesentlich,
dass sie die notwendige Fachkompetenz besitzt, um beispielsweise den Fragebogen ar-
beitswissenschaftlich fundiert auszuwerten sowie gegebenenfalls Probleme der Arbeitsor-
ganisation oder soziale Konflikte kompetent zu beurteilen.
Eine paritätisch besetzte Kommission hat die Aufgabe, das Verfahren zu steuern und vo-
ranzutreiben. Die Kommission setzt sich aus je zwei Arbeitgeber- und Betriebsratsver-
tretern zusammen. An den Sitzungen der Kommission nimmt auch die Fachkraft – ohne
Stimmrecht – teil und unterrichtet die Kommission über ihre fachliche Einschätzung der
Ergebnisse.
Bei Bedarf erarbeitet die Paritätische Kommission Empfehlungen für geeignete Maß-
nahmen, falls notwendig unter Zuhilfenahme weiterer arbeitspsychologischer Verfahren.
Die paritätisch besetzte Kommission unterrichtet den Arbeitgeber und den Betriebsrat
über die Ergebnisse der Gefährdungsbeurteilung und gegebenenfalls ihre Empfehlungen.
Arbeitgeber und Betriebsrat erörtern die Ergebnisse zeitnah im Rahmen der geltenden
Mitbestimmungsregelungen.
16.6.5 Dreistufiges Verfahrensmodell
können, ist eine Ausbildung mit Erfahrungen im Bereich Coaching, Supervision, Media-
tion und lösungsorientierter Beratung/Moderation hilfreich.
Das eigentliche Potenzial der Gefährdungsbeurteilung liegt in der Feinanalyse der Stu-
fe 2. Hier wird versucht, die Ursachen für die in Stufe 1 identifizierten Probleme zu ermit-
teln und wenn möglich abzustellen.
Kann in der Stufe 2 kein Erfolg erzielt werden, wird die Stufe 3 des Verfahrens aktiv.
Das Birlinghovener Verfahren wird zurzeit in die Praxis umgesetzt. Da es sich um ein
neues Verfahren handelt, müssen noch viele Erfahrungen gemacht werden.
Die Fachkraft wurde gefunden und man hat sich auf sie geeinigt. Die paritätische Kom-
mission wurde eingerichtet und hat ihre Arbeit aufgenommen.
Die Befragung wurde inzwischen durchgeführt. Die Kolleg/innen hatten die Möglich-
keit, den Fragebogen entweder in Papierform oder elektronisch abzugeben. Das hat sich
insgesamt bewährt. Falsch eingeschätzt wurde die vorhandene technische Ausstattung der
Belegschaft. Es gab zum Teil technische Probleme, da die elektronische Abgabe der Fra-
gebögen nur für Windows-Umgebungen getestet war. Unterschätzt wurde auch die Anzahl
der nur Englisch sprechenden Kolleg/innen – der Fragebogen lag leider nur auf Deutsch
vor. Während der Befragung wurde von einigen Kolleg/innen bemängelt, dass die haus-
interne elektronische Übermittlung des Fragebogens nicht verschlüsselt erfolgte. Hieran
kann man erkennen, wie wichtig die Sicherstellung der Anonymität ist. Das Problem der
verschlüsselten Übertragung konnte noch während der Befragung gelöst werden. Die an-
deren Probleme sollten bei der nächsten Befragung in drei Jahren nicht mehr auftreten.
Der Rücklauf der Befragung von knapp unter 50 % war einigermaßen zufriedenstel-
lend. Typisch für solche Befragungen in anderen Betrieben sind nach Aussage von Fach-
16 Gesund bleiben von Anfang an – erste Erfahrungen aus … 311
leuten ca. 30 %. Es besteht die Hoffnung, dass bei weiteren Erhebungen, insbesondere
wenn die Gefährdungsbeurteilung tatsächlich Erfolge zeigt, dieser Prozentsatz noch stei-
gen wird. Leider hat es gerade von der Gruppe der befristet Beschäftigten relativ wenige
Antworten gegeben.
Das Antwortschema war nach Aussage der Fachleute recht typisch für die Projektarbeit
im Wissenschaftsbereich. Die Hauptkritikpunkte einer Reihe von Kolleg/innen waren Ter-
min-, Zeit- und Leistungsdruck. Von relativ vielen Kolleg/innen wurde die zur Verfügung
stehende Zeit zur Einarbeitung in neue Aufgabenfelder kritisch gesehen. In mehreren
Bereichen wurde eine zu knappe Personalbemessung als Problem genannt. Relativ viele
Kolleg/innen, bei denen eine Umstrukturierung stattgefunden hat, fühlten sich dadurch
belastet.
Die Befragung hat zudem ergeben, dass viele Beschäftigte die Arbeitsplatzsicherheit
problematisch sehen. Dabei gab es, wie zu erwarten, Unterschiede zwischen befristet und
unbefristet Beschäftigten. Manche befristet beschäftigten Kolleg/innen gaben an, sich
durch die Befristungspraktiken bedroht zu fühlen.
Bei der Einschätzung des Zeitdrucks gab es nur geringe Unterschiede zwischen befris-
tet und unbefristet Beschäftigten. Der Grund dafür könnte sein:
Auch hier stehen die blauen Punkte für Forschungseinheiten und die roten Rauten für
Verwaltungseinheiten.
