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Springer Reference Sozialwissenschaften

Hans-Joachim Lauth
Marianne Kneuer
Gert Pickel  Hrsg.

Handbuch
Vergleichende
Politikwissenschaft
Springer Reference Sozialwissenschaften
Springer Reference Sozialwissenschaften bietet fachspezifisch und transdisziplinär
Fachwissen in aktueller, kompakter und verständlicher Form. Thematisch umfasst
die Reihe die Fachbereiche der Soziologie, Politikwissenschaft, Medien- und Kom-
munikationswissenschaft sowie der Pädagogik.

Weitere Informationen zu dieser Reihe finden Sie auf http://www.springer.com/


series/15073
Hans-Joachim Lauth • Marianne Kneuer
Gert Pickel
Herausgeber

Handbuch Vergleichende
Politikwissenschaft

mit 28 Abbildungen und 25 Tabellen


Herausgeber
Hans-Joachim Lauth Marianne Kneuer
Universität W€urzburg Universität Hildesheim
W€urzburg, Deutschland Hildesheim, Deutschland
Gert Pickel
Universität Leipzig
Leipzig, Deutschland

ISBN 978-3-658-02337-9 ISBN 978-3-658-02338-6 (eBook)


ISBN 978-3-658-02768-1 (Bundle)
DOI 10.1007/978-3-658-02338-6
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet €
uber http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Springer VS
# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
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Lektorat: Jan Treibel, Daniel Hawig

Gedruckt auf sa€


urefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier

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Die eingetragene Gesellschaft ist Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
Vorwort

Handb€ ucher dienen der disziplinären Verortung. Sie rekapitulieren akademische


Debatten, versammeln den Status quo wissenschaftlicher Erkenntnisse und vermes-
sen zugleich noch bestehenden Forschungsbedarf im Forschungsfeld. Handb€ucher
b€undeln erarbeitete Forschungsergebnisse, ordnen sie ein, weisen auf Defizite oder
Desiderate hin und bilden deswegen seit jeher einen wichtigen Ausgangs- und
Referenzpunkt f€ ur Studierende wie f€ur fortgeschrittene Wissenschaftler.1 Auch –
oder insbesondere – in Zeiten des digitalen Wissenserwerbs bedarf es eines diszipli-
nären Kanons, wobei dieser freilich immer wieder und regelmäßig an neue theore-
tische Strömungen, konzeptionelle Ansätze, empirische Befunde angepasst werden
muss und – bei einer anwendungsbezogenen Disziplin wie der Politikwissenschaft
von hervorgehobener Bedeutung – zugleich die Interpretation und Auslegung politi-
scher Entwicklungen aufzunehmen hat.
Während im angelsächsischen Raum solche Handb€ucher f€ur „Comparative Poli-
tics“ (Oxford University Press, Sage; Boix und Stokes 2009; Landman und Robin-
son 2009) nicht nur €ublich sind, sondern längst ein hohes Renommee erlangt haben
und zum Standard der Disziplin zählen, fehlt der deutschen Vergleichenden Politik-
wissenschaft bislang ein solches Handbuch gänzlich. Dies hinterlässt speziell bei
den Studierenden der Politikwissenschaft an deutschen Universitäten und im
Bereich der Lehre L€ucken. So wie Deutsch als Wissenschaftssprache gerade f€ur
Studierende immer noch von hoher Relevanz ist, ist es speziell die gute Anwend-
barkeit von kompakten und fokussierten Handbuchartikeln zu Themenkomplexen,
welche diese f€ ur die Gestaltung von Seminaren und Vorlesungen so wertvoll macht.
Doch nicht nur Lernende und Lehrende profitieren von Handb€uchern. Auch f€ur
Politikwissenschaftler, die im Umfeld immer weniger Zeitressourcen nach kom-
primierten und verlässlichen Überblicksdarstellungen der aktuellen Situation in
einem Politikfeld oder Bereich der Politikwissenschaft suchen, sind Handbuchbei-
träge hilfreich. Gen€ugend Gr€unde also, ein deutschsprachiges Handbuch f€ur den immer
mehr an Interesse auf sich ziehenden Bereich der Vergleichenden Politikwissenschaft
vorzulegen. Das Ziel der Herausgeber war es deswegen, erstmals ein umfassendes
Kompendium der wichtigsten Aspekte der Vergleichenden Politikwissenschaft f€ur den

1
In diesem Handbuch wird im Text auf dem Hintergrund besserer Lesbarkeit keine Geschlechter-
differenzierung vorgenommen. Selbstverständlich sind immer alle Geschlechter gemeint.
v
vi Vorwort

deutschsprachigen Raum zusammenzustellen und vorzulegen, welches auch im


Wechselspiel mit einschlägigen aktuellen Lehrb€uchern (Caramani 2014; Hague
und Harrop 2013; Jahn 2013; Lauth, Pickel, und Pickel 2014; Wagschal, Jäckle,
und Wenzelburger 2015) einen umfassenden Einblick in die Vergleichende Politik-
wissenschaft ermöglicht.
Ein inhaltlicher Grund dies zu tun, ist die dynamische Entwicklung dieser
Disziplin in den letzten Jahren. So hat das Interesse an Vergleichender Politikwissen-
schaft speziell unter dem Blickwinkel der internationalen Entwicklungen hinsicht-
lich Demokratisierung oder auch Globalisierung eine Nachfragesteigerung erfahren.
Inwieweit Religion doch Einfluss auf Konflikte in der Welt hat, Demokratisierungs-
prozesse voranschreiten oder stagnieren, Parteiensysteme sich wandeln und welt-
weite Kommunikationsstrukturen bzw. die Ausbreitung von Social Media auch
politische Prozesse verändert, all dies sind Fragestellungen, die in der Vergleich-
enden Politikwissenschaft behandelt werden. Dabei wird deutlich, dass die Schnitt-
mengen zwischen den Bereichen der Vergleichenden Politikwissenschaft und den
Internationalen Beziehungen immer größer und damit einst disziplinär gezogene
Grenzen fließender werden, was die Themen und Ansätze angeht, andererseits €uber
die methodischen und konzeptionellen Zugriffe doch auch Differenzen bestehen
oder sich sogar klarer konturieren. Vergleichende Politikwissenschaft ist heute nicht
mehr die Zusammenstellung einer Sammlung einzelner Länderstudien, wie es spe-
ziell auch im angelsächsischen Raum der Fall war. Vielmehr gibt es konzeptionelle
Ansätze, spezifische Methoden und immer stärker ausdifferenzierte Untersuchungs-
bereiche (verschiedene Policies, Prozesselemente und Institutionen). Diese in ihrer
Vielfalt darzustellen, ist eine Herausforderung, welche mit einer hinreichenden
Tiefenschärfe fast nur noch durch ein Handbuch möglich ist, das sowohl die
Divergenz als auch die Kohärenz der komparativen Forschung erfassen kann.
Entsprechend der vielfältigen dynamischen Entwicklungen in diesem Spektrum
erscheint es uns angebracht, deren Facetten einer bilanzierenden und zugleich
Orientierung vermittelnden Reflexion zu unterziehen.
Dabei wird ein pluralistischer und gleichzeitig integrativer Ansatz vertreten.
Pluralistisch insoweit, als dass verschiedenste Zugänge, theoretischer als auch me-
thodischer Art, nebeneinander ihre Berechtigung finden. So kann man ebenso einen
stärker institutionalistisch geprägten Blick auf politische Sachverhalte werfen wie
Akteure stärker in den Vordergrund r€ucken oder der kulturellen Faktoren mehr
Bedeutung zumessen. Daraus entstehende Fragen können wiederum in Fallstudien,
comparative case studies oder auch mit statistischen Vielländervergleichen bearbei-
tet werden. Integrativ ist unser Ansatz, insofern er von einer letztlich €ubergreifenden
Gemeinsamkeit aller Zugänge ausgeht, nämlich dem komparativen Erkenntnisinte-
resse, auf dessen Hintergrund Aussagen getroffen und Erklärungen generiert wer-
den. Nicht die Deskription des Einzelfalls, sondern sein Vergleich mit anderen
Fällen, mit theoretischen Prämissen oder auch seine €uber den Fall selbst hinaus-
reichende Bedeutung macht das Selbstverständnis von Vergleichender Politikwis-
senschaft aus (Berg-Schlosser und Cronqvist 2012; Lauth, Pickel, und Pickel 2015).
Vergleichende Politikwissenschaft wird dementsprechend in einem breiten Sinne
verstanden, das heißt, all jene Bereiche, in denen Untersuchungen vergleichend
Vorwort vii

durchgef€ uhrt werden oder die sich dem Vergleich geöffnet haben, werden
einbezogen – auch wenn sie gelegentlich anderen politikwissenschaftlichen Sub-
disziplinen zugeordnet werden oder Überscheidungen bestehen. Auch die Grenzen
mit anderen Disziplinen wie der Philosophie, Soziologie oder Ökonomie sind
zuweilen fließend. Der hier verfolgte breite und integrative Ansatz versucht, ein
immer wieder konstatiertes Gravaminum, dem Mangel disziplinären Br€uckenbauens
und reziproken Austauschs, zu beheben, indem alle jene Themen integriert werden,
wo die vergleichende Perspektive methodisch, konzeptionell und empirisch-
analytisch fruchtbar gemacht werden kann. So wurde bewusst ein Teil zu „Globali-
sierung und Regionalisierung“ in das Handbuch einbezogen, bei dem Aspekte wie
Europäisierung, Mehrebenenanalyse oder auch Vergleichende Außenpolitikfor-
schung aufbereitet werden; Aspekte also, die sich in einem Schnittmengenbereich
zwischen Vergleichender Politikwissenschaft und Internationalen Beziehungen
befinden. Auch bei Aspekten wie sozialen Protestbewegungen, politischer Kommu-
nikation, politischer Kultur oder Wertewandel sind die Argumentations- und Interes-
senmuster subdisziplinär €ubergreifend.
Das Handbuch ist in acht Abschnitte unterteilt und umfasst 65 Beiträge. Nach
einem grundlegenden Beitrag zu den historischen Entwicklungen des Faches (Teil I)
werden methodische Grundlagen und komparative Verfahren sowie Analysetechni-
ken behandelt (Teil II). Theorien und Konzepte stehen im Fokus des nächsten
Bereichs (Teil III). Grundlegende Ordnungsstrukturen (System, Regime und Regie-
rungsformen) werden ebenso aufgegriffen wie zentrale Konzeptionen und For-
schungsperspektiven (Gender, Governance, Partizipation). Ber€ucksichtigt werden
auch unterschiedliche wissenschaftstheoretische Aspekte der Forschungsorientie-
rung (Rational Choice, Konstruktivismus und Institutionen) und Schulen bildende
Theoriestränge (Policy-Theorien und Entwicklungstheorien). Teil IV bis VI folgt der
klassischen Systematik, indem die drei politischen Dimensionen von Polity, Politics
und Policies zur Ordnung der einbezogenen Aufsätze dient. Dabei werden Themen
wie Demokratisierung, Bildungs-, Sozial- und Wirtschaftspolitik, Europäisierung,
direkte Demokratie, Klientelismus, Migrationspolitik und viele andere mehr von
einschlägigen Experten behandelt. Teil VII enthält jene bereits erwähnte Integration
europäischer und internationaler Aspekte in ihrem komparativen Gehalt. Ziel der
Einzelbeiträge ist die Darstellung der zentralen Begriffe und Kategorien f€ur den
Vergleich, welche in diesem Fachgebiet relevant sind. Danach wird ihr Einsatz in der
Vergleichenden Politikwissenschaft dokumentiert. Dies umfasst sowohl konzeptio-
nelle Teile, den Einbezug von Theorien mittlerer Reichweite als auch Übersichten
€uber die zentralen Forschungen und Forschungsergebnisse. Zuletzt werden L€ucken
in den Bereichen aufgezeigt und ein Blick in die Zukunft des Feldes und seiner
Passung in die Vergleichende Politikwissenschaft vorgenommen. Abschließend gibt
Teil VIII einen Überblick €uber zentrale Datenquellen der Vergleichenden Politik-
wissenschaft. Systematisch werden die empirischen Grundlagen angef€uhrt, die in
vielen quantitativen Studien verwendet werden und grundlegenden G€utekriterien
gen€ugen. Gleichfalls werden die gängigen Lexika und spezialisierten Handb€ucher
aufgelistet, die in der komparativen Forschung zum Einsatz kommen. Dies verstehen
wir als wichtige Handreichung, gerade auch f€ur Studierende.
viii Vorwort

In allen thematischen Beiträgen kommt zwar die spezifische Sichtweise der


Autoren zum Ausdruck, gleichzeitig dient die Orientierung an dem vorgegebenen
Schema der systematischen Vergleichbarkeit innerhalb der Beiträge des Bandes. Der
Vorzug dieser Vorgehensweise ist es, dass Fachexperten in den jeweiligen Gebieten
die Beiträge durchaus in ihrer Perspektive verfassten, ohne gemeinsame Orientie-
rungen aufzugeben. Mit ihrem Einbezug ist eine hohe Aktualität und Fachkompe-
tenz abgesichert, die vor dem Hintergrund der vielen Themenbereiche f€ur eine
Sicherung der Qualität zwingend notwendig ist. Bei der mittlerweile bestehenden
Ausdifferenzierung des Fachs erscheint ein solches Vorgehen angebracht, d€urften
doch kaum Fachexperten zu finden sein, die alle der angesprochenen Thematiken in
gleicher Weise detailliert behandeln können.
F€ur die Bereitschaft der vielen Kollegen, sich an dem Handbuch zu beteiligen,
danken wir an dieser Stelle ganz herzlich. Dieser Einsatz ist nicht selbstverständlich,
wie auch der eine oder andere Ausfall zeigte, der nicht immer kompensiert werden
konnte. Zugleich repräsentieren die Autoren profund die Forschungsaktivitäten der
Sektion f€ur Vergleichende Politikwissenschaft der DVPW und ihrer angeschlosse-
nen Arbeitskreise; exemplarisch steht hierf€ur der Arbeitskreis Demokratieforschung,
in dessen Aktivitäten die Herausgeber €uber einen langen Zeitraum eingebunden
waren bzw. sind.
Mit dem vorliegenden Handbuch wird auch in der Verf€ugbarmachung f€ur die
Scientific Community Neuland betreten. So wurde es in einem digitalen Content-
management-system erstellt, was dazu f€uhrte, dass alle Beiträge dieses Bandes
bereits online verf€ugbar sind.2 Dies stellte auch Anforderungen an Formatierung
und Struktur der Texte, die nicht immer ganz einfach umzusetzen waren. Doch die
doppelte Möglichkeit des Zugriffs, welche speziell dem Interesse der Verwendung in
der Lehre entgegenkommt, d€urfte auf lange Sicht einen hohen Nutzen erbringen, der
die vorherigen Schwierigkeiten nachträglich rechtfertigt. Speziell die Möglichkeit,
durch kontinuierliche Updates nun die Texte fortzuschreiben und aktuell zu halten
erschien den Herausgebern innovativ und erstrebenswert – speziell auf einem so
dynamischen Feld wie der Vergleichenden Politikwissenschaft.
Das Entstehen eines solch umfangreichen Handbuches stellt nicht nur Heraus-
forderungen an die Autoren, was Geduld wie auch Bereitschaft zum Schreiben
angeht, sondern es fordert auch den Verlag und die Herausgeber. Selbst drei Her-
ausgeber sind mit ihren Ressourcen kaum in der Lage, die vielen Aufsätze immer
zeitnah zu kommentieren oder auf Anfragen zu reagieren. Sollte dies nicht immer
sofort geklappt haben und gelegentlich das Gef€uhl aufgekommen sein, dass es nur
schleppend voranginge, so entschuldigen wir uns daf€ur. Der Startschuss erfolgte auf
dem DVPW-Kongress in T€ubingen 2012. Nach drei teilweise turbulenten Jahren, in
denen auch die elektronische Plattform mehrfach justiert wurde, konnte der erfolg-
reiche Abschluss des ambitionierten Projektes im Online-Format nun auf dem
DVPW-Kongress in Duisburg 2015 vermeldet werden. Es freut uns, dass nun auch
die gedruckte Fassung des Handbuchs f€ur Vergleichende Politikwissenschaft vor-

2
http://link.springer.com/referencework/10.1007/978-3-658-02993-7.
Vorwort ix

liegt. Die Erstellung hat alle Seiten gefordert, denn der Herstellungsprozess hat
länger gedauert als geplant. Wir danken daher allen Autoren ganz besonders; nicht
nur f€ur ihre Mitarbeit, die dieses Werk hat zustande kommen lassen, sondern auch
f€
ur ihre Geduld. Dem Springer Verlag - ganz besonders: Dr. Andreas Beierwaltes -
ist daf€
ur zu danken, dass er unserem Projekt offen gegen€uberstand und es begeistert
aufgenommen hat. Daniel Hawig hat immer wieder mit Engagement Lösungen
gefunden f€ ur die ein oder andere auftauchende technische Problematik. Auf das
Feedback der Leserschaft und weitere Anregungen sind wir gespannt. Denn auf-
grund des genannten offenen Produktionsverfahrens können die Autoren das Hand-
buch f€ur Vergleichende Politikwissenschaft in Zukunft auf aktuellem Stand zu halten
und die Fachdiskussionen dadurch zu bereichern. Wir hoffen, mit diesem inter-
aktiven Element ebenso zur Verständigung der Fachdiskussion produktiv beizu-
tragen wie die Zeitschrift f€ur Vergleichende Politikwissenschaft (ZfVP).

Hans-Joachim Lauth
Marianne Kneuer
Gert Pickel

Bibliographie

Berg-Schlosser, Dirk, und Lasse Cronqvist. 2012. Aktuelle Methoden der Vergleich-
enden Politikwissenschaft: Eine Eif€uhrung in konfigurationelle (QCA) und
makro-quantitative Verfahren. Opladen/Farmington Hills: Barbara Budrich.
Boix, Charles, und Susan C. Stokes. 2007. The Oxford handbook of comparative
politics. Oxford: Oxford University Press.
Caramani, Daniele. 2014. Comparative politics, 2. Aufl. Oxford: Oxford University
Press.
Hague, Rod, und Martin Harrop. 2013. Comparative government and politics: An
Introduction, 9. Aufl. O: MacMillan.
Jahn, Detlef. 2013. Einf€uhrung in die vergleichende Politikwissenschaft, zweite
Aufl. Wiesbaden: VS Springer.
Landman, Todd, und Neil Robinson. 2009. Sage handbook of comparative politics.
London: Sage.
Lauth, Hans-Joachim, Gert Pickel, und Susanne Pickel. 2014. Vergleich politischer
Systeme: Eine Einf€uhrung. Paderborn/M€unchen/Wien/Z€urich: Schöningh UTB.
Lauth, Hans-Joachim, Gert Pickel, und Susanne Pickel. 2015. Methoden der ver-
gleichenden Politikwissenschaft, 2te aktualisierte und erweitere Aufl. Wiesbaden:
VS Springer.
Wagschal, Uwe, Sebastian Jäckle, und Georg Wenzelburger. 2015. Einf€uhrung in die
Vergleichende Politikwissenschaft: Institutionen – Akteure –Policies. Stuttgart:
Kohlhammer.
Inhaltsverzeichnis

Teil I Historische Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

Historische Entwicklungen und Grundlagen der


Vergleichenden Politikwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
Dirk Berg-Schlosser

Teil II Methodische Grundlagen und Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . 23

Methodologische Grundlagen des Vergleichs und


Vergleichsdesigns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
Susanne Pickel

Quantitative makroanalytische Verfahren in der


Vergleichenden Politikwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
Gert Pickel

Qualitative Comparative Analysis (QCA) in der


Vergleichenden Politikwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
Claudius Wagemann

Fallstudien und Process Tracing in der Vergleichenden


Politikwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
Wolfgang Muno

Komparative Area-Forschung in der Vergleichenden


Politikwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
Andreas Mehler

Teil III Theorien und Konzepte ............................ 101

Systemwandel und -wechsel in der Vergleichenden


Politikwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
Wolfgang Merkel

xi
xii Inhaltsverzeichnis

Regime in der Vergleichenden Politikwissenschaft:


Autokratie und Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
Hans-Joachim Lauth

Regierungssysteme in der Vergleichenden Politikwissenschaft:


Konzepte und Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
Ludger Helms

Governance und Steuerungsformen in der Vergleichenden


Politikwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
Nicolai Dose

Partizipation in der Vergleichenden Politikwissenschaft . . . . . . . . . . . . 169


Jan W. van Deth

Formale und informelle Institutionen in der Vergleichenden


Politikwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
Hans-Joachim Lauth

Entwicklungstheorien in der Vergleichenden Politikwissenschaft . . . . . 197


Jörg Faust

Gender in der Vergleichenden Politikwissenschaft ................ 209


Claudia Wiesner

Policy-Theorien in der Vergleichenden Politikwissenschaft . . . . . . . . . . 221


Reimut Zohlnhöfer

Pfadabhängigkeit in der Vergleichenden Politikwissenschaft ........ 235


Johannes Gerschewski

Konstruktivistische Ansätze in der Vergleichenden


Politikwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247
Taylan Yildiz

Rational Choice in der Vergleichenden Politikwissenschaft . . . . . . . . . . 261


Johannes Marx

Social Capital in der Vergleichenden Politikwissenschaft ........... 271


Kathrin Ackermann und Markus Freitag

Teil IV Polities . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285

Autokratien und Demokratien in der Vergleichenden


Politikwissenschaft: Empirische Forschung und Befunde . . . . . . . . . . . 287
Gert Pickel
Inhaltsverzeichnis xiii

Staat und Rechtsstaat in der Vergleichenden


Politikwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303
Peter Thiery
Fragile Staaten in der Vergleichenden Politikwissenschaft .......... 319
Daniel Lambach
Staatsstrukturen in der Vergleichenden Politikwissenschaft:
Föderal- und Einheitsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331
Jörg Broschek
Verwaltung in der Vergleichenden Politikwissenschaft . . . . . . . . . . . . . 345
Sabine Kuhlmann
Verfassungsgerichte in der Vergleichenden Politikwissenschaft ...... 361
Sascha Kneip
Verfassungen in der Vergleichenden Politikwissenschaft . . . . . . . . . . . . 373
Astrid Lorenz
Vergleichende Regionenforschung in der Politikwissenschaft . . . . . . . . 385
Till Heinsohn und Markus Freitag
Kommunalforschung in der Vergleichenden Politikwissenschaft ..... 399
Norbert Kersting

Teil V Politics . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413

Wahlsysteme in der Vergleichenden Politikwissenschaft . . . . . . . . . . . . 415


Matthijs Bogaards
Wahlforschung in der Vergleichenden Politikwissenschaft . . . . . . . . . . 427
Kai Arzheimer
Direkte Demokratie in der Vergleichenden Politikwissenschaft . . . . . . . 441
Theo Schiller
Parteien und Parteiensysteme in der Vergleichenden
Politikwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453
Marianne Kneuer und Hans-Joachim Lauth
Parlamente in der Vergleichenden Politikwissenschaft ............. 469
Stefan Marschall
Präsidenten und Regierungen in der Vergleichenden
Politikwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483
Florian Grotz und Ferdinand M€uller-Rommel
xiv Inhaltsverzeichnis

Regierungszentralen in der Vergleichenden


Politikwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497
Stephan Bröchler

Eliten und Leadership in der Vergleichenden


Politikwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511
Manuela Glaab

Zivilgesellschaft und soziale Bewegungen in der Vergleichenden


Politikwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527
Brigitte Geißel und Matthias Freise

Politische Kultur in der Vergleichenden Politikwissenschaft . . . . . . . . . 541


Susanne Pickel und Gert Pickel

Wertewandel in der Vergleichenden Politikwissenschaft . . . . . . . . . . . . 557


Christoph Mohamad-Klotzbach

Protestkulturen in der Vergleichenden Politikwissenschaft . . . . . . . . . . 575


Franziska Deutsch

Extremismusforschung in der Vergleichenden


Politikwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 585
Steffen Kailitz und Tom Mannewitz

Politische Kommunikation in der Vergleichenden


Politikwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601
Karl-Rudolf Korte und Sophia Regge

Digitale Medien in der Vergleichenden Politikwissenschaft . . . . . . . . . . 615


Marianne Kneuer

Korruptionsforschung in der Vergleichenden Politikwissenschaft . . . . . 633


Andrea Gawrich und Tobias Debiel

Klientelismus und Patronage in der Vergleichenden


Politikwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 649
Wolfgang Muno

Teil VI Policies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 663

Sozialstaat in der Vergleichenden Politikwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . 665


Manfred G. Schmidt

Umwelt in der Vergleichenden Politikwissenschaft ................ 677


Detlef Jahn
Inhaltsverzeichnis xv

Steuern in der Vergleichenden Politikwissenschaft ................ 689


Philipp Genschel, Hanna Lierse und Laura Seelkopf
Staatsfinanzen in der Vergleichenden Politikwissenschaft . . . . . . . . . . . 701
Uwe Wagschal
Wirtschaftspolitik in der Vergleichenden Politikwissenschaft . . . . . . . . 717
Daniel Buhr und Josef Schmid
Bildung in der Vergleichenden Politikwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 733
Rita Nikolai und Kerstin Rothe
Politik und Religion in der Vergleichenden Politikwissenschaft ...... 747
Antonius Liedhegener
Migrationspolitik in der Vergleichenden Politikwissenschaft ........ 767
Andreas Blätte
Zivil-militärische Beziehungen in der Vergleichenden
Politikwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 783
Aurel Croissant
Innere Sicherheit in der Vergleichenden Politikwissenschaft . . . . . . . . . 797
Georg Wenzelburger
Entwicklungspolitik: in der Vergleichenden Politikwissenschaft . . . . . . 815
Christof Hartmann
Medienpolitik in der Vergleichenden Politikwissenschaft ........... 825
Klaus Kamps und Frank Marcinkowski
Technologiepolitik in der Vergleichenden Politikwissenschaft . . . . . . . . 837
Roland Czada

Teil VII Globalisierung und Regionalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . 859

Globalisierung und Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 861


Detlef Jahn
Mehrebenanalyse in der Vergleichenden Politikwissenschaft ........ 871
Michèle Knodt, Michael Stoiber und Jörg Broschek
EU und Europäisierung aus komparativer
politikwissenschaftlicher Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 885
Christian Adam und Christoph Knill
Internationale Regime im politikwissenschaftlichen Vergleich ....... 901
Helmut Breitmeier
xvi Inhaltsverzeichnis

Regionalisierung im politikwissenschaftlichen Vergleich . . . . . . . . . . . . 915


Anja Jetschke

Vergleichende Außenpolitikforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 931


Sebastian Harnisch

Teil VIII Materialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 945

Zentrale Datenquellen, Handb€ ucher und Zeitschriften . . . . . . . . . . . . . 947


Toralf Stark und Christoph Mohamad-Klotzbach
Mitarbeiterverzeichnis

Kathrin Ackermann PhD candidate and research assistant, Institut f€ur Politik-
wissenschaft, Universität Bern, Bern, Schweiz

Christian Adam Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl f€ur Empirische


Theorien der Politik, Geschwister-Scholl-Institut f€ur Politikwissenschaft, Ludwig-
Maximilians-Universität M€unchen, München, Deutschland
Kai Arzheimer Professor f€ur Innenpolitik/Politische Soziologie, Institut f€ur Poli-
tikwissenschaft, Universität Mainz, Mainz, Deutschland
Dirk Berg-Schlosser Professor für Politikwissenschaft, Institut f€ur Politikwissen-
schaft, Universität Marburg, Marburg, Deutschland

Andreas Blätte Professor f€ur Public Policy und Landespolitik, Institut f€ur Politik-
wissenschaft, Universität Duisburg-Essen, Duisburg, Deutschland
Matthijs Bogaards Professor, Department of Political Science, Central European
University, Budapest, Ungarn
Helmut Breitmeier Stellvertretender Vorsitzender des Vorstands der Stiftung Ent-
wicklung und Frieden (sef), Professor f€ur Internationale Beziehungen, Institut f€ur
Politikwissenschaft, Universität Gießen, Gießen, Deutschland

Stephan Bröchler Privatdozent, Institut f€ur Sozialwissenschaften, Humboldt-Uni-


versität zu Berlin, Berlin, Deutschland
Jörg Broschek Associate Professor, Department of Political Science, Wilfrid Lau-
rier University, Waterloo, Kanada
Daniel Buhr Professor f€ur Policy Analyse und Politische Wirtschaftslehre, Institut
f€ur Politikwissenschaft, Universität T€ubingen, T€ubingen, Deutschland

Aurel Croissant Professor f€ur Politikwissenschaft, Institut f€ur Politische Wissen-


schaft, Universität Heidelberg, Heidelberg, Deutschland
Roland Czada Professor f€ur Staat und Innenpolitik, Institut f€ur Sozialwissenschaf-
ten, Universität Osnabr€uck, Osnabr€uck, Deutschland
xvii
xviii Mitarbeiterverzeichnis

Tobias Debiel Professor f€ur Internationale Beziehungen/Außen- und Entwick-


lungspolitik, Institut f€ur Politikwissenschaft, Universität Duisburg-Essen, Duisburg,
Deutschland
Franziska Deutsch University Lecturer, Field Coordinator at the Bremen Interna-
tional Graduate School of Social Sciences (BIGSSS), Jacobs University Bremen,
Bremen, Deutschland
Nicolai Dose Professor f€ur Politikwissenschaft und Verwaltungswissenschaft, Ge-
schäftsf€
uhrender Direktor des Instituts f€ur Politikwissenschaft, Universität
Duisburg-Essen, Duisburg, Deutschland
Jörg Faust Direktor des Deutschen Evaluierungsinstituts der Entwicklungszusam-
menarbeit (DEval), Bonn, Deutschland
Matthias Freise Akademischer Oberrat am Institut f€ur Politikwissenschaft, West-
fälische Wilhelms-Universität, M€unster, Deutschland
Markus Freitag Professor f€ur Politische Soziologie, Institut f€ur Politikwissen-
schaft, Universität Bern, Bern, Schweiz
Andrea Gawrich Professorin f€ur Internationale Integration mit besonderem Bezug
auf das Östliche Europa, Institut f€ur Politikwissenschaft, Universität Gießen,
Gießen, Deutschland
Brigitte Geißel Professorin f€ur Politikwissenschaft und politische Soziologie, Lei-
terin der Forschungsstelle ‘Demokratische Innovationen’, Institut f€ur Politikwissen-
schaft, Universität Frankfurt, Frankfurt, Deutschland
Philipp Genschel Professor of Comparative and European Public Policy, Robert
Schuman Centre for Advanced Studies, European University Institute, San
Domenico di Fiesole, Italien
Johannes Gerschewski Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Wissenschaftszentrum
Berlin f€
ur Sozialforschung (WZB), Berlin, Deutschland
Manuela Glaab Professorin f€ur Politikwissenschaft, Institut f€ur Sozialwissen-
schaften Landau, Universität Koblenz-Landau, Landau in der Pfalz, Deutschland
Florian Grotz Professor f€ur Vergleichende Regierungslehre, Institut f€ur Politik-
wissenschaft, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg, Hamburg, Deutschland
Sebastian Harnisch Professor f€ur Internationale Beziehungen und Außenpolitik,
Institut f€
ur Politikwissenschaft, Universität Heidelberg, Heidelberg, Deutschland
Christof Hartmann Professor f€ur Internationale Politik und Entwicklungspolitik,
Institut f€
ur Politikwissenschaft, Universität Duisburg-Essen, Duisburg, Deutschland
Till Heinsohn Akademischer Rat, Lehrstuhl Politikwissenschaft II, Institut f€ur
Sozialwissenschaften, Universität D€usseldorf, D€usseldorf, Deutschland
Mitarbeiterverzeichnis xix

Ludger Helms Professor f€ur Vergleich politischer Systeme, Institut f€ur Politik-
wissenschaft, Universität Innsbruck, Innsbruck, Österreich
Detlef Jahn Professor f€ur Vergleichende Regierungslehre, Institut f€ur Politikwis-
senschaft, Universität Greifswald, Greifswald, Deutschland
Anja Jetschke Professorin f€ur Internationale Beziehungen, Institut f€ur Politikwis-
senschaft, Universität Göttingen, Göttingen, Deutschland
Steffen Kailitz Privatdozent, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hannah-Arendt-
Institut f€
ur Totalitarismusforschung, TU Dresden, Dresden, Deutschland
Klaus Kamps Professor f€ur Kommunikationswissenschaft, Hochschule der Me-
dien Stuttgart, Stuttgart, Deutschland
Norbert Kersting Professor f€ur Vergleichende Kommunal- und Regionalpolitik,
Institut f€
ur Politikwissenschaft, Universität M€unster, M€unster, Deutschland
Sascha Kneip Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Wissenschaftszentrum Berlin f€ur
Sozialforschung (WZB), Berlin, Deutschland
Marianne Kneuer Professorin f€ur Politikwissenschaft, Institut f€ur Sozialwissen-
schaften, Universität Hildesheim, Hildesheim, Deutschland
Christoph Knill Professor f€ur Empirische Theorien der Politik, Geschwister-
Scholl-Institut f€
ur Politikwissenschaft, Ludwig-Maximilians-Universität M€unchen,
M€unchen, Deutschland
Michèle Knodt Jean Monnet Professorin, Professorin f€ur Politikwissenschaft, Ins-
titut f€
ur Politikwissenschaft, TU Darmstadt, Darmstadt, Deutschland
Karl-Rudolf Korte Professor f€ur Politikwissenschaft, Institut f€ur Politikwissen-
schaft, Direktor der „School of Governance“, Universität Duisburg-Essen, Duisburg,
Deutschland
Sabine Kuhlmann Professorin f€ur Politikwissenschaft, Verwaltung und Organisa-
tion, Fachgruppe f€ur Politik- und Verwaltungswissenschaft, Universität Potsdam,
Potsdam, Deutschland
Daniel Lambach Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl f€ur Internationale
Beziehungen und Entwicklungspolitik, Institut f€ur Politikwissenschaft, Universität
Duisburg- Essen, Duisburg, Deutschland
Hans-Joachim Lauth Professor f€ur Vergleichende Politikwissenschaft und Sys-
temlehre, Institut f€ur Politikwissenschaft und Soziologie, Universität W€urzburg,
W€urzburg, Deutschland
Antonius Liedhegener Professor f€ur Politik und Religion, Zentrum f€ur Religion,
Wirtschaft und Politik, Universität Luzern, Luzern, Schweiz
Hanna Lierse Doktorandin am Fachbereich Sozialökonomie der Universität
Hamburg, Hamburg, Deutschland
xx Mitarbeiterverzeichnis

Astrid Lorenz Professorin f€ur das Politische System der Bundesrepublik Deutsch-
land/Politik in Europa, Institut f€ur Politikwissenschaft, Universität Leipzig, Leipzig,
Deutschland
Ferdinand M€ uller-Rommel Professor f€ur Vergleichende Politikwissenschaft, Ins-
titut f€
ur Politikwissenschaft, Universität L€uneburg, L€uneburg, Deutschland
Tom Mannewitz Juniorprofessor f€ur Politikwissenschaftliche Forschungsmetho-
den, Institut f€
ur Politikwissenschaft, TU Chemnitz, Chemnitz, Deutschland

Frank Marcinkowski Professor f€ur Kommunikationswissenschaft, Institut f€ur


Kommunikationswissenschaft, Universität M€unster, M€unster, Deutschland
Stefan Marschall Professor f€ur Politikwissenschaft, Institut f€ur Sozialwissenschaf-
ten, Universität D€usseldorf, D€usseldorf, Deutschland
Johannes Marx Professor f€ur Politische Theorie, Institut f€ur Politikwissenschaft,
Universität Bamberg, Bamberg, Deutschland

Andreas Mehler Direktor des Arnold-Bergstraesser-Instituts, Professor f€ur Ent-


wicklungspolitik und Entwicklungstheorie an der Universität Freiburg, Lead
Research Fellow am GIGA, Institut f€ur Afrika-Studien, Berlin, Deutschland

Wolfgang Merkel Professor am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung


(WZB), Direktor der Abteilung Demokratie und Demokratisierung, Leiter des Cen-
ter for Global Constitutionalism, Berlin, Deutschland
Christoph Mohamad-Klotzbach Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl f€ur
Vergleichende Politikwissenschaft und Systemlehre, Institut f€ur Politikwissenschaft
und Soziologie, Universität W€urzburg, W€urzburg, Deutschland
Wolfgang Muno Privatdozent, Lehrstuhl f€ur Internationale Politik, Institut f€ur
Politikwissenschaft, Universität Mainz, Mainz, Deutschland

Rita Nikolai Juniorprofessorin für Systembezogene Schulforschung, Institut für


Erziehungswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland
Gert Pickel Professor f€ur Religions- und Kirchensoziologie, Institut f€ur Praktische
Theologie, Universität Leipzig, Leipzig, Deutschland
Susanne Pickel Professorin f€ur Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Verglei-
chende Politikwissenschaft, Institut f€ur Politikwissenschaft, Universität Duisburg-
Essen, Duisburg, Deutschland

Sophia Regge Koordination des Projektbausteins “Politische Gespräche” der Stif-


tung Mercator und der NRW School of Governance, Institut f€ur Politikwissenschaft,
Universität, Duisburg, Deutschland
Mitarbeiterverzeichnis xxi

Kerstin Rothe Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Systembezogene


Schulforschung, Institut f€ur Erziehungswissenschaften, Humboldt-Universität zu
Berlin, Berlin, Deutschland
Theo Schiller Institut f€ur Politikwissenschaft, Universität Marburg, Marburg,
Deutschland
Josef Schmid Professor f€ur Politische Wirtschaftslehre und Vergleichende
Politikfeldanalyse, Institut f€ur Politikwissenschaft, Universität T€ubingen, T€ubingen,
Deutschland
Manfred G. Schmidt Professor f€ur Politische Wissenschaft, Universität Heidel-
berg, Heidelberg, Deutschland
Laura Seelkopf Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Zentrum f€ur Sozialpolitik (ZES),
Universität Bremen, Bremen, Deutschland
Toralf Stark Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl f€ur Vergleichende Poli-
tikwissenschaft, Institut f€ur Politikwissenschaft, Universität Duisburg-Essen, Duis-
burg, Deutschland
Michael Stoiber Professor f€ur Vergleichende Politikwissenschaft, Institut f€ur Poli-
tikwissenschaft, FernUniversität Hagen, Hagen, Deutschland
Peter Thiery Dozent am Institut f€ur Politikwissenschaft, Universität Heidelberg,
Heidelberg, Deutschland
Jan W. van Deth Professor f€ur Politische Wissenschaft und International Verglei-
chende Sozialforschung, Institut f€ur Politikwissenschaft, Universität Mannheim,
Mannheim, Deutschland
Claudius Wagemann Professor f€ur Methoden der qualitativen empirischen Sozi-
alforschung, Institut f€ur Politikwissenschaft, Universität Frankfurt, Frankfurt,
Deutschland
Uwe Wagschal Professor f€ur Vergleichende Regierungslehre, Seminar f€ur Wissen-
schaftliche Politik, Universität Freiburg, Freiburg, Deutschland
Georg Wenzelburger Juniorprofessor f€ur Politikwissenschaft mit Schwerpunkt
Politische Ökonomie, Fachgebiet Politikwissenschaft, TU Kaiserslautern, Kaisers-
lautern, Deutschland
Claudia Wiesner Privatdozentin, Senior Guest Researcher am Jean Monnet Centre
of Excellence “Europe in Global Dialogue”, TU Darmstadt, Darmstadt, Deutschland
Taylan Yildiz Akademischer Rat a. Z. am Lehrstuhl f€ur Politikwissenschaft, Insti-
tut f€
ur Politikwissenschaf, Universität Duisburg-Essen, Duisburg, Deutschland
Reimut Zohlnhöfer Professor f€ur Vergleichende Analyse politischer Systeme,
Institut f€
ur Politische Wissenschaft, Universität Heidelberg, Heidelberg, Deutsch-
land
Teil I
Historische Entwicklungen
Historische Entwicklungen und Grundlagen
der Vergleichenden Politikwissenschaft

Dirk Berg-Schlosser

Zusammenfassung
Der Beitrag behandelt die Entwicklung der Teildisziplin „Vergleichende Politik-
wissenschaft“ beziehungsweise „comparative politics“. Gezeigt werden deren
Ausdifferenzierung und ihre konzeptionellen und methodischen Grundlagen.
Diese haben eine eigene Entwicklungsgeschichte und einen speziellen Stellen-
wert f€ur die VP. Hieran schließt sich eine detaillierte Betrachtung wichtiger
neuerer Forschungsetappen und inhaltlicher Weiterentwicklungen an. Betont
wird die enge Verbundenheit der politischen Entwicklungen mit den jeweils
aktuellen Forschungsfragen. Zum Schluss wird auf aktuelle Herausforderungen
im Sinne wieder verschwimmender Fachgrenzen, auf Mehrebenenanalysen und
interdisziplinäre Ansätze eingegangen.

Schlüsselwörter
Vergleichende Politikwissenschaft • Comparative Politics • Komparative Metho-
den • Systemtheorie • Sozialwissenschaftliches Erklärungsmodell • Qualitative
Comparative Analysis • Area Studies • Mehrebenenanalyse

1 Einleitung

Die Vergleichende Politikwissenschaft (VP) war seit Beginn einer philosophischen


und empirischen Befassung mit Charakteristika und Problemen politischer Gemein-
wesen konstitutiver Bestandteil einer „Wissenschaft von der Politik“ („episteme poli-
tike“). Sie widmete sich den „großen Fragen“ der Menschheit wie Bedingungen und
Kriterien einer „guten“ und dauerhaften politischen Ordnung, ihren sozialstrukturellen

D. Berg-Schlosser (*)
Professor f€ur Politikwissenschaft, Institut f€
ur Politikwissenschaft, Universität Marburg, Marburg,
Deutschland
E-Mail: bergschl@staff.uni-marburg.de

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 3


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_1
4 D. Berg-Schlosser

und kulturellen Grundlagen, ihren unterschiedlichen institutionellen Ausprägungen,


den Entwicklungen und Variationen im Zeitablauf und schließlich der Frage nach dem
Sinn und möglichen Zielen der Geschichte und der Sinngebung menschlichen
Daseins als eines in solche Zusammenhänge unvermeidlich eingebetteten sozialen
und politischen Wesens („zoon politikon“). Die Antworten hierauf fielen allerdings
im Laufe der Zeit sehr unterschiedlich aus.
Nicht zu Unrecht gilt Aristoteles als einer der wesentlichen Begr€under dieser
Teildisziplin der modernen Politikwissenschaft, der empirische Untersuchungen
€uber die Verfassungen der Staaten seiner Zeit mit normativen Reflexionen €uber am
Gemeinwohl ausgerichtete politische Ordnungsformen verband und hieraus eine
erste grundlegende, heute noch bedeutsame Typologie entwickelte. Aber auch
Cicero, Polybius und Tacitus zur Zeit des Römischen Reiches, Machiavelli in der
Renaissance und Montesquieu in der Epoche der Aufklärung können mit Fug und
Recht zu den Wegbereitern der VP gezählt werden (vgl. a. Eckstein 1963). Aber
auch in nichtwestlichen Kulturen wie in wichtigen Schriften des Hinduismus,
Buddhismus, Konfuzianismus und Islam finden sich Ansätze hierzu (vgl. die
Einleitung und die entsprechenden Beiträge in Badie et al. 2011).
Die europäische Aufklärung bewirkte dann aber auch einen entscheidenden
Bruch mit „prä-modernen“ Traditionen (zu diesem Begriff vgl. a. von Beyme
2010). Philosophie und empirische Wissenschaften lösten sich zunehmend von ihren
religiösen und metaphysischen Wurzeln und entwickelten eigenständige Denksys-
teme und Begr€ undungen. Die „kritisch-rationale“ Auseinandersetzung mit der nat€ur-
lichen Welt, aber auch mit sozialen und politischen Gegebenheiten trat in den
Vordergrund. Die unterschiedlichen Wissenschaftsbereiche differenzierten sich zu-
nehmend unter weiterer Reflexion ihrer epistemologischen und methodologischen
Grundlagen und Ansätze.
Dies gilt auch f€ur die Politikwissenschaft. Je nach Land und jeweiliger Wissen-
schaftstradition löste und emanzipierte sich die Politikwissenschaft von ihr nahe-
stehenden Disziplinen wie der Geschichtswissenschaft und der Staatsrechtslehre,
aber auch der allgemeineren Soziologie, Ökonomie und Philosophie. Dies geschah
zunächst noch in Mischformen und Konglomeraten wie den „Wissenschaften von
der Politik“ (im Plural!) an eigenständigen Institutionen wie der „Ecole Libre des
Sciences Politiques“ in Paris (gegr€undet 1872) und der „London School of Econo-
mics and Political Science“ (gegr€undet 1885) oder, als außeruniversitäre Institution,
der „Hochschule f€ur Politik“ in Berlin (gegr€undet 1919). In den USA wurde political
science mit Beginn des 20. Jahrhunderts zu einer eigenständigen universitären
Disziplin, in Europa jedoch vorwiegend erst nach dem 2. Weltkrieg, in Deutschland
zunächst unter den Auspizien der „re-education“ der Alliierten, insbesondere in der
amerikanischen Besatzungszone (zu den Entwicklungen im Einzelnen vgl. Easton
et al. 1991; Lietzmann und Bleek 1996; Klingemann 2007). Nach den Umbr€uchen
1989/90 gilt dies auch f€ur die osteuropäischen Staaten (Eisfeld und Pal 2010). Auch
in anderen Weltregionen ist die Politikwissenschaft mittlerweile dauerhaft etabliert,
wie es auch die Kongresse und anderen Aktivitäten der „International Political
Science Association“ (IPSA) widerspiegeln.
Historische Entwicklungen und Grundlagen der Vergleichenden. . . 5

Das Fach selbst unterteilt sich im Wesentlichen, auch in der universitären


Mindestausstattung, in die Bereiche Politische Theorie (und Ideengeschichte),
Innenpolitik, Außenpolitik und Internationale Beziehungen und die vergleichende
Untersuchung politscher Systeme bzw. VP. Weitere Differenzierungen wie politische
Philosophie, politische Soziologie, politische Ökonomie und Spezialisierungen in
Parteien- und Verbändeforschung, Wahlforschung usw., auch mit unterschiedlichen
Lehrstuhlbezeichnungen, sind jedoch häufig anzutreffen.
Im Folgenden wird auf die Entwicklung der Teildisziplin „Vergleichende Politik-
wissenschaft“, eine Bezeichnung die sich als Äquivalent der angelsächsischen
„comparative politics“ mittlerweile eingeb€urgert hat, näher eingegangen. Der
nächste Abschnitt befasst sich daher mit dieser Ausdifferenzierung und ihren kon-
zeptionellen und methodischen Grundlagen. Diese haben eine eigene Entwicklungs-
geschichte und einen speziellen Stellenwert f€ur die VP (Munck 2007). Hieran
schließt sich eine detailliertere Betrachtung wichtiger neuerer „Sch€ube“ und inhaltli-
cher Weiterentwicklungen an. Zum Schluss wird auf aktuelle Herausforderungen im
Sinne wieder verschwimmender Fachgrenzen, auf Mehrebenenanalysen und
interdisziplinäre Ansätze eingegangen.

2 Ausdifferenzierung der VP, konzeptionelle und


methodische Grundlagen

Mit der universitären Etablierung der Politikwissenschaft nahezu weltweit ging,


trotz aller nach wie vor z. T. bestehenden nationalen u. a. Besonderheiten, eine
gewisse Annäherung und Vereinheitlichung ihrer Untergliederungen und Standards
einher. Der Vergleich unterschiedlicher politischer Ordnungsformen auf allen Ebe-
nen und in allen Facetten ist dabei zum unverzichtbaren Bestandteil des Faches
geworden. Entscheidend hierzu beigetragen hat eine „systemische“ Betrachtungs-
weise wie sie in der Politikwissenschaft vor allem von Autoren wie Easton (1953,
1965), Almond (1956) und Deutsch (1963) in Anlehnung an die allgemeinere
Kybernetik und Systemtheorie entwickelt worden ist. Ein solches allgemeines Sys-
temmodell ermöglicht es, sehr unterschiedliche politische Ordnungsformen in ihren
Teilaspekten und Interaktionen zu erfassen. Ein vereinfachtes Modell im Easton-
schen Sinne lässt sich wie folgt darstellen (Abb. 1):
Hierbei ist hervorzuheben, dass dieses Modell an dieser Stelle in einem vor-
theoretischen Sinne verwendet wird, also viele der weitergehenden, öfter auch
kritisierten systemtheoretischen Annahmen der Kybernetik oder, in einer sehr spe-
ziellen Ausprägung, der autopoietischen Systemtheorie Luhmanns (1984) nicht teilt
(zur Kritik vgl. Narr und Naschold 1969). Es dient hier lediglich der Klassifizierung
verschiedener Teilbereiche und illustriert ihre möglichen Interaktionen. Insofern
sind auch die angegebenen Pfeile nur als Andeutungen zu verstehen, tatsächliche
Abläufe können sehr viel komplexer ausfallen. In diesem Sinne sind die zugrunde-
gelegten Konzepte des politischen Systems, Inputs, Outputs, R€uckkopplungen usw.
6 D. Berg-Schlosser

Politisches System
Politische Stile

Internationales System
Internationales System

Institutionen

Intermediäre Strukturen Output-Strukturen


Politische Parteien Verwaltung
Organisierte Interessen Sicherheitsapparate
Soziale Bewegungen Soziale Sicherungssysteme

Soziales System
Politische Kultur
Sozialstruktur

Abb. 1 Vereinfachtes Systemmodell. Quelle: Eigene Darstellung, vgl. a. Berg-Schlosser und


Stammen (2012, S. 110 ff.)

Makro: Soziale Situation Explanandum

Meso: Aggregierung
(Logik der
Situation) (Logik der
Aggregation)

Mikro: Akteur Handlung


(Logik der Selektion)

Abb. 2 Ebenen sozialwissenschaftlicher Analyse nach Coleman. Quelle: adaptiert nach Coleman
(1990, Kap. 1); Esser (1993, S. 98)

mittlerweile Teil der allgemeinen politikwissenschaftlichen Begrifflichkeit gewor-


den (Caramani 2011, S. 9 f.). Anhand eines solchen Modells lassen sich nun
konkrete Inhalte des Vergleichs, wie z. B. das Parteiensystem, das Wahlsystem,
unterschiedliche politische Institutionen usw., erfassen und in ihren Funktionen
und Wechselwirkungen zuordnen.
Eine weitere wichtige Konzeptionalisierung betrifft unterschiedliche Ebenen der
Analyse. In dieser Hinsicht hat sich das allgemeinere sozialwissenschaftliche Er-
klärungsmodell von James S. Coleman (1990) als hilfreich erwiesen (Abb. 2).
Ausgangspunkt in jeder konkreten Analyse ist der jeweilige (historisch, regional,
kulturell usw. geprägte) soziale Kontext auf der Makro-Ebene (im linken oberen
Bereich), der auch die jeweiligen „objektiven“ Ausgangsbedingungen und die
Historische Entwicklungen und Grundlagen der Vergleichenden. . . 7

Reichweite möglicher Handlungsoptionen („opportunity set“, vgl. Elster 1989)


umfasst. Diese werden auf der Mikro-Ebene der einzelnen Personen und Akteure
„subjektiv“ wahrgenommen (unten links) und in konkrete Handlungen (oder den
Verzicht auf solche) €ubersetzt (unten rechts). Diese einzelnen Handlungen können
dann in unterschiedlichen Formen (z. B. in Interessengruppen, Verbänden, Parteien
usw.) auf der Meso-Ebene (Mitte rechts) geb€undelt und aggregiert werden, um dann
letztlich auf der Makro-Ebene (oben rechts) als zu erklärender Tatbestand
(z. B. konkrete Entscheidungen im politischen System) wirksam zu werden. Auf
diese Weise können unterschiedliche Analyseebenen und ihre Wechselwirkungen
sinnvoll miteinander verkn€upft werden, ohne zu „individualistischen“ (Schließen
von der Makro- auf die Mikro-Ebene) oder „ökologischen Fehlschl€ussen“ (Schlie-
ßen von der Mikro- auf die Meso- oder Makroebene) zu f€uhren (Dogan und Rokkan
1969). An dieser Stelle sollen ebenfalls keine näheren Verhaltensannahmen, wie
z. B. einer ökonomischen o. a. Nutzenmaximierung wie in der „rational choice“-
Theorie auf der Mikroebene, mit einem solchen Modell verbunden werden.
Ein Beispiel aus der Wahlforschung (Lipset und Rokkan 1967; Rohe 1992) kann
dies erläutern: Ausganspunkt ist zunächst die historisch, sozialstrukturell, kulturell
usw. geprägte Makro-Ebene (oben links). Diese beeinflusst durch entsprechende
Sozialisationsfaktoren wie kulturellem „framing“ u. ä. die Wahrnehmungen auf der
Mikro-Ebene des jeweiligen Wählers (unten links). Dieser entscheidet sich nun im
Rahmen seiner Interessen und Präferenzen f€ur eine bestimmte Partei und setzt dies
durch den Wahlvorgang und andere Partizipationsformen in konkretes Handeln um
(unten rechts). Um politisch wirksam zu werden, m€ussen diese Handlungen aller-
dings wieder auf der Meso-Ebene in meist parteipolitischen Organisationsformen
geb€undelt werden (Mitte rechts). Hierbei spielt auch das jeweilige Wahlrecht eine
Rolle. Schließlich entscheidet dann in parlamentarisch-demokratischen Systemen
die jeweilige parteipolitische Zusammensetzung im Parlament €uber die Regierungs-
bildung auf der Makro-Ebene (oben rechts). Ein individualistischer Fehlschluss läge
dann vor, wenn von den „objektiven“ Bedingungen auf der Makro-Ebene (oben
links) direkt auf Wahrnehmungen und tatsächliches Verhalten auf der Mikro-Ebene
wie im orthodoxen Marxismus („das Sein bestimmt das Bewusstsein“) geschlossen
wird, ohne mögliche andere Einflussfaktoren zur Kenntnis zu nehmen. Zu ökologi-
schen Fehlschl€ ussen (nicht zu verwechseln mit anderen „Umwelt“-Problemen!)
kann es kommen, wenn direkt von der Mikro-Ebene, z. B. demoskopischen Erhe-
bungen, direkt auf die Regierungsbildung unter Außerachtlassung intervenierender
Faktoren wie des Wahlrechts usw. und unterschiedlicher möglicher Koalitionen, die
sich hieraus ergeben, geschlossen wird.
Solche Konzeptionalisierungen ermöglichen nun auch systematische Vergleiche.
Insofern verkn€ upft die VP konkrete Inhalte mit einer speziellen Methodik. Sie ist
dabei, insbesondere auf der Makro-Ebene, mit dem speziellen Dilemma konfrontiert,
dass relativ wenige, aber sehr komplex Fälle miteinander verglichen werden m€ussen
(„small N – many variables“, vgl. a. Lijphart 1971, 1975). Gegen€uber auf große
Fallzahlen und meist auch Zufallsstichproben aus größeren Gesamtheiten („random
sampling“) angewiesenen statistischen Verfahren, z. B. bei repräsentativen Umfragen
auf der Mikro-Ebene, erfordert die VP daher eine spezifische komparative Methode.
Diese geht in ihren Grundz€ugen auf John Stuart Mill’s „A System of Logic“
8 D. Berg-Schlosser

(1974, zuerst erschienen 1843) zur€uck. Wie eingangs ausgef€uhrt haben Vergleiche in
der Politikwissenschaft zwar eine sehr viel längere Tradition, der Vergleich als syste-
matische Methode und nicht nur exemplarische Illustration, wie z. B. a. bei Machia-
velli, oder lediglich implizit wie bei Tocqueville (1835/40) ist aber j€ungeren Datums.
Mill’s „method of agreement“ versucht, einen oder wenige gemeinsame Faktoren
bei einer größeren Zahl von Fällen, die ein gemeinsames Phänomen als abhängige
Variable aufweisen, zu isolieren. In dieser Gemeinsamkeit wird dann die Ursache
des beobachteten Phänomens gesehen. Die „method of difference“ wendet hingegen
eine experimentelle Versuchsanordnung an, bei der durch Einf€uhrung eines be-
stimmten Stimulus der eintretende Effekt beobachtet werden kann. Aus praktischen
oder ethischen Gr€ unden scheidet allerdings eine solche Versuchsanordnung f€ur viele
sozialwissenschaftliche Fragestellungen aus. Stattdessen kann die „indirect method
of difference“ auf „quasi-experimentelle“ Art angewendet werden. Durch eine zwei-
stufige Anwendung der Übereinstimmungsmethode zu unterschiedlichen Zeitpunk-
ten vor und nach Eintreten eines bestimmten Ereignisses kann man Faktoren, die
bereits vorher anwesend waren, eliminieren bzw. andere, die erst nachträglich
eingetreten sind, ebenfalls ausschließen.
Alle diese Methoden implizieren aber „positivistische“ Annahmen €uber die
Beziehungen zwischen Ursachen und Wirkung und setzen verhältnismäßig mecha-
nische und deterministische Kausalbeziehungen voraus, die selbst in den „harten“
Naturwissenschaften häufig nicht gegeben sind. Zu tatsächlichen wissenschaftlichen
Entdeckungen f€ uhren sie nur, wenn in der urspr€unglichen Versuchsanordnung der
relevante kausale Faktor bereits enthalten ist, also auch durch entsprechende theorie-
geleitete Hypothesen ber€ucksichtigt wurde. Die Anwendung von Mills Methoden
f€uhrt daher häufig nicht zu neuen positiven Erkenntnissen, sie eignen sich aber
hervorragend, um aufgestellte Hypothesen und Theorien zu testen und im Popper-
schen (1972) Sinne zu falsifizieren.
In ihrer Diskussion der Millschen Methoden legen in ihrem Standardwerk Cohen
und Nagel (1934) daher eindeutig dar, dass diese Verfahren als solche „weder
Methoden des Beweises noch Methoden der Entdeckung“ (S. 266) seien. Dennoch
„sind sie von unzweifelhaftem Wert f€ur den Prozess der Wahrheitsfindung. Dadurch,
dass sie falsche Hypothesen eliminieren, verringern sie das Feld, in dem die wahren
gefunden werden können. Und selbst wenn diese Methoden nicht alle irrelevanten
Faktoren eliminieren können, so ermöglichen sie uns doch annäherungsweise die
Bedingungen des Auftretens („conditions of occurrence“) eines Phänomens zu
bestimmen, so dass wir sagen können, eine Hypothese ist logisch ihren Rivalen
vorzuziehen“ (S. 267, Übersetzung und Hervorhebung durch Verf.).
Gerade auch auf diesem Gebiet waren in den vergangenen Jahrzehnten wichtige
Weiterentwicklungen zu verzeichnen. In einem weiteren Standardwerk unterschie-
den Przeworski und Teune (1970) zwischen „most similar“ und „most different
systems designs“ f€ur systematische Vergleiche. Diese wurden mittlerweile auch im
Hinblick auf unterschiedliche Outcomes (MSDO- und MDSO-Designs) operationa-
lisiert (vgl. Berg-Schlosser und De Meur 2009). Diese Weiterentwicklung der
Millschen Verfahren bei begrenzten Fallzahlen lässt sich im folgenden Schaubild
verdeutlichen (Abb. 3):
Historische Entwicklungen und Grundlagen der Vergleichenden. . . 9

MDSO MSDO

Abb. 3 MDSO- und MSDO-Designs. Quelle: Eigene Darstellung

Die stärker schraffierten Flächen geben hier jeweils beim paarweisen bzw. dem
Vergleich von drei Fällen die f€ur das outcome möglicherweise in Frage kommenden
wesentlichen Faktoren wieder, während die weißen Flächen außer Acht gelassen
(„kontrolliert“) werden können. „Most different systems with similar outcomes“
(MDSO) weisen so nur noch relativ geringe Schnittmengen aus, in denen Faktoren
f€
ur die zu erklärenden Unterschiede vermutet werden können. Umgekehrt werden
die Spezifika von „most similar systems with different outcomes“ in den grauen
Randbereichen hervorgehoben.
Parallel dazu wurden neue „makro-qualitative“ Ansätze auf mengentheoretischer
Basis und unter Zuhilfenahme der Booleschen Algebra wie „Qualitative Compara-
tive Analysis“ (QCA) in unterschiedlichen Varianten entwickelt (Ragin 1987, 2000,
2008). Auf diese Weise konnten entscheidende Fortschritte in Untersuchungssitua-
tionen erzielt werden, die von vorneherein mit kleinen oder mittelgroßen Fallzahlen
konfrontiert sind, wie z. B. beim Vergleich politischer Systeme, aber auch in der
Makro-Ökonomie usw. Zentraler Aspekt hierbei ist die Möglichkeit der Reduktion
von Komplexität durch systematische und Schritt f€ur Schritt paarweise Vergleiche, die
letztlich zur Ermittlung der verbleibenden wesentlichen Faktoren („prime implicants“),
z. T. auch in unterschiedlichen Kombinationen („conjunctural causation“), f€uhren. Die
Grundregel lautet dabei: „If two Boolean expressions differ in only one causal condi-
tion yet produce the same outcome, then the causal condition that distinguishes the two
expressions can be considered irrelevant and can be removed to create a simpler,
combined expression“ (Ragin 1987, S. 93). Dies zeigt das folgende Beispiel:

A  B  C þ A  B  c ¼ O;

d. h. die eine oder (+ steht f€ur ein Boolesches oder) andere Kombination f€uhrt zum
selben outcome. Dies kann reduziert werden zu: A B = O, wobei die Anwesenheit
oder Abwesenheit von C (ausgedr€uckt durch Groß- oder Kleinschreibung) hier als
irrelevant angesehen werden kann.
Mittlerweile ist diese Methode auch f€ur die Verwendung von mehrwertigen
Variablen („multi-value QCA“, mvQCA) und „fuzzy sets“ (fsQCA) mit der ent-
sprechenden software weiterentwickelt worden (zu Einzelheiten s. Rihoux und
10 D. Berg-Schlosser

Tab. 1 Zentrale Unterschiede makro-qualitativer und makro-quantitativer Verfahren


Merkmale makro-qualitativ (konfigurationell) makro-quantitativ (statistisch
Fälle bekannt (mehr oder weniger anonym)
N klein bis mittel groß
Auswahl zielgerichtet (z. B. MSDO/MDSO möglichst viele, vorzugsweise
Designs), jeder Fall bedeutsam zufallsgesteuert,
„Ausreißer“ oft ignoriert
Komplexität groß gering
Kausalitätsmuster notwendige und hinreichende Korrelationen, Regressionen,
Bedingungen, möglicherweise Mittelwerte €
uber alle Fälle
„konjunktural“, hinweg
Äquifinalität
Erklärung „dicht“ „d€
unn“
deterministisch probabilistisch
Validität: „intern“ (nur behandelte Fälle) „extern“ (schließend,
verallgemeinerbar)
Abdeckung begrenzt potentiell universal
Reichweite der mittel groß
Theorie
Methoden: systematisch komparativ, statistisch
z. B. QCA
Quelle: Eigene Zusammenstellung

Ragin 2009; Berg-Schlosser und Cronqvist 2011). Diese Verfahren stellen einen eigen-
ständigen wichtigen Bereich gerade f€ur Analysen mit relativ geringen Fallzahlen dar im
Gegensatz zu makro-quantitativen statistischen Verfahren, die möglichst große Fall-
zahlen erfordern (vgl. Aarebrot und Bakka 2006; Niedermayer und Widmaier 2006).
Wesentliche Unterschiede gegen€uber bis dahin €uberwiegenden makro-
quantitativen Methoden, die in erster Linie auf statistischen Mittelwerten, Signifi-
kanzanalysen, Korrelationen und Regressionen beruhen, werden in der folgenden
Gegen€ uberstellung deutlich (s. Tab. 1).
Wichtig ist hierbei zu beachten, dass mengentheoretische Ansätze einer unter-
schiedlichen Logik folgen, die notwendige und ausreichende Bedingungen, aber
auch unterschiedliche „konjunkturale“ Konstellationen, d. h. unterschiedliche Kom-
binationen von Faktoren mit demselben Ergebnis (Äquifinalität) ermitteln kann (vgl.
Goertz und Mahoney 2012). Es geht hierbei nicht um ein Konkurrenzverhältnis zu
statistischen Verfahren oder deren Übertragung auf Situationen mit kleinen Fall-
zahlen (wie bei King et al. 1994), sondern um einen eigenständigen supplementären
Ansatz (Brady und Collier 2010), der sich auch in „mixed methods“ Vorgehens-
weisen unterschiedlich mit Fallstudien und statistischen Methoden kombinieren lässt
(Berg-Schlosser 2012b). Auf diese Weise konnte das verf€ugbare analytische Instru-
mentarium der VP entscheidend erweitert und verbessert werden.
Dies ist z. B. auch f€ur Regionalstudien („area studies“) mit von vorneherein
begrenzten Fallzahlen auf der Makro-Ebene von Bedeutung. Diese können jetzt
Historische Entwicklungen und Grundlagen der Vergleichenden. . . 11

stärker analytisch und weniger lediglich deskriptiv betrieben werden, ohne auf f€ur
solche Fallzahlen fragw€urdige statistische Verfahren angewiesen zu sein. Die Ein-
grenzung auf „Theorien mittlerer Reichweite“ kann dabei in einem doppelten Sinn
verstanden werden: Zum einen als Teilbereichstheorien f€ur bestimmte Sachverhalte,
wie z. B. das Wählerverhalten, im Gegensatz zu „großen“, alles erklären wollenden
Theorien; zum anderen als Eingrenzung in Raum und Zeit im Gegensatz zu univer-
salistischen immer und €uberall Geltung beanspruchenden Theorien. Die „Tiefe“
solcher auch auf fundierten historischen, ethnologischen usw. Kenntnissen beruh-
enden Untersuchungen kann so auch theoretisch ertragreicher werden. Der noch
Mitte der 1990er- Jahre erbittert ausgetragene Gegensatz zwischen Vertretern von
gesättigten Regionalstudien wie Gabriel Almond (2002) auf der einen Seite oder
universalistischen „rational choice“ Protagonisten wie Robert Bates (1996) oder
David Laitin auf der anderen Seite hat so eine erhebliche Abschwächung erfahren
(Laitin 2007).
Mittlerweile haben auch „cross area studies“ an Bedeutung gewonnen, die kon-
krete Hypothesen €uber unterschiedliche Regionen hinweg pr€ufen und zu einer
umfassenderen Theoriebildung beitragen, ohne auf fundierte Fall- und Regional-
kenntnisse zu verzichten (Basedau und Köllner 2007; Berg-Schlosser 2012a).
Dies ist in der Regel aber nur arbeitsteilig möglich, um entsprechende historische,
Sprachkenntnisse usw. nutzen zu können.
Trotz solcher Fortschritte sind aber auch weiter bestehende Grenzen ver-
gleichender Analysen und spezifische Probleme zu beachten. Über „dichte“
Beschreibungen, erkennbare „konjunkturale“ Muster und zu beobachtende sta-
tistische Zusammenhänge hinaus stoßen unsere analytischen Verfahren an
Grenzen. So bestehen Probleme von Endogenität, wenn Ursachen und Wirkungen
im Zeitablauf nicht mehr klar unterschieden werden können. Was kam zuerst,
Henne oder Ei? Solche Fragen lassen sich zwar, bestenfalls, in historischen Einzel-
fallanalysen idiographisch behandeln und durch konkretes „process tracing“ in ihrer
Kausalität aufschl€usseln (Beach 2012), Antwort auf längerfristige Zusammenhänge
und Wechselwirkungen geben sie allerdings nicht (Przeworski 2007).
Ebenso können einzelne Fälle beim Vergleich häufig nicht als unabhängig von-
einander angesehen werden. Dies ist als „Galton’s Problem“ schon lange bekannt
und „Domino“- und Nachbarschaftseffekte wie in den Kettenreaktionen in Osteu-
ropa nach dem Fall der Mauer Ende 1989 oder im „arabischen Fr€uhling“ 2011 sind
unverkennbar. Auch hier stößt die analytische Trennschärfe an Grenzen (Berg-
Schlosser 2008). Dasselbe gilt f€ur die Wechselwirkungen zwischen unterschied-
lichen Analyseebenen, z. B. zwischen nationalstaatlichen Aspekten, Ansätzen €uber-
greifender supranationaler Organisation wie in der EU und schließlich globalen
Einfl€ ussen und Auswirkungen. Auf all diese Probleme kann eine „klassische“ ver-
gleichende Betrachtung trotz neuerer methodischer Fortschritte nur unzureichende
Antworten geben. Es sind also zumindest Erweiterungen des bisherigen Erklärungs-
modells ins Auge zu fassen, um hierf€ur die Sicht und, wenn möglich, auch unsere
Instrumentarien zu schärfen.
12 D. Berg-Schlosser

3 Historische ‚Schübe‘ und Weiterentwicklungen

Die VP hat aber nicht nur konzeptionelle und methodische Entwicklungen zu


verzeichnen, auch inhaltlich hat sich der Horizont wesentlich verändert und erwei-
tert. Wie eingangs angedeutet, hat sich die zeitgenössische Politikwissenschaft erst
im Verlauf des letzten Jahrhunderts als eigenständige universitäre Disziplin etabliert.
Insofern erscheint eine Beschränkung auf j€ungere historische Ereignisse und
Entwicklungen angemessen. Aber auch in „vormodernen“ Zeiten war Politikwissen-
schaft immer auch „Krisenwissenschaft“, ob in der Krise der klassischen
griechischen polis, der Krisen und Konflikte der italienischen Stadtstaaten in der
Renaissance, der englischen B€urgerkriege zu Beginn der Neuzeit oder der
vielfältigen Krisen des Kapitalismus bis in die Gegenwart.
Dies lässt sich auch an wichtigen historischen Einschnitten und Ereignissen des
letzten Jahrhunderts und bis in die unmittelbare Gegenwart festmachen. Dies ist der
Tatsache geschuldet, dass wir als Politikwissenschaftler immer auch Teil der zu
betrachtenden Materie sind, also „selbst-referentielle“ Bez€uge aufweisen. Dies
bringt zum einen spezielle erkenntnistheoretische Probleme der „inter-subjektiven“
Überpr€ ufbarkeit von politikwissenschaftlichen Befunden mit sich, zum anderen
stellt es die VP immer auch wieder bei der sich im Zeitablauf verändernden
Materie vor neue Herausforderungen (zu solchen Grundsatzproblemen vgl.
Badie et al. 2011). Einige dieser Entwicklungen werden im Folgenden kurz umrissen.

3.1 Die Zwischenkriegszeit und die Weltwirtschaftskrise

Den ersten gravierenden Einschnitt stellte der Erste Weltkrieg dar. Er war zwar vor
allem ein Krieg zwischen den europäischen Großmächten, er involvierte aber auch
mit ihrem Kriegseintritt 1917 die USA und veränderte mit dem Zusammenbruch des
Habsburger Reichs, des Zarenreichs und des Ottomanischen Reichs entscheidend
die politische Landkarte Europas, aber auch dar€uber hinaus im Nahen Osten und
Afrika (vgl. a. Holzer 2002). Gleichzeitig bedeutete das Kriegsende aber auch einen
wichtigen Schub der Demokratisierung in vielen Staaten. Zahlreiche neue Demo-
kratien entstanden, in bereits älteren wurden Beteiligungsrechte, vor allem f€ur
Frauen, erheblich ausgeweitet. Die unmittelbare Nachkriegszeit blieb aber stark
krisenbehaftet. In mehreren Ländern kam es zu B€urgerkriegen und versuchten oder
auch gelungenen Staatsstreichen, wie durch Mussolini 1923 in Italien. Nach einer
Beruhigungsphase Mitte der 1920er- Jahre f€uhrte dann die Weltwirtschaftskrise nach
1929 zum Zusammenbruch weiterer Demokratien, am spektakulärsten in der
Weimarer Republik mit der Macht€ubernahme durch die Nationalsozialisten 1933.
Die Politikwissenschaft dieser Zeit, sofern von ihr als eigenständiger Disziplin
bereits die Rede sein konnte, war vorwiegend staatsrechtlich geprägt. Die Ursachen
des Scheiterns von Demokratien wurden daher in erster Linie in konkreten Ver-
fassungsmängeln gesehen, wie z. B. den weitgehenden Vollmachten des Reichs-
präsidenten in Artikel 48 der Weimarer Verfassung, oder der Fragmentierung der
Parteienlandschaft durch das Verhältniswahlrecht (Hermens 1941). Die meisten
Historische Entwicklungen und Grundlagen der Vergleichenden. . . 13

zeitgenössischen Studien blieben aber auf Einzelfälle beschränkt, systematisch ver-


gleichende Untersuchungen wurden erst erheblich später vorgenommen (Almond
et al. 1973; Linz und Stepan 1978; Berg-Schlosser und Mitchell 2002).

3.2 Die Phase nach dem Zweiten Weltkrieg und die


Dekolonisierung

Der Zweite Weltkrieg, mit noch verheerenderen Folgen als der Erste, und diesmal,
mit der Beteiligung Japans, wahrhaft globaler Natur bedeutete dann die nächste
einschneidende Zäsur. Erneut veränderte sich die politische Landkarte in Europa
erheblich und geriet bald unter die Vorzeichen der Blöcke der neuen nuklearen
Supernächte USA und Sowjetunion. Aber auch in Asien hatten die Niederlage
Japans und der schwindende Einfluss der europäischen Kolonialmächte zu wesent-
lichen Veränderungen gef€uhrt. Viele Staaten, wie Indien 1947, erlangten ihre poli-
tische Unabhängigkeit und wurden Teil einer neuen „Dritten Welt“. Mit weiteren
Dekolonisierungen im Nahen Osten und Afrika in den 1950er- und fr€uhen 1960er-
Jahren erfuhr die Staatenwelt eine deutliche Ausweitung, ansatzweise artikulierte
sich diese auch als „dritte Kraft“ der „non-aligned countries“, wobei Nehrus Indien,
Sukarnos Indonesien, aber auch Nassers Ägypten eine gewisse Vorreiterolle
einnahmen (Khan 1980).
Mit dieser neuen Vielfalt musste sich auch die sich nun zunehmend eigenständig
entwickelnde Politikwissenschaft befassen. Wie bereits in der Zwischenkriegszeit
deutlich wurde, konnten lediglich verfassungsrechtlich orientierte Ansätze kaum
Aufschl€ usse bieten. Viele Verfassungen der neuen Staaten waren aufwändig verhan-
delt worden, nach der Unabhängigkeit verschwanden sie aber häufig in der Ver-
senkung und machten ganz anderen Realitäten Platz. So musste den jeweiligen
historischen, religiösen, kulturellen, sozialstrukturellen usw. Bedingungen und ih-
rem komplexen Zusammenwirken entschieden mehr Aufmerksamkeit gewidmet
werden. Dies schlug sich z. T. in interdisziplinär ausgerichteten Regionalstudien
(„area studies“) vor allem der vier Großregionen Asien (ohne Sowjetunion und
Großmächte wie China und Japan), sub-saharisches Afrika (das Apartheidregime
in S€udafrika spielte hier eine Sonderrolle), Naher und Mittlerer Osten sowie Latein-
amerika und Karibik nieder. Die Behandlung im Einzelfall blieb aber meist stark
deskriptiv ausgerichtet. Eine politikwissenschaftliche Pionierleistung in dieser Hin-
sicht war der von Almond und Coleman herausgegebene, regional gegliederte
Sammelband „The Politics of the Developing Areas“ (1960).
Die Politikwissenschaft war mittlerweile stark durch „behavioralistische“ Strö-
mungen in den USA geprägt worden, die Einstellungen und Verhaltensweisen auf
der Mikro-Ebene der B€urgerinnen und B€urger in den Vordergrund stellten und diese
mit aufwändigen Methoden der repräsentativen Umfrageforschung untersuchten.
International wegweisend wurde Almond und Verbas „Civic Culture“-Studie, die
neben den angelsächsischen Staaten Großbritannien und USA mit (West-)
Deutschland und Italien auch Zusammenbruchsfälle der Demokratie in Europa und
einen „Dritte Welt“-Staat wie Mexiko einbezog (Almond und Verba 1963, 1980). Im
14 D. Berg-Schlosser

Hinblick auf weiteren sozialen und politischen Wandel ging man dabei von stark
„modernisierungstheoretischen“ Prämissen und Erwartungen aus (vgl. Lerner 1958;
Lipset 1960; Apter 1965), die in den „Entwicklungsländern“ lediglich nachholende
Tendenzen der anderswo bereits fr€uher eingetretenen Entwicklungen sahen. F€ur die
VP besonders einflussreich war das von Almond geleitete „Committee on Compara-
tive Politics“ des amerikanischen „Social Science Research Council“. Aus seiner
Arbeit ging eine Reihe von Sammelbänden hervor, die bis zum Beginn der 1970er-
Jahre grundlegend f€ur die auch internationale Beschäftigung mit dieser Thematik
wurden (z. B. Pye und Verba 1965; LaPalombara und Weiner 1966; Binder 1971).
Die Unzulänglichkeit modernisierungstheoretischer Ansätze wurde in der Zwi-
schenzeit ebenfalls deutlich. „Unterentwicklung“ kann nicht bloß als statischer
Zustand traditionaler Gesellschaften, den diese nachholend €uberwinden, begriffen
werden. In vielen Fällen handelte es sich vielmehr um einen aktiven und sich
fortsetzenden Prozess einer „Entwicklung von Unterentwicklung“ mit langfristig
negativen ökonomischen, sozialen und politischen Konsequenzen. Als Ursachen
hierf€
ur wurden vorwiegend externe Faktoren verantwortlich gemacht wie die häufig
jahrhundertelange koloniale Unterwerfung und Ausbeutung, aber auch die nach der
Unabhängigkeit weiter bestehenden „neo-kolonialen“ außenwirtschaftlichen und
–politischen Abhängigkeiten. Diese „dependenztheoretische“ Betrachtungsweise
wurde in erster Linie von „polit-ökonomischen“ und „historisch-materialistischen“
Erklärungsmustern z. T. marxistischer Provenienz geprägt (vgl. Frank 1969; Cardo-
so und Faletto 1976). Eine spezifische Weiterentwicklung dieses Ansatzes stellen
auch die „Weltsystem“-Analysen von Wallerstein (1973 oder Modelski (1987) dar.
Im R€ uckblick erwies sich aber auch diese „große Theorie“ als einseitig und €uber-
zogen (Menzel 1993).

3.3 „Ölkrisen“ und globale Veränderungen

Einen weiteren Einschnitt stellten dann die „Ölkrisen“ und ihre Folgen dar. Der
„Yom Kippur – Krieg“ 1973 zwischen Israel und seinen Nachbarstaaten f€uhrte zu
einer politischen Solidarisierung wichtiger ölexportierender Staaten, vor allem im
Nahen Osten, und zu einer erfolgreichen Durchsetzung von massiven Ölpreiserhö-
hungen durch das OPEC-Kartell. Dies traf die westlichen Ökonomien erheblich und
f€uhrte zu einer Phase der „Stagflation“, einer fatalen Kombination von wirtschaftli-
cher Stagnation bei steigendem Preisniveau und zunehmender Arbeitslosigkeit.
Gleichzeitig, nicht zuletzt angestoßen auch durch den Bericht des „Club of Rome“
(Meadows et al. 1970), wuchs das Bewusstsein f€ur die Endlichkeit nat€urlicher
Ressourcen und die allgemeineren „Grenzen des Wachstums“.
Politikwissenschaftlich hatte dies zum einen eine stärkere Hinwendung zu kon-
kreten ökonomischen und ökologischen Politiken („policies“) zur Folge. Ihre Unter-
suchung wurde zunehmend auch vergleichend angelegt, um hieraus Lehren f€ur
relativ erfolgreichere Praktiken zu ziehen (z. B. Heidenheimer et al. 1990; Schmidt
2006). Zum anderen verstärkte der Bewusstseinswandel „neue soziale Bewegungen“
im Bereich der Frauen-. Ökologie- und Friedensbewegungen (Rucht 2003; della
Historische Entwicklungen und Grundlagen der Vergleichenden. . . 15

Porta 2011), die in zahlreichen europäischen Staaten auch zur Herausbildung neuer
„gr€uner“ Parteien beitrugen. Die vergleichende Parteienforschung (z. B. Katz und
Mair 1992; M€ uller-Rommel 1993), aber auch die allgemeine Wertewandelforschung
(Inglehart 1977, 1990) wandten sich nun diesen Themen zu.
In globaler Hinsicht war mit diesen Entwicklungen auch eine Verschiebung der
regionalen politischen Gewichte verbunden. Zwar dominierten nach wie vor die
beiden nuklearen Supermächte im Zeichen des Kalten Krieges, ihr Verhältnis zu
einander war aber , vor allem nach dem Machtantritt Gorbatschows in der Sowjet-
union 1985, zunehmend auf „Entspannung“ angelegt. Gleichzeitig verstärkte sich
der Einfluss der Ölmächte, anderer Rohstoffproduzenten, aber auch der eine erfolg-
reiche nachholende Industrialisierung betreibenden „emerging economies“, vor
allem in Ost- und S€udostasien.

3.4 Der Zusammenbruch der Sowjetunion und das Ende des


Kalten Krieges

Der Fall der Mauer in Berlin am 9. November 1989, dem in einer Kettenreaktion die
Zusammenbr€ uche der kommunistischen Regime in den osteuropäischen Staaten und
schließlich in der Sowjetunion selbst folgten, signalisierte den Anbruch einer weite-
ren Epoche. Zwar bedeutete dies nicht, wie sich sehr schnell zeigen sollte, das
vorzeitig ausgerufene „Ende der Geschichte“ (Fukuyama 1989), die „dritte Welle
der Demokratisierung“ (so nummeriert von Huntington 1991) löste aber erneut einen
Schub in der VP aus. Jetzt standen Fragen der demokratischen Transition (O’Don-
nell et al. 1986), der demokratischen Konsolidierung (Linz und Stepan 1996), aber
auch der sozio-ökonomischen und politischen Transformationen insgesamt
(Merkel und Puhle 1999) im Vordergrund. Die Demokratisierung zunächst in
S€udeuropa und Lateinamerika bereits in den 1970er- und 1980er-Jahren und die
Umbr€ uche in Osteuropa zeigten Folgen auch im sub-saharischen Afrika und in
S€udostasien. Lediglich der Nahe und Mittlere Osten und eine Großmacht wie
China schienen noch resistent. Nahezu zwei Drittel aller UN-Mitgliedstaaten wiesen
jetzt demokratische Verfassungen auf und hielten zumindest formal regelmäßige
Wahlen ab. Weltweite Demokratie schien zum einzigen legitimen „game in town“
(di Palma 1991) geworden zu sein. Aber auch diese Entwicklung sollte nicht
andauern.

3.5 Der 11. September 2001 und seine Folgen

Der terroristische Anschlag auf das World Trade Center in New York, das Pentagon
und andere Institutionen in den USA markierte erneut einen dramatischen Ein-
schnitt. Zum einen wurde deutlich, dass globale Entwicklungen bei weitem nicht
nur noch in friedlichen Bahnen verliefen und die einzige verbliebene Supermacht
USA nunmehr mit anderen Gegnern zu rechnen hatte. Dies schien zumindest
Huntington’s andere Aufsehen erregende These vom „clash of civilizations“ (1996)
16 D. Berg-Schlosser

als dem das neue Jahrhundert bestimmenden zentralen Konflikt zu bestätigen. Zum
anderen zeigte dies aber auch, dass es sich bei zahlreichen der gefeierten neuen
Demokratien bestenfalls um neue Fassaden f€ur nach wie vor bestehende autoritäre
und klientilistische Strukturen und bloße „electoral democracies“ handelte. In et-
lichen Fällen f€
uhrte dies gar zum Staatszerfall bis hin zum Staatskollaps, spektakulär
z. B. in Somalia, Liberia, DR Kongo usw., was nicht zuletzt wieder Nährboden f€ur
bewaffnete Milizen und terroristische Gruppierungen wie z. B. a. in Afghanistan
bot. Auch mit diesen Phänomenen musste sich die VP jetzt befassen (vgl. Zartman
1995; Schneckener 2006).
Gleichzeitig r€uckten aber auch Mängel länger bestehender Demokratien und ihre
unterschiedlichen Qualitäten bzw. Defizite in den Blick (vgl. Diamond und Morlino
2005; B€ uhlmann et al. 2008). Die angemessene Konzeptionalisierung moderner
Demokratien und ihre Operationalisierung und Messung in unterschiedlichen Indi-
ces f€
ur den internationalen Vergleich wurden jetzt ebenfalls stärker thematisiert
(Lauth et al. 2000; Munck 2009). Ebenso hatten sich zahlreiche autoritäre Regime
als weiterhin dauerhaftes „game in town“ erwiesen (Brooker 2009; Kailitz und
Köllner 2013) oder neuere „hybride“ Formen entwickelt (Levitsky und Way 2010).

3.6 Die aktuelle Weltwirtschaftskrise

Zunächst ausgelöst durch eine „Immobilienblase“, eine anschließende Bankenkrise


und den spektakulären Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers im
September 2008 in den USA wurden gravierende Fehlentwicklungen der globalisier-
ten Weltwirtschaft insgesamt deutlich. Angesichts einer fehlenden effektiven Regu-
lierung der internationalen Finanzmärkte hatten ein ausufernder „Kasino-Kapitalis-
mus“ mit un€ ubersichtlichen Finanzprodukten („Derivaten“, „Leerverkäufen“ usw.)
und schiere Spekulation angetrieben durch hohe Boni und falsche Anreizsysteme in
den Finanzinstitutionen €uberhandgenommen. Auch die gegenwärtige „Euro-Krise“,
verschärft allerdings durch einige „Geburtsfehler“ und jeweils nationale Fehlent-
wicklungen in den am stärksten betroffenen Krisenstaaten wie Griechenland, Por-
tugal usw., ist ein Resultat dieser erneuten globalen gravierenden Rezession, die
einige Parallelen (aber auch Unterschiede!) zur „Great Depression“ der 1930er-Jahre
aufweist (vgl. Berg-Schlosser 2011).
Politisch hat dies €uber latent bestehende Unzufriedenheiten mit den bestehenden
staatlichen Institutionen in den etablierten Demokratien hinaus (Pharr und Putnam
2000) zu starken mittlerweile auch global organisierten Protestbewegungen
(„Attac“, „Occupy Wall Street“) sowie zu rechtspopulistischen Strömungen in
einigen Staaten (z. B. Niederlande, Dänemark) gef€uhrt. Zusammenbr€uche demo-
kratischer Systeme wie in den 1930er-Jahren waren bisher allerdings nicht zu
verzeichnen. Dennoch hat diese Krise gravierende Mängel in Einzelstaaten, aber
auch im europäischen Kontext weit €uber die bestehenden Währungsprobleme hinaus
aufgezeigt (vgl. Mény 2010; van Beek und Wnuk-Lipinski 2012).
Die VP kann hierauf nicht mehr allein durch Einzelstaatanalysen und
systematische Vergleiche reagieren. Vielmehr muss sie jetzt die unterschiedlichen
Historische Entwicklungen und Grundlagen der Vergleichenden. . . 17

macro-level explanandum
Welt:

logic meso-level logic


of situation of aggregation

Staat: micro-level
actor behavior
macro-level logic of selection
explanandum

logic meso-level logic


of situation of aggregation

micro-level
actor logic of selection behavior

Abb. 4 Mehrebenenanalysen im globalen Kontext

Analyseebenen (nationale, supranationale, globale) verstärkt in den Blick nehmen.


Das Colemansche Erklärungsmodell muss entsprechend erweitert werden.
Graphisch lässt sich dies wie folgt darstellen (Abb. 4):
Die Akteure auf der höheren Ebene sind jetzt Staaten (oder in föderativen Systemen
Bundesstaaten) bzw. ihre jeweiligen Regierungen und andere kollektive Akteure wie
Nichtregierungsorganisationen (NRO), internationale Institutionen, usw. In dieser
Hinsicht sind auch engere strategische Annahmen, z. B. spieltheoretischer Art, eher
plausibel (Scharpf 1997), da hier gegenseitig bekannte Akteure mit einander zu tun
haben und auch ein entsprechendes Informationsniveau angenommen werden kann.
Die Wirkungen können aber in beiden Richtungen von der internationalen Ebene zur
nationalen und umgekehrt gehen. Dies unterstreicht die Notwendigkeit der engeren
Verbindung von Theorieansätzen und Perspektiven der VP und der Internationalen
Politik. Die Souveränität von Staaten ist dabei in einer globalisierten Welt zunehmend
eingeschränkt. Hier stellen sich dann auch Probleme der konkreten praktischen Politik.
Wie kann man sich den demos in einer supranationalen Demokratie vorstellen?
Werden hier u. U. Abstriche, z. B. hinsichtlich einer breiten politischen Partizipation
der Bevölkerungen, nötig und bleiben diese mit den normativen Grundlagen der
Demokratietheorie vereinbar? Welche globalen Regelungen sind nötig und erreichbar
um den eingetretenen Fehlentwicklungen entgegen zu wirken? Diesen u. ä. Fragen
muss sich die VP in Zukunft stellen.

4 Ausblick

Die VP der letzten Jahrzehnte kann so insgesamt als Erfolgsgeschichte bezeichnet


werden. Wir wissen heute ungleich mehr €uber (fast) jedes Land der Welt. Die
konzeptionelle Erfassung und methodische Erschließung hat erhebliche Fortschritte
gemacht. Schließlich haben auch die weltweit verf€ugbaren Datensätze wichtiger
internationaler Organisationen oder Forschungsinstitute deutlich an Qualität
18 D. Berg-Schlosser

gewonnen. Das Ganze wird durch die neuen Möglichkeiten der elektronischen
Kommunikation unendlich erleichtert. Nicht zuletzt die Tatsache, dass heute in
nahezu allen Ländern und Regionen gut informierte und ausgebildete Politikwissen-
schaftler anzutreffen sind, mit denen man „auf Augenhöhe“ verkehrt und sich
austauscht, hat hierzu beigetragen. Auch die bessere Methodenschulung durch
summer schools von APSA, ECPR und IPSA verdient an dieser Stelle Erwähnung.
Wichtige internationale soziale und Forschungsnetzwerke, gerade auch j€ungerer
KollegInnen, konnten auf diese Weise geschaffen werden.
Dennoch bleiben, wie erwähnt, weitere Defizite und Desiderate. Insbesondere
dynamische und Mehrebenenanalysen stellen weitere Herausforderungen dar. Auch
hier sind weitere Fortschritte denkbar. Die jeweiligen Kausalitätsbeziehungen, auch
im Sinne notwendiger und zureichender Bedingungen und eines intensiveren „pro-
cess tracing“ sollten hierbei €uber bloße Korrelationen und Regressionen hinaus
stärker beachtet werden. Nicht zuletzt ein auch historisch gesättigtes Erfahrungs-
wissen kann hierzu beitragen. Die zu beobachtende Annäherung und gegenseitige
Ergänzung von qualitativen und quantitativen Verfahren durch „mixed methods“
und Triangulation geht ebenfalls in die richtige Richtung. Auch hier sind mehr
Pragmatismus und weniger paradigmatische Glaubenskriege angesagt. Eklektizis-
mus sollte dabei kein Schimpfwort sein (Sil und Katzenstein 2010).
Auch eine verstärkte interdisziplinäre Vorgehensweise und Vernetzung bleibt
weiter w€ unschenswert, wenn auch paradoxerweise die jeweiligen Spezialisierungen
immer weiter zunehmen. So stellte die politische Soziologie immer schon einen
besonderen Überlappungsbereich zwischen den Disziplinen, auch in den interna-
tionalen Fachorganisationen, dar. Auch zwischen einer stärker behavioralistisch und
institutionell ausgerichteten Wirtschaftswissenschaft und der Politikwissenschaft
haben die Schnittmengen zugenommen. Dies gilt auch f€ur die Internationale
Politische Ökonomie (IPÖ). Nicht zuletzt angesichts verbreiteten Staatszerfalls und
intensiverer globaler kultureller Kontakte und Konflikte spielen auch ethnologische
und sozialanthropologische Aspekte, wie sie auch in cross area studies ber€ucksich-
tigt werden, nach wie vor eine erhebliche Rolle.
Dies alles erfordert aber immer auch eine klare Konzeptualisierung im Sinne von
Giovanni Sartori (1984) oder Gary Goertz (2006) und eine angemessene Operationa-
lisierung hinsichtlich der zu erhebenden Daten und Informationen im permanenten
Dialog zwischen zunehmend anspruchsvollerer Theoriebildung und empirischer Rea-
lität. Universale „covering laws“ (Hempel 1965) wie in den Naturwissenschaften sind
dabei nicht zu erwarten. Dennoch sind €ubergreifende „set – subset“ – Beziehungen
(Goertz und Mahoney 2012) oder partielle relativ dauerhafte „Theorieinseln“ (Wiarda
und Chalmers 1985) durchaus zu beobachten. VP bleibt dabei einer empirisch-ana-
lytischen und in diesem Sinne „kritisch-rationalen“ Vorgehensweise verhaftet. Wenn
auch unsere Konzepte unzweifelhaft soziale Kontrukte sind (Berger et al. 1969), so
bleibt doch ihre Überpr€ufung an der politischen Realität unabdingbar. Vor „postmo-
dernen“ Anfechtungen bleibt sie daher weitgehend gefeit (Rosenau 1992). Die VP
sollte dabei die erreichten Standards nicht mehr unterschreiten und sie weiter
entwickeln (Munck 2010). Dennoch bleibt dies angesichts unserer im Zeitablauf sich
stets weiter verändernden „plastischen Materie“ eine Sisyphusaufgabe.
Historische Entwicklungen und Grundlagen der Vergleichenden. . . 19

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Teil II
Methodische Grundlagen und Verfahren
Methodologische Grundlagen des
Vergleichs und Vergleichsdesigns

Susanne Pickel

Zusammenfassung
Die Vergleichende Politikwissenschaft setzt systematisch, planvoll, Kriterien ge-
leitet und auf Theorien bezogen mindestens zwei Vergleichsobjekte, die mindes-
tens eine gemeinsame Eigenschaft besitzen, zu einander in Beziehung. Ihre For-
schungsdesigns richten sich zunächst nach der Anzahl der zu untersuchenden
Fälle und der Anzahl der zu erhebenden Variablen. Im Zentrum der vergleich-
enden Analysen stehen die Fallstudie, die statistische Methode und die „ver-
gleichende Methode“, die sich des Most Similar Systems- oder der Most Diffe-
rent Systems-Forschungsdesigns bedient. Die Vergleichende Politikwissenschaft
trifft dort auf Grenzen, wo Regeln der kontrollierten oder repräsentativen Fall-
auswahl verletzt, Variablen nicht ber€ucksichtigt oder externe Einfl€usse €ubersehen
werden.

Schlüsselwörter
Grundlagen • Systematik • Forschungsansätze • Forschungsdesigns • Grenzen

1 Grundlagen der Vergleichenden Politikwissenschaft

Um den methodischen Mindestanforderungen der Vergleichenden Politikwissen-


schaft zu gen€ ugen, m€ussen „mindestens zwei Untersuchungsgegenstände [. . .]
hinsichtlich ihrer Gemeinsamkeiten und Unterschiede miteinander in Beziehung
gesetzt [werden], mit der Chance, aus dem Vergleich Verallgemeinerungen €uber

S. Pickel (*)
Professorin f€ur Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Vergleichende Politikwissenschaft,
Institut f€ur Politikwissenschaft, Universität Duisburg-Essen, Duisburg, Deutschland
E-Mail: susanne.pickel@uni-due.de

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 25


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_2
26 S. Pickel

Zusammenhänge, Regelmäßigkeiten oder Gesetzmäßigkeiten zwischen verschiede-


nen Variablen abzuleiten“ (Schmidt 1995).
In der Vergleichenden Politikwissenschaft liegt der Fokus somit auf dem syste-
matischen, d. h. planvollen und Kriterien geleiteten Vergleich von Politik in all ihren
Gegenstandsbereichen Polity, Policy, Politics. Hierzu werden zunächst analytische
Begriffe und Kategorien aus der Theorie als Vergleichsbasis (Kriterien des Ver-
gleichs) abgeleitet, die f€ur Klassifizierungen und Typologisierungen verwendet
werden können. Die Untersuchung kann anhand von Einzelfallstudien sowie einer
kleinen oder einer großen Anzahl von Untersuchungseinheiten – in der Regle Län-
dern – erfolgen (Fallauswahl), so genannten small- bzw. large-N-Studien. Auch die
Vergleichsperspektive ist vielfältig und kann nach Zeit – diachron, synchron und
Kombinationen, Raum – Area, national, regional, lokal und/oder supra-national sowie
nach Ereignissen unterschieden werden (Lauth et al. 2014, S. 32–33). Die Daten-
erhebungs- und die Analysemethode kann der qualitativen (Interviews, Fallstudie)
oder quantitativen (Makrodaten, Surveydaten) Sozialforschung entsprechen
oder auch aus beiden Herangehensweisen kombiniert werden (Multi-Methods,
Triangulation; vgl. Beitrag von Gert Pickel) und sowohl deskriptive als auch kausale
Fragestellungen verfolgen.
Ziel der Vergleichenden Politikwissenschaft ist zum einen die theoriengeleitete
oder theoriengenerierende systematische Analyse und zum anderen der Erkenntnis-
gewinn aus dem Vergleich. Der Erkenntnisgewinn resultiert aus 1) empirischen
Beschreibungen, 2) der Deskription der Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen
politischen Systemen (Typologien, Klassifizierung) und ihren Eigenschaften (tertium
comparationis, das gemeinsame Dritte, das zu Vergleichende), 3) kausalen Erklä-
rungen dieser Gemeinsamkeiten und Unterschiede, 4) Generalisierungen dieser
Aussagen sowie Prognosen, welche Faktoren ähnliche oder unterschiedliche Effekte
hervorrufen.
Um diese Erkenntnisgewinne erzielen zu können, sind Methoden und For-
schungsdesigns nötig, die eine systematische und kontrollierte Untersuchung von
Variablen zulassen (Abb. 1).

Was? Wie? Warum? Wann?


Beschreibung Klassifikaon Hypothesenbildung Prognose
Theorieentwicklung
Feststellung Ordnung Erklärung Entwicklung
BRD Ursache
Ungarn Parlamentarismus
Schließen
Großbritannien Semi-Präsidenalismus (Inferenz)
Frankreich Präsidenalismus Zukun
Russland
USA Wirkung

niedrig Grad der Verallgemeinerung hoch

Abb. 1 Erkenntnisziele der Vergleichenden Politikwissenschaft. Quelle: Eigene Darstellung


Methodologische Grundlagen des Vergleichs und Vergleichsdesigns 27

2 Systematik der Vergleichenden Politikwissenschaft

Die Systematik der Vergleichenden Politikwissenschaft leitet sich aus der theoreti-
schen Fundierung der Forschungsfrage, der Fallauswahl, der Operationalisierung
und der Methode der strukturierten Analyse ab. Zunächst konstruiert die Theorie
Zusammenhänge zwischen Sachverhalten. Aus theoretischen Annahmen werden
Hypothesen abgeleitet, die anhand einer aufeinander abgestimmten Fall- und
Variablenauswahl analysiert werden. Dabei ist entscheidend, dass

a) die theoretische Grundlage der Forschungsfrage zur Analyse geeignet ist, d. h.


dass sie (kausale) Zusammenhänge beschreibt, die der Beantwortung der
Forschungsfrage dienen.
b) die gewählte Methode zur Forschungsfrage passt, d. h. dass die Methode korrekt
gewählt und ausgef€uhrt wird sowie der Logik der Forschungsfrage angemessen
ist (siehe Kap. ▶ Quantitative makroanalytische Verfahren in der Vergleichenden
Politikwissenschaft). Die Methode ist der Werkzeugkasten des vergleichenden
Forschers und sollte stets so gewählt werden, dass sie den höchsten Erkenntnis-
gewinn im Sinne der leitenden Fragestellung verspricht (von Prittwitz 2007,
S. 27) und dabei eine Sparsamkeit der Modelle nicht außer Acht lässt.
c) Fälle und Variablen in einem korrekten Verhältnis zueinander stehen, d. h. Fall-,
Mess- und Analyseeinheit klar spezifiziert werden (siehe Kap. ▶ Fallstudien und
Process Tracing in der Vergleichenden Politikwissenschaft).
d) deskriptives Schließen und/oder kausale Interpretation durch vergleichende em-
pirische Grundlagen ermöglicht werden und ggf. eine Prognosefähigkeit der
Ergebnisse herstellen können.

Um dies zu erreichen, m€ussen bei den angewandten Methoden der Fallauswahl,


der Datenerhebung und Datenanalyse die Prinzipien der Validität – die getroffenen
Aussagen besitzen G€ultigkeit im empirischen Sinne – und der Reliabilität – die
getroffenen Aussagen sind verlässlich und können repliziert werden – gewahrt
werden. Nur so kann eine Generalisierbarkeit der Aussagen im Rahmen der
gewählten Grundgesamtheit der Fälle erzeugt werden (Keman 2011, S. 51).

2.1 Externe und interne Validität

Ergebnisse bzw. Schl€usse, die durch die Analysemethoden erzielt werden, m€ussen
interne und externe Validität besitzen. Die interne Validität bezieht sich auf die
G€ultigkeit der deskriptiven oder kausalen Schl€usse f€ur nahezu alle Untersuchungs-
fälle. Es muss belegt sein, dass die unabhängige Variable X tatsächlich den be-
schriebenen Effekt bei der abhängigen Variable Y hervorruft. Externe Validität meint
die G€ ultigkeit der Schl€usse €uber die Untersuchungsfälle hinaus, ihre Generalisier-
barkeit (Peters 1998, S. 48; Keman 2011, S. 53). Wird z. B. ein Zusammenhang
zwischen Demokratiepersistenz und Wirtschaftsleistung anhand der OECD-Länder
belegt, so ist dieser f€ur nahezu alle OECD-Länder g€ultig (interne Validität). F€ur
28 S. Pickel

Entwicklungsländer oder Schwellenländer gilt dieser Zusammenhang nicht unbe-


dingt (externe Validität). Je mehr Länder in die Analyse einfließen und die Korrela-
tion von Demokratiepersistenz und Wirtschaftsleistung bestätigen, desto stabiler
wird der Zusammenhang unter unterschiedlichen Bedingungen. Die Variablen sind
aber zwangsläufig auf einem abstrakteren Niveau zu messen. Je weniger Länder
untersucht werden, desto eindeutiger wird der Zusammenhang f€ur die wenigen Fälle,
weil weniger Abweichungen möglich sind. Die Variablen können zudem fallspezifi-
scher beschrieben und/oder gemessen werden (Collier und Mahon 1993, S. 8;
Sartori 1970). Es besteht also ein trade off zwischen der Robustheit und einem
konsistenten Ursache-Wirkung-Verhältnis. Robuste Zusammenhänge können auf
einem hohen Abstraktionsgrad belegt und weitreichende Schl€usse daraus gezogen
werden. Ein konsistentes Ursache-Wirkungsverhältnis beider Variablen verweilt
innerhalb eines eng begrenzten Untersuchungsfeldes: Maximal können Schl€usse
mit mittlere Reichweite erzielt werden, gleichzeitig ist es möglich tiefer gehende
Kenntnisse €uber den Zusammenhang erwerben.

2.2 Varianz und Fallauswahl

Diesen Anforderungen einer g€ultigen vergleichenden Analyse kann nur €uber eine der
Forschungsfrage entsprechende Fall- und Variablenauswahl entsprochen werden. Als
Merksatz kann mit Guy Peters aus den Methoden der experimentellen Forschung von
John Stuart Mill abgeleitet werden (Peters 1998, S. 30; Mill 1868, S. 425–448; Jahn
2013; Lauth et al. 2009, S. 220; Keman 2011, S. 57): „Maximize experimental
variance, minimize error variance, and control extraneous variance.“ Diese Vorgabe
gilt uneingeschränkt f€ur quantitative Studien (und die Qualitative Comparative Ana-
lysis), möchte man in der Vergleichenden Politikwissenschaft eine der Forschungs-
frage angemessene Fallauswahl mit einer angemessenen Variablenauswahl verbinden.
Warum ist dieser Merksatz so wichtig? Zum einen beschreibt er die Fehlermög-
lichkeiten der Fall- und Variablenauswahl hinsichtlich der Generalisierungsfähigkeit
der erzielten Analyseergebnisse, zum anderen fordert er Disziplin und Systematik
bei der Auswahl der Fälle und Variablen mit Blick auf die Forschungsfrage.
Die experimentelle Varianz bezieht sich auf die Varianz (beobachtete Differenzen
zwischen den Fällen und/oder Wandel €uber Zeit) der abhängigen Variablen (Y) aus
der Forschungsfrage, die systematisch mit der Varianz der unabhängigen Variable
(n) (X) zusammenhängt (Keman 2011, S. 57; Peters 1998, S. 30–32).
Die Fehlervarianz beschreibt das Auftreten zufälliger Effekte und Fehler innerhalb
der Messungen der abhängigen Variablen. Sie resultieren aus fehlerhafter Fallauswahl
oder fehlerhaften Beobachtungen genauso wie aus fehlerhafter Datenerfassung. Um
den Fehler zu minimieren, kann man die Fallzahl steigern. Da dies aber oftmals nicht
möglich ist, gilt es, die (aus einer Theorie abgeleiteten) Variablen sorgfältig aus-
zuwählen, zu kombinieren (Keman 2011, S. 57) und korrekt zu messen.
Die externe Varianz bezieht sich auf das Drittvariablenproblem. Die Drittvariable
kann auf die Beziehung zwischen X und Y oder auf beide Variablen wirken, d. h.
eine oder mehrere unabhängige Variablen werden nicht in die Analyse
Methodologische Grundlagen des Vergleichs und Vergleichsdesigns 29

aufgenommen, besitzen aber einen relevanten Erklärungswert f€ur die abhängige


Variable. Die Beziehung zwischen abhängiger und unabhängiger Variable kann
durch diese dritte Variable hergestellt werden, die aber im Analysedesign vergessen
wurde. Dadurch werden Effekte der unabhängigen auf die abhängige Variable falsch
geschätzt. In den Gesellschaftswissenschaften ist dies aufgrund der Komplexität der
Untersuchungsgegenstände kaum auszuschließen. Soll die Analyse beherrschbar
bleiben, so muss diese Komplexität reduziert werden. Damit steigt aber die Anfäl-
ligkeit, Variablen zu „€ubersehen“. Mit Hilfe eines kontrollierten Forschungsdesigns
wie dem Most Similar Systems Design (MSSD) oder dem Most Different Systems
Design (MDSD; Kap. ▶ Qualitative Comparative Analysis (QCA) in der Vergleich-
enden Politikwissenschaft) kann dieses Problem aufgefangen werden. Eine gut
ausgearbeitete Theorie und/oder Signifikanztests und Kontrollvariablen sowie die
Ber€ucksichtigung von subnationalen Einheiten der Untersuchungsländer helfen
ebenfalls, diesem Problem zu begegnen (Keman 2011, S. 57; Peters 1998,
S. 32–35).

Box 1 Beispiel für experimentelle, Fehler- und externe Varianz


Forschungsfrage: Ist das Legitimitätsempfinden der B€urger (X1) oder das
Regierungssystem eines Landes (X2) f€ur die Persistenz politischer Systeme
(Y) verantwortlich?
Experimentelle Varianz bezieht sich auf die Variation des politischen Sys-
tems im Zeitverlauf (Y), d. h. bleibt das jeweilige politische System eine
stabile Autokratie oder Demokratie oder verändert sich das politische System
mit Veränderungen der unabhängigen Variablen X1 und X2. F€ur die Beant-
wortung der Forschungsfrage wird unmittelbar deutlich, dass auch die ab-
hängige Variable Y zumindest etwas variieren muss, möchte man einen Effekt
der unabhängigen Variablen bestimmen (King et al. 1994, S. 129).
Eine hohe Fehlervarianz entst€unde dann, wenn die Bestimmung des Legi-
timitätsempfindens starken Effekten sozialer Erw€unschtheit1 unterliegt, das
Regierungssystem eines Untersuchungslandes falsch spezifiziert oder das
politische System falsch gemessen wird, etwa durch einen fehlerhaften Polity-
oder Freedom House-Wert.
Externe Varianz entsteht wenn z. B. das Auftreten von Wirtschaftskrisen in
einigen Untersuchungsländern unber€ucksichtigt bliebe. Sie haben oftmals
einen erheblichen Einfluss auf das Legitimitätsempfinden der B€urger und die
Systempersistenz wie der Umbruch in Osteuropa 1989/90 nachdr€ucklich un-
terstreicht. Auch Kontexteffekte, wie die Demokratieförderung der EU, kön-
nen „vergessene“ Drittvariablen darstellen.

1
Soziale Erw€unschtheit bezeichnet ein Antwortverhalten, bei dem der Befragte eine nicht korrekte
Antwort gibt, weil er bef€
urchtet, beim Interviewer mit der korrekten Antwort auf soziale Ablehnung
zu stoßen (zu Effekten sozialer Erw€ unschtheit Stocké 2004).
30 S. Pickel

3 Forschungsansätze der Vergleichenden


Politikwissenschaft

Systematisches Vergleichen ist mit den Arbeiten von John Stuart Mill (1843) in die
Sozialwissenschaften eingef€uhrt worden.2 Seine Methoden der Differenz („method
of difference“) bzw. Konkordanz („method of agreement“) systematisieren die ver-
gleichende Untersuchung von Variablen, die miteinander in Beziehung stehen. In der
zeitgenössischen politischen Wissenschaft wurde das Vergleichen als Methode erst
wieder ab den späten 1960er Jahren (Berg-Schlosser und M€uller-Rommel 2003,
S. 20–23) vor allem im angelsächsischen Raum eingef€uhrt. Als zentrale Beiträge
gelten die Arbeiten von Przeworski und Teune (1970) und Lijphart (1971, 1975).
Zwei Grundrichtungen des Vergleichens wurden dabei eingeschlagen: Zum einen
setzte sich die von Lijphart3 unterst€utzte Auffassung durch, dass Vergleiche mit
möglichst vielen Fällen bzw. Ländern („Large-N-Analysis“) das Ziel der komparati-
ven Analyse darstellen, zum anderen wurde durch die Einf€uhrung des MSSD und
des MDSD ein Standard f€ur die Fallauswahl einer vergleichenden Studie mit be-
grenzten Fallzahlen vorgelegt. Als grundlegende Basis f€ur die Methoden4 des Ver-
gleichens gilt Lijpharts (1971, S. 682–685) Aufteilung in Fallstudien, vergleichende
Methode, Experiment5 und statistische Methode (Abb. 2).
Alle in Abb. 2 dargestellten Analysedesigns sind geeignet, systematisch verglei-
chende Analysen zu durchzuf€uhren. Einzelfallstudien oder die Untersuchung weni-
ger Fälle werden in der Regel als fallorientiert beschrieben. Grundlage dieser
Vorgehensweise ist eine genaue Kenntnis der Fälle, die entweder durch qualitative
Methoden der empirischen Sozialforschung wie Interviews oder Dokumentenana-
lyse oder durch quantitative Methoden auf der Mikroebene (Individualdatenanalyse)
wie beispielsweise die Umfrageforschung erzielt werden kann. Die Analyse einer
mittleren oder hohen Anzahl von Fällen wird hingegen variablenorientiert genannt,
weil hier die Fälle als Spezifikum hinter die Untersuchung von vom Fall abstrahie-
renden Zusammenhängen von Variablen zur€ucktreten. Die Fälle werden zum Träger
abstrakter Information, die anhand statistischer (Kontroll-)Methoden untersucht
werden; die Ergebnisse sind jedoch leichter generalisierbar als beim fallorientierten
Vorgehen.

2
Als „Urvater“ des systematischen Vergleichens ist Aristoteles anzusehen, der seine Untersuchun-
gen von politischen Systems bereits anhand kategoriengeleiteter Fragestellungen durchgef€ uhrt hat.
3
Lijphart sieht Vergleiche mit kleinerer Fallzahl oder gar Einzelfallstudien eher als Vorstufen breiter
angelegter (Large-N-) Studien.
4
Methode wird nach Lijphart (1971, S. 683) als genereller Zugang angesehen, der von den kon-
kreten Untersuchungstechniken zu unterscheiden ist. Diese Benennung f€ uhrt, da die von ihm als
Analysetechniken eingeordneten Vorgehen € ublicherweise im Sprachgebrauch als sozialwissen-
schaftliche Methoden behandelt werden, nicht selten zu Missverständnissen.
5
Der systematischen Logik folgend gehört auch die experimentelle Methode (McDermott 2002;
Morton und Williams 2009; Faas 2009; Faas und Huber 2010), in der die Untersuchungsanordnung
vollständig kontrolliert wird, zu den Analyseansätzen der Politikwissenschaft. Allerdings spielt sie
f€
ur die Vergleichende Politikwissenschaft bislang eine untergeordnete Rolle.
Methodologische Grundlagen des Vergleichs und Vergleichsdesigns 31

Fallstudien Studien mit wenigen Studien mit viele Fällen


Fällen (‚large-N-Analysis)
(‚small-N-Analysis)
Typen von Einzelfall- systemasche Analyse systemasche Analyse einer
studien einer kleinen Anzahl von größeren Anzahl von Fällen
 a-theoresche Fällen (stassche Methode)
 interpretave (‚komparave/ Vollerhebung
 theoriegenerierende vergleichende Methode’) Zufallsschprobe
 theorietestende MSSD
 abweichende Fälle MDSD

quantave und qualitave quantave und quantave Methoden der


Methoden der empirischen qualitave Methoden empirischen Sozialforschung:
Sozialforschung: der empirischen Individualdaten (z.B.
Umfragen,Interviews Sozialforschung: Umfragen; Mikroebene),
(Mikroebene), QCA (Makroebene), Aggregatdaten (Makroebene)
Dokumentenanalyse usw. Individualdaten (z.B.  variablenorienert
 fallorienert Umfragen; Mikroebene)
 fallorienert

Abb. 2 Vergleichsdesigns, Fallauswahl und Analysemethoden. Quelle: Lauth (2009, S. 17)


Rekombination auf Basis von Lijphart (1971); siehe auch Jahn (2006, S. 178 mit Ergänzungen
der Autorin); MSSD = Most Similar System Design; MDSD = Most Different System Design

Die Systematik der Vergleichenden Politikwissenschaft nimmt noch keine Ent-


scheidung f€ur ein bestimmtes Analysedesign oder eine bestimmte Methode vorweg.
Egal, ob die Forschungsfrage einer Aufklärung anhand qualitativer oder quantitati-
ver Methoden oder einer Untersuchung eines oder mehrerer Fälle bedarf, eine
systematische und Kriterien geleitete Analyse muss auf jeden Fall durchgef€uhrt
werden. Über die auszuwählende Methode zur Beantwortung der Forschungsfrage
entscheiden das Abstraktionsniveau der Analyse und das beabsichtigte Erkenntnis-
interesse. Daran kn€upft sich auch die Reichweite der Aussage, das Generalisierungs-
niveau, das mit den Ergebnissen der Analyse erreicht werden kann. Untersucht man,
wenig abstrakt, nur einen Fall, so kann eine intensive Kenntnis dieses Falls erreicht
werden. Dies geht dann zu Lasten der Generalisierbarkeit, die nur unter ganz
bestimmen und eng gefassten Umständen möglich ist (vgl. Beitrag von Muno).
Die Analyse weniger Untersuchungseinheiten kann, wie im Fall der vergleichenden
Area-Studien, hingegen ein höheres Abstraktionsniveau erreichen: Die Forschungs-
ergebnisse lassen sich f€ur ein, oft nach gemeinsamer Kultur oder Geschichte oder
räumlicher Nähe definiertes Gebiet generalisieren und wiederum zu anderen Areas
in Beziehung setzen (vgl. Erdmann und Mehler in diesem Band). Untersucht man
hingegen sehr viele oder im Idealfall alle Fälle, so wird eine hohes Abstraktions-
niveau vorausgesetzt. Der Einzelfall wird dann lediglich zum Träger abstrakter
Informationen, die geb€undelt einen hohen Generalisierungsgrad erreichen. Die er-
zielten Aussagen sind von großer Reichweite, d. h. f€ur eine große Grundgesamtheit
an Fällen g€ultig und prognosefähig. Das gewählte Vergleichsdesign hängt folglich
eng mit der Anzahl der Untersuchungsfälle zusammen und bestimmt auch die
Auswahl der Untersuchungsmethode (Lauth et al. 2009, S. 59–61).
32 S. Pickel

Neben der f€ur alle Vergleichsdesigns relevanten, theoriegeleiteten Ableitung der


Vergleichskriterien sind bei den einzelnen Vergleichsdesigns jeweils spezifische
Anforderungen zu beachten, um eine systematische, Kriterien geleitete vergleichen-
de Analyse durchf€ uhren zu können.

3.1 Fallstudie

Eine sorgfältige Fallauswahl bildet die Basis einer jeden Fallstudie. So banal die
Frage: „Wof€ ur ist dieser Fall ein Fall?“ klingen mag, so schwierig ist oft ihre
Beantwortung. Wenn der Fall nicht f€ur ein theoretisches Konstrukt oder f€ur eine
Typologie von Fällen oder eine bestimmte Entwicklung stehen kann, so fällt seine
Analyse nicht in den Bereich der Vergleichenden Politikwissenschaft. Es fehlt der
comparative merit, der Erkenntnisgewinn durch Vergleich mit ähnlichen oder unter-
schiedlichen Sachverhalten. Dieser kann etwa durch den Abgleich mit aus theoreti-
schen Grundlagen abgeleiteten Kriterien erzielt werden. Unterschiedliche Arten von
Fallstudien kommen dieser Forderung unterschiedlich gut nach (Abb. 3; Hague
et al. 1998, S. 277; Muno 2003, S. 23, 25; siehe auch Lauth et al. 2009, S. 63;
Gerring 2007, S. 90–122).
Die a-theoretische, deskriptive Fallstudie zählt nicht zu den vergleichenden Fall-
studien, da sie keiner systematischen und Kriterien geleiteten Analyseform gehorcht.
Sie kann als explorative Studie Grundlage f€ur eine vergleichende Analyse sein,
wenn aus den Erkenntnissen Merkmale oder Kriterien abgeleitet werden, die zur
Grundlage einer systematischen Analyse gemacht werden. Alle anderen Arten von
Fallstudien unterliegen bestimmten Vergleichsansätzen: Bei repräsentativen Fall-
studien wird ein Fall ausgewählt, der typisch f€ur eine ganze Reihe von Ländern ist,
die bestimmte Merkmale aufweisen. Das Untersuchungsmodell soll getestet und ggf.
geschärft werden. Prototypische Fallstudien bilden die Grundlage f€ur in späteren
Entwicklungen als repräsentativ zu betrachtende Fälle. Die Französische Revolution

Definion Bezug zur Theorie


Deskripve Fallstudie Beschreibung eines einzelnen Falls a-theoresch
Repräsentave Fallstudie Typisch für eine Kategorie von Ländern theorietestend ggf.
theoriegenerierend
Prototypische Fallstudie Exemplarisch für ein sich ausbildendes theorietestend
Muster von Prozessen
Studie abweichender Fälle Überprüfung von abweichenden Fällen, theorietestend
zur Feststellung der Gründe für die
Abweichung
Studie von „crucial cases“ Test einer Theorie an besonders theorietestend
günsgen oder ungünsgen Fällen
Archetypische Fallstudie Untersuchung eines Prozesses bzw. eines theoriegenerierend
Falles, der zu einer Kategorienbildung
führt

Abb. 3 Typen von Fallstudien. Quelle: Eigene Zusammenstellung; siehe Muno (2003, S. 23, 25)
Methodologische Grundlagen des Vergleichs und Vergleichsdesigns 33

beispielsweise kann als richtungsweisender und repräsentativer Fall f€ur nachfol-


gende Revolutionen angesehen werden. Abweichende Fälle oder deviant cases sind
Untersuchungsfälle, die entgegen den Erwartungen und Annahmen zugrunde ge-
legter Theorien und Analysemodelle aus dem Muster fallen. Sie sind besonders
lohnende Untersuchungsobjekte, da sie die ansonsten f€ur die Grundgesamtheit der
Untersuchungseinheiten g€ultigen Ableitungen und Prognosen infrage stellen. Ent-
scheidende Fälle oder crucial cases werden ausgewählt, um die erarbeitete Theorie
oder Generalisierung auf die Probe zu stellen. Ist sie auch unter unwahrscheinlichen
Bedingungen (least likely cases) g€ultig? Oder gilt sie in einem besonders g€unstigen
Fall (most likely case) eben gerade nicht? Archetypische Fälle begr€unden anders als
die prototypischen Fälle keine fr€uhe Identifizierung von repräsentativen Fallgrup-
pen, sondern eine Theorie, die an weiteren Fällen oder vergleichenden Fallgruppen
untersucht wird (zur näheren Beschreibung insbesondere auch zum Fallstudiende-
sign Lauth et al. 2009, S. 62–68).
Fallstudien können mit qualitativen Methoden (z. B. Experten- und Dokumen-
tenanalyse), quantitativen Methoden (Surveyanalyse) oder auch mit einem an der
Forschungsfrage orientierten Mix aus beiden Methoden untersucht werden. Sie sind
geeignet neue Hypothesen zu generieren, bestehende Hypothese zu testen, komplexe
kausale Erklärungsmuster zu entdecken, erzielte Ergebnisse vorsichtig zu verall-
gemeinern und diverse Untersuchungsmethoden und Analysetechniken einzusetzen.
Fallstudien unterliegen jedoch auch der Gefahr, lediglich ad hoc-Erklärungen zu
produzieren, denn sie besitzen nur eine begrenzte externe Validität und ihre theore-
tische Aussagekraft ist beschränkt. Fallstudien bed€urfen eines hohen Forschungs-
aufwandes, sie erschöpfend und mit comparative merit durchzuf€uhren (Lauth
et al. 2009, S. 67; Lauth et al. 2014, S. 55).

3.2 Studien mit wenigen Fällen

3.2.1 Paarvergleiche
Im Bereich der Analyse weniger Fälle, die bei Lijphart (1971) auch die „vergleichen-
de Methode“ umfasst, ist zunächst €uber den Paarvergleich als kleinste Einheit zu
sprechen, der zwei Untersuchungsgegenstände direkt miteinander in Beziehung
setzt. Zwei Fälle werden systematisch und Kriterien geleitet miteinander hinsichtlich
ihrer Ähnlichkeiten oder Unterschiede verglichen. Von besonderem Nutzen f€ur die
Vergleichende Politikwissenschaft sind sogenannte fokussierte Vergleiche, die ein-
zelne Aspekte, die in der Forschungsfrage umrissen werden, thematisieren. Aus dem
Vergleich der Regierungssysteme der USA und Großbritanniens lassen sich etwa
Erkenntnisse € uber die Funktion von Parteien in präsidentiellen und parlamentari-
schen Systemen gewinnen. Hier werden Unterschiede der Regierungssysteme ex-
pliziert. Untersucht man z. B. semipräsidentielle Regierungssysteme, werden häufig
Gemeinsamkeiten mit den anderen beiden Regierungssystemen thematisiert.
F€ur die Vergleichende Politikwissenschaft problematisch können Paarvergleiche
werden, wenn versucht wird, eine Ergebnissicherheit oder Prognosefähigkeit zu
erreichen, die durch zwei Fälle nicht erzielt werden kann. Ginge man etwa anhand
34 S. Pickel

der Analyse zweier lateinamerikanischer präsidentieller Regierungssysteme davon


aus, dass alle präsidentiellen Regierungssysteme eine Gefährdung f€ur die Demokra-
tie in sich bergen, dann stößt man am Beispiel der USA an die Grenzen dieser
Verallgemeinerung. Auch hier gilt: Je repräsentativer die Fälle f€ur den Untersu-
chungsgegenstand, desto größer die Generalisierungsmöglichkeit. Als Analyseme-
thoden stehen Interviews und Dokumentenanalysen, deskriptiv-analytische Aggre-
gatdatenanalysen sowie statistische Individualdatenanalysen zur Verf€ugung. Bei der
Individualdatenanalyse werden die Elemente der Mikroebene innerhalb der Fälle
untersucht (z. B. eine Umfrage mit je 1000 Befragten pro Land). Die Aussage
bezieht sich dann auf den Fall (Makroebene), die Analyse bleibt fallorientiert.

3.2.2 Small-N-Studien
Small-n-Studien umfassen meist drei bis zehn Fälle, aber auch die Analyse von
ca. 20 Fällen zählt noch zu diesem Bereich vergleichender Untersuchungen. Small-
n-Analysen arbeiten noch eher fallorientiert, tendieren aber gerade im Bereich
zwischen 15 und 20 Fällen bereits zur variablenorientierten statistischen Analyse.
Die Untersuchungsmöglichkeiten leiden jedoch nahezu immer darunter, dass zu
viele Variablen anhand zu weniger Fälle analysiert werden sollen. Hierbei entstehen
verschiedene Probleme der Signifikanz und Reliabilität der Ergebnisse, denen man
mit unterschiedlichen Datenerhebungstechniken begegnen kann: Die Fallzahl kann
erhöht werden, indem man die Fälle in einzelne Beobachtungen im Zeitverlauf
aufteilt. Hierbei ist zu beachten, dass die Untersuchungsfälle dann nicht mehr
unabhängig voneinander sind und bei der Anwendung quantitativer Analysemetho-
den mittels spezieller Techniken untersucht werden m€ussen. Die einzelnen Fälle
können in Regionen aufgeteilt werden. Dies sollte jedoch nach einem einheitlichen
Kriterium, z. B. Verwaltungseinheiten, geschehen, die mitunter nicht f€ur jeden
Einzelfall gegeben sind.
Kann man die Untersuchungsfälle nicht erweitern, dann können eventuell die
Untersuchungsvariablen reduziert werden, um statistische Analysemethoden anwen-
den zu können: Dies kann durch eine Zusammenfassung entlang theoretischer Leit-
linien oder durch Indexbildung erfolgen. Auch eine kontrollierte Fallauswahl ent-
lang des Most Similar oder Most Different Systems Designs (siehe
Kap. ▶ Qualitative Comparative Analysis (QCA) in der Vergleichenden Politikwis-
senschaft) hat sich als hilfreich erwiesen.
Als Analysemethoden stehen Typologisierungen (Lauth et al. 2014, S. 37–42),
die Qualitative Comparative Analyses (QCA; Schneider und Wagemann 2012;
Berg-Schlosser und Cronqvist 2012; Rihoux and Ragin 2009; Lauth et al. 2014,
S. 61–63), deskriptiv-analytische, quantitative Verfahren und auf der Ebene der
Individualdaten die statistischen Methode zu Verf€ugung. Die Befragten der Länder-
surveys bilden dann die Untersuchungseinheiten (n = 1000), sie werden als Ele-
mente der Mikroebene innerhalb des Falles untersucht (Lauth et al. 2014, S. 74–82).
Die Aussage wird somit €uber die Untersuchungseinheit getroffen (z. B. die Wähler
in der Bundesrepublik). Die Untersuchungsergebnisse der Einzelfälle werden dann
miteinander verglichen. Dabei können die bereits genannten Verfahren zum Einsatz
kommen.
Methodologische Grundlagen des Vergleichs und Vergleichsdesigns 35

3.3 Studien mit vielen Fällen

3.3.1 Large-N-Studien
Vom Vorgehen sehr ähnlich ist die Analyse von mittleren Fallzahlen zwischen
20 und 50 Fällen, die im Übergangsbereich der Vielländeranalyse und der Analyse
mit kleinen Fallzahlen liegt. Bei solchen Fallzahlen sind ebenfalls aussagekräftige
statistische Analysen möglich. Grundsätzlich zu bedenken ist, dass sich eine Stei-
gerung der Fallzahlen positiv auf die statistische Überpr€ufbarkeit von Beziehungen
zwischen den Variablen auswirkt, aber nicht notwendigerweise die theoretische
Tiefe erhöht, da auch hier nur eine begrenzte Anzahl von Variablen untersucht
werden kann (Lauth et al. 2009, S. 61).
Unter den Begriff „large-N-Studien“ fallen hingegen alle Untersuchungen mit
einer großen Anzahl an Untersuchungsfällen (>50). Dies können Vollerhebungen
bestimmter Grundgesamtheiten sein, die in einen Vergleich sehr vieler oder aller
Fälle m€ unden oder Grundgesamtheiten als solche können untereinander verglichen
werden, etwa wenn alle afrikanischen mit allen lateinamerikanischen Ländern in
Beziehung gesetzt werden.
Der Vergleich vieler Fälle wird als „variablenorientiert“ und generalisierend be-
schrieben (Landman 2000, S. 24). Üblicherweise wird f€ur die Vielländeranalyse auf
die Ermittlung statistischer Beziehungen (Korrelationsmaße, Regressionskoeffizien-
ten) und die Konstruktion von Typologien zur€uckgegriffen. Die relativ hohen Fall-
zahlen (>50 Fälle) ermöglichen valide statistische Beziehungsmaße, die verallge-
meinerungsfähige Aussagen st€utzen. Zudem können, neben den generalisierenden
Aussagen, abweichende Fälle (‚Deviant Cases‘ oder ‚Outliers‘) identifiziert werden.
Diese können dann in vertiefenden Analysen, auch Einzelfallanalysen, genauer
untersucht werden. Aufgrund ihrer Abstraktheit eröffnen gerade die Vielländer-
analysen die besten Möglichkeiten zur Generalisierung und Prognose, da sie weniger
von Besonderheiten der Einzelfälle abhängen.
Die Analysemethode f€ur medium bis large-N-Studien ist aufgrund der hohen
Fallzahlen die statische Methode (Lauth et al. 2014, S. 63–67). Die abstrahierende
Aussage bezieht sich im Falle von Aggregatdatenanalysen €uber Länder (Makroda-
tenanalyse; vgl. Gert Pickel in diesem Band) auf die Zusammenhänge von Variablen
zwischen den Untersuchungsländern (Ländereigenschaften; Lauth et al. 2014,
S. 66–74). Im Falle von Individualdatenanalysen (z. B. Bevölkerungsumfragen
mit ca. 1000 Befragten) ermittelt der Forscher Zusammenhänge von Variablen
zwischen den Individuen (Personeneigenschaften). Es werden Elemente der Mikro-
ebene innerhalb des Falles verglichen; die abstrahierende Aussage erfolgt €uber die
Variablenverteilung im Land oder bei einem Ländervergleich auch €uber die Eigen-
schaften von Personengruppen (z. B. die Wähler in der Bundesrepublik, in Frank-
reich, in Polen usw.; f€ur weitere Beschreibungen der large-N-Studien vgl. den
Beitrag von Ulrich Rosar).

3.3.2 Globale Vergleiche


Bei den sog. Globalen Vergleichen handelt es sich um einen Sonderfall der Voller-
hebung (fast) aller Länder der Erde. Wie bei den large-N-Studien werden die Länder
36 S. Pickel

als Datenpunkte benutzt, ähnlich wie Umfragen Personen als Datenpunkte nutzen.
Im Mittelpunkt stehen Variablen, die f€ur alle Länder vorhanden sind. Die Schluss-
folgerungen solcher Untersuchungen beanspruchen universelle G€ultigkeit €uber alle
Länder der Erde. Sie werden auf Aggregatdatenniveau durchgef€uhrt und sind nur mit
statistischen Verfahren möglich.
Problematisch werden globale Vergleiche, wenn Datenl€ucken entstehen, die
einem selection bias oder nicht kontrollierbaren Datenausfällen geschuldet sind.
Auch Stichproben von Ländern können unter Umständen zu Verzerrungen f€uhren,
da selbst eine echte Zufallsstichprobe keine Repräsentativität des Samples f€ur alle
Länder der Erde gewährleisten kann. Fehlt beispielsweise China oder Großbritan-
nien in einer solchen Stichprobe, fallen je nach Fragestellung ganz spezielle Länder-
besonderheiten aus der Untersuchung heraus. Jahn (2006, S. 232–233) empfiehlt zur
Lösung derartiger Probleme eine eng an der Forschungsfrage orientierte Quotens-
tichprobe.

4 Forschungsdesigns

Forschungsdesigns richten sich zunächst nach der Anzahl der zu untersuchenden


Fälle und der Anzahl der zu erhebenden Variablen. Im Zentrum der vergleichenden
Analysen stehen die Fallstudie – der Vergleich des Einzelfalls mit einer mittleren
Anzahl an aus der Theorie abgeleiteten Kriterien (Variablen), die statistische
Methode – der Vergleich vieler Fälle mit einer mittleren Anzahl an Variablen –
und die „vergleichende Methode“ – der Vergleich einer mittleren Anzahl an Fällen
€uber eine mittlere Anzahl an Variablen, die sich des Forschungsdesigns der Most
Similar (MSSD) oder der Most Different Systems Designs (MDSD) bedient (Lauth
et al. 2014, S. 56–61). Nach Lijphart (1971) findet sich hier der eigentliche Ort der
vergleichenden Forschung (Abb. 4).
Die Differenzierung beruht zu großen Teilen auf der Anzahl der Fälle, die ana-
lysiert werden. Die statistische Methode ist weitgehend mit den oben

Variablenzahl

n ideale Beschreibung umfassende universaler Test


Erklärung

i Einzelfallstudie MSSD / MDSD stassche Methode


‚komparave Methode’

1 Einzelbeobachtung Klassifikaon univ. Klassifikaon

1 i n Fälle

Abb. 4 Variablen und Fälle. Quelle: Lauth et al. (2014, S. 47)


Methodologische Grundlagen des Vergleichs und Vergleichsdesigns 37

angesprochenen Large-N-Studien gleichzusetzen, während die vergleichende


Methode sich € uberwiegend auf begrenzte Fallzahlen konzentriert. Lijphart (1971,
S. 684) sieht dies sogar als einzigen Unterschied zwischen beiden Methoden: „The
comparative method resembles the statistical method in all respects except one. The
crucial difference is that the number of cases it deals with is too small to permit
systematical control by means of partial correlations“. Dieses Verständnis von einer
„echten vergleichenden Methode“ wird mittlerweile nicht mehr als trennscharf
genug empfunden (vgl. Pickel et al. 2009, S. 9–12), um dem heute vorherrschenden
Pluralismus an vergleichenden Analyseverfahren und Zugängen gerecht zu werden.
Entscheidend f€ ur die Methoden des Vergleichens ist eine eindeutig systematische
Analyse mit von klaren Kriterien geleiteten, komparativen Komponenten.
Die vergleichende Methode in der Tradition von Lijphart (1971, 1975) greift
einerseits auf wenige Fälle zur€uck – was sie von der statistischen Methode nach
Lijphart unterscheidet –, andererseits beruht sie aufgrund der Fallbeschränkungen
gegen€uber Vielländeranalysen auf einer bewussten Fallauswahl. Faktisch wird daher
entweder auf einen strukturierten Vergleich mehrerer Fallstudien zur€uckgegriffen
oder es werden Verfahren der small-N-Aggregatdatenanalyse verwendet. Wichtig ist
bei beiden Verfahren die Strukturiertheit des Vorgehens durch die Verwendung
klarer Vergleichskriterien. Aufgrund der Anfälligkeit der Small-N-Analysen f€ur
Abweichungen von einzelnen Fällen (deviant cases), sind eine systematische Fall-
auswahl und ein präzise formuliertes Forschungsdesign zwingend notwendig. Als
kontrollierte Versuchsanordnung, die eben der systematischen Fallauswahl dient,
haben sich seit den 1970er-Jahren (vgl. Przeworski und Teune 1970) das Most-
Similar-Systems-Design (MSSD) und das Most-Different-Systems-Design (MDSD)
durchgesetzt (siehe Abb. 5).
Das MSSD geht von ähnlichen Rahmenbedingungen f€ur alle Untersuchungsfälle
(Länder) aus und klammert somit in einer Quasi-Versuchsanordnung Kontextvariab-
len aus der Untersuchung aus, indem sie stabil gehalten werden (z. B. bei OECD-
Studien Wohlstand und Demokratie). „A comparison between „relatively similar“
countries sets out to neutralize certain differences in order to permit a better analyses
of other“ (Dogan und Pelassy 1990, S. 133). MSS-Designs sind geeignet zu

MSSD MDSD
Land 1 Land 2 Land ... Land 1 Land 2 Land ...
Rahmen- A A A A D G
bedingungen B B B B E H
(„kontrollierte“ Variablen) C C C C F I
Erklärende Variable X X Not X X X X

“Outcome” Y Y Not Y Y Y Y

Abb. 5 Forschungsdesigns der Vergleichenden Politikwissenschaft. Quelle: Landman (2000,


S. 28); Lauth et al. (2009, S. 74); Keman (2011, S. 59)
38 S. Pickel

untersuchen, inwieweit die Variation einer erklärenden Variablen X/Nicht X (z. B.


parlamentarisches oder präsidentielles Regierungssystem) eine Differenz im
Ergebnis Y/Nicht Y (Outcome) erzeugt (z. B. stabile oder weniger stabile politische
Entscheidungen). „It is anticipated that if some important differences are found
among these otherwise similar countries, then the number of factors attributable to
these factors will be sufficiently small to warrant explanation in terms of these
differences alone“ (Przeworski und Teune 1970, S. 32).
Im Wesentlichen folgt das MSSD der Logik der Method of Difference von John
Stuart Mill (1868, S. 428–433; Keman 2011, S. 58–59): Wenn ein Phänomen in
einem Paarvergleich einmal auftritt und einmal nicht auftritt (abhängige Variable a)
und die Bedingungen, unter denen dies geschieht, jeweils die gleichen (unabhängige
Variablen) sind, bis auf eine Variable (A), die sich in beiden Fällen unterscheidet, so
ist die unabhängige Variable (A), die mit der abhängigen Variable (a) variiert, die
Ursache oder ein unerlässlicher Teil der Ursache der abhängigen Variable.

• A, B, C ) a, b, c
• B, C ) b, c
• A ist die Ursache oder eine Bedingung f€ur das Auftreten von a.

Die Differenzmethode basiert auf Experimenten zur Bestätigung von Ursache-


Wirkungszusammenhängen, wobei A variiert (ist vorhanden oder nicht). Die Diffe-
renzmethode geht deduktiv vor, d. h. sie schließt von allgemeinen Gesetzmäßigkei-
ten auf besondere Fälle. Der Wert des MSSD erschließt sich zum einen aus der
Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse €uber die „ähnlichen“ Fälle hinaus und zum
anderen aus der Erkenntnis, dass die gewählten Analysekategorien noch verfeinert
werden m€ ussten, wenn man zwischen den Fällen diskriminieren wollte. MSSD
erreichen Verallgemeinerungen mittlerer Reichweite bei einem Abstraktionsniveau,
das groß genug sein muss, um Ähnlichkeiten zu bewahren und Unterschiede zu
erkennen (Dogan und Pelassy 1990, S. 133–139).
Das MDSD dagegen untersucht einen stabilen Zusammenhang zwischen je einer
Ausprägung der abhängigen Variable X und der unabhängigen Variable Y (Arbeiter
wählen Arbeiterparteien). Die Untersuchung beginnt auf dem untersten möglichen
Level, d. h. oft die Ebene der Individuen. Im ersten Schritt wird analysiert, ob die
Subgruppen einer Population und die Subgruppen verschiedener Populationen sich
hinsichtlich der Beziehung zwischen X und Y unterscheiden. Der Zusammenhang
wird €uber verschiedenste Kontexte (z. B. Länder aller Kontinente) abgesichert,
D. h. zunächst spielen Faktoren auf der €ubergeordneten Systemebene keine Rolle,
da sie völlig unterschiedlich sein können. Das MDSD versucht Systemunterschiede
zu €
uberwinden, indem es Hypothesen formuliert und bestätigt, die unabhängig von
den Systemen, in denen sie beobachtet werden, g€ultig sind (Przeworski und Teune
1970, S. 39). „Whenever classification into some level of systems results in the
greatest reduction in variance and therefore yields the greatest gain in prediction, the
level of analysis is shifted to factors operating at this level“ (Przeworski und Teune
1970, S. 36). Erst wenn die Beziehung zwischen X und Y €uber Subgruppen variiert,
werden Faktoren der Systemebene hinzugezogen. Wenn Arbeiter in Deutschland
Methodologische Grundlagen des Vergleichs und Vergleichsdesigns 39

und Frankreich f€ur eine Arbeiterpartei stimmen, die Arbeiter in Indien und S€udafrika
dies aber nicht tun, dann kann der Wohlstand des Landes möglicherweise ein
Auslöser f€
ur das variierende Verhalten sein. Dann sind die Wohlstandsunterschiede
der Länder auf ihre Relevanz f€ur das Verhalten der Arbeiter zu untersuchen. Ent-
sprechend ist die inhaltliche Grundthese des MDSD meist relativ einfach zu wider-
legen und ein so gest€utztes Ergebnis kann sowohl als sehr stabil als auch in hohem
Ausmaß als verallgemeinerbar angesehen werden. Muss die These, die auf ein
MDSD gest€ utzt ist, verworfen werden, so kann die Ursache f€ur eine Variation des
Zusammenhangs zwischen X und Y mithilfe eines MSSD bestimmt werden.
Das MDSD folgt der Logik der Method of Agreement von Mill (1868,
S. 426–428; Keman 2011, S. 58–59): Wenn mehrere Beobachtungen einer abhän-
gigen Variable (a) nur eine von mehreren möglichen kausalen Bedingungen gemein-
sam haben (A), dann sind die Bedingungen, in denen alle Beobachtungen
€ubereinstimmen, jene, die die Ausprägung der abhängigen Variable bestimmen.

• A, B, C ) a, b, c
• A, D, E ) a, d, e
• Dann ist A eine Ursache f€ur a.

Die Konkordanzmethode basiert auf Beobachtungen, A ist immer in der Beob-


achtung vorhanden, und geht induktiv vor, d. h. sie schließt von besonderen Fällen
auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten. Die Reichweite der generalisierten Aussagen
richtet sich nach dem Untersuchungslevel, das eingehalten werden muss: Je mehr
Einschränkungen der „Unterschiedlichkeit“ der Fälle gemacht werden m€ussen, desto
enger wird die Reichweite der Aussage der Ergebnisse. Je höher das Abstraktions-
niveau der Unterschiede bleibt, desto weiter reicht die Aussage.

Box 2: Grundlegende Unterschiede zwischen dem MSSD und dem MDSD

• MSSD ! startet (meist) auf Systemebene und hält Systemvariablen


konstant während der Zusammenhang von X und Y variiert (top down;
deduktiv)
• MSSD ! positive Identifikation relevanter Systemfaktoren
• MDSD ! startet (meist) auf Individualebene und testet einen konstanten
Zusammenhang zwischen X und Y €uber variierende Systemvariablen (bot-
tom up; induktiv)
• MDSD ! Ausschluss irrelevanter Systemfaktoren
• Rahmenbedingungen = gleich im MSSD – ungleich im MDSD
• Beziehung UV ! AV = variabel im MSSD – konstant im MDSD

So hilfreich diese Konzeption ist, ein Problem ist beiden Designs eigen: Sie sind
von der Grundkonzeption her dichotom geprägt. Entweder sind die Variablen (x, y)
vorhanden oder nicht (ja oder nein). Dies lässt keine hohe Erklärungsvarianz zu und
40 S. Pickel

entspricht eher einem deduktiv-nomologischen als einem induktiv-statistischen


Wissenschaftsmodell. Da man es in empirischen Untersuchungen zumeist mit konti-
nuierlichen Variablen oder graduellen Merkmalsausprägungen (also Prozente von
Zustimmungen, Qualitätsgrade der Demokratie) zu tun hat, bleibt die konkrete
Anwendbarkeit der Designs begrenzt. Bei der Darstellung in Abb. 5 handelt es sich
somit um eine Idealvorstellung beider Designs, die nur selten in dieser idealen Form
zu realisieren ist. In der Forschungspraxis finden sich Variationen in der Konzeption,
die durch Mischungen der Untersuchungsanordnungen zustande kommen. Bei allen
Variationen ist darauf zu achten, dass eine sorgsam begr€undete Fallauswahl durchge-
f€
uhrt wird, da sonst die Gefahr des selection bias besteht (Lauth et al. 2014, S. 60–61).

5 Grenzen und Probleme des Vergleichens

5.1 Probleme der Fallauswahl und Variablenspezifikation

5.1.1 Selection bias


Ein selection bias, d. h. eine systematische Verzerrung der Ergebnisse, kann aus der
Fallauswahl resultieren. Er entsteht v. a. dann, wenn Regeln der kontrollierten oder
repräsentativen Fallauswahl verletzt werden. Diese Gefahr entsteht besonders bei
einer positiven Fallauswahl auf der Grundlage von Zeit, Zugänglichkeit von Quellen
und Daten, beschränkten finanziellen Ressourcen, Sprachkenntnissen, Kontakten
mit Kollegen und persönlichen Vorlieben.
F€ur medium- und large-N-Studien definieren King et al. (1994, S. 130) den
selection bias als „the extent to which the selection rule is correlated with the
dependent variable“. Werden z. B. lediglich die Fälle ber€ucksichtigt, die eine favori-
sierte Hypothese bestätigen, um einen politischen Standpunkt oder ein wissenschaft-
lichen Ansatz zu untermauern, so liegt ein selection bias vor: Die Hypothese des
Forschers wird fälschlicherweise unterst€utzt. Eine besondere Problematik besteht,
wenn alle Fälle nach einer Ausprägung der abhängigen Variablen ausgewählt wer-
den. Dies geschieht u. a. dann, wenn im Rahmen von Transformationsstudien nur
gelungene Demokratisierungsprozesse aufgegriffen werden und misslungene

ubersehen werden (Huntington 1991). Denn bei dieser Versuchungsanordnung ist
nicht auszuschließen, dass die f€ur ursächlich gehaltenen Variablen auch dann vor-
liegen, wenn die Demokratisierung fehlgeschlagen ist (Lauth et al. 2009, S. 220).
Die Grundgesamtheit der möglichen Fälle ist demnach so zu bestimmen, dass die
Ausprägung der abhängigen Variable variiert (unterschiedliche Ergebnisse). Die
„selection should allow for the possibility of at least some variation on the depend
variable“ (King et al. 1994, S. 129). Fälle sind niemals anhand einer bestimmten
Ausprägung der abhängigen Variable oder aufgrund einer wichtigen Kausalbezie-
hung auszuwählen. Der Merksatz von Peters (1998, S. 30) zur experimentellen,
Fehler- und externen Varianz hat sich hierbei als hilfreich erwiesen. Je höher die
Varianz der abhängigen Variable ist, desto geringer ist die Gefahr eines selection
bias. Wichtig bleibt dabei allerdings, den Boden theoretisch sinnvoller Vergleichs-
anlagen nicht zu verlassen.
Methodologische Grundlagen des Vergleichs und Vergleichsdesigns 41

Wendet man man bei der Fallauswahl die Regeln des MSSD an, so ist zu
beachten, dass die Fälle oft relativ homogen (zumindest hinsichtlich der Kontextva-
riablen) sind. Dies erhöht zwar die Möglichkeit des g€ultigen Schließens, kann aber
auch die Varianz des zu vergleichenden Zusammenhangs zwischen unabhängigen
und abhängigen Variablen einschränken (Keman 2011, S. 61).

5.1.2 Drittvariablen
Eine weitere Gefahr der Fehlschl€usse besteht darin, dass eine dritte Variable, die
nicht in das Analysedesign eingeht, die abhängige Variable determiniert. Dieses
Problem wird Drittvariablenproblem oder Problem der vergessenen Variablen (omit-
ted variables) genannt. Drittvariablen sind Einflussfaktoren, die nicht in die Analyse
einbezogen werden, aber einen nennenswerten Effekt auf das Forschungsergebnis
aus€ uben (Lauth et al. 2009, S. 227). Als Folge können Ergebnisse Fehler aufweisen
oder unberechtigter Weise Schlussfolgerungen gezogen werden (Problem der Spu-
riousness): „A spurious explanation is one in which some unidentified factor is
responsible for the outcome, while the identified factor is mistakenly attributed to
having an effect on the outcome“ (Landman 2003, S. 51). Effekte von unbekannten
Drittvariablen können (a) direkt auf die abhängige Variable gerichtet sein. Dabei
wird ein Erklärungsfaktor „einfach“ €ubersehen. Besitzt die Drittvariable (b) einen
Einfluss auf eine unabhängige Variable (UV) und wird der Zusammenhang zwischen
der UV und der abhängigen Variable (AV) nur durch die Wirkung der Drittvariablen
auf die UV hergestellt, so ist der Effekt schon bedeutender, denn das erzielte
Ergebnis ist schlichtweg falsch. Nicht die UV erzeugt eine Varianz der AV, sondern
die Korrelation der UV mit der Drittvariablen, also ist letztendlich die Drittvariable
f€ur die Veränderung der AV verantwortlich. Intervenierende Variable (c) wirken auf
die Beziehung zwischen der UV und der AV. Der Zusammenhang zwischen UV und
AV gilt dann nur unter den Bedingungen der Wirkung der Drittvariable, d. h. die
Wirkung der UV wird eingeschränkt (Lauth et al. 2009, S. 227–228).
Bei dem Problem der Drittvariablen geht es somit um das Blickfeld des For-
schers: Ist es durch mangelhaftes Theorie- und Fallstudium verengt, werden kon-
trastierende Fälle ausgeklammert oder erfolgt eine unzureichende Konzeptspezifi-
kation, so kann das Drittvariablenproblem kaum vermieden werden. Allerdings
gilt es, zwischen Sparsamkeit und (nahezu unerreichbarer) Vollständigkeit der
(maximalistischen) Konzepte abzuwägen.

5.2 Probleme bei der Ergebnisinterpretation

5.2.1 Fehlschlüsse
Von einer Auswahl an Untersuchungsfällen auf eine Grundgesamtheit zu schließen,
macht nur dann wissenschaftlich Sinn, wenn a) die Fallauswahl repräsentativ f€ur die
Grundgesamtheit ist (z. B. eine Auswahl an OECD-Ländern f€ur die Gesamtheit der
OECD) oder b) die Auswahl nicht gleich der Grundgesamtheit ist (im Beispiel: alle
Länder der OECD). Die Faustregel „je mehr Untersuchungsfälle behandelt werden,
desto verallgemeinerbarer sind die Ergebnisse“ (Lauth et al. 2009, S. 223) gilt nur
42 S. Pickel

dann, wenn die Fallauswahl tatsächlich repräsentativ f€ur die Grundgesamtheit ist.
Hadenius (1992) st€utzt seine Studie zum Zusammenhang von Demokratie und
wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit von Gesellschaften auf 132 Entwicklungsländer.
Die Ergebnisse sind aussagekräftig f€ur Entwicklungsländer, sie sind jedoch aufgrund
äußerst differierender Kontextvariablen keinesfalls aussagekräftig f€ur die OECD-
Welt, auch wenn die Fallzahl sehr hoch ist.
F€
ur die Vergleichende Politikwissenschaft ist u. a. aufgrund der oftmals aus
empirisch-methodischen Gr€unden beschränkten Fallzahl eine Kombination des Re-
präsentativgebotes mit den Auswahlregeln der Forschungsdesigns MSSD und
MDSD geboten. Ein Schließen auf die (wohldefinierte) Grundgesamtheit wird hier
aus inhaltlichen und methodischen Gr€unden möglich. F€ur das MSSD gilt: Je ähn-
licher die Rahmenbedingungen der Fälle sind, desto angemessener ist das Schließen
auf die weiteren Fälle der Grundgesamtheit (Lauth et al. 2009, S. 224). Bleibt
man bei der Anlage des Vergleiches beispielsweise innerhalb einer Area (z. B.
Westeuropa, Asien, Lateinamerika usw.), so kann das erzielte Ergebnis relativ leicht
und valide auf weitere Fälle der Grundgesamtheit €ubertragen werden. F€ur das
MDSD gilt: F€ ur je mehr Fälle die Kovariation von unabhängiger und abhängiger
Variable bestätigt wird, desto angemessener ist das Schließen auf weitere, in den
Rahmenbedingungen höchst unterschiedliche Fälle.
Generell gilt: Die Übertragbarkeit von Ergebnissen innerhalb eines interpretati-
ven Rahmens ist nur dann zulässig, wenn hinter den Ergebnissen eine klar formu-
lierte, plausible theoretische Annahme steht. Eine unreflektierte Übertragung von
festgestellten Zusammenhängen €uber die Untersuchungsfälle hinaus ist wissen-
schaftlich nicht zu rechtfertigen und wäre auch f€ur eine Politikberatung äußerst
problematisch (Lauth et al. 2009, S. 224).
Zur Fehlschlussproblematik gehören auch der individualistische und der ökolo-
gische Fehlschluss (Keman 2011, S. 61). Beide werden im Artikel €uber die Ag-
gregatdatenanalyse ausf€uhrlich behandelt (vgl. Gert Pickel in diesem Band). An
dieser Stelle sei nur erwähnt, dass diese Problematik sich auf Schl€usse zwischen
unterschiedlichen Analyseebenen bezieht. Im Falle des ökologischen Fehlschlusses
wird von Zusammenhängen von Variablen auf der Aggregatdatenebene auf Zusam-
menhänge auf der Individualebene geschlossen, im Fall des individualistischen
Fehlschlusses von Zusammenhängen auf Individualebene auf Zusammenhänge auf
Aggregatebene.

5.2.2 Galtons Problem


Galtons Problem bezieht sich auf Faktoren, die außerhalb der Untersuchungsanlage
wirksam werden. Dieser Einflussfaktor wirkt auf alle Untersuchungsfälle und erklärt
die zwischen den Fällen beobachteten Ähnlichkeiten oder Unterschiede (Keman
2011, S. 61). Dies gilt insbesondere f€ur internationale oder supranationale Einfl€usse
wie Globalisierungsphänomene oder das Regelwerk der EU. Somit wird eine
Grundregel der Anwendung statistischer Verfahren bei vergleichenden Analysen
verletzt: Die Unabhängigkeit der Untersuchungsfälle kann nicht gewahrt bleiben.
Diese Problematik tritt z. B. in Zeiten wirtschaftlicher Krisen zutage, wenn diverse
Staaten den Regeln des IWF unterworfen werden, um Hilfen der Weltbank beziehen
Methodologische Grundlagen des Vergleichs und Vergleichsdesigns 43

zu können. Gleiches gilt f€ur den Einfluss weltweiter Kommunikationsmedien,


z. B. die Rolle von Facebook und Twitter im Arabischen Fr€uhling. Die Entwicklun-
gen in Nordafrika m€ussen in engem Zusammenhang gesehen und können nicht mehr
ausschließlich auf interne Faktoren zur€uckgef€uhrt werden. Schneeballeffekte in
fr€uheren Transitionen stellen ein ähnliches Problem dar (Lauth et al. 2009,
S. 225–226). Galtons Problem verweist auf die Diffusion von Werten, Regeln,
Ideologien und Geld. Nach Jahn (2003, S. 67) bedeutet das Galton-Problem, „dass
nicht funktionale Elemente der einzelnen Untersuchungseinheiten f€ur die Erklärung
von Variation in den zu erklärenden Phänomenen verantwortlich sind, sondern
vielmehr Einfl€ usse, die jenseits der Einzelelemente zu suchen sind und sich in Form
von Diffusion auf die erklärende Variable bemerkbar machen“. Bei einer präzisen
Formulierung der unabhängigen Variablen und der gemeinsamen Rahmenbedingun-
gen können Diffusionsprozesse als Prädiktoren in die Analyse einbezogen werden.
Durch die Abschätzung von fallexternen und fallinternen Einfl€ussen und Ursachen
kann auch Galtons Problem begegnet werden (Lauth et al. 2009, S. 227).

6 Fazit

Die Kernelemente der Methodologie der Vergleichenden Politikwissenschaft sind

a) die Ber€ucksichtigung von Systematik bei der Vergleichsanlage,


b) die Ableitung der Vergleichskriterien aus einer mit der Forschungsfrage korres-
pondierenden theoretischen Grundlage und
c) eine kontrollierte Fallauswahl anhand
d) eines analytischen Forschungsdesigns (meist MSSD oder MDSD), das die
e) Erzeugung bzw. Kontrolle von Varianz der Variablen und ein Lernen (Generali-
sierung) aus ihren €uberzufälligen, validen und reliablen Zusammenhängen
ermöglicht.
f) Zur Generalisierung der Ergebnisse gilt es Fehlschl€usse ebenso zu vermeiden wie
fallexterne Einfl€usse zu beachten.

Aufgrund der erheblichen Weiterentwicklung im Fach d€urfte die Einhaltung


dieser Kriterien in der Zukunft noch mehr an Bedeutung gewinnen, unterscheiden
sie doch die systematisch arbeitende Vergleichende Politikwissenschaft von anderen
Fachbereichen.

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Quantitative makroanalytische Verfahren
in der Vergleichenden Politikwissenschaft

Gert Pickel

Zusammenfassung
Die Analyse von Makrodaten ist ein Kernbereich der Vergleichenden Politik-
wissenschaft. Mit ihr werden Strukturen und Beziehungen von €ubergeordneten
Einheiten, sog. Makroeinheiten, empirisch untersucht. Sie unterscheidet sich
aufgrund dieser Ausrichtung von der Analyse von Mikrodaten, welche ihren
Schwerpunkt auf die Untersuchung von Individuen legt, sowie der qualitativen
Makroanalyse (QCA; Fuzzy-Set-Analyse). Ihre quantitativ-statistische Kern-
analyseform ist die Aggregatdatenanalyse. Dieses Verfahren greift sowohl auf
prozessproduzierte Daten als auch auf aggregierte Individualdaten zur€uck und
nutzt statistische Auswertungsverfahren, die zumeist auf eine kausale Erklärung
zielen. Quantitative Makroanalysen unterliegen den Problemen des ökologischen
Fehlschlusses, des selection bias und geringer Fallzahlen. Gleichzeitig eröffnen
sie Möglichkeiten auf globale und weitreichende Aussagen €uber gesellschaftliche
Entwicklung. Neuere Ansätze verbinden Aggregatdatenanalysen mit Analysen
von Individualdaten oder auch der qualitativen Makroanalyse, erhöhen die Zahl
der verwendeten Ereignisse und fokussieren immer stärker die Verbindung
zwischen Theorie und empirischer Analyse.

Schlüsselwörter
Aggregatdatenanalyse • Vergleichende Methoden • Gesellschaftsanalyse

G. Pickel (*)
Professor f€ur Religions- und Kirchensoziologie, Institut f€
ur Praktische Theologie, Universität
Leipzig, Leipzig, Deutschland
E-Mail: pickel@rz.uni-leipzig.de

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 47


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_3
48 G. Pickel

1 Einleitung – Makroanalysen als Kern der Vergleichenden


Politikwissenschaft

Makrodatenanalysen zählen zu den Grundvorgehensweisen in der Vergleichenden


Politikwissenschaft, sind doch deren Fragestellungen in der Regel auf Länder,
Regionen oder Zeiträume €ubergreifende Darstellungen und Erklärungen ausgerichtet
(z.B. Castles 1998). Gelegentlich wird sogar von einer zwingenden Symbiose
zwischen diesem methodischen Vorgehen und dem Selbstverständnis einer syste-
matisch arbeitenden Vergleichenden Politikwissenschaft ausgegangen (Widmaier
1997), sie wird manchmal sogar als deren „Königsweg“ bezeichnet (Jahn 2009,
S. 177). Hintergrund ist eine Differenz zu einem Verständnis von Vergleichender
Politikwissenschaft als einer (deskriptiven) Sammlung von nebeneinander gestellten
Länderanalysen, wie es vor nicht allzu wenigen Jahrzehnten in der Politikwissen-
schaft noch recht verbreitet war. Zumeist wird die Makrodatenanalyse mit der
statistischen Methode der Aggregatdatenanalyse gleichgesetzt. Diese Zuweisung
ist nur teilweise richtig. So hat sich mittlerweile auch hinsichtlich politikwissen-
schaftlicher Zugänge zu Makrophänomenen ein gewisser Methodenpluralismus
durchgesetzt. Sogenannte makroqualitative Vorgehen (z. B. QCA, Fuzzy-Set-
Analyse) konzentrieren sich ebenfalls auf die Untersuchung von Makroeinheiten,
verwenden hierf€ ur aber nicht statistische bzw. kausalanalytische Verfahren, sondern
Kombinatoriken, die vornehmlich auf der booleanschen Algebra beruhen.1 Auch
Überlegungen zum process tracing nehmen sich Aussagen auf der Makroebene zum
Ziel. Die Einheiten können dabei räumlich oder zeitlich variieren. F€ur letztere
Variation werden Ereignisdatenanalysen verwendet.
F€
ur ein einfaches Verständnis lässt sich die Makrodatenanalyse konzeptionell von
der Mikro- oder Individualdatenanalyse unterscheiden. Die quantitative Makroda-
tenanalyse richtet ihr Augenmerk auf die Abbildung und die Beziehungen zwischen
kollektiven Einheiten, die Individualdatenanalyse beschäftigt sich mit den Struktu-
ren individueller Zusammenhänge. Dabei ist es an dieser Stelle wichtig festzuhalten,
dass mit der Erhebung von Datenmaterial auf der Individualebene (also der Be-
fragung von Personen) keine Beschränkung der späteren Analyse- oder Interpreta-
tionsebene des erhobenen Materials erfolgt. So werden Umfragedaten in der Ver-
gleichenden Politikwissenschaft sogar €uberwiegend auf der Makroebene – und
damit Makroeinheiten miteinander vergleichend – interpretiert (Box-Steffenmeier
et al. 2008; Welzel 2003; Pickel 2009). Entsprechend schließt die quantitative
Makrodatenanalyse in der Vergleichenden Politikwissenschaft auch die komparative
Analyse von Umfragedaten ein.2 Allerdings wird dabei nicht auf die Differenzie-
rungen innerhalb der Umfragedaten, sondern auf deren aggregierte, kollektive
Aussagen Bezug genommen. Einen starken Anwendungsbereich f€ur statistische,
quantitative Makrodatenanalysen stellen zudem ökonometrische Vorgehen dar

1
Hier sei auf die Darstellung von Claudius Wagemann in diesem Band verwiesen.
Umfragedaten sind €
2
uber den Gedanken der repräsentativen Abbildung von Kollektiven auf
Makroergebnisse ausgerichtet (Ländern, Kulturen, Regionen, seltener Zeitpunkten).
Quantitative makroanalytische Verfahren in der Vergleichenden. . . 49

(z. B. Gujarati und Porter 2009). Sie werden sowohl in der Politikwissenschaft als
auch der Volkswirtschaftslehre eingesetzt.3 Im vorliegenden Beitrag liegt das
Augenmerk auf der Umsetzung der quantitativen Makrodatenanalyse und ihren
spezifischen Problemstellungen mit Blick auf den politikwissenschaftlichen
Vergleich.4

2 Makroanalytische Vorgehen – Formen und Vorgehen

2.1 Vorgehen der Aggregatdatenanalyse

Die Aggregatdatenanalyse wird allgemein als Kernverfahren der quantitativen Mak-


rodatenanalyse betrachtet. In Aggregatdatenanalysen werden unter Verwendung
statistischer Verfahren aggregierte und globale Einheiten sozialer und politischer
Phänomene untersucht. Es geht also um kollektive Eigenschaften von Phänomenen.
Einige der in der Makrodatenanalyse verwendeten Daten sind prozessproduziert
andere liegen als Entitäten vor. Unter Aggregatdaten versteht man numerische
Abbildungen von makrogesellschaftlichen und kollektiven Prozessen. Sie können
eigenständige globale Merkmale5 (z. B. Herrschafts- oder Institutionentyp des
Landes, strukturelle Vetospieler, religiös-kulturelle Prägung des Gebiets) oder Re-
sultat der Aggregation von individuellen Merkmalen (Arbeitslosenrate, Migrations-
rate, Wahlbeteiligung, Grad des durchschnittlichen Gottesdienstbesuches) sein. Im
zweiten Fall spricht man von strukturellen Merkmalen. Das Gros der Daten beruht
auf der Zusammenstellung statistischer Ämter oder internationaler Organisationen
(EU, SIPRI, EUROSTAT, UNESCO, UNO, Weltbank, OECD, IMF, ILO), bzw. aus
einschlägigen Veröffentlichungen, Veröffentlichungsreihen oder Internetseiten der
Organisationen. Entsprechend spielt die Analyse von Sekundärdaten f€ur die Ag-
gregatdatenanalyse eine große Rolle (Diekmann 2013, S. 653–655). Die entsprech-
enden Daten werden dann in der Regel unter Verwendung von Quellenangaben in
eigene Datensätze €ubertragen, welche die einen interessierenden Informationen
beinhalten.
F€ur die Analyse dieser Datenbestände wird auf verschiedene Instrumentarien der
statistischen Datenanalyse zur€uckgegriffen (siehe z. B. Behnke et al. 2010; Schnell
et al. 2013). Dabei ist die Form der verwendeten Aggregatdaten f€ur die konkrete
Durchf€ uhrung von Aggregatdatenanalysen zuerst einmal nebensächlich, solange sie
immer auf klar definierte Einheiten zuzuordnen sind (z. B. Länder, zeitliche

3
Ein politikwissenschaftlicher Bereich der stark in diese Richtung arbeitet ist die politische
Ökonomie.
4
In den letzten Jahren gab es Verschränkungen mit anderen Analyseinstrumenten, die f€ ur die
Vergleichende Politikwissenschaft Erkenntnisgewinne beinhalten. So versuchen Mehrebenenmo-
delle oder Multi-Level-Analysen eine systematische Verbindung zwischen Mikro- und Makroebene
herzustellen (Creswell 2003; Rohlfing 2009; Tashakkori und Teddlie 2010).
5
Globale Aggregatdaten sind als Einheiten an sich zu verstehen und prinzipiell nicht disaggregier-
bar (z.B. parlamentarisches politisches System oder präsidentielles politisches System).
50 G. Pickel

Ereignisse). Ihre Zielrichtung ist es Aussagen €uber generalisierbare Zustände und


Entwicklungen zu treffen. Gesetzmäßigkeiten oder verallgemeinerbare Zusammen-
hangsmuster und nicht einzelne Länderbeschreibungen oder -entwicklungen stehen
im Fokus der Analysen.6 So ist zum Beispiel nicht die Beschreibung der Demo-
kratiezufriedenheit in Polen, Ungarn und Deutschland interessant, sondern ein
möglicher länder€ ubergreifender Zusammenhang zwischen Demokratiezufriedenheit
und wirtschaftlichem Erfolg. Diese Zielsetzung erfordert zwingend eine enge Ver-
bindung zwischen der Aggregatdatenanalyse, politikwissenschaftlichen Theorien
und Hypothesenbildung. Zumeist ist das Augenmerk dann auf die Analyse von
Zusammenhängen zwischen Kollektiveigenschaften ausgerichtet. Idealtypisch ge-
lingt es so stabile bis universelle erklärende Aussagen hinsichtlich politischer
Zustände und Prozesse zu erhalten.
Auf der Arbeitsebene sind die Nachvollziehbarkeit der Analysen sowie eine f€ur
die Rezipienten transparente Dokumentation der verwendeten Daten und Daten-
quellen unabdingbar. Dies schließt eine Kontrolle der verwendeten Daten (egal aus
welcher Quelle) auf Zuverlässigkeit (Reliabilität) und Richtigkeit (Validität) ein.
Leider fehlt dem Aggregatdatenforscher aufgrund seiner Angewiesenheit auf bereits
produzierte Daten häufig der konkrete Einblick in den Prozess der Datenproduktion
vorliegender Datenbestände. Dies gilt speziell f€ur globale Daten, die seitens statisti-
scher Ämter oder € uberregionaler Organisationen zur Verf€ugung gestellt werden. F€ur
die Validität der von ihm erzielten Ergebnisse muss sich der Forscher darauf ver-
lassen können, dass diese Daten fachgerecht und unter Einsatz geeigneter Instru-
mentarien produziert worden sind. Besser als sich nur darauf zu verlassen ist es
allerdings, wenn es möglich ist diese gew€unschte Reliabilität (Zuverlässigkeit) der
Daten mit geeigneten Verfahren zu €uberpr€ufen. Bei Globaldaten bietet sich der
Vergleich von Daten aus unterschiedlichen Quellen an, sind niedriger aggregierte
Einheiten oder Individualdaten verf€ugbar kann man die Aggregationsprozesse selber
noch einmal exemplarisch nachvollziehen. Validität – also die Tatsache, dass die
verwendeten Indikatoren auch den beabsichtigten Abschnitt der Realität abbilden –
ist dagegen allein €uber einen analytischen Bezug zu den Hypothesen und zur Theorie
möglich. Die verwendeten Operationalisierungen stellen dabei die Br€ucke zwischen
der Theorie und der Statistik dar und sind darauf zu befragen, inwieweit sie wirklich
das zu untersuchende Phänomen abbilden. Sagt einem wirklich das erwirtschaftete
Bruttosozialprodukt etwas €uber die Wohlfahrt eines Gebietes aus, oder muss man
noch Maßzahlen der Verteilung dieser Wohlfahrt auf die Bevölkerung dieses Ge-
bietes heranziehen? Solche Fragen sind in diesem Zusammenhang zu klären. Als ein
wissenschaftstheoretisches Pr€ufmerkmal hat sich mittlerweile in der Makrodaten-
forschung eingeb€urgert, die f€ur Publikationen verwendeten Datensätze f€ur Interes-
senten frei verf€
ugbar zu machen (Transparenz) oder dem Aufsatz beizuf€ugen.

6
Zu Grundlagen der Analyse in der Vergleichenden Politikwissenschaft siehe Susanne Pickel in
diesem Band.
Quantitative makroanalytische Verfahren in der Vergleichenden. . . 51

2.2 Die Analyse von Aggregatdaten – Grundsätzliches

Analysen auf der Aggregatebene können grob in deskriptive, typologische und


statistische Vorgehensweisen unterschieden werden. Deskriptive Analysen beziehen
sich auf die reine (univariate) Darstellung von Kollektivmerkmalen in vergleich-
ender Perspektive (Lauth et al. 2009, S. 94–114). So werden die Merkmalsausprä-
gungen einer Einheit in Relation zu den Merkmalsausprägungen anderer Einheiten
betrachtet und interpretiert. Nicht wenige komparative Analysen enden bereits auf
dieser Ebene. Ihnen reicht, von einem formulierten Erkenntnisinteresse ausgehend
eine vergleichende Interpretation der Häufigkeiten zwischen den Untersuchungs-
einheiten. Der comparative merit aus diesem Vorgehen liegt darin, dass man Aus-
sagen zu Werten einzelner Einheiten aus der Relation zu anderen Einheiten heraus
interpretieren kann. Eine Demokratiezufriedenheit von 50 % der B€urger eines
Landes ist nur dann zu problematisieren, wenn die Werte in allen umliegenden
Ländern wesentlich höher ausfallen. Gleichzeitig ist f€ur diese Form des Vorgehens
eine gute Kontextkenntnis genauso zwingend, wie ein gut angelegtes und transpa-
rentes Forschungsdesign. Vor allem muss die Auswahl der Untersuchungsfälle
hinlänglich begr€undet und nicht selektiv oder ohne Zielsetzung sein (siehe selection
bias), sonst besteht die Gefahr von falschen Wahrnehmungen und Interpretationen.
Die Analyse der Häufigkeiten im Vergleich sollte auch nicht auf der Ebene der reinen
Beschreibungen der Zahlen verbleiben. Reine Statistik ohne theoretisch eingebettete
Leitfragen ist wissenschaftlich unbefriedigend. Um einen wissenschaftlichen Er-
kenntnisgewinn bereitzustellen, muss entsprechend ein Bezug auf theoretische und
konzeptionelle Erklärungsangebote erfolgen. Dies setzt eine Ber€ucksichtigung
von sinnvoll ausgewählten Kontextmerkmalen genauso voraus wie die sorgfältige
Kenntnis politikwissenschaftlicher Konzepte und Theorien.
Typologische Arbeiten versuchen auf der Basis einer Kombination von unter-
schiedlichen Merkmalen politischer Systeme auf der Makroebene inhaltliche
Schl€usse zu ziehen. Sie gehen €uber die Deskription hinaus und versuchen eine
systematische Informationsverdichtung. Schon die Verwendung von Herrschaftsty-
pen und die Zuweisung von Makroeinheiten auf solche Herrschaftstypen fallen unter
dieses Vorgehen.7 Aber auch Typologisierungen von Wohlfahrtsstaaten oder die
Identifikation von Gruppen politische Systeme mit unterschiedlichen Eigenschaften
fallen in diesen Bereich (siehe Lauth et al. 2014).
Häufig wird aber erst im Fall einer quantitativ-statistischen Vorgehensweise im
klassischen Sinne von einer Aggregatdatenanalyse gesprochen. Es ist vor allem die
Durchf€ uhrung von Zusammenhangsanalysen auf der Makroebene, welche das Ver-
ständnis von Aggregatdatenanalyse kennzeichnet (siehe Jahn 2009, 2012). Ihre
Aussagen zielen auf Beziehungen zwischen verschiedenen Struktureinheiten bzw.
Kollektivmerkmalen (z. B. Regierungsform und ökonomische Wohlfahrt, Zahl der

7
Siehe den Beitrag von Hans-Joachim Lauth in diesem Band.
52 G. Pickel

Parlamentsparteien und Wahlsystem) oder auch mit gesellschaftlichen Rahmenbe-


dingungen. Sie findet ihre Anwendung vorwiegend im Bereich der Vielländeranaly-
sen und der mittleren Fallzahlen bei Lijphart (1971). Ihre Stärke liegt in der statisti-
schen Testbarkeit von strukturellen Beziehungen und in der Überpr€ufbarkeit von
Fehlertermen. Auf Zusammenhänge ausgerichtete statistische Verfahren lassen sich
in abhängige Variable (das zu Erklärende) und unabhängige Variable (mit denen man
abhängige Variable erklären möchte) unterteilen. Sie besitzen zumeist einen kausal-
erklärenden Charakter und sind als wenn-dann- oder je-desto-Hypothesen formu-
liert. Typisch wäre folgende Aussage: Je höher die ökonomische Wohlfahrt in einem
Land, desto höher die Qualität der Demokratie. Das erzielte Ergebnis wird – weil es
auf der Makroebene verbleibt – als ökologische Inferenz bezeichnet (Achen und
Shively 1995, S. 4–6). Sie zu ermitteln ist das Ziel dieser Analysen, verweist sie
doch auf systematische Beziehungen.
Aggregatdatenanalysen können sowohl im Querschnitt (ein Zeitpunkt: cross-
section-analysis) als auch im Längsschnitt (€uber mehrere Zeitpunkte time-series-
analysis) durchgef€ uhrt werden. Im ersten Fall ermittelt man Beziehungen zu einem
Zeitpunkt, welche man allerdings als strukturelle Zusammenhänge deutet. Beziehen
sich diese nun auf Variablen, welche einer bestimmten zeitlichen Richtung folgen
(z. B. sozioökonomische Modernisierung) kann man sogar vorsichtige Schl€usse
hinsichtlich möglicher zuk€unftiger Entwicklungen ziehen. F€ur ein Urteil €uber Ent-
wicklungen tragfähiger, aber aufgrund oft fehlenden Datenmaterials schwieriger,
sind die Analysen von Zeitreihen. Hier werden zeitliche Verbindungen zwischen
Merkmalen hergestellt (z. B. Säuglingssterblichkeit und Bruttosozialprodukt pro
Kopf) und dann die Beziehungen verallgemeinert. Eine Variante zeitlicher Betrach-
tungen ist die Ereignisdatenanalyse, wo sowohl zeitgleiche als auch zeitvariante
Erklärungsvariablen f€ur ein beobachtbares Ereignis in die Betrachtungen einbezogen
werden. So lässt sich ein politisches Ereignis, wie zum Beispiel eine Revolution,
nicht allein aus Rahmenbedingungen zum Zeitpunkt der Revolution, sondern eben
auch aus vorangegangenen Prozessen erklären.
Die in j€
ungerer Zeit in der Vergleichenden Politikwissenschaft genutzte Analyse-
form der time-series-cross-section Analyse (Beck und Katz 1995; Franzese und
Hays 2009; Kittel 2006; Pl€umper et. al. 2005; Pl€umper und Tröger 2009) versucht
die häufig bestehende Fallzahlenproblematik von Aggregatdatenanalysen durch die
Erhöhung der Fälle unter Nutzung aller Beobachtungen zu u€berwinden (Jahn 2006,
S. 395–398). Problem ist, dass €uber die mehrfachen Einbezug verschiedener Unter-
suchungsländer (z. B. 20 Fälle aufgrund der Daten f€ur 20 Jahre) selektive Verzer-
rungen durch Übergewichtungen bestimmter kulturspezifischer Zusammenhänge
entstehen können. Auch das statistische Risiko von Autokorrelationen steigt (Wag-
schal und Jäckle 2011, S. 9). So hat es sich wieder stärker durchgesetzt, Ereignisse
bzw. Merkmale (z. B. Arbeitslosigkeit, Wahlverhalten, Sozialleistungen) innerhalb
eines Falls (z. B. Deutschland oder Frankreich bzw. Polen) zu unterschiedlichen
Zeitpunkten zu untersuchen – und diese zuerst voneinander getrennte Analysen
miteinander zu vergleichen. Eine andere Variante ist auf die bereits fr€uher gerne
Quantitative makroanalytische Verfahren in der Vergleichenden. . . 53

verwendete Methode der Implementation von Dummys, f€ur einen Zeitraum ein
Ereignis, bzw. eine Aggregateinheit zur€uckzugreifen.8
Es wird deutlich, eine zentrale Anforderung an die Aggregatdatenanalyse liegt in
der Kenntnis des Kontextes der Untersuchungsfälle. Nur durch profundes Wissen
€uber die verwendeten Fälle und eine starke theoretische Einbettung der eingesetzten
Fragestellung ist eine sinnvolle und aussagekräftige Aggregatdatenanalyse möglich.
Diese hohe Relevanz der Rahmenbedingungen in der Aggregatdatenanalyse ist auf
das häufig bestehende Problem der kleinen Fallzahlen (small-n) zur€uckzuf€uhren,
stehen in der Regel verwertbare Kollektiveinheiten nur in einer begrenzten Größen-
ordnung zur Verf€ugung. Dies gilt insbesondere f€ur das am weitesten verbreitete
Vorgehen der Aggregatdatenanalyse mit Ländern als Analyseeinheiten. Bereits
durch die Konzentration auf diese Einheiten findet eine nat€urliche Begrenzung der
Fälle statt, die sich aufgrund der aus Forschungsfrage oder anderen Gr€unden ent-
stehenden zusätzlichen Reduktion der Fälle noch verschärft (z. B. Analyse der
OECD-Staaten oder der Mitglieder der Europäischen Union). Entsprechend wichtig
ist auch ein systematisches Vorgehen bei der Auswahl der Untersuchungsfälle, sind
doch hier die größten Gefahren von systematischen Ergebnisverzerrungen gegeben
(siehe hierzu Abschn. 3).

2.3 Die Analyse von Aggregatdaten – Streudiagramme und


ökologische Regressionen

Im vorangegangenen Abschnitt wurde bereits darauf hingewiesen, dass es vor allem


Zusammenhangsanalysen sind, welche die Aggregatdatenanalysen repräsentieren.
Dies gilt f€
ur bivariate wie multivariate Betrachtungen. Zwei Vorgehensweisen haben
sich dabei als typisch und produktiv durchgesetzt – Streudiagramme (Scatterplots)
und die ökologische Regression. Bivariate Beziehungen sind relativ gut durch die
Verwendung eines Scatterplots oder Streudiagramms abzubilden. Beim Streudia-
gramm handelt es sich um die grafische Darstellung einer Kreuztabelle f€ur wenige
Fälle. In ihm bringt man die Fälle wie bei einer Kreuztabelle miteinander in
Verbindung, allerdings wird die Verteilung visualisiert. Mit diesem Vorgehen sind
nicht nur nicht-lineare Beziehungsformen zwischen den beiden Untersuchungsva-
riablen sondern auch Ausreißer einfach zu identifizieren. Es handelt sich um ein
einfaches, dabei aber effektives Analyseinstrument der Aggregatdatenanalyse, inte-
griert es doch analytische Beziehungen mit der Möglichkeit von Fallbetrachtungen.
Nun sind in der Vergleichenden Politikwissenschaft kausal erklärende Analysen
mit mehr als zwei Variablen gew€unscht, ber€ucksichtigen sie doch die Erfahrung,

8
Dummy-Variablen stellen die Repräsentation einer spezifischen Einheit in binominaler Form dar
(z. B. sozialistische Erfahrung/keine sozialistische Erfahrung). Sie werden dann benötigt, wenn
ordinale oder nominale Informationen (z. B. Länderzuweisungen) vorliegen, die man f€ ur weiter-
uhrende (metrische) statistische Analysen verwenden möchte. Die Metrisierung erfolgt €
f€ uber die
Binominalität. Typisch ist die Umsetzung von Ländern in Länderdummies (Deutschland vs. andere,
Frankreich vs. Andere, usw.).
54 G. Pickel

dass die meisten gesellschaftlichen Phänomene nur durch mehrere Faktoren – also
multikausal – erklärbar sind. F€ur diese multikausalen Analysen wird das Verfahren
der ökologischen Regression genutzt.9 Die ökologische Regression verwendet das
statistische Modell der linearen Regression, inklusive aller ihrer Statistiken, f€ur
Analysen mit (teils wenigen) Aggregatfällen. Der Vorzug der ökologischen Regres-
sion gegen€ uber der bivariaten Zusammenhangsanalyse sind ihre größere Zahl an
Kontrollkoeffizienten, eine bessere Absicherung der statistischen Ergebnisse sowie
die Möglichkeit des Einbezugs mehrerer unabhängiger Erklärungsfaktoren. Letzt-
eres erhöht den Informationsgehalt dieser Analyse gegen€uber bivariaten Analysen,
da die relativen Einflussstärken einzelner Faktoren und ein gemeinsames Gesamter-
klärungspotential aller Faktoren berechnet werden kann. Die ökologische Regres-
sion ermöglicht Aussagen €uber die Gesamterklärungskraft des Modells (R-Quadrat)
und relationale Abschätzung der wichtigsten Indikatoren (b-Werte; beta-Werte).
Zudem werden gemeinsame (interaktive) oder intervenierende Effekte von Variablen
in der Analyse sichtbar, die in bivariaten Analysen verborgen blieben. Damit wird
das Problem von Drittvariablen (im Hintergrund wirkende Variable, die aber nicht in
der Analyse erscheinen) reduziert. Zudem besteht die Möglichkeit, mithilfe statisti-
scher Diagnostiken die Qualität der Regression zu €uberpr€ufen. Wichtig f€ur die
ökologische Regression ist die Anzahl der einbezogenen Fälle. Jahn (2006,
S. 375) benennt als Faustregeln, dass sich die notwenige Fallzahl f€ur eine Regres-
sionsanalyse aus der (Zahl der einbezogenen unabhängigen Variablen addiert 1 und
multipliziert um 3 ergibt.
Die in der ökologischen Regression verwendeten Variablen m€ussen metrisch und
linear sein. Zudem sollte es weder Multikollinearität noch eine Autokorrelation der
Fehlerterme vorliegen. Bei Multikollinearität handelt es sich um Beziehungen zwi-
schen den unabhängigen Variablen, die sich auf deren Beziehungen zur abhängigen
Variable verzerrend auswirken. Da die Variablen in der sozialwissenschaftlichen
Realität in der Regel miteinander verkn€upft sind, ist ein gewisses Ausmaß an
Multikollinearität nicht zu vermeiden. Allerdings ist es den Ergebnissen nicht
dienlich, miteinander hochkorrelierende Variable gleichzeitig als unabhängige Prä-
diktoren einzusetzen. Um diese zu identifizieren, empfiehlt sich eine vorherige
Diagnostik anhand einer Korrelationsmatrix der unabhängigen Variablen. Bestimm-
te Effekte beruhen nun auf dem Zusammenspiel von zwei Variablen, also deren
Interaktion. Diese Interaktionseffekte können durch die Modellierung von Inter-
aktionsvariablen €uberpr€uft werden. Zudem es ist ratsam, die vorher in den bivariaten
Analysen identifizierten, Ausreißer aus der Analyse auszuschließen, können sie
doch – bei den zumeist begrenzten Fallzahlen – zu nicht unwesentliche Ergebnis-
verzerrungen f€uhren.
Nun liegen als abhängige Variable nicht immer metrische Merkmale vor. Gerade
in der Vergleichenden Politikwissenschaft finden wir eine Vielzahl nominaler

9
Der Begriff ökologisch bezeichnet die Untersuchung von Aggregaten und räumliche Einheiten und
wurde 1950 von Robinson als Begriff in der Sozialforschung etabliert. Ausf€
uhrliche Überlegungen
zur ökologischen Regression finden sich bei King (1997).
Quantitative makroanalytische Verfahren in der Vergleichenden. . . 55

(Verfassung oder keine Verfassung) oder polynominaler (Ausprägung des Regie-


rungssystems in präsidentiell, semipräsidentiell, parlamentarisch) Merkmale. Zu
ihrer Erklärung kommen neuerdings verstärkt logistische Regressionsmodelle zum
Einsatz. Sie heben die Linearitätsannahme auf und lassen Erklärungszusammen-
hänge f€ur Eintrittswahrscheinlichkeiten eines Wertes der dichotomen, abhängigen
Variablen zu. Ihre Verbreitung hat mit ihrer Aufnahme in verschiedene Statistikpro-
grammpakete erheblich zugenommen. Sie gelten mittlerweile als Standard f€ur
Ermittlung von Erklärungszusammenhängen f€ur binominale abhängige Variablen.
Insgesamt kommt der ökologischen Regression eine so zentrale Bedeutung f€ur
die Vergleichende Politikwissenschaft zu, weil immer noch kausale und erklärende
Fragestellungen in deren Zentrum stehen. Dies bedeutet nicht, dass nicht auch
andere multivariate Vorgehen auch in der Aggregatdatenanalyse Relevanz besitzen.
Gerade das Vorgehen der Clusteranalyse ist dienlich, um zum Beispiel unterschied-
liche Gruppen von Ländern zu identifizieren und abzugrenzen. Faktorenanalysen
können helfen Itembatterien aber eben auch Merkmale zu verdichten (z. B. zu einem
Faktor Modernisierung o. ä.). Auf diese Weise gewinnt man auch Anschluss an
Überlegungen, wie sie in der politischen Kulturforschung oder aber auch in der
Diskussion €uber Konkurrenz- und Konkordanzdemokratien vorliegen. Ebenfalls von
Interesse können partiale Korrelationen sein, in denen man die G€ultigkeit bestimmter
ausgesuchter bivariater Beziehungen unter konstant halten der Rahmenbedingungen
bzw. Pr€ufung möglicher Drittvariablen €uberpr€uft.
Gerade diese Verdichtungen der Analyse wie auch die Ber€ucksichtigung von
Interaktionseffekten hilft weiter, will man den Nutzen von Aggregatdatenanalysen
weiter erhöhen. So werden immer häufiger komplexe Analysemodelle, die konse-
quent aus Theorien der Vergleichenden Politikwissenschaft abgeleitet sind, getestet.
Nicht das schematische Abpr€ufen einzelner Variablen, sondern die theorie- und
konzeptgesteuerte Pr€ufung von Hypothesen und Hypothesenkomplexen stellt somit
auch das zuk€unftige Ziel der quantitativen Makrodatenanalyse dar (siehe auch Jahn
2009, S. 179).

2.4 Exkurs: Vergleichende Umfrageforschung als


Makrodatenanalyse

Bereits angesprochen wurde, dass in der Vergleichenden Politikwissenschaft nicht


nur mit globalen Daten, sondern auch mit aggregierten Daten gearbeitet wird. In den
letzten Jahrzehnten gewann besonders die Umfrageforschung an Bedeutung f€ur die
komparativ arbeitende Politikwissenschaft. Gr€unde hierf€ur sind eine Verbesserung
der Datenlage durch zentrale Datenarchive sowie das zunehmende Interesse an
politischen Handlungen und Einstellungen der B€urger.10 Vergleichende Umfrage-
studien mit einem stärker konzeptionellen Ansatz sind die World Values Surveys
(WVS), die European Values Surveys (EVS), die European Social Surveys (ESS)

10
Zu nennen sind z. B. die GESIS in Köln, das Roper Center und das ICPSR in Ann Arbor.
56 G. Pickel

und die Eurobarometer Reihen der Europäischen Union. Neben ihrer breiten Länder-
fächerung liegt ihr Reiz in der Wiederholung, was Zeitvergleiche zulässt.
Vergleichende Umfragedaten geben Auskunft €uber die durchschnittlichen Hal-
tungen der Bevölkerungen innerhalb verschiedener Makroaggregate (z. B. Länder,
Kontinente, Kulturen) und transportieren auf der Individualebene gewonnene
Ergebnisse durch Aggregation, also die Zusammenfassung von Merkmalausprägun-
gen der Mikroebene, auf die Makroebene. Der Einbezug von Umfragedaten
ermöglich es nun Abbildungen der Kultur und Beziehungen zwischen kulturellen
und strukturellen Merkmalen in die Analysen einzubeziehen. Damit sind auch
Aussagen € uber Einfl€usse von gesellschaftlichen Rahmenfaktoren auf Veränderungen
in der Gesellschaft möglich, wie auch Auswirkungen der Veränderungen von ge-
teilten Werten und Normen (Wertewandel). Generell liegt der Nutzen der Aggregie-
rung von Individualdaten in einer stärkeren Ber€ucksichtigung der Haltungen der
ur politische Prozesse.11
B€urger f€
Ohne eine repräsentative Abbildung der Gesamtheiten (Kollektive) ist allerdings
eine sinnvolle Aggregation nicht möglich. Aus statistischen Gr€unden hat sich als
Faustregel die Befragung von ca. 1.000 Befragten als verlässlich durchgesetzt. Über
1.000 Befragte hinausgehende Fallzahlen verbessern die statistische Genauigkeit nur
noch wenig. Wichtig ist allerdings: Repräsentativität hängt nicht von der Fallzahl
ab. Vielmehr sichert allein die gleiche Möglichkeit all derer, die zu einer Grundge-
samtheit gehören, in die Stichprobe Eingang finden, Repräsentativität. Die Zusam-
mensetzung der Stichprobe, nicht die Fallzahl, entscheidet €uber die Repräsentativität
eines Umfragedatensatzes (Schnell et al. 2013, S. 298).
Anders als bei nationalen Umfragen, die eher f€ur Fallstudien (z. B. eine Wahl-
studie f€ur die deutsche Bundestagswahl) eingesetzt werden können, liegt das
Interesse der vergleichenden Surveyanalyse in der Gegen€uberstellung der erzielten
Aggregatausprägungen. Basis f€ur die gewonnenen statistischen Daten sind standar-
disierte Interviews, die in Zahlen transformiert werden. Die Standardisierung
ermöglicht eine Vergleichbarkeit der Individuen innerhalb der Surveys, wie auch
zwischen Surveys in verschiedenen Ländern sowie Aussagen €uber die Gesellschaft
(en). Standardisierte Umfrageverfahren haben sich f€ur die Analyse von Kollektiven
und von Individuen deshalb durchgesetzt, weil sich narrative oder nur semi-
strukturierte Interviews sowie eher individualpsychologische Verfahren aufgrund
ihrer Probleme bei der Verallgemeinerbarkeit nur begrenzt als hilfreich erwiesen
haben.
Neben der regionalen Vergleichbarkeit wird häufig eine zeitliche Vergleichbarkeit
angestrebt. Diese gilt f€ur die meisten Fragenbereiche der European oder World
Values Surveys. Dort erfolgt eine sogenannte Replikation (Wiederholung) bereits
einmal gestellter Fragen. Nur wenn die Fragen der Studie zu t0 wortgetreu in die
Studie t0+1 €ubertragen werden, können die Ergebnisse in der späteren Auswertung

11
Dies hat speziell zu einem Bedeutungsgewinn der politischen Kulturforschung beigetragen,
welche ohne dieses Instrumentarium gar möglich wäre. Siehe hierzu den Beitrag von Pickel und
Pickel in diesem Band.
Quantitative makroanalytische Verfahren in der Vergleichenden. . . 57

miteinander verglichen werden. Dies gilt auch, wenn die erste Frageformulierung
nicht hundertprozentig gelungen ist. Entsprechend kommt der Erstformulierung
einer später zu wiederholenden Frage große Bedeutsamkeit zu. Auch ist es sinnvoll
Fragen aus bereits durchgef€uhrten Erhebungen in die eigene Umfrage zu

ubernehmen. Damit eröffnen sich sowohl temporale als auch regionale Vergleichs-
möglichkeiten f€ur die Forscher und zudem die Möglichkeit einer externen Validie-
rung der eigenen Daten (Lauth et al. 2009, S. 140–160).

3 Probleme und Fallstricke der Analyse von Makrodaten

Aggregatdatenanalysen unterliegen einigen spezifischen Problemen. Als ein zent-


rales Problem sind die immer wieder sehr kleinen Fallzahlen f€ur entsprechende
Studien anzusprechen. Zu klein werden sie dann, wenn die verwendeten statistischen
Maßzahlen nur mehr eine begrenzte Aussagekraft entfalten können. F€ur Kausal-
analysen wird gerne die Regel angewandt, dass die Zahl der in die Analyse einbezo-
genen Fälle, die Zahl der einbezogenen Variablen €ubertreffen muss, damit noch
zuverlässige statistische Ergebnisse erzielt werden können. Typologische Analysen
sowie eine starke Theoriebindung können hier weiterhelfen, allerdings nicht alle
Probleme € uberwinden helfen.
Neben dieser grundsätzlichen statistischen Problematik, wirkt sich das Problem
geringer Fallzahlen auch auf die Stabilität der erzielten Ergebnisse aus.12 Dies
manifestiert sich zentral in der sogenannten Outlier-Problematik. Das heißt, Abwei-
chungen einzelner Fälle können eine starke Auswirkung auf das Gesamtergebnis
von Zusammenhangs- und Regressionsanalysen besitzen – und damit zu maßge-
blichen Ergebnisverzerrungen f€uhren. Die Abweichung eines einzigen Falls kann
entweder ein signifikantes Zusammenhangsergebnis bedingen, oder dieses zerstö-
ren. Entsprechend ist es immer angebracht die Ausreißerstatistiken zu betrachten
sowie eine Sichtkontrolle von Streudiagrammen f€ur bivariate Analysen vorzuneh-
men. Ein Begleiteffekt der geringen Fallzahlen liegt in den technisch bedingt recht
hoch ausfallenden Korrelationskoeffizienten (Lauth et al. 2009, S. 158–159), die
einem starke Beziehungen suggerieren, sobald €uberhaupt signifikante Beziehungen
aufzufinden sind.
Ebenfalls ein grundsätzliches Problem stellt der „selection bias“dar. Ein typischer
selection bias ist dann gegeben, wenn das Untersuchungsergebnis signifikant durch
die Fallauswahl bestimmt wird (Jahn 2006, S. 242). Um dieses Problem zu redu-
zieren, m€ usste zumindest gepr€uft werden, inwieweit auch in anderen Untersu-
chungsgebieten die aufgefundenen Zusammenhänge reproduzierbar sind. Der beste
Schutz gegen den selection bias liegt in einer gut begr€undeten theoretischen Her-
leitung der verwendeten Variablen und Fälle. Die Brisanz dieses Problems hat dabei
trotz der Erkenntnis möglicher Effekte kaum nachgelassen, fällt sie doch mit einem

12
Dieses Problem geringer Fallzahlen f€
ur die Makroebene schlägt sich auch auf die sinnvolle
Umsetzung von Mehrebenenanalysen nieder.
58 G. Pickel

anderen Problem zusammen, dass sich in den letzten Jahrzehnten entwickelt: So hat
sich eine gewisse Überdimensionierung der Analysetechniken bei einer gleichzeiti-
gen Unterdeterminierung der theoretischen Herleitung des Forschungsdesigns und
der Überpr€ ufung von Kontrollvariablen ergeben. Allerdings können elaborierte
statistische Verfahren nicht €uber Schwächen in der Fallauswahl hinweghelfen.
Speziell auch bei aggregierten Umfragedaten tritt häufig ein gewisses Selektions-
problem auf, ist die Länderauswahl in den vergleichenden Surveys doch oft von
anderen Aspekten als inhaltlichen abhängig (finanzielle Möglichkeiten in den Län-
dern, Interessen des Primärforschers). Dies kann man nachträglich nicht beheben,
man sollte allerdings reflexiv und €uberlegt mit diesen Daten umgehen.
In gewisser Hinsicht mit in die Problematik der Selektion fällt auch eine Schwie-
rigkeit der vergleichenden Makroanalyse – ihre starke Konzentration auf die OECD-
Staaten. Aufgrund der guten und leichten Verf€ugbarkeit dieses Datenmaterials
konzentriert sich eine große Gruppe der Aggregatdatenforscher auf deren Analyse.
Sofern dies theoretisch eingebettet und begr€undet wird, ist ein solches Vorgehen
ohne Frage statthaft, gleichzeitig entstehen aber dann Probleme, wenn die Daten zu
schnell als universelle strukturelle Zusammenhänge verallgemeinert werden. Die
Datenverf€ ugbarkeitsproblematik betrifft dabei auch die viel größere Gruppe der
Nicht-OECD-Staaten, f€ur die wesentlich seltener Daten zur Verf€ugung stehen und
die verf€ugbaren zudem gelegentlich unter – teilweise erheblichen – Verlässlichkeits-
problemen leiden. Entsprechend finden sich hier räumliche Grenzen der Aggregat-
datenforschung, die in der Zukunft nur €uber den Ausbau belastbaren Datenmaterials
in allen Gebieten der Welt €uberwunden werden können.
Ebenfalls als Schwierigkeit der Aggregatdatenforschung wird adressiert, dass sie
Akteurverhalten und Akteure zu wenig ber€ucksichtigt. Die Kritik ist, dass akteurs-
theoretische Ansätze in der Aggregatdatenforschung gegen€uber strukturanalytischen
Ansätzen benachteiligt seien. So richtig dieser Einwand an einigen Stellen der
Forschung ist, so ist er nicht un€uberwindbar. So ist es sehr wohl möglich kollektive
Akteure, zum Beispiel Veto-Player, als eigenständige Einflusskomponenten zu ber-

ucksichtigen, wie auch die politischen Gemeinschaften als Akteure €uber aggregierte
Individualdaten oder auch Mehrebenenmodelle in die Analysen einzubeziehen.
Letzteres gilt sowohl f€ur Werte, Einstellungen als auch politisches Partizipations-
verhalten. Schwierigkeiten bestehen häufig bei informellen Institutionen und Hand-
lungsweisen, da diese nur schemenhaft Eingang in statistische Indizes nehmen
können. Diesem Umstand versucht man €uber Experten-Judgments zumindest in
Teilen gerecht zu werden (Benoit und Wiesehomeier 2009).
Ein zentrales Problem der Zusammenhangsanalyse von Aggregat- oder Makro-
daten liegt auf der interpretativen Ebene. Es wird als ökologischer Fehlschluss
(ecological fallacy) bezeichnet (Robinson 1950). Hier wird von Zusammenhängen
auf der Aggregatebene auf Individualzusammenhänge geschlossen. Dieser Schluss
ist aber statistisch nicht abgesichert, sondern beruht allein auf die Ausweitung der
Interpretationen. Dies bedeutet nicht zwangsläufig, dass die Schl€usse falsch sind.
Allerdings fehlt ihre Absicherung. Der Versuch einer solchen Übertragung lässt sich
dann nur durch eine starke theoretische Einbettung des €ubertragenen Argumentes
oder eben durch zusätzliche Analysen auf der Mikroebene st€utzen.
Quantitative makroanalytische Verfahren in der Vergleichenden. . . 59

F€
ur Umfragestudien besteht noch ein weiteres Problem: Die Sicherung der funk-
tionalen Äquivalenz von länder- oder kulturvergleichenden Untersuchungsfragen
(Pickel 2003, S. 156–157). Die Schwierigkeiten resultieren aus der Kulturspezifität
von Befragungen: So ist es oft fraglich, inwieweit in allen Untersuchungsgebieten
ein gleiches oder zumindest vergleichbares Verständnis der gestellten Fragen vor-
liegt. Die zu untersuchende Fragestellung soll nun aber in allen Erhebungsgebieten
eine gleiche Bedeutung besitzen (Scheuch 1968), nur dann kann man die in den
verschiedenen Gebieten abgegebenen Antworten direkt untereinander vergleichen.
Eine Möglichkeit der Sicherung funktionaler Äquivalenz liegt in der Übersetzung,
R€uck€ubersetzung (z. B. deutsch nach englisch und zur€uck) des Fragebogens unter
Einbezug einer gemeinsamen Diskussion mit Fachkollegen aus den jeweiligen
Ländern und unter Ber€ucksichtigung eines gemeinsam erarbeiteten Endfragebogen
(Master Copy). Seltener wird versucht in jedem Untersuchungsland ein funktionales
Äquivalent zu bestimmen, entstehen so Daten, die aufgrund ihrer sprachlichen
Inäquivalenz nicht direkt miteinander vergleichbar und auf die Interpretation des
Forschers angewiesen sind. Aus pragmatischen Gr€unden greifen die meisten inter-
national vergleichenden Projekte auf die Wortkonsistenz zur€uck.
Eine Kritik, die sich eher an die vergleichende Umfrageforschung, als einem Feld
der Makroanalyse, wendet, bezieht sich auf die Übertragbarkeit von Individualdate-
nergebnissen auf die Makroebene. Die ermittelten Makrokennzahlen werden als zu
inhomogen angesehen, um Aggregate wirklich abzubilden. Zudem werde gelegent-
lich in eine Umkehrung des ökologischen Fehlschlusses, quasi eines individualisti-
schen Fehlschlusses, verfallen, wo Individualzusammenhänge ungepr€uft als ökolo-
gische Zusammenhänge angesehen werden. Diese Gefahren sind allerdings
beschränkt, da bei vergleichenden Umfragedaten die Möglichkeit besteht, Zusam-
menhänge sowohl auf der Mikro- als auch auf der Makroebene zu testen. Dies
verspricht, so sich die Ergebnisse €uberschneiden, verlässliche Ergebnisse. Nichts-
destotrotz wurde in den letzten Jahren verstärkt in Konzepte zur systematischen
Verbindung von Individual- und Aggregatdaten investiert. Dies dr€uckt sich vor
allem in einer Ausbreitung von Mixed-Method-Designs und der zunehmenden
Beliebtheit von Mehrebenenanalysen aus (Lauth et al. 2009, S. 199–218; Creswell
2003; Tashakkori und Teddlie 2010).

4 Fazit – Makrodatenanalyse 2.0 als Symbol für


Vergleichende Politikwissenschaft

Die quantitative Makrodatenanalyse zählt zu den wichtigsten methodischen Vorge-


hensweisen in der Vergleichenden Politikwissenschaft. Sie identifiziert Beziehungen
und Zusammenhänge auf der Aggregatebene und zwischen Struktureinheiten und
fokussiert sich auf die Bestimmung struktureller und analytischer Effekte €uber
Gesellschaften und Kulturen hinweg. Selbst wenn in den letzten Jahren in der
Vergleichenden Politikwissenschaft verstärkt makroqualitative Verfahren oder com-
parative area studies an Bedeutung gewannen, bleiben Aggregatdatenanalysen doch
ihr zentraler Bestandteil; speziell, da sich in den letzten Jahrzehnten sowohl die
60 G. Pickel

statistischen Möglichkeiten als auch das verf€ugbare Datenmaterial wesentlich er-


weitert hat. Innerhalb der klassischen Aggregatdatenanalyse finden sich immer
häufiger Differenzierungen und Erweiterungen hinsichtlich der Auswertungsvorge-
hen und konzeptionellen Forschungsdesigns. Zudem ist eine Tendenz hin zu kom-
plexeren Modellen statt einer einfachen Variablenpr€ufung zu erkennen. Ausgehend
von Theorien und daraus abgeleiteten Variablenkonstellationen werden komplexere
Erklärungen und Muster herauszuarbeiten und dann mit diffizileren statistischen
Methoden zu untersuchen versucht.
Die Probleme der quantitativen Makroanalyse sind nach ihrer Identifikation in
den letzten Jahrzehnten deutlich stärker angegangen worden und stellen mittlerweile
fast schon ein eigenständiges Element vergleichender Forschung dar (Pickel 2009).
So begegnet man dem selection bias durch eine verstärkte Reflexivität in der
Auswahl und Konstruktion des Forschungsdesigns, die geringen Fallzahlen werden
versucht durch time-series-cross-section-Vorgehen zu erhöhen, Probleme der funk-
tionalen Äquivalenz werden durch anchoring vignettes, internationale Fragebogen-
konstruktionsgruppen oder mehrdimensionale Erhebungsdesigns bearbeitet (King
et. al. 1994). Die Gefahren des ökologischen Fehlschlusses werden durch Analysen
mit disaggregierten Datensätzen oder Individualdaten zu beheben versucht. Auch
Erweiterungen des Analysevorgehens auf Mehrebenenanalysen oder Multi-Me-
thods-Designs sollen eine Absicherung des Erkenntnisfortschritts jenseits ökologi-
scher Fehlschl€ usse ermöglichen und eine engere Beziehung zu Individualdaten-
analysen bzw. auch makro-qualitativen Vorgehen herstellen.
Angesichts der steigenden Zahl an Makrodaten und deren Verf€ugbarkeitsgewinne
durch die digitalen Kommunikationstechniken, der zunehmenden Bedeutung der
digital humanities sowie von nunmehr immer stärker aufkommenden quantitativen
Korpusanalysen macht es Sinn auch den konzeptionellen Designs und der methodi-
schen Weiterentwicklung der Makroanalysen Zeit zu widmen. So liegen in einem
unreflektierten Anhäufen von big data genauso Probleme, wie in der immer noch
nicht € uberwundenen Konzentration von Aggregatdatenanalysen auf die statistisch
gut abgebildeten OECD-Staaten (siehe auch Wagschal und Sebastian 2011, S. 8–9).
Es gilt immer zu bedenken, die zugrunde liegende statistische Analyse ist nur so viel
Wert, wie die Fragestellung und die Theorie, auf die sie sich beziehen kann.

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Qualitative Comparative Analysis (QCA) in
der Vergleichenden Politikwissenschaft

Claudius Wagemann

Zusammenfassung
In diesem Beitrag wird die Qualitative Comparative Analysis (QCA) als ver-
gleichende Methode vorgestellt. Grundprinzipien von QCA sind ihre Veranke-
rung in der Mengentheorie und die daraus ableitbare Möglichkeit, hinreichende,
notwendige, INUS- und SUIN-Bedingungen in einer vergleichenden Analyse
herauszuarbeiten. So kann ein sehr elaboriertes Niveau kausaler Komplexität
erreicht werden. Mit Fuzzy-Sets ist es zudem möglich, sozialwissenschaftliche
Konzepte zu differenzieren, um nicht auf Dichotomien zur€uckgreifen zu m€ussen.
Idealerweise wird QCA bei mittleren Fallzahlen angewandt.

Schlüsselwörter
QCA • Fuzzy-Sets • Mengentheoretische Methoden • Vergleichende Methode •
Hinreichende und notwendige Bedingungen

1 Einleitung

Seit Mitte der achtziger Jahre wird in der Vergleichenden Politikwissenschaft eine
Methode diskutiert, die unter dem Namen Qualitative Comparative Analysis bzw.
der Abk€urzung QCA bekannt geworden ist. QCA wird vor allem mit dem amerika-
nischen Sozialwissenschaftler Charles C. Ragin in Verbindung gebracht, der diese
Herangehensweise in verschiedenen einschlägigen Publikationen (Ragin 1987,
2000, 2008a) populär gemacht hat. Dabei wird QCA nicht isoliert gesehen, sondern
als Repräsentantin einer breiter gefassten Herangehensweise an vergleichende Ana-
lyse gesehen, die auch als Configurational Comparative Methods (CCM) (Rihoux

C. Wagemann (*)
Professor f€ur Methoden der qualitativen empirischen Sozialforschung, Institut f€
ur
Politikwissenschaft, Universität Frankfurt, Frankfurt, Deutschland
E-Mail: wagemann@soz.uni-frankfurt.de

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 63


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_4
64 C. Wagemann

und Ragin 2009) oder als mengentheoretische Methoden (Schneider und Wagemann
2012) bezeichnet werden. Während Ragin QCA urspr€unglich als dritten Weg zwi-
schen qualitativen und quantitativen Verfahren eingef€uhrt hatte und damit bereits zu
einer Diskussion beigetragen hat, die sich vor allem in der amerikanischen Metho-
dendiskussion erst später voll entfaltet hat (King et al. 1994; Brady und Collier 2004;
Goertz und Mahoney 2012), wird QCA heute als Teil der Fallstudientradition (Roh-
lfing 2012, S. 45–46; Blatter und Haverland 2012, S. 231–235) und damit als eher
qualitative Methode betrachtet. Hierbei ist allerdings zu beachten, dass es verschie-
dene Verständnisse qualitativer Methoden gibt. In Übereinstimmung mit der neu-
esten Fallstudienliteratur wird bei QCA kein interpretatives Interesse zugrunde ge-
legt (Goertz und Mahoney 2012, S. 5), sondern qualitative Methoden werden als
empirische Methoden aufgefasst, die auf formaler Logik, Boolescher Algebra und
Mengentheorie beruhen.
QCA hat in den letzten Jahren starken Aufschwung erlebt. Weder aus der univer-
sitären Lehre noch aus methodologischen und inhaltlichen Forschungsdebatten ist die
Methode wegzudenken. Zahlreiche Anwendungen (Rihoux et al. 2013 bieten einen
exzellenten Überblick), methodologische Veröffentlichungen, Konferenzen und Kurse
zeugen von einer regen Beschäftigung der Fachöffentlichkeit mit QCA; auch f€ur den
deutschsprachigen Raum liegt ein Lehrbuch (Schneider und Wagemann 2007) vor.
Dass es bei aller Begeisterung €uber QCA auch zur Entstehung von Mythen und Über-
treibungen bzw. zu eher problematischen Anwendungen kommt, steht außer Frage.
Dieser Beitrag soll einen ersten Überblick €uber QCA ermöglichen, der zu einer
Einschätzung befähigt, inwieweit QCA einen möglichen methodischen Rahmen f€ur
ein Forschungsprojekt abgeben kann. Dazu werden zuerst die epistemologischen
und methodologischen Grundprinzipien von QCA dargestellt (Abschn. 2). Daran
anschließend werden verschiedene Varianten von QCA (crisp-set QCA, fuzzy-set
QCA, multi-value QCA und temporal QCA) diskutiert (Abschn. 3). Danach werden
die verschiedenen Schritte einer QCA skizziert (Abschn. 4), und es wird kurz auf die
Anwendungsmöglichkeiten von QCA eingegangen (Abschn. 5).

2 Grundprinzipien von QCA

Wenn von einer ‚Methode‘ die Rede ist, dann ist man versucht, vor allem an Techniken
zu denken. Da gibt es standardisierte und qualitative Interviewtechniken; ethnografi-
sche Beobachtungstechniken; oder auch Auswertungstechniken wie multivariate
Regressionsanalyse. Sicherlich ist QCA auch ‚Technik‘ in diesem Sinne, nachdem
es einen Algorithmus gibt, der noch dazu in mehr als einer Computer-Software
niedergelegt worden ist, mithilfe dessen QCA-Analysen durchgef€uhrt werden können.
QCA-Ergebnisse werden meist in Tabellen und/oder Formeln dargestellt bzw. durch
Grafiken visualisiert. Dennoch ist QCA nicht nur ‚Technik‘, sondern kann auch als
Research Design verstanden werden (Schneider und Wagemann 2012, S. 8–13).
Insofern ist es als ‚Methode‘ so zu verstehen wie die ‚Vergleichende Methode‘ oder
das ‚Fallstudiendesign‘, also als forschungsleitender Rahmen, innerhalb dessen
verschiedene Techniken zur Anwendung kommen können.
Qualitative Comparative Analysis (QCA) in der Vergleichenden. . . 65

Schon in der Einleitung wurde auf die mengentheoretische Einbettung von QCA
verwiesen. Hierbei werden sozialwissenschaftliche Phänomene in Mengen darge-
stellt und durch die Beziehungen zwischen den Mengen analysiert. So könnte
beispielsweise eine Menge aller Demokratien gebildet werden, in denen Staaten
wie Deutschland, Österreich, die Schweiz und die USA Mitglieder wären, Nordko-
rea dagegen nicht. Einfache, beschreibende Mengenbeziehungen wären dann die
Schnitt- und die Vereinigungsmenge. W€urden wir beispielsweise die Menge aller
europäischen Staaten definieren und diese Menge mit der Menge aller Demokratien
schneiden, so wären die USA zwar Mitglied in der Menge aller Demokratien, aber
nicht in der Schnittmenge aus Demokratien und europäischen Staaten. Aber solch
einfache Mengenoperationen erbringen €ublicherweise keinen analytisch n€utzlichen
Beitrag, sondern dienen eher dazu, soziale Phänomene – auch im Sinne von Typo-
logien – zu gruppieren und zu ordnen. Spannender wird es, wenn wir Teilmen-
genbeziehungen betrachten. So könnten wir beispielsweise feststellen, dass die
Menge aller EU-Staaten eine echte Teilmenge der Menge aller Demokratien ist.
‚Teilmenge‘ bedeutet, dass alle Elemente, die in der Teilmenge (in unserem Fall der
Menge aller EU-Staaten) sind, auch Mitglieder der Übermenge (in unserem Fall der
Menge aller Demokratien) sind. In diesem Falle könnten wir die sehr einfache
folgende Schlussfolgerung ziehen: wenn ein Staat ein EU-Mitglied ist, dann ist er
auch eine Demokratie. Wir können mittels einer Wenn-Dann-Aussage also die
Teilmenge (Wenn-Komponente) mit der Übermenge (Dann-Komponente) verkn€up-
fen. So wird QCA einsetzbar zur Untersuchung von Wenn-Dann-Hypothesen,
während Je-Desto-Hypothesen eher durch die kovariationalen Verfahren der
Statistik bearbeitbar sind. Diese Teilmengeneigenschaft lässt sich €ubrigens nicht
invertieren (wie ja auch ein ‚wenn. . . dann‘ nicht automatisch ein ‚wenn nicht. . .
dann nicht‘ impliziert): Es gibt nat€urlich Mitglieder der Übermenge (wie z. B. die
USA), die nicht Mitglieder der Teilmenge (EU-Staaten) sind, aber dennoch Demo-
kratien sind. Dies unterscheidet mengentheoretische Verfahren fundamental von
statistischen Verfahren, deren Je-Desto-Beziehungen f€ur alle untersuchten Fälle zu
gelten haben.
Nat€urlich kann es auch Abweichungen von perfekten Teilmengen-Übermengen-
Beziehungen geben. Sollte ein EU-Mitglied seine Verfassung so ändern, dass es
nicht mehr als Demokratie gelten kann (und sollte die EU – was schwer vorstellbar
ist – keine Maßnahmen gegen diese Entwicklungen ergreifen), dann wäre die Wenn-
Dann-Beziehung zwar tendenziell noch feststellbar, aber eben nicht mehr determi-
nistisch auf alle Untersuchungsfälle anwendbar. Wir werden dies weiter unten
(Abschn. 4) als ‚Konsistenzproblem‘ kennenlernen.
Diese Wenn-Dann-Beziehungen können auch als hinreichende und notwendige
Bedingungen formuliert werden. In unserem Beispiel ist es bereits hinreichend zu
wissen, dass es sich bei einem Staat um ein EU-Mitglied handelt. Wenn wir dann
davon ausgehen d€ urfen, dass die Aussage „Wenn EU-Mitglied, dann Demokratie“
gilt, dann können wir automatisch von der EU-Mitgliedschaft auf einen demokrati-
schen Staat schließen. Mengen, die hinreichende Bedingungen darstellen, sind also
immer Teilmengen des sogenannten Outcomes, d. h. derjenigen Menge, die durch
die Bedingungen erklärt werden soll.
66 C. Wagemann

Spiegelverkehrt verhält es sich mit den notwendigen Bedingungen: In unserem


Beispiel ist es notwendig, dass es sich um eine Demokratie (Übermenge) handelt,
damit wir €uberhaupt davon ausgehen können, dass wir es mit einem EU-Mitglied
(Teilmenge) zu tun haben. Die Übermenge ist also immer notwendige Bedingung f€ur
ein Outcome, das echte Teilmenge ist.
Wichtig ist zu betonen, dass diese Mengenbeziehungen keine vollständigen
Überlappungen darstellen. Wenn eine Menge eine Teilmenge einer Übermenge ist,
so heißt dies, dass neben dieser Teilmenge noch weitere andere Teilmengen existie-
ren können. Mit anderen Worten: Findet man eine hinreichende Bedingung, so kann
es noch weitere hinreichende Bedingungen geben, die Teilmengen der Outcome-
Menge repräsentieren; schließlich gibt es auch Demokratien, die keine EU-
Mitglieder sind. Der gleichen Logik folgend kann eine Übermenge notwendige
Bedingung f€ ur noch weitere Outcome-Mengen sein.
Schließt man nun in die Überlegungen noch die Tatsache mit ein, dass nicht nur
einfache Mengen, sondern auch Schnitt- und Vereinigungsmengen hinsichtlich ihrer
Mengenbeziehungseigenschaften €uberpr€uft werden können, so ist es möglich, relativ
komplizierte und fortgeschrittene kausale Beziehungen mit QCA herauszuarbeiten.
Nehmen wir als abstraktes Beispiel einmal an, es werden drei potentielle
Bedingungen A, B und C herangezogen, um ein Outcome Y zu erklären. Während
in einem ersten Schritt festgestellt wird, dass weder A noch B noch C alleine eine
hinreichende Bedingung f€ur Y darstellt, so ergibt eine weitergehende Analyse, dass
bei der Bildung von Schnittmengen hinreichende Bedingungen herausgearbeitet
werden können. So ist zum einen die Schnittmenge aus A und B eine echte
Teilmenge von Y (= alle Elemente, die Mitglieder in der Schnittmenge von A und
B sind, sind auch Mitglieder in der Menge von Y). Zum anderen gilt dies f€ur die
Schnittmenge aus ~A und C, wobei die Tilde ~ hier f€ur die Negation einer Menge
steht. Mit anderen Worten: Die Schnittmenge aus den Nicht-Mitgliedern von A und
den Mitgliedern von C ist ebenfalls eine Teilmenge von Y.
Formal wird dies in QCA wie folgt ausgedr€uckt:

AB þ AC ! Y:

Hierbei steht das Plus-Zeichen – ganz der Konvention Boolescher Algebra folgend
(Schneider und Wagemann 2012, S. 46) – f€ur ein logisches ODER: Die Kombina-
tion AB oder die Kombination ~AC (dies schließt laut formaler Logik auch das
gleichzeitige Vorliegen beider ODER-Komponenten ein) sind hinreichende Bedin-
gungen f€ ur Y. Der zum Y weisende Pfeil verweist auf die hinreichenden (und nicht
notwendigen) Bedingungen.
Aus einer eigentlich recht einfachen Teilmengenanalyse, bei der Schnittmengen
(teilweise negiert) zu Übermengen in Relation gesetzt werden, kann also durchaus
eine recht komplexe Aussage gewonnen werden.
QCA-Ergebnisse wie das Dargestellte sind hierbei vor allem durch drei Kom-
plexitätsaspekte gekennzeichnet:
Zum einen ist hier die Äquifinalität zu nennen. Das heißt, dass – in Abgrenzung
zu statistischen Verfahren, bei denen Variablen in der Analyse um Einfluss konkur-
Qualitative Comparative Analysis (QCA) in der Vergleichenden. . . 67

rieren – durchaus verschiedene Erklärungen f€ur ein und dasselbe Phänomen ange-
geben werden können; in unserem Beispiel wird Y sowohl durch AB als auch durch
~AC erklärt. Dies ist f€ur die Vergleichende Politikwissenschaft nat€urlich eine wich-
tige Eigenschaft: So ist es ja durchaus denkbar, dass beispielsweise Demokratisie-
rungsprozesse in Osteuropa und Lateinamerika nach unterschiedlichen Logiken
verlaufen sind. Gerade bei der Verwendung von Theorien Mittlerer Reichweite
(Merton 1957) oder Area Studies im allgemeinen ist eine solche Möglichkeit der
Formulierung von Kausalbeziehungen sehr n€utzlich. Man beachte, dass diese Mög-
lichkeit, alternative Erklärungen zuzulassen, auch scheinbare Widerspr€uche erlaubt.
In unserem Beispiel ist A dann als positive Menge ein Bestandteil einer hinreich-
enden Bedingung, wenn es mit B kombiniert wird, während im Zusammenhang mit
C die Komplementärmenge (= die Negation) von A, also ~A, verwendet wird.
Während A also im Kontext von B positiv zum Zustandekommen des Outcome
beiträgt, trägt es im Kontext von C in seiner negativen Version bei.
Wie man aus der dargestellten Lösungsformel auch ersieht, werden oftmals auch
Kombinationen bzw. Schnittmengen als hinreichende Bedingungen formuliert,
nachdem eine Bedingung allein die Teilmengeneigenschaft nicht aufweist. Diese
konjunkturale Kausalität ist eine weitere zentrale Eigenschaft kausaler Komplexität
von QCA.
Schließlich ist QCA auch ein Beispiel f€ur asymmetrische Kausalbeziehungen.
Dies haben wir weiter oben schon angesprochen: Während wir zwar in eine Rich-
tung schließen können, lassen sich unsere Schlussfolgerungen nicht invertieren. Nur
weil ein Outcome Y erklärt wird, heißt das noch lange nicht, dass das negierte
Outcome ~Y auch erklärt wird. Dies unterscheidet mengentheoretische Methoden
fundamental von statistischen Methoden, wo statt von Outcomes als Mengen von
Variablen ausgegangen wird, die nicht etwa die Mitgliedschaft oder Nicht-
Mitgliedschaft eines Falles in einer Menge angeben, sondern die Intensität einer
Messung. In solch einem Falle wird ein ‚negatives Outcome‘ schlicht und ergreifend
durch kleine Werte repräsentiert und kann folglich auf demselben Wege wie das
Vorhandensein des Phänomens erklärt werden.
Einzelbedingungen, die auf diese Weise Teil einer äquifinalen und konjunkturalen
hinreichenden Bedingung sind, werden auch als INUS-Bedingungen bezeichnet.
INUS steht hierbei f€ur „insufficient but necessary part of a condition which is itself
unnecessary but sufficient for the result“ (Mackie 1974, S. 62). A, ~A, B und C sind
INUS-Bedingungen im obigen Beispiel.
Im Gegensatz zu hinreichenden Bedingungen (auf die sich der Großteil der
Ausf€ uhrungen dieses Kapitels bezieht) hat die QCA-Community ein eher geringeres
Interesse auf notwendige Bedingungen verwandt. So gibt es wenig (bis gar keine)
Ausf€ uhrungen dazu, wie kausale Komplexität im Falle notwendiger Bedingungen
interpretiert werden kann. Es kam lediglich zu einer vertiefenden Betrachtung von
sogenannten SUIN-Bedingungen als Parallelkonzept zu den INUS-Bedingungen.
Der Definition folgend, handelt es sich hierbei um „sufficient, but unnecessary part
[s] of a factor that is insufficient, but necessary for the result“ (Mahoney et al. 2009,
S. 126). Ohne hierbei auf Einzelheiten eingehen zu wollen, handelt es sich um
zueinander alternative notwendige Bedingungen. Wird zum Beispiel behauptet, dass
68 C. Wagemann

das Vorhandensein einer starken sozialdemokratischen Partei oder einer starken


Gewerkschaft notwendig f€ur die Entwicklung eines Wohlfahrtsstaates ist, so sind
das Vorhandensein einer starken sozialdemokratischen Partei und die Existenz einer
starken Gewerkschaft streng genommen keine notwendigen Bedingungen; es ist
jedoch notwendig, dass wenigstens eines der beiden Phänomene vorliegt. Es handelt
sich also um alternative notwendige Bedingungen bzw. um SUIN-Bedingungen
nach der obigen Definition. Die QCA-Literatur nennt diese Erweiterung des Begriffs
notwendiger Bedingungen auch ‚funktionale Äquivalente‘ (Schneider und Wage-
mann 2012, S. 74, 326).
QCA dient also dazu, Mengenbeziehungen herauszuarbeiten, die komplexe Kau-
salzusammenhänge abbilden, wie sie durch Äquifinalität, konjunturale Kausalität
und Asymmetrie bzw. INUS- und SUIN-Bedingungen dargestellt werden. Damit
helfen sie, Wenn-Dann-Beziehungen, die mengentheoretisch formuliert werden
können, zu analysieren.

3 Varianten von QCA

Die im obigen Kapitel gegebenen Erläuterungen stellen die Grundprinzipien von


QCA dar. Dar€ uber hinaus wird in einem Großteil der QCA-Literatur zwischen
verschiedenen Varianten unterschieden: crisp-set QCA (csQCA), fuzzy-set QCA
(fsQCA), multi-value QCA (mvQCA) und temporal QCA (tQCA).
Bei einer csQCA werden die Bedingungen und das Outcome dichotom formu-
liert: Ein Staat ist eine Demokratie oder nicht. Im Falle einer Mengenmitgliedschaft
wird der Fall mit dem Wert 1 kalibriert, im Falle einer Nicht-Mitgliedschaft mit
0. Die Notwendigkeit der Dichotomisierung ist nat€urlich bei sehr vielen sozial-
wissenschaftlichen Phänomenen nicht angebracht. Während wir, um beim Beispiel
der Demokratie zu bleiben, kaum Probleme haben, Deutschland, Österreich und die
Schweiz den Demokratien zuzuordnen und Nordkorea eben nicht, stellen uns hyb-
ride oder Transitionsregime vor einige Schwierigkeiten. Auch innerhalb der Gruppe
der Demokratien gibt es gehörige Unterschiede, was seinen Niederschlag ja auch in
der immer wieder anschwellenden politikwissenschaftlichen Diskussion zur Demo-
kratiequalität (Morlino 2004) hat. Folglich ist eine Differenzierungsmöglichkeit
vonnöten, die € uber die reine Dichotomienbildung hinausgeht. Dies gilt nicht nur
f€
ur das Phänomen der Demokratie, sondern auch f€ur andere (wenn nicht gar die
meisten) sozialwissenschaftliche Phänomene wie die Macht eines Staates oder einer
Organisation, Armut oder Religiosität. Mit den Fuzzy-Sets hat Ragin (2000) ein
Instrument zur Verf€ugung gestellt, das es möglich macht, die grundlegende Dicho-
tomie zu wahren, aber innerhalb der Gruppen der Mitglieder und der Nicht-
Mitglieder weiter zu differenzieren. Dies erfolgt durch die Zuweisung von Werten
auch zwischen 0 und 1. So kann mit einem Fuzzy-Set beispielsweise erfasst werden,
wenn ein Land zwar demokratisch ist (das Land ist also eher ein Mitglied der Menge
aller Demokratien; folglich muss der Fuzzy-Wert näher bei 1 als bei 0 liegen), aber
nicht €uber alle Elemente einer Hochqualitäts-Demokratie verf€ugt (folglich ist der
Fuzzy-Wert kleiner als 1). Eine nicht ganz perfekte, aber doch einigermaßen gute
Qualitative Comparative Analysis (QCA) in der Vergleichenden. . . 69

Demokratie erhielte also einen Fuzzy-Wert von beispielsweise 0,8, während ein
Land, das gerade noch so als Demokratie bezeichnet werden kann, mit einem Wert
von 0,6 kalibriert werden könnte (mehr zum Begriff der Kalibrierung findet sich in
Ragin 2008a, S. 71–84). Insofern wird die Dichotomie zwar erhalten, aber differen-
ziert. Diese Beibehaltung der Dichotomie unterscheidet dann auch eine Fuzzy-Skala
von einer intervall- oder ordinalskalierten Skala der Statistik (Diekmann 2011,
S. 291).
Es stellt sich nat€urlich die Frage, wie diese Fuzzy-Werte nun auf die Fälle
‚vergeben‘ werden. Die Antwort ist ebenso einfach wie auch oftmals enttäuschend:
Es gibt keine festgesetzten Regeln. Wichtig ist, dass die Fuzzy-Werte das damit
beschriebene Konzept widerspiegeln. Nötig ist also eine Strategie, mithilfe derer
Ausprägungsintensitäten eines vorher genau definierten Konzepts in quantitative
Werte € ubertragen wird. Hierzu können bereits existierende Skalen verwendet werden
(beispielsweise kann das Bruttoinlandsprodukt als Indikator – vermutlich einer von
mehreren – f€ ur die Wirtschaftskraft eines Landes verwendet werden); es können
bereits existierende Messungen von Phänomenen herangezogen und verarbeitet
werden (was sich vor allem im Falle des Konzepts ‚Demokratie‘ anbietet, das ja in
einer Vielzahl von Indizes zu fassen versucht worden ist, siehe auch Lauth 2004);
oder es können aber auch eigene Indikatorensysteme entwickelt werden. Wichtig ist
hierbei nat€ urlich maximale Transparenz (Schneider und Wagemann 2012,
S. 277–278). Generell lässt sich aber sagen, dass die Kalibrierung mit Fuzzy-Werten
wohl als eine der elaboriertesten und standardisiertesten Vorgehensweisen der Kon-
zeptspezifikation gelten kann. Dies verweist auch auf die Wichtigkeit dieses Schritts
f€ur die Vergleichende Politikwissenschaft im Allgemeinen; auch wenn QCA nicht
angewandt wird, so ist es doch unabdingbar, mit klar und transparent spezifizierten
Konzepten zu arbeiten (Mair 2008).
Grundsätzlich gilt, dass sozialwissenschaftliche Konzepte am ehesten Fuzzy-
Konzepte sind, so dass eine Fuzzy-Set-Analyse in der Vergleichenden Politikwissen-
schaft wohl den Regelfall darstellen d€urfte.
Nichtsdestotrotz haben sich zwei weitere Varianten entwickelt, mit denen ver-
sucht wird, speziellen Problemen einer Fuzzy-Set-Analyse Rechnung zu tragen.
Die erste dieser Varianten ist multi-value QCA (mvQCA) (Cronqvist und Berg-
Schlosser 2009). Damit soll dem Umstand Rechnung getragen werden, dass nicht
alle sozialwissenschaftlichen Phänomene dichotom sind, sondern auch multinomial
sein können. Beispiele hierf€ur sind die Religionszugehörigkeit oder die Berufstätig-
keit, aber auch (auf der Makro-Ebene) verschiedene Regimetypen. Die Debatte hat
hier zweifellos auf einen wichtigen Umstand von QCA verwiesen, nämlich auf den
impliziten Zwang zur Dichotomisierung – schließlich besteht dieser Grundgedanke
ja auch bei fsQCA weiter. Allerdings ist es nicht einfach, hierauf eine Lösung zu
finden. Abgesehen von praktischen Umsetzungsproblemen von mvQCA (nur eine
niedrige Anzahl von Kategorien ist technisch verarbeitbar; das Outcome muss
weiterhin dichotom sein; oftmals erreicht man nur idiosynkratische Erklärungen,
d. h., die Fälle sind so verschieden, dass keine Gemeinsamkeiten herausgearbeitet
werden können) hat sich die Diskussion vor allem an zwei Punkten orientiert: Zum
einen wurde in Frage gestellt, inwieweit mvQCA tatsächlich ein mengentheoreti-
70 C. Wagemann

sches Fundament aufweist (Vink und Van Vliet 2009). Zum anderen wurde gezeigt,
dass alle Vorteile von mvQCA auch dann erzielt werden können, wenn man die
mvQCA-Kategorien in verschiedene csQCA- oder fsQCA-Bedingungen aufsplittet,
ähnlich der Herstellung von Dummy-Variablen in multipler Regressionsanalyse
(Schneider und Wagemann 2012, S. 260–263). Folglich ist mvQCA nat€urlich eine
w€unschenswerte und sinnvolle Erweiterung des Spektrums von QCA-Varianten; die
Analyse kann aber auch im Rahmen einer entsprechend angepassten csQCA oder
fsQCA gleichwertig durchgef€uhrt werden.
Ähnlich verhält es sich mit tQCA (temporal QCA), das allerdings weit weniger
elaboriert worden ist als mvQCA und vor allem auch nicht standardisiert in die
wichtigste Software umgesetzt worden ist. Auch hier gibt es einen Vorschlag, der
einen zusätzlichen logischen Operator (das logische DANN) vorsieht, mit dem
Sequenzen von Bedingungen dargestellt werden können (Caren und Panofsky
2005). Dies verkompliziert die Analyse stark; zudem wurde auch hier nachgewiesen
(Ragin und Strand 2008), dass durch die einfache Schaffung von Bedingungen,
die den Zeitverlauf ausdr€ucken, auch mit csQCA und fsQCA das gleiche
Ergebnis erzielt werden kann (mehr zu den nicht einfachen Möglichkeiten, den
Zeitaspekt in QCA einzubauen, findet sich in Schneider und Wagemann 2012,
S. 263–274).
Sowohl mvQCA als auch tQCA können also in csQCA und fsQCA umgesetzt
werden. Wenn man nun bedenkt, dass eine Dichotomie nichts anderes als ein Fuzzy-
Set mit nur zwei Fuzzy-Werten (nämlich 0 und 1) ist, und folglich csQCA ein
Spezialfall von fsQCA ist, dann gibt es eigentlich keine QCA-Varianten mehr,
sondern nur eine allgemeine QCA, die nichts anderes tut, als Mengenbeziehungen
herzustellen, wobei – im Sinne der Fuzzy-Algebra – auch teilweise Mengenmitglied-
schaften erlaubt sind.

4 Schritte einer QCA

In diesem Beitrag ist es nat€urlich nicht möglich, eine profunde Einf€uhrung in den
Ablauf einer QCA zu geben (siehe hierf€ur Schneider und Wagemann 2012). Daher
werden im Folgenden nur die Grundschritte vorgestellt, ohne dass auf Details
eingegangen wird.
Vorausgeschickt werden soll, dass eine QCA nicht von Hand durchgef€uhrt
werden sollte, sondern auf eine der verf€ugbaren Software-Optionen zur€uckgegriffen
werden soll. Hierbei ist das von Charles C. Ragin selbst betreute Programm fsQCA
wohl die einschlägigste Software; dazu hat sich, vor allem im Zusammenhang mit
der Entwicklung das Programm TOSMANA gesellt, mit dem zwar mvQCA-, daf€ur
aber keine fsQCA-Analysen durchgef€uhrt werden können. Auch STATA hält eine
Syntax f€ur QCA vorrätig. In j€ungster Zeit scheinen dagegen verschiedene R-Pakete
(f€
ur eine Einf€uhrung, siehe Thiem und Dusa 2013) fsQCA als Standardsoftware
abzulösen (f€ur einen Überblick der verschiedenen Software-Optionen, siehe Schnei-
der und Wagemann 2012, S. 282–284).
Qualitative Comparative Analysis (QCA) in der Vergleichenden. . . 71

Tab. 1 Beispiel f€ur eine A B C


Wahrheitstafel (ohne
0 0 0 #
Outcome)
0 0 1 *#
0 1 0
0 1 1
1 0 0
1 0 1
1 1 0
1 1 1

Bei einer QCA wird u€blicherweise mit der Analyse der notwendigen Bedingun-
gen begonnen (Schneider und Wagemann 2012, S. 278). So können diese Ergeb-
nisse bei der der Analyse hinreichender Bedingungen ber€ucksichtigt werden (f€ur
Einzelheiten, siehe Schneider und Wagemann 2012, S. 201–203). Hierbei wird f€ur
jede Bedingung, ihr Komplement und f€ur alle theoretisch sinnvollen ODER-
Kombinationen von Bedingungen (also so genannte funktionale Äquivalente, siehe
Schneider und Wagemann 2012, S. 74) untersucht, inwieweit die Teilmengenbezie-
hung, wonach das Outcome eine echte Teilmenge der Bedingung ist, erf€ullt ist.
Hierzu wird ein sogenanntes Konsistenzmaß (zwischen 0 und 1) berechnet, das
angibt, inwieweit die empirische Datensituation die Behauptung, eine Bedingung
sei notwendig f€ ur das Outcome, unterst€utzt (Schneider und Wagemann 2012,
S. 139–143). Liegt dieses Konsistenzmaß €uber dem Richtwert von 0,9, so kann

uber die Berechnung des Abdeckungsmaßes festgestellt werden, ob die so gefunde-
ne notwendige Bedingung trivial f€ur das Outcome ist oder nicht (Schneider und
Wagemann 2012, S. 144–147). Trivial wäre die notwendige Bedingung dann, wenn
sie um vieles häufiger vorkommt als das Outcome. So ist ‚morgens aufwachen‘
zweifelsfrei eine notwendige Bedingung, um eine Vorlesung zu besuchen, aber es
handelt sich eben um eine triviale notwendige Bedingung, denn ‚morgens aufwa-
chen‘ ist notwendige Bedingung noch f€ur viele andere Tätigkeiten, vom Zähneput-
zen bis zum Schreiben eines Romans.
Die Analyse hinreichender Bedingungen ist dagegen etwas komplexer. Hierzu
muss zuerst die Datenmatrix mit den Fuzzy-Werten in eine Wahrheitstafel umge-
wandelt werden. Eine Wahrheitstafel enthält alle logisch möglichen Kombinationen
von Bedingungen. Werden z. B. die drei Bedingungen A = Föderalistisch organis-
ierter Staat, B = Europäischer Staat, C = Parlamentarisches System spezifiziert, so
ergäben sich die in Tab. 1 dargestellten acht Wahrheitstafelzeilen. In der Wahrheits-
tafelzeile ~A~BC (dies entspricht der mit einem Sternchen * gekennzeichneten Zeile
der Wahrheitstafel, wo A 0, B 0 und C 1 ist) werden nun beispielsweise all
diejenigen Staaten erfasst, die nicht föderalistisch organisiert sind, nicht in Europa
sind, daf€ur aber parlamentarische Systeme sind. Auf diese Art kann jeder Fall einer
Wahrheitstafelzeile zugeordnet werden.
Bei Crisp-Sets gehört jeder Fall nur einer Wahrheitstafelzeile an, dieser daf€ur aber
perfekt, während bei Fuzzy-Sets einzelne Fälle €ublicherweise mehr als einer Wahr-
heitstafelzeile zumindest teilweise angehören. Jede einzelne Wahrheitstafelzeile
72 C. Wagemann

wird nun daraufhin untersucht, ob sie allein bereits eine hinreichende Bedingung f€ur
das Outcome darstellt oder nicht. Mit anderen Worten, es wird festgestellt, inwieweit
die Kombination, die durch die Wahrheitstafelzeile repräsentiert ist (also im Falle der
Sternchenzeile inwieweit die Kombination ~A~BC) eine echte Teilmenge des Out-
comes ist. Dies geschieht wiederum (vor allem) durch Konsistenzwerte (Schneider
und Wagemann 2012, S. 123–129): F€ur jede Wahrheitstafelzeile wird festgelegt, ob
der Konsistenzwert hoch genug ist, dass man von einer hinreichenden Bedingung
sprechen kann oder nicht. (Weitere Kriterien finden sich bei Schneider und Wage-
mann 2012, S. 185). Diejenigen Kombinationen, die diesen Test bestehen, werden
dann mit einem logischen ODER verkn€upft. Werden beispielsweise die ersten
beiden Wahrheitstafelzeilen (mit einem # gekennzeichnet) als hinreichende Bedin-
gungen festgestellt, so wird die Verkn€upfung ~A~B~C + ~A~BC. Das ODER
begr€undet sich durch die Tatsache, dass es aufgrund des Äquifinalitätsaspekts
mehrere hinreichende Bedingungen f€ur ein und dasselbe Outcome geben kann.
Während eigentlich bereits dies ein Ergebnis der Analyse hinreichender Bedingun-
gen ist, kann dieser logische Ausdruck durch Anwendung der Regeln formaler
Logik noch weiter vereinfacht werden (in unserem Beispiel w€urde ~A~B resultie-
ren); man spricht hier auch von einer ‚logischen Minimierung‘ (Schneider und
Wagemann 2012, S. 104–111).
Ein großes Problem besteht nun aber f€ur diejenigen Wahrheitstafelzeilen, die
zwar theoretisch als Kombinationen existieren, f€ur die aber keine empirisch be-
obachtbaren Fälle vorliegen. In unserem obigen Beispiel könnte es z. B. sein, dass es
kein Element in der Kombination AB~C gibt, dass wir also keinen föderalistischen
europäischen Staat mit nicht-parlamentarischem politischen System finden. Nun ist
es nat€urlich schwierig, f€ur empirisch nicht (oder im Falle von Fuzzy-Sets kaum)
existente Kombinationen bzw. f€ur nicht mit Elementen besetzte Mengen festzu-
stellen, inwieweit es sich hierbei um hinreichende Bedingungen bzw. Teilmengen
handelt. Die QCA-Literatur nennt dieses Problem ‚Limited Diversity‘ (Schneider
und Wagemann 2012, S. 152–153) bzw. eingedeutscht ‚Begrenzte empirische
Vielfalt‘ (Schneider und Wagemann 2007, S. 101–105). Begrenzte empirische
Vielfalt prägt im €ubrigen den Großteil empirischer vergleichender Forschung,
nachdem selten bis gar nie alle erw€unschten Varianten und Kombinationen von
Einflussfaktoren empirisch auffindbar sind bzw. nicht einmal existieren.
Nun gibt und kann es kein Allheilmittel f€ur begrenzte empirische Vielfalt geben;
Information, die nicht vorliegt, liegt eben nicht vor. Dennoch gibt es verschiedene
Vorschläge, wie mit Wahrheitstafelzeilen ohne Fälle umzugehen ist: anfangs wurde
vor allem vorgeschlagen, entweder diese Wahrheitstafelzeilen auf keinen Fall als
hinreichende Bedingungen zu betrachten oder aber sie dann als hinreichende Be-
dingungen zu betrachten, wenn dies die Lösung weniger komplex macht (Ragin
1987, S. 104–113). Mittlerweile wurden diese Vorschläge noch vielfach erweitert,
wobei wohl der Vorschlag kontrafaktischer Überlegungen (Ragin und Sonnett 2004;
Ragin 2008b) am weitesten verbreitet sein d€urfte (f€ur eine Darstellung, siehe
Schneider und Wagemann 2012, S. 167–175; zu möglichen Inkohärenzen der
Annahmen mit anderen Ergebnissen der Analyse, wie z. B. den notwendigen
Bedingungen, s.o., siehe Schneider und Wagemann 2012, S. 197–219).
Qualitative Comparative Analysis (QCA) in der Vergleichenden. . . 73

Wie auch die Analyse notwendiger Bedingungen, so kann auch die Analyse
hinreichender Bedingungen mit Konsistenz- und Abdeckungswerten in ihrer G€ute
bewertet werden.

5 Anwendungsmöglichkeiten von QCA

Wie einige j€ ungst erschienene Übersichten (Rihoux et al. 2013; Yamasaki und
Rihoux 2009) verdeutlichen, gibt es kein striktes und genau umrissenes Forschungs-
feld, das f€ur die Anwendung von QCA typisch wäre. QCA-Anwendungen gibt es
vielmehr f€ ur alle möglichen vergleichenden Fragestellungen, auch wenn eine starke
Tendenz hin zur Vergleichenden Politikwissenschaft bzw. zur Vergleichenden
Makro-Soziologie erkennbar ist. Dabei m€ussen die Untersuchungseinheiten nat€ur-
lich keine Länder sein; Organisationen (NGOs, Parteien, Bewegungen) kommen
genauso in Frage wie Gruppen oder gar Individuen.
Es ist mittlerweile auch unmöglich geworden, sich einen Überblick €uber tatsäch-
lich erfolgte QCA-Anwendungen zu verschaffen, nicht zuletzt, nachdem QCA-
Analysen oftmals auch nur einen Teil einer Forschungsarbeit ausmachen und in
ein breiteres Forschungsdesign eingebettet sind.
Was die Möglichkeit einer Anwendung angeht, so sollen hier vier Empfehlungen
ausgesprochen werden:
Erstens: Grundlegend f€ur die Anwendung von QCA ist das Denken in Mengen.
Mengenmitgliedschaften (und damit auch -nichtmitgliedschaften) m€ussen explizit
beschreibbar sein. Es muss möglich sein, Kriterien daf€ur anzugeben, wann ein Fall
als Mitglied einer Menge gelten kann und wann nicht. ‚Variablen‘ im statistischen
Sinne stellen nicht immer automatisch auch Mengen dar. Nat€urlich impliziert diese
Zentralität von Mengen auch, dass prinzipiell dichotome bzw. dichotomisierbare
Konzepte die Grundlage der Mengen bilden – ansonsten ist eine Aufteilung der Fälle
in Mitglieder und Nichtmitglieder nicht möglich. Die Fuzzy-Set-Variante bietet die
Möglichkeit einer Differenzierung, aber auch hier ist das Denken in Dichotomien
wichtiger Bestandteil bei der Kalibrierung der Fuzzy-Werte.
Zweitens ist QCA als mengentheoretische Methode dann angebracht, wenn die
Hypothesen Wenn-Dann-Behauptungen aufstellen. Diese sind implizit mengentheo-
retisch und mit Verfahren, die eher auf Je-Desto-Hypothesen abzielen, nicht
automatisch untersuchbar.
Drittens ist es wichtig, dass sich die Fälle unterscheiden, sowohl hinsichtlich ihrer
Bedingungen als auch hinsichtlich des Outcomes. Die Bedingungen sollten die Fälle
aufgrund der Gefahr von begrenzter empirischer Vielfalt (s.o.) so unterscheidbar wie
möglich machen. So spricht man auch von QCA als einer diversitätsorientierten
Methode (Ragin 2000, S. 12–14). Aber auch das Outcome sollte möglichst stark
variieren; hier geht es schlicht und ergreifend darum, dass auch wirklich Unter-
schiede bestehen, die dann erklärt werden können.
Viertens und schließlich soll noch auf die große Frage der Fallzahl verwiesen
werden. Eher als eine mengentheoretische Methode wird QCA ja gerne als typische
Methode f€ ur mittlere Fallzahlen angepriesen (Schneider und Wagemann 2012,
74 C. Wagemann

S. 10). Dies widerspiegelt das Phänomen, dass sozialwissenschaftliche Forschungs-


designs € ublicherweise mit entweder sehr kleinen Fallzahlen arbeiten (z. B.
Einzelfallstudien, Zwei-Fall-Vergleiche oder auch Vier-Fall-Vergleiche) oder aber
auf großen Fallzahlen basieren, dabei aber mittlere Fallzahlen eher seltener Bestand-
teil einer sozialwissenschaftlichen Untersuchung sind (Ragin 2000, S. 25). Dies
liegt daran, dass der Forschungsaufwand, der bei vertieften Fallstudien pro Fall
nötig ist, f€
ur mittlere Fallzahlen im Regelfall nicht zu leisten ist; auch untersuchen
Fallstudien €ublicherweise so derart viele Faktoren, dass ein systematischer Vergleich
dieser Faktoren € uber mehr als eine Handvoll Fälle hinweg auch intellektuell nicht
mehr leistbar ist. F€ur statistische Verfahren sind mittlere Fallzahlen dagegen oft zu
klein, nachdem grundlegende Verteilungsannahmen nicht getroffen werden können.
Insofern ist es schon so, dass QCA f€ur mittlere Fallzahlen geeignet ist; daraus darf
aber kein Automatismus abgeleitet werden, wonach mittlere Fallzahlen identisch mit
einem guten QCA-Design sind. Wie zu Anfang dieses Beitrags herausgestellt, ist das
typische Charakteristikum von QCA seine Verankerung in der Mengentheorie, die
das Denken in hinreichenden und notwendigen Bedingungen zur Folge hat. Insofern
muss das Entscheidungskriterium f€ur oder gegen QCA eben genau sein, ob Bezie-
hungen zwischen sozialwissenschaftlichen Phänomenen als Mengen aufgefasst
werden oder nicht.
Dies liefert aber noch keine Antwort auf die Frage nach den Fallzahlen. Grund-
sätzlich hängt das Denken in Mengen ja nicht von den Fallzahlen ab. Und in der Tat,
QCA ist auch bei nicht-mittleren Fallzahlen anwendbar. Allerdings m€ussen hier vier
Einschränkungen gemacht werden: Erstens d€urfen die Fallzahlen nicht zu klein sein.
Unter zehn Fälle weisen €ublicherweise nicht gen€ugend Diversität auf, um eine
sinnvolle Analyse durchzuf€uhren (auch aufgrund des Problems begrenzter empiri-
scher Vielfalt, nachdem viele logisch mögliche Kombinationen ohne Fälle bleiben
werden), es sei denn, man reduziert die Anzahl der Bedingungen drastisch auf zwei
oder drei. In solch einem Fall riskiert man aber, dass die Analyse banal wird.
Zweitens sollte man bei der Bestimmung der Fallzahl auch die Anzahl der Bedin-
gungen im Kopf behalten. Nachdem jede Bedingung zwei Ausprägungen (Anwe-
senheit und Abwesenheit) haben kann, bestimmt sich die Anzahl der Wahrheits-
tafelzeilen durch die Formel 2k. Liegen also 30 Fälle vor (also durchaus eine mittlere
Fallzahl), werden aber gleichzeitig 10 Bedingungen untersucht, so m€ussen mit den
30 Fällen 1024 (=210) Wahrheitstafelzeilen gef€ullt werden. Man bedenke hierbei,
dass sich selbst die existierenden Fälle nicht automatisch auf verschiedene Wahr-
heitstafelzeilen verteilen, sondern dass es auch hier zu Häufungen kommen kann.
Nat€urlich muss man auch bei einer €uberlegten Auswahl von Bedingungen und Fällen
immer damit rechnen, dass begrenzte empirische Vielfalt auftritt, aber die Anzahl der
Wahrheitstafelzeilen sollte in einem vern€unftigen Verhältnis zu dem der untersuch-
ten Fälle stehen.
Während die Anwendbarkeit von QCA bei wirklich kleinen Fallzahlen also stark
eingeschränkt ist, stellt sich die Frage nach den großen Fallzahlen. Hier ist eine
Anwendung von QCA technisch nat€urlich jederzeit möglich. Allerdings muss hier
die dritte der erwähnten Einschränkungen gemacht werden. Nat€urlich stellt sich bei
sehr großen Fallzahlen die Frage, inwieweit die Bestimmung von Fuzzy-Werten
Qualitative Comparative Analysis (QCA) in der Vergleichenden. . . 75


uberhaupt noch sinnvoll möglich ist. Schließlich ist f€ur eine gute und inhaltlich
valide Kalibrierung die Fallkenntnis von extremer Wichtigkeit. Eine solche
Fallkenntnis ist oberhalb einer gewissen Grenze aber nicht mehr realistisch.
Die vierte Einschränkung betrifft nochmals die großen Fallzahlen und ist eher
eine Vermutung. Die Forschungspraxis hat gezeigt, dass bei großen Fallzahlen eher
unbefriedigende Konsistenz- (und auch Abdeckungs-)-werte erzielt werden. Hierbei
sind vor allem zwei Phänomene oft zu beobachten: Einerseits ähneln sich die
Konsistenzwerte der Wahrheitstafelzeilen zur Identifikation hinreichender Bedin-
gungen oftmals sehr und sind zum großen Teil auch eher niedrig. Offenbar produ-
zieren große Fallzahlen auch recht viele Abweichungen von deterministischen
Aussagen €uber hinreichende Bedingungen. Andererseits werden oftmals nur sehr
niedrige Abdeckungswerte erzielt, d. h., viele Fälle bleiben unerklärt. Man könnte
diese beiden Phänomene auch mit der Aussage illustrieren, dass bei der Analyse
großer Fallzahlen offenbar viel gewollt wird (es gibt viele Fälle zu erklären), dass
deren Erklärung aber so komplex ist, dass sie durch einfache Bedingungsstrukturen
nur unzureichend geleistet werden kann.

6 Schluss und Ausblick

In diesem Beitrag wurde Qualitative Comparative Analysis (QCA) vorgestellt. Zum


Schluss soll unterstrichen werden, dass QCA nichts fundamental Neues f€ur die
Vergleichende Politikwissenschaft ist. Das Denken in Mengen, die Untersuchung
von Wenn-Dann-Hypothesen, das Interesse an hinreichenden und notwendigen (und
auch an INUS- und SUIN)-Bedingungen, die Idee der Kalibrierung, die Beschäfti-
gung mit begrenzter empirischer Vielfalt und kontrafaktische Überlegungen können
als prägend f€
ur vergleichende Methoden im allgemeinen angesehen werden. QCA ist
lediglich ein Weg, die in den vergleichenden Sozialwissenschaften €ublichen und
bekannten Vorgehensweisen explizit zu machen und systematisch anzuwenden. Dies
dient nicht nur der Transparenz, sondern auf diese Art kann auch der Komplexität
der Kausalbeziehungen besser Rechnung getragen werden. Insofern ist der Titel von
Ragins erster Buchveröffentlichung zu diesem Thema (Ragin 1987), nämlich ‚The
Comparative Method‘, sehr passend. QCA subsumiert die Prinzipien des Fallver-
gleichs; damit soll aber nicht gesagt werden, dass QCA automatisch der Fallver-
gleich ist. Vor allem die Schwierigkeiten, QCA bei kleinen Fallzahlen einzusetzen,
macht ein breiteres Spektrum vergleichender Methoden nötig. Dennoch wird die
Anwendung jedweder vergleichender Methode von ähnlichen Prinzipien geleitet
und von ähnlichen Problemen geprägt sein wie eine QCA-Analyse. Und dies
bedeutet, dass der Platz von QCA tatsächlich in der (qualitativ orientierten)
Fallstudientradition zu finden ist.
Nat€
urlich ist QCA auch eine Methode, die sich nach wie vor in der Diskussion
und der Entwicklung befindet. Dies betrifft nicht nur neue Software-Möglichkeiten.
Auch die Diskussion um den Umgang mit begrenzter empirischer Vielfalt oder die
Schwierigkeiten, Zeitaspekte in QCA vern€unftig abzubilden, werden die methodo-
logische Debatte noch länger prägen, ganz zu schweigen von Themen wie
76 C. Wagemann

Fallauswahl und der Kombination verschiedener Methoden, die die Fallstudien-


methodologie €
uber QCA hinaus betreffen.
Dennoch ist QCA aus dem Kanon der Methoden bzw. der Forschungsdesigns
nicht mehr wegzudenken und hat in den letzten Jahrzehnten die Methodenlandschaft
nicht unwesentlich bereichert.

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Fallstudien und Process Tracing in der
Vergleichenden Politikwissenschaft

Wolfgang Muno

Zusammenfassung
Process Tracing hat sich in den letzten Jahren als zentraler methodischer Ansatz
zur Durchf€ uhrung von Fallstudien herauskristallisiert. Im vorliegenden Beitrag
wird zunächst auf Fallstudien allgemein und ihr Bezug zur vergleichende
Methode eingegangen. Dann wird Process Tracing als methodischer Ansatz vor-
gestellt. Beispiele von Process Tracing in der Vergleichenden Politikwissenschaft
und der Analyse Europäischer Integration illustrieren die Anwendungsmöglich-
keiten.

Schlüsselwörter
Fallstudien • Vergleichende Methoden • Process Tracing

1 Einleitung

Das Thema Fallstudien wurde lange Zeit eher stiefm€utterlich in der Methoden-
diskussion behandelt. Während Beiträge €uber quantitative Methoden ganze Biblio-
theken f€ullen, sind erst in j€ungster Zeit einige ausf€uhrlichere B€ucher €uber die
Methodik von Fallstudien erschienen (vgl. George und Bennett 2004; Gerring
2007; Blatter und Haverland 2012; Rohlfing 2012; Beach und Pedersen 2013;
Bennett und Checkel 2015; siehe auch Muno 2009). Reflektiert man Fallstudien
im Kontext vergleichender Methoden, so stellen sich zu Recht einige grundlegende
Fragen. Es muss geklärt werden, was eigentlich ein Fall ist und was eine Einzelfall-
studie mit einem Vergleich zu tun hat. Des Weiteren ist zu fragen, welchen Zweck

W. Muno (*)
Privatdozent, Lehrstuhl f€
ur Internationale Politik, Institut f€
ur Politikwissenschaft,
Universität Mainz, Mainz, Deutschland
E-Mail: muno@politik.uni-mainz.de

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 79


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_6
80 W. Muno

Fallstudien erf€
ullen und wie sie angelegt sein sollten, d. h. es geht um das konkrete
methodische Vorgehen. Hierbei hat sich zuletzt Process Tracing als zentraler Ansatz
herauskristallisiert, der ausf€uhrlicher vorgestellt wird.

2 Fälle, Fallstudien und Vergleich

Die scheinbar einfache Frage, was ein Fall ist, ist gar nicht so einfach zu beantworten
(vgl. Ragin 1992). Fälle, so Ragin (1992), können empirisch oder theoretisch ver-
standen werden, spezifisch oder generell, werden als Objekte, d. h. in der Realität
vorhanden, oder als Konvention, d. h. konstruiert, angesehen. Landman (2008)
dagegen vertritt eine konventionelle und gängige Definition in der Vergleichenden
Politikwissenschaft und versteht einen Fall einfach als ein Land. Demnach gäbe es
drei Typen des Vergleichs: ein Vergleich vieler Länder, ein Vergleich einiger weniger
Länder und Studien einzelner Länder, eben eine Fallstudie. Diese Definition ist aber
zu ungenau. So kann eine Länderstudie durch diachrone, d. h. zeitversetzte Unter-
suchungen verschiedener Epochen, Regierungen, etc. oder synchrone Vergleiche
verschiedener Kommunen, Parteien, etc. die Zahl der Untersuchungsobjekte in
einem Land erhöhen. Daher bleibt eine begriffliche Unschärfe, wie auch Jahn
konstatiert, demzufolge die Frage, was ein Fall sei, „abstrakt nicht eindeutig [. . .]
und nur in Verbindung mit dem Erkenntnisinteresse bestimmt werden kann.“ (Jahn
2006, S. 322, siehe auch Lauth et al. 2013). Ein Fall konstituiert sich folglich durch
das Objekt wissenschaftlicher Untersuchung. Es kann sich um ein Land, ein politi-
sches System, eine Institution, eine Organisation, einen bestimmten Prozess, ein
Ereignis, eine Krise, ein Krieg, d. h. ein spezielles Phänomen in einem bestimmten
Zusammenhang handeln. Wichtig ist, dass sich ein Fall klar abgrenzen lässt. „Ulti-
mately, all cases must be constructed. (. . .) the case itself must still be socially
constructed by the researcher. That scholar must decide what the boundaries are for
the case, what the relevant questions are, and what the relevant evidence is.“ (Peters
1998, S. 146)
Eine Fallstudie hat auf den ersten Blick wenig mit vergleichender Politikwissen-
schaft zu tun. So betont Sartori den Unterschied zwischen Einzelfallstudien und der
komparativen Methode: „I must insist that as a ‚one-case‘ investigation the case study
cannot be subsumed under the comparative method“ (Sartori 1994, S. 23, Hervor-
hebung Sartori). Zugleich hat die Einzelfallstudie einen bedeutenden Stellenwert in
der Komparatistik; viele Studien, die in komparativen Journals zu finden sind, behan-
deln nur einen Fall. Nach Sartori lassen sich Einzelfallstudien trotz seiner generellen
Skepsis dann zu Recht zur Komparatistik zählen, wenn sie einen „comparative merit“
aufweisen (Sartori 1994, S. 23). Solch ein komparativer Verdienst kann nur durch
Theorieorientierung erreicht werden. Lijphart, Eckstein, Hague et al. oder Jahn haben
jeweils verschiedene Idealtypen von Fallstudien unterschieden, die hinsichtlich ihrer
Theorieorientierung in theorie-generierende, theorie-testende und solche Studien, die
beides verbinden, unterschieden werden können (vgl. Tab. 1).
Theorie-generierende Fallstudien gehen induktiv vor und versuchen, €uber
die Analyse eines Falles Verallgemeinerungen zu postulieren, theorie-testende
Fallstudien und Process Tracing in der Vergleichenden Politikwissenschaft 81

Tab. 1 Fallstudien und Theorien


Theorie-generierend Theorie-testend Theorie-testend/generierend
Hypothesis-generating Theory-confirming Disciplined-configurative
Heuristic Theory-infirming Representative
Archetypal Plausibility probing (sondierend)
Deviant
Crucial
Quelle: Eigene Erstellung nach Lijphart (1971, S. 691 ff.); Eckstein (1992); Hague et al. (1998);
Jahn (2006)

Fallstudien gehen deduktiv vor und wenden bestehende Annahmen auf spezielle
Fälle an. Eine diszipliniert-konfigurative Fallstudie verbindet Deduktion und
Induktion, indem bestehende Annahme getestet und €uber die Analyse des Falles
neue Annahmen aufgestellt werden.
Ein klassisches Beispiel f€ur eine theorie-generierende Fallstudie ist Guillermo
O’Donnells (1973) Analyse der sozioökonomischen und soziopolitischen Entwick-
lung Argentiniens, aufgrund derer er das Konzept des B€urokratischen Autoritaris-
mus entwickelt (Lauth 1985). In einer Verbindung von modernisierungstheoreti-
schen und marxistisch-dependenztheoretischen Ansätzen verstand O’Donnell die
Diktaturen als das politische Pendant einer bestimmten, problematischen Stufe der
durch industrielle Modernisierung bewirkten gesellschaftlichen Entwicklungspro-
zesse. Zwischen 1930 und 1960, so O’Donnell, war in Argentinien ökonomische
Entwicklung durch binnenmarktorientierte, importsubstituierende Industrialisierung
gelungen, flankiert auf politischem Gebiet durch verteilungsorientierten Populismus,
der sich auf eine Allianz aus Teilen der Mittelschicht mit einer mobilisierten
Unterschicht st€utzte. Diese Strategie stieß in den 1950er-Jahren an ihre finanziellen
Grenzen und machte Anpassungsmaßnahmen erforderlich, die mit einschneidenden
sozialen Einsparungen verbunden waren. Um diese Maßnahmen gegen die zuvor
mobilisierte Bevölkerung durchzusetzen, griff eine neue Koalition aus Bourgeoisie
und großen Teilen der Mittelschicht zur Repression. In Argentinien €ubernahmen
1966 bis 1973 die Militärs die Macht. Die neuen Wirtschaftsprogramme gingen
einher mit Versuchen einer vertiefenden Industrialisierung, d. h. einem Ausbau der
Infrastruktur, Aufbau von industriellen Großbetrieben und Öffnung f€ur Auslands-
kapital, wof€ur technokratisches Know-how benötigt wurde. Die Kombination von
technokratischem Entwicklungsstaat und politischer Repression f€uhrte nach O’Don-
nell zum Entstehen eines b€urokratisch-autoritären Militärregimes in Argentinien.
Die argentinische Erfahrung €ubertrug O’Donnell in ein allgemeines Konzept des
B€urokratischen Autoritarismus, das auf andere lateinamerikanische Länder, aber
auch auf afrikanische und asiatische Regime angewandt wurde (zur Anwendung
des B€urokratischen Autoritarismus auf andere Länder siehe etwa Collier 1979 f€ur
Lateinamerika, Shevtsova 2004 f€ur Russland unter Putin). In ähnlicher Weise hat
O’Donnell das Konzept einer delegativen Demokratie anhand des Beispiels Ar-
gentiniens entworfen, danach entstanden eine Vielzahl von Studien, die hybride
Regimeformen und delegative Demokratien in verschiedenen Ländern identifizier-
ten (O’Donnell 1994; siehe etwa Merkel et al. 2003 und 2006).
82 W. Muno

ur die deduktive Anwendung von Theorien sind „Analytic Narrati-


Ein Beispiel f€
ves“ (AN), die spieltheoretische Ansätze zur historischen Fallanalyse nutzen. AN
wurden von Bates, Greif, Levi, Rosenthal und Weingast in die politikwissenschaft-
liche Diskussion eingebracht (vgl. Bates et al. 1998). Die Autoren waren „motivated
by a desire to account for particular events and outcomes“ (Bates 1998, S. 3). Sie
wollten formale Modelle f€ur „in-depths“ Untersuchungen spezieller historischer
Ereignisse nutzen und so „dichte“ Beschreibungen mit „d€unnen“ (formalen) Erklä-
rungen kombinieren. Während €ubliche historische Studien stärker an den spezifi-
schen Merkmalen des Einzelfalls interessiert sind, wollten AN den höheren Ab-
straktionsgrad der Sozialwissenschaften, die in der Regel nach allgemeinen Mustern
und Erklärungen sucht, erreichen. Bates et al. wandten spieltheoretische Überlegun-
gen an zur Untersuchung des Aufstiegs des spätmittelalterlichen Genuas (Greif
1998), die Effekte unterschiedlicher Steuerpolitiken auf absolutistische europäische
Regierungen (Rosenthal 1998), die Entwicklung der Wehrpflicht im 19. Jahrhundert
(Levi 1998), die Entstehung eines internationalen Kaffee-Regimes (Bates 1998) und
den Einfluss des US-amerikanischen B€urgerkrieges auf die Entwicklung der ameri-
kanischen Demokratie (Weingast 1998).
Das AN-Projekt hat eine breite methodische und theoretische Diskussion ange-
stoßen (vgl. Bates et al. 2000a, b; Elster 2000; Levi 2002; Mahoney 2000; Munck
2001; Skocpol 2000). Dabei wurde aber häufig weniger auf den methodischen
Aspekt der deduktiven Verkn€upfung von Theorie und Fallstudie Bezug genommen,
sondern stärker Grenzen und Nutzen von Rational Choice-Ansätzen und Spieltheo-
rie diskutiert (vor allem Elster 2000; Mahoney 2000; Munck 2001). Dies ist erklär-
bar durch den methodisch an sich geringen Innovationswert. Die Forderung, Theorie
und Empirie miteinander zu verkn€upfen, war f€ur Sozialwissenschaftler nicht neu,
ebenso wenig die Überzeugung der Autoren der AN, „theory linked to data is more
powerful than either data or theory alone“ (Bates 1998, S. 3). Innovativer war der
Ansatz f€ur die Geschichtswissenschaft, f€ur die speziell die Anwendung von Rational
Choice und Spieltheorie stärker ein Novum darstellt. Theda Skocpol betitelte ihre
kritische Diskussion von AN daher mit „Theory Tackles History“ (vgl. Skocpol
2000, Hervorhebung WM). Diesem Beispiel folgend analysiert Zagare aus deduktiv-
spieltheoretischer Perspektive den Ausbruch des ersten Weltkriegs (Zagare 2009,
2011).
Als Beispiel einer diszipliniert-konfigurativen Fallstudie sei Harry Ecksteins
Untersuchung zur norwegischen Demokratie erwähnt (Eckstein 1966, der Begriff
konfigurativ-disziplinierte Fallstudie stammt von Sidney Verba 1967). Eckstein
wollte Bedingungen untersuchen, die zu einer stabilen oder instabilen Demokratie
uhren. Er nutzte die Analyse des Falles Norwegens „for the purpose of applying,
f€
testing, and revising theories“ (Eckstein 1966, S. vii). Ausgehend von einer Theorie
stabiler Demokratie wurden Funktionsweisen norwegischer demokratischer Politik
analysiert. Norwegen galt als besonders interessanter Fall, da es laut Eckstein seit
1814 eine stabile, demokratische Entwicklung aufwies und somit ein besonders
herausragender Fall demokratischer Stabilität war (und ist). Er griff in seiner theo-
retischen Diskussion zunächst organisatorische, sozioökonomische und politisch-
kulturelle Faktoren auf und konzentrierte sich in der empirischen Analyse Norwe-
Fallstudien und Process Tracing in der Vergleichenden Politikwissenschaft 83

gens dann auf letztere. Die Argumentation der Monographie kann hier nicht en
Detail behandelt werden, aber im Kern sah Eckstein das „Erfolgsgeheimnis“ Norwe-
gens in einer ausgewogenen Balance zwischen gesellschaftlichem Konsens und
Konfliktlinien im Kontext eines beachtlichen gesellschaftlichen Pluralismus (Eck-
stein 1966, S. 177). Aus dieser Analyse heraus entwickelte Eckstein wiederum
allgemeine Hypothesen €uber die Funktionsweise von stabilen Demokratien und
kombinierte so deduktive und induktive Vorgehensweise.
Eine Fallstudie ist weder eine gute Basis f€ur Generalisierungen noch f€ur Falsifi-
kationen etablierter Theorien (vgl. Lijphart 1971, S. 691; Ragin 2000, S. 90). Sartori
warnt vor „Parochialismus“, d. h. vor der Gefahr, Details und Besonderheiten
€uberzubewerten, etablierte Kategorien allgemeiner Theorien zu ignorieren und so
letztlich nur Ad-hoc-Erklärungen zu produzieren (Sartori 1994, S. 19). Bei solchen
Problemen stellt sich die Frage, wozu €uberhaupt eine Fallstudie gemacht werden
sollte? Ironischerweise liefert gerade der Fallstudienkritiker Lijphart ein Beispiel f€ur
den Sinn von Fallstudien. Anhand der Niederlande entwickelte er das Konzept einer
Konsensdemokratie, was ein wesentlicher Bestandteil späterer weltweit vergleich-
ender Studien zu Erscheinungsformen von Demokratie wurde (vgl. Lijphart 1968,
1984, 1999). Auch das bekannte Cleavage-Konzept nach Stein Rokkan wurde
zunächst anhand des Falles Norwegen entwickelt und später auf andere Länder
€ubertragen (vgl. Rokkan und Valen 1964; Lipset und Rokkan 1967; Jahn 2006,
S. 327). Eine Fallstudie liefert genaueres Wissen €uber einen Fall. Sie muss zwar auf
Verallgemeinerungen weitgehend verzichten, gewinnt aber Tiefe und Dichte des
Verstehens, wie Sartori anmerkt (Sartori 1994, S. 24). Laut Bennett und George
(1998, S. 6) haben Fallstudien unter bestimmten Bedingungen einen komparativen
Vorteil gegen€
uber statistischen Methoden:

• Sie können komplexe Variablen spezifizieren und messen;


• sie können induktiv neue Variablen identifizieren und neue Hypothesen entwi-
ckeln;
• sie können kontingente Generalisierungen oder typologische Theorien formulieren.

Generell liegt die Stärke von Fallstudien im Entdecken und Testen kausaler oder
sozialer Mechanismen. Kausale Mechanismen betreffen soziale oder politische
Prozesse, durch die eine (unabhängige) Variable einen kausalen Effekt auf eine
andere (abhängige) Variable aus€ubt.

3 Process tracing und das Forschungsdesign von Fallstudien

Zur Analyse komplexer Phänomene schlagen George und Bennett „Process Tra-
cing“ vor (George und Bennett 2004; vgl. auch Bennett 2010; Collier 2011; Bennett
und Checkel 2012; Beach und Pedersen 2013; Bennett und Checkel 2015). Eine
Vielzahl von mehr oder weniger synonymen Bezeichnungen existiert, die alle
qualitativ-detaillierte Verfahren zur Analyse von Fällen bezeichnen: „causal-process
84 W. Muno

observations“, „pattern matching“, „causal chain explanation“, „colligation“, „con-


gruence method“, „generic explanation“, „interpretative method“, „narrative expla-
nation“, „sequential explanation“, „analytic narrative“ (Gerring 2007, S. 173).
Process Tracing, zu Deutsch das Aufsp€uren oder Nachverfolgen eines bestimm-
ten Vorganges, versucht den kausalen Prozess – eine Kausalkette oder Kausalver-
bindung – zwischen einer unabhängigen Variable (oder Variablen) und dem Ergebnis
der abhängigen Variablen zu identifizieren. Schimmelfennig bezeichnet den Ansatz
daher auch als Prozessanalyse (vgl. Schimmelfennig 2006).
Mithilfe einer Metapher versuchen George und Bennett (2004, S. 206 f.) ihr
Konzept zu erklären: Auf einem Tisch stehen 50 Dominosteine in einer Reihe. Ein
Vorhang verdeckt einen Teil des Tisches, so dass nur Domino Nummer eins und
Nummer 50 zu sehen sind. Die beiden liegen flach auf dem Tisch – wissenschaftlich
gesehen eine Kovarianz. Hat nun der eine Dominostein den anderen zum Fallen
gebracht? Bloße Kovarianz ist kein hinreichendes Argument f€ur eine solche kausale
Folgerung. Die Dominosteine können einzeln zum Fallen gebracht worden sein, der
Tisch könnte gestoßen worden sein, so dass die Steine unabhängig voneinander
fielen oder alle auf einmal. Sogar ein Erdbeben oder Wind könnte das Umfallen
verursacht haben. Es ist daher wichtig, den Vorhang zu l€uften und die dazwischen
liegenden Dominos zu untersuchen, da diese Hinweise auf potenzielle Prozesse
geben. Von der Position aller Dominos könnten wir R€uckschl€usse auf den Kausal-
mechanismus ziehen und so einige Hypothesen eliminieren. Liegen alle Domino-
steine flach in einer Richtung, so können wir ausschließen, dass nur die Steine eins
und 50 einzeln zu Fall gebracht worden sind und können plausibel eine Verbindung
annehmen. Wenn alle Steine mit den Punkten nach oben liegen, könnten wir auch
ausschließen, das Domino 50 den Fall von Stein eins verursacht hat. Letztendlich
könnte sich sogar die Hypothese, Domino eins habe durch seinen Fall eine Ketten-
reaktion ausgelöst, die Domino 50 zu Fall gebracht hat, durch das Ausschlussver-
fahren als plausibelste Alternative erweisen.
Diese Metapher soll Sinn und Zweck von Process Tracing illustrieren. Es geht
zunächst darum, ein outcome auf mögliche kausale Prozesse zur€uckzuf€uhren. Es
geht dann darum, potenzielle kausale Pfade zu identifizieren, die zu dem outcome
gef€uhrt haben können und durch logische Schlussfolgerungen oder Tests unwahr-
scheinliche Pfade auszuschließen. Process Tracing zielt somit auf theoretisch orien-
tierte Erklärungen und unterscheidet sich dadurch von rein deskriptiven Beschrei-
bungen.
Mit einer anderen Analogie versucht Gerring, Process Tracing zu verdeutlichen
(Gerring 2007). Wie ein Kriminalist versucht der Forscher, einen Fall aufzuklären.
Indizien und Aussagen werden gesammelt und der genaue Tathergang wird rekonst-
ruiert, möglichst l€uckenlos, denn er muss vor Richter und Jury (bzw. der wissen-
schaftlichen Gemeinde) einer Pr€ufung standhalten. Der kriminalistische Forscher
versucht den genauen Tathergang zu rekonstruieren, in dem er jeweils einzelne
Ereignisse, Handlungen und Äußerungen plausibel durch kausale Zusammenhänge
verbindet. Dabei können auch scheinbar unzusammenhängende, zufällige Ereignisse
mit kombinatorischer Logik eines Sherlock Holmes so verbunden werden, dass sich
aus vielen Puzzleteilen schließlich ein sinnvolles Gesamtbild ergibt. Die Logik der
Fallstudien und Process Tracing in der Vergleichenden Politikwissenschaft 85

Tab. 2 Process Tracing Tests


Hinreichend
Nein Ja
Nein Straw in the Wind Smoking Gun
Notwendig Bestehen st€ utzt die Relevanz der Hypothese, aber Bestehen bestätigt die
bestätigt sie nicht Hypothese
Nichtbestehen bedeutet die Hypothese ist nicht Nichtbestehen eliminiert
relevant, aber sie ist nicht eliminiert die Hypothese nicht
Ja Hoop Doubly Decisive
Bestehen st€ utzt die Relevanz der Hypothese, aber Nichtbestehen eliminiert
bestätigt sie nicht die Hypothese
Nichtbestehen eliminiert die Hypothese Bestehen bestätigt die
Hypothese und
eliminiert andere
Quelle: Eigene Erstellung nach Bennett (2010)

Verbindungen kann sowohl theoretisch-deduktiv durch bereits bekannte und be-


währte Hypothesen oder prätheoretisch durch common sense hergestellt werden
(Gerring 2007, S. 180). Analog dazu unterscheiden Beach und Pedersen verschie-
dene Varianten von Process Tracing, eine theorie-testende, deduktive, die einen
theoretisch abgeleiteten kausalen Mechanismus in einem Fall untersucht, eine
theorie-generierende, induktive, die anhand eines Falles versucht, einen kausalen
Mechanismus herauszuarbeiten, sowie eine fallorientierte, die den kausalen Mecha-
nismus eines spezifischen Phänomens untersucht (Beach und Pedersen 2013). In
letzterem Fall wäre allerdings der comparative merit zweifelhaft.
Die Detektivmetapher benutzt auch Collier, der Sherlock Holmes heranzieht, um
Process Tracing vorzustellen (Collier 2011). Er betont aber, ebenso wie Bennett, die
Notwendigkeit, die Logik der Verbindungen, d. h. die kausalen Mechanismen,
empirischen Tests zu unterziehen (Collier 2011; Bennett 2010). In Anlehnung
an Van Evera werden vier Tests unterschieden, die notwendige und hinreichende
Bedingungen f€ ur kausale Hypothesen untersuchen und so alternative Erklärungen
eliminieren bzw. bestätigen: „Straw in the Wind“, „Smoking Gun“, „Hoop“
und „Doubly-Decisive“ (vgl. Tab. 2). Van Evera erläutert diese Tests anhand
kriminalistischer Beispiele, die sehr gut zur Detektivmetapher passen (Van Evera
1997, S. 30 ff.).
Ein Straw in the Wind-Test bietet hilfreiche Informationen, aber keine entschei-
denden, um eine Hypothese zu bestätigen. Findet die Polizei bei einem Beschuldig-
ten die Tatwaffe, so ist das ein wichtiges Indiz, aber noch kein endg€ultiger (hinreich-
ender) Beweis f€ur seine Schuld, wie auch die Tatsache, dass er keine Waffe hat, auch
kein Indiz f€
ur seine Unschuld ist. Beim Smoking Gun-Test wird ein Beschuldigter
nach der Tat mit der noch rauchenden Waffe am Tatort aufgefunden. Obwohl dem
versierten Kriminalisten Zweifel nicht fremd sind, ist dies ein starkes Indiz f€ur die
Schuld des Verdächtigen und bestätigt somit eine hinreichende Annahme. Wird er
nicht mit der Waffe in der Hand gesehen, so ist dies aber noch kein Beweis f€ur
Unschuld. Der Hoop-Test wiederum definiert notwendige, aber nicht hinreichende
Fakten. War ein Verdächtiger etwa am Tag der Tat in der Stadt, so ist das noch kein
86 W. Muno

Beweis f€ur seine Schuld, war er aber zweifelsfrei in einer anderen Stadt, so kann er
gar nicht der Täter sein. Ein Doubly Decisive-Test bestätigt notwendige und hinrei-
chende Bedingungen f€ur einen Kausalzusammenhang. Nimmt eine Kamera einen
Tatverdächtigen bei dem Verbrechen auf, so ist seine Schuld bewiesen. Solche Tests
sind in Sozialwissenschaften eher selten, aber eine Kombination von Hoop- und
Smoking Gun-Test erzielen dasselbe Resultat.

4 Process Tracing in der komparativen Forschung

Im Gegensatz zur ausf€uhrlichen theoretischen und methodischen Diskussion von


Process Tracing sind Fallstudien oder komparative Analysen, die sich explizit und
systematisch dieses Ansatzes bedienen, noch nicht sehr verbreitet. Collier listet
verschiedene Studien aus der internationalen und vergleichenden Politikwissen-
schaft auf, die sich dem Ansatz zuordnen lassen, ohne notwendigerweise explizit
darauf zu verweisen (Collier 2011).
Ein Beispiel hierf€ur ist die wegweisende Studie von Richard Fenno zum Verhal-
ten von US-amerikanischen Kongressabgeordneten (Fenno 1977; siehe auch Fenno
1978, 1986, 2003). Ohne sich explizit des Wortes „Process Tracing“ zu bedienen,
untersucht Fenno durch detaillierte Beschreibungen, Sequenzierungen und dem
Versuch der Identifikation kausaler Mechanismen das Verhalten von Abgeordneten.
Ziel ist es, herauszufinden, wie Abgeordnete die Verbindung zu ihrem Heimatwahl-
kreis aufrechterhalten und sich die Unterst€utzung ihrer Wählerschaft sichern. Zwi-
schen 1970 und 1976 hatte Fenno 17 Abgeordnete jeweils €uber mehrere Tage hin in
ihren Heimatwahlkreisen begleitet, in zehn Fällen zudem ausf€uhrliche Interviews
gef€uhrt. Vor Ort war Fenno unter Nutzung der Methode der teilnehmenden Beob-
achtung bei Treffen und Veranstaltungen dabei, was er selbst als „soaking and
poaking – or, just hanging around“ bezeichnete (Fenno 1977, S. 884), untersuchte
aber auch Daten zu Reisen und Ausgaben f€ur Mitarbeiter vor Ort. Aus den detail-
lierten Beschreibungen und Analysen entwickelte er eine Typologie von Wahlkrei-
sen sowie insbesondere eine Typologie von „representational styles“ bzw. „home
styles“, die wegweisend f€ur weitere Analysen war (so etwa Aldrich und Shepsle
2000).
Ein weiteres, prominentes Beispiel f€ur Process Tracing ist die Studie „Shaping the
Political Arena. Crictical Junctures, the Labor Movement, and Regime Dynamics in
Latin America” von Ruth Berins Collier und David Collier (1991). In diesem Buch
wird die Regimeentwicklung in acht lateinamerikanischen Ländern untersucht:
Brasilien, Chile, Kolumbien, Mexiko, Peru, Uruguay und Venezuela. Im Mittelpunkt
steht die organisierte Arbeiterschaft, insbesondere die Art und Weise, wie sie in den
politischen Prozess eingebunden wurde. Die acht Länder werden paarweise, auf-
grund jeweiliger Ähnlichkeiten, untersucht: Brasilien und Chile, Mexiko und Vene-
zuela, Uruguay und Kolumbien, Peru und Argentinien. Durch diese Vorgehensweise
werden Ähnlichkeiten und Unterschiede identifiziert und so Hypothesen und Er-
klärungsmuster entwickelt. Neben dem paarweisen Vergleich verweisen Collier und
Collier aber auch explizit auf „Process Tracing“ als Methode (Collier und Collier
Fallstudien und Process Tracing in der Vergleichenden Politikwissenschaft 87

1991, S. 5). Damit sollen in narrativen Fallstudien in den jeweiligen Ländern


„critical junctures“ und „historical legacies“untersucht werden.“The result“, so
schreiben Collier und Collier, „is an analysis centrally concerned with the elabora-
tion of concepts and comparisons, but also shaped by the conviction that this
elaboration must be anchored in a close, processual analysis of cases over long
periods of time” (Collier und Collier 1991, S. 5).
Die historische Phase der Einbeziehung der Arbeiterschaft Anfang oder Mitte des
20. Jahrhunderts sehen Collier und Collier dabei als zentrales „critical juncture“, in
der die Arbeiterbewegung als Wählerschaft mobilisiert und organisatorisch an eine
Partei angebunden wurde – oder auch nicht! Abhängig davon (und von der Art und
Weise der Inkorporierung), werden verschiedene Regimecharakteristika identifiziert:
in Brasilien und Chile existieren polarisierte Mehrparteiensysteme, in Mexiko und
Venezuela integrative, hegemoniale Parteiensysteme; der Versuch einer Inkorporie-
rung der Arbeiterschaft durch traditionelle Parteien ist in Uruguay und Kolumbien
nur partiell gelungen, was zu einem Aufstieg neuer linker Parteien (in Uruguay) und
Bewegungen (in Kolumbien) f€uhrte. In Peru und Venezuela kam es zu politischen
Blockaden, da das Militär Wahlerfolge populistischer Parteien, die mit der Arbei-
terbewegung verbunden waren, verhinderte. F€ur Collier und Collier sind diese
historischen Verläufe zentrale Faktoren f€ur die bisherigen Regimeentwicklungen in
Lateinamerika.
Ein aktuelles Beispiel schließlich ist Schimmelfennigs Artikel „Efficient process
tracing: analyzing the causal mechanisms of European integration“ in dem von
Bennett und Checkel herausgegeben Band „Process Tracing. From Metaphor to
Analytical Tool“ (Schimmelfennig 2015, Bennett und Checkel 2015). Schimmel-
fennig f€uhrt zentrale Studien zur europäischen Integration an, die mit Process
Tracing arbeiten – Andrew Moravsciks „The Choice for Europe“ (1998), Paul
Piersons „Path to Integration“ (1996), Craig Parsons „A Certain Idea of Europe“
(2003) sowie eigene Arbeiten. Interessant ist, dass diese Studien die Methode trotz
unterschiedlicher theoretischer Perspektiven (Intergouvernementalismus, Neofunk-
tionalismus, rationalistischer Institutionalismus und Konstruktivismus) nutzen, was
das heuristische Potenzial von Process Tracing zeigt. Die Studien analysieren die
europäische Integration, die sich als Phänomen sui generis der Komparatistik ent-
zieht, als besonderen Einzelfall. Integration vollzieht sich als eine Sequenz von
Konferenzen, Verhandlungen und Entscheidungsprozessen, die in den großen Ver-
trägen, von Rom bis Lissabon, kodifiziert wurden, die „grand bargains“. Diese
Sequenzen und Verhandlungsprozesse werden mit Process Tracing detailliert
analysiert, mit unterschiedlichen Schwerpunkten auf den Präferenzen der Staaten,
Interessengruppen, Normen und Ideen, je nach theoretischer Perspektive, um kau-
sale Mechanismen der Integration zu identifizieren. Während bei Moravcsik
und Pierson noch nicht explizit von Process Tracing die Rede ist, finden sich
entsprechende explizite Verweise bei Parsons und Schimmelfennig. Mithilfe eines
„effizienten“ Process Tracing, wie es Schimmelfennig propagiert, d. h. eines
theorienorientierten, deduktiven, hypothesentestenden Ansatzes, sind solche kau-
salen Mechanismen zu entdecken, „to bring about scientific development“
(Schimmelfennig 2015, S. 123).
88 W. Muno

5 Zusammenfassung

Die eingangs gestellte Frage, was Fallstudien mit Komparatistik zu tun haben, ist
eindeutig beantwortet: Fallstudien bilden einen wichtigen Teil der vergleichenden
Analyse. Wie gezeigt, kann ein Fall ein beliebiges politikwissenschaftliches Unter-
suchungsobjekt sein, eine Partei, ein Land, ein spezifisches Problem. Das Erkennt-
nisinteresse definiert den Fall. Fallstudien sind allerdings nur dann Teil der ver-
gleichenden Methoden, wenn sie sich nicht auf reine Deskription beschränken,
sondern comparative merit aufweisen, d. h. theoriebezogen sind.
Die Durchf€ uhrung von Fallstudien hat spezifische Vor- und Nachteile. Nachteile
liegen in der begrenzten Generalisierbarkeit der Ergebnisse von Fallstudien und der
Gefahr des Parochialismus, Vorteile in der besseren Erfassung komplexer Variablen,
der Möglichkeit, induktiv neue Variablen und Hypothesen zu entwickeln und der
Möglichkeit der Formulierung kontingenter Generalisierungen, typologischer Theo-
rien sowie kausaler Mechanismen. Zur Durchf€uhrung von Fallstudien wird meist auf
Process Tracing verwiesen, ein Ansatz, mit dem detailliert Prozesse analysiert und so
kausale Mechanismen entdeckt werden. Alternative Kausalmechanismen sollten
getestet werden, um unwahrscheinliche oder nicht zutreffende Mechanismen zu
eliminieren, um letztlich so zu plausiblen Annahmen €uber Wirkungszusammen-
hänge in komplexen Phänomenen zu kommen. Die aufgef€uhrten Beispiele der
Anwendung zeigen die vielfältigen Möglichkeiten und Varianten von Process Tra-
cing. Der Ansatz wird zwar häufig als Metapher benutzt, hat aber das Potenzial zu
einem sinnvollen methodischen Werkzeug, mit dem detaillierte, profunde Fallstu-
dien durchgef€ uhrt werden können, um letztlich kausale Mechanismen und Erklä-
rungen zu identifizieren.

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Komparative Area-Forschung in der
Vergleichenden Politikwissenschaft

Andreas Mehler

Zusammenfassung
Die komparative Area-Forschung ist ein Bindeglied zwischen den klassischen,
interdisziplinär angelegten Area Studies und der Vergleichenden Politikwissen-
schaft. Die Vergleichende Politikwissenschaft stand lange Zeit in der Gefahr,
unbewusst eine starke – europäisch-nordamerikanische – Schlagseite zu perpe-
tuieren, die ihrem Anspruch, universal g€ultige Gesetzmäßigkeiten zu ergr€unden,
entgegensteht. Der weltpolitische Aufstieg der „emerging powers“ und Globali-
sierungsphänomene haben die Bedeutung bislang durch die Politikwissenschaft
vernachlässigter Weltregionen (besonders in Afrika, Asien und Nahost) erhöht. In
einer defensiven Sichtweise hat sich das Spektrum untersuchenswerter Fälle und
Fragestellungen damit erweitert, in einer offensiveren Sichtweise ist die Erarbei-
tung einer deutlich breiteren empirischen Basis zwingend, um €uberhaupt die
universelle G€ultigkeit vieler Lehrsätze oder Modelle aufrecht erhalten zu können.
Die komparative Area-Forschung stellt einen geeigneten Zugang dar, um die
Reichweite von Generalisierungen, aber auch Grad der Spezifizität einzelner
Fälle zu ermitteln. Es können cross-, intra- und interregionale Vergleichsformen
unterschieden werden; sie sind unterschiedlich voraussetzungsvoll, folgen aber
auch unterschiedlichen Erkenntnisinteressen.

Schlüsselwörter
Area Studies • Comparative Area Studies • Regionen • Vergleichende Methode •
Generalisierung

A. Mehler (*)
Direktor des Arnold-Bergstraesser-Instituts, Professor f€
ur Entwicklungspolitik und
Entwicklungstheorie an der Universität Freiburg, Lead Research Fellow am GIGA, Institut f€
ur
Afrika-Studien, Berlin, Deutschland
E-Mail: mehler@giga-hamburg.de

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 91


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_7
92 A. Mehler

1 Einleitung

Die komparative Area-Forschung versteht sich als Bindeglied zwischen den klassi-
schen Area Studies und systematischen Disziplinen, so auch – und möglicherweise
zuvorderst - der Vergleichen Politikwissenschaft. Zentrale Bestandteile von „Com-
parative Area Studies“ (so die gebräuchliche Bezeichnung) sind a) eine ausgeprägte
Kontextsensibilität (das beinhaltet die Ber€ucksichtigung von Geschichte, Kultur und
räumlichen Aspekten) und b) der explizite, systematische und empirisch gesättigte
vergleichende Ansatz (z. B. Lijphart 1971; Sartori 1994). Die komparative Area-
Forschung bedarf eines hohen Problembewusstseins bei der Verwendung des Area-
Begriffs. Das bedeutet: Die variable Geometrie von Regionen, abhängig von der
jeweiligen Fragestellung, ist immer im Blick zu behalten (Mehler und Hoffmann
2011; Holbig 2015). Innerhalb der klassischen Area Studies haben sich Generatio-
nen von Wissenschaftlern mit der Begrenztheit des eigenen Zugangs auseinander-
gesetzt, ausgehend von der weltweit rezipierten „Orientalismus“-Debatte (zur€uck-
gehend auf die von Edward Said 1978 kritisierten westlichen Konstruktionen „des
Orient“). Weitgehend unbestritten ist auch, dass die landläufige Einteilung der Welt
in Regionen und Subregionen weitgehend externen Setzungen entspricht und €uber
koloniale Vergangenheit und Interessenlagen der Supermächte im Kalten Krieg
zementiert wurden. Maßgeblich f€ur die weitere Entwicklung der Area Studies waren
die Gr€undungen entsprechender Zentren in den USA schon ab der Zwischenkriegs-
zeit. Insofern herrscht hier ein hohes Maß an permanenter (selbst) kritischer Re-
flexion, ob denn die Area-„Container“ nicht eine k€unstliche Einheit vorspiegeln,
Überlappungen zwischen ihnen vielmehr f€ur die Epoche der Globalisierung kenn-
zeichnend sind und transregionale Verflechtungen zwischen den „areas“ handlungs-
wirksamer sind als was innerhalb von irgendwie definierten Weltregionen passiert.
Diese Bereitschaft zu fundamentaler Selbstkritik mag in der Politikwissenschaft
nicht in gleicher Weise bestehen. Gleichwohl – und hier sollte nicht €uber das Ziel
hinausgeschossen werden – gibt es politikwissenschaftliche Fragestellungen, die
nachvollziehbarerweise nach Regionen zu beantworten sind, wenn nämlich genau
die problematische Vergangenheit Strukturen und Institutionen geschaffen hat, die
wirkmächtig fortbestehen. Dennoch gilt als Mahnzeichen: Die Homogenität einer
Region kann nie einfach vorausgesetzt werden, die Zugehörigkeit zu einer gemein-
samen supranationalen Organisation ist nur unter Umständen ein solch einender
Faktor. Außerdem kann die äußere Zuschreibung und Zusammenfassung von Ter-
ritorien (unter Ausgrenzung anderer) zu einer Region bereits eine wenig subtile
Form der Intervention darstellen und die Ergebnisse von Forschung beeinflussen.
Dennoch gibt es einige rezente Beiträge in der Fachdiskussion, die regionaler
Zugehörigkeit größere Erklärungskraft auch f€ur innerstaatliche Entwicklungen
zuweisen als gemeinhin angenommen. Allerdings m€ussen dann Regionen theore-
tisch begr€
undete analytische Kategorien statt unbewegliche geographische Einheiten
sein (Ahram 2011); Regionen lassen sich in der Regel als analytische Kategorien
verwenden, wenn sie durch kontinuierliche (ökonomische, politische, kulturelle)
Austausch- und Differenzierungsprozesse zu in vielerlei Hinsicht geschlossenen
Räumen werden, die weltweite Varianz erklären helfen. Bunce (2000, S. 722) hat
Komparative Area-Forschung in der Vergleichenden Politikwissenschaft 93

z. B. im Hinblick auf weltweite Demokratisierungsprozesse auf starke regionale


Effekte hingewiesen. So findet sie, dass erfolgreiche Demokratisierung in Latein-
amerika dem ausgleichenden Paktmodell zwischen alten und neuen Eliten folgt
(,bridging‘), in Osteuropa aber ganz im Gegenteil die abrupte Beendigung autoritärer
Herrschaft (‚breaking‘) die erfolgreichsten konsolidierten Demokratien hervorbrachte.
Oder: Die Gleichzeitigkeit ökonomischer Reformen hat demokratische Übergänge
in Osteuropa eher erleichtert, in Afrika scheint sie diese zu gefährden. Offenbar gibt
es also regionale Variationen im Demokratisierungsprozess, die sich zwar nicht
notwendigerweise auf die Zugehörigkeit zu einer Region zur€uckf€uhren, aber auch
nicht einfach wegerklären lassen. In den Worten von Dirk Berg-Schlosser (2012,
S. 2) haben „gr€ undlichere Kenntnisse regionaler und kultureller Besonderheiten und
ihrer historischen Wurzeln und Entwicklungen nichts von ihrer Bedeutung und
ihrem Reiz (!) verloren“.
Ebenfalls potenziell bedeutsam f€ur die vergleichende Politikwissenschaft ist der
permanente Impetus zu interdisziplinärem Arbeiten. Wenn auch sehr unterschiedlich
in der Zusammensetzung pro Region, so finden sich in den Area Studies Vertreter
unterschiedlicher Disziplinen wie z. B. Ethnologie, Geschichtswissenschaft, Religi-
onswissenschaft, Literaturwissenschaft etc. – und der Anteil der Politikwissenschaft-
ler in diesen Gemeinschaften ist oft begrenzt. F€ur die Area Studies konstitutiv ist,
dass €uber Fächergrenzen zusammengearbeitet wird, oder doch mindestens wahrge-
nommen wird, womit sich angrenzende Fächer mit einem ähnlichen Raumbezug
beschäftigen. In diesem räumlich bemessenen Erkenntnisinteresse lässt sich inter-
disziplinär oft besonders gut arbeiten. Eine Besonderheit der Area Studies ist
weiterhin die durchweg starke Betonung ausgedehnter Forschungsarbeiten vor
Ort, die sicher nicht immer mit „teilnehmender Beobachtung“ gleichgesetzt werden
können, aber doch immer das „Verstehen“ von Akteuren, Systemen oder Untersu-
chungsgegenständen befördern helfen soll.
In dieser Stellung zwischen klassischen Area Studies und Politikwissenschaft
vermag komparative Area-Forschung sowohl zu breiteren disziplinären und theore-
tischen Debatten beizutragen als auch gleichzeitig bessere Einsichten in systema-
tisch ausgesuchte Fälle zu generieren. Damit ist das Erkenntnisinteresse der kompa-
rativen Area-Studies zweifach: Generalisierung und Spezifizierung. Warum ist das
f€ur die Vergleichende Politikwissenschaft wichtig?

2 Die Vergleichende Politikwissenschaft – eine Europa- und


Nordamerika-Wissenschaft?

Die Vergleichende Politikwissenschaft ist – trotz gelegentlicher Öffnung – sehr stark


dominiert durch ihre Fokussierung auf den transatlantischen Raum, grob: Europa
und Nordamerika. Damit ist die Gefahr verbunden, systematisch Fehlschl€usse €uber
weltweite Gesetzmäßigkeiten und Trends zu generieren. Das zeigt sich an a) Schl€us-
selbegriffen, b) Theorien, und c) dem empirischen Ausschnitt, der in einschlägigen
Publikationen abgedeckt wird.
94 A. Mehler

a) Die gesamte europäische Geschichte wird bei zentralen Begrifflichkeiten der


Politikwissenschaft mitgedacht, auch wenn diese – häufig unreflektiert – f€ur
andere Weltregionen Anwendung finden, die einen deutlich anderen Entwick-
lungspfad aufweisen. Als Beispiel kann der Schl€usselbegriff „B€urger“ („b€ur-
gerlich“) dienen, der €uber römisches Recht, mittelalterlichen Ständestaat und
[sic] b€
urgerliches Zeitalter klar in der Geschichte einer bestimmten Weltregion
wurzelt. Der Begriff „B€urgerkrieg“, in Europa urspr€unglich als Aufstand der
B€urger gegen die Monarchie verstanden, hat weltweite Karriere gemacht und
muss nun f€ ur jegliche Form innerstaatlicher Gewaltkonflikte herhalten. Analoges
ließe sich zur „Zivilgesellschaft“ sagen. „Gewerkschaften“ gibt es weltweit, aber
ohne den spezifischen Entwicklungspfad der Industrialisierung durchlebt zu
haben, zeigen Einrichtungen des gleichen Namens z. B. in Westafrika abwei-
chende Eigenschaften. Das wäre weniger problematisch, wenn in der Feststellung
der Differenz nicht immer auch eine „Defizitanalyse“ verbunden wäre – als Er-
gebnis eines Vergleichs mit einem Ideal, das sich aus einer synthetisierenden
Sichtweise westlicher Staatswerdung ergibt.
b) Am offensichtlichsten hat unter den wichtigen Theorieangeboten die Modern-
isierungstheorie einen ethnozentrischen Einschlag, weil die Industriegesellschaft
lange Zeit als Endpunkt des Entwicklungsweges aller Gesellschaften gesehen
wurde. Manche simplistischen Grundannahmen des 20. Jahrhunderts, z. B. das
Junktim „je reicher, desto demokratischer“ m€ussen mit Blick auf außereuropäi-
sche Regionen als widerlegt gelten. Ein Vierteljahrhundert nach der großen
Demokratiewelle in Subsahara-Afrika gehören Benin, Ghana, Lesotho, São To-
mé und Príncipe sowie Senegal recht konstant zu den demokratischsten Staaten
Afrikas, ökonomisch – gemessen am Bruttoinlandsprodukt pro Kopf – sind sie
höchstens Mittelfeld. Weiter oben in den ökonomischen Rankings tummeln sich
das autoritäre Angola, die altert€umliche Monarchie Swaziland und ganz an der
Spitze mit Äquatorialguinea die wohl härteste Diktatur auf dem Kontinent. Der
rasante ökonomische Aufschwung Chinas hat gleichfalls nicht zu einer Demo-
kratisierung gef€uhrt – entgegen mancher Prophezeiung.
c) Ein Blick in die wichtigsten Journals der Vergleichenden Politikwissenschaft
zeigt eine fortbestehende, wenn auch geringer werdende Dominanz der empiri-
schen Beschäftigung mit der OECD-Welt.(Siehe Munck und Snyder 2007, S. 10,
die als Ergebnis der Auswertung wichtiger politikwissenschaftlicher Fachjour-
nals feststellen, dass die regionale Abdeckung weiterhin stark Westeuropa-do-
miniert ist und sehr wenige Artikel besonders bevölkerungsreiche Subregionen
wie S€ udostasien oder S€udasien behandeln). Eine solche Dominanz war sicher
noch vor zwei Jahrzehnten deutlicher ausgeprägt als 2014, aber Jahrzehnte der
Marginalisierung lassen sich nicht in wenigen Jahren aufholen. Immer deutlicher
zeigt sich, dass die als gesichert geltenden Wissensbestände innerhalb der Politik-
wissenschaft nur f€ur eine Minderheit von Fällen, bzw. f€ur einen kleinen Aus-
schnitt der Weltbevölkerung wirklich ausreichend gepr€uft erscheinen.

Durchbrochen wurde dieser Ethnozentrismus der Disziplin besonders in der


Autoritarismusforschung durch einen dezidiert lateinamerikanischen Einschlag in
Komparative Area-Forschung in der Vergleichenden Politikwissenschaft 95

den 1970er- und 1980er-Jahren. Möglicherweise war dieses Interesse auch stark aus
der politischen Praxis erwachsen, wobei sowohl Persistenz als auch Zusammen-
bruch autoritärer Herrschaft f€ur an Stabilität interessierte Entscheidungsträger in
Washington von ähnlich hohem Interesse waren. Zur€uckgehend auf die einfluss-
reichen typologischen Arbeiten von Juan Linz, der personalisierte von b€urokratisch-
autoritären Regimen unterschied, und im zweiten Grundtyp besonders den korpora-
tiven Autoritarismus zu beschreiben half, war Lateinamerika in dieser Epoche ein
besonders reiches Untersuchungsfeld, um die Funktionsweise nicht-demokratischer
Regime zu untersuchen. F€ur die oft als „Demokratiewissenschaft“ charakterisierte
Politikwissenschaft war es eine wichtige Erweiterung des konstitutiven Erkenntnis-
interesses, dass nun erklärt werden konnte, wie sich autoritäre Regime legitimieren
und reproduzieren.
Dennoch darf behauptet werden, dass gesamte Weltregionen in der Politikwissen-
schaft bis in die 1990er-Jahre generell nur am Rande vorkamen: Das gilt mindestens
f€ur Afrika, den Nahen Osten und weite Teile Asiens. Dieser Befund korreliert einmal
mit der geringen Demokratieneigung in diesen Regionen bis zum genannten Zeit-
punkt und ebenso mit einer begrenzten weltpolitischen Bedeutung dieser Regionen.
Daran hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten viel geändert. Sowohl der welt-
politische Aufstieg von Regionalmächten wie Brasilien, Russland, Indien, China
und S€ udafrika als auch die verstärkte Wahrnehmung von Aspekten der Globalisie-
rung (z. B. Klimawandel, Auswirkungen schwacher Staatlichkeit etc.) r€ucken bis-
lang wenig beachtete Weltregionen in den Focus der Aufmerksamkeit. Gleichzeitig
ist es bis heute bei einer €uberwältigenden Dominanz von europäischen und nord-
amerikanischen Politikwissenschaftlern in der Disziplin geblieben. Vom Anspruch
her ist die Vergleichende Politikwissenschaft aber eine universale Wissenschaft.

3 Voraussetzungen für eine inklusivere Vergleichende


Politikwissenschaft

Die Zahl der Politikwissenschaftler, die sich in Europa und den USA intensiv mit
politischen Phänomenen in Afrika, Asien, Nahost und – schon deutlich intensiver –
in Lateinamerika befassen, ist €uberschaubar geblieben. Und ebenso schwach ausge-
bildet sind bislang die meisten politikwissenschaftlichen Fakultäten und Zentren in
diesen Regionen selbst - dies mag auch die geringe Anzahl konzeptioneller Gegen-
entw€urfe aus Afrika, Asien oder Nahost erklären (während z. B. Dependencia-The-
orien auch stark in Lateinamerika wurzelten).
Grundsätzlich darf man davon ausgehen, dass sich dieses Bild weiter graduell
verändern und damit verbessern wird. Mindestens in den demokratischeren Staaten
des Globus erweist sich Politikwissenschaft eben erneut als „Demokratiewissen-
schaft“; Parteien und Parlamente erkennen ihr Interesse an fundierter Expertise zu
ihren eigenen Verfahren, es gibt eine gesellschaftliche Nachfrage nach Politikwis-
senschaft bzw. ihrer Übersetzung in Ratschläge oder gar Handlungsanweisungen.
Das gilt vor Ort und in der Entfernung. Die Begrenztheit nicht nur anekdotischen
Wissens € uber ferne Weltregionen und die Schädlichkeit rein exotisierender
96 A. Mehler

Betrachtungen werden immer dann deutlich, wenn reale Krisen aus räumlich entfernten
Gebieten (2015 z. B. im Jemen, 2013 z. B. im S€udsudan) mittelbar Konsequenzen
auch f€ur Europa nach sich ziehen, weil sich – wie hier – ganze regionale Konflikt-
systeme verschieben. Aber auch Regierungen und Öffentlichkeit in den Ländern, in
denen Politikwissenschaft keine gut verankerte Universitätsdisziplin darstellt, schau-
en zunehmend darauf, welche institutionellen Lösungen f€ur verwandte Pro-
bleme in ähnlichen Kontexten gewählt werden, z.B: im Hinblick auf die Inklusion
wichtiger Minderheiten, auf die Systemanforderungen von Wahlsystemen oder die
Beziehungen zwischen Judikative und Exekutive. Es ist daher nicht vermessen zu
erwarten, dass sich Politikwissenschaft auf globaler Ebene inklusiver gestalten
lassen wird als bisher. Dies kann gelingen, wenn sich die infrastrukturellen und
inhaltlichen Voraussetzungen zur politikwissenschaftlichen Wissensproduktion in
alle Weltregionen verbessert: In Afrika wird Vergleichende Politikwissenschaft
beispielsweise immer noch in höchstens der Hälfte aller Staaten €uberhaupt gelehrt.
Daneben erscheint unausweichlich, dass regionale politikwissenschaftliche Fachver-
bände an Gewicht gewinnen und in den relevanten internationalen Vereinigungen
Vertreter aus Afrika, Asien, Lateinamerika und dem Nahen Osten nicht nur sehr
dosiert oder als Alibi auftreten. Schließlich wird es darum gehen, in den wichtigen
Fachzeitschriften ein Abbild solcher Änderungen zu finden. Die der Politikwissen-
schaft innewohnende Suche nach universalen Gesetzmäßigkeiten erzwingt geradezu
eine Beschäftigung mit bislang ignorierten Weltregionen: Getroffene Aussagen sind
nur so verallgemeinerungsfähig wie der Abdeckungsgrad der Empirie. Schließlich
hat sich die datenmäßige Erfassung afrikanischer, asiatischer, lateinamerikanischer
und nahöstlicher Gesellschaften zusehends verbessert, selbst wenn hier noch erheb-
liche Ungleichgewichte und Zweifel an der Qualität mancher Datensätze bestehen.
Das bedeutet immerhin, dass gerade statistische Verfahren, die in einem dominanten
Zweig der Politikwissenschaft zentral sind, erstmals erfolgversprechend auf weite
Teile der „unterforschten“ Areas ausweitbar erscheinen. Gleichzeitig stellt die Arbeit
zu empirischem Neuland eine der wichtigsten Aufstiegsmöglichkeit f€ur Nach-
wuchswissenschaftler dar.

4 Vorteile und Formen der Vergleichenden Area Studies

Mit Blick auf die ung€unstigen Voraussetzungen zur Durchf€uhrung von „klassischer“
Politikwissenschaft – geringe Datenverf€ugbarkeit, wenig lokale Partner und Infra-
struktur – haben sich Angehörige der Disziplin, die dennoch in diesen Räumen
forschen, Erkenntnisse und Methoden benachbarter Disziplinen nutzbar gemacht.
Daraus ergeben sich eine Offenheit auch f€ur innovative Zugänge und ein Zwang zur
Selbstreflexion. Die klassischen Area Studies haben sich immer als disziplinär offen
verstanden (selbst wenn in der praktischen Organisation bestimmte Disziplinen im
Vordergrund stehen mögen – je nach Region sind das verschiedene Wissenschafts-
zweige – grob: Ethnologie in den Afrikastudien, Literaturwissenschaft in den Latein-
amerikastudien, Islamwissenschaft in den Nahoststudien). Allerdings hat diese Zu-
ordnung auch einen Preis: In den klassischen Area Studies ist die vergleichende
Komparative Area-Forschung in der Vergleichenden Politikwissenschaft 97

Methode eher nicht zuhause – f€ur die Vergleichende Politikwissenschaft aber kon-
stitutiv. Keine Generalisierung ohne Vergleich! Zu den am heißesten diskutierten
Fragen bei der Bewertung von Forschungsprojekten und ihren Ergebnissen gehört in
der Disziplin immer, ob denn das Vergleichsdesign den Standards der Disziplin
entspricht. Davon sind die Area Studies noch immer weit entfernt: Lange Zeit war
in den Area Studies das primäre erkenntnistheoretische Ziel eher eines der „Indivi-
dualisierung“, die Beschreibung des Besonderen, als die Generalisierung. Ein expli-
zit komparativer Ansatz könnte zwar auch diesem Ziel dienen, in der Praxis
geschieht dies nicht so häufig. Dementsprechend finden sich bis heute wenige
explizit vergleichende Beiträge in den Top-Journals der Area Studies. Hitzige
Debatten € uber die Daseinsberechtigung der Area Studies, wie sie in den USA noch
in den 1990er-Jahren gef€uhrt wurden, sind weitgehend abgeebbt; Vertreter der
sozialwissenschaftlichen Mutterdisziplinen und der Area Studies beziehen sich
mittlerweile aufeinander (Szanton 2004). Die „tiefe“ Kenntnis und „dichte Beschrei-
bung“ politikwissenschaftlich relevanter Phänomene insbesondere in Afrika, Asien
und Nahost erleben – gerade seit 9/11 – eine starke Nachfrage. Allerdings helfen
Einzelfallkenntnisse alleine nicht, um ein Phänomen einzuordnen.
Die Vergleichende Area-Forschung hebt sich also auch von den Area Studies ab
und zwar eben durch den komparativen Impetus, denn auch das tatsächlich Spezi-
fische eines bestimmten Falles lässt sich nur durch den Vergleich ermitteln (Basedau
und Köllner 2007).
Drei Formen des Vergleichs lassen sich unterscheiden:

Cross-regionaler Vergleich
Cross-regionale Studien, also der Vergleich zwischen Untersuchungseinheiten in
verschiedenen Regionen, (Basedau und Köllner 2007, S.117) verlangen sowohl
sehr gute Vorortkenntnisse als auch methodische Stringenz. Der Vergleich einer
nur kleinen Anzahl von Fällen ist kaum vermeidbar, aber auch methodisch zu
rechtfertigen (Sil 2009). Insbesondere die Fallauswahl muss daher gut begr€undet
werden, weil die unterstellte Homogenität innerhalb einer Area als Begr€undungs-
zusammenhang f€ur Ähnlichkeit nicht zur Verf€ugung steht – der regionale Kontext
tritt hinter andere gemeinsame Kontextbedingungen zur€uck. Es ist gut möglich,
dass die geforderte Kontextsensibilität forschungspragmatisch zur Folge hat, dass
mehrköpfige Forschungsteams mit unterschiedlicher Länderexpertise zusammen-
finden. Ein gutes Beispiel sind neue, „tiefe“ vergleichende Forschungen zu
Präsidialsystemen (Lateinamerika, Afrika, Russland), die ausgewiesene Länder-
spezialisten in Oxford betreiben (Chaisty et al. 2014).
Intraregionaler Vergleich
Komparative Area-Forschung kann durchaus in einer einzelnen Region betrieben
werden. Der intraregionale Vergleich, damit ist der Vergleich von Phänomenen in
einer einzelnen Region gemeint (Basedau und Köllner 2007, S. 116) hat den
offensichtlichen Vorteil, dass viele Hintergrundbedingungen (oftmals im Zusam-
menhang mit Geographie, Klima, Geschichte und Kultur; mitunter Zugehörigkeit
zur selben suprastaatlichen Organisation) recht ähnlich gehalten werden
können. Es ist offensichtlich, dass intraregionale Vergleiche nur zu „bounded
98 A. Mehler

generalization“ (Bunce 2000) f€uhren können, aber durchaus als Ausgangspunkt


ur Forschungen dienen können, die in einem weiteren Schritt €uber diesen
f€
Rahmen hinaus gehen können.
Interregionaler Vergleich
Interregionale Vergleiche dienen der Identifikation von regionalen Mustern und
dem Vergleich solcher Muster untereinander (Basedau und Köllner 2007, S. 116).
Interregionale Vergleiche beschreiben und analysieren Unterschiede und Ähn-
lichkeiten zum Beispiel von Entwicklungspfaden und –trends oder von Akteurs-
konstellationen zwischen Regionen (z. B. im Hinblick auf Demokratisierung,
Konstitutionalisierung etc.) und pr€ufen die Relevanz von Region als Kontextfak-
tor. Der Interregionale Vergleich dient somit auch der Konturierung von Spezifika
ganzer Regionen bzw. hinterfragt oder st€utzt bestimmte Area-Abgrenzungen.

F€
ur die Untersuchung von Normendiffusion können diese verschiedenen Formen
der Vergleichenden Area-Forschung auch gemeinsam nutzbar zu machen, wie un-
veröffentlichte Arbeiten Ahrams am Beispiel des Arabischen Fr€uhlings zeigen
(2014). Einmal ist plausibel, dass sich die Mobilisierung von Demonstranten €uber
Ländergrenzen hinweg in Staaten mit ähnlichen Systemerfahrungen besonders leicht
vollzieht, dennoch ergaben sich Unterschiede in diesem Prozess, die erklärungs-
bed€urftig sind und in einem intraregionalen Vergleichsdesign erklärt werden
können - im Wesentlichen €uber die erheblichen Unterschiede der Legitimations-
quellen autoritärer Regime der Region. Der cross-regionale Vergleich (bei Ahram
mit Mali und Israel) hilft wiederum zu erkennen, welche Elemente im „Arabischen
Fr€uhling“ wirklich „arabisch“ waren. Der interregionale Aspekt ist in dem
erwähnten Beitrag weniger vergleichend angelegt, sondern verweist auf die
Allianzen von Akteuren innerhalb und außerhalb der Region, um zu erklären, wer
besser der Regimeanfechtung standhielt – genau genommen also eher ein
Verflechtungsargument. Eigentlich wäre ein auch intertemporaler Vergleich mit
den fr€uheren regional ausgeprägten Wellen von Demokratisierungsforderungen (also
Subsahara-Afrika und Osteuropa ab 1989/90) der interessantere Zugang.
Der Vergleichenden Area-Forschung liegt zudem das Verständnis zugrunde, dass
Konzepte, Analyserahmen und methodische Werkzeugkästen aus verschiedenen
Disziplinen zusammenwirken sollten. So bleibt zum Beispiel das Vertrauen in
plötzlich verf€
ugbares Datenmaterial zu bislang untererforschten Weltregionen noch
solange begrenzt, wie es an Panelerhebungen und konkurrierenden Befragungen
etwa zum Vertrauen in Institutionen mangelt. Vielfach können bestimmte Erhebun-
gen weiterhin nur (valide) in offeneren Gesellschaften durchgef€uhrt werden. Daraus
ergibt sich, dass qualitative Methoden von großer Wichtigkeit f€ur die Vergleichende
Area-Forschung bleiben, darunter auch Techniken, die eher aus Nachbardisziplinen
stammen (z. B. Focusgruppendiskussionen, teilnehmende Beobachtung). Berg-
Schlosser (2012) sieht die „Qualitative Comparative Analysis“ (QCA) nach Ragin
als besonders geeignete Methode f€ur die Comparative Area Studies an: Auf der
Basis Boolescher Algebra wird es mit dieser Methode möglich, Komplexität durch
Komparative Area-Forschung in der Vergleichenden Politikwissenschaft 99

systematische und Schritt f€ur Schritt paarweise Vergleiche zu verringern. QCA


eignet sich f€ur Vergleiche mit geringer bis mittlerer Fallzahl und ist daher gerade
f€
ur Regionalstudien und Cross-Area-Vergleiche geeignet (im Unterschied zu makro-
quantitativen statistischen Verfahren, die nicht ohne große Fallzahlen auskommen).
Die im Selbstverständnis der Vergleichenden Area-Forschung angelegte Kontext-
sensibilität sollte auch im Hinblick auf die Ergr€undung der Reichweite von „travel-
ling concepts“ zentral sein. Nur die „tiefe“ Fallkenntnis erlaubt zu erkennen, ob nur
Begriffe variieren (aber das Gleiche meinen), ob funktionale Äquivalente zu be-
stimmten, als internationale Norm angesehenen Institutionen existieren (und so das
Gleiche erreichen) oder aber ob Begriffe und Institutionen international und national
(gegebenenfalls lokal) zwar €ubereinstimmen, aber etwas anderes bedeuten.
Vergleichende Area-Forschung hat damit einen hohen Anspruch: nicht nur der
Theoriepr€ ufung, sondern auch der Weiterentwicklung der Vergleichenden Politik-
wissenschaft unter angemessener Ber€ucksichtigung der gesamten globalen Varianz.

5 Zusammenfassung

Die komparative Area-Forschung verbindet die disziplinäre Offenheit der Area


Studies mit dem komparativen Impetus der Vergleichenden Politikwissenschaft.
Kontextsensibilität und expliziter, systematischer Vergleich werden also kombiniert
– in der Regel in der Form eines Vergleichs mit geringen Fallzahlen. Die kompara-
tive Area-Forschung versteht sich als Br€ucke zwischen Area Studies und Vergleic-
hender Politikwissenschaft, die lange als inkompatibel angesehen wurden (Szanton
2004), denn letztlich eignet sich die vergleichende Methode sowohl zur Generali-
sierung als auch zur Spezifizierung und Individualisierung. Gerade in der Beschäf-
tigung mit Weltregionen, die im Mainstream der Vergleichenden Politikwissenschaft
bisher unterrepräsentiert waren, zeigen sich die Stärken der komparativen Area-
Forschung – Kontextsensibilität und Offenheit gegen€uber Nachbardisziplinen. Intra-,
inter- und cross-regionaler Vergleich unterscheiden sich in ihren Voraussetzungen
und Zielsetzungen; alle können die Theoriebildung in der Vergleichenden Politik-
wissenschaft mit beeinflussen. Gelingen kann dies aber nur, wenn der Spagat zwi-
schen den unterschiedlichen Systemanforderungen legitim bleibt, das heißt „Ver-
gleichen d€urfen“ unter bewusster Reduzierung von Komplexität (das ist die Front
gegen€ uber den klassischen Area Studies) bei gleichzeitiger Offenheit sowohl gegen-
€uber den Methoden der Nachbardisziplinen und tendenziell induktivem Vorgehen
(das ist die Front gegen€uber einem sich herausbildenden Mainstream in der Ver-
gleichenden Politikwissenschaft). Zuweilen wird diese Zwischenposition leider in
Frage gestellt. Eine aufmerksame, fortlaufende oder gar institutionalisierte Rezep-
tion von Themen und Forschungsergebnissen „von den Rändern der Politikwissen-
schaft“ wäre die weitergehende Forderung, hier könnten sich besonders Fachver-
einigungen und wissenschaftliche Zeitschriften verdient machen.
100 A. Mehler

Literatur
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Ahram, Ariel. 2014. Comparative area studies and the analytical challenge of diffusion: Examining
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Berg-Schlosser, Dirk. 2012. Comparative Area Studies – goldener Mittelweg zwischen Regional-
studien und universalistischen Ansätzen? Zeitschrift f€ ur Vergleichende Politikwissenschaft
6:1–16.
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Chaisty, Paul, Cheeseman, Nic and Power, Timothy. 2014. Rethinking the ‚presidentialism debate‘:
„Conceptualizing coalitional politics in cross-regional perspective“ Democratization 21(1):
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Holbig, Heike. 2015. The plasticity of regions: A social sciences–cultural studies dialogue on Asia-
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Lijphart, Arend. 1971. Comparative politics and comparative method. American Political Science
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Mehler, Andreas, und Bert Hoffmann. 2011. Area studies. In International encyclopedia of political
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Sage.
Munck, Gerardo, und Richard Snyder. 2007. Debating the direction of comparative politics: An
analysis of leading journals. Comparative Political Studies 40(1): 5–31.
Said, Edward. 1978. Orientalism. Western representations of the orient. New York: Pantheon
Books.
Sartori, Giovanni. 1994. Compare why and how: Comparing, miscomparing and the comparative
method. In Comparing nations: Concepts, strategies, substance, Hrsg. Mattei Dogan und Ali
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Sil, Rudra. 2009. Area studies, comparative politics, and the role of cross-regional small-N
comparison. Qualitative and Multi-Method Research 7(2): 26–32.
Szanton, David L. Hrsg. 2004. The politics of knowledge: Area studies and the disciplines.
Berkeley: University of California Press.
Teil III
Theorien und Konzepte
Systemwandel und -wechsel in der
Vergleichenden Politikwissenschaft

Wolfgang Merkel

Zusammenfassung
System, Staat, Regime und Regierung sind die wichtigsten Begriffe, mit denen in
der Politikwissenschaft politische Herrschaftsordnungen systematisch gefasst
werden. Sie beziehen sich auf bestimmte Ordnungen des Politischen, bezeichnen
aber deutlich unterschiedliche Teilmengen des Gesamten. Der abstrakteste der
genannten Ordnungsbegriffe ist zweifellos der des politischen Systems. Vor dem
besonderen theoretischen Hintergrund der Systemtheorie begreift er Regime,
Regierung und Teile des Staates auf einer hohen Abstraktionsebene mit ein.
Was ein politisches System ist, wie es sich von Staat und politischem System
unterscheidet, soll im ersten Teil dieser Abhandlung geklärt werden. Der zweite
Teil wird dem Wandel und Wechsel politischer Regime und Systeme ge-
widmet sein.

Schlüsselwörter
Regime • System • Transformation • Transformationstheorien

Ich habe an zahlreichen Stellen Abhandlungen zu politischen Systemen, ihre Stabilität, Legitimität
und möglichen Transformationsformen verfasst (u. a.: Merkel 2010, 2013, 2014, 2015; Merkel und
Thiery 2010; Merkel et al. 2015). Überschneidungen mit diesen Texten sind nicht zufällig, sondern
unvermeidbar.
W. Merkel (*)
Professor am Wissenschaftszentrum Berlin f€
ur Sozialforschung (WZB), Direktor der Abteilung
Demokratie und Demokratisierung, Leiter des Center for Global Constitutionalism, Berlin,
Deutschland
E-Mail: wolfgang.merkel@wzb.eu

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 103


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_8
104 W. Merkel

1 Politische Regime

Regime bezeichnen die formelle und informelle Organisation des politischen Herr-
schaftszentrums einerseits und dessen jeweils besonders ausgeformte Beziehungen
zur Gesamtgesellschaft andererseits. Ein Regime definiert die Zugänge zur politi-
schen Herrschaft ebenso wie die Machtbeziehungen zwischen den Herrschaftseliten
und das Verhältnis der Herrschaftsträger zu den Herrschaftsunterworfenen. Beide
Machtbeziehungen die innerhalb der herrschenden Regimeeliten und jene
zwischen den Eliten des Regimes und der Bevölkerung m€ussen bis zu einem
gewissen Grade institutionalisiert sein. Sie m€ussen, wollen sie nicht allein auf
nackter Gewalt aufbauen, Legitimität besitzen und das Verhalten der Herrschafts-
träger und Herrschaftsadressaten normieren. Demokratien, autoritäre und totalitäre
politische Systeme lassen sich aufgrund ihres besonderen Regimecharakters, näm-
lich ihrer internen Herrschaftsorganisation voneinander unterscheiden (O’Donnell
et al. 1986, S. 73; Fishman 1990, S. 428). Ein Regimewechsel etwa von der
Diktatur zur Demokratie oder vice versa ist dann vollzogen, wenn sich Herr-
schaftszugang, Herrschaftsstruktur, Herrschaftsanspruch und Herrschaftsweise
grundlegend geändert haben. Allerdings ist es in der konkreten Regimeforschung
umstritten, wo genau die Grenzlinie zwischen unterschiedlichen Regimen verläuft.
Politische Regime begreifen keineswegs nur die Autokratien und Demokratien
mit ein. Zwischen beiden Prototypen erstreckt sich eine Grauzone von Regimen, die
meist hybride Regime genannt werden (Schmotz 2015). Sie wiederum können als
defekte Demokratien (Merkel 2004) stärker zu rechtsstaatlichen Demokratien oder
als electoral authoritarianism (Schedler 2006) eher zu autokratischen Regimen
tendieren. Die Trennlinie zwischen den einzelnen Typen und Subtypen ist keines-
wegs so scharf, wie dies Regimetypologien bisweilen suggerieren. Es ist stets ein
Element der artifiziellen Regimeabgrenzung involviert. Ist im Jahr 2015 die Ukraine
eine Demokratie oder ein hybrides Regime? Ist Putins Russland schlicht ein autori-
täres Regime, wie es Freedom House behauptet? Und wenn dies der Fall sein sollte,
was war Russland vor Putin unter Jelzin? Eine Demokratie, ein hybrides oder ein
halbanarchisches Regime auf dem Weg zum Staatszerfall? Um dem Problem pro-
blematischer dichotomer Grenzziehungen zwischen autokratischen und demokrati-
schen Regimen zu entgehen, lässt sich die Bandbreite politischer Regime auch
gradualistisch fassen. Dann werden konkrete politische Regime nicht einfach unter
einem Prototyp subsumiert, sondern auf einer skalierten Achse zwischen den be-
grenzenden Polen (Sartori 1995: „polare Typen“) eines perfekten totalitären Regi-
mes und einer idealen Demokratie platziert. Die jeweilige Punktzahl gibt dann den
jeweiligen Demokratiegehalt der politischen Systeme an, ohne sie notwendigerweise
in klare Regimetypen zu unterteilen. Letzteres lässt sich allerdings durchaus mit der
gradualistischen Methode kombinieren, wie dies etwa von Freedom House, Polity IV
oder dem Bertelsmann Transformation Index (BTI) vorgenommen wird.
Regime sind relativ dauerhafte Formen politischer Herrschaftsorganisation. Sie
sind beständiger, als es bestimmte Regierungen sein können, aber sie haben typi-
scherweise k€ urzeren Bestand als der Staat (Fishman 1990, S. 428). Vergleicht man
die durchschnittliche Bestandsdauer von Autokratien, Demokratien und hybriden
Systemwandel und -wechsel in der Vergleichenden Politikwissenschaft 105

Regimen (elektorale Autokratie, defekte Demokratie) wurden folgende statistische


Durchschnittsgrößen errechnet: eingebettete Demokratie: 37 Jahre; defekte Demo-
kratie: 16 Jahre; elektorale Demokratie: 9 Jahre; geschlossene Autokratie: 20 Jahre
(Schmotz 2013, S. 52 ff.).

2 Staat

Der Staat ist eine noch dauerhaftere Herrschaftsstruktur, die in ihrem Kern die
legitimen (Demokratie) oder illegitimen Zwangsmittel (Autokratie) einschließt, die
notwendig sind, um eine Gesellschaft zu regieren und die daf€ur notwendigen
Ressourcen aus dieser zu ziehen. „A state may remain in place even when regimes
come and go“ (Fishman 1990, S. 428). Regime verkörpern die Normen, Prinzipien
und Verfahrensweisen der politischen Organisation des Staates. Aber erst dessen
staatliches Herrschaftsmonopol und Herrschaftsinstrumentarium versetzen Regie-
rungen in die Lage zu regieren. Während sich im Verlauf einer politischen Trans-
formation die konstituierenden Normen und Prinzipien des Regimes ändern, bleiben
die formalen Strukturen des Staates häufig von vergleichbaren Veränderungspro-
zessen verschont. Wie beunruhigend es auch immer aus einer normativ-demo-
kratischen Perspektive sein mag, in ihrer Struktur kaum zu unterscheidende Staats-
apparate können einem demokratischen System genauso dienen, wie sie vorher
autoritären Regimen gedient haben. Das gilt nicht nur in Hinblick auf die staatliche
Organisationsstruktur, sondern bis in die staatlichen Funktionsträger hinein. Dies
belegen so unterschiedliche historische Transformationserfahrungen wie die
Regimewechsel in Deutschland nach 1918 (politische Eliten, Justiz, Verwaltung)
oder 1945 (Justiz, Verwaltung), in Italien (Justiz, Verwaltung) und Japan (Justiz,
Verwaltung) nach 1945, in Spanien nach 1975 (politische Eliten, Justiz, Verwaltung)
und in Osteuropa nach 1989 (politische Eliten, Verwaltung). Allerdings gilt diese
große Beständigkeit des Staates vor allem f€ur die Länder Westeuropas, Nord- und
S€udamerikas. Dem deutschen Staatsrechtstheoretiker Georg Jellinek (1976[1900])
zufolge kann erst dann von einem Staat gesprochen werden, wenn er diese „drei
Elemente“ einschließt: Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt. In einer zuneh-
menden Zahl von Ländern in Afrika und Asien sind zu Beginn des 21. Jahrhunderts
mindestens eines oder auch alle drei Elemente beschädigt oder nur in Restformen
vorhanden. Failing oder failed states sind zu einem großen Problem f€ur deren
Zivilbevölkerung, aber auch f€ur die internationale Staatenwelt geworden.

3 System

Das „politische System“ ist der umfassendste Begriff politischer Ordnungen.


Es schließt Regierung, Regime und Staat ein und ist am engsten mit der Legitimitäts-
und Stabilitätsfrage politischer Ordnungen verkn€upft. Damit lassen sich systema-
tisch die Zusammenhänge zwischen Dysfunktionen einzelner Teilbereiche und dem
ur das „Überleben“ des Gesamtsystems wichtigen Gleichgewichts erkennen.
f€
106 W. Merkel

Abb. 1 Das Input-output-Modell des politischen Systems. Quelle: Merkel (2010, S. 56) nach:
Almond und Powell (1988)

Unter welchen Bedingungen politische Systeme die Herausforderungen ihrer


Umwelt meistern und sich erfolgreich reproduzieren, lässt sich besonders gut mit
dem Input-output-Modell von David Easton (1965, 1979) und seiner Weiterentwick-
lung durch Gabriel Almond und Bingham Powell (1988) untersuchen (Abb. 1).
Das politische System steht in einem dynamischen Austauschverhältnis mit der
Gesellschaft, die zugleich Teil seiner Umwelt ist. Von ihr benötigt es einen gewissen
Input an Massenloyalität und -unterst€utzung, um zu €uberleben. Passive und aktive
Unterst€utzungsleistungen der B€urger (supports) sind wichtige Ressourcen, die das
politische System benötigt, um die aus der Umwelt kommenden Forderungen
(demands) in politische Entscheidungen umzuwandeln und zu implementieren
(outputs). Loyalität und aktive Unterst€utzung politischer Systeme werden grund-
sätzlich aus zwei Quellen gespeist: einer materiell-utilitaristischen und einer
Systemwandel und -wechsel in der Vergleichenden Politikwissenschaft 107

normativ-ideologischen. Erstere beruht auf den materiellen Leistungen des Regimes


wie innere und äußere Sicherheit, wirtschaftliche Prosperität und sozialer Schutz.
Letztere kann sich aus einem normativen Fundus nähren, der auf die Verwirklichung
moralisch-ethischer Werte rekurriert (etwa die weitgehende Wahrung der Menschen-
rechte und Selbstbestimmung in der Demokratie) oder auf der Überzeugung ge-
schichtlicher Überlegenheit (Kommunismus, Nationalismus, Rassismus, religiöser
Dogmatismus in der Diktatur) wie religiösen Überzeugungen in beiden Regimen
basiert. Die freiwillige normativ motivierte Unterst€utzung gilt also f€ur Demokratien
wie f€ur Diktaturen,1 allerdings in unterschiedlichem Maße. Diktaturen können die
häufig mangelnde Unterst€utzung der B€urger bzw. Herrschaftsunterworfenen durch
Erhöhung der Repression kompensieren. Allerdings hat die Repression f€ur die
diktatorischen Herrscher nicht intendierte Konsequenzen, indem sie in aller Regel
die normative Grundlage des Regimes weiter erodiert und die freiwillige Unter-
st€
utzung durch die Bevölkerung schmälert. Dies macht Diktaturen verwundbarer als
Demokratien, die viel stärker auf freiwillige Unterst€utzung setzen und staatliche
Repression einer strengen Regulierung rechtsstaatlicher Prinzipien unterwerfen.
Die Input-Funktionen bilden nur eines von drei Funktionsb€undeln innerhalb des
politischen Systems. Das zweite B€undel sind die Throughput-Funktionen, die sich

uber vier ineinandergreifende Prozessfunktionen erfassen lassen: Interessenartikula-
tion, Interessenaggregation, Politikformulierung (policy-making) sowie Politikim-
plementierung und mögliche verfassungsrechtliche Normenkontrolle oder
verwaltungsgerichtliche Überpr€ufung staatlicher Maßnahmen (implementation and
adjudication). Gest€utzt werden diese zentralen Prozessfunktionen von den €uber-
geordneten Systemfunktionen der Sozialisierung, Elitenrekrutierung und gesell-
schaftlichen Kommunikation, die erheblichen Einfluss auf die Effizienz, Transpa-
renz, Legitimität und damit die Stabilität des politischen Systems haben. An der
unterschiedlichen institutionellen wie organisatorischen Ausformung der Prozess-
und Systemfunktionen lassen sich autokratische von demokratischen Systemen
unterscheiden. Selbst wenn die gleichen Strukturen wie Parteien, Parlamente, Regie-
rungen und Gerichte in diktatorischen und demokratischen Systemen existieren,
operieren sie nach unterschiedlichen Codes. Der demokratische Code ist viel stärker
am Prinzip individueller Freiheit und der Idee der Selbstregierung orientiert als die
autokratischen Codes, die stärker unter der Kuratel der Herrschaftskontrolle und
rituellen Partizipation operieren. In Demokratien sind die Herrschaftsadressaten
auch Herrschaftsautoren, indem sie selbst oder ihre gewählten Repräsentanten die
Normen formulieren, die die Gesellschaft freier B€urger regulieren. In Diktaturen
fallen Herrschaftsadressaten und Herrschaftsautoren auseinander. Den Herrschafts-
unterworfenen wird die Mitwirkung bei der Gesetzgebung und damit der Status von
B€urgern weitgehend versagt.
Aus dem Zusammenspiel der Prozessfunktionen geht der output des politischen
Systems hervor. Laut Easton (1965, S. 57) besteht er in der „autoritativen Allokation

1
Diktatur wird hier als Synonym von Autokratie verwandt, während autoritäre wie totalitäre
Regime als Subtypen von Autokratien verstanden werden.
108 W. Merkel

von G€ utern und Werten“, das heißt hoheitlich durchgesetzten politischen Entschei-
dungen wie Gesetzen, Erlassen und Verordnungen. Diese vielfältigen Entscheidun-
gen lassen sich mit Almond und Powell (1988, S. 121 ff.) zu den drei fundamentalen
(policy-)Funktionen extraction, regulation und distribution zusammenfassen. Extra-
ction bezieht sich auf die Fähigkeit des politischen Systems, die notwendigen
materiellen Ressourcen aus der Gesellschaft zu ziehen, die es zur Bewältigung seiner
Aufgaben benötigt. Sie erfolgt in erster Linie €uber die Erhebung von Steuern.
Regulation hingegen meint die Regelung des Verhaltens der B€urger in Hinblick
auf die Beziehungen untereinander und ihr Verhältnis zu den politischen Institutio-
nen. Distribution schließlich bezeichnet die Verteilung von materiellen G€utern,
Dienstleistungen, Status und Lebenschancen innerhalb einer Gesellschaft. Es ist
empirisch keineswegs entschieden, ob hier Diktaturen oder Demokratien leistungs-
fähiger sind. China und Singapur auf der einen und etwa Argentinien oder Griechen-
land auf der anderen Seite sind nur wenige Beispiele, bei denen Demokratien weit
schlechter abschneiden als autokratische Systeme. Insbesondere in den letzten drei
Jahrzehnten haben sich unter den Demokratien zwei typische Schwächen offenbart.
Unter den demokratischen Wettbewerbsbedingungen und den gewachsenen Staats-
aufgaben gelingt es den meisten Demokratien immer weniger, hinreichend und fair
Steuern aus der Gesellschaft zu ziehen. Gleichzeitig haben sie sich mit der Deregu-
lierung der Märkte selbst wichtiger Regulierungsmöglichkeiten beraubt, um das
zentrale demokratische Prinzip der politischen Gleichheit nicht nur de jure, sondern
auch de facto zu garantieren. Die Folgen sind f€ur die Demokratie problematisch. Sie
f€uhren zum Abbau sozialer Schutzgarantien, der mangelnden Produktion kollektiver
G€uter und wachsender Staatsverschuldung (Streeck 2013). Gleichzeitig vermögen
die demokratischen Regierungen kaum mehr, die wachsende sozioökonomische
Ungleichheit zu bremsen (Piketty 2014) und ihre Übersetzung in politische Un-
gleichheit zu verhindern (Merkel 2015).
Output (bindende Entscheidungen, häufig Gesetze) bzw. outcome (die materiellen
Politikergebnisse) und input sind durch einen R€uckkopplungsmechanismus mitein-
ander verbunden. Kommt es aufgrund von Funktionskrisen in der Wirtschaft oder im
politischen System zu einem f€ur weite Teile der Bevölkerung unbefriedigenden
output bzw. outcome, nimmt daher fr€uher oder später auch der notwendige input
an systemstabilisierender aktiver Unterst€utzung und passiver Loyalität ab. Dabei
muss nach Easton (1979, S. 267 ff.) stets zwischen diffuser und spezifischer Unter-
st€utzung unterschieden werden. Die „spezifische Unterst€utzung“ reagiert unmittel-
bar auf die von der Bevölkerung wahrgenommenen Leistungen des politischen
Systems und seiner Herrschaftsträger. Die „diffuse Unterst€utzung“ bezieht sich
stattdessen auf die Fundamente der politischen Ordnung und spiegelt ihre grund-
sätzliche Anerkennung und Legitimität in der Bevölkerung wider.
Schwächen der diffusen oder spezifischen Legitimitätsquelle können in der Regel
f€ur eine gewisse Zeit untereinander kompensiert werden. So kann eine verminderte
Leistungsperformanz des politischen Systems unter Umständen durch die grund-
sätzliche Akzeptanz seiner Normen, Strukturen und Verfahren seitens der B€urger
ausgeglichen werden. Umgekehrt kann aber auch ein Mangel an diffuser Unter-
st€utzung zeitweise durch eine gute Leistungsbilanz des politischen Systems
Systemwandel und -wechsel in der Vergleichenden Politikwissenschaft 109

kompensiert werden. Mangelt es dem politischen System hingegen chronisch an


spezifischer und diffuser Unterst€utzung, kann es seine Funktionen in der Regel nicht
mehr ausreichend erf€ullen und wird instabil.
Wegen ihrer inneren Konstruktion und höheren Fähigkeit, systemrelevante Infor-
mationen zu prozessieren und Unterst€utzung in der Bevölkerung zu mobilisieren,
sind Demokratien längerfristig stabiler als Autokratien. Dies gilt zumindest, wenn
Demokratien sich einmal konsolidiert und ein gehobenes sozioökonomisches Ent-
wicklungsniveau erreicht haben (Przeworski et al. 1996, S. 39 ff.). Denn anders als
autokratische Systeme haben Demokratien einen Feedback-Mechanismus institutio-
nalisiert, der sie zu kontinuierlichen Lernprozessen zwingt. Demokratisch gewählte
Regierungen, die von den Wählern geforderte G€uter wie innere und äußere Sicher-
heit, wirtschaftliche Prosperität, soziale Sicherheit oder gesellschaftliche Integration
nicht in ausreichendem Maße produzieren, laufen Gefahr, abgewählt zu werden.
Dies zwingt die amtierenden Regierungen, sich immer wieder an geänderte Umwelt-
bedingungen anzupassen und neue Lösungsansätze zu entwickeln. Mit den Wahlen
und der Möglichkeit der Abwahl ist somit ein Konkurrenzmechanismus im politi-
schen System installiert, der den regierenden Eliten systemrelevante Informationen
liefert und zur Flexibilität, Adaption und Innovation zwingt. Wahlen sind ein
sensibles Fr€ uhwarnsystem f€ur die Regierenden, sich mit ihrer Politik nicht zu weit
von den W€ unschen der Regierten zu entfernen.
Da traditionale Autokratien €uber keinen vergleichbar effektiven R€uck-
kopplungsmechanismus zur Gesellschaft verf€ugen, verlieren sie die Fähigkeit,
die Selbstgefährdung des politischen Systems €uberhaupt zu erkennen. Geheimdiens-
te, wie monströs sie auch ausgebaut sein mögen, können das Meldesystem freier
Wahlen nicht ersetzen. Wenn aber Wahlen abgeschafft und auch die letzten Reste
von Systemopposition liquidiert oder mundtot gemacht sind, wie in der Sowjetunion
Josef Stalins nach 1929 oder im nationalsozialistischen Deutschland nach 1934,
wird die systemische Lernträgheit zur Lernunfähigkeit. Ob das gegenwärtige poli-
tische System Chinas mit der Kombination aus wirtschaftlichen Freiheiten und
staatlicher Regulierung, Manchesterkapitalismus und postkommunistischem Ein-
parteienregime, intelligenter Repression und digitaler Kontrolle und kommunalen
Wahlen eine Rezeptur neoautokratischer Herrschaftssicherung im 21. Jahrhundert
gefunden hat, bleibt skeptisch abzuwarten.

4 Die Transformation politischer Systeme

Politische Systeme erweisen sich dann als beständig und stabil, wenn es ihnen
gelingt, den Herausforderungen ihrer vielfältigen Umwelten wie Wirtschaft, Gesell-
schaft, Natur, aber auch der internationalen Staatenwelt produktiv zu begegnen. Die
Stabilität politischer Systeme ist deshalb stets als eine dynamische Gestaltung dieser
Umwelten zu betrachten. Nicht die statische Bewahrung des Status quo, sondern
seine beständige Veränderung erlauben ein Äquilibrium politischer Systeme
(Sandschneider 1995). Dies ist dann als Systemwandel zu bezeichnen, wenn die
normativen Kernprinzipien gewahrt bleiben, während sich Organisationen,
110 W. Merkel

Institutionen und Verfahren ändern, um die geforderten Systemleistungen weiter zu


erbringen. Was aber treibt den Wandel politischer Systeme so weit, dass sie ihren
definierenden Kern verlieren und zu einem anderen Typus von politischem
System wechseln? Wann werden Diktaturen zu Demokratien und Demokratien zu
Diktaturen, wann kommt es zu einem Systemwechsel?
Die theorieorientierte Transformationsforschung lässt sich bis in die f€unfziger-
und sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts zur€uckf€uhren, als insbesondere
makrosoziologisch-funktionalistische oder makrosoziologisch-strukturalistische
Konzepte die Theoriebildung prägten. In den achtziger Jahren und zu Beginn der
neunziger Jahre schoben sich zunehmend mikropolitologisch-akteurstheoretische
Überlegungen in den Vordergrund und wurden zur dominierenden konzeptionellen
Referenz der empirischen Transformationsforschung. Diese Theorien sollen hier in
ihren wichtigsten Aspekten vorgestellt und dann in einer holistischen Theoriesyn-
these zusammengef€uhrt werden (vgl. u. a.: Merkel 2010; Merkel und Thiery 2010;
Kollmorgen et al. 2015).

4.1 System- und Modernisierungstheorien

Als einflussreichster Strang der systemorientierten Ansätze hat sich in der Trans-
formationsforschung die Modernisierungstheorie erwiesen. Ihr Kernsatz lautet: Je
entwickelter Wirtschaft und Gesellschaft eines Landes sind, umso größer sind die
Chancen, dass sich eine dauerhafte Demokratie herausbildet (Lipset 1981). Dieser
enge Zusammenhang zwischen der sozioökonomischen Entwicklungsstufe und der
Demokratiefähigkeit einer Gesellschaft lässt sich anhand eindrucksvoller statisti-
scher Bestätigungen nicht mehr von der Hand weisen.2 Das heißt, je entwickelter ein
Land wirtschaftlich ist, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass dort eine
Diktatur existiert oder längerfristig Bestand haben kann. Umgekehrt bedeutet es: Je
reicher ein Land ist, umso wahrscheinlicher ist es, dass das politische System
demokratisch ist und als Demokratie Bestand haben wird (vgl. auch: Schmidt
2006, S. 441).
Hinter den Korrelationen verbirgt sich jedoch auch ein kausaler Zusammenhang,
der sich verk€
urzt folgendermaßen darstellen lässt: Wirtschaftliche Entwicklung f€uhrt
zu einem ansteigenden Bildungsniveau und zu einer demokratischeren politischen
Kultur. Die B€urger entwickeln tolerantere, gemäßigtere und rationalere Einstellun-
gen, Verhaltensweisen und Werte, die zu einer rationaleren und gemäßigteren Politik
der Regierenden gegen€uber oppositionellen Tendenzen f€uhren. Die durch den Bil-
dungsanstieg gewachsene Tendenz zur politischen Mäßigung wird durch den Wan-
del der Klassen- und Sozialstruktur verstärkt. Denn ein höheres Einkommen großer
Teile der Bevölkerung und die Ausdehnung wirtschaftlicher Existenzsicherung
schwächen den ökonomischen Verteilungskonflikt ab (Lipset 1981, S. 39–51).

2
Vgl. u. a.: Cutright (1963); Dahl (1971); Vanhanen (1984, 1989); Lipset et al. (1993); Boix und
Stokes (2003); Welzel 2013.
Systemwandel und -wechsel in der Vergleichenden Politikwissenschaft 111

Gestiegener gesellschaftlicher Wohlstand vermindert extreme ökonomische Un-


gleichheit, mildert Standes-, Klassen- und Statusunterschiede, mäßigt den politi-
schen Extremismus der unteren wie der oberen Schichten und stärkt die Mittel-
schicht, die nach demokratischer Mitsprache verlangt.
Modernisierungstheoretische Ansätze können gute Argumente und €uberzeugende
statistische Einsichten daf€ur aufbieten, dass längerfristig die marktwirtschaftliche
Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft eine fundamentale Voraussetzung
f€
ur die Entwicklung der Demokratie ist. Ein neuerer Strang der modernisierungs-
theoretischen Demokratieforschung (Przeworski et al. 2000) modifiziert allerdings
die klassische These von Lipset. Er argumentiert, dass Modernisierung zwar nicht
die Demokratie hervorbringt, aber dass einmal demokratisierte Regime, die €uber
eine bestimmte sozioökonomische Entwicklung verf€ugen, sich rasch konsolidieren
und nicht mehr in autokratische Herrschaft zur€uckfallen.
Diesen wichtigen Einsichten stehen allerdings auch un€ubersehbare Mängel der
klassischen Modernisierungstheorie gegen€uber: Erstens vermag sie den Moder-
nisierungsstand, bei dem der Übergang zur Demokratie beginnt, nur unzureichend
anzugeben. Zweitens vermag sie nicht, die Einleitung und die Ursachen von Demo-
kratisierungsprozessen in unterentwickelten Gesellschaften zu erklären. Drittens
liefert sie keine Erklärung f€ur den Zusammenbruch demokratischer Systeme in
sozioökonomisch relativ hoch entwickelten Gesellschaften (z. B. Deutschland und
Österreich in der Zwischenkriegszeit; Argentinien, Chile und Uruguay in den
1970er-Jahren oder Venezuela und Russland nach 2000). Schließlich kann die
Modernisierungstheorie auch keine fundierten Angaben €uber demokratiefördernde
oder demokratiehinderliche kulturelle, geopolitische und religiöse Kontexte machen.
Sie kann nicht erklären, warum Saudi Arabien,3 die Arabischen Emirate oder
Singapur trotz hoher ökonomischer Entwicklung autokratisch regiert werden.
Vertraut man zu Recht nicht monokausalen Ansätzen, wird man die ökonomisch
determinierte Sichtweise der Modernisierungstheorie ergänzen m€ussen. Daf€ur
bieten sich Struktur-, Akteurs- und Kulturansätze der Transformationsforschung an
(Merkel 2010).

4.2 Strukturtheorien

Die strukturalistische Transformationsforschung betont die sozialen und machtstruk-


turellen Zwänge, denen politische Transformationsprozesse unterliegen. Der Erfolg
oder Misserfolg von Demokratisierungsprozessen wird als Resultat langfristiger
Verschiebungen in den Klassen- und Machtstrukturen einer Gesellschaft angesehen.

3
In Saudi Arabien ist es allerdings nicht nur der demokratiefeindliche Wahabismus eines traditio-
nellen Islams, der die Demokratie verhindert; auch die wirtschaftliche Monostruktur des Erdölexp-
orts ist der Demokratisierung nicht zuträglich (Smith 2004).
112 W. Merkel

Entgegen den Annahmen der klassischen Modernisierungstheorie wird betont, dass


mehrere Pfade zur Modernisierung einer Gesellschaft f€uhren können.
Insbesondere f€ur den neomarxistischen Strukturalismus (klassisch: Moore 1969)
erscheint Demokratie nicht als zwangsläufiges, sondern nur als mögliches Ergebnis
von Veränderungen des Verhältnisses zwischen den sozialen Klassen und der Durch-
setzung ihrer Interessen. Von Moore inspiriert sehen Rueschemeyer et al. (1992)
vor allem zwei Variablen, die die Demokratisierung autokratischer Regime
ermöglichen: (1) Klassenstrukturen und -koalitionen: Kapitalistische Entwicklung
fördere die Demokratie, da sie zum Entstehen und Anwachsen von Arbeiterschaft
und Mittelschichten f€uhre. Doch nur wenn die Klasse der Großgrundbesitzer nicht
mehr die dominierende wirtschaftliche und politische Kraft darstelle, weder den
Staatsapparat kontrolliere noch wirtschaftlich auf den kontinuierlichen Zustrom
billiger Arbeitskräfte angewiesen sei, wird Demokratie möglich. Strukturalisten
sehen als demokratietreibende Klasse die Arbeiter und nicht die Mittelschicht wie
etwa die Modernisierungstheorie (ebd.: 282). (2) Machtverhältnis zwischen Staat
und Zivilgesellschaft: Je mehr Ressourcen die Staatseliten unabhängig von den
wirtschaftlichen Eliten kontrollieren und je mächtiger sie einen ideologisch geeinten
und hierarchisch integrierten Staatsapparat formieren, umso stärker sind Autonomie
und Eigeninteresse des Staates und desto wahrscheinlicher ist die Herausbildung
eines autoritären Regimes. Besondere Bedeutung hat die interne Organisation des
staatlichen Gewaltmonopols. Hier stellt sich vor allem die Frage, ob Sicherheits-
organe (Militär, Polizei, Geheimdienste) ziviler Kontrolle unterliegen oder als „Staat
im Staate“ agieren. Im letzteren Fall sind sie mächtige Vetoakteure gegen die
Demokratie. Sind in der Zivilgesellschaft dagegen autonome Organisationen
wie Parteien und Verbände entstanden und bilden ein Gegengewicht zum Staat
(ebd.: 275 ff.), dann erhöhen sich die Chancen einer erfolgreichen Demokratisierung
des politischen Systems. Es kommt also auf eine gewisse Machtbalance zwischen
Staat und Zivilgesellschaft an.
In j€
ungerer Zeit haben sich strukturalistische Macht- und Klassentheorien weiter-
entwickelt und mit dem Historischen Institutionalismus (Thelen 1999; Mahoney
2000, 2001; Capoccia und Kelemen 2007) eine institutionalistische Wendung er-
fahren. Sie heben die Wirkung von institutionellen Erblasten der Vergangenheit auf
pfadabhängige Entwicklungen in der Zukunft hervor. Strukturalistische Erklärungs-
ansätze brechen den ökonomisch determinierten Demokratisierungsoptimismus der
Modernisierungstheorien. Indem sie auf die Machtbeziehungen zwischen den sozia-
len Klassen und dieser zum Staat hinweisen, vermögen sie soziale und politische
Machtkonstellationen in Hinblick auf ihre Demokratisierungschancen genauer zu
deuten. Trotz dieser Einsichten in die Machtstrukturen von Staat und Gesellschaft
wird die Komplexität der Interessenlagen innerhalb sozialer Großklassen von den
strukturalistischen Ansätzen unterschätzt. Denn soziale Klassen sind nicht automa-
tisch kollektive Akteure, wie von manchen strukturalistischen Autoren unterstellt.
F€ur die Entfaltungschancen von Demokratisierungsprozessen werden weder das
strategische Handeln von Eliten noch die kulturelle Einbettung von Demokratisie-
rungschancen angemessen ber€ucksichtigt.
Systemwandel und -wechsel in der Vergleichenden Politikwissenschaft 113

4.3 Kulturtheorien

Religiös-kulturelle Faktoren, ihre Wirkung auf die Entwicklung des Kapitalismus


und bestimmter Staatsformen wurden schon von Max Weber betont. Die protestan-
tische Ethik habe die Durchsetzung des Kapitalismus in Nord-Westeuropa und
Nordamerika wesentlich beg€unstigt. Doch erst in j€ungerer Zeit hat die Frage nach
den kulturell-religiösen und zivilkulturellen Voraussetzungen verstärkt Eingang in
die Transformationsforschung gefunden. F€ur die Analyse der Voraussetzungen und
Hindernisse erfolgreicher Demokratisierung sind tief verwurzelte religiös-kulturelle
Traditionsbestände deshalb von Bedeutung, weil sie sich, anders als politische
Institutionen und selbst Klassenbeziehungen, einer kurzfristigen intendierten Ver-
änderung entziehen (Lipset 1994). Fundamentalistische religiöse Kulturen behin-
dern die Verbreitung demokratiest€utzender Normen und Verhaltensweisen in der
Gesellschaft. Sie versagen den demokratischen Institutionen die eigenständige Legi-
timität. Religiös-kulturelle Faktoren wirken dann als Hindernisse f€ur die Demokra-
tisierung einer Gesellschaft, wenn sie den Vorrang irreversiblen göttlichen „Rechts“
€uber die demokratisch konstituierte rechtstaatliche Ordnung reklamieren. Dies ist zu
Beginn des 21. Jahrhunderts insbesondere in den fundamentalistischen Varianten des
Islams der Fall. Traditionale Interpretationen des Islams weisen Frauen zudem eine
Rolle in Staat und Gesellschaft zu, die mit dem politischen Gleichheitsprinzip der
Demokratie nicht zu vereinbaren ist.
Allerdings ist die absolute Trennung von Staat und Religion keine unabdingbare
Voraussetzung f€ ur eine funktionierende Demokratie. Je mehr die Religionsträger
jedoch glauben, gegen rechtsstaatlich und demokratisch zustande gekommene Ent-
scheidungen ein religiös fundiertes Widerstandsrecht reklamieren zu können, umso
mehr m€ ussen sie als Störfaktoren der Demokratie bezeichnet werden. Je stärker
Religionen auf eine höhere Richterrolle gegen€uber menschlich-demokratischen Ent-
scheidungen pochen, umso größere Hindernisse stellen sie f€ur die Demokratisierung
von Staat und Gesellschaft dar (Merkel 2010, S. 82 f.).
Neben den religiösen Kulturen spielen gesellschaftliche Werte, soziale Traditio-
nen und die historischen Erfahrungen gemeinschaftlicher Kooperation eine wichtige
Rolle. Denn demokratische Institutionen sind instabil und nicht ausreichend „insti-
tutionalisiert“, wenn ihnen die angemessene gesellschaftliche Unterf€utterung durch
eine demokratiefreundliche Zivilkultur fehlt. Während Verfassungen, politische
Institutionen, Parteien und Verbände auch in kurzen Fristen konstruiert, gegr€undet
und organisiert werden können, lassen sich demokratiest€utzende Werte und Ver-
haltensweisen der Gesellschaft nicht am Reißbrett von Sozialingenieuren entwerfen.
Sie m€ ussen vielmehr in langfristigem zivilgesellschaftlichen Engagement gelernt,
habitualisiert und historisch als „soziales Kapital“ akkumuliert werden (Putnam
1993). Wenn aber informelle Normen gemeinschaftlicher Reziprozität und wechsel-
seitigen Vertrauens, wenn b€urgerliches Engagement und zivile Selbstorganisation
die soziale Kommunikation einer Gesellschaft geprägt haben, zivilisiert diese die
Formen staatlicher Herrschaft und unterf€uttert die politischen Institutionen der
Demokratie mit einer belastbaren B€urgerkultur. So wie die gesellschaftlichen
114 W. Merkel

Institutionen die politischen Institutionen der Demokratie stärken, können jene


helfen, diese zu erzeugen. Während Ersteres jedoch ein kurzfristiger Prozess ist,
muss bei Letzterem mit längeren Zeiträumen gerechnet werden.

4.4 Akteurstheorien

Im Unterschied zu sozioökonomischen, machtstrukturellen und kulturalistischen


Ansätzen setzen Akteurstheorien auf der Mikroebene der handelnden Akteure
an. Der Ausgang von Transformationsprozessen sei deshalb weniger von objektiven
Umständen (Strukturen) oder Machtkonstellationen abhängig als vielmehr von den
subjektiven Einschätzungen, Strategien und Handlungen der relevanten Akteure
(Przeworski 1986, 1991; Colomer 1991). Sie prägen die Entscheidungen, die wech-
selnden Allianzen, Prozesse und Verlaufsmuster der Transformation. Akteurshan-
deln wird dabei primär als Elitenhandeln verstanden. Massenbeteiligung ist nur ein
kurzfristiges, vor€
ubergehendes Phänomen zu Beginn der Transition, wenn etwa
Massenproteste wie 1986 auf den Philippinen, 1989 in Osteuropa oder im kurzen
Arabischen Fr€ uhling 2012 die autoritären Regime kollabieren lassen.4 Sozioökono-
mische Strukturen, politische Institutionen, internationale Einfl€usse und historische
Erfahrungen bilden lediglich den Handlungskorridor, innerhalb dessen demokratisch
oder autokratisch gesinnte Eliten ihre politischen Ziele verfolgen.
Transformationsphasen sind Momente politischer Ungewissheit. Die genauen
Machtverhältnisse sind den Akteuren meist unbekannt. Politische Spielregeln und
Strategien verändern sich ständig. Demokratisierung bedeutet daher die Umwand-
lung dieser politisch-institutionellen „Ungewissheiten“ in „Gewissheiten“, indem
häufig Pakte zwischen den relevanten Akteuren geschlossen werden. In ihnen
werden die Demokratisierungsinhalte und -grenzen definiert. Dies gilt insbesondere
hinsichtlich der Festschreibung allgemeiner b€urgerlicher Rechte und Freiheiten
sowie der Ausweitung von politischer Partizipation. Pakte sind dann am wahr-
scheinlichsten, wenn weder die autoritären noch die oppositionellen Eliten €uber
die Macht verf€ ugen, einseitig ihre Interessen durchsetzen zu können. In jedem Fall
beeinflussen in dieser Phase das situationsgebundene Handeln oder Nichthandeln
der relevanten Akteure den weiteren Demokratisierungsverlauf stärker als langfristig
wirkende sozioökonomische Modernisierungsprozesse.
Der akteurstheoretische Rational-choice-Ansatz lehnt die Beschreibung der Ak-
teure allein nach ihren Interessen und Strategien als nicht ausreichend ab (Przewor-
ski 1986, S. 52 ff.). Die Liberalisierung des autokratischen Systems wird vielmehr

4
Der Regimekollaps der Sowjetunion oder die Ereignisse des Arabischen „Fr€
uhlings“ zeigen, dass
der Sturz autokratischer Regime keineswegs zu Demokratien f€uhren muss, sondern nicht selten in
andere Formen diktatorischer Herrschaft f€
uhren kann.
Systemwandel und -wechsel in der Vergleichenden Politikwissenschaft 115

als Abfolge wechselnder strategischer Situationen gesehen. Jede von ihnen ist ge-
kennzeichnet durch die Konfiguration bestimmter politischer Kräfte mit unterschied-
lichen Interessen, die unter Bedingungen handeln, die wiederum Resultate vor-
hergehender Aktionen sind (ebd.). Veränderungen von einer Situation zur nächsten
sind das Ergebnis von Handlungen, an deren Ende Demokratie als kontingentes
Ergebnis stehen kann (Przeworski 1988, S. 60 f., 1992, S. 106), aber nicht stehen
muss.
Der Vorteil handlungstheoretischer Betrachtungen liegt zweifellos in ihrem
Potenzial, auch bei häufig wechselnden Akteurskonstellationen die Erfolgsmöglich-
keiten und Gefährdungen von Demokratisierungsverläufen modellieren zu können.
Mit spieltheoretischen Modellen können so die rationalen Kalk€ule, Koope-
rationen, Koalitionen, aber auch Konflikte der beteiligten Akteure bisweilen
einsichtiger herausgearbeitet und erklärt werden, als dies allein €uber eine „dichte
Beschreibung“ (Geertz) der historischen Ereignisse möglich wäre. Insofern
besitzen die dem „Rational-choice-Paradigma“ verpflichteten Akteurstheorien
nicht nur ein Erklärungs-, sondern auch ein Prognosepotenzial (vgl. Przeworski
1986; Colomer 1991).
Die vier Transformationstheorien haben ihre jeweiligen Stärken und Schwächen.
Erstere lassen sich ausbauen, wenn die Theorien synthetisch verkn€upft werden.
Indem Wirtschaft, Macht und Kultur als wichtige Opportunitätsstrukturen transfor-
matorischen Handelns begriffen werden, werden nicht nur Teilaspekte einer Sys-
temtransformation, sondern diese als Ganzes erklärbar.
Die Theorien wurden mit unterschiedlichem Erfolg auf die dritte Demokratisie-
rungswelle im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts angewendet. Die Akteurs- und
Handlungstheorien €uberwogen bei der Erklärung der erfolgreichen Transformations-
prozesse von kapitalistischen Diktaturen zu kapitalistischen Demokratien in S€ud-
europa (1970er-Jahre) und Lateinamerika (1980er-Jahre). Beim Übergang von
kommunistischen Autokratien zu kapitalistischen Demokratien kamen wieder ver-
stärkt systemtheoretische Erklärungen ins Spiel, die die Komplexität von ganzen
ökonomischen und politischen Systemen sowie ihre potenziell wechselseitig ob-
struktiven Interdependenzen in die Erklärung von Erfolg und Scheitern der ost-
europäischen Transformationen mit einbezogen. Nicht selten wurden sie dabei mit
Rational-choice-Ansätzen kombiniert (Offe 1994; Merkel 2007). Bei den nur mäßig
erfolgreichen Demokratisierungsprozessen im subsaharischen Afrika spielte die
mangelnde Staatlichkeit der Länder eine wichtige Erklärungsrolle. F€ur das weitge-
hende Scheitern des sogenannten Arabischen Fr€uhlings – ein Beispiel f€ur eine
misslungene Metapher – in Nordafrika und im Nahen Osten wurde das Paradigma
des curse of oil oder der radikalisierten Islamisierung der Länder verantwortlich
gemacht. Der Beitrag des Westens (USA, NATO, Frankreich und Großbritannien)
zur Verhinderung nachhaltiger Demokratisierung durch die Zerstörung der Staatlich-
keit in Afghanistan, Irak, Syrien und Libyen wird noch zu wenig in die Erklärungs-
muster mit einbezogen.
Nach dem Auslaufen der langen dritten Demokratisierungswelle Mitte der
1990er-Jahre lassen sich in der Regime- und Transformationsforschung mindestens
zwei neue Stränge erkennen:
116 W. Merkel

– Die Autokratieforschung, insbesondere die Forschung zum electoral authorita-


rianism und
– die Debatte, ob seit der Jahrtausendwende eine autokratische Gegenwelle zu
erkennen sei.

Diese zwei Forschungs- und Debattenstränge sollen hier in der gebotenen Knapp-
heit kurz skizziert werden.

5 Die neue Autoritarismus-Forschung

Seit Barbara Geddes’ Studie von 1999 wird in der j€ungeren Autokratieforschung
angenommen, dass diktatorische Regime des R€uckhalts in wichtigen politischen und
gesellschaftlichen Gruppen, Institutionen und Aktueren bed€urfen. Ohne diese Insti-
tutionen werden sie weder effizient regieren noch sich dauerhaft an der Macht halten.
Die Einbindung solcher Unterst€utzungseliten birgt gleichermaßen Risiken und Vor-
teile. Zum einen werden potenzielle Opponenten in die Struktur des autokratischen
Regimes eingebunden, zum anderen bieten die Einbindungsmechanismen aber
tatsächlichen Regimegegnern Ressourcen und Plattformen, die sie gegen die dikta-
torische Herrschaft nutzen können.
Trotz dieses Dilemmas betonen Gandhi und Przeworski einseitig den Nutzen von
Institutionen f€ur das (politische) Überleben autokratischer Herrscher (Gandhi und
Przeworski 2006, S. 21). Insbesondere Parteien, Wahlen und Parlamente werden
daf€ur in der neueren Autoritarismus-Forschung genannt (Schedler 2006; Boix und
Svolik 2008). Diese Institutionen erhöhen in der Tat die Transparenz der Macht-
teilung und entschärfen dadurch das Risiko des offenen Ausstiegs relevanter autori-
tärer Faktionen aus der Regimekoalition (moral hazard). Sie stellen zudem Regeln
zur Verhinderung oder zur Beilegung von Disputen unter den autokratischen Eliten
bereit (Brownlee 2007; Magaloni 2008). Dar€uber hinaus binden sie relevante
Gruppen dauerhaft an das Regime, indem sie die Verteilung materieller und imma-
terieller Vorteile zwischen den Regiemunterst€utzern regeln (Greene 2007).
Formelle Institutionen in autokratischen Regimen dienen der Konfliktregulierung
innerhalb der autokratischen Herrschaftseliten sowie der Kooptation von Akteuren,
die €
uber strategisch wichtige Ressourcen verf€ugen. So lautet das Hauptargument der
Rational-choice-Forscher. Allerdings verengt sich die Analyse damit im Wesent-
lichen auf Eliten. Das ist der analytische Preis, den diese in der Autokratieforschung
populäre spieltheoretische Variante des Neoinstitutionalismus unweigerlich zu
zahlen hat.
Nicht zuletzt aufgrund der Dominanz des Rational-choice-Paradigmas wurde das
viel komplexere Wechselspiel zwischen Parteien, Parlamenten und Wahlen mit ihren
wechselseitigen Stärkungen und Schwächungen f€ur autokratische Regime bisher
noch nicht hinreichend untersucht. Insbesondere die ambivalente Wirkung semi-
kompetitiver Wahlen und der Zutritt oppositioneller Gruppen zum Parlament wird
von den elitenzentrierten Rational-choice-Ansätzen analytisch abgedunkelt
(Gerschewski et al. 2013). Es gibt sowohl theoretische (Ressourcentheorie der
Systemwandel und -wechsel in der Vergleichenden Politikwissenschaft 117

Mobilisierung) wie empirische Hinweise (subsaharisches Afrika), dass die Institu-


tionen des elektoralen Autoritarismus den oppositionellen Gruppen Ressourcen
bereitstellen, die die systemstabilisierenden Effekte der Rationalisierung regime-
interner Elitenkonflikte €ubertreffen. Die Risiken massenhafter Protestmobilisierung
mit Hilfe von semi-kompetitiven Wahlen, oppositionellen Parteien und Parlamenten
wurde bisher zu wenig in die systemische Gesamtbeurteilung einbezogen.
Einen anderen Weg geht das „Drei-Säulen-Modell“ autokratischer Herrschaft
(Merkel et al. 2016; Gerschewski et al. 2013). Legitimation, Repression und Koop-
tation sind die drei interdependenten Säulen, die nach diesem Modell die diktato-
rische Herrschaft abst€utzen. Die ideologische Legitimationsschwäche eines auto-
kratischen Regimes kann beispielsweise durch eine bessere wirtschaftspolitische
Bilanz, intensivere Repression oder eine verbesserte Kooptation von Eliten kompen-
siert werden. Die empirischen Untersuchungen aus diesem Projekt zeigen zudem,
dass es vor allem eine systematische weiche Repression ist (Studien- und Berufs-
verbote, Pressezensur, Papierzuteilungen f€ur Zeitungen, Prozesse gegen regime-
feindliche Oligarchen,Verbot von (ausländischen) NGOs), die autokratische Herr-
schaft stabilisiert. Kooptationspolitik und grobe Menschenrechtsverletzungen
erscheinen längerfristig zu teuer und mit zu vielen nicht intendierten Effekten be-
haftet, um Diktaturen nachhaltig zu stabilisieren.
Insgesamt erweist sich, dass im 21. Jahrhundert, von anachronistischen Aus-
nahmefällen wie Nordkorea abgesehen, die autokratische Herrschaft subtiler gewor-
den ist und sich auf die neuen globalen Informationskontexte und die Minimalia
internationaler Anerkennung eingestellt hat. Die Lern- und Überlebensfähigkeit
diktatorischer Regime hat seit Ende des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrhunderts
zu einer erneuten Debatte um den Systemwettlauf politischer Regime gef€uhrt.

6 Ende des Systemwettlaufs?

Als 1989 die kommunistischen Regime Osteuropas zu implodieren begannen, in


Lateinamerika Militärregime abdankten, in Asien sich autoritäre Modernisierungs-
regime wandelten und selbst Afrika von der Demokratisierungswelle nicht verschont
undete Francis Fukuyama (1992) das „Ende der Geschichte“. Kapitalis-
blieb, verk€
mus und Demokratie hatten den Wettlauf der Systeme gewonnen. F€ur Fukuyama
konnte es deshalb nur eine Frage der Zeit sein, bis sich die siegreiche Idee des
Liberalismus in realen marktwirtschaftlichen Demokratien global manifestieren
w€urde. Knapp zwei Dekaden danach war der Optimismus verflogen. Es verdichteten
sich die pessimistischen Diagnosen und Prognosen. Im Jahr 2008 €uberschrieb
Freedom House seinen jährlichen Report „Freedom in Retreat: Is the Tide Turning?“
(Puddington 2008). Larry Diamond (2008) diagnostizierte einen weltweiten „roll-
back“ autoritärer Regime, während der Historiker Azar Gat (2007) die „R€uckkehr
der autoritären Großmächte“ beschrieb. Tatsächlich ist die lange dritte Welle der
Demokratisierung ausgelaufen. Freedom House klassifizierte 2014 zwar 88 Staaten
(45 %) als „frei“, aber immer noch waren 58 Länder (30 %) nur „teilweise frei“ und
48 wurden als „unfrei“ eingestuft (freedomhouse.org, besucht am 06.04.2015).
118 W. Merkel

Gleichzeitig sah es weltweit die demokratischen Gehalte politischer Systeme schon


im achten aufeinanderfolgenden Jahr auf einem leichten, aber dennoch sichtbaren
R€uckzug. Dies ist nicht dramatisch, aber es macht klar, dass Fukuyamas populäre
Prognose nichts als unbegr€undete Spekulation war. Vielmehr könnten sich drei
Trends verstärken, die eher zu Konvergenzen zwischen autokratischen und demo-
kratischen Systemen als zum endg€ultigen Triumph der Demokratie f€uhren könnten:

• Die autokratischen Systeme modernisieren sich und implementieren verstärkt


semi-kompetitive Wahlen, die Diktatoren zur Abdankung zwingen können. Dar-
aus werden aber in den seltensten Fällen rechtsstaatliche Demokratien entstehen.
Es ist eher mit einer verstärkten Ausbreitung hybrider Regime zu rechnen, die
demokratische mit autokratischen Systemelementen kombinieren.
• Die autoritären Modernisierungsregime in Singapur und China entwickeln nicht
nur regionale Systembedeutung. Sie könnten zu einem Gegenmodell der liberalen
Demokratie f€ ur weniger entwickelte Länder mit geringen liberalen Traditionen
aufsteigen.
• Die etablierten Demokratien werden aufgrund der globalen Herausforderung
deregulierter Märkte einer wachsenden politischen Ungleichheit und einer
schleichenden Entmachtung der Parlamente von innen ausgehöhlt. Die kapita-
listische Globalisierung hat das Menetekel Postdemokratie an die Wand geschrie-
ben (Crouch 2004; Streeck 2013; Merkel 2015).

Wollte man alle drei Trends nun als Determinanten in die Zukunft hochrechnen,
m€usste man einen klaren Trend zu einer Konvergenz politischer Systeme prognos-
tizieren. Das wäre aber ein ähnlicher Fehler, wie er dem Geschichtsdeterminismus
Fukuyamas oder dem Ökonomismus der Modernisierungstheorie zugrunde liegt.
Tatsächlich werden diese gegenwärtig sichtbaren drei Tendenzen wiederum von
gegenläufigen Demokratisierungsforderungen herausgefordert werden. Dies gilt
nicht nur f€
ur die autoritären Regime, sondern zunehmend auch f€ur die Notwendig-
keit, die etablierten Demokratien weiter zu demokratisieren. Die normative Über-
legenheit der demokratischen Idee setzt sich keineswegs automatisch in der histori-
schen Realität durch. Der Wettlauf der politischen Systeme ist noch lange nicht zu
Ende (vgl. auch: Erdmann und Kneuer 2011).

Literatur
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Capoccia, Giovanni, und R. Daniel Kelemen. 2007. The study of critical junctures: Theory,
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Regime in der Vergleichenden
Politikwissenschaft: Autokratie und
Demokratie

Hans-Joachim Lauth

Zusammenfassung
Nach der Präzisierung der zentralen Begriffe Herrschaftsform und Regime wer-
den mit autoritären, totalitären und demokratischen Regimen drei Grundformen
politischer Herrschaftsformen erläutert. Anhand der methodischen Unterschei-
dung von regulären und verminderten Subtypen werden zentrale Subtypen von
autokratischen und demokratischen Regimen vorgestellt. Abschließend werden
bedeutsame Messanlagen der Regimemessung skizziert und diskutiert.

Schlüsselwörter
Demokratie • Diktatur • Herrschaftsformen • Subtypen von autokratischen und
demokratischen Regimen • Regimemessung

1 Zum Begriff der Herrschaftsform und des Regimes

Die Bestimmung von politischen Herrschaftsformen ist eine der ältesten Aufgaben
der Politikwissenschaft. Zahllose Studien und Untersuchungen beschäftigen sich bis
heute mit den Grundtypen von Diktatur und Demokratie und ihren Varianten. Aus
der Perspektive der politischen Philosophie ist diese Beschäftigung nicht €uber-
raschend, liegt ihr doch mit dem Topos der „Herrschaft“ eine zentrale Kategorie
des Politischen zugrunde. Neben der Aufgabe ihrer generellen Rechtfertigung stellt
sich die Frage nach der geeigneten und legitimen Form politischer Herrschaft.

H.-J. Lauth (*)


Professor f€ur Vergleichende Politikwissenschaft und Systemlehre, Institut f€
ur Politikwissenschaft
und Soziologie, Universität W€urzburg, W€ urzburg, Deutschland
E-Mail: hans-joachim.lauth@uni-wuerzburg.de

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 123


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_9
124 H.-J. Lauth

Aus der Perspektive der vergleichenden Politikwissenschaft ist die Unterscheidung


von Herrschaftsformen wichtig, um die zahlreichen politischen Systeme klassifizie-
ren zu können. Die Bestimmung einer Herrschaftsform ist zugleich die Voraussetzung,
um deren Struktur und Funktionsweise verstehen zu können. Auf dieser Grundlage
werden Stabilität und der Wandel oder auch die Leistungsfähigkeit von politischen
Herrschaftsformen untersucht.
Politische Herrschaft bezieht sich auf die Durchsetzung politischer Entscheidung
innerhalb eines abgegrenzten Herrschaftsgebietes. Die Form einer Herrschaft bein-
haltet die zentralen Aspekte der Herrschaftsaus€ubung (Umfang, Struktur und Herr-
schaftsweise) und des Herrschaftszugangs. Aus der spezifischen Konstellation dieser
Elemente einer Herrschaftsform ergeben sich unterschiedliche, f€ur die jeweilige
Herrschaftsform charakteristische Legitimationsmöglichkeiten. Max Weber unter-
scheidet drei Formen legitimer Herrschaft (traditionelle, charismatische und b€uro-
kratische Herrschaft), ohne die Unterscheidung Diktatur und Demokratie
damit explizit zu thematisieren. Als analoger Begriff zur Herrschaftsform wird in
der vergleichenden Politikwissenschaft der Begriff des Regimes verwendet, den
Wolfgang Merkel (2010, S. 63) im Anschluss an Fishman 1990 wie folgt kenn-
zeichnet: „Ein Regime definiert die Zugänge zur politischen Herrschaft ebenso
wie die Machtbeziehungen zwischen den Herrschaftseliten und das Verhältnis der
Herrschaftsträger zu den Herrschaftsunterworfenen.“ Im Folgenden werden beide
Begriffe – politische Herrschaftsform und Regime – synonym verwendet.1
Von beiden abzugrenzen ist der Begriff des Regierungssystems, der spezifische
institutionelle Muster innerhalb eines Regimetypus präzisiert. So sind beispielsweise
parlamentarische und präsidentielle Regierungssysteme zwei Varianten demokrati-
scher Herrschaft, die beide die Regimemerkmale der Demokratie voll erf€ullen. In der
Begrifflichkeit von Collier und Levitsky 1997 befinden sich demokratische Regime
auf der Ebene der root concepts – also grundlegenden Basiskonzepten. Dagegen
bewegen sich die Regierungssysteme auf der Ebene von regulären subtypes, die
gemäß der Abstraktionsleiter von Sartori (1970) eine Konkretisierung des Basiskon-
zepts durch das Hinzuf€ugen weiterer Merkmale darstellen.
Eine elementare Voraussetzung f€ur die Funktionsweise eines Regimes ist die
Existenz eines Staates, der maßgeblich durch das Bestehen eines als legitim bean-
spruchten Gewaltmonopols gekennzeichnet ist. Ohne das Machtpotenzial eines
Staates ist es f€ur jedes Regime – sei es eine Diktatur oder eine Demokratie –
unmöglich, die Herrschaft auszu€uben. Dieser Sachverhalt geriet etwas in Verges-
senheit, da die Existenz der Staatlichkeit in allen Industrieländer nicht zu bezweifeln

1
Dieses Verständnis ist vom Regimebegriff in den Internationalen Beziehungen abzugrenzen, der
abstrakter gefasst ist und nicht €
uber den Herrschaftsbegriff definiert wird (vgl. die Definition bei
Krasner 1983). Nicht gefolgt wird O’Donnell (2004: 15), der eine engere Definition des Regime-
begriffes vorschlägt, der sich maßgeblich auf den Herrschaftszugang (Regierungsämter) bezieht.
Regime in der Vergleichenden Politikwissenschaft: Autokratie und Demokratie 125

war. Im Rahmen von Transformationsstudien haben einige Autoren (Linz und


Stepan 1996; O’Donnell 1999) in den 1990er-Jahren jedoch (wieder) darauf auf-
merksam gemacht, dass die Annahme eines effektiven Staates nicht f€ur alle Länder
zutrifft. Inzwischen ist dieser Sachverhalt Gegenstand einer breiten Forschung zum
Thema ‚fragiler Staatlichkeit‘ (siehe den entsprechenden Beitrag im Handbuch).
Dieser Zusammenhang ist in den gängigen typologischen Vorschlägen zu kurz
gekommen, die stets die Existenz eines Staates unterstellen.
Zur Bestimmung eines Herrschaftstypus bieten sich mit Realtypus und Idealtypus
prinzipiell zwei Möglichkeiten der Konstruktion an. Im Falle des Realtypus wird ein
historischer Fall als typischer Vertreter eines Herrschaftstypus ausgewählt. Bei-
spielsweise ließe sich das nationalsozialistische Deutschland als Realtypus von
faschistischer und totalitärer Herrschaft zu begreifen. Diese Vorgehensweise ist
jedoch mit Skepsis zu betrachten, da sie mit zwei prinzipiellen Problemen
behaftet ist. Zum einen kann sich der empirische Referenzrahmen ändern. So muss
man sich dann beispielsweise entscheiden, welches Jahr in Deutschland zwischen
1933 und 1945 den Referenzbezug liefert, um eine totalitäre Herrschaftsform zu
beschreiben. So geht auch dem Realtypus eine Idee des Typus voraus, der zur
Ordnung der empirischen Befunde und Merkmale dient und auch der Fallauswahl
vorgängig ist. Zum anderen kann der somit erzeugte Herrschaftstypus in sich nicht
stimmig sein, sondern Spannungen aufweisen, die im Widerspruch zur zentralen
Vorstellung des Typus sein können. So lassen sich auch im nationalsozialistischen
Terrorsystem einige Nischen nennen, die sich dem Zugriff des Staates entziehen
konnten. Solche Nischen m€ussten als konstitutiv f€ur diesen totalitären Realtypus
verstanden werden, was nicht €uberzeugend f€ur die Vorstellung einer totalitären
Herrschaft ist.
Einen Ausweg aus diesen Problemen bietet die methodische Form des Idealtypus
(Weber 1988). Bei der Konstruktion eines Idealtypus wird die zugrunde liegende
Leitidee anhand der empirischen Beobachtung systematisch entfaltet. Hierbei wer-
den die charakteristischen Merkmale besonders akzentuiert zum Ausdruck gebracht
und durch logische Deduktion von der Leitidee ergänzt. Diese Vorgehensweise hat
zur Folge, dass ein Idealtypus mit dem ihm verbundenen empirischen Phänomen
nicht vollständig deckungsgleich sein muss und es in der Regel auch nicht ist. Doch
die Formulierung eines Idealtypus ist zugleich nie von dem historischen Kontext
unabhängig, der als Referenzrahmen dient. Diese Kontextgebundenheit ergibt ein
Problem f€ ur die universelle Anwendbarkeit eines Typus. Solch ein Anspruch ist
umso eher zu erreichen, wenn auf abstrakte Begriffe rekurriert wird, die dann
unterschiedlich kontextspezifisch präzisiert werden können. Ein Verzicht auf uni-
verselle Begriffe – auch auf solche, die €uber grundlegende Begriffe wie Funktion
und Struktur hinausreichen – macht wissenschaftlich wenig Sinn, wenn eine Ver-
gleichbarkeit erreicht werden soll. Allerdings ist der Entstehungszusammenhang zu
reflektieren und der Anspruch zur Diskussion zu stellen. F€ur die Auswahl und die
Präzisierung der Leitidee sind die bestehenden historischen Argumentationsstränge
der Forschungsgemeinschaft und der ideologische Standpunkt des Forschenden zu
beachten. So ist beispielsweise der Begriff der „Volksherrschaft“ im liberalen und im
kommunistischen Verständnis unterschiedlich konnotiert.
126 H.-J. Lauth

2 Demokratische, autoritäre und totalitäre Regime

2.1 Demokratie

Auch wenn Demokratie bereits in der Antike thematisiert wurde, hat sich ihre
Bedeutung erst mit der Neuzeit umfassend entfaltet. Dabei basieren die Vorstellun-
gen auf verschiedenen philosophischen Traditionen (Rousseau, Montesquieu, Lo-
cke, federalist papers), wobei im deutschsprachigen Kontext die Demokratiefrage
zunächst eher implizit in der Idee der Republik aufgegriffen (Kant und Hegel). Das
eigentliche Zeitalter der Demokratie begann jedoch erst im 20. Jahrhundert, wie die
Entwicklung des Wahlrechts dokumentiert, wobei das Frauenwahlrecht zunächst in
vielen Ländern deutlich nach dem Männerwahlrecht eingef€uhrt wurde. In diesem
Kontext der Demokratisierung stellte sich die Frage nach dem Verständnis von
Demokratie nun dringlicher, da verschiedene Vorstellungen von dem was Demokra-
tie ist oder sein sollte miteinander konkurrierten (zu den maßgeblichen Strömungen
vgl. Dahl 1989; Sartori 1992; Schmidt 2000 und Waschkuhn 1998).
Mit der materiellen und der prozeduralen Vorstellung der Demokratie lassen sich
zwei zentrale Leitideen unterscheiden. Während es in der ersten Version die Politi-
kinhalte (oder Politikergebnisse) sind, welche die Demokratie bestimmen (beispiels-
weise gerechte Verteilung), sind es in der zweiten Version die Verfahren, welche die
Beteiligung an der Herrschaft regeln. Diese zweite Version prozeduralistischer
Demokratietheorien hat sich als die weitaus wirkungsträchtigere gezeigt.2 Doch sie
ist selbst in unterschiedliche Lager ‚gespalten‘. Neben der Unterscheidung zwischen
direkter und repräsentativer Demokratie lassen sich noch andere Leitvorstellungen
von Demokratie nennen: Den Pfaden der direkten Demokratie folgt das Modell einer
Räterepublik, welche die Klassenherrschaft des Proletariats mit speziellen Verfahren
(u. a. imperatives Mandat und Ämterrotation, getreue Repräsentation der sozialen
Schichten, fehlende Gewaltenkontrolle) und revolutionärer Gesinnung verband.
Dagegen folgt der Konstitutionalismus der repräsentativen Fährte und der Begren-
zung der Macht. Loewenstein unterscheidet generell zwischen autokratischen und
konstitutionellen Regimen und stellt somit Demokratien vor allem unter den Vorbe-
halt der Gewaltenteilung und Kontrolle politischer Herrschaft. Das Konzept der
sozialen Demokratie kennt zwei Varianten. In der einen maßgeblichen Version gilt
es, neben dem politischen System gleichfalls alle gesellschaftlichen Subsysteme
(z. B. Schule und Universität, Kultur, Familie) und die Wirtschaft (Unternehmen
und Betriebe) demokratisch zu regeln. In der anderen Variante zeichnet sich die
soziale Demokratie dadurch aus, dass sie zur Erzeugung von sozialer Gerechtigkeit
maßgeblich beiträgt. In der Elitendemokratie wird die Demokratie auf die Funktion

2
Zur ersten Version lassen sich die Modelle einer sozialistischen oder kommunistischen Demokratie
(„Volksdemokratie“) rechnen. Ihren Anspruch als ‚eigentliche‘ Demokratien rechtfertigten sie vor
allem mit dem Hinweis, dass diese nun erstmals die ‚wahren‘ Bed€ urfnisse des Proletariats und
mithin des Volkes zum Ausdruck bringen w€ urden, die in den formalen demokratischen Fassaden
b€
urgerlicher Herrschaft stets verschleiert w€urden. Varianten solch einer Position finden sich in
verschiedenen Demokratiekonzepten in der ‚Dritten Welt‘.
Regime in der Vergleichenden Politikwissenschaft: Autokratie und Demokratie 127

der Rekrutierung eines effektiven F€uhrungspersonals reduziert und ansonsten eine


große Skepsis gegen€uber der politischen M€undigkeit der großen Masse zum Aus-
druck gebracht (vgl. Schumpeter 1950. Dagegen vertrauen partizipatorische Demo-
kratie und deliberative Demokratie auf das Vorhandensein oder die Erzeugbarkeit
von Staatsb€ urgertugenden und möchten entsprechend die Beteiligung der B€urger
mittels verschiedener Verfahren erweitern (Barber 1984).
Welche dieser Basisvorstellungen sich als adäquat erweist, hängt vom normativen
Standpunkt der Beurteilung ab. Wenn wir die gängigen Demokratievorstellungen
aus dem Bereich der Komparatistik zusammenfassen, bietet sich folgende prozedu-
ral gelagerte Definition zur Orientierung an, die an die wirkungsträchtige Definition
der Polyarchie von Dahl (1971) anschließt, aber die institutionelle Einhegung der
Beteiligung betont: „Demokratie ist eine rechtsstaatliche Herrschaftsform, die eine
Selbstbestimmung f€ur alle Staatsb€urgerinnen und Staatsb€urger im Sinne der Volks-
souveränität ermöglicht, indem sie die maßgebliche Beteiligung von jenen an der
Besetzung der politischen Entscheidungspositionen (und/oder an der Entscheidung
selbst) in freien, kompetitiven und fairen Verfahren (z. B. Wahlen) und die Chancen
einer kontinuierlichen Einflussnahme auf den politischen Prozess sichert und gene-
rell eine Kontrolle der politischen Herrschaft garantiert. Demokratische Partizipation
an der politischen Herrschaft findet damit ihren Ausdruck in den Dimensionen der
politischen Freiheit, der politischen Gleichheit und der politischen und rechtlichen
Kontrolle“ (Lauth 2004, S. 100).
Zu betonen ist somit, dass Demokratie auf der Grundlage der Volkssouveränität
nicht mit unbegrenzter Herrschaft zu verwechseln ist. Der Wille der Mehrheit stößt
dann auf Grenzen, wenn er die Grundlagen der Demokratie selbst missachtet. So
stehen die Menschenrechte nicht zur Disposition der Mehrheit. Die Idee der Demo-
kratie als Herrschaftsform wird auf das politische System bezogen. Inwieweit sich
andere Subsysteme gleichfalls demokratische Regeln geben, ist nicht konstitutiv f€ur
die Demokratie. Schließlich ist zu beachten, dass die repräsentative Form der
Demokratie nicht als pragmatische Notlösung gegen€uber dem Ideal einer direkten
Demokratie verstanden wird. Wenngleich plebiszitäre Elemente als sinnvolle Er-
gänzung einer parlamentarischen Demokratie in verschiedener Weise sinnvoll ist,
steht der repräsentative Charakter der Demokratie nicht in Frage, wie in der aktuellen
Diskussion betont wird, die zugleich zu einer differenzierten Betrachtung direkt-
demokratischer Verfahren beigetragen hat (Jung 2001; Schiller 2002).
Die weitere Präzisierung des Grundtypus ‚Demokratie‘ erfolgt auf verschiedenen
Wegen. So konkretisiert Dahl (1971) das wirkungsträchtige Konzept der Polyarchie
anhand von acht Kriterien, die in der komparativen Forschung oftmals in der Dis-
kussion von Demokratien verwendet wurden.3 Einen anderen Vorschlag unterbreitet
Wolfgang Merkel (2010, S 24) im Rahmen einer allgemeinen Regimetypologie,

3
Die acht Kriterien (Dahl 1971, S. 3) sind: „1. Freedom to form and join organizations, 2. Freedom
of expression, 3. Right to vote, 4. Eligibility for public office, 5. Right of political leaders to
compete for support and for votes, 6. Alternative sources of information, 7. Free and fair elections,
8. Institutions for making government policies depend on votes and other expressions of prefe-
rence“.
128 H.-J. Lauth

in dem er sechs Ebenen unterscheidet, die sich jeweils mit einer demokratischen
Ausprägung verbinden lassen: Legitimation der Herrschaft, Herrschaftszugang,
Herrschaftsmonopol, Struktur der Herrschaft, Herrschaftsanspruch und Herrschafts-
weise. Eine Adaption dieser sechs Ebenen findet sich im Konzept der Embedded
Democracy (Merkel et al. 2003; Merkel 2010, S. 30–37). Unterschieden werden
dabei f€
unf Teilregime: neben dem zentralen Wahlregime, das Regime der politischen
Teilhaberechte, der effektiven Regierungsgewalt, der horizontalen Gewaltenkontrol-
le und der b€urgerlichen Freiheitsrechte. Einen anderen Weg verfolgen Diamond/
Morlino (2005), die die Qualität der Demokratie anhand der Ausprägung grundleg-
ender Dimension unterscheiden. Sie gehen dabei deutlich €uber die bereits genannten
Vorschläge hinaus.

2.2 Autokratie

Bei der Bestimmung autokratischer Herrschaft (oder von Diktaturen4) ist die Unter-
scheidung zwischen autoritären und totalitären Regimen sinnvoll und notwendig
(Loewenstein 1957; Linz 1975; Lauth 1995), da beide unterschiedliche Leitideen
besitzen, die es nicht erlauben, einen von beiden ‚lediglich‘ nur als Subtypus des
anderen zu begreifen. Beide lassen sich jedoch unter dem Begriff ‚autokratische
Regime‘ (Merkel 1999) subsumieren und von der Demokratie abgrenzen. Was
unterscheidet nun totalitäre von autoritärer Herrschaft?
Zum Totalitarismus gibt es eine F€ulle unterschiedlicher Diskussionsbeiträge.5
Die Anfänge des Begriffes reichen in die 1920er-Jahre des letzten Jahrhunderts
zur€uck. Während er auf der politischen B€uhne zur Eigenbezeichnung des erhobenen
Anspruchs f€ ur eine umfassende Herrschaft gebraucht wurde (Mussolini), diente es in
der wissenschaftlichen Debatte zur Kennzeichnung des neuen Charakters diktatori-
scher Herrschaft. Auch wenn es im Kern kaum Dissens gab, so wurden doch unter-
schiedliche Aspekte totalitärer Herrschaft akzentuiert. Während Hannah Arendt
(1955) die besondere Rolle des Terrors herausgehoben hat, betonen andere Autoren
(Friedrich und Brzezinski 1968) den technischen Charakter totalitärer Herrschaft, die
diese als Phänomen der Neuzeit erscheinen lassen.6 Allen Überlegungen gemeinsam
ist die zentrale Bedeutung der Ideologie. Diese markiert nicht nur die politischen
Überzeugungen und Leitideen, sondern erhebt den Anspruch auf Wahrheit, der

4
Während Diktatur oftmals als genereller Gegenpol zur Demokratie verwendet wird, arbeitet Linz
(2000: 16 ff.) mit einer spezifischen Fassung des Diktaturbegriffes, der lediglich auf Krisen-
Regierung und k€urzere Phasen begrenzt ist, in denen eine Beschneidung von B€ urgerrechten
aufgrund eines Notstandes erfolgt.
5
Richtungweisend sind die Studien von Arendt (1955), Friedrich und Brzezinski (1968). Einen
repräsentativen Überblick liefern die Sammelbände von Backes und Jesse (1984) und Jesse (1999).
6
Die sechs Kriterien von Friedrich und Brzezinski (1968) lauten: umfassende Ideologie, Massen-
partei verbunden mit F€uhrerprinzip, Kontrolle der Gesellschaft (Geheimpolizei), Nachrichtenmo-
nopol und Kontrolle der Massenkommunikation, Kampfwaffenmonopol, Kontrolle und Lenkung
der Wirtschaft und wichtiger gesellschaftlicher Gruppen.
Regime in der Vergleichenden Politikwissenschaft: Autokratie und Demokratie 129

zwangsläufig mit der Disqualifikation anderer Überzeugungen einhergeht und Poli-


tik auf der Ebene des Freund-Feind-Schemas konzeptualisiert. Der totalitäre Cha-
rakter der Ideologie wird besonders sichtbar in dem Anspruch, nicht nur die Politik,
sondern die gesamte Gesellschaft umfassend prägen zu wollen. Alle Bereiche des
öffentlichen und des privaten Lebens sollen gemäß den ideologischen Vorstellungen
umgeformt oder neu geschaffen werden; die Trennung zwischen Staat – dem Politi-
schen – und der Gesellschaft wird aufgehoben.
Dieser €uberragende Anspruch der Ideologie gibt somit bereits deutliche Hin-
weise, welcher Art der Organisation die totalitäre Herrschaft benötigt und wie diese
ausge€ ubt wird. Unterstrichen wird der monistische Charakter der Herrschaftsstruk-
tur, die keine Kontrollmöglichkeiten erlaubt. Der Herrschaftszugang ist verschlos-
sen; die Besetzung von Ämtern und F€uhrungspositionen geschieht durch Kooptation
von oben. Die Geltung des Rechts wird durch politische Kalk€ule bestimmt, der
Rechtsstaat ist eliminiert. Der Gestaltungswille verlangt eine umfassende Kontrolle
aller politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Akteure, die durch ent-
sprechende Organisationen und „Schulungseinrichtungen“ erreicht werden soll.
Dies schließt die Kontrolle der Massenkommunikationsmittel selbstverständlich
ein. Inwieweit diese repressive Herrschaftsweise stets des offenkundigen und bruta-
len Terrors bedarf, ist umstritten (Pickel 2013).
Es erscheint durchaus plausibel, dass ein etabliertes totalitäres Regime nach der
Eliminierung seiner Gegner weniger Terror zur Herrschaftsstabilisierung anwenden
muss, ohne damit seinen totalitären Charakter zu verlieren (Linz 2000, S. 63–78).
Als klassische Beispiele totalitärer Regime gelten allgemein das nationalsozialisti-
sche Deutschland (speziell ab 1938) und die UdSSR unter Stalin, wobei durchaus die
Unterschiede zwischen einem Rechts- und einem Links-Totalitarismus beachtet
werden können.7 Umstrittener ist dagegen die Einordnung von Franco-Spanien
und Mussolini-Italien zu dieser Kategorie - hier wird auch der Faschismusbegriff
verwendet (Wippermann 2000) - ebenso wie die von kommunistischen Staaten, die
jedoch in der Mehrzahl zumindest bis in die 1960er-Jahre dieser Rubrik zugeordnet
wurden. In j€ ungerer Zeit wurden in die Diskussion gleichfalls Staaten wie der Iran
unter Khomeini und Kambodscha unter den Roten Khmer einbezogen.
Obwohl die Geschichte reich an Beispielen autoritärer Herrschaft ist, hat sich
eine systematische konzeptionelle Beschäftigung mit diesen erst im Gefolge der
Totalitarismusdebatte entwickelt. Zum einen ging es um eine Abgrenzung von
totalitären Systemen und zum anderen um die Aufgabe, die real bestehenden
autoritären Regime in eine angemessene klassifikatorische Ordnung zu bringen
(s. Subtypen). Dies war umso dringlicher, als mit dem Anstieg der Staatenanzahl

7
Vgl. Linz (2000, S. 81–94). In den 1970er-Jahren gab es eine größere Debatte des Totalitarismus-
konzepts, in der von linker Seite der Vorwurf erhoben wurde, jenes Konzept diene lediglich zur
Diffamierung der sozialistischen Staaten und werde im Rahmen des Kalten Krieges entsprechend
instrumentalisiert. Zugleich wurde versucht, das Konzept gleichfalls auf kapitalistische Staaten
anzuwenden, denen nun ihrerseits ein totalitärer Charakter zugesprochen wurde (Marcuse). Beide
Anliegen sind letztlich in der weiteren Totalitarismusdebatte von einigen Ausnahmen abgesehen
folgenlos geblieben.
130 H.-J. Lauth

nach 1945 die Gruppe autoritärer Regime signifikant zugenommen hatte. Es war nun
nicht sehr befriedigend, all diese Länder – bei deutlich erkennbaren Unterschieden in
ihrer Herrschaftsform – dem gleichen Regimetypus zuzuordnen (vgl. Argentinien,
Mexiko, Kuba, S€ udafrika, Ägypten, Malawi, Syrien, Saudi-Arabien, Iran, Pakistan,
Taiwan, Indonesien u. a.).
Eine der wirkungsträchtigsten Definitionen des Autoritarismus, genauer autoritä-
rer Regime, stammt von Juan Linz. F€ur ihn bilden diese eine eigenständige Herr-
schaftsform, die zwischen totalitären und demokratischen Regimen angesiedelt ist.
Zur Unterscheidung wählt er drei Kategorien, die er mit regimespezifischen Aus-
prägungen verbindet: den Grad des politischen Pluralismus, den Grad der staatlich
gelenkten politischen Mobilisierung und den Charakter der Legitimation. Autoritäre
Regime sind demnach politische Systeme, „die einen begrenzten, nicht verantwort-
lichen politischen Pluralismus haben; die keine ausgearbeitete und leitende Ideolo-
gie, daf€ur aber ausgeprägte Mentalitäten besitzen und in denen keine extensive oder
intensive politische Mobilisierung, von einigen Momenten in ihrer Entwicklung
abgesehen, stattfindet und in denen ein F€uhrer oder manchmal eine kleine Gruppe
die Macht innerhalb formal kaum definierter, aber tatsächlich recht vorhersagbarer
Grenzen aus€ ubt“ (Linz 2000, S. 129).
Linz verwendet andere Kriterien zur Regimeklassifikation als die oben genannten
Vorschläge zur Demokratie, wobei zwei davon – der Grad des politischen Pluralis-
mus und der Legitimationsbezug – bereits, wenngleich in etwas anderer Formulie-
rung, auch bei der Demokratiediskussion aufgegriffen wurde. Neu ist der Aspekt der
Mobilisierung. Es erscheint jedoch durchaus fraglich, ob diese Kategorie erstens so
zentral f€ur das Regimeverständnis ist und zweitens, ob es gen€ugend Trennschärfe
aufweist. So erschließt sich nach der obigen idealtypischen Darlegung des Totali-
tarismus nur bedingt die Notwendigkeit einer ständigen Mobilisierung der Massen
(nicht zu verwechseln mit einer andauernden Lenkung). Außerdem finden sich bei
Linz Subtypen autoritärer Herrschaft mit diesem Merkmal (s.u.).
Ein anderer Vorschlag stammt von Albrecht und Frankenberger (2010a, S. 7), die
drei Merkmale benennen: „(1) die Konzentration von politischer Herrschaft,
(2) exklusive Partizipationsmechanismen und (3) schließlich die Dominanz infor-
meller Mechanismen der Herrschaftsaus€ubung €uber formale Institutionen und Pro-
zesse“. Mit den beiden ersten Kriterien thematisieren sie die begrenzte Kontrolle der
politischen Macht und eingeschränkten Freiheits- und Gleichheitsrechte. Weniger
€uberzeugend ist das dritte Merkmal, da es entscheidend von der Ausprägung bzw.
Typus der informellen Mechanismen und Regeln abhängt (Köllner 2013). Sind sie
mit autoritärer Herrschaftsaus€ubung nicht kompatibel, können sie kein Merkmal
davon sein (zur aktuelle Diskussion von Autokratien vgl. die Beiträge in Kailitz und
Köllner 2013 sowie Albrecht und Frankenberger 2010b; Köllner 2008).
Anhand eines R€uckgriffs auf abstrakte Dimensionen lassen sich drei Dimensio-
nen identifizieren, die f€
ur alle drei Regimetypen grundlegend sind: politische Frei-
heit, politische Gleichheit und politische und rechtliche Kontrolle. Totalitäre Regime
sind dadurch gekennzeichnet, dass sie politische Freiheiten umfassend verweigern,
keine politische Gleichheit kennen, da sie die Macht bei wenigen b€undeln und
die €uberwiegende Anzahl der B€urger total machtlos ist, und somit auch keine
Regime in der Vergleichenden Politikwissenschaft: Autokratie und Demokratie 131

Kontrolle der Herrschaft gegeben ist. Während in autoritären Regimen die drei
Dimensionen in unterschiedlicher Form bereits partiell gegeben sind, weisen Demo-
kratien alle in vollem Umfang auf. Typologisch lassen sich alle drei Regime klar
trennen, allerdings kann es dennoch Schwierigkeiten bei der Klassifikation von
politischen Systemen geben, da die empirischen Befunde auf dem Kontinuum
zwischen beiden Polen – Totalitarismus und Demokratie – liegen und sich somit
auch im Grenzbereich zwischen zwei Regimen befinden können.

3 Subtypen autokratischer und demokratischer Regime

In methodischer Hinsicht werden zwei Möglichkeiten der Subtypenbildung unter-


schieden. Zum einen lassen sich reguläre Subtypen anhand verschiedener Varianten
im Institutionendesign (wie bei parlamentarischen und präsidentiellen Regierungs-
systemen) bilden. Hierbei entstehen Subtypen durch die Addition weiterer spezifi-
scher Merkmale. Dies bedeutet im Sinne Sartoris einen Abstieg auf der Abstrak-
tionsleiter. Zum anderen werden Subtypen durch das Verfahren der Reduzierung
oder Verminderung erstellen. Solche verminderten Subtypen oder diminished sub-
types (Collier und Levitsky 1997) besitzen keine weiteren Merkmale als die zu-
grundeliegenden Basisdefinitionen (root concepts). Allerdings sind bei ihnen nicht
alle Merkmale voll ausgeprägt, sondern eben vermindert. Nicht plausibel ist die
Annahme, dass die Ausprägung vollständig fehlen könnte. Denn damit wird das
Basiskonzept (in Richtung hybrider Typus) verlassen. Die Kritik an solch einer
Auffassung sollte allerdings nicht dazu f€uhren, das anspruchsvolle und weiterf€uh-
rende methodische Unterfangen einer verminderten Subtypenbildung gänzlich auf-
zugeben. Anspruchsvoll ist es auch deswegen, weil es die Festlegung von zwei
Schwellenwerten (Thresholds) verlangt, die eine Abgrenzung nach oben (zu den
Basiskonzepten) und nach unten (hinsichtlich hybriden Regimen) ermöglichen
(Lauth 2002).
Bis in die j€
ungste Zeit ließ sich der Großteil der bestehenden politischen Systeme
autokratischen Regimen zuordnen, wobei hier wiederum die meisten von ihnen als
autoritäre Regime zu klassifizieren waren. Eine Differenzierung des autoritären
Regimetypus in Subtypen war daher erforderlich. Ein prominenter Vorschlag, der
sich an der regulären Subtypenbildung orientiert, stammt gleichfalls von Juan Linz
(1975/2000), der neun maßgebliche Ausprägungen von autoritären Regimen unter-
schied.8 Auch wenn der innovative Charakter dieses Vorschlages nicht ignoriert
werden sollte, so ist die (induktiv gewonnene) vorgeschlagene Subtypologie aller-

8
Zu den modernen Formen zählt er b€ urokratisch-autoritäre Regime, organische Staaten oder
autoritären Korporatismus, mobilisierende autoritäre Regime in postdemokratischen Gesellschaf-
ten, postkoloniale autoritäre Mobilisierungsregime, Rassen- oder ethnische ‚Demokratien‘, unvoll-
kommene totalitäre und prätotalitäre Diktaturen, posttotalitäre Regime. Des Weiteren unterscheidet
Linz noch Formen traditioneller autoritärer Herrschaft, wobei er „sultanistische Regime“ und
„Caudillismo“ und „Caciquismo“ hervorhebt. Ein Überblick € uber die Entstehung systematischer
Regimetypologien findet sich bei Linz (2000, S. 8 f.).
132 H.-J. Lauth

dings mit Skepsis zu betrachten. Weder beruhen die einzelnen Subtypen jeweils auf
den gleichen Kategorien, noch ist es besonders sinnvoll, f€ur die Bestimmung der
Regimecharakteristika das vorangegangene oder das folgende Regime einzubezie-
hen, wie zum Teil praktiziert.9
Weiterf€uhrende Vorschläge stammen von Dieter Nohlen und Wolfgang Merkel.
Nohlen (1987) unterscheidet anhand folgender Kriterien „soziale und politische
Basis, Legitimationsmuster und Ideologie, interne Struktur des Herrschaftsappara-
tes, Beziehungsmuster Machthaber-Machtunterworfene, historischer Kontext sowie
Politikorientierung“ verschiedene Typen autoritärer Herrschaft. Bei Merkel (2010)
basiert die Subtypenbildung maßgeblich auf dem Primärkriterium der Form der
Herrschaftslegitimation, das er mit dem supplementären Kriterium der Herrschafts-
inhaber (F€ uhrer, Partei, Militär, Klerus, Monarch) koppelt. Auf diese Weise unter-
scheidet er neun Typen autoritärer Herrschaft: kommunistisch-autoritäre Regime,
faschistisch-autoritäre Regime, Militärregime, korporatistisch-autoritäre Regime,
rassistisch-autoritäre Regime, autoritäre Modernisierungsregime, theokratisch-auto-
ritäre Regime, dynastisch-autoritäre Regime und sultanistisch-autoritäre Regime.
Barbara Geddes (1999) unterscheidet wiederum nur drei Formen autoritärer
Herrschaft (militärische Herrschaft, Einparteienherrschaft und Personendiktatur),
die unterschiedlich kombiniert sein können. Im Anschluss unterscheiden Hadenius
und Teorell (2007) zwischen Monarchien, Militärregimen und Parteiregimen. Kailitz
(2013) kombiniert beide und f€ugt den Subtypus kommunistische Autokratie hinzu.
Wirkungsträchtig hat sich gleichfalls die Konzeption eines „electoral authoritaria-
nism“ gezeigt, die Legitimations- und Manipulationsstrategien autoritärer Machtha-
ber analysiert (Schedler 2006). Zwei andere Konzepte („patrimonial rule“ and
„rentier states“) können gleichfalls als grundlegende Formen autoritärer Herrschaft
verstanden werden. Beide könnten allerdings (in einer schwächeren Ausprägung)
auch als defizitäre Demokratie verstanden werden. Generell kennzeichnen sie Kli-
entelismus, Cliquenwirtschaft und Missbrauch von Ressourcen. Die Variante „neo-
patrimonial rule“ greift zudem das Merkmal einer rationalen B€urokratie auf, deren
Prägekraft jedoch stets von personeller Entscheidungslogik relativiert wird (Erd-
mann und Engel 2007). Wie die Beispiele zeigen, können Regimetypologien induk-
tiv und deduktiv gewonnen werden. Prinzipiell ließen sich autoritäre Subtypen auch
als diminished subtypes konzeptualisieren, doch wurde diese Möglichkeit bislang
(kaum) aufgegriffen.
Im Unterschied zu autoritären Regimen liegen zu totalitären Regimen keine
umfassenden Subtypologien vor. Solch ein ambitionierter Versuch scheint weder
aus empirischer noch theoretischer Hinsicht besonders sinnvoll, da die Anzahl realer
totalitäre Regime begrenzt ist, und es nicht plausibel ist, f€ur jeden Fall einen eigenen
Subtypus zu entwerfen. Eine nennenswerte Unterscheidung spiegelt sich in der

9
Es ist auch darauf hinzuweisen, dass Linz in der Behandlung der autoritären Subtypen nicht nur
deren Merkmale, sondern auch ihren Ursprung, soziale Verankerung, Stabilität und Spannungen
sowie Wandlungsperspektiven betrachtet und mithin die typologische Arbeit bereits in eine theo-
retische €uberf€uhrt.
Regime in der Vergleichenden Politikwissenschaft: Autokratie und Demokratie 133

Kontroverse zwischen „Links- und Rechts-Totalitarismus“ wider, in der es um die


Frage ging, inwieweit autokratische Regime sowohl mit linker als auch mit rechter
Ideologie als gleichermaßen totalitär bezeichnet werden können. Hierbei zeichneten
sich durchaus beachtenswerte Unterschiede zwischen beiden Varianten ab (z. B. in
der Ausrichtung der Ideologie, im Staatsverständnis und in der Organisation und
Funktion der Partei), die eine entsprechende Differenzierung totalitärer Regime
nahelegen (Backes und Jesse 1984; Mackow 2005).
Sehr un€ubersichtlich gestaltet sich die Lage hinsichtlich der Subtypologien im
Bereich der Demokratie. Zwar liegt hier wohl die größte Anzahl von unterschied-
lichen Bezeichnungen vor, doch betreffen diese unterschiedliche Ebenen. Viele
Begriffe markieren konkurrierende Demokratieauffassungen im Sinne von root
concepts, wobei um das angemessene Verständnis des Grundtypus der Demokratie
gestritten wird (s.o.). Andere beziehen sich auf Varianten des jeweiligen Regime-
typus in zweierlei Sinne: Zum einen bezeichnen sie Regierungssysteme – als
reguläre Subtypen anhand verschiedener Varianten im Institutionendesign (wie bei
parlamentarischen und präsidentiellen Regierungssystemen oder bei Mehrheits- und
Konsensusdemokratien). Zum anderen finden sich diminished subtypes, bei denen
das Basiskonzept insoweit modifiziert wird, dass ein Merkmal von ihm nur unzu-
reichend vorhanden ist.10 Solche Subtypen werden unter der Rubrik „defekter“ oder
„defizitärer“ Demokratie diskutiert (Lauth 1997, 2004; Merkel 1999); eine Auflis-
tung spezifischer Formen defizitärer Demokratien findet sich bei Collier und
Levitsky (1997). Etliche Subtypen wurden induktiv gewonnen, wie das Modell einer
delegativen Demokratie (O’Donnell 1994), andere entstammen einer systematischen
Betrachtung des root concepts und variieren die Ausprägungen der zentralen
Merkmale (z. B. illiberale Demokratie, Enklavendemokratie, Domänendemokratie
bei Merkel 1999).
Demokratische und autoritäre Subtypen werden oftmals benutzt, um die Grau-
zone zwischen Demokratien und Autokratien klassifikatorisch zu erfassen. Dabei
wird nicht immer beachtet, dass sie als Subtypen stets auch Bestandteil der jewei-
ligen Basiskonzepte sind. Sie sind strikt zu unterscheiden von hybriden Regimen
(Bogaards 2009). Hybride Regime sind solche, die Merkmale verschiedener Re-
gimetypen aufweisen – beispielsweise autoritäre und demokratische Z€uge. Russland
unter Putin wird oftmals als ein solches hybrides Regime im Grauzonenbereiche von
Demokratie und Autokratie bezeichnet (Styckow 2014); noch einigermaßen als
demokratisch zu klassifizierende Wahlen gehen einher mit einer sehr schwachen
Kontrolle der politischen Macht. Ein politisches System ist nicht als hybrid zu
bezeichnen, wenn seine Grundmerkmale vorhanden, aber nicht deutlich ausgeprägt
sind. Hier wäre es plausibel, von defizitären Regimen zu sprechen.

10
Die Anzahl der untersuchten Merkmale bleibt somit gleich. Schließt beispielsweise das root
concept Demokratie „freie und faire“ Wahlen ein, kennt der eingeschränkte Subtyp nur beschränkt
„freie und faire“ Wahlen – beispielsweise durch Begrenzung der Wahlberechtigten (wie die
Schweiz bis zur Einf€
uhrung des Frauenwahlrechts 1971).
134 H.-J. Lauth

Kontinuum politischer Regime

Demokratie Autokratie

Demokratie Autoritäres Regime Totalitäres


Regime
Demokratie Defekte Schwach Stark autoritäres Totalitäres
Demokratie autoritäres Regime Regime
Regime

Repräsentative Illiberale Demokratie kontrollierte Militärregime Faschistisch


Demokratie Mehrparteienregime
Delegative absolute Monarchie Kommunistisch
(mit dominanter
Direkte Demokratie Demokratie
Partei) oder Ideologisch fundierte Theokratisch
Parlamentarisch / Einparteiensysteme
Exklusive Demokratie Einparteiensysteme (jeweils mit
präsidentielle
Totalitätsanspruch)
Demokratie

Abb. 1 Systeme zwischen Demokratie und Totalitarismus. Quelle: nach Lauth/Pickel/Pickel


(2014, S. 159)

Wie bereits angesprochen, arbeiten fast alle Typologien mit der Unterstellung
eines funktionsfähigen Staates. Doch kann diese Annahme nicht problemlos

ubernommen werden, wie die Forschung zur fragilen Staatlichkeit umfassend
dokumentiert.11 Die dort angef€uhrten Tendenzen haben gravierende Auswirkungen
f€ur die Funktionsweise der Regime. So konstatiert Linz (2000, S. XLIV): „Wir
haben es hier nicht mit Staaten oder politischen Regimen zu tun, sondern mit etwas
Neuem, das sicherlich wenig in die Typen von Herrschaft passt, die in diesem Band
diskutiert werden.“ F€ur die klassifikatorische Arbeit bedeutet dieser Befund, dass
zunächst einmal zu pr€ufen ist, inwieweit ein Staat vorliegt. Erst wenn die Staatlich-
keit gegeben werden kann, können die genannten Typologien verwendet werden.
Wenn die Staatlichkeit jedoch nur partiell oder zumindest rudimentär vorhanden ist,
ist im Prinzip zwar eine Klassifikation möglich, allerdings stets im Bewusstsein, dass
eine defizitäre Ausprägung des Regimetypus vorliegt. Mit defizitären (totalitären,
autoritären und demokratischen) Regimen sind höchst unterschiedliche Effekte
verbunden. Während ein ‚defizitäres‘ totalitäres Regime nun nicht mehr so umfas-
send wie es ‚anstrebt‘, die Menschenrechte verletzten kann, kann ein defizitäres
demokratisches Regime die Menschenrechte nicht mehr in dem anvisierten Maße
gewährleisten. Da Regimedefekte aber auch andere Ursachen als unzureichende
Staatlichkeit haben können, wäre zu pr€ufen, ob hier nicht eine spezifische Begriff-

11
€ber vor-
Die Grenzen der Staatlichkeit werden auch empirisch bestimmt. Eine gute Übersicht u
liegende Messanlagen bieten: Fabra Mata, Javier und Ziaja, Sebastian (DIE/UNDP), 2009, Users‘
Guide on Measuring Fragility, Bonn/Oslo.
Regime in der Vergleichenden Politikwissenschaft: Autokratie und Demokratie 135

lichkeit – wie fragmentierte Demokratie – zu verwenden wäre. Bislang haben sich


allerdings keine entsprechenden Bezeichnungen durchgesetzt (Abb. 1).

4 Messung der Regime (Demokratiemessung)

Die konzeptionelle Aufgabe der Bestimmung von Regimetypen erschöpft sich in


vergleichender Perspektive nicht in deren theoretischen und analytischen Präzisie-
rung, da es maßgeblich darum geht, die empirischen Befunde damit angemessen zu
erfassen. Notwendig ist hierzu die Operationalisierung der Typen und Subtypen. Wir
begeben uns damit auf das Feld der Regimemessung, das in den letzten beiden
Jahrzehnten eine sehr dynamische Entfaltung erfahren hat. Wenngleich viele Mess-
anlagen in der Lage sind, zwischen autokratischen und demokratischen Regimen zu
unterscheiden, fungieren sie in der Regel unter dem Label ‚Demokratiemessung‘.12
Differenzierte Messansätze sind in der Lage neben der allgemeinen Regimezuord-
nung auch die Qualität des jeweiligen Regimes zu erfassen. Diese wird anhand des
jeweiligen Grades der Realisierung des Maßstabs (root concept) bestimmt.
Oftmals werden bei den Messvorschlägen zwischen quantitativen und qualitati-
ven Messanlagen unterschieden (vgl. Lauth et al. 2000; Lauth 2004, 2010 und 2011;
Pickel und Pickel 2006). Da inzwischen die meisten Messanlagen in numerischen
Ergebnissen präsentieren und auch die stark quantitativ ausgerichteten letztlich auch
qualitative Methoden in der Datenerhebung einbeziehen, ist es plausible von ein-
fachen und komplexen Messanlagen zu sprechen. Ein prominentes Beispiel f€ur die
erste Variante ist der Ansatz von Tatu Vanhanen (1997), der die beiden Dimensionen
(Wettbewerbsgrad und Inklusion) von Dahl (1971) jeweils nur mit einem Indikator
operationalisiert. Auch der in der komparativen Forschung besonders verbreitere
Polity-Datensatz (Gurr, Jaggers, Moore 1991 u. a.) ist mit drei Variablen und f€unf
Indikatoren sehr schlank aufgestellt (http://www.bsos.umd.edu/cidcm/inscr/index.
htm#polity). Dagegen arbeitet der gleichfalls sehr wirkungsträchtige Messansatz
von Freedom House mit ca. 100 Indikatoren und ist ein gutes Beispiel f€ur eine
komplexe Messanlage (vgl. http://www.freedomhouse.org/). Gleichfalls ist der ähn-
lich komplexe Ansatz des democratic audit zu erwähnen, der bislang zu diversen
Einzelfallstudien gef€uhrt hat – am umfangreichsten zu GB – und der von IDEA
€ubernommen wurde (Klug u.a. 1996). Nicht ganz so umfangreich, aber deutlich
differenzierter als Polity, ist der Bertelsmann Transformationsindex (BTI) ausge-
staltet (http://www.bti-project.de/bti-home/).
Neben weiteren Messansätzen existieren auch sogenannte hochaggregierte Da-
tensätze, die auf der Kombination zahlreicher anderen Datensätze beruhen. Dazu

12
Eine Ausnahme bildet der Vorschlag von Sartori (1989), der anhand von 17 Kriterien die Messung
der Intensität totalitärer Herrschaft ermöglicht. Messungen im Bereich autoritärer Regime betreffen
nicht die Qualität der Herrschaft, sondern die Klassifikation der Befunde (Kailitz 2013).
136 H.-J. Lauth

zählen die World Bank Governance-Indikatoren (WGI) und der NCCR-Datensatz.13


F€ur die Vergleichende Politikwissenschaft werden die Datenerhebungen des inter-
nationalen Projekts „Varieties of Democracy“ von enormem Gewinn sein. Im Unter-
schied zu WGI und NCCR werden in diesem Projekt eine gewaltige Anzahl von
Messungen direkt durch €uber 3.000 beteiligte LänderexpertInnen erhoben und auf
ihre Validität eingeschätzt (https://v-dem.net/DemoComp/en). Da kein spezifisches
Demokratiemodell, sondern verschiedene Demokratievorstellungen der Datenerhe-
bung zu Grunde liegen, ist eine vielfältige Verwendung der Daten möglich.
Die Regimemessung geht von einer graduellen Ausprägung der empirischen
Befunde aus und steht damit in einer gewissen Spannung mit der typologischen
Regimebestimmung. Um beide Vorstellungen zu vermitteln, bedarf es der Schwel-
lenwertfestsetzung, die es erlaubt die graduellen Befunde angemessen typologisch
zu trennen und zuzuordnen. Es wird damit weiterhin an einer sinnhaften Zusam-
menfassung der Befunde zu einem Regimetypus festgehalten, der eine eigene
Identität ausbildet und sich durch spezifische Funktionsweisen von anderen Regime-
typen unterscheidet. Die Festlegung und sorgsame Begr€undung der Schwellenwerte
hat sich daher an dem zugrundeliegenden typologischen Verständnis zu orientieren.

5 Fazit

Die Entwicklung und Diskussion von Regimetypen und -typologien ist ein not-
wendiger Baustein f€ur den empirischen Vergleich. Dies gilt auch f€ur den Bereich der
Operationalisierung von Regimen (vgl. Demokratiemessung). Die typologische
Arbeit schließt noch keine Theoriebildung im kausalen Verständnis ein. Die Erstel-
lung von Idealtypen und Modellen ist eine notwendige Vorstufe f€ur die Entwicklung
und empirische Überpr€ufung von Hypothesen, die sich zu komplexeren Theorien
verbinden lassen. Oftmals ist es gerade die Vermischung beider Aufgaben, die zu
Missverständnissen f€uhrt.
Auch wenn in diesem Beitrag drei Grundtypen und verschiedene Subtypen von
Regimen dargestellt wurde, ist damit nur begrenzt ein Grundkonsensus skizziert. Die
laufenden Diskussionen beziehen sich sowohl auf die Grundtypen – wie die breite
Debatte €uber die Postdemokratie (Crouch 2008; Streeck 2013) zeigt oder die an
Dynamik gewinnende Autoritarismusdebatte (Kailitz und Köllner 2013) – als auch
auf die Subtypen, die bei autoritären und demokratischen Subtypen immer noch
konzeptionelle Klärungen erfordern, die in ihrer Konzeptualisierung einen klaren
Bezug zu den Grundtypen zu beachten haben – sei es in der Version regulärer oder
verminderter Subtypen. Gleichfalls ein offenes Forschungsfeld bleibt die Regime-
messung, auch wenn konzeptionell und in der Datenerhebung in den letzten Jahren
vieles geleistet wurde; auch hier sind die etablierten methodischen Erfordernisse der

13
http://www.nccr-democracy.uzh.ch/research/module5/barometer/democracy-barometer-for-
established-democracies. Zugegriffen am 20.07.2015.
Regime in der Vergleichenden Politikwissenschaft: Autokratie und Demokratie 137

Datenerhebung und -auswertung zu beachten. Insgesamt bestehen ausreichende


Grundlagen, um die Dynamik und Stabilität von Regimen sowie ihre Performanz
zu untersuchen (vgl. hierzu den Beitrag zu ‚Autokratien und Demokratien‘ in
diesem Band).

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Regierungssysteme in der Vergleichenden
Politikwissenschaft: Konzepte und Modelle

Ludger Helms

Zusammenfassung
Im Zentrum der konzeptuell orientierten Forschung zu Regierungssystemen im
Rahmen der Vergleichenden Politikwissenschaft steht die Diskussion €uber unter-
schiedliche Regierungsformen. Der internationale Entwicklungstrend in diesem
Bereich ist durch eine wachsende Ausdifferenzierung gekennzeichnet. Längst
wird nicht mehr nur zwischen parlamentarischen und präsidentiellen Systemen
unterschieden, sondern der Semi-Präsidentialismus als dritter Typus mit mehre-
ren Ausformungen €uberwiegend anerkannt. Hinzu kommen Versuche, den unter-
schiedlichen Ausformungen vertikaler Gewaltenteilung politischer Systeme
konzeptuell Rechnung zu tragen. Die spezifischen institutionellen Muster hori-
zontaler und vertikaler Gewaltenteilung können in weiter dimensionierte Kon-
zepte demokratischer Regierungssysteme und Demokratietypen integriert wer-
den. Das außerordentlich einflussreiche Vetospieler-Theorem zielt streng
genommen auf eine Überwindung der maßgeblichen Klassifikationen der klassi-
schen Regierungs(formen)lehre, hat im Zuge eines Rezeptionsstranges, der auf
die konstitutionellen Vetospieler konzentriert ist, jedoch gleichwohl konstrukti-
ves Potential auch innerhalb der vergleichenden Regierungssystemforschung
entfaltet. Zu den j€ungeren Entwicklungstrends der Teildisziplin gehört insbeson-
dere die fortschreitende Expansion in den transnationalen Bereich.

Schlüsselwörter
Institutionen • Gewaltenteilung • Parlamentarismus • Präsidentialismus • Semi-
Präsidentialismus • Vetospieler

L. Helms (*)
Professor f€ur Vergleich politischer Systeme, Institut f€
ur Politikwissenschaft,
Universität Innsbruck, Innsbruck, Österreich
E-Mail: ludger.helms@uibk.ac.at

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 141


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_10
142 L. Helms

1 Einleitung

Die durch die geläufige Bezeichnung „Vergleichende Regierungslehre“ beförderte


Vorstellung, dass Regierungen und Regierungssysteme das nat€urliche Zentrum der
Vergleichenden Politikwissenschaft darstellen, ist nicht unwesentlich einem sprach-
lichen Missverständnis geschuldet. Bei der deutschsprachigen Bezeichnung „Ver-
gleichende Regierungslehre“ handelt es sich um eine ungl€uckliche Übersetzung des
englischsprachigen Begriffs „Comparative Government“, welcher besser mit ver-
gleichender Staatswissenschaft zu €ubersetzen wäre. Die seit dem zweiten Nach-
kriegsjahrzehnt zu beobachtende Verdrängung des älteren Begriffs „Comparative
Government“ durch „Comparative Politics“ in der angelsächsischen Literatur indi-
zierte folglich vor allem die bewusste Öffnung der Teildisziplin hin zu nicht unmit-
telbar auf den Staat bezogenen Gegenständen (Blondel 1999). Im Zusammenwirken
mit den Ideen des Strukturfunktionalismus (vgl. Easton 1965; Almond und Powell
1966) beförderte die Ausweitung des Forschungsprogramms von den staatlichen
Strukturen auf zusätzliche institutionelle und gesellschaftliche Aspekte umfassende-
re Vorstellungen von Gemeinwesen, die im Begriff des „politischen Systems“ zum
Ausdruck kamen und im Deutschen bis heute Niederschlag in der Bezeichnung
„Vergleichende Politische Systemforschung“ bzw. „Systemlehre“ finden. Die Unter-
scheidung zwischen „Regierungssystem“ und „politischem System“ blieb in großen
Teilen der Literatur allerdings auffallend unbestimmt. Jedenfalls verzichten jene
Werke, die die Bezeichnung „Regierungssystem“ im Titel f€uhren (so etwa Hesse
und Ellwein 2012; Grotz und M€uller-Rommel 2011) nicht auf eine Analyse gesell-
schaftlicher Aspekte demokratischer Gemeinwesen. Umgekehrt legen andere wich-
tige Referenzwerke der deutschsprachigen Komparatistik, die dem Terminus
„politisches System“ den Vorzug geben, den Akzent bewusst auf den Vergleich
der formal-rechtlichen Dimensionen des staatlichen Institutionensystems (so etwa
Ismayr 2009, 2010).
Unter dem Eindruck der weltweiten Demokratisierungsprozesse der „dritten
Welle“ widmete die internationale Demokratieforschung den institutionellen Grund-
lagen demokratischer Systeme seit den fr€uhen neunziger Jahren vor allem aus der
Perspektive des „institutional engineering“ erneut große Aufmerksamkeit (vgl. etwa
Sartori 1995; Zielonka 2001). Allerdings wurde das Forschungsprogramm der
Systemlehre bald durch die gezielte Ber€ucksichtigung informaler Institutionen
(vgl. etwa Lauth 2000; Helmke und Levitsky 2004) ergänzt. So unerlässlich die
Ber€ ucksichtigung informaler Institutionen f€ur ein Verständnis der komplexen Funk-
tionslogik unterschiedlicher Systeme ist, so gering blieb ihre Rolle in der konzeptu-
ell orientierten Systemforschung, welche weiterhin ganz bewusst auf die formalen
Institutionen konzentriert ist. Ausnahmen bestätigen die Regel: So argumentiert
etwa Michael Mezey in seiner breit angelegten vergleichenden Studie zum Präsiden-
tialismus explizit: „presidentialism is more than simply a constitutional category: it
includes a set of public perceptions, political actions, as well as formal and informal
power“ (Mezey 2013, S. 6). Insofern der eigentliche Schwerpunkt dieser Arbeit auf
der vergleichenden Analyse von Handlungen, Perzeptionen und Manifestationen
von Macht in unterschiedlichen präsidentiellen (und semi-präsidentiellen) Systemen
Regierungssysteme in der Vergleichenden Politikwissenschaft: Konzepte und. . . 143

liegt, kann sie allerdings kaum als ein gezielter Beitrag zur Konzeptbildung im
engeren Sinne betrachtet werden.

2 Konzepte und Modelle

2.1 Regierungsformen: Parlamentarismus, Präsidentialismus und


Semi-Präsidentialismus

Das eigentliche Herzst€uck der konzeptuell orientierten Beschäftigung mit Regie-


rungssystemen im Rahmen der Vergleichenden Politikwissenschaft bildet das
Studium von Regierungsformen. Dabei geht es um spezifische institutionelle Konfi-
gurationen auf der Ebene der horizontalen Gewaltenteilung. Dies impliziert eine
Fokussierung auf die Familie der demokratischen Systeme. Als grundlegend gilt
heute die Unterscheidung zwischen parlamentarischen und präsidentiellen Regie-
rungssystemen – welche sich freilich erst im Zuge ausgreifender historischer Kont-
roversen €uber eine angemessene konzeptuelle Erfassung der institutionellen Konfi-
gurationen des demokratischen Verfassungsstaates seit dem späten 19. Jahrhundert
herausbildete (von Beyme 1999). Im Zentrum der Unterscheidung zwischen der
parlamentarischen und der präsidentiellen Regierungsform steht das Verhältnis zwi-
schen Exekutive und Legislative. Gerade in der deutschen Literatur wurde dabei die
Konzentration auf ein primäres Bestimmungsmerkmal betont (so vor allem bei
Steffani 1983, 1995). Als Primärkriterium des parlamentarischen Regierungssys-
tems gilt dabei die parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung; letztere kann
vermittels eines parlamentarischen Misstrauensvotums jederzeit gest€urzt werden.
Als weiteres Kernmerkmal (und Pendant der parlamentarischen Verantwortlichkeit
der Regierung) wird das Recht zur Parlamentsauflösung durch die Exekutive be-
trachtet. Während das parlamentarische Abberufungsrecht auf den Regierungschef
oder das Kabinett (seltener auch auf einzelne Minister) bezogen ist, liegt die
parlamentarische Auflösungsbefugnis jedoch €ublicherweise nicht allein beim Regie-
rungschef bzw. beim Kabinett; gefordert ist vielmehr die (keineswegs immer nur
formale) Zustimmung des Staatsoberhaupts.
Das präsidentielle Regierungssystem kennt keine politische Verantwortlichkeit
Präsidenten gegen€uber der Legislative und kein Verfahrensrecht des Kongresses,
den Präsidenten aus politischen Gr€unden aus dem Amt zu treiben. Umgekehrt
verf€ugt der Präsident dem Kongress gegen€uber €uber keine Auflösungsbefugnis.
Beide Akteure besitzen eine eigenständige, voneinander unabhängige elektorale
Legitimation und einen darauf gr€undenden politisch-institutionell unabhängigen
Status. Ungeachtet der in der Verfassungspraxis stark ausgeprägten gegenseitigen
politischen Abhängigkeit von Exekutive und Legislative kann in diesem Sinne die
institutionelle Gewaltentrennung zwischen Exekutive und Legislative als das zen-
trale Strukturmerkmal präsidentieller Systeme angesehen werden. Tatsächlich ist die
Bezeichnung „separation-of-powers systems“ oder schlicht „separated system“ in
der angelsächsischen Literatur €uber die USA als dem Archetyp des Präsidentialis-
mus sehr viel stärker verbreitet als der Terminus „presidential system“. Dem
144 L. Helms

entspricht die Neigung vieler amerikanischer Komparatisten, parlamentarische Sys-


teme als „fusion-of-powers“-System zu bezeichnen (Kreppel 2008). Während im
Deutschen kaum jemand auf die Idee käme, von „Gewaltenverschmelzungs-Syste-
men“ zu sprechen, brach sich das Bewusstsein der durch das institutionelle Regelwerk
induzierten engen funktionalen Integration von Regierung und parlamentarischer
Mehrheit zu einer „Regierungsmehrheit“ vereinzelt bereits seit den späten f€unfziger
Jahren auch auf begrifflich-konzeptueller Ebene Bahn. Als Regierungsmehrheit wird
dabei „jene Einheit von verantwortlichem Regierungspersonal und stimmberechtigter
Parlamentsmehrheit“ verstanden, „die ihre Existenz der politischen Vertrauensabhän-
gigkeit der Regierung vom Parlament verdankt“ (Steffani 1991, S. 19).
Die Existenz einer „doppelten Exekutive“ wurde als weiteres konstitutives Struk-
turmerkmal parlamentarischer Systeme genannt (Steffani 1983, S. 394) und gele-
gentlich scharf kritisiert. F€ur das Vereinigte Königreich, immerhin der unbestrittene
Archetyp des parlamentarischen Systems, erkennen etwa Döring und Hönnige
„keine Spur“ einer doppelten Exekutive, weil der politische Handlungsspielraum
der Krone dort so gut wie nicht-existent sei (Döring und Hönnige 2008, S. 457).
Obwohl die sehr weitgehende politische Machtlosigkeit des britischen Monarchen
gewiss zutreffend erfasst ist, vermag dieser Einwand gleichwohl nicht recht zu
€uberzeugen. Der eigentliche Akzent des von Steffani vorgeschlagenen Bestim-
mungskriteriums liegt auf der institutionellen und personellen Trennung der Ämter
des Regierungschefs und des Staatsoberhaupts, welche auch in Großbritannien ganz
zweifelsfrei verwirklicht ist.
Ein weiteres, häufig genanntes Abgrenzungsmerkmal des Parlamentarismus
gegen€ uber dem Präsidentialismus – die Vereinbarkeit von Regierungsamt und
parlamentarischem Mandat – stellt, ähnlich wie die Befugnis der Regierung zur
Parlamentsauflösung, keine flächendeckend verwirklichte institutionelle Eigenschaft
parlamentarischer Systeme dar. Mehrere eindeutig parlamentarische Systeme – unter
ihnen die Niederlande, Norwegen und Schweden – kennen ein Inkompatibilitätsge-
bot. Schon immer ein gutes St€uck unterhalb der verfassungsrechtlichen Unterschei-
dungsmerkmale angesiedelt war als weiteres Strukturmerkmal die stark
unterschiedlich ausgeprägte Parteidisziplin in den legislativen Versammlungen
parlamentarischer und präsidentieller Demokratien. Die j€ungeren Entwicklungen
auf der Ebene des politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses in
unterschiedlichen Regierungssystemen suggerieren, dass es hinsichtlich dieses Kri-
teriums auch in der Praxis zu bemerkenswerten Annäherungstendenzen gekommen
ist. Daf€ur ist vor allem die gewachsene Parteidisziplin in vielen präsidentiellen
Systemen, keineswegs allein in den USA, verantwortlich (vgl. Kailitz 2008). Bei
der Formulierung „realistischer“ Konzepte ist diesen empirischen Entwicklungen
angemessen Rechnung zu tragen.
Ein verbreiteter Vorwurf gegen€uber dem Vorschlag Steffanis, eine grundlegende
Klassifikation von Regierungsformen letztlich an einem zentralen Kriterium – der
Existenz bzw. Absenz der parlamentarischen Verantwortlichkeit der Regierung –
festzumachen, betrifft dessen vermeintlich geringe Differenzierungsleistung. Tat-
sächlich fallen aus dieser Sicht mit nur wenigen Ausnahmen beinahe alle Mitglied-
staaten der EU in die Gruppe parlamentarischer Regierungssysteme. Unterhalb der
Regierungssysteme in der Vergleichenden Politikwissenschaft: Konzepte und. . . 145

grundlegenden Zuordnung von Systemen parlamentarischen und präsidentiellen


Typs sind jedoch auch im Rahmen der Konzeptualisierung Steffanis weitere
Differenzierungen möglich, etwa – wie von Steffani (1983, S. 395) selbst vorge-
schlagen – zwischen parlamentarischen Systemen mit Premierdominanz (Großbri-
tannien), mit Präsidialdominanz (Frankreich) oder mit Exekutivkooperation (Öster-
reich). Solche Spezifizierungsleistungen erlaubten es den Vertretern einer binären
Regierungsformenlehre im Rahmen der Auseinandersetzung €uber einen möglichen
dritten Grundtypus demokratischer Regierungssysteme – dem Semi-Präsidentialis-
mus – an ihrer dualistischen Kernunterscheidung festzuhalten.
Die vor allem im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts intensiv gef€uhrte Debatte

uber einen möglichen dritten Grundtypus demokratischer Regierungssysteme kann
heute gleichwohl als weitgehend entschieden gelten: In der politikwissenschaftli-
chen Weltliteratur ist die Vorstellung von der Existenz eines semi-präsidentiellen
Typus demokratischer Regierungssysteme ungeachtet des damit einhergehenden
weiteren Klärungsbedarfs mittlerweile fest verankert (Elgie 1999, 2011a; Elgie
und Moestrup 2005, 2009; Schleiter und Morgan-Jones 2009; Elgie, Moestrup und
Wu 2011).
Die urspr€ungliche, durch Maurice Duverger (1980) angestoßene Diskussion €uber
den Semi-Präsidentialismus war bemerkenswerter Weise vollständig anders gela-
gert. Bei Duverger diente die tatsächliche Macht des Präsidenten in der Verfassungs-
praxis als zentrale abhängige Variable. Erst seit den fr€uhen neunziger Jahren ging es
bei der Diskussion €uber den Semi-Präsidentialismus um einen Systemtyp, der
explizit mit dem Parlamentarismus und Präsidentialismus verglichen wurde (Elgie
2011b, S. 15). Um den Vergleich der Grundtypen von Regierungssystemen mit
hinreichender Validität auszustatten, ist es erforderlich, den Semi-Präsidentialismus
ebenso wie den Parlamentarismus und Präsidentialismus an grundlegenden verfas-
sungsrechtlichen Regeln (statt an einzelnen Aspekten der „lebenden Verfassung“)
festzumachen. Mit Robert Elgie können als die beiden maßgeblichen institutionellen
Kriterien zur Bestimmung semi-präsidentieller Regierungssysteme gelten: die
Direktwahl des präsidentiellen Staatsoberhaupts und die kollektive politische Ver-
antwortlichkeit von Premierminister und Kabinett gegen€uber dem Parlament (Elgie
2011a, S. 24). F€ ur die zusätzliche Forderung, dass der Präsident in einem „echten
semi-präsidentiellen System“ €uber weitreichende Machtbefugnisse verf€ugen m€usse,
besteht bei einem solchem basalen Bestimmungsversuch semi-präsidentieller Sys-
teme kein Raum. Im Sinne einer gezielten Ausscheidung intersubjektiv schwer zu

uberpr€ufender Bestimmungskriterium bleibt dieser Aspekt zugunsten einer präzisen
verfassungsrechtlich basierten Typologie von Regierungssystemen bewusst unbe-
r€
ucksichtigt.
Damit haben sich insbesondere Fachvertreter schwergetan, in deren Arbeiten
Fragen der Typologisierung von Regierungssystemen mit der Bewertung der Ver-
fassungspraxis in einem System vermischt werden. Gemessen an den beiden oben
genannten, in der angelsächsischen Literatur seit den neunziger Jahren etablierten
Basiskriterien des Semi-Präsidentialismus (Direktwahl des Staatspräsidenten und
parlamentarische Verantwortlichkeit von Premierminister und Kabinett) macht eine
Aussage wie von Ismayr, „dass mittlerweile fast €uberall [in Ostereuropa, L.H.]
146 L. Helms

parlamentarische Regierungssysteme bestehen, allerdings mit (häufig direkt gewähl-


ten) Staatspräsidenten, die sich nicht auf repräsentative Kompetenzen beschränken“
(Ismayr 2010: 22) jedenfalls wenig Sinn. Freilich gibt es typologische Differenz-
ierungsvorschläge auch f€ur die Familie der semi-präsidentiellen Systeme, in denen
der speziellere verfassungsrechtliche Status der unterschiedlichen Exekutivakteure
zueinander und in ihrem Verhältnis dem Parlament gegen€uber gezielt ber€ucksichtigt
wird. Am international einflussreichsten wurde der diesbez€ugliche Vorschlag von
Shugart und Carey (1992). Sie unterscheiden zwischen „president-parliamentarism“
(ein System, in dem der Premierminister und das Kabinett sowohl dem Parlament
als auch dem Präsidenten gegen€uber kollektiv politisch verantwortlich sind) und
„premier-presidentialism“ (ein System, in dem es eine kollektive politische Verant-
wortlichkeit von Regierungschef und Kabinett nur dem Parlament gegen€uber gibt).
In der Literatur finden sich zahlreiche konkurrierende Differenzierungsvorschlä-
ge. F€ur große Un€ ubersichtlichkeit sorgt dabei der Umstand, dass einige Autoren mit
einer sehr ähnlichen Terminologie agieren, diese jedoch im Rahmen einer grundle-
gend anderen Kategorisierung von Systemtypen verwenden. So unterscheidet etwa
R€ub (2007, S. 244–245) zwischen „semi-präsidentiellen“ und „premier-präsiden-
tiellen“ Systemen, wobei erstere nicht als ein weiter auszudifferenzierender Basisty-
pus, sondern als ein kategorial gleichberechtigter Typus neben dem „premier-präsi-
dentiellen“ Typus verstanden werden. Daneben gibt es, auch mit Bezug auf den
Grundtypus des Semi-Präsidentialismus, unterschiedliche speziellere Kategorisie-
rungen wie die des „Superpräsidentialismus“ bzw. „Hyperpräsidentialismus“, wel-
che auf die „lebende Verfassung“ in einzelnen Systemen wie etwa Russland und der
Ukraine (Ishiyama und Kennedy 2001), oder gelegentlich auch auf jene der
V. Republik Frankreich bezogen wurden (Hayward 2013). Dass die identischen
Begriffe zugleich f€ur die Charakterisierung von Systemen wie Argentinien und die
Philippinen herangezogen wurden (so etwa bei Rose-Ackerman et al. 2011), die
nach mehrheitlicher Auffassung der Familie der präsidentiellen Systeme angehören
(vgl. Mezey 2013, S. 57–58), birgt die Gefahr einer problematischen Verwischung
der etablierten Kernkategorien, welche am Ziel einer verlässlichen Differenzierung
zwischen formal unterschiedlichen Regierungsformen ausgerichtet sind.
Gemessen an solchen spezielleren Konzeptualisierungen vermag das einfluss-
reiche Konzept von Shugart und Carey die Komplexität unterschiedlicher Systeme
in der Verfassungspraxis freilich nicht exakt abzubilden. Das gilt sowohl f€ur die
substantiellen Folgen von möglichen Veränderungen der politischen Kontrollmuster
zwischen Präsidentenamt, Regierung und legislativer Versammlung (wie sie etwa
aus der V. Republik Frankreich bekannt sind) als auch f€ur längerfristig stabile
Strukturen, die sich gleichsam im Schatten des konstitutionellen Regelwerks etab-
liert haben (so etwa in der Zweiten Republik Österreich). Gleichwohl erweist sich
der Vorschlag Shugarts und Careys auch mit Blick auf die demokratische Perfor-
manz unterschiedlich beschaffener semi-präsidentieller Systeme insgesamt als
durchaus erklärungskräftig. So zögert Elgie in der Conclusio seiner großen Mono-
graphie aus dem Jahre 2011 nicht, die präsidentiell dominierte Variante des Semi-
Präsidentialismus („president-parliamentarism“) als „the real problem of
semi-presidentialism“ zu bezeichnen (Elgie 2011a, S. 181). Alles in allem wiesen
Regierungssysteme in der Vergleichenden Politikwissenschaft: Konzepte und. . . 147

semi-präsidentielle Systeme dieses Typs eine eindeutig schlechtere demokratische


Gesamtperformanz auf als der stärker premiergeprägte Typus semi-präsidentieller
Demokratie.
Arbeiten wie diese stellen eine wichtige Ergänzung der einflussreichen Studien
€uber die demokratische Performanz parlamentarischer und präsidentieller Systeme
dar. F€ur beide Regierungsformen lassen sich potentielle Stärken und Schwächen
ermitteln (Lijphart 1992). Dominiert wurde die Diskussion jedoch lange Zeit durch
die Thesen von Linz (1994), denen zufolge der Präsidentialismus die bedeutend
problematischere Regierungsform sei, insbesondere wegen des Risikos einer struk-
turellen Blockade zwischen Präsident und Kongress und der daraus resultierenden
geringeren Regimestabilität. Speziell aus der Lateinamerikaforschung gibt es wich-
tige Hinweise darauf, dass das kooperative Potential präsidentieller Demokratien
dabei unterschätzt wurde. In diesem Zusammenhang wurde mit Blick auf unter-
schiedliche Systeme wie Brasilien, Chile und Uruguay von einem „Koalitionspräsi-
dentialismus“ gesprochen (Nolte 2007).
In global angelegten empirischen Vergleichen auf Basis von Kriteriensets aus den
Bereichen „political development“, „economic development“, und „human develop-
ment“ schneiden parlamentarische Systeme alles in allem gleichwohl deutlich besser
ab. Vor allem mit Blick auf die beiden letztgenannten Bereiche wurde ein starker
Zusammenhang zwischen der parlamentarischen Regierungsform und „good gover-
nance“ ermittelt (Gerring et al. 2009). In der j€ungsten Forschung gibt es jedoch auch
Stimmen, die die Bedeutung des Systemunterschieds f€ur €uberbewertet halten und
anderen Faktoren, wie insbesondere den konkreten Entstehungsbedingungen der
Verfassung, ein größeres Gewicht zuerkennen (Cheibub et al. 2014).

2.2 Konzeptuelle Aspekte vertikaler Gewaltenteilung

Zu den konzeptuell orientierten Auseinandersetzungen der Forschung zu den Regie-


rungssystemen gehören auch Fragen, die sich auf die Strukturen vertikaler Gewal-
tenteilung beziehen. Die klassische Unterscheidung zwischen Einheitsstaaten und
Bundesstaaten ist im Zuge j€ungerer Konzeptualisierungsvorschläge beinahe ver-
drängt worden. Dabei erscheint der schillernde Begriff des „Mehrebenensystems“
allerdings nur auf den ersten Blick als ein zeitgemäßes Synonym f€ur föderative
Systeme. Während einige Autoren selbst einzelne bundesstaatliche Systeme aus-
dr€ucklich nicht als Mehrebenensystem begreifen (vgl. etwa Pappi et al. 2005,
S. 433), argumentieren andere, dass es sich letztlich bei den meisten demokratischen
politischen Systemen um Mehrebenensysteme handele, „selbst wenn sie formal als
Einheitsstaaten organisiert sind (. . .), weil in ihnen regionale oder lokale Einheiten
existieren, in denen eigenständige Regierungsmacht ausge€ubt wird“ (Benz 2009,
S. 14). Zu weiterer konzeptueller Un€ubersichtlichkeit hat ferner beigetragen, dass
Manifestationen von Dezentralisierung und Regionalisierung in Einheitsstaaten
zunehmend als funktionales Äquivalent von Dynamiken der Föderalisierung
in föderativen Systemen begriffen werden (vgl. Swenden und Erk 2010),
wodurch der kategoriale Unterschied bez€uglich der Souveränitätskonstruktionen
148 L. Helms

einheitsstaatlicher und föderativer Systeme droht, aus dem Blick zu geraten. Inner-
halb der konzeptuellen Debatte €uber föderative Systeme wird in der j€ungeren
Literatur außerdem die klassische Unterscheidung zwischen dualen und kooperati-
ven Bundesstaaten mittlerweile von einigen Autoren abgelehnt, zugunsten kom-
plexerer Analysedimensionen wie insbesondere der Ausgestaltung der Kompetenz-,
Ressourcen und Entscheidungsverflechtung von Systemen (vgl. Benz und Lehm-
bruch 2002), ohne dass dieser Zugang bereits zur Entstehung neuer akzeptierter
Referenzkonzepte territorial gewaltenteilender Regierungssysteme gef€uhrt hätte.

2.3 Mehrheits- und Konsensusdemokratien

Die äußert einflussreiche Differenzierung unterschiedlicher Demokratietypen durch


Arend Lijphart greift deutlich €uber die verfassungsrechtlichen Aspekte im Verhältnis
zwischen Exekutive und Legislative bzw. unterschiedlichen territorialen Ebenen
politischer Systeme hinaus und bezieht auch eine Reihe von Elementen ein, die
nur in einem weiteren Sinne als institutionelle Aspekte von Regierungssystemen
bzw. als spezifische Elemente des Akteurverhaltens betrachtet werden können
(Lijphart 1984; 2012). Das gilt etwa f€ur die Existenz oder Absenz von Koalitions-
regierungen oder die Wettbewerbsstruktur des Parteiensystems. Im Gegensatz zu
den unterschiedlichen Typen, die in der Regierungsformenlehre unterschieden wer-
den, klingt bei Lijphart schon in den Bezeichnungen seiner beiden Idealtypen – der
Westminster- bzw. Mehrheitsdemokratie einerseits und der Konsensusdemokratie
andererseits – an, welche Muster der politischen Willensbildung und Entscheidungs-
findung in den jeweiligen Systemen €ublicherweise vorherrschen. Als Modelltypen
dienen ihm dabei Großbritannien und Neuseeland als Westminster-Demokratien
und die Schweiz und Belgien als Konsensus-Demokratien. Lijpharts Unterschei-
dung von Mehrheits- und Konsensusdemokratie weist eine enge Ber€uhrung zu
verwandten Gegensatzpaaren wie Proporz-, Konkordanz- und Verhandlungsdemo-
kratie vs. Konkurrenzdemokratie auf, ohne hinsichtlich der spezielleren Operationa-
lisierung vollständig identisch mit diesen zu sein (vgl. Schmidt 2008a, Kap. 18
und 19).
Vor allem Lijpharts betont breite Konzeptualisierung des Westminster-Modells
war nie unumstritten. Wo der länder€ubergreifend verwirklichte Kern des Konzepts
aus der empirischen Beobachtung hergeleitet wird, verbleibt nach Einschätzung
einiger Autoren als einziges Kernmerkmal die Einheit von Exekutive und Legisla-
tive, welche durch eine Partei diszipliniert wird (so Wilson 1994, S. 193). Tatsäch-
lich lassen speziellere Vergleiche innerhalb der Familie der Westminster-
Demokratien so beträchtliche Unterschiede zwischen Ländern erkennen, dass
bedeutend breitere Konzeptualisierungen aus dieser Sicht fragw€urdig erscheinen
mögen (Rhodes, Wanna und Weller 2009). F€ur das weitere Feld des Systemver-
gleichs erscheint es dagegen sinnvoll, vor allem die weitgehend uneingeschränkte
Macht der Exekutive in der parlamentarischen Arena (und €uber diese hinaus)
als zentrales idealtypisches Merkmal des Westminster-Modells zu betrachten
(Siaroff 2003). Dass das Konzept eines „rationalisierten Parlaments“ bzw. eines
Regierungssysteme in der Vergleichenden Politikwissenschaft: Konzepte und. . . 149

„rationalisierten Parlamentarismus“ nicht am Beispiel Großbritanniens, sondern der


V. Republik Frankreichs eingef€uhrt wurde (Huber 1996), mag auf den ersten Blick

uberraschen, ist jedoch eher der Eigendynamik der politikwissenschaftlichen For-
schung als den historischen Zusammenhängen geschuldet. Tatsächlich entstanden
die betreffenden Strukturen im Großbritannien des 19. Jahrhunderts und ging es den
Verfassungsgebern der V. Republik darum, das neue System abgesehen von dessen
semi-präsidentieller Konstruktion, gezielt an zentralen Merkmalen des britischen
Westminster-Modells auszurichten.
Trotz vereinzelter Kritik steht der weltweite Referenzstatus der Arbeiten Lijpharts
seit vielen Jahren kaum mehr in Frage. In nachfolgenden Studien wurden vor allem
die politisch-materiellen Auswirkungen von Mehrheits- und Konsensusdemokratien
immer wieder vergleichend untersucht (M€uller-Rommel 2008; Schmidt 2008b).
Lijphart selbst lässt auch in der Neuauflage seiner großen Studie keinen Zweifel
daran, dass die Konsensdemokratie mit Blick auf ihre demokratische und politisch-
materielle Leistungsbilanz aus seiner Sicht den Mehrheitsdemokratien alles in allem
eindeutig €uberlegen ist (ebd. Kap. 16 und 17). Mit Blick auf die institutionellen
Strukturparameter der Regierungssysteme und die daraus folgenden Handlungs-
optionen von Akteuren erscheint vor allem der Hinweis wichtig, dass die Klassi-
fikationen Lijpharts gleichsam quer zu den Verortungen der klassischen
Regierungsformenlehre liegen. Tatsächlich steht etwa die Bundesrepublik Deutsch-
land mit Blick auf die erforderlichen Aushandlungszwänge der Regierung im
politischen Prozess den Vereinigten Staaten ein gutes St€uck weit näher als manch
anderem parlamentarischen System, so vor allem, aber nicht nur Großbritannien
(Helms 2005).

2.4 Das Vetospieler-Theorem

Die verstreuten Hinweise aus der empirischen Forschung, dass die Erklärungskraft
der Regierungsform im engeren Sinne f€ur die Struktur des politischen Prozesses und
dessen Ergebnisse in einem System unter bestimmten Bedingungen begrenzt sein
kann, werden in dem außerordentlich einflussreichen Vetospieler-Ansatz von
George Tsebelis (1995, 2002) zu einer grundlegenden Gegenthese verdichtet und
zu einem neuen Theorem weiterentwickelt. Die Vorstellung eines stabilen System-
charakters von demokratischen Gemeinwesen wird dabei zugunsten des Denkens in
dynamischen Konfigurationen von institutionellen und parteipolitischen Vetospie-
lern aufgegeben. Über die Veränderung des „policy status quo“ – dies ist bei Tsebelis
die zentrale abhängige Variable – hängt nach diesem Modell ab (1) von der Anzahl
der Vetospieler, (2) der Konfiguration der Vetospieler-Landschaft und schließlich
(3) der inneren Kohäsion der Vetospieler. Das Denken in den Kategorien von Macht
und Vetomacht ist innerhalb der Systemlehre freilich alles andere als neu, das
spezifische Ensemble speziellerer Propositionen des Theorems hingegen schon.
Besondere Bedeutung kommt der Annahme zu, dass parteipolitische Vetospieler
(etwa innerhalb einer Koalitionsregierung) zu einem faktischen Äquivalent institu-
tioneller Vetoakteure werden können. Dies ist nicht allein dem Anspruch geschuldet,
150 L. Helms

der Komplexität politischer Entscheidungssituationen gerecht zu werden. Tatsäch-


lich besteht ein zentrales Ziel des Autors darin, mit seinem theoretisch-analytischen
Zugriff die Anzahl der vergleichend analysierbaren Fälle – €uber die klassischen
Systemgrenzen hinweg – zu vergrößern (Tsebelis 1995, S. 292), wodurch insbeson-
dere die faktische Isolation und strukturelle „Unvergleichbarkeit“ der Vereinigten
Staaten innerhalb der Familien der konsolidierten Demokratien €uberwunden wer-
den soll.
In adaptierter Form hat sich der Vetospieler-Ansatz auch im Rahmen der deutsch-
sprachigen Literatur zum Systemvergleich einen Platz erobert (vgl. etwa Abromeit
und Stoiber 2006). Im Kern handelt es sich beim Vetospieler-Theorem gleichwohl
um einen Ansatz zur Analyse und Prognose von politischen Entscheidungsprozessen
und weniger um einen Beitrag zur Lehre von den Regierungssystemen. Während das
Vetospieler-Theorem eine Typologie von Systemen nicht anstrebt, ist dies das Ziel
anderer Beiträge, welche um die vergleichende Verortung unterschiedlicher Regime
auf Basis der Anzahl konstitutioneller Vetospieler bem€uht sind (siehe etwa Schmidt
2002). Innovative j€ungere Arbeiten zur „Resilienz“ unterschiedlicher Demokratiety-
pen unter systematischer Ber€ucksichtigung von Institutionen und Verhaltensmustern
von Akteuren gelangen zu dem Ergebnis, „dass der Demokratietyp eines Landes
grundlegend durch sein Regierungssystem geprägt wird“ (Ganghof 2010, S. 5),
womit die vorherrschende Konzentration der Systemlehre auf die institutionellen
Strukturen auch aus dieser Perspektive gerechtfertigt erscheint.

2.5 Regierungssystemforschung jenseits der konsolidierten


Demokratien

Neben den bereits genannten Konzepten hat im deutschsprachigen Raum jenes der
„eingebetteten Demokratie“ von Wolfgang Merkel und anderen einen beträchtlichen
Einfluss entfaltet. Im Zentrum dieses Konzepts steht das Wahlregime, welches
jedoch von mehreren weiteren Teilregimen umrahmt wird, durch die das demo-
kratische Prinzip gleichsam unter den Schutz des Rechtsstaates gestellt wird. Wie
Immanuel Wallerstein feststellt, können Konzepte nur im Kontext ihrer Zeit ver-
standen werden (Wallerstein 2004, S. 1). Das Konzept der „eingebetteten Demokra-
tie“ entstand in Auseinandersetzung mit der in der Demokratisierungsforschung der
neunziger Jahre vorherrschenden Neigung, das Prädikat „Demokratie“ im Sinne
einer „elektoralen Demokratie“ primär oder gar ausschließlich am Kriterium freier
Wahlen festzumachen. Wer dagegen von den historischen Prozessen der „ersten
Welle der Demokratisierung“ aus denkt, welche durch einen zeitlichen Vorsprung
des Rechtsstaates gegen€uber der Demokratie gekennzeichnet war (Finer 1997), wird
in der rechtsstaatlichen Einbettung des Demokratiekonzepts bei Merkel et al. kaum
ein bahnbrechend innovatives Element zu erkennen vermögen. Die eigentliche
Bedeutung des Konzepts der „eingebetteten Demokratie“ f€ur die Vergleichende
Politikwissenschaft liegt denn auch eher darin, dass auf seiner Basis unterschiedliche
Typen von „defekten Demokratien“ unterschieden werden können, denen jeweils
Regierungssysteme in der Vergleichenden Politikwissenschaft: Konzepte und. . . 151

einzelne Elemente einer vollwertigen „eingebetteten Demokratie“ fehlen (Merkel


et al. 2003).
Nach Jahren der intensiven Auseinandersetzung mit Regierungssystemen und
Regimen, die im Graubereich zwischen Demokratie und Diktatur liegen, ist vor
kurzem auch die Beschäftigung mit eindeutig nicht-demokratischen, autokratischen
Systemen auf die Agenda der Vergleichenden Politikwissenschaft zur€uckgekehrt
(Kailitz und Köllner 2013; Croissant und Wurster 2013). Noch stärker als mit Blick
auf die „defekten Demokratien“, welche jedenfalls gezielt aus der Konfrontation mit
dem Modell der rechtsstaatlich eingebetteten Demokratie konzeptualisiert werden,
stellt sich mit Blick auf die Forschung zu den autokratischen Systeme die Frage, ob
diese als Beitrag zur Regierungssystemforschung im engeren Sinne bewertet werden
sollte. Dem ist entgegenzutreten, wenn die Regierungsformenlehre wie weithin

ublich als eine Teildisziplin im Zeichen der Gewaltenteilungslehre begriffen wird.
Ein weicheres Urteil ist möglich, wenn die Vorstellung von Regierungssystemen auf
die grundlegende institutionelle Architektur einer Herrschaftsordnung bezogen ist,
womit freilich die T€ur zur angrenzenden Regimelehre aufgestoßen ist. Angesichts
der Neigung der j€ungeren Forschung, den Verfassungsregeln auch in autoritären
Systemen einen eigenständigen Wert zuzuerkennen (vgl. etwa Ginsburg und Simp-
ser 2014) erscheint ein solches erweitertes Verständnis von Regierungssystemen
zunehmend gerechtfertigt.

3 Zusammenfassung und Ausblick

Wie andere Kernbereiche ist auch das Studium von Regierungssystemen innerhalb
der Vergleichenden Politikwissenschaft durch eine anhaltende Tendenz zur theo-
retisch-konzeptuellen Ausdifferenzierung gekennzeichnet. Dieser Trend ist mit den
beschriebenen Entwicklungen nicht an sein Ende gelangt. Mindestens im Rahmen
einer kurzen Schlussbemerkung sei auf die Ausdehnung der Regierungsformenlehre
in den Bereich transnational strukturierter Gemeinwesen hingewiesen. Diese zeigt
sich vor allem innerhalb der Europaforschung, in der seit den neunziger Jahren
Vorstellungen von der Europäischen Union als eines politischen Systems bzw.
Regierungssystems endg€ultig heimisch geworden sind (vgl. etwa Hix 1999; Hix
und Høyland 2009; Wessels 2008; Hartmann 2009). Längst wird auch nicht mehr
nur auf die prinzipielle Vergleichbarkeit der EU mit anderen Systemen hingewiesen,
sondern der Vergleich auf konzeptuell anspruchsvollem Niveau tatsächlich realisiert
(vgl. etwa Fabbrini 2007). Während es sich dabei bis vor kurzem noch um bemer-
kenswerte Einzelleistungen handelte, hat diese spezifische Ausdehnung der Ver-
gleichenden Politikwissenschaft in den Bereich des Internationalen und Transna-
tionalen hinein mittlerweile Niederschlag auch auf der Ebene entsprechend
ausgerichteter Fachzeitschriften gefunden (vgl. etwa Comparative European Poli-
tics). Aus einer breiteren Perspektive werden die auf Europa bzw. die Europäische
Union bezogenen Entwicklungen als wichtiger Strang innerhalb einer größeren
paradigmatischen Öffnung der Komparatistik hin zum Transnationalen erkennbar.
So findet auch die Beschäftigung mit Fragen eines möglichen Weltsystems (vgl.
152 L. Helms

etwa Archibugi, Koenig-Archibugi und Marchetti 2011), bei denen es freilich


mindestens so sehr um Aspekte politischer Regime wie von Regierungssystemen
im engeren Sinne geht, längst nicht mehr in vollständiger Isolation von klassischen
Zugängen der Vergleichenden Politikwissenschaft statt.

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Governance und Steuerungsformen in der
Vergleichenden Politikwissenschaft

Nicolai Dose

Zusammenfassung
Je nach theoretischem Kontext bezeichnet Governance Unterschiedliches. In dem
vorliegenden Beitrag werden diejenigen Konzeptionalisierungen von Gover-
nance diskutiert, die gut f€ur einen Vergleich fruchtbar gemacht werden können.
Dabei wird besonderes Augenmerk auf die Governance-Analyse gelegt, mit der
die Blockadeanfälligkeit von realen Struktur-Prozess-Konfigurationen untersucht
werden kann.

Schlüsselwörter
Governance • Institutionen • Netzwerkartige Steuerung • Blockadeanfälligkeit •
Governance-Analyse

1 Einleitung: Die Vielschichtigkeit des Governance-Begriffes

Governance hat – gemessen an dem Umfang der Verwendung des Begriffes und der
Zahl der Publikationen zum Thema – Konjunktur (Benz und Dose 2010b; Schuppert
2011; Schuppert und Z€urn 2008). War noch vor zehn Jahren beispielsweise von
Wasserwirtschaft die Rede, spricht man heute von Water Governance (United Na-
tions Development Programme o.J.). Die ubiquitäre Verwendung des Governance-
Begriffes mag damit zusammenhängen, dass er – wie Pierre und Peters (2000, S. 7)
es auf den Punkt bringen – „notoriously slippery“ sei (siehe auch Schuppert 2008).
Die Offenheit des Begriffes erlaubt ganz unterschiedliche inhaltliche Auff€ullungen,
je nach Interesse und Bedarf. Die Breite und Offenheit des Begriffes zeigt sich auch,
wenn man eine Übersetzungsmaschine zu Rate zieht: Der Begriff „governance“ wird

N. Dose (*)
Professor f€ur Politikwissenschaft und Verwaltungswissenschaft, Geschäftsf€ uhrender Direktor des
Instituts f€ur Politikwissenschaft, Universität Duisburg-Essen, Duisburg, Deutschland
E-Mail: nicolai.dose@uni-due.de

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 155


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_12
156 N. Dose

vom Englischen ins Deutsche mit „die Herrschaft, das Regieren, die Regierung, die
Regierungsf€ uhrung, die Regierungsgewalt, die Staatsf€uhrung und die Steuerung“
€ubersetzt (www.leo.org, abgerufen am 01.12.2014). Tatsächlich weist der Gover-
nance-Begriff eine erstaunliche Breite auf. Dies ist mitunter Anlass zur Kritik (Offe
2008, S. 67). Wenn man „Governance“ sage, sei damit nicht viel an Information
transportiert. Hier ließe sich entgegnen, dass dem jeweiligen Argumentationszusam-
menhang zu entnehmen sei, von welchem Governance-Begriff die Rede ist. Dies ist
etwa beim Systembegriff oder dem Demokratiebegriff nicht anders. Wovor man sich
allerdings h€uten sollte, ist die umstandslose Vermischung von Forschungsergebnis-
sen, die auf der Basis der zum Teil recht unterschiedlichen Governance-Begriffe und
zugrunde liegenden Forschungsfragen entstanden sind (Dose 2008b, S. 112; Offe
2008, S. 62). Diese Erkenntnis gilt es im Folgenden zu beachten, woraus sich ergibt,
die verschiedenen Vorstellungen von Governance getrennt voneinander zu behan-
deln.
Obwohl komparative Analysekonzepte wie das most similiar und most different
systems design auf mehr als einen Fall verweisen, werden auch theoriegeleitete
Einzelfallstudien mit guten Gr€unden regelmäßig zum Bestand der vergleichenden
Politikwissenschaft gezählt (siehe Aarebrot und Bakka 2003, S. 62–63; Hague und
Harrop 2007, S. 89–92; Lauth et al. 2009, S. 59, 62–68). Dennoch wird in der
nachfolgenden Diskussion der verschiedenen Governancekonzepte versucht, auf
einen vergleichenden Ansatz zu rekurrieren, der €uber die tiefgehende Analyse eines
Einzelfalls hinausgeht – entweder im Längsschnitt oder im Querschnitt. Dabei wird
aber auch deutlich werden – insbesondere wenn ich lediglich das Potenzial f€ur einen
systematischen Vergleich aufzuzeigen in der Lage bin –, dass intensive Einzelfall-
studien durchaus am Anfang einer Mehrfälleanalyse stehen können.

2 Theoretisch-konzeptionelle Kontexte von Governance

Von den mindestens sieben verschiedenen, herauszukristallisierenden Governance-


Begriffen, die jeweils unterschiedlichen theoretischen Kontexten zugeordnet werden
können (Benz und Dose 2010a, S. 17–25; siehe auch Rhodes 1997, S. 46–60, der
sechs unterschiedliche Verwendungen des Begriffes ausmacht), will ich mich auf
diejenigen konzentrieren, die mir f€ur den Zweck eines systematischen Vergleichs
besonders geeignet erscheinen.

2.1 Governance in der Institutionenökonomie

Die zentrale Frage der Institutionenökonomie: „Should a firm make or buy?“


(Williamson 1998, S. 75) verweist bereits auf einen Vergleich: In einer gegebenen
Situation soll €
uber den Einsatz der verschiedenen Modi der Handlungskoordination
(Märkte, Firmen, Hybridformen und B€urokratie) nach den jeweils anfallenden
Transaktionskosten entschieden werden. Dabei liegt der Transaktionskosten-Ökono-
mie eine spezifische Definition von Governance zugrunde:
Governance und Steuerungsformen in der Vergleichenden Politikwissenschaft 157

„Governance is also an exercise in assessing the efficacy of alternative modes (means) of


organization. The object is to effect good order through mechanisms of governance. A
governance structure is thus usefully thought as an institutional framework in which the
integrity of a transaction, or related set of transactions, is decided“ (Williamson 1996, S. 11).

Wichtiges Kriterium zur Auswahl der der jeweiligen Situation angemessenen


Governance-Struktur ist bei dieser Betrachtung naheliegenderweise die Höhe der
Transaktionskosten. Sie gilt es zu reduzieren und dabei gleichzeitig ausreichende
Vorkehrungen gegen opportunistisches Verhalten zu treffen. Mit letzterem ist ein
Verhalten gemeint, bei dem Akteure ihre Eigeninteressen auch durch arglistige
Täuschung durchsetzen. Hiergegen m€ussen Vorkehrungen getroffen werden, was
Transaktionskosten verursacht. Allerdings umfasst der Begriff der Transaktionskos-
ten noch mehr: Transaktionskosten beinhalten nicht nur diejenigen Kosten, die
entstehen, wenn Verträge und Abkommen vorbereitet und verhandelt werden, son-
dern auch diejenigen, die deren Einhaltung sicherstellen. Hinzu kommen Kosten f€ur
die Nachbesserung von Abkommen, wenn diese unvollständig oder fehlerhaft sind.
Dies geht meist nicht ohne zeitaufwändige Auseinandersetzungen und/oder die
Einschaltung von Dritten (Williamson 1985, 20 ff.). Der Vergleich der jeweils
anfallenden Transaktionskosten hilft also bei der Auswahl der jeweils angemessenen
Governance-Struktur.

2.2 Governance und die vergleichende Untersuchung von


Modellen sozialer Ordnung

In einer Studie von Hollingsworth und Lindberg (1985) steht das Verhältnis von
Firmen zu ihrer Umwelt im Vordergrund: Sie definieren unter Bezug auf Lawrence
und Dyer (1983): „The objectives of economic governance are efficiently and
adaptively to co-ordinate the activities of firms and their ‚relevant environments‘,
that is, customers, suppliers, competitors, labour, technology generators, govern-
ment agencies etc.“ (Hollingsworth und Lindberg 1985, S. 221). Hiermit entfernen
sie sich ein St€
uck weit von der urspr€unglichen Vorstellung von Coase und William-
son, der zufolge es ja vor allem um die Frage ‚Make or buy?‘, also um das Verhältnis
zu Geschäftspartnern auch im Sinne von Zulieferern geht. Hollingsworth und Lind-
berg weiten also mit ihrer Definition den Bereich der relevanten Akteure deutlich
aus. Sie rekurrieren dabei auf vier Governance-Mechanismen: Sie nennen neben
Markt und Hierarchie (mit den Submechanismen „state“ und „modern corporation“)
auch Clans und Verbandsbeziehungen. Unabhängig von der exakten Spezifizierung
dieser Mechanismen der „economic governance“ (Hollingsworth und Lindberg
1985, S. 221) geht es ihnen um die Darlegung der spezifischen Bedeutung dieser
Mechanismen in unterschiedlichen Sektoren der amerikanischen Ökonomie.
Dieser Ansatz lässt sich auch f€ur eine vergleichend angelegte Betrachtung der
Ökonomien verschiedener Nationalstaaten fruchtbar machen. Mit der auf relativ
abstrakten Kategorien aufbauenden Analyse, die beispielsweise auf mikropolitische
Prozesse nicht eingehen kann, lässt sich dann festmachen, welchen relativen Einfluss
158 N. Dose

der Staat etwa auf die Herausbildung der Luftfahrt-, Halbleiter- oder Nuklearindust-
rie hatte oder dass in Japan Clans eine größere Bedeutung zukommt als in den USA,
wobei es in den USA deutliche Unterschiede im Vergleich der verschiedenen
Sektoren gebe (Hollingsworth und Lindberg 1985, S. 247–249). Dies sind ausge-
sprochen wichtige Ergebnisse, die helfen, verschiedene nationalstaatliche Ökono-
mien in ihrer Differenziertheit zu verstehen, und die darauf aufmerksam machen,
dass die verschiedenen Governance-Mechanismen in Kombination wirken.

2.3 Governance und die netzwerkförmige, nicht-hierarchische


Steuerung

Die Policy-Forschung, insbesondere Untersuchungen von Programmentwicklungs- und


Implementationsprozessen (Mayntz 1998) zeigten, dass man bei der Erf€ullung kom-
plexer gesellschaftlicher Aufgaben immer weniger auf die Durchsetzungsmacht des
vermeintlich souveränen Staates vertrauen kann. Man erkannte, dass Regierungen und
Verwaltungen ihre Aufgaben meistens nicht autonom, sondern nur im Zusammenwirken
mit anderen Akteuren erf€ullen können. Dies können Akteure aus dem öffentlichen oder
dem privaten Sektor sein. Auch wurde offenbar, dass zahlreiche kollektiv verbindliche
Regeln auch ohne den Staat gesetzt und durchgesetzt werden (Schuppert 2011,
S. 200–250). In modernen Gesellschaften, die durchaus auch ohne ein Steuerungszent-
rum funktionierten, wird Politik in dieser Sichtweise generell als Management von
Interdependenzen verstanden. Steuerung und Kontrolle seien nicht einseitige Tätigkei-
ten einer zuständigen Institution (etwa des Staates), sondern Prozesse der Interaktion
zwischen kollektiven Akteuren (Kooiman 1993, S. 252; Mayntz 1998, S. 10; Héritier
2002, S. 3; Grande 2008, S. 20; Grande 2012, S. 566–567; Rhodes 1997, S. 53).
Das Regieren in nicht hoheitlich geprägten, netzwerkartigen Kontexten wird
insbesondere dann offenbar, wenn es mit Regieren in stärker staatszentrierten Kon-
texten in den 70er-und 80er-Jahren des vorigen Jahrhunderts verglichen wird,
obwohl es auch in Phasen scheinbarer staatlicher Stärke kooperative Formen des
staatlichen Agierens gegeben hat (Ellwein 1995; Treiber 1995; Dose 1997). Ihre
Bedeutung hat sich aber in den letzten Jahren deutlich erhöht (Dose 2013b). Die
Betrachtung im Längsschnitt verdeutlicht also die Veränderungen des Regierens.
Dies wiederum kann Ansatzpunkt f€ur den Versuch sein, diese Veränderungen zu
erklären, wobei naheliegenderweise an den Faktoren anzusetzen ist, die sich im
Zeitverlauf gleichfalls massiv verändert haben. Genannt werden häufig die zuneh-
mende Überwindung der Trennung von Staat und Gesellschaft sowie die verstärkt
auftretenden Denationalisierungsprozesse (Dose 2013b).

2.4 Der Governance-Begriff einer erneuerten staatlichen


Steuerung

Im europäischen und insbesondere im deutschen Kontext hat man es in der Regel mit
einem der genannten Governance-Begriffe zu tun. Im amerikanischen Kontext und
Governance und Steuerungsformen in der Vergleichenden Politikwissenschaft 159

teils auch im europäischen ist dies häufig anders (Lafferty 2004, S. 5–7). Dort wird
der Governance-Begriff sehr stark aus dem Blickwinkel seiner „original steering
conception“ (Pierre und Peters 2000, S. 7; vgl. auch Braithwaite et al. 2007, S. 3;
grundsätzlich kritisch allerdings Grande 2012, S. 581) wahrgenommen. So formu-
lieren Pierre und Peters (2000, S. 1) unter der Überschrift „What is Governance?“:
„. . ., our focus is on the capacity of government to make and implement policy – in
other words, to steer society“. Auch Salamon (2002) bezieht sich in seinem schwer-
gewichtigen Sammelband „The Tools of Government. A Guide to the New Gover-
nance“ sehr stark auf die urspr€ungliche Steuerungstradition, was bereits an seiner
Ausrichtung an den verschiedenen Instrumenten sehr deutlich wird. Selbst in der
deutschen Diskussion gab es Versuche, die Governance-Debatte durch einen Ansatz
zu befruchten, der auf der älteren Steuerungstradition basiert, jedoch viele der
fr€uheren Verk€ urzungen und auch die Veränderungsprozesse verarbeitet hat (Dose
2008a).
Dieser Ansatz war darauf gerichtet, in einem mehrdimensionalen Auswahlpro-
zess dasjenige Instrument (enb€undel), das problemangemessen ist, f€ur das die Im-
plementationsvoraussetzungen gegeben sind und das sich politisch durchsetzen
lässt, herauszufiltern. Der Ansatz ist sowohl analytisch als auch präskriptiv angelegt.
Denn er enthält eine Anleitung zur Analyse, aus der anschließend präskriptive
Hinweise f€ ur eine jeweils angemessene Instrumentierung folgen. Um €uber sie ent-
scheiden zu können, wurden die verschiedenen Instrumente (Ge- und Verbote,
Anzeige- und Genehmigungspflichten, positive und negative finanzielle Anreize,
Information und Beratung, Überzeugung usw.) nach gleichbleibenden Kriterien
(typische Einsatzbereiche, Problemlösungsfähigkeit im Hinblick auf kategorial er-
fasste gesellschaftliche und wirtschaftliche Probleme, Voraussetzungen f€ur einen
erfolgreichen Einsatz, potentielle Einigungskosten, Kosteneffizienz usw.) verglei-
chend analysiert. Gegenstand des Vergleichs waren in diesem Fall folglich die
verschiedenen Instrumente staatlicher Steuerung.

2.5 Governance in analytischer Perspektive

Während viele der anderen Governance-Begriffe in einem mehr oder weniger nor-
mativen Kontext stehen, hat sich – befeuert durch ganz unterschiedliche Arbeiten,
die durchaus begrifflich nicht immer konsistent waren – ein Ansatz entwickelt, der
einen eindeutig analytischen Zugriff aufweist. Ihm liegt eine Definition von Gover-
nance zugrunde, mit der auf kollektives Handeln von Akteuren mit dem Ziel der
Interdependenzbewältigung abgestellt wird (Schimank 2007, S. 31; Benz und Dose
2010c, S. 251). Der Ansatz besteht aus einer Kombination von insgesamt drei
Analyseebenen mit Ausdifferenzierungen auf jeder dieser Ebenen:
Auf der untersten Ebene (Mikrofundierung) werden drei elementare Governance-
Mechanismen unterschieden (wechselseitige Beobachtung, wechselseitige Beein-
flussung und wechselseitiges Verhandeln) (Schimank 2007, S. 32–42). Auf der
mittleren Ebene folgen mit den analytisch zu differenzierenden Governance-Formen
die Ordnungsmodelle wie Markt, Hierarchie, Wettbewerb und Netzwerke. Da die
160 N. Dose

Governance-Formen in der Realität allenfalls selten in Reinform verkommen, haben


wir es bei der empirischen Analyse meist mit Mischformen zu tun (Benz und Dose
2010c, S. 264), die mit dem Begriff der Governance-Regime erfasst werden. Sie
bilden die oberste Ebene. Gerade auf diese Kombinationen von Governance-Formen
kommt es bei der Analyse insbesondere an (Benz und Dose 2010c, S. 264–267).
Wird zum Beispiel versucht, die Innovationskraft von Regionen durch einen von
außen initiierten interregionalen Wettbewerb zu stärken, lässt sich dies als ein
Aufeinandertreffen der Governance-Formen ‚Netzwerk‘ und ‚Wettbewerb‘ interpre-
tieren. Der Wettbewerb hat dann die Aufgabe, die vorherrschenden, netzwerkartigen
Strukturen aufzubrechen. Wenn dies – wie häufig der Fall – nur unzureichend
gelingt, verweist dies auf das große Beharrungsvermögen von bestehenden Netz-
werken (Benz 2006, S. 38–39).

3 Das Potential der Governance-Analyse für die


vergleichende Politikwissenschaft

J€
ungste Bem€ uhungen, mit dem sich entwickelnden, analytisch gemeinten Konzept
der informalen Governance die vergleichende Forschung zu befruchten, resultierten
bereits in einer Reihe von vergleichend angelegten Studien (Bröchler und Lauth
2014b). Allerdings verweist die „Diversität der Befunde, die sich schwierig b€undeln
lassen“ (Bröchler und Lauth 2014a, S. 30) auf die Notwendigkeit weiterer konzep-
tioneller Arbeit oder zumindest einer größeren Zahl von Studien, sodass Strukturen
klarer hervortreten. Da es noch an diesen Studien mangelt, wird hier aus den
genannten Governance-Konzepten das letztgenannte, analytische Verständnis von
Governance nochmals aufgegriffen, weil es das größte Potenzial f€ur die vergleichen-
de Forschung aufzuweisen scheint. Aus analytischer Perspektive sind die Gover-
nance-Formen dabei der zentrale Ausgangspunkt, weshalb sie hier einleitend noch
etwas ausf€uhrlicher behandelt werden sollen. Sie bezeichnen eine komplexe Struk-
tur-Prozess-Konfiguration, die Einfluss nimmt sowohl auf den Verlauf als auch das
Ergebnis von Handlungskoordinationen. Sie sollen helfen, die Wechselwirkungen
von Strukturen und Interaktionen zu erklären. So wird beispielsweise davon ausge-
gangen, dass Wettbewerb unter den Bedingungen des Marktes anders verläuft als
politischer Wettbewerb zwischen Parteien. Auch stellt sich Akteurshandeln unter
den Bedingungen von marktlichem Wettbewerb anders dar als unter den Bedingun-
gen von Hierarchie. Dabei wird nicht von einem deterministischen Verhältnis aus-
gegangen, es geht vielmehr um die „endogene Dynamik“ (Benz et al. 2007, S. 21),
die entsteht, wenn Strukturen, Interaktionen und das Handeln von Akteuren in
Wechselwirkung treten (Benz und Dose 2010c, S. 256–257).
Während bereits Governance-Formen f€ur komplexe Struktur-Prozess-Konfigura-
tionen stehen, können sie die Realität häufig noch immer nicht hinreichend abbilden.
Denn Regieren findet meist in komplexen Arrangements statt, in denen unterschied-
liche Akteure (individuelle, kollektive und korporative) in unterschiedlichen institu-
tionellen Kontexten und auf verschiedenen Ebenen (lokal/regional, national, supra-
national und international) zusammenwirken (Benz und Dose 2010c, S. 264).
Governance und Steuerungsformen in der Vergleichenden Politikwissenschaft 161

Solche komplexen Arrangements werden durchaus auch schon einmal von mehr als
nur einer Governance-Form bestimmt, sodass f€ur die empirische Analyse verschie-
dene Kombinationen von Governance-Formen an Bedeutung gewinnen, womit die
bereits erwähnten Governance-Regime ins Spiel kommen.
Das Verhältnis der Governance-Formen zueinander kann entweder als eingebettet
oder als verbunden ausgeprägt sein (Benz 2006, S. 35). Von eingebetteten Koordi-
nationskonstellationen spricht man, wenn die Struktur-Prozess-Konfigurationen
einer Governance-Form die einer anderen dominieren, wie dies klassischerweise
bei Verhandlungen im Schatten der Hierarchie (Scharpf 1993, S. 67–68; Benz 2006,
S. 36–37) der Fall ist. Diese Konstellation ist wenig anfällig f€ur Blockaden; die
Entscheidungssituation ist relativ stabil. Alternativ können Governance-Formen
miteinander verbunden sein. In einem solchen Fall dominiert keine Form die Inter-
aktion, sondern es bestehen vielfältige Wechselwirkungen zwischen den Struktur-
Prozess-Konfigurationen. Konfligieren diese miteinander, kann es zu Spannungen
und Blockaden kommen (Benz und Dose 2010c, S. 264), woraus eine relativ
instabile Entscheidungssituation folgt. Das damit gegebene Analysepotenzial lässt
sich nutzen, um auftretende Blockaden in gegebenen institutionellen Settings zu
erklären oder um vorgeschlagene Reformen des institutionellen Settings unter dem
Gesichtspunkt der Blockadeanfälligkeit vergleichend ex ante zu pr€ufen (siehe f€ur
Beispiele weiter unten Kap. ▶ Qualitative Comparative Analysis (QCA) in der
Vergleichenden Politikwissenschaft).
In den weiter unten folgenden Anwendungen spielen insbesondere politischer
und marktlicher Wettbewerb sowie Hierarchie und Verhandlung als Governance-
Formen eine besondere Rolle, weshalb diese etwas genauer diskutiert werden sollen.
Beim politischen Wettbewerb werden zwei unterschiedliche Anreizmechanismen
wirksam, die jedoch letztendlich auch gerade in Kooperation Bedeutung erlangen.
Erstens ist dies die Mehrung von zur Verf€ugung stehenden Ressourcen, womit bei
Gebietskörperschaften vor allem Steuereinnahmen angesprochen sind. Zweitens ist
die Zunahme von Wählerstimmen Ziel des Wettbewerbs, was letztendlich auf
Machterhalt oder Machterwerb verweist. Der Zusammenhang zwischen diesen bei-
den Anreizmechanismen ist recht offensichtlich. Denn Gebietskörperschaften mit
hohen Steuereinnahmen können durch umfangreiche freiwillige Leistungen (Förde-
rung von Kultur, Sport, Wirtschaft und Wissenschaft) ihre Attraktivität steigern.
Dies kann nicht nur zu höherer Zustimmung bei der nächsten Wahl f€uhren, sondern
auch den Zuzug von Steuerzahlern der oberen Einkommensschichten induzieren,
womit sich dann wiederum die Ressourcenausstattung verbessert.
Marktlicher Wettbewerb wirkt sowohl auf Anbieter als auch auf Nachfrager einer
Leistung oder eines Produkts. Der Annahme nach wollen im Markt beide Seiten ihren
Nutzen maximieren. Die Nachfrager durch gute Produkte zu einem niedrigstmögli-
chen Preis und die Anbieter durch eine Kombination von Preis und verkaufter Menge,
die ihren Gewinn maximiert. Wegen des Verhältnisses von Anbietern und Nachfragern
stehen verschiedene Anbieter in Konkurrenz zueinander. Die Nachfrage schlägt sich
dort nieder, wo die gew€unschte Qualität zum niedrigsten Preis angeboten wird bzw.
zum gew€ unschten Preis die höchste Qualität. Dem Preis und der Preisbildung kommt
im marktlichen Wettbewerb also eine wichtige Koordinationsfunktion zu. Über ihn
162 N. Dose

sind die angebotenen Produkte gut miteinander vergleichbar. Auch weil die tatsäch-
liche Qualität der Produkte häufig im Dunkeln liegt, findet der Wettbewerb sehr stark

uber den Preis statt. Ein Unternehmen, das der Wahrnehmung nach gleichwertige oder
minderwertige G€ uter zu einem hohen Preis anbietet, wird €uber kurz oder lang vom
Markt verschwinden. Der sich im Wettbewerb herausbildende Preis bestimmt also
ganz wesentlich das Handeln der Akteure (Benz und Dose 2010c, S. 259).
Als dritte Governance-Form soll hier beispielhaft die Hierarchie skizziert werden.
Sie wird sowohl im Binnenverhältnis von Organisationen (vgl. Williamson 1985) als
auch im Verhältnis von Staat und Verwaltung zu den B€urgerinnen und B€urgern als
externe Normadressaten in Anschlag gebracht. Obwohl man bei Hierarchie geneigt ist,
an ein Über-/Unterordnungsverhältnis zu denken, trifft dieses Bild selten die Realität.
Bei der hierarchischen Koordination spielt Interaktion stets eine wichtige Rolle. Die
Machtverteilung kann asymmetrisch ausgeformt sein, aber das Verhältnis der Akteure
ist auch durch Wechselseitigkeit geprägt (Benz und Dose 2010c, S. 261). Externe
Normadressaten können versuchen, sich der Umsetzung einer Maßnahme durch
Nichtstun zu entziehen oder sie können Rechtsmittel einlegen. Es hängt von der
Kontrolldichte und der konkreten Art der Normierung in dem einer angeordneten
Maßnahme zugrunde liegenden Gesetz ab, wie erfolgreich aus Sicht der Verwaltung
die Handlungskoordination ausfällt. F€ur das Ergebnis der Handlungskoordination ist
wichtig, ob die wesentlichen Erfolgsbedingungen erf€ullt sind (siehe beispielsweise f€ur
materiell-rechtliche Ge- und Verbote Dose 2008b, S. 250–260).
In einem der nachfolgenden Anwendungsbeispiele wird schließlich auch noch
auf die Governance-Form Verhandlung rekurriert. Mit ihr wird auf den Umstand
abgehoben, dass vorgegebene Strukturen den Prozess des Verhandelns lenken (Benz
und Dose 2010c, S. 262–262). Hierbei handelt es sich meist um institutionelle
Regeln, mit denen beispielsweise festgelegt wird, welche Akteure an Verhandlungen
zu beteiligen sind und welche nicht. Geregelt ist gleichermaßen, ob eine Einigung in
Verhandlungen zwangsweise notwendig ist, um zu einer Entscheidung zu gelangen
(Zwangsverhandlungen), oder ob Interessenverfolgung auch wirksam außerhalb von
Verhandlungen möglich ist (freiwillige Verhandlungen). Wichtig ist auch die Frage,
ob das Mehrheits- oder das Konsensprinzip gilt.

4 Anwendungen der Governance-Analyse

Mit den nachfolgend präsentierten Beispielen soll exemplarisch verdeutlicht werden,


wie breit sich der Bereich darstellt, in dem die Governance-Analyse vergleichend zur
Anwendung gelangen kann.

4.1 Vergleich von Formen des kooperativen


Verwaltungshandelns

Aus der empirischen Verwaltungsforschung ist bekannt, dass die öffentliche Ver-
waltung gelegentlich auf kooperatives Verwaltungshandeln zur€uckgreift, selbst
Governance und Steuerungsformen in der Vergleichenden Politikwissenschaft 163

wenn sie die Möglichkeiten zu einem hoheitlich-b€urokratischen Vollzug hätte (Benz


1994; Dose 1997). Dabei ist die Intensität der zu beobachtenden Verhandlungs-
prozesse weniger ausgeprägt, wenn diese im Schatten der Hierarchie stattfinden
können, wenn die Verwaltung also leicht auf einen strikten Vollzug umsteigen
könnte. Häufig verzichtet die Verwaltung in eindeutig rechtlich geregelten Situatio-
nen auch vollständig auf Verhandlungsprozesse. Lenkt man das Augenmerk auf die
Unternehmen, wird deutlich, dass diese im marktlichen Wettbewerb mit national und
international ansässigen Unternehmen stehen. Ber€ucksichtigen sie diesen nicht bei
ihren Entscheidungen, werden sie mittel- bis langfristig Marktanteile verlieren und
möglicherweise ganz vom Markt verschwinden. Die Governance-Form marktlicher
Wettbewerb wird jedoch bei eindeutig rechtlich geregelten Sachverhalten von der
Governance-Form Hierarchie dominiert. Wir haben es also mit einer eingebetteten
Konstellation zu tun. In Übereinstimmung mit der Empirie kann unter R€uckgriff auf
die Governance-Analyse von einer wenig blockadeanfälligen Situation gesprochen
werden (Dose 2013a).
Anders verhält es sich, wenn die Sachlage rechtlich unklar ist. Dies kann bei-
spielsweise der Fall sein, wenn die Verwaltung einen weitergehenden Vollzug
durchsetzen will als auf gesicherter rechtlicher Basis möglich, oder sie wegen
gegebener, nicht konkretisierter unbestimmter Rechtsbegriffe von Vornherein auf
rechtlich unsicherer Basis agieren muss. Wie eine empirische Studie zeigt, kommt es
bei einer solchen Konstellation häufig zu Blockaden, die sich nur durch hochinten-
sive Verhandlungsprozesse €uberwinden lassen, bei denen die Verwaltung durchaus
auch auf Kompensationsgeschäfte zur€uckgreifen muss. Dieser Sachverhalt lässt sich
wiederum gut unter R€uckgriff auf die Governance-Analyse erklären: Die Gover-
nance-Form marktlicher Wettbewerb, dessen Wirkung die betrachteten Unterneh-
men ausgesetzt sind, kann wegen der rechtlich unklaren Situation relativ an Stärke
gewinnen und wird nicht mehr von der Governance-Form Hierarchie dominiert. Wir
haben es also mit einer verbundenen Konstellation zu tun, die auf eine hohe Block-
adeanfälligkeit verweist, welche sich in einer entsprechenden empirischen Untersu-
chung auch nachweisen ließ (Dose 2013a). Im Vergleich der beiden Konstellationen
lässt sich die Intensität der Verhandlungsprozesse folglich unter R€uckgriff auf die
Governance-Analyse sehr gut erklären.

4.2 Vergleich von Ansätzen zur tendenziellen Internalisierung


externer Effekte

Ausgangspunkt der hier kurz skizzierten Studie ist eine räumliche Planung, die bei
Realisierung zu einer stark ungleichen Verteilung von Nutzen und Kosten im Raum
gef€
uhrt hätte und tatsächlich auch gef€uhrt hat. Konkret geht um die Ansiedelung
eines Ikea-Möbelmarktes auf der gr€unen Wiese, die aufgrund der besonderen geo-
graphischen Lage dazu f€uhrt, dass die Lasten der Ansiedelung durch Verkehr und
Kaufkraftabzug aus den Innenstädten weitgehend nicht in den Kommunen anfällt,
die von den zusätzlichen Gewerbesteuereinnahmen profitieren. Denkbare Maßnah-
men, um zu einer gerechteren und auch stärker akzeptierten Verteilung von Kosten
164 N. Dose

und Nutzen zu gelangen, können vergleichend unter R€uckgriff auf die Governance-
Analyse im Hinblick auf die von ihnen jeweils bewirkte Blockadeanfälligkeit unter-
sucht werden. Denn bei institutionellen Veränderungen, wie sie hier diskutiert
werden, ist stets von Bedeutung, ob sie das Entscheidungssystem blockadeanfällig
machen oder ob dies vermieden wird.
In einer entsprechenden Studie wurden erstens strengere Anforderungen an die
Genehmigung der erforderlichen Flächennutzungs- und Bebauungspläne, zweitens
bessere politische Beteiligungsmöglichkeiten der negativ betroffenen Kommunen
oder deren B€ urger sowie drittens eine Kompensationslösung und viertens eine
Gebietsreform untersucht. Ohne hier auf das konkrete Vorgehen und das Pr€ufer-
gebnis eingehen zu können (siehe ausf€uhrlicher Dose 2015), ließ sich durch den
R€uckgriff auf die Governance-Analyse die von den verschiedenen institutionellen
Lösungen verursachte Blockadeanfälligkeit abschätzen.

4.3 Vergleich politischer Systeme

Die Blockadeanfälligkeit der deutschen Politikverflechtung lässt sich unter R€uck-


griff auf die Governance-Analyse in einen generellen Kontext stellen. Angesprochen
sind mit dem Begriff der Politikverflechtung seit Scharpf, Reissert und Schnabel
(1976, S. 29) Planungs- und Finanzierungsverb€unde, die in der Regel dem Kon-
sensprinzip unterliegen. Die Länder haben in einer solchen Konstellation ein Inter-
esse an diesen gemeinsamen Vorhaben, weil sie von den finanziellen Mitteln des
Bundes profitieren. Neben dem Wettbewerb der Länder untereinander um die finanz-
iellen Mittel wird die entsprechende Verhandlungssituation vom politischen Wett-
bewerb der Parteien €uberlagert, wenn die Ländermehrheit von einem anderen politi-
schen Lager als die Bundesregierung bestimmt wird.
F€
ur die damit angesprochene Strukturbruchthese ist die Überlegung leitend, dass
der deutsche Föderalstaat unter der „potentiellen Inkongruenz zweier zentraler Are-
nen“ leide (Lehmbruch 2000, S. 19), die sich gleichfalls bei Blockadesituationen
angesichts der Verabschiedung von Zustimmungsgesetzen zeigt. Das Verhältnis von
Bund und Ländern sei institutionell auf Verhandeln ausgelegt, während das Parteien-
system auf Wettbewerb ausgerichtet sei. Der Parteienwettbewerb habe sich weitge-
hend durchgesetzt und €uberlagere das Verhältnis von Bund und Ländern. Da der
Parteienwettbewerb aber nicht dominiere, also im betrachteten Fall die Normie-
rungen des Grundgesetzes nicht aufheben kann, haben wir es mit einer verbundenen
Konstellation zu tun. Eine solche Konzeptualisierung erlaubt im Vergleich mit
anderen Fällen der Mehrebenenverflechtung, die Bedingungen zu ermitteln, die eine
Blockadeanfälligkeit reduzieren können. Im betrachteten Fall kommt beispielsweise
eine Schwächung der Governance-Form politischer Wettbewerb infrage. Überpr€u-
fen lässt sich eine solche These im Vergleich mit Ländern, die von einem ver-
handlungsdemokratischen Regierungssystem gekennzeichnet sind (Benz und Dose
2010c, S. 266–267, 270).
Governance und Steuerungsformen in der Vergleichenden Politikwissenschaft 165

5 Zusammenfassung

Der Governance-Begriff bezeichnet je nach Umfeld und theoretischem Kontext


durchaus Unterschiedliches. In dem vorliegenden Beitrag werden in einem ersten
Zugriff vier verschiedene Verständnisse im Hinblick auf ihr Potential f€ur eine ver-
gleichend angelegte Analyse betrachtet. Die als besonders vielversprechend einge-
schätzte Governance-Analyse wird anschließend vertiefend behandelt. Ihr Analyse-
potential gewinnt sie im Wesentlichen durch den R€uckgriff auf Governance-Formen
wie marktlicher und politischer Wettbewerb, Hierarchie und Verhandlung. Wenn
zwei oder mehrere Governance-Formen auf eine untersuchte Struktur-Prozess-Kon-
figurationen einwirken, kann es sich entweder um eine eingebettete oder um eine
verbundene Konstellation handeln. Während eingebettete Konstellationen zu
Entscheidungsstabilität neigen, sind verbundene Konstellationen meist blockadean-
fällig. Diesen Umstand kann man sich zunutze machen, wenn man reale Konstella-
tionen im Hinblick auf ihre Blockadeanfälligkeit analysieren will. Die Zusam-
menhänge werden anhand von drei Beispielen weiter ausgeleuchtet: Erstens
Vergleich von Formen des kooperativen Verwaltungshandelns, zweitens Vergleich
von Ansätzen zur tendenziellen Internalisierung regionaler Spill-over Effekte in der
Raumplanung und drittens Vergleich von politischen Systemen.

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Partizipation in der Vergleichenden
Politikwissenschaft

Jan W. van Deth

Zusammenfassung
Die enge Verbundenheit von gesellschaftlichen und politischen Wandeln und die
Entwicklungen in der politischen Beteiligung, stellen die Partizipationsforschung
immer wieder vor große Herausforderungen. Dabei zeigt die vergleichende
Forschung immer wieder große Unterschiede in Ausmaß und Umfang politischer
Partizipation zwischen verschiedenen Ländern. Länderspezifischen Charakteris-
tika sind: durchaus geringe Beteiligung, ähnliche Strukturierung des Partizipa-
tionsrepertoires, wandelnde Popularität verschiedener Formen und ständig un-
gleiche Beteiligung. Im Zeitvergleich steht der ständigen Ausweitung des
Repertoires die These eines R€uckgangs des ohnehin niedrigen Niveaus politi-
scher Beteiligung gegen€uber. Die weitere Verbreitung von „individualised collec-
tive action“ und die Benutzung von neuen sozialen Medien wird die Partizipa-
tionsforschung in den nächsten Jahren kennzeichnen.

Schlüsselwörter
Partizipation • Demokratie • Engagement • Ungleichheit • politischer Wandel

1 Einleitung

Zur Wahlurne gehen, eine Petition unterschreiben, auf einem Flash Mob erscheinen,
umweltfreundliche Produkte kaufen, Politiker kontaktieren, eine B€urgerinitiative
gr€
unden, in einer Partei mitarbeiten, demonstrieren, eine Interessengruppe

J.W. van Deth (*)


Professor f€ur Politische Wissenschaft und International Vergleichende Sozialforschung, Institut f€
ur
Politikwissenschaft, Universität Mannheim, Mannheim, Deutschland
E-Mail: jvdeth@uni-mannheim.de

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 169


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_13
170 J.W. van Deth

unterst€utzen – die Liste möglicher Beteiligungsformen ist mittlerweile lang und


wächst fast jeden Tag. Diese kontinuierlichen Ausweitungen entsprechen den sozia-
len und politischen Entwicklungen in vielen Ländern in den letzten Jahrzehnten. Sie
dr€
ucken sowohl einen zunehmenden Bedarf an Mitsprache und Mitbestimmung
unter immer besser ausgebildeten B€urgerinnen und B€urgern aus als auch ein dauern-
des Verwischen der Grenzen zwischen politischen und nicht-politischen Aktivitäten.
Insbesondere f€ur demokratische politische Systeme ist breite politische Beteiligung
unentbehrlich: „Where few take part in decisions there is little democracy; the more
participation there is in decisions, the more democracy there is“ (Verba und Nie
1972, S. 1). Somit sind Ausmaß und Umfang politischer Partizipation wichtige –
vielleicht sogar entscheidende – Kriterien zur Beurteilung der Qualität einer
Demokratie.
Trotz der allgemein anerkannten Bedeutung von Partizipation f€ur die Lebensfä-
higkeit der Demokratie und dem kontinuierlich wachsenden Repertoire politischer
Partizipationsformen ist die tatsächliche Beteiligung der B€urgerinnen und B€urger in
manchen Ländern meistens auf den Gang zur Wahlurne und einfache Aktivitäten wie
das Unterschreiben einer Petition beschränkt. Allerdings zeigt die international ver-
gleichende Partizipationsforschung hier große Unterschiede zwischen den verschie-
denen Ländern und Regionen auf. Während in skandinavischen Ländern fast alle
B€urgerinnen und B€urger sich auf irgendeine Weise beteiligen, trifft das in Mitteleu-
ropa f€ur etwa 60–70 % der Bevölkerung zu (van Deth 2014, S. 42). Und wenn
Wahlen außer Betracht bleiben, gehen diese Anteile insbesondere in Ländern mit
ohnehin geringer Beteiligung stark zur€uck. Die kontinuierliche Erweiterung des
Repertoires hat dabei die €ublichen ungleichen Beteiligungschancen nicht aufgeho-
ben: Auch in hoch entwickelten Demokratien sind es die eher privilegierten Bevöl-
kerungsgruppen, welche sich €uberdurchschnittlich an politischen Entscheidungs-
prozessen beteiligen (Schlozman et al. 2012).
In diesem Beitrag stehen die Entwicklungen der international vergleichenden
Partizipationsforschung in Antwort auf die gesellschaftlichen und politischen Ve-
ränderungen im Vordergrund. Welche theoretischen, konzeptionellen und empiri-
schen Entwicklungen zeichneten sich in den letzten Jahrzehnten ab? Der zweite Teil
dieses Beitrages bietet einen knappen Überblick der wichtigsten empirischen Be-
funde: Verschwinden die deutlichen Unterschiede in Umfang und Ausmaß politi-
scher Partizipation zwischen den Ländern allmählich? Und Schließlich: Mit welchen
Herausforderungen sieht sich die international vergleichende Partizipationsfor-
schung konfrontiert?

2 Partizipation und Partizipationsforschung im Wandel

Wozu sollte man partizipieren? Die klassischen Antworten auf diese Frage in der
Tradition Aristoteles‘ deuten auf die Entwicklungsmöglichkeiten und den selbstver-
wirklichenden Charakter von partizipatorischen Aktivitäten hin, wobei politische
Partizipation als ein integraler Bestandteil des sozialen Lebens betrachtet
wird (Gerhardt 2007, S. 24–29). Außer diesen intrinsischen Begr€undungen f€ur
Partizipation in der Vergleichenden Politikwissenschaft 171

Partizipation werden in der empirischen Partizipationsforschung insbesondere in-


strumentelle und expressive Argumente angef€uhrt. Demokratische Entscheidungen
können sich nur dann an den Interessen und Meinungen der B€urgerinnen und B€urger
orientieren, wenn diese ihre Interessen und Meinungen auch artikulieren und tat-
sächlich einbringen, das heißt, wenn sie sich politisch beteiligen. In instrumentellen
Ansätzen versteht man unter politischer Partizipation „. . . alle Tätigkeiten [. . .] die
B€urger freiwillig mit dem Ziel unternehmen, Entscheidungen auf den verschiedenen
Ebenen des politischen Systems zu beeinflussen“ (Kaase 1995, S. 521). Die meisten
empirisch und vergleichend angelegten Arbeiten betonen die instrumentellen Funk-
tionen von Partizipation, und basieren darauf vier definitorische Merkmale des
Begriffes. Erstens handelt es sich bei Partizipation um Tätigkeiten und nicht nur
um Informationssammlung, Aufmerksamkeit oder Begeisterung – Engagement ist
also noch keine Partizipation. Zweitens betrifft politische Partizipation Aktivitäten
von B€ urgerinnen und B€urgern und nicht die Tätigkeiten von Politikern, Beamten
oder W€ urdenträgern. Drittens geht es um freiwillige Aktivitäten, folglich sind durch
ein Gesetz oder eine Regel vorgeschriebene Tätigkeiten ausgeschlossen. Politische
Partizipation basiert sich, viertens, auf ein breites Verständnis von Politik: Politische
Beteiligung ist weder auf spezifische Phasen (wie parlamentarische Entscheidungs-
findung oder die Implementation von Entscheidungen) noch auf spezifische Ebenen
oder Bereiche (wie nationale Wahlen oder Kontakte mit Politikern) des politischen
Systems beschränkt. Verschiedene andere Charakteristika wurden vorgeschlagen
und diskutiert, aber diese vier definitorischen Merkmale des Begriffes politischer
Partizipation scheinen unumstritten.1
Die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen nach dem Zweiten Welt-
krieg f€uhrten in manchen Ländern zu einer steigenden Bedeutung von Regierung
und Politik. Stark angestiegene Bildungsniveaus und die Verbreitung politischer
Informationen durch moderne Massenmedien und dem Internet senken die Oppor-
tunitätskosten f€ ur politische Tätigkeiten ständig. Außerdem kennzeichnen sich
moderne Gesellschaften durch ein kontinuierliches Verwischen der Grenzen zwi-
schen politischen und nicht-politischen Aktivitäten, also zwischen privaten und
öffentlichen Sphären. In Folge dieser Entwicklungen steigt auch der Bedarf an
Mitsprache und Mitbestimmung kontinuierlich und daher setzen die B€urgerinnen
und B€ urger dauernd neue Forme politischer Beteiligung ein (Inglehart 1977). Die
Entwicklung der politischen Partizipationsforschung hängt eng mit diesen politi-
schen und gesellschaftlichen Entwicklungen zusammen und kann anhand von Ver-
öffentlichungen einiger ‚Meilenstein-Studien‘ verfolgt werden.
In den ersten Wahlstudien der 1940er und 1950er-Jahre wurde politische Partizi-
pation als Stimmabgabe, Parteiaktivitäten und Tätigkeiten in Wahlkampagnen kon-
zipiert (Lazarsfeld et al. 1948; Berelson et al. 1954). Bis in die fr€uhen 1960er-Jahre

1
Unter diese anderen Aspekte fallen u. a.: Der (il)legale Status oder Verfassungsmäßigkeit, der
tatsächliche Erfolg, die Orientierung auf Eliten oder eine Unterscheidung zwischen kollektiven oder
individuellen Aktivitäten. Siehe Conge (1988), Brady (1998), van Deth (2001) oder Fox (2013) f€ ur
ausf€uhrliche Überblicke.
172 J.W. van Deth

verstand man unter politischer Partizipation dann weitgehend solche Aktivitäten,


welche dem traditionellen Politik-Begriff als Kampagnen durch Politiker und Par-
teien und die €ublichen Kontakte zwischen B€urgern und Staatsdienern entsprachen
(Lane 1959; Campbell et al. 1960). Diese Aktivitäten wurden als „konventionelle“
Formen der Partizipation bekannt. Die späten 1960er und fr€uhen 1970er-Jahre
zeigten bemerkenswerte Erweiterungen des Konzepts politischer Partizipation in
zwei Richtungen. Wegen der wachsenden Bedeutung gesellschaftlicher Gruppen
wurden die konventionellen Formen politischer Partizipation zunächst um den
direkten Kontakt zwischen B€urgern, Beamten und Politikern erweitert (Verba und
Nie 1972). Die gesellschaftlichen Umbr€uche, welche sich in manchen Ländern Ende
der 1960er-Jahre abzeichneten, bedeuteten jedoch eine grundlegendere Erweiterung
des Partizipationsbegriffes: Nicht nur allgemein akzeptierte Formen politischer
Beteiligung sondern auch Protest und Ablehnung wurden als klare Ausdrucksfor-
men von Interessen und Ansichten anerkannt und gehören somit genauso zur politi-
schen Partizipation wie Wahlbeteiligung oder ein Gespräch mit dem B€urgermeister
(Barnes et al. 1979). Diese Aktivitäten bezeichnete man als „unkonventionelle“
Formen der Partizipation, da sie nicht in Übereinstimmung mit den sozialen Normen
der fr€
uhen 1970er standen. Die meistens aus diesen Protestaktionen hervorgegange-
nen ‚Neuen Sozialen Bewegungen‘ – wie die Frauen- oder Friedensbewegung –
gehören ebenfalls zu dieser Erweiterungswelle. In den 1990er-Jahren fand dann eine
Art R€ uckkehr zu b€urgerschaftlichen Beteiligungsformen statt. Das Verschwinden
der Grenzen zwischen politischen und nicht-politischen Sphären in modernen Ge-
sellschaften und die Wiederbelebung Tocquevillescher und kommunitaristischer
Ansätze f€ uhrten zu einer Ausweitung politischer Partizipation durch zivilgesell-
schaftliche Aktivitäten. Mit dieser Erweiterung umfasst der Begriff der politischen
Partizipation auch ehrenamtliches und soziales Engagement in Vereinen und Ver-
bänden (Verba et al. 1995; Putnam 2000; Norris 2002). Die neuesten Entwicklungen
zeigen eine weitere Auflösung der Grenzen zwischen gesellschaftlichen Bereichen
und zwischen den verschiedenen Rollen, welche den B€urgerinnen und B€urgern darin
zufallen. Insbesondere die Benutzung von Konsumentenmacht als Ausdruck von
sozialen und politischen Meinungen und Interessen – in Form von Boykotten und
„buycotts“ – ist mittlerweile keine Seltenheit mehr. Weil f€ur derartige Aktionen im
Prinzip keine organisatorischen Voraussetzungen zu erf€ullen sind, spricht man von
„individualised collective action“ (Micheletti 2003). Schließlich hat in den letzten
Jahren die schnelle Verbreitung des Internets den €ublichen Organisations- und
Kommunikationsaufwand f€ur manche Formen politischer Beteiligung erheblich
erleichtert und somit auch die Rekrutierung und Mobilisierung von Teilnehmern
viel einfacher gemacht (Shirky 2008). Dabei bieten insbesondere „social media“ wie
Facebook und Twitter neue Möglichkeiten, selbst politische Initiativen zu entfalten
und fast ohne Aufwand in k€urzester Zeit durchzuf€uhren (Blogs, Petitionen usw.)
(Bimber et al. 2008; Bennett und Segerberg 2013).
Mit den stufenweisen Expansionen des Repertoires politischer Partizipation in
den letzten sechs Jahrzehnten umfasst der Begriff mittlerweile beinahe alle erdenk-
lichen Formen nicht-privater Aktivitäten. Während bei Aktionen wie Wahlen,
demonstrieren oder Leserbriefen schreiben meistens sofort klar ist, dass es sich um
Partizipation in der Vergleichenden Politikwissenschaft 173

politische Partizipation handelt, ist das beim Kauf von Turnschuhen, dem heim-
lichen Bepflanzen von öffentlichen Gr€unflächen oder dem Anklicken von „Gefällt
mir“ auf der Website einer afrikanischen Hilfsorganisation viel weniger deutlich. Die
Liste dieser letzten Beispiele kann beliebig fortgef€uhrt werden, wobei mit jeder
weiteren Form die Abgrenzungsprobleme des Begriffes der politischen Partizipation
evidenter werden. Offensichtlich kann heutzutage fast jede Handlung jeder B€urgerin
oder jeden B€ urgers irgendwie auch als Form politischer Beteiligung verstanden
werden (van Deth 2001; 2014).

3 Befunde vergleichender Partizipationsforschung

Mit den ständigen Erweiterungen des Repertoires politischer Partizipation ist bereits
eine der wichtigsten Befunde der empirischen Partizipationsforschung dargestellt
(van Deth 2006, S. 175–177). Viele der in dem letzten Abschnitt erwähnten Studien
sind international vergleichend angelegt. Somit ist die kontinuierliche Expansion der
Formen politischer Partizipation auch als ein allgemeines Merkmal demokratischer
Entwicklungen zu betrachten. Allerdings zeigt die vergleichende Partizipationsfor-
schung große Unterschiede in Ausmaß und Umfang politischer Partizipation zwi-
schen verschiedenen Ländern. Diese länderspezifischen Charakteristika können in
vier Punkten zusammengefasst werden: geringe Beteiligung, ähnliche Strukturie-
rung des Repertoires, wandelnde Popularität verschiedener Formen und ständig
ungleiche Beteiligung.
Die kontinuierliche Ausweitung des Repertoires politischer Beteiligungsformen
in den letzten Jahrzehnten hat offensichtlich nicht zu einer ähnlich starken Steige-
rung der Nutzung dieser Möglichkeiten gef€uhrt. Zwar machen klare Mehrheiten der
B€urgerinnen und B€urger bei nationalen Wahlen regelmäßig den Gang zur Wahlurne,
aber fast alle anderen Partizipationsmöglichkeiten werden von erheblich geringeren
Teilen der Bevölkerungen genutzt. Dabei ist es allerdings sofort erforderlich, die
großen Unterschiede zwischen verschiedenen Ländern und Regionen zu ber€ucksich-
tigen. Während in nord- und mitteleuropäischen Ländern die Wahlbeteiligung bei
80 % oder höher liegt, sind die entsprechenden Zahlen in Osteuropa und in den
baltischen Staaten erheblich niedriger (Gabriel und Völkl 2008, S. 282; Hooghe und
Quintelier 2013). Derartige Länderunterschiede haben sich €uber längere Zeit als
durchaus konsistent erwiesen. Von den anderen Formen der politischen Partizipation
werden nur die Beteiligung an Unterschriftensammlungen und an Konsumentenak-
tionen in den letzten Jahren von einem substantiellen Teil der B€urgerinnen und
B€urger genutzt (van Deth 2010; 2012; 2014). Alle anderen Beteiligungsmöglich-
keiten werden nur von klaren Minoritäten der Bevölkerungen angewandt, wobei es
sich f€
ur die meisten Aktivitäten (zum Beispiel Parteimitgliedschaft oder Teilnahme
an Blockaden) um sehr geringe Prozentzahlen handelt (Norris 2002; van Deth 2010;
Keil 2012; Hooghe und Quintelier 2013). Die erwähnten Unterschiede zwischen den
verschiedenen europäischen Regionen sind jedoch auch in diesen Befunden deutlich
sichtbar.
174 J.W. van Deth

Ein zweiter Befund der vergleichenden Partizipationsforschung betrifft die ähn-


liche Strukturierung der vielen Beteiligungsformen in verschiedenen Ländern. Wenn
die ständig auftauchenden neuen Aktivitäten tatsächlich als Formen politischer
Partizipation zu betrachten sind und gemeinsam ein Repertoire bilden, dann m€ussen
sie sich auch in eine latente Struktur, welche den verschiedenen Formen zugrunde
liegt, einordnen lassen. Die Frage nach dieser Struktur und ihren Dimensionen
wurde ausf€ uhrlich diskutiert und mehrere Bezeichnungen der einzelnen „Typen“
oder „Dimensionen“ politischer Partizipation vorgeschlagen. Diese dimensionale
Analyse liefert in vielen Ländern weitestgehend einheitliche Ergebnisse. Nach den
ersten Erweiterungswellen präsentierten Verba und Nie (1972, S. 44–54) vier Haupt-
formen: „Wählen“, „Mitarbeit in Kampagnen“, „kommunale Aktivitäten“ und „ver-
einzelter Kontakt“. Spätestens seit dieser Veröffentlichung ist die Anwendung von
statistischen Datenreduzierungstechniken (Faktoranalyse, Skalierungsverfahren) in
der Partizipationsforschung €ublich. Also basiert sich die Unterscheidung zwischen
„konventioneller“ und „unkonventioneller“ Partizipation von Barnes et al. (1979,
S. 540–550) genauso auf der Überpr€ufung latenter Strukturen wie die Aufteilung in
vier Hauptaktivitäten von Verba, Schlozman und Brady (1995, S. 72), die als
„Wählen“, „Kampagnen“, „Kontaktieren“ und „Gemeinschaft“ bezeichnet wurden.
Aus den empirischen Analysen geht hervor, dass grob f€unf eigenständige Formen
von Partizipation zu erkennen sind: (1) Wählen, (2) Kampagnenaktivitäten, (3) Kon-
taktieren von Beamten oder Politikern, (4) Protest (und Neue Soziale Bewegungen)
und (5) soziale Beteiligung. Statt die veraltete Einteilung konventionell/unkonven-
tionell bevorzugen manche Autoren inzwischen eine Unterscheidung zwischen
„institutionalisierten“ Formen (die unter 1, 2 und 3 genannte Formen) und „nicht
institutionalisierten“ Formen (die Formen unter 4 und 5) (Fuchs und Klingemann
1995, S. 18).
Neben den empirischen Untersuchungen der latenten Struktur verschiedener
Formen politischer Partizipation und ihrer Dimensionen gibt es auch typologisch
orientierte Ansätze. Ein Beispiel davon ist die Typologie politischer Partizipation,
welche im Rahmen des Citizenship, Involvement, Democracy Projektes entwickelt
worden ist (Teorell et al. 2007). Diese Typologie umfasst zwei Dimensionen. Eine
erste Dimension ist gegliedert in Partizipationsformen, die sich auf Kanäle der
Repräsentation beziehen (wie zum Beispiel Wahlen, Parteiaktivitäten oder auch
B€urgerinitiativen, die Abgeordnete beeinflussen möchten) und in Partizipationsfor-
men, welche andere Kanäle ins Auge fassen (wie zum Beispiel Produktboykotten
oder Versuche, die öffentliche Meinung zu beeinflussen). Eine zweite Dimension
basiert auf dem Charakter der Aktivitäten. B€urgerinnen und B€urger können vor-
handene Einflussmöglichkeiten benutzen (wie zum Beispiel Wahlen) oder Aktivitä-
ten anwenden um Aufmerksamkeit auf bestimmte Präferenzen oder Interessen zu
lenken (wie zum Beispiel Blockaden oder Unterschriftenaktionen). Innerhalb dieser
letzten Gruppe ist eine weitere Unterscheidung auf der Basis des Ziels der Aktivitä-
ten sinnvoll. Manche Formen politischer Partizipation richten sich auf bestimmte
Akteure, Gruppen oder Institutionen (wie beispielsweise eine Blockade des Rat-
hauses), während andere Aktivitäten keine klaren Adressaten haben und meistens
versuchen, die Öffentlichkeit zu beeinflussen (wie zum Beispiel die Publikation von
Partizipation in der Vergleichenden Politikwissenschaft 175

Zukunftsprojektionen). Auf der Basis einer umfangreichen empirischen Untersu-


chung in zwölf europäischen Ländern können Teorell, Torcal und Montero (2007)
zeigen, dass die typologisch entwickelte Einteilung weitgehend mit den
oben erwähnten, auf vergangenen empirischen Studien basierenden Einordnungen
der Formen politischer Partizipation €ubereinstimmt. Ein Vorteil des typologischen
Ansatzes ist allerdings, dass fr€uh deutlich wird, dass aufkommende politische
Aktivitäten wie politischer Konsum einen neuen Typus politischer Partizipation
bilden – ein Befund, der in vergangenen empirischen Studien nicht erkannt
worden ist.
Die Frage nach der verändernden Popularität verschiedener Formen politischer
Partizipation bildet ein drittes Thema in Diskussionen €uber die Ergebnisse der
vergleichenden Partizipationsforschung. Dabei steht der ständigen Ausweitung des
Repertoires die These eines R€uckgangs des ohnehin niedrigen Niveaus politischer
Beteiligung der B€ urgerinnen und B€urger gegen€uber. Zur Beurteilung dieser Ansicht
ist die bereits erwähnte Unterscheidung zwischen „institutionalisierten“ und „nicht-
institutionalisierten“ Formen politischer Partizipation hilfreich. Während die Popu-
larität der letztgenannten Aktivitäten langsam aber dauerhaft ansteigt, sind die
B€urgerinnen und B€urger offensichtlich immer weniger bereit, sich auf institutionali-
sierte Formen zu verlassen (García Albaceta 2014). Die in vielen Ländern sinkende
Wahlbeteiligung und die rapide Verbreitung der Beteiligung an Unterschriftensamm-
lungen bilden die deutlichsten Indikatoren f€ur diese beiden Entwicklungen (Gabriel
und Völkl 2008, S. 286–287). Auch hier handelt es sich offensichtlich um Prozesse,
welche sich in manchen Ländern allmählich auf mehr oder weniger ähnliche Weise
durchsetzen – aber auch hier sind Unterschiede zwischen den Regionen unverkenn-
bar. Insbesondere in den postkommunistischen Ländern in Ost- und Mitteleuropa ist
im Allgemeinen die Beteiligung nach der anfänglichen Wende-Euphorie deutlich
zur€uckgegangen.
Ein letzter Befund der vergleichenden Partizipationsforschung betrifft die an-
dauernde ungleiche Beteiligung von verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Mit der
ständigen Erweiterung des Repertoires politischer Beteiligung sind auch die Chan-
cen gestiegen, dass sich bisher wenig aktive Gruppen engagieren. Allerdings be-
stätigt die Forschung seit den 1950er-Jahren immer wieder, dass politische Beteili-
gung ungleich verteilt ist. Weder die allgemeine Erhöhung des Bildungsniveaus oder
die Verbreitung der Massenmedien, noch der Anstieg des Wohlstandes in manchen
Ländern haben zu einer breiteren Beteiligung aller B€urger gef€uhrt. Bemerkenswer-
terweise sind evidente soziale und politische Benachteiligungen – oder damit ver-
bundene Unzufriedenheit und Frustration – wenig relevant f€ur politische Beteiligung
und es sind eindeutig nicht gesellschaftliche Randgruppen oder die Opfer sozialer und
wirtschaftlicher Prozesse, die sich €uberdurchschnittlich politisch beteiligen, um ihre
Interessen zu vertreten oder Aufmerksamkeit auf ihre Situation zu lenken. Stattdessen
partizipieren insbesondere ressourcenstarke Gruppen €uberdurchschnittlich. Die höher
gebildeten, zu den höheren Einkommensgruppen und Schichten gehörenden männ-
lichen B€ urger partizipieren beständig häufiger als andere (Keil 2012; Schlozman
et al. 2012; van Deth 2014). Nur f€ur die Geschlechterunterschiede hat sich allmählich
ein Ausgleich abgezeichnet: Die traditionelle „gender gap“ ist in manchen Ländern
176 J.W. van Deth

mittlerweile fast verschwunden und neuere Partizipationsformen werden von


Männern und Frauen in gleichem Maße (nicht) genutzt.2

4 Entwicklungen der Partizipationsforschung

Die vergleichende Partizipationsforschung hat sich in den letzten Jahrzehnten zu


einem der umfangreichsten Zweige der empirischen Sozialforschung entwickelt.
Dabei war sicherlich auch hilfreich, dass Fragen nach politischer Beteiligung zum
Herzst€uck mancher international vergleichender Projekte (World Value Survey,
European Values Study, International Social Survey Programme, Eurobarometer,
European Social Survey) gehören und fast alle gewichtige Studien mehrere Länder
abdecken (Participation and Political Equality; Political Action I und II; Citizen-
ship, Involvement, Democracy). Im Hinblick auf die Konzeptualisierung politischer
Partizipation als individueller Beteiligungsakt ist diese Fokussierung auf Umfrage-
daten und Analysen auf der Mikroebene nicht €uberraschend. Auch Studien, die sich
mit Neuen Sozialen Bewegungen beschäftigen, sind häufig von diesen Merkmalen
gekennzeichnet (Kriesi et al. 1995). Die Abgrenzungen zwischen den verschiedenen
Forschungsstrategien sind nicht immer einfach festzustellen. Neben der erwähnten
Fokussierung auf Mikroanalysen (z. B. Pattie et al. 2004) gibt es Analysen, bei
denen die Gruppenzugehörigkeit eine zentrale Rolle spielt (Verba et al. 1995; van
Deth et al. 2007); neben Mesoanalysen von Zeitungsberichten und anderen Medien
(Koopmans und Statham 1999; Francisco 2010) gibt es Makroanalysen von ag-
gregierten Umfragedaten (z. B. Norris 2002).
Zu den Entwicklungen neueren Datums im Bereich der vergleichenden Partizipa-
tionsforschung gehört zunächst die wachsende Zahl von Studien, welche die vor-
handenen Daten f€ ur longitudinale Analysen benutzen (Norris 2002; García Albaceta
2014; Keil 2012; van Deth 2012). Herausforderungen sind hier die Vergleichbarkeit
der Informationen und die Konstruktion von äquivalenten Messungen (Levine und
Palfrey 2007; García Albaceta 2014; Persson und Solevid 2013). Eine zweite
Entwicklung betrifft den Einsatz neuer oder bis heute relativ wenig benutzter Daten-
erhebungsverfahren wie zum Beispiel die direkte Befragung von Partizipierenden
und Polizeibeamten in „Protest Surveys“ (Walgrave und Verhulst 2011) oder die
Analyse von Medienberichten (Francisco 2010). Auch der wachsende Einsatz des
Internets f€ur politische Beteiligung – sowohl f€ur Kommunikation als auch f€ur
Mobilisierung – erfordert neue methodische Ansätze wie Online Panels oder die
Analyse von „Big Data“ (Theocharis et al. 2014). Die Beobachtung von Fokus-
gruppen (Sossou 2011) oder die Verwendung experimenteller Designs (Levine und
Palfrey 2007) ist zwar in der Partizipationsforschung nicht mehr un€ublich, jedoch
fast immer auf einzelne Länder oder Gruppen beschränkt. F€ur die vergleichende

2
Politischer Konsum ist die einzige Partizipationsform, die deutlich häufiger von Frauen als von
Männern benutzt wird (van Deth 2010, S. 164).
Partizipation in der Vergleichenden Politikwissenschaft 177

Partizipationsforschung sind deswegen, drittens, Studien neueren Datums, welche


explizit die sozialen und gesellschaftlichen Kontexte und Rahmenbedingungen
politischer Partizipation thematisieren, wichtig. Insbesondere der Einsatz von sta-
tistischen Mehrebenenmodellen hat zu einer F€ulle empirischer Studien gef€uhrt, die
sowohl horizontale Vergleiche (zwischen Ländern) als auch vertikale Vergleiche
(zwischen Mikro-, Meso- und Makro-Ebenen) und die wechselseitigen Abhängig-
keiten ermöglichen. Dabei hat sich gezeigt, dass speziell Umfang und Ausmaß der
„nicht-institutionalisierten“ Formen politischer Partizipation von den spezifischen
kontextuellen Gegebenheiten in den verschiedenen Ländern abhängig ist: Wo das
politische System wenig zugänglich ist, oder bestimmte Ereignisse Protestaktionen
hervorrufen, sind auch „nicht-institutionalisierte“ Formen weiter verbreitet als unter
anderen Umständen (Nam 2007; van der Meer et al. 2009; Harrebye und Ejrnæs
2015; Vráblíková 2014).

5 Ausblick

Die enge Verbundenheit von gesellschaftlichen und politischen Wandeln und die
Entwicklungen in der politischen Beteiligung, haben die Partizipationsforschung
immer wieder vor große Herausforderungen gestellt. Die ständigen Ausweitungen
des Repertoires erfordern ständig Anpassungen und Ergänzungen vorhandener
Instrumente in Bevölkerungsumfragen sowie den Einsatz innovativer Datenerhe-
bungsverfahren f€ ur die Analyse politischer Ereignisse (Medienanalysen, Aktivisten-
befragungen, Mehrebenenanalysen usw.). Die weitere Verbreitung von Beteili-
gungsformen, welche zu der Kategorie „individualised collective action“ gehören
und der Aufstieg von transnationalen Aktionen wird die Partizipationsforschung in
den nächsten Jahren fast per Definitionem erschweren. F€ur inzidentelle und teils
anonyme Aktivitäten wie „Flash Mobs“, „Guerilla Gardening“ und „Reclaim-the-
Street Parties“ ist es kaum möglich, die Beteiligten zu identifizieren und ihre
Beweggr€ unde systematisch zu erforschen. F€ur manche anderen Aktionen wie Pro-
duktboykotte oder Internetpetitionen ist der politische Bezug nicht immer eindeutig
feststellbar und zudem verhindern Privacy-Regeln die Analyse von Facebook-oder
Twitter-Daten. Die Forschung transnationaler Aktionen steht erst recht noch ganz am
Anfang (Císař und Vráblíková 2013).
Auch in der vergleichenden Partizipationsforschung beginnt die Eule der
Minerva häufig ihren Flug erst mit der einbrechenden Dämmerung: Erst nachdem
die Beteiligung sich tatsächlich ändert, gelingt es der Forschung diese Wandlungen
zu thematisieren und empirisch zu erfassen. Das bedeutet, dass die Partizipations-
forschung weiterhin eng verkn€upft sein sollte mit den Analysen langlaufender ge-
sellschaftlicher und politischer Prozesse. Folglich sind nach wie vor international
vergleichende und longitudinale Ansätze unentbehrlich, da alleine vergleichende
Perspektiven die Wichtigkeit von gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen
f€
ur das Ausmaß und den Umfang der politischen Partizipation der B€urgerinnen und
B€urger angemessen ber€ucksichtigen können.
178 J.W. van Deth

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Formale und informelle Institutionen in der
Vergleichenden Politikwissenschaft

Hans-Joachim Lauth

Zusammenfassung
Nach einer begrifflichen Klärung des Institutionenverständnisses werden mög-
liche Interaktionsbeziehungen zwischen formalen und informellen Institutionen
diskutiert. Danach werden zentrale Ansätze und Überlegungen der
neo-institutionalistischen Debatte vorgestellt. Abschließend wird ein knapper
Überblick auf empirische Forschungsfelder im Kontext formaler und informeller
Institutionen gegeben.

Schlüsselwörter
Institutionen • Formale und informelle Institutionen • Neo-Institutionalismus •
Komparative Forschung zu informellen Institutionen

1 Einleitung

Institutionen stehen zweifellos im Zentrum politikwissenschaftlicher Forschung und


sind Gegenstand vieler komparativen Studien. Mit der Diskussion der Relevanz von
Institutionen in der Vergleichenden Politikwissenschaft lässt sich problemlos ein
Handbuch f€ ullen, wie entsprechende Beispiele zeigen (March/Olson 2006; Gandhi/
Ruiz-Rufino 2015). Auch viele Beiträge im vorliegenden Band nehmen darauf
Bezug. Dieser Beitrag sollte nicht zu unnötigen Doppelungen f€uhren und behandelt
daher die konzeptionellen Grundlagen des Institutionenverständnisses. Dabei
möchte er vor allem auch die informelle Seite von Institutionen in das Blickfeld
r€
ucken, die in der klassischen VPS zu gering beachtet wurde, obwohl ohne deren
Einbezug ein Verständnis von politischen System nicht angemessen möglich ist, wie

H.-J. Lauth (*)


Professor f€ur Vergleichende Politikwissenschaft und Systemlehre, Institut f€
ur Politikwissenschaft
und Soziologie, Universität W€urzburg, W€ urzburg, Deutschland
E-Mail: hans-joachim.lauth@uni-wuerzburg.de

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 181


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_14
182 H.-J. Lauth

verschiedene Länderstudien eindrucksvoll belegen (Lauth 2014). Ausgegangen wird


somit von der These, dass informelle Regeln und Praktiken unabdingbar f€ur das
Funktionieren eines jeglichen politischen Systems und damit konstitutiv f€ur dieses
sind (Helmke und Levitsky 2003).

2 Institutionenbegriff

Allein ein Blick in das Oxford Handbook of Political Institutions (Rhodes


et al. 2006) lässt den begrifflichen Klärungsbedarf deutlich werden. So finden sich
dort Beiträge € uber Verfassungen, Regierungen und Parteien ebenso wie €uber Zivil-
gesellschaft und internationale NGOs. Der Begriff Institutionen wird sowohl auf
Regeln als auch auf Organisationen bezogen. In dieser doppelten Ausrichtung ent-
spricht er durchaus dem traditionellen Verständnis der Politikwissenschaft, das
allerdings nur staatliche oder staatsnahe Institutionen als politische Institutionen
verstand. Auch wenn an dieser doppelten Ausrichtung (Regel und Organisation)
bis heute festgehalten wird (Lane 2014), gewinnt im Kontext der neo-institu-
tionalistischen Debatte zunehmend ein engeres Verständnis von Institutionen an
Bedeutung. Institutionen werden demnach als Regel verstanden (North 1990; Peters
2012). Doch ist dieser Begriff weiter zu präzisieren. Zunächst gilt es daran zu
erinnern, dass es sich um sanktionsbewährte Regeln handelt. Die Regeln sind ein-
zuhalten und eine unzulässige Abweichung wird bestraft. Entsprechend dem Vor-
schriftscharakter von Normen, deren Missachtung gleichfalls sanktioniert wird,
lassen sich Institutionen auch als Normensysteme verstehen, die das Verhalten
prägen. Wenn wir von Institutionen sprechen, sollte der Permissionsgrad der Regeln
deutlich sein, der angibt, welche Handlungen erlaubt, gestattet oder verboten sind,
und die Sanktionsmöglichkeiten aufzeigt. Hiermit ist die Ausprägung von klar
identifizier- und zuordnungsbaren Handlungsmustern verbunden.
Institutionen sind somit zentraler Ausdruck von Staaten und Regimeformen. Als
solche gelten sie als formale Institutionen, mit denen die Aus€ubung und Beteiligung
an der Herrschaft geregelt wird. Institutionen sind Bestandteil der Verfassung oder
lassen sie sich daraus ableiten – wie Gesetze, Verordnungen und Verträge. Generell
lassen sich Institutionen wie folgt definieren: Institutionen sind verbindliche Regeln
und sind oftmals Ausdruck eines umfassenderen Regelwerks. Dies impliziert Rechte
und Verantwortlichkeiten. Zugleich prägen Institutionen eine soziale Ordnung in der
Weise, dass das Verhalten aller beteiligten Akteure vorhersehbar erscheint. Institu-
tionen werden dabei explizit als politische Institutionen verstanden, wenn sie am
Entstehungsprozess oder Durchsetzung verbindlicher Entscheidungen beteiligt sind.
Mit dem Hinweis auf die Wirkungsträchtigkeit oder empirische Prägekraft von
Regeln wird ein zentrales Merkmal von Institutionen genannt. Verlieren sie diese
Fähigkeit, hören sie auf, als Institution zu existieren. So wird speziell in der Trans-
formationsforschung oftmals darauf hingewiesen, dass staatliche Institutionen nicht
gen€ ugend Beachtung finden und dass es daher notwendig sei, die Institutionen zu
institutionalisieren – also wirksam werden zu lassen. Letzterer Hinweis wäre aus der
soziologischen oder neo-institutionalistischen Perspektive unsinnig. Die Plausibilität
Formale und informelle Institutionen in der Vergleichenden. . . 183

solcher Überlegungen wird jedoch verständlich, wenn die unterschiedlichen Sicht-


weisen ber€ ucksichtigt werden.
Doch um eine unpräzise Begriffsverwendung zu vermeiden, werden Institutionen
nicht als Organisation oder kollektiver Akteur gefasst, sondern als generierende
Norm von Handlungsstrukturen f€ur Individuen und korporative Akteure (Hodgson
2006, S. 2 vgl. Rothstein 1996, Immergut 1998). Bestimmte Organisationsformen
(Gericht, Parlament) können hierbei lediglich in dem Sinne als Institution verstanden
werden, indem ihnen erkennbare und von anderen unterscheidbare verhaltensorien-
tierende Regeln zugrunde liegen. Sie offerieren durch ihre Funktionsweise den
Basiscode oder die Funktionslogik der mit ihnen verbundenen Institutionen. Zent-
rale politische Organisationen (Parlamente, Parteien etc.) und Regelwerke (Verfas-
sung) lassen sich zugleich als symbolischer Ausdruck von Institutionen begreifen,
die das Gemeinwesen als politische Einheit sichtbar machen.

3 Formale und informelle Institutionen

Die formale Regelwelt lässt sich in verschiedenen Ebene gliedern. Innerhalb der
grundlegenden Folien von Staat und Regimetypus erfolgt eine Differenzierung des
formalen Institutionendesigns auf der Ebene des Regierungssystems. Im Wesent-
lichen betreffen diese institutionellen Formen die Aufteilung der drei Gewalten
Exekutive, Legislative und Judikative auf Grundlage der Verfassung. Diese legt
die jeweiligen Kompetenzen fest und regelt die Interaktionsbeziehungen (Mitwir-
kung- und Kontrollrechte). Näher bestimmt werden die Rekrutierungsmechanismen
und die Amtsdauer der Funktionsträger. Regierungssysteme in ihrer parlamentari-
schen oder präsidentiellen Form spezifizieren somit die rechtsstaatlich gebundene
Demokratie.
Wenn diese Überlegung auf die Grundidee einer ungebremsten Exekutive einer-
seits und Blockademöglichkeiten der Exekutive anderseits verdichtet wird, dann
lässt sich auch das Vetospieler-Theorem (Tsebelis 2002) in diese Tradition einord-
nen. In eine ähnliche Richtung geht auch die Idee einer Kontrolle der Exekutiven im
Rahmen einer horizontal accountability (O’Donnell 1999), die ein umfassendes
Netz der Kontrollmöglichkeiten bietet (Lauth 2007), das harte (Veto points) und
weiche Blockaden vereinigt. Alle genannten Typen bewegen sich in ihrer institution-
ellen Anlage auf der Ebene von Regierungssystemen und beruhen auf der Idee der
Gewaltenteilung, die jedoch in unterschiedlicher Hinsicht variiert wird.
Trotz vorhandener Unterschiede ist allen Vorschläge folgende Annahme gemein-
sam: Die grundlegenden Institutionen prägen eine je eigene spezifische Funktions-
logik der verschiedenen Regierungssystemen. In Verbindung mit Akteurskonstella-
tionen, deren zentrale Merkmale (als kollektive Akteure) oftmals den Institutionen
selbst entstammen, prägen sie den Handlungskorridor des Regierens. Dessen Aus-
prägung wird wiederum verantwortlich gesehen f€ur die Effektivität oder Performanz
des Regierungssystems, die meist anhand makroökonomischer Daten gepr€uft wird
(Birchfield und Crepez 1999; Gerring et al. 2009). Ein anderes Pr€ufkriterium ist die
Stabilität des Regierungssystems selbst (Cheibub und Limongi 2002).
184 H.-J. Lauth

Mit Staat, Regime und Regierungssystem wurden die formalen Strukturen politi-
scher Ordnung behandelt. Spätestens mit dem Aufsatz von Helmke und Levitsky
(2003) wurde deutlich auf einen blinden Fleck der vergleichenden Politikwissen-
schaft hingewiesen, der im Ignorieren informeller Institutionen besteht. So ist es
bezeichnend dass im Oxford Handbook of political Institutions kein entsprechender
Beitrag zu finden ist; dies ist in dem aktuellen Handbook of Comparative Political
Institutions (Gandhi und Ruiz-Rufino 2015) immerhin gegeben. Zudem finden sich
dort weitere Beiträge zu einzelnen informellen Institutionen. In einem allgemeinen
Verständnis bezeichnen informelle Handlungen solche Handlungen, die nicht formal
geregelt sind. Sie existieren im wirtschaftlichen Kontext, in kulturellen Zusammen-
hängen oder im politischen System. Um den weiten Bereich zu Informellen einzu-
grenzen, konzentriert sich die Institutionenforschung auf informelle Regeln (infor-
melle Verfassung), und bezieht in einem weiteren Sinne informelle Praktiken
beziehungsweise kulturellen Traditionen ein, die gesellschaftliches und politisches
Handeln systematisch formieren.
Unterschieden werden somit (1) informelle Rechtsnormen und informelle Insti-
tutionen von (2) einge€ubten informellen Routinen und Praktiken, die im politischen
Prozess angewendet werden. Anvisiert ist somit nur ein Teil des weiten Spektrums
der informellen Politik (Bröchler und Grunden 2014), der auch nicht deckungsgleich
mit informal Governance ist (Christiansen und Neuhold 2012). Wir sprechen von
informellen Institutionen, wenn sie sanktionsfähige Regeln sind, aber nicht staatlich
kodifiziert beziehungsweise staatlichen Sanktionen unterworfen und somit vor
Gericht einklagbar sind (Lauth 2000). Eine analoge Definition geben Helmke und
Levitsky (2004, S. 727): „We define informal institutions as socially shared rules,
usually unwritten, that are created, communicated, and enforced outside of officially
sanctioned channels.“ Informelle Institutionen m€ussen somit öffentlich kommuni-
ziert und den Beteiligten bekannt sein.
Beispiele f€
ur institutionelle Ausprägungen sind vielfältig. Bedeutende informelle
Institutionen sind Gewohnheitsrecht, Korruption und Klientelismus, wenn sie tief
und fest in der Gesellschaft verankert sind und somit ein sanktionsfähiges Regelwerk
darstellen. Klientelismus und Korruption sind allgemeine Formen, die aber auch
landesspezifische Formen annehmen können. Kulturelle oder religiöse Regeln kön-
nen sowohl als Institution oder als Routinen angelegt sein. Auch gewaltsam agie-
rende Akteure (organisierte Kriminalität) können eine institutionelle Gegenwalt
aufbauen, wobei Gewaltdrohungen (z. B. gegen€uber Richtern oder Journalisten)
gleichfalls eine informelle Institution bilden können (Lauth 2004a).
Informelle politische Institutionen finden sich in allen Ländern. Großbritannien
ist ein oft genanntes Beispiel f€ur die Relevanz informeller Institutionen, die mit den
formalen Institutionen – den britischen Gesetzen – weitestgehend in Einklang stehen
und diese unterst€ utzen. In Deutschland lässt sich ein Koalitionsvertrag zwischen den
Regierungsparteien analog verstehen. Dieser ist vor keinem Gericht einklagbar, wird
er jedoch gebrochen, kann die Höchstsanktion den Verlust der Macht bedeuten.
Diese Beispiele zeigen, dass informelle politische Praktiken ebenso wie infor-
melle Institutionen nicht per se illegal sein m€ussen, vielmehr können sie dazu
dienen, die Unhandlichkeit formaler Regeln zu €uberwinden. Auf diese Weise
Formale und informelle Institutionen in der Vergleichenden. . . 185

verlaufen sie auch in deren Sinne und können ihre Funktionsweise verbessern. Es
lässt sich sogar generell die Behauptung aufstellen, dass kein politisches System
ohne informelle Aktivitäten €uberleben kann (Giordano und Hayoz 2013). Diese
grundlegende Einschätzung wird von Hodgson (2006, S. 18) gleichfalls betont:
„To put it differently, legal or ‚formal‘ institutions that do not have strong ‚informal‘
supports are unsupported legislative declarations rather than real institutions. This
does not mean that legal rules are unimportant but that they become important by
becoming incorporated in custom and habit“. Es kann allerdings auch sein, dass
informelle Praktiken und Institutionen genutzt werden, um die verfassungsmäßige
Ordnung zu umgehen und damit die Geltungskraft formaler Regeln zu schwächen.
Es ist daher im Einzelfall die konkrete Wirkung zu untersuchen.
Informelle Institutionen gelten oftmals auch als ein Teil von kulturellen Mustern.
Sie sind jedoch nicht identisch mit ihnen. Obwohl es schwierig ist, eine allgemein
akzeptierte Definition von Kultur zu finden, so sind doch oft zwei definitorische
Komponenten vorhanden (Pickel and Pickel 2006). Erstens umfasst das Kulturver-
ständnis ein breites Konzept, das Regeln, Werte, Traditionen und Gebräuche ein-
schließt. In einem holistischen Verständnis stehen die einzelnen Aspekte in einer
bestimmten Beziehung und dr€ucken eine kollektive Identität aus, die zu einer
spezifische Interpretation und Konstruktion der Welt f€uhrt und zur Annahme typi-
scher Lebensweise motiviert. Zweitens verf€ugen kulturelle Muster – solange sie
nicht institutionell gelagert sind – nicht €uber eine Sanktionsmacht. Im Aufgreifen der
Unterscheidung von Erwartungen und Werte machen Helmke und Levitsky (2003,
S. 10) auf einen dritten Unterschied aufmerksam: „that defines ‚informal institution‘
in terms of shared expectations rather than shared values“. In diesem Sinne zeigen
informelle Institutionen die kognitive Seite von Kultur an.
Die Überlegungen zu anderen Formen des Informellen haben deutliche Unter-
schiede, aber auch Gemeinsamkeiten aufgezeigt. So können sich die einzelnen
Konzepte teilweise €uberlappen, beziehungsweise gibt es mögliche Übergänge. Bei-
spielsweise können sich informelle Praktiken oder Routinen zu informellen Institu-
tionen verdichten. Informelle Institutionen sind nur ein, wenngleich wichtiger Be-
standteil der informellen Welt.

4 Interaktionsmuster formaler und informeller Institutionen

Informelle Institutionen sind in der Politikwissenschaft von Relevanz, da sie das


Funktionieren von formalen Institutionen beeinflussen und generell auf den politi-
schen Prozess einwirken können; in diesem Sinne werden sie auch als politische
Institutionen betrachtet. Informelle Institutionen bieten eine alternative Handlungs-
orientierung, die die Handlungslogik der formalen Institutionen unterst€utzen, aber
auch unterminieren können. In der Analyse der informellen Regelwelt gilt es sowohl
die Befunde zu ordnen als auch ihre Wirkungen auf die formale Regelwelt zu
analysieren. Dabei sind zwei Wirkungsbeziehung von zentraler Bedeutung: Sind
die informellen Regeln (oder Institutionen) mit den legalen Institutionen kompatibel
(komplementär) und unterst€utzen diese oder stehen sie zu ihnen in einem
186 H.-J. Lauth

Widerspruch und unterminieren sie? Eine weitere Differenzierung schlagen Helmke


und Levitsky (2004, S. 728) vor. Sie differenzieren zwischen vier Typen von infor-
mellen Institutionen, wobei sie eigentlich die Wirkungsbeziehungen meinen: „i) com-
plementary, ii) substitutive, iii) accommodating and iv) competing“. Zwei der vier
Beziehungsstrukturen lassen sich mit den oben genannten Mustern in Übereinstim-
mung bringen. Dies betrifft i und iv. Der substitutive Typus ist generell dem Bereich
der komplementären Beziehungen zuzurechnen, wobei es offen gelassen werden
kann, ob die korrespondierenden formalen Institutionen ineffektiv sind oder fehlen.
Eine interessante Beziehungsstruktur liefert der accomodating type. Dieser ver-
letzt die formalen Regeln nicht direkt, aber verändert das Ergebnis (outcome) oder in
den Worten von Helmke und Levitsky (2004, S. 729): „they contradict the spirit, but
not the letter, of the formal rules“. Bei den Beispielen (wie Koalitionspräsiden-
tialismus), die beide Autoren wählen, lässt sich dieser Typus gleichfalls der kom-
plementären Beziehungsstruktur zuordnen. Doch diese Klassifikation gilt nur so-
lange wie die Abweichung vom spirit noch im normativen Feld der formalen
Institution liegt. So mögen manche Formen von ‚perverse elite agreements‘ (Thiery
2011, S. 17) oder auch von ‚clientelism‘ nicht immer legal verboten sein, aber sie
sind mit einem demokratischen spirit kaum vereinbar.1 In diesem Falle w€urde die
Anpassung in Richtung competing institutions laufen. Diese Reflektion macht
darauf aufmerksam, dass auch der normative Charakter von informellen Institutio-
nen zu ber€ ucksichtigen ist. Dieser lässt sich in einer Differenzierung von Typen
informeller Institutionen ber€ucksichtigen, die deren interne Merkmale (und nicht die
Beziehungsstruktur) als Bezugsunkt nehmen.
Die Fragen zum Wirkungszusammenhang zwischen formalen und informellen
Institutionen sind nicht pauschal zu beantworten; die Klärung bedarf eines (normati-
ven) Bezugspunktes. Zum einen kann das empirisch vorgefundene Regelwerk (die
Verfassung) als Referenz genommen werden, zum anderen Rechtsstaat und Demo-
kratie als normativer Maßstab. Während der erste Vergleich Aussagen zur Stabilität
und Dynamik des politischen Prozesses in allen Regimetypen erlaubt, sind mit dem
zweiten normative Wertungen verbunden. Oftmals hängt die spezifische Wirkung
vom korrespondierenden Regimetypus ab. Während Klientelismus oder Korruption
aufgrund exklusiver und diskriminierender Wirkungen mit demokratischen Verfah-
ren in Widerspruch stehen und deren Geltung unterminieren, können sie f€ur autori-
täre Regime konstitutiv sein. In Großbritannien sind dagegen viele traditionelle
Regeln mit der Demokratie kompatibel und wären schwierig mit autoritärer Herr-
schaft zu verbinden. Die Etablierung konkurrierender Rechtssysteme kann sowohl
autokratische als auch demokratische Regime unterminieren. Bei Demokratie ist
dies evident, aber auch bei Diktaturen ist ein Konflikt zwischen beiden Normensys-
temen möglich. Beispielsweise kann die Wirkung von informell anerkannten

1
„Perverse elite agreements – i.e. elite agreements on political rules besides or even against the
constitution – supplement the role of other informal institutions by allowing for an elite conduct that
leaves transgression of basic constitutional rules unchecked and becoming itself a rule“ (Thiery
2011, S. 17).
Formale und informelle Institutionen in der Vergleichenden. . . 187

Scharia-Regeln die formalen Regeln eines Militärregimes beeinträchtigen. Die


Spannungen zwischen beiden Regelwelten lassen sich in etlichen arabischen Staaten
beobachten. Die Wirkung der informellen Institutionen hängt somit maßgeblich von
zwei Aspekten ab: (1) von der Kompatibilität beziehungsweise der Vereinbarkeit mit
formalen Regeln und (2) der Stärke der informellen Institutionen.2

5 Neo-institutionalistische Ansätze

Neo-institutionalistische Überlegungen wurden ab den 1980er-Jahren verstärkt in


die Debatte gebracht (March und Olson 1984; DiMaggio und Powell 1991; Hall und
Taylor 1996; Peters 2012; Hasse und Kr€ucken 2005; Schimank 2007; Köllner 2012).
Bald zeigte sich, dass sich diese nicht nur vom alten auf Verfassungen orientierten
Institutionalismus unterschieden, sondern selbst eine beachtliche Varianz aufwiesen;
Peters (2012) zählt acht Spielarten. Als Kontrapunkte lassen sich zwei Ansätze
identifizieren: der Rational Choice-Ansatz und der soziologischen Ansatz, der sich
wiederum in verschiedenen Facetten zeigt. Der aus den Wirtschaftswissenschaften
stammende RC-Ansatz betont deutlich die Kosten und Anreize und somit die
individuellen Entscheidungsmöglichkeiten (Richter und Furubotn 1996; Weingast
1998), die sich oftmals spieltheoretisch modulieren lassen. Dagegen folgt der sozio-
logischen Ansatz der Logik der sozialen Angemessenheit, der den individuellen
Spielraum reduziert, ohne die Verhaltensweisen aber gänzlich zu determinieren. In
Varianten betonen soziologische Ansätze kollektive Narrative oder Mythen, denen
gleichfalls strukturierende Bedeutung zugewiesen wird (Zucker 1977; Göhler 1987;
M€unkler 1997; Rehberg 1994). Eine andere Variante betrifft die Organisationssozio-
logie, die wiederum verschiedene Ausprägungen kennt (March und Olson 1989;
Jörges-S€ uß und S€uß 2004).
Innerhalb der beiden Grundpositionen und offen f€ur beide hat sich der historische
Institutionalismus etabliert, der zwei weitere Argumente integriert (Thelen und
Steinmo 1992; Robertson 1993; Steinmo 2008). Zum einen betont er die Relevanz
von Macht und Interessen, die sich in Form von Institutionen kondensieren, die
wiederum die Herrschaftsstrukturen stabilisieren. Zum anderen hat er die damit eng
verwandte Idee der Pfadabhängigkeit prominent gemacht, demnach fr€uhere institu-
tionelle Entscheidungen spätere Entscheidungsspielräume prägen (Werle 2007). Als
Erblasthypothese hat diese Überlegung auch Eingang in der Wohlfahrtsstaatsfor-
schung gefunden. In den Studien zum Institutionenwandel zeigt sich dieser Ansatz
methodisch der qualitativen Forschung verpflichtet (siehe Process Tracing).
Die Relevanz dieser verschiedenen Theoriestränge zeigt sich in der Modulierung
der empirischen Befunde und damit oftmals verbundener Kausalannahmen. Ein
Beispiel f€ur die Erstellung eines umfassenden Analyserasters bildet der maßgeblich

2
Die Stärke oder Schwäche einer informellen Institution kann sich auf ein ganzes Land gleichmäßig
erstrecken oder auch territorial verschieden ausgeprägt sein. Zur Messung institutioneller Stärke
vgl. Levitsky und Murillo 2009.
188 H.-J. Lauth

von Scharpf entwickelte Ansatz des akteurzentrierten Institutionalismus, der mit


Bezug auf korporative Akteure ein differenziertes Handlungsschema entwirft, in
dem die Akteure maßgeblich durch institutionell geprägte Interesse gesteuert werden
(Scharpf 2000; Maytnz und Scharpf 1995). Das Institutionen angemessene Verhalten
lässt sich nur bedingt in der RC-Tradition einordnen. Dieser Ansatz bietet Anschluss
f€ur weiterf€
uhrende Hypothesen und wurde entsprechend in der komparativen For-
schung eingesetzt (z. B. Muno 2005).
Die kausaltheoretischen Überlegungen im Neo-Institutionalismus betreffen zen-
tral zwei Aspekte. Zum einen geht es um die Entstehung von Institutionen und zum
anderen um die Stabilität oder Dynamik der Veränderung. Der letzte Aspekt wird im
historischen Institutionalismus mit der Idee von Gelegenheitsfenster (Windows of
opportunity) verbunden, in dem die Möglichkeit eines Pfadwechsel oder einer
Pfadkorrektur besteht. Diese mehr oder minder offene Entscheidungssituation geht
oftmals mit Krisentendenzen (critical juncture) einher. Solche Ansätze bieten f€ur die
Transformationsforschung gute Ankn€upfungsmöglichkeiten (die bislang aber nur
begrenzt genutzt wurden). Die Handlungen orientieren sich bei den Fragen der
Entstehung, Stabilität und Veränderungen im Wesentlichen an den genannten drei
zentraten Strängen des Neo-Institutionalismus. Dies sind Anreize und Kosten,
Macht und Interessen sowie soziale Anpassung. Vor allem im letzten Fall sind
Veränderungen dann extern induziert. Im Zuge des constructive turn, der im sym-
bolischen Neo-Institutionalismus bereits angedacht ist, lässt sich eine weitere Ver-
änderungsoption erschließen. Da sich Verhalten an kollektiven Narrativen orientiert,
sind der öffentliche Diskurs und dessen Ausprägung relevant f€ur die Funktionsweise
der Institutionen.

6 Komparative Forschung zu formalen und informellen


Institutionen

Die politische Relevanz informeller Institutionen zeigt sich vor allem, wenn diese
miteinander verflochten sind und sich dabei gegenseitig verstärken. Die negative
Wirkung der Verflechtung von Klientelismus, Patronage und Korruption auf die
Demokratie wurde in verschiedenen konzeptionellen Überlegungen erfasst. Dazu
gehört das Theorem der brown areas (O’Donnell 1993, S. 1359 f.), in dem die
territorialen Grenzen formaler staatlicher Regeln thematisiert werden. Gleichfalls zu
nennen sind die Überlegungen zum „delegative code“ (O’Donnell 1996) und zum
„illiberal code“ (Merkel und Croissant 2000); im russischen Kontext wird hier von
„Blat“ gesprochen (Ledeneva 2006 und 2013). In diesen Konzepten wird die
Schwächung formaler Regeln im Kernbereich von Demokratie und Rechtsstaat
durch die Kombination verschiedener Typen informeller Institutionen erfasst. Orga-
nisierte Kriminalität oder Mafia sind ein weiteres Beispiel f€ur solche Verflechtungen,
in denen nun auch die Gewaltdrohung wirksam ist. Rent seeking, ein Konzept, in
dem die systematisch private Aneignung öffentlicher Ressourcen behandelt wird, ist
gleichfalls von informellen Institutionen dominiert, die in Spannung zum Rechts-
staat stehen (Pritzl 1996).
Formale und informelle Institutionen in der Vergleichenden. . . 189

Im Zusammenspiel informeller Institutionen kann somit eine wirkungsträchtige


Deutungsfolie entstehen, die den Rang einer zweiten oder eigentlichen Verfassung
annehmen kann (hidden constitution). Die Problematik solch einer Konstellation ist
offenkundig, wenn damit die Funktionslogik der demokratischen Institutionen unter-
miniert wird. Dies gilt jedoch nicht, wenn damit komplementäre Prozesse verbunden
sind, wie im Falle informaler Verfassungsregeln (Schulze-Fielitz 1984). Äußerst
problematisch wird die Situation dagegen, wenn die informellen Regeln zugunsten
von strategischen Gruppen dominieren und die Gefahr eines State Capture besteht
(siehe die Diskussion zu Bulgarien bei Ganev 2007).
Die herausragende Bedeutung informeller Regeln hat sich auch auf staatlicher
Ebene konzeptionell niedergeschlagen (Radnitz 2011) und erzeugt maßgebliche
Effekte f€ur die Rechtsstaatlichkeit (Schuppert 2011; Lauth 2015). Im Konzept des
Neo-Patrimonialismus sind formale und informelle Institutionen und Praktiken eng
mit einander verkn€upft, die das gesamte Staatshandeln betreffen. Patrimoniale und
legal-rational b€urokratische Strukturen sind in einem Mix institutionell gebunden
(Erdmann und Engel 2007, S. 105). Die Zuordnung einer neopatrimonialen Herr-
schaftsstruktur zu dem Regimetypus „Demokratie“ oder „Autokratie“ ist nicht
einfach möglich, da die damit verbundenen Kategorien nicht ganz zusammen pas-
sen. Problemlos lässt sich neopatrimoniale Herrschaft in autoritären Regimen finden.
Solange die informelle Logik jedoch nicht die formalen Institutionen dominiert,
könnte auch eine defizitäre Demokratie bestehen, die gekennzeichnet ist von einer
prekären Verbindung der formalen Institutionen und kontrastierenden informellen
Institutionen. Die konkrete Zuordnung hängt somit vom jeweiligen empirischen
Fall ab.3
Das Zusammenspiel zwischen formalen und informellen Regeln hat nicht nur auf
der Ebene der Regime konzeptionelle Auswirkungen, sondern auch auf der von
Regierungssystemen, wo jedoch traditionell der Bereich informeller Institutionen
und Praktiken weitgehend ignoriert wurde (z. B. Lijphart 2012). Dies ist aber nur
solange € uberzeugend, wenn diese mit den formalen Institutionen kompatibel sind.
Problematischer gestaltet sich hingegen der Fall, wenn die informellen Institutionen
nicht mit dem formalen Regelwerk kompatibel sind, sondern diese in ihrer Funkti-
onsweise unterminieren, wie sich in einigen lateinamerikanischen Ländern zeigt
(Helmke und Levitsky 2006; zu Mittel- und Osteuropa vgl. Meyer 2006). Analog
wie bei der Konstruktion von neo-patrimonialen Formen können auch auf der Ebene
der Regierungssysteme Typen gebildet werden, die informelle Bestandteile integ-
rieren. Ein illustratives Beispiel f€ur diesen Sachverhalt bieten neuere Entwicklungen
in präsidentiellen Regierungssystemen, die sich speziell in Lateinamerika zeigen.
Ein anderes betrifft eine besondere Ausprägung präsidentieller Systeme, die bei-
spielweise in Osteuropa beobachtet wird.
Im Unterschied zum US-amerikanischen Präsidentialsystem existieren in den
lateinamerikanischen präsidentiellen Regierungssystemen Mehrparteiensysteme, so

3
Einen Vorschlag, das Kontext des Neo-Patrimonialismus f€ur die vergleichende Forschung syste-
matisch zu erschließen, bietet von Soest 2013, S. 63 f.
190 H.-J. Lauth

dass der Präsident oftmals nicht u€ber eine eigene Mehrheit im Parlament verf€ugt.
Um die prinzipielle Spannung zwischen Mehrparteiensystemen und funktionsfähi-
gen Präsidialdemokratien zu minimieren, also die Regierungsfähigkeit nicht nur
ständig €uber Ad hoc-Mehrheiten zu erreichen, versuchten lateinamerikanische Präsi-
denten in verschiedenen Länder – wie in Bolivien, Brasilien, Chile oder Uruguay –
andere Parteien kontinuierlich in die Regierungsarbeit einzubinden (Nolte 2007).
Praktiziert wird die Aufnahme der Mitglieder anderer Parteien in die Regierung,
programmatische Absprachen oder sogar die Bildung von Allianzen beziehungs-
weise Koalitionen. Letztere Kooperationsform ist wohl in Chile am stärksten
ausgeprägt, in der die Mitgliedsparteien der sogenannten „Concertación“ eine lang-
jährige Koalition vereinbaren und mit gemeinsamen alternierenden Präsidentschafts-
kandidaten in den Wahlkampf ziehen.
Die damit gegebene Praxis f€uhrt mit dem Begriff des Koalitionspräsidentialismus
zu einem neuen Subtypus des Präsidentialismus, der durchaus in der Lage ist, die
faktischen Prozesse angemessen zu erfassen. Die damit gegebenen formalen Rechte
und informelle Praktiken f€uhren zu einer Annäherung der Funktionslogik von
Präsidialdemokratien an die von parlamentarischen Demokratien (Nolte 2007; Kai-
litz 2007). Wenn hierbei der Präsident zudem aus spezifischen politischen (nicht nur
aufgrund strafrechtlicher) Gr€unden vom Amt enthoben werden kann, verschwim-
men die Grenzen zwischen parlamentarischen und präsidentiellen Regierungssyste-
men, denn dieser Tatbestand hebelt das anscheinend dichotomische Merkmal der
Abwahl der Exekutive tendenziell auf.
Eine ganz andere Entwicklung hat sich während der letzten Jahre in einigen
osteuropäischen Staaten vollzogen. Hier wurden die präsidentiellen Kompetenzen
zunächst auf verfassungsrechtlicher Grundlage stark ausgeweitet, so dass die Legis-
lative keine ernsthafte Gegenkraft mehr bilden kann (R€ub 2007, S. 247ff). Beson-
ders signifikant sind die demokratiesperrigen Befunde f€ur Russland, Weißrussland
und der Ukraine (bis 2005). Noch gravierender werden die Auswirkungen aller-
dings, wenn deren Einbettung in informelle Kontexte beachtet wird.
So ist bereits nach der Verfassung der russische Präsident aufgrund der Kompe-
tenzausstattung des Amts eindeutig der dominante Akteur. Doch als Putin in seiner
Phase auch als Ministerpräsident in der Lage ist, von dieser Position die Machtf€ulle
des Präsidenten zu erreichen, wurden die eigentlichen Herrschaftsgrundlagen deut-
lich. Die Grundlagen bilden ein informelles Regelwerk, das die formalrechtlichen
Kompetenzen € uberstrahlt (Gelman 2003; Ledeneva 2006). Die Relevanz informeller
Regeln zeigt sich sehr deutlich, die auch in Phasen weitgehend demokratischer
Herrschaft (Jelzin) vorhanden war, wenngleich in anderer Ausprägung, wie der
Hinweis auf den großen Einfluss der Oligarchen verdeutlichen kann. Solche Befun-
de sind dar€uber hinaus f€ur andere Länder in Osteuropa und Zentralasien kennzeich-
nend (Giordano/Hayoz 2013).
Dieser Befund eines die anderen Gewalten dominierenden Präsidenten ist aber
nicht regionenspezifisch. Ähnliche Beobachtungen wurden in den 1990er-Jahren zu
etlichen lateinamerikanischen Ländern vorgelegt (z. B. Argentinien, Peru und Vene-
zuela). Auch hier wurden starke proaktive Kompetenzen der Präsidenten im legisla-
tiven Bereich festgestellt, die eigenständige Dekretrechte (mit dem Status einer
Formale und informelle Institutionen in der Vergleichenden. . . 191

Gesetzgebung) oder legislative Initiativrechte (partiell auch ausschließliche) ein-


schließen (Nolte 2007). Verschiedene Begriffe – Hyperpräsidentialismus (Nino
1992) oder delegative Demokratie (O’Donnell 1994) – wurden auch dort vorge-
schlagen, um die Befunde angemessen zu erfassen.
Der Blick auf beide Entwicklungen – den Koalitionspräsidentialismus und den
Super- oder Hyperpräsidentialismus – macht deutlich, dass sich ähnliche Regie-
rungstypen aufgrund informeller Praktiken in unterschiedliche, teils divergierende
Richtung entwickeln. Gleichfalls zeigt sich, dass sich die informell bestimmte Praxis
des Regierens zu Institutionen verdichten kann (Koalitionsbildung) oder auf solchen
basieren (Klientelismus). Sie verändern dabei die Logik der grundlegenden Regie-
rungstypen signifikant. Dies kann wie im Falle des Koalitionspräsidentialismus zu
einer verbesserten Regierungseffizienz in Demokratien f€uhren oder im Falle des
Super- oder Hyperpräsidentialismus auch zu einem Verlassen des demokratischen
Pfads. Methodisch korrekt ist diese letzte Variante als verminderter Subtypus zu
konzeptualisieren bei dem die entsprechenden Machtbegrenzungen sowie checks
and balances des Grundtypus fehlen.
Neo-institutionalistische Forschungen betreffen nicht nur Polities, sondern auch
Politikfelder. Komparative Studien beschäftigen sich beispielsweise mit dem
Wohlfahrtsstaat, der Gesundheitspolitik (Rothstein 1998; Immergut 1992) oder der
Rolle von Ideen in der Wirtschaftspolitik (Blyth 2002). Hierbei fungieren formale
und informelle Institutionen als unabhängige Variable. Gleichfalls gerät auch der
engere Bereich des Regierens selbst in den Fokus der Forschung (Bröchler und
Grunden 2014; Bröchler und Lauth 2014).
Die Messung informeller Institutionen ist nicht einfach. Die am weitest ent-
wickelnden Messanlagen betreffen die Korruption, wobei verschiedene Ansätze
vorliegen, die wiederum kritisch kommentiert werden (vgl. den Beitrag zu Korrup-
tion). Auch zu Klientelismus liegen einige Datensätze (vgl. den Beitrag zu Kliente-
lismus). Insgesamt erfordert jedoch die Erforschung informeller Institutionen
und ihres Zusammenspiels mit formalen Institutionen, wie ein Blick auf den For-
schungsstand nahelegt, den Einsatz qualitativer Methoden, die eine vertiefte Analyse
ermöglichen.

7 Fazit

Nicht bestritten wird die generelle Bedeutung von Institutionen. Im Gegenteil, sie
tragen maßgeblich dazu bei den Meso-Raum zu strukturieren und die Verbindung
von Makro- und Mikro-Ebene zu ermöglichen. Kritisch angemerkt wird jedoch die
Fokussierung der Politikwissenschaft auf formale Institutionen, ohne die gleichfalls
vorhandene Prägekraft informelle Institutionen zu ber€ucksichtigen. Eine angemes-
sene Analyse der institutionellen Sphäre bedarf der Einbindung von beiden.
So macht die Regierungssystemforschung deutlich, dass die faktische Funktions-
logik durchaus von den idealtypischen Modellvorstellungen abweichen kann. Infor-
melle Praktiken und Institutionen haben gleichfalls Prägekraft, wie die Begriffe
‚Koalitionspräsidentialismus‘ und ‚superpräsidentieller Exekutionalismus‘
192 H.-J. Lauth

verdeutlichten. Der systematische Einbezug von informellen Institutionen in Form


von Korruption verweist ferner auf die Grenzen der Prägekraft formaler demokrati-
scher Regeln. Nur unter den Bedingungen voll existenter Staatlichkeit und Rechts-
staatlichkeit, vorhandener Gewaltenteilung und beim Fehlen gegenläufiger Normen-
systemen können die Regierungssysteme die idealtypisch geprägten Verlaufsformen
zeigen. Und selbst dieser Vorbehalt formuliert nur eine notwendige und keine
hinreichende Bedingung f€ur das erwartete Verhalten. So kann allein der Wunsch
nach höherer Regierungseffektivität neue Formen der Kooperation zur Folge haben,
wie der Blick auf den Koalitionspräsidentialismus zeigt. Allerdings prägen auch
dann die Institutionen den Handlungskorridor und bestätigen die generelle These
‚institutions matter‘.
Diese Überlegungen unterstreichen zugleich die Relevanz des Kontexts in der
Institutionenanalyse. Diese erweist sich in der skizzierten Perspektive als komplexes
Unterfangen, das noch in den Anfängen steht. Typologische Anstrengungen –
sowohl in der Reflexion der bestehenden Vorschläge als auch in der Strukturierung
der informellen Institutionen – sind dabei hilfreich, (Lauth 2004b) doch vor allem
besteht Bedarf an weiterer empirischer Forschung, um die theoretischen Zusammen-
hänge zu erfassen.

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Entwicklungstheorien in der
Vergleichenden Politikwissenschaft

Jörg Faust

Zusammenfassung
Entwicklungstheorien haben sich vornehmlich mit den Ursachen sozioökonomi-
scher und politischer Entwicklung – Modernisierung – in den Regionen Afrikas,
Asiens und Lateinamerikas beschäftigt. Die jeweiligen Trends und Strömungen
weisen dabei starke Parallelen zu €ubergeordneten sozialwissenschaftlichen De-
batten wie auch zu den großen Trends im internationalen System auf. Mit der
zunehmenden Heterogenität der Entwicklungsländer, der zunehmenden globalen
Herausforderungen und der Verbreitung anspruchsvoller Methoden der empiri-
schen Sozialforschung verliert die traditionelle politikwissenschaftliche Entwick-
lungsforschung jedoch immer stärker ihre Eigenständigkeit.

Schlüsselwörter
Entwicklungstheorien • Entwicklungsforschung • Armut • Demokratisierung •
Globalisierung • Entwicklungsländer • Entwicklungspolitik

1 Einleitung

Warum sind manche Länder arm und manche Länder reich? Welche Auswirkungen
haben politische Institutionen auf die wirtschaftliche und soziale Entwicklung in den
Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas. Warum haben sich etliche dieser
Länder in den letzten Jahrzehnten demokratisiert, während andere noch immer durch
autoritäre Regime regiert werden. Wie wirken Globalisierungsprozesse auf die wirt-
schaftliche und politische Entwicklung in nationalstaatlich verfassten Gesellschaften
und welche Rolle kommt globalem Regieren bei der Lösung grenz€ubergreifender

J. Faust (*)
Direktor des Deutschen Evaluierungsinstituts der Entwicklungszusammenarbeit (DEval), Bonn,
Deutschland
E-Mail: joerg.faust@die-gdi.de

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 197


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_15
198 J. Faust

Entwicklungsprobleme zu. All diese und ähnliche Fragen zählen zu den wichtigsten
Fragestellungen, mit denen sich Entwicklungstheorien bzw. die politikwissenschaftliche
Entwicklungsforschung beschäftigt. Die politikwissenschaftliche Entwicklungsfor-
schung bzw. sozialwissenschaftliche Entwicklungstheorien wurden hierbei durch zwei
Trends im Anschluss an den zweiten Weltkrieg geprägt. Erstens durch die Entstehung
der modernen, sozialwissenschaftlich geprägten Politikwissenschaft und zweitens durch
internationale Veränderungen, die ein zunehmendes Interesse an politischen Strukturen
in den ehemaligen Kolonien Afrikas, Asiens und Lateinamerikas nach sich zog.
Beide Faktoren waren denn auch prägend f€ur die Subdisziplin. Auf der einen
Seite spiegeln die politikwissenschaftlichen Entwicklungstheorien die epistomolo-
gische Fragmentierung der modernen Politikwissenschaft wider, der ein breit ak-
zeptiertes, wissenschaftstheoretisches Paradigma fehlt. Insofern finden wir in der
politikwissenschaftlichen Entwicklungsforschung denn auch historisch-insti-
tutionelle, kritisch-dialektische, makro-soziologische wie auch ökonomische Theo-
rieansätze, die zur Beschäftigung mit den einleitend genannten Fragestellungen
herangezogen wurden. Erst seit den 1990ern setzten sich allmählich und mit einer
zeitlichen Verzögerung zur Mutterdisziplin moderne, dem Positivismus verpflichtete
Auffassungen von Wissenschaft als mainstream durch.
Was die politikwissenschaftliche Entwicklungsforschung jedoch trotz dieser me-
thodischen Heterogenität einte, war das Interesse an kaum erforschten politischen
Strukturen. Damit einhergehend war die Ansicht, dass die Genese politikwissen-
schaftlicher Theorien nicht umhin könne, sich der Empirie aus den Gesellschaften
Afrikas, Asiens oder Lateinamerikas zu bedienen, die sich in ihren politischen,
ökonomischen, und sozialen Strukturen oftmals deutlich und zuweilen fundamental
von den westlichen Demokratien aber auch von den planwirtschaftlichen Autokra-
tien Osteuropas unterschieden. Da diese Sichtweise auch von Entwicklungsfor-
schern aus verwandten Sozialwissenschaften geteilt wurde, entwickelte sich eine
breit angelegte sozialwissenschaftliches Teildisziplin der development studies, in der

uber die Grenzen der einzelnen Disziplinen Entwicklungsherausforderungen in den
Ländern des S€ udens analysiert wurden.
Gegenwärtig jedoch stehen die politikwissenschaftliche Entwicklungsforschung
und sozialwissenschaftliche development studies vor einem radikalen Umbruch.
Aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung in vielen Ländern des S€udens löst sich
die – bereits fr€ uher kritisierte – Demarkationslinie zwischen armem S€uden und
reichem Norden zunehmend auf (Conzelmann und Faust 2009). Auch wenn Armut
und Elend in einigen Entwicklungs- und Schwellenländern noch zentrale Entwick-
lungsbarrieren sind, so nehmen die Wohlstandsunterschiede zwischen den Gesell-
schaften des S€ udens und den hochindustrialisierten Ländern doch stetig
ab. Gleichzeitig ist ein globaler Trend hin zu steigender ökonomischer Ungleichver-
teilung innerhalb nationalstaatlich verfasster Gesellschaften zu konstatieren. Zudem
sind in Zeiten zunehmender ökonomischer Entgrenzung Herausforderungen f€ur die
Entstehung und Konsolidierung demokratischer Regime längst nicht nur auf Ent-
wicklungs- und Schwellenländer begrenzt (Rodrik 2011). Die Bedeutung globaler,
grenz€ ubergreifender Herausforderungen nimmt sowohl f€ur die traditionellen OECD-
Demokratien wie auch f€ur die Entwicklungs- und Schwellenländer zu. Klimawandel
Entwicklungstheorien in der Vergleichenden Politikwissenschaft 199

und der Schutz nat€urlicher Ressourcen, Finanzmarktregulierung, transnational orga-


nisierte Kriminalität, Migration und Terrorismus betreffen gleichermaßen arme wie
wohlhabende Staaten. Insofern sind Fragen nationaler wie globaler Entwicklung
zwar von anhaltend hoher Relevanz in der Politikwissenschaft, aber diese Fragen
sind nicht mehr nur auf den urspr€unglich konstitutiven Erkenntnisgegenstand der
politikwissenschaftlichen Entwicklungsforschung beschränkt, was eine Neuordnung
des Entwicklungsbegriffs und seiner empirischen Grundlagen erfordert.
Vor diesem Hintergrund ist der vorliegende Beitrag historisch chronologisch
strukturiert. Denn betrachtet man die politikwissenschaftliche Entwicklungsfor-
schung aus historischer Perspektive, so lassen sich verschiedene, teilweise

uberlappende Phasen unterscheiden, in denen jeweils unterschiedliche Entwick-
lungstheorien im Mittelpunkt der akademischen Auseinandersetzung standen. Hier-
bei sind diese Phasen sowohl mit historischen Trends bzw. Ereignissen verkn€upft als
auch verbunden mit den großen methodischen wie theoretischen Debatten in der
Politikwissenschaft bzw. in den Sozialwissenschaften insgesamt. Der Beitrag be-
handelt abschließend die aktuelle Transformation der politik- und sozialwissen-
schaftlichen Beschäftigung mit Entwicklungstheorien.

2 Modernisierungstheorien und Strukturfunktionalismus

Während der f€unfziger und sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts nahm das
Erkenntnisinteresse an den politischen Strukturen jener Staaten zu, die in den
Dekolonialisierungsprozessen des 19. (Lateinamerika) und des 20. Jahrhunderts
(Asien, Afrika) entstanden waren. Dieses Interesse hatte einen klaren, realpolitischen
Hintergrund, da die entstehende Systemkonkurrenz zwischen marktwirtschaftlich-
demokratischen und sozialistisch-autoritären Gesellschaftsordnungen einen großen
Informations- und Beratungsbedarf €uber diejenigen Länder generierte, die unter der
Residualkategorie Dritte Welt zusammengefasst wurde. Dabei dominierten in der
Politikwissenschaft zunächst die Modernisierungstheorien, welche die Entwicklung
hin zur rechtsstaatlichen Demokratie schlicht als eine Konsequenz ökonomischer
Modernisierung auffassten (Lipset 1959). Das Kernargument basierte dabei vor-
nehmlich auf der strukturfunktionalistischen Systemtheorie (Almond 1960, 1965),
mit deren Hilfe traditionelle wie moderne Gesellschaften typologisiert wurden.
Entwicklung wurde in seiner ökonomischen Dimension meist am Pro-Kopf-Ein-
kommen festgemacht und in seiner politischen Dimension eng an die politische
Kulturforschung gekn€upft. Entsprechend wurde eine civic culture, die einerseits
staatliche Autorität akzeptiert und zugleich politische Partizipation einfordert, als
Voraussetzung f€ ur das Entstehen und die Stabilität demokratischer Herrschaftssys-
teme identifiziert (Almond und Verba 1963).
Aus methodischer Perspektive vermischten sich in jener Phase historisch-
beschreibende Elemente mit den damals dominierenden strukturfunktionalistischen
Systemtheorien. Dabei wurde im Unterschied zu der sich etablierenden Werte- und
Einstellungsforschung f€ur die OECD Welt in der Entwicklungsforschung nur selten
mit quantitativen Methoden des Vergleichs gearbeitet. Vielmehr dominierten
200 J. Faust

historisch-hermeneutisch angeleitete Länder- oder Regionalstudien, die kaum


strenge Hypothesentests ermöglichten. Die strukturfunktionalistischen Ansätze wa-
ren zudem in der Entwicklungsforschung stark auf die Inputfunktionen politischer
Systeme konzentriert, also politische Sozialisation und Rekrutierung, Interessen-
artikulation, Interessenaggregation und politische Kommunikation. Die Kombina-
tion strukturfunktionalistischer Theorieansätze, die eher einen analytischen Bezugs-
rahmen erstellen als erklären und historisch-beschreibender Elemente beg€unstigte
somit das ausgeprägte Erklärungsdefizit der Entwicklungstheorien jener Zeit.

3 Dependenztheorien

Die Dominanz der Modernisierungstheorien erodierte in den 1960er- und dann vor
allem in 1970er Jahren. En vogue waren nun Dependenztheorien und andere Varian-
ten von Abhängigkeitstheorien, die nicht mehr innergesellschaftliche Faktoren son-
dern vielmehr internationale Rahmenbedingungen als zentrale Determinanten gerin-
gerer sozioökonomischer Entwicklung ausmachten (Cardoso und Faletto 1969;
Frank 1969;Wallerstein 1979). Die Kritik der unterschiedlichen Abhängigkeitstheo-
rien an Modernisierungstheorien und Strukturfunktionalismus war insofern nicht
primär auf deren theoretischen und methodischen Schwächen gerichtet, sondern
vielmehr auf deren empirische Engf€uhrung. Abhängige Weltmarktintegration und
offene Ausbeutung der Entwicklungsländer durch die Staaten Westeuropas und
Nordamerikas wurden zu zentralen Erklärungsfaktoren in einem breiten Spektrum
von imperialistischen, marxistischen oder stark sozialreformerisch inspirierten
Theorienansätzen. Sozioökonomische Entwicklungsunterschiede zwischen Staaten
wurden durch deren zentrale bzw. periphere Positionierung im kapitalistischen Welt-
system erklärt. Ebenso wurden die variierenden innergesellschaftlichen Kräftever-
hältnisse und Klassenkonflikte auf die unterschiedliche Einbindung der jeweiligen
Akteure in den Weltmarkt zur€uckgef€uhrt. Kolonialismus und die fortwährende Aus-

ubung von politischer Macht seitens der Industrieländergegen€uber Entwicklungs-
ländern beg€ unstigen demzufolge das Entstehen und die Persistenz von kapitalisti-
schen Weltmarktstrukturen, die f€ur die ökonomischen Diskrepanzen zwischen
Staaten wie auch innerhalb von Gesellschaften verantwortlich seien. Demnach
f€
uhren politische Machtasymmetrien im internationalen System zu ungleichen Han-
delsbedingungen (Terms of Trade), die wiederum niedrige Löhne in Entwicklungs-
länder sowie Technologieexporte aus Industrie- in Entwicklungsländer sowie die
Rohstoffausbeutung der Entwicklungsländerbeg€unstigen.
Auch f€ur diese Entwicklung gab es realpolitische Urspr€unge. Erstens waren die
Industrieländer selbst durch emanzipatorische, sozialreformerische und teils marxis-
tisch inspirierten gesellschaftliche Trends gekennzeichnet. Zweitens versuchten eine
ganze Reihe von Entwicklungsländern, sich nicht mehr vom Ost-West-Konflikts
vereinnahmen zu lassen. Ihren Ursprung hatten letztere Bestrebungen in der
Bandung-Konferenz von 1955 sowie in der Gr€undung der Bewegung Blockfreier
Staaten 1961, die zu vermehrten Forderungen nach internationaler Umverteilung
während der sechziger und siebziger Jahre f€uhrten. In Übereinstimmung mit den
Entwicklungstheorien in der Vergleichenden Politikwissenschaft 201

sozialreformerischen Trends dieser Dekaden wandelte sich auch Entwicklungsbe-


griff. Entwicklung wurde umfassender definiert. Das Volkseinkommen galt nicht
mehr als dominante Richtgröße, sondern wurde um Verteilungsaspekte und Ele-
mente sozialer Entwicklung ergänzt. Die Verwirklichung politischer wie auch sozia-
ler und kultureller Menschenrechte wurde zunehmend als Zielsystem von Entwick-
lung angesehen (vgl. F€unfeck der Entwicklung bei Nohlen und Nuscheler 1993).
Während die Modernisierungstheorien internationale Faktoren systematisch aus-
blendeten, vernachlässigten die Abhängigkeitstheorien innergesellschaftliche Erklä-
rungsfaktoren. Insofern boten diese Theorien kaum ein Erklärungsangebot f€ur die
zunehmende Heterogenität zwischen den Entwicklungsländern. Auf die Frage,
warum sich bei ähnlichen externen Rahmenbedingungen einige Entwicklungsländer
sozioökonomisch modernisierten, während andere von Stagnation gekennzeichnet
waren, hatten die Abhängigkeitstheorien keine Antwort. Wie bei anderen kritisch-
dialektischen Ansätzen bestand bei den Abhängigkeitstheorien das Problem, dass
die ausgeprägten normativen Zielsetzungen nach gesellschaftlicher Veränderung mit
dem wissenschaftlichen Postulat wertfreien, empirisch fundierten Arbeitens kolli-
dierten. Die meisten Abhängigkeitstheorien wie auch die aus ihnen hervorgegangen
postkolonialen und poststrukturalistischen Ansätze (Ziai 2012) sind daher meist
stark selbstreferentiell mit schwachem empirischem Fundament und neigen dazu,
konkurrierende Erklärungsansätze als politisch motiviert zu diskriminieren.

4 Die Rolle des Staates und die institutionalistische Wende

Die dritte Phase der Entwicklungstheorien prägte eine Debatte um die Rolle des
Staates im Entwicklungsprozess und löste den zunehmend fruchtlosen Streit zwi-
schen Modernisierungs- und Dependenztheoretikern ab. Durch die enttäuschende
Performanz keynesianisch inspirierter Politik kam es zu einem wachsenden Einfluss
neoliberaler Politiken in den Industrieländern, die sich im Gefolge der Schuldenkrise
der 1980er-Jahre auch in den Entwicklungsländern verbreiteten. Die Schuldenkrise
hatte massive Erschöpfungserscheinungen staatsinterventionistischer Entwick-
lungstrategien offenbart, von der vielfach gut organisierte gesellschaftliche Akteurs-
gruppen oder Staatsklassen (Elsenhans 1977) zu Lasten großer Bevölkerungsmehr-
heiten profitiert hatten. Die wirtschaftliche Krise bot insofern solchen rent-seeking
Gesellschaften (Krueger 1974) eine Gelegenheit, gemäß neoliberaler Vorstellungen
den Abbau entwicklungsabträglicher Staatsstrukturen voranzutreiben.
Gleichwohl blieb die neoliberale Denkschule in der Entwicklungsforschung nicht
konkurrenzlos. So hatten einige prominente Arbeiten zu asiatischen Staaten nahe-
gelegt, dass auch umfassendere Staatstätigkeit entwicklungsförderlich sein kann
(Wade 1990; Messner und Meyer-Stamer 1994). Deren B€urokratien hatten in einigen
Fällen langfristig angelegte und komplexe Industrialisierungspläne umgesetzt, ohne
gleich eine sozialistisch inspirierte Planwirtschaft zu etablieren. Staatliche Akteure
konnten demzufolge in ein Netzwerk aus privatwirtschaftlichen Interessengruppen
eingebettet sein, ohne hierdurch automatisch ihre staatliche Steuerungsautonomie
bzw. -fähigkeit aufzugeben (Evans 1995). Politische Entscheidungsträger waren
202 J. Faust

somit nicht zwangsläufig Geiseln mächtiger gesellschaftlicher Interessengruppen,


sondern die empirische Evidenz offenbarte eine Heterogenität von Entwicklungs-
erfahrungen, die nicht in Einklang mit den neoliberalen Maximalforderungen eines
minimalistischen Entwicklungsstaates stand.
Aus dieser Debatte um die Rolle des Staates im Entwicklungsprozess erwuchsen
seit den 1990er-Jahren zunehmend dem Positivismus verpflichtete Theorien mitt-
lerer Reichweite, die politische Institutionen in den Mittelpunkt ihrer Agenda
stellten. Politische Institutionen werden hierbei gemeinhin als die formalen wie
informellen Normen und Spielregeln definiert, an denen sich politische Ent-
scheidungsprozesse orientieren. Politische Institutionen sind demnach handlungs-
leitend und € uben erheblichen Einfluss auf die Verteilung bzw. Verwendung produk-
tiver Ressourcen und politischer Rechte aus (North 1990).
Empirische Evidenz zeigt, dass politische Institutionen, welche Eigentumsrechte
bzw. Rechtssicherheit beg€unstigen sowie politische Transparenz stärken bzw. Kor-
ruption begrenzen, maßgebliche Determinanten wirtschaftlichen Wachstums sind
(Keefer und Knack 1997; Acemoglu et al. 2002). Insofern erfolgte eine bedeutsame
Einschränkung des neoklassischen Wachstumsmodells, dem zufolge bei freiem
G€uter- und Kapitalverkehr ärmere Länder schneller wachsen m€ussten als reichere.
Konditionierte Konvergenz bedeutet in diesem Zusammenhang, dass ein solcher
wirtschaftlicher Aufholprozess armer Länder nur dann stattfindet, wenn dem eine
Anpassung der politischen Rahmenbedingungen vorausgeht.
Mit Blick auf die vergleichende Demokratieforschung kontrastieren mittlerweile
zahlreiche Befunde mit den Annahmen der traditionellen Modernisierungstheorien.
Zwar ist bislang eine direkte Wirkung des Demokratieniveaus auf das Wirt-
schaftswachstum umstritten, genau wie die Vermutung, dass wohlhabendere Demo-
kratien resistenter gegen€uber autoritären R€uckschlägen sind (Przeworski et al. 2000).
Auch lässt sich die Annahme, dass steigende Prosperität einer Gesellschaft die
Wahrscheinlichkeit der Demokratisierung beg€unstigt, empirisch nicht aufrechthalten
(Acemoglu et al. 2008). Ein empirischer Befund, der sich jedoch zunehmend ver-
festigt, ist, dass ein zunehmendes Demokratieniveau positive sozioökonomische
Effekte auf Wohlfahrtsindikatoren wie etwa Bildung oder Gesundheit zeitigt (Lake
und Baum 2001). Letzteres wird damit begr€undet, dass sich Regierungen in (funk-
tionierenden) demokratischen Regimen aufgrund des inklusiven Wettbewerbsproz-
esses der Demokratie stärker an umfassenden Mehrheiten und weniger an Sonder-
interessen kleiner Eliten orientieren als autokratische Regime (Olson 1993).
Parallel zu den zunehmenden Erkenntnissen €uber die Auswirkungen politischer
Rahmenbedingungen auf die ökonomische Entwicklung von Gesellschaften, stieg
auch das Interesse an den Ursachen politischen Wandels. Seit ersten systematischen
Arbeiten zu den Ursachen der Demokratisierungsprozesse der siebziger und achtzi-
ger Jahre (O’Donnell und Schmitter 1986) boomte die vergleichende Demokratisie-
rungsforschung vor allem in den 1990er-Jahren. Die Untersuchung junger
Demokratien in Asien, Afrika, Lateinamerika sowie in Ost- und Mittelosteuropa
offenbarte erhebliche Unterschiede existierender Demokratien. Zugleich wurde
offensichtlich, dass der Wandel von der Autokratie zur funktionierenden Demokratie
keinesfalls linear verlaufen muss. Viele der „jungen“ Demokratien – wie etwa in
Entwicklungstheorien in der Vergleichenden Politikwissenschaft 203

Lateinamerika – weisen noch Jahrzehnte nach der Transition erhebliche Defizite im


Bereich der Rechtsstaatlichkeit auf oder sind – wie vielfach in Zentralasien – wieder
zu autokratischen Herrschaftsformen zur€uckgekehrt. Offensichtlich geworden ist in
diesem Zusammenhang, dass der Übergang von der Autokratie zur Demokratie
enorme politische wie öko-nomischen Umverteilungskonflikte birgt, die diese Pro-
zesse trotz der kollektiven Vorteile demokratischer Herrschaft zum Scheitern bringen
können. Angesichts der Persistenz autoritärer Institutionen in vielen Ländern hat
sich die Forschung insbesondere seit dem Beginn der 2000 intensiver mit autoritären
Regimen auseinandergesetzt.
Festzuhalten ist somit, dass die institutionalistische Wende in der Politikwissen-
schaft sowohl die Ursachen wie auch die Konsequenzen institutionellen Wandels
analysiert und das damit verbunden auch der empirisch-analytische Ansatz in der
Entwicklungsforschung wie in der Politikwissenschaft insgesamt an Bedeutung
gewann. Gleichwohl lassen sich unterschiedliche Spielarten des Institutionalismus
unterscheiden: der soziologische Institutionalismus, der ökonomische oder akteurs-
zentrierte Institutionalismus der historische Institutionalismus (Immergut 1998).
Vertretern aller drei Spielarten ist gemeinsam, dass sie Institutionen als Normen
und Spielregeln eine zentrale Bedeutung bei der Allokation und Verwendung von
ökonomischen Ressourcen und politischen Rechten zumessen. In ihrer Interpretation
€uber das Zustandekommen und die Auswirkungen von institutionellen Arrange-
ments stehen sich jedoch insbesondere der soziologische und der ökonomische
Ansatz gegen€ uber (Faust und Marx 2004). Der soziologische bzw. die sozialkonst-
ruktivistische Variante begreift Institutionen stärker als durch Sozialisation
internalisierte Norm- und Wertorientierungen, die handlungsleitend wirken. Offen-
sichtlich sind hier die Bez€uge zu den Modernisierungstheorien und zum Beha-
viouralismus (Inglehart und Welzel 2005). Entsprechend wird angenommen, dass
langfristige kulturelle Werte und Traditionen starken Einfluss auf die wirtschaftliche
Entwicklung nehmen. Hingegen verf€ugt der akteurszentrierte oder ökonomische
Institutionalismus €uber eine Mikrofundierung. Institutionen sind hier externe
Anreizstrukturen, die (begrenzt) rationalen Akteuren Handlungsorientierung bei
Kalkulation von Kosten und Nutzen verschiedener Handlungsoptionen geben. Ins-
besondere die wachsende Interdisziplinarität zwischen Politik- und Wirtschaftswis-
senschaften in der Entwicklungsforschung während der letzten beiden Dekaden ist
auf die zunehmenden Akzeptanz solch mikrofundierter Entscheidungstheorien
zur€ uckzuf€uhren; aber auch darauf, dass sich in der Volkswirtschaftslehre die Er-
kenntnis breit macht, dass politische Institutionen von fundamentaler Bedeutung f€ur
die Allokation produktiver Ressourcen sind (Acemoglu et al. 2002).

5 Globalisierung, Global Governance und globale


öffentliche Güter

Die Beschäftigung mit politischen Institutionen in den Entwicklungsprozessen der


Staaten Afrikas, Asiens und Lateinamerika war zunächst auf die nationalen bzw.
subnationalen Spielregeln konzentriert. Dieser Fokus findet seine empirische
204 J. Faust

Begr€ undung in den vielfach tiefgreifenden politischen wie ökonomischen Transfor-


mationsprozessen der 1980er und 1990er in vielen Ländern des S€udens. Allmählich
wurde dieser Fokus auf nationale Rahmenbedingungen von Entwicklung jedoch
durch das Phänomen der Globalisierung relativiert. Angesichts zunehmender wirt-
schaftlicher Liberalisierung auch in den Entwicklungs- und Schwellenländern, stell-
te sich die Frage nach den Auswirkungen der ökonomischen Entgrenzung des G€uter-
, Kapital-, und Personenverkehrs auf Entwicklungsprozesse. In dieser immer noch
umstrittenen Diskussion bewerten einige Studien die ökonomische Entgrenzung als
Katalysator f€ ur politische und wirtschaftliche Modernisierungsprozesse, während
andere die Risiken rascher und umfassender Entgrenzung in den Vordergrund
stellen.
Zugleich machten etwa die Analysen zu den Finanzkrisen in vielen Schwellen-
ländern während der 1990er und 2000er deutlich, dass zwar nationale Rahmen-
bedingungen einen starken Einfluss auf die Krisenanfälligkeit der Staaten hatten,
doch gleichzeitig Regulierungsbedarf f€ur die internationalen Finanzmärkte bestand
(Knight 1998). Ein solcher Regulierungsbedarf auf internationaler Ebene bestand
jedoch nicht nur auf dem Gebiet der internationalen Wirtschaftsbeziehungen, son-
dern in einer zunehmenden Zahl von relevanten Politikfeldern, allen voran in der
Sicherheits- und Umweltpolitik. So stellen Konfliktländer mit allenfalls rudimentä-
ren staatlichen Strukturen aufgrund ihrer Ausstrahlungseffekte auf transnationale
Kriminalität und Terrorismus eine zunehmende regionale und internationale Sicher-
heitsbedrohung dar. Die Übernutzung nat€urlicher Ressourcen und die Bedrohungen
durch den internationalen Klimawandel sind ebenso Herausforderungen f€ur sozio-
ökonomische Entwicklungsprozesse, die nur auf internationaler bzw. globaler Ebene
gelöst werden können.
Aufgrund der Relevanz von internationaler Sicherheitsarchitektur, globaler Kli-
mapolitik und ordnungspolitisch eingehegter Finanzmärkte f€ur nationale Entwick-
lungsprozesse stellt die Beschäftigung mit Fragen globalen Regierens (Global Go-
vernance) einen wichtigen Strang der Entwicklungstheorien dar. Insofern bekamen
traditionelle Fragen nach den Ursachen und Ausprägungen internationaler Koope-
ration und der internationalen Politikfeldanalyse (Keohane 1984; Haggard und
Simmons 1987) nun auch f€ur die Entwicklungstheorien eine hohe Bedeutung. Auch
wurde zunehmend offensichtlich, dass die urspr€unglich optimistischen Visionen
hinsichtlich globalen Regierens einer Revision bed€urfen (Conzelmann und Faust
2009). Die Erstellung verbindlicher internationaler Normen und Regelwerke
sowie deren effektive Umsetzung nach innen beschränkt Handlungsspielräume
nationaler Regierungen im innenpolitischen Prozess und produziert oftmals
Verteilungskonflikte zwischen politisch relevanten Interessengruppen. Gerade in
Entwicklungsländern, die oft durch fragile staatliche Legitimationsbasis und
tiefgreifende Transformationsprozesse gekennzeichnet sind, ist die Aufgabe natio-
naler Handlungsspielräume zu Gunsten globaler Regimebildung daher besonders
schwierig. Gleichzeitig ist die internationale Bedeutung vieler großer Entwicklungs-
und Schwellenländer seit Mitte der 1990er rasant gestiegen, so dass eine
Durchsetzung von globalen Regelwerken ohne deren Partizipation nicht mehr
möglich erscheint.
Entwicklungstheorien in der Vergleichenden Politikwissenschaft 205

Insofern ist die theoretische Beschäftigung mit Globalisierungsprozessen wie


auch die Analyse von Versuchen globalen Regierens de facto zum einem wichtigen
Bestandteil der Entwicklungstheorien geworden, da Globalisierung wie auch globa-
les Regieren zunehmend relevanter f€ur die sozioökonomische wie auch f€ur die
politische Entwicklung von Gesellschaften wird. Die theoretischen Perspektiven
auf die Herausforderungen von Globalisierung und Globalem Regieren sind dabei
vielfältig, wobei auch hier ein Bedeutungszuwachs akteurszentrierter Ansätze zu
konstatieren ist, der oftmals einem steigenden Verwendung quantitativer Methoden
einhergeht. Gleichzeitig bedarf es nach wie vor umfassender empirischer Kenntnisse
€uber die politischen Systeme in den jeweiligen Regionen, so dass hoher Methoden-
anspruch und die Area-Kenntnis miteinander verbunden werden m€ussen (Basedau
und Köllner 2007).1

6 Ausblick: Ende der Entwicklungstheorien?

In den mehr als sechs Dekaden andauernden Beschäftigung wurden Entwicklungs-


theorien meist parallel zu den großen sozialwissenschaftlichen Trends sowie den
nationalen wie internationalen Trends sozioökonomischer Entwicklung debattiert.
Mittlerweile sind es vor allem zwei miteinander verwobene Entwicklungen, die f€ur
ein Ende dieser Teildisziplin oder doch zumindest f€ur ihre fundamentale Transfor-
mation sprechen.
Erstens kommt den Entwicklungstheorien bzw. den development studies allmäh-
lich das spezifische ihres Erkenntnisgegenstandes abhanden. Die Heterogenität
innerhalb des S€ udens nimmt deutlich zu, Schwellenländer oder neue OECD Mit-
glieder wie S€ udkorea, Malaysia, Chile, S€udafrika, Mexiko oder Botswana stehen
fragilen bzw. zerfallenden Staaten wie Somalia, Afghanistan, Jemen oder Syrien
gegen€ uber. Während sich somit die Entwicklungsniveaus innerhalb von Entwick-
lungsländerregionen zunehmen, sind die Wohlfahrtsunterschiede zwischen den Staa-
ten unter Einbezug der OECD Länder jedoch geringer geworden. Dar€uber hinaus
nimmt bei der Gestaltung internationaler Regelwerke die Dominanz der westlichen
OECD Demokratien ab angesichts des wachsenden internationalen Einflusses von
großen Anker- bzw. Schwellenländern, allen voran China, Indien, Russland und
Brasilien. Globales Regieren zur Produktion globaler öffentlicher G€uter ist mithin
ohne Mitgestaltung durch diesen Ländertypus nicht möglich. Neben der Produktion
von globalen öffentlichen G€utern wird Regionen €ubergreifend und unter Einbezug
der OECD Staaten das Phänomen steigender sozialer Ungerechtigkeit innerhalb
nationalstaatlich verfasster Gesellschaften als zentrale Herausforderung f€ur die
Zukunft gesehen. All diese Trends thematisieren insofern zwar die drängendsten
Entwicklungsprobleme der Gegenwart, doch ist ihnen der ehemals konstitutive
Gegenstand des Entwicklungslandes abhanden gekommen; die empirischen

1
Eine entsprechende Forschungsperspektive verfolgen die Studien in der Reihe „Politik in Afrika,
Asien und Lateinamerika“, die bei VS Springer erscheint.
206 J. Faust

Grenzziehungen f€ur die theoretische Bearbeitung dieser Themen lassen sich weniger
denn je entlang Nord oder S€ud ziehen. Dies gilt umso mehr, wenn unter dem Aspekt
der ‚nachhaltigen Entwicklung‘ auch die bislang erfolgreichen Industrieländer
wiederum ihr Entwicklungsleitbild neu definieren m€ussen.
Zweitens beg€ unstigt die stetige Verbreitung von Theorien mittlerer Reichweite
und deren Hypothesentests mittels moderner Methoden der empirischen Sozialfor-
schung eine zunehmende Integration der Entwicklungsforschung in die Hauptströ-
mungen der Sozialwissenschaften. In dem Maße wie die Entwicklungsforschung
ihre €
ubergeordneten und relevanten empirischen Fragestellungen mit methodisch
anspruchsvollen Verfahren bearbeitet, werden die Grenzen zu anderen Teildiszi-
plinen zunehmend verschwimmen. Grundsätzlich ist dies zu begr€ußen, da eine
solche Entwicklung Innovationspotential f€ur die gesamte Disziplin verspricht. Das
originär beschreibende und verstehende Element der traditionellen Entwicklungs-
forschung r€ uckt dann aber auch stärker in den Hintergrund, da gleichberechtigt
neben dem Interesse an fernen Ländern und Regionen auch das Interesse an theorie-
geleitetem Arbeiten und methodischen Erhebungs- und Vergleichstechniken steht.
Insofern lässt sich mit Blick auf die Zukunft der politikwissenschaftlichen Ent-
wicklungstheorien ein Paradox konstatieren. Auf der einen Seite sind traditionelle
Forschungsfragen die mit Problemen sozioökonomischer Entwicklung, Frage nach
der Zukunft demokratischer Herrschaft sowie globale Entwicklungsherausforderun-
gen von anhaltender Relevanz. Gleichzeitig jedoch haben die theoretischen und
methodischen Annäherungen zwischen Entwicklungsforschung und sozialwissen-
schaftlichem Mainstream sowie die Heterogenität des S€udens zu einer Auflösung der
f€
ur eine Teildiziplin notwendigen Abgrenzungsmerkmale gef€uhrt.

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Gender in der Vergleichenden
Politikwissenschaft

Claudia Wiesner

Zusammenfassung
Gender als Dimension vergleichender Untersuchungen zu ber€ucksichtigen, be-
deutet, vergleichend zu untersuchen, ob und inwieweit geschlechtsbezogene
soziale, ökonomische, oder kulturelle Unterschiede bestehen bzw. konstruiert
werden. Der Beitrag stellt verschiedene Ansätze, Fragen und Bereiche f€ur die
vergleichende Forschung zu Gender vor.

1 Einleitung

Gender als Dimension vergleichender Untersuchungen zu ber€ucksichtigen, bedeutet,


vergleichend zu untersuchen, ob und inwieweit geschlechtsbezogene soziale, öko-
nomische, oder kulturelle Unterschiede bestehen bzw. konstruiert werden. Die
folgenden Ausf€ uhrungen stellen verschiedene Ansätze, Fragen und Bereiche f€ur
die vergleichende Forschung zu Gender vor. Sie beanspruchen dabei nicht den Status
einer gänzlich abschließenden Darstellung. Der Artikel ist wie folgt aufgebaut:
zunächst wird die Kategorie „Gender“ im Unterschied zu „Sex“ definiert. Anschlie-
ßend werden zwei klassische Dichotomien der feministischen Theorie dargestellt,
die zwischen „Öffentlichkeit“ und „Privatheit“ und die zwischen „Gleichheit“ und
„Differenz“. Danach werden verschiedene Ansätze und Ergebnisse vergleichender
Forschungen zu Gender vorgestellt. Zum Abschluss werden weiterf€uhrende Fragen
skizziert.

C. Wiesner (*)
Privatdozentin, Senior Guest Researcher am Jean Monnet Centre of Excellence “Europe in Global
Dialogue”, TU Darmstadt, Darmstadt, Deutschland
E-Mail: claudia.wiesner@staff.uni-marburg.de

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 209


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_16
210 C. Wiesner

1.1 Sex und Gender

Während „sex“ das biologische Geschlecht bezeichnet, bezieht sich der Begriff
„gender“ auf gesellschaftlich, sozial und kulturell geprägte Geschlechtsrollen. In
der Definition der WHO wird dies so expliziert:

„Sex“ refers to the biological and physiological characteristics that define men and women.
‚Gender‘ refers to the socially constructed roles, behaviours, activities, and attributes that a
given society considers appropriate for men and women.
To put it another way: ‚Male‘ and ‚female‘ are sex categories, while ‚masculine‘ and
‚feminine‘ are gender categories. Aspects of sex will not vary substantially between different
human societies, while aspects of gender may vary greatly (WHO 2013).

Im Folgenden beschreibt die WHO anhand von Beispielen, was die Unterschei-
dung in der Praxis heißt:

„Some examples of sex characteristics: Women menstruate while men do not. Men have
testicles while women do not. Women have developed breasts that are usually capable of
lactating, while men have not. Men generally have more massive bones than women.
Some examples of gender characteristics: In the United States (and most other countries),
women earn significantly less money than men for similar work. In Viet Nam, many more
men than women smoke, as female smoking has not traditionally been considered appro-
priate. In Saudi Arabia men are allowed to drive cars while women are not. In most of the
world, women do more housework than men.“ (WHO 2013)

Diese Unterscheidungen deuten bereits auf verschiedene Problembereiche und


Fragestellungen hin, die vergleichende Untersuchungen zur Kategorie Gender
betrachten (können).

1.2 Gender als Forschungsgegenstand

1.2.1 Zentrale Kategorien der feministischen Theorie


Geschlechterunterschiede wurden und werden zentral in der feministischen For-
schung und den Gender Studies betrachtet. Klassische Problemdimensionen, die
grundlegend f€ur viele zentrale Fragestellungen und Forschungsbereiche sind, sind
dabei1: 1) Die Dichotomie Öffentlichkeit – Privatheit und 2) Die Frage nach
Gleichheit und Differenz.
Die Dichotomie von Öffentlichkeit und Privatheit ist zentraler Bezugspunkt
feministischer Theorie. Sie verweist auf eine fiktive Trennung zwischen einem
privaten Bereich und einer theoretisch geschlechtsneutralen öffentlichen Sphäre
des politischen und staatlichen Handelns. Feministische Kritik bezieht
sich kritisch auf diese Zuschreibungen und die mit diesen einhergehenden

1
Auf weitere wichtige Themenkomplexe der Gender Studies wie Identität(en) und Queer Studies
kann hier angesichts der Beschränkungen im Umfang nicht näher eingegangen werden.
Gender in der Vergleichenden Politikwissenschaft 211

Ungleichheitsverhältnisse. Der erste Ansatzpunkt ist dabei, dass die beiden Bereiche
keineswegs geschlechtsneutral, sondern vielmehr geschlechtsspezifisch konstruiert
sind, wobei Frauen der Privatheit und Männer der Öffentlichkeit und der Politik
zugeordnet werden (siehe etwa Sauer 2003: 13).
Die geschlechtsspezifisch konnotierte Trennung zwischen Öffentlichkeit und
Privatheit gilt in der feministischen Theorie als grundlegend f€ur den modernen Staat.
Carole Pateman beschrieb in „The Sexual Contract“ (1988) (deutsch: „Vom Ge-
schlechtervertrag“), dass und wie dem scheinbar geschlechtsneutralen Gesellschafts-
vertrag ein unausgesprochener Geschlechtervertrag zugrunde liegt, der Frauen der
Sphäre der Haus- und Familienabeit zuordnet. Diese Zuordnung, so Pateman, habe
die Tragfähigkeit moderner westlicher Staaten begr€undet.
Der zweite Ansatzpunkt der feministischen Kritik ist, dass sich Geschlechter-
unterschiede oftmals im so genannten „Privaten“ zeigen. Einer der zentralen Slogans
der neuen deutschen Frauenbewegung war deshalb „Das Private ist politisch“ und
bezog sich darauf, dass häusliche Gewalt oder ungleiche Machtverhältnisse auch in
Paarbeziehungen eben nicht rein als „privat“ zu behandeln sind, sondern a) Aus-
druck gesamtgesellschaftlicher Strukturen und b) demnach auch politisch und damit
„öffentlich“ anzugehen. Umgekehrt sind verschiedenste Geschlechterunterschiede,
die sich im scheinbar „Privaten“ zeigen, vom „Öffentlichen“ bedingt. So beeinflus-
sen etwa die rechtlichen und steuerlichen Weichenstellungen im Familien-, Sozial-,
Arbeits- oder Steuerrecht die Ausgestaltung von Beziehungs- und Familienmodellen
oder die Verteilung der Haus- und Familienarbeit (Scheele 2009, S. 170).
Eine weitere der grundlegenden Fragen der feministischen Theorie ist die nach
dem Verhältnis von Gleichheit und Differenz. Eine zentrales Thema war dabei, ob
und inwieweit das männliche Individuum Maßstab der Gleichheitsvorstellungen
sein solle. Sollten, mit anderen Worten, Frauen wie Männer werden, damit die
Gleichheit erreicht sei? Oder gehe es nicht viel mehr darum, Frauen in ihrer
Verschiedenheit anzuerkennen, ohne sie deshalb als Männern unterlegen zu betrach-
ten? Um diese Fragen entbrannte eine Debatte – Feministische Theoretikerinnen
ordneten sich zeitweise explizit als „Gleichheitsfeministinnen“ oder als „Dif-
ferenzfeministinnen“ ein.
Simone de Beauvoir gilt mit ihrem zentralen Werk „Le deuxième sexe“ (1949)
(deutsch: „Das andere Geschlecht“) als eine der Begr€underinnen des Gleichheits-
feminismus. Sie prägte den Satz „Zur Frau wird man nicht geboren, man wird dazu
gemacht“, um zu betonen, dass Geschlechterunterschiede nicht angeboren, sondern
gesellschaftlich konstruiert seien. Damit sei Ziel feministischer Politik die Aufhe-
bung der geschlechtsspezifischen gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten und Unter-
schiede. Menschen sollten nach ihren individuellen Fähigkeiten und Vorlieben
leben, nicht nach gesellschaftlich vorgegebenen ▶ Geschlechterrollen.
Der Differenzfeminismus oder kulturelle Feminismus betonte dagegen die Ver-
schiedenheit der Geschlechter, und zwar entweder im Sinne einer biologisch gege-
benen wesensmäßigen Verschiedenheit, oder aber in Bezug auf sozial konstruierte
Differenzen (Rauschenbach 2009 ,S. 5–7). Luce Irigaray, eine der zentralen Theo-
retikerinnen des Differenzfeminismus, betonte, Frauen d€urften nur sich selbst
gleichen wollen und sollten nicht versuchen, die sexuelle Differenz abzuschaffen
212 C. Wiesner

(Irigaray 1990). Differenztheoretikerinnen stellten positive, als „weiblich“ ange-


sehene Eigenschaften (wie Einf€uhlsamkeit, Friedensliebe, Einsatz f€ur Andere) her-
aus, die in der Gesellschaft benötigt w€urden oder sogar die Welt verbessern könnten.
Carol Gilligan betonte 1982 „In a Different Voice“ (deutsch: „Die andere Stimme“),
dass Frauen aufgrund der Erfahrung des Mutterseins f€ur eine f€ursorgeorientierte
Moral st€unden.
Das Spannungsverhältnis von Gleichheit und Differenz lässt sich mit der Nutzung
der Kategorie Gender zumindest abmildern: Trennt man analytisch zwischen biolo-
gischem Geschlecht (Sex) und sozialer Geschlechtskonstruktion (Gender), wird
deutlich, dass existierende Geschlechterunterschiede teilweise biologisch bedingt
(und damit nur schwer veränderlich) und teilweise zugeschrieben (und damit auch
veränderlich) sind. Im Folgenden werden nun beispielhafte Forschungsbereiche
skizziert, die f€
ur Gender als Untersuchungskategorie in der vergleichenden Politik-
wissenschaft wesentlich sind.

1.2.2 Vergleichende Forschung zu Gender: Themenbereiche und


beispielhafte Befunde
Vergleichende Forschungen zu Gender haben sich bislang auf Felder wie Repräsen-
tation, Partizipation, Geschlechterrollen und – insbesondere f€ur die westlichen
Demokratien – geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, soziale Lage, Sozialstaat und
Demographie bezogen. Dar€uber hinaus ist Geschlecht eine regelmäßige Untersu-
chungskategorie in der quantitativen Meinungs- und Einstellungsforschung.
Zur Repräsentation: Hier ist Ausgangspunkt zumeist eine vergleichende Betrach-
tung des Frauenanteils in nationalen Parlamenten, oder aber in politischen Parteien
und Organisationen. Dabei ergeben sich in Bezug auf die Parlamente auf den ersten
Blick €uberraschende Befunde: In der Rangliste der Interparliamentary Union zu den
Frauenanteilen in nationalen Parlamenten sind Spitzenreiter Ruanda (63,8 % Frauen-
anteil), Andorra (50,0 %) und Kuba (48,9 %). Schweden steht als erster EU-Staat mit
einem Frauenanteil von aktuell 44,7 % auf dem 4. Platz. In der EU folgen dann
Finnland (42,5 und Platz 7) und Dänemark (39,1 % und Platz 13). Die Bundesre-
publik Deutschland weist nach der Wahl vom September 2013 im Bundestag aktuell
einen Frauenanteil von 36,5 % auf und nimmt damit in der internationalen Rangliste
den 19. Platz ein. Verschiedene EU-Staaten haben Frauenanteile unter 20 %, etwa
Irland (15,7 % und Platz 87 zusammen mit Burkina Faso), Malta (14,3 % und Platz
89), Rumänien (13,3 % und Platz 97 zusammen mit Guatemala und Niger). Das
EU-Schlusslicht Ungarn hat gar nur einen Frauenanteil von 8,8 % unter den Abge-
ordneten (Platz 117). Die USA befinden sich mit einem Frauenanteil nur von 17,9 %
im Mittelfeld bzw. zusammen mit Albanien auf Platz 79. Ein Staat wie Pakistan liegt
im Ranking vor den USA und verschiedenen EU-Staaten, nämlich mit 20,7 % auf
Platz 66 (IPU 2013). Demnach zeigt sich im internationalen Vergleich der gender-
spezifischen Unterschiede in Bezug auf parlamentarische Repräsentation ein kom-
plexes Bild. Es lässt sich auf den ersten Blick nicht erkennen, worauf die Unter-
schiede in der Repräsentation der Geschlechter beruhen. Weder mit dem Typus des
politischen Systems, noch mit der in den jeweiligen Staaten vorherrschenden Reli-
gion sind sie direkt zu verbinden.
Gender in der Vergleichenden Politikwissenschaft 213

In Bezug auf politische Partizipation sind ebenfalls Geschlechterunterschiede


festzustellen. Am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland skizziert, zeigt sich: hier
sind zwar die Unterschiede in der Wahlbeteiligung seit 1953 sukzessive zur€uckge-
gangen, wobei sie allerdings niemals dramatisch hoch waren. Allerdings haben
Frauen in Deutschland nur ein etwa halb so stark ausgeprägtes Interesse an Politik
wie Männer. Frauen sind auch in deutlich geringerer Zahl Mitglieder politischer
Parteien, wobei in Deutschland die Gr€unen den höchsten und die CSU den ge-
ringsten Frauenanteil aufweisen. Dagegen zeigen sich in Bezug auf Aktivität in
nicht-institutionalisierten Formen politischer Partizipation fast keine Unterschiede
(zu allen Befunden siehe ausf€uhrlich BPB 2011). Das heißt also, Frauen engagieren
sich im Vergleich stärker in nicht formalisierten Formen. Im Vergleich mit nicht-
westlichen bzw. außereuropäischen Regionen zeigen sich bez€uglich der Partizipa-
tion von Frauen oftmals ähnlich gelagerte Muster. So findet auch in asiatischen
Ländern politische Partizipation von Frauen oftmals eher in informalen als in
formalen Institutionen und Strukturen statt. Auch agieren Frauen häufig eher in
untergeordneten Positionen, also eher als Unterst€utzerinnen und weniger als Ent-
scheidungsträgerinnen (vgl. Fleschenberg 2009: x) – auch dieses Muster hat bei-
spielsweise die Arbeit in politischen Parteien in Deutschland lange Zeit geprägt.
F€ur die hier skizzierten Unterschiede in Bezug auf Partizipation und Repräsenta-
tion gibt es verschiedene Erklärungsansätze:

Der erste bezieht sich auf die Rolle der politischen Kultur (wobei diese explizit auch
im Sinne von Deutungsmustern und Symbolen verstanden wird) und dabei
insbesondere auf Rollenzuschreibungen an Frauen (siehe etwa Norris und Ingle-
hart 2001). So zeigt sich etwa in den Transformationsstaaten Mittelost- und
S€udosteuropas deshalb eine besonders geringe parlamentarische Repräsentanz
von Frauen, weil die politische Kultur bis heute davon geprägt blieb, dass in den
sozialistischen Staaten der autoritär-paternalistische Charakter des Staates eine
tatsächliche Emanzipation und eine politische Diskussion dar€uber nicht zuließ
(Hoecker und Fuchs 2004, S. 290).
Ein zweiter Erklärungsansatz bezieht sich auf Sozial- und Gesellschaftsstrukturen
(Norris und Inglehart 2001, S. 127). So zeigt sich in einigen asiatischen Ländern
eine Diskrepanz zwischen erfolgreichen Politikerinnen in staatstragenden Ämtern
und/oder als Oppositionsf€uhrerinnen, sowie der systematischen Unterrepräsenta-
tion von Frauen auf den darunter liegenden legislativen und exekutiven Ebenen.
Oftmals wirken sich hierbei familiäre Strukturen, d. h. die Dominanz bestimmter
traditionell einflussreicher politischer Familien aus (Fleschenberg 2009). Somit
erlaubt die parlamentarische Repräsentation von Frauen alleine kaum
R€uckschl€ usse auf die Geschlechterverhältnisse in einer Gesellschaft. Sie kann
sogar € uber die tatsächlichen Verhältnisse und Einstellungen hinwegtäuschen
(Derichs et al. 2011: 81)
Der dritte Erklärungsansatz verweist auf Intersektionalität in der Selbstidentifikation
von Frauen, d. h., auf die Tatsache, dass Menschen und in diesem Fall Frauen
sich nicht allein als Teil einer einzigen Gruppe identifizieren. In Bezug auf die
vergleichende Untersuchung von Repräsentation ist hier die Frage, inwieweit
214 C. Wiesner

Politikerinnen in Parlamenten a) Geschlecht bzw. Gender als zentrale Elemente


ihrer eigenen Identität ansehen, oder ob sie nicht etwa andere Kategorien wie
etwa Ethnizität, Religion oder Klasse daf€ur heranziehen, und b) ob sie sich daher
eher als Repräsentantinnen f€ur ihr Geschlecht oder f€ur andere Gruppen sehen
(Childs und Krook 2008, S. 27; Birsl und Derichs 2013).