Wie Abb. 16.3 zeigt, ist der Zusammenhang noch eindeutiger, wenn man die Quote der
mehrfachbelasteten Mitarbeiter/innen statt der Quote der überdurchschnittlichen Belas-
tungen als Referenzpunkt wählt. Ein hoher Befristungsgrad entspricht einem hohen Anteil
von Mitarbeiter/innen mit Mehrfachbelastungen. Die Verwaltungseinheiten verhalten sich
etwas gegenläufig. Die überdurchschnittlich belasteten Organisationseinheiten wurden
identifiziert. Die Paritätische Kommission hat beschlossen, dass dort Feinanalysen (Stufe
2) durchgeführt werden müssen. Einige der in Stufe 1 identifizierten allgemeinen Proble-
me wurden inzwischen angegangen, allerdings noch nicht gelöst.
Jetzt geht es in kleinen Schritten weiter. Der Prozess ist insgesamt sehr viel langsamer
als ursprünglich erwartet. Er steckt immer noch in der Analysephase. Der Betriebsrat hat
den Eindruck, dass der Arbeitgeber die Vorteile, die die Gefährdungsbeurteilung mit sich
bringen kann, (noch) nicht sieht. Eine umfassende Information der Führungskräfte und
ihrer Mitarbeiter/innen über das Ergebnis der Befragung hat ein Jahr danach immer noch
nicht stattgefunden.
16 Gesund bleiben von Anfang an – erste Erfahrungen aus … 313
Das Verfahren wird von der Betriebsratsseite konsequent vorangetrieben. Der Betriebsrat
hofft, dass die Vorteile der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen vom Arbeit-
geber und den Kolleg/innen spätestens dann gesehen werden, wenn tatsächlich Erfolge
erkennbar sind – wenn alle Beteiligten sehen, dass die Gefährdungsbeurteilung wirklich
etwas bewirkt und die Arbeit hinterher besser ist.
Nun steht die Feinanalyse für die betroffenen Organisationseinheiten an. Hier sind die
Fachleute gefragt. Die Feinanalysen haben zum Ziel, Ursachen für Belastungen heraus-
zufinden. Die Feinanalysen sollen dazu beitragen, möglichst passgenaue Lösungen für
die Organisationseinheiten zu finden, um das Ausmaß psychischer Belastung dauerhaft
zu mindern.
314 C. Hoffmann
16.9 Schlussappell
Literatur
Anon. (2015). Psychologischer Vertrag. https://de.wikipedia.org/wiki/Psychologischer_Vertrag.
Zugegriffen: 2. Feb. 2015.
Debitz, U., Gruber, H., Richter, G., &Wittmann, S. (2012). Psychische Gesundheit am Arbeitsplatz
– Teil 2: Psychische Faktoren in der Gefährdungsbeurteilung. Bochum: InfoMedia.
Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). (2010). Templiner Manifest. http://www.temp-
liner-manifest.de/. Zugegriffen: 2. Feb. 2015.
Maus, N. (2002). Ältere Arbeitnehmer – wertvolles Potential für jeden Betrieb. Ergebnisse einer
BKK-Studie. http://dnbgf.de/fileadmin/texte/Downloads/uploads/dokumente/BKK-Studie_ael-
tere_Arbeitnehmer.pdf. Zugegriffen: 2. Feb. 2015.
Die Software AG ist das zweitgrößte deutsche Softwarehaus mit Sitz in Darmstadt. Ge-
gründet 1969, ist das Unternehmen heute in mehr als 70 Ländern mit über 4600 Beschäf-
tigten präsent und erzielt einen Jahresumsatz von knapp einer Milliarde Euro.
Schon vor vielen Jahren erkannten Personalbereich und Betriebsrat die Notwendigkeit,
den Beschäftigten ein flexibles Arbeitszeitmodell zu bieten, um sie beim Gestalten der Le-
bensarbeitszeit in ihren diversen Lebensphasen bis hin zum Ausscheiden aus der aktiven
beruflichen Tätigkeit zu unterstützen.
So entwickelten die beiden Betriebsparteien schon vor über 15 Jahren, und damit als
Vorreiter für viele andere Unternehmen, gemeinsam ein sehr flexibles Arbeitszeitmodell,
das über verschiedene Zeitkonten verfügt. Darüber hinaus trägt das Unternehmen dem
demografischen Wandel seiner Belegschaft Rechnung und bietet den Beschäftigten, die
älter sind als 55 Jahre, eine finanziell unterstützte Form der Teilzeit.
Das Zeitkontenmodell der Software AG enthält zahlreiche Lösungen, die den Be-
schäftigten je nach Lebenslage eine Flexibilisierung der Arbeitszeit ermöglichen. Neben
dem klassischen Gleitzeitkonto, welches bedarfsgerecht kurzfristige Schwankungen der
Arbeitszeit zulässt, bietet das Unternehmen seinen Beschäftigten so genannte Wertgut-
habenkonten. Diese dienen der Umwandlung von Entgeltansprüchen in Ansprüche auf be-
zahlte Freistellung. Das Unternehmen unterscheidet zwischen zwei verschiedenen Wert-
guthabenkonten: Während das Langzeitkonto eine Flexibilisierung der Lebensarbeitszeit
M. Neumannn ()
Software AG, Landsberger Str. 155, 80687 München, Deutschland
E-Mail: monika.neumann@softwareag.com
S. Murmann
Uhlandstraße 12, 64297 Darmstadt, Deutschland
E-Mail: susanne.murmann@softwareag.com
ermöglicht und damit Beschäftigte in allen Lebensphasen adressiert, kann mit dem Zeit-
wertpapier die Lebensarbeitszeit reduziert werden.