Näher zu untersuchen wäre noch das Erklärungspotential des Systemtypus f€ur


Geschlechterunterschiede bei Partizipation und Repräsentation. Pippa Norris und
Roland Inglehart (2001, S. 127) nennen diesbez€uglich den Einfluss von politischen
Institutionen, wie beispielsweise Wahlsystemen, als weiteren Erklärungsfaktor.
Jedoch kann der Typus des politischen Systems allein Geschlechterunterschiede
offensichtlich nicht ohne Weiteres erklären. Die vorne dargestellten Unterschiede
in der Repräsentation von Frauen, die sich in der Rangliste der Interparliamentary
Union zeigen, verdeutlichen dies: so werden etwa die elektoralen Demokratien der
EU von Staaten wie Kuba €uberfl€ugelt, das bei Freedom House als unfrei kategorisiert
ist und ein Ranking von 6,5 erreicht (Freedom House 2013).
Im EU-internen Vergleich auffallend ist, dass die nordischen Staaten besser
abschneiden. Dort sind aber Geschlechterunterschiede auch in anderen Bereichen
ur die Erklärungskraft des Faktors „Sozial- und Gesellschaftsstruktu-
geringer, was f€
ren“ spricht. Besonders auffallend ist dabei, dass Schweden den im EU-Vergleich
höchsten Frauenanteil im Parlament aufweist, und ebenso mit Blick auf die gesell-
schaftliche und wohlfahrtsstaatliche Gleichstellung Vorreiter ist, wie im nächsten
Abschnitt diskutiert wird.
Auch wirtschaftliche Prosperität scheint als Erklärungsfaktor f€ur Geschlechter-
unterschiede nicht wirksam zu sein. Birsl/Derichs erläutern dies am Beispiel Japans:
Japan ist nicht nur eine elektorale Demokratie mit einem Ranking von 1,5 bei
Freedom House (Freedom House 2013), sondern auch ein ökonomisch starkes Land.
Es liegt aber in Bezug auf Einkommensgleichheit, Frauenanteile in qualifizierten
Berufen und in politischen Ämtern, sowie Bildungsbeteiligung von Frauen hinter
einem Staat wie den Philippinen. Dies, so Birsl/Derichs, widerspreche der Annahme
eines positiven Zusammenhangs zwischen wirtschaftlichem Wohlstand, politischem
System und Geschlechtergleichheit (Birsl und Derichs 2013).
Fragen nach Frauenanteilen in Repräsentation und Partizipation heben primär auf
die eingangs diskutierten Dimensionen der Gleichheit (im Sinne gleich starker
Repräsentation und Partizipation) und der Öffentlichkeit (im Sinne der Sphären
von Institutionen und Politik) ab. Die Übergänge zwischen Öffentlichkeit und
Privatheit sowie die gesellschaftlichen und materiellen Auswirkungen von Ge-
schlechterdifferenzen nimmt die vergleichende Sozialstaatsforschung in den Blick.
Die vergleichende Sozialstaatsforschung bzw. deren genderorientierter Teilbe-
reich, die feministische Wohlfahrtsstaatsforschung (siehe f€ur eine deutschsprachige
Übersicht Dackweiler und Schäfer 2010) betrachtet die Auswirkungen von Ge-
schlechterunterschieden in der Sozialpolitik, und umgekehrt die Frage, ob und
inwieweit Gesellschaftsstrukturen und politische Kultur die Sozialpolitik so prägen,
dass sie Geschlechterunterschiede reproduziert.
Gender in der Vergleichenden Politikwissenschaft 215

Hier lässt sich z. B. f€ur Deutschland feststellen, dass zwar in der gesellschaft-
lichen Realität die Erwerbsquote von Frauen stark gestiegen ist (siehe dazu BPB
2011b), sich aber das Sozialsystem nach wie vor stark am so genannten „Normal-
arbeitsverhältnis“ orientiert. Dieses geht von einem männlichen Normalarbeitneh-
mer aus, der als Alleinverdiener lebenslang arbeitet und eine nicht arbeitende oder
nur Teilzeit arbeitende Ehefrau und mehrere Kinder ernähren und absichern muss
(„Male-Breadwinner-Modell“ oder auch Ernährermodell). Das „Normalarbeitsver-
hältnis“ wirkt als Norm im Hinblick auf Berechnungen von Arbeitszeiten, Beschäf-
tigungstypen und Beitragsjahren. Sozialsystemische Elemente wie beitragsfreie
Mitversicherung nichtverdienender Ehepartner, Witwenrente oder das Ehegatten-
splititting im Steuerrecht sind Ausfluss dieser Konstruktion (Wiesner 2005). Auch
der im internationalen Vergleich späte Beginn des Ausbaus der Kindertagesbetreu-
ung in Deutschland ist in diesem Zusammenhang zu sehen, ebenso die von der neuen
großen Koalition in Deutschland angestrebte volle Rente nach 45 Beitragjahren. Der
schwedische Sozialstaat, um ein vergleichendes Gegenbeispiel zu nennen, orien-
tierte sich dagegen schon fr€uhzeitig auf das Anliegen, beiden Elternteilen und auch
Alleinerziehenden eine Vollzeiterwerbstätigkeit zu ermöglichen. Als Reaktion auf
die Forderungen der Frauenbewegung wurden familienpolitische Maßnahmen seit
den 1960er Jahren ausgedehnt. Dies hat sich insbesondere im Ausbau der Be-
treuungsmöglichkeiten f€ur Kinder niedergeschlagen (Schmid 2010, S. 232 ff.).
Der schwedische Sozialstaat orientiert sich also an einem anderen Leitbild, nämlich
dem der gleichberechtigten Teilhabe von Frauen und Männern am Arbeitsleben. Die
Erwerbsquote von Frauen, auch wenn sie kleine Kinder haben, ist in Schweden sehr
viel höher als der deutsche (BPB 2011b).
In einen Zusammenhang mit der Untersuchung von Sozialstaatsstrukturen gehört
auch die der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, d. h. der Frage, wie Haus- und
Familienarbeit im Schnitt zwischen den Geschlechtern verteilt sind. Das Ernährer-
modell stärkt eine konservative geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, weil es An-
reize setzt, die eine Vollzeiterwerbstätigkeit von Frauen erschweren (Ehegatten-
splitting, immer noch fehlende Kinderbetreuung), während das schwedische
Modell gegenteilige Anreize setzt. Dort zeigt sich allerdings auch, dass trotzdem
Frauen nach wie vor den größten Teil der Haus- und Familienarbeit erledigen,
auch wenn Männer im EU-Vergleich relativ viel davon €ubernehmen (Beckmann
2007, S. 8).

1.2.3 Gender Mainstreaming


Wie eingangs erwähnt, kann die Nutzung der Kategorie Gender helfen, das Span-
nungsverhältnis zwischen Gleichheit und Differenz abzumildern. Diese Idee zeigt
sich im Konzept des Gender Mainstreaming.
Gender Mainstreaming (GM) bezeichnet eine politische Zielvorstellung: GM
bedeutet, „die Geschlechterfrage in den Mainstream zu bringen“ und Politik in allen
Feldern (d. h. auch der Finanz- und Wirtschaftspolitik) an den Bed€urfnissen unter-
schiedlicher Gruppen oder Geschlechter zu orientieren, insbesondere, wenn diese in
bestimmten Bereichen unterrepräsentiert sind. GM bringt damit praktisch einen
216 C. Wiesner

neuen Ansatz in der Gleichstellungspolitik zur Förderung der Chancengleichheit von


Männern und Frauen. Bei diesem Ansatz wird anerkannt, dass es keine geschlechts-
neutrale Wirklichkeit gibt und dass deswegen mit sich allen politischen Vorhaben die
unterschiedlichen Lebenssituationen und Interessen von Männern und Frauen von
vorneherein und regelmäßig zu ber€ucksichtigen sind. Entscheidend ist, dass die
Ber€ucksichtigung von Geschlechterunterschieden zum zentralen Bestandteil von
Entscheidungen und Prozessen gemacht wird (vgl. Wiesner und Bordne 2010,
S. 166–168).
Im Gegensatz zur klassischen Frauenpolitik wird dabei im GM die Geschlechter-
frage nicht allein an Frauen- oder Gleichstellungsbeauftragte delegiert, sondern
zudem als Querschnittsaufgabe in alle Prozesse integriert. Frauenbeauftragte werden
damit nicht €uberfl€
ussig, sondern ihnen wird ein zweiter Bereich beigestellt. In der
Praxis ist es dann eine Konsequenz, spezifische Fördermaßnahmen f€ur unterreprä-
sentierte Gruppen oder Geschlechter zu erarbeiten (Roth 2003, S. 66).
Gender Mainstreaming versucht damit gezielt, die Anerkennung von Geschlech-
terdifferenzen mit den Zielen der Gleichbehandlung und der Gleichwertigkeit zu
verbinden. Dies ist ein hoher Anspruch, der, wie im Folgenden beschrieben wird,
nicht ohne Weiteres in der Realität umzusetzen ist.
Zur Umsetzung von GM: Heute ist GM formal Leitprinzip auf vielen politischen
Ebenen – die entscheidende Frage ist dabei allerdings, ob, inwieweit und wie dieses
Prinzip auch umgesetzt wird. GM hat zentrale Bedeutung in der internationalen und
der EU-Politik. Nachdem sich GM auf den UN-Frauenkonferenzen 1985 in Nairobi
und 1995 in Peking etabliert hatte (Roth 2003: 67), definierte der Vertrag von
Amsterdam 1997 die Zielsetzung der Geschlechtergleichstellung f€ur alle Politikbe-
reiche, in denen die EU tätig wird:

„Aufgabe der Gemeinschaft ist es, durch die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes und
einer Wirtschafts- und Währungsunion sowie durch die Durchf€ uhrung der [. . .] gemein-
samen Politiken und Maßnahmen in der ganzen Gemeinschaft [. . .] die Gleichstellung von
Männern und Frauen [. . .] zu fördern“, und „Bei allen [. . .] Tätigkeiten wirkt die Gemein-
schaft darauf hin, Ungleichheiten zu beseitigen und die Gleichstellung von Frauen und
Männern zu fördern.“ (Artikel 2 und 3(2) Amsterdamer Vertrag, Europäische Gemeinschaf-
ten 1997, S. 24–25).

Die EU-Politiken und insbesondere die Strukturfonds haben heute f€ur die
Umsetzung von GM eine entscheidende Rolle (Klein 2006, S. 89). Im Unterschied
zu anderen politischen Ebenen wird dabei GM oftmals von oben politisch durchge-
setzt, indem die Mittelvergabe an die Erf€ullung bestimmter Aspekte des GM ge-
koppelt wird, und oftmals auch, indem diese nachzuweisen sind und auch evaluiert
werden (siehe unten).
In Deutschland stellt die Grundgesetzänderung von 1994 eine entscheidende Ver-
pflichtung zu einer aktiven Gleichstellungspolitik dar. In Art. 3, Abs. 2 heißt es: „Der
Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Männern und
Frauen und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin“. GM wurde aller-
dings erst durch die rot-gr€une Bundesregierung 1999 als durchgängiges Leitprinzip
eingef€uhrt. Zunächst erfolgte die Umsetzung lediglich in Modellprojekten und nicht in
Gender in der Vergleichenden Politikwissenschaft 217

Tab. 1 Checkliste GM (Eigene Darstellung, vgl. Wiesner und Bordne 2010, S. 177)
Arbeitsschritte Anforderungen/Überlegungen
1. Repräsentation z. B.
Wie groß ist der Anteil von Frauen und Wie hoch ist der Anteil von Angelegenheiten, die
Männern? (quantitative Angabe) hauptsächlich Frauen oder Männer betreffen?
2. Ressourcen z. B.
Wie werden die verschiedenen Wie sind Gehälter zwischen Frauen und Männern
Ressourcen zwischen Frauen und verteilt?
Männern verteilt? (quantitative Angabe)
3. Realität Ausgehend von den zwei vorausgegangenen
Arbeitschritten, z. B.
Warum ist die Situation so? (qualitative Warum werden Frauen und Männer unterschiedlich
Angaben) behandelt, beurteilt, beteiligt?
Quelle: Eigene Darstellung

umfassenden Bereichen (Döge und Stiegler 2004, S. 138). Auf Länderebene gelten
die Bundesländer Niedersachsen und Sachsen-Anhalt als Vorreiter.
Verschiedene Kommunen setzten GM ebenfalls um. Hier zeigten sich verschie-
dene Praxisschwierigkeiten der Umsetzung: Der Bericht des Deutschen Städtetags
(2003) zu Best Practice Beispielen im Bereich GM beschreibt, dass es nur in einigen
Kommunen gelang, GM-Gremien zu gr€unden, die nicht nur aus Gleichstellungs-
und Frauenbeauftragten bestanden. GM wurde am häufigsten in den Fachbereichen
Stadtplanung, Spielplätze, Jugendarbeit und Verkehrspolitik bearbeitet (vgl. auch die
Befunde von Heister 2007, S. 55–66).
In der feministischen Kritik wird aufgrund solcher Beschränkungen GM oftmals
als neoliberales Konzept beurteilt, das „an den bestehenden Strukturen des Ge-
schlechterverhältnisses nichts ändern werde“ (Heister 2007, S. 50).
Die vergleichende Forschung zu GM hat neben diesen Schwierigkeiten gezeigt,
dass einer mangelnden Verbindlichkeit von GM-Prozessen durch die Formulierung
von Erfolgsindikatoren sowie gegebenenfalls durch die Vereinbarung von Sanktio-
nen bei Nichterreichen entgegengetreten werden kann. Programmplanungen können
in der Regel problemlos durch geschlechtsspezifische Problemanalysen unterf€uttert
werden; daraus sind dann zumeist auch konkrete qualitative und / oder quantitative
Zielvorgaben ableitbar. Gender-Wissen kann durch entsprechende Schulungen ver-
mittelt werden. In Bezug auf GM geht es daher in der vergleichenden Forschung vor
allem um die Betrachtung der Umsetzung in bestimmten Politikbereichen und Pro-
grammen sowie um vergleichende Evaluationsforschung, die insbesondere f€ur
EU-finanzierte Projekte gefordert wird.
Aufgrund bisheriger Erfahrungen mit GM wurden entsprechend eine Reihe von
Instrumenten und Checklisten (siehe dazu auch Wiesner und Bordne 2010, S. 176)
entwickelt, unter anderem die „3 R“-Methode aus Schweden,2 die hier kurz in der
Übersicht dargestellt wird (Tab. 1).

2
Schweden gilt als Vorreiter der Einf€
uhrung von GM: bereits ab wurde hier GM auf nationaler,
regionaler und kommunaler Politikebene umgesetzt.
218 C. Wiesner

Im Arbeitsschritt Repräsentation wird in der Evaluation quantitativ untersucht, ob


z. B. eine neue Einrichtung eher von Männern, von Frauen oder geschlechterparitä-
tisch besucht wird. Prinzipiell muss die Nutzerstruktur aller Angebote im Hinblick
auf die Kategorie Geschlecht ausgewertet werden.
Auch der Arbeitsschritt Ressourcen wird durch quantitative Auszählungen er-
fasst, indem etwa ausgewertet wird, wie viele Gelder in geschlechtsspezifische
Angebote fließen, oder ob nach Vermittlung in Arbeit Männer und Frauen gleichen
Lohn f€ ur gleiche Arbeit erhalten.
Der Arbeitsschritt Realität baut auf den Ergebnissen der quantitativen Analysen
auf und erfragt die zugrunde liegenden Mechanismen. Sollte beispielsweise in einem
Projekt die Erfahrung gemacht werden, dass Männer einfacher in Arbeit vermittelt
werden können als Frauen, geht es bei diesem Arbeitsschritt darum, die Gr€unde
daf€ur zu erfragen. In diesem Schritt wird also vorwiegend qualitativ und explorativ
(z. B. durch Interviews) geforscht werden.

1.2.4 Schlussbetrachtung und weiterführende Fragen


Der Überblick € uber Gender als Gegenstand der vergleichenden Forschung hat ver-
deutlicht, dass in vielen der beschriebenen Ansätze im ersten Schritt quantitative
Übersichten genutzt werden, die Repräsentation, Partizipation, oder Teilnehmerquo-
ten von Frauen angeben. Die Skizzen zu den Bereichen Partizipation und Repräsen-
tation, aber auch zur Beforschung von GM, haben aber ebenfalls verdeutlicht, dass
auf diesen ersten Schritt ein zweiter folgen sollte. Quantitative Angaben verdeutli-
chen Muster, liefern aber f€ur sich genommen noch keine Erklärung f€ur mangelnde
oder auch starke Repräsentanz eines bestimmten Geschlechts. Daher bieten die
skizzierten quantitativen Untersuchungsanteile meist Anlass f€ur weiterf€uhrende
Fragen und Untersuchungsschritte. Diese nutzen in der Regel qualitative Ansätze,
um weiterf€ uhrende Erklärungen f€ur vorgefundene Muster zu erhalten.
In Bezug auf Partizipation und Repräsentation wurde hier drei Erklärungsansätze
genannt: (1) die politische Kultur, d. h. gesellschaftliche Zuschreibungenn an
Frauen. Demnach stehen hinter im internationalen Vergleich ähnlich gelagerten
Mustern in der politischen Partizipation und Repräsentation von Frauen auch in
diesem Punkt ähnlich gelagerte kulturelle Faktoren. Erklärungsansatz (2) betont
gesellschaftliche Strukturen: demnach können ähnlich gelagerte gesellschaftliche
Strukturen Partizipation und Repräsentation in ähnlicher Weise beeinflussen.
Schließlich (3) wirkt vermutlich Intersektionalität, d. h., die verschiedenen Gruppen
oder Zugehörigkeiten, an denen sich einzelne Frauen orientieren.
Diese Faktoren wirken sich auch in den anderen beiden beschriebenen For-
schungsgebieten aus, d. h., bei der Ausgestaltung von Wohlfahrtsstaatsregimes
und in der Umsetzung von GM. Insofern lässt sich festhalten, dass Gender als
Untersuchungsgegenstand nicht allein mit quantifizierbaren Vergleichsmethoden
bearbeitet werden kann. Es braucht dabei zum einen weiterf€uhrende Ansätze und
Methoden der politischen Kulturforschung, die sowohl Einstellungs- als auch Deu-
tungsmuster erfasst. Zum anderen ist es von zentraler Bedeutung, ökonomische und
soziale Strukturen mit in den Blick nehmen.
Gender in der Vergleichenden Politikwissenschaft 219

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Policy-Theorien in der Vergleichenden
Politikwissenschaft

Reimut Zohlnhöfer

Zusammenfassung
Der Beitrag stellt die wichtigsten theoretischen Ansätze der vergleichenden
Politikfeldanalyse vor. Im ersten Teil werden solche Ansätze diskutiert, die auf
eine einzige unabhängige Variable zur Erklärung von Politikergebnissen fokus-
sieren, nämlich der Funktionalismus (sozio-ökonomische Schule), der
Machtressourcen-Ansatz, die Parteiendifferenzhypothese, die Vetospieler-
Theorie, die Lehre von der Pfadabhängigkeit, die Internationale Hypothese sowie
die Varieties-of-Capitalism-Forschung. Im zweiten Teil werden komplexere An-
sätze vorgestellt, die den Policy-Prozess insgesamt erklären wollen, nämlich der
Akteurzentrierte Institutionalismus, der Advocacy-Coalition-Ansatz, das
Multiple-Streams-Framework sowie die Punctuated Equilibrium-Theorie.

Schlüsselwörter
Vergleichende Politikfeldanalyse • Policy • Theorien • Politische Prozesse •
Politische Inhalte

1 Einleitung

Die Vergleichende Policyforschung versucht zu erklären, wie gesellschaftlich ver-


bindliche Entscheidungen zustande kommen und warum sich Länder, insbesondere
Demokratien, hinsichtlich ihrer Staatstätigkeit unterscheiden (als umfassenden
Überblick vgl. Wenzelburger und Zohlnhöfer 2015). Dazu steht ein breites Theorie-
angebot zur Verf€
ugung, dessen am häufigsten verwendete Ansätze hier vorgestellt
werden. Dabei kommen zuerst Schulen zur Sprache, die auf eine einzelne erklärende

R. Zohlnhöfer (*)
Professor f€ur Vergleichende Analyse politischer Systeme, Institut f€
ur Politische Wissenschaft,
Universität Heidelberg, Heidelberg, Deutschland
E-Mail: reimut.zohlnhoefer@ipw.uni-heidelberg.de

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 221


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_17
222 R. Zohlnhöfer

Variable abstellen, während im zweiten Schritt ausgewählte Theorien des


Policyprozesses (vgl. Sabatier und Weible 2014) im Zentrum stehen, die das Zusam-
menspiel einer ganzen Reihe von Faktoren theoretisch zu erfassen versuchen.

2 Ansätze mit einzelnen Erklärungsvariablen

Die im Folgenden zu umreißenden Ansätze haben gemeinsam, dass sie einzelne


Erklärungsfaktoren ins Zentrum der Aufmerksamkeit r€ucken und deren Auswirkun-
gen auf inhaltliche Politik theoretisch zu erfassen versuchen.1

2.1 Sozio-ökonomische Determination der Staatstätigkeit

Den Analysen der sozio-ökonomischen Schule zufolge ist Staatstätigkeit als Ant-
wort auf wirtschaftliche und gesellschaftliche Herausforderungen zu verstehen (vgl.
Obinger und Obinger-Gindulis 2013). Demnach m€ussten Regierungen auf neue
Problemlagen, die durch wirtschaftliche oder soziale Veränderungen bedingt seien
und aus denen neue Bedarfslagen der Wähler bzw. der Bevölkerung allgemein
resultieren, reagieren. Die „Übersetzung“ der von der Modernisierung geschaffenen
Problemlagen in problemlösende Politik erfolgt demnach gleichsam automatisch, es
wird ein „Primat des Gesellschaftlichen und de[s] Wirtschaftlichen gegen€uber der
Politik“ (Siegel 2002, S. 40) unterstellt. Entsprechend wird erwartet, dass Regie-
rungen, die vor den gleichen Herausforderungen stehen, auf diese auch in gleicher
Weise reagieren, sodass eine Konvergenz der Regierungspolitik in Ländern mit
gleichen Problemlagen zu erwarten ist. Politik im Sinne von politics findet in diesem
Ansatz keine Ber€ ucksichtigung (vgl. z. B. Zöllner 1963, S. 115).

2.2 Die Bedeutung von Machtressourcen organisierter Interessen

Die Lehre von den Machtressourcen organisierter Interessen hält Regierungspolitik


dagegen nicht f€ur durch äußere Umstände determiniert. Vielmehr schreibt sie politi-
schen Prozessen, insbesondere der politischen Auseinandersetzung zwischen Arbeit
und Kapital, eine wichtige Rolle bei der Entscheidung €uber staatliche Politik zu. In
kapitalistischen Demokratien entscheidet sich die Ausrichtung der staatlichen Politik
in einem „demokratischen Klassenkampf“ (Korpi 1983). Je mehr Machtressourcen
eine Seite (Arbeit oder Kapital) relativ zum politischen Gegner aufbieten kann, desto
stärker kann sie die Politik prägen. Während die Kapitalseite den Besitz der Pro-
duktionsmittel in die machtpolitische Waagschale werfen kann, hängt die Durch-
setzungsfähigkeit der Arbeiterinteressen von der Stärke der Arbeiterbewegung ab –

1
Dieser Abschnitt ist eine gek€
urzte und aktualisierte Fassung von Abschn. 2 aus Zohlnhöfer 2008.
Policy-Theorien in der Vergleichenden Politikwissenschaft 223

und zwar sowohl im Rahmen der industriellen Beziehungen als auch in der Wahl-,
Parlaments- und Regierungsarena.
Je stärker Linksparteien und Gewerkschaften in einem Land sind, desto stärker
sollten also Sozialrechte ausgebaut sein (vgl. Esping-Andersen 1990). Dar€uber
hinaus ist argumentiert worden, dass erfolgreiche sozialdemokratische (oder
b€
urgerliche) Politik nur in kohärenten Konfigurationen möglich ist, also nur dann,
wenn eine sozialdemokratische Regierung auf starke Gewerkschaften (oder eine
b€
urgerliche Regierung auf schwache Gewerkschaften) trifft, während Regierungen,
deren parteipolitische Zusammensetzung der gesellschaftlichen Machtverteilung nicht
entspricht, keinen wirtschaftspolitischen Erfolg haben werden (Alvarez et al. 1991).

2.3 Der Einfluss von Parteien

Die Annahme einer prinzipiellen politischen Gestaltbarkeit der Staatstätigkeit ver-


bindet die Machtressourcen-Schule mit der Parteiendifferenzhypothese, die aller-
dings nicht auf die gesellschaftliche Machtverteilung abstellt, sondern die partei-
politische Couleur der Regierung f€ur ausschlaggebend hält. So hat Hibbs (1977)
argumentiert, dass es innerhalb eines Elektorates verschiedene soziale Gruppen gibt,
deren Interessen durch politische Parteien vertreten werden. Kommt eine Partei an
die Regierung, so wird sie eine Politik durchsetzen, die den Interessen ihrer Klientel
entspricht (vgl. auch Schmidt 1996). Angesichts der zunehmenden Wählervolatilität
ist diese Herleitung von Parteiendifferenzen allerdings umstritten (vgl. Zohlnhöfer
2003). Alternativ könnte geltend gemacht werden, dass Parteien unterschiedliche
Wertvorstellungen vertreten oder unterschiedliche Vorstellungen dar€uber haben, mit
welchen Mitteln bestimmte Ziele zu erreichen sind, woraus sich dann wiederum
Parteiendifferenzen ableiten lassen w€urden. Bei dieser Herleitung ist allerdings zu
ber€ucksichtigen, dass die Verfolgung inhaltlicher Ziele in Konflikt mit Wiederwahl-
interessen von Parteien geraten kann, die eine wachsende inhaltliche Unschärfe von
Parteipositionen bedingt. Daher ist dann davon auszugehen, dass sich in staatlicher
Politik nicht nur die programmatischen Vorstellungen der Regierungsparteien wider-
spiegeln, sondern auch die Konstellation des Parteienwettbewerbs in einem Land,
die bestimmte Reformen leichter, andere schwerer durchsetzbar werden lässt.

2.4 Institutionen und Vetospieler

Auch das politische Institutionensystem kann den Einfluss von Parteien (und ande-
ren Akteuren) auf die Staatstätigkeit beeinflussen. Dabei geht es einerseits um
Institutionen, die den Entscheidungsprozess in den einzelnen Ländern strukturieren,
also darum, ob die Zustimmung bestimmter Akteure notwendig ist, um Reformen
durchzusetzen. Andererseits m€ussen institutionelle Arrangements untersucht wer-
den, die den zentralstaatlichen Regierungen bestimmte Kompetenzen oder Ressour-
cen vorenthalten, die stattdessen von subnationalen, supranationalen oder anderen
weisungsunabhängigen Institutionen ausge€ubt werden (vgl. Zohlnhöfer 2003).
224 R. Zohlnhöfer

Gemeinsam ist beiden Arten von Institutionen, dass sie den Handlungsspielraum
einer Regierung begrenzen, die Regierung also ihre favorisierten Politiken nicht
umstandslos durchsetzen kann, sondern sie mit anderen Akteuren koordinieren und
diesen in der Regel Konzessionen machen muss.
F€ur die Analyse des Entscheidungsprozesses hat das Vetospieler-Theorem eine
herausragende Bedeutung erlangt (Tsebelis 1995; 2002). Ein Vetospieler ist definiert
als ein Akteur, dessen Zustimmung zu einer Änderung des Status quo notwendig ist.
Es wird erwartet, dass eine Veränderung des Status quo schwieriger wird, je mehr
Vetospieler es gibt und je größer die inhaltliche Distanz zwischen ihnen ist (niedrige
Kongruenz). Ein drittes Kriterium kommt hinzu, sofern kollektive Akteure unter-
sucht werden, nämlich die Kohäsion. Dieses Kriterium bezieht sich auf die Homo-
genität der Positionen innerhalb der Vetospieler; sein Effekt hängt von der innerhalb
des Vetospielers angewendeten Mehrheitsregel ab.
Weniger gut eignet sich das Vetospieler-Theorem zur Analyse von institutionellen
Arrangements, bei denen Kompetenzen oder Ressourcen auf unterschiedlichen
Ebenen angesiedelt sind. Auch weisungsunabhängige Institutionen wie unabhängige
Zentralbanken können es Regierungen schwer machen, ihre präferierte Politik
durchzusetzen, wenn es nicht gelingt, sie zur Kooperation zu bewegen (vgl.
Scharpf 1987).

2.5 Pfadabhängigkeit und Politikerbe

Jede neue Regierung muss eine Vielzahl von Regelungen und Verpflichtungen
einlösen, die Vorgängerregierungen eingegangen sind. Gerade die Staatsausgaben
sind meist zu €uber 90 % durch gesetzliche oder vertragliche Verpflichtungen fest-
gelegt, sodass der Handlungsspielraum f€ur die Neujustierung der Ausgabenprioritä-
ten fast immer außerordentlich gering ist. Diese Erkenntnis spitzte Richard Rose
(1990, S. 263) zu der Aussage zu: „Policy-makers are heirs before they are choo-
sers“. Damit postuliert er, dass Staatstätigkeit ganz €uberwiegend vom Politikerbe
geprägt sei, ein Einfluss von Regierungswechseln auf die Staatstätigkeit daher
zumindest in kurzer Frist nicht zu erwarten sei. Allenfalls inkrementelle Veränderun-
gen – die allerdings langfristig durchaus wirkungsmächtig werden können – seien
f€ur Regierungen möglich. Das liegt daran, dass Interessengruppen einmal eingef€uhrte
Programme häufig verteidigen und Regierungen daher auf Änderungen verzichten.
Hinzu kommt ein weiteres: Eine einmal implementierte Politik wirkt auf den
politischen Prozess zur€uck und verändert somit die Ausgangslage f€ur neue Reform-
vorhaben (zum Folgenden Pierson 2000). Je länger eine Regelung in Kraft sei, desto
mehr Investitionen w€urden im Vertrauen auf ihr Weiterbestehen getätigt und desto
höher sei der Nutzen des Fortbestehens und umgekehrt die Kosten einer Verände-
rung. Wenn Menschen ihre Lebenspläne wenigstens zum Teil auf ein existenz-
sicherndes Rentensystem und Unternehmen ihre Investitionen auf bestimmte steuer-
liche Regelungen ausrichteten, verursache die kurzfristige und radikale Veränderung
dieser Politiken hohe Kosten. Das heißt nicht, dass €uberhaupt keine Veränderungen
Policy-Theorien in der Vergleichenden Politikwissenschaft 225

vorgenommen werden, aber diese werden eben allenfalls inkrementell ausfallen.


Ist an einem bestimmten Punkt also ein bestimmter Pfad in der Staatstätigkeit
eingeschlagen worden, ist es unwahrscheinlich, dass dieser Pfad ohne weiteres
wieder verlassen wird (differenziert zur These der Pfadabhängigkeit aus neo-
institutionalistischer Perspektive Beyer 2005).

2.6 Die Internationale Hypothese: Globalisierung und


Europäisierung

Staatstätigkeit ist nicht, wie von den bisher vorgestellten Schulen angenommen,
ausschließlich innenpolitisch determiniert, sondern wird in erheblichem Umfang
von Entwicklungen beeinflusst, die sich auf der internationalen Ebene abspielen.
So wird hinsichtlich der Globalisierung oft angenommen, diese f€uhre zu wirtschafts-
und sozialpolitischer Konvergenz und einem Abwärtsdruck auf Steuern, Staatsaus-
gaben und Regulierungen (sog. Effizienzthese, vgl. z. B. Scharpf 2000; Busemeyer
2009), während Vertreter der sog. Kompensationsthese davon ausgehen, dass wirt-
schaftliche Offenheit zu einem höheren Niveau sozialer Absicherung f€uhre
(z. B. Cameron 1978; Katzenstein 1985). Die politischen Prozesse einer Anpassung
an Globalisierung bleiben bei den meisten Globalisierungstheoretikern allerdings –
ähnlich wie bei der sozio-ökonomischen Schule – weitgehend unklar, wenn nicht gar
ein Automatismus unterstellt wird (zur Kritik und einem entsprechenden Modell vgl.
Zohlnhöfer 2005).
Bei der Europäischen Union, die eigenständige Rechtssetzungsbefugnisse besitzt,
sind die nationalstaatlichen Anpassungsmechanismen weit weniger unklar, denn die
Mitgliedstaaten sind verpflichtet, europäische Rechtsakte umzusetzen – wenn nicht
gar bestimmte Bereiche (etwa die Geldpolitik) vollständig europäisiert, also natio-
nalstaatlicher Kontrolle gänzlich entzogen sind. Aber auch in anderen Bereichen
sind die Effekte der Europäisierung deutlich sp€urbar. Dabei lassen sich verschiedene
Wege unterscheiden, auf denen die EU die Politik ihrer Mitgliedstaaten beeinflusst
(vgl. etwa Scharpf 1999; Leibfried und Pierson 2000): Die marktschaffende negative
Integration, die eine Vielzahl regulativer und wohlfahrtsstaatlicher Arrangements
der Mitgliedstaaten in Frage stellt und die sich aufgrund der starken Stellung der
Europäischen Kommission und des Europäischen Gerichtshofs relativ leicht durch-
setzen lässt; die marktkorrigierende positive Integration, die grundsätzlich auf na-
tionalstaatlicher Ebene verlorene Handlungsoptionen auf supranationaler Ebene
zur€uckgewinnen könnte, die allerdings aufgrund hoher Mehrheitserfordernisse und
divergierender Interessen der Mitgliedstaaten nur schwer durchsetzbar ist; sowie die
indirekten Effekte, die durch R€uckkopplungen von stärker europäisierten Politikfel-
dern auf weniger stark europäisierte Bereiche entstehen. Nimmt man die genannten
Effekte zusammen, wird man generell sagen können, was Leibfried und Pierson
(2000, S. 288) in Bezug auf die Sozialpolitik schreiben: „Member governments still
‚choose‘, but they do so from an increasingly restricted menu“.
226 R. Zohlnhöfer

2.7 Spielarten des Kapitalismus

Varieties of Capitalism (VoC, dt. Spielarten des Kapitalismus) ist ein neuerer Ansatz
zur Erklärung von Staatstätigkeit, der eine dezidiert unternehmenszentrierte Pers-
pektive einnimmt (vgl. Höpner 2009). Der Ansatz geht davon aus, dass sich Unter-
nehmen in verschiedenen Sphären, nämlich den Arbeitsbeziehungen, den Industrie-
llen Beziehungen, der Unternehmensfinanzierung und -kontrolle (Corporate
Governance), der Ausbildung sowie der Koordination mit anderen Unternehmen,
bewegen und hier jeweils Koordinationsleistungen, nämlich z. B. mit den Mitarbei-
tern, den Geldgebern, Zulieferern etc., zu erbringen sind. Diese Koordinationsleis-
tung kann entweder €uber den Markt oder Formen langfristiger, strategischer Koor-
dination erbracht werden. Gleichzeitig spielen institutionelle Komplementaritäten
eine wichtige Rolle, d. h. wenn in verschiedenen Sphären durch einen bestimmten
Modus koordiniert wird, liegt es nahe – und steigert die Effizienz –, auch in den
restlichen Sphären diesen Koordinationsmodus anzuwenden. Wenn beispielsweise
im Ausbildungsbereich unternehmensspezifische Qualifikationen vermittelt werden,
und daher die Unternehmen die Ausbildung €ubernehmen, liegt es nahe, auch im
Bereich der Arbeitsbeziehungen auf längerfristige Arrangements zu zielen, um die
unternehmensseitigen Investitionen in das Humankapitel des Arbeitnehmers an das
Unternehmen zu binden. F€ur diese Strategie wiederum bedarf es geduldigen Kapi-
tals, das weniger €uber Kapitalmärkte als €uber Hausbanken beschafft werden kann.
Das zentrale Argument des Ansatzes lautet nun, dass sich in nationalen Politi-
schen Ökonomien bestimmte Koordinationsmodi durchsetzen und die entsprech-
enden Staaten dann bestimmte nationale Spielarten des Kapitalismus ausbilden, die
wiederum € uber bestimmte komparative Vorteile verf€ugen. Am einflussreichsten ist
in diesem Zusammenhang die Unterscheidung von Peter Hall und David Soskice
(2001), die zwischen liberalen Marktwirtschaften (Liberal Market Economies, LME)
und koordinierten Marktwirtschaften (Coordinated Market Economies, CME) unter-
scheiden. In ersteren, etwa den USA, wird Koordinierung in erster Linie markt-
förmig vorgenommen, in letzteren, etwa der Bundesrepublik Deutschland, dominiert
die langfristige strategische nicht-marktliche Koordinierung.
Was hat das mit Staatstätigkeit zu tun? Der Schl€ussel zu dieser Frage liegt darin,
dass die jeweilige Spielart des Kapitalismus einen Einfluss auf die Präferenzen der
Unternehmen, aber auch der Arbeitnehmer hat und die Funktionsweise bestimmter
Policies beeinflusst. Das bekannteste einschlägige Beispiel ist der Wohlfahrtsstaat.
Machtressourcen-Theoretiker argumentieren hier wie gesehen, dass die Arbeiter-
klasse f€ur, die Kapitalseite gegen den Wohlfahrtsstaat eintreten, und die Größe des
Wohlfahrtsstaates mithin eine Funktion der Stärke der Arbeiterklasse ist.
VoC-Theoretiker sehen das differenzierter (s. Höpner 2009): Demnach haben Unter-
nehmen in CME durchaus ein Interesse an bestimmten wohlfahrtsstaatlichen Pro-
grammen, nämlich an solchen, die die Humankapitalinvestitionen des Arbeitneh-
mers sch€ utzen. Wenn ein Unternehmen nämlich eine spezifische Qualifikation eines
Arbeitnehmers benötigt, die dieser Arbeitnehmer bei einem anderen Unternehmen
nicht mehr verwenden kann, wird er zur€uckhaltend sein, diese Qualifikation zu
erwerben, wenn er nicht gegen den Verlust seines Arbeitsplatzes gesch€utzt ist. Das
Policy-Theorien in der Vergleichenden Politikwissenschaft 227

heißt, dass bspw. der K€undigungsschutz f€ur Unternehmen in CME n€utzlich ist, damit
Arbeitnehmer in spezifische Qualifikationen investieren. Da andererseits eine solche
Logik in LME nicht vorliegt, sollte also VoC zufolge der K€undigungsschutz in CME
wesentlich weiter ausgebaut sein als in LME.

2.8 Zusammenfassung

Es wäre ein Missverständnis zu glauben, dass sich die bislang vorgestellten theoreti-
schen Ansätze wechselseitig ausschließen. Das Gegenteil ist richtig – sie ergänzen
einander (Schmidt 1993, S. 382). Während der Funktionalismus und die Globalisie-
rungstheoretiker darauf aufmerksam machen, dass Politik auf veränderte Umwelt-
bedingungen reagiert, unterschätzen sie die Gestaltungsmacht politischer Akteure,
die wiederum die Machtressourcen- und Parteiendifferenzansätze ins Zentrum stel-
len. Diese Ansätze wiederum €uberschätzen f€ur sich genommen den politischen
Handlungsspielraum politischer Akteure, der jedoch tatsächlich durch das Politik-
erbe, den Kapitalismustyp, institutionelle Beschränkungen und den Mehrebenen-
charakter vieler politischer Systeme mitunter erheblich – wenngleich im internatio-
nalen Vergleich in unterschiedlichem Umfang – eingeschränkt ist, wie andere
Theorieschulen deutlich machen. Wer Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der
inhaltlichen Politik umfassend verstehen will, sollte also auf eine Kombination der
einzelnen Ansätze zur€uckgreifen und ggf. noch weitere Variablen hinzuziehen. Eine
solche Kombination der Theorieschulen ist auch theoretisch ergiebig, erlaubt sie es
doch, auch Interaktionen zwischen den dargestellten Erklärungsvariablen zu durch-
denken (vgl. Zohlnhöfer 2005; 2013).

3 Theorien des Policyprozesses

Neben Überlegungen, einzelne Erklärungsfaktoren zu theoretisieren und ggf. zu


kombinieren, gibt es Ansätze, die den Politikprozess als ganzen theoretisch beleuch-
ten. In der (vorwiegend amerikanischen) Literatur wird hier in erster Linie auf drei
Ansätze zur€ uckgegriffen: Sabatiers Advocacy-Koalitionen-Ansatz, Kingdons
Multiple-Streams-Ansatz sowie Baumgartner und Jones’ Punctuated-Equilibrium-
Theorie. Diesen Ansätzen wird hier noch der vor allem in Deutschland einflussreiche
Akteurzentrierte Institutionalismus zur Seite gestellt.

3.1 Akteurzentrierter Institutionalismus (AI)

Der Akteurzentrierte Institutionalismus (AI), den Renate Mayntz und Fritz Scharpf
(1995; vgl. ausf€
uhrlicher Scharpf 1997) entwickelt haben, versteht sich nicht als
gegenstandsbezogene Theorie, sondern als eine Forschungsheuristik. Ziel ist es, ein
Analysewerkzeug f€ur die Erklärung komplexer Makrophänomene, insbesondere
228 R. Zohlnhöfer

staatlicher Politiken, bereitzustellen (Mayntz und Scharpf 1995, S. 39; Scharpf


1997, Kap. 1).
Dabei wird davon ausgegangen, dass Institutionen eine zentrale, aber keine
determinierende Rolle bei der Entstehung von Policies spielen (vgl. zum Folgenden
auch Wenzelburger und Zohlnhöfer 2014). Vielmehr werden Institutionen sowohl
handlungsermöglichende als auch handlungsbeschränkende Eigenschaften zugeord-
net. So ermöglichen Institutionen soziales Handeln €uberhaupt erst, beschränken aber
auch den Handlungsspielraum von Akteuren, indem sie ihnen bestimmte Kompe-
tenzen vorenthalten. Innerhalb von Institutionen handeln Akteure, die sich einerseits
durch verschiedene Handlungsressourcen, andererseits durch bestimmte kognitive,
motivationale und relationale Handlungsorientierungen auszeichnen. Da allerdings
in aller Regel kein Akteur in der Lage ist, politische Entscheidungen allein auf der
Basis seiner eigenen Wahrnehmungen und Präferenzen und nur unter Zuhilfenahme
eigener Ressourcen zu fällen, kommt es f€ur den AI zentral darauf an, die strategische
Interaktion verschiedener rational handelnder Akteure zu modellieren und zu unter-
suchen, zu welchem Ergebnis diese Interaktionen f€uhren. In dieser Analyse kommt
es wiederum auf die jeweilige Interaktionsform an, also darauf, ob lediglich ein-
seitige Anpassung oder auch Verhandlungen möglich sind, oder ob gar mit Mehrheit
entschieden oder hierarchisch gesteuert werden kann.
Mayntz und Scharpf (1995, S. 61 f.; ausf€uhrlich Scharpf 1997, Kap. 5–8) zeigen
dar€uber hinaus, dass die unterschiedlichen Interaktionsformen sich unterschiedlich
gut f€
ur spezifische Problemlagen eignen; alle weisen aber auch spezifische Schwach-
stellen bei der Lösung gesellschaftlicher Probleme auf.

3.2 Advocacy-Koalitionen-Ansatz (ACF)

Der Advocacy-Koalitionen-Ansatz geht im Wesentlichen auf die Arbeiten von Paul


Sabatier (1993; Sabatier und Weible 2007) zur€uck. Der ACF geht davon aus, dass
Advocacy-Koalitionen die zentralen Akteure im politischen Prozess sind. Diese
Koalitionen bestehen aus Personen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Berei-
chen (Politik, Verwaltung, Wissenschaft, Journalismus etc.), die bestimmte grund-
legende Überzeugungen hinsichtlich eines Politikfeldes (bzw. in ACF-Terminologie
eines Policy Subsystems) teilen und deren Verhalten ein Mindestmaß an Koordinie-
rung aufweist. Relevant f€ur die Durchsetzung von Policies sind die Ressourcen der
Koalitionen in Form von formaler Entscheidungsmacht, der Beeinflussung der
öffentlichen Meinung und der Mobilisierung der eigenen Anhänger; aber auch
Informationen und finanzielle Ressourcen sowie geschickte politische F€uhrung
werden als Ressourcen gewertet. Politische Entscheidungen reflektieren meist einen
Kompromiss der unterschiedlichen in einem Politikfeld existierenden Koalitionen,
wobei die dominierende Koalition einen prägenden Einfluss auf eine Maßnahme
aus€
uben kann.
Eine einmal existierende Politik kann in verschiedener Weise geändert werden,
wobei zwischen geringf€ugigem (‚minor‘) und weitreichendem (‚major‘) Policywan-
del zu unterscheiden ist. Geringf€ugiger Wandel lässt sich durch politisches Lernen
Policy-Theorien in der Vergleichenden Politikwissenschaft 229

erreichen, während weitreichender Wandel durch drei andere Pfade zustande kom-
men kann. Zum einen ist denkbar, dass exogene Schocks einer Minderheiten-
Koalition die Möglichkeit bieten, zur dominierenden Koalition zu werden. Solche
politikfeld-exogenen Schocks können etwa Regierungswechsel, Veränderungen von
sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen oder auch Entscheidungen in anderen
Politikfeldern sein. Zweitens können interne Schocks, also ein kaum abzustreitendes
Versagen der bisherigen Policy, die Chance zu weitreichendem Policywandel geben.
Drittens schließlich kann weitreichender Wandel unter bestimmten, eher unwahr-
scheinlichen Bedingungen durch Verhandlungen zwischen verschiedenen Koalitio-
nen herbeigef€uhrt werden. Eine zentrale Voraussetzung hierf€ur ist allerdings, dass
der Status quo f€ur beide Seiten inakzeptabel ist.

3.3 Multiple-Streams-Ansatz (MSA)

Der Multiple Streams Ansatz, wie er zuerst von John Kingdon (1984) vorgelegt
worden ist, geht davon aus, dass Politik kein rationales Problemlösen darstellt,
sondern dass Politische Unternehmer von ihnen ausgearbeitete Politiken zu f€ur sie
g€unstigen Zeitpunkten (policy window oder window of opportunity) mit aktuellen
Problemen verkn€ upfen. Es sind also eher die Lösungen, die sich passende Probleme
suchen, nicht umgekehrt!
Nach Kingdon durchfließen drei – weitgehend unabhängige – Ströme das poli-
tische System, die nach unterschiedlichen Logiken funktionieren. Im Problem-Strom
geht es darum, wann Zustände zu politischen Problemen werden, mit denen sich das
politische System beschäftigen muss. Hier spielen Veränderungen bestimmter Indi-
katoren, aber auch einschneidende Ereignisse ( focusing events) eine wichtige Rolle.
Im Policy-Strom geht es dagegen eher um die Ausarbeitung von Policies. Hier
werden von Experten in sogenannten Policy Communities neue Policies vorgeschla-
gen, diskutiert, modifiziert, kombiniert und zur Entscheidungsreife gebracht. Wich-
tig ist, dass es im Policy-Strom um das bessere Argument, nicht um Macht geht;
arguing und nicht bargaining steht im Zentrum. Der Ansatz macht auch Aussagen
dar€uber, welche Policies bessere und welche schlechtere Chancen auf Realisierung
haben. So sind bspw. die Finanzierbarkeit oder die technische Machbarkeit zentrale
Entscheidungskriterien. Der dritte Strom ist der Politics-Strom. Hier geht es um die
politische Durchsetzbarkeit von Politiken, zentrale Akteure sind mithin Regierungen
und Parlamente, Parteien und Verbände, aber auch der Zeitgeist.
Zu einer Verkopplung der drei Ströme kann es kommen, wenn sich ein Window of
Opportunity entweder im Problem-Strom (etwa durch ein einschneidendes Ereignis)
oder im Politics-Strom (z. B. durch einen Regierungswechsel) öffnet. Sind auch die
€ubrigen Ströme reif, existiert also eine entscheidungsreife Alternative (Policy-
Strom), liegt ein Problem vor, auf das diese Lösung „passt“ (Problem-Strom), und
sind die Akteure im Politics-Strom der Lösung gegen€uber aufgeschlossen, kann ein
politischer Unternehmer versuchen, seine favorisierte Lösung auf die Regierungs-
agenda zu bringen.
230 R. Zohlnhöfer

War das urspr€ungliche Modell lediglich auf die Analyse des Agenda-Setting im
präsidentiellen Regierungssystem der USA zugeschnitten, ist der Ansatz inzwischen
weiterentwickelt worden, um auch in parlamentarischen Regierungssystemen und
auch f€
ur den gesamten Willensbildungsprozess angewendet zu werden (vgl. grund-
legend Zahariadis 2003).

3.4 Punctuated-Equilibrium-Theorie (PET)

Die zentrale Vorstellung des Punctuated-Equilibrium-Ansatzes, der auf die Arbeiten


von Baumgartner und Jones (1993; als Überblick vgl. Jones und Baumgartner 2012)
zur€uckgeht, besteht darin, dass die Reichweite politischer Veränderungen nicht
normalverteilt ist. Vielmehr gibt es, so die Vorstellung, einerseits eine Zahl an
inkrementellen Veränderungen, die deutlich €uber der bei Annahme einer Normal-
verteilung zu erwartenden Zahl liegt. Andererseits kommen aber auch sehr weit-
reichende Reformen erheblich häufiger vor, als man auf der Basis einer Normalver-
teilungskurve vermuten w€urde (vgl. z. B. Baumgartner et al. 2009; Jones
et al. 2009). Dagegen sind Reformen mittlerer Reichweite den Autoren des
PE-Ansatzes zufolge seltener als die Normalverteilung prognostizieren w€urde. We-
niger technisch ausgedr€uckt bedeutet dies, dass Politikfelder sich f€ur mitunter sehr
lange Zeit in einem Gleichgewicht (‚equilibrium‘) befinden, also beispielsweise
Einigkeit zwischen den Politikfeldexperten besteht, wie das zentrale Problem zu
definieren ist und welche Lösungen relevant sind. In solchen Gleichgewichtsphasen
kommt es entsprechend nur zu inkrementellen Reformen. Solche Gleichgewicht-
sphasen werden unterbrochen durch massiven Wandel (‚punctuations‘), auf den ein
neuerliches Gleichgewicht folgt.
Ein weiteres kommt hinzu (vgl. Baumgartner et al. 2009): Einerseits nehmen die
Abweichungen von der Normalverteilung im Laufe des Politikzyklus zu, das heißt,
das eben beschriebene Muster lässt sich besonders deutlich in späten Phasen des
Politikzyklus wie der Entscheidungsfindung und der Aufstellung des Haushaltes
nachweisen. Andererseits zeigt sich das Muster des „unterbrochenen Gleichge-
wichts“ stärker in Ländern mit vielen Vetoakteuren, weniger stark in Mehrheits-
demokratien.
Wie lassen sich diese Regelmäßigkeiten erklären? Zwei Mechanismen sorgen f€ur
lange Phasen der Stabilität: Zum einen die Begrenzung des staatlichen Handlungs-
spielraums durch politische Institutionen, die, wie weiter oben schon ausgef€uhrt wurde,
die Unterschiede zwischen den Ländern erklären kann, und zum anderen die begrenzten
Informationsverarbeitungskapazitäten der politischen Akteure. Diese f€uhren dazu,
dass Informationen €uber Probleme in einem Politikfeld €uber längere Zeit unbeachtet
bleiben – es kommt zu einer Unterreaktion auf Veränderungen in der Umwelt, Stabilität
dominiert. Wenn sich die Probleme dann jedoch €uber die Zeit akkumuliert haben oder
ein schwerwiegendes Problem auftritt, werden sie den Entscheidungsträgern bewusst
und es kommt zu einer besonders starken politischen Reaktion.
Policy-Theorien in der Vergleichenden Politikwissenschaft 231

3.5 Würdigung

Die hier vorgestellten komplexeren theoretischen Ansätze der vergleichenden Poli-


cyforschung sind ebenso wie die Ansätze, die einzelne Erklärungsfaktoren ins
Zentrum stellen, nicht notwendigerweise als Alternativen zu sehen. Insbesondere
die drei zuletzt vorgestellten, in der amerikanischen Forschung stark vertretenen
Ansätze haben eine Reihe von Gemeinsamkeiten, wie etwa die starke Fokussierung
auf einzelne Politikfelder. Ihrem gemeinsamen Ursprung bei der Analyse politischen
Wandels im präsidentiellen System der USA entsprechend spielen zudem Parteien
nur eine äußerst geringe Rolle, während sie in den parlamentarischen Systemen
Westeuropas nach wie vor als zentrale Akteure interpretiert werden. Das macht
deutlich, dass insbesondere f€ur diese Ansätze Übersetzungsleistungen in parlamen-
tarische Systeme vollbracht werden m€ussen – aber auch können, wie eine Vielzahl
von Studien zu allen drei Ansätzen belegt (z. B. Baumgartner et al. 2009; K€ubler
2001; Zohlnhöfer und Herweg 2014). Dar€uber hinaus zeigt sich, dass alle vier hier
diskutierten komplexeren Ansätze Ankn€upfungspunkte zu verschiedenen Theories-
chulen besitzen, die auf eine einzige Erklärungsvariable fokussieren. So spielen
institutionelle Überlegungen im AI und in der PET eine zentrale Rolle, Problem-
druck wird im MSA und im ACF ausf€uhrlich gew€urdigt. Interessengruppen spielen
in allen vier Ansätzen eine zentrale Rolle, während Parteien zwar mit Ausnahme des
AI nicht im Fokus stehen, aber unschwer in die einzelnen Ansätze integriert werden
können.

4 Fazit

Der vorstehende Beitrag hat die wichtigsten theoretischen Ansätze der vergleich-
enden Policyforschung knapp vorgestellt. Dass dabei nicht alle Ansätze in einem
Feld, das sich ausgesprochen dynamisch entwickelt, angesprochen werden konnten,
versteht sich von selbst. Wichtig erscheint jedoch vor allem, einen Austausch
zwischen den Vertreterinnen und Vertretern der unterschiedlichen Ansätze in Gang
zu bringen. Während ein solcher Austausch zwischen Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftlern der unterschiedlichen in Abschn. 2 vorgestellten Ansätze
ebenso stattfindet wie zwischen den Forscherinnen und Forschern, die sich auf die
in Abschn. 3 skizzierten Ansätze berufen (mit einer gewissen Ausnahme
hinsichtlich des Akteurzentrierten Institutionalismus), findet Austausch zwischen
Policyforscherinnen, die eher auf Ansätze zur€uckgreifen, die eine Variable ins
Zentrum stellen, und Politikfeldanalytikern, die komplexe Ansätze vorziehen,
bislang noch zu wenig statt – und das, obwohl dieses Kapitel gezeigt hat, dass
durchaus erhebliche Ankn€upfungspunkte bestehen. Wenn der vorliegende Aufsatz
einen kleinen Beitrag zu einem solchen Diskurs leisten könnte, hätte er sein Ziel
mehr als erreicht.
232 R. Zohlnhöfer

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Pfadabhängigkeit in der Vergleichenden
Politikwissenschaft

Johannes Gerschewski

Zusammenfassung
Das Konzept der Pfadabhängigkeit ist in den Sozialwissenschaften weit ver-
breitet. Es betont die Historizität von Ereignissen und wurde vor allem im
Historischen Institutionalismus aufgenommen, um langanhaltende Prozesse zu
erklären. Durch die weite Verbreitung ist das urspr€unglich aus der Ökonomie
stammende Konzept jedoch ausgefasert. In diesem Beitrag wird versucht, drei
unterschiedliche Konzeptionen analytisch voneinander zu trennen. Während ein
weites Verständnis die Bedeutung einer adäquaten historischen Einbettung her-
vorhebt, betont ein Konzept mittlerer Reichweite stärker die Sequenz von Ereig-
nissen. Das enge, institutionenökonomisch fundierte Konzept argumentiert hin-
gegen mit steigenden Skalenerträgen, die man f€ur eine sozialwissenschaftliche
Erklärung in der empirischen Realität aufzeigen sollte. Die große Stärke des
Ansatzes besteht in der Erklärungskraft f€ur institutionelle Langlebigkeit, weist
aber trotz j€
ungster Modifikationen Defizite in der Erklärung von Wandel auf.

Schlüsselwörter
Pfadabhängigkeit • Historizität • Institutionalismus • Stabilität • Wandel

1 Einleitung

Das Konzept der Pfadabhängigkeit hat in den letzten beiden Dekaden eine erstau-
nliche Karriere in der (Vergleichenden) Politikwissenschaft, ebenso wie in den
benachbarten Disziplinen der Soziologie, Geschichtswissenschaft und Ökonomie,
erfahren. Es avancierte in kurzer Zeit zu einem der am häufigsten benutzten Konzepte.

J. Gerschewski (*)
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Wissenschaftszentrum Berlin f€
ur Sozialforschung (WZB),
Berlin, Deutschland
E-Mail: johannes.gerschewski@wzb.eu

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 235


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_18
236 J. Gerschewski

Mit dieser weiten Verbreitung ging jedoch auch eine begriffliche Überdehnung einher.
Pfadabhängigkeit hat sich zu einem oftmals zu elastischen Begriff entwickelt,
unter dem verschiedene Phänomene subsumiert werden. Generell beschreibt das
Konzept der Pfadabhängigkeit den Umstand, dass zur€uckliegende Ereignisse und
Prozesse ihren Schatten auf Gegenwart und Zukunft werfen und so das Handeln von
politischen und sozialen Akteuren beeinflussen können. Handlungskorridore veren-
gen sich und schränken die Handlungsalternativen sukzessive ein. Von Vertretern
dieses Ansatzes wird argumentiert, dass wir in der Erklärung gegenwärtiger Sach-
verhalte bem€uht sein m€ussen, der Historizität von Entscheidungen, Institutionen und
Strukturen gerecht zu werden. Wie dies konkret theoretisch gefasst und empirisch
umgesetzt wird, ist jedoch umstritten.

2 Das Konzept der Pfadabhängigkeit – Unterschiedliche


Ansätze, Stärken, Schwächen

Aufbauend auf dem generellen Verständnis von Pfadabhängigkeit gibt es unter-


schiedliche Auffassungen bez€uglich der Spezifizität des Konzepts. Es kann hierbei
eine Dreiteilung vorgenommen werden. Während das erste Verständnis sehr weit
gefasst ist und die generelle historische Relevanz von Erklärungen unterstreicht,
geht ein Konzept mittlerer Reichweite von einer theoretisch angenommenen
Sequenz aus, die Pfadabhängigkeiten auslösen kann. Ein drittes Verständnis kann
der neo-institutionalistischen Ökonomie zugerechnet werden und bedient sich der
aus der Mikroökonomie stammendenden Vorstellung der steigenden Skalenerträge.
Im Folgenden werden zunächst die drei unterschiedlichen Verständnisse von Pfad-
abhängigkeit vorgestellt, bevor deren Stärken und Schwächen in der Erklärung
sozialwissenschaftlicher Phänomene kurz diskutiert werden.

2.1 Das weite Konzept: History matters!

Das weite Verständnis von Pfadabhängigkeit macht darauf aufmerksam, dass die
historische Einbettung von Ereignissen von besonderer Relevanz ist. Goethes be-
r€
uhmter Ausspruch, dass nur der erste Schritt frei ist, versinnbildlicht dieses Denken.
Der Einfluss vergangener Entscheidungen auf spätere wird somit betont. Dies wird
in den Sozialwissenschaften weitestgehend geteilt und findet wenig Widerspruch.
Insofern ist der theoretische Verweis auf Pfadabhängigkeiten oftmals in Verruf
geraten, ein Allgemeinplatz oder lediglich eine Metapher darzustellen. Jedoch
muss das History-Matters-Argument in die Diskussion der Großtheorien
eingebettet werden. Pfadabhängigkeit ist das Grundtheorem des (Historischen)
Neo-Institutionalismus, der sich wiederum in starker Abgrenzung zum behaviora-
listischen Paradigma der 1950er- und 1960er-Jahre entwickelt hat. Im Behavioralis-
mus steht die empirisch beobachtbare, individuelle Handlung im Zentrum der
politikwissenschaftlichen Analyse. Die implizite Annahme ist dabei, dass die Erklä-
rung von Handlungen auf utilitaristische Kosten-Nutzen-Kalk€ule zur€uckf€uhrbar ist.
Pfadabhängigkeit in der Vergleichenden Politikwissenschaft 237

Individuelle Präferenzen können voluntaristisch und effizient in konkretes Handeln


u€bersetzt werden. Zudem lässt sich auf dieser Basis kollektives Handeln als die reine
Aggregation von individuellem Handeln zur€uckf€uhren. Obgleich schon fr€uhzeitig
auf die Grenzen der Rationalität hingewiesen wurde (Simon 1957), kann der
Neo-Institutionalismus und dessen Theorem der Pfadabhängigkeit nur vor dem
Hintergrund dieser Entwicklung verstanden werden. Es wird im Gegensatz zum
Behavioralismus davon ausgegangen, dass Institutionen Handlungen von individuel-
len und kollektiven Akteuren vorstrukturieren können, womit wiederum Ineffizienzen
erklärt werden können. Ellen Immergut fasst daher institutionalistische Erklärungen
pointiert zusammen, indem sie deren „interest in the distorting effect of the political
process“ (Immergut 1998, S. 240) als kleinsten gemeinsamen Nenner herausarbeitet.
Einer dieser „verzerrenden Effekte“, und f€ur die Spielart des Historischen
Neo-Institutionalismus der bedeutendste, ist die Historizität. Wie sich handlungs-
leitende Institutionen €uber Zeit hinweg bilden, ihre Wirkung entfalten und sich in die
konkreten temporalen Prozesse einbetten ist dessen Hauptaugenmerk (Hall und
Taylor 1996; Thelen 1999). Das Konzept der Pfadabhängigkeit bietet hier eine
prozessuale Erklärung an, die das institutionelle Erbe und das historische Gewach-
sensein von Strukturen unterstreicht. Es argumentiert, dass wir die dem Rational-
Choice-Ansatz sowie dem behavioralistischen Paradigma oftmals unterstellten ahis-
torische und isolierte Betrachtung von Ereignissen eine geschichtliche Komponente
hinzuf€ugen m€ ussen (Sewell 1996). Gegenwärtige Handlung muss einerseits in ihrem
Bezug zu handlungsstrukturierenden Institutionen, die ihren Ursprung in der Ver-
gangenheit haben, verstanden werden. Andererseits können gegenwärtige Hand-
lungen eine unvorhersehbare, in die Zukunft gerichtete Wirkung entfalten. Der
Wirtschaftshistoriker Paul David, der zu den Begr€undern der Pfadabhängigkeits-
debatte gehört, hat es 1985 so ausgedr€uckt: „it is sometimes not possible to uncover
the logic (or illogic) of the world around us except by understanding how it got that
way.“ (David 1985, S. 332) F€ur das Nachsp€uren solcher Prozesse bietet das Pfad-
abhängigkeitskonzept mit seiner Betonung der Historizität von Ereignissen einen
ersten wichtigen Orientierungspunkt.

2.2 Das Konzept mittlerer Reichweite: Sequence matters!

Während das weite Verständnis des Konzepts noch relativ vage auf die historische
Kontextbedingungen rekurriert, ist das Konzept mittlerer Reichweite hier spezifi-
scher. Der theoretische Schl€usselbegriff ist dabei die Sequenz, die die Bedeutung
von räumlichen und zeitlichen Abfolgen von Ereignissen f€ur bestimmte Outcomes
unterstreicht. Das Verständnis von Pfadabhängigkeit mittlerer Reichweite kennt
dabei zwei Arten von Sequenz. Auf der einen Seite wird eine makro-theoretische
Kontinuitätslinie vorgeschlagen und auf der anderen Seite werden konkretere Re-
produktionsmechanismen in den Blick genommen.
Ruth und David Collier haben zu Beginn der 1990er-Jahren ein Standardwerk zur
Entwicklung der lateinamerikanischen Arbeiterbewegung geschrieben, in dem sie
einen Theorierahmen vorschlagen, der Institutionen vor allem als historisches
238 J. Gerschewski

Vermächtnis begreift: (1) strukturelle vorhergehende Bedingungen (antecedent con-


ditions) f€
uhren (2) zu einer Spaltung (cleavage) oder einer Krise, die (3) wiederum
zu einer kritischen Wegscheide (critical juncture) f€uhrt. Durch (4) einen Kristallisa-
tionsprozess von Reaktion und Gegenreaktionen wird ein institutionelles Erbe
produziert, das wiederum zu (5) einem stabilen Gleichgewicht von Kerneigenschaf-
ten f€uhrt (Collier und Collier 1991). Sie kn€upfen damit an klassische Werke von
Barrington Moore und Theda Skocpol an, die ebenfalls historische Kontinuitätsli-
nien in Demokratisierungsprozessen und der Entstehung von Revolutionen hervor-
heben (Moore 1966; Skocpol 1979). Während diese Arbeiten noch weitgehend
ideographischen Erklärungen folgen sowie formativen Schl€usselmomenten und Ge-
legenheitsfenstern einen großen Wert beimessen, versucht in der Folge vor allem
James Mahoney stärker die jeweiligen Reproduktionsmechanismen herauszuarbei-
ten. Er fokussiert also auf die oben beschriebene vierte Phase, der Kristallisierung
eines institutionellen Erbes (Mahoney 2000, 2001). Auch er vertritt eine sequentielle
Sicht bei der vorhergehende, historische Bedingungen die Spannweite möglicher
Handlungen einengen und bei der Entscheidungen getroffen werden, die eine pfad-
abhängige Entwicklung auslösen. Reaktion und Gegenreaktion, die bei Collier und
Collier noch recht dehnbar blieben, werden so gewissermaßen innerhalb der sequen-
tiellen Sicht nochmals sequenziert.
Vor diesem Hintergrund definiert Mahoney das Konzept der Pfadabhängigkeit
enger. Er untersucht empirisch, wie liberale Reformen im 19. Jahrhundert die diver-
gierende Entwicklung zentralamerikanischer Regime beeinflusst haben. Er versteht
pfadabhängige Prozesse als kausale Prozesse, die sensibel auf fr€uhere Ereignisse
reagieren. Es sind zudem Prozesse, die kontingent sind, d. h. dass auf spätere
Ereignisse nicht aufgrund von fr€uheren Ereignissen oder Vorbedingungen geschlos-
sen werden kann. Sie sind nicht vorhersehbar. Schließlich sind solche Prozesse von
einer institutionellen Trägheit (inertia) geprägt, die einen bereits eingeschlagenen
Pfad nur schwer abänderbar macht. Diese Trägheit setzt aufgrund von sich selbst-
verstärkenden Reproduktionsmechanismen ein. Mahoney unterscheidet zwischen
vier solcher Mechanismen, die grob mit den soziologischen Makrotheorien korre-
lieren. Eine utilitaristische Erklärung baut auf einem Kosten-Nutzen-Kalk€ul der
Akteure auf; eine funktionale Erklärung auf der Feststellung, dass sich eine Institu-
tion reproduziert, wenn es eine Funktion f€ur das allgemeinere System (etwa Integ-
ration oder Anpassung) erf€ullt; eine machtbasierte Erklärung auf der ungleichen
Distribution von Ressourcen, die einer Machtelite zu Gute kommt; und schließlich
eine Legitimationserklärung, bei der die Akteure eine Institution reproduzieren,
indem sie subjektiv an dessen moralische Überlegenheit oder Angemessenheit
glauben.
So wird ein stärkeres Augenmerk auf die jeweiligen Reproduktionsmechanismen
gelegt als lediglich auf die Tatsache, dass formative Ereignisse bestimmte Pfade
auslösen können. Die Herausforderung f€ur die Sozialwissenschaft besteht somit in
der Identifikation bestimmter Mechanismen. Dies macht das Pfadabhängigkeitstheo-
rem griffiger und in empirischer Sicht einfacher zu handhaben. Die vier analog zu den
sozialwissenschaftlichen Großtheorien angelegten Mechanismen (Rational Choice,
Funktionalismus, Macht, Legitimation) bieten einen ersten hilfreichen Zugriff an.
Pfadabhängigkeit in der Vergleichenden Politikwissenschaft 239

Neben diesen vier Mechanismen findet sich in der Literatur auch die Idee eines
negativen Feedbacks. Hier bildet sich eine Institution durch die bewusste Abwehr-
reaktion gegen Änderungsversuche. Die Entwicklung des anarchischen Staatensys-
tems nach dem Westfälischen Frieden kann hier als Beispiel dienen. Das Gleichge-
wicht souveräner und gleicher Staaten wird dabei gegen unterschiedliche
Hegemoniebestrebungen verteidigt. Ein internationales System setzt sich letztlich
gegen konkurrierende Vorstellungen durch. Das negative Feedback folgt daher einer
idealtypischen Sequenz aus A!B!A!C!A, wobei A das Staatensystem nach
dem Westfälischen Frieden symbolisiert und B bzw. C die jeweiligen Hegemoniebe-
strebungen (Bennett und Elman 2006). In ähnlicher Weise wäre eine zyklische
Sequenz eine Abfolge mit dem Muster A!B!A!B!A. Hier ruft der Erfolg einer
Seite die Gegenseite B auf den Plan, die dann wiederum mobilisiert und A bekämpft
(Page 2006). Eine reaktive Sequenz wäre im Gegensatz hierzu eine Kausalkette bei
der verschiedene Ereignisse aufeinander folgen, die eng miteinander verkn€upft sind.
Ein Ereignis wird dabei stets sowohl als die Reaktion eines vorhergehenden als auch
die Ursache eines darauf folgenden Ereignisses konzipiert: A!B!C!D!E. Es
wird jedoch dabei im Vergleich zu den vorherigen Mechanismen nicht eine Repro-
duktion einer Institution analysiert, sondern vielmehr deren Transformation von A
zu E (Mahoney 2000). Zudem ist hier ein methodologisches Caveat zu beachten. Die
Kausalkette sollte in der Erklärung nicht zu lang werden (oder zu große temporale
oder geographische Spr€unge machen), um plausibel zu bleiben. Die Grundidee
basiert auf einer engen Verkn€upfung der Kettenglieder miteinander. Will man eine
deterministische Erklärung vermeiden, w€urde bereits bei einer jeweiligen Wahr-
scheinlichkeit von 80 Prozent zwischen dem Auftreten der einzelnen Glieder die
Gesamtwahrscheinlichkeit des Eintretens der gesamten Kausalkette unter 50 Prozent
sinken, so dass man eher falsch denn richtig liegt. Zudem ist die Frage der kausalen
Verantwortlichkeit offen. Bei einer solchen Kausalkette zwischen A und E kann es
fraglich sein, ob A wirklich f€ur E kausal verantwortlich ist oder doch zu viele
Zwischenschritte nötig sind.

2.3 Das enge Konzept: Increasing returns matter!

Der Ursprung des Konzepts der Pfadabhängigkeit findet sich in der Institutionen-
ökonomie und entspricht einem relativ engen Verständnis. Die Institutionenökono-
mik hat sich vor allem in den 1990er-Jahren in Abgrenzung zum dominanten
volkswirtschaftlichen Modell der Neoklassik entwickelt. Die Institutionenökonomik
geht wie die Neoklassik ebenfalls vom homo oeconomicus als dem volkswirtschaft-
lichen Leitbild aus, betont aber stärker die Einbettung der Akteure in institutionelle
Kontexte. Sie richtet sich damit gegen neoklassizistische Gleichgewichtsannahmen
von Angebot und Nachfrage und kritisiert deren inhärentes Effizienzdenken.
Ein Hauptunterschied zwischen den beiden Richtungen besteht in der Frage der
Skalenerträge. Skalenerträge beschreiben wie bei einer totalen Faktorvariation in der
Produktionstheorie das Output steigt, wenn man die Inputfaktoren, beispielsweise
Kapital und Arbeit, ändert. Wenn man beispielsweise mehr landwirtschaftliche
240 J. Gerschewski

Produkte aus einem Feld herausholen will und damit den Output steigern möchte,
muss man den Input, d. h. den Kapital- und Arbeitseinsatz, ebenfalls steigern. Es
können dabei die Maschinen verbessert, der Fuhrpark modernisiert, robustere An-
bausaat benutzt oder auch mehr D€unger verwendet werden. Steigt das Output nun

uberproportional zur Änderung der Inputfaktoren und sinken somit die Kosten f€ur
eine zusätzliche Einheit (Grenzkosten) eines Unternehmers, beobachtet man stei-
gende Skalenerträge (increasing returns to scale). In diesem empirisch äußerst selten
zu beobachtenden Fall w€urde man proportional mehr ernten, als man Kosten f€ur eine
zusätzliche Einheit aufbringen muss. F€ur die Modelle der Neoklassik ist dies ein
unmögliches Szenario. Die Neoklassik baut auf konstanten und fallenden Skalener-
trägen auf. Erstere liegen vor, wenn die Grenzkosten mit steigendem Output kons-
tant bleiben. Der am weitesten verbreitete Fall sind jedoch fallende Skalenerträge.
Mit zunehmendem Output steigen die Grenzkosten. In diesem auch intuitiv ver-
ständlichsten Fall nimmt man an, dass beispielsweise das Feld ausgelaugt ist und
man somit immer mehr d€ungen muss (d. h. Inputfaktoren €uberproportional erhöhen
muss), um mehr Ernte einzufahren. Die Kosten f€ur ein zusätzliches Produkt steigen
mit wachsendem Output. Diese fallenden Skalenerträge sind es auch, die es den
Mikroökonomen erlauben, einen Gleichgewichtszustand vorherzusagen, bei dem
die Ressourcen effizient alloziert werden. Historizität spielt in diesem Fall keine
Rolle und der Markt wird zu einem „mere carrier – the deliver of the inevitable“
(Arthur 1989, S. 127).
F€ur die empirische Anwendung des Pfadabhängigkeitskonzepts sind lediglich
Prozesse mit steigenden Skalenerträgen interessant. Dieser Fall bildet wie oben
angesprochen die empirische Ausnahme und ist daher in besonderem Maße begr€un-
dungsw€ urdig. Zwei Beispiele mögen die Idee der fallenden Grenzkosten bei stei-
gendem Output illustrieren: die ber€uhmte QWERTY-Tastatur bei der Schreibma-
schine und die VHS-Videokassette. Hier sind increasing returns zu erwarten. Die
Entwicklung der beiden Märkte folgt nicht einem strikten Effizienzdenken, bei dem
sich ein Gleichgewichtszustand einstellt. Die VHS-Videokassette hatte so beispiels-
weise urspr€ unglich die BETA-Technologie als Konkurrent: Jedoch konnte sie zu
Beginn einen so großen Vorsprung erwirtschaften und diesen Vorteil selber ver-
stärken, dass die technologisch ebenb€urtige BETA-Kassette diesen Vorsprung nicht
mehr wettmachen konnte. Je größer der Marktanteil einer Technologie wurde, desto
größer wurde ihr Nutzen aufgrund von positiven Externalitäten wie der Verbreitung
von Videorecordern oder dem Videoverleih. Es machte schlicht mehr Sinn, die eine
Technologie zu benutzen, die weiter verbreitet war und mit der mehrere Ankn€up-
fungspunkte bestanden (Arthur 1989). Es wurde kein effizientes Gleichgewicht
erzielt, sondern eine Technologie hat die andere gleichwertige Technologie heraus-
gedrängt. In ähnlicher Weise hat auch zuvor Paul David gezeigt, dass es bei der
Verbreitung der QWERTY-Tastatur nicht zu einem neoklassisch vorhersagbaren
Gleichgewicht kommt, sondern dass eine Technologie die andere ausgrenzt und
den Markt dominiert. War die Tastaturanordnung der Buchstaben Q, W, E, R, T und
Y zu Beginn lediglich mit Konstruktionsproblemen zu erklären, die aus heutiger
Sicht mit der Einf€uhrung des Computers irrelevant geworden sind, war sie zudem
der DHIATENSOR-Anordnung damals technisch unterlegen. Mit diesen 10
Pfadabhängigkeit in der Vergleichenden Politikwissenschaft 241

Buchstaben konnten siebzig Prozent der englischen Wörter geschrieben werden.


Jedoch sorgte eine Entscheidung der US-Industrie zur Standardisierung von Tastatu-
ren kurz bevor die QWERTY-Tastatur seinen kompetitiven Vorteil verlieren w€urde,
ein „historical accident“ (David 1985, S. 335), daf€ur, dass sich die QWERTY-
Tastaturanordnung durchsetzte. Diese war wohlgemerkt weder effizienter noch hat
sich ein Gleichgewicht zwischen DHIATENSOR und QWERTY eingestellt. Die
ahistorischen Annahmen der Neoklassik m€ussen also in diesen Beispielen verworfen
werden.
Pfadabhängige Prozesse weisen in diesem engen Konzeptverständnis generell
vier Merkmale auf: (1) Entgegen der ökonomischen Neoklassik lassen sich die
Marktanteile aufgrund der steigenden Skalenerträge nicht vorhersagen. (2) Pfadab-
hängige Prozesse sind zudem nicht flexibel. Dies hängt mit der Tendenz zusammen,
dass sich eine Technologie auf lange Sicht durchsetzen muss und die andere heraus-
drängt (crowding out). Anhand eines nicht-linearen stochastischen Modells lässt sich
zeigen, dass es zu Einschließungsphänomenen des Marktes kommt (lock in). Eine
Technologie kann sich so gegen€uber externen Stimuli immunisieren, sie reagiert
nicht auf Interventionen wie Besteuerung oder Subventionen. (3) Pfadabhängige
Prozesse sind nicht ergodisch. Dies bedeutet, dass das zeitliche Aufkommen und die
Sequenz von Ereignissen bedeutend sind. Während bei konstanten und fallenden
Skalenerträgen mit der Zeit kleine Ereignisse vergessen werden und ihre Effekte
herausgemittelt werden, ist dies bei Pfadabhängigkeiten nicht der Fall. Das aus der
Wahrscheinlichkeitstheorie stammende Modell der Polya-Urne ist hier illustrierend.
Man stelle sich eine Urne vor, in der ein roter und ein blauer Ball sind. Es wird ein
Ball gezogen und anschließend ein Ball der gezogenen Farbe hinzugef€ugt. Die
endg€ ultige Farbverteilung kann vorab nicht bestimmt werden, jedoch hat das fr€uhere
Ziehen einer Farbe einen größeren Effekt als ein späteres. Es ist pfadprägend (Arthur
et al. 1983). Wie oben im QWERTY-Beispiel gezeigt, kann f€ur die Erklärung von
sozialwissenschaftlichen Phänomenen auch ein kleiner historischer Zufall eine irre-
versible und selbstverstärkende Wirkung erreichen und den Markt zu einer Seite
neigen lassen. (4) Schließlich sind solche Prozesse nicht pfadeffizient. Während bei
konstanten und fallenden Skalenerträgen ein neuer Akteur stets eine effiziente
Entscheidung trifft, kann er bei Pfadabhängigkeiten f€ur eine Technologie optieren,
die eigentlich unterlegen ist, jedoch der Markt zu ihren Gunsten bereits eingeschlos-
sen ist. Es gibt somit „Reue“ in pfadabhängigen Prozessen.
Die Herausforderung in den Sozialwissenschaften ist es nun, diese eng definierten
pfadabhängigen Prozesse in der empirischen Realität aufzuzeigen. Arthur hat vier
Mechanismen aufgezeigt, die Pfadabhängigkeiten vermuten lassen und damit die
Anwendbarkeit des Konzepts erhöhen (Arthur 1994, S. 112). Erstens sieht er Pfad-
abhängigkeiten dann, wenn es hohe Startkosten oder eine Fixkostendegression gibt.
Das heißt, entweder m€ussen zu Beginn große Investitionen getätigt werden, die sich

uber Zeit amortisieren, oder aber fixe St€uckkosten fallen mit großem Output nicht
mehr stark ins Gewicht. J€ungste institutionenökonomische Ansätze haben diesen
Effekt insofern dynamisiert, dass sie von Spezifizitäten von Investitionen (asset
specificity) ausgehen, die eine alternative Reallokation in der Zukunft erschweren
und damit eng an die Ursprungsverwendung gebunden sind (Voigt 2009, S. 178).
242 J. Gerschewski

Hohe Transaktionskosten, die mit dem Wechsel eines Pfads einhergehen, erschwe-
ren einen Wechsel von einer zur anderen Institution (North 1990). Zweitens lassen
Lern- und Koordinationseffekt ebenfalls auf steigende Skalenerträge schließen.
Wenn zusätzliches Wissen erworben wird oder Erfahrungen von einem Gebiet in
das andere € uberspringen (spill-over effects), können fallende Grenzkosten resultie-
ren. Drittens rekurrieren Netzwerkeffekte auf den zusätzlichen Nutzen, den man
durch das Hinzuf€ugen eines zusätzlichen Akteurs zu einem Netzwerk erhält. Wird
beispielsweise ein bestehendes Kommunikationsnetzwerk um einen f€unften Akteur
erweitert, erhöhen sich die Verbindungsmöglichkeiten €uberproportional von 12 auf
20. Viertens verweist Arthur noch auf die Rolle von adaptiven Erwartungen. Auf der
Basis zuk€ unftiger Erwartungen wird eine Entscheidung gefällt und das Verhalten
entsprechend angepasst, so dass es zu einer sich selbst bewahrheitenden Vorhersage
kommt. F€ ur alle vier Mechanismen gilt, dass eine Institution in ihrer Wirkung
vertieft wird; sie lässt sich daher als eine Sequenz aus A!A!A!A schreiben.
Lassen sich diese konkreten Mechanismen in der Analyse sozialwissenschaftli-
cher Phänomene nachweisen, kann man auf pfadabhängige Prozesse schließen.
Pierson gilt als einer der prominentesten Autoren, der diese ökonomischen Ein-
sichten auf die Sozialwissenschaften, zumeist auf das Gebiet der Wohlfahrtstaatsre-
formen, € ubertragen hat. Er argumentiert, dass es im Wesen der politischen und
sozialen Interaktion ist, dass es verstärkt zu solchen increasing returns kommen
kann. Sowohl die Kollektivproblematik, die Machtasymmetrien als auch die insti-
tutionelle Dichte und Komplexität politischer Entscheidungsprozesse lassen Pfad-
abhängigkeiten nicht nur in der Ökonomie, sondern gerade auch in den Sozialwis-
senschaften vermuten (Pierson 2000, 2004). Auch wenn der Preis oftmals nicht als
Datum in den Sozialwissenschaften verf€ugbar ist, lässt sich die Idee der steigenden
Skalenerträge € ubertragen. Schl€usselfragen f€ur die empirische Forschung sind dann
Fragen nach dem Vorliegen der vier Eigenschaften (Nicht-Vorhersehbarkeit, Nicht-
Flexibilität, Nicht-Ergodizität, Aufkommen von Pfadineffizienzen) sowie der Me-
chanismen (Fixkostendegression, Koordinierung und Lernen, Netzwerken und
adaptiven Erwartungen). Damit ist ein eng definiertes Verständnis skizziert, das
jedoch den Vorteil einer hohen Konkretisierung mit sich bringt.

2.4 Stärken und Schwächen des Konzeptes

Die größte Stärke des Konzepts der Pfadabhängigkeit liegt in seiner Betonung der
Historizität von Ereignissen, dem Eingebettetsein in temporalen Prozessen. In allen
drei hier vorgestellten Varianten des Konzepts ist die Zeitfrage die entscheidende.
Das sehr weite Verständnis gleicht einer generellen Kritik an ahistorischen Rational-
Choice-Verfahren. Diese hat jedoch in den letzten Jahren stärker sowohl die Emer-
genz von Institutionen als auch deren beschränkende Wirkung in den Blick genom-
men, so dass ein History-Matters Argument kaum mehr in Zweifel gezogen wird (Bates
et al. 1998; Katznelson und Weingast 2005; Mayntz und Scharpf 1995). Das Konzept
mittlerer Reichweite argumentiert mit der sequentiellen Abfolge von Ereignissen und
betont zumindest in seiner spezifischeren Variante die Reproduktionsmechanismen
Pfadabhängigkeit in der Vergleichenden Politikwissenschaft 243

stärker. Am engsten ist der Bezug zu timing and sequencing im institutionenökono-


misch geprägten engen Verständnis. Hier ist die Sequenz irreversibel, und es kann
gezeigt werden, dass schon kleine historische Zufälligkeiten langanhaltende und
selbstverstärkende Wirkung entfalten können. Pfadabhängige Erklärungen können
daher die Langlebigkeit, die Zähigkeit und die Widerstandskraft gegen€uber Ände-
rungsversuchen gut erklären. Sie kaufen sich damit jedoch auch einen inhärenten
Stabilisierungsbias ein und können so die Reproduktion weitaus besser als die
Änderung erklären. Generell kann gelten, dass je enger das Verständnis von Pfad-
abhängigkeit ist, desto größer ist der konservative Bias. Steigende Skalenerträge sind
als Konzept grundlegend auf die Fortf€uhrung einer Institution ausgerichtet. Es kann
aus sich selbst heraus kaum erklären, warum ein erfolgreicher Pfad mit fallenden
Grenzkosten geändert werden sollte. Eine Sättigung des Marktes oder eine extreme
externe Intervention, die die Inflexibilität eines Lock-in-Prozesses €uberwindet, sind
die einzigen Gr€ unde, warum ein solcher Prozess enden sollte. Sie sind oftmals mit
dem Verdacht eines deus ex machina behaftet, der erklären soll, warum es dennoch
zu Veränderungen kam.
Beyer hat in seiner Studie jedoch darauf hingewiesen, dass dieser Stabilisierungs-
tendenz in den Sozialwissenschaften abgeschwächt werden kann und somit mehr
Raum f€ ur Wandel zulässt (Beyer 2006, S. 27–36). Das Effizienzdenken ist den
Sozialwissenschaften ferner als der Ökonomie, und verschiedene sozialwissen-
schaftliche Studien legen eine Erweiterung des Konzepts vor. Veränderte Umwelt-
bedingungen können pfadabhängige Prozesse genauso unterminieren wie sich Ak-
teursinteressen verlagern und sich adaptive Erwartungen auch gegen die etablierte
Technologie ausbilden können. North hat in seiner klassischen Studie bereits die
Transaktionskosten hervorgehoben, die zwar einen Pfad stabilisieren können, wenn
sie hoch ausfallen. Wenn sie jedoch geringer werden und die Folgen abschätzbar
werden, ist ein Pfadwechsel durchaus möglich (North 1990). Und in der Begr€undung
von Pfadabhängigkeiten in den Sozialwissenschaften hat Pierson €uberdies die
Machtkomponente betont, die in der Ökonomie nur zweitrangig ist. Die Heraus-
bildung von Gegenmacht öffnet in den Sozialwissenschaften einen Erklärungskorri-
dor, der Wandel zulässt (Pierson 2000). J€ungst wurde auch stärker auf endogen
induzierten und graduell voranschreitenden Wandel hingewiesen, der die Stabilisie-
rungstendenz von pfadabhängigen Prozessen langsam unterminieren kann (Maho-
ney und Thelen 2010; Streeck und Thelen 2005).

3 Zusammenfassung

Das Konzept der Pfadabhängigkeit ist in den Sozialwissenschaften sehr weit ver-
breitet. Es findet seinen Ursprung in der Debatte der Institutionenökonomik, die sich
von der herrschenden Lehrmeinung der volkwirtschaftlichen Neoklassik absetzen
wollte. Dieses enge ökonomische Verständnis, das vor allem auf Technologien
abzielte, wurde in den letzten Jahren in die Sozialwissenschaften transportiert. Es
findet empirische Anwendung in den unterschiedlichsten Feldern. Nicht nur die
244 J. Gerschewski

Vergleichende Politikwissenschaft und hier vor allem die Spielart des Historischen
Neo-Institutionalismus, sondern auch benachbarte sozialwissenschaftliche Sub-
disziplinen wie die Internationalen Beziehungen (IB) oder die Governance-
Forschung haben dieses Konzept f€ur ihre Erklärungen fruchtbar gemacht. Das
Konzept der Pfadabhängigkeit bietet den großen Vorteil, historische Kontinuitätsli-
nien und Mechanismen aufzuzeigen. Es betont, dass gegenwärtiges Handeln
sowohl in der Vergangenheit eingebettet ist als auch zuk€unftige Schatten voraus-
werfen kann. In diesem Sinne bietet es eine „Br€ucke“ zwischen Vergangenem und
Zuk€ unftigem an.
Mit der Ausweitung der Anwendungsfelder ist auch eine konzeptionelle Deh-
nung einhergegangen. Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll, auf unter-
schiedliche Konzepttiefen aufmerksam zu machen. Dieser Beitrag hat dabei zwi-
schen drei Verständnissen von Pfadabhängigkeit unterschieden. Der Kern aller drei
Auffassungen ist die Historizität von Ereignissen und Handlungen, die jedoch
unterschiedlich strikt ausgelegt werden. In der generellsten Form bietet das Konzept
der Pfadabhängigkeit ein notwendiges Korrektiv zu Erklärungen, die den beschränk-
enden Effekt von Institutionen außer Acht lassen. Im Gegenentwurf zu behaviora-
listischen und Rational-Choice Annahmen, dass empirisch beobachtbare Handlun-
gen zentral sind und als effizientes Ergebnis von Kosten-Nutzen-Kalk€ulen
dargestellt werden können, zeigt das Konzept der Pfadabhängigkeit auf, dass die
zeitliche Einbettung von solchen Handlungen verzerrend wirken kann. Eine Hand-
lung zum Zeitpunkt B ist oftmals nicht unabhängig vom vorherigen Zeitpunkt A zu
interpretieren.
Dieses recht vage History-Matters Argument findet heute bei den meisten Sozial-
wissenschaftlern breite Zustimmung. Eine stärkere Engf€uhrung lässt sich in der
Folge bei der Entwicklung von sequentiellen Theorien und Mechanismen feststellen.
Hier liegt die Herausforderung im Aufzeigen der konkreten Reproduktion und ihrer
sequentiellen Mechanismen. Pfadabhängigkeit ist damit immer noch die Br€ucke, die
in der Vergangenheit verankert ist und in die Zukunft reicht. Die Art und Weise, wie
vergangene Strukturen und Ereignisse auf die Gegenwart wirken und die Gegenwart
dann wiederum ihren Schatten auf zuk€unftige Entscheidungen werfen kann, wird
jedoch in diesem Verständnis geschärft. Es ist eine bestimmte zeitliche Abfolge von
Ereignissen. Nicht nur die Geschichte, sondern die Sequenz von Ereignissen ist
entscheidend.
Eine noch restriktivere Vorstellung von Pfadabhängigkeit stammt schließlich aus
der Institutionenökonomie. Wie oben angesprochen bildet es den konzeptionellen
Ursprung, wurde jedoch im Laufe der Zeit immer stärker in den Hintergrund ge-
drängt. Es bietet eine Erklärung daf€ur an, warum sich bestimmte Strukturen selbst
reproduzieren können. Eine solche innere Dynamik beruht auf steigenden Skalener-
trägen, die aus Lern-, Koordinations-, und Netzwerkeffekten sowie der Nicht-Über-
tragbarkeit von Investitionen resultieren. Die Herausforderung f€ur die Sozialwissen-
schaften liegt bei diesem dritten Verständnis in dem Aufzeigen solcher Effekte in der
empirischen Untersuchung. Gelingt dies, verbal oder numerisch, geht dies mit dem
Vorteil einer schlanken Erklärung einher.
Pfadabhängigkeit in der Vergleichenden Politikwissenschaft 245

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Konstruktivistische Ansätze in der
Vergleichenden Politikwissenschaft

Taylan Yildiz

Zusammenfassung
Der Konstruktivismus hat in der Politikwissenschaft einen rasanten Aufstieg
erlebt. Dennoch ist er in der Komparatistik bisher eher vernachlässigt worden.
So fehlen in den einschlägigen Einf€uhrungen der Teildisziplin nach wie vor
eigene Abhandlungen zum Konstruktivismus. Das bedeutet jedoch nicht, dass
er in seiner Forschungspraxis keine Rolle spielen w€urde. Vielmehr zeichnen sich
verstärkt Hinweise ab, die sich f€ur die Eröffnung einer konstruktivistischen Ver-
gleichsperspektive aufgreifen lassen. Im vorliegenden Beitrag soll nach diesen
stillen, teilweise verstreuten Hinwendungen gefragt werden. Zunächst aber f€uhrt
er in die methodologischen Kontroversen ein, die seinen Erfolg in den akademi-
schen Disziplinen ermöglicht haben. Abschließend wird ein Ausblick auf ausge-
wählte Modelle gegeben, die es erlauben, die unterschiedlichen Hinweise stärker
aufeinander zu beziehen und zu systematisieren. Dabei ist jedoch zu beachten,
dass sich der Konstruktivismus aufgrund seiner heterogenen Anlage methodolo-
gisch nicht eindeutig fixieren lässt. Aber genau das eröffnet flexible Anwen-
dungsmöglichkeiten f€ur das theoretische und empirische Arbeiten in der Kom-
paratistik.

Schlüsselwörter
Vergleichende Politikwissenschaft • Konstruktivismus • Interpretative Politikfor-
schung • Doppelte Hermeneutik • Poststrukturalismus

T. Yildiz (*)
Akademischer Rat a. Z. am Lehrstuhl f€ur Politikwissenschaft, Institut f€
ur Politikwissenschaf,
Universität Duisburg-Essen, Duisburg, Deutschland
E-Mail: taylan.yildiz@uni-due.de

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 247


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_19
248 T. Yildiz

1 Einleitung

F€ur die komparative Forschung eröffnet sich durch den Konstruktivismus eine
weitere Theorieperspektive. Ihm liegt allerdings keine einheitliche Theoriebildung
zugrunde. Vielmehr beruht er auf einem breiten Spektrum von Arbeiten, die sich
durch zwei methodologisch offene Annahmen auszeichnen. Eine erste zentrale
These des Konstruktivismus ist, dass die Wirklichkeit nicht objektiv gegeben ist,
sondern nur beobachterabhängig begriffen werden könne. Einer zweiten wichtigen
Vermutung nach kann die Wirklichkeit nicht nur unterschiedlich wahrgenommen
werden. Sie ist zudem sozialen Interventionen ausgesetzt und wird durch tätige
Akteure fortlaufend geformt und €uberformt. Beide Annahmen gehen damit €uber
die in der Politikwissenschaft dominierenden Handlungsmodelle hinaus, insofern
die soziale Konstruktion der Wirklichkeit weder in den rationalen Kalk€ulen der
Akteure (homo oeconomicus) noch in ihren normativen Erwägungen (homo socio-
logicus) allein verankert werden kann. Vielmehr ist vor dem Hintergrund beider
Annahmen danach zu fragen, wie das Wissen €uber die Wirklichkeit hervorgebracht
wird und wie sich die Welt infolge solcher Prozesse verändert1 (Berger und Luck-
mann 1969).
Mit dieser Grundlegung geht die keineswegs einfache Aufgabe einher, sowohl
die eigene Rolle im Forschungsprozess kritisch mitdenken zu m€ussen als auch
kontextsensible Forschungsstrategien zu entwerfen, die den laufenden Wandel des
Beobachteten auf nachvollziehbare Weise sichtbar machen können. Trotz dieser
enormen Schwierigkeit lässt sich eine bemerkenswerte Verbreitung des Konstrukti-
vismus in den akademischen Disziplinen erkennen. Dies, so Ian Hacking, scheint
damit zusammenzuhängen, dass er den Blick vom Zwang etablierter Machtver-
hältnisse befreit und damit selbst tief verankerte Gewissheiten nicht mehr als „unum-
stößlich festgelegt“, sondern als veränderbare Ergebnisse „geschichtlicher Ereignis-
se, sozialer Kräfte und Ideologien“ begreifbar gemacht habe (Hacking 1999, S. 12).
Jedoch ist der Erfolg des Konstruktivismus nicht nur im Hinblick auf den Abbau

uberfälliger Ordnungen zu erklären. Auch f€ur die Entfaltung eines zukunftsgerich-
teten Denkens war die Annahme prägend, dass das, was in einem spezifischen raum-
zeitlichen Kontext unmöglich erscheint, durch den organisierten Zusammenschluss
ausgewählter Kräfte möglich gemacht werden könne. Retrospektiv betrachtet gilt
dies f€ur literarische Werke wie Francis Bacons Nova Atlantis oder Harriet Beecher-
Stowes Sklavendrama Onkel Toms H€utte ebenso wie f€ur eine Reihe utopischer
Denkfiguren aus den Natur- und Technikwissenschaften (etwa Quantenphysik,
Kybernetik). Diese und ähnliche Beispiele bekräftigen die konstruktivistische These,
dass sich die Wirklichkeit allein schon durch die Formulierung und Verbreitung
fiktiver Entw€ urfe nachhaltig verändern lässt; besonders dann, wenn sie als beengend
empfunden wird und ein Hebel in Aussicht gestellt werden kann, an dem sich
ihre Befreiung dann auch bewerkstelligen ließe. Dass aber die ideengeleitete

1
F€ur hilfreiche Anmerkungen danke ich den Herausgebern Hans-Joachim Lauth und Marianne
Kneuer sowie Sebastian Jarzebski.
Konstruktivistische Ansätze in der Vergleichenden Politikwissenschaft 249

Veränderung der Wirklichkeit auch im Dienst destruktiver Kräfte stehen kann, wurde
vor allem in Zygmunt Baumans eindrucksvoller Arbeit zum Holocaust (1992)
erkennbar. So verwundert es kaum, dass der Konstruktivismus zunächst eine Viel-
zahl kritischer Studien angeregt hatte, die sich hauptsächlich mit ethnisch motivierter
(Fearon und Laitin 2000) oder auch staatlich organisierter Gewalt (Rae 2002) be-
schäftigen.

2 Grundlagen und Varianten des Konstruktivismus

Ein wesentliches Merkmal des Konstruktivismus in den Sozial- und Geisteswissen-


schaften ist, dass die soziale Konstruktion als forschungsleitende These in einem
doppelten Sinn gebraucht wird; als ontologischer und als epistemologischer Kons-
truktivismus.
Mit ontologischem Konstruktivismus wird eine vom Forschenden vorgefundene
und bereits konstruierte Realität gemeint, die auf den Interpretationsleistungen realer
und um Deutungshoheit bem€uhter Akteure beruht. Diese Gebrauchsweise wird in
der Vergleichenden Politikwissenschaft unter dem Begriff constructionism diskutiert
(Green 2002, S. 8 f.) und gilt insofern als ontologisch, weil in ihm besondere
Vorstellung dar€uber zum Ausdruck kommen, aus welchen Entitäten (tätige Wesen)
die Welt besteht und was ihre charakteristischen Eigenschaften sind (interpretierende
Wesen). Diese Gebrauchsweise weist nun ihrerseits zwei Aspekte auf: Zunächst,
dass sich hinter den vermeintlich ‚harten‘ Fakten (in der Politik sind dies vor allem
Verfassungen, Gesetze, Wahlergebnisse, Koalitionsverträge, aber auch Identitäten
und Interessen) stets eine vergleichsweise ‚weiche‘, aber deshalb nicht unbedeuten-
de Schaffungsgeschichte verbirgt. Ferner ist der ontologische Konstruktivismus an
der Erkenntnis orientiert, dass Fakten niemals f€ur sich sprechen können, sondern vor
dem Hintergrund spezieller Erfahrungskontexte und kontingenter Interpretations-
codes zum Sprechen gebracht werden m€ussen (was beispielsweise in politischen
Entscheidungen und Gerichtsurteilen oft erkennbar wird). Dadurch lassen sich zwar
ordnungsbildende Deutungshoheiten und -routinen schaffen, die den durchaus emp-
findlichen Zugang zur Weltveränderung begrenzen können. Aber auch sie sind
letztlich prekär und können die Kontingenz des Realen immer nur einigermaßen
bewältigen, jedoch nicht grundsätzlich aufheben. Immerhin können solche Maß-
nahmen jederzeit revidiert werden; entweder, weil sie sich als inadäquat herausstel-
len, oder weil es durch neue Erfahrungen zum Streit €uber die zugrunde gelegten
Beobachtungen und Bewertungen kommt. Es ist auch nicht auszuschließen, dass
selbst die Legitimität der Entscheidungsverfahren kritisch hinterfragt wird (Null-
meier 2010). Oft scheint es gar so, als ob sich politische Ordnungen nur €uber solche
kontroversen Momente erhalten könnten. Deshalb sind f€ur konstruktivistische An-
sätze konflikttheoretische Ideen von elementarer Bedeutung, da durch Konstruk-
tionsprozesse stets auch alternative Konstruktionsideen und –vorhaben ausgeschlos-
sen werden.
Der epistemologische Konstruktivismus dagegen berichtet von einer Realität,
die durch das wissenschaftliche Unternehmen selbst einer Konstruktionslogik
250 T. Yildiz

unterzogen wird. Daf€ur wird in der Komparatistik die Bezeichnung constructivism


gebraucht (Green 2002, S. 9). Er ist epistemologisch, weil er sich f€ur die Konstruk-
tionen der Zugänge zur Welt als Untersuchungsgegenstand interessiert und dabei die
Kontingenz der wissenschaftlichen Prozeduren betont. Schließlich erfolgt jeder
Umgang mit Fakten in methodologischen Kontexten, die nicht an der Welt als
Ganzes, sondern immer nur an einer symbolischen Konstruktion von ihr orientiert
werden können. Zwar kann auch hier die Festlegung verbindlicher Deutungshohei-
ten und -regeln dazu f€uhren, Weltwissen zu generieren. Aber auch dieses akade-
misch erzeugte Wissen ist, da es letztlich ebenfalls durch historisch situierte
Subjekte hergestellt wird, stets selektiv. So ist die Konstruktion eines Einzelfalles
etwa ebenso selektiv wie eine komparative Forschung, die ihre Fälle auf wenige
Variable reduziert.
Die Unterscheidung von ontologischem und epistemologischem Konstruktivis-
mus wird in der Sozialtheorie auch unter dem Begriff der doppelten Hermeneutik
diskutiert, der vor allem von Anthony Giddens (1992) prominent gemacht wurde.
Seinen Überlegungen nach besteht eine wechselseitige Durchdringung beider Kon-
struktionsleistungen: Das akademische Wissen €uber die Politik etwa steht mit dem
praktischen Wissen der Politik in einem Verhältnis der wechselseitigen Beeinflus-
sung. Allerdings bestehen innerhalb des Konstruktivismus völlig verschiedene Auf-
fassungen dar€ uber, wie diese reziproke Durchdringung beider Wissensebenen vor-
zustellen ist und welche forschungsstrategischen Konsequenzen aus ihr erwachsen.
Auf der einen Seite stehen gemäßigte Varianten, die zwar davon ausgehen, dass die
Objektivität oft „nur kraft menschlicher Übereinkunft“ als solche beschrieben wer-
den kann, aber dennoch die Überzeugung verteidigen, dass „es eine Wirklichkeit
gibt, die von uns gänzlich unabhängig ist“ (Searle 2011, S. 10 f.). Hier werden die
eingangs formulierten Kernannahmen aus der Perspektive der analytischen Philoso-
phie gelesen, wogegen sich eine Reihe radikaler Varianten einer solchen Veranke-
rung verweigert. Dabei wird argumentiert, dass selbst €uber ‚rohe‘ Tatsachen nicht
ohne Sinngebung kommuniziert werden könne, ebenso wie kein Wissen vorstellbar
sei, dass nicht auch die Spuren seiner Wissenden trägt; und dies gelte auch dort, wo
der akademische Anspruch auf Objektivität von den Naturwissenschaften erhoben
wird (Daston und Galison 2007).
Dass die radikale Kontingenzperspektive nicht auf die Sozial- und Geisteswissen-
schaften beschränkt ist, machte Werner Heisenberg schon fr€uh mit der folgenreichen
Anmerkung deutlich, wonach selbst in den Naturwissenschaften der Gegenstand der
Forschung nicht „die Natur an sich, sondern die der menschlichen Fragestellung
ausgesetzte Natur“ ist (Heisenberg 1957, S. 18). Eine ähnliche Position wird in der
Politischen Philosophie von Richard Rorty vertreten, der in seiner Kritik an der
analytischen Denktradition behauptet hatte, dass wir im streng rationalen Sinne
letztlich keine Ahnung davon haben, „was der Ausdruck ‚an sich‘ eigentlich bedeu-
ten soll, wenn von der ‚Wirklichkeit an sich‘ die Rede ist“ (Rorty 2000, S. 7).
Die Kontroverse um gemäßigte und radikale Varianten spitzt sich damit in der
Frage nach der Anerkennung des kartesischen Dualismus zu, der als Korrespondenz-
theorie der Wahrheit durch die Prämisse gekennzeichnet ist, dass Erkenntnisbildung
nur dadurch erreicht werden könne, indem das Beobachtete im Bewusstseinsapparat
Konstruktivistische Ansätze in der Vergleichenden Politikwissenschaft 251

der Forschenden möglichst gegenstandstreu abgebildet wird. Entgegen dieser später


von Karl Popper forcierten Spaltung der Episteme argumentieren Vertreter radikaler
Varianten wie Heinz von Foerster, dass das Beobachten kein Vorgang der passiven
Informationsaufnahme sei. Vielmehr handele es sich um kulturell vermittelte Ver-
fahren, die ihrerseits einen nicht unerheblichen Beitrag zur Erzeugung der Reprä-
sentationen leisten. Allerdings hat diese radikale Kontingenzperspektive den Ver-
dacht genährt, dass der Konstruktivismus dem „Dämon des Relativismus“ verfallen
sei (Hacking 1999, S. 15 f.). Solche methodologischen Grabenkämpfe sind f€ur die
Forschungsdiskussion jedoch wenig ergiebig, zumal die Unterscheidung von ge-
mäßigt vs. radikal nicht normativ zu lesen ist. Vielmehr werden damit zwei unter-
schiedliche Agenden f€ur die konstruktivistische Forschung begr€undet, die einen
jeweils wichtigen Beitrag zur Ausdifferenzierung der Wissenschaften leisten.
Als viel bedeutender erweisen sich deshalb die forschungsprogrammatischen
Debatten, die f€ur die weitere Entwicklung des Konstruktivismus n€utzlich sind. Eine
erste wichtige Debatte ist die Frage nach der Reichweite des epistemologischen
Konstruktivismus. So steht auf der gemäßigten Seite die Auffassung, dass sich der
konstruktivistische Fokus darauf richten m€usse, die Interpretationen der Akteure in
eine adäquate Theoriesprache zu €ubersetzen, um so ein zutreffendes Bild von ihren
Konstruktionsbem€uhungen gewinnen zu können. Dem steht eine der Ethnometho-
dologie von Harold Garfinkel entlehnte Forderung nach einer konsequenten Arbeit
an der Infrasprache (Latour 2007, S. 54) der Akteure entgegen. Demnach sollte man
sich nicht mit der theoretischen Einordnung der untersuchten Konstruktionen auf-
halten, vielmehr darum bem€uht sein, die in der sozialen Welt „eingesetzten Metho-
den zum Kn€ upfen und Lösen von Bindungen zu explizieren“, um dadurch ein
„zufriedenstellendes Bild der sozialen Kompetenzen der Akteure“ zu gewinnen
(Boltanski 2010, S. 48; hierzu auch Green 2002, S. 13).
Eine zweite prägende Debatte der konstruktivistischen Forschung wird entlang der
Frage gef€uhrt, wie die soziale Konstruktion als ontologisches Prinzip zu begreifen ist.
Einerseits wird argumentiert, dass Konstruktionsideen kausal auf das Handeln der
Akteure einwirken und ihre Realisierung durch variablenzentrierte Verfahren analy-
siert werden kann. Dazu zählen Arbeiten, die sich unter das Diktum ideas matter
stellen (Goldstein und Keohane 1993). Dem stehen konstitutionslogische Argumenta-
tionsfiguren gegen€uber, die darauf insistieren, dass subjektive Kategorien keine Ursa-
che-Wirkungs-Phänomene begr€unden können, sondern allenfalls die Bedingungen zur
Ermöglichung neuer Praktiken schaffen. Mit dieser Perspektive geht die Forderung
nach einer kritischen Erweiterung des methodischen Instrumentariums einher, wie dies
mit neueren interpretativen Methoden (Yanow und Schwartz-Shea 2006) und Diskurs-
analysen (Herschinger und Renner 2014) €ublich geworden ist.
Während gemäßigte Varianten also konstruierbare von unveränderlichen Phäno-
menen und rohen Tatsachen unterscheiden und dadurch das Spektrum möglicher
Konstruktionsgegenstände eingrenzen, gehen die radikalen Ansätze davon aus, dass
grundsätzlich jedes Phänomen als Gegenstand der Formung in Frage kommt. Zudem
besteht Uneinigkeit dar€uber, ob das Konstruierte mit etwas Urspr€unglichem
verkn€ upft werden kann, oder „einzig und allein durch die Zirkulation der Gegen-
stände definiert“ ist (Deleuze und Guattari 1976, S. 18 f.).
252 T. Yildiz

3 Konstruktivismus in der komparativen Forschung

Der Konstruktivismus hat besonders in den Internationalen Beziehungen, der


Policy-Forschung und der Politischen Theorie einen beachtlichen Erfolg verzeich-
nen können. Die Vergleichende Politikwissenschaft allerdings ist von ihrem Einfluss
bisher fast schon unber€uhrt geblieben (Hall und Lamont 2013, S. 54). So fehlen in
den deutschsprachigen Einf€uhrungsbänden nach wie vor eigene Kapitel zum Kon-
struktivismus (Kneuer 2007; erste Ansätze bei Lauth et al. 2014, S. 139 ff.). Zu den
wenigen Ausnahmen, die den Konstruktivismus explizit als Forschungsperspektive
f€ur die Vergleichende Politikwissenschaft einf€uhren, gehört ein 2002 publizierter
Konzeptionsband (Green 2002) und ein Teilkapitel aus einem Zeitschriftenartikel
(Finnemore und Sikkink 2001). Das bedeutet aber nicht, dass er in der vergleich-
enden Forschungspraxis keine Beachtung gefunden hätte. Schließlich kann weder
von der Theorieentwicklung noch von der Lehrbuchmeinung erwartet werden, die
einschlägigen Forschungsaktivitäten umfassend zu dokumentieren und die darin
enthaltenen methodologischen Ideen durchgängig zu pr€ufen und zu systematisieren.
Es ist deshalb zweckmäßig, Forschungsfelder zu sichten, die konstruktivistische
Ansätze zumindest vermuten lassen. Vier solcher Felder lassen sich identifizieren,
wobei die Liste sinnvoll ausdifferenziert und erweitert werden kann.
Ein erstes Forschungsfeld stellt die politische Kulturforschung dar, insofern
subjektive Kategorien in der Politikwissenschaft meist unter dem Kulturbegriff
diskutiert werden. Nimmt man dabei die oben eingef€uhrte Unterscheidung von
gemäßigtem und radikalem Konstruktivismus steht auf der ersten Seite das bahn-
brechende Werk Civic Culture (Almond und Verba 1963) und damit die Beobach-
tung, dass die Legitimität und Stabilität politischer Systeme eine Frage ihrer kultur-
ellen Verankerungen ist. Unter politischer Kultur wird dabei die Verteilung
kognitiver, emotionaler und evaluativer Einstellungen gegen€uber politischen Insti-
tutionen und Autoritäten verstanden. Das kann sich auf Nationalstaaten ebenso
beziehen wie auf politische Parteien, Verbände oder auch zivilgesellschaftliche
Gruppen. Wichtig dabei ist, dass die aggregierten Daten nach Typen sortiert werden,
die sich im Hinblick auf demokratietheoretische Kriterien interpretieren lassen. Dies
erfolgt methodisch nach wie vor €uber die Einstellungs- und Umfrageforschung.
Neuerdings werden aber auch verstärkt qualitative Methoden zur Bestimmung der
kulturellen Orientierungen genutzt (Lauth et al. 2014).
Jedoch setzt die Civic Culture-Tradition der konstruktivistischen Forschungsper-
spektive damit zugleich auch enorme Grenzen auf. Sie r€uckt zwar die subjektive
Dimension politischer Systeme in den Fokus; es ist aber fraglich, ob Kultur darauf
beschränkt werden kann. Dies gilt vor allem, da eine politische Kultur stets auch
kollektive Gewissheiten umfasst, die €uber die befragten Subjekte hinausf€uhren und
€uber die sie keine Rechenschaft ablegen können (Schwelling 2004). Zudem stellt
sich die Frage, ob mit der Beschreibung subjektiver Kategorien das Prinzip der
sozialen Konstruktion €uberhaupt adäquat erfasst werden kann. Schließlich verlangt
die soziale Konstruktion nicht nur Meinungen und Einstellungen, sondern auch
Kompetenzen – insbesondere die Fähigkeit, heterogene ‚Werkstoffe‘ wie Ideolo-
gien, Rechtssätze, Interessen oder auch materielle Dinge zu verkn€upfen oder gar
Konstruktivistische Ansätze in der Vergleichenden Politikwissenschaft 253

grundlegend umzuformen. Die in der klassischen Kulturforschung verankerte Ver-


unsicherung dar€ uber jedenfalls, dass Kultur zwar die Wahrnehmungen der „Außen-
realität“ beeinflusst, die „Außenrealität“ aber unabhängig von den Wahrnehmungen
besteht (Inglehart 1998, S. 38), ist aus konstruktivistischer Perspektive umstritten,
insofern Kultur gerade dadurch interessant wird, dass es die politische Realität zu
verändern erlaubt (Dörner und Rohe 1991, S. 40).
Auf der radikalen Seite der konstruktivistischen Kontroverse wird unter Kultur
deshalb ein sinnstiftendes Repertoire verstanden, das nicht nur aus kollektiv ge-
teilten Symbolen, Geschichten, Ritualen, Mythen oder Weltanschauungen besteht,
sondern auch den Handelnden ein praktisches Alltagswissen verleiht, das sie f€ur die
Bildung und Kommunikation ihrer politischen Einstellungen und Meinungen benö-
tigen (Wedeen 2002). Wenngleich ein solcher Ansatz f€ur die politische Kulturfor-
schung doch nahliegend ist, lassen sich in der Komparatistik nur wenige Werke
finden, in denen Kultur als Medium der Konstruktion begriffen wird. Zu den Aus-
nahmen gehört beispielsweise das kollaborative Werk von Michèle Lamont und
Laurent Thévenot, die am Beispiel eines US-amerikanisch-französischen Vergleichs
zeigen, dass verschiedene Rechtfertigungsordnungen (bzw. „Repertoires der Bewer-
tung“) jeweils unterschiedliche Anfälligkeiten f€ur bestimmte Begr€undungen und
Argumentationsmuster erzeugen (Lamont und Thévenot 2000). Während in den
USA etwa marktbasierte Argumente bevorzugt werden, zeichnen sich die politi-
schen Kontroversen in Frankreich eher durch die Anwendung politischer oder
moralischer Bewertungskriterien aus. Ein weiteres Bespiel ist das Buch Culture
Troubles von Patrick Chabal und Jean-Pascal Daloz (2000). Die Autoren orientieren
sich an Clifford Geertz‘ ethnografischem Ansatz und definieren Kultur als symbo-
lisch organisiertes Sinnsystem, das die Möglichkeit zum kollektiven Verstehen
eröffnet und von handlungspraktischer Relevanz ist. Darin wird das lokale Wissen
fokussiert, das die Wahrnehmung und Interpretation von Ordnungsbegriffen wie
Staat und Nation strukturiert und kulturelle Interferenzen vermittelt.
Ein weiteres komparatistisches Forschungsfeld, dass sich f€ur die Übernahme der
konstruktivistischen Forschungsperspektive eignet, ist die Konfliktforschung, die
sich insbesondere mit kollektiven Identitäten und sozialen Wahrnehmungsprozessen
befasst (Lauth und Kneip 2012; Peters 2002). Auch hier setzt sich zunehmend die
Einsicht durch, dass der Heterogenitätsgrad einer Gesellschaft zwar durch verschie-
dene Indizes wie Sprache, Religion, Ethnie, Geschlecht, politische Orientierung oder
auch Sozialstruktur erfasst werden kann, dies aber noch wenig €uber die konkreten
Konfliktdynamiken und ihre politischen Effekte aussagt. So wird argumentiert, dass
soziale Konflikte erst dann entstehen, wenn Differenzmerkmale politisiert werden.
Und dabei ist es zunächst von nachgeordneter Bedeutung, welche Merkmale dies im
Konkreten nun sind. Allein die Tatsache, dass politische Konflikte durch unter-
schiedliche Merkmale begr€undet werden können, legt die Vermutung nahe, dass
sie keiner mechanistischen Logik unterliegen, sondern sozial konstruiert sind.
Einschlägige Studien dazu finden sich besonders in der Bewegungsforschung, die
deutlich macht, dass insbesondere Protestformen zur Etablierung alternativer Wirk-
lichkeitsentw€urfe beitragen, wie etwa die Arbeiterbewegung oder die Anti-
Sklaverei-Bewegung historisch belegen. Mit dem Begriff der Arabellions wird in
254 T. Yildiz

aktuelleren Zusammenhängen durchaus ähnlich argumentiert. Auch hier wird


betont, dass politische Ordnungen symbolisch-diskursiven Konstruktionsprozessen
unemann 2013, S. 314). Ein vergleichbares Argument findet sich auch
unterliegen (J€
dort, wo sich die Friedens- und Konfliktforschung f€ur postkoloniale Theorien öffnet,
die Prämisse der „Verschränkung von Wissen, Macht und der Aus€ubung von
Herrschaft“ bestärkt (Engels 2014, S. 136; auch Ziai 2014) und die komparatistische
Forschung damit daf€ur sensibilisiert, dass westliche Ordnungskonzepte wie Demo-
kratie, Recht und Staat als Diskursfiguren in die zu untersuchenden Konflikte
einwirken können.
Konstruktivistische Perspektiven beschränken sich jedoch nicht nur auf die
Kultur- und Konfliktforschung. Auch die vergleichende Policy-Forschung hat dazu
beigetragen, dass der konstruktivistische Ansatz jenseits der komparatistischen
Lehrbuchmeinung bereits zur Anwendung kommt. Ausgangspunkt hier ist eine
Kritik am Laswellschen Erbe der Disziplin und eine damit einhergehende Hinwen-
dung zur subjektiven Ebene politischer Prozesse. Die Kritik gilt insbesondere der
Vorstellung von der Rationalisierbarkeit politischer Entscheidungen (Torgerson
1985). Dem wird entgegengehalten, dass das politische Entscheiden nicht nur
Kalk€ ule und Expertisen, sondern auch die performative Kraft der Sprache benötigt
(Hajer 2009). Selbst Interessen, so die Kritik, sind sozial konstruiert und lassen sich
nicht unabhängig von kommunikativen Akten denken, durch die sie sich formieren
(Hall 1993, S. 51). am Beispiel der Kontroversen um die Bebauung des Ground
Zero zeigt Marteen.A.Hajer etwa, dass es in politischen Vorhaben nicht immer nur
darum geht, „wer was, wann und warum bekommt“, wie Harold Laswell vermutet
hatte. Vielmehr kann, politische Beratschlagen selbst „zum Podium f€ur Überlegun-
gen zu Grundwerten der Gesellschaft und . . . der unmittelbaren Form der Politik-
gestaltung“ werden (Hajer 2009, S. 211).
Ein weiteres f€
ur den Konstruktivismus relevantes Forschungsfeld stellt der histo-
rische Institutionalismus dar, insofern das Prinzip der Pfadabhängigkeit auf der
Beobachtung beruht, dass Institutionenbildungen langwierigen Konstruktionsproz-
essen unterliegen, die nur dann erfolgreich voranschreiten können, wenn sie auf der
Grundlage eines R€uckbezuges zu kollektiv geteilten Symbolen und Werten organi-
siert werden (Thelen 1999, S. 386; Hay 2004). Ein herausragendes Beispiel daf€ur
liefert die Arbeit von Mark Blyth (2002). Am Beispiel eines amerikanisch-
schwedischen Vergleichs zeigt er, dass sich die Entwicklung kapitalistischer Ökono-
mien im Wesentlichen durch die kausale und konstitutive Kraft von Ideen erklären
lässt. Zwar gebe es stets historische Momente der Ungewissheit, in denen sich
krisenhafte Erfahrungen verdichten und damit erst den auslösenden Impuls f€ur ein
kollektives Bekenntnis zum institutionellen Wandel liefern. Wie sich der Wandel
aber gestaltet, ist eine Frage, die sich erst in den daran anschließenden meist
ideologisch gef€ uhrten Kontroversen €uber Ursachen und mögliche Auswege aus
der Krise perspektivieren kann.
Etwas radikaler geht hier Taylan Yildiz (2012) vor, der am Beispiel der t€urkischen
Staatsentwicklung deutlich macht, dass unter der Bedingung struktureller Ungewiss-
heit auch die Ideenwelt der Akteure nachhaltig ins Wanken gerät. Deshalb können
Ideen allein noch keinen verlässlichen Grund f€ur die Herausbildung institutioneller
Konstruktivistische Ansätze in der Vergleichenden Politikwissenschaft 255

Lösungsperspektiven liefern. Denn auch sie m€ussen unter Bedingungen zuneh-


mender Ungewissheitserfahrungen erst generiert werden, bevor sie zur Bildung neuer
institutioneller Wirklichkeiten beitragen können. Und dabei €ubernehmen eben viel
niedrigschwelligere und diffusere Kategorien regulative Funktionen; besonders Leit-
bilder, die interpretativ flexibel sind und sich metaphorisch vermitteln lassen. In der
T€urkei war es besonders eine €uber die Körperschaftsmetaphorik vermittelte Vor-
stellung von einem säkularisierten Europa, das den institutionellen Reformwillen der
Jungt€urken und Neo-Osmanen befl€ugelte. Dabei stellt der Autor heraus, dass auch
die Praxis der Verwirklichung neuer Leitbilder f€ur die Konstruktion politischer
Ordnungen bedeutsam ist. Denn politische Projekte m€ussen nicht nur vorstellbar,
sondern auch machbar sein und sich in der politischen Praxis bewähren können. Das
erklärt etwa, wieso sich in der heterogenen Reformbewegung des späten osmani-
schen Reiches gerade die Unionisten aus dem militärischen Bereich durchsetzen
konnten.

4 Neuere Ansätze und Ausblick

Geht man davon aus, dass das grundlegende Anliegen demokratischer Politik die
Verbesserung sozialer Verhältnisse ist, kommt es fast schon seltsam vor, dass der
Konstruktivismus bisher nur zögerlich Eingang in die komparatistische Forschung
gefunden hat. Schließlich kann behauptet werden, dass das Herstellen kollektiv
verbindlicher Entscheidungen eine schöpferische Tätigkeit ist, wodurch der ver-
gleichenden Analyse von politischen Konstruktionsleistungen eine elementare
Bedeutung innerhalb der Politikwissenschaft insgesamt erwächst. Nimmt sich die
Komparatistik dieser Aufgabe an, kann sie nicht nur die theoretische Pluralisierung
und Methodenvielfalt ihres Faches bekräftigen. Sie kann auch den Ausweg aus
einem Grundsatzproblem finden, das mit der zunehmenden Verdichtung von Glo-
balisierungsprozessen einhergeht; und zwar die Tatsache, dass sich Nationalstaaten,
die noch immer als zentrale Vergleichsobjekte gehandelt werden, zunehmend wech-
selseitigen Einfl€
ussen aussetzen. Diese Entwicklung fordert die Vergleichende Poli-
tikwissenschaft dazu auf, plausible Antworten auf die Frage zu finden, wie Gegen-
stände verglichen werden können, die sich immer stärker miteinander verzahnen. Da
das „Verzahnen“ als eine als konstruktive Tätigkeit verstanden werden kann, emp-
fiehlt es sich auch mit konstruktivistischen Vergleichsperspektiven aufzuschlagen.
Eine erste Antwort darauf lässt sich in den Bem€uhungen der Komparatistik
erkennen, neue Typologien zur Grauzonenerfassung zu entwickeln und Kriterien
zur Bestimmung der Schwellenwerte festzulegen (Lauth 2002). Wenngleich dabei
weniger die ordnungspolitischen Folgen der Globalisierung im Fokus stehen, wird
doch auch hier mit dem f€ur konstruktivistische Perspektiven wichtigen Befund
gearbeitet, dass sich jenseits der gängigen Unterscheidungen völlig neue Regime-
typen und Ordnungsmuster etablieren, die bislang nur ungenau beschrieben werden
können. Aber auch dort, wo die Globalisierung als Herausforderung (Galtonsprob-
lem) explizit benannt wird (Jahn 2009), lassen sich konstruktivistische Perspektiven
256 T. Yildiz

erkennen, insofern hier neue Diffusionsmodelle eingef€uhrt werden, die den Einfluss
der Nationalstaaten aufeinander greifbar machen können.
Radikale Varianten aber bleiben nicht auf dieser epistemologischen Ebene stehen.
Sie folgen einer Ontologie der Werdung (Hay 2002), die sich insbesondere f€ur die
kulturellen Interferenzen interessiert und damit nicht die Konstruktionsgegenstände,
sondern die Konstruktionsprozesse in den Fokus r€uckt. Hall und Lamont (2013,
S. 55) benennen drei solcher Modelle, die f€ur die Komparatistik bedeutsam sind:
Das Modell der cultural repertoires, das der symbolic boundaries und der collective
imaginaries. Diese Liste lässt sich durch den Narrativ-Ansatz sinnvoll erweitern.
Ausgangspunkt des ersten Modells ist die Überlegung, dass politische Ordnungen
auf keinen einheitlichen Kulturmustern aufruhen, sondern heterogen verfasst sind.
Dies kann sich in zweifacher Hinsicht äußern: Entweder auf der semiotischen Ebene
als konkurrierende Norm- und Bedeutungssysteme, oder praxeologisch, wenn be-
stimmte Normen und Bedeutungen im Kontext verschiedener Auslegungspraktiken
unterschiedliche Handlungsstrategien evozieren (Swidler 1986). So beziehen sich
Gewerkschaften wie Arbeitgeberverbände gleichermaßen auf den Wert des ökono-
mischen Wachstums, favorisieren aber unterschiedliche Strategien zu ihrer Verwirk-
lichung, so dass trotz normativer Übereinstimmungen oft starke kulturelle Spannun-
gen sp€ urbar werden. Ein weiteres empirisches Anwendungsbeispiel f€ur das Modell
liefert hier – neben Lamont und Thévenot (2000) – auch Yasemin Nuhoğlu Soysal
(1994), die zeigt, wie europäische Integrationspolitiken im Kontext unterschiedli-
cher kultureller Bez€uge auch unterschiedlich evolvieren und wie dieser Prozess
seinerseits von einem globalen Menschenrechtsdiskurs beeinflusst wird. Grundsätz-
licher geht hier Heather Rae (2002) vor, die den Verlauf der europäischen Staats-
bildungen im Hinblick auf die kulturellen Homogenisierungspraktiken untersucht
und dabei die These stärkt, dass kulturelle aber auch physische Gewaltpraktiken f€ur
Ordnungsbildungen elementar sind.
Eine zweite von Hall und Lamont anvisierte Möglichkeit f€ur eine konstruktivis-
tische Vergleichsperspektive bietet das Studium symbolischer Grenzziehungen. Hier
wird der Prozess der sozialen Konstruktion im Hinblick auf die symbolischen
Kategorisierungen untersucht, die die Akteure f€ur die Umsetzung ihrer politischen
Vorhaben benötigen und mittels derer sie die Unterscheidung von Ordnung und
Chaos € uberhaupt erst treffen können. Aus dieser Sicht nehmen moderne Gesell-
schaften traditionelle Differenzen nicht nur widerwillig auf. Sie erzeugen und
reproduzieren sie teilweise auch, oder schaffen gar völlig neue Formen (Bauman
1995; Wieviorka 2003). Deshalb eignet sich der Ansatz auch besonders gut f€ur die
vergleichende Konfliktforschung. Denn dort kann er einen wichtigen Beitrag zur
Frage leisten, wie Differenzen politisiert werden und wie sich innerhalb solcher
Konstruktionen die Anwendung körperlicher Gewalt legitimiert. Die Fokussierung
der vergleichenden Methode auf symbolische Klassifikationen kann aber auch im
Kontext harmloserer Forschungsfelder erfolgen. Denkbar ist beispielsweise der
Vergleich symbolischer Grenzziehungen, wie sie in den verschiedenen Debatten
€uber die Integration von Migranten zu beobachten sind.
Eine dritte Möglichkeit zur Herausbildung eines konstruktivistischen Vergleichs-
designs eröffnet das Modell der kollektiven Imaginative, das von Hall und Lamont
Konstruktivistische Ansätze in der Vergleichenden Politikwissenschaft 257

(2013, S. 57) als „an essential analytical tool for understanding social change“
ausgewiesen wird. Das liegt daran, dass politische Ordnungen nicht nur kulturell
vermittelt sind, sondern in weitaus grundlegenderer Weise auf Imaginativen auf-
ruhen, die das Vergangene mit dem K€unftigen kraft der Phantasie sinnvoll ver-
kn€upfen können und so das Verhältnis der Menschen in der Jetztzeit flexibel halten
(Anderson 1996; Taylor 2004; Steger 2008). Verkn€upfungen dieser Art, so Hall und
Lamont, ermöglichen es nicht nur, dass sich Individuen oder Gruppen mit subjekti-
ven Orientierungen und Symbolen versorgen und dadurch ihre gesellschaftliche
Integrationsfähigkeit verb€urgen können. Sie gestatten es auch, dass sich wider-
standsfähige Institutionen ausbilden und unter den Bedingungen kollektiver Krisen-
erfahrungen kreative Energien abrufbar sind (Bouchard 2008). Dass das Abrufen
kreativer Energien nicht immer gut begr€undete Strategien nach sich zieht, wie oben
angemerkt wurde, zeigt etwa das Beispiel des War on Terror, in dem die literarisch
tradierte Vorstellung von einer City upon a Hill vor dem Hintergrund der Schock-
erfahrung des 9/11 geradezu kreuzz€uglerisch ausgelegt wurde (Gadinger 2015).
Schließlich lässt sich hier noch der Begriff der narrativen Praktiken anf€uhren.
Damit sind literarische Techniken gemeint, die den Gebrauch kultureller Muster,
Symbole oder Imaginative in der kommunikativen Praxis ermöglichen. Dabei zielen
Narrativanalysen besonders auf die Verwendung von Metaphern und Raum-Zeit-
Konfigurationen ab, in deren Referenzahmen politische Zustände kritisiert oder auch
gerechtfertigt werden (Viehöver 2012; Gadinger et al. 2014). Der Blick auf die
sprachliche Praxis sozialer Konstruktionsprozesse zeigt, dass in umkämpften Poli-
tikfeldern besonders das Erzählen sinnstiftend wirkt. Denn dort erlaubt es einzelne
Deutungsschritte auch dann aufeinander abzustimmen, wenn sich die Streitparteien
unablässig um die Forcierung ihres Konfliktes bem€uhen. Dieser Aufgabe werden
narrative Praktiken insbesondere dadurch gerecht, in dem „sie in ihrer Suche nach
Plausibilitäten wenig wählerisch sind (und) auf synkretistische Weise alle verf€ugba-
ren Evidenzen“ zusammenziehen erlauben (Koschorke 2012, S. 238). Der Erfolg
oder das Scheitern von Wahrheitsanspr€uchen wird so weniger von der „empirischen
Verifikation als von der inneren Logik und der rhetorischen Überzeugungskraft der
Erzählung“ abhängig gemacht (Somers 2012, S. 280). Narrativanalysen können
damit einerseits nachvollziehbar machen, wie bestimmte symbolische Ordnungen
und Imaginative Differenzierungsprozesse konstituieren oder gar radikalisieren.
Andererseits sind sie auch in der Lage, vorhandene, aber im Diskurs noch weitge-
hend unerschlossene Perspektiven f€ur eine De-Eskalierung der politischen Sprache
sichtbar zu machen.

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Baden-Baden: Nomos.
Rational Choice in der Vergleichenden
Politikwissenschaft

Johannes Marx

Zusammenfassung
Rational Choice Ansätze gehören zu den wichtigsten theoretischen Konzepten in
der Vergleichenden Politikwissenschaft. Ihre Kernannahmen und zentralen Axio-
me werden in diesem Beitrag dargestellt. Innerhalb von Rational Choice lassen
sich zwei große Strömungen unterscheiden, die im Hinblick auf ihre dominante
Erklärungsstrategie differieren. Ihre jeweiligen Stärken und Schwächen im Hin-
blick auf die Formulierung sozialwissenschaftlicher Erklärungen werden skizziert
und es wird auf typische Anwendungen in der Vergleichenden Politikwissen-
schaft verwiesen. Es wird argumentiert, dass die Entscheidung f€ur eine dieser
Strömungen Implikationen f€ur die Menge möglicher Fragestellungen und f€ur die
Reichweite der Erklärung hat.

Schlüsselwörter
Rational Choice • Vergleichende Politikwissenschaft • Erklärung

1 Einleitung

Ökonomische Theorien spielen ihre Stärken aus, wenn es sich um strategische


Interaktionssituationen handelt (Tsebelis 1990), wenn sich Akteure mit Hochkos-
tensituationen konfrontiert sehen (Mensch 2000), wenn Aushandlungsprozesse und
Verträge im Mittelpunkt stehen (Schelling 1978), wenn Probleme kollektiven Han-
delns ins Spiel kommen (Olson 1965), wenn es um Delegationsprozesse geht und
Informationsasymmetrien f€ur Interaktionsprozesse von Bedeutung sind (Buchanan
und Tullock 1962).

J. Marx (*)
Professor f€ur Politische Theorie, Institut f€
ur Politikwissenschaft, Universität Bamberg, Bamberg,
Deutschland
E-Mail: johannes.marx@uni-bamberg.de

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 261


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_20
262 J. Marx

Angesichts dieser Vielfalt offensichtlicher Anwendungsmöglichkeiten €uberrascht


es nicht, dass Rational Choice Theorien auch in der Vergleichenden Politikwissen-
schaft seit einigen Jahren breite Anwendung finden. Zuweilen verbergen sie sich
hinter anderen Namen wie Nutzentheorie, Spieltheorie, Neue Politische Ökonomie,
ökonomische Handlungstheorie oder Institutionenökonomie. Im Kern handelt es
sich jedoch um Varianten der ökonomischen Theorie, die die gleichen Grundannah-
men teilen und sich durch die gleichen Stärken auszeichnen.
Trotz dieser Gemeinsamkeiten bestehen Unterschiede zwischen den Rational
Choice Vertretern hinsichtlich der Interpretation der Verwendungsmöglichkeiten
und des Leistungsvermögens von Rational Choice. Im Folgenden sollen daher
zunächst die elementaren Bestandteile der Rational Choice Theorien herausgearbeitet
werden. Anschließend werden unterschiedliche Strömungen innerhalb der Rational
Choice Theorien unterschieden, ihre typische Argumentationsweise vorgestellt sowie
auf exemplarische Arbeiten hingewiesen. Im Kern steht dabei die Diskussion der
Frage, was diese Strömungen im Hinblick auf die Formulierung sozialwissenschaftli-
cher Erklärungen leisten können. Der Beitrag endet mit dem Hinweis auf bestehende
Limitationen hinsichtlich der Anwendung von Rational Choice Theorien.

2 Grundelemente ökonomischer Theorien

Ökonomische Theorien zielen nach gängiger Auffassung auf die Erklärung zielgerich-
teten Handelns ab. Unter Handeln versteht man in den Sozialwissenschaften jene
Akteursaktivitäten, die von Motiven geleitet sind. In gewisser Weise ist das Adjektiv
‚zielgerichtet‘ an dieser Stelle unnötig. Es dient lediglich zur Kennzeichnung derjenigen
Formen von Akteursaktivität, die nicht bloßes Verhalten etwa im Sinne von Reiz-
Reaktion-Automatismen darstellen, sondern die als ‚Handlung‘ bezeichnet werden kön-
nen. Dar€uber hinaus gewährleistet diese Formulierung, dass alle Entitäten, die zu zielge-
richtetem Handeln fähig sind, in dieser Bestimmung des Anwendungsbereichs ökonomi-
scher Theorien enthalten sind. Dies gilt auch f€ur korporative Akteure wie beispielsweise
Unternehmen, Verbände und Staaten. Diese Formulierung verlangt außerdem nicht, dass
die gesamte Aktivität eines Akteurs immer mit Hilfe der ökonomischen Theorie
analysiert werden muss. Neben der Theorie besteht durchaus Platz f€ur nicht-rationale
Aktivitäten, die beispielsweise habituell motiviert oder zufällig gewählt sein können.
Ökonomische Theorien zeichnen sich durch eine Reihe von gemeinsamen Annah-
men aus: Erstens sind die Präferenzen der Akteure eine zentrale Determinante mensch-
lichen Handelns. In den Präferenzen werden die Bed€urfnisse als Antriebskraft des
Akteurshandelns repräsentiert. Rational Choice Theorien sind prinzipiell hinsichtlich
der Zieldimension menschlichen Handelns offen. Es ist eine empirische und keine
theoretische Frage, welche Präferenzen die Akteure aufweisen. Zweitens spielen
Restriktionen eine wichtige Rolle in ökonomischen Handlungserklärungen. Sie erfassen
die in einer Situation gegebenen Beschränkungen des Handlungsraums. Auch die
Restriktionen können materieller (z. B. finanzielle Kosten) und immaterieller Natur
(z. B. moralische Ächtung) sein. Drittens findet sich in ökonomischen Theorien die
Annahme, dass Akteure vor dem Hintergrund ihrer Präferenzen und der in der
Rational Choice in der Vergleichenden Politikwissenschaft 263

Situation gegebenen Restriktionen ihren Nutzen maximieren. In diesem Sinne sind


Akteure orientiert an den Konsequenzen ihres Handelns. Akteure wählen diejenige
Handlungsalternative, die das beste Mittel darstellt, bestehende Ziele zu realisieren.
Diese Entscheidungsmaxime lässt sich auch formal darstellen. Der erwartete Nutzen
einer Handlungsalternative, bestimmt sich dann folgendermaßen (Kunz 2004, S. 45):
X
EU ðH i Þ ¼ pi1  U1 þ pi2  U 2 þ . . . pin  U n ¼ p
j ij
 Uj

H i ¼ Handlungsalternative i

EU ¼ erwartete Nutzen der Handlungsalternative ðNettonutzenÞ

pij ¼ Wahrscheinlichkeit der Handlungskonsequenz j der Handlungsalternative i


X
es gilt : p ¼ 1; die Ereignisse sind erschöpfend und gegenseitig ausschließend
j ij

U j ¼ Bewertung der Handlungskonsequenz j

Dar€ uber hinaus unterscheidet man Entscheidungen unter Gewissheit, Entscheidungen


unter Risiko und Entscheidungen unter Unwissenheit. Während im ersten Fall die Hand-
lungskonsequenz mit Sicherheit eintritt, können bei Entscheidungen unter Unwissenheit
nicht mal Wahrscheinlichkeiten zur Abschätzung des Eintretens von Handlungskonse-
quenzen verwendet werden. Die weiteren Ausf€uhrungen beziehen sich auf Entscheidun-
gen unter Risiko. Hier kann f€ur die Entscheidungsfindung auf Wahrscheinlichkeiten
zur€uckgegriffen werden, um den Erwartungsnutzen der Handlungen zu bestimmen. So
lautet die Entscheidungsregel f€ur Entscheidungen unter Risiko: Akteure wählen aus der
Menge der zur Verf€ugung stehenden Handlungsalternativen diejenige Handlungsalterna-
tive aus, f€ur die die wahrgenommenen Handlungskonsequenzen am besten bewertet
werden. Hier dr€ uckt sich die zentrale Gesetzmäßigkeit des ökonomischen Ansatzes aus:
Akteure maximieren ihren Nutzen, indem sie diejenige Handlungsalternative realisieren,
die mit dem höchsten EU-Wert ausgezeichnet ist. Theorien, die diese drei Charakteristika
aufweisen, können zur Familie der Rational Choice Theorien gerechnet werden.
Dar€uber hinaus gibt es eine Reihe weiterer Bedingungen, die erf€ullt sein m€ussen,
damit man von rationalen Handlungen sprechen kann. Diese beziehen sich auf die
Menge der Präferenzen, die ein Akteur hat. Demnach m€ussen die Präferenzen eines
Akteurs erstens transitiv sein. Dies bedeutet: Wenn ein Akteur a  b und b  c, dann
gilt auch a  c. Dies lässt sich auch normalsprachlich ausdr€ucken: Wenn ein Akteur a
gegen€ uber b präferiert und b c vorzieht, dann muss er auch a gegen€uber c präferieren.
Die Präferenzen m€ussen also in eine Rangordnung €uberf€uhrt werden können, die
zumindest ordinal ist. Dies ist die Minimalbedingung der Rationalität. Zweitens wird
gefordert, dass die Präferenzordnung vollständig ist. Diese Bedingung verlangt,
dass f€ur jedes Element der Präferenzordnung anzugeben ist, ob es gegen€uber einem
beliebig anderen Element vorzuziehen ist oder nicht. Drittens gilt f€ur anspruchsvollere
Anwendungen der Rational Choice Theorie noch eine dritte Bedingung. Gewisse
Anwendungen verlangen, dass die in der Nutzenfunktion abgebildete Präferenzordnung
264 J. Marx

der Akteure nicht ordinaler, sondern kardinaler Natur ist. Eine Reihe weiterer Rationa-
litätsbedingungen muss f€ur die Formulierung kardinaler Nutzenfunktionen gegeben sein
(Nida-R€ umelin 1994), von denen hier nur auf die Bedingung der Kontinuität einge-
gangen werden soll. Angenommen, ein Akteur hätte sich zwischen drei G€utern (A, B, C)
zu entscheiden: Hat er das Gut B sicher, während A mit der Wahrscheinlichkeit p und C
mit der Gegenwahrscheinlichkeit (1-p) eintreten, dann verlangt die Kontinuitätsbedin-
gung, dass eine gewisse Wahrscheinlichkeit p gegeben ist, so dass der Akteur zwischen
B und der Lotterie aus A und C indifferent ist (Lovett 2006, S. 255).
Wenn oben von Präferenzordnung die Rede ist, beziehe ich mich dabei auf eine
Rangordnung der Handlungskonsequenzen. Der Begriff der Präferenzordnung wird
auch in einer zweiten Bedeutung verwendet. Dann bezieht man sich auf die Ordnung
der Handlungsalternativen hinsichtlich der Höhe ihres EU-Wertes. Die Begriffsver-
wendungen können unter gewissen Bedingungen synonym sein: Dies ist der Fall,
wenn wir in einer Welt der Gewissheit ( p ¼ 1 ) agieren und mögliche erwartete
Handlungskonsequenzen einer Handlungsalternative (1  U 1 þ 1  U2 þ . . . 1  Un)
zu einer sicheren Konsequenz Ugewiss zusammengefasst werden können. Mit der
Aus€ ubung einer Handlungsalternative unter Risiko realisiert man jedoch in aller
Regel diverse mehr oder weniger w€unschenswerte Konsequenzen, deren Bewertung
sich in der Präferenzordnung eines Akteurs widerspiegelt. Elster fasst dies folgen-
dermaßen zusammen: „Preferences can be defined over outcomes or over actions. I
shall assume that the latter are derived from the former, so that one prefers an action
over another because one prefers the outcome it brings about“ (Elster 1985, S. 67).
Die zweifache Begriffsverwendung kann zu Problemen f€uhren. Häufig findet
man in der Literatur die Argumentation, dass Handlungsänderungen auf Präferenz-
änderungen zur€ uckgef€uhrt werden. Nicht immer wird dort hinreichend klar, worauf
sich der Präferenzbegriff bezieht. Dieser Zusammenhang wäre aber rein tautologi-
scher Natur, wenn man sich mit ‚Präferenzordnung‘ auf Handlungsalternativen
bezieht. Um die Frage zu einer empirischen Frage zu machen, ist es sinnvoll, beide
Begriffe voneinander zu trennen: Handlungsänderungen haben damit nicht notwen-
dig Präferenzänderungen als Ursache, wenn man sich mit ‚Präferenzordnung‘ auf
die Ordnung der Konsequenzen bezieht.
Im Folgenden sollen zwei unterschiedliche Strömungen innerhalb der ökonomi-
schen Theorien näher vorgestellt werden. Dabei wird ein Fokus darauf gelegt,
welche Unterschiede hinsichtlich der verwendeten Erklärungsstrategie bestehen.

3 Methodologischer Individualismus,
Mehrebenenerklärungen und Strömungen innerhalb von
Rational Choice

Nachdem im vorherigen Abschnitt geklärt wurde, welche Kernelemente ökonomi-


sche Theorien aufweisen, soll in einem zweiten Schritt nun diskutiert werden,
in welcher Weise Rational Choice sinnvoll in der Politikwissenschaft eingesetzt
werden kann. Grundsätzlich gilt, dass man sich mit der Wahl von Rational Choice
Rational Choice in der Vergleichenden Politikwissenschaft 265

Soziale Struktur1 Soziale Struktur2

Akteur Handlung

Abb. 1 Mehrebenenerklärung. Quelle: Eigene Darstellung

f€ur die Position des methodologischen Individualismus entschieden hat. Diese Posi-
tion bestreitet, dass es soziale Gesetzmäßigkeiten auf der Makroebene gibt. Stattdessen
sollen soziale Veränderungen auf das Handeln von Akteuren auf der Mikroebene
zur€uckgef€ uhrt werden. Es handelt sich somit um Mehrebenenerklärungen.
Im Einzelnen werden daf€ur drei Schritte vorgeschlagen (Abb. 1): In einem ersten
Schritt muss die Situationswahrnehmung des Akteurs beschrieben werden (Logik
der Situation). Die bei der Beschreibung zu beachtenden relevanten Merkmale
resultieren aus der verwendeten Handlungstheorie. Aus Rational Choice Perspektive
gilt es, die wahrgenommenen Handlungsalternativen, die mit diesen Alternativen
verbundenen erwarteten Handlungskonsequenzen und ihre Bewertung zu erfassen.
Bei diesem Schritt wird eine Br€ucke von den gegebenen Merkmalen der Handlungs-
situation auf der Makroebene zu der individuellen Interpretation dieser Charakteris-
tika auf der Mikroebene geschlagen und in Form von Br€uckenhypothesen formu-
liert. In einem zweiten Schritt kann dann vor dem Hintergrund dieser Rekonstruktion
der individuellen Handlungssituation das Verhalten des Akteurs in den Blick genom-
men werden. Dieser Schritt wird die Logik der Selektion genannt. Aus Rational
Choice Perspektive wird nun erwartet, dass der Akteur sich rational verhält und
diejenige Handlungsalternative wählt, die seinen Erwartungsnutzen maximiert.
Daneben sind aber auch andere Selektionsregeln denkbar, beispielsweise wenn die
Akteure unter Gewissheit oder Unwissenheit agieren m€ussen. In einem dritten
Schritt kann nun wieder eine Br€ucke zwischen der individuellen Handlung des
Akteurs und der Makroebene hergestellt werden, indem mittels erneuter Br€ucken-
hypothesen der Aggregationsprozess der individuellen Handlungen zu sozialen
Phänomenen gefasst wird (Logik der Aggregation). Auch wenn das Programm
vorsieht, die Explananda auf das intendierte und rationale Handeln von Akteuren
zur€uckzuf€ uhren, erlaubt die Logik der Aggregation Phänomene zu untersuchen, wo
es um nicht-intendierte Effekte rationalen Handelns geht (Schelling 1978). Häufig
werden diese Schritte nicht explizit durchgef€uhrt, implizit findet man sie jedoch in
allen Rational Choice Erklärungen sozialer Sachverhalte wieder.
Neben diesen Gemeinsamkeiten finden sich zwei unterschiedliche Schwerpunktset-
zungen in der positiven Literatur zu Rational Choice (Kliemt 1996): Erstens kann man
die Rational Choice Theorien im Sinne einer Entscheidungstheorie verstehen, die
darauf abzielt, das individuelle Entscheidungsverhalten der Akteure verhaltenstheore-
tisch zu erfassen. Zweitens kann Rational Choice mit dem Ziel zur Anwendung
kommen, typisches Verhalten von Akteuren aus einer externen Perspektive zu erklären
bzw. zu prognostizieren. Die beiden Perspektiven werden in den folgenden zwei Ab-
schnitten detaillierter vorgestellt und im Hinblick auf die Frage diskutiert, auf welche
Strategie sie zur Formulierung sozialwissenschaftlicher Erklärungen zur€uckgreifen.
266 J. Marx

3.1 Analytic narratives, qualitative Studien und die


Rekonstruktion des internen Standpunkts eines Akteurs

Folgt man der ersten Perspektive auf menschliches Entscheidungsverhalten, dann


gilt es, die interne Entscheidungslogik eines Akteurs nachzuvollziehen. Rational
Choice wird hier als psychologische Theorie €uber das Entscheidungsverhalten eines
Akteurs verstanden, die den kognitiven Entscheidungsprozess theoretisch fassen
soll. Dabei wird Rational Choice als eine Mikrotheorie des Akteurverhaltens ver-
wendet.
Diese Perspektive auf Rational Choice verlangt, eine empirisch adäquate Rekon-
struktion der Logik der Situation in Form von Br€uckenhypothesen zu erstellen. In
den Br€ uckenhypothesen werden die dem Akteur in der Handlungssituation gege-
benen Handlungsalternativen und ihre Bewertung abgebildet. Hier gilt es, die sub-
jektiven Handlungsgr€unde des Akteurs zu rekonstruieren. In einem zweiten Schritt
soll anschließend das Entscheidungsverhalten des Akteurs theoretisch gefasst wer-
den. Auch dabei besteht das Ziel darin, das tatsächliche Entscheidungsverhalten des
Akteurs zu fassen. Falls der Fokus des Wissenschaftlers auf der Makroebene liegt,
kann dann in einem dritten Schritt die Logik der Aggregation untersucht werden, um
das Zusammenwirken der verschiedenen individuellen Handlungen zu analysieren.
Handlungen erklärt man aus dieser Perspektive, indem man eine empirisch
adäquate Bestimmung des jeweiligen Handlungsgrunds eines Akteurs vorlegt. Daf€ur
wird die Kenntnis der subjektiven Präferenzen und wahrgenommen Restriktionen
vorausgesetzt. Die Qualität der Erklärung hängt zu großen Teilen davon ab, wie gut
es gelingt, die Präferenzen des Akteurs zutreffend zu beschreiben sowie dessen
Interpretation der Handlungssituation zu rekonstruieren.
In der Vergleichenden Politikwissenschaft finden sich Arbeiten aus dieser Pers-
pektive sowohl mit einem Fokus auf der Erklärung konkreter politischer Ereignisse
wie auch in vergleichend angelegten qualitativen Studien. Als Musterbeispiele f€ur
die Erklärung singulärer Sachverhalte bzw. qualitativer Vergleiche können die so-
genannten analytic narratives genannt werden, die es mittlerweile zu einer Vielzahl
von Themen gibt (Bates et al. 1998; Marx und Frings 2007). Bates et al. untersuchen
in dem Projekt gleichen Namens politische Sachverhalte mit Hilfe ökonomischer
Theorien. Der analytische Teil wird dabei von der ökonomischen Theorie geliefert,
während das narrative f€ur die historisch angemessene Rekonstruktion des jeweiligen
Kontexts steht (Kiser und Hechter 1998; Marx 2007). Das Besondere an dieser
spezifischen Vorgehensweise resultiert aus dem Versuch, formale Rational Choice
Argumente mit der Methodik der qualitativen Fallanalyse zu verbinden (Boniface
und Sharman 2001; Levi 1997). Daneben finden sich Studien etwa zu ethnischen
Konflikten (Hardin 1995; Breton et al. 1995), zum Fall des Kommunismus (Opp
et al. 1995; Opp 2009) oder zu erfolgreichen (Colomer 1995) bzw. problematischen
Demokratisierungsprozessen (Cohen 1994). Qualitativ vergleichend arbeitet etwa
Elinor Ostrom (2000) in ihren Analysen unterschiedlicher Allmendeaneignergrup-
pen, in denen diverse institutionelle Bereitstellungsmechanismen zur Produktion
von Allmendeg€ utern analysiert werden.
Rational Choice in der Vergleichenden Politikwissenschaft 267

3.2 Die Rekonstruktion der externen Handlungssituation und


ihrer Effekte auf die Akteure

Eine zweite Strömung im Rahmen des ökonomischen Forschungsprogramms f€uhrt


Handlungserklärungen weniger auf die internen Merkmale eines Akteurs, als auf die
extern gegebene Handlungssituation zur€uck. Gleichwohl handelt es sich weiterhin
um den Versuch, Handlungen im Rahmen des methodologischen Individualismus zu
erklären. Allerdings spricht man nun von einer Mikrofundierung und nicht von einer
Mikrotheorie. Damit bezeichnet man ein Verständnis, das Rational Choice nicht als
angemessene Theorie zur Beschreibung des kognitiven Entscheidungsprozesses von
Akteuren auffasst, sondern lediglich als Instrument, das sich zur Erklärung und
Prognose sozialer Phänomene eignet. Es wird gerade nicht verlangt, dass mit Hilfe
von Br€ uckenhypothesen die tatsächliche Situationswahrnehmung der Akteure er-
fasst wird oder der tatsächliche kognitive Verarbeitungsprozess theoretisch beschrie-
ben wird. Man spricht von einer ‚als ob‘-Strategie, da lediglich angenommen wird,
dass die Akteure sich so verhalten ‚als ob‘ sie rational kalkulieren w€urden. Begr€un-
det wird diese Perspektive auf Rational Choice häufig mit dem Verweis auf den
theoretischen Status der Rationalitätsannahme, der einer empirischen Interpretation
von Rational Choice als Verhaltenstheorie im Wege stehe. Da man Präferenzen aus
Sicht dieser Perspektive nicht direkt messen kann, lässt sich auch €uber den eigent-
lichen kognitiven Entscheidungsprozess der Akteure aus Sicht dieser Perspektive
nichts sagen. Dies ist aber auch nicht notwendig, da Verhaltensänderungen stattdes-
sen auf Veränderungen im situativen Kontext zur€uckgef€uhrt werden und primär €uber
die Variable ‚Restriktionen‘ modelliert werden können.
Als relevantes Qualitätsmerkmal dieser Anwendungsstrategie wird die Prognose-
fähigkeit des Ansatzes angesehen. Die entscheidende Herausforderung f€ur diese
Sichtweise auf Rational Choice besteht in der Absteckung des Anwendungsgebietes.
In theoretischer Hinsicht gilt es daher, Anwendungskriterien zu formulieren, bei
denen die verwendeten Akteursfiktionen zu guten Prognoseergebnissen f€uhren. Dies
ist dann der Fall, wenn Kontextfaktoren das Verhalten der Akteure nahezu vollstän-
dig determinieren und individuelle Präferenzen keine Rolle spielen. Als Strategien
zur Absteckung eines geeigneten Anwendungsgebiets finden sich in der Literatur
beispielsweise die Beschränkung auf Hochkostensituationen (Mensch 2000) oder
auf institutionelle Kontexte mit starkem Wettbewerbsdruck, die langfristig ‚nicht-
rationale‘ Akteure aus dem Spiel nehmen (Zintl 2001).
Charakteristisch f€ur Arbeiten aus dieser Perspektive ist, dass Handlungserklä-
rungen primär auf situative Handlungsbedingungen zur€uckgef€uhrt werden. Die Er-
klärungslast liegt damit weniger auf den akteursspezifischen Präferenzen und indi-
viduellen Handlungsgr€unden als auf den Restriktionen, die den Handlungsraum der
Akteure strukturieren. In prinzipieller Hinsicht kann auch aus dieser Perspektive bei
der Erklärung individueller Handlungen nicht auf Handlungsgr€unde verzichtet wer-
den. Hier besteht kein prinzipieller Unterschied zur ersten Strömung innerhalb der
ökonomischen Theorien. Allerdings sind die Handlungsgr€unde durch das Vorliegen
starker Restriktionen bestimmt, und somit ist es aus dieser Perspektive auch gar nicht
268 J. Marx

notwendig, Handlungsgr€unde direkt zu messen. Es ist dar€uber hinaus nicht einmal


notwendig, Handlungsgr€unde explizit zu benennen, da Handlungsänderungen in
g€unstigen Umständen nahezu vollständig auf Restriktionsänderungen zur€uckgef€uhrt
werden können.
Viele in der vergleichenden Politikwissenschaft zu findende Arbeiten sind dieser
Perspektive zuzuordnen. Schon fr€uh hat Downs (1957) eine ökonomische Theorie
der Demokratie entwickelt, die stilbildend f€ur die ökonomische Analyse des demo-
kratischen Prozesses wurde. J€ungeren Datums sind die Arbeiten von Laver und
Shepsle (2004) zur Stabilität und Zusammensetzung von Regierungskabinetten.
Stärker spieltheoretisch motiviert analysieren Bueno de Mesquita et al. (2003) die
Logik politischen Regierens. Vor dem Hintergrund Eigennutz maximierender Ak-
teure wird dort der Einfluss institutioneller Faktoren auf das Regierungshandeln
untersucht. In ähnlicher Stoßrichtung untersuchen Acemoglu und Robinson (2001)
politische Transformationsprozesse. Schließlich stehen die Arbeiten von Olson
paradigmatisch f€ur die Frage, warum sich Staaten hinsichtlich ihrer Fähigkeit unter-
scheiden, Kollektivg€uter bereitzustellen (Olson 1982, 2000).

4 Ausblick und Diskussion des Leistungsvermögens


ökonomischer Erklärungen

Analysen mit Rational Choice bieten sich an, wenn das Handeln durch formale
Institutionen bestimmt ist und Handlungserklärungen primär mit der Variable ‚Restrik-
tionen‘ arbeiten können. Hier erlauben die Restriktionen, auf das aufwendige
Erheben individueller Präferenzen zu verzichten. Mit einer solchen Strategie lässt
sich allerdings nur typisches Handeln in stark institutionalisierten Kontexten erklä-
ren. Komplexer gestalten sich Erklärungen, wenn es um die Erklärung politischen
Verhaltens geht, das außerhalb formaler Institutionen stattfindet (Mahoney 2000,
S. 90) oder durch Emotionen, Werte oder Kultur bestimmt wird. Hier sind Hand-
lungserklärungen nur möglich, wenn Wissen €uber die Präferenzen zugänglich ist.
Aus der Perspektive der ersten Strömung des Rational Choice Ansatzes sind auch
auf diese Art motivierte Handlungen mit Hilfe des ökonomischen Instrumentariums
erklärbar. Die Herausforderung besteht allerdings darin, die individuelle Definition
der Situation adäquat abzubilden. Dieser Anspruch verlangt tiefe Kenntnisse der
akteursspezifischen Eigenschaften. So lassen sich j€ungere Arbeiten aus der Neuro-
ökonomie oder der Sozialpsychologie als Erweiterungen dieser Rational Choice
Strömung verstehen, die an der Rekonstruktion der individuellen Rationalitätsstan-
dards arbeiten. Die Integration emotionalen Handelns, kognitiver Fehlleistungen etc.
in das Anwendungsgebiet der Theorien rationalen Handelns verlangt jedoch weit-
gehende Modifikationen beispielsweise hinsichtlich der Eigenschaften der Präfe-
renzordnung bzw. des Umgangs der Akteure mit Wahrscheinlichkeiten. Folgt man
dieser Perspektive muss man sich mit der Frage auseinandersetzen, was wir dann
noch mit dem Begriff ‚rational‘ auszeichnen wollen.
Folgt man der zweiten Strömung des Rational Choice Ansatzes, können ökono-
mische Theorien in solchen Fällen lediglich zur Formulierung eines normativen
Rational Choice in der Vergleichenden Politikwissenschaft 269

Ideals herangezogen werden. Mit Hilfe der Rational Choice Theorie ließe sich dann
klären, wie man sich verhalten sollte, wenn man rational agieren möchte. Spannend
ist dann die Frage, warum und in welchem Ausmaß von diesem als rational ge-
kennzeichnetem Verhalten abgewichen wird. Wie dieses abweichende Handeln
erklärt werden kann, ist jedoch aus dieser Perspektive nicht mehr Gegenstand der
Rational Choice Theorie.
Insgesamt betrachtet haben Rational Choice Theorien Stärken in der Aufdeckung
der Mechanismen, warum kollektive G€uter trotz allgemein geteilten Interesses an
diesen G€ utern nicht in ausreichendem Maß produziert werden (Olson 1982, 2000),
warum in manchen strategischen Handlungssituationen gerade die suboptimale
Handlungskonsequenz als Interaktionsergebnis realisiert wird (Tsebelis 1990) und
nur unter gewissen Bedingungen institutionelle Lösungen f€ur solche Probleme
gefunden werden können. Dar€uber hinaus verbindet Rational Choice Studien das
Bem€ uhen, schlanke Erklärungen zu formulieren und daf€ur auf allgemeine Gesetz-
mäßigkeiten zur€ uckzugreifen. Im Mittelpunkt steht der Versuch, mit Hilfe der
Theorie rationalen Handelns eine sinnvolle Verbindung zwischen unabhängigen
Variablen auf der Makroebene, individuellem Handeln auf der Mikroebene und zu
erklärendem Phänomen auf der Makroebene herzustellen, indem der die Variablen
verbindende kausale Mechanismus offengelegt wird.

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Social Capital in der Vergleichenden
Politikwissenschaft

Kathrin Ackermann und Markus Freitag

Zusammenfassung
Sozialkapital stellt ein bedeutendes Konzept innerhalb der Vergleichenden Poli-
tikwissenschaft dar. Basierend auf den Arbeiten von Bourdieu (1983), Coleman
(1990) und Putnam (1993, 2000) beschreibt es den Wert sozialer Beziehungen.
Der vorliegende Beitrag gibt einen Überblick € uber aktuelle konzeptionelle De-
batten in diesem Forschungsfeld sowie €uber empirische Befunde zum Bestand, zu
den Bedingungen und Wirkungen von Sozialkapital.

Schlüsselwörter
Normen der Gegenseitigkeit • Soziales Vertrauen • Soziale Netzwerke • Bedin-
gungen von Sozialkapital • Wirkungen von Sozialkapital

1 Sozialkapital – eine definitorische Annäherung

Seit den 1990er-Jahren hat sich das Konzept des Sozialkapitals als feste Größe
innerhalb der Politikwissenschaft etabliert. Seine Urspr€unge gehen auf den amerika-
nischen Pädagogen Lyda Judson Hanifan (1920) zur€uck, der bereits zu Beginn des
letzten Jahrhunderts den Begriff „Sozialkapital“ verwendete, um auf die Wichtigkeit
von zivilem Engagement f€ur die Gemeinschaft und die Demokratie hinzuweisen. Zu
größerer Bekanntheit gelangte Sozialkapital aber erst durch die Arbeiten von Bour-

K. Ackermann (*)
PhD candidate and research assistant, Institut f€
ur Politikwissenschaft, Universität Bern, Bern,
Schweiz
E-Mail: kathrin.ackermann@ipw.unibe.ch
M. Freitag
Professor f€ur Politische Soziologie, Institut f€
ur Politikwissenschaft, Universität Bern, Bern,
Schweiz
E-Mail: markus.freitag@ipw.unibe.ch

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 271


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_21
272 K. Ackermann und M. Freitag

dieu (1983), Coleman (1990) und Putnam (1993, 2000), dessen politisch-kulturell
ambitionierten Analysen zu Italien und Amerika das Konzept schließlich fest in der
politikwissenschaftlichen Forschung verankerten. F€ur Bourdieu (1983, S. 190 f.)
steht der Begriff des sozialen Kapitals f€ur „die Gesamtheit der aktuellen und
potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes oder
Anerkennens verbunden sind; oder, anders ausgedr€uckt, es handelt sich dabei um
Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen.“ Der analytische
R€uckgriff auf Sozialkapital war f€ur Bourdieu unumgänglich, um die immerwährende
Reproduktion gesellschaftlicher Ungleichheiten zu erklären, welche durch kultur-
elles und ökonomisches Kapital nur unzureichend erfasst wurde. Coleman (1990)
wiederum bettet Sozialkapital in seine Analysen zu interessengesteuerten Hand-
lungen in sozialen Kontexten ein und versteht unter sozialem Kapital Aspekte
sozialer Beziehungen, wie etwa Vertrauen oder Verpflichtungen, die Kooperation
zwischen rationalen Akteuren ermöglichen. Putnam (1993, 2000) schließlich kon-
kretisiert Colemans Sichtweise und versteht Sozialkapital zunächst als „features of
social organization, such as trust, norms and networks, that can improve efficiency of
society by faciliating coordinated actions“ (Putnam 1993, S. 167). In seinem späte-
ren Werk Bowling Alone verleiht er seiner Definition eine kausale Konnotation, in
dem er eine positive Wirkung von Netzwerken auf die Entwicklung von Normen der
Gegenseitigkeit und des Vertrauens annimmt: „social capital refers to connections
among individuals – social networks and the norms of reciprocity and trustworthi-
ness that arise from them“ (Putnam 2000, S. 19).
Geprägt durch die jeweilige Forschungstradition betonen diese drei Klassiker der
Sozialkapitalliteratur unterschiedliche Aspekte des Konzepts. Der Minimalkonsens
der Definitionen besteht darin, den Wert sozialer Beziehungen als Sozialkapital zu
bezeichnen (Portes 1998; Stolle 2009). F€ur die politikwissenschaftliche Analyse
sind insbesondere die Begriffsbestimmungen und konzeptionellen Blaupausen von
Putnam (1993, 2000) von Relevanz. Die daraus entstandenen Debatten zum Sozial-
kapital stehen im Fokus des vorliegenden Beitrags. Im Anschluss an die konzeption-
ellen Ausf€uhrungen werden empirische Befunde zum Bestand, zu den Bedingungen
und Auswirkungen von Sozialkapital dargelegt.

2 Konzeptionelle Überlegungen zum Sozialkapital

2.1 Die kulturelle und strukturelle Komponente des


Sozialkapitals

Ausgehend von der Definition von Putnam (1993, 2000) lassen sich drei Manifes-
tationen des sozialen Kapitals unterscheiden: Soziale Netzwerke, Vertrauen und
Normen der Gegenseitigkeit. Sie variieren hinsichtlich ihrer Entstehungsbedingun-
gen und Wirkungen. Vor diesem Hintergrund hat sich innerhalb der Sozialkapital-
forschung eine getrennte Betrachtung der unterschiedlichen Dimensionen des Kon-
zepts gegen€
uber zusammenfassenden Maßzahlen und Indizes durchgesetzt (Dekker
und Uslaner 2001; Franzen und Pointner 2007; Stolle und Hooghe 2005). Um die
Social Capital in der Vergleichenden Politikwissenschaft 273

verschiedenen Dimensionen des sozialen Kapitals zu ordnen, kann zwischen der


kulturellen und der strukturellen Komponente des Sozialkapitals unterschieden
werden (van Deth 2008). Dabei umfasst die kulturelle Komponente das soziale
Vertrauen und die Normen der Gegenseitigkeit während verschiedene Formen
sozialer Netzwerke zur strukturellen Komponente zählen.
Normen der Gegenseitigkeit beschreiben die Bereitschaft zu moralischen und
sozialen Verpflichtungen in einer Gesellschaft sowie die Erwartung, dass diese
eingehalten werden. Dabei kann zwischen strategischer und altruistischer Rezipro-
zität differenziert werden. Strategische Reziprozität beschreibt kooperatives Verhal-
ten rationaler Akteure in der Erwartungen, dass sie in der Zukunft einen Nutzen aus
diesem Handeln ziehen werden (Perugini et al. 2003). Dieses Verhalten ist vor allem
gegen€ uber Bekannten, die man potentiell erneut trifft, wahrscheinlich. Altruistische
Reziprozität beschreibt hingegen kooperatives Verhalten aus einer internalisierten
Norm heraus. Es zeigt sich auch gegen€uber persönlich unbekannten Fremden, die
man mit hoher Wahrscheinlichkeit nur einmal trifft (Diekmann 2004). Der Radius
altruistischer Reziprozität sollte demzufolge grösser sein als der Radius strategischer
Reziprozität. In der empirischen Sozialkapitalforschung werden Reziprozitätsnor-
men nach wie vor stiefm€utterlich behandelt. Messungen sind nur selten in interna-
tional oder subnational vergleichenden Umfragen enthalten. Von wenigen Ausnah-
men abgesehen (Freitag und Traunm€uller 2008; Gundelach und Traunm€uller 2014),
sind Reziprozitätsnormen daher kaum Gegenstand vergleichender Forschung.
Soziales Vertrauen als Grundlage von dauerhafter Kooperation und gegenseitiger
Hilfe in einer Gesellschaft ist hingegen die weitaus prominentere kulturelle Kom-
ponente von Sozialkapital (Coleman 1990; Uslaner 2002). Nach Freitag und Bauer
(2013) lassen sich drei Formen des sozialen Vertrauens unterscheiden: partikularisti-
sches, identitätsbasiertes und generalisiertes Vertrauen. Der Radius dieser drei Ver-
trauensformen, also die Größe des Personenkreises, den sie erfassen, variiert. Als
partikularistisch wird das Vertrauen in Personen, mit denen man persönlich bekannt
ist, bezeichnet. Darunter fallen Familie, Freunde, Nachbarn oder Arbeitskollegen.
Identitätsbasiertes Vertrauen umfasst das Vertrauen in Menschen, zu denen man
keine persönliche Beziehung hat, mit denen man aber ein identitätsstiftendes Merk-
mal, wie beispielsweise Herkunft, Religion oder auch Ethnie, teilt. Unter general-
isiertem Vertrauen wird schließlich eine abstrakte Einstellung gegen€uber Menschen
im Allgemeinen, auch persönlich unbekannten Fremden, verstanden. Letzteres wird
standardmäßig anhand der generalisierten Vertrauensfrage gemessen, welche regel-
mäßig in internationalen Umfrageprojekten wie dem European Social Survey (ESS)
oder dem World Values Survey (WVS) enthalten ist.1 J€ungst ist innerhalb der
Sozialkapitalforschung eine Debatte dar€uber entstanden, inwiefern diese Frage
wirklich Fremdvertrauen erfasst. Sturgis und Smith (2010) zeigen in ihrer Studie

1
Die generalisierte Vertrauensfrage in der deutschen Übersetzung des ESS-Fragebogens lautet:
„Ganz allgemein gesprochen: Glauben Sie, dass man den meisten Menschen vertrauen kann, oder
dass man im Umgang mit anderen Menschen nicht vorsichtig genug sein kann?“ (European Social
Survey 2012)
274 K. Ackermann und M. Freitag

f€
ur Großbritannien, dass 40 Prozent der Befragten nicht an Fremde, sondern an
persönlich bekannte Personen denken. Die international vergleichende Studie von
Delhey et al. (2011) kann diese Befunde zwar relativieren und zeigt, dass die Frage
in der Mehrheit der untersuchten Länder €uberwiegend out-group Vertrauen erfasst
(vgl. dazu auch Delhey et al. 2014; van Hoorn 2014; Torpe und Lolle 2011).
Gleichzeitig variiert der tatsächliche Vertrauensradius jedoch beträchtlich zwischen
den einzelnen Ländern: Je nach Land misst die Frage das Vertrauen in einen unter-
schiedlich generalisierten Personenkreis. Freitag und Bauer (2013) unterstreichen
indes, dass die Interpretation der drei Vertrauensarten – partikularistisch, identitäts-
basiert und generalisiert – innerhalb des europäischen Kulturraums vergleichbar ist.
Soziale Netzwerke bilden schließlich die strukturelle Komponente des sozialen
Kapitals ab. Sie beschreiben Bindungen zwischen Individuen, die eine Basis f€ur
vertrauensvolle Kooperation und sozialen Zusammenhalt schaffen. Empirisch kön-
nen verschiedene Formen sozialer Netzwerke unterschieden werden (Freitag 2001,
2004; Putnam und Goss 2001). Zunächst variiert der Formalisierungsgrad der Netz-
werke. Während Vereine oder Freiwilligenorganisationen formelle Netzwerke dar-
stellen, werden Bekanntschaften zu Nachbarn oder Freunden als informelle Netz-
werke bezeichnet. Weiterhin kann eine Beziehung als stark oder schwach bezeichnet
werden. Starke, eng verwobene Bindungen zeichnen sich etwa durch einen häufigen
und regelmäßigen Kontakt innerhalb eines Freundeskreises aus. Fehlt hingegen
diese Regelmäßigkeit der Kontaktmöglichkeiten wird eine Beziehung als schwach
bezeichnet. Laut Granovetter (1973) sind gerade diese schwachen Bindungen wich-
tig, wenn es z. B. um die Suche nach einer Arbeitsstelle geht, da sie Zugang zu
neuen Informationen eröffnen können. Überdies kann zwischen abgrenzenden und
br€uckenbildenden Netzwerken unterschieden werden. Diese Unterscheidung spielt
vor allem im Kontext der Vereinsforschung eine wichtige Rolle. Die Mitglieder
abgrenzender Netzwerke sind hinsichtlich ausgewählter Merkmale (wie etwa Alter,
Geschlecht oder Ethnie), homogen. Br€uckenbildende Netzwerke weisen hingegen
eine heterogene Sozialstruktur auf. Ein typisches Beispiel f€ur ein br€uckenbildendes
Netzwerk ist ein Sportverein. Schließlich lässt sich ein Netzwerk noch bez€uglich
seines Zwecks unterscheiden. Innenorientierte Netzwerke verfolgen Ziele, die vor-
nehmlich die Interessen ihrer Mitglieder bedienen. Dazu zählen beispielsweise Be-
rufsverbände. Außenorientierte Netzwerke zeichnen sich unterdessen durch eine
stärkere Gemeinwohlorientierung aus. Je nach Formalisierung, Dichte, Struktur
und Zweck können soziale Netzwerke unterschiedliche Effekte haben. Daher sind
die genannten Unterscheidungen f€ur empirische Studien von besonderer Bedeutung.

2.2 Sozialkapital als Kapital

Gemäß mikroökonomischer Produktionstheorien gelten alle Produktionsfaktoren,


die weder dem Boden noch der Arbeit zugeordnet werden und gleichsam als
relevante Vorleistung produktiver Aktivität gelten, als Kapital. Während das Sach-
kapital eine produktive Ausr€ustung und das Humankapital die produktiven Fähig-
keiten einer Person beschreibt, steht Sozialkapital f€ur die produktive Nutzung zwi-
Social Capital in der Vergleichenden Politikwissenschaft 275

schenmenschlicher Beziehungen. Gänzlich unumstritten ist die Zuschreibung des


Kapitalcharakters jedoch nicht. Arrow (1999) formuliert drei Kriterien einer Kapital-
form, welche seiner Argumentation entsprechend nur unzureichend durch soziales
Kapital erf€
ullt werden: Zeitunabhängigkeit, Veräußerbarkeit und gegenwärtiger Ver-
zicht zugunsten k€unftiger Rendite. Eine kritische Evaluation von Franzen und
Pointner (2007, S. 69–70) legt jedoch nahe, dass Sozialkapital anderen Kapital-
formen mit Blick auf die Existenz dieser Kriterien nicht unähnlich ist. Zunächst
verliert Sozialkapital an Wert, wenn die Sozialkontakte nicht dauerhaft gepflegt
werden. Damit ist Sozialkapital nicht zeitunabhängig. Dies trifft jedoch gleicher-
maßen auf Human- und das Sachkapital zu. Weiterhin kann Sozialkapital auch nicht
ohne weiteres veräußert werden. Allerdings ließe sich die prinzipielle Bereitstellung
von Netzwerkkontakten an Dritte in diese Richtung interpretieren. Damit ist eine
Veräußerung von Sozialkapital wahrscheinlicher als die Veräußerung von Human-
kapital, welches sich nicht einfach von einer Person auf eine andere €ubertragen lässt.
Schließlich kann soziales Kapital genauso wie andere Kapitalformen Renditen
abwerfen, die individuelle Produktivität fördern und zur Zielerreichung verhelfen.
Dies immer dann, wenn Menschen von ihren sozialen Beziehungen profitieren
(Vitamin B). Freilich ist der Aufbau von zuk€unftig sich auszahlenden Sozialbezie-
hungen mit dem gegenwärtigen Verzicht auf Zeit und (bisweilen) Geld verbunden.
Wie dem Aufbau von Humankapital können dem Aufbau von Sozialkapital damit
neben intrinsischen gewiss auch strategische Motive innewohnen.

2.3 Sozialkapital als öffentliches und privates Gut

Neben der Debatte um die Kapitalform ist die Frage nach dem Gutscharakter von
Sozialkapital von konzeptueller Relevanz. Im Gegensatz zu privaten G€utern kann
niemandem die Teilhabe und der Nutzen an einem öffentlichen Gut vorenthalten
werden, auch nicht denjenigen, die nichts zu dessen Herstellung beigetragen haben.
Während Bourdieu (1983) eher den privaten Anstrich des sozialen Kapitals heraus-
stellt, kann es den Theorien von Coleman (1990) und Putnam (1993, 2000) zufolge
sowohl ein privates als auch ein öffentliches Gut sein, dessen Nutzen nicht vollstän-
dig privatisiert werden kann (siehe auch Born 2014). Engagiert sich eine Gruppe von
Personen f€ ur die Einrichtung eines Grill- und Spielplatzes in einem Wohnquartier,
profitieren auch diejenigen Bewohnerinnen und Bewohner, die nicht direkt invol-
viert sind. Gleichzeitig können die durch die Zusammenarbeit entstehenden Bezie-
hungen auch einen privaten Nutzen entfalten, wenn sich die Gruppenmitglieder in
der Folge zum Zweck der gegenseitigen und abwechselnden Beaufsichtigung der
Kinder absprechen. Entsprechend kann Sozialkapital als individuelle Ressource auf
der Mikroebene oder als Systemkapital auf der Makro- oder gesellschaftlichen
Ebene wie in den Analysen von Putnam (1993, 2000) konzipiert werden. In seinem
bahnbrechenden Werk Making Democracy Work analysiert Putnam (1993) die
Leistungsfähigkeit subnationaler Verwaltungsorgane in Italien und kommt zum
Schluss, dass die Ausgestaltung der Zivilgesellschaft hierf€ur eine entscheidende
Rolle spielt. Demnach zeigen Politik und Verwaltung in denjenigen Regionen eine
276 K. Ackermann und M. Freitag

bessere Performanz, in denen eine vitale Zivilgesellschaft mit zahlreichen Verein-


igungen und engagierten B€urgerinnen und B€urgern vorzufinden sind.

3 Sozialkapital im Vergleich

Mögliche Variationen im Sozialkapitalbestand lassen sich anhand von Umfrage-


daten international vergleichen. Mit Blick auf die Häufigkeit von Vereinsmitglied-
schaften als Manifestation formeller sozialer Netzwerke zeigen insbesondere die
nordeuropäischen Länder und die Benelux-Staaten auffallend hohe Werte (Abb. 1).

Dänemark
Island
Niederlande
Norwegen
Finnland
Belgien
Irland
Luxemburg
Schweden
Schweiz
Slowenien
Grossbritannien
Deutschland
Frankreich
Tschechische Republik
Österreich
Estland
Italien
Slowakei
Griechenland
Spanien
Portugal
Ungarn
Polen
Türkei

0 20 40 60 80 100
Anteil der Befragten in Prozent

Abb.1 Vereinsmitgliedschaft im europäischen Vergleich (European Values Survey 2008). Quelle:


Freitag und Ackermann (2014, S. 54)
Social Capital in der Vergleichenden Politikwissenschaft 277

Portugal
Niederlande
Norwegen
Schweden
Israel
Spanien
Dänemark
Island
Schweiz
Belgien
Finnland
Grossbritannien
Deutschland
Kosovo
Slowakei
Slowenien
Irland
Tschechien
Bulgarien
Zypern
Russland
Estland
Polen
Ungarn

20 40 60 80 100
Anteil der Befragten in Prozent

Abb. 2 Regelmäßige Treffen im Freundes-, Verwandten- und Kollegenkreis (European Social


Survey 2012). Quelle: Freitag und Gundelach (2014, S. 94)

In Deutschland sind ungefähr 50 Prozent der Befragten Mitglied in einem Verein.


Damit liegt Deutschland auf einem mittleren Rang umgeben von seinen deutsch-
sprachigen Nachbarländern Österreich (circa 40 Prozent) und der Schweiz (circa
60 Prozent). Hinsichtlich der Pflege von informellen Netzwerken durch soziale
Aktivitäten im Freundes-, Verwandten- und Kollegenkreis verdeutlicht Abb. 2, dass
€uber 70 Prozent der Befragten in den Niederlanden, Norwegen, Schweden oder
Dänemark ihr engstes Umfeld mindestens einmal pro Woche treffen. Im Vergleich
zu den formellen Netzwerken finden sich mit Portugal und Spanien aber auch zwei
s€udeuropäische Länder sowie Israel auf Spitzenplätzen. In diesen Ländern kommt
der Familie und dem Freundeskreis traditionell ein hoher Stellenwert zu. Bez€uglich
des generalisierten Vertrauens reihen sich demgegen€uber die s€udeuropäischen Län-
der gemeinsam mit den osteuropäischen am Ende der Rangreihe ein (Abb. 3).
Spitzenreiter sind bei dieser kulturellen Komponente des sozialen Kapitals mit
Island und Schweden wiederum nordeuropäische Länder. Die Niederlande und
278 K. Ackermann und M. Freitag

Island

Schweden

Niederlande

Schweiz

Estland

Grossbritannien

Israel

Spanien

Belgien

Irland

Deutschland

Ungarn

Slowenien

Russland

Tschechien

Polen

Slowakei

Zypern

Kosovo

Portugal

Bulgarien

3 4 5 6 7
durchschnittliches allgemeines Vertrauen

Abb. 3 Generalisiertes Vertrauen im europäischen Vergleich (European Social Survey 2012,


Skala: 0 (kein Vertrauen) bis 10 (großes Vertrauen)). Quelle: Freitag und Bauer (2014, S. 160)

Schweiz folgen ihnen und weisen ebenfalls einen hohen Bestand an sozialem
Vertrauen auf (Abb. 3).

4 Bedingungen von Sozialkapital

Hinsichtlich der Bedingungen von Sozialkapital lassen sich drei Gruppen von
Faktoren unterscheiden. Erstens, kommt mehrheitlich auf der Mikroebene ange-
siedelten Faktoren der Soziodemographie und -ökonomie eine Bedeutung zu (Freitag
2003). Hierbei wird neben dem Alter, dem Geschlecht, dem Einkommen und dem
Erwerbsstatus vor allem auch der Bildungsgrad als wichtiger Einflussfaktor themati-
siert. Höher gebildete Menschen haben einer Studie von Gesthuizen et al. (2008a)
zufolge in allen Bereichen einen höheren Bestand an Sozialkapital vorzuweisen, mit
Social Capital in der Vergleichenden Politikwissenschaft 279

Ausnahme der informellen Netzwerke. Zweitens, können kulturelle Faktoren als


Bedingungen von Sozialkapital genannt werden. Zunächst wird der Religion –
gemessen auf der Mikro- oder Makroebene – ein positiver Effekt auf Vertrauen
und soziale Integration zugesprochen, wobei insbesondere die partizipativen Struk-
turen des Protestantismus die Einbindung in soziale Netzwerke fördern (Pickel 2014;
Putnam 2000; Traunm€uller 2009, 2012). Bez€uglich der Auswirkungen von ethni-
scher Diversität weist die Literatur unterschiedliche Befunde auf. Während Putnam
(2007) einen negativen Effekt von ethnischer Diversität auf Sozialkapital berichtet,
zeigen eine Reihe von Folgestudien einen positiven Effekt von Diversität auf das
Vertrauen in andere ethnische Gruppen unter bestimmten Bedingungen
(z.B. Gesthuizen et al. 2008b; Gundelach 2014a, 2014b; Stolle et al. 2008). Drittens
beeinflussen schließlich auf der Makroebene angesiedelte, institutionelle Aspekte
den Bestand an Sozialkapital. Hierbei kommen machtteilend-konsensuale Aspekte
ebenso zur Sprache wie Gesichtspunkte der Fairness, wenn es um die institutionell
garantierte Normenbefolgung geht (Freitag 2006; Freitag und B€uhlmann 2009;
Stolle und Rothstein 2007). Überdies gibt es in der Sozialkapitalforschung eine
lebhafte Debatte zum Einfluss wohlfahrtsstattlicher Institutionen in der Erzeugung
oder Eindämmung sozialkapitalrelevanter Dimensionen (Gundelach et al. 2010).
Kumlin und Rothstein (2005) zufolge fördert ein universell ausgerichteter
Wohlfahrtsstaat die Entwicklung von Sozialkapital.

5 Auswirkungen von Sozialkapital

Wirkungsanalysen zum Sozialkapital finden sich inzwischen f€ur jeden Lebensbe-


reich. Innerhalb der vergleichenden politikwissenschaftlichen Forschung werden
insbesondere die Auswirkungen auf die Demokratie, demokratische B€urgertugenden
und die Wirtschaft beleuchtet. Auf der Makroebene spricht die Mehrheit der Befun-
de f€
ur einen positiven Effekt von Sozialkapital auf die demokratische Entwicklung
in einem Land. Paxton (2002) weist in ihrer Studie jedoch darauf hin, dass dies-
bez€uglich ein reziproker Effekt vorliegt: Sozialkapital fördert die demokratische
Entwicklung in einem Land, der Demokratiegrad hat allerdings auch einen Effekt
auf den Sozialkapitalbestand. Weiterhin wird insbesondere formellen Netzwerken
ein positiver Effekt auf individuelle politische Partizipation zugeschrieben. Im Sinne
von de Tocqueville (1985 (1835)) sollen Vereine „Schulen der Demokratie“ darstel-
len. Inzwischen geht die Forschung jedoch eher von Selbstselektionseffekten aus:
Menschen, die sich in Vereinen engagieren, haben aufgrund ihrer Einstellungen und
Werte auch eine höhere Wahrscheinlichkeit, politisch zu partizipieren (van der Meer
und van Ingen 2009; van Ingen und van der Meer 2015). Dem Argument folgend,
dass Sozialkapital in Form von Vertrauen und Netzwerken die Transaktionskosten
senkt, werden positive Effekte im Bereich der Wirtschaft erwartet. Diese konnten
bisher sowohl f€ur die wirtschaftliche Entwicklung insgesamt als auch f€ur spezifische
Bereiche, wie den Arbeitsmarkt, gezeigt werden (Freitag und Kirchner 2011; Knack
und Keefer 1997; Stadelmann-Steffen und Freitag 2007). Neben den beschriebenen
Auswirkungen weist die Literatur dar€uber hinaus auch auf Effekte von Sozialkapital
280 K. Ackermann und M. Freitag

in den Bereichen Gesundheit und Lebenszufriedenheit (Ferlander 2007; Helliwell


2003: Rostila 2013) oder Kriminalität (Roh und Lee 2013) hin. Sozialkapital kann
jedoch auch Schattenseiten aufwerfen und negative Folgen f€ur den Einzelnen und
die Gesellschaft haben (van Deth und Zmerli 2010). Beispielsweise können Vorteile
f€ur Gruppenmitglieder zu Nachteilen von Außenstehenden f€uhren. Weiterhin sind
Trittbrettfahrer-Probleme denkbar, wenn Einzelne die Leistungen bestimmter Netz-
werke und Gruppen ausnutzen und damit langfristig Gruppenerfolg verschleppen
oder verhindern (vgl. Newton 1999; Portes 1998; Putnam 2000).

6 Fazit und Ausblick

Seit den Anfängen bei Bourdieu, Coleman und Putnam blickt die politikwissenschaft-
liche Sozialkapitalforschung auf eine nunmehr dreißigjährige Geschichte zur€uck. Sie
ist zwar den Kinderschuhen entwachsen, weist aber immer noch einige L€ucken auf
(Bjørnskov und Sønderskov 2013). Hinsichtlich der konzeptuellen Weiterentwicklung
bieten die selten erforschten Normen der Gegenseitigkeit am meisten Potential. Aber
auch die strukturelle Komponente ist bisher meist einseitig beleuchtet worden. Wäh-
rend die Quantität von Netzwerken häufig Gegenstand sozialwissenschaftlicher For-
schung ist, wurde die Qualität, also die tatsächlichen Ressourcen eines Netzwerkes,
nur selten in den Mittelpunkt gestellt. Hier könnte eine stärkere Hinwendung zur
Untersuchung Ego-zentrierter Netzwerke fruchtbar sein. Weiterhin fanden Persönlich-
keitsmerkmale als individuelle Determinanten von Sozialkapital bis dato nur wenig
Ber€ucksichtigung. Auch diese Verbindung zwischen sozialwissenschaftlicher und
psychologischer Forschung birgt Potential f€ur k€unftige Forschungsarbeiten. Außer-
dem wird die „dunkle Seite“ von Sozialkapital nach wie vor nur selten untersucht (van
Deth und Zmerli 2010). Gerade bindende oder innenorientierte Netzwerke, mögli-
cherweise aber auch ausgeprägte Normen der Gegenseitigkeit können negative Fol-
gen, wie beispielsweise Korruption, mit sich bringen (Griesshaber und Geys 2012).
Schließlich gilt es auch in der Sozialkapitalforschung, die Kausalität der Zusammen-
hänge genauer zu hinterfragen. Erste Beispiele zeigen, dass die Anwendung fortge-
schrittener statistischer Verfahren in dieser Hinsicht vielversprechend ist (Atkinson
und Fowler 2014; Bauer 2014; van Ingen und Bekkers 2015).

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Teil IV
Polities
Autokratien und Demokratien in der
Vergleichenden Politikwissenschaft:
Empirische Forschung und Befunde

Gert Pickel

Zusammenfassung
Die Forschungsarbeit zu Demokratien und Autokratien hat in der Vergleichenden
Politikwissenschaft eine lange Tradition. Fragen nach der Durchsetzungskraft der
Demokratie und ihrer Stabilität standen bereits fr€uh in ihrem Fokus. Mit der
zunehmenden Zahl an Demokratien etablierte sich eine stärkere Differenzierung
dieser Betrachtungen, die zum einen die feinere Qualitätsbestimmung von Demo-
kratie und zum anderen die Identifikation von potenziellen Zwischenformen
(hybride Regime, defekte Demokratien) beinhaltete. Begleitet wurde dies von
Fragen nach der Stabilität und der Leistungsfähigkeit entsprechender politischer
Systeme. Dem Befund der Ausdifferenzierung von Herrschaftstypen in eine
größere Vielfalt an Regimeformen steht die Beobachtung einer weiter voran-
schreitenden weltweiten Demokratisierung bei gleichzeitig identifizierbaren Um-
br€
uchen auch zu autokratischen Regimeformen zur Seite. Dabei scheinen Pro-
zesse der Demokratisierung nicht kontinuierlich, sondern in Wellenform zu
verlaufen und sich in der Masse gegen€uber den Veränderungen zur Autokratie
durchsetzen zu können. Hierf€ur sind nicht zuletzt immer noch bestehende Vorteile
in der Leistungsfähigkeit verantwortlich, die aber durch das Entstehen neuerer
Typen hybrider Regime genauso hinterfragt werden kann, wie aufgrund ambiva-
lenter Ergebnisse zur Auswirkung von Modernisierung und ökonomischer Leis-
tungskraft.

G. Pickel (*)
Professor f€ur Religions- und Kirchensoziologie, Institut f€
ur Praktische Theologie,
Universität Leipzig, Leipzig, Deutschland
E-Mail: pickel@rz.uni-leipzig.de

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 287


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_22
288 G. Pickel

Schlüsselwörter
Demokratie • Autokratie • Politische Systeme • Demokratisierung • Sozialer
Wandel

1 Demokratisierung oder ungezieltes Schwanken?

Im Anschluss an die Überlegungen von Samuel Huntington (1991) zu den drei Wellen
der Demokratisierung und unter Bezugnahme auf die Ergebnisse des transition to
democracy-Projektes von O’Donnell et al. (1986) etablierte sich in der modernen
Demokratieforschung das Bild eines fast zwangsläufigen Wandels hin zur Demokratie.
Die seit dem zweiten Weltkrieg weltweit zu beobachtende Zunahme der Demokratien
st€
utzte den Gedanken, dass reverse waves, die von demokratischen zu autokratischen
Ordnungen zur€ uckschwenken, zumeist nur temporären Charakter besitzen. Diesen
Verweisen auf ein Erfolgsmodell der Demokratisierung treten in j€ungerer Zeit immer
häufiger kritische Stimmen entgegen, die einen fundamentalen Bruch in der transition
to democracy zu erkennen glauben (u. a. Albrecht und Frankenberger 2010).
So wird zum einen auf die Kontingenz von Prozessen des Regimewandels ver-
wiesen, die keine quasi-universelle Annahme zugunsten einer Entwicklung in Rich-
tung des Regimetyps Demokratie zulasse und so auch keine eindeutig identifizierba-
ren kausalen Bez€uge ermögliche. Zum anderen wird seit 2007 ein Ende des
Entwicklungstrends zu mehr Demokratien thematisiert. Aus Sicht der Kritiker sind
die seit diesem Zeitpunkt beobachtbaren Verluste in der Demokratiequalität nicht
mehr allein mit einer temporären reverse-wave zu erklären. Die Entwicklung in
Richtung Demokratie sei häufig €uberbewertet worden und wenn sich nicht schon eine
Trendwende ank€ undige, so w€urden die aktuellen Entwicklungen hin zu autokratischen
Regimeformen bzw. deren teilweise hohe Stabilität doch einem Universaltrend zur
Demokratisierung widersprechen. Beziehe man dann noch die Ausdifferenzierung
einer Vielzahl von hybriden Regimen (Regime, die Merkmale von Autokratien und
Demokratie enthalten) wie auch von elektoralen Demokratien (also Demokratien
minderer Qualität) in die Betrachtungen mit ein, dann könne von einem (quasi unab-
dingbaren) Siegeszug der Demokratie nicht (mehr) gesprochen werden. Vielmehr sei
auf Seiten der in der Transformationsforschung arbeitenden Forscher ein democracy
bias erkennbar, welcher jahrzehntelang den Blick auf demokratische Einbußen ver-
stellt und eine zu optimistische Sicht auf die Entwicklung der Demokratien geworfen
habe. Als Folge dieser kritischen Position kam es in den letzten Jahren zu einer
Wiederbelebung der Beschäftigung mit Autokratien (Kailitz und Köllner 2013),
welche seit den 1970er-Jahren in der Tat etwas in den Hintergrund getreten war.
Gleichzeitig werden andere Demokratieforscher nicht m€ude auf die – aus ihrer
Sicht höchstens temporär unterbrochene – Fortsetzung der Erfolgsgeschichte der
Demokratisierung zu verweisen (Siaroff 2009; Welzel 2013). Ihre Argumentation ist
so einfach, wie bestechend: Es ist doch kaum zu leugnen, dass die Zahl der Auto-
kratien seit dem zweiten Weltkrieg deutlich abgenommen und die Zahl der Demo-
kratien zugenommen habe. Zudem hat selbst f€ur hybride Regime die Implementation
Autokratien und Demokratien in der Vergleichenden Politikwissenschaft:. . . 289

begrenzter demokratischer Elemente einen Bedeutungsgewinn erfahren. Sei es nur


zur Sicherung der Macht bzw. im Buhlen um Legitimation und um ggf. Gelder aus
internationalen Hilfsfonds zu erhalten, kaum ein politisches Regime verzichtet
mittlerweile darauf sich zumindest einen demokratischen Anstrich zu geben.1
Angesichts dieser unterschiedlichen Ansichten €uber die Entwicklungstendenzen
der Herrschaftsformen Demokratie und Autokratie im internationalen Vergleich
(Lauth et al. 2013, S. 147–167) sowie der in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich
wachsenden Bedeutung dieser Diskussion f€ur die Vergleichende Politikwissen-
schaft, ist es angebracht, sich neben der analytischen Typenbestimmung mit den
empirischen Entwicklungsprozessen auf diesem Sektor zu beschäftigen.2

2 Entwicklungen – kontinuierliche Demokratisierung,


Wellen oder Kontingenz?

Zentraler Ausgangspunkt f€ur eine Betrachtung der empirischen Entwicklung von


Demokratie und Autokratie sind die Überlegungen Samuel Huntingtons (1991). Er
sieht einen grundsätzlichen Trend der Demokratisierung, stellt allerdings dessen
Kontinuität in Frage und identifiziert mindestens drei Wellen der Demokratisierung.
Sie werden von Gegenwellen (reverse waves) begleitet. Entsprechend ist die Ent-
wicklung weder kontinuierlich noch richtungskonsistent und schon gar nicht linear.
Gleichzeitig bedeutet dies auch kein permanentes Pendeln der Länder zwischen den
Herrschaftsformen Demokratie und Autokratie. In der Gesamtansicht bleiben nach
jedem Wellen-Gegenwellen-Duett immer mehr Demokratien als Autokratien €ubrig.
Diese Dynamik zeigt Abb. 1, in der erkennbar ist, dass seit Beginn der Demo-
kratisierungen im 19. Jahrhundert neben Transitionen zur Demokratie eben auch
Zusammenbr€ uche von Demokratien und der Verbleib einer nicht geringen Zahl an
Staaten in autokratischen Zuständen zu konstatieren sind. Deutlich sind die Wellen-
bewegungen der Demokratisierung zu sehen, die gelegentlich abflauen (1958–1973;
1995–2008), in R€uckwellen zur Autokratie m€unden (siehe z. B. 1923–1936) oder
aber erneut Fahrt aufnehmen. Einfach gesagt: Trotz aller Fluktuation zwischen den
Herrschaftsformen, fällt €uber längere Zeit gesehen das Saldo zwischen Demokrati-
sierung und Zuwachs an Autokratien seit 1945 nahezu immer positiv f€ur die
Demokratisierung aus. Nur zwischen 1923 und 1936 €uberwiegend die Zusammen-
br€uche der Demokratien gegen€uber ihrer Durchsetzung gegen€uber anderen (zumeist
autokratischen) Herrschaftsformen.
Aussagen anhand von Betrachtungszeiträumen von wenigen Jahren sind somit
noch kein Beleg f€ur eine generelle Trendwende. Von einem wirklichen democratic

1
Zum Begriff des politischen Regimes siehe hier auch den Beitrag von Wolfgang Merkel in
diesem Band.
2
Zur Definition und Beschreibung von Regime- und Herrschaftstypen sowie von Demokratie und
Autokratie siehe den Beitrag von Hans-Joachim Lauth in diesem Band, zu Prozessen des System-
wandels den Beitrag von Wolfgang Merkel und zu Stabilität von politischen Systemen als Aspekt
der politischen Kulturforschung den Beitrag von Susanne und Gert Pickel.
290 G. Pickel

Zeitraum Anzahl der Anzahl der DN Anteil der


Transionen Zusammen- Zusammenbrüchein
zur Demokrae brüche Bezug auf
Transionen
1. Welle 1829-1922 36 4 64 10%
Moderate Phase 15 3 56 17%
Intensive Phase 21 1 64 4%
Reverse Wave 1923-1936 4 15 66 79%
Stabilitätsphase 1937-1943 0 0 64 0%
2. Welle 1944-1957 28 8 88 22%
Fluktuaon 1958-1973 27 24 144 47%
3. Welle 1974-2004 96 24 192 20%
Moderate Phase 1974-1989 40 12 167 23%
Intensive Phase 1990-1994 41 3 191 7%
Moderate 1995-2008 20 12 193 38%
Stabilisierung

Abb. 1 Wellen der Demokratisierung (Year-End-Totals). Quelle: Siaroff (2009, S. 275 mit eigenen
Ergänzungen; Anteil der Zusammenbr€ uche = Anteil der Zusammenbr€ uche in Relation zu Anzahl
aller Transitionen in Prozent; DN = Zahl aller eigenständigen politischen Systeme nach Freedom
House; zu den weiteren Kategorisierungen siehe Siaroff 2009)

rollback ist erst bei längerfristigen Entwicklungen hin zu Autokratien zu sprechen.


Ein solcher kann aus den obigen Daten derzeit noch nicht abgeleitet werden.
Gleichzeitig wird die doch beachtliche Fluktuation zwischen den Regimezuständen
Demokratie und Autokratie erkennbar. Zwar f€uhren politische Dynamiken nicht
immer gleich zu einem radikalen Systemwechsel, im Sinne eines Umbruchs von
Demokratie zu Autokratie oder umgekehrt, sie können sich aber in moderaten
Veränderungen der demokratischen Qualität niederschlagen.
Gerade f€ur die Erfassung der letzteren hat die Demokratieforschung in den letzten
Jahrzehnten empirische Instrumentarien entwickelt. Die da entstandenen zahlreichen
empirischen Zugänge werden unter dem Begriff der Demokratiemessung (Pickel und
Pickel 2006; M€ uller und Pickel 2007; Lauth 2004) zusammengefasst. Neben der
Identifizierung von Kernmerkmalen demokratischer und autokratischer Herrschaft
sowie deren empirischer Erfassung besitzen sie gegen€uber dem bisherigen Vorgehen
den Vorzug einer differenzierteren Analyse von politischen Systemen hinsichtlich ihrer
Positionierung auf einem Kontinuum zwischen Demokratie und Autokratie. Anders als
noch Huntington (1991), der mit seinem minimalistischen Demokratiebegriff auch
elektorale Demokratien und hybride Regime der Kategorie Demokratie zuordnete
(Pickel 2015), werden €uber die Demokratiemessung kleinteiligere Defekte und Ge-
winne aus Sicht der jeweiligen Idealzustände (Demokratie, Autokratie) aufgesp€urt.3
Eine Möglichkeit hierf€ur liefert der Freedom House-Index, der freie, teilweise freie und

3
An dieser Stelle möchte ich nicht intensiv auf Debatten u€ber die Präzision und Tragfähigkeit
verschiedener Vorgehen der Demokratiemessung eingehen. Hierzu siehe Pickel und Pickel 2006;
Lauth 2004; M€uller und Pickel 2007. Ebenfalls angesprochen wird die Demokratiemessung in dem
Beitrag von Lauth in diesem Band.
Autokratien und Demokratien in der Vergleichenden Politikwissenschaft:. . . 291

50 46 46
42 41
40
40 35
31 32
30 29
28 28
30 25 25
22
20

10

0
1972-1979 1980-1989 1990-1999 2000-2007 2008-2012

frei teilweise frei unfrei

Abb. 2 Entwicklungstrends zur Demokratie nach Freedom House (in Prozent). Quelle: Eigene
Darstellung auf Basis kumulierter Daten des Freedom House-Index (www.freedomhouse.org);
Anteile jeweils Periodensummenwerte der Zustände im Messzeitraum in Prozent aller Länder.
Detaillierte Informationen zu Transitionen und Zusammenbr€
uchen bei Siaroff (2009, S. 268–272)

unfreie Staaten anhand einer Bewertungsskala klassifiziert, die auf Experteneinschät-


zungen basiert. Anhand des Freedom House-Index kann eine Erhöhung der Zahl der
freien Staaten im Zeitraum von 1972 bis 2008 von 30 % auf 46 % festgestellt werden
(Abb. 2). 2012 werden 90 Länder von Freedom House als frei eingestuft. Bei Einbezug
der als elektoral bewerteten Demokratien stellt Freedom House sogar den enormen
Zuwachs von 68 Ländern im Jahr 1989 auf 118 Länder im Jahr 2012 fest.
Der Anteil der unfreien Staaten hat sich seit 1972 fast halbiert und liegt 2012 bei
47 eigenständigen Staaten. Allerdings m€ussen Länder, die den Status einer Demo-
kratie zu einem bestimmten Zeitpunkt erreicht haben, in der Folge nicht zwingend in
diesem Zustand verbleiben. Dies gilt insbesondere, wenn die Transformationsphasen
noch nicht weit zur€uckliegen oder noch gar nicht abgeschlossen sind (Erdmann
2011, S. 28–30). Entsprechende Entwicklungen in unterschiedliche Richtungen
lassen sich aktuell im arabischen Raum beobachten, wo wechselhafte Dynamiken
Raum greifen – und unterschiedliche Bewegungen zu beobachten sind. Auch in
anderen Regionen der Welt (z. B. Nachfolgestaaten der UdSSR) unterliegen Staaten
zeitweise oder dauerhaft R€uckschritten in ihrer Demokratiequalität. Freedom House
beobachtet gerade in den letzten sieben Jahren verstärkt entsprechende R€uckschritte
(z. B. von 2011 auf 2012 in 27 Ländern R€uckschritte bei nur 16 Verbesserungen hin
zu mehr Demokratie), was auf eine doch beachtliche Fluktuation im Schatten der
stabil scheinenden Ergebnisse hinweist. Gleichzeitig wird hier ein Merkmal der
Veränderungen deutlich: Es kam trotz der Verluste an Demokratiequalität im glei-
chen Zeitraum zu keinem Anstieg des Systemtyps „unfrei“, aber zu einem Anstieg
von drei Staaten in der Kategorie „frei“. Ob es sich also, wie Svolik (2008) disku-
tiert, um eine nun einsetzende grundsätzliche regression of democracy handelt,
kann mit den derzeitigen Daten noch nicht mit Sicherheit beantwortet werden
(auch Erdmann und Kneuer 2014). Vieles spricht aber derzeit f€ur eine temporäre
Schwächephase der Demokratie, wie sie in jeder Transitionswelle nicht un€ublich
292 G. Pickel

war. Gleichwohl besteht die Möglichkeit, dass sich Subtypen von Demokratie mit
demokratischen Elementen oder aber auch spezifische Typen hybrider Regime fester
als bislang seitens der Demokratieforschung vermutet etablieren könnten.
Auch das stärker auf die institutionelle Seite der Demokratie ausgerichtete Mess-
instrument von Polity sowie der auf wenigen objektiven Indikatoren beruhende Index
of Democratization von Vanhanen kommen in ihren Berechnungen zu einer vergleich-
baren Steigerung der Anzahl der Demokratien seit dem zweiten Weltkrieg und 1970.
Folgt man diesen Ergebnissen, so erf€ullen sich – zumindest langfristig – die hoff-
nungsvollen Annahmen der modernisierungstheoretisch ausgerichteten Demokratisie-
rungstheorie (Lipset 1981), welche von einer durch sozioökonomische Modernisie-
rung und Bildungsexpansion ausgelösten Demokratisierung mit fortschreitender
Modernisierung ausgeht.4 Allerdings kann dieser Befund nicht als endg€ultiger Beweis
f€
ur eine weitere Ausbreitung der Demokratisierung dienen. Zwar entwickeln sich viele
Länder unter bestimmten Rahmenbedingungen zu Demokratien, aber nicht wenige
andere Länder bleiben langfristig Autokratien. Wir finden entsprechend in den Ein-
ordnungen von Freedom House noch 47 Länder, die 2012 als nicht frei klassifiziert
werden. Zusätzlich stellt sich die Frage, inwieweit man die immerhin 58 Länder, die
2012 als „teilweise frei“ eingestuft werden, nicht eher dem Typus Autokratie zurech-
nen muss. Schließlich weisen sie teils erhebliche Einschränkungen in Kategorien auf,
die man f€ ur eine Einschätzung als Demokratie als maßgeblich erachtet
(z. B. Partizipationschancen der B€urger, Gewährleistung von Freiheitsrechten).
Hier ist es hilfreich die Differenzierung der Herrschaftstypen genauer in den
Blick zu nehmen und den bislang homogenen Block der Autokratien in Typen zu
differenzieren. Hadenius und Teorell (2006) nehmen solche feineren Differenzie-
rungen vor und ber€ucksichtigen auch hybride Regime. Unter R€uckgriff auf eine
Differenzierung von Geddes (1999) zwischen Einparteienregimen, Militärregimen
und personalistischen Regimen unterscheiden sie die nichtdemokratischen Systeme
nach ihrem zentralen Machtmechanismus. Das Ergebnis sind die Obertypen Monar-
chien, Militärregime und Wahlregime, wobei die Wahlregime noch in Keinpartei-
regime, Einparteienregime und beschränkte Mehrparteienregime aufgespaltet wer-
den können. Die beschränkten Mehrparteienregime werden nochmals in Subtypen
mit dominanter Partei oder ohne dominante Partei aufgefächert.5
Nicht nur die Zahl der Demokratien hat sich im Zeitverlauf erhöht, sondern es hat
auch eine Verschiebung zwischen den Typen autokratischer Regime stattgefunden:
Dominierten in den 1970er-Jahren innerhalb der Autokratien noch Militärregime
und Einparteienregime, so erlitten diese spätestens in der dritten Demokratisierungs-
welle um 1990 einen Bedeutungsverlust. Es erfolgte eine Verschiebung hin zu
beschränkten Mehrparteiensystemen. Diese kann man einerseits als Folge von

4
Siehe hierzu auch den Beitrag von Wolfgang Merkel in diesem Band mit den Verweisen auf die
unterschiedlichen Theorien der Transformationsforschung (auch Kollmorgen et al. 2015).
5
In ihrer Typologie finden sich zudem noch Kombinationen der Regimezuordnungen wieder, von
denen die häufigsten das Militärregime mit elektoralen Elementen und das dominante
Mehrparteienregime sind.
Autokratien und Demokratien in der Vergleichenden Politikwissenschaft:. . . 293

60
50
40
30
20
10
0
1972-1977 1978-1983 1984-1988 1989-1993 1994-1999 2000-2005
Monarchie Militärregime Keinparteiensystem
Einparteiensystem beschr. Mehrparteiensystem Andere Form
Demokratie

Abb. 3 Die Entwicklung von Demokratie und Autokratieformen im Zeitvergleich. Quelle: Eigene
Darstellung anhand „Autoregime“-Datensatz von Hadenius und Teorell (2006, S. 25–33);
Kodierung und Klassifikationsschema; Zuordnung zu Regimetyp erfolgt auf Basis des zentralen
Merkmals des Systems; Prozentanteile an den 193 untersuchten Ländern. Mit abweichenden
Kategorien Siaroff (2009, S. 239–263)

Demokratisierungs- und Hybridisierungsprozessen deuten, andererseits als Entwick-


lung einer neuen Form autokratischer Herrschaft interpretieren. Ein Grund f€ur diese
Entwicklung ist die Hoffnung auf eine bessere Absicherung der eigenen Machtbasis
der herrschenden Eliten durch ein gewisses Maß an Legitimitätsgewinnen aufgrund
der Einf€ uhrung demokratischer Elemente, ein anderer die häufig beobachtbare
Konstitution dieses Regimetyps als Übergangstypus im Rahmen von Transforma-
tionsprozessen. So weisen beschränkte Mehrparteienregime oft nur eine kurze Ver-
bleibdauer in diesem Stadium auf. Viele werden in den Folgejahren zu Demokratien,
einige heben verschiedene der gewährten Partizipationsrechte wieder auf und gehen
in eine Autokratieform €uber, die nicht unbedingt die gleiche sein muss wie vor der
Ausbildung des beschränkten Mehrparteienregimes (Abb. 3).
Relativ konstant bleibt die Zahl der Monarchien. Die Monarchien, welche die fr€uhe
Schwundphase im 19. und 20. Jahrhundert €uberlebt haben, besitzen allem Anschein
nach in den Gegenwartsgesellschaften eine hohe Resistenz gegen€uber grundsätzlichen
Veränderungen. Bezeichnend ist, dass sie nach diesem Klassifikationsmuster mittler-
weile (allerdings nur knapp) die zweitgrößte Gruppe von Autokratien darstellen. Dies
ist zum einen auf in Monarchien etablierte flankierende demokratische Elemente, die
ihren Bestand weiter sichern, als auch auf den rapiden Bedeutungsverlust aller anderen
Autokratieformen jenseits der beschränkten Mehrparteienregime zur€uckzuf€uhren.6
Bereits angesprochen wurde die regionale Unterschiedlichkeit in der Demokratisie-
rung oder der Wiederannäherung an autokratische Systeme. Sind die Entwicklungen in
Europa, jenseits der sowjetischen Nachfolgestaaten, extrem stabil und erfahren selten,

6
Die Kategorie „andere Form“ umfasst Länder, die zu den Erhebungszeitpunkten Theokratien waren
oder sich im B€urgerkriegszustand bzw. unter Besetzung durch eine fremde Macht befanden.
294 G. Pickel

selbst im sensitiveren Bereich der Demokratiequalität, Einbußen, besteht in anderen


Regionen der Welt eine größere Fluktuation. Am häufigsten sind Verluste der Demo-
kratiequalität in Lateinamerika, speziell zwischen 1989 und 2008, zu konstatieren
sowie in Asien f€ur den gesamten Zeitraum seit 1970. Zwar finden sich auch in Afrika
ähnliche Bewegungen, aber (noch) in geringerem Umfang als in den beiden genannten
Vergleichsgebieten. F€ur Afrika könnte man bislang von einer Stabilität der Autokratien
sprechen (Erdmann 2011, S. 26–28). Bemerkenswert ist, dass weltweit gesehen zwar
36 Länder einen R€ uckfall vom Status der Demokratie in die Hybridität erlitten, aber nur
5 Länder sich wieder zu einer vollständigen Autokratie wandelten. Immer häufiger
finden die Bewegungen zwischen Demokratie und hybriden Regimetypen oder inner-
halb der hybriden Regime statt.
Zusammengefasst besteht ein Nebeneinander von erfolgreicher Demokratisierung
und Ausdifferenzierung von hybriden sowie unterschiedlichen autokratischen Regime-
formen. Der Siegeszug der Demokratie ist nicht wirklich gebrochen, gleichzeitig
erhöht sich doch, jenseits der alle Kriterien erf€ullenden Demokratien, auch die Vielfalt
anderer politischer Herrschaftsformen der Gegenwart. Die Existenz elektoraler Demo-
kratien, defekter Demokratien, von Demokratien mit Adjektiven oder von Varianten
hybrider und autokratischer politischer Regime stellt mittlerweile einen normalen
Zustand weltweiter Herrschaftsordnungen dar (Levitsky und Way 2010). Auch Dis-
kussionen €uber undemokratische Elemente in etablierten Demokratien (Crouch 2008)
wie auch Verträglichkeitsproblemen von Kapitalismus und Demokratie (Merkel 2010;
Streeck 2013) haben merklich zugenommen. So wie sich allerdings zeigt, dass in
einigen Regionen der Welt in bestimmten Zeitabschnitten recht rege Schwankungen in
der Demokratiequalität stattfinden, die gelegentlich auch einen (zumindest temporä-
ren) Wechsel im Herrschaftstyp mit sich bringen, finden sich auch größere Oasen der
politischen Stabilität – seien es Demokratien, hybride Regime oder Autokratien.

3 Gründe und Bedingungen für Regimewandel oder


Regimepersistenz

Was sind nun die Gr€unde f€ur einen Systemwandel oder Regimepersistenz? Hier hat
sich in der empirischen Forschung der letzten Jahre einiges getan. Zweierlei wird
deutlich: Zum ersten ist zwischen den speziellen (Kombinationen von) und
€ubergreifenden Gr€unden f€ur die Konsistenz von Demokratien oder Autokratien zu
differenzieren (auch Kailitz und Köllner 2013, S. 17–23). Viele Einflussfaktoren
entfalten ihre Wirkung relativ unabhängig vom spezifischen Herrschaftstyp. Dies
trifft zum Beispiel f€ur die ökonomische Effektivität des Systems, seinen Korrup-
tionsgrad oder den Nutzen einer Legitimität des Regimes in der Bevölkerung
zu. Gleichzeitig besitzen auch andere Faktoren, vor allem Akteure und kulturelle
Rahmenbedingungen, f€ur Wandel oder Persistenz eine Bedeutung.7 Zum zweiten

7
Zu den Erklärungsansätzen der Systemwechsel- und Transformationsforschung siehe den Beitrag
von Wolfgang Merkel in diesem Band (auch Merkel 2010).
Autokratien und Demokratien in der Vergleichenden Politikwissenschaft:. . . 295

Effekvität des Identät und Kollekve Weitere Faktoren


Systems Kultur Ideologie
Ökonomischer Erfolg Starke Verbreitung von Feste Verankerung Gehorsam aus Gewohnheit
Wohlstand/Ressourcenreichtum Naonalismus in der gemeinschalicher Gering ausgebildete
Bevölkerung Werte in Bevölkerung Zivilgesellscha
Erfolgreiche soziale
Umverteilung von Ressourcen Geteilte religiöse Existenz einer Persönliche Vorteile aus
Überzeugungen Ideologie der Regimeexistenz
Gewährleistung sozialen
Ethnozentrismus in der Gleichheit
Ausgleichs in Bevölkerung Charisma des Herrschers
Bevölkerung Existenz einer
Polische Effekvität Posive Erfahrungen mit
Ideologie der
Außenpolischer Erfolg dem polischen System
individuellen Freiheit
↓ ↓ ↓ ↓
Legimität und polische Unterstützung des Regimes (in der Bevölkerung)
+ + + +
Repressionspotenal und Instuonenstruktur Akteurskonstellaonen Haltung des Militärs und
Repressionswille der des polischen Systems und Machtzugang der der Ordnungskräe zum
Herrschenden Akteure Regime
↓ ↓
Stabilität (oder Instabilität) des polischen
Regimes
(Demokrae wie Autokrae)

↑ ↑ ↑ ↑
Weltwirtschaliche Verzahnung Nachbarstaaten und Internaonale Kommunikaonsstrukturen
Grenzkonflikte Organisaonen und Diffusionskanäle
Exogene Faktoren

Abb. 4 Potentielle Faktoren der Stabilität (oder des Wandels) politischer Regime. Quelle: Eigene
Zusammenstellung, siehe Pickel (2013, S. 185)

muss man zwischen den aktuellen Gr€unden und Bedingungskonstellationen, die


einen konkreten Regimewechsel auslösen und grundsätzlichen, strukturellen Bedin-
gungsfaktoren, die einen solchen Umbruch vorbereiten – oder wahrscheinlich wer-
den lassen, unterscheiden. Sind erstere f€ur den konkreten Umbruch notwendig,
stellen letztere die langfristige Komponente der Unterhöhlung eines politischen
Regimes dar. Die grundsätzlichen Voraussetzungen f€ur Wandel oder Persistenz kann
man in die Komplexe „Identität und Kultur“, „kollektive Ideologie“, „Effektivität
des politischen Systems“ sowie weiteren (€uberwiegend exogenen) Faktoren als
Sammelkategorie unterscheiden (Abb. 4). Da Effektivität und Leistungsfähigkeit
eine besondere Rolle spielt wird dieser Aspekt gesondert behandelt.
Folgt man den vorliegenden Forschungsergebnissen, so reicht eine reine sozio-
ökonomische Modernisierung f€ur Demokratisierung nicht aus. Betrachtet man ent-
sprechende Prozesse, so entwickeln sie sich meist langfristig und sind an historische
Pfadabhängigkeiten (kulturell oder strukturell) und entsprechende legacies gebun-
den (Agemoclu und Robinson 2006, S. 355–357; Siaroff 2009, S. 126–128; Teorell
2010, S. 43–45). Regionale und die eigene Nation betreffende Zugehörigkeitsge-
f€
uhle fallen dabei genauso ins Gewicht, wie eine positive Erfahrung mit einem
Herrschaftssystem und seinen Institutionen. Um diese zu gewinnen, benötigt es Zeit.
Dann allerdings scheinen zumeist die positiven die negativen Erfahrungen zu
296 G. Pickel


uberstrahlen. Nicht umsonst sind zum Beispiel j€ungere Demokratien wesentlich
anfälliger f€ur einen backslash als Demokratien, die bereits eine längere „Lebenszeit“
haben (Erdmann 2011, S. 29; Markoff 2009, S. 59–60). Faktoren, wie eine geteilte
(nationale) Identität oder eine kollektive Ideologie, helfen die politische Gemein-
schaft zusammenhalten. Gemeinsame Werte, religiöse Überzeugungen aber vor
allem der Bezug auf die Zugehörigkeit zu einer spezifischen politischen Gemein-
schaft wie auch religiöse Gemeinsamkeiten (verbunden mit der Abgrenzung zu
anderen Gemeinschaften, Ethnozentrismus und Feindbildidentifikation außerhalb
der eigenen politischen Gemeinschaft) erweisen sich als systemstabilisierende kul-
turelle Faktoren (Komplex: Identität und Kultur) – egal ob Demokratie oder Auto-
kratie.
So besitzt neben einer guten Performanz auf der ökonomischen Ebene eine von
B€urgern und Eliten geteilte kollektive Ideologie den größten Einfluss auf Demokra-
tisierung oder politische Stabilisierung. Dies gilt vor allem dann, wenn es gelingt
diese als normative Grund€uberzeugungen bei den B€urgern zu verankern – oder den
Eindruck zu erwecken, dass man bereits bei den B€urgern hochgeschätzte Werte in
den Vordergrund seiner Ausgestaltung des politischen Systems r€uckt. Gleichheit ist
eine solche Ideologie, individuelle Freiheit (in Demokratien) eine andere. Gelegent-
lich stellt es ein Problem dar, das zwischen Wertpräferenzen der B€urger Konkurrenz-
verhältnisse bestehen. Manchmal kann dies aber auch genutzt werden. So kann eine
Herrschaftselite, gelingt es ihr Gleichheit oder ein starkes Nationalbewusstsein als
normative Prämisse in der Bevölkerung zu etablieren, damit andere Präferenzen der
B€urger (z. B. Freiheit) ausspielen. Neben den kollektiven Ideologien kann ein
spezifisches persönliches Charisma einer F€uhrungsperson, gerade auch in populisti-
schen Regimen, eine gering ausgeprägte Zivilgesellschaft (und eher apathische
politische Kultur) sowie ein konkreter persönlicher Nutzen aus dem Erhalt des
Regimes (z. B. € uber Klientelismus) Akteure f€ur einen Erhalt des bestehenden
politischen Regimes motivieren.
Doch nicht nur akteurszentrierte Erklärungen, sondern auch institutionelle und
strukturelle besitzen ihre Wirkung (siehe Faust und Muno 1998, S. 145). So ist die
Wirkung von Diffusionsprozessen aufgrund von Demonstrationseffekten „erfolgrei-
cher Regime“ aber auch die Übertragung demokratischer Werte auf die B€urger f€ur
die Delegitimierung autokratischer Regime nicht zu unterschätzen (Lauth und Pickel
2011).8 Dies gilt insbesondere, wenn sich die Vergleichsstaaten durch kulturelle
Ähnlichkeit auszeichnen und damit die Möglichkeit der Herrschenden, nationale
Legitimationsstrategien zur Abgrenzung einzusetzen, untergraben. In der Summe
schlagen sich diese Prozesse erst €uber die Vermittlung durch Bevölkerungshaltungen
oder besser die bestehende oder nicht bestehende Legitimität des politischen Regi-
mes nieder. So kommt der politischen Kultur eine wesentliche Rolle f€ur die Stabilität
politischer Systeme zu. Gerade f€ur Autokratien hängt der Herrschaftserhalt auch nicht
unwesentlich von der Mischung aus Repressionspotential und Repressionswillen

8
Ein typischer Demonstrationseffekt zeigte sich f€
ur die sozialistischen Systeme mit Blick in das
wohlhabende und individuelle Freiheiten gewährleistende Westeuropa.
Autokratien und Demokratien in der Vergleichenden Politikwissenschaft:. . . 297

der Herrschenden ab. Auch die Institutionenstruktur spielt eine Rolle f€ur die Persistenz
des Systems, sind doch parlamentarische Systeme in der Regel etwas stabiler als
präsidentielle (Kailitz 2013; Kailitz und Köllner 2013, S. 17, S. 23–24). Zudem kann
die Einbindung in internationale Organisationen – je nachdem, welche Organisationen
es sind – einen positiven oder aber destabilisierenden Effekt auf das politische Regime
aus€uben (Holbig 2010). Vielerorts ist die Haltung des Militärs und der Ordnungskräfte
zum Regime ein Faktor f€ur oder gegen den Systemerhalt.
F€ur einen konkreten Umbruch zentral ist die Existenz von Akteuren, die einem
Umbruch positiv gegen€uberstehen. Dabei bestimmen die Akteurskonstellationen
den Zeitpunkt des Wandels, die politische Unterst€utzung sowie die Rahmenbedin-
gungen sind ausschlaggebend f€ur eine generelle Wandlungsreife des politischen
Systems. Rahmenbedingungen, wie die Verf€ugbarkeit €uber Restriktionsmittel, die
Resistenzkraft traditional-ideologischer Hemmfaktoren, aber auch die Entwicklung
der soziokulturellen Rahmenbedingungen sind ebenfalls zu ber€ucksichtigen.
Zumeist findet dieser Übergang dann statt, wenn sich oppositionelle Akteure for-
mieren, die bereit sind, die herrschenden Eliten abzulösen und Reformen einzuleiten.
Dies geschieht allerdings vor dem Hintergrund langfristiger Delegitimierungspro-
zesse und einer Erosion der politischen Unterst€utzung der bestehenden politischen
Regime (Inglehart und Welzel 2005) – und dies gleichermaßen f€ur Autokratien wie
Demokratien.

4 Differenzen in der Leistungsfähigkeit politischer Regime

Damit bleibt es einen gesonderten Blick auf den in den Diskussionen dominanten
Faktor zu werfen – der Effektivität und Leistungsfähigkeit politischer Regime und
deren Folgen. Im Rahmen der Effektivitätsdimension ist es insbesondere die (von
ihrer Ausrichtung auf Demokratie oder Autokratie unabhängige) Fähigkeit des
politischen Regimes, seinen B€urgern eine gewisse ökonomische Wohlfahrt zur Ver-
f€ugung zu stellen und auswuchernde Korruption zu vermeiden, die den Systemerhalt
befördert. Gerade der sozioökonomischen Entwicklung wird große Bedeutung f€ur
den Systemerhalt zuteil. Diese stabilisierende Funktion f€ur alle Systeme ist nicht
selbstverständlich, galt doch lange Zeit die Annahme eines konstitutiven Zusam-
menhangs zwischen Wohlstand und Demokratie mit der Aussage: „Die sich mit der
zunehmenden Modernisierung steigernde ökonomische Wohlfahrt befördert die
Demokratisierung“.
Wie empirische Studien zeigen, ist dieser Zusammenhang allerdings in dieser
pauschalen Form so nicht g€ultig (Gasiorowski 2000; Faust und Muno 1998). Teorell
(2010, S. 58, 76) arbeitet zum Beispiel in seinen quantitativ-empirischen Analysen
eine ambivalente Wirkung von Wohlfahrt auf den Demokratisierungsprozess heraus.
Ökonomische Erfolge stabilisieren nicht nur Demokratien, sondern stellen auch f€ur
Autokratien einen der stärksten Resistenzfaktoren gegen den Systemzusammen-
bruch, und damit auch die Demokratisierung, dar. Umgekehrt gilt, ob nun Demo-
kratie, hybrides Regime oder Autokratie, jedes politische Regime unterliegt in länger
andauernden wirtschaftlichen Rezessions- und Krisenphasen einer Gefährdung der
298 G. Pickel

politischen Unterst€utzung durch die B€urger und damit der Gefahr einer wachsenden
politischen Instabilität.9 Der Weg zur Demokratie muss sich also nicht zwingend aus
einer ökonomischen Wohlfahrtssteigerung ergeben, sondern benötigt zusätzliche
Modernisierungsimpulse wie zum Beispiel eine Bildungsexpansion sowie indivi-
duelle Freiheitsgewinne (Lipset 1981; Welzel 2013).
Selbst wenn diese Faktoren langfristig den Trend zur Demokratisierung zu stär-
ken scheinen, gibt es f€ur Autokratien und hybride Regime Schutzfaktoren gegen eine
Demokratisierung. Ein wichtiger Aspekt ist der Zugang zu nat€urlichen Ressourcen,
mit denen die Autokraten in die Lage versetzt werden, ihre Klientel innerhalb der
politischen und wirtschaftlichen Eliten bedienen zu können, ohne gleichzeitig die
Bevölkerung zu stark vernachlässigen zu m€ussen. Diese als „Ressourcenfluch“ oder
„Rentiereffekt“ (Ross 2001; Smith 2004) bekanntgewordenen Überlegungen ver-
weisen darauf, dass es Autokratien mit ihren auf Bodenschätzen beruhenden öko-
nomischen Ressourcen gelingt, Umbr€uche €uber längere Zeit zumindest aufzuschie-
ben und Krisen zu €uberstehen. Sie können ihren B€urgern durch niedrige Steuern und
hohe finanzielle Unterst€utzungsleistungen einen gewissen Wohlstand bieten.
Dadurch vermeiden diese Regime die zu ungerechte Verteilung von Wohlstands-
ressourcen in der Bevölkerung (Boix 2003, S. 35) und verhindern einen niedrigen
Einkommensstand vieler B€urger, der f€ur Unzufriedenheit sorgt und das System
gefährdet (Erdmann 2011, S. 31–34). Diese Maßnahme sichert ihnen politische
Unterst€utzung – und verhindert nach Ross (2001, S. 354–356) zudem den Modern-
isierungseffekt einer demokratiefördernden Industrialisierung mit funktionaler Dif-
ferenzierung der Erwerbsarbeit und Ausbildung einer Mittelschicht, die die Auto-
kratien in Frage stellt (Lipset 1959). Zudem ermöglichen die finanziellen
Möglichkeiten den Ausbau von Repressionskräften (Ross 2001, S. 349–351). Auto-
kratien, die nicht €
uber hinreichend nat€urliche Ressourcen verf€ugen, fällt es schwerer
dauerhaft und gerecht verteilt Wohlstand f€ur die Gesamtbevölkerung bereitzustellen.
Effektivitätseinbr€uche m€ussen nicht zwingend sofort in den Zusammenbruch des
politischen Systems m€unden. Der zeitliche Abstand zwischen ökonomischer Krise
und Zusammenbruch deutet auf eine vermittelnde Stellung der politischen Unter-
st€
utzung durch die B€urger (siehe Abb. 4). In Demokratien scheint insbesondere die
Abhängigkeit der politischen Eliten von Wahlen und zivilgesellschaftlichen pressure
groups eine bessere Verteilung des Erwirtschafteten auf die Bevölkerungen zu
erzwingen, darauf deutet die – allen Diskussionen €uber steigende soziale Ungleich-
heit in den Industrieländern zum Trotz – im Durchschnitt wesentlich geringere
soziale Ungleichheit in Demokratien hin (Gini-Index; Human Development Rep-
orts).10 Autokratische Herrscher sind dagegen auf die Unterst€utzung weniger Eliten
(oft Wirtschaftseliten) angewiesen und m€ussen verstärkt auf deren Renditen achten.

9
Ergebnisse von Pickel (2009: S. 318) zeigen, dass unterdurchschnittliche Wachstumsraten zu
Demokratisierungsverlusten f€uhren, während hohe Wachstumsraten zur Stabilität von Autokratien
beitragen. F€ur die negative Wirkung der geringen Wachstumsraten auf die Demokratien ist eine
schlechtere sozioökonomische Wohlfahrt und politische Effektivität (Korruption, Klientelismus)
förderlich.
10
Ohne Frage wirkt sich hier auch die Verzahnung von Demokratien und Industriestaaten aus.
Autokratien und Demokratien in der Vergleichenden Politikwissenschaft:. . . 299

Dies reduziert die Möglichkeiten sozialer Umverteilung und hat €uber die Zeit oft den
Entzug der politischen Unterst€utzung durch die Masse der B€urger zur Folge, wird
doch ein f€ ur viele Autokratien wichtiges normatives Ziel, das der ökonomischen
Gleichheit bzw. der Partizipation weiter Teile der Bevölkerung am Wohlstand, nicht
eingelöst. Boix (2003) sieht sogar explizit die Verbindung zwischen Wohlstands-
produktion und deren Umverteilung als entscheidend f€ur den Erfolg von Demo-
kratisierungsbestrebungen (auch Kailitz 2013).
Betrachtet man nun die unterschiedlichen Typen politischer Regime unter dem
Blickwinkel ihrer Leistungsfähigkeit, dann war lange Zeit die sozioökonomische
Leistungsfähigkeit von Demokratien in der Regel größer als die von Autokratien. Sie
waren – und sind dies teilweise heute noch – besser in internationale Wirtschafts-
systeme eingebunden und haben die nicht f€ur Militär und Polizei aufgewendeten
Ressourcen zur Steigerung ihrer – zumeist kapitalistischen Wirtschaftssysteme ge-
nutzt. Dies ist aber kein zwingender, universaler Zusammenhang. So zeigen mitt-
lerweile verschiedene Autokratien,11 an vorderster Front China, dass Autokratie und
wirtschaftlicher Erfolg (zumindest temporär) vereinbar sind. Alle politischen
Regime stehen hier aber unter dem primären Anspruch der Bevölkerungen, auf
lange Sicht ein gewisses Maß an Wohlstand zu erzeugen und dieses dann auch in
größeren Teilen auf die B€urger umzuverteilen. Hier ist es noch unklar, wie ob dies
langfristig so ausreichend ist um auch den autokratischen Systemerhalt zu gewähr-
leisten – oder doch langfristig die mit Modernisierung verbundenen Veränderungen
die W€ unsche nach einem mehr an Demokratie ansteigen lassen. So gelingt es
Demokratien scheinbar immer noch besser die Freiheitsbestrebungen der B€urger
zu befriedigen, als dies Autokratien oder hybride Regime erreichen (Welzel 2013).
Gerade in diesem Punkt zeigt sich auch die Begrenztheit der Verf€ugbarkeit €uber
Ressourcen, wie sie durch Bodenschätze bestehen kann. Sie können einen gewissen
Wohlstand durch Umverteilung bereitstellen, lindern aber nur begrenzt den Wunsch
nach Freiheit. Gleichzeitig zeigt sich aber auch, dass B€urger bereit sind Einschrän-
kungen zu akzeptieren, haben sie das Gef€uhl etwas anderes daf€ur zu erhalten.
Wohlstand kann begrenzte Freiheitseinschränkungen zumindest teilweise legitimie-
ren. Der Entschl€ usselung dieser komplexen Wirkungen von Modernisierung, sozio-
ökonomischer Wohlfahrt, Demokratisierung und Systemtyp kommt in der aktuellen
empirischen Forschung immer stärkere Bedeutung zu (Acemoglu und Robinson
2012; Boix 2003; Streeck 2013).

5 Fazit – Entwicklungsvielfalt nach Ausbreitung der


Demokratie

Fasst man die empirische Entwicklung der letzten Jahrzehnte zusammen, so muss man –
allen Gegenbewegungen zum Trotz – von einem langfristigen Erfolgszug der Demo-
kratie sprechen. Seit Ende des zweiten Weltkrieges breitete sich die Demokratie

11
Merkel nennt sie autoritäre Modernisierungsregime. Siehe seinen Beitrag in diesem Band.
300 G. Pickel

weltweit aus – auch wenn dies vielleicht oft nur in Form von elektoralen Demokratien
der Fall war. Dieser Trend in Richtung Demokratisierung ist, zumindest soweit man dies
aktuell sagen kann, ungebrochen. Demokratisierung bedeutet dabei nicht zwangsläufig
immer die Etablierung einer freiheitlichen Demokratie mit allen ihren Aspekten, sondern
beschreibt auch den Prozess des Zugewinns einzelner demokratischer Aspekte f€ur ein
hybrid strukturiertes politisches System. Und Vorsicht: Dieser €ubergreifende Entwick-
lungstrend zur Demokratie schließt Tendenzen der Hybridisierung von politischen
Regimen wie auch der regression of democracy nicht zwingend aus.
Zumeist hat man es mit unterschiedlichen, dynamischen Wellen oder Schw€ungen
zu tun. Konnte man bis in die 1990er-Jahre diese Bewegungen noch relativ klar als
Wellen und Gegenwellen identifizieren, so ist die Beobachtungslage mittlerweile
komplexer und diffuser geworden. Immer häufiger finden unterschiedliche Entwick-
lungsbewegungen in verschiedenen Regionen der Welt gleichzeitig statt. Kommt es
auf der einen Seite der Welt zu Demokratisierung, kann in einem anderen Gebiet ein
Verlust demokratischer Qualität beobachtet werden. Die Veränderungen von einer
zur anderen Herrschaftsform sind dabei in ihren Wegen genauso vielfältig, wie sie
eine große Zahl an unterschiedlichen Regimetypen hervorbringen. So ist die Exis-
tenz von hybriden Regimetypen mittlerweile genauso breit anerkannt, wie das
Bestehen unterschiedlicher Subtypen von Demokratie.
Gr€unde f€ ur Entwicklungen hin zu Demokratie oder zu Autokratie sind vielfältig.
Man ist sich mittlerweile weitgehend einig, dass es Kombinationen von verschiedenen
Ursachen sind, die einen Umbruch oder den Systemerhalt bedingen. Diese Kombina-
tionen können von Land zu Land variieren. Dabei gibt es langfristige Entwicklungen,
die das Feld f€ ur einen Umbruch bereiten können, die aber spezifische Umstände
benötigen (Akteurskonstellationen, Oppositionelle Kräfte usw.), damit dieser wirklich
passiert. Unter den langfristigen Wirkfaktoren d€urfte die sozioökonomische Moderni-
sierung den stärksten Einfluss besitzen. Allerdings impliziert sie sowohl vielfältige
sozialstrukturelle Entwicklungen als auch historische Pfadabhängigkeiten. Der Legiti-
mität der politischen Systeme in ihren Bevölkerungen kommt eine tragende Rolle als
Mittler zwischen vielen langfristigen Einflussfaktoren und dem Umbruch zu.
Sicher ist, die Analyse von Demokratisierung oder auch Gegenprozessen zählt
zum Kerngeschäft der Vergleichenden Politikwissenschaft. In der aktuellen For-
schung zu Typen politischer Systeme r€uckt verstärkt die Untersuchung der Gr€unde
ihrer Differenzierung in den Blick. Speziell die Betrachtung verschiedener Herr-
schaftsmodi als auch deren Legitimationsstrategien werden Ziel der politikwissen-
schaftlichen Analyse. Ob Monarchien, beschränkte Mehrparteienregime, Fassaden-
demokratien, elektorale Demokratien, Einparteiregime, populistische Regime oder
Militärherrschaften – es hat sich nicht nur begrifflich, sondern auch empirisch ein
weites Feld an Regimeformen etabliert. Dabei interessieren vor allem die Gr€unde f€ur
den Wechsel in die eine oder andere Richtung, wie aber auch f€ur die Stabilität von
Demokratien, hybriden Regimen oder Autokratien. Verschiedene scheinen bereits
identifiziert zu sein (z. B. Siaroff 2009, S. 295–305), andere noch nicht. Vor allem
wird es darauf ankommen, die Kombinationen der Einflussfaktoren zu bestimmen,
denn letztendlich interessiert es jeden vergleichenden Forscher, welches Herrschafts-
system zuk€ unftig in seiner Region €uberwiegen wird.
Autokratien und Demokratien in der Vergleichenden Politikwissenschaft:. . . 301

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Staat und Rechtsstaat in der
Vergleichenden Politikwissenschaft

Peter Thiery

Zusammenfassung
Staat und Rechtsstaat bilden – folgt man Fukuyama (2011; 2014a) – zusammen
mit Demokratie die drei Säulen moderner politischer Ordnungen und politischer
Entwicklung und werden zumeist auch als zentrale Konzepte der (vergleichen-
den) Politikwissenschaft bezeichnet (Lauth et al. 2014; Berg-Schlosser und
M€ uller-Rommel 2003). Beide Konzepte sind gleichwohl in mehrerlei Hinsicht
heftig umstritten, was sich auch auf die empirische Forschung auswirkt. Dies liegt
sowohl an inhärenten konzeptionellen Problemen als auch an grundlegenden
Wissenschaftsstandpunkten und €uberdies auch an forschungsstrategischen und
-praktischen („paradigmatischen“) Perspektiven. Im Vergleich scheint gegenwär-
tig das Feld des Rechtsstaats in nächster Zukunft noch aussichtsreichere For-
schungsperspektiven zu bieten. Denn obwohl Rechtsstaat bzw. rule of law – beide
werden im Folgenden weitgehend synonym behandelt – keine wirklich neuen
Gegenstände der Politikwissenschaft darstellen, hat sich eine systematischere
Rechtsstaatsforschung erst in den letzten 20 Jahren entwickelt.

Schlüsselwörter
Staat • Staatlichkeit • Rechtsstaat • Rule of law • Vergleichende Politikwissen-
schaft

1 Einleitung

Die in diesem Beitrag zusammengefassten Konzepte „Staat“ und „Rechtsstaat“


werden aufgrund der Systematik des Handbuchs unter dem „Polity“-Aspekt be-
trachtet, also im Hinblick auf ihre Qualität als die ‚großen‘ strukturbildenden

P. Thiery (*)
Dozent am Institut f€ur Politikwissenschaft, Universität Heidelberg, Heidelberg, Deutschland
E-Mail: peter.thiery@ipw.uni-heidelberg.de

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 303


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_23
304 P. Thiery

Elemente f€ ur das Handeln politischer Akteure (politics) und f€ur politischen Output
(policies). Diese zusammengefasste Behandlung erklärt sich u. a. dadurch – und hier
scheint die paradigmatisch nach wie vor maßgebliche Konzeption des „modernen“
Staates vom Max Weber durch, wie sie nicht nur Fukuyama aufgreift – dass Staat
zumeist als „Anstaltsbetrieb“ aufgefasst wird, f€ur den eine „Verwaltungs- und
Rechtsordnung“ und damit eine rechtsbasierte Herrschaftsordnung charakteristisch
ist. Dennoch ist es vorab angebracht, eine konzeptionelle Abgrenzung beider Phä-
nomene vorzunehmen. Während die kontinental-europäische (etwa die deutsche
oder auch die „romanische“) Begrifflichkeit beide schon sprachlich eng aufeinander
bezieht, zeigt die englischen Begrifflichkeit (state bzw. stateness vs. rule of law)
deutlicher die zugrunde liegenden unterschiedlichen Funktionslogiken von Staat und
Rechtsstaat. Zwar kann der Staat ohne irgendeine grundlegende rechtliche Ordnung
nicht sinnvoll konzipiert werden, doch ist diese nicht mit einer genuinen Form der
Rechtsstaatlichkeit identisch, es sei denn man konzipiert den Rechtsstaat minima-
listisch bis zur Unkenntlichkeit als „rule by law“. Zugespitzt formuliert: Während
Staat oder „Staatlichkeit“ auf die Potenzierung hierarchischer Kontrolle zielt, geht es
jedweder Form der Rechtsstaatlichkeit im Sinne des rule of law darum, genau diese
Macht zu begrenzen, oder deutlicher: sie allgemeinen Regeln unterzuordnen.

2 Staat

,Staat‘ und Staatstheorie bilden gewissermaßen die Nahtstelle zwischen klassischer


und moderner politischer Theorie. Als Analysekonzept bildete der Staat nicht nur in
Deutschland, sondern auch in den USA in den Anfängen der Politikwissenschaft ein,
wenn nicht das zentrale Analysekonzept (Ciepley 2000). Zunächst in den USA,
etwas später auch in Europa verlor es jedoch durch die „behavioral revolution“ in
den 1950er- und 1960er-Jahren zunehmend an Bedeutung. Doch auch wenn das
Konzept bisweilen entschieden in Zweifel gezogen wurde und wird, haben sich
sowohl Verfechter des Konzeptes Staat wie auch bestimmte Forschungsstränge in
der (vergleichenden) Politikwissenschaft gehalten bzw. neu etabliert.

2.1 Begriff, Konzepte und Kategorien

Noch immer bilden Max Webers Staatsdefinition und -verständnis den Angelpunkt
politikwissenschaftlicher Staatsforschung – sei es als Fixpunkt der theoretischen
Auseinandersetzung mit dem Staat (Hay et al. 2006) oder als konzeptionelle Grund-
lage der empirisch-vergleichenden Forschung. Allerdings sind schon sowohl die
Idee als auch das Konzept des Staates nicht unumstritten – Kritiken reichen von der
Nutzlosigkeit des Konzepts als solchem bis hin zu seiner euro-zentristischen
Färbung. Bis heute ist eine Verwendung vor allem im angloamerikanischen Raum
mehr als ambivalent geblieben.
In der Tat ist schon Webers auf den ersten Blick schlanke Definition des Staates
derart voraussetzungsvoll und im Ansatz vielschichtig, dass das Konzept „Staat“ f€ur
Staat und Rechtsstaat in der Vergleichenden Politikwissenschaft 305

empirische Analysen nur schwer handhabbar erscheint. Seine oft zitierte, klassische
Definition lautet: „Staat soll ein politischer Anstaltsbetrieb heißen, wenn und inso-
weit sein Verwaltungsstab erfolgreich das Monopol legitimen physischen Zwanges
f€ur die Durchf€ uhrung der Ordnungen in Anspruch nimmt.“ (Weber 1984, S. 91;
Herv. i.O.). Die von Weber selbst vorgenommenen Hervorhebungen weisen bereits
darauf hin, dass seine Staatsdefinition auf vorgängige Definitionen – wie „Anstalt“,
„Betrieb“ oder „legitim“ – aufbaut. Zudem ist zu beachten, dass sie im Rahmen
seiner Herrschaftssoziologie zu verstehen ist, d. h. Staat bedeutet immer auch (ter-
ritoriale) Herrschaft.
Damit ist angedeutet, dass „Staat“ mehrere Dimensionen umfasst, die je nach
Akzentsetzung auch verschiedene methodologische Grundannahmen implizieren:
(1) Der Staat kann als Akteur begriffen werden (dezidiert: Skocpol 1985, 2008) dem
eigene materielle, personelle und ideelle Ressourcen f€ur seine Handlungen zur
Verf€ugung stehen. (2) Damit ist die Sichtweise verwandt, dass er als komplexe
Organisation (Newton und van Deth 2010) bzw. als Set von B€urokratien (O’Donnell
2010, S. 51–58) aufzufassen ist. (3) Wie insbesondere O’Donnell (2010, S. 93–113)
hervorhebt, ist der Staat auch eine Rechtsordnung, die gesellschaftliche Beziehun-
gen strukturiert und als Herrschaftsverhältnisse konserviert. (4) Schließlich kann der
Staat als „kollektive“ Identität und damit als „kulturelles“ Gebilde (konstruktivisti-
sches Element) aufgefasst werden (O’Donnell 2010, S. 115–131).
Schon die Einordnung des Sujets „Staat“ in der Vergleichenden Politikwissen-
schaft ist deshalb vor allem davon abhängig, wie der Staat grundlegend zu konzi-
pieren ist. In j€
ungerer Zeit scheint sich die Sichtweise durchzusetzen, dass der Staat
nicht als Akteur zu begreifen ist – eine Perspektive, die insbesondere von Rational
Choice-Vertretern (Levi 2002) oder Systemtheoretikern (Almond 1988) stark kriti-
siert wurde. So ist nach Levi (2002, S. 33–34) der Staat „a composite of factors, not
a single variable“ bzw. „an abstraction, but key decisions are made by state personnel
or rulers not by the state per se“. Benz wiederum betrachtet den Staat „als einen
institutionalisierten Handlungskontext, in dem Individuen, Gruppen (kollektive
Akteure) oder Organisationen (korporative Akteure) zusammenwirken, um gesell-
schaftliche Probleme zu lösen bzw. öffentliche Aufgaben zu erf€ullen“ (Benz 2008,
S. 99). Ein ähnliches Verständnis als institutionelle Konfiguration – und gegen
Kritiker wie Levi – konstatiert Vu (2010, S. 164–170) f€ur die j€ungere englisch-
sprachige Staatsforschung. Die Mehrdimensionalität des Staatskonzepts hat neben
methodologischen auch forschungspraktische und forschungslogische Konsequen-
zen, da seine Bestandteile je f€ur sich als (unabhängige wie abhängige) Variablen
dienen bzw. dienen können. Im Zuge einer spezialisierten Forschung wird der
„Staat“ somit gewissermaßen in seine Komponenten zerlegt und erscheint besten-
falls noch als virtuelle Klammer, die die diversen Forschungsstränge bestenfalls als
Chiffre zusammenhält – aber nicht mehr „den Staat“ als eigenständige Variable.
Diesen Komplikationen zum Trotz wird der „Staat“ als Konzept weiterhin be-
nutzt, wobei die Faustregel gilt: Je mehr Makrophänomene analytisch relevant sind
(etwa Fukuyama 2011, 2013; North et al. 2009) und je mehr historisch-institutionell
fokussiert wird – wie besonders im historischen Institutionalismus (Skocpol 1979;
Evans 1995; Ziblatt 2006) – desto selbstverständlicher wird auf den Staat als
306 P. Thiery

Variable rekurriert. Der Nutzen einer solchen Perspektive – so Hay und Lister (2006,
S. 10–13) – liegt vor allem in der institutionellen sowie der historischen Kontextua-
lisierung politischen Handelns. Zudem hat der Staat im Konzept der „Staatlichkeit“
aus diversen Blickwinkeln nicht nur eine neue Relevanz als Analysegegenstand
gefunden, sondern in diesem Zuge auch weitere Operationalisierung erfahren.
Gerade die mehr empirisch ausgerichtete Forschung (neuere Demokratie-/
Autokratieforschung, stateness- bzw. fragile state-Forschung und damit verkn€upft
die Staatlichkeitsmessung) hat Webers Staatsbegriff in ein relativ schlankes Kate-
gorienger€ust umgesetzt, um grundlegende Staatlichkeit zu erfassen und als abhän-
gige wie unabhängige Variable zu betrachten (Fabra Mata und Ziaja 2009).
Im Kern lassen sich demnach f€ur Staatlichkeit drei bzw. vier zentrale Funktions-
elemente benennen und auch f€ur Messung fruchtbar machen. Neben dem (1) staat-
lichen Gewaltmonopol, dessen Bedeutung kaum infrage gestellt wird, sind dies
(2) die Legitimität des Staates aus Sicht der B€urgerInnen, eingeschlossen Einigkeit

uber die Zugehörigkeit zum Demos, also „citizenship“ im Sinne von Linz und
Stepan (1996); (3) der Rechtspositivismus (Webers gesatzte Ordnungen, d. h. eine
nicht auf Dogmen basierende Rechtsordnung, die gleichwohl nicht mit Rechtsstaat-
lichkeit zu verwechseln ist); (4) sowie eine grundlegende b€urokratische Staatsorga-
nisation, die eine relativ dauerhafte Extraktion und Verteilung von Ressourcen
erlaubt und hierf€ur in der Lage ist, eine Basis-Infrastruktur zu errichten, die €uber
die Sicherung der Primärfunktion (Befriedung via Gewaltmonopol) hinausgeht.
Staatsb€urokratie und Gewaltmonopol werden zusammen auch als „state capacity“
behandelt (Hanson und Sigman 2013; Hendrix 2010). Bisweilen wird auf das
Element des Rechtspositivismus (Grävingholt et al. 2012; Carment et al. 2010;
Andersen et al. 2014b; Mazzuca und Munck 2014) oder zusätzlich auf Verwaltung
(Møller und Skaaning 2011) verzichtet; der Transformation Index der Bertelsmann-
Stiftung umfasst alle vier Kategorien zur Messung von Staatlichkeit.
Es kann hier nur am Rande erwähnt werden, dass neben der erwähnten Kritik am
Staatskonzept auch zunehmendes Unbehagen an Staatskonzepten á la Weber exis-
tiert. Kern dieser Kritiken ist, dass solche Staatskonzepte eine europäische Sonder-
entwicklung abbilden – wie sie etwa auch Fukuyama konstatiert – die sie kategoriell
verfestigen und so zum Analysestandard erheben („methodologischer Eurozentris-
mus“ nach Burchardt und Peters 2015, S. 257). Noch weiter gehen poststruktura-
listische Ansätze in der Nachfolge Foucaults, die den Staat in „Gouvernementalität“
auflösen.

2.2 Der „Staat“ in der Vergleichenden Politikwissenschaft

Der Begriff „Staat“ ist in der (vergleichenden) Politikwissenschaft zwar nahezu


ubiquitär, doch dient er oft – wenn nicht gar zumeist – lediglich als Chiffre f€ur
andere Phänomene und Begriffe, ohne einen analytischen Mehrwert beizusteuern.
Chiffre ist er u. a. f€ur das politische System, die „Politik“ (etwa vs. Ökonomie oder
Zivilgesellschaft), die Regierung, Nation, oder wenn er f€ur Analysen einzelner oder
eines begrenzten Sets von Institutionen (B€urokratie, „state capacity“ u. ä.) benutzt
Staat und Rechtsstaat in der Vergleichenden Politikwissenschaft 307

wird. Zwar wird der Staat etwa in Lehrb€uchern (Berg-Schlosser 2003; Lauth
et al. 2014; Siaroff 2009) als grundlegendes Konzept und Analyseeinheit benannt,
doch kaum eine vergleichende Staatsforschung dargelegt (eine Ausnahme bilden
Newton und van Deth 2010). Gibt es also €uberhaupt (noch) eine nennenswerte
genuine Staatsforschung in der (vergleichenden) Politikwissenschaft? Diese Frage
ist zwar im Grunde positiv, aber dennoch nicht einfach zu beantworten. Zunächst ist
festzuhalten, dass es in der Tat einige zentrale Forschungsstränge gibt, die explizit
als Staatsforschung im engeren Sinne zu bezeichnen sind und nachfolgend näher
beleuchtet werden.
Wie oben erläutert, umfasst der Staat zudem mehrere Dimensionen, die aber in
der differenzierten Forschungslandschaft zum großen Teil aus der Staatsforschung
„ausgewandert“ sind, sofern sie nicht explizit mit Fokus auf den Staat behandelt
werden. Zu ihnen gehören etwa die gesamte Policy-Forschung („Staatstätigkeit“),
Forschungen zum Wohlfahrtsstaat, zur Staatsb€urokratie oder zum nation-building.
Gerade „welfare regimes“ (Skocpol 1992; Pierson 1994) oder die „varieties of
capitalism“ (Hall und Soskice 2001), aber im Prinzip insgesamt die in einer Rechts-
ordnung festgehaltenen Regeln sind Ausdruck der vom Staat garantierten Herr-
schaftsverhältnisse einer Gesellschaft und somit im Kern Gegenstand der Staats-
forschung. Versteht man €uberdies den Staat als Garanten formaler Institutionen
(„Durchf€ uhrung der Ordnungen“ im Weberschen Jargon), so gehören hierzu auch
die Forschungen zu informellen Institutionen, welche eigenständige „Legitimität“
beanspruchen und Staat wie Rechtsstaat gleichermaßen herausfordern (Lauth 2000,
2004b) – dies erstreckt sich auf Felder wie (Neo-)Patrimonialismus (Erdmann und
Engel 2007; Fukuyama 2013, 2014b), Rechtsstaat (Schuppert 2011), Korruption
(Debiel und Gawrich 2013) oder Klientelismus (Kitschelt and Wilkinson 2007;
Stokes 2007).
Im engeren Sinne – d. h. der Staat wird dezidiert als „conceptual variable“ (Nettl
1968) begriffen und auch methodologisch reflektiert – hat der Staat als analytisches
Konzept in der vergleichenden Politikwissenschaft in j€ungerer Zeit wieder stärker
Verwendung gefunden. Zu den zentralen Forschungssträngen gehören – vor allem in
der angloamerikanischen Forschung mit angestoßen durch die „Bringing the State
back in“-Initiative (Evans et al. 1985) die sich allerdings auch heftiger Kritik aus-
gesetzt sah – einige größere Themenfelder, die in j€ungerer Zeit insbesondere durch
den Aufschwung des historischen Institutionalismus weiteren Auftrieb erfahren
haben. Zwei werden näher beleuchtet1: (1) Fragen der Staatsbildung und (2) der
Nexus zwischen „Staat“ und „Demokratie“.

1
Gemäß dem Staatskonzept wären hier auch die vergleichende Verwaltungsforschung (Peters 1988,
1996; Rauch und Evans 1999), bez€ uglich „Legitimität“ die Forschungen zu politischer Kultur und
nation-building (Rokkan 1999; Paine 2014), aber etwa auch der Bereich Staat und „Entwicklung“
zu nennen. Letzterer stellt ein lohnenswertes Forschungsfeld dar, da hier – gerade im zeitgenössi-
schen, zunehmend aber hinterfragten „neoliberalen“ politischen Klima – die Staatsperspektive
einen Mehrwert verspricht f€ ur historische wie zeitgenössische Entwicklungsprozesse und -blocka-
den und Phänomene wie den „Entwicklungsstaat“ und seine Funktionsbedingungen (Evans 1989;
Burchardt und Peters 2015).
308 P. Thiery

1. Staatsbildung: Einer der Hauptstränge der durch die „Bringing the State back
in“-Initiative angestoßenen Staatsforschung widmet sich der Frage, wie und
warum sich der moderne Staat herausgebildet hat. Staatsbildung bzw. „state
formation“ wird in diesem im Wesentlichen historisch-komparativ argumentier-
enden Strang nicht nur als abhängige, sondern auch als unabhängige Variable
betrachtet (Skocpol 2008; Vu 2010). Die Forschung zur Staatsbildung setzt sich
in diversen Forschungslinien mit der Frage auseinander, wie es zu welchen
Staatsformationen kam und welche Auswirkungen diese ihrerseits hatten. Dabei
geht es nicht nur um historische Phänomene oder Erklärungen. Vielmehr soll
auch gezeigt werden, welche Folgen die unterschiedlichen Staatsbildungen f€ur
die weitere Staatsentwicklung beziehungsweise Entwicklung hatten. Im Sinne
des historischen Institutionalismus – Pfadabhängigkeit und „critical junctures“ –
wird davon ausgegangen, dass solche unterschiedlichen Weichenstellungen Fol-
gen f€
ur das weitere Handeln der Akteure im Staat, die Konstitution der Akteure
selbst und ihre Handlungsoptionen haben.

Eine Forschungslinie griff Tillys (1985) klassische Studie zu Staaten und Kriegen
auf, die Krieg als zentralen Kausalmechanismus der Staatsbildung in Europa – oder
genauer der Herausbildung einer zentralisierten B€urokratie – postulierte. Zahlreiche
Studien relativierten allerdings Tillys Thesen. Forschungen zu Europa und USA
zeigten, dass Kriege nicht die einzige auslösende Ursache f€ur Staatsbildung war,
während Analysen zu anderen Weltregionen – Asien (Hui 2005; Kohli 2004), Afrika
(Young 1994; Bratton und Chang 2006) und Lateinamerika (Geddes 1994; Centeno
2002; Dunkerley 2002; Kurtz 2013) – hervorheben, dass einige Faktoren f€ur die
europäische Staatsbildung eher einzigartig waren und nicht ohne weiteres auf andere
Fälle €ubertragen werden könnten (Vu 2010, S. 151–158; von Trotha 1994). Diese
area-bezogenen Forschungen bieten auch weitere Ansatzpunkte f€ur Forschungen,
die solche spezifischen Staatsbildungen im Hinblick auf die Folgen f€ur weitere
politische und ökonomische Entwicklung wie etwa Demokratie untersuchen.
In eine ähnliche Richtung weisen die Arbeiten von Fukuyama (2011, 2014a) und
North et al. (2009). Fukuyama geht es mehr um eine Theorie politischer Entwick-
lung, wobei zum einen die Frage gestellt wird, was €uberhaupt Staatsbildung verur-
sacht, und zum anderen welche Folgen sie f€ur menschliche Entwicklung im Rahmen
moderner politischer Ordnungen hat. Seiner These nach macht die Sequenz einen
Unterschied, ob Demokratisierung im Sinne der Ausweitung des Wahlrechts vor
oder nach der Herausbildung einer modernen Staatsb€ urokratie stattfand – im ersten
Fall drohe die Gefahr einer von Klientelismus und Korruption geprägten und oftmals
bis heute andauernden politischen Ordnung. Mit einem historisch ähnlich weiten
Blick wird bei North et al. Gewalt als Kardinalproblem einer Gesellschaft betrachtet
und wie es relativ dauerhaft gelöst werden kann. Die Autoren argumentieren, dass
konkurrierende Eliten es schaffen das Gewaltproblem so zu lösen, dass sie zunächst
eine Gesellschaftsordnung mit begrenztem Zugang („limited access order“ bzw.
„natural state“) schaffen. Die weitere Frage f€ur die Autoren lautet, wie man von
einer solchen Gesellschaftsordnung zu modernen Gesellschaften („open access
order“) gelangt, wobei sie auf die gesamte Gestalt der politischen, wirtschaftlichen
Staat und Rechtsstaat in der Vergleichenden Politikwissenschaft 309

und sozialen Ordnung fokussieren (zu empirischen Studien s. North et al. 2012). Wie
Fukuyama betrachten sie den Staat auch als unabhängige Variable, wie dies Skocpol
mit ihrem „polity centered approach“ intendierte (Skocpol 2008, S. 114).

2. Der Nexus zwischen „Staat“ und „Demokratie“ hat in j€ungerer Zeit wieder mehr
Aufmerksamkeit erfahren, war aber auch schon vor Beginn der „Dritten Welle“
der Demokratisierung ein Forschungsgegenstand, wie etwa im strukturalistischen
Ansatz von Barrington Moore (1968) oder wiederum in der historisch-
komparativen Forschung des „Bringing the State Back in“-Paradigmas
(Vu 2010; Tilly 2007). Hauptinteresse war dabei, die Urspr€unge von demokrati-
schen bzw. autoritären Institutionen in einem (auch historisch) breiteren Rahmen
der Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft zu analysieren, insbesondere
auch soziale Klassen und ihr Verhältnis zum Staat bzw. bestimmte Machtkons-
tellationen all dieser kollektiven Akteure (Rueschemeyer et al. 1992; Vu 2010,
S. 159–164). Im Zuge der Dritten Welle griff dann seit Mitte der 1990er-Jahre
auch die weitere, empirisch vergleichende Demokratieforschung die Thematik
auf, selbst wenn f€ur Fukuyama noch im Jahr 2014 die Beziehung zwischen Staat
und Demokratie als eine der „most understudied and undertheorized relations-
hips“ (Fukuyama 2014b, S. 1326) gilt.

Prominent bauten Linz und Stepan (1996) „stateness“ in ihr Konzept demokrati-
scher Konsolidierung ein, wobei sie aber von den genannten Staatlichkeitskompo-
nenten letztlich im Wesentlichen auf „citizenship“ und damit auf Legitimität fokus-
sierten. Im Kern behaupteten sie damit, dass Staat und Staatlichkeit eine
Vorbedingung f€ ur „citizenship“ und damit Demokratie sind – eine These, die
Fukuyama (2005) mit Fokus auf Gewaltmonopol und moderne Verwaltung zu
„stateness first“ zuspitzte. Weitere empirische Studien erhärten dies, doch sind auch
Differenzierungen angebracht, wenn Staatlichkeit wie auch Demokratie jeweils als
graduell verstanden sowie ihre Einzelkomponenten beleuchtet werden (Møller und
Skaaning 2011; Fukuyama 2014b). Staatlichkeit, sofern sie eine Mindestschwelle
nicht unterschreitet, scheint demnach wichtiger f€ur Konsolidierung und insbesonde-
re f€
ur die Existenz bzw. Qualität des Rechtsstaats zu sein als f€ur elektorale Demo-
kratien. Eine derart differenziertere Sichtweise gibt auch Hinweise auf mögliche
Synergieeffekte (Mazzuca und Munck 2014), aber auch auf komplexe Spannungs-
verhältnisse zwischen Staatlichkeit und Demokratie (Fukuyama 2014b). Verwandt
bzw. explizit verkn€upft damit sind j€ungere Debatten um „state capacities“, die
u. a. den Blick wiederum auf Regimestabilität als solche ausweiten, also auch das
heterogene Spektrum der Autokratien mit einbeziehen. Sie weisen darauf hin, dass
„coercive capacities“ möglicherweise mehr der Stabilisierung autoritärer Regimes
dienen, während „administrative capacities“ relevanter sind f€ur die Stabilisierung
bzw. Konsolidierung demokratischer Staaten. Nicht zuletzt tragen alle diese Diffe-
renzierungen auch dazu bei, aus der vordergr€undig plausiblen „stateness first“-These
nicht den normativ problematischen Schluss zu ziehen, eine (autokratische) Befes-
tigung von Staatlichkeit – und damit eine St€utzung bestehender Autokratien – sollte
generell einer Demokratisierung vorangehen.
310 P. Thiery

3 Rechtsstaat

3.1 Begriff und Konzept

Wie bei Staat oder Demokratie handelt es sich auch bei Rechtsstaat um ein um-
strittenes Konzept. Trotz seiner imposanten Karriere hat sich weder eine allgemein
anerkannte Definition noch ein Konsens €uber die Kernelemente durchgesetzt (Ta-
manaha 2004; Trebilcock and Daniels 2008; Møller und Skaaning 2012). Im Kern
konkurrieren d€ unne („thin“) mit „gesättigteren“ („thick“) Konzepten (Tamanaha
2004: 91 ff.), doch ist auch in den jeweiligen Operationalisierungen eine große
Bandbreite von Komponenten zu finden (Staton 2012; Kleinfeld 2006).
In Anlehnung an Tamanaha (2004), Nino (1996) und Møller und Skaaning (2012)
besteht die d€unnste Version des Rechtsstaats im „rule by law“, d. h. Herrschaft
vollzieht sich €uber Gesetze. Dies ist jedoch zu minimalistisch und kommt eher
einem Attribut des Staates gleich, während es im Kern dem Gedanken des Rechts-
staats widerspricht, da der oder die Herrscher die Regeln willk€urlich gestalten
können. F€ ur eine genuin minimalistische Konzeption bedarf es vielmehr als erster
Stufe der formalen Legalität, um Rechtssicherheit zu verb€urgen, d. h. die Gesetze
m€ussen allgemein, bekannt, prospektiv, verständlich und relativ stabil sein sowie
gleich angewendet werden (gleichbedeutend mit dem formalen Rechtsstaat; Lauth
2004a, S. 141 ff.). Über die noch gehaltvolleren Konzeptionen besteht insofern
Konsens, dass dazu die Kontrolle der Herrschaftsträger – Gewaltenteilung, „checks
and balances“ bzw. „horizontal accountability“ (O’Donnell 1998) sowie eine eigen-
ständige und unabhängige Justiz – ebenso gehören wie der materielle Rechtsstaat,
d. h. Gesetze m€ ussen nicht nur formale Bedingungen erf€ullen, sondern finden auch
Barrieren durch die Garantie von Grund- bzw. Menschenrechten.
Während diese Konzepte allesamt einen ähnlichen Begriff des formalen Rechts-
staats zugrunde legen – Rechtsbindung der Regierungsgewalten und Willk€urverbot
in Rechts- und Gesetzesfragen (Lauth 2004a, S. 147 ff.) – variieren sie im Ausmaß
dessen, was als „materiell“ (bzw. substantiell) zu begreifen ist. Am einen Ende der
Skala bewegen sich die Konzepte des politischen Liberalismus, die sich auf die
klassischen „Abwehrrechte“ gegen den Staat konzentrieren. Am anderen Ende
finden sich Konzepte etwa der sozialen Demokratie im Sinne Hermann Hellers,
die einen gesättigteren Begriff dieses materiellen Rechtsstaats vorschlagen und auch
politische und/oder soziale Rechte einbeziehen (Meyer 2011). Diese Strategie birgt
jedoch die Gefahr, das Konzept des Rechtsstaates auszuweiten und zu €uberdehnen
hin auf einen demokratisch verfassten, sozialen Rechtsstaat (2004a, S. 149 ff.).
Allerdings kann es auch vom Forschungsinteresse abhängig sein, welche Kompo-
nenten mit in die Konzeption einbezogen werden sollten. So kann es sinnvoll sein,
etwa die demokratische Genese des Rechts – also Polyarchie im Sinne Dahls – zu
integrieren, wenn Rechtsstaat als solcher den Forschungsgegenstand darstellt. Ande-
rerseits w€urden dadurch Konzeptgrenzen verwischt, wenn etwa im Rahmen der
Demokratieforschung das Konzept einer liberalen Demokratie – hier vereinfacht
verstanden als „Polyarchie plus Rechtsstaat“ – zugrunde gelegt wird.
Staat und Rechtsstaat in der Vergleichenden Politikwissenschaft 311

Die Probleme der Konzeptualisierung des Rechtsstaats reichen aufgrund der


angedeuteten Mehrdimensionalität freilich noch weiter. Ähnlich der Forschung zur
Demokratie – inkl. der Messung – kann Rechtsstaat als graduelles oder als „ideal-
typisches“ bzw. „radiales“ Konzept verstanden werden. So setzen Møller und
Skaaning (2012) ähnlich wie Tamanaha (2004, S. 91) die Rechtsstaatskomponenten
in einen Konzeptbaum um, der eine Hierarchie d€unner Formen bis hin zu Formen
sozialer und demokratischer Rechtsstaatlichkeit umfasst und als sechsstufige rule of
law-Typologie abbildet, wobei die höheren Stufen jeweils die Attribute der niedri-
geren Stufe beinhalten: (1) „Rule by law“; (2) formaler Rechtsstaat; (3) abgesicherter
Rechtsstaat (+ „checks and balances“); liberaler Rechtsstaat (+ individuelle Grund-
rechte); (5) demokratischer Rechtsstaat (+ demokratische Genese des Rechts);
(6) Sozialer und demokratischer Rechtsstaat.
Vertreter des idealtypischen Vorgehens hingegen, die in Weberscher Manier mehr
an der Funktionslogik des Rechtsstaats interessiert sind, legen ein Basiskonzept des
Rechtsstaats zugrunde, das es ermöglicht, halbwegs funktionierende sowie „defizi-
täre“ Rechtsstaaten zu identifizieren und diese Defizite auch typologisch abzubilden
(Lauth und Sehring 2009). Sie zeigen differenzierter und pointierter die Problemla-
gen junger Demokratien der Dritten Welle auf, deren Funktionsprobleme in der
offensichtlichen, aber unterschiedlich gelagerten Problemkonstellation des Rechts-
staates bestehen (Croissant und Thiery 2010).
Als zusätzliche Problematik kommt hinzu, dass sich auch die weitere Operationa-
lisierung selbst solcher Einzelkomponenten des Rechtsstaates, die in ihrer Bedeu-
tung wenig umstritten sind, schwierig gestaltet. Dies gilt – hier nur beispielhaft –
etwa f€ur die Unabhängigkeit der Justiz, da diese selbst in der Regel eine komplexe
Organisation mit unterschiedlichen Rollen und Machtverteilungen darstellt, die sich

uberdies in föderalen Staaten (z. B. Argentinien) noch weitaus komplexer gestaltet.
So ist nicht ausgemacht, ob etwa die Unabhängigkeit der obersten oder der unteren
Richter wichtiger ist – dies hängt etwa davon ab, wie korrupt erstere oder letztere
sind, welche Hierarchie de facto vorherrscht, und damit letztlich vom jeweiligen
nationalen bis regionalen Kontext (Ríos-Figueroa 2008). Die macht es umgekehrt
schwierig, Operationalisierungen einheitlich anzuwenden und beeinträchtigt nicht
zuletzt die Validität und Reliabilität von Messungen (Ríos-Figueroa und Staton
2008).
Trotz der genannten Schwierigkeiten wurden die genannten Komponenten des
Rechtsstaats in j€ungerer Zeit in je unterschiedlicher Weise auch in die Messung von
Rechtsstaatlichkeit umgesetzt. Die Mehrdimensionalität f€uhrt gleichwohl dazu, dass
zum einen teils sehr unterschiedliche Kategorien und Indikatoren verwendet werden
(Thiery et al. 2009; Skaaning 2010), die vom formalen Rechtsstaat bis hin zu öffent-
licher Sicherheit reichen. Zum anderen f€uhrt sie zum Plädoyer, auf die Messung von
Rechtsstaat als Gesamtkonstrukt zu verzichten und stattdessen auf konstituierende
Einzelkomponenten wie „independet judiciary“ oder „checks and balances“ zu
fokussieren (Rios-Figueroa und Staton, 2008, S. 1). Die gängigen Rechtsstaatsmes-
sungen – teils sind sie Sub-Kategorien €ubergreifender Indizes wie die World Gover-
nance Indicators, der Transformation Index der Bertelsmann Stiftung oder Freedom
312 P. Thiery

in the World, teils explizite Rechtsstaatsmessungen wie der Rule of Law-Index des
World Justice Project – rekurrieren zur Konzeptualisierung auf ähnliche Hauptkom-
ponenten, also einerseits die Kontrolle der Herrschaftsträger bzw. Unabhängigkeit
der Justiz, andererseits den (wenigstens minimalen) Bestand an Menschen- und
B€urgerrechten. Dennoch variieren die Konzeptionen beträchtlich, da sie daraus unter-
schiedliche Haupt- und Unterkategorien bzw. Indikatoren entwickeln; auch Mess-
methode und Daten-Aggregation divergieren, was zusammen zu teils eher schwa-
chen Korrelationen zwischen den Messungen f€uhrt und letztlich auch zu
unterschiedlichen Ergebnissen in statistischen Analysen (Skaaning 2010).

3.2 Rechtsstaat in der vergleichenden Politikwissenschaft

Eine vergleichende Rechtsstaatsforschung gab es seit den Anfängen der modernen


Politikwissenschaft, insbesondere was die Rolle von Gerichten anbetrifft. Das Revi-
val des rule of law – auch als das „Mantra dieser Tage“ bezeichnet bzw. als
Allheilmittel f€ur alle möglichen politischen Malaisen angesehen – hat indes eine
neue Dynamik in diesen Forschungszweig gebracht. Mit verantwortlich hierf€ur war
nicht zuletzt die Demokratieforschung, die zunehmend Rechtsstaatlichkeit entweder
als Element der Demokratie begriff oder als notwendig f€ur deren Qualität (Lauth
2004a; O’Donnell 1998, 2004). Impulse kamen auch aus der theoretisch reflektierten
Bestandsaufnahme der Rechtsstaatsförderung in der Entwicklungszusammenarbeit,
die seit den 1990er-Jahren intensiver betrieben wurde, um insbesondere in schwa-
chen Demokratien Regime-Stabilität und Rechtssicherheit zu fördern (Carothers
2006). Doch auch weitere Forschungsbereiche – angefangen von der Governance-
Forschung bis hin zu Fragen des Effekts von Rechtsstaatlichkeit auf ökonomischen
Fortschritt – sind hier zu nennen.
Deutlicher als Staat oder Staatlichkeit sind Rechtsstaat und rule of law deshalb in
den letzten 20 Jahren zunehmend Gegenstand auch vergleichender Studien gewor-
den. Hierbei wird nicht immer auf rule of law als Gesamtkonzept fokussiert, was
nicht nur an den oben angedeuteten konzeptionellen Divergenzen liegt, sondern
auch an der forschungspragmatischen Umsetzbarkeit. Am ehesten nehmen entweder
qualitative Studien mit geringer Fallzahl (Prillaman 2000) oder quantitative Studien
auf Grundlage der erwähnten Messungen rule of law als Gesamtkonstrukt in den
Blick. Die Mehrheit hingegen fokussiert – teils explizit aus Gr€unden der Mehrdi-
mensionalität – mehr auf einzelne Komponenten wie die Justiz (oder gar einzelne
Gerichte wie Verfassungsgerichte) sowie auf Gewaltenteilung oder Um- bzw.
Durchsetzung gleicher B€urgerrechte. Zudem divergieren die methodischen Ansätze
stark, da unterschiedliche Disziplinen (etwa Rechts- oder Wirtschaftswissenschaften
sowie Ethnologie) beteiligt sind. Dies hat insgesamt aber auch dazu gef€uhrt, dass die
Literatur nahezu un€uberschaubar geworden und nur schwer zu systematisieren ist,
weshalb hier nur ein kursorischer Überblick erfolgen kann.
Zunächst ist festzuhalten, dass wie der Staat so auch der Rechtsstaat als ab-
hängige, unabhängige oder auch als intervenierende Variable behandelt wird. Als
unabhängige Variable steht u. a. in Frage, welchen Effekt Rechtsstaat, der Grad an
Staat und Rechtsstaat in der Vergleichenden Politikwissenschaft 313

Rechtsstaatlichkeit bzw. einzelne seiner Komponenten auf ökonomische (Barro


2000; Haggard et al. 2008) bzw. politische Entwicklung(en) haben, etwa Demokra-
tie, Korruption (Ríos-Figueroa 2012) oder soziale Konflikte (Samuels 2006). Auch
Rechtsstaat als abhängige Variable umfasst zahlreiche Gesamt- wie Einzelperspekti-
ven, allen voran die Frage, wie und warum sich rule of law als solches herausbildet
(Fukuyama 2011) oder was es behindert (Hoff und Stiglitz 2004). Weitere Frage-
stellungen sind u. a., was die globale Varianz in der Qualität des Rechtsstaats aus-
macht, welche Faktoren zur Unabhängigkeit der Justiz beitragen (Hayo und Voigt
2005; Bill Chavez 2004) oder welche Erfolgssausichten Rechtsstaatsreformen haben
(Hammergren 1998; Prillaman 2000).
Letzteres ist insofern von besonderer Bedeutung, als Schwächen des Rechts-
staates zu den größten politischen Defiziten in Demokratien der dritten Welle im
Besonderen und in nicht-westlichen Ländern im Allgemeinen gehören (Croissant
und Thiery 2010). Gerade die Ern€uchterung €uber viele gescheiterte Reformen des
Rechtsstaats hat die Frage aufgeworfen, was Rechtsstaatsreformen bzw. die Erhö-
hung der Qualität von Rechtsstaatlichkeit ermöglicht bzw. erschwert. Noch vor
10 Jahren beklagte Thomas Carothers (2006), dass die mehr als mageren Ergebnisse
der Rechtsstaatsförderung in nicht-westlichen Ländern auch mit dem mehr als d€unnen
Wissen dar€ uber zusammenhängen, ob oder welche Rechtsstaatsreformen €uberhaupt
machbar sind. Aufbauend auf seinen Arbeiten €uber Staatsbildung betont Fukuyama,
dass der Aufbau rechtsstaatlicher Institutionen um Vieles schwieriger sei als etwa die
Durchf€ uhrung von Wahlen oder bestimmter Staatskapazitäten (Fukuyama 2011,
S. 247). Hinzu kommt, dass es nicht nur die Anreize sind, die mehr technischen
Herausforderungen und die institutionelle Komplexität des Rechtsstaates, die seinen
Aufbau behindern. Fukuyamas Hinweis auf die Legitimität legaler Institutionen weist
auf ein tiefer verwurzeltes Problem der Konstruktion des Rechtsstaates hin, das mit
fundamentalen Themen der Regelbefolgung als solcher verkn€upft ist. Die Kombination
all dieser Faktoren macht die Konstruktion des Rechtsstaates zu einer Aufgabe, die
einen lang anhaltenden Reformprozess erfordert, der gewöhnlich die Amtszeit einer
einzigen Legislative weit €uberdauert. Aufgrund dieser strukturellen Hindernisse ist ein
solcher Reformprozess – und mit ihm das Hervorbringen des Rechtsstaates – charakter-
isiert durch eine Vielzahl von Ebenen, Akteuren und Anreizen, was insgesamt das
Umgehen, Obstruieren oder Unterwandern der zu etablierenden formalen Regeln
erlaubt (Schuppert 2011). – Insgesamt ist jedoch festzuhalten, dass es gegenwärtig
keine wirklich anerkannte Theorie zu Ursachen und Wirkungen des rule of law bzw. zur
Transition zum Rechtsstaat gibt (Fukuyama 2010; Skaaning 2010, S. 458).

4 Perspektiven

Staat und Rechtsstaat sind je auf ihre Weise gängige und nahezu ubiquitäre Konzepte
in der vergleichenden Politikwissenschaft, weisen aber sowohl hinsichtlich Konzep-
tualisierung als auch Anwendung jeweils eigene Schwächen auf. Im Hinblick auf den
Staat ist festzuhalten, dass er zum einen als hochaggregiertes und mehrschichtiges
314 P. Thiery

Konzept äußerst sperrig f€ur empirische Analysen ist und bleiben wird. Mit deshalb,
aber auch aufgrund der disziplinären wie methodischen Ausdifferenzierung der
Forschung um das Sujet Staat herum kann wohl auch in Zukunft kaum von einer
einheitlichen Staatswissenschaft ausgegangen werden. Allerdings könnte der von
Hay und Lister (2006, S. 10–13) hervorgehobene Nutzen des Staatsfokus – institu-
tionelle und historische Kontextualisierung – Ansatzpunkte bieten, das insbesondere
in der angloamerikanischen Forschungstradition verankerte Aversion gegen€uber dem
Staat aufzuweichen. Als „Weberianer“ könnte man – in Übereinstimmung mit
O’Donnell – hinzuf€ugen, dass damit auch die Aspekte von Herrschaft (wieder) eine
größere Rolle spielen könnten. Im Hinblick auf den Rechtsstaat, dessen Bedeutung
f€ur politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen wenig umstritten
scheint, stehen weiterhin Fragen der schärferen Konzeption und valideren Messung
ebenso auf dem Programm wie eine stärkere Synthetisierung der theoretischen
Ansätze zu Ursachen und Wirkungen. Nur zusammengenommen wären dann auch
verlässlichere – und vergleichbare – empirische Analysen möglich. Wie f€ur die
Staatsforschung gilt, dass dies mit einer systematischeren Bestandsaufnahme der
bis dato eher disparaten Forschungslandschaft zu verbinden wäre. Nicht zuletzt sei
darauf verwiesen, dass die analytische Konsolidierung der Staats- und Rechtsstaats-
forschung auch produktive Impulse auf die aktuelle Forschung zur Entgrenzung des
Nationalstaats nach oben und nach unten liefern könnte.

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Fragile Staaten in der Vergleichenden
Politikwissenschaft

Daniel Lambach

Zusammenfassung
Fragile Staatlichkeit (bzw. seine verschiedenen Synonyme wie Staatszerfall,
Staatskollaps oder versagende Staatlichkeit) ist in seiner gegenwärtigen Form
erst seit rund 20 Jahren ein Thema politikwissenschaftlicher Forschung. Aus
Sicht der Vergleichenden Politikwissenschaft sind daran zwei Dinge bemerkens-
wert: Erstens handelt es sich dabei um ein Thema, das eigentlich Teil der klassi-
schen Comparative Politics sein sollte, aber derzeit eher in den Internationalen
Beziehungen, der Konflikt- und der Entwicklungsforschung angesiedelt ist. Die
Vergleichende Politikwissenschaft schöpft demgegen€uber das Potenzial des Kon-
zepts bislang kaum aus. Zweitens gab es inhaltlich ähnliche Konzepte schon
fr€
uher in der Komparatistik, z. B. die Arbeiten zu political development, deren
Erkenntnisse von der aktuellen Forschung nur wenig bis gar nicht ber€ucksichtigt
werden. Positiv gewendet kann man daraus folgern, dass die Vergleichende
Politikwissenschaft viel gewinnen könnte, wenn sie sich systematisch mit dem
Thema fragiler Staatlichkeit beschäftigen und die Forschung an ihre eigenen
Traditionen zur€uckbinden w€urde. Dies w€urde Erkenntnisgewinne f€ur andere
Forschungsstränge versprechen, aber auch der Forschung zu fragiler Staatlichkeit
gut tun.

Schlüsselwörter
Fragile Staaten • Staatlichkeit • Political development • Stateness • Vergleichende
Politikwissenschaft

D. Lambach (*)
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl f€ ur Internationale Beziehungen und
Entwicklungspolitik, Institut f€
ur Politikwissenschaft, Universität Duisburg- Essen, Duisburg,
Deutschland
E-Mail: daniel.lambach@uni-due.de

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 319


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_24
320 D. Lambach

1 Was bedeutet fragile Staatlichkeit?

Die gegenwärtige Beschäftigung mit fragiler Staatlichkeit hat ihre Wurzeln in einem
Aufsatz von 1992, der erstmals die Frage stellte, was der Westen – hier speziell die
USA – tun könne, um „zerfallene Staaten“ ( failed states) zu retten (Helman und
Ratner 1992). Insbesondere in ihrer ersten Dekade befasste sich die Forschung stark
mit Begrifflichkeiten – neben dem zunächst dominanten Konzept des Staatszerfalls
(Gros 1996; Tetzlaff 1993) gab es noch weitere, verwandte Begriffe. Inzwischen hat
sich der Begriff des „fragilen Staates“ als Sammelbegriff etabliert, was auch zu einer
gewissen Integration der verschiedenen Ansätze in einem gemeinsamen Forschungs-
feld beigetragen hat. Im aktuellen Sprachgebrauch wird mit fragiler Staatlichkeit
eine breite Spanne von Beispielen institutionellen Versagens beschrieben. Dazu
gehören die zwar schwachen, aber zumindest noch teilweise funktionsfähigen Staa-
ten ebenso wie die krisengesch€uttelten, zerfallenden Staaten. Am Ende des Konti-
nuums von Staatlichkeit stehen die zerfallenen oder kollabierten Staaten, in denen
die staatlichen Institutionen nahezu jede produktive Arbeit eingestellt haben.
Als Referenzpunkt f€ur diese Kontinuum dient ein Idealtyp von Staatlichkeit, der
sich meist – aber nicht immer – am Staatsbegriff Max Webers orientiert (Weber
1972; Eriksen 2011). In dieser Tradition wird Staatlichkeit hier definiert €uber die
Fähigkeit staatlicher Institutionen, Monopole in den Bereichen a) Gewaltkontrolle,
b) Steuererhebung und c) Rechtsetzung zu etablieren und aufrechtzuerhalten. Staa-
ten sind demnach fragil, wenn sie in diesen drei Bereichen deutliche Defizite
aufweisen.1 Defizite der Gewaltkontrolle äußern sich in mangelnder Kontrolle €uber
das Staatsgebiet und seine Grenzen, in Aktivitäten nicht-staatlicher bewaffneter
Gruppen und in Kriminalität. Defizite in der Steuererhebung zeigen sich anhand
von verbreiteter Steuerhinterziehung, einer mangelhaften Finanzverwaltung und
informeller Steuererhebung durch private Akteure. Defizite der Rechtsetzung äußern
sich in der mangelhaften Durchsetzung staatlichen Rechts sowie der verbreiteten
Nutzung alternativer Rechtssysteme wie Clanrecht oder Lynchjustiz.
Es gibt keine eindeutigen Angaben, wie viele und welche Staaten heutzutage als
fragil, zerfallen oder kollabiert gelten. Verschiedene Forschungsinstitute ebenso wie
Organisationen aus der Entwicklungszusammenarbeit haben eigene Indizes zur
Messung von Fragilität entwickelt (Bethke 2012). Eine präzise Liste fragiler Staaten
ist jedoch genauso unrealistisch wie sinnlos, nicht zuletzt aufgrund der Veränder-
lichkeit der Sachlage. Überdies weist eine große Zahl von Staaten zumindest in
Teilbereichen deutliche Symptome fragiler Staatlichkeit auf. Insofern sollte man
fragile Staatlichkeit nicht als Ausnahme und Abweichung verstehen, sondern als
historischen und aktuellen Normalzustand.
Derartige Defizite staatlicher Institutionen haben nat€urlich Folgen f€ur Frieden und
Entwicklung. So zeigen mehrere Studien, dass fragile Staatlichkeit das Risiko eines
B€urgerkriegs signifikant erhöht (z. B. Bussmann 2009). Gleichzeitig ist fragile

1
Einflussreich sind auch die eher outputorientierten Konzepte von Schneckener (2006) und Rot-
berg (2004).
Fragile Staaten in der Vergleichenden Politikwissenschaft 321

Staatlichkeit ein ernstes Hindernis f€ur wirtschaftliche und soziale Entwicklung.


Chauvet und Collier (2004, S. 3) errechneten, dass fragile Staaten selbst in Friedens-
zeiten ein im Schnitt um 2,3 Prozentpunkte niedrigeres Wirtschaftswachstum
aufweisen als andere arme Länder. Da durch die häufig auftretenden Gewaltkonflikte
in fragilen Staaten deren Wirtschaftswachstum zusätzlich beeinträchtigt wird,
verringern sich die Chancen f€ur fragile Staaten eklatant, durch nachhaltiges Wachs-
tum dieser Situation zu entkommen. Dementsprechend sind die Millennium-
Entwicklungsziele der Vereinten Nationen f€ur viele fragile Staaten de facto uner-
reichbar.
Angesichts dessen gelten fragile Staaten als besondere Problemfälle der inter-
nationalen Gemeinschaft. Daher befassen sich mehrere Forschungszweige mit
Fragen, wie externe Akteure Fragilität bekämpfen bzw. dessen nachteilige Aus-
wirkungen einhegen können. Es wird diskutiert, wann und mit welchen Mitteln
Interventionen in fragilen Staaten unternommen werden können, sollen und d€urfen.
Auch die Entwicklungszusammenarbeit ist seit den fr€uhen 2000er-Jahren mit dem
Thema befasst. Hier wird in erster Linie nach Strategien gesucht, wie Entwicklungs-
zusammenarbeit unter Bedingungen fragiler Staatlichkeit effektiv betrieben werden
kann. Nicht zuletzt aufgrund der Nachfrage aus der praktischen Politik nach Lö-
sungsoptionen hat die einschlägige Forschung einen explizit politikberatenden,
problemlösenden Einschlag, der teils bis zur Ausarbeitung konkreter Politikvor-
schläge und Reformempfehlungen verfolgt wird. Dies ist aus wissenschaftlicher
Perspektive nicht unproblematisch, da in derartigen Beiträgen die Rolle externer Ak-
teure in der Schaffung und Aufrechterhaltung staatlicher Fragilität meist aus-
geblendet wird.
Diese politikberatende Ausrichtung wurde stark durch die Terroranschläge des
11. September 2001 bedingt, ohne die fragile Staaten vermutlich ein Nischenthema
der Politikwissenschaft geblieben wären. Davor wurde fragile Staatlichkeit in erster
Linie als entwicklungspolitisches oder humanitäres Problem angesehen – auch wenn
von Beginn an darauf verwiesen wurde, dass die Folgen von Staatszerfall z. B. durch
Fl€uchtlingsströme oder Verbreitung von Kleinwaffen die Interessen von Industrie-
nationen ber€ uhren könnten (Helman und Ratner 1992). Der 11. September sorgte
jedoch daf€ur, dass fragile Staaten nicht mehr nur als Bedrohung westlicher Interes-
sen, sondern westlicher Sicherheit wahrgenommen wurden. Seither werden fragile
Staaten pauschal als potenzielle oder tatsächliche Operationsbasen terroristischer
Gruppen angesehen und spielen deshalb eine nicht unproblematische Rolle in
Diskursen € uber entwicklungs- und sicherheitspolitische Interventionen.
Daher kritisieren Hughes und Pupavac (2005), der Diskurs sei Teil einer generel-
len „Pathologisierung“ armer, marginalisierter Länder, wonach den jeweiligen Ge-
sellschaften selbst die Schuld f€ur das Scheitern des Staates gegeben werde, während
externes Eingreifen als funktional und hilfreich präsentiert werde. Somit diene der
Diskurs € uber fragile Staaten weniger der Analyse von Krisen des Staatswesens,
sondern der Legitimierung unbegrenzter externer Intervention. Diese Kritik, die
auch von anderen Autoren in ähnlicher Form vorgebracht wird (z. B. Bilgin und
Morton 2002), beinhaltet, dass der wissenschaftliche ebenso wie der politische
Diskurs €uber fragile Staaten bewusst oder unbewusst der Vorbereitung und Legitimation
322 D. Lambach

von Interventionen dient. Dieser Auseinandersetzung muss man sich bewusst sein,
wenn man Fragilität als analytisches Konzept verwenden möchte.

2 Analytische Schwachpunkte

Die Literatur zu fragiler Staatlichkeit hat eine Tendenz zur Verwässerung und Über-
dehnung des Konzepts. Sein Hauptproblem ist, dass es Auskunft gibt, was nicht da
ist; es sagt aber nichts dar€uber aus, was da ist. Insofern verrät es uns einiges €uber
unsere eigenen Erwartungen: Wir gehen davon aus, dass jeder Staat €uber funktio-
nierende staatliche Institutionen und eine Zentralisierung und Monopolisierung der
Machtressourcen verf€ugen sollte, dass die staatliche Sphäre ein ausdifferenziertes
und autonomes Teilsystem der Gesellschaft ist und dass Herrschaft an Ämter, nicht
an Personen gebunden sein muss. Wir unterliegen der „Fiktion der Staatlichkeit“
(von Trotha 2011) und halten den modernen Staat f€ur den politischen Normalfall.
Ein Ausdruck dieser hohen Erwartungen ist das idealtypische Staatsverständnis,
das dem Konzept immer auch einen utopischen Charakter verleiht und aus dem
mehrere weitere Probleme hervorgehen. Das eine Problem ist das des Informations-
verlustes: Staatlichkeit wird eindimensional als Abstand zum Idealtyp ausgedr€uckt.
Ein weiteres Problem ist, dass man leicht dem Denkfehler unterliegt, dass, sobald ein
politisches System nach anderen Regeln funktioniert als Webers rational-legales
Modell politischer Herrschaft, man es allein aufgrund dieser Tatsache als instabil,
unterdr€uckerisch und dysfunktional einordnet. Dem Staat wird ein großer ideeller
Ballast aufgeb€ urdet, wenn man annimmt, dass in seiner Abwesenheit der Mensch
des Menschen Wolf werde.
Dabei gibt es gen€ugend Erkenntnisse, dass das Leben in einem fragilen Staat zwar
nicht paradiesisch ist, jedoch keineswegs in einem „Krieg aller gegen alle“ m€undet,
wie es mancher Kommentator in Anlehnung an Thomas Hobbes vermutet. In
kulturell und historisch sehr unterschiedlichen Kontexten finden sich Beweise f€ur
gesellschaftliche Selbstorganisation (Akude et al. 2011). Deshalb ist es sinnvoll,
nicht mehr „fragile Staaten“ als Ganzes zu betrachten, sondern zwischen sub- oder
transnationalen „Räumen begrenzter Staatlichkeit“ (Risse und Lehmkuhl 2007) zu
differenzieren, in denen der Staat eingeschränkte bzw. gar keine Governance-Kapa-
zitäten aufweist. In solchen Kontexten entsteht eine große Vielfalt an Ordnungs-
formen, die von Gewaltordnungen €uber gesellschaftlich-staatliche Hybridformen bis
hin zu parastaatlichen Polities reicht. Nicht-staatliche Akteure werden dort zu An-
bietern von Governance-Leistungen, ob in Kooperation mit oder Konkurrenz zu
den verbliebenen staatlichen Institutionen (exemplarisch Clements et al. 2007). Au-
ßerdem wäre es w€unschenswert, wenn sich die Forschung von der teleologischen
Annahme befreien könnte, dass die Entwicklung jeder Gesellschaft quasi naturge-
setzlich auf die Ausbildung eines modernen, ausdifferenzierten Staatswesens hinaus-
laufe. Dies verdeckt eher die bereits vorhandene Variation aktueller Staatsformen, als
dass es zu deren Verständnis beiträgt (Sørensen 2001).
Weiterhin darf „fragile Staatlichkeit“ auf begrifflicher Ebene nicht als bloßes
Synonym f€ ur einen allgemeinen Krisenzustand, eine Mischung aus Gewaltkonflikten,
Fragile Staaten in der Vergleichenden Politikwissenschaft 323

Unterentwicklung und schlechter Regierungsf€uhrung, verwendet werden. Besonders


augenfällig ist hier die Beliebigkeit einschlägiger Indizes, die Bethke (2012)
als „zuverlässig invalide“ kritisiert. So besteht der populäre Fragile States Index
(fr€uher: Failed States Index) aus zwölf Teilindikatoren: 1) Demografischer Druck,
2) Schwerwiegende Fluchtbewegungen, 3) eine Vorgeschichte gruppenbezogener
Gewalt, 4) Stetige Auswanderungsbewegungen, 5) Ungleiche wirtschaftliche Ent-
wicklung entlang von Gruppengrenzen, 6) Armut und wirtschaftlicher Niedergang,
7) Kriminalisierung bzw. Delegitimierung des Staates, 8) Verfall öffentlicher Diens-
te, 9) Aussetzung von Rechtstaatlichkeit und verbreitete Verletzung von Menschen-
rechten, 10) der Sicherheitsapparat arbeitet als „Staat im Staate“, 11) der Aufstieg
faktionalisierter Eliten, sowie 12) die Intervention externer Akteure (Fund for
Peace 2005). Von diesen Indikatoren beziehen sich je nach Staatsdefinition besten-
falls vier (Nr. 7 bis 10) auf staatliche Institutionen im eigentlichen Sinne. Der Rest
sind Ursachen oder Folgen von fragiler Staatlichkeit, sie können aber ebenso gut
als Resultat von Wirtschaftskrisen, politischen Machtwechseln oder staatlicher
Repression auftreten.
Nicht zuletzt muss man sich bewusst sein, dass die Bezeichnung „fragiler Staat“
eine Bewertung auf nationaler Ebene ist, die sehr große Variation €uberdecken kann.
Die Fähigkeiten eines Staatswesens sind räumlich, zeitlich und sektoral unterschied-
lich. F€ur ein komparatives Forschungsdesign muss dies kein Problem sein, beson-
ders wenn die Fallzahlen größer werden. Qualitative Forschung mit kleineren Fall-
zahlen sollte sich dagegen eher auf die Funktionsweise substaatlicher Ordnungen
konzentrieren, um Variationen innerhalb der Fälle zu verstehen.

3 Fragile Staatlichkeit als Thema der Vergleichenden


Politikwissenschaft

Fragile Staaten werden in der Vergleichenden Politikwissenschaft bislang wenig bis


gar nicht behandelt, zumindest wenn man nach aktuellen Einf€uhrungs- und Über-
blicksbänden geht. Von zwölf €uberpr€uften Werken gehen neun gar nicht auf dieses
Thema ein (Abromeit und Stoiber 2006; Almond et al. 2004; Berg-Schlosser und
M€uller-Rommel 2003; Jahn 2011, 2013; Kesselman et al. 2000; Kriesi 2007;
Newton und van Deth 2010; von Beyme 2010). Zumindest erwähnt wird das Thema
bei Lauth, Pickel und Pickel (2014, S. 148–150), die bei der Erläuterung des Staats-
begriffs auch auf diesen Aspekt eingehen. Im Sammelband von Caramani (2008)
wird das Thema von Sørensen (2008, S. 614–617) in seinem Kapitel zu Globalisie-
rung und Nationalstaat angeschnitten. Nur Siaroff setzt sich genauer mit dem Thema
auseinander, indem er Staatlichkeit und State building als zentrale Analysekatego-
rien darstellt (2009, S. 50–54) und effektive staatliche Institutionen als zentralen
Bestandteil liberaler Demokratie ansieht (2009, S. 67–68).
Versteht man Vergleichende Politikwissenschaft im Sinne Berg-Schlossers als
„eine bestimmte (komparative) Methode und einen eigenen Gegenstandsbereich, die
vergleichende Analyse von politischen Systemen oder bestimmten Subsystemen“
(Berg-Schlosser 2009, S. 439), dann ist diese weitgehende Nichtbeachtung
324 D. Lambach

erklärungsbed€ urftig. Dies gilt umso mehr angesichts der Feststellung aus einer anderen
Standortbestimmung der Vergleichenden Politikwissenschaft, dass „die Untersuchung
der Leistungs- und Innovationsfähigkeit des Staates ein bleibendes Forschungsgebiet
[bilde]“ (Simonis et al. 2007, S. 159).
Diese weitgehende Nichtbeachtung ist besonders €uberraschend, wenn man be-
r€
ucksichtigt, dass sich die Vergleichende Politikwissenschaft von den 1960er bis
1980er-Jahren sehr aktiv mit genau diesem Themenbereich – wenn auch mit einer
anderen Terminologie – beschäftigte. In jener Zeit gehörte die political develop-
ment-Literatur zu einem der innovativsten Bereiche der Vergleichenden Politik-
wissenschaft, wie Hagopian (2000, S. 880) in ihrer Geschichte dieser Schule
darstellt. Wissenschaftler wie Gabriel Almond, James Coleman, Lucian Pye oder
Bingham Powell befassten sich mit politischem Wandel und Entwicklung in den
postkolonialen Staaten Afrikas, Asiens und in Nahost. Ihre modernisierungstheo-
retische Herangehensweise war stark normativ-teleologisch orientiert und geriet
aufgrund empirischer Defizite schnell in die Kritik, so dass sich das Feld von der
Großtheorie hin zur Entwicklung von Theorien mittlerer Reichweite bewegte.
Einer ihrer Kritiker war Huntington, der in seinem Werk zu Modernisierungs-
konflikten bereits das Forschungsthema fragiler Staatlichkeit vorwegnahm:
„The most important political distinction among countries concerns not their form
of government but their degree of government“ (1969, S. 1). Während sich das
Feld des political development ausdifferenzierte, folgten in Huntingtons Fußstap-
fen Theorien schwacher Staaten (weak states), die insbesondere die Einbettung des
Staates in der Gesellschaft thematisierten (z. B. Migdal 1988; Rothchild und
Chazan 1988). Jedoch wurden diese vielversprechenden Ansätze nicht weiter
gef€uhrt, da sich mit der Transitionstheorie ein neues Paradigma durchsetzte, das
sich – in Umkehrung von Huntingtons Diktum – wieder stärker mit Regierungs-
formen befasste.
Als sich in den 1990er-Jahren die Forschung zu Staatszerfall und Staatskollaps
entwickelte, geschah dies in weitgehender Unkenntnis der komparatistischen Vor-
läufer (ausf€
uhrlich Lambach 2011), obwohl staatliche Institutionen zum absoluten
Kerngebiet der Vergleichenden Politikwissenschaft gehören. Forschungsfelder wie
Patronage, Klientelismus und Neopatrimonialismus (z. B. Arriola 2009; Beissinger
und Young 2002; Erdmann und Engel 2007) gehören bereits dazu, ebenso die
komparative Staatsbildungsforschung (z. B. Thies 2009; Vu 2010). In punkto fra-
giler Staatlichkeit ist der Forschungsgegenstand disziplinär jedoch heute in den
Internationalen Beziehungen bzw. Querschnittsfeldern wie Konflikt- oder Entwick-
lungsforschung verankert.
Zwar gibt es eine komparative Erforschung fragiler Staatlichkeit, z. B. zu den
Ursachen von Fragilität (Lambach und Bethke 2012 bieten einen Überblick €uber den
Forschungsstand). So unternehmen B€uttner (2004), Lambach (2009), Schneckener
(2006) und Schubert (2005) Small-N-Vergleiche, die auf qualitativen Fallstudien
berufen, während Lambach, Bayer und Johais (2013) QCA-basierte Vergleiche an-
stellen. Grävingholt, Ziaja und Kreibaum (2012) sowie Carment und Samy (2012)
setzen auf Large-N-Analysen mit dem Ziel, unterschiedliche Typen von Fragilität zu
Fragile Staaten in der Vergleichenden Politikwissenschaft 325

identifizieren. Jedoch sind diese Beiträge nur im methodischen Sinne komparativ,


die Autoren verorten sich in anderen Teilbereichen der Politikwissenschaft.
Am ehesten befasst sich die Vergleichende Politikwissenschaft – verstanden hier
nicht nur als Methode, sondern auch als Gegenstandsbereich – mit fragiler Staatlich-
keit, wenn sie diese als unabhängige oder intervenierende Variable in andere Unter-
suchungen und Theorien aufnimmt. Dies geschieht mit zum Teil leicht abweich-
enden Begriffen. Während Transitionstheorien von stateness sprechen (Linz und
Stepan 1996), verwenden andere Beiträge state capacity (vom Hau 2012) oder
infrastructural power bzw. infrastructural capacity (Soifer 2008). Diese Konzepte
haben zwar unterschiedliche Schwerpunkte, gemein ist ihnen jedoch ein Interesse an
der Funktions- und Durchsetzungsfähigkeit staatlicher Institutionen, weswegen sie
hier am Rande erwähnt werden sollen.
Bekannt ist hier die Demokratisierungstheorie von Linz und Stepan, die „state-
ness“ als notwendige Vorbedingung f€ur demokratische Konsolidierung ansehen. Ihr
Schwerpunkt liegt dabei auf der Identifikation der B€urger mit dem Staat, also der
Kongruenz von politischer Gemeinschaft und demos. Nach Linz und Stepan ist das
stateness-Kriterium gegeben, wenn die territorialen Grenzen des Staates klar sind
und Bewohner Zugang zur Staatsb€urgerschaft und den damit verbundenen Rechten
haben (Linz und Stepan 1996, S. 16). Zwar erwähnen sie auch die Durchsetzungs-
fähigkeit staatlicher Herrschaft, dessen Gewaltmonopol und die Effektivität der
Justiz als wichtige Faktoren, beziehen diese jedoch nicht systematisch in ihr Demo-
kratiekonzept ein. Insofern war Carothers‘ Kritik an der klassischen Transitions-
forschung berechtigt, dass das Transitionsparadigma auf der impliziten Annahme
kohärenter und funktionsfähiger staatlicher Institutionen beruhe (Carothers 2002,
S. 8–9, vgl. auch die Ergebnisse von Bratton und Chang 2006).
F€ur neuere Beiträgen zur Demokratieforschung gilt dies jedoch nicht mehr. Mer-
kel (2010, S. 33–34, ähnlich Siaroff 2009, S. 67–68) sieht eine effektive Regie-
rungsgewalt als integralen Bestandteil seines Konzepts der embedded democracy,
auch wenn er dies auf die Durchsetzungsfähigkeit der Regierung gegen€uber dem
Militär und anderen Vetospielern beschränkt. Lauth und Kauff (2012) beziehen
den Faktor Staatlichkeit – verstanden als legitimes Gewaltmonopol des Staates –
ausdr€ucklich als Dimension in ihren Konsolidierten Index der Demokratie ein. Auch
der Bertelsmann Transformationsindex enthält einen Indikator, der die Handlungs-
fähigkeit staatlicher Institutionen misst.
Weiterhin gibt es Diskussionen um die Kausalität, die Demokratie und Staatlich-
keit miteinander verbindet. So kritisiert Whitehead (2004, S. 37–38), dass es in der
dritten Welle ausreichend Fälle von Demokratisierung gegeben habe, bei denen die
von Linz und Stepan als Vorbedingung geforderte stateness nicht vorhanden war.
Vielmehr könne die Schaffung einer Demokratie auch erst zur Herausbildung funk-
tionierender Staatlichkeit beitragen. Dies wird durch Ergebnisse einer Studie von
26 postkommunistischen Demokratien in Mittel- und Osteuropa gest€utzt (Fortin
2012). Diese bestätigt einerseits Linz und Stepan, dass die infrastrukturelle Kapazität
des Staates eine notwendige Bedingung f€ur demokratische Konsolidierung darstellt.
Andererseits zeigt sich auch, dass Demokratie die Kapazität staatlicher Institutionen
326 D. Lambach

verbessert. Ähnlich argumentiert Slater (2008), dass kompetitive Wahlen und Mas-
senmobilisierung die territoriale Ausweitung der staatlichen Reichweite befördern.
In der afrikabezogenen Forschung spielen fragile Staatlichkeit und verwandte
Konzepte eine größere Rolle. Hier zeigen eine Vielzahl von Beiträgen zu politischer
Kultur (Bayart 1993), zu Klientelismus und Neopatrimonialismus (Erdmann und
Engel 2007) sowie zu Hybridität (Meagher 2012), dass formelle Institutionen dort
mehr als in anderen Regionen mit informellen Praktiken vermischt, durch diese
instrumentalisiert oder substituiert werden. Der afrikanische Staat „funktioniert“
(Chabal und Daloz 1999), jedoch nicht nach den Regeln, die man als externer
Beobachter mit Weberschen Idealen von Staatlichkeit erwarten w€urde. Die Ursachen
daf€ur liegen in kolonialen Traditionen, den Staatsbildungsstrategien autoritärer
Regimen in der postkolonialen Phase sowie der politischen Geographie des Konti-
nents, die eine Institutionalisierung vieler Staatswesen erschwert (Herbst 2000;
Thies 2009). Auch die aktuelle Debatte, ob das urspr€unglich asiatische Modell des
Entwicklungsstaates in Afrika umgesetzt werden könnte, dreht sich um die Frage, ob
afrikanische Staaten €uber die notwendige institutionelle Kapazität verf€ugen (Mu-
samba 2010).

4 Perspektiven

Dieser Forschungsstränge zum Trotz bleibt festzuhalten, dass die Beschäftigung der
Vergleichenden Politikwissenschaft mit fragiler Staatlichkeit ausbaufähig ist. Dabei
bietet eine tiefere Auseinandersetzung mit dem Thema interessante Perspektiven f€ur
die Vergleichende Politikwissenschaft.
Erstens ist fragile Staatlichkeit ein Konzept, das nicht nur auf einzelne Regionen
anwendbar ist und deshalb transregionale Vergleiche ermöglicht. Zwar gibt es be-
rechtigte Debatten dar€uber, inwieweit ein einheitlicher Idealtyp den Realitäten
von Staatlichkeit in unterschiedlichen Regionen gerecht wird, es ist jedoch unstrittig,
dass es globale Normen und Vorstellungen von Staatlichkeit gibt, die von Eliten und
B€urgern weltweit geteilt werden. Zweitens kann man das Konzept auch räumlich
desaggregieren, indem man von „Räumen begrenzter Staatlichkeit“ statt fragilen
Staaten spricht (wie es der Sonderforschungsbereich 700 tut). Dies ermöglicht eine
produktive Erforschung von Variation innerhalb von Staaten (exemplarisch Bouzia-
ne et al. 2013).
Drittens und letztens stellt fragile Staatlichkeit f€ur viele Forschungsgegenstände
der Vergleichenden Politikwissenschaft eine wichtige unabhängige oder intervenie-
rende Variable dar, die zu oft noch nicht ausreichend ber€ucksichtigt wird. In der
Demokratisierungsforschung geschieht dies bereits zum Teil (z. B. bei Bratton und
Chang 2006; Zulueta-F€ulscher 2014), wenn auch noch nicht deutlich genug. Hier
lässt sich beispielsweise die These aufstellen, dass Transitionen in konsolidierteren
Staatswesen anders scheitern als in fragilen Staaten: Während es in ersteren zu auto-
ritärer Regression kommt, f€uhren letztere eher zu B€urgerkriegen (Akude et al. 2009).
Fragile Staaten in der Vergleichenden Politikwissenschaft 327

Auch die Policy-Forschung könnte durch eine Auseinandersetzung mit fragiler


Staatlichkeit hinzugewinnen und sich dadurch f€ur eine Untersuchung von
Politik in Entwicklungsländern fruchtbarer machen. Insbesondere die Frage der
Politikimplementation, welche maßgeblich von der Funktionsfähigkeit des Staates
abhängt, erhielte dadurch neue Impulse. Auch f€ur die Kultur- und Einstellungs-
forschung lässt sich plausibel argumentieren, dass fragile Staatlichkeit ihre For-
schungsgegenstände beeinflusst. Fragile Staaten werden anders wahrgenommen
und erzeugen keine Outputlegitimität. Die politische Kultur wird dort durch ver-
breitetes Exit-Verhalten geformt oder ist durch einen Antagonismus zwischen
Gesellschaft und Staat charakterisiert, wie z. B. Forrest (2003) in seiner Studie
zu Guinea-Bissau zeigt. Ein Problem, das f€ur alle Felder aber noch zu bearbeiten
wäre, ist die bislang mangelhafte Qualität von Messinstrumenten und Daten
(Bethke 2012).
F€ur die Forschung zu fragiler Staatlichkeit wäre es ein Gewinn, wenn sich dort
mehr Stimmen aus der Vergleichenden Politikwissenschaft einbringen w€urden. Be-
reits eine Auseinandersetzung mit der political development-Literatur wäre wert-
voll, die sehr viel €
uber die Dialektik von Staatsbildung und Fragilität zu sagen hat.
Dar€ uber hinaus könnte sich die Forschung f€ur historisch-institutionalistische Bei-
träge zu postkolonialer Staatsbildung öffnen, die die Literatur zu fragilen Staaten
bislang weitgehend €ubersehen hat.
Weiterhin w€ urde eine Ber€ucksichtigung von Arbeiten zur Einbettung des Staates
in der Gesellschaft eine wesentlich detailliertere Analyse der internen Ursachen und
Dynamiken von Fragilität erlauben. So zeigen beispielsweise die Arbeiten Migdals
(1988) zu state-society relations sowie zur „embeddedness“ des Entwicklungsstaa-
tes (Evans 1995), dass staatliche Institutionen nicht losgelöst von der Gesellschaft
existieren, sondern vielmehr von einem produktiven Zusammenspiel formeller und
informeller Institutionen und Praktiken abhängen, um funktionieren zu können.
Auch die komparatistischen Beiträge zu politischer Kultur und zur Pfadabhängigkeit
politischer Institutionen (z. B. Mahoney 2001) wurden bislang kaum in der For-
schung zu fragiler Staatlichkeit ber€ucksichtigt. Dadurch könnte man produktiv der
Frage nachgehen, welche kulturell-historischen Grundlagen f€ur einen funktionsfä-
higen Staat notwendig sind und ob die Existenz präkolonialer politischer Formatio-
nen f€ ur die Entwicklung postkolonialer Staatlichkeit eher vorteilhaft (Gennaioli und
Rainer 2007) oder hinderlich (Lambach et al. 2013) ist.
Ebenso wichtig wie diese thematischen Ankn€upfungspunkte wäre aber ein Wan-
del der Perspektive. Die bisherige Fragilitätsforschung steht in einer Tradition der
Internationalen Beziehungen und hat daher eine externe Perspektive auf das Phäno-
men. Das bedeutet, dass sie zu allererst danach fragt, welche Relevanz ein Phänomen
f€
ur die internationale Ebene hat. Diese Beiträge haben zumeist nur eine schemen-
hafte Theorie der domestic politics eines fragilen Staates. Auf diese Weise wird das
Verständnis der internen Logik fragiler Staatlichkeit vernachlässigt. Eine verglei-
chende Perspektive könnte dazu beitragen, fragile Staaten als Produkte politischer
und gesellschaftlicher Dynamiken zu analysieren, anstatt sie zunächst als Sicher-
heits- und Entwicklungsrisiko f€ur westliche Staaten zu verstehen.
328 D. Lambach

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Staatsstrukturen in der Vergleichenden
Politikwissenschaft: Föderal- und
Einheitsstaat

Jörg Broschek

Zusammenfassung
Die territoriale Dimension von Staatlichkeit ist den vergangenen Jahrzehnten
wieder sp€ urbarer geworden. Die supranationale Integrationsdynamik innerhalb
der Europäischen Union, Prozesse der Devolution wie in Großbritannien oder
Italien beziehungsweise der Föderalisierung wie in Belgien, und eine Vielzahl
von Institutionenreformen in etablierten Föderalstaaten belegen dies. Oftmals
liegt diesen institutionellen Dynamiken eine „Reaktualisierung“ territorial defi-
nierter Konfliktlinien zugrunde. Ungeachtet dieser aktuellen Entwicklungen zeigt
dieser Beitrag indes, dass Territorialität seit jeher eine wichtige Rolle f€ur die
Binnenstruktur des Staates gespielt hat.

Schlüsselwörter
Mehrebenenregieren • Föderalismus • Einheitsstaat • Regionalisierung • Zentra-
lisierung • Dezentralisierung • Souveränität

1 Einleitung

Territorialität zählt zu den zentralen Strukturmerkmalen des modernen Staates.


Territoriale Grenzen definieren diesen einerseits nach außen. Externe Grenzbil-
dungsprozesse und deren langfristige Konsolidierung besiegelten den Übergang
vom fragmentierten Herrschaftssystem des Mittelalters zum modernen System sou-
veräner Territorialstaaten. Territorialität ist allerdings ebenso ein wichtiges Kriterium
f€
ur die vergleichende Analyse der Binnenstruktur des modernen Staates. Die Ent-
wicklungsdynamik des modernen Staates war und ist oftmals geprägt durch

J. Broschek (*)
Associate Professor, Department of Political Science, Wilfrid Laurier University, Waterloo, Kanada
E-Mail: jbroschek@wlu.ca

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 331


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_25
332 J. Broschek

Zentrum-Peripherie Konflikte, die sich auf unterschiedliche Art und Weise in der
institutionellen Architektur von Staaten manifestieren.
Allen Staatsbildungsprozessen ist naturgemäß eine Zentralisierungsdynamik
inhärent. Historisch wurde versucht, auf dem Wege der politischen Strukturierung
(„political structuring“) die peripheren bzw. „unterworfenen“ Gebiete innerhalb
eines sich konsolidierenden Staates durch institutionelle Einbindung zu befrieden,
um dadurch internen Protest zu kanalisieren (Bartolini 2005; Ferrera 2005; Rokkan
1999). Territoriale Grenzen innerhalb eines Staates blieben so oftmals und allen
Zentralisierungsdynamiken zum Trotz durchaus wirkungsmächtig. Sie bieten des-
halb einen wichtigen Ausgangspunkt f€ur den Vergleich divergenter Pfade der Staats-
entwicklung.
Vor diesem Hintergrund können zunächst grob zwei Varianten des modernen
Staates differenziert werden: Der Einheits- und der Föderalstaat. Der zentrale Unter-
schied zwischen beiden Varianten liegt dabei nicht im jeweiligen Zentralisierungs-
grad (vgl. auch Kaiser et al. 2012) begr€undet. Sowohl Einheits- wie auch Föderal-
staaten können eine eher zentralistische oder dezentrale Staatstruktur aufweisen.
Zudem ist die Staatstruktur keineswegs statisch, sondern dynamisch (vgl. Benz
2012; Benz und Broschek 2013). Der jeweilige Zentralisierungs- bzw. Dezentrali-
sierungsgrad verändert sich entsprechend oftmals im Zeitverlauf. Schließlich können
sich beide Varianten des modernen Staates auch mit Blick auf die institutionelle
Verkn€ upfung von gesamt- und sub- bzw. gliedstaatlicher Ebene durchaus ähnlich
sein. Das differenzmarkierende Kriterium zwischen Einheitsstaat und Föderalstaat
ist deshalb eher verfassungsrechtlicher Natur und betrifft die Frage der Souveränität
der substaatlichen Einheiten: Während sie im Föderalstaat auf einer eigenständigen
Grundlage steht, gilt sie im Einheitsstaat lediglich abgeleitet.
Die Tatsache, dass eine föderative Staatsorganisation oftmals als Abweichung
von der Norm des Einheitsstaates interpretiert worden ist, scheint auf den ersten
Blick den empirischen Verhältnissen zu entsprechen. Lediglich ca. 25 von insgesamt
etwas mehr als 190 Staaten weltweit weisen eine föderative Staatsorganisation auf
(vgl. Hueglin und Fenna 2006). Faktisch lebt heute allerdings fast die Mehrheit der
Weltbevölkerung in einem Föderalstaat. Ausgehend von den ersten modernen Bun-
desstaaten in Nordamerika (USA 1787, Kanada 1867) und Europa (Schweiz 1848,
Deutschland 1871) fand der Föderalstaat vor allem seit der zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts eine wachsende Verbreitung.
Eine besondere Attraktivität €ubt er naturgemäß auf bevölkerungsreiche und groß-
räumige Länder aus. Neben den USA und Australien zählen heute auch Indien,
Russland, Pakistan oder Brasilien zur Gruppe der Föderalstaaten. Einen Bedeutungs-
zuwachs erfährt der Föderalstaat zudem aufgrund der Gleichzeitigkeit von Globali-
sierungs- und Regionalisierungsprozessen im „postwestfälischen“ Kontext. Viele
Beobachter betrachten den Föderalismus deshalb mehr denn als je eine zeitgemäße
Form der Staatsorganisation. Eine besonders aktuelle Erscheinungsform des Föde-
ralismus stellt schließlich die Europäische Union (EU) dar. Der europäische Inte-
grationsprozess hat, wie u. a. Stefano Bartolini (2005) in seiner historisch-komparativ
angelegten Studie gezeigt hat, das etablierte System von Nationalstaaten transfor-
miert und dadurch in eine neue entwicklungsgeschichtliche Stufe €uberf€uhrt. Obwohl
Staatsstrukturen in der Vergleichenden Politikwissenschaft: Föderal-. . . 333

in der Literatur durchaus umstritten ist, inwiefern die EU selbst tatsächlich


Staatscharakter hat, kann man sich ihr durchaus mit den analytischen Instrumenten
der vergleichenden Föderalismusforschung gewinnbringend annähern (vgl.
u. a. Scharpf 1994; Hueglin und Fenna 2006; Schultze 2008).
Der vorliegende Beitrag beleuchtet aus einer vergleichenden Perspektive die
Varianten der Staatsstruktur im Hinblick auf ihre territoriale Dimension. Er themati-
siert zunächst den Unterschied zwischen Einheits- und Föderalstaat vor dem Hin-
tergrund variierender Souveränitätsbeziehungen zwischen der gesamtstaatlichen
Ebene sowie den sub- bzw. gliedstaatlichen Einheiten. Im zweiten Schritt werden
sodann die Varianten in der Staatsstruktur diskutiert.

2 Souveränität im Einheits- und Föderalstaat

Das Vorhandensein mehrerer Handlungs- und Entscheidungsebenen innerhalb eines


politischen Systems bildet noch kein hinreichendes Kriterium, um föderative von
einheitsstaatlich verfassten Ordnungen abzugrenzen. Die in der j€ungeren Vergan-
genheit vielfach beobachtbaren Prozesse der Ent- und Umgrenzung haben unter-
schiedliche Formen der Reorganisation von Staatlichkeit zur Folge, bei denen
oftmals die vertikale Verteilung von Finanzierungs- oder Entscheidungskompeten-
zen zwischen politischen Handlungsebenen eine Rolle spielt. Dieser Institutionen-
wandel m€ undet allerdings nicht notwendig in einer Föderalisierung. In Einheits-
staaten wie Italien oder Großbritannien haben Dezentralisierungsprozesse zu neuen
Institutionen gef€uhrt und/oder die Aufwertung bereits bestehender Institutionen auf
der regionalen Ebene bewirkt. Der Schritt in Richtung Föderalisierung im engeren
Sinne wurde in der Regel indessen (noch) nicht vollzogen. Vertikale Differenzierung
kennzeichnet zudem nicht nur das Verhältnis von Gebietskörperschaften innerhalb
von Staaten, sondern auch die Beziehungsmuster zwischen Staaten. Die Mitglied-
schaft in trans-, inter- und supranationalen Organisationen bindet politische Sys-
teme in multilaterale Verhandlungssysteme ein und erweitert sie gleichzeitig um
Handlungsebenen, die oberhalb des nationalstaatlichen Rahmens liegen. In der
Politikwissenschaft reflektiert die wachsende Bedeutung der Begriffe Mehrebenen-
system und Multi-Level Governance diese Entwicklungen (Benz 2009; Hooghe
und Marks 2003; Piattoni 2010). Föderative wie einheitsstaatlich verfasste poli-
tische Systeme können dabei gleichermaßen Bestandteil eines umfassenderen
Mehrebenensystems sein.
Die Staatstheorie hat versucht, den qualitativen Unterschied zwischen Einheits-
und Föderalstaat € uber den – allerdings nicht unproblematischen – Begriff der
Souveränität zu erschließen. Die im 16. Jahrhundert einsetzenden Machtkonzentra-
tionsprozesse sowie die damit einhergehende Formation des absolutistischen Terri-
torialstaates vor allem in Frankreich wurden ideengeschichtlich reflektiert von
Theoretikern wie Jean Bodin und, etwa ein Jahrhundert später, Thomas Hobbes.
Insbesondere die Souveränitätslehre Bodins entfaltete eine außerordentlich große
Wirkungsmacht und prägt staatstheoretische Grundannahmen und Diskurse bis in
334 J. Broschek

die Gegenwart, und dies obwohl sich die Realität damals wie heute nur bedingt
diesen Kategorien f€ugt (vgl. Benz 2008; Grimm 2009). Nach Bodin liegt die staat-
liche Souveränität absolut, unteilbar und zeitlich unbegrenzt konzentriert in den
Händen eines Gesetzgebers.
Obwohl sich im Zuge der Fundamentaldemokratisierung des modernen Staates
der Ursprung der Souveränität vom Monarchen zum Volk verlagerte, wurde in dieser
Interpretationslinie das Prinzip der Unteilbarkeit vielfach fortgeschrieben. So wurde
der Staat beispielsweise in Anlehnung an den Republikanismus Rousseauscher
Prägung als Instrument der Volonté générale konzipiert, wobei die Konzentration
staatlicher Handlungsmacht in einer zentralen Körperschaft eine unabdingbare Vor-
aussetzung und Folge dieses Souveränitätsverständnisses ist. Ebenso findet sich
diese Denkfigur in der von der deutschen Staatslehre entwickelten Drei-Elemente-
Lehre, der zufolge der moderne Staat durch die Einheitlichkeit von Staatsgebiet,
Staatsvolk und Staatsgewalt gekennzeichnet ist. Souveränität bezieht sich dabei zum
einen auf das Außenverhältnis von Staaten im internationalen System als eine
Grundvoraussetzung des klassischen Völkerrechts, wie es sich im Gefolge des
Westfälischen Friedens von 1648 herausgebildet hatte. Sie bezieht sich zum anderen
nach innen und kommt in dem exklusiven Recht zur legitimen Aus€ubung des
Gewaltmonopols €uber rechtlich gleichgestellte Staatsb€urger innerhalb eines territo-
rial begrenzten Herrschaftsverbandes zum Ausdruck.
Aus dem Blickwinkel eines solchen Souveränitätsverständnisses erscheint der
Föderalstaat notwendig als eine unvollkommene Abweichung von der Norm. Voll-
zieht sich der Wandel einer Konföderation zu einem Föderalstaat, wandert gewisser-
maßen der Ort der Souveränität von den Gliedern auf den neugegr€undeten Bund,
wobei erstere Staatsqualität behalten. Zugrunde liegt diesem Gr€undungsakt in der
Regel – zumindest implizit – die Vorstellung eines revolutionären Aktes, im Zuge
dessen sich der Ursprung staatlicher Souveränität von den einzelnen Mitgliedstaaten
einer Konföderation (Staatssouveränität) auf die neue, sich auf dem Wege der Ver-
fassungsgebung konstituierende politische Gemeinschaft (Volkssouveränität) ver-
lagert. Auf der rechtlichen Ebene wird aus einem ehemals völkerrechtlichen Vertrag
eine bundesstaatliche Verfassung, es findet entsprechend eine „Auswechslung des
Legitimationssubjekts“ (Oeter 2001, 253) statt.
Mit Blick auf den Föderalstaat erweist sich die Prämisse unteilbarer Souveränität
faktisch allerdings als eher unbrauchbar und irref€uhrend. So beschäftigte sich bei-
spielsweise die Staatsrechtslehre im deutschen Kaiserreich mit der eher m€ußigen
Frage, ob die Einzelstaaten, der Bundesrat oder aber die gesamtstaatliche Ebene des
Deutschen Reiches letztlich der Träger staatlicher Souveränität sei (vgl. Oeter 1998,
33 ff.). Auch f€ ur das Verständnis der Europäischen Union hat sich die an der
dichotomischen Gegen€uberstellung von Staatenbund und Bundesstaat bzw. von
Vertrag versus Verfassung als wenig n€utzlich erwiesen. Das Bundesverfassungsge-
richt hat in seinem Maastricht-Urteil von 1993 den Ausweg darin gesehen, mit dem
Begriff des Staatenverbundes dessen hybride Natur zu charakterisieren. Obwohl die
Rechtsprechung damit die Grenzen der nach wie vor einflussreichen Staatenbund-
Bundesstaat Differenzierung im Grunde anerkennt, betont sie mit der neuen Be-
griffsschöpfung zugleich die Einzigartigkeit bzw. den sui generis Charakter der
Staatsstrukturen in der Vergleichenden Politikwissenschaft: Föderal-. . . 335

Inter-, Trans-, Supranationale Organisationen

begrenzter Souveränitätstransfer

Staatsgewalt

Einheitsstaat Föderalstaat

Staatsgebiet

Substaatliche territoriale
Einheiten (delegierte
Souveränität) Gliedstaaten
(eigenständige
Souveränitätsgrundlage/
föderatives Prinzip)

Staatsvolk/Staatsvölker
(Volkssouveränität/demokratisches Prinzip.)

Abb. 1 Souveränitätsbeziehungen im Einheitsstaat und Föderalstaat. Quelle: Eigene Darstellung

Europäischen Union – ein aus Sicht der vergleichenden Forschung eher unbefriedi-
gendes Vorgehen.
Wie die Parallelen in der Diskussion €uber die staatsrechtlichen Grundlagen der
Reichsverfassung von 1871 und der Europäischen Union nach Maastricht zeigen,
f€
uhrt die Vorstellung von der Unteilbarkeit staatlicher Souveränität an der Realität
vorbei. Tatsächlich macht eine dichotomische Gegen€uberstellung wenig Sinn, so-
lange sie Denkmustern verhaftet bleibt, die Souveränität f€ur unteilbar halten und die
es deshalb kaum vermögen, die Besonderheit des Föderalismus analytisch einzu-
fangen. Im Hinblick auf die klassische Drei-Elemente-Lehre der Staatstheorie,
wonach die Staatsgewalt, das Staatsgebiet sowie das Staatsvolk konstitutiv f€ur den
modernen Staat sind, so lässt sich zunächst festhalten, weicht das föderative Prinzip
im Hinblick auf alle drei Elemente vom Einheitsstaat ab (vgl. Abb. 1):

1. Die Staatsgewalt ist geteilt und wird prinzipiell von Bund und Gliedstaaten
ausge€ubt. Gesamtstaatliche Souveränität konstituiert sich sowohl durch die
Volkssouveränität als auch durch die Souveränität territorial definierter Subein-
heiten.
2. Das Staatsgebiet ist territorial aufgegliedert, wobei im Unterschied zum Einheits-
staat die Existenz der Gebietskörperschaften nicht von der zentralen Ebene ab-
geleitet ist, sondern auf eigenständiger Souveränitätsgrundlage steht.
3. Während im Einheitsstaat eine direkte und unmittelbare Beziehung zwischen
Staat und B€ urgern besteht, wird diese im Föderalstaat um eine zwischengeschaltete
336 J. Broschek

Ebene erweitert. Insbesondere im sogenannten konföderalen Föderalismus, wo


Staat und Nation oft nicht mehr deckungsgleich sind, kann der mit der Staats-
b€
urgerschaft jeweils verbundene Status von Rechten und Pflichten der Mitglieder
stark variieren („asymmetrischer Föderalismus“).

Im Föderalismus ist Souveränität also immer geteilt. Souveränität geht sowohl


vom Staatsvolk (beziehungsweise im Fall von multi-nationalen föderativen Syste-
men den Staatsvölkern) als auch den Gliedstaaten aus, die auf einer eigenständigen
Souveränitätsgrundlage stehen. Beide Ebenen, die gesamt- und die gliedstaatliche,
begr€unden jeweils direkte Herrschaftsbeziehungen mit den Staatsb€urgern. Hierin
liegt ein entscheidender Unterschied zum Einheitsstaat. Sofern hier substaatliche
Handlungsebenen zwischengeschaltet sind, was heute in den meisten Staaten der
ugen diese nur €uber eine delegierte Souveränität, die zumindest theore-
Fall ist, verf€
tisch jederzeit von der zentralstaatlichen Ebene aufgehoben werden kann.

3 Varianten der Staatsstruktur in Einheits- und


Föderalstaaten

3.1 Erscheinungsformen von Einheits- und Föderalstaaten

Einheits- und Föderalstaaten begegnen uns im historischen wie räumlichen Ver-


gleich in einer Vielzahl von konkreten Erscheinungsformen. Abhängig von den
jeweiligen Souveränitätsbeziehungen zwischen territorialen Einheiten innerhalb
eines Staates und den darauf beruhenden Herrschaftsverhältnissen können zunächst
verschiedene Varianten der territorialen Dimension des Staates differenziert werden
(Abb. 2).
Entsprechend können Allianzen und Einheitsstaaten als Extrempole eines Konti-
nuums vorgestellt werden, in denen die Souveränitätsproblematik einseitig aufgelöst
wird – entweder zu Gunsten der konstituierenden Einheiten oder des Gesamtstaates.
In beiden Fällen ist Souveränität formalrechtlich vollständig auf einer politischen
Systemebene angesiedelt. Zwischen diesen Polen sind der Staaten(ver)bund, der
dezentrale Einheitsstaat sowie unterschiedliche Erscheinungsformen des Föderals-
taates verortet. Im Staatenbund sowie im dezentralen Einheitsstaat finden sich

Souveränität
konzentriert delegiert geteilt delegiert konzentriert
untere Ebene obere Ebene

Allianz Staaten- konföderaler unitarischer dezentraler Einheitsstaat


(ver)bund Föderalstaat Föderalstaat Einheitsstaat

Abb. 2 Souveränität und Staatsstruktur. Quelle: modifiziert nach Schultze (1992, S. 96)
Staatsstrukturen in der Vergleichenden Politikwissenschaft: Föderal-. . . 337

Souveränitätsbeziehungen zwischen territorialen Einheiten. Souveränität wird hier


allerdings delegiert: Im Staatenbund „bottom up“ von den Gliedstaaten an die
€ubergeordnete Ebene, im dezentralen Einheitsstaat umgekehrt „top down“ von der
€ubergeordneten Ebene an die substaatlichen Einheiten.
Im Föderalstaat ist Souveränität geteilt. Die Literatur differenziert hier zwei
Varianten. Demzufolge wichen von der in den europäischen Staatsbildungspro-
zessen dominierenden einheitsstaatlichen Vorstellung eine konföderale sowie eine
unitarische Konzeption des Föderalismus ab. Zugespitzt formuliert erfolgt in der
konföderalen Variante ein Zusammenschluss territorialer Einheiten zu einer größe-
ren Einheit unter dem Vorbehalt, dass Souveränität zu einem größeren Teil auf der
gliedstaatlichen Ebene verbleibt. Die Bandbreite von politischen Entscheidungen,
die nicht einstimmig gefällt wird, ist entsprechend eher gering. Die konföderale
Variante des Föderalismus strebt entsprechend danach, die Eigenständigkeit der
Gliedstaaten und die Vielfalt der Lebensbedingungen zu erhalten. In der unitarischen
Variante ist der Souveränitätstransfer zur gesamtstaatlichen Ebene wesentlich um-
fangreicher. Einstimmige Entscheidungen beschränken sich hier in der Regel auf
Verfassungsänderungen, wohingegen in den meisten Bereichen „normaler“ Politik
weniger restriktive Entscheidungsmodi zur Anwendung kommen. Trotz eines
gewissen Maßes an territorialer Vielfalt dominieren in der unitarischen Variante
Integration und die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse als handlungsleitende
Ziele (vgl. Schultze 1992; 2008).
Die unterschiedlichen Erscheinungsformen des neuzeitlichen Staates – Einheits-
staat, dezentraler Einheitsstaat, konföderaler und unitarischer Föderalstaat – sind
allerdings als analytische Konstrukte zu verstehen, denen sich die in der Realität
beobachtbaren Fälle lediglich annähern. Souveränitätsbeziehungen zwischen terri-
torialen Gebietskörperschaften sind zudem keineswegs ein f€ur alle Mal determiniert,
sondern variabel und historisch kontingent (vgl. auch Grimm 2009). So wurde nicht
nur der föderative Charakter der EU erst im Gefolge des Integrationsschubs seit
Ende der 1980er-Jahre deutlicher erkennbar. Auch in klassischen Föderalstaaten wie
den Vereinigten Staaten oder Deutschland hat sich der Wandel vom konföderalen
zum unitarischen Föderalismus erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
vollzogen - ein Entwicklungsschritt, der keinesfalls eine historische Notwendigkeit
darstellte. Der kanadische Föderalismus weist zudem eine gegenläufige Entwick-
lungsdynamik auf. Der hochgradig unitarische Entwurf des British North America
Act (1867) wandelte sich im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einem Prototyp des
konföderalen Models (Broschek 2009).
Der Devolutionsprozess in Großbritannien zeigt zudem, dass selbst die formal
lediglich delegierte Souveränität in einem Einheitsstaat faktisch kaum mehr zur€uck-
genommen werden kann – es sei denn, Whitehall w€urde seine Suprematie unter
Inkaufnahme schwerwiegender Legitimationsprobleme durchsetzen wollen. Obwohl
sich im Rahmen des Unabhängigkeitsreferendums vom 18. September 2014 eine
f€ur viele Beobachter €uberraschend deutliche Mehrheit f€ur den Verbleib Schottlands
in Großbritannien ausgesprochen hat, zeichnet sich entsprechend eine Fortsetzung
des Devolutionsprozesses ab. Dieser lässt nicht nur abermals einen weitgehenden
Transfer substantieller Kompetenzen erwarten. Die partei€ubergreifende Smith
338 J. Broschek

Commission, die ihre Vorschläge Ende November 2014 vorgelegt hat, betont zudem
an mehreren Stellen die Notwendigkeit, die Dauerhaftigkeit eines neuen Arrange-
ments quasi-konstitutionell zu besiegeln (Smith Commission 2014).
Gerade die gegenwärtigen Devolutionsprozesse verdeutlichen einmal mehr die
Notwendigkeit, das tradierte Repertoire vergleichender Kategorien weiter zu verfei-
nern. Die Frage nach dem Schwellenwert, der den Übergang vom Einheits- zum
Föderalstaat markiert und es dadurch ermöglicht, Devolutions- von Föderalisie-
rungsprozessen zu unterscheiden, ist alles andere als leicht zu bestimmen und
entsprechend umstritten. Während der Multi-level Governance Ansatz von dieser
Frage im Grunde abstrahiert, indem er Konfigurationen und Prozesse der Mehre-
benenpolitik (weitgehend) unabhängig von der jeweiligen Staatsform untersucht, hat
Franz Xavier Barrios-Suvelza (2012; 2014) j€ungst eine differenzierte Klassifikation
entworfen, die die Möglichkeiten f€ur die vergleichende Analyse der territorialen
Dimension von Staatlichkeit erweitern. Diese Klassifikation basiert auf der Unter-
scheidung zwischen „einfachen“ (simple) und „zusammengesetzten“ (composite)
Formen politischer Systeme. Auf dieser dichotomischen Gegen€uberstellung aufbau-
end lassen sich konkrete Erscheinungsformen des Staates typologisch zuordnen,
wobei Barrios-Suvelza die Qualität der Herrschaftsaus€ubung durch territoriale Ein-
heiten innerhalb des Staates, ihr strukturelles Gewicht, die Art ihrer hierarchischen
Einbindung sowie den Grad der territorialen Segmentierung des Staates als Kriterien
zur Typenbildung heranzieht.

3.2 Zentrum-Peripherie Konflikte, Politische Strukturierung und


Institutionelle Beziehungsmuster

Souveränitätsbeziehungen zwischen territorialen Einheiten geben einen ersten Auf-


schluss €uber Herrschaftsverhältnisse zwischen dem politischen Zentrum (bzw. den
politischen Zentren) und peripheren Einheiten innerhalb eines Staates. Es ist aller-
dings ein verbreitetes Missverständnis, daraus unmittelbare Schl€usse €uber den Zent-
ralisierungs- bzw. Dezentralisierungsgrad eines Staates zu ziehen. Empirisch gibt es
in hohem Maße dezentralisierte Einheitsstaaten (z. B. Großbritannien) genauso wie
es hochgradig zentralisierte Föderalstaaten (z. B. Australien) gibt. Politisch prak-
tisch kann etwa das schottische Parlament die Lebensverhältnisse vor Ort weitge-
hender und unmittelbarer beeinflussen als die deutschen Bundesländer. Gerade der
deutsche Föderalismus zeigt anschaulich die analytische Unschärfe und Eindimen-
sionalität des Zentralisierungs-Dezentralisierungskontinuums wenn es um die ver-
gleichende Einordung der Staatsstruktur geht. Zwar ist der Bund in der Tat zunächst
f€
ur einen Großteil der Gesetzgebung zuständig. Aufgrund der weitreichenden Mit-
wirkungsmöglichkeiten der Länder an der Bundespolitik wäre es allerdings verfehlt,
von einem zentralisierten System zu sprechen. Ohne die Zustimmung der Glied-
staaten kann der Bund relativ wenig eigenständig regeln; es mangelt folglich an
einem klaren Über-Unterordnungsverhältnis. In der Literatur wurde deshalb der
treffendere Begriff der Unitarisierung eingef€uhrt (vgl. Hesse 1962; Lehmbruch
2002).
Staatsstrukturen in der Vergleichenden Politikwissenschaft: Föderal-. . . 339

Alternative analytische Zugriffe des Vergleichs der territorialen Dimension der


Staatsstruktur setzen an der Natur der Zentrum-Peripherie-Beziehungen sowie deren
Institutionalisierung im Zuge der Staatsformation an. Das Konzept der „politische
Strukturierung“ erfasst in diesem Zusammenhang die Art und Weise, wie periphere
Regionen Widerstand gegen die der modernen Staatsentwicklung inhärenten Dyna-
miken der Zentralisierung und Standardisierung leisteten und wie dieser Protest
schließlich institutionell kanalisiert worden ist (Bartolini 2005; Rokkan und Urwin
1982). Aus einer analytisch engeren Perspektive, die ihren Ausgangspunkt vom
politischen Zentrum her nimmt, hat Jim Bulpitt (2008) am Beispiel Großbritanniens
systematisch verschiedene Konfigurationen territorialen Managements entwickelt.
Im diachronen wie synchronen Vergleich lassen sich so die vielfältigen Beziehungs-
muster zwischen territorialen Einheiten innerhalb von Staaten aufzeigen: von auf
Assimilierung und Zwang basierenden Strategien bis hin zu Strategien, die das
Zentrum entlasten, indem sie den Peripherien relativ weitreichende Autonomie
gewähren (vgl. hierzu j€ungst auch Gerring et al. 2011).
Ähnlich hat die vergleichende Föderalismusforschung unterschiedliche Konzepte
entwickelt, um die Varianten der Beziehungsmuster zwischen Bund- und Glied-
staaten analytisch einzufangen (Benz 2002; Bolleyer und Thorlakson 2012; Hueglin
und Fenna 2006; Schultze 1982, 1992; Watts 2008). Zugrunde liegt diesen stets die
Frage nach dem jeweiligen Spannungsverhältnis zwischen Autonomie einerseits,
dem Grad an Verflechtung bzw. institutioneller Kopplung der Systemebenen ande-
rerseits. F€ur Autoren wie Arthur Benz und Rainer-Olaf Schultze besteht dabei
ebenfalls ein innerer Zusammenhang zwischen den sozialen Kontextbedingungen
föderativer Systeme (v. a. territorial definierte sozio-kultureller Heterogenität versus
relative Homogenität sowie ausgeprägte ökonomische Disparitäten versus relativ
schwache ökonomische Ungleichgewichte), deren Manifestation im Wertehaushalt
(Vielfalt der Lebensbedingungen versus weitgehende Gleichwertigkeit der Lebens-
bedingungen als Leitmotiv) sowie der institutionellen Architektur des Föderalismus
(gewaltenverschränkender intra-staatlicher Föderalismus versus gewaltentrennender
inter-staatlicher Föderalismus).
Anders als in der soziologischen Föderalismustheorie (Livingston 1956; Erk
2008) wird hier allerings kein unidirektionaler, deterministischer Zusammenhang
zwischen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und institutioneller Entwick-
lungsdynamik in Richtung Dezentralisierung bzw. Zentralisierung unterstellt. Statt-
dessen versuchen diese, im weitesten Sinne neo-institutionalistisch inspirierten
Ansätze, die Komplexität föderativer Arrangements systematisch zu erschließen,
ohne dabei ihre historische Kontingenz zu ignorieren. Konkrete Erscheinungsfor-
men des Föderalismus kombinieren entsprechend auf unterschiedliche Weise Ele-
mente des inter- und intrastaatlichen Föderalismus; sie neigen ferner zu internen
Spannungen, die aus Ungleichzeitigkeiten zwischen gesellschaftlichen, normativen
und institutionellen Realitäten resultieren und dynamische Muster des Wandels
erzeugen (Benz 1984; Benz und Broschek 2013; Broschek 2012).
In Weiterf€ uhrung solcher Modelle können die institutionellen Beziehungsmuster
zwischen territorialen Einheiten im modernen Staat ganz allgemein daraufhin ver-
glichen werden, inwieweit sie entweder auf Autonomie oder Wiederverflechtung
340 J. Broschek

gerichtet sind (Broschek 2014). Die institutionelle Einbindung territorialer Einheiten


in die Mehrebenenarchitektur folgt idealtypisch entweder eher einer Logik der
Autonomiewahrung durch „selfrule“ oder dem unmittelbaren Zusammenwirken
territorialer Einheiten durch „shared rule“ (Elazar 1987). „Self rule“ wird ermöglicht
durch das Abstecken von weitgehend exklusiven Kompetenzbereichen, innerhalb
derer die gesamtstaatliche Ebene und die substaatlichen Einheiten eigenständig tätig
werden können. Solche Arrangements sind nicht auf eine verfassungsrechtlich
sanktionierte Kompetenzverteilung im Föderalstaat begrenzt, sondern finden sich
durchaus auch in dezentralen Einheitsstaaten, wie etwa im Fall der Regionen mit
Sonderstatut in Italien oder der Autonomierechte, die Wales und vor allem Schott-
land innehaben. „Sharedrule“ wird hingegen befördert durch eine funktionale Kom-
petenzverteilung, wie sie beispielsweise im deutschen Föderalismus vorherrschend
ist, ebenso wie durch eine starke Verankerung regionaler Teilhabe- und Mitwir-
kungsrechte im politischen Zentrum. Diese können zum Beispiel durch regionalen
Proporz in wichtigen gesamtstaatlichen Institutionen wie etwa dem Kabinett herge-
stellt werden, ebenso wie durch eine starke Zweite Kammer oder Vorkehrungen wie
dem Scottish oder Welsh Office in Großbritannien bis 1999.
Empirisch treten Mechanismen des „self rule“ und „sharedrule“ immer in Kom-
bination auf. Allerdings kann die institutionelle Architektur von Einheits- und
Föderalstaaten gleichermaßen daraufhin untersucht werden, inwieweit sie jeweils
eher zum einen oder anderen Pol neigt. Beispielsweise zeigen Hooghe, Marks und
Schakel (2010) in einer wegweisenden Studie, wie sich auf der Basis dieser Diffe-
renzierung die institutionellen Beziehungsmuster zwischen territorialen Einheiten in
unterschiedlichen Dimensionen sinnvoll operationalisieren und vergleichen lassen.
Der Regional Authority Index (RAI) transzendiert dabei gewinnbringend die klassi-
sche Unterscheidung zwischen Einheits- und Föderalstaat.

4 Zusammenfassung und Ausblick

Politische Herrschaft im modernen Staat entsprach wahrscheinlich nur selten den


Vorstellungen eines idealtypisch stilisierten, Souveränität unteilbar konzentrieren-
den Einheitsstaates (King und Lieberman 2009). Die klassische ebenso wie die
j€ungere historisch-komparativ ausgerichtete Staatstheorie haben vielfach gezeigt,
wie sich Zentrum-Peripherie Konflikte oftmals unterhalb der formal verfassten,
verfassungspolitischen Ebene in unterschiedlichen institutionellen Mechanismen
des Konfliktmanagements manifestiert haben (vgl. u. a. Bartolini 2005; Fabbrini
2007; Ferrera 2005; Mitchell 2009; Keating 2008; Loughlin 2009).
Die territoriale Dimension der Staatsstruktur hat zudem im Kontext der soge-
nannten „postwestfälischen“ Konstellation erneut an Bedeutung gewonnen (Caporaso
2000; Jeffrey und Wincott 2010). Diese Veränderungsprozesse werden von der
Politikwissenschaft noch immer primär in unterschiedlichen Forschungssträngen
(z. B. Europa- und Governanceforschung, Regionalisierungsliteratur, Staatstheorie,
Föderalismusforschung) bearbeitet. Sie tendiert deshalb dazu, den dynamischen
Zusammenhang von Territorialität und Staatstruktur isoliert in einzelnen Fachdis-
Staatsstrukturen in der Vergleichenden Politikwissenschaft: Föderal-. . . 341

kursen zu bearbeiten. Dies gilt zum einen hinsichtlich der gegenstandsbezogenen


Arbeitsteilung innerhalb der Disziplin, wo sich beispielsweise die vergleichende
Föderalismusforschung weitgehend abgekoppelt von der Europa- oder der Regiona-
lisierungsforschung mit grundsätzlich ähnlichen Fragestellungen beschäftigt. Dies
gilt aber auch hinsichtlich der internationalen Arbeitsteilung. Ein kursorischer Blick
in die britischen, US-amerikanischen, deutschen oder kanadischen Debatten zeigt,
dass der Wandel des Mehrebenencharakters von Politik oftmals mit einem area-
bezogenen Bias thematisiert wird, obwohl es sich bei diesen Veränderungen um
Prozesse handelt, deren vergleichende Betrachtung sehr lohnenswert ist. Das Regie-
ren in Mehrebenensystemen basiert oftmals auf ähnlich gelagerten Problemen mit
den entsprechenden Konsequenzen f€ur die Innovationsfähigkeit und Effizienz von
Politik, aber auch f€ur die demokratische Legitimität politischer Herrschaft.
Begrifflichkeiten und Konzepte wie „American Exceptionalism“, der „sui ge-
neris“ Charakter der EU oder „Europäisierung“ sind deshalb f€ur die vergleichende
Analyse kaum zielf€uhrend. Sie suggerieren Idiosynkrasien die es erschweren, eine
vergleichende Perspektive zu entwickeln. Ähnliches gilt f€ur zu starre, unterkom-
plexe Ansätze, die es kaum vermögen, die Varianz in der Binnenstruktur von
Staaten angemessen abzubilden. So greift das verbreitete Zentralisierungs-Dezen-
tralisierungskontinuum, wie der Beitrag deutlich zu machen versucht hat, in min-
destens zweifacher Hinsicht zu kurz. Zum einen, weil kein unmittelbarer Zusam-
menhang zwischen der formalen Organisation der Staatsstruktur und dem jeweiligen
Zentralisierungs- bzw. Dezentralisierungsgrad existiert. Zum zweiten, weil der rela-
tive (De-)Zentralisierungsgrad eines Staates historisch variabel ist. Inwieweit der
Multilevel-Governance Ansatz hier eine bereichernde Alternative f€ur die kompara-
tive Forschung bietet oder lediglich eine Form des „konzeptionellen Eskapismus“
(Hueglin 2015) repräsentiert, ist zumindest umstritten. Jedenfalls werden sich solche
konzeptionellen Innovationen vor allem daran messen lassen m€ussen, inwieweit sie
in der Lage sind, dynamische Veränderungen in ihrer historischen Tragweite zu
verstehen, die kausalen Mechanismen dahinter zu identifizieren und diese Entwick-
lungen als solche kritisch zu hinterfragen. Dies impliziert einerseits, die Kontinuität
von gesellschaftlichem und politischem Wandel ernst zu nehmen. Veränderungs-
prozesse vollziehen sich in der Regel graduell, echte Transformationsprozesse sind
hingegen selten. Entsprechend gilt es andererseits, tradierte Kategorien der ver-
gleichenden Analyse – so etwa die Unterscheidung zwischen Einheits- und Föderal-
staat – nicht generell €uber Bord zu werfen, aber analytisch so genau wie möglich der
sich verändernden außerwissenschaftlichen Realität anzupassen.

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Verwaltung in der Vergleichenden
Politikwissenschaft

Sabine Kuhlmann

Zusammenfassung
Die international vergleichende Verwaltungswissenschaft (Comparative Public
Administration) ist in den vergangenen Jahrzehnten zu einem wichtigen Teil-
segment der vergleichenden Politikwissenschaft geworden. Im vorliegenden Bei-
trag wird am Beispiel wesentlicher Typologien, Begriffe und Forschungserträge
herausgearbeitet, welche Rolle das Vergleichen in der Verwaltungswissenschaft
und die öffentliche Verwaltung als Gegenstandsbereich der vergleichenden Poli-
tikwissenschaft spielen. Es werden zentrale Befunde zur Wirkungsweise und zum
Erklärungsbeitrag unterschiedlicher Verwaltungssysteme in vergleichender Pers-
pektive vorgestellt.

Schlüsselwörter
Comparative Public Administration • Kommunale Selbstverwaltung • Öffentli-
cher Dienst • Organisation • Verwaltungswissenschaft

1 Varianten von Verwaltungsvergleichen

Dieser Beitrag befasst sich mit dem Vergleich in der Verwaltungswissenschaft,


genauer: mit wesentlichen Begriffen, Kategorien und Anwendungsfeldern der (inter-
national) vergleichenden Verwaltungswissenschaft (Comparative Public Administ-
ration). Die verwaltungswissenschaftliche Komparatistik richtet ihr Augenmerk auf
sehr unterschiedliche Aspekte der öffentlichen Verwaltung. Ein Teil der For-
schung ist auf Vergleiche von B€urokratie-, Ministerial- und Beamteneliten gerichtet.
Andere Arbeiten konzentrieren sich auf Organisationsstrukturen, formale und

S. Kuhlmann (*)
Professorin f€ur Politikwissenschaft, Verwaltung und Organisation, Fachgruppe f€
ur Politik- und
Verwaltungswissenschaft, Universität Potsdam, Potsdam, Deutschland
E-Mail: sabine.kuhlmann@uni-potsdam.de

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 345


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_26
346 S. Kuhlmann

informale Regeln in der Verwaltung und wieder andere vergleichen administrative


Entscheidungsprozesse, ihre Ergebnisse und Wirkungen. Der Vergleich von Verwal-
tung kann sich entweder auf die nationale/zentralstaatliche oder auf die subnationale/
lokale Verwaltungsebene richten und so zu unterschiedlichen Aussagen kommen.
Verwaltungsvergleiche können – wie Vergleiche generell – €uber die Zeit (diachron)
oder €uber Systemgrenzen (synchron) erfolgen. Die Comparative Public Administ-
ration (CPA) im engeren Sinne bezieht sich auf Vergleiche zwischen mindestens
zwei institutionellen Einheiten (Fitzpatrick et al. 2011, S. 823); im weiteren Sinne
schließt die CPA auch diachrone Vergleiche im Hinblick auf eine einzelne institu-
tionelle Einheit ein. Teilweise wird der Gegenstandsbereich der CPA noch enger
gefasst wird, nämlich als Vergleichen zwischen Nationen (Pollitt 2011, S. 115).
Dabei können Verwaltungsvergleiche auf bestimmte Aufgaben- und Funktionsbe-
reiche der Verwaltung (z. B. Ordnungsverwaltung, Leistungsverwaltung) bezogen
sein, also eine policy-spezifische Perspektive einnehmen, so dass es weite Über-
schneidungsbereiche zur Policy-Forschung gibt. Methodisch können sie sich auf
viele oder wenige Vergleichsfälle, auf Aggregatdatenvergleiche oder Fallstudien
st€
utzen, was zu der bekannten, auch f€ur anderen Teile der Politikwissenschaft
typischen Kontroverse zwischen thick description und large-n-studies gef€uhrt hat
(Raadschelders 2011, S. 831 ff.).
Öffentliche Verwaltung verlangt als Gegenstandsbereich der Forschung einen
R€uckgriff auf mehrere sozialwissenschaftliche Teildisziplinen (Politik-, Rechts-,
Wirtschafts-, Geschichtswissenschaften, Soziologie, Psychologie) und setzt somit
die Einbeziehung unterschiedlicher disziplinärer Zugänge und Methoden voraus,
was sich erschwerend auf ihre Konzept- und Theoriebildung auswirkt (König 2008;
Jann 2009). Hinzu kommt das sog. travelling problem, also die begrenzte Über-
tragbarkeit von Konzepten und Begriffen zwischen unterschiedlichen sprachlichen
und kulturellen Kontexten (siehe Peters 1996). Vor diesem Hintergrund stehen
vergleichend arbeitende Verwaltungsforscher oft vor dem Dilemma, dass es zu
Vergleichszwecken zwar nötig ist, einerseits von empirischen Eigen- und Besonder-
heiten der Untersuchungsfälle zu abstrahieren, diese aber andererseits aus der Logik
des Einzelfalles als unverzichtbar erscheinen. Oftmals sehen sich empirische Studien
zudem mit einer unbefriedigenden Datenlage konfrontiert, da sich die in unter-
schiedlichen Länderkontexten verf€ugbaren Informationen nur bedingt f€ur „echte“
Verwaltungsvergleiche eignen. Dennoch ist das vergleichende Vorgehen inzwischen
zur Selbstverständlichkeit verwaltungswissenschaftlicher Forschung geworden,
während es noch in den 1960er-Jahren ein eher randständiges Segment der Ver-
waltungswissenschaft darstellte, das nur von einigen wenigen Spezialisten vertreten
wurde. So sind neben vergleichbaren Studien (vgl. Derlien 1992), die sich mit eher
ideographischen Beschreibungen und Analysen von Verwaltungssystemen unter-
schiedlicher Länder befassen, zunehmend analytisch anspruchsvollere vergleichen-
de, eher nomothetisch ausgerichtete, Arbeiten vorgelegt worden, in denen der
Versuch einer stärker theoretisch-konzeptionell angeleiteten Kategoriebildung und
Generalisierung unternommen wurde (Riggs 2010, S. 752 ff.; f€ur einen Überblick

uber die bisher vorgelegten vergleichenden Studien siehe Kuhlmann und
Wollmann 2013, 16; Pollitt 2011, S. 120). Vor diesem Hintergrund soll im Folgen
Verwaltung in der Vergleichenden Politikwissenschaft 347

der Gegenstandsbereich der vergleichenden Verwaltungswissenschaft in groben


Strichen konturiert und auch f€ur den Nicht-Spezialisten zugänglich gemacht werden
(siehe ausf€
uhrlich Kuhlmann und Wollmann 2013).

2 Typologischer Vergleich: Verwaltungsprofile in Europa

Ein möglicher Zugang zum Vergleich von Verwaltungsmodellen in internationaler


Perspektive ist die Bildung von Typologien (siehe König 2006; Painter und Peters:
2010; Kuhlmann und Wollmann 2013). Der hier verwendete typologische Zugang
st€
utzt sich auf verwaltungs- und rechtskulturelle sowie politisch-institutionelle Ver-
gleichsmerkmale. Hinsichtlich der Verwaltungstradition bzw. -kultur kann grob
zwischen zwei westlichen Verwaltungskulturkreisen unterschieden werden: der
klassisch-kontinentaleuropäischen Rechtsstaatskultur auf der einen und der angel-
sächsischen Public Interest-Kultur (oder Civic Culture Tradition) auf der anderen
Seite (vgl. König 2006; Heady 1996; Pollitt und Bouckaert 2004; Kuhlmann 2009).
Die Zugehörigkeit zu einem Verwaltungskulturkreis ist dabei wesentlich durch die
Rechtstradition und Zuordnung des jeweiligen Landes zu bestimmten Rechtsfami-
lien geprägt (f€ur Europa: Common Law; Römisch-französisch; Römisch-deutsch;
Römisch-skandinavisch; vgl. La Porta et al. 1999; Schnapp 2004, S. 44 ff.; König
2006). Eine zentrale Annahme besteht darin, dass die €uberkommene Rechtstradition
eines Landes wesentlichen Einfluss auf die dominierenden Werte im Verwaltungs-
handeln und die Art und Weise des Verwaltungsvollzugs sowie das Verhältnis
zwischen Politik, B€urger und Verwaltung aus€ubt. Im Hinblick auf die zweite Ver-
gleichsdimension, den Staats- und Verwaltungsaufbau, sind der Grad der Zentrali-
sierung bzw. Dezentralisierung der öffentlichen Verwaltung und das Verhältnis von
zentralstaatlicher und subnational-dezentraler/ kommunaler Selbstverwaltung ent-
scheidend. Wiederum vereinfachend sind drei Varianten zu differenzieren: Föderal
(Trenn- vs. Verbundmodell); unitarisch-zentralistisch; unitarisch-dezentralisiert. Abb. 1
verdeutlicht, dass sich auf dieser Grundlage f€ur den europäischen Verwaltungsraum
f€
unf Länderfamilien oder -gruppen unterscheiden lassen, die jeweils durch typische
Merkmalskombinationen ihrer Verwaltungssysteme und -traditionen gekennzeichnet
sind (siehe ausf€
uhrlich Kuhlmann und Wollmann 2013, S. 16 f. m. w. N.).

3 Verwaltungsorganisation und Verwaltungspersonal

Ein wichtiger Gegenstandsbereich von Verwaltungsvergleichen bilden die Organi-


sation und die Koordination von Verwaltungsaufgaben. Zwei idealtypische Grund-
modelle der Verwaltungsorganisation sind hier zu unterscheiden, von denen jeweils
eine spezifische Wirkung auf die Art und Weise administrative Aufgabenerledigung
ausgeht (siehe Wagener 1979; Wollmann 2008; Kuhlmann 2009; Bogumil und
Jann 2009), Während das Gebietsorganisationmodell (multi purpose model) am
348 S. Kuhlmann

Verwaltungs-
profil/ Verwaltungstradition Verwaltungsaufbau
Ländergruppe

Kontinental- Rechtsstaatskultur, Legalismus Unitarisch-zentralistisch; schwache


europäisch- Kommunalverwaltung
Südeuropäische Subgruppe:
napoleonisch (Dezentralisierungin F, I, E seit
Klientelismus, Parteipatronage,
(F, I, P, GR, E) 1980er/90er Jahren)
Politisierung

Rechtsstaatskultur, Legalismus
Kontinental-
Schweiz: Trennung Staat- Föderal-dezentral; starke
europäisch-föderal
Gesellschaft schwächer; Kommunalverwaltung
(D, A, CH)
Beamtentum, Legalismus
schwächer

Rechtsstaatskultur, Transparenz-/ Unitarisch-dezentralisiert; starke


Skandinavisch
Kontaktkultur; Öffnung der Kommunalverwaltung/bürgerschaftliche
(S, N, DK, FIN)
Verwaltung zur Bürgerschaft Selbstbestimmung

Unitarisch-zentralistisch; starke (seit


Angelsächsisch Public Interest-Kultur,
1980er Jahren geschwächte)
(UK/England) Pragmatismus
Kommunalverwaltung
Mittel- Real-sozialistische Unitarisch-dezentralisiert;
osteuropäisch Kaderverwaltung starke Kommunalverwaltung (Re-
(H, PL, CZ) („stalinistischer“ Prägung); seit Zentralisierung seit 2011 in H)
Systemwechsel
Wiederanknüpfung an Unitarisch-zentralistisch;
Süd-osteuropäisch vorkommunistische schwache Kommunalverwaltung
(BG, RO) (Rechtsstaats-)Traditionen

Abb. 1 Verwaltungsprofile in Europa. Quelle: Kuhlmann und Wollmann (2013, S. 29)

Organisationsprinzip der Territorialität und B€undelung von öffentlichen Aufgaben


orientiert ist, folgt das Aufgabenorganisationsmodell (single purpose model) dem
Prinzip der Funktionalität und weist eine fachbezogene Spezialisierung auf einzelne
Verwaltungsaufgaben auf. In internationaler Perspektive zeigt sich, dass Verwal-
tungssysteme mit starken dezentralen (föderalen/kommunalen) Einheiten eher dem
Typus der Gebietsorganisation zuordnen sind (traditionell u. a. Deutschland, Schwe-
den, aber auch Großbritannien), wohingegen das Aufgabenorganisationsmodell
Verwaltung in der Vergleichenden Politikwissenschaft 349

traditionell f€
ur Verwaltungssysteme der napoleonischen Ländergruppe (siehe oben)
charakteristisch ist, die f€ur abgrenzbare Fachaufgaben spartenhafte Behördenapparate
von der (zentral)staatlichen bis auf die lokale Ebene aufweisen. Wenngleich empirisch
zumeist Mischungen dieser Idealtypen von Verwaltungsorganisation vorzufinden sind,
lassen sich die verschiedenen nationalen Verwaltungssysteme doch als entweder dem
Gebiets- oder dem Aufgabenorganisationsmodell nahestehend einordnen.
Im Mittelpunkt des Vergleichs von öffentlichen Personalsystemen (Comparative
Civil Service Systems; siehe Page 1992; Schnapp 2004; Raadschelders et al. 2007;
Derlien und Peters 2009) stehen Ministerialb€urokratien bzw.-eliten, d. h. ein Ver-
waltungssegment, das vorrangig mit Politikformulierung und kaum mit Politikvoll-
zug befasst ist. Vor diesem Hintergrund bildet die Politisierung der Verwaltung eine
der wichtigsten Analysekategorien dieses Forschungsstranges. Grob werden zwei
Kategorien (mit weiteren Verfeinerungen und Nuancierungen; hierzu Schwanke und
Ebinger 2006) unterschieden: Die „formale Politisierung“ bezieht sich auf die
(partei-) politisch kontrollierte Besetzung von administrativen Schl€usselpositionen
bis hin zum Phänomen der „Ämterpatronage“. Dagegen umfasst die „funktionale
Politisierung“ die politisch responsiven, vorausschauenden, Politikrationalitäten
antizipierenden und auf Politikprozesse Einfluss nehmenden Handlungsweisen von
Ministerialb€ urokraten (vgl. Mayntz und Derlien 1989; Peters 2009). Hinsichtlich der
formalen Politisierung wird klassischerweise Großbritannien als ein Extrempol an-
gef€uhrt, da sein Civil Service traditionell als unpolitisch und neutral gilt (ähnlich
Schweden). Als der andere Extrempol können die USA mit ihrem oft kritisierten
spoil system genannt werden, das durch den Austausch zahlreicher Ministerialbeam-
ter nach Regierungswechseln gekennzeichnet ist. Auch f€ur die s€udeuropäischen
Civil Service-Systeme sind eine ausgeprägte parteipolitische Rekrutierungs- und
Beförderungspraxis in der Ministerialverwaltung bis hin zu Ämterpatronage und
Klientelismus zwischen politischen Parteien und Verwaltung charakteristisch (Ita-
lien, Griechenland, Spanien; vgl. Kickert 2011). Massive Ämterpatronage wurde
ferner f€
ur Frankreich und Belgien festgestellt (M€uller 2001). F€ur Deutschland gilt im
Vergleich dazu eine mittlere, tendenziell aber zunehmende formale Politisierung der
Ministerialb€ urokratie (vgl. Schwanke und Ebinger 2006).
Funktionale Politisierung wird in der vergleichenden Forschung einerseits €uber
die Befragung von Spitzenb€urokraten zu ihrer Einstellung hinsichtlich der politi-
schen Aspekte ihrer Arbeit erhoben (vgl. Aberbach et al. 1981; Mayntz und Derlien
1989; Schwanke und Ebinger 2006). Andererseits lässt sich das Einflusspotenzial
von Ministerialb€ urokratien auf Policy-Making-Prozesse anhand konkreter organisa-
tionsstruktureller Arrangements ermitteln, von denen angenommen wird, dass sie
die Chancen der Verwaltungsakteure bestimmen, auf Policy-Making-Prozesse Ein-
fluss zu nehmen (Schnapp 2004). Res€umierend kommen die vorliegenden Ver-
gleichsstudien zu dem Ergebnis, dass den Spitzenb€urokraten der Länder Deutsch-
land, Österreich, Frankreich, Schweden, Großbritannien und bei den mittel- und
osteuropäischen Ländern auch Ungarn ein hoher Policy-Making-Einfluss zuge-
schrieben werden kann (vgl. Page und Wright 1999; Meyer-Sahling und Veen
2012, S. 8). Dagegen haben die Ministerialbeamten in Italien, Griechenland und
Belgien eher einen geringen Einfluss auf Policy-Making-Prozesse.
350 S. Kuhlmann

4 Verwaltungsebenen: Comparative Local Government

Wie erwähnt, können sich Verwaltungsvergleiche auf unterschiedliche Ebenen der


Verwaltung beziehen. Während die Ministerialb€urokratieforschung bevorzugt die
nationale/zentralstaatliche Verwaltungsebene adressiert, befassen sich die verglei-
chende Kommunalforschung (Comparative Local Government) und die Europä-
isierungsforschung (siehe Goetz 2006; Kuhlmann und Wollmann 2013, 41 ff. m.
w.N.) mit den Ebenen „darunter“ und „dar€uber“ bzw. mit dem Wechselspiel zwi-
schen diesen Ebenen (multi-level-governance). Da sich die Vollzugs- und Leistungs-
verwaltung in vielen europäischen Ländern zum großen Teil kommunal-dezentral
abspielt und die Stellung der Kommunen zudem durch j€ungste Dezentralisierungs-
anläufe weiter gestärkt worden ist, soll im Folgenden genauer auf diese Verwaltungs-
ebene eingegangen werden. Um Systeme kommunaler Selbstverwaltung inter-
national zu vergleichen, sind drei zentrale Analysekategorien zu unterscheiden
(vgl. Page und Goldsmith 1987; Heinelt und Hlepas 2006; Wollmann 2008;
Kuhlmann 2009):

Funktionales Profil: Zunächst kann eine Differenzierung danach vorgenommen


werden, ob staatliche Behörden und kommunale Selbstverwaltung ihre Aufgaben
jeweils getrennt und weitgehend unabhängig voneinander ausf€uhren oder ob es
zur Durchmischung staatlicher und kommunaler Aufgaben kommt (Bennet
1989). Ersterer Verwaltungstypus wird als Trennmodell (separational system)
bezeichnet und ist traditionell charakteristisch f€ur die britische (wie auch schwe-
dische) Verwaltungstradition (vgl. Bulpitt 1983; Wollmann 2008, S. 259 ff.). F€ur
die kontinentaleuropäischen Länder dagegen sind eher „Mischsysteme“ ( fused
systems) kennzeichnend (Leemans 1970; Wollmann 2008). Diese sind dadurch
bestimmt, dass Staats- und kommunale Selbstverwaltungsaufgaben nicht getrennt
erledigt, sondern administrativ integriert („vermischt“) werden. Neben der Unter-
scheidung zwischen Trenn- und Mischsystemen sind Umfang und Inhalte kom-
munaler Tätigkeit ( functional responsibilities) und das Ausmaß lokaler Autono-
mie (local discretion) einzubeziehen. Einschlägige quantitative Indikatoren f€ur
Erstere sind der Anteil kommunaler Ausgaben an den öffentlichen Ausgaben
insgesamt und die Kommunalbeschäftigtenquote; f€ur Letztere der Anteil des
eigenen kommunalen Steueraufkommens an den gesamten Lokaleinnahmen.
Hieraus ergibt sich in finanzieller Hinsicht die Unterscheidung zwischen mehr
oder weniger autonomen Kommunen. Während beispielsweise die Finanzauto-
nomie der schwedischen Kommunen besonders hoch ist, da sie sich zum einen

uberwiegend (zu 64 %) aus eigenen (Einkommens-)Steuereinnahmen finanzieren
und auch maßgeblichen Einfluss auf Hebesätze haben, gilt f€ur das Nach-That-
cher-England das Gegenteil (13 %), ebenso tendenziell f€ur Ungarn (23 %).
Frankreich hat mit einem Anteil von 45 % eigener Steuern an den Gesamtein-
nahmen der Kommunen eine immer noch höhere kommunale Fiskalautonomie
als Deutschland (40 %) sowie auch Italien (37 %) (OECD 2011).
Verwaltung in der Vergleichenden Politikwissenschaft 351

Territoriales Profil: Es kann unterschieden werden zwischen dem sog. „s€udeuropä-


ischen Kommunaltypus“ mit kleinteiliger Gemeindestruktur und dem sog.
„nordeuropäischen Kommunaltypus“ mit wenigen großflächigen Einheitsge-
meinden, die als Folge weitreichender Gebietsreformen eine hohe Einwohnerzahl
aufweisen (vgl. Norton 1994, Wollmann 2008). Beispiele f€ur den „s€udeuropä-
ischen Kommunaltypus“ finden sich traditionell vor allem in den kontinentaleu-
ropäisch-napoleonisch geprägten Ländern (Frankreich, Spanien, Italien, Portugal,
Griechenland bis 1997), während das Vereinigte Königreich der nach wie vor
unangefochtene Spitzenreiter im nordeuropäischen Gebietsmodell ist, dem
auch die skandinavischen Länder zuzurechnen sind. Die kontinentaleuropäisch-
föderal geprägten Länder sind dagegen €uberwiegend dem „s€udeuropäischen
Kommunaltypus“ (Schweiz, Österreich; in Deutschland: Rheinland-Pfalz,
Baden-W€ urttemberg, Bayern, Schleswig-Holstein, Teile Ostdeutschlands) zuzu-
ordnen, während nur einige Teile Deutschlands dem nordeuropäischen Gebiets-
typus entsprechen (NRW, Hessen).
Politisches Profil: Um das politische Profil der kommunalen Selbstverwaltung zu
bestimmen, muss nach den demokratischen Entscheidungsrechten der B€urger auf
kommunaler Ebene und nach der inneren Ausgestaltung des kommunalpolitischen
Entscheidungs- (oder Regierungs-) Systems und der politisch-administrativen Lei-
tungsstrukturen (leadership) gefragt werden. Hinsichtlich des erstgenannten Kri-
teriums lassen sich Kommunalsysteme mit €uberwiegend repräsentativ-demokrati-
scher Ausgestaltung (traditionell Vereinigtes Königreich, Schweden seit 1974,
Deutschland bis 1990, Frankreich) von Kommunalsystemen unterscheiden, die
Instrumente direkter Demokratie, insbesondere das durch die B€urger initiierbare
B€urgerbegehren, kennen (Schweiz, Deutschland seit 1990, Ungarn, Italien, Schwe-
den bis 1974, Österreich, Finnland, Tschechien). Im Hinblick auf das letztgenannte
Kriterium ist zwischen monistischen und dualistischen Systemen zu unterscheiden
(Kuhlmann und Wollmann 2013, S. 34 f.). In monistischen Systemen liegen sämt-
liche Entscheidungsbefugnisse und auch die Leitung der Aufgabendurchf€uhrung
ausschließlich bei der gewählten Kommunalvertretung. Dabei sind innerhalb der
Kommunalvertretung sektoral zuständige Aussch€usse sowohl f€ur die politische
Entscheidung als auch die administrative Durchf€uhrung verantwortlich, weshalb
auch von government by committee die Rede ist (Vereinigtes Königreich, Schwe-
den, Dänemark). In dualistischen Systemen sind die Kompetenzen zwischen Exe-
kutive/executive leader/B€urgermeister und Legislative/Rat getrennt, wobei die
lokale Exekutive mit eigenen Entscheidungskompetenzen ausgestattet ist (Frank-
reich, Deutschland, Italien, Ungarn, Spanien, Portugal, Griechenland, Polen; vgl.
Heinelt und Hlepas 2006, S. 33). Diese „strong mayor“-Form lokaler Demokratie
wird in einigen Ländern durch die direkte Wahl des B€urgermeisters noch (Deutsch-
land, Italien, Ungarn) und/oder den privilegierten Zugang lokaler Politikakteure zu
höheren Ebenen des politisch-administrativen Systems (z. B. wie in Frankreich
durch Ämterkumulierung) verstärkt. Abbildung 2 fasst die wesentlichen Kriterien
zum Vergleich von Kommunalsystemen noch einmal €uberblicksartig zusammen.
352 S. Kuhlmann

Vertikale Aufgabenteilung Trennsystem: UK, S


(Staat-Kommunen) Mischsystem: D, F, I, H

Hoch/multi purpose: UK, D, S, H


Funktionales Profil Aufgabenumfang Gering/single purpose: F, I

Finanzielle Autonomie Hoch: S, F


Mittel: D, I
(Eigene Steuereinnahmen) Gering: UK, H

Gemeindestrukturen; Nordeuropäisch: UK, S


Territoriales Profil Freiwilligkeitsprinzip vs. Südeuropäisch: F, I, H
Zwangsfusionen Hybrid: D

Kommunale Leitungsstruktur/ Strong mayor systems/dualistisch: D, F, I, H


Verhältnis Rat-Exekutive Committee systems/monistisch: UK, S

Politisches Profil Entscheidungsrechte der Direktdemokrat. geprägt: D, I, H


Bürger (Bürgerbegehren) Repräsentativ-demokr.: S, UK, F

Zentral-lokale-Verflechtung; Hoch: F, I, H
Mittel: D
Zugang „nach oben“ (access) Gering: UK, S

Abb. 2 Dimensionen zum Vergleich von Kommunalsystemen – comparative local government.


Quelle: Kuhlmann und Wollmann (2013, S. 35)

5 Verwaltungsreformen

Verwaltungsreformen resultieren in der Regel aus zielgerichteten institutionenpoliti-


schen Interventionen.1 Damit können sie als eine spezifische Variante von Policies
aufgefasst werden, nämlich als institutionelle Politiken (institutional policies), die
einerseits dem analytischen Instrumentarium der Policy-Forschung zugänglich sind,
sich aber andererseits von „normalen“ substanziellen Politiken in wichtigen Punkten
unterscheiden. Sie reihen sich zunächst grundsätzlich in den Kanon „normaler“
Policies insoweit ein, als sie, wie jeder Politikbereich, aus politischen Intentionen
und Steuerungsabsichten, Subjekten und Objekten der Intervention, Maßnahmen
und Aktivitäten sowie bestimmten Ergebnissen und Wirkungen bestehen (Jann
2001, S. 329). Verstanden in einem eher engeren Sinne als intentionale Gestaltung
der Strukturen und Verhaltensweisen innerhalb des politisch-administrativen Sys-
tems, bezieht sich institutionelle Politik auf bewusste und nachvollziehbare Ein-
richtungs- und Veränderungsentscheidungen, die am Ende von politischen Proz-
essen getroffen werden (Benz 2004, S. 19). So verstanden, ist Verwaltungspolitik als
der Versuch politisch-administrativer Akteure anzusehen, die institutionelle Ord-
nung, innerhalb derer sie Entscheidungen treffen und vollziehen (polity), zu ver-
ändern. Sie kann daher auch als polity-policy bezeichnet werden (Wollmann 2000,

1
Dies schließt nicht aus, dass ihre Ergebnisse und Wirkungen auch auf nicht-intendierten Effekten
der eingeleiteten Reformen oder „emergenten“ Entwicklungen beruhen.
Verwaltung in der Vergleichenden Politikwissenschaft 353

S. 199 f.; Ritz 2003, S. 180). Fasst man Verwaltungspolitik als Policy, so lässt sie
sich auf den gesamten Politikzyklus beziehen und es wird möglich, die verschiede-
nen Phasen von der Politikinitiierung €uber die Programmformulierung und -durch-
f€
uhrung bis hin zur Wirkungsmessung und Politikterminierung oder -reformulierung
zu untersuchen. Dabei stellt die nur „lose Koppelung“ von Reformrhetorik (talk),
Handlungsprogrammen (decision) und tatsächlichen Veränderungen (action) eine
durchaus funktionale und rationale Strategie in organisatorischen Reformprozessen
dar (vgl. Jann 2006; Brunsson 1989).
In der vergleichenden Verwaltungswissenschaft werden verschiedene Typen und
„Pfade“ von Verwaltungsreformen unterschieden. Ein wesentlicher Pfad der Ver-
waltungsreform in Europa betrifft die Umschichtung von Verwaltungskompetenzen
im Mehrebenensystem, womit Prozesse der De-/Rezentralisierung von Aufgaben,
Regionalisierung, Devolution bis hin zur „Quasi-Föderalisierung“ angesprochen
sind. In den letzten Jahrzehnten sind in einer wachsenden Zahl bislang unitarisch
verfasster europäischer Länder Prozesse der Dezentralisierung in Gang gesetzt
worden – sei es als Föderalisierung bzw. Quasi-Föderalisierung (Belgien, Spanien,
Italien, Großbritannien) oder als „einfache“ Regionalisierung (Frankreich, Schwe-
den). Dar€ uber hinaus ist es in vielen Staaten zu einer (weiteren) Abschichtung von
Verwaltungskompetenzen von der (zentral)staatlichen Ebene auf die kommunalen
Gebietskörperschaften gekommen. Inwieweit sich die Aufgaben€ubertragung auf die
Performanz des Verwaltungshandelns auswirkt, ist in der vergleichenden Forschung
bislang umstritten (vgl. Kuhlmann et al. 2011). Ein weiterer Strang der Verwal-
tungsreform europäischer Staaten betrifft die territoriale Neugliederung von Ver-
waltungseinheiten oder auch „territoriale Konsolidierung“ subnationaler Räume
(territorial consolidation; vgl. Baldersheim und Rose 2010). Hier bewegen sich
die europäischen Reformansätze insbesondere zwischen den beiden Extrempolen
der – eher weichen Variante von – Verwaltungskooperation oder auch trans-scaling
(Bsp. Frankreich, Italien, Spanien, S€uddeutschland) und der – radikaleren Form von –
Gebietsfusionen oder up-scaling (Großbritannien, Skandinavien, Nord- und teils
Ostdeutschland). Schließlich ist als ein wichtiger Reformbereich der Verwaltung in
Europa die Modernisierungsbewegung im Rahmen des New Public Management
(NPM) zu erwähnen (vgl. Pollitt und Bouckaert 2004, 2011; Kuhlmann 2010), die
sowohl externe als auch interne Reformelemente beinhaltet. In Abkehr vom Konzept
des expansiven Wohlfahrtsstaates und der „klassisch-b€urokratischen“ Verwaltung
zielt das NPM einerseits darauf, den Aktionsradius des Staates neu zu bestimmen
(einzuschränken), Marktmechanismen zu stärken, Wettbewerb zu fördern und die
Position des B€ urgers als Kunden zu kräftigen. Andererseits geht es im Binnenver-
hältnis darum, betriebswirtschaftliche Managementmethoden einzuf€uhren,
b€urokratische Organisationsstrukturen aufzubrechen und die Handlungssphären
von Politik und Verwaltung klarer zu entkoppeln. Inzwischen ist allerdings
angesichts der erneuten verwaltungs- und ordnungspolitischen Umorientierung
seit Beginn des neuen Jahrtausends und besonders im Zuge der globalen
Finanz- und Wirtschaftskrise auch von Post-NPM oder dem „Neo-Weberian State“
die Rede (vgl. Bouckaert 2006; Pollitt und Bouckaert 2011). Damit sind Ansätze
von Re-Regulierung, Wiederverstaatlichung, whole-of-government-Reformen (d. h.
354 S. Kuhlmann

Re-Integration von NPM-bedingt verselbständigten Einheiten) und


Re-Kommunalisierung angesprochen. Die vergleichende Verwaltungsreformfor-
schung hat gezeigt, dass die politisch-administrativen Ausgangsbedingungen und
die Verwaltungskultur/-tradition starken Einfluss auf die NPM-Reformumsetzung
haben (Pollitt und Bouckaert 2011; Kuhlmann 2010). NPM-inspirierte Verwaltungs-
reformen wurden reibungsloser und radikaler in Ländern der angelsächsischen
Public Interest-Tradition durchgesetzt (auch idealtypisierend bezeichnet als marke-
tizer/minimizer; vgl. Pollitt und Bouckaert 2004) als in Ländern mit klassisch-
kontinentaleuropäischer Verwaltungstradition, die stärker durch klassisch-
weberianische Organisationsprinzipien gekennzeichnet sind (maintainer/modern-
izer). Die skandinavischen Länder lassen sich hier als Mischform einordnen, da sie
klassische Reformelemente (z. B. Nutzerpartizipation, kooperative Demokratie) mit
gemäßigten NPM-Elementen (Wettbewerb, Performanzmanagement) verkn€upften
(modernizer).

5.1 Konvergenz, Divergenz, Persistenz: neo-institutionalistische


Erklärungsmodelle

Hinsichtlich der Auswirkungen von Verwaltungsreformen auf nationale Verwal-


tungsprofile bzw. -kulturen und auf den europäischen Verwaltungsraum insgesamt
wurden unterschiedliche Theorien entwickelt und teils rivalisierende Hypothesen
vorgetragen. Auf der einen Seite wurde die Vermutung aufgestellt, dass es zu einer
zunehmenden Konvergenz der verschiedenen europäischen Verwaltungssysteme
kommt. Da diese unter ähnlichem externen Druck stehen, insbesondere ausgelöst
durch die Kräfte der Globalisierung (Weltmarktkonkurrenz), Europäisierung
(Angleichung der rechtlichen Regelungen etc.) und Ökonomisierung (NPM), ver-
lieren die historischen Bestimmungsfaktoren von bislang voneinander abweichen-
den nationalen Verwaltungsstrukturen zunehmend an Wirkungskraft. Die europä-
isierte Verwaltung könnte eine Art Zwischenstufe von der nationalstaatlich
geprägten Verwaltung hin zum „europäischen Verwaltungsraum“ (European admi-
nistrative space) sein, der durch institutionelle, kognitive und normative Anglei-
chung und „Harmonisierung“ gekennzeichnet ist (Siedentopf 2004; kritisch Woll-
mann 2002; Goetz 2006). Die Konvergenzthese wird zum einen von der Vermutung
gest€utzt, dass die exogenen Antriebskräfte einen institutionellen, kognitiven und
normativen Angleichungsdruck entfalten, unter dem die bislang voneinander ab-
weichenden, historisch gewachsenen nationalen Verwaltungsprofile zunehmend an
Wirksamkeit verlieren. Die Konvergenzthese wird auch von der Rational Choice-
Theorie und der ökonomischen Theorie der B€urokratie genährt, die verwaltungs-
politische Entscheidungen in erster Linie dadurch bestimmt sieht, dass die Ver-
waltungsakteure einem Kalk€ul individueller Vorteilsmaximierung und Nachteilsmi-
nimierung folgen (Dunleavy 1991), welches angesichts ähnlicher externer
Herausforderungen auf kongruentes Entscheidungshandeln hinausläuft. Des Weite-
ren kann das Konzeptrepertoire des Soziologischen Institutionalismus, mit Konzep-
ten des policy learning verkn€upft, zur Erklärung institutioneller Konvergenz
Verwaltung in der Vergleichenden Politikwissenschaft 355

herangezogen werden. Demnach kann Isomorphismus durch Zwang (coercive iso-


morphism), Nachahmung (mimetic isomorphism) oder normativen Druck (norma-
tive isomorphism) herbeigef€uhrt werden (DiMaggio und Powell 1991), der letztlich
in eine Konvergenz von Verwaltungsmodellen m€undet. Insbesondere der normative
Isomorphismus hebt dabei stark auf die Erklärungskraft von Ideen, Diskursen und
Konzepten ab (Wollmann 2008, S. 18), was auch als diskursiver Institutionalismus
bezeichnet wird (vgl. Schmidt 2008) Dieser steht dem Soziologischen Institutiona-
lismus nahe und geht davon aus, dass Diskurse und Ideen dadurch auf die nationalen
und internationalen Handlungsarenen einwirken, dass sie als konzeptioneller und
mentaler „Rahmen“ ( frame) die Aufmerksamkeit, Überzeugung und Gefolgschaft
der relevanten Akteure und Akteurskonstellationen gewinnen (framing) und f€ur
deren Entscheidungen handlungsanleitend werden (Rein und Schön 1977). So kann
die internationale Diskursdominanz des NPM seit den 1980er-Jahren maßgeblich
darauf zur€uckgef€uhrt werden, dass einflussreiche internationale Organisationen (wie
Weltbank und OECD) und ihre von neoliberal orientierten Ökonomen bestimmten
Diskurskoalitionen (advocacy coalitions; Sabatier 1993) sich diese Maximen zu
eigen machten und sie propagierten.
Auf der anderen Seite wurde, insbesondere von Vertretern des Historischen
Institutionalismus, die Vermutung aufgestellt, dass – ungeachtet externer Druck-
faktoren, kognitiver framing-Strategien und internationaler Diskurskonvergenzen –
die nationalen Staats- und Verwaltungstradition fortwirken (Persistenz) oder sich gar
verstärken (Divergenz), da sie „pfadabhängige“ Korridore abstecken und so die
weitere verwaltungspolitische Praxis des jeweiligen Landes oder der Ländergruppe
beeinflussen. Hier wird argumentiert, dass die konvergierenden Reformdiskurse
(etwa NPM) in Abhängigkeit von den jeweiligen historisch gewachsenen institution-
ellen Kontexten und Verwaltungskulturen in verschiedenen europäischen Ländern
sehr unterschiedlich aufgenommen werden und auch unterschiedliche Wirkungen
nach sich ziehen m€ussten. Nicht Isomorphie sondern jeweils distinkte Institutiona-
lisierungen und Effekte wären die Folge. Ähnliche verwaltungspolitische Interven-
tionen m€ ussten sehr unterschiedliche Wirkungen in den einzelnen Länderkontexten
zeitigen, da sie jeweils auf verschiedene bereits existierende institutionelle Arran-
gements und einge€ubte Handlungsmuster treffen. Diese können sich dann fördernd
oder blockierend auf die anvisierten Reformen und die daraus erwachsenden Leis-
tungsveränderungen auswirken. Ferner lassen sich Anwendungs- und Nutzungs-
l€
ucken von formal implementierten Reforminstrumenten (etwa managerieller
Steuerungsformen) oder auch Leistungsdefizite in der Verwaltung nach institution-
ellen Umbr€ uchen unter Umständen auf die Weiterf€uhrung „alter“ standard operating
procedures zur€ uckf€uhren, die in historisch eingeprägten Verhaltens-, Denk- und
Handlungsmustern wurzeln und als institutionelle legacies Reformprozesse und
Systemwechsel konterkarieren können.2

2
In dieser Hinsicht gibt es offenkundige Überschneidungen mit dem Soziologischen Institutiona-
lismus, weswegen beide Ansätze häufig auch zusammen betrachtet werden (siehe Goetz 2006).
356 S. Kuhlmann

Nach Pollitt (2001) muss f€ur eine differenzierte Untersuchung von Konvergenz
oder Divergenz jedoch ein genauerer Blick auf die verschiedenen Phasen von
Reformprozessen in den jeweiligen Ländern geworfen werden. Mit dem Ziel,
Konvergenz präziser zu fassen (clarifying convergence), schlägt Pollitt (2001) in
Anlehnung an Brunsson (1989) eine Differenzierung nach vier Ebenen oder Phasen
vor:

– Discursive convergence: Konzepte, Leitideen, Diskurskonjunkturen;


– Decisional convergence: Reformentscheidungen, Verabschiedung von Reform-
programmen und -maßnahmen;
– Practice convergence: tatsächliche Maßnahmenumsetzung, Anwendung neuer
Instrumente und Strukturen;
– Result convergence: Ergebnisse und weitergehende Wirkungen der Reformmaß-
nahmen.

Dabei gilt, dass der verwaltungspolitische Reformdiskurs (talk), das Reformpro-


gramm (decision) und das tatsächliche Handeln der Akteure (action/practice/result)
nur lose gekoppelt sind oder gar deutlich auseinanderfallen (vgl. auch Jann 2006,
S. 132). Somit muss bei der empirischen Suche nach Konvergenz/Divergenz/Per-
sistenz jeweils präzisiert werden, inwieweit Aussagen €uber Diskurse/Programmatik,
Entscheidungen/Policies oder €uber tatsächliches Handeln bzw. Auswirkungen auf
die konkrete Verwaltungspraxis getroffen werden sollen. Einer der am stärksten
vernachlässigten (da schwierigsten) Untersuchungsbereiche der empirischen
Verwaltungsforschung ist die Wirkungsanalyse von Verwaltungsreformen (vgl.
Kuhlmann und Wollmann 2011), was mit ihren Konzipierungs- und Methoden-
problemen, aber auch mit Fragen politischer Rationalität und (Nicht-)Erw€unschtheit
solcher Wirkungsuntersuchungen zusammenhängt.

6 Zusammenfassung

Im vorliegenden Beitrag wurde am Beispiel wesentlicher Typologien, Begriffe und


Forschungserträge herausgearbeitet, welche Rolle das Vergleichen in der Verwal-
tungswissenschaft und die öffentliche Verwaltung als Gegenstandsbereich der ver-
gleichenden Politikwissenschaft spielen. Es d€urfte deutlich geworden sein, dass die
vergleichende Verwaltungswissenschaft in den vergangenen Jahren wichtige Schrit-
te vorangekommen ist und somit behauptet werden kann, dass sie nunmehr zum
Mainstream verwaltungswissenschaftlicher Forschung gehört: „Comparative PA has
become (. . .) more prominent and mainstream“ (Pollitt 2010, S. 763); „Comparative
public administration research (. . .), today, has considerable vitality“ (Fitzpatrick
et al. 2011, S. 822). Diese Diagnosen verweisen aber auch auf die wachsende
Institutionalisierung der CPA als Subdisziplin mit einer eigenen internationalen
scientific community. Wenngleich bislang nicht die grand theory vorgelegt oder
general rule identifiziert worden ist, so lassen sich den vorliegenden Studien doch
immerhin „Theorien mittlerer Reichweite“ (middle level generalization; Pollitt
Verwaltung in der Vergleichenden Politikwissenschaft 357

2010, S. 762) entnehmen, die wesentliche Aussagen zur Wirkungsweise und zum
Erklärungsbeitrag unterschiedlicher Verwaltungssysteme in vergleichender Perspek-
tive enthalten. Hier können und sollten zuk€unftige Studien ankn€upfen, um dadurch
die Theorie- und Konzeptentwicklung der CPA weiter voranzubringen.

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Verfassungsgerichte in der Vergleichenden
Politikwissenschaft

Sascha Kneip

Zusammenfassung
Die vergleichende Verfassungsgerichtsforschung ist ein vergleichsweise junges
Feld der Vergleichenden Politikwissenschaft. Der vorliegende Beitrag untersucht
normative Positionen der Debatte, theoretische und methodische Erklärungsan-
sätze richterlichen Handelns sowie zentrale Fragen und Ergebnisse der empirisch-
vergleichenden Gerichtsforschung. Theoretisch ist das Feld geprägt von behavi-
oralistischen und neo-institutionalistischen Ansätzen, inhaltlich ist insbesondere
die Frage von Bedeutung, welche Rolle Verfassungsgerichte in demokratischer
Politik spielen, wie stark sie in sie hineinwirken und welche Folgen dies f€ur
demokratisches Regieren hat.

Schlüsselwörter
Rechtsstaat • Demokratie • Verfassung • Gerichte • Qualität der Demokratie

1 Einleitung

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Verfassungsgerichten und ihrem Agieren


war, zumindest außerhalb der Vereinigten Staaten von Amerika, €uber lange Zeit eine
Domäne der Rechtswissenschaft. Während die Verfassungsgerichtsforschung in den
USA seit jeher eine rechts- wie sozialwissenschaftliche Komponente besaß und
diese nachhaltig kultivierte, blieb sie in anderen Teilen der wissenschaftlichen Welt
zunächst vor allem juristisch dominiert (Beyme 2001). Erst in den letzten drei
Jahrzehnten hat die Politikwissenschaft damit begonnen, sich systematischer mit

S. Kneip (*)
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Wissenschaftszentrum Berlin f€
ur Sozialforschung (WZB),
Berlin, Deutschland
E-Mail: sascha.kneip@wzb.eu

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 361


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_27
362 S. Kneip

dem Phänomen der Verfassungsgerichtsbarkeit jenseits des US Supreme Court zu


beschäftigen. Diese „nachholende Entwicklung“ hatte vor allem zwei Gr€unde:

Zum einen beschränkten sich die juristischen Studien häufig auf entweder normative
oder deskriptiv-beschreibende Aspekte in der Darstellung einzelner Verfassungs-
gerichte (Hönnige 2007, S. 29 ff.) und ließen damit manche f€ur die Politikwissen-
schaft interessante Frage wie jene nach der Dynamik zwischen Verfassungsgericht
und Gesetzgeber oder möglichen Justizialisierungseffekten durch verfassungsge-
richtliches Agieren unbeachtet. Zum anderen erlebte die politikwissenschaftliche
Verfassungsgerichtsforschung mit dem relativen Erfolg der dritten Demokratisie-
rungswelle in S€ud-, Mittel- und Osteuropa, Ost- und S€udostasien und Lateiname-
rika neuen Auftrieb, da in ihrer Folge sowohl das normative Zusammenspiel von
Rechtsstaat und Demokratie als auch die Rolle rechtsstaatlicher Institutionen und
Akteure in konkreten Demokratisierungsprozessen neue Aufmerksamkeit erlangte.
Beides, die Desiderate rechtswissenschaftlicher Institutionenbeschreibungen wie
die empirischen Veränderungen in der demokratischen Welt selbst, f€uhrte zu einem
Aufschwung der vergleichenden politikwissenschaftlichen Verfassungsgerichtsfor-
schung auch diesseits der Vereinigten Staaten.
Diesem nachholenden Aufschwung ist geschuldet, dass sich das vergleichende For-
schungsfeld bislang als noch nicht €ubermäßig strukturiert darstellt. Gleichwohl
lassen sich einige gemeinsame theoretische und methodische Zugänge, For-
schungsthemen und Forschungsergebnisse benennen. Vier Gegenstandsbereiche
prägen die Beschäftigung der vergleichenden Politikwissenschaft mit Verfas-
sungsgerichten in besonderer Weise: erstens die normative Diskussion um die
Stellung der Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Rechtsstaat und Demokratie,
zweitens die theoretisch-methodische Diskussion um das angemessene Erklä-
rungsmodell richterlichen Handelns, drittens die Analyse institutioneller Mecha-
nismen im Kontext verfassungsgerichtlichen Agierens und viertens deren Aus-
wirkungen auf das Funktionieren von politischen Systemen im Allgemeinen und
von Demokratien im Besonderen.

2 Normative Positionen: Verfassungsgerichte im


Spannungsfeld von Rechtsstaat und Demokratie

Ob man Verfassungsgerichte als genuin demokratische Akteure begreift oder nicht,


hängt vor allem vom gewählten Demokratiemodell und dem diesem zugrunde
liegenden Verständnis des Verhältnisses von Rechtsstaat und Demokratie ab.
Versteht man unter Demokratie eine ausschließlich nach dem Mehrheitsprinzip
organisierte Herstellung kollektiv verbindlicher Entscheidungen, wird man einem
– elektoral in der Regel nur schwach legitimierten – Verfassungsgericht wenig Raum
in der Demokratie zusprechen. Betrachtet man Demokratie hingegen als ein an li-
beralen Grund- und Menschenrechten orientiertes kollektives Agieren im Rahmen
einer rechtsstaatlichen Verfassungsordnung, fällt der Verfassungsgerichtsbarkeit
naturgemäß eine deutlich zentralere Position zu. Aus beiden idealtypischen Stand-
Verfassungsgerichte in der Vergleichenden Politikwissenschaft 363

punkten haben sich in der politikwissenschaftlichen Forschung drei normative


Positionen hinsichtlich der Stellung von Verfassungsgerichten in der Demokratie
herausgebildet (siehe auch Kneip 2006): Eine erste lehnt das Agieren von Ver-
fassungsgerichten per se als undemokratisch ab und erkennt insbesondere in der
Normenkontrollfunktion der Gerichte demokratietheoretische Probleme (siehe
z. B. Maus 1992; Tushnet 1999; Waldron 1999; Maus 2004, 2005; Waldron 2006;
Hirschl 2007; Tushnet 2008). Aus dieser radikaldemokratischen Perspektive besteht
Volkssouveränität nur dann, wenn „alle Souveränität ungeteilt bei der gesellschaft-
lichen Basis monopolisiert ist und keiner Staatsgewalt der geringste Anteil an Recht
setzender Tätigkeit [. . .] zugestanden wird“ (Maus 2004, S. 840). Eine mit Normen-
kontrollkompetenz ausgestattete Verfassungsgerichtsbarkeit kann dieser demokra-
tietheoretischen Maxime nicht vollends entsprechen. Zudem bestreiten Vertreter
dieser Position, dass – zumindest in aufgeklärten und konsolidierten demokratischen
Gesellschaften – individuelle Rechte durch Gerichte besser gesch€utzt w€urden als
durch demokratische Parlamente (Waldron 2006; Tushnet 2008).
Eine zweite Position lehnt Verfassungsgerichte nicht grundsätzlich ab, möchte ihr
Agieren aber auf bestimmte prozedurale Fragen beschränkt sehen (so z. B. Ely 1980;
Dahl 1989; Habermas 1992). Vertreter dieser prozeduralistischen Position erkennen
zwar die faktische Notwendigkeit, den demokratischen Prozess selbst durch einen
externen Akteur vor Beschädigungen zu sch€utzen oder durch ihn Kompetenzstrei-
tigkeiten zwischen Akteuren beilegen zu lassen (‚Schiedsrichterfunktion‘ der Ver-
fassungsgerichtsbarkeit). Eine umfassende Rolle als „H€uter der Verfassung“ wollen
sie Verfassungsgerichten aber nicht zuerkennen und schließen sich hier weitgehend
den demokratietheoretischen Bedenken der radikalen Position an.
Eine dritte, eher substanzialistisch argumentierende Position schließlich betrach-
tet Verfassungsgerichte als notwendige und zentrale Akteure im demokratischen
Regierungsprozess, deren rechtsstaatlich-demokratischer Auftrag es ist, individuelle
Grund- und Freiheitsrechte auch jenseits prozeduraler Fragen vor Beschädigungen
durch demokratische Mehrheiten zu sch€utzen (Dworkin 1996). Dieser Position liegt
die Idee zugrunde, dass die grundlegendste Aufgabe demokratischer Gemeinwesen
darin liegt, die individuelle Autonomie ihrer Mitglieder, die sich nicht nur in politi-
schen Partizipations-, sondern auch in privaten Autonomierechten ausdr€uckt, zu
sch€utzen. Die Privatautonomie der Individuen kann nach dieser Auffassung
häufig nicht in demokratischen Mehrheitsprozessen gesch€utzt werden, sondern muss
letztlich durch unabhängige (Verfassungs-)Gerichte gewährleistet werden.
Aus diesen unterschiedlichen Positionen folgt eine differenzierte Einschätzung
der legitimen Eingriffstiefe verfassungsgerichtlichen Handelns. Während die radi-
kaldemokratische Position Verfassungsgerichte ohnehin f€ ur verzichtbar hält, defi-
niert die prozeduralistische Position die Grenze verfassungsgerichtlichen Agierens
anhand der prozeduralen Funktionsbedingungen der Demokratie selbst: Verfas-
sungsgerichtliches Agieren ist so lange legitim, wie es sich darauf beschränkt, das
Funktionieren des demokratischen Prozesses selbst aufrechtzuerhalten und die Offen-
heit dieses Prozesses zu sichern. F€ur die substanzialistische Position wiederum
ist das Abgrenzungsproblem nicht so einfach zu lösen. Da die Privatautonomie
prinzipiell immer von staatlichem oder gesellschaftlichem Handeln bedroht sein
364 S. Kneip

kann, lässt sich nicht ohne weiteres a priori definieren, welche Fragen Verfassungs-
gerichte legitimerweise anstelle des Gesetzgebers beantworten d€urfen und welche
nicht; das Agieren der Gerichte ist hier prinzipiell unbeschränkt. Grenzen lassen sich
allenfalls mit Hilfe funktionell-rechtlicher (Schuppert 1980; Hesse 1981) oder demo-
kratiefunktionaler Überlegungen (Kneip 2006, 2009) definieren.

3 Theoretische und methodische Erklärungsansätze


richterlichen Handelns

Nicht nur die normative Stellung der Verfassungsgerichtsbarkeit ist in der Forschung
umstritten, auch die empirischen Erklärungsansätze zum Handeln von Verfassungs-
gerichten unterscheiden sich zum Teil erheblich. Das theoretische Verständnis des
Agierens von Verfassungsgerichten ist heute – wie andere Teilbereiche des Faches
auch – maßgeblich von den Diskussionen und Debatten der US-amerikanischen
Politikwissenschaft geprägt. Drei Erklärungsansätze lassen sich unterscheiden: das
Rechtsmodell (‚legal model‘), das Einstellungsmodell (‚attitudinal model‘) und das
auf Rational-Choice-Annahmen basierende strategische Modell (‚strategic model‘).
Das Rechtsmodell geht von der Annahme aus, dass sich richterliches Handeln –
und damit auch das Agieren eines Gerichts insgesamt – vor allem €uber die institu-
tionellen Vorgaben des Rechts selbst erklären lässt. Richterinnen und Richter sind
nach dieser Auffassung vor allem darin bestrebt, Rechtsnormen adäquat zur Geltung
zu bringen und €uber die Anwendung vorliegender Rechtsvorschriften auf den
jeweiligen Fall (verfassungsrechtliche Normen, Gesetze, allgemeine Grundsätze des
Rechts, moralische Rechtsprinzipien) unter Zuhilfenahme bestimmter Auslegungs-
methoden des Rechts zu einer weitgehend adäquaten Fallentscheidung zu gelangen
(grundlegend: Dworkin 1978, 1985, 1986, 1996). Vorhandene individuelle Präferen-
zen der Richter werden eingehegt durch die rechtlichen Normen selbst, durch dem
Recht innewohnende systematische und moralische Prinzipien sowie durch fr€uhere
Präzedenzentscheidungen eines Verfassungsgerichts.
Diese Handlungsprägung von Richterinnen und Richtern durch rechtliche und
moralische Normen oder politische Leitideen betonen auch neuere institutionalisti-
sche Ansätze, die sich in der Tradition des historischen Institutionalismus verorten
lassen (Clayton und Gillman 1999; O'Brian 2003). Als handlungsleitend gelten hier
insbesondere juristische Doktrinen, formale institutionelle Regeln und innerinstitu-
tionelle Normen.
Der Auffassung, dass das Agieren von Gerichten vor allem durch (rechtliche)
Normen bestimmt wird, widerspricht dezidiert das sogenannte Attitudinal- oder
Einstellungsmodell (Schubert 1965; Segal und Cover 1989; Segal und Spaeth
1993; Segal et al. 1995; Segal und Spaeth 2002). Dieses geht davon aus, dass
Richterinnen und Richter – wie andere (politische) Akteure auch – vor allem daran
interessiert sind, ihre eigenen politischen Präferenzen und Vorstellungen durchzu-
setzen, und dass sie daran weder durch institutionelle noch durch rechtlich-
normative Schranken gehindert werden. Die Gr€unde hierf€ur sind aus Sicht dieses
Ansatzes – zumindest f€ur den meist exemplarischen Fall des US Supreme Court – in
Verfassungsgerichte in der Vergleichenden Politikwissenschaft 365

den lebenslangen Amtszeiten der Richter, ihrer faktischen Unabsetzbarkeit, dem


vom Gericht praktizierten freien Annahmeverfahren sowie in der institutionellen
Rigidität der Verfassung zu suchen, die Verfassungsänderungen als Reaktion auf
Urteile des Obersten Gerichtshofs faktisch unwahrscheinlich macht. Der Analyse-
fokus dieses Ansatzes liegt folgerichtig auf den individuellen politischen Einstellun-
gen und Präferenzen der Richterinnen und Richter (Epstein et al. 1998). Über die
Verortung des ideologischen Standpunktes der Richterinnen und Richter auf einer
links-rechts-Skala sollen Urteile des US Supreme Court erklär- und prognostizierbar
gemacht werden.
Das auf Grundlage der Theorie rationaler Wahl operierende strategische Modell
schließlich (Epstein und Knight 1998; Epstein et al. 2001) teilt mit dem Einstellungs-
modell die methodische Herangehensweise sowie die Auffassung, dass persönliche
Präferenzen handlungsleitend f€ur Richterinnen und Richter sind. Es erweitert das
attitudinal model aber um zwei wesentliche Gesichtspunkte. Zum einen ist es
prinzipiell offener in Bezug auf die Präferenzen der Richter: Neben persönlichen
politischen Einstellungen und Präferenzen können beispielsweise auch Prestige und
Karrierestreben, die Sorge um die empirische Legitimation eines Gerichts oder das
Streben nach einer kohärenten Rechtsordnung handlungsleitend sein (Baum 1997);
rechtlich-normative und machtpolitische Motive können also ebenfalls die Präfe-
renzordnung von Richtern bestimmen. Zum anderen sieht das strategische Modell
gerichtliches Agieren sehr viel stärker durch intra- und interinstitutionelle Regeln
(etwa Entscheidungsregeln innerhalb eines Gerichts, Richterwahlverfahren, Ge-
richtsgesetze), die Wirkungen der öffentlichen Meinung oder die Angewiesenheit
auf die Kooperation anderer Akteure bei der Umsetzung von Urteilen beschränkt.
Strategisch handelt ein Gericht nach dieser Vorstellung dann, wenn es eine aus seiner
Sicht zweitbeste Lösung zu implementieren versucht, weil seine eigentlich präfe-
rierte Idealposition nicht durchsetzbar erscheint.
Keiner der drei urspr€unglich f€ur den US Supreme Court entwickelten theoreti-
schen Zugänge kann aus vergleichender Perspektive in Gänze €uberzeugen. Der in
der US-Forschung vorherrschende strikt behavioralistisch-attitudinale Ansatz ver-
kennt einerseits die Relevanz rechtlicher Motive jenseits persönlicher Präferenzen
und andererseits die institutionelle Eingebundenheit von Verfassungsgerichten in
größere institutionelle Zusammenhänge, die unter bestimmten Umständen Hand-
lungsoptionen eröffnen, unter anderen Umständen diese aber auch beschränken
können. Das Rechtsmodell wiederum gibt sich zu leichtfertig der Illusion hin, dass
Richterinnen und Richter keinerlei weitere Interessen als eine adäquate Rechtsdurch-
setzung verfolgen könnten.
Der rational-choice-basierte strategische Ansatz wiederum hat bislang nicht voll-
ends plausibel machen können, dass Verfassungsgerichte empirisch tatsächlich auf
strategisches Handeln angewiesen sind (siehe aber in Bezug auf den Einfluss der
öffentlichen Meinung Vanberg 1998, 2005), noch, unter welchen Umständen f€ur ein
Gericht aus normativer Sicht strategisches Agieren €uberhaupt als Option in Frage
kommt. Die Annahme, dass ein Gericht strategisch eine second-best-Option statt
der eigentlich präferierten Entscheidung wählt, ist nur so lange plausibel, wie man
Richterinnen und Richtern tatsächlich eine Policy-Orientierung unterstellt oder ein
366 S. Kneip

Gericht sich aus Sorge um seine institutionellen Machtressourcen zu strategischem


Handeln gezwungen sieht – etwa, weil es andernfalls durch die politischen Akteure
in seinen Kompetenzen beschnitten w€urde. Kurzum: Alle drei Ansätze beleuchten
wichtige Teilaspekte der richterlichen Handlungsanalyse, f€ur einen umfassenden Er-
klärungsansatz gerichtlichen Agierens m€ussten sie aber systematischer miteinander
verkn€upft und um eine breitere institutionelle Analyse erweitert werden.
Solche breiteren institutionellen Analysen bilden die Grundlage f€ur Forschungen,
die unter dem Stichwort der „Justizialisierung“ betrieben werden. In der Justiziali-
sierungsforschung wird unter anderem danach gefragt, welche institutionellen Fak-
toren eine starke Position von Verfassungsgerichten im politischen System beg€uns-
tigen, wie groß der Einfluss der Verfassungsgerichte auf Politik und Gesellschaft ist
und wie sich dieser €uber die Zeit entwickelt (siehe auch Abschn. 4). Allgemein
können ein kodifizierter Rechtekatalog, institutionelle Mechanismen der richterli-
chen Verfassungskontrolle sowie ein gewisser Grad an richterlichem Aktivismus als
Hauptursachen einer Justizialisierung der Politik gelten (Hirschl 2008, S. 129). Als
eine zentrale Komponente galt hierbei lange das Instrument der abstrakten Normen-
kontrolle: Dieses bietet oppositionellen Akteuren Anreize, nachträglich parlamenta-
rische Mehrheitsentscheidungen €uber den Weg der Verfassungsklage zu korrigieren
oder gänzlich zu verhindern und stärkt damit implizit auch Rolle und Einfluss der
Verfassungsgerichtsbarkeit im politischen System (Stone Sweet 1999, 2000). Folge-
richtig stand f€
ur die Frage der Justizialisierung zunächst auch vor allem das Klage-
verhalten (oppositioneller) politischer Akteure im Mittelpunkt der wissenschaftli-
chen Aufmerksamkeit (St€uwe 1997; Vanberg 1998). Empirisch zeigt sich allerdings,
dass Verfassungsbeschwerden durch B€urgerinnen und B€urger deutlich stärkere
Justizialisierungseffekte eröffnen können als abstrakte Normenkontrollverfahren.
Abstrakte Normenkontrollen sind numerisch vergleichsweise selten, r€ucken das
Verfassungsgericht andererseits aber ins Zentrum politischer Konflikte und Aus-
einandersetzungen, machen die ausgetragenen Konflikte so deutlich sichtbarer und
mitunter auch politisch „aufgeladener“.

4 Empirische Gerichtsforschung

Die empirischen Analysen zum Agieren von Verfassungsgerichten beschäftigen sich


in der Regel entweder mit institutionell-akteursbezogenen oder mit wirkungsbezo-
genen Analysen. Institutionelle Analysen sind vor allem daran interessiert, zwei
zentrale Aspekte – die Stärke und die Unabhängigkeit von Verfassungsgerichten –
im Vergleich zu bestimmen (Alivizatos 1995; Tate und Vallinder 1995; Cooter und
Ginsburg 1996; Ginsburg 2003; Helmke und Rosenbluth 2009).
Die Messung der institutionellen Stärke eines Gerichts erfolgt dabei meist €uber
die Operationalisierung seiner formalen Entscheidungskompetenzen, €uber die Offen-
heit des Gerichtszugangs sowie mitunter €uber die empirische Legitimität eines
Gerichts. Besitzt ein Verfassungsgericht Entscheidungsbefugnisse in abstrakten und
konkreten Normenkontrollverfahren, in Organstreit- und/oder föderalen Streitver-
fahren und vielleicht auch Kompetenzen zur Entscheidung individueller Verfas-
Verfassungsgerichte in der Vergleichenden Politikwissenschaft 367

sungsbeschwerden von B€urgerinnen und B€urgern, so kann seine formal-


institutionelle Stärke als hoch angesehen werden. Zu faktischer Stärke tragen diese
Kompetenzen aber erst dann bei, wenn erstens auch der Zugang zum Gericht
möglichst offen ausgestaltet ist, also von vielen unterschiedlichen Akteuren (etwa
B€urgern, Parteien, Staatsorganen, untergeordneten Gerichten) beschritten werden
kann, und zweitens das Gericht durch eine ausreichende Unterst€utzung seiner Arbeit
in der Bevölkerung in die Lage versetzt wird, seine Urteile im Zweifel auch gegen
Widerstände durchzusetzen. Gerichte besitzen in der Regel kein eigenes Initiativ-
recht, sondern sind auf ihre Aktivierung durch andere Akteure angewiesen, um
€uberhaupt agieren zu können. Sind sie einmal aktiviert, hilft empirische Legitimität
in der Bevölkerung dabei, Urteile auch tatsächlich implementieren zu können. Ein
„starkes“ Verfassungsgericht ist also ein solches, das €uber große formale Kompeten-
zen verf€ ugt, von vielen unterschiedlichen Akteuren aktiviert werden kann und
mithilfe diffusen und spezifischen Vertrauens in der Bevölkerung auch gegen wider-
strebende Interessen agieren kann.
Die institutionelle Unabhängigkeit eines Verfassungsgerichts hingegen wird in
der vergleichenden Gerichtsforschung zum einen indirekt €uber die Inklusivität des
Bestellungsmodus der Richterinnen und Richter operationalisiert, zum anderen €uber
die institutionelle Isolierung eines Gerichts von politischem Druck, hier meist ge-
messen € uber die Amtszeiten der Richter und mögliche Wieder- oder Abwahlmög-
lichkeiten. Je inklusiver der Bestellungsmodus der Verfassungsrichter ist, je mehr
Akteure also ihrer Berufung zustimmen m€ussen und je höher das erforderliche
Quorum f€ ur ihre Bestellung ist, desto größer ist potentiell die politische und juris-
tische Unabhängigkeit der Richterinnen und Richter. Die Notwendigkeit eines
breiten Konsenses bei ihrer Bestellung verringert signifikant die Gefahr, dass Partei-
gänger bestimmter politischer Akteure an ein Gericht entsandt werden, die dann
wiederum das Gericht politisieren. Empirisch ist das inklusive und konsensorien-
tierte Bestellungsmodell allerdings keineswegs €ubermäßig weit verbreitet; häufig
reichen einfache Mehrheiten in der ersten oder zweiten Parlamentskammer, um
Richterinnen und Richter an höchste Gerichte zu entsenden (Kneip 2013a).
Jenseits der zentralen Frage des Richterwahlverfahrens ist f€ur die Unabhängigkeit
der Richter zudem wichtig, wie lange ihre Amtszeiten ausgestaltet sind und ob sie
wieder- oder abgewählt werden können. Als am unabhängigsten können prima facie
Richterinnen und Richter mit lebenslanger Amtszeit gelten, da ihre Abberufung aus
dem Amt in der Regel nur in spezifisch definierten Ausnahmefällen – etwa bei
strafrechtlichen Verurteilungen – möglich ist und auch dann die Gerichte häufig
selbst €
uber eine Abberufung entscheiden m€ussen. Empirisch sind lebenslange Amts-
zeiten von Verfassungsrichterinnen und Richtern auch eher die Regel als die Aus-
nahme, mitunter sehen die entsprechenden Verfassungsgerichtsgesetze aber Pen-
sionsgrenzen vor oder begrenzen – vor allem in Europa – die Amtszeiten von
vorne herein auf 10 bis 15 Jahre.
Neben der Sicherung der Unabhängigkeit der Richterinnen und Richter selbst
sind weitere institutionelle Mechanismen von Relevanz, die das Gericht als Kollek-
tivakteur von der Politik unabhängig machen: Hierzu gehört beispielsweise, ob ein
Gericht administrativ dem jeweiligen Justizministerium eines Landes unterstellt ist
368 S. Kneip

oder als eigenständiges Staatsorgan betrachtet wird, wie weit es seine interne
Struktur und Arbeitsweise selbst organisieren kann, ob es sein Budget während
der Haushaltsverhandlungen selbst verhandelt und wie leicht oder schwer die das
Gericht betreffenden Verfassungsnormen und Verfassungsgerichtsgesetze geändert
werden können (siehe f€ur das Bundesverfassungsgericht Kranenpohl 2010). Weitere
wichtige Faktoren f€ur die Unabhängigkeit eines Verfassungsgerichts können
€uberdies eine gewachsene Rechtskultur sein, eine hohe Fragmentierung des politi-
schen Systems oder einmal mehr die empirische Vertrauensbasis eines Gerichts in
der Bevölkerung. Obwohl zu diesen Fragen bislang keine umfangreichen vergleich-
enden Untersuchungen vorliegen, deuten die bisherigen Analysen auf eine große
empirische Variationsbreite hin (siehe z. B. Br€unneck 1992; Stone Sweet 2000; Gins-
burg 2003; Helmke und Ríos-Figueroa 2011).
Wirkungsbezogenen Analysen wiederum geht es insbesondere um die Frage des
Zusammenspiels von Verfassungsgerichtsbarkeit und Politik sowie um die Wirkung
des konkreten gerichtlichen Agierens auf Politik und Gesellschaft. Die insbesondere
außerhalb der Vereinigten Staaten von Amerika zentrale Thematik der „Justiziali-
sierung“ von Politik durch verfassungsgerichtliches Agieren (siehe oben) zielt im
Kern auf die Frage, inwieweit sich Gerichte und politische Akteure in ihrer Arbeit
gegenseitig beeinflussen und begrenzen. Als weitgehender Konsens darf hierbei
gelten, dass der Einfluss der Verfassungsgerichtsbarkeit auf die Politik im Zeitver-
lauf zugenommen hat (Landfried 1984, 1988; Tate und Vallinder 1995; Shapiro und
Stone Sweet 2002; Domingo 2004, Hirschl 2007; Stone Sweet 2010; Hirschl 2011).
Tatsächlich spricht wenig daf€ur, dass die Rolle von Verfassungsgerichten im demo-
kratischen politischen System in den letzten Jahrzehnten schwächer geworden ist.
Demokratische Systeme ohne formale Verfassungsgerichtsbarkeit sind an einer Hand
abzuzählen (Vereinigtes Königreich, Niederlande, Schweiz), und die Wirkung
aktiver Verfassungsgerichte auf die Politik hat nicht nur in Europa, sondern auch in
Lateinamerika oder Asien grosso modo zugenommen (Lösing 2001; Ginsburg 2003;
Helmke und Ríos-Figueroa 2011).
Allerdings sollte die Justizialisierungsthese unter verschiedenen Gesichtspunkten
qualifiziert und relativiert werden: Zum einen handelt es sich im globalen Maßstab
keineswegs um ein gleichermaßen stark ausgeprägtes Phänomen. Auch wenn Ver-
fassungsgerichte in Lateinamerika und Asien insgesamt betrachtet heute stärker,
unabhängiger und aktiver sind als vor 20 Jahren, sind ihre Stellung und ihr Einfluss
– von einzelnen Ausnahmen abgesehen – doch immer noch deutlich schwächer als
in Europa oder den USA. Auch innerhalb Europas unterscheiden sich Stärke und
Unabhängigkeit der Gerichte zum Teil erheblich (Kneip 2008). Zum anderen brem-
sen offenkundig individuelle wie institutionelle Faktoren Justizialisierungstenden-
zen mitunter, etwa die oben bereits angesprochenen individuellen Handlungsmotive
von Richtern oder institutionelle Mechanismen, die Handlungsspielräume von Ge-
richten begrenzen, eine strategische Selbstbeschränkung von Richtern und Gerichten
zur Folge haben und die Implementierung von Gerichtsentscheidungen verzögern
oder ganz verhindern (Gawron und Rogowski 2007). Zuweilen gelingt es politischen
Akteuren auch, wie es etwa derzeit in Ungarn zu beobachten ist, die Einflussmög-
lichkeiten von Verfassungsgerichten €uber institutionelle (Verfassungs-)Reformen
Verfassungsgerichte in der Vergleichenden Politikwissenschaft 369

zur€uckzudrängen. Ob dies demokratietheoretisch begr€ußenswert ist, darf mit guten


Gr€unden bezweifelt werden – der Fall zeigt aber sehr plastisch mögliche Grenzen
einer fortschreitenden Justizialisierung auf (siehe allgemein auch Magalhaes 2003).
Noch deutlich unterentwickelt ist schließlich die Frage, welchen Einfluss
Verfassungsgerichte auf die Qualität von Demokratie, auf die Demokratisierung
politischer Systeme (und ihre Konsolidierung) oder die Durchsetzung von Rechts-
staatlichkeit auch in autokratischen Umgebungen haben. Hier deuten einige erste Er-
gebnisse darauf hin, dass mit hinreichenden institutionellen Ressourcen ausgestat-
tete Verfassungsgerichte in der Lage sind, die Qualität von Demokratie zu erhöhen
(Kneip 2009, 2011a, b), die Konsolidierung junger Demokratien zu unterst€utzen
(Kneip 2013b) und auch in Autokratien in begrenztem Maße rechtsstaatliche Min-
deststandards zu etablieren (Moustafa 2007; Ginsburg und Moustafa 2008).
Insgesamt mangelt es der vergleichenden Verfassungsgerichtsforschung bislang
noch an einer breiteren Verkn€upfung von normativen, theoretischen und empirischen
Befunden. Angesichts der zunehmenden Dynamik in diesem Teilbereich der Politik-
wissenschaft ist es aber vielleicht nicht zu optimistisch, f€ur die Zukunft auf ver-
stärkte Bem€ uhungen in diese Richtung zu hoffen.

5 Zusammenfassung

Die vergleichende Verfassungsgerichtsforschung ist ein vergleichsweise junges Feld


der Vergleichenden Politikwissenschaft. Zwar hatte sich die US-amerikanische
Politikwissenschaft bereits fr€uh mit dem US Supreme Court und seinem Agieren
als Analysegegenstand beschäftigt, eine vergleichende Perspektive hielt aber syste-
matisch erst mit der dritten Welle der Demokratisierung, und hier verstärkt nach
1990, Einzug. Methodisch wie theoretisch ist das Forschungsfeld stark geprägt von
den behavioralistischen Debatten der US-Politikwissenschaft, allerdings finden atti-
tudinale und strategische Ansätze zur Erklärung von verfassungsgerichtlichem
Agieren mittlerweile Ergänzung und Erweiterung durch neoinstitutionalistische
Perspektiven, die rechtlichen, rechtskulturellen, politischen und akteursbezogenen
Institutionen deutlich mehr Einfluss auf die Erklärung gerichtlichen Agierens
einräumen.
Normativ bleibt in der Forschung umstritten, welche Rolle Verfassungsgerichte in
Demokratien aus€ uben und welchen Einfluss sie auf demokratische Politik haben
sollten. Die in der Literatur vertretenen Positionen variieren mit dem jeweils präfe-
rierten Demokratiemodell: Anhänger eines majoritären Demokratiemodells gestehen
Verfassungsgerichten naturgemäß weniger Spielraum zu als Vertreter einer rechts-
staatsliberalen Demokratieschule. Auch die Bewertung verfassungsgerichtlichen
Agierens unterscheidet sich entsprechend: Starke, unabhängige und aktive Verfas-
sungsgerichte rufen im Rahmen eines majoritär-prozeduralistischen Demokratie-
verständnisses größere Skepsis hervor als innerhalb eines substantialistisch-
rechtsstaatsliberalen Demokratiemodells.
Empirisch bleibt offen, wie weit die Justizialisierung von Politik durch verfas-
sungsgerichtliches Agieren tatsächlich gediehen ist. Glaubten die ersten Arbeiten
370 S. Kneip

zum Thema noch eine u€ber die Zeit zunehmende Justizialisierung zu erkennen,
betonen neuere Analysen eher die (institutionellen) Grenzen solcher Justizialisie-
rungsprozesse oder binden die Analyse verfassungsgerichtlichen Agierens an die
Frage zur€uck, ob ein aktives Handeln von Verfassungsgerichten nicht vielleicht
sogar positiv f€
ur demokratisches Regieren sein kann. Insgesamt fehlt es dem For-
schungsfeld bislang noch sowohl an umfassenden interregionalen Vergleichsanaly-
sen als auch an fundierteren Analysen zum Zusammenhang von Rechtsstaatsqualität
und verfassungsgerichtlichem Agieren, um solche Fragen verlässlich beantworten
zu können.

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Verfassungen in der Vergleichenden
Politikwissenschaft

Astrid Lorenz

Zusammenfassung
Der Beitrag skizziert zunächst die Entwicklung des Verfassungsvergleiches. Er
identifiziert eine inhaltliche und regionale Verbreiterung von einem theoretisch-
normativen Interesse an der Ortung eines besten Regierungssystems und dem
Fokus auf Westeuropa und Nordamerika hin zu empirischen Fragen der Ver-
fassungsentwicklung und mehr areas. Danach erläutert er das politikwissen-
schaftliche Verständnis von Verfassungen, ihre Inhalte und Form und konfrontiert
dabei die klassischen verfassungstheoretischen Überlegungen mit empirischen
Beobachtungen. Deutlich wird, dass die empirische Varianz größer ist, als theo-
retisch vermutet. Der nachfolgende Überblick €uber wichtige Gegenstände und
Befunde der aktuellen Forschung zeigt, dass auch die Erklärung dieser Varianz
trotz großer Fortschritte noch vor Rätseln steht. Abschließend sondiert der Bei-
trag, wie die Erkenntnisl€ucken geschlossen werden könnten und plädiert f€ur mehr
interdisziplinäre und interregionale Analysen.

Schlüsselwörter
Verfassungen • Verfassungsgebung • Verfassungsänderung • Expliziter Wandel •
Impliziter Wandel

1 Einleitung

Verfassungen schreiben die zentralen Rechte, Strukturen und Verfahren politisch-


administrativer Einheiten und oft auch den Wertekanon einer Verfassungsgemein-
schaft fest. Der Verfassungsvergleich hat daher eine lange historische Tradition und

A. Lorenz (*)
Professorin f€ur das Politische System der Bundesrepublik Deutschland/Politik in Europa, Institut
f€
ur Politikwissenschaft, Universität Leipzig, Leipzig, Deutschland
E-Mail: astrid.lorenz@uni-leipzig.de

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 373


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_28
374 A. Lorenz

ist aufs Engste mit der Entwicklung der Politikwissenschaft selbst verwoben. Schon
Aristoteles und Polybios verglichen die Verfassungen im damaligen Griechenland
bzw. der römischen Republik mit dem Ziel einer Regime- bzw. Herrschaftsanalyse.
Unterschiedliche Varianten der Machtkontrolle unter Ber€ucksichtigung der jeweili-
gen Sozialstruktur herauszuarbeiten und ein ideales Institutionenmodell zu finden,
blieb €uber lange Zeit das Hauptanliegen von Verfassungsvergleichen. Die Analysen
und ihre Rezeption konzentrierten sich ab dem 17. Jahrhundert nicht mehr nur auf
Europa, sondern auch auf Nordamerika (Vorländer 2009, S. 21 ff.).
Trotz dieser langen Tradition gibt es €uber die Entwicklung von Verfassungen und
ihre Gr€ unde noch immer relativ wenig gesichertes empirisches Wissen. Dies gilt
insbesondere f€ ur die Räume jenseits der westlichen Staatenwelt. Die theoretischen
Grundannahmen und staatsrechtlichen Konstrukte wurden vor dem Erfahrungshin-
tergrund bestimmter westlicher moderner Staaten entwickelt und lassen sich bei
genauerer Betrachtung auf viele andere Fälle nicht oder nur eingeschränkt anwen-
den. Erst seit den 1990er-Jahren wurden Verfassungen jenseits der vergleichenden
Regimeanalyse verstärkt Gegenstand vergleichender empirischer Forschung. Hin-
tergrund waren die zahlreichen Systemwechselprozesse, die auch Verfassungs(neu)
gebungen beinhalteten sowie die generelle Wiederentdeckung von Institutionen mit
der Entwicklung des Neo-Institutionalismus.
Der vorliegende Beitrag gleicht im zweiten Abschnitt klassische verfassungs-
theoretische Überlegungen mit Befunden empirischer Untersuchungen ab. Dabei
widmet er sich dem Verständnis, den Funktionen, Inhalten und der Form von Ver-
fassungen. Der dritte Abschnitt gibt einen Überblick €uber den aktuellen Stand der
Forschung. Auf dieser Basis schlägt Abschnitt vier vor, welchen Fragestellungen im
Zusammenhang mit Verfassungen sich die vergleichende Politikwissenschaft
k€unftig verstärkt widmen sollte. Der Beitrag endet mit einer Zusammenfassung.

2 Theoretisch-konzeptionelle Annahmen zu Verfassungen


im empirischen Stresstest

Leitend f€ur die vergleichende politikwissenschaftliche Forschung zu Verfassungen


ist, dass es sich bei ihnen um einen bestimmten Typus institutionalisierter Normen,
d. h. Regeln, Prinzipien, Werte, handelt. Allgemein gefasst, sind sie die „Ordnung
des Politischen“. Sie stehen zum einen als oberstes nicht abgeleitetes Recht €uber
allen anderen Rechtsakten (Gesetzen, Ordnungen etc.) und sind daher immer poli-
tisch gesetztes Recht. Zum anderen bestimmen sie, was Gegenstand der Politik ist
und welche Handlungsspielräume bestehen.
Umstritten ist, ob Verfassungen an Staatlichkeit gebunden sind. Dass auch Ein-
heiten, die keine Staatsqualität besitzen, eine Verfassung haben (können), wird
zumindest von den meisten Staatsrechtlern verneint, während aus politikwissen-
schaftlicher Perspektive etwa dem mittelalterlichen Dominikanerorden (Vorländer
2009: 29 f.), der EU oder teils sogar der Weltgesellschaft (Brunkhorst 2002) das
Vorhandensein einer Verfassung oder zumindest Quasi-Verfassung bescheinigt wird.
Der Dissens gr€ undet auf einem unterschiedlich breiten Verständnis von „Verfas-
Verfassungen in der Vergleichenden Politikwissenschaft 375

sung“, u. a. auf der Ber€ucksichtigung oder Nichtber€ucksichtigung der formellen


Kompetenz-Kompetenz, der Quelle der Souveränität des Verfassungsgebers. Diese
wird häufig allein beim Staat gesehen. Da sich Verfassungsgeber in ihrer spezifi-
schen regionalen oder sozialen Konfiguration jedoch die Souveränität letztlich
immer selbst zuschreiben und das gesamte geltende Rechtssystem auf einst vorge-
nommenen Selbstermächtigungen beruht, bleibt dieses Kriterium strittig.
Eine konkretere Definition von Verfassungen kann beispielsweise auf ihre Funk-
tionen abstellen, die sich in den Inhalten der Verfassung niederschlagen. Zuvorderst
ist eine Verfassung ein Instrument zur Ausbalancierung von individuellen Freiheiten
und Herrschaftsrechten – in Demokratien der zeitlich befristeten Delegation von
Entscheidungsrechten an ein gewaltenteiliges System. Was „die Verfassungsgeber“
in der Summe ihrer teilhabeberechtigten Mitglieder f€ur besonders absicherungs-
w€urdig befinden, variiert allerdings sowohl historisch als auch regional, weshalb
die im Folgenden genannten Funktionen, die in der klassischen Verfassungstheorie
immer wieder als zentral benannt wurden, nicht in allen Verfassungen tatsächlich
gleichermaßen abgebildet sind.
Erstens definiert eine Verfassung (vage oder sehr genau) die politisch-
administrative Einheit, f€ur die sie Geltung beansprucht. Sie benennt deren zentrale
Strukturprinzipien (z. B. Demokratie, Monarchie) und kann dabei politisch-
administrative Untereinheiten definieren (z. B. Länder in föderalen Staaten). In
diesem Falle muss sie das Verhältnis der Untereinheiten zur Gesamteinheit klären.
Zweitens regulieren Verfassungen oft Grundrechte und Teilhaberechte der Bevöl-
kerung und kollektiver Akteure. Sie bestimmen unter Verwendung kategorialer
Konzepte, wer als Subjekt in der politisch-administrativen Einheit in welcher Art
(z. B. B€urger, Resident, Asylant, Familie, Mann, Glaubensgemeinschaft) anerkannt
ist und gestalten das Verhältnis zwischen der politisch-administrativen Gesamtein-
heit und den in ihr ansässigen nat€urlichen (B€urger) und juristischen Personen
(z. B. Kirchen) aus. Dies umfasst die Verankerung von Rechten (z. B. Abwehrrechte
der B€ urger gegen€uber dem Staat) und Pflichten (z. B. Steuer- oder Wehrpflicht).
Dabei nehmen Verfassungen mindestens indirekt eine Hierarchisierung von
Werten, Rechten und Pflichten vor (z. B. Wehrpflicht nur f€ur Männer; Höherge-
wichtung des Rechts der Mutter auf selbstbestimmte Schwangerschaft gegen€uber
dem Schutz des Lebens von Beginn an; Garantie von Religionsunterricht, aber nicht
von weltanschaulichem Unterricht; Etablierung einer Staatskirche), die f€ur den
öffentlichen Raum bindend sind und in die persönliche Sphäre hineinwirken. Umstritten
ist, ob die Kodifizierung von bestimmten Grundrechten in der Verfassung die Nichtan-
erkennung oder geringere Gewichtung nicht explizit genannter Rechte impliziert.
Ferner können Verfassungen bestimmte Personen oder politisch-administrative
Einheiten (z. B. Kirchen, Sonderwirtschaftszonen, Militärangehörige) von der Gel-
tung des regulären Rechts ausnehmen, aber anderen die Geltung explizit vorgeben
(z. B. Parteien, die auch in ihrer internen Organisation den Grundsätzen einer
freiheitlich-demokratischen Grundordnung entsprechen m€ussen). Sie werden dazu
genutzt, um den Staat bzw. seine Repräsentanten explizit auf die Gewährleistung
bestimmter Staatsziele unabhängig von Wahlausgängen zu verpflichten (z. B.
soziale Sicherheit, militärische Neutralität, Umweltschutz) und ihn zum Eingriff
376 A. Lorenz

in die Privatsphäre und Unternehmen zu berechtigen (bspw. u€ber das Recht auf
Enteignung). Recht allein kann die Umsetzung allerdings nicht garantieren. So
setzen Sozialstaatsgarantien die Verf€ugbarkeit entsprechender Ressourcen voraus.
Drittens ist neben der rechtlichen Legitimation der Eigenständigkeit politisch-
administrativer Einheiten und der Regulierung von Grundrechten und Teilhaberech-
ten der Bevölkerung und kollektiver Akteure die Regelung der Staatsorganisation
eine wichtige Funktion von Verfassungen. Sie verteilen die politischen Aufgaben
und Kompetenzen zwischen verschiedenen Akteuren des Regierungssystems. Durch
die Festschreibung als Verfassungsnorm werden diese Zuweisungen unter einen
besonderen Schutz gestellt. Damit begrenzen Verfassungen die Aus€ubung von
Herrschaft, ohne dass zwangsläufig Demokratie festgeschrieben sein muss. So ver-
f€ugen auch Autokratien heute €uber Verfassungen, die Mechanismen der Machtbe-
grenzung installieren, ohne dass diese den Erfordernissen einer Demokratie gerecht
werden oder aber tatsächlich Beachtung finden. Unterhalb der Verfassung können
weitere Regelungen getroffen werden, etwa in Form von Gesetzen. Diese gewähren
aber einen geringeren Schutz, vor allem wenn sie mit einfacher Mehrheit geändert
werden können. Dies ist ein Grund daf€ur, warum kleinere Oppositionsparteien oft
auf die Verankerung parlamentarischer Minderheitenrechte in der Verfassung selbst
und nicht nur in der Geschäftsordnung des Parlaments dringen.
Nichtfestschreibungen in Verfassungen wirken sich immer zugunsten aktueller
Regierungsmehrheiten aus, die dann frei gestalten und entscheiden können. Mehr-
heiten geben also mit der Fixierung von Normen in der Verfassung Handlungsfrei-
heiten ab; die Souveränität wird vom pouvoir constituant auf den pouvoir constitué
€ubertragen. Daf€ur können Verfassungsgeber in Verfassungen Mechanismen f€ur die
Überwachung der Rechtseinhaltung und Sanktionierung von Verstößen installieren,
Änderungen des Textes an anspruchsvolle Vorgaben binden und bestimmte Bereiche
von Änderungen ausnehmen. Eine Verfassung kann ewige Geltung beanspruchen –
entweder explizit, d. h. im genauen Wortlaut, oder implizit durch Verzicht auf die
Benennung eines Geltungszeitraumes. Manche Verfassungen enthalten jedoch auch
Vorschriften f€ur den Fall einer Verfassungsneuschreibung, wobei die Bindewirkung
gegen€ uber k€unftigen Verfassungsgebern fraglich ist.
Verfassungen können auch dem Zweck dienen, €uber den Weg einer spezifischen
Ausgestaltung dieser Regelungsbereiche dauerhaft eine symbolisch-integrative
Funktion zu erf€ullen. Um die Verpflichtung gegen€uber bestimmten Traditionslinien
oder aber den Vollzug eines Bruches zusätzlich symbolisch zu unterstreichen,
werden häufig Präambeln zum eigentlichen Verfassungstext formuliert, die zwar
rechtlich nicht direkt binden, deren Formulierung aber bei der Verfassungsgebung
nicht minder umstritten sein muss als die Regularien mit konkreter Bindungswir-
kung. Typische Präambelinhalte sind die Positionierung gegen€uber dem vorange-
gangenen politischen System, zur Religion (z. B. Gottesbezug, Bekenntnis zum
Laizismus) oder zu €ubergeordneten politischen Zielen.
Dass nicht alle genannten Inhalte in gleicher Weise tatsächlich in Verfassungen
geregelt sind, äußert sich in ihrem extrem unterschiedlichen Umfang. Es gibt sehr
schmale Verfassungen (z. B. USA, Norwegen, Japan) und sehr regelungsintensive
Verfassungen (z. B. Portugal, Schweden, Uruguay). Auch innerhalb von Verfassungen
Verfassungen in der Vergleichenden Politikwissenschaft 377

differiert die Regelungsdichte nach Materien. Daf€ur gibt es bislang keine systemati-
schen Erklärungen. Negative politische Erfahrungen mit bestimmten Materien
(beispielsweise Grundrechtsverletzungen oder Kompetenzstreitigkeiten zwischen
Organen), die politische Kultur oder Orientierungen an bestimmten Vorbildverfas-
sungen sind zumindest teilweise Gr€unde.
Wie alle Institutionen kann eine Verfassung schriftlich kodifiziert sein (in einem
oder mehreren Dokumenten), muss es aber nicht. Dies impliziert, dass es nicht einen
konkreten Akt der Verfassungsgebung geben muss, sondern sie als Prozess erfolgen
kann, was zunächst besonders in Staaten mit Gewohnheitsrecht (common law)
verbreitet war. Aktuell ist allerdings nur die britische Verfassung nicht schriftlich
kodifiziert, sondern beruht auf Konventionen und Gerichtsurteilen. Die meisten
anderen g€ ultigen Verfassungen sind in jeweils einem Dokument zusammengefasste
Rechtstexte. Es gibt aber auch die Variante, dass mehrere Dokumente als Verfassung
gelten oder dass bestimmte weitere Rechtstexte zusätzlich zur Verfassung Verfas-
sungsrang erhalten (z. B. Neuseeland). In diesem Falle ist ihr Status zumeist aus dem
Basisverfassungstext abgeleitet (z. B. Tschechische Republik, Frankreich). Anders
in Israel. Hier verabschiedete das Parlament nie eine formelle Verfassung, wohl aber
verschiedene Grundgesetze. Wie die Unabhängigkeitserklärung erhielten sie formal-
rechtlich gegen€ uber anderen Gesetzen keinen höherwertigen Status, wurden jedoch
durch anspruchsvollere Änderungsklauseln besonders gesch€utzt. Erst viel später
entschied der Oberste Gerichtshof Israels, dass diese Rechtsakte anderem Recht
vorangehen.
Weitere wichtige Konzepte der vergleichenden Verfassungsforschung sind der
Konstitutionalismus sowie expliziter und impliziter Verfassungswandel. Von Kons-
titutionalismus ist dann zu sprechen, wenn in einem System Begrenzungen der
Regierungsmacht, Rechtsstaatlichkeit und der Schutz der Grundrechte gewährleistet
sind (Rosenfeld 1992, S. 497). Expliziter Verfassungswandel meint konkrete Ein-
griffe in den Verfassungstext bis hin zur Verabschiedung eines neuen Dokumentes.
Impliziter Verfassungswandel beinhaltet Änderungen der Verfassungsrealität, die
nicht in Textmodifikationen abgebildet sind. Er erfolgt beispielsweise €uber substan-
ziell neue Auslegungen und Erweiterungen von Verfassungsnormen durch Gerichte.
Aus der Darstellung wird ersichtlich, dass die Befunde der vergleichenden
empirischen Forschung zu Verfassungen, die im nächsten Abschnitt vorgestellt wird,
die klassischen verfassungstheoretischen Konzepte durchaus in Teilen in Frage
stellen, so dass sie sich nicht im Abpr€ufen bestimmter Kausalannahmen erschöpfen
kann, sondern auch mit konzeptionellen Fragen befassen muss.

3 Forschungsgegenstände der vergleichenden


Verfassungsforschung

Der Zugriff der neueren vergleichenden Politikwissenschaft auf Verfassungen äußert


sich darin, dass sie erstens Verfassungen nicht ausschließlich €uber bestimmte for-
male Vorgaben definiert, sondern auch funktionale Äquivalente in Untersuchungen
einbezieht. Zweitens konzipiert sie Verfassungen als Ergebnis von Deutungs- und
378 A. Lorenz

Machtkämpfen von Akteuren bzw. bestimmter politischer Prozesse und weniger als
Produkt homogener innerstaatlicher Verfassungsgemeinschaften. Drittens versucht
sie zu verstehen, wie genau die Wirkung von Verfassungen von diesen und anderen
Rahmenbedingungen beeinflusst ist. Viertens thematisiert sie aber auch klassische
politikwissenschaftliche Bewertungsmaßstäbe in den Analysen wie Legitimation,
Transparenz, Partizipation, Inklusion, Kontrolle, Stabilität oder Effizienz.
Seit dem „empirical turn“ in der Verfassungsforschung genießen folgende Ge-
genstände eine besondere Aufmerksamkeit: die Entstehung von Verfassungen, die
Verbreitung von Verfassungsnormen, die Effekte von Verfassungen und Verfas-
sungsgebungsverfahren, Verfassungsänderungen sowie die Methodik und die grund-
sätzliche Anlage von Erklärungsmodellen.
Zur Entstehung von Verfassungen gibt es €uberwiegend vergleichende Fallstudien
mit wenigen Fällen. Aufgrund der zentralen Bedeutung der Verfassungsgebung f€ur
Transformationsprozesse richtete sich die Aufmerksamkeit besonders auf die Trans-
formationsstaaten der verschiedenen Demokratisierungswellen. Untersucht wurde,
welche politischen Kräfte die Verfassungsgebung dominieren, welche Rolle die
Träger des vorangegangenen Systems spielen und wie Konflikte gelöst werden
(Elgie und Zielonka 2001; Elster et al. 1998).
In den vergangenen Jahren wurden unterschiedliche, teils ausf€uhrliche Daten-
sätze zu Verfassungen und Verfassungsgebungen zusammengestellt (Elkins
et al. 2013; Elkins 2010; Widner 2013; Lorenz 2008; Lutz 1995), die es ermögli-
chen, u. a. prozedurale und regionale Muster von Verfassungsgebungen in größerem
Maßstab quantitativ zu untersuchen (z. B. Elkins 2010). Beispielsweise wird hier
deutlich, dass in Lateinamerika häufiger neue Verfassungen eingef€uhrt wurden als in
Europa und nicht nur, wie in der klassischen Verfassungstheorie suggeriert, im
Ergebnis eines Systemwechsels oder sozialer Revolutionen. Die Häufung von rep-
lacements regte die wissenschaftliche Neugier an. Quantitativ-vergleichende Analy-
sen zu Lateinamerika untersuchten, unter welchen Bedingungen eine Verfassung
hier durch eine neue ersetzt wurde (Negretto 2009).
Die neuen Datensammlungen wurden bereits genutzt, um in quantitativ-
vergleichenden Studien nach Mustern der Verbreitung von Verfassungsnormen zu
suchen. Zuvor tauchte die Diffusion von Verfassungsnormen lange Zeit nur spora-
disch und als Nebenthema in qualitativ vergleichenden Studien zur Verfassungs-
politik auf, etwa im Zusammenhang mit den postsozialistischen Verfassungsgebun-
gen in Osteuropa. Die den Analysen zugrunde liegende Messung der Eigenschaften
von Verfassungen ist teilweise mit vielen Indikatoren sehr umfassend (Elkins
et al. 2013), ihre Eignung aber dennoch wie bei jeder Innovation diskussionsw€urdig.
Sie erfasst beispielsweise aufgrund der einfachen Messbarkeit nur bestimmte For-
mulierungen und formelle Eigenschaften von Verfassungen, blendet damit mögli-
cherweise die eigentlich relevanten Indikatoren aus oder €ubersieht funktionale
Äquivalente.
Ein großer Anteil von Studien zur Verfassungspolitik geht der Frage nach, ob
Verfassungen die zum Verabschiedungszeitpunkt bestehenden Macht- und Interes-
senstrukturen auf Dauer stellen (weil nur so die Zustimmung relevanter Akteure
gesichert werden kann) oder ob es Wege gibt, etwas substanziell Neues zu schaffen
Verfassungen in der Vergleichenden Politikwissenschaft 379

und somit keine Perpetuierung des Status quo vorzunehmen. Damit verbunden ist
die Frage, inwieweit eine Steuerung durch Verfassungsrecht (constitutional engi-
neering) möglich und effektiv ist.
Während zunächst besonders einzelne zentrale Elemente von Verfassungen the-
matisiert wurden, wie etwa die Entscheidung f€ur ein präsidentielles oder ein parla-
mentarischen System oder die Passfähigkeit im Verhältnis zur politischen Kultur,
gibt es in j€
ungster Zeit recht viele Studien zur Verfassungsgebung in Postkonflikt-
gesellschaften bzw. in heterogenen Gesellschaften. Darin wird untersucht, ob be-
stimmte Verfahren der Verfassungsgebung (Runde Tische, Konvente o. ä.) allein
oder in Kombination mit der Festschreibung bestimmter Verfassungsinhalte
(z. B. Rechte f€ur indigene Völker) dazu geeignet sind, gesellschaftliche und poli-
tische Konflikte zu €uberbr€ucken oder zu lösen, eine Verfassungsgemeinschaft ent-
stehen zu lassen oder zumindest durch die Schaffung eines akzeptierten institution-
ellen Rahmens ihre k€unftige friedliche Austragung erwirken. Überwiegend handelt
es sich hierbei um qualitativ-vergleichende Fallstudien (Ghai und Galli 2006; Land-
fried 2006; Elkins und Sides 2007; Hart 2001; Nolte und Schilling-Vacaflor 2012).
Häufig gehen sie vom Konzept eines „neuen Konstitutionalismus“ aus. Er hat
ähnlich wie der neue bzw. Neo-Institutionalismus die Wechselbeziehung zwischen
Akteuren und Institutionen im Blick, beobachtet die Etablierung ganz neuer institu-
tioneller Arrangements des Umgangs mit Diversität, Direktdemokratie und
Staatlichkeit und ber€ucksichtigt die Rolle von Verfassungsgerichtsbarkeit.
Eine größere Anzahl neuerer Studien befasst sich mit Verfassungsänderungen.
Die Beobachtung, dass diese viel häufiger auftreten, als die klassische Verfassungs-
theorie vermuten ließ, regte die weitere Forschung an. Unterschieden werden kann
zwischen Analysen allgemeiner Muster der Verfassungsänderungspolitik und sol-
chen, die einzelne Determinanten (z. B. Globalisierung, europäische Integration,
gesellschaftliche Konflikte) in den Mittelpunkt stellen. Jeweils gibt es quantitativ-
und qualitativ-vergleichende Studien.
In quantitativ-vergleichenden Studien zeigte sich u. a., dass die meisten Ver-
fassungsänderungen in Föderalstaaten mit höherer parlamentarischer Fragmentie-
rung stattfinden, die seltensten in Föderalstaaten mit geringer Fragmentierung.
Gepr€ uft wurde der Effekt des Umfangs bzw. der Regelungsdichte der Verfassung,
ihres Alters, der H€urde f€ur Verfassungsänderungen (konstitutionelle Rigidität),
der Föderalismus/Unitarismus-Dimension und anderer Variablen auf die Häufigkeit
von Verfassungsänderungen (Lutz 1995; Lorenz 2005, 2008; Roberts 2009). Die
Auswahl der vermuteten Faktoren ber€ucksichtigt die Entstehungsbedingungen der
Verfassungen zumeist nicht, sondern fokussiert institutionelle Eigenschaften der
Verfassung (Rigidität etc.) selbst oder aktuelle Kontextbedingungen und basiert
damit auf der Annahme, dass der Wandel von Verfassungen anders zu erklären ist
als ihre Einf€uhrung.
Die Analysen zeigen oft keinen oder einen uneindeutigen Effekt der untersuchten
Faktoren. So dämpft eine sehr hohe Änderungsh€urde offenbar die Änderungshäufig-
keit, während eine niedrige bis hohe Rigidität f€ur sich genommen keine besondere
Erklärungskraft aufweist. Zudem wurde (bei jeweils konstanter Rigidität) eine zykli-
sche Verteilung von Verfassungsänderungen in Demokratien beobachtet, die sich
380 A. Lorenz

mikroökonomisch erklären lässt: Jede Verfassungsänderung senkt die Produktions-


kosten der nächsten, weil sich eine Verhandlungsinfrastruktur etabliert. Dadurch sinkt
der Nutzen, ab dem eine weitere Verfassungsänderung lukrativ wird und jede weitere
Änderung wird wahrscheinlicher. Sobald sich der wahrgenommene Änderungsbedarf
erschöpft, endet ein Produktionszyklus (Lorenz und Seemann 2009).
Die Veränderung von Verfassungen im Zusammenhang mit der Globalisierung und
europäischen Integration (darunter bspw. der Rechtsprechung des Europäischen Ge-
richtshofes) ist plausibel, jedoch nicht hinreichend, um die große Diversität von Verän-
derungen in den von diesem Metatrends betroffenen Staaten zu erklären. Die Suche
richtet sich in qualitativen Studien mit wenigen Fällen daher auf die Erarbeitung kom-
plexerer Erklärungsansätze. Die wachsende Forschung zur Tätigkeit von (Verfassungs-)
Gerichten treibt die Erkenntnisse zum impliziten Verfassungswandel voran.
Seit den 1990er-Jahren entwickelte sich auch die vergleichende Forschung zu
Verfassungsänderungen in prozessualer Perspektive, d. h. mit Blick auf Aushand-
lungsprozesse. Diese Studien sind faktisch immer qualitativ-vergleichend angelegt
und durch die Konzentration auf wenige Fälle dazu in der Lage, komplexere kausale
Zusammenhänge zu ergr€unden (Schultze und Sturm 2000; Behnke 2010; Behnke
et al. 2011; Grotz 2007) und z. B. Phasenmodelle von Verfassungsänderungsver-
fahren zu entwickeln (Lorenz 2008).
Die Qualität und Reichweite der Ergebnisse der vorgenannten Forschungsrich-
tungen steht in engem Zusammenhang mit der genutzten Methodik und grundsätz-
lichen Herangehensweise an die Erklärung, die daher ebenfalls Gegenstand der
Forschung sind. Es wurden beispielsweise unterschiedliche Indizes zur Messung
der Verfassungsänderungsh€urde (Rigidität) und Regelungsdichte konstruiert, der
Effekt der Auswahl von Fällen und Zeiträumen diskutiert und eine Differenzierung
von Verfassungsmaterien bzw. Konfliktfeldern anstelle der Untersuchung ganzer
Verfassungsdokumente angeregt. Die Analysen beruhen zudem auf unterschiedli-
chen statistischen Verfahren.
In j€ungerer Zeit wurden jedoch auch grundsätzlich die Vorz€uge und Nachteile
divergierender Erklärungsmodelle thematisiert. So scheint sich die Erklärungskraft
von Modellen zu erschöpfen, die einen konstanten Effekt bestimmter Variablen
annehmen, während sich die Tauglichkeit von Modellen, die einen unterschiedlichen
Effekt von Variablen je nach dem konkreten Zusammentreffen mit anderen Variab-
len und in Abhängigkeit vom vorab beschrittenen Entwicklungspfad f€ur möglich
halten, nur schwer empirisch-vergleichend pr€ufen lässt und das notorische Problem
der geringen Fallzahlen noch verschärft.

4 Lücken und künftige Forschung

Wie in Bezug auf andere Gegenstände der vergleichenden Politikwissenschaft


scheint auch in Bezug auf Verfassungen eine enge Verbindung von Theoriebildung
und Theorietest, qualitativer und quantitativer Forschung erstrebenswert. Die in
Abschn. 2 genannten empirischen Abweichungen von den verfassungstheoretischen
Konstrukten werfen die Theorie nicht um, lassen aber eine größere Realitätsnähe
Verfassungen in der Vergleichenden Politikwissenschaft 381

anraten. Umgekehrt ist es wenig sinnvoll, Methodendiskussionen unabhängig von


der Theoriendiskussion zu f€uhren. Dass viele quantitativ-vergleichende Studien
bislang nicht zu erschöpfenden Erklärungsmodellen f€uhrten, ist ein Beleg daf€ur.
Die Politikwissenschaft wird nicht umhin kommen, nach einer Phase der Eman-
zipation von der klassischen staatstheoretischen Herangehensweise bei vielen Frage-
stellungen mit der politischen Theorie und der Rechtswissenschaft zu kooperieren,
beispielsweise wenn es darum geht, materienspezifische Normgehalte von Verfas-
sungen und die Verfassungswirklichkeit zu messen. Nur so lässt sich beispielsweise
herausfinden, welche unabhängigen Effekte Verfassungen tatsächlich entfalten und
wie die verfassungspolitischen Akteure in Verhandlungen Verfassungsinhalte gegen-
einander abwägen.
Eine weitere wichtige Aufgabe besteht darin, das Zusammenwirken von expliziten
Verfassungsänderungen und implizitem Verfassungswandel breiter systematisch zu
untersuchen und dies in eine Diskussion €uber das Spannungsverhältnis von Konstitu-
tionalismus und Demokratie einzubetten. So ist zu pr€ufen, ob sparsame Verfassungs-
vorgaben, wie sie oft gelobt werden, sinnvoll sind, weil sie den regierenden Mehrheiten
ausreichend Handlungsspielräume geben und die Flexibilität f€ur veränderte Rahmen-
bedingungen steigern, oder ob dies ung€unstig ist, weil die einfachen Mehrheiten dies
ausnutzen und Gerichte die häufiger auftretenden Auslegungskonflikte klären m€ussen
und dabei allzu starken Einfluss auf die Politik erlangen. Fraglich ist auch, ob impliziter
Verfassungswandel tatsächlich später immer €uber explizite Textänderungen nachvoll-
zogen wird (Benz 2011) oder nur unter bestimmten Bedingungen.
Weiterhin besteht eine Forschungsl€ucke hinsichtlich der Wechselbeziehung zwi-
schen verfassungspolitischen Akteuren in Mehrebenensystemen (Hönnige et al. 2011).
W€unschenswert ist beispielsweise ein systematischer politikwissenschaftlicher Ver-
gleich von Europäisierungsprozessen in der Verfassungspolitik der EU-Mitglieder.
Erste Studien weisen auf einen differenzierten Einfluss hin (Grotz 2007). Auch Unter-
suchungen zu verfassungspolitischen Strategien subnationaler Akteure in föderalen
Staaten sind notwendig, um die bisher vorliegenden Erkenntnisse zu föderalen Ge-
bilden als Ganze (Broschek und Benz 2013) zu komplettieren. Hierzu gibt es bislang
vor allem Studien zu den USA (Tarr 1996; Ginsburg und Posner 2010).
Schließlich sollte es eine noch engere Verkn€upfung zwischen dem Verfassungs-
vergleich in Bezug auf westliche Demokratien sowie in Bezug auf andere areas und
Nichtdemokratien geben. Momentan stehen globale quantitative Vergleiche sowie
area-interne Vergleiche (z. B. Nolte und Vacaflor 2012; Roberts 2009; Khilnani
et al. 2013) nebeneinander. Noch stärker sollten die jeweiligen Befunde wechselsei-
tig aufgegriffen, ihre Übertragbarkeit gepr€uft und die theoretische Begr€undung der
jeweiligen Samplings geschärft werden.

5 Fazit

Der vorliegende Beitrag zeigt, dass Verfassungsvergleiche eine lange Tradition


haben, jedoch zunächst vornehmlich dem Ziel des Regimevergleiches und der
Grundierung theoretischer Überlegungen zu einem besten politischen System
382 A. Lorenz

dienten. Dabei konzentrierten sie sich auf Fragen der Machtteilung sowie einzelne
europäische Fälle, später ergänzt um die Region Nordamerika. Erst in den letzten
zwei Jahrzehnten schenkte die vergleichende Politikwissenschaft den Verfassungen
eine dar€
uber hinaus gehende Aufmerksamkeit.
Die neueren empirischen Befunde stellen die klassischen verfassungstheoreti-
schen Annahmen teilweise infrage. Abschn. 2 erläuterte dies anhand der Definition
von Verfassungen, der ihnen €ublicherweise zugeschriebenen Funktionen, ihrer In-
halte und Form. Der dritte Abschnitt skizzierte, mit welcher spezifischen Herange-
hensweise die vergleichende Forschung andere Studien zu Verfassungen sinnvoll
ergänzt und identifizierte als zentrale Forschungsgegenstände die Entstehung von
Verfassungen, die Verbreitung von Verfassungsnormen, die Effekte von Verfassun-
gen und Verfassungsgebungsverfahren, Verfassungsänderungen sowie die Methodik
und die grundsätzliche Anlage von Erklärungsmodellen. Abschn. 4 hob besonders
den Bedarf einer engeren Verzahnung von quantitativer und qualitativer Methodik
und einer Kooperation mit der Rechtswissenschaft als k€unftige Aufgabe der
Forschung hervor.
Es wurde erkennbar, dass die vergleichende Forschung in recht kurzer Zeit
Indizien f€
ur viele Zusammenhänge fand und andere vermutete Zusammenhänge,
etwa zum Effekt der Verfassungsänderungsh€urde ersch€utterte. Weiterhin gibt es
jedoch kein ausgefeiltes Modell zur Erklärung der Entstehung und des Wandels
von Verfassungen. Daher besteht ein großer Bedarf an konzeptioneller und empiri-
scher Forschung fort.

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Vergleichende Regionenforschung in der
Politikwissenschaft

Till Heinsohn und Markus Freitag

Zusammenfassung
Untersuchungen subnational angesiedelter Gebietskörperschaften in Form einer ver-
gleichenden Regionenforschung r€ucken zunehmend in den Mittelpunkt des analyti-
schen politikwissenschaftlichen Interesses. Hierf€ur zeichnen sich neben dem allge-
meinen Bedeutungsgewinn der Regionen auch die mit Blick auf das
Forschungsdesign, die Messung und die Theoriebildung einhergehenden Potentiale
verantwortlich. Der vorliegende Beitrag stellt einige ausgewählte Arbeiten der ver-
gleichenden Regionenforschung in Deutschland vor und diskutiert die Vorteile, die mit
einer vergleichenden Regionenforschung f€ur die Politikwissenschaft verbunden sind.

Schlüsselwörter
Subnationale Analyse • Institutionen • Staatstätigkeit • Politische Kultur

1 Einleitung

Die deutsche Politikwissenschaft zeigt mit Blick auf die Erforschung subnationaler
Gebietskörperschaften viele Jahre lang ein besonders ausgeprägtes Interesse an der
Blockademacht der Länder im Bundesrat, deren Einfluss auf die Bundespolitik und

T. Heinsohn (*)
Akademischer Rat, Lehrstuhl Politikwissenschaft II, Institut f€
ur Sozialwissenschaften, Universität
D€usseldorf, D€usseldorf, Deutschland
E-Mail: till.heinsohn@uni-duesseldorf.de
M. Freitag
Professor f€ur Politische Soziologie, Institut f€
ur Politikwissenschaft, Universität Bern, Bern,
Schweiz
E-Mail: markus.freitag@ipw.unibe.ch

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 385


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_29
386 T. Heinsohn und M. Freitag

ihre generelle Handlungsfähigkeit.1 Einschlägige Studien bewerten die Funktions-


weise und die Leistungsfähigkeit des deutschen Föderalismus dabei meist skeptisch
und gelangen zur Erkenntnis, dass politische Steuerung im föderalen System
Deutschlands nur sehr bedingt möglich sei. Insbesondere die Politikverflechtung
(Benz 1995; Scharpf 1994; Scharpf et al. 1976) und die institutionellen Verwerfun-
gen zwischen Parteiensystem und föderalen Organisationsprinzipien (Lehmbruch
2000) w€ urden zu Blockadegefahren f€uhren und damit Reformstau und suboptimale
Politikresultate hervorbringen. Hinzu kommen die mangelnde Finanzautonomie der
Länder (Schmid 2001), der zentralstaatliche Aufgabenzuwachs (Abromeit 1992),
der unzureichende Wettbewerbsföderalismus (Renzsch 1997) und die Kompensation
des Kompetenzzuwachses des Bundes durch verstärkte Beteiligungsrechte der Län-
der (Scharpf 1994) als Folge dysfunktionaler institutioneller Strukturen des koope-
rativen Föderalismus der Bundesrepublik Deutschlands. In Anbetracht des dominan-
ten wissenschaftlichen Interesses am Mit- und Gegeneinander der gemeinsamen
Handlungsebene von Bund und Ländern stellt Blancke (2004, S. 42) eine „ausge-
prägte Landesblindheit der deutschen Föderalismusforschung“ fest. Abgesehen von
wenigen Ausnahmen bleiben sowohl die einzelnen politischen Institutionen als auch
die materiellen Politiken der Bundesländer zunächst unber€ucksichtigt und stellen
eine terra incognita der deutschsprachigen politikwissenschaftlichen Forschung dar.
Mit Blick auf die aktuellsten Entwicklungen der Disziplin, hat sich die Situation
nach und nach gewandelt. Die Erforschung subnationaler Einheiten €uber die deut-
schen Bundesländer hinaus entpuppt sich in j€ungster Zeit zunehmend als ein facet-
tenreiches Feld der vergleichenden Politikwissenschaft (Freitag und Vatter 2010;
Snyder 2001). Diese Entwicklung lässt sich zweifelsfrei an der gewachsenen Bedeu-
tung der Regionen festmachen, die darauf zur€uckzuf€uhren ist, dass zahlreiche
politische Maßnahmen auf regionaler Ebene gestaltet und vollzogen werden. Zum
anderen werden die Regionen und das Regionalbewusstsein im Zuge einer fort-
schreitenden europäischen Integration und dem zunehmenden Bedeutungsverlust
der Nationalstaaten zu einer immer wichtigeren Konstante und Bezugspunkt im
Leben der B€ urger.
Eine Region bezeichnet dabei im weitesten Sinne eine spezifizierbare geogra-
phisch-räumliche Einheit mittlerer Größe, die sich strukturell und funktional durch
bestimmte homogene Merkmale nach Außen abgrenzen lässt (Leser et al. 2001): In
struktureller Hinsicht beziehen sich homogene Merkmale einer Region zum Beispiel
auf physisch-geographische Gegebenheiten, auf ethnische, sprachliche, kulturelle
oder religiöse Gemeinsamkeiten, auf die gemeinsame Vergangenheit oder auch auf
ökonomische Strukturen, die eine Region prägen (Hölcker 2004, S. 13). In funk-
tionaler Hinsicht lassen sich in Anlehnung an Pag und Schmuck (1994, S. 10) vier –
der strukturellen Betrachtung nicht unähnliche – Kardinalfunktionen ausmachen.

1
Die Ausf€uhrungen zu den Entwicklungslinien und dem Forschungsstand beruhen auf den
Vor€uberlegungen von Freitag und Vatter (2008b) und Freitag et al. (2010).
Vergleichende Regionenforschung in der Politikwissenschaft 387

Diese schließen neben der Kulturregion, der Wirtschaftsregion und der Verwaltungs-
region auch die durch kollektive soziale oder politische Erfahrungen einende Sozial-
region mit ein. Gemäß Hölcker (2004, S. 13) findet sich „angesichts fließender
Übergänge zwischen den einzelnen Homogenitätskriterien und den regionalen
Funktionen“ in der Literatur ein weitgehend pragmatischer Ansatz zur Erforschung
von Regionen. Dieser grenzt Region als subnationales Untersuchungsfeld aber in
jedem Fall zu einer €ubergeordneten territorialen Einheit ab. Werden dazu zwei oder
mehrere Regionen miteinander in Beziehung gesetzt und wird damit beabsichtigt,
Identität, Gleichheit, Ähnlichkeit oder Verschiedenheit zwischen den Regionen
entlang bestimmter Merkmale herauszuarbeiten, handelt es sich nach unserem Ver-
ständnis um eine vergleichend angelegte Regionenforschung. Diese Forschungsan-
lage wartet mit zahlreichen Vorteilen auf, die sie f€ur die Sozialwissenschaften zu
einer wichtigen Bereicherung und auch in Deutschland zu einer immer beliebteren
Forschungsstrategie werden lässt. Der vorliegende Beitrag greift ausgewählte Stu-
dien der vergleichenden Regionenforschung zu Institutionen, Staatstätigkeiten und
politischer Kultur in Deutschland auf und stellt daran anschließend die Vorteile der
vergleichenden subnationalen Analyseperspektive heraus.
In Anbetracht der Einschränkung des Forschungsstandes auf Studien zu Deutsch-
land muss selbstverständlich angemerkt werden, dass die vergleichende Regionen-
forschung €uberall dort ihre Anwendung erfährt, wo föderale Strukturen eines Staates
die Voraussetzungen daf€ur schaffen. Neben zahlreichen hier keine Erwähnung find-
enden Arbeiten im US-amerikanischen Kontext stellen unter anderen die Studien von
Keating (1998) und Vatter (2002) Standardwerke der vergleichenden Regionenfor-
schung dar und bieten vertiefende Einblicke in den Forschungsbereich außerhalb
Deutschlands. Michael Keating zeichnet in The New Regionalism in Western Europe
etwa das Bild eines neu konfigurierten und verstärkt auftretenden Regionalismus in
Westeuropa, welcher insbesondere durch zwei Faktoren gekennzeichnet ist: Zum
einen enden Regionen nicht an nationalstaatlichen Grenzen, sondern reichen €uber
diese hinaus. Regionen stellen in der europäischen und internationalen Politik somit
unabhängige Akteure dar und bilden eigenständige politische Arenen, in denen
Probleme benannt, Politiken debattiert und Maßnahmen umgesetzt werden. Zum
anderen finden sich die Regionen in einem Wettstreit untereinander wieder, der nicht
länger durch die Nationalstaaten alleine moderiert wird. So haben Globalisierung und
europäische Integration dem traditionellen Handel, bei dem die Regionen ihre poli-
tische Unterst€
utzung gegen den Schutz vor dem Weltmarkt und f€ur staatliche Zusch€us-
se eintauschten, gewissermaßen die Grundlage entzogen. In Kantonale Demokratien
im Vergleich wiederum wirft Adrian Vatter einen Blick auf die 26 Schweizer Kantone
und stellt diese als einzigartiges Forschungslabor auf kleinem Raum dar, welches
ideale Bedingungen f€ur vergleichende politikwissenschaftliche Analysen bildet. Seine
Ausf€ uhrungen widmen sich zunächst der Beschreibung und der Analyse der Ent-
stehungsgr€unde, Interkationen und Wirkungen ausgewählter politischer Institutionen
in den Schweizer Kantonen. Unter Zuhilfenahme politisch-institutioneller Hypothesen
legt der Autor schließlich ein besonderes Augenmerk auf die Ursachen f€ur Regie-
rungsstabilität, Parteienfragmentierung und die Nutzung der direkten Demokratie.
388 T. Heinsohn und M. Freitag

2 Zum Stand der vergleichenden Regionenforschung in


Deutschland

Zur besseren Übersicht bietet es sich zunächst an, die Vielzahl an Studien zur vergleich-
enden Regionenforschung in Deutschland verschiedenen Bereichen zuzuordnen. Diese
erfassen Studien zur politischen Institutionenforschung, zur Staatstätigkeitsforschung
und schließlich Forschungsarbeiten, die sich mit politischer Kultur und den politi-
schen wie sozialen Einstellungen der B€urgerinnen und B€urger auf subnationaler
Ebene auseinandersetzten. Zudem erfordert der Rahmen dieses Beitrags eine Be-
schränkung der Ausf€uhrungen zum Forschungsstand auf einige ausgewählte und aus
unserer Sicht besonders wegweisende Studien, die sich vielfach auf die deutschen
Bundesländer beziehen.
Die Urspr€ unge der politischen Institutionenforschung auf regionaler Ebene in
Deutschland sind eng mit dem komparativen Konzept der Konkordanz- und Kon-
kurrenzdemokratie von Gerhard Lehmbruch (1967) verbunden. Nebst einer Vielzahl
kommunaler Einzelfalluntersuchungen gehen dabei insbesondere die Studien von
Cusack (1999) und Holtkamp (2006) einen wichtigen Schritt in die Richtung einer
systematisch vergleichenden Analyse subnationaler und kommunaler Institutionen.
Während Thomas R. Cusack die Vetospielertheorie von Tsebelis (2002) anhand der
unterschiedlichen Kommunalverfassungen in Deutschland zu €uberpr€ufen ersucht,
widmet sich Lars Holtkamp der Frage nach den Ursachen f€ur die augenscheinlich
ausgeprägte konkordanzdemokratische Akteurskonstellation auf kommunaler
Ebene. Beide Studien bedienen sich der Einteilung in Konkordanz- und Konkurrenz-
demokratien und lassen die weniger schwierig operational zu fassende Unterschei-
dung von Mehrheits- und Konsensusdemokratie weitgehend außer Acht. Diese auf
Lijphart (1984; 1999) zur€uckgehende Kategorisierung fokussiert anstelle von
zumeist informellen institutionellen Arrangements zudem stärker auf zentrale und
messbare politisch-institutionelle Konfiguratoren (Freitag et al. 2010, S. 11). So
bedienen sich beispielsweise Freitag und Vatter (2008a) der Lijphartschen Kon-
zeption als analytische Folie und verorten die 16 deutschen Bundesländer auf einem
Kontinuum zwischen Konsensus- und Mehrheitsdemokratie. Auf diese Art und
Weise werden insgesamt acht politisch-institutionelle Konfiguratoren systematisch
und komparativ erörtert und regional unterschiedliche Demokratiemuster identifi-
ziert. Auch Wehling (2004), Leunig (2007) und Gunlicks (2003) liefern aufschluss-
reiche Erkenntnisse €uber die Institutionenordnung in den deutschen Gliedstaaten.
Hans-Georg Wehling stellt die 16 deutschen Bundesländer etwa anhand ihrer politi-
schen Verhältnisse (Verfassung, Parteien, Wahlen und Verwaltungsaufbau) vor und
nimmt den deutschen Föderalismus in seiner spezifischen Ausprägung, seiner ge-
genwärtigen Gestalt, seiner Entwicklung, seinen Problemen und Reformperspekti-
ven genauer unter die Lupe. Die Regierungssysteme der deutschen Länder und die
darin vorherrschende institutionelle Vielfalt sind Gegenstand der Forschungen von
Sven Leunig. Arthur Gunlicks richtet sein Augenmerk zusätzlich auf die Rolle und
die Funktionsfähigkeit der Länder im europäischen Kontext und stellt fest, dass die
Länder aktiv auf die Herausforderungen der europäischen Integration reagieren.
Bemerkenswert sind auch die systematischen und umfassenden Darstellungen di-
Vergleichende Regionenforschung in der Politikwissenschaft 389

rektdemokratischer Elemente in den deutschen Bundesländern bei Eder (2010), Kost


(2005) und Weixner (2006). Christina Eder erörtert, inwiefern institutionelle Regel-
ungen zur Volksgesetzgebung die Nutzung der Volksrechte, sprich: die Anwen-
dungshäufigkeit der Volksbegehren und -initiativen beeinflussen. Zudem analysiert
sie die Bedingungskonstellationen erfolgreicher Volksentscheide. Während die erste
Analyse die Verhältnisse sowohl in den 16 deutschen Bundesländern als auch in den
24 Schweizer Kantonen und in 24 US-Bundesstaaten durchleuchtet, fokussiert die
zweite Untersuchung ausschließlich auf die deutschen Bundesländer. Dar€uber hin-
aus stellen die Arbeiten von Flick (2011) zu den Landesverfassungsgerichten, sowie
von Schniewind (2012) zu den Parteiensystemen in den Bundesländern und Hein-
sohn (2014) zur Mitgliederfluktuation in den Länderparlamenten einen ansehnlichen
Beitrag der vergleichenden politischen Institutionenforschung auf regionaler Ebene
in Deutschland dar. Der Beitrag von Martina Flick liefert dabei vergleichende Ein-
blicke in das Beziehungsgeflecht der obersten Landesorgane und geht der Frage
nach, wie sich die Interaktion zwischen Regierung, Opposition und Verfassungsge-
richtsbarkeit auf Bundesländerebene gestaltet. Flick veranschaulicht die Beziehun-
gen der genannten Akteure am Beispiel der Organstreitverfahren. Organstreitver-
fahren bieten einerseits den Verfassungsgerichten die Möglichkeit, das Verhältnis
zwischen den staatlichen Organen von Regierung und Opposition zu beeinflussen.
Andererseits können sie als Mittel der parteipolitischen Auseinandersetzung rubri-
ziert werden, wenn oppositionelle Kräfte ihre verfassungsmäßige Position sichern
möchten oder Maßnahmen der Regierung anzufechten gedenken. Der Fokus der
Arbeit von Aline Schniewind liegt auf der Fragmentierung, der Polarisierung und
der Volatilität von Parteiensystemen. Ferner analysiert sie die Determinanten dieser
Merkmalsgrößen und ordnet die verschiedenen Parteiensysteme der deutschen Bun-
desländer in Typologien. Till Heinsohn wiederum stellt sich die Frage nach dem
Bestand und den Ursachen der Elitenzirkulation in den Parlamenten der deutschen
Bundesländer. Seine Auswertungen beziehen sich hierbei auf jene politisch-
institutionellen Makrogrössen, die sich bereits in der bisherigen zumeist internatio-
nal vergleichenden Forschung als erklärungsrelevant erwiesen haben. Die dar€uber
hinaus praktizierte Verschmelzung von Makro- und Mikrodaten versucht, die indi-
viduellen Wahrscheinlichkeiten eines R€ucktritts, eines Kandidaturverzichts und
einer Abwahl im Zeitraum zwischen 1990 und 2012 zu erklären. Nicht zuletzt sind
die Ausf€ uhrungen von Bogumil und Holtkamp (2013) zur Kommunalverwaltung zu
nennen. Nebst einer Erörterung aktueller kommunalpolitischer Problemlagen und
Entwicklungen stellen sich die Autoren der Frage nach den Auswirkungen auf
Handlungsspielräume, Entscheidungsstrukturen- und prozesse.
Mit Blick auf die vergleichende Staatstätigkeitsforschung und die Erklärung
unterschiedlicher politischer, gesellschaftlicher und soziökonomischer Performan-
zen auf subnationaler Ebene stellte die Pionierstudie von Manfred G. Schmidt
(1980) zum Einfluss der parteipolitischen Regierungszusammensetzung auf die
Bildungs- und Beschäftigungspolitik der Länder lange Zeit eine der wenigen Aus-
nahmen der vergleichenden Policy-Analyse dar. Zentraler Befund der Studie ist, dass
zwischen SPD- und CDU-dominierten Länderregierungen durchaus Unterschiede
bestehen. Die deutlichsten Differenzen finden sich bei den Ressourcen-Transfers ins
390 T. Heinsohn und M. Freitag

Bildungswesen, in den öffentlichen Sektor und in den Bereich der inneren Sicher-
heit. Diese Politikbereiche sind unter SPD-Regierungen materiell und personell
besser ausgestattet als unter CDU-Regierungen, während bez€uglich der
Ressourcen-Transfers in das Verkehrswesen und in die regionale Wirtschaftsför-
derung kaum Unterschiede auszumachen sind. Ebenfalls gibt es in wirtschaftlichen
Krisenzeiten keine nennenswerten Differenzen in der Ausgaben- und Bildungspoli-
tik zwischen SPD- und CDU-gef€uhrten Ländern. Seit der Wiedervereinigung ge-
winnt dieser Forschungszweig aber zunehmend an Bedeutung. Analysen der Indus-
trie- und Arbeitsmarktpolitik decken beachtliche Differenzen zwischen den
Strategien der einzelnen Bundesländer in Ost- und Westdeutschland auf. Als Ur-
sachen f€ ur die regionalen Unterschiede in der Arbeitsmarktpolitik werden unter
anderem wirtschaftsstrukturelle, fiskalische und politische Faktoren angef€uhrt (Blan-
cke 2004; Schmid 2001; Schmid und Blancke 2001). Ein besonderes Interesse gilt
auch der Erörterung der ungleichen fiskalpolitischen Ausrichtung einzelner deut-
scher Gliedstaaten. Im Unterschied zu Autoren wie Galli und Rossi (2002) oder auch
Seitz (2000) sehen Wagschal und Wenzelburger (2008) hier einen Zusammenhang
zwischen den parteipolitischen Farben der regierenden Parteien und dem Zuwachs
der Verschuldung eines Bundeslandes pro Kopf. Nicht €uberraschend finden sich
auch einige Arbeiten zur Bildungspolitik in den Ländern (Schlicht 2010; Schniewind
et al. 2010; Wolf 2006). Auf diesem Politikfeld genießen die Bundesländer noch
weitgehende Handlungsautonomie, was nicht nur aus methodischen Gr€unden die
politikwissenschaftliche Analyse staatlichen Handelns reizvoll macht. Abschließend
sei hier auch noch auf die Studie von Julia von Blumenthal (2009) verwiesen, die
sich auf eindr€ uckliche Art und Weise den bundesländereigenen Entscheidungsproz-
essen zur Kopftuchfrage widmet und zeigt, dass nicht der Parteienwettbewerb allein,
sondern historisch-kulturelle Unterschiede zwischen den Ländern die Entscheidung
€uber das Kopftuchverbot erklären.
Die Forschungen von Haus (2002), Huschka (2002) und Vetter (2002) wiederum
liefern vertiefende und komparativ angelegte Einblicke in die politische Kultur und
die politischen wie sozialen Einstellungen der B€urgerinnen und B€urger auf subna-
tionaler Ebene in Deutschland. Denis Huschka zeichnet mittels eines R€uckgriffs auf
25 Indikatoren aus den unterschiedlichsten Lebensbereichen ein detailliertes Bild
bestehender Niveauunterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern. Bedauer-
licherweise lässt die Studie dabei aber eine systematische Analyse der Bestim-
mungsgr€ unde unterschiedlicher Lebensqualität vermissen. Im Zuge der Sozialkapi-
talforschung widmen sich Blume und Sack (2008) sowie Freitag und Traunm€uller
(2008) den regionalen sozialen Partizipationsmustern, Vertrauensbeständen und
Reziprozitätsnormen auf subnationaler Ebene. Dabei fördern die f€ur die unterschied-
lichen Formen sozialen Kapitals getrennt erfolgenden Bestandsaufnahmen erheb-
liche regionale Unterschiede zu tage. Die ermittelten Sozialkapitalmuster lassen sich
auf unterschiedliche kulturelle und strukturelle Bedingungen zur€uckf€uhren und
gehen auch mit unterschiedlichen Wirkungen f€ur die politische, ökonomische und
soziale Performanz einer Region einher (Freitag und Traunm€ uller 2008). Inzwischen
findet sich eine Vielzahl politisch-soziologischer Forschungen, die streng kompara-
tiv auf subnationaler Ebene operieren. Hierzu zählt die Studie zu politischen Orien-
Vergleichende Regionenforschung in der Politikwissenschaft 391

tierungen im regionalen Kontext von van Deth und Tausendpfund (2013). Laut
dieser trägt die lokale Ebene dazu bei, die Legitimität des politischen Systems zu
stärken und das Vertrauen in die Demokratie zu fördern, weil die räumliche Nähe
intensivere Kontakte mit Politikern erleichtert, mehr Möglichkeiten der Beteiligung
bietet und eine größere Vertrautheit mit dem politischen Prozess erlaubt. Magin
(2010) beleuchtet die Beteiligung von Frauen in der Kommunalpolitik und geht den
Unterschieden auf den Grund, die zwischen den Parlamenten der 436 Landkreise
und kreisfreien Städte in Deutschland bestehen. Besonders „frauenfreundliche“
Kreise zeichnen sich demnach durch ein hohes Wohlstandsniveau aus und wählen
ihre Vertretung in großen Wahlkreisen. Dar€uber hinaus zeigen freiwillige partei-
interne Quoten eine positive Wirkung, aber auch ein verstärkter Wettbewerb zwi-
schen den Parteien kommt der Frauenrepräsentation zugute. R€uckenwind f€ur Kom-
munalpolitikerinnen scheint es weiterhin dort zu geben, wo es ein gut ausgebautes
Kinderbetreuungsangebot gibt, wo Frauen sich verstärkt in Freiwilligenorganisatio-
nen engagieren und wo sich traditionelle Partnerschaftsmodelle auf dem R€uckzug
befinden. Die kontrovers gef€uhrte Debatte €uber den Zusammenhang zwischen kul-
tureller Vielfalt und sozialem Zusammenhalt greifen Gundelach und Traunm€uller
(2010) in ihrer Forschung auf. Die empirischen Ergebnisse liefern erste Belege
daf€ur, dass kulturelle Heterogenität auch in Deutschland eine erhebliche Herausfor-
derung f€ ur die sozialen Bindekräfte darstellt. Unterschiedliche Spendenkulturen in
den deutschen Landkreisen und kreisfreien Städten sind Gegenstand der Unter-
suchungen von Stadelmann-Steffen und Traunm€uller (2010). Laut ihrer Erkenntnis
unterscheiden sich die deutschen Landkreise und kreisfreien Städte nicht nur hin-
sichtlich des Anteils Spendender. Unterschiede lassen sich auch mit Blick auf die pro
Kopf geleistete Spendenhöhe ausmachen und sind durch einen Mix aus sozio-
ökonomischen, kulturellen und politischen Faktoren zu erklären. Abschließend sei
an dieser Stelle noch auf die Studie von Franzen und Botzen (2011) verwiesen,
welche sich der Beziehung zwischen Vereinen und dem Wohlstand von Regionen
widmet und darlegt, dass Kreise mit einer hohen Vereinsdichte auch €uber ein hohes
Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner verf€ugen.

3 Die Vorteile der vergleichenden Regionenforschung

Die stetig wachsende Beliebtheit der vergleichenden Regionenforschung lässt sich


unter anderem darauf zur€uckf€uhren, dass die subnationale Analyseperspektive aus
methodischer Sicht neue und vielversprechende Potentiale f€ur die vergleichende
Politikwissenschaft bereithält. Nach Snyder (2001) kommen diese Potenziale insbe-
sondere mit Blick auf Forschungsdesign, Messung und Theoriebildung zur Geltung
(siehe hierzu ausf€
uhrlich: Heinsohn und Freitag 2011 sowie Freitag et al. 2010).
Mit Blick auf das Forschungsdesign stellt der subnationale Vergleich der kom-
parativen Politikwissenschaft zum Beispiel eine besonders effiziente Strategie zur
Verbesserung des Verhältnisses zwischen erklärenden Variablen und Fällen dar
(Lijphart 1975, S. 159; Snyder 2001, S. 94; Trounstine 2009). Die subnationale
Analyseperspektive gewinnt ihren Mehrwert hier durch die vergleichsweise einfache
392 T. Heinsohn und M. Freitag

Erweiterung des Analysefokus. Spielen wir etwa mit dem Gedanken, den Einfluss
von politisch-institutionellen Faktoren auf die aggregierten Fluktuationsraten in den
drei nationalstaatlichen Parlamenten Deutschlands, Österreichs und der Schweiz zu
schätzen, so stehen wir sehr schnell vor dem Problem, dass f€ur die Durchf€uhrung
eines solchen statistischen Tests ausreichend Informationen in Form von unabhän-
gigen Beobachtungen erforderlich sind. Stehen diese Informationen nicht in
ausreichender Anzahl zur Verf€ugung – wie im Beispiel von nur drei nationalstaat-
lichen Parlamenten – sind stichhaltige Aussagen €uber den Untersuchungsgegenstand
bei Vorliegen zu vieler Erklärungsfaktoren nicht möglich (Ebbinghaus 2009, S. 203;
Lauth et al. 2009, S. 272). Betrachten wir aber anstelle der drei Parlamente auf
nationalstaatlicher Ebene die insgesamt 51 Gliedstaatenparlamente auf Bundeslän-
der- und Kantonsebene, so haben wir auf einen Schlag ausreichend Informationen
f€ur eine verlässliche statistische Schätzung politisch-institutioneller Einflussgrößen
zur Verf€ ugung. Hinzu kommt, dass sowohl bei innerstaatlichen (»Within-Nation-
Comparisons«) als auch bei zwischenstaatlichen (»Between-Nation-Comparisons«)
Vergleichen einander ähnlicher subnationaler Einheiten eine stärkere Kontrolle €uber
die eigentlich erklärenden Variablen durch eine Fixierung der nicht im Fokus des
Analyseinteresses stehender Einflussfaktoren erfolgt (Snyder 2001, S. 94–96;
Trounstine 2009). Auf der Suche nach politisch-institutionellen Determinanten
parlamentarischer Mitgliederfluktuation in den 51 subnationalen Parlamenten
Deutschlands, Österreichs und der Schweiz profitieren wir so zusätzlich durch die
weitgehende Homogenität der Untersuchungseinheiten hinsichtlich einer Vielzahl
nicht politisch-institutioneller Faktoren. Die mit dieser Fallauswahl einhergehende
Kontrolle ökologischer, historischer, kultureller, und sozioökonomischer Faktoren
ermöglicht also die gezielte und selektive Analyse der Zusammenhänge zwischen
politischen Institutionen und dem Ausmaß parlamentarischer Mitgliederfluktuation.
Auch hinsichtlich der Messung eröffnet die vergleichende Regionenforschung
vielversprechende Perspektiven und Einsichten. Stein Rokkan (1970, S. 49) hat zu
Recht auf die Gefahr der Verschleierung vorliegender subnationaler Heterogenität
durch den R€ uckgriff auf nationale Durchschnittswerte oder Aggregatdaten in quali-
tativen und quantitativen Arbeiten hingewiesen. Die vergleichende subnationale
Analyseperspektive tritt dieser als »whole-nation-bias« bezeichneten Gefahr explizit
entgegen, indem sie genau diesen regionalen Differenzen und Komplexitäten
gerecht wird (Lijphart 1975). Fehlerhafte Kodierungen und das Ziehen scheinbar
existierender, aber tatsächlich falscher, kausaler Zusammenhänge können so um-
gangen werden. Dar€uber hinaus wird durch die vergleichende subnationale Analy-
seperspektive vermieden, dass die Charakterisierung eines Nationalstaats aus-
schließlich auf Basis des Wissens um eine subnationale Einheit erfolgt, €uber die
bereits besonders viele Erkenntnisse vorliegen oder die aufgrund ihrer Wesensz€uge
besonders ins Auge sticht. Aus solchen »invalid-part-to-whole mappings«, also dem
fälschlicherweise angenommenen R€uckschluss von den Entwicklungen eines (mög-
licherweise nur scheinbar) repräsentativen, regionalen Analysefalls auf den Natio-
nalstaat, können Fehlkodierungen resultieren, die Bem€uhungen zur Deskription,
dem Aufsp€ uren kausaler Inferenzen und schließlich auch der Theoriebildung abträg-
lich sind (Snyder 2001, S. 99).
Vergleichende Regionenforschung in der Politikwissenschaft 393

Zuletzt ist der subnationale Vergleich auch hinsichtlich der Theoriebildung mit
weitreichenden Potenzialen verbunden. So bietet die vergleichende Regionenfor-
schung die Aussicht auf ein besseres Verständnis f€ur politische Strukturen, Prozesse
und Inhalte auf nationaler Ebene, da diese von subnationalen Akteuren maßgeblich
beeinflusst und mitbestimmt werden. Dar€uber hinaus wird der subnationale
Vergleich dem stetig zunehmenden Interaktionsprozess zwischen nationalen und
subnationalen Akteuren gerecht. Durch die explizite und genaue Erfassung dieser
Austauschprozesse entsteht ein besseres Verständnis f€ur die Entwicklungen und
Strukturen auf allen staatlichen Ebenen (Snyder 2001, S. 100). Zuletzt macht die
vergleichende Regionenforschung auch den Blick f€ur die sich auf subnationaler
Ebene in unterschiedlicher Form und variierendem Ausmaß vollziehenden ökono-
mischen und politischen Wandlungs- und Diffusionsprozesse frei. Die sich somit
ergebende Sensibilität f€ur die tatsächlichen, regional unterschiedlichen Gegeben-
heiten und dar€ uber hinaus möglicherweise vorliegenden dynamischen Wechselwir-
kungen zwischen den staatlichen Einheiten eröffnet große Potenziale hinsichtlich der
Deskription und der Theoriebildung (Snyder 2001, S. 103). So sprechen Hilde-
brandt und Wolf (2008, S. 14–15) Regionen zu Recht den Charakter eines wert-
vollen Laboratoriums f€ur den Test und die Weiterentwicklung von Theorien zu, in
welchem eine urspr€unglich f€ur den nationalen Fall entwickelte Theorie auch f€ur die
subnationale Ebene auf den Pr€ufstand gestellt werden kann (Snyder 2001, S. 95).
Eine sich mitunter ergebende analytische Problemstellung des subnationalen Ver-
gleichs stellt dabei aber die bisweilen nicht immer gewährleistete Unabhängigkeit
der Untersuchungsfälle dar, die insbesondere durch Diffusionsprozesse eine beson-
dere Herausforderung erfährt.

4 Ausblick

Die einstmals zu beobachtende Dominanz am Mit- und Gegeneinander der gemein-


samen Handlungsebene von Bund und Ländern ist nach und nach einer zunehm-
enden Ausdifferenzierung der Regionenforschung gewichen. Unzweifelhaft schließt
diese Entwicklung den vermehrten R€uckgriff auf die vergleichende Analyseper-
spektive mit ein. Dabei sollte die Vielzahl der vorgestellten Studien zu Institutionen,
Staatstätigkeit und politischer Kultur nicht dar€uber hinwegtäuschen, dass die viel-
versprechenden Potentiale der vergleichenden subnationalen Analyseperspektive
bez€uglich des Forschungsdesigns, der Messung und der Theoriebildung bei weitem
noch nicht ausgeschöpft wurden. Einer der benannten Vorteile besteht zum Beispiel
in der vergleichsweise einfachen Ausweitung des Analysefokus. Denn mit einer
steigenden Anzahl an Beobachtungen erhöht sich der Informationsgehalt der Er-
gebnisse. Dar€ uber hinaus geht mit der subnationalen Perspektive eine Reduktion
möglicher erklärender Variablen einher, weil Regionen Ähnlichkeiten aufweisen, die
f€
ur die Erklärung des interessierenden Phänomens in der Folge ausgeschlossen
werden können. Hinzu kommt, dass die regionale Perspektive der Verschleierung
subnationaler Heterogenität entgegengewirkt und häufig fehlleitend gezogenen
R€uckschl€ussen von einem als repräsentativ angenommenen Bundesland auf die
394 T. Heinsohn und M. Freitag

Gesamtheit der Gliedstaaten die Grundlage entzieht. Insbesondere f€ur föderale


Staaten ist dabei anzunehmen, dass Dynamiken zwischen den verschiedenen Ebenen
bestehen. Diesen Wechselwirkungen kann durch eine subnationale Perspektive auf
den Grund gegangen werden. Zuletzt bieten sich regionale Einheiten als theoreti-
sches Versuchslabor f€ur die Erkenntnisse an, die sich auf nationalstaatlicher Ebene
erhärtet haben, jedoch weiterer Überpr€ufung bed€urfen.
Neben den mittlerweile vorangeschrittenen Analysen zu Institutionen und mate-
riellen Politiken ist hier in erster Linie an eine vertiefende und vergleichend ange-
legte Erforschung regionaler politischer Kulturen zu denken. Vor dem Hintergrund der
steigenden Verf€ ugbarkeit sozialwissenschaftlicher Daten mit ansehnlichen Befrag-
tenzahlen wären Forschungsvorhaben zum Bestand, den Konsequenzen und den
Weichenstellungen verschiedener politisch-kultureller Parameter im regionalen
Kontext w€ unschenswert und im Vergleich zu fr€uheren und weniger informationsge-
sättigten Perioden durchaus umsetzbar. Auf diesem Feld stärker fortgeschrittene
Studien aus dem italienischen, US-amerikanischen und Schweizer Kontext erbrin-
gen angesichts ähnlicher staatlicher Architekturen mitunter wertvolle Vorleistungen
(Born 2014; Franzen und Botzen 2014; Traunm€uller et al. 2012; Putnam 1993; 2000;
Rice und Sumberg 1997; Freitag 2014). Denkbar wären hier beispielsweise Unter-
suchungen zu politischen und sozialen Einstellungen, zu sozialen Integrationsmus-
tern oder zur Situation der Zivilgesellschaften in einer subnational-regionalen
Auslegeordnung.
In diesem Zusammenhang wäre eine größere Anschlussfähigkeit an den inter-
nationalen Forschungsstand erstrebenswert. Dies schließt eine Ausweitung des For-
schungsinteresses mit ein, welches sich nicht auf die subnationalen Einheiten inner-
halb der Grenzen Deutschlands beschränkt, sondern dar€uber hinausreicht. Denn
wenn Nationalstaaten nach Keating (1998) zunehmend ihre urspr€ungliche Rolle
als Bezugsrahmen verlieren und die Regionen untereinander in einen Wettbewerb
treten, dann versprechen beispielsweise Analysen zu den NUTS-Regionen (siehe
hierzu exemplarisch: Charron und Lapuente 2013 oder Schneider et al. 2000), die
eben diesen Entwicklungen Rechnung tragen, besonders aufschlussreiche Einblicke.
Ziel der vergleichenden Politikwissenschaft sollte in den nächsten Jahren folglich
sein, die bestehenden Potenziale der vergleichenden Regionenforschung voll auszu-
schöpfen und die existierenden Forschungsl€ucken nach und nach zu schließen.

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Kommunalforschung in der Vergleichenden
Politikwissenschaft

Norbert Kersting

Zusammenfassung
Kommunalforschung untersucht angesichts hoher Diversität der kommunalen
Einheiten und ihrer Pfadabhängigkeiten und Beharrungsmechanismen, die sich
in Zentralisierung und administrativer Kultur manifestieren, vor allem internatio-
nale Trends in Richtung Konvergenz und Isomorphismus. Globale Reformagen-
den werden lokal aufgegriffen und je nach nationalen Ausgangsbedingungen im
Bereich der Verwaltungsreformen (Funktional- und Territorialreformen, Binnen-
reform der Kommunalverwaltungen), bei den politisch administrativen Reformen
(„vom lokalen Parlamentarismus zum lokalen Präsidentialismus“) und bei demo-
kratischen Innovationen in Form von neuen Beteiligungsinstrumenten („partizi-
pativer turn“) unterschiedlich aufgegriffen.

Schlüsselwörter
Kommunalpolitik • Partizipation • Verwaltung • Innovation • Mehrebenensystem

1 Einleitung

Vergleichende Kommunalforschung umfasst ein in zweifacher Hinsicht ambivalen-


tes Forschungsfeld. Sie kann einerseits auf der Polity-Ebene in unterschiedlichen
demokratischen – aber auch in autoritären Regimen – Divergenzen und Überein-
stimmungen in Verfassungsordnungen, bei Kommunalgesetzen und kommunale
Institutionen analysieren; sie kann sich auf die lokale Willensbildung, auf besondere
Einstellungsmuster und Handlungen im Politics-Bereich fokussieren und sie kann
letztendlich auch als eigenes Politikfeld mit besonderen Aufgabenzielen angesehen

N. Kersting (*)
Professor f€ur Vergleichende Kommunal- und Regionalpolitik, Institut f€
ur Politikwissenschaft,
Universität M€unster, M€unster, Deutschland
E-Mail: norbert.kersting@uni-muenster.de

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 399


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_31
400 N. Kersting

werden. Zudem beinhaltet vergleichende Kommunalforschung in Deutschland nicht


nur den Vergleich lokaler politischer Systeme in unterschiedlichen Regimen welt-
weit, sondern auch komparative Analysen zwischen unterschiedlichen Bundeslän-
dern und Regionen.
Abgesehen von den unterschiedlichen Facetten des Mehrebenensystems, in das
die lokale Ebene zumeist als Implementationsebene eingebunden ist, zeigen sich
„Regime-Eigenheiten“ bereits auf der lokalen Ebene. Hier können divergierende
institutionelle Grundlagen deutlich gemacht werden sowie politische Prozesse be-
trachtet und lokale Politikfeldanalysen entworfen werden. Im lokalen Bereich zeigen
sich ebenfalls klassische Mikro-, Meso- und Makroebenen. Auch wenn die lokale
politische Kulturforschung eher regionale Bez€uge hat, so lassen sich auf der lokalen
Ebene Einstellungsmuster von B€urgern, Lokalpolitikern und lokalen Eliten, Struktu-
ren organisierter Interessen in lokalen B€urgerinitiativen und Verbänden sowie Lokal-
parteien wie auch lokale Systemstrukturen analysieren. Letztendlich lassen sich im
lokalen Bereich ebenfalls Input-Strukturen wie zum Beispiel lokale Medien etc. von
Throughput-Strukturen, wie zum Beispiel Verwaltungen, und Output-Strukturen,
Outcomes und Impacts differenzieren.
Obwohl die Kommunalpolitik ein altes Forschungsfeld ist – die Forschergruppen
existieren in den nationalen und internationalen Fachverbänden seit deren Gr€undung-,
bleiben nationale wie international vergleichende Analysen sehr selten (Denters
und Rose 2005; Kersting et al. 2009). Im deutschen wie im internationalen
Bereich zeigen sich aufgrund der Vielzahl unterschiedlicher lokaler Strukturen,
vielfach divergierender politische Kulturen, aber auch unterschiedlicher Größen
lokaler Einheiten selten systematische Vergleiche. Das Verdikt des Sonderweges
und der Einzigartigkeit von unterschiedlichen Städten mit zum Teil weit €uber die
formalen Gemeindeordnungen hinausgehenden lokaler Eigenheiten behinderten
komparative Studien, die auch ein Vergleich der Leistungsfähigkeit unterschiedli-
cher Kommunalordnungen möglich gemacht hätten (Kersting 2004).
Die häufig konstatierte Einzigartigkeit lokaler Einheiten wird sowohl deutschen als
auch im internationalen Kontext hervorgehoben. Dabei wird bereits im deutschen
Bereich das „Lernen im föderalen System“ häufig erschwert. Dennoch gibt es seit der
Jahrtausendwende zunehmend vereinzelte Studien, die im Rahmen einer vergleich-
enden lokalen Regierungslehre Kommunalverfassungen in unterschiedlichen Bundes-
ländern analysierten (Holtkamp et al. 2006; Gissendanner und Kersting 2005).
Die vergleichenden Analysen im europäischen und im globalen Kontext stehen
somit €uber deutlich wichtiger werdende Globalisierungstendenzen zunehmend im
Fokus. Global zeigen sich ähnliche gesellschaftliche Megatrends, die – trotz diver-
gierender kultureller und struktureller Settings – zu ähnlichen Reaktionen und
Reformen f€ uhren. Dabei bleibt die Frage, inwieweit sich Kommunalpolitik zu
homogenen, isomorphen, konvergenten Strukturen entwickelt oder ob aufgrund
von unterschiedlichen Ausgangsbedingungen und oft hoher Pfadabhängigkeit bei
der Implementation die viel beschworene – und im Detail auch durchaus zutreffende
– „Einzigartigkeit“ der einzelnen Kommunen beibehalten wird. Damit hängt schließ-
lich zusammen, ob sich kommunalpolitische Typen und Entwicklungswege
aufzeigen lassen.
Kommunalforschung in der Vergleichenden Politikwissenschaft 401

2 Lokale Problemlagen und -lösungen

Städte waren und sind zunehmend durch Diversität geprägt: Sozialer Wandel (Abbau
von Milieus, Individualisierung, Mangel an sozialem Kapital), multikulturelle Struk-
turen, demographischer Wandel (graue Gesellschaft) sowie ökonomische Ungleich-
heit (Prekarisierung) nehmen zu. Der Wandel und die wachsende Ungleichheit
deuten auf eine gesellschaftliche Integrationskrise hin. Hieraus resultiert die Not-
wendigkeit zu sozialer Innovation und einem Diversity Management, das sich im
Spannungsfeld zwischen kultureller Angleichung und Förderung von Vielfalt
verorten muss (Häußermann et al. 2008; Kersting et al. 2009).
Auch die Kommunalpolitik steckt in einer Legitimitätskrise. Die Wahlbeteiligung
sinkt in Deutschland seit den Siebzigern kontinuierlich und hat auf kommunaler
Ebene ein sehr niedriges Niveau erreicht. Lokale Politik ist zudem mit zunehmen-
dem Protest konfrontiert. Die politische Unzufriedenheit – insbesondere mit den
politischen Parteien – manifestiert sich in zunehmender politischer Apathie und
Zynismus. Lokale Politik und lokale Verwaltungen reagieren darauf mit neuen
sozialen und politischen Beteiligungschancen. Kommunen werden Laboratorien
und Wegweiser f€ ur soziale und demokratische Innovation.
Weltweit zeigen sich unterschiedliche Trends und Phasen von Dezentralisierung
und Zentralisierung. Sie sind begleitet von Modernisierungswellen (Verwaltungsre-
form, Partizipative Reformen), die insbesondere die Kompetenzen der Räte
einschränken (Kommunaler Postparlamentarismus).

2.1 Kommunalpolitische Typen und Divergenz

In der folgenden Analyse sollen anhand der Kriterien administrative Orientierung,


Funktionalität, exekutive F€uhrerschaft und regionale Verortung Typen und dahin-
terliegende Regimetypen analysiert werden.

2.1.1 Divergenz: Unitarisierung oder Dezentralisierung?


Bei der Entwicklung unterschiedlicherkommunalpolitischer Typen im globalen,
europäischen und deutschen Kontext spielt insbesondere die Größe der kommunalen
Verwaltungseinheit eine zentrale Rolle. Hier zeigen sich gravierende Unterschiede
zwischen den verschiedenen Ländern, die in engem Zusammenhang zwischen dem
Dezentralisierungsgrad und der Autonomie f€ur die lokalen Einheiten stehen. In
einigen Ländern kann man deutlich von einer Überdimensionierung der lokalen
Einheiten sprechen, da die Gemeinden räumlich zu groß sind („oversized“) und zu
viele Einwohner umfassen (siehe zum Beispiel Großbritannien), in anderen sind die
Einheiten sehr klein („undersized“) und zum Teil dörflich strukturiert, so dass keine
funktionierenden politischen wie auch administrativen Einheiten gebildet werden
können (so etwa Frankreich). Die Frage, ob Kommunen „undersized“ oder „over-
sized“ sind, hat auf der einen Seite Auswirkungen auf die Zuordnung von Funk-
tionen und Aufgaben (Wollmann 2008; Kersting et al. 2009). Auf der anderen Seite
zeigen sich insbesondere in den Ländern mit sehr kleinen Kommunen starke
402 N. Kersting

Tendenzen in Richtung interkommunale Kooperation. Diese ist oft das Äquivalent


f€
ur nicht erfolgte oder fehlende Territorialreformen zur Schaffung handlungsfähiger
politischer kommunaler Einheiten.
Während in Deutschland die Zuordnung von Verwaltungsaufgaben trotz unter-
schiedlicher Gemeindegrößen beispielweise in Nordrhein-Westfalen und Bayern
weitgehend homogen ist, spielt im internationalen Bereich der Grad der Dezentra-
lisierung eine zentrale Rolle. So ist die Aufgabenzuordnung auf die lokale Ebene im
internationalen Vergleich sehr unterschiedlich. Insbesondere Politikfelder wie zum
Beispiel Bildung oder Gesundheit sowie weitere wohlfahrtstaatliche Politikbereiche
liegen in einigen Ländern in der Obhut der Kommunen (siehe Schweden), während
sie in anderen Ländern durch nationale oder regionale Träger mit entsprechenden
lokal tätigen Agenturen implementiert werden. Dezentralisierung vollzieht sich
zwischen den Polen der De-Konzentration, d. h. des Aufbaus von lokalen Einheiten
nationaler Agenturen, und der Devolution, also der Übertragung von Finanz- und
Ressourcenverantwortung auf die Kommune. Dies ist in vielen Ländern unterschied-
lich ausgeprägt (Kersting et al. 2009). Hinzu kommt, dass Kommunen häufig als
administratives ausf€uhrendes Organ vorrangig nationale und regionale Politiken
implementieren (siehe in Deutschland den €ubertragenen Wirkungskreis). Die Unter-
scheidung nach kommunalen Systemen mit hoher lokaler kommunaler Autonomie
auf der einen Seite und kommunalen Systemen, die Kommunen lediglich als im-
plementierendes Verwaltungsinstrument sehen, in dem auch die B€urger auf kommu-
naler Ebene keine oder nur geringe Mitspracherechte besitzen sollen, zeigt die
Spannbreite beim Vergleich der kommunalpolitischen Typen. Dabei hat die Aus-
richtung der Verwaltung als unabhängige administrative Einheit oder als politisches
Instrument Auswirkungen auf die Rekrutierung des Personals. Bei letzteren fließen
in hohem Maße politische Einflussfaktoren auch bei der Rekrutierung der Mitarbei-
ter mit ein (Kuhlmann und Wollmann 2013).

2.1.2 Multi- oder Monofunktionalität?


Die Größe der Kommune ist prägend f€ur deren Funktionsvielfalt. Dennoch unter-
scheiden sich im internationalen Kontext kommunale Systeme, die der lokalen
Ebene nahezu die gesamte Bandbreite staatlicher Politik €ubertragen. Kommunen
f€
uhren entweder weisungsabhängig von nationaler und regionaler Ebene oder in
kommunaler Autonomie in Abhängigkeit von den etatistischen Traditionen des
jeweiligen Landes eine unterschiedliche Bandbreite staatlicher Aufgaben aus (Pollitt
und Bouckaert 2000). Eine Vielzahl von Ländern hat insofern multifunktionale
Kommunen (s. zum Beispiel Deutschland und Schweden), während in anderen
Ländern den Kommunen lediglich ein kleiner begrenzter Bereich zugestanden wird.
Hier €ubernehmen andere staatliche Agenturen oder private Unternehmen diese
Aufgaben.
Diese funktionale Vielfalt prägt nicht nur die Anzahl der Beschäftigten auf der
lokalen Ebene, sondern auch deren Stellenwert. Die Bandbreite der Funktionen
wurde in den vergangenen Dekaden insbesondere durch Privatisierung oder Public
Private Partnership-Konzepte wie auch durch Dritte Sektor-Konzepte in einigen
Ländern deutlich reduziert (Peters 1995; Wollmann 2008). In einigen dieser Länder
Kommunalforschung in der Vergleichenden Politikwissenschaft 403

(vor allem auch in Deutschland) zeigen sich Trends zu Re-Kommunalisierung staat-


licher Aufgaben zum Beispiel im Bereich der Infrastruktur (Wasser, Strom).

2.1.3 Divergenz: Politische Ebene oder Administration?


Basierend auf der Größe der jeweiligen kommunalen Einheit und auf dem Grad der
Autonomie zeigen die kommunalen Formen der Selbstverwaltung deutliche Trends
in Richtung Präsidentialismus bzw. Parlamentarismus (Kersting 2004, 2008a). Auch
wenn – wie wir oben gesehen haben – lokale Demokratie häufig nicht als eigen-
ständiges Politikebene, sondern lediglich als implementierende Verwaltungseinheit
der höheren Ebenen definiert wird, so zeigte sich dennoch weltweit ein deutlicher
Trend in Richtung Präsidentialismus und starker Verwaltungsspitzen (strong mayor).
Zudem werden vor dem Hintergrund vielfältiger Proteste und einer deutlich werd-
enden Krise lokaler repräsentative Demokratie zunehmend direktdemokratische wie
auch deliberative Instrumente sowohl in stärker präsidentiellen, aber auch in stärker
parlamentarischen wie auch in Systemen mit deutlich ausgeprägter Verwaltungs-
dominanz offensichtlich.
Als ein zentraler Indikator f€ur die stärkere Ausprägung der administrativen
Strukturen kann die Größe der Räte angesehen sein. Stärker parlamentarisch ge-
prägte Systeme besitzen zumeist große Räte, die auf dem Prinzip der Repräsentation
von sublokalen Einheiten basieren (Egner et al. 2013). Sie haben zudem parlamen-
tarische Strukturen mit entsprechenden Kommissionen und Aussch€ussen. In den
Ländern mit stark ausgeprägter lokaler Verwaltungsstruktur sind die Räte oft deut-
lich kleiner und orientieren sich stärker an den funktionalen Erfordernissen einer
Gemeinde. Hier sind die Ratsmitglieder in der Regel häufig auch Teil der Exekutive
und verantwortlich f€ur kommunale Politikfelder.

2.1.4 Divergenz: Regionalkultur


Im europäischen Kontext haben sich nach Hesse und Sharpe (1991) drei zentrale
kommunalpolitische Systeme herausgebildet. In der sogenannten „Franco Group“,
zu dem neben Frankreich Italien, Spanien, Portugal, Griechenland auch Belgien
gehören, wird aufgrund der starken verfassungsgemäßen Verankerung die politische
Rolle der kommunalen Einheiten €uber die funktionale Rolle hervorgehoben. Gleich-
zeitig dominiert hier aber die zentrale formale Kontrolle durch die €ubergeordneten
Ebenen, und der kommunalen Ebene wird nur eine geringe Autonomie zugestanden.
Im sogenannten Anglo-Typus (Großbritannien, Irland) ist die kommunale Ebene
nicht verfassungsgemäß verankert. Hieraus ergibt sich – trotz starkem Zentralismus
– ein geringere Kontrolle im kommunalpolitischen Tagesgeschäft und somit eine
begrenzte Autonomie. Im dritten, dem nordeuropäischen und mitteleuropäischen
Typus zeigt sich zumeist eine hohe verfassungsgemäße Verankerung. Aufgrund der
Prinzipien der Subsidiarität, aufgrund geringer, aber eigener lokaler Steuern und
einer schwachen Kontrolle durch die €ubergeordneten Ebenen wird ein höheres Maß
an lokaler Autonomie sichtbar.
Diese klassische Dreiteilung wurde in unterschiedlichen Arbeiten erweitert und
revidiert (Kersting und Vetter 2003). So wurden mit der Demokratisierung in
Osteuropa die ehemaligen kommunistischen Länder mit einbezogen. Zudem wurden
404 N. Kersting

Aspekte wie Autonomie auch €uber weitere funktionale Kriterien im Output-Bereich


kommunaler Ausgaben und im Input-Bereich kommunaler Steuern €uberarbeitet. So
zeigt sich zum Beispiel in Ländern wie Ungarn und Litauen im Gegensatz zu Estland
eine deutlich stärkere kommunale Eigenverantwortung. Deutlich wird aber auch,
dass die Reaktion der europäischen Länder auf globale Trends in Richtung Privati-
sierung und Binnenmodernisierung und New Public Management wie auch in Bezug
auf partizipativen Reformen unterschiedlich sind. Neuere Typologien sehen weiter-
hin den frankophonen Typus (Kersting und Vetter 2003). Der angelsächsische Typ
definiert sich zunehmend als lokale Verwaltungseinheit und umfasst neuerdings zum
Teil auch die skandinavischen Länder sowie die Niederlande. Der mitteleuropäische
Typus beschränkt sich auf Deutschland und Österreich und ist stärker durch Demo-
kratisierungstrends gekennzeichnet (s. Kersting und Vetter 2003; Kuhlmann und
Wollmann 2013).

2.2 Kommunalpolitische Trends zur Konvergenz

Neben diesen Eigenheiten kommunaler Systeme in den unterschiedlichen Ländern,


die Pfadabhängigkeiten beschreiben, zeigen sich globale und regionale Trends, die
auf lokaler Ebene Innovation und Wandel initiieren. Diese laufen nicht immer
simultan bzw. zielgerichtet ab und sind zudem in einigen Ländern weniger stark
ausgeprägt. Sie tendieren aber eher zur Vereinheitlichung, zu einem Isomorphismus
und zur Konvergenz lokaler Systeme. Dabei geht es um globale Trends in Richtung
„lokaler Präsidentialismus“, zu „Binnenreform der kommunalen Verwaltungen“ und
zum „partizipativen turn“.

2.2.1 Konvergenz: „lokaler Präsidentialismus“


Trotz weiterhin existierenden Finanzhoheit der Räte zeigt sich mit der Direktwahl
der B€urgermeister, die zudem exekutive Funktionen besitzen, ein starker Trend in
Richtung Siegeszug der Strong Mayor-Verfassungen und lokalen präsidentiellen
Systemen (Kersting 2001; Kersting et al. 2009). Exekutive B€urgermeister sind bis
auf wenige Ausnahmen (wie z. B. Schweden, Frankreich) in vielen Ländern Euro-
pas wie auch im globalen Kontext (siehe zum Beispiel viele afrikanische und
lateinamerikanische Länder) auf dem Vormarsch. Selbst den klassischen parlamen-
tarischen Systemen, die allerdings auf der kommunalen Ebene oft eine starke
Ausrichtung auf exekutive Funktionen haben, wie zum Beispiel in Großbritannien,
wird in einigen Kommunen die Direktwahl der B€urgermeister implementiert. Diese
ähneln den Strong Mayor-Verfassungen in den USA, die der Verwaltungsspitze eine
zusätzliche Legitimation €uber die Direktwahl gewährt. Ausnahme bleiben vor allem
Länder mit starker parlamentarischer Tradition und gleichzeitiger starker Ausrich-
tung auf die Zivilgesellschaft bzw. Länder mit stark zentralistischen Eigenschaften.
Wie wir gesehen, haben sind eine Vielzahl von Kommunen und Ländern durch
eine Legitimationskrise des repräsentativen Systems und insbesondere durch eine
hohe Unzufriedenheit mit Parteien gekennzeichnet, die auf lokaler Ebene oft zu einer
hohen Fragmentierung der Lokalparteien gef€uhrt hat. In den Ländern, die eher aus
Kommunalforschung in der Vergleichenden Politikwissenschaft 405

dem parlamentarischen Bereich kommen, f€uhrte die Direktwahl der B€urgermeister


dazu, dass diese sich vermehrt nicht auf dominierende Parteien st€utzen können,
sondern sich gegen€uber anderen, auch kleineren Parteien öffnen m€ussen, um wieder-
gewählt zu werden. Hieraus ergibt sich häufig eine veränderte politische Ausrich-
tung der Exekutive, die z. B. deutlich offener gegen€uber neuen Beteiligungsinstru-
menten jenseits der repräsentativen Ratsarbeit ist (Bäck et al. 2006; Kersting
et al. 2009).
In Deutschland hat das am Präsidentialismus orientierte Modell der s€uddeutschen
B€urgermeisterverfassung starke B€urgermeister als chief executive officer (CEO)
entstehen lassen, ohne dem „Gemeindeparlament“ die dem präsidentiellen Systemen
eigenen Kontrollinstrumente in die Hand zu geben (Lijphart 1992; Kersting 2008b).

2.2.2 Konvergenz: Verwaltungsreform


Die Kommunen können auf eine lange Tradition im Bereich der Verwaltungsreform
zur€uckblicken (Osborne und Gaebler 1992). Seit den 1980er-Jahren zeigen sich
weitere Reformmaßnahmen im Bereich der Verwaltungsstruktur und Modernisie-
rungsbestrebungen im Bereich der lokalen politischen Partizipation. Die Reform-
stränge sind eingebettet in globale Modernisierungsprozesse. Letzteres hängt von
unterschiedlichen Startbedingungen sowie internen Reformwiderständen und Pfad-
abhängigkeiten ab. In der Nachfolge des Washington Consensus wurde als Ziel eine
„lean administration“, d. h. die neokonservative Verschlankung des Staates gefor-
dert (Kersting 2013a). Verwaltungsmodernisierung kann als einheitlich globaler
Trend der 1980er-Jahre im öffentlichen Sektor beschrieben werden. So forderte die
OECD eine flächendeckende Einf€uhrung von privatwirtschaftlichen Management-
prinzipien im öffentlichen Sektor und definierte diese im Washington-Konsensus.
Der neue ökonomische Institutionalismus (Public Choice-, Principal-Agent-
Ansatz) wurde in den angelsächsischen Ländern entwickelt und ersetzt zum Teil
die juristisch-etatistische Vollzugsverwaltung durch eine betriebswirtschaftlich ma-
nagerale, am Privatsektor orientierte Reformfokussierung (Bogumil et al. 2007). Es
zeigte sich lange Zeit eine Dominanz der New Public Management-Konzepte
(NPM), die als Referenzmodell privatwirtschaftliche Großunternehmen vor Augen
haben. Sozialwissenschaftler wurden oft wichtige Partner in der Allianz zur Verwal-
tungsreform, die mit dem one stop-office, der Abflachung der b€urokratischen Hierar-
chien und gegen Ende der neunziger Jahre mit der Hinwendung zu
b€
urgerschaftlichen Engagement als besondere Form des Public-Private-Partnership
und als kooperative kollektive Selbsthilfe Mitarbeiter- sowie B€urgerorientierung und
ein Demokratieversprechen innezuhaben schien.
Der globale Trend in Richtung Aufgabenkritik und Privatisierung in den achtzi-
ger Jahren (s. u. a. Thachterismus in Großbritannien, Reagonomics in den USA)
fokussierte sich zunächst auf die nationale Ebene (Bahn, Post, Telekom). Kommu-
nale Aufgaben sollten zum einen voll in den privaten Sektor aufgenommen werden
oder durch Public-Private-Partnership weiterhin gewährleistet werden. Dabei zielte
man vor allem auf Stellenabbau. Bei der Definition der Reformagenda spielen zum
Teil neue Akteure eine wichtige Rolle. Die Bef€urworter und Hauptakteure der
Reformen kommen seit den 1980er-Jahren aus unterschiedlichen Institutionen.
406 N. Kersting

Während in den USA und in Großbritannien der Anschluss f€ur die Modernisierung
des öffentlichen Dienstes vor allem aus neokonservativen Kreisen herr€uhrte, waren
es in Neuseeland und Australien insbesondere linke Labour-Politiker, die den Re-
formprozess in die Wege leiteten (siehe dazu auch Osborne und Gabler 1992; Peters
1995; Pollitt und Bouckaert 2000). In vielen Ländern zeichnete sich €uber alle
Parteigrenzen hinweg ein konsensuelles Modernisierungskonzept ab, das in unter-
schiedlichen Diskursarenen und Gemeinden auf einem ähnlich gelagerten, am
NPM-Modell orientierten Staatsverständnis basiert (Kersting et al. 2009).
Deutschland als Nachz€ugler besaß bis in die 1980er-Jahre insbesondere im
Ausland den Ruf, eine besonders leistungsfähige, auf Rechtstaatlichkeit basierende
B€urokratie zu besitzen (Naschold 1993). So lag hier der Anteil des öffentlichen
Dienstes an der Gesamtbeschäftigung mit nur 14,8 Prozent (1991) niedriger als in
Großbritannien (19,9 Prozent) und in den USA (14,9 Prozent) (Wollmann 2008).
Mitte der 1990er-Jahre entwickelte man in Anlehnung an die NPM-Debatte und die
holländische Stadt Tilburg ein Neues Steuerungsmodell, das sich wie ein Buschfeuer
in allen Bundesländern und in fast allen deutschen Gemeinden als Referenzmodell
weiter verbreitete. Deutlich wurde aber auch, dass zumindest Mitte der 1990er-Jahre
eine Vielzahl der Kommunen von einer abgeschlossenen Realisierung weit entfernt
waren und sich noch in der Einf€uhrungsphase befanden (Bogumil et al. 2007).

2.2.3 Konvergenz: „partizipativer turn“


Neben den politisch-administrativen Reformen zeigen sich im Rahmen von
Governance-Strategien der Versuch einer stärkeren Integration neuer zivilgesell-
schaftlicher Gruppen. Sie sind auch das Resultat sinkender lokaler Wahlbeteiligung
und zunehmenden Protests. Als Reaktion auf die Legitimationskrise der lokalen
repräsentativen Systeme und auf die demonstrative Beteiligung werden neue direkt-
demokratische und deliberative Beteiligungsinstrumente implementiert (zur Begriff-
lichkeit Kersting 2014). Dabei werden zunehmend Instrumente demokratischer
Innovation aus dem globalen S€uden eingesetzt. Nach Jahren eines Demokratieexp-
ortes aus den Ländern des Nordens kommt es zu einem Lernen vom S€uden.
Aufgrund von auf Individualisierung basierender Diversifizierung der Interessen
nehmen die Heterogenität der Bedarfe und die Anforderungen an die Kommunal-
politik zu. Nicht nur, dass die großen Volksparteien in den Kommunen zunehmend
erodieren, zudem sinkt die Wahlbeteiligung in Deutschland seit den 1970er-Jahren
kontinuierlich. Dies resultiert nicht nur aus einer mangelnden Medienresonanz und
einem hieraus resultierenden Desinteresse an lokaler Politik, sondern auch aus
dem enger werdenden Handlungsspielraum in vielen Kommunen. Wichtige
Gr€unde f€ ur die Wahlenthaltung sind die sinkende Parteibindung und Milieu-
Umstrukturierungen, die nur zum Teil €uber neue Parteigr€undungen aufgefangen
werden können (Reiser und Holtmann 2008). In kleinen Gemeinden wie auch in
aktiven Nachbarschaften ist der Bedeutungsverlust dieser traditionellen Integrations-
elemente schwächer oder wird durch engere soziale Netzwerke kompensiert. Hier
wirkt nicht nur ein höherer Gruppendruck beim Wählen (Kersting 2008a). Interna-
tional liegt die kommunale Wahlbeteiligung – soweit diese Wahlen nicht gemeinsam
abgehalten werden (wie z. B. in Schweden) – bis auf wenige Ausnahmen
Kommunalforschung in der Vergleichenden Politikwissenschaft 407

(Frankreich) niedriger als bei nationalen Wahlen. Die kommunale Wahlbeteiligung


liegt insbesondere in vielen osteuropäischen Ländern (Ungarn, Polen, Tschechien) –
aber auch in UK – mit unter 50 Prozent besonders niedrig. Ausnahmen bilden
Spanien, Österreich, Italien und Lettland mit einer Wahlbeteiligung €uber 60 Prozent
(Kersting 2005: 34).
Die wachsende Legitimationskrise schlägt sich auch in den deutschen Bundeslän-
dern in einer sinkenden Wahlbeteiligung nieder. Dies gilt insbesondere f€ur die neuen
Bundesländer. In Hessen und in Bayern beteiligten sich Anfang der 1980er-Jahre etwa
drei Viertel der Wähler an den Kommunalwahlen. 2011 gingen in Hessen nur noch 39,5
Prozent zur Kommunalwahl und in Bayern lediglich 59 Prozent. Die Durchschnitts-
werte f€ ur B€urgermeisterwahlen lagen in Bayern am Ende der 1990er-Jahre zehn
Prozentpunkte niedriger als die Werte f€ur die Wahl der Kommunalparlamente (53 Pro-
zent) (Kersting 2004). In Hessen sind Wahlbeteiligungsquoten um 30 Prozent auch in
mittelgroßen Städten unter 100.000 Einwohnern €ublich (Kersting 2013a).
Zunehmend wird auch die Unzufriedenheit mit den bestehenden politischen
Beteiligungsangeboten des Staates (invited space) nicht nur in (semi-)autoritären
Staaten deutlich (Santiago de Chile, Madrid, Stuttgart, London) (Kersting 2013b).
Hierbei spielen die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien eine
zentrale Rolle in der Mobilisierung (Kersting 2012). Zudem kommt es zu einer
stärkeren Vernetzung regionaler und nationaler Akteure wie sozialer Bewegungen
und eine Ausweitung der Themen €uber lokale Problemfelder hinaus zum globalen
Protest (siehe Occupy). Die Öffnung der politischen Systeme wird €uber neue formal-
isierte direktdemokratische Partizipationsverfahren wie Referenden und Initiativen
versucht. International zeigt sich eine Vielzahl von Ländern, die Initiativen und
Referenden insbesondere in Verfassungsprozessen nutzen (Qvotrup 2014). Auf der
lokalen Ebene sind diese eher selten (s. Schiller 1999; Setala und Schiller 2012).
Das halbdirekte Regierungssystem der Schweiz hat eine Vielzahl von Referenden
und Initiativen. Diese erlaube auch auf der kommunalen Ebene Finanzreferenden,
zum Beispiel zu kommunalen Steuersätzen. Ähnlich ausgeprägt ist dies in einigen
Staaten der USA. In Großbritannien kam es zu einer Vielzahl von Referenden zu den
Gemeindeverfassungen. In den Niederlanden wurden konsultative Referenden ini-
tiiert (zum Teil auch zur Auswahl eines B€urgermeisters). In Österreich bestehen
vielfältige Möglichkeiten zu meist konsultativen lokalen Referenden. Neben dem
Mutterland der direkten Demokratie der Schweiz liegt Deutschland weit vorn. In den
1990er-Jahren wurden nach dem Vorbild Baden-W€urttembergs Initiativen und Re-
ferenden (B€ urgerbegehren und B€urgerentscheide bzw. Volksbegehren und –ent-
scheide) in allen Bundesländern eingef€uhrt. Dagegen hat Deutschland keine Ele-
mente direkter Demokratie auf nationaler Ebene im Grundgesetz verankert (Geissel
und Kersting 2014). Grundsätzlich liegt die Beteiligung bei B€urgerentscheiden in
der Regel niedriger als bei Bundes- und Landtagswahlen und auch niedriger als bei
Kommunalwahlen. Dennoch ist dies abhängig vom jeweiligen Thema. Bei einer
Gemeindegröße bis 10.000 Einwohner beteiligen sich im Durchschnitt etwa 51 Pro-
zent der B€ urger, in Kleinstädten bis 100.000 Einwohner geben noch 42,5 Prozent ihr
Votum ab. In den Metropolen €uber 500.000 Einwohner beteiligt sich im Schnitt nur
noch jeder F€ unfte (21 Prozent) (Mittendorf 2012).
408 N. Kersting

Neben den direktdemokratischen Instrumenten erfahren insbesondere delibera-


tive Beteiligungsinstrumente, wie Zukunftskonferenzen mit der Rio-Konferenz 1992
und der hieraus resultierenden Lokalen Agenda 21, einen Schub (deliberative turn).
Mit der lateinamerikanischen Demokratisierungswelle in den 1980er-Jahren kam es
zu einer Dekonzentrations- und Dezentralisierungswelle. In der demokratischen
Transitionsphase wurden - auch von den internationalen Entwicklungshilfeagentu-
ren – neue Beteiligungsinstrumente wie z. B. B€urgerhaushalte gefördert (Kersting
2013c). Seit Mitte der 1990er-Jahre werden diese Instrumente auch in anderen
Ländern des globalen S€udens und in Europa eingesetzt.B€urgerhaushalte sind in
den späten 1980ern als demokratische Innovation in Lateinamerika entstanden und
nach Nordamerika, Neuseeland und Europa zunächst insbesondere nach Spanien
und Italien und dann insbesondere nach Deutschland diffundiert. Hier hat es in den
meisten Städten den Charakter eines elektronischen Vorschlagswesens angenommen
(Kersting 2013d).
Trotz hoher Urbanisierung und Metropolisierungstendenzen nahm die Zahl der
Gemeinden in Lateinamerika seit Mitte 1990er-Jahre zu (siehe etwa Argentinien).
Viele Gemeinden sind durch strukturelle kommunale Unterfinanzierung bzw. eine
funktionale Überforderung, Privatisierungswellen und wachsende soziale Ungleich-
heit geprägt (Berg-Schlosser und Kersting 2000). Dies ist auch seit 2008 das
Problem bei der Implementation der B€urgerhaushalte in Spanien und Italien, die
aber trotz Finanzkrise weiterhin an den Instrumenten festhalten. In Deutschland sind
sie eher Vorschlagswesen der Verwaltung und werden auch als Sparhaushalte inter-
pretiert.
B€
urgerhaushalte sind Formen der politischen Beteiligung auf der lokalen Ebene,
die zum Teil unter Nutzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien
Vorschläge generieren und die Haushaltsplanung vorantreiben, die dann in den
lokalen Haushaltsprozess eingebunden werden. Dabei wird ihnen ein eigenes Bud-
get zur Verf€ ugung gestellt, €uber das die Gruppe Planungshoheit besitzt. Direkt
gewählten B€ urgermeister implementieren diese f€ur organisierte und zunehmend
auch den nicht organisierten B€urger.
Grundsätzlich lässt sich dabei zwischen drei Organisationsformen unterschieden:
zum einen offene Gremien, in denen sich organisierte wie nicht-organisierte
Gruppen zusammenfinden und aus ihrer Mitte Repräsentanten wählen, zum anderen
Versammlungen von organisierten Interessenvertretern, die im sublokalen Bereich
Planungen vorantreiben. Im dritten Typus sind es zufällig ausgewählte B€urger, die in
Kurzworkshops an der Planung teilnehmen (citizen jury, deliberative poll)
(s. Kersting 2008a).

3 Fazit

Kommunalforschung ist durch hohe Diversität charakterisiert. Die Kommunen sind


durch unterschiedliche länderspezifische Dezentralisierungsgrade und Funktions-
zuweisungen gekennzeichnet. In einigen Ländern mit hoher kommunaler Autono-
mie zeigt sich eher eine Dominanz der Verwaltung, in anderen eher „präsidentielle“
Kommunalforschung in der Vergleichenden Politikwissenschaft 409

oder „parlamentarische“ Strukturen. Bis auf wenige Ausnahmen lässt sich ein Trend
zur Direktwahl von B€urgermeistern und zu präsidentiellen strong mayor-Verfassun-
gen erkennen, die politische Legitimation und administrative Kompetenzen bei
den Verwaltungsspitzen miteinander verbinden. Die starke exekutive B€urger-
meisterverfassung entkräftet die als Dualismus angelegte kommunale Gewal-
tenteilung zwischen Exekutive und Legislative (Lijphart 1992). Die Gemeinderäte
können oft ihrer Kontrollfunktionen und ihrer ohnehin schwach ausgeprägten Pla-
nungsfunktion ebenso wenig nachkommen wie ihrer Repräsentativfunktion. Es fehlt
an Druckmitteln gegen€uber dem durch die Direktwahl gestärkten „exekutiven
B€urgermeister“. Das Wiederwahl-Kalk€ul des B€urgermeisters, eine starke Zivilge-
sellschaft und der B€urgerentscheid werden zum zentralen Faktor f€ur exekutive
accountability. Ber€ucksichtigt man den Wissensvorsprung der Exekutive sind
aber weitere Kontrollinstrumente nötig. Diese Kontrolle wird zunehmend
durch neue zivilgesellschaftliche Akteure sowie durch neue Beteiligungsinstrumente
erreicht. Die hier vertretene Kompetenzverlust-These geht davon aus, dass die
neuen Beteiligungsinstrumente den Kompetenzverlust der Gemeinderäte nicht
kompensieren.
Die kommunale Verwaltungsreformen (Dezentralisierung und politisch administ-
rative Reformen) und die Politische Partizipationsreform sind zwei Seiten einer
Medaille. Letztere wird zunehmend durch Verwaltung initiiert. Demokratie und
Effizienz ist hierbei kein Widerspruch. In der neuen B€urgergesellschaft stehen die
Bewohner der Städte und Gemeinden als Kunde und als B€urger zunehmend im
Mittelpunkt des Interesses. Inwieweit die angebotenen Beteiligungsräume nur sym-
bolisch und nicht nachhaltig sind, bleibt Frage der Kommunalforschung.

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Teil V
Politics
Wahlsysteme in der Vergleichenden
Politikwissenschaft

Matthijs Bogaards

Zusammenfassung
Dieser Beitrag betrachtet Wahlsysteme und fasst die wichtigsten Erkenntnisse aus
der Literatur zu Wahlsystemen in etablierten und jungen Demokratien zusammen.
Der Schwerpunkt liegt auf den Auswirkungen des Wahlrechts auf den Typus des
Parteiensystems und dessen Rolle als Vermittler zwischen Gesellschaft und Staat
in pluralen Gesellschaften.

Schlüsselwörter
Wahlrecht • Verhältniswahl • Mehrheitswahl • kombinierte Wahlsysteme • Par-
teiensystem • gespaltene Gesellschaften • Wahlsystemdesign

1 Einführung

Bei den britischen Parlamentswahlen 2015 gewann die britische Unabhängigkeits-


partei (UKIP) nur einen Sitz trotz fast vier Millionen Stimmen. Im Gegensatz dazu,
erhielt die Schottische Nationalpartei (SNP) 56 Sitze mit etwas weniger als 1,5
Millionen Stimmen. Bei den Bundestagswahlen 2013 in Deutschland fiel die Freie
Demokratische Partei (FDP) mit 0,2 Prozent unter die F€unfprozentpunkteh€urde und
konnte somit nicht ins Parlament einziehen. Im Jahr 2000 erhielt Al Gore eine halbe
Millionen Stimmen mehr als George W. Bush, verlor die US Präsidentschaftswahlen
aber dennoch.1 In diesen drei Beispielen bestimmt das Wahlsystem €uber Gewinner
und Verlierer und nicht nur die Wählerschaft. Wie Manfred Schmidt (1995, S. 192)

1
F€ur Lijpharts Kommentar zu diesen unfairen Resultaten, siehe Bogaards (2015). Dieser Hand-
buchbeitrag basiert auf Bogaards (2009)
M. Bogaards (*)
Professor, Department of Political Science, Central European University, Budapest, Ungarn
E-Mail: Visbogaards@ceu.edu

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 415


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_32
416 M. Bogaards

beobachtet: „Das Wahlsystem kann somit den Ausschlag daf€ur geben, welche Partei
die Regierung und welche die Opposition €ubernimmt. Das Wahlsystem macht
demnach einen wahrlich großen Unterschied!“.
Der Eingangssatz des Internationalem IDEA Handbuchs f€ur Wahlsystemdesign
(Reynolds et al. 2005, S. 1) lautet: „The choice of electoral system is one of the most
important institutional decisions for any democracy. In almost all cases the choice of
a particular electoral system has a profound effect on the future political life of the
country.“ (siehe auch Derichs und Heberer 2006). Das Wahlsystem wird als
Schl€usselelement zur Erreichung einer ganzen Reihe von Zielen verstanden: von
der fairen Repräsentation, €uber die Stärkung der Wähler-Kandidatenbeziehung, der
Institutionalisierung sowie Nationalisierung des Parteiensystems, Erhöhung der
Anzahl der Frauen in Parlamenten, einer beschränkter Polarisierung bis hin zur
Verh€utung der Fragmentierung, sozialem Frieden und demokratischer Konsolidie-
rung.
Dieses Kapitel fasst den Kenntnisstand der politischen Auswirkungen von Wahl-
gesetzen zusammen. Eine Auswahl muss getroffen werden, „da electoral systems
constitute one of the oldest and most prolifically studied subjects of our discipline“
(Htun und Powell 2013, S. 808). Das Kapitel betrachtet schwerpunktmäßig die
klassische Beziehung zwischen dem Wahlsystem und dem Parteiensystem sowie
dar€
uber hinaus die Herausforderungen an das Design des Wahlsystems in gespalte-
nen Gesellschaften.

2 Typen von Wahlsystemen

Eine Unterscheidung in drei große Familien von Wahlsystemen ist gängig: Ver-
hältniswahl (proportional representation = PR), relative/absolute Mehrheitswahl
und kombinierte Wahlsysteme, welche die Entscheidungsregeln der ersten beiden
verbinden.2 Obwohl das €ubergeordnete Ziel des Verhältniswahlsystems die propor-
tionale Repräsentation ist, hängt der eigentliche Grade der (Un-) Gleichverteilung
von zwei Faktoren ab: dem Sitzverteilungsschl€ussel und der Wahlkreisgröße. Lij-
phardt (1994) hat nachgewiesen, dass die Wahlkreisgröße die bedeutsamere Variable
ist und dass die zunehmende Größe eines Wahlkreises eine höhere Proportionalität
des Wahlausgangs ermöglicht. Streng genommen werden bei Mehrheitswahl Re-
präsentanten durch eine absolute Mehrheit (50 % + 1) gewählt, aber oft wird der
Begriff f€
ur Wahlsysteme gebraucht, in denen die relative Mehrheit (mehr Wahl-
stimmen als jeder andere Kandidat) gen€ugt. Wenn der Wahlgewinner eine absolute
Mehrheit braucht, ist oft ein zweiter Wahlgang notwendig, wie in Frankreichs double
ballot.

2
Eine Quelle von unschätzbarem Wert f€ ur Wahlsysteme, Wahlen und Wahlresultate ist die Reihe
regionaler Datenhandb€ ucher, die von Dieter Nohlen herausgegeben werden und bei Oxford Uni-
versity Press erscheinen.
Wahlsysteme in der Vergleichenden Politikwissenschaft 417

Die wachsende Zahl neuartiger kombinierter Wahlsysteme bzw. Mischwahlsys-


teme (siehe Bormann und Golder 2013) tritt in drei Varianten auf: Verhältniswahl
und Mehrheitswahl kommen gleichzeitig zur Anwendung, aber in verschiedenen
Landesteilen, Grabenwahlsysteme (Koexistenz auf der nationalen Ebene) und kom-
pensatorische Verhältniswahl (Verhältniswahl kompensiert die durch Mehrheitswahl
entstandenen Verzerrungen) (Massicotte und Blais 1999). Das wohl bekannteste
Mischwahlsystem vom Typus der kompensatorischen Verhältniswahl befindet sich
in Deutschland, wo die Hälfte der Parlamentsmitglieder in Mehrpersonenwahlkrei-
sen, die den Bundesländern entsprechen, €uber Parteilisten nach Verhältniswahl und
die andere Hälfte in Einerwahlkreisen nach relativer Mehrheitswahl gewählt wird.
Da der € ubergeordnete Effekt proportional ist, wird das deutsche Wahlsystem als
‚personalisierte Verhältniswahl‘ bezeichnet.

3 Die Auswahl des Wahlsystems

Die Auswahl des Wahlsystems wird oft als Kompromiss zwischen Repräsentativität
und Regierungsfähigkeit formuliert (Nohlen 2013). Es wird angenommen, dass die
Repräsentativität durch Verhältniswahl in Mehrpersonenwahlkreisen, verbunden mit
einem Mehrparteiensystem und einer Koalitionsregierung, maximiert wird, wohin-
gegen Regierungsfähigkeit durch ein System der relativen Mehrheitswahl in Einer-
wahlkreisen mit einem Zweiparteiensystem und Einparteienregierung beg€unstigt
wird. In der Demokratietypologie von Arend Lijphart (2012) ist die Auswahl des
Wahlsystems an zwei fundamental verschiedene Demokratietypen gebunden:
Konsens- versus Mehrheitsdemokratie.
Wahlgesetze markieren sowohl Ursachen als auch Folgen. Das Wahlsystem
utzt die Ausformung des Parteiensystems, aber es sind die Parteien, die €uber
unterst€
das Wahlgesetz entscheiden. Sie handeln aus unterschiedlichsten Gr€unden, die vom
Eigeninteresse der Akteure, ein Amt zu gewinnen, bis zur Umsetzung favorisierter
Politikinhalte, wie normative Konzeptionen €uber die Funktionsweise des politischen
Systems, reichen (Benoit 2007).
Josep Colomers (2004, S. 3) ‚Mikro-Makro-Regel‘ besagt, dass „large prefer the
small and the small will prefer the large“. Mit anderen Worten: Große Parteien
bevorzugen kleine Wahlbezirke und Mehrheitswahl, wohingegen kleine Parteien
große Wahlbezirke und Verhältniswahl bevorzugen. Andererseits beanspruchen
soziologische Sichtweisen, dass sowohl das Wahlgesetz als auch die Parteien durch
zugrundeliegende strukturelle, kulturelle und historische Variablen der Gesellschaft
determiniert sind (Rokkan 1970).

4 Die Gesetze von Duverger und Sartori

Maurice Duverger (1954) war der erste Forscher, der eine systematische und empi-
rische Untersuchung der politischen Auswirkungen von Wahlgesetzen aus einer
vergleichenden Perspektive durchgef€uhrt hat. Die ganze Literatur, die um die zwei
418 M. Bogaards

Gesetze von Duverger herum entwickelt wurde (1964, S. 217, 239), stellt fest, dass
„the simple-majority single-ballot system favors the two-party system‘ und ‚the
simple-majority system with second ballot and proportional representation favors
multi-partyism“. In der Tat weitet Duverger (1955) schon bald die Zahl der Gesetze
auf drei aus: „1) proportional representation tends to lead to the formation of many
independent parties, 2) the two-ballot majority systems tend to lead to the formation
of many parties that are allied with each other, 3) the plurality rule tends to produce a
two-party system“ (Duverger 1986, S. 70). Obwohl Sartori (1986) die Ausf€uhrun-
gen Duvergers als dessen besten Vorschlag lobt, wurde dieser nicht von der inter-
nationalen, englischsprachigen politikwissenschaftlichen Literatur aufgegriffen, da
dieser nur in französischer Sprache verf€ugbar war.3 Duverger erklärte die beobach-
teten politischen Wirkungen der Wahlgesetze durch ihre mechanischen und psycho-
logischen Effekte. Der mechanische Effekt ist eine technische Prozedur, durch
welche die Stimmen in Sitze €ubersetzt werden. Der psychologische Effekt bezieht
sich auf die Weise, in welcher die Wahrnehmung des Wahlsystems das strategische
Verhalten von Wählern, Kandidaten und Parteien beeinflusst (Blais und Carty 1991).
Auf Duverger aufbauend, entwickelt Sartori (1968) seinen eigenen Gesetzes-
korpus. Dieser wird als soziales Wissenschaftsgesetz konstruiert, das heißt, „general-
izations endowed with explanatory power that detect a regularity“ (Sartori 1994,
S. 31). Die Erklärungskraft unterscheidet ein Wahlgesetz von einem statistischen
Gesetz, welches eine bestätigte Häufigkeit lediglich quantifiziert. Ausnahmen kön-
nen behandelt werden, „by entering a necessary condition that restricts the ap-
plicability of the law (. . .), or by incorporating the exception(s) into a reformulation
of the law that subsumes them“ (Sartori 1994, S. 32). Sartori verfolgt beide Wege.
Das Ergebnis sind vier präzise formulierte Vorhersagen zu den politischen Aus-
wirkungen von Wahlgesetzen (Sartori 1986). Zudem stehen weitere Regeln zur
Verf€ugung, die die politischen Wirkungen von Wahlsystemen mit zwei Wahlgängen
erfassen (Sartori 1994).
Sartoris Gesetze sind in notwendigen und hinreichenden Bedingungen formuliert.
(1) Relative Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen verursacht ein Zweiparteiensystem,
aber nur in Anwesenheit eines strukturierten Parteiensystems. Auch gilt, dass wenn
politische Minderheiten geographisch konzertiert sind (2), dies nicht in einem
nationalen Zweiparteiensystem resultieren wird, da die Akteure sich von einem
Wahlkreis zum anderen unterscheiden. In anderen Worten, die genaue Auswirkung
eines Wahlgesetzes wird zu einer Angelegenheit der politischen Geographie.
Die Verhältniswahl ist ein tolerantes bzw. ‚schwaches‘ Wahlsystem. Von selbst
hat es keinen reduzierenden Effekt auf die Zahl der Parteien. Jedoch reduzieren die
meisten Länder mit Verhältniswahl durch einige Maßnahmen die Proportionalität
der jeweiligen Systeme, indem sie Wahlh€urden, kleine Wahlkreisgrößen und

3
Aus demselben Grund haben Dieter Nohlens in Deutschland veröffentliche Studien nicht viel
Aufmerksamkeit in der internationalen Politikwissenschaft erhalten. Die Situation unterscheidet
sich zu den lateinamerikanischen Ländern, wo spanische Übersetzungen seiner Arbeit ein ent-
sprechendes Publikum finden.
Wahlsysteme in der Vergleichenden Politikwissenschaft 419

bestimmte Formeln bei der Umrechnung von Stimmen in Sitze verwenden. Unter
Einbeziehung dieser Differenzen prognostiziert Sartori, dass (3), je weniger propor-
tional die Verhältniswahl ist, desto höher ist der reduzierende Effekt in einem
strukturierten Parteiensystem. Wenn ein reines Verhältniswahlsystem in der Kombi-
nation mit einem unstrukturierten Parteiensystem verwendet wird, (4) so ist alles
möglich.
In einem präsidentiellen Regierungssystem, kann die Zahl der Parteien nicht
ausschließlich durch das Wahlgesetz f€ur Parlamentswahlen erklärt werden. F€ur
Lateinamerika wurde gezeigt, dass das präsidentielle Regierungssystem, relative
Mehrheitswahl bei der Präsidentenwahl und die gleichzeitig stattfindende Wahlen
alle dazu dienen, die Zahl der Parlamentsparteien zu senken (Jones 1995).

5 Die Quantifizierung der Gesetze von Duverger

Obwohl Sartoris Weiterentwickelung Duvergers Arbeit als „little but a relic“ ausse-
hen lässt, orientieren sich große Teile der Wissenschaft weiterhin an Duvergers
„battered classic“ (Daalder 1983, S. 12; 10). Bezeichnenderweise beinhalten die
Publikationen von Riker (1982) und Shugart (2005) nicht einmal einen Verweis auf
Sartori, obwohl sie behaupten, eine Akkumulation von Wissen €uber die politischen
Folgen von Wahlgesetzen aufzuzeigen. Die Forschung konzentriert sich vornehm-
lich auf das Vorhaben, Duvergers Gesetze zu quantifizieren (siehe auch Cox 1997).
Die „generalized Duverger’s rule“, abgefasst von Taagepera und Shugart (1989,
S. 145) liest sich wie folgt: „the effective number of electoral parties is usually
within plus or minus 1 unit from N = 1.25 (2 + log M), whereby M stands for
average district size. ‚Duverger’s Generalized Rule‘ is a statistical law, which
represents an empirical fit strengthened by some theoretical plausibility
(a hypothesis, if you will) and saddled with many deviating data points“ (Taagepera
und Shugart 1989, S. 146).
Ber€ucksichtigt man auch die Größe des Parlaments, bietet Taagepera (2007) die
folgende Formel an: N = (MS)1/6. Aus dem Produkt der durchschnittlichen Größe
der Wahlkreise (M = magnitude) und der Größe des Parlaments (S = assembly
size) wird die sechste Wurzel gezogen. F€ur die Niederlande mit einer Wahlkreis-
größe von 150 Sitzen ergibt sich eine effektive Zahl von 5,2 Parlamentsparteien,
welche tatsächlich dem durchschnittlichen Wert von 4,87 in der Zeitspanne zwi-
schen 1945–2010 nahe kommt (Lijphart 2012: 305). Obwohl ihr eine sehr gute
Eignung zugesprochen wird, spiegelt die Formel jedoch nicht empirische Muster
wider, sondern prognostiziert einen erwarteten Wert auf der Grundlage keiner weite-
ren Informationen als den eingef€ugten Variablen und einigen mathematischen De-
duktionen. Sie ist nur f€ur einfache Wahlsysteme valide, womit solche mit relativer
Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen oder Verhältniswahl in Mehrpersonenwahlkrei-
sen von ziemlich einheitlichen Maßen gemeint sind. Sie gilt nur f€ur stabile Demo-
kratien. Sie beansprucht den ‚globalen Durchschnitt‘ und ist bewusst blind gegen-

uber Aspekten, die die politische Kultur des Landes einbeziehen, wodurch es zu
Abweichungen kommen kann. Wahrscheinlich hatte Sartori (2004, S. 786) diese
420 M. Bogaards

Ansatzweise im Sinn, als er die gegenwärtige Politikwissenschaft f€ur die Bereitstel-


lung „falscher Präzision“ oder „präziser Irrelevanz“ kritisierte.

6 Das Parteiensystem als unabhängige und abhängige


Variable

Wie das Wahlsystem, kann das Parteiensystem sowohl Folge und Ursache sein.
uhrt das Parteiensystem selbst als Kontextvariable an.4 Der Unter-
Sartori (1968) f€
schied zwischen strukturierten und unstrukturierten Parteiensystemen unterst€utzt die
Erklärung, warum dieselben Wahlgesetze verschiedene politische Folgen in ver-
schiedenen Kontexten haben. Daher schlussfolgern Jon Elster et al. (1998, S. 129)
in ihrer Studie zu post-kommunistischen Ländern in Osteuropa, dass „given pro-
grammatically diffuse parties, their weak organizational basis, an unsatisfactorily
structured party system, and volatile voter alignments, electoral rules are unable to
reduce the number of parties and to structure the party system“.
Aufgrund der niedrigen Institutionalisierung des Parteiensystems erwarten wir
gemäß Sartori, dass die politischen Folgen der Wahlgesetze in neuen Demokratien
schwer vorhersagbar sind. Im Falle der geographisch konzentrierten Gruppen, und
auch hier folgen wir Sartori, erwarten wir, dass relative Mehrheitswahlen nicht mit
einem Zweiparteiensystem in Zusammenhang stehen. In der Tat haben das viele
Studien herausgefunden. In den neuen Demokratien Osteuropas, sind durch relative
und absolute Mehrheitswahlen in Einerwahlkreisen unabhängige und kleine, lokale
Parteien in die Parlamente durchgedrungen (Moser 2001). Studien zu Afrika haben
die Auswirkungen der räumlichen Verteilung ethnischer Gruppen auf Wahlergeb-
nisse aufgezeigt (Brambor et al. 2007).
Die empirischen Studien zum Einfluss des Wahlsystems hängen entscheidend
von der Methode ab, die Parteien als solche zu zählen. Quantitative Analyseansätze
der Beziehung zwischen Stimmen und Sitzen haben mathematische Formeln ange-
nommen, die auf der relativen Größe der Parteien basieren. Standardmäßig kommt in
der Literatur der Index von Laakso und Taagepera (1979) zum Einsatz, der die
effektive Anzahl der Parteien (N) misst, wobei eins durch die Summe der quadrierten
relativen Stimmen- oder Sitzanteile der Parteien (p) geteilt wird (Formel: N = 1/
(pi2 + pi2 + pn2)). Der Index kann f€ur die Bestimmung der effektiven Zahl von
Wahlparteien (unter Verwendung von Stimmenanteilen) oder Parlamentsparteien
(unter Verwendung der Sitzanteile) verwendet werden.
Die effektive Anzahl an Parteien ist eine schwache Richtschnur zur Identifikation
des Typus des Parteiensystems (Bogaards 2004a). Zum Beispiel hatte S€udafrika seit

4
urde heute als ‚institutionalisiertes‘ Parteiensystem bezeichnet
Das strukturierte Parteiensystem w€
werden. Mainwaring und Scully (1995, S. 15) identifizieren vier Kriterien der Institutionalisierung:
1) Wettbewerbsstrukturen äußern sich in der Regelmäßigkeit; 2) Parteien entwickeln eine stabile
Verankerung in der Gesellschaft; 3) B€urger und Organisationen nehmen Parteien und Wahlen als
das einzig legitime Mittel wahr, um zu bestimmen, wer regiert; 4) Parteiorganisationen m€ ussen
‚relativ robust‘ sein.
Wahlsysteme in der Vergleichenden Politikwissenschaft 421

dem Ende der Apartheid zwischen 2.0 und 2.3 effektive Parteien im Parlament.
Demnach ähnelt es der britischen oder amerikanischen Art des Zwei-
Parteiensystems, in Wirklichkeit hat S€udafrika aber ein dominantes Parteiensystem
bei dem die regierende Partei des Afrikanischen Nationalkongresses (ANC) nie
weniger als 63 Prozent der Stimmen und Sitze erhielt.
Sartori schlägt eine alternative Methode f€ur die Zählung der Parteien vor. Nur
solche Parteien sind relevant, welche entweder €uber Koalitions- oder Erpressungs-
potenzial verf€ugen. Eine Partei hat Koalitionspotenzial, wenn sie, ungeachtet ihrer
Größe‚ „may be required as a coalition partner for one or more of the possible
governmental majorities“ (Sartori 1976, S. 122). Eine Partei hat Erpressungspoten-
zial „whenever its existence, or appearance, affects the tactics of party competition“
(Sartori 1976, S. 123). F€ur präsidentielle Systeme gilt, „the counting criteria must be
reformulated and relaxed, for the parties that count are simply the ones the make a
difference in helping (or obstructing) the president’s election, and that determine his
having (or not having) a majority support in the legislative assemblies“ (Sartori
1994, S. 34). Mithilfe von Sartoris Zählregeln ist es einfach die Einparteiendomi-
nanz zu identifizieren, insofern nur eine relevante Partei vorhanden ist. Ein weiterer
Vorteil von Sartoris Zählregeln ergibt sich daraus, dass diese mit seiner Typologie
des Parteiensystem verbunden sind.

7 Wahlsystemdesign und Management ethnischer Konflikte

Welches ist das am besten geeignete Wahlgesetz f€ur eine (neue) Demokratie mit
pluraler oder gespaltener Gesellschaft; einer Gesellschaft in der sozio-kulturelle Diffe-
renzen wie Rasse, Ethnie, Sprache, Religion und Region politisch salient sind (Horo-
witz 1985; Reilly 2001)? Hier ist das Wahlsystem im weitesten Sinne zu verstehen, das
auch die Regulierung von Parteiregistrierungen und die Kandidatennominierung
umfasst, welche in der Anfangszeit von besonderer Bedeutung sind (Bogaards 2008).
Die langjährige Gegen€uberstellung von Mehrheitswahl und Verhältniswahl ver-
liert viel von seiner Relevanz, wenn sozio-kulturelle Gruppen geographisch konzen-
triert sind, wie es oft der Fall ist.5 Vielmehr geht es darum, ob das Wahlsystem die
gesellschaftlichen Trennlinien auf der parlamentarischen Ebene aggregiert, partei-
politisch €ubersetzt oder ihre Politisierung blockiert. Tab. 1 gibt einen Gesamt€uber-
blick, wie die Funktionen der Aggregation, Übersetzung und Blockierung des
Parteiensystems mit dem Wahlsystem korrespondieren.
In einer Demokratie kann die Blockierungsfunktion durch das Verbot ethnischer
Parteien erreicht werden. Beim Versuch, ethnische Konflikte durch die Verhinderung
politischer Organisation zuvorzukommen, hat die Mehrzahl der afrikanischen Staaten

5
Mehrheitswahl hat eine ung€ unstige Eigenschaft, die jedoch von Bedeutung ist, vor allem in
Gesellschaften geprägt von einem Mangel an Vertrauen und einem Übermaß an Ungleichheit:
Die Bestimmung der Grenzen der zahlreichen Wahlbezirken bietet die Möglichkeit zu Gerrymande-
ring und riskiert daher die Politisierung der Wahlorganisation.
422 M. Bogaards

Tab. 1 Die Auswahl eines Wahlsystems in gespaltenen Gesellschaften


Rolle des Veranschaulichende
Parteiensystems Wahlsystem Beispiele
Blockierung Verbot ethnischer Parteien Bulgarien
Albanien
Die meisten gegenwärtigen
afrikanischen Staaten
Aggregation Alternative Vote Papua New Guinea
Single Transferable Vote Nordirland
Constituency Pooling Uganda 1970
Mehrheitswahl mit Regional-Quorum Kenia
Nigeria
Indonesien
Übersetzung F€ur Minderheiten reservierte Sitze Kolumbien
Venezuela
Einige osteuropäische Länder
Listenweise Verhältniswahl S€
udafrika
Jeder Wahlsystemtyp, insofern die Gruppen Schweiz
geographisch konzentriert sind
Quelle: Bogaards (2004b; 2007)

ein Verbot ethnischer Parteien verhängt, welches dem weitestgehenden Verständnis


nach, jegliche Parteiorganisation des gesamten Spektrums sozio-kultureller Differen-
zen umfasst (Bogaards et al. 2013). In Osteuropa verabschiedeten Albanien und
Bulgarien aus Sorge um ihre nationale Integrität verfassungsmäßige Verbote ethnischer
Parteien, obwohl beide Länder letztlich davon abgesehen haben, diese durchzusetzen
(Bogaards 2004b). Ungeachtet der Effektivität des Verbots ethnischer Parteien, unter-
sagt diese grundsätzliche Beschränkung der Freiheit zur politischen Organisation, was
von einem normativen Standpunkt gesehen, in höchstem Maße problematisch ist.
Die Aggregation von Wählerstimmen kann durch eine Vielzahl von Wahlsyste-
men erreicht werden und hängt von zwei Faktoren ab: der Zahl und der relativen
Größe der sozialen Gruppen und ihrer geographischen Verteilung bzw. Konzentra-
tion. Die klassische Idee eines moderaten Zweiparteiensystems mit Parteien, die eine
breitenwirksame Basis haben, und die sich der Mitte annähern, wird durch relative
Mehrheitswahlen in Einerwahlkreisen gefördert (Downs 1957), was aber nur f€ur
homogene Gesellschaften gilt. In einer Gesellschaft, die entlang ethnischer Linien
wählt, wird die relative Mehrheitswahl keine Aggregation bewirken. Vier Wahl-
systeme können das: Präferenzwahl in der Form der Alternative Vote (AV) oder des
Single Transferable Vote (STV), Mehrheitswahl mit Regional-Quorum und letztlich
Constituency Pooling.6

6
Zwar gibt es f€ur die Termini der Wahlsystemtypen teilweise deutsche Entsprechungen, aber im
Folgenden werden die englischen Bezeichnungen verwendet, um Verwechslungen zu vermeiden.
Alternativstimmgebung (= AV) und System der € ubertragbaren Einzelstimmgebung (= STV) sind
solche Beispiele, wohingegen f€ur constituency pooling keine Konvention besteht.
Wahlsysteme in der Vergleichenden Politikwissenschaft 423

Die Alternative Vote ist ein Mehrheitswahlsystem mit starken Anreizen f€ur vote
pooling zu gegebenen Umständen. Vote pooling tritt auf, wenn politische F€uhrer
nach der Unterst€ utzung außerhalb ihrer eigenen Gruppe streben, um Wahlen zu
gewinnen und Wähler €uber Gruppengrenzen hinweg Stimmen austauschen (Horo-
witz 1985). AV f€uhrt nur zur vote pooling in heterogenen Wahlkreisen, deren
Grenzen schwer zu ziehen sind, wenn Gruppen sich geographisch konzentrieren.
In diesem Fall ist Constituency Pooling eine Alternative (Bogaards 2003). Consti-
tuency Pooling bedeutet, dass ein Kandidat in mehreren Wahlkreisen gleichzeitig zur
Wahl steht. Um den Gewinner auszumachen, wird die totale Anzahl der Stimmen
eines Kandidaten €uber alle Wahlkreise hinweg berechnet. Der erfolgreiche Kandidat
muss daher Stimmen von verschiedenen Landesteilen, die von verschiedenen
Gruppen bewohnt werden, auf sich vereinen. Constituency Pooling wurde in
Uganda im Jahr 1970 entwickelt, ist aber nie getestet worden.
Von den Verhältniswahlsystemen wird vote pooling nur durch das Single Trans-
ferable Vote (STV) unterst€utzt. Das STV ist ein Verhältniswahlsystem mit Präferenz-
wahl. Da das STV mit Mehrpersonenwahlkreisen funktioniert, ist die notwendige
Bildung heterogener Wahlkreise ein wenig leichter. Da jedoch der Schwellenwert,
um einen Sitz zu gewinnen, niedriger ist, sind auch die Anreize f€ur vote pooling
schwächer.
Eine Besonderheit, die die Aggregation fördert, ist Mehrheitswahl mit Regional-
Quorum. In Nigeria, Kenia und seit kurzem in Indonesien, muss ein erfolgreicher
Präsidentschaftskandidat nicht nur eine allgemeine Stimmenmehrheit bzw. eine
relative Mehrheit gewinnen, sondern er/sie muss auch einen Mindestprozentanteil
der Stimmen von einer Mindestanzahl der Regionen erzielen.
Die Artikulationsfunktion des Parteisystems kann erhalten werden, indem reser-
vierte Sitze f€
ur Minderheiten festgesetzt werden, wie in einigen Ländern Osteuropas
(Bogaards 2004b). In Lateinamerika haben Kolumbien und Venezuela einige Sitze
f€
ur Indigene reserviert. Diese Praxis ist umstritten, da sie auf die Vorbestimmung
sozio-kultureller Gruppen und die Identifikation der Kandidaten und/oder Wähler
mit einer gekennzeichneten Gruppe, baut. Allgemeiner formuliert, die Artikulation
lässt sich am besten durch eine listenweise Verhältniswahl gewährleisten – dem
favorisierten Wahlsystem in Friedensabkommen nach B€urgerkriegen rund um die
Welt (Bogaards 2013). Verhältniswahlsysteme erleichtern die parlamentarische
Repräsentation kleiner, verstreuter Gruppen. Jedoch kann die Artikulation auch
durch relative und absolute Mehrheitswahl im Falle einer geographisch konzentrier-
ten Minderheit erreicht werden (Bochsler 2010).

8 Schluss

Der Beitrag hat den Stand der Disziplin hinsichtlich politischer Auswirkungen von
Wahlgesetzen mit dem Fokus auf das Parteiensystem untersucht. Es wurde festge-
stellt, dass Sartoris Werk immer noch von Nutzen ist. Sartoris Unterscheidung
zwischen strukturierten und unstrukturierten Parteiensystemen unterst€utzt die Erklä-
rung, warum Wahlsysteme in neuen Demokratien nicht dieselben Auswirkungen
424 M. Bogaards

haben wie in etablierten Demokratien. Sartoris Erkenntnis zu „incoercible minori-


ties“ hebt die Bedeutung der Geographie mit Blick auf den Einfluss des Wahlsystems
hervor und unterst€utzt die Erklärung, warum die relative Mehrheitswahl oft daran
scheitert, ein Zweiparteiensystem herbeizuf€uhren. Außerdem erinnert Sartoris
(1968, S. 273) ber€uhmte Qualifikation des Wahlgesetzes als „das spezifischste
Manipulationsinstrument politischer Akteure“ uns an das Potenzial der Politikwis-
senschaft als angewandte Wissenschaft. Diese ist anhand der Diskussion der Effekte
verschiedener Wahlsystemtypen illustriert worden.
Zum Schluss, vier allgemeine Lektionen. Erstens, „plainly there is no ‚one-size-
fits-all‘“ (Reynolds 2005, S. 66). Wahlsystementw€urfe sollten immer den Kontext
ber€ucksichtigen. Zweitens, die Auswahl des Wahlsystems ist nicht auf Verhältnis-
und Mehrheitswahl beschränkt. Die meisten innovativen Wahlsystemdesigns sind
aus der politischen Praxis hervorgegangen, während die politische Wissenschaft
gewöhnlich bestehende Formeln beg€unstigt, wobei diese an lokale Gegebenheiten
angepasst werden. Drittens ist die Auswahl des Wahlsystems kein Selbstzweck,
sondern ein Instrument zur Modellierung des Parteiensystems. Dies impliziert ein
Verständnis der Art des Parteiensystems, das gew€unscht wird und seiner Rolle als
Vermittler zwischen Gesellschaft und Staat. Letztendlich sollte das Wahlsystem
nicht isoliert betrachtet werden. Idealerweise ist die Auswahl des Wahlsystems Teil
der Kenntnis zu politischen Institutionen des Landes und der Art und Weise, in der
diese sich gegenseitig verstärken oder widersprechen.

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Wahlforschung in der Vergleichenden
Politikwissenschaft

Kai Arzheimer

Zusammenfassung
In den 1970er-Jahren hat sich die bis dahin US-amerikanisch geprägte Wahlfor-
schung internationalisiert. Seit den 1990er-Jahren ist der Mainstream der Wahl-
forschung vergleichend ausgerichtet, da sich die Wirkung institutioneller und
anderer kontextueller Variablen nur so kontrollieren lässt. Eine leistungsfähige
Forschungsinfrastruktur hat diese Entwicklung ermöglicht und vorangetrieben.

Schlüsselwörter
Wahlforschung • Class Voting • Rational Choice • Sozialpsychologie • Cleavages

1 Einleitung

Die Wahlforschung ist eines der wichtigsten Teilgebiete der Politischen Soziologie.
Sie operiert damit an der Schnittstelle zwischen Politikwissenschaft und Soziologie.
Zunächst war die Wahlforschung ganz auf die Erklärung nationaler Phänomene
ausgerichtet. Verglichen wurden hier lediglich die Verhältnisse innerhalb eines
politischen Systems, etwa in Frankreich (Siegfried 1913) oder den USA (Key 1959).
Seit etwa Ende der 1960er-Jahre hat jedoch die international vergleichende Pers-
pektive in der Wahlforschung stetig an Bedeutung gewonnen. Ausgangspunkt f€ur
diese Entwicklung war das Interesse der Vertreter des sozialpsychologischen Modells
(Abschn. 2.2) ihre Befunde in einem „most dissimilar“ Design zu validieren (Miller
1994, S. 256). Umgekehrt zog die an der University of Michigan/Ann Arbor behei-
matete Forschergruppe Kollegen aus der ganzen Welt, insbesondere aber aus Nord-
West-Europa an. Auf diese Weise entstanden Kooperationsbeziehungen zwischen den

K. Arzheimer (*)
Professor f€ur Innenpolitik/Politische Soziologie, Institut f€
ur Politikwissenschaft,
Universität Mainz, Mainz, Deutschland
E-Mail: arzheimer@politik.uni-mainz.de

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 427


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_33
428 K. Arzheimer

Leitern verschiedener nationaler Wahlstudien, die teils €uber Jahrzehnte Bestand hatten
(Miller 1994, S. 256–259) und den Grundstein f€ur die Institutionalisierung der ver-
gleichenden Wahlforschung seit den 1970er-Jahren legten (Mochmann 2002).
Der vorliegende Beitrag gliedert sich in zwei Teile. Abschnitt 2 gibt zunächst
einen knappen Überblick €uber die wichtigsten Ansätze der allgemeinen Wahlfor-
schung. Abschnitt 3 stellt dann die wichtigsten Forschungsfelder, Datenquellen und
Methoden der vergleichenden Wahlforschung vor.

2 Theorien des Wählerverhaltens

Die Anfänge der Wahlforschung liegen in der offiziellen Statistik des 19. Jahrhunderts
und im Werk André Siegfrieds, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts damit begann,
Wahlergebnisse mit kartographische Methoden darzustellen und Zusammenhänge
etwa zwischen der Siedlungsstruktur und dem Abschneiden bestimmter Parteien zu
untersuchen. Den Kern der modernen Wahlforschung bilden aber drei Theorieb€undel,
die Mitte des 20. Jahrhunderts in den USA begr€undet wurden und schlagwortartig als
soziologischer, sozialpsychologischer und ökonomischer (oder rationalistischer)
Ansatz bezeichnet werden.1 In der Forschungspraxis werden häufig in sehr pragmati-
scher Weise Elemente aus allen drei Ansätzen kombiniert. Wie eine explizite Verbin-
dung der Theorien aussehen könnte, diskutieren Rudi und Schoen (2005).

2.1 Soziologische Ansätze

Im Bereich der klassischen Wahlsoziologie lassen sich grob zwei Strömungen


unterscheiden. Der sogenannte mikrosoziologische Ansatz geht auf Studien zur€uck,
die seit den 1940er-Jahren von Paul Lazarsfeld und seinen Kollegen an der Colum-
bia University durchgef€uhrt wurden (Berelson und McPhee, 1954; Lazarsfeld und
Gaudet 1944). Die Columbia-Gruppe nahm urspr€unglich an, daß sich Wähler
während des Wahlkampfes umfassend informieren, um dann wohl€uberlegt eine
Wahlentscheidung zu treffen. Um diese Hypothese zu pr€ufen, untersuchten Lazars-
feld et al. in sehr aufwendigen Studien die Inhalte regionaler Medien und versuchten
diese mit individuellen Meinungsbildungsprozessen in Verbindung zu setzen, die sie
mit Hilfe wiederholter Befragungen erfaßten.
Dabei zeigte sich jedoch rasch, daß die meisten Menschen Informationen €uber
politische Inhalte nur indirekt €uber sogenannte Meinungsf€uhrer wahrnahmen. In
vielen Fällen stand die Wahlentscheidung bereits zu Beginn des Wahlkampfes
weitgehend fest und ließ sich durch Kenntnis einiger weniger sozio-

1
Naturgemäß können diese Ansätze hier nur in extrem verk€urzter Form skizziert. Ausf€
uhrlichere
Darstellungen finden sich in den Lehrb€
uchern von B€urklin und Klein (1998), Pappi und Shikano
(2007) und (Roth 2008). Eine umfangreiche W€urdigung dieser und anderer Ansätze bietet das von
Falter und Schoen herausgegebene Handbuch Wahlforschung (Falter und Schoen 2005).
Wahlforschung in der Vergleichenden Politikwissenschaft 429

demographischer Merkmale wie des Berufs, der ethnischen Gruppe oder der Reli-
gionszugehörigkeit recht gut voraussagen: „A person thinks, politically, as he is,
socially“ (Lazarsfeld und Gaudet, 1944, S. 27). Lazarsfeld et al. erklären diesen
Befund mit der Dynamik kleiner Gruppen und dem Wunsch des Individuums, sich
normkoform zu verhalten, gehen aber nicht auf die gesellschaftlichen Voraussetzun-
gen f€
ur die Entstehung solcher Muster ein.
Diesen fehlenden Baustein liefert der makrosoziologische Ansatz, dessen Wurzel
in den Arbeiten der Soziologen Stein Rokkan und Martin Semour Lipset zur
Entstehung der westeuropäischen Parteiensysteme liegt (Lipset und Rokkan 1967).
Lipset und Rokkan f€uhren diese auf eine Reihe sozio-politischer Großkonflikte
uck,2 in deren Verlauf es zu einer dauerhaften Verbindung zwischen
(cleavages) zur€
bestimmten sozialen Gruppen und Parteien (z. B. Arbeiter -ê sozialistische/sozial-
demokratische Parteien) gekommen sei. Die f€ur ein Land charakteristische Konfi-
guration dieser Konflikte entscheidet aus Sicht von Lipset und Rokkan dar€uber,
welche und wieviele Parteien existieren.
Mikro- und makrosoziologischer Ansatz zeichnen gemeinsam ein plausibles Bild
davon, wie soziale und historische Faktoren das Wahlverhalten beeinflussen können.
Damit sind sie insbesondere f€ur die (international) vergleichende Wahlforschung bis
heute von Bedeutung, weil die Wirkung dieser Faktoren naturgemäß nur in ver-
gleichender Perspektive sichtbar werden kann. Außerhalb von Phasen revolutionärer
Umbr€ uche tun sich die soziologischen Ansätze jedoch schwer damit, Veränderungen
im Wählerverhalten zu erklären. Dies erklärt den Erfolg des sozialpsychologischen
Ansatzes, der im nächsten Abschnitt vorgestellt werden.

2.2 Der Sozialpsychologische Ansatz

In den späten 1940er-Jahren begann sich am Survey Research Center der University
of Michigan/Ann Arbor eine Arbeitsgruppe um den Sozialpsychologen Angus
Campbell mit dem Wahlverhalten der Amerikaner zu beschäftigen. Dabei griffen
sie auf die Konzepte und Methoden der repräsentativen Umfrageforschung zur€uck.
Im Mittelpunkt des neuen Ansatzes standen drei Einstellungen (Dispositionen ge-
gen€uber politischen Objekten): Kandidaten- und Sachfragenorientierungen sowie
die Parteiidentifikation, ein dauerhaftes, €uber die konkrete Wahlentscheidung hin-
ausweisendes Gef€ uhl der Verbundenheit mit einer der beiden großen amerikanischen
Parteien.
Da diese Einstellungen der eigentlichen Wahlentscheidung unmittelbar vorgela-
gert sind, wurde eine erste Studie (Campbell, Gurin und Miller 1954) als tautolo-
gisch kritisiert. Die Ann Arbor-Gruppe reagierte auf diese Kritik, indem sie in der

2
Die vier Grundtypen von Konflikten Staat vs. (katholische) Kirche, Zentrum vs. Peripherie, Arbeit
vs. Kapital und Stadt vs. Land ¨C stehen im Zusammenhang mit revolutionären sozialen Umwäl-
zungen in der Geschichte des jeweiligen Landes. Lipset und Rokkan begr€ unden ihren urspr€un-
glichen Ansatz unter R€ uckgriff auf das Werk Talcott Parsons’ (Parsons 1960). F€ ur die weitere
Rezeptionsgeschichte spielte dieser systemtheoretische Unterbau aber keine Rolle.
430 K. Arzheimer

Folgestudie „The American Voter“ (Campbell et al. 1960) einen weitgespannten


theoretischen Analyserahmen entwickelte, der historische, soziale, ökonomische
und institutionelle Rahmenbedingungen als vorgelagerte Variablen mit einbezieht.
Zugleich revidierten die Autoren ihre Sicht auf das Verhältnis der Einstellungen
untereinander: Die Parteiidentifikation gilt nun als wichtigster Bestandteil der Va-
riablentrias, die in der Lage ist, die Wahrnehmung von politischen Themen und
Kandidaten zu beeinflussen.
Diese neue theoretische Konzeption dominierte die akademischen Debatte f€ur
mehr als eine Dekade. In der Folge wurde „The American Voter“ zu einer der bis
heute am häufigsten zitierten Monographien in der Geschichte der Wahlforschung.
Aus dem „American Voter“ und weiteren Umfrageprojekten der Ann Arbor-
Gruppe ging schließlich die US-amerikanische National Election Study hervor, die
seit 1948 jede nationale Wahl in den USA untersucht und damit eines der größten
sozialwissenschaftlichen Forschungsprojekte €uberhaupt darstellt. Im Laufe der Zeit
wurde die National Election Study so zum Vorbild f€ur nationale Wahlstudien auf der
ganzen Welt. Auch der indirekte Einfluß der Ann Arbor-Gruppe auf die Wahlfor-
schung ist somit enorm.
Im Laufe der Zeit wurde der urspr€ungliche Ansatz immer wieder ergänzt, modifi-
ziert und erweitert (Miller 1994), teils sogar durch die urspr€unglichen Autoren
(Miller und Shanks, 1996). Eine der interessantesten Entwicklungen besteht dabei
darin, daß in neuerer Zeit der sozialpsychologische Aspekt, der in der Praxis in den
Hintergrund getreten war, betont und zugleich der Anschluß an die moderne Kogni-
tionspsychologie gesucht wird (Weisberg und Greene, 2003).
Dennoch wurde Theorie und Forschungspraxis der sozialpsychologisch orientie-
rten Wahlforschung immer wieder als dogmatisch und wenig innovativ kritisiert
(siehe z. B. Achen 1992). Aus dieser intellektuellen Unzufriedenheit heraus speist
sich ein dritter Theoriestrang, der im nächsten Abschnitt vorgestellt werden soll.

2.3 Der Ökonomische Ansatz

Ausgangspunkt des „ökonomischen“ oder „rationalistischen“ Zugangs zur Wahlfor-


schung ist die „Economic Theory of Democracy“, mit der Anthony Downs 1957 zu
einem Wegbereiter des Rational Choice Ansatzes in der Politikwissenschaft wurde.
Obwohl Downs mit den Methoden und Ergebnissen der zeitgenössischen Wahlfor-
schung vertraut war, ging es ihm nicht darum, selbst eine empirische Studie durch-
zuf€uhren oder eine realistische Theorie des Wahlverhaltens zu entwickeln. Vielmehr
konstruiert Downs eine Modellwelt, in der sich aus einigen wenigen axiomatischen
Annahmen, die er aus der Mikroökonomie €ubernimmt, interessante Ergebnisse
ableiten lassen.
Downs unterscheidet dabei zwischen zwei Klassen von Akteuren: Wählern, die
ihr monetäres Einkommen aus der Regierungstätigkeit maximieren wollen, und
Parteien, die möglichst viele politische Ämter besetzen möchten. Sowohl Wähler
als auch Parteien sind dabei an die Regeln einer Verfassung gebunden, die freie, faire
und regelmäßige Wahlen vorsieht.
Wahlforschung in der Vergleichenden Politikwissenschaft 431

In Anlehnung an das Vorgehen in der Ökonomie geht Downs zunächst davon aus,
daß die Akteure € uber vollständige Präferenzen und Informationen verf€ugen. Diese
zweite Annahme gibt Downs dann schrittweise auf um so zu zeigen, daß der
R€uckgriff auf Ideologien und ähnliche Konstrukte eine durchaus rationale Strategie
sein kann, wenn die Kosten f€ur die Beschaffung zusätzlicher politischer Informatio-
nen deren erwarteten Nutzen deutlich €uberschreiten.
Zu Downs‘ bekanntesten Ergebnissen gehört neben dem auf Hotelling 1929
zur€uckgehenden Medianwähler-Theorem ¨C in einem Zweiparteiensystem mit einer
einzelnen Policy-Dimension werden die Programme rationaler Parteien an der
Position des Wählers konvergieren, der die ideologische Mitte des Elektorats re-
präsentiert -C- das Wahlparadoxon, das sich aus der rein instrumentellen Motivation
der Wähler ergibt.
Da Wähler sich nach den Modellannahmen ausschließlich f€ur ihr Einkommen aus
der Regierungstätigkeit interessieren, ergibt sich der Nutzen der Wahlteilnahme aus
der Differenz zwischen dem Einkommen, das sie unter der von ihnen bevorzugten
Partei erzielen, und dem Einkommen, das ihnen zufließt, wenn statt dessen die
zweitplazierte Partei die Regierung €ubernimmt. Anders als bei einer Kaufent-
scheidung kann der einzelne Wähler aber nicht eigenständig dar€uber entscheiden,
welche Partei die Wahl gewinnen soll. Vielmehr muß der potentielle Nutzen der
Wahlteilnahme mit der Wahrscheinlichkeit gewichtet werden, daß der Wähler selbst
die entscheidende Stimme abgibt, die der bevorzugten Partei zum Sieg verhilft.
Diese Wahrscheinlichkeit ist unter den Bedingungen einer Massendemokratie ver-
schwindend gering, so daß die Kosten der Wahlbeteiligung (vor allem die aufge-
wendete Zeit) deren erwarteten Nutzen stets €ubersteigen.3 Rationale Wähler sollten
sich deshalb nicht an Wahlen beteiligen. Dennoch liegt die Wahlbeteiligung bei
nationalen Wahlen in Demokratien meist deutlich höher als 50 Prozent.
Seit Erscheinen der „Economic Theory“ haben sich viele hervorragende Theore-
tiker darum bem€ uht, das Wahlparadoxon aufzulösen. Stärker empirisch orientierte
Forscher hingegen sehen in den realen Wahlbeteiligungsraten „the paradox that ate
Rational Choice Theory“ (Grofman 1993). Dennoch konnte sich ca. seit den 1970er-
Jahren eine Strömung der empirischen Wahlforschung entwickeln, die sich explizit
in die Tradition von Downs stellt. Dabei lassen sich vier Felder unterscheiden, auf
denen besonders intensiv geforscht wird:

1. Die Re-Interpretation der Parteiidentifikation als Summe der (ökonomischen)


Erfahrungen („running tally“), die ein Wähler im Laufe seines politischen Lebens
mit den Parteien gemacht hat (Fiorina 2002).
2. Die Modellierung von mehrdimensionalen issue- bzw. policy-Räumen, innerhalb
derer Wähler Präferenzen entwickeln und Parteien programmatische Angebote
machen (siehe als Überblick Pappi 2000).

3
Dies gilt sofern die Wahlteilnahme keinen ergebnisunabhängigen (intrinsischen) Nutzen stiftet,
was aber den Grundannahmen des Modells widersprechen w€ urde.
432 K. Arzheimer

3. Die Bedeutung der Wirtschaftslage f€ur die Erfolgsaussichten von Regierung und
Oppostion (Lewis-Beck und Paldam, 2000).
4. Die Analyse von Anreizen zum taktischen Wählen,4 die der Kontext und insbe-
sondere das Wahlsystem auf rationale Wähler aus€uben (Cox 1997).

Insbesondere die letzten drei Felder sind f€ur die vergleichende Wahlforschung
von großer Bedeutung.

3 Vergleichende Wahlforschung

3.1 Forschungsfelder

3.1.1 Kontextvariablen
In der Forschungspraxis existiert faktisch keine Trennung zwischen (international)
vergleichender und nationaler (oder subnationaler) Wahlforschung. Nur wenige
Forscherinnen und Forscher, die in diesem Bereich aktiv sind, sehen sich ausschließ-
lich als Länderspezialisten oder Komparativisten. Dennoch gibt es einige typische
Forschungsfelder, die in der national orientierten Forschung keine oder eine gerin-
gere Rolle spielen. Dies erklärt sich daraus, daß einige f€ur die Wahlforschung
interessante Variablen innerhalb eines politischen Systems €uber längere Zeiträume
völlig oder fast stabil sind.
An erster Stelle ist hier das Wahlsystem zu nennen, das in etablierten Demokratien
nur höchst selten verändert wird, da eine Veränderung in der Regel nicht im Interesse
der Parteien liegt, die dar€uber im Parlament zu entscheiden haben. Kommt es
tatsächlich zu einem Wechsel des Wahlsystems wie etwa 1996 in Neuseeland, so
stellt sich außerdem die Frage, inwieweit das Wählerverhalten vor und nach der
Wahl € uberhaupt miteinander vergleichbar ist, und ob ein Wechsel des Wahlsystems
möglicherweise eine Folge langfristiger Veränderungen im Wahlverhalten als deren
Ursache ist. Deshalb bietet es sich an, die Wirkung von Wahlsystemen im inter-
nationalen Vergleich zu untersuchen. Im Mittelpunkt steht dabei häufig die Frage,
ob, wie von (Duverger 1951) in seinem ber€uhmten „Gesetz“ behauptet, das Wahl-
system einen entscheidenden Einfluß auf das Format des Parteiensystems hat.
Dabei ist allerdings zu beachten, daß Wahlsysteme innerhalb einer Region oft
kaum variieren. So zeigt ein Blick in die Datenbank der Internationalen Parlamenta-
rischen Union, daß lediglich acht von 64 europäischen Staaten ein Mehrheitswahl-
system verwenden. Bei den karibischen Staaten hingegen sind es 14 von 22 Staaten,
in denen nach diesem System gewählt wird (http://www.ipu.org/).
Neben dem Wahl- und Parteiensystem wurden und werden in der international
vergleichenden Wahlforschung eine Vielzahl weiterer Kontextvariablen untersucht.

4
Taktisches Wählen liegt dann vor, wenn sich eine Wählerin bewußt nicht f€ ur die eigentlich
bevorzugte Partei entscheidet, etwa weil sie glaubt, daß diese in einem Mehrheitswahlsystem
ohnehin keine Chance hat, ins Parlament einzuziehen.
Wahlforschung in der Vergleichenden Politikwissenschaft 433

Insbesondere im Bereich der Rechtsextremismusforschung wird etwa der Effekt von


Sozialausgaben, Zuwanderungs- und Arbeitslosenquoten auf die Wahlabsicht
zugunsten der Extremen Rechten untersucht (Lubbers und Scheepers 2002; Swank
und Betz 2003). In ähnlicher Weise kann auch das Verhalten anderer Parteien (Arz-
heimer 2009) oder institutioneller Faktoren (Arzheimer und Carter 2006) mit in die
Modelle aufgenommen werden. Dabei zeigt sich in der Regel, daß diese (nationalen)
Kontextvariablen durchaus erklärungskräftig sind, ohne daß individuelle Merkmale
und solche Unterschiede zwischen den Ländern, die nicht durch Variablen abge-
bildet werden können, an Bedeutung verlieren w€urden.

3.1.2 Class Voting und die Bedeutung der Religion


In Abschn. 2.1 wurde die auf Lipset und Rokkan zur€uckgehende Theorie der
sozialen Spaltungen (cleavages) vorgestellt. Zwei dieser Cleavages -C- Arbeit
vs. Kapital und Staat vs. (katholische) Kirche ¨C sind daf€ur verantwortlich, daß
sozialdemokratische und christdemokratische Parteien bis in die 1980er-Jahre hinein
das politische Leben in vielen westeuropäischen Gesellschaften bestimmen konnten.
Zur sozialen Basis beider Parteifamilien liegt eine kaum €uberschaubare Literatur
vor die zeigt, daß sich in der Tendenz der Effekt der Klassenzugehörigkeit deutlich
abgeschwächt hat. Neuer Studien belegen aber, daß sich diese Entwicklung in
verschiedenen Ländern durchaus unterschiedlich darstellt (Nieuwbeerta und Graaf
2001). Auch von einem universellen Bedeutungsverlust der Religionszugehörigkeit
f€ur das Wahlverhalten kann keine Rede sein (Broughton und Napel 2000). Im
Ergebnis bedeutet dies: „Reports of the death of social cleavages are exaggerated“
(Elff 2007). Gleichwohl ist festzuhalten, daß in den meisten demokratischen Gesell-
schaften sowohl die Zahl religiöser Menschen als auch die Zahl derjenigen, die
Arbeiterberufe aus€uben und/oder sich selbst als Arbeiter verstehen, langsam aber
stetig sinkt.

3.1.3 Nichtwahl
In den letzten drei Dekaden ist die Wahlbeteiligung in Westeuropa (vgl. Abb. 1),
aber auch in anderen Weltregionen deutlich erkennbar gesunken. Da es sich hier klar
um einen länder€ubergreifenden Trend handelt, ist das Phänomen der Nichtwahl zu
einem wichtigen Gegenstand der vergleichenden Wahlforschung geworden. Im
Zentrum des Interesses stehen dabei drei Variablenkomplexe:

1. Unterschiede in der Zusammensetzung der Elektorate und dabei besonders der


Anteil der Jung- und Erstwähler
2. Politisch-kulturelle Unterschiede zwischen den Ländern
3. Institutionelle Unterschiede

Im Ergebnis zeigt sich, daß institutionelle Faktoren, die aus einer Rational
Choice-Perspektive die Kosten der Wahlbeteiligung beeinflussen, einen erheblichen
Teil der Varianz zwischen den Ländern erklären können. Besonders starke Effekte
haben -C- wenig €uberraschend ¨C das Bestehen einer Wahlpflicht sowie die
automatische Registrierung von Wählern, Möglichkeiten zur Briefwahl sowie das
434 K. Arzheimer

100
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Wahlbeteiligung

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60 FR
GB FR PT
PT
FR

50
1940 1960 1980 2000 2020
Jahr

Abb. 1 Wahlbeteiligung in den EU-15 Staaten. Quelle: IDEA

Abhalten von Wahlen an arbeitsfreien Tagen (Franklin und Oppenhuis 1995). Ein
hoher Anteil von Jung- und Erstwählern reduziert ceteris paribus die Wahlbeteiligung,
da die Teilnahme an Wahlen f€ur viele B€urger eine Gewohnheit darstellt, die sich im
Lebensverlauf stabilisiert (Plutzer 2002).
Beide Faktoren können aber das Absinken der Wahlbeteiligung nicht erklären, da
in fast allen Gesellschaften das Durchschnittsalter der Wähler durch den demo-
graphischen Wandel steigt und die institutionellen H€urden f€ur die Wahlteilnahme
in vielen Ländern gesenkt wurden. Der R€uckgang der Wahlbeteiligung muß deshalb
primär auf politisch-kulturelle Wandlungsprozesse, d. h. auf das Verblassen von
Wahlnormen und den Bedeutungszuwachs alternativer Beteiligungsformen (Norris
1999) zur€ uckzuf€
uhren sein, die in verschiedenen Ländern unterschiedlich weit
fortgeschritten sind. Auch die Abschwächung und allmähliche Auflösung von
Parteibindungen (dealignment, siehe Dalton und Wattenberg 2000), die mit dem
oben beschriebenen Bedeutungsverlust der traditionellen cleavages einhergeht, gilt
als wichtiger Faktor f€ur das Sinken der Wahlbeteiligung.

3.1.4 Economic Voting


„Economic Voting“ ist ein breites und dynamisches Forschungsfeld, dessen Grund-
annahmen auf Downs‘ ökonomische Theorie der Demokratie zur€uckgehen.5 Aus der
„Economic Voting“ Perspektive machen die B€urger die jeweilige Regierung f€ur die

5
Wie Lewis-Beck und Stegmaier (2009) zeigen, beschäftigte sich aber bereits die Ann Arbor-
Gruppe mit diesem Thema. Der Ansatz ist damit auch mit einer sozialpsychologischen Perspektive
kompatibel.
Wahlforschung in der Vergleichenden Politikwissenschaft 435

Wirtschaftslage eines Landes verantwortlich. Wenn sich wichtige makroökonomi-


sche Kenngrößen wie die Inflationsrate, die Arbeitslosenquote und das Bruttosozi-
alprodukt verschlechtern bzw. nicht signifikant verbessern, bestrafen die B€urger die
Regierungsparteien, indem sie ihnen in Abstimmungen und Umfragen ihre Unter-
st€utzung entziehen. Dieser Zusammenhang wird als „VP-Function“ bezeichnet
(Nannestad und Paldam 1994).
Aus einer Vielzahl von Studien, die seit den 1970er-Jahren durchgef€uhrt wurde,
läßt sich ein Kern von weiteren Befunden extrahieren, die weithin akzeptiert sind
(Lewis-Beck und Paldam 2000, S. 114): Wähler haben einen kurzen Zeithorizont,
sie orientieren sich stärker an der (unmittelbaren) Vergangenheit als an ihren Erwar-
tungen f€ur die Zukunft, die nationale Wirtschaftslage ist wichtiger als die persön-
lichen Finanzen und negative Entwicklungen werden von den Wählern stärker
gewichtet als positive Veränderungen.
Zu den Besonderheiten der „Economic Voting“ Forschung gehört, daß die be-
schriebenen Effekte bei vielen Wahlen recht stark ausfallen, während sie sich in
anderen Fällen nicht oder nur in geringem Umfang reproduzieren lassen (Lewis-
Beck und Paldam 2000, S. 113–114). Eine mögliche Erklärung daf€ur liegt in den
Kontextvariablen und hier insbesondere in den institutionellen Unterschieden zwi-
schen den Systemen. Während aus Sicht der Wähler in Mehrheitsdemokratien die
Verantwortlichkeit der Regierung f€ur die wirtschaftliche Entwicklung relativ klar
definiert ist, kommt es in Konsensusdemokratien durch die Zwänge, die sich aus der
Bildung von Koalitionsregierungen ergeben, aber auch durch die Intervention von
unabhängigen Zentralbanken, zweiten Kammern oder starken Verfassungsgerichten
zu einer Verantwortungsdiffusion. Dadurch schwächt sich der Zusammenhang zwi-
schen Wirtschaftslage und Popularität der Regierung bzw. der größten Regierungs-
partei erkennbar und systematisch ab (Anderson 2000; Nadeau Niemi und Yoshina-
ka, 2002).
Besonders interessant sind vor diesem Hintergrund politische Systeme, in denen
die „clarity of responsibility“ deutlich und in nachvollziehbarer Weise schwankt.
Dies gilt neben der Bundesrepublik etwa f€ur Frankreich, wo sich in Zeiten der
cohabitation aus Sicht der Wähler die Verantwortung f€ur die Wirtschaft vom Präsi-
denten zum Premierminister verschiebt (Lewis-Beck 1997).

3.2 Studien, Datenquellen

Die administrative und finanzielle Aufwand f€ur die international vergleichbare


Erhebung von Wählerdaten ist prohibitiv hoch. Wie oben bereits angedeutet, kam
es jedoch schon fr€uh zu einer Zusammenarbeit zwischen jenen Forschern, die f€ur
verschiedene nationale Wahlstudien verantwortlich waren. 1989 wurde diese Praxis
durch die Gr€undung des „International Committee for Research into Elections and
Representative Democracy“ (ICORE) formalisiert (Karvonen und Ryssevik 2001,
S. 44). Die f€
uhrenden europäischen Datenarchive hatten sich bereits in den 1970er-
Jahren zum „Council of European Social Science Data Archives“ (CESSDA, http://
www.cessda.org) zusammengeschlossen (Karvonen und Ryssevik 2001, S. 45).
436 K. Arzheimer

Neben einem Verzeichnis der von 1945–1995 durchgef€uhrten nationalen Wahl-


studien ist aus der Kooperation von ICORE, CESSDA und der University of
Michigan/Ann Arbor die Comparative Study of Electoral Systems (CSES) hervor-
gegangen (Lagos 2008, S. 589–590). Im Rahmen der CSES wird von den beteiligten
Institutionen im Anschluß an die Interviews f€ur die jeweilige nationale Studie eine
weitere Batterie von einheitlichen Fragen gestellt. Die so erhobenen Individualdaten
werden mit Meso- und Makro-Informationen zusammengespielt und stehen Wissen-
schaftlern auf der ganzen Welt online frei zur Verf€ugung (http://www.cses.org).
Inzwischen sind f€ur den Zeitraum von 1996 bis 2015 Daten aus mehr als 50 Ländern
verf€
ugbar. Damit ist die CSES f€ur die vergleichende Wahlforschung eine Ressource
von unschätzbarem Wert.
Ähnliche, aber spezifischere Ziele verfolgt die European Election Study (EES,
http://eeshomepage.net), die seit 1979 die direkten Wahlen zum Europäischen Par-
lament begleitet. Aus vergleichender Perspektive sind diese Europawahlen von
besonderem Interesse, weil hier in den Mitgliedsländern zum selben Zeitpunkt
Kandidaten f€ ur dieselbe Institution gewählt werden. Neben den Interviews mit den
Wählern, die f€ur alle Wahlen vorliegen, wurden zu einzelnen Urnengängen zusätz-
liche Kandidatenbefragungen sowie Inhaltsanalysen der Parteiprogramme und der
Medienberichterstattung durchgef€uhrt. Hinzu kommen weitere Kontextdaten. Auch
die Datensätze aus dem EES-Projekt stehen interessierten Wissenschaftlern €uber das
Internet zur Verf€ugung.
Neben diesen reinen Wahlstudien existiert inzwischen eine große Zahl weiterer
internationaler Surveys, die auch f€ur die Zwecke der Wahlforschung genutzt werden
können. Zu den wichtigsten dieser Studien zählen das Eurobarometer, der European
Social Survey und der World Values Survey.

3.3 Methoden

Dank der „Technological Revolution“ (Karvonen und Ryssevik 2001) in der Erhe-
bung und Verbreitung von Umfragedaten (die nicht zuletzt auch eine forschungs-
politische und -kulturelle Revolution darstellt) verf€ugt die vergleichende Wahlfor-
schung heute €uber Möglichkeiten, die in den 1990er-Jahren noch als utopisch galten.
Eine ähnliche Revolution hat sich auch auf dem Gebiet der Analysetechniken
und der Computerhardware vollzogen. Die Datensätze, die in der vergleichenden
Wahlforschung verwendet werden, sind f€ur sozialwissenschaftliche Verhältnisse
sehr groß. So umfaßt beispielsweise die (partielle) Kumulation der
Eurobarometer-Daten (Schmitt et al. 2009) mehrere 100 000 Fälle, was einigen
hundert Megabyte entspricht. Während fr€uhere Versionen dieser Kumulation die
zum Zeitpunkt ihrer Erstellung verf€ugbaren PCs an den Rande ihrer Leistungsfä-
higkeit brachten, lassen sich die heutigen, weitaus umfangreicheren Datensätze
problemlos mit Geräten aus den Regalen der Discounter bearbeiten. Parallel dazu
ist das technische Niveau der Analysen kontinuierlich gestiegen, weil Auswer-
tungsverfahren, die fr€uher eigene Programmierkenntnisse erforderten, in Summer
Wahlforschung in der Vergleichenden Politikwissenschaft 437

Schools und Doktorandenprogrammen gelehrt werden und in Standardsoftware


wie SPSS oder Stata implementiert sind.
Im Vergleich zur national orientierten Wahlforschung ergeben sich Besonder-
heiten zum einen aus der Natur der abhängigen Variable „Wahlverhalten“. Da die
Wähler in den verschiedenen Ländern vor je unterschiedlichen Alternativen stehen
-C- selbst bei den Europawahlen kandidieren bisher nationale Listen ¨C m€ussen die
nationalen Parteien bzw. Kandidaten einer Parteifamilie zugeordnet werden. Dies
wirft einerseits die Frage auf, ob etwa eine Entscheidung zugunsten der deutschen
SPD tatsächlich völlig äquivalent zu einer Stimme f€ur die griechische PASOK ist.
Andererseits ist unklar wie damit umzugehen ist, wenn sich die choice sets sehr stark
unterscheiden, weil eine bestimmte Parteifamilie in einem Land nicht existiert oder
faktisch keine politische Bedeutung hat. Forscher aus dem Umfeld der EES haben
als Lösung dieses Problems lange Zeit eine spezielle Form der linearen Regression
propagiert (Eijk und Kroh 2002), die eine aufwendige Variante der Wahlabsichts-
frage erfordert, ohne daß klar ist, ob sich die Probleme damit wirklich lösen lassen.
Die Mehrzahl der Arbeiten verwendet aber weiterhin eines der gängigen Verfahren
zur Analyse polytomer Daten (in der Regel die multinomiale logistische Regression)
oder dichotomisiert die abhängige Variable, indem das Stimmverhalten zugunsten
einer bestimmten Parteienfamilie mit allen anderen Entscheidungen kontra-
stiert wird.
Eine zweite Besonderheit besteht darin, daß die moderne vergleichende Wahl-
forschung danach strebt, die Effekte von Variablen auf der Mikro- (Personen), Meso-
(z. B. Kandidaten, Medieninhalte) und Makro-Ebene (Institutionen, nationale Wirt-
schaftslage etc.) gemeinsam zu modellieren. Als elegantes Verfahren daf€ur hat sich
in den letzten Jahren die statistische Mehrebenenanalyse etabliert, die gegen€uber
älteren Methoden eine Vielzahl von Vorteilen bringt (Steenbergen und Jones 2002).
Allerdings wird in der Literatur kontrovers dar€uber diskutiert, wieviele Länder f€ur
eine Mehrebenenanalyse benötigt werden und ob sich das Verfahren €uberhaupt
anwenden läßt, wenn diese Ländern nicht zufällig aus einer großen Population
ausgewählt werden (Stegmueller 2013).
Unabhängig von diesen Details der statistischen Modellierung bringt die Ver-
wendung von Makro-Daten, die sich in einem Land nur sehr langsam oder gar nicht
verändern, Probleme mit sich, die in dieser Form bei nationalen Wahlen selten
auftreten: Wenn beispielsweise das Wahlsystem innerhalb eines Landes konstant
ist, läßt sich sein Effekt auf die Wahl kleiner Parteien nicht schätzen, obwohl dieser
möglicherweise sehr stark ausgeprägt ist. Eine Effektschätzung muß dann aus-
schließlich auf Unterschieden zwischen den Ländern basieren. Dieses Vorgehen ist
aber mit neuen Problemen verbunden, weil die Zahl der Fälle in Relation zu den
interessanten Variablen klein ist, diese Variablen auf der Makro-Ebene in der Regel
sehr eng miteinander korreliert sind6 und €uberdies starke idiosynkratische Effekte
einzelner Länder auftreten (unit effects). In diesem Sinne sind viele Makro-Daten-

6
So gibt es beispielsweise innerhalb der Europäischen Union keinen föderalen Staat mit einem
Mehrheitswahlsystem.
438 K. Arzheimer

sätze „schwach“ (Western und Jackman 1994) ein in der makro-quantitativen For-
schung bekanntes grundsätzliches Problem, das auch durch die Verwendung moder-
ner Analyseverfahren und die gleichzeitige Ber€ucksichtigung von Mikro-Daten
nicht zu lösen ist.

4 Überschrift

Bereits seit den 1970er-Jahren haben sich durch den Vergleich von Ergebnissen aus
nationalen Wahlstudien die Perspektiven der Wahlforschung erheblich erweitert. Die
Anfänge der EES in den späten 1970er-und dann der CSES in den 1990er-Jahren
markieren den Übergang zu einer Forschung, die von vornherein auf eine Äquiva-
lenz der Konzepte und Instrumente ausgerichtet und damit genuin vergleichend
angelegt ist. Die fast flächendeckende Freigabe von Datensätzen f€ur Sekundärfor-
scher €
uber das Internet, die Fortschritte in der Computertechnik und die Verbreitung
moderner statistischer Methoden haben in den letzten zwei Dekaden einen weiteren
rasanten Fortschritt ermöglicht. Trotz der obengenannten Probleme zählt die inter-
national vergleichende Wahlforschung heute sowohl in der Wahlforschung als auch
in der Vergleichenden Politikwissenschaft zu den am weitesten entwickelten Sub-
disziplinen.

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Direkte Demokratie in der Vergleichenden
Politikwissenschaft

Theo Schiller

Zusammenfassung
Direkte Demokratie als institutionelle Form themenzentrierter B€urgerbe-
teiligung nimmt in den letzten Jahrzehnten zu, ist aber noch nicht €uberall
verbreitet. Die sehr unterschiedlichen Verfahrensvarianten (obligatorische Re-
ferenden und durch Staatsorgane oder B€urgergruppen initiierte Volksabstim-
mungen) verteilen sich ungleichmäßig €uber die Länder (nationale Ebene,
Bundesstaaten). Verfahrensunterschiede, Länderverteilung und Anwendungs-
häufigkeit machen vergleichende Analysen interessant, f€uhren jedoch wegen
Heterogenität des Feldes zu Begrenzungen. Untersuchungen innerhalb von
Weltregionen (besonders Europa) sind häufiger als €ubergreifende Studien.
Prozessverläufe und Aspekte von Ergebniswirkungen und Demokratiequalität
werden oft mit einer begrenzten Anzahl von Fällen und Entscheidungsthemen
eher diskursiv erörtert. Eine wichtige vergleichende Fragestellung verortet die
Wirkungsmechanismen direktdemokratischer Verfahren im Kontext politischer
Systemstrukturen wie Parteien und verschiedener Regierungssysteme, nicht
zuletzt auch verschiedenartiger Demokratiemodelle wie Mehrheitsdemokratie
und Konsensdemokratie. Qualitative Aspekte direkter Demokratie wie politi-
sche Artikulation, Kontrolle, Partizipation und Legitimation sind in breiter
angelegten Vergleichen nur partiell untersucht.
Methodisch wurden einige quantitativ ausgerichtete empirisch-analytische
Studien unternommen, doch qualitative Ansätze erweisen sich f€ur kleinere Fall-
zahlen als empfehlenswert.

T. Schiller (*)
Institut f€ur Politikwissenschaft, Universität Marburg, Marburg, Deutschland
E-Mail: schiller@staff.uni-marburg.de

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 441


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_35
442 T. Schiller

Schlüsselwörter
Direkte Demokratie • Volksinitiative • Volksbegehren • Volksabstimmung •
Volksentscheid • Plebiszit • Obligatorisches Referendum • Measures of Direct
Democracy (MDD) • Quorum • Verfassungsreferendum • EU-Vertragsänderungen

1 Einleitung

Volksabstimmungen bilden unbestritten ein Kernelement direkter Demokratie. Alle


Beobachter sind sich einig, dass direkte Demokratie in den letzten Jahrzehnten
deutlich zugenommen hat. Dann beginnt jedoch weitreichende Un€ubersichtlichkeit.
Direkte Demokratie weist einige Definitionsschwierigkeiten auf und umfasst recht
heterogene Formen von Beteiligungsverfahren. Sie ist nicht in allen Ländern anzu-
treffen, und wo es sie gibt, kommen oft unterschiedliche Verfahrensformen vor.
Während man bei anderen politischen Institutionen wie Parlamenten, Regierungen,
Parteien, Wahlen, Interessenverbänden usw. f€ur sehr viele Länder von einem be-
grifflichen Kern und gewissen Informationsbeständen ausgehen kann, sind bei
direkter Demokratie zunächst immer erhebliche Vorklärungen erforderlich, die €uber
Definitionsfragen hinausgehen. F€ur eine vergleichende Perspektive folgen daraus
zahlreiche Einschränkungen. Das gilt insbesondere dann, wenn €uber Europa hinaus
weitere Kontinente in den Blick genommen werden sollen.
Ähnlich wie vergleichende Demokratieforschung insgesamt verfolgen auch ver-
gleichende Untersuchungen direkter Demokratie das Ziel, die Erscheinungsformen,
Bedingungen, strukturellen Zusammenhänge, Prozesse und Qualitäten besser zu
verstehen. Dabei sollen einerseits die Besonderheiten in der Vielfalt der Länder
transparenter werden, andererseits die Fallzahlen erhöht und so die Verallgemeine-
rungsfähigkeit von Aussagen gesteigert werden – ein spannungsreiches Vorhaben.
Direkte Demokratie wird definiert als ein institutionelles Verfahren, bei dem
B€urgerinnen und B€urger selbst die Entscheidung €uber bestimmte Sachthemen treffen
können (themenzentriertes Verfahren). Im Zentrum steht dabei eine Volksabstim-
mung. Dabei lassen sich im Wesentlichen drei Grundtypen der Verfahren direkter
Demokratie unterscheiden: (a) von Staatsorganen ausgelöstes Referendum (ref. by
governmental authorities), (b) obligatorisches Referendum (mandatory ref.) und
(c) von B€urgern initiiertes Volksbegehren (Volksinitiative, citizens‘ initiative) €uber
einen eigenen Vorschlag oder Referendum €uber eine bereits getroffene Entscheidung
(insbesondere Gesetzentwurf). Hierzu gibt es verschiedentlich modifizierte (abge-
schwächte) Varianten und diverse Ausgestaltungen im Verfahrensdetail (vgl. unten).
Die aus dem antiken Griechenland bekannte Versammlungsdemokratie spielt (außer
in kleinen Gemeinden der Schweiz) keine Rolle mehr.
Auf diese Verfahren beziehen sich intensive Theoriediskussionen, die von der
Prämisse ausgehen, dass der demokratische Sinn direkter Demokratie im Kontext
repräsentativer Institutionen (ggf. dar€uber hinaus) auf ihrer möglichen Funktion
politischer Artikulation, Kontrolle und Legitimation von Entscheidungen sowie
einem Beitrag zu Lösung von Konflikten liegen sollte (Schiller 2002; zum Gesamt-
rahmen erweiterter Demokratiekonzepte Smith 2009; Geißel und Newton 2012).
Direkte Demokratie in der Vergleichenden Politikwissenschaft 443

Die folgende Übersicht stellt zunächst wichtige Informationsquellen vor. Der


zweite Abschnitt skizziert deskriptive Grundlagen zu Verfahren, Länderverteilung
und Anwendungshäufigkeit. Abschnitt 3 erörtert Untersuchungsansätze zur Häufig-
keit und zu Fragestellungen mit stärkerer Ausrichtung auf Themenkreise, die Gegen-
stand direktdemokratischer Prozesse waren. Der vierte Abschnitt widmet sich schließ-
lich der Diskussion €uber die Rolle direkter Demokratie im Kontext politischer
Systeme, besonders verschiedener Varianten und Modelle von Demokratie.

2 Informationsgrundlagen

Während in einzelnen Ländern wie der Schweiz und den USA (Ebene der Einzel-
staaten) längere Forschungstraditionen bestanden, setzten länder€ubergreifende Publika-
tionen zur direkten Demokratie erst in den 1970er-Jahren im Zuge der neueren Diskus-
sion €
uber politische Partizipation (wieder) in nennenswertem Umfang ein. Wegbereiter
war der Sammelband „Referendums“ (Butler und Ranney 1978), der zu „Referendums
around the World“ (1994) aktualisiert und erweitert wurde. Wenngleich nicht im strikten
Sinne vergleichend, boten diese Bände umfangreiches Beschreibungsmaterial f€ur Ent-
stehungsprozesse, Verfahrensregeln und Anwendungen in vielen Ländern. Informa-
tionsreich und stärker vergleichend ausgerichtet waren dann Möckli (1994) mit Schwer-
punkt auf die Schweiz und Kalifornien, Luthardt (1994) zu den westeuropäischen
Ländern und ähnlich informativ „The Referendum Experience in Europe“ (Gallagher
und Uleri 1996). Eine regionale Erweiterung des Spektrums repräsentieren die Länder-
analysen zu Mittel- und Osteuropa (Auer und B€utzer 2001; Neumann und Renger
2012). Grundlagen f€ur Lateinamerika bieten u. a. Lissidini et al. (2008) sowie Altman
(2011, S. 110–187), der dar€uber hinaus globalere Fragen verfolgt. Übersichtsbeiträge
f€
ur alle Kontinente/Weltregionen enthält neuerdings Qvortrup (2014).
Einen stärker dokumentarischen Charakter haben Publikationen wie Kaufmann
und Waters (2004) zu Europa, ähnlich das „Guidebook to Direct Democracy in
Switzerland and beyond“ von Kaufmann et al. (2005–2010) mit mehreren Ausgaben
in zahlreichen Sprachen. Auf einen weltweiten Länder- und Anwendungshorizont
richtet sich „Direct Democracy. The International IDEA Handbook“ (2008). F€ur
Asien ist verf€ugbar: „Direct Democracy in Asia: a Reference Guide to the Legisla-
tions and Practices (Hwang 2006).
Als Informationsquellen unverzichtbar sind die Webseiten des Zentrums f€ur
Demokratie Aarau, Schweiz, mit dem Forschungszentrum f€ur direkte Demokratie
(www.c2d.ch), die Suchmaschine www.sudd.ch, International IDEA (www.idea.int/
databases) sowie von Democracy International und IRI Europe (www.direct-
democracy-navigator). F€ur Vergleiche in Deutschland stellt die NGO ‚Mehr-Demo-
kratie‘ umfangreiches Material zur Verf€ugung (http://www.mehr-demokratie.de/ra
nkings-berichte.html). In den herkömmlichen weltweiten Demokratieindizes
(z. B. Freedom House, POLITY) spielte direkte Demokratie kaum eine Rolle. Neu-
ere Indikatorenprojekte integrieren nun direkte Demokratie, so das Demokratiebaro-
meter (www.democracybarometer.org) sowie die Plattform Varieties of Democracy
(www.V-Dem.net).
444 T. Schiller

3 Verfahrensregelungen – Länderverteilung – Häufigkeit

Als Ausgangspunkt bedarf es deskriptiver Grundlagen f€ur Verfahrensregelungen,


ihre Verteilung auf die Länder und die Häufigkeit praktischer Anwendung.
Gemäß der genannten Ausgangsdefinition lassen sich drei Grundtypen der
Verfahren direkter Demokratie unterscheiden, die alle letztlich zur Entscheidung
in einer Volksabstimmung f€uhren: (a) von Staatsorganen ausgelöstes Referendum
(ref. by governmental authorities), (b) obligatorisches Referendum (mandatory
ref.) und (c) von B€urgern initiierte Volksbegehren (Volksinitiative ‚citizens‘
initiative) sowie das Gesetzesreferendum. Dabei m€ussen jeweils Detailregelun-
gen getroffen werden: Zu (a) dasjenige Staatsorgan, das unter bestimmten Kau-
telen zur Auslösung berechtigt ist (Präsident, Regierung, Parlamentsmehrheit
oder -minderheit, regionale Einheit etc.); zu (b) der Gegenstand einer Vorlage,
der per definitionem ein Referendum erfordert; zu (c) die Anforderungen, die von
einer Initiatorengruppe erf€ullt werden m€ussen (Art der Vorlage, evtl. ausge-
schlossene Gegenstände, Zahl unterst€utzender Unterschriften, Zeitraum f€ur Ini-
tiative, evtl. Verfahrensstufen usw.). F€ur alle Formen ist zu klären, ob die
G€ultigkeit der Entscheidung an die Mehrheit der abgegebenen Stimmen oder
ein zusätzliches Kriterium (z. B. Beteiligungs- oder Zustimmungsquorum) ge-
bunden ist.
Abgewandelte Typen können nur ein unvollständiges Verfahren anbieten,
z. B. eine Agenda-Initiative, die von einem Parlament oder einem anderen Organ
nur zu beraten ist, oder Verfahren, die nur zu einer unverbindlichen Entscheidung
f€
uhren („Volksbefragung“). Auch Kombinationen von Verfahrenselementen sind
in zahlreichen Ländern vorhanden. Eine Vergleichsstudie zu den verfassungs-
mäßigen Formen direkter Demokratie stellte Suksi (1993) bereit. Die Vielzahl
möglicher Ausgestaltungen legen es nahe, bereits die prozessualen Folgen von
Verfahrensunterschieden zu untersuchen (Auswirkungen auf Häufigkeit, Beteiligte,
Ergebnisse usw.). Ansonsten ergibt sich aus dieser Vielfalt oft die Frage,
welche Vergleiche zwischen Ländern sinnvoller Weise angegangen werden
können.
In welchen Ländern welche Verfahren vorkommen, bildet ein zweites Feld der
deskriptiven Ausgangspunkte weitergehender Analysen. Weltweit scheiden 68 von
knapp 200 Ländern aus, die weder Regelungen noch einen Fall von ad hoc-Praxis
aufweisen (Altman 2011, 62 ff.). Bei den etwa 130 anderen Ländern gibt es solche,
die im Wesentlichen nur ein dominantes Verfahren kennen, das auch Praxisrele-
vanz erreicht hat, wie z. B. obligatorische Referenden €uber Verfassungsänderun-
gen in Irland oder Australien, oder vom Präsidenten ausgelöste Referenden €uber
staatliche Grundsatzfragen wie in Frankreich, oder das von B€urgern initiierte
„referendum abrogativo“ in Italien, mit dem Gesetze ganz oder teilweise aufge-
hoben werden können. Andere Länder wie Großbritannien oder Schweden prakti-
zierten nur einzelne durch Parlamentsentscheidung ad hoc angesetzte Referenden.
Manche Länder ermöglichten B€urgern bisher „von unten“ nur eine Agenda-
Direkte Demokratie in der Vergleichenden Politikwissenschaft 445

Initiative (Polen, Spanien), während Neuseeland einem b€urgerinitiierten Volksent-


scheid nur ein unverbindliches Ergebnis einräumt. Eine Reihe von Ländern hinge-
gen kennt eine Mehrzahl von Verfahren, wie z. B. Lettland, Litauen, die Slowakei
oder Uruguay. Hierzu gehört nat€urlich insbesondere die Schweiz mit einem breiten
Verfahrensangebot auf Bundes-, Kantons- und Kommunalebene (grundlegend
Kriesi 2005). Sie fungiert daher normativ und empirisch häufig als Referenzland.
Übersichten € uber Länder und zugeordnete Verfahrensvarianten finden sich z. B.
bei IDEA (2008), www.idea.int/databases, und auf der Webseite des Zentrums f€ur
Demokratie Aarau (www.c2d.ch).
Dies gilt zunächst und hauptsächlich f€ur die nationale Ebene. Im Rahmen bundes-
staatlicher Ordnungen ist auch die Ebene der Teilstaaten (Länder, Provinzen usw.)
untersuchungsrelevant, so in der Schweiz, USA, Kanada, Deutschland, Australien,
Brasilien oder Indien. Vergleiche m€ussten dann primär auf der teilstaatlichen Ebene
angesetzt werden, was jedoch länder€ubergreifend selten ist. Bestimmte Fragestellun-
gen mögen auch zwischen Teilstaaten und der nationalen Ebene anderer Länder
sinnvoll sein (vgl. z. B. Möckli 1994). Vergleichsstudien innerhalb von Ländern wie
zwischen den Einzelstaaten der USA, sind wegen ihrer Anzahl kaum €uberschaubar
(Bowler et al. 1998), auch die schweizer Kantone sind inzwischen gut untersucht
(Vatter 2002). Länderstudien zum Vergleich der kommunalen Ebene liegen f€ur
Europa vor (Schiller 2011b).
Ein drittes Feld der Deskription umfasst die Häufigkeit der Verfahrensanwen-
dung, die ebenfalls zunächst empirisch erfasst werden muss und dabei Probleme
der Datenverf€ ugbarkeit mit sich bringt. Wichtig ist eine Differenzierung nach
Verfahrenstypen, zumindest nach Grundtypen, denn f€ur beabsichtigte Erklärungs-
untersuchungen können durchaus unterschiedliche Faktoren relevant werden.
Verf€ ugbare Informationsquellen bieten nicht immer hinreichend klare verfahrens-
differenzierte Daten, fr€uher auch die weltweit wichtigste Datenbank, nämlich die
des Zentrums f€ ur Demokratieforschung Aarau/Uni Z€urich, www.c2d.ch. Weitere
Merkmale sollten möglichst sein: politische Themen, Stimmbeteiligung, Ergeb-
nis. Dar€ uber hinaus werden je nach Fragestellung zusätzliche Informationen er-
forderlich sein.
Über einen längeren Zeitraum ergibt sich, dass sich seit Mitte der 1940er-Jahren
weltweit die Zahl der Länder auf knapp 200 verdreifacht hat und die Verfahren
direkter Demokratie bis 2010 auf das Doppelte gestiegen sind (Altman 2011,
S. 62–65). Begrenzt auf den Zeitraum 1985–2009 umfasst Altmans Datengrundlage
949 praktizierte Verfahren, davon 681 als Top-down initiiert und 328 als b€urger-
initiiert (eine Häufigkeitsliste nach Ländern und MDD-Typus ebd., S. 204–208).
Der hohe Anteil der Schweiz von 237 Fällen oder 25 Prozent an allen Verfahren ist
von vornherein festzuhalten, um mögliche Verzerrungen quantitativ-empirischen
Analysen transparent halten zu können.
Erst diese deskriptive Trias von Verfahrensformen, Länderverteilung und Häu-
figkeit in der Praxis macht eine fruchtbare vergleichende Forschung zur direkten
Demokratie möglich.
446 T. Schiller

4 Fragestellungen/Analyseschwerpunkte

Auf diesem Hintergrund bieten sich der Forschung vielfältige Fragestellungen f€ur
vergleichende Analysen, von denen einige stärker bearbeitet wurden. Es liegt nahe,
dass dabei verschiedenartige methodische Ansätze in Frage kommen. Neben tradi-
tionell vorherrschenden qualitativen Fallbeschreibungen und -vergleichen treten zu-
nehmend quantitative empirisch-analytische Ansätze. Angesichts der faktischen
Heterogenität des Feldes stoßen sie jedoch auf spezifische Schwierigkeiten. Da
Vergleiche zur direkten Demokratie öfters mit kleineren Fallzahlen arbeiten m€ussen,
kann die stärkere Nutzung von Methoden wie Qualitative Comparative Analysis
(QCA) hilfreich sein.
Erklärungen f€ur die Entstehung von Verfahrensregelungen in diversen Ländern
wurden bisher eher in historischen Einzelstudien oder in kleinen Vergleichsgruppen
untersucht (ein typologischer Vorschlag bei Schiller 2011a). Die Häufigkeit von
Verfahrensanwendungen wird oft punktuell, landesspezifisch erklärt, wobei auch
Besonderheiten von Verfahren, etwa diverse Restriktionen eine Rolle spielen; ver-
einzelt wird empirisch-analytisch vorgegangen (vgl. unten a). Nicht selten konzen-
triert sich die Fragestellung auf Themenbereiche direktdemokratischer Verfahren,
dann r€ ucken Motive der Verfahrensauswahl, besondere Konfliktstrukturen, der
Prozess- und Kampagnenverlauf, die Ergebnisses und die politischen Entschei-
dungswirkungen in Bezug auf Innovationsgehalt und soziale Auswirkungen in den
Vordergrund. Ein weiteres, allgemeineres Diskussionsfeld sind mögliche Wirkungen
von Institutionen und Prozessen direkter Demokratie im Kontext der politisch-
institutionellen Systemstrukturen, wof€ur sich der Rahmen politischer Systemver-
gleiche besonders eignen sollte. Schließlich stellen sich auch normative Fragen nach
der Realisierung der demokratietheoretischen Versprechen direkter Demokratie.
Auch wenn diese theoretisch breit und häufig im landesspezifischen Rahmen disku-
tiert werden, kann auch vergleichende Forschung zu Klärungen dar€uber beitragen,
inwieweit direkte Demokratie qualitative Beiträge zur Demokratie im Ganzen er-
bringen kann, wie politische Partizipation und politische Gleichheit beeinflusst wird
oder welches Potential f€ur Konfliktlösungen eingesetzt werden kann.