Für Beschäftigte in der Altersgruppe ab 55 Jahren gibt es zudem eine spezielle Rege-
lung: Diese ermöglicht unter der Einhaltung bestimmter Prämissen eine Reduktion der
Arbeitszeit bei Teilausgleich der Gehaltsdifferenz durch den Arbeitgeber.
In diesem Beitrag werden nicht nur die verschiedenen Möglichkeiten der Arbeitszeitfle-
xibilisierung im Unternehmen beschrieben, sondern auch wichtige Fragen der konkreten
Umsetzung geklärt und die Erfahrungen des Unternehmens mit den Angeboten reflektiert.
17.1 Die Zeitkonten
17.1.1 Das Gleitzeitkonto
Für alle Beschäftigten, die ein festes Gehalt bekommen beziehungsweise deren variabler
Gehaltsbestandteil geringer ist als 10 %, gibt es ein Gleitzeitkonto. Mit diesem lassen sich
kurzfristige Schwankungen der Arbeitszeit auffangen. Es saldiert Abweichungen der ge-
leisteten Arbeitszeit von der vereinbarten Arbeitszeit bis zu einer Grenze von 60 h. Wird
diese überschritten, wird gekappt. Motivation zur Vereinbarung dieser Kappung war es
nicht, auf Kosten des oder der Beschäftigten Mehrarbeit zu erhalten, sondern vielmehr
sein beziehungsweise ihr Schutz. Eine Führungskraft, so die Annahme bei der Einführung
der Kappung, wird eher auf weitere Arbeitsleistung verzichten, wenn schwarz auf weiß
deutlich wird, dass dies eindeutig zulasten des oder der Beschäftigten geht – nicht nur
was die rein zeitliche Belastung angeht, sondern auch die physische und gegebenenfalls
die psychische. Dies würde ihrer Rolle als Führungskraft schaden, würde sie doch damit
ihre Fürsorgepflicht vernachlässigen. Es ist aber auch ein Schutz des Mitarbeiters bezie-
hungsweise der Mitarbeiterin vor sich selbst. Denn oft findet man leichter ein Ende des
Arbeitstages, wenn man weiß, dass diese zusätzlichen Stunden nicht mehr Eingang finden
in das Gleitzeitkonto. Und die Erfahrung gibt den Betriebsparteien ein Stück weit Recht!
Das Gleitzeitkonto bietet die Möglichkeit, nach Absprache mit der Führungskraft auch
mal kurzfristig ein paar Stunden frei zu nehmen, eine wertvolle Unterstützung vor allem
dann, wenn die beschäftigte Person in der Familienphase ist. Das beginnt bereits in der
Schwangerschaft: Der Partner möchte seine Frau zum Arzt begleiten. Er kommt morgens
später ins Büro oder er geht schon am Frühnachmittag nach Hause oder er ist zwischen-
drin mal für ein paar Stunden außer Haus. Auch zu einem späteren Zeitpunkt ist das Gleit-
zeitkonto eine große Hilfe: Das Kind ist krank, die hierfür vom Gesetzgeber gewährten
zusätzlichen Urlaubstage bereits verbraucht, dennoch können Mama oder Papa zu Hause
bleiben und sich um den kranken Nachwuchs kümmern. Aber auch für die Pflege-Phase,
also für die Phase, in der die Eltern oder andere ältere Familienmitglieder zunehmend
Unterstützung benötigen, ist das Gleitzeitkonto eine wertvolle Hilfe. Es ermöglicht relativ
unproblematisch, im Krankheitsfall da zu sein, eine Unterstützung zu organisieren oder
bei einem notwendigen Behördengang zu begleiten, um nur einige Beispiele zu nennen.
17 Die Zeitkontenmodelle und der Familienservice der Software … 317
Last but not least bietet das Gleitzeitkonto auch die Möglichkeit, in Absprache mit der
Führungskraft zusätzliche Urlaubstage zu nehmen.
Bei diesem Konto gilt: Zeit bleibt Zeit. Zu viel geleistete Arbeitszeit wird ausgeglichen
in Freizeit. Der Ausgleich geschieht nach Absprache mit der Führungskraft.
17.1.2 Die Wertguthabenkonten
Die Wertguthabenkonten sind eher für langfristigen zusätzlichen Zeitbedarf gedacht. Hier
wird nicht Zeit „eingezahlt“ wie beim Gleitzeitkonto, sondern Entgeltansprüche aus dem
Bruttoeinkommen, die auch insolvenzgesichert werden. Steuern und Sozialversicherungs-
beiträge werden erst bei Entnahme fällig.
Bei diesen Konten gilt: Geld wird zu Zeit. Entgeltansprüche werden umgewandelt in
bezahlte Freistellung.
Wir unterscheiden hier das Langzeitkonto für die Flexibilisierung der Lebensarbeitszeit
und das Zeitwertpapier für die Reduzierung der Lebensarbeitszeit.
17.1.2.1 Wertguthabenkonto „Langzeitkonto“
Die Beschäftigten haben verschiedene Möglichkeiten, ihr Langzeitkonto zu „füttern“: Sie
können ihr Brutto-Arbeitsentgelt für bis zu maximal 50 % ihrer vertraglich vereinbarten
Arbeitszeit einzahlen. Beispiel: Bei einer vertraglich vereinbarten Arbeitszeit von 40 Wo-
chenstunden und einer Umwandlung seines Brutto-Arbeitsentgelts von fünf Wochenstun-
den erhält eine Person am Monatsende ihr Arbeitsentgelt für 35 Wochenstunden ausge-
zahlt, der monetäre Wert von fünf Wochenstunden wird im Langzeitkonto gutgeschrieben.