4.1 Anwendungshäufigkeit

Zur Anwendungshäufigkeit direktdemokratischer Verfahren hat David Altman


(2011, S. 60 ff., 70 ff.) den bisher umfassendsten empirischen Erklärungsansatz
entwickelt. Altman begrenzt seine Analyse der Anwendungshäufigkeit auf die Jahre
1985 bis 2009. Dabei legt er alle praktizierten „Measures of Direct Democracy“
(MDD) weltweit zugrunde, nämlich 949 Fälle, verteilt auf die jeweiligen Jahre.
Diese fanden unterschiedlich häufig in etwa 130 Ländern statt, während 68 Länder
keinerlei Fälle aufweisen. Von oben ausgelöst (top-down TD-MDDs) waren es
621 Fälle, von unten (citizen-initiated CI-MDDs) 328 Fälle. Von den b€urger-initiier-
ten CI-MDDs fanden 90 % in nur sieben Ländern statt (Schweiz, Italien, Liechten-
stein, Litauen, Lettland, Ungarn sowie Uruguay außerhalb Europas), auf die
Direkte Demokratie in der Vergleichenden Politikwissenschaft 447

Schweiz allein entfallen 167 Fälle oder 51 Prozent. Das beschränkt von vornherein
die Suche nach erklärenden Aussagen.
Alle Länder differenziert Altman nach Demokratien, Autokratien und Hybrid-
Systemen, die an Hand kombinierter, bekannter Demokratie-Indizes unterschieden
werden; der Anteil der Demokratien beträgt ein Drittel.1 Die Verfahrensfälle werden
diesen Systemtypen zugeordnet, damit der politische Systemkontext als ein mögli-
cher Erklärungsfaktor genutzt werden kann.
Aus einer umfangreichen Diskussion von Theorieansätzen wird eine größere Zahl
möglicher Erklärungsvariablen destilliert, insbesondere zu Regimestrukturen, Be-
völkerungsgröße, wirtschaftliche Faktoren (Kaufkraftparität, GDP/Wachstum),
fr€
uher Kolonie Großbritanniens, fr€uher kommunistischer Staat, soziale Diversität,
MDDs in Nachbarstaaten. Verf€ugbare, zum Teil modifizierte internationale Daten-
sätze dienen als operationale Grundlage der Korrelationsanalyse.
Im Ergebnis fand er deutliche Zusammenhänge zwischen einem hohen Demo-
kratiestandard und der Häufigkeit von CI-MDDs, aber auch von top-down-MDDs.
Fr€uhere kommunistische Staaten zeigten ebenfalls mehr Anwendungshäufigkeit bei
beiden Formen, während Präsidialregime und Militärdiktaturen nur, aber in relevan-
tem Umfang, Top-down-Verfahren praktizierten. Als weiterer Einflussfaktor wurde
die Existenz von direkter Demokratie in Nachbarstaaten als Diffusionsprozess iden-
tifiziert (Altman 2011, S. 81–87).
Kein signifikanter Zusammenhang fand sich zwischen MDD-Häufigkeit und den
ökonomischen Faktoren, einer föderalistischen Ordnung, der Bevölkerungsgröße
und sozialer Diversität. Deutlich negativ wirkte sich offenbar der fr€uhere Status als
britische Kolonie aus, während dieser Faktor in allgemeinen Demokratievergleichen
regelmäßig positiv nachgewiesen wurde.
Diese zum Teil €uberraschenden Ergebnisse bilden sich auch klar in den Aus-
wertungsmodellen ab, die die Schweiz wegen ihrer verzerrenden hohen Anteile
ausklammern. Insgesamt erscheinen die Resultate begrenzt. Immerhin unterstrei-
chen sie f€ur b€
urgerinitiierte Verfahren den engen Zusammenhang mit hohen allge-
meinen Demokratiestandards in den relativ wenigen einschlägigen Ländern. Das gilt
auch f€ur einen Teil der Top-Down-Verfahren, f€ur die andererseits ein beträchtlicher
Anteil einem autoritären Regimekontext entstammt. Nicht in die Analyse einbezo-
gen hat Altman die Frage, ob spezifische Entstehungsbedingungen der direktdemo-
kratischer Verfahren weitere Einfl€usse im Sinne einer Pfadabhängigkeit in Gang
bringen und ob inhaltlich-thematische Faktoren auch f€ur die Erklärung von
Verfahrenshäufigkeit herangezogen werden könnten. Auch d€urfte die liberale oder
restriktive Ausgestaltung der Verfahrensh€urden nicht ganz ohne Auswirkung auf die
Häufigkeit von b€ urgerinitiierten Verfahren (Volksinitiativen/-begehren, Gesetzesre-
ferendum) bleiben.

1
Altman (2011, S. 69) zeigt ein Schaubild der quantitativen Entwicklung der Regimetypen, wonach
die drei Typen im Jahr 2000 jeweils etwa 60 Länder umfassen. Die genauen Zahlen werden nicht
genannt. Auch vermisst man eine Aufteilung der staats-initiierten Referenden zwischen den
Regimetypen.
448 T. Schiller

4.2 Themenbezogene Vergleiche

Während Häufigkeitsanalysen meist bei pauschalen Verfahrensereignissen ansetzen,


wählen zahlreiche Studien politische Themen solcher Verfahren aus und untersuchen
Prozessverläufe und -qualitäten (wieweit Themenhäufigkeit Verfahrenshäufigkeit
erhöht, bleibt offen). Dabei können normative und erklärende Fragestellungen
durchaus kombiniert sein.
Als Beispiel sei etwa Qvortrup (2005) genannt, der f€ur mehrere Länder der Frage
nachgeht, wieweit Referenden eine Kontrollfunktionen als „constitutional safe-
guard“ wahrnehmen können, ob sie die Rechte von Minderheiten beeinträchtigen,
und ob ihre Policy-Wirkung als konservative Abschirmung gegen€uber sozialfort-
schrittlichen „salutary reforms“ bewertet werden m€ussen. An Hand von Vorgängen
in zahlreichen Ländern ergibt sich hierzu im Wesentlichen eine positive Bilanz als
„constitutional safeguard“.
LeDuc (2003) wählte ein zugleich breiter und spezifischer angelegtes Themen-
spektrum, nämlich jeweils vier Referenden in 15 Ländern €uber (a) Verfas-
sungsfragen, (b) Verträge und internationale Vereinbarungen, (c) Souveränität,
nationale Selbstbestimmung und Devolution, sowie (d) diverse Policy-Themen.
In den meisten Fällen handelte es sich um Referenden, die von Staatsorganen
ausgelöst wurden bzw. um obligatorische Referenden. Die qualitativen Fallanalysen
behandeln Verfahrensregeln, Themengenese, Entscheidung von Staatsorganen und
Parteien f€ur ein Referendum, Prozessverlauf, Kampagnenmuster, Stimmbeteiligung
und Ergebnis sowie eine Bilanz €uber das Potential von Referenden zur Lösung
tiefgreifender Konflikte und ergeben eine abwägend reflektiertes Gesamtbild
begrenzter Werterf€ullung und funktionaler Möglichkeiten direktdemokratischer
Verfahren.
Der von Freitag und Wagschal (2007) herausgegebene Band diskutiert vor allem
Wirkungen direkter Demokratie auf Beteiligungsmuster, politische Unterst€utzung,
Sozialkapital und Interessendurchsetzung (vor allem f€ur die Schweiz), aber auch
dar€uber hinaus f€ur Politikbereiche wie Minderheitsinteressen, Moralentscheidungen
(Schwangerschaftsabbruch), Sozialpolitik und Finanzpolitik.
Besondere Aufmerksamkeit erlangte das Themenfeld Europäische Integration,
sowohl mit Bezug auf EU-Erweiterung als auch f€ur Vertragsentscheidungen ein-
schließlich den „Verfassungsvertrag“ (Überblick bei Grotz 2009). Neben zahlrei-
chen Studien zu Einzelfällen oder kleinen Fallgruppen gibt es auch Ansätze, die
alle europabezogenen Referenden vergleichend untersuchen. Die Zustimmung zu
diesen Beitrittsentscheidungen und Vertragsänderungen wurde nach Wagschal
(2007, S. 65 ff.) durch mehrere systemstrukturelle Faktoren beg€unstigt, insbeson-
dere Wohlstandserwartungen und wirtschaftlicher Problemdruck in eher ärmeren
Ländern und die allgemein positive Einstellungen zu Europa; hingegen wirkte
innenpolitische Konflikthaftigkeit eher negativ. Andere Studien stellten politische
Prozesse wie Ratifikationsstrategien, Kampagnenverlauf, Partizipationsbedingun-
gen, Debattenkultur u. ä. in den Mittelpunkt (zu weiteren Ansätzen vgl. Hobolt
2009; Grotz 2009).
Direkte Demokratie in der Vergleichenden Politikwissenschaft 449

5 Direkte Demokratie im Kontext politischer Systeme

Direkte Demokratie ist zweifellos vorrangig im Rahmen demokratischer Systeme zu


verorten und wird deshalb (primär) in ihrem Verhältnis zu Systemstrukturen der
Repräsentation diskutiert. Jedoch sollte man nicht €ubersehen, dass Volksabstimmun-
gen auch in Autokratien verschiedener Art genutzt werden. So hat die Häufigkeits-
verteilung von Altman (2011) gezeigt, dass ein beträchtlicher Anteil von Refe-
renden, die durch Staatsorgane initiiert werden, in autokratischen Systemen
stattfand.2 Altman hat diesem Thema verdienstvoller Weise ein eigenes Kapitel
gewidmet, das der Verwendungsmotivation und der Prozessdynamik von Plebisziten
mit einer Liste der Fälle und Vertiefung einiger Einzelfälle in Uruguay, Chile und
Zimbabwe nachgeht (Altman 2011, Kap. 4, S. 88–109). Ein solcher Blickwinkel
ermöglicht dann auch interessante Vergleiche mit Referenden, die von Staatsorganen
im demokratischen Rahmen initiiert werden.
Im Kreis demokratisch verfasster Systeme genießt die Unterscheidung von par-
lamentarischen Regierungssystemen und Präsidialsystemen traditionell große Auf-
merksamkeit. F€ ur direktdemokratische Verfahren besteht in Präsidialsystemen eine
besondere Konstellation, da eine stärkere institutionelle Spannung zwischen Präsi-
dent und Parlament die Anwendung von Referenden beg€unstigt. An den zahlreichen
Präsidialsysteme in Lateinamerika wurde f€ur mehrere Staaten (u. a. Bolivien, Ecu-
ador, Peru, Uruguay) auf dem Hintergrund der politischen Interessenstrukturen diese
spezielle Konfliktdynamik aufgezeigt (Altman 2011, S. 110 ff.; Breuer 2009; Lissi-
dini et al. 2008).
Im allgemeinen Rahmen demokratischer Systeme gingen Frankenberger et al.
(2014) der speziellen Fragestellung nach, wieweit in Ländern mit vorhandenen
Verfahrensregeln f€ur direkter Demokratie allgemeine Verhaltensmuster und Ein-
stellungen der politischen Partizipation und die systemische Qualität der Demokratie
erkennbar gestärkt werden. F€ur 32 demokratische Staaten konnten sekundäranaly-
tisch anhand kombinierter internationaler Indikatoren mögliche Wirkungen auf
Regierungseffektivität, Transparenz, Responsivität und politische Gleichheit bei
der Repräsentation (deskriptive Repräsentation) jedoch nicht gefunden werden. Ob
die stärkere Ber€ ucksichtigung höherer Anwendungsfrequenz, detailliertere Daten,
Längsschnittstudien oder eine Differenzierung verschiedener direktdemokratischer
Verfahren andere Ergebnisse liefern w€urde, mussten die Autoren offen lassen (ebd.,
S. 307 ff., 312).
Direkte Demokratie vollzieht sich immer im Umfeld eines institutionell kom-
plexen politischen Systems, meist einer repräsentativen Demokratie mit Parteien-
wettbewerb. Der Frage, welchen Einfluss Parteien auf die Prozesse direktdemo-
kratischer Willensbildung aus€uben, kommt daher große Bedeutung zu. Hornig

2
Die Bezeichnung „direkte Demokratie“ oder „measures of direct democracy – MDD“ (Altman)
wird unter solchen nicht-demokratischen Kontextbedingungen allerdings irref€
uhrend und sollte
vermieden werden; passender ist der (in Deutschland leider inflationär gebrauchte) Ausdruck
„Plebiszit“ oder neutraler „Volksabstimmung“.
450 T. Schiller

(2011) zweifelt am Potential der direktdemokratischen Verfahren, Parteienherr-


schaft und repräsentative Mechanismen zu relativieren, zu korrigieren oder zu
„stören“ und betont demgegen€uber die „Parteiendominanz“. Diese differenziert er
nach der inhaltlichen Urheberschaft, der Auslösung verschiedener Verfahren, dem
Abstimmungsergebnis und der Umsetzung von Volksentscheiden, wof€ur ein Index
der Parteienprägung („partyness“) gebildet wird. Von den neun untersuchten europä-
ischen Ländern verf€ugten allerdings im Untersuchungszeitraum vier nicht €uber ge-
regelte Verfahren, sondern parlamentarische Ad-hoc-Auslösung von Referenden
(Großbritannien, Niederlande, Schweden und Norwegen), drei weitere hatten nur
durch Staatsorgane auszulösende Verfahren (Dänemark, Frankreich und Österreich);
starke Parteienprägung €uberrascht insoweit nicht. Nur Italien und die Schweiz
kennen b€ urgerinitiierte Verfahren. Die „Partyness“ des Abstimmungsverhaltens wird
danach bemessen, ob die Stimmpotentiale der jeweiligen Bef€urworter- und Gegner-
Parteien (die Ergebnisse der letzten Wahl) mit der Menge der abgegebenen Stimmen
Pro und Contra im Volksentscheid €ubereinstimmen oder abweichen. Bei den relativ
hohen Übereinstimmungen bleiben gleichwohl offene Fragen bez€uglich der damit
nahegelegten Kausalitäten; außerdem zeigen sich bei den b€urgerinitiierten Volksent-
scheiden durchaus relevante Unterschiede. Der innovative Ansatz bedarf wohl noch
weiterer konzeptioneller Differenzierung und breiterer Erprobung.
Ein systemisches Kontextproblem noch komplexerer Art betrifft den Status
direktdemokratischer Verfahren und Prozesse im Rahmen von allgemeinen Demo-
kratiemodellen. Über die Formen repräsentativer Demokratie oder die Unterschei-
dung zwischen parlamentarischen Regierungssystemen und Präsidialsystemen hin-
aus gehört seit Langem die von Arend Lijphart eingef€uhrte Gegen€uberstellung von
Mehrheitsdemokratie und Konsensdemokratie zum Standard der Demokratiemodel-
le (zuletzt Lijphart 2012). Dort fand direkte Demokratie allerdings keine Verortung.
Nach einem fr€ uheren Diskussionsansatz zur (System-)Logik direkter Demokratie
(Jung 2001) legte neuerdings Stefan Vospernik (2014) eine umfassende Studie €uber
„Modelle direkter Demokratie. Volksabstimmungen im Spannungsfeld von Mehr-
heits- und Konsensdemokratie“ zum Vergleich von 15 Mitgliedsstaaten der Europä-
ischen Union vor. Nach detaillierter Diskussion der direktdemokratischen Verfah-
rensformen verkn€upft er deren Grundformen mit Lijpharts Strukturtypen von
Mehrheits- und Konsensdemokratie (ebd., S. 114 ff.). Die Grundtypen der Verfahren
werden nach Urheber, Zielrichtung und Wirkungsmacht im Machtgef€uge unterschie-
den und zu vier Prozesstypen verdichtet: gouvernementale Initiative (Referendum)
durch die Parlamentsmehrheit oder durch Exekutive bzw. Präsident, oppositionelle
Initiative durch Parlamentsopposition bzw. zweite Kammer oder durch außerparla-
mentarische Opposition bzw. „Volk“ („oppositionell“ wird also breit verstanden als
Aktion, die inhärent das gouvernementale Zentrum schwächt).
Als Wirkungen auf das Systemgef€uge ergeben sich dann: gouvernementale direkt-
demokratische Prozesse haben mehrheitsdemokratischen Charakter, während der
oppositionelle Typus tendenziell konsensdemokratisch wirkt. In ausf€uhrlichen Län-
deranalysen können wesentliche Annahmen empirisch bestätigt oder weiter differen-
ziert werden; dabei ist zu ber€ucksichtigen, dass gegen€uber zwei eindeutigen Länder-
gruppen (I-mehrheitsdemokratisch-gouvernemental: Frankreich, Polen, Litauen;
Direkte Demokratie in der Vergleichenden Politikwissenschaft 451

II-konsens-demokratisch-oppositionell: Italien, Slowenien, Slowakei, Dänemark) zwei


Gruppen mit Mischtypen die Ergebnisse etwas relativieren. Insgesamt zeigt sich
der Ansatz als vielversprechend und d€urfte zur Entwicklung der vergleichenden
Diskussion € uber die Verortung direkter Demokratie in den Machtgef€ugen und
Systemmechanismen von Demokratien und ihren Modellen erheblich beitragen.
Diese teils begrenzten, teils komplexen Fragestellungen geben sicher nur einen Teil
der vorhandenen Forschung wieder und können noch erheblich erweitert werden;
einen guten Überblick €uber die laufende Forschung bietet das ‚Jahrbuch f€ur Direkte
Demokratie‘ (Feld et al. 2014). Auch die methodischen Instrumente der Bearbeitung
lassen sich erweitern (etwa QCA). Grundsätzlich sollte jedoch nicht vergessen wer-
den, auch den demokratischen Sinngehalt direkter Demokratie als Beurteilungsmaß-
stab zur Geltung zu bringen und danach zu fragen, ob und wie die möglichen Funk-
tionen der Artikulation, der politischen Kontrolle, der Legitimation, der Partizipation,
der Policy-Wirkung und der Konfliktbearbeitung realisiert werden konnten. Solche
Fragestellungen sind in Fallstudien und Länderstudien durchaus präsent, wenn auch
zum Teil unvollständig, und werden in einigen Mehr-Länder-Studien auch bei eher
deskriptiver und reflexiver Vorgehensweise thematisiert (z. B. LeDuc 2003; Setälä
und Schiller 2012). Breiter angelegte internationale Vergleiche mit dieser Zielrichtung
sind jedoch selten. Daf€ur m€usste die politisch-inhaltliche Dimension der Fallbeschrei-
bungen weiter ausgearbeitet werden und auf demokratische Anspr€uche und Prozess-
qualitäten im Systemkontext bezogen werden.

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Parteien und Parteiensysteme in der
Vergleichenden Politikwissenschaft

Marianne Kneuer und Hans-Joachim Lauth

Zusammenfassung
Parteien und Parteiensystemen sind zentrale Bestandteile des demokratischen
Prozesses. Der Beitrag stellt zentrale Definitionen und verschiedene Typologien
vor, mit denen einerseits Parteien und andererseits Parteiensysteme, die hier
getrennt behandelt werden, erfasst werden können. Einbezogen werden zudem
Faktoren der Entstehung von Parteien und der Dynamik des Parteiensystems. Der
Blick richtet sich dabei nicht nur auf die ‚klassischen‘ Fälle der Parteien- und
Parteiensystemforschung, nämlich West- und Nordeuropa sowie USA. Vielmehr
werden Forschungsfragen hinsichtlich anderer Regionen einbezogen, so dass
spezifische Problemlagen von Parteien und Parteiensystemen in divergenten Kon-
texten zur Sprache kommen. Nicht behandelt werden Parteien in Autokratien.

Schlüsselwörter
Parteien • Parteiensystem • Linkages • Institutionalisierung • Parteien in Trans-
formation • Krise der Parteien

1 Einleitung

Parteien gehören zum Kernbereich einer jeglichen Demokratie und u€ben f€ur sie
vitale Funktionen aus. Dazu gehören die kommunikativen Funktionen der Interes-
senartikulation und -aggregation ebenso wie die Repräsentation der B€urgerinteressen

M. Kneuer (*)
Professorin f€ur Politikwissenschaft, Institut f€
ur Sozialwissenschaften, Universität Hildesheim,
Hildesheim, Deutschland
E-Mail: kneuer@uni-hildesheim.de
H.-J. Lauth
Professor f€ur Vergleichende Politikwissenschaft und Systemlehre, Institut f€
ur Politikwissenschaft
und Soziologie, Universität W€urzburg, W€ urzburg, Deutschland
E-Mail: hans-joachim.lauth@uni-wuerzburg.de

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 453


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_34
454 M. Kneuer und H.-J. Lauth

und gouvernementale Leistungen die Rekrutierung f€ur politische Wahlämter,


die Kontrolle der Regierungsmehrheit und die Umsetzung der politischen
Entscheidungen im und außerhalb des Parlaments. Gleichfalls wichtig sind die
politischen Sozialisationsleistungen und die Integration der B€urgerinnen und
B€urger in das politische System. Demokratietheoretisch besteht die Bedeutung der
Parteien darin, als Interaktions- und Vermittlungsinstanz zwischen Gesellschaft
und Staat zu fungieren (Wiesendahl 2013, S. 13), was mit Begriffen wie „Transmis-
sionsriemen“ (Alemann 2001, S. 209–10) oder dem von Lawson eingef€uhrten
linkage umschrieben wird (Lawson 1980, siehe dazu auch Poguntke 2000 und
Dalton et al. 2011).
Die Untersuchung von Parteien und Parteiensystemen nimmt in der Vergleich-
enden Politikwissenschaft großen Raum ein. Einigkeit besteht darin, dass Parteien
und Parteiensysteme typologisch zu unterscheiden sind und insofern die Untersu-
chung von Entstehung, Struktur und Wandel entsprechend getrennt vorzunehmen
sind. In Bezug auf Parteien haben sich die Untersuchungsfoki ausdifferenziert und
bestehen maßgeblich in der Analyse a) von Parteien in ihrem Verhältnis zu den
Wählern, b) von Parteien als Organisationen und c) der Performanz von Parteien im
politischen System, wobei hier insbesondere die Ausprägungen der Funktionen im
Mittelpunkt stehen. Diese Analyseebenen gehen zur€uck auf (Webb et al. 2003,
S. 7–13). Eine etwas andere Differenzierung nehmen Katz und Mair (1993) vor:
party on the ground, party in central office und party in public office. Wiesendahl
spricht von einer Mikroebene, bei der die Wähler, Anhänger und Mitglieder in den
Blick genommen werden, von einer Mesoebene, die das Binnenleben der Partei,
Aufbau, Struktur und Prozesse betrachtet werden, und einer Makroebene, nämlich
den Beziehungen der Parteien zur Außenwelt – sei es das gesellschaftliche, Wähler-,
Parteien oder das politische Umfeld (Wiesendahl 2013, S. 14–15). Sowohl die
Parteienforschung als auch die Parteiensystemforschung zielt dabei auf die Erfas-
sung der Dynamik und Wirkungsanalyse von Parteien und Parteiensystemen. Dar€u-
ber hinaus verlangt eine Bearbeitung dieser Thematik die Untersuchung von
Bedingungsfaktoren f€ur das Entstehen und den Niedergang von Parteien. Die
vergleichende Parteienforschung setzt mit den skizzierten unterschiedlichen Frage-
stellungen an und wendet dabei unterschiedliche Vergleichsdesigns an, die theore-
tisch aufgeladene Einzelfallstudien, kontrollierte Vergleiche mit wenigen Fällen bis
hin zu großen Fallzahlen einschließen. Der regionale Schwerpunkt liegt im Bereich
der etablierten Demokratien (maßgeblich West- und Nordeuropa, USA). Längst ist
jedoch der Forschungsbedarf in Bezug auf junge Demokratien erkannt, so dass
insbesondere zu Zentraleuropa und Lateinamerika Studien hinzugekommen sind,
weniger jedoch zu Afrika und S€udostasien.
In dem Beitrag werden zunächst grundlegende Begriffe und Typologien sowie
Theorien zur Entstehung von Parteien vorgestellt (2.). Dann werden die Typologien
und konzeptionelle Zugänge in Bezug auf Parteiensystemen behandelt (3.). Im
abschließenden Kapitel werden die aktuellen Beiträge der vergleichenden Forschung
thematisiert und auf neuere Entwicklungen hingewiesen. Dabei zeigt sich, dass seit
geraumer Zeit die Defizite der Funktionsleistungen in das Zentrum der Aufmerk-
samkeit r€ucken.
Parteien und Parteiensysteme in der Vergleichenden Politikwissenschaft 455

2 Parteien: Typologie und Bedingungsfaktoren

Während fr€ uhe Definitionen von Parteien noch stark auf Parteiinteresse im Sinne des
nationalen Interesses fokussiert (S. E. Burke), so besteht heute ein allgemeiner
Konsens, dass Parteien folgende Merkmale aufweisen: Der Begriff der politischen
Partei bezeichnet im Allgemeinen eine Gruppe ähnlich gesinnter Personen, die sich
in organisatorischer Form an der politischen Willensbildung beteiligt und danach
strebt, durch Wahlen politische Positionen zu besetzen und ihre Ziele in einem
politischen Gemeinwesen durchzusetzen (Winkler 2010, S 216). Zur Klassifikation
von Parteien werden verschiedene Zugänge genutzt: 1) programmatische Interessen,
2) die vorliegenden Organisationsformen und 3) die Entstehungsbedingungen.
So lassen sich, erstens, diverse ideologische Parteifamilien unterscheiden (Alan
Ware 1996, S. 22): liberale und radikale Parteien, konservative Parteien, christdemo-
kratische Parteien, sozialistische und sozialdemokratische Parteien, kommunistische
Parteien, rechtsextreme Parteien, regionale und ethnische Parteien, Bauernparteien
sowie ökologische Parteien.
Was zweitens die Organisationsform angeht, werden in einer historischen Pers-
pektive, die nach der Reihenfolge des Erscheinens gelistet ist, folgende Parteitypen
unterschieden, die stets von mehreren Merkmalen geprägt sind (Gunther und Dia-
mond 2001; Saalfeld 2007): Honoratiorenpartei, Klassenpartei, Massenpartei, Volks-
partei und/oder Catch-all party sowie Kartellpartei. In organisatorischer Sicht
wird zwischen zentralistischer oder dezentraler Parteistruktur, Kaderpartei/Avant-
gardepartei, Mitgliederpartei, Wählerpartei oder Sympathisantenpartei differenziert.
Schließlich ist es relevant, ob eine Partei basisdemokratisch aufgestellt ist oder von
den Funktionären (Funktionärspartei) dominiert wird, wie bereits fr€uh von Michels
(1911) wirkungsträchtig thematisiert.
Vor allem die Konzepte von Volkspartei und Kartellpartei wurden in der ver-
gleichenden Forschung in den letzten Jahren aufgegriffen (Katz und Mair 1995).
Während mit der Volkspartei dabei oftmals eine Niedergangsthese verbunden wurde,
so erscheint mit der Kartellpartei ein neuer Typus, der sich durchsetzen könnte
(siehe Kap. ▶ Qualitative Comparative Analysis (QCA) in der Vergleichenden
Politikwissenschaft. In der typologischen Konstruktion werden mit Volkspartei
folgende Merkmale/Kriterien verbunden (Mintzel 1984): mehrheitsfähige Partei-
programme mit Tendenz zur Mitte, eine sozialstrukturell breit aufgestellt Wähler-
schaft, geringere Bedeutung der Mitglieder gegen€uber der Parteiorganisation und
eine Stimmenmaximierung auf der Grundlage einer Parteifamilienzugehörigkeit.
Das letzte Kriterium ist wichtig zur Abgrenzung gegen€uber einer Catch-all Party,
die diese Zugehörigkeit vermissen lässt. Dagegen haben Volksparteien stets einen
Markenkern, der nicht ignoriert werden kann (siehe aktuelle Positionsdebatten bei
SPD und CDU).
Katz und Mair argumentieren, dass auf den Typus der Volkspartei derjenige der
Kartellpartei gefolgt ist. Die Kartellpartei stellt demnach ein neues Phänomen der
westeuropäischen Demokratien dar und bildet eine „ever closer symbiosis between
parties and the state“ (Katz und Mair 1995, S. 6) ab. Merkmale dieser Kartellpartei
sind (Katz und Mair 1995): Die soziale Basis sind nicht die Mitglieder, sondern die
456 M. Kneuer und H.-J. Lauth

Parteifunktionäre selbst, die eine eigene ‚politische Klasse‘ bilden. Das primäre
Interesse liegt folglich in der Machterhaltung der Parteif€uhrung bzw. -funktionäre.
Dabei versuchen sie nicht nur, die Wahlämter zu besetzen, sondern den Staat selbst
zu ‚kolonisieren‘. Hierbei besteht eine informelle Koalition der etablierten Parteien.
F€ur die gegenseitige Penetration von Staat und Partei sehen Katz und Mair vor allem
zwei externe Faktoren: zum einen die steigende staatliche Subvention von Parteien
(durch Parteienfinanzierung) sowie die Möglichkeit der Parteien, sich direkt €uber die
Massenmedien an die Wähler zu wenden und €uber die Medien die Wählerschaft zu
mobilisieren. Der Typus der Kartellpartei unterstellt, dass sich die demokratietheore-
tisch stets als wichtig eingeschätzte Verbindung zwischen Partei und B€urger ent-
koppelt und beide in gegenseitiger Autonomie zueinander stehen (siehe Katz und
Mair 1995, S. 18). Dieses Modell wird – auch hinsichtlich der empirischen Evidenz –
kontrovers diskutiert.
Mit dem Fokus auf deutsche und westeuropäische sowie nordamerikanische
Parteien gerieten lange populistische Parteien aus dem Blick, die speziell im latein-
amerikanischen Kontext eine beachtliche Rolle spielen (siehe Weyland 2001; Werz
2003; Hawkins 2010). Dort wird inzwischen bei Beachtung der vorliegenden Unter-
schiede zwischen einem klassischen Populismus (à la Peron) und einem Neo-
Populismus differenziert. Bei all dieser Vielfalt der empirischen Erscheinungen ist
eine präzise Fassung eines Konzepts des Populismus umstritten. Zwei Punkte
werden jedoch gemeinsam betont. Populistische Parteien betonen den Unterschied
zwischen Volk und politischer Elite/Regierung und sie verstehen sich als Vertretung
des (einfachen) Volkes gegen€uber einer abgehobenen politischen Elite. Ebenfalls hat
die Parteiorganisation eine eher sekundäre Bedeutung. Die populistische F€uhrung –
meist ist es ein charismatischer Parteif€uhrer – spricht die Wählerschaft direkt an.
Deutlich kontroverser wird die Frage nach einer populistischen Parteiprogram-
matik diskutiert. Allein der Hinweis auf die Ausprägungen eines Links- und eines
Rechtspopulismus verdeutlicht die Schwierigkeit hier einen gemeinsamen Nenner
zu finden (Priester 2012). Verwiesen wird daher stärker auf gemeinsame Strukturen
der Programmatik (starke Vereinfachung, einfache Lösungen, deutliche Abgrenzun-
gen (wir – die anderen), emotionale Ansprache) und den Kommunikationsstil (Mair
2002; Decker 2006; Jagers und Walgrave 2007).
Schließlich ist mit der Klientelpartei auf einen weiteren Parteitypus hinzuweisen,
der in vielen Klassifikationskatalogen fehlt und eine gewisse Ähnlichkeit zur We-
ber’schen Patronagepartei aufweist.1 Maßgeblich wird damit ein Element der Orga-
nisationsform erfasst. Demnach strukturieren asymmetrische persönliche Abhängig-
keitsstrukturen das Innenleben einer Partei und räumen der Parteif€uhrung
(Parteif€uhrer) eine außergewöhnliche starke Machtstellung ein. Da aber auch die
Interessen der Klienten nicht vollständig ignoriert werden können, um den kliente-
listischen Tausch nicht zu gefährden, besteht die andauernde (latente) Verlockung,

1
Eine Ausnahme bildet der 15 Parteitypen umfassende Typologisierungsvorschlag von Gunther und
Diamond 2003, die aber klientelistische Parteien weitgehend in die Phase der ‚Vormoderne‘
ansiedeln und erwarten, dass diese mit der Modernisierung verschwinden.
Parteien und Parteiensysteme in der Vergleichenden Politikwissenschaft 457

Staatsmittel zur mehr oder weniger legalen Versorgung der Klienten einzusetzen.
Beispiele finden sich sowohl in Europa (Griechenland) als auch vielfach in Latein-
amerika (z. B. Argentinien, Venezuela und Mexiko; vgl. respektive Meinardus 2013;
Kestler 2009; Schröter 2011).
Drittens, werden f€ur die Entstehung von Parteien grundlegende und andauernde
gesellschaftliche Konfliktlinien als ursächlich angesehen. Dar€uber hinaus sind pro-
grammatische Divergenzen zu betrachten, die zu Neugr€undungen von Parteien in
Sinn von Abspaltungen f€uhren. Schließlich sind vor allem bei klientelistischen und
personendominierten Parteien (siehe Populismus) zu beachten, dass der gleiche
Mechanismus (Abspaltung/Neugr€undung) bei persönlichen Konflikten und Macht-
streben zu beobachten ist.
In ihrer f€
ur die vergleichende Forschung äußerst wirkungsträchtigen Studien
erachten Lipset und Rokkan (1967) folgende Cleavages (Konfliktlinien) als zentral
ur die Entstehung von Parteien: Staat – Kirche, Stadt – Land, Zentrum – Peripherie,
f€
Arbeit – Kapital. Die Bildung von konservativen bzw. christdemokratischen Parteien
auf der einen Seite und liberalen Parteien auf der anderen Seite wird beispielsweise
mit dem ersten Cleavage verbunden. Generell ist darauf hinzuweisen, dass nicht jede
Konfliktlinie mit der Bildung von Parteien einhergehen muss. Es kann bereits be-
stehenden Parteien gelingen, auch neue Cleavages zu integrieren und somit
mehrere zu repräsentieren. F€ur viele Jahre dominierte der Gegensatz Arbeit versus
Kapitel die Formation der maßgeblichen Parteien. Dieser hat inzwischen an Bedeu-
tung verloren, während Regionalparteien in etlichen Ländern (als Ausdruck des
Gegensatzes von Zentrum und Peripherie) wieder an Bedeutung gewonnen haben
(siehe etwa die Regionalparteien in Spanien, Italien oder die SNP in Schottland)
(Kemmerzell 2008). Überraschend war und ist f€ur viele auch die partielle Aufwer-
tung der religiösen Cleavages in den letzten Jahren, die zumindest im westeuropäi-
schen Kontext – mit der Ausnahme Nordirland – keine wesentliche Rolle gespielt
haben.
Neben den genannten ‚klassischen‘ Cleavages wird inzwischen auch eine weitere
Konfliktlinie als maßgeblich f€ur Parteigr€undungen im ökologischen Spektrum ange-
sehen. Angesprochen ist der von der Wertewandelforschung festgestellte Gegensatz
von Materialisten und Postmaterialisten (Inglehart 1984). Im internationalen Ver-
gleich lassen sich zwei weitere Konfliktlinien anf€uhren: Unabhängigkeitsbewegung
versus Kolonialmacht; System versus Anti-Systemparteien. Während die erste zu
Gr€undung von staatgr€undenden Parteien f€uhrte, die sich oftmals in Einparteien-
systeme oder dominante Parteisysteme transformierten und viele Jahrzehnte prägend
waren, war der zweite Gegensatz im Kontext der demokratischen Transformationen
weitaus weniger prägend, wenn €uberhaupt nachweisbar. Schließlich wird eine wei-
tere Konfliktlinie erkennbar, nämlich zwischen libertär-kosmopolitischen einerseits
und autoritär-nationalistischen Wertemustern andererseits, die sich zuvorderst an der
Haltung zu Einwanderung und ebenso an der Einstellung zur europäischen Integra-
tion manifestiert. Während sich die ablehnende Haltung zur Einwanderung in rechts-
populistischen Parteien findet, formiert sich in einigen EU-Mitgliedsstaaten eine
Konfliktlinie, die in unterschiedlicher Nuancierung von der Abwehr zu starker
EU-Regulierung bis hin zur völligen Ablehnung der Mitgliedschaft reicht. Diese
458 M. Kneuer und H.-J. Lauth

findet sich in etablierten Demokratien (wie Großbritannien und Frankreich) und


neuen Demokratien in Ostmitteleuropa (Berndt 2001). Auch die EU-Ablehnung
findet Ausdruck in rechtspopulistischen Parteien, zuweilen aber auch in national
gesinnten konservativen Parteien.
Die bisherigen Ausf€uhrungen haben bereits den Wandel von Parteien und deren
Stabilitätsprobleme verdeutlicht. Diese Thematik hat mit Blick auf die jungen Demo-
kratien an Bedeutung gewonnen und die Frage nach der Institutionalisierung
von Parteien aufgeworfen. Hierzu haben Randall und Svåsand 2002 ein Modell
entwickelt, das verschiedene, bereits bestehende Kriterien aufgreift und systematisch
b€undelt. Sie unterscheiden hinsichtlich der Binnenorientierung zwischen ‚system-
ness‘ und ‚value infusion‘ und in Bezug auf die externe Dimension zwischen
‚decisional autonomy‘ und ‚reification‘. Neben der Innen/Außenorientierung erfolgt
die Unterscheidung entlang Struktur vs. Einstellung (Identifikation und Bindung).
Basedau, Stroh und Erdmann entwickelten einen Index zur Bestimmung von Par-
teieninstitutionalisierung auf der Grundlage der Dimensionen gesellschaftliche Ver-
wurzelung, Autonomie, Organisationsniveau und Kohärenz/Geschlossenheit, den
sie dann auf das anglophone Afrika anwandten (Basedau et al. 2006; siehe dazu
auch Köllner 2006 sowie Basedau und Stroh 2008). Dabei zeigte sich ein Zusam-
menhang zwischen höherer Institutionalisierung und fortgeschrittener Demokratie-
entwicklung, wobei die Autoren vorsichtig sind bei der Herleitung einer Kausalität.

3 Parteiensysteme (Typologie und Bedingungs-/


Wirkungsfaktoren)

Parteiensystemen sind als eigenes, von den Parteien zu unterscheidendes Unter-


suchungsfeld zu betrachten. Parteiensysteme werden grob als Strukturen des Wett-
bewerbs und der Kooperation von Parteien definiert (Pennings und Lane 1998, S. 5).
Angesprochen ist somit der Wirkungszusammenhang von Beziehungen zwischen
allen Parteien. „Der Begriff setzt somit voraus, dass eine Mehrzahl von Parteien
existiert, die €
uber eine gewisse organisatorische Stabilität verf€ugt, und dass sie in
einem Konkurrenzverhältnis steht, welches institutionell (d. h. rechtlich und poli-
tisch-kulturell) verankert ist.“ (Schmid 2000, S. 451). Der zentrale Hinweis liegt
in der Betonung des Wirkungszusammenhangs. Demnach hängen Entwicklung und
Verhalten von Parteien stets auch von der Ausrichtung und Aktivitäten der anderen
Parteien ab.
In der Forschung finden sich zahlreiche Kriterien der Klassifikation von Parteien-
systemen (Duverger und Landshut 1959; Sartori 1976; v. Beyme 1982; Ware 1996;
Stöss et al. 2006). Eine erste Klassifikation betraf das quantitative Merkmal der
Anzahl von Parteien im Parteiensystem, nämlich Einparteien-System, Zweiparteien-
System versus Mehrparteiensystem. Duverger f€ugte die Machtverteilung zwischen
den Parteien hinzu, also ob es sich um einfache Parteien, potenzielle Mehrheits-
parteien, Mehrheitsparteien und längerfristig regierende Parteien handelt (Duverger
und Landshut 1959). Sartori ergänzte in seinem lange einschlägigen Konzept eine
zusätzliche Differenzierung anhand der ideologischen Polarisierung, also ein quali-
Parteien und Parteiensysteme in der Vergleichenden Politikwissenschaft 459

tatives Kriterium. Abhängig von der Existenz von Anti-System-Parteien ergab sich
so die Unterscheidung zwischen moderaten und polarisierten Parteiensystemen
(Sartori 1976). Lange stellte diese Klassifizierungen entlang der beiden Dimensio-
nen (der Zahl der Parteien und ideologische Polarisierung) das dominante Refe-
renzmodell dar, nach dem sich Ein-, Zweiparteiensystemen, gemäßigt plurale und
polarisierte plurale Parteiensystemen unterscheiden ließen; letztere konnten dabei
auch von einer dominanten Partei geprägt sein.
Ware (1996) greift bei seinem Analyserahmen zur€uck auf die relevanten parla-
mentarischen Parteien und kommt zu einer Einteilung, die neben dem Dominieren
einer Partei, dem Zwei- und Zweieinhalb-Parteiensystem drei Subtypen f€ur solche
Parteiensysteme ausmacht, die mehr als zweieinhalb Parteien aufweisen (Ware 1996).
Die stärkere Ausdifferenzierung trägt dem Wandel der Parteiensysteme Rechnung,
der eine Zunahme an relevanten parlamentarischen Parteien ergab. Ein sehr viel
sparsameres Konzept legte Mair (1997, S. 212) vor, der nach lediglich einem
Kriterium, nämlich der Struktur des Parteienwettbewerbs unterscheidet: Bei offenen
Wettbewerbsstrukturen, bei denen allen Parteien Zugang zur Regierung haben, sind
innovative Regierungskonstellationen (etwa bei der Koalitionsbildung) ebenso wie
ein partielles Alternieren der Regierung möglich (ehemalige Regierungsparteien
verbleiben in der Regierung und koalieren mit ehemaligen Oppositionsparteien).
Geschlossener Wettbewerb zeigt sich durch einen auf bestimmte Parteien beschränkten
Zugang zur Regierung, durch bekannte Koalitionsmuster und durch vollständige
Regierungswechsel.
Neben diesen Klassifizierungsansätzen zielen Vorschläge der letzten Jahrzehnte
auf ein feinkörnigeres Erfassen des Formats von Parteiensystemen. So dient die
Messung der „effektiven Zahl der Parteien“ zur Feststellung der Fragmentierung des
Parteiensystems.2 Hoch fragmentierte Parteiensysteme liegen vor, wenn die effek-
tive Zahl der Parteien €uber f€unf liegt, mittlere Werte liegen zwischen drei und f€unf
effektiven Parteien und eine niedrige Fragmentierung findet sich bei weniger als drei
effektiven Parteien. Einen anderen wichtigen Parameter bildet die Volatilität der
Wählerstimmen, mit der von Wahl zu Wahl die Wanderung der Wähler zwischen den
Parteien erfasst werden kann.3 Sowohl die Fragmentierung als auch die Volatilität
lassen auf diese Weise insbesondere den komparativen Blick auf die Strukturierung
der Parteiensysteme sowie auf Veränderungen im Zeitverlauf zu.

2
Vgl. Laakso und Taagepera 1979: Effektive Anzahl der Parteien = 1/(P12 + Pi2 + Pn2); jeweils
Stimmenanteil; empirische Befunde zur effektiven Anzahl von Parteien finden sich bei Lijp-
hart 1999.
3
Zur Messung der Volatilität wird die Pedersen-Formel benutzt, bei der die Stimmanteile der
Parteien zweier Wahlen erfasst werden, das Ergebnis der Ausgangswahl von dem der darauf
folgenden Wahl subtrahiert wird und die Summe dieser Differenz f€
ur alle Parteien durch den Faktor
Xn
jV i ðtÞ  V i ðt þ 1Þj
zwei geteilt wird: ¼
i¼1
2
Grob kann man von niedriger Volatilität bei unter zehn und von hoher Volatilität bei € uber
30 Prozent sprechen.
460 M. Kneuer und H.-J. Lauth

Zusammengefasst lassen sich folgende Merkmale zur Klassifikation von Par-


teiensystemen angeben: Fragmentierungsgrad; Stärke von Parteilager (multipolar,
bipolar, dominant, symmetrisch vs. asymmetrisch); Stärkeverhältnis zwischen den
beiden größten Parteien (Asymmetrie); ideologische Distanz (polarisiert vs. nicht-
polarisiert; Bedeutung von Antisystemparteien – in der Regel gemessen €uber Selbst-
einschätzungen der jeweiligen Wählerschaft auf einer Links-Rechts-Skala); Art des
Wettbewerbs (zentrifugal vs. zentripedal); Intensität des Wettbewerbs; Verteilung
des Wählerpotentials (bipolar, zentristisch u. a.); Anzahl der Konfliktlinien (Cleava-
ges); Kooperationsbereitschaft und Koalitionsfähigkeit von Parteien (‚Segmentie-
rung‘) sowie die gesellschaftliche Verankerung der Parteien (‚linkages‘).
Um den Wandel von Parteiensystemen erfassen zu können, lassen sich verschiedene
Unterscheidungen treffen. Smith (1989, S. 363 f.) schlägt ein Vier-Stufen-Konzept
vor (Beispiele von Kneuer/Lauth): 1. Temporäre Fluktuationen (ohne dauerhaften
Effekt; siehe Piratenpartei); 2. begrenzter Wandel, der nur wenige Strukturmerk-
male erfasst (Deutschland nach 1989); 3. genereller Wandel, der viele Merkmale
einbezieht (Polen nach 1990); 4. Transformation oder umfassende Veränderung
(Italien nach 1990).
Die Stabilität von Parteiensystemen wird unter dem Aspekt ihrer Institutiona-
lisierung diskutiert. Mainwaring und Scully haben dazu ein Konzept entwickelt
und es an lateinamerikanischen Fällen getestet (1995). Parteiensystem-Institu-
tionalisierung definieren sie „as a process by which a practice or organization
becomes well established and widely known, in not universally accepted“ (Main-
waring und Scully 1995, S. 4). Die Kriterien zur Messung der Institutionalisierung
sind (1) Stabilität des zwischenparteilichen Wettbewerbs, (2) Verwurzelung von
Parteien in der Gesellschaft, (3) Legitimität von Parteien und Wahlen sowie (4) Par-
teienorganisation. Dieser Ansatz wurde seither mehrfach Modifizierungen und Ver-
feinerung unterzogen (Mainwaring und Torcal 2006; Jones 2007; Croissant 2008;
Kneuer 2011). Das zentrale Argument bei der Anwendung des Institutionalisie-
rungsansatzes auf junge Demokratien lautet, dass stabile Parteiensysteme relevant
sind f€ur die demokratische Konsolidierung des gesamten politischen Systems (Main-
waring und Scully 1995, S. 1).
Befunde der Vergleichenden Forschung haben folgende Gr€unde f€ur Stabilität und
Wandel von Parteiensystemen betont (Ware 1996; Poguntke 2000; von Beyme 2000;
Gunther und Diamond 2003; Detterbeck 2011): institutionelle, soziologische und
sozialstrukturelle Erklärungsfaktoren.
Zu den institutionellen Faktoren gehört maßgeblich das Wahlsystem, wenngleich
stets die Kontextbedingungen zu beachten sind (Nohlen 2007; vgl. den Beitrag zum
Wahlsystem). Gleichfalls zu beachten sind die Staatsstruktur, die bei einer föderalen
Ausprägung die Entstehung von Regionalparteien beg€unstigen kann, und der Regie-
rungssystemtypus, da Präsidentialsysteme schwieriger mit einem Mehrparteiensys-
tem zu vermitteln sind als parlamentarische Regierungssysteme.
Aus soziologischer Perspektive wird auf gesellschaftliche Veränderungen hinge-
wiesen, die Auswirkungen auf das Elektorat haben. So kann die dauerhafte kollek-
tive Organisation von Interessen erschwert werden. Die mit der Modernisierung
einhergehende Differenzierung und Individualisierung von Lebensbereichen
Parteien und Parteiensysteme in der Vergleichenden Politikwissenschaft 461

erschwert zunehmend kollektives Handeln, zumal wenn dieses in festen Strukturen


erfolgen sollte; die fallenden Mitgliederzahlen in vielen Parteien verdeutlichen diese
Schwierigkeiten. Auch die Globalisierung zeitigt vielfältige Effekte wie auch Ver-
änderungen in der Zusammensetzung der Wählerschaft, etwa durch Immigration
(siehe etwa Schweiz oder Luxemburg). Ebenso können territoriale Veränderungen
(siehe die deutsche Wiedervereinigung) als Erklärung hinzugezogen werden.
Sozialstruktureller Wandel wird vor allen an den Cleavages festgemacht, also der
Abschwächung oder dem Hinzukommen neuer Konfliktlinien (Ware 1996, S. 226;
Eith 2001); auf den Bedeutungszuwachs religiöser Bindungen wurde bereits hinge-
wiesen. Schließlich ist nicht zu ignorieren, dass auch das Akteursverhalten ein
Faktor f€ur die Dynamik im Parteiensystem sein kann (strategisches B€undnisver-
halten, rationales Machtverhalten, wertgebundenes Verhalten).

4 Aktuelle Forschungsfragen/gebiete und Perspektiven der


Forschung

Wenn es um die Identifizierung aktueller Forschungsdesiderate geht, so d€urften sich


die L€ucken eher in Bezug auf die außereuropäischen Regionen auftun, wo vor allem
vergleichende Erkenntnisse fehlen. Die Betrachtung der ‚klassischen‘ etablierten
Demokratien weist auf ein weiter gespanntes Thema, nämlich die Frage nach der
Krisenhaftigkeit (oder nicht) repräsentativer Demokratie (Alonso et al. 2011), deren
maßgeblicher Teil Parteien darstellt. Insbesondere das abnehmende Vertrauen in
Parteien, die wahrgenommene wachsende Distanz zwischen B€urgern und politischer
Elite, aber auch die verringerte Parteibindung der B€urger sind Symptome, die nicht
nur die Parteienforscher mit Sorge verfolgen.4 Die Betrachtung der westeuropäi-
schen und des US-amerikanischen Parteienentwicklung thematisiert nicht erst in
j€
ungerer Zeit deren Wandel hinsichtlich des dealignments und realignments (Dalton
et al. 1984). Dealignment bezeichnet „die Lockerung, den R€uckgang und/oder die
Auflösung der € uber Sozialstruktur, Milieus und Parteiidentifikation vermittelten
strukturellen und stabilen Bindungen in der Wählerschaft an die Parteien“ (Nohlen
1998, Band 7, S. 106). Auch wenn generell ein Trend zur Lockerung von Partei-
bindungen festzustellen ist, zeigen sich auch gegenläufige Entwicklungen (realign-
ment) wie beispielsweise in Kontext zunehmender Polarisierung in den USA (Paul-
son 2000). Diese betreffen sowohl ideologische und programmatische Bez€uge als
auch die Verankerung in sozialen Bewegungen (linkages). Beide Phänomene bleiben
relevant im Hinblick auf die k€unftige Entwicklung von Parteien und ihrer Veranke-
rung in der Gesellschaft.
Nachdem die Parteien- und Parteiensystemforschung seit jeher von der Betrach-
tung Westeuropas und der USA geprägt war, besteht eine der wichtigsten
Entwicklungen der letzten Jahrzehnte in der zunehmenden, wenn auch regional

4
Siehe hierzu u. a. den Beitrag von Pickel und Pickel im vorliegenden Band zur politischen
Kulturforschung.
462 M. Kneuer und H.-J. Lauth

asymmetrisch verteilten Fokussierung außereuropäischer Parteienlandschaften. Oft in


den area-studies verankert wandten sich Studien im Zuge der dritten Demokratisie-
rungswelle zunächst vor allem Lateinamerika zu (Werz 2001; Nolte 2006; Lawson und
Lanzaro 2010; Roberts 2015). Nach 1989 kamen dann die post-sozialistischen
Parteiensystemen in den Blick (Segert et al. 1997; Lawson et al. 1999; Kitschelt
et al. 1999). Weniger intensiv, dennoch mit steigender Aufmerksamkeit wurden
Parteien und Parteiensysteme Subsahara-Afrikas (Elischer 2013; Doorenspleet und
Nijzink 2014; Riedl 2014) und S€udostasiens (Croissant 2008; Tomsa und Ufen
2012) erforscht. Trotz der ausdifferenzierten theoretisch-konzeptionellen Ansätze,
die im Hinblick auf die westeuropäischen Systeme entwickelt wurden, ist die
Forschung zur Rolle von Parteien und Parteiensystemen in Transformationsländern
oder jungen Demokratien immer noch l€uckenhaft. Hier existiert weiterhin For-
schungsbedarf. Auf Grund regionaler Spezifika bieten die vergleichenden Regional-
studien, Comparative Area Studies, auch in Bezug auf den Bereich Parteien einen
vielversprechenden Ansatz (Basedau und Köllner 2007; Köllner und Basedau
2005).5 Der intraregionale oder interregionale Vergleich beschreibt Gemeinsamkei-
ten und Unterschiede (sowohl innerhalb einer Region als auch zwischen den Regio-
nen), womit eine Grundlage gelegt ist f€ur das Identifizieren von Erklärungsfaktoren
f€
ur konvergente oder divergente Entwicklungen.
Die Rolle von Parteien bei der Konsolidierung von jungen Demokratien wird
derweil unterschiedlich bewertet. So argumentiert Merkel, dass Akteurskonstellatio-
nen und Akteurshandeln in Parteien, Parteiensystemen und Interessenverbänden
nicht nur die Konsolidierung von Normen und Strukturen beeinflusst, sondern auch
auf die die anderen Ebenen der Konsolidierung (konstitutionell, b€urgerschaftlich und
Verhalten) einwirkt(Merkel 2010, S. 118). Andere argumentieren, dass Demokratien
sich durchaus ohne stabile Parteiensysteme konsolidieren können oder anders ge-
sagt: „that party systems can remain unconsolidated for some time – perhaps
indefinitely“, und dies bedeute nicht notwendigerweise, dass dadurch die Konsoli-
dierung des neuen demokratischen Regimes insgesamt scheitern m€usse (Schmitter
2001, S. 74). Eine weitere Position erachtet die Annahmen der Kontroverse f€ur zu
eng (Kneuer 2011). Tatsächlich geht es weniger um die Frage von Dekonsolidierung,
denn bislang kann kein solcher Fall in Ostmitteleuropa beobachtet werden; zudem
wäre es schwierig, eine demokratische Regression allein den Parteien zuzuschreiben.
Wohl aber spielt die Konsolidierung von Parteien und Parteiensystemen eine Rolle
f€
ur die Qualität von Demokratien (Kneuer 2011; Kitschelt et al. 1999; Toka 1997).
Die Wirkung von instabilen Parteien und Parteiensystemen während der Transition
und der beginnenden Konsolidierung können zwar präsent sein, deutlich erkennbar
wird dies dann an den ausbleibenden Fortschritten bei der Vertiefung der Demokratie
und an Defiziten in der demokratischen Qualität (Kneuer 2011, S. 163).
Es sind allerdings Befunde zur Instabilität der Parteiensysteme und der Parteien in
Osteuropa und den außereuropäischen Regionen, die Zweifel an den tatsächlichen
Funktionen der Parteien aufkommen lassen. Oftmals ermangelt es klarer und

5
Siehe hierzu den Beitrag von Mehlert im vorliegenden Band.
Parteien und Parteiensysteme in der Vergleichenden Politikwissenschaft 463

programmatischer Orientierung, die durch die Bedeutung personeller Beziehungen


(Patronage) partiell kompensiert werden (Lauth 2008); beides erschwert eine dauer-
hafte Beziehungen zwischen Wählerschaft und Parteien und entspricht den von
Mainwaring und Scully (1995) und Mainwaring und Torcal (2006) genannten
Kriterien einer schwachen Institutionalisierung. Zudem habe Demokratisierung in
Ost- bzw. Ostmitteleuropa €uberwiegend entweder als elitengesteuertes Projekt statt-
gefunden oder sei oft von sozialen Bewegungen und unterschiedlichen Formen
b€urgerlicher Foren geprägt gewesen, was beides die Rolle von Parteien f€ur den
Demokratisierungsprozess minimiert habe (Lewis 1998, S. 137).
Dieser Befund der schwindenden Bedeutung von Parteien ließe sich zudem
untermauern mit der bereits erwähnten Bedeutung sozialer Protestbewegungen, die
2014 in der Ukraine oder 2011 im arabischen Raum autoritäre Strukturen wegfegten.
Parteien haben in diesen Prozessen kaum eine Rolle gespielt. Dem kann entgegen
gehalten werden (Kneuer 2014, S. 68 f.), dass es in der dem Regimeende folgenden
demokratischen Übergangsphase (Transition) darauf ankommt, diese allgemeine
Mobilisierung in Strukturen zu €uberf€uhren, in denen B€urger auf gemäßigte Weise
am politischen Leben teilhaben können, nämlich auch €uber Parteien und Interessen-
verbände etc. Dort, wo dies nicht gelingt, kann eine dauerhaft mobilisierte Gesell-
schaft (oder große Teile davon), die sich nicht in Parteien entlang ihrer Konfliktlinien
strukturiert, bedrohliche Ausmaße f€ur eine noch nicht konsolidierte Demokratie
annehmen. Gut organisierte Gruppierungen haben es in solch einer Situation leicht,
die Meinungsf€ uhrerschaft zu €ubernehmen, worauf dann letztlich nur wieder die
mobilisierte Masse reagieren kann. Kurzum: Die Rolle der Parteien ist insbesondere
während der Transition unverzichtbar als Vehikel, mit dem ein wichtiger Beitrag zur
gesellschaftlichen Integration geleistet wird und mit dem der f€ur eine Demokratie
konstitutive Raum f€ur demobilisierte gesellschaftliche Pluralität geschaffen wird.
Daher schreibt Burnell der aggregierenden Funktion von Parteien, vor allem in
gespaltenen Gesellschaften, eine höhere Wertigkeit zu als der Interessenartikulation
durch b€ urgerlichen Gruppen oder soziale Bewegungen (Burnell 2006, S. 18).
Ein anderes Argument, die k€unftige Bedeutung von Parteien infrage zu stellen,
besteht in der nachlassenden Strahlkraft des westlichen Modells der Parteiendemo-
kratie, das letztlich weiterhin – auch wenn dies kritikw€urdig sein mag – als Blau-
pause in der Demokratisierung dient (Niedermayer et al. 2013). So ist – freilich nicht
ohne Grund – in den letzten Jahrzehnten Parteienschelte en vogue geworden. Immer
wurde wieder Kritik ge€ubt an der Idee der Parteienstaatlichkeit, fragw€urdige oder
illegale Finanzierung von Parteien sorgten f€ur öffentliche Empörung, Parteien in den
westlichen Demokratien erfuhren einen erheblichen Vertrauensschwund (von Arnim
2009). Umfragen verdeutlichen bereits seit längerem diesen Trend der Politiker- und
Parteienverdrossenheit (Arzheimer 2002). Zugleich stellt sich jedoch die Frage,
inwieweit funktionale Äquivalente f€ur die Parteien zu erkennen sind (Lawson und
Merkl 1988). Zweifel sind angebracht, dass dies etwa soziale Bewegungen sein
könnten.
Die komparative Forschung zu Parteien und Parteiensystemen hat durch konzep-
tionelle und klassifikatorische Arbeit ebenso wie durch empirische Analysen weit-
gehende Befunde €uber ihre Entstehung und Dynamik hervorgebracht. Zugleich
464 M. Kneuer und H.-J. Lauth

machte sie aufmerksam auf Leistungen und Schwächen ihres Gegenstandes, auf
Defizite und Probleme, die immer auch R€uckwirkungen haben auf das politische
System als Ganzes. Die aktuelle Forschung beschäftigt sich nicht nur mit den
skizzierten Themen, sondern greift auch ‚neue‘ Fragen auf. Das Spektrum ist weit
gefasst (Kr€uper et al. 2015). Es enthält Studien zu innerparteilichen Rekrutierungs-
und Karrieremustern mit Blick auf Gendergleichheit (Reiser 2014) sowie Analysen
der Bedeutung von neuen sozialen Medien und Kommunikationsformen f€ur die
soziale Interaktion von Parteien, es umfasst Fragen der Möglichkeit der Etablierung
von funktionierenden Parteiensystemen im europäischen Mehrebenenmodell (Mit-
tag und Steuwer 2010) und ber€ucksichtigt aktuelle Veränderungen in vielen Par-
teiensystemen, die mit dem Entstehen von Parteien (in der EU oftmals rechtspopu-
listischer Prägung) oder dem Niedergang langjähriger Regierungsparteien verbunden
sind. Hier bleibt zu klären, inwieweit solche Krisentendenzen Ausdruck einer
allgemeinen Krise der Demokratie selbst sind.

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Parlamente in der Vergleichenden
Politikwissenschaft

Stefan Marschall

Zusammenfassung
Im internationalen Vergleich findet sich eine große Varianz in den Strukturen,
Funktionen und der Macht von Parlamenten. Parlamentarische Körperschaften
bieten deswegen ergiebige Untersuchungsobjekte f€ur eine komparativ ausgerich-
tete Institutionenforschung sowie f€ur den Vergleich von politischen Systemen.
Die Etablierung von parlamentarischen Institutionen jenseits des Nationalstaates
stellt die vergleichende Forschung wiederum vor konzeptionelle Herausforde-
rungen, da sich hier eine substanzielle Transformation des Parlamentarismus in
Theorie und Praxis abzeichnet.

Schlüsselwörter
Repräsentation • Gesetzgebung • Demokratie • Mehrebenensystem • Legislative •
Europäisches Parlament

1 Einleitung

Parlamente bieten sich in mehrfacher Hinsicht als Analysegegenstände einer kom-


parativen Politikwissenschaft an. Zunächst handelt es sich bei parlamentarischen
Körperschaften um Legitimation generierende Schl€usselorganisationen moderner
liberaler Demokratien. Sie stehen formal betrachtet im Zentrum staatlicher Entschei-
dungsfindung; ihnen kommt normativ die Aufgabe zu, die Bevölkerung mit dem
politisch-administrativen System zu verbinden und den „Willen des Volkes“ zu
repräsentieren – mögen Parlamente in der Verfassungsrealität diese Funktion auch

S. Marschall (*)
Professor f€ur Politikwissenschaft, Institut f€
ur Sozialwissenschaften, Universität D€
usseldorf,
D€usseldorf, Deutschland
E-Mail: stefan.marschall@uni-duesseldorf.de

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 469


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_71
470 S. Marschall

nur (noch) bedingt erf€ullen. Aber gerade der Widerspruch zwischen formalen
Aufgaben und tatsächlichen Leistungen kann heuristisch aufschlussreich sein,
insbesondere in einer empirisch vergleichenden Perspektive.
Zweitens können Parlamente auch als Schl€ussellochorganisationen verstanden
werden, da ihre Analyse tiefreichende Einblicke erlaubt, die €uber die vergleichende
Untersuchung eines spezifischen Körperschaftstyps hinausgeht. Parlamente sind mit
zahlreichen anderen Akteuren des jeweiligen Systems komplex verflochten; ihre
Rolle und Struktur sind Ausdruck des Kontextes, den die jeweilige Polity setzt. So
kann die diachron und synchron vergleichende Untersuchung von Parlamenten auch
Erkenntnisse €uber die Merkmale und den Wandel von Systemen und Systemtypen
generieren, innerhalb derer die Parlamente verortet sind.
Drittens drängt die empirische F€ulle parlamentarischer Körperschaften eine ver-
gleichende Analyse nahezu auf. Da es sich hier um eine €uber Jahrhunderte in vielen
Staaten und auf verschiedenen Ebenen existente Organisationsform handelt, liegt
eine große Menge an Fällen vor, die miteinander in Beziehung gesetzt werden
können – entweder in „most similar systems“- oder „most different systems“-
Designs, in vergleichenden Fallstudien oder in „large n“- Analysen (vgl. die Beiträge
in Döring 1995 und in Martin et al. 2014). Parlamente können dabei sowohl als
abhängige als auch als unabhängige Variable modelliert werden: Entweder hat ihre
Varianz entsprechende Auswirkungen auf die Qualität der Systeme, in denen sie
angesiedelt sind, sowie auf die jeweilige Policy-Performanz. Oder die Unterschiede
respektive Ähnlichkeiten zwischen parlamentarischen Körperschaften sind ein Er-
gebnis von systemspezifischen unabhängigen Variablen und Kontextbedingungen.
In diesem Beitrag werden einige dieser Vergleichspotenziale und -befunde aus
der Parlamentarismusforschung vorgestellt. Nach der Abgrenzung des Gegenstands
werden in einem ersten Schritt aus einer vergleichenden Perspektive die Struktur und
Organisation von Parlamenten thematisiert, bevor die parlamentarischen Funktionen
behandelt werden. Entscheidend, auch in komparativer Hinsicht, ist die Frage nach
der Macht von Parlamenten, die der Folgeabschnitt in den Blick nimmt. Hierbei wird
kritisch Bezug genommen auf die pauschale These von einem Machtverlust von
Parlamenten im politischen Prozess. Der letzte Abschnitt diskutiert, welche konzep-
tionellen Probleme die Entstehung eines transnationalen Parlamentarismus f€ur die
vergleichende Parlamentarismusforschung generiert.

2 Parlamente – begriffliche Abgrenzung und institutionelle


Merkmale

Gerade weil es sich um eine verbreitete und Jahrhunderte alte Organisationsform


handelt, fällt eine Abgrenzung von „Parlamenten“ nicht leicht. Grundlegend lässt
sich eine weite und eine enge Definition unterscheiden (Patzelt 1995, S. 365): Von
Parlamenten im weiten Sinne kann gesprochen werden, wenn es sich um staatliche
Vertretungskörperschaften handelt, denen die Aufgabe der Repräsentation der Be-
völkerung zukommt; dabei ist die Form ihrer Bestellung noch kein Merkmal.
Parlamente im engen Sinne wiederum sind Vertretungskörperschaften, deren
Parlamente in der Vergleichenden Politikwissenschaft 471

Mitglieder von denjenigen, die sie vertreten sollen, in regelmäßigen Wahlen bestimmt
werden. Dies gewährleistet – zumindest theoretisch – parlamentarische Responsivi-
tät und Verantwortlichkeit.
Eine Parlamentarisierung f€uhrt jedoch nicht zwangsläufig zu einer Demokratisie-
rung staatlicher Strukturen (Weber 1971, S. 383, Original 1918); die bloße Existenz
eines gewählten Parlaments macht aus einem System nicht unmittelbar ein demo-
kratisches. Ein demokratischer Parlamentarismus setzt die regelmäßige Wahl dieser
Körperschaften entlang bestimmter demokratischer Prinzipien (z. B. allgemein,
geheim) voraus; zudem m€ussen die jeweiligen Parlamente eine entscheidende Rolle
im politischen Prozess spielen. Parlamentarismus hat also sowohl eine „input“- als
auch eine „output“-Komponente.
Parlamentarische Körperschaften zeichnen sich zudem durch organisationsbezo-
gene Merkmale aus: Parlamente verf€ugen €ublicherweise €uber ein Selbstorganisa-
tionsrecht; sie bestimmen autonom €uber ihre eigenen Spielregeln, beispielsweise
indem sie sich eine Geschäftsordnung geben. Üblicherweise entscheiden Parlamente
selbständig €uber ihre Sitzungstermine und ihre Tagesordnung. Ihre interne Organi-
sation wird davon geprägt, dass die Mitglieder des Parlaments individuell gleichbe-
rechtigt sind und gesch€utzt werden (Loewenberg 1971, S. 3). Im modernen Parla-
mentarismus ist das „freie Mandat“ der Standard geworden: Abgeordnete sind –
zumindest rechtlich gesehen – nur ihrem Gewissen unterworfen. Sie werden in ihrer
Mandatszeit vor Strafverfolgung durch das Immunitätsrecht gesch€utzt; dieser Schutz
kann nur durch das Parlament selbst aufgehoben werden. Die Freiheit ihres Han-
delns im Parlament wird durch Indemnitätsregelungen gewährleistet: Abgeordnete
d€urfen nicht wegen ihrer Äußerungen oder ihres Abstimmungsverhaltens strafrecht-
lich belangt werden – auch nicht nach dem Ende ihrer Mandatszeit. Die Arbeitsweise
von Parlamenten ist gekennzeichnet durch ein hohes Maß an Transparenz und
Öffentlichkeit. Die Idee der „Debatte“, der öffentlichen Auseinandersetzung, ist
f€ur parlamentarische Körperschaften zentral – und bereits in ihrem Namen und ihrer
Entstehungsgeschichte angelegt (Marschall 2005a, S. 24–28). Entscheidungen wer-
den € ublicherweise €uber das Mehrheitsprinzip getroffen. Zugleich sind parlamenta-
rische Minderheiten mit Rechten ausgestattet, die von der Mehrheit nicht ohne
weiteres aufgehoben werden können. Aber auch unter Ber€ucksichtigung all dieser
gemeinsamen Merkmale von Parlamenten findet sich immer noch eine Vielzahl von
unterschiedlichen Ausformungen dieses Organisationstyps.

3 Strukturen und Verfahren im Vergleich

Eine erste strukturelle Unterscheidung betrifft die Frage, ob sich das Parlament aus
einer oder zwei Kammern zusammensetzt (Heller und Branduse 2014). Daten der
Interparlamentarischen Union zufolge waren 2013 von den weltweit erfassten 192
nationalen Parlamenten 77, also rund 40 Prozent, bikameral aufgebaut (www.ipu.
org/parline-e [30.10.2014], siehe auch Haas 2010, S. 13). Setzt sich ein Parla-
ment aus zwei Häusern zusammen, dann steht dies oft in Verbindung mit der
föderalen Struktur des jeweiligen politischen Systems (Patterson und Mughan
472 S. Marschall

1999, S. 10). Aber auch in unitarischen Systemen wie dem französischen kann es
zweite Kammern geben. Die Kompetenzen zweiter Häuser in Parlamenten reichen
von der Konsultation bis hin zur umfassenden und verbindlichen Einbindung in
legislative Entscheidungsverfahren auf Augenhöhe mit den ersten Kammern. Im
letztgenannten Fall nehmen zweite Kammern unter Umständen die Position eines
Veto-Spielers ein, der Entscheidungen blockieren kann (Tsebelis 2002). Entspre-
chend ist die Existenz von Oberhäusern oder Senaten f€ur Arend Lijphart ein Indi-
kator daf€ur, dass ein System als Konsensusdemokratie (vs. Mehrheitsdemokratie)
bezeichnet werden kann, innerhalb derer kompromissorientierte Verhandlungspro-
zesse ablaufen (Lijphart 2012). Die Varianz in der Art der Zusammensetzung sowie
der Macht und Funktion der zweiten Kammern ist erheblich und oftmals pfadab-
hängig (Riescher et al. 2010).
Eine ähnliche Pfadabhängigkeit findet sich hinsichtlich der Größe parlamentari-
scher Körperschaften. Bei Parlamenten handelt es sich generell um Viel-Personen-
Organisationen; gleichwohl variiert die konkrete Anzahl ihrer Mitglieder. Der Umfang
parlamentarischer Körperschaften scheint prima vista und plausiblerweise abhängig
von der jeweiligen Bevölkerungsgröße zu sein. Gleichwohl liegt hier kein eindeutiger
und linearer Zusammenhang vor. Rein Taagepera hat aufgrund eines empirischen
Vergleichs eine Formel aufgestellt, nach der man die Größe einer parlamenta-
rischen Körperschaft (speziell der ersten Kammern) in Relation zur Größe der zu
vertretenden Gruppe bestimmen kann: Er definiert – auch unter Einbezug normativ-
funktionaler Erwägungen – die typische Größe parlamentarischer Körperschaften
als die Kubikwurzel aus der Bevölkerungszahl (Taagepera 1972). Damit markiert
er eine empirische Tendenz, kann aber letzten Endes die deutliche Varianz und
die Abweichungen von dieser „Regel“ nicht erfassen, die in spezifischen Systement-
wicklungen begr€ undet sind.
Typisch f€ur Parlamente ist, wie angesprochen, der Umstand, dass ihre vielen
Mitglieder gleichberechtigt sind. Dennoch gibt es innerhalb parlamentarischer Kör-
perschaften faktisch verschieden einflussreiche Abgeordnetenrollen. Dies hängt mit
der internen Organisation von Parlamenten zusammen. Parlamente kennen zunächst
Leitungspositionen und -organe. An der Spitze von Parlamenten stehen Präsidenten
oder Speaker, die €ublicherweise aus der Mitte des Hauses kommen. Diese leiten die
parlamentarischen Sitzungen und vertreten das Parlament nach außen. Zwei Vor-
sitzendenrollen lassen sich dabei grob unterscheiden: (1) Der „Präsident“ ist der
Prototyp des Parlamentsvorsitzenden kontinentaler Prägung. Präsidenten verf€ugen
€uber eine eingeschränkte Verfahrensmacht und verlieren durch die Übernahme der
Position nicht ihre Parteizugehörigkeit. (2) Der „Speaker“ – ein Beispiel ist der
Vorsitzende des britischen Unterhauses – ist ein mit weitreichenden Kompetenzen
ausgestatteter Funktionsträger. Er/sie agiert nicht nur als Sitzungsvorstand €uber-
parteilich, sondern hat auch während der Amtszeit alle Parteiämter ruhen zu
lassen. Marcello Jenny und Wolfgang C. M€uller schlagen eine weitere Differenzie-
rung vor, die €
uber die binäre Unterscheidung hinausgeht. Dabei sortieren sie entlang
der beiden Kriterien Macht und Parteilichkeit. Neben dem o. a. Speaker- und
Präsidententyp (letzteren bezeichnen sie als „minor party position“-Typ) f€uhren sie
noch den schwachen parteineutralen Vorsitzenden und den starken, parteipolitisch
Parlamente in der Vergleichenden Politikwissenschaft 473

orientieren Rollentyp an (Jenny und M€uller 1995, S. 328). Die Parlamentsvorsitzen-


den bilden zusammen mit ihren gewählten Stellvertretern das „Präsidium“ oder
„Bureau“. Weitere Gremien sind f€ur die Geschäftsleitung zuständig. So ist die
Einrichtung eines Ältestenrats/„Steering Committee“ verbreitet. Schließlich steht
Parlamenten € ublicherweise ein Hilfsdienst in Form von Generalsekretariaten oder
Administrationen zur Seite. Diese sind von Fall zu Fall unterschiedlich ausgestaltet,
was Hinweise auf die Funktionen und die Rolle der jeweiligen parlamentarischen
Körperschaft geben kann.
Zwei weitere Organisationsformen prägen die parlamentarische Arbeit: (1) Frak-
tionen (als Zusammenschl€usse von Parlamentariern gleicher parteipolitischer Pro-
venienz); (2) Fachaussch€usse (in denen politikfeldbezogen die operative parlamen-
tarische Arbeit stattfindet). Die Anzahl der Fraktionen im Parlament, ihre Beziehung
zu den außerparlamentarischen Parteiorganisationen und ihre Stärke im parlamenta-
rischen Prozess sind wichtige Indikatoren f€ur die Merkmale des jeweiligen Parteien-
systems (vgl. Helms 1999; Laakso und Taagepera 1979; Sartorius 1976). Die Anzahl
und Größe der Aussch€usse in einem Parlament verraten wiederum einiges €uber die
jeweilige systemische Funktion und Macht von Parlamenten insbesondere im
Bereich der Gesetzgebung (vgl. Mattsen und Strøm 1995). Zum Beispiel: Je größer
die parlamentarischen Aussch€usse sind und je weniger es von ihnen gibt, desto
machtloser ist das Parlament (von Beyme 1999). Hinter dieser Beobachtung steht die
Annahme, dass die Fachaussch€usse wichtige Expertise-basierte Instrumente parla-
mentarischer Arbeit in komplexen modernen Gesellschaften sein können.
Kennzeichnend f€ur Parlamente sind nicht nur spezifische organisatorische Strukturen
(und ihre Varianz innerhalb gewisser Bandbreiten), sondern auch bestimmte Facetten
parlamentarischer Verfahren. Aber auch hier lassen sich Unterschiede feststellen. Bei-
spielsweise ist das Prinzip der Öffentlichkeit zwar prägend f€ur die parlamentarische
Arbeit. Nichtsdestoweniger unterscheiden sich Parlamente in dem Grad der Sichtbar-
machung der in ihnen stattfindenden Prozesse, etwa ob Ausschusssitzungen offen oder
hinter verschlossenen T€uren stattfinden (Marschall 2009). Auch in dieser Frage spiegeln
sich weiterreichende systemische politisch-kulturelle Unterschiede.
Schließlich lassen sich Parlamente noch entlang einer Typologie unterscheiden, die
von Winfried Steffani (1979) geprägt worden ist, sich aber bereits bei Nelson Polsby
(1975) finden lässt: die Unterscheidung zwischen Arbeits- und Redeparlamenten.
Während in Arbeitsparlamenten die legislative Facharbeit – insbesondere in den Aus-
sch€ussen – im Mittelpunkt parlamentarischen Geschehens steht und die Abge-
ordneten als „Spezialisten“ gefragt sind, werden Redeparlamente von der öffentlichen
Plenardebatte geprägt; die Abgeordneten agieren als „Generalisten“. Beide Typen sind
in ihrer extremen Reinform kaum aufzufinden. Mischformen sind €ublich. Generell
lässt sich aber bei vielen Parlamenten eine fachliche Spezialisierung bei gleichzeitiger
Professionalisierung des Abgeordnetenberufs feststellen (Zgraggen 2009).
Der Überblick zeigt: Die Varianz parlamentarischer Organisation ist nicht
kontingent. Die Strukturen von Parlamenten verweisen auf Kennzeichen der
jeweiligen politischen Systeme und der jeweilig vorherrschenden politischen
Kultur. Und sie haben Auswirkungen auf die konkrete Form der Politikgestaltung
und ihre Ergebnisse.
474 S. Marschall

4 Funktionen im Vergleich

Eine weitere Vergleichsdimension bieten die Funktionen, die Parlamenten zuge-


schrieben werden. In Anlehnung, Erweiterung und Überarbeitung eines der ersten
parlamentarischen Funktionskataloge in Walter Bagehots Studie €uber die englische
Verfassung aus dem Jahr 1867 (Bagehot 1971) hat sich innerhalb der Parlaments-
forschung die Unterscheidung von vier Funktionen etabliert, die wiederum in Form
und Performanz von Parlament zu Parlament unterschiedlich ausgeprägt sein kön-
nen: die Wahl-, die Gesetzgebungs-, die Kontroll- und die Kommunikationsfunktion
(Marschall 2005a). Auch hier verweist die Varianz in den parlamentarischen Funk-
tionsbereichen auf Unterschiede zwischen den Systemen, in die die Parlamente ein-
gebettet sind (Patzelt 2003).
Mit Blick auf ihre Wahlfunktion lassen sich nicht nur Parlamente, sondern auch
die dazu gehörigen Demokratien klassifizieren. Tragen Parlamente die jeweilige
Regierung, entweder indem sie diese wählen, aber zumindest indem sie €uber die
Möglichkeit verf€ ugen, sie abzuwählen (diese Option aber nicht nutzen), werden die
jeweiligen Systeme als parlamentarische Demokratien klassifiziert (Lijphart 2012;
Steffani 1979). Fällt diese Möglichkeit weg, ist also die Regierungsspitze unabhän-
gig vom Parlament, handelt es sich um ein präsidentielles System.1 Inwieweit und
warum die parlamentarische Wahlfunktion, die sich nicht nur auf Regierungen,
sondern auch auf weitere Akteure eines Systems erstrecken kann, kontextabhängig
gestaltet wird, ist Gegenstand von vergleichenden empirischen Analysen geworden
(Sieberer 2010).
Die Gesetzgebungsfunktion von Parlamenten, also das Einbringen, Verändern,
Diskutieren und Verabschieden von Gesetzesentw€urfen, gilt als eine der substanziel-
len Aufgaben von Parlamenten und begr€undet ihren Zweitnamen „Gesetzgeber“
oder englisch: „legislature“. Die Ausprägung dieser Funktion unterscheidet eben-
falls präsidentielle von parlamentarischen Systemen: Die Gesetzgebungsfunktion ist
f€
ur präsidentielle Parlamente im Rahmen der Gewaltenteilung zentral, während in
parlamentarischen Systemen Parlamente die legislative Funktion mit der Regierung
teilen, mitunter von dieser sogar dominiert werden – letzteres ist auch ein Hinweis
darauf, dass ein System als Mehrheitsdemokratie qualifiziert werden kann (Lijphart
2012, S. 3–4). Vergleichende Studien zur Gesetzgebung illustrieren länderspezifi-
sche Eigenarten, was die Reichweite und Form der Einbindung von Parlamenten in
legislative Prozesse betrifft (vgl. f€ur westeuropäische Staaten Ismayr 2008).
Die Kontrollfunktion ist eine weitere wichtige Parlamentsaufgabe, die im natio-
nalstaatlichen Vergleich unterschiedlich ausfällt (Schnapp und Harfst 2005). Das
hängt auch mit der Vielzahl von Möglichkeiten zusammen, mithilfe derer Parlamen-
te andere Institutionen, insbesondere die Regierung, kritisch beobachten können
(s. beispielsweise zum Instrument der Fragestunde Wiberg 1995). Auch hier greift

1
Neben den beiden Reinformen lassen sich noch verschiedene Zwischenformen ausmachen (semi-
präsidentiell, parlamentarisch-präsidentiell, präsidentiell-parlamenarisch (siehe Duverger 1980;
Shugart und Carey 1997).
Parlamente in der Vergleichenden Politikwissenschaft 475

der Unterschied zwischen der parlamentarischen Demokratie einerseits und Syste-


men andererseits, in denen sich parlamentarische Mehrheit und Regierung antago-
nistisch gegen€ uberstehen: Die Aufgabe der kritischen Regierungskontrolle fällt in
parlamentarischen Konstellationen in erster Linie der Opposition zu, während sie in
präsidentiellen Systemen auch eine gesamtparlamentarische Aufgabe darstellt (vgl.
Steffani 1989). In parlamentarischen Demokratien stellt die drohende Abwahl durch
eine parlamentarische Mehrheit die stärkste Form der Sanktion der Regierung dar.
Bei der Kommunikationsfunktion handelt es sich um eine vergleichsweise diffuse
Parlamentsaufgabe. Im Kern thematisiert diese die normativ geforderte Bildung von
Linkages zwischen den B€urgerinnen und B€urgern auf der einen Seite und dem
Entscheidungssystem auf der anderen. Diese Linkage-Funktion wird nicht zuletzt
von den einzelnen Abgeordneten getragen. Auf der individuellen Abgeordneten-
ebene zeigen sich dabei systembedingte Unterschiede. So unterscheidet die Parla-
mentssoziologie verschiedene Rollenausrichtungen der Parlamentarier: zum Bei-
spiel eine stärkere Orientierung an den Wahlkreis oder eine Orientierung auf die
gesamte Nation (Patzelt 1993).2 Die systemspezifische Stärke der Parteien und das
jeweilige Wahlsystem haben Auswirkungen auf die Rollenorientierungen der Abge-
ordneten (M€ uller und Saalfeld 2013, siehe auch Deschouwer und Depauw 2014
sowie Best und Vogel 2014).
Hinsichtlich der parlamentarischen Kommunikationsfunktion ist die Bedeutung
der Massenmedien sowie neuerdings auch der Online-Medien Gegenstand der ver-
gleichenden Forschung geworden (s. zum Thema Fernsehen und Parlament: Negrine
1998; zum Thema Internet und Parlament: Dai und Norton 2008). In den Studien
wird gefragt, wie (international) unterschiedliche mediale Kontexte die kommuni-
kativen Ressourcen und Machtpotenziale der Parlamente und Parlamentarier beein-
flussen können.

5 Parlamentarische Macht im Vergleich – „Decline of


Parliaments“?

Der vergleichende Blick auf die parlamentarischen Funktionen macht deutlich, dass
alleine auf der Grundlage ihrer jeweiligen Verortung im institutionellen Design von
Demokratien und auf der Grundlage ihrer Beziehung zu anderen Organen Parla-
mente eine unterschiedliche Machtstellung in ihren jeweiligen Systemen einnehmen.
Insofern stellen funktionale Typologien von Parlamenten zugleich auch Machttypo-
logien dar: Unterschiedliche Aufgabenzuschreibungen implizieren unterschiedliche
Einflusspotenziale.
Solche Machttypologien, die funktionell ansetzen, sind beispielsweise in den
siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts entwickelt worden, z. B. von Nelson
Polsby in seinem Eintrag im „Handbook of Political Science“ (Polsby 1975). Polsby

2
Richard Fenno spricht mit Blick auf US-amerikanische Parlamentarier von „hill style“- vs. „home
style“-Abgeordneten (Fenno 1978).
476 S. Marschall

gruppierte Parlamente hinsichtlich der Frage, ob sie als „transformative legis-


lature“ oder als „arena“ bezeichnet werden können. Als „transformative legis-
latures“ bezeichnet er legislativ machtvolle Parlamente: Sie nehmen auf die Ent-
wicklung von Gesetzesvorschlägen weitreichenden Einfluss. Die „arenas“ hingegen
spielten in der Gesetzgebung ihrer Systeme eine nur marginale Rolle; andere Ak-
teure, z. B. Regierungen seien dort maßgeblicher. Polsby macht seine Unterschei-
dung nicht nur an der Aufgabenzuschreibung durch die Verfassungen fest, sondern
identifiziert weitere Kontextfaktoren, die €uber die legislative Macht der Parlamente
entscheiden (z. B. die jeweilige Koalitionsformation).
Ähnlich wie Polsby fokussiert auch Michael Mezey (1979) in seiner – ebenfalls
klassischen – Typologie von Parlamenten auf deren Einfluss. Zur Einstufung blickt
er zum einen auf die „policy making“-Potenziale der Parlamente – insbesondere auf
ihre Möglichkeiten, die Gesetzgebung zu beeinflussen. Als zweites Kriterium zieht
er die gesellschaftliche Unterst€utzung oder Verankerung heran, auf die Parlamente
bauen können. Er unterscheidet f€unf Typen parlamentarischer Körperschaften;
zunächst zwei, die beide eine nur geringe gesellschaftliche Unterst€utzung vorweisen
können, sich aber in der legislativen Macht unterscheiden: (1) „vulnerable legislatu-
res“ (hohe legislative Macht) und (2) „marginal legislatures“ (mittlere legislative
Macht). Dann unterscheidet er drei Typen, die alle €uber eine starke gesellschaftliche
Verankerung verf€ ugen, aber wiederum unterschiedlich legislativ stark sind: (3) „ac-
tive legislatures“ (hohe legislative Macht), (4) „reactive legislatures“ (mittlere
legislative Macht) und (5) „minimal legislatures“ (geringe legislative Macht). Im
Gegensatz zu Polsby verwendet Mezey seine Typologie auch, um parlamentarische
Körperschaften in autokratischen Systemen zu erfassen (z. B. der Oberste Sowjet
der UdSSR).
Sowohl Polsby als auch Mezey fokussieren primär auf die legislative Kompeten-
zen. Parlamentarischer Einfluss kann gleichwohl aus weiteren Ressourcen schöpfen
und in der Kombination von Ressourcen begr€undet sein, die höchst variabel ausfal-
len kann (Patzelt 2005). Dies erschwert eine valide vergleichende Machtanalyse.
Hinzu kommen die Vielfalt und Vermischung von formalen und informalen Macht-
ressourcen. Viele Analysen bleiben – auch aus messtechnischen Gr€unden – auf der
formalen Ebene stehen; die konstitutionellen Rechte der Parlamente werden erfasst
und miteinander in Beziehung gesetzt. Dass Parlamente aber auch Netzwerkakteure
sein können, die in der Lage sind, informelle Machtpotenziale zu aktivieren, ist
bereits policy-spezifisch nachgewiesen worden (vgl. Kropp 2002). Werden Parla-
mente schließlich nur als „institutionelle Strukturen“ verstanden (Sieberer 2010,
S. 22), kann der empirisch-analytische Fokus auf diejenigen Akteure eingestellt
werden, die innerhalb dieser Strukturen Macht aus€uben (individuelle Abgeordnete,
Parteien, Verbände etc.).
Solche differenzierten empirischen Machtanalysen scheinen angesichts der vor-
herrschenden Diskurse, die von einem Machtverlust der Parlamente ausgehen,
dringend notwendig (Marschall 2005a). Zwar werden parlamentarische Körper-
schaften schon seit dem Beginn ihrer Existenz von einem Niedergangsdiskurs be-
gleitet; doch hat diese These seit Ende des vergangenen Jahrhunderts nochmals an
Gewicht gewonnen – unter dem Schlagwort vom „post-parlamentarischen Zeitalter“
Parlamente in der Vergleichenden Politikwissenschaft 477

(Andersen und Burns 1996). Nicht zuletzt sind Prozesse der Globalisierung und
Europäisierung f€ur den Machtverlust der Parlamente verantwortlich gemacht wor-
den. Der normativ geprägte Entparlamentarisierungstopos hat dabei nicht nur in der
Wissenschaft Raum gegriffen. Auch im innerparlamentarischen und journalistischen
Diskurs findet sich die Klage €uber die abnehmende Macht parlamentarischer Körper-
schaften.
Kennzeichnend f€ur die These von der Entparlamentarisierung sind (1) die pau-
schale Qualität der Diagnose und (2) ihr Fokus auf etablierte westliche national-
staatliche Demokratien:

(1) Entparlamentarisierung wird als ein genereller Trend verstanden, der parlamen-
tarische Körperschaften erfasst hat und mit einem Machtgewinn der Exekutive
einhergeht. Dies scheint jedoch zu kurz gegriffen – insbesondere im Sinne von
„policy matters“. Angezeigt sind deswegen politikfeld- oder gar einzelfallbezo-
gene vergleichende Analysen von Entscheidungsprozessen, die den konkreten
Einfluss von Parlamenten auf Entscheidungsmaterien und konkrete Entschei-
dungen zu tarieren helfen und damit herausarbeiten können, unter welchen Be-
dingungen Parlamente welche Form von Macht haben (z. B. f€ur das Politikfeld
Sicherheitspolitik Dieterich et al. 2009; Ondarza 2012).
(2) Die Entparlamentarisierungsdebatte bezieht sich primär auf westliche Demo-
kratien (insbesondere auf die nationalstaatlichen Parlamente innerhalb der Eu-
ropäischen Union, vgl. Sch€uttemeyer 2009). Dieser Fokus blendet freilich Fälle
aus, in denen Parlamente (auch heute noch) zu den einflussgewinnenden Akteu-
ren gehören, zum Beispiel in Transformationsstaaten. Die These verliert damit
auch an Erklärungskraft f€ur Phänomene wie das Europäische Parlament und
andere trans- oder internationale parlamentarische Körperschaften (s. u.).

Die Entparlamentarisierungsdebatte greift unter anderem die Tatsache auf, dass


Politik zunehmend innerhalb von Mehrebenenstrukturen stattfindet – und zieht
daraus den vorschnellen Schluss, dass Parlamente zu den Verlierern dieser Entwick-
lung gehören (Börzel 2000). In der Tat: Dadurch, dass sich parlamentarische Macht
auf verschiedenen Ebenen etabliert hat, wird auch diese zu einem Multi-Level-
Phänomen. In einem „Mehrebenenparlamentarismus“ (Abels und Eppler 2011)
diffundiert parlamentarische Macht, sie hebt sich aber nicht zwangsläufig auf. Dass
diese Entwicklungen höchst unterschiedliche Auswirkungen auf die Effektivität von
nationalen Parlamenten haben und dabei nicht nur Verlierer produzieren, ist eine
gesicherte Erkenntnis aus der einschlägigen komparativen Forschung (siehe Auel
und Christiansen 2015; Maurer und Wessels 2001; O’Brennan und Raunio 2007).

6 Parlamentarismus jenseits der nationalen Ebene

Jenseits des Nationalstaates hat sich in den letzten Jahrzehnten inter- und transna-
tionaler Parlamentarismus etabliert. Parlamentarische Körperschaften, in der Regel
als „Parlamentarische Versammlungen“ oder „Transnationale Versammlungen“ be-
478 S. Marschall

zeichnet, sind mittlerweile zu einem Standardorgan internationaler Vertragsge-


meinschaften geworden (Marschall 2005b). Vor allem aber hat sich mit dem Europä-
ischen Parlament ein neuer und besonderer Fall von parlamentarischer Körperschaft
jenseits der nationalstaatlichen Grenzen herausgebildet. Die Entstehung eines sol-
chen supra- und internationalen Parlamentarismus stellt die vergleichende Parlamen-
tarismusforschung vor neue, fundamentale Herausforderungen und Fragen. Trotz
aller phänomenologischer Ähnlichkeit zwischen bestimmten Formen des transna-
tionalen Parlamentarismus auf der einen Seite und dem nationalstaatlichen auf der
anderen Seite stößt eine komparative Analyse an Grenzen.
Dies gilt insbesondere mit Blick auf die „parlamentarischste“ aller Körperschaf-
ten jenseits des Nationalstaates: das Europäische Parlament (EP). Bei seiner Entste-
hung und Entwicklung im Rahmen der europäischen Vertragsgeschichte stand und
steht der nationalstaatliche Parlamentarismus Modell (Rittberger 2005). Mit seinem
Namen gesellt sich das EP unmittelbar in die Gruppe der klassischen Parlamente. In
der Tat ähnelt es in zentralen Punkten nationalen Parlamenten: Es handelt sich um
eine direkt gewählte Viel-Personen-Repräsentationskörperschaft, die im Rahmen
traditionell-parlamentarischer Verfahrensmodi (öffentliche Plenardebatte, Aussch€us-
se, Mehrheitsregel und Oppositionsschutz) bei starker Prägung durch die Rolle von
(transnationalen) Fraktionen an der politischen Willensbildung und Entscheidungs-
findung in der europäischen Polity mitwirkt und dabei Wahl-, Gesetzgebungs-,
Kontroll- und Kommunikationsfunktionen aus€ubt (Corbett et al. 2011).
Die Unterschiede zeigen sich bei genauerem Blick: So spielen in der Struktur der
EP-Wahl und in ihrem Ergebnis konföderale Repräsentationsmechanismen, also die
Idee der Vertretung nicht nur von Individuen (europäische B€urger), sondern auch
von Gebietskörperschaften (Mitgliedstaaten), eine zentrale Rolle. Formal fehlt dem
Parlament die legislative Initiativkompetenz, die auch nach dem Vertrag von Lissa-
bon ausschließlich von der Europäischen Kommission ausge€ubt wird. Ohnehin ist
die Beziehung zwischen Kommission und Parlament ‚speziell‘. Dies hängt nicht
zuletzt mit den charakteristischen Besonderheiten des Organs Kommission zusam-
men, das exekutive, legislative, aber auch kontrollierende Funktionen in sich vereint.
Hinsichtlich der parlamentarischen Aufgaben befindet sich das Europäische Parla-
ment zudem in einem komplexen Interaktionsfeld mit den anderen Organen der
Europäischen Union sowie der Mitgliedsländer, das seinesgleichen auf der national-
staatlichen Ebene sucht (Maurer 2012).
Als substanzieller erweist sich jedoch die Frage, ob der europäische Parlamenta-
rismus auch die (stets mitgedachten) Voraussetzungen f€ur parlamentarische Reprä-
sentation erf€ullen kann. Diese Debatte reicht weit in die Diskussion €uber die Mög-
lichkeit einer europäischen Demokratie hinein (vgl. Kohler-Koch und Rittberger
2007): Gibt es ein europäisches Volk, das dem Parlament gegen€ubersteht? Existieren

uberhaupt Linkage-Mechanismen zur Verbindung zwischen Parlament und Reprä-
sentierten (z. B. europäische Parteien, Medien)? Bei diesen Punkten wird viel
Skepsis laut (vgl. z. B. Kielmansegg 2015). Diese muss jedoch nicht dazu f€uhren, das
EP als „sui generis“ oder als „one case category“ beiseite zu legen, sondern erfordert
vielmehr eine grundlegende Reflexion des Verständnisses von Parlamentarismus,
wof€ ur solche neuen transnationalen Organisationen wie das EP Anstoß geben
Parlamente in der Vergleichenden Politikwissenschaft 479

können. Dabei vermag die Analyse der Entwicklung eines transnationalen Parla-
mentarismus auch Hinweise auf die Zukunft der nationalen Parlamente geben,
welche sich ebenfalls heterogener werdenden Gesellschaften gegen€ubersehen und
deren Linkage-Strukturen sich gleichfalls verändern.

7 Fazit

Parlamente sind traditionelle, universal zu findende Repräsentationskörperschaften,


die politischen Entscheidungsprozessen Legitimation verleihen. In modernen Demo-
kratien sind sie zu obligatorischen Bausteinen des institutionellen Designs gewor-
den. Innerhalb eines gemeinsamen Rahmens als gewählte Vertretungsorgane unter-
scheiden sich Parlamente jedoch hinsichtlich ihrer Strukturen, ihrer Verfahren, ihrer
Aufgaben und damit auch hinsichtlich ihrer Rolle innerhalb des jeweiligen politi-
schen Systems. Dabei herrscht im Diskurs die These von einer kontinuierlichen
Entmachtung von Parlamenten vor. Gegen diese Behauptung gibt es durchaus empi-
rische Evidenz - nicht zuletzt die Tatsache, dass sich Formen von Parlamentarismus
mittlerweile auch jenseits der nationalen Ebene entwickelt haben. Gerade diese
Entwicklung stellt die Parlamentarismusforschung vor grundlegende Heraus-
forderungen, denn die Kategorien und Heuristiken einer auf den nationalstaatlichen
Kontext ausgerichteten Parlamentarismusforschung scheinen auf diese Phänomene
nur noch bedingt zu passen.
Womöglich eilt die parlamentarische Praxis der Theorie voraus: Als lernende Ins-
titutionen haben sich Parlamente geänderten Rahmenbedingungen angepasst und
in verschiedenen Kontexten und auf unterschiedlichen Ebenen als funktional erwie-
sen. Die Spannung zwischen Persistenz und Wandel parlamentarischer Repräsenta-
tion zu erfassen und – womöglich – zu erklären, bleibt eine der Zukunftsaufgaben
der Parlamentarismusforschung, die vergleichend arbeiten muss, um ihren Unter-
suchungsgegenstand adäquat erfassen zu können.

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Präsidenten und Regierungen in der
Vergleichenden Politikwissenschaft

€ller-Rommel
Florian Grotz und Ferdinand Mu

Zusammenfassung
Der vorliegende Beitrag beschreibt zwei dominante Forschungsstränge in der
empirisch-vergleichenden Analyse von Präsidenten und Premierministern: die
institutionellen und die persönlichkeitsbezogenen Ansätze. Zunächst werden jene
politisch-institutionellen Rahmenbedingungen dargestellt, welche die Regie-
rungschefs mit formaler Machtkompetenz ausstatten (strukturorientierte Ansätze)
bzw. deren Handlungskorridore definieren (prozessorientierte Ansätze). Zweitens
werden Persönlichkeitsstrukturen von Regierungschefs mit deren politischen
Entscheidungsprozessen in Verbindung gebracht. Dabei liegt ein besonderer
Akzent auf der Darstellung der „Personalisierung“ von Politik sowie der unter-
schiedlichen politischen F€uhrungsstile. Abschließend werden Perspektiven f€ur
die zuk€ unftige Forschung aufgezeigt.

Schlüsselwörter
Politische Exekutive • Regierungspolitik • Präsidentielle Systeme • Parlamenta-
rische Systeme • F€uhrungsstil • Politische Persönlichkeit

F. Grotz (*)
Professor f€ur Vergleichende Regierungslehre, Institut f€
ur Politikwissenschaft, Helmut-Schmidt-
Universität Hamburg, Hamburg, Deutschland
E-Mail: grotz@hsu-hh.de
F. M€uller-Rommel
Professor f€ur Vergleichende Politikwissenschaft, Institut f€
ur Politikwissenschaft, Universität
L€uneburg, L€uneburg, Deutschland
E-Mail: muero@uni.leuphana.de

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 483


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_36
484 F. Grotz und F. M€
uller-Rommel

1 Einleitung

In demokratischen Verfassungsstaaten bilden Präsidenten und Premierminister die


Spitze der exekutiven Gewalt (chief executives).1 Ihre herausragende Bedeutung f€ur
die Funktions- und Leistungsfähigkeit der Demokratie ist offenkundig. Regierungs-
chefs sind die bekanntesten Politiker eines Landes. Sie vertreten die nationalstaat-
lichen Interessen nach außen, prägen die innenpolitische Agenda, leiten Kabinetts-
sitzungen und koordinieren die Umsetzung politischer Entscheidungen. „Regieren“
wird daher meist mit dem Tun und Lassen des jeweiligen chief executive identifiziert.
Alle US-Regierungen werden nach ihrem Präsidenten benannt (Clinton-, Bush- oder
Obama-Administration). Gleiches gilt f€ur westeuropäische Regierungen mit mar-
kanten Premierministern, wie Bruno Kreisky, Margret Thatcher oder Helmut Kohl
(Bean und Mughan 1989). Nicht zuletzt suggerieren Bezeichnungen wie „Kanzler-
demokratie“ (f€ ur Deutschland) oder „Präsidialdemokratie“ (f€ur die USA), dass das
Machtzentrum demokratischer Regierungssysteme bei der Exekutivspitze liegt
(Niclauß 2004; Lösche 2004).
Die Vergleichende Politikwissenschaft hat sich seit langem mit der Rolle und
Funktion von Präsidenten und Premierministern befasst. Gleichwohl ist der kompa-
rativ fundierte Wissensstand zum Thema relativ begrenzt (Rhodes 2006, S. 321).
Zwar trifft die pointierte Feststellung von Anthony King (1975, S. 173), es gebe in
der Exekutivforschung „almost nothing by way of a comparative literature“, heute so
nicht mehr zu. In Relation zu anderen Schl€usselbereichen demokratischer Systeme
sind international vergleichende Untersuchungen zu Regierungschefs aber immer
noch spärlich gesät.
Die deutliche Diskrepanz zwischen der politischen Bedeutung von chief executi-
ves und dem state of the art der Vergleichenden Politikwissenschaft liegt in zwei
Problemen begr€ undet, die sich bei empirischen Analysen von Präsidenten und
Premierministern stellen. Erstens: Regierungen sind ein relativ unzugänglicher For-
schungsgegenstand. Parlamentsdebatten und -abstimmungen finden vor den Augen
der Öffentlichkeit statt. Verfassungsgerichte publizieren ausf€uhrliche Urteilsbegr€un-
dungen, aus denen man die zugrundeliegende Entscheidungslogik erschließen kann.
Was dagegen in Regierungszentralen, Kabinetten und Ministerien vor sich geht,
bleibt Außenstehenden weitgehend verborgen (King 1975, S. 174). Verlässliche
Informationen zur regierungsinternen Willensbildung und Entscheidung sind – wenn

uberhaupt – nur indirekt und mit hohem Aufwand zu bekommen. Und selbst wenn
entsprechende Daten vorliegen, herrscht keine Einigkeit, woran genau man die
Macht (power) eines Regierungschefs messen soll: an seinen formal-institutionellen
Kompetenzen (polity), seiner Durchsetzungsstärke im politischen Prozess (politics)
und/oder seinem Einfluss auf die inhaltlichen Politikergebnisse (policy)? Ein zweites

1
Präsidenten und Premierminister kommen auch in autoritären Regimen vor, haben dort aber eine
grundsätzlich andere Stellung inne und werden deshalb im Rahmen dieses Beitrags nicht weiter
ber€ucksichtigt. Aus Gr€
unden der Lesbarkeit verwenden wir im Folgenden nur männliche Formen,
meinen aber ausdr€ucklich beide Geschlechter.
Präsidenten und Regierungen in der Vergleichenden Politikwissenschaft 485

Grundsatzproblem, das den systematischen Vergleich von Regierungschefs er-


schwert, ist die Frage, wie ihre jeweilige Machtposition zu erklären ist: Sind die
politisch-institutionellen Rahmenbedingungen der entscheidende Faktor oder ist es
die Persönlichkeit des Amtsinhabers? Da Präsidenten und Premierminister ein per-
sonenzentriertes Amt bekleiden und zugleich in ein komplexes Institutionengef€uge
eingebettet sind, kann man umwelt- und persönlichkeitsbezogene Determinanten in
der Realität kaum trennen, geschweige denn präzise gewichten.
Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass die empirisch-vergleichende
Literatur zu Präsidenten und Premierministern aus zwei Forschungssträngen besteht,
die sich dem Gegenstand aus unterschiedlicher Perspektive nähern: Der eine Strang
geht von den politisch-institutionellen Rahmenbedingungen des Amtes, der andere
von persönlichkeitsbezogenen Merkmalen des Amtsinhabers aus, um ihre Macht zu
erfassen und zu erklären.

2 Politisch-institutionelle Rahmenbedingungen

Die Machtposition eines Regierungschefs wird zunächst durch institutionelle Struk-


turen geprägt, die seinen Handlungsspielraum mehr oder weniger stark begrenzen.
Als zentral erweist sich dabei das Beziehungsgef€uge zwischen Exekutiv- und Le-
gislativorganen (vgl. Helms in diesem Band). In präsidentiellen Systemen ist der
Präsident vom Parlament politisch unabhängig und steht Staat und Regierung glei-
chermaßen vor. In parlamentarischen Systemen dagegen zerfällt die Exekutivspitze
in ein Staatsoberhaupt (Präsident oder konstitutioneller Monarch) und den „eigent-
lichen“ chief executive (Premierminister), der das Kabinett leitet und vom Vertrauen
des Parlaments abhängig ist.
F€ur die vergleichende Analyse exekutiver Spitzenämter hat diese Differenz zwei
grundlegende Implikationen. (1) Präsidenten in präsidentiellen Systemen und Pre-
mierminister in parlamentarischen Systemen agieren in einem je spezifischen insti-
tutionellen Umfeld. System€ubergreifende Untersuchungen von chief executives sind
daher nur bedingt sinnvoll. Die meisten Vergleichsstudien konzentrieren sich folg-
lich entweder auf Staatspräsidenten oder auf Premierminister. (2) Nach verbreiteter
Ansicht können machtvolle Präsidenten die horizontale Gewaltenbalance und damit
die demokratische Leistungsfähigkeit erheblich beeinträchtigen (Elgie 2011). Dies
gilt auch und gerade f€ur hybride Regierungssysteme, die sowohl einen direkt ge-
wählten Präsident mit bedeutsamen politischen Kompetenzen (wie im Präsiden-
tialismus) als auch einen vom Parlament abhängigen Premierminister (wie im
Parlamentarismus) vorsehen. Grundsätzlich hängt die Funktionsweise solcher „semi-
präsidentiellen Systeme“ in erheblichem Maß von der politischen Akteurskonstella-
tion ab (Duverger 1980): Wenn die (partei-)politische Zugehörigkeit des Staats-
präsidenten mit der Parlamentsmehrheit €ubereinstimmt, ergibt sich eine quasi-
parlamentarische Gewaltenverschränkung zwischen Präsident, Premierminister
und Regierungsfraktionen. Fallen die politischen Zugehörigkeiten unterschiedlich
aus, muss ein Präsident mit einem Premierminister anderer couleur kooperieren (sog.
cohabitation). In vielen semi-präsidentiellen Systemen verf€ugt der Präsident jedoch
486 F. Grotz und F. M€
uller-Rommel


uber umfangreiche formale und informelle Vollmachten, die ihn zum dominanten
politischen Akteur machen (vgl. etwa R€ub 2008). Daher wird die Machtposition von
Präsidenten nicht nur in präsidentiellen Systemen, sondern auch in system€ubergreif-
enden Vergleichsstudien analysiert.
In der Literatur finden sich zwei idealtypische Herangehensweisen, um die po-
litische Stellung von Präsidenten und Premierministern systematisch zu erfassen:
zum einen strukturorientierte Ansätze, die die Stärke des Amtsinhabers an institu-
tionellen Merkmalen festmachen, und zum anderen prozessorientierte Ansätze, die
primär auf die Machtkonstellationen zwischen den relevanten Akteuren abstellen.

2.1 Strukturorientierte Ansätze

Die institutionelle Stärke von Staatspräsidenten wird in vielen vergleichenden Stu-


dien anhand eines index of presidential powers ermittelt. Als Messlatte dient in der
Regel die Summe der verfassungsrechtlichen Kompetenzen, die der Präsident bei
der politischen Willensbildung und Entscheidung innehat. Einige dieser Indices
differenzieren zwischen legislative powers, wie Veto- und Dekretvollmachten des
Präsidenten, und non-legislative powers, wie z. B. seine Kompetenzen bei der Re-
gierungsbildung oder der Parlamentsauflösung (Shugart und Carey 1992). Andere
fassen die präsidentiellen Prärogativen in einer einzigen Dimension zusammen
(Siaroff 2003). Wiederum andere, wie Armingeon und Careja (2007), beziehen
den (in-)direkten Wahlmodus des Staatspräsidenten als gesondertes Kriterium ein.
Bei aller Varianz im Detail weisen die vorliegenden Machtindices zwei grund-
legende Gemeinsamkeiten auf, die ihre Aussagekraft begrenzen. Zum einen fokus-
sieren sie ausschließlich auf formal-rechtliche Kompetenzen. Informelle Aspekte,
die etwa f€ur die politische Stärke von US-Präsidenten von zentraler Bedeutung sind
(u. a. George und George 1956, 1998; Schlesinger 1997), bleiben außen vor. Zum
anderen aggregieren die meisten Indices die jeweiligen presidential powers in linear-
metrischer Form (u. a. Shugart und Carey 1992; Metcalf 2000; Siaroff 2003). Dies
greift insofern zu kurz, als zwischen den einzelnen präsidentiellen Vollmachten
Interaktionsbeziehungen bestehen, die nicht rein additiv erfasst werden können.
Vor diesem Hintergrund hat Jessica Fortin (2013) vorgeschlagen, sich bei der
Bildung von Presidential-Power-Indices auf solche Vollmachten zu konzentrieren,
die bei einer Faktorenanalyse die höchsten wechselseitigen Korrelationen aufweisen.
Dazu zählt sie „package veto“, „partial veto“, „exclusive introduction legislation“,
„cabinet dismissal“, „cabinet formation“ und „censure“. Andere theoretisch bedeut-
same Kompetenzen, wie „decree powers“, „budget prerogatives“, „referenda initia-
tion“ oder „dissolution of the assembly“, sollten dann nicht mehr in den Index
integriert, sondern separat analysiert werden.
Die politische Macht von Premierministern (prime ministerial power) wurde
relativ selten im internationalen Vergleich untersucht (King 1994; O’Malley 2007).
Gleichzeitig sind diese Ansätze heterogener als die vorliegenden Studien zu presi-
dential powers. Das hängt offensichtlich mit der speziellen institutionellen Einbet-
tung von Premierministern zusammen. Da Regierungschefs in parlamentarischen
Präsidenten und Regierungen in der Vergleichenden Politikwissenschaft 487

Systemen jederzeit von der Legislative abberufen werden können, ist ihre Amtszeit –
im Gegensatz zu Staatspräsidenten – weder rechtlich fixiert noch weist sie eine
Höchstgrenze auf. In einigen Untersuchungen wird daher schlicht die Amtsdauer
eines Premiers als Proxy f€ur seine Stärke bzw. Schwäche herangezogen (Baylis
2007). Auch wenn ein gewisser Verbleib im Amt als notwendige Bedingung f€ur
eine aktiv-gestaltende F€uhrungsrolle gelten kann, greift doch eine rein temporale
Operationalisierung f€ur prime ministerial power zu kurz: Warum sollte die Macht-
position eines (länger amtierenden) Regierungschefs kontinuierlich zunehmen?
Dar€uber hinaus sind Premierminister weitaus stärker in das Kabinett ein-
gebettet als Staatspräsidenten. Analysen, die die institutionellen Kompetenzen eines
Premiers erfassen wollen, konzentrieren sich daher meist auf seine Vollmachten
gegen€uber den anderen Regierungsmitgliedern. Dabei geht es primär um seine
„Organisationsgewalt“, d. h. inwieweit er die einzelnen Minister unabhängig vom
Staatspräsidenten und/oder dem Parlament ernennen und entlassen darf. Ebenso
relevant ist die regierungsinterne „Leitfunktion“ des Premiers, d. h. inwiefern er
bei Kabinettsentscheidungen ein herausgehobenes Stimmgewicht hat (Beichelt und
Keudel 2011). Aufgrund der „arkanen Natur“ intraexekutiver Prozesse sind die
Kompetenzen parlamentarischer Regierungschefs jedoch – wenn €uberhaupt – nur
in sehr allgemeiner Form festgeschrieben. Nicht selten stehen gegenläufige Hand-
lungsmaximen nebeneinander, wie im deutschen Grundgesetz, das zwischen
Kanzler-, Ressort- und Kabinettsprinzip unterscheidet (Art. 65 GG).
Mithin erscheint auch die formal-institutionelle Kompetenzausstattung als unzu-
reichend, um die politische Stärke von Premierministern adäquat zu erfassen. Vor
diesem Hintergrund haben Bergman et al. (2003, S. 179 ff.) eine zweidimensionale
Kategorisierung von prime ministerial powers entwickelt, die die institutionellen
Kompetenzen des Premiers („institutional powers“) mit Strukturmerkmalen des
Parteiensystems verbindet, welche f€ur die Machtbasis einer parlamentarischen
Regierung und des ihr vorstehenden Premiers zentral sind („powers from party
system format and party cohesion“). So entsteht eine Matrix, die plausible Differen-
zierungen zwischen westeuropäischen Premierministern im historischen und inter-
nationalen Vergleich erlaubt. Allerdings wurde dieses Kategorienschema bislang
weder auf parlamentarische Systeme außerhalb Westeuropas angewendet noch als
Analyserahmen verwendet, um die (F€uhrungs-)Rolle von Premiers bei der politi-
schen Willensbildung und Entscheidung vergleichend zu untersuchen. Hier könnten
k€
unftige Studien fruchtbar ansetzen.

2.2 Prozessorientierte Ansätze

Ein zweiter Strang politisch-institutioneller Ansätze bemisst die Macht eines Regie-
rungschefs nicht an dessen formaler Kompetenzausstattung, sondern an politischen
Verhaltensmustern innerhalb des gegebenen Institutionenrahmens. Aus dieser Sicht
lautet die zentrale Forschungsfrage, ob und wie sich Präsidenten und Premierminis-
ter gegen konkurrierende Akteure im politischen Prozess behaupten und somit eine
F€uhrungsposition im Regierungssystem einnehmen.
488 F. Grotz und F. M€
uller-Rommel

In der prozessorientierten Forschung zu Staatspräsidenten steht das Verhältnis zu


den parlamentarischen Parteien im Mittelpunkt. Da Präsidenten nicht vorzeitig aus
ihrem Amt abberufen werden können, sind sie zwar prinzipiell weniger von ihren
Parteien abhängig als Premierminister (Samuels und Shugart 2010). Sobald jedoch ein
Präsident seine Vollmachten zur politischen Gestaltung nutzen will, ist auch er auf eine
verlässliche Parlamentsmehrheit angewiesen. Somit kommt der legislativen Koaliti-
onsbildung in (semi-)präsidentiellen Systemen große Bedeutung f€ur die demokrati-
sche Performanz zu – ein Aspekt, der in der Präsidentialismusforschung schon länger
bekannt war (Thibaut 1996), aber erst seit kurzem breitere Aufmerksamkeit erfährt.
Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang, ob und wie es Staatspräsidenten
gelingt, eine kompatible Parlamentsmehrheit zu formieren. Hierzu haben Chaisty
et al. (2014) das heuristische Konzept einer „presidential toolbox“ entwickelt, welche
aus formalen und informellen Machtressourcen besteht, mit denen ein Präsident die
parlamentarische Koalitionsbildung befördern kann. Die systematische Anwendung
und theoretische Verfeinerung dieses Ansatzes stehen freilich noch aus.
Prozessorientierte Ansätze zu Premierministern haben eine lange Tradition. Die-
ser Forschungsstrang besteht €uberwiegend aus Fallstudien, die sich wiederum mehr-
heitlich mit dem britischen Premier befassen. Im Kern geht es hier um die Frage,
welche Akteure die Regierungspolitik bestimmen. Dazu finden sich f€unf unter-
schiedliche Positionen:

(1) Dem cabinet-government-Ansatz zufolge werden exekutive Entscheidungen


von allen Kabinettsmitgliedern nach gemeinsamer Diskussion einvernehmlich
getroffen und einheitlich „nach außen“ kommuniziert (Mackintosh 1962).
(2) Der party-government-Ansatz sieht die einzelnen Minister als Repräsentanten
ihrer Parteien: Ist die parteipolitische Position zu einem Thema der Kabinetts-
agenda bekannt, können auch Aussagen €uber das inhaltliche Profil der Regie-
rungspolitik getroffen werden (Rose 1976).
(3) Der ministerial-government-Ansatz geht davon aus, dass die jeweiligen Ressort-
minister die entscheidenden Akteure sind. Sind deren inhaltliche Präferenzen
bekannt, so lassen sich Kabinettsentscheidungen bis zu einem gewissen Grad
prognostizieren (Laver und Shepsle 1994).
(4) Nach dem bureaucratic-government-Ansatz hat die Ministerialverwaltung die
Fäden in der Hand. Aus dieser Sicht erscheinen Minister als politische Ama-
teure, die nur relativ kurz im Amt bleiben und sich daher auf die professionell
erarbeiteten Vorlagen ihrer Beamten verlassen m€ussen. Regierungsentscheidun-
gen hängen demnach vom Grad des politischen Einflusses der Ministerialb€uro-
kratie ab, der wiederum maßgeblich durch die Verwaltungskultur eines Landes
bestimmt wird (Strøm 1994).
(5) Der Ansatz des prime-ministerial government schließlich basiert auf der An-
nahme, dass der Regierungschef aufgrund seiner herausgehobenen Position die
Kabinettsentscheidungen dominiert und die inhaltliche Ausrichtung bestimmt.
Um die Regierungspolitik zu prognostizieren, m€ussen mithin die politischen
Ziele und die Handlungskompetenzen des Premiers ermittelt werden (Crossman
1963).
Präsidenten und Regierungen in der Vergleichenden Politikwissenschaft 489

Obwohl sich dieser Literaturstrang bislang stark an Einzelfällen orientiert, bietet


er interessante Ankn€upfungspunkte f€ur die vergleichende Forschung. Zum einen
könnte man die unterschiedlichen Erklärungsansätze in einem komparativen Unter-
suchungsdesign systematisch verkn€upfen, um die (politisch-institutionellen) Bedin-
gungen näher zu bestimmen, unter denen ein Premierminister besonders großen
Einfluss auf die Regierungspolitik aus€ubt. Zum anderen hebt vor allem der prime-
ministerial-government-Ansatz die Bedeutung individueller Handlungskompeten-
zen des Regierungschefs hervor und scheint daher in besonderer Weise geeignet,
eine „Br€ucke“ zwischen institutionellen und persönlichkeitsbezogenen Forschungs-
perspektiven zu schlagen.

3 Persönlichkeitsbezogene Ansätze

In den 1950er- und 60er-Jahren entstanden erste psychologisch orientierte Unter-


suchungen € uber das Verhalten von US-Präsidenten, die in der Folgezeit theoretisch
und methodisch verfeinert wurden (George und George 1956; Schlesinger 1957/
1959/1960). Der Fokus dieser „presidential studies“ lag auf der F€uhrungsqualität
einzelner Präsidenten und ihrem Einfluss auf politische Entscheidungen (Schlesinger
1997; George und George 1998). Ähnliche „great-man theories“ wurden auch €uber
einige Premierminister in parlamentarischen Demokratien aufgestellt.
Über den Zusammenhang von Persönlichkeitsstrukturen und politischen Ent-
scheidungsprozessen (personality and politics) finden sich bis heute kaum interna-
tional vergleichende Analysen. Eine der wenigen Ausnahmen bildet die konzeptio-
nelle Studie von Greenstein (1969). Dabei böte gerade der „akteurzentrierte
Institutionalismus“ (Mayntz 1995), der in der Vergleichenden Politikwissenschaft
häufig verwendet wird, einen geeigneten Rahmen, um das politische Verhalten von
Regierungschefs komparativ zu untersuchen. Aus dieser neo-institutionalistischen
Perspektive eröffnen institutionelle Strukturen einen „Handlungskorridor“, inner-
halb dessen Regierungschefs relativ flexibel agieren und somit einen unterschiedlich
starken Einfluss auf die Regierungsgeschäfte aus€uben können (Rockman 1997,
S. 63). Unter ähnlichen institutionellen Bedingungen können deshalb die Persönlich-
keitsprofile von Regierungschefs zu unterschiedlichen Politikergebnissen f€uhren.
Vor diesem Hintergrund werden im Folgenden zwei vergleichend ausgerichtete
Forschungszusammenhänge vorgestellt, die einen besonderen Akzent auf die Per-
sönlichkeiten von Präsidenten und Premierministern legen: die Debatte um „Perso-
nalisierung von Politik“ (personalisation of politics) und die Forschung zu politi-
schen F€ uhrungsstilen (leadership styles).

3.1 Personalisierung von Politik

Die Literatur zur Personalisierung von (Regierungs-)Politik beschäftigt sich mit


zwei zentralen Fragen: „do leaders’ personalities really matter“ (King 2002, S. 1)
490 F. Grotz und F. M€
uller-Rommel

und „[do they . . .] matter more throughout time“ (Garzia 2014, S. 15). Eine Akzen-
tuierung persönlichkeitsbezogener Faktoren findet sich schon seit längerem in der
amerikanischen Wahlkampfforschung. Demnach hängt der Wahlerfolg von US-Prä-
sidentschaftskandidaten primär von deren Persönlichkeitsprofil ab, während die
inhaltlichen Positionen der politischen Parteien nur eine untergeordnete Rolle spie-
len (Miller und Shanks 1996). Auch jenseits des US-Kontextes ist eine zunehmende
Personalisierung von Regierungspolitik zu beobachten: In vielen Ländern besteht
ein deutlicher Zusammenhang zwischen der Popularität von Regierungschefs
und der öffentlichen Bewertung der jeweiligen Regierungen (Schlesinger 1997;
McAllister 2003; Campus und Pasquino 2006).
In der aktuellen Regierungsforschung wird zudem die These vertreten, dass die
Personalisierung von Politik mit einer wachsenden Macht des Regierungschefs
einhergeht. Interessanterweise ist dieser Trend nicht nur in präsidentiellen, sondern
auch in parlamentarischen Systemen zu beobachten (Dowding 2013; McAllister
2007; Poguntke und Webb 2005). Demnach werden Premierminister in westlichen
Demokratien mit mehr medialer Aufmerksamkeit bedacht und erfahren eine größere
Bedeutung innerhalb ihrer Parteiorganisation. Gleichzeitig verf€ugen sie €uber mehr
Machtressourcen, weil ihre Regierungszentralen in den vergangenen Jahrzehnten –
ähnlich wie in präsidentiellen Systemen – beträchtlich ausgebaut und mit mehr
Kompetenzen ausgestattet wurden.
Die Gr€ unde, die f€ur das erweiterte „empowerment“ von Regierungschefs
geltend gemacht werden, sind vielfältig. So legt die zunehmende Internationali-
sierung von Politik, bei der Gipfeltreffen von Staats- und Regierungschefs eine
herausgehobene Rolle spielen, eine Machtkonzentration innerhalb der Exekutive
nahe. Zugleich scheint die Auflösung gesellschaftlicher Konfliktlinien entlang der
Links-Rechts-Dimension die Programme der Parteien zu nivellieren, was die
Bedeutung des (partei-)politischen F€uhrungspersonals im Allgemeinen und der
Premierminister(kandidaten) im Besonderen stärkt. Überdies befördern die mo-
dernen Massenmedien die persönlichkeitszentrierte Darstellung und Wahrneh-
mung von Spitzenpolitikern. Nicht zuletzt machen der größere Umfang und die
gestiegene Komplexität der Staatsaufgaben zentralistische Entscheidungsstruktu-
ren erforderlich.
So unstrittig dieser system€ubergreifende Trend ist, so kontrovers wird die Frage
diskutiert, wie er zu beurteilen ist. Poguntke und Webb (2005) sprechen angesichts
des Machtzuwachses von Premierministern von einer „Präsidentialisierung“ parla-
mentarischer Systeme, was suggeriert, dass sich die Rolle und Funktion politischer
Exekutivspitzen unabhängig von den institutionellen Grundstrukturen angleichen.
Damit haben die beiden Autoren eine intensive Debatte ausgelöst (Foley 2013;
Heffernan 2013; Webb und Poguntke 2013). Eine dezidierte Gegenposition zur
Präsidentialisierungsthese nimmt etwa Dowding (2013) ein, der argumentiert, dass
der Machtgewinn von Premierministern eher die parlamentarischen Strukturen
stärkt, weil Premierminister primär von der Parlamentsmehrheit und nicht (wie in
präsidentiellen Systemen) vom Wähler kontrolliert werden. Daher fände in parla-
mentarischen Demokratien derzeit keine „presidentialization“, sondern vielmehr
eine „prime-ministerialisation“ statt.
Präsidenten und Regierungen in der Vergleichenden Politikwissenschaft 491

Während die Personalisierung exekutiver Politik und ihre funktionalen Konse-


quenzen relativ ausf€uhrlich erörtert wurden, wurde bislang kaum untersucht, wie
sich die Personalisierung bzw. Machterweiterung von Premierministern im histori-
schen und internationalen Vergleich genau darstellt und worauf etwaige Unterschie-
de zur€
uckzuf€uhren sind.

3.2 Politische Führungsstile

Wenn die Personalisierung von Politik eine Machtkonzentration zugunsten von Re-
gierungschefs bewirkt, wird die Frage bedeutsam, wie Präsidenten und Premierminis-
uhrungsrolle aus€uben. Die „Politische F€uhrung“ von Regierungschefs wird in
ter ihre F€
der Politikwissenschaft aus unterschiedlichsten Perspektiven untersucht (vgl.
u. a. Elgie 1995; Hennis 1990, S. 48–50; Helms 2000, 2005; Rose und Suleiman
1980). Dazu zählt auch eine Forschungsrichtung der politischen Psychologie, die sich
mit der Analyse von F€uhrungsstilen beschäftigt.
Von grundlegender Bedeutung ist hier die Studie von Barber (1972), der den
F€uhrungsstil von US-amerikanischen Präsidenten anhand von zwei Dimensionen
erfasst hat. Die erste Dimension bezieht sich auf das Selbstbild des Amtsinhabers
hinsichtlich seiner politischen Aufgaben („aktiv vs. passiv“), die zweite auf sein
Rollenverständnis gegen€uber dem Amt („positiv vs. negativ“). Durch die Verkn€up-
fung beider Dimensionen kommt Barber zu vier idealtypischen F€uhrungsstilen, aus
denen sich theoretische Verhaltensannahmen ableiten lassen. Der aktiv-positive
Präsident denkt rational. Er will gestalten und verändern. Dabei arrangiert er sich
mit seiner Umwelt und hat lediglich Probleme mit Personen, die seinen rationalen
Handlungsstil nicht verstehen. F€ur Barber ist dieser Typ die Idealbesetzung. Der
aktiv-negative Präsident ist ambitioniert und machthungrig. Er will sich selber und
anderen etwas beweisen und zeigt deshalb eine hohe Einsatzbereitschaft im Amt. Er
betrachtet die Umwelt jedoch als Hindernis bei der Durchsetzung seiner Ziele. Sein
Verhalten ist vielfach durch Aggressivität geprägt, was ihm politisch schadet. Der
passiv-positive Präsident hat ein geringes Selbstwertgef€uhl. Er ist gerne im Amt,
solange er bei den Wählern beliebt ist. Sein politisches Handeln ist primär durch
äußere Ereignisse bestimmt und basiert auf enger Kooperation mit anderen. Seine
politische Durchsetzungskraft ist vergleichsweise schwach ausgeprägt. Der passiv-
negative Präsident besitzt ebenfalls ein geringes Selbstvertrauen. Er sucht die per-
sönliche Bestätigung im Amt und €ubt dieses pflichtbewusst aus. Sein F€uhrungsstil
gilt als konfliktscheu und unsicher.
In der Folgezeit wurden weitere Typologien präsidialer F€uhrungsstile entwickelt.
So unterscheidet Johnson (1974) zwischen einem formalisierten, einem kompetiti-
ven und einem kollegialen Stil. George (1988) ergänzte diese Typologie der F€uh-
rungsstile um drei Komponenten: die kognitiven Fähigkeiten von Präsidenten, ihre
potentielle Konfliktbereitschaft bei politischen Entscheidungsprozessen und die
Wirksamkeit präsidentieller F€ uhrungsstile.
Die genannten konzeptionell-theoretischen Ansätze blieben bislang weitgehend
auf den US-amerikanischen Kontext beschränkt. Weder wurden sie f€ur den
492 F. Grotz und F. M€
uller-Rommel

internationalen Vergleich von Staatspräsidenten herangezogen noch von der ein-


schlägigen Forschung zu Premierministern aufgegriffen. Vor allem der letztgenannte
Befund € uberrascht insofern, als wiederholt darauf hingewiesen wurde, dass Persön-
lichkeitsmerkmale auch den F€uhrungsstil parlamentarischer Regierungschefs beein-
flussen (Blondel 1980; Weller 1985; Jones 1991). Zwar finden sich in der Literatur
zu Premierministern Klassifizierungen der F€uhrungsrollen, wie jene von Rose
(1991), der zwischen leader, bargainer, juggler und symbol differenziert. Allerdings
gr€unden diese unterschiedlichen Rollen nicht auf Persönlichkeitsmerkmalen, son-
dern resultieren aus institutionellen Strukturmerkmalen (Regierungsformat und
Zentralisierungsgrad politischer Macht; vgl. auch Gast 2010, S. 17–19).
Eine Ausnahme in diesem Zusammenhang bildet die Studie von Kaarbo (1997)
zum Einfluss politischer F€uhrungsstile auf Kabinettsentscheidungen in Deutschland
und Großbritannien. Dazu hat die Autorin personenbezogenes Konzept von „lea-
dership styles“ entwickelt, das an US-amerikanische Typologien ankn€upft (Her-
mann und Preston 1994) und diese f€ur den Kontext parlamentarischer Systeme
fruchtbar macht. Anhand eines ausdifferenzierten Analyserasters weist die Studie
nach, dass der politische F€uhrungsstil von Premierministern einen klar erkennbaren
Einfluss auf außenpolitische Regierungsentscheidungen hat. Es wäre interessant zu
untersuchen, inwieweit dieser Befund auch f€ur andere parlamentarische Systeme
bzw. weitere Politikfelder zutrifft.

4 Zusammenfassung

Empirisch-vergleichende Analysen der Rolle und Funktion von chief executives sind
mit besonderen Schwierigkeiten verbunden. Daher ist der komparativ abgesicherte
Erkenntnisstand – trotz der herausragenden Bedeutung des Themas – noch immer
relativ begrenzt. Gleichwohl haben die vorangegangenen Ausf€uhrungen auf min-
destens drei Aspekte verwiesen, aus denen sich aussichtsreiche Forschungsperspek-
tiven ergeben.
Erstens könnten institutionenbezogene und persönlichkeitsbezogene Ansätze
systematischer als bislang kombiniert werden. Der „akteurzentrierte Institutionalis-
mus“ (Mayntz 1995) böte hierzu einen geeigneten Rahmen. Zweitens d€urfte die
Forschung von einem intensiveren konzeptionell-theoretischen Austausch zwischen
Präsidenten- und Premierminister-bezogenen Studien profitieren. Dies gilt insbeson-
dere f€ur die Weiterentwicklung institutioneller Machtindices, aber auch f€ur eine
stärker komparative Anwendung persönlichkeitsbezogener Analysekategorien. Drit-
tens erscheint eine geographische Ausdehnung der empirischen Basis angezeigt.
Während die präsidentenbezogene Forschung den interregionalen Vergleich außer-
europäischer Staaten gerade zu entdecken beginnt (Chaisty et al. 2014), ist die
Premier-bezogene Literatur noch €uberwiegend auf (einzelne) westeuropäische Län-
der beschränkt. Hier könnten insbesondere die parlamentarischen Regierungssyste-
me der mittel- und osteuropäischen Staaten den Erfahrungshorizont etablierter
Demokratien produktiv ergänzen.
Präsidenten und Regierungen in der Vergleichenden Politikwissenschaft 493

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Regierungszentralen in der Vergleichenden
Politikwissenschaft

Stephan Bröchler

Zusammenfassung
Der Beitrag f€uhrt in ein wichtiges Teilgebiet der Regierungsforschung ein: in die
Analyse des Zentrums der Regierung. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie Re-
gierungszentralen zur Unterst€utzung der exekutiven Spitze in unterschiedlichen
demokratischen Regierungssystemtypen beitragen. Um ihre Funktion als Hilfs-
instrument erf€ ullen zu können, sind sie als spezialisierte Funktionssysteme in
charakteristischer Weise in die politische Institution Regierung mehrdimensional
eingebettet. In einem ersten Schritt wird dargelegt, wie Regierungszentralen in
die politische Institution Regierung eingeflochten sind. Der zweite Schritt f€uhrt in
wichtige Fragestellungen der Forschung ein.

Schlüsselwörter
Regierungskanzlei • Regierungszentrale • Zentrum der Regierung • Core Execu-
tive • Funktions- und Handlungsraum Regierung • Leadership • Politikmanage-
ment • politische Planung • politikwissenschaftliche Technikforschung • formale
und informale Politikberatung von innen

„The President needs help“, so lautete das zugespitzte Fazit eines Gutachtens des
Brownlow Committee aus dem Jahre 1937. Das Expertengremium war von US-
Präsident Franklin D. Roosevelt eingesetzt worden, um Vorschläge zur Verbesserung
des US-Regierungsapparates zu erarbeiten. Der Report war folgenreich. Er f€uhrte
wenige Jahre später zur Gr€undung der Regierungszentrale1 des US-Präsidenten: dem

1
Die Begriffe Regierungszentrale, Regierungskanzlei und Zentrum der Regierung werden im
Folgenden synonym verwendet.
S. Bröchler (*)
Privatdozent, Institut f€ur Sozialwissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland
E-Mail: stephan.broechler@sowi.uni-hu.de

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 497


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_37
498 S. Bröchler

„Executive Office of The President of the United States“ (EOP). Dar€uber hinaus ist
das Res€ umee f€
ur das Verständnis der Rolle von Regierungszentralen instruktiv. Es
lenkt den Blick auf die Kernfunktion des Zentrums der Regierung: die politisch-
administrative Unterst€utzung der exekutiven Spitze.
Der folgende Beitrag f€uhrt in ein wichtiges Teilgebiet der Regierungsforschung
ein: in die Analyse des Zentrums der Regierung. Regierungszentralenforschung
(Bröchler 2011), so wird argumentiert, lässt sich als eine integrative politikwissen-
schaftliche Forschungsrichtung beschreiben. Unter ihrem Dach vereint sie unter-
schiedliche wissenschaftliche Disziplinen, Forschungsthemen, theoretisch-
konzeptionelle Herangehensweisen und methodische Zugänge. Im Mittelpunkt steht
die Frage, wie Regierungszentralen zur Unterst€utzung der exekutiven Spitze beitra-
gen. Auf zwei Ebenen soll nach Antworten gesucht werden. In einem ersten Schritt
wird dargelegt, wie Regierungszentralen in die politische Institution Regierung
eingebettet sind. Der zweite Schritt f€uhrt in wichtige Fragestellungen der For-
schung ein.

1 Funktionslogik von Regierungszentralen

Was charakterisiert aus politikwissenschaftlicher Sicht eine Regierungszentrale?


Einen wichtigen Zugang zum Verständnis der Funktionslogik von Regierungskanz-
leien vermittelt der enge Bezug zum Begriff der Regierung. Aus neo-insti-
tutionalistischer Sicht lässt sich Regierung als ein besonderer Typus politischer
Institution interpretieren, die einen eigenen Funktions- und Handlungsraum konsti-
tuiert, der den beteiligten Akteuren Handlungsspielräume ermöglicht wie auch
Handeln begrenzt (Bröchler 2011). Drei Dimensionen des institutionellen Regie-
rungsraumes lassen sich f€ur demokratische Regime unterscheiden:
Der Funktions- und Handlungsraum Regierung lässt sich als eine Akteurs for-
mierende Polity charakterisieren, deren Spezifikum darin liegt, verbindliche Entschei-
dungen f€ ur die gesamte Gesellschaft legitim und legal zu ermöglichen. Mit der damit
konstituierten Regierung wird auf das „Zentrum der Exekutive“ (Hesse und Ellwein
2012, S. 407) bzw. die politisch-administrative Leitung der Exekutive abgestellt.
Der Regierungsraum ist weiter durch die Prozessdimension (Politics) geprägt.
Regierung stellt, besonders in hiesigen funktional ausdifferenzierten demokratischen
Gesellschaften, eine Governance-Struktur dar, in der Regieren nicht mehr vor allem
durch autoritative Regulierung durch den hierarchischen Staat (Government) erfolgt,
sondern verstärkt durch das Zusammenwirken der Akteure des politisch-admini-
strativen Systems mit unterschiedlichen gesellschaftlichen und zivilgesellschaftlichen
Akteuren (Governance) (Benz und Dose 2010). Die Herbeif€uhrung und Durchsetzung
gesamtgesellschaftlich verbindlicher Entscheidungen vollzieht sich notwendigerweise
im Rahmen von konflikthaften Prozessen des Machtgewinns und -erhalts.
Der Policy-Raum der Regierung ist durch die Bearbeitung gemeinschaftlicher
Probleme und die Erarbeitung von Problemlösungsstrategien bestimmt. Regieren ist
dabei vor die Aufgabe gestellt, zum richtigen Zeitpunkt Aufgaben zu erkennen, Ziele
Regierungszentralen in der Vergleichenden Politikwissenschaft 499

zu bestimmen, tragfähige Strategien der Problembearbeitung zu entwickeln und


diese erfolgreich zu kommunizieren (Korte und Fröhlich 2009).
Vor dem Hintergrund der Architektur des institutionellen Regierungsraums lässt
sich die Funktionslogik des Zentrums der Exekutive genauer bestimmen. Regie-
rungszentralen werden im Folgenden als spezialisierte Funktionssysteme beschrie-
ben, die in charakteristischer Weise in die formale, prozessuale und inhaltliche
Dimension des Funktions- und Handlungsraums der politischen Institution Re-
gierung eingebettet sind. Aufgrund ihres Funktionenprofils verf€ugen sie €uber ein
vielgestaltiges prozessuales Instrumentarium der Koordination und Steuerung, mit
deren Hilfe besonders Konflikt- und Konsenszonen der Willensbildung und Ent-
scheidungsfindung identifiziert und strategisch bearbeitet werden können. Das Profil
umfasst ein weites Spektrum formaler wie informaler Instrumente. Regierungszent-
ralen arbeiten der exekutiven Spitze zu. Je nach Formung werden ganz unterschied-
liche Akteursgruppen adressiert und institutionell kontextualisiert (Croissant 2010,
S. 118 ff.). Daher besitzt die Architektur des Regierungssystemtypus hohe Bedeu-
tung, wie die Literatur zu parlamentarischen, präsidentiellen und semi-präsiden-
tiellen Regierungssystemen zeigt (Dickinson 2005; Judge 2005; Elgie 1999; Murs-
wieck 2004).
In prozessualer Hinsicht wird die Kontextualisierung der Regierungszentralen im
Funktionenprofil erkennbar. Die Erkenntnisse der vergleichenden Regierungszent-
ralenforschung ermöglichen ein differenziertes Verständnis des Funktionenspekt-
rums (Peters et al. 2000, S. 11 ff.) wie allein die gängige Begrifflichkeit verdeutlicht:
„systematic management“; „ensuring good government“; „managing the state appa-
ratus“; „policy co-ordination“; „policy advice“ und „political management“. Eine in
funktionaler Hinsicht charakteristische Einbettung in den institutionellen Regie-
rungsraum erfahren Regierungszentralen durch ihr Aufgabenprofil. Dies resultiert
zu einem wesentlichen Teil aus seinen unterschiedlichen Funktionen als politisch-
administratives Instrument der Regierungsspitze.

2 Das Zentrum der Exekutive als Forschungsgegenstand

Regierungszentralenforschung ist eine spannende und zugleich voraussetzungsvolle


Forschungsrichtung. Erstens ist der Forschungszugang, etwa im Vergleich zum
Parlament, sperrig, da die exekutive Spitze und ihre ministeriellen Mitarbeiter die
Preisgabe von vertraulichen oder vermeintlich vertraulichen Informationen vermei-
den wollen. Zweitens lenkt der Forschungsstand den Blick auf die Probleme einer
komparatistischen Herangehensweise bei der Analyse des Zentrums der Regierung.
Trotz einer beträchtlichen Zahl von Studien stellen systematisch angelegte länder-
vergleichende Forschungen zu Regierungszentralen die Ausnahme dar.2

2
Instruktiv sind die Tagungen und Publikationen des internationalen „Network of Senior Officials
from Centres of Government (CoG)“ der OECD. Beispielsweise die Publikation zum Thema
Vergleich von Regierungszentralen in OECD Staaten (James und Ben-Gera 2004).
500 S. Bröchler

Der Schwerpunkt liegt auf monographischen „country-by-country“ Analysen zu


einzelnen Regierungszentralen auf nationaler Ebene in den westlichen Demokratien
Westeuropas und Nordamerikas. International intensiv untersucht ist die Regie-
rungszentrale der USA: das EOP (Dickinson 2005; Rockmann 2000; Wayne und
Porter 1987; Patterson 1989; Hess 1988). Die Beiträge sind Teil der ausdifferen-
zierten Presidency Forschung.3 Eine Reihe von wissenschaftlichen Publikationen
liegen €uber verschiedene Regierungskanzleien vor, beispielsweise zu Großbritan-
nien, Kanada und Frankreich (Clifford 2000; King 1994; Burnham und Jones 1993;
Jones und Lord Hunt of Tanworth 1987), Canadas Premier Ministers Office (Peters
und Savoie 2000; Campbell und Pitfield 1987), zu L´Hotel Matignon und Elysée
Palast (Murswieck 2004; Elgie 2000; Thiébault 1997 und 1994). Eine andere
Gruppe befasst sich mit osteuropäischen Regierungszentralen in Ländern der post-
kommunistischen Transformation (Ben-Gera 2004; Blondel und M€uller-Rommel
2001; Goetz und Margetts 1999; Goetz und Wollmann 2001).
Übergreifende Fragestellungen der Regierungszentralenforschung werden in
einer Reihe von international konzipierten Sammelbänden bearbeitet: die Bedeutung
institutioneller Faktoren f€ur die Tätigkeit der Staats- und Regierungschefs (Rose und
Suleiman 1980); Leistungen und Funktionen von Regierungszentralen (Campbell
1983); Beratung und Unterst€utzung der politischen F€uhrer und die Rolle von
Regierungskanzleien (Plowden 1987); Entscheidungsfindung (Laver und Shepsle
1994); Aufgabenspektrum von Ministern und Premierministern (Blondel und
M€ uller-Rommel 1997); Organisation der Regierungskanzleien und die Frage nach
der Rolle der Berater von Regierungschefs und Staatsoberhäuptern (Peters et al.
2000); Präsidentialisierung parlamentarischer Regierungssysteme (Poguntke und
Webb 2005).
Regierungszentralenforschung ist weiterhin deshalb voraussetzungsvoll, weil
sich unterschiedliche Forschungsansätze herausgebildet haben. Die bundesdeutsche
Politikwissenschaft und die politikwissenschaftliche Verwaltungsforschung haben
sich in drei Phasen entwickelt (Bröchler 2011): von der Regierungskanzleilehre €uber
die Regierungszentralenforschung zur modernen Regierungszentralenforschung. Im
Rahmen der j€ ungsten Phase werden die Polity, Policy, Politics-Dimensionen in die
Forschung zum Zentrum der Regierung zunehmend integriert und sozialwissen-
schaftliche Theorien und Konzepte eingeflochten: Neo-Institutionalismus (Jann
et al. 2005), neo-institutionalistische Organisationstheorie (Fleischer 2011); akteur-
zentrierter Institutionalismus (Grunden 2007), das Konzept strategischer Steuerung
(Tils 2011); der Principal-Agent Ansatz (R€ub 2011); Leadership (Grunden 2007;
Florack 2011; Helms 2005), Management Theorien (Grasselt und Korte 2007),
Government und Governance (Florack et al. 2011; Helms 2005) und Core Executive
Analysen (Florack 2013).

3
In der Presidency Forschung lassen sich Arbeiten zu folgenden Bereichen unterscheiden: Genese
und Organisation der US-Präsidentschaft, Präsidentenbiographien, Präsidentschaftswahlen, Präsi-
dentengattinnen und das Verhältnis von Präsident und Kongress. Hingewiesen sei auf die Beiträge
der Zeitschrift „Presidential Studies Quarterly“.
Regierungszentralen in der Vergleichenden Politikwissenschaft 501

Der „Core Executive“-Ansatz kommt aufgrund seiner breiten Rezeption beson-


ders in Europa und Australien hohe Relevanz zu (Elgie 2011). Als Initialz€undung
erwies sich der Aufsatz von Peter Dunleavy und R.A.W. Rhodes „Core executive
Studies in Britain“ (Dunleavy et al. 1990). Im Verlauf der Debatte nahmen die
Autoren eine Justierung vor, die zum Markenkern des Labels „core executive
studies“ wurde. Die Forschung um „central government“ wurde in einen breiteren
Fokus gestellt, in dem der Machtbegriff nicht mehr starr, sondern fluide verwendet
wird:
„The term ‚core executives‘ refers to all those organisations and procedures
which coordinate central government policies, and act as a final arbiters of conflict
between different parts of the government machine. In brief, the ‚core executive‘ is
the heart of the machine, covering the complex web of institutions, networks and
practices surrounding the prime minister, cabinet, cabinet committees and their
official counterparts, less formalised ministerial ‚clubs‘ or meetings, bilateral nego-
tiations and interdepartmental committees“ (Rhodes 1995, S. 12).
Core Executive-Forschung kennzeichnet demnach ein breites Spektrum netz-
werkartig verkoppelter Organisationen, denen Macht und Einfluss auf politische
Entscheidungen zugemessen wird.

3 Die Organisation des Zentrums der Exekutive

Ein weiteres Forschungsthema beschäftigt sich mit der Bedeutung des organisatori-
schen Aufbaus f€ ur die Funktionserf€ullung von Regierungszentralen. Analysen zei-
gen, dass die Strukturdimension des Zentrums der Regierung eine starke Prägekraft
besitzt: Sie kanalisiert, normiert und strukturiert die Ordnung der Institution Re-
gierung in erheblichem Maße (König 1990a). Die Organisation der Regierung wird
als Voraussetzung und Folge des Regierens verstanden (König 1990a und 1990b).
Die Regierungsorganisation stellt eine wichtige Bedingung f€ur die Möglichkeit von
Regierungspolitik dar. Sie garantieren jedoch den Regierungschefs keine unbegrenz-
te Entscheidungsmacht. In Deutschland werden der Steuerung der Ressorts durch
das Bundeskanzleramt – trotz Richtlinienkompetenz – insbesondere durch die in der
Verfassung formal kodifizierte Ressortautonomie- und das Kollegialprinzip (Art
65 GG) wie auch durch das informale Parteien- und Koalitionsprinzip (Korte
2010, S. 20) hohe H€urden gesetzt. In Großbritannien hegen vor allem informale
Konventionen, wie die „departmental autonomy“ und „cabinet collegiality“, die
Willk€ur der „prime ministerial authority“ des Regierungschefs und seiner Regie-
rungszentrale No. 10 ein (Bröchler 2014).
Als Herausforderung f€ur die vergleichende Forschung erweist sich, dass jede
organisatorische Architektur einer Regierungszentrale ein Unikat darstellt. Dies soll
an zwei Beispielen kurz illustriert werden. Das Bundeskanzleramt in Berlin weist in
formaler Hinsicht einen monokratisch-hierarchischen Organisationsaufbau auf. Es
ist am Einliniensystem orientiert, das eine klare Zurechenbarkeit sichern soll (Kieser
und Walgenbach 2010). Kennzeichnend sind besonders zwei Organisationsformen
(Busse und Hofmann 2010): Spiegelreferaten kommt eine wichtige Scharnierfunk-
502 S. Bröchler

tion zu. Sie sind Arbeitseinheiten im Kanzleramt, die dem wechselseitigen Informa-
tionsaustausch zwischen Regierungszentrale und Ministerien dienen. Querschnittre-
ferate haben demgegen€uber die Aufgabe, ressort€ubergreifende Policies zu koordi-
nieren.
Die britische Regierungszentrale ist organisatorisch zweigeteilt und setzt sich aus
dem Prime Minister´s Office (PMO) und dem Cabinet Office (CO) zusammen. Das
PMO ist die dem britischen Regierungschef zuarbeitende Organisation der unmit-
telbaren Nahzone, die das politische Umfeld nach innen organisiert und den Infor-
mationsfluss nach außen – besonders zu Parteien, Parlament und Medien – reguliert
(Judge 2005, S. 1). Die Tätigkeitsbereiche sind nach funktionalen Aufgabenschwer-
punkten geordnet: Policy Directorate; Strategy Unit; Communications; Political
operations und Government relations (Budge et al. 2007, S. 103 f.) Das Cabinet
Office (CO) ist zuständig f€ur die Koordination der Regierung (Premierminister,
Vize-Regierungschef und Kabinett) und erf€ullt essentielle Sekretariatsfunktionen.
Es ist vielgestaltig organisiert (Judge 2005, S. 152 f.).
Markante Unterschiede zeigen sich im Grad der rechtlichen Formalisierung der
Regierungszentralen. Die Arbeit des deutschen Bundeskanzlersamtes ist in hohem
Maße formal durch Grundgesetz und Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundes-
regierung verrechtlicht. In Großbritannien ist dies nicht der Fall. Die Arbeitsweise
der Regierung wird in erster Linie durch informelle Regeln und Praktiken bestimmt,
die nur zum Teil verschriftlicht sind (Bröchler 2014; Glaab 2014). Erst seit neuem
liegen Regeln und Praktiken der Regierungsf€uhrung in einem Vademecum, dem
Cabinet Manual, vor, die vom Civil Service gesammelt und verschriftlicht wurden
(Cabinet Office 2011). Im Unterschied zur Geschäftsordnung der Bundesregierung
hat das Cabinet Manuel keinen rechtsverbindlichen Charakter.

4 Leadership

F€ur das Verständnis der Funktionsweise von Regierungszentralen greift die Regie-
rungszentralenforschung eine bedeutsame Problemstellung der exekutiven Leader-
ship-Forschung auf: das „Agent-Structure“-Problem (Helms 2014; Glaab 2007).
Dabei geht es um Frage, ob entweder Akteure oder Strukturen sich als entscheidende
Faktoren f€ur politische F€uhrung erweisen. Im Blick auf das Zentrum der Regierung
interessiert sich Regierungszentralenforschung f€ur die politisch-administrative
Ermöglichung exekutiver Leadership.
In der Kontroverse um die „Kanzlerdemokratie“ (Niclauß 2004) wurde das
„Agent-Structure“-Problem zum zentralen Gegenstand. Im Sinne der „Agent“ Per-
spektive wurde postuliert, dass der persönliche F€uhrungsstil f€ur die Rolle der
Regierungskanzleien im politischen Prozess bestimmend ist: Auf den Kanzler
kommt es an! Demgegen€uber kritisiert die „Structure“-Sicht vehement die Fixierung
auf Persönlichkeitsfaktoren (Murswieck 1990). Dem personenzentrierten Verständ-
nis der politischen F€uhrung des Kanzleramtes als „Ein-Mann-Geschäft“ wird ein
alternatives Verständnis gegen€ubergestellt. Es wird argumentiert, dass die
Erforschung von F€uhrungsstilen, die sich auf die Person des Kanzlers und seiner
Regierungszentralen in der Vergleichenden Politikwissenschaft 503

attributierten Eigenschaften beschränkt, unterkomplex sei, weil es wichtige struktu-


relle Faktoren, wie die Bedeutung des Parteiensystems ausblendet. Heute besteht in
der international vergleichenden Leadership-Forschung weitgehend Konsens, dass
eine anspruchsvolle Leadership-Forschung der systematischen Analyse des Zusam-
menspiels der „Agent“ und „Structure“ als Wechselwirkungsmodell erfordert (Korte
und Fröhlich 2009; Glaab 2007; Elgie 1995, S. 23).

5 Politikmanagement

Weitere Forschungsinteressen lassen sich unter dem Oberbegriff Politikmanagement


zusammenfassen. Bei Politikmanagement von Regierungszentralen geht es inhalt-
lich um zwei Aspekte (Korte 2010, S. 20). Zum einen umfasst der Begriff die
Steuerungsfähigkeit der wichtigen politischen Akteure. Hierzu zählen besonders
Kanzler, Bundesminister und Fraktion. Zum anderen geht es um die Steuerung des
politischen Systems, so beispielsweise den Gang der Gesetzgebung und die Koor-
dination der politischen Institutionen mit Veto-Macht. Politikmanagement ist dabei
stets eine Melange aus Sach- und Machtfragen. Im Folgenden werden wichtige
Themenstellungen markiert, die sich als Teilaspekte des Politikmanagement von
Regierungszentralen fassen lassen.

5.1 Politische Planung

Ein wichtiger Aspekt des Politikmanagements von Regierungszentralen ist die


politische Planung. Politische Planung hat die Festlegung von Entscheidungsprä-
missen f€ur k€unftige Entscheidungen zum Inhalt. Da Regierungszentralen den exe-
kutiven politischen Entscheidern zuarbeiten, kann ihnen eine strategische bedeutsame
Rolle f€
ur politische Planung zukommen. Allerdings stellen systematische international
vergleichende Analysen der Planungsmodelle, -kapazitäten und -fähigkeiten von
Regierungszentralen ein Forschungsdesiderat dar. Dennoch lassen sich zumindest
Hinweise gewinnen, welche Rolle politische Planung in Regierungszentralen zu-
kommt. Roland Sturm und Heinrich Pehle haben mit Kontrolle und Kooperation
vs. Innovation zwei grundsätzliche Funktionenprofile von Regierungszentralen unter-
schieden (Sturm und Pehle 2007, S. 73). Der empirische Befund bestätigt entspre-
chende Profile.
Im koordinierenden und steuernden Funktionstypus des deutschen Kanzleramts
mit seinen Spiegel- und Querschnittsreferaten spielt politische Planung auf der
Ebene der formalen Organisation nur eine geringe Rolle. Lediglich ein personell
kleiner Stab auf der Leitungsebene befasst sich mit dieser Aufgabe (Organisations-
plan der Bundesregierung vom 01.02.2014). Das deutsche Bundeskanzleramt prägt
heute ein pragmatisches Planungsverständnis, das in erster Linie auf das Verfassen
politischer Reden und effiziente Terminbuchhaltung der Vorhaben- und Kabinetts-
zeitplanung orientiert ist.
504 S. Bröchler

Im Unterscheid zum Bundeskanzleramt hat die politische Planung in No. 10 als


politisch-administratives Innovationszentrum seit Margaret Thatcher einen deut-
lichen Bedeutungsgewinn zu verzeichnen. Insbesondere unter Tony Blair wurde
das PMO durch Stärkung der politischen Planungskapazitäten zur Schaltzentrale
aller Regierungsaktivitäten ausgebaut (Becker 2002, S. 136). Hohe Bedeutung f€ur
Planung kommt der „Policy Unit“ zu. Es wurden neue Planungsabteilungen wie die
„Strategic Communications Unit“ und die „Information and Research Unit“
geschaffen (Becker 2002, S. 137). Unter der Regierung von Premierminister David
Cameron wurde die Policy Unit, nachdem ihre Ressourcen verringert wurden,
personell wie in ihren Kompetenz erneut deutlich gestärkt (Hazell und Yong
2012, S. 65).

5.2 Politikwissenschaftliche Technikforschung

Ein weiterer Strang der Regierungszentralenforschung beschäftigt sich mit den


Wechselwirkungen von Regieren und neuen Technologien. In den Blick wird dabei
der Einsatz moderner Informations- und Kommunikationstechniken genommen,
wie sie im Rahmen von Electronic Government (E-Government) erfolgt. Im
Rahmen von E-Government soll durch Internet, Intranet, Datenbanken, Workflow-
systeme sowohl die Effektivität der Aufgabenerf€ullung von Regierungen durch
Binnenmodernisierung erhöht als auch durch interaktive netzgest€utzte Interak-
tionswege die Responsivität zwischen Exekutive und B€urgerinnen und B€urgern
verbessert werden.
F€ur die vergleichende Regierungszentralenforschung erweisen sich Analysen
zu E-Government im Zentrum der Exekutive als aufschlussreich. So wurde die
Bedeutung moderner Informations- und Kommunikationstechniken f€ur die Re-
gierungszentralen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz untersucht (Bröch-
ler 2011; 2003; 1999). Es zeigte sich, dass E-Government eine voraussetzungs-
volle politische Innovationsstrategie darstellt. Die Unterst€utzung der exekutiven
Spitze durch den Einsatz der neuen Techniken wird verbessert. Im Rahmen einer
Binnenmodernisierung wird die Effektivität bestehender Verfahren der Aufga-
benerf€ ullung in den Regierungskanzleien erhöht. Ein Beispiel ist die nunmehr
online zu bearbeitende Vorhaben-Datenbank der deutschen Bundesregierung.
Gleichzeitig zeigt sich, dass sich die institutionelle Architektur der Regierungs-
systemtypen als Bremse besonders im Zusammenspiel von Regierung und
Parlament erweist. In allen Typen stellen beide Institutionen von einander
formal-rechtlich unabhängige Verfassungsorgane dar. Dies hat zur Folge, dass
beispielsweise im Zusammenspiel des Gesetzgebungsverfahrens unterschiedliche
E-Government Lösungen entwickelt werden m€ussen, die zugleich dem Kriterium
der verfassungsrechtlichen institutionellen Unabhängigkeit gen€ugen und Kompati-
bilität gewährleisten. Die Ergebnisse unterstreichen die Bedeutung des institutionellen
Kontextes der Regierungssysteme f€ur Technikinnovationen wie E-Government.
Regierungszentralen in der Vergleichenden Politikwissenschaft 505

5.3 Formale und informale Politikberatung

Hoher Stellenwert f€ur das Politikmanagement von Regierungszentralen kommt der


Politikberatung zu. Die Beratung der exekutiven Spitzen dient der Bearbeitung
existierender oder zuk€unftiger latenter oder virulenter Konflikttypen. Die Beratung,
insbesondere des Zentrums der Regierung, kann zur Steigerung des Problemver-
ständnisses und zu besserer Problemverarbeitungskapazität beitragen und dient
damit der Legitimation und Herrschaftssicherung.
Im Blick auf das deutsche Bundeskanzleramt zeigt sich ein breites Spektrum
verschiedener Beratungsformen (Murswieck 2008, S. 370 ff.). Im Bereich institu-
tionalisierter externer Beratung: ressorteigene Forschung, Beiräte und Regierungs-
kommissionen. Im Sektor institutionalisierte interne Beratung: Ressortforschung
und Bundesbeauftragte. Im Blick auf nicht formalisierte Beratung: ad-hoc-Gremien,
Denkfabriken (wie die Stiftung Wissenschaft und Politik), regierungsinterne Kom-
missionen und Individualberatungen. Besonderes Forschungsinteresse der bundes-
deutschen Regierungszentralenforschung liegt auf der Analyse der informalen Poli-
tikberatung. Dabei wird die hohe Bedeutung informaler Regeln und Praktiken
herausgearbeitet (Grunden 2014; Korte 2010). Karl-Rudolf Korte argumentiert, dass
Information eine bedeutsame Machtressource im Zentrum der Exekutive darstellt
und informelle Beratung ein hoher strategischer Stellenwert im Spektrum der Bera-
tungsformen zukommt (Korte 2010, S. 20).
Die Perspektive auf die Politikberatung von innen erweist sich in international
vergleichender Perspektive als bedeutsam f€ur die Frage, wie diese Berater gewonnen
werden. Angesprochen sind die Handlungsspielräume der exekutiven Spitzen bei
der Rekrutierung politisch loyaler Berater im Innenhof der Macht. Zwar mangelt es
auch hier an systematisch vergleichenden Studien, es lassen sich jedoch interessante
Hinweise identifizieren. Der komparative Blick auf die Rekrutierung der Politik-
berater von innen zeigt f€ur die Regierungszentralen der USA, Großbritanniens und
Deutschlands bemerkenswerte Unterschiede. Dem US-Präsident kommt dabei der
größte Einfluss auf die Auswahl des „White House staff“ zu (Dickinson 2005). Ein
sehr hoher Stellenwert kommt dabei der Auswahl parteipolitisch loyaler Mitarbeiter
des „White House Office“ zu, dem unmittelbaren persönlichen Beraterstab innerhalb
des Executive Office of the President des Weißen Hauses.
Demgegen€ uber sind die Handlungsspielräume des britischen Premierministers
und der deutschen Bundeskanzlerin aufgrund der Hegemonie der zum großen Teil
beamteten Ministerialb€urokratie deutlich kleiner. Margaret Thatcher und Tony Blair
ist es jedoch f€ur das PMO und das CO zeitweise gelungen, durch Rekrutierung
externer „special adviser“, ein St€uck weit die Prägung durch Civil Service Beamte
zur€uckzudrängen (Budge et al. 2007, S. 135). Die Leitung des PMO wurde der
britischen „Mandarin Power“ während seiner Regierungszeit entzogen und einem
der engsten politischen Vertrauten, Alastair Campbell €ubertragen (Blick 2004). Im
deutschen Bundeskanzleramt wie auch in Staats- und Senatskanzleien sind die
Handlungsspielräume aufgrund des öffentlichen Dienstrechtes noch weiter einge-
schränkt. Mit dem Chef des Bundeskanzleramtes, Staatsministern, parlamentari-
schen Staatsekretären und politischen Beamten können nicht einmal ein Dutzend
506 S. Bröchler

politischer Mitarbeiterposten besetzt werden. Jedoch wird auch f€ur Deutschland eine
zunehmende schleichende Parteipolitisierung in Schl€usselpositionen diagnostiziert
(König 2011, S. 60).

6 Fazit und Ausblick

Regierungskanzleien stellen einen besonderen Typus der Regierungsorganisation


dar. Der Beitrag hat wichtige Faktoren aufgezeigt, wie das Zentrum der Regierung
zur Unterst€ utzung der exekutiven Spitze beiträgt. Um ihre Funktion als Hilfsinstru-
ment erf€ ullen zu können, sind sie als spezialisierte Funktionssysteme in charakteris-
tischer Weise in die politische Institution Regierung mehrdimensional eingebettet. 1)
Das Zentrum der Exekutive erweist sich in formaler Hinsicht als wichtige Problem-
bearbeitungsstruktur, die zur Produktion gesamtgesellschaftlich verbindlicher Ent-
scheidungen beiträgt. Der Organisationsaufbau formt Regierungszentralen als po-
litisch-administratives Hilfsinstrument der Regierungsspitze. Dabei kommt der
Architektur des Regierungssystemtypus hohe vorstrukturierende Bedeutung f€ur die
Frage zu, wer der Regierungsspitze zuzurechnen ist. 2) In die prozessuale Dimension
des Regierungsraums sind Regierungszentralen durch ihre Funktionen als politisch-
strategisches Instrument der Interessendurchsetzung der Regierungsspitze kontex-
tualisiert. 3) In inhaltlicher Hinsicht sind Regierungskanzleien in typischer Weise in
die arbeitsteilige Aufgabenerf€ullung der Regierung eingeflochten. Im Unterschied
zu Ministerien erf€ ullen Regierungskanzleien in erster Linie strategische Leitungs-
und Lenkungsaufgaben und erf€ullen nur wenige Fachaufgaben.
Die Regierungszentralenforschung hat sich mit Beginn des 21. Jahrhunderts zu
einer expandierenden integrativ angelegten Forschungsrichtung entwickelt. Die
Kartierung der Regierungszentralenforschung zeigt allerdings noch immer beträcht-
liche „weiße Flecken“. Notwendig sind f€ur Demokratien wie f€ur Autokratien syste-
matisch angelegte ländervergleichende Studien zu Regierungszentralen wie auch
explorative „case studies“, die durch ihre konzeptionelle Anlage und Hypothesen-
bildung f€ ur komparative Analysen anschlussfähig sind. Hierbei sollten nicht nur die
bereits bekannten und gut erschlossenen Regierungszentralen anvisiert werden. Um
diese Forschungsanstrengungen ertragreich zu gestalten, ist auch notwendig die
methodischen Probleme des Zugangs und der Materialerschließung zu reduzieren.

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Eliten und Leadership in der
Vergleichenden Politikwissenschaft

Manuela Glaab

Zusammenfassung
Der vorliegende Beitrag behandelt relevante Ansätze und Zugänge der Eliten-
wie auch der Leadership-Forschung und beleuchtet das Spannungsverhältnis
beider Begriffe zum vorherrschenden Demokratieverständnis, welches auf der
normativen Prämisse politischer Gleichheit und Freiheit beruht. Es werden außer-
dem relevante Forschungsstränge und ausgewählte Forschungsfragen aufgezeigt,
die sich mit dem Konnex von Eliten und Leadership befassen.
This article explains concepts of and research approaches to political elites as
well as political leadership and discusses how both relate to liberal democracy.
Moreover, relevant strands of empirical research are presented, focusing on elite
recruitment, leadership roles and the public sphere.

Schlüsselwörter
Politische Eliten • F€uhrung • Political Leadership • Public Leadership • Demo-
kratie • Rekrutierung • F€uhrungsrollen und -qualitäten • Kommunikation

Der Elitebegriff ist als „rhetorisch-politische Kategorie in öffentlichen Diskursen“


(Kaina 2006, S. 51) ebenso präsent wie der Begriff des Leadership. Allgemein wird
den Eliten in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft eine F€uhrungsverantwortung f€ur
das Gemeinwesen zugeschrieben. Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass deren
gesamtgesellschaftliche Rolle unumstritten wäre. So belegen Umfragen eine ausge-
prägte „Skepsis gegen€uber den F€uhrungseliten“ (Köcher 2008) in Deutschland.
Auch in der sozialwissenschaftlichen Forschung bestehen anhaltende Kontroversen
um das Begriffspaar. Beide werden vielfach miteinander in Verbindung gebracht,

M. Glaab (*)
Professorin f€ur Politikwissenschaft, Institut f€
ur Sozialwissenschaften Landau, Universität Koblenz-
Landau, Landau in der Pfalz, Deutschland
E-Mail: glaab@uni-landau.de

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 511


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_38
512 M. Glaab

teilweise synonym verwendet, jedoch mangelt es an einer systematischen,


theoretisch-konzeptionellen Verkn€upfung der Begriffe und einer hierauf basierenden
empirischen Erforschung. Der vorliegende Beitrag verfolgt in Anbetracht dessen
vordringlich das Ziel, in das Begriffsfeld einzuf€uhren und relevante Forschungs-
felder aufzuzeigen.
Zwar verf€ugt die Eliteforschung nicht €uber „allgemein akzeptierte Bezeichnungen
und Analysekategorien“ (Imbusch 2003, S. 16), doch richtet sich das politikwis-
senschaftliche Forschungsinteresse primär auf die politischen Eliten, wozu generell
jene Akteure zu rechnen sind, die allgemein verbindliche politische Entscheidungen
treffen oder regelmäßig Einfluss hierauf nehmen. Der Begriff der politischen F€uhrung
ist gleichfalls komplex, lässt sich in einer ersten Annäherung an den Gegenstand
jedoch auf die innerhalb der politischen Elite zu identifizierenden Akteure beziehen,
die F€uhrungsfunktionen wahrnehmen. In modernen Demokratien sind aber durchaus
nicht nur die gewählten Repräsentanten an politischen Entscheidungsprozessen betei-
ligt, sondern ebenso Eliten aus anderen gesellschaftlichen Bereichen,
z. B. Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien. Die Frage nach der Chancen-
gleichheit bei der Elitenrekrutierung und beim Zugang zu F€uhrungspositionen wird als
aussagekräftiger Indikator im Hinblick auf die Machtstrukturen von Gesellschaften
wie auch deren Demokratiequalität betrachtet. Schließlich wird den Eliten eine tra-
gende Rolle bei der Entwicklung der Demokratie und der „Aufrechterhaltung demo-
kratischer Stabilität“ (Hoffmann-Lange 1992b, S. 88) beigemessen.

1 Politische Eliten, Führung und Demokratie

Im Blick auf die Vorbehalte gegen den Elitebegriff ist auf „wertmäßige Vorbelastun-
gen“ (Schluchter 1963, S. 233) zu verweisen, die auch und gerade im Zusammen-
hang mit Fragen politischer F€uhrung virulent sind. Beide Begriffe stehen in einem
Spannungsverhältnis zum vorherrschenden Demokratieverständnis, welches auf der
normativen Prämisse politischer Gleichheit und Freiheit beruht. Ausschlaggebend
hierf€
ur ist, dass der Herrschaftszugang in repräsentativen Demokratien durch regel-
mäßig stattfindende, freie und faire Wahlen bestimmt wird, zeitlich befristet bleibt
und grundsätzlich allen B€urgerInnen offen steht. Damit bleibt die „Repräsentations-
elite“ (ebd., S. 254) – also die gewählten politischen Amtsträger und Mandats-
inhaber – vertikaler Herrschaftskontrolle durch das Wahlvolk ausgesetzt.
Kritisch einzuwenden ist aber nicht nur, dass die Chancen auf politische Teilhabe
in der Gesellschaft ungleich verteilt sind, so dass ressourcenstarke Personen oder
Personengruppen € uber größere Einflussmöglichkeiten verf€ugen und eher in öffent-
liche Ämter gelangen. Dar€uber hinaus bleibt auch die Rolle der demokratisch
legitimierten F€uhrungseliten umstritten. In der Sichtweise realistischer Demokratie-
theorien, nicht zufällig auch bezeichnet als elitistische Ansätze, steht die Konkurrenz
der politischen Eliten um die Mehrheit der Wählerstimmen im Zentrum. Eine
Elitenherrschaft auf Zeit wird als zweckmäßig erachtet, weil diese – im Unterschied
zum ‚einfachen Wahlvolk‘ – dazu qualifiziert seien, komplexe politische Probleme
zu bearbeiten sowie problemadäquate Entscheidungen zu fällen und zu verantworten
Eliten und Leadership in der Vergleichenden Politikwissenschaft 513

(Output-Legitimation). Demzufolge beschränkt sich die politische Teilhabe der


B€urgerInnen im Wesentlichen auf den Wahlakt als Methode der Herrschaftsauswahl
(grundlegend Schumpeter 1950; kritisch Best und Higley 2009).
Der partizipatorischen Demokratietheorie geht es im Unterschied dazu weniger
um die Frage, auf welche Weise die Eliteherrschaft zu legitimieren ist, sondern
vielmehr um die Verwirklichung der Volkssouveränität. Aktive politische Partizipa-
tion stellt in dieser Sichtweise einen Wert an sich dar, da sie die individuelle
Selbstbestimmung und -verwirklichung politisch m€undiger B€urgerInnen ermöglicht.
Während die realistische Demokratietheorie bezweifelt, dass „ein hoher Stand akti-
ver Teilnahme stets gut f€ur die Demokratie ist“ (Seymour Martin Lipset, zit. nach
Hoecker 2006, S. 3), weil die Funktionalität und Stabilität des politischen Systems
dadurch gefährdet erscheint, wird hier eine umfassende politisch-soziale Teilhabe in
sämtlichen Lebensbereichen angestrebt. Die beobachtbare politische Apathie resul-
tiert nach Auffassung der partizipatorischen Demokratietheorie aus Herrschaftsver-
hältnissen, die von den sich verselbständigenden politischen Eliten dominiert sind,
ließe sich aber durch verbesserte Partizipationschancen €uberwinden. Politische Par-
tizipation soll sich daher nicht auf einen punktuellen Wahlakt beschränken, sondern
im gesamten politischen Prozess ermöglicht werden (Input-Legitimation).
Aus eben diesem Zusammenhang resultiert auch die schwierige Balance zwi-
schen Responsivität und politischer F€uhrung in repräsentativen Demokratien: „Die
Zuweisung von F€ uhrungsaufgaben an Elitemitglieder impliziert, dass diese Personen

uber eine gewisse Handlungsautonomie verf€ugen m€ussen, insbesondere um strate-
gische Entscheidungen treffen zu können“ (Kaina 2002, S. 251). Elitenautonomie ist
in diesem Sinne funktional notwendig oder sogar erw€unscht, aber „(. . .) nicht
maximierbar, ohne auf Dauer die Unterst€utzungsbereitschaft der Bevölkerung zu
gefährden“ (Kaina ebd, S. 32; vgl. bereits Schluchter 1963, S. 251). In der Elite-
forschung wird somit ähnlich wie in der Leadership-Forschung die Auffassung
vertreten, dass F€uhrung und Gefolgschaft einander bedingen („no leadership without
followership“). Während autoritäre F€uhrung die verfolgten Ziele einseitig diktieren
und deren Durchsetzung erzwingen kann, bleibt demokratische F€uhrung auf die
freiwillige Gefolgschaft politischer Mehrheiten angewiesen. Stimmen die Ziele
(„objectives“) der F€uhrung mit den Präferenzen („preferences“) der Gefolgsleute
nicht mehr € uberein, kann der sogenannte „Leader-Follower-Pakt“ – spätestens zum
nächsten Wahltermin – aufgek€undigt werden (Fliegauf et al. 2008). Politische
F€uhrung muss demnach die in der Gefolgschaft vorhandenen Präferenzen aufneh-
men bzw. um mehrheitliche Akzeptanz f€ur eigene Zielvorstellungen werben, nöti-
genfalls aber auch als richtig erkannte, unpopuläre Entscheidungen gegen Wider-
stände durchsetzen – mit dem Risiko der Sanktion durch die WählerInnen.
Zudem herrscht in der Forschung weitgehende Einigkeit dar€uber, dass sich
„moderne Gesellschaften nicht mehr als hierarchische Systeme mit hoher Eliten-
autonomie“ (Sarcinelli 2011, S. 179) beschreiben lassen. Dies hat nicht nur Konse-
quenzen f€ ur das Rollenverständnis politischer Eliten, es stellen sich auch kom-
plexere funktionale Anforderungen als dies ein traditionalistischer, auf hierarchische
Handlungskontexte beschränkter Leadership-Begriff abzubilden vermag. Wachsende
Bedeutung erhalten demzufolge Governance-Funktionen politischer F€uhrung
514 M. Glaab

(Elcock 2001), die sich auf das Akteursgeflecht im Mehrebenensystem des Regierens
und die Interaktion mit nicht-staatlichen Akteuren beziehen. Wo im „Schatten der
Hierarchie“ (Scharpf 1991, S. 629) kooperiert wird, sind nicht formale Anweisungen
sondern informale Steuerung und Koordination vorherrschend. In erster Linie geht es
hier um F€uhrungsleistungen im Bereich des Netzwerkmanagements, die teilweise von
nicht-staatlichen, privatwirtschaftlichen oder zivilgesellschaftlichen Akteuren wie
NGOs € ubernommen werden (vgl. Helms 2012, S. 5). Aber auch relevante Funktionen
im Kernbereich der Regierungsf€uhrung – wie die effektive Organisation des Regie-
rungsapparats, die Definition der Regierungsagenda bis hin zur Formulierung von
Problemlösungen sowie die Koordinierung und Durchsetzung der Regierungspolitik –
sind keineswegs allein durch hierarchische, sondern ebenso durch informal-
kooperative Handlungsformen bestimmt (vgl. Glaab 2014). Informalisierung eröffnet
aber auch Einflusschancen f€ur die beteiligten Eliteakteure, was auf neue Anforde-
rungen von Transparenz und Kontrolle verweist.
Einen komparativen Zugang eröffnet der in der neo-institutionalistischen For-
schung angesiedelte interaktionistische Ansatz politischer F€uhrung, der von einer
Wechselbeziehung personaler und struktureller Faktoren ausgeht (Elgie 1995). Den
Akteuren – mit ihren individuellen Ambitionen und F€uhrungsqualitäten – wird ein
eigenständiger Einfluss auf das Politikergebnis zugestanden. Bei der Verfolgung
ihrer politischen Ziele orientieren sie sich jedoch am vorhandenen Handlungskorri-
dor, der durch das sogenannte „leadership environment“ strukturiert wird, abhängig
von der Verf€ ugbarkeit formaler wie auch informaler Machtressourcen aber auch
verändert werden kann. Das komplexe Zusammenwirken institutioneller wie auch
politisch-kultureller Kontextfaktoren erzeugt regelhafte Politikmuster, die – wie
durch Vergleichsstudien belegt wird (Elgie 1995; Helms 2005) – zur Ausprägung
spezifischer F€ uhrungsstile in unterschiedlichen Regierungssystemen f€uhren. Stärker
zu gewichten ist der personale Faktor in politischen Umbruchsituationen bzw. in
Phasen von Regimewechseln. Da die institutionellen Regelsysteme noch nicht als
gefestigt gelten können, eröffnen sich hier größere, jedoch keineswegs unproblema-
tische Spielräume politischer F€uhrung: „‘personal rule’ tends to prevail in states
where the legitimate authority of individuals in top executive positions is less well
established by constitution and laws“ (Edinger 1990, S. 513 f.; weiterf€uhrend
u. a. Rose und Mishler 1996; Bos und Helmerich 2006).

2 Elitebegriffe, Forschungsansätze und -methoden

Die Eliteforschung besitzt eine lange Tradition, gleichwohl existieren keine genuin
elitetheoretischen Konzepte (Imbusch 2003). Begriffe, Konzepte und Befunde steu-
ern nicht nur Politikwissenschaft und Soziologie, sondern auch Sozialpsychologie
und Geschichtswissenschaft bei. Ähnliches gilt f€ur die – sich zunehmend auch in der
deutschsprachigen Politikwissenschaft etablierende – Leadership-Forschung, die
einige Schnittmengen mit der Eliteforschung aufweist. Eine Minimaldefinition des
Elitebegriffs rekurriert auf die folgenden Merkmale (Endruweit 1979, S. 33; Wald-
mann 2011, S. 112): Es handelt sich erstens um eine gesellschaftliche Minderheit
Eliten und Leadership in der Vergleichenden Politikwissenschaft 515

(Personen, Gruppen, Schichten etc.), die zweitens der Mehrheit der Gesellschaft
€uberlegen ist und die drittens aus einem Auswahlprozess hervorgeht. Begriffsbil-
dend wirkten dar€uber hinaus die normative, funktionale und machtpolitische Pers-
pektive, anhand derer sich im Spektrum der Eliteforschung drei konkurrierende, aber
keineswegs trennscharfe Elitekonzepte identifizieren lassen (ausf€uhrlicher Endru-
weit 1979; Kaina 2002, 2006; Waldmann 2011):

1. Der Begriff der Werteliten umfasst diejenigen, die durch ihr Verhalten die in einer
Gesellschaft geltenden Grundwerte am glaubw€urdigsten zu repräsentieren vermö-
gen. Deren Einfluss ist nicht erfassbar anhand formaler Positionen, sondern resul-
tiert in erster Linie daraus, dass ihre Mitglieder als Vorbilder wirken. Auf diese
Weise bieten sie anderen Personen Orientierung und tragen zum gesellschaftlichen
Zusammenhalt bei. Bezweifelt wird jedoch nicht nur, dass dies in modernen, sich
immer weiter ausdifferenzierenden Gesellschaften gelingen kann. Es stellt sich
auch die Frage, wer die Wertehierarchie bestimmt und inwieweit diese G€ultigkeit
beanspruchen kann (auch die Konstruktion eines „wertfreien“ vs. „wertgeladenen“
Wertelitenbegriffs vermag dies nicht zu lösen; vgl. Endruweit 1979, S. 37).
2. Dagegen bezieht sich der Begriff der Funktionseliten auf diejenigen, „die sich
durch ihre Fähigkeiten und Leistungen der Gemeinschaft als besonders n€utzlich
erweisen“ (Waldmann 2011, S. 112). Der Begriff geht zur€uck auf Otto Stammer
(1951), der – in kritischer Auseinandersetzung mit dem F€uhrerprinzip und dem
Eliteversagen in Deutschland – bereits Anfang der 1950er-Jahre die Notwendig-
keit von Eliten f€ur das Funktionieren der Demokratie betonte (Schluchter 1963,
S. 235). Gemäß dem funktionalen Begriffsverständnis erfolgt die Elitenselektion
prinzipiell aufgrund des Leistungsprinzips (ähnlich die sogenannte Leistungs-
elite; vgl. Endruweit 1979, S. 38-40), genauer anhand der in den verschiedenen
gesellschaftlichen Funktionsbereichen geltenden spezifischen Anforderungen.
Aus der jeweils eigenständigen Elitenselektion resultiert notwendigerweise Eli-
tenkonkurrenz, doch wird angenommen, dass Kommunikation und Austausch-
prozesse zwischen den verschiedenen Funktionskomplexen integrierend wirken
und zum Systemerhalt beitragen. Der Begriff der Funktionseliten ermöglicht es,
die funktionale Differenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme abzubilden und ist
nicht beschränkt auf formale, hierarchische politische Entscheidungssysteme.
Allerdings bleibt fraglich, wie „Leistungsqualifikation im Hinblick auf gesamt-
gesellschaftliche Bed€urfnisse gerade in komplexen Gesellschaften“ (Endruweit
1979, S. 40) bestimmt werden kann.
3. Als Machteliten werden schließlich diejenigen bezeichnet, denen es aufgrund
ihrer €uberlegenen Ressourcenausstattung gelingt, ihre Interessen und Ziele auch
gegen vorhandene Widerstände durchzusetzen. Eng damit verkn€upft ist der
Begriff der Positionselite, der weniger die reale Machtaus€ubung als vielmehr
die mit einer bestimmten Position verbundenen Machtpotenziale als maßgeblich
erachtet. So umfasst der von C. Wright Mills geprägte Begriff der „power elite“
diejenigen Personen, „whose positions enable them to (. . .) make decisions
having major consequences. Whether they do or do not make such decisions
is less important than the fact that they do occupy such pivotal positions“
516 M. Glaab

(Mills 1956, S. 3–4). Ausschlaggebend erscheint, dass jene F€uhrungspositionen


den Elitemitgliedern regelmäßigen Zugang und damit maßgeblichen Einfluss auf
relevante Entscheidungsprozesse verschaffen können.

Weiterhin stellt sich die Schwierigkeit, Eliten empirisch eindeutig zu bestimmen.1


Ganz allgemein lassen sich Eliten funktionaler Sektoren unterscheiden: in Politik,
Verwaltung und Justiz, in Wirtschaft, Verbänden und sozialen Bewegungen sowie in
Medien, Wissenschaft und Kultur. In der empirischen Eliteforschung sind folgende
Ansätze und methodische Herangehensweisen bei der Elitenidentifikation verbreitet
(vgl. Wasner 2004, S. 119–122):

1. Etabliert hat sich insbesondere der Positionsansatz (siehe v. a. die Mannheimer


bzw. Potsdamer Elitestudien), der von der Annahme ausgeht, „dass Macht in
pluralistisch verfassten Demokratien in der Regel an die Einnahme einer
F€uhrungsposition gekn€upft ist“ (Kaina 2002, S. 27). Die Positionsmethode erfasst
daher die Inhaber formaler F€uhrungspositionen bzw. „F€uhrungsgruppen, die be-
stimmte Aufgaben der Leitung, Koordination oder Planung haben und dabei
unter formalisierter Verantwortlichkeit stehen“ (Herzog 2004, S. 172). Daraus
resultiert eine eher pragmatische methodische Vorgehensweise, da Positionseliten
in ausgewählten Sektoren anhand der hier als relevant erachteten F€uh-
rungspositionen bestimmt werden. Zu problematisieren ist jedoch, dass dies den
möglichen Einfluss „graue(r) Eminenzen“ (Endruweit 1979, S. 42) bzw. informa-
ler Netzwerke ebenso vernachlässigt wie die mögliche Einflusslosigkeit von
Mitgliedern der Positionselite.
2. Gleichsam ausgehend von der Prämisse pluralistischer Machtstrukturen zielt der
Entscheidungsansatz darauf ab, die jeweils handelnden Eliten „als Teilnehmer
von Entscheidungsprozessen“ (Hoffmann-Lange 1992b, S. 84) zu bestimmen.
Dazu beschränkt sich die Entscheidungsmethode nicht auf die Analyse formaler
F€uhrungspositionen, sondern wendet zumeist ein aufwändiges dreistufiges Ana-
lyseverfahren an (Kaina 2009, S. 394-395): Nach der Fallauswahl gilt es zunächst
diejenigen Personen oder sozialen Gruppen zu identifizieren, die im jeweiligen
Entscheidungsprozess involviert sind, um anschließen zu pr€ufen, wer aufgrund
welcher Faktoren maßgeblichen Einfluss hierauf zu nehmen vermag (z. B. durch
die Auswertung von Protokollen oder auch teilnehmende Beobachtung). Neben
der Tatsache, dass auch Nicht-Entscheidungen machtpolitisch relevant sein kön-
nen, wird hieran vor allem kritisiert, dass gesellschaftliche Machtstrukturen nur
teilweise erfasst werden können und mögliche indirekte Einflussnahmen nicht
aktiv involvierter Akteure unber€ucksichtigt bleiben.
3. Der Reputationsansatz identifiziert einflussreiche Personen oder soziale Gruppen
mittels der Reputationsmethode, die Selbst- und/oder Fremdeinschätzungen ab-
fragt (insbes. durch Expertenbefragungen). Endruweit (1979, S. 40) unterscheidet

1
In der Perspektive der Leadership-Forschung stellt sich in ähnlicher Weise das Problem, den
effektiven Einfluss von F€
uhrungsakteuren bzw. -handeln zu messen (vgl. Helms 2012, S. 6–8).
Eliten und Leadership in der Vergleichenden Politikwissenschaft 517

in diesem Zusammenhang eine „Selbsteinschätzungselite“ von einer „Fremdein-


schätzungselite“. Wer allgemein als Mitglied der Reputationselite gilt, lässt sich
außerdem durch repräsentative Umfragen erheben. Kritikw€urdig erscheint aber,
dass durch die Reputationsmethode eher das wahrgenommene Prestige als die
tatsächliche Machtstellung von Eliteakteuren ermittelt wird.

3 Forschungsschwerpunkte und ausgewählte


Fragestellungen

3.1 Überblick zur Eliteforschung

Zu den Klassikern der Eliteforschung zählen die Anfang des 20. Jahrhunderts von
Gaetano Mosca, Robert Michels und Vilfredo Pareto verfassten Beiträge (vgl. Röh-
rich 1975, mit Abdrucken der Originale). Das Forschungsinteresse jener „machia-
vellistischen Elitetheoretiker“ richtete sich primär auf die Machtelite (im Zusam-
menhang damit steht auch die ideologische Aufladung des Begriffs). Gemeinsam ist
ihnen ein dichotomes Gesellschaftsbild, in dem sich aufgrund der Universalität
politischer und sozialer Ungleichheit (herrschende) Eliten und (beherrschte) Nicht-
Eliten gegen€ uberstehen. In den 1950er-Jahren erlebte die Eliteforschung, ausgehend
von den USA, einen neuen Aufschwung. Es setzte sich zusehends, allerdings
keineswegs unwidersprochen (Hartmann 2004, S. 66–70), das Paradigma des „Eli-
tenpluralismus“ durch, welches sich gegen die von der älteren Elitetheorie vertretene
Annahme einer „Elite-Masse-Dichotomie“ sowie einer – unbeschadet möglicher
innerelitärer Machtkonflikte existierenden – „kohäsiven Elite“ wandte (Hoffmann-
Lange 2003, S. 111). Vielmehr impliziere die in modernen Gesellschaften vorherr-
schende Differenzierung, dass Eliten jeweils nur gesellschaftliche Teilstrukturen
repräsentieren. Im theoretischen Fokus steht in der Folge die Frage nach der Elite-
nintegration bzw. die „Problematik kollektiver Entscheidungsfindung und die
Kooperationsfähigkeit von Eliten“ (ebd., S. 117).
Festzustellen sind allerdings erhebliche Diskontinuitäten sowie Desiderate im
Bereich der vergleichenden, empirischen Eliteforschung. Aufgrund der länderspezifi-
schen Kontextbedingungen sowie des beträchtlichen Erhebungsaufwands dominieren
Länderstudien bzw. Ländervergleiche mit kleinen Fallzahlen. Schwerpunkte bildeten
bis in die 1990er-Jahre Untersuchungen zu Eliten in Entwicklungsländern, in der
sozialistischen Staatenwelt und in industriellen Demokratien, die weitgehend unver-
bunden nebeneinander stehen (Hoffmann-Lange 1992b, S. 89). Seither hat sich der
Forschungsstand verdichtet, doch €uberwiegen weiterhin Einzelbeiträge und Sammel-
werke, was ein eher fragmentiertes Bild ergibt. Einen zentralen Gegenstand der Elite-
forschung bildet traditionell die Auseinandersetzung mit den Machtstrukturen in In-
dustriegesellschaften (siehe die Kontroverse zwischen „Elitisten“ und „Pluralisten“).2

2
Hiervon gehen weiterhin wichtige theoretische und methodische Impulse aus (vgl. Herzog 1982,
S. 102–107; Best und Higley 2010).
518 M. Glaab

In diesen Forschungsstrang einzuordnen sind auch komparative Studien zur „elite


culture“ und zur Rolle von Eliten in soziopolitischen Innovationsprozessen. Ange-
sichts der Systemtransformation in Mittel- und Osteuropa finden diese Aspekte
ebenso verstärkte Ber€ucksichtigung wie die Frage nach dem Elitewandel bzw.
-austausch, die bereits in den 1960er-Jahren eine intensive Forschungskonjunktur
erlebt hatte. Hier ist insbesondere auf Arbeiten zur Erneuerung der F€uh-
rungspositionen in Ostdeutschland (Welzel 1997) sowie in den postsozialistischen
Gesellschaften in Mittel- und Osteuropa zu verweisen (Best und Becker 1997; Best
et al. 2012). Ein weiterer, thematisch verwandter Forschungsstrang beschäftigt sich
mit Aspekten der Elitenrekrutierung (Higley et al.1998; Higley und Lengyel 2000).
Zunehmende Beachtung findet schließlich auch die Frage, inwieweit sich suprana-
tionale oder auch globale Eliten herausbilden (Wasner 2004; Hartmann 2007; Cotta
2012; Ortiz 2013).
Nach diesem kurzen Abriss zur Eliteforschung (ausf€uhrlicher Herzog 1982;
Waldmann 2011) sollen im Folgenden ausgewählte Beiträge behandelt werden, die
Aspekte politischer F€uhrung betreffen und relevante Forschungsperspektiven
aufzeigen.

3.2 Elitenrekrutierung und Führung

Ausgehend vom demokratietheoretischen Postulat, wonach F€uhrungspositionen


allen offen stehen sollen, kommt der Frage der Eliterekrutierung zentrale Bedeutung
zu. Zugespitzt formuliert geht es darum zu klären, wer in politische F€uh-
rungspositionen gelangt, auf welchem Wege und aufgrund welcher Auswahlkrite-
rien. Diese Frage betrifft nicht nur die Repräsentativität und Legitimität von
Eliten, wesentlich erscheint ferner, „that the effectiveness of government in any
society depends in large part upon the quality of leaders who seek office“ (Norris
1997, S. 3).
Die elitensoziologische Forschung fokussiert insbesondere auf die soziale Her-
kunft („social background analysis“) der Eliten. So verweist Robert D. Putnams
„Gesetz der zunehmenden Disproportion“ auf den nicht nur in westlichen Demo-
kratien, besonders deutlich seinerzeit aber in den USA nachweisbaren Zusammen-
hang: „the higher the level of political authority, the greater the representation for
high status social groups“ (Putnam 1976, S. 33). Neuere Forschungen lassen darauf
schließen, dass sich die „Kriterien sozialer Selektivität“ (Wasner 2004, S. 97 f.) –
einhergehend mit dem Bedeutungswandel gesellschaftlicher Sektoren und der Bil-
dungsexpansion – zwar verändert, aber keineswegs völlig an Bedeutung verloren
haben. Auszugehen ist eher von Funktionseliten, f€ur die in den verschiedenen
Sektoren bzw. Organisationsformen jeweils spezifische Aufstiegs- und Erfolgsbe-
dingungen gelten (kritisch zum europäischen Kontext und zu länderspezifischen
Besonderheiten vgl. Hartmann 2007; Hartmann 2013).
Nationale wie auch internationale Abgeordnetenstudien legen Repräsentations-
defizite in der Sozialstruktur von Parlamenten regelmäßig offen (Best und Cotta
2000; Cotta und Best 2007). Von besonderem Interesse erscheint daher die Frage
Eliten und Leadership in der Vergleichenden Politikwissenschaft 519

nach der Rekrutierung von Parlamentariern, zumal ein Abgeordnetenmandat in


etablierten Demokratien vielfach den Weg in Regierungsämter ebnet (Norris
1997).3 Untersuchungen zur Rekrutierung von Exekutivspitzen, Kabinettsmitglie-
dern und der Ministerialb€urokratie liegen ebenfalls vor (Blondel und Thiébault
1991; Page und Wright 1999; Blondel und M€uller-Rommel 2001). Neben den
Rekrutierungsmechanismen werden vielfach auch Karriereverläufe und Professio-
nalisierungsprozesse untersucht. Dabei verfolgt die j€ungere, neo-institutionalistisch
inspirierte Forschung zunehmend eine integrative Herangehensweise. Eigenschaf-
ten, Einstellungen und Verhaltensweisen politischer Eliten sind demnach im jewei-
ligen institutionellen Kontext mit seinen formalen wie auch informalen Regeln zu
verstehen.
Eine von Pippa Norris (1997) herausgegebene Vergleichsstudie bestätigt, dass die
Rekrutierungsmuster von Parlamentariern in demokratischen Industrienationen
erheblich variieren. Als Erklärungsfaktoren sind die institutionellen Gelegenheits-
strukturen (insbes. das Regierungs- und Wahlsystem sowie die Strukturen des
Parteienwettbewerbs), die hierauf bezogenen Rekrutierungsverfahren (bspw. die
geltenden Nominierungsregeln) sowie parteispezifische Anforderungen (u. a.
organisationskulturelle Kriterien, Wahlkampffinanzierung), aber auch das Kandida-
tenangebot selbst (politisches Kapital bzw. Qualifikationen, Motivation der Bewer-
berInnen) heranzuziehen. Idealtypisch lassen sich geschlossene, hierarchische
Rekrutierungsprozesse (wie bspw. in Großbritannien) unterscheiden von Aufstiegs-
wegen, die offen f€ur Quereinsteiger sind (wie in den USA). Relevant ist auch der
Befund, dass nicht nur die Elitestruktur (hinsichtlich der sozialen Herkunft, Reprä-
sentation von Frauen und ethnischen Minderheiten) hiervon beeinflusst wird, son-
dern auch die sich vollziehenden Sozialisations- und Professionalisierungsprozesse
(Edinger und Patzelt 2011), in denen sich potenzielle F€uhrungsakteure zu bewähren
haben.
Auch der Parteienforschung geht es weniger um die Frage, woher die Kandida-
tInnen kommen, als vielmehr um die Frage, wie sie in diese Position gelangen.
Auszugehen ist von einem mehrstufigen Prozess, in dem das politische Personal –
nach einer vorgelagerten politischen Sozialisationsphase – (meist) durch Parteibei-
tritt rekrutiert wird und dann eine Karrierephase durchläuft, bis schließlich die
F€uhrungsauswahl – die Kandidatenselektion im engeren Sinne – vorgenommen wird
(Herzog 1982, S. 89–101). In repräsentativen Demokratien €ubernehmen diese Funk-
tion zumeist die Parteiorganisationen, doch lassen sich im internationalen Vergleich
wiederum erhebliche Variationen hinsichtlich der Offenheit bzw. Geschlossenheit
des Prozesses feststellen (Gallagher und Marsh 1988). Ähnliches gilt f€ur die Kandi-
datenselektion € uber Parteifunktionäre, -mitglieder oder -anhängerschaften. Anzu-
nehmen ist einerseits, dass die Rekrutierung durch Parteiorganisationen die Profes-
sionalisierung des politischen Personals befördert, andererseits erfolgt die

3
Die Rekrutierung von Parlamentariern wie auch Kabinettsmitgliedern in nicht konsolidierten oder
auch defekten Demokratien erscheint hingegen stärker von personalen Faktoren bestimmt und weist
spezifische Diskontinuitäten auf; f€
ur das russische Präsidialsystem vgl. Semenova (2011).
520 M. Glaab

Kandidatenauswahl durch die Parteif€uhrungen vielfach nach taktischen, am anti-


zipierten Wählerwillen orientierten Auswahlkriterien.
Im Blick auf den Leadership-Aspekt erscheint besonders relevant, welche
F€uhrungsqualitäten das €uber derartige Mechanismen rekrutierte und in Spitzenposi-
tionen gelangende politische Personal auszeichnen. In dieser Hinsicht sind jedoch
erhebliche Forschungsdesiderate zu konstatieren (vgl. Higley 2011). Römmele
(2004) hat sich dieser Fragestellung in Form einer Kandidatentypologie zumindest
angenähert. Einem institutionalistischen Ansatz folgend wird angenommen, „dass
unterschiedliche Rekrutierungs- und Selektionsmechanismen unterschiedliche Kan-
didateneigenschaften hervorbringen“ (ebd., S. 268).4 Aus offenen Rekrutierungs- und
Selektionsverfahren (Akklamation) gehen demnach charismatische Politiker hervor,
aus geschlossenen Verfahren (Promotion) Funktionärstypen. Seiteneinsteiger werden
zu Kandidaten, wenn die Rekrutierung offen, die Selektion aber geschlossen bzw. von
oben (Appointment) erfolgt. Der Typus des Parteimanagers hingegen werde durch
geschlossene Verfahren der Rekrutierung und offene Kandidatenselektion (Nominie-
rung) hervorgebracht. Die F€uhrungsqualitäten lassen sich Römmele (ebd., S. 274)
zufolge anhand der von den Repräsentationseliten zu erf€ullenden Funktionen – der
Effektivität einerseits und der Responsivität andererseits – bestimmen. Plausibel er-
scheint, dass die Rekrutierungs- und Selektionsmechanismen jeweils auf unterschied-
liche Eigenschafts- und Qualifikationsprofile (z. B. Fachexpertise vs. persönliche
Ausstrahlung) zentrieren. Inwieweit die Kandidatentypen hinsichtlich ihrer
F€uhrungsleistung differieren, zumal wenn sie in exekutive Funktionen gelangen,
bedarf jedoch der weiteren empirischen Erforschung.

3.3 Selbstverständnis und Rollenwahrnehmung von


Führungseliten

Die Eliteforschung befasst sich dar€uber hinaus mit dem Selbstverständnis und der
Rollenwahrnehmung von Eliten. Im Zentrum des Interesses stehen hier Fragen der
politischen Repräsentation und Legitimation. Dazu werden Wertorientierungen und
politische Einstellungen von Elitegruppen hinsichtlich möglicher Diskrepanzen ge-
gen€ uber den Präferenzen der Gesamtbevölkerung analysiert, mit uneinheitlichen
Befunden. Im Kontext der Wirtschafts- und Finanzkrise wurde beispielsweise ermit-
telt, dass die Wahrnehmung und Bewertung der sozialen Verhältnisse durch Eliten und
Gesamtbevölkerung in Deutschland deutlich auseinanderklaffen (Hartmann 2013). Im
Blick auf das Leadership von Eliten wäre expliziter nach dem Spannungsverhältnis
von Responsivität und F€uhrung zu fragen. Die j€ungere Forschung rekurriert dabei
unter anderem auf Prinzipal-Agent-Modelle. So hat Best (2009) f€ur Deutschland
gezeigt, dass insbesondere aus den Volksparteien stammende Bundestagsabgeordnete

4
Im Unterschied dazu schließen sozialpsychologische Ansätze von Persönlichkeitsfaktoren auf
Prozesse der Elitenselektion wie auch die politischen Präferenzen von Eliten. F€
ur deutsche Parla-
mentarier vgl. bspw. Best 2007.
Eliten und Leadership in der Vergleichenden Politikwissenschaft 521

eine starke politische F€uhrung im Interesse des Gemeinwohls bef€urworten. Konträr


dazu spricht sich die große Mehrheit aller Abgeordneten f€ur plebiszitäre Instrumente
aus, was die Handlungsautonomie von F€uhrungseliten erheblich reduzieren w€urde
(ähnlich die Potsdamer Elitestudie von 1995; vgl. B€urklin 1997). Gleichzeitig weist
diese Studie darauf hin, dass unter der parlamentarischen Elite ein ausgeprägtes
Zusammengehörigkeitsgef€uhl – und damit auch ein Elitebewusstsein – existiert, wenn
auch mit deutlichen inter- und intra-parteilichen Differenzierungen. Zudem wird die
Elitenintegration durch bestehende Kommunikationsnetzwerke gefördert, was als
wichtige Vorbedingung der Kooperations- und Entscheidungsfähigkeit gilt (Best
2009; Hoffmann-Lange 1992a; Sauer und Schnapp 1997).
Selbstverständnis und Rollenwahrnehmung hängen weniger von der sozialen
Herkunft ab, sondern werden vielmehr vom jeweiligen Tätigkeitsfeld geprägt
(Hoffmann-Lange 1992b, S. 86-88). In vergleichender Perspektive ermittelten
Aberbach et al. (1981) nicht nur systematische Divergenzen im Rollenverständnis
von Eliten in Politik und Verwaltung, sondern auch deutliche länderspezifische
Unterschiede. In den untersuchten europäischen Ländern (GB, F, BRD, I, NL, Sw)
sahen sich die befragten Politiker primär als Anwälte von Gruppeninteressen bzw.
Treuhänder ihrer Wählerschaft, verbunden mit dem offenen Bekenntnis der Partei-
lichkeit, wohingegen sich die Verwaltungseliten in erster Linie als Träger techni-
schen Sachverstands oder auch Sachwalter des Gemeinwohls verstanden. Anders als
in Europa ließ sich in den USA allerdings eher ein €ubereinstimmendes Rollenver-
ständnis beider Elitegruppen feststellen.
Dies deckt sich mit der Annahme der neo-institutionalistischen Leadership-For-
schung, wonach das „leadership environment“, mithin der institutionelle wie auch
politisch-kulturelle Kontext die Handlungsorientierungen der F€uhrungsakteure zwar
nicht determiniert, aber doch verhaltensregulierend wirkt. Rollenkonzepte politi-
scher F€uhrung verweisen daher auf die Notwendigkeit, F€uhrungsstile den jeweiligen
Handlungskontexten anzupassen, aber auch auf das Konfliktpotenzial, das aus wi-
derstrebenden oder gar unvereinbaren Rollenanforderungen resultiert (vgl. Edinger
1990). Rollenkonflikte erwachsen schon daraus, dass F€uhrungsakteure multiple
Rollen in verschiedenen Politikarenen zu erf€ullen haben. So beinhaltet die Eigen-
logik der administrativen Arena (Verhandlung, Kooperation, Konsensfindung, Dis-
kretion) andere Rollenanforderungen als jene der parlamentarischen Arena (Prinzi-
pal-Agent-Logik, Wettbewerb, Mehrheitsbildung) oder der Medienarena (Publizität,
Aufmerksamkeits- und Präsentationsregeln) (Wiesendahl 2004).

3.4 Eliten, Mediendemokratie und Public Leadership

Das Forschungsinteresse am Public Leadership (Foley 2000; Helms 2008; Glaab


2010) korrespondiert mit einem in modernen Demokratien länder€ubergreifend – und
weitgehend unabhängig vom jeweiligen Systemtyp – zu beobachtenden Mediatisie-
rungstrend, der die Repräsentationselite und hier vor allem deren F€uhrungsakteure
„unter permanente(n) Kommunikationszwang“ (Sarcinelli 2011, S. 174) versetzt.
Grundlegend hierf€ur sind Entwicklungen des Mediensystems und Veränderungen
522 M. Glaab

der politischen Kommunikation, die häufig auch mit dem Schlagwort der ‚Medien-
demokratie‘ belegt werden. Marktorientierte Selektionskriterien und Präsentationsre-
geln bestimmen zunehmend die Politikberichterstattung der Massenmedien. Daraus
resultieren Regelveränderungen f€ur die Politik, die sich der Medienlogik anpassen
muss, wenn sie deren Selektionsfilter €uberwinden und die Öffentlichkeit erreichen will.
Das Konzept des Public Leadership betont F€uhrungsressourcen, die aus der
öffentlichen Sichtbarkeit von F€uhrungsakteuren bzw. deren öffentlichkeitsorientier-
ten Handlungen erwachsen (vgl. ausf€uhrlicher Glaab 2010). Die personalisierte
Politikberichterstattung fokussiert bevorzugt auf Spitzenpolitiker, weshalb diese
€uber einen privilegierten Zugang zur Medienarena verf€ugen, den sie je nach indivi-
dueller Kommunikationskompetenz – unterst€utzt durch ein professionelles Kommu-
nikationsmanagement – strategisch nutzen können. Public Leadership bezeichnet
jedoch nicht lediglich mediale Präsenz und Prominenz, sondern bezieht sich kon-
kreter auf die Mobilisierung öffentlicher Unterst€utzung und die Organisation von
Mehrheiten zur Durchsetzung der verfolgten politischen Ziele. Das Public Leader-
ship wird erst zur Machtprämie, wenn hierdurch die Stimmen-, Ämter- und Policy-
Maximierung erleichtert wird.
Politische Eliten profitieren vom Aufmerksamkeitsvorsprung, den sie in der
Medienöffentlichkeit genießen, da er ihnen potenziell Deutungsmacht verleiht.
Allerdings können deren Protagonisten keineswegs ein Realitätsdeutungsmonopol
beanspruchen, sondern konkurrieren mit anderen Deutungsangeboten. In einem sich
verschärfenden medialen Aufmerksamkeitswettbewerb bedarf es geeigneter Kom-
munikationsstrategien, um die relevanten Teile der Öffentlichkeit erreichen und von
den eigenen Deutungsangeboten €uberzeugen zu können. Dabei spielen individuelle
Leadership-Skills wie Charisma, Glaubw€urdigkeit, Überzeugungskraft und Rhetorik
eine wichtige Rolle. Relevant sind außerdem medienzentrierte Strategien des Poli-
tikmarketings, die auf die Mobilisierung öffentlicher Unterst€utzung abzielen.
Nicht zu € ubersehen sind jedoch mögliche dysfunktionale Effekte, die aus der
„kommunikative(n) Doppelrolle“ (Sarcinelli 2011, S. 174) politischer Eliten er-
wachsen. Der Kampf um öffentliche Aufmerksamkeit folgt einer Wettbewerbslogik,
wird nicht selten auf konfrontative Weise ausgetragen und soll letztlich Zustimmung
generieren. Gleichzeitig agieren politische Eliten in Verhandlungssystemen, die von
„Vertraulichkeit, Diskretion und Informalität“ (ebd.) gekennzeichnet sind. Durch
eine Verletzung dieser Spielregeln riskieren sie Vertrauensverluste bei Verhand-
lungspartnern und schränken durch öffentliche Vorfestlegungen möglicherweise
den eigenen Verhandlungsspielraum ein. Samuel Kernell (2006, S. 4) stellt mit Blick
auf die US-amerikanische Regierungspraxis sogar eine fundamentale Inkompatibi-
lität des Going Public mit den Erfordernissen des Bargaining fest. Auch das soge-
nannte Permanent Campaigning, d. h. eine kampagnenförmige Regierungsf€uhrung
mithilfe von Methoden der Meinungsforschung und des Politikmarketings, zeitigt
ambivalente Effekte. Eine Schwäche besteht in der mangelnden Kohärenz und
Verbindlichkeit tagespolitisch fixierter Zielsetzungen. Zwar kann diese Unbestimmt-
heit kurzfristig taktische Vorteile verschaffen, doch hat sie auch Glaubw€urdigkeits-
verluste zur Folge – was letztlich die Orientierungsfunktion politischer F€uhrung
gefährdet und Allegiance-Defizite nach sich zieht.
Eliten und Leadership in der Vergleichenden Politikwissenschaft 523

Aus Sicht der Eliteforschung wird angenommen, dass „medial vermittelte Infor-
mationen f€ur die Bewertung von F€uhrungskräften an Bedeutung gewonnen (haben), so
dass Elitenvertrauen als dynamisches Interaktionssystem in wachsendem Maße von
politischen Kommunikationsprozessen durchdrungen wird.“ (Kaina 2002, S. 271)
Dies verweist abermals auf die hohen kommunikativen Anforderungen, denen sich
Eliteakteure in der Mediendemokratie zu stellen haben. Bemerkenswert erscheint in
diesem Zusammenhang, dass die politischen Eliten (in Regierung, Parlament und
Parteien) nach Daten der Potsdamer Elitestudie von 1995 (vgl. Kaina 2001) ihre
„F€uhrungskapazität“ selbst als eher begrenzt und stark belastet einschätzen. Zeitpro-
bleme stellen hierbei einen wichtigen Faktor dar, sowohl im Hinblick auf die interne
als auch die externe Politikvermittlung. Handlungskorridore erscheinen durch die
wachsende Problemkomplexität, aber auch durch gestiegene Anspr€uche der Bevölke-
rung eingeschränkt. „Anpassungsleistungen“ (Sarcinelli 2011, S. 176) sind in Formen
der direkten B€ urgeransprache, aber auch in plebiszitären Tendenzen oder populisti-
schen Politikangeboten zu sehen. Die Personalisierung der Politik in den Massen-
medien hat zudem R€uckwirkungen auf die Elitenrekrutierung, da sowohl die inner-
parteilichen Machtstrukturen als auch die Wahlkampagnen zunehmend als „leader
centred“ eingestuft werden (vgl. Poguntke und Webb 2005; Benz und Higley 2009).

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Zivilgesellschaft und soziale Bewegungen
in der Vergleichenden Politikwissenschaft

Brigitte Geißel und Matthias Freise

Zusammenfassung
Zivilgesellschaft (ZG) und Neue Soziale Bewegungen (NSB) erhalten seit den
1990er-Jahren immer größere politische sowie wissenschaftliche Aufmerksamkeit.
Denn zunehmend wurde erkannt, dass ZG und NSB in politischen Systemen - seien
sie demokratisch, nichtdemokratisch oder in Transformation - zentrale Funktionen
und Aufgaben € ubernehmen. Der Beitrag verortet die beiden Konzepte innerhalb der
vergleichenden Politikwissenschaft, umreißt aktuelle Forschungsansätze und liefert
eine Übersicht €uber vergleichende Datenquellen.

Schlüsselwörter
Zivilgesellschaft • Neue Soziale Bewegungen • Interessenvermittlung • Nichts-
taatliche Leistungserbringung • Protest

1 Einleitung

Zivilgesellschaft (ZG) und Neue Soziale Bewegungen (NSB) erhalten seit den 1990er-
Jahren verstärkte Aufmerksamkeit in der vergleichenden Politikwissenschaft. Denn es
zeigte sich, dass neben den politischen Institutionen auch ZG und NSB zentrale
Aufgaben und Funktionen in allen politischen Systemen €ubernehmen. In Transforma-

B. Geißel (*)
Professorin f€ur Politikwissenschaft und politische Soziologie, Leiterin der Forschungsstelle
‘Demokratische Innovationen’, Institut f€ur Politikwissenschaft, Universität Frankfurt, Frankfurt,
Deutschland
E-Mail: geissel@soz.uni-frankfurt.de
M. Freise
Akademischer Oberrat am Institut f€
ur Politikwissenschaft, Westfälische Wilhelms-Universität,
M€unster, Deutschland
E-Mail: freisem@uni-muenster.de

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 527


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_40
528 B. Geißel und M. Freise

tionsprozessen spielen ZG und NSB eine wichtige, systemverändernde Rolle


(Merkel und Lauth 1998), und konsolidierte Demokratien sind ohne ZG und NSB
undenkbar (Kocka 2003; Arato 2000). Beispielsweise erf€ullen ZG und NSB nach tief
greifenden Wandlungsprozessen des intermediären Interessenvermittlungssystems mit
zunehmend schwacher Bindungsfähigkeit der klassischen Interessenvertretungsorga-
nisationen eine zentrale Aufgabe als ‚Transmissionsriemen‘ zwischen Individuum und
Staat (z. B. Touraine 1999). Und in nicht-demokratischen Systemen €ubernehmen
zivilgesellschaftsähnliche Assoziationen häufig systemrelevante Funktionen, etwa
indem sie Dienstleistungen anbieten (Zinecker 2005).
ZG und NSB sind insofern ähnliche Phänomene, als sie beide wenig institutio-
nalisiert und nur zum Teil institutionalisierbar sind. Sie sind aber keineswegs
identische Konzepte und nicht synonym zu verwenden – obwohl NSB je nach
Definition als Teilmenge von ZG beschrieben werden können, wie im Verlauf dieses
Artikels noch diskutiert wird. Um der Unterschiedlichkeit der beiden Phänomene
und Konzepte gerecht zu werden, f€uhren wir im Folgenden beide getrennt ein. Dabei
werden zunächst ZG und anschließend NSB vorgestellt: Auf die Begriffsklärung
und die Erläuterung des Konzepts folgt die Diskussion der jeweiligen Akteure, der
Ziele und der Funktionen innerhalb unterschiedlicher politischer Systeme. Aktuelle
Forschungsansätze sowie eine Übersicht €uber vergleichende Datenquellen und aus-
gewählte Befunde schließen den Beitrag ab.

2 Zivilgesellschaft

2.1 Begriffsklärung und Konzept

ZG r€uckte in der Politikwissenschaft vor allem seit der historischen Zeitenwende


von 1989 ins. Zentrum des Interesses – als konzeptioneller Ansatz, als empirische
Gegebenheit oder als normative Zielvorstellung. Es lassen sich zwei Definitionen
unterscheiden (Kocka 2003, S. 32): Die allgemeinwohl- und handlungsbezogene
Definition bezieht sich auf den sozialen Typus ‚ziviler‘ Handlungsweisen und
Tugenden. Als grundlegende zivile Handlungstugenden gelten Gemeinwohlorien-
tierung, Gewaltlosigkeit und Toleranz. Demgegen€uber beschreibt die interessen-
und bereichsbezogene Definition ZG als Bereich zwischen Staat, Markt und Privat-
sphäre. ZG meint hier eine Sphäre, in der sich die B€urgerinnen und B€urger selbst-
organisiert zusammenschließen um f€ur ihre Interessen öffentlich eintreten zu können
(Kneer 1997). Der Begriff ZG bezieht sich dabei auf eine Vielfalt freiwilliger
Assoziationen, die in unterschiedlichen institutionalisierten, semiinstitutionalisierten
und nichtinstitutionalisierten Ausprägungen auftreten. Vereine und Verbände, Ge-
werkschaften, Kirchen und Religionsgemeinschaften, Genossenschaften oder trans-
nationale NGOs markieren den institutionalisierten Pol. Aber auch die (‚freiwilli-
gen‘) sozialen Bewegungen als weniger institutionalisierte kollektive Akteure lassen
sich in den weiten Grenzen der ZG verorten. Die bereichsbezogene Definition
bereitet einige Abgrenzungsprobleme, denn ZG weist Überschneidungen zu den
benachbarten Gesellschaftssphären Markt, Staat und Privatheit auf. So wäre bei-
Zivilgesellschaft und soziale Bewegungen in der Vergleichenden. . . 529

spielsweise €
uber die Zuordnung von Genossenschaften zur ZG zu streiten. Einerseits
zeichnen diese sich durch eine demokratische Organisationskultur, Mitbestimmung,
Selbsthilfe und eine starke Mitgliederorientierung aus, was sie als zivilgesellschaft-
liche Akteure klassifiziert, andererseits sind sie als Wirtschaftsunternehmungen
ebenso dem persönlichen Profit ihrer Mitglieder verpflichtet (Alscher 2011).

2.2 Akteure und Ziele

Die bisherigen Diskussionen zeigen bereits, dass sich ZG u€ber die vorgestellten
Definitionen hinaus auf vielfältige Weise unterscheidet. Es gibt Assoziationen, die
sich in erster Linie als politisch-demokratische Interessenvermittlung verstehen,
Gruppen, die vor allem Serviceleistungen erbringen, und Assoziationen, die der
Selbstorganisationen dienen. Dabei sind wiederum jene Akteure zu unterscheiden,
die gleichzeitig Akteure und Nutznießer ihrer Aktivität sind, und jene, bei denen
Akteure und Nutznießer nicht identisch sind. Tabelle 1 gibt einen Überblick €uber
zivilgesellschaftliche Assoziationen mit ihren jeweiligen Zielen.

2.3 Funktionen

Die Politikwissenschaft fokussiert vornehmlich das Verhältnis von ZG und Staat und
fragt nach den Funktionen, die ZG in demokratischen, in nicht-demokratischen
Staaten sowie in Transformationsprozessen €ubernimmt (z. B. Merkel und Lauth
1998). Während zivilgesellschaftliche Aktivitäten als Grundvoraussetzung f€ur das
Funktionieren von Demokratien und als Bestandteil demokratietheoretischer Ent-
w€ urfe gelten (Kocka 2003, S. 32; Adloff 2005; Klein 2001), besteht in autoritären
Staaten generell ein eingeschränkter Spielraum f€ur zivilgesellschaftliche Organisa-
tionen und zivilgesellschaftliches Handeln. Dennoch weisen auch autoritäre Staaten
häufig im Bereich der Serviceerbringung systemrelevante zivilgesellschaftliche
Strukturen auf. Ihre demokratischen Funktionen kann ZG jedoch nicht oder nur
eingeschränkt wahrnehmen und entsprechende Gruppierungen sind einer ständigen
Bedrohung seitens des Staates ausgesetzt. In Transformationsgesellschaften spielen
ZG häufig eine zentrale Rolle bei Systemveränderungen.1
In diesem Beitrag konzentrieren wir uns auf f€unf zentrale Funktionen, die ZG in
demokratischen Gesellschaften zugeschrieben werden (z. B. Merkel und Lauth
1998). Typischerweise werden diese Funktionen in modernen Demokratietheorien
miteinander verwoben, je nach theoretischer Provenienz jedoch unterschiedlich ge-
wichtet. Als ideengeschichtlich älteste lässt sich (1) die Protektionsfunktion identi-
fizieren. Demnach ist ZG ein Schutzraum gegen einen allmächtigen Staat, der in die
Privatsphäre der B€urgerinnen und B€urger vordringt. Diese Funktion wird heute vor
allem von nordamerikanischen Theoretikerinnen und Theoretikern verfochten, die
f€ur einen minimalistischen Staat eintreten (von Beyme 2000). Eine zweite wichtige

1
Siehe hier auch die Beiträge von Lauth und Pickel in diesem Band.
530 B. Geißel und M. Freise

Tab. 1 Typologie zivilgesellschaftlicher Assoziationen


Ziele der Aktivität
Politische Selbstorganisation,
Interessenvermittlung Serviceleistung -regulierung
Akteure = Interessen- Selbsthilfe- Selbstorganisierte,
Nutznießer assoziationen gruppen -referentielle
z. B. z. B. Assoziationen
B€urgerinitiativen Nachbarschaftshilfe z. B. Freizeitclubs
Akteure 6¼ Advokatengruppen Wohltätige Netzwerke nichtstaatlicher
Nutznießer z. B. Umweltgruppen, Organisationen Normsetzung
Global-Justice- z. B. z. B.
Gruppen Caritas Fair Trade
Quelle: Geißel (2009, S. 78)

Funktion von ZG ist (2) die (Interessen-)Vermittlung zwischen staatlichen und


nicht-staatlichen Sphären. Dabei wird davon ausgegangen, dass in modernen Mas-
sendemokratien Instanzen vorhanden sein m€ussen, die Interessen aggregieren und
gegen€uber dem Staat artikulieren. ZG hat hier die Aufgabe als Interessenvermittler
in politische Willensbildungsprozesse involviert zu sein. Erwähnt wird (3) die
demokratisch-partizipatorische Sozialisierung in zivilgesellschaftlichen Organisatio-
nen. ZG dient aus dieser Perspektive der politischen Qualifizierung der B€urger
(Verba et al. 1995), dem Aufbau von Sozialkapital (Putnam 1993) und schafft ein
Rekrutierungspotential politischer Eliten. Mit Tocqueville (1985) lässt sich ZG sogar
als „Schule der Demokratie“ beschreiben, in der im Kleinen demokratische Ver-
haltensweisen habitualisiert werden, von denen der Staat im Ganzen profitiert. Dies
wird speziell im sogenannten Sozialkapitalansatz thematisiert.2 ZG gilt (4) als Ort
der Herstellung von Öffentlichkeit – Debatten und Teilhabe finden dort statt. ZG ist
somit das Medium f€ur politischen Diskurs (Habermas 1982). Last but not least spielt
(5) ZG eine wichtige Rolle bei der Erbringung von Serviceleistungen zur Entlastung
des Staates (Zimmer und Nährlich 2000).

2.4 Forschungsansätze und aktuelle Tendenzen

Die vergleichende Politikwissenschaft bezieht sich auf das Konzept der ZG vor
allem im Kontext der Transformations-, der Partizipations- und Demokratie- sowie
der Wohlfahrtsstaatsforschung.
Die Transformationsforschung befasst sich vor allem seit dem Zusammenbruch des
real-existierenden Sozialismus mit der Rolle der ZG. Sie fragt nach der Einflussstärke
von ZG und hat den Einfluss unterschiedlicher interner und externer Faktoren heraus-
gearbeitet. Dazu gehören unter anderem die Ausprägung des abgelösten autoritären

2
Siehe hierzu den Beitrag von Freitag und Ackermann in diesem Band.
Zivilgesellschaft und soziale Bewegungen in der Vergleichenden. . . 531

Regimes, das sozio-kulturelle Erbe der Gesellschaft, die ökonomischen Bedingungen


des Transformationsprozesses und internationale Einflussfaktoren wie etwa die Au-
ßenförderung zivilgesellschaftlicher Akteure (Croissant et al. 2000, S. 21–25). Ebenso
untersuchte sie die Einflussart und demonstrierte am Beispiel von Transformations-
staaten der „Dritten Welle“, dass die Rolle der ZG in der Systemtransformation von
der Autokratie zur Demokratie häufig ambivalent ist. Zwar erf€ullen ZG einerseits die
dargestellten demokratieförderlichen Funktionen, andererseits wird häufig eine „dunk-
le Seite“ (Roth 2003, S. 63–67) der Zivilgesellschaft sichtbar, die sich hinderlich f€ur
den erfolgreichen Konsolidierungsprozess der jungen Demokratien auswirkt. Demo-
kratieabträgliche Ausprägungen von Zivilgesellschaft liegen vor allem dann vor, wenn
die Kritik- und Kontrollfunktion zivilgesellschaftlicher Organisationen mit einer aus-
geprägten staatsskeptischen Haltung, einer Geringschätzung staatlicher Entschei-
dungsprozesse sowie mit daraus folgenden delegitimierenden Effekten verbunden ist
(Lauth 1999, S. 110–115). Dies kann die Legitimation der neu geschaffenen demo-
kratischen Institutionen erheblich beschädigen und demokratische Entscheidungsfin-
dung unterhöhlen (Merkel et al. 2003).
Ein anderer Zugang der Politikwissenschaft zum Zivilgesellschaftskonzept
findet sich in der vergleichenden Partizipationsforschung. Hier wird Zivilgesell-
schaft bisweilen gleichgesetzt mit den Formen der sogenannten unkonventionellen
Partizipation (z. B. bei Böhnke 2011; van Deth 2009), worunter die meisten Arten
politischer Beteiligung jenseits der Teilnahme an Wahlen und der Mitgliedschaft in
politischen Parteien fallen. Die Teilnahme an Demonstrationen und Protesten, die
Mitgliedschaft in NGOs und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen, das
Mitwirken an B€ urgerforen, Lokalen Agenda 21 Gruppen und Planungszellen oder
das Verfassen von Leserbriefen gelten als Ausdruck zivilgesellschaftlichen Enga-
gements, die ein demokratisches System stärken. In dieselbe Richtung zielt die
Sozialkapitalforschung, die zivilgesellschaftlichem Engagement eine €uberragende
Bedeutung f€ ur das Funktionieren von Demokratie und staatlichem Handeln zu-
schreibt (Putnam 1993). Empirische, vergleichende Befunde scheinen dies zu
belegen. Eine Analyse europäischer Staaten zu den Zusammenhängen zwischen
Zivilgesellschaft und Demokratiezufriedenheit bzw. effektivem Regieren verweist
auf positive Zusammenhänge. Je stärker das zivilgesellschaftliche Engagement in
einem Land ist, desto größer ist die Zufriedenheit und desto effektiver wird es
regiert (Geißel 2008).
Auch in der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung wird seit einiger Zeit
verstärkt auf die Rolle der ZG fokussiert. Dabei interessiert vor allem die Auf-
gabenteilung zwischen Staat und ZG. In dieser Perspektive wird ZG auf ihre
Leistungserbringung durch entsprechende Organisationen konzentriert, f€ur die
der Begriff des Dritten Sektors Verwendung findet, d. h. Organisationen mit
formaler Struktur, die organisatorisch unabhängig vom Staat sind, Gewinnorien-
tierung nicht als erste Priorität sehen, keine Zwangsverbände darstellen und sich
zumindest anteilsweise durch freiwilliges Engagement und/oder Spenden tragen
(Anheier 1999). Diese Forschungsrichtung untersucht entsprechende Organisatio-
nen, deren Kooperation mit dem Staat oder deren Effekte aus vergleichender
Perspektive.
532 B. Geißel und M. Freise

2.5 Vergleichende Datenquellen und ausgewählte Befunde

F€ur die empirische Operationalisierung von ZG gibt es kein einheitliches Kon-


zept. Häufig wird ZG bei international vergleichenden Studien anhand von Um-
fragedaten zu ehrenamtlichem Engagement oder zur unkonventionellen Partizi-
pation ermittelt. Dies sind Indikatoren, die vor allem aus der Perspektive der
Partizipations- und teilweise der Transformationsforschung bedeutend sind. Seit
einigen Jahren versuchen einige vergleichende Studien komplexere Operationa-
lisierungen zu entwickeln. Die aufwendigste Studie hat die s€udafrikanische CI-
VICUS World Alliance for Citizen Participation vorgelegt, die f€ur 44 Staaten den
sogenannten Civil Society Diamond berechnet hat. Er erfasst ZG in den vier
Dimensionen Struktur, Werte und Normen, Rahmenbedingungen und gesell-
schaftliche Effekte, die wiederum in mehreren Unterdimensionen mit rund 70 In-
dikatoren gemessen werden (Heinrich und Malena 2008; Heinrich 2008). Erhoben
und ausgewertet wurden die Daten teils quantitativ, teils qualitativ durch National
Advisory Groups.
Unter der Dimension Struktur werden grundlegende Informationen zur zivilge-
sellschaftlichen Ausprägung eines Landes gefasst, darunter etwa die Spendenbereit-
schaft der B€urgerinnen und B€urger, ihr Engagement sowie ihre Mitgliedschaften in
freiwilligen Vereinigungen. Die Dimension Rahmenbedingungen misst rechtliche,
politische und sozioökonomische Kontexte der ZG, etwa die Rechte, die das poli-
tische System gewährt, sowie den Grad der Dezentralisierung eines Staates. Mit der
Dimension Werte und Normen werden zivilgesellschaftliche Wertvorstellungen ab-
gebildet, z. B. die Orientierung an Gewaltfreiheit, Geschlechtergerechtigkeit oder
die Ablehnung von Korruption. Die Dimension gesellschaftliche Effekte erfasst
schließlich die Rollen, die Zivilgesellschaft im politischen, wirtschaftlichen und
gesellschaftlichen System spielt, etwa indem die soziale Relevanz und der Einfluss
auf den Prozess der politischen Entscheidungsfindung erhoben werden. Im Ergebnis
verdeutlicht das Projekt, dass ZG in verschiedenen Staaten ganz unterschiedliche
Ausprägungen aufweist und in keinem Land alle vier Dimensionen Höchstwerte
erzielen (Heinrich und Malena 2008).
Zentrale international vergleichende Datenquelle im Kontext der Wohl-
fahrtsstaat-orientierten Forschung ist der Johns Hopkins Global Civil Society
Index, der im Rahmen des Johns Hopkins Comparative Nonprofit Sector Projects
mit der Datensammlung begann und diese kontinuierlich fortf€uhrte. Wichtigstes
Ergebnis des Projektes ist die Beschreibung einer weltweiten „associational revo-
lution“ (Salamon et al. 2004, S. 18), die sich seit den 1970er-Jahren in zahlreichen
Wohlfahrtsstaaten feststellen lässt. Insbesondere in den Bereichen der personen-
bezogenen Dienste (Gesundheits- und Pflegedienste, soziale Dienste, Bildung,
Wissenschaft und Forschung) haben sich enge Kooperationsformen zwischen
diesen zivilgesellschaftlichen Organisationen und dem Staat herausgebildet, in
denen der Staat Aufgaben an die ZG €uberträgt und nur noch f€ur die Finanzierung
eintritt. Dies f€
uhrt häufig zur Herausbildung einer eher unkritischen, dem Staat
zugewandten ZG, wie sie etwa die großen Wohlfahrtsverbände in Deutschland
repräsentieren.
Zivilgesellschaft und soziale Bewegungen in der Vergleichenden. . . 533

3 Neue Soziale Bewegungen

3.1 Begriffsklärung und Konzept

Soziale Bewegungen, worunter sowohl die neuen als auch die alten Bewegungen zu
fassen sind, werden nach einer allgemein akzeptierten Definition von Roth und
Rucht (2002, S. 297) definiert als „auf eine gewisse Dauer gestellte und durch eine
kollektive Identität abgest€utzte Versuche von Gruppen, Organisationen und Netz-
werken, grundlegende gesellschaftliche Veränderungen (. . .) herbeizuf€uhren oder zu
verhindern.“ NSB weisen teilweise Ähnlichkeiten zu den älteren sozialen Bewegun-
gen wie beispielsweise der Arbeiterbewegung auf, aber ebenso Differenzen. Fr€uhere
soziale Bewegungen zielen zwar ähnlich wie die NSB auf gesellschaftliche Verän-
derungen, sie unterscheiden sich von den NSB allerdings durch die Akteure, Ziele
und Organisations- sowie Aktionsformen. NSB ist dabei ein Sammelbegriff f€ur
verschiedene politische Strömungen, welche im Gefolge der Studentenbewegung
seit den späten 1960er-Jahren aufkamen. Zu den wichtigsten NSB zählten zunächst
die Ökologiebewegung, die zweite Welle der Frauenbewegung, die Lesben- und
Schwulenbewegung und die Friedensbewegung (Roth und Rucht 2008). Seit den
1990er-Jahren schoben sich vor allem die Themen Globalisierung und Globalisie-
rungskritik in den Vordergrund.
NSB können als Ausdruck zivilgesellschaftlichen Handelns betrachtet werden, da
sie als kollektive Akteure Interessen vertreten. Sie haben jedoch, im Gegensatz zur
ZG, einen in erster Linie politischen Charakter, da sie versuchen, gesellschaftlichen
Wandel anzustoßen, voranzutreiben oder umzukehren, und sie bedienen sich Ak-
tionsformen, die nicht in das zivilgesellschaftliche Repertoire passen. In einigen
Studien werden jedoch NSB und ZG – ebenso NSB und Protest – zusammengefasst
(z. B. McAdam et al. 2005; Westle 2004).

3.2 Akteure, Ziele, Organisations- und Aktionsformen

Die Akteure (also die Träger- und Anhängergruppen) der NSB sind themenspezifisch
breit gestreut. Zu einzelnen Themen, z. B. lokalen Umweltproblemen, lassen sich
Personen aus allen Bevölkerungsschichten mobilisieren. Die Mehrheit der Träger-
und Anhängerschaft entstammt jedoch – im Gegensatz zu den alten Bewegungen –
der gebildeten Mittelschicht, sind also €uberwiegend Personen mit hoher formaler
Schulbildung. Am stärksten beteiligen sich jene aus dem Sektor der Humandienst-
leistungen (Roth und Rucht 2002, S. 298). Weiterhin spielt das Alter eine Rolle; es
sind eher die j€ungeren und mittleren Generationen, welche sich in den NSB enga-
gieren. Frauen und Männer beteiligen sich in nahezu gleichem Umfang (Westle
2004). Das Interesse an Politik und das Gef€uhl subjektiver politischer Kompetenz
gehen mit einer Tendenz zu NSB-Aktivitäten einher, ebenso eine linke politische
Selbsteinstufung und eine postmaterialistische Wertorientierung. Die Bewertungen
der eigenen und der gesellschaftlichen Wirtschaftslage sind irrelevant (Westle 2004).
534 B. Geißel und M. Freise

Im Gegensatz zu Parteien oder Gewerkschaften sind die Organisationsformen der


NSB vielfältig und dezentral. NSB bestehen aus informellen Gruppen sowie locke-
ren Netzwerken und sind in der Regel polymorphe Gebilde ohne geschlossene
Organisation. Sie unterscheiden sich von den stärker institutionalisierten Politikfor-
men durch das Fehlen einer klar gegliederten Organisation, formalisierter Entschei-
dungsverfahren und Mitgliedschaften. So ist keine langfristige Verpflichtung nötig
und Mitgliedsbeiträge entfallen. Im Vergleich zu spontanen und einmaligen Aktio-
nen weisen sie jedoch ein höheres Maß an Kontinuität auf (Roth und Rucht 2002).
Trotz dieses Unterscheidungsmerkmals sind die Übergänge zwischen NSB und
anderen Beteiligungsformen fließend. Die Abgrenzung zur institutionalisierten Poli-
tik verwischt dabei in den letzten Jahren, denn in einigen NSB-Gruppen zeigten sich
Tendenzen zur Institutionalisierung. So entstanden z. B. hierarchisch gegliederte
Mitgliederorganisationen. Diese Entwicklung einer Bewegung hin zu institutionali-
sierten Formen ist keineswegs neu, sondern hat eine historische Tradition. Bewe-
gungen m€ undeten nicht selten in Organisationen, beispielsweise die Arbeiterbewe-
gung, aus der sich nach Institutionalisierungsprozessen die Gewerkschaften und die
Sozialdemokratische Partei gr€undeten. Aktuell sind die GRÜNEN das beste Beispiel
f€ur diese Institutionalisierungsprozesse.
Die Entwicklung der Organisationsformen spiegelt sich in den Aktionsformen
wider. NSB versuchten in ihren Anfängen, gesellschaftliche Veränderungen durch
vielfältige Aktivitäten außerhalb der institutionalisierten Politik zu erreichen. Diese
reichten von Selbsthilfegruppentreffen €uber Unterschriftensammlungen, Sit-Ins,
theatralischen Inszenierungen, lokalen B€urgerinitiativen bis zu koordinierten Mas-
sendemonstrationen mit mehreren hunderttausend Teilnehmern (z. B. McAdam
et al. 2005). Heute professionalisieren sich NSB-Gruppen immer stärker und greifen
zunehmend zu Aktionsformen, welche in der Lobby-Politik bekannt sind,
z. B. informelle Kontakte mit Ministern, Parlamentsabgeordneten und Vertretern
der Ministerialb€ urokratien oder Medienvertretern (Della Porta und Diani 1999,
S. 238).

3.3 Funktionen

In Transformationsprozessen sowie in konsolidierten Demokratien u€bernehmen


NSB in erster Linie die Funktion der Interessenvermittlung. Sie b€undeln politische
Forderungen und tragen sie in die Öffentlichkeit sowie in das politische Entschei-
dungssystem hinein, womit sie als eine Art Fr€uhwarnsystem fungieren. Inwiefern
diese Funktionen in nicht-demokratischen Systemen zum Tragen kommen können,
hängt davon ab, in welchem Umfang Assoziationen gebildet werden können, Wil-
lensbildungsprozesse außerhalb staatlicher Kontrolle erlaubt und öffentliche Wil-
lensbekundungen möglich sind.
In neueren Studien wird weiterhin auf die sozialisierende Funktion von NSB
verwiesen. Ähnlich wie in der ZG könnten in NSB demokratische Tugenden,
z. B. deliberative und argumentative Fähigkeiten, geschult werden (Della Porta
2009).
Zivilgesellschaft und soziale Bewegungen in der Vergleichenden. . . 535

Aktuelle Entwicklungen wie die seit 2014 aufkommende Pegida-Bewegung


verweisen jedoch auch auf Gefahren. Pegida und ähnliche Protestbewegungen eines
enttäuschten und häufig von Abstiegsangst getriebenen B€urgertums können auch die
Verstärkung rechtsextremer und fremdenfeindlicher Positionen mit sich bringen
(Nachtwey 2015). Allerdings steht die Forschung zu diesem diffusen und vielge-
staltigen Phänomen noch am Anfang, und die Datenlage ist d€urftig (WZB Autoren-
team 2015).

3.4 Forschungsansätze und aktuelle Tendenzen

Mittlerweile kann die vergleichende Bewegungsforschung auf einen breiten Fundus


an Forschungsansätzen zur€uckgreifen, wobei Fragen nach Entstehungs- und Ver-
laufsbedingungen, nach Strategien sowie nach Wirkungen und Erfolgen im Mittel-
punkt stehen.
Ältere Erklärungsansätze zum Entstehen sozialer Bewegungen stammten aus der
Sozialpsychologie und gingen vor allem auf Gustave LeBons Werk zur „Psycholo-
gie der Massen“ (1912) zur€uck. Zentral bei diesem Ansatz war die Annahme der
Irrationalität kollektiven Handelns, welches entsteht, wenn Menschen sich aus irra-
tionalen Gr€ unden mit ihren Emotionen gegenseitig „anstecken“, z. B. bei Massen-
hysterien oder bei faschistischen Massenkundgebungen. Nachfolgende Ansätze sind
jedoch dazu € ubergegangen, kollektives Handeln als rationales Handeln zu betrachten
(z. B. Opp 1996). Krisenansätze heben den Einfluss gesamtgesellschaftlicher Fakto-
ren auf die Entstehung sozialer Bewegungen hervor. Soziale Bewegungen gelten aus
dieser Sicht als Ausdruck und Folge von gesellschaftlichen Widerspr€uchen, Span-
nungen (z. B. Raschke 1985) und Legitimitätskrisen bzw. als Folge der zunehm-
enden Entfremdung der B€urgerinnen und B€urger von der liberal-repräsentativen
Demokratie (zur Debatte: Opp 1996, S. 224). Modernisierungsansätze wiederum
erklären NSB mit Bildungsexpansion, Verbesserung der ökonomischen Ressourcen
und Wertewandel.
Spätere Ansätze versuchen €uber die Entstehung hinaus den Erfolg von NSB zu
erklären. Der Ressourcenmobilisierungsansatz (RMA), welcher in den USA ent-
wickelt wurde und die amerikanische Diskussion seit den 1970er-Jahren dominierte,
erklärt die (Entstehung und Mobilisierungs-)Erfolge von sozialen Bewegungen
durch Gruppen- und Organisationsressourcen (Tilly 1978). Dabei geht es um den
strategischen Einsatz von Ressourcen zur Erreichung der jeweiligen Ziele.
Das Konzept politischer Gelegenheitsstrukturen („Political Opportunity Structu-
re“, POS) hebt demgegen€uber „die gruppenexternen Ressourcen und deren Bedeu-
tung f€ur kollektives Handeln aller Art – und nicht nur die Ressourcen von Bewe-
gungsorganisationen – hervor“ (Tarrow 1991, S. 651). Entstehen, Struktur, Ausmaß
und Erfolg von sozialen Bewegungen werden erklärt mit den politischen Charakte-
ristika (Gelegenheitsstrukturen und Beschränkungen) der Kontexte in welche sie
eingebettet sind (z. B. Eisinger 1973). Tarrow (1991) stellt vier Arten von Bestim-
mungsfaktoren heraus, die er als die zentralen Variablen der POS beschreibt:
Der Grad der Offenheit oder Geschlossenheit formaler politischer Institutionen
536 B. Geißel und M. Freise

gegen€ uber der Partizipation von „Gruppen an den Rändern des Institutionensys-
tems“, häufig wechselnde Regierungs- und Oppositionsparteien, die Wahrnehmung
einflussreicher Verb€undeten sowie politische Konflikte zwischen Eliten (Tarrow
1991, S. 652–653). Im Zusammenhang mit dem Ansatz der Gelegenheitsstrukturen
ist weiterhin der Political-Process-Ansatz zu nennen. Dieses vor allem von Tilly
(1978) und McAdam (1983) ausgearbeitete Konzept betont den Zusammenhang
zwischen institutionalisierter Politik und sozialen Bewegungen (z. B. Della Porta
und Diani 1999, S. 9–11) sowie die Interaktionen von Bewegungen und deren
Bezugsgruppen.
Im Framing-Ansatz werden Strategien von NSB untersucht, gesellschaftliche
Ereignisse so zu „rahmen“ und zu interpretieren, dass Mobilisierung gelingt (Snow
et al. 1986). Beispielsweise wurde die Abtreibungsdebatte in verschiedenen Staaten
mit unterschiedlichen Deutungsmustern „gerahmt“, in den USA etwa als individuel-
les Wahlrecht („pro choice“) und in der Bundesrepublik als Frauenrecht („Mein
Bauch gehört mir“). (Mobilisierungs-)Erfolge sind aus dieser Perspektive abhängig
vom passenden „Framing“.
Seit einigen Jahren zeichnen sich Weiterentwicklungen im Zuge von Globalisie-
rungsprozessen ab. NSB agieren zunehmend transnational und diese Entwicklung
spiegelt sich in aktuellen Forschungsansätzen wider. Dabei lassen sich drei Ansätze
unterscheiden. Eine erste Kategorie umfasst normativ argumentierende Publikatio-
nen, die in transnationalen Bewegungen (einschließlich zivilgesellschaftlicher As-
soziationen) die Hoffnung auf eine „bessere Welt“ setzen. Die zweite Art an Publi-
kationen umfasst vergleichende Studien mit einer stärker analytischen Perspektive,
häufig mit Fokus auf die globalisierungskritischen Bewegungen (‚global justice
movements‘; Andretta et al. 2003). Die dritte Kategorie umfasst Studien, die sich
auf NSB-Aktivitäten im Kontext eines spezifischen Themas konzentrieren, z. B. zu
Landminen, und häufig wenig Forschungstheoretisches beitragen.

3.5 Vergleichende Datenquellen und ausgewählte Befunde

Daten zu NSB werden in der Regel aus zwei Quellen gewonnen. Zum einen bezieht
sich die NSB-Forschung auf Survey-Daten, zum anderen auf Dokumente, wie
beispielsweise Presseberichte. Survey-Daten liegen vor seit der Political Actions
Studie (Barnes et al. 1979) und haben in den letzten Jahren einen enormen Boom
erfahren, z. B. mit dem World Values Survey. Diese Umfragen weisen darauf hin,
dass weltweit eine seit den 1970er-Jahren kontinuierlich anwachsende Anzahl an
Personen in verschiedenen NSB partizipiert.3 Beispielhaft werden in Tab. 2 Daten
zur Beteiligungsformen der NSB in Großbritannien, Deutschland und Frankreich
dargestellt.

3
Zur vergleichenden politischen Partizipationsforschung siehe auch den Beitrag von van Deth in
diesem Band.
Tab. 2 Teilnahme an Beteiligungsformen der NSB (Angaben in Prozent)
Großbritannien Deutschland Frankreich
1974 1981 1990 2000 2008 1974 1981 1990 2000 2008 1981 1990 2000 2008
Unterschriften sammlung 22 63 75 79 66 30 46 55 51 48 44 51 68 66
Genehmigte Demonstration 6 10 13 13 16 9 14 25 27 30 26 31 40 37
Boykott 5 7 14 17 10 4 7 9 10 7 11 11 13 8
Wilder Streik 5 7 8 10 n.a. 1 2 2 2 n.a. 10 9 13 n.a.
Hausbesetzung 1 2 2 2 n.a. <1 1 1 <1 n.a. 7 7 9 n.a.
Gewalt gegen Sachen 1 2 n.a. n.a. n.a. <1 1 n.a. n.a. n.a. 1 n.a. n.a. n.a.
Gewalt gegen Personen <1 1 n.a. n.a. n.a. <1 1 n.a. n.a. n.a. 1 n.a. n.a. n.a.
Quelle: Daten 1974 – 2000 berechnet von Rucht (2005) u. a. auf Basis Political Action Study (1974/5) und World Values Survey (1981, 1990/1991); Daten 2008
ergänzt von den Autoren auf Basis World Value Survey (2008)
Zivilgesellschaft und soziale Bewegungen in der Vergleichenden. . .
537
538 B. Geißel und M. Freise

Tabellarisch nicht abgebildet ist das NSB-Partizipationsverhalten in anderen


europäischen Ländern. Schweden ist der kontinuierliche Spitzenreiter, gefolgt von
Norwegen, Island und Finnland. In diesen Ländern engagieren sich die B€urgerinnen
und B€ urger stark an den NSB-nahen Beteiligungsformen (Westle 2004). Die Betei-
ligung in den postsozialistischen Ländern liegt im Durchschnitt unterhalb der Werte
der westeuropäischen Länder. Dabei sind allerdings die Werte zwischen den post-
sozialistischen Ländern sehr unterschiedlich. Während beispielsweise die Beteili-
gung in Russland nach dem Systemwechsel abnahm, nahm sie in Ungarn zu.
Eine andere Variante, Daten €uber die Verbreitung von NSB zu ermitteln, ist die
Analyse von NSB-Aktivitäten. Einige Autoren beziehen sich beispielsweise auf
Polizei-Akten zu Demonstrationen und ähnlichen Events oder auf Medienberichte.
In der Bundesrepublik wird seit 1992 die ‚Dokumentation und Analyse von Protest-
ereignissen in der Bundesrepublik Datenbank‘ (PRODAT) zu Protestereignissen seit
1950 durchgef€ uhrt, welche Presseberichte auswertet. In den folgenden Jahren wurde
diese Vorgehensweise von Forschungsteams aus dem Ausland €ubernommen, z. B. in
den USA (Rucht und Neidhardt 1998).

4 Zusammenfassung

In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten wurde erkennbar, dass ZG und NSB in
Transformationsgesellschaften sowie in Demokratien nicht nur in der Leistungser-
bringung, sondern auch hinsichtlich ihrer politischen Funktionen immer wichtiger
werden. Aktuelle Entwicklungen verweisen darauf, dass die Bedeutung in den
nächsten Jahren zunehmen wird (z. B. Arabischer Fr€uhling, Stuttgart 21, Pegida).
Das hat vor allem zwei Gr€unde: In vielen autoritär gef€uhrten Staaten lassen sich
Bewegungen in Zeiten neuer sozialer Medien wie dem Internet immer schwerer im
Zaum halten. Und in den etablierten Demokratien des Westens lässt sich gegenwär-
tig ein allgemeines Unbehagen an der vermeintlich verknöcherte Repräsentativ-
demokratie feststellen, welches zum Aufflackern vielfältiger ZG- und NSB-Aktivi-
täten f€
uhrt.
Angesichts dieser – unterschiedlichen – demokratischen Herausforderungen wer-
den ZG und NSB häufig als Garant f€ur Demokratie und als Gegenentwurf zu
sklerosierten Strukturen in nicht-demokratischen sowie in demokratischen Systemen
dargestellt. Die Beziehungen zwischen ZG, NSB, Staat und Demokratie sind jedoch
komplex und vielschichtig – und gestalten sich je nach nationalstaatlichem und
internationalem Kontext unterschiedlich. Deshalb sollten sich die Sozialwissen-
schaften h€uten, ZG und NSB pauschal als demokratische Hoffnungsträgerinnen zu
€uberzeichnen. Zwar sind sie f€ur das Funktionieren einer Demokratie unerlässlich,
gleichwohl können in ihnen auch autoritäre, exkludierende und unsolidarische
Verhaltensmuster heranwachsen, wie beispielsweise die Pegida-Bewegung zeigt.
Welche (demokratieförderlichen) Funktionen NSB und ZG in welchen Kontexten
und unter welchen Bedingungen €ubernehmen (können) – diese empirische Frage
wird die Vergleichende Politikwissenschaft noch einige Zeit beschäftigen.
Zivilgesellschaft und soziale Bewegungen in der Vergleichenden. . . 539

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Politische Kultur in der Vergleichenden
Politikwissenschaft

Susanne Pickel und Gert Pickel

Zusammenfassung
Das Forschungsinteresse der politischen Kulturforschung gilt der Kongruenz von
politischer Kultur und politischer Struktur sowie der Legitimität politischer
Systeme. Ziel ist die Bestimmung und Erklärung der Vorbedingungen politischer
Stabilität. Politische Kultur beschreibt die subjektive Seite von Politik und wird
als ein B€ undel an Einstellungen und Werten verstanden, das auf verschiedene
politische Objekte ausgerichtet ist. Die politische Kulturforschung schließt an die
Systemtheorie an, besitzt einen streng analytischen Charakter sowie eine empi-
rische Ausrichtung, die eine Untersuchung sowohl von Demokratien als auch
Autokratien zulässt. Sie ist in hohem Maße komparativ angelegt und gilt als ein
zentraler konzeptioneller Ansatz der Vergleichenden Politikwissenschaft. Als
Grundlage dienen komparative Bevölkerungsumfragen.

Schlüsselwörter
Vergleichende Politikwissenschaft • Demokratie • Politische Kultur • Legitimität

S. Pickel (*)
Professorin f€ur Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Vergleichende Politikwissenschaft,
Institut f€ur Politikwissenschaft, Universität Duisburg-Essen, Duisburg, Deutschland
E-Mail: susanne.pickel@uni-due.de
G. Pickel
Professor f€ur Religions- und Kirchensoziologie, Institut f€
ur Praktische Theologie, Universität
Leipzig, Leipzig, Deutschland
E-Mail: pickel@rz.uni-leipzig.de

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 541


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_41
542 S. Pickel und G. Pickel

1 Einleitung – Politische Kultur und Vergleichende


Politikwissenschaft

In der Anfangszeit der Politikwissenschaft setzte sich die Analyse politischer Sys-
teme hauptsächlich mit politischen Institutionen und strukturellen Rahmenbedin-
gungen politischen Handelns auseinander. Der B€urger kam in diesen Betrachtungen
häufig nur am Rande vor und spielte f€ur das politische Geschehen eine eher unter-
geordnete Rolle. Die historisch ausgerichteten institutionalistischen und systemtheo-
retischen Ansätze sahen B€urger €uberwiegend als von Außenbedingungen determi-
niert und entsprechend in ihren Handlungen (und damit auch in ihren politischen
Wirkungen) als beschränkt an. In den 1960er-Jahren f€uhrten Erfahrungen aus For-
schungsarbeiten des Behaviorismus sowie der Entwicklungsländerforschung zu
einem gewissen Umdenken. In Erweiterung der Grundgedanken der Systemtheorie
von Talcott Parsons (1951; Parsons/Shils 1951), entwickelten verschiedene angel-
sächsische Politikwissenschaftler (Gabriel Almond, David Easton, Seymour
M. Lipset, Sidney Verba) Konzepte, die von einem größeren Einfluss der B€urger
auf Stabilität und Wandel politischer Systeme ausgingen. Diese Konzepte wurden in
der Folgezeit unter dem Ansatz der politischen Kulturforschung zusammengefasst.
Er beinhaltet eine Vielzahl theoretischer Überlegungen, konzeptioneller Annahmen
und empirischer Analysen.Uneinigkeit besteht darin, ob es sich um eine geschlos-
sene Theorie oder ein B€undel von Annahmen und Ansätzen handelt. Mehrheitlich
hat sich in den letzten Jahrzehnten jedoch seine Beurteilung als relativ geschlossener
analytischer Forschungsansatz durchgesetzt, der Grundannahmen f€ur die verglei-
chende empirische Analyse politischer Systeme liefert. Als verbindendes Ziel aller
darin zusammengefassten Überlegungen gilt, dass sich die politische Kulturfor-
schung zur Aufgabe macht, Aussagen €uber die Verankerung der politischen Systeme
in ihren Gesellschaften vorzunehmen.
Zur Ausbreitung der politischen Kulturforschung haben unterschiedliche Aspekte
beigetragen: (1) Zum ersten etablierte sich eine gestiegene Sensibilität f€ur kulturelle
Entwicklungen in Gesellschaften und f€ur die politischen Einstellungen der B€urger.
So zeigte sich, dass sich viele politische Entwicklungen eben nicht allein aus
objektiven Rahmenbedingungen erklären ließen. Zum Teil waren sie Folge politi-
scher Handlungen der B€urger, die in erheblichem Umfang subjektiven Wahrneh-
mungen der Rahmenbedingungen unterworfen waren. Gerade die Protestbewegun-
gen der 1960er-Jahre wiesen auf potentielle Diskrepanzen zwischen den
vorherrschenden politischen Strukturen und den Vorstellungen der B€urger hin, die
politische Sprengkraft und auch gesellschaftlichen Veränderungsdruck mit sich brach-
ten. (2) Durch diese Entwicklungen kamen verstärkt Prozesse der Individualisierung
und der zunehmenden Handlungsautonomie der B€urger in den Blick. Der Behavioris-
mus widmete sich den Einstellungen und Handlungen der B€urger und trug zu wissen-
schaftlichen Rezeptionsgewinnen der politischen Kulturforschung bei. (3) Relevant
war und ist die methodische Weiterentwicklung der vergleichenden Surveyforschung.
Sie sorgte f€ur belastbare Information €uber das zentrale Ziel der politischen Kultur-
forschung, Einstellungen und Werte der B€urger, und ermöglichte €uber diesen Erkennt-
nisgewinn hinaus kulturvergleichende Perspektiven. (4) Als Triebkraft ebenfalls nicht
Politische Kultur in der Vergleichenden Politikwissenschaft 543

zu unterschätzen ist die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu beobachtende
Ausbreitung demokratischer politischer Systeme (ob nun linear oder in Demokratisie-
rungswellen). Da in Demokratien den B€urger eine wesentlich höhere Bedeutung f€ur das
politische System zugestanden wird als in anderen Regimetypen, förderte die Verbrei-
tung dieses Regimetyps auch das Interesse an den politischen Überzeugungen seiner
B€urger.
Die Bedeutung der zeitweise zunehmenden Verbreitung demokratischer politi-
scher Regime f€ ur die Ausbreitung der politischen Kulturforschung wird dadurch
gest€
utzt, dass sich das, seit den 1980er-Jahren kurzzeitig etwas erlahmte, Interesse an
den politischen Einstellungen der B€urger seit Beginn der Transformationen in
Lateinamerika und Osteuropa erheblich revitalisiert hat. Fragen nach der (zuk€unfti-
gen) Stabilität junger Demokratien, der Bedeutung der Bevölkerung im Rahmen des
Institutionenbildungsprozesses (der teilweise ja auch ein Staatenbildungsprozess
war) und das gestiegene Interesse an differenzierteren Analysen demokratischer
Systeme verhalf der politischen Kulturforschung zu einer bis heute wichtigen
Funktion in der Bestimmung der Stabilität (und oft auch Qualität) von Demokratien
in vergleichender Perspektive. Dieser Relevanzgewinn zeigt sich in der Responsi-
vität anderer theoretischer Zugänge f€ur verschiedene Aspekte der politischen Kultur.
So integrierten der Neoinstitutionalismus wie auch Varianten der Rational Choice-
Theorie mittlerweile kulturelle Elemente in ihre Ansätze (Lauth et al. 2014).

2 Der Begriff politische Kultur – immer noch ein Pudding?

Was erfasst der Begriff der politischen Kultur €uberhaupt? Hier€uber entz€undete sich
bereits zu Beginn der politischen Kulturforschung einige Kritik. Max Kaase (1983)
äußerte mit Blick auf das Konzept der politischen Kulturforschung, dass der Ver-
such, den Begriff „politische Kultur“ zu fassen, dem Unterfangen gleicht, einen
Pudding an die Wand nageln zu wollen. Die Definition wie auch die Verwendung des
Begriffs durch verschiedene Forscher variiere so stark, dass von einem einheitlichen
Konzept keine Rede sein könne. Diese skeptische Betrachtungsweise ist mittlerweile
weitgehend € uberwunden (Salzborn 2011). In der Vergleichenden Politikwissenschaft
hat sich eine Begriffsfassung von politischer Kultur durchgesetzt, die analytisch und
auf empirische Überpr€ufbarkeit ausgerichtet ist. Politische Kultur sind in diesem
Verständnis die auf politische Objektive ausgerichteten Einstellungen und Wert-
orientierungen der B€urger (Easton 1975).
Damit sind es subjektive Haltungen, die eine politische Kultur konstituieren. Der
politischen Kulturforschung geht es jedoch nicht um die Einstellungen des Einzel-
b€urgers f€
ur sich, sondern um das Kollektiv und dessen repräsentative Überzeugun-
gen.1 Eine politische Kultur ist entsprechend ein B€undel aus Einstellungen und

1
Dies schließt nicht aus, dass individuelle Orientierungen f€
ur die politische Kulturforschung von
Interesse sind, sie werden innerhalb der Länder mit Blick auf spezifische Beziehungsmuster zu
anderen Einstellungen oder Umfeldbedingungen untersucht.
544 S. Pickel und G. Pickel

Werten der B€ urger eines Gebietes oder Kollektivs (Almond und Verba 1963). Unter-
schiede der politischen Kultur(en) zwischen Subgruppen von Gesellschaften erhal-
ten dann Bedeutung, wenn es um den Erhalt oder die Gefährdung des politischen
Systems geht. Kurz gesagt: Das zentrale Ziel der politischen Kulturforschung ist die
Erfassung „subjektiver“ Rahmenbedingungen, d. h. der politischen Kultur einer
Gesellschaft, die die Stabilität eines politischen Systems fördern oder gefährden.
Dieses analytische Begriffsverständnis unterscheidet sich strikt von einem normati-
ven oder alltäglichen Verständnis von politischer Kultur.2 Das Alltagsverständnis
deutet politische Kultur im Sinne politischer Umgangsformen oder Politikstile und
beurteilt dabei angestellte Beobachtungen zumeist unter einem wertenden Aspekt
(Verstoß, Mangel, Verlust usw.). Im Sinne der (klassischen) politischen Kulturfor-
schung beinhaltet politische Kultur aber keine Wertung, sondern sie ist eine neutrale
Bezeichnung geb€undelter Einstellungen. Entsprechend hat auch jedes Land eine
bestimmte politische Kultur, die Frage ist nur, welche Ausprägung sie besitzt und
in welchem Verhältnis sie zur politischen Struktur steht.
F€ur dieses Verhältnis zwischen Kultur und Struktur stellt die politische Kultur-
forschung Annahmen auf: Fehlt eine zumindest positiv-neutrale Haltung gegen€uber
dem politischen System, dann unterliegt dieses im Krisenfall (egal, ob dieser ökono-
misch, politisch oder sozial ist) der Gefahr eines Zusammenbruchs (Lipset 1981). Die
B€urger sind immer weniger bereit, aktiv f€ur das gegenwärtige System einzutreten und
den bestehenden Regeln und Normen zu folgen. Die politische Struktur wandelt sich
(Reform) oder es kommt zu einem Zusammenbruch (Kollaps, Revolution). Aber auch
die politische Struktur, zum Beispiel das Institutionensystem, den Erwartungshaltun-
gen der B€ urger gerecht werden. Zentraler Bezugspunkt f€ur die Stabilität eines politi-
schen Systems ist die Kongruenz von politischer Kultur und Struktur. Demokratische
Institutionen benötigen zum Beispiel eine demokratische politische Kultur, um sich
entfalten zu können und adäquat zu funktionieren. Dies impliziert ein gewisses
Wohlwollen der B€urger gegen€uber der Struktur ihres demokratischen Systems und
die Akzeptanz demokratischer Grundwerte wie auch die Einhaltung der demokrati-
schen Regeln durch die politischen Eliten. Nicht immer muss die ganze Bevölkerung
die Einstellungen teilen, allerdings zielen die Annahmen der politischen Kulturfor-
schung auf die Überzeugungen der Mehrheitsbevölkerung oder zumindest politisch
besonders relevanter Gruppen von einer hinreichenden Gruppengröße. Zum Beispiel
sollten mindestens 75 Prozent der Bevölkerung demokratische politische Überzeugun-
gen besitzen, damit eine Demokratie auch Krisenphasen €ubersteht. Nur wenn keine
größeren Gruppen von etwa 15 Prozent der Bevölkerung in einer Demokratie existie-
ren, die sie ablehnen oder – noch problematischer – aktiv gegen sie vorgehen, ist ihr
Überleben € uber eine längere Zeit zu erwarten (Diamond 1999).
Aus den bisherigen Ausf€uhrungen wird deutlich, dass die politische Kulturfor-
schung von ihrem Beginn an vor dem Hintergrund demokratischer Systeme gedacht
wurde. Zwar verweisen nahezu alle Ansätze der politischen Kulturforschung auf die

2
Völlig zu unterscheiden ist der Kulturbegriff von einem Hochkulturverständnis, welches sich auf
den Bereich der K€unste bezieht.
Politische Kultur in der Vergleichenden Politikwissenschaft 545

allgemeine Anwendbarkeit des Konzeptes und schließen autokratische politische


Systeme ein, effektiv erwies es sich aber vor allem bei der Anwendung auf demo-
kratische Systeme oder politische Systeme, die bereits auf dem Weg zur Demokratie
waren (Transformationsstaaten). Hierf€ur sind verschiedene Gr€unde ausschlagge-
bend. Zum einen ist die Relevanz des B€urgers f€ur das Überleben des Regimes in
Autokratien eingeschränkt. Der politische Einfluss der Regierten ist begrenzt,
wohingegen Demokratien die Beteiligung des B€urgers schon in ihre Grundkonzep-
tion aufnehmen setzen – und sogar auf die Partizipation der B€urger, z. B. an Wahlen,
angewiesen sind. Nichtsdestoweniger geht die politische Kulturforschung davon
aus, dass auch Autokratien eine korrespondierende politische Kultur f€ur ihren
Systemerhalt benötigen. Hier ergeben sich aber methodische Folgeprobleme: Die
zur Erfassung der politischen Kultur notwendigen Umfragen können in autokrati-
schen Systemen in gleicher Weise wie in Demokratien durchgef€uhrt werden: Werden
sie €
uberhaupt durch die Herrschenden gestattet, dann erschweren mögliche und nicht
kalkulierbare Effekte sozialer Erw€unschtheit eine verlässliche Messung der Haltun-
gen zu politischen Ordnungen (und insbesondere zu Aspekten der Demokratie). Um
Aussagen € uber die politischen Kulturen treffen zu können, benötigt man aber valide
Ergebnisse. Entsprechend sind gerade in autokratischen oder hybriden Regimen
erzielte Umfragedaten mit besonderer Vorsicht und Reflexion zu interpretieren.

3 Konzepte der politischen Kulturforschung

3.1 Die Civic Culture Typologie als Ausgangspunkt der


politischen Kulturforschung

Ausgangspunkt der analytischen Untersuchung des Phänomens „politische Kultur“


ist die 1959 von Gabriel Almond und Sidney Verba (1963, 1980) durchgef€uhrte
Untersuchung der politischen Kulturen von f€unf Nachkriegsstaaten (USA, Groß-
britannien, Italien, Bundesrepublik Deutschland und Mexiko). In der „Civic
Culture“-Studie wurde auf Basis einer Zusammenf€uhrung theoretischer Überlegun-
gen, historisch-konfigurativer Begr€undungen und Umfrageergebnissen eine Grund-
typisierung von „politischen Kulturen“ herausgearbeitet. Sie ist das Resultat aus der
Konfiguration der Rollenstrukturen von B€urgern und Herrschenden im Verhältnis
zur politischen Struktur. Almond und Verbas zentrale Frage war die nach der
Stabilität eines politischen Systems, die sie aus dem Verhältnis von Struktur und
Kultur ableiteten (Pickel und Pickel 2006, S. 66–69). Als politische Kultur ver-
standen sie die gesammelten auf das politische System ausgerichteten Einstellungen
und Wertorientierungen der B€urger eines Landes. Die Einstellungen und Wertorien-
tierungen sind die Folge historischer Prozesse und kollektiv ähnlicher individueller
Sozialisation. Aus der Trägheit dieser Entwicklungen lässt sich auf eine relativ hohe
Dauerhaftigkeit der politischen Kultur schließen.
Almond und Verba (1963) differenzieren politische Überzeugungen in vier Ziel-
bereiche: (1) Erster Bezugspunkt ist das Selbstbild des B€urgers (Ego) innerhalb des
politischen Systems. Es reflektiert die eigenen politischen Überzeugungen, wie zum
546 S. Pickel und G. Pickel

Tab. 1 Dimensionen politischer Überzeugungen


Zielbereiche oder Objekte System as Input Output Self as
politischer Orientierungen General Object Objects Objects Object (Ego)
Cognition (kognitive Dimension) 1 1 1 1
Affect (affektive Dimension) 1 1 1 1
Evaluation (bewertende 1 1 1 1
Dimension)
Typen politischer Kultur
Parochial Culture 0 0 0 0
Subject Culture 1 0 1 0
Participant Culture 1 1 1 1
Quelle: Eigene Kombination nach Almond und Verba (1963, S. 16–17.); Der Wert 1 bedeutet das
Vorhandensein dieser Orientierung in der betrachteten politischen Kultur; 0 bedeutet ein Fehlen
dieser Orientierung in einer politischen Kultur.

Beispiel politisches Interesse oder politisches Wissen. Diese Einstellungen entwi-


ckeln sich zuerst relativ unabhängig vom politischen System eines Landes und
weisen kein konkretes politisches Objekt als Ziel auf. (2) Dies unterscheidet sie
von dem f€ ur die Demokratieforschung zentralen Orientierungspunkt der Einstellun-
gen gegen€ uber den strukturellen Charakteristika des politischen Systems. Die
Gesamtbewertung der herrschenden Ordnung bezieht sich auf die politischen Struk-
turbedingungen (z. B. die Demokratie als Regierungsform, die politischen Institu-
tionen an sich). Beide Überzeugungskomplexe werden begleitet von Haltungen zu
den Wechselbeziehungen zwischen Ego und dem politischen System: der Input- und
der Outputbewertung. (3) Die Inputbewertung bezieht sich auf die Bewertung der
Teilhabe des B€ urgers am politischen Leben und seine Möglichkeit, in einer Demo-
kratie etwas (Konstruktives) bewirken zu können. Die Orientierungen sind nicht auf
die eigenen Aktivitäten, sondern darauf ausgerichtet, ob und wenn ja, welche
Strukturen f€ur ein mögliches Engagement existieren. (4) In der Outputbewertung
wird die Leistungsfähigkeit der politischen Autoritäten und des politischen Regimes
beurteilt. Dabei entstehen Orientierungen gegen€uber konkreten Ergebnisse des po-
litischen Handelns innerhalb des Systems.
Diese Orientierungen entstehen selbst bei einer größeren Distanz zum politischen
System. Mit der kognitiven Komponente wird das Wissen der B€urger €uber bestimmte
Zusammenhänge des jeweiligen Objektbereichs angesprochen, affektive Orientie-
rungsmuster beschreiben Gef€uhle und evaluative Bewertungen umfassen die Be-
wertungen der Objekte. Die Verteilung der Orientierungsformen in der Bevölkerung
definiert die politische Kultur eines Landes (siehe Tab. 1), verbindet die individuel-
len Orientierungen der B€urger (Kognitionen, Evaluationen und affektive Orientie-
rungen) mit politischen Objekten (System, Ego, Output, Input) und ermöglicht eine
Abbildung der politische Kultur auf der Aggregatebene.
Aus den unterschiedlichen Kombinationen von Orientierungsformen und Ziel-
objekten ergeben sich unterschiedliche Typen von politischen Kulturen (Almond
und Verba 1963, S. 16–20; Tab. 1). In der Parochial Culture ist die Beziehung
zwischen B€ urgern und politischem System durch wechselseitige „Nichteinmi-
Politische Kultur in der Vergleichenden Politikwissenschaft 547

schung“ geprägt. Der B€urger ist an Politik uninteressiert, politisch kenntnisarm,


inaktiv und besetzt keine politischen Rollen. Gleichzeitig stellt er auch keine Erwar-
tungen an das politische System und f€uhrt die Vorhaben der Regierung aus, ohne
intensiv dar€uber nachzudenken. Beispiel sind Stammes- und Feudalkulturen mit
uneingeschränkter (teils göttlich gegebener) Autorität der Herrschenden. In der
Subject Culture beurteilt der B€urger die Leistungen der herrschenden Eliten (Output)
und das politische System als Gesamtheit. Sich selbst sieht er nicht als politischen
Akteur und nimmt (auch wenn politisch kompetent sein kann) den politischen
Prozessen gegen€ uber eher Distanz und eine passive Haltung ein. Als Beispiel kann
das deutsche Kaiserreich mit seiner „Untertanenkultur“ dienen. In der Participant
Culture besitzen die B€urger ein grundlegendes politisches Wissen, nehmen an der
Entwicklung des Systems teil und bringen sich konstruktiv ein.
Alle diese Typen politischer Kultur sind theoretisch konstruierte Idealtypen. Ihr
Auftreten in Reinform ist in der Realität unwahrscheinlich. Almond und Verba
ergänzen sie durch vier Typen „of systematically mixed political cultures“ (Almond
und Verba 1963, S. 23): Der Parochial-Subject Culture, der Subject-Participant
Culture der Parochial-Participant Culture und der Civic Culture (Pickel und Pickel
2006, S. 63–65). In der Civic Culture finden sich starke partizipative Orientierun-
gen, ein positives Einstellungsgef€uge hinsichtlich der Strukturen des politischen
Systems und der politischen Prozesse, aber interessanterweise auch Elemente der
Untertanenkultur. Nicht die Participant Culture, sondern der Mischtyp der Civic
Culture wird dabei zum Vorbild f€ur demokratische Systeme. Die nicht-partizipativen
Elemente der politischen Kultur gewährleisten durch ihre Folgebereitschaft die
Regierbarkeit eines politischen Systems. Wenig €uberraschend sind Ähnlichkeiten
zur amerikanischen Demokratie zu erkennen, was gelegentlich als Kulturdetermi-
nismus dieses Ansatzes kritisiert wird.
Almond und Verba bezeichnen die Kongruenz von politischer Kultur und politi-
scher Struktur als entscheidend f€ur die Stabilität des politischen Systems. Diese
Kongruenz schafft eine Verbundenheit (allegiance) der B€urger mit dem System und
st€
utzt es dadurch. Davon zu unterscheiden sind die, das politische System destabi-
lisierenden Einstellungsmuster Apathie (apathy) und Entfremdung (alienation) (vgl.
Almond und Verba 1963, S. 22, 493–500), (Tab. 2). Alle drei Formen sind wieder
als idealtypische Beziehungen zu den einzelnen Orientierungsdimensionen zu ver-

Tab. 2 Kongruenz und Inkongruenz von Kultur und Struktur


Self as
Form der System as Input Output Object
Kongruenz General Object Objects Objects (Ego) Systemzustand
Allegiance +1 + 1 + 1 +1 + 1 + 1 +1 + 1 + 1 +1 + 1 + 1 Stabilität
Apathy +1 0 0 +1 0 0 +1 0 0 +1 0 0
Alienation +1-1-1 +1-1-1 +1-1-1 +1-1-1 Instabilität
Quelle: Eigene Kombination nach Almond und Verba 1963; (Pickel und Pickel 2006, S. 67);
uber den politischen Objekten: +1 = positive Haltung; 0 = keine Beziehung;
Orientierungen gegen€
-1 = negative Haltung. Die drei Werte pro Zelle beziehen sich auf die drei Dimensionen aus Tab. 1:
1. Wert = kognitive Beziehung; 2. Wert = affektive Beziehung; 3. Wert = evaluative Beziehung.
548 S. Pickel und G. Pickel

Effekvität

+ -

+ A B
Legimität
- C D

Abb. 1 Raster f€ur eine Typologisierung von Ländern nach Seymour M. Lipset. Quelle: Lipset
(1981, S. 68)

stehen, die in ihrer Ausprägung variieren können. So ist es realistisch, dass es


Bevölkerungsgruppen gibt, die kein tieferes Wissen €uber politische Prozesse besit-
zen, aber doch Antisystemneigungen ausgebildet haben. Gerade solch eine Perso-
nengruppe ist f€
ur das politische System gefährlich.

3.2 Legitimität und Effektivität – zwei Seiten der politischen


Kultur

Die Verbindung zwischen psychologischen Elementen der Individualebene und der


Makroperspektive wurde von Seymour M. Lipset (1959, 1981) ausgebaut. Lipset
versucht stärker als Almond und Verba, die Wirkung der konkreten Rahmenbedingun-
gen der systemischen Stabilität – und dabei besonders die ökonomische Leistungsfä-
higkeit des politischen Systems – in sein Model einzubeziehen. Kernpunkt seiner
Überlegungen ist das Zusammenspiel der Legitimität des politischen Systems und der
Bewertung seiner Effektivität3 auf der Makroebene. Legitimität stellt die grundsätz-
liche Überzeugung von der Anerkennungsw€urdigkeit des politischen Systems dar. Sie
verkörpert eine diffuse, meist €uber längere Zeit (und auch bereits in der Sozialisation)
akkumulierte Haltung der Individuen gegen€uber dem politischen System. Bewer-
tungsgrundlage der Effektivitätsbeurteilung sind die konkreten Handlungen des Sys-
tems und seine Leistungen, die es f€ur die Gesellschaft zu erbringen vermag. Entspre-
chend bildet die Legitimität eine €uber die Zeit relativ stabile und nur allmählichen
Wandlungen unterworfene Größe/Dimension ab, während die Effektivitätsbeurteilun-
gen von kurzfristigen Schwankungen betroffenen sind. Über eine Typologie der
Verteilung von Effektivitätsbeurteilung und Legitimität lassen sich nach Lipset Aus-
sagen €uber die zuk€unftige Stabilität des politischen Systems gewinnen (Abb. 1).
Dabei entstehen vier Konstellationen von Legitimität und Effektivität, die einen
unterschiedlichen Stabilitätsgrad aufweisen. Die politischen Systeme in Box A werden
als stabil angesehen. Sie sind tief in den Bevölkerungen verankert, werden von dieser
als legitim erachtet und ihre Leistungen werden als effektiv bewertet. Aus Sicht der
B€urger ineffektive und illegitime Regime finden sich in der Box D. Sie sind aufgrund
ihrer fehlenden Verankerung in der Bevölkerung instabil und stehen (permanent) vor
dem Zusammenbruch. In Krisenzeiten kann kein Eintreten der B€urger f€ur diese

3
Bei Lipset wird ausschließlich von Effektivität gesprochen.
Politische Kultur in der Vergleichenden Politikwissenschaft 549

Systeme erwartet werden. Box C beinhaltet zwar effektive, aber (noch) nicht als
legitim angesehene politische Systeme. Sie leben von ihrer (oft ökonomischen)
Leistungsfähigkeit. Kommt es in diesen Systemen zu wirtschaftlichen und politischen
Krisen, so ist ihr Überleben nicht gesichert, da sie keinen grundsätzlichen Halt in der
Bevölkerung besitzen. Sie funktionieren zwar, sind aber instabil. Die geringste Ver-
änderung in der kurzfristig angelegten Effektivität kann zu ihrem Zusammenbruch
f€uhren. Systeme des Typs C können auch – betrachtet man es in zeitlicher Perspektive
– ein Übergangsstadium hin zu Typ A darstellen. So wird zum Beispiel die Ausbil-
dung von politischer Legitimität als Folge der ökonomischen Erfolge des deutschen
Systems der Nachkriegszeit als typisches Beispiel f€ur eine solche Entwicklung ange-
f€
uhrt. Politische Systeme in Box B befinden sich zwar gerade in einer Effektivitäts-
krise, können aber auf einen Legitimitätsvorschuss zur€uckgreifen. Erst wenn die
Effektivitätskrise länger anhält, kommt es zu einer Gefährdung des politischen Sys-
tems. In Demokratien wäre eine typische Reaktion auf Effektivitätskrisen der Aus-
tausch des politischen Personals durch Abwahl der Regierung. Erst wenn sich dies
nicht als eine erfolgreiche Strategie gegen die negativ bewertete Leistungsfähigkeit
des politischen Systems erweist, entstehen tiefer gehende Probleme auf der Ebene der
generellen politischen Ordnung eines Systems – es entsteht eine Legitimitätskrise des
politischen Systems (vgl. Watanuki et al. 1975; Pharr und Putnam 2000).
Aufgrund der vorliegenden (dynamisch angelegten) Typologisierung können
somit nicht nur Aussagen zur Stabilität von politischen Systemen getroffen, sondern
auch Prozesse zunehmender oder abnehmender Stabilität erfasst werden. Es finden
sich dabei seltener direkte Übergänge zwischen A und D, sondern eher Entwicklun-
gen, in denen Länder unterschiedliche Phasen durchlaufen: so zum Beispiel D
= > C = > A (ein instabiles System wird ökonomisch erfolgreich und kann sich
durch dauerhaften Erfolg Legitimität sichern) oder A = > B = > D (ein fr€uher
stabiles System bleibt €uber lange Zeit ineffektiv und bricht schlussendlich zusam-
men). Diese Prozesse sind dabei in jeder Stufe und zu jeder Zeit reversibel, benöti-
gen aber einen gewissen zeitlichen Spielraum.

3.3 David Easton – Politische Unterstützung

David Easton (1965, 1975) konzentrierte sich auf die Systematisierung der Ziel-
punkte der politischen Einstellungen der B€urger und die Form der Beziehung
zwischen den B€ urgern und diesen Objekten. Auch f€ur ihn ist die Stabilität des
politischen Systems – die er als Persistenz bezeichnet – zentral. Er nennt die
Beziehung zwischen B€urger und politischem System „politische Unterst€utzung“
(political support). Der Begriff der (politischen) Unterst€utzung wird als eine Ein-
stellung verstanden, mit der sich eine Person gegen€uber einem (politischen) Objekt
orientiert. Wie bei dem Begriff „politische Kultur“ ist „politische Unterst€utzung“
keine normative, sondern eine analytische Bezeichnung. Alle Objekte können nach
Easton positiv oder negativ unterst€utzt werden. F€ur den Erhalt der Persistenz eines
politischen Systems ist allerdings eine €uberwiegend positive politische Unterst€ut-
zung vonnöten. Diese Unterst€utzung (support) erhält das politische Regime im
550 S. Pickel und G. Pickel

Unterstützungsobjekte

Polische Polisches Polische


Gemeinscha Regime Autoritäten

diffus Regime- Autoritäten-


Idenfikaon mit der Legimität Legimität
polischen
Quelle der Gemeinscha Regime- Autoritäten-
Unterstützung Vertrauen Vertrauen

spezifisch Zufriedenheit mit


den alltäglichen
Outputs

Abb. 2 Das Konzept politischer Unterst€


utzung nach Easton. Quelle: Fuchs (1989, S. 18)

systemtheoretischen input-output-Modell Eastons zumeist dann, wenn die Forde-


rungen der B€ urger an das System (demands) erf€ullt werden.
Easton (1965, S. 171–225) identifiziert drei Objekte des politischen Systems
(Abb. 2): Die politische Gemeinschaft umfasst die Mitglieder eines politischen
Systems und ihre grundlegenden Wertmuster. Gemeinschaftssinn und eine
€ubergreifende Objektzuordnung (wie z. B. die Nation und die in ihr lebenden
Personen) sind die Grundlage dieser Komponente der politischen Ordnung, die sich
in Zugehörigkeitsgef€uhl zu dem Kollektiv und einer gegenseitigen Loyalität
der Gemeinschaftsmitglieder äußert (vgl. Easton 1975). Das Unterst€utzungsobjekt
„politisches Regime“ umfasst die grundlegende Struktur des Institutionensystems.
Diese Orientierungen beziehen sich auf die Institutionen an sich, also die Rollen
(z. B. die Position des Bundespräsidenten im politischen System) und nicht die
konkreten Rollenträger (die Person des Bundespräsidenten). Letztere werden unter
dem Objekt der politischen Autoritäten beurteilt. Den Inhabern politischer Autori-
tätsrollen wird politische Unterst€utzung hauptsächlich durch die Akzeptanz der von
ihnen getroffenen Entscheidungen seitens der B€urger zuteil (Fuchs 2006).
Die Orientierungen resultieren zum einen aus der Zufriedenheit mit den Outputs
des politischen Systems bzw. mit den Autoritäten, die diese Outputs produzieren.
Nach Easton ist diese Quelle das wichtigste Element der spezifischen Unterst€utzung
(specific support). Sie bezieht sich auf die politischen Herrschaftsträger und resultiert
aus der Wahrnehmung und Bewertung der Leistungsfähigkeit der politischen Herr-
schaftsträger durch die B€urger. Diese Form der Unterst€utzung ist mit der Effektivi-
tätsbewertung bei Lipset vergleichbar. Davon zu unterscheiden ist die diffuse Unter-
st€utzung (diffuse support), die eine Zustimmung zu den Objekten um ihrer selbst
willen verkörpert. Hier besteht eine grundlegende Akzeptanz – vergleichbar der
Legitimität bei Lipset. Easton unterteilt die diffuse Unterst€utzung zusätzlich noch in
Legitimität und Vertrauen. Legitimität ist ein Produkt der von den B€urgern wahrge-
nommenen Übereinstimmung der eigenen Werte und Vorstellungen vom politischen
System und dem politischen Leben mit den Unterst€utzungsobjekten, während das
Vertrauen die Hoffnung auf eine „Gemeinwohlorientiertheit“ dieser Objekte oder der
sie tragenden Personen beinhaltet. Vertrauen speist sich bei Easton maßgeblich aus der
politischen Sozialisation und generalisierten Output-Erfahrungen.
Politische Kultur in der Vergleichenden Politikwissenschaft 551

4 Ergebnisse und Weiterführung der politischen


Kulturforschung

In der Folge der Wirtschaftskrisen der 1970er- und 1980er-Jahre etablierten sich
Debatten € uber eine Legitimitätskrise westlicher Demokratien (vgl. Watanuki
et al. 1975; Pharr und Putnam 2000). Sie st€utzten sich neben der Beobachtung einer
sinkenden Wahlbeteiligung und eines Zuwachses an unkonventionellen Formen
politischer Proteste auf eine sinkende Zufriedenheit mit den westlichen Demokra-
tien. Die aus diesen Diskussionen erwachsende Renaissance der politischen Kultur-
forschung äußerte sich in ihrer Entwicklung hin zu einer nun expliziten Form der
„kulturellen Demokratieforschung“ (Fuchs 2002). Dies war angesichts der bereits
beschriebenen impliziten Tendenzen in den Arbeiten Almond und Verbas (1963),
Eastons (1965) und Lipsets (1959, 1981) nur konsequent. So sind die (f€ur die
politische Kulturforschung grundlegenden) Beziehungen zwischen Struktur und
Kultur empirisch eigentlich fast nur f€ur demokratische oder teildemokratische Sys-
teme sinnvoll zu bestimmen. Eine Konzentration auf Demokratien lässt zumindest
das normative Grundger€ust (Freiheit, Gerechtigkeit, Kontrolle, Partizipation, Wett-
bewerb), zu dem sich die B€urger bekennen können, klar erkennen. Der empirische
Gewinn dieser nun vollzogenen Einschränkung auf Demokratien liegt in einer
besseren Spezifikation des empirischen Instrumentariums. Erfolgte bei der Frage
nach der Demokratiezufriedenheit „im Land“ eine (wenn auch f€ur die Stabilität des
politischen Regimes nicht uninteressante) Vermengung von spezifischen und diffu-
sen Unterst€ utzungselementen, zielen Fragen nach der „Demokratie als dem ange-
messensten Regierungssystem“ oder nach der „Zustimmung zur Idee der Demokra-
tie“ oder auch die Frage nach der Ablehnung anti-demokratischer Regimealternativen
(Militär, Sozialismus, Diktatur, Monarchie) stärker auf die diffuse Unterst€utzung oder
die Legitimität des demokratischen Systems bzw. der Demokratie an sich. Dies deutet
auf eine wichtige Modifikation im sich immer stärker durchsetzenden Konzept der
politischen Unterst€utzung hin. So differenziert Dieter Fuchs (2002, 2007) zwischen
den normativen Prinzipien (Wertemuster) der Demokratie, deren implementierter
(Institutionen-)Struktur und der Performanzebene der implementierten Demokratie
und setzt diese drei Unterst€utzungsobjekte zusätzlich in ein hierarchisches Verhältnis
zueinander. Damit wurde die Identifikation zeitlicher Abläufe möglich, die zusätzlich
eine Aussagekraft hinsichtlich der Genese politischer Unterst€utzung besitzt. Eine
positive politische Unterst€utzung auf der obersten Hierarchieebene der Werte beein-
flusst die Beurteilung der Struktur und der Leistungen der demokratischen Institutio-
nen. Umgekehrt wirkt aber – und dies deckt sich mit den Überlegungen Eastons,
Lipsets und Almond und Verbas – die gesammelte Perzeption des Outputs des
politischen Systems u€ber längere Zeit wieder auf die langsam verlaufende Ausbildung
der Wertebene zur€uck.
Zudem stellt Fuchs (2002, S. 36–37) den Konstrukten der Einstellungen konkrete
Zielebenen auf der Ebene der politischen Struktur gegen€uber. Aufgrund dieser
Festlegung erreicht er eine eindeutige Trennung zwischen Einstellungskonstrukten
und Systemkonstrukten (bzw. systemischen Konsequenzen), was ihm die Möglich-
keit eröffnet, konkrete Kriterien f€ur die Einhaltung oder Nichteinhaltung demo-
552 S. Pickel und G. Pickel

kratischer Prinzipien zu bestimmen. Die €uber die Sozialisation und Internalisierung


vermittelten Einstellungen wirken €uber Prädispositionen auf politisches Handeln,
welches in der Folge zur Konsolidierung (Stabilität bzw. Persistenz) oder Erosion
(Instabilität) eines demokratischen Regimes beiträgt (vgl. Fuchs 2002, S. 32–34).
Das politische Regime wirkt durch die Setzung von strukturellen constraints und
durch sozialisatorische Einfl€usse im Erziehungssystem auf das Handeln der B€urger
zur€ uck. Zusätzlich unterliegen die Personen Erfahrungen mit der Alltagsperformanz
des Systems und seinen institutionellen Mechanismen (Pickel und Pickel 2006,
S. 112–118).
Die Unterst€utzung der B€urger f€ur die politischen Objekte findet auf der Grund-
lage eines bestimmten, latenten Demokratieverständnisses statt (Abb. 3). Dieses
Verständnis kann sich zwischen den Gesellschaften verschiedener Länder unter-
scheiden, aber auch in unterschiedliche Subgruppen innerhalb der Länder zerfallen
und wird durch die jeweilige Hintergrundkultur der Gesellschaft (Badescu 2006,
S. 85), Sozialisation oder langfristige Erfahrungen mit der Politik geschärft. Auf der
Basis politischer Arbeitsteilung (Easton 1965, S. 177) erf€ullt die politische Gemein-
schaft (a) grundlegende identitätsstiftende Funktionen f€ur die Gesellschaft. Diese
umfassen den Rekrutierungsprozess politischen Personals ebenso wie die Akzeptanz
verbindlicher Entscheidungen der politischen Amtsträger (Easton 1965, S. 172,
178). Die Anerkennung der Werte und Normen des politischen Systems (b) durch
die politische Elite und die B€urger ist die Grundvoraussetzung daf€ur, dass das
politische System als legitim empfunden wird und dadurch auch in Krisenzeiten
€uberleben kann. Die B€urger nehmen die herrschenden Autoritäten jedoch nur dann
als legitim wahr, wenn sie davon €uberzeugt sind, dass das politische System als
solches ihrer Gesellschaft angemessen ist und sich die politischen Eliten und die
B€urgern gleichermaßen den entsprechenden Werten verpflichtet f€uhlen.
Indem die B€ urger das politische System als solches anerkennen, streben sie nach
der Verwirklichung seiner Werte und Normen (c). Das Regime des jeweiligen
Landes wird unterst€utzt, und bleibt im Gegenzug persistent. Die spezifische Gestal-
tung des politischen Systems kann an politische und wirtschaftliche Veränderungen
angepasst werden ohne die grundlegenden Normen und Werte zu verletzen. Lang-
fristige positive Erfahrungen mit dem politischen System besitzen einen positiven
Effekt auf diese Form des Legitimitätsempfindens. Wenn sich die Werte und Normen
eines politischen Systems stabilisiert haben, d. h. wenn weder die B€urger noch die
Eliten ihre allgemeine G€ultigkeit anzweifeln, können die Werte und Normen als
konsolidiert angesehen werden (d). Przeworski (1991, S. 26) beschrieb die Konso-
lidierung von Demokratien als „when democracy became the only game in town“.
Die B€ urger vertrauen den politischen Autoritäten, d. h. sie gehen davon aus, dass die
(frei) gewählten Regierenden €ublicherweise im Interesse der B€urger handeln, ohne
dass sie ständig kontrolliert werden m€ussen. Sie gehen insbesondere davon aus, dass
die politischen Institutionen gemeinwohlorientiert funktionieren. Gleichzeitig
m€ ussen die institutionalisierten Regeln den politischen Werten und Normen der
B€ urger entsprechen. Dieses Vertrauen resultiert einerseits aus dem Glauben an die
Legitimität der Werte und Normen und der langfristigen Unterst€utzung des politi-
schen Systems, andererseits aus langfristigen positiven Bewertungen der Effektivität
Politische Kultur in der Vergleichenden Politikwissenschaft 553

Dimensionen polischer Verwirklichung polischer konkrete polische


Kultur Einstellungen Einstellungen

Demokraeverständnis
Idenfikaon mit der
Anerkennung der Idenfikaon mit der Naon bzw. Identäts-
a polischen polischen empfinden mit der
Gemeinscha Gemeinscha (mulethnischen)
polischen Gemeinscha

Überzeugung von der


Angemessenheit eines
Legimität des Bindung an Werte besmmten polischen
b polischen und Normen des Systems für die eigene
Systems polischen Systems Gesellscha
 Legimität des
polischen Systems

Unterstützung des
Einschätzung der aktuellen polischen
System- Verwirklichung der Systems im Land
c unterstützung Werte und Normen
des polischen Systems  Legimität des
aktuellen polischen
Systems

Erwartungssicherheit Instuonenvertrauen
Vertrauen bzgl. der Werte und Vertrauen in Amtsträger
d
Normen des polischen
 Regieren zum
Systems Gemeinwohl

polische und
wirtschaliche
Performanz- Zufriedenheit mit der
Leistungsfähigkeit der
e bewertung tatsächlichen
Amtsträger
Amtsführung
 polische Effekvität
 wirtschal. Effekvität

Abb. 3 Demokratieverständnis und politische Kultur. Quelle: Fuchs (2002, S. 37); Norris (1999,
2011, S. 24, 44); umfangreiche eigene Ergänzungen

des politischen Systems durch seine B€urger. Wenn die B€urger das politische System,
seine Institutionen und Autoritäten unterst€utzen, dann verlangen sie auch eine
Gegenleistung: Sie erwarten, dass die Autoritäten in der Lage sind, die B€urger in
angemessener Weise zu versorgen (e). Dies impliziert jedoch nicht nur eine Ver-
554 S. Pickel und G. Pickel

sorgungsleistung im Sinne einer sozialen und wirtschaftlichen F€ursorge, die sich aus
einer prosperierenden Ökonomie speist, sondern auch eine politische Leistung der
Autoritäten im Sinne verbindlicher und gemeinwohlorientierter politischer Entschei-
dungen und Ergebnisse (bei Easton 1975 spezifische Unterst€utzung der politischen
Autorität).
Erste empirische Untersuchungen zur Wirkung der Demokratievorstellungen auf
die politische Kultur ost- und westeuropäischer Gesellschaften zeigen, dass Freiheit,
soziale Gleichheit und politische Kontrolle die Demokratiebilder der Europäer
prägen – allerdings wirken sich in Demokratien nur die Freiheitsvorstellungen auf
die Dimensionen der politischen Kultur aus. Sie unterst€utzen das Legitimitätsemp-
finden und die Duldsamkeit der B€urger in Zeiten wirtschaftlicher und/oder politi-
scher Krisen (Pickel 2014). In ähnliche Richtung deuten neuere Untersuchungen von
Ronald Inglehart und Christian Welzel (2005). Sie untersuchen €uber den Weg des
„Humankapitals“ sowohl die Prägekraft der politischen Kultur f€ur die politischen
Strukturen als auch deren Beziehung zu Modernisierungsprozessen. Unter Nutzung
von Daten der World Values Surveys kommen sie zu dem Ergebnis, dass sozioöko-
nomische Modernisierungsprozesse, wenn auch aufgrund unterschiedlicher
historisch-kultureller Rahmenbedingungen pfadabhängig, Prozesse der Selbstentfal-
tung fördern (siehe hierzu den Beitrag zu Wertewandel) und diese wiederum eine
Nachfrage nach Demokratie entwickeln. Dabei stellt eine demokratische politische
Kultur als Zielvorstellung der B€urger das zentrale Bindeglied zwischen den Selbst-
entfaltungswerten und der politischen Struktur dar (vgl. Welzel 2013).
Insgesamt deuten die vorliegenden komparativen Befunde der politischen Kultur-
forschung genauso wenig auf eine grundsätzliche Legitimitätskrise in den west-
lichen Demokratien hin so fällt die Zustimmung zu Demokratie als Staatsform in
den westlichen Demokratien der Regel €uberwältigend aus – wie sie Hinweise auf
eine R€uckkehr zu einer unhinterfragten „demokratischen Untertanenkultur“ erbrin-
gen. Allerdings zeigt letzteres die nicht unerhebliche Kritik an der aktuellen Demo-
kratie und ihren Autoritäten (Stichwort: Politikverdrossenheit), die vielerorts be-
steht. Regionale Differenzen finden sich aufgrund verschiedener Faktoren, unter
denen Modernisierung ein nicht zu unterschätzender Aspekt ist. So ist die Unter-
st€
utzung der Demokratie in Westeuropa am höchsten, lässt aber in den hybriden
Regimen der ehemaligen UdSSR genauso nach wie in manchem lateinamerikani-
schen Staat. In Autokratien sind mit der Einf€uhrung von Elementen der Demokratie
sogar systemdestabilisierende Entwicklungen verbunden. Doch auch dort funktio-
niert das Konzept der politischen Kulturforschung, nur sind es andere Bezugsobjekte
und Normen, auf die sich die Einstellungen der B€urger beziehen. Relativ einig ist
man sich, dass zwischen den Zustimmungen zu verschiedenen Objekten des
politischen Systems und der politischen Struktur zwingend unterschieden werden
muss. Sie € uben nicht nur einen deutlich unterschiedlichen Effekt auf die
Stabilität des politischen Systems aus, sondern werden auch unterschiedlich wahr-
genommen. Die relativ kritische Haltung gegen€uber Politikern und Parteien
(rund 10 bis 20 Prozent Vertrauen) steht einer positiven Haltung zur Staatsform
Demokratie (70 bis90 Prozent Zustimmung) genauso gegen€uber, wie das Vertrauen
in unterschiedliche politische Institutionen (systematisch) variiert.
Politische Kultur in der Vergleichenden Politikwissenschaft 555

5 Zusammenfassung – Politische Kultur als zentraler Aspekt


für Systemwandel

Die Bedeutung der politischen Kultur und ihrer Erforschung f€ur die Vergleichende
Politikwissenschaft ist nicht zu unterschätzen. Zum einen handelt es sich bei der
politischen Kulturforschung um einen originär f€ur die Komparatistik entwickelten
Bereich, der € uber seine interkulturelle Anlage ein wesentliches Erklärungspotential
f€
ur Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Ländern, Regionen und Kulturen be-
reitstellt. Zum anderen erfolgt €uber den Aspekt der politischen Kultur der Einbezug
des „politischen“ B€urgers in die politikwissenschaftliche Forschung. Speziell der
Blick auf die Stabilität aller Formen politischer Regime macht die politische Kultur-
forschung im Zeitalter einer steigenden Relevanz der sogenannten Zivilgesellschaft
so interessant.
Zwar war die analytische Fassung von politischer Kultur immer wieder Kritik
ausgesetzt, zum einen stammt aus dem Umfeld des „cultural turn“ der Vorwurf, dass
symbolische als auch nicht systematisch-kulturelle Aspekte politischer Kultur aus
dem Blick verloren w€urden (Dittmer 1977; Rohe 1990), zum anderen wenden
institutionelle Ansätze ein, es sei eine Dominanz der Strukturen gegen€uber der
politischen Kultur zu präjudizieren und nicht zuletzt fordert die Rational-Choice-
Theorie, eine stärkere Präzisierung der Motive f€ur entsprechendes Handeln Letzt-
endlich entstand bislang aus keinem der Kritikansätze eine analytische Alternative
f€
ur die vergleichende Analyse zu den mittlerweile ausgereiften systematischen
Konzepten, die hier präsentiert wurden. Ob man „nur“ Einstellungen und Werte
oder aber auch Symboliken und politische Stile ber€ucksichtigt, immer wird ein
Gegenpol zur politischen Struktur aufgenommen, der eine Erweiterung sowohl rein
historisch-institutionalistischer als auch systemtheoretischer Ansätze erfordert.
Strukturen sind nicht nur aus Strukturen zu erklären. Und hier ist es nicht erst der
„cultural turn“ in den Sozialwissenschaften, der die Bedeutung des B€urgers und die
Bedeutung von Werten ins Blickfeld r€uckte, bereits fr€uh verwiesen die Fragen nach
der Legitimität politischer Strukturen auf die Bedeutung von Kultur. Dies darf aber
nicht dazu f€ uhren, politische Kulturen jeweils als einzigartig oder nicht empirisch
bestimmbar anzusehen. F€ur diese (auch komparative) Erforschung liefert die poli-
tische Kulturforschung das analytische Handwerkszeug.

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Welzel, Christian. 2013. Freedom rising. Human empowerment and the quest for emancipation.
Cambridge: Cambridge University Press.
Wertewandel in der Vergleichenden
Politikwissenschaft

Christoph Mohamad-Klotzbach

Zusammenfassung
Der Beitrag widmet sich dem Thema Wertewandel im Kontext der Vergleichenden
Politikwissenschaft. Neben zentralen Begriffen (Werte, Wertorientierungen und Wer-
tewandel) werden die theoretischen Ansätze von Ronald Inglehart (Materialismus-
Postmaterialismus) und dessen Weiterentwicklungen u. a. in Zusammenarbeit mit
Christian Welzel (Human Empowerment Approach, Selbstentfaltungswerte), sowie
von Shalom H. Schwartz (Wertekreis-Konzept) vorgestellt. Abschließend wird die
Bedeutung des Wertewandels f€ur die komparative Forschung skizziert.

Schlüsselwörter
Werte • Wertorientierungen • Wertewandel • Postmaterialismus • Emanzipative
Werte • Selbstentfaltung • Postmodernisierung • Human Development Sequence •
Wertekreis-Modell • Values • World Values Survey • Schwartz Value Survey

1 Einleitung

Werte gehören seit den Arbeiten von Emile Durkheim und Max Weber zu den
zentralen Konzepten der Sozialwissenschaften, da sie eine wichtige Rolle f€ur die
Erklärung u. a. von sozialer Ordnung und Struktur sowie sozialem Wandel darstel-
len (Parsons und Shils 1951). „Values are used to characterize cultural groups,
societies, and individuals, to trace change over time, and to explain the motivational
bases of attitudes and behavior.“ (Schwartz 2012, S. 3) F€ur die Vergleichende
Politikwissenschaft sind insbesondere die Arbeiten von Ronald Inglehart

C. Mohamad-Klotzbach (*)
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl f€ ur Vergleichende Politikwissenschaft und
Systemlehre, Institut f€
ur Politikwissenschaft und Soziologie, Universität W€urzburg, W€
urzburg,
Deutschland
E-Mail: ch.mohamad@uni-wuerzburg.de

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 557


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_42
558 C. Mohamad-Klotzbach

(1971, 1977, 1990, 1997) prägend, die den Einfluss von Wertorientierungen und
ihres Wandels sowohl auf politische Einstellungen als auch auf politisches Handeln
belegen. In den vergangenen vier Jahrzehnten wurden diese Überlegungen und
Befunde intensiv diskutiert, das Konzept von ihm und anderen weiterentwickelt
sowie alternative Wertekonzepte eingebracht.

2 Werte, Wertorientierungen und Wertewandel

Eine der anerkanntesten Definitionen des Begriffs Wert stammt von Clyde Kluck-
hohn: „A value is a conception, explicit or implicit, distinctive of an individual or
characteristic of a group, of the desirable which influences the selection from
available modes, means, and ends of action.“ (Kluckhohn 1951, S. 395 – Herv.
im Orig.) Vier Aspekte sind an dieser Definition zentral f€ur das Verständnis von
Werten. Erstens sind Werte nicht direkt beobachtbar, sondern sind von den Aussagen
und dem Handeln von Individuen und/oder sozialen Gruppen zu abstrahieren.
Zweitens können als Träger von Werten sowohl Individuen als auch soziale Gruppen
gesehen werden. Dieser Aspekt ist entscheidend f€ur die Frage, auf welcher Ebene
empirische Analysen ansetzen sollten – auf der Mikro- oder auf der Makro-Ebene
(Lane und Wagschal 2012; Welzel 2009, S. 109–110). Drittens sind Werte Vor-
stellungen des W€ unschbaren (Kluckhohn 1951), die somit als motivationaler Faktor
im Sinne von Zielorientierungen dienen können (Meulemann 1996, S. 49; Rokeach
1973, S. 9–10). Und viertens m€ussen Werte als verhaltensrelevant angesehen wer-
den, da sie die Auswahl der zur Verf€ugung stehenden Formen, Mittel und Ziele von
Handlungen beeinflussen. Sie unterst€utzen somit das Individuum, bei Handlungs-
alternativen Prioritäten zu setzen (Rokeach 1973, S. 24).
Werte sind somit Handlungen und Einstellungen vorgelagert. Aus diesem Grund
nimmt man im Rahmen der Werteforschung an, dass Werte €uber eine gewisse
Stabilität bzw. Dauerhaftigkeit verf€ugen. „Von ihrer Struktur her gesehen sind sie
in den Individuen prinzipiell tiefer verankert und daher weniger veränderbar als
Meinungen, Urteile, Einstellungen oder Bed€urfnisse.“ (Hepp 1994, S. 4). Werte
können deshalb von anderen Konstrukten wie Ideologien,1 Einstellungen, Ideen
oder Interessen unterschieden werden (Kluckhohn 1951, S. 421–433; Rokeach
1973, S. 17–22). Da Werte im Rahmen des Sozialisationsprozesses internalisiert
werden, wird als weitere Annahme vertreten, dass „Werte an die existenziellen
Lebensbedingungen und die aus diesen erwachsenden Erfahrungen der Menschen
gekoppelt“ (Welzel 2009, S. 110) sind. Diese Verbindung von Werten und Lebens-
bedingungen spielt f€ur die Theorie des Wertewandels eine entscheidende Rolle.
In der Literatur findet man eine Vielzahl von Vorschlägen f€ur Wertetypen oder
-gruppen (Hillmann 2003). Neben den Konzepten von Inglehart, Welzel und Schwartz,

1
Ideologien sind wie Werte auch langfristig wirksam, jedoch sind sie im Vergleich zu Werten
pejorativ aufgeladen und basieren i.d.R. auf einem System von Ideen, die z.B. nur von einer
Minderheit einer Gesellschaft geteilt werden (vgl. Kluckhohn 1951, S. 432–433).
Wertewandel in der Vergleichenden Politikwissenschaft 559

sei auf die Überlegungen von Flanagan (1982), Hofstede (2001) oder Klages (1984;
Klages et al. 1992) weiterf€uhrend verwiesen. Milton Rokeach, einer der Gr€underväter
der Werteforschung, unterscheidet terminal values von instrumental values (Rokeach
1973, S. 7–8, 12). Erstere formulieren „end-states of existence“, d. h. letzte, höchste
Werte bzw. Ziele, die – analog zu sog. ‚Grundwerten‘ – von der Bevölkerungsmehrheit
geteilt werden. Hierzu zählen u. a. Freiheit, Gleichheit, gesellschaftliche Anerkennung,
Gl€uck und Frieden. Instrumentelle Werte hingegen „sind als Sollvorstellungen bez€ug-
lich des Verhaltens auf Mittel und Handlungsweisen zur Erreichung von Terminalwer-
ten gerichtet [. . .] [,] decken sich mit persönlichkeitsnahen Kompetenz- und
Selbstverwirklichungs-Werten [. . .] [sowie] interpersonal bedeutsamen moralischen
Werten und Tugenden“ (Hillmann 2001, S. 18). Dazu gehören Eigenschaften wie
ehrgeizig, ehrlich, gehorsam, intellektuell, liebevoll, mutig und tolerant.
Wertorientierungen sind von Werten theoretisch zu unterscheiden, auch wenn
diese Unterscheidung nicht einheitlich und teilweise unscharf vollzogen wird (Lane
und Wagschal 2012, S. 112). Unter Wertorientierungen „versteht man diejenigen
Werte, die die Menschen [. . .] tatsächlich verinnerlicht haben.“ (Welzel 2009,
S. 109) Sie weisen eine gewisse Kohärenz auf, die sich auf Einstellungen und
Handlungen – im privaten wie politischen Raum – auswirken und sind „nicht auf
moralisch w€ unschbare Werte eingeengt“ (Welzel 2009, S. 109). Wertorientierungen
können somit als analytischer und normativ neutraler Begriff angesehen werden. Zu
den klassischen Wertorientierungen zählen Lane und Wagschal (2012, S. 85–86)
Materialismus vs. Postmaterialismus, Links- vs. Rechtspositionierung sowie das
Spannungsfeld von Religiosität vs. Säkularisierung. Zu den eher neueren zentralen
Orientierungen zählen sie Vertrauen (Warren 1999) sowie Egalitarismus
vs. Individualismus (Wildavsky und Swedlow 2006).
Diese (und andere) Wertorientierungen dienen als Erklärungsfaktoren (unabhän-
gige Variablen) f€ur unterschiedlichste Phänomene (potentielle abhängige Variablen).
Einstellungen zu Umwelt und Klimawandel, zu Arbeits- und Berufsauffassungen,
zur Rolle von Familie und Partnerschaft sowie zur Globalisierung können auf Basis
der Verteilung von Wertorientierungen innerhalb einer Gesellschaft bzw. zwischen
Gesellschaften untersucht werden (van Deth und Scarbrough 1995). Vorherrschende
politische Kulturen können als Verteilungsmuster der Wertorientierungen €uber unter-
schiedliche Gebiete und Regionen verstanden werden.

3 Von materialistischen zu postmaterialistischen und


emanzipatorischen Werten

Im Kontext der ‚Theorie des Wertewandels‘ wird davon ausgegangen, dass sich die
Verteilung der diversen Wertorientierungen innerhalb einer Gesellschaft im Zeitver-
lauf ändert. Der prominenteste Vertreter der Wertewandelforschung, Ronald Ingle-
hart, versucht in seinen ersten Studien politischen Wandel in den entwickelten
Industriestaaten des Westens zu erklären (Inglehart 1971, 1977). Er geht von zwei
Beobachtungen aus: Erstens stellt er einen Wertewandel in den westlichen Gesell-
schaften fest. Dieser findet aus seiner Sicht in Form einer Verschiebung von
560 C. Mohamad-Klotzbach

materialistischen Werten, die physische und ökonomische Sicherheit betonen und


somit eher traditionelle Werte abbilden, hin zu postmaterialistischen Werten, die
stärker soziale Bed€urfnisse und das Verlangen nach Selbstentfaltung betonen, statt.2
Zweitens beobachtet er eine Verschiebung der politischen Fähigkeiten innerhalb
der Bevölkerungen. Diese vollzieht sich von einer elite-directed political participa-
tion hin zu einer elite-challenging political participation. Im Rahmen der ersten
Variante mobilisieren politische Eliten die Massen mittels politischer Parteien, Ge-
werkschaften oder religiöser Institutionen f€ur ihre Ziele, während neuere Partizipa-
tionsformen der Öffentlichkeit eine immer größere Mitsprache im politischen Ent-
scheidungsprozess einräumen. Indem mehr Menschen in der Lage und willens sind,
ihre politischen Forderungen zu artikulieren, können neue politische Inhalte in den
Entscheidungsprozess eingespeist und ggf. auch durchgesetzt werden (Inglehart
1977, S. 3–4).
Diese beiden Punkte – Wertewandel und political empowerment der Massen –
reichen jedoch noch nicht aus, um politischen Wandel zu erklären. Laut Inglehart ist
zudem die Struktur des politischen Systems daf€ur entscheidend, inwiefern neue
Akteure – z. B. neue Parteien und soziale Bewegungen – in den politischen Ent-
scheidungsprozess eingreifen und neue policies durchsetzen (Inglehart 1977,
S. 4–6). Hier besteht eine enge Verbindung zu Konzepten der politischen Kultur-
forschung.3
Zwei Dinge sind f€ur den Wertewandel im Westen entscheidend: Zum einen die
ökonomische Prosperität, die in den westlichen Ländern in den ersten beiden
Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ihre Wirkung entfaltete; zum
anderen die Abwesenheit von Krieg. „In short, people are safe and they have enough
to eat“ (Inglehart 1977, S. 22). Diese beiden Faktoren ermöglichten Entwicklungen,
die den Wertewandel indirekt beg€unstigten: technologische Innovationen, Verände-
rungen der Beschäftigungsstruktur in Richtung postindustrieller Gesellschaften,
ökonomisches Wachstum, Bildungsexpansion sowie die Ausbreitung von Massen-
kommunikationsmitteln (Inglehart 1977, S. 7–11).
Inglehart formuliert f€ur seine Wertewandeltheorie (theory of intergenerational
value change) zwei zentrale Hypothesen, wobei die Mangelhypothese Überlegun-
gen von Maslows (1970, S. 35–51) Theorie der menschlichen Motivation aufgreift,
nach der Menschen bestrebt sind, ihre Bed€urfnisse zu befriedigen. Im Sinne einer
hierarchischen Bed€urfnispyramide sind zunächst physische Bed€urfnisse (Versor-
gung und Sicherheit) elementar, bevor soziale Bed€urfnisse und Selbstverwirklichung
in den Fokus r€ ucken (vgl. Tab. 1).

2
In seinem grundlegenden Aufsatz aus dem Jahr 1971 verwendet er noch die Begriffe acquisitive
value preferences und post-bourgeois value preferences f€ ur die beiden polaren Typen von Wert-
orientierungen. Da diese jedoch aus seiner Sicht die ökonomische Basis des Wertewandels zu sehr
betonen, hat er sich f€ur die „Materialismus“-Bezeichnung entschieden (Inglehart 1971, 1977,
S. 28).
3
Siehe auch den Beitrag von Pickel und Pickel in diesem Handbuch.
Wertewandel in der Vergleichenden Politikwissenschaft 561

Tab. 1 Operationalisierung der Wertprioritäten nach Inglehart


Items f€
ur empirische
Wertorientierung Bed€urfnisstrukturen Operationalisierung
(nach Inglehart) (nach Maslow) (nach Inglehart)
Postmaterialismus Soziale Bed€ urfnisse ästhetisch Versuch, unsere Städte und
(PMat) & ländlichen Gebiete zu
Selbstverwirklichung verschönern
intellektuell Fortschritt auf eine
Gesellschaft hin, in der Ideen
mehr zählen als Geld
Schutz der freien
Meinungsäußerung
Zugehörigkeit Fortschritt auf eine
und Achtung humanere, weniger
unpersönliche Gesellschaft
hin
Verstärktes Mitspracherecht
der Menschen am
Arbeitsplatz und in ihren
Gemeinden
Verstärktes Mitspracherecht
der Menschen bei wichtigen
Regierungsentscheidungen
Materialismus Physische Physische Sicherung von starken
(Mat) Bed€
urfnisse Sicherheit Verteidigungskräften f€ur
dieses Land
Kampf gegen Verbrechen
Aufrechterhaltung der
Ordnung in der Nation
Ökonomische Eine stabile Wirtschaft
Sicherheit / Erhaltung eines hohen
Versorgung Grades an wirtschaftlichem
Wachstum
Kampf gegen steigende
Preise
Quelle: Dalton (2006, S. 157); Inglehart (1990, S. 134); Pickel und Pickel (2006, S. 137); eigene
Zusammenstellung; abgebildet ist die Operationalisierung f€
ur die 12-item-Skala; die Kernindikato-
ren der 4-item-Skala („Inglehart-Kurz-Skala“) sind hervorgehoben

1. Mangelhypothese (scarcity hypothesis): „An individual’s priorities reflect the


socioeconomic environment: one places the greatest subjective value on those
things that are in relatively short supply.“
2. Sozialisationshypothese (socialization hypothesis): „The relationship between
socioeconomic environment and value priorities is not one of immediate adjust-
ment: a substantial time lag is involved because, to a large extent, one’s basic
values reflect the conditions that prevailed during one’s preadult years.“ (Ingle-
hart 1997, S. 33)
562 C. Mohamad-Klotzbach

Ausgehend von den Modernisierungsprozessen im Westen, stellt Inglehart die


These auf, dass durch einen Generationenwandel die Wertestruktur der Gesellschaften
langsam und nachhaltig umgeformt wird. Während die älteren Generationen aufgrund
ihrer Erfahrungen (Weltwirtschaftskrise, Weltkriege) stärker die Befriedigung mate-
rieller Bed€urfnisse anstreben sollten (diese G€uter waren in ihren formativen Sozialis-
ationsphasen knapp), m€ussten die j€ungeren Generationen, die in anderen ökonomi-
schen und sicherheitspolitischen Kontexten aufgewachsen sind und divergierende
Erfahrungen gesammelt haben, stärker postmaterialistische Wertorientierungen auf-
weisen. Der gesellschaftliche Wertemix von Materialisten und Postmaterialisten sollte
sich deshalb zunehmend zugunsten der Postmaterialisten verschieben (Wertesubstitu-
tion).4 Die in der formativen Phase internalisierten Wertprioritäten „werden als relativ
tief verwurzelt und stabil angesehen [Wertepersistenz – CMK]. Sie unterliegen keinen
kurzfristigen Veränderungen, sondern dienen ‚lebenslänglich‘ als Wertmaßstab zur
Beurteilung von politischen und sozialen Entwicklungen“ (Dalton 2006, S. 153).
F€ur seine empirischen Analysen stellte Inglehart zwei Arbeitshypothesen auf.
Zum einen sollte innerhalb der Staaten die Verteilung der Werte zwischen den
Alterskohorten variieren. Zum anderen sollten sich die Länder in ihren Wertestruk-
turen abhängig von ihren unterschiedlichen sozioökonomischen Gegebenheiten
unterscheiden. Um seine These zu €uberpr€ufen, entwickelte Inglehart ein Messinst-
rument, das zunächst aus vier, später aus 12 items bestand (vgl. Tab. 1) (Inglehart
1971, S. 994; 1977, S. 40–41). Auf Basis dieses Messinstruments werden sowohl
die beiden polaren Reintypen, als auch diverse Mischtypen erfasst.
Da Inglehart von einer Wertesubstitution ausging, entschied er sich f€ur ein
Rankingverfahren (Pickel und Pickel 2006, S. 138). Diese Priorisierung entspricht
der Idee der Bed€ urfnishierarchie und wird damit begr€undet, dass Wertprioritäten nur
ermittelt werden können, „wenn man die Befragten mit einem Wertkonflikt kon-
frontiert und sie veranlasst, sich in dem Konflikt durch Priorisierung eines der
angesprochenen Werte zu positionieren.“ (Welzel 2009, S. 113).
Um den Wertewandel in den entwickelten Industrienationen vergleichend messen
zu können, werden Daten aus verschiedenen Ländern und €uber einen längeren
Zeitraum gesammelt. Nach ersten Surveys in den 1970er-Jahren wurden in den Jahren
1981–84 zum ersten Mal in 24 Ländern die World Values Surveys (Weltwertestudien,
WVS) durchgef€ uhrt (siehe http://www.worldvaluessurvey.org/wvs.jsp). Seitdem sind
f€
unf weitere Wellen erhoben worden (1990–94, 1995–98, 1999–2004, 2005–09 und
2010–2014), die letzte in 60 Staaten. Dies ermöglicht vergleichende Analysen zwi-
schen Ländern, Regionen, Kulturkreisen sowie Zeitreihenanalysen €uber einen maxi-
malen Zeitraum von aktuell 33 Jahren (1981–2014). Damit sind die World Values
Surveys das derzeit umfangreichste internationale Surveyprojekt.5

4
Alternative Überlegungen verweisen auf die Möglichkeit des Werteverlustes (genereller Werte-
verlust ohne Ersatz eines Wertemusters durch ein anderes; Noelle-Neumann) oder der Wertediffe-
renzierung/-pluralität (lässt mehrere Wertemuster nebeneinander zu; Klages 1984).
5
Eine Übersicht zu zentralen Surveydaten findet sich im Beitrag von Stark und Mohamad-
Klotzbach in diesem Handbuch.
Wertewandel in der Vergleichenden Politikwissenschaft 563

Ingleharts Analysen bestätigen seine Hypothesen zu einer ‚silent revolution‘.


Erstens ist in fast allen westlichen Industrienationen eine Zunahme an Postmate-
rialisten festzustellen und dies €uber einen längeren Zeitraum. Zweitens sind in den
älteren Kohorten erheblich größere Anteile an Materialisten zu finden als in den
j€
ungeren Kohorten. Drittens sind theoriekonforme Unterschiede zwischen Ländern
mit höherem und Ländern mit niedrigerem Wohlstandsgrad hinsichtlich der Vertei-
lung der Wertprioritäten zu beobachten (Lauth et al. 2014, S. 225).
Nach Newton und van Deth (2007, S. 142) hat der Wertewandel in Richtung
Postmaterialismus sechs zentrale Konsequenzen. Erstens ist eine kognitive Mobili-
sierung (cognitive mobilization) in den Gesellschaften zu beobachten (Inglehart
1977, S. 293–321), die immer mehr Menschen dazu befähigt, sich als active citizens
f€ur ihre politische Gemeinschaft zu engagieren. Zweitens ersetzen kulturelle bzw.
Werte-Konflikte nach und nach die bisher prägenden Klassenkonflikte. Drittens
könnten religiöse Konflikte an Bedeutung gewinnen, da religiöse Menschen sich
wieder stärker ihrer Religion bewusst werden, um einen Kontrapunkt gegen€uber den
weniger religiösen Materialisten zu bilden. Viertens wird aufgrund der kognitiven
Mobilisierung der Ruf nach mehr politischer Mitsprache in den westlichen Demo-
kratien lauter. Dies f€uhrt f€unftens dazu, dass die eher hierarchischen Partizipations-
formen (party and pressure group participation) immer mehr durch neue Partizipa-
tionsformen der direkten Demokratie, sozialen Bewegungen und Community politics
ergänzt bzw. gar ersetzt werden – ein Aspekt, der gerne mit dem Label einer
„partizipatorischen Revolution“ (Barnes et al. 1979) versehen wird. Aufgrund dieser
Entwicklungen werden sechstens neue politische Inhalte verstärkt auf das Tableau
gebracht, die die gesellschaftlichen Debatten der Zukunft prägen werden,
u. a. Gleichstellung sexueller Minderheiten, Abtreibung, Zerstörung der
Umwelt oder Euthanasie. Wichtig ist hierbei, dass diese „neuen Themen“ (Stich-
wort: New Politics-Debatte) nicht komplett neu sind, aber die quantitative Bedeu-
tung dieser Themen innerhalb der Bevölkerungen so sehr ansteigt, dass sie auch
in der politischen Agenda einen höheren Bedeutungsgewinn erhalten (Inglehart
1977, S. 13).
Dalton (2006, S. 151) weist ergänzend darauf hin, dass die Akzeptanz von
hierarchischen und autoritären Strukturen in breiten Teilen der Bevölkerungen sinkt,
während gleichzeitig ein Anstieg von Werten wie freie Meinungsäußerung, bessere
Lebensqualität und Forderung nach mehr politischer Partizipation beobachtet wer-
den kann.6 Die Befunde zeigen, dass der Wertewandel Einfluss sowohl auf die
gesellschaftliche, als auch auf die politische Entwicklung von Staaten besitzt.
Nach zwanzig Jahren der Analyse von Werten stellt Inglehart fest, dass die empiri-
schen Befunde auf einen breit angelegten kulturellen Wandel (culture shift) hinwei-
sen, der sich weltweit beobachten lässt. Diesen Vorgang bezeichnet er als
Postmodernisierung.
Inglehart hat mit seiner Forschung einen wichtigen Beitrag zur Einstellungs- und
Partizipationsforschung geliefert, die intensiv diskutiert wurden (Inglehart 2007,

6
Weitere Aspekte siehe Welzel (2009, S. 126–134).
564 C. Mohamad-Klotzbach

S. 228–230). Abramson (2011) fasst in einer Metaanalyse insgesamt 48 Kritiken (!)


zusammen, die seit den 1970er-Jahren bis einschließlich 2007 veröffentlicht wurden.
Zu den wichtigsten Kritikpunkten gehören.

1. Kritik an der Generationenthese: Eine Gruppe von Kritikern (B€urklin 1984;


Jagodzinski 1983; Marsh 1975) weist darauf hin, dass Lebenszykluseffekte dazu
f€
uhren, dass j€ ungere Menschen postmaterialistischer als ältere Menschen seien.
Ereignisse wie Heirat, Geburt der Kinder oder Studienabschluss können dazu
f€
uhren, dass sich Wertprioritäten verschieben. Somit wären zu jedem Zeitpunkt
j€
ungere Menschen postmaterialistischer und Ältere materialistischer. Eine zweite
Gruppe (Böltken und Jagodzinski 1985; Clarke et al. 1999; Clarke und Dutt
1991; Duch und Taylor 1993) argumentiert, dass Periodeneffekte, die aufgrund
von wirtschaftlichen Schwankungen zustande kommen, ursächlich f€ur die
Zunahme von Postmaterialisten sind. Welzel (2007) zeigt in einer Studie zu
Westeuropa, dass f€ur einen Zeitraum von fast 30 Jahren (1970–1999) sowohl
ein Generationeneffekt, als auch Periodeneffekte zu beobachten sind.
2. Ranking vs. Rating: Der Wertsyntheseansatz, dessen prominenteste Vertreter in
Deutschland Klages (1984), B€urklin et al. (1996) und Gensicke (2010) sind,
kritisiert das favorisierte Rankingverfahren und nutzt stattdessen das Ratingver-
fahren, das von einem Nebeneinander verschiedener Wertorientierungen ausgeht,
die sich zu bestimmten Werttypen zusammensetzen können.
3. Eindimensionalität des Konzepts: Flanagan (1982; Inglehart und Flanagan 1987)
argumentiert, dass sich der Wertewandel der Bevölkerung auf mindestens zwei
unterschiedlichen Dimensionen vollzieht: von materiell zu nicht-materiell und
von autoritär zu libertär. Braithwaite et al. (1996) und Nevitte (1996) argumen-
tieren, dass die Bevölkerung in entwickelten Industriestaaten einen Wandel von
sicherheitsorientierten Werten hin zu harmonieorientierten Werten durchläuft.
Zudem seien die beiden Ursachenhypothesen (Mangel, Sozialisation) zu verein-
fachend, da der Wertewandel durch vielschichtige Veränderungen innerhalb eines
politischen Systems hervorgerufen wird. (Dalton 2006, S. 154)
4. Stagnation des Wertewandels: Zwischen 1990 und 2000 konnte in verschiedenen
westeuropäischen Ländern nur ein geringer Wandel oder gar R€uck-
verschiebungen beobachtet werden, während in Osteuropa die bereits geringen
Anteile an Postmaterialisten sogar gesunken sind. (Lauth et al. 2014, S. 225)

Um den globalen kulturellen Wandel besser einschätzen zu können, entwickelten


Inglehart und Kollegen auf Basis der Daten der WVS einen zweidimensionalen
Werteraum (global culture map). Die erste Dimension besteht aus den Polen tradi-
tionell-religiös und säkular-rational, während die zweite Dimension Werte des
Überlebens und der Selbstentfaltung gegen€uber stellt. In diesem kulturellen Werte-
raum lassen sich die Lagen der Gesellschaften, die in den WVS analysiert wurden,
erfassen und kulturelle Muster erkennen (Inglehart und Baker 2000; Welzel 2009,
S. 116–117).
Beide Autoren untersuchen Zusammenhänge zwischen Wertorientierungen und
Demokratisierungsprozessen sowie der Bestimmung von Demokratiequalität. Als
Wertewandel in der Vergleichenden Politikwissenschaft 565

theoretische Grundlage dient die Theorie der Humanentwicklung (human develop-


ment sequence), die von Welzel ausgearbeitet wurde (Inglehart und Welzel 2005,
Welzel 2002; Welzel et al. 2003) und in ihrer aktuellsten Version als „evolutionary
theory of emancipation“ vorliegt (Welzel 2013). Diese Theorie geht davon aus, dass
Demokratisierung als emanzipatorischer Akt zu sehen ist. Ebenso nimmt sie an, dass
die eigentliche Triebfeder von Demokratisierungsprozessen die emanzipatorischen
Kräfte einer Gesellschaft sind. Diese spiegeln sich in den Freiheitspräferenzen der
B€urger wider. Damit wird der Zusammenhang zwischen sozioökonomischen Wan-
del, Wertewandel, Freiheit und politischem Strukturwandel oder Demokratisierung
hergestellt. Die mit dem Wertewandel verbundene Ausbreitung von Selbstentfal-
tungswerten (self-expression values) erwies sich als förderlich f€ur die Steigerung der
Qualität der Demokratie. Zu diesen Werten zählen „liberty aspirations, tolerance of
nonconformity, affinity to civic action, trust in people, and a sense of self-esteem.“
(Welzel und Inglehart 2007, S. 307)7 Die dahinterliegende Annahme lautet, dass
Demokratien durch Bereitstellung von Freiheitsrechten Legitimität bei ihrer Bevöl-
kerung generieren.
Die empirischen Befunde zeigen, dass es f€ur Befragte mit stärker emanzipatori-
schen Werten wichtiger ist als f€ur andere Befragte, in einer Demokratie zu leben.
Zugleich wird die Diskrepanz zwischen den Demokratiebef€urwortern und der
Bewertung der Demokratie im eigenen Land mit wachsenden emanzipatorischen
Werten größer. So steigt die Zahl der critical citizens in einer demokratischen
Gesellschaft an, die eine Chance f€ur eine weitere Demokratisierung des jeweiligen
Landes darstellen (Welzel 2009, S. 129–131; kritisch u. a. Berg-Schlosser 2003;
Hadenius und Teorell 2005).

4 Das Wertekreis-Modell von Schwartz

In den letzten Jahrzehnten setzt sich zunehmend das entwicklungspsychologische


Konzept von Shalom H. Schwartz (1992) durch. Dies zeigt sich u. a. daran, dass
entsprechende Erhebungsinstrumente sowohl in allen bisherigen Wellen des
European Social Survey (ESS), als auch in den letzten beiden Wellen des WVS
enthalten sind. Schwartz definiert Werte als „desirable transsituational goals, varying
in importance, that serve as guiding principles in the life of a person or other social
entity.“ (Schwartz 1994, S. 21) Er benennt des Weiteren sechs zentrale Eigenschaf-
ten von Werten, die sich aus seiner Sicht implizit in den Arbeiten anderer Theoretiker
finden lassen (u. a. Kluckhohn 1951; Rokeach 1973): a) values are beliefs; b) values
refer to desirable goals; c) values transcend specific actions and situations; d) values
serve as standards or criteria; e) values are ordered by importance; e) the relative
importance of multiple values guides action (Schwartz 2012, S. 4).

7
Religiosität war anfangs auch noch Teil des Wertekanons, wurde dann später aber ausgegliedert;
Welzel et al. 2003.
566 C. Mohamad-Klotzbach

In seinem Konzept unterscheidet Schwartz (2012, S. 5–7) zehn motivational


unterschiedliche Typen von Werten (vgl. Tab. 2).8 Diese Werte basieren auf drei
universellen Anforderungen, die sowohl f€ur alle Individuen als auch Gesellschaften
eine Herausforderung darstellen: „needs of individuals as biological organisms,
requisites of coordinated social interaction, and requirements for the smooth func-
tioning and survival of groups.“ (Schwartz 1994, S. 21 – Herv. CMK).9
Des Weiteren versucht Schwartz mithilfe seiner Theorie die Beziehungen bzw.
die Struktur zwischen den formulierten Wertetypen erklären zu können (Schwartz
2012, S. 8). Beispielsweise treten Leistungswerte typischerweise in Konflikt mit
Benevolenzwerten, während sie mit Machtwerten kompatibel sind.
Das Wertekonzept von Schwartz ist zirkulär angeordnet – daher die Bezeichnung
„Wertekreis-Modell“ (vgl. Abb. 1). Diese zirkuläre Anordnung der Wertetypen
basiert auf der Idee eines motivationalen Kontinuums. „Je näher zwei Wertetypen
in jeder Kreisrichtung beieinander liegen, desto ähnlicher sind die ihnen zugrunde
liegenden Motivationen, und je weiter zwei Wertetypen voneinander entfernt liegen,
desto gegensätzlicher sind die ihnen zugrunde liegenden Motivationen.“ (Schmidt
et al. 2007, S. 262).
In Anlehnung an das Wertekonzept von Rokeach (1973), entwickelte Schwartz
f€ur seine eigene Theorie den sog. Schwartz Value Survey (SVS) (Schmidt et al. 2007,
S. 263; Schwartz 2012, S. 10–11). Dieser besteht aus 56–57 Einzelwerten, die
jeweils einem der zehn Wertetypen zugeordnet werden. Diese Einzelwerte werden
auf zwei Listen aufgeteilt: die erste enthält 30 items, die potentielle Ziele (terminal
bzw. end values) in Nomenform beschreiben; die zweite Liste besteht aus 26–27
items, die w€ unschbare Formen zu Handeln (instrumental bzw. means values) in
adjektiver Form benennen. Jeder im SVS aufgef€uhrte Einzelwert wird durch eine in
Klammern gesetzte Erläuterung ergänzt, die die Bedeutung des jeweiligen Wertes
entweder erklärt und/oder seine Bedeutung einschränkt. Bevor die Befragten die
Wichtigkeit aller 56–57 Werte als „Leitprinzip in meinem Leben“ auf einer 9er-Skala
von „äußerst wichtig (7)“ bis „nicht mit meinen Werten vereinbar ( 1)“ bewerten,
lesen sie die gesamte Werte-Liste durch und entscheiden, welche Werte f€ur sie am
wichtigsten bzw. am unwichtigsten sind. (Schmidt et al. 2007 S. 263; Schwartz
1994, S. 26)
Ein alternatives und j€ungeres Erhebungsinstrument stellt der Portrait Values
Questionnaire (PVQ) dar, der entwickelt wurde, um die zehn Wertetypen bei Kin-
dern im Alter von 11–14 Jahren sowie von Personen, die nicht mit abstraktem,

8
In einer neueren Publikation haben Schwartz und andere eine Reformulierung seiner Theorie
vorgenommen (Schwartz 2012). Diese enthält nun nicht mehr 10, sondern 19 Wertetypen im
Rahmen des motivationalen Kontinuums (Schwartz 2012, S. 684), die sich weitgehend in der
empirischen Überpr€ufung bestätigen ließen.
9
Schwartz (1994, S. 23) verweist auf einen elften Wertetyp (Spiritualität), der Werte vereint, die als
motivationales Ziel die Suche nach dem Sinn des Lebens beinhalten (spezifische Einzelwerte: Sinn
des Lebens, ein spirituelles Leben, innere Harmonie). Dabei ist es umstritten, inwiefern sich dieser
Wertetyp von den drei universellen Anforderungen ableiten lässt. Schwartz kommt zu dem Schluss,
dass er kultur€ubergreifend nicht implizit angenommen werden kann.
Wertewandel in der Vergleichenden Politikwissenschaft 567

Tab. 2 Wertetypen, motivationale Ziele, spezifische Einzelwerte, Wertedimensionen und univer-


selle Anforderungen nach Schwartz
universelle
zentrales spezifische Werte- Anforderung
Wertetyp motivationales Ziel Einzelwerte Dimension (en)
Macht Sozialer Status und soziale Macht, Selbst- Interaktion
Prestige, Kontrolle Autorität, Reichtum, Erhöhung Gruppe
oder Dominanz € uber mein öffentliches
Menschen und Ansehen wahren
Ressourcen
Leistung Persönlicher Erfolg erfolgreich, fähig, Selbst- Interaktion
durch die ehrgeizig, Erhöhung Gruppe
Demonstration von einflussreich
Kompetenz bez€ uglich
sozialer Standards
Hedonismus Vergn€ugen und Vergn€
ugen, das Leben verbindet Organismus
sinnliche genießen Selbst-
Belohnungen f€ ur Erhöhung
einen selbst mit
Offenheit
f€
ur Wandel
Stimulation Aufregung, Neuheit wagemutig, ein Offenheit Organismus
und abwechslungsreiches f€
ur Wandel
Herausforderungen im Leben, ein
Leben aufregendes Leben
Selbst- Unabhängiges Denken Kreativität, Freiheit, Offenheit Organismus
bestimmung und Handeln, unabhängig, f€
ur Wandel Interaktion
schöpferisch tätig sein, neugierig, eigene
erforschen Ziele auswählen
Universa- Verständnis, tolerant, Weisheit, Selbst- Gruppe
lismus Wertschätzung, soziale Gerechtigkeit, Über- Organismus
Toleranz und Schutz Gleichheit, eine Welt windung
des Wohlergehens in Frieden, eine Welt
aller Menschen und voll Schönheit,
der Natur Einheit mit der Natur,
die Umwelt sch€ utzen
Benevolenz Bewahrung und hilfsbereit, ehrlich, Selbst- Organismus
Erhöhung des vergebend, treu, Über- Interaktion
Wohlergehens der verantwortungs- windung Gruppe
Menschen, zu denen bewusst
man häufigen Kontakt
hat
Tradition Respekt vor, fromm, meine Bewahrung Gruppe
Verbundenheit mit Stellung im Leben
und Akzeptanz von akzeptieren, dem€
utig,
Gebräuchen und Achtung vor der
Ideen, die traditionelle Tradition, gemäßigt
Kulturen und
Religionen f€ur ihre
Mitglieder entwickelt
haben
(Fortsetzung)
568 C. Mohamad-Klotzbach

Tab. 2 (Fortsetzung)
universelle
zentrales spezifische Werte- Anforderung
Wertetyp motivationales Ziel Einzelwerte Dimension (en)
Konformität Beschränkung von Höflichkeit, Bewahrung Interaktion
Handlungen und Gehorsam, Gruppe
Impulsen, die andere Selbstdisziplin,
beleidigen oder ehrerbietig gegen€uber
verletzen könnten oder Eltern und älteren
gegen soziale Menschen
Erwartungen und
Normen verstoßen
Sicherheit Sicherheit, Harmonie familiäre Sicherheit, Bewahrung Organismus
und Stabilität der nationale Sicherheit, Interaktion
Gesellschaft, von soziale Ordnung, Gruppe
Beziehungen und des sauber, niemandem
Selbst etwas schuldig
bleiben
Quelle: Schmidt et al. ( 2007, S. 262, 265); Schwartz (1994, S. 22); eigene Zusammenstellung

Abb. 1 Das Wertekreis-Modell von Schwartz. Quelle: Schmidt et al. (2007, S. 265); Eigene
Darstellung

kontextfreien Denken erzogen wurden, zu erheben. Der PVQ enthält kurze verbale
Portraits von 40 verschiedenen Menschen (PVQ 40). Jedes Portrait beschreibt
„Ziele, Erwartungen oder W€unsche einer Person, die implizit auf die Wichtigkeit
eines einzelnen Wertetyps hinweisen.“ (Schmidt et al. 2007, S. 263) Die

ubergeordnete Frage f€ur die Befragten lautet: „Wie ähnlich ist Ihnen diese Person?“
Wertewandel in der Vergleichenden Politikwissenschaft 569

Hierzu erhalten sie sechs Antwortmöglichkeiten (sehr ähnlich, . . ., sehr unähnlich).


Auf Basis der Ähnlichkeiten kann Schwartz die Wichtigkeit der Einzelwerte f€ur den
jeweiligen Befragten ableiten. F€ur den ESS wurde speziell eine 21-Item-Version des
PVQ entwickelt (PVQ 21) (vgl. Schwartz 2007), die es ermöglicht, in repräsentati-
ven nationalen Samples großer Surveys, die i. d. R. €uber eine begrenzte Befragungs-
zeit verf€
ugen, Wertestrukturen zu analysieren (Schwartz 2012, S. 11–12).
Die empirischen Ergebnisse der zahlreichen Studien (siehe http://humanvalues.
eu/publications) in €uber 80 Ländern zeigen, dass sich die zehn postulierten Werte-
typen auf Basis der erhobenen Daten abbilden lassen und somit kultur€ubergreifend
zu beobachten sind (Schwartz 2012, S. 12). Des Weiteren wurde eine Kurzfassung
der Schwartz-Batterien in die f€unfte und sechste Welle der WVS aufgenommen, um
zu €uberpr€ufen, inwieweit die zehn Wertetypen bei Schwartz mit den culture maps
von Inglehart in Beziehung stehen (vgl. Welzel 2009, S. 117–118).
Das Wertekreis-Modell wurde in zahlreichen Studien zu verschiedenen anderen
theoretischen Konzepten und empirischen Phänomenen in Bezug gesetzt. Hierzu
zählen u. a. Analysen zu Persönlichkeitsstrukturen wie den „Big Five“10 (Roccas
et al. 2002), zum Institutionenvertrauen (Devos et al. 2002), zur nationalen Identität
(Roccas et al. 2010), Wahlverhalten (Vecchione et al. 2013) sowie zur Links-Rechts-
Selbsteinstufung (Aspelund et al. 2013). Die Studien zeigen, dass sich hier nicht nur
Verbindungen zu den Konzepten von Inglehart und Welzel, sondern auch zu klassi-
schen Fragen der Politischen Kulturforschung, der Partizipations- und Wahlfor-
schung sowie zur Politischen Psychologie herstellen lassen.

5 Werte(wandel)forschung und Vergleichende


Politikwissenschaft – eine fruchtbare Allianz

Welzel betont die Bedeutung der Werteforschung, die „Einsichten in die Motiva-
tionsgrundlagen menschlichen Handelns“ ermöglicht und somit als „Grundlagen-
forschung im eigentlichen Sinne“ (Welzel 2009, S. 134 – Herv. CMK) verstanden
werden kann. Die Forschungsergebnisse zeigen, dass sowohl Werte an sich, als auch
der Wertewandel als eigenständiges Phänomen, Implikationen f€ur gesellschaftliche
und politische Entwicklungen haben. Die Veränderung der Sozialmilieus hat Aus-
wirkungen auf das Wahlverhalten und die Bereitschaft zu (unkonventioneller) politi-
scher Partizipation. Ebenso sind aufgrund des Wertewandels Veränderungen in den
politischen Einstellungen zu beobachten, wie die Zunahme der sog. kritischen
B€urger (critical citizens; vgl. Geißel (2011); Norris (1999)), die zunehmend weniger
Vertrauen in hierarchische Institutionen wie Parteien haben, sich gleichzeitig als
politisch kompetent wahrnehmen und entsprechend mehr politisch partizipieren
(wollen).

10
Die f€unf Persönlichkeitsfaktoren (Big Five) lauten Neurotizismus, Extraversion, Offenheit f€
ur
Erfahrung, Gewissenhaftigkeit und Verträglichkeit (vgl. Lang und L€
udtke 2005).
570 C. Mohamad-Klotzbach

Die Theorie der Humanentwicklung bzw. der Human Empowerment Approach


unterstreicht den engen Zusammenhang der Zunahme von Werten der Selbstver-
wirklichung mit der Ausbreitung von Freiheitswerten und liefert somit eine kultur-
alistische Erklärung f€ur Demokratisierungsprozesse. Die Auffassung, dass der Ein-
fluss der Kultur auf die Struktur größer ist als umgekehrt, setzt einen theoretischen
Kontrapunkt zur institutionalistischen Sichtweise und kann als wichtige Aussage f€ur
die politische Kulturforschung angesehen werden (Pickel und Pickel 2006,
S. 139–140).
Vom methodischen Standpunkt aus gesehen, ist im Rahmen der Werte(wandel)
forschung der Einsatz von Aggregat- und Individualdaten sowie die Verwendung
aggregierter Individualdaten sowohl empirisch möglich als auch theoretisch sinn-
voll. Methoden wie die Mehrebenenanalyse oder die Triangulation bieten hier zahl-
reiche Möglichkeiten der Weiterentwicklung (Lauth et al. 2015; Pickel 2009).
Werteforschung und Vergleichende Politikwissenschaft gehen eine fruchtbare
Allianz ein, da die Werteforschung f€ur alle Dimensionen des Politischen – polity,
politics, und policy – Erkenntnisse in Verbindung mit klassischen Fragestellungen
der Komparatistik beinhaltet. Dies zeigen beispielhaft die vorgestellten Forschungen
von Inglehart und Kollegen sowie von Schwartz. Forschungsfragen im Kontext der
klassischen politischen Kulturforschung (Almond und Verba 1963), der Demokra-
tisierungsforschung (Diamond 1999) sowie der Regime-Messung (Qualität demo-
kratischer sowie autokratischer Regime; Lauth (2011, S. 72–74)) stellen eine Berei-
cherung sowie aufschlussreiche Ergänzung f€ur die Auseinandersetzung mit Werten
dar und ermöglichen die Überpr€ufung universeller Annahmen unter Ber€ucksichti-
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Protestkulturen in der Vergleichenden
Politikwissenschaft

Franziska Deutsch

Zusammenfassung
Politischer Protest ist heute aufgrund seiner Verbreitung und Akzeptanz in der
Bevölkerung ein wesentliches Merkmal moderner Gesellschaften. Der Beitrag
gibt einen Überblick dar€uber, wie die Vergleichende Politikwissenschaft dieser
Entwicklung Rechnung getragen hat: Unterschiedliche Ansätze aus Forschung zu
sozialen Bewegungen und politischer Partizipation geben Aufschluss dar€uber,
wie Protest ermittelt werden kann, welche Kontextbedingungen seine Entstehung
befördern und welche individuellen Bestimmungsfaktoren die Teilnahme an
politischem Protest erklären können.

Schlüsselwörter
Protest • Politische Partizipation • Soziale Bewegungen • Partizipatorische
Revolution

1 Einleitung

Unser aktuelles politisches Zeitgeschehen ist von Protestereignissen geprägt: Von


den Demonstrationen auf dem Maidan in der Ukraine, auf dem Tahrir-Platz in Kairo,
dem Gezi-Park in Istanbul, €uber PEGIDA oder Stuttgart 21 in Deutschland, bis hin
zu den Aktionen der globalisierungskritischen Occupy-Bewegung – beinahe täglich
lässt sich in den Medien verfolgen, wie irgendwo demonstriert, boykottiert oder
gestreikt – kurzum: protestiert – wird.
Politischer Protest ist zwar kein Phänomen allein unserer Zeit, trotzdem besteht
heute weitgehend Einigkeit dar€uber, dass diese Form von Protest legitim ist, immer

F. Deutsch (*)
University Lecturer, Field Coordinator at the Bremen International Graduate School of Social
Sciences (BIGSSS), Jacobs University Bremen, Bremen, Deutschland
E-Mail: f.deutsch@jacobs-university.de

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 575


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_43
576 F. Deutsch

verbreiteter wird und damit ein wesentlicher Bestandteil moderner Gesellschaften ist
(Norris 2002). F€ ur die Vergleichende Politikwissenschaft ist Protest als Untersu-
chungsgegenstand aber nicht nur aufgrund seiner gestiegenen Bedeutung als poli-
tische Beteiligungsform relevant, sondern auch aufgrund seiner Rolle in politischen
Wandlungsprozessen, so z. B. beim Zusammenbruch nicht-demokratischer Regime
im Zuge der dritten Demokratisierungswelle oder des Arabischen Fr€uhlings.
Der folgende Beitrag gibt einen Überblick dar€uber, wie die Vergleichende Politik-
wissenschaft dieser Entwicklung Rechnung getragen hat. Nach einer Begriffsklärung
werden zwei unterschiedliche Forschungsansätze zu politischem Protest vorgestellt,
die sich in ihren Fragestellungen, Analyseebenen und Methoden unterscheiden, aber
mit ihren Ergebnissen beide wesentlich zum Verständnis von politischem Protest
beigetragen haben: Die Forschung zu sozialen Bewegungen und die umfragebasierte
Partizipationsforschung. Nach einer Skizzierung des Forschungsstands werden
abschließend noch einige Herausforderungen der aktuellen Protestforschung heraus-
gearbeitet.

2 Was ist politischer Protest?

Politischer Protest wird definiert als „kollektive, öffentliche Aktion nicht-


staatlicher Träger, die Kritik oder Widerspruch zum Ausdruck bringt und mit der
Formulierung eines gesellschaftlichen oder politischen Anliegens verbunden ist“
(Rucht 2003, S. 23). Dabei werden zwei Ziele verfolgt: Kollektiv vorgetragen
artikuliert Protest zum einen Unzufriedenheit und Empörung €uber eine (geplante
oder getroffene) politische Entscheidung oder gesellschaftliche Umstände.
Zum anderen erzeugt Protest Aufmerksamkeit und wirbt um Zustimmung f€ur die
eigene Position, um damit Druck auf politische Entscheidungsträger auszu€uben
(Rucht 2012, S. 3).
In der Literatur weitgehend unstrittig ist, dass sich das Spektrum politischer
Beteiligungsformen im Zuge einer „partizipatorischen Revolution“ (Kaase 1982)
und der Protestbewegungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts deutlich
ausgeweitet hat (van Deth 2009), so dass politischer Protest heute als normal gilt.1
Aber auch das Verständnis dessen, was als legitime und angemessene Beteiligungs-
form gilt, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten verändert. Die Politikwissen-
schaft reagierte darauf mit einer Ausweitung des Partizipationsbegriffs, der bis in die
1970er-Jahre vornehmlich auf die Bestellung politischer Funktionsträger gerichtet
war (Verba et al. 1978). Im Zuge dieser Begriffserweiterung wird zwar immer wieder
vor einer Aufweichung des Konzepts politischer Beteiligung gewarnt (siehe dazu
u. a. van Deth 2001). Dennoch wird politische Partizipation zumeist als Dreiklang
von Beteiligung an Wahlen, konventionellen Beteiligungsformen (wie z. B.

1
Siehe hierzu auch die Beitrag von Jan W. van Deth zu politischer Partizipation, von Susanne und
Gert Pickel zur politischen Kulturforschung und zu Werten und Wertewandel von Christoph
Mohammad in diesem Handbuch.
Protestkulturen in der Vergleichenden Politikwissenschaft 577

Parteimitgliedschaft) und Protestverhalten untersucht und, im Sinne eines umfas-


senden Blicks auf B€urgerbeteiligung, zuweilen auch durch die Perspektive auf
soziale Partizipation ergänzt (siehe u. a. Norris 2002; Gabriel und Völkl 2005; die
Kapitel zu politischer Partizipation im Oxford Handbook of Political Behavior von
Dalton und Klingemann, 2007). In der Literatur wird, je nach Forschungsansatz,
Protest auch als unkonventionelle Partizipation (Barnes und Kaase et al. 1979) bzw.
Elite-Challenging Activities (Inglehart und Welzel 2005), oder aber als Collective
Action im Kontext sozialer Bewegungen (Tarrow 2011; Klandermans und van
Stekelenburg 2013) diskutiert.
Die diversen Protestformen erfahren trotz temporärer Schwankungen mehr und
mehr Zuspruch in der Bevölkerung. Sie erreichen zwar nicht das Niveau von
Wahlbeteiligung, zeichnen sich aber dennoch durch eine beachtliche Verbreitung
aus. Eine genaue Schätzung zum Protestausmaß ist allerdings schwierig, da es im
Gegensatz zur Teilnahme an Wahlen keine offiziellen Statistiken gibt. Auf Basis
repräsentativer Bevölkerungsbefragungen lässt sich jedoch schließen, dass Unter-
schriftensammlungen und Petitionen als niedrigschwellige Protestaktivitäten am
weitesten verbreitet sind, dahinter folgt die Beteiligung an Demonstrationen
(Norris 2002, S. 197). F€ur Deutschland schwanken die berichteten Beteiligungs-
ur Unterschriftensammlungen seit den 1990er-Jahren zwischen 20 und €uber
raten f€
60 Prozent, f€ ur Teilnahme an genehmigten Demonstrationen zwischen 10 und
30 Prozent (Gabriel und Völkl 2005, S. 546; van Deth 2009, S. 152; Weßels
2013, S. 365). Gabriel und Völkl (2005, S. 547) bescheinigen Deutschland zudem
ein „beachtliches Protestpotenzial“, das Werte von 50 Prozent deutlich
€uberschreitet: Mehr als die Hälfte der Deutschen ist bereit, sich an Unterschriften-
aktionen oder genehmigten Demonstrationen zu beteiligen. Deutschland gehört
damit im europäischen (Teorell et al. 2007, S. 349) und internationalen Vergleich
(Norris 2002, S. 199; Jakobsen und Listhaug 2014, S. 222) zum oberen Drittel der
Länder, in denen Protest am weitesten verbreitet ist. Gleiches gilt auch f€ur die
Beteiligung an Boykotten und Buycotts als Formen politischen Konsumverhaltens
(Political Consumerism, siehe u. a. Stolle und Micheletti 2013), das zum Ziel hat,
durch Kaufentscheidungen Einfluss auf politische und wirtschaftliche Entscheidungs-
träger und -prozesse zu nehmen. Diese Form politischer Partizipation ist insbesondere
in den skandinavischen Ländern, der Schweiz und Deutschland verbreitet.
Dieser erste Überblick deutet bereits an, dass Protest nicht, wie gemeinhin an-
genommen, dort am häufigsten auftritt, wo es objektiv am meisten Grund f€ ur
Unzufriedenheit und Empörung gibt: Dies ist eine der zentralen Erkenntnisse der
Protestforschung, die im Folgenden kurz umrissen werden soll.

3 Protestforschung: Unterschiedliche
Forschungstraditionen

Wie lassen sich Entstehung, Verlauf oder Häufigkeit von politischem Protest erklä-
ren? Politischer Protest ist vielschichtig, er unterliegt nicht nur einem Wandel €uber
Zeit, sondern unterscheidet sich auch in Form, beteiligten Akteuren, Inhalten und
578 F. Deutsch

Zielen, Mitteln und Dauer. Ihn als empirisches Phänomen messbar oder gar zu einem
Untersuchungsobjekt der Vergleichenden Politikwissenschaft zu machen, stellt eine
große Herausforderung dar. Sicherlich liegt in dieser Problematik einer der Gr€unde
daf€ur, warum es in der Protestforschung an einer einheitlichen Forschungsagenda,
perspektive und -methodik mangelt (Rucht 2007). Die Protestforschung ist bis
heute im Wesentlichen von zwei politikwissenschaftlich-soziologischen Traditionen
geprägt und ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten verstärkt durch sozial- und
politisch-psychologische Ansätze und Methoden ergänzt worden.
Eine Forschungstradition zur Untersuchung politischen Protests ist in den
Studien der sozialen Bewegungen (Social Movements) verankert.2 Soziale Bewe-
gungen sind ein „auf gewisse Dauer gestelltes und durch kollektive Identität
abgest€ utztes Handlungssystem mobilisierter Netzwerke von Gruppen und Organi-
sationen, welche sozialen Wandel mit Mitteln des Protests – notfalls bis hin zur
Gewaltanwendung – herbeif€uhren, verhindern oder r€uckgängig machen wollen“
(Rucht 1994, S. 76 f.).
Die Untersuchungsergebnisse basieren zumeist auf Fallstudien, die zum Teil
auch vergleichend angelegt sind (siehe z. B. f€ur Umweltproteste Rootes 2003; f€ur
neue soziale Bewegungen Rucht 1994; Kriesi et al. 1995).3 Die methodischen
Ansätze sind vielfältig (f€ur eine Übersicht siehe Klandermans und Staggenborg
2002; della Porta 2014), neben historischen Überblicken finden sich auch
Interview-, Fokusgruppen- oder Fragebogenstudien. Weit verbreitet ist dar€uber
hinaus die Untersuchung von Protestereignissen, die auf der Basis von Polizeibe-
richten und Zeitungsartikeln identifiziert und kodiert werden. Diese Untersuchun-
gen haben zahlreiche wichtige Erkenntnisse geliefert, insbesondere mit Blick auf
die Entstehung, Entwicklungen und Erfolge sozialer Bewegungen: Protest ist
weniger das Ergebnis verf€uhrbarer, €uber Gef€uhle mobilisierter Massen (siehe dazu
Le Bons Psychologie der Massen (2008[1895]), eines der fr€uhen Werke der
politischen Psychologie). Relative Deprivation und kollektive Unzufriedenheit,
resultierend aus einer Diskrepanz zwischen Erwartung und Realität, sind wichtige
Faktoren (Gurr 1970), reichen aber nicht aus, um die Entstehung von Protest zu
erklären. Zusammengefasst in Japps vielzitierter Beobachtung bedeutet dies:
„Grievances are everywhere, movements not.“ (Japp 1984, S. 316). Politische
Möglichkeitsstrukturen (Political Opportunity Structures, POS) und Ressourcen,
die von den Gruppen organisiert werden können, sind ebenso zentral (Tarrow
2011; McCarthy und Zald 1977). Unter den Möglichkeitsstrukturen gelten nicht
besonders responsive oder repressive, sondern eine Mischung von relativ offenen
bzw. relativ geschlossenen politischen Systemen als g€unstige Rahmenbedingung
von Protest (siehe dazu Eisingers (1973) vergleichende Studie zu politischem
Protest in 43 amerikanischen Städten). Zudem kommt der Elitenkonstellation eine

2
Siehe dazu auch das Kapitel von Brigitte Geißel in diesem Handbuch.
3
Häufiger allerdings lassen sich Sammelbände zu einem eigentlich vergleichend angelegten Thema
finden, die sich aus lose verkn€ upften, einzelnen Länderfallstudien zusammensetzen (siehe
z. B. Klandermans und van Stralen 2015).
Protestkulturen in der Vergleichenden Politikwissenschaft 579

besondere Rolle zu, da Eliten als Teil des politischen Machtgef€uges die Anliegen
der sozialen Bewegung unterst€utzen können oder nicht (dazu und f€ur einen Über-
blick zu den POS-Dimensionen siehe McAdam 1996, S. 27).
Die Studien dieses Forschungszweiges der Protestforschung unterliegen aller-
dings Einschränkungen: Aufgrund ihres Untersuchungsgegenstandes können sie nur
bedingt Aussagen zu individuellen Bestimmungsgr€unden von Protestpartizipation
(z. B. Ressourcen, Motivation, etc.) treffen. Zum anderen – und dieser Grund ist
gewichtiger – ist die Vergleichbarkeit und damit Generalisierbarkeit von Ergebnis-
sen stark eingeschränkt (Walgrave und Rucht 2010a, S. xiv).
Eine andere Forschungstradition ist in der Politischen Partizipationsforschung
verankert und aus dem Politischen Kulturansatz von Almond und Verba (1963)
hervorgegangen (siehe auch Pickel und Pickel 2006).4 Zentral f€ur diese For-
schungstradition ist die Political Action Study von Barnes und Kaase et al.
(1979), die erstmals Bestimmungsgr€unde f€ur Protestverhalten systematisch und
im Ländervergleich untersuchte. Die Studie prägte den bis heute verwendeten
Begriff der unkonventionellen Partizipation, der Protestverhalten als eine Form
politischer Partizipation in Abgrenzung zur Beteiligung an Wahlen sowie konven-
tionellen Partizipationsformen konzeptualisierte. Protest wird als Ergebnis einer
„partizipatorischen Revolution“ (Kaase 1982) verstanden, die zu einer Auswei-
tung des b€urgerlichen Partizipationsrepertoires und einer De-Institutionalisierung
von politischer Beteiligung gef€uhrt hat. Der Fokus ist also ein anderer als in der
auf soziale Bewegungen gerichteten Protestforschung: Hier geht es weniger um
ein spezifisches Protestereignis oder die Handlungsstrategien und -optionen ein-
zelner Protestgruppen, sondern vielmehr um die generelle Verankerung und
Akzeptanz dieser Beteiligungsform in der Bevölkerung sowie deren Bedeutung
f€
ur die Demokratie.
Während der Begriff der unkonventionellen Partizipation heute aufgrund der
hohen Verbreitung und Akzeptanz von Protestaktivitäten – einige sprechen von
einer „Normalisierung“ des Protests und der Protestteilnehmer (Van Aelst und Wal-
grave 2001) – eigentlich obsolet geworden ist, haben neuere Studien zu politischer
Partizipation Protest als eigenständige Dimension politischer Beteiligung auch sta-
tistisch und im Ländervergleich belegen können (Teorell et al. 2007; f€ur eine
theoretische Diskussion siehe Ekman und Amna 2012).
Ausmaß und Bestimmungsgr€unde von politischem Protest werden in der ver-
gleichenden Partizipationsforschung meist mit Hilfe von repräsentativen Bevölke-
rungsumfragen untersucht. So haben Fragen zur Teilnahme und Bereitschaft zur
Teilnahme an Protestaktivitäten wie Petitionen, Demonstrationen oder Boykotten
aus der Political Action Study der 1970er-Jahre Eingang gefunden in die Fragebögen
der ländervergleichenden European Social Survey (ESS, seit 2000) und World
Values Survey/European Values Study (WVS/EVS, seit 1981) und können im

4
Siehe hierzu den Beitrag der gleichen Autoren in diesem Handbuch.
580 F. Deutsch

Zeitverlauf analysiert werden.5 Untersuchungen auf der Basis dieser Daten haben
gezeigt, dass individuelle Ressourcen (z. B. Bildung, Einkommen, höhere Schicht-
zugehörigkeit, etc.), politisches Interesse, eine eher linke politische Orientierung,
aber auch postmaterielle und emanzipatorische Wertorientierungen Protestbeteili-
gung erklären können (Barnes und Kaase et al. 1979; Verba et al. 1995; Norris 2002;
Inglehart und Welzel 2005). Zudem erlaubt dieser Ansatz auch, systematisch nach
dem Einfluss von politischen, ökonomischen und kulturellen Kontextfaktoren im
weiteren Sinne zu fragen. So wird individuelle Protestbeteiligung nicht nur durch
einen höheren ökonomischen Entwicklungsstand eines Landes und demokratischen
Institutionen beeinflusst (Dalton et al. 2010), sondern auch von einem emanzipatori-
schen Werteklima in der Gesellschaft (Welzel und Deutsch 2012).
Kontextfaktoren im engeren Sinne, wie zum Beispiel der unmittelbare Mobilisie-
rungskontext einer Protestbewegung, m€ussen in der umfragebasierte Partizipations-
forschung weitgehend unber€ucksichtigt bleiben. Kritisiert wird dieser Forschungs-
ansatz immer wieder daf€ur, dass Aussagen €uber Verhalten getroffen werden sollen,
dieses aber nicht direkt gemessen bzw. beobachtet wird. Vielmehr erfasst man in
Befragungen bestenfalls berichtetes Verhalten, das der Befragte im Moment der
Selbstauskunft aus seiner Erinnerung rekonstruieren muss. Diese Selbstauskunft,
so zeigen psychologische Studien, ist fehlerhaft, insbesondere dann, wenn
r€
uckblickend Gr€ unde f€ur ein bestimmtes Verhalten angegeben werden sollen (f€ur
einen kritischen Überblick zum Verschwinden von Studien tatsächlichen Verhaltens
zugunsten von Fragebogenstudien siehe Baumeister et al. 2007). Auch lassen sich
Kausalitätszusammenhänge aufgrund der gleichzeitigen Messung von Verhalten und
möglichen Erklärungsfaktoren mit Hilfe von Umfragedaten nur eingeschränkt

uberpr€ufen.
Die beiden vorgestellten politikwissenschaftlichen Forschungsfelder – soziale
Bewegungen und umfragebasierte politische Partizipationsforschung – unterschei-
den sich in ihren unterschiedlichen Fragestellungen und Analyseebenen. Fraglos
sind beiden Ansätzen Grenzen gesetzt bei dem Versuch, politischen Protest zu
ermitteln und zu erklären. Dennoch tragen beide wesentlich zum heutigen

5
Frageformulierung aus dem ESS 2012: „Es gibt verschiedene Möglichkeiten, mit denen man
versuchen kann, etwas in Deutschland zu verbessern oder zu verhindern, dass sich etwas ver-
schlechtert. Haben sie im Verlauf der letzten 12 Monate irgendetwas davon unternommen? Haben
Sie: ein Abzeichen oder einen Aufkleber einer politischen Kampagne getragen oder irgendwo
befestigt; sich an einer Unterschriftensammlung beteiligt; ein B€
urgerbegehren oder Volksbegehren
unterschrieben; an einer genehmigten öffentlichen Demonstration teilgenommen; bestimmte Pro-
dukte boykottiert“?
Frageformulierungen aus dem WVS 2010–14: (1) „Jetzt lese ich Ihnen verschiedene Arten von
politischen Aktionen vor. Könnten Sie mir zu jeder dieser Aktionen sagen, ob Sie sich schon einmal
an ihr beteiligt haben, ob Sie das vielleicht einmal tun w€ urden, oder ob Sie sich unter keinen
Umständen an so etwas beteiligen w€ urden: Unterschriftenaktion, Petition; Boykott; Friedliche
Demonstration; Streiks; eine andere Form des Protests.“ (2) „Sagen Sie mir f€ ur folgende Aktionen,
wie oft Sie sich an diesen im letzten Jahr beteiligt haben: Unterschriftenaktion, Petition; Boykott;
Friedliche Demonstration; Streiks; eine andere Form des Protests (Antwortmöglichkeiten: Über-
haupt nicht / einmal / zweimal / dreimal / mehr als dreimal)“.
Protestkulturen in der Vergleichenden Politikwissenschaft 581

Verständnis, welche Kontextbedingungen die Entstehung von Protest befördern und


welche individuellen Bestimmungsfaktoren die Teilnahme an politischen Protest
erklären können, bei.

4 Fazit

Politischer Protest gehört heute bei den B€urgern in westlichen Demokratien selbst-
verständlich zum Repertoire politischer Partizipation. Auch ist es unstrittig, dass
politischer Protest in Nicht-Demokratien zur Destabilisierung und Transition zu
Demokratie beiträgt (siehe z. B. McAdam et al. 2001; Ulfelder 2005). Vergleichend
angelegte empirische Proteststudien, die Aussagen zur Verbreitung und Akzeptanz
von Protest in nicht-demokratischen Gesellschaften erlauben, sind jedoch rar. Ver-
wunderlich ist das nicht: Zum einen stammen die Theorien zur Entstehung und
Erklärung von politischem Protest sowohl in der Partizipationsforschung als auch in
der Forschung zu sozialen Bewegungen aus den USA und Westeuropa. Zum anderen
gestaltet sich die Datenlage (und damit verbunden auch Fragen von Finanzierung,
Durchf€ uhrbarkeit und Validität von vergleichend angelegten empirischen Studien)
schwierig, auch wenn es in den vergangenen zwei Jahrzehnten gelungen ist, die
vergleichend angelegten Umfrageprojekte wie den World Values Survey oder Afro-
barometer um zahlreiche nichtdemokratische Länder und damit die Datenbasis f€ur
statistische Analysen zu erweitern (Dalton et al. 2010; Resnick und Casale 2011;
Welzel und Deutsch 2012).
Auf zwei Herausforderungen der vergleichenden Protestforschung soll zum
Abschluss noch hingewiesen werden: (1) die Kontextualisierung von Protest bei
gleichzeitiger Ber€ ucksichtigung psychologischer Faktoren und (2) die Frage nach
Wirkungszusammenhängen und Kausalität (Klandermans und van Stekelenburg
2013).
Die erste Herausforderung betrifft die Integration der beiden Forschungstraditio-
nen zu Protest, die sich innerhalb der Vergleichenden Politikwissenschaft entwickelt
haben und noch immer nicht ausreichend Bezug zueinander nehmen. Wie es gelin-
gen kann, zeigt jedoch eine Studie zum weltweit bislang größten Protestereignis, den
Anti-Kriegsdemonstrationen vom 15. Februar 2003 – allein in Deutschland gingen
mehr als 500.000 Menschen gegen den Irak-Krieg auf die Straßen, weltweit waren es
Millionen. Rund um dieses eine Protestereignis untersuchte eine Forschergruppe um
Walgrave und Rucht (2010b) in einer vergleichend angelegten Studie (acht Länder,
elf Städte) sowohl die verschiedenen Kontextbedingungen f€ur die Demonstrationen
(u. a. Gelegenheitsstrukturen, Rolle der Sozialen Bewegungen, Mobilisierungska-
näle) als auch mittels Befragungen die individuellen Ressourcen, Motivationen und
Verhaltensweisen der Demonstranten.
Eine zweite Herausforderung findet sich in der Theorieentwicklung und empiri-
schen Erfassung der Auswirkungen von politischem Protest (siehe Kolb 2007 zu den
politischen Auswirkungen sozialer Bewegungen). Die Schwierigkeit liegt v. a. an
der Wechselwirkung mit einer Vielzahl anderer Faktoren, die an unterschiedlichen
Stellen des politischen Prozesses eine Rolle spielen können, so dass Rucht zu dem
582 F. Deutsch

Schluss kommt: „It is safe to say that the size and forms of protest are at best
indirectly linked to the outcomes“ (Rucht 2007, S. 719). Aber auch auf der Indivi-
dualebene lassen sich Kausalzusammenhänge außerhalb des Labors nur bedingt
untersuchen. Die Frage, wieso Menschen ähnliche Situationen und Umstände unter-
schiedlich wahrnehmen und wie sich diese Wahrnehmung in Protestaktivitäten

ubersetzt, steht im Zentrum psychologischer Protestforschung (van Stekelenburg
und Klandermans 2013). Eine innovative Umsetzung dieser Fragestellung findet
sich bei van Stekelenburg et al. (2013), die mit einer Längsschnittbefragung die
Entwicklung einer neu errichteten Wohngegend begleiteten und damit Kausalzu-
sammenhänge und Wechselwirkungen von Einstellungen, sozialen Netzwerken und
Protestaktivität untersuchen konnten. Auch hier gelingt eine Integration unterschied-
licher Forschungsmethoden, die beispielhaft f€ur weitere Protestforschung sein
könnte.

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Extremismusforschung in der
Vergleichenden Politikwissenschaft

Steffen Kailitz und Tom Mannewitz

Zusammenfassung
Der Beitrag erklärt, was Sozialwissenschaftler unter Extremismus verstehen und
warum die Erforschung extremer Bewegungen und Parteien f€ur die vergleichende
Politikwissenschaft von einer großen, allzu häufig unterschätzten Bedeutung ist.
Der Überblick beschränkt sich auf die empirische Forschung zur linken und
rechten Variante des Extremismus. Es wird eine Karte entfaltet, auf der sich
neben gut erschlossenen Bereichen (etwa Aufstieg des Faschismus in der Zwi-
schenkriegszeit) noch ausgesprochen viele blinde Flecken zeigen (etwa zur
Bedeutung extremistischer Parteien in Entwicklungsländern wie Indien). Den
Forschungszweig kennzeichnet noch ein gewisser Parochialismus. Phänomene
jenseits Europas finden zu wenig Beachtung. Besonders zahlreich sind zudem die
Desiderate im Bereich der Forschung zum Linksextremismus.

Schlüsselwörter
Extremismus • Radikalismus • Bewegungsforschung

1 Einleitung

Mit dem Begriff „Extremismus“ bezeichnen Sozialwissenschaftler die fundamentale


Gegnerschaft zur Demokratie, konkret zu den Ideen des demokratischen Verfas-
sungsstaats (u. a. Backes 1989, 2010; Klingemann und Pappi 1972; Lipset und Raab

S. Kailitz (*)
Privatdozent, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hannah-Arendt-Institut f€
ur
Totalitarismusforschung, TU Dresden, Dresden, Deutschland
E-Mail: kailitz@hait.tu-dresden.de
T. Mannewitz
Juniorprofessor f€ur Politikwissenschaftliche Forschungsmethoden, Institut f€
ur Politikwissenschaft,
TU Chemnitz, Chemnitz, Deutschland

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 585


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_44
586 S. Kailitz und T. Mannewitz

1978, S. 428). Die Geschichte des politischen Extremismus ist in dieser Hinsicht
kurz. Es ist wenig sinnvoll, den Ausdruck auf geistige Strömungen in der Zeit vor
der Entstehung des modernen demokratischen Verfassungsstaats im 18. Jahrhundert
anzuwenden. Extremistische Ideologien setzen die Existenz demokratischen und
verfassungsstaatlichen Ideenguts voraus, weil sie zugleich antidemokratisch und/
oder antikonstitutionell sowie mit ihrer Berufung auf Volk und Gesetz häufig
pseudodemokratisch und pseudokonstitutionell sind.
Der Extremismusbegriff lässt sich enger oder weiter fassen. Ein Verständnis,
demzufolge jede Bewegung oder Person bereits als extremistisch gilt, die eine
antidemokratische und/oder antikonstitutionelle Position vertritt, ist deutlich umfas-
sender als eine Interpretation, die dieses Etikett nur vergibt, wenn politisch moti-
vierte Gewalt ins Spiel kommt. Auf internationaler Ebene hat sich nicht zuletzt
infolge des NSDAP-Aufstiegs in den 1920er- und 1930er-Jahren die Auffassung
durchgesetzt, nicht nur Mittel, sondern auch Ziele könnten eine demokratische
Verfassung aus den Angeln heben. Auf dieser Grundlage werden nicht-gewalttätige
Bewegungen wie etwa der „McCarthyism“ in den USA oder der französische „Front
National“ als extremistisch klassifiziert (statt vieler Backes 1989; Mudde 2002;
Wintrobe 2006). Diese Bestimmung des Gegenstands der Extremismusforschung
wurzelt in der sozialwissenschaftlichen Totalitarismusforschung (u. a. Friedrich und
Brzezinski 1956; Linz 2000; Schapiro 1972): Die Bezeichnung „extremistische
Partei“ korrespondiert mit den Regimetypen, die lange mit den Begriffen „Totali-
tarismus“ und/oder „Post-Totalitarismus“ etikettiert wurden und neuerdings als
„Ideokratie“ firmieren (Backes 2013; Backes und Kailitz 2013; Bernholz 2001;
Kailitz 2013; Piekalkiewicz und Penn 1995).
Auf der Ebene politischer Parteien ist die Unterscheidung zwischen Demokratie
und Extremismus mindestens ebenso wichtig wie jene zwischen rechts und links.
Politische Philosophen wie Norberto Bobbio haben dies immer wieder mit
€uberzeugenden Argumenten dargelegt. Ihm zufolge lassen sich vier politische Spek-
tren ausmachen: die extreme Linke („egalitarian and authoritarian“), die moderate
Linke („egalitarian and libertarian“), die moderate Rechte („libertarian and inegalita-
rian“) und die extreme Rechte („antiliberal and antiegalitarian“) (Bobbio 1996).
Empirisch wurde diese Zweidimensionalität des Parteienwettbewerbs bzw. dessen
zweidimensionale Wahrnehmung, die auf eine hufeisenförmige Struktur des politi-
schen Wettbewerbs hinweist, mit Blick auf Deutschland nachgewiesen. Die Ambitio-
nen von Linksextremisten richten sich besonders gegen gewaltenteilende Elemente
des demokratischen Verfassungsstaates. Politische Gewalttaten aus diesem Spektrum
treffen in erster Linie Angehörige der wirtschaftlichen und politischen Elite.
Als rechtsextrem(istisch) bezeichnet man jene Gruppierungen und Personen, die
aus rassistischen (Nationalsozialisten) oder nationalistischen (Nationalisten, Neue
Rechte) Gr€ unden bestimmten Teilen der Bevölkerung, hauptsächlich Ausländern
und Staatsb€ urgern ausländischer Abstammung, keine oder nur stark eingeschränkte
Rechte zubilligen und/oder diese aus dem Land treiben wollen. Den einen dient die
„Volksgemeinschaft“ als Fluchtpunkt ihrer Gedankenwelt, den anderen die Nation.
Allen Rechtsextremisten, den Nationalisten wie den Rassisten, ist das Streben nach
einer ethnisch homogenen Gemeinschaft eigen. Politische Gewalttaten aus diesem
Extremismusforschung in der Vergleichenden Politikwissenschaft 587

Spektrum richten sich in erster Linie gegen Angehörige ethnischer Minderheiten. Im


Vordergrund steht der Gegensatz zur Demokratie.
Die Unterteilung in demokratisch-pluralistische und extremistische Parteien ist
bis zu den j€ungsten Vorschlägen f€ur Parteiensystemtypologien fest in der Par-
teienforschung verankert (Gunther und Diamond 2003). Dar€uber streiten lässt
sich aber, ob ein Extremismusbegriff ausreichend differenziert ist, der Extremis-
mus als „Antithese konstitutioneller Demokratie“ (Backes und Jesse 1989, S. 18)
definiert. Demnach wäre alles, was nicht-demokratisch ist, extremistisch. Analog
zu den Klassifikationen in der neueren politischen Regimeforschung erscheint
zumindest die Untergliederung in demokratische, semidemokratische, autoritäre
und totalitäre Bewegungen und Parteien hilfreich (Kailitz 2004), denn sie erlaubt
eine genauere Differenzierung von „Grautönen“ zwischen Extremismus und
Demokratie. Abseits der Frage nach den „Grautönen“ erscheint es aber vor allem
bedenkenswert, den politischen Regimetyp in den Vordergrund zu stellen, auf den
Bewegungen und Parteien zielen oder den sie tragen. Unterscheiden ließe sich
demnach bei einer Orientierung an der von Kailitz (2013) vorgeschlagenen
Regimeklassifikation beispielsweise zwischen ideokratischen Bewegungen von
links und rechts, die eine Ideokratie anstreben, und monarchistischen Bewegun-
gen, die auf eine Monarchie hinarbeiten. Deutlich w€urde aus dieser Perspektive
etwa, dass populistische Bewegungen von rechts und links nicht auf
eine Ideokratie, sondern eher auf eine elektorale Autokratie (Levitsky und
Loxton 2013) zielen.

2 Zur Bedeutung der Extremismusforschung

Wer die Herrschaft der NSDAP, den Zweiten Weltkrieg und den Mord an
den europäischen Juden, die Herrschaft der kommunistischen Parteien und den
jahrzehntelangen Kalten Krieg oder auch die Terroranschläge von „Al Qaida“
(siehe Stichwort „Terrorismus“) vor Augen hat, erkennt leicht die gesellschaft-
liche Bedeutung des politischen Extremismus. Zwischen der alleinigen diktatori-
schen Machtaus€ ubung extremistischer Parteien von rechts und links, konkret
faschistischer und kommunistischer Parteien (also nicht bloß rechts- und links-
populistischer Parteien), und staatlicher Massengewalt besteht ein starker, von
Forschern wie Manus Midlarsky und Rudolph Rummel belegter, empirischer
Zusammenhang (Courtois 1998; Kallis 2011; Midlarsky 2011; Rummel und
Bauer 2003).
Außerdem gilt die Verbreitung toleranter Einstellungen als €uberlebenswichtig f€ur
die Demokratie (Diamond 1999, p. 166; Linz und Stepan 1996, p. 15). Ein wesent-
licher Indikator f€
ur die Verankerung demokratischer Prozesse und Werte ist die
Minimierung der Unterst€utzung extremistischer Parteien und Bewegungen (Almond
und Verba 1963; Dahl 1989; Lipset und Raab 1978). Diese sind – neben demo-
kratiefeindlichen Kräften im Militär – die zentralen demokratiegefährdenden Ak-
teure (Huntington 1968, p. 412; Linz 1978). Als konsolidiert wird eine Demokratie
588 S. Kailitz und T. Mannewitz

erst dann angesehen, wenn kein bedeutender Akteur eine Diktatur errichten möchte
(Linz und Stepan 1996).
Wirtschaftliche Krisen (etwa Hyperinflation) und/oder negative wirtschaftliche
Wachstumsraten und/oder hohe Arbeitslosigkeit bereiten extremistischen Parteien –
wie etwa im Europa der Zwischenkriegszeit – den Boden (Linz 1978; Bromhead
et al. 2013). Als Paradebeispiel wird das gleichzeitige Anwachsen der Arbeitslosen-
quote in der Weimarer Republik und des Wahlanteils der NSDAP angef€uhrt
(u. a. Lepsius 1978), wenngleich diese seinerzeit deutlich seltener von Arbeitslosen
gewählt wurde als die KPD (Falter 1986; Falter 1991; Fischer 1986).
Extremismus wird nicht erst dann zum Problem, wenn er Herrschaft aus€ubt oder
zu Gewaltexzessen f€uhrt: Extreme Parteien stellen ein Hindernis f€ur Regierungs-
bildungsprozesse, f€ur notwendige politische Reformen und f€ur hohe Regierungs-
stabilität dar (etwa Powell 1982, Kap. „Mikroanalytische Verfahren in der Vergleich-
enden Politikwissenschaft“, „Fallstudien und Process Tracing in der Vergleichenden
Politikwissenschaft“, „Komparative Areaforschung in der Vergleichenden Politik-
wissenschaft“, „Systemwandel und -wechsel in der Vergleichenden Politikwissen-
schaft“; 1986; Sartori 1976, Kap. „Fallstudien und Process Tracing in der Verglei-
chenden Politikwissensc“): Stabile Mehrheiten sind in einer Demokratie schwierig
zu erreichen, wenn zentrale Akteure als Gegner der Demokratie anzusehen sind und
die demokratischen Parteien daher nicht mit ihnen koalieren. Weiterhin tragen
extremistische Parteien zur Ideologisierung der innenpolitischen Debatte (Sartori
1976) und zu politischen Unruhen (Hibbs 1973) bei.
In Krisenzeiten kann laut Giovanni Sartori ein größerer Wahlerfolg extremer
Parteien zudem in einer Handlungsspirale m€unden, an deren Ende eine Demokratie-
krise, ja ein Demokratiezusammenbruch steht – wie in Deutschland und Italien in der
Zwischenkriegszeit. Eine extreme Partei schlage demnach eine allzu einfache Ex-
tremlösung entweder zu Gunsten der kapitalistischen Elite (extreme Rechte) oder zu
deren Ungunsten (extreme Linke) vor. Der von aufstrebenden links- oder rechts-
extremen Parteien ausgehende Druck verschiebe die Policy-Positionen konkurrie-
render links- und rechtsdemokratischer Parteien in Richtung der Extreme. Daraus
folge eine Polarisierung der Parteien und Wähler, welche die Entstehung politischer
Gewalt beg€ unstige (siehe auch Capoccia 2002). Neuere Forschungsergebnisse, etwa
von Bermeo (2003) und Kailitz (2011), stellen allerdings in Frage, ob erstens solche
Polarisierungsprozesse eine Vorbedingung f€ur Demokratiezusammenbr€uche sind
und ob zweitens eine Demokratie, die solche Polarisierungsprozesse erlebt, in der
Regel zusammenbricht.
Neben der breiten Untersuchung aktueller extremistischer Phänomene – vor
allem im Bereich des Rechtsextremismus und des Islamismus – sp€urt die Wissen-
schaft gegenwärtig der Bedeutung extremistischer Bewegungen f€ur die Welle der
Demokratiezusammenbr€uche in der Zwischenkriegszeit nach (Capoccia 2005). Sie
konzentriert sich insgesamt besonders auf die etablierten westlichen Demokratien
und hier auf europäische Staaten (u. a. Jesse und Thieme 2011). Studien zu extre-
mistischen Bewegungen in Afrika, Asien und Lateinamerika sind im Vergleich dazu
viel zu selten; zu den Ausnahmen zählen etwa die Arbeiten von Hartmann (2006),
McGee (1999) und Ollapally (2008). Der Blick €uber den „Tellerrand“ der westlichen
Extremismusforschung in der Vergleichenden Politikwissenschaft 589

Industriestaaten, der bedeutenden Teilen der vergleichenden Sozialwissenschaft


bereits gelungen ist, steht in der Extremismusforschung noch weitgehend aus.

3 Extreme Parteien

Extremismus macht sich in den modernen Demokratien unterschiedlich bemerkbar –


etwa in Form von gesellschaftlichen Einstellungen, klandestinen Zirkeln, legalisti-
schen Parteien oder terroristischen Gruppierungen. So tritt etwa der Islamismus seit
der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vornehmlich in seiner terroristischen Vari-
ante in Erscheinung – am prägnantesten am 11. September 2001. Ihn und andere
Formen des Terrorismus an dieser Stelle darstellen zu wollen, wird ihrer in den
vergangenen Jahrzehnten rasant gewachsenen Bedeutung nicht gerecht – zumal sie
zur Emanzipation eines inzwischen nahezu eigenständigen Forschungszweigs ge-
f€uhrt haben: der Terrorismusforschung. Um den Beitrag nicht zu €uberfrachten,
konzentriert er sich auf die Parteien.

3.1 Extrem rechte Parteien

Der Forschungsstand zu rechtsextremistischen Parteien ist beachtlich. Ein hoher


Anteil der Rechtsextremismusforschung entfällt allerdings noch immer auf Einzel-
fallstudien. Selbst Sammelbände formulieren häufig nur auf dem Cover eine ver-
gleichende Perspektive und enthalten dann eine Aneinanderreihung von Fallstudien.
Eine ganze Reihe neuerer Arbeiten nimmt allerdings tatsächlich eine vergleichende
Perspektive ein und erreicht ein methodisch hohes Niveau (u. a. Arzheimer 2008;
Betz 1994; Carter 2012; Golder 2003; Ignazi 2006; Jackman und Volpert 1996;
Kitschelt und McGann 1995; Minkenberg 1998; Norris 2005).
Gut erforscht ist inzwischen der Aufstieg faschistischer Parteien in den Demo-
kratien der Zwischenkriegszeit (u. a. Bracher 1960; Elazar 2000; Larsen et al. 1980;
Lepsius 1966; Lyttelton 2000). Die Anzettelung des Zweiten Weltkriegs wie der
Genozid an den Juden haben vor allem rechtsextreme Bewegungen und Parteien, die
imperialistische und rassistische Positionen vertreten, diskreditiert. Nach dem Zwei-
ten Weltkrieg konnten solche Parteien bis zum Untergang der kommunistischen
Staaten 1989–91 nicht mehr in Parlamente einziehen. Im 21. Jahrhundert ist nati-
onalsozialistisch geprägten Parteien allerdings auf Länderebene in Deutschland
(NPD) und auf nationaler Ebene in Griechenland („Goldene Morgenröte“) und in
Ungarn (JOBBIK) eine gewisse Renaissance gelungen. Ohnehin dauerte es nach
dem Zweiten Weltkrieg bis in die 1980er-Jahre, auf breiterer Basis sogar bis in die
1990er-Jahre, bis rechtsextreme Parteien auf nationaler Ebene in westlichen Indus-
trieländern wieder Fuß fassen konnten und damit die Demokratie erneut vor eine
Herausforderung stellten. Noch heute fällt sie deutlich kleiner aus als in der Zwi-
schenkriegszeit (Eatwell und Mudde 2004; Hainsworth 2000; Merkl und Weinberg
1997). Wahlerfolge feierten rechtsextreme Parteien zunächst nur im westlichen
Europa, insbesondere in Frankreich, Italien und den skandinavischen Staaten. Nach
590 S. Kailitz und T. Mannewitz

dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime folgten in Osteuropa Erfolge in


Ungarn und Polen. Insgesamt besteht wegen der virulenten Krisensituation in post-
kommunistischen Transformationsstaaten eine erhöhte Gefahr f€ur Wahlerfolge
rechtsextremer Parteien als im Westen (Beichelt und Minkenberg 2002).
Die Renaissance rechtsextremer Parteien gegen Ende des 20. Jahrhunderts be-
fördete die Frage nach den Ursachen. Darum standen in j€ungerer Zeit meist die
Bedingungen f€ ur die Erfolge und Misserfolge rechtsextremer Parteien im Mittel-
punkt der Forschung (u. a. Veugelers 1999). Unter anderem gelten folgende Fakto-
ren als relevant: die Anzahl subjektiver Modernisierungsverlierer, die Verbreitung
von Protestsentiments gegen€uber der Politik („Politikverdrossenheit“) und das ideo-
logische Auftreten der Parteien (radikal versus gemäßigt) (Art 2011; Backes und
Moreau 2012; Carter 2012; Norris 2005; Spier 2010).
Die Ergebnisse sind zum Teil nur schwer in ein stimmiges Verhältnis zu setzen:
Einerseits grenzen die Forscher das Spektrum unterschiedlich ab, schließen hier
rechtspopulistische und -extremistische, dort nur rechtspopulistische, an anderer
Stelle ausschließlich rechtsextremistische Parteien ein. Andererseits vereinigt das
Feld verschiedene theoretische Perspektiven, betont mal eher ökonomische, mal
eher politische, mal eher soziale Faktorenb€undel. Hier besteht noch Bedarf an einer
besseren Systematisierung der Ergebnisse und einer klareren Benennung, f€ur welche
Phänomene welches Modell gilt. So m€ussen keineswegs zwangsläufig die Ursachen
f€ur den Erfolg und Misserfolg rechts- und linksextremistischer Parteien und Bewe-
gungen sowie nicht-extremistischer populistischer (zur Demokratie eher ambivalent
eingestellter) Parteien und Bewegungen identisch sein.
Als einflussreichster Ansatz zur Erklärung des Erfolgs und Misserfolgs radikal
rechter (dabei inklusive rechtsextremistischer und rechtspopulistischer) Parteien gilt
noch immer der von Herbert Kitschelt, auf den wir uns hier aus Platzgr€unden
beschränken. Seine drei Grundannahmen, die vor allem auf Forschungen Ronald
Ingleharts (1977) zum Wertewandel fußen, lauten: 1) Die Verteilung der Wähler-
präferenzen hängt von den spezifischen Lebenserfahrungen der Menschen ab; 2) Ve-
ränderungen in den typischen Lebenserfahrungen haben seit den 1970er-Jahren zu
einer Veränderung der Hauptachse des politischen Wettbewerbs gef€uhrt; 3) die Pole
dieser neuen Achse sind links-libertär und rechts-autoritär. Kitschelt stellte damit der
bekannten Rechts-Links-Achse die Libertär-Autoritär-Achse zur Seite. Als Erfolgs-
formel der von älteren rechtsextremen Parteien abgrenzbaren „neuen radikalen
Rechten“ arbeitete er – ähnlich Betz (1994) – eine Kombination aus Marktliberalis-
mus und Autoritarismus heraus. Vertreter dieses Parteientyps seien der französische
„Front National“, die dänische und die norwegische Fortschrittspartei und der
belgische „Vlaams Blok“. Eine Misserfolgsformel sei dagegen eine Mischung aus
Wohlfahrtschauvinismus und Autoritarismus, ähnlich wie sie die deutschen „Repu-
blikaner“ und der italienische MSI vertreten.
Kritiker warfen Kitschelt vor, er €uberzeichne die Unterschiede etwa zwischen
dem französischen „Front National“ und den deutschen „Republikanern“. Spätestens
seit den 1990er-Jahren seien im Kern alle rechtsextremen Parteien – ob erfolgreich
oder nicht – eher wohlfahrtschauvinistisch als marktradikal orientiert. Darum gebe
es lediglich eine Misserfolgsformel rechtsextremer Parteien in den gegenwärtigen
Extremismusforschung in der Vergleichenden Politikwissenschaft 591

westlichen Demokratien: die programmatische Orientierung an Nationalsozialismus


und Faschismus (Kailitz 2006).
Die Erfolge rechtsextremer Parteien ab den 1980er-Jahren tragen Z€uge einer
„kulturellen Konterrevolution“ gegen den zunehmenden Einfluss linkslibertärer
gr€
uner Parteien (Ignazi 1992, 2006). Den programmatischen Kern bildet die Anti-
Zuwanderungshaltung, die vor allem unter Männern j€ungeren und mittleren Alters
sowie unter formal eher unterdurchschnittlich Gebildeten auf Gehör stößt
(Arzheimer 2008, 2012). Dar€uber hinaus zeichnet sich j€ungst in einigen Ländern –
etwa Deutschland, Frankreich und Tschechien – eine steigende Konkurrenz mit den
Parteien der extremen Linken um die „Arbeiterklasse“ und Menschen mit einer –
tatsächlichen oder perzipierten – d€usteren wirtschaftlichen Perspektive ab. Diese
sehen sich häufig in einer direkten Konkurrenzsituation mit Zuwanderern um das –
immer geringer werdende – Kontingent an Arbeitsstellen, die nur eine relativ geringe
formale Bildung voraussetzen.
Aus makropolitischer Sicht lässt sich dieser Zusammenhang wie folgt beschrei-
ben: Das wirtschaftliche Prinzip der modernen Industriegesellschaft – die Arbeits-
teilung – beg€unstigt soziale Desintegration. Dies wiederum erschwert die Einigung
auf ein f€
ur alle geltendes Wertesystem. Der stetige Wandel der Lebensbedingungen
bringt eine fortwährende Notwendigkeit der Anpassung eigener Einstellungen mit
sich. Und das hohe Maß an Flexibilität, das die Marktwirtschaft den Menschen
abverlangt, bildet bei einem Teil der Bevölkerung einen idealen Nährboden f€ur
extremistische Einstellungen. Sie erscheinen attraktiv, weil sie einfache (Schein-)
Lösungen auf hoch komplexe soziale, politische und ökonomische Probleme anbie-
ten. Im Sinne dieses „Modernisierungsverliereransatzes“, dessen Pioniere Erwin
Scheuch und Hans-Dieter Klingemann (1967) sind, fußt politischer Extremismus
also in der f€ ur Industriegesellschaften typischen sozialen Mobilität, die f€ur den
massenhaften sozialen Auf- und Abstieg von Menschen („Statusinkonsistenzen“)
verantwortlich sei. Aus dieser Perspektive deutete schon Talcott Parsons (1942) den
Aufstieg der NSDAP als Folge der sozialen Entwurzelung ihrer Anhänger. Neuere
Studien zu extrem rechten Parteien (inklusive rechtspopulistischer Parteien) st€utzen
die länder€ubergreifende Tragfähigkeit zentraler Hypothesen dieses Ansatzes bei der
Erklärung der Wahl rechtspopulistischer Parteien (Spier 2010) und der Verbreitung
rechtsextremer Einstellungen in Westeuropa (Butterwegge und Hentges 2008). Auf
politisch-struktureller Ebene wird einem Mehrheitswahlsystem eine effektive Blo-
ckadewirkung gegen den Aufstieg extrem rechter Parteien zugeschrieben. Deren
Erfolgschancen sinken demnach tendenziell mit der Höhe der Sperrwirkung des
Wahlsystems (Carter 2002; Jackman und Volpert 1996).

3.2 Extrem linke Parteien

Linksextreme Parteien sind – im Vergleich zu rechtsextremen – deutlich schlechter


erforscht. Gut durchleuchtet sind vor allem jene, die in Europa an die Schalthebel der
Macht gelangt sind (Brown 2009; Courtois 1998; Schapiro 1970). Obwohl 1989/90
die Zahl linksextremer Regimeparteien eingebrochen ist, f€uhrte dies kaum zu ver-
592 S. Kailitz und T. Mannewitz

gleichenden Analysen der u€briggebliebenen kommunistischen Ideokratien etwa in


China, Kuba, Laos, Nordkorea, Vietnam (siehe dazu die Beiträge zu China, Kuba
und Nordkorea in Backes und Kailitz 2013). Eine gesteigerte Aufmerksamkeit
diesen Regimen gegen€uber verspricht Antworten auf die Fragen, wie die
Demokratisierungschancen in diesen Ländern einzuschätzen sind, wie es kommu-
nistische Regime schafften, zu €uberleben, zu welchen systemischen Anpassungs-
leistungen sie in der Lage sind und wie sie sich nach den Krisenerfahrungen
legitimieren (Saxonberg 2013). Während etwa in China der adaptiven kommunisti-
schen Ideologie eine legitimierende und damit stabilitätsförderliche Wirkung zuge-
schrieben wird (Gilley und Holbig 2010; Holbig 2013), erweisen sich in Nordkorea
ein hoher Repressionsgrad und die Kohärenz der politischen Elite (aufgrund von
Kooptation und der Furcht vor einer Vereinigung mit S€udkorea unter demokrati-
schen Vorzeichen) als stabilisierend (Gerschewski und Köllner 2009; Horak 2011).
Systematische Erklärungsversuche, die €uber derartige (deskriptive) Einzelfalldar-
stellungen hinausgehen und generelle Muster herauslösen wollen, bilden die
Ausnahme (Levitsky und Way 2013).
Neuere Regierungsparteien, die eher im Graubereich zwischen Linksextre-
mismus und Demokratie angesiedelt sind, kamen im Zuge der sogenannten „Pink
Tide“ um die Jahrtausendwende in Lateinamerika aufs Tapet: etwa in Venezuela
(Chavez), Bolivien (Morales) und Nicaragua (Ortega). Diese elektoralen Autokra-
tien in eine Reihe mit den Ideokratien in S€udostasien und Kuba zu stellen, wird
weder unterschiedlichen Herrschaftscharakteristika (Zugang, Reichweite, Legitima-
tion) gerecht noch der historischen Genese und den programmatischen Besonder-
heiten – etwa dem Bolivarismus und der Idee eines „Sozialismus des 21. Jahrhun-
derts“ (Cameron und Hershberg 2010). Auftrieb erhalten die linkspopulistischen
Parteien der Region von der grassierenden wirtschaftlichen Ungleichheit und sozialen
Spannungen. Daher ist ein Ende ihres Erfolgszuges nicht abzusehen (Castañeda 2006;
Levitsky und Roberts 2011).
Neben dem Kommunismus bildet der Anarchismus die zweite große Strömung
im Linksextremismus. Er spielte aber nach dem Zweiten Weltkrieg nur noch eine
untergeordnete Rolle – in der Politik wie in der Forschung (Bernecker 2006; Damier
und Archibald 2009; Lösche 1977). In der Zwischenkriegszeit kam ihm lediglich in
Spanien und Italien eine größere Bedeutung zu, nicht zuletzt in der gewalttätigen
Auseinandersetzung mit faschistischen Bewegungen.
Was die kommunistischen Parteien in Demokratien angeht, so profitierten sie in
Europa vor allem in den 1940er-Jahren massiv von ihrer Unterst€utzung des antifa-
schistischen Widerstands und erzielten sie ihre bis dahin größten Wahlerfolge unter
demokratischen Bedingungen. In vielen Staaten wurden sie zudem in die lager-
€ubergreifenden ersten Nachkriegsregierungen integriert, etwa in Frankreich, Italien
und Österreich. Im Zuge der folgenden „kalten“ Konfrontation zwischen kommu-
nistischen Regimen und liberalen Demokratien nahm der Wählerzuspruch jedoch
rasch ab.
Zwischen 1945 und 1989/90 wurden linksextreme Parteien in westlichen Demo-
kratien vorrangig mit Blick auf ihr Verhältnis zu Moskau unter die Lupe genommen
(Kellmann 1988; McInnes 1975; Timmermann 1985; Waller und Fennema 1988). Es
Extremismusforschung in der Vergleichenden Politikwissenschaft 593

ließ sich unterscheiden zwischen den stark an Moskau orientierten und den soge-
nannten „eurokommunistischen“ Formationen. In Europa kamen maoistische Par-
teien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts €uber den einen oder anderen
Achtungserfolg nicht hinaus (Alexander 2001) – anders als in Asien (Böke 2007;
Marks 1996), insbesondere Indien, wo unzählige regional operierende Gruppierun-
gen („Naxaliten“) eine virulente politische, teils gewalttätige Kraft wurden. Gesell-
schaftlichen R€uckhalt verschaffen ihnen die grassierende Armut und massive sozio-
ökonomische Disparitäten (Raghavan 2011) – ähnlich wie in Lateinamerika.
Angesichts der destabilisierenden Wirkung auf die weltweit größte Demokratie
verwundert das geringe sozialwissenschaftliche Interesse: Eine sich noch weiter
öffnende Schere zwischen Arm und Reich in Indien und ein daraus resultierender
Sprung ins autokratische Lager könnten dazu f€uhren, dass k€unftig Menschen, die
unter einem freien Regime leben, weltweit wieder eine Minderheit bilden.
Eine Reihe von Studien widmete sich nach dem Zusammenbruch der sowjet-
kommunistischen Regime – mal eher deskriptiv, mal methodisch anspruchsvoller –
den verschiedenen Reaktionsmustern linksextremer Formationen auf die politischen,
sozialen und wirtschaftlichen Umwälzungen im Osten Europas (Backes und Moreau
2008; Bell 1993; Botella und Ramiro Fernández 2003; Bozóki und Ishiyama 2002;
Bull und Heywood 1994; Grzymała-Busse 2002; March 2011). Als erfolgreichste
Strategie – vor allem im postkommunistischen Raum – erwies sich die vollständige
Sozialdemokratisierung, mithin der Abschied von revolutionärem Impetus und der
Diktatur des Proletariats. Diesen Weg wählten etwa die fr€uheren Staatsparteien in
Polen (SLD), Ungarn (MSZP) und der Slowakei (SDL‘). Sie steigerten mit dem
Öffnungsprozess ihre Attraktivität gegen€uber der Bevölkerung und haben sich nicht
selten zu demokratischen Volksparteien entwickelt. Damit verließen sie das Gebiet
der Extremismusforschung.
Andere Organisationen wie etwa Die Linke in Deutschland oder der PCF in
Frankreich lassen sich als ideologisch heterogene Sammlungsparteien am linken
Rand der Parteiensysteme begreifen, die an revolutionären Zielen festhielten, vom
organisatorischen Leninismus aber Abstand nahmen. Sie versammeln Gruppen und
Gr€uppchen, die das gesamte Spektrum links der Sozialdemokratie abdecken: von
engagierten Sozialstaatsbef€urwortern und durchaus regierungswilligen Gewerk-
schaftsmitgliedern bis hin zu Trotzkisten und Stalinisten. Entsprechend heterogen
setzt sich die Wählerschaft zusammen. Diese „Sammlungs“-Strategie ist bisweilen
von beachtlichem und andauerndem elektoralem Erfolg gekrönt.
Schwierigkeiten, sich dem Sog der Bedeutungslosigkeit zu entziehen, haben
insbesondere jene Formationen, die an einer orthodox-kommunistischen Ideologie
und Struktur festgehalten haben. Sie sind in Ost wie West häufig zu bei Wahlen
bedeutungslosen Sekten geworden, die sich sowohl von den großen Sammlungs-
parteien als auch von anderen, ideologisch festgefahrenen Kleinstparteien mit größ-
ter Vehemenz abschotten. Der Trotzkismus ist unter ihnen weit verbreitet, doch auch
sowjetkommunistische Parteien fehlen hier nicht – vor allem im postkommunisti-
schen Raum (z. B. KSS in der Slowakei, KSČM in Tschechien oder MP in Ungarn).
Eine Sonderstellung hat die russische KPRF inne, die bei Parlaments – wie Präsi-
dentschaftswahlen von Zeit zu Zeit sehr hohe Stimmzahlen einfährt. In ihrer Ideo-
594 S. Kailitz und T. Mannewitz

logie paaren sich originär kommunistische Ideale zum Teil mit nationalistischen und
chauvinistischen Ressentiments.
Kommunistische Parteien schneiden bei Wahlen im Durchschnitt deutlich
schlechter ab als in Richtung Sozialdemokratie reformierte Parteien. Allerdings
gelingt ihnen von Zeit zu Zeit, vor allem in den postkommunistischen Staaten, ein
Achtungserfolg – Voraussetzung daf€ur ist jedoch die ausbleibende Konkurrenz mit
Sammlungsparteien aus dem eigenen Lager. Im Übrigen zeichnen in erster Linie
ökonomische Faktoren f€ur die Wahlbilanz des Linksextremismus verantwortlich: Im
Westen Europas sind dies vornehmlich die Arbeitslosenquoten, im Osten die
Gesamtheit sozioökonomischer Folgekosten der Transformationsprozesse (Manne-
witz 2012). Dies hat Linksextremisten in postkommunistischen Staaten sogar einige
Regierungsbeteiligungen beschert (Olsen et al. 2010): etwa der PSM in Rumänien
(1992–1996), der PCRM in Moldawien (2001–2010), der SRP in Polen
(2006–2007) und der ZRS in der Slowakei (1994–1998).
Die gegenwärtige Linksextremismusforschung fällt vor allem durch offene De-
siderata auf: Vergleiche – zwischen Parteien und Ländern – gehören noch immer zur
Ausnahme. Außerdem erheben die meisten Studien lediglich deskriptiven Anspruch.
Die Strategien und Taktiken kommunistischer Parteien, um an die Macht zu gelan-
gen (Ausnahme: Zinner 1963), die Ursachen f€ur die Stabilität linksextremistischer
Ideokratien und das Entwicklungspotential linker autoritärer Regime liegen daher
weithin im Dunkeln; die generellen Erfolgs- und Misserfolgsbedingungen (und
damit Ursachen demokratischer Stabilität) ebenso – wenngleich sich ökonomische
Disparitäten und Armut als linksextremistischer Nährboden herauszukristallisieren
scheinen. Am stärksten widmete sich die vergleichende Extremismusforschung dem
Linksextremismus in Europa und Nordamerika (Chiocchetti 2013; Klehr 1988;
Mannewitz 2012; March 2011; McKay 2005). Allerdings sind dies Regionen, die
nicht durch starke linksextreme Parteien auffallen. Eine vergleichende Linksextre-
mismusforschung zu Afrika oder Asien existiert praktisch nicht, zu Lateinamerika
entwickelt sie sich gerade. Dies erscheint problematisch angesichts der Bedeutung
der Parteien f€
ur die innere Sicherheit und die Stabilität großer Demokratien (Indien)
und f€ur die weltweiten Etablierungs- und Konsolidierungschancen der Demokratie
(Lateinamerika und S€udostasien).

4 Zusammenfassung

Die vergleichende Extremismusforschung weist thematische Stärken im Bereich des


Rechtsextremismus auf, in geografischer Hinsicht analysiert sie vor allem europä-
ische Phänomene. Unter diesen sind hinsichtlich der Gegenwart ausgerechnet die
westlichen Industriestaaten mit großem Abstand am besten erforscht. Die Extremis-
musforschung ist somit paradoxerweise gerade dort stark, wo auf der Grundlage der
Erkenntnisse der Demokratiekonsolidierungsforschung die Gefährdung der Demo-
kratie durch extremistische Parteien und Bewegungen am geringsten ist. Bereits in
der Zwischenkriegszeit zeigte sich, dass wohlhabende etablierte und auf dieser
Grundlage auch funktionierende Demokratien wie in Großbritannien und den USA
Extremismusforschung in der Vergleichenden Politikwissenschaft 595

selbst eine fundamentale sozioökonomische Misere wie die Weltwirtschaftskrise


relativ schadlos €
uberstehen. Gefährdet sind durch extremistische Bewegungen und
Parteien vor allem junge und/oder arme und/oder dauerhaft defekte Demokratien.
Diesen Fällen widmen sich Extremismusforscher wiederum kaum. Hier bedarf es
dringend einer besseren Verwendung der raren Forschungsressourcen.
Die Extremismusforschung ist mithin noch von einem gewissen, allerdings
zumindest langsam aufbröckelnden Provinzialismus geprägt. Die Voraussetzungen
f€
ur eine Weiterentwicklung der Extremismusforschung stehen gut. In der interna-
tionalen sozialwissenschaftlichen Forschung hat sich der Forschungszweig mit eige-
nen Publikationsorganen, etwa dem „Journal for the Study of Radicalism“, dem
„Jahrbuch Extremismus & Demokratie“ sowie Buchreihen wie etwa „Extremism &
Democracy“ (bei Routledge) etabliert. Weitere Zeitschriften wie „Patterns of Preju-
dice“ konzentrieren sich stark auf die Thematik. Auch in den internationalen sozial-
wissenschaftlichen Organisationen finden sich inzwischen €uberall Untergliederun-
gen, die sich mit dem politischen Extremismus beschäftigen. Allein der 1999
gegr€undeten, €
uberaus aktiven Gruppe „Extremism & Democracy“ des „European
Consortium of Political Research“ gehören mehr als 700 Mitglieder aus €uber 50 Län-
dern an. Gerade im Bereich der Rational-Choice-Forschung hat die Extremismus-
forschung in der letzten Dekade immens an Bedeutung gewonnen, da extremistische
Gesinnungen inzwischen als zentraler Pr€ufstein f€ur die Prämissen der Theorie der
rationalen Wahl gelten (Breton 2002; Wintrobe 2006). Auf eine fortschreitende
internationale Konsolidierung des Forschungszweigs weisen der Anstieg an For-
schungsberichten (Backes 2003; Lang 2006; Mudde 2002) und das vierbändige,
von Cas Mudde organisierte Mammutwerk „Political Extremism“ hin (Teilbände:
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Politische Kommunikation in der
Vergleichenden Politikwissenschaft

Karl-Rudolf Korte und Sophia Regge

Zusammenfassung
Kommunikation ist f€ur die Politik systemnotwendig. Politische Kommunikation
legitimiert Politik. F€ur die B€urger ist Politik primär medienvermittelt. Die Medien
sind zum Format-, Takt-, Bild- und Modellgeber der Politik avanciert. Der
Beitrag bietet eine Einf€uhrung zum Thema politische Kommunikation sowie eine
Ausf€ uhrung zur wechselseitigen Beziehung zwischen Medien und Politik.
Zudem wird ein Überblick zum Beitrag der vergleichenden Politikwissenschaft
in der Analyse politischer Kommunikation geboten. L€ucken auf dem heutigen
Forschungsstand werden aufgezeigt.

Schlüsselwörter
Politische Kommunikation • Legitimation • Medien • Vergleichende Politikwis-
senschaft

Politische Kommunikation bildet einen Grundbaustein in der Forschung zu Politik


und Regieren in Deutschland. Kommunikation ist wesentlich f€ur die Handlungs- und
Steuerungsfähigkeit einer Regierung und erscheint keinesfalls als Nebenschauplatz
oder bloßes Attribut der Politik, sondern vielmehr als eine zentrale Bedingung f€ur
ihren Erfolg. Die Legitimation von Politik erfolgt €uber Kommunikation – folgt man
diesem systematischen Ansatz, der seit den 1990er Jahren das Forschungsfeld

K.-R. Korte (*)


ur Politikwissenschaft, Direktor der „School of
Professor f€ur Politikwissenschaft, Institut f€
Governance“, Universität Duisburg-Essen, Duisburg, Deutschland
E-Mail: krkorte@uni-duisburg-essen.de
S. Regge
Koordination des Projektbausteins “Politische Gespräche” der Stiftung Mercator und der NRW
School of Governance, Institut f€
ur Politikwissenschaft, Universität, Duisburg, Deutschland
E-Mail: sophia.regge@uni-duisburg-essen.de

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 601


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_45
602 K.-R. Korte und S. Regge

erweiterte und seitdem als fester Bestandteil der Politikwissenschaft insbesondere


der Regierungsforschung und der Analyse des Politikmanagements – zu verorten ist
(Sarcinelli 2009; Sarcinelli 2013; Czerwick 2013; Korte und Fröhlich 2009: 271 ff.).
Politik und Medien stehen in einem Wechselverhältnis. Einerseits nutzen Politi-
ker Medien, aber andererseits können auch Medien eine eigene Art von „Macht“
aus€uben. Es wird deutlich, dass die medienvermittelte Wahrnehmung einer bestimm-
ten Sache – auch wenn sie nicht der Wirklichkeit entspricht – wirkmächtiger als die
„Realität“ sein kann und zu einer neuen „Lage“ f€uhrt. Die Bedeutung des Verhältnis-
ses von Medien und Kommunikationsprozessen erscheint als geradezu konstitutiv
f€
ur Politik und Regieren (Korte und Fröhlich 2009).
Fokus des folgenden Beitrags sind die Grundlagen der Politikvermittlung in der
Mediendemokratie. Forschungsfragen zur politischen Kommunikation werden an
der Schnittstelle zwischen Politikwissenschaft und Kommunikationswissenschaft
diskutiert. Zudem wird der gegenwärtige Forschungsstand zum Thema öffentliche
Kommunikation in der Vergleichenden Politikwissenschaft dargestellt. Weitere zen-
trale Fragestellungen sind: Welchen Beitrag kann die Vergleichende Politikwissen-
schaft bei der Untersuchung von Funktionen von politischer Kommunikation und
der Betrachtung verschiedener Forschungsgegenstände politischer Kommunikation
leisten? Welche Dimensionen lassen sich in der Vergleichenden Politikwissenschaft
aufspannen, um das Zusammenwirken politischer Kommunikation und Regieren zu
vergleichen? Zunächst definiert der folgende Beitrag politische Kommunikation im
Bezug zur Mediendemokratie. Darauffolgend wird der Forschungsstand zum Thema
politische Kommunikation in der Vergleichenden Politikwissenschaft aufgearbeitet.
Das Fazit greift Vorschläge zur Systematisierung der Erforschung politischer Kom-
munikation in der Vergleichenden Politikwissenschaft auf und zeigt weitere
Forschungsl€ ucken auf.

1 Legitimation durch Kommunikation

Politische Kommunikation hat eine Transformations- und Transportleistung f€ur


politische Ideen und Programme. Mittels politischer Kommunikation wird die Wir-
kung politischer Ideen auf die Öffentlichkeit hergestellt. Politik wird zunächst und
vor allem „publiziert“, das heißt vorgestellt, zur Diskussion gestellt, eventuell in
Frage gestellt. Politische Kommunikation macht Politik publik und öffnet auf
diesem Wege die Möglichkeit, gepr€uft, unterst€utzt, verworfen oder abgelehnt zu
werden. Unzweifelhaft geht mit der Publizierung von Politik also eine intensivere
Auseinandersetzung, eine mögliche Kontrolle sowie Kritik von Politik einher. So
kann politische Kommunikation eine legitimierende Wirkung entfachen (Korte und
Fröhlich 2009).
Politische Kommunikation kann daneben als Quelle der Legitimität eines Politi-
kers oder einer Handlung betrachtet werden. Sie ist insofern das kontinuierliche
Bem€ uhen um ein politisches Mandat: Nur f€ur diejenigen Anliegen, die öffentlich
verk€undet, zur Disposition gestellt und begr€undet wurden, kann der Politiker Hand-
lungskompetenz ableiten: „Dem demokratischen Politiker liefert die Sprache die
Politische Kommunikation in der Vergleichenden Politikwissenschaft 603

wichtigste Quelle seiner Wirksamkeit: Legitimität“ (Greiffenhagen 1980, S. 3;


Sarcinelli 2013). Dies gilt umso mehr, als in demokratischen Gemeinwesen die
Regel gilt: „Legitimation durch Kommunikation“ (Sarcinelli 2013). Deshalb be-
zeichnet politische Kommunikation sowohl ein wesentliches Instrument der Politik
und des Regierens als auch eine permanente Anforderung an Politik. Gleichwohl
erschöpft sich Politik nicht in politischer Kommunikation. Sie kann jedoch zum
maßgeblichen Element von Politik werden. Hierauf zielen u. a. die Unterscheidung
von Darstellungs- und Entscheidungspolitik (Korte und Hirscher 2000) sowie die
Kategorie der symbolischen Politik (Sarcinelli 1987; Edelmann 2005).
Die Sprache der politischen Kommunikation folgt einer eigenen Logik und
Rationalität. Diese Logik erklärt die Funktionalität und den Sinn politischer Kom-
munikation. Patzelt plädiert deshalb daf€ur, die Sprache der Politik „als eine Text-
gattung sui generis auf[zu]fassen“: „[A]ls ein höchst adaptives System, das sich
unter extrem scharfen Konkurrenz- und Selektionsbedingungen äußerst vielfältigen
und oft rasch wechselnden Umweltbedingungen anpassen muss. Herausgelöst aus
ihren pragmatischen Kontexten ist sie ebenso wenig adäquat zu verstehen wie ein
Fußballspiel ohne die Kenntnis seiner Regeln“ (Patzelt 1995, S. 19). Eine bedeut-
same Eigenheit politischer Sprache ist, dass sie eben nicht auf einen unstrittigen
semantischen Haushalt zur€uckgreifen kann, sondern gerade den Prozess der Deu-
tung, Urteilsfindung und Interpretation sozialer Phänomene spiegelt und (mehr oder
minder) transparent macht: „Weil die Sprache der Politik von denen, die sie verwen-
den, €
uberwiegend dazu benutzt wird, Machtanspr€uche zu bekräftigen oder zur€uckzu-
weisen, wird die antagonistische Struktur der politischen Auseinandersetzung auf
das Begriffssystem der Politik €ubertragen“ (Bergsdorf 1983, S. 28). Ein Beispiel f€ur
diesen Zusammenhang bietet der Begriff des „Machtwortes“ (Korte und Fröhlich
2009, S. 274).

2 Politische Kommunikation in der Darstellungspolitik und


in der Entscheidungspolitik

Öffentliche Kommunikation wird durch politische Akteure ausgef€uhrt und richtet


sich an gezielte Öffentlichkeit oder Teilöffentlichkeiten. Sie hat zum Ziel, politische
Entscheidungen gesellschaftlich zu legitimieren. Diese Legitimation kann nach
innen stattfinden – Regieren durch Kommunikation – aber auch nach außen –
Kommunikation durch Regieren (Gebauer 2002; Korte und Fröhlich 2009;
Diermann 2011). Öffentliche Kommunikation bildet neben der politischen Struktur
(polity), dem politischen Prozess (politics) und den politischen Inhalten (policies)
einen Kernaspekt der Forschung zu Politik und Regieren ab (Korte und Fröhlich
2009). Politische Kommunikation soll Legitimation von Entscheidungen durch den
diskursiven Austausch von Inhalten herbeif€uhren. Grundsätzlich wird zwischen den
beiden Dimensionen Entscheidungspolitik und Darstellungspolitik unterschieden.
Unter Entscheidungspolitik wird die Umsetzung der Politik beschrieben. Dazu
werden Merkmale der Entscheidung untersucht und das konkrete Entscheidungs-
management in Problemlösungsprozessen analysiert. In der Darstellungspolitik
604 K.-R. Korte und S. Regge

werden Darstellungsmerkmale des Politischen geb€undelt. Es geht konkret um Spra-


che, Gestik und das Gesamtspektrum von symbolischer Politik. Erste genannte
Befunde deuten auf eine Zunahme des Bedeutungsgehaltes dieser Dimension im
zeitlichen Verlauf der Kanzlerschaften hin (Korte und Hirscher 2000).
Politisches Handeln ist in der Mediendemokratie kommunikationsabhängiger
geworden. Darstellungspolitik (der Soll-Wert der Politik) ersetzt zunehmend Ent-
scheidungspolitik (der Nenn-Wert der Politik) (Sarcinelli 1998 und 2005). Dieser
Trend wird unterst€utzt durch Befunde der Wahlforschung (Korte und Fröhlich
2009). Da sich die Traditionsbindungen der Wähler an bestimmte Parteien drastisch
abgeschwächt haben, kommt der massenmedialen, situativen Informationsvermitt-
lung eine besondere Dominanz zu. „Regieren durch Kommunikation“ spiegelt die
Kommunikation und Legitimation von Entscheidungen wider (Entscheidungspoli-
tik). Sie hat zum Ziel, andere politische Akteure von politischen Inhalten zu

uberzeugen. „Kommunikation €uber Regieren“ folgt der Logik der Darstellungs-
politik. Adressat ist die Öffentlichkeit, die von politischen Inhalten €uberzeugt wer-
den soll, um Entscheidungen zu legitimieren (Korte 2009).

3 Funktionen und Typen politischer Kommunikation

Der politische Kontext nutzt Kommunikation in einer Vielzahl an Bedeutungs-


ebenen und Funktionen. Bergsdorf (1983, S. 38) differenziert diesbez€uglich
Gesetzgebung, Verwaltung, Verhandlung, Erziehung und Propaganda als Felder
politischer Kommunikation, die jeweils ihre eigenen Strukturmerkmale und
Sprachanforderungen aufweisen. Nach Schimank (2007)wird Regierungskommu-
nikation entlang vier Fragen definiert: Welche Inhalte werden vermittelt? Welches
Ziel soll erreicht werden? Welche Erwartungen haben die Adressaten? Was kann
politische Kommunikation bewirken? Als ergänzende Perspektive zu dieser Dif-
ferenzierung unterscheidet Patzelt drei Typen politischer Kommunikation: politi-
sche Arbeits-, Darstellungs-und Durchsetzungskommunikation (Patzelt 1995,
S. 18). Damit referenzieren beide auf die notwendige Spezifizierung von Form,
Funktion und Phase beziehungsweise Ablauf der politischen Kommunikation
(Korte und Fröhlich 2009).
Diese erste Unterteilung wird noch dadurch erweitert, dass unter den Begriff der
politischen Kommunikation so unterschiedliche Dinge wie beispielsweise Selbst-
darstellung (Laux und Sch€utz 1996) von Politikern im Bem€uhen um Glaubw€urdig-
keit und Authentizität, „Kandidatenimages“ (Brettschneider 1995) einschließlich der
Bedeutung nonverbaler Kommunikation (Frey 2005) oder aber die „Public
Relations“-Arbeit von Parlamenten (Kamps 2013) fallen. Je nach Akteur, Konstel-
lation oder Adressatenkreis kann politische Kommunikation sehr verschiedene Din-
ge bezeichnen. Die Übergänge zu Kommunikationssphären anderer gesellschaftli-
cher Bereiche – etwa der Wirtschaftskommunikation, der Werbung oder der
Populärkultur – stellen sich dabei gelegentlich als fließend dar (Nieland 2002; Korte
und Fröhlich 2009).
Politische Kommunikation in der Vergleichenden Politikwissenschaft 605

4 Akteure politischer Kommunikation

Der Gegenstand der politischen Kommunikation hat sich gerade in den letzten
Jahren erheblich ausdifferenziert – neue Akteure politischer Kommunikation, neue
Formen und Kommunikationswege sowie unterschiedliche Wirkweisen politischer
Kommunikation sind seit vielen Jahren in das Blickfeld der Forschung geraten
(Kamps und Nieland 2006; Vowe und Dohle 2007; Sarcinelli 2013). Besondere
Aufmerksamkeit hat die Frage erhalten, welche spezifischen Anforderungen in der
Kommunikation von Reformprojekten („Inhalte“) (Weidenfeld 2007; Delhees
et al. 2008; Korte 2008) sowie die Wirkung digitaler Informations- und Kommuni-
kationstechnologien (Buchstein 1996; f€ur einen Überblick z. B. Siedschlag 2003) zu
beachten sind. Politische Kommunikation hat f€ur unterschiedliche Akteure und
Handlungsfelder eine unterschiedliche Bedeutung. Ebenso wie sich die Inhalte der
Kommunikation unterscheiden, wird politische Kommunikation von Akteuren
unterschiedlich gehandhabt. In der Forschung werden vor allem Parteien, die Exe-
kutive und das Parlament gesondert voneinander betrachtet.
Gerade in der politischen Kommunikation von Parteien als Akteure der politi-
schen Willensbildung ist die Innen- und Außenkommunikation in den vergangenen
Jahren komplexer geworden (Sarcinelli 2013). Parteien folgen dabei eigenen
„Organisationsrationalitäten und Kommunikationslogiken“ (Wiesendahl 2002,
S. 354 ff.). Beteiligung und innerparteiliche Mitbestimmung wurden vor allem in
der vergangenen Legislaturperiode zu zentralen kommunikativen Mobilisierungs-
instrumenten. Alle Parteien haben mehr oder minder kollaborative Mitwirkungs-
möglichkeiten sowohl den Mitgliedern als auch Nicht-Mitgliedern eröffnet. Formate
und Reichweiten der Mitgliederbeteiligung variieren zwischen den Parteien jedoch
teilweise erheblich (Korte und Treibel 2012).
ur die Exekutive – unterteilt in die/den Bundeskanzler/in und den Bundes-
Auch f€
präsidenten – hat politische Kommunikation zweierlei Funktionen. F€ur die/den
Bundeskanzler/in ist politische Kommunikation ein Hauptbestandteil zum Macht-
erwerb, Machterhalt und Machtverlust. „Sach- und machtpolitische Konstellationen,
spezifische institutionelle Arrangements und die Einbindung in die Kontingenz
politisch-historischer Entscheidungen (f€uhren) zu ganz unterschiedlichen Informa-
tionspraktiken und Kommunikationsweisen“ verschiedener Regierungschefs
(Sarcinelli 2013, S. 99). F€ur den Bundespräsidenten ist politische Kommunikation
ein Stilinstrument. Über Rhetorik und Sprache wird der persönliche Stil eines
Bundespräsidenten geprägt und Autorität geschaffen. Durch Kommunikation ist
der Bundespräsident in der Lage persönliche Themen zu setzen und seinen eigenen
Regierungsstil zu prägen (Sarcinelli 2009, S. 284 ff.; Sarcinelli 2013, S. 99).
Auch das Parlament ist als „Schl€usselinstitution“ politischer Kommunikation zu
betrachten (Sarcinelli 2013, S. 98). In Wirklichkeit ist diese Schl€ usselrolle aber
durch die Medienpräsenz der Exekutive in den Schatten geraten. Das Parlament ist
gleichwohl ein prädestinierter Ort f€ur die öffentliche Kommunikation mit verschie-
denen Handlungslogiken, je nachdem welcher Bereich – ob vertrauliche Sitzungen
oder öffentliche Debatten – zum Objekt politischer Kommunikation wird. Auch
Parlamentarier selbst gelten als verschiedene Kommunikationstypen, wobei das
606 K.-R. Korte und S. Regge

Spektrum von Nutzern innovativer Medientechnologien bis hin zu Nutzern von eher
traditionellen Kommunikationskanälen reicht (Sarcinelli 2013; Zittel 2010).

5 Mediatisierung

Medien können die politischen Einstellungen formen und beeinflussen (Sarcinelli


2013, S. 93). Eine politische Äußerung ist auf die Vermittlung durch die Medien
angewiesen. Politische Kommunikation findet „mediatisiert“ statt (Korte und Fröhlich
2009, S. 275). Daneben kann man jedoch – in einem weiten Sinne – schon in dem
Begriff „Mediatisierung“ einen Hinweis daf€ur erkennen, dass die Vermittlungsleistung
durch das Medium nicht ohne Wirkung auf die Botschaft selbst bleibt: „Die mediale
Informationsverarbeitung prägt den Botschaften eine spezifische Medienlogik auf und
beeinflusst damit notwendigerweise die durch Kommunikation begr€undeten Wahr-
nehmungen und Handlungen“ (Schulz 2008, S. 59). Dadurch ist der Modus der
Politikvermittlung als Variable neben den Inhalt der Politikvermittlung getreten (Korte
und Fröhlich 2009, S. 275). Regierungen entscheiden – nicht die Medien. Jedoch sind
Medien zum Format- und Taktgeber der Politik geworden. Medien haben einen
direkten Einfluss auf Politik. Auch Politiker glauben an die Macht der Medien und
auf ihren Einfluss auf die öffentliche Meinungs- und Willensbildung. Aus diesem
Grund unterwirft sich die Politik häufig der Logik der Medien. Politikvermittlung
politischer Spitzenakteure wird durch Einschaltquote und Nachrichtenwerte getrieben.
Politische Informationen werden zu Info- und Politainment (Brants 1998; Dörner
2001). Die Beziehung zwischen Politikern und Journalisten basiert auf einer wechsel-
seitigen Vorteilsgemeinschaft und ist auf dem gegenseitigen Austausch von Informa-
tionen begr€undet: Politische Informationen f€ur öffentliche Präsenz eines Politikers in
der Mediendemokratie (Korte und Fröhlich 2009).
Zunächst einmal ist davon auszugehen, dass eine jegliche politische Äußerung im
politischen Prozess eines modernen demokratischen Staates auf die Vermittlung
durch die Medien angewiesen ist. Direkt-Kommunikation mit der Öffentlichkeit
und dem B€ urger bleibt in der Regel auf einige Aspekte von Wahlkampfveranstaltun-
gen oder Vorträgen begrenzt. Politische Kommunikation findet also fast grundsätz-
lich „mediatisiert“ statt (Korte und Fröhlich 2009, S. 275). Nicht nur Schulz ver-
weist dabei auf die doppelte Bedeutung des Begriffs „Mediatisierung“: Darunter
kann man zum einen – im engen Sinne – die Vermittlung einer Botschaft durch und
mit Hilfe eines Mediums verstehen. Die effiziente Vermittlung einer politischen
Aussage muss, bedingt durch die dominante Medienstruktur und das Mediennut-
zungsverhalten der B€urger, in erheblichem Maße auf Kriterien wie Nachrichtenwert
oder Fernsehtauglichkeit achten, um Gehör zu finden (Korte und Fröhlich 2009,
S. 275 ff.). Schulz nennt die Aspekte der Bedeutung von Massenmedien: Massen-
medien sammeln und selektieren nach medienspezifischen Aufmerksamkeitsregeln
politische Informationen und verbreiten diese an ein großes, prinzipiell unbegrenztes
Publikum; mediale Information ist oft die ausschließliche Handlungsbasis f€ur B€urger
und politische Eliten und zugleich Voraussetzung f€ ur das Entstehen einer politischen
Öffentlichkeit; sie entscheiden nach medienspezifischen Relevanzgesichtspunkten
Politische Kommunikation in der Vergleichenden Politikwissenschaft 607


uber den Zugang politischer Akteure zur Öffentlichkeit und bestimmen auf diese
Weise deren Handlungs- und Einflussmöglichkeiten; sie interpretieren und
bewerten in einer medienspezifischen Weise das politische Geschehen – neben den
Akteuren, Ereignissen und Themen auch politische Anspr€uche, Unterst€utzung und
Entscheidungen – und strukturieren damit den Systeminput und - output (Schulz
2008, S. 59).

6 Politische Kommunikation in der vergleichenden


Politikwissenschaft

Die Erforschung politischer Kommunikation ist sowohl ein politikwissenschaftli-


ches Forschungsanliegen wie auch ein in den Kommunikationswissenschaften stark
untersuchtes Forschungsobjekt. „Der Bereich der politischen Kommunikation ist
vielleicht der am stärksten an Bedeutung gewinnender Bereich innerhalb des
Politics-Sektors in der Vergleichenden Politikwissenschaft“ (Pickel 2013, S. 264).
In der vergleichenden Kommunikationswissenschaft wird die Frage nach politischer
Kommunikation im öffentlichen Raum systematisch von Gurevitch und Blumler
aufgearbeitet (Gurevitch und Blumler 2003; auch Marcinkowski und Pfetsch 2009).
Die Autoren beschreiben den historischen Werdegang der vergleichenden politi-
schen Kommunikationsforschung „von den Kinderschuhen“ in den 1970er Jahren,

uber die konzeptionelle Weiterentwicklung in den 1990er Jahren bis hin zur Ent-
wicklung zum „eigenständigen Forschungsfeld“ im Jahr 2003. Gr€unde f€ur diese
Entwicklung sind im fortschreitenden Globalisierungsprozess und der Einf€uhrung
neuer Kommunikationstechniken zu finden. Jedoch fehlt bislang eine Systematisie-
rung der vorliegenden Studien. Untersuchungsgegenstände und methodische Vor-
gehensweisen variieren stark bei allen Ansätzen. Viele Studien entwickelten sich zu
internationalen Vergleichen von Mediensystemen sowie zur Qualität von Medien
(Reese 2001). Gurevitch und Blumler (2003) beklagen aber das Fehlen von Studien,
die €uber die Analyse vom Verhältnis von Medien und Politik und der Professiona-
lisierung von Medien im internationalen Vergleich hinausgehen. Auch in der aktuel-
leren Medien- und Kommunikationsforschung lassen sich neue Ansätze, die poli-
tische Kommunikation in einer vergleichenden Perspektive und im internationalen
Kontext beleuchten (Meckel 2000). Zu nennen ist hier der Ansatz einer interkulturell
vergleichenden Kommunikationsforschung (Gudykunst 2005) sowie der transkultu-
relle Ansatz zum Vergleich einer globalen Medienkommunikation (Hepp 2006).
Gurevitch und Blumler unterstreichen in ihrem Beitrag, dass komparative Kommu-
nikationsforschung einen doppelten Nutzen folgt. Einerseits erklärt sie einen Unter-
suchungsgegenstand und zugleich kann die komparative Forschung Aussagen zu
den unterschiedlichen Systemen treffen, die durchleuchtet werden (Gurevitch und
Blumler 2003; Esser 2010; Melischek et al. 2008).
Systematisierende vergleichende Ansätze sind im Hinblick auf den Forschungs-
stand in der Politikwissenschaft dabei eine Rarität. Die Analyse der vergleichenden
politischen Kommunikation taucht in Lehrb€uchern zur vergleichenden Politikwis-
senschaft und ihre Relevanz f€ur moderne Staatssysteme bereits in den 1970er auf
608 K.-R. Korte und S. Regge

(Almond und Powell 1978; Almond und Powell 1996). Auf Grund des gewachsenen
„Selbstbewusstseins der Medien“ (die sich gelegentlich als vierte Gewalt in der
Demokratie verstehen) und der „explosionsartigen Ausbreitung der Kommunika-
tionsmedien“ entwickelte sich politische Kommunikation zu einem Bestandteil der
Informationsgesellschaft (Pickel 2013, S. 257).
Auch Norris untersucht politische Kommunikation in globaler Perspektive in
westlichen Demokratien. Institutionelle Faktoren bedingen politische Kommunika-
tion (Norris 2000). Systemische Ansätze zur Strukturierung des politischen Systems
wurden von Jarren und Donges ausgearbeitet. Die Autoren beschreiben das Hand-
lungssystem, das die Funktion in der Formulierung und Artikulation politischer
Interessen und Legitimierung politischer Entscheidungen bedingt. Das politische
System bildet den Rahmen, in dem politische Kommunikation stattfindet, institu-
tionelle Faktoren ermöglichen und beschränken Handlungen politischer Kommuni-
kation (Jarren und Donges 2011). Zu nennen ist ferner die Studie von Gunther und
Mughan zum Zusammenhang zwischen Qualität einer Demokratie und politischer
Kommunikation (Gunther und Mughan 2000). Ein theoretischer Fortschritt findet in
der Entwicklung von Mehrebenenheuristiken statt, die sich in der Unterscheidung
zwischen Untersuchungsgegenstand und Kontextbedingungen in der komparatisti-
schen Forschung unterscheiden. So wird untersucht, wie und inwiefern sich Hand-
lungen von Akteuren mit konkreten Strukturbedingungen systematisch korrespon-
dieren (Esser und Hanitzsch 2012).
Politische Kommunikation verläuft in der Regierungsforschung (Korte und
Grunden 2013) zwischen drei Akteursgruppen, die unterschiedliche Rollen als
Sender und Empfänger wahrnehmen: politische Akteure, Medien und B€urger. Die
Vermittlung politischer Ideen erfolgt von politischen Akteuren €uber Medien an die
B€urger. Mit der Analyse dieser Vermittlungsfunktion befasst sich die vergleichende
Regierungsforschung im Hinblick auf Fragestellungen zu den Kernbegriffen der
Regierungsforschung: Steuerung und Macht. Gerade in vergleichender Perspektive
wird deutlich, dass sich strukturell unterscheidende Regierungstypen unterschiedli-
cher Kommunikationsinstrumente und Strategien bedienen. Moderne Demokratien
weisen Ähnlichkeiten beispielsweise in der Bedeutung der Medien innerhalb des
politischen Systems auf, jedoch lassen sich systemische und kulturelle Unterschiede
im Vergleich der politischen Kommunikation unter modernen Demokratien nach-
weisen (Korte und Diermann 2008; Diermann 2011). Auf institutioneller Ebene
wurde das Zusammenwirken politischer Strukturen auf Basis systemtheoretischer
Konzepte als politisch-administratives System konzeptualisiert. Es werden unter-
schiedliche Bereiche der Entscheidungsträger (Parlament, Aussch€usse, Regierung)
im Hinblick auf ihre Interaktionen analysiert. Hierdurch entwickelte sich eine
Verbindung zwischen Institutionen und ihren Rollen im politischen Prozess. Auf
der strukturellen Ebene lassen sich politikfeldspezifische Ansätze erkennen, die sich
vor allem mit dem Inhalt, Strukturen und Form von Politik (Lauth und Wagner 2006,
S. 16; auch Glaab und Korte 2012).
Zur vergleichenden Regierungsforschung bietet sich zum Überblick eine Syste-
matisierung entlang der drei bereits oben genannten Dimensionen politischer
Kommunikation an. Patzelt unterscheidet politische Kommunikation in drei
Politische Kommunikation in der Vergleichenden Politikwissenschaft 609

Dimensionen: Politische Arbeitskommunikation, Darstellungskommunikation und


Durchsetzungskommunikation. Auf der Ebene der Arbeitskommunikation behan-
delt die Forschung Prozesse vertraulicher Kommunikation und Entscheidungspro-
zesse. Im Zentrum des Erkenntnisinteresses stehen beispielsweise die Beziehung
persönlicher Berater zu Regierungschefs oder der Einfluss der persönlichen Berater
eines Regierungschefs (Korte 2003; Korte 2006), der Regierungssprecher und
PR-Experten (Kamps und Nieland 2006; Becker 2005), oder der Presse- und Infor-
mationsämter (Sturm 2006; Kamps 2007; Sarcinelli und Tenscher 2003). Darstel-
lungskommunikation wird an der Schnittstelle zwischen Politikwissenschaft und
Medien- und Kommunikationswissenschaft beleuchtet. Studien beschäftigen sich
mit dem Verhältnis zwischen Politik und Medien im Vergleich (Esser und Pfetsch
2003) oder mit dem Einfluss institutioneller Rahmenbedingungen auf Legitimie-
rungsprozesse von Regierungskommunikation (Delhees et al. 2008). Medien werden
als Taktgeber der Politik problematisiert, die von kulturellen und systemischen
Rahmenbedingungen beeinflusst werden (Sarcinelli 2005). Auf der Ebene der
Durchsetzungskommunikation werden Aspekte der Arbeits- und Darstellungskom-
munikation in Verbindung gebracht, gemeint ist die Verbindung von Steuerung,
Kommunikation und Macht. F€uhrung bedeutet Kommunikation (Glaab 2007). Vor-
bereitung und Durchsetzung von Entscheidungen wird durch Darstellungskommu-
nikation begleitet, und die Resonanz der Öffentlichkeit hat eine R€uckwirkung auf die
Arbeitskommunikation (Korte und Diermann 2008).
Eine zentrale Vermittlungsfunktion in der politischen Kommunikation nehmen
Massenmedien ein. Vor allem die Analyse politischer Sprache und Symbolik –
beispielsweise im europäischen Vergleich, international vergleichende Studien zur
Medienkultur und auch Unterscheidungen von Mediensystemen wurden in internati-
onal vergleichender Perspektive aufgearbeitet (Hallin und Mancini 2004; Gibson und
Römmele 2008). So wurde Nord- und Mitteleuropa ein komparatistisch demokrati-
sches Medienmodell zugeschrieben während ein stark kommerzialisiertes liberales
Medienmodell in Nordamerika aufzufinden ist (Gibson und Römmele 2008; Hallin
und Mancini 2004). Auch die Kontrollfunktion von Massenmedien in autokratischen
Systemen und der damit in Verbindung gebrachte Kontrollverlust weist auf einen
enormen Legitimationsdruck hin. Jedoch hat die Forschung zur Bedeutung von
politischer Kommunikation noch nicht ihren „Zenit“ erreicht (Pickel 2013, S. 264).
Auch in der Wahlkampfforschung lassen sich mehrere vergleichende Studien
finden (z. B. Korte und Bianchi 2013). So untersuchten beispielsweise Swanson
und Mancini die Innovationen von Wahlkampftechniken. Diese Untersuchung fo-
kussiert den Zeitraum von elf Jahren und untersuchte Wahlkampftechniken in elf
verschiedenen Gesellschaften (Swanson und Mancini 1996). Die Studie von
Schmitt-Beck zur politischen Kommunikation und Wählerverhalten nimmt eine
vergleichende politikwissenschaftliche Perspektive ein. Schmitt-Beck untersucht in
einem international angelegten Vergleich, auf welche Weise Gespräche €uber politi-
sche Themen (interpersonale Kommunikation) und die politische Berichterstattung
von Medien (Massenkommunikation) individuelle Wahlentscheidungen beeinflus-
sen und welche Konsequenzen sich hieraus f€ur die Ergebnisse von Wahlen ergeben
(Schmitt-Beck 2000).
610 K.-R. Korte und S. Regge

Zusammenfassend lassen sich in der Politikwissenschaft keine Studien zum


Thema politische Kommunikation finden, die einen breit angelegten systematischen
und analytischen Ansatz verfolgen. Es liegen allerdings einige Studien vor allem aus
dem Bereich Kommunikationswissenschaft vor, die Teilkomponenten eines solchen
systematischen Ansatzes untermauern könnten.

7 Fazit

Ohne Sprache keine Politik. Neben der Transformations- und Transportleistung


politischer Sprache f€ur politische Ideen und Programme wird damit zugleich die
Verbindung zur Wirkung auf die Öffentlichkeit angesprochen. Medien vergrößern,
verstärken, beschleunigen den Stoff der Politik, aber sie entscheiden nicht (Korte
und Fröhlich 2009, S. 271–282; Korte und Bianchi 2013). Politik ist stets medien-
vermittelt. Medien beeinflussen die Politik, denn sie sind Formatgeber (Mediati-
sierung der Politik), Taktgeber (Beschleunigung), Bildgeber (Evidenz auf einen
Blick), Modellgeber (ortlose und strukturlose Politik unter online Bedingungen).
Ihr Einfluss auf politische Einstellungen ist indirekt, aber bei wachsenden stim-
mungsfl€ uchtigen Machtgrundlagen der Politik nicht zu unterschätzen.
Die Erforschung der Muster politischer Kommunikation befindet sich an der
Schnittstelle der Politik- und der Kommunikationswissenschaft. In der verglei-
chenden Politikwissenschaft liegen nur einzelne vergleichende Studien zum Thema
politische Kommunikation vor. Bei einem Überblick zum Forschungsstand in der
vergleichenden Politikwissenschaft wird zweifellos deutlich, dass ein systematisie-
render Ansatz zur Erforschung dieses Konzeptes bei einem tieferen Verständnis
deutlich helfen w€ urde. Politikwissenschaftliche Vergleiche verschiedener Aspekte
politischer Kommunikation im Hinblick auf das Politikmanagement, Regieren und
Steuern im internationalen Vergleich in Verbindung mit Kontextfaktoren scheinen
im Hinblick auf Regierungstypen, Wohlfahrtstypen und Demokratietypen sinnvoll.
Die Fragen, welchen Beitrag die Vergleichende Politikwissenschaft bei der Analyse
politischer Kommunikation leisten kann, lässt sich darauf basierend wie folgt beant-
worten: Die Vergleichende Politikwissenschaft bietet zunächst die Möglichkeit, Krite-
rien zur konkreteren Beschreibung eines Einzelfalls aufzustellen. Zudem können Hand-
lungsoptionen in der politischen Kommunikation einzelner Institutionen verglichen
werden. Ebenso ist ein Vergleich der Parteienkommunikation in einem internationalen
Querschnitt denkbar. Mit dem Auftrag der Willensbildung wird Parteien ein besonderer
gesellschaftlicher Auftrag zugeschrieben. Sie kommunizieren f€ur den öffentlichen
Raum. Das Verhältnis zwischen Außen- und Binnenkommunikation ist in den letzten
Jahren komplexer geworden. Die Professionalisierung im Bereich des Kommunika-
tionsmanagements von Parteien f€uhrt zu einer immer stärker werdenden Differenzie-
rung zwischen „Mitgliederparteien“ und „Berufspolitikerparteien“. Auch der Einfluss
neuer Medien und Entscheidungsplattformen wie „Liquid Democracy“ haben einen
Einfluss auf die Legitimation von Politik durch Kommunikation (Sarcinelli 2013).
Politische Kommunikation in der Vergleichenden Politikwissenschaft 611

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Digitale Medien in der Vergleichenden
Politikwissenschaft

Marianne Kneuer

Zusammenfassung
Das Internet und die sozialen Medien haben nicht nur die Kanäle politischer
Kommunikation vervielfacht, sondern zugleich die Art der Kommunikation und
damit auch die Interaktionsmöglichkeiten zwischen politischen Akteuren, gesell-
schaftlichen Gruppen und B€urgern erheblich verändert. Dieser Beitrag nimmt
zunächst Begriffsklärungen vor in diesem €uberaus dynamischen und un€ubersicht-
lichen Feld, legt die zentralen normativen Zugänge und theoretischen Konzepte
dar und greift einige empirische Befunde und Betätigungsfelder auf. Zudem wird
auf die Rolle digitaler Medien in Autokratien eingegangen. Das letzte Kapitel
schließlich zeigt die beträchtlichen Forschungsdesiderate und ebenso großen
Forschungs perspektiven auf, die diesem jungen Thema innewohnen.

Schlüsselwörter
Internet • Soziale Medien • E-government • E-participation • E-democracy •
Online-Kommunikation

1 Einleitung

Das Internet und die sozialen Medien haben nicht nur die Kanäle politischer
Kommunikation vervielfacht, sondern zugleich die Art der Kommunikation und
damit auch die Interaktionsmöglichkeiten zwischen politischen Akteuren, gesell-
schaftlichen Gruppen und B€urgern erheblich verändert. Bereits mit den Anfängen
des Internets in den 1990er-Jahren haben sich vor allem Möglichkeiten der Informa-
tionsverbreitung ebenso wie die der Informationsgewinnung deutlich erweitert.

M. Kneuer (*)
Professorin f€ur Politikwissenschaft, Institut f€
ur Sozialwissenschaften, Universität Hildesheim,
Hildesheim, Deutschland
E-Mail: kneuer@uni-hildesheim.de

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 615


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_46
616 M. Kneuer

Websites stellten neue Orte der Selbstdarstellung von Akteuren dar und gaben deren
Zielsetzungen einen neuen Rahmen. E-Mails vereinfachten insbesondere internen
Informationsaustausch in Parteien, Organisationen, Gruppen und machten Vernet-
zung billiger, schneller und erhöhten die Reichweite der Kommunikation. Das
Aufkommen neuer Anwendungen im Web 2.0 hat die Vernetzung noch sehr viel
weiter getrieben. Die Dynamik der technischen Entwicklung (drahtlose Netzwerke,
Internet €
uber mobile Endgeräte, social software, social media) hat Formen der Online-
Kommunikation und -Interaktion, aber vor allem auch der weitgehenden, nämlich
unendlichen, und grenz€uberschreitenden Vernetzung auf sozialen Plattformen erheb-
lich erweitert. Über rein kommunikativen Austausch hinaus ermöglichen soziale
Medien zugleich Interaktionen zwischen den Nutzern etwa von Microblogs wie
Twitter, content communities wie Tumblr oder sozialen Netzwerken wie Facebook.
Insbesondere seit Politik als kommunikativer Prozess in Mediengesellschaften
verstanden wird, beschäftigt die Politikwissenschaft der Einfluss von Medien auf die
öffentliche Meinungsbildung, auf die Verständigungs- und Aushandlungsprozesse
zwischen den politischen Eliten, gesellschaftlichen Akteuren und der Bevölkerung
sowie schließlich auf politische Entscheidungen (siehe dazu auch den Beitrag
„Medienpolitik“ in diesem Band). Insofern Politik kommunikativ vermittelt werden
muss – der Begriff der Politikvermittlung geht auf Ulrich Sarcinelli (1987) zur€uck –
r€ucken neben der Informierung und Orientierung der B€urger die Zustimmungs-
abhängigkeit und die Begr€undungsbed€urftigkeit von Politik in den Vordergrund.
Zugleich eröffnen digitale Medien neue Wege sowohl der Teilnahme an öffentlicher
Meinungsbildung (Stichwort: Diskurs und Deliberation) als auch der Teilhabe an
politischen Entscheidungen (Stichwort: e-participation).
Ähnlich wie bei vorhergehenden Innovationen fragt sich in Bezug auf die Emer-
genz des Internets und sozialer Medien, inwieweit sich die Rahmenbedingungen von
Politikvermittlung verändert haben und welchen Einfluss die Funktionslogik dieser
neuen IKT auf politische Kommunikation und dar€uber hinaus auf politische Prozes-
se im Allgemeinen hat. Analog den Kontroversen im Zusammenhang mit fr€uheren
Innovationen, bei denen strittig war, inwieweit der jeweilige Innovationsschub und
die damit verbundenen Nutzungspotenziale des „neuen“ Mediums positive oder
negative Wirkungen entfalten, verhält es sich auch bei den digitalen Medien. Bereits
der Einzug des Internets hatte Anfang der 1990er-Jahre eine erhebliche Netzeupho-
rie ausgelöst, die mit der Verbreitung sozialer Medien ein neuerliches Aufleben
erfuhr. Diese optimistischen oder auch utopischen Hoffnungen richten sich insbe-
sondere auf ein demokratiebelebendes Potenzial durch erweiterte Möglichkeiten von
Partizipation, Deliberation, Transparenz und Responsivität oder gar auf demokrati-
sierende Wirkungen digitaler Medien als „liberation technology“ (Diamond 2010),
also in der Überwindung autokratischer Herrschaft. Demgegen€uber stehen skepti-
sche Stimmen, die entweder lediglich eine Spiegelung der bereits vorhandenen
Muster von Partizipation und Deliberation vermuten oder gar einen Qualitätsverlust
demokratischer Prozesse (siehe zu diesen beiden Diskurssträngen detailliert).
In Bezug auf den Forschungsgegenstand Internet bzw. soziale Medien – die hier
als digitale Medien zusammengefasst werden – ergeben sich f€ur die Politikwissen-
schaft vielfältige Ansatzpunkte, da inzwischen eine Mehrheit der politischen
Digitale Medien in der Vergleichenden Politikwissenschaft 617

Institutionen und Akteure auf digitale Medien zur€uckgreifen, und dies auf allen
Ebenen – von der lokalen €uber die nationale und transnationale (europäische) bis
hin zur globalen Ebene. Es hat sich eine Trias der Beschäftigung herausgebildet,
nämlich, erstens, Internet-Governance (bei Fraas et al. 2012, S. 113 auch Online-
Polity genannt), bei der technische Aspekte im Vordergrund stehen wie Aufbau und
Unterhaltung der technischen Infrastruktur, Standardisierung z. B. der Software
sowie Aspekte der Regulierung. Zweitens ist f€ur Regierungen, aber auch die EU
oder internationale Organisationen in der Gestalt der Netzpolitik ein neues Politikfeld
(Online-Policy) entstanden, bei dem Aspekte der Regulierung Teil der staatlichen
Problemlösung und rechtlicher Regelung werden, etwa im Hinblick auf Urhe-
berrecht, Datenschutz, Jugendschutz, Netzzugang, Netzneutralität oder auch Be-
kämpfung von Cyberkriminalität. Und drittens schließlich umfasst Online-
Kommunikation politischer Akteure – sowohl top-down als auch bottom-up – den
Bereich, bei dem es um netzbasierte politische Prozesse geht bzw. um die Aus-
wirkungen digitaler Medien auf politische Strukturen und Prozesse (Online-Politics).
Dieser Beitrag wird sich auf die letztere Dimension konzentrieren und sich dabei
zum einem aus theoretischer Sicht und zum anderen auf der Grundlage empirischer
Befunde vor allem zwei Fragen zuwenden: Wie verändern sich politische Prozesse
auf Grund der Nutzung digitaler Medien durch politische Akteure? Sind diese
Veränderungen als bereichernd oder dysfunktional zu beurteilen? In einem ersten
Schritt werden zunächst Begriffsklärungen vorgenommen in einem €uberaus dynami-
schen, sich technologisch ständig verändernden und daher leicht un€ubersichtlichen
Feld. Im dritten Kapitel werden dann die zentralen normativen Zugänge und theo-
retischen Konzepte vorgestellt. Kapitel vier greift einige empirische Befunde und
Betätigungsfelder auf. Kapitel f€unf geht auf die Rolle digitaler Medien in Auto-
kratien ein und trägt damit der Tatsache Rechnung, dass sich Nutzung und Einfluss
digitaler Medien auf Grund der unterschiedlichen Kontextualität in etablierten
Demokratien anders darstellt als in Autokratien oder jungen Demokratien. Das letzte
Kapitel schließlich zeigt die beträchtlichen Forschungsdesiderate und ebenso großen
Forschungs perspektiven auf, die diesem jungen Thema innewohnen.

2 Begriffe und Konzepte

Im Gegensatz zu den klassischen Massenmedien und ihrer eindimensionalen und


indirekten Kommunikation ermöglicht die Digitalisierung „mass self-communica-
tion“, wie der Netztheoretiker Manuel Castells die Tatsache fasst, dass Inhalte vom
Nutzer selbst generiert abgesendet werden und der Nutzer wiederum als Empfänger
selbstselektiv Botschaften auswählt (Castells 2014, S. 70). Des Weiteren zeichnen
sich die digitalen Inhalte durch Multimodalität aus, das heißt, es können nicht nur
alle Textsorten, sondern auch visuelle und auditive Elemente gesendet, miteinander
verkn€upft und jederzeit wieder neu zusammengestellt werden. Ebenso besteht ein
fundamentaler Wandel der Kommunikationsmodi in der synchronen Vernetzung
gegen€ uber der Ungleichzeitigkeit, wie sie etwa bei E-Mails vorliegt, was
Echtzeit-Kommunikation ermöglicht. Und schließlich sind eine Reihe neuer
618 M. Kneuer

Kommunikationsformen (siehe dazu Fraas et al. 2012, S. 21–27) entstanden, wie


E-Mail und Mailinglisten, Newsgroups, Chats, Plattformen (wie Facebook, Youtube,
Flickr), Personal Publishing (Weblogs, Microblogging-Dienste wie Twitter oder mul-
timediale Varianten wie Podcasts oder Videocasts), Wikis, die vor allem das koopera-
tive Arbeiten an Dokumenten möglich machen (siehe Wikipedia) oder Instant Messa-
ging (z. B. Skype, Whatsapp). Soziale Netzwerke und content communities bilden
Plattformen nicht nur der Informationsverbreitung, sondern auch des direkten, schnel-
len und dichten Austauschs sowie einer Vernetzung fluider Gemeinschaften.
Die Merkmale der digitalen Medien lassen sich in den Attributen der Ortlosigkeit
und Entgrenzung, der Schnelligkeit und Synchronität sowie der Interaktivität zusam-
menfassen. Netzwerke können gedacht werden als dezentrale, horizontale und
hierarchiefreie Organisationsformen. Die Eigenschaft der Konnektivität ermöglicht
ein potenziell unbegrenztes Wachstum der Netznutzer und verbindet sich mit nied-
rigen Zugangs- und Ausgangsschwellen (entry/exit option); das heißt Gemeinschaf-
ten könne sich immer wieder neu formieren. Kneuer und Richter (2015, S. 113)
differenzieren diese Konnektivität in eine „technische Ermöglichung von Netzwerk-
bildung“ einerseits und die „tatsächliche kommunikative Wertigkeit der Netzwerk-
verbindung“ andererseits, die nicht deckungsgleich sein m€ussen (siehe dazu auch
van Dijck 2013). Diese Differenzierung verweist auf die Notwendigkeit, neben der
technischen Dimension von Vernetzung die inhaltliche Dimension in den Blick zu
nehmen, also etwa die Reichweite, den Charakter und die Intensität.
Diese technischen Merkmale – Entgrenzung, Schnelligkeit, Interaktivität und
Vernetzung – und der Zuwachs an neuen Kommunikationsformen fordern alle im
politischen Prozess beteiligten politischen Akteure: politische Funktionsträger aller
politischer Ebenen, die sich des Internets bedienen können oder m€ussen, um ihre
Politikprogramme zu vermitteln; die politischen Entscheidungsträger – Parlament
und Regierung – , die entsprechende Rahmenbedingungen setzen m€ussen, sei es in
Bezug auf den Netzzugang, die Netzsicherheit oder gar, um sich f€ur bestimmte
Prozesse, wie Verwaltungsaufgaben das Internet dienstbar zu machen; die inter-
mediären Institutionen – Parteien, Interessenverbände –, die neue Möglichkeiten
der Einflussnahme auf den Willensbildungs- und Entscheidungsprozess haben als
auch neue Wege, an die B€urger heranzutreten; auch die Medien sind betroffen,
insofern einerseits das Internet eine massenmediale Nutzung umgeht, es andererseits
Zeitungen, Radio und Fernsehen auch neue Möglichkeiten eröffnet, Informationen
€uber das Netz anzubieten. Schließlich können sich zivilgesellschaftliche Gruppie-
rungen oder auch Individuen verstärkt wahrnehmbar machen und damit die politi-
sche Agenda beeinflussen oder gar Druck auf politische Akteure aus€uben.
Längst ist eine Vielzahl an Begriffen – meist mit dem Präfix „E-“ entstanden, die
in der Literatur unterschiedlich benutzt und abgegrenzt werden. Die wichtigsten
sollen hier vorgestellt werden (siehe dazu auch Kneuer 2012).
E-government stellt sozusagen die schwächste Form der Einbeziehung des Inter-
nets in politische Prozesse dar, denn es geht zuvorderst um das „internetgest€utzte
Abwickeln interner und externer administrativer Vorgänge mit größerer Geschwin-
digkeit und Interaktivität“ (Grundwald et al. 2006, S. 62). Der B€urger wird hier als
Verbraucher betrachtet, dem eine b€urgerfreundliche Verwaltungsleistung in Form
Digitale Medien in der Vergleichenden Politikwissenschaft 619

von Onlineabwicklung behördlicher Vorgänge wie etwa das deutsche Elster-


Verfahren bei der Steuererklärung ermöglicht werden soll. Zudem spielt die Kos-
tensenkung f€ur B€urger und Unternehmen eine Rolle. Die Leistung des Netzes wird
hier weniger im Sinne demokratiebelebender Aspekte gesehen, vielmehr ist das Ziel
die effektivere und dezentrale Bearbeitung von Dienstleistungen und Problemen,
wenngleich freilich auch eine erhöhte Transparenz erreicht werden kann. Kurz:
e-government als elektronische Verwaltung (siehe hierzu Sch€unemann 2012).
E-governance unterscheidet sich insofern, als – wie der governance-Begriff
bereits insinuiert – neben staatlichen Akteuren auch nicht-staatliche einbezogen
werden (Unternehmen, B€urgergemeinschaften etc.) und der Kommunikationsfluss
weniger hierarchisch (top-down), sondern netzwerkartig und somit horizontal statt-
findet. Vorstellbar ist dies insbesondere bei der themenorientierten Problemlösung
etwa auf kommunaler Ebene, die so näher am B€urger und „entstaatlicht“
geschehen kann.
E-participation spiegelt als Begriff schon allein deshalb Abgrenzungsschwierig-
keiten, weil damit einerseits top-down-Angebote von Regierungen verstanden wer-
den, mit denen B€urger in Konsultations- oder Partizipationsprozesse eingebunden
werden. So definieren die Vereinten Nationen in ihrem seit 2003 existierenden
E-Government Index e-participation als

„The willingness, on the part of the government, to use ICT to provide high quality
information (explicit knowledge) and effective communication tools for the specific purpose
of empowering people for able participation in consultations and decision-making, both in
their capacity as consumers of public services and as citizens.“ (UN 2003, S. 11).

Andererseits m€ussen darunter ebenso bottom up-Prozesse gefasst werden, also


jedwede Aktivitäten von B€urgern, die onlinebasiert anstreben, an politischen Ent-
scheidungsprozessen teilzunehmen oder diese zu beeinflussen, etwa durch Unter-
schriftenaktionen, Petitionen, Kampagnen etc.
Auch e-democracy (mitunter auch digitale Demokratie) wird als Konzept biswei-
len sehr unterschiedlich gebraucht. Lange Zeit war es der €ubergreifende Begriff f€ur
Demokratiemodelle, in denen qua Internet neue und mehr Mitwirkungsmöglich-
keiten vorhanden sind. Hagen versteht unter elektronischer Demokratie demokratie-
theoretische Ansätze, die Computernetzwerken zentrale Aufgaben im politischen
System einer Demokratie zuordnen.

„An ‘Electronic Democracy’ is any democratic political system in which computers and
computer networks are used to carry out crucial functions of the democratic process – such
as information and communication, interest articulation and aggregation, and decision-
making (both deliberation and voting) (Hagen o.J.; siehe auch Hagen 1997).

Das Konzept elektronischer Demokratie kann daher, so Zittel, als „Programm zur
Reform repräsentativer Demokratie begriffen werden“ mit dem Ziel von mehr
Partizipation und einer Veränderung des Verhältnisses von B€urger und Staat (Zittel
2001, S. 173). Andere Autoren dagegen r€ucken das e-democracy-Konzept eher in
die Nähe von e-government, also einem top-down-Ansatz, bei dem der B€urger als
620 M. Kneuer

Kunde des politischen Systems betrachtet wird (Grundwald et al. 2006, S. 64). Dies
w€urde wohl fallweise B€urgerbeteiligung beinhalten, aber €uber von der Regierung
geöffnete und bereitgestellte Kanäle (Siedschlag et al. 2002). Weitgehende Einigkeit
jedoch besteht darin, dass elektronische Demokratisierung zwar auf die Verbesse-
rung repräsentativer Demokratie, nicht aber auf ihr Ersetzen durch netzbasierte
Direktdemokratie abzielt (Hagen o.J.).
Dagegen wird mit Cyberdemocracy oft ein neues Modell, nicht nur im Sinne der
Ergänzung direktdemokratischer Elemente, sondern als Selbstregierung durch die
B€urger (Hague und Loader 1999, S. 3; Hagen o.J.), was es zu dem weitestgehenden
Typus netzbasierter Demokratie macht. Hier kommt die Vision zum Tragen, den
Zustand athenischer partizipativer Demokratie im Zeitalter der Digitalisierung und
Interaktivität zu verwirklichen: eine elektronische agora bzw. ekklesia. Insofern geht
dieses Modell auch €uber die Idee einer „€uber den elektronischen Diskurs selbst
organisierten virtuellen Gemeinschaft mit größerem politischen Einfluss des Einzel-
nen, einem geschärften demokratischen Bewusstsein und einem intensivierten
urgerlichen Engagement“ (Grundwald et al. 2006, S. 64 – Hervorhebung im
staatsb€
Original) hinaus. Fuchs differenziert zwei Erwartungskomponenten: Zum einen
sollen B€urger durch technologisch erleichterte Referenden wieder umfassend und
dauerhaft am Regieren beteiligt werden, zum anderen soll durch die interaktive
Kommunikation der B€urger in einem virtuellen Raum deliberativ ein gemeinsamer
Wille des Demos konstituiert werden (Fuchs 2004, S. 39). Damit bedeutet Cyber-
democracy letztlich das Ersetzen repräsentativer Demokratie durch die Selbstregie-
rung der B€ urger via Netz.
Unabhängig von der existierenden Begriffskonfusion sind diesen Konzepten
verschiedene normative Annahmen und insofern graduelle Erwartungen an die
vom Internet zu leistenden Funktionen inhärent, wobei die Zielvorstellungen alle-
samt auf eine netzoptimistische Zugang zur€uckgehen. Grob lassen sie sich in drei
Kategorien fassen: Erstens die Vereinfachung der B€urger-Staat-Interaktion, Effizi-
enzsteigerung, auch Kostensenkung; zweitens die Verbesserung politischer Prozes-
se, etwa durch Ergänzung onlinebasierter Elemente von Teilhabe, Konsultation etc.;
und drittens schließlich das Konzept des Ersetzens des repräsentativen Demokratie-
modells durch die digitale Selbstregierung der B€urger.

3 Normative Annahmen und theoretische Konzepte

Der Einzug des Internets Anfang der 1990er-Jahre löste zunächst eine erhebliche
Netzeuphorie aus, die Politiker ebenso erfasste wie Wissenschaftler. Alte demo-
kratietheoretische Forderungen an die Medien, die längst als Utopien abgetan wor-
den waren, schienen nun plötzlich realisierbar. Das Internet wurde zum Utopieträger
mit Heilsversprechungen (Della Porta 2013; Kneuer 2013a; Bucher 2009; Coleman
und Blumler 2009; Norris 2001; Wilhelm 2000). Dies betraf zum einen die Hoffnung
auf bessere Zugangschancen zur öffentlichen Meinungsbildung f€ur gesellschaftliche
Akteure, die sich außerhalb der politischen B€uhne befinden. Zudem konnte nun die
Digitale Medien in der Vergleichenden Politikwissenschaft 621

Filterfunktion der klassischen Medien umgangen werden und direkter Zugang zu


Informationen, Institutionen oder Akteuren geschaffen werden.
Erhebliche Erwartungen richteten sich, zweitens, auf die Möglichkeit, bis dahin
weitgehend theoretisch konzipierte Vorstellungen deliberativer Demokratie mit Hilfe
des Netzes nun umsetzen zu können. Und drittens schließlich erwuchs die Hoffnung
auf neue Wege alternativer Partizipationsmöglichkeiten, womit die Annahme ver-
bunden wurde, dass B€urger €uber das Netz stärker an politischen Entscheidungspro-
zessen teilhaben w€urden, was nicht zuletzt eine Legitimitätsstärkende Wirkung haben
könnte. Eine zivilgesellschaftlich ausgerichtete Variante des Netzoptimismus stellte
vor allem auf die aktivierende Wirkung des Netzes f€ur B€urgerengagement ab, was in
direkter Konsequenz zu Verbesserungen der politischen Partizipation f€uhren sollte
(siehe dazu Winkel 2001; Wilhelm 2000). Das Internet solle, so die Mobilisierungs-
these, zu basisdemokratischem politischem Aktivismus f€uhren und den Austausch der
Ideen anregen (Rheingold 1993). Auf diese Weise könne das Netz die Befähigung des
B€urgers fördern, sich auch in großem Umfang an politischen Prozessen zu beteiligen
(net empowerment). Es waren nicht zuletzt Politiker, die das demokratiebereichernde
Potenzial des Internets entdeckten; das Bild athenischer Demokratie, einer elektron-
ischen agora, stand dabei vor den Augen, die eine perfekte Informationsarena voll-
ständig informierter B€urger schaffen w€urde, die direkt und ohne vermittelnde Instan-
zen partizipieren könnten, so der European Information Society Forum Report von
1999 oder der amerikanische Vize-Präsident Al Gore 1994, der „a New Athenian Age
of democracy“ herannahen sah (Gore 21.3.1994).
Auch wenn die Netzoptimisten die Debatte dominierten, so gab es auch andere
Stimmen. Gemäß der Verstärkerhypothese w€urden bestehende Beteiligungsmuster
verfestigt und – anders als in der Mobilisierungshypthese – nicht aufgebrochen, was
letztlich zu „politics as usual“ f€uhren w€urde (Margolis und Resnick 2000). Netz-
pessimistische Argumente zielen darauf, dass das Funktionieren der Demokratie
durch die neue Technologie unterminiert werden könne (Sunstein 2011), dass das
Rationalitätsniveau der politischen Debatten abgesenkt w€urde und im Netz nur noch
die schrillen und vereinfachten Stimmen zu hören sein w€urden (Noam 2005).
Weiterhin wird angezweifelt, dass das Netz tatsächlich mehr Inklusivität und auch
Gleichheit der Stimmen produziert. So argumentiert Hindman, dass die Exklusions-
mechanismen zwar andere seien, deswegen aber nicht weniger effektiv (Hindman
2009: 12 f). Die Schwelle der Exklusivität verschiebe sich von der Informations-
produktion hin zum Filtern der Information. Auch die von den Netztheoretikern
unterstellte Hierarchiefreiheit ist nicht unangefochten. Die extreme Offenheit des
Netz, so das Gegenargument, hat neue politische Eliten entstehen lassen. In der
großen Menge an Seiten und Blogs bleibt die „Visibilität der Superstars“ (Benkler
2006: 242) hoch und strukturiert damit die generelle Aufnahme und das Filtern von
Informationen. Nicht selten wurde auf die Gefahr einer Fragmentierung der Öffent-
lichkeit hingewiesen (u. a. Dahlgren 2005, S. 152 f.; 2009, S. 163 f.; Zehnpfennig
2013). Buchstein spricht gar von der „Erosion des öffentlich orientierten Staats-
b€urgertums“ (Buchstein 1996, S. 603). Während die klassischen Massenmedien
Öffentlichkeit strukturierten und diesbez€uglich gewisse Integrationsleistungen er-
brachten, f€uhrt die Pluralisierung durch zig-Tausende von Websites, Chat rooms,
622 M. Kneuer

Blogs etc. zur Dispersion von Öffentlichkeit, zu einer Myriade von selbstreferen-
tiellen Teilöffentlichkeiten, zu „Informations-Kokons“, die die gemeinsame öffent-
liche Sphäre, die f€ur ein politisches Gemeinwesen essentiell ist, unterminieren.
Netzneutralisten oder -realisten betrachten das Internet als neutrales Medium, das
prinzipiell zur Modernisierung und Verbesserung der Demokratie dienen kann,
allerdings unter bestimmten und klar definierten Bedingungen. Vertreter wie Benja-
min Barber (1998) und Claus Leggewie (1998) unterstreichen die ambivalente
Wirkung des Internets auf politische Strukturen und Prozesse. Infolgedessen sehen
sie sowohl mögliche Chancen als auch Risiken. Aus der Analyse und Abwägung
demokratieförderlicher und -hinderlicher Effekte ergibt sich die Schlussfolgerung,
dass, wenn die Technologie der Demokratie dienen solle, sie entsprechend „pro-
grammiert“ werden muss (Barber 1998). Ob demokratische Prozesse letztlich
erleichtert oder unterminiert werden, hänge nicht von der Technologie ab, „sondern
von der Qualität unserer politischen Institutionen und dem Charakter unserer
B€urger“ (Barber 1998, S. 131 f.). Zu den Netzrealisten kann man auch jene Stimmen
zählen, die vor der Überhöhung der Technologie warnen, deterministische Folge-
rungen negieren und auf „teleologische Fallen“ hinweisen (Coleman und Blumler
2009, S. 9). Deterministische Annahmen zur Wirkung des Internets vernachlässigen
die Akteursperspektive, was besonders dann problematisch wird, wenn es um die
Untersuchung von Partizipation und Aktivismus geht (Dahlgren 2013, S. 42). Dies
wird bei der Netzwerktheorie kritisiert. Sie erodiere die Handlungsperspektive und
ersetzt diese durch eine formalistische Idee von Netzwerkstrukturen. Soziale Akti-
vität werde auf die Angebotsseite der Technologien reduziert, wobei die Akteure
selbst ebenso wie Aspekte von Identitäten und Narrativen verloren gingen (Gerbaudo
2012, S. 9).
Zusammenfassend zeigt der Blick auf die theoretischen Debatten, dass sich der
anfängliche netzeuphorische Bias €uber das Veränderungspotenzial des Internets auf
politische Prozesse zwar abgeschwächt hat – auch, weil empirische Befunde eine
realistischere Sicht auf das Phänomen hervorriefen. Nichtsdestotrotz bleiben die
dargestellten Positionsbestimmungen bestimmend. Ähnlich wie in den 1990er-
Jahren lassen sich in den j€ungeren Debatten der letzten zehn Jahre, die sich auf
den nächsten Schritt der Nutzung, das Web 2.0 und die Wirkung sozialer Medien
beziehen, jene drei Hypothesenstränge – Netzoptimismus, Netzpessimismus und
Netzneutralismus – wiedererkennen.

4 Empirische Befunde

Auf dem Hintergrund der skizzierten verschiedenen Stränge normativer Ausrichtung


sind inzwischen eine Vielzahl empirischer Studien entstanden, bei denen dreierlei
dominiert: zum einen die Einzelfallbetrachtung (so gibt es weiterhin ein Desiderat an
vergleichenden Studien – siehe dazu auch 6.), zweitens ein US-Zentrismus (Vaccari
2013, S. 5, 12) sowie eine Konzentration auf politische Akteure, vor allem Parteien,
Parlamentarier und Wahlkampagnen.
Digitale Medien in der Vergleichenden Politikwissenschaft 623

So wurde die erste Online-Wahlkampagne, nämlich jene von Barack Obama


f€
ur die Präsidentschaftswahlen von 2008 vielbeachteter Gegenstand sowohl von
politischen Praktikern als auch von politikwissenschaftlichen Analysen. Rachel
Gibson weist z. B. ausgehend von der Obama-Kampagne 2008 auf einen durch
das Internet bedingten Wandel hin zum Phänomen des „citizen-initiated cam-
paigning“ hin, wobei „supporters are given a stronger ‚co-producing‘ role in the
campaign than has hitherto been the case“ (Gibson 2015, S. 187). Aber auch
jenseits der Wahlkampfkommunikation, die eine Sondersituation widerspiegelt,
stehen die erweiterten Kommunikations- und Interaktionsmöglichkeiten von
Parteien im Fokus. Weitergehende Vorschläge richten sich auf einen neuen
Typus der „cyber party“ (Helen Margetts 2006), der der zunehmenden Bin-
dungsm€ udigkeit der B€urger an Parteien entgegenkäme und auf einer losen
Unterst€utzung basiere und deren Kommunikation €uber Intra- und Extranetze
ablaufe. Die transparente, hierarchiefreie und f€ur alle offene Kommunikation
in den Netzwerken solcher cyber-Parteien (wie etwa die deutsche Piratenpartei,
die italienische F€unf-Sterne-Bewegung von Beppe Grillo oder auch die aus der
Empörungsbewegung entstandene spanische Partei Podemos) spiegelt dabei
gleichsam deren anti-elitistischen Zugang, der zu ihrer Programmatik gehört
(siehe dazu Hartleb 2012). Eine der wenigen komparativen Studien (Vaccari
2013) zeigt gleichwohl, dass sowohl institutionelle Faktoren – wie etwa das
Wahlsystem – als auch politische-kulturelle Faktoren einen Einfluss auf die
Nutzung des Netzes besitzen. So sind in politischen Systemen mit Verhältnis-
wahlrecht eher kleinere Parteien sichtbarer und relevanter in der Online-
Kommunikation, in Mehrheitswahlsystemen dagegen die Oppositionspartei.
Interessant ist auch, dass in manchen Ländern (USA, Großbritannien, Deutsch-
land, Australien) insbesondere solche B€urger das Netz f€ur politische Information
oder Kommunikation nutzen, deren systemische Unterst€utzung eher groß ist,
während es in anderen Ländern (Frankreich, Spanien, Italien) die unzufriedenen
B€urger sind, die dazu auf das Netz zur€uckgreifen. Vor allem aber stellt Vaccari
heraus, dass die USA ein deviant case sind und daher nicht als Modell dienen
kann (Vaccari 2013, S. 4).
Eine erneute Aufmerksamkeitswelle erfuhren soziale Medien im Zuge der Pro-
testbewegungen seit 2011. Im Zusammenhang mit den Umsturzbewegungen im
arabischen Raum wurden digitale Medien zwar nicht zum ersten Mal genutzt,
erreichten aber eine besondere Wirkkraft. Diese beruhte auf drei Aspekten: Zum
einen ermöglichten insbesondere die sozialen Netzwerke Facebook und Twitter eine
rasche und effektive Koordination der Proteste, des Weiteren die ebenso direkte
Mobilisierung von B€urgern und schließlich bildeten die sozialen Medien neben den
realen Protesträumen, etwa auf dem Tahir-Platz, einen virtuellen Raum der Kom-
munikation ohne Zugriff durch die Herrschaftsstrukturen. Gleichwohl stellte die
Etikettierung als „Facebook-Revolution“ eine Überhöhung der Rolle sozialer Me-
dien dar (siehe dazu Morozov 2011; Kneuer und Demmelhuber 2012). Ein weiteres
Protestphänomen waren die Empörungsbewegungen im Kontext der Finanz- und
Verschuldungskrise. Die spanischen Indignados oder die weltweit präsente Occupy-
Bewegung lehnten sich nicht nur in der Besetzung öffentlicher Räume, sondern
624 M. Kneuer

auch in der Nutzung sozialer Medien an diese arabischen Umsturzbewegungen an


(Kneuer und Richter 2015; Castells 2012; Gerbaudo 2012). Ähnlich wie in Bezug
auf die Parteien kam bei diesen Protestphänomenen die Frage auf, inwiefern
innerhalb der sozialen Bewegungen ein neuer Typus, eine neue Generation von
Protest ausgemacht werden kann (Roth 2012). Bennett konstatiert als Merkmale
j€ungerer Protestbewegungen folgende Tendenzen: weg von ideologischer Integra-
tion und hin zu eher persönlichen und fluiden Formen des Zusammenschlusses; weg
von klarer Rahmung kollektiver Identitäten, hin zu persönlichen Identitätsnarrati-
ven und weg von stärker organisatorischer F€uhrung, hin zu polyzentrischen, nicht-
hierarchischen und flexiblen Netzwerken (Bennett 2003a, S. 146–49, siehe auch
2003b). Bennett und Segerberg sehen die digitale Technologie dar€uber hinaus als
Wegbereiter f€ ur eine neue Form von Aktivismus, den „digital network activism
(2012, S. 7). Sie sprechen auch von „connective action“, bei dem man öffentlich
tätig wird als Akt persönlichen Ausdrucks und Selbstverwirklichung, indem man
Ideen und Handlungen in vertrauten Beziehungsgeflechten teilt (Bennett und
Segerberg 2012, S. 752 f.).
Bei solchen Typenbildungen, die sich auf die digitale Technologie als kausaler
oder distinktiver Faktor st€utzen, ist der Hinweis wichtig, dass es sich – noch
zumindest – um eine Gleichzeitigkeit von offline- und online-Prozessen, ja oft sogar
um eine enge Verwebung beider Dimensionen handelt. Das heißt: Meist liegen
hybride Handlungsstränge vor, bei denen sowohl analoge als auch digitale Formen
von Kommunikation und Interaktion genutzt werden. Und schließlich kommt wei-
terhin den Massenmedien eine zentrale Rolle zu f€ur die Diffusion politischer Initiati-
ven oder Inhalte in die breite Öffentlichkeit.
Wenn man den am stärksten erwartungsbeladenen Bereich betrachtet, nämlich
die netzbasierte Partizipation, relativieren die empirischen Befunde eher die opti-
mistischen Annahmen, als dass sie sie vollends st€utzen. Die zentrale Erkenntnis
betrifft die Tatsache, dass auf Nutzerseite digitale Kluften (Norris 2001), digital
divides, vorliegen, die gleiche Nutzungschancen ebenso wie gleiche Einflusschan-
cen auf politisches Geschehen in mehrerlei Hinsicht einschränken. Diese Ein-
schränkungen betreffen den Netzzugang, der weltweit weiterhin große Asymme-
trien zeigt (Die Netzpenetration beträgt gegen€uber 87 Prozent in Nordamerika, 72 in
Ozeanien/Australien und 70 Prozent in Europa nur 27 Prozent in Afrika, 34 in
Asien, 48 im Nahen Osten 48 und 52 Prozent in Lateinamerika – Worldstats 2014).
Insgesamt zählt nicht einmal die Hälfte der Weltbevölkerung zu Internetnutzern
(42,4, Prozent). Selbst in Deutschland und den USA gibt es keine hundertprozentige
Durchdringung, wie sie etwa Dänemark und Finnland annähernd aufweisen. Eine
weitere infrastrukturelle Problematik liegt in der Versorgung in Haushalten mit
schnellem Breitband, so dass auch Videos u. Ä. eingesehen oder heruntergeladen
werden können. Schwer wiegen vor allem die sozioökonomischen Faktoren, wie
Geschlecht, Alter, Bildungsstand, Berufstätigkeit (ja/nein) und Einkommen. Trotz
einer sehr dynamischen Entwicklung bleibt der Befund g€ultig, dass das Nutzerprofil
digitaler Medien f€ur politische Information, Kommunikation oder Interaktion wei-
terhin €
uberwiegend durch die Attribute jung, männlich, gut ausgebildet, berufstätig
Digitale Medien in der Vergleichenden Politikwissenschaft 625

und wenn ja: höheres Einkommen geprägt ist (f€ur Deutschland: siehe van Eimeren
und Frees 2014). Des Weiteren belegen empirische Studien insofern die Verstärker-
hypothese, als dass vor allem jene B€urger das Netz f€ur politische Information oder
Aktivitäten nutzen, die ohnehin politisch interessiert und aktiv sind, während die
„apathische Mehrheit“ durch die neuen digitalen Partizipationsformen kaum abge-
schmolzen werden konnte.
Insgesamt bescheinigen Studien folgende, im Großen und Ganzen konsen-
suellen Befunde: Die Online-Formen des Engagements ersetzen im Allgemeinen
nicht die traditionellen Formen, sondern ergänzen sie eher; nur dort, wo das
Internet eine Vereinfachung bietet, kann es auch zu Verdrängungseffekten kom-
men. Die B€ urger, insbesondere auch die J€ungeren, nutzen online – ähnlich wie
offline – stark die Form von Online-Petitionen sowie Abstimmungen €uber poli-
tische Sachverhalte (Köcher und Bruttel 2011, S. 44; Ritzi et al. 2012, S. 23;
AVIIG 2014, S. 28 f.). Die Messung von Reichweite und Zeitaufwand (AVIIG
2014, S. 31) belegt sehr deutlich, dass Nutzungsformen mit hohen Nutzerzahlen
bei geringem Zeitaufwand (Online-Petitionen zeichnen, politische Sachverhalte
abstimmen) Nutzungsformen gegen€uberstehen, in die wenige Nutzer einen
hohen Zeitaufwand stecken (€uber B€urgerhaushalte beraten, an Online-
Konsultationen teilnehmen, Online-Petitionen erstellen). Insofern deutet Einiges
auf ein sich abzeichnendes „participatory divide“ hin. Ritzi/Schaal/Kaufmann
beziehen dies in der Betrachtung der Nutzungsmotive auf den Umstand, dass es
mehr Menschen um symbolische Partizipation geht – ein Zeichen setzen – denn
um instrumentelle Partizipation – im Sinne eines Engagements, das auf politi-
sche Einflussnahme zielt (Ritzi et al. 2012, S. 26). Deswegen – so die Autoren –
kann „mehr Partizipation im Netz nicht die Partizipationsdefizite in der realen
Welt kompensieren“ (ebd. 2012, S. 35). Eine weitere solche participatory divide
kann – ebenfalls f€ur die j€ungere Generation – darin bestehen, dass die Nutzung
der Partizipationsformen negativ korreliert mit dem damit verbundenen Auf-
wand: Je anspruchsvoller die Beteiligungsform ist, desto weniger wird sie ge-
nutzt (Ritzi et al. 2012, S. 23). Dies unterst€utzt die Ergebnisse der Studie von
Emmer et al., die alle Aktivitäten, bei denen man eigene Beiträge (eigene
Homepage, Beiträge in Bild oder Film, Blogs) abzufassen hat, gering sind
(2011: 161–198). Das lässt den Schluss zu, dass gerade bei den J€ungeren die
schnelle und niederschwellige Aktion im Vordergrund steht. Weiterhin ern€uch-
ternd ist eine weitere Facette des participatory divide: Dass nämlich die höheren
Bildungsschichten das Internet wesentlich konsequenter f€ur die Verbesserung
ihrer Information und Meinungsbildung nutzen, während die unteren Bildungs-
schichten auf das Netz primär f€ur im Alltag einsetzbare „Nutzwertinformation“,
Kommunikation und Unterhaltung zur€uckgreifen (Köcher und Bruttel 2011,
S. 40). Politische Beteiligung scheint im Netz eher neue Kluften widerzuspie-
geln, als dass sie neue Bevölkerungskreise erfasst oder neue Wege politischer
Einflussnahme aufzeigt. Zudem zieht sich ein Befund durch alle Studien: Die
Wirkungen der Online-Nutzung f€ur politische Zwecke ist sozial selektiv; mobi-
lisierend wirkt diese vor allem bei J€ungeren.
626 M. Kneuer

5 Internet in Autokratien: Befreiungstechnologie oder


Repressionsinstrument?

Im Zuge der intensiven Nutzung sozialer Medien im Arabischen Fr€uhling wurden


sozialen Medien eine zweifelsohne €uberhöhte Bedeutung als Befreiungs- oder
Demokratisierungstechnologie zugemessen. Mit dem Begriff „Liberation technology“
meint der amerikanische Demokratieforscher Larry Diamond (2010) jede Form
von IKT, die politische, wirtschaftliche oder soziale Freiheit erweitern kann. Solche
optimistischen Annahmen basieren auf zwei potenziellen Wirkungen digitaler Me-
dien: Zum einen die Befähigung von B€urgern, unabhängig von etablierten Medien-
strukturen, die kontrolliert oder zensiert sind, zu kommunizieren und auf diese Weise
eine entstehende Zivilgesellschaft zu stärken. Zum anderen werden Autokratien
zunehmend durch die interaktive Echtzeit- und many-to-many-Kommunikation in
sozialen Netzwerken und infolgedessen durch die effektiver und schneller umsetz-
bare Mobilisierung von Widerstand und Protest bedroht. Andere Stimmen dagegen
bezweifeln diese befreiende Wirkung jener Technologien. Der inzwischen auch €uber
die USA hinaus bekannte Blogger und Netzwissenschaftler Evgeny Morozov kon-
statiert, dass die Proteste in Tunesien auch ohne Twitter und Facebook stattgefunden
hätten (2011). Eine noch skeptischere Perspektive geht davon aus, dass Autokratien
in gleichem Maße von den Möglichkeiten der neuen IKT profitieren können, indem
sie sich diese zur Überwachung und Kontrolle der B€urger zunutze machen. Berichte
€uber Netznutzung in Autokratien wie China und Kuba (siehe dazu die Länderstudien
in Kalathil und Boas 2003; McKinnon 2011; Hoffmann 2011) st€utzen eher netz-
pessimistische Perspektiven, denn die dortigen Machthaber stehen demokratisch
gesinnten Netzprofis hinsichtlich des technischen Erfindungsreichtums in nichts
nach, entwickeln subtile Filter- und Zensursysteme, beteiligen sich selbst an der
Netzkommunikation und können so digitale Netzwerke zum Kontrollinstrument
oder gar zur Fahndung nach Netzdissidenten umm€unzen. Solche Strukturen von
„vernetztem Autoritarismus“ (Deibert und Rohozinski 2010, S. 44) machen exten-
sive und effiziente Formen sozialer Kontrolle möglich. Des Weiteren nutzen auto-
kratische Regime das Internet auch zur Herstellung von Legitimität, indem sie mit
e-government-Programmen effektive Dienstleistungen f€ur B€urger erbringen oder
sogar Responsivität simulieren €uber elektronische Partizipationsformen
(e-participation, e-petitions – Kalathil und Boas 2003, S. 138 ff). Längst gehören
Chats mit den Regierenden ebenso zum Instrumentenkasten der Autokraten wie
gelenkte Internetforen, um wie in China im Kontext der Spannungen mit Japan um
den Kauf einiger Inseln den B€urgern Raum f€ur nationalistische Gef€uhle zu geben.
Diese antagonistischen Positionen lassen sich in der Frage verdichten: Stellen die
digitalen Medien ein Instrument dar, mit dem die B€urger in Autokratien in besonders
effektiver Form befähigt werden, f€ur Demokratie und Freiheit zu mobilisieren und
damit den Fortbestand von Autokratien zu bedrohen? Oder stellen die digitalen
Medien ein Instrument dar, mit dem die Autokratien befähigt werden, ihre B€urger
besser zu kontrollieren und demokratischen Widerstand effektiver in den Griff zu
bekommen? (Kneuer 2013b).
Digitale Medien in der Vergleichenden Politikwissenschaft 627

Die neuen IKT eröffnen daher sowohl Möglichkeiten f€ur die Befreiung von
Autokratien als auch f€ur subtile Formen sozialer Kontrolle und innovative Legitima-
tionsmechanismen durch Autokratien. Aus einer netzrealistischen Sicht kann die
Wirkung digitaler Medien nicht einem einzigen Ergebnis – entweder Befreiung oder
Kontrolle – zugeordnet werden. Eine neue Software-Anwendung, so erfindungsreich
sie sein mag, hält nicht per se eine Lösungskompetenz f€ur soziale oder politische
Probleme bereit. Die maßgeblichen Kräfte f€ur die Beendigung von Autokratien und
f€
ur das Initiieren von Demokratisierungsprozessen sind die Akteure, also die B€urger,
zivilgesellschaftliche Organisationen und Bewegungen, Parteien und Interessen-
gruppen, freie (!) Medien sowie die relevanten politischen Eliten. Was die neuen
Medien somit schaffen können, sind alternative Opportunitätsstrukturen f€ur diese
Akteure. Es ist jedoch (und es war auch schon vor der digitalen Ära) ein Trugschluss,
Medien ein alleiniges Potenzial zur Lösung politischer Probleme inklusive
Regimewechsel zuzuschreiben und ihre Wirkungsmacht damit zu hypostasieren.
(Kneuer 2013b)

6 Forschungsdesiderate und Forschungs perspektiven

Die Frage nach der Wirkmächtigkeit des Netzes im politischen Bereich erfordert ein
umfassendes Forschungsprogramm. Hier konnten nur skizzenhaft einige Aspekte
angerissen werden, von der generellen Frage geleitet, welche Leistungen digitale
Medien erbringen. Grundsätzlich gilt es zwischen der Angebotsseite und der Nach-
frageseite zu unterscheiden. Inwieweit e-government oder e-participation-Angebote
angenommen werden und ob sie die anvisierten Ziele erf€ullen, ist dabei genauso
offen wie die Einflusschancen und Effekte von B€urgeraktivitäten im Netz, die sich
an Politiker, Parteien, Interessengruppen etcrichten.
Bislang steht die Erforschung etablierter Demokratien im Vordergrund, nicht
zuletzt, weil die hohen Erwartungen an ein Reform- oder Erneuerungspotenzial
vor allem auf die Erm€udungserscheinungen des repräsentativen Modells, auf die
wachsende Entfremdung zwischen B€urgern und Politikern, auf die abnehmende
konventionelle Beteiligung abzielten. Sowohl konzeptionelle Zugänge als auch
empirische Untersuchungen m€ussen sich jedoch in drei Dimensionen bewegen: In
Bezug auf Demokratien steht zu Debatte, inwiefern das technische Potenzial des
Netzes, vor allem sozialer Netzwerke, dazu in der Lage ist, Defizite im Funktionie-
ren der heutigen demokratischen Systeme auszumerzen und Verbesserungen zu
erreichen oder ganz anders: inwiefern auf Grund der Funktionslogik sozialer Medien
Dysfunktionalitäten im demokratischen Gef€uge entstehen, die nicht nur einer Er-
neuerung der repräsentativen Demokratie entgegenstehen, sondern sogar kontra-
produktive Effekte hervorbringen (siehe dazu Kneuer 2013a). In Bezug auf Demo-
kratisierung ist weiterhin ungeklärt, unter welchen Kontextbedingungen und auf
Grund welcher Akteurskonstellationen soziale Medien Liberalisierungsprozesse
oder gar Regimewechsel unterst€utzen können. In Bezug auf Autokratien bestehen
große L€ ucken einerseits bei der Klärung, welche Rolle digitale Medien zur
628 M. Kneuer

Sicherung autokratischer Herrschaft spielen können, andererseits, welchen politi-


schen Einfluss (direkt oder indirekt) sie trotz Zensur oder anderen Kontrollmethoden
erlangen können, um etwa zum Umlenken des Regimes in bestimmten Politikbe-
reichen zu induzieren. Die größeren weißen Flecken bestehen im Hinblick auf die
beiden letzten Dimensionen.
Ein Aspekt, der hier nicht weiter vertieft werden konnte, aber nichtsdestotrotz
Relevanz besitzt, sind internationale Diffusionseffekte, wobei erste Studien recht
unterschiedliche Tendenzen andeuten. So zeigt eine F€unf-Länder-Studie zu den
Empörungsbewegungen nach 2011, dass einerseits die Kommunikation deutlich
weniger transnational ablief als vermutet, andererseits durchaus digitale Protest-
elemente diffundierten; Kneuer und Richter 2015). Auch die Studie von Vaccari
unterstreicht, dass ein role model in politischer Online-Kommunikation wie die USA
nicht automatisch imitiert oder emuliert wird, sondern dass solche Prozesse stark von
anderen Kontextbedingungen abhängig sind, auch von den Interessen und Ressour-
cen der Akteure.
Nach Netzeuphorie und -skeptizismus dominiert in der wissenschaftlichen
Debatte längst die Auffassung, dass die Wirkung digitaler Medien Ambivalenzen
aufweist. Dahlgren beschreibt diese Ambivalenz mit der Metapher von Kraftfeldern,
in denen sich die Spannung zwischen diesem demokratiestärkenden und demo-
kratiemindernden Charakter des Netzes abbildet (Dahlgren 2013, S. 36). Noch gibt
es durch empirische Studien keine ausreichend robuste Basis, um eine abschließende
Einschätzung in Bezug auf das demokratiebereichernde oder demokratiebelastende
Potenzial vornehmen zu können. Zugleich liegen wenige konzeptionelle Zugänge
zur systematischen Bearbeitung vor.
Die vergleichende Perspektive hinsichtlich des Einsatzes, der Nutzung und der
Wirkung digitaler Medien ist bislang völlig unterbewertet. Das gleiche gilt f€ur die
Rolle unterschiedlicher Typen digitaler Medien, denn hier dominieren Untersuchung
zu Facebook und Twitter, während andere Typen bislang weitgehend unbeachtet
geblieben sind. Die meisten Studien beschäftigen sich mit einem Land (€uberwiegend
USA), einem Akteur oder auch einem Medium (Facebook und Twitter). Dabei
zeigen die wenigen vergleichenden Studien sehr deutlich, welch geringe Erklärungs-
kraft dieser engen Fokussierung innewohnt. Der Vergleich ist somit f€ur die Er-
forschung der Rolle digitaler Medien f€ur politische Strukturen und Prozesse das
vorherrschende Desiderat, ganz unabhängig von dem spezifischen Forschungsge-
genstand.

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Korruptionsforschung in der
Vergleichenden Politikwissenschaft

Andrea Gawrich und Tobias Debiel

Zusammenfassung
Die Korruptionsforschung stellt in der vergleichenden Politikwissenschaft ein
j€
ungeres Gebiet dar, das erhebliche transdisziplinäre Bez€uge, insbesondere zur
Ökonomie, aufweist. Der Aufschwung des Forschungszweigs in den vergange-
nen zwei Jahrzehnten hängt eng zusammen mit der Verf€ugbarkeit aggregierter
Datensätze und Indizes, aber auch mit den insbesondere von der Weltbank
initiierten Antikorruptionsmaßnahmen im Kontext des in den 1990er-Jahren
dominanten Good Governance-Paradigmas. Die wissenschaftliche Analyse be-
fasst sich dabei neben Entwicklungs- und Transformationsländern inzwischen
auch eingehend mit etablierten, marktwirtschaftlich verfassten Demokratien.
Zugleich zeigt sich im Feld der Korruptionsbekämpfung, dass die Übertragung
institutioneller Blaupausen gerade in Ländern mit fragiler Staatlichkeit an enge
Grenzen stößt.

Schlüsselwörter
Korruptionsforschung • Korruptionsbekämpfung • Institutionen • Regimetypen •
Demokratiedefekte • Fragile Staatlichkeit

A. Gawrich (*)
Professorin f€ur Internationale Integration mit besonderem Bezug auf das Östliche Europa, Institut
f€ur Politikwissenschaft, Universität Gießen, Gießen, Deutschland
E-Mail: andrea.gawrich@sowi.uni-giessen.de
T. Debiel
Professor f€ur Internationale Beziehungen/Außen- und Entwicklungspolitik, Institut f€
ur
Politikwissenschaft, Universität Duisburg-Essen, Duisburg, Deutschland
E-Mail: tobias.debiel@inef.uni-due.de

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 633


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_47
634 A. Gawrich und T. Debiel

1 Einleitung

Der Begriff Korruption lässt sich zur€uckf€uhren auf die lateinischen Begriffe corrup-
tio und corrumpere, die vielfach mit „Verderben“ €ubersetzt werden. Des Weiteren
bedeutet das Verb rumpere „brechen“ oder „zerreißen“. Urspr€unglich waren diese
Begriffe primär auf das Gemeinwesen bezogen und weniger auf das Handeln von
Individuen (von Alemann 2005, S. 16). In der Korruptionsforschung der j€ungeren
Vergangenheit stand hingegen zunächst das individuelle Handeln im Vordergrund,
systemische Korruptionsanalysen kamen später hinzu.
Ein heute verbreiteter definitorischer Zugang zur Korruption verweist auf den
Missbrauch von öffentlicher Macht zur Erlangung eines persönlichen Vorteils, wie
es etwa in der mittlerweile klassischen Definition von Johnston (1998, S. 322) zum
Ausdruck kommt, der aus politikwissenschaftlicher Sicht Korruption als „abuse of
public office, powers, or resources for private benefit“ bestimmt hat. Ganz ähnlich
ausgerichtet ist das entwicklungspolitisch einflussreiche Begriffsverständnis der
Weltbank von Korruption als „abuse of public office for private gain“ (World Bank
2007, S. 3). Ein Amtsträger oder eine Amtsträgerin unternimmt dabei, so eine
Definition von Ruth Zimmerling (2005, S. 88), eine amtliche Handlung, f€ur welche
er oder sie qua Amt nicht autorisiert ist und die ein derart wahrgenommener Be-
standteil einer Tauschbeziehung ist. Diese vorherrschenden Definitionen greifen
allerdings in vielerlei Hinsicht zu kurz. So spiegelt etwa die Formulierung „abuse
of power“ eine weitgehende Orientierung an formalen Regel€ubertretungen wider –
was unzureichend ist, kann doch die Regelsetzung selbst bereits durch Korruption
beeinflusst worden sein. Maxwell Cameron bringt diese Problematik auf den Punkt
(2007, S. 4), wenn er meint: „one cannot have confidence in the ability of a corrupt
legislator to make good laws“. Wichtig erscheint insofern, dass empirische For-
schung auch einbezieht, ob ein bestimmtes Verhalten gemessen an kontextgebunde-
nen sozialen Maßstäben, die von den jeweiligen rechtlichen Normen abweichen
können, als legitim oder illegitim betrachtet werden kann (von Alemann 2005,
S. 13–49).
Auch der Begriff des „privaten Nutzens“ ist zu eindimensional. Denn das Motiv
f€
ur Korruption in der politischen Sphäre liegt oftmals weniger in rein privaten
Selbstbereicherungsmotiven als vielmehr im Erhalt oder im Ausbau politischer
Macht (Rose-Ackerman 2008), wobei die Profiteure im engeren Sinne dann etwa
die eigene Partei, ethnische Gruppe oder Region sein können (Tanzi 1998, S. 8–9).
Korruption in der politischen Sphäre kann insofern treffender als Missbrauch eines
öffentlichen Amtes im Sinne einer Verletzung formaler Regelungen bzw. sozialer
Normen € uber richtiges Verhalten mit dem Ziel, private oder politische Vorteile zu
erzielen, verstanden werden. Aber auch diese weiter gefasste Definition bleibt
nat€urlich begrenzt, insofern sie korrupte Praktiken allein unter privaten Akteuren
ohne unmittelbare Beteiligung von öffentlichen Amtsträgern außen vor lässt,
obwohl derartige Vorteilsnahme nicht nur in der allgemeinen Wahrnehmung, son-
dern durchaus auch strafrechtlich unter den Tatbestand der Korruption fällt.
Das soziale Phänomen des Missbrauchs öffentlicher Macht fand seinen Weg in
die breitere politische und später auch wissenschaftliche Debatte insbesondere durch
Korruptionsforschung in der Vergleichenden Politikwissenschaft 635

die Konzeptualisierungen der Weltbank seit Ende der 1980er-Jahre (Tanzi 1998,
S. 8) sowie durch die Nichtregierungsorganisation Transparency International ab
den 1990er-Jahren (Schröder 2011, S. 4).

2 Konzeptionelle und methodische Zugänge zu Korruption

Es gibt vielfältige Versuche, das Phänomen der Korruption zu kategorisieren. Dabei


kann unterschieden werden hinsichtlich (a) dem Ausmaß der Verbreitung, (b) der
Verankerung in politischen, sozialen oder ökonomischen Strukturen, (c) den Sphä-
ren, auf die Korruption primär gerichtet ist, (d) öffentlichen, ökonomischen und
gesellschaftlichen Wirkungen oder auch (e) der gesellschaftlichen Akzeptanz. Sehr
basal ist die Unterscheidung zwischen „public-office-centered“, „marked-centered“
und „public-interest-centered“ als kategoriale Einteilungen von Korruption (Heiden-
heimer et al. 1989). Von besonderem Interesse ist hier die bereits oben eingef€uhrte
politische Korruption, also einerseits die Bestechung staatlicher Akteure durch
nicht-staatliche Akteure (bribe) bzw. vice versa das erpresserische Einfordern von
zusätzlichen Leistungen f€ur die Gewährung eigentlich regulär zustehender staat-
licher Leistungen (extorsion). Dadurch werden Kollektivg€uter (welcher Art auch
immer) wie privater Besitz behandelt oder gehen in diesen €uber (Heidenheimer
et al. 1989, S. 6; Funderburk 2012, S. 2–3).
Je nach Korruptionssphäre differiert auch die gesellschaftliche (Nicht-)
Akzeptanz, wobei Heidenheimer u. a. in „weiße“ (= eher tolerierte), „graue“
(= öffentlich getadelte) und „schwarze“ (= gesellschaftlich verachtete) Korruption
unterschied (Heidenheimer et al. 1989, später differenziert, Heidenheimer 2004,
S. 99–100; von Alemann 2005, S. 33–34). In diesem Kontext lässt sich zudem
zwischen situativer und systemischer Korruption unterscheiden (von Alemann
2005, S. 32; Rose-Ackermann 1999, S. 227). Systemische Korruption kann mitun-
ter selbst dann fortdauern, wenn sich die Konzentration von Macht reduziert (von
Soest 2013, S. 79–81).
Eine zentrale methodische Herausforderung der Korruptionsforschung bestand
und besteht darin, dass Korruption als verbotene Transaktion meist im Verborgenen
stattfindet und dementsprechend vergleichsweise wenige schriftliche Quellen vor-
liegen. M€ undliche Zeugnisse sind zudem vielfach nicht zitierfähig (von Alemann
2005, S. 24). Trotz dieser Hindernisse haben sich verschiedene weltweite Korrup-
tionsindizes etabliert (insbesondere der entsprechende Sub-Index innerhalb des
World Bank Governance Index der Weltbank sowie der Corruption Perception Index
(CPI) der NGO Transparency International), die auf Expertensurveys beruhen.
Damit wurde ein regelrechter Startschuss f€ur quantitative Forschung in diesem
Bereich gegeben, so dass diese Ansätze in den Wirtschafts-, mittlerweile aber auch
in den Politikwissenschaften und in der angelsächsisch geprägten internationalen
Debatte eine dominante Stellung eingenommen haben.
Freilich gibt es auch andere Messmöglichkeiten, deren Befunde zum Teil nen-
nenswert etwa vom CPI abweichen. Dazu gehören nicht zuletzt Umfragen nach
persönlichen Erfahrungen mit Korruption, wie sie sich im Global Corruption
636 A. Gawrich und T. Debiel

Barometer niederschlagen. Dar€uber hinaus nutzt die vergleichende Forschung Kri-


minalstatistiken oder Medienauswertungen, und das Potenzial qualitativer Fallstu-
dien ist noch längst nicht ausgereizt (siehe bspw. Funderburk 2012). In der deutschen
Korruptionsforschung wird angesichts des bislang begrenzten Methodenpluralismus
in j€
ungerer Zeit insbesondere auf die Möglichkeiten von Surveys (Muno 2013,
S. 33–56) sowie die Vorteile von mixed-methods approaches hingewiesen, die durch
ihre vergleichsweise hohe Validität die Schwächen rein quantitativer oder qualitati-
ver Forschung teilweise auszugleichen vermögen (Bader et al. 2013, S. 13–32).

3 Transdisziplinäre Perspektiven auf Korruptionsforschung

Die wissenschaftliche Befassung mit Korruption ist in einer größeren Zahl von
Forschungsdisziplinen verankert, die von unterschiedlicher Relevanz f€ur die poli-
tikwissenschaftliche Analyse sind. Eine hilfreiche Fundierung f€ur die vergleichende
Politikwissenschaft bieten geschichtswissenschaftliche Analysen, welche historische
Wurzeln zeitgenössischer Korruption herausarbeiten (bspw. ist zum Verständnis der
postsowjetischen Korruption die Kenntnis der Macht- und Wirtschaftsstrukturen der
Sowjetunion notwendig). Die vergleichende Politikwissenschaft hat das Potenzial
historischer Strukturanalysen auf der Makro-Ebene noch nicht €ubermäßig ausge-
schöpft (Beispiele wären Mungiu-Pippidi 2013; Ryan 2013).
Die kriminologische Korruptionsforschung richtet demgegen€uber den Blick stär-
ker auf die Mikro-Ebene und untersucht, welche Dispositionen, Motive und Um-
feldfaktoren Individuen zu korruptivem Verhalten verleiten (Gray 2013). Auf der
Meso-Ebene wiederum gehen organisationstheoretische und soziologische Analy-
sen u. a. der Frage nach, warum Korruption trotz eindeutiger Rechtsnormen in
bestimmten Kontexten auf soziale Akzeptanz stößt und welche Rolle soziales
Vertrauen f€ur die Entwicklung von Korruption spielt. Derartige Ansätze helfen
insbesondere, systemische Korruption zu verstehen, bei der rechtliche und soziale
Normerwartungen grundlegend voneinander abweichen oder konfligieren können
(z. B. Rothstein 2013). Eine Herausforderung f€ur die etablierten Ansätze stellt die
sozial- und kulturanthropologische Forschung dar, die den westlichen bias vor-
herrschender Korruptionskonzepte aufdeckt und die pejorative Wirkung von Sprech-
akten entlarvt. Es wird moniert, dass Interaktionen und Praktiken, die in einigen
außereuropäischen Gesellschaften dortigen Normen entsprechen und zuweilen
durch koloniale Einfl€usse beg€unstigt wurden, häufig unter Vernachlässigung dieser
Kontexte analysiert w€urden (z.B. Torsello 2011, S. 16–20).
Substantieller Austausch findet zwischen der politikwissenschaftlichen und der
wirtschaftswissenschaftlichen Korruptionsforschung statt. Letztere befasst sich pro-
minent mit den Auswirkungen unterschiedlicher Korruptionsniveaus auf Wachstum,
Armut und Verteilungsgerechtigkeit sowie mit den dahinterstehenden funktionalen
Zusammenhängen und Kausalketten, f€ur die nicht zuletzt die staatliche Verfasstheit
von Bedeutung ist (siehe Abschn. 3.1). Neben der vorwiegend makro-ökonomisch
Korruptionsforschung in der Vergleichenden Politikwissenschaft 637

orientierten quantitativen Forschung hat die qualitativ arbeitende institutionenöko-


nomische Forschung die Aufmerksamkeit f€ur die Wechselbeziehung zwischen Kor-
ruption und den jeweiligen institutionellen Arrangements erhöht, die durch ein
Zusammenspiel unterschiedlich effektiver formeller wie informeller Institutionen
geprägt ist. Die hier zugrundeliegenden Konzepte haben in besonderer Weise die
Transformationsforschung wie auch die Regionalforschung (so etwa Neopatrimo-
nialismus-Ansätze in der Afrikaforschung) mit geprägt (siehe Abschn. 3.2).

3.1 Die makro-ökonomische Forschung zu Korruption und


Wohlfahrt

Die quantitativ orientierte Korruptionsforschung hat angesichts der Verf€ugbarkeit


aggregierter Daten wie dem Corruption Perception Index (CPI) in besonderer Weise
nach 2000 einen Aufschwung erfahren und dominiert in einschlägigen internationa-
len Journalen (Bader et al. 2013). Ökonometrische Studien weisen etwa darauf hin,
dass endemische Korruption erhebliche ökonomische und sozioökonomische Kos-
ten mit sich bringt, sowohl hinsichtlich der Wohlfahrtsmehrung bzw. -minderung als
auch hinsichtlich der Verteilung von Einkommen, Eigentum und Chancen. So
arbeiten etwa Gupta et al. (2000, 2001) heraus, dass ein höheres Maß von Korruption
mit höherer Ungleichheit von Einkommen sowie beim Zugang zu Land und zu
Bildung einhergeht und in signifikant negativer Weise mit staatlichen Ausgaben f€ur
Gesundheit und Bildung korreliert.
Umstritten ist allerdings, wie im Einzelnen die Kausalitätsrichtung verläuft und
wie wechselseitige Wirkungszusammenhänge zu gewichten sind (Khan 2006).
Gerade bei der Beziehung zwischen Pro-Kopf-Einkommens- und Korruptionsniveau
sind simultane Effekte in beide Richtungen wahrscheinlich, so dass sich deren
genaues Verhältnis mit statistischen Mitteln nur schwer bestimmen lässt
(Lambsdorff 2005, S. 27, vgl. zu entsprechenden Bem€uhungen v. a. Kaufmann
und Kraay 2002). Auch scheint es regionale Besonderheiten zu geben: So konnten
im ostasiatischen Raum Länder mit hohem Korruptionsniveau entgegen konvention-
ellen Erwartungen sehr hohe Wachstumsraten erzielen (Grindle 2007). Dementspre-
chend kommen auch Sindzingre und Milelli (2010) in einer Ostasien und Subsahara-
Afrika umfassenden Studie zu dem Ergebnis, dass es infolge unzureichender Mess-
methoden keine robusten Belege f€ur lineare Zusammenhänge gebe. Stattdessen
argumentieren sie, dass erst die Überschreitung bestimmter Schwellenwerte beim
Korruptionsniveau negative Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum hat (thres-
hold effects). Diese resultieren aus spezifischen historischen, institutionellen und
polit-ökonomischen Zusammenhängen. Gerade die staatlichen Kapazitäten seien
daf€ur maßgeblich, ob Korruption ggf. funktional nutzbar gemacht werden kann oder
sich in einem wechselseitigen Verstärkungsprozess in den polit-ökonomischen
Strukturen endemisch festsetzt.
638 A. Gawrich und T. Debiel

3.2 Die institutionenökonomische Forschung zu Funktionalität


und Dysfunktionalität von Korruption

Besonders relevant f€ur die Politikwissenschaft sind institutionenbezogene Ansätze.


Diese haben immer wieder betont, dass Korruption durchaus funktionale ökonomi-
sche oder gesellschaftliche Effekte haben kann, insbesondere in Transitionsgesell-
schaften. Allerdings wird deren dauerhafte Tragfähigkeit bezweifelt (Rose-
Ackerman 2008, S. 329; Funderburk 2012, S. 2). Auch wenn bspw. f€ur China
festgestellt wird, dass Wirtschaftswachstum trotz systemischer Korruption möglich
ist (Shannon et al. 2012, S. 200), so werden die stabilitäts- und wachstumsfördern-
den Effekte doch von erheblichen negativen Externalitäten begleitet (Lambsdorff
2005; Rose-Ackerman 1999). Korruption kann auch als „Ordnung zweiter Art“
(Priddat 2011) verstanden werden. Dabei steht die spezifische Form sozialer Ord-
nung im Vordergrund, die hinter einer formalen ersten Markt-Ordnung oder ersten
politischen Ordnung existiert und ihren eigenen Modi von Vertrauen und Regel-
setzung in der sozialen Interaktion zwischen korrupten Akteuren folgt.
Unterschiedliche institutionelle Arrangements gehen offenbar mit variierenden
Verteilungswirkungen bei den durch Korruption erzielten „Renten“ einher. So
könnte die Intensität von Korruption bei der Frage von Wohlfahrtsgewinnen bzw.
-verlusten weniger entscheidend sein als die Frage, wie diese Renten zugeteilt und
genutzt werden. In S€udkorea und Taiwan bedeutete Korruption etwa vornehmlich
den „transfer of a percentage of the profits earned by privately owned enterprises to
government officials in return for policies and services that allow these enterprises to
earn profits“ (Wedeman 1997, S. 460). Mithin wurden in informeller Weise Divi-
denden eingesammelt und als „Schmiermittel“ f€ur die von Privatunternehmen und
b€urokratischem Apparat betriebene „Wachstumsmaschinerie“ genutzt.
Gerade die politikwissenschaftlich wie institutionenökonomisch gleichermaßen
vorgenommene Unterscheidung zwischen formellen und informellen Institutionen
hat sich als fruchtbar erwiesen. Als institutionell lässt sich Korruption dann bezeich-
nen, wenn sie als systemisches Phänomen durch regelhafte Muster gekennzeichnet
ist, die als Norm handlungsleitend sind und den Akteuren Erwartungssicherheit
bieten. Solche Regeln sind somit sanktionsbewehrt und ihr Nicht-Befolgen verur-
sacht Kosten. Diese Institutionen sind nicht formell kodifiziert, was die Wirkungs-
mächtigkeit jedoch nicht einschränken muss. Hans-Joachim Lauth typisiert Korrup-
tion entsprechend als einen von f€unf Typen informeller Institutionen (neben
Klientelismus, Drohung/Terror, zivilem Ungehorsam und Gewohnheitsrechten)
(Lauth 2004, S. 198–220).
Empirisch offenbart sich vielfach ein Zusammenhang zwischen Korruption und
klientelistischen Strukturen, die durch informell ausgetauschte G€uter zwischen
„Patronen“ und „Klienten“ geprägt sind (Muno 2013). Dementsprechend weist die
Korruptionsforschung ein weiteres Fundament in der Neopatrimonialismus-Analyse
auf, die sich seit den späten 1980er-Jahren zunächst in den area studies mit Blick auf
Afrika entwickelte, inzwischen aber auch f€ur den post-sozialistischen Raum
substantiell genutzt wird. Im Zentrum steht dabei die schwache Trennung von
formellen und informellen Institutionen, die zu verschiedenen Spielarten von
Korruptionsforschung in der Vergleichenden Politikwissenschaft 639

Patron-Klient-Beziehungen f€uhren kann. Insbesondere politische und b€urokratische


Korruption sind ein Wesensmerkmal des Neopatrimonialismus (z. B. Erdmann
2002).

4 Korruption in der Demokratie-, Autokratie- und


Transformationsforschung

In der Vergleichenden Politikwissenschaft nimmt der Zusammenhang zwischen


unterschiedlichen Regimetypen und dem Ausmaß sowie der Art von Korruption
breiten Raum ein. In der politikwissenschaftlichen Korruptionsforschung dominierte
bislang die Auffassung, dass in ihren verschiedenen Funktionsbereichen voll aus-
gebildete Demokratien (bzw. erfolgreich abgeschlossene deep democratization-Pro-
zesse, siehe Johnston 2013, S. 1237) die beste Versicherung gegen Korruption seien.
Zugleich besteht ein relativ breiter Konsens, dass das Demokratieniveau ein recht
verlässlicher Faktor ist, um neben der Frage der Personalisierung von Herrschaft das
Ausmaß von Korruption in einem Land zu erklären (von Soest 2013, S. 57–87;
Fjelde und Hegre 2014).

4.1 Korruption in konsolidierten Demokratien

Die Grundannahme, dass Korruption in reifen, konsolidierten Demokratien eher


zum Randphänomen werde oder werden könne, wird heute freilich kaum mehr
vertreten. Zum einen stechen die deutlichen Unterschiede innerhalb der westlichen
Industrieländer hervor, die sich nicht einfach aus unterschiedlichen Einordnungen in
den einschlägigen Demokratieskalen erklären lassen. Zum anderen haben Einzel-
fallstudien etwa f€
ur Deutschland aufgedeckt, dass in den 2000er-Jahren Korruption
auf den verschiedensten staatlichen Ebenen an den Schnittstellen von Politik,
B€urokratie und Wirtschaft verankert ist und offenbar Krisenphänomene wie die
globale Finanzmarkt- und die Eurokrise die Korruptions-Neigung erhöht haben
(bspw. Priddat 2011, S. 7).
Korruption in konsolidierten Demokratien findet maßgeblich im Implementie-
rungsbereich statt, so etwa bei der Vergabe öffentlicher Aufträge. Die Grauzonen
zwischen legitimem Lobbyismus und korruptiven Praktiken ist dabei besonders
relevant. Unter bestimmten Umständen können jedoch auch im Input-Bereich etwa
illegale Parteienfinanzierungen sowohl in Demokratien als auch in Transitionsge-
sellschaften bzw. Autokratien den Tatbestand der Korruption erf€ullen. Demokra-
tietheoretisch stellen diese Korruptionsphänomene insbesondere eine Verletzung
des Prinzips der Gleichheit jeder einzelnen Stimme dar, denn durch illegale Finanz-
mittel in der Parteiarbeit und im Wahlkampf wird in intransparenter Weise der
Zugang zur Macht verzerrt. Bereits der legale Transfer von Ressourcen ist mit
potentiellen Erwartungen der Geldgeber an die entsprechende Partei verbunden;
bei korrupten Praktiken entzieht sich dieser Mechanismus dann jeglicher öffent-
lichen Kontrolle (Römmele 2005, S. 384). Der Nexus zwischen Korruption und
640 A. Gawrich und T. Debiel

Parteiensystementwicklungen oder Wahlergebnissen ist allerdings noch kein stark


systematisiertes Forschungsfeld. Bisherige Befunde quantitativer Analysen lassen
vermuten, dass ein höherer Grad an Parteienwettbewerb es Wählern eher ermög-
licht, korrupte Politiker durch alternative Wahlentscheidungen abzustrafen (Schlei-
ter und Voznaya 2014). Zudem liegen – zumindest f€ur präsidentielle Regierungs-
systeme – Befunde vor, die auf eine geringere Wahlbeteiligung in Staaten mit
größerer Korruption schließen lassen (Stockemer 2013). F€ur eine systematische
Bewertung bedarf es jedoch weiterer area-bezogener Analysen qualitativer und
quantitativer Art.

4.2 Hohe Korruptionsanfälligkeit bei


Demokratisierungsprozessen und in hybriden Regimen

Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts wurde die Befassung mit Korruption
zunehmend auch in der Transformationsforschung populär. Die auf die Demokrati-
sierungswelle folgende Stagnation defekter Demokratien bzw. elektoraler Autokra-
tien r€
uckte schwache formelle Institutionen in den Vordergrund. Dabei wird mittler-
weile erkannt, dass Reformen nicht zwangsläufig die positiven Effekte haben, die f€ur
weitgehend konsolidierte Demokratien unterstellt werden können. Denn Demokra-
tisierungsprozesse können selbst zunächst eine Destabilisierung und ein Macht-
vakuum mit sich bringen, welche Korruption beg€unstigen (Doig und Theobald
2000; Amundsen 1999).
Defizite hinsichtlich der Rechtstaatlichkeit, der Gewaltenteilung sowie der Trans-
parenz des Regierens, dem politischen Wettbewerb aber auch kapazitäre Überforde-
rungen staatlicher Administrationen gelten als zentrale Ursachen f€ur Korruption in
der Sphäre des Politischen. Vice versa ist dann – trotz der oben dargestellten
Einschränkungen – eine Behebung von Demokratiedefekten essentiell f€ur die Ver-
ringerung von Korruption. Als bedeutend gilt nicht nur die Stärkung demokratischer
Institutionen, sondern auch der Zivilgesellschaft und der öffentlichen Verwaltung,
bspw. durch transparente Rekrutierung von staatlichen Bediensteten (z. B. Johnston
2013).
Dementsprechend deuten empirisch-quantitative Studien (Manow 2005) darauf
hin, dass in jungen und schwachen Demokratien Korruption eher noch stärker
ausgeprägt ist als in autoritär regierten Ländern. Dies zeigen ebenso Studien mit
regionaler, vergleichender oder Einzelfallperspektive. Bspw. verstärkte in
Subsahara-Afrika die „dritte Welle“ der Demokratisierung die Hybridität politischer
Herrschaft und f€uhrte nicht zur Überwindung neopatrimonialer Strukturen (Erdmann
2002). Die Einf€ uhrung von Mehrparteiensystemen und Wahlen erhöhte den Wett-
bewerb zwischen rivalisierenden Klientelgruppen, ohne dass sich die informellen
Mechanismen des Machtzugangs und Machterhalts veränderten. Dies perpetuierte
auch die Korruptionsmuster – oftmals mit erhöhtem Ressourcenaufwand (Mungiu-
Pippidi 2006).
Korruptionsforschung in der Vergleichenden Politikwissenschaft 641

Mit r€uckläufiger Zahl von Autokratien seit den 1990er-Jahren haben sich gerade
in Weltregionen, die von staatlicher Fragilität sowie wiederkehrender kollektiver
Gewalt geprägt sind, hybride Regime etabliert. Sie entwickeln sich in der Regel
nicht linear in die eine oder andere Richtung. Unter diesen Umständen können, wie
large-n-Studien nahelegen (Fjelde und Hegre 2014), selbst hohe Korruptionsniveaus
Stabilität befördern, insofern sie zur Machtkonzentration beitragen und die Koopta-
tion politischer Herausforderer erleichtern.
Allerdings ist die stabilisierende Wirkung von Korruption prekär: Zunächst

uberdecken korrupte Praktiken die staatliche Desintegration, jedoch eine Teilautono-
mie von politischer und gesellschaftlicher Sphäre bildet sich nicht heraus. Stattdes-
sen zementiert Korruption den Einfluss der häufig entlang ethno-regionaler Linien
organisierten Elitennetzwerke, die sich nicht selten im Rahmen eines „hegemonial
exchange“ (Rothchild 1986) staatliche Positionen und Ressourcen zukommen las-
sen. Diese sind folglich einem demokratisch organisierten Wettbewerb entzogen.
Außerdem behindert die an öffentliche Ämter gebundene Korruptionsmöglichkeit
die Herausbildung einer eigenständigen ökonomischen Klasse, da Aufstiegs- und
Wohlstandschancen nicht an den Markt, sondern an Patronage und Klientelismus
gebunden sind (Englebert 2000). Zudem befördern kurzfristige Rentenmaximie-
rungsstrategien und Selbstprivilegierung Misswirtschaft, die bei einer abnehmenden
Verf€ugbarkeit von Ressourcen in destruktive politische und soziale Verteilungs-
kämpfe umzuschlagen droht. Sinkende Einnahmen aus nat€urlichen Ressourcen oder
externen Finanzzufl€ussen, zum Beispiel im Rahmen der Entwicklungszusammen-
arbeit (EZ), können dann rasch in eine grundlegende Krise von Staat und Gesell-
schaft umschlagen.

4.3 Autokratische Systeme mit schwacher vs. starker


Staatlichkeit

Potenziale und Wirkungen von Korruption in autokratischen Systemen differieren je


nach dem Grad ihrer staatlichen Konsolidierung. Bei autoritären Regimen mit
schwacher Staatlichkeit kann Korruption leicht systemisch bzw. endemisch werden
und €uber die Erosion und Fragmentierung staatlicher Institutionen nicht nur die
Input-, sondern auch die Output-Legitimität gefährden. Bei starker Staatlichkeit wird
hingegen zunehmend davon ausgegangen, dass Korruption top-down kontrolliert
wird und insofern integraler Teil der staatlichen Ordnung ist und zu ihrer weiteren
Stabilisierung beiträgt (siehe zum Nexus von Autokratien und Korruption insbeson-
dere Amundsen 1999; Fjelde und Hegre 2014). Korruption kann hier durch die
Kooptation von und den Interessenausgleich unter den verschiedenen Eliten sowie
ihren constituencies durchaus auch stabilisierende Wirkung entfalten, wie sich
anhand autokratischer Präsidialsysteme wie der Russischen Föderation oder Ein-
parteienherrschaften wie der VR China belegen lässt (Stykow 2007; Taube 2013).
Voraussetzung ist, dass autokratische Eliten nicht kleptokratisch agieren, sondern
Strategien verfolgen, die zumindest partiell auch auf soziale Wohlfahrt und politi-
sche Inklusion hin angelegt sind.
642 A. Gawrich und T. Debiel

5 Das Politikfeld der Korruptionsbekämpfung und die


Grenzen des Institutionentransfers

Das Policy-Feld der Korruptionsbekämpfung erlebte in den 1990er-Jahren einen


„take off“ (von Alemann 2005, S. 15), gerade auch in der EZ. Maßgeblich von der
Weltbank vorangetrieben, wurden Antikorruptionsmaßnahmen gemeinsam mit
Transparenz, Rechenschaftspflicht und Verantwortlichkeit zum Kernelement des
Good Governance-Leitbildes (Fjeldstad und Isaksen 2008). Unterf€uttert wurde die-
ses durch multilaterale Initiativen zur Verregelung oder Verrechtlichung von Kor-
ruptionsbekämpfung. Hervorzuheben ist die OECD-Konvention gegen Bestechung
im internationalen Geschäftsverkehr (1997). Diese war auch von Teilen der
US-Wirtschaft vorangetrieben worden, die im US Foreign Corrupt Practices Act
(1977) einen globalen Wettbewerbsnachteil sahen. Das 2005 in Kraft getretene
UN-Übereinkommen gegen Korruption (UNCAC) schließlich sieht die Verh€utung
und Bekämpfung von Korruption vor, u. a. durch verbesserte Bankenaufsicht und
internationale Zusammenarbeit bei der R€uckgabe ins Ausland verbrachter Vermö-
genswerte (Jakobi 2013).

5.1 Korruptionsbekämpfung in der


Entwicklungszusammenarbeit

In der Entwicklungspolitik ist die Relevanz von Korruption unter anderem in der
Erklärung von Paris €uber die Wirksamkeit der EZ (2005), im Aktionsplan von Accra
(2008) und durch den G20-Gipfel in Seoul 2010 dokumentiert. Vor allem die
Weltbank trieb konkrete Maßnahmenpakete voran (z. B. World Bank 2007), die
im Wesentlichen die folgenden Elemente enthielten:

• Beratung bei Gesetzgebungen und bei Regelungen zur Besoldung und Beförde-
rung im öffentlichen Dienst;
• Etablierung von Behörden zur Korruptionsbekämpfung;
• Förderung von Transparenz und Rechenschaftspflicht im staatlichen Finanzma-
nagement;
• Unterst€utzung unabhängiger Gerichtsbarkeit, der Rechtsweggarantie und trans-
parenter Strafverfolgung;
• Stärkung von Kontrollinstitutionen wie Parlamenten, Medien und zivilgesell-
schaftlichen Organisationen (Debiel und Pech 2010).

Insgesamt herrscht Ern€uchterung zur Wirkung solcher multilateraler Vereinba-


rungen vor, da eine Bestandsaufnahme von Weltbank-Projekten durch die Indepen-
dent Evaluation Group (IEG) 2008 lediglich f€ur zwei bis drei von insgesamt
17 Staaten moderaten Erfolg konstatierte (Fjeldstad und Isaksen 2008, S. 62). Zwar
lassen sich bei vorhandenem Reformwillen der Regierungen Fortschritte erzielen.
Allerdings sind die Möglichkeiten externer Akteure begrenzt, institutionelle
Korruptionsforschung in der Vergleichenden Politikwissenschaft 643

Arrangements in andere Kontexte zu €ubertragen, wenn deren Staatlichkeit fragil ist


(Mungiu-Pippidi 2006).
Extern initiierte Antikorruptionsgesetzgebung weist ähnlich problematische Re-
sultate auf und kann zudem, entgegen der Intention externer Akteure, f€ur Macht-
spiele instrumentalisiert werden, wenn Korruptionsskandale selektiv aufgedeckt
werden, um politischen Gegnern zu schaden (Norad 2008). Zudem ist die Hoffnung
auf so genannte nicht-staatliche „watch dogs“ (Parlament, Medien, Zivilgesellschaft)
tr€ugerisch, insofern diese selbst nicht selten anfällig f€ur Korruption sind.

5.2 Kriegszerrüttete Gesellschaften im Fokus von


Antikorruptionsmaßnahmen

Wachsende Aufmerksamkeit erfährt die Rolle von Korruption in kriegszerr€utteten


Gesellschaften, die angesichts ihrer fragilen Staatlichkeit und umstrittener politi-
scher Normen und Spielregeln besonders anfällig sind (Cheng und Zaum 2012,
S. 12). Transparency International Deutschland (2014, S. 11–12) weist darauf hin,
dass unter den 20 korruptesten Ländern der Welt im Jahr 2013 immerhin elf in ihrer
j€
ungeren Vergangenheit durch kriegerische Gewalt geprägt wurden, so u. a. Tschad,
die DR Kongo sowie Irak. Zudem waren in neun dieser 20 Staaten internationale
Friedensmissionen stationiert. Dies weist auf das grundlegende Problem, dass in
fragilen Staaten internationale Förderungen entgegen der urspr€unglichen Intention
zusätzliche Optionen korrupter Bereicherung eröffnen, anstatt zur Stabilisierung
beizutragen.
Zwar können die externen Zufl€usse gezielt oder auch indirekt dazu beitragen,
politische Vereinbarungen und Friedensabkommen abzusichern, insofern sie den bis
dahin politisch unterlegenen Eliten zumindest ökonomisch Kompensationen f€ur ihre
Zustimmung zum international bestimmten Neuanfang eröffnen. Zugleich kann die
unvermeidbare informelle Beg€unstigung von Elitennetzwerken, insbesondere auf
lokaler Ebene, staatliche Autorität ernsthaft herausfordern, zur Stärkung lokaler
Machthaber f€ uhren, politische Fragmentierung fördern und zu sozialer Ungleichheit
beitragen (TI Deutschland 2014, S. 13–17; Rose-Ackerman 2012).
Internationale Entwicklungsagenturen haben in den 2000er-Jahren beim Post-
Conflict Peacebuilding verstärkt Anti-Korruptionsmaßnahmen integriert. Dabei wi-
chen standardisierte, normativ geprägte Anti-Korruptions-Strategien mehr und mehr
maßgeschneiderten Ansätzen. Das United Nation Development Programme
(UNDP) (2010) konzediert zum Beispiel in einer Auswertung von f€unf Fallstudien,
dass Antikorruptionsmaßnahmen sich bei fehlender Sensibilität f€ur den politischen
Kontext negativ auf Friedensbildungsprozesse auswirken können. Cheng und Zaum
(2012, S. 5) gehen noch weiter, wenn sie schreiben: „Enabling corruption might be a
price peacebuilders have to pay to ensure the participation of warring factions in a
peace agreement and to end large-scale violence“.
Einer derartigen Feststellung w€urden sich offizielle Geberstrategien zwar nicht
anschließen. Zugleich wird aber heute kaum mehr angezweifelt, dass korruptive
Praktiken institutionell gelagert und somit tief in sozialen Denk- und Handlungs-
644 A. Gawrich und T. Debiel

logiken verankert sind sowie neben einer Macht- und Ungleichheitsdimension auch
mit Reziprozität und Solidarität einhergehen, was als „moral economy of corruption“
verstanden werden kann (de Sardan 1999). So geht die EZ inzwischen vermehrt auf
lokale Legitimitätsvorstellungen ein. Andernfalls, so eine OECD-Studie, best€unde
die Gefahr, die Autorität staatlicher Akteure zu untergraben (OECD/DAC 2010,
S. 50, 57). Diese könnten ihre Akzeptanz in der Bevölkerung gegen€uber rivalisie-
renden Akteuren oftmals nur sichern, wenn sie nicht zu umfassend den internationa-
len Good Governance-Idealen zu entsprechen versuchen.

6 Fazit

Die Korruptionsforschung hat sich als Forschungsfeld der vergleichenden Politik-


wissenschaft erst in j€ungerer Zeit breiter entwickelt und ausdifferenziert. Nach einem
ersten Aufschwung in den 1990er-Jahren ist seit den 2000er-Jahren ein signifikanter
Zuwachs an Publikationen zu beobachten. Dabei liegt der politikwissenschaftlichen
Korruptionsforschung ein vergleichsweise enges Verständnis von Korruption
zugrunde, welches sich auf den Missbrauch öffentlicher Ämter konzentriert.
Zugleich wird zunehmend erkannt, dass neben formalen Rechtsnormen auch infor-
melle Normen und gesellschaftliche Erwartungen entscheidenden Einfluss auf das
Ausmaß von Korruption und die R€uckwirkungen auf politische Legitimitätsvor-
stellungen und Stabilität haben.
Zudem haben die Erkenntnisse der ökonomischen Korruptionsforschung das
politikwissenschaftliche Verständnis beeinflusst, insbesondere hinsichtlich der Wir-
kungen von Korruption auf Wachstum und Wohlstand. Die Institutionenökonomie
bietet dabei ein hilfreiches begriffliches Instrumentarium, auf das neben der Trans-
formations- auch die Regionalforschung rekurriert. In der Vergleichenden Politik-
wissenschaft stehen dar€uber hinaus Fragen des Regierungssystemtyps, der Demo-
kratisierungs- und Entdemokratisierungsprozesse sowie der Konsolidierung von
Staatlichkeit im Vordergrund. Weitgehend unstrittig ist, dass die zunehmende
Konsolidierung einer Demokratie den verlässlichsten Schutz gegen umfassende
Korruption bietet. Divergent sind demgegen€uber Befunde zu Wachstumsgefährdung
durch und Verteilungswirkungen von Korruption, zu funktionalen Effekten in Über-
gangsgesellschaften sowie zur Stabilisierung von Autokratien.
Dies ist nicht ohne Folgen f€ur das Politikfeld der Korruptionsbekämpfung geblie-
ben. War sie, gerade im Kontext der EZ, zunächst an recht stark standardisierten
Maßnahmenpaketen orientiert, so setzt sich in j€ungster Zeit die Erkenntnis durch,
dass die erfolgreiche Etablierung neuer institutioneller Arrangements in Entwick-
lungs- und Transformationsländern eng an die Funktionsfähigkeit des Staates sowie
gesellschaftliche Legitimitätserwartungen gebunden sein sollte. Insbesondere gilt
dies f€ur Nachkriegsgesellschaften, die in Korruptions-Rankings in der Regel
schlecht platziert sind und zugleich durch den Zufluss von internationalen Ressour-
cen im Rahmen von Post-Conflict Peacebuilding geprägt sind, welche weitere
Chancen f€ ur korrupte Praktiken eröffnet.
Korruptionsforschung in der Vergleichenden Politikwissenschaft 645

Obwohl die vergleichende Korruptionsforschung ein breites geographisches


Spektrum abdeckt (Länder des S€udens, postsowjetischer Raum, etablierte, demo-
kratisch verfasste Industriegesellschaften, etc.) und differenzierte Fragestellungen
verfolgt, weist sie in methodischer Hinsicht ein eher disparates Nebeneinander von
Einzelfallstudien, komparativen Designs mit geringer Fallzahl und quantitativen
Zugängen auf. Perspektivisch ist davon auszugehen, dass Analysen mit mittlerer
Fallzahl sowie mixed-methods-Designs zunehmen werden. Die Korruptionsfor-
schung innerhalb der Subdisziplin der vergleichenden Politikwissenschaft könnte
zudem von einer substantielleren Verkn€upfung mit vergleichenden Forschungen zur
Politischen Kultur profitieren.

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Klientelismus und Patronage in der
Vergleichenden Politikwissenschaft

Wolfgang Muno

Zusammenfassung
Klientelismus beschreibt eine längerfristige, persönliche und asymmetrische
Beziehung zwischen zwei Akteuren, Patron und Klient, in deren Zentrum ein
reziproker Austausch von Ressourcen steht. Mit der Diskussion um informale
Institutionen in der vergleichenden Politikwissenschaft ist auch Klientelismus
wieder stärker ins Interesse gekommen. Im folgenden Beitrag werden zunächst
Charakteristika des Konzepts „Klientelismus“ diskutiert, ebenso verwandte Be-
griffe wie Patrimonialismus, Neopatrimonialismus, Patronage und Korruption. In
einem zweiten Teil werden dann Beispiele f€ur empirische Analysen diskutiert,
qualitative wie quantitative. Schließlich geht es um Erklärungsansätze, wobei
Klientelismus als abhängige und unabhängige Variable gesehen wird, d. h. es
geht einerseits um Determinanten, andererseits um Konsequenzen von Kliente-
lismus.

Schlüsselwörter
Klientelismus • Neo-Patrimonialismus • Patronage

1 Einleitung

In j€
ungster Zeit haben viele Studien der vergleichenden Politikwissenschaft die
Relevanz informaler Institutionen betont (siehe etwa O’Donnell 1996 oder Lauth
1999 und 2015). Informale Institutionen sind „socially shared rules, usually unwrit-
ten, that are created, communicated, and enforced outside of officially sanctioned
channels“ (Helmke und Levitsky 2006: 5). Klientelismus beschreibt eine solche

W. Muno (*)
Privatdozent, Lehrstuhl f€
ur Internationale Politik, Institut f€
ur Politikwissenschaft, Universität
Mainz, Mainz, Deutschland
E-Mail: muno@politik.uni-mainz.de

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 649


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_49
650 W. Muno

informale Institution, eine soziale Beziehung, die auf geteilten sozialen, nicht kodi-
fizierten Regeln basiert. Der Begriff stammt vom lateinischen „cluere“, was „hören,
gehorchen“ bedeutet. Ein Klient war im Rom der Antike jemand, der einen Anwalt
hatte, der ihn vor Gericht vertrat, gleichzeitig meinte „clientela“ eine Gruppe von
Menschen, die in der Öffentlichkeit von ihrem „patronus“ vertreten wurden. Die
Klienten waren freie Gefolgsleute eines Adeligen, keine Sklaven, beide waren durch
einen sakralen Ethik- und Verhaltenskodex miteinander verbunden. Die Klienten
offerierten Arbeit, insbesondere aber politische Unterst€utzung bei Wahlen, daf€ur
bekamen sie vom Patron Schutz, Arbeitsstellen und vielleicht sogar Land (Weber
2005: 1023 f.). Sowohl Patron wie Klienten vererbten ihren Status, so entstanden
langandauernde, € uber Generationen existierende soziale Netzwerke.
Die Beschreibung des antiken Klientelismus ist auch heute von Relevanz, die
Charakteristika existieren auch in modernen Formen. Solche Formen sozialer Be-
ziehungen werden auch durch ähnliche Begriffe beschrieben, etwa Patrimonialis-
mus/Neopatrimonialismus oder Patronage, gelegentlich wird Klientelismus auch mit
Korruption gleichgesetzt, außerdem existieren regionale Versionen wie “Caudillis-
mo“ in Lateinamerika, „Caciquismo“ in Mexiko, „Bossism“ in den Philippinen,
„Marabout“ im Senegal. Diese Begriffe werden teilweise synonym, teilweise zur
Abgrenzung oder Differenzierung verwandt (Brinkerhoff und Goldsmith 2002: 3).
Im folgenden Beitrag werden zunächst Charakteristika des Konzepts „Klientelis-
mus“ diskutiert, ebenso verwandte Begriffe wie Patrimonialismus, Neopatrimonia-
lismus, Patronage und Korruption. In einem zweiten Teil werden dann Beispiele f€ur
empirische Analysen diskutiert. Schließlich geht es um Erklärungsansätze, wobei
Klientelismus als abhängige und unabhängige Variable gesehen wird, d. h. es geht
einerseits um Determinanten, andererseits um Konsequenzen von Klientelismus.

2 Konzepte und Ansätze

2.1 Charakteristika von Klientelismus

In der Klientelismusforschung ist die Klage u€ber mangelnde konzeptionelle Klar-


heit, begriffliche Unschärfen und die unbedachte Vermischung mit ähnlichen Kon-
zepten wie Patronage, Korruption oder Neopatrimonialismus weit verbreitet
(so Hicken 2011; Hilger 2011; Muno 2013). In Anlehnung an Überlegungen von
Giovanni Sartori zu Konzeptionalisierung können zwei Strategien identifiziert wer-
den: zum einen wird mit einem umfassenden Konzept von Klientelismus gearbeitet
(„thick concept“), mit vielen Attributen, aber einer geringen Reichweite, d. h. nur
wenige empirische Fälle werden erfasst, eine Vorgehensweise, die insbesondere von
Ethnologen und Soziologen, aber auch qualitativ arbeitenden Politologen bevorzugt
wird. Zum anderen arbeiten insbesondere komparative arbeitende Sozialwissen-
schaftler mit einer engen, nur wenige Attribute umfassenden Konzeption („thin
concept“), die daf€ur aber eine große Reichweite hat, d. h. viele empirische
Fälle umfasst und sich leichter operationalisieren lässt. In dieser Perspektive wird
Klientelismus und Patronage in der Vergleichenden Politikwissenschaft 651

Klientelismus aber meist nur auf Austausch reduziert, oftmals auf Stimmenkauf
(so etwa bei Stokes et al. 2013, vgl. Hilger 2011, Sartori 2009).
Der Austausch von materiellen oder immateriellen G€utern ist ein zentrales Attri-
but von Klientelismus, was insbesondere in ökonomischen Ansätzen bzw. einer
Rational Choice-Perspektive betont wird (z. B. Robinson und Verdier 2002). Aber
auch Rational Choice-Ansätze reduzieren nicht zwangsläufig Klientelismus einseitig
auf den Austausch. Kitschelt und Wilkinson etwa haben zwar eine Principal-Agent-
Perspektive, plädieren aber f€ur ein differenzierteres Konzept (Kitschelt und Wilkin-
son 2007). Kerncharakteristika bzw. Attribute von Klientelismus umfassen mehr als
nur den reziproken Austausch von Ressourcen, es handelt sich um eine länger-
fristige, persönliche und asymmetrische Beziehung zwischen zwei Akteuren, Patron
und Klient (Weber Pazmiño 1991, Hilgers 2011, Muno 2013). Ein Patron verf€ugt
€uber gewisse Ressourcen, etwa Geld, G€uter, Jobs, Zugang zu Dienstleistungen oder
Schutz, also allgemein die Möglichkeit von Protektion, die er seinem Klienten zur
Verf€ugung stellt. Daf€ur ist der Klient zu Gegenleistungen verpflichtet, er stellt seine
Arbeitskraft zur Verf€ugung oder seine politische Unterst€utzung. Klientelismus muss
nicht zwangsläufig politisch sein. Ein Patron kann ein Unternehmer oder Grundbe-
sitzer sein, der Arbeitsstellen und Protektion f€ur die Arbeitskraft seiner Klienten
bietet. Sofern aber öffentliche Ressourcen benutzt werden, der Patron nur aufgrund
eines öffentlichen Amtes Patron ist oder politische Unterst€utzung im Spiel ist, wird
aus einer privaten sozialen Beziehung eine politische.
Patron und Klient machen aus der Beziehung eine dyadische (Landé 1977),
allerdings ist manchmal ein Broker zwischengeschaltet, insbesondere, wenn ein
Patron viele Klienten hat (Weber Pazmiño 1991: 35). Im Gegensatz zu einem Patron
hat ein Broker aber keine echte Verf€ugungsgewalt €uber Ressourcen, sondern ist nur
Mittler, die Dyade wird zwar so zu einer Triade, im Kern geht es aber immer noch
um eine dyadische Patron-Klient-Beziehung. Eine solche Beziehung ist mehr als
nur eine rein sporadische Geschäftsbeziehung, sie ist persönlich, „face-to-face“
(Mainwaring 1999) und entwickelt sich €uber einen gewissen Zeitraum, manchmal
sogar €uber Generationen. Es gibt kein direktes quid-pro-quo im Austausch, vielmehr
m€ussen die Akteure ein gewisses Maß an Vertrauen und Zuversicht haben, dass der
jeweils andere auch trotz des zeitlichen Abstands seine Verpflichtungen einhält
(Lauth 2004: 209). Kitschelt und Wilkinson sprechen von „widely held cognitive
expectations about appropriate behavior“ (Kitschelt und Wilkinson 2007: 18),
Auyero identifiziert solche kognitiven Erwartungen als tief verwurzelte Gef€uhle
von Loyalität und Verpflichtung (Auyero 2000).
Die Asymmetrie der Beziehung dr€uckt sich durch die unterschiedliche Verteilung
der Ressourcen, insbesondere aber durch den unterschiedlichen Status aus. Der
Patron kontrolliert Geld, G€uter, Zugänge und hat Prestige, der Klient hat nur sich
selbst. James Scott definierte Klientelismus als „instrumental friendship in which an
individual of higher socioeconomic status (patron) uses his own influence and
resources to provide protection or benefits, or both, for a person of lower status
(client) who, for his part, reciprocates by offering general support and assistance,
including personal services, to the patron“ (Scott 1972: 92, eigene Hervorhebung).
Analog formuliert Christopher Clapham (1982: 4): „The simplest definition is likely
652 W. Muno

to be the most useful: clientelism is a relationship of exchange between unequals“


(eigene Hervorhebung). Der Patron hat eine herausgehobene Machtposition, der
Klient ist nicht zwangsläufig, aber oftmals in einer Situation der Abhängigkeit.
Kitschelt spricht von „exploitation and domination“ (Kitschelt 2000: 849).

2.2 Verwandte Konzepte

Wie bereits erwähnt, gibt es seine Reihe von ähnlichen, mitunter synonym, aber auch
zur Unterscheidung benutzten Konzepte. Im Folgenden wird auf Korruption, Patro-
nage und Patrimonialismus/Neopatrimonialismus eingegangen.
Klientelismus ist, wie erwähnt, im Gegensatz zu Korruption mehr als nur ein
Austausch, mehr als nur ein oberflächliches Treffen. Bei Korruption fehlt häufig das
persönliche Element, in der Regel das Zeitliche. Oft kennen sich die Korruptions-
partner kaum, es kann etwa auch ein unbekannter Polizist sein, den man nach einer
Verkehrskontrolle besticht und niemals wieder sieht. Im Klientelismus besteht
dagegen eine enge persönliche Verbundenheit €uber einen längeren Zeitraum. Ge-
meinsamkeiten sind der Austauschcharakter, der mit Ausnahme von Unterschlagung
auch bei Korruption vorliegt, und die Informalität. Zudem ist es wichtig, woher der
Patron die Ressourcen hat, die er seinen Klienten zur Verf€ugung stellt. Er kann
private Ressourcen nutzen oder, wenn er ein öffentliches Amt hat, staatliche. Im
letzten Fall handelt es sich um Unterschlagung öffentlicher Mittel und damit um
einen Missbrauch eines öffentlichen Amtes zum privaten Vorteil, die klassische
Definition von Korruption. Damit sind Klientelismus und Korruption keine de-
ckungsgleichen Konzepte, weisen aber eine gemeinsame Schnittmenge auf (vgl.
Muno 2013).
Patronage wird in zwei Varianten diskutiert (vgl. Kopecky und Mair 2012). In
einer weiten, unspezifischen Konzeption ist Patronage der Tausch von öffentlichen
G€utern f€
ur politische Unterst€utzung. Patronage und Klientelismus wären in dieser
Perspektive „largely the same phenomenon“ (Piattoni 2001a: 7). Diese unspezifische
Variante sehen Kopecky, Mair und Spirova als „electoral resource“. Speziell die
spezifische Ausprägung als Stimmenkauf („Vote-buying“) wird oft mit Klientelis-
mus gleichgesetzt (so etwa Stokes et al. 2013). Es handelt sich aber nicht um
identische Phänomene. Stimmenkauf ist ein „one-shot, direct exchange“ (Hilgers
2011) und hat wenig mit der komplexen sozialen Beziehung zu tun, die
Klientelismus ist.
Als spezifische Konzeption unterscheiden Kopecky und Mair davon Patronage
als „organizational resource“ (2012: 7). In dieser Perspektive vergibt die Partei, die
Wahlen bzw. Ämter gewonnen hat, öffentliche Jobs an verdiente Parteimitglieder,
um so institutionelle Kontrolle zu erlangen. Zwar gibt es immer noch einen gemein-
samen Mechanismus des Austauschs bei Klientelismus und Patronage, auch die
zeitliche Dimension ist gegeben; Verbundenheit wird durch gemeinsame Überzeu-
gungen, Erwartungen und Loyalität erreicht, aber Patronage wird eher durch einen
unpersönlichen Parteiapparat, nicht aber durch einen persönlichen Patron ausge€ubt,
das Augenmerk liegt hier auf der „party machine“ und „machine politics“ (so auch
Klientelismus und Patronage in der Vergleichenden Politikwissenschaft 653

schon Scott 1969). Damit befindet sich die Analyse nicht mehr auf einer mikro-
soziologischen Ebene wie bei einer klientelistischen Patron-Klient-Beziehung, son-
dern auf einer mesosoziologischen von Organisationen und Institutionen (so auch
Erdmann und Engel 2007: 107).
Auf einer makrosoziologischen Ebene befindet sich wiederum Neopatrimonialis-
mus, was eine hybride Regimeform beschreibt, bei der traditionelle und moderne
Herrschaftselemente vermischt sind und Klientelismus ein Herrschaftsmechanismus
ist (ausf€
uhrlicher Erdmann und Engel 2007). Diese makrosoziologische Perspektive
orientiert sich an Max Weber. Weber unterschied drei reine Formen legitimer
Herrschaft: eine rational-legale, eine charismatische und eine traditionale Form
(Weber 1973: 151 ff.). Klientelismus war bei Max Weber mit der Aus€ubung tradi-
tioneller Herrschaft verbunden (Weber 2005: 167 ff.). Der „Herr“ ist durch die
Macht traditionaler Vorschriften und durch den Glauben an die Heiligkeit der
Ordnung legitimiert. Eng damit verbunden waren bei Weber „patriarchale“ und
„patrimoniale“ Herrschaft: die letzte ist eine Sonderform der ersten, beide sind
Formen traditionaler Herrschaft (Weber 2005: 739 ff.). Klientelismus beschreibt
die soziale Beziehung, die traditionale Herrschaft ausmacht.
In neueren Diskussionen wird Patrimonialismus als eine Herrschaftsform ange-
sehen, in der es keine Unterscheidung zwischen privat und öffentlich gibt, der Staat
ist das Privateigentum des Herrschers, Militär und B€urokratie sind nur ihm persön-
lich verantwortlich (Erdmann 2001). Davon zu unterscheiden ist Neopatrimonialis-
mus als hybride Regimeform, in der patrimoniale Herrschaft parallel zu Elementen
einer rational-legalen, b€urokratischen Herrschaft existiert, in symbiotischer Form
verwoben, und Klientelismus ein, aber nicht der einzige Herrschaftsmechanismus ist
(Bratton und van de Walle 1997, Erdmann 2013).
Dass die erläuterten Konzepte trotz der konstatierten Unterschiede gleichwohl oft
synonym genutzt werden, liegt zum einen in einer mangelnden konzeptionellen
Klarheit vieler empirischer Studien, zum anderen in unterschiedlichen mikro-, meso-
oder makrosoziologischen Perspektiven auf gleiche empirische Phänomene, aber
auch in wissenssoziologischen unterschiedlichen Traditionen. So kann der Gebrauch
der unterschiedlichen Bezeichnungen oftmals eher auf (weberianische oder regio-
nale) Wissenschaftstraditionen denn auf substanzielle Unterschiede zur€uckgef€uhrt
werden (so auch Piattoni 2001a). Im angelsächsischen Sprachraum ist der Begriff
Patronage weiter verbreitet, Studien aus und €uber Lateinamerika und S€udeuropa
nutzen eher den Begriff Klientelismus, die Forschung zu Afrika und teilweise auch
zu Asien präferiert Neopatrimonialismusmus.

3 Empirische Analysen

Die Forschung zu Klientelismus kann in drei Phasen unterteilt werden (vgl. Hicken
2011, Hilgers 2011). Die erste Generation der 1960er- und 1970er-Jahre war im
modernisierungstheoretischen Paradigma verhaftet und sah Klientelismus als ein
Relikt traditionaler Gesellschaften (etwa Landé 1977, Schmidt et al. 1977, Eisen-
stadt und Lemarchand 1981). Da sich Klientelismus aber nicht auflöste, versuchten
654 W. Muno

Forscher in einer zweiten Phase die Persistenz und Anpassung des Klientelismus
auch in modernisierten oder sich modernisierenden Gesellschaften zu erforschen
(etwa Clapham 1982, Eisenstadt und Roniger 1984). Auf diese Forschung aufbau-
end konzentrieren sich neuere quantitative wie qualitative Beiträge in der dritten
Phase auf den Versuch, einerseits systematische oder genauere empirische Informa-
tionen zu gewinnen und andererseits verallgemeinerbare und €uberpr€ufbare Hypo-
thesen und kausale Erklärungen zu entwickeln (paradigmatisch daf€ur Stokes
et al. 2013, ähnlich Piattoni 2001b, Schröter 2001, Kopecky, Mair und Spirova
2012, Hilgers 2012, Paulus 2013, siehe auch Stokes 2007).
Dabei gibt es zwei grundsätzliche Herangehensweisen, eine qualitative, soziolo-
gische oder ethnologische, die „dichte Beschreibungen“ (Geertz 2003) von begrenz-
ten Fallstudien liefert, und eine quantitativ-komparative, die versucht, Klientelismus
zu messen. Ein Beispiel f€ur die ethnologische Annäherung ist Javier Auyeros Studie
„Poor People’s Politics“ (2000), ein Beispiel f€ur die quantitative Herangehensweise
ist das „Democratic Accountability and Linkages Project“, das unter der Leitung von
Herbert Kitschelt an der Duke University durchgef€uhrt wurde (DALP 2015).

3.1 Eine ethnologische Annäherung: Javier Auyero: Poor


People’s Politics

Auyero untersuchte f€ur seine Dissertation klientelistische Netzwerke in Villa Para-


íso, einem Vorort von Buenos Aires, um die alltägliche Praxis peronistisch-
klientelistischer Politik zu analysieren (2000). Er verbrachte insgesamt etwa neun
Monate vor Ort, um Feldforschung zu betreiben. Den Bewohnern erzählte er, er sei
Soziologe und wolle eine Geschichte des Ortes schreiben. So konnte er viele Ge-
spräche und offene Interviews f€uhren und an Veranstaltungen teilnehmen, um mittels
teilnehmender Beobachtung die Funktionsweisen und Mechanismen von Klientelis-
mus zu untersuchen.
„Broker“ (referentes oder punteros) versorgen die Armen mit Ressourcen, in
erster Linie mit Nahrungsmitteln und Medikamenten, aber auch mit kleinen Jobs,
Informationen und Gefälligkeiten. Im Mittelpunkt der Arbeit steht „problem-
solving“, das Lösen jeder Art von Problemen. Die punteros fungieren dabei als
„Gate-keeper“ zwischen dem lokalen Patron und den Klienten. Im Idealfall kontrol-
liert der lokale Patron als B€urgermeister die staatlichen Ressourcen, die er €uber seine
punteros an seine Klientel weiterleitet. Die meisten punteros sind öffentlich Bediens-
tete, zum Teil nur in Teilzeit oder geringf€ugig beschäftigt, die ihren Job dem lokalen
Boss verdanken. Als Angestellte der Gemeinde und als Mitglieder der peronisti-
schen Partei stellen sie die zentrale, persönliche Verbindung zu einzelnen B€urgern
her und kn€ upfen so die klientelistischen Netzwerke, die die Basis zusammenhalten
und die Verbindung zwischen peronistischer Partei und Gesellschaft bilden.
Die klientelistischen Netzwerke dienen dabei nicht nur dem simplen Tausch
„G€ uter gegen Stimmen”, eine Annahme, die von Auyero grundsätzlich in Frage
gestellt wird, sie erzeugen vielmehr dauerhafte, gegenseitige Loyalitäten. Eine
wichtige Rolle spielt dabei der politische Stil, mit dem die Netzwerke arbeiten.
Klientelismus und Patronage in der Vergleichenden Politikwissenschaft 655

Auyero spricht von der „Peronist public performance“ (Auyero 2000: 121). Mit
einer permanenten Wir-Rhetorik und Verweisen auf die historische Verbundenheit
von Evita Perón mit den Armen wird das Wir-Gruppen-Gef€uhl von Peronisten
gestärkt und eine emotionale Bindung und Loyalität hergestellt. Insbesondere diese
symbolische und kognitive Dimension, die historisch-emotionale Reproduktion
kollektiver peronistischer Identität, die mit dem Klientelismus einhergeht, sieht
Auyero als zentrales Bindemittel und als Mechanismus, der die alltägliche Funkti-
onsweise peronistischer klientelistischer Netzwerke in Armenvierteln und die damit
verbundene Reproduktion peronistischer Identität sowie die Frage, warum die meis-
ten Armen nach wie vor den Peronismus unterst€utzen, wesentlich erklärt.
Die Analyse war die erste, ausf€uhrliche ethnologische Untersuchung des moder-
nen, urbanen Klientelismus in Argentinien und erbrachte herausragende Einsichten
in die argentinische politische Soziologie. Allerdings ist eine solche „dichte Be-
schreibung“ und Einzelfallstudie in ihren Aussagen und ihrer Reichweite begrenzt.

3.2 Quantitative Studien zu Klientelismus

Die entgegengesetzte Strategie verfolgen quantitative Studien, die in Form von


„cross-country comparisons“ Klientelismus zu messen versuchen. Da es sich um
ein informales Phänomen handelt, sind Messungen allerdings besonders schwierig.
Einige Studien nutzen daher proxies, so etwa Manow oder Keefer (Manow 2002,
Keefer 2007, vgl. auch Hicken 2011 mit einer Übersicht). Manow untersuchte
Patronage (synonym mit Klientelismus genutzt) in 23 westeuropäischen Demokra-
tien und nahm den Corruptions Perspection Index von Transparency International als
proxy-Variable. Zwar gibt es, wie beschrieben, eine konzeptionelle Überschneidung
von Korruption und Klientelismus, aber der CPI misst ebenfalls nur sehr vage ein
anderes informales Phänomen. Ein informales, nur sehr schwer messbares Phäno-
men durch ein anderes informales, ebenfalls nur sehr schwer messbares Phänomen
zu messen, € uberzeugt methodisch nicht.
Keefer, dessen Studie breite Rezeption erfuhr, ging etwas komplexer vor und maß
Klientelismus mit sieben proxy-Variablen: a) Korruption, b) Rechtsstaatlichkeit,
c) Qualität von B€urokratie, alle drei mit Daten des Political Risk Service’s Interna-
tional Country Risk Guide, eines professionellen Consulting Unternehmens, das
Anleger berät, d) Einschulungsraten im Sekundärbereich, e) den Anteil von staat-
lichen Zeitungen am Zeitungsmarkt, f) den Anteil von staatlichen Löhnen am BIP,
und g) öffentliche Investitionen. Die Idee dahinter war, dass im Klientelismus
weniger öffentliche, sondern eher partikulare G€uter bereitgestellt werden und
Rent-seeking stattfindet. Eine Idee, die €uberzeugt, aber keine der gemessenen Va-
riablen hat (mit der schon erwähnten partiellen Ausnahme von Korruption) notwen-
digerweise etwas mit Klientelismus zu tun.
Statt mit proxies arbeiten andere Studien mit surveys, so etwa Stokes et al. (2013).
2001, 2003 und 2009 wurden argentinische Wähler befragt, insgesamt €uber 5.000
Befragte, zudem zwischen 2009 und 2011 800 Broker interviewt. Die Fragen
konzentrierten sich leider hauptsächlich auf Stimmenkauf, stellen aber eine
656 W. Muno

exzellente Quelle f€ur Forschung zum argentinischen Klientelismus dar und können
etwa helfen, die detaillierten Beobachtungen von Auyero in einen breiteren Kontext
zu stellen. Interessanterweise gaben nur 7 Prozent der befragten Wähler an,

uberhaupt G€ uter während des Wahlkampfs erhalten zu haben, dagegen aber etwa
20 Prozent der peronistischen Sympathisanten. Eine deutliche Mehrheit gab aber an,
nicht bei der Stimmabgabe beeinflusst gewesen zu sein, und 90 Prozent f€uhlten sogar
grundsätzlich keine Verpflichtung nach Geschenken im Wahlkampf (Stokes
et al. 2013: 36 ff.). Solche Aussagen stehen teilweise im Widerspruch zu Auyeros
Analyse, aber nochmals kann auf den Unterschied zwischen Stimmenkauf und Kli-
entelismus hingewiesen werden, was eine mögliche Erklärung hierf€ur sein könnte.
Ein ähnliches Forschungsdesign hat Schröters Studie zu Klientelismus in Mexiko
(2011). 49 Interviews und 450 Befragungen wurden durchgef€uhrt, um Prozesse,
Strukturen und Entwicklungen des mexikanischen Klientelismus zu untersuchen.
Konstatiert wird ein R€uckgang des parteipolitischen Klientelismus, wenngleich er
nicht ganz aus den Köpfen von Beteiligten und Beobachtern verschwunden ist.
Damit ist die Studie zwar etwas bescheidener im Umfang als die von Stokes et al.,
aber daf€
ur hat Schröter ein differenzierteres Konzept von Klientelismus, das dem
hier beschriebenen entspricht und sich nicht auf Stimmenkauf beschränkt. Metho-
disch gesehen handelt es sich bei beiden Untersuchungen um exzellente Primär-
quellen, wobei der Aufwand aber so immens ist, dass er sich f€ur systematisch-
komparative Studien kaum wiederholen lässt.
Eine sparsame Alternative stellen Expertenbefragungen dar, wie sie f€ur das
„Democratic Accountability and Linkages Project“ durchgef€uhrt wurden. Ziel des
Projektes war es, programmatische und nicht-programmatische (klientelistische)
Verbindungen zwischen Parteien und Wählern zu untersuchen. (Kitschelt 2011,
Kitschelt und Freeze 2011). 89 Länder wurden analysiert, 16 in Westeuropa, 19 post-
kommunistische Staaten, 22 Länder in den Amerikas, 15 in Afrika und 17 in Asien
und dem Mittleren Osten. Mehr als 1400 Befragungen wurden per E-Mail oder
brieflich durchgef€uhrt, Zielgruppen waren Akademiker, Journalisten und Politiker.
Der standardisierte Frageboden bestand aus f€unf Teilen, zunächst wurde nach Partei-
organisation gefragt (12 Fragen), dann nach Austauschpraktiken (13 Fragen), es
folgten 6 Fragen zu Wahlen, 8 zu programmatischen Positionen der Parteien, und
schließlich folgten zusammenfassende Urteile. Speziell im zweiten Teil wurde
explizit nach klientelistischen Praktiken gefragt und Kitschelt stellt auch
€uberblicksartig Ergebnisse auf Basis dieser Fragen vor (Kitschelt 2011).
Demnach weisen wohlhabende OECD-Länder ein niedriges Niveau von Klien-
telismus auf, insbesondere nordeuropäische Staaten und Kanada, die nahezu gar
keinen Klientelismus haben, dagegen sind aber kontinentaleuropäische Länder wie
Italien und Griechenland, Israel, Japan, Korea und die USA in einem unteren bis
mittleren Bereich einzustufen. Postkommunistische Länder weisen eine große Vari-
anz auf, mit einem eher niedrigen Niveau in den meisten zentraleuropäischen Staaten
bis hin zu hohen Werten in Bulgarien, Mazedonien oder der Mongolei. Auch f€ur
Lateinamerika gilt eine solch große Varianz, mit Uruguay, Chile und Costa Rica an
einem Ende des Spektrums, mit wenig Klientelismus, und Ländern wie Argentinien,
Panama, Paraguay und der Dominikanischen Republik mit hohen Werten am
Klientelismus und Patronage in der Vergleichenden Politikwissenschaft 657

anderen Ende des Spektrums. Länder des Mittleren Ostens und Asiens differieren
ebenfalls, diese Varianz reduziert sich allerdings, nimmt man Israel, Japan und Korea
in die OECD-Gruppe mit auf, dann sind die €ubrigen Länder der beiden Regional-
gruppen mit eher hohen Werten in einem Cluster zu finden. Mit Ausnahme von
S€udafrika und Botswana, die einen mittleren Klientelismuswert aufweisen, befinden
sich alle anderen afrikanischen Länder in einem Cluster mit den höchsten Kliente-
lismuswerten.
Insgesamt bietet dieser Datensatz einen guten Ansatz zur Messung von Kliente-
lismus, konzeptionell wird sich nicht nur auf Stimmenkauf beschränkt. Die metho-
dischen Grenzen sind aber offensichtlich. Wie bei allen Expertenbefragungen han-
delt es sich um subjektive Einschätzungen, auch ist die Anzahl der Befragten
begrenzt, was alles zu Verzerrungen und falschen Werten f€uhren kann. Auch wird
hier explizit eher nach Parteiverbindungen gefragt, also in diesem Sinne weniger
nach einer persönlichen Beziehung zwischen Patron und Klient, sondern nach
Patronage. Doch trotz dieser Begrenzungen kann der Datensatz klar als Fortschritt
im Versuch der komparativen empirischen Erfassung und vergleichenden Analyse
von Klientelismus eingestuft werden.

4 Determinanten und Wirkung von Klientelismus

In den vorherigen Ausf€uhrungen wurden Probleme der Konzeptionalisierung sowie


Probleme der Beobachtung (und damit der Operationalisierung und Messung) the-
matisiert, im Folgenden werden Erklärungsansätze zu Klientelismus vorgestellt.
Klientelismus kann dabei als abhängige oder als unabhängige Variable angesehen
werden, d. h. zum einen geht es um Ursachen bzw. Determinanten, zum anderen um
Folgen von Klientelismus. Dabei ist eine große Divergenz festzustellen, einfache
Rational Choice-Erklärungen eines Tauschs zum gegenseitigen Vorteil konkurrieren
mit differenzierten, soziologischen Erklärungen, die Klientelismus als komplexe
soziale Beziehung interpretieren, sowie mit politikwissenschaftlichen Ansätzen,
die Klientelismus mit Accountability, Parteien, Demokratie und Regimeformen
verbinden. Die Entwicklung einer Theorie mittlerer Reichweite mit plausiblen
Mechanismen zur Erklärung von Klientelismus steht zwar noch aus, aber einige
Grundtendenzen der Forschung lassen sich dennoch identifizieren. Aus einer Mikro-
Perspektive ist es, wie bereits erwähnt, der beiderseitige Vorteil des Austausches, der
Patron und Klient motiviert. Schwache, kaum funktionierende oder hybride Staaten
sind auf der Makro-Ebene des Neopatrimonialismus erklärende Faktoren Die sich
bereits in der Kolonialzeit herausgebildeten Mischformen moderner, legal-
rationalistischer und traditionaler Herrschaft, etwa in Form einer „indirect rule“,
hinterließen nach der Kolonialzeit Mischformen neopatrimonialer Staaten (Erdmann
und Engel 2007). Generell gelten ein niedriger Entwicklungsgrad, Armut und
soziale Exklusion als strukturelle Erklärungsvariablen f€ur Klientelismus (etwa
Stokes et al. 2013, Hicken 2011: 299 ff.). Damit einher geht die Annahme, mit
zunehmendem Wohlstand und Entwicklung w€urde Klientelismus nachlassen – was
658 W. Muno

sich aber empirisch nur bedingt gezeigt hat. Vielmehr hat sich Klientelismus als
wandelbar und anpassungsfähig erwiesen.
Auf einer mesosoziologischen Ebene werden Parteien und Parteiensysteme als
erklärende Variablen herangezogen, insbesondere in der Forschung zu Patronage,
Stimmenkauf und „citizen-politician linkages“ (Kitschelt und Wilkinson 2007,
Kopecky und Mair 2012). So sind ein geringes programmatisches Profil und eine
geringe „nat€ urliche“ soziale Verankerung von Parteien Faktoren, die Anreize dar-
stellen, auf Klientelismus, Patronage und Stimmenkauf zu setzen. Aus institutio-
neller Sicht ist es die Schwäche oder Nichtfunktionalität formaler Institutionen, die zu
informalen Institutionen wie Klientelismus f€uhrt (O’Donnell 1996, Schedler 2004,
Lauth 2004). Allerdings ist es in dieser Perspektive schwer, eine Kausalitätsrichtung
zu erkennaen, können doch auch informale Institutionen gerade die Ursache von
Defiziten formaler Institutionen sein. Hicken f€uhrt als weitere Erklärungsfaktoren f€ur
Klientelismus, die in der Forschung diskutiert werden, kulturelle Normen, Ethnizität,
Wahlsysteme und Regimeformen an (Hicken 2011: 302). Ergänzt werden m€usste noch
organisierte Kriminalität, die in einem engen Zusammenhang mit Klientelismus und
Korruption steht (vgl. exemplarisch Krauthausen 2013). Die diverse Diskussion zeigt,
dass es keine anerkannte und €uberzeugende Erklärung gibt, vielmehr werden ad hoc
verschiedene Variablen herangezogen, die sich f€ur Einzelfälle oder f€ur die konkreten
Untersuchungsdesigns anbieten, ohne systematisch zu €uberzeugen.
Wenn auch die Suche nach €uberzeugenden Determinanten von Klientelismus
offen bleibt, so stellt sich die Frage nach Wirkungen und Konsequenzen, Kliente-
lismus wird von der abhängigen zur unabhängigen Variable. Generell wird Kliente-
lismus als negativ eingeschätzt, Klientelismus, so der Konsens in der Literatur, hat
negative Auswirkungen auf die Funktionsweise von Demokratie, auf die Einstellun-
gen der B€ urger zum politischen System und auf die Regulierungskapazität von
Regierungen. Klientelismus f€uhrt zur Ber€ucksichtigung und Durchsetzung partiku-
lärer Interessen, statt dass universal öffentliche G€uter bereitgestellt werden (Hicken
2011: 302). Das f€ uhrt zu Ineffizienz, ist aber schon aus demokratietheoretischer Sicht
als negativ einzuschätzen, insbesondere, wenn ein informaler Mechanismus wie
Klientelismus so weit verbreitet ist und praktiziert wird, dass er als informale
Institution angesehen werden muss. So f€uhrt Hans-Joachim Lauth aus: „Die Folgen
f€
ur eine Demokratie können in dreifacher Perspektive gravierend sein: Erstens
unterhöhlen sie [informale Institutionen] die staatliche Souveränität, indem sie das
Gewaltmonopol brechen und die Möglichkeiten effektiven Regierens beschneiden.
Zweitens unterminieren sie den Rechtsstaat, indem sie seine formalen Regeln
missachten und die Gewaltenteilung partiell aufheben. Drittens beeinträchtigen sie
den demokratischen Prozess, indem sie den Präferenztransfer der formalen demo-
kratischen Verfahren manipulieren und demokratische Institutionen okkupieren“
(Lauth 1999: 81). Gero Erdmann sieht Neopatrimonialismus gar als zentrale Erklä-
rung f€ur die „apokalyptische Trias“ von Staatsversagen, Staatszerfall und Staats-
kollaps in Afrika (Erdmann 2014).
Eine Ausnahme dieser Einschätzung stellt die Perspektive dar, Klientelismus sei
unter suboptimalen Bedingungen eine zwar normativ nicht w€unschenswerte, aber
aus wertneutraler Sicht wenigstens funktionierende Möglichkeit der Partizipation
Klientelismus und Patronage in der Vergleichenden Politikwissenschaft 659

und Inklusion (exemplarisch f€ur diese Argumentation Hicken 2011: 302, Paulus
2013). Zwar sind universalistische Distributionsmechanismen wie etwa eine funk-
tionierende Sozialpolitik ohne Zweifel besser, aber wenn formale Mechanismen der
sozialen Inklusion unzureichend entwickelt oder f€ur viele unerreichbar sind, dann
bildet Klientelismus eine erreichbare Alternative: „Klientelistische Netzwerke bil-
den das funktionale Äquivalent f€ur universelle Sozialprogramme, indem der Patron
seinen sozial höheren Status und Zugang zu Ressourcen ausnutzen kann, d. h. dem
Klienten etwas anbieten kann, zu dem dieser sonst keinen Zugang hat“ (Paulus 2013:
48, vgl. auch Kitschelt 2000: 847 ff.). Dass Klientelismus f€ur bestimmte Akteure
einen Nutzen hat, ist evident, denn w€urde er niemandem nutzen, w€urde er nicht
existieren (Auyero 1999: 304 f.). Aber die Inklusion einiger Klienten bedeutet
gleichzeitig die Aufrechterhaltung der Exklusion derjenigen, die sich außerhalb
der klientelistischen Netzwerke befinden. Aus einer utilitaristischen Sicht ist daher
Klientelismus sicherlich besser als Nichts, aber dieser positive Aspekt sollte nicht
die oben erwähnten inhärenten Probleme und negativen Konsequenzen €uberdecken.
Dies gilt umso mehr, wenn klientelistische Muster in organisierter Kriminalität
angesiedelt sind oder auf state capture ausgerichtet sind.

5 Zusammenfassung

„Clientelism exists in all polities“, vermerkte van de Walle, „the forms it takes, its
extent, and its political functions vary enormously, however, across time and place“
(van de Walle 2007: 50). Zudem handelt es sich um ein informales Phänomen, das
nur sehr schwer zu erfassen ist, außerdem gibt es seine Reihe von Konzepten wie
Korruption, Patronage oder Neopatrimonialismus, die zwar verwandt, aber nicht
identisch sind, trotz einer häufig synonymen Nutzung in Studien, die zu wenig Wert
auf konzeptionelle Klarheit legen.
Bereits vor mehr als 25 Jahren hat Landé als grundsätzliche Probleme bei der
Erforschung von Klientelismus drei Aspekte aufgef€uhrt, einmal die Konzeptionali-
sierung, zum zweiten die Erfassung (und in diesem Sinne Messung), und schließlich
die Erklärung (Landé 1983). Wie in diesem Beitrag gezeigt, hat die neuere For-
schung insbesondere zu den ersten beiden Aspekten wichtige Beiträge geleistet und
so zu wissenschaftlichem Fortschritt beigetragen. Bez€uglich einer Erklärung von
Klientelismus ist aber noch immer eine große Divergenz festzustellen, einfache
Rational Choice-Erklärungen eines Tauschs zum gegenseitigen Vorteil konkurrieren
mit differenzierten, soziologischen Erklärungen, die Klientelismus als komplexe
soziale Beziehung interpretieren. Die Entwicklung einer Theorie mittlerer Reich-
weite mit plausiblen Mechanismen zur Erklärung von Klientelismus steht noch aus.
Aber die Kombination von Ergebnissen soziologischer Feldforschung, wie bei
Auyero (2000), von Surveys in einzelnen Ländern wie Argentinien (Stokes
et al. 2013) und Mexiko (Schröter 2001), und von vergleichenden Expertenbefra-
gungen (DALP 2015) erscheint eine sinnvolle und mögliche Strategie, um dies zu
erreichen.
660 W. Muno

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Teil VI
Policies
Sozialstaat in der Vergleichenden
Politikwissenschaft

Manfred G. Schmidt

Zusammenfassung
„Sozialstaat“ meint eine weit ausgebaute, tendenziell die gesamte Staatsb€urger-
schaft umfassende Sozialpolitik. Er ist – in unterschiedlichen Größenordnungen
und Formen – mittlerweile ein Kennzeichen insbesondere von wirtschaftlich
wohlhabenden Demokratien. Zugleich ist der Sozialstaat ein wichtiges Unter-
suchungsfeld der vergleichenden Politikforschung. Diese beschreibt, typologi-
siert, erklärt und bewertet die verschiedenen Sozialstaaten, die Determinanten der
Sozialstaatsentwicklung in den Aufbau-, Ausbau-, Umbau- und R€uckbauphasen
und erörtert auch die Wirkungen des Sozialstaats auf Wirtschaft, Gesellschaft und
Politik. Das vorliegende Kapitel informiert €uber die Grundz€uge dieser Forschung
und ihre wichtigsten Ergebnisse.

Schlüsselwörter
ursorge • Sozialstaat • Sozialstaatstypen • Sozialversicherung • Staats-
F€
urgerversorgung • Wohlfahrtsstaatsregime • Dekommodifizierung • Machtres-
b€
sourcen • New Politics of the Welfare State • Reformen (in der Sozialpolitik),
Ausbaureformen, Umbau- und R€uckbaureformen

1 Begriff

„Sozialstaat“ ist ein Begriff der politischen und der wissenschaftlichen Sprache f€ur
eine Sozialpolitik, die weit ausgebaut ist und die große Mehrheit der Staatsb€urger
vor Risiken sch€ utzt, gegen die sich der Einzelne meist nicht aus eigener Kraft
versichern kann. Der Sozialstaatsbegriff wird in einem sehr weiten, nahezu die

M.G. Schmidt (*)


Professor f€ur Politische Wissenschaft, Universität Heidelberg, Heidelberg, Deutschland
E-Mail: manfred.schmidt@ipw.uni-heidelberg. de

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 665


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_50
666 M.G. Schmidt

gesamte staatliche Daseinsvorsorge umfassenden Sinne verwendet, aber auch – wie


in diesem Kapitel – in einem engeren Verständnis, das vor allem die sozialen
Sicherungssysteme und die Arbeitsweltregulierung im Visier hat. Der Sozialstaat
hat die Arbeitsteilung zwischen Staat und Gesellschaft in einer höchst folgenreichen
Weise verändert: Er €ubernimmt nämlich „Verantwortung f€ur die Befindlichkeit der
Gesellschaft“ (Zacher 2001, S. 474). Mehr noch: Er strebt dabei nach ehrgeizigen
Zielen. Der Sozialstaat soll vor allem materielle Verelendung verhindern, gegen die
Wechselfälle des Lebens (wie Alter, Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder
Pflegefall) besser sichern, krasse soziale Ungleichheit eindämmen, den Wohlstand
fördern und f€ur sozialen Ausgleich in der Arbeitswelt sorgen. Doch das setzt viel
voraus: ein hohes Maß an politischer Steuerungsfähigkeit und an Steuerbarkeit von
Wirtschaft und Gesellschaft.
Der Sozialstaat ist eines der wichtigsten Untersuchungsfelder der vergleichenden
Staatstätigkeitsforschung. Diese beschreibt, typologisiert, erklärt und bewertet
sowohl die Formen der Sozialstaaten und die Determinanten der Sozialstaatsent-
wicklung in ihren Aufbau-, Ausbau-, Umbau- und R€uckbauphasen als auch ihre
Wirkungen. Von diesen Themen handelt auch das vorliegende Kapitel.

2 Sozialstaatsformen

2.1 Es gibt nicht nur einen Sozialstaat, sondern viele verschiedenartige Sozialstaa-
ten. Die Sozialstaatsforschung ist dieser Vielfalt mit Typologien zu Leibe ger€uckt.
Eine der gängigen Typologien unterscheidet idealtypisierend zwischen Staats-
b€urgerversorgung, Sozialversicherung und F€ursorge. „Staatsb€urgerversorgung“
steht f€ur eine Sozialpolitik, die allen Staatsb€urgern zugutekommt, aus Steuern
finanziert und vom Staat organisiert wird. „Sozialversicherung“ hingegen meint eine
Sozialpolitik, deren Kern die Pflichtversicherung (insbesondere von Arbeitnehmern)
gegen Gefährdungen der gesellschaftlichen Existenzgrundlage der Versicherten und
der Versichertengemeinschaft ist. Sozialversicherungen sind Solidargemeinschaften,
in denen erst die Zahlung von Beiträgen Leistungsanspr€uche begr€undet. Als
„F€ursorge“ schließlich gilt eine nachrangige Sozialpolitik, die vor allem tätig wird,
wenn dezentralere Netze wie Markt oder Familie beim Sozialschutz versagen und
ihre Leistungen nur f€ur enger definierte, in der Regel bed€urftige Zielgruppen erbringt.
2.2 Die Unterscheidung zwischen Staatsb€urgerversorgung, Sozialversicherung und
F€ursorge beeinflusste auch G. Esping-Andersens viel beachtete Differenzierung dreier
„Worlds of Welfare Capitalism“: sozialdemokratisch, konservativ und liberal (Esping-
Andersen 1990). Diese Unterscheidung fußt auf Messlatten der „Dekommodifizie-
rung“ und der „wohlfahrtsstaatlichen Regime“. Die „Dekommodifizierung“ soll den
Grad erfassen, in dem Individuen oder Familien aufgrund der Sozialpolitik „einen
gesellschaftlich akzeptablen Lebensstandard unabhängig von der Erwerbsbeteiligung
aufrechterhalten können“ (Esping-Andersen 1990, S. 37; Übers. d. Verf.) und den
Schutz messen, den die Sozialpolitik dagegen bietet, Risiken wie Alter, Krankheit
oder Invalidität allein oder vorrangig individuell aus Arbeitsentgelt zu versichern.
Angezeigt wird ein hohes (niedriges) Niveau der Dekommodifizierung vor allem
Sozialstaat in der Vergleichenden Politikwissenschaft 667

durch a) den Rechtsanspruch auf Sozialleistungen unabhängig von vorausgegangener


Beschäftigung, Leistung, Bed€urftigkeit oder Versicherungsbeiträgen (bzw. das Fehlen
eines solchen Anspruchs), b) hohe (niedrige) Lohnersatzraten der Nettosozialleistun-
gen und c) Absicherung gegen alle großen (wenige) Sozialrisiken wie Arbeitslosig-
keit, Invalidität, Krankheit oder Alter (ebd, S. 47–52).
Esping-Andersen erfasste die Dekommodifizierung anhand der Alters-, der Kran-
ken- und der Arbeitslosenversicherung und b€undelte die Werte zu einem Gesamt-
index. Dieser Index zeigt drei Ländergruppen an: Die geringste Dekommodifizie-
rung erreicht die Sozialpolitik der angloamerikanischen Länder. Das sind die
liberalen Wohlfahrtsstaaten. Die höchsten Werte erzielen drei nordeuropäische Län-
der sowie Belgien, die Niederlande und Österreich. Das sind die sozialdemokrati-
schen Wohlfahrtsstaaten. Zwischen beiden Ländergruppen liegt eine dritte Gruppe
mit mittlerer Dekommodifizierung, die Deutschland, Finnland, Frankreich, Italien,
Japan und die Schweiz umfasst (ebd, S. 52). Hier handelt es sich im Wesentlichen
um „konservative Wohlfahrtsstaaten“.
Wohlfahrtsstaaten sind f€ur Esping-Andersen nicht nur Produzenten von Sozial-
schutz, sondern auch Systeme sozialer Schichtung (ebd, S. 55–78). Diese erfasst er
mit einer F€ ulle von Indikatoren, die zu drei „wohlfahrtsstaatlichen Regimes“ ge-
b€undelt werden. Das liberale wohlfahrtsstaatliche Regime folgt den Prinzipien des
marktgesteuerten „kompetitiven Individualismus“ (ebd, S. 64) und dem des sozialen
Ausgleichs f€ ur Bed€urftige. Es resultiert in einer Schichtung aus stigmatisierungs-
anfälligen Leistungen f€ur die Schwächsten, Sozialversicherung der Mitte und markt-
basierter Wohlfahrt f€ur die Stärksten.
Das Gegenst€ uck zum liberalen Wohlfahrtsstaatsregime ist der sozialdemokrati-
sche Typ. Ihn kennzeichnet eine der Staatsb€urgerversorgung ähnelnde universalisti-
sche Sozialpolitik in staatlicher Trägerschaft, die sich durch Inklusion tendenziell
aller Staatsb€urger in die sozialen Sicherungssysteme und hohe, auf Egalisierung
zielende Sozialleistungen auszeichnet.
Das konservative Wohlfahrtsstaatsregime schließlich basiert auf etatistischem
Paternalismus und korporatistischer Einbindung von Gewerkschaften und Arbeitge-
berorganisationen in die Sozialpolitik und organisiert den Sozialschutz insbesondere
durch Sozialversicherungen. Seine Leistungen kommen vor allem den Versicherten
in einem meist nach Berufsgruppe, Versicherungsdauer und Höhe der Versiche-
rungsbeiträge differenzierten Ausmaß zugute und reproduzieren markterzeugte und
berufsgruppenbedingte Schichtungsmuster.
Vier Länder stehen laut Esping-Andersen den wohlfahrtsstaatlichen Idealtypen
besonders nahe: die USA dem liberalen Typ, Schweden dem sozialdemokratischen
und Deutschland sowie Italien dem konservativen. Bei Lichte besehen sind die Sozial-
staaten dieser Länder allerdings Mischformen. Das zeigen auch Esping-Andersens
Daten (ebd, S. 74) und vor allem detaillierte Länderstudien. Deutschlands Sozialstaat
beispielsweise kombiniert, in Esping-Andersens Terminologie, konservative mit libe-
ralen und sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaatsstrukturen. Liberale Komponenten
liegen in den bed€ urftigkeitsabhängigen Mindestsicherungssystemen, konservative in
der prominenten Rolle der Sozialversicherungen. Sozialdemokratische Komponenten
schließlich zeichnen sich aus durch eine nahezu die gesamte Bevölkerung umfassende
668 M.G. Schmidt

Krankenversicherung, den weit ausgebauten Arbeits- und K€undigungsschutz, umfäng-


liche Arbeitnehmermitbestimmung sowie den Grundsicherungsschutz, den das
Zusammenwirken von Sozialversicherungen und Mindestsicherungssystemen in
Deutschland hervorbringt (BMAS 2001 ff.; Leisering 2013; Schmidt 2012a, 2012b).
2.3 Die Welt der Sozialstaaten ist allerdings vielfältiger als es die gängigen
Dreiertypologien nahelegen. Und die Sozialstaatsstrukturen sind vielschichtiger als
jene, die Esping-Andersen und die an ihn ankn€upfende Literatur, wie Goodin
et al. (1999) und Dingeldey (2011), erörtern. Vergleichende Studien zeugen bei-
spielsweise von großen Unterschieden zwischen Ländern mit ausgebautem Sozial-
staat und umfänglichem Sozialbudget – wie in Westeuropa und den meisten post-
kommunistischen Demokratien –, und Staaten mit mittelstarker Sozialpolitik und
mittlerem Anteil der Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt, wie in den USA,
sowie Ländern mit unterdurchschnittlich ausgebauten und unterdurchschnittlich
finanzierten Sozialsystemen, wie in Staaten mit niedrigem Volkseinkommen und in
vielen Autokratien (Eibl et al. 2012; ILO 2014). Studien €uber die Sozialpolitik der
ehemaligen sozialistischen Länder in Mittel- und Osteuropa identifizierten zudem
Eigenheiten des „sozialistischen“ oder „kommunistischen Wohlfahrtsstaats“. Dessen
Hauptpfeiler war die faktische Arbeitsplatzgarantie f€ur den Großteil der Personen im
erwerbsfähigen Alter, die zusammen mit Mindestlohnvorschriften f€ur die Existenz-
sicherung der „Werktätigen“ und ihrer Angehörigen sorgen und viele andere sozial-
politische Programme €uberfl€ussig machen sollte. Der Wohlfahrtsstaat der sozialisti-
schen Länder behandelte typischerweise die arbeits- und bevölkerungspolitischen
Sozialprogramme mit Vorrang und die Alterssicherung sowie andere wirtschaftsfer-
nere Sozialprogramme nachrangig. Davon weichen allerdings seine vielen Zusatz-
und Sonderversorgungssysteme ab, die politisch besonders wichtige Gruppen privi-
legierten (Deacon et al. 1992; Hockerts 1998; Schmidt und Ritter 2013).
Analysen der Sozialpolitik im Deutschland der Jahre von 1933 bis 1945 machten
zudem auf Eigenheiten des „völkischen Wohlfahrtsstaates“ (Sachße und Tennstedt
1992) aufmerksam. Ihn prägt die Koexistenz von Sozialschutz f€ur die nach rassisti-
schen Kriterien definierte „Volksgemeinschaft“ und die auf Freund-Feind-Unter-
scheidungen basierende gesinnungspolitische und rassenbiologische Überformung
der Sozialpolitik mit Exklusion all jener Gruppen, die nicht zur Volksgemeinschaft
gezählt wurden (Hockerts 1998).
Aus der international vergleichenden Forschung ist schließlich bekannt, dass sich
etliche asiatische Staaten durch den Vorrang f€ur sozialinvestive Sozialpolitik profilierten.
Produktions- und humankapitalrelevante Sozialprogramme haben hier Priorität – wie
Gesundheitsdienstleistungen und die Bildungspolitik. Nachrangig behandelt werden
demgegen€ uber die Alterssicherung und andere wirtschaftsfernere Sozialprogramme
(vgl. Holliday 2000; McGuire 2010). In Lateinamerika hingegen spielen mitunter
Varianten einer populistischen Sozialpolitik, die stärker konsumtiv gelagert sind und
das eigene Klientel bevorzugen, eine größere Rolle (Mesa-Lago 1985). Doch zeigen
neuere Studien, dass auch dort die Sozialpolitik Armutsrisiken und scharfe soziale
Ungleichheit beträchtlich vermindern kann. Das ist, Huber und Stephens (2012) zufolge,
insbesondere unter Linksregierungen der Fall und nach McGuire (2010) vor allem eine
Leistung, die mit der Demokratie und dem Alter der Demokratie zusammenhängt.
Sozialstaat in der Vergleichenden Politikwissenschaft 669

2.4 Sozialstaatsstrukturen sind, so zeigt die vergleichende Forschung, vielschich-


tiger als jene in Esping-Andersen (1990). Davon zeugen auch die Einstellungen zum
Sozialstaat und die Bewertung seiner Leistungen (Kohl 2013). Gewiss: Etliche der
an Esping-Andersen ausgerichteten neueren Forschungen passen zur Unterschei-
dung dreier Wohlfahrtsstaatswelten. Analysen der „Real worlds of welfare capita-
lism“ (Goodin et al. 1999) zufolge, ist eine Sozialpolitik nach sozialdemokratischem
Wohlfahrtsstaatsmuster beispielsweise bei der Armutsbekämpfung leistungsfähiger.
Andere Forschungen f€uhren allerdings weit €uber Esping-Andersen (1990) hinaus.
Zu ihnen gehören – neben Esping-Andersens neueren Studien €uber neue soziale
Risiken, Erwerbsbeteiligung von Frauen, Kinder, Fertilität und Alterung Esping-
Andersen (1999, 2009) – die Verkn€upfung von Wohlfahrtsstaaten und Geschlechter-
regimen (Kulawik 2005) und die Ermittlung der Lohnersatzraten bei Alter,
Arbeitslosigkeit und Krankheit sowie die Überpr€ufung der Dekommodifizierungs-
messungen bei Scruggs und Allan (2006) und neuerdings bei Scruggs et al. (2014).
Diesen Daten zufolge gibt es nur „very limited support for the ‚three worlds‘
typology“ (Scruggs und Allan 2006, 55): Die Daten €uber Sozialrechte und Lohn-
ersatzraten formten sich nur teilweise zu den Ländergruppen, die Esping-Andersen
unterschied. Mehr noch: Ein erheblicher Teil der Sozialpolitik ist im Spiegel dieser
Daten von Land zu Land und von Programm zu Programm viel unterschiedlicher
als im Lichte von Esping-Andersen (1990) zu erwarten war. Ein Beispiel ist
Großbritannien, das Esping-Andersen als liberalen Wohlfahrtsstaat einstuft. Doch
zum britischen Wohlfahrtsstaat gehört ein sozialdemokratisch-sozialistisches
Projekt: der f€ur alle kostenlose National Health Service!
Weit € uber Esping-Andersens Lehre hinaus reichen zudem Sozialstaatsanalysen,
die auch die Mindestsicherungssysteme erfassen. Diese sch€utzen mitunter in hohem
Maße gegen Marktabhängigkeit. Hierbei können die „konservativen Wohlfahrts-
staaten“ meist mit den „sozialdemokratischen Regimen“ mithalten. Über Esping-
Andersen hinaus f€ uhren zudem jene vergleichenden Studien, die neben der sozialen
Sicherung die Arbeitsweltregulierung ber€ucksichtigen, die in der deutschen
Sozialpolitik (und in anderen Staaten mit korporatistischen Arbeitsbeziehungen)
eine große Rolle spielt (Klenk et al. 2012; Ritter 2010). Sozialpolitik umfasst in
diesen Staaten auch die Arbeitsweltregulierung insbesondere durch Koalitionsfrei-
heit, Arbeitnehmermitbestimmung sowie Arbeits- und K€undigungsschutz. Im Lichte
von arbeitsweltbezogenen Messlatten erweist sich Deutschland als ebenso leistungs-
fähig und mitunter als leistungsfähiger als die sozialdemokratischen Wohlfahrts-
staaten im Sinne von Esping-Andersen (Siegel 2007). Zu ähnlichen Befunden ge-
langt, wer die Varieties of Capitalism-Literatur mit der Sozialstaatsforschung
kombiniert (z. B. Iversen 2005 sowie Bohle und Greskovits 2012). Und wer neben
den öffentlichen Bruttosozialausgaben die Nettosozialausgaben ber€ucksichtigt, die
den Effekt von Steuererleichterung und Besteuerung von Sozialabgaben
sowie freiwillige Sozialleistungen erfassen, stößt auf neue Rangreihen. Nun nehmen
nicht mehr die sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten die vorderen Plätze ein,
sondern Frankreich, Belgien und Deutschland – und die USA holen im
Nationenvergleich auf, insbesondere aufgrund hoher freiwilliger Sozialleistungen
(Adema et al. 2011).
670 M.G. Schmidt

3 Bestimmungsfaktoren des Auf- und Ausbaus von


Sozialstaaten

Viele Faktoren bestimmen den Auf- und den Ausbau des Sozialstaates (Alber 1982;
Castles et al. 2010). Man hat sie unter anderem zu funktionalistischen, konflikt-
theoretischen und institutionentheoretischen Ansätzen geb€undelt. Funktionalistische
Ansätze deuten die Sozialpolitik €uberwiegend als Reaktion auf Funktionsl€ucken in
der Existenzsicherung großer Bevölkerungsmassen, die von Industrialisierung und
Urbanisierung verursacht wurden. Konflikttheorien hingegen sehen den Hauptmotor
der sozialstaatlichen Politik vor allem in der Kräfteverteilung zwischen Gruppen und
Klassen und ihren Machtressourcen. Institutionentheorien schließlich erklären die
Gestaltung von Sozialpolitik vor allem mit den Spielregeln, die in der Politik, der
Gesellschaft und der Wirtschaft eines Landes herrschen.
Zur Erklärung des Auf- und Ausbaus sozialstaatlicher Politik eignen sich vor
allem sechs Faktorenb€undel (vgl. Castles et al. 2010; Schmidt et al. 2007).

1. Das erste Faktorenb€undel ist sozio-ökonomischer Art und Stoff insbesondere f€ur
Modernisierungstheorien. Der Auf- und Ausbau eines Sozialstaats erfolgt meist
ab einem wirtschaftlichen Entwicklungsniveau in der Größenordnung von 6.000
bis 10.000 Dollar pro Kopf in Preisen von 1990. Sozialpolitisch förderlich sind
ferner ein vergleichsweise rasch voranschreitender Prozess der wirtschaftlichen
Entwicklung einschließlich zunehmender Urbanisierung sowie die Alterung der
Bevölkerung.
2. Machtressourcen prägen ebenfalls den Auf- und Ausbau der Sozialpolitik. Sozial-
staatsförderlich wirkt insbesondere die Präsenz einer starken Arbeiterbewegung,
das zeigen vor allem Esping-Andersen (1990) und Huber und Stephens (2001,
2012), während Länder mit schwacher Arbeiterbewegung typischerweise Spät-
starter der Sozialpolitik wurden und oft auch Nachz€ugler blieben.
3. Regierungsparteien mit starken Präferenzen f€ur sozialen Ausgleich sorgen eben-
falls f€
ur eine ehrgeizige Sozialpolitik. Als besonders einflussreich entpuppen sich
dabei, so zeigt die Parteiendifferenztheorie, meist die sozialdemokratischen und
christdemokratischen Parteien Westeuropas (Schmidt 2010). Beide sind Sozial-
staatsparteien, beide favorisieren starke soziale Sicherungssysteme und beide
engagieren sich in der sozialpolitischen Regulierung der Arbeitswelt – und
unterscheiden sich damit markant von den marktfreundlichen, sozialstaatsdistan-
zierten liberalen und säkular-konservativen Parteien.
4. Weiterhein prägen politisch-institutionelle Bedingungen den Sozialstaatsaufbau
und -ausbau. Eine Demokratie, insbesondere eine seit langem verwurzelte Demo-
kratie, ist eine f€
ur die Sozialpolitik g€unstige Rahmenbedingung. In ihr sind auch
die „Habenichtse“ stimmberechtigt, einschließlich der großen Sozialstaatsklientel
(im Sinne des Anteils der Wahlberechtigten, der seinen Lebensunterhalt

uberwiegend aus Sozialleistungen finanziert) (McGuire 2010).
5. Sozialpolitische Kompensation von Weltmarktintegration und sozialstaatsfreund-
liche Diffusion durch Mitgliedschaft in internationalen Organisationen sind wei-
tere Antriebskräfte des Sozialstaats. Freilich sind gegenläufige Einfl€usse ebenfalls
Sozialstaat in der Vergleichenden Politikwissenschaft 671

nachweisbar, etwa der Zwang, angesichts wirtschaftlicher Globalisierung und


drohender Abwanderung des Kapitals in wirtschaftsfreundliche Standorte f€ur
international wettbewerbsfähige Standortbedingungen bei Löhnen, Steuern und
Regulierungen der Wirtschaft zu sorgen.
6. Historische Faktoren schließlich tragen ebenfalls zum Ausbau und zur Aufrecht-
erhaltung der Sozialpolitik bei: Das Politik-Erbe und Pfadabhängigkeiten prägen
den Gestaltungsraum zuk€unftiger Sozialpolitik, wirken oft als Motor expansiver
Sozialpolitik und hemmen Sozialstaatsumbau- oder -r€uckbaumaßnahmen.

4 Umbau- und Rückbaumaßnahmen in der Sozialpolitik

In der Sozialstaatspolitik kamen verschiedenartige Reformen zum Zuge: Ausbaure-


formen, wie insbesondere von den 1950er- bis Mitte der 1970er-Jahre, Umbaurefor-
men („recalibration“) und R€uckbaureformen („welfare state retrenchment“), wie in
einem von Land zu Land unterschiedlichen Maße seit den späten 1970er- und den
1980er-Jahren (Palier 2010). Der „New Politics of the Welfare State“-Literatur zufolge
basieren Umbau- und R€uckbaumaßnahmen in der Sozialpolitik auf einer anderen
Logik und werden von anderen Determinanten bestimmt als Ausbaureformen (Pierson
2001). Ausbaureformen eignen sich f€ur Stimmenmobilisierung und f€ur Strategien des
Machterwerbs und Machterhalts. Man kann mit ihnen Zustimmung gewinnen, und
somit erfolgreiches „credit claiming“ betreiben. Wer Umbau- und R€uckbaureformen
durchf€uhrt, riskiert hingegen Bestrafung durch die Wähler, Stimmenverlust und
Machtverlust und wird deshalb Bestrafungen zu vermeiden versuchen („blame avoi-
dance“). „Blame avoidance“ kann auf verschiedenen Wegen angestrebt werden.
Beliebt ist die Strategie, die Verantwortung f€ur unpopuläre Reformen auf andere
abzuwälzen, beispielsweise auf die Vorgängerregierung, die Bundesländer oder die
Gemeinden. Wer Bestrafungen vermeiden will, wird zudem erwägen, Umbaumaßnah-
men oder K€ urzungen €uber längere Zeiträume zu strecken oder durch Anbindung der
Sozialleistungen an die Inflationsrate weniger zurechenbar zu machen. Zudem kom-
men Teile-und-herrsche-Strategien in Betracht: Der mögliche Protest wird dadurch
zur€
uckgedrängt, dass den einen genommen, anderen aber gegeben wird.
Die Gr€ unde der „New Politics of the Welfare State“ sind vielfältig. Schwächeres
Wirtschaftswachstum mit höherer Arbeitslosigkeit gehören zu den Ursachen, ebenso
die Alterung der Gesellschaft, Engpässe bei der Finanzierung des Sozialstaats und
neue Sozialrisiken beispielsweise infolge unsteter Erwerbskarrieren. Umbau- und
R€uckbaureformen stoßen bei den meisten Wählern auf Risikoaversion und sind
meist unpopulär. So wie die Parteien Stimmenverluste, Abwahl oder Nichtwahl
f€
urchten, so sorgen sich die Wähler um die Höhe und Sicherheit ihrer Sozialein-
kommen. Ferner sind die Kosten und der Nutzen von Umbau- und R€uck-
baumaßnahmen asymmetrisch verteilt: Die Kosten, etwa Leistungsk€urzungen, sind
f€
ur die Betroffenen alsbald sichtbar und sind politisch ausschlachtbar. Der Nutzen
einer Einsparung aber, beispielsweise die Entlastung des Staatshaushaltes, bleibt
diffus und wird g€unstigstenfalls erst nach längerer Zeit sichtbar. Entsprechend groß
sind die Mobilisierungschancen der Gegner und entsprechend gering die der Re-
672 M.G. Schmidt

formbef€ urworter. Zudem verengen Politik-Erblasten den Spielraum f€ur Umbau- oder
R€uckbaumaßnahmen: Enge Reformgrenzen setzen beispielsweise die eigentums-
rechtlichen Anspr€ uche, die die Beitragszahler in Sozialversicherungen erworben
haben. Überdies hat die Sozialpolitik eine eigene Machtbasis hervorgebracht, die
als Barriere gegen Umbau- und R€uckbaureformen wirkt: die Kunden der Sozial-
politik, die Sozialstaatsklientel, und die Professionals des Sozialstaates. Beide
können zudem auf den Schulterschluss mit den Gewerkschaften zählen. Diese sind
ebenfalls an einer starken Sozialpolitik elementar interessiert, weil diese die Orga-
nisation, die Mitglieder und die Lohnpolitik der Gewerkschaften vor dem Stoß der
Konjunkturschwankungen sch€utzt und somit gegen die Wechsellagen der Wirtschaft
weitgehend abschirmt.
Die Schwierigkeiten von Sozialstaatsumbau- und -r€uckbaumaßnahmen sind aller-
dings nicht un€ uberwindbar. Das lehren vergleichende Studien zur Sozialpolitik
(Obinger et al. 2010) und zur „Liberalisierungspolitik“ (Höpner et al. 2011). Der
internationale Vergleich zeigt ferner, dass Regierungen unterschiedlichster Couleur –
Rechts-, Mitte- und Linksregierungen – an Umbau- und R€uckbaureformen beteiligt
sind. Er deckt aber auch auf, dass solche Reformen erhebliche wahlpolitische
Risiken beinhalten. Allerdings wachsen die Chancen einer Regierung, trotz Sozial-
staatsumbau und -r€uckbau wahlpolitisch zu re€ussieren, wenn sie daf€ur Zustimmung
mobilisieren, die stärksten Kritiker einbinden, auf einen unabweisbaren Problem-
druck verweisen und f€ur ihre Politik gleichsam ein Mandat erringen kann. Förderlich
f€ur eine Umbau- und R€uckbaupolitik sind zudem reformpolitische Gelegenheiten.
Jene Regierungen haben tendenziell bessere Chancen, auch größere Umbau- oder
R€ uckbaureformen politisch durchzustehen, die f€unf Bedingungen erf€ullen: 1) eine
landesweite Krisenstimmung und landauf landab die Überzeugung, dass zur Lösung
der Krise ein Politikwechsel in Richtung der angezielten Um- und R€uck-
baumaßnahmen unabdingbar sei, 2) ein Mandat f€ur die Reform, 3) ein Honey-
Moon-Effekt, der es erlaubt, alle Nebenwirkungen der Reform in den ersten
Monaten nach dem Regierungswechsel als Folge von Versäumnissen der Vorgänger-
regierung darzustellen, 4) eine schwache oder diskreditierte Opposition und 5) eine
relativ hohe politisch-ideologische Homogenität der Regierungsparteien. Unter
diesen Bedingungen können Linksregierungen – wie in Schweden in den 1990er-
Jahren –, aber auch b€urgerlich-liberale Regierungen, wie die CDU/CSU/FDP-
Koalition nach dem Regierungswechsel von 1982, das Wagnis von Umbau- und
R€ uckbaumaßnahmen eingehen und dennoch bei Wahlen erfolgreich abschneiden.
Sind diese Bedingungen nicht erf€ullt, wie bei den Arbeitsmarktreformen der rot-gr€u-
nen Regierung Schröder, den sogenannten „Hartz“-Reformen, dann verschlechtern
sich die wahlpolitischen Chancen einer Reformregierung rapide.

5 Wirkungen des Sozialstaats

Eine große Varianz kennzeichnet die Wirkungen von Sozialstaaten. Weit ausgebaute
Sozialstaaten erf€
ullen ihre ureigenen Aufgaben des Sozialschutzes im Wesentlichen.
Beispielsweise sch€utzen sie ihre B€urger zuverlässig vor materieller Verelendung.
Sozialstaat in der Vergleichenden Politikwissenschaft 673

In Deutschland geschieht dies insbesondere durch das Zusammenwirken der Sozial-


versicherungen und der Mindestsicherungssysteme – wie Arbeitslosengeld II, So-
zialgeld und Sozialhilfe, die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung
sowie der Regelleistungen gemäß Kriegsopferf€ursorge und Asylbewerberleistungs-
gesetz. Ein weit ausgebauter Sozialstaat sch€utzt ferner einigermaßen zuverlässig
gegen Risiken des Einkommensausfalls infolge von Alter, Arbeitslosigkeit, Invali-
dität, Krankheit und Unfall. Und je weiter ausgebaut eine Sozialpolitik ist, desto
mehr verteilt sie um. Davon zeugt etwa die OECD Income Distribution Database: Ihr
zufolge wurde beispielsweise 2009/2010 die mitunter krasse Ungleichheit der Ein-
kommensverteilung vor Steuern und Sozialtransfer nach Steuern und Sozialtransfer
substanziell vermindert. In großem Umfang geschieht dies auch in der Bundesrepu-
blik Deutschland. Ähnliches gilt f€ur die Verminderung des Armutsrisikos. Durch den
Sozial- und Steuerstaat wird das insgesamt hohe Armutsrisiko (gemessen an einem
Einkommen, das geringer als 50 Prozent des Medianeinkommens von Haushalten
ist) beträchtlich reduziert. Wiederum gehört die Bundesrepublik Deutschland zu den
Ländern, in denen die Armutsbekämpfung durch Sozial- und Steuerpolitik beson-
ders weit vorangeschritten ist.
Ein weit ausgebauter Sozialstaat schirmt zudem die Politik und die Gesellschaft
gegen die Schockwellen ab, die schwere Wirtschaftskrisen auslösen. Und zu den
Stabilisierungsleistungen der Sozialpolitik gehört, dass sie die Folgen einer
Wirtschaftskrise wie ein „Problemzerstäuber“ (Roland Czada) in kleine, voneinan-
der getrennte Teile zerlegt: Ein Krisenopfer behandelt sie als Fr€uhrentner, ein
anderes als Fall der Erwerbsminderung, ein drittes als Kurzarbeiter, ein viertes als
Bezieher von Arbeitslosengeld oder als Teilnehmer einer Umschulung und ein
f€unftes als Empfänger von Leistungen eines der Mindestsicherungssysteme. Zudem
trägt eine weit ausgebaute Sozialpolitik zur Output-Legitimität bei, also zur Aner-
kennungsw€ urdigkeit und tatsächlichen Anerkennung von Herrschaft aufgrund von
sozialpolitischen Leistungen.
Den Vorz€ ugen einer weit ausgebauten Sozialpolitik stehen allerdings beträcht-
liche Kosten und Nebenwirkungen gegen€uber. Wo die Sozialpolitik weit ausgebaut
ist und einen erheblichen Teil des Sozialproduktes konsumiert – in Deutschland sind
das nach der Sozialbudgetstatistik seit Jahr und Tag rund 30 Prozent –, gibt es ein
zweifaches Finanzierungsproblem: Erstens trägt die weitere Finanzierung der Sozi-
alpolitik auch in wirtschaftlich und finanziell schwierigen Zeiten zur Staatsverschul-
dung bei. Sie verlagert somit einen Teil der Kosten der Gegenwart auf die Schultern
von nachkommenden Generationen. Zweitens verengen die hohen Finanzierungs-
kosten des Sozialstaats den Spielraum f€ur andere finanzaufwendige Politikfelder. In
Deutschland ist dieser Prozess weit vorangeschritten. Davon zeugen insbesondere
die hohe Sozialleistungsquote einerseits und die finanzielle Unterausstattung bei-
spielsweise des Bildungswesens und der öffentlichen Investitionen andererseits.
Dies und etliche andere Folgeprobleme weit ausgebauter Sozialpolitik – wie be-
schäftigungsabträgliche Finanzierungsgrundlagen einer beitragsfinanzierten Sozial-
politik oder Anreize zum Verbleib in der Nichterwerbstätigkeit – gehören zu ihren
Schwächen. Insoweit ist selbst ein weit ausgebauter Sozialstaat ein Problemlöser
und ein Problemerzeuger.
674 M.G. Schmidt

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Baden.
Umwelt in der Vergleichenden
Politikwissenschaft

Detlef Jahn

Zusammenfassung
Der Aufsatz f€ uhrt in die vergleichende Umweltpolitik ein. Es wird gezeigt, wie
Umweltprobleme mit der zunehmenden Industrialisierung moderner Gesellschaften
akut wurden, und die Politik sowohl innenpolitisch als auch auf internationaler Ebene
aktiv begann, diese einzudämmen. Die Politikwissenschaft reagierte darauf mit zum
Teil neuen Ansätzen (Ökologische Modernisierung) oder nutzte Analysekonzepte
aus bekannten Bereichen. Dabei wurden unter anderem innovative Ansätze ent-
wickelt, die den politischen Prozess in vergleichender Perspektive betrachten. Stärker
als in anderen Politikbereichen, sind im Umweltbereich Rahmenbedingungen zu
beachten, auf die in diesem Aufsatz ebenfalls eingegangen wird. Insgesamt zeigt
sich, dass die politikwissenschaftliche Analyse von Umweltpolitik und -performanz
zu einem der innovativsten Gebiete der vergleichenden Politikwissenschaft gehört.

Schlüsselwörter
Umweltpolitik • Umweltperformanz • Ökologische Modernisierung

1 Einleitung

Der Beitrag stellt eine Einf€uhrung in den empirischen Problembereich der länder-
vergleichenden Umweltpolitik sowie eine Bestandsaufnahme gegenwärtiger politik-
wissenschaftlicher Forschung in hochentwickelten demokratischen Industriegesell-
schaften dar (f€
ur Einf€uhrungen, die auch andere Länder mit einbeziehen siehe Muno
2010; Tosun 2015). Als Umweltpolitik bezeichnet man die Gesamtheit der politi-
schen Bestrebungen, welche den Erhalt von nat€urlichen Lebensgrundlagen des

D. Jahn (*)
Professor f€ur Vergleichende Regierungslehre, Institut f€
ur Politikwissenschaft, Universität
Greifswald, Greifswald, Deutschland
E-Mail: djahn@uni-greifswald.de

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 677


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_51
678 D. Jahn

Menschen sowie der Natur an sich bezwecken. Der Beitrag ist wie folgt aufgebaut:
Zunächst wird ein Überblick €uber Aufkommen und Wahrnehmung von Umwelt-
problemen im Verlauf der Geschichte gegeben. Daraufhin werden die wesentlichen
nationalen und internationalen politischen Maßnahmen beschrieben, die den Um-
weltzustand in modernen Industriegesellschaften verbessern sollen. Prominente
Indizes zur Messung des Umweltzustandes werden im dritten Abschnitt erläutert,
wobei die Notwendigkeit einer Unterscheidung von Umweltzustand und Umwelt-
performanz verdeutlicht wird. Abschnitt 4 stellt wesentliche theoretische Ansätze
der Politikwissenschaft dar, Umweltperformanz zu erklären. Abschnitt 5 geht auf die
Rahmenbedingungen ein, die die Umweltperformanz wesentlich beeinflussen. Der
Schlussteil fasst die Ergebnisse insbesondere im Hinblick auf Stärken und Schwächen
der gegenwärtigen Forschung zusammen und deutet auf Forschungsl€ucken hin.

2 Haupttext

2.1 Historischer Rückblick auf die Bedeutung von


Umweltproblemen

Umweltprobleme haben eine lange Geschichte, in der sich gezeigt hat, dass sie zu
gravierenden gesellschaftspolitischen Veränderungen und sogar zum Untergang von
Hochkulturen f€ uhren können (Hughes 1994; siehe auch Sallares 1991). Auch hat
schon Max Weber ([1922] 1976, S. 274, 640, 756) eindrucksvoll darauf hinge-
wiesen, dass die Regulierung der Wasserwege mit der Absicherung der Machtelite
und dem Aufbau eines Verwaltungssystems in Ägypten und auch in China zur Zeit
der ersten Hochkulturen zusammenhängt.
Globale und nationale Umweltprobleme haben in der Zeit nach dem Zweiten
Weltkrieg stark zugenommen. Wenngleich schon mit Beginn der industriellen Revo-
lution die Produktivität und die Umweltverschmutzung stark anstieg, entwickelte
sich erst später eine Dynamik, die heute als das „1950er Syndrom“ bezeichnet wird,
welches tiefgreifende Veränderungen der Produktions- und Lebensweise in Folge
einer rasanten Zunahme von Energieverbrauch, Bruttoinlandsprodukt, Siedlungs-
fläche, Abfall und Schadstoffbelastung umfasst (Pfister 1995, S. 23).
Mit der zunehmenden Ressourcennutzung kam es zu einschneidenden Umwelt-
katastrophen, wie dem Londoner Smog und fog 1953, der Quecksilbervergiftung in
den 1950er-Jahren in Minamata (Japan) oder der hohen Luftbelastung in urbanen
Ballungszentren. In den 1960er und fr€uhen 1970er-Jahren reagierte die Politik mit
Umweltgesetzen und Regulierungen, wobei die USA, Japan und Schweden als
Vorreiterländer betrachtet werden können. Allerdings entwickelte sich nur langsam
ein Umweltbewusstsein und Umweltpolitik wurde zunächst nicht als eigenständiger
Politikbereich begriffen. In den USA hatte das Buch von Rachel Carson (Carson
1962) zum Vogelsterben durch das Insektizid DDT eine alarmierende Wirkung auf
die Öffentlichkeit. In der Bundesrepublik war 1969 die erste sozialliberale Koalition
unter Willy Brandt ausschlaggebend f€ur die Einf€uhrung von Umweltpolitik
(H€unemörder 2004). Allerdings stieß das Thema in der Bevölkerung auf wenig
Umwelt in der Vergleichenden Politikwissenschaft 679

Interesse, so dass Umweltpolitik in dieser Zeit keinen hohen politischen Stellenwert


erlangte. Dies änderte sich mit der sogenannten „Ölkrise“ 1973/74 und dem Bericht
des Club of Rome zu den Grenzen des Wachstums (Meadows et al. 1972). Nun
bildete Umweltpolitik eine neue gesellschaftspolitische Konfliktlinie, welche zu
sozialen Protestbewegungen und schließlich gr€unen Parteien f€uhrte. Hintergrund
ur war die „materiale Politisierung der Produktion“ (Kitschelt 1985) durch
hierf€
einen konsumorientierten Lebensstil und die Infragestellung von großtechnischen
Lösungen in der Energiepolitik, allen voran der Kernenergie.

2.2 Umweltpolitische Maßnahmen

Der steigende Problemdruck f€uhrte zu zunehmender staatlicher Tätigkeit im Um-


weltbereich. Umweltgesetze wurden erlassen und fast alle hochindustrialisierten
Länder richteten Umweltministerien und -behörden ein. Bei der Suche nach politi-
schen Lösungen f€ ur die wachsenden Umweltprobleme wurden mitunter innovative
Wege beschritten. Zwar wird auch auf diesem Gebiet mit Geboten und Verboten
(engl.: command and control) gearbeitet, aber schon bald nach deren Einf€uhrung in
den 1960er und 1970er-Jahren haben sich diese, aufgrund der Notwendigkeit ständi-
ger Kontrolle, als wenig wirksam erwiesen. Deshalb haben sich insbesondere steuer-
liche Stimuli und andere Anreizformen in der Umweltpolitik etabliert. Hierzu zählen
bspw. staatlich geförderte Stromeinspeisungsgesetze und Quotenregelungen. Neu-
artig sind insbesondere Politikformen, die eine Kooperation von Politik und Unter-
nehmen darstellen. In diesem Bereich haben sich Umweltzeichen als symbolisches
Mittel, umweltfreundliche Produkte zu vermarkten, etabliert. Unternehmen orientie-
ren sich an den Umweltnormen, die ihre Marktchancen verbessern. Zur Verbreitung
umweltpolitischer Strategien trug das Konzept der Nachhaltigkeit wesentlich bei,
welches von der UN Kommission f€ur Umwelt und Entwicklung in die politische
Debatte eingebracht wurde („Brundtlandbericht“; The World Commission on Envi-
ronment and Development 1987). Das Maßnahmenb€undel zur Steuerung des Um-
weltverhaltens kann als äußerst innovativ betrachtet werden, was auch auf andere
Politikbereiche ausstrahlt. Dar€uber hinaus wurden koordinierte internationale Ab-
machungen getroffen. Im Sommer 1972 f€uhrte die UN eine Weltkonferenz €uber die
menschliche Umwelt in Stockholm durch, die als Beginn der internationalen
Umweltpolitik gewertet wird. Weitere internationale Meilensteine waren die
UN-Konferenz € uber Umwelt und Entwicklung in Rio (1992) und der Weltgipfel
f€
ur nachhaltige Entwicklung in Johannesburg (2002). Auf internationaler Ebene
wurden mehrere bi- und multilaterale Abkommen geschlossen, wie etwa das
Kyoto-Protokoll von 1997 (Breitmeier et al. 2006; Mitchell 2008, 2013).

2.3 Umweltzustand und Umweltperformanz

Konzeptionell ist zwischen Umweltzustand und Umweltperformanz zu unterschei-


den. Der bekannteste Umweltzustandsindex ist der des Ökologischen Fußabdrucks
680 D. Jahn

(Ecological Footprint) (Wackernagel 1994). Er misst das Verhältnis der Biokapazität


(der Produktions- und Absorptionsfähigkeit eines Ökosystems) und dem von Men-
schen initiierten Eingriff in die Umwelt. Die Daten dieses Indexes stehen von 1960
bis zur Gegenwart zur Verf€ugung und deuten darauf hin, dass weltweit die Ressour-
cen von ca. 1,5 Welten verbraucht werden. F€ur die hochentwickelten OECD-Länder
liegt dieses Verhältnis sogar bei ca. 2,7 Welten. Die höchsten ökologischen Defizite
finden sich in den W€ustenstaaten ohne hohe Biokapazität aber mit starken ökologi-
schen Eingriffen durch Erdölförderung wie Katar, Kuwait und vor allem dem Ver-
einte Arabische Emirat. Unter den OECD-Ländern liegen Spanien, Belgien, Grie-
chenland und Großbritannien am oberen Ende der Skala. Dagegen verzeichnen die
großen Flächenstaaten Australien, Kanada, Finnland und Schweden die geringsten
ökologischen Defizite. Weltweit trifft letzteres f€ur den Kongo und Bolivien zu.
Umweltperformanz bezeichnet demgegen€uber die Leistungsfähigkeit eines Landes
die Umweltbelastung zu reduzieren (Meadowcroft 2014). Bei Performanzstudien
stehen Umweltaspekte im Vordergrund, die politisch verändert werden können. Somit
eigen sich Untersuchungen zur Umweltperformanz besser f€ur politikwissenschaft-
liche Studien. Zur Bemessung von Umweltperformanz existieren verschiedene Indi-
ces (als Überblick siehe Fiorino 2011). Die größte Medienwirksamkeit erhält der
Umweltperformanzindex der Columbia Universität (Hsu et al. 2014), mit dem
178 Länder mit 20 Indikatoren erfasst werden. Wenngleich dieser Index seit 2006
alle zwei Jahre aktualisiert wird, steckt er noch in der Entwicklungsphase. So ist das
Messverfahren anhand der „letzten verf€ugbaren Daten“, die keine Bestimmung der
genauen Jahreswerte zulassen, sowie die Orientierung an unzureichend transparenten
Richtwerten nicht vollkommen nachvollziehbar. Trägt man diese methodologischen
Probleme zusammen ist dieser Umweltperformanzindex zwar medienwirksam,
jedoch f€ur die moderne politikwissenschaftliche Analyse nur bedingt geeignet.
In vielen politikwissenschaftlichen Studien beziehen sich die Autoren auf jene
Daten, die von der OECD, EuroStat oder den Vereinten Nationen zur Verf€ugung gestellt
werden. Diese erfassen etwa Luftemissionen, Wassernutzung, Umweltbelastung von
Fl€ussen und Seen, radioaktiven Abfall, M€ullaufkommen, Recyclingraten und Klärwas-
seranschl€usse etc. Manche Autoren haben aus diesen Daten einen Umweltperformanz-
index erstellt oder nutzen einzelne Indikatoren (f€ur einen Überblick siehe Jahn 2016).
Der Vorteil beim Verwenden von Indices, die viele Aspekte miteinbeziehen, besteht
darin, dass die Umweltproblematik im Ganzen erfasst werden kann. Allerdings entwi-
ckeln sich manche Indikatoren im selben Zeitraum unterschiedlich (so nimmt Luftver-
schmutzung etwa ab während radioaktiver Abfall und das M€ullaufkommen gleichzeitig
zunehmen), so dass Kausalanalysen f€ur verbesserte oder verschlechterte Gesamtwerte
schwer durchf€ uhrbar sind. In neueren Studien wurde die Umweltperformanz hoch-
entwickelter Industrienationen anhand von Indices mit inhaltlich aufeinander abge-
stimmten Indikatoren erfasst (Jahn 2016; Poloni-Staudinger 2008).
Die Ergebnisse solcher Studien zeigen, dass sich €uber die letzten Dekaden funda-
mentale Veränderungen, hinsichtlich der Frage, was die gravierendsten Um-
weltbelastungen sind, ergeben haben. Zu Beginn der 1980er-Jahre stellten
atmosphärische Emissionen die akutesten Umweltproblem in hochindustrialisierten
Ländern dar. Dies hat sich – bis auf die Bekämpfung von Kohlendioxiden – geändert.
Umwelt in der Vergleichenden Politikwissenschaft 681

Tab. 1 Muster von Umweltperformanz in 21 OECD Ländern


Muster I Muster II Muster III Muster IV
Schwache Moderate Starke Starke
Umweltperformanz Umweltperformanz; Umweltperformanz; Umweltperformanz;
Defizite bei CO2 Defizite bei CO2 einschließlich CO2
Emissionen Emissionen, Defizit Emissionen und
radioaktiver Abfall radioaktiver Abfall
Hohes Finnland Belgien Dänemark
Ausgangsniveau:
Australien Irland Deutschland Niederlande
Kanada Italien Frankreich
Vereinte Staaten Japan Schweden
Norwegen Schweiz
Verschlechterung: Österreich Vereintes Königreich
Griechenland Spanien
Neuseeland
Portugal
Quelle: Jahn (2016)

Gegenwärtig sind neben Kohlendioxid, das M€ullaufkommen und radioaktiver Abfall


die drängendsten Umweltprobleme. Tabelle 1 stellt unterschiedliche Performanzmus-
ter in 21 OECD-Ländern zu Beginn der zweiten Dekade des neuen Jahrtausends dar.