Der monetäre Wert einer Wochenstunde bei einer Arbeitszeit von 40 Wochenstunden be-
rechnet sich nach der Formel „Jahreseinkommen geteilt durch (12 · 173)“. Der Divisor 173
stellt die durchschnittliche Anzahl der Wochenstunden pro Monat dar.
Alle Einzahlungen werden auf den monetären Stundenwert umgerechnet und gutgeschrie-
ben. Den monatlichen Status können die Beschäftigten dem Zeiterfassungssystem entneh-
men. Darüber hinaus erhalten sie von der Bank, die das insolvenzgesicherte Konto führt,
jeweils zum 30. Juni und 31. Dezember eines Jahres einen Kontoauszug über die Anzahl
der Stunden im Guthaben und den entsprechenden monetären Wert.
Entnehmen können die Beschäftigten Einzahlungen für die unterschiedlichsten Zwe-
cke:
Das Langzeitkonto verzinst sich über die Gehaltsentwicklung des Mitarbeiters bezie-
hungsweise der Mitarbeiterin.Eine eingezahlte Stunde mit dem Wert x bleibt bei Entnah-
me eine Stunde, die dann, je nach Gehaltsentwicklung, einen höheren Wert haben kann.
17.1.2.2 Wertguthabenkonto „Zeitwertpapier“
Die zweite Form des Wertguthabenkontos ist das Zeitwertpapier. Auch hier haben die
Beschäftigten verschiedene Möglichkeiten, es zu „füttern“:
Diese „Einbringungen“, wie es im Fachjargon heißt, werden von einem externen Dienst-
leister, bei der Software AG von einem Versicherungsunternehmen, investiert und verwal-
tet. Die Verzinsung geschieht über die Wertentwicklung des Investments. Jeder und jede
Beschäftigte hat ein eigenes Konto, das sie per Internetzugang ständig beobachten können.
Die Insolvenzsicherung läuft bei diesem Modell über einen beauftragten Treuhänder.
Zur Rückdeckung der einzelnen Wertguthaben der Beschäftigten schließt der Treuhänder
gesondert je beschäftigter Person eine Rückdeckungsversicherung ab.
Die Entnahme ist so zu berechnen, dass mit Eintritt in den Ruhestand das Guthaben
aufgebraucht ist. Je nach Entnahme-Schema können die Beschäftigten aus dem Guthaben
eine Teilzeittätigkeit oder aber einen vorgezogenen Ruhestand bei voller Vergütung finan-
17 Die Zeitkontenmodelle und der Familienservice der Software … 319
zieren. Der Charme dieses Modells liegt auch darin, dass in der Entnahmephase weiterhin
ein sozialversicherungspflichtiges Angestelltenverhältnis besteht. Arbeitgeber und Arbeit-
nehmer zahlen also weiterhin ihre Beitragsanteile, so dass auch weiterhin in die Renten-
versicherung einbezahlt wird.
Sollte bei Renteneintritt noch ein Restguthaben vorhanden sein, wird dieses wie Gehalt
steuer- und sozialversicherungspflichtig ausgezahlt. Dasselbe geschieht, wenn eine Per-
son das Unternehmen verlässt und noch Guthaben vorhanden ist.
Eine Mitarbeiterin, die eine Kombination aus beiden Zeitwertkonten nutzt, meint dazu:
Ich finde es super, dass ich mit diesen beiden Modellen, die die Firma anbietet, meine Lebens-
arbeitszeit, wenn auch voll eigenfinanziert, stufenweise reduzieren kann. Meine Lebensquali-
tät hat sich deutlich erhöht. Es bleibt wesentlich mehr Zeit für Familie und Freunde. Ich gleite
quasi in den Ruhestand und stürze nicht hinein. Ich kann mich langsam an mehr Freizeit
gewöhnen bis hin zu dem Tag, an dem mein Wochenende sieben Tage hat!
Die Regelung „55 +“ bietet den Beschäftigten die Möglichkeit, ihre wöchentliche Arbeits-
zeit zu reduzieren, wobei sich das Gehalt im Verhältnis 4 zu 3 reduziert.
Die Motivation des Unternehmens für diese Regelung liegt in zwei Zielen begründet.
Zum einen soll den Beschäftigten eine Möglichkeit gegeben werden, den Übergang zwi-
schen Erwerbstätigkeit und Ruhestand zu gestalten. Zum zweiten ist es ein Mittel, eine
ausgeglichene Altersstruktur und einen gleitenden Wissenstransfer von älteren zu jünge-
ren Beschäftigten zu bewerkstelligen. So sind alle Beteiligten entsprechend ihrer Lebens-
arbeitsphase gefordert.
Die konkrete Ausgestaltung der Regelung „55 +“ sieht folgendermaßen aus:
Ein Mitarbeiter aus dem Bereich Produktentwicklung, der dieses Modell unmittelbar vor
seinem Eintritt in den Ruhestand in Anspruch genommen hat, meint dazu:
Immer häufiger wurde mir bewusst, dass am Wochenende zu wenig freie Zeit für gemein-
same Aktivitäten mit der Familie übrig blieb. Und da meine Kinder mittlerweile mit dem
Studium fertig sind und ihren eigenen Lebensunterhalt verdienen, war die Regelung 55 + eine
Überlegung wert. Und meine Rechnung ist aufgegangen: Die finanzielle Einbuße war für
mich akzeptabel, das Mehr an Freizeit war ein sehr kostbarer Gewinn. Ich habe eine Vier-
tagewoche vereinbart. Den freien Tag pro Woche habe ich nicht festgelegt, sondern nach
Absprache mit dem Projektleiter genommen. So konnte ich mich meinen Hobbys intensiver
widmen und am Wochenende blieb wieder mehr Zeit für die Familie. Mein Fazit: Die Firma
bietet mit 55 + ein gutes Modell zum langsamen Rausgleiten in den Ruhestand. Für mich hat
sich die Teilnahme ausgezahlt.