2.4 Politikwissenschaft und Umwelt

Die vergleichende Politikwissenschaft ist vor allem daran interessiert, welche politi-
schen Faktoren f€ur eine bessere Umweltpolitik oder Umweltperformanz ausschlag-
gebend sind. Ansätze, die sich als besonders fruchtbar erwiesen haben, werden im
Folgenden dargestellt. Diese Ansätze beziehen sich sämtlich sowohl auf innen-
politische als auch auf internationale Aspekte und lassen sich mit den Begriffen
ökologische Modernisierung, Institutionalismus und Ressourcenmobilisierung
benennen (Duit 2014).

2.4.1 Ökologische Modernisierung


Der Ansatz der ökologischen Modernisierung stellt den linearen positiven Zusam-
menhang zwischen wirtschaftlicher Tätigkeit und Umweltbelastung infrage. Es wird
davon ausgegangen, dass Länder und internationale Netzwerke von Ländern und
NGOs Kapazitäten schaffen, die eine ressourcenschonende Produktion ermöglichen.
Im Mittelpunkt der Analyse stehen die Schaffung von Institutionen und Vereinba-
rungen zur Bekämpfung von Umweltproblemen, sowie technische Innovationen f€ur
eine effizientere und saubere Produktion (Jänicke 2012). Ein Indikator f€ur den Erfolg
der ökologischen Modernisierung ist die umweltpolitischen Kuznetskurve. Diese
besagt, dass mit Produktivitätssteigerung zunächst eine stärkere Umweltbelastung
einhergeht, dass sich dieses Verhältnis jedoch ab einem bestimmten Punkt umkehrt
682 D. Jahn

Kohlendioxid (in t pro Kopf) Stickoxide (in kg pro Kopf)


Vorhergesagte Werte (mit 95% Konfidenzintervall)

12 60

10 40

8 20

6 0

4 −20
10 20 30 40 50 10 20 30 40 50
BIP pro Kopf (in Tausend US$) BIP pro Kopf (in Tausend US$)

Abb. 1 Trends von Umweltindikatoren – Kohlendioxid und Stickoxide. Quelle: OECD Daten.

und eine höhere Produktivität mit einer Umweltentlastung zusammentrifft. Es ent-


steht also eine umgekehrt U-förmiger Verlauf. Allerdings verläuft die Entwicklung
nicht aller Umweltbelastungsindikatoren entlang einer Kuznetskurve. Betrachtet
man die hochentwickelten OECD-Länder folgen Kohlendioxidemissionen einer
Kuznetskurve.
Dagegen zeigen andere Umweltbelastungsindikatoren einen N-förmigen Verlauf.
Exemplarisch ist in Abb. 1 der Verlauf von Stickstoffemissionen dargestellt. Hier
steigen die Emission von 10.000 USD bis 24.000 USD. Von diesem Wert sinken die
Emissionen mit steigendem Wohlstand, wie von der Theorie der ökologischen
Modernisierung vermutet. Allerdings ergibt sich eine zweite Kehrtwende bei
40.000 USD. Ab diesem Wohlstandsniveau steigen die Emissionen wieder an. Der
N-förmige Verlauf deutet auf die „Achillesferse“ der ökologischen Modernisierung
hin: Durch technische Innovationen erlangte umweltpolitische Spielräume werden
durch zunehmende Wachstumsraten aufgehoben (Jänicke 2007, S. 24).
Insgesamt ist die Erklärungskraft der Theorie der ökologischen Modernisierung
begrenzt. Zwar besitzt die nationale und internationale umweltpolitische Institutio-
nalisierung einen positiven Einfluss auf die Umweltperformanz, eine Entkopplung
von Wirtschaftswachstum und Umweltbelastung kann jedoch nicht bestätigt werden.
Auch der Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft ist nicht unbedingt mit einer
besseren Umweltperformanz verbunden. So stellen Rosenblum et al. (2000) fest,
dass der Energiekonsum des Dienstleistungssektors in den USA den selben Anteil
Treibhausgasen verursacht, wie der Produktionssektor. Dar€uber hinaus ist das Kon-
zept vage formuliert und normativ aufgeladen. Der deskriptive Charakter von
Studien in der Tradition der ökologischen Modernisierung verleitet Duit (2014,
S. 11) zu der Feststellung, dass diese Theorie keinen effizienter Ansatz f€ur ver-
gleichende Studien darstellt.

2.4.2 Institutionalismus
Im Bereich des Institutionalismus sind insbesondere Studien in der Tradition des
Neokorporatismus und der Vetospielertheorie hervorzuheben. Schon fr€uhe Studien
Umwelt in der Vergleichenden Politikwissenschaft 683

haben belegt, dass Länder mit einem ausgeprägten korporatistischen System


der Interessensvertretung eine positive Umweltbilanz besitzen (Crepaz 1995;
Jahn 1998; Scruggs 2003). Andere Untersuchungen, die nicht nur einen Zeitpunkt
ber€
ucksichtigen, sondern einen längeren Zeitraum, stellen keinen Effekt auf
die Umweltperformanz fest (Neumayer 2003). Neuste Studien machen darauf auf-
merksam, dass der positive Einfluss von Korporatismus auf die nationale
Umweltbilanz in föderativen Staaten stärker ist als in zentralisierten Ländern (Jahn
und Wälti 2007). Außerdem konnte darauf hingewiesen werden, dass korporatisti-
sche Strukturen in den 1980er-Jahren eine bessere Umweltperformanz untergruben.
Dies war oft darin begr€undet, dass Korporatismus zu dieser Zeit ein Wachstums-
kartell darstellte. Seit den 1990er-Jahren und vor allem in der ökonomischen Krise
nach 2008 fördert Korporatismus demgegen€uber eine Senkung der Umweltbelas-
tung (Jahn 2016).
Wenngleich die Vetospielertheorie in der vergleichenden Politikwissenschaft sehr
prominent vertreten ist, existieren nur wenige Studien, die diese in Anwendung
auf Umweltpolitik betrachten. Vorhandene Untersuchungen kommen zu unter-
schiedlichen Ergebnissen. Während manche Studien feststellen, dass vermehrte
Vetospieler bzw. eine erhöhte ideologische Distanz zwischen den Vetospielern die
Einf€
uhrung politischer Maßnahmen gegen den Klimawandel verhindern
(Madden 2014), können andere Studien keinen Effekt erkennen (Knill et al. 2010).
Andere Studien wiederum betonen sogar einen positiven Effekt auf die
Umweltperformanz, wenn politische Akteure mit einem breiten ideologischen
Spektrum am Entscheidungsprozess beteiligt sind (Immergut und Orlowski 2013;
Jahn 2016).

2.4.3 Ressourcenmobilisierung
Der Ansatz der Ressourcenmobilisierung geht davon aus, dass eine Regierungsbe-
teiligung gr€ uner Parteien sich in einer erhöhten umweltpolitischen Aktivität
ausdr€ uckt. So zeigen Studien, dass die Betonung von gr€unen Positionen der Regie-
rungsparteien zu einer signifikanten Steigerung von Umweltmaßnahmen (Knill
et al. 2010) und zur Steigerung der Umweltperformanz (Jahn 2016) f€uhrt.
Der Ansatz kann jedoch auch außerhalb der parlamentarischen Regierungspolitik
angewandt werden. So zeigt sich, dass die Förderung alternativer Entwicklungs-
konzepte durch Umweltbewegungen weitreichende Folgen haben kann (Giugni
2004; Jahn 2016).
Neben nationalen Regierungen und sozialen Bewegungen wirkt auch die EU als
Agenda Setter. Die Umweltpolitik der EU weist eine hohe Regelungsdichte auf. In
keinem anderen Politikfeld wurden mehr Richtlinien und Anweisungen ausgespro-
chen. Wenngleich die europäische Umweltpolitik in enger Abstimmung mit den
Mitgliedsländern erfolgt, ist die Befolgung der EU Maßnahmen (compliance) nicht
besonders hoch (Börzel et al. 2010; Knill und Tosun 2008). Insbesondere in der
Umweltpolitik wurde ein misfit, also eine Diskrepanz zwischen der europäischen
und nationalen Umweltregulierung als Hauptfaktor f€ur die Nicht-Befolgung europä-
ischer Maßnahmen ausgemacht (Börzel 2000; Jahn 2016).
684 D. Jahn

2.4.4 Agenda-Setting-Power Ansatz


In einer neuen Studie zur vergleichenden Umweltperformanz wurden die Annahmen
der Ressourcenmobilisierung mit dem Vetospieleransatz in einer sequenziellen Ana-
lyse des politischen Prozesses ausgebaut (Jahn 2016). In diesem Ansatz wird davon
ausgegangen, dass politische Akteure versuchen ihre politischen Präferenzen durch-
zusetzen, dass dieses Unterfangen aber durch Vetospieler gefiltert wird. Der Agenda-
Setting-Power Ansatz ist ein Modell, dass es erlaubt, in vergleichender Weise den
politischen Prozess abzubilden und fundierte Aussagen €uber den Einfluss von Politik
auf die Umweltperformanz zu treffen. Es konnte gezeigt werden, dass dieser Ansatz
eine hohe Erklärungskraft besitzt, die unterschiedliche Umweltperformanz zwischen
den hochentwickelten OECD-Ländern zu erfassen.

2.5 Der Einfluss von Rahmenbedingen auf die


Umweltperformanz

Insbesondere f€ ur die Erfassung der Umweltperformanz sind Rahmenbedingen zu be-


r€ucksichtigen, die einen Einfluss besitzen können. So spielen etwa die Größe eines
Landes oder die klimatischen Verhältnisse eine wichtige Rolle f€ur die Umweltbelastung.
Große Länder besitzen beispielsweise mehr Ressourcen, m€ussen aber auch längere
Transportwege in Kauf nehmen. In dicht besiedelten Ländern erzeugen Umweltprobleme
einen größeren politischen Druck, da sie mehr Menschen betreffen. Ein häufig ver-
nachlässigter Faktor in der Umweltperformanzforschung ist zudem das Klima. Es konnte
gezeigt werden, dass atmosphärische (Luft-)Emissionen stark vom jährlichen Tempera-
turschwankungen und der geographischen Lage eines Landes abhängen (Jahn 2013).
Analysen der Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise nach 2008 deuten
dar€uber hinaus darauf hin, dass Wirtschaftswachstum und Umweltbelastung weiter-
hin eng miteinander verkn€upft sind. So macht sich die nachlassende Wirtschafts-
tätigkeit in Form von gesunkener Umweltbelastung in hochentwickelten Industrie-
gesellschaften deutlich bemerkbar (Jahn 2016).
Ein neuer Forschungszweig, der Anwendung auch in der Analyse von Umwelt-
politik gefunden hat, besteht in der Untersuchung der Diffusion von Politiken und
Performanz € uber Ländergrenzen hinweg. Durch Lernen, Nachahmen und Wettbe-
werb zwischen Staaten kommt es zu einer Anpassung der Politik zwischen unter-
schiedlichen Ländern (Jahn 2015). Empirische Untersuchungen zeigen, dass Diffu-
sionsprozesse zwischen Ländern bestehen, dass diese jedoch vor allem zu
zur€uckhaltender Umweltpolitik und verschlechterter Umweltperformanz f€uhren (ra-
ce to the bottom) (Andonova 2007; Cao und Prakash 2010; Jahn 2016). Andere
Studien finden demgegen€uber einen positiven Diffusionseffekt (race to the top)
(Vogel 1995). Des Weiteren zeigt sich, dass nationale Vetospieler den Einfluss der
Diffusion in Bereichen brechen, die einen hohen Politisierungsgrad besitzen, wie
etwa Luftemissionen, dass aber weniger politisierte Themenfelder (etwa Wasserbe-
lastung) einen geringeren Vetospielereffekt aufweisen (Cao und Prakash 2012).
Umwelt in der Vergleichenden Politikwissenschaft 685

3 Zusammenfassung

Die Darstellung der politikwissenschaftlichen Behandlung von Umweltpolitik


(sowohl der policies als auch der outcomes) zeigt, dass es sich um einen
komplexen Forschungsgegenstand handelt, in dem politische Faktoren der
nationalstaatlichen sowie der internationalen Politik eine wesentliche Rolle spielen.
Beschrieben wurde die Entstehung von teils neuartigen politischen Maßnahmen im
Bereich der Umweltpolitik in Folge einer Zuspitzung von Umweltproblemen und
einem aufkommenden Problembewusstsein. Zur Erfassung des Problemdrucks bzw.
des Erfolges politischer Maßnahmen wurde zwischen Umweltzustand und Umwelt-
performanz unterschieden. Als gegenwärtige politikwissenschaftliche Erklärungs-
angebote der Intensität von Umweltpolitik bzw. der Umweltperformanz wurde die
Theorie der Ökologischen Modernisierung, des Institutionalismus, die Theorie der
Ressourcenmobilisierung, sowie der Agenda-Setting-Power Ansatz vorgestellt.
Zuletzt wurde auf Rahmenfaktoren der Umweltpolitik hingewiesen, die bei ver-
gleichenden Untersuchungen zu ber€ucksichtigen sind.
Hinsichtlich des gegenwärtigen Forschungsstandes lässt sich aus dem
Beitrag folgende Erkenntnis gewinnen: Über die letzten zwei Dekaden hat sich
dieser Forschungsbereich innerhalb der Politikwissenschaft enorm weiterentwi-
ckelt. Bis in die 1990er-Jahre existierten fast ausschließlich Fallstudien, die
zwar einzelne Bereiche beleuchteten, aber keine repräsentativen Ergebnisse
erbrachten. Dies lag zum großen Teil auch an Datendefiziten zu wesentlichen
Aspekten. Wenngleich das Datenproblem auch weiterhin besteht und Ver-
besserungen auf diesem Gebiet notwendig sind, so sind in den letzten Jahren
durch Pionierarbeiten Umweltpolitik-, Umweltzustands- und Umweltperformanz-
Indices entwickelt worden, die vergleichende Studien zulassen und grundsätzliche
Fragen nach dem Zusammenspiel von Politik, Wirtschaft und Natur beantwortbar
machen.
Auch in theoretischer Hinsicht schließen die Studien zur Umweltpolitik an
die wissenschaftlichen Erfolge in anderen Bereichen der vergleichenden
Sozialwissenschaft an. Es werden nicht mehr nur Variablen aufeinander bezogen,
sondern auch Typologien entwickelt (Muster von Umweltperformanz; Jahn 2014)
und – wie im Fall des Agenda-Setting-Power Ansatzes – der politische Prozess
untersucht.
Ein Defizit der Umweltpolitikforschung besteht allerdings darin, dass oftmals
versäumt wird, Ergebnisse aus verschiedenen Bereichen der Politikwissenschaft
zusammenzutragen. So stehen Analysen der politischen Theorie (die in diesem
Beitrag nicht gew€urdigt werden konnten), der Implementierungsforschung, der
Europaforschung, den internationalen Beziehungen und der vergleichenden Politik-
wissenschaft isoliert. Wenngleich häufig sehr ähnliche Fragen gestellt werden, ist die
gegenseitige Befruchtung dieser Bereiche doch eher gering. So gilt auch weiterhin,
dass ein großer Forschungsbedarf auf dem Gebiet der Umweltpolitik besteht. Dies
ist nicht zuletzt der Fall, da Umweltprobleme in Zukunft an Bedeutung gewinnen
werden.
686 D. Jahn

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Steuern in der Vergleichenden
Politikwissenschaft

Philipp Genschel, Hanna Lierse und Laura Seelkopf

Zusammenfassung
Dieser Beitrag erörtert Grundlagen der Steuerpolitik. Er definiert die Zwecke der
Besteuerung, unterscheidet die wichtigsten Steuertypen, diskutiert generelle
steuerpolitische Entwicklungen der letzten 50 Jahre und vergleicht die nationalen
Steuersysteme von Ländern innerhalb und außerhalb der OECD. Weitere Themen
sind die Bestimmungsfaktoren nationaler Steuerpolitik und die Auswirkungen
der Besteuerung auf Umverteilung und Wirtschaftswachstum.

Schlüsselwörter
Steuern • Progression • Umverteilung • Wirtschaftswachstum

1 Einleitung

Die Erhebung von Steuern ist eine der Kernkompetenzen des Staates. Ohne Steuer-
einnahmen sind Regierungen kaum handlungsfähig, da ihnen die nötigen finan-
ziellen Mittel zur Politikgestaltung fehlen. Sie können keine öffentlichen G€uter
produzieren und nicht umverteilen. Um es kurz mit Edmund Burke zu sagen: „Die
Einnahmen des Staates sind der Staat“ (1790: xv). Im folgenden Kapitel erläutern

P. Genschel (*)
Professor of Comparative and European Public Policy, Robert Schuman Centre for Advanced
Studies, European University Institute, San Domenico di Fiesole, Italien
E-Mail: Philipp.Genschel@EUI.eu
H. Lierse
Doktorandin am Fachbereich Sozialökonomie der Universität Hamburg, Hamburg, Deutschland
L. Seelkopf
Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Zentrum f€
ur Sozialpolitik (ZES), Universität Bremen, Bremen,
Deutschland
E-Mail: laura.seelkopf@uni-bremen.de

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 689


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_52
690 P. Genschel et al.

wir die grundsätzlichen Ziele der Steuerpolitik, f€uhren die wichtigsten Steuerarten
ein und beschreiben die Hauptentwicklungen der Steuersysteme verschiedener west-
licher und nicht-westlicher Länder in den letzten Jahrzehnten. Wir diskutieren
nationale und internationale Einflussfaktoren auf die Steuerpolitik und erörtern die
Auswirkungen der Besteuerung auf Umverteilung und Wirtschaftswachstum.

2 Steuern: Definition und Ziele

Als Steuern bezeichnet man Zwangsabgaben von nat€urlichen oder juristischen


Personen an den Staat. Alle Regierungen dieser Welt erheben Steuern und f€ur die
meisten stellen sie die Haupteinkommensquelle dar (Martin et al. 2009). Im Gegen-
satz zu Geb€ uhren besteht bei der Steuerzahlung kein Anspruch auf eine konkrete
staatliche Gegenleistung, wie z. B. die Aushändigung eines bestimmten St€ucks
öffenlichen Eigentums an den Steuerzahler oder die Gewährung einer Vorzugsbe-
handlung im öffentlichen Gesundheitssystem. Steuern dienen der Bereitstellung
öffentlicher G€uter und Dienstleistungen. Die Höhe der individuellen Steuerver-
pflichtung ist dabei unabhängig vom individuellen Nutzen, den der Steuerzahler
aus den bereitgestellten G€utern zieht. Nach dem bekannten amerikanischen Ökonom
Richard A. Musgrave (1959) dient die Steuerpolitik drei Hauptzielen:

– Ressourcenallokation: Steuern stellen finanzielle Mittel f€ur den öffentlichen


Sektor bereit. Historisch gebräuchliche Alternativen wie z. B. der Verkauf öf-
fentlicher Ämter, der Betrieb von Staatsmonopolen oder die Konfiszierung priva-
ten Eigentums spielen heute kaum noch eine Rolle in der Staatsfinanzierung.
Steuern stellen die Versorgung der Gesellschaft mit öffentlichen G€utern sicher.
Zusätzlich können Steuern auch die Ressourcenallokation im privaten Sektor
verbessern. Zum Beispiel dienen viele Energiesteuern einer umweltpolitischen
Lenkungsfunktion, indem sie den Einsatz knapper nat€urlicher Ressourcen oder
umweltschädigender Prozesse verteuern und somit verringern.
– Umverteilung: Steuerpolitik ist eines der Hauptinstrumente der staatlichen Vertei-
lungspolitik. Sie kann individuelle Einkommensungleichheit direkt durch die pro-
gressive Belastung großer Einkommen und Vermögen reduzieren oder indirekt durch
die Finanzierung umverteilender Ausgabenprogramme etwa der Sozialpolitik.
– Stabilisierung: Zusammen mit öffentlichen Ausgaben, Geldpolitik und Staats-
verschuldung kann die Steuerpolitik zur Stabilisierung des Konjunkturzyklus
beitragen.

3 Steuerarten

Regierungen unterscheiden sich nicht nur darin, welche relative Wichtigkeit sie den
drei Hauptzielen der Steuerpolitik zumessen, sondern auch in den Instrumenten, mit
welchen sie diese Ziele verfolgen. Gewöhnlich wird zwischen zwei Grundtypen von
Steuern unterschieden: direkten und indirekten Steuern.
Steuern in der Vergleichenden Politikwissenschaft 691

Direkte Steuern werden vom (nat€urlichen oder juristischen) Steuerpflichtigen


unmittelbar an den Staat entrichtet. Steuerschuldner (der gesetzlich Steuerpflichtige)
und Steuerzahler (der wirtschaftlich von der Steuer Belastete) sind identisch. Die
Höhe der Steuerlast ist zumeist einkommens- oder vermögensabhängig. Die wich-
tigste direkte Steuer ist die persönliche Einkommenssteuer, die auf das
Arbeits-, Kapital- oder anderes Einkommen einer Person bzw. eines Haushaltes
erhoben wird. Die Körperschaftssteuer, die Erbschaftssteuer, die Vermögenssteuer
und die Grundsteuer stellen weitere wichtige direkte Steuern dar. Ob auch Sozial-
abgaben als direkte Steuern zu werten sind, ist umstritten. Einerseits konstituieren
Sozialabgaben anders als Steuern einen Anspruch auf konkrete Gegenleistungen
wie z. B. Rentenzahlungen oder Gesundheitsdienstleistungen. Andererseits ist
der Zusammenhang zwischen Zahlung und Gegenleistung nicht streng proportional.
So können selbst B€urger in den Genuss abgabenfinanzierter Sozialleistungen
kommen, die niemals selbst Sozialabgaben gezahlt haben. Als zentrales Element
der staatlichen Umverteilungspolitik werden die Sozialabgaben deshalb in vielen
international vergleichenden Studien als Sonderform der direkten Besteuerung
klassifiziert.
Indirekte Steuern werden im Gegensatz zu direkten Steuern nicht von der Person
abgef€uhrt, die sie letztlich zahlen muss. Steuerpflicht und Steuerzahlung fallen
auseinander. Zu den wichtigsten indirekten Steuern gehören allgemeine Verbrauchs-
steuern wie die Mehrwertsteuer, sowie spezielle Verbrauchssteuern wie die Tabak-
oder Alkoholsteuer. Diese Steuern sind indirekt, weil sie den Käufer eines Guts oder
einer Dienstleistung belasten, aber vom Verkäufer abgef€uhrt werden. Die Höhe
indirekter Steuern hängt vom verkauften Produkt ab und nicht vom Einkommen
oder Vermögen des Steuerpflichtigen.
Eine weitere gängige Typologie unterscheidet Steuern nach ihrem vermeintlichen
distributiven Effekt. Hierbei wird die Einkommenssteuer als progressive Steuer
eingeordnet, da sie €ublicherweise einen progressiven Steuersatz mit einem Freibe-
trag kombiniert. Der effektive Steuersatz steigt deshalb mit wachsendem Einkom-
men € uberproportional an. Neben der Einkommenssteuer gelten auch Körperschafts-
steuern, Grund- und Vermögenssteuern als progressiv. Sozialabgaben werden
hingegen meist als proportional eingestuft, da sie mit einem Einheitssatz und ohne
bzw. mit sehr geringen Freibeträgen erhoben werden. Allerdings werden die Ein-
kommen häufig nur bis zu einer bestimmten Obergrenze proportional belastet.
Dar€uber hinaus zahlt der Pflichtige lediglich den fixen Höchstbetrag. Dies mindert
den Umverteilungseffekt und macht die Sozialabgaben tendenziell regressiv, da
Steuerzahler jenseits der Pflichtgrenze einen immer kleineren Prozentsatz ihres
Einkommens als Sozialabgaben entrichten m€ussen. Die Mehrwertsteuer und sonsti-
ge Verbrauchssteuern gelten €ublicherweise als regressiv, da Steuerzahler mit höhe-
rem Einkommen typischerweise einen geringeren Anteil ihres Einkommens f€ur
Konsum ausgeben.
Die theoretischen Grundlagen f€ur die Einteilung verschiedener Steuerarten nach
Umverteilungseffekt sind jedoch umstritten. Die Verteilungswirkung von Steuern
hängt sehr stark von den Inzidenzannahmen ab, also davon, mit welchen Über-
wälzungseffekten der Steuerlast gerechnet wird, wen man also f€ur den letztlich durch
692 P. Genschel et al.

die Steuer wirtschaftlich Belasteten hält. So nimmt beispielsweise das neoklassische


Standardmodell der kleinen offenen Volkswirtschaft an, dass eine Steuer auf mobiles
Kapitaleinkommen allein vom immobilen Faktor Arbeit getragen wird (Homburg
2010). Die gewöhnlich unterstellte Progressionswirkung von Kapitaleinkommen-
steuern w€urde dadurch zumindest gemindert. Auch die Gestaltung der Bemessungs-
grundlagen kann die Verteilungswirkung von Steuern beeinflussen. So gibt es
z. B. empirische Evidenz, dass die gemeinhin unterstellte Progressionswirkung
von Einkommensteuern nicht generell gegeben ist. Einkommensteuern können
sogar regressiv wirken (Ganghof 2007).

4 Steuerpolitische Trends seit den 1950er-Jahren

Welche Trends und Unterschiede gibt es in der Steuerpolitik westlicher Demokra-


tien? Welche Entwicklungen bestimmen die Steuerpolitik in nicht-westlichen Trans-
formationsökonomien und Entwicklungsländern?
Trotz wichtiger nationaler Besonderheiten (Peters 1991; Steinmo 1993) gibt es
grundlegende Gemeinsamkeiten in der steuerpolitischen Entwicklung westlicher
Nationen. So ist erstens das Steueraufkommen in allen OECD-Ländern in den ver-
gangenen 50 Jahren deutlich gestiegen. Wie Abb. 1 zeigt, wuchs der Anteil der
Steuereinnahmen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) von durchschnittlich 25 Prozent in

Abb.1 Die durchschnittliche Entwicklung der Steuereinnahmen und des Steuermixes in entwi-
ckelten Demokratien. Quelle: OECD Statistical Database (2013)
Steuern in der Vergleichenden Politikwissenschaft 693

den 1950er-Jahren auf u€ber 35 Prozent im Jahr 2011. In den skandinavischen


Ländern ist das Steueraufkommen am höchsten. Im Jahr 2010 betrug es zum
Beispiel in Dänemark 48 Prozent und in Schweden 45 Prozent des BIP. In den
angelsächsischen Ländern ist es dagegen besonders niedrig. 2010 lag es beispiels-
weise in den Vereinigten Staaten und in Australien mit jeweils 25 Prozent deutlich
unter dem OECD-Durchschnitt. Das Steueraufkommen in kontinentaleuropäischen
und mediterranen Ländern liegt zwischen diesen beiden Extremen.
Zweitens gibt es einen langfristigen Konvergenztrend im Steuermix westlicher
Demokratien. Wie aus Graphik 1 ersichtlich ist, beziehen die OECD Länder den
Großteil ihrer Steuereinnahmen aus drei Steuerarten: der persönlichen Einkommen-
steuer (Est), Sozialversicherungsbeiträgen (SozAbg) und der Mehrwertsteuer
(MwSt). Der Anteil dieser drei Steuern am Gesamtsteueraufkommen stieg im OECD
Durchschnitt von 45 Prozent im Jahr 1955 auf 70 Prozent im Jahr 2010. Im
Gegenzug verloren andere Steuern wie z. B. die speziellen Verbrauchssteuern
(VbSt) an fiskalischer Bedeutung. Wichtige Unterschiede im nationalen Steuermix
bleiben freilich bestehen. So erwirtschaften die angelsächsischen Länder in der
Regel mehr Einnahmen aus direkten Steuern und weniger aus der Mehrwertsteuer
und den Sozialbeiträgen als andere OECD-Staaten. Australien und Neuseeland
verzichten sogar vollkommen auf Sozialabgaben. Mittel- und s€udeuropäische Staa-
ten wie Belgien, die Niederlande, Deutschland, Frankreich oder Portugal sind
hingegen € uberproportional stark auf Sozialbeiträge angewiesen. Ihre Einnahmen
aus direkten Steuern liegen dagegen unter dem OECD Durchschnitt. Die nordischen
Länder schließlich beziehen einen besonders hohen Anteil ihres Steuerertrages aus
der persönlichen Einkommensteuer (aber nicht der Körperschaftsteuer) und der
Mehrwertsteuer, während ihre Sozialabgaben vergleichsweise gering ausfallen.
Dänemark ist ein extremer Fall: im Jahr 2010 stammten 60 Prozent des gesamten
Steuereinkommens aus der Einkommensteuer und 30 Prozent aus der Mehrwert-
steuer, jedoch lediglich zwei Prozent aus den Sozialbeiträgen.
Auch das Design der wichtigsten Steuern unterliegt ähnlichen Entwicklungs-
trends. Dazu gehört beispielsweise die allgemeine Reduzierung der Einkommen-
steuersätze. Der Spitzensatz fiel im OECD-Durchschnitt von 70 Prozent im Jahr
1975 (in Großbritannien und Japan lagen die Sätze sogar €uber 90 Prozent) auf unter
42 Prozent im Jahr 2010 (OECD 2013). Gleichzeitig wandten sich viele Regie-
rungen vom Prinzip der synthetischen Einkommensteuer ab und f€uhrten analytische
Elemente in die Einkommensteuer ein (Ganghof 2006). Die synthetische Einkom-
mensteuer fasst das Einkommen, welches dem Steuerpflichtigen aus verschiedenen
Quellen (Lohneinkommen, Erträge aus Kapitalvermögen, Vermietung und Verpach-
tung, Eink€unfte aus Gewerbebetrieb und selbständiger Beschäftigung) zufließt, zu
einem Gesamteinkommen zusammen, auf welches dann ein einheitlicher, in der
Regel progressiver Satz angewendet wird. Eine analytische Einkommensteuer
(„Schedulensteuer“) dagegen besteuert das Einkommen getrennt nach Einkommens-
art mit unterschiedlichen Sätzen. Die Ermittlung eines Gesamteinkommens unter-
bleibt. Das Leistungsfähigkeitsprinzip wird dadurch aufgeweicht.
Ein bekanntes Beispiel analytischer Einkommensbesteuerung ist die nordische
duale Einkommensteuer. In den 1990er-Jahren in Schweden, Norwegen und
694 P. Genschel et al.

Finnland eingef€ uhrt, unterwirft sie Lohneinkommen einer progressiven Besteuerung


mit hohem Spitzensatz und belastet Kapitaleinkommen separat davon mit einem
niedrigen proportionalen Satz. Ein anderes Beispiel sind Abgeltungssteuern auf
Kapitalerträge, mit denen Zinseink€unfte außerhalb der progressiven Einkommen-
steuer mit niedrigem proportionalem Satz erfasst werden. Während 1985 lediglich
zwei (von 22) OECD-Ländern eine Abgeltungssteuer hatten, waren es 2007 bereits
zehn Länder, einschließlich Deutschlands (Genschel und Schwarz 2013, S. 67). Im
Gleichschritt mit den Einkommensteuersätzen sanken auch die Spitzensätze der
Unternehmensbesteuerung. Viele Regierungen erweiterten gleichzeitig jedoch die
Bemessungsgrundlage. Abschreibungsmöglichkeiten und andere Steuerverg€uns-
tigungen wurden eingeschränkt, so dass die Körperschaftsteuereinnahmen (KöSt)
trotz gesunkener Steuersätze weitgehend stabil blieben. Der dominante Trend im
Bereich der indirekten Steuern ist die Ausweitung der Mehrwertsteuer, die seit den
1970er-Jahren zunehmend andere Arten der Umsatzsteuern ersetzte. Mit Ausnahme
der USA haben heute alle OECD-Länder eine Mehrwertsteuer.
Die Entwicklung der Steuersysteme außerhalb der OECD ist weniger systema-
tisch erforscht und aufgrund historischer, politischer und entwicklungsbedingter
Unterschiede auch heterogener. Im Bereich der indirekten Steuern gibt es freilich
denselben generellen Trend zur Mehrwertsteuer wie im OECD-Raum auch. Im
Bereich der direkten Steuern beobachten wir ein Vordringen von Einheitssteuern
(„Flat Taxes“) in Transformationsökonomien. Die Einheitssteuer ist eine Form der
Einkommensteuer, die jegliches Einkommen – unabhängig von der Quelle – einem
einheitlichen proportionalen Satz unterwirft. Da die Einheitssteuer in der Regel mit
einem weitgehenden Verzicht auf Freibeträge und andere Steuerverg€unstigungen
einhergeht, ist ihr Verwaltungsaufwand gering. Der Verzicht auf die Steuersatzpro-
gression mindert allerdings auch ihr Umverteilungspotential. Und die Orientierung
des Einheitssatzes an der steuersensibelsten Einkommensquelle (Kapital und/oder
das Arbeitseinkommen selbständiger Kleingewerbetreibende) mindert das Aufkom-
menspotential. Die Einheitssteuer ist insbesondere in Osteuropa und Zentralasien
weit verbreitet. Die baltischen Staaten waren in den 1990er-Jahren Vorreiter der
Entwicklung. Heute werden Einheitssteuern aber auch in Ländern anderer Welt-
regionen erhoben, so z. B. in Saudi-Arabien, Bolivien und Madagaskar.
Die Gruppe der am wenigsten entwickelten Länder (least developed countries)
bezieht tendenziell einen größeren Teil ihrer öffentlichen Einnahmen aus nicht-
steuerlichen Quellen als Transformationsökonomien oder die westlichen Industrie-
staaten. Dies trägt zu einem im internationalen Vergleich sehr niedrigeren
Steueraufkommen bei. Mit rund 18 Prozent des BIP liegt es bei nur der Hälfte des
durchschnittlichen Einnahmeniveaus westlicher Industriestaaten (Tanzi und Zee
2001). Der Steuermix ist durch eine starke Betonung indirekter Steuern und insbe-
sondere spezieller Verbrauchssteuern und Zölle gekennzeichnet. Der Anteil indirek-
ter Steuern am Gesamtsteueraufkommen liegt rund doppelt so hoch wie in den
Industrieländern. Verschiedene Faktoren helfen, diese Eigenheiten zu erklären.
Erstens arbeiten viele Menschen in Entwicklungsländern auf Subsistenzniveau und
haben kaum eigenes Einkommen. Zweitens, wird ein großer Anteil des Einkommens
im informellen Sektor erwirtschaftet und entgeht somit der Einkommensbesteuerung.
Steuern in der Vergleichenden Politikwissenschaft 695

Auch ein relativ großer Anteil des Konsums wird im informellen Sektor oder von
Kleinunternehmern mit unterentwickelter Buchhaltung abgewickelt. Drittens, ver-
ugen die meisten Entwicklungsländer nur €uber geringe Verwaltungsressourcen.
f€
Dies erschwert die effektive Erhebung komplexer Steuern wie der Einkommens-
oder der Mehrwertsteuer und verlagert einen Großteil des Steueraufkommens auf
einfacher zu besteuernde Transaktionen wie die Ein- und Ausfuhr von Waren. Neben
der geringeren administrativen Kapazität Steuern zu erheben, besteht in vielen Ent-
wicklungsländern auch stärkerer Widerstand in der Bevölkerung Steuern zu bezah-
len. Aufgrund von Korruption und einem geringen Angebot an öffentlichen G€utern
existiert weniger Vertrauen in die Regierung die erhobenen Steuern im Sinne des
Gemeinwohls zu verwenden.

5 Bestimmungsfaktoren der Steuerpolitik

Das Steueraufkommen, der Steuermix und das Steuerdesign werden von verschiede-
nen nationalen und internationalen Faktoren beeinflusst. Dazu gehören das Niveau
öffentlicher Ausgaben, die administrativen Kapazitäten des Staates, politische Insti-
tutionen und parteipolitische Prozesse, sowie internationale Institutionen und grenz-
€uberschreitende Lernprozesse und Wettbewerbsdynamiken.
Die Staatsausgaben sind in den letzten 50 Jahren schneller gestiegen als die
Steuereinnahmen. In der OECD wuchsen sie von durchschnittlich 27 Prozent des
BIP im Jahr 1950 auf 45 Prozent 2005. Die Haupttriebkraft f€ur diesen Anstieg war
der Ausbau des Wohlfahrtsstaates. Die Sozialausgaben beanspruchen inzwischen
mehr als 50 Prozent des öffentlichen Haushaltes entwickelter Demokratien. Zwi-
schenstaatliche Unterschiede im Steueraufkommen werden fast vollständig durch
zwischenstaatliche Unterschiede bei den Sozialausgaben erklärt. Der wesentliche
Unterschied zwischen Hoch- und Niedrigsteuerländern besteht mit anderen Worten
in der Größe ihres Wohlfahrtsstaates. Auch wenn der enge Zusammenhang zwischen
Steuereinnahmen und Sozialausgaben weitgehend unbestritten ist, ist die Richtung
der Beeinflussung weniger eindeutig. Einige Autoren argumentieren, dass hohe
Steuereinnahmen und ein leistungsfähiges Steuersystems die Voraussetzung f€ur
den Aufbau eines großen Wohlfahrtsstaats sind und diesem historisch vorausgehen
(Kato 2003). Andere hingegen sind der entgegensetzten Meinung und sehen in
hohen Steuern die notwendige Folge anschwellender Sozialabgaben (Lindert 2004).
Die administrativen Kapazitäten des Staates beeinflussen neben dem allgemeinen
Steueraufkommen auch den Steuermix und das Steuerdesign (Peters 1991). Tradi-
tionelle Steuern wie Straßenbenutzungsgeb€uhren, Zölle, spezielle Verbrauchssteuern
oder Grundsteuern sind relativ leicht zu €uberwachen und einzutreiben. Einige dieser
Steuern, insbesondere Zölle, gelten jedoch aus ökonomischer Sicht als wettbewerbs-
verzerrend und ineffizient. Mit wachsender administrativer Kompetenz stellten die
westlichen Länder ihre Steuersysteme deshalb auf breitere Bemessungsgrundlagen
um. Im Bereich der indirekten Steuern wurden Geb€uhren, Zölle und spezielle Ver-
brauchsteuern seit den 1920er-Jahren durch allgemeine Umsatzsteuern und seit den
1960ern durch eine allgemeine Mehrwertsteuer ergänzt und verdrängt. Im Bereich
696 P. Genschel et al.

der direkten Steuern ermöglichte der Ausbau der Steuerverwaltung die Abkehr von
Grund- und Vermögenssteuern hin zur allgemeinen Einkommensbesteuerung. Die
Einf€uhrung und Ausbreitung des Quellenabzugsverfahrens seit den 1940er-Jahren
erleichterte die Einbeziehung niedriger Einkommen ins Einkommensteuersystem
und beförderte die Umwandlung der Einkommensteuer von einer Klassen- in eine
Massensteuer. Beim Quellenabzugsverfahren wird die Einkommensteuerschuld von
Arbeitern und Angestellten direkt an der Quelle vom Arbeitgeber einbehalten und an
den Staat abgef€ uhrt und nicht durch die Steuerpflichtigen selbst entrichtet. Viele
Eigenarten der Besteuerung in Nicht-OECD Ländern wie z. B. die bereits erwähnte
Verbreitung von Einheitssteuern in Transitionsländern oder die starke Rolle von
Zöllen und speziellen Verbrauchssteuern in Entwicklungsländern lassen sich durch
mangelnde administrative Kapazitäten in der Steuerverwaltung erklären.
Steuern sind ein zentrales wirtschafts- und verteilungspolitisches Thema. Nach
einer traditionellen Daumenregel stehen linke oder sozialdemokratische Parteien f€ur
hohe und progressive Steuern, da ihre Wähler eher der unteren Hälfte der Ein-
kommensverteilung angehören. Hingegen repräsentieren konservative Parteien eher
die reiche Hälfte der Bevölkerung, weshalb diese einen Staat mit niedrigerer Steu-
erlast und weniger umverteilenden Steuern bevorzugen (Wilensky 2002). Dieser
Regel folgend sollte man in Ländern mit hoher Einkommensungleichheit wie in den
Vereinigten Staaten eine linkere Steuerpolitik erwarten.
Jedoch gibt es viele andere Faktoren, die diese einfache Logik abschwächen oder
sogar umkehren können. Erstens ist der Parteienwettbewerb mehrdimensional und
basiert nicht nur auf Steuerpräferenzen, was den Effekt der Einkommensverteilung
auf die Steuerpolitik abschwächt. Zweitens ist es möglich, dass gerade linke Parteien
vor hohen progressiven Steuern aufgrund möglicher negativer makroökonomischer
Auswirkungen zur€uckschrecken. Lieber nehmen sie relativ regressive Steuern in
Kauf, als auf kostspielige Umverteilungsprogramme auf der Ausgabenseite verzich-
ten zu m€ussen.
Auch institutionelle Faktoren bestimmen den Einfluss parteipolitischer Präferen-
zen. Konsens-Demokratien, Verhältniswahlsysteme und Koalitionsregierungen, sowie
starke Interessengruppen schwächen tendenziell den Einfluss von traditioneller
Parteienpolitik. Mehrheitsdemokratien und Einparteienregierungen verstärken ihn.
Angeblich ist dies der Grund, warum angelsächsische Mehrheitsdemokratien wie die
USA einen größeren Teil ihres Steueraukommens durch Einkommen- und Körper-
schaftsteuern realisieren als die eher konsensuellen Demokratien in Skandinavien
und Kontinentaleuropa (z. B. Hays 2009).
Die Forschung hat bislang €uberwiegend Steuerentscheidungen in demokratischen
Systemen untersucht. Wenig Beachtung hat dabei die Rolle von autokratischen
Regimen gefunden, obwohl in vielen Ländern der Welt keine demokratisch legiti-
mierten Steuerentscheidungen getroffen werden. Autokratische Regierungen unter-
scheiden sich in einigen essentiellen Aspekten. So können Diktaturen Steuern unter
Gewaltandrohung eintreiben, was zu der Vermutung f€uhrte, dass Autokratien in
Entwicklungsländern höhere Steuereinnahmen erzielen können als Demokratien.
Dies ist jedoch widerlegt (Cheibub 1998). Neuere Forschung geht davon aus, dass
Demokratien im Vorteil sind, da diese mit mehr Vertrauen seitens der Bevölkerung
Steuern in der Vergleichenden Politikwissenschaft 697

rechnen können und daher weniger Steuern hinterzogen werden (Levi 2006). Dies
gilt auch f€
ur internationale Investoren: so m€ussen autokratische Regierungen höhere
Steueranreize setzen als Demokratien, um ausländisches Kapital ins Land zu locken
(Genschel et al. 2013; Li 2006).
Des Weiteren beeinflussen internationale Faktoren die nationale Steuerpolitik
(Ganghof 2006; Genschel 2012; Rixen 2008; Swank 2006). Zum einen spielt die
Ideendiffusion zwischen Staaten eine wichtige Rolle. So zog die große amerika-
nische Steuerreform 1986 eine Welle neoliberaler Reformen in anderen Ländern
nach sich, die das US-Modell imitierten. Ein solches Nachahmen und Lernen von
Staaten stellt einen Erklärungsansatz f€ur den Trend hin zu niedrigeren Einkommen-
steuerspitzensätzen dar (Swank 2006).
Zum anderen sind nationale Regierungen durch den internationalen Steuerwett-
bewerb in ihrer Handlungsfreiheit eingeschränkt. Dieser hat die Senkung der Kör-
perschaftsteuersätze seit den 1980er-Jahren massiv vorangetrieben (Ganghof 2006).
Steuerwettbewerb betrifft kleinere Staaten in zweifacher Hinsicht mehr als große:
wenn sie hohe Unternehmenssteuern beibehalten, verlieren sie durch Steuerflucht
einen relativ größeren Anteil ihrer Steuerbasis. Wenn sie die Steuern jedoch senken,
profitieren sie stärker, da sie aus den größeren Nachbarländern potentiell eine relativ
größere Steuerbasis anlocken können. Irland hat zum Beispiel einen recht aggressi-
ven Steuerwettbewerb betrieben, um sein Wirtschaftswachstum anzukurbeln.
Dar€
uber hinaus können internationale Organisationen einen maßgeblichen Ein-
fluss auf nationale Steuerpolitiken aus€uben. Die Europäische Union (EU) schränkt
beispielsweise die Steuerpolitik ihrer Mitgliedstaaten in mehrere Hinsicht ein: Sie
gibt eine Unter- und eine Obergrenze f€ur die Mehrwertsteuer vor und auch der
Europäische Gerichtshof nimmt €uber Gerichtsurteile indirekt Einfluss auf Steuerent-
scheidungen (Genschel und Jachtenfuchs 2011). Der Einfluss anderer internationaler
Organisationen ist subtiler. So versucht die WTO internationale Normen f€ur die
Handelsbesteuerung zu etablieren und die OECD bietet unter anderem Standardver-
träge f€
ur bilaterale Doppelbesteuerungsabkommen an.

6 Auswirkungen nationaler Steuerpolitik

Während wir im ersten Absatz die theoretischen Ziele von Steuern erläutert haben,
sind die tatsächlichen Auswirkungen auf die Ressourcenallokation, die Umvertei-
lung und das Wachstum eine empirische Frage. Die Bereitstellung öffentlicher G€uter
durch den Staat ist weitgehend unumstritten. Ob eine Regierung generell die nötigen
Mittel hierf€
ur erheben kann, ist nicht steuerspezifisch, sondern eher abhängig von
der allgemeinen administrativen Kapazität und dem Entwicklungsniveau des Staa-
tes. Die Auswirkungen von Steuern auf das Wirtschaftswachstum und auf die Ein-
kommensverteilung im Land werden hingegen wesentlich stärker diskutiert.
Ein steuerpolitisches Ziel ist die Reduzierung der nationalen Einkommensun-
gleichheit. Dies kann direkt durch progressive Besteuerung des Primäreinkommens
geschehen oder indirekt durch die Verwendung des Steueraufkommens f€ur (umver-
teilende) Sozialausgaben. Etablierte Demokratien verwenden €ublicherweise beide
698 P. Genschel et al.

Instrumente. Allerdings erreichen sie im Allgemeinen eine stärkere Ungleichheits-


reduktion durch die Ausgabenseite und nicht durch eine progressive Besteuerung
(Kenworthy 2008). Diese beiden Strategien haben jedoch nicht die gleiche Ver-
teilungswirkung, sondern setzen an unterschiedlichen Perzentilen der Einkommens-
verteilung an. Sozialausgaben sind ein gutes Mittel zur Armutsvermeidung, da
Menschen am unteren Rande der Einkommensverteilung kaum versteuerbare Ein-
kommen besitzen. Dies sagt jedoch nichts dar€uber aus, ob die mittlere oder die obere
Schicht der Einkommensverteilung die Last f€ur die Sozialausgaben und f€ur die
Bereitstellung öffentlicher G€uter schultert. Um die Einkommensungleichheit zwi-
schen mittlerem und oberem Drittel der Verteilung zu senken, ist daher ein pro-
gressives Steuersystem das bessere Instrument.
Die gleichzeitige Kombination eines progressiven Steuersystems mit umvertei-
lenden Staatsausgaben gestaltet sich allerdings aus politischer und ökonomischer
Sicht schwierig. Ein progressives Steuersystem verlagert einen Großteil der Steuer-
last auf reiche Steuerzahler und insbesondere auf Kapitaleinkommen, da Personen
mit höherem Einkommen einen relativ größeren Anteil desselben aus Kapitalver-
mögen beziehen. Diese Art der Besteuerung wird als wirtschaftlich ineffizient ange-
sehen, da sie die Anreize senkt zu sparen, zu investieren und zu arbeiten. Sie ist
weiterhin politisch problematisch, da sie die Zustimmung der Oberschicht und Teile
der Mittelschicht zum Wohlfahrtsstaat untergräbt. Dies mag erklären, warum Länder
wie die USA, deren Steuersysteme relativ progressiv sind, niedrigere Sozialausgaben
haben. Und warum Länder mit vergleichsweise hohen Sozialausgaben wie Schweden
oder Deutschland diese durch regressive Mehrwertsteuern oder hohe Sozialabgaben
finanzieren und Kapital nur sehr gering belasten. Diese Steuerstruktur reduziert den
Effizienzverlust des Steuersystems, mindert den politischen Widerstand der oberen
Hälfte der Einkommensbezieher gegen den Wohlfahrtsstaat und erlaubt somit insge-
samt höhere Steuereinnahmen und Staatsausgaben (Wilensky 2002).
Ein weiteres steuerpolitisches Ziel ist es, wirtschaftliche Anreize zu geben und
konjunkturelle Schwankungen auszugleichen. Wie Steuern die Wirtschaft am besten
unterst€utzen, ist jedoch umstritten. Der aktuellen orthodoxen Wirtschaftstheorie
zufolge sind insbesondere niedrigere Steuern ausschlaggebend f€ur ein hohes Wirt-
schaftswachstum. Die Grundidee liegt hierbei darin, dass Steuern generell wettbe-
werbsverzerrend sind und daher vermieden werden sollten. Umso höher die Steuer-
last ist, desto geringer ist der Anreiz Arbeit aufzunehmen, Kapital wieder zu
investieren oder zu sparen. Nichtsdestotrotz, gibt es wenig empirische Evidenz f€ur
den postulierten negativen Zusammenhang zwischen Steuern und Wachstum.
Hochsteuerländer wachsen nicht automatisch langsamer als Niedrigsteuerländer.
Einige Wissenschaftler argumentieren (Lindert 2004), dass Hochsteuerländer wie
die Skandinavischen einen wachstumsfreundlicheren Steuermix haben, da sie relativ
mehr auf indirekte Steuerquellen setzten. Diese Art des Steuermixes ist weniger
wachstumshemmend, da er weniger negative Anreize f€ur Arbeit und Investitionen
setzt. Heterodoxe Ökonomen heben dagegen hervor, dass direkte und progressive
Steuern eine stabilisierende Wirtschaftsfunktion annehmen. Demnach stimulieren
progressive Steuersysteme die Wirtschaft, da Geringverdiener eine größere margi-
nale Konsumneigung haben als Besserverdiener (Keynes 2009). Außerdem dienen
Steuern in der Vergleichenden Politikwissenschaft 699

progressive Einkommenssteuern als sogenannte automatische Stabilisatoren


(Pechman 1977). In Zeiten der Rezession fangen sie den starken Einkommensr€uckfall
ab, erlauben eine antizyklische Konjunkturpolitik und schwächen somit einen
Einbruch der Wirtschaft ab. Aus dieser Perspektive heraus sind beispielsweise
skandinavische Steuersysteme nicht wachstumsfreundlich aufgrund ihres regressi-
veren Steuermixes, sondern aufgrund ihrer stabilisierenden Funktion, die durch eine
hohe Steuerquote und progressive Steuern entsteht.

7 Fazit

Moderne Steuerpolitik verfolgt in der Regel drei Ziele: Ressourcenallokation,


Umverteilung und die Stabilisierung der Wirtschaft. Inwieweit Regierungen diese
drei Ziele gleichermaßen verfolgen, ist jedoch €uber Zeit und Raum sehr unterschied-
lich. Entwickelte Demokratien erreichen tendenziell ein höheres Steueraufkommen
als Entwicklungsländer. Dar€uber hinaus unterscheidet sich auch der Steuermix:
während reiche OECD-Länder einen großen Anteil ihres Steueraufkommens aus
direkten Steuer beziehen, liegt in weniger entwickelten Ländern die Betonung auf
indirekten Steuern und auf Zöllen. Allerdings hat sich auch der Steuermix entwickel-
ter Demokratien in den letzten Jahrzehnten gewandelt. Obwohl weiterhin eine pro-
gressive Einkommensbesteuerung weit verbreitet ist, ist der durchschnittliche
OECD-Spitzeneinkommenssteuersatz in den letzten 30 Jahren erheblich gesunken;
viele Transformationsländer haben sich sogar f€ur einen Einheitssteuersatz entschie-
den. Eine Anzahl politischer und wirtschaftlicher Variablen wie zum Beispiel der
internationale Steuerwettbewerb haben diese steuerpolitischen Entwicklungen maß-
geblichen beeinflusst. Jedoch beeinflussen diese Faktoren nicht nur Politikentschei-
dungen, sondern nationale Steuerpolitik hat ihrerseits eine erhebliche R€uckwirkung
auf sozioökonomische Entwicklungen wie Wachstum und Umverteilung.

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Berkeley: University of California Press.
Staatsfinanzen in der Vergleichenden
Politikwissenschaft

Uwe Wagschal

Zusammenfassung
Ausgehend von den unterschiedlichen Theorien der vergleichenden Policy-
Forschung werden in dem Beitrag die wichtigsten Bestimmungsgr€unde der Staats-
finanzen diskutiert. Der Beitrag beschäftigt sich dabei mit den Staatseinnahmen,
den Staatsausgaben, der Staatsverschuldung sowie der Haushaltskonsolidierung.
Als besonders erklärungskräftig f€ur alle Bereiche der Staatsfinanzen erweisen sich
sozioökonomische Faktoren. Aber auch politische Faktoren, wie die parteipoliti-
sche Zusammensetzung von Regierungen sowie institutionelle Besonderheiten
leisten einen Beitrag zur Erklärung der unterschiedlichen Varianz.

Schlüsselwörter
Steuern • Staatsausgaben • Staatsverschuldung • Haushaltskonsolidierung •
Steuerwettbewerb

1 Einleitung

Die Analyse öffentlicher Finanzen aus einer vergleichend politikwissenschaftlichen


Perspektive unterscheidet sich in wesentlichen Punkten von der traditionellen öko-
nomischen Analyse öffentlicher Finanzen. Während die Finanzwissenschaft zu-
nächst sehr dogmenhistorisch in verschiedene Schulen unterteilt werden konnte
(z. B. Merkantilismus, Kameralismus, Klassik, Neoklassik, deutsche Finanzklassik,
Keynesianismus und Monetarismus) und in weiten Teilen auch meist deskriptiv
vorging (z. B. in der Darstellung öffentlicher G€uter, externer Effekte und der Be-
schreibung von Steuern) hat sich die moderne Finanzwissenschaft methodisch und

U. Wagschal (*)
Professor f€ur Vergleichende Regierungslehre, Seminar f€
ur Wissenschaftliche Politik, Universität
Freiburg, Freiburg, Deutschland
E-Mail: uwe.wagschal@politik.uni-freiburg.de

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 701


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_53
702 U. Wagschal

theoretisch stark ausdifferenziert und weiter entwickelt. Die neuere Finanzwissen-


schaft verwendet – wie der Mainstream der Volkswirtschaftslehre – mathematische
Partialanalysen sowie ökonometrische Untersuchungsmethoden, je nach Erkenntnis-
interesse. Mit dem Aufkommen des Public Choice Ansatzes und der politischen
Ökonomie sind in der Finanzwissenschaft auch politische und institutionelle Fakto-
ren stärker in den Blickpunkt geraten. Beispielhaft können hierf€ur die Lehrb€ucher
von Blankart (2008) sowie Persson und Tabellini (2000) gelten, die sich in weiten
Teilen mit den Einfl€ussen von Wahlen, des demokratischen Wettbewerbs von Par-
teien oder auch den Einfluss von Institutionen und Regeln auf die Staatsfinanzen
beschäftigen (vgl. Frey 1977). In der Politikwissenschaft bestehen zu diesem Ansatz
eine hohe Kompatibilität und enge Überlappungen, wenngleich es auch Unterschie-
de gibt, etwa in der Bewertung und Analyse von Institutionen und Parteien. Grund-
legend ähnlich ist der empirisch-positivistische Zugang.
Untersuchungsmethoden zur Analyse der öffentlichen Finanzen sind dabei in der
Regel ökonometrisch-statistische Verfahren. Das Theorieangebot zur Erklärung der
unterschiedlichen Niveaus und der Struktur der jeweils abhängigen Variablen speist
sich aus einem Set unterschiedlicher Zugänge, die dann zumeist in kausalanalyti-
schen Modellen gemeinsam untersucht werden. Die wichtigsten politikwissenschaft-
lichen Theorien sind dabei:

1. Die Theorie sozioökonomischer Determinanten begreift die Staatstätigkeit als


Reaktion auf strukturelle, gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen
(Wilensky 1975). Eine zentrale Hypothese ist dabei, dass ein hoher sozioökono-
mischer Problemdruck, also etwa hohe Arbeitslosigkeit und nachlassendes Wirt-
schaftswachstum, den Handlungsdruck f€ur eine Veränderung der fiskalpoliti-
schen Outcomes und Instrumente anwachsen lässt.
2. Die Parteiendifferenztheorie (Hibbs 1977; Schmidt 1982; Tufte 1978; Castles
1982) bildet eine der politikwissenschaftlichen Schl€usseltheorien zur Erklärung
von Staatstätigkeiten. Parteien unterschiedlicher Couleur, so die Basisannahme,
rufen einen unterschiedlichen Output der Staatstätigkeit, hier der Steuerpolitik,
hervor. Linke Parteien neigen zu einem eher umfangreichen Steuerstaat, während
konservative Parteien diesen begrenzen, so eine der zentralen Hypothesen.
3. Die Theorie der Machtressourcen (Korpi 1980; Esping-Andersen 1990) organi-
sierter Interessen ist eng mit der Parteiendifferenztheorie verwandt, doch bezieht
sie neben den Regierungsparteien zusätzliche Akteure mit in die Analyse ein und
fragt nach dem Einfluss von z. B. Gewerkschaften und anderen Interessengrup-
pen auf die Steuer- und Ausgabenpolitik.
4. Die politisch-institutionalistische Theorie zeichnet sich selbst durch eine Vielzahl
von – mitunter konkurrierenden – Theoriesträngen aus. Innerhalb der Politik-
wissenschaft gehört die Institutionenlehre und -forschung zu den ältesten Sub-
disziplinen. Institutionen können das Ergebnis der Staatstätigkeit prägen, da
Akteure in einem gewissen Institutionenrahmen handeln und entsprechend viel
oder wenig viel Spielraum erhalten. Eine zentrale Frage ist: Welche Institutionen
befördern Reformen der öffentlichen Finanzen und welche behindern sie? Diese
Fragen f€ uhren zu einer Diskussion, ob Institutionen in einer kausale Faktoren
Staatsfinanzen in der Vergleichenden Politikwissenschaft 703

darstellen können oder nur einen intervenierenden Charakter im Sinne von Rand-
bedingungen haben. Überwiegender Konsens in der theoretischen Literatur ist,
dass Institutionen keinen eigenständigen kausalen Erklärungsfaktor konstituieren
(Weaver und Rockman 1993; Scharpf 2000).
5. Eine weitere Schule beschäftigt sich mit den Wirkungen der Globalisierung und
der Intensivierung internationaler Wirtschaftsströme. Eine typische Fragestellung
dieser Schule ist: Inwieweit f€uhrt Globalisierung – €uber den zunehmenden
Anpassungsdruck und Wettbewerb der Nationalstaaten – zu mehr Steuerrefor-
men? Gibt es etwa ein „race to the bottom“ (Peterson 1995), in dem Steuerein-
nahmen wegbrechen, weil international mobiles Steuersubstrat sich dorthin ori-
entiert, wo die geringste Besteuerung herrscht?
6. Die These der Erblast (Policy-Inheritance) verweist darauf, dass der Handlungs-
spielraum der Regierungen durch die Erblasten aus der Vergangenheit stark
eingeschränkt ist (Rose und Davies 1994). Durch Gesetze, Programmentschei-
dungen und die Staatstätigkeit aus fr€uheren Zeiten (z. B. Staatsverschuldung)
bleiben nur noch wenige Wahlmöglichkeiten. Rose und Karran (1987) haben aus
diesem Blickwinkel die Frage untersucht, wie und in welchem Ausmaß sich
Steuersysteme verändert haben.

Im Folgenden werden f€ur vier Bereiche der öffentlichen Finanzen – Einnahmen,


Ausgaben, Staatsverschuldung sowie Haushaltskonsolidierung – die wichtigsten
Determinanten zur Erklärung der jeweiligen Varianz im internationalen Vergleich
präsentiert, wobei politikwissenschaftliche Erklärungsansätze der Policy-Forschung
sowie der Politischen Ökonomie verwendet werden.

2 Die Einnahmen des Staates

Die Einnahmen des Staates speisen sich aus Steuereinnahmen, Sozialversicherungs-


abgaben, der Nettokreditaufnahme sowie sonstigen Einnahmen. Zu den sonstigen
Einnahmen zählen Verwaltungseinnahmen (z. B. Geb€uhren und Entgelte), Einnah-
men aus wirtschaftlicher Tätigkeit und Vermögen und Erlöse aus Vermögensver-
äußerung (z. B. Privatisierung und Versteigerung von Lizenzen). Was treibt die
Steuerpolitik an? Auf Basis des internationalen und nationalen Vergleichs lassen
sich verschiedene Faktoren identifizieren (Muscheid 1986; Ganghof 2004; Wagschal
2005). Neben dem sozioökonomischen Problemdruck (z. B. der Senioren- oder
Arbeitslosenquote) als Haupterklärungsgröße gibt es eine eindeutige Beziehung
zur parteipolitischen Färbung von Regierungen (Peters 1991; Castles 1998; Wag-
schal 2005). Dabei f€uhren beispielsweise Linksparteien an der Regierung zu einer
höheren Abgabenquote, während diese unter konservativen Parteien niedriger ist. In
Deutschland lässt sich dies im Längsschnitt-Vergleich jedoch nur schwach zeigen,
weil auch CDU/CSU als „Sozialstaatsparteien“ f€ur eine vergleichsweise hohe Staats-
tätigkeit eintreten.
Neben den Unterschieden bei den Besteuerungsniveaus zeigen sich auf vielfältige
Weise auch Parteieneffekte bei der Besteuerungsstruktur. Evident ist der Einfluss auf
704 U. Wagschal

den Umfang der Sozialversicherungsabgaben, dem hervorstechenden Merkmal der


christdemokratischen „Besteuerungswelt“ (Wagschal 2005). Bemerkenswert ist
auch die Privilegierung der Institution Familie durch die christdemokratischen Par-
teien in den jeweiligen Steuersystemen. Vergleicht man beispielsweise die
Besteuerungsdifferenz zwischen Verheirateten und Singles mit einem identischen
Einkommen, dann existiert eine recht starke Beziehung mit dem langfristigen christ-
demokratischen Regierungsanteil, d. h. je stärker Christdemokraten an der Regierung
beteiligt waren, desto stärker wird der Familienstatus bei der Besteuerung bevorteilt.
Und gerade die Bundesrepublik privilegiert mit ihrem Steuersystem die Familien mit
Kindern im internationalen Vergleich mit am stärksten, mit negativen Anreizeffekten
auf die Erwerbstätigkeit von Frauen. Sozialdemokratische Regierungen haben im
Vergleich zu anderen Parteienfamilien eine höhere Besteuerung, insbesondere des
Einkommens und Vermögens hervorgebracht.
Es zeigt sich €uberdies, dass die institutionelle Struktur, vor allem die Zahl der
Vetospieler (Tsebelis 2002) f€ur das Niveau der Besteuerung relevant ist. Je höher die
Zahl der Vetospieler, desto geringer sind tendenziell die Gesamtabgaben. In der
Bundesrepublik kann vor allem der Bundesbank, dem Föderalismus, dem starken
Bikameralismus sowie – mit Abstrichen – der Verfassungsgerichtsbarkeit ein brem-
sender Effekt zugeschrieben werden. Das Besteuerungsniveau kann ebenfalls durch
weitere politisch-institutionelle Faktoren mit erklärt werden, wie etwa dem Korpo-
ratismus oder der Fragmentierung des politischen Systems.
Die Europäische Union €ubt nur im Bereich der indirekten Steuern sowie bei den
Zöllen einen Einfluss aus (Genschel 2002). Zwar gibt es Bestrebungen, die Kompe-
tenzen auch f€ ur direkte Steuern zu erweitern, diese scheitern aber am Einstimmig-
keitsprinzip und der Weigerung der Nationalstaaten, hier die Harmonisierung weiter
voranzutreiben – etwa bei den Bemessungsgrundlagen f€ur die Unternehmenssteuern.
Im Zuge der negativen Integration kann jedoch vor allem dem Europäischen
Gerichtshof verstärkte steuerpolitische Einflussnahme, sogar bei den direkten Steu-
ern, attestiert werden.
Der internationale Steuerwettbewerb, der durch die Globalisierung verschärft
wird, f€uhrte nicht zu einem „race to the bottom“. Trotz sinkender Steuersätze bei
den Einkommen- und Körperschaftsteuern ging das Steueraufkommen nicht zur€uck,
weil die Steuerbemessungsgrundlagen gleichzeitig verbreitert wurden. Das Schei-
tern der Hypothese von der Steuerabwärtsspirale lässt sich aus einer politisch-
ökonomischen Perspektive gut erklären: Es m€ussen auch die Präferenzen der Wähler
f€ur öffentliche Leistungen ber€ucksichtigt werden, die oft eher auf „Mehr“ als auf
„Weniger“ gestellt sind.

3 Die Ausgaben des Staates

Im Gegensatz zur Analyse der Einnahmen und der Staatsverschuldung, die erst
später in den Mittelpunkt empirischer polit-ökonomischer Analysen gelangten,
standen die Staatsausgaben, was Struktur und Niveau anbelangt, mehr im Zentrum
des Erkenntnisinteresses der politikwissenschaftlichen Policy-Forschung. Dies lag
Staatsfinanzen in der Vergleichenden Politikwissenschaft 705

darin begr€ undet, dass in den Staatsausgaben zunächst die zentrale Stellgröße f€ur die
Staatstätigkeit gesehen wurde und zudem die Vorstellung vorherrschte, dass die
Staatseinnahmen den politischen Präferenzen und Entscheidungen im Hinblick auf
die Staatsausgaben zu folgen hätten.
Langfristige „Entwicklungsgesetze“ der Staatsausgaben sind in der deutschen
Finanzwissenschaft in den Gesetzen von Adolph von Wagner, Popitz und Brecht
formuliert. Das Wagner’sche „Gesetz des wachsenden Staatsbedarfs“ (1980) geht
davon aus, dass Regierungen wegen vermehrter Ausgaben f€ur Kultur- und Sozial-
zwecke die Staatsausgaben sowohl absolut als auch relativ zur Wirtschaftsleistung
ausdehnen. Das Popitz’sche Gesetz beschreibt eine „Anziehungskraft des größeren
Etats“, d. h. eine Zentralisierung der öffentlichen Ausgaben. Das Brecht’sche Gesetz
stellt eine enge Beziehung zwischen der Bevölkerungsdichte und den Staatsausga-
ben her. Diese finanzwissenschaftlichen Ausgabengesetzen, die sozioökonomische
Größen in den Mittelpunkt stellen, aber in der empirischen Überpr€ufung nur teil-
weise € uberzeugen konnten (am ehesten noch das Wagner’sche Gesetz, wenn man die
Sättigungsproblematik außen vor lässt), haben polit-ökonomische Analysen schon
fr€uhzeitig die Wichtigkeit sozioökonomischer Variablen f€ur die Variation der Staats-
ausgaben identifiziert (Wilensky 1975). Zu den sozioökonomischen Faktoren kön-
nen auch die exogenen Störungen durch Schocks im Sinne von Peacock und Wise-
mann (1967) zählen. Soziale Umwälzungen, sei es durch Krieg oder etwa dem
Vereinigungsschock, f€uhren demnach zu einer Erhöhung der Staatsausgaben, die
nach Abarbeitung des Schocks durch das politische System nicht wieder auf das
Ausgangsniveau zur€uckgehen.
Historische Studien zur Entwicklung der Staatsausgaben und des Wohlfahrtsstaa-
tes haben jedoch, neben den sozioökonomischen Variablen, auch politisch-
institutionelle Faktoren identifiziert (Kohl 1985; Flora 1986). Bei Kohl wurden etwa
Faktoren wie der Korporatismus, aber auch die Partizipation als Wachstumsmotoren
der Staatsausgaben identifiziert. Dieser „Robin-Hood-Effekt“ der Demokratie
(Downs 1957) kann theoretisch aus dem Bed€urfnis nach Umverteilung ärmerer
Bevölkerungsschichten abgeleitet werden, die auf Grund ihrer erhöhten Partizipa-
tion und der Wahl von Parteien, die ihre Präferenzen vertreten, letztlich eine solche
Politik erreichen. Dies bedeute gleichzeitig, dass Wahlsysteme, die eine erhöhte
Partizipation ermöglichen, insbesondere Verhältniswahlsysteme, mit einer höheren
Staatsausgabenquote assoziiert sind. Auch dies haben verschiedene Studien gezeigt
(Persson und Tabellini 1999). Überdies wird dem Föderalismus eine bremsende
Wirkung auf die Staatsausgaben zugeschrieben (Obinger et al. 2005). Während dies
in der historischen Perspektive noch zutreffen mag, kann die Föderalismusthese
kritisiert werden, da sie theoretisch Ansätze f€ur Rent-Seeking bietet und zudem die
Kosten des Föderalismus höher sind als fr€uher vermutet.
Bei der Untersuchung der Globalisierungsthese hat etwa Cameron (1978) schon
fr€uh gezeigt, dass eine hohe Einbindung in den Weltmarkt und die Offenheit der
Ökonomie mit höheren Staatsausgaben einhergehen, quasi als Kompensation und
Schutz der Bevölkerung vor diesem erhöhten Risiko (Rodrik 1997).
Hinsichtlich der politisch-institutionellen Determinanten der Staatsausgaben
haben zahlreiche empirische Studien heterogene Befunde hervorgebracht. Wenig
706 U. Wagschal

umstritten ist dabei die Parteiendifferenzhypothese (Hibbs 1977; skeptischer Castles


1982), die schon fr€uh einen Effekt der Stärke von Linksparteien identifiziert hat.
Innerhalb dieses Theoriestrangs wurde zudem gezeigt, dass Parteien nicht nur
zwischen links und rechts zu differenzieren sind, sondern auch etwa christdemo-
kratische Parteien eigene Präferenzen bez€uglich des Wohlfahrtstaates und der Aus-
gaben haben (van Kersbergen 2003).
Parteien interagieren jedoch auch mit anderen Akteuren und Institutionen. Im
Institutionengef€uge der Bundesrepublik Deutschland, welches durch starke gegen-
majoritäre Institutionen geprägt ist, haben verschiedene Institutionen einen brem-
senden Effekt auf die Staatsausgaben gehabt, etwa die Bundesbank, der Bikamera-
lismus, häufige gegenläufige Mehrheiten in den beiden Kammern (Heller 2001)
sowie – wenngleich schwächer – der Föderalismus und das Bundesverfassungsge-
richt. Gehen starke Linksparteien €uberdies mit starken Gewerkschaften und majori-
tärer Demokratiestruktur einher, dann f€uhrt dies, wie etwa in Skandinavien, zu einem
noch stärkeren Anstieg der Staatsausgaben. Länder mit schwachen Linksparteien
und schwacher Gewerkschaftsbewegung, typischerweise Länder, die der liberalen
Wohlfahrtsstaatswelt angehören (z. B. USA, Japan und die Schweiz), haben Staats-
quoten, die deutlich niedriger liegen als die in der sozialdemokratischen Welt.
Deutschland mit einer mittelstarken Sozialdemokratie sowie – gemessen am Orga-
nisationsgrad – mittelstarken Gewerkschaften nimmt daher eine mittlere Position bei
den Staatsausgaben ein.

4 Ursachen der Staatsverschuldung

In der Geschichte zeigt sich bei der Staatsverschuldung ein Auf und Ab, wobei
Kriege und Wirtschaftskrisen als massive externe Schocks sowie Verschwendungs-
sucht absolutistischer Herrscher die Verschuldung antrieben. Nach dem Zweiten
Weltkrieg bauten die wichtigsten Industrienationen ihre Schulden zunächst €uber
einen längeren Zeitraum ab. Dabei half ihnen das lang anhaltende Wirtschaftswachs-
tum des „Goldenen Zeitalters“ bis Anfang der 1970er-Jahre. Seither schwollen die
Staatsschulden jedoch an wie bisher noch nie in Friedenszeiten: Bis 2013 liegt der
(ungewichtete) Durchschnitt der Schuldenquote der wichtigsten 23-OECD-Länder
bei 96,7 Prozent des BIP. Betrachtet man alle 34 OECD-Länder so liegt die Schul-
denquote in der gesamten OECD bei 111 Prozent des BIP.1
In den vergangenen Dekaden war in zahlreichen westlichen Industrieländern ein
Anstieg der Staatsverschuldung zu beobachten. Dieser Zusammenhang wird in
Abb. 1 dargestellt, die in einem Streudiagramm sowohl das Niveau als auch die
Veränderung der Verschuldung im Zeitraum 1991 bis 2013 darstellt. Spitzenreiter
ist – mit deutlichem Abstand zu den nachfolgenden Ländern – Japan. Japan
unterscheidet sich jedoch insofern von den nachfolgenden Ländern Griechenland,

1
In der Abgrenzung der OECD werden die „General government gross financial liabilities as a
percentage of GDP“ betrachtet (Datenabruf am 08. Mai 2014. www.oecd.org).
Staatsfinanzen in der Vergleichenden Politikwissenschaft 707

Abb. 1 Verschuldungsperformanz im internationalen Vergleich. Quelle: Eigene Darstellung


(Daten aus verschiedenen Publikationen der OECD)

Portugal und Italien, als diese eine weitaus höhere Auslandsverschuldung aufweisen
und daher auch anfälliger sind f€ur Spekulationen an den Finanzmärkten und große
Kursbewegungen bei den Renditen von Staatsanleihen. Die Abbildung 1 zeigt
jedoch noch weitere interessante Details: So haben f€unf Länder sogar in den letzten
32 Jahren ihre Verschuldungsquote senken können, Schweden, Dänemark, die
Niederlande, Belgien und Neuseeland. Einige andere Länder haben die Verschul-
dungszuwächse zumindest moderat gestalten können. Es zeigt sich €uberdies, dass
die Varianz der Verschuldung zwischen den einzelnen Ländern im Zeitablauf zuge-
nommen hat.
Deutschland liegt 2013 mit einer OECD-Schuldenquote von 88,5 Prozent des
BIP (dieser Wert weicht von den Daten des bundesdeutschen Finanzministeriums ab,
welches 82 Prozent Gesamtverschuldung f€ur 2013 ausweist) unterhalb des OECD-
Durchschnitts2 und weist einen deutlichen Verschuldungszuwachs f€ur den Zeitraum
nach 1991 auf, der sich im oberen Drittel der OECD-Ländergruppe befindet. Die
deutsche Einheit ist hier nur als eine Teilursache auszumachen.

2
Aus Gr€unden der internationalen Vergleichbarkeit werden hier die Daten der OECD verwendet.
Ursachen der Unterschiede sind unterschiedliche Abgrenzungen und Zurechnungen, etwa f€ur die
Aufwendungen der europäischen Finanzkrise.
708 U. Wagschal

Umstritten ist, ab welcher Höhe die Verschuldung zu einem Problem wird und die
Staaten besondere Anstrengungen unternehmen m€ussen, die Schuldenquoten, das
heißt die Höhe der Verschuldung in Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP), zu
reduzieren. In einem wichtigen Beitrag haben Reinhart und Rogoff (2009) festge-
stellt, dass die Staatsverschuldung ab einer Schuldenquote von ungefähr 90 % zu
einem Problem f€ ur die öffentlichen Haushalte wird und sich das Wirtschaftswachs-
tum verlangsamt.
Die Betrachtung der expliziten Staatsschulden und Defizite geben jedoch keinen
vollständigen Überblick €uber die gesamte Verschuldungssituation eines Staates. Die
Lasten f€ ur die Zukunft, etwa in Folge der geänderten Demographie, sowie die
Nichtber€ ucksichtigung der impliziten Verpflichtungen der öffentlichen Hand stellen
ein Problem der exakten Erfassung zuk€unftiger Lasten dar. So liegen in Deutschland
die zuk€ unftigen Pensionslasten mittlerweile deutlich höher als die explizite Staats-
schuld. Aktuelle Zahlen (Moog und Raffelh€uschen 2011: 18) schätzen f€ur Deutsch-
land eine implizite Staatsverschuldung, die alle Verpflichtungen aus Staatsschulden,
Pensionslasten und eingegangenen Leistungsversprechen ber€ucksichtigt, von
ca. 109 Prozent des BIP. Der US-Ökonom Kotlikoff (Kotlikoff und Burns 2012),
auf den das Konzept der impliziten Verschuldung und des „Generational Accoun-
ting“ zur€ uckgeht, warnte schon vor einem „Clash of Generations“, bei dem die
Nutznießer der Verschuldung – vor allem die Älteren – die nachkommenden Gene-
rationen (und Steuerzahler) „ausbeuten“. Die implizite Verschuldung wird im Fol-
genden nicht weiter betrachtet, sie stellt jedoch einen wichtigen Aspekt bei der
Diskussion um Generationengerechtigkeit und der langfristigen Tragfähigkeit der
Verschuldung dar.
Über der deskriptiven Betrachtung von Verschuldungsindikatoren hinaus ist eine
zentrale Frage, ob exogene oder (politisch) endogene Faktoren die Verschuldung
antreiben? Die Beantwortung dieser Fragen kann letztlich nur durch empirische
Untersuchungen erfolgen.
Exogene Faktoren sind durch Politiker nicht direkt zu beeinflussen. Neben klassi-
schen Ursachen wie Krieg, Staatszerfall und Systemwechsel beeinflussen vor allem
sozioökonomische Faktoren die Staatsverschuldung. Ein starkes Wirtschaftswachs-
tum beispielsweise bremst €uber höhere Steuereinnahmen und geringere Arbeitslo-
sigkeit den Schuldenanstieg. Und umgekehrt waren makroökonomische Schocks und
Krisenereignisse („displacement effects“; Peacock und Wiseman 1967) der Motor f€ur
Niveauverschiebungen der Staatsverschuldung nach oben. Ein eher moderater Ein-
fluss ist dagegen der Inflation zuzuschreiben. Historisch ist diese zwar eine €ubliche
Variante, Verbindlichkeiten des Staates abzubauen, unabhängige Notenbanken haben
diesem Vorgehen jedoch zumeist Grenzen gesetzt. Als exogener Faktor können auch
demographische Faktoren gelten. So ist etwa die Seniorenquote eine starke Triebkraft
der Staatsausgaben und der Staatsverschuldung: Andererseits kann dieser demo-
graphische Faktor zu einer endogenen Variablen werden, wenn man ihn polit-öko-
nomisch interpretiert. So kann die elektorale Bedeutung der Senioren ausgabenstei-
gernd wirken, indem die Parteien diese Wählergruppe besonders beg€unstigen.
Der wohl prominenteste endogene Faktor in der Verschuldungsliteratur ist die bereits
erwähnte – vermeintlich verschuldungserhöhende – Wirkung von Wahlen: Regierungen
Staatsfinanzen in der Vergleichenden Politikwissenschaft 709

gleich welcher politischen Couleur verschulden sich vor Wahlen stärker. Nordhaus
(1975) deckte die Bedeutung des politischen Konjunkturzyklus auf und Edward
Tufte (1978) fand hierf€ur empirische Evidenz, die jedoch in späteren Studien meis-
tens nicht bestätigt werden konnte.
Niskanen (1971) unterstellte als weiteren (endogenen) Einflussfaktor, das die
B€urokratie ein inhärentes Interesse an einer Maximierung ihres Einflusses besitzt,
d. h. vor allem an Budgetsteigerungen. Auch hier sind die Ergebnisse nicht

uberzeugend, so dass der B€urokratieeinfluss auf den Verschuldungsanstieg umstrit-
ten bleibt. F€ur Deutschland zeigt sich in den letzten Jahren – zumindest beim
Bundespersonal – ein deutlicher Abbau der Beschäftigung. Das öffentliche Personal
wird insofern also eher zur Haushaltskonsolidierung genutzt. Allerdings sind durch
die impliziten Zahlungsversprechungen f€ur die Pensionen der Beamten und Pensio-
nisten des öffentlichen Dienstes stark wachsende Ausgaben f€ur die kommenden
Jahrzehnte zu erwarten.
In demokratischen Systemen ist eine der zentralen Fragen im Hinblick auf Unter-
schiede in der Staatstätigkeit, ob Parteien einen Unterschied bei der Verschuldung
machen. In Anlehnung an die Parteiendifferenztheorie von Hibbs (1977, 1994) wird
man davon ausgehen, dass linke Regierungen in Krisenzeiten eine höhere Verschul-
dung in Kauf nehmen als rechte Regierungen, da das vorrangige Ziel linker Regie-
rungen – gemäß ihrer Kernwählerschaft – eine niedrige Arbeitslosenquote ist.
Zudem sind linke Regierungen eher der Politik des „deficit spending“ verhaftet,
was als „intellektueller Motor“ f€ur eine steigende Verschuldung angesehen werden
kann (Buchanan und Wagner 1977). Folgt man dagegen der „modifizierten Steuer-
glättungshypothese“ (Wagschal 1996), so werden sich jedoch b€urgerliche und rechte
Regierungen stärker als linke Regierungen verschulden. Analog zur Parteiendiffe-
renzhypothese steht die Wählerbasis der Parteien wieder als treibende Kraft im
Hintergrund. B€ urgerliche Regierungen haben das vorrangige Ziel, die Steuerbelas-
tung f€ur ihre Klientel zu mindern. Die Wählerbasis b€urgerlicher Parteien profitiert
dabei mehr von Steuersenkungen, während vor allem untere Einkommensklassen
bei einer Schuldenfinanzierung im Vergleich zu einer Steuerfinanzierung relativ
schlechter gestellt sind (Wagner 1980, 262 f.; zuerst 1897). Daher werden
b€urgerliche Regierungen eher zu Steuersenkungen und somit zu relativ höheren
Defiziten tendieren als linke Regierungen, die eher zu Steuererhöhungen tendieren,
um eine Umverteilung herzustellen. Empirisch (Wagschal 1996) gab es – im inter-
nationalen (statistischen) Vergleich – bis Ende der 1990er-Jahre eindeutige Evidenz
f€ur eine im Vergleich höhere Verschuldung unter b€urgerlichen Regierungen (mit
Japan, Italien, Belgien, Irland als besonders deutliche Beispiele). Dies gilt – auch
aufgrund der Einf€uhrung des Euro und der sich verringernden Varianz bei den
Defiziten – seitdem nicht mehr.
Ein verschuldungserhöhender Effekt wurde €uberdies bei Regierungen mit mehre-
ren Koalitionspartnern behauptet (De Haan et al. 1999), wobei die empirischen
Befunde jedoch stark von der Fallauswahl, dem Untersuchungszeitraum sowie der
Operationalisierung der erklärenden Variable abhängen. Die Begr€undung dieses Frag-
mentierungsarguments liegt in der vermeintlichen Schwäche von Koalitionsregierun-
gen und einer daraus resultierenden Unfähigkeit, eine glaubw€urdige Fiskalpolitik zu
710 U. Wagschal

betreiben. De Haan und Sturm (1999) konnten diese Vermutung jedoch empirisch
nicht bestätigen. F€ur die Haushaltskonsolidierung spielt jedoch sowohl im interna-
tionalen (Wagschal und Wenzelburger 2008) als auch im Bundesländervergleich die
Stärke der Regierung – im Sinne weniger Koalitionspartner – ein signifikante Rolle.

5 Haushaltskonsolidierung

Der Abbau der Verschuldung folgt nicht derselben Logik wie die Wege in die
Verschuldung. Haushaltskonsolidierung ist €uberdies ein mehrdimensionales Prob-
lem, welches Veränderungen der Budgetdefizite und des Schuldenstandes sowie eine
zeitliche Komponente beinhaltet. Die Erklärung der Determinanten von Haushalts-
konsolidierungen und der gewählten Konsolidierungsstrategien kann wieder €uber
die in der Einleitung vorgestellten polit-ökonomischen Theorien sowie Theorien der
Staatstätigkeitsforschung geleistet werden. Als externe Parameter f€ur Konsolidie-
rungsstrategien spielen dabei zunächst die ökonomischen (v. a. Wirtschafts-
wachstum und Zinsentwicklung) und politischen-institutionellen Rahmenbedingun-
gen eine entscheidende Rolle.
Die Exekutive kann inhaltlich eine Konsolidierung entweder (a) €uber eine Reduk-
tion der Ausgaben, (b) €uber eine Einnahmeerhöhung oder (c) €uber einen Mix beider
Strategien erreichen. Die Frage, welche Konsolidierungen erfolgreicher sind – ein-
nahmen- oder ausgabenseitige – wird in der Literatur uneinheitlich beantwortet
(Alesina und Perotti 1995; Alesina und Ardagna 1998). Empirische Ergebnisse aus
zahlreichen Studien deuten jedoch darauf hin, dass nachhaltige Konsolidierungen
stärker auf der Ausgabenseite ansetzen und dort hauptsächlich Transfers und Perso-
nalausgaben im öffentlichen Sektor gek€urzt werden. Eigene Analysen (Wagschal
und Wenzelburger 2008) bestätigen diesen Befund und haben einen eindeutigen
statistischen Zusammenhang zwischen ausgabenseitigen Konsolidierungen und
Konsolidierungserfolg identifiziert.
Auch im internationalen Vergleich zeigt sich bei einer Analyse der funktionalen
Ausgaben der Konsolidierungs- und Nicht-Konsolidierungsländer (auf Basis der
sogenannten COFOG-Kategorien = Classification of Functions of Government),
dass die Konsolidierer im Gegensatz zu den Nicht-Konsolidierern ihre Gesamt-
ausgaben deutlich stärker gesenkt haben. Die Aufschl€usselung nach einzelnen
Politikfeldern ergibt zwar eine besondere Ausgabenk€urzung beider Ländergruppen
in folgenden Bereichen: (1) allgemeine Verwaltung, (2) wirtschaftliche Angelegen-
heiten (v. a. Subventionen, etwas weniger Investitionen) sowie (3) Verteidigung.
Stellt man jedoch das Ausgabenprofil der Konsolidierer dem der Nicht-Kon-
solidierer gegen€ uber, so lassen sich bemerkenswerte Unterschiede beobachten.
Letztere erhöhten ihre Ausgaben besonders f€ur Soziales und Gesundheit.
Einnahmeerhöhungen als zweite mögliche Konsolidierungsstrategie f€uhren dage-
gen in der Regel nur zu einer kurzfristigen Entspannung und erhöhen auch die
Anspr€ uche ans Budget. Im Zuge der politischen Umsetzungsstrategie können punk-
tuelle Einnahmeerhöhungen allerdings durchaus sinnvoll sein, wie die Beispiele in
Belgien oder Schweden gezeigt haben.
Staatsfinanzen in der Vergleichenden Politikwissenschaft 711

Die Analyse des Beginns von Konsolidierungen ist oft mit Krisen assoziiert.
Zahlreiche Beispiele wie Schweden, Belgien, die Niederlande oder auch j€ungst
Griechenland können hierf€ur als – zunächst anekdotische – Evidenz gelten. Damit
wird auch die populäre Auffassung gest€utzt, dass erst eine Krise vorliegen muss,
bevor Reformen in Gang gesetzt werden (Mulas-Granados 2006). Die statistischen
Auswertungen (Wagschal und Wenzelburger 2009) zeigen in der Tat die gute Er-
klärungskraft etwa des Misery-Index (ein Maß f€ur den Problemdruck eines Landes
der sich aus der Arbeitslosenquote und der Inflationsrate zusammensetzt) f€ur den
Beginn einer Konsolidierung. F€ur Länder ist in ihrer Politikwahl die Entwicklung im
Längsschnitt als auch die Entwicklung im Vergleich zum Benchmark der OECD-
Länder wichtig. Der Zusammenhang f€ur die ökonomische Problemdruckvariable,
Beginn und auch Erfolg der Konsolidierungsbem€uhungen ist eindeutig.
Das Timing von Haushaltskonsolidierungen ist eine weitere wichtige Stellgröße
f€
ur den Erfolg. Soll mit der Konsolidierung unmittelbar nach großen Machtwechseln
begonnen werden oder benötigt eine Regierung etwas Zeit, bevor sie diese durch-
f€
uhrt? Es zeigt sich (Wagschal und Wenzelburger 2008), dass die meisten Konsoli-
dierungsfälle spätestens ein Jahr nach einem politischen Machtwechsel begonnen
wurden. Konsolidierungen versprechen offenbar dann Erfolg, wenn sie z€ugig nach
einer substantiellen Änderung der Regierungszusammensetzung durchgef€uhrt wer-
den. Dieser in der Literatur als „honeymoon“-Effekt (Williamson und Haggard
1994) bezeichnete Zusammenhang zeigt, dass aufgrund der hohen Legitimation
nach einem Wahlsieg, der einem Machtwechsel in der Regel vorausgeht, solche
Reformen als Regierungsprogramm einfacher und mit einer höheren Glaubw€urdig-
keit durchgesetzt werden können.
Ein maßgeblicher Faktor, der positive Haushaltsentwicklungen der vergangenen
Jahre mitverantwortete, war der R€uckgang des Zinsniveaus. Die Zinsdividende, bedingt
durch die Einf€uhrung des Euro und die „Stabilitätsleihe“ der Hartwährungsländer, war
ein zentraler Faktor f€ur die Haushaltskonsolidierung in vielen Ländern nach 1999.
Jedoch entfiel f€ur diese Länder gleichzeitig auch die Möglichkeit, durch Inflation ihre
Schulden zumindest teilweise zu entwerten und durch Abwertungen ihren Produktivi-
tätsnachteil auszugleichen. F€ur Deutschland war die Zinsdividende nach der Eu-
roeinf€
uhrung gering. Erst in der Finanz- und Wirtschaftskrise, die sich zur Euro- und
Staatsschuldenkrise weiter entwickelte, reduzierten sich die Nominalzinsen f€ur Deutsch-
land beträchtlich. Während sich die Schulden zwischen 2000 und 2013 um knapp
40 Prozent erhöhten, sanken die Zinsausgaben um 21,4 Prozent. Läge der Zins weiter
auf dem Niveau des Jahres 2000, so m€usste der Bund etwa 55 Milliarden an Zinsen
aufwenden, also etwa 23 Milliarden mehr als 2013 tatsächlich aufgewendet wurden.
Durch die zentralen Arbeiten von von Hagen (1992), Hallerberg und von Hagen
(1999) sowie Hallerberg (2003) können die unterschiedlichen Budgetinstitutionen
der einzelnen Länder quantitativ erfasst werden. Dabei spielt es eine Rolle, ob ein
Land dem sogenannten Delegations- bzw. dem „Commitment“-Ansatz folgt. Typi-
scherweise wird in Mehrheitssystemen der Delegationsansatz, der eine Stärkung des
Finanzministers beinhaltet, stärker verfolgt als etwa in konsensdemokratisch orga-
nisierten Ländern, die eher an einer Einbindung aller Akteure interessiert sind und
somit den „Commitment“-Ansatz wählen.
712 U. Wagschal

Die Ank€ undigung von Sanierungsanstrengungen zu Beginn einer Konsolidierung


hat – so der internationale Vergleich – eine selbstbindende Wirkung und kann zu
Glaubw€ urdigkeitsgewinnen f€uhren. F€ur Deutschland wäre der „Commitment“-
Ansatz eine systemlogische Wahl. Dieser enthält im Kern ein Bekenntnis zu Haus-
haltskonsolidierung, weshalb es Sinn machen w€urde, die mehrjährige Finanzpla-
nung zu verstärken und Ausgabenniveaus bzw. fixe Budgetziele zu Beginn einer
Legislaturperiode – etwa in Koalitionsverträgen oder Regierungserklärungen –
verbindlich als politische Ziele festzulegen. Solche Ank€undigungen sind zudem
ein Signal an die Finanzmärkte, was diese in ihre Ratings mit aufnehmen können.
Diese weiche Form einer „Budgetregel“ hat den Vorteil einer gewissen Flexibilität
und ist praktikabler als die bloße Fixierung auf konstitutionell verankerte Regeln.
Positiv auf die Entwicklung der öffentlichen Finanzen wirkten in vielen Ländern
auch vorsichtige Budgetschätzungen und Wachstumsprognosen. Das erleichterte die
Haushaltsf€uhrung und sch€utzte vor unliebsamen Überraschungen. In Verbindung
mit der „golden hamster“-Regel, wonach Übersch€usse f€ur die Reduktion der Staats-
verschuldung statt f€ur neue Leistungen verwendet werden m€ussen, f€uhrten die vor-
sichtigen Schätzungen mittelbar auch zum Schuldenabbau.
Die ökonomische Sichtweise der beiden Nobelpreisträger Kydland und Prescott
(1977), wonach diskretionäre Politik systematisch einer regelgebundenen Politik
unterlegen ist, spiegelt sich auch in der Einf€uhrung der Schuldenbremse durch die
Föderalismuskommission II wider, hier insbesondere mit einem engen Fokus auf das
Verbot der Neuverschuldung bzw. auf eine „atmende“ Schuldenregel. Der Vergleich
der Bundesländer zeigt jedoch: Sowohl Akteure als auch Regeln sind wichtig. Die
Schuldenverbotsstrategie wurde – bis zur Föderalismusreform II – in keinem Bun-
desland verfolgt: vor allem Bayern ging den Weg €uber eine glaubw€urdige Ank€un-
digung der Verschuldungsr€uckf€uhrung. Dagegen haben aktuell Baden-W€urttemberg
und Sachsen (beide 2008) jeweils ihre Landeshaushaltsordnungen geändert, um eine
flexible Schuldenregel auf Gesetzesebene zu implementieren.

6 Zusammenfassung

Beurteilt man die Wichtigkeit der einzelnen Determinanten sowie der verschiedenen
Theorieschulen f€ ur die vier betrachteten Bereiche der Staatsfinanzen, dann sind
sozioökonomische Faktoren am erklärungskräftigsten. Auch die Politikerblastthese
kann eine gewisse Relevanz beanspruchen. Dennoch zeigt sich auch die Bedeutung
politisch-institutioneller Stellgrößen. So kann man eine eindeutige Ausgaben- und
Besteuerungsdifferenz zwischen unterschiedlichen Parteienfamilien identifizieren.
Linksparteien geben mehr aus und erheben höhere Steuern. Jedoch zeigt sich bei der
Residualgröße aus diesen beiden Variablen, dem Haushaltsdefizit, dass sich €uber
lange Zeit im internationalen Vergleich eine stärkere Verschuldung bei den
b€urgerlichen Parteien einstellte – im Unterschied zur Bundesrepublik. Dies kann
mit Hilfe der parteipolitischen Steueranpassungshypothese erklärt werden, die bei
den Interessen- und Präferenzlagen der jeweiligen Kernwählerschaft die
Ursache hierf€ ur verortet. Mitte der 1990er-Jahre, als durch Globalisierung und
Staatsfinanzen in der Vergleichenden Politikwissenschaft 713

Maastricht-Kriterien der Handlungsspielraum f€ur exzessive Verschuldung bei den


nationalstaatlichen Regierungen weitgehend verschwand, war auch diese Differenz
nicht mehr zu beobachten. Institutionen zeigen sich auf verschiedenste Art als
bedeutende Erklärungsfaktoren. Auch die Vetostruktur eines Landes macht einen
Unterschied. Insbesondere zeigt sich, dass die Steuerreformtätigkeit durch die Zahl
der Vetospieler, vor allem wenn sie kompetitiv zur Exekutive agieren, kleiner ist als
in Ländern ohne Vetospieler-Struktur oder mit ausschließlich konsensualen Veto-
spielern. Die Machtressourcentheorie ist dagegen nur partiell von Bedeutung, wenn
man die Ergebnisse international vergleichender Studien ber€ucksichtigt.

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Wirtschaftspolitik in der Vergleichenden
Politikwissenschaft

Daniel Buhr und Josef Schmid

Zusammenfassung
Wirtschaftspolitik wird in unterschiedlichen Ländern oft mit abweichenden Zie-
len und mit anderen Instrumenten sowie unter anderen politisch-ökonomischen
Bedingungen betrieben. Die Vergleichende Politikfeldanalyse betrachtet dieses
komplexe Feld v. a. aus der Sicht der Staatstätigkeit unter Ber€ucksichtigung von
Policy, Politics und Polity, während die klassische VWL und die Vergleichende
Politische Ökonomie vom Markt und dem Unternehmen ausgehen. Im Unter-
schied zur VWL wird der Markt in der Vergleichenden Politischen Ökonomie
aber nicht abstrakt betrachtet, sondern als eingebettet, wodurch sich unterschied-
liche Varianten von Marktwirtschaften bzw. eine Variety of Capitalism ergeben.

Schlüsselwörter
Vergleichende Politische Ökonomie • Politikfeldanalyse • Institutionen • Keyne-
sianismus • Monetarismus • Korporatismus • Varieties of Capitalism

1 Einleitung – Polity and politics determine policies and


economies

Wirtschaftspolitik umfasst ganz generell betrachtet alle Versuche einer Steuerung der
Ökonomie durch den Staat. Dabei kann unterschieden werden nach den großen
Teilgebieten wie Ordnungs-, Struktur- und Prozesspolitik. Diese lassen sich wiede-

D. Buhr (*)
Professor f€ur Policy Analyse und Politische Wirtschaftslehre, Institut f€
ur Politikwissenschaft,
Universität T€ubingen, T€
ubingen, Deutschland
E-Mail: daniel.buhr@uni-tuebingen.de
J. Schmid
Professor f€ur Politische Wirtschaftslehre und Vergleichende Politikfeldanalyse, Institut f€
ur
Politikwissenschaft, Universität T€ubingen, T€ubingen, Deutschland
E-Mail: josef.schmid@uni-tuebingen.de

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 717


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_54
718 D. Buhr und J. Schmid

rum stark ausdifferenzieren etwa nach den Bereichen Arbeitsmarkt, Wettbewerb,


Forschung und Entwicklung, Verkehr, Fiskal, Steuern, Banken, Geld usw. Eine
weitere Unterscheidung basiert auf den angestrebten Zielen, wie sie beispielsweise
im sogenannten „magischen Viereck“ benannt werden:

– einem angemessenen und stetigen Wirtschaftswachstum,


– Preisniveaustabilität,
– hohem Beschäftigungsstand und
– einem außenwirtschaftlichen Gleichgewicht.

Inzwischen kommt der Nachhaltigkeit bzw. der Erhaltung einer lebenswerten


Umwelt sowie der gerechten Einkommens- und Vermögensverteilung ein ebenfalls
sehr hoher Stellenwert zu. Bezogen auf die wirtschaftspolitischen Instrumente kann
zwischen Geboten und Verboten, monetären Anreizen und Abgaben (bzw. Subven-
tionen und Steuern), Aufklärung und Überzeugung sowie Verhandlung unterschie-
den werden. Ferner spielen Zuständigkeitsverteilungen in den Entscheidungs- und
Implementationsprozessen nach Ministerien, nach Bund und Ländern sowie nach
gesellschaftlichen Akteuren (etwa Tarifparteien) eine Rolle (vgl. Gabler 2013; Sturm
und M€ uller 2005, S. 436 und Blum und Schubert 2009, 90 f.; Schmid und Buhr 2013).
Folgt man der politikwissenschaftlichen Trias, dann weist die Wirtschaftspolitik im
Sinne von Policy erhebliche sachliche Komplexitäten und Interdependenzen sowie
große Interessenkonflikte und Differenzen in der Bewertung der Zielgrößen auf. Cui
bono meint dann etwa, dass Vollbeschäftigung andere Klientele bevorzugt als Preis-
niveaustabilität. Das macht die Wirtschaftspolitik auch vor dem Hintergrund der
Politics-Dimension spannend. Wichtige Akteure sind die Regierung, aber auch die
Sozialpartner (Gewerkschaften/Arbeitgeberverbände), Notenbanken und Wettbe-
werbskontrolleure wie z. B. Regulierungsbehörden oder Europäische Kommission
(Sturm und M€ uller 2005). Neben Akteuren und deren Interessen geht es hierbei auch
um die Ideen und Paradigmen, die diese beeinflussen, etwa die makroökonomischen
Theorieschulen. Schließlich spielt die Polity eine Rolle. Schon in der Ordnungspolitik
wird diese Dimension angesprochen, neuere Ansätze der Politikwissenschaft und der
Politischen Ökonomie sprechen den institutionellen Rahmenbedingungen eine wich-
tige Funktion zu. Aus dieser analytischen Perspektive werden zugleich Unterschiede
im Vergleich relevant: Diese reichen von unterschiedlichen kulturell und institutionell
verfestigen Zielen und Politikstilen bis hin zu „Varieties of Capitalism“.
Feick und Jann (1988, s. a. Freeman 1985) unterscheiden dabei folgende Ein-
flussfaktoren auf die Policy, die national bzw. sektoral sowie stabil bzw. veränderlich
sind (Tab. 1).
Während diese Unterschiede in der Wirtschaftspolitik von vielen Vertretern der
(orthodoxen) Wirtschaftswissenschaften vorwiegend mit quantitativen Indikatoren
wie der Höhe der Sozialausgaben, der Staatsquote, der staatlichen Eingriffstiefe, der
Regelungsdichte, dem K€undigungsschutz oder dem Preisniveau abgebildet werden,
bezieht die Vergleichende Politische Ökonomie qualitative und typologische Aspek-
te mit ein. Dabei geht es nicht primär um Mehr und Weniger, sondern um Anders-
artigkeiten und eine ganzheitliche Perspektive.
Wirtschaftspolitik in der Vergleichenden Politikwissenschaft 719

Tab. 1 Einflussfaktoren auf die nationalen Wirtschaftspolitiken


Veränderlich Stabil
Länderspezifisch Öffentliche Meinung Kultur
Parteien/Regierungskoalition Polity
Konjunktur Politics
Politikfeldspezifisch Policy-Konstellationen Policy-Netzwerke
(hist.) Erfahrungen „Herrschende Lehren“
Aktueller Problemdruck Problemmerkmale
Quelle: Feick und Jann (1988, s.a. Freeman 1985)

Damit wird zugleich die verbreitete Ansicht relativiert, wonach der (freie) Markt
im Zentrum der Analyse steht, und wo davon ausgegangen wird, dass dieser Markt
und der darin existierende Wettbewerb langfristig die Systeme und Wirtschafts-
politiken konvergieren lassen w€urden. Jedoch haben weder Globalisierung noch
Europäisierung zu einer Vereinheitlichung von Wirtschaften und Wirtschaftspoliti-
ken gef€uhrt. Es bestehen zwar Gemeinsamkeiten, aber eben auch Unterschiede. So
hat die Einf€uhrung des Euro sehr unterschiedliche Wirkungen gezeigt: Während in
der BRD die Exporte deutlich – gemessen am magischen Viereck sogar in einem
problematischen Umfang – gestiegen sind, hat sich die Leistungsbilanz der Mittel-
meerländer erheblich verschlechtert (Vergl. FAS vom 10. November 2013, S. 26).
Die „Marktwirtschaft“ kann somit sehr unterschiedlich gedacht und ausgestaltet
sein (Polanyi 1944), was einerseits auch mit unterschiedlichen Wirtschaftspolitiken
zu tun hat, aber nat€urlich selbst wiederum auch Auswirkung auf diese hat. Michaela
Hölzl (2011, S. 10) bettet die (soziale) Marktwirtschaft in national unterschiedliche
kulturelle und politisch-institutionelle Settings ein: „Die Beschäftigung mit der
kulturellen Einbettung einer Gesellschaft kann anhand der ‚facettenreichen Arbeits-
verschränkungen‘ (Siegel/Jochem) zwischen Staat und Markt ihren Anfang finden.
Anhand der Dichotomie von Staat und Markt lassen sich nicht nur R€uckschl€usse auf
die kulturelle Einbettung ziehen, sondern auch auf die formulierten Ziele der kol-
lektiven oder individuellen politischen Akteure.“ Daran anschließend ergeben sich
folgende Unterschiede im internationalen Vergleich (Tab. 2).

2 Hauptteil

2.1 Die politics-Perspektive auf die Wirtschaftspolitik: Akteure,


Ideen und Prozesse im Widerstreit

Nachdem bereits u€ber die Ziele der Wirtschaftspolitik unterschiedliche Vorstellun-


gen bestehen, die sich dann auch auf die Wahl der Maßnahmen und auf die – wie zu
erwarten mehr oder weniger konfliktreichen – politischen Prozesse auswirken wer-
den, ist Wirtschaftspolitik also auch vor dem Hintergrund der politics-Dimension
spannend. Den Hintergrund bilden dabei zwei sich gegen€uberstehende makroöko-
720 D. Buhr und J. Schmid

Tab. 2 Markt und Staat – Kulturelle Einbettungen in Großbritannien, Deutschland und Schweden
angelsächsischer
Typ Kontinentaleuropäischer Skandinavischer Typ
(Großbritannien) Typ (Deutschland) (Schweden)
Zentrale Rolle von
Markt zentral marginal marginal
Staat marginal subsidiär zentral
Individuum/ Individuum Familie Individuum
Familie
Denkrichtung
regulative Freiheit, Wettbewerb, Status und sozialer Ausgleich,
Idee Selbstverantwortung Hierarchie
politische Freiheit, Wettbewerb, Konsens, Universalismus
Semantik ökonomische Kooperation, Konsens, Verhandlung,
Argumentation, Sozialpartnerschaft Gerechtigkeit,
Wettbewerb Entfaltung, Kooperation
Arbeitsmarktpolitik
Bezugspunkt Wahrung der Stabilität des Sicherung der
staat licher Vertragsfreiheit Normalarbeitsverhältnisses Vollbeschäftigung
Intervention
Rolle des Marktaktivierer Kompensierer Arbeitgeber
Staates
Quelle: nach Hölz (2011, S. 39)

nomische Theorieschulen: die Neoklassik auf der einen, der Keynesianismus auf der
anderen Seite.
Gest€utzt auf Befunden wie Weltwirtschaftskrisen, Zeiten galoppierender Inflation
und Massenarbeitslosigkeit zweifeln keynesianische Ökonomen an den Selbsthei-
lungskräften des Marktes. Sie gehen vielmehr davon aus, dass Märkte inhärent
instabil sind und es innerhalb von Konjunkturzyklen zu großen Nachfragel€ucken
kommen kann. Dabei treten typische Konstellationen auf: Während einer Rezession
steigt die Arbeitslosigkeit an, während die Inflation niedrig ist und sogar noch sinkt.
Umgekehrt steigt diese in Boomphasen, während dann Vollbeschäftigung herrscht.
Dieser auch Phillips-Kurve genannte trade-off ist eine wichtige Grundlage der
Stabilitätspolitik geworden, was Helmut Schmidt einmal so formuliert hat: Lieber
5 % Inflation als 5 % Arbeitslosigkeit. In diesen Zeiten fl€uchten sich private Haus-
halte und Unternehmen – aus „Angst“ vor der Zukunft aber auch aufgrund zu hoher
Zinsen – ins Sparen. Damit verlieren der Zinssatz und die Geldpolitik ihre aus-
gleichende Wirkung. Zusätzliches Geld verschwindet in der „Liquiditätsfalle“. Um
die Wirtschaft aus einer solchen Krise herauszuf€uhren, muss die gesamtwirtschaft-
liche Nachfrage gesteigert werden, was zugleich die pessimistische Erwartungshal-
tung beenden soll (Schmid und Buhr 2012).
Hier plädiert John Maynard Keynes in seinem Hauptwerk „Allgemeine Theorie
der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“ (Keynes 1936) f€ur eine Intervention
des Staates in den Wirtschaftskreislauf. Durch eine antizyklische Fiskalpolitik –
auch Globalsteuerung genannt. So soll der Staat während einer Rezession die ent-
Wirtschaftspolitik in der Vergleichenden Politikwissenschaft 721

standene Nachfragel€ucke schließen, in dem er einerseits die Steuern senkt und


andererseits die Ausgaben erhöht. Das soll zur Steigerung des Konsums und der
Investitionen beitragen, was wiederum die gesamtwirtschaftliche Nachfrage ankur-
belt. Finanziert werden kann dieses „deficit spending“ in einer Rezessionsphase
durch staatliche Kreditaufnahme am Kapitalmarkt. In Zeiten des wirtschaftlichen
Booms sollen dann die Staatsausgaben wieder gesenkt und die Steuern (temporär)
erhöht werden. Auf diese Weise gelangt zusätzliches Geld in die Staatskasse. Kredite
können abgelöst bzw. eine Konjunkturausgleichsr€ucklage gebildet werden, die in
der nächsten Rezessionsphase zum Einsatz kommen kann. Dadurch hilft die Stabi-
litätspolitik, „Überhitzungen“ in einer Phase der Hochkonjunktur samt dazu gehö-
render inflationärer Tendenzen zu verhindern.
Kritiker f€
uhren gerade hier an, dass es jedoch politisch sehr unwahrscheinlich sei,
das Politikerinnen und Politiker die „Staatskassen f€ullen“ – zumal in Koalitions-
regierungen, Zwei-Kammer- bzw. föderalen Systemen mit einer entsprechend hohen
Zahl an Vetospielern (vgl. Deutschmann 2003; Rogall 2006). Hier unterscheiden
sich jedoch die politischen Systeme hinsichtlich ihrer Problemlösungskapazitäten
und Politikstilen. Während es in Skandinavien, aber auch in Österreich und Deutsch-
land gelungen ist, die Tarifparteien und andere wichtige Akteure zu koordinieren
und damit die wirtschaftspolitische Steuerung wirksamer zu gestalten, ist es etwa in
Großbritannien in den 70er und 80er Jahren dar€uber zu heftigen Konflikten und einer
stop-and-go-Politik gekommen.
Zudem – so die Kritik weiter – könne Arbeitslosigkeit nicht nur aus Nachfrage-
mangel entstehen, sondern auch aufgrund technischen Fortschritts; sie ist also
teilweise strukturell und nicht nur konjunkturell bedingt. In diesem Fall hilft das
Instrument der Globalsteuerung bzw. das „deficit spending“ nichts – im Gegenteil:
es f€uhrt dann nur zu einer anhaltenden Staatsverschuldung. Freilich stehen mit der
Industrie-, Forschungs- und Entwicklungspolitik aber weitere Instrumente zur Ver-
f€ugung, um dieses Problem anzugehen. Auch hier zeigen sich erhebliche nationale
Unterschiede: Die französische „planification“ der 50er und 60er Jahre oder das
MITI gesteuerte japanische Politikmodell der 70er und 80er Jahre unterscheiden sich
von liberalen Marktmodellen erheblich (mit weiteren Details zur Industriepolitik im
Vergleich s. Daniels 1992 sowie zur deutschen F&E-Politik Buhr 2010.).
Die Neoklassik dagegen fokussiert vor allem auf die Angebotsseite. Die Kernaus-
sage lautet: jedes Angebot schafft sich seine Nachfrage (Saysches Theorem). Somit
steuern sich Märkte von selbst, streben zum Gleichgewicht und sind damit inhärent
stabil. Daher lehnen Neoklassiker staatliche Eingriffe vehement ab. Wirtschaftspolitik
reduziert sich in dieser Vorstellung vornehmlich auf die Ordnung des Marktes, um
Wettbewerb zu ermöglichen und schädliche Monopole zu verhindern. Diese Ord-
nungsfunktion kommt aus Sicht (neo)liberaler Autoren dem Staat zu und zwar haupt-
sächlich im Schutz der Gesellschaft (innere und äußere Sicherheit, sozialer Schutz,
Arbeits- und Gesundheits-, Umweltschutz etc.), in der Sicherung der Eigentums- und
Rechtsordnung, in der Bereitstellung öffentlicher G€uter aber eben auch – und vor allem –
durch die Sicherung der Markt- und Wettbewerbsordnung (Willke 2003, S. 85).
So argumentiert Milton Friedman beispielsweise, dass vor allem die Stabilität des
Geldes f€ ur die Wirtschaftsentwicklung förderlich wäre und dies nur durch eine stetig
722 D. Buhr und J. Schmid

GMT-Index
8
Politische Unabhängigkeit

7
6 NL BRD
5 USA
4 It CH
3 IR DK A, Ö
2 Gr S F
1 Port J, GB B
NZ
0
0 1 2 3 4 5 6 7 8 9
Ökonomische Unabhängigkeit

Abb. 1 Politische und ökonomische Unabhängigkeit nationaler Notenbanken. Quelle: Rehm


(1999, S. 12 nach Grilli et al. 1991)

wachsende Geldmenge erreicht werden könne. Daher auch der Name Monetarismus.
Dabei kommt also der Geldpolitik eine entscheidende Rolle zu, die meist von (mehr
oder weniger) unabhängigen Notenbanken gesteuert wird. Aber auch hier treten
Variationen auf, denn die nationalen Notenbanken verf€ugen bis in die 80er Jahre
hinein € uber eine unterschiedliche politische und ökonomische Unabhängigkeit.
Nach dem Index von Grilli et al. (1991, hier nach Rehm 1999, S. 12) ergibt sich
f€ur 18 OECD-Länder im Zeitraum 1950–89 folgendes Bild – mit einer leicht
erkennbaren besonderen Positionierung des deutschen Falles (Abb. 1).
Staatliche Interventionen im Bereich der Wirtschaftspolitik beäugt Friedman
demzufolge recht kritisch. In seinem ber€uhmt gewordenen Buch „Capitalism and
Freedom“ empfiehlt er unter anderem die Abschaffung von Agrarsubventionen; die
Beseitigung von mengenmäßigen Importbeschränkungen und Zöllen; den Verzicht
auf staatlich garantierte Mindestlöhne, die es in den USA gibt; die Streichung aller
staatlichen Mittel f€
ur den sozialen Wohnungsbau; die vollständige Privatisierung der
gesetzlichen Sozialversicherung sowie die Aufhebung des Postmonopols. Zudem
schlägt Friedman vor, sämtliche Sozialleistungen durch eine negative Einkommens-
steuer f€ur Familien unterhalb der Armutsgrenze zu ersetzen). In dieselbe Richtung
wirken angebotstheoretisch orientierte Autoren (z. B. R. Lucas, G. Stigler oder
W. Sinn), die sich f€ur Deregulierung und Flexibilisierung in der Wirtschaftspolitik
aussprechen und vor allem den Wettbewerb auf den Märkten fördern wollen (Vgl.
dazu Schmid und Buhr 2012). Demzufolge w€urde sich am Ende auch genau dort das
Kapital (Investitionen) ansiedeln, wo es die attraktivsten Anlagemöglichkeiten
(z. B. niedrige Steuern und Abgaben) fände und sich daraufhin Wachstum und
Beschäftigung einstellen.
In die gleiche Richtung argumentieren Autoren wie Marx, Wagner (1893) oder
Wilensky (1975), die innerhalb der vergleichenden Staatstätigkeitsforschung der
Wirtschaftspolitik in der Vergleichenden Politikwissenschaft 723

sozioökonomischen Schule hinzugerechnet werden. Sie argumentieren, dass Regie-


rungen gezwungen seien, in einem sehr schmalen Handlungskorridor auf verschie-
dene wirtschaftliche (z. B. ökonomischer Entwicklungsgrad einer Volkswirtschaft)
und soziale Herausforderungen (z. B. demografischer Wandel) reagieren zu m€ussen.
Auch in dieser Vorstellung dominiert also die Ökonomie €uber die Politik.
Es gibt aber auch theoretische Ansätze, die den Unterschied einzelner Policies
oder eines gesamten Politikfelds wie der Wirtschaftspolitik nicht durch wirtschaft-
liche oder soziale Entwicklungen erklären, sondern mit der Stärke bestimmter ge-
sellschaftlicher Gruppen. Diese Ansätze gehen vom Primat der Politik aus. Das
vorrangige Interesse gilt dabei der Staatstätigkeit, ihren Auswirkungen – und der
Erklärung daf€ ur. So legt die Parteiendifferenzlehre (z. B. Downs 1957;
Hibbs 1977) ihren Fokus auf die parteipolitische Zusammensetzung einer Re-
gierung. Weil Parteien darauf angewiesen seien, die Interessen ihrer Mitglieder
und Wählerschaft zu vertreten, w€urden sich beispielsweise sozialdemokratische
Parteien tendenziell eher f€ur Arbeitnehmerinteressen und Vollbeschäftigung (siehe
Keynesianismus) einsetzen, während Konservative bzw. b€urgerliche Parteien vor
allem auf die Preisniveaustabilität setzten (siehe Monetarismus/Neoliberalismus).
In diesen Erklärungsansätzen bestimmen also die Regierungsparteien die
Wirtschaftspolitik.
Die Machtressourcentheorie sieht dagegen politische Entscheidungen durch die
Machtmittel verschiedener Gesellschaftsklassen determiniert (z. B. Olson 1985,
2004). Gerade die politischen Konflikte und Auseinandersetzungen zwischen Arbeit
(z. B. Gewerkschaften) auf der einen und Kapital (z. B. Arbeitgeberorganisationen
bzw. Wirtschaftsverbände) auf der anderen Seite machten den Unterschied. Weiter-
entwicklungen dieser Konzepte m€unden schließlich in Ansätzen wie dem Korpora-
tismus (z. B. Schmitter und Lehmbruch 1979) oder die vergleichende Wohlfahrts-
staatsforschung (z. B. Esping-Andersen 1990; vgl. Schmid 2010).

2.2 Die polity-Perspektive auf die Wirtschaftspolitik:


Institutions matter

F€
ur den Vergleich von Wirtschaftspolitiken sind ebenfalls Ansätze geeignet, die vor
allem die Polity als unabhängige Variable betrachten. Sie betonen die Relevanz
politisch-institutioneller Strukturen (z. B. Tsebelis 1995) und Institutionen (z. B.
Granovetter 1985; Hall und Soskice 2001; Schmidt et al. 2007). Denn Akteure und
Interessen stoßen weder in der Wirtschaft noch in der Politik in einem leeren Raum
aufeinander. Vielmehr werden sie durch Institutionen kanalisiert und diese Konfi-
gurationen prägen die Systeme bzw. Wirtschaftsmodelle. Sie umfassen dabei Ent-
scheidungssysteme wie Märkte, Verhandlungen, Hierarchie bzw. Organisationen
wie Unternehmen, Verbände und Staat (Kruber 2002, 95 ff.).
Kritisch wird etwa der Föderalismus in der BRD gesehen. Die Ökonomen
Norbert Berthold und Holger Frick weisen dem Bundesstaat zwar im Prinzip eine
724 D. Buhr und J. Schmid

wachstumsförderliche – weil staatsbremsende – Funktion zu, sehen diese aber in


Deutschland nicht so umgesetzt.

„Der korporative Föderalismus deutscher Prägung ist somit alles andere als markterhaltend.
Da kein institutioneller Wettbewerb die Politiker und B€ urokraten diszipliniert, gelingt es
nicht, staatliche Eingriffe zu begrenzen. Mit dem Bundesgesetzgeber besteht ein einziger
und geeigneter Ansprechpartner f€ ur die W€
unsche von Interessengruppen. Als Folge bremsen
Markteingriffe die wirtschaftliche Dynamik. Ein markterhaltender Föderalismus, der die
relevanten wirtschaftspolitischen Kompetenzen dezentralen Ebenen zuweist, erschwert sol-
che Interventionen. Sanktionsmechanismen f€ ur wirtschaftlichen Erfolg bzw. Misserfolg
blieben funktionst€uchtiger, die Wirtschaft entwickelte sich dynamischer“ (Berthold und
Frick 2005, S. 9)

Diese skeptische Einschätzung findet sich auch in der Scharpf´schen These von
der Politikverflechtungsfalle; freilich ist auch dieses nicht unumstritten, denn in
einem Vergleich der sieben föderativen und vierzehn unitarischen politischen Sys-
teme in der OECD im Zeitraum 1973–1984 weisen zwar einerseits die föderativen
Staaten ein etwas geringeres Wirtschaftswachstum auf, sie verzeichnen jedoch
andererseits eine leicht niedrigere Arbeitslosigkeit und deutlich geringere Inflation
(vgl. Schmid 1987).
In komparativer Perspektive auf die Wirtschaftspolitik €ubertragen lassen sich
somit Systemunterschiede von Nationalstaaten analysieren und unterschiedliche
Ausprägungen von Wirtschaftspolitik erklären. Hier können neben dem Födera-
lismus eine Vielzahl von Variablen in die Analyse eingebunden werden: z. B. der
Grad staatlicher Interventionen in die Wirtschaft, Typen von Produktionsregimen,
die Art der Einbindung von Organisationen (z. B. Gewerkschaften, Unterneh-
mens- und Wohlfahrtsverbände, Banken, Kammern usw.) in nationale Wirt-
schaftsordnungen ebenso wie informelle Strukturen zwischen den politischen,
gesellschaftlichen und ökonomischen Systemen (vgl. Blancke 2006, 206).
Ausgangspunkt dieser theoretischen Ansätze ist dabei immer die Interdependenz
von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Innerhalb und zwischen diesen
Bereichen existieren formelle und informelle Institutionen, deren Funktionswei-
sen untersucht werden, um Zusammenhänge zwischen den volkswirtschaftlichen
Strukturen und dem Outcome eines gesamtgesellschaftlichen Systems herzustel-
len. Meist unterstellen die Ansätze der vergleichenden Kapitalismusforschung
eine große Rationalität der Akteure – vor diesem Hintergrund hat sich die
Wirtschaftspolitik also am jeweiligen Kapitalismustyp zu orientieren, weil die
Regierungen an Wiederwahl interessiert sind und sich daher an den klassischen
Outcome-Indikatoren wie (hohes) BIP, (niedrige) Arbeitslosenquote etc. messen
lassen. Freilich ber€ucksichtigen sie dabei die konkreten politischen, institution-
ellen und kulturellen Verhältnisse und weniger die Rationalität eines abstrakten
Marktes.
Das produziert zugleich systemspezifische Probleme und Performanzdefizite,
die als „Trilemma der Dienstleistungsökonomie“ gefasst worden sind (Abb. 2).
Die Institutionen eines Systems zu analysieren, gehört zum Kerngeschäft der
Politikwissenschaft. Daher finden sich auch eine ganze Reihe von Ansätzen, die den
Wirtschaftspolitik in der Vergleichenden Politikwissenschaft 725

Haushaltsdisziplin

Christdemokratisch-
zentristisch Liberal

Gleichheit Beschäftigung

Sozialdemokratisch

Abb. 2 Das Trilemma der Dienstleistungsökonomie. Quelle: nach Jochem (2009, S. 61)

Zusammenhang von institutionellem Setting, Wirtschaftspolitik und ökonomischem


Output diskutieren – von der Regulationstheorie (vgl. hierzu Aglietta 1979; Boyer
2005; Bieling 2011) bis zum Forschungsstrang der „Varieties of Capitalism“ (Hall
und Soskice 2001). Die Wettbewerbsfähigkeit und der Wohlstand einer Nation sind
demnach auch Folge der institutionellen Struktur der politischen Ökonomie eines
Landes. Damit werden Thesen, wonach sich eine Konvergenz aller Systeme auf
einen Industrialismus oder eine Form des Kapitalismus bzw. „der“ Marktwirtschaft
einstellen w€
urde, abgelehnt. Im Gegenteil, diese Systeme befinden sich angesichts
der neuen Herausforderungen, die mit den Stichworten Globalisierung und techno-
logischer Wandel verbunden sind, geradezu in einem ökonomischen „Kulturkampf“
(Abelshauser 2003).

2.3 Vergleichende Kapitalismusforschung – Entwicklungspfade


und institutionelle Komplementaritäten

F€ur die Analyse unterschiedlicher Kapitalismen oder „economic governance“ Sys-


teme gibt es verschiedene Typenbildungen. Eine der bekanntesten ist die von Michel
Albert (1992), der den angel-sächsischen Kapitalismus dem Modell eines „rhei-
nisch-nipponischen“ gegen€uberstellt; hierzu rechnet man auch Staaten wie Deutsch-
land und Frankreich. Vivien Schmidt (2002) unterscheidet drei Kapitalismusmodel-
le: Market Capitalism, Managed Capitalism und State Capitalism.
726 D. Buhr und J. Schmid

Die Varieties of Capitalism (VoC) Ansätze gehen der Frage nach, inwiefern durch
(spezifische) gesellschaftliche Institutionen wirtschaftliche Wettbewerbsvorteile f€ur
Nationen entstehen und warum manche Volkswirtschaften, gemessen am wirtschaft-
lichen Outcome, erfolgreicher sind als andere (Vgl. Hall und Soskice 2001). Vor dem
Hintergrund von Globalisierung, Europäisierung und mancher ökonomischer Krise
wird untersucht, wie exogene Schocks innerhalb des Systems verarbeitet werden und
welche Strukturen daf€ur verantwortlich sind. Hall/Soskice liefern dazu ein analyti-
sches Instrumentarium, um diese Strukturen und institutionellen Gef€uge von Kapi-
talismen vergleichen zu können, aber auch Erklärungen f€ur (unterschiedliche) öko-
nomische Performanz zu finden, die im nächsten Schritt Prognosen €uber k€unftige
Entwicklungen spezifischer Ökonomien erlauben. Die Autoren nehmen dabei
also vor allem die institutionelle Einbettung von Unternehmen in den Blick – und
deren Auswirkung auf die Innovationsdynamiken und Wachstumsraten einer
Volkswirtschaft (vgl. Hall und Soskice 2001, S. 44). An North angelehnt definieren
Hall/Soskice Institutionen als ein Set von formellen und informellen Regeln, die von
den Akteuren aus normativen, kognitiven oder materiellen Gr€unden befolgt und im
Sinne der Pfadabhängigkeit auch immer wieder bestätigt werden. Die zentralen
Akteure innerhalb der untersuchten Institutionen sind Unternehmen, die sich im
Rahmen von Handelsunionen, Unternehmensverbänden etc. in den Beziehungen zu
Beschäftigten, Zulieferern und Kunden, Kredit- und anderen Kapitalgebern sowie
Eigent€umern unterschiedlich – „marktlich“ (LME) oder „strategisch“ (CME) –
koordinieren. Je nachdem, ob marktliche oder strategische Koordination dominie-
ren, lassen sich Volkswirtschaften idealtypisch als „liberal market economies“ oder
„coordinated market economies“ typologisieren. Charakteristisch f€ur LMEs ist eine
Koordination, die €uber den Markt, durch Wettbewerb und formale Verträge ge-
kennzeichnet ist. In CMEs dagegen findet strategische Koordination €uber Netz-
werke, Verbände und informelle Verträge statt (vgl. Hall und Soskice 2001).
Hall/Soskice untersuchen zudem, wieweit sich existierende Institutionen gegensei-
tig beeinflussen und ob die Funktionalität einer Institution von der Präsenz einer
anderen Institution abhängt. In einem solchen Fall sprechen die Autoren – ankn€upfend
an Aoki (2001) – von „institutionellen Komplementaritäten“ (vgl. Hall und Soskice
2001, S. 17). Diese sorgen daf€ur, dass beispielsweise auch im Falle eines externen
Schocks die beteiligten Akteure nicht zum Pfadwandel neigten, sondern eher gemäß
ihrem typischen Koordinationsmodus handelten. Folglich käme es dann zu einer
Entwicklung in Richtung der Idealtypen und damit auch zu einer (persistenten)
Divergenz der Kapitalismustypen. Dabei weisen Hall/Soskice mit verschiedenen
sozioökonomischen Indikatoren nach, dass jene Volkswirtschaften, die den beiden
Idealtypen am nächsten kommen, den höchsten ökonomischen Output haben. Ein
Befund, der später aber sowohl bestätigt (z. B. Hall und Gingerich 2004; Schneider
und Paunescu 2012) als auch verworfen (z. B. Kenworthy 2006) worden ist (Tab. 3).
Diese Überlegungen €uber die Vielfalt an kapitalistischen Marktwirtschaften zei-
gen zum einen, wie eng die Interdependenz von Wirtschaft und Politik in einigen
Fällen verläuft, und dass es zum anderen keinen „one best way“ gibt (Schmid und
Buhr 2012). Gerade diese Erkenntnis ist es, die den VoC-Ansatz f€ur den Vergleich
von Wirtschaftspolitiken so interessant macht.
Wirtschaftspolitik in der Vergleichenden Politikwissenschaft 727

Tab. 3 Varieties of Capitalism nach Hall und Soskice


Coordinated Market Economy Liberal Market Economy
Institutionelle Sphäre
Finanzsystem - Finanzierung €
uber Banken - Finanzierung €uber nationale und
internationale Kapitalmärkte
- Finanzierung €uber lange - Orientierung an kurzfristigen
Zeithorizonte, Orientierung an Gewinnen (risikoreich)
langfristigen Renditen
Arbeitsbe - Stark regulierte Arbeitsmärkte, - Flexible Arbeitsmärkte
ziehungen - Mitbestimmungsrechte der - wenig eingeschränkte
Beschäftigten, Handlungsmöglichkeiten im
Management
- eingeschränkte - pluralistische Gewerkschaften
Handlungsmöglichkeiten im
Management (z. B. durch
Betriebsratpflicht),
- Starke Gewerkschaften, - Tarifverhandlungen innerhalb des
Betriebs
- koordinierte €
uberbetriebliche - Kurze Betriebszugehörigkeit durch
Lohnverhandlungen, Arbeitsschutz kurzfristige Arbeitsverträge (Prinzip
(z. B. K€
undigungsschutz), hire&fire)
- Lange Betriebszugehörigkeit - starke Einkommensspreizung
Aus- und - berufsbezogene (längere) - keine branchenspezifische
Weiterbildung Ausbildung (damit Ausbildung (damit geringe
branchenspezifische Kenntnisse und Qualifikation), sondern Vermittlung
hochqualifizierte Facharbeiter) genereller Kenntnisse
- Unternehmen investieren in - Unternehmen investieren vor allem
Ausbildung und Entwicklung in Forschung und Entwicklung
Unternehmens- - Kooperation - Konkurrenz
beziehungen - Netzwerke - Weniger Organisation in
- Organisation in Unternehmensverbänden
Unternehmensverbänden
Outcome
Wettbewerbs - durch Qualität/Spezialisierung - durch Preis / Massenproduktion
vorteile - durch inkrementelle Innovation von - durch radikale Innovationen im
Produktionsg€utern Technologie- und
Dienstleistungsbereich
Innovations - inkrementell - radikal (schnelle Umstellung auf
system neue Entwicklung und Produktion)
- Innovationstransfer €
uber - Innovationstransfer €
uber Märkte
Zusammenarbeit zwischen Firmen/ und formelle Verträge
Unternehmensverbände
Quelle: nach Hall und Soskice (2001); Nölke (2011)

So hilfreich der Ansatz von Hall/Soskice f€ur die Analyse der economic
governance von Volkswirtschaften sein mag, so begrenzt ist er auch. Zahlreiche
Länder (und Regionen) blieben jahrelang unber€ucksichtigt, auch weil das klas-
sische VoC-Raster nicht auszureichen schien, um Prozesse zwischen Staat und
728 D. Buhr und J. Schmid

Wirtschaft auch jenseits der klassisch demokratischen OECD-Welt zu erfassen.


Ein weiterer Kritikpunkt ist die unternehmenszentrierte Herangehensweise, die
zur Folge hat, dass die (Koordinations-)Rolle des Staates sowie makropolitische
Strukturen bei der Analyse stark unterbelichtet bleiben. So ist bei der Unter-
scheidung zwischen CMEs und LMEs nicht ersichtlich, in welchem Ausmaß der
Staat in bestimmten wirtschaftlichen Sektoren intervenierend agiert. Nur ein
Grund, warum der Ansatz €uber die vergangenen Jahre entsprechend erweitert
worden ist.
Hancké et al. (2007) schlagen ein umfangreicheres Analyseraster vor, das zusätz-
lich den Aspekt der staatlichen Koordinierung ber€ucksichtigt, wodurch sich das
Konzept auch auf staatsdominierte Kapitalismen und beispielsweise Volkswirtschaf-
ten in Zentral- und Osteuropa anwenden lässt. Auch Bohle und Greskovits (2012)
sowie Nölke und Vliegenthart (2009) setzen sich mit der Klassifizierung von
Kapitalismen im Baltikum bzw. in Zentral- und Osteuropa (wie z. B. Polen, Ungarn,
Tschechien, Slowenien) auseinander und betonen dabei die Notwendigkeit, das
Zusammenspiel inländischer und internationaler Faktoren zu beleuchten (vgl. Nölke
2011, S. 4). Damit kommen sie zu einem weiteren Typus, der vor allem durch den
komparativen Vorteil der Produktion von komplexen Konsumg€utern und der starken
Abhängigkeit von ausländischen Direktinvestitionen und transnationalen Unterneh-
men gekennzeichnet ist. Eine solche Marktwirtschaft bezeichnen Nölke/Vliegent-
hart als „dependent market economy“. Schneider (2013) richtet sein Augenmerk auf
die Kapitalismen Lateinamerikas, die er als „Hierarchical Capitalism“ typologisiert
und die er unter anderem als Realtypen in Argentinien, Brasilien, Chile, Kolumbien
und Mexiko erkennt. In jenen Staaten fänden sich Marktökonomien, in denen
Hierarchie der zentrale Koordinationsmechanismus innerhalb der Unternehmen aber
auch dar€ uber hinaus innerhalb der Sphäre der Arbeitsbeziehungen sei. Hierachical
Market Economies (HME) zeichnen sich zudem durch starken (informalen) Einfluss
bestimmter Unternehmerfamilien und durch Oligopole aus, die schließlich zu einer
„low-skill-Falle“ f€uhrten (Nölke 2013).
Buhr und Frankenberger (2014) erweitern den VoC-Forschungsstrang schließlich
auch um Kapitalismen in defekten Demokratien bzw. Autokratien. In diesen Volks-
wirtschaften wird der Staat zu einem (zentralen) kapitalistischen Akteur, der die
Ökonomie inkorporiert und kontrolliert. Hinzu kommt, dass sich der Staat €uber
unterschiedliche Wege den Zugriff auf die Gewinne sichert: durch die Kontrolle
der Eink€ unfte aus Rohstoff- und anderen Renten (Beblawi und Luciani 1987), durch
die Kontrolle € uber zentrale Unternehmen und insbesondere den Banken- und Fi-
nanzsektor (Schlumberger 2008) oder €uber eine hohe Abschöpfungsquote. Die
Ausbildung institutioneller Komplementaritäten der Regulierung wiederum folgt
zwei verschiedenen Mustern: einer patrimonialen Variante (klassische Rentierstaa-
ten, z. B. Vereinigte Arabische Emirate und Russland) einerseits und einer
b€urokratischen Variante (z. B. Thailand, Singapur und China) andererseits, die sich
hinsichtlich der Kooptationsstrategien, der Handlungsorientierung, der institutio-
nellen Komplementaritäten sowie der Umverteilungsmechanismen unterschieden
(Buhr und Frankenberger 2014).
Wirtschaftspolitik in der Vergleichenden Politikwissenschaft 729

3 Fazit: Potenziale der vergleichenden


Wirtschaftspolitikforschung

Was können die skizzierten Ansätze der Politikfeldanalyse und der politischen
Ökonomie zum Vergleich von Wirtschaftspolitik beitragen? Sehr viel, bilden sie
doch hilfreiche Analyseraster und Typologien, um sowohl die Polity- und Politics-
als auch Policy-Dimension im Politikfeld Wirtschaftspolitik analysieren und so die
makroökonomischen Konzepte von keynesianischer versus neoliberaler Interven-
tion zu kontextualisieren. Das macht sie sodann auch f€ur die praktische Politik
(beratung) interessant. Beispielsweise lassen sich die Erfolge bestimmter Policies
auch hinsichtlich der Auswirkungen auf jeweilige institutionelle Komplementaritä-
ten in den entsprechenden Kapitalismustypen prognostizieren bzw. ein – institutio-
nell aufgeklärtes – Lernen von anderen organisieren und beurteilen. So gehen Hall
und Gingerich (2004) beispielsweise hinsichtlich der Performanz unterschiedlicher
Kapitalismen von einer u-Kurve aus. Je näher die Volkswirtschaften dem jeweiligen
Idealtyp (LME oder CME) kämen, desto erfolgreicher sei der ökonomische Output.
Gleichwohl ein Befund, den Kenworthy (2006) deutlich relativiert und in Frage
stellt.
Daneben gibt es ein hohes Erweiterungs- und Analysepotenzial in der bereits
angelegten Mehrebenenbetrachtung: Neben der hier behandelten nationalen Ebene
kann die regionale Ebene ergänzend in den Blick genommen werden und die dort
verbreiteten Konzepte wie regionale Innovationssysteme (Cooke et al.1998); Clus-
terforschung (Porter 1991; Florida 2002; vgl. auch Beck/Heinze/Schmid 2014) usw.
aufgenommen werden. Sinnvollerweise bezieht sich dann der Fokus ebenfalls stär-
ker auf die regionale bzw. regionalisierte Wirtschaftspolitik.
Sowohl auf den wissenschaftlichen Erkenntnisstand als auch die praktischen
Erfolge und Potenziale in der Wirtschaftspolitik bezogen gilt freilich das alte Motto
von Sören Kierkegaard: „Das Vergleichen ist das Ende des Gl€ucks und der Anfang
der Unzufriedenheit.“

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Bildung in der Vergleichenden
Politikwissenschaft

Rita Nikolai und Kerstin Rothe

Zusammenfassung
Die vergleichende Politikwissenschaft leistet einen bedeutenden Beitrag in der
Bildungsforschung, denn sie kann die Determinanten der Veränderungsprozesse
in Bildungssystemen analytisch erklären. In der Mehrheit der OECD-Staaten lässt
sich mit dem Wandel von der Input- zur Output- und Wettbewerbssteuerung ein

ubergreifender Paradigmenwechsel in der Organisations- und Steuerungsphiloso-
phie von Schulsystemen feststellen. Dabei bestehen deutliche Unterschiede zwi-
schen den Ländern in Ausprägung und Geschwindigkeit. Am Beispiel von Schul-
reformen in Deutschland, Schweden und den USA zeigt unser Beitrag die
Potenziale vergleichender, politikwissenschaftlicher Forschung. Unseren Analy-
sen zufolge sind Veränderungen in den Schulsystemen auf vielfältige politische
wie institutionelle Faktoren zur€uckzuf€uhren und erst durch eine Vergleichsper-
spektive können Determinanten identifiziert werden.

Schlüsselwörter
Neue Steuerung • Schulpolitik • Deutschland • USA • Schweden

R. Nikolai (*)
Juniorprofessorin f€ur Systembezogene Schulforschung, Institut f€
ur Erziehungswissenschaften,
Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland
E-Mail: rita.nikolai@hu-berlin.de
K. Rothe
Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Systembezogene Schulforschung, Institut f€
ur
Erziehungswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland
E-Mail: kerstin.rothe@hu-berlin.de

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 733


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_55
734 R. Nikolai und K. Rothe

1 Einleitung

In Folge von internationalen Sch€ulerleistungsstudien (Klieme et al. 2010), nationa-


len Leistungsvergleichen (Köller et al. 2010, PISA-Konsortium Deutschland 2007)
und Bildungsberichterstattungen auf internationaler wie nationaler Ebene (Autoren-
gruppe Bildungsberichterstattung 2012, OECD 2013) hat das Politikfeld Bildung in
den letzten Jahren besonders in Deutschland enorm an medialer und politischer
Aufmerksamkeit gewonnen. Dies gilt im besonderen Maße f€ur den Bildungsbereich
Schule: Das allenfalls mittelmäßige Leistungsniveau deutscher Sch€uler und Sch€ule-
rinnen im internationalen Vergleich, die ausgesprochen starke Abhängigkeit der
Bildungschancen von der sozialen Herkunft, der hohe Anteil „bildungsarmer“
Sch€uler und Sch€ ulerinnen (Deutsches PISA-Konsortium 2001) und nicht zuletzt
die hohe Varianz von Sch€ulerleistungen und Chancengleichheit im Bundesländer-
vergleich (Deutsches PISA-Konsortium 2002) haben die Schulpolitik nahezu aller
Bundesländer auf den Pr€ufstand gestellt und aufgeheizte Debatten €uber die Qualität
des deutschen Schulsystems in Gang gesetzt. Bundesweit wurden nationale Bil-
dungsstandards eingef€uhrt und ganztägige Schulangebote ausgebaut. Steuerungsst-
rategische Reformen wie die Verstärkung von Schulautonomie, die Einf€uhrung von
Schulinspektionen und der Ausbau von zentralen Abschlusspr€ufungen zielen auf
eine stärkere Output-Orientierung und Wettbewerb im Schulwesen (Altrichter und
Maag Merki 2010). Doch nicht in allen Staaten haben die Studien des Programme
for International Student Assessment (PISA) vergleichbare Schockwellen wie in
Deutschland ausgelöst. In vielen Ländern wurden tiefgreifende Veränderungen nicht
erst mit den PISA-Studien vorgenommen, sondern bereits in den 1980er-Jahren im
Zuge der wirtschaftspolitischen Neuorientierung am Liberalismus und Wettbewerb,
wie beispielsweise in England unter Thatcher oder in den USA unter Reagan. Trotz
der unterschiedlichen Reaktionen und Veränderungen lässt sich ein €ubergreifender
Paradigmenwechsel in der Organisations- und Steuerungsphilosophie von Schul-
systemen der OECD-Staaten feststellen: der Wandel von der Input- zur Output- und
Wettbewerbssteuerung in der Bildungspolitik. Diese veränderte Steuerungsphiloso-
phie lässt sich in allen Bildungsbereichen nachweisen, am größten sind die Verän-
derungen jedoch in der Schul- und Hochschulpolitik (Altrichter und Maag Merki
2010, Bellmann und Weiß 2009), wobei der vorliegende Beitrag sich auf den
Gegenstand der Schulpolitik konzentriert.
Hier steht nicht mehr die zentrale Steuerung durch Inputs wie finanzielle Res-
sourcen, detaillierte Lehrpläne oder die Professionalisierung der Lehrerschaft im
Mittelpunkt schulpolitischer Aufmerksamkeiten, sondern der Output von Lehr-Lern-
Prozessen. Die dem New Public Management entlehnte Logik bem€uht sich, eine
verstärkte Legitimität der staatlichen Bereitstellung von Schulbildung zu erreichen,
durch Leistungs-, Wirkungs-, Kunden- und Qualitätsorientierung im Schulsystem.
Der steuerungsstrategische Paradigmenwechsel im Schulsystem beruht im Kern auf
zwei Steuerungsinstrumenten: 1. Output-Steuerung durch die externe und interne
Evaluation von Schulleistungen und 2. Wettbewerbssteuerung durch Dezentralisie-
rung, freie Schulwahl und damit einhergehend die Etablierung von Quasi-Märkten
im Bildungssystem (Bellmann und Weiß 2009). In der Summe lassen sich die
Bildung in der Vergleichenden Politikwissenschaft 735

Transformationen institutioneller Regelungsstrukturen unter dem Begriff der


„Neuen Steuerung“ (Altrichter und Maag Merki 2010) subsumieren.
Im internationalen Vergleich sind unterschiedliche Geschwindigkeiten und Um-
setzungen des neuen Steuerungsparadigmas zu beobachten. Angesichts der unter-
schiedlichen Reaktionen geht der Beitrag daher folgenden Fragen nach: Wie können
unterschiedliche Geschwindigkeiten und Umsetzungen des neuen Steuerungspara-
digmas in der Schulpolitik erklärt werden? Welche Rolle spielen dabei (partei-)
politische und institutionelle Determinanten?
Im Folgenden werden wir diese Fragen am Beispiel politikwissenschaftlicher
Untersuchungen zum Wandel des Steuerungsparadigmas in der Schulpolitik disku-
tieren. Gerade die vergleichende Politikwissenschaft kann einen bedeutenden Bei-
trag f€ur die Bildungsforschung leisten. So richten die Disziplinen der Erziehungs-
wissenschaft, Bildungsökonomie und Bildungssoziologie ihren Fokus darauf, wie
Bildungsprozesse verlaufen, wovon der Erwerb von Kompetenzen und Bildungs-
abschl€ ussen im Bildungssystem abhängt und welche Auswirkungen Formen
der Output- und Wettbewerbssteuerung hierbei haben. Die vergleichende Politik-
wissenschaft kann dagegen die Determinanten der Veränderungsprozesse in den
Bildungssystemen analytisch und vergleichend erklären, denn sie richtet den Fokus
auf die Rolle von politischen Institutionen und ihrem Wechselspiel im Mehrebenen-
system. Ebenso nimmt sie die Machtposition, Interessen und strategischen Inter-
aktionen der involvierten Akteure in den Blick. Interessanterweise spielte die Bil-
dungspolitik als Untersuchungsfeld in der deutschen Politikwissenschaft lange Zeit
ein Schattendasein (Hepp und Weinacht 1996, Jakobi et al. 2010), jedoch etabliert
sich in der Bildungsforschung in den letzten Jahren zunehmend eine politikwissen-
schaftliche Perspektive heraus. Insbesondere die berufliche Bildung als auch der
Hochschulsektor sind in verstärkt in den Fokus politikwissenschaftlicher Forschung
ger€uckt (zum Forschungsstand vgl. Busemeyer und Trampusch 2011, Busemeyer
und Trampusch 2012, Dobbins und Toens 2011, Knill et al. 2013). Aber auch die
Schulpolitik gewinnt an Aufmerksamkeit (Edelstein und Nikolai 2013, Töller
et al. 2011, Wolf 2008, Wolf und Kraemer 2012). Die politikwissenschaftliche
Bildungsforschung ist mittlerweile eine „Wachstumsindustrie“ (Busemeyer
et al. 2013, S. 180).
In unserem Beitrag skizzieren wir im Folgenden den seit den 2000er-Jahren zu
beobachtenden Paradigmenwechsel in der Schulpolitik. Output- und Wettbewerbs-
steuerung als Schlagworte dieses Paradigmenwechsels haben einen tiefgreifenden
institutionellen Umbau in den Schulsystemen der OECD zur Folge. F€ur die Länder-
analysen haben wir in Anlehnung an Esping-Andersen drei unterschiedliche Wohl-
fahrtsstaatsmodelle ausgesucht. Neben Deutschland und Schweden als klassischen
Vertreter eines konservativen und sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat, stellen wir
die Entwicklungen auch im liberalen Wohlfahrtsstaat USA dar, da diese als die
Wiege der Testverfahren angesehen werden können und neben Frankreich maß-
geblich auf internationaler Ebene die Einf€uhrung der PISA-Studien vorantrieben
(Martens 2010, Weymann und Martens 2005). Im Folgenden werden wir den
Wandel zu den neuen Steuerungsmechanismen der Output- und Wettbewerbssteue-
rung anhand der ausgewählten Länderbeispiele kurz illustrieren.
736 R. Nikolai und K. Rothe

2 Veränderte Steuerungs- und Governance-Strategien im


Schulsystem: Schubkräfte und Entwicklungslinien

F€
ur unsere Analyse entlang der drei ausgewählten Länderbeispielen betrachten wir
folgende Aspekte: (1) das Wohlfahrtstaatsmodell sowie das damit zusammenhängende
Bildungsverständnis des Landes; (2) die Funktionalität des öffentlichen Schulsystems
sowie die ökonomische Lage und Art und Höhe öffentlicher Bildungsausgaben als
Ausdruck der Staat-Markt-Beziehungen; (3) die konstitutionelle Vetostruktur, die
Parteienkonstellation sowie die Kompetenzaufteilung f€ur den Schulbereich.

2.1 Deutschland

In Deutschland als konservativem Wohlfahrtsstaat ist die Verantwortung f€ur Schul-


bildung traditionell sowohl bei der Familie als auch beim Staat angesiedelt (Nikolai
2007). Das Schulsystem wird zwar zu großen Teilen öffentlich durch die Bundes-
länder finanziert, allerdings liegen die Ausgaben f€ur Schulen im internationalen
Vergleich seit Beginn der jährlichen OECD-Bildungsberichterstattung „Education
at a Glance“ (1992) stets unterhalb des OECD-Durchschnitts (OECD 1992, OECD
2013). Zudem gibt es ein Ungleichgewicht zwischen den steigenden Wirtschafts-
einnahmen und den öffentlichen Ausgaben f€ur Schulen; vielmehr ist in Relation zum
Bruttoinlandsprodukt der Anteil der Ausgaben f€ur den Schulbereich gesunken
(Klemm 2008). Trotz dieser vergleichsweise geringen Investitionen ins Schulsystem
hielten schulpolitische Akteure und Öffentlichkeit die Schulbildung im gesamten
Bundesgebiet f€ ur sehr funktionsfähig und zukunftstauglich. Im Vergleich zu vielen
anderen Staaten lösten die Ergebnisse der ersten PISA-Untersuchung bei ihrer Ver-
öffentlichung 2001 daher in Deutschland einen Schock aus (Niemann 2010). Die
internationale Erhebung der Kompetenzniveaus legte offen, dass die Kompetenzen
deutscher Sch€ ulerinnen und Sch€uler signifikant unterhalb des OECD-Durchschnitts
lagen und die Qualität des deutschen Schulsystems nicht der bis dato vorherrsch-
enden positiven Wahrnehmung entsprach (Leibfried und Martens 2008, S. 10).
Aufgrund des direkten Vergleichs mit anderen Ländern wurden die Mängel im
eigenen System plastisch und generierten einen durch die internationale Ebene
ausgelösten Handlungszwang auf nationaler Ebene. Wie in keinem anderen Teilneh-
merland entbrannte in Deutschland ein öffentlicher Diskurs €uber Schulbildung und
entfaltete eine dynamisierende Wirkung im durch jahrzehntlangen Reformstau ge-
kennzeichneten Deutschland (Niemann 2010, S. 68, Wilde 2002). Durch die Zustän-
digkeit der Bundesländer f€ur die Schulpolitik blieben weitreichendere Veränderun-
gen im Schulbereich oftmals aus, da diese eine Zustimmung aller Ländervertreter in
der Kultusministerkonferenz bedurft hätte (Wolf 2008). Eine umfassende Wendung
von Input- zu Output-Steuerung war dadurch ausgeblieben. Mit den PISA-
Resultaten gab es nunmehr jedoch einen exogenen Anstoß f€ur Innovationen in den
Schulsystemen und zuvor bereits konzipierte Reformmaßnahmen kamen zum Zuge
(Tillmann et al. 2008, S. 379). So nutzten reformorientierte Akteure die entstandene
Unsicherheit € uber die Tauglichkeit der aktuellen Schulbildung, um ihre eigenen
Bildung in der Vergleichenden Politikwissenschaft 737

Konzeptvorstellungen durchzusetzen (f€ur Niedersachsen vgl. Hartong 2012) und


konnten aufgrund des durch PISA entstandenen Problemdrucks die hohen Kon-
sensh€urden in der deutschen Schulpolitik €uberwinden (Niemann 2010, S. 84). Zu
diesen reformwilligen Akteuren gehörten Interessenvertreter der deutschen Wirt-
schaft und Stiftungen, die bessere Schulleistungen und daher deren systematische
und kontinuierliche Überpr€ufung einforderten, um die Performanz der deutschen
Wirtschaft zu sichern. Die Kultusministerkonferenz als Koordinationsgremium der
Landesschulpolitikerinnen und -politiker wandelte sich „vom Bremser zum Motor
f€ur Modernisierung“ (Baumert et al. 2008, S. 124) in der Schulpolitik, indem sie die
Output-Orientierung vorantrieb und mit der Gr€undung des Instituts f€ur Qualitätsent-
wicklung im Bildungswesen 2004 die Entwicklung und Überpr€ufung von Bildungs-
standards unterst€
utzte (Köller 2010). Weitere Untersuchungen zu Reaktionen auf die
erste PISA-Studie (2000) in ausgewählten Bundesländern zeigen, dass PISA als
Leistungsvergleich in Deutschland zwar selten neue Programme initiierte – aber von
Schulpolitikerinnen und -politiker herangezogen wurde, um ohnehin verfolgte poli-
tische Strategien einer stärkeren Überpr€ufung der Schulleistungen zu verfolgen
(Tillmann et al. 2008). In Deutschland sind die j€ungsten Reformen hin zu einer
stärkeren Output-Steuerung somit in der Tat zu einem hohen Anteil auf die PISA-
Studien zur€ uhren, insofern sie in Deutschland €uberhaupt erst ein Problembe-
uckzuf€
wusstsein in Bezug auf das eigene Schulsystem etablierten und damit, trotz der
föderalen Zuständigkeit f€ur Schulpolitik, flächendeckende Maßnahmen ermöglich-
ten. Da Deutschland sein Schulsystem im Gegensatz zu anderen Ländern nicht
aufgrund massiver wirtschaftlicher Krisen oder zu hoher Bildungsausgaben auf
den Pr€ ufstein gestellt hatte, brauchte es einen anderen exogenen Anstoß (hier
mangelnde Leistungen der Sch€ulerinnen und Sch€uler) um einen Wandel im Schul-
bereich trotz zahlreicher Veto-Spieler herbeizuf€uhren.
Anders als bei der Output-Steuerung blieb eine stärkere Ökonomisierung des
Schulsystems jedoch bislang aus.1 Zwar wurden in den 2000er-Jahren in Deutsch-
land zahlreiche neue Privatschulen gegr€undet, der Anteil von Privatschulen an allen
allgemeinbildenden Schulen ist im Vergleich zu anderen OECD-Ländern mit rund
10 % (2010) aber moderat (K€uhne und Kann 2012). Während im Kindergartenbe-
reich und in der Weiterbildung Gutscheinmodelle eingef€uhrt wurden, scheiterten
Reformanstöße von Wirtschaftsverbänden und Elterninitiativen zur Einf€uhrung von
Bildungsgutscheinen in den Schulsystemen der Bundesländer an mangelnder partei-
politischer Unterst€utzung der Volksparteien (Klitgaard 2007). Auch die Versuche der
Schulministerien, die Lernmittelfreiheit an Schulen abzuschaffen bzw. die Eltern-
beteiligungen an Lernmittelkosten zu erhöhen, wurden in der Vergangenheit von
Protesten der Eltern begleitet und sind häufig Gegenstand von Volksinitiativen (Wolf
2010, S. 312 f.). Nach wie vor besteht in Deutschland das grundsätzliche bildungs-
politische Verständnis, wonach der Staat ein wichtiger Verantwortungsträger im
Schulbereich ist. Anstelle einer Stärkung marktbasierter Elemente im Schulwesen

1
In der beruflichen Bildung und im Kindergartenbereich sind private Akteure jedoch stark enga-
giert. Auch in der Hochschulbildung etabliert sich ein entsprechender Markt privater Anbieter.
738 R. Nikolai und K. Rothe

wurde jedoch in den 2000er-Jahren der Elternwille als Instrument der freien Schul-
wahl gestärkt. In einzelnen Bundesländern können Eltern ihre Kinder auf Schulen
auch außerhalb ihres zuständigen Schulbezirks schicken (Riedel et al. 2010) und
immer häufiger ist bei der Wahl der zuk€unftigen weiterf€uhrenden Schulform nicht
mehr die Grundschulempfehlung sondern der Elternwunsch entscheidend (F€ussel
et al. 2010). Damit wurde im konservativen Wohlfahrtsstaat Deutschlands die Rolle
der Familie als Entscheidungsinstanz im Schulwesen gestärkt.

2.2 Schweden

In Schweden als sozialdemokratisch geprägter Wohlfahrtsstaat zählt die Verantwor-


tung f€ ur das Schulsystem zu den zentralen staatlichen Aufgaben (Busemeyer und
Nikolai 2010, Nikolai 2007). Die Ausgaben f€ur den Schulbereich sind diesem
Verständnis entsprechend hoch und werden zentral finanziert, jedoch dezentral ver-
waltet (OECD 2013, S. 246). Prägender Punkt f€ur die Reformaktivitäten im schwe-
dischen Schulsystem (vgl. Helgøy und Homme 2006) war Anfang der 1990er-Jahre
eine tiefe Rezession, im Zuge dessen wohlfahrtsstaatliche Leistungen einem Spar-
diktat unterworfen wurden. Bereits in den 1980er-Jahren wurde unter sozialdemo-
kratischer Regierung eine Dezentralisierung der Schulpolitik an die Kommunen
durchgesetzt, die dazu f€uhrte, dass das schwedische System zu einem der im höch-
sten Maße dezentralisierten Schulsysteme im internationalen Vergleich wurde (Lun-
dahl 2002). Ebenso wurde der Übergang zu einer output-orientierten Steuerung
vollzogen: ein umfangreiches Inspektionssystem wurde implementiert, das aller-
dings anders als in England (West und Ylönen 2010), nicht mit Sanktionen ge-
koppelt wurde. Nach Helgøy und Homme liegt es am sozialdemokratischen Wohl-
fahrtsstaatsmodell und den entsprechenden Werteorientierungen, die sich im
Bildungssystem am Grundsatz der Gleichheit manifestieren, dass in Schweden die
Output-Orientierung nicht wie in England mit Sanktionen verkn€upft wurde (Helgøy
und Homme 2006). Diese weiche Form der Output-Steuerung wurde dabei partei-
€ubergreifend bef€ urwortet, so dass die Implementierung unabhängig von den partei-
politischen Lagern bzw. der Regierungsverantwortung zu sehen ist. Anders als in
Deutschland wurden in Schweden somit nicht erst durch die PISA-Studien, sondern
bereits deutlich fr€uher Reformen im Schulsystem in Gang gesetzt. Die PISA-
Ergebnisse wurden stattdessen zum Anlass genommen, Reformen der 1980er und
1990er-Jahre einer kritischen Bestandaufnahme zu unterziehen (Carlgren 2009).
Denn auch wenn die Output-Steuerung in Schweden durch den Verzicht auf
Sanktionen und die Kombinationen mit anderen Gestaltungselementen nicht wett-
bewerbsorientiert angelegt ist, wurden durch die Deregulierung und Dezentralisie-
rung der öffentlichen Daseinsvorsorge in den 1980er-Jahren die entscheidenden
Schritte f€ur eine stärkere Wettbewerbsorientierung im Schulbereich bereits vorbe-
reitet. So wurden 1988 die Verantwortung f€ur Grundschulen an die lokalen Gemein-
den delegiert und Bildungsgutscheine f€ur das öffentliche Schulsystem eingef€uhrt
(Klitgaard 2008). Die von 1991 bis 1994 amtierende konservative Regierung setzte
die Deregulierung fort und löste sich komplett von der zentralstaatlichen Steuerung.
Bildung in der Vergleichenden Politikwissenschaft 739

Zudem weitete sie 1992 die freie Schulwahl auf die Wahl zwischen öffentlichen und
privaten Schulen aus und öffnete damit das Fenster f€ur marktorientierte Reformen.
Wieder im Amt stellte die sozialdemokratische Regierung 1994 die Finanzierung der
privaten Schulen mit öffentlichen Schulen gleich. In der Folge kam es zu einem
enormen Anstieg des Privatschulsektors vor allem in urbanen Regionen. Proteste
von Lehrergewerkschaften gegen die zunehmende Privatisierung gab es zwar reich-
lich, doch konnten diese den parlamentarischen Entscheidungsprozess nicht blo-
ckieren. Anders als in Deutschland ist die Entscheidungsfindung in Schweden
auf zentralstaatlicher Ebene angesiedelt und dementsprechend die Anzahl von
Vetospielern im Vergleich auch geringer. Kennzeichen der Debatte um freie Schul-
wahl und Bildungsgutscheine war zudem, dass nicht von „privaten“ sondern von
„freien Schulen“ gesprochen wurde. Den sozialdemokratischen wie auch konserva-
tiven Regierungen gelang es, die Einf€uhrung von Bildungsgutscheinen mit Aspekten
der Deregulierung und größerer Wahlfreiheit anstelle von Privatisierung zu ver-
kn€upfen. Mit der Wahlfreiheit erfolgte auch eine Stärkung des Elternwillens. Die
privaten Schulen gleichen dabei vielmehr den aus den USA bekannten charter
schools: Zwar sind privaten Schulen autonom in der Gestaltung des Schullebens,
des Unterrichts und der Einstellungspraxis von Lehrerinnen und Lehrern, da sie
jedoch öffentlich finanziert werden und einem nationalen Curriculum verpflichtet
sind, werden die privaten Schulen als Teil des universalen sozialdemokratischen
Wohlfahrtsstaats angesehen (Klitgaard 2007).
Die j€
ungsten Reformen in Schweden weisen auf eine Reanimierung des sozial-
demokratischen Wohlfahrtsstaates hin, da die Schulinspektionen nicht nur gestärkt,
sondern auch zur€ uck in zentrale Verantwortung des Staates gelegt wurden (Lindgren
et al. 2012, Rönnberg 2014). Dieser erneute Wandel wird auch als Reaktion auf die
schlechter werdenden PISA-Ergebnisse dargestellt. Denn während die Leistungen
der schwedischen Sch€ulerinnen und Sch€uler in der ersten PISA-Studie von 2000 in
den getesteten Domänen noch oberhalb des OECD-Durchschnitts lagen, kam es in
den folgenden Leistungserhebungen zu Abnahmen in den Kompetenzwerten. Bil-
dungspolitikerinnen und -politiker in Schweden f€uhren das darauf zur€uck, dass die
Schulreformen der 1990er-Jahre ihre negative Wirkungen erst im Verlauf der 2000er-
Jahren entfalteten (Kobarg und Prenzel 2009). Anders als in vielen Staaten der OECD
ist in Schweden in Folge der PISA-Studien keine Zunahme von Dezentralisierung
und Wettbewerb zu verzeichnen, sondern eine Kehrtwende zur€uck zu mehr Zentral-
staatlichkeit im Sinne des sozialdemokratischen Wohlfahrsstaatsmodells.

2.3 USA

Auch im liberalen Wohlfahrtsstaat der USA liegt die Verantwortung f€ur Bildung
grundsätzlich beim Staat, jedoch zeichnen sich die USA durch eine hohe Wett-
bewerbsorientierung und eine Beschränkung der staatlichen Verantwortlichkeit in
der Bildungsfinanzierung aus (Busemeyer und Nikolai 2010, Nikolai 2007). Die
OECD hat ihrem Organisationstyp entsprechend eine ökonomische Perspektive auf
Bildung und schuf durch den vereinheitlichten Referenzrahmen eine Legitimations-
740 R. Nikolai und K. Rothe

basis f€
ur marktbasierte und output-orientierte Steuerungsmechanismen im Schulbe-
reich. In liberalen Staaten wie den USA gab es diese Legitimationsbasis allerdings
schon fr€uher, da sie dem liberalen Bildungsverständnis entspricht und das Schulsys-
tem traditionell eng mit den Erfordernissen des Marktes gekoppelt ist sowie Steuer-
ungsinstrumente wie Leistungsstanderhebungen und Schulinspektionen seit jeher

ublich sind.
Eine starke Orientierung am Bildungsoutput im Schulbereich gibt es in den USA
bereits den 1980er-Jahren. Entsprechend spielten die Ergebnisse internationaler
Schulleistungsstudien hier kaum eine Rolle. Anders als in Deutschland waren die
Qualitätsmängel des US-amerikanischen Schulsystems bereits seit dem Nation at
Risk-Report aus dem Jahre 1983 bekannt und f€uhrten schon zu diesem Zeitpunkt zu
einem Bildungsschock (Martens 2010). In der Folge wurden seit den 1980er-Jahren
zahlreiche Systeme zur Sicherstellung und Kontrolle von Schulqualität erprobt, die
auf die Wirkung quantitativer Wachstumsziele verbunden mit konsequenten Sank-
tionierungen setzen (Mintrop und Sundermann 2012). Die beiden Instrumente der
Wettbewerbs- und Output-Steuerung wurden ähnlich wie in England (West und
Ylönen 2010) auch in den USA miteinander kombiniert. Diese Reformen gingen
jedoch von Akteuren auf lokaler und bundesstaatlicher Ebene aus, denn im Gegen-
satz zu Schweden ist das Bildungssystem in den USA dezentral organisiert. Der
nationale Staat hat keine Kompetenz in der Bildung und es gibt keine nationalen
Curricula oder sonstige einheitlichen Vorgaben f€ur das Schulsystem (Martens 2010).
Selbst die Bundesstaaten lassen in der Regel den Schulbezirken in Fragen der
Struktur und den Inhalten freie Entscheidung.
Seit den 1990er-Jahren lassen sich allerdings Zentralisierungsversuche nachzeich-
nen. In Reaktion auf den Aktivismus der Bundesstaaten infolge des Nation at Risk-
Berichts gab es von Republikanern wie Demokraten Versuche, auf Bundesebene
national einheitliche Bildungsstandards zu etablieren (Busemeyer 2006, S. 75 f.).
Die begonnenen Versuche einer stärkeren Zentralisierung der Schulpolitik wurde in
den 2000er-Jahren mit dem Bundesgesetz No Child Left Behind (NCLB) (2002)
fortgef€uhrt (Martens 2010). Dieses Bundesgesetz, das von einer Koalition von Re-
publikanern, Demokraten sowie Wirtschaftsverbänden und B€urgerrechtsbewegungen
mit großen Hoffnungen unterst€utzt wurde, kn€upft den Empfang von Bundesmitteln
an das jährliche Testen von Sch€ulerinnen und Sch€ulern und verpflichtet die Bundes-
staaten, Bildungsstandards zu setzen. Können Schulen in den Testungen keine Fort-
schritte nachweisen, so m€ussen diese mit Sanktionen rechnen. Eltern wurden zudem
mit dem NCLB-Gesetz in ihrer Schulwahl gestärkt. Obwohl mit dem NCLB-Gesetz
die Autonomie der Bundesstaaten in der Schulpolitik ausgehöhlt wurde und trotz aller
Kritik an bislang ausbleibenden Leistungssteigerungen und „teaching to the test“-
Effekten (Ravitch 2010), wurde das Gesetz in den Bundesstaaten sowohl von Re-
publikanern wie Demokraten getragen. Eine Einmischung der Bundesebene wird
akzeptiert, da die mangelnde Qualität der Schulen in der Schwäche einer lokalisierten
Bildungspolitik gesehen wird und die Ausrichtung auf Standards und Einhaltung von
Performanzkriterien das Bildungsverständnis in den USA dominieren. Die öffent-
lichen Ausgaben f€ur Schulen sind daher im internationalen Vergleich leicht

uberdurchschnittlich, liegen jedoch unterhalb der Ausgaben von Schweden.
Bildung in der Vergleichenden Politikwissenschaft 741

Der Schulbereich ist in den USA ein mehrheitlich staatlich finanzierter Bereich,
allerdings werden die öffentlichen Schulen - anders als in Deutschland und Schweden -
aus kommunalen Steuergeldern finanziert, weshalb die Zahlungen an die Schulen
entsprechend der Höhe der Steuereinnahmen der Kommunen stark variieren. In
Distrikten mit vielen wohlhabenden Einwohner sind die Schulen sehr gut ausge-
stattet, während f€ ur die Schulen in wirtschaftlich ärmeren Gegenden nur wenige
Steuermittel ausgegeben werden können (Busemeyer 2006). Eine Art Länderfinanz-
ausgleich zur Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse wie in Deutschland gibt
es in den USA nicht. Im Gegensatz zum Tertiärbereich sind die privaten Ausgaben f€ur
den Schulsektor im internationalen Vergleich jedoch niedrig (OECD 2013, S. 295).
Gleichwohl gab es auch in den USA seit den 1980er-Jahren Versuche, die Privatisie-
rung von Schulen voranzutreiben. Ein Vorstoß der Reagan-Administration 1983
zielte darauf ab, die bundesstaatliche Finanzierung von privaten Schulen in eine
steuerliche Beg€ unstigung von Schulgeld oder Bildungsgutscheinen umzuwandeln.
Der Vorschlag, auf Bundesebene Bildungsgutscheine einzuf€uhren fand jedoch keine
mehrheitliche Zustimmung von Demokraten und Republikanern im Kongress. Gegen-
wind erfuhren die Pläne zur Einf€uhrung von Bildungsgutscheinen auf nationaler
Ebene zudem durch die zwei größten Lehrerorganisationen (National Education
Association, American Federation of Teachers) und weiteren intrastaatlichen Interes-
senvertretungen wie dem Council of Great City Schools oder der Education Commis-
sion of the States. Diese Organisationen f€urchteten um ihren Einfluss in der Schul-
politik und beschworen die Gefahr einer stärkeren Segregation im Schulsystem sowie
den Bedeutungsverlust öffentlicher Schulbildung (Klitgaard 2008). Zudem wurde im
Gegensatz zu Schweden die Einf€uhrung von Bildungsgutscheinen im Diskurs von
Seiten der bundesstaatlichen Regierung mit einer Verbesserung der Bildungschancen
von bildungsfernen Gruppen begr€undet, die jedoch bei Eltern aus der Mittelschicht
nicht auf Interesse stieß. Vielmehr wurde die Einf€uhrung von Bildungsgutscheinen auf
lokaler Ebene in zahlreichen Bundesstaaten in lokalen Referenden abgelehnt. Eltern
aus gut situierten Schuldistrikten bef€urchteten, dass bildungsferne Eltern aus ärmeren
Nachbarschaften ihre Kinder auf Schulen in guter Nachbarschaft schicken w€urden und
die Qualität der Schulen dadurch verschlechtert w€urde (Klitgaard 2007). Nur in ein-
zelnen Bundesstaaten wurden Bildungsgutscheine auf lokaler Ebene eingef€uhrt (Cor-
tina und Frey 2009). Während in den USA die nationenweite Einf€uhrung von Bil-
dungsgutscheinen sowohl an Vetospielern im Kongress als auch auf lokaler Ebene
scheiterte, spielen die charter schools als staatlich autonome Vertragsschulen ein
große Rolle. Dabei wird zwischen dem Management einer Schule und einer Schulbe-
hörde eine Zielvereinbarung geschlossen, die zumeist die Erfolgsquote der Sch€uler-
schaft in den standardisierten Leistungstests des jeweiligen Bundesstaates zugrunde
legen. Dar€uber hinaus sind die Vertragsschulen autonom in allen Schulangelegenhei-
ten. Die charter schools wurden anders als die Bildungsgutscheine weniger kontrovers
betrachtet (Moe 2001, S. 40, Vergari 2007) und sie wurden in den Bundesstaaten
sowohl von Republikanern als auch Demokraten eingef€uhrt. Mit den charter schools
wurde als „public-private hybrid“ (Vergari 2007, S. 16) eine Institution innerhalb des
staatlichen Schulsystems geschaffen, deren starke Perfomanzfokussierung weitere
Reformdynamiken im staatlichen Schulsystem entfalten d€urften. Die Wahlfreiheiten
742 R. Nikolai und K. Rothe

der Eltern beziehen sich dabei vor allem auf das staatliche Schulwesen und die charter
schools garantieren, dass das Schulwesen nach wie vor in öffentlicher Hand verbleibt.

3 Fazit

In der Steuerung von Schulsystemen lässt sich in vielen Ländern eine klare Trend-
wende hin zu einer stärkeren Fokussierung auf die Überpr€ufung von Bildungser-
gebnissen von Sch€ulerinnen und Sch€ulern feststellen. Ebenso wurden marktbasierte
Mechanismen in den Schulsystemen etabliert bzw. verstärkt. Dabei lassen sich
unterschiedliche Geschwindigkeiten und Umsetzungen des neuen Steuerungspara-
digmas in der Schulpolitik feststellen. In unserem Beitrag haben wir am Beispiel von
Deutschland, Schweden und den USA illustrieren können, welche Rolle vor allem
institutionelle und politische Faktoren dabei einnehmen.
Die wachsende Zahl an politikwissenschaftlichen Analysen zur Schulpolitik in
den OECD-Mitgliedstaaten liefert erste Befunde, dass durch Vergleichsstudien wie
PISA zum einen national bereits gefasste Reformpläne zum Zuge kamen, aber
dar€uber hinaus auch gänzlich neue Steuerungsmaßnahmen in den Bildungssystemen
angeregt wurden. Durch den Vergleich der Leistungsfähigkeit der Bildungssysteme
untereinander unterliegt Bildungspolitik somit nun auch internationalen Einfl€ussen
und einem transnationalen Diskurs. Internationale Akteure wie die OECD treten als
relevante Player in der Bildungspolitik auf den Plan und ergänzen die bisherige
nationale und lokale Mehrebenenstruktur (G€ur et al. 2012, Hartong 2012). Obwohl
sich die OECD als intergouvernementale Einrichtung nur „weicher“ Steuerungs-
instrumente bedienen kann und sie die Aktivität ihrer Mitgliedsstaaten €uber das so
genannte „peer pressure“ steuert (Leibfried und Martens 2008, S. 5, Rautalin und
Alasuutari 2009, S. 539 f.), hat sie die nationale Ebene nachhaltig beeinflusst und
dem Politikfeld Bildung auf nationaler wie internationaler Ebene eine zuvor unvor-
stellbare Relevanz verschafft. In Deutschland konnte durch den PISA-Schock die
institutionelle Blockierung von Reformen durch externen Druck €uberwunden wer-
den. Unsere Befunde legen nahe, dass zum einen die realistische Betrachtung des
eigenen Schulsystems, die konstitutionelle Vetostruktur und die traditionelle, insti-
tutionelle Zuständigkeit f€ur Bildung einen Einfluss auf die Art und Weise der Ein-
f€
uhrung neuer Steuerungsstrategien haben und zum anderen letztlich doch die
nationalen Akteure bestimmen, ob und wie die internationalen Vergleichsstudien
ihren Einfluss gelten machen können und welche Implikationen daraus folgen. Die
jeweiligen Regierungen und die maßgeblich von den Reformen betroffenen Interes-
sengruppen in den Ländern sind die zentralen Akteure, die den ‚impact‘ durch die
internationalen Organisationen aufnehmen, selektieren und so auswerten, dass diese
f€ur die eigenen Belange nutzbar gemacht werden können.
Unsere Analysen haben jedoch auch gezeigt, dass Reformen in den Schulsyste-
men nicht immer und schon gar nicht allein auf den Einfluss internationaler Sch€uler-
leistungsstudien zur€uckzuf€uhren sind und in einigen Ländern Reformen bereits in
den 1980er und 1990er-Jahren vorgenommen wurden. Das jeweilige Wohlfahrtss-
taatmodell, die Staat-Markt-Beziehungen in der Bildungsfinanzierung und die gene-
Bildung in der Vergleichenden Politikwissenschaft 743

rell zur Verf€


ugung stehenden Mittel, sowie das vorherrschende Bildungsverständnis
geben als nationale Pfadabhängigkeiten den Handlungskorridor f€ur Reformen vor.
Während bei unserer Länderauswahl die sozialstaatlich und konservativ geprägten
Wohlfahrtsstaaten die Output-Steuerung nicht in einen direkten Zusammenhang mit
Elementen der Wettbewerbssteuerung stellen, gehen diese beiden Steuerungsmecha-
nismen im liberalen Wohlfahrtsstaat eng zusammen. Ob die Schulpolitik zentral
oder dezentral gesteuert und / oder finanziert wird, scheint hingegen keinen
systematischen Einfluss auf die Wahl und Kombination der Steuerungsinstrumente
zu haben.
Unser Beitrag belegte die Potenziale vergleichender, politikwissenschaftlicher
Forschung zu Reformen im Schulbereich. Den Analysen zufolge sind Veränderun-
gen in den Schulsystemen auf vielfältige politische wie institutionelle Faktoren
zur€uckzuf€uhren und erst durch eine Vergleichsperspektive können Determinanten
identifiziert werden. Zuk€unftige Forschung sollte sich weiter der Analyse der Um-
gestaltungen von Schulsystemen im internationalen Vergleich widmen und dabei
auch Veränderungen abseits von Output- und Wettbewerbssteuerung untersuchen.
Hierzu gehören Reformen bei der Bekämpfung von Schulabbruch, Reformen zur
Sprachförderung von Kindern mit Migrationshintergrund oder die Umsetzung von
inklusiven Schulsystemen im Zuge der Ratifizierung der 2006 verabschiedeten
UN-Behindertenrechtskonvention.

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Politik und Religion in der Vergleichenden
Politikwissenschaft

Antonius Liedhegener

Zusammenfassung
Das Wechselverhältnis von Politik und Religion ist eine Querschnittsaufgabe der
Vergleichenden Politikwissenschaft. Die j€ungst intensivierte Erforschung dieses
fundamentalen Zusammenhangs hat auch in der Vergleichenden Politikwissenschaft
zu erheblichen Erkenntnisfortschritten gef€uhrt. Die Befunde sprechen im interna-
tionalen, system€ubergreifenden Vergleich f€ur eine ambivalente Rolle von Religion
und Religionen in gewalttätigen Konflikten, aber auch in Demokratisierungsproz-
essen und innenpolitischen Entscheidungsprozessen. Die Debatte um die angemes-
sene Typologisierung der sehr unterschiedlichen Staat-Religionen-Arrangements
und deren Wirkung auf bestimmte Politikfelder in liberalen Demokratien hat gezeigt,
dass die gängige Vorstellung der strikten Trennung von Staat und Kirche in keinem
politischen System einen empirischen Sachverhalt der polity-Ebene erfasst. Aussa-
gen €uber den empirischen Zusammenhang von Religion und Politik im Sinne von
politics und policy sind ebenfalls nur schwer oder gar nicht generalisierbar, ver-
gleichende Fallstudien daher zum Verständnis dieser komplexen Wechselverhältnis-
se unverzichtbar. Die Frage nach der empirischen Datenbasis der Statistiken zur
Religionszugehörigkeit in Europa macht exemplarisch sichtbar, dass die Verglei-
chende Politikwissenschaft auf Kenntnisse der religionsbezogenen Nachbarwissen-
schaften wie die Religionssoziologie und Religionswissenschaft angewiesen ist,
wenn fundierte empirische Erkenntnisse zur politischen Rolle von Religionen und

uber Kausalbeziehungen zwischen Politik und Religion gewonnen werden sollen.

Schlüsselwörter
Religionsgemeinschaften • Staat-Religionen-Verhältnis • Religiöse organisierte
Interessen • Religionspolitik • Public religions • Zivilgesellschaftliches Engagement

A. Liedhegener (*)
Professor f€ur Politik und Religion, Zentrum f€
ur Religion, Wirtschaft und Politik, Universität
Luzern, Luzern, Schweiz
E-Mail: antonius.liedhegener@unilu.ch

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 747


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_56
748 A. Liedhegener

1 Die „Rückkehr der Religion“ und die Vergleichende


Politikwissenschaft

Das Verhältnis von Politik und Religion ist in Bewegung geraten, die Rolle von
Religion und Religionsgemeinschaften in der Politik strittig geworden. Das Bild der
einst€
urzenden Twin-Towers in New York hat das politische Gewicht der fundamen-
talen Veränderungsprozesse, die seit den ausgehenden 1970er-Jahren in den ver-
schiedensten Teilen der Welt zu beobachten sind, schlagartig ins Bewusstsein der
Öffentlichkeit gehoben. Debatten um die „R€uckkehr der Religionen“ (Riesebrodt
2000) werden in westlichen Demokratien in der Medienöffentlichkeit wie auch quer
durch die unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen engagiert gef€uhrt,
zumal die heute zum Teil naiv anmutenden Säkularisierungsvorstellungen der fr€uhen
Sozialwissenschaften im weltweiten wie europäischen Maßstab offenkundig so nicht
eingetreten sind (Gabriel et al. 2012; Berger 2013). Mit einer gewissen zeitlichen
Verzögerung hat auch die empirische bzw. Vergleichende Politikwissenschaft das
ehedem eher randständige, disziplinär meist vorschnell der Ideengeschichte zuge-
wiesene Thema breit aufgegriffen (Pelinka 2005, S. 113–132; Liedhegener 2008;
Pickel 2011; Minkenberg 2010b, 2011, 2012; Rasmussen 2011. Ältere Texte in:
Madeley 2003). Die in j€ungerer Zeit rasch zunehmende Institutionalisierung auch
der politikwissenschaftlichen Forschung zu Politik und Religion spricht daf€ur, dass
Religion und Religionen als f€ur Politik und Gesellschaft dauerhaft relevant einge-
stuft werden. So existiert seit 2000 der DVPW-Arbeitskreis „Politik und Religion“,
seit 2001 die Buchreihe „Politik und Religion“ (heute Springer VS), seit 2008
erscheint die Zeitschrift „Politics and Religion“. Ebenfalls j€ungeren Datums sind
die ECPR-Standing group „Religion and Politics“, das Exzellenzcluster „Religion
und Politik“ der Universität M€unster, das Schweizer „Zentrum f€ur Religion, Wirt-
schaft und Politik“ (ZRWP) sowie der Forschungsverbund „Religion and Transfor-
mation in Contemporary European Society“ (RaT) der Universität Wien.
Das Wechselverhältnis von Politik und Religion ist systematisch betrachtet aber
weniger ein separates Forschungsfeld als vielmehr eine Querschnittsaufgabe, die der
Politikwissenschaft insgesamt und der Vergleichenden Politikwissenschaft im Be-
sonderen gestellt ist. Diese Querschnittsaufgabe betrifft alle zentralen Aspekte von
Politik im Sinne von polity, politics und policy sowie alle Teildisziplinen, gängigen
Forschungsfelder und Methoden der Politikwissenschaft. Die intensivierte Erfor-
schung des Fundamentalzusammenhangs von Politik mit Religion hat nicht zuletzt
in der Vergleichenden Politikwissenschaft zu erheblichen Erkenntnisfortschritten
gef€uhrt (Forschungsberichte in Gill 2001; Jelen und Wilcox 2002; Liedhegener
2008; Haynes 2010; Pickel 2011). Die aktuellen Forschungen kann man im Wesent-
lichen f€unf unterschiedlichen, f€ur das Wechselverhältnis von Politik und Religion
grundlegenden Problemkreisen zuordnen. Diese sind der Zusammenhang von Reli-
gion und Gewalt (2.), das Staat-Religionen-Verhältnis (3.), der politische Einfluss
von Religionen in unterschiedlichen politischen Systemen (4.), die politische Regu-
lierung von Religion seitens staatlicher Akteure durch „Religionspolitik“ (5.) sowie
die Bedeutung des Zusammenhangs von Religion und Zivilgesellschaft f€ur Politik
und politische Kultur (6.). Betrachtet man die im Folgenden vorgestellten Studien
Politik und Religion in der Vergleichenden Politikwissenschaft 749

und Befunde als Teil der Vergleichenden Politikwissenschaft und zugleich als Bei-
träge zu einer interdisziplinären empirischen Religionsforschung, lassen sich einige
R€uckfragen und zuk€unftige Aufgaben f€ur die weitere Forschung formulieren (7.).

2 Gewalt im Namen Gottes?

In den Medien wie im öffentlichen Bewusstsein demokratischer Gesellschaften ist


der Zusammenhang von Politik und Religion gegenwärtig vor allem als Frage nach
der Ursächlichkeit von Religion f€ur politische Gewalt präsent. Einflussreich wie wohl
kein Zweiter hat der amerikanische Politikwissenschaftler Samuel P. Huntington den
Ausgangspunkt, wenn nicht gar den Grundton der Debatte bestimmt. Seine schon
Mitte der 1990er-Jahre vorgetragene These vom clash of civilizations schien den
neuen Erfahrungen einer Welt nach dem Ende des Ost-West-Konflikts zu entsprechen
(Huntington 1996). F€ur Huntington sind die von ihm postulierten sieben oder acht
großen Zivilisationen bzw. Kulturkreise dieser Welt zugleich die größtmöglichen
sozialen Einheiten, mit denen sich Menschen jenseits ihrer alltäglichen Nahbeziehun-
gen in einem tiefergehenden, weil emotional verankerten Sinne, identifizieren kön-
nen. F€ur diese €ubergeordneten Identitäten spielen Religionen nicht nur als kultur-
bildende Kräfte eine zentrale Rolle, sondern sie sind auch Triebkräfte und Ursachen
gewalttätiger oder kriegerischer Konflikte. Insbesondere attestierte Huntington „dem
Islam“ fr€uhzeitig, dass dessen Grenzen blutig seien (1993).
In der Tat gibt es eine Reihe stattlicher empirischer Befunde, die die enge
Verbindung von wirkmächtigen religiösen Vorstellungen und Lehren nicht nur des
Islam mit gewalttätigen Auseinandersetzungen und Konflikten der Gegenwart unter-
streichen (Juergensmeyer 2009). Vor allem aus den Reihen der Friedens- und
Konfliktforschung, aber auch von Vertretern der Internationalen Beziehungen er-
folgte aber der Widerspruch gegen die These von der generell gewaltfördernden
bzw. -verursachenden Wirkung von Religion. Gegenwärtig stehen sich in dieser
zentralen Frage drei Positionen gegen€uber (Werkner 2011, S. 291–293): der Primor-
dialismus, der wie etwa Huntington Religion als historisch tief verankertes, nahezu
unwandelbares und daher konfliktursächliches Kultur- und Identitätsmerkmal auf-
fasst; der In-strumentalismus, der Religion nicht als ursächlichen Faktor politischer
Gewalt, sondern als ein in vielen Regionen der Welt probates Instrument der
Mobilisierung von Gewaltbereitschaft in der Hand interessegeleiteter, mehr oder
weniger skrupelloser politischer Eliten auffasst (Hasenclever und De Juan 2007; De
Juan 2010); und schließlich eine konstruktivistische Position, die die zentrale
Bedeutung der wechselseitigen Wahrnehmung aller Konfliktparteien f€ur Art und
Verlauf einer Auseinandersetzung hervorhebt und damit auch religiösen Akteuren
eine eigenständigere Rolle zubilligt. In der Tat gibt es eine ganze Reihe von Kon-
fliktfällen, in denen von Religionen ein friedensfördernder Effekt ausging (Wein-
gardt 2007). Im Gegensatz zu den beiden erstgenannten Positionen werden hier also
auch friedensfördernde Potentiale der verschiedenen Weltreligionen sowie eines
Dialogs zwischen den Religionen sichtbar (vgl. auch K€ung 1997; Joas 2012).
750 A. Liedhegener

In der amerikanischen Politikwissenschaft ist – sensibilisiert durch den Aufstieg


der religiösen Rechten in den 1980er-Jahren im eigenen Land – schon fr€uh das
Phänomen des religiösen Fundamentalismus empirisch vergleichend untersucht
worden. Das groß angelegte Fundamentalism Project hat in den 1990er-Jahren
nachgewiesen, dass sich religiös motivierte Fundamentalismen quer durch alle
großen Religionstraditionen der Welt nachweisen lassen. Deren gemeinsamer Nen-
ner besteht vor allem in einer aus der strikten Ablehnung oder Bekämpfung der
(westlichen) Modernisierung heraus vorgenommenen und verabsolutierten Relekt€u-
re der jeweiligen religiösen Texte und Überlieferungen (Appleby und Marty 2002;
Almond et al. 2003). Strittig blieb auch hier, wie das Verhältnis zur politischen
Gewalt genau zu bestimmen ist. Die Debatte um das Verhältnis von Religion und
politischer Gewalt ist wissenschaftlich und politisch also nach wie vor offen (Hilde-
brandt und Brocker 2005; Brocker und Hildebrandt 2008; Werkner und Liedhegener
2009; Czada et al. 2012).

3 Die Beziehungen von Staat und Kirchen bzw. Religionen

Weitaus unspektakulärer gestaltete sich lange Zeit die wissenschaftliche Beschäfti-


gung mit den Beziehungen von Staat und Religionen. Traditionell war dies eine
Domäne der Rechtswissenschaft (Robbers 2003, 2005; Heinig und Walter 2006).
Denn mit der vor allem seit 1945 sich durchsetzenden Entpolitisierung und Ver-
rechtlichung des Verhältnisses in westlichen Demokratien durch Verfassungen und
Verträge bzw. Konkordate war eine Lösung gefunden, die auch f€ur andere Teile der
Welt Vorbildfunktion haben sollte. Das Menschen- und Grundrecht auf Religions-
freiheit sowie die Trennung von Staat und Religion bzw. Kirchen waren (und sind)
die Leitideen dieser in verfassungsstaatlichen Demokratien dominierenden Lösung.
Zur Einteilung der historisch gewachsenen und nach wie vor un€ubersehbaren Unter-
schiede im tatsächlichen Recht von Staat und Religionen diente traditionell die
dreifache Unterscheidung in politische Systeme mit einem Staatskirchentum (Eng-
land und bis vor kurzem die meisten skandinavischen Staaten), mit strikter Trennung
(Frankreich) und solche mit wohlwollender, kooperativer Trennung (Deutschland,
Schweiz). Gegen Ende der 1990er-Jahre setzte sich allerdings die Einsicht durch,
dass diese sehr grobe Typologie die Vielfalt der Regelungen und vor allem die
damals einsetzenden Veränderungen nicht angemessen zu erfassen vermag (Robbers
2003, S. 141). Außerdem f€uhrten die dritte und vierte Welle der Demokratisierung
und die zunehmende Zahl souveräner Staaten die Forschung dazu, das Thema Staat
und Kirche aus seiner urspr€unglich europäischen bzw. transatlantischen Perspektive
zu lösen und nach Kriterien und Daten f€ur eine weltweite Typologisierung des
Verhältnisses von Staat und Religion zu fragen (Madeley 2009, S. 185–189). Die
meisten der mittlerweile recht zahlreichen neueren Vorschläge verblieben gleich-
wohl in der Beletage der liberalen Demokratien (Überblick in Traunm€uller 2012).
F€ur diese liberalen Demokratien wird zudem diskutiert, ob sich in der Ausgestaltung
der Staat-Kirchen- bzw. Staat-Religionen-Beziehungen gegenwärtig ein Kon-
Politik und Religion in der Vergleichenden Politikwissenschaft 751

vergenzprozess ausmachen lässt. Vergleichende Länderstudien sowie Analysen zum


seit 1992 vergleichsweise rasch ausformulierten subsidiären Religionsrecht der EU
sprechen daf€ur, dass eine kooperative, freundliche Trennung von Staat und Religion
im Kontext moderner Staatlichkeit eine hohe Passung hat, eine strikte Trennung f€ur
Demokratien also keineswegs zwingend ist (Monsma und Soper 1997; Driessen
2010; Liedhegener 2013). Allerdings darf dabei nicht €ubersehen werden, dass in
Systemen kooperativer Trennung die historisch prägenden Kirchen gegenwärtig in
aller Regel bevorteilt sind (s.u. Abschn. 5).
Eine qualitativ neue Stufe in der Debatte liefern die Daten und Analysen, die
Jonathan Fox und seine Mitarbeiter in jahrelanger Kleinarbeit im The Religion and
State Project (RAS) in einer Datenbank f€ur mittlerweile mehr als 170 Länder
dieser Erde zusammengetragen haben (http://www.thearda.com/ras/). Der
RAS-Datensatz erfasst nicht nur die verfassungsrechtlichen Bestimmungen, son-
dern enthält zahlreiche Indikatoren zur staatlichen Unterdr€uckung, Regulierung
oder Förderung von Mehrheits- und Minderheitsreligionen. Der zentrale Befund
lautet, dass die allermeisten Staaten dieser Welt sehr nachhaltig auf Religionsge-
meinschaften Einfluss nehmen und daher die Idee der strikten Trennung von Staat
und Religion empirisch so gut wie nie zutrifft. Der Datensatz misst unter anderem
die Diskriminierung von Religion und religiösen Minderheiten. Wenig erstaunlich
landen die verbliebenen kommunistischen Diktaturen wie China und Kuba auf den
oberen Rängen der Verfolger von religiösen Bekenntnissen. Und auch die Werte
der allermeisten muslimischen Staaten fallen erwartungsgemäß hoch aus. Über-
raschender ist dagegen die Einsicht, dass auch in den meisten liberalen Demo-
kratien Europas das Maß der Diskriminierung von Religionsgemeinschaften be-
achtlich ist. Abgesehen von den USA, deren System der strikten, aber
wohlwollenden Trennung f€ur den niedrigsten gemessenen Wert steht, findet man
geringere Werte ansonsten in Lateinamerika und vor allem den nicht-muslimischen
Staaten Afrikas, die Religionsgemeinschaften kaum reglementieren oder
fördern (Fox 2013, S. 173–176, S. 207–210). Ergänzende Daten des PEW
Research Center haben gezeigt, dass mit staatlichen Restriktionen in vielen
Ländern auch soziale Diskriminierungen einhergehen (Grim 2013). In datentechni-
scher Hinsicht haben sich die Indices von Fox im Vergleich mit anderen sehr
bewährt (Traunm€uller 2012), und bislang sind dementsprechend kaum kritische
R€uckfragen laut worden. In konzeptioneller Hinsicht wäre aber gleichwohl zu
fragen, ob die RAS-Daten den kategorialen Unterschied zwischen gravierenden
Verletzungen des individuellen Menschenrechts auf Religions-, Glaubens- und
Gewissensfreiheit auf der einen und unfairen, aber im Vergleich doch deutlich
weniger einschneidenden staatlichen Förderungen f€ur die vorherrschenden Mehr-
heitsreligionen auf der anderen Seite nicht besser in Rechnung stellen m€ussten.
Fox selbst hat das Konzept der Religionsfreiheit als zu normativ, zu westlich und
daher nicht wissenschaftsfähig abgelehnt (Fox 2013, S. 13–14, S. 210). F€ur die
Frage einer gerechteren, friedlichen Ordnung der Welt sind die aktuellen wie
k€unftigen Veränderungen der Religionsfreiheit aber nichts weniger als zentral
(Bielefeldt 2012; Hertzke 2013).
752 A. Liedhegener

4 Macht und Einfluss von Religion in politischen


Entscheidungsprozessen

In der klassischen liberalen Lesart der Modernisierung galt es als ausgemacht, dass
Religion im Zuge der Säkularisierung aus den Prozessen der politischen Willensbil-
dung und Entscheidungsfindung verschwinde oder ggfs. bewusst fernzuhalten sei
(Beiner 1995, S. 1054). Einen nachhaltigen, breit rezipierten Kontrapunkt dazu hat
der Soziologe José Casanova mit seinem Buch „Public Religions in the Modern
World“ von 1994 gesetzt. Er differenzierte Säkularisierung in drei unterschiedliche,
nicht zwingend miteinander verkoppelte Prozesse: die Trennung von Staat und
Kirche im Zuge der Ausdifferenzierung eigenständiger Systeme in der Gesellschaft,
den gesellschaftlichen Bedeutungsverlust von Glaubens€uberzeugungen und religiö-
sen Praktiken sowie den Glaubensverlust auf individueller Ebene. Die politische
Öffentlichkeit gliederte er im Anschluss an ein gängiges Modell der comparative
politics in drei Arenen bzw. Ebenen – Staat, politische Gesellschaft (Parteipolitik),
Zivilgesellschaft – und analysierte sodann mehrere Länder- bzw. Fallbeispiele auf
die Art und Weise des politischen Engagements von Religionsgemeinschaften in
ihnen. Als musterg€ultige Form einer neuen, demokratieförderlichen Form einer
public religion erschienen ihm der j€ungere amerikanische Katholizismus, wie er
im Gefolge des Zweiten Vatikanischen Konzils entstanden war. Er agierte in der
zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit, hielt sich aber nach Casanovas Ansicht von
der parteipolitischen und staatlichen Arena fern, so dass er als zivilgesellschaftliche
Stimme und Korrektiv gegen politische Fehlentwicklungen in der Gesellschaft
wirken konnte. Dies entsprach dem normativen Anliegen Casanovas, Religion als
politischen Faktor strikt auf den Raum der zivilgesellschaftlichen Debatte zu begren-
zen. In diesem Punkt bestehen große Ähnlichkeiten zum Konzept der post-säkularen
Gesellschaft, wie es J€urgen Habermas etwas später an verschiedenen Stellen entfaltet
hat (Habermas 2001; Überblick in Willems 2013). Auch Habermas will eine Brand-
mauer zwischen religiös-politischen Anliegen und dem demokratischen Entschei-
dungsprozess errichtet wissen (Habermas 2005, S. 131). Die international gef€uhrte
Theoriedebatte dazu ist beachtlich angewachsen (etwa Taylor et al. 2010; Mendieta
und Van Antwerpen 2011), fiel aber nicht durch Bezug zu vorliegenden empirischen
Forschungsergebnissen auf.
Der amerikanische Politikwissenschaftler und f€uhrende Vertreter der Vergleich-
enden Politikwissenschaftler Alfred Stepan brachte nicht nur eine ganze Reihe von
empirischen Beispielen bei, die zeigen, dass die eingeforderte Trennungslinie zwi-
schen Zivilgesellschaft und (Partei-)Politik von religiösen Akteuren regelmäßig

uberschritten wird. Er lieferte im Anschluss an eine pluralismustheoretische Bestim-
mung der Grundideen liberaler Demokratien auch eine tragfähige Begr€undung f€ur
legitime Formen der Teilnahme von Religionsgemeinschaften am politischen Wett-
bewerb (Stepan 2000). Schaut man genauer hin, zeigt die vergleichende empirische
Forschung einen engen Zusammenhang von Religionen und politischen Strukturen
und Prozessen. Bedingt durch die Entstehung weltanschaulich-religiöser Milieus
bzw. Sondergesellschaften im 19. und fr€uhen 20. Jahrhundert weisen die Parteien-
systeme vieler Demokratie bis heute Parteien auf, die im weitesten Sinne als
Politik und Religion in der Vergleichenden Politikwissenschaft 753

religiöse Parteien zu klassifizieren sind (Mohseni und Wilcox 2009; Frey 2009;
Minkenberg 2010a). Nicht zuletzt wegen ihrer häufigen Regierungsbeteiligung
besitzen die Parteien der christdemokratischen Parteienfamilie ein besonderes Ge-
wicht (Hanley 1996; Liedhegener und Oppelland 2012). Der klassische, €uber die
Religionszugehörigkeit sozialstrukturell verankerte Zusammenhang von Religion
und Wahlverhalten ist – trotz mancher Abschwächungen – in vielen etablierten
liberalen Demokratien nach wie vor nachweisbar (Broughton und ten Napel 2000).
Angesichts der im Zuge von sozialer Mobilität und Individualisierung generell
sinkenden Vorhersagbarkeit von Wahlergebnissen erstaunt, dass Religion in vielen
westlichen Demokratien im Vergleich mit anderen Erklärungsfaktoren eine stärkere
Erklärungskraft zukommt (Dalton 2006, S. 162), wobei mittlerweile die Stärke der
individuellen Religiosität – in der Wahlforschung gemessen als Kirchgangshäufig-
keit – wichtiger ist als die ehedem so wichtige Konfessionszugehörigkeit. Auch
Formen neuer Religiosität (New Age etc.) scheinen einen, wenn auch schwachen,
Einfluss zu haben (Siegers 2012). Wahlentscheidend ist der Faktor Religion am
ehesten in den USA (Smidt et al. 2010).
Außerhalb der westlichen Welt stellen sich die Fragen anders. Von ganz erheb-
lichem Gewicht war bis vor kurzem jene, ob aus den religiösen Protestbewegungen
und Teilen der fundamentalistischen Gruppen des konservativen Islam wie etwa der
Muslimbruderschaft mittelfristig nicht doch religiös fundierte demokratische Par-
teien hervorgehen könnten, die dem Demokratisierungsimpuls des arabischen
Fr€uhlings zu einem dauerhaften Erfolg verhelfen könnten (Mohseni und Wilcox
2009, S. 220–226). Entgegen der verbreiteten öffentlichen Wahrnehmung
beschränkt sich die beachtliche politische Mobilisierungs- und Konfliktfähigkeit
von Religion aber keineswegs auf den islamischen bzw. arabischen Raum. Der
Hindu-Nationalismus in Indien, buddhistische Mönche in Sri Lanka oder Burma
(Myanmar) sowie bestimmte christliche Gemeinschaften im s€udlichen Afrika, etwa
in Nigeria, sind prominente Beispiele (Eckert 2003; Friedlander 2009).
Im Zuge der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung ist relativ fr€uh €uberlegt
worden, welchen Einfluss die verschiedenen konfessionellen Traditionen auf die
wohlfahrtsstaatlichen Arrangements in Europa und Nordamerika haben. Insbeson-
dere dem Katholizismus wird attestiert, dass sein historisch großer Einfluss in den
ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg die Herausbildung des Modells
eines subsidiären Sozialstaats ermöglicht hat (Esping-Andersen 1990; Schmid
2002). Vor allem dieser starke Einfluss des Katholizismus hat zu der generalisier-
enden Annahme gef€uhrt, dass im Ländervergleich die jeweilige konfessionelle
Tradition bzw. Religionsgeschichte als erklärende Variable f€ur die Wahl von Politi-
ken eingesetzt werden kann (Castles 1994; Gabriel 2000). Diese Grundannahme der
Wohlfahrtsstaatenforschung wurde daher auf weitere Politikfelder wie die Lebens-
schutzpolitik oder Migrations- und Integrationspolitik €ubertragen (Minkenberg
2003, 2008). Allerdings stößt die Erklärungskraft der in diesem Ansatz benutzten
makro-qualitativen Methode dann an ihre Grenzen, wenn es um die Entstehung bzw.
Ursachen konkreter Politikergebnisse geht. Da das Wechselverhältnis von Religion
und Politik in seiner historischen Tiefenstruktur wie im Kontext aktueller politischer
Systeme und deren politischer Kultur extrem vielschichtig ist, muss das
754 A. Liedhegener

Untersuchungsdesign zur Erklärung manifester Politikergebnisse dieser Komplexi-


tät gerecht werden (Schneider 1997; Liedhegener 2006, S. 442–449). Insbesondere
ist in Rechnung zu stellen, dass religiöse Akteure häufig daran interessiert sind, auf
die Akteure im politischen Entscheidungszentrum direkt Einfluss zu nehmen (Hier-
lemann 2005; Willems 2007; Haynes und Hennig 2011; Liedhegener 2011). Es ist
daher kein Zufall, dass die Forschung stärker in die Richtung vergleichender Fall-
studien verlaufen ist. Verglichen worden sind etwa die öffentliche Rolle von Reli-
gionsgemeinschaften in Polen, Spanien, Brasilien und den USA (Casanova 1994),
der politische Katholizismus in den USA und Deutschland (Liedhegener 2006), die
Rolle der katholischen Kirche bzw. Bischöfe in der „Moralpolitik“ Polens, Italiens
und Spaniens (Hennig 2012) sowie die Art der Politikformulierung verschiedener
Religionsgemeinschaften in der Schweiz (Bächtiger et al. 2013). Neben der schon
hervorgehobenen Sozialpolitik sind religiöse Akteure in liberalen Demokratien häu-
fig in den Politikfeldern Bildung und Schule, Biotechnologie, Entwicklungspolitik,
Familie, Lebensschutz, Umweltschutz und Fragen der Verfassungsentwicklung in-
volviert. Im Einzelnen ist es jenseits programmatischer Selbstaussagen nicht immer
leicht auszumachen, wann Kirchen und Religionsgemeinschaften ihren Einfluss im
Eigeninteresse, wann stellvertretend f€ur schwache, im politischen Prozess unterre-
präsentierte Dritte und wann im allgemeinen Bem€uhen um das Gemeinwohl geltend
machen. Ein wesentlicher Teil der Erklärung liegt in der jeweiligen „Theologie des
Politischen“, in der religiöse Akteure ihre Glaubenstradition im Lichte der Anforde-
rungen der jeweiligen Zeitumstände interpretieren, um das eigene Handeln zu orien-
tieren und zu legitimieren (Liedhegener 2006, S. 34–36; Philpott 2007, S. 507–508).
Angesichts der zunehmenden Bedeutung der Europäischen Union, deren vertiefte
politische Integration auch zu Effekten der Europäisierung nationaler Arrangements
des Verhältnisses von Politik und Religion f€uhrt, ist auch f€ur die politischen Ent-
scheidungsstrukturen der EU die Frage nach den Einflussmöglichkeiten religiöser
Akteure gestellt worden (Böllmann 2010; Leustean 2012; Belafi 2012). Auffällig ist,
dass die mittlerweile durchaus zahlreichen religiösen Akteure auf EU-Ebene sich
großteils dazu bereit gefunden haben, sich wie andere organisierte Interessen auch
im neu geschaffenen Transparancy Register der EU einzutragen. Ob auf nationaler
Ebene oder in der Europäischen Union: Überall handeln Religionsgemeinschaften
oder religiöse Organisationen also de facto als organisierte Interessen und beeinflus-
sen politische Entscheidungsprozesse in Parlamenten oder bei Wahlen. Dies muss
keine Beeinträchtigung des säkularen Staates sein, wenn sich auch religiöse Interes-
sengruppen den Spielregeln des pluralistischen, gewaltlosen Ringens um gesamtge-
sellschaftlich verbindliche Entscheidungen stellen (Stepan 2000, S. 38–40).

5 Neue Religionspolitik?

„Religionspolitik“ hat in das begriffliche Instrumentarium der Politikwissenschaft


erst j€
ungst Eingang gefunden. In der Regel werden damit alle staatlichen Aktivitäten
und Maßnahmen bezeichnet, die die Aus€ubung von Religion und die politische und
gesellschaftliche Rolle von Religionen normieren. Im engeren Sinne geht es vor
Politik und Religion in der Vergleichenden Politikwissenschaft 755

allem um die Regulierung von Religion durch Akteure des politischen Entschei-
dungszentrums, d. h. in Demokratien primär durch Parlamente und Regierungen.
Weltweit sind die mehr oder weniger willk€urlichen Einzelnormierungen religiösen
Verhaltens beachtlich (Fox 2013). F€ur viele Staaten Europas sind zunehmend reli-
gionspolitische Aktivitäten im engeren Sinne zu registrieren (Ferrari und Pastorelli
2012). Im Kontext verfassungsstaatlicher Demokratien wirft diese Art von staat-
licher Politik zwei grundlegende Fragen auf. Wo liegen die Grenzen demokratischer
Politik auf der Basis von Mehrheitsentscheiden gegen€uber Religionsgemeinschaf-
ten, seien dies die etablierten Kirchen und religiösen Organisationen oder religiöse
Minderheiten? Darf und kann der Staat rechtlich normieren, was als Religion zu
gelten hat? Schon Alexis de Tocqueville, der Bewunderer der amerikanischen
Demokratie und fr€uhe F€ursprecher der modernen Demokratie im 19. Jahrhundert,
betonte bekanntlich die Gefahr der „Tyrannei der Mehrheit“ (Tocqueville 1987).
Gegenwärtig ist zu beobachten, dass demokratische Mehrheiten per Parlamentsbe-
schluss oder direktdemokratische Referenden Gesetze durchsetzen, die vor allem
kleinere Religionsgemeinschaften und speziell den Islam betreffen und so die öffent-
liche Religionsaus€ubung regulieren. Vielfach geschieht dies im Kontext von integra-
tionspolitischen Debatten (Brunn 2012). Verbote von Kopft€uchern, Minaretten und
Burkas in verschiedenen Bereichen der Öffentlichkeit stehen prominent f€ur den
Versuch, durch Mehrheitsentscheide „schlechte“ von „guter“ Religionsaus€ubung
zu scheiden und eine durch Säkularisierung und Migration veränderte religiöse
Landschaft zu regulieren (Vatter 2010; Rosenberger und Sauer 2012). Normativ
betrachtet ist sicher nicht jedes religionspolitische Vorgehen zwingend illegitim,
denn nicht jedwede Form religiöser Praxis kann in Demokratien tolerabel sein
(Brocker 2012). Auch die Religionsfreiheit kennt Grenzen. Aber die „neue Reli-
gionspolitik“ europäischer Staaten verstößt in der Praxis doch meist gegen den Sinn
der Religionsfreiheit als Grund- und Menschenrecht und betrifft bzw. benachteiligt
vor allem Frauen.
Bislang zu wenig in Rechnung gestellt worden sind die möglichen negativen
Folgen einer aktiven Religionspolitik, nämlich Religion und religiöse Identitäten als
solche zu politisieren und zu polarisieren, Minderheiten auf Grund ihrer Religions-
zugehörigkeit zu diskriminieren und Gesellschaften dadurch zu spalten. Das Kon-
zept der associational democracy schlägt einen anderen Weg vor: Es plädiert f€ur eine
möglichst große, im Rahmen der Rechtsordnung demokratischer Staaten – soweit
möglich – gleichmäßig gewährleistete Autonomie aller Religionsgemeinschaften,
um Konflikte zwischen Staat und Religionen zu befrieden, in der Gesellschaft Frei-
räume, Entfaltungsmöglichkeiten und das Potential freiwilligen Engagements zu
schaffen und auszuweiten (Bader 2007).

6 Religion, Zivilgesellschaft und politische Systeme

Der Umgang mit religiöser Vielfalt entscheidet sich nicht allein in Verfassung und
Politik, sondern auch und vor allem in der Gesellschaft selbst. Als Leitbild west-
licher Demokratien dient dazu die Idee der aktiven Zivilgesellschaft. Besonders in
756 A. Liedhegener

den USA liegen dabei gesellschaftliches Selbstverständnis und die Problemwahr-


nehmung der Sozialwissenschaften nah beieinander (Putnam 2000). Eine aktive
Zivilgesellschaft und das in den vielfältigen Formen und Netzwerken freiwilligen
b€urgerschaftlichen Engagements generierte „Sozialkapital“ fördern das Miteinander
verschiedener Lebensentw€urfe und kulturell-religiöser Traditionen. Sie tragen zum
Funktionieren der demokratischen Institutionen und Prozesse bei und sind eine
wesentliche Größe in der politischen Kultur eines politischen Systems. Vor allem
die lokalen religiösen Gemeinschaften sind Orte der Selbsthilfe, Gelegenheitsstruk-
turen zivilgesellschaftlichen Engagements sowie Agenturen des empowerment f€ur
ihre Mitglieder und lokale communities (Smidt 2003; Putnam und Campbell 2010).
In der Forschung ist zusammenfassend vom „religiösen Sozialkapital“ die Rede. Bei
dieser Begriffsverwendung ist aber daran zu erinnern, dass die Qualität der als
„Sozialkapital“ bezeichneten Sozialbeziehungen gerade nicht marktförmig ist, son-
dern auf Solidarität, Mitmenschlichkeit und zumindest prinzipiell uneigenn€utziges
Handeln in Gemeinschaft setzt. Im World Value Survey wird der positive Zusam-
menhang von religiöser Praxis und zivilgesellschaftlichem Engagement in Vereinen
und Initiativen statistisch fassbar (Norris und Inglehart 2004, S. 180–195). Gleich-
wohl stellt sich die Auseinandersetzung um Zivilgesellschaft und Religion und deren
förderliche Wirkung f€ur demokratische politische Systeme konzeptionell wie empi-
risch insgesamt un€ubersichtlicher und schwieriger dar, als es auf den ersten Blick
den Anschein hat. Vor allem auf der Mikro- bzw. Individualdatenebene ergeben sich
f€
ur die Sozialkapitalindikatoren des freiwilligen Engagements in sozialen Netzwer-
ken sowie „soziales Vertrauen“ im Ländervergleich zu Religion und Religiosität nur
Teilzusammenhänge, und oftmals widersprechen sich die Befunde unterschiedlicher
Studien. Die teils vermuteten, teils nachgewiesenen positiven Zusammenhänge sind
also bislang vielfach wenig robust (Westle und Gabriel 2008; Liedhegener und Werk-
ner 2011). Mit Hilfe einer statistischen Mehrebenenanalyse lässt sich aber in Europa
zeigen, dass die beiden genannten Hauptaspekte von Sozialkapital im Länder- und
Religionenvergleich jeweils f€ur sich in unterschiedlichen Beziehungsmustern zur
Religion stehen (Traunm€uller 2012). In der Tendenz sehen die meisten Studien vor
allem den Protestantismus als zivilgesellschaftlich förderlich an, während eine Zuge-
hörigkeit zum Islam im europäischen Kontext ein zivilgesellschaftliches Engagement
hemmt (nicht aber das soziale Vertrauen). Offen ist die Frage, ob der f€ur viele Länder
Europas plausible Zusammenhang von religiöser Praxis und b€urgerschaftlichem
Engagement Ausdruck einer besonderen Wirkung von Religion – etwa als Konse-
quenz religiöser Glaubensinhalte, Überzeugungen und Normen – ist oder eher eine
Folge der an sich säkularen Tatsache der automatisch stärkeren sozialen Vernetzung
jener Menschen, die sich aktiv am Leben religiöser Gemeinschaften beteiligen. Eine
höhere individuelle Religiosität allein f€uhrt jedenfalls nicht automatisch zu einem
verstärkten zivilgesellschaftlichen Engagement (Pickel und Gladkich 2011).
Aus der Perspektive der Vergleichenden Politikwissenschaft ist neben dem indi-
viduellen Verhalten auf der Mikro-Ebene vor allem die Meso-Ebene von Interesse.
Der Blick auf die zivilgesellschaftliche Rolle von Religionsgemeinschaften und
deren zahlreiche Organisationen, Bewegungen und Initiativen lenkt die Aufmerk-
samkeit auf die Schnittstelle von Zivilgesellschaft und politischem System. Gerade
Politik und Religion in der Vergleichenden Politikwissenschaft 757

die Meso-Ebene ist f€ur die Formulierung politischer Interessen wie die Unterst€ut-
zung eines politischen Systems von erheblicher Bedeutung, wenn nicht gar ent-
scheidend. Religiöse Vereine und Organisationen €ubernehmen soziale, karitative
und kulturelle Aufgaben, aus den Religionsgemeinschaften heraus entsteht politi-
sches Engagement (Roßteutscher 2009; Liedhegener 2011). An diesem Übergang
von Zivilgesellschaft und politischem System werden so durch Elitenhandeln die
Legitimation von Institutionen und Entscheidungsträgern verhandelt bzw. hergestellt
und damit zentrale Beiträge zur sozialen und systemischen Integration von Gesell-
schaften geleistet (Friedrichs und Jagodzinski 1999; Liedhegener 2014).
Dieser Zusammenhang ist nicht nur in Demokratien relevant, sondern spielt auch
f€ur die Überwindung von Diktaturen eine wesentliche Rolle. Insbesondere f€ur die dritte
und vierte Welle der Demokratisierung schufen Veränderungen im religiösen Bereich
wichtige Voraussetzungen. Denn religiöse Akteure lieferten wichtige Beiträge zum
Aufbau einer regimekritischen Zivilgesellschaft und trugen zum Systemwechsel aktiv
bei (Huntington 1991, S. 74–85). Dieser Demokratisierungsschub, der im letzten
Drittel des 20. Jahrhunderts mit dem Übergang Portugals und Spaniens zur Demokratie
begann und nach 1989/90 erstmals in der Geschichte dem Systemtyp der liberalen
Demokratie in der Mehrheit aller Staaten zum Durchbruch verhalf, betraf anfangs

uberwiegend Länder mit einer katholischen Tradition und Bevölkerungsmehrheit,
woran das Zweite Vatikanische Konzil durch die Anerkennung von Religionsfreiheit
und Volkssouveränität seinen Anteil hatte (Sigmund 1987). Der anschließende Einsatz
der Päpste und der Weltkirche verhalf zahlreichen Protestbewegungen und Opposition-
ellen in Osteuropa und Lateinamerika zum Erfolg. Ungleich schwerer taten sich vor
allem viele der katholischen Bischöfe in Ländern wie etwa Polen damit, nach dem
Systemwechsel ihren neuen Ort in einer demokratischen Zivilgesellschaft und Politik
zu bestimmen. Die positive Rolle von religiösen Akteuren in der Phase des System-
wechsels setzt sich also nicht ohne Weiteres in der Phase der Konsolidierung der
Demokratie fort (Lauth 2013). Ein positiver Beitrag von Religion zu Demokratisie-
rungsprozessen ist im arabischen Raum bislang nur ansatzweise zu erkennen. Im
internationalen Vergleich erwiesen sich bis vor kurzem die muslimisch geprägten
Länder insbesondere dieser Region durchgängig als Autokratien (Merkel 2003; Fish
2002). Diskutiert wird, ob dieser Zusammenhang allein oder vor allem auf den Islam
als Glaubenssystem zur€uckzuf€uhren sei (Lane und Redissi 2009, S. 167–170). Auf-
fallend ist die durchgehende rechtliche und politische Schlechterstellung von Frauen in
dieser Region, die auf starke Defizite der sich nur langsam ausbildenden Zivilgesell-
schaften verweist (Fish 2002; Inglehart und Norris 2003).
Im Zusammenspiel der Qualitäten der Zivilgesellschaft und der Leistungen des
politischen Systems entscheidet sich in jungen und etablierten Demokratien, wie
Menschen verschiedener Religionen, Herkunft und Überzeugungen miteinander
umgehen, wie sich Religionsgemeinschaften auf lokaler, regionaler und gesamtgesell-
schaftlicher Ebene einbringen können und wie politische Partizipation gelingt. Im
g€unstigen Fall entsteht daraus gesellschaftlicher Zusammenhalt, auf den auch hoch-
differenzierte moderne Gesellschaften – zumindest nach Ansicht der politischen
Kulturforschung – nicht verzichten können (Pickel und Pickel 2006, S. 49–57).
Dieses komplexe Bedingungsgef€uge bedarf freilich weiterer empirischer Forschung.
758 A. Liedhegener

7 Offene Fragen und Perspektiven vergleichender


interdisziplinärer Forschung zu Politik und Religion

Das Verhältnis von Politik und Religion ist kein Forschungsgegenstand, der exklusiv
in der Politikwissenschaft bzw. der Vergleichenden Politikwissenschaft zu behan-
deln wäre. Schon die bisherige Darstellung hat erkennen lassen, dass eine der
Besonderheiten dieses Forschungsfeldes seine prinzipiell notwendige und daher
praktisch kaum zu umgehende Interdisziplinarität ist (Causey et al. 2010, S. 376;
Pickel 2011, S. 295–299). Alle behandelten Problemkreise weisen eine deutliche
Nähe zu der einen oder anderen Nachbardisziplin der Politikwissenschaft auf. Zu
nennen sind vor allem die Rechts- und Geschichtswissenschaft, die politische
Zeitgeschichte, die Religionswissenschaft, die Theologie, die Religionsökonomie,
die Soziologie und hier insbesondere die Religionssoziologie. Diese Tatsache lässt
dieses rasch wachsende Forschungsfeld derzeit besonders un€ubersichtlich erschei-
nen. Zur Verbesserung der Situation hat die empirische Politikwissenschaft diszip-
linär einige Aufgaben im Rahmen ihrer Teildisziplinen der Regierungssystemanaly-
se und Vergleichenden Politikwissenschaft zu bewältigen. Andere sind im Verbund
mit anderen Fächern in einer inter- und transdisziplinären empirischen Religions-
forschung zu leisten.
Im Blick auf die genuinen Aufgaben der Politikwissenschaft sollten Wege zur
stärkeren Integration der Ergebnisse der mittelfristig wohl rasant anwachsenden Zahl
vergleichender qualitativer wie quantitativer Studien gesucht werden. Auffallend ist,
dass sich ein forschungsfeldspezifischer Grundbestand an heuristischen und erklär-
enden Konzepten, Modellen und Theorien bislang nicht herauskristallisiert hat.
Jenseits der verbreiteten und durchaus fruchtbaren Anwendung allgemeiner politik-
wissenschaftlicher Grundkonzepte wie das der Differenzierung von Politik in polity,
politics und policy, des Konzepts des politischen Systems oder grundlegender Typo-
logien politischer Systeme finden sich zwar eine Reihe von empirischen Studien, die
im konzeptionellen Teil eigene theoretische Ideen und Vorstellungen entwickeln.
Aber die Konsolidierung eines wenn auch vielleicht in manchen Teilen noch strit-
tigen, aber eben doch angebbaren gemeinsamen theoretischen Fundus, wie ihn etwa
die vergleichende Wahlforschung oder die Religionssoziologie kennen, hat bislang
nicht stattgefunden. Ein gewisses Maß an geteilter empirischer politischer Theorie
wäre aber nicht nur w€unschenswert, sondern erscheint geradezu notwendig, um
Ergebnisse vergleichbar zu machen und systematische Fortschritte zu erzielen
(Liedhegener 2011; Malloy 2013; Pickel 2011). Dies w€urde die Chancen erhöhen,
vergleichende Fallstudien f€ur weitergehende Generalisierungen nutzen zu können.
Forschungspraktisch d€urfte in naher Zukunft sicherlich ein breiter Raum f€ur Meta-
Studien entstehen, die sich auf vorliegende Monographien, Sammelbände und ggfs.
Aufsätze st€utzen.
Verstärkt zu diskutieren und in einem interdisziplinären Umfeld zu €uberpr€ufen
wäre auch die grundlegende, oft nur wenig reflektierte Begrifflichkeit zum religiösen
Feld. Verglichen mit der Religionssoziologie oder Religionswissenschaft wird ins-
besondere der Begriff der Religion in der Vergleichenden Politikwissenschaft ein
wenig stiefm€ utterlich behandelt und selten ausbuchstabiert. Dabei ist kaum zu
Politik und Religion in der Vergleichenden Politikwissenschaft 759


ubersehen, dass die meisten Vertreterinnen und Vertreter der Vergleichenden Politik-
wissenschaft mit einem zwar sehr plausiblen, aber eben doch speziellen Religions-
begriff arbeiten, wie er sich aus der europäischen und j€ungeren amerikanischen
Religionsgeschichte ergeben hat. Unter Religion wird hier in aller Regel ein System
kollektiver Sinnstiftung auf der Basis geteilter Überzeugungen und Praktiken mit
Bezug auf eine transzendente, sakrale oder göttliche Wirklichkeit sowie der Fähig-
keit, soziale Institutionen und Organisationen hervorzubringen, verstanden (exemp-
larisch Gill 2001, S. 120; weitere Nachweise in Liedhegener 2008). Dieser Begriff
hat durchaus große Vorteile, denn er lässt sich f€ur die empirische Forschung entlang
der Inhalte und organisatorischen Strukturen der allermeisten religiösen Großtradi-
tionen gut operationalisieren. Und in der Tat sind die politisch relevanten Sachver-
halte zahlreich, bei denen Religionsgemeinschaften gewinnbringend als kollektiv
agierende Akteure aufgefasst werden können (Wilcox et al. 2008; anders Mitchell
2007). Diese Stärke der Begriffsbildung und -verwendung der Vergleichenden
Politikwissenschaft sollte aber nicht den Blick daf€ur verstellen, dass dieser Standard-
begriff in manchen Bereichen wie etwa der Binnendifferenzierung von religiösen
Akteuren und ihren Handlungsmotiven, zivilreligiösen Phänomenen oder quasi-
religiösen Elementen von Ideologien problematisch oder auch irref€uhrend sein kann
(Bizeul 2009). Nicht zuletzt im Hinblick auf die zunehmend wichtigere Beschäfti-
gung mit religiösen Identitäten und ihren politischen Auswirkungen sollte die Ver-
gleichende Politikwissenschaft €uber Begriffe und Theorien von Religion verstärkt
nachdenken (Pickel 2011, S. 295; Gryzmala-Busse 2012, S. 423–426).
F€
ur die Vergleichende Politikwissenschaft wie f€ur die empirische Religionsfor-
schung insgesamt ist schließlich die Frage zuverlässiger Daten zentral. International
vergleichbare, zuverlässige und f€ur die Forschung frei zugängliche Daten wie die
RAS-Daten von Jonathan Fox sind immer noch selten. Dass in diesem Bereich f€ur
die empirische Forschung noch eine ganze Reihe von Problemen bereit liegt, zeigt
die auf den ersten Blick einfache, aber de facto gegenwärtig nicht zuverlässig
beantwortbare Frage nach der Religionszugehörigkeit der Bevölkerung in Europa.
Zahlenangaben zur Religionszugehörigkeit sind zwar immer wieder Teil politischer
Debatten und Argumente, insbesondere wenn es um muslimische Minderheiten und
deren soziale Integration geht. Dementsprechend warten zahlreiche Veröffentlich-
ungen mit eigenen Tabellen zur Religionszugehörigkeit in Europas Staaten auf
(Alesina et al. 2003; Gerhards 2006; Minkenberg 2007, 2012). Ein systematischer
Vergleich dieser und anderer in der Forschung verwendeten Daten zeigt f€ur viele
Länder massive, f€ur eine exakte Wissenschaft nicht akzeptable Abweichungen
(Liedhegener und Odermatt 2014). Die Tatsache, dass es sich hier um eine Grund-
lagenfrage jeder empirischen Religionsforschung handelt, mahnt zumindest zu einer
gewissen Vorsicht bei makro-quantitativen Studien, die Daten zur Religionszugehö-
rigkeit als erklärende Variable benutzen.
Wenn die vorgestellten Ergebnisse der Vergleichenden Politikwissenschaft einen
generellen Eindruck zum Verhältnis von Politik und Religion in der Gegenwart
vermitteln, dann den, dass generalisierende Aussagen zur Natur und Wirkung von
Religion in politischen Strukturen, Prozessen und Kulturen kaum möglich sind.
Unter normativen Gesichtspunkten wird man daher mit Scott Appleby von einer
760 A. Liedhegener

bleibenden Ambivalenz von Religion in Gesellschaft und Politik sprechen m€ussen


(Appleby 2000, S. 28–34, S. 281–284). In keinem der beschriebenen Problemkreise
ist die Wirkung von „Religion“ als generell gefährlich oder durchweg förderlich zu
bestimmen. Die politische Rolle von Religion und ihre Wirkung entscheiden sich
maßgeblich an den Einstellungen und am Verhalten der Eliten und Mitglieder der
zahlreichen Kirchen, Religionsgemeinschaften, religiösen Gruppen und weltan-
schaulichen Zusammenschl€ussen gegen€uber dem ohne Freiheitsverlust nicht mehr
hintergehbaren weltanschaulichen Pluralismus moderner Gesellschaften. In diesem
Sinne wird man aus der Perspektive einer Politikwissenschaft, die am Fortbestand
demokratischer politischer Systeme und deren Weiterentwicklung interessiert ist,
systematisch nach der Leistung, der Indifferenz oder auch dem Gefährdungspoten-
tial von Religionen bzw. religiösen Akteuren in verfassungsstaatlichen Demokratien
fragen m€ ussen. Dann aber zeigt sich immer wieder die hohe historische Kontingenz
der Relation von Religionen zu politischen Systemen. F€ur die vergleichende Er-
forschung des Verhältnisses von Politik und Religion gilt somit weiterhin: „God is in
the details.“ (Jelen und Wilcox 2002, S. IX.)

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Migrationspolitik in der Vergleichenden
Politikwissenschaft

Andreas Blätte

Zusammenfassung
Auch im Zeitalter der Migration halten Staaten am Anspruch fest, Wanderungs-
bewegungen zu steuern. In den verschiedenen Bereichen des Migrationsgesche-
hens (Flucht, Asyl, Arbeitsmigration, Familiennachzug) gelingt dies in unter-
schiedlicher Weise. Vergleichende Forschung zur Migrationspolitik kann zur
Aufklärung € uber Möglichkeiten und Grenzen der Steuerung von Migration bei-
tragen. Zu ber€ucksichtigen ist dabei, wie verwoben Staaten durch transnationale
sozial Räume sind. Insbesondere in Europa sind die Zuständigkeiten der Europä-
ischen Union zum Teil weitreichend. Interessante vergleichende Forschungsper-
spektiven ergeben sich aus den Folgen von Migration f€ur Parteiensysteme,
politische Interessenvermittlung und politische Kultur.

Schlüsselwörter
Migrationspolitik • Einwanderung • Integrationspolitik • Ländervergleich

1 Einleitung

Migrationspolitik ist das Feld staatlichen Handelns, in dem eine politische Gestal-
tung von grenz€ uberschreitenden Wanderungsbewegungen angestrebt wird. Dieses
Steuerungsbem€ uhen ist ein Kern moderner Staatlichkeit, weil Fragen der inneren
und äußeren Sicherheit, des sozialen Zusammenhalts und der wirtschaftlichen
Wohlfahrt stets unaufhebbar mit der Steuerung von Migration verbunden sind – so
die These vom „Migrationsstaat“ (Hollifield 2004). Migrationspolitik ist damit
weder ein randständiges noch ein weiches Handlungsfeld. Solchermaßen bedeutend

A. Blätte (*)
Professor f€ur Public Policy und Landespolitik, Institut f€
ur Politikwissenschaft, Universität
Duisburg-Essen, Duisburg, Deutschland
E-Mail: andreas.blaette@uni-due.de

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 767


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_57
768 A. Blätte

f€
ur viele Staaten, scheint sich eine international vergleichende Perspektive
anzubieten. Migration als grenz€uberschreitendes Phänomen impliziert dabei, dass
Staaten keine voneinander unabhängigen Untersuchungseinheiten sind. Länderver-
gleichende Perspektiven zur Migrationspolitik ber€ucksichtigen dies und tragen so
zum Verständnis politischer Prozesse in der globalisierten Welt bei.
Migrationspolitik stößt an Grenzen, Wanderungsbewegungen tatsächlich zu steu-
ern. Migration beruht auf individuellen Entscheidungen. Die Migrationsforschung
weist darauf hin, dass diese von vielen Faktoren abhängen und nicht notwendig der
Logik des staatlichen Regel- und Steuerungskontexts folgen (Fussell 2012). Recht-
lichen und administrativen Kategorisierungen, die etwa systematisch zwischen Flucht-
und Arbeitsmigration unterscheiden, stehen weit komplexere soziale Zusammenhänge
gegen€ uber. Politische Steuerung ist dadurch nicht nur analytisch, sondern auch nor-
mativ herausgefordert: Politische und gesellschaftliche Reaktionen auf Migration sind
selten „k€uhl“. Gerade die Staaten der Europäischen Union stehen auch durch einen
erheblichen Anstieg der Fluchtmigration aufgrund gewaltsamer internationaler und
innerstaatlicher Konflikte einerseits, einem Bedarf an einer Einwanderung qualifizier-
ter Arbeitskräfte aufgrund des demographischen Wandels andererseits vor erheblichen
politischen Herausforderungen. Welche Ansätze der politischen Steuerung es gibt,
inwiefern diese wirksam sein können und wo diese ihre Grenzen finden, ist also eine
relevante Aufgabe komparativer politikwissenschaftlicher Forschung.
In der politikwissenschaftlichen, vergleichenden Forschung zur Migrationspolitik
stellen oftmals vergleichende Fallstudien die präferierte Methode dar. Doch kann
sich die Forschung auch auf eine Reihe gut zugänglicher (amtlicher) Statistiken
st€utzen. Mit einer Einf€uhrung in die zur Verf€ugung stehenden Statistiken soll im
folgenden zweiten Abschnitt zugleich ein Überblick €uber das internationale Wander-
ungsgeschehen gegeben werden. In einem dritten Schritt wird ein Überblick €uber
ländervergleichende Zugänge zur Migrationspolitik gegeben. Solchermaßen ausge-
richtete Forschung muss heute – viertens – die Kritik eines „methodologischen
Nationalismus“ beachten und gerade im europäischen Kontext die Einbettung der
Migrationspolitik in die Politik im europäischen Mehrebenensystem ber€ucksichti-
gen. Im f€ unften Schritt soll daher auch auf Forschungsperspektiven hingewiesen
werden, welche sich mit Integration und den Migrationsfolgen beschäftigen. Im
Schlussteil wird die eurozentrische Ausrichtung der vergleichenden Migrationspo-
litikforschung problematisiert: Ein weitergehendes Verständnis der Möglichkeiten
der politischen Steuerung von Migration w€urde gerade auch von mehr Forschung
zur Migrationspolitik von Auswanderungsländern profitieren.

2 Die Statistik der Wanderungsbewegungen

Der Beginn des 21. Jahrhunderts ist durch einen erheblichen Anstieg der inter-
nationalen Migration gekennzeichnet. Eine weltgeschichtliche Ausnahmeperiode
ist dies angesichts fr€uherer Völkerwanderungen nicht, doch ist die der Konzeption
der Nation nach eher migrations-averse Welt der Nationalstaaten durch Arbeits-
migration und Fluchtbewegungen herausgefordert. Es wird ein „Zeitalter der
Migrationspolitik in der Vergleichenden Politikwissenschaft 769

Migration“ (Castles und Miller 2013) diagnostiziert. Schätzungen der Vereinten


Nationen gehen f€ ur 2013 von 232 Millionen Migranten und damit von einem
Anstieg um 57 Millionen bzw. 33 Prozent gegen€uber dem Jahr 2000 aus (United
Nations Population Division 2013). Global betrachtet verläuft die Hauptrichtung der
Migrationsbewegungen von Entwicklungs- und Schwellenländern hin zu Industrie-
staaten, wobei neben Nordamerika und Europa gerade auch die Golfstaaten eine
starke Nettozuwanderung verzeichnen. Dabei ist im Trend internationale Migration
weiblicher geworden: Mit einer zunehmenden Bedeutung von Dienstleistungen f€ur
Arbeitsmigration geht eine Zunahme des Anteils von Frauen unter den Migranten
einher (vgl. Castles und Miller 2013).
Die Ausweitung des Migrationsgeschehens ist jedoch nicht nur eine Folge einer
Zunahme der Arbeitsmigration: Das Fl€uchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen
(UNHCR) schätzte f€ur das Jahr 2013 das Ausmaß der Zwangsmigration auf 51.2
Millionen Menschen (UNHCR 2014). Neben 16.7 Millionen internationalen
Fl€uchtlingen zählen hierzu 33.3 Millionen Personen, die innerhalb des Gebietes
ihres Staates vor Verfolgung, Gewalt und Menschenrechtsverletzungen auf der
Flucht sind. F€ur die Zwangsmigration gilt: Staaten der Entwicklungsregionen der
Welt nehmen weit mehr Fl€uchtlinge auf, als industrialisierte Staaten. Dies gilt
Insbesondere f€ur die Anrainerstaaten der von innerstaatlichen Konflikten betroffe-
nen Staaten Syrien, Afghanistan, Somalia und Sudan.
Die Forschung ist zur Erfassung des Ausmaßes internationaler Migration grund-
sätzlich auf die Aggregatdaten angewiesen, die €uber amtliche Statistiken zur Ver-
f€ugung stehen. Internationale Statistiken f€uhren die nationalen Daten in verschiede-
ner Weise zusammen. In Deutschland sind dies insbesondere die Statistiken, wie sie
regelmäßig vom Statistischen Bundesamt (www.destatis.de) und vom Bundesamt
f€ur Migration und Fl€uchtlinge (BAMF) veröffentlicht werden. Neben der Differen-
zierung zwischen Herkunftsländern differenzieren die Statistiken meist zwischen
saisonaler und dauerhafter Arbeitsmigration, Familiennachzug, Flucht und Asyl. Die
Kategorien der nationalen Statistiken leiten sich aus den migrationsspezifischen
rechtlichen Grundlagen ab und können sich daher zwischen den Staaten unterschei-
den. Supra- und internationale Organisationen b€undeln diese Daten zu Länderda-
tensätzen, die im Allgemeinen gut zugänglich zur Verf€ugung stehen. Die United
Nations Population Division stellt Daten zur Verf€ugung, die eine globale Analyse
von Wanderungsbewegungen möglich machen.1 Die europäische Statistikbehörde
Eurostat aggregiert die amtlichen Statistiken der Mitgliedstaaten der Europäischen
Union.2 Besonders hervorzuheben sind daneben die Statistiken und Analysen der
OECD, die ein reichhaltiges Material darstellen, das zu einer besonders wichtigen
Datenquelle der Migrationsforschung geworden ist.3

1
http://www.un.org/en/development/desa/population/migration/index.shtml.
2
http://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php/Migration_and_migrant_population_
statistics/de.
3
http://www.oecd-ilibrary.org/social-issues-migration-health/international-migration-outlook_
1999124x.
770 A. Blätte

3 Nationalstaatliche Migrationspolitik im Vergleich

So vielgestaltig Migration ist, so differenziert gestaltet sich die Binnenstruktur der


Migrationspolitik. Diese setzt sich aus einer Reihe von Komponenten zusammen.
Eine gängige grundsätzliche Differenzierung ist dabei, mit immigration policy und
immigrant policy (Hammar 1985, 1990) den Regelungsbereich der Zulassung von
Migranten und der Migrationskontrolle von der einer gesellschaftspolitisch auf die
Zielgruppe der Eingewanderten gerichteten Politik zu unterscheiden. In diesen Be-
reichen können weitere Komponenten unterschieden werden. Forschung zur Migra-
tion fordert insgesamt oft einen interdisziplinären Zugang heraus – Nachbardiszi-
plinen der Politikwissenschaft haben oft spezifische Kompetenzen zur Analyse von
Komponenten der Migrationspolitik.
Die immigration policy verweist auf die Migrationspolitik im engeren Sinne. Ein
erster Regelungsbereich betrifft die Erteilung kurzfristiger Aufenthaltstitel, etwa f€ur
touristische Zwecke. Diese Komponente der Migrationspolitik hat in der Forschung
eine eher untergeordnete Bedeutung. Die Steuerung von Zuwanderung aus humani-
tären Gr€ unden findet weit mehr Aufmerksamkeit. Flucht und Asyl verschwimmen
dabei in der Praxis oft in der Wahrnehmung. Die Gewährung von Asyl verweist
dabei grundsätzlich auf den Schutz individuell Betroffener vor Verfolgung, während
Fl€uchtlinge kollektiv von kriegerischen Auseinandersetzungen oder anderen Not-
situationen betroffen sind. Als flexibles Instrument zur Reaktion auf humanitäre
Notlagen, die etwa durch Naturkatastrophen, Klimaveränderung oder Epidemien
ausgelöst sind, und die Fl€uchtlingsbewegungen hervorrufen, f€uhren Staaten zum Teil
neben der klassischen Fl€uchtlingspolitik das Instrument der temporary protection
ein, um mit einem weiten Ermessensspielraum ad-hoc auf humanitäre Notlagen
reagieren zu können. Der Handlungsbereich der Flucht ist hingegen stark normiert
und von einem wirkungsvollen internationalen Regime geprägt. Fl€uchtlinge d€urfen
etwa entsprechend Artikel 33 der UN-Fl€uchtlingskonvention nicht aus- oder zur€uck-
gewiesen werden, wenn dies zu einer Gefährdung von Freiheit und Leben f€uhren
w€urde. Bezogen auf Flucht und Asyl sind migrationspolitische Steuerungsmöglich-
keiten rechtlich begrenzt. Fl€uchtlingspolitik ist €uberwiegend ein Thema völkerrecht-
licher Arbeiten und des politikwissenschaftlichen Teilbereichs der Internationalen
Beziehungen.
Die Steuerung von Zuzug jenseits von Flucht und Asyl lässt bei der Wahl des
politischen Instrumentariums größere Spielräume. Bei der Politik zur Förderung von
Arbeitsmigration, die aufgrund eines Bedarfs an hoch- oder niedrig qualifizierter
Arbeit verfolgt wird, werden idealtypisch zwei Steuerungsansätze unterschieden. In
einem nachfrageorientierten Modell wird ein konkretes Arbeitsplatzangebot durch
einen Arbeitgeber zur Voraussetzung des Zuzugs gemacht. Bei der Rekrutierung von
„Gastarbeitern“ durch die Staaten Mittel- und Nordeuropas in der wirtschaftlichen
Wachstumsphase nach dem Zweiten Weltkrieg (Castles 1986) bis zur Weltwirt-
schaftskrise von 1973 warben Arbeitgeber direkt in den Herkunftsländer um Arbeits-
kräfte. Arbeitern aus S€udeuropa (Spanien, Italien, T€urkei), dem westlichen Balkan
(ehem. Jugoslawien) und Nordafrika (insb. Algerien, Marokko) wurde eine konkrete
Beschäftigungsperspektive in Frankreich, Deutschland, den Niederlanden,
Migrationspolitik in der Vergleichenden Politikwissenschaft 771

Österreich, der Schweiz etc. angeboten. Bei angebotsorientierten Modellen erfolgt


eine positive Bewertung durch ein Punktesystem, das den Zuzug zur weiteren Arbeits-
suche ermöglicht, insofern bestimmte Kriterien erf€ullt sind. Punktesysteme, die etwa
in Kanada und weitern Commonwealth-Staaten gängig geworden sind, erlauben den
Zuzug auf Basis einer Einschätzung des erwarteten ökonomischen Nutzens, wobei als
Kriterien Bildungsabschl€usse, Sprachkenntnisse, Alter und weitere Faktoren dienen.
Punktesysteme ökonomisieren die Arbeitsmigration konsequent und präferieren
grundsätzlich den Zuzug hochqualifizierter Arbeitskräfte. Die meisten Regelwerke
kombinieren angebots- und nachfrageorientierte Elemente zu hybriden Modellen, die
einen Zuzug etwa nur f€ur bestimmte Sektoren und Mangelberufe ermöglichen und
damit eine hohe Selektivität aufweisen. Dies galt etwa f€ur die deutsche Greencard
zwischen 2000 und 2004, mit der IT-Spezialisten angesprochen werden sollten. Es
kennzeichnet insbesondere auch die Blue Card der Europäischen Union, die mit der
Hochqualifizierten-Richtlinie von 2009 eingef€uhrt wurde.
Bezogen auf Arbeitsmigration ist eine zentrale, vor allem seitens der Wirtschafts-
wissenschaften bearbeitete Frage, ob jene f€ur das Wirtschaftswachstum und unter
einem wohlfahrtsökonomischen Gesichtspunkt vorteilhaft ist. Die herrschende Mei-
nung ist dabei, dass vor allem der Zuzug Hochqualifizierter f€ur Empfängerländer
von Vorteil ist. Umstritten ist hingegen, wie stark der negative Effekt eines brain
drain auf Herkunftsländer ist. Die ökonomischen Folgen von Migration f€ur Ent-
wicklungsprozesse lassen sich nicht ausschließlich auf einen Abfluss von Human-
kapital reduzieren. Dem stehen eine ökonomisch relevante R€uckkopplung von
Diasporas an ein Herkunftsland und R€uck€uberweisungen gegen€uber (Kapur und
McHale 2005), so dass sich eine schattierte Gesamtabwägung ergibt.
Verbunden mit einer urspr€unglichen Arbeitsmigration ermöglichen die Zuzugsre-
geln nahezu aller Staaten einen Nachzug von Familienmitgliedern. Familiennachzug
trägt erheblich zum Migrationsgeschehen bei. Statistiken der OECD zufolge

uberfl€ ugelt der Familiennachzug in den Industriestaaten die anderen Migrationsarten
mit Zahlen zwischen 1.3 bis 1.5 Millionen Personen deutlich (Quelle: OECD
International Migration Database). Die Einwanderungsbestimmungen variieren
dabei merklich, welcher Verwandtschaftsgrad einen Anspruch auf Familiennachzug
begr€undet und inwieweit weitere Voraussetzungen (etwa Sprachkenntnisse) erf€ullt
sein m€ ussen.
Eine letzte hier anzuf€uhrende Kategorie von Einwanderungsbestimmungen defi-
niert ethnische und/oder sprachliche Voraussetzungen f€ur den Zuzug. Im deutschen
Recht betrifft dies insbesondere den Zuzug von Aussiedlern bzw. Spätaussiedlern.
Als deutsche „Volkszugehörige“ genossen diese das Recht zur Einreise. Mit 4,5
Millionen Personen, die seit 1950 als (Spät-)Aussiedler in die Bundesrepublik ein-
gewandert sind, handelt es sich um eine große Einwanderungsbewegung. Auch
andere Staaten kennen oder kannten Regelungen, die auf ethnische Herkunft oder
sprachliche Merkmale abstellen. Das Quotensystem, welches das Einwanderungs-
recht der Vereinigten Staaten zwischen 1921 und 1965 prägte, privilegierte Einwan-
derer aus den europäischen Staaten, die urspr€unglich nach Amerika gekommen
waren, bewusst zuungunsten von Personen aus S€udosteuropa oder etwa Asien.
Das spanische Einwanderungsrecht sieht keine Restriktionen f€ur den Zuzug von
772 A. Blätte

Personen aus den Staaten Lateinamerikas vor und Großbritannien beschränkt den
Zuzug von Personen aus den Commonwealth-Staaten nicht.
Im europäischen Kontext schafft die Freiz€ugigkeit innerhalb der Europäischen
Union eine weitreichende, bewusst eingegangene Beschränkung der Gestaltungs-
spielräume durch Migrationspolitik. Die Freiz€ugigkeit ist €uber den Vertrag €uber die
Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV, hier Art. 45) abgesichert und gilt als
grundlegende Norm des europäischen Vertragswerks. Die Mobilität innerhalb der
Europäischen Union ist ein weiterer großer Aspekt der Migration, der außerhalb der
Verf€ ugungsmöglichkeiten der Mitgliedstaaten der Europäischen Union steht.
Der migrationspolitische Gestaltungsspielraum von Staaten ist durch ihre Ver-
fassungsnormen, durch internationales Recht und im EU-Kontext durch Europarecht
eingeschränkt. Doch Staaten gestalten Politik und es bleibt eine erhebliche Variation
der Steuerungsansätze. Es gibt Überblickswerke, die zum globalen Überblick bei-
tragen (Gieler 2003), es gibt gut verf€ugbare Zahlen zum Umfang von Migration,
doch gibt es keine etablierten Indikatoren f€ur einen globalen Vergleich der Mi-
grationspolitiken aller Staaten. Es stellt sich auch die Frage, ob angesichts der
gegebenen globalen Disparitäten Vergleichsmaßstäbe definiert werden können, die
f€ur alle Staaten gleichermaßen sinnvoll sind.
Zumindest f€ ur den Großteil der industrialisierten Staaten bietet der Migrant
Integration Policy Index (MIPEX) eine vergleichende Bewertung acht migrations-
und integrationspolitischer Handlungsfelder f€ur die EU-Staaten sowie f€ur Austra-
lien, Kanada, Island, Japan, S€udkorea, Neuseeland, Norwegen, die Schweiz, die
T€urkei und die Vereinigten Staaten. Der MIPEX beruht auf einer Einschätzung der
g€ultigen rechtlichen Regelungen durch Länderexperten. Die Indikatoren werden seit
2004 erstellt. Das Messkonzept des MIPEX ber€ucksichtigt dabei erstens nur die
rechtlichen Rahmenbedingungen der Migrations- und Integrationspolitik. Dem MI-
PEX liegt zweitens die Annahme zugrunde, dass politische und rechtliche Bestim-
mungen auf einer Skala mit den Polen „exklusiv“ und „restriktiv“ einerseits, „in-
klusiv“ und „liberal“ andererseits eingestuft werden können. Es basiert dabei auf der
starken normativen Prämisse, dass mehr Offenheit und Gleichheit immer der Vorzug
zu geben sei. Der MIPEX soll mit dieser Stoßrichtung eine Argumentationshilfe f€ur
zivilgesellschaftliche Akteure sein. So n€utzlich der MIPEX ist, so m€ussen sich
wissenschaftliche Arbeiten €uber die normativ-aktivistischen Intentionen im Klaren
sein. Die rein numerische Orientierung des Vergleichs zeigt auch, wie erforderlich
die detailliertere qualitative Analyse bleibt. F€ur wissenschaftliche kausale Frage-
stellungen zur Migrationspolitik im Sinne der Tradition der Vergleichenden Staats-
tätigkeitsforschung sind zudem theoretische und empirische Anreicherungen erfor-
derlich, welcher Art die Variation der Migrationspolitik ist, welche Ursachen diese
hat und wie wandlungsfähig diese sein werden und was die tatsächlichen Wirkungen
von Migrationspolitik f€ur Migration sind.
Dass es Länder mit einem tradierten Selbstverständnis als Einwanderungsland
gibt, die sich durch ihr politisch-kulturelles Selbstverständnis von Staaten ohne ein
solches Selbstverständnis unterscheiden, ist ein Gemeinplatz. Als klassisches
Einwanderungsland schlechthin gelten die Vereinigten Staaten von Amerika. Das
Argument, dass ein nationales Selbstverständnis als historisch-kulturelle Prägungen
Migrationspolitik in der Vergleichenden Politikwissenschaft 773

Institutionen einschließlich der Migrationspolitik prägt, wird in einer institutiona-


listischen Literatur zu Staatsb€urgerschaftsregimen hervorgehoben. In dieser domi-
nieren in methodologischer Hinsicht vergleichende Fallstudien und typenbildende
Ansätze. Ein zentraler Meilenstein ist Brubakers Studie Citizenship and Nationhood
in France and Germany (1992), die dem republikanischen Staatsb€urgerschaftsver-
ständnis Frankreichs, welches seinen Ausdruck im ius soli findet, das ethno-
kulturelle, mit dem ius sanguini verbundene Staatsb€urgerschaftsverständnis
Deutschlands gegen€uberstellte. Die Typisierung ist verschiedentlich weiterentwi-
ckelt worden. Einflussreich ist die zu einem Vierfelderschema erweiterte Typologie
von Koopmans und Statham (2000) gelten. Angesichts von Veränderungen in
Staaten wie etwa Deutschland stellt sich die Frage, ob die institutionelle Langlebig-
keit von Brubaker €uberschätzt wurde. Die grundsätzliche Annahme bleibt, dass die
Migrationspolitik von Staaten historisch-kulturell eingebettet ist und solchermaßen
am besten erklärt werden kann. Ein wichtiges Argument ist dabei etwa, dass die
Integrations-Agenda, die f€ur viele europäische Staaten wichtig geworden ist, tief in
der Tradition des europäischen Nationalstaats wurzelt (Favell 1998).
Ein zweiter Zugang erklärt die konkrete Gestalt der Migrationspolitik als Resultat
des politischen Prozesses und insbesondere €uber die Einflussnahme von Interessen-
gruppen. Dieser Zugang, der insbesondere von Gary P. Freeman (1995, 2006)
vertreten wird, basiert zunächst auf einer Typisierung der Segmente der Migrations-
politik im Anschluss an die sogenannte Policy-Theorie (Lowi 1964; Wilson 1980).
Entsprechend der Annahme, dass Kosten und Nutzen politischer Maßnahmen
konzentriert oder diffus verteilt sein können, unterscheidet Freeman Teilbereiche
der Migrationspolitik (distributiv, redistributiv, regulativ), die €uber die Betroffenheit
durch Kosten und Nutzen in jeweils unterschiedlicher Weise zu einer Mobilisierung
von Interessengruppen f€uhren. Die grundsätzliche These Freemans lautet, dass je
nach Art der politischen Streitfrage verschiedene Interessengruppen die politische
Arena betreten werden und Migrationspolitik neopluralistisch erklärbar ist. Der
Einfluss organisierter Interessen kann f€ur die USA gut nachgewiesen werden (vgl.
Gimpel und Edwards 1998) und ist Teil von Erklärungen, weshalb in den USA eine
Einwanderungsreform an divergierenden politischen Barrieren scheitert. F€ur den
europäischen Kontext besteht bislang keine gesicherte empirische Basis f€ur einen
interessengruppenorientierten Erklärungsansatz. Eine im Vergleich zu den USA
geringere Präsenz von Einwandererverbänden im politischen Prozess widerlegt die
Freeman-These dabei noch nicht, da auch Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände
wichtige Akteure der Migrationspolitik sind. Insofern bleibt der interessengruppe-
norientierte Zugang eine Forderung, dem Verlauf und der Eigenlogik des politischen
Prozesses mehr Aufmerksamkeit zu widmen.
Die klassische Frage des „do parties matter?“ könnte gerade f€ur europäische
Staaten Erklärungen eine Variation von Migrationspolitiken anleiten. Es ist auffällig,
dass zwar die Annahme weit verbreitet ist, dass mitte-rechts orientierte Parteien f€ur
eine restriktivere Migrationspolitik und linke Parteien einen liberaleren politischen
Ansatz verfolgen werden, dass die migrationspolitische Forschung aber nur in
seltenen Fällen in diesem Sinne durch die These der Parteiendifferenz angeleitet
wird (vgl. aber Mulcahy 2011). Diese Frage ist dabei keineswegs trivial, weil „linke“
774 A. Blätte

Parteien unter Umständen gegen eine Ausweitung der Einwanderung votieren wer-
den, um die Interessen einkommensschwächerer Gruppen zu vertreten, f€ur die das
Lohngef€ uge durch eine Einwanderung billiger Arbeitskräfte unter Druck geraten
könnte. Mehr Aufmerksamkeit seitens der Wissenschaft erfahren hingegen rechts-
populistischen Parteien und die Frage, wie deren Aufkommen regierende Parteien
unter Druck setzt, Möglichkeiten des Zuzugs einzuschränken oder eine Abkehr vom
Multikulturalismus zur vollziehen (Givens 2005; Han 2015).
Interessante Forschungsfragen ergeben sich nicht allein durch einen Fokus auf
politische Beschlussfassungen. Staaten sind durch innenpolitische und internationale
Restriktionen eingeschränkt, die Ausrichtung der Migrationspolitik zu bestimmen.
Der Druck durch eine tendenziell einwanderungsskeptische öffentliche Meinung und
das Aufkommen rechtspopulistischer Parteien f€uhrt politische Akteure dazu, zumin-
dest symbolisch die Restriktion von Zuwanderung zu proklamieren. Doch es besteht
eine erhebliche Divergenz zwischen einer oft migrationsskeptischen Rhetorik und
beschlossenen politischen Maßnahmen (im Sinne von outcomes) einerseits und der
tatsächlich erreichten Steuerung von Migration andererseits. Das Syndrom von tough
talk and weak action (Boswell und Geddes 2011) und die Schwierigkeiten liberaler
Demokratien, tatsächliche Migrationskontrolle auszu€uben, zieht sich wie ein roter
Faden durch die Migrationspolitik. Dies resultiert aus einem Spannungsfeld wider-
streitender Logiken, das von James Hollifield als „liberales Paradoxon“ (liberal
paradox) analysiert wurde (Hollifield 1992). Um wettbewerbsfähig sein und Wohl-
fahrt gewährleisten zu können, sind Staaten einerseits in Zeiten der Globalisierung
ökonomisch auf Migration angewiesen. Andererseits bleibt der Nationalstaat der
Grundbaustein der internationalen Ordnung. Die Aus€ubung von Migrationskontrolle
ist ein Eckpfeiler nationalstaatlicher Souveränität, zumal sie die erforderliche Iden-
tifikation und Loyalität der B€urger mit dem Staat sichert. Dieser kaum aufhebbare
Widerstreit findet Entsprechungen in der Praxis der Migrationskontrolle. So fördert
vergleichende Implementationsforschung das Verständnis f€ur die Prozesse, welche
die L€ucke zwischen behaupteter Intention und tatsächlichen outputs erklären. Studien
zur Implementation von Migrationspolitik zeigen hier insbesondere die Ermessens-
spielräume und vor allem Handlungsrestriktionen derjenigen in der Exekutive, die
tatsächlich Migrationskontrolle umsetzen (Ellermann 2009).

4 Grenzen des nationalstaatlichen Analysefokus

Migration ist ein grenz€uberschreitender Prozess, der als solcher f€ur vergleichende
Forschungsdesigns die Annahme der Unabhängigkeit der Beobachtungseinheiten
untergräbt. Das Galton-Problem, das durch die Globalisierung virulent wird (Jahn
2006), betrifft gerade auch den Vergleich von Migrationspolitiken. Ein rasch ange-
wachsener Zweig der Migrationsforschung problematisiert die nationalstaatliche
Orientierung der Forschung und hält einem „methodologischen Nationalismus“
(Wimmer und Glick-Schiller 2002; Amelina et al. 2012) eine dezidiert transnationale
Forschungsperspektive entgegen. Diese Forschung begn€ugt sich nicht mit der Dia-
gnose, dass es Migrationssysteme (Kritz 1992) gibt, die zwischen bestimmten
Migrationspolitik in der Vergleichenden Politikwissenschaft 775

Staaten oder Staatengruppen (etwa Deutschland-T€urkei oder USA-Mexiko) ein


intensives Wanderungsgeschehen mit spezifischen Mechanismen der Mobilität
generieren. Das Interesse dieser interdisziplinären Forschungsperspektive gilt den
transnationalen sozialen Räumen und ihren sozialen und kulturellen Eigenheiten.
Dabei gilt das Interesse oft Diasporas und ihren fortwährenden R€uckbindungen an
Herkunftsländer (Bauböck und Faist 2010). Gerade auch f€ur politikwissenschaft-
liche Fragestellungen ist diese Perspektive relevant, indem etwa Bewegungen (etwa
die kurdische Bewegung) in einem Raum agieren, dessen Gelegenheitsstrukturen
durch zwei politische Ordnungen bestimmt werden. Wahlkampf in Migrationssyste-
men kann eine transnationale Dimension erhalten (vgl. Wahlkampfauftritte von
Recep Tayyip Erdoğan in Deutschland). Vergleichende Forschungsdesigns m€ussen,
durch den Transnationalismus herausgefordert, auf die Frage antworten können, ob
ein national beschränkter Blick eine Selektivität bedeutet, die zu empirisch inadä-
quaten Verzerrungen f€uhrt.
Skeptiker gegen€uber einer Vorstellung, die transnationale Perspektive könnte den
bisherigen nationalstaatlichen Blick komplett €uberwölben, argumentieren, dass mit-
tel- und langfristig die Nationalstaaten ihre Bindekräfte entfalten w€urden und trans-
nationale Bindungen dadurch schwinden w€urden (Waldinger 2015). Auch der
These, eine nationalstaatlich gebundene Staatsb€urgerschaft w€urde durch universale
Normen € uberwölbt (Soysal 1994) wird entgegengehalten, dass Entscheidungen und
Normen aus dem jeweils nationalstaatlichen Kontext heraus erklärt werden könnten
(Joppke 1999). Doch im Kontext der Europäischen Union muss auch festgestellt
werden, dass durch die regionale Integration in Europa eine rein nationalstaatlich
gebundene Perspektive wesentliche Aspekte des politischen Prozesses €ubersieht.
Seit Mitte der 1980er Jahre ist es im Feld der Migrations- und Integrationspolitik
(bzw. im europäischen Handlungsfeld der „Justice and Home Affairs“) zu einer
weitreichenden Übertragung von Kompetenzen auf die europäische Ebene gekom-
men. Ihren Ausgangspunkt nahm diese Entwicklung in der Etablierung des
Schengen-Raumes, in dem Grenzkontrollen entfallen. Durch die Vertragswerke
von Maastricht, Amsterdam und Nizza wurden sukzessive Kompetenzen der europä-
ischen Ebene geschaffen, die, durch Arbeitsprogramme des Europäischen Rats
vorangetrieben, sukzessive mit einem Repertoire von Richtlinien und weiteren
europäischen Rechtsakten ausgef€ullt wurden. Es wurden nicht nur die Grundlagen
f€ur ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem geschaffen. Mit der „Blue Card“
existiert auch ein auf der europäischen Ebene verankertes Instrument zur Arbeits-
migration.
Angesichts der vertraglichen Zuständigkeiten der europäischen Institutionen, der
Relevanz europäischer Akteure und der Vorgaben, die aus den europäischen Rechts-
akten f€ ur die Migrationspolitiken der EU-Mitgliedsstaaten resultieren, muss im
europäischen Kontext Migrationspolitik als Ergebnis von Politik im europäischen
Mehrebenensystem verstanden und analysiert werden (vgl. Guiraudon 2000). Eine
vergleichende Perspektive auf die Politik der EU-Staaten wird damit nicht obsolet,
doch sollte diese anderen Prämissen und Gesichtspunkten folgen als ein Zugang, der
Politiken voneinander unabhängiger Nationalstaaten untersucht. Mit der europä-
ischen Rechtsetzung ist das Ziel einer sukzessiven Harmonisierung verbunden, doch
776 A. Blätte

bleiben Spielräume der Ausgestaltung. Kommt es zur Konvergenz der europäischen


Migrationspolitiken, oder bestehen im Spannungsfeld der europäischen Zielsetzun-
gen und nationaler politischer Prozesse Unterschiede fort? Migrationspolitiken in
der Europäischen Union sind ein geeigneter Testfall f€ur die Perspektive der Euro-
päisierung, welche die Frage nach den R€uckwirkungen der Europäischen Integration
auf Politik und Gesellschaft in den Staaten stellt (Hunger 2008; Hunger et al. 2014).

5 Nach der Migration: Vergleichende


politikwissenschaftliche Integrationsforschung

Durch Migration und Migrationspolitik verändert sich, politisch folgenreich, die


Zusammensetzung von Gesellschaften. Vergleichende Forschung muss die Interde-
pendenz von Migrationspolitik und deren inter- und supranationale Einbettung ber-

ucksichtigen. Allerdings entwickeln sich gerade mit Bezug auf die politische Inte-
gration von Einwanderern vergleichende Forschungsperspektiven, die sich
dynamisch entwickeln. Im Folgenden sollen Hinweise auf die Forschungsfelder
gegeben werden, welche die Folgen von Migration und Migrationspolitik verglei-
chend in den Blick nehmen.
Gemeinhin werden die Einb€urgerung und der Erwerb der Staatsb€urgerschaft des
Ziellands einer Migration als Voraussetzung f€ur eine umfassende politische Partizi-
pation verstanden. Schon rein numerisch gibt es im Ländervergleich eine signifikante
Variation des Anteils der Staatsb€urger, der die Staatsb€urgerschaft durch Einb€urgerung
erworben hat. Die Dauer zwischen Einwanderung und Einb€urgerung unterscheidet
sich stark. Was aber die Voraussetzungen f€ur eine Einb€urgerung sind und welche
politischen Rechte auch ohne den Status des Staatsb€urgers genossen werden können,
schwankt stark zwischen den Ländern. Jenseits der klassischen Unterscheidung
zwischen Einb€ urgerung nach dem Abstammungsprinzip (ius sanguini) und dem
Territorialprinzip (ius soli) gibt es eine Vielzahl Detailregelungen etwa zur Aufent-
haltsdauer, erforderlichen Sprachkenntnissen, landeskundlichen Kenntnissen, Ein-
kommensverhältnissen oder der Aufgabe einer alten Staatsb€urgerschaft, die vielfach
zum Gegenstand rechtsvergleichender Studien geworden sind. Es scheint auch, als
verliere die Staatsb€urgerschaft an Bedeutung als exklusiver Schl€ussel zur unbe-
schränkten Beteiligung am politischen Prozess. Das Recht zur Beteiligung an lokalen
Wahlen wird von immer mehr Staaten bzw. Regionen eingeräumt (Pedroza 2012).
Das sozialwissenschaftliche Verständnis politischer Partizipation beschränkt sich
nicht auf das aktive und passive Wahlrecht, f€ur das nach wie vor die Staatsb€urger-
schaft im Regelfall die Voraussetzung ist. Politische Partizipation umfasst neben
weiteren konventionellen Beteiligungsformen unkonventionelle Beteiligungsformen
(Teilnahme an Demonstrationen etc.). Nach dem sozioökonomischen Standardmo-
dell der politischen Partizipation (Verba und Nie 1972), das einen ausgeprägten
positiven Zusammenhang von Einkommens- und Bildungsfaktoren und Niveau der
politischen Partizipation feststellt, ist es erwartbar, dass f€ur Einwanderer mit einem
durchschnittlich niedrigeren sozioökonomischen Status ein geringeres Niveau der
politischen Beteiligung feststellbar ist. Im Ländervergleich besonders interessant ist
Migrationspolitik in der Vergleichenden Politikwissenschaft 777

allerdings die Wirkung variabler institutioneller Faktoren auf Einwanderergruppen


mit einem vergleichbaren bzw. ähnlichen Hintergrund. Die „institutions matter“-
These wird durch solche Studien nachdr€ucklich belegt (Ireland 1994).
Eine politische Integration von Einwanderern erfolgt auch €uber deren Einbezie-
hung in das Feld der intermediären Organisationen. Einwanderer wirken an der
politischen Willensbildung in den Parteien mit und sie gr€unden Verbände und
Lobbyorganisationen, die am politischen Prozess teilhaben. Besonderes Interesse
erfährt hier, gerade auch international vergleichend, die Frage nach einer Inkorpo-
ration des Islams. Die Bedeutung transnationaler sozialer Räume f€ur islamische
Organisationen wird nachdr€ucklich belegt (Pries 2010), zugleich unterstreichen
vergleichende Studien die Wirkung der politisch-institutionellen Settings der Auf-
nahmegesellschaften f€ur das jeweils gefundene Modell der Inkorporation des Islams
(Burchardt und Michalowski 2015).
Aus der Perspektive der normativen politischen Theorie m€usste es neben indivi-
dueller politischer Partizipation und einem Zugang von Verbänden zum politischen
Prozess zu Veränderungen der Muster politischer Repräsentation kommen, so dass
Parlamente und Regierungen eine gewachsene gesellschaftliche Vielfalt repräsen-
tieren (Bloemraad 2013). Als Einzelfallstudien f€ur spezifische Länder liegen solche
Untersuchungen vor; gerade im europäischen Kontext bieten sich Möglichkeiten des
Vergleichs. Zwar wird immer wieder angemahnt, dass sich Veränderungen der
Repräsentation unterhalb des Anteils von Einwanderern an der Gesamtbevölkerung
bleiben und sich nicht schnell genug vollziehen. Doch ist die Repräsentation von
Einwanderern mittlerweile immerhin so weit ausgeprägt, dass vergleichende empi-
rische Studien möglich sind (Bird et al. 2011).
Der Blick auf die Veränderungen der Politik und Gesellschaft der Länder, die
stärker von Migration geprägt sind, bleibt schließlich selektiv, wenn dieser nur auf
die eingewanderten Bevölkerungsgruppen gerichtet ist. Einwanderung wird Aus-
wirkungen auf die politische Kultur eines Einwanderungslandes insgesamt haben.
Die „autochthone“ Bevölkerung reagiert nicht immer mit Offenheit auf Neuan-
kömmlinge, und gegen Migranten gerichtete Bewegungen und Parteigr€undungen
sind nicht die Ausnahme. Es wird die Frage gestellt, ob eine Zunahme von gesell-
schaftlicher Diversität wohlfahrtsstaatliche Modelle untergräbt, die auf einem hohen
Maß von Solidarität begr€undet sind. Kritik an der Europäischen Union leitet sich
mittlerweile auch von der Wahrnehmung ab, dass diese ihren Mitgliedsstaaten
Möglichkeiten zur Migrationskontrolle nimmt. Migration ist jedenfalls ein zentraler
Aspekt der Transformationen der gegenwärtigen Gesellschaften und insofern ein
Aspekt und Ausgangspunkt politikwissenschaftlicher Forschung, der stetig weitere
Beachtung verdienen wird.

6 Perspektiven

Migration im 21. Jahrhundert ist ein globales Phänomen, das Regionen und Konti-
nente miteinander verbindet. Die großen globalen Wanderungsbewegungen vollzie-
hen sich von Asien in die Golfstaaten, von Latein- nach Nordamerika, von Afrika
778 A. Blätte

und Mittel- und Osteuropa nach Westeuropa. Durch Kriege und B€urgerkriege
kommt es zu massiven Fl€uchtlingsbewegungen in Afrika und im Nahen und Mitt-
leren Osten. Wenn trotz der solchermaßen globalen Dimension von Migration hier
vor allem die Staaten der Europäischen Union im Mittelpunkt standen, so ist dies ein
methodisch induzierter Eurozentrismus, der aus der Frage nach den Möglichkeiten
vergleichender politikwissenschaftlicher Forschung resultiert. Die Analyse von
Migration muss globale Zusammenhänge ber€ucksichtigen. Ein globaler, politikwis-
senschaftlicher Vergleich von Migrationspolitiken scheitert bislang an der Verf€ug-
barkeit von Daten und wird auch durch Grenzen der Vergleichbarkeit eingeschränkt.
Die Beschäftigung mit klassischen Einwanderungsländern wie den USA, Kanada,
Australien oder Neuseeland, bleibt von erheblichem heuristischen Wert und liefert in
der politischen Praxis immer wieder Anregungen f€ur einen Transfer politischer
Programme im Sinne eines policy transfer (Dolowitz und Marsh 1996). Forschungs-
designs f€ur vergleichende Arbeiten im systematischen Sinne lassen sich hingegen
besser f€
ur einen Vergleich der europäischen Staaten definieren.
Insofern dies den Stand der Forschung markiert und ein Eurozentrismus der
vergleichenden Forschung zur Migrationspolitik feststellbar ist, so bedeutet dies
nicht, dass sich Forschungspotenziale darin erschöpfen m€ussten. Europa wird es
schon allein aufgrund der geographischen Lage schwer fallen, eine Abschottung
gegen Wanderungsbewegungen zu erreichen; wirtschaftliche Attraktivität und der
demographischer Wandel lassen Realisierbarkeit und W€unschbarkeit einer Null-
Migrations-Politik zweifelhaft erscheinen; die Transformation europäischer Gesell-
schaften durch Migration ist längst in Gang gesetzt, so dass hier f€ur lange Zeit
Nährstoff f€ur Forschung bleiben wird. Doch Migration wird nur unzureichend ver-
standen, wenn nur die Zielländer von Migration zum Gegenstand der Analyse
werden. Auswanderung, sei sie gezielt durch die Migrationspolitik eines anderen
Staates herbeigef€uhrt oder nicht, hat erhebliche Folgen in den Ländern, die von
dieser betroffen sind. Es verändert sich die demographische Situation und es kommt
zu Verlusten von Humankapital, wenn gerade mobile Personen mit höheren Bil-
dungsabschl€ ussen auswandern. Die R€uck€uberweisungen von Ausgewanderten nut-
zen bestimmten gesellschaftlichen Gruppen mehr als anderen. All dies hat politische
Folgen, etwa f€ur die Frage, ob Auswanderungsländer eine Migrationspolitik betrei-
ben, die eine Migrationskontrolle anderer Staaten wahrscheinlicher macht. All dies
könnte auch der Gegenstand vergleichender politikwissenschaftlicher For-
schung sein.
Migration ber€ uhrt stets auch normative Fragen. Ob es €uberhaupt ein normativ
begr€undbares Recht von Staaten gibt, durch Migrationspolitik die Bewegung von
Personen zu steuern, zu kontrollieren und zu beschränken, bleibt eine schwierige
Frage der normativen politischen Theorie (Carens 1987, Zolberg 2012). Wie her-
kömmliche Konzeptionen der Staatsb€urgerschaft durch Migration und Transnationa-
lismus herausgefordert sind, fordert ein Nachdenken €uber die normativen Grund-
lagen des modernen Staates heraus (Bauböck 1994, 2012). Die normativ strittigen
Fragen durchziehen die Literatur zur Migrationspolitik. Abgesehen von der Frage,
welche Folgen eine gezielte Anwerbung hochqualifizierter Arbeitskräfte als Verlust
von Humankapital f€ur Herkunftsländer hat: Wie ist dies normativ zu bewerten? Das
Migrationspolitik in der Vergleichenden Politikwissenschaft 779

Aufkommen populistischer Bewegungen und Parteien, die gegen Migration oppo-


nieren, zeugt von Wertkonflikten. Insofern begibt sich politikwissenschaftliche
Forschung bei der Beschäftigung mit Migration und Migrationspolitik in ein stark
normativ besetztes, von Wertkonflikten gekennzeichnetes Terrain, das von engagier-
ten Debatten geprägt ist. Zur Aufklärung leisten die Analysen der politischen
Philosophie einen wichtigen Beitrag, indem sie Prämissen, Widerspr€uchlichkeiten
und Folgen von Argumentationen ausleuchten. Die empirische vergleichende For-
schung zu Migration und Migrationspolitik trägt aber zur politikwissenschaftlichen
Aufklärung gerade dann bei, wenn sie ihre normativ herausfordernden Forschungs-
gegenstände mit analytischer Distanz untersucht.

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Aurel Croissant

Zusammenfassung
Die Analyse zivil-militärischer Beziehungen als Teilgebiet der Vergleichenden
Politikwissenschaft beschäftigt sich mit einem zentralen Ordnungsproblem mo-
derner Gesellschaften. Im Zentrum steht die doppelte Herausforderung der Insti-
tutionalisierung politischer Kontrolle €uber das Militär und der Gewährleistung
effektiver Sicherheit f€ur den Nationalstaat und seine B€urger. Forschungsschwer-
punkte sind die vorwiegend mit qualitativen Methoden des Vergleichs betriebene
Analyse des Verhältnisses von Militär und Politik in demokratischen Transforma-
tionsprozessen, die makro-quantitativ vergleichende Coup-Ursachen-Forschung
sowie die Methoden und Theorien kombinierende Analyse der politisch-militär-
ischen Beziehungen in Diktaturen. Ein noch neues, vielversprechendes For-
schungsgebiet ist die Untersuchung der Auswirkungen zivil-militärischer Bezie-
hungen auf die politische Performanz von Demokratien und Diktaturen.

Schlüsselwörter
Zivil-militärische Beziehungen • Demokratie • Autokratie • Transformation •
Militärputsch

1 Einleitung

Die zivil-militärischen Beziehungen sind ein interdisziplinäres Forschungsfeld.


Zunächst kann zwischen dem soziologischen und dem politikwissenschaftlichen For-
schungsstrang unterschieden werden. Die Militärsoziologie beschäftigt sich vorrangig
mit dem Militär als einer sozialen Organisation und mit den sozialen Funktionen des

A. Croissant (*)
Professor f€ur Politikwissenschaft, Institut f€
ur Politische Wissenschaft, Universität Heidelberg,
Heidelberg, Deutschland
E-Mail: aurel.croissant@urz.uni-heidelberg.de

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 783


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_58
784 A. Croissant

Militärsystems sowie deren Wandel u€ber die Zeit. Die politikwissenschaftliche


Literatur stellt das Verhältnis von Militär und Politik als ein grundsätzliches Ord-
nungsproblem moderner Gesellschaften in den Mittelpunkt. Dabei wird das Militär
normativ als Instrument der Politik konzipiert; letztere bestimmt die Grundprinzipien
des Militärs und seine Ziele (Feaver 2003; von Hagen 2012).
Während sich die Forschung zu den Internationalen Beziehungen, die empirische
Konflikt- und Kriegsursachenforschung sowie das Teilgebiet der security studies
v. a. mit dem Einfluss der Interaktion von Militär und Politik auf die Formulierung
von Verteidigungspolitiken, das Auftreten und den Verlauf zwischen- und inner-
staatlicher Gewaltkonflikte sowie die Effektivität und Effizienz von Sicherheitspo-
litik (vgl. Powell 2012; Bruneau und Matei 2012) beschäftigen, steht im Mittelpunkt
des Erkenntnisinteresses der vergleichend-politikwissenschaftlichen Erkundung
zivil-militärischer Beziehungen traditionell die Frage der Kontrolle der Streitkräfte
durch die Politik. Dieses Teilgebiet kann in eine auf die USA bezogene sowie eine
genuin komparative Forschung unterschieden werden. Erstere beschäftigt sich pri-
mär mit der Einbettung militärischer Institutionen in Politik und Gesellschaft der
Vereinigten Staaten. Letztere untersucht vor allem die zivil-militärischen Beziehun-
gen in Demokratien und Diktaturen außerhalb der Kern-OECD-Staaten.

2 Definition und Konzept der zivil-militärischen


Beziehungen

Unter zivil-militärischen Beziehungen wird die Gesamtheit der Interaktionen und


Relationen zwischen den Streitkräften und ihren Mitgliedern einerseits und den
nichtmilitärischen Teilsystemen der Gesellschaft andererseits verstanden (K€ummel
2002, S. 74). Das Augenmerk der Vergleichenden Politikwissenschaft gilt besonders
dem Teilbereich der „politisch-militärischen Beziehungen“, d. h. den Strukturen,
Prozessen und Politikergebnissen der Interaktion von politischem System und
Militär. Untersucht werden die institutionellen, prozessualen und entscheidungs-
inhaltlichen Aspekte des politischen Handelns, das darauf gerichtet ist, regelungs-
bed€urftige Angelegenheiten des Militärwesens allgemeinverbindlich zu gestalten.
Hierzu gehören v. a. Fragen der politischen Kontrolle der Streitkräfte, der
Einflussnahme des Militärs auf den politischen Prozess sowie der Auswirkungen
der politisch-militärischen Beziehungen auf das politische System.
Der Großteil der Forschungsliteratur orientiert sich an der Definition von Militär
als die Gesamtheit der planvoll organisierten, uniformierten und bewaffneten Streit-
kräfte (Edmonds 1988). Die konkreten Wehrstrukturen, d. h. die Zusammensetzung
und Form der Rekrutierung und die innere Organisation, sowie die rechtliche
Einbindung der Streitkräfte variieren mit den gesellschaftlichen und politischen
Verhältnissen. Allgemein g€ultige Abgrenzungsmerkmale gegen€uber anderen
bewaffneten Gruppen und Organisationen sind die Monopolisierung der
Verf€ugungsgewalt €uber Kriegswaffen, die Landesverteidigung nach außen als
strukturbestimmende Aufgabe und die Bindung der militärischen Organisation an
eine €
ubergeordnete, staatliche Autorität (Croissant und K€uhn 2011, S. 1).
Zivil-militärische Beziehungen in der Vergleichenden Politikwissenschaft 785

1. Das Kriegswaffenmonopol ist formal gefasst. In B€urgerkriegs- und Postkonflikt-


Staaten wird es durch nichtstaatliche Kräfte untergraben. In manchen Staaten
existieren Organisationen außerhalb der militärischen Kommandostruktur, die
ebenfalls militärisch ausger€ustet und gegliedert sind, z. B. die Nationalgarden
der Einzelstaaten in den USA oder Präsidialgarden und Sonderverbände in
arabischen Autokratien. Sofern sie an eine staatliche Autorität gebunden und

uber diese legitimiert sind, können sie als Teil des Militärs betrachtet werden.
2. Die Abwehr eines militärischen Angriffs auf den Nationalstaat ist die strukturbes-
timmende, aber keineswegs die einzige Aufgabe der Streitkräfte. Häufig unterst€utzen
sie zivile Behörden beim Katastrophenschutz und der Grenzsicherung, €ubernehmen
polizeiliche Aufgaben in der Kriminalitätsbekämpfung und kommen in der Terro-
rismusabwehr zum Einsatz. Obendrein werden Soldaten in innerstaatlichen Gewalt-
konflikten und zur Eindämmung b€urgerkriegsähnlicher Zustände eingesetzt. Auch
in internationalen Friedensoperationen und humanitären Einsätzen verschwimmen
die Grenzen zwischen militärischen und nicht-militärischen Aufgaben.
3. Außerhalb der Definition stehen bewaffnete Gruppen, die nicht an eine

ubergeordnete staatliche Autorität gebunden und €uber sie legitimiert sind. Beispiele
ur diese „quasi-militärischen“ nichtstaatlichen Akteure sind B€urgerkriegsarmeen,
f€
Widerstandsgruppen, Milizen und terroristische Gruppen.

Dieses Verständnis von Militär (und von zivil-militärischen Beziehungen) ist


enger als das Konzept des Sicherheitssektors (security sector). Letzteres umfasst
alle staatlichen Institutionen und Strukturen, deren Funktion die Herstellung von
„öffentlicher Sicherheit“ ist, d. h. der Schutz der Gesellschaft und ihrer B€urger vor
Bedrohungen durch Kriminalität, Aufruhr und anderen Formen von Gewalt. Dazu
gehören neben den Streitkräften auch Polizei, Paramilitärs, K€ustenwache, Nachrich-
tendienste, das Justizwesen und die Straffvollzugseinrichtungen sowie Regierungs-
behörden und Ministerien soweit sie an der Formulierung, Implementierung
oder Überpr€ ufung entsprechender Politiken beteiligt sind. Neben den staatlichen
Organen, die in legaler und legitimer Weise Gewalt zum Schutz des Staates
und seiner B€ urger anordnen oder anwenden d€urfen, werden in der einschlägigen
Literatur auch nicht-staatliche und informelle Sicherheitsakteure wie B€urgerwehren,
Nachbarschaftswachen, private Sicherheitsunternehmen oder Rebellengruppen und
Warlords hinzu gezählt (Born 2006, S. 128; Edmunds 2012, S. 50).
Das klassische Verständnis der zivil-militärischen Beziehungen erfasst alle jene
Elemente der Gesellschaft als zivil, die nicht den Streitkräften zuzurechnen sind. In
den politisch-militärischen Beziehungen sind dies alle Organisationen, Institutionen
und Autoritäten in einem politischen System, die Einfluss auf die Formulierung,
Implementation und Überpr€ufung politischer Entscheidungen und materieller Politi-
ken haben. Hierzu zählen neben staatlichen Institutionen auch Parteien, Interessen-
gruppen, soziale Bewegungen und „zivilgesellschaftliche“ Assoziationen, unter
Umständen auch ausländische Regierungen, Finanzinstitutionen und internationale
Nichtregierungsorganisationen.
Die Trennung von ziviler und militärischer Sphäre ist analytischer Natur. Wo in
der Realität genau die Grenze verläuft ist auch in etablierten Demokratien nicht
786 A. Croissant

immer eindeutig. Zudem wird damit keine Aussage €uber den Grad der strukturellen
und funktionalen Verschiedenartigkeit von ziviler und militärischer Sphäre getroffen
(vgl. Schiff 2009). Besonders schwierig zu trennen ist beides in Militärregimen, da
hier das Militär dar€uber entscheidet, welche Ziele es verfolgt, welche sozialen Kräfte
es bei der Herrschaftsaus€ubung einbindet, wie die Macht im politischen
System verteilt ist und wie das Verhältnis zwischen Regierung und Streitkräften
beschaffen sein soll (Arceneaux 2001, S. 8–9). Letztendlich ist eine analytische
Unterscheidung aber unerlässlich, um zivil-militärische Beziehungen €uberhaupt
untersuchen zu können (Feaver 1996). Auch deshalb ist der Vorschlag, das
traditionelle („orthodoxe“) Konzept der zivil-militärischen Beziehungen zugunsten
des Sicherheitssektorbegriffs aufzugeben (vgl. Forster 2002), nicht zielf€uhrend.
Vor allem aber €ubersieht er, dass es bei der Forschung zu zivil-militärischen
Beziehungen um die Analyse des Verhältnisses von Militär und ziviler
Gesellschaft bzw. Politik geht, beim Sicherheitssektor hingegen um die (meist
Policy-bezogene) Analyse von Strukturen und Prozessen der Produktion öffentlicher
(Un)Sicherheit.

3 Theorien und Methoden der vergleichenden Analyse zivil-


militärischer Beziehungen

Von den Überlegungen Platons €uber die Stellung der Krieger in der Polis bis zu den
fr€uhen soziologischen Ausf€uhrungen zum Verhältnis von Militär und Gesellschaft
bei Gaetano Mosca und Max Weber haben sich etliche Analytiker der Politik mit
dem Thema auseinandergesetzt (Kernic 2001). Die Anfänge einer theoretisch fund-
ierten und empirisch-analytischen sozialwissenschaftlichen Militärforschung sind
jedoch j€ungeren Ursprungs. Sie gehen zur€uck auf Samuel P. Huntingtons Fr€uhwerk
The Soldier and the State (1957) und Morris Janowitz’ Abhandlung The Professio-
nal Soldier (1960). Letzterer gilt als Begr€under der modernen Militärsoziologie. F€ur
die komparative Politikwissenschaft bedeutender ist Huntingtons Theorie der zivil-
militärischen Beziehungen. Sie ist bis heute eine Standardreferenz f€ur die politik-
wissenschaftliche Diskussion der zivil-militärischen Beziehungen insbesondere in
der nordamerikanischen Literatur (Feaver 2003, S. 7).
Ausgehend von dem metatheoretischen Raster, das Mark Lichbach (1997) f€ur die
comparative politics ausgearbeitet hat und das von David Pion-Berlin (2001) f€ur die
zivil-militärischen Beziehungen adaptiert wurde, können die meisten Theorien einer
von drei research schools zugeordnet werden (Croissant und K€uhn 2011, S. 15–60):

1. Zur „kulturalistischen Schule“ gehören die älteren Professionalismustheorien von


Huntington (1957) und Janowitz (1960) sowie neuere Theorien von Stepan
(1971) und Fitch (1998). Die Ansätze unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht.
Gemeinsam ist ihnen die R€uckbindung der konkreten Ausprägungen zivil-mili-
tärischer Beziehungen und der Interaktionsdynamiken zwischen Militär und
Politik an die inneren Werte der Streitkräfte. Sie definieren die Ziele und Interes-
sen des Militärs und stellen Handlungsrichtlinien und Muster f€ur die Interaktion
Zivil-militärische Beziehungen in der Vergleichenden Politikwissenschaft 787

mit anderen (zivilen) Gruppen bereit. Die Unterordnung des Militärs unter die
politische Kontrolle oder deren Fehlen ist letztlich im professionellen „Ethos“ des
Offizierskorps begr€undet.
2. „Strukturalistische Ansätze“ untersuchen den Einfluss struktureller Variablen auf
die zivil-militärischen Beziehungen. Mit Easton (1990) lassen sich zwei Theo-
rierichtungen unterscheiden. Ein Strang fragt nach den Auswirkungen der „Struk-
turen höherer Ordnung“, wie sozioökonomische Modernisierung oder die Struk-
turen des internationalen Systems. Der andere Strang fokussiert auf die kausalen
Effekte der „Strukturen niederer Ordnung“, also der politischen Institutionen, auf
das Verhalten individueller oder kollektiver Akteure. Vertreter der strukturalisti-
schen Theorieströmung sind Finer (1962), Huntington (1962), Desch (1999)
sowie, aus neoinstitutioneller Perspektive, Avant (1994) und Pion-Berlin
(1997). Desch etwa betont mit seiner strukturalistischen Theorie, warum äußere
Bedrohungen der nationalen Sicherheit wie im Kalten Krieg stabile zivile Kon-
trolle beg€
unstigen und weshalb innere Unruhen sie belasten. Neoinstitutionelle
Ansätze zeigen, wie die Fähigkeit ziviler Politiker zur Einf€uhrung militärstrategi-
scher Neuerungen (Avant 1994) und die Neuordnung der politisch-militärischen
Beziehungen im Übergang von der Diktatur zur Demokratie (Pion-Berlin 1997)
von den institutionellen Ressourcen der Akteure beeinflusst werden.
3. „Rationalistische“ (handlungstheoretische) Ansätze richten ihr Augenmerk auf
die Interessen und Präferenzen, die Handlungen und die strategischen Interaktio-
nen von politischen Akteuren und Militärs, die jeweils als rationale, nutzen-
maximierende Akteure konzipiert werden (Trinkunas 2005; K€uhn 2013). Der
derzeit wichtigste Beitrag zur Theoriebildung ist Peter Feavers (2003) spieltheo-
retisches Modell der zivil-militärischen Beziehungen. Es r€uckt das zentrale Pro-
blem ziviler Kontrolle ins Zentrum der Theoriebildung: Wie stellt der Prinzipal
(die politische F€uhrung) sicher, dass der Agent (das Militär) in seinem Sinne
handelt? Um dies zu analysieren, entwickelt Feaver iterative Spiele, in denen die
Interaktionen von Prinzipal und Agent durch das gemeinsame Wissen €uber die
Struktur, Kosten und wahrscheinlichen Ergebnisse ihrer Handlungen geprägt
sind. Damit legt Feaver eine Theorie ziviler Kontrolle in Demokratien vor, die
sich mit wenigen Modifikationen auch auf Autokratien €ubertragen lässt. Doch
auch seine Theorie hat Grenzen. Da das Modell die Anerkennung des Primats der
politischen F€uhrung durch das Militär als gegeben voraussetzt und annimmt, dass
der Prinzipal jederzeit die Option besitzt, das Militär bei Fehlverhalten („shir-
king“) zu sanktionieren (Feaver 2003, S. 57–58), eignet es sich nicht f€ur junge
Demokratien, in denen dieser Zustand erst erreicht werden muss.

In methodischer Hinsicht dominieren Einzelfallstudien und diachron vergleichende


Länderanalysen die empirische Forschung. Intraregionale Synchron- oder Panel-
Vergleiche mit kleinen Fallzahlen sind ebenfalls verbreitet. Die Mehrzahl dieser Stu-
dien beschäftigt sich mit westlichen Demokratien oder (post-)autoritären Staaten in
Lateinamerika oder in Osteuropa. Systematisch interregional vergleichende Analysen
sind die Ausnahme. Statistische Untersuchungen mit großer Fallzahl spielen nur in der
Coup-Ursachen-Forschung eine Rolle (Croissant und K€uhn 2011). Methodologische
788 A. Croissant

Ansätze wie Qualitative Comparative Analysis (QCA), die systematische Kombination


von statistischen Verfahren und Fallstudien („nested analysis“) oder neuere Beiträge zur
qualitativen Methodologie werden kaum rezipiert (K€uhn 2013). Fallstudien sind ein
geeignetes Instrument der vergleichenden Forschung, wenn es um die Analyse von
kausalen Mechanismen und das Nachverfolgen von Ereignisketten („process tracing“)
geht, oder um komplexe theoretische Konzepte wie bspw. „zivile Kontrolle“ zu
untersuchen, die sich (bislang) einer validen quantitativ-vergleichenden Messung ent-
ziehen. Ein Großteil der Analysen leidet aber an den typischen Schwächen „qualitati-
ver“ Forschung wie der unzureichenden Problematisierung mangelnder Varianz der
theoretisch interessierenden Variablen sowie der unzureichenden Begr€undung und
Reflexion der Fallauswahl (Croissant und K€uhn 2011, S. 57).
Die Präferenz vieler Wissenschaftler f€ur Fallstudien ist auch im schwierigen
Zugang zu relevanten Daten begr€undet. Die Datensätze des Stockholm International
Peace Research Institute oder des International Institute for Strategic Studies in
London bieten lediglich hoch aggregierte Daten zu Verteidigungsausgaben, Streit-
kräftestrukturen und Ausr€ustung des Militärs mit Kriegsgerät. Datenbanken zu zivil-
militärischen Beziehungen oder zur Zusammensetzung und Struktur des Sicherheits-
sektors in einer größeren Zahl von Staaten fehlen ebenso wie belastbares Daten-
material zur Verflechtung von Wirtschaft und Streitkräften. Allenfalls zu Militär-
putschen gibt es brauchbare Datensätze (Powell und Thyne 2011). Ein weiteres
Problem der Datenverf€ugbarkeit ist die geringe Offenheit des Militärs gegen€uber
außenstehenden Wissenschaftlern. So gibt es kaum Umfragedaten zu militärischen
Subkulturen oder politischen Einstellungen von Mitgliedern der Streitkräfte außer-
halb Europas und Nordamerikas. Lebensverlaufsdaten militärischer Eliten existieren
nur in fragmentarischer Form. Auch die soziale Zusammensetzung von Armeen im
internationalen Vergleich wurde bislang kaum systematisch untersucht. Viele theo-
retische Kausalannahmen konnten daher nicht einer €uber einzelne Fälle oder Regio-
nen hinausgehenden systematischen empirischen Pr€ufung unterzogen werden.

4 Forschungsschwerpunkte der vergleichenden Analyse


zivil-militärischer Beziehungen

Die politikwissenschaftliche vergleichende Analyse zivil-militärischer Beziehungen


hat in den letzten Jahrzehnten mehrere Forschungskonjunkturen durchlaufen. In den
ersten zwei Jahrzehnten nach 1945 ging es vor allem um die Frage, wie es liberalen
Demokratien gelingen könne, unter den Bedingungen der nuklearen Bedrohung im
Kalten Krieg die politische Kontrolle der militärischen Gewalt auszu€uben und
zugleich ein hinreichendes Maß an nationaler Sicherheit zu gewährleisten. In den
1960er-und 1970er-Jahren konzentrierte sich eine umfangreiche empirische, jedoch
nicht unbedingt theoriegeleitete Forschung auf Militärputsche und Militärregime in
der Dritten Welt. In der dritten Demokratisierungswelle (1974 ff.) r€uckte die Rolle
des Militärs in Prozessen der demokratischen Transformation in den Mittelpunkt.
Mit der aktuellen Renaissance der Autoritarismus-Forschung erfährt auch die Ana-
lyse der politisch-militärischen Beziehungen in Autokratien erneut Beachtung. Seit
Zivil-militärische Beziehungen in der Vergleichenden Politikwissenschaft 789

dem Ende des Ost-West-Konflikts ist auch das Interesse an den zivil-militärischen
Beziehungen in etablierten Demokratien wiedererwacht. Diese Forschung ist zum
Teil stark anwendungsorientiert, beschäftigt sich mit den Auswirkungen des sozialen
und technologischen Wandel auf das Militär bzw. auf sein Verhältnis zur Gesell-
schaft und sucht nach alternativen Lösungsvorschlägen f€ur praktische Sicherheits-
probleme. Im Zusammenhang mit der in den USA in den 1990er-Jahren mit nicht-
konklusiven Befunden diskutierten These vom Entstehen einer kulturellen „Kluft“
(gap) zwischen ziviler Gesellschaft und Militär (Feaver und Kohn 2001) sowie der
auch in der deutschsprachigen Forschung rezipierten Debatte um eine Militarisie-
rung demokratischer Verfassungsstaaten (Deitlhoff und Geis 2010) hat auch die
Frage der demokratischen Kontrolle der Streitkräfte neue Beachtung erfahren.
Nachfolgend werden beispielhaft zwei aktuelle Forschungsschwerpunkte darge-
stellt: die zivil-militärischen Beziehungen in demokratischen Transformationsproz-
essen und die Analyse politisch-militärischer Beziehungen in Autokratien.

4.1 Zivil-militärische Beziehungen und demokratische


Transformation

Ob Systemwechsel von der Diktatur zum demokratischen Verfassungsstaat gelingen,


hängt von vielen Faktoren ab (vgl. den Beitrag von W. Merkel in diesem Band). Die
Entwicklung der zivil-militärischen Beziehungen gehört dazu. Statistische Untersu-
chungen f€ ur die Zeit nach 1946 zeigen eine höhere Anfälligkeit von Demokratien f€ur
Regimezusammenbr€uche, wenn sie auf militärisch dominierte Regime folgen (Chei-
bub 2007). Fälle des dauerhaften R€uckzugs des Militärs in die Kasernen waren bis
zum Beginn der dritten Demokratisierungswelle (1974) die Ausnahme (Welch 1992).
Die Befunde der neueren Coup-Forschung zeigen jedoch einen starken R€uckgang der
Häufigkeit von Militärputschen seit den 1970ern (Powell und Thyne 2011). Demo-
kratien profitieren besonders von dieser Entwicklung. Trotz mancher Ausnahmen
(z. B. Mali in 2012) blieben die meisten Demokratien der dritten Welle von Putschen
verschont. Das deutet auf eine neue Stabilität der zivil-militärischen Beziehungen
gerade in jenen Ländern hin, die bis vor kurzem in einer „Coup-Falle“ gefangen
schienen, darunter viele Staaten in Lateinamerika (Pion-Berlin und Trinkunas 2010).
Die klassische Frage der Putschprävention hat daher in vielen jungen Demo-
kratien an Bedeutung verloren. Das darf aber nicht gleichgesetzt werden mit der
Institutionalisierung effektiver demokratischer Kontrolle. Differenziertere Analysen
kommen vielmehr zu dem Schluss, dass die demokratische Kontrolle des Militärs
häufig auch Jahrzehnte nach der Transition unvollständig geblieben ist (Croissant
und K€ uhn 2011; Barany 2012). Dar€uber hinaus hat eine schwache demokratische
Kontrolle auch dort, wo das Militär nicht aktiv in die Politik eingreift, einen Mangel
an demokratischer Verantwortlichkeit, öffentlicher Transparenz sowie gesellschaftli-
cher Partizipation zur Folge. Das wiederum fördert die Dominanz der militärischen
Logik €uber die öffentliche politische Agenda und beeinträchtigt die rechtsstaatliche
und partizipative Qualität der Demokratie insgesamt (Cottey et al. 2002, S. 43;
Croissant et al. 2013).
790 A. Croissant

Zu der Frage, wie junge Demokratien mit dem Ordnungsproblem der zivilen
Kontrolle umgehen, gibt es viel aktuelle Forschung. Allerdings sind die Grenzen
möglicher Generalisierungen der Befunde zu beachten (s. Abschn. 3). Relativ ge-
sichert scheint, dass die Form des autoritären Regimes und seines Niedergangs von
Bedeutung sind. Ein Vergleich der meisten Transitionen in Lateinamerika mit dem
postkommunistischen Osteuropa und jungen Demokratien in Asien und Afrika
belegt, dass die Institutionalisierung demokratischer politischer Kontrolle €uber das
Militär besonders dort schwer fällt, wo der Übergang aus einem militarisierten
autoritären Regime erfolgt, und wo Militärs die Transition planen, lenken oder im
Ringen mit zivilen Eliten gestalten (Ag€uero 2009). Bedeutsam ist auch, wie stark die
Legitimität ziviler Institutionen in Transformationsgesellschaften ausgeprägt ist
(Croissant und K€ uhn 2011). Letzteres hängt wiederum mit den internationalen und
innergesellschaftlichen Konfliktlagen und Bedrohungsszenarien zusammen, mit der
Integrationsleistung der politischen Institutionen, Parteien und intermediären Orga-
nisationen sowie der Frage, ob gesellschaftliche Eliten in Konflikten mit anderen
Teileliten das Militär umwerben und hierdurch als innenpolitischen Machtfaktor
aufwerten. Letzteres ist besonders hinderlich f€ur die Institutionalisierung ziviler
Kontrolle, „denn eine Armee, die umworben wird, ist eine Armee die schwer zu
reformieren ist“ (Serra 2010, S. 239).

4.2 Politisch-militärische Beziehungen in Autokratien

Zivil-militärische Beziehungen sind auch f€ur die Funktionsweise autoritärer Regime


von großer Bedeutung. Da ihnen viele der Feedbackmechanismen fehlen, die in
Demokratien die friedliche Verarbeitung gesellschaftlicher Konflikte ermöglichen,
verf€ugen Autokratien i. d. R. €uber stark ausgebaute Repressions- und Militärappa-
rate. Obgleich sich die meisten Diktatoren zur alltäglichen Repression auf Polizei
und spezialisierte Organe der inneren Sicherheit verlassen, ist das Militär der letzte
Garant f€ur Regimesicherheit, da die Streitkräfte als einzige Institution in der Lage
sind, organisierte und potentiell gewalttätige Massenproteste niederzuschlagen
(Skocpol 1979). Zugleich ist ein machtvoller Militärapparat auch eine Gefahr f€ur
Diktatoren. Das zeigt sich unter anderem darin, dass seit 1946 mehr autoritäre F€uhrer
durch das eigene Militär gest€urzt wurden als durch Oppositionsbewegungen oder
ausländische Interventionen (Svolik 2012).
Zu den berichtenswerten Befunden der aktuellen Forschung hinsichtlich der
politisch-militärischen Beziehungen in autoritären Regimen gehört erstens die Er-
kenntnis, dass die Zahl der Militärregime in den letzten drei Jahrzehnten deutlich
zur€uckgegangen ist. So war nach den Daten von Geddes et al. (2012) jede f€unfte
Diktatur weltweit im Jahre 1978 ein Militärregime; 2010 waren es noch 4 %. Andere
Autokratie-Messungen liefern abweichende Angaben, bestätigen aber den deutli-
chen Trend (Croissant 2013).
Eine zweites Ergebnis lautet: im Vergleich zu anderen Autokratie-Typen weisen
Militärregime eine durchschnittlich k€urzere Lebenserwartung auf. Wiederum vari-
ieren die konkreten statistischen Befunde. Auch wird man nach Spielarten der
Zivil-militärische Beziehungen in der Vergleichenden Politikwissenschaft 791

Militärherrschaft, Regionen und zeitgeschichtlichen Perioden differenzieren m€ussen


(Croissant 2013). Insgesamt aber scheinen Militärregime gegen€uber anderen For-
men der Diktatur einen strukturellen Stabilitätsnachteil zu haben. Welche Prozesse
hier wirken ist umstritten. Prominent in der Forschungsliteratur sind drei (miteinan-
der kombinierbare) Erklärungen. So könnten Schwierigkeiten des Übergangs von
der Macht€ ubernahme zur Machtkonsolidierung bereits in der Form der Machter-
greifung begr€ undet sein: Die meisten Militärregime werden durch einen Militär-
putsch eingeleitet. Knapp 50 % aller Putsche seit 1946 wurden von Offizieren
unterhalb des Generaldienstgrads durchgef€uhrt (Pin und Yu 2010). Solche „Fak-
tionscoups“ sind ein Zeichen von Schwäche in einem wichtigen und markanten
Aspekt der militärischen Fähigkeit zur Machtkonsolidierung: Seine zentralisierte
und disziplinierte Organisationsstruktur (Brooker 2009, S. 94). Militärregime, die
auf Faktionscoups folgen, sind daher anfällig f€ur Gegenputsche.
Zu den Herausforderungen vieler Militärregime gehört im Weiteren ihre offene
Legitimationsflanke (Finer 1985). Häufig versuchen Putschisten, die illegale Macht-

ubernahme als zeitlich begrenzte Maßnahme zur Bewältigung einer akuten Notsitu-
ation zu rechtfertigen. In solchen Fällen steht die Begr€undung der Macht€ubernahme
der dauerhaften Etablierung des Regimes entgegen. Dar€uber hinaus schneiden
Militärregime in puncto politische Performanz und ökonomischer Leistungsfä-
higkeit im Durchschnitt schlechter ab als andere Diktaturen (Croissant und Wurster
2013, S. 11–12), verf€ugen meist nur €uber eine geringere „ideologische Loyalitätsre-
serve“ (Gerschewski et al. 2013), st€utzen sich nicht auf eine organisierte politische
Bewegung und haben es deshalb schwer, politische Krisen zu €uberstehen.
Eine weitere mögliche Ursache f€ur die charakteristische Instabilität von Militär-
regimen ist die Spannung zwischen Macht- und Institutioneninteresse des Militärs,
welche dazu f€ uhrt, dass Militärregime „die Saat ihrer eigenen Zerstörung“ (Geddes
1999, S. 131) in sich tragen: Macht€ubernahme und Machtaus€ubung fördern das
Entstehen von Rivalitäten innerhalb der Militärelite. Statt um jeden Preis an der
Macht festzuhalten, präferieren Offiziere die R€uckkehr in die Kasernen, bevor
interne Konflikte die Institution gefährden. Das ist besonders der Fall, wenn das
Regime (friedlichen) Massenprotesten gegen€ uber steht (Geddes 1999, S. 131).
Zwar gibt es derzeit noch wenige systematische Erkundungen der politisch-militär-
ischen Beziehungen in autoritären Regimen nach dem Ende der Ost-West-Konfronta-
tion und der weltweiten Demokratisierungswelle im letzten Viertel das 20. Jahrhunderts.
Aktuelle, teils explorative Studien zum arabischen Raum und Afrika deuten jedoch auf
die Herausbildung eines neuen Typs von Beziehungen zwischen Streitkräften und
autoritären Systemen hin (Cook 2007; Basedau und Elischer 2013). Während in der
Vergangenheit das Militär vielerorts als Herrschaftsträger direkt die Regierungsgewalt
aus€ubte oder als „Herausforderer“ versuchte, die Regierung zu st€urzen, sind militärische
Eliten nun Teil einer autoritären „Gewinnerkoalitionen“ • jene kleine Gruppe von Eliten,
die die politische F€uhrung ins Amt bringt und ihren Machterhalt sicherstellt (Bueno de
Mesquita und Smith 2011, S. 5). Dabei agieren Spitzenoffiziere jedoch nicht an der
Spitze des Regimes, sondern im „Schatten der Macht“ (Cook 2007).
Das konkrete Ausmaß der Beteiligung der Streitkräfte an der Erf€ullung staatlicher,
politischer oder gesellschaftlicher Aufgaben variiert mit dem Typ der autoritären
792 A. Croissant

Ordnung und dem Beitrag des Militärs zur Staats- oder Regimegr€undung. Internatio-
nale Faktoren und das regionale Umfeld spielen ebenfalls eine Rolle. Wichtig ist
ferner, ob es Diktatoren gelingt, zivile Eliten f€ur das Regime zu kooptieren, ihre
Fähigkeit zur Legitimation des eigenen Herrschaftsanspruchs gegen€uber den Herr-
schaftsunterworfenen sowie das Maß an Repression, mit dem Herrscher auf Legitima-
tionsl€
ucken reagieren und ob sie hierzu das Militär einsetzen. Von Bedeutung ist
zudem, wie Diktatoren versuchen, das Militär zu kontrollieren oder einen stabilen
Modus der Machtteilung zu gewährleisten. In Frage kommen verschiedene, in der
Literatur mitunter verk€urzt als „Putschprävention“ („Coup-proofing“, Quinlivan
1999) bezeichnete Strategien. Zu den robusten, tief in die Machtsphäre des Militärs
eingreifenden Maßnahmen gehört die Aufstellung alternativer bewaffneter Verbände
zum Schutz des Regimes, die Förderung von Konkurrenz um politische oder wirt-
schaftliche „Renten“ unter Offizieren sowie der Aufbau eines umfassenden Über-
wachungssystems. Dazu zählt auch die Rekrutierung der oberen Offiziersränge vor-
nehmlich aus Angehörigen jener Gesellschaftsgruppen, die auch die Spitzen des
Regimes stellen, die Schaffung eines Indoktrinationssystems, um die Wertvorstellun-
gen des Militärs denen des Regimes anzugleichen, oder die Gewährung von Privile-
gien und Karrierechancen in Staat und Wirtschaft im Tausch f€ur regimekonformes
Verhalten (Powell 2012). Aktuelle Analysen der j€ungsten Aufstände im Nahen und
Mittleren Osten zeigen, dass der Mix dieser Strategien einen wichtigen Beitrag liefert
zur Erklärung der unterschiedlichen Reaktionsweisen des Militärs in den arabischen
Staaten (Makara 2013; Frisch 2013; Albrecht, Croissant und Lawson 2015). Ge-
naueres wird aber erst gesagt werden können, wenn Untersuchungen zur Funktion
und Stellung von Militärs in Autokratien vorliegen, die sowohl aktueller also auch
methodisch und theoretisch versierter als die derzeit verf€ugbaren Studien sind. Diese
Forschungsl€ucke zu schließen, ist eine dringliche Aufgabe f€ur die Politikwissenschaft.

5 Fazit und Perspektiven

Die Gestaltung der Beziehungen von Staat, Gesellschaft und Streitkräften ist ein
zentrales Ordnungsproblem in allen politischen Systemen, die €uber militärische
Organisationen verf€ugen. Die theoretische und empirische Analyse des Verhältnis-
ses von Militär und Politik steht im Zentrum der vergleichend-politik-
wissenschaftlichen Forschung. Untersuchungsgegenstand eines Großteils der
Forschungsliteratur ist in der ein oder anderen Form die von Feaver (1996) als
„civil-military problematique“ charakterisierte Herausforderung, sowohl starke In-
stitutionen der politischen Kontrolle des Militärs und anderer bewaffneter Dienste zu
etablieren und gleichzeitig sicherzustellen, dass die Akteure des Sicherheitssektors
in die Lage versetzt werden, effektiv den Schutz und die Sicherheit der B€urger zu
gewährleisten (Ag€uero 2009: 59). Die konkrete Ausformung dieser Herausforde-
rungen in der Realität und welche Fragestellungen sich daraus f€ur die Vergleichende
Politikwissenschaft ergeben variieren mit dem Charakter der politischen Ordnung,
den Merkmalen der Gesellschaft, in der die Streitkräfte eingebettet sind, und den
potentiellen oder akuten Sicherheitsproblemen, denen sich Nationalstaaten
Zivil-militärische Beziehungen in der Vergleichenden Politikwissenschaft 793

gegen€ uber sehen. In den etablierten Demokratien der Kern-OECD-Welt steht die
zweite Facette der zivil-militärischen Problematik – die Gewährleistung effektiver
Sicherheit – im Vordergrund, während in jungen Demokratien oder Staaten im
Übergang von der Diktatur zur Demokratie die Institutionalisierung effektiver Me-
chanismen demokratischer Kontrolle mindestens im gleichen Maße, häufig aber
stärker noch, die politische Agenda prägt. Auch in autoritären Regimen wird man
unterscheiden m€ ussen. So kann zwar kein Diktator gegen das eigene Militär regie-
ren. Wie prominent die Stellung von Militäreliten in der Regimekoalition ist, hängt
jedoch von einer Vielzahl von Faktoren ab. Wiederum hat dies Auswirkungen auf
die konkrete politikwissenschaftliche Forschung. So ist die Analyse der Urspr€unge,
Formen und Konsequenzen von Militärherrschaft f€ur große Teile der Forschung €uber
zivil-militärische Beziehungen außerhalb der OECD-Welt lange Zeit ein dominantes
Thema gewesen, nicht aber f€ur jenen Forschungszweig, der sich mit Militär und
Sicherheitspolitik in den kommunistischen Einparteien-Diktaturen der Warschauer
Pakt-Staaten beschäftigte. Es kommt auch nicht von ungefähr, dass in der auf
Lateinamerika bezogenen Forschung, die einen Schwerpunkt der vergleichenden
Analyse zivil-militärischer Beziehungen bildete, kaum €uber das Verhältnis von
Militär, Politik und Gesellschaft im sozialistischen Kuba geschrieben wurde.
Auffällig und f€
ur die Perspektiven der komparativ-politikwissenschaftlichen For-
schung besonders relevant ist jene eigent€umliche Schieflage der Forschungsliteratur,
welche nach einer vorr€ubergehenden Hochphase der Beschäftigung mit Militär und
Diktatur in den letzten Jahrzehnten fast ausschließlich die zivil-militärischen Bezie-
hungen in (jungen) Demokratien untersucht hat. Es bleibt zu hoffen, dass die ver-
gleichende Autoritarismusforschung stärker noch als bisher die Institution des Mi-
litärs und die Bedeutung der Beziehungen von Militär und politischer F€uhrung f€ur
die Persistenz und Performanz autokratischer Herrschaft in den Blick nehmen wird.
Dabei sollten Politikwissenschaftler weniger auf die „klassischen“ Fragen der Coup-
Ursachen-Forschung oder Analyse von Militärregimen fokussieren, sondern viel-
mehr die Rolle des Militärs in autoritären Politikprozessen („authoritarian politics“;
Frantz und Ezrow 2011) und deren Relevanz f€ur die Erklärung der spezifischen
Politik- und Performanzprofile autoritärer Herrschaft in den Blick nehmen. Welche
kausalen Prozesse hier wirken und inwieweit dies zur Persistenz autokratischer
Herrschaft beiträgt, wurde bislang kaum systematisch erkundet.