17.3 pme Familienservice
Beruf und Familie stellen heutzutage hohe Anforderungen an alle. Neben den oben er-
wähnten Zeitkontenmodellen unterstützt die Software AG ihre Beschäftigten in Deutsch-
land bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie und im Umgang mit kritischen Lebens-
phasen.
Dafür hat die Software AG zusammen mit dem pme Familienservice, einem bundes-
weit agierenden unabhängigen Beratungs- und Vermittlungsdienst, ein Angebot erstellt.
17 Die Zeitkontenmodelle und der Familienservice der Software … 321
Beschäftigte und auch ihre Angehörigen erhalten vom Familienservice Beratungs- und
Vermittlungsleistungen zu folgenden Themen:
Da die einzelnen Anforderungen sehr individuell sind, klären geschulte Beraterinnen und
Berater vom Familienservice genau mit den Betroffenen ab, welche Bedürfnisse erfüllt
werden sollen. Gerade in kritischen Lebensphasen hat man oftmals nicht die Zeit und
die entsprechenden Kontakte, um sinnvolle Lösungen zu finden, die den individuellen
Bedürfnissen gerecht werden. Gemeinsam mit dem Familienservice entscheiden die Be-
schäftigten dann über die bestmögliche Unterstützung.
Eine Mitarbeiterin, die diese bereits mehrfach in Anspruch genommen hat, sagt:
Ich bin sehr froh, dass unsere Firma diesen Service anbietet. Als ich nach einer Operation
nach Hause entlassen wurde, brauchte ich dringend Unterstützung, da ich alleine lebe. Und
nur dank des Engagements der stets sehr freundlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des
pme hat meine Krankenversicherung die Kosten für einen Pflegedienst übernommen. Auch
hat mir der Familienservice den Kontakt zu ehrenamtlichen Helfern vermittelt, die mir Ein-
käufe und vielerlei Besorgungen erledigt haben. Bei all meinen ‚Hilferufen‘ fühlte ich mich
stets gut betreut.
Eine andere Mitarbeiterin, die sich um die Versorgung ihrer sehr kranken Mutter geküm-
mert hat, hat ebenfalls Hilfe durch den pme erfahren. Dieser hat ihr Kontakte zu diversen
Hospizen vermittelt. Die Mitarbeiterin sagt:
Ohne den pme hätte ich mich wesentlich schwerer getan, eine passende Einrichtung zu fin-
den. Ich hätte ja auch gar nicht gewusst, welche empfehlenswert ist und welche eher nicht.
Ich fühlte mich bei jedem Telefonat durch das einfühlsame Verhalten meiner Gesprächspart-
nerin gut aufgehoben.
17.4 Fazit
noch nicht vertraut sind mit längeren Abwesenheiten im Beruf, erkennt sie doch eine zu-
nehmende Nachfrage seitens der Belegschaft und glaubt, dass diese weiter steigen wird.
Die Innovationsfähigkeit von Unternehmen ist in hohem Maße vom Engagement und der
Motivation ihrer Beschäftigten abhängig. Die Alterung und Schrumpfung der Erwerbsbe-
völkerung in zahlreichen Industrienationen stellen auch global aufgestellte Unternehmen
wie die SAP vor neue Herausforderungen. Parallel führen Veränderungen von gesetzli-
chen Rahmenbedingungen in Europa dazu, dass Beschäftigte zunehmend länger im Be-
trieb bleiben und ältere Arbeitskräfte in Zukunft eine wachsende Rolle für Unternehmen
spielen. Ein Wertewandel aufseiten der nachfolgenden jungen Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer konfrontiert Arbeitgeber mit neuen Erwartungen im Hinblick auf die Life-
Balance. Obwohl die Innovationsfähigkeit von Organisationen nicht grundsätzlich durch
alternde Belegschaften gefährdet ist, lassen die bisherigen Umfeld- und Arbeitsbedingun-
gen gerade in der IT-Branche eine Beteiligung älterer Beschäftigter an Innovationsprozes-
sen eher zur Ausnahme werden. Gleichzeitig eröffnen der technologische Wandel und die
Globalisierung den Beschäftigten neue Perspektiven und Möglichkeiten der Flexibilität,
verbunden mit neuen Herausforderungen in der Gestaltung der Life-Balance und der Er-
werbsbiografie. Die Fähigkeit zur Innovation ist untrennbar mit der Identifikation und
Gewinnung von geeigneten Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, mit einer hohen Motivati-
on von Führungskräften und Beschäftigten, mit kontinuierlichen Lern- und Entwicklungs-
prozessen und der Integration vielfältiger Wissensbestände und Erfahrungen der Mitarbei-
ter und Mitarbeiterinnen verbunden.
H. Kleefeld ()
SAP SE, Dietmar-Hopp-Allee 16, 69190 Walldorf, Deutschland
E-Mail: heidrun.kleefeld@sap.com
Zur Unterstützung einer „Kultur der Innovation“ setzt die SAP daher auf ein lebens-
phasenorientiertes Personalmanagement, um betriebliche Anforderungen und die persön-
lichen Bedürfnisse der Beschäftigten in allen Lebensphasen in Einklang zu bringen und
damit vielfältige Potenziale zu erschließen.
Für Unternehmen wie die SAP stellt die globale Beschaffung von jungen Talenten und
deren langfristige Integration ins Unternehmen eine wesentliche strategische Option dar.
So werden junge Hochschulabsolventinnen und -absolventen weltweit rekrutiert und in
speziellen „Early-Talent“-Programmen in ihrer Entwicklung gefördert. Für Nachwuchs-
kräfte in Beratung und Vertrieb wird darüber hinaus eine „Sales Academy“ angeboten, in
der Beschäftigte mit Hochschulabschluss weltweit in Trainings gezielt auf ihre Aufgaben
in Vertrieb und Beratung vorbereitet werden (vgl. hierzu die Informationen unter www.
sap.de\careers).
Die Weiterentwicklung der unternehmenseigenen Ausbildung auf europäischem und
globalem Niveau trägt außerdem zur globalen Fachkräftesicherung und -bindung der SAP
bei. So nehmen in Deutschland derzeit mehr als 400 Studierende an einer dualen Hoch-
schulausbildung teil, mehr als 350 Studierende werden in diesem Modus weltweit, unter
anderem in China, Indien und Brasilien, auf die Arbeitswelt bei SAP vorbereitet. Wichtige
Bestandteile dieser Studiengänge sind die Praxisphasen im Ausland, die neben dem Ver-
ständnis für andere Kulturen auch erste Netzwerke über Ländergrenzen hinweg ermögli-
chen. Die strategische Zusammenarbeit mit weltweit ausgewählten Universitäten leistet
hierzu einen wichtigen Beitrag (vgl. Kleefeld 2013).
Ein weiteres Potenzial liegt in der gezielten Rekrutierung von Frauen. In den letzten
zehn Jahren ist eine Zunahme der Erwerbsbeteiligung von Frauen in Deutschland vor al-
lem im Teilzeitbereich zu verzeichnen, die Anzahl der vollzeitbeschäftigten Frauen ist fast
gleich geblieben (vgl. Boes et al. 2011). In anderen Regionen der Erde spielt Teilzeitar-
beit dagegen eine untergeordnete Rolle bei der Erschließung von Arbeitsmarktpotenzialen
(vgl. SAP 2012). Eine Strategie ist es deshalb, lokal durch geeignete Rahmenbedingun-
gen wie etwa ausreichende Angebote angemessener Ganztagskinderbetreuung langfristig
mehr Frauen für SAP zu gewinnen und ihnen Perspektiven auch für die Phase der Eltern-
schaft aufzuzeigen (vgl. econsense 2012a, b).
SAP hat eine lange Erfahrung im Umgang mit flexiblen Modellen zur Arbeitszeitgestal-
tung sowie Regelungen zur Arbeit von zu Hause. Die Existenz der Vertrauensarbeitszeit
ermöglicht hier allen Beschäftigten ein hohes Maß an Flexibilität und Eigenverantwor-
tung. Um den Zugang von hochqualifizierten Frauen zur SAP und die Rückkehr von Frau-
en nach einer Elternzeit zu erleichtern, stellt SAP im Rahmen eines umfassenden „Family
& Career“-Angebots zahlreiche Möglichkeiten der Kinderbetreuung an mehreren Stand-
orten zur Verfügung. Zusätzlich stehen Eltern-Kind-Büros für Notfälle bereit.
Damit ist es SAP gelungen, Frauen eine frühere Rückkehr an den Arbeitsplatz nach
der Elternzeit zu ermöglichen. Als hilfreich hat sich in Deutschland auch der Ausbau von
326 H. Kleefeld
Den zukünftigen Bedarf an Fähigkeiten für einen mittelfristigen Zeitraum in der IT-
Branche zu prognostizieren, ist aufgrund der hohen Änderungsdynamik kaum möglich.
Entscheidend ist es daher, im Unternehmen eine positive Lernkultur für kontinuierliches
Lernen zu etablieren.
Mitarbeitergespräche zur Besprechung der Potenziale der Beschäftigten und zur Fest-
legung der Entwicklungsmaßnahmen gehören bei SAP zum jährlichen Rhythmus der Mit-
arbeiterführung. Dabei werden die Gespräche – unabhängig vom Alter – mit allen Be-
schäftigten weltweit geführt und die Ergebnisse werden transparent und im gegenseitigen
Einvernehmen dokumentiert. Bei der Kompetenzentwicklung in der Softwareentwicklung
ist vor allem das Spannungsfeld zwischen notwendiger fachlicher Expertise (Aktualität
und Tiefe des technologischen Wissens) und zukunftsfähigen Schlüsselqualifikationen in
den Bereichen Methoden- und Sozialkompetenz (Breite des Wissens) zu bewältigen.
Kompetenzentwicklung findet deshalb bei der SAP zu 70 % „on-the-Job“ statt, ergänzt
durch Angebote „near-“ und „off-the-Job“. Dieses Modell der überwiegend arbeitsimma-
nenten Kompetenzentwicklung stellt eine sehr gute Ausgangslage dar, um Beschäftigte
über die gesamte Erwerbsdauer in ihrer Lernfähigkeit und -bereitschaft zu unterstützen.
18 Lebensphasenorientiertes Personalmanagement am Beispiel der SAP SE 327
Das wichtigste Instrument zur Weiterentwicklung der Beschäftigten ist die „Success
Map Learning Solution“. Als „One-Stop-Lösung“ ist sie der zentrale Einstiegspunkt im
Intranet, um sich über Lernangebote zu informieren und diese in Anspruch zu nehmen.
Alle Beschäftigten haben hier Zugang zu mehr als 3 000 Online-E-Learning-Kursen und
Simulationen sowie über 10 000 online verfügbaren Büchern.
Das SAP Career Success Center bietet den Beschäftigten Zugang zu allen internen
Stellenausschreibungen weltweit. Entsprechend seiner ganzheitlichen Ausrichtung liefert
das SAP Career Success Center in Übersichtsplänen detaillierte Informationen darüber,
welche Fähigkeiten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für die wichtigsten Jobs mitbringen
müssen und wie und wo sie diese erlangen können. Sie können ihre zukünftige Entwick-
lung anhand verschiedener Karrierewege planen, die ihnen aufgezeigt werden, individuel-
le Entwicklungspläne erstellen und sehen, welche Fähigkeiten sie dafür aufbauen müssen.
Die virtuellen Lernangebote werden ergänzt durch Maßnahmen, die die Beschäftigten,
neben der kognitiven Befähigung, darin bestärken und ermutigen, neues Verhalten auszu-
probieren und anzuwenden. So bieten sechsmonatige „Fellowship-Programme“, quasi als
Lernaufenthalte in einem anderen Unternehmensbereich, Einblicke in neue Tätigkeitsfel-
der und die Gelegenheit, völlig neue Gebiete kennenzulernen. Das Angebot, als „Shadow“
einem Kollegen oder einer Kollegin für einen bestimmten Zeitraum „über die Schulter zu
schauen“, hilft sowohl jungen als auch erfahrenen Beschäftigten, im Prozess der Arbeit
neue Einsichten zu gewinnen und Verhaltensweisen kennenzulernen.
Arbeitspsychologische und gerontologische Studien zeigen, dass sich Arbeitsmotiva-
tion und Arbeitszufriedenheit im Altersverlauf verändern. So zeigen ältere Beschäftigte
im Vergleich zu jüngeren häufig ein geringeres Interesse an inner- und außerbetriebli-
cher Mobilität, Aufstieg und finanziellen Gratifikationen, wünschen aber vermehrt An-
erkennung ihres Erfahrungswissens, größere Handlungsspielräume, Partizipation an Ent-
scheidungsprozessen und die Vereinbarkeit von Familie (sozialem Netzwerk) und Beruf
(vgl. Brinkmann 2007). Unternehmen sind daher gefordert, Modelle zu entwickeln, die
sowohl in der Vergütung als auch in der Laufbahngestaltung den veränderten Bedürfnis-
sen im Erwerbsverlauf gerecht werden. Karrierepfade, die die Wertschätzung von Ex-
pertise (ohne Mitarbeiterverantwortung) und Erfahrung widerspiegeln, können hier einen
wichtigen Beitrag leisten. Die SAP fördert mit ihrem Programm „Expert Career“ gezielt
die Attraktivität der Fachlaufbahn (vgl. Kleefeld 2013). Dies bietet zum einen Entwick-
lungsperspektiven neben einer klassischen Managementkarriere. Zum anderen hat das
Unternehmen bei flachen Hierarchien parallele Entwicklungspfade, die es ermöglichen,
hoch qualifizierte Beschäftigte je nach Fähigkeiten und Bedürfnissen unterschiedlich zu
fördern und zu entwickeln.
Ein SAP-interner Coachingpool eröffnet Beschäftigten, die ihre Erfahrung weitergeben
möchten, die Chance, dies als Coach – nach einer Ausbildung – während ihrer Arbeitszeit
in Absprache mit ihrer Führungskraft zu tun. Diese Möglichkeit ist gerade für Personen
in der Lebensmitte attraktiv, um eigenverantwortlich und aufgabenunabhängig die eigene
Rolle zu erweitern und neue Impulse zu erhalten und weiterzugeben.
328 H. Kleefeld
Die Gesundheit, das Wohlbefinden und damit auch die Leistungsfähigkeit der Mitarbei-
terinnen und Mitarbeiter zu fördern, ist Teil der Nachhaltigkeitsstrategie der SAP. Neuere
Studien zeigen, dass die betriebliche Gesundheitsförderung einen wesentlichen Beitrag
dazu leistet, Kreativität und Innovationskraft um ein Vielfaches zu erhöhen (vgl. World
Economic Forum 2010). SAP setzt deshalb auf eine globale Gesundheitsstrategie, die ein
gesundes Arbeitsklima weltweit unterstützen und fördern soll.
Ein wichtiger Schritt zur fortlaufenden Gestaltung einer gesundheitsförderlichen Kul-
tur ist die Sensibilisierung der Führungskräfte und Beschäftigten für die Zusammenhänge
zwischen Belastungsfaktoren und gesundheitsförderlichen Ressourcen, den so genannten
„salutogenen Faktoren“ (vgl. Boes et al. 2010). Mit der Sensibilisierung der Mitarbeiterin-
nen und Mitarbeiter und der Vermittlung von Kenntnissen über gesunde Arbeitsbedingun-
gen sollen die Beschäftigten in die Lage versetzt werden, ihre individuellen Ressourcen
entsprechend zu nutzen und einzusetzen. Begleitend zu den vielfältigen Sensibilisierungs-
maßnahmen bestehen arbeitsplatznah umfangreiche Sport- und Fitness-Möglichkeiten
sowie ein vielfältiges Angebot an Kursen zum Work-Life-Management und zur Lebens-
balance.
Neben den genannten Maßnahmen einer unterstützenden Unternehmenskultur ist au-
ßerdem die Arbeitszeitautonomie der SAP-Beschäftigten zu erwähnen, die es ihnen er-
möglicht, Arbeitsbeginn und Rhythmus weitgehend selbst zu bestimmen und mit den
Erfordernissen der jeweiligen Lebensphase in Einklang zu bringen. Diese Flexibilität
bedeutet für die Beschäftigten andererseits, dass sie Kompetenzen hinsichtlich Selbstma-
nagement und gesunder Abgrenzung entwickeln müssen, um eine befriedigende Lebens-
balance zu bewahren und das Risiko einer Selbstüberforderung zu vermeiden.
Studien wie DIWA-IT (www.diwa-it.de, Demografischer Wandel und Prävention in
der IT-Branche) zeigen, dass sich die Arbeitsbedingungen in der IT-Branche in den letzten
Jahren verändert haben und beispielsweise in der Gruppe der Multiprojektmitarbeiterin-
nen und -mitarbeiter in den Unternehmen überdurchschnittlich hohe Belastungsmomente
entstehen. Der Gestaltung der Arbeitsbedingungen kommt deshalb eine zentrale Bedeu-
tung beim Erhalt der Gesundheit zu (vgl. Lotzmann et al. 2011).
Langzeitstudien des finnischen Arbeitswissenschaftlers Ilmarinen belegen, dass
Arbeitsbedingungen sowohl positive als auch negative Effekte auf die Arbeitsfähigkeit
des/der Einzelnen entwickeln können. Um mögliche negative Auswirkungen des Alterns
zu vermeiden, ist es notwendig, ein Bündel an präventiven Maßnahmen aus den Bereichen
Gesundheitsschutz, Arbeitsorganisation, Motivation, Führung, Lernen und Kompetenz-
entwicklung einzusetzen. SAP legt deshalb ein besonderes Augenmerk in der Prävention
auf die Ausbildung und Befähigung der Führungskräfte, die durch spezielle Maßnahmen
sowohl im Umgang mit ihren eigenen Ressourcen unterstützt werden als auch lernen, wie
wichtig wertschätzende Kommunikation und ein gesunder Führungsstil für das Wohlbe-
finden ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind.
18 Lebensphasenorientiertes Personalmanagement am Beispiel der SAP SE 329
ginnen und Kollegen in der gleichen Lebensphase über Werte und Haltungen zu reflek-
tieren und neue Perspektiven für die nächste Lebensphase zu erarbeiten. Ziel von SAP ist
es dabei, die Gesundheit und Arbeitszufriedenheit der Beschäftigten auch in den letzten
Jahren der Betriebszugehörigkeit zu fördern und auch eine Wertschätzung gegenüber die-
sen langjährigen Kolleginnen und Kollegen auszudrücken. Auch die Übergabe von Know-
how und Aufgaben an die nächste Generation soll damit erleichtert werden.
Ähnliche Ziele verfolgt SAP auch mit der Initiative „Senior Expert Services“, welche
in Deutschland pilotiert wird (vgl. Handelsblatt vom 13./14./15. Februar 2015, S. 61 ff).
Dabei geht es um den zeitlich befristeten Einsatz von ehemaligen SAP-Beschäftigten, die
bereits in Rente sind und deren Skills und Kompetenzen projektbezogen einen wertvollen
Beitrag liefern können.
18.3 Abschließende Bemerkungen
Das Ziel, ein attraktiver Arbeitgeber für vielfältige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu
sein, macht eine lebensphasenorientierte Personalarbeit auf einem engen Arbeitsmarkt un-
abdingbar. Die Umsetzung einer lebensphasenorientierten Personalstrategie bietet Chan-
cen, die Beschäftigten in allen Lebensphasen weltweit zugutekommen. So sind lebenslan-
ges Lernen, gesundheitsförderliche Unternehmenskultur und die Vereinbarkeit von Beruf
und Familie wichtige Themen für alle Generationen in unterschiedlichen Kulturen.
Die Praxis zeigt, dass die Verfügbarkeit von Programmen und Rahmenbedingungen
allein nicht ausreicht. Führungskräfte und Beschäftigte müssen die Angebote auch kennen
und nutzen. Dabei sind bisweilen auch Interessenkonflikte zwischen betrieblichen An-
forderungen, Interessen von Kollegen und denen des einzelnen Mitarbeiters zu lösen. Es
ist deshalb erforderlich, den Interessenausgleich immer wieder im Dialog zwischen den
Führungskräften und Beschäftigten herzustellen und hier gezielt durch das Personalma-
nagement zu unterstützen.
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Dr. Heidrun Kleefeld ist seit 2004 bei der SAP AG tätig und derzeit
HR-Business-Partnerin für den Geschäftsbereich Products & Inno-
vation in Deutschland. Bis 2011 leitete sie für den Softwareherstel-
ler das Programm Management Demographie. Aktuell ist sie neben
ihrer Rolle als HR-Business-Partnerin verantwortlich für die Projekte
pinowa und „Mature Talents“. Vor ihrer Zeit bei SAP war sie sieben
Jahre lang als Leiterin der Aus- und Fortbildung in der Chemieindus-
trie beschäftigt. Heidrun Kleefeld hat an der Universität Mannheim
zum Thema „Demografie und Innovationsfähigkeit“ promoviert.