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Innere Sicherheit in der Vergleichenden
Politikwissenschaft

Georg Wenzelburger

Zusammenfassung
Die Politik der Inneren Sicherheit ist aus politikwissenschaftlicher Sicht
bisher nur wenig untersucht worden. Dabei zeigt sich eine durchaus beachtliche
Varianz der Policies im Vergleich westlicher Industriestaaten. Der Beitrag nimmt
diese zwischenstaatlichen Unterschiede zum Ausgangspunkt, und zeigt – nach
einer konzeptionellen Einordnung zentraler Begriffe – mithilfe mehrerer
Indikatoren auf, dass sich bei einem zwischenstaatlichen Vergleich der
Policies der Inneren Sicherheit gewisse Länderfamilien abbilden. Diese ähneln
bekannten Typisierungen der vergleichenden Policy-Forschung, wie etwa dem
Families-of-Nations-Konzept. In einem zweiten Schritt diskutiert der Beitrag
unter R€uckgriff auf den Forschungsstand, wie sich die Gemeinsamkeiten und
Unterschiede zwischen den Staaten erklären lassen. Er plädiert dabei f€ur ein
politikwissenschaftliches Erklärungsmodell, das sowohl sozio-ökonomische
Kontextvariablen als auch die politischen Akteure und ihre Ideologie sowie das
sie umgebende institutionelle Umfeld in die Analyse einbezieht.

Schlüsselwörter
Innere Sicherheit • Law and Order • Policy-Forschung • Kriminalpolitik

G. Wenzelburger (*)
Juniorprofessor f€ur Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Politische Ökonomie, Fachgebiet
Politikwissenschaft, TU Kaiserslautern, Kaiserslautern, Deutschland
E-Mail: georg.wenzelburger@sowi.uni-kl.de

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 797


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_59
798 G. Wenzelburger

1 Einleitung: Das Schattendasein der Inneren Sicherheit

In regelmäßigen Abständen r€uckt die Politik der Inneren Sicherheit ins Zentrum der
politischen Debatte. Sei es in Folge von Gewalttaten, nach terroristischen Anschlä-
gen oder im Zuge der Aufdeckung krimineller Netzwerke – politische Akteure
reagieren häufig schnell und öffentlichkeitswirksam mit Forderungen nach schärf-
eren Gesetzen oder konkreten Vorschlägen zur, so zumindest die Rhetorik, Verbes-
serung der Inneren Sicherheit1. Während diese Reaktionsmechanismen quasi auto-
matisch in allen westlichen Demokratien abzulaufen scheinen (zum Zusammenhang
zwischen Sicherheitsgef€uhl und Sicherheitspolicies: vgl. Pratt 2007), ist sowohl das
Ausmaß der tatsächlichen Gesetzesänderungen wie auch das Niveau des staatlichen
Eingriffs in Freiheitsrechte im Namen der Sicherheit sehr unterschiedlich (zu Anti-
Terror-Gesetzen: vgl. Epifanio 2011; f€ur einen allgemeinen Überblick: vgl. Wenzel-
burger 2014). Diese zwischenstaatliche Varianz ist f€ur vergleichende Politikwissen-
schaftler ein untersuchenswertes Phänomen und bildet den Ausgangspunkt f€ur
diesen Aufsatz.2
Angesichts der wiederkehrenden Prominenz des Themas in der öffentlichen und
politischen Debatte ist es verwunderlich, dass sich die politikwissenschaftliche
Analyse der Politik der Inneren Sicherheit insbesondere aus einer empirisch-
vergleichenden Perspektive eher zur€uckhaltend entwickelt hat. Auch heute gilt in
großen Teilen noch immer die Einschätzung von Marie Gottschalk (Gottschalk
2008, S. 237): „Political scientists have traditionally left the study of crime and
punishment to the criminologists“. Um sich einen Überblick €uber den Forschungs-
stand zur Inneren Sicherheit zu verschaffen, m€ussen Forscher also auf die Arbeiten
in unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen zur€uckgreifen – und zwar insbeson-
dere auf die Studien von Kriminologen, Juristen, politischen Philosophen und
Soziologen, die Fragen der Inneren Sicherheit aus ihrer jeweiligen disziplinären
Tradition untersucht haben. Während die politische Philosophie insbesondere die
Balance zwischen Sicherheit und Freiheit in den Blick genommen hat (Jenkins-
Smith und Herron 2009; Riescher 2010; Waldron 2003, 2006), fokussierten Juristen
auf die rechtlichen Grundlagen (der Ausweitung) der Sicherheitsgesetzgebung
(Denninger 2008; Frankfurter Rundschau 2000; Hassemer 2002) und stritten
€uber Konzepte wie das „Feindstrafrecht“ (Jakobs 1985; 2010). Kriminologen
wiederum untersuchten unter anderem die Gr€unde f€ur Unterschiede in der
Kriminalität, Sanktionspraxis und Gefangenenraten in verschiedenen Ländern

1
F€ur hilfreiche Kommentare bedankt sich der Verfasser bei Helge Staff und Mathis Petri.
2
Dieser Aufsatz beschränkt sich auf die Untersuchung der Politik der Inneren Sicherheit in ent-
wickelten Demokratien, also etwa in den OECD-Mitgliedsstaaten. Der Grund hierf€ ur liegt in der
Tatsache begr€undet, dass die Politik der Inneren Sicherheit z. B. in Entwicklungs- und Schwellen-
ländern und insbesondere in fragilen Staaten andere Dynamiken aufweist, weil es in diesen Ländern
häufig zunächst um die Herstellung bzw. Sicherung eines Mindestmaßes an Innerer Sicherheit geht.
Beispiele f€ur Studien in diesen Kontexten sind etwa Brock et al. (2012) sowie Hills (2000) zu
Fragen der Sicherheit in fragilen Staaten oder Dammert (2012) sowie M€ uller (2012) zur Rolle von
Innerer Sicherheit in den Schwellenländern Lateinamerikas.
Innere Sicherheit in der Vergleichenden Politikwissenschaft 799

(D€unkel et al. 2010; Tonry 2007), und Soziologen analysierten etwa Bestimmungs-
faktoren von Kriminalitätsfurcht (Farrall et al. 2009; Hale 1996; Hummelsheim
et al. 2011; LaGrange und Ferraro 1989).
Die politikwissenschaftliche Forschung beschränkt sich schließlich hauptsächlich
auf die Analyse der institutionellen Ausgestaltung des Politikfelds der Inneren
Sicherheit und der damit verbundenen Kompetenzabgrenzungen und -verschiebun-
gen – etwa im deutschen Bundesstaat (Beste 1983; Endreß 2013; Lange 1999), im
europäischen Kontext (Glaeßner und Lorenz 2005) oder auch im Vergleich zu
anderen Nationalstaaten (Oldopp 2012). Daneben setzt sich die Forschung mit
dem Sicherheitsbegriff und dessen Erweiterung in räumlicher und sachlich-
inhaltlicher Hinsicht auseinander (Daase 2010; Heinrich und Lange 2008).
Empirisch-vergleichende Studien der Policies der Inneren Sicherheit sind hingegen
rar, weshalb auch dieser Aufsatz im Folgenden häufig auf die vergleichenden
kriminologischen Studien in diesem Bereich zur€uckgreift (Cavadino und Dignan
2006, 2014; Lacey 2008, 2012; Tonry 2007).
Angesichts der dargestellten Disparität des empirisch-vergleichenden For-
schungsstandes zur Politik der Inneren Sicherheit hat der vorliegende Beitrag zwei
Zielsetzungen. Er vermisst erstens das Politikfeld der Inneren Sicherheit empirisch
und zeigt dabei die Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Ländervergleich auf.
Zweitens diskutiert er darauf aufbauend die Ergebnisse des Forschungsstands mit
Blick auf die Frage, wie die vorliegende zwischenstaatliche Varianz in der Politik der
Inneren Sicherheit erklärt werden kann.

2 Das Politikfeld Innere Sicherheit im Ländervergleich

Um die Politik der Inneren Sicherheit ländervergleichend zu analysieren, sind zwei


vorbereitende Schritte notwendig. Erstens muss geklärt werden, welches Verständ-
nis der Politik der Inneren Sicherheit der Analyse zugrunde liegt. Nur so können die
zu untersuchenden Policies hinreichend abgegrenzt werden. Zweitens ist es notwen-
dig, aus dieser konzeptionellen Abgrenzung mögliche Indikatoren zur Untersuchung
der Politik der Inneren Sicherheit abzuleiten, um eine empirische Analyse zu
ermöglichen. Entsprechend gliedert sich dieser Abschnitt in drei Unterkapitel, wobei
zunächst konzeptionelle Fragen und die empirische Umsetzung diskutiert werden.
Im dritten Schritt erfolgt sodann die vergleichende Analyse der Inneren Sicherheits-
politik im Ländervergleich.

2.1 Konzeptionelle Grundlagen

Bevor eine empirische Vermessung des Politikfelds der Inneren Sicherheit im


Ländervergleich erfolgen kann, ist es notwendig, den konzeptionellen Rahmen
abzustecken und zu klären, welche Politikbereiche unter dem Begriff der „Inneren
Sicherheit“ zu fassen sind. Wendet man sich der bisherigen Literatur zur Politik
der Inneren Sicherheit zu, fällt auf, dass „dem Begriff ‚Sicherheit‘ oder ‚innere
800 G. Wenzelburger

Sicherheit‘ etwas eigenartig Vages anhaftet, so dass darunter jeder etwas anderes
versteht“ (Widmer 1995, S. 11). Ein Grund hierf€ur mag darin liegen, dass sich
auch die politische Philosophie, welche die Begriffe unserer Disziplin prägt, mit
dem Sicherheitsbegriff lange Zeit nur in Abgrenzung zum Freiheitsbegriff
(Jenkins-Smith und Herron 2009; Riescher 2010; Waldron 2003), nicht jedoch in
Bezug auf seine eigenständige Bedeutung beschäftigt hat. Jeremy Waldron (2006)
hat auf dieses Manko hingewiesen und eine Begriffsbestimmung erarbeitet, die
zwischen „pure safety“ (keine Bedrohung f€ur Leib und Leben) und einem ver-
tieften und verbreiterten Sicherheitskonzept unterscheidet, das auch Fragen der
gef€uhlten Sicherheit und der Bedrohung der Lebensweise aufnimmt. F€ur die
konzeptionelle Eingrenzung hilft diese Begriffsbestimmung deshalb weiter, weil
sie darauf hinweist, dass sich der Kern der Inneren Sicherheit auf Fragen der
Kriminalitätsbekämpfung (also der „pure saftey“) bezieht, dass unter Innere
Sicherheit jedoch – je nach gewählter Abgrenzung – auch die Dimension des
Sicherheitsgef€ uhls fallen kann oder, noch weitergehend, die Frage, ob ein Staat
seinen B€ urgern die Möglichkeit zusichert, ihren „way of life“ zu verwirklichen
(Waldron 2006, S. 506).3
Mit dieser Differenzierung des Sicherheitsbegriffs nach der Breite des Konzepts
lässt sich auch eine Querverbindung zum „erweiterten Sicherheitsbegriff“ ziehen,
der die urspr€ unglich analysierte militärische und nationale Sicherheit sowohl um
neue Sachdimensionen (ökologisch, ökonomisch, humanitär) als auch räumlich
verbreitert (von nationaler Sicherheit zur globalen Sicherheit) (Chandler 2008;
Daase 2010). F€ ur die Analyse der Policies der Inneren Sicherheit ist aus dieser
Debatte insbesondere die Einsicht relevant, dass Innere Sicherheit heute nicht mehr
ohne transnationale Phänomene wie zum Beispiel den internationalen Terrorismus
oder globale Cyberkriminalität zu denken ist, die Aktivitäten auf nationaler und –
und das ist die entscheidende Erweiterung – auch auf internationaler Ebene nach sich
ziehen. Die Bemerkung des ehemaligen Verteidigungsministers Peter Struck,
wonach die Sicherheit Deutschlands „nicht nur, aber auch am Hindukusch ver-
teidigt“ wird (Deutscher Bundestag 2004, S. 8601), steht hier geradezu exempla-
risch f€
ur die Verbindung beider Politikfelder.
Welche R€ uckschl€usse lassen sich aus diesen konzeptionellen Erwägungen f€ur die
Eingrenzung des Forschungsfelds zur Politik der Inneren Sicherheit und der empiri-
schen Analyse der staatlichen Policies ziehen? Erstens ergibt sich aus der konzep-
tionellen Diskussion, dass zum Kern der Politik der Inneren Sicherheit die Kriminal-
politik gehört – also etwa Gesetze im Bereich des Strafrechts. Dar€uber hinaus
spricht, zweitens, Vieles f€ur eine Einbeziehung von Policies, die primär auf die
Verbesserung des Sicherheitsgef€uhls der Bevölkerung abzielen (Albrecht 2007;
Glaeßner 2003, S. 31) und z. B. polizeirechtliche Maßnahmen wie die Verlagerung
von polizeilicher Ermittlungsarbeit ins Vorfeld der Kriminalität einschließen. Drit-
tens hat die Diskussion der konzeptionellen Grundlagen gezeigt, dass Policies im

Grundsätzliche Gedanken zum Sicherheitsbegriff finden sich z. B. bei Kaufmann (1973).


3
Innere Sicherheit in der Vergleichenden Politikwissenschaft 801

Rahmen der Terrorbekämpfung zwar eng mit der Politik der Inneren Sicherheit
verbunden sind, jedoch Abgrenzungsentscheidungen nötig werden, weil sich
Anti-Terror-Policies häufig auch auf Fragen der äußeren Sicherheit und damit
auf den Bereich der Außen- und Verteidigungspolitik beziehen. Wo hier die Trenn-
linie im Hinblick darauf gezogen wird, was noch bzw. was nicht mehr zur genuinen
Politik der Inneren Sicherheit zählt, hängt stark von der Stoßrichtung der jeweiligen
Untersuchung ab (f€ur eine mögliche Abgrenzung: vgl. Epifanio 2011). In der
folgenden vergleichenden Analyse der Politik der Inneren Sicherheit wird die
Grenze an dieser Stelle etwas enger gezogen und solche sicherheitsrelevanten
Policies von der Analyse ausgeschlossen, die sich primär auf die Terrorbekämpfung
außerhalb des Territoriums des jeweiligen Nationalstaats beziehen.

2.2 Zur Messung der Politik der Inneren Sicherheit

F€ur eine Policy-Analyse der Politik der Inneren Sicherheit ist die konzeptionelle
Verortung und Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes ein wichtiger, erster
Schritt. Strebt man jedoch eine empirische Vermessung und Analyse des Politikfelds
an, ist ein zweiter Schritt notwendig, der Innere Sicherheit als Policy-Problem defi-
niert und damit die „konkrete Politik“ (Schmidt 1988, S. 1) ins Zentrum r€uckt
(Wenzelburger 2013, S. 5–6). Folglich bezieht sich die abhängige Variable einer
Policy-Analyse weder auf die institutionelle Ausgestaltung des Politikfelds (hierzu
z. B. Lange 1999), noch auf Kompetenzabgrenzungen unterschiedlicher Akteure in
Mehrebenensystemen (Oldopp 2012) oder auf die Diskurse zum Thema Sicherheit
(hierzu die vielen Studien zur Versicherheitlichung: z. B. Buzan et al. 1998). Viel-
mehr geht es bei einer Analyse der Policies um die konkret beobachtbare Staats-
tätigkeit, also um staatliche Maßnahmen z. B. in Form von Gesetzen oder Verord-
nungen, die sich mit Fragen der Inneren Sicherheit in der oben entwickelten
Abgrenzung beschäftigen. Diese lassen sich nach ihrer Wirkungsweise auf einem
Kontinuum zwischen repressiv und liberal verorten (Kitschelt 1994: S. 8–39;
Schmidt 2010, S. 359). Damit sind die Ausprägungen festgelegt, welche Policies
der Inneren Sicherheit annehmen.
Empirische Untersuchungen zur Politik der Inneren Sicherheit haben die ab-
hängige Variable, also die Politik der Inneren Sicherheit (je nach Disziplin mit
teilweise unterschiedlichen Bezeichnungen), meist €uber einen der folgenden f€unf
Indikatoren operationalisiert: €uber die Gesetzgebung (z. B. Newburn 2007), die
Sanktionspraxis der Gerichte (z. B. D€unkel et al. 2010), die Gefangenenrate
(z. B. Downes und Hansen 2006; Sutton 2000, 2004), das Polizeipersonal
(z. B. Tepe und Vanhuysse 2013), oder aber die Staatsausgaben (z. B. Norris 2007;
Wenzelburger 2014). Alle diese f€unf Operationalisierungen lassen sich mit
der oben abgeleiteten Definition der Politik der Inneren Sicherheit in
Verbindung bringen, auch wenn sie jeweils unterschiedliche Bereiche der Policies
abbilden (ausf€ uhrlich zu den einzelnen Messkonzepten: Wenzelburger 2013:
S. 6–9).
802 G. Wenzelburger

Die Analyse der Gesetzgebung stellt eine sehr direkte Messung des Policy-Output
dar, weil sie die legislative Aktivität im Politikfeld der Inneren Sicherheit aufnimmt,
also die „konkret messbare Regulierungs- und Steuerungsaktivitäten des Staates“
(Knill et al. 2010, S. 417) beschreibt. Allerdings blendet der Fokus auf die
Gesetzgebung das Verhalten der Akteure im Justizsystem aus. Staatsanwälte können
auf Basis der gleichen faktischen gesetzlichen Lage unterschiedlich harte Strafen
fordern und Richter unterschiedlich scharf urteilen, was schließlich zu einem ab-
weichenden Policy-Outcome (z. B. gemessen durch Gefangenenraten) f€uhren kann.
Wählt man die Sanktionspraxis der Gerichte als abhängige Variable, so gilt umge-
kehrt, dass dadurch zwar der legislative Policy-Output nur indirekt gemessen wird
(Urteile basieren auf der gesetzlichen Grundlage), mögliche Veränderungen der
Rechtsprechung jedoch Eingang in die Messung finden. Eine kriminologische
Parallele findet dieser empirische Zugang im theoretischen Konzept der „juridical
punitivity“, das sich mit Veränderungen der Sanktionspraxis beschäftigt (Kury
et al. 2004). Die Gefangenenrate nimmt den Policy-Outcome im Politikfeld der
Inneren Sicherheit auf und wird sowohl durch die Sanktionspraxis der Gerichte als
auch durch Gesetzgebung beeinflusst. Polizeipersonal d€urfte f€ur die Außendarstel-
lung von Politikern eine wichtige Bezugsgröße darstellen, „[because] changes in
police employment figures are easy for politicians to communicate and for voters to
register“ (Tepe und Vanhuysse 2013, S. 169). Entsprechend bietet sich die Zahl der
Polizeibeamten als Indikator insbesondere dann an, wenn der Einfluss (partei-)
politischer Faktoren untersucht wird. Auch ländervergleichende Untersuchungen
sind mit diesen Daten möglich, da sie f€ur eine Reihe von Staaten (und Jahren)
vorliegen. Allerdings ist der Indikator sicherlich nicht erschöpfend, da sich die
Politik der Inneren Sicherheit in Form von Gesetzen wandeln kann, ohne dass sich
die Zahl der Polizisten ändert. Ein sehr globales Maß f€ur die Politik der Inneren
Sicherheit sind schließlich die Staatsausgaben, da diese Größe von allen zuvor
genannten Indikatoren beeinflusst wird. Insofern sind Staatsausgaben ein guter
Kennwert, um einen ersten sehr allgemeinen Eindruck von der Entwicklung der
Policies in einem Land oder im Ländervergleich zu erhalten. Allerdings gilt auch f€ur
die Staatsausgaben, dass sie nicht alle Veränderungen im Bereich der Politik
der Inneren Sicherheit erfassen. Insbesondere regulative Entscheidungen, die keine
budgetäre Wirkung entfalten, werden nicht abgebildet, wenn man Staatsausgaben
analysiert.
Diese kurze Darstellung möglicher empirischer Zugänge zur Politik der Inneren
Sicherheit4 zeigt sehr deutlich, dass unterschiedliche Indikatoren zur Auswahl
stehen, um das Politikfeld zu vermessen. Aus Sicht der vergleichenden Policy-
Forschung d€ urften neben den Staatsausgaben insbesondere die Gesetzgebung und
das Polizeipersonal relevant sein, während vor allen Dingen die Sanktionspraxis

4
Nicht diskutiert habe ich in diesem Abschnitt Indikatoren des Policy-Outcome – wie etwa das
Sicherheitsgef€uhl oder die Sicherheitslage (z. B. Kriminalitätsrate), die traditionelle Untersu-
chungsgegenstände der Kriminologie sind und an dieser Stelle aufgrund der großen kausalen
Distanz zu politikwissenschaftlichen Erklärungsansätzen nicht behandelt werden.
Innere Sicherheit in der Vergleichenden Politikwissenschaft 803

stärker in das Untersuchungsfeld der (vergleichenden) Kriminologie hineinreichen.


Mangels international vergleichbarer Daten f€ur die Gesetzgebung fokussiert der
folgende empirische Überblick daher auf Staatsausgaben, Polizeipersonal und die
Gefangenenrate.

2.3 Die Politik der Inneren Sicherheit im internationalen


Vergleich

Worin unterscheiden sich die Policies der Inneren Sicherheit der westlichen Indust-
riestaaten? Und welche Tendenzen lassen sich €uber die Zeit feststellen? Greift man
zur Klärung dieser Fragen zunächst auf die Gefangenenrate, die Staatsausgaben
sowie die Zahl der Polizisten in einem Land als makro-quantitative Indikatoren
zur€uck, zeigt sich eine deutliche Varianz zwischen den hier exemplarisch ausge-
wählten Ländern (vgl. Abb. 1). Zunächst zu den Unterschieden im Querschnitt: Hier
liegt Norwegen bei allen drei Indikatoren deutlich unter dem OECD-Schnitt, wäh-
rend in Großbritannien erkennbar mehr f€ur öffentliche Ordnung und Sicherheit
ausgegeben wird als im Mittel der OECD-Länder und auch etwas mehr Menschen
inhaftiert sind als im Durchschnitt. Deutschland nimmt bei diesen beiden Indikato-
ren eine Mittelposition ein, während in der Bundesrepublik €uberdurchschnittlich viel
Polizeipersonal eingestellt ist. Allerdings ist zumindest bei letzterem Indikator die
Vergleichbarkeit wegen unterschiedlicher Zählweisen in den Staaten leicht einge-
schränkt. Dies gilt jedoch nicht, wenn man die Entwicklung der Indikatoren €uber die
Zeit in den einzelnen Ländern betrachtet. Hier fällt bei der mittleren Gefangenenrate
eine deutliche Steigerung im Beobachtungszeitraum auf, die auf einen bedeutsamen
Anstieg in Großbritannien und in den USA zur€uckgeht. Gleiches gilt f€ur die Staats-
ausgaben, die in Großbritannien deutlich gewachsen sind. Im Gegensatz dazu
herrscht in Deutschland wie in Norwegen große Konstanz (bzw. sogar ein leichter
R€uckgang der Ausgaben in Norwegen). Unter dem Strich fallen die zwischenstaat-
lichen Unterschiede größer aus als die Variation €uber die Zeit. Einzig bei der
Gefangenenrate ist ein gewisser Anstieg zwischen 1995 und 2008 zu beobachten.
Auf Basis der drei Indikatoren ist es mithilfe einer Clusteranalyse auch
möglich zu bestimmen, ob sich manche Staaten hinsichtlich ihrer Politik der
Inneren Sicherheit ähnlicher sind als andere. Betrachtet man zunächst die Niveaus
(gemessen € uber die Mittelwerte der drei Variablen f€ur den Beobachtungszeitraum),
zeigen sich – unabhängig von den jeweils verwendeten Distanz- und Ähnlichkeits-
maßen – drei Ergebnisse (vgl. Abb. 2, links): Erstens gruppieren sich die Länder
tendenziell zu vier Clustern: Im ersten Cluster befinden sich s€udeuropäische
Länder: Spanien, Italien und Portugal; das zweite Cluster besteht aus den vier
kontinentaleuropäischen Ländern Frankreich, Belgien, Deutschland und Österreich
sowie Irland. In der dritten Ländergruppe vereinigen sich die beiden skandinavi-
schen Länder Dänemark und Norwegen sowie Luxemburg. Und zuletzt ergibt sich
ein viertes, etwas heterogeneres Cluster, das seinerseits aus zwei Subgruppen be-
steht (Neuseeland, Schweden und Finnland auf der einen und die Schweiz, die
Niederlande sowie Kanada und Australien auf der anderen Seite). Zweitens macht
804 G. Wenzelburger

Abb. 1 Drei Indikatoren der Staatsausgaben (% BIP)


Inneren Sicherheit. Quellen: 3
Gefangenenrate: International
Centre for Prison Studies; 2.5
Staatsausgaben: Cofog nach
OECD; Polizeipersonal: 2
Eurostat; MITTEL:
Mittelwert 20 OECD-Länder 1.5

0.5

0
1995
1996
1997
1998
1999
2000
2001
2002
2003
2004
2005
2006
2007
2008
Gefangenenrate (100 000 EW)
160

140

120

100

80

60

40
1995
1996
1997
1998
1999
2000
2001
2002
2003
2004
2005
2006
2007
2008

Polizeipersonal (1000 EW)


350

300

250

200

150

100
1995
1996
1997
1998
1999
2000
2001
2002
2003
2004
2005
2006
2007
2008

UK GER NOR MITTEL


Innere Sicherheit in der Vergleichenden Politikwissenschaft 805

USA
UK
Spain
Portugal
Italy
France
Belgium
Ireland
Germany
Austria
Luxembourg
Norway
Denmark
New Zealand
Sweden
Finland
Netherlands
Canada
Switzerland
Australia Niveaus (Mittelwerte)
0 2 4 6
USA
Switzerland
Sweden
Germany
Canada
Finland
Norway
Austria
Portugal
France
Denmark
Spain
Ireland
Luxembourg
Belgium
New Zealand
UK
Netherlands
Australia Veränderung (Anfang−Ende)
0 1 2 3 4 5

Abb. 2 Clusteranalyse (Dendrogramm, Complete Linkage-Methode)

die Clusterung deutlich, dass die USA einen ganz eigenständigen Weg gehen, was
angesichts der im Nationenvergleich völlig aus dem Rahmen fallenden Gefangenen-
rate nicht verwundert. Zudem ist auch Großbritannien unabhängig und gruppiert
sich erst spät zum kontinentaleuropäischen und s€udeuropäischen Cluster. Und
drittens lässt sich inhaltlich festhalten, dass das mediterrane Cluster die höchsten
Werte in allen drei Indikatoren aufweist, während die Länder in Cluster 3 eher
wenig ausgeben, inhaftieren und Polizisten einstellen (vgl. Obere Tabelle in
Abb. 2).
806 G. Wenzelburger

NIVEAU (Mittelwert) Staatsausgaben Gefangenenrate Polizeipersonal


Cluster 1 1,88 (0,098) 114,58 460,04
SPA, POR, ITA (20,67) (11,90)
Cluster 2 1,58 86,38 336,19
IRE, GER, AUT, FRA, BEL (0,055) (8,38) (37,52)
Cluster 3 0,96 80,74 216,64
LUX, NOR, DEN (0,054) (28,28) (61,60)
Cluster 4 1,53 96,95 193,52
NEZ, SWE, FIN, NET, CAN, SWI, (1,66) (33,39) (21,90)
AUS
UK 2,31 129,78 265,30
USA 2,04 701,64 228,98

VERÄNDERUNG (Anfang-Ende) Staatsausgaben Gefangenenrate Polizeipersonal


Cluster 1 0,14 5,98 5,75
SWI, SWE, GER, CAN, FIN, NOR, (0,085) (8,55) (11,46)
AUT
Cluster 2 0,16 2,17 6,30
POR, FRA, DEN (0,138) (13,64) (6,65)
Cluster 3 0,14 29,49 44,19
SPA, IRE, LUX, BEL (0,171) (13,06) (15,04)
Cluster 4 0,31 38,30 9,06
UK, NEZ, NET, AUS (0,287) (26,69) (42,74)
USA 0,31 158 12,65
Anmerkung: Clusteranalyse auf Basis der Mittelwerte bzw. Veränderungswerte im Zeitraum
1995–2008. Datenquellen, s. Abb. 1; F€ur Italien keine Veränderungsbetrachtung aufgrund einer
Inkonsistenz in der Zeitreihe.
In den Tabellen sind jeweils die Mittelwerte f€ur die Cluster und die dazugehörigen Standard-
abweichungen (in Klammern) abgetragen
Ein etwas anderes Bild ergibt sich, wenn man die Veränderung der drei Variablen
von Beginn bis zum Ende des Beobachtungszeitraums untersucht. Zwar stellen die
Vereinigten Staaten erneut einen Spezialfall dar, die restlichen Länder gruppieren
sich jedoch anders5: Großbritannien zum Beispiel liegt in einer Ländergruppe mit
anderen angelsächsischen Ländern (Neuseeland und Australien) sowie den Nieder-
landen. Diese Gruppe zeichnet sich auch durch den stärksten Anstieg der Gefange-
nenrate und der Staatsausgaben aus. Daneben existiert ein Cluster, in dem sich drei
nordische Länder (Schweden, Finnland und Norwegen), drei deutschsprachige Län-
der (Deutschland, die Schweiz und Österreich) sowie Kanada wiederfinden und in
welchem als einzigem Cluster die Staatsausgaben r€uckläufig waren. Eine dritte
Gruppe besteht aus Portugal, Frankreich und Dänemark, eine vierte aus Spanien,
Irland, Luxemburg und Belgien. Die Länder scheinen also unterschiedlichen Dyna-
miken zu folgen, die nicht direkt mit dem Niveau zusammenhängen.

5
Aufgrund der doch relativ heterogenen Cluster (vgl. Standardabweichungen) ist bei der folgenden
Interpretation eine gewisse Zur€
uckhaltung geboten.
Innere Sicherheit in der Vergleichenden Politikwissenschaft 807

3 Erklärungsansätze: Ein Überblick über den


Forschungsstand

Der Forschungsstand zur Politik der Inneren Sicherheit erweist sich als verhältnis-
mäßig disparat, was insbesondere daran liegt, dass Forscher aus unterschiedlichen
wissenschaftlichen Traditionen mit den jeweils disziplineigenen theoretischen sowie
methodischen Zugängen die Politik der Inneren Sicherheit untersucht haben. Dabei

uberwiegen die kriminologischen Analysen (Cavadino und Dignan 2006; Downes
und Hansen 2006; D€unkel et al. 2010; Norris 2009; Smit et al. 2008; Snacken 2010;
Tonry 2007; Young und Brown 1993), während Studien mit einem genuin politik-
wissenschaftlichen Bezug eher rar sind (Ausnahmen in der deutschsprachigen Lite-
ratur: Busch 2007, 2010; Glaeßner 2010). Der folgende Überblick €uber den For-
schungsstand zielt darauf ab, diese Vielzahl unterschiedlicher Analysen zu
systematisieren. Die Systematisierung erfolgt anhand der kausalen Distanz des
jeweiligen Erklärungsansatzes zum Policy-Output.6 Auf diese Weise lassen sich drei
Arten von Erklärungen unterscheiden: Zum einen Ansätze, welche die Unterschiede
in der Politik der Inneren Sicherheit auf umfassende Trends zur€uckf€uhren – etwa auf
die Entwicklung einer Risikogesellschaft (Beck 2011; Singelnstein und Stolle 2012);
Zum zweiten Erklärungen, die am politischen Kontext ansetzen, in dem politische
Entscheidungen getroffen werden und zum Beispiel politische Institutionen wie das
Wahlsystem f€ ur zwischenstaatliche Unterschiede verantwortlich machen (Lacey
2010); Und zum dritten Ansätze, die auf die politischen Akteure fokussieren und
deren Ideologie bzw. deren parteipolitische Ausrichtung zum Ausgangspunkt neh-
men (Wenzelburger 2014).

3.1 Umfassende Trends

Erklärungen der Politik der Inneren Sicherheit durch umfassende Trends lassen sich
in drei Subgruppen unterteilen: Strukturfunktionalistische Theorien argumentieren,
dass verschiedene ökonomische und soziale Bedingungen die Policies der Inneren
Sicherheit beeinflussen. Rezession und Arbeitslosigkeit (Chiricos und Delone 1992;
Rusche und Kirchheimer 1968), höhere Kriminalitätsraten (Bottoms 1995; Gott-
fredson und Hindelang 1979) oder die Wahrnehmung eines solchen vermeintlichen
Anstiegs durch die Mittelklasse (Garland 2001) wurden insbesondere von der
Kriminalsoziologie daf€ur verantwortlich gemacht, dass sich ein Land schärfere
sicherheitspolitische Gesetze gibt. Zunehmende Globalisierung und die damit ver-
bundene Verbreitung des neoliberalen Kapitalismus wurden ebenfalls als Ursache
f€ur repressivere Politik identifiziert (Downes 2011; Garland 2001; Muncie 2011),
wobei unterschiedliche kausale Mechanismen diskutiert werden: Erstens wird argu-
mentiert, dass die Globalisierung ökonomische Unsicherheit insbesondere auf dem

6
Eine solche Betrachtungsweise findet sich zum Beispiel in einem der klassischen Modelle der
Policy-Forschung bei Hofferbert (1974).
808 G. Wenzelburger

Arbeitsmarkt (Pratt 2007, S. 37) hervorruft und Einkommensungleichheit sowie


Armut steigert (Wacquant 2001, 2006). Auf diese gestiegene Unsicherheit reagieren
Politiker, so die These, mit schärferen Gesetzen im Bereich der Inneren Sicherheit.
Zweitens wird argumentiert, dass der Handlungsspielraum politischer Akteure in
Policy-Feldern wie der Sozial- und Steuerpolitik durch stärkere Globalisierung und
Standortwettbewerb schwindet, weshalb sie auf die Innere Sicherheitspolitik aus-
weichen, um ihre Durchsetzungsfähigkeit zu demonstrieren (Simon 2007; Wacquant
2010, S. 198). Drittens sehen manche Forscher in der Zunahme neuer Formen von
Kriminalität in globalem Maßstab den Grund daf€ur, warum Regierungen mit härte-
ren Policies reagieren (Aas 2013, S. 104–147; Zedner 2009, S. 125). Ein weiterer
wichtiger Literaturstrang innerhalb der Gruppe der Erklärungen, die umfassende
Trends als Ursache f€ur härtere Sicherheitspolitik ausmachen, unterstreicht die be-
deutsame Rolle des gesellschaftlichen Wandels hin zur postmodernen Risikogesell-
schaft (Bauman 1999; Beck 1986, 2011; Beck et al. 1994; Giddens 1990). Der
gesellschaftliche Wandel, der sich in verschiedenen Facetten bemerkbar macht,
bringt – so die These – eine Gesellschaft hervor, f€ur die Sicherheit ein zentrales Ziel
darstellt, worauf Politiker mit entsprechend umfassenderen Gesetzen reagieren (Sin-
gelnstein und Stolle 2012).

3.2 Der politische Kontext

Der direkte politische Kontext, in dem politische Akteure €uber Policies der Inneren
Sicherheit entscheiden, spielt eine gewichtige Rolle in mehreren Erklärungsansät-
zen. Mikrosoziologische Erklärungen gehen davon aus, dass eine direkte Verbindung
zwischen den Einstellungen der B€urger (Kontext) und Policy-Entscheidungen be-
steht (Roberts et al. 2003). Katherine Beckett (1997, S. 15) nennt diesen Zusam-
menhang daher treffend die „democracy-at-work“-These, zeigt aber gleichzeitig
auch auf, dass die Kausalität ebenso in die umgekehrte Richtung verlaufen kann,
wenn nämlich Politiker die öffentliche Meinung beeinflussen7. Dass die historische
und kulturelle Tradition eines Landes politische Entscheidungen prägt, wird von
Forschern wie Savelsberg (2011) anerkannt und kann als Pfadabhängigkeit von
Policies interpretiert werden. Eng mit dieser Einsicht verbunden sind auch Erklä-
rungen der Inneren Sicherheitspolitik mithilfe von Regimeansätzen, nach denen die
spezifische Organisation des kapitalistischen Systems (z. B. nach dem Varieties-of-
Capitalism-Ansatz: vgl. Lacey 2008) oder die Struktur des Wohlfahrtsstaates (Ca-
vadino und Dignan 2006) die Staatstätigkeit im Politikfeld der Inneren Sicherheit
beeinflussen und auf einmal eingeschlagenen Policy-Pfaden halten. Daneben
wird auch Interessengruppen, etwa Opferschutz-Verbänden, ein Einfluss auf die

7
Ein weiterer wenn auch nicht politischer Kontextfaktor sind die budgetären Rahmenbedingungen
(vgl. dazu Tepe und Vanhuysse 2013; Wenzelburger 2014). Je nach budgetärem Handlungsspiel-
raum ist es f€ur Politiker mehr oder weniger gut möglich, repressivere Sicherheitspolitik umzusetzen,
da auch rein regulativer Politik letztendlich budgetäre Effekte haben kann (z. B. aufgrund steig-
ender Inhaftierungsraten) (Gottschalk 2010).
Innere Sicherheit in der Vergleichenden Politikwissenschaft 809

Policy-Entscheidungen zugeschrieben – besonders prominent ist dieses Argument in


den USA (Miller 2008) oder in Neuseeland (Bartlett 2009, S. 40–62). Das wohl
wichtigste Merkmal des politischen Kontexts stellen jedoch zweifelsohne die politi-
schen Institutionen dar. Mehrere Untersuchungen von Policies der Inneren Sicherheit
zeigen, dass die institutionelle Umwelt, in der Entscheidungen getroffen werden, einen
starken Einfluss auf die Entscheidungen selbst aus€ubt. Lacey (2010, 2011) argumen-
tiert beispielsweise, dass das Wahlsystem eine wichtige Rolle spielt, andere Autoren
ur England z. B. Newburn 2007) finden, dass die (stark vom Wahlsystem abhängige)
(f€
Ausgestaltung des Parteiensystems und der Parteienwettbewerb die zwischenstaat-
lichen Unterschiede in der Politik der Inneren Sicherheit erklärt. Gemein ist beiden
Erklärungsansätzen, dass sie Mehrheitswahlsysteme und den daraus resultierenden
Parteienwettbewerb zweier großer Parteien um den Wähler als Ursache daf€ur ausma-
chen, dass immer schärfere Gesetze im Bereich der Inneren Sicherheit beschlossen
werden.8 Die Parteien, so die These, ködern mit repressiver Sicherheitsgesetzgebung
die sich unsicher f€uhlenden Wähler und starten einen Überbietungswettlauf. Doch
auch die Ausgestaltung der Medienlandschaft wird im Forschungsstand thematisiert,
wobei insbesondere Mediensystemen mit Tendenz zum Sensationalismus in einen
Zusammenhang mit einer schärferen Gesetzgebung gebracht werden – etwa, weil sie
einzelne besonders f€urchterliche Verbrechen besonders hervorheben (Green 2007).
Schließlich weisen manche Studien f€ur Elemente der direkten Demokratie eine ähn-
liche Wirkung nach, weil sowohl Politiker wie auch Akteure des Justizsystems zu
repressiveren Policy-Reaktionen neigen, wenn sie direkt vom Volk gewählt werden
(Huber und Gordon 2004; Levitt 2002).

3.3 Politische Ideologie

Obwohl umfassende Trends wie auch der politische Kontext die Überlegungen
politischer Akteure beeinflussen, sind es am Ende die Akteure selbst, die sich f€ur
oder eine neue gesetzliche Regelung entscheiden: „[H]uman beings have to act for
there to be a policy“ (Hofferbert 1974, S. 226). Entsprechend r€ucken die Präferenzen
dieser Akteure in den Mittelpunkt – auch bei der Erklärung der Politik der Inneren
Sicherheit. Zentraler Ansatzpunkt der Forschungen ist dabei traditionellerweise die
parteipolitische Ausrichtung der Akteure (in der Regel der Regierung). Und in der
Tat weist der Forschungsstand einen Zusammenhang zwischen der politischen
Ideologie amtierender Regierungen und Policy-Outputs nach (Wenzelburger
2014), wobei die ideologische Achse nicht einer wirtschaftspolitischen Links-
Rechts-Dimension folgt, sondern eher einer gesellschaftspolitischen Dimension,
die liberale von autoritärer Programmatik unterscheidet.9

8
Dass Mehrheitswahlsysteme freilich nicht immer zur beschriebenen Dynamik f€ uhren, wird in
diesem Zusammenhang nicht weiter betrachtet.
9
Exemplarisch lässt sich dies an vielen europäischen liberalen Parteien zeigen (Laver und Hunt
1992; Pappi und Shikano 2004).
810 G. Wenzelburger

Unabhängig vom Einfluss der parteipolitischen Ideologie auf die Policies unter-
suchen einige Studien jedoch auch die Entwicklung der Parteiprogrammatik. Insbe-
sondere Fallstudien zu den USA und Großbritannien haben gezeigt, dass die ideo-
logischen Positionen der großen Parteien zum stärker autoritären Pol auf besagter
Achse wandern (Downes und Morgan 2007; Farrall und Jennings 2012, S. 468;
Medina-Ariza 2006, S. 183; Morgan 2006; Newburn 2006, 2007). Roberts
et al. (2003, S. 161) beschreiben den Grund f€ur diese Dynamik wie folgt: „It is the
fear of being seen as ‚soft on crime‘ – or at least as being softer than one’s political
opponents – rather than a commitment to ‚out-tough‘ them that tends to drive
politicians to the extremes of penal excess.” Dass der politische Kontext und
insbesondere das Wahlsystem sowie der sich daraus ergebende Parteienwettbewerb
diese Tendenz zu schärferer Sicherheitsgesetzgebung beschleunigen kann, verdeut-
licht die Arbeit von Lacey (2008).

4 Fazit

Die Politik der Inneren Sicherheit fristet bisher ein Schattendasein in der vergleich-
enden Policy-Forschung. Dennoch ist die Staatstätigkeit in diesem Politikfeld durch
große zwischenstaatliche Unterschiede gekennzeichnet, die eine Erklärung erfor-
dern. Dieser Beitrag hat nach einer konzeptionellen Einordnung des Untersuchungs-
gegenstandes anhand von drei makro-quantitativen Indikatoren dargestellt, wie die
Unterschiede im Ländervergleich aussehen. Interessanterweise zeigen sich gewisse
Ländercluster,10 die bekannten Konzepten aus der vergleichenden Politikforschung
ähneln – etwa dem Families-of-Nations-Konzept (Castles 1993).
Diese empirisch beobachtbaren Muster werfen die Frage nach möglichen Erklä-
rungen auf. Durchforstet man den Forschungsstand, der stärker durch Untersuchun-
gen aus der Kriminologie bzw. der Soziologie als durch politikwissenschaftliche
Analysen geprägt ist, finden sich zahlreiche unterschiedliche Erklärungen. Sie
basieren meist auf einzelnen Fallstudien oder einem Vergleich weniger Staaten und
differenzieren kaum zwischen einer Erklärung der zeitlichen Dynamik und einer
Erklärung der zwischenstaatlichen Varianz. Ebenso unterschiedlich ist die kausale
Distanz, welche die einzelnen Ansätze zum Policy-Output einnehmen. Eine politik-
wissenschaftliche Erklärung der Policies der Inneren Sicherheit tut daher gut daran,
diese Unterschiede in der Perspektive der Ansätze – von großen Theorien, die
umfassende Trends identifizieren, zu akteurspezifischen Erklärungen – in Rechnung
zu stellen und danach zu fragen, wie die kausalen Pfade aussehen d€urften, die
letztlich den Policy-Outcome hervorbringen. Dass dabei politische Entscheidungs-
träger ebenso eine Rolle spielen d€urften wie Institutionen und gesellschaftlicher
Wandel, ist vorherzusehen. Die Herausforderung f€ ur die zuk€unftige Forschung liegt
darin, die Interaktionen zwischen den unterschiedlichen möglichen Einflussfaktoren

10
Dies gilt stärker f€ur die zwischenstaatlichen Unterschiede im Niveau, weniger f€
ur die Betrachtung
der Entwicklung (also: der Veränderung) der Politik der Inneren Sicherheit € uber die Zeit.
Innere Sicherheit in der Vergleichenden Politikwissenschaft 811

herauszuarbeiten. Eine Voraussetzung hierf€ur ist jedoch auch, dass auf Seiten der
abhängigen Variablen – also den Policies der Inneren Sicherheit – noch umfang-
reichere und international vergleichbare Daten insbesondere zur Gesetzgebung in
den einzelnen Ländern vorliegen.

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Entwicklungspolitik: in der Vergleichenden
Politikwissenschaft

Christof Hartmann

Zusammenfassung
Entwicklungspolitik als Gegenstand der vergleichenden Politikwissenschaft ist
ein neues Forschungsfeld. Die andauernde Unklarheit €uber den Gegenstandsbe-
reich der Entwicklungspolitik wie auch der Umstand, dass entwicklungspoliti-
sche Maßnahmen sich im Wesentlichen an Zielgruppen in weit entfernten Län-
dern richten, und ihre Implementierung und Zielerreichung daher nur schwer
dokumentiert werden kann, erschweren die systematische und vergleichende
Untersuchung. Das Aufkommen der sogenannten Neuen Geber macht eine ver-
gleichende Betrachtung von Entwicklungspolitik zwar noch lohnenswerter als
zuvor, stellt die Forschung aber vor große methodische Herausforderungen.
Immerhin wird die starke Prägung der Entwicklungspolitik durch b€urokratische
Strukturen und politische Institutionen in Geber- wie auch Empfängerländern
auch weiterhin Ausgangspunkt f€ur vergleichende Fragestellungen sein.

Schlüsselwörter
Entwicklungspolitik • Entwicklungszusammenarbeit

1 Einleitung

Entwicklungspolitik ist ein relativ neuer Gegenstand der vergleichenden Politik-


wissenschaft. Mit ihr hat sich, jedenfalls im deutschen Wissenschaftssystem, tradi-
tionell die Teildisziplin der Internationalen Beziehungen befasst. Entwicklungspo-
litik wurde urspr€unglich als ‚Summe aller Mittel und Maßnahmen‘ verstanden, „die
von den Entwicklungsländern, den Industrieländern und der internationalen

C. Hartmann (*)
Professor f€ur Internationale Politik und Entwicklungspolitik, Institut f€
ur Politikwissenschaft,
Universität Duisburg-Essen, Duisburg, Deutschland
E-Mail: christof.hartmann@uni-due.de

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 815


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_60
816 C. Hartmann

Gemeinschaft eingesetzt, bzw. ergriffen werden, um die wirtschaftliche, soziale und


politische Entwicklung der Entwicklungsländer zu fördern“ (Nohlen 2005, S. 199).
In ihrem Wesenskern war sie daher auch tatsächlich inter-, bzw. transnational, und das
Verständnis und die Erklärung der Entwicklungspolitik schienen daher primär von
theoretischen Annahmen €uber die Natur des internationalen Systems geleitet.
Richtig ist zugleich aber auch, dass die Entwicklungsforschung in ihrem Streben
um ein besseres Verständnis der multidimensionalen Veränderungsprozesse in den
Entwicklungsgesellschaften (und deren Blockaden) von Anfang an komparatistisch
ausgerichtet war. Tatsächlich war es ja naheliegend, aus dem Vergleich von Ent-
wicklungsprozessen innerhalb einer Region oder zwischen unterschiedlichen areas
Erkenntnisse € uber wesentliche Erklärungsvariablen zu gewinnen. Ein Teil der Ent-
wicklungsforschung hat sich daher seit den 1960er-Jahren als vergleichende Politik-
wissenschaft verstanden, und mit unterschiedlichen theoretischen Prämissen und
methodischen Verfahren die Rolle von Einstellungsmustern, wirtschaftlichen Struk-
turen, dem Weltmarkt, dem Regimetypus oder unterschiedlichen politischen Insti-
tutionen f€ur Entwicklung zu untersuchen (siehe hierzu den Beitrag von Jörg Faust
und Dirk Messner in diesem Handbuch).
Die politikwissenschaftliche Erforschung von Entwicklungspolitik als Politikfeld
ist hingegen weit weniger etabliert. Hierf€ur ist nicht zuletzt die unklare Abgrenzung
und institutionelle Verortung des Politikfelds selbst verantwortlich. Während es
folglich weder an beschreibenden Darstellungen von Entwicklungspolitik, z. B. in
Deutschland, noch an einer z. T. recht scharfen Kritik an deren Sinnhaftigkeit und
Nutzen fehlt (zusammenfassend Hartmann 2011), steckt die vergleichende Analyse
von Entwicklungspolitik im Zeitverlauf oder Ländervergleich und ihrer Determinan-
ten in den Kinderschuhen. Die Analyse entwicklungspolitischer Wirkungen hat im
Unterschied dazu in den letzten zwei Dekaden einen großen Aufschwung erlebt.
Hierbei stehen aber entweder die Evaluierung von Einzelmaßnahmen (Projekten)
oder aber die Wirkung von entwicklungspolitischen Maßnahmen insgesamt auf
Entwicklungsprozesse im Vordergrund, weswegen auch diese Forschung kaum auf
einen Vergleich nationaler Entwicklungspolitik im engeren Sinne hinausläuft.

2 Akteure, Instrumente und Profile der Entwicklungspolitik

Je nachdem, ob man den Gegenstandsbereich der Entwicklungspolitik enger oder


weiter fasst, stehen unterschiedliche Akteure, Instrumente und Entscheidungspro-
zesse im Mittelpunkt. Nach dem klassischen engeren Verständnis von Entwicklungs-
politik geht es dabei primär um Entwicklungshilfe oder -zusammenarbeit, also die
Gesamtheit der Maßnahmen, die von internationalen oder nationalen Akteuren
mit dem direkten Ziel unternommen werden, die wirtschaftliche und soziale Ent-
wicklung in den Entwicklungsländern zu befördern. Die wichtigsten westlichen
Geberorganisationen haben im Rahmen des Entwicklungsausschusses (DAC) der
Organisation f€ur wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) seit den
1970er-Jahren versucht, Standards sowohl dar€uber zu entwickeln, was in diesem
Entwicklungspolitik: in der Vergleichenden Politikwissenschaft 817

Sinne als ‚Entwicklungspolitik‘ definiert werden soll, wie auch u€ber G€utekriterien
der Entwicklungszusammenarbeit.
Im Zeitverlauf ist es etwa bei der Definition von (öffentlichen) Leistungen als
Entwicklungszusammenarbeit zu Diskussionen dar€uber gekommen, ob Militär- und
Polizeihilfe, humanitäre Hilfe, Schuldenerlass, oder die Kosten f€ur Asylbewerber/
innen oder Studierenden aus Entwicklungsländern als ‚Entwicklungspolitik‘ angese-
hen werden sollen. Im Mittelpunkt dieser umstrittenen Definition der Entwicklungs-
politik standen freilich weniger akademische Kontroversen, sondern der politische
Versuch, möglichst viele staatliche Leistungen als entwicklungsrelevant anzuerken-
nen, hatte doch eines der wichtigsten G€utekriterien (neben der Notwendigkeit einer im
Vergleich zu Marktbedingungen g€unstigeren Finanzierung) darin bestanden, dass sich
die bilateralen Geberländer im UN-Rahmen seit 1970 grundsätzlich dazu verpflichtet
hatten, 0,7 % ihres BSP/BNE f€ur entwicklungspolitische Leistungen aufzuwenden
(OECD 1984). Von Anfang an bestimmte daher weniger die tatsächliche Eignung von
Politik zur Verbesserung der Lebensbedingungen in Entwicklungsländern die ent-
wicklungspolitischen Debatten als vielmehr der Umfang von Mittelfl€ussen, die an
der volkswirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Geberländer bemessen wurde.
Im Mittelpunkt dieser offiziellen Entwicklungszusammenarbeit (ODA) standen
bilaterale und multilaterale Geberorganisationen. Bilaterale Geber sind die staat-
lichen Entwicklungsbehörden der westlichen Industrieländer, während multilaterale
Geber internationale Organisationen (in der Regel als Teil des UN-Systems) oder
regionale zwischenstaatliche Organisationen sind (wie die EU oder regionale Ent-
wicklungsbanken), die aus eigenen Mitteln oder denen ihrer Mitgliedsländer eben-
falls Entwicklungsprojekte und -programme finanzieren.
In den westlichen Industrieländern ist es historisch zu unterschiedlichen institu-
tionellen Ausprägungen des entwicklungspolitischen Systems gekommen, was zu
Unterschieden sowohl bei der vertikalen als auch horizontalen Koordination von
Entwicklungspolitik gef€uhrt hat. Auf der horizontalen Ebene unterscheiden sich
Staaten insbesondere danach, ob sie ein eigenes der Entwicklungspolitik gewidme-
tes Ministerium aufweisen, oder ob Entwicklungspolitik durch das Außenministe-
rium mit abgedeckt wird. Damit einhergehen unterschiedliche Rollenzuweisungen
in den Partnerländern, wo entwicklungspolitische Anliegen durch die Botschaften
oder Außenstellen von Entwicklungsagenturen wahrgenommen werden. Abwei-
chend von der in Deutschland seit Jahren gef€uhrten Debatte um den drohenden
Ansehensverlust, der mit der Auflösung eines eigenständigen Ministeriums verbun-
den wäre (etwa Nuscheler 2006), zeigt der internationale Vergleich, dass entwick-
lungspolitische Anliegen unter dem Dach des Außenministeriums durchaus gut
vertreten werden können. Allerdings bestehen Schnittmengen einer weit verstanden
Entwicklungspolitik nicht nur zu unterschiedlichen Teilbereichen der Außenpolitik,
sondern auch zu einer Vielzahl anderer Ressorts, etwa dem Wirtschafts-, Finanz-,
Agrar-, Umwelt- oder Bildungsministerium, so dass die Herausforderung horizonta-
ler Koordination nicht durch die Eingliederung der Entwicklungspolitik in das
Außenressort allein gelöst werden kann (Brombacher 2009; OECD 2014).
In vertikaler Hinsicht weisen die Geberländer noch weitaus größere Unterschiede
in der Verteilung von Aufgaben und Kompetenzen auf. Deutschland galt €uber
818 C. Hartmann

viele Jahre als Musterbeispiel eines in mehrfacher Hinsicht fragmentierten


entwicklungspolitischen Systems. Die Durchf€uhrung staatlicher entwicklungspoliti-
scher Maßnahmen war von Anfang an aus dem Ministerium hauptsächlich in zwei
spezialisierte Agenturen verlagert worden, die Kreditanstalt f€ur Wiederaufbau (KfW)
f€ur die sog. finanzielle Zusammenarbeit, also die Vergabe von verg€unstigten Krediten,
und die Gesellschaft f€ur technische Zusammenarbeit (GTZ) f€ur die sog. technische
Zusammenarbeit, im Wesentlichen Beratung. Daneben bestanden eine Reihe weiterer
staatlicher Agenturen mit Spezialaufgaben, wie etwa der Entsendung von Entwick-
lungshelfern oder der Durchf€uhrung von Weiterbildungsmaßnahmen in Deutschland.
Mehrere Fusionsprozesse haben dazu gef€uhrt, dass seit 2012 die Gesellschaft f€ur
Internationale Zusammenarbeit (GIZ) vorher eigenständige Beratungsdienstleistungen
unter einem Dach anbietet. Das Ministerium (BMZ) steht bei der Lenkung und
Kontrolle der deutschen Entwicklungspolitik, die primär von den beiden Durch-
f€uhrungsagenturen abgewickelt wird, daher vor großen Herausforderungen.
Die stark projektmäßige Implementierung von Entwicklungspolitik f€uhrte neben
der Dezentralisierung des staatlichen Systems auch zu einer Vielfalt von para- oder
nichtstaatlichen Organisationen, die oft auch Maßnahmen im Auftrag der öffent-
lichen Hand durchf€uhren. Neben den Kirchen und einigen großen weltanschaulich
neutralen Organisationen wie der Deutschen Welthungerhilfe bestimmen zahlreiche
lokale Initiativen und Gruppierungen das Bild der Entwicklungszusammenarbeit.
Daneben spielen auch die politischen Stiftungen eine zunehmend wichtige Rolle
insbesondere dort, wo der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit geeignete Part-
ner auf Ebene der Zentralregierung in Entwicklungsländer fehlen.
Neben der Entwicklung unterschiedlichster Instrumente (s. u.) haben im Mittel-
punkt entwicklungspolitischer Entscheidungsprozesse regionale und sektorale
Schwerpunktsetzungen gestanden. Ähnlich vielen multilateralen Organisationen
hat sich Deutschland dabei lange Zeit durch eine gleichmäßige Verteilung der Mittel
auf möglichst viele Entwicklungsländer hervorgetan (sog. ‚Gießkannenprinzip‘),
während andere Geberländer sich seit jeher stärker auf bestimmte Regionen, strate-
gisch wichtige Zielländer oder ehemalige Kolonien konzentrierten. In sektoraler
Hinsicht ähnelte die deutsche Entwicklungspolitik lange ebenfalls dem Gießkannen-
prinzip. In einigen Ländern f€uhrte allein die staatliche EZ mehr als zwanzig unter-
schiedliche Maßnahmen gleichzeitig durch. In der letzten Dekade ist es in der
deutschen Entwicklungspolitik zu einem Prozess sowohl der regionalen als auch
sektoralen Schwerpunktbildung gekommen, die es erlauben soll, mit ausgewählten
Ländern in spezifischen Sektoren noch mehr als bisher zu investieren und dadurch
auch eine höhere Effektivität zu erreichen. Der Trend zu mehr Selektivität spiegelt
sich insgesamt in den Portfolios der wichtigsten Geberländer.
Die Entwicklungspolitik der nicht in der OECD vertretenen Länder ist wissen-
schaftlich weitaus weniger gr€undlich untersucht (Woods 2008). Dies hängt ursächlich
damit zusammen, dass die zentrale Rolle der OECD ja gerade in der systematischen
Erfassung von Daten und Informationen besteht und es Untersuchungen etwa zur
chinesischen oder brasilianischen Entwicklungspolitik oft an empirischer Evidenz
fehlt (Brautigam 2010). Über mehrere Dekaden hinweg gab es allerdings nur
wenige Mittelfl€ usse aus Nicht-OECD-Ländern in Entwicklungsländer, die den
Entwicklungspolitik: in der Vergleichenden Politikwissenschaft 819

OECD-Kriterien f€ur Entwicklungshilfe entsprochen hätten. F€ur viele neue Geber wie
Indien, T€urkei oder China, die selbst vor z. T. noch großen Entwicklungsproblemen
stehen, ist die Vergabe von Krediten ganz unmittelbar verkn€upft mit nationalen Politi-
ken der Rohstoffsicherung, der Außenwirtschafts- und Außenpolitik. Der Fokus auf
Armutsbekämpfung, der bei der Entwicklungspolitik der OECD-Länder oft im Mittel-
punkt steht, verliert bei den neuen Gebern daher an Bedeutung (Dreher et al. 2011).
Die ‚neuen‘ Geber stellen damit zugleich das im OECD-Kontext entwickelte
‚enge‘ Verständnis von Entwicklungspolitik als ‚Entwicklungshilfe‘ in Frage. Eine
Öffnung des Begriffs der Entwicklungspolitik war allerdings zuvor auch in der
OECD-Welt erfolgt, wenn auch mit anderer Stoßrichtung. Die seit den 1970er-Jahren
von Dependenztheoretikern propagierte Idee, dass Entwicklungsziele nicht primär in
den Entwicklungsländern, sondern hauptsächlich durch Veränderung der globalen
Rahmenbedingungen erreicht werden könnte, erlebte seit den 1990er-Jahren in einer
moderaten Variante eine neue Konjunktur. In Deutschland wurde eine solche ‚weit‘
verstandene Entwicklungspolitik nach dem Machtwechsel zur rot-gr€unen Regierung
1998 unter dem Schlagwort der ‚globalen Strukturpolitik‘ zum offiziellen Leitbild der
Entwicklungspolitik, ohne dass in der Praxis von der Schwerpunktsetzung bei der
Projekt- und Programmarbeit in den Entwicklungsländern abgegangen worden wäre.
Von der ‚Versicherheitlichung‘ (Maihold 2005) bis zu den Sustainable Development
Goals (Loewe 2012) ist die direkte Verkn€upfung von lokalen Entwicklungsprozessen
mit politischen und wirtschaftlichen Veränderungen im internationalen System immer
wieder unterstrichen worden. Die Annahme, Entwicklungspolitik sei im Wesent-
lichen eine entwicklungsförderliche Form globalen Regierens, m€usste allerdings auch
zu entsprechenden institutionellen Anpassungen f€uhren, damit die Priorisierung ent-
wicklungspolitischer Ziele bzw. generell die Kohärenz im außenpolitischen Handeln
garantiert ist (Ashoff 2009; Messner und Faust 2012).

3 Erklärungen von unterschiedlichen Ausprägungen von


Entwicklungspolitik

Insgesamt gibt es wenige Untersuchungen, die Entwicklungspolitik systematisch-


vergleichend betrachten. Unterschiedliche Ausprägungen von Entwicklungspolitik
werden dabei generell auf zwei Ursachenb€undel zur€uckgef€uhrt: Zum einen könnten
die Rahmenbedingungen in den Entwicklungsländern entscheidend sein f€ur Ver-
gabeentscheidungen und Modalitäten in der Durchf€uhrung; zum anderen könnten
Pfadabhängigkeiten und die spezifische Institutionelle Rahmung von Entwicklungs-
politik auf Geberseite ursächlich f€ur Unterschiede sein.
Eine Reihe von Studien setzte sich mit den Institutionen der Empfängerländer
auseinander. So wird z. B. ein Zusammenhang zwischen Regimequalität, bzw. -dyna-
mik und der Bereitstellung von entwicklungspolitischen Krediten hergestellt (Alesina
und Dollar 2000, S. 56). Gleichzeitig besteht anscheinend nur ein geringer Zusam-
menhang zwischen dem Umfang von Hilfsleistungen und dem Ausmaß von Korrup-
tion in den Empfängerländern, wobei sich Geberländer hier durchaus unterscheiden.
Besonders die skandinavischen Länder w€urden weniger korrupte Regime mit mehr
820 C. Hartmann

Entwicklungspolitik belohnen, während die USA z. B. zwar verstärkt auf demo-


kratische Regime setzen, aber andere Governance-Dimensionen auf Empfängerseite
vernachlässigen (Alesina und Weder 2002, S. 1136). Dietrich (2013) hat j€ungst die
These bestätigt, wonach Governance-Qualität von Empfängerländern die Vergabeent-
scheidungen in der bilateralen Entwicklungspolitik der OECD-Länder beeinflusst.
Die Art der Regierungsf€uhrung in Entwicklungsländern w€urde danach Geberregie-
rungen R€ uckschl€ usse €uber die Effektivität der Hilfe erlauben und strategische Kon-
sequenzen f€ ur die Auswahl der Partner haben, also ob Mittel direkt an staatliche
Institutionen vergeben oder die Regierung umgangen und beispielsweise mit NGOs
stärker zusammengearbeitet wird.
Noch naheliegender ist die Vermutung, die Dynamik entwicklungspolitischer
Entscheidungen habe zunächst mit den Traditionen, Interessen und Institutionen auf
Geberseite zu tun. Regionale Schwerpunktsetzungen und der Umfang von Leistungen
werden zumeist an den geopolitischen oder ökonomischen Interessen der Geberländer
und an historischen Beziehungen zwischen Geber- und Empfängerländern festge-
macht. Solche strategischen Interessen haben auch Einfluss auf die Modalitäten von
Hilfsleistungen, etwa bei der Lieferbindung oder dem Umgang mit Konditionalitäten
(Berthélemy 2006, S. 192–193). Zweitens kann auf institutioneller Ebene der Geber-
länder nach Erklärungsmustern f€ur unterschiedliche Ausprägungen von Entwick-
lungspolitik gesucht werden. Faust (2008, 2013) geht davon aus, dass unterschied-
liche Governance-Faktoren auch auf Geberseite wirken, d. h. eine höhere
Transparenz und demokratische Mitbestimmung (voice) in einer Gesellschaft die
öffentliche Zustimmung zu Entwicklungspolitik aber auch Forderungen nach Effek-
tivität entwicklungspolitischer Leistungen erhöht. Je demokratischer also Geberlän-
der sind, desto stärker werden sie sich entwicklungspolitisch engagieren.
Als weitere innenpolitische Erklärungsvariablen wurde die ideologische Ausrich-
tung von Regierungen, bzw. die Rolle von politischen Parteien untersucht. So fand
Tingley (2010) Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen der Macht€ubernahme
liberaler und wirtschaftsfreundlicher Regierungen und dem R€uckgang des BSP-Anteils
der Entwicklungspolitik. Interessanterweise träfe dies besonders auf entwicklungspoli-
tische Leistungen gegen€uber ärmeren Empfängerstaaten und auf multilaterale Entwick-
lungspolitik zu, nicht jedoch auf die entwicklungspolitischen Beziehungen zu „reiche-
ren“ Entwicklungsländern. F€ur liberale und konservative Regierungen w€urden danach
die mit Entwicklungspolitik verbundenen handelspolitischen und anderen ökonomi-
schen Interessen stärker im Vordergrund stehen. In ähnlicher Weise haben Fleck und
Kilby (2006) f€ ur die USA gezeigt, dass Allokationsentscheidungen von ODA neben
empfängerseitigen Variablen und außenpolitischen, bzw. ökonomischen Interessen der
USA auch stark von der parteipolitischen Zusammensetzung der Regierung abhängen,
d. h. unter einem demokratisch dominierten Kongress und Präsidenten der Entwick-
lungsstand von Empfängerländern ein größeres Gewicht hat. Dies lässt sich bis zu den
wirtschaftlichen Charakteristika und ideologischer Ausrichtung der einzelnen Wahl-
kreise f€ur das Repräsentantenhaus nachverfolgen (Milner und Tingley 2010). Auch f€ur
Thérien und Noel (2000) haben Parteien aufgrund ihrer unterschiedlichen Konzepte von
sozialer Gerechtigkeit einen Einfluss auf die Formulierung und Akzeptanz von Ent-
wicklungspolitik, wobei dieser Einfluss eher indirekt und langfristig zu sein scheint.
Entwicklungspolitik: in der Vergleichenden Politikwissenschaft 821

Lundsgaarde (2013a) hat hingegen die Rolle von Interessengruppen im Entschei-


dungsprozess untersucht. Da die Zielgruppen von Entwicklungspolitik nicht bei Wah-
len in Geberländern abstimmen und die Bevölkerung ohnehin schlecht informiert ist
€uber entwicklungspolitische Fragen, nehmen b€urokratischen Interessen sowie advoca-
cy groups, bzw. privatwirtschaftlichen Lobbygruppen eine zentrale Rolle bei der Ent-
scheidungsfindung ein, die wiederum durch unterschiedliche Institutionen gerahmt
wird. Auch Lancasters (2007) Vergleich der Entwicklungspolitik von f€unf f€uhrenden
bilateralen Gebern sah in der unterschiedlichen Organisation von politischen Entschei-
dungen mit unterschiedlichen Einflussmöglichkeiten von politischen Parteien und
Interessengruppen ein zentrales Erklärungsmoment. Knack und Paxton (2011) haben
schließlich die Rolle der öffentlichen Meinung, bzw. die allgemeine Unterst€utzung der
Bevölkerung gegen€uber Entwicklungszusammenarbeit in den Blick genommen.
Die meisten hier diskutierten Studien wählen die Varianz im quantitativen
Umfang von Hilfsleistungen als zu erklärende Variable. Entscheidungen f€ur be-
stimmte Instrumente oder Strategien werden erst in j€ungster Zeit stärker beachtet.
So haben Brancati (2013), bzw. Faust und Koch (2014) Präferenzen f€ur Demokratie-
förderung oder die Bedeutung von Budgethilfe untersucht und ebenfalls an die
parteipolitische Zusammensetzung von Regierungen, bzw. die politische Unterst€ut-
zung in der Bevölkerung gekn€upft.
Schließlich lässt sich fragen, inwiefern entwicklungstheoretische Paradigmen-
wechsel die Ausprägung von Entwicklungspolitik erklären. Grundsätzlich lassen
sich bei allen wichtigen Geberorganisationen Veränderungen in der Zielbestimmung
und der Auswahl von Instrumenten auch auf die Neubewertung theoretischer Zu-
sammenhänge zur€uckf€uhren. Dies gilt z. B. f€ur die Durchsetzung des Governance-
Begriffs und allgemeiner die Betonung und versuchte Beeinflussung institutioneller
Rahmenbedingungen von Entwicklung auf lokaler, nationaler oder globaler Ebene
(Rauch 2009). Es gilt zweitens f€ur die Aufnahme von Nachhaltigkeits- und Gen-
deraspekten in den entwicklungspolitischen Diskurs und die Praxis seit den 1980er-
Jahren. Auch wenn einzelne Geberstaaten und -organisationen diese Themen in
unterschiedlicher Weise aufgenommen haben, folgte in beiden Fällen das entwick-
lungspolitische Mainstreaming theoretischen Debatten, die Geschlechtergerechtig-
keit und Nachhaltigkeit als zentrale Variablen in Entwicklungsprozessen identifiziert
hatten (Moser 1989; Brundtlandt 1987).

4 Was beeinflusst die Wirksamkeit von Entwicklungspolitik?

Der finanzielle Umfang entwicklungspolitischer Zahlungen ist zwar ein aussage-


kräftiger Indikator f€ur das Commitment einzelner Staaten, sich entwicklungspoli-
tisch zu engagieren. Wie Kredite und Schenkungen genutzt werden, um bestimmte
Ziele zu erreichen oder Entwicklungsimpulse auszulösen, ist jedoch eine unabhän-
gig davon zu untersuchende Frage.
Dabei spielt es eine große Rolle, was als Ziel von Entwicklungspolitik definiert
wird. Sieht man darin eine in Zeit und Reichweite begrenzte Intervention zugunsten
einer bestimmten Zielgruppe (Entwicklungsprojekt), lässt sich Wirksamkeit auf der
822 C. Hartmann

Ebene eines Projektziels mit angemessenen Indikatoren messen. Der Erfolg von
Maßnahmen wird dabei jedoch in der Regel nicht im Vergleich zu anderen Projekten
oder einem abstrakt definierten Vergleichsmaßstab untersucht, sondern entlang der
zu Beginn der Intervention festgelegten spezifischen Projektziele. Einer guten Ziel-
formulierung liegt zwar in der Regel eine Hypothese €uber Ursache und Wirkung von
Maßnahmen zugrunde. Die Evaluierung von Projekten befasst sich dann in der
Regel damit, die Zielerreichung zu bestimmen und mehr oder weniger explizit die
G€ultigkeit einer zuvor festgelegten kausalen Wirkungshypothese zu belegen (Hem-
mer 2010; Caspari und Barbu 2008). In der letzten Dekade kommt es allerdings
vermehrt zu experimentellen Untersuchungsdesigns, bei denen der Erfolg eines
Projekts durch systematischen Vergleich mit einer Kontrollgruppe ohne entspre-
chende Intervention gepr€uft wird (Banerjee und Duflo 2011). Diese aufgrund des
großen damit verbundenen Aufwands eher beispielhaft betriebenen Formen der
Evaluierung haben ebenfalls das primäre Ziel, nachzuweisen was wirkt oder nicht.
Die Kritik an der Evaluierungspraxis der entwicklungspolitischen Organisationen
entz€undete sich an dem Umstand, diese gäben sich mit der Erreichung der selbst
formulierten Projektziele zufrieden, ohne zur Kenntnis zu nehmen, dass auf der
gesamtgesellschaftlichen Ebene bei wichtigen Entwicklungsindikatoren €uberhaupt
keine oder nur geringe Fortschritte zu beobachten waren (sog. Mikro-Makro-Parado-
xon). Seit Beginn der 1990er-Jahre befasste sich eine stark vergleichende und quan-
titativ ausgerichtete Forschung folglich mit den Determinanten der Effektivität von
Entwicklungszusammenarbeit auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene (Hansen und
Tarp 2001). In dieser Literatur ging es allerdings primär um den Vergleich unter-
schiedlicher Empfängerländer, d. h. einer Untersuchung der Frage, ob der Umfang
der geleisteten €
uber alle Geber hinweg aggregierten Zahlungen mit Verbesserungen
bei Pro-Kopf-Einkommen oder anderen sozio-ökonomischen Indikatoren korrelierte.
Folglich konzentrierte sich die Forschung dann auch stark auf Variablen auf Empfän-
gerseite wie Governance, armutsorientierte Politik oder Absorptionsfähigkeit.
Im entwicklungspolitischen Diskurs wurden auch mehrere Gr€unde f€ur eine unzu-
reichende Effektivität von Entwicklungszusammenarbeit angef€uhrt, die auf Geber-
seite liegen (Birdsall 2008). In der sog. Pariser Erklärung wurden fehlende Koordi-
nation unter Gebern, sowie fehlender Harmonisierung untereinander und mit den
Empfängerregierungen als wesentliche Ursache diagnostiziert (OECD 2005). Die
Forschung hat das Problem fehlender Koordination nicht nur in der Abstimmung
verschiedener Geberländer, sondern auch in den strukturellen Bedingungen und
Handlungsanreizen innerhalb von mit Entwicklungspolitik befassten b€urokratischen
Organisation von Ministerien und dem Pluralismus von Institutionen gesehen (Faust
2013; Lundsgaarde 2013b).

5 Ausblick

Entwicklungspolitik als Gegenstand der vergleichenden Politikwissenschaft ist ein


recht neues Forschungsfeld. Die andauernde Unklarheit €uber den Gegenstandsbe-
reich der Entwicklungspolitik wie auch der Umstand, dass entwicklungspolitische
Entwicklungspolitik: in der Vergleichenden Politikwissenschaft 823

Maßnahmen sich im Wesentlichen an Zielgruppen in weit entfernten Ländern


richten, und ihre Implementierung und Zielerreichung daher nur schwer dokumen-
tiert werden kann, erschweren die systematische und vergleichende Untersuchung.
Dieser Befund w€ urde noch sehr viel mehr gelten, wenn die Entwicklungspolitik in
einem weiteren Verständnis als Teil globalen Regierens aufgefasst und nationale
Politiken im Bereich der Regulierung internationaler Finanzmärkte oder multilatera-
ler Handelspolitik verglichen werden w€urden. Das Aufkommen der sogenannten
Neuen Geber macht eine vergleichende Betrachtung von Entwicklungspolitik zwar
noch lohnenswerter als zuvor, stellt die Forschung aber vor große methodische
Herausforderungen. Wird die starke Prägung der Entwicklungspolitik durch
b€urokratische Strukturen und politische Institutionen in Geber- wie auch Empfänger-
ländern auch weiterhin Ausgangspunkt f€ur vergleichende Fragestellungen sein.

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Medienpolitik in der Vergleichenden
Politikwissenschaft

Klaus Kamps und Frank Marcinkowski

Zusammenfassung
Das Kapitel stellt Medienpolitik als Politikfeld vor, relevante Akteure, Institutio-
nen und Organisationen sowie die zentralen Strukturen und Prozesse. Dargestellt
werden, auch perspektivisch, Zugänge der vergleichenden Forschung im Feld.
Dabei wird die handlungsprägende Heterogenität erörtert und in ihrer feldspezifi-
schen Relevanz f€ur die Politikwissenschaft besprochen. Die Analysen kennzeich-
nen sich dabei nach wie vor durch ihre nationalstaatliche Orientierung. Allerdings
entwickelt sich in der Netzpolitik ein Forschungsfeld, in dem auch komparative
inter- und transnationale Untersuchungsanlagen an Bedeutung gewinnen.

Schlüsselwörter
Vergleichende Medienpolitik • Medienpolitik • Media Governance • Kommuni-
kationspolitik • Medienregulierung • Netzpolitik

1 Begriffe

Medienpolitik ist jenes Handeln, das auf die Herstellung und Durchsetzung ver-
bindlicher Entscheidungen zur Organisation, Funktionssicherung und Ausgestaltung
von Mediensystem und medienvermittelter öffentlicher Kommunikation gerichtet ist
(Dreyer 2006, S. 223–224; Puppis 2007, S. 34). Sie richtet sich auf die ‚klassischen‘

K. Kamps (*)
Professor f€ur Kommunikationswissenschaft, Hochschule der Medien Stuttgart, Stuttgart,
Deutschland
E-Mail: kamps@hdm-stuttgart.de
F. Marcinkowski
Professor f€ur Kommunikationswissenschaft, Institut f€
ur Kommunikationswissenschaft, Universität
M€unster, M€unster, Deutschland
E-Mail: frank.marcinkowski@uni-muenster.de

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 825


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_61
826 K. Kamps und F. Marcinkowski

Medien – Presse, Rundfunk und Fernsehen –, das Internet als „neue“ mediale
Plattform sowie die Telekommunikation. Medienpolitik konstituiert sich systema-
tisch als Ordnungspolitik, Infrastrukturpolitik, Medien-Organisationspolitik, Perso-
nalpolitik sowie Programm- und Informationspolitik (Schatz et al. 1990; Jarren
1998, S. 616; Sarcinelli 2005, S. 32).
Bei der Findung und Legitimation medienpolitischer Entscheidungen sind meist
Akteure und Organisationen beteiligt, die in einem engen Verständnis nicht dem
politischen System zuzuordnen sind: Intermediäre Institutionen wie Verbände, die
Kirchen, Organe der Selbstregulation, Stiftungen u. Ä. Daher ist vermehrt auch von
Media Governance die Rede – ein Begriff, der institutionelle Regelungsstrukturen
(wie Ko- oder Selbstregulierung) umfasst und medienpolitisches Handeln nicht mit
staatlichem Handeln gleichsetzt. Sie wird, wie andere Politikfelder, dem Wirkungs-
bereich eines vorwiegend korporatistisch organisierten politisch-administrativen
Systems zugeordnet (Jarren and Donges 1997, S. 234–235; Vowe 2003, S. 212).
Media Governance betont dar€uber hinaus in der politikwissenschaftlichen Konno-
tation (vgl. Benz 2004; Mayntz 2005, S. 15) institutionalisierte Formen der Ko-
orientierung von staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren zur kollektiven Rege-
lung medienbezogener Sachverhalte (vgl. Donges 2007a).
Gelegentlich ist statt von Medienpolitik oder Media Governance auch von Kom-
munikationspolitik die Rede (Wittkämper 1996; Sarcinelli 2005, S. 31). Damit ist in
der Regel ein breiteres Verständnis gesellschaftlicher Kommunikation gemeint, das
auch Individualkommunikation umfasst (Vowe 2003, S. 215). Steht die mediale
Kommunikation im Mittelpunkt – was €uberwiegend in der politischen Debatte der
Fall ist –, so ist der Begriff Medienpolitik gebräuchlicher.
Schließlich bleibt festzuhalten, dass Medienpolitik im €ublichen Verständnis nicht
mit ‚politischer Kommunikation‘ verwechselt werden sollte, die mit oder mittels
Medien politische Ziele durchsetzen und vermitteln möchte. „Sinnvollerweise kann
nicht (. . .) von Medienpolitik gesprochen werden, wenn es um Wirkungen von
Medien auf Politik geht oder wenn sich Politik der Medien bedient, sondern erst
dann, wenn es um Entscheidungen €uber mediale Kommunikation geht.“ (Vowe
2003, S. 213; Herv. i. O.)

2 Grundlegende Orientierungen und Regulierungsebenen in


Deutschland

In Deutschland basiert das medienpolitische Handeln auf dem Gemeinwohlbezug


und folgt einem Gewährleistungsauftrag. Danach ist es Aufgabe des Staates, die
Vielfalt der Meinungsbildungsprozesse €uber die Kommunikationsfreiheiten des
Artikels 5 GG zu sichern. Dies begr€undet ein normatives Verständnis der gesell-
schaftlichen Funktion der Medien, manifestiert in einer positiven Ordnungsvorstel-
lung (vgl. Sarcinelli 2005, S. 45): Damit soll der Staat im Vorhinein (‚positiv‘)
garantieren, dass sich innerhalb der Gesellschaft eine freier, öffentlicher Diskurs
auch um seine eigene Belange entwickeln kann. Er soll nicht erst negative Ent-
wicklungen wie etwa Meinungsmonopole „abwarten“, sondern sichernd tätig
Medienpolitik in der Vergleichenden Politikwissenschaft 827

werden: z. B. u €ber die gesetzliche Normierung von Finanzierungsfragen oder


Eigentums- und Beteiligungsrechten bei Medienorganen. Hinzu kommt eine
Zur€ uckhaltung politischer Akteure in der Einflussnahme auf die politische Bericht-
erstattung der Medien (vgl. Jarren 1999, S. 156).
Zugleich werden Medien als Kulturaufgabe definiert, weshalb sie das Grundge-
setz als Angelegenheit der Länder bestimmt – mit der Folge einer Vielzahl medien-
bezogener Staatsverträge. Dabei war medienpolitisches Handeln lange eine Frage
der Regulierung traditioneller elektronischer Massenkommunikation: Radio und
Fernsehen, wobei die Länder mit den Rundfunkstaatsverträgen bzw. Staatsverträgen

uber den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, neuerdings den Rundfunkbeitragsstaats-
vertrag und den Landesmediengesetzen den gesetzlichen Rahmen horizontaler Po-
litikverflechtung gestalteten respektive weiterentwickeln (vgl. Kamps 2006, S. 135).
Auch die Presse wird in Deutschland landesrechtlich begleitet, durch Landes-
pressegesetze, die dezentralisiert erlassen werden, aber weitgehend vereinheitlicht
sind (Humphreys 1996, S. 64). Obwohl es 2006 im Zuge einer Föderalismusreform
möglich gewesen wäre, hat der Bund keine Rahmenbedingungen auf diesem Sektor
erlassen (Goldbeck 2008, S. 303). Medienpolitisch relevant waren hier vornehmlich
verschiedene Konzentrationssch€ube auf dem Pressemarkt (vgl. Wilke 1996); seit
Mitte der 1990er-Jahre und der Etablierung des Internets stehen ökonomische
Fragen im Vordergrund der Pressepolitik.
Während Medienpolitik also lange eine Domäne landespolitischer Akteure war
(vgl. Abschn. 3), wurde mit dem Aufkommen des Internets und seinen subsumierten
Diensten rasch deutlich, dass der klassische Rundfunkbegriff €uberdacht werden
musste. Nun wird auch der Bund verstärkt medienpolitisch tätig: Mit der technologi-
schen Differenzierung medialer Verbreitungsformen (z. B. Online-Kommunikation,
soziale Netzwerke, Film- und Musikangebote, Suchmaschinen) ergaben sich neue
Aufgabenfelder, zum Beispiel der Kinder- und Jugendmedienschutz oder die Me-
dienkonzentrationskontrolle. Zudem wird die Netzpolitik vermehrt durch inter- und
transnationale Policy-Prozesse beeinflusst (vgl. Vowe 2003, S. 218–220; Hachmeis-
ter und Anschlag 2013).
Ein in Deutschland die Medienpolitik nach wie vor prägender Konflikt findet sich
in dem Gegen€ uber von Werteorientierung und profitorientiertem wirtschaftlichem
Handeln. Medienpolitik ist hierzulande einem klaren Wertekanon verpflichtet: Me-
dien sind danach nicht ‚nur‘ ein Mittler der Kultur, sondern sie haben auch eine
demokratiepolitische Funktion. Ihnen obliegt die von politischer Einflussnahme und
z. B. beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk auch von marktökonomischen Zwängen
weitgehend befreite Informationsvermittlung, die Meinungspluralität und nötigen-
falls Kritik und Kontrolle politischer Macht sichern soll („Vierte. Gewalt“) (Kops
2009, S. 6–7).
Nachdem die Kabel- und Satellitentechnik in den 1980er- und 1990er-Jahren die
Frequenzknappheit im Rundfunk beseitigte, gerieten die durch politische Garantien
gest€utzten Public-Service-Angebote unter Legitimationszwang (vgl. Meckel 1996,
S. 99). Hinterfragt wurde auch, ob die Politik einem normativen Gestaltungsan-
spruch noch gerecht werden könne und steuerungsfähig bliebe (vgl. Jarren und
Donges 1997; Sarcinelli 2005, S. 30–31). In der Europäischen Union (EU) ist
828 K. Kamps und F. Marcinkowski

dieser Konflikt virulent, wo etwa die Frage, ob die Geb€uhrenfinanzierung des


öffentlich-rechtlichen Rundfunks in der Bundesrepublik als staatliche Beihilfe zu
bewerten wäre (was private Anbieter so sehen), die Gerichte beschäftigte – und ein
Dissens innerhalb der EU selbst zu erkennen ist: „Obwohl der Europäische Rat mit
dem Amsterdamer Protokoll schließlich die besondere Rolle des öffentlich-recht-
lichen Rundfunks festschrieb, blieb die Kommission in (. . .) der Perspektive der
Wettbewerbsvorschriften verhaftet (. . .).“ (Holtz-Bacha 2006, S. 253)
Der ökonomische, marktorientierte Zugang versteht im Unterschied zur Wert-
orientierung Medienpolitik als ein Austauschsystem von kommunikativen G€utern
und Dienstleistung auf Publikumsmärkten (vgl. Vowe 2003, S. 215). Umstritten ist,
ob die Kräfte des Marktes auch ohne Regulierung in der Lage wären, eine adäquate
Informationsvielfalt zu sichern (vgl. etwa Mai 2005). So stehen sich im Kern zwei
Vorstellungen gegen€uber: eine, die durch Regulierungsmaßnahmen die Garantie
pluralistischer Vielfalt verficht, eine andere, die aus ökonomischer Perspektive alle
Formen der Einschränkung wirtschaftlichen Handelns durch marktferne Interessen
ablehnt. In Deutschland verkörpern die privaten und die öffentlich-rechtlichen
Rundfunkanbieter diese Positionen geradezu sinnbildlich (vgl. Kops 2009).
Systematisieren lässt sich das Feld schließlich in drei Regulierungsebenen, denen
Schwerpunkte der politischen Auseinandersetzung folgen: (1) Die Regulierung
publizistischer Beziehungen (z. B. „Staatsfreiheit“ des Rundfunks), (2) wirtschaftli-
cher Beziehungen (z. B. Urheberechte) und (3) der Beziehungen zwischen und in
Medienorganisationen (z. B. arbeitsrechtliche Bedingungen in den Redaktionen)
(vgl. Vowe 2003, S. 216–219).

3 Nationale und internationale Akteure, Organe,


Institutionen

Auf nationaler Ebene sind es zunächst Parlamente und Regierungen, die Entschei-
dungen im medienpolitischen Feld treffen. Allerdings charakterisiert Medienpolitik
sich nicht durch einen einzig politischen Zugriff: Beteiligt sind nicht-staatliche
Akteure, die eigene Ziele haben und Einfluss nehmen auf die Regeln und Organisa-
tion medialer Kommunikation und zum Teil in die Ko- und Selbstregulierung ein-
gebunden sind. Das betrifft die Intermediären, die Medienunternehmen, ihre Ver-
bände, Sozialverbände und mehr (vgl. Puppis 2007, S. 43).
Neben den Parlamenten und (Länder-)Regierungen mit ihren Ministerien – wobei
in Deutschland die Staats- und Senatskanzleien häufig medienpolitische Verantwor-
tung tragen (und das Feld ‚Chefsache‘ ist) – ist das Bundesverfassungsgericht ein
wichtiger medienpolitischer Akteur und hat bspw. die Meinungs-, Presse- und
Rundfunkfreiheit (so im „Spiegel-Urteil“ von 1966) zu einem eigenständigen Kom-
munikationsgrundrecht ausgestaltet oder das duale Rundfunksystem und die Be-
stands- und Entwicklungsgarantie der öffentlich-rechtlichen Sender näher bestimmt
(vgl. Wittkämper 1996, S. 10; Mai 2005, S. 28; Kops 2009).
Politische Akteure sind auch in den Rundfunk- und Medienräten der Länder zu
finden, die die öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunkanbieter kontrollieren.
Medienpolitik in der Vergleichenden Politikwissenschaft 829

Zwar sollen die Räte die Gesellschaft spiegeln. Deshalb sind intermediäre
Institutionen wie die Kirchen, Gewerkschaften und Sozialverbände dort vertreten.
Faktisch sind die Gremien gleichwohl parteipolitisch geprägt, weil u. a. Parlamente
und Regierung eigene Entsendungsrechte besitzen (vgl. Humphreys 1996, S. 152;
Dreyer 2006, S. 224).
Der Bund und die Länder sitzen in unterschiedlicher Konstellation auch in den
Verwaltungsräten der öffentlich-rechtlichen Sender. Der Beauftragte der Bundes-
regierung f€ ur Kultur und Medien konzentriert sich derzeit auf Filmpolitik und neu-
erdings auf die Netzpolitik. Die Länderregierungen wiederum koordinieren ihre
Rundfunkpolitik € uber die Rundfunkkommission der Länder, in der die Rundfunk-
referenten der Regierungen wichtige Vorarbeiten leisten und der Ministerpräsiden-
tenkonferenz (MPK) vorlegen. Faktisch handelt die MPK als Rundfunkkommission,
wenn sie sich mit Medienfragen beschäftigt.
Die Landesmedienanstalten haben die Aufgabe, die privaten elektronischen Me-
dien zu kontrollieren. Dar€uber setzen sie auch z. B. durch Fördermaßnahmen,
Informationsveranstaltungen und -medien sowie in der Arbeitsgemeinschaft der
Landesmedienanstalten (ALM) medienpolitische Akzente. 1996 wurde die Kom-
mission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich (KEK) gebildet, die als
Beschlussorgan der Landesmedienanstalten Fragen der Sicherung der Meinungs-
vielfalt durch private Rundfunkanbieter behandelt. Die Kommission f€ur Jugend-
medienschutz (KJM) ist ähnlich mit den Landesmedienanstalten assoziiert und setzt
sich auf der Grundlage eines Staatsvertrages mit inhaltlichen Fragen des Jugend-
medienschutzes bei den privaten Rundfunkveranstaltern auseinander.
Demgegen€ uber werden die 16 Mitglieder der Kommission zur Ermittlung des
Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten (KEF) direkt von den Ministerpräsidenten der
Länder bestellt. Sie berichten den Länderparlamenten und geben (mit Blick auf die
Wirtschaftlichkeit und den Rundfunkauftrag) Empfehlungen zur Höhe der Rund-
funkgeb€ uhren, die f€ur die öffentlich-rechtlichen Sender erhoben werden.
F€ur die Telekommunikation ist die Bundesnetzagentur zu nennen, die unter
bundesministerieller Aufsicht den Telekommunikationsmarkt beobachtet und ande-
ren Aufgaben nachkommt, etwa als „Wurzelbehörde“ des Signaturgesetzes, das
heißt sie pr€uft und akkreditiert Anbieter von elektronischen Signaturen.
Dar€uber hinaus sind noch Interessensgruppen medienpolitisch tätig – so der
Verband Privater Rundfunk und Telemedien (VPRT), der sich nach der Einf€uhrung
des dualen Rundfunksystems 1985 als Gegenpart der öffentlich-rechtlichen Medien
etablierte. Hinzu kommen weitere Verbände – der Kabelanbieter, der Filmschaf-
fenden oder der Journalisten (vgl. Dreyer 2006, S. 225).
Schon dieser national konzentrierte Abriss zeigt: Der medienpolitische Sektor ist
fragmentiert, horizontal wie vertikal, was Entscheidungsfindungen zuweilen er-
schwert. Das Feld ist nicht einer Entscheidungsebene zuzuordnen – was sich ob
des Kulturföderalismus und der Hoheit des Bundes €uber Telekommunikation viel-
leicht vermuten ließe: Bund und Länder sowie nicht-politische Akteure sind betei-
ligt, vor allem wenn sich die Produktion, Verbreitung und Anwendung von Kom-
munikationsinhalten nicht eindeutig der Telekommunikation oder dem Rundfunk
zurechnen lassen (bspw. Teleshopping oder Auskunftsdienste; vgl. Mai 2005,
830 K. Kamps und F. Marcinkowski

S. 57). Durch die politische, wirtschaftliche und technologische Entwicklung der


letzten drei Jahrzehnte und einem „Strukturwandel“ der „neuen“ Medienpolitik
durch die Konvergenz von Rundfunk- und Netzpolitik (Hachmeister und Anschlag
2013) spielt dabei die inter- sowie transnationale Ebene eine bedeutende Rolle.
Hinzu kommt, dass durch die Innovationsdynamik bei den Kommunikationstechno-
logien ständig neue Wettbewerber, Interessen und Regulierungsprobleme auftreten.
Auf internationaler Ebene ist zunächst die EU, insbesondere die
EU-Kommission, als medienpolitischer Akteur zu nennen, die einen beträchtlichen
Teil der medienpolitischen Entscheidungen prägt – u. a. €uber Fernseh-, Rundfunk-,
E-Commerce, Dienstleistungs- und Teledienste-Richtlinien (vgl. Holtz-Bacha
2006). Ein erstes politisches Zeichen setzte die EU (als seinerzeit Europäische
Gemeinschaft) 1989 mit dem Weißbuch Fernsehen, das sich mit der Chancengleich-
heit f€
ur private Anbieter auf dem europäischen Fernsehmarkt beschäftigte. Das
Datum ist bezeichnend, da im Zuge der wirtschaftlichen Globalisierung in den
1990er-Jahren die Medienpolitik einer Inter- und Transnationalisierung unterworfen
war und Akteure jenseits der klassischen Nationalstaaten in Erscheinung traten, etwa
globale Medienunternehmen. Im Unterschied zu anderen Politikfeldern zeichnet
sich die europäische Medienpolitik von Beginn an nicht durch Harmonisierung der
Rundfunkordnungen der Mitgliedsstaaten aus, sondern durch umfassende Deregu-
lierungsbem€ uhungen (vgl. Meckel 1996, S. 99), weil sie sich auf die wirtschaftliche
Entwicklung konzentrierte. Mit der Fokussierung auf den europäischen Binnen-
markt r€uckte die kulturelle Dimension der Medienpolitik zu Gunsten einer stärkeren
ökonomischen Orientierung in den Hintergrund (vgl. Holtz-Bacha 2006,
S. 252–256).
Christina Holtz-Bacha (2006) hat die Dynamik europäischer Medienpolitik mit
dem Hamsterrad verglichen. Danach gleicht die Medienpolitik der EU dem „Lauf
des Hamsters im Laufrad: Es lässt sich kein Ende finden“ (S. 13). Das liegt vor-
nehmlich daran, dass Vorhaben der europäischen Ebene direkt zu Reaktionen in den
Mitgliedsstaaten f€uhrten, die wiederum in die EU zur€uck gespiegelt werden. Zudem
produzieren technische Innovationen eine eigene Entwicklungsdynamik. Sachlich
beschäftigt sich die EU mit der ganzen Palette medienpolitischer Inhalte: Mit der
Finanzierung des Public Service-Rundfunks, programmlichen Quoten, kartellrecht-
lichen Fragen, der Filmförderung, der Sicherung von Meinungsvielfalt, Werbung,
Jugendschutz, Datenschutz, Netzzugang und mehr (vgl. Holtz-Bacha 2006; Puppis
2007, S. 132–135).
Neben die EU und andere europäische Organisationen wie den Europäischen
Gerichtshof oder die European Broadcasting Union treten mit spezifischen Aufgaben
globale, transnationale Akteure, etwa die UNESCO, die OSZE, der Europarat, die
International Telecommunication Union (ITU) mit ihren „World Summits on the
Informations Society“ oder die World Trade Organization (WTO), die im Gegensatz
zu internationalen Organisationen aus einer Perspektive jenseits der Nationalstaatlich-
keit operieren, also transnational. So regelt der auf Liberalisierung drängende
WTO-Normkomplex GATS den Dienstleistungshandel, worunter auch Rundfunk
und Telekommunikation sowie audiovisuelle Dienste subsumiert werden (Puppis 2007,
S. 165, 2008). Die UNESCO beispielsweise stritt auf der Basis vergleichender Nach-
Medienpolitik in der Vergleichenden Politikwissenschaft 831

richtenforschung in den 1970er-Jahren um eine ‚Neue Weltinformationsordnung‘ – um


Ungleichheiten in der internationalen Berichterstattung zu beseitigen (vgl. Kleinst-
euber 1996). Heute stehen andere Herausforderungen im Fokus inter- und transna-
tionaler Medienpolitik, die sich durch technologische Innovationen und wirtschaftliche
Globalisierung ergeben, insbesondere Fragen der Netz-Regulierung. „Dazu bilden sich
national wie global neuartige Entscheidungsstrukturen heraus, die Vertreter aus Politik,
Wirtschaft und Zivilgesellschaft umfassen und gemeinsam um Konsensfindung rin-
gen.“ (Dreyer 2006, S. 226) Eine wichtige Non-Profit-Organisation dieser Art ist
z. B. die Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN), die als
private Organisation maßgeblich an der technischen Regulierung des Internets beteiligt
ist, unter anderem durch die Domaine-Verwaltung (vgl. Donges und Puppis 2010,
S. 93–95; Puppis 2007, S. 165–168).

4 Zugängen zur vergleichenden Medienpolitik

Bei komparativ angelegten medienpolitischen Analysen lassen sich grob zwei Zugänge
unterscheiden: einer, der in einer Makro-Perspektive Kommunikationsverfassungen
von Ländern vergleicht, einer, der in einer Meso- oder Mikro-Perspektive stark fall-
bezogen wenige Länder und konkrete Forschungsobjekte betrachtet, etwa Regulie-
rungsstrukturen und/oder -handeln in einem spezifischen Mediensektor. Im Folgenden
skizziert eine exemplarische Beschreibung einiger Studien die Variation vergleichender
Anlagen in der medienpolitischen Analyse (vgl. Kleinsteuber 2003, S. 389–395).
Die einflussreichsten Studien auf der Makroebene d€urften die Four Theories of
the Press von Siebert et al. (1956) sein sowie die Folgestudie von Hallin und
Mancini (2004). Sie typologisieren Journalismuskulturen – als Folge medienpoliti-
schen Handelns und manifester Grundsatzentscheidungen. Hallin und Mancini
gehen von vier Variablen aus, die f€ur die Ausgestaltung eines nationalen Medien-
systems prägend sind: 1) Die Struktur des Pressemarktes. 2) Der Grad der Politi-
sierung von Massenmedien. 3) Der Grad der Professionalisierung des Journalismus.
4) Die Einflussnahme durch den Staat (Regulierungsgrad, Grad der Subventionie-
rung). Mit Hilfe dieser vier Kategorien werden drei Mediensystemmodelle unter-
schieden, auf die sich die reale Vielfalt der Medienordnungen in den OECD-Staaten
reduzieren lässt: das „polarisiert-pluralistische“, das „demokratisch-korporatisti-
sche“, das „liberale“ Mediensystem (Hallin und Mancini 2004, S. 69-79). Im pola-
risiert-pluralistischen Modell ist der Einfluss der Politik auf die Medien groß: €uber
Gremien der Rundfunkanbieten, einen hohen Grad an ideologischem Parallelismus
in der Presse oder ein hohes Maß an Subventionierung, Regulierung u. Ä. Der
Professionalisierungsgrad des Journalismus ist geringer. Etwa Spanien, Portugal,
Italien (teils auch Frankreich) werden diesem Modell – mit graduellen Unterschie-
den – zugeordnet. Auch im demokratisch-korporatistischen Modell dominiert Poli-
tik (weniger bei den Printmedien, die dem ökonomischen Sektor zugeschrieben
werden). F€ ur den politischen Einfluss bei den elektronischen Medien gilt meist eine
politics-in-broadcasting-Struktur, in der wichtige gesellschaftliche Gruppen an der
Steuerung der Medien beteiligt sind. Trotz eines Einflusses der Politik, der €uber das
832 K. Kamps und F. Marcinkowski

schlichte Setzen von Rahmenbedingungen hinausgeht, besteht beim Journalismus


ein hoher Professionalisierungsgrad. Diesem Modell zugeordnet werden etwa die
skandinavischen Länder, die Niederlande, Deutschland, Österreich oder die
Schweiz. Im liberalen Modell €uberwiegt die Kommerzialisierung; der politische
Einfluss ist marginal; neben den Printmedien richten sich auch die elektronischen
Medien im Kern nach Marktmechanismen. Bei einem hohen Grad an professionel-
lem Journalismus €uberwiegt politisch der Gedanke der Neutralität. Die USA und
Kanada gelten als Vertreter dieses Typus. Diese Systematik hat ein Reihe auch
Theorie bildende Folgestudien zur vergleichenden Mediensystemforschung ange-
regt (vgl. insbesondere Thomaß 2007; Blum 2014).
Im Kontext der EU findet sich eine Konzentration von medienpolitischen Stu-
dien, die als vergleichende Area Studies die Medienentwicklung in den Mitglieds-
staaten beobachtet (Humphreys 1996). Seit Mitte der 1980er-Jahre hat sich hierzu
eine Gruppe von Wissenschaftlern zur Euromedia Research Group (ERG) verbun-
den, die mittels Cross-National-Research diverse medienpolitische Handlungsfelder
regelmäßig untersucht (vgl. Kleinsteuber 2003, S. 390–391; Meier und Trappel
2007; Trappel et al. 2011). Ein Schwerpunkt dieser Arbeiten war und ist z. B. die
Entwicklung der Fernsehsysteme in der Union. Die ERG interessiert sich dabei nicht
nur f€ur Finanzierungsregimes oder Ordnungspolitik, sondern auch f€ur Folgen der
Medienentwicklung – bis hin zu Medieninhalten. So untersuchten beispielsweise
Siune und Hultén (1998) die Konvergenzthese, ob also in Systemen mit einem
Nebeneinander von Public Service-Television und privaten Anbietern (was in der
EU € uberwiegend der Fall ist) die Informationsqualität insgesamt durch eine größere
werdende Unterhaltungsorientierung sinke. Dabei stand nicht nur diese These im
Mittelpunkt ihrer Metanalyse, sondern auch die Frage, ob bestimmte policies die
Informationsqualität sichern könnten. Auch sie gehen typologisch vor und kommen
letztlich zu dem Schluss, diese Entwicklung m€usste eher €uber eine Divergence
beschrieben werden: „public service channels and commercial rivals emphasize
different content segments“ (Siune und Hultén 1998, S. 30).
Etwas anders gelagert sind Studien, die Formen der Medienaufsicht und Regulie-
rungsstrukturen miteinander vergleichen (vgl. Eberwein et al. 2011; Sousa
et al. 2013). So untersuchte Hoffmann-Riem (1996) die Rundfunkaufsicht und
Zulassung von Anbietern in den USA, Deutschland, Frankreich, Großbritannien,
Kanada und Australien (vgl. auch Kleinsteuber 2003, S. 392). Die Studie geht
zweistufig vor: nationalen Analysen folgt f€ur spezifische Sektoren der Vergleich.
Zwar werden hier Unterschiede zwischen Systemen (privat vs. Public-Service)
durchaus deutlich und wirken sich auf die Regulierungsstrukturen aus. Dennoch
kommt die Arbeit zu dem Schluss, dass es international in der Medienpolitik etwa
Anfang der 1990er-Jahre nachgerade einen Paradigmenwechsel gegeben habe und
sich Rundfunksysteme nunmehr €uber die ökonomische Faktoren legitimierten, nicht

uber ihre kulturelle Funktion. Ähnlich kritisch sieht das eine Arbeit von Jakubowicz
(1998), die sich mit normativen Vorstellungen von Rundfunkregulierung und deren
Einfluss auf den Journalismus in Transformationsstaaten auseinandersetzt. Diese
Arbeit nutzt (u. a.) ein Modell, das Curran (1991) als Gegenpart zu den Four
Theories of the Press entwickelte und Mediensysteme nach ihrer kulturellen,
Medienpolitik in der Vergleichenden Politikwissenschaft 833

politischen und ökonomischen Werteorientierung unterscheidet in: liberal,


marxistisch, kommunistisch und sozial-demokratisch. Hinsichtlich der Transforma-
tionsstaaten schließt Jakubowicz (1998, S. 26–27), der Kollaps normativer Vor-
stellungen dar€uber, was Journalisten leisten sollen, habe während des Zusammen-
bruchs des Kommunismus in Osteuropa dazu gef€uhrt, dass die Medien einer
Informations- und Orientierungsfunktion nicht gerecht wurden.
Ein Beispiel f€ur den großen Aufwand, den vergleichende Medienpolitikfor-
schung betreiben muss, soweit sie sich nicht auf Sekundärdaten st€utzt, ist eine von
der Bertelsmann unterst€utzte Arbeit zu Regulierungsfragen des Internets (Köcher
2010). Die Studie basiert auf einer Repräsentativbefragung von Internet-Nutzern aus
Australien, Deutschland und den USA und ging der Frage nach, wie die Risiken des
Internets (mit einem Fokus auf den Jugendschutz) und die Regulierung von Kon-
trollmöglichkeiten durch die Anwender selbst beurteilt werden. In einem der Be-
fragung angeschlossenen Kompendium (Waltermann und Machill 2000) wird dann
ein Memorandum formuliert, das Selbstregulierungsmechanismen favorisiert.
Diese Studien sollen nur exemplarisch die Forschungszugänge der vergleich-
enden Medienpolitikforschung skizzieren. Der weit größere Teil der medienpoliti-
schen Analysen bleibt nationalstaatlich verhaftet und selten komparativ (vgl. Jarren
1998, S. 620). So €uberwiegen solche Analysen, die spezielle Problemlagen in kon-
kreten Situationen und Systemen betrachten (Vowe 2003). Am weitesten verbreitet
d€urften in der vergleichenden Forschung Studien sein, die sich auf die Kontextva-
riablen von journalistischem Handeln konzentrieren, auf die Regulierung des Rund-
funks, Medienkonzentration, Finanzierungsfragen – und dies meist geographisch auf
westliche Staaten beschränkt oder im Kontext der EU (mit ihren Aufgaben und
Kompetenzen in die Medienpolitik der Staaten hinein) (vgl. Holtz-Bacha 2006).
Daneben hat sich aber mit dem Internet und dem Universum seiner Anwendungen
(kulturell wie ökonomisch) ein Objektbereich ergeben, der die nationalstaatliche
Verhaftung der Medienpolitik in Frage stellt.

5 Netzpolitik als Agenda der vergleichenden


Medienpolitikforschung?

Auch das Netz ist in der medienpolitischen Betrachtung stark an nationalstaatlichen


Regelungen orientiert: zum Jugendschutz, zum Datenschutz, zu Urheber- und Leis-
tungsschutzrecht und mehr – Fragen der politischen „Begleitung“ und Koordinierung
von Medienentwicklungen sind auch im Internet virulent. Allerdings ist vor allem in
den letzten rund zwei Jahrzehnten ein Trend unverkennbar, dass Netzpolitik inter-
bzw. transnationalisiert und mehr und mehr jenseits des Nationalstaates gedacht wird
und werden muss. Dabei verbindet das Netz hochgradig unterschiedliche Regulie-
rungen und Regulierungskulturen (Donges und Puppis 2010, S. 81): „The multi-
plicity of regulatory approaches to the Internet essentially transforms cyberspace into
a series of interconnected jurisdications (. . .)“ (Eko 2008, S. 2438). Strukturell sind
hier drei Schichten der Netzarchitektur zu unterscheiden, die dann auch Schwer-
834 K. Kamps und F. Marcinkowski

punkte komparativer Ansätze bilden könnten (vgl. Donges und Puppis 2010, S. 93):
1) die physische Infrastruktur, 2) die logische Struktur, 3) die Inhalte.
Die physische Infrastruktur (‚physical layer‘) umfasst die Hardware und Distri-
butionsnetze. Hier ergeben sich z. B. Fragen des Netzzuganges: Ob etwa der Staat –
wie in der Schweiz seit 2008 – einen Zugang zu Breitbandnetzen als Grundversor-
gung definiert oder dies (und der Ausbau des Netzes) mit allen Folgen („digital
divide“) dem Wettbewerb €uberlassen wird.
Die logische Struktur (‚code‘) meint beispielsweise Internet-Protokolle wie TCP
oder IP und ihre Koordinierung respektive Verwaltung (z. B. IP-Adressen). Hier haben
sich bereits internationale Kooperationen der Selbst- und Ko-Regulierung ergeben.
Die Schicht der Inhalte (‚content layer’) ist der derzeit vielleicht brisanteste
politische Sektor der Netzpolitik. Hier geht es konkret darum, ob und wenn ja wie
welche illegalen und schädlichen Inhalte verbreitet werden – oder ob nicht das Netz
staatliche Regulierungsmaßnahmen von vorneherein unmöglich macht. Die im
Wettbewerb stehenden Provider sowie Social Networks-Unternehmen spielen in
diesem Kontext eine besondere Rolle (vgl. die Beiträge in Hachmeister und
Anschlag 2013).
Von einer komparativen Netzpolitikforschung kann also derzeit nur in Ansätzen
gesprochen werden. In der Kommunikationswissenschaft ist die vergleichende Ana-
lyse von Struktur-, Aggregat- und Nutzerdaten im “content layer“ weit verbreitet –
explizit medienpolitische Elemente werden dabei weitgehend ignoriert. Während auf
der Systemebene die Frage der globalen Netzarchitektur und ihre Verwaltung eine
Rolle spielt (vgl. Puppis 2007), so sind die policies in der Netzregulation und die
Einbindung von Wettbewerbern Gegenstand komparativer Netzpolitik (z. B. Eko
2001, 2008). Interessanterweise ergibt sich mit der Netzpolitik nun auch auf der
Eben der politics ein Sektor vergleichender Forschung: Die (relativen) Erfolge von
z. B. den Piraten in Deutschland (ähnlich eben auch andernorts) haben gezeigt,
welche auch parteipolitische Brisanz in sozialen, kulturellen oder ökonomischen
Gestaltungszielen im Netz liegt. Insofern könnte hier €uber System- und Regulations-
vergleiche hinaus das Feld selbst zum Objekt komparativer Studien machen.

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Technologiepolitik in der Vergleichenden
Politikwissenschaft

Roland Czada

Zusammenfassung
Der internationale Vergleich von Technologiepolitik zeigt signifikante Unter-
schiede in der Schwerpunktbildung sowie der Höhe und Struktur der Ausgaben
f€
ur Forschung und Entwicklung. Sie sind von hochgradiger Pfadabhängigkeit
gekennzeichnet. Außerdem trägt nur eine Minderheit hoch entwickelter Industrie-
staaten zur Mehrzahl technologischer Innovationen bei. Im Vergleich dieser
Länder erweisen sich historisch geronnene Strukturmerkmale der Wirtschafts-
organisation und der staatlichen Technologieadministration sowie die Relation
von staatlichen Subventionen zu privatwirtschaftlichen Finanzierungsanteilen als
maßgebliche Determinanten der Technologiepolitik und ihrer Erfolgsbilanz.

Schlüsselwörter
Technologiepolitik • Forschung • Entwicklung • Deutschland • USA • Europä-
ische Union • Politische Ökonomie

Technologiepolitik umfasst die Förderung von Forschung und Entwicklung, Tech-


nikfolgenabschätzung, Technikregulierung und Technikanwendung in Wirtschaft,
Medizin, Militär, Verkehr, Landwirtschaft, Telekommunikation bis in weite Berei-
che der privaten Lebensf€uhrung. Politik, Regierung und Verwaltung nutzen neue
Technologien und sie tragen in vielfältiger Weise durch Technologiepolitik zu deren
Gestaltung und Entwicklung bei. Innerstaatlich sind die Bereiche Militärtechnolo-
gie, Verwaltung, Informationsverarbeitung und nachrichtendienstliche Aufklärung
besonders erwähnenswert.

R. Czada (*)
Professor f€ur Staat und Innenpolitik, Institut f€
ur Sozialwissenschaften, Universität Osnabr€
uck,
Osnabr€uck, Deutschland
E-Mail: roland.czada@uni-osnabrueck.de

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 837


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_62
838 R. Czada

1 Stellenwert und Probleme der Technologiepolitik

Technische Innovationen sind zu einer primären Quelle ökonomischer Entwicklung,


sozialen Wandels und politischer Macht geworden. Mehr denn je prägen sie Kultur
und Lebensweise, so wie es die Technokratiekritik der 1960er- und 70er-Jahre in
zunehmendem Maß voraussah (vgl. Habermas 1968; Ellul 1964; Anders 1956,
1980; Wellmer 1969; Czada 2003). Als Technokratie beschreibt G€unther Anders
(1980, S. 9) „nicht die Herrschaft von Technokraten (so als wäre es eine Gruppe von
Spezialisten, die heute die Politik dominierten), sondern die Tatsache, daß die Welt,
in der wir heute leben und die €uber uns befindet, eine technische ist – was so weit
geht, daß wir nicht mehr sagen d€urfen, in unserer geschichtlichen Situation gebe es
u. a. auch Technik, vielmehr sagen m€ussen: in dem »Technik« genannten Weltzu-
stand spiele sich nun die Geschichte ab, bzw. die Technik ist nun zum Subjekt der
Geschichte geworden, mit der wir nur noch »mitgeschichtlich« sind.“ Angesichts
der so skizzierten historischen und gesellschaftlichen Bedeutung von Technik stellen
sich Fragen nach dem Stellenwert und Gestaltungsoptionen von Technologiepolitik
sowie daran ankn€upfend, warum sie in der vergleichenden Politikwissenschaft ein
nur marginal behandeltes Thema darstellt.
Im Unterschied zu den meisten Politikfeldern ist das Aufgaben- und Wirkungs-
spektrum der Technologiepolitik nicht klar umrissen (Bröchler 2013). Ihre pro-
grammatischen Inhalte und Anwendungsbereiche sind disparat und hochgradig
spezialisiert. Die Bewertung von Nutzen und Risiken neuer Technologien beruht
zumeist auf unsicheren Annahmen. Ziele der Technologiepolitik zu bestimmen und
den Erfolg von Forschung und Entwicklung einzuschätzen, erfordert ein hohes Maß
fachlicher Expertise und Politikberatung. Daraus resultiert ein in diesem Politikfeld
besonders ausgeprägtes Verständigungs- und Vermittlungsproblem. Es besteht
einmal zwischen politisch-administrativen Instanzen und den unmittelbar mit For-
schung und Entwicklung befassten Institutionen und Personen, zum anderen zwi-
schen diesen und einer breiten, von Laien dominierten Öffentlichkeit. Damit stellt
sich ein f€ur dieses Politikfeld besonders ausgeprägtes Kommunikations-, Ver-
trauens- und Partizipationsproblem. Technikpioniere und Erfinderpersönlichkeiten
– von Nobelpreisträgern und genialen Konstrukteuren €uber Garagent€uftler bis zu
den Helden des Computer- und Internetzeitalters – sind in den seltensten Fällen
institutionell formbare, politischer Steuerung zugängliche Akteure. Deren Hand-
lungsspielraum in Verfolgung kreativer Ideen zu erhalten und zu erweitern ist ein
urspr€ungliches Anliegen von Technologiepolitik. Es verlangt einen Vertrauensvor-
schuss der Politik, unter anderem in Form minimaler b€urokratischer Einschrän-
kung.
Dem gegen€ uber steht der Ruf einer technikkritischen Öffentlichkeit nach Regu-
lierung. Entsprechend hat sich die politische Befassung mit Technikrisiken von der
Ebene der Anwendung auf die Regulierung von Forschung und Entwicklung aus-
geweitet (Bröchler et al. 1999). Damit sind etwa im Bereich von Bio- und Medizin-
technologien neue Gremien entstanden, die im Dialog von Experten und Betroffenen
der Erneuerung eines schwindenden Institutionenvertrauens dienen und generell
Technologiepolitik in der Vergleichenden Politikwissenschaft 839

Bewertungskompetenz erzeugen sollen. Letztlich unterliegt die Technologiepolitik


neben widerspr€ uchlichen sozialen und ökonomischen Erwartungen, Interessen und
Kräften auch aufgabenspezifischen sachlichen Herausforderungen, die im interna-
tionalen Vergleich zu unterschiedlichen Problemlösungen beziehungsweise Mustern
sektoraler Governance gef€uhrt haben.

1.1 Verhältnis zu benachbarten Politikfeldern

Technik als Gegenstand staatlicher Politik f€uhrt im gesellschaftlichen Diskurs


ebenso wie in der Wissenschaft ein oft hinter anderen Politikfeldern verborgenes
Schattendasein. Nur wenn bestimmte Technologien wie die Atomforschung auf
anhaltende und breite Ablehnung stoßen, wenn sensationelle Erfindungen gemacht
werden oder Technikversagen, Störfälle und Katastrophen große Aufmerksamkeit
erlangen, tritt Technikpolitik – nicht selten verzerrt und in skandalisierter Form – ins
Rampenlicht einer breiten Öffentlichkeit. Und selbst dann wird sie zumeist nicht als
eigenständiges Politikfeld wahrgenommen, sondern als Teilaspekt der Umweltpoli-
tik, Gesundheitspolitik, Energiepolitik, Klimapolitik, Verteidigungspolitik, Agrar-
politik, je nachdem worauf sich Innovationen beziehen und wo Technik
eingesetzt wird.
Die sozialwissenschaftliche Technikforschung argumentiert grob unterteilt tech-
nikdeterministisch, wenn sie Technik als autonome und erstrangige historische Kraft
begreift, oder kulturalistisch, wenn sie primär auf soziale und kulturelle Bedingun-
gen der Entwicklung und Nutzung von Technik abhebt. Sie bewegt sich dabei in
einem Spannungsfeld zwischen Fortschrittshoffnung und Technikskepsis. Begriffe
wie „Steinzeit“, „Technische Zivilisation“, „Bronzezeitalter“, „Maschinenzeitalter“,
„Atomzeitalter“, Raumzeitalter“, „Technischer Staat“, „Dritte technologische Revo-
lution“, „Digitales Zeitalter“, „Wissensgesellschaft“ oder „Informationsgesellschaft“
zeigen, dass Technik und Technikbeherrschung mehr als jeder andere historische
Bezug das Denken in Epoche prägt. Mit jeder grundlegend neuen Technik werden
Potentiale der Naturbeherrschung und deren historische Triebkraft sichtbar. Dies gilt
in gesteigerter Form f€ur die technische Zivilisation der Neuzeit.
Die Gewaltaus€ubung und Gewaltkontrolle politischer Gemeinwesen waren zu
allen Zeiten technikaffin und daher auch Gegenstand von Technikpolitik. Ein ge-
meinsamer Nenner jeder Form von Technologiepolitik und Technikanwendung ist
das ihnen eigene Moment der Naturbeherrschung einschließlich ihrer Folgen f€ur
Arbeit und Wohlstand einerseits und der Risiken f€ur Natur und Gesundheit anderer-
seits. Vor diesem Hintergrund wird Technik zu einem Querschnittsthema, das zahl-
reiche politisch-administrative Ressorts und akademische Disziplinen einschließt.
Es reicht €
uber die Naturwissenschaften weit hinaus und umfasst die Philosophie und
Soziologie, den Zusammenhang von Arbeit und Technik, die praktische Ethik und
Theologie sowie die Wirtschaftswissenschaften, insbesondere die ökonomische und
inzwischen auch ökologische Innovations- und Wachstumsforschung.
840 R. Czada

1.2 Die dritte industrielle Revolution

Auf der Basis einer von Hilbert und López (2011) vorgelegten Auszählung der
Kapazitätsentwicklung gängiger Medientechnologien zur Übertragung und Aufbe-
wahrung von Bild, Film, Ton und Text wird angenommen, dass seit 2002 weltweit
mehr Informationen digital verf€ugbar sind als im Analogformat. Das Datum markiert
den Übergang vom Gutenbergzeitalter in eine Zukunft digitaler Medien und Kommu-
nikationsformen. Der Begriff einer von elektronischer Datenverarbeitung bestimmten
Dritten Technologischen Revolution war bereits Ende der 1980er-Jahre geprägt wor-
den. Daniel Bell (1989: S. 164 f.) beschreibt sie als eine auf die Mechanisierung,
Elektrifizierung und Chemisierung folgende industrielle Entwicklungsphase, in der
Elektronik, Miniaturisierung, Digitalisierung, Computer und Softwareprodukte die
Arbeits- und Lebensweisen umwälzen und dabei eine „Informationsgesellschaft“
hervorbringen. Bell sah voraus, dass Information als immaterielles Gut keine normale
Handelsware darstellt. Da sie auch nach ihrer Weitergabe verf€ugbar und beliebig
reproduzierbar bleibt, wirft sie eigentums- und handelsrechtliche Fragen auf. Infor-
mation besitzt Merkmale eines öffentlichen Gutes und Tendenzen zur Monopolisie-
rung, die mit gängigen Eigentumsverhältnissen und Marktvorstellungen nicht kompa-
tibel sind und daher Probleme politischer Regulierung aufwerfen (Eimer 2007; Haunss
2013). Was die fr€uhe Debatte zur Informationsgesellschaft noch nicht erahnte, ist die
mit der Verbreitung von digitalen Netztechnologien einhergehende Möglichkeit einer
ständigen Kontrolle der Nutzung und der Nutzer von Information.
Anders als in dem auf technische Artefakte und deren Herstellung gerichtete Tech-
nikdiskurs der fr€uhen Nachkriegsjahrzehnte r€uckten spätestens mit der Jahrtausend-
wende immaterielle G€uter, Wissen und der Umgang mit Information in den Vorder-
grund.1 Die erfolgreichsten und teuersten Unternehmen der Welt besitzen keine Fabriken
mehr. Der Wert von Apple, Google, Microsoft, Facebook besteht €uberwiegend aus
Software, Konstruktionsplänen, Patenten einschließlich der Organisationsressourcen
und Governance-Institutionen, die diese immateriellen G€uter eigentumsrechtlich absi-
chern. Je mehr Wissenskapital, Universitäten, Hochschulabsolventen, Patente und
Unternehmen ohne Fabrikation ( fabless companies) ein Land besitzt und je mehr es
diese zu sch€ utzen weiß, eine umso größere Technikkompetenz kann es sich nun
zuschreiben.2 Die Software- und Halbleiterindustrie entwickelte sich so im Verein mit
Informations- und Kommunikationstechnologien zum R€uckgrat aller Industriebranchen.
Nahezu jedes intelligente Produkt basiert inzwischen auf technologischen Grund-
fertigkeiten und Netzg€utern, die in der Form von Wissenskapital auf wenige, hoch
entwickelte Industriestaaten konzentriert sind. In ihnen sind die institutionelle und

1
Dies wird auch in der Außenhandelspolitik erkennbar. Freihandelskonflikte, wie sie im Rahmen
der Doha-Runde, der TRIPS-Vereinbarung (Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights)
oder der TITIP-Verhandlungen (Transatlantic Trade and Investment Partnership) zutage traten,
stehen zunehmend im Zusammenhang mit geistigen Eigentumsrechten insbesondere im Bereich
von Riskotechnologien, und Arzneimittelpatenten.
2
Die OECD verwendet eben diese Indikatoren zur Erfolgsmessung nationaler Innovationssysteme
(OECD 2015).
Technologiepolitik in der Vergleichenden Politikwissenschaft 841

Deutschland Frankreich
31.962 17.541

UK - 13.744
Japan - 34.679
Italien - 11.085

Spanien - 8.355
Kanada - 7.736
Niederlande - 5785
Australien - 4.501

USA - 132.477

Abb. 1 Zehn OECD-Länder mit den höchsten Staatsausgaben f€


ur Forschung und Entwicklung
(Mio. US$-PPT – 2013). Quelle: OECD (http://stats.oecd.org/Index.aspx?DataSetCode=
GBAORD_NABS2007. Zugegriffen am 01.05.2015

konzeptionelle Rahmung ebenso wie die inhaltliche Spezialisierung der Technologie-


politik höchst unterschiedlich. Dies betrifft das Verhältnis von militärischer zu ziviler
Forschung und Entwicklung, Merkmale der Finanzierung und Infrastruktur (öffentlich
oder privatwirtschaftlich, regional, national, supra- oder transnational), Policy-
Instrumente (Programme, Subventionen, Steuerverg€unstigungen etc.) und die Setzung
von Schwerpunkten wie zum Beispiel Luft- und Raumfahrt, Halbleiterentwicklung,
Information und Kommunikation, Umwelt- und Klimaschutz, Biotechnologie, Ener-
gietechnik, Medizintechnik und eine Reihe weiterer Forschungs- und Entwicklungs-
felder. Im Wesentlichen können nur die in Abb. 1 genannten OECD-Länder im inter-
nationalen Technologiewettbewerb mithalten. Hinzu kommen China und Russland
sowie einige kleinere Staaten, die sich durch besonders hohe öffentliche und private
Ausgabenanteile f€ur Forschung und Entwicklung (Abb. 2) oder besondere technolo-
giepolitische Schwerpunktsetzungen (Abb. 4) auszeichnen. Dies sind Belgien, Däne-
mark, Finnland, Israel, Korea, Neuseeland, Österreich, Polen und die Schweiz. Unter
den weniger entwickelten Industriestaaten finden sich effektive politisch-
administrative Steuerungsansätze und Leistungen der Technologiepolitik in Indien,
S€udafrika und Brasilien (Holtmannspötter et al. 2006; National Research Council
2010). Dar€ uber hinaus sind Technologieförderung und Industrieforschung auch in
vielen kleinen Ländern anzutreffen (Abb. 3 und 4). Sie tragen allerdings kaum zur
weltweiten Wissensproduktion gemessen am Anteil triadischer Patente im Hochtech-
nologiebereich bei.3 Daraus folgt eine Besonderheit f€ur die vergleichende Politikfor-
schung: Die meisten Staaten sind technologiepolitisch, insbesondere f€ur die
Hochtechnologieentwicklung irrelevant und geraten daher nur unter bestimmten Vo-
raussetzungen – etwa als Experimentierfeld, als Lieferant von Rohstoffen, Zulieferer

3
Der Begriff ‚Triadische Patentfamilie‘ bezieht sich auf den sowohl beim Europäischen Patentamt,
dem US Trademark and Patent Office und dem Japanischen Patentamt f€ ur dieselbe Erfindung
beantragten und gewährten Patentschutz.
842 R. Czada

500
USA
450

400

350 EU (28)
VR China
Mrd. USD (PPP)

300

250

200

150

100 Deutschland
Südkorea
Frankreich
UK

Abb. 2 Entwicklung der Gesamtausgaben f€ ur Forschung und Entwicklung (in Mrd. US$–PPT).
Quelle: OECD (http://stats.oecd.org/Index.aspx?DataSetCode=MSTI_PUB. Zugegriffen am
22.02.2016). Grafik: Czada

f€ur fabriklose Technologieunternehmen und Quellen von Humankapital – in das


Blickfeld der vergleichenden Technologiepolitikforschung.

2 Technologiepolitik im quantitativen Ländervergleich

Der Vergleich der steuerfinanzierten Staatsausgaben f€ur Forschung und Entwick-


lung in den zehn technologisch f€uhrenden Industrienationen offenbart einen Anteil
der USA von nahezu 50 Prozent (Abb. 1). Werden die privatwirtschaftlich finanzier-
ten Ausgaben f€ ur Forschung und Entwicklung einbezogen, ist der Anteil der USA
aufgrund ihrer großen und dominanten Technologiefirmen noch höher. Dies versetzt
staatliche Forschungseinrichtungen und Privatunternehmen in die Lage, sich nahezu
jede global verf€ugbare, das heißt vor allem frei handelbare technologische Innova-
tion bereits in einem Fr€uhstadium anzueignen.4

4
Der Einkauf von Technologien setzt vorhandene Kapazitäten zu deren Weiterentwicklung, einem
freien Markt f€ur Unternehmen und Patente sowie die Publikation technologierelevanter For-
schungsergebnisse voraus. Tatsächlich betreiben viele Staaten ein systematisches globales Moni-
toring der Forschungs- und Technologieentwicklung, teils in offener Form, teils im Rahmen ver-
deckter, nachrichtendienstlicher Beobachtung (vgl. Everett 2013; Hannas et al. 2013; George 2014).
Technologiepolitik in der Vergleichenden Politikwissenschaft 843

0 1 2 3 4 5

Israel 4.25
Korea 4.03
Finnland 3.43
Japan 3.35
Dänemark 3.02
Schweiz 2.96
Deutschland 2.88
Österreich 2.81
USA 2.81
Slovenien 2.58
Frankreich 2.23
Estland 2.16
Singapur 2.02
Niederlande 1.97
VR China 1.95
Tschechien 1.79
Kanada 1.71
UK 1.63
Irland 1.58
Portugal 1.37 Regierung
Ungarn 1.27
Industrie
Spanien 1.27
Italien 1.26 Ohne Zuordnung
Russland 1.13
Türkei 0.92 Ausland
Polen 0.89
Slovakei 0.81
Südafrika 0.76
Griechenland 0.69
Argentinien 0.58
Rumänien 0.48
Chile 0.36
0 1 2 3 4 5

Abb. 3 Umfang und Finanzierungsquellen von Forschung und Entwicklungsausgaben (Prozentan-


teile am BIP 2012). Quelle: OECD: Dataset: MSTI Main Science and Technology Indicators. http://
stats.oecd.org/Index.aspx?DataSetCode=MSTI_PUB. Zugegriffen am 22.02.2016. Grafik: Czada

Nach den USA erf€ullen –mit deutlichem Abstand – nur noch Japan und einige
europäische Länder, insbesondere Deutschland, Frankreich und Großbritannien, die
institutionellen und materiellen Voraussetzungen zur Behauptung vorderer Rang-
plätze im globalen Technologiewettlauf. Außerhalb der OECD Welt sind in dieser
Größenordnung nur Russland und China erwähnenswert. Allerdings berichten beide
Länder nur Daten zu den jährlichen Gesamtausgaben f€ur Forschung- und Entwick-
lung. Sie sind insofern mit den in Abb. 1 enthaltenen Staatsausgaben nicht verglei-
chbar. Russland beziffert seine Gesamtaufwendungen auf 41 Mrd., die VR-China
auf 336 Mrd. US-Dollar (jeweils kaufkraftbereinigt 2013. OECD 2015). China hat
Deutschland in dieser Kategorie bereits 2003 €uberholt. Das Land ist in kurzer Zeit
auf den zweiten Platz der großen Forschungsnationen vorger€uckt und im Begriff die
Europäische Union als nach Nordamerika zweitstärkste Forschungsregion zu
€uberholen (Abb. 2). Bei den Schaubildern Abb. 1 bis 4 ist zu beachten, dass es sich
844 R. Czada

Dänemark 2.01 0.59 1.65

Kanada 1.55 1.14 1.12

Australien 1.44 0.79 1.14

Spanien 1.49 0.62 1.20

Japan 0.70 1.22 1.38

Polen 1.22 0.67 1.35

Neuseeland 1.74 0.60 0.90

Irland 1.38 1.05 0.79

Israel 1.34 1.13 0.71

USA 1.39 1.04 0.74

Niederlande 1.20 1.00 0.97

Belgien 1.71 0.59 0.79

Österreich 0.95 0.69 1.30

Frankreich 1.01 0.82 1.08

Norwegen 0.65 0.74 1.48

Korea 0.68 1.25 0.90

Großbritannien 1.04 0.90 0.84


Bio- und
Russ. Föderaon 1.02 0.65 1.08 Nanotechnologien
Deutschland 0.67 0.64 1.34

Finnland 0.59 1.35 0.70


Informaon und
Kommunikaon
Tschech. Rep. 0.80 0.50 1.27

Schweiz 1.24 0.59 0.71 Klima und Umwelt


Schweden 0.60 1.09 0.85

Brasilien 1.03 0.35 1.02

Indien 1.00 0.68 0.70

0 1 2 3 4 5

Abb. 4 Technologiepolitische Schwerpunkte in ausgewählten Zukunftsindustrien (Prozent des


BIP von 2007 – 2009). Quelle: OECD (2012), Revealed technology advantage in selected fields,
in OECD Science, Technology and Industry Outlook 2012, OECD Publishing, Paris. DOI: http://
dx.doi.org/▶ 10.1787/sti_outlook-2012-table92-en. Grafik: Czada.

einmal um absolute öffentliche Ausgaben (Staatsausgaben) handelt (Abb. 1), zum


anderen um absolute Gesamtausgaben aus öffentlichen und privatwirtschaftlichen
inländischen und ausländischen Finanzierungsquellen (Abb. 2). Davon zu unter-
scheiden sind relative Größenangaben, Ausgabenanteile nach Finanzierungsquellen
und Technologieschwerpunkten an der gesamten Wirtschaftsleistung (Abb. 3
und 4).
Die absoluten Ausgaben f€ur Forschung und Entwicklung täuschen dar€uber hin-
weg, dass sich auch kleine Länder als spezialisierte Hochtechnologiestandorte
profilieren können. Gemessen am Prozentanteil der Gesamtausgaben f€ur Forschung
und Entwicklung am Bruttoinlandsprodukt (BIP) zeigen Israel und Korea die mit
Abstand höchsten technologiepolitischen Ausgabenanteile am BIP gefolgt von
Finnland und Japan (Abb. 3). Israel ist zugleich das Land in dem mehr als die Hälfte
der Forschungsausgaben von ausländischen Quellen stammt, wobei der Staatsanteil
Technologiepolitik in der Vergleichenden Politikwissenschaft 845

vergleichsweise klein bleibt. Die höchsten staatlichen Finanzierungsanteile finden


sich in Korea, Österreich und Russland (Abb. 3 und 4).
Während sich größere Industrieländer thematisch breit aufstellen können, geht
die Spezialisierungsstruktur der meisten kleineren Staaten auf industriepolitische
Weichenstellungen und ausgesuchte Förderprogramme zur€uck. So finden sich die
Schwerpunkte Bio-. Nano- und Umwelttechnologie in Dänemark, Kanada, Austra-
lien und Spanien. Japan lässt eine Konzentration auf Information- und Kommunika-
tions- sowie Umwelttechnologien erkennen, während Israel und Irland auf die
Bio- und Nanotechnologie im Verein mit Informations- und Kommunikationstech-
nologien spezialisiert sind. Abb. 4 zeigt eine internationale Übersicht auf der Basis
von Patentanmeldungen in den genannten Bereichen. Deutschland rangiert in den
von der OECD als „Zukunftstechnologien“ ausgewiesenen Bereichen nur bei den
Umwelttechnologien und im Klimaschutz in der Spitzengruppe.
Trends in der Erteilung von Patenten, die in Tab. 4 erfasst sind, bieten eine
detailreiche Quelle zur Bestimmung der Innovationkraft und Technologieentwick-
lung in einem Land. So besteht eine starke Korrelation zwischen der Anzahl
„triadischer Patentfamilien“ und insbesondere den Aufwendungen der Industrie f€ur
Forschung und Entwicklung. Je mehr Mittel ein Land daf€ur einsetzt, desto besser ist
seine Patentbilanz (PWC 2010, S. 17). Patente sind Indikatoren von Technolo-
gief€uhrerschaft. Sie generieren zugleich geistige Eigentumsrechte und daraus resul-
tierende Einkommen. Voraussetzung ist eine Technologiepolitik, die nicht nur zu
Innovationen, sondern auch zur Umsetzung von Wissen in Produkte, Anwendungen
und Projekte beiträgt. In der Technologiepolitik gibt es drei typische Governance-
Muster, die alternativ oder in hybrider Form auftreten:

• Hohe Steuerungskapazität staatlicher Technologiepolitik (Frankreich)


• Starke Selbstorganisations- und Vernetzungspotentiale der Wirtschaft (Deutsch-
land)
• Förderung und Ansiedlung einer autonomen, privatwirtschaftlich finanzierten
Industrieforschung (Israel).

Wie einzelne Länder in diesem Merkmalsraum zu verorten sind, soll zunächst in


historischer Perspektive und daraufhin systematisch erörtert werden.

3 Strukturmuster und Bestimmungsgründe der


Technologiepolitik

Die weitaus meisten Studien zur Technologiepolitik beinhalten detaillierte histori-


sche Fallstudien, etwa zur Kernenergie, Luft- und Raumfahrt, Halbleiterförderung
etc. Daneben finden sich zahlreiche historische Analysen zum Zusammenhang von
Technologie- und Zivilisationsentwicklung. Seit jeher haben sich technologische
Neuerungen zum Beispiel agrarwirtschaftlicher und militärischer Art weiträumig
verbreitet. Der grenz€uberschreitende Transfer von Technologie und Technologie-
politik hält bis heute an, stößt aber mit Beginn der Industrialisierung auf spezielle
846 R. Czada

H€urden. Der im Bereich der Hochtechnologienentwicklung anfallende Bedarf an


Anlagen- und Wissenskapital kann zwischenzeitlich nur noch von wenigen Ländern
und internationalen Forschungsverb€unden erbracht werden. Internationale Koopera-
tionsprojekte f€
uhren indes nicht zur Konvergenz nationaler Innovationssysteme
(Dosi 1982; Werle 2005) und institutioneller Governanceformen, wie im Folgenden
gezeigt wird (Bora et al. 2010).

3.1 Die historische Dimension

Die Frage nach den sozialen, kulturellen und politischen Voraussetzungen von
technischen Innovationen ist immer auch die Frage, warum sie an bestimmten Orten
und zu bestimmten Zeiten gemacht wurden und in welchen wechselseitigen Zusam-
menhängen sie zu sehen sind. Trotz aller Kontroversen – etwa dar€uber, inwieweit
fr€uhe technische Fortschritte Europas in kultureller Abgeschlossenheit oder im
Austausch mit den Zivilisationen des Orients verlaufen sind (Yazdani 2014) –
stimmen neuere Forschungsbeiträge darin €uberein, dass Kultur, Politik und das
Rechtswesen wesentlichen Einfl€usse auf die Entwicklung und Anwendung von
Technik aus€ ubten, und zugleich von diesen beeinflusst wurden (Yazdani 2014;
Landes 1998).
Der Zusammenhang von Technologie und Politik findet sich in Gestalt der
Förderung und Auswirkungen von Militärtechnik in allen politischen Gemeinwesen.
Ein Beispiel ist die Einf€uhrung der Hoplitenr€ustung, die im griechischen Altertum
zur Institutionalisierung von Wahlverfahren und damit zum Durchbruch der antiken
Demokratie f€ uhrte (Cartledge 1977; Salmon 1977; Bryant 1990). Das Pilum (Wurf-
spieß) und seine technologische Verfeinerung sind vielfach als Voraussetzung der
„Weltherrschaft“ des antiken Rom beschrieben worden (Campbell 2002).
Technologiepolitik erlangte erst mit der Industrialisierung einen neuen, insbeson-
dere ökonomischen und beschäftigungspolitischen Stellenwert. Ihre Missionsorien-
tierung zusammen mit Aufbau von Großforschungseinrichtungen begann im und
nach dem zweiten Weltkrieg. Zahlreiche technologische Durchbr€uche – die Fern-
sehtechnik, die Radarortung, Luftfahrttechnologien wie der D€usenantrieb, ein erster
Vorstoß in den Weltraum, neue Stahlsorten, die Kernspaltung und die Atombombe,
Kernreaktoren, die bald nach Kriegsende f€ur U-Bootantriebe und Kraftwerke ver-
f€
ugbar wurden, wirksame Antibiotika und die Verbreitung neuer Plastikwerkstoffe
gehen auf Entwicklungen der Jahre zwischen 1930 und 1945 zur€uck. In den meisten
Fällen standen massive staatliche Eingriffe und Fördermaßnahmen dahinter, die
nicht nur das Kriegsgeschehen beeinflussten, sondern dar€uber hinaus die industrielle
Nachkriegsentwicklung entscheidend prägen sollten.
Nach dem Zweiten Weltkrieg setzt sich die zu Kriegszeiten eingeschlagene
„Missionsorientierung“ fort, die sich auf wenige, f€ur besonders relevant gehaltene
und prestigeträchtige Großtechnologien konzentrierte (vgl. Tab. 1). In Westeuropa
entwickelten sich zu der Zeit grenz€uberschreitende Technologieprojekte zuerst in der
Kernenergieforschung gefolgt von der Luft- und Raumfahrtkooperation. Der Erhalt
der internationalen Wettbewerbsfähigkeit bestimmt ab Mitte der 1970 Jahre nicht
Tab. 1 Typen und Ansätze der Forschungs- und Technologiepolitik
Paradigma der
Schwerpunktsetzung Inhaltliche Ausrichtung Legitimationsmuster Institutionelle Rahmung
„Klassische“ „Großtechnologien“: R€ ustung, Luft- und Produktion von „öffentlichen“ und Zentrale Definition von Schwerpunkten,
Missionsorientierung Raumfahrt, Energie, utern.
„meritorischen“ G€ Schaffung von thematisch
Verkehrsinfrastrukturen, spezialisierten öffentlichen
Gesundheitstechnologien, u. a. Großforschungseinrichtungen.
Industriepolitische Informations- und Unterst€utzung der industriel len Versuch der besseren Planung,
Förderung von Kommunikationstechnologien, Wettbewerbsfähigkeit, behauptetes Technologievorschau,
Schl€
usseltechnologien Biotechnologie, Materialtechnologien, Marktversagen auf Grund von Technologiebewertung.
Umwelttechnologien, dynamischen und statischen Zunehmende Festschreibung von
Nanotechnologien, etc. Skaleneffekten (Größenvorteilen), Schwerpunkten in „Nationalen
große Spill-overs insbesondere von Technologieschwerpunktprogrammen“.
„generischen“ Technologien.
Systemische Ansätze Starke Betonung von funktionalen Verhinderung von „Systemversagen“ in Ausweitung der Zahl der Akteure
Schwerpunkten (Gr€ undungsförderung, der Interaktion unterschiedlicher (Finanzmarkt-Akteure, Normungs- und
Wissenschafts-Wirtschafts- Akteure und gesellschaftlicher Regulierungsinstitutionen,
kooperationen, Regulierung etc.), Subsysteme. Ausbildungseinrichtungen, etc.),
Transformation von thematischen zunehmende Ausdifferenzierung
Technologiepolitik in der Vergleichenden Politikwissenschaft

Schwerpunkten in systemischen Kontext zwischen forschungs- und technologie


(z. B. Cluster-Politik). politischen und fördernden/
abwickelnden Institutionen.
„Neue“ Nachhaltige Entwicklung, Orientierung an gesellschaftlichen Einbeziehung von gesellschaftlichen
Missionsorientierung Informationsgesellschaft, Klimawandel, Problemlagen, versuchte Verbindung Gruppen, Horizontalen Koordination
Ökosysteme, Sicherheit, und Anwendung von systemischen und Ausrichtung von Politikfeldern auf
demographischer Wandel und alternde Ansätzen auf die Produktion. Schwerpunktziele, Erhöhung der Zahl
Gesellschaft, Verkehrssysteme und und Vernetzung der Akteure.
Mobilität. Ethikkommissionen.
Quelle: Gassler/Polt/Rammert (2006) mit eigenen Ergänzungen
847
848 R. Czada

nur die deutsche Forschungs- und Technologieförderung. Gleichzeitig beginnt eine


weltweit gef€ uhrte Debatte €uber zukunftsrelevante „Schl€usseltechnologien“. So setz-
te bereits in den 1970er-Jahren ein Technologiewettlauf um Fortschritte in der
Halbleitertechnologie ein, den zunächst Japan, dann die USA f€ur sich entscheiden
konnten. Andere „Zukunftstechnologien“ folgten. Zu nennen wären Informations-
und Kommunikationstechnologien, Biotechnologie, Materialtechnologien, Umwelt-
technologien, Nanotechnologien.
Von der „klassischen Missionsorientierung“ und der Konzentration auf
„Schl€usseltechnologien“ können typologisch die „systemische“, auf gesellschaft-
liche Funktionsbereiche und ihre Vernetzung konzentrierte Technologiepolitik sowie
eine „neue Missionsorientierung“ unterschieden werden (Tab. 1). Erstere betont die
sektorale Eingriffstiefe neuer Technologien, ihre transsektorale Vernetzung, die Auf-
nahmebereitschaft und Anpassungsfähigkeit sowie die Förderung spezifischer
Transformationsverläufe in Wirtschaft und Gesellschaft (vgl. Dolata 2006). Die neue
Missionsorientierung orientiert sich demgegen€uber an drängenden gesellschaftli-
chen Problemlagen und am Ziel nachhaltiger Entwicklung als Querschnittsaufgabe.
Im Vordergrund stehen Oberthemen wie Klimaschutz, Energietechnologien, Infor-
mation und Kommunikation, Demographie (Tab. 1). Damit bekommen Fragen der
Folgenverantwortung, sowie nicht-technische, ethische Entscheidungsgr€unde einen
hohen Stellenwert; in Deutschland erkennbar an Einfl€ussen des Nationalen Ethi-
krats, des Rates f€ur Nachhaltige Entwicklung, des Nationalen Innovationsrates oder
der „Ethik-Kommission Sichere Energieversorgung“. Letztere traf 2011 die Vorent-
scheidung zum deutschen Atomausstieg und zur Energiewende. Die herkömmliche
energiepolitische Interessenvermittlung und Politikberatung wurde hier durch ein
öffentlichkeitswirksames Forum ersetzt, in dem neben Philosophen, Soziologen und
weiteren nicht als Technikexperten ausgewiesenen Mitgliedern auch ein Bischof und
ein Kardinal vertreten waren. Während zuvor Fragen der technischen Machbarkeit
und Betriebssicherheit von Anlagen im Vordergrund standen, werden nun weit-
läufige ökologische und gesellschaftliche Wirkungen und Nebenwirkungen von
Risikotechnologien zur maßgeblichen politischen Entscheidungsgrundlage.
Die hier kurz skizzierten historischen Aspekte der j€ungsten Technologiepolitik-
entwicklung lassen sich zeitversetzt und in gradueller Abstufung nicht nur in
Deutschland, sondern auch anderenorts beobachten. Policy-Orientierungen folgen

uber Ländergrenzen hinweg durchaus ähnlichen Zielvorstellungen. Der Transfer von
Programmelementen, Diffusionsprozesse und Policy Learning sind stärker ausge-
prägt als in anderen Politikfeldern. Zugleich entwickeln sich aber die administrativen
Strukturen und Instrumente der Technologiepolitik pfadabhängig (Kitschelt 1994).
Hinsichtlich der direkten oder indirekten Förderpolitik (Subventionen, Steuerer-
leichterungen), der Struktur von Staat-Wirtschaftsbeziehungen, der Rolle der Uni-
versitäten, der kartellrechtlichen Behandlung von vorwettbewerblichen Forschungs-
verb€unden, der Wettbewerbs- und Abschreibungsregeln bestehen erhebliche
internationale Unterschiede (vgl. PWC 2010).
Technologiepolitik in der Vergleichenden Politikwissenschaft 849

3.2 USA und EU

Gemessen am Prozentanteil der Gesamtausgaben f€ur Forschung und Entwicklung an


der wirtschaftlichen Gesamtleistung (BIP) liegen die USA nur im oberen Mittelfeld
(Abb. 3). Legt man die tatsächlichen Ausgaben zugrunde, besitzen sie einen fast
uneinholbaren Vorsprung vor allen anderen Ländern. Alle neueren epochalen tech-
nologischen Neuerungen kommen – teilweise im Wettlauf mit der Sowjetunion –
hier zum Durchbruch: Kernkraft, Luft- und Raumfahrt, Halbleitertechnik, Internet,
k€unstliche Intelligenz.
Bis in die 1960er-Jahre kam der Großteil der Mittel f€ur Technologieförderung aus
dem Staatshaushalt genauer dem Budget des Pentagon, des Energieministeriums und
der Raumfahrtbehörde NASA. Diese aus der Kriegs- und Nachkriegsperiode ver-
erbte Struktur veränderte sich zugunsten nichtstaatlicher Forschung- und Entwick-
lung in Firmen sowie in privaten, regionalen und kommunalen Innovationsprojek-
ten. Den USA gelang es nur sehr unvollkommen, die Technologiepolitik mit der
Industrie- und Arbeitsmarktpolitik zu verbinden, obwohl die Schaffung von Arbeits-
plätzen als eines ihrer Ziele betrachtet wurde (Bingaman et al. 2004). Die
US-Bundesregierung begann bereits in den 1990er-Jahren diesen Policy-Mix aufzu-
geben. Selbst die als progressiv eingeschätzte Obama Administration zog zuletzt
einen scharfen Trennstrich zwischen Innovationspolitik und Industriepolitik und
bezeichnet die erstgenannte als notwendig, während letztere zu vermeiden sei.
Die Europäische Union galt lange als zweitstärkste Technologieregion nach den
USA. Mit 345 Mrd. Dollar betrugen die Gesamtausgaben f€ur Forschung und Ent-
wicklung in den 28 EU-Mitgliedsstaaten 2013 nur noch wenig mehr als die der
Volksrepublik China mit 336 Mrd. US-Dollar. Die USA lagen mit knapp €uber
554 Mrd. US-Dollar deutlich dar€uber (jeweils in Dollar-Kaufkraftparitäten umge-
rechnete nationale Ausgaben, OECD 2015). In den vorangegangenen Jahrzehnten
wurde der Vorsprung der USA gegen€uber den EU-Staaten stetig größer und deren
Vorsprung gegen€ uber der VR China dramatisch kleiner (Abb. 2). Obwohl die EU als
forschungspolitischer Akteur großes Gewicht erlangte und erhebliche Förderinitiati-
ven auf den Weg brachte, konnte sie ihrem 2000 in der „Erklärung von Lissabon“
(Europäischer Rat 2000) formulierten Ziel, Europa zum „dynamischsten und wett-
bewerbsfähigsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“ zu machen, nicht
näher kommen. Die Zielgröße der Gesamtausgaben der Mitgliedländer f€ur For-
schung und Entwicklung von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ist
bislang (2015) nur von Finnland, Schweden und Dänemark erreicht worden
(Abb. 3). Deutschland und Österreich liegen – ebenso wie die USA – knapp unter
dem drei Prozent BIP-Anteil.
Die Forschungs- und Technologiepolitik erhielt bereits bei der Gr€undung der
Europäischen Gemeinschaft f€ur Kohle und Stahl (EGKS) 1952 eine supranationale
Rechtsgrundlage. Der Durchbruch zur Europäisierung der Technologiepolitik er-
folgte mit Inkraftsetzung des Vertrags zur Gr€undung der Europäischen Atomge-
meinschaft (EURATOM) 1957. Sie ist die einzige Gemeinschaftseinrichtung die
850 R. Czada

seit ihrer Gr€ undung unverändert fortbesteht. Die speziellen Euratom-


Rahmenprogramme werden bis in die Gegenwart neben den später hinzugekomme-
nen allgemeinen Forschungsrahmenprogrammen der EU fortgef€uhrt. Sie waren
2015 mit Forschungsmitteln von mehr als drei Mrd. Euro in den Bereichen Fusions-
energieforschung, Kernspaltung und Strahlenschutzforschung ausgestattet.
Der Forschungsverbund EUREKA (European Research Coordinating Agency)
ergänzte 1985 die gemeinschaftliche Forschungs- und Technologiepolitik der EU
durch ein Programm, an dem Firmen und Forschungseinrichtungen aus 33 Ländern
sowie die EU-Kommission als supranationale Instanz beteiligt sind. Anders als bei
den seit Inkrafttreten der Einheitlichen Europäischen Akte 1986 aufgelegten mehr-
jährigen Forschungsrahmenprogrammen (wie Horizont 2020) orientiert sich EURE-
KA nicht an €ubergreifenden Themenvorgaben oder Förderrichtlinien. Die intergou-
vernementale Koordination obliegt jährlich stattfindenden Ministerkonferenzen
sowie dem EUREKA-Sekretariat in Br€ussel.
Die mehrjährigen Forschungsrahmenprogramme der EU priorisieren wissen-
schaftliche und technologische Ziele und wenden sich an öffentliche und private
Einrichtungen der Mitgliedstaaten. Perspektivisch sind langfristiger angelegte Tech-
nologieplattformen f€ur bestimmte Bereiche vorgesehen, beginnend mit Projekten zur
„Energiewende“. Außerdem wird die Einrichtung eines Europäischen Forschungs-
rates zur Koordination der Grundlagenforschung angestrebt. Dabei ist das Ziel einer
„Innovationsunion“ zur Sicherstellung der globalen Wettbewerbsfähigkeit der EU
weniger umstritten als die Maßnahmen zu seiner Realisierung. Wie, mit welchen
Technologien in welchen Feldern und mit welchen Instrumenten nachhaltiges
Wachstum, neue Arbeitsplätze und Klimaschutzziele erreicht werden sollen, bleibt
in der Europäischen Union höchst umstritten. Dies wird an unterschiedlichen Ein-
stellungen etwa zur Kernkraft oder zu Biotechnologien in den Mitgliedsländern
ebenso deutlich wie an der Frage nach dem f€ur die Governance der Technologie-
politik entscheidenden Verhältnis von staatlicher Intervention und Marktsteuerung
(Abb. 5). Der hohe Stellenwert von Marktschaffung und Marktregulierung bei
gleichzeitiger Subventions- und B€urokratielastigkeit erwiesen sich bislang als
Haupthindernis f€ ur eine aktive, langfristig angelegte, gestaltungsorientierte Integra-
tion der Europäischen Technologiepolitik, die pathologischen Anreizmechanismen
und der Gefahr von Fehlallokation und Mitnahmeeffekten entgegenzuwirken
imstande wäre (Kaiser 2008; Grande 1993).

3.3 Determinanten von Technologieführerschaft

Die Wettbewerbsfähigkeit eines Wirtschaftsstandorts wird heutzutage von Fähigkei-


ten der Informationsverarbeitung, der Kommunikation und Organisation, vom
Schutz geistiger Eigentumsrechte, Konstruktionswissen und Ingenieurleistungen
mehr als von seiner herstellenden Industrie bestimmt. Die dahinter liegende Vor-
stellung einer „Blaupausennation“ wurde bereits Ende der 1970er-Jahre von deut-
schen Sozialdemokraten (Horst Ehmke, Hans Matthöfer, Volker Hauff, Helmut
Technologiepolitik in der Vergleichenden Politikwissenschaft 851

Governance der Technologiepolik


8

7 56 39
Staatliche Koordinaon
Etassche Steuerung
Zentralisierung der Technologiepolik

6 121

55
. 0,56
5
26 53
46

4 67

3 43
71
47

2 MARKT- ADMINISTRATIVER
WETTBEWERB PLURALISMUS
1 139

0
0 10 20 30 40 50 60
Staatsanteil an den Gesamtausgaben für Forschung und Entwicklung (Prozent)

Abb. 5 Administrative Struktur, Finanzierung und Erfolgsbilanz von Technologiepolitik. Die Blasen
repräsentieren die Anzahl triadischer Patente pro Million Einwohner als Erfolgsindikator der Techno-
logiepolitik. Die Regressionslinie zeigt, dass der Staatsanteil an den Gesamtausgaben f€
ur Forschung und
Entwicklung geringf€ugig mit Merkmalen der der politisch-administrativen Struktur zusammenhängt,
wobei allerdings administrative Zentralisierung zumeist mit hohen staatlichen Ausgabenanteilen ver-
bunden ist. Quellen: OECD (2015); NRC (2010); Kaiser (2008); Kitschelt (1994). Grafik: Czada.

Schmidt) vorgedacht (Hauff und Scharpf 1975; Mutert 2000) und ist – wie wir heute
wissen – zuerst in den USA, namentlich im Silicon Valley, verwirklicht worden.
Bei allen Unterschieden der Governance von Technologiepolitik besitzen alle
neueren technologischen Durchbr€uche gemeinsame technologische Grundlagen, wie
sie der russische Ökonom Nikolai Kondratieff in seiner industriellen Zyklentheorie
beschrieben hat (Kondratieff 1926). Der in den 1970er-Jahren einsetzende, f€unfte
Kondratieff-Zyklus umfasst die Mikroelektronik und Softwareindustrie, Informa-
tion- und Kommunikation, die wiederum die Herstellung und Anwendung vieler
Produkte zur€ uckliegender Kondratieff-Zyklen revolutionierten. Kondratieff-Zyklen
werden heute anhand ihrer Leittechnologien so interpretiert (Nefiodow 2006):
Dampfmaschine, Schwerindustrie, Textil (I. Kondratieff 1780–1830), Eisenbahn,
Stahl (II. Kondratieff 1830–1880), Elektrotechnik, Chemie (III. Kondratieff
1880–1930), Automobil, Petrochemie, Pharmazie, Atomkraft, Luft- und Raumfahrt
(IV. Kondratieff 1930–1970), Mikroelektronik, Information und Kommunikation
852 R. Czada

(V. Kondratieff 1970–2010), Umwelt-, Nano- und Biotechnologien (VI Kondratieff


2010–?).
Der f€unfte Kondratieff-Zyklus entwickelte sich aus der Halbleitertechnik. Sein
maßgeblicher Rohstoff sind Silikonkristalle, das Ausgangsmaterial der Chipproduk-
tion und der Mikroelektronik. Warum das kalifornische „Silicon Valley“ mit tat-
kräftiger Unterst€ utzung der US-Regierung zum Ausgangspunkt einer technologi-
schen Revolution werden konnte, hat einen technologiepolitischen Hintergrund. Das
1987 von der US-Regierung initiierte SEMATEC-Konsortium (Semiconductor
Manufacturing Technology) konnte die hinter die staatlich gelenkte japanische
Halbleiterindustrie zur€uckgefallenen US-Firmen auf ein gemeinsames Forschungs-
und Entwicklungsprogramm festlegen, aus dem auch die Ansiedlung zahlreicher
Chipentwickler und IT-Firmen im kalifornischen Silicon Valley hervorging, Bereits
Mitte der 1990er-Jahre hatte daraufhin die US-Halbleiterindustrie zur Spitzenposi-
tion zur€uckgefunden. 2014 hatten 14 der 25 größten fabriklosen Halbleiterfirmen
( fabless silicon IC-providers) ihren Hauptsitz in den USA, f€unf in Taiwan, zwei in
China, zwei in Europa und eine in Singapur (EETimes Europe, Juni 2014).
Die Technologief€uhrerschaft der USA wird herausragenden Eigenschaften ihres
nationalen Innovationssystems zugeschrieben, bestehend aus Merkmalen der Tech-
nikregulierung, des Kapitalmarkts, der Steuerpolitik, des Eigentums- und Unter-
nehmensrechts sowie insbesondere der Bildungs- und Forschungsinfrastruktur
(PWC 2010). Zudem sind der Reichtum eines Landes, die f€ur Forschung Entwick-
lung verf€ ugbaren Ressourcen sowie die Größe nationaler Märkte entscheidende
Erfolgsvoraussetzungen technischer Innovationen und Anwendung. Aufgrund ihrer
hochgradig degressiven Herstellungs- und Verteilungskosten drängen G€uter der
Wissens- und Softwareproduktion ebenso wie Kommunikations- und Informations-
technologien zu massenhafter, weltumspannender Vermarktung. Als Netzg€uter
gewinnen sie erst durch die Zahl ihrer Anwender Wert und Nutzen. Die Größe des
Heimatmarktes und Möglichkeiten der Penetration des Weltmarktes spielen im
Bereich der Konsumelektronik und der Netzg€uter eine entscheidende Rolle. Dies
f€
uhrt dazu, dass entsprechende Innovationen von großen Märkten angezogen und
dort erprobt werden.
International vergleichende Analysen (Kitschelt 1994; Kaiser 2008; Wurster und
Wolf 2011; Bauer et al. 2012) deuten darauf hin, dass einige der gängigsten Policy-
Theorien (vgl. den entsprechenden Beitrag in diesem Band) im Fall der Technologie-
politik zu kurz greifen. Funktionalistische Sachzwänge können ihre Ansätze und
Ergebnisse ebenso wenig erklären wie gesellschaftliche Interesseneinfl€usse und
Kräfteverhältnisse oder die parteipolitische Zusammensetzung von Regierungen.
Kurzfristig wirkende politische Faktoren wirken sich kaum aus, entgegen allge-
meiner Auffassung auch nicht unter dem Eindruck technischer Störfälle und Katastro-
phen, die nur unter bestimmten historischen und institutionellen Voraussetzungen
technologiepolitische Kurswechsel bewirken können (Czada 2013). Technikkritische
gesellschaftliche Diskurse bleiben, auch wenn sie auf der Anwendungsebene Wirkung
zeigen, dar€uber hinaus f€ur die Forschung oft folgenlos. Dies liegt zum einen an der
Langfristigkeit technologiepolitischer Programme, an deren internationalen Vernet-
zung und vor allem daran dass Politikziele und Programminhalte €uberwiegend von
Technologiepolitik in der Vergleichenden Politikwissenschaft 853

Experten und Verwaltungsakteuren bestimmt werden. Zudem verhindern vertragliche


Bindungen und langfristige Investitionen in Technologieprojekte oft ein kurzfristiges
Umsteuern.
Im Unterschied zu Sachzwang- und Politisierungsthesen erweisen sich sektorale
Governance-Strukturen und tradierte Handlungsrepertoires der maßgeblichen Eliten
sowie spezifische Spielarten des Kapitalismus als erklärungskräftig. Kitschelt (1994,
S. 412 ff.) identifiziert in historischen Lernprozessen geronnene Organisationsmerk-
male der Wirtschaftsorganisation und der staatlichen Technologieadministration
sowie das Verhältnis von staatlichen Subventionen privatwirtschaftlichen Finanzie-
rungsanteilen als maßgebliche Determinanten von Technologiepolitik. Seine Ana-
lyse bleibt – mit aktuellen Daten unterf€uttert – bis heute g€ultig. Die Größe der Blasen
in Abb. 5 zeigt die Leistungsperformanz der jeweiligen Governance-Variante ge-
messen an der Zahl triadischer Patente pro Million Einwohner. So wird deutlich,
dass die USA, obwohl in absoluter Hinsicht äußerst dominant, im standardisierten
Vergleich von Erfolgskennzahlen durchaus Effizienzdefizite ausweisen. Weiterhin
zeigt sich, dass einige kleinere Hochtechnologienationen ihre Ressourcen effizient
einsetzen. Sie können bei entsprechender Spezialisierung global ausstrahlende Er-
folge erzielen, insbesondere bei hohen Finanzierungsanteilen der Privatwirtschaft,
unabhängig davon, wie stark und in welcher Weise staatliche Akteure inhaltlich auf
die Technologieentwicklung einwirken.
Gemessen an ihrer triadischen Patentbilanz pro 1 Mio. Einwohner liegen die
Schweiz und Japan mit großem Abstand vor allen anderen Ländern. Indes erreichen
sie ihre Spitzenposition auf unterschiedlichen Wegen: einmal auf der Grundlage einer
vergleichsweise engen kommunikativen Koppelung zwischen Staat und Großindust-
rie (Japan), zum anderen auf der Basis einer autonomen Industrieforschung
(Schweiz). In dem Zusammenhang weist Lehner (1986, S. 255) auf Ähnlichkeiten
der „politisch-ökonomischen“ Vermittlungsstruktur“ Japans und der Schweiz hin:
Beide gelten als Beispiel f€ur neo-korporatistische Aushandlungsmuster ohne Einbin-
dung der Gewerkschaften (corporatism without labor, vgl. Armingeon 2004). Im
Unterschied zu Japan kann die Schweiz, obwohl sie €uber hohe Forschungs- und
Entwicklungskapazitäten vor allem im Hochschulsystem und in Teilen der Industrie
verf€ ugt, keine nationale industriepolitische Strategie verfolgen. Das im Vergleich zu
Japan „weitgehende Fehlen technologiepolitischer Interventionen in der Schweiz ist
(. . .) nicht nur Ausdruck einer liberalen wirtschaftspolitischen Orientierung, sondern
liegt in den spezifischen Restriktionen der auf einer breiten Wertber€ucksichtigung
basierenden Konkordanzdemokratie begr€undet.“ (Lehner 1986, S. 255). Beiden
Ländern gemeinsam ist ein vergleichsweise geringes finanzielles Engagement des
Staates, und hierin unterscheiden sie sich deutlich von Ländern mit besonders hohen
staatlichen Anteilen an der Finanzierung von Forschung und Entwicklung (Frank-
reich, Österreich, Niederlande, S€udafrika, Abb. 5). Technologiepolitik, die dem Staat
eine starke Koordinierungsfunktion zuweist oder – im Gegenteil – auf Wettbewerbs-
steuerung durch den Markt setzt, bewirkt offenbar mehr als ein dirigistischer, stark
von öffentlichen Subventionen bestimmter Ansatz. Die von Wurster und Wolf (2011,
S. 245) berichtete U-Kurvenrelation zwischen technologiepolitischem Erfolg und
dem Grad des organisierten Kapitalismus wird insofern in der Tendenz bestätigt.
854 R. Czada

Unter Vernachlässigung weiterer, hier nicht behandelter Faktoren erscheinen die


neo-korporatistische und die marktliberale Steuerungsvariante wirksamer als eine
von Staatsdirigismus oder administrativem Pluralismus bestimmte Governance der
Technologiepolitik, die zudem €uberwiegend auf direkte Subventionen von Unter-
nehmen setzt. Insoweit trägt die Technologiepolitik Z€uge, die wir auch in der
Politischen Ökonomie der Industriestrukturpolitik und der Einkommenspolitik
finden. Auch dort zeigt sich eine U-Kurvenrelation: Transsektorale neo-
korporatistische Konzertierungsnetzwerke und die ihnen eigenen Potentiale organi-
sationsgesellschaftliche Selbststeuerung (z.B. Tarifautonomie) beg€unstigen indust-
rielle Strukturanpassungen und eine moderate Lohnentwicklung. Sie f€uhren damit
zu ähnlichen Ergebnissen wie markliberale Systeme mit pluralistischen Strukturen
der Interessenvermittlung. Eine schwächere Leistungsbilanz weisen sektoral frag-
mentierte Governanceformen auf, in denen Schwächen des Marktes und der Orga-
nisationsgesellschaft durch staatlichen Dirigismus kompensiert werden (Czada
1983; Calmfors und Drifill 1988). Offenbar hängt die Technologieentwicklung
ähnlich wie die Fähigkeit zum ökonomischen Strukturwandel und die Einkommens-
politik eines Landes nicht zuletzt von länderspezifischen politisch-ökonomischen
Koordinationsstrukturen und insbesondere von der Aufgabenverteilung zwischen
Staat und Wirtschaft ab.
Trotz solcher Ähnlichkeiten besteht ein wesentlicher Unterschied der Technolo-
giepolitik darin, dass deren Gegenstand, die Technikentwicklung außergewöhnlich
starke globale Bez€uge aufweist. Die aus Technologiepolitik hervorgehenden Pro-
dukte, Wissensfortschritte, Patente, Anwendungen bleiben nicht auf ihre Ursprungs-
länder begrenzt. Technologien durchdringen €uber Wettbewerbsmechanismen den
Weltmarkt. Das unterscheidet sie von Policies, deren Leistungen und Folgewirkun-
gen €uberwiegend innerhalb einer jeweiligen Jurisdiktion anfallen etwa in sozialen
Sicherungssystemen, im Bildungswesen, in den industriellen Beziehungen oder in
der Infrastrukturpolitik. Der globale technologische Innovationswettbewerb f€uhrt
indes keineswegs dazu, dass geistige Eigentumsrechte und die Fähigkeit, sie pro-
duktiv zu nutzen, auf eine Gleichverteilung hinausliefen. Nur wenige Länder sind in
der Lage an diesem Innovationswettbewerb teilzunehmen. Zwar verzeichnen einige
wenige kleinere Länder, gemessen an ihrer Einwohnerzahl, mit die höchste Zahl von
Patentanmeldungen. Die Schweiz, Schweden, Finnland, Dänemark, Israel, die Nie-
derlande und Belgien liegen nach diesem Maßstab €uber dem OECD-Durchschnitt
(OECD 2013).5 Gleichwohl bleibt ihre absolute Stärke deutlich hinter den größten
Forschungsnationen USA, Japan und Deutschland zur€uck.
Die Fähigkeit Technologien zu beherrschen, sie weiter zu entwickeln und als
geistiges Eigentum zu behaupten, bestimmt die Wettbewerbsfähigkeit und Macht-
ausstattung politischer Gemeinschaften. Wer dieser Einschätzung folgt, erkennt

5
Zusammen repräsentieren sie acht Prozent der „triadischen Patente“, die von 1998 bis 2010
zugleich beim Europäischen Patentamt, dem US Patent Office und dem Japanischen Patentamt
erfolgreich angemeldet wurden. Indes stammen von diesen 611 403 Patenten allein 447 807 aus den
USA, Japan und Deutschland. Damit liegen 73,2 Prozent des f€ ur die gegenwärtige Technologie-
entwicklung relevantesten Wissenskapitals in nur drei Ländern.
Technologiepolitik in der Vergleichenden Politikwissenschaft 855

letztlich ein Bild extremer Ungleichheit, die von der sozialwissenschaftlichen For-
schung bislang kaum oder nur aus der Nutzer- und Konsumentenperspektive als
„Digitale Kluft“ (digital gap, digital divide) thematisiert wurde (Arnhold 2003). Die
Ungleichverteilung technologischer Produktivkräfte findet demgegen€uber erst j€ungst
im Rahmen von Patentkonflikten etwa im Arzneimittelbereich Beachtung (Eimer und
L€utz 2010). Auch in dieser Perspektive zeigt sich die umfassende Bedeutung dieses
‚Politikfeldes‘ als Gegenstand nationaler und regionaler, wettbewerbsorientierter
Entwicklungsstrategien und Teil der internationalen Politischen Ökonomie.

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Teil VII
Globalisierung und Regionalisierung
Globalisierung und Vergleich

Detlef Jahn

Zusammenfassung
Globalisierung ist ein Prozess der Staaten näher aneinander r€uckt. Die Ursachen dieses
Prozesses liegen in technologischen Innovationen und politischen Maßnahmen, die
eine Erleichterung des grenz€uberschreitenden Austauschs zwischen den Ländern
erlauben. Indem sich Länder durch Wettbewerb, Lernen, Nachahmung und zum Teil
auch durch Zwang an anderen Ländern orientieren, kann es zu einer Angleichung von
Politiken kommen oder auch zu politischen Prozessen, die die Politik in den einzelnen
Länder durch internationales Regieren (global governance) bestimmen.

Schlüsselwörter
Globalisierung • Interdependenz • Diffusion • Konvergenz • Global Governance

1 Einleitung

Globalisierung ist ein Begriff der in aller Munde ist. Er spielt im alltäglichen Leben,
der Politik und der Politikwissenschaft eine wesentliche Rolle. In fast allen Hand-
b€
uchern zur vergleichenden Politikforschung und den internationalen Beziehungen
sowie Einf€uhrungen in die Politikwissenschaft finden sich spezielle Abhandlungen
zum Thema Globalisierung (siehe etwa Bernauer et al. 2016; Zohlnhöfer 2015; Z€urn
2013). Dabei ist Globalisierung ein schillernder Begriff zu dem eine eindeutige
Definition fehlt. So kommen viele Studien zu sehr unterschiedlichen Schlussfolge-
rungen €uber die Ablaufprozesse und Wirkungen der Globalisierung. Ohne den
Anspruch zu erheben dieses Defizit in diesem Handbuchartikel zu lösen, widmet
sich der Beitrag verschiedenen Aspekten der Globalisierung und gibt damit einen

D. Jahn (*)
Professor f€ur Vergleichende Regierungslehre, Institut f€
ur Politikwissenschaft, Universität
Greifswald, Greifswald, Deutschland
E-Mail: djahn@uni-greifswald.de

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 861


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_63
862 D. Jahn

groben Überblick €uber eines der gegenwärtig populärsten Themen der vergleich-
enden Politikwissenschaft und der internationalen Beziehungen. Der Artikel grenzt
zunächst das Thema dahingehend ein, dass eine Begriffsbestimmung diskutiert wird.
Sodann werden die Ursachen der Globalisierung dargestellt. Die folgenden beiden
Abschnitte behandeln die Kernbereiche der Globalisierung aus politikwissenschaftli-
cher Sicht. Globalisierung an sich konstituiert sich als Prozess und muss deshalb
primär als solcher erfasst werden. Dies kann einmal ausgehend von einem einzelnen
Land geschehen (monadischer Ansatz) oder – was der interaktiven Charakteristik der
Globalisierung näher kommt – als diffusionaler Ansatz (Jahn 2006, 2009). Schließ-
lich wird im f€
unften Absatz auf die Wirkungen der Globalisierung eingegangen, die
in der Konvergenz von Politiken oder gar von fundamentalen Veränderungen des
politischen Prozesses bestehen kann. Der letzte Abschnitt fasst die Ergebnisse
zusammen und gibt einen Ausblick auf die zuk€unftige Globlisierungsforschung.

2 Haupttext

2.1 Begriffsbestimmung und Definition von Globalisierung

Prinzipiell sind alle Prozesse, die weltweit oder €uber mehrere Länder hinweg ablau-
fen unter dem Begriff der Globalisierung zu erfassen (global aus dem Lateinischen
„die Kugel“ oder auch €ubertragen „die Weltkugel“). Solche Prozesse betreffen
sowohl die Verbreitung von Hollywoodfilmen und von internationaler Musik, sowie
die Championsleague als auch den internationalen Welthandel und Migrationsströ-
me. Dabei beschreibt Globalisierung den Prozess der zunehmenden internationalen
Verflechtung von Wirtschaft, Politik, Kultur und der zunehmenden Kommunikation
zwischen Individuen, Institutionen, Ländern, Gesellschaften und Regionen.
Wenngleich die meisten Autoren betonen, dass Globalisierung als Prozess zu
verstehen ist, wird in Definitionen oftmals der Prozess mit den möglichen Konse-
quenzen desselben unmittelbar verkn€upft: „Globalization thus decribes a process in
which the world moves towards an integrated global society and the significance of
national border decreases“ (Z€urn 2013, S. 402). Analytisch ist es ung€unstig, den
Prozess Globalisierung mit den möglichen Ergebnissen dieses Prozesses (integrierte
Weltgesellschaft und abnehmende Bedeutung von Ländergrenzen) zu kombinieren.
Denn wenn man Phänomene mit Konzepten erklären möchte, die dem Phänomen
schon innewohnen, erklärt man Gleiches mit Gleichem (Endogenitätsproblem). Eine
Voraussetzung jeglicher Kausalanalyse ist, dass das Ergebnis nicht schon durch die
erklärenden Variable impliziert wird. Denn die zunehmende internationale Verflech-
tung oder Interdependenz (Jahn und Stephan 2015), die als Globalisierung ver-
standen werden kann, muss nicht zu den genannten Ergebnissen f€uhren. Deshalb
bevorzugt dieser Artikel eine eindeutige Definition von Globalisierung als Prozess
einer fortschreitenden internationalen Verflechtung. Dieser Prozess wird in der ver-
gleichenden Politikwissenschaft als zunehmende Interdependenz (von Ländern oder
anderer Untersuchungseinheiten) oder auch als Diffusion behandelt (Jahn 2006,
2009).
Globalisierung und Vergleich 863

Bevor im dritten und vierten Abschnitt des Beitrages auf diesen Aspekt zur€uck-
gekommen wird und die kausalen Mechanismen von Diffusion dargestellt werden,
wird im nächsten Abschnitt näher auf die Ursachen der Globalisierung eingegangen.

2.2 Ursachen von Globalisierung

Globalisierung ist ein Prozess, der menschlichem Handeln innewohnt und der sich in
sämtlichen historischen Phasen finden lässt. Globalisierungenstendenzen, also die
Verflechtung von Gesellschaften, traten schon in fr€uher Zeit auf, wenn etwa ver-
schiedene Gesellschaften ihre G€uter oder Dienstleistungen austauschten. Dabei
standen durchaus rationale Erwägungen im Vordergrund. Waren oder Dienstleistun-
gen, die man selber nicht herstellen wollte oder konnte, konnten relativ problemlos
angeeignet werden, indem man mit anderen Gesellschaften in Kontakt trat und diese
begehrten G€ uter mit eigenen Waren oder Dienstleitungen tauschte. Allerdings liefen
diese Prozesse nicht immer friedlich ab. Insbesondere die kulturelle Diffusion der
mazedonischen Lebensweise durch Alexander dem Großen ist in der Literatur aus-
f€uhrlich dokumentiert (Bell 1948).
Die Kolonialisierung weiter Teile der Erde durch die europäischen Kolonial-
mächte initiierte eine erste Welle der Globalisierung ab dem 16. Jahrhundert. Diese
fand erst mit Beginn des Ersten Weltkrieges ein abruptes Ende. Eine zweite Globa-
lisierungsphase begann erst nach dem Zweiten Weltkrieg und nahm in den 1970ern
und dann wieder in den 1990ern-Jahren an Fahrt auf. Dabei zeigt sich, dass die
Globalisierung keineswegs global – im Sinne von weltumspannend – ist, sondern
dass es sich um regionale Globalisierungssch€ube handelt (Jahn 2009). Insbesondere
Teile der hochentwickelten Länder verdichteten ihre Beziehungen während andere
Teile der Erde von der Globalisierung relativ unber€uhrt blieben, allen voran Afrika.
Die Triebkräfte der gegenwärtigen Globalisierungsprozesse liegen vor allem in
technologischen Innovationen, die die Transportwege verk€urzten (etwa Suez- und
Panamakanal) oder effizienter gestalteten (Erfindung der Eisenbahn, Großschiff-
fahrt, Flugverkehr). Hinzu traten Kommunikationsmittel, wie Radio, Fernsehen,
Telefon und Internet, die Informationen zwischen vielen Personen gleichzeitig
vermitteln können oder die Kommunikation €uber weite Distanzen ermöglichen.
Einmal in Gang gesetzt, entstand ein sich selbst verstärkender Prozess. Technische
Innovationen ermöglichten Globalisierung und die internationale Verflechtung för-
derte wiederum die Fortentwicklung von technischen Hilfsmitteln, die den inter-
nationalen Kontakt vereinfachen (bspw. Kommunikations- und Transporttechnolo-
gie) und somit den Globalisierungsprozess wiederum verstärken.
Neben den technologischen Innovationen sind auch politische Prozesse in Gang
gesetzt worden, die die internationale Verflechtung vorantreiben. Globalisierung
verlangt nach einem möglichst einfachen grenz€uberschreitenden Austausch von
G€ utern und Dienstleistungen. Diese Triebkraft drängt darauf, dass die einzelnen
Länder ihre Handelsschranken abbauen und grenz€uberschreitenden Handelsaus-
tausch zulassen und vereinfachen. Globalisierung bezieht sich jedoch nicht nur auf
wirtschaftliche Abläufe. Es kommt auch zu sozialen, kulturellen und politischen
864 D. Jahn

Interdependenzen. Aus der Sicht des einzelnen Landes kann man beobachten, dass
Staaten stärker international eingebettet sind. Wenngleich dieseFeststellung die Glo-
balisierung nicht als interaktiven Prozess erfasst, gibt sie erste Anhaltspunkte zu einer
Internationalisierung der Staaten, auf die der nächste Abschnitt näher eingeht.

2.3 Die internationale Einbettung von Staaten

Ein erstes Indikatorenb€undel zur Beschreibung von Globalisierung ist durch die
internationalen Einbettung von Staaten gegeben. Es werden etwa die Außenhandels-
quote (Anteil des Exports + Anteil des Imports dividiert durch das Bruttosozialpro-
dukt), der Anteil von Auslandsinvestitionen u. Ä. erfasst. Neben den tatsächlichen
Wirtschaftsströmen gelten auch staatliche Maßnahmen, wie der Abbau von Zöllen
und anderen Restriktionen des Außenhandels als Indikatoren der internationalen
Einbettung von Volkswirtschaften.
Ein heute etablierter Index zur Erfassung der internationalen Einbettung von
Staaten (der fälschlicherweise als Globalisierungsindex bezeichnet wird) stellt In-
formationen f€ur fast alle Staaten der Erde f€ur die wirtschaftliche, soziale, kulturelle
und politische Einbettung zur Verf€ugung (http://globalization.kof.ethz.ch/) (Dreher
et al. 2008). Die wirtschaftliche Einbettung wird durch Wirtschaftsströme und
Außenhandelsbeschränkungen erfasst. Die sozialen und kulturellen Aspekte umfas-
sen die Kommunikationsfrequenz mit Personen im Ausland, Nutzung neuer Tech-
nologie der Informationsverbreitung, Kontakt zu anderen Kulturen sowie das Durch-
dringen des nationalen Marktes mit ausländischen kulturellen Waren (B€ucher und
Zeitschriften) und Dienstleistungen. Der Indikator der politischen Einbettung er-
fasst, inwieweit sich ein Land international engagiert (Mitgliedschaft in internatio-
nalen Organisationen, Mitwirkung an UNO-Aktionen, Entwicklungshilfe) und im
Ausland durch Botschaften oder NGOs Präsenz zeigt.
Methodologisch handelt es sich hier um eine monadische Auffassung von inter-
nationaler Einbettung, weil jeweils nur von einem einzelnen Land ausgegangen
wird. Angebrachter f€ur das Erfassen von Globalisierungsprozessen ist eine Analyse
der Beziehungsgeflechte in denen sich ein Land befindet. Diffusionale Analysen
stellen den Diffusionseffekt in den Mittelpunkt einer Analyse der Globalisierung und
sind damit näher am Konzept der Globalisierung im Sinne eines Prozesses.

2.4 Zur Erfassung von Globalisierungsprozessen

Analysen von Globalisierungsprozessen bauen auf Beziehungen zwischen den Ana-


lyseeinheiten auf. Dabei werden die Beziehungsnetzwerke eines Landes ermittelt.
Hat Land A etwa einen höheren Handelsaustausch mit Land X als mit Land Y, so
wird vermutet, dass Land X einen stärkeren Einfluss auf die Politik von Land A
besitzt als Land Y. Neben wirtschaftlichen Aspekten kann die „Nähe“ oder Konnek-
tivität eines Landes zu anderen Ländern auch durch räumliche Varianz (Entfernung
von Ländern, Länge von gemeinsamen Grenzen), oder kulturelle Varianz
Globalisierung und Vergleich 865

(Zugehörigkeit zu einer Länderfamilie) erfasst werden. Das heißt, man muss jene
Anhaltspunkte erfassen, die die Beziehungen zwischen den Analyseeinheiten bestim-
men. In sozialen Abhängigkeitsnetzwerken kann etwa die Kontakthäufigkeit zwischen
Personen als ein Indiz f€ur Verflechtung benutzt werden. Es zeigt sich zum Beispiel,
dass, wenn zwei oder mehr Personen häufig Kontakt haben, sich ihre Ansichten zu
spezifischen Fragen annähern (Huckfeldt et al. 2004). In der vergleichenden Politik-
wissenschaft haben sich einige Mechanismen, durch die sich Diffusion beschreiben
lässt, als besonders wesentlich herauskristallisiert (Jahn 2015; Jahn und Stephan 2015):
Wettbewerb: Wettbewerb ist durch antizipiertes oder reaktives Verhalten eines
Landes als Antwort auf das Verhalten anderer Länder mit dem Ziel verbunden,
wirtschaftliche Vorteile zu erhalten. Die kompetitive Steuerpolitik von Staaten ist
ein typisches Beispiel der Diffusion durch Wettbewerb. Um etwa Firmenansiedlun-
gen im eigenen Land zu fördern, erscheint es als rational, dass jedes Land versucht,
seinen Steuersatz ein wenig niedriger zu setzen, als jene Länder, mit denen es
konkurrieren. Wenn mehrere Länder diese Strategie verfolgen, f€uhrt dies zu einem
Wettlauf, der die Steuersätze aller Länder reduziert und als Delaware-Effekt oder als
race to the bottom bezeichnet wird. Der Begriff des Delaware-Effekts geht auf das
ausgehende 19. Jahrhundert zur€uck, als Delaware mit New Jersey im Wettbewerb
stand, neue Firmen anzusiedeln, und dabei die Geb€uhren der Registrierung von
Unternehmen und deren Steuersätze senkte. Allerdings haben Studien gezeigt, dass
die Diffusionseffekte durch den Filter der nationalstaatlichen Politik gehemmt wer-
den und damit ein race to the bottom oftmals unterbunden wird.
In anderen Politikbereichen zeigt sich, dass Wettbewerb zwischen den Ländern
auch ein race to the top bewirken kann. David Vogel (1995; 1997) hat in seiner
Studie zeigen können, dass die kalifornische Gesetzgebung der 1970er bis 1990er-
Jahre höhere Emissionsstandards f€ur Autoabgase durchgesetzt hat, was die Auto-
bauer in den USA und auch in anderen Ländern mit niedrigen Standards dazu
veranlasste, landesweit Automobile mit geringerer Emission herzustellen. Dieser
positive Effekt wird auch als Kalifornien-Effekt bezeichnet, da in Vogels Untersu-
chung die höheren Emissionsstandards zunächst in Kalifornien eingef€uhrt wurden.
Die Intensität von Wettbewerb zwischen Ländern kann durch die Handelsbezie-
hungen zwischen den Ländern erfasst werden. Ein weiterer Indikator, der die Stärke
von Wettbewerb zwischen Ländern erfasst, ermittelt beispielsweise in wieweit sich
die Profile von exportierten Produkten und Waren zwischen den Ländern ähneln
(Cao und Prakash 2010, 2012). So können etwa Länder, die nur gering miteinander
im Handel stehen auf Drittmärkten starke Konkurrenten sein und somit eine inten-
sive Wettbewerbsbeziehung unterhalten.
Lernen: Übernahme durch Lernen erfolgt, wenn politische Akteure neue Informa-
tionen aus anderen Ländern erlangen und wenn sich damit ihre Ansichten und Über-
zeugungen verändern. Diffusionsstudien, die Lernen als zentrale Kategorie untersu-
chen, beziehen sich auf wirtschaftliche Aspekte, wie Privatisierung oder globale
Finanzpolitik (Meseguer 2005; Quinn und Toyoda 2007). Andere untersuchen Sozial-
politik (Gilardi 2010; Schmitt und Obinger 2013) oder politische Innovationen (Volden
2006). In diesen Studien muss neben der Übernahme einer politischen Maßnahme auch
der Schritt der kognitiven Veränderung der Akteure erfasst werden.
866 D. Jahn

Lernen kann auch eine „negative“ Diffusion auslösen. Einmal können die politi-
schen Akteure eines Landes zu dem Schluss kommen, dass eine politische Maß-
nahme in einem anderen Land nicht zu dem gew€unschten Ergebnis f€uhrte. Dann
wird sich das lernende Land von dieser Maßnahme distanzieren und andere Wege
suchen. Zum negativen Lernen gehört auch das Phänomen des Trittbrettfahrens.
Indem Akteure in einem Land sehen, dass andere Länder sich eines Problemes
annehmen, wird eine weitere Initiative auf diesem Gebiet als nicht notwendig
erachtet. In der Umweltpolitik unternehmen zum Beispiel manche Staaten keine
Anstrengung, da andere Staaten ihre Umweltperformanz verbessern, was zu einer
globalen Reduktion der Umweltbelastung f€uhrt.
Nachahmen: Nachahmen basiert auf gemeinsamen Normen und dem Erf€ullen
von vermeintlich erw€unschtem Verhalten. Damit betont dieser kausale Mechanismus
nicht die Rationalität eines Diffusionsprozesses, sondern r€uckt die Angemessenheit
in den Mittelpunkt (Checkel 2006). Die Diffusion von Werten und Normen entsteht
etwa durch gemeinsame Mitgliedschaft in internationalen Organisationen (Bearce
und Bondanella 2007). Finnemore und Sikkink (1998) zeigen, dass eine bestimmte
Anzahl von Staaten eine neue Norm akzeptiert haben muss (sie schätzen etwa ein
Drittel) bis eine Kaskade der Normverbreitung entsteht. Staaten sind f€ur eine
Normangleichung empfänglich, da sich dadurch ihre eigene Legitimation festigt.
Zwang und Konditionalität: Policies und polities können durch den Druck von
internationalen Organisationen oder mächtigen Staaten oktroyiert werden. Wenn-
gleich in der OECD-Welt eine erzwungene Übernahme wie im Fall der Einf€uhrung
bestimmter politischer Institutionen in den ehemaligen Kolonien nicht vorzufinden
ist, können durch eine Selbstverpflichtung oder durch politischen Druck bestimmte
Politiken gefördert werden. Insbesondere im Zuge der Beitrittsverhandlung zur
Osterweiterung der EU wurden den beitrittswilligen Ländern Auflagen vorgegeben,
die erf€
ullt werden mussten, wenn sie Vollmitgliedschaft in der EU erlangen möchten
(Übernahme des acquis communautaire). Braun und Gilardi (2006, S. 309–310)
sehen den Einfluss der EU auf die neuen Mitgliedsstaaten in Zentralosteuropa als
Mechanismus, der einer „erzwingenden“ Einflussnahme nahekommt. Auch die vor-
geschriebenen wirtschaftlichen und politischen Maßnahmen f€ur Griechenland durch
die Troika (Europäische Zentralbank, Internationaler Währungsfond, EU-
Kommission) in der Finanzkrise kann als Diffusion durch Konditionalität aufgefasst
werden. Simmons u. a. (2006, S. 791) sprechen von „weichem Zwang“, wenn sich
starke Staaten zusammenschließen und eine internationale Vereinbarung treffen, der
sich wiederum andere Staaten anschließen m€ussen.
Die diffusionalen Interdependenzen von Ländern lassen sich nicht so leicht
darstellen, wie die monadischen. Die Erfassung von Diffusion erfolgt anhand von
räumlichen Regressionen oder Prozessanalysen. Im ersten Fall kann man von
Diffusion ausgehen, wenn der Koeffizient einer Diffusionsvariable (spatial lag)
signifikant ist. So haben etwa Studien gezeigt, dass ab einem gewissen Punkt
Diffusion in den OECD-Ländern im Bereich der Sozialpolitik ausgelöst wurde und
dass dieser Effekt im Zeitverlauf, insbesondere in den 1990er-Jahren rasant zuge-
nommen hat (Jahn 2009).
Globalisierung und Vergleich 867

2.5 Wirkung von Globalisierung

Der Globalisierungsprozess bewirkt zunächst lediglich, dass sich Länder verstärkt


aneinander orientieren. Dies muss nicht dazu f€uhren, dass sich Politiken angleichen.
So kann es durchaus sein, dass sich Länder stärker aufeinander beziehen, dass die
Politik der Länder sich jedoch nicht angleichen. Ahmt etwa Land A Land B in der
Sozialpolitik nach, wechselt jedoch Land B häufig seine Politik, so hinkt Land A
Land B in seinen Schwankungen hinterher, ohne dass es deswegen zu einer zuneh-
menden Ähnlichkeit der Politiken beider Länder kommen muss. Dennoch wird
Globalisierung oftmals anhand des Ergebnisses erfasst. Dabei wird davon ausge-
gangen, dass sich die Länder angleichen, was als Konvergenz beschrieben wird. Der
zuletzt beschriebenen Sichtweise entsprechend ist ein allgemeiner Indikator f€ur
integrierte Märkte die Tatsache, dass sich der Preis f€ur ein bestimmtes Produkt in
den betroffenen Ländern sehr ähnlich ist.
Allerdings ist es umstritten in welche Richtung eine Konvergenz stattfindet. So
kann etwa, wie weiter oben gezeigt, durch die Globalisierung eine Konvergenz zu
niedrigen Standards stattfinden. In der Staatstätigkeitsforschung wird diese Entwick-
lung anhand der Effizienzhypothese erklärt, die besagt, dass der Wettbewerb auf dem
Weltmarkt zur Rationalisierung und Kosteneinsparungen in der Produktion f€uhrt.
Demgegen€ uber sind Tendenzen identifiziert worden, die ein race to the top erkennen
lassen. Diese Entwicklung wird mit der Kompensationshypothese erfasst, wenn zum
Beispiel die Kernarbeiterschaft eines Landes vor der Konkurrenz mit billigen Ar-
beitskräften in anderen Ländern durch staatliche Maßnahmen gesch€utzt wird (Gar-
rett und Mitchell 2001).
Eine weitere These, die von Globalisierungstheoretikern vertreten wird, besagt,
dass nationalstaatliche Institutionen und Akteure an Handlungskapazität verlieren.
Diese „Entnationalisierung“ trifft vor allem im Rahmen der Effizienzhypothese
zu. In diesen Bereich gehört dann auch die These vom „Regieren jenseits des
Staates“ und der „global governance“. Insbesondere supranationale Organisationen
und Institutionen, wie die EU, ASEAN, ECOWAS oder UNASUR verkörpern
regionale Organisationen, die eine solche Regierungsform praktizieren. Wenn nicht
mehr nationalstaatliche Institutionen und Akteure den politischen Prozess eines
Landes bestimmen, verlieren nationalstaatliche Institutionen, die den politischen
Prozess steuern sollen, nicht nur an Handlungskapazität, sondern auch an Legitima-
tion und Verantwortlichkeit. Denn wenn internationale Entwicklungen den national-
staatlichen Prozess bestimmen, kann man nationalstaatliche Akteure daf€ur nicht
mehr verantwortlich machen. Dadurch verlieren auch nationalstaatliche Wahlen an
Funktion. Wenn man diesen Gedanken zu Ende f€uhrt, resultiert die Globalisierung in
einer Untergrabung der Demokratie. Dies insbesondere, wenn supra- und transna-
tionale Organisationen und deren Zusammenspiel nicht nach demokratischen
Regeln abläuft, was sich gegenwärtig in den meisten Fällen so darstellt (siehe etwa
die Diskussion zum Demokratiedefizit in der EU).
Manche Autoren beschreiben den Prozess der Globalisierung als einen
linearen Verlauf, an dessen Ende nationale Regierungen und selbst Staaten ihre
868 D. Jahn

Unabhängigkeit verlieren. Als methodologische Konsequenz sehen sie dabei das


Ende des Ländervergleichs, was sie wertbeladen als „Ende des methodologischen
Nationalismus“ bezeichnen (Z€urn 2013). Allerdings zeigen sämtliche empirische
Studien, dass eine solche Auffassung gegenwärtig nicht angebracht ist. Zum einen
verläuft der Globalisierungsprozess nicht linear und zum anderen kann man Staats-
tätigkeit am besten durch ein Zusammenspiel zwischen globalen und nationalen
Aspekten erfassen (Neumayer und Pl€umper 2012).

3 Zusammenfassung

Dieser Beitrag hat in das Forschungsfeld Globalisierung in der vergleichenden


Politikwissenschaft eingef€uhrt. Ausgehend von einer Definition des Begriffs Globa-
lisierung, der den Prozess der Globalisierung von den möglichen Wirkungen dieses
Prozesses unterscheidet, wird in empirischer Hinsicht zwischen einer monadischen
Erfassung der Globalisierung als internationale Einbettung von Staaten und einer auf
die Interdependenz von Staaten bezogenen diffusionalen Erfassung der Globalisie-
rung unterschieden. Die Notwendigkeit, zwischen Entwicklung und Effekt zu unter-
scheiden, hat sich auch im Abschnitt zu den Wirkungen der Globalisierung als
fruchtbar erwiesen. Denn verschiedene Studien kommen zu unterschiedlichen Er-
gebnissen, in welche Richtung Globalisierung wirkt. Diese unterschiedlichen Inter-
pretationsweisen können in vielen Bereichen anhand einer Effizienz- oder Kompen-
sationshypothese erfasst werden.
Es ist unstrittig, dass Länder gegenwärtig stärker miteinander verflochten sind als
noch vor 30 Jahren, wenngleich diese Tendenz regional sehr unterschiedlich ausge-
prägt ist. Deswegen gleich das Ende des Nationalstaates auszurufen scheint jedoch
verfr€uht. Letztere, radikale Schlussfolgerung wird von manchen Autoren im Bereich
der internationalen Beziehung vertreten. In der vergleichenden Politikwissenschaft
dominieren demgegen€uber oftmals differenzierte Analysen, die zum einen Globali-
sierung als Diffusionsprozess erfassen und zum anderen auf konditionale Effekte
aufmerksam machen, die den Nationalstaat ins Zentrum der Analyse r€ucken.
Insgesamt ist die Globalisierungsforschung von unreflektierter linearer Fort-
schreibung gegenwärtiger Tendenzen anhand von anekdotischen Schlussfolgerun-
gen gekennzeichnet. Dies umso mehr, weil mit solchen Folgerungen eine stärkere
Resonanz in der Politik erzielt werden kann. Hierauf sollte mit einer intensiven
wissenschaftlichen Beschäftigung reagiert werden. Besonderes Potenzial liegt dabei
in einer Annäherung der Fachdisziplinen Internationale Beziehungen und verglei-
chende Politikwissenschaft.

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Mehrebenanalyse in der Vergleichenden
Politikwissenschaft

Michèle Knodt, Michael Stoiber und Jörg Broschek

Zusammenfassung
Dieser Beitrag macht deutlich, an welchen Stellen und wie eine vergleichende Pers-
pektive bei der Analyse von zum Teil einmaligen Mehrebenensystemen besondere
Erkenntnisgewinne verspricht. Er widmet sich (1) der vergleichenden Föderalismus-
forschung; (2) dem Vergleich regionaler Zusammenschl€usse; (3) dem europäischen
Mehrebenensystem und dort insbesondere (4) dem Prozess der Europäisierung.

Schlüsselwörter
Mehrebenenregieren • Föderalismus • Regionale Zusammenschl€usse • Europä-
ische Union • Europäisierung

1 Einleitung

Regieren in Mehrebenensystemen hat seit Mitte der 1990er-Jahre seinen festen Platz
auf der politikwissenschaftlichen Forschungsagenda (Piatoni 2010). Damit geriet ein
Typus von politischen Systemen in den Blick, dessen territoriale Gliederung als
zentrales Charakteristikum in einigen Fällen einmalig zu sein scheint. Dies macht

M. Knodt (*)
Jean Monnet Professorin, Professorin f€
ur Politikwissenschaft, Institut f€
ur Politikwissenschaft,
TU Darmstadt, Darmstadt, Deutschland
E-Mail: knodt@pg.tu-darmstadt.de
M. Stoiber
Professor f€ur Vergleichende Politikwissenschaft, Institut f€
ur Politikwissenschaft, FernUniversität
Hagen, Hagen, Deutschland
E-Mail: michael.stoiber@fernuni-hagen.de
J. Broschek
Associate Professor, Department of Political Science, Wilfrid Laurier University, Waterloo, Kanada
E-Mail: jbroschek@wlu.ca

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 871


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_64
872 M. Knodt et al.

den Gegenstand des Mehrebenensystems auf den ersten Blick f€ur die vergleichende
Analyse sperrig. Dieser Beitrag wird jedoch durch einen systematischen Überblick
aus dem Blickwinkel der comparative politics deutlich machen, an welcher Stelle
und wie eine vergleichende Perspektive bei der Analyse von Mehrebenensysteme
besondere Erkenntnisgewinne verspricht. Mehrebenenanalysen im Sinne der forma-
len Modellbildung sind nicht Gegenstand dieses Beitrags.
Traditioneller Weise stellt die vergleichende Föderalismusforschung das erste
Forschungsfeld dar, in der Föderalstaaten als Mehrebenensysteme in ihrer Entste-
hung, Entwicklung und Funktionsweise analysiert werden. Zweitens können die EU
und andere, sich aus mehreren Nationalstaaten zusammensetzende regionale Zu-
sammenschl€ usse (ASEAN, MERCOSUR etc.), als Mehrebenensysteme unter den
gleichen Kriterien wie Föderalstaaten miteinander verglichen werden. Der weitaus
größte Anteil der Mehrebenenliteratur fällt dabei sicherlich auf die EU, so dass
drittens eine spezifische Fragestellung der comparative politics zunächst die Analyse
dieses politischen Systems ist, wobei die Forschung mit der Charakterisierung der
EU als ein System „sui generis“ (Jachtenfuchs 1997) zumindest zu einer Klassifi-
zierung gefunden zu haben scheint. In der Analyse der EU als Mehrebensystem
ergibt sich viertens aus vergleichender Perspektive der größte Erkenntnisgewinn
durch den Integrations-induzierten Prozess der Europäisierung. Dieser zielt auf die
Effekte der Europäischen Integration auf die unteren Ebenen der Mitgliedstaaten und
deren Untereinheiten ab (vgl. u. a. Radaelli 2003).

2 Vergleichende Analyse von Mehrebenensystemen

Ausgehend von dem klassischen Fokus der comparative politics auf sowohl Insti-
tutionen und Strukturen politischer Systeme (polity-Dimension), Prozesse und Inter-
aktionsmuster der an den Prozessen beteiligten Akteure (politics-Dimension) sowie
Inhalte (policies) kollektiver Entscheidungen, die f€ur das jeweilige politische System
bindend sind, skizzieren wir vier Forschungsfelder, in denen vergleichende Analy-
sen im Rahmen der Mehrebenenthematik vorzufinden sind: (1) die vergleichende
Föderalismusforschung, (2) der Vergleich von regionalen Zusammenschl€ussen,
(3) die Charakterisierung der EU als spezifisches politisches System sowie (4) die
vergleichende Analyse der Auswirkungen der Europäisierung auf die unteren Ebe-
nen der EU.

2.1 Vergleichende Föderalismusforschung

Föderative Mehrebenensysteme konstituieren Systeme politischer Herrschaft, die


verfassungsrechtlich begr€undet sind. Sie sind auf Dauer angelegt und beruhen auf
geteilter (und nicht auf delegierter) Souveränität mit der Konsequenz, dass keine der
beiden Handlungsebenen die jeweils andere auflösen kann. Sowohl den Gliedstaaten
als auch dem Bund wird dabei Staatscharakter zugeschrieben.
Mehrebenanalyse in der Vergleichenden Politikwissenschaft 873

Die vergleichende Föderalismusforschung geht in der Regel von einem breiteren


Konzept aus, als dies in der staatsrechtlich orientierten Literatur lange Zeit vor-
herrschend war. Föderative Mehrebenensysteme werden entsprechend mehrdimen-
sional konzeptionalisiert (vgl. Benz 2002; Benz und Broschek 2013; Schultze 1982).
Aus der soziologischen Föderalismustheorie wird beispielsweise die Einsicht
€ubernommen, dass föderative Mehrebenensysteme nicht losgelöst von ihren gesell-
schaftlichen Kontextbedingungen betrachtet werden können (vgl. Erk 2007). Stark
ausgeprägte territoriale cleavages können entsprechend einen wichtigen Einfluss auf
die föderale Entwicklungsdynamik aus€uben. Föderalismus wird zudem als Idee
konzeptionalisiert (vgl. Burgess 2006). So differenziert beispielsweise Preston King
zwischen den Begriffen „federalism“ und „federation“ (King 1982, S. 21). Dabei
hebt „federalism“ auf das Vorhandensein von kulturellen, ideologischen und norma-
tiven Orientierungen innerhalb der Bevölkerung oder auf Elitenebene ab, während
„federation“ die konkreten institutionellen Ausprägungen des Föderalismus bzw.
den Bundesstaat meint. Föderalismus als Idee kann durchaus wirkungsmächtig sein,
wenn es etwa darum geht, politische Lösungen innerhalb föderativer Mehrebenen-
systeme zu begr€ unden, die entweder Autonomie und Vielfalt stärken oder umgekehrt
die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse anstreben. Schließlich lässt sich Föde-
ralismus als mehrdimensionales Phänomen entlang der klassischen Trias aus der
Struktur-, Prozess- und Policy-Perspektive analysieren (vgl. auch Benz 2002).
In ihrer institutionellen Architektur unterscheiden sich föderative Mehrebenen-
systeme vor allem mit Blick auf die Art und Weise, wie sie territoriale Autonomie
mit einem gewissen Grad an Einheitlichkeit verbinden (Scharpf 1994). Anders
formuliert: Es geht um die Frage, wie sie „self-rule“ und „shared-rule“ austarieren
(Elazar 1987). Entsprechend lassen sich die institutionellen Bausteine eines föderati-
ven Systems daraufhin untersuchen, inwieweit sie eher territoriale Vielfalt oder
Einheitlichkeit befördern. Eine dualistische Kompetenzverteilung ist eine wichtige
Voraussetzung, um „self-rule“ institutionell abzusichern, zumal, wenn sie eine
Residualkompetenz f€ur die Mitgliedstaaten vorsieht. Diese kann allerdings unter
sich wandelnden historischen Bedingungen an Bedeutung verlieren, wie beispiels-
weise der australische oder deutsche Fall belegen. Umgekehrt beg€unstigt eine
integrierte Kompetenzaufteilung nach Kompetenzarten (in der Regel mit der legis-
lativen Kompetenz beim Bund, der administrativen bei den Gliedstaaten) naturge-
mäß „shared-rule“. Gleiches gilt f€ur die €ubrigen institutionellen Bausteine föderati-
ver Systeme wie den Finanzföderalismus, das System intergouvernementaler
Beziehungen sowie die Zweiten Kammern. Sie können sich in ihrer Wirkungsweise
historisch wie im synchronen Vergleich beachtlich unterscheiden. So zählt bekannt-
lich der deutsche Föderalismus zu denjenigen Mehrebenensystemen, in denen das
Prinzip „shared-rule“ dominiert, während „self-rule“ eine eher untergeordnete Rolle
spielt. Damit markiert er einen Gegensatz zu Bundesstaaten wie Kanada, in denen
umgekehrt self-rule traditionell eine größere Bedeutung hat (Broschek 2009; 2012).
Aus der Prozessperspektive können Gemeinsamkeiten und Unterschiede in föde-
rativen Mehrebenensystemen vor allem in zweifacher Hinsicht analysiert werden.
Erstens in den Mustern der Konsensbildung bzw. der Konfliktaustragung. Die
Interaktion zwischen Bund und Gliedstaaten in der intergouvernementalen Arena
874 M. Knodt et al.

variiert dabei grob zwischen unilateralem Handeln (in unterschiedlichen Spielarten,


die auch Wettbewerb mit einschließen), kooperativen Verfahren (bi- oder multilate-
ral) oder der Zwangsverhandlung bzw. Politikverflechtung (vgl. Benz 2009; Kropp
2009; Schultze 1982; Scharpf 1985). Zweitens im Hinblick auf die Struktur von
Parteien und Parteiensystemen. Hier interessiert vor allem die Frage, ob die Parteien
von beiden Ebenen vertikal stark integriert sind (wie etwa in Deutschland oder
Österreich) oder nur einen bestenfalls lockeren Zusammenschluss bilden (wie etwa
in der Schweiz oder in Kanada). Zudem befasst sich die vergleichende Forschung
mit den Strukturmerkmalen der Parteiensysteme auf beiden Ebenen, die entweder
ähnlich (kongruent) oder verschieden sind (inkongruent) (vgl. Lehmbruch 2000;
Thorlakson 2007).
Aus der Policy-Perspektive geht es der vergleichenden Föderalismusforschung
vor allem um die Frage, wie sich eine föderative Ordnung auf die unterschiedlichen
Bereiche der Staatstätigkeit auswirkt. Einerseits wird in diesem Zusammenhang
oftmals konstatiert, dass Föderalismus die Staatstätigkeit eher bremst, weil gesamt-
staatliche Lösungen aufgrund nicht ausreichender Kompetenzen bzw. des Wider-
standes von Gliedstaaten erschwert werden (Brennan und Buchanan 1980). Zudem
wird auf die Gefahr einer negativen Dynamik des Wettbewerbs um die niedrigsten
Regulierungsstandards verwiesen (sog. „Delaware-Effekt“). Andererseits zeigt die
Forschung auch, dass eine föderale Struktur progressive Reformen durchaus auch
befördern bzw. einen positiven Regulierungswettbewerb auslösen kann (sog. „Cali-
fornia-Effekt“). Insgesamt lässt sich aus dem Forschungsstand keine eindeutige
Tendenz ableiten – die Auswirkungen des Föderalismus auf die Staatstätigkeit sind
vielmehr kontingent und kontextabhängig (Obinger et al. 2005).
Die drei Dimensionen stehen zudem in einem engen Wechselverhältnis. So
scheint etwa die institutionelle Ausgestaltung des Föderalismus deutliche Auswir-
kungen auf die organisatorischen Eigenschaften der Parteien ebenso wie auf die
Modi der Konsensbildung und Konfliktregulierung zu haben (Thorlakson 2007).
Dualistische Systeme befördern demzufolge eine eher lose vertikale Integration von
Parteien. Politikverflechtung zwischen Bund und Gliedstaaten findet man in solchen
Systemen hingegen kaum; die Zusammenarbeit zwischen beiden Systemebenen
erfolgt hier eher auf der Basis der Kooperation, die bekanntlich Freiwilligkeit und
Exit-Optionen voraussetzt. Umgekehrt tendieren Parteien in föderativen Systemen,
die stärker durch „shared-rule“ charakterisiert sind, in höherem Maße vertikal
integriert zu sein. F€ur unilaterales Handeln gibt es hier nur sehr begrenzten Spiel-
raum und Kooperation geht mitunter in institutionalisierte Politikverflechtung €uber.
Auf der Policy-Ebene schließlich findet sich in solchen Systemen mehr Uniformität,
während in dualistischen Systemen Varianz in einzelnen Politikbereichen eine
größere Rolle spielt.

2.2 Der Vergleich von regionalen Zusammenschlüssen

Die regionale Zusammenarbeit von Staaten hat sich seit Mitte der 1980er-Jahre
quantitativ wie auch qualitativ stark intensiviert. Sie treten dabei sowohl als
Mehrebenanalyse in der Vergleichenden Politikwissenschaft 875

Koordinationsmechanismus nach innen – also als Mehrebensysteme –, als auch als


weltpolitische Akteure nach außen in Erscheinung. Das Phänomen des new regio-
nalism (vgl. Väyrynen 2003) erlaubt damit Vergleiche von Entstehung, Struktur und
Funktion sowie Leistungsfähigkeit verschiedener regionaler Integrationsansätze.
Bei der Erklärung des Zustandekommens regionaler Zusammenschl€usse domi-
nieren intergouvernementale, polit-ökonomische und neo-funktionalistische Erklä-
rungsansätze (vgl. Hurrell 1995; Schirm 2002). Durch die Globalisierung sind die
nationalstaatlichen Handlungsspielräume eingeschränkt, weshalb sich die regionale
Kooperation und Integration als effizientes und politisch verträgliches Element
anbietet, die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern (Schirm 1997, S. 69). Stahl
(1998) identifiziert anhand der Beispiele der EU und ASEAN einen breiten
Faktoren-Mix, der ebenfalls die ökonomischen Effizienzkriterien beinhaltet, aber
auch alternative Elemente wie externe Ereignisse und Lernprozesse der Entschei-
dungsträger. Das deckt sich mit dem €ubergeordneten Faktor des „Globalen Mark-
tes“, den Schirm (2002) in seiner vergleichenden Analyse von EU, NAFTA und
MERCOSUR identifiziert. Dieser ist letztlich f€ur die notwendigen Präferenzver-
schiebungen bei den Regierungen zu Gunsten regionaler Kooperation verantwort-
lich. Auch Beeson (2005) betont die besondere Rolle externer Faktoren als Rahmen-
bedingungen, innerhalb derer die regionalen Akteure handeln, und relativiert damit
die Erklärungskraft des neo-funktionalistischen Zugriffs. Er weist in seinem histori-
schen Vergleich Europäischer und Ostasiatischer Integration insbesondere auf die
starken Krisen und den fördernden Einfluss der Hegemonialmacht USA hin.
Den unterschiedlichen Strukturen und Funktionen widmet sich Fawcett (2004) in
historischer Perspektive und stellt vor allem eine große Varianz fest. Sie identifiziert
drei Elemente, die als Grundlagen der weiteren Diskussion und somit als Vergleichs-
kriterien dienen können: die Kapazitäten und die Ressourcenausstattung der Zusam-
menschl€ usse, die Rolle der staatlichen Souveränität der Mitgliedstaaten und die
interne Machtverteilung, also die Frage nach einem Hegemon innerhalb der Orga-
nisation (Fawcett 2004, S. 442). So unterscheidet insbesondere die interne Macht-
asymmetrie die EU und MERCOSUR, weshalb die Funktionsweise trotz ähnlicher
Institutionalisierung variiert (Mukhametdinov 2007). Dagegen macht Katzenstein
(1996) das Fehlen eines Hegemons zentral f€ur das Funktionieren und die prinzipielle
Offenheit europäischer und asiatischer Zusammenschl€usse verantwortlich, obwohl
deren institutionelle Ausgestaltung (netzwerkartig in Asien, institutionalisiert in
Europa) stark differiert.
F€ur die Erklärung der Leistungsfähigkeit von regionalen Zusammenschl€ussen im
Vergleich wird häufig der Institutionalisierungsgrad in den Fokus genommen, wobei
die These formuliert wurde, dass eine niedrigere Institutionalisierung auf Grund der
höheren Flexibilität zu effizienteren Lösungen f€uhre (vgl. Kahler 1995). Es zeigt
sich, dass in nahezu allen Regionen die Bedeutung der regionalen Zusammen-
schl€usse trotz niedrigen Organisationsgrades wächst (Hettne 2001, S. 47). R€uland
(2002) kann dagegen belegen, dass es vielmehr die Opportunitäts- und Governance-
Kosten der Nationalstaaten sind, die €uber die Nutzung und damit den Erfolg
regionaler Zusammenschl€usse entscheiden. F€ur Krisenzeiten wie z. B. der Asien-
krise gilt, dass hier die wahrgenommenen Governance-Kosten hoch sind und
876 M. Knodt et al.

vermehrt auf globale Arrangements (IWF, WTO) oder bilaterale Beziehungen


zur€uckgegriffen wird (R€uland 2002, S. 201). Die Lösung der Mexiko-Krise von
1995 im Rahmen der NAFTA wurde dagegen allein durch den Hegemon USA
ermöglicht. So findet auch Mukhametdinov (2007) im Vergleich von EU und MER-
COSUR, dass es gerade die nicht-wirtschaftlichen Faktoren wie kulturelle Hetero-
genität und Machtasymmetrien sind, die f€ur den Erfolg der Kooperation
ausschlaggebend sind.
Es kann aber festgehalten werden, dass beim Vergleich regionaler Zusammen-
schl€usse bislang der explizite Mehrebenencharakter eher eine nachgeordnete Rolle
spielt. Zunächst sind es die Entstehungsbedingungen, institutionellen Strukturen und
Problemlösungskapazitäten, die im Zentrum komparativer Analysen stehen. Die
internen Koordinationsprozesse selbst bleiben hier eher unber€ucksichtigt. Dies
mag daran liegen, dass der Verflechtungscharakter in allen Organisationen jenseits
der EU weniger ausgeprägt ist und diese eher einer rein intergouvernementalen
Zwei-Ebenen-Logik (vgl. Putnam 1988) folgen.

2.3 Das europäische Mehrebenensystem im Vergleich

Die gängige Bezeichnung der EU als System „sui generis“ (Jachtenfuchs 1997;
Jachtenfuchs und Kohler-Koch 2004) trifft zwar das Gesamtphänomen, erweist sich
jedoch gerade f€ ur die vergleichende Analyse als untauglich und versperrt den Blick
auf mögliche Vergleichsperspektiven. Denn auf den ersten Blick sperrt sich die EU
gegen die gängigen Konstruktionen politischer Systeme und staatlichen Handelns
im Sinne von Regierungshandeln. Politische Entscheidungen im „Staatenverbund“
können weder auf das Handeln einer einzigen europäischen Regierung zur€uckge-
f€uhrt werden noch mit der Summe des Regierungshandelns seiner Mitgliedstaaten
gleichgesetzt werden.
Auch die Versuche, das europäische Mehrebenensystem nach gängigem Muster
zu typologisieren und somit f€ur den Vergleich furchtbar zu machen, kann als wenig
gelungen bezeichnet werden. Knelangen (2005) versucht, dabei die EU als struktu-
rell ähnlich mit parlamentarischen, präsidentiellen und vor allem semi-präsiden-
tiellen Systemtypen zu charakterisieren. Dies allerdings mit deutlichen Abweichun-
gen gegen€ uber diesen Typen, die durch den nicht-staatlichen Charakter der EU zu
begr€ unden sind. Deshalb kreiert er den neuen Typ des „intergouvernementalen
Semi-Präsidentialismus“, der auf die Ähnlichkeiten mit dem semi-präsidentiellen
Systemtyp verweist und zugleich den zum Teil intergouvernementalen Charakter der
EU reflektiert (Knelangen 2005, S. 7). Doch macht dieser Einordnungsversuch
wenig Sinn: So sind die Parallelen zum Semi-Präsidentialismus aufgrund der spezi-
fischen Funktionsweise von Kommission, Rat und Parlament, die in keiner Weise
die f€ur staatliche (demokratische) Systeme vorgesehenen Funktionen erf€ullen bzw.
sich in keinerlei Schema der Trennung von Exekutive und Legislative einordnen
lassen, doch nur scheinbar gegeben. So ist es m€ußig dar€uber zu streiten, ob die
Möglichkeit der Abwahl der Kommission durch das Parlament als Indikator f€ur ein
semi-präsidentielles System taugt oder nicht, wenn der Kommissionspräsident keine
Mehrebenanalyse in der Vergleichenden Politikwissenschaft 877

der in solchen Systemen €ublichen Funktionen aus€ubt und durch grundsätzlich andere
Mechanismen ins Amt kommt.
Damit stellt die EU einen Gegenstand dar, bei dessen Analyse auf den ersten
Blick wenig klassische Ansatzpunkte f€ur die vergleichende Forschung zu finden
sind. Daher macht es mehr Sinn, sich €uber das Konzept des Regierens zu nähern.
Nicht zuletzt durch den Bedeutungsverlust des Nationalstaates und die Verwischung
territorialer Grenzen im Prozess des Regierens erwies sich der Zwei-Ebenen-Ansatz
aus den 1980er-Jahren (vgl. Putnam 1988) Anfang der neunziger Jahre als zu
restriktiv f€ur eine Reihe von neu aufkommenden auch komparativen Fragestellun-
gen. So lenkten die Diskussionen um regionale Bewegungen, um Regionen als
eigenständige Mitspieler in der europäischen Politik, die Anerkennung der regiona-
len Ebene und das Einbeziehen subnationaler Akteure in das komplexe System
europäischer Entscheidungsprozesse die Aufmerksamkeit auf die ebenen-
€ubergreifende Politikgestaltung. Gerade die Forschung €uber die europäische Regio-
nalpolitik hat gezeigt, dass neben nationalen Regierungen eine Vielzahl von subna-
tionalen, nationalen und europäischen Akteuren – öffentliche und private Akteure –
in europäisches Regieren eingebunden sind (vgl. Heinelt 1996; Knodt 1998). Die
zentralen Charakteristika des europäischen Mehrebenensystems sind dabei (vgl.
Knodt 2005): (1) Die EU als polyzentrisches System mit multiplen Arenen und
Netzwerken; (2) die institutionelle Balance der unterschiedlichen Akteure auf der
europäischen Ebene, die die sich in einem steten Spannungsverhältnis zwischen der
notwendigen R€ ucksichtnahme auf die Partikularinteressen und dem Bestreben der
Förderung der Gemeinschaft changiert; (3) die Konsensorientierung in einem inter-
aktiven Raum, in dem konsensorientierte Politikgestaltung harten Verhandlungen
vorgezogen wird.
Wie wird in einem solch hybriden und verflochtenen Gebilde regiert? Welches
sind die institutionalisierten Formen und welches die zentralen Prozess-Elemente
des Entscheidungssystems? Damit lenken wir den Blick weg von den vergeblichen
Versuchen, die polity der EU mit Hilfe der gängigen oder leicht angepassten Typo-
logien der Vergleichenden Regierungslehre zu untersuchen. Vielmehr lenken wir
den Blick auf die politics-Dimension, die eine ganze F€ulle von Vergleichsmöglich-
keiten bietet. Exemplarisch sei hier nur die Forschung zur Interessenvermittlung in
der EU genannt, in der Akteursqualitäten und – strategien wirtschaftlicher und
gesellschaftlicher Interessen ebenso wie die Einbindungspolitik der Europäischen
Kommission und des Europäischen Parlaments mannigfaltige Ansatzpunkte f€ur den
Vergleich mit nationalstaatliche bekannten Phänomenen bietet (vgl. dazu u. a. Knodt
et al. 2012).

2.4 Vergleichende Politikwissenschaft und Europäisierung

2.4.1 Auswirkungen auf die polity-Dimension: Institutionelle


Anpassung
Eine der ersten Forschungsperspektiven in der Analyse der Europäisierung war
die der Anpassung der institutionellen Strukturen der Mitgliedsstaaten an die
878 M. Knodt et al.

Anforderungen der Europäischen Integration. Schließlich, so eine zentrale These


Wessels (1996, S. 35), f€uhre diese Entwicklung schließlich zu einer Konvergenz der
konstitutionellen und institutionellen settings der Mitgliedstaaten. Empirische Stu-
dien kommen zum Schluss, dass sich der Trend zu einer Konvergenz jedoch nur
teilweise bestätigt: Es lassen sich gemeinsame Muster identifizieren, wie etwa
Dezentralisation, Sektoralisierung, hohe administrative Koordination und geringe
Beteiligung der Parlamente, denen sich alle Mitgliedstaaten annähern, die nationalen
Eigenheiten jedoch €uberwiegen weiterhin. Die strukturelle Anpassung verläuft
zudem eher inkremental in ad hoc-Reaktionen auf Basis des jeweils bestehenden
Systems, (vgl. u. a. Hanf und Soetendorp 1998).
Die vielleicht größten strukturellen Veränderungen ergaben sich f€ur die politisch-
administrativen Systeme. Als Gemeinsamkeiten im Vorbereitungsprozess europä-
ischer Gesetzgebung werden dabei von Kassim (2000, S. 237 ff.) die gewachsene
Rolle der Regierungschefs, die zentrale Rolle der Außenministerien, institutionali-
sierte Mechanismen zur interministeriellen Koordination und die organisatorische
Anpassung innerhalb der Ministerien identifiziert. Zentrale Unterschiede bestehen
jedoch nach wie vor im Ausmaß der Zentralisierung der Koordination, der Invol-
vierung regierungsinterner und -externer Akteure und den konkreten Koordinations-
mechanismen, da die Koordinationseinheiten und interministeriellen Gremien in
Form, Funktion und Ansehen variieren.

2.4.2 Polity- und politics-Dimension: prozedurale Anpassungen


Institutioneller Wandel durch Europäisierung vollzieht sich in dieser Sichtweise
nicht allein durch ausgehandelte Entscheidungen €uber Verfassungs- und Vertrags-
revisionen, sondern ebenso durch Veränderungen der einge€ubten Routinen sowie in
den die Institutionen konstituierenden Leitideen und Legitimationskonzepten. In der
Literatur stehen dabei zwei Thesen im Vordergrund. Zum einen wird davon ausge-
gangen, dass es in föderal organisierten Systemen kaum zu institutionellem Wandel
durch Europäisierung kommt. Das Argument ist, dass föderale Systeme im inner-
europäischen Vergleich aufgrund ihres institutionellen „fit“ einem schwächeren
Anpassungsdruck ausgesetzt sind als eher zentralistisch organisierte Staaten. Es
besteht somit wenig Notwendigkeit f€ur Veränderungen (vgl. Schmidt 2001) Zudem
werde der kooperative Föderalismus durch Europäisierungsprozesse weiter fortge-
schrieben und in seinem spezifischen System der Konsensorientierung und Verflech-
tung zementiert. Die Orientierung auf kooperative Strategien durch die Europäisie-
rung wird dabei als konvergenter europäischer Trend interpretiert (Börzel 2000,
S. 246). Zum anderen wurde speziell in Bezug auf die BRD als zweite These
formuliert, dass der Anpassungsprozess die Institution des kooperativen Bundes-
staates als solche eher gestärkt als transformiert hat (ebenda: 246). Beide Thesen
wurden durch alternative Forschungsergebnisse herausgefordert. Am Beispiel der
deutschen Länder konnte gezeigt werden, dass auch Föderalstaaten einem enormen
Anpassungsdruck ausgesetzt sind und Anpassungsleistungen erbringen. Dar€uber
hinaus gibt es eine Tendenz weg von kooperativen hin zu kompetitiven Strategien
(vgl. Knodt 2002).
Mehrebenanalyse in der Vergleichenden Politikwissenschaft 879

2.4.3 Akteure auf der politics-Ebene


F€ur die Europäisierungsforschung ebenfalls zentral sind Arbeiten zur Europäisie-
rung der Interessenvermittlung nationaler Wirtschaftsverbände. Meist werden dabei
zwei Aspekte untersucht: Zum einen wird die nationale mit der europäischen Ein-
flusslogik verglichen, also die institutionellen und strukturellen Bedingungen und
Prozesse des nationalen und des europäischen politischen Systems, innerhalb dessen
die Verbände ihre Interessen artikulieren und einzubringen versuchen (vgl. Quittkat
2005, S. 366). Nationale Interessenvertreter m€ussen dabei erhebliche Anpassungs-
leistungen erbringen, um erfolgreich Einfluss auf den europäischen Politikprozess
auszu€uben. Die durch empirische Studien belegte These lautet dabei, dass „sich der
Prozess der Anpassung an den neuen, erweiterten europäischen Handlungsraum um
so schwieriger [gestaltet], je stärker die europäische und die nationale Einflusslogik
divergieren, da nationale Interessengruppen sich nicht nur auf das politische System
der EU einstellen m€ussen, sondern aufgrund des europäischen Mehrebenensystems
sich zudem auf z. T. sehr unterschiedliche Kontextbedingungen einzustellen haben“
(Quittkat 2005, S. 366; Knodt et al. 2012). Ähnlich gehen auch vergleichende
Studien zur Interessenvermittlung von zivilgesellschaftlichen Organisationen vor
(vgl. u. a. Knodt und Finke 2005).
Zu den Akteuren, die den intermediären Raum f€ullen, gehören selbstverständlich
neben Interessenverbänden und zivilgesellschaftlichen Organisationen auch die
Parteien. Doch gerade diesen im staatlichen Rahmen zentralen Akteuren wird in
der Europäisierungsliteratur wenig Aufmerksamkeit geschenkt (Ladrech 2002,
S. 389). Das mag auch am begrenzten Einfluss politischer Parteien auf der Europä-
ischen Ebene liegen. So gestaltet sich die Vergleichsperspektive schwierig, existie-
ren doch auf europäischer Ebene keine Parteien, sondern lediglich Parteienb€unde,
mit denen nationale Parteien ihre Tätigkeit auf die europäische Ebene hin ausge-
richtet haben (Ayirtman und P€utz 2005, S. 390). Trotzdem finden sich auch hier
vergleichende Studien auf zwei Ebenen. Zum einen wird untersucht, inwieweit
Europaparteien die notwendigen institutionellen Voraussetzungen mit sich bringen,
um zur Schaffung eines europäischen intermediären Raums und damit zum Entste-
hen einer europäischen politischen Öffentlichkeit beizutragen (vgl. Ayirtman und
P€utz 2005). Dort wird diese Funktion europäischer Parteib€unden an dem Vorbild
nationalstaatlicher Parteien in westlichen Demokratien gemessen. Zum anderen wird
die nationalstaatliche Ebene analysiert und Kriterien die Erfassung des Ausmaßes an
Europäisierung entwickelt (Ladrech 2002, Jachtenfuchs 2002).

2.4.4 Die policy-Dimension: EU-Politik im Vergleich der Politikfelder


Ein großer Teil der Literatur widmet sich den Auswirkungen der Europäisierung auf
konkrete Politikfelder. Häufig finden sich hier reine Implementationsstudien, in
denen die nationale oder regionale Umsetzung europäischer Politiken in verschiede-
nen Politikfeldern analysiert wird. Erstaunlich ist dabei die große Varianz, die sich
€uber die Länder hinweg zeigt. Doch gibt es auch ausf€uhrliche Studien, die sich dem
gesamten Politikzyklus von der Politikformulierung €uber die Entscheidung bis zur
Implementation im Vergleich anhand einer bestimmten Perspektive analysieren
(Vgl. Wallace et al. 2010; Heinelt und Knodt 2010). Selbstverständlich spielen hier
880 M. Knodt et al.

auch die institutionellen Rahmenbedingungen eine Rolle, letztlich aber stehen ins-
besondere die Prozesse selbst im Vordergrund. Dazu werden die zentralen Institutio-
nen und Akteure identifiziert und die politischen Prozesse und Entscheidungsver-
fahren nachgezeichnet. Häufig geht das mit einer Analyse der Interaktionsmuster
einher. Ein besonders Augenmerk liegt aber auf den Interessenkonstellationen und
den konkreten Politikinhalten und schließlich zentral auf der Implementation selbst.
Als idealtypisches Beispiel dieser Forschungstradition kann der Sammelband von
Heinelt und Knodt (2010) dienen, der einer je nach Politikfeld auftretenden
Mischung der von Hooghe und Marks (2003) vorgenommenen Unterscheidung
zwischen zwei Typen von Mehrebenensystemen, dem allgemeinen Zwecken dien-
enden („general-purpose jurisdictions“) im Sinne föderaler Ordnung organisierten
Typ I und dem sich auf spezifische Zwecke sogenannte „funktionaler Zweckver-
bände“ konzentrierenden Typ II nachgeht.

3 Zusammenfassung und Ausblick für die zukünftige


komparative Forschung

Wie unser Überblick gezeigt hat, ist der vergleichende Zugriff auf Mehrebenensys-
teme in den verschiedenen Forschungsfeldern unterschiedlich weit vorangeschritten.
F€ur die zuk€unftige Forschung sehen wir folgende Herausforderungen und Chancen:
Im Bereich des Vergleichs von Föderalstaaten bietet der Mehrebenenansatz eine
Fokussierung auf die spezifischen Koordinations- und Steuerungsprobleme und damit
auf die politics- und policy-Dimension an. Hier ist die Forschung sicherlich noch am
Anfang. Noch größer sind die Möglichkeiten im Bereich des Vergleichs regionaler
Zusammenschl€ usse. Bislang dominiert die Betrachtung aus Sicht der Internationalen
Beziehungen, der sich weniger den internen Mechanismen widmet. Doch bietet es sich
an, auch f€ ur weitere Institutionen neben der EU den Mehrebenencharakter selbst
vergleichend zu analysieren. Welche Koordinationsprobleme bestehen in welchem
institutionellen setting; wie werden diese jeweils gelöst; wie können Gemeinsamkeiten
und Unterschiede in den Prozessen und deren Erfolgen erklärt werden? Hier können
Erkenntnisse aus der vergleichenden Föderalismusforschung oder der Europafor-
schung fruchtbar gemacht werden, um Hypothesen zu generieren.
Innerhalb der EU-Forschung ist der Zugriff auf Mehrebenensysteme mittels des
Konzepts des Regierens sicherlich am weitesten vorangeschritten. Hier wurde deut-
lich, dass sich selbst die EU als System „sui generis“ nicht generell gegen ver-
gleichende Forschung sperrt, wenn man die reduzierte polity-Perspektive verlässt.
Zusätzlich kann eine stärkere Ber€ucksichtigung klassischer Konzepte aus der com-
parative politics hilfreich sein. Insbesondere im Rahmen der Europäisierungsdebatte
kann eine Systematisierung in zwei Richtungen erfolgen: Erstens kann bei einer
Fallauswahl explizit auf Typologien zur€uckgegriffen werden, um die institutionellen
und prozeduralen Unterschiede der Mitgliedstaaten kontrollieren zu können. Zwei-
tens können spezifische System-Eigenschaften explizit als unabhängige Variablen
getestet werden, um Varianzen auf der unteren Ebene der EU zu erklären.
Mehrebenanalyse in der Vergleichenden Politikwissenschaft 881

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EU und Europäisierung aus komparativer
politikwissenschaftlicher Perspektive

Christian Adam und Christoph Knill

Zusammenfassung
Das Feld der Europäisierungsforschung beschäftigt sich mit Veränderungen unter-
schiedlicher Aspekte nationaler Politik, welche ursächlich auf die Europäische Union
bzw. den europäischen Integrationsprozess zur€uckgehen. Konkret wird analysiert wie
sich politische Inhalte, institutionelle Arrangements oder auch die politische Ausein-
andersetzung durch den Einfluss der EU verändern. Zusätzlich wird untersucht, durch
welche Mechanismen dieser Einfluss transportiert wird und unter welchen Bedingun-
gen dieser zu starken bzw. schwachen Veränderungen auf nationaler Ebene f€uhrt.

Schlüsselwörter
Europäisierung • Europäische Union • Implementationsforschung • Institution-
eller Wandel

1 Einleitung

Der Umfang und die Heterogenität dieser sich unter dem Schlagwort der „Europä-
isierungsforschung“ versammelten Literatur ist mittlerweile beträchtlich. Manche Stu-
dien verwenden den Begriff „Europäisierung“ synonym f€ur den europäischen Integra-
tionsprozess. Dies wird teilweise als „bottom-up“ Europäisierungsperspektive

C. Adam (*)
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl f€ ur Empirische Theorien der Politik, Geschwister-
Scholl-Institut f€ur Politikwissenschaft, Ludwig-Maximilians-Universität M€
unchen, M€ unchen,
Deutschland
E-Mail: christian.adam@gsi.uni-muenchen.de
C. Knill
Professor f€ur Empirische Theorien der Politik, Geschwister-Scholl-Institut f€
ur Politikwissenschaft,
Ludwig-Maximilians-Universität M€ unchen, M€ unchen, Deutschland
E-Mail: christoph.knill@gsi.uni-muenchen.de

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 885


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_65
886 C. Adam und C. Knill

bezeichnet (z. B. Lawton 1999: 92; Risse et al. 2001: 4). Das Gros der sich rund um das
Schlagwort der Europäisierung versammelnden Studien konzentriert sich jedoch auf die
Analyse von Konsequenzen des Integrationsprozesses f€ur die nationale Ebene; die
sogenannte „top-down“ Perspektive der Europäisierung. Dementsprechend fokussiert
dieser Beitrag auf diesen letzteren – wie wir denken – konstitutiven Kern der Europä-
isierungsforschung. So existieren mittlerweile eine Reihe exzellenter Einf€uhrungs- und
Überblicksartikel, die sich jeweils Teilbereichen der Europäisierungsforschung widmen
(Goetz und Meier-Sahling 2008; Ladrech 2009; Treib 2008).
Um dennoch einen möglichst anschaulichen Überblick €uber das gesamte For-
schungsfeld bieten zu können, bedient sich dieser Beitrag einer grammatikalischen
Analogie. Konkret kann demnach der konstitutive Gegenstand der Europäisierungs-
forschung als Forschung verstanden werden, die an einer speziellen Subjekt-Prädi-
kat-Objekt Konstellation interessiert ist. So beschreibt das Schlagwort der „Europä-
isierungsforschung“ Studien, die sich mit der Validität folgender Prämisse
beschäftigen: Der europäische Integrationsprozess (Subjekt) beeinflusst bzw. verän-
dert (Prädikat) die nationale Politik (Objekt).
Die Heterogenität des Forschungsfeldes ergibt sich durch zwei Differenzierun-
gen. Erstens durch eine differenzierte Betrachtung – um im gewählten grammatika-
lischen Bild zu bleiben – des Objekts „nationale Politik“: Was verändert sich konkret
auf nationaler Ebene? So untersuchen manche Studien die Veränderung von Inhalten
nationaler Politik, während andere an der Veränderung nationaler institutioneller
Arrangements oder nationaler politischer Auseinandersetzung interessiert sind.
Zweitens, versucht die Europäisierungsforschung die oben beschriebene konstitu-
tive Subjekt-Prädikat-Objekt Konstellation durch adverbiale Bestimmungen zu er-
gänzen, welche die Umstände eines Geschehens näher charakterisieren. Meist zielen
Untersuchungen auf die Bestimmung adverbialer Instrumentalbestimmungen ab, die
angeben, wodurch der europäische Integrationsprozess nationale Politik beeinflusst
(Mechanismen). Zusätzlich liegt der Fokus auf adverbialen Konditionalbestimmun-
gen, die bestimmen, unter welchen Bedingungen verschiedene Mechanismen mehr
oder weniger Wirkung entfalten.1

2 Was beeinflusst der Integrationsprozess auf nationaler


Ebene?

Arbeiten im Bereich der Europäisierungsforschung lassen sich zunächst anhand


ihres Interesses an der Frage unterscheiden, was sich denn genau auf nationaler
Ebene durch den europäischen Integrationsprozess verändert. Inwiefern verändern

1
Zusätzlich lässt sich zunehmend auch ein Interesse an Fragen erkennen, die auf die Bestimmung
adverbialer Lokalbestimmungen abzielen. Diese Studien analysieren, wo der Integrationsprozess
nationale Politik beeinflusst: Wie unterscheidet sich der Einfluss zwischen alten und neuen Mit-
gliedstaaten? Wie ist dieser Einfluss in auch jenseits der aktuellen geographischen Grenzen der
Europäischen Union beschaffen? Dieser Beitrag klammert dieses Feld aufgrund von Platzbeschrän-
kungen jedoch aus. Siehe jedoch: (Schimmelfennig 2012; Sedelmeier 2011).
EU und Europäisierung aus komparativer politikwissenschaftlicher. . . 887

sich hierdurch (a) die Inhalte nationaler Politik (b) die nationalen politischen und
administrativen Institutionen und (c) der nationale politische Wettbewerb.

2.1 Inhalte nationaler Politik

Dass die EU Einfluss auf die Inhalte nationaler Politik nimmt, kann wohl als intuitiv
plausibelster Aspekt der Veränderungen auf nationaler Ebene gesehen werden.
Schließlich ist es ein zentrales Ziel der europäischen Verträge und der Verabschie-
dung europäischer Rechtsakte, „gemeinschaftsverträgliche“ und mitgliedstaatliche
Regeln f€ur bestimmte Politikbereiche zu definieren. Vielfach impliziert diese Vor-
gabe Regelungen zur wechselseitigen Anerkennung, eine partielle Angleichung
(Definition nationaler Minimum- oder Maximalstandards) oder eine vollständige
Harmonisierung nationaler Regelungen (Holzinger und Knill 2005).
Die nationale Einhaltung, Umsetzung und Anwendung solcher Vorgaben ist jedoch
keinesfalls ein trivialer Prozess. Nationale Abweichungen werden dabei auf unter-
schiedlichen Dimensionen erfasst: Erstens analysieren Studien in diesem Kontext, ob
europäische Vorgaben fristgerecht umgesetzt werden (z. B. Kaeding 2006; Masten-
broek 2003). Dies ist insbesondere bei der Analyse der nationalen R€uckwirkungen
europäischer Vorgaben in Form von Richtlinien relevant, welche zunächst innerhalb
einer vorgegebenen Frist in nationales Recht €ubersetzt (transponiert) werden m€ussen.
Da hierbei jedoch nur die P€unktlichkeit der Transposition Ber€ucksichtigung findet,
versuchen andere Studien die inhaltliche Richtigkeit der Transposition zu untersuchen
(z. B. Falkner et al. 2005). Diese zu beurteilen ist jedoch ein ressourcenintensiver
Prozess, der u. a. weitreichendes juristisches Beurteilungsvermögen verlangt. Dem-
entsprechend beschränken sich Studien mit diesem analytischen Fokus entweder auf
die Analyse weniger ausgewählter Richtlinien (Falkner et al. 2005; Knill und Len-
schow 1998). Oder sie setzen auf die Beurteilungsfähigkeit der Kommission, indem sie
die Anzahl eingeleiteter Vertragsverletzungsverfahren gegen Mitgliedstaaten untersu-
chen und dabei Verfahren, die aufgrund verspäteter Umsetzung eingeleitet wurden,
ausklammern (z. B. Mbaye 2001). Insgesamt geben diese Forschungsstrategien aber
wohl auch nur den Blick auf die „Spitze des Eisbergs“ der Implementationsprobleme in
der EU frei (Falkner et al. 2007).

2.2 Nationale institutionelle Arrangements

Wie wirken supranationale Einfl€usse auf nationale institutionelle Arrangements?


Europäisierungsstudien mit dieser Fragestellung untersuchen meist Veränderungen
(a) innerhalb nationaler Verwaltungsapparate bzw. nationaler Exekutiven, oder
(b) im Verhältnis zwischen nationaler Exekutive und Legislative.2

2
Zur genaueren Diskussion der Literatur mit diesem Fokus siehe: (Goetz und Meier-Sahling 2008).
888 C. Adam und C. Knill

Innerhalb nationaler Exekutiven wird meist die empirische Relevanz dreier


potentieller Entwicklungen untersucht: der Konvergenz, der Dezentralisierung und
der Zentralisierung nationaler Exekutiven im Zuge des Integrationsprozesses. Unter-
suchungen dieser Art deuten darauf hin, dass der Integrationsprozess und die
zunehmende Harmonisierung von Rechtsvorschriften zwar teilweise durchaus zu
institutionellen Veränderungen der nationalen Exekutiven f€uhren. Gleichzeitig zei-
gen diese Arbeiten jedoch auch, dass eine umfassende institutionelle Konvergenz
der mitgliedstaatlichen Exekutiven ausbleibt (Knill 2001; Olsen 2003; Page 2003;
Siedentopf und Speer 2003).
Dennoch wird der europäische Integrationsprozess mit Dezentralisierungstenden-
zen innerhalb der Exekutiven der Mitgliedstaaten in Form einer zunehmenden
Ausbreitung von Regulierungsbehörden in Verbindung gebracht (Egeberg 2006).
Diese sind nicht unmittelbar in die nationale Verwaltungshierarchie eingebunden
und sind somit mit einem höheren Grad an Autonomie gegen€uber des nationalen
Verwaltungszentrums ausgestattet (Pollit et al. 2001). So wird die Europäische
Kommission zum neuen administrativen Zentrum Europas, indem sie Implementa-
tions- und Durchf€ uhrungspraktiken unmittelbar mit den nationalen Regulierungsbe-
hörden koordiniert (Curtin und Egeberg 2008; Egeberg 2006). Wenngleich diese
Entwicklung nationale Verwaltungshierarchien nicht ersetzt, werden diese doch um
zusätzliche neue Verwaltungsnetzwerke ergänzt. Egeberg bringt dies mit dem
Begriff der „double-hatted agencies“ auf den Punkt (Egeberg 2006).
Gleichzeitig scheint der Integrationsprozess aber auch Zentralisierungstendenzen
innerhalb nationaler Exekutiven zu befördern; insbesondere dort wo Exekutivvertreter
in Prozesse der Politikformulierung eingebunden sind. Einerseits wuchs der Einfluss
von Regierungschefs gegen€uber anderen Mitgliedern der Exekutiven durch ihre Rolle
innerhalb des Europäischen Rates bei sogenannten „Gipfeltreffen“ (King 1994). Ande-
rerseits stieg die Bedeutung bestimmter Ressorts. Gerade die Finanzministerien wurden
im Zuge der Europäischen Währungsunion gegen€uber anderen Ministerien aufgewertet
(Dyson 2002; Kassim 2003; Mittag und Wessels 2003). Interessanterweise lassen sich
solche EU-induzierten Zentralisierungstendenzen nicht nur f€ur Mitgliedstaaten, son-
dern auch teilweise schon f€ur Beitrittskandidaten ausmachen (Zubek 2001, 2005).
Die Stärkung bestimmter Teile nationaler Exekutiven durch ihre Einbindung in
Rechtssetzungsverfahren auf europäischer Ebene wird jedoch nicht nur mit Verände-
rungen der Machtallokation innerhalb nationaler Exekutiven, sondern auch mit Verän-
derungen des Machtverhältnisses zwischen nationalen Exekutiven und nationalen
Legislativen in Verbindung gebracht. So spekuliert bereits Weiler (1991), dass es
nationalen Regierungen gerade auch deshalb möglich war, die durch den Gerichtshof
der Europäischen Union in den 1960er-Jahren eingeleiteten weitreichenden Integra-
tionsschritte zu akzeptieren, weil der Integrationsprozess die Macht dieser Regierungen
gegen€ uber ihren nationalen Parlamenten vergrößerte. Im Zuge dieser Entwicklungen
schienen nationale Parlamente die „Verlierer“ des europäischen Integrationsprozesses
zu sein (Mittag und Wessels 2003; Moravcsik 1994; Schmidt 1997). Jedoch stimmen
nicht alle Forschungsarbeiten dieser – als „Deparlamentarisierungsthese“ bekannten –
Diagnose uneingeschränkt zu. So argumentieren beispielsweise Raunio und Hix
(2000), dass sich nationale Parlamente im Zeitverlauf durchaus einen stärkeren Zugriff
EU und Europäisierung aus komparativer politikwissenschaftlicher. . . 889

auf supranationale Entwicklungen sichern konnten.3 Dies gelang gerade auch durch die
Formierung europapolitischer Aussch€usse in nationalen Parlamenten.
Zusätzlich scheinen nicht alle Mitgliedstaaten in gleichem Maße von dieser De-
bzw. Re-Parlamentarisierung beeinflusst zu sein. Indizes von Raunio (2005) oder
auch Saalfeld (2005) können dabei helfen, den Einfluss nationaler Parlamente auf
supranationale Entwicklungen vergleichend zu analysieren.

2.3 Parteien und politischer Wettbewerb auf nationaler Ebene

Schließlich bleibt die Frage, inwiefern der europäische Integrationsprozess zu Ve-


ränderungen des nationalen politischen Wettbewerbs f€uhrt. Lange Zeit wurde der
europäische Integrationsprozess hauptsächlich als Elitenprojekt verstanden, das die
implizite Bef€ urwortung einer fortschreitenden Integration durch die nationale Öf-
fentlichkeit als gegeben annahm. Dieses häufig als „permissiver Konsens“ (Lindberg
und Scheingold 1970) beschriebene Arrangement scheint sich jedoch seit dem
Vertrag von Maastricht bzw. spätestens seit den gescheiterten Verfassungsreferenden
in Frankreich und Irland sukzessive aufgelöst zu haben und durch ein zunehmendes
Maß an Politisierung ersetzt worden zu sein (Hooghe und Marks 2009; Mair 2007a).
Dementsprechend begann die Europäisierungsforschung, den Einfluss des Integra-
tionsprozesses auf nationale Parteien und Parteiensysteme unter die Lupe zu nehmen
(K€ulahci 2012; Ladrech 2002).4 Während Mair im Jahr 2000 nur einen marginalen
Einfluss des europäischen Integrationsprozesses auf nationale Parteien und nationa-
len politischen Wettbewerb diagnostizierte (Mair 2000), ist fraglich inwiefern diese
Diagnose heute noch haltbar ist. Um diese Diagnose zu hinterfragen wird beispiels-
weise untersucht, in welchem Ausmaß nationale Parteien EU-relevante Themen

uberhaupt in ihren Parteiprogrammen aufgreifen (Pennings 2006; Ladrech 2007)
bzw. inwiefern europapolitische Themen das nationale Wahlverhalten beeinflussen
(de Vries 2007). Wenn es dabei zu einer expliziten europapolitischen Positionierung
von Parteien kommt, erfolgt diese jedoch nicht Sachfragen-spezifisch. Stattdessen
bleibt die Parteifamilie und die ideologische Prädisposition einer Partei der beste
Prädiktor f€ur deren europapolitische Positionierung (Hellström 2008; Marks und
Wilson 2000). Gerade deshalb bef€urchtet Mair (2007b), dass das Fehlen einer
differenzierten nationalen Debatte €uber einzelne europapolitische Entscheidungen
dazu f€uhrt, dass sich die Opposition gegen€uber einzelnen europapolitischen Fragen
an der Europäischen Union als Institution als ganzes entladen könnte. Die Befunde
von Hix (1999) aber auch von Kriesi und Grande (2008) können durchaus als
Hinweis auf die Validität dieser Bef€urchtung verstanden werden. So identifiziert
Hix (1999) eine relevante Konfliktlinie innerhalb nationaler Parteiensysteme, die
sich entlang der Achse pro- und anti-europäischer Positionen entwickelt. Zusätzlich

3
Ähnlich auch Judge (1995).
4
Einen sehr viel detaillierten Überblick €
uber die Entwicklungen in diesem Teilbereich der Europä-
isierungsforschung als uns an dieser Stelle möglich ist, liefert Ladrech (2009).
890 C. Adam und C. Knill

beobachten Kriesi und Grande (2008) eine Transformation etablierter Parteiensys-


teme, welche auf EU-bedingte Veränderungen der ökonomischen Möglichkeits-
strukturen auf nationaler Ebene zur€uckgeht.

3 Wodurch beeinflusst der Integrationsprozess nationale


Politik?

Während sich dementsprechend unterschiedliche Aspekte nationaler Politik im Zuge


des europäischen Integrationsprozesses zu verändern scheinen, bleibt zu klären,
welche konkreten kausalen Mechanismen hierbei relevant sind. Wodurch verändert
der Integrationsprozess bzw. die EU nationale Politik?

3.1 Positives Recht: Verbindliche Modelle für die nationale Ebene

Ein erster Mechanismus, durch den die EU auf ihre Mitgliedstaaten einwirkt, ist die
Vorgabe politischer Inhalte und institutioneller Arrangements, die es auf Seiten der
Mitgliedstaaten aktiv umzusetzen gilt. Auf supranationaler Ebene wird ein institu-
tionelles Modell definiert, an das nationale Regelungen angepasst werden m€ussen
(Knill und Lehmkuhl 1999). Dieser Mechanismus der Europäisierung findet sich vor
allem in Bereichen der sogenannten positiven Integration (Taylor 1983) in Form
marktkorrigierender, re-regulativer Eingriffe wie sie typischerweise in den Berei-
chen Umweltschutz, Arbeitsschutz, oder Verbraucherschutz vorkommen. Diese
erfordern die Umgestaltung und Umformung bestehender nationaler Arrangements
entlang konkreter Vorgaben (Scharpf 1994, 1999). Durch die explizite Vorgabe
bestimmter politischer Inhalte wirkt die EU somit häufig direkt auf den Inhalt
nationaler Policies ein.

3.2 Wettbewerb: Beeinflussung nationaler


Gelegenheitsstrukturen

Zweitens wirkt die EU auf ihre Mitgliedstaaten u€ber die Veränderung nationaler
Gelegenheitsstrukturen ein (Knill und Lehmkuhl 1999). Hierzu gehören Verände-
rungen der strukturellen Möglichkeit der Partizipation an politischen Entscheidun-
gen sowie Veränderungen der Ressourcenallokation. Nationale Gelegenheitsstruktu-
ren verändern sich zunächst durch die mit dem Integrationsprozess einhergehende
Fragmentierung politischer Systeme infolge der Einf€uhrung einer weiteren – einer
supranationalen – Ebene. Hierdurch erhöht sich die Anzahl politischer Arenen in
denen Akteure tätig werden können (Goetz und Hix 2000; Kelemen 2011). Zusätz-
lich verändert die EU nationale Gelegenheitsstrukturen insbesondere durch markt-
schaffende Verbote bestimmter Handlungen. Um das ökonomische Herzst€uck des
Integrationsprozesses verwirklichen zu können, musste der Handlungsspielraum der
Mitgliedstaaten in einigen Bereichen eingeengt werden. Konkret wurde ihnen bei-
EU und Europäisierung aus komparativer politikwissenschaftlicher. . . 891

spielsweise die Möglichkeit genommen, ihre nationalen Märkte bzw. nationalen


Industrien und Unternehmen durch Einfuhrzölle oder marktverzerrende Subventio-
nierung vor ausländischer Konkurrenz zu sch€utzen.
Durch solche – hauptsächlich marktschaffenden – Verbote bestimmter nationaler
Handlungen, beeinflusst die EU nationale Politik direkt. Zusätzlich beeinflussen
diese marktschaffenden Verbote nationale Politik indirekt, indem sie gerade durch
ein Verbot protektionistischer Maßnahmen und der Schaffung eines Binnenmarktes
in etablierte Macht- und Ressourcenallokationen eingreifen (Knill und Lehmkuhl
1999), den Handlungsspielraum politischer Parteien einschränken (Ladrech 2002)
und die Mitgliedstaaten einem regulativen Wettbewerb aussetzen (Radaelli 2000;
Schmidt 2002).

3.3 Politischer Zwang

Während die bisher diskutierten Europäisierungsmechanismen sich primär u€ber


rechtliche Regelungen und deren nationale Konsequenzen entfalten, sind auch
andere Einflusskanäle denkbar, die primär auf politischer Zwangsaus€ubung und
weniger auf rechtlicher Verpflichtung basieren. Von politischem Zwang kann dann
gesprochen werden, wenn ein externer politischer Akteur eine Regierung dazu
zwingt, eine bestimmte Policy einzuf€uhren. Dies setzt eine Asymmetrie von Macht
voraus. Oft gibt es einen Austausch von wirtschaftlichen Ressourcen gegen die
Einf€uhrung einer bestimmten Politik. Im Hinblick auf die EU manifestiert sich eine
solche Konstellation insbesondere in der Aus€ubung von Konditionalität gegen€uber
beitrittswilligen Staaten (Schimmelfennig und Sedelmeier 2004; Sedelmeier 2012).

3.4 Stimulation von Lernprozessen

Europäisierung muss sich freilich nicht auf politische Zwangsaus€ubung oder recht-
liche Verpflichtung beschränken. Vielmehr spielt sich ein bedeutender Teil nationa-
ler R€uckwirkungen der europäischen Integration auf eher „weichen“ Kanälen ab, in
deren Rahmen sich die EU auf die Stimulation nationaler Lernprozesse beschränkt.
Entsprechend basieren nationale Anpassungen weniger auf Zwang und Ver-
pflichtung, sondern auf Freiwilligkeit. Wenn europäische Vorgaben etwa nur emp-
fehlenden Charakter haben, sind die Mitgliedstaaten generell frei in ihrer Entschei-
dung, diesen Vorgaben zu folgen oder nicht. Gerade in diesem Zusammenhang
d€urfte häufig die diskursive Verbreitung von Ideen und Überzeugungen der Wir-
kungskanal sein, wodurch nationale Politik beeinflusst wird (Holzinger und Knill
2005; Schmidt 2002). So liefern supranationale Akteure, Handlungen und Entwick-
lungen argumentative Andockungspunkte f€ur politische Akteure auf nationaler
Ebene, welche auch ohne eine konkrete und verbindliche Vorgabe von europäischer
Ebene nationale Veränderungen bedingen können. Knill und Lehmkuhl (1999)
diskutieren dies beispielsweise im Kontext nationaler Eisenbahnregulierung.
892 C. Adam und C. Knill

Je höher die Zahl der Länder ist, die einen bestimmten Ansatz €ubernehmen, desto
wahrscheinlicher wird es, dass sich die Suche nach Legitimität in mitgliedstaatlich-
em institutionellem Wandel niederschlägt (Meyer und Rowan 1977). Zudem erhö-
hen Konstellationen hoher Unsicherheit (DiMaggio und Powell 1991: 70), Zeitdruck
(Bennett 1991: 223) und der Versuch, hohe Informationskosten zu vermeiden (Tews
2002: 180) die Wahrscheinlichkeit, dass nationale Institutionen dem Mainstream
angepasst werden.
Die Frage, ob europäische Politik eher auf Verbindlichkeit oder Freiwilligkeit
abhebt, ist vielfach weniger im Sinne einer bewussten Entscheidung der Europä-
ischen Kommission zu verstehen, sondern ergibt sich aus der Bereitschaft der Mit-
gliedstaaten, in einem bestimmten Politikbereich Kompetenzen auf die europäische
Ebene zu verlagern. Gerade im Bereich der Sozialpolitik, wo die politische Bereit-
schaft zur Vergemeinschaftung relativ gering ausgeprägt ist, lässt sich diese weiche
Form europäischer Einflussnahme beobachten. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund
hat sich die EU im Rahmen der sogenannten Offenen Methode der Koordinierung
einen institutionellen Rahmen zur Stimulation freiwilliger Prozesse des Informa-
tionsaustausches und des Politiklernens gesetzt.

4 Unter welchen Bedingungen beeinflusst die EU nationale


Politik?

Die vorangegangene Diskussion machte bereits deutlich, dass der Einfluss des
europäischen Integrationsprozesses auf nationale Politik nicht einheitlich ist. Der-
selbe europäische Stimulus m€undet in unterschiedlichen Mitgliedstaaten in unter-
schiedlichen Reaktionen. Supranationale Einfl€usse zeigen sich in manchen Mitglied-
staaten deutlich stärker als in anderen. Dementsprechend gilt zu klären, unter
welchen Bedingungen die EU nationale Politik verändert. Grundsätzlich scheinen
drei Faktoren das tatsächliche Ausmaß EU-induzierter Veränderungen zu bedingen:
(a) das Ausmaß implizierter Veränderungen, (b) der nationale Wille zur Beeinflus-
sung dieser Prozesse und (c) die Möglichkeit oder Kapazität, nationale Veränder-
ungsprozesse zu beeinflussen.

4.1 Wandel ist bedingt durch das Ausmaß implizierter


Veränderungen

Grundsätzlich implizieren europäische Vorgaben und Entwicklungen nicht in allen


Mitgliedstaaten Veränderungen gleichen Ausmaßes. So wurde oben ausgef€uhrt, dass
der europäische Integrationsprozess häufig mit einer Zentralisierung innerhalb na-
tionaler Exekutiven sowie mit einer Stärkung dieser Exekutiven gegen€uber ihren
nationalen Parlamenten in Verbindung gebracht wird (Dyson 2002; Kassim 2003;
Mittag und Wessels 2003; Moravcsik 1994; Schmidt 1997). Klar ist jedoch auch,
dass sich die nationalen politischen Systeme der Mitgliedstaaten stark voneinander
unterscheiden. So weisen nationale Exekutiven in manchen Mitgliedstaaten auch
EU und Europäisierung aus komparativer politikwissenschaftlicher. . . 893

traditionell bereits einen höheren Zentralisierungsgrad auf. Ebenso sind manche


nationalen Parlamente auch grundsätzlich bereits mit schwächeren Einflussmöglich-
keiten gegen€ uber ihren Exekutiven ausgestattet als andere. Diese unterschiedlichen
nationalen Ausgangssituationen implizieren bereits unterschiedliche Veränderung-
spotenziale.
Ähnliches lässt sich im Kontext politischen Wettbewerbs argumentieren. Sollte
die internationale Öffnung nationaler Märkte im Zuge des europäischen Integra-
tionsprozesses und die damit einhergehende Generierung von Gewinnern und Ver-
lierern dieser Entwicklung tatsächlich zu Anpassungsdruck auf etablierte Parteien
und das nationale Parteiensystem f€uhren (vgl. Kriesi und Grande 2008), so d€urfte
dieser Anpassungsdruck keineswegs in allen Mitgliedstaaten gleich stark sein.
Gerade in Ländern, in denen nur einzelne wenige Unternehmen und Industriezweige
international konkurrenzfähig sind, sollte die Diskrepanz zwischen Gewinnern und
Verlierern besonders stark ausgeprägt sein. Ist die nationale Industrie jedoch in
weiten Teilen konkurrenzfähig, bleiben nur wenige Verlierer des Integrationsproz-
esses als potentielle Wähler neuer europaskeptischer Parteien zur€uck. Der auf eta-
blierten Parteien und dem Parteiensystem lastende Veränderungsdruck sollte dem-
entsprechend geringer ausfallen.
Die Relevanz des Ausmaßes implizierter Veränderungen als Bedingung f€ur die
beobachtbaren Veränderungen auf nationaler Ebene wird auch am Beispiel der
Anpassung politischer Inhalte deutlich. Gerade mächtige Mitgliedstaaten mit größe-
rer ökonomischer Bedeutung haben bessere Möglichkeiten, die von ihnen präfer-
ierten politischen Inhalte auf die supranationale Ebene „hochzuladen“ (Börzel
2000). Gelingt es auf diese Weise beispielsweise Deutschland, die eigenen national
definierten Umweltstandards in eine europäische Richtlinie zu gießen, sollte die
Umsetzung dieser Richtlinie in Deutschland kein größeres Problem darstellen, da die
Richtlinie kaum Anpassungsbedarf erfordern d€urfte. Ob eine europäische Vorgabe
Veränderungen auf nationaler Ebene induziert, hängt dementsprechend vom be-
stehenden „Misfit“ zwischen der Vorgabe und dem nationalen status quo ab (Börzel
2000; Duina 1997; Knill und Lenschow 1998). Wo keinerlei Misfit besteht, ist auch
kein EU-induzierter Wandel zu erwarten.

4.2 Wandel ist bedingt durch den mitgliedstaatlichen Willen zur


Einflussnahme

Nat€urlich m€undet großer Anpassungsdruck keineswegs automatisch in weitreich-


enden Veränderungen auf nationaler Ebene. Vielmehr kann EU-induzierter Verän-
derungsdruck abgefedert bzw. ausgebremst werden. Gerade wenn nationale Akteure
ideologische Vorbehalte gegen€uber den jeweiligen europäischen Vorgaben haben,
werden sie versuchen, nationale Anpassungen zu minimieren (Treib 2003). Analog
hierzu kann bei einer Präferenz f€ur bestimmte supranationale Vorgaben diese ideo-
logische Prädisposition auch dazu f€uhren, dass die europäischen Vorgaben dazu
genutzt werden, noch viel weitreichendere nationale Veränderungen herbeizuf€uhren
als die europäischen Vorgaben impliziert hätten (Héritier et al. 2001).
894 C. Adam und C. Knill

Die Relevanz des Willens zur Einflussnahme auf EU-induzierte Veränderungen


zeigt sich auch im institutionellen Kontext. So argumentieren Hix und Raunio
(2000), dass nationale Parlamente nach einer anfänglichen Erfahrung relativen
Machtverlusts gegen€uber ihren Exekutiven verstärkt versuchten, diesen Machtver-
lust insbesondere durch die Schaffung europapolitischer Aussch€usse auszugleichen.
Gleichzeitig unterstreichen Pollack und Slominski (2003) am Beispiel Österreichs,
dass die aktive Nutzung ihrer Kontrollrechte gegen€uber der Exekutiven in europa-
politischen Angelegenheiten vom politischen Willen der Parlamentarier abhängt.
Ähnlich argumentiert auch Knill (2001), dass das Ausmaß nationaler Veränderungen
administrativer Arrangements nicht allein vom Niveau des Veränderungsdrucks
abhängt, der von europäischer Ebene ausgeht. Zusätzlich wird das Ausmaß
EU-induzierter nationaler Veränderungen administrativer Arrangements auch durch
den Willen nationaler Akteure bedingt, diese Veränderungen zu vollziehen bzw. zu
blockieren. Schließlich zeigt sich die Relevanz des Willens zur Einflussnahme auf
induzierte Veränderungen auch im Kontext des Einwirkens der EU auf nationalen
politischen Wettbewerb. Ob und inwiefern es hier zum Aufkommen rechtspopulisti-
scher europakritischer Parteien kommt, hängt eben auch von der Frage ab, wie
gewillt etablierte Parteien sind, auf die Anforderungen einzugehen, die sich aufgrund
des europäischen Integrationsprozesses an den politischen Wettbewerb stellen
(Kriesi und Grande 2008).

4.3 Wandel ist bedingt durch die Möglichkeiten der


Einflussnahme

Nicht zuletzt hängt der tatsächliche Einfluss der EU auf nationale Politik von der
Möglichkeit ab, entsprechende nationale Anpassungen aktiv herbeizuf€uhren oder zu
verhindern. Dies wird insbesondere am Beispiel des Einflusses supranationaler
Policies auf nationale politische Inhalte deutlich. So scheint gerade die nationale
Verwaltungskapazität entscheidend zu bedingen, wie schnell und korrekt europä-
ische Vorgaben national umgesetzt werden (Börzel et al. 2011; Börzel et al. 2010;
Hille und Knill 2006; Toshkov 2007). Doch nicht nur technische und administrative
Ressourcen sind Teil dieser Möglichkeit der Einflussnahme auf die Wirkung supra-
nationaler Entwicklungen auf nationaler Ebene. Gleichzeitig sind im nationalen
politischen System nicht alle Akteure gleichermaßen in der Lage, ihren ideologi-
schen Präferenzen tatsächlich Wirkung zu verschaffen. Ob dies dem jeweiligen
Akteur gelingt, hängt davon ab, wie dessen Zugang zum politischen Entscheidungs-
prozess ausgestaltet ist. Deutlich wird dieser Einfluss der nationalen Vetospieler-
Struktur in mehreren Studien zu EU-induziertem Wandel nationaler politischer
Inhalte (Haverland 2000; Kaeding 2008).
Die Frage, wie fragmentiert bzw. zentralisiert politischer Einfluss im jeweiligen
nationalen politischen System verteilt ist, wird auch jenseits der Veränderung politi-
scher Inhalte relevant. So gelingt es gerade nationalen Parlamenten dort besser,
europapolitische Handlungen ihrer nationalen Exekutive zu kontrollieren, wo die
Macht der Exekutive stark fragmentiert ist (z. B. Holzhacker 2005). Grundsätzlich
EU und Europäisierung aus komparativer politikwissenschaftlicher. . . 895

scheinen dabei Parlamente, die ohnehin starke Kontrollmöglichkeiten gegen€uber ihrer


nationalen Exekutive haben, besser in der Lage zu sein, etwaigen EU-induzierten
Zentralisierungstendenzen entgegenzuwirken und diese Kontrollmöglichkeiten zu
bewahren (Raunio 2005). Auch in Bezug auf Veränderungen administrativer Arran-
gements zeigt sich, dass nationale Akteure manche Arrangements nur sehr schwer
verändern können. Die Persistenz nationaler Verwaltungsmuster wird dabei häufig auf
die tiefe Verankerung dieser Elemente in der nationalen Verwaltungskultur zur€uckge-
f€uhrt, die sich auch durch gewisse funktionale Anforderungen auf höheren Hierar-
chieebenen der Exekutiven oder durch den Änderungswillen bestimmter Akteure
kaum auflösen lassen (Kassim 2003; Knill 2001).
Schließlich wird auch der Einfluss integrationsbedingter Änderungen des natio-
nalen politischen Wettbewerbs von den Möglichkeitsstrukturen beeinflusst, welche
nationalen Akteuren im jeweiligen System zur Verf€ugung stehen. Inwiefern wirt-
schaftliche Effekte der integrationsbedingten Marktöffnung das Aufkommen neuer
rechtspopulistischer Parteien bedingen, hängt eben auch entscheidend von der Höhe
elektoraler H€ urden auf nationaler Ebene ab (Kriesi und Grande 2008).

5 Kritische Würdigung

Im Zuge ihrer zunehmenden Ausdifferenzierung gelingt es der Europäisierungs-


forschung einen – im Sinne unserer grammatikalischen Analogie – immer voll-
ständigeren Satz zu formulieren, der besagt was, wo, wodurch und unter welchen
Bedingungen im Zuge des europäischen Integrationsprozesses auf nationaler Ebene
verändert wird. Gleichzeitig bleibt eine thematische sowie geographische Verzer-
rung dieses Forschungsfeldes weitestgehend bestehen.
Insbesondere Europäisierungsforschung, die sich auf die nationale Umsetzung
europäischer Policies konzentriert, ist durch eine thematische Verzerrung charakter-
isiert. Konkret beleuchten empirische Studien insbesondere solche Politikfelder, die
nur einen kleinen Ausschnitt der Aktivitäten der EU ausmachen. So wissen wir €uber
den Einfluss der EU in einigen Politikfeldern sehr viel (z. B: Umwelt- und Sozial-
politik); dagegen aber in anderen Politikfeldern sehr wenig. Dies ist korrektur-
bed€ urftig, da gerade die empirisch unterbelichteten Tätigkeitsfelder, wie etwa die
Landwirtschaftspolitik, Regionalpolitik oder staatliche Beihilfepolitik, zum Kern
des Kompetenzbereichs der EU gehören (Franchino 2005).5 Diese Diskrepanz wird
gerade dann deutlich, wenn man sich vor Augen hält, dass zwar einerseits eine
Vielzahl von Studien etwaige Implementationsdefizite bei der Umsetzung umwelt-
politischer Vorgaben der supranationalen Ebene untersucht haben, gleichzeitig
jedoch kaum Untersuchungen €uber den Einfluss europäischer Vorgaben zur zulässi-

5
In den Bereichen Regionalpolitik und Beihilfepolitik ist dieser Fokus jedoch interessanterweise
vor allem hinsichtlich der alten westeuropäischen Mitgliedstaaten relevant, während die neuen
osteuropäischen Staaten recht gut beleuchtet sind (Bache 2010; Blauberger 2009a, 2009b; Bruszt
2008; Hughes und Sasse 2004).
896 C. Adam und C. Knill

gen Maximalverschuldung öffentlicher Haushalte auf das tatsächliche nationalstaat-


liche Verschuldungsverhalten existieren.
Zusätzlich zeichnet sich die Europäisierungsforschung durch einen geographisch-
institutionellen Fokus aus, namentlich der Analyse des Einflusses der Europäischen
Union auf ihre Mitgliedstaaten. Während dieser Fokus zwar zweifelsohne konstitutiv
f€ur die Europäisierungsforschung ist, bleibt fraglich, ob er einer analytischen Progres-
sion in diesem Feld nicht paradoxerweise im Wege steht. Schließlich untersuchen
Europäisierungsstudien typischerweise ausschließlich nationale Entwicklungen in
EU-Mitgliedstaaten oder in EU-Beitrittskandidaten. Wie stark, besonders oder speziell
dabei der Einfluss der EU auf nationale Entwicklungen ist, lässt sich durch diese
geographische Verzerrung der Untersuchungen kaum analysieren. Obwohl immer
mehr Studien auf die Jagd nach Europäisierungseffekten jenseits der
EU-Mitgliedstaaten gehen (Schimmelfennig 2012), können diese die systematische
geographische Verzerrung der typischerweise untersuchten Samples bislang nicht
auflösen. Hierzu w€urden Forschungsdesigns benötigt, die einen Vergleich zwischen
Ländern, die einem EU Einfluss ausgesetzt sind und solchen, die es nicht sind,
erlauben. Gerade die Erkenntnis, dass auch Nicht-Mitgliedstaaten bestimmten Ein-
fl€ussen der EU ausgesetzt sein können, kompliziert dabei freilich die Fallauswahl f€ur
solche Designs.

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Internationale Regime im
politikwissenschaftlichen Vergleich

Helmut Breitmeier

Zusammenfassung
Die vergleichende Analyse internationaler Regime begann mit der Erforschung der
Einflussfaktoren auf die Regimeentstehung. In diesem Kontext entstanden verglei-
chende Studien, die auf einer relativ kleinen Fallzahl beruhten. Mit der Hinwendung
der Regimeanalyse zur Untersuchung der Regimeeffektivität wuchs gleichzeitig die
Erkenntnis, dass die gewonnenen Befunde nur dann auch generalisierbar sind, wenn
diese auf der Grundlage von „large-n-studies“ gewonnen werden. Mit dem Aufbau
einer Datenbank €uber internationale Umweltregime wurde die quantitative Regime-
analyse forciert. Durch die in dieser Datenbank enthaltenen Befunde konnte der
empirische Nachweis erbracht werden, dass internationale Regime tatsächlich einen
kausalen Einfluss auf verschiedene Dimensionen der Regimeeffektivität (z. B.
Zielerreichung, Problemlösung und Compliance) aus€uben.
Schlüsselwörter
Internationale Regime • Regimeentstehung • Effektivität von Regimen • Umwelt •
Datenbank € uber internationale Regime

1 Einleitung

Internationale Regime bestehen aus Prinzipien, Normen, Regeln, Entscheidungsver-


fahren und programmatischen Aktivitäten, die zur Bearbeitung grenz€uberschreiten-
der Probleme dienen (zum Beispiel im Welthandelsregime, im Klimaregime oder den
internationalen Regimen zur R€ustungskontrolle). Internationale Regime r€uckten seit
den 1970er-Jahren vermehrt ins Zentrum des Interesses der theoretischen und empiri-
schen Forschung der Internationalen Beziehungen, da die internationale Staatenwelt

H. Breitmeier (*)
Stellvertretender Vorsitzender des Vorstands der Stiftung Entwicklung und Frieden (sef), Professor f€
ur
Internationale Beziehungen, Institut f€
ur Politikwissenschaft, Universität Gießen, Gießen, Deutschland
E-Mail: helmut.breitmeier@sowi.uni-giessen.de

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 901


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_66
902 H. Breitmeier

trotz bestehender grundlegender (machtpolitischer) Systemkonflikte in internationa-


len Regimen dauerhafte Formen der zwischen-staatlichen Kooperation entwickelte,
die auf die kollektive Bearbeitung grenz€uberschreitender Probleme abzielten (Kras-
ner 1983; Keohane 1984). Weil die Mitgliedsstaaten innerhalb dieser Institutionen
weitgehend die Kontrolle €uber die Entscheidungsfindung und die Implementation
von Politiken bewahrten, wurden internationale Regime auch als nicht-hierarchische
Governanceformen verstanden („Governance without government“), in denen die
Nationalstaaten keine Entscheidungsbefugnisse an eine €uber-nationale Instanz abtre-
ten mussten (Rosenau und Czempiel 1992). Zwischen einzelnen Theorieschulen
blieb umstritten, ob solche Formen der „flachen“ und nicht-hierarchischen Koopera-
tion auch unabhängig von existierenden Machtstrukturen im internationalen System
entstehen und einen eigenständigen Beitrag zur Problembearbeitung leisten können.
Internationale Regime nehmen dann eine völkerrechtlich verbindliche (also:
formelle) Gestalt an, wenn die verhaltensregulierenden Normen und Regeln auf
zwischen-staatlichen Vereinbarungen (z. B. internationalen Konventionen, Proto-
kollen, Annexen, Amendments usw.) beruhen, die von den Mitgliedsstaaten nicht
nur unterzeichnet, sondern auch ratifiziert werden. Daneben gibt es aber auch Soft-
Law-Regime, die auf informellen Vereinbarungen (z. B. Konferenz- bzw. Absichts-
erklärungen) beruhen, deren rechtliche Verbindlichkeit geringer ist. Soft-Law-
Regime stellen oftmals den Ausgangspunkt f€ur die Entwicklung von formellen
völkerrechtlich verbindlichen internationalen Regimen dar. Soft-Law-Regelungen
ergänzen dar€ uber hinaus oftmals den vorhandenen „harten Kern“ von völkerrecht-
lich verbindlichen Normen und Regeln internationaler Regime.
Internationale Regime stellen somit einen besonderen Typus von Global Gover-
nance dar, der von zwischen-staatlichen Normen und Regeln geprägt wird. Die trans-
nationale Zivilgesellschaft und multinationale Unternehmen wirken in internationalen
Regimen in den letzten Jahrzehnten aber immer stärker mit. Sie €ubernehmen wichtige
Funktionen bei der Umsetzung einzelner Regimeaktivitäten und -programme (Breit-
meier 2008). Transnationale Netzwerke von Wissenschaftlern tragen zum Beispiel
dazu bei, das Wissen €uber die Ursachen und Wirkungen von bestimmten Problemlagen
innerhalb des Regimes zu verbessern, wie die Arbeit des Intergovernmental Panel on
Climate Change (IPCC) bei der Erstellung der sogenannten „Weltklimaberichte“ zeigt.
Welche theoretischen Debatten forcierten den Schritt zur empirisch-vergleichenden
Analyse internationaler Regime? Welche methodischen Fortschritte ergaben sich aus
der empirisch-vergleichenden Regimeanalyse f€ur die Erforschung internationaler
Regime? Auf welchen abhängigen und unabhängigen Variablen lag der besondere
Schwerpunkt bei der empirisch-vergleichenden Regimeanalyse?

2 Von der Einzelfallstudie zu vergleichenden Studien mit


kleinem und großem „n“

Internationale Regime stellen Elemente eines institutionalistischen Weltordnungs-


modells dar. Dieses beruht auf der Vorstellung, dass Konflikte und Probleme zwi-
schen Staaten durch die Schaffung internationaler Institutionen friedlich und effektiv
Internationale Regime im politikwissenschaftlichen Vergleich 903

bearbeitet werden können. Internationale Regime leisten demnach einen kausalen


Beitrag zur Problemlösung, indem sie verschiedene institutionelle Mechanismen
bereitstellen, mit Hilfe derer Staaten soziale Fallen und Hindernisse f€ur die Entste-
hung von Kooperation €uberwinden, diese verstetigen und vertiefen. Diese Mecha-
nismen reduzieren – so die institutionalistische Theorie – das Misstrauen dar€uber,
einzelne Staaten könnten durch Nichteinhaltung oder vorsätzliches Betr€ugen die
geschaffene Kooperationsform zu ihrem eigenen Vorteil ausnutzen. Durch die Ein-
richtung von entsprechenden Mechanismen zur Verifikation, zum Compliance-
Management, Monitoring, Informationsaustausch, Wissensgenerierung und Streit-
beilegungsmechanismen wird Vertrauen zwischen Staaten geschaffen, werden Ver-
haltenserwartungen stabilisiert und Lernprozesse erzeugt, die Fortschritte in der
Bearbeitung grenz€uberschreitender Probleme ermöglichen (Keohane und Martin
1995).
Der Neorealismus befindet sich mit seinen Annahmen €uber die Strukturmerkmale
des internationalen Systems im Widerspruch zu diesem Weltordnungsmodell. Zwi-
schen der institutionalistischen und neorealistischen Theorie herrscht zwar Überein-
stimmung dar€ uber, dass es jenseits der Staatenwelt keine Instanz gibt, welche €uber
ein hinreichendes Gewaltmonopol zur Herstellung von Ordnung verf€ugt. Der Neo-
realismus kommt aufgrund dieses Strukturmerkmals der internationalen Beziehun-
gen und aufgrund der Annahme, dass Staaten primär an der Steigerung oder zumin-
dest am Erhalt ihres internationalen Machtpotenzials interessiert sind, zu dem
Befund, dass internationale Institutionen keinen besonderen Beitrag zur Problembe-
arbeitung in der Weltpolitik leisten (Mearsheimer 1994–1995).
Die Kontroverse zwischen den beiden Theorieschulen des Neoinstitutionalismus
und des Neorealismus hat ganz wesentlich dazu beigetragen, dass die empirisch-
vergleichende Analyse internationaler Regime in den letzten Jahrzehnten vorange-
trieben wurde. Bereits in den fr€uhen 1980er-Jahren argumentierte Susan Strange
(1983), internationale Regime w€urden „Epiphänomene“ darstellen. Sie seien somit
primär Ausdruck vorhandener Machtstrukturen im internationalen System und
w€urden selbst keine kausale Wirkung auf das internationale System erzeugen. Die
von der Spieltheorie inspirierte Schule des Neoinstitutionalismus wurde durch die
neorealistische Behauptung, wonach die Existenz internationaler Institutionen aus
der Macht einzelner Staaten und nicht aus der mit der Existenz von Regimen ver-
bundenen Nutzenerwartung resultiere, dazu motiviert, alternative Erklärungen f€ur
die Entstehung internationaler Regime zu entwickeln (Snidal 2002). Diese unter-
schieden sich insofern grundlegend von der neorealistischen Theorie, indem sie nach
alternativen Erklärungen f€ur die Entstehung internationaler Regime suchten, die eine
machtbasierte Erklärung relativierten und den Schwerpunkt vorwiegend auf interes-
senbasierte und kognitive Erklärungsansätze legten. Konstruktivistische Erklärungs-
ansätze wurden von der quantitativen Regimeforschung zwar bisher eher vernach-
lässigt. Doch es ist unabdingbar, dass die empirisch-vergleichende Regimeforschung
konstruktivistische Variablen vermehrt aufnehmen muss. Die „Logik der Angemes-
senheit“ (March und Olsen 1998) und die aus der damit verbundenen Ontologie
resultierenden Forschungsfragen m€ussen auch vom Design der quantitativen For-
schung noch stärker ber€ucksichtigt werden.
904 H. Breitmeier

2.1 Empirisch-vergleichende Analyse der Regimeentstehung

Erste Impulse f€ ur eine Rezeption der Regimeforschung in Deutschland Ende der


1980er-Jahre und f€ur die empirisch-vergleichende Analyse hatte die T€ubinger Re-
gimeforschergruppe um Volker Rittberger und Michael Z€urn gesetzt (Efinger
et al. 1988; Rittberger 1990). Dar€uber hinaus erkannte auch Beate Kohler-Koch
schon fr€uhzeitig die Notwendigkeit, „die in der bisherigen Regimeforschung prä-
sentierten Hypothesen €uber die Bedeutung bestimmter Umfeldbedingungen f€ur das
Zustandekommen, die Ausgestaltung und Bedeutung von Regimen wie auch €uber
die Zusammenhänge von Regimecharakteristika und Regimewirkungen anhand des
empirischen Materials zu €uberpr€ufen“ (Kohler-Koch 1989: 58). In einem ersten
Versuch einer empirisch-vergleichenden Analyse, der allerdings in der Folgezeit
nicht mehr fortgesetzt wurde, isolierte Kohler-Koch verschiedene von der damaligen
Forschung als relevant erachtete abhängige und unabhängige Variablen. Diese
bildeten die Grundlage f€ur die Codierung eines größeren Sets von 16 Regimen aus
unterschiedlichen Politikfeldern. F€ur die Auswertung dieser Daten benutzte Kohler-
Koch die formale Begriffsanalyse, um die Relevanz und das Zusammenwirken
unterschiedlicher Variablen f€ur die Erklärung einzelner abhängiger Variablen gra-
phisch sichtbar zu machen. Auf die formale Begriffsanalyse wurde allerdings später
bei der Auswertung der Datenbank €uber internationale Umweltregime als methodi-
sches Instrument wieder zur€uckgegriffen (Breitmeier et al. 2006, S. 273–294).
Die erste Phase der empirisch-vergleichenden Analyse internationaler Regime
konzentrierte sich auf die Beantwortung der Frage, welche Faktoren f€ur die Entste-
hung internationaler Regime letztlich verantwortlich sind. Diese Forschungsfrage
prägte die Regimeforschung zwischen den fr€uhen 1980er-Jahren bis zur Mitte der
1990er-Jahre. In diesem Zusammenhang entwickelte sich eine breite amerikanisch-
europäische Forschergemeinde, die neben Einzelfallstudien zur Entstehung einzel-
ner Regime eine empirisch-vergleichende Analyse vorgenommen hat, die noch auf
einer relativ kleinen Fallzahl beruhte. Im Mittelpunkt dieser Studien stand vor allem
die abhängige Variable der Regimeentstehung. Die Regimeforschung war dabei mit
der Erforschung der Frage beschäftigt, ob die Entstehung internationaler Regime vor
allem aus dem machtpolitischen Einfluss einzelner Staaten resultiert – was die
neorealistische Position untermauern w€urde – oder aber ob die Regimeentstehung
das Ergebnis des Selbstinteresses von Staaten ist, welche sich €uber die Errichtung
von institutionellen Mechanismen aus einem politischen Marktversagen befreien
und damit soziale Fallen beseitigen und Kooperationshemmnisse €uberwinden.
Die vergleichende Forschung €uber die Entstehung von internationalen Regimen
wurde in dieser Zeit insbesondere von zwei Forschergruppen vorangebracht. Eine
am Dartmouth-College angesiedelte Forschergruppe um Oran R. Young untersuchte
am Beispiel von f€unf Umweltregimen, welchen Einfluss unabhängige Variablen wie
Macht, Interessen, Wissen und bestimmte Kontextfaktoren auf die Regimeentste-
hung aus€ ubten (Young und Osherenko 1993). Im gleichen Zeitraum begann eine
T€ubinger Forschergruppe unter der Leitung von Volker Rittberger damit, die
empirisch-vergleichende Regimeforschung in Deutschland zu intensivieren und
diese in ein Netzwerk mit der anglo-amerikanischen und europäischen Forschung
Internationale Regime im politikwissenschaftlichen Vergleich 905

zu integrieren (Rittberger 1990; Efinger et al. 1993). Beide Projekte kamen auf der
Grundlage der vergleichenden Fallanalyse zu dem Ergebnis, dass machtbasierte
Faktoren f€ur die Entstehung der untersuchten internationalen Regime keine hinrei-
chende Erklärung bieten. In beiden Projekten bestätigten sich zudem die jeweiligen
interessen-basierten Erklärungen. Das T€ubinger Projekt konnte zum Beispiel die
Relevanz spieltheoretischer Erklärungen untermauern, wonach die Wahrscheinlich-
keit der Entstehung eines internationalen Regimes ganz wesentlich von der Situa-
tionsstruktur (bzw. der Interessenkonstellation) in einem Problemfeld abhängt.
Dar€uber hinaus entwickelte das T€ubinger Projekt auch einen eigenen problemstruk-
turellen Ansatz, der sich f€ur die Erklärung der Regimeentstehung als tauglich
erwiesen hat. Die europäische Regimeforschung räumte in dieser Phase normativen
Aspekten (u. a. der Frage nach der Verteilungsgerechtigkeit) einen größeren Stel-
lenwert ein als die nordamerikanische. Mit der vergleichenden Erforschung der
Entstehung internationaler Regime war auch eine konzeptionelle Weiterentwicklung
des Regimekonzepts als solches verbunden. Beide Projekte entwickelten Kriterien
f€
ur die Bestimmung der problemfeldspezifischen Grenzen einzelner Regime, f€ur die
Bestimmung des Zeitpunkts der Regimeentstehung bzw. der Beendigung eines
internationalen Regimes und f€ur die geographische Reichweite bzw. Geltung der
Regimeregeln.

2.2 Quantitative Regimeforschung: Regimeeffektivität

Die empirischen Befunde der vergleichenden Forschung zur Regimeentstehung


konnten zeigen, dass internationale Institutionen nicht ausschließlich durch Macht-
anwendung entstehen und andere unabhängige Variablen ebenfalls einen wichtigen
Einfluss darstellen (Rittberger 1993). Doch zentrale Fragen, die sich im Kontext der
Erforschung von „Global Governance“ stellen, blieben nach der Beschäftigung mit
der Regimeentstehung weiterhin offen: Leisten internationale Institutionen einen
eigenständigen kausalen Beitrag zur Problemlösung? Welche Faktoren beeinflussen
die Effektivität internationaler Regime? Die Effektivitätsforschung kn€upfte mit der
Abarbeitung dieser Forschungsfragen zunächst an die theoretische Debatte zwischen
Neoinstitutionalismus und Neorealismus an. Im Lauf der Zeit hat der Schwung
dieser Theoriedebatte aber auch nachgelassen. Die Forschung zu Global Governance
entwickelte sich vielmehr zu einem eigenständigen und breiten Feld in den Inter-
nationalen Beziehungen, die ihre Daseinsberechtigung gegen€uber dem Neorealis-
mus nicht mehr länger rechtfertigen musste. Damit wurde die Regimeforschung
immer mehr von analytischen Fragen geprägt, inwiefern bestimmte Eigenschaften
des politischen Prozesses (z. B. die verstärkte Einbeziehung von nichtstaatlichen
Akteuren), bestimmte Politiken bzw. das Vorhandensein institutioneller Eigenschaf-
ten und die Bereitstellung spezifischer Mechanismen die Effektivität beeinflussen.
Innerhalb der europäisch-amerikanischen Forscher-Community wurde Anfang
der 1990er-Jahre die Notwendigkeit betont, die Zahl der Fälle der vergleichenden
Regimeanalyse signifikant zu erhöhen, um generalisierbare Aussagen €uber die
Effektivität und Wirkungen internationale Regime zu erhalten. Der Aufbau einer
906 H. Breitmeier

Datenbank € uber internationale Umweltregime begann mit der Entwicklung eines


umfangreichen „Codebooks“, in dem die zentralen abhängigen und unabhängigen
Variablen enthalten sind, die f€ur eine quantitative Erforschung der Einflussfaktoren
und Ausprägung von Regimeeffektivität erforderlich sind (Levy et al. 1995; Breit-
meier et al. 1996a und 1996b). Die komplexe Variable der Effektivität kann nur
präzise gemessen werden, wenn sie in verschiedene Einzelvariablen zerlegt wird
(Young 1999; Breitmeier 2013). Eine Analyse der Zielerreichung orientiert sich an
der internen Perspektive der an der Regimebildung maßgeblich beteiligten Regie-
rungen. Diese € uberlegen sich bereits im Voraus, welche Auswirkungen die Formu-
lierung einzelner Ziele f€ur innerstaatliche Interessengruppen und f€ur die nationale
Implementation hat. Die in internationalen Regimen formulierten Ziele stellen in der
Regel einen Konsens zwischen den Regimemitgliedern dar€uber dar, wie anspruchs-
voll die Ziele der Problembearbeitung sein sollen. Bei schwach formulierten Zielen
(z. B. der relativ geringen Verminderung von Schadstoffen, bei langen Übergangs-
fristen zur Zielerreichung) bestehen f€ur Staaten keine großen Hindernisse f€ur die
Zielerreichung. Demgegen€uber wird die Problemlösung aus einer externen Perspek-
tive gemessen, bei der die erzielte Problembearbeitung aus dem Blickwinkel externer
Fachexperten gemessen wird. Dabei wird untersucht, inwiefern sich der Zustand der
von einem Regime bearbeiteten grenz€uberschreitenden Probleme verändert hat. Eine
weitere Dimension von Regimeeffektivität betrifft die Einhaltung von Normen und
Regeln durch die Regimemitglieder (Compliance). Dar€uber hinaus können Regime
auch mit Blick auf die Effizienz der zur Problembearbeitung verwendeten Politiken
untersucht werden. Die materielle Verteilungsgerechtigkeit stellt ein normatives
Kriterium dar, das f€ur Effektivität von Regimen bedeutend ist.
Einzelne Dimensionen von Regimeeffektivität sind kausal miteinander ver-
kn€upft. Wenn die in einem Regime formulierten Ziele nicht erreicht werden, dann
werden auch die vorhandenen Probleme durch das Regime nicht effektiv bearbeitet.
Wenn die durch ein Regime erwarteten materiellen Verteilungsleistungen von ein-
zelnen Staaten als ungerecht empfunden werden, dann wird die effektive Implemen-
tation von Regimeregeln durch diese Staaten weniger wahrscheinlich. Daher wird in
solchen Situationen die effektive Problembearbeitung eher schwerer. Wenn die
Einhaltung der Normen und Regeln nicht effektiv genug erfolgt, dann werden in
der Regel weder die Ziele eines Regimes erreicht noch die Probleme effektiv be-
arbeitet. Mit der Messung dieser Variablen sind €uberdies komplexe kausal-
analytische Fragen verkn€upft. Bei der Bestimmung der Problemlösung muss nicht
nur das Niveau der Problemlösung €uber Zeit gemessen werden. Um den tatsäch-
lichen Beitrag eines internationalen Regimes zur Problemlösung messen zu können,
muss auch bestimmt werden, wie sich der Zustand eines Umweltproblems ohne das
Vorhandensein eines Regimes entwickelt hätte. Die Durchf€uhrung einer solchen
kontrafaktischen Analyse (Tetlock und Belkin 1996) ist auch erforderlich, um den
Beitrag eines Regimes f€ur die Einhaltung von Normen und Regeln (Compliance)
und f€ur die Zielerreichung zu bestimmen.
In der Regimedatenbank ist ein breites Set von unabhängigen Variablen enthalten,
das unterschiedliche Erklärungsansätze in der Disziplin der Internationalen Bezie-
hungen ber€ ucksichtigt. Die Variablen bilden unter anderem (neo-)realistische, (neo-)
Internationale Regime im politikwissenschaftlichen Vergleich 907

institutionalistische, kognitive und auch problemstrukturelle Ansätze ab. Sie ermög-


lichen zum Beispiel eine Überpr€ufung von Hypothesen zur Theorie des rationalen
Designs von internationalen Institutionen und institutionen-ökonomischer Ansätze
(Koremenos et al. 2001, Ostrom 1990), des Beitrags von Wissen, Experten und
epistemischen Gemeinschaften, der Rolle von NGOs und transnationalen Unterneh-
men, der Macht bzw. den Interessen von wichtigen Staaten f€ur die Bildung und
Effektivität von internationalen Regimen usw. (Levy et al. 1995). Die Datenbank
ermöglicht die Analyse unterschiedlicher Ebenen, denn Variablen bilden nicht nur
die Ebene eines internationalen Regimes ab, sondern auch Prozesse innerhalb
wichtiger (ausgewählter) Staaten einzelner Regime.
F€ur die Datenbank €uber internationale Umweltregime wurden insgesamt 23
Regime codiert. Diese Regime beruhen auf völkerrechtlich verbindlichen Überein-
kommen und stellen somit formelle Institutionen dar (Breitmeier et al. 2006; Breit-
meier 2008). Die f€ur die Fallauswahl angewendeten Kriterien zielten darauf ab, dass
die in der Datenbank enthaltenen Regime eine hinreichend große Varianz in der
Ausprägung einzelner Dimensionen der Regimeeffektivität aufweisen. Zudem soll-
ten die Regime unterschiedliche Typen von Umweltg€utern und Problemtypen abde-
cken und Varianz in Bezug auf die Anzahl von Mitgliedstaaten bzw. den regionalen
Geltungsbereich aufweisen. Es konnten anderseits aber auch nur solche Regime in
die Datenbank aufgenommen werden, f€ur die kompetente Fallstudienexperten
gefunden wurden. Um die Komplexität einzelner Regime (z. B. verschiedene Rege-
lungsbereiche) und die Regimeentwicklung abzubilden, wurden Kriterien f€ur die
Entwicklung von Fallstrukturen entworfen. Die Codierung eines Regimes erfolgte
durch internationale Fallstudienexperten, wobei nahezu jedes Regime (nämlich
21 von 23 Regimen) von zwei Fallstudienexperten codiert wurde. Der Datensatz
bildet Prozesse ab, die von der Entstehung, wichtigen Wendepunkten (z. B.
einschneidenden Veränderungen bei den Regimeregeln) bis zum Jahr 1998 als
dem f€ ur alle Regime einheitlichen zeitlichen Endpunkt reicht. Damit liegt ein
umfangreicher Datensatz €uber Prozesse der Entstehung und Effektivität internatio-
naler Umweltregime f€ur die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts vor. Die Entwicklung
der Fallstruktur erfolgte in einem sogenannten „Precoding-Agreement“, das vom
Projektteam mit den Fallstudienexperten entwickelt wurde. Darin wurde auch ein
gemeinsames Verständnis €uber die von einem Regime bearbeiteten Probleme, die
darin formulierten Ziele, die rechtlichen und institutionellen Grundlagen und €uber die
in einem Regime relevanten Akteure (Staaten, NGOs, transnationale Unternehmen,
und Individuen) entwickelt. Nachdem sich beide Fallstudienexperten auf eine ge-
meinsame Fallstruktur verständigt hatten, f€uhrten diese jeweils unabhängig vonein-
ander die Codierung f€ur ein Regime durch. Die kleinste f€ur ein Regime codierte
Analyseeinheit stellt das sogenannte Regimeelement dar (siehe Tab. 1), das in der
Regel einen spezifischen institutionellen Ausschnitt eines internationalen Regimes
innerhalb einer einzelnen Zeitphase umfasst. Die 23 Regime bestehen insgesamt aus
92 Regimeelementen. F€ur 21 der 23 Regime existiert jeweils ein doppelter Datensatz,
so dass insgesamt Daten zu 172 Regimeelementen vorhanden sind. Damit kann f€ur
21 Regime € uberpr€uft werden, wie die vorliegende Codierung im Lichte des Daten-
satzes eines weiteren Fallstudienexperten zu bewerten ist (intercoder reliability).
908 H. Breitmeier

Tab. 1 Fallstruktur der f€


ur die Regimedatenbank codierten 23 Regime
Regime Regimeelemente
1. Antarctic Regime 1959-1998 Antarctic Treaty (1959–1980) (1980s) (1989/
91–1998) • Conservation of Flora and Fauna
(1964–1980) (1980s) (1989/91–1998) •
Conservation of Seals (1972–1980) (1980s)
(1989/91–1998) • CCAMLR (1980s) (1989/
91–1998) • Protocol on Environmental Protection
(1989/91–1998)
2. Baltic Sea Regime 1974–1998 Principles of Co-operation (1974–1992)
(1992–1998) • Environment Protection Principles
(1974–1992) (1992–1998) • Regulations for all
Sources of Marine Pollution (1974–1992)
(1992–1998) • Nature Conservation (1992–1998)
3. Barents Sea Fisheries Regime Norwegian-Russian Cooperation on Fisheries in
1975–1998 the Barents Sea Region (1975–1998)
4. Biodiversity Regime 1992–1998 Convention on Biological Diversity (1992–1998)
5. CITES-Regime (Trade in Endangered CITES-Convention (1973–1989) (1989–1998) •
Species) 1973–1998 TRAFFIC-Network on Monitoring and
Compliance (1978–1989) (1989–1998)
6. Climate Change Regime 1992–1998 United Nations Framework Convention on
Climate Change [UNFCCC] (1992–1997)
(1997–1998) • UNFCCC Financial Mechanism
(1992–1997) (1997–1998) • Kyoto-Protocol
(1997–1998)
7. Danube River Protection Regime Danube River Protection (1985–1991)
1985–1998 (1991–1994) (1994–1998)
8. Desertification Regime 1994–1998 United Nations Convention to Combat
Desertification (1994–1998)
9. Great Lakes Management Regime 1972 – Great Lakes Water Quality (1972–1978)
1998 (1978–1998) • Great Lakes Water Quantity
(1972–178) (1978–1998) • Great Lakes
Ecosystem Management (1978–1998)
10. Hazardous Waste Regime 1989–1998 Basel Convention (1989–1995) (1995–1998) •
Amendment to the Basel Convention
(1995–1998) • OECD/EU/Lome IV-Regulations
(1989–1995) (1995–1998) • Bamako Convention
(1991–1995) • Bamako/Waigani Conventions
(1995–1998)
11. IATTC Regime (Interamerican Tropical Conservation and Management of Tunas and
Tuna Convention) 1949–1998 Tuna-Like Fishes (1949–1976) (1976–1998) •
Conservation and Management of Dolphins
(1976–1998)
12. ICCAT Regime (Conservation of ICCAT-Convention (1966–1998)
Atlantic Tunas) 1966–1998
13. Regime for the International Regulation Whaling Regime (1946–1982) (1982–1998)
of Whaling 1948–1998
(Fortsetzung)
Internationale Regime im politikwissenschaftlichen Vergleich 909

Tab. 1 (Fortsetzung)
Regime Regimeelemente
14. London Convention Regime Wastes and Substances the Dumping of which is
1972–1998 Prohibited (1972–1991) (1991–1998) • Wastes
and Substances which, in Principle, may be
Dumped (1972–1991) (1991–1998) • Regulation
of Incineration at Sea (1978–1991) (1991–1998)
15. ECE-Regime on Long-Range LRTAP-Convention (1979–1982) (1982–1998) •
Transboundary Air Pollution (LRTAP) First Sulphur Protocol (1985–1998) •
1979–1998 Nox-Protocol (1988–1998) • VOCs-Protocol
(1991–1998) • Second Sulphur-Protocol
(1994–1998)
16. North Sea Regime 1972/74–1998 OSCOM/PARCOM (1972/74–1984) • OSCOM/
PARCOM/OSPAR (1984/92–1998) • North Sea
Conferences (1984–1998)
17. Oil Pollution Regime 1954–1998 Oilpol (1954–1978) • MARPOL (1973/78–1998)
• Regional Memoranda of Understanding
(1982–1998)
18. Regime for Protection of the Rhine Berne Convention (1963–1998) • Chloride
Against Pollution 1963–1998 Pollution Convention (1976–1998) • Chemical
Pollution Convention (1976–1998)
19. Ramsar Regime on Wetlands Ramsar Convention (1971–1987) (1987–1998)
1971–1998
20. Regime for Protection of the Black Sea Bucharest Convention and Protocols (1992–1998)
1992–1998 • Black Sea Strategic Action Plan (1996–1998)
21. South Pacific Fisheries Forum Agency General Management of Fisheries (1979–1982)
Regime 1979–1998 (1982–1995/97) (1995/97–1998) • Compliance of
Fisheries Management (1979–1982) (1982–1995/
97) (1995/97–1998)
22. Stratospheric Ozone Regime Vienna Convention (1985–1990) (1990–1998) •
1985–1998 Montreal Protocol (1987–1990) 1990–1998) •
London Amendment (1990–1998) • Copenhagen
Amendment (1992–1998) • Multilateral Fund
(1990–1998)
23. Tropical Timber Trade Regime International Tropical Timber Agreement
1983–1998 (1983–1998)
Quelle: Eigene Darstellung

Welche Ergebnisse lassen sich aus der empirisch-quantitativen Erforschung inter-


nationaler Umweltregime ableiten? Da die Datenbank eine Vielzahl von Variablen
enthält, die in 136 Formularen des Codebooks enthalten sind, können im Folgenden
nur ausschnittsweise Ergebnisse f€ur einige Fragen behandelt werden, die f€ur die
empirisch-vergleichende Erforschung der Effektivität internationaler Regime rele-
vant sind: Werden die von den Regimemitgliedern in den Regimen formulierten
Ziele erreicht und welchen kausalen Beitrag leisten Regime hierzu? Welchen kausa-
len Beitrag leisten internationale Regime zur Bearbeitung grenz€uberschreitender
Umweltprobleme?
910 H. Breitmeier

Die grundlegenden Ziele eines Regimes werden in der Regel in den entsprech-
enden völkerrechtlichen Dokumenten explizit formuliert. Der Antarktisvertrag von
1959 zielt zum Beispiel darauf ab, 1) Konflikte €uber das Territorium der Antarktis zu
vermeiden, 2) die internationale wissenschaftliche Kooperation in der Antarktis zu
verbessern, und 3) dass nur friedliche Aktivitäten in der Antarktis durchgef€uhrt
werden. F€ ur die in der Regimedatenbank enthaltenen Elemente der 23 Regime
wurden insgesamt 524 solcher Ziele bestimmt. Die Daten zeigen, dass mehr als
75 Prozent dieser Ziele auch erreicht wurden. Ermittelt wurde dar€uber hinaus auch
der kausale Einfluss, der dem internationalen Regime f€ur den gemessenen Grad der
Erreichung bzw. Nichterreichung von Zielen zugewiesen wurde. In nahezu 70 Pro-
zent der Fälle, in denen die formulierten Ziele der Regime erreicht wurden, hatten die
Regime selbst einen großen kausalen Einfluss auf die Zielerreichung. In 25 Prozent
dieser Fälle wurde Regimen zumindest eine gewisse kausale Bedeutung f€ur die
Zielerreichung zuerkannt (Breitmeier 2008, S. 129 ff.).
Die von einem Regime bearbeiteten Probleme wurden von den Fallstudienexper-
ten vor der eigentlichen Codierung ebenfalls gemeinsam definiert. Das 1954 errich-
tete Regime gegen Ölverschmutzung (Oil Pollution Regime) bearbeitet zum Beispiel
das Phänomen der Ölverseuchung von K€usten und das Sterben von Seevögeln, das
durch Ölverschmutzung aus Schiffs- und Tankerunfällen bzw. durch das absichtliche
Ableiten von Öl verursacht wird. Das 1982 mit der Wiener Konvention zum Schutz
der Ozonschicht entstandene Ozonregime bearbeitet das Problem des R€uckgangs des
Ozons in der Stratosphäre durch ozonzerstörende Stoffe. Einzelne Regime bearbei-
ten mehrere Probleme, bei denen bei der Problembearbeitung Zielkonflikte entstehen
können. Das internationale Walfangregime von 1946 konzentrierte sich nicht nur auf
den Schutz der Walbestände, sondern legte den Schwerpunkt der Problembearbei-
tung auch auf eine geordnete Entwicklung der Walfangindustrie. In etwas mehr als
der Hälfte der f€ ur die 23 Regime codierten 195 Probleme hat sich der Zustand
entweder bedeutend (25 Prozent) oder leicht (26 Prozent) verbessert. In ca.
20 Prozent der Fälle blieb der Zustand eines Problems unverändert. In etwas weniger
als 30 Prozent der Fälle verschlechterte sich die Situation sogar. Im Teilsegment
jener Probleme, bei denen eine Verbesserung des Zustands gemessen wurde, hatten
Regime in ca. der Hälfte dieser Fälle einen bedeutenden oder sehr starken Einfluss
f€
ur die beobachteten Verbesserungen (Breitmeier 2008, S 134 ff.). Dies zeigt einer-
seits, dass internationale Regime einen kausalen Einfluss auf die Problemlösung
haben können. Weitere in der Regimedatenbank enthaltene Befunde können diese
Korrelation zwischen dem Zustand des Problems und dem von Fallstudienexperten
identifizierten kausalen Einfluss eines Regimes untermauern. In diesen Fällen des
relativen Erfolgs stellen internationale Regime jeweils eine sehr breite Palette von
institutionellen Mechanismen und programmatischen Aktivitäten bereit, die zur
Problembearbeitung benötigt werden. Die kausale Wirkung dieser Mechanismen
kann allerdings durch die quantitative Analyse allein nicht immer hinreichend
bewiesen werden. Daher muss die quantitative Analyse auch durch qualitative
Befunde ergänzt werden, welche die Wirkung dieser Mechanismen veranschauli-
chen. So tragen Compliance-Mechanismen im Einzelfall dazu bei, dass Transparenz
Internationale Regime im politikwissenschaftlichen Vergleich 911


uber das gegenseitige Verhalten bez€uglich der Normeinhaltung geschaffen und das
Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten gestärkt wird. Mechanismen zum Capacity-
Building stellen Staaten mit unzureichenden finanziellen, technologischen und epis-
temischen Kapazitäten zusätzliche Unterst€utzung bereit und erleichtern diesen die
effektive Umsetzung von Regimeregeln. Mechanismen zur Streitbeilegung sorgen
daf€ur, dass mögliche Zweifel €uber die Normeinhaltung einzelner Staaten fr€uhzeitig
aufgeklärt werden.
Neben der Datenbank €uber internationale Umweltregime hat das sogenannte
„Oslo-Seattle-Projekt“ (ein von Arild Underdal und Edward Miles geleitetes
norwegisch-amerikanisches Projekt) ebenfalls eine vergleichende Untersuchung
der Effektivität internationaler Regime vorgenommen (Miles et al. 2002). Im Oslo-
Seattle-Projekt wurden f€ur 14 Umweltregime qualitative Fallstudien entwickelt, die
sich – verglichen mit dem Regimedatenbankprojekt – an einem schlankeren Code-
book mit Variablen orientierten. Die im Oslo-Seattle-Projekt gewonnenen Daten
wurden zudem in eine eigene Datenbank €ubertragen. Beide Projekte, das Regime-
datenbankprojekt und das Oslo-Seattle-Projekt behandeln die Effektivität von inter-
nationalen Regimen als wichtige abhängige Variable. Beide Projekte gehen von
einem ähnlichen Verständnis der abhängigen Variablen der Effektivität aus, opera-
tionalisieren diese aber teilweise unterschiedlich. Das Oslo-Seattle-Projekt gewann
zum Beispiel Daten €uber die relative Effektivität. Dabei wurde bewertet, wie der bei
Vorhandensein eines Regimes beobachtbare Wandel des Verhaltens von Regimemit-
gliedern bzw. der Performanz von Problemen im Vergleich zur kontrafaktischen
Situation einzuschätzen ist, in der es nicht zur Bildung eines Regimes gekommen
wäre (no-regime-counterfactual). Diese Nicht-Regime-Situation bildet gewisserma-
ßen ein „Worst-Case-Szenario“, demgegen€uber die aktuell zu beobachtende Perfor-
manz eines Regimes normalerweise in einem „guten Licht“ erscheint. Zudem wird
auch untersucht, wie das Verhalten der Regimemitglieder bzw. der Stand der Prob-
lembearbeitung im Vergleich zum „kollektiven Optimum“, das dem hypothetischen
„Idealzustand“ darstellt, zu bewerten ist. Das Oslo-Seattle-Projekt beruht auf einem
Kern problemtypologischer Hypothesen, die um komplexere Variablen wie der
Malignität eines Problems (problem-malignancy) und der Problemlösungskapazität
(problem-solving-capacity) angesiedelt sind.
Eine von Mitgliedern beider Projekte vorgenommene vergleichende Auswer-
tung der Befunde der Datenbank €uber internationale Regime und des Oslo-Seattle-
Projekts zeigte, dass diese Projekte die Relevanz von internationalen Regimen f€ur
die grenz€ uberschreitende Problembearbeitung deutlich bestätigen (Breitmeier
et al. 2011). Die detailliertere Auswertung beider Projekte zeigte €uberdies, dass
die kausale Relevanz von Regimen f€ur die Problemlösung eng mit bestimmten
institutionellen Eigenschaften von Regimen verkn€upft ist bzw. von sozialen
Praktiken abhängt, die durch internationale Regime ermöglicht werden. Dies lässt
sich u. a. am Beitrag von programmatischen Aktivitäten von Regimen (z. B.
wissenschaftliches Monitoring, Überpr€ufung der Implementation, Forschung und
Informationsaustausch) zeigen, den diese f€ur die Verbesserung der epistemischen
Grundlagen (z. B. Wissen €uber Ursachen und Wirkungen eines Problems,
912 H. Breitmeier

Politikoptionen zur Problemlösung,) in einem Problemfeld leisten. Diese program-


matischen Aktivitäten stellen einen Rahmen bzw. einen institutionalisierten kom-
munikativen Kontext f€ur Experten, nichtstaatliche Akteure, Unternehmen und
Regierungen dar, in dem neues Wissen generiert, der Austausch dar€uber gefördert
und die Diskussion €uber die Weiterentwicklung von Normen und Regeln im Lichte
neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse vorangebracht werden kann (Breitmeier
2006). Allerdings zeigen die Daten beider Projekte auch, dass sich die f€ur die
effektive Problemlösung förderlichen Bedingungen nicht zwangsläufig gegen€uber
hemmenden Faktoren durchsetzen. Im globalen Regime zum Schutz des Klimas
zeigt es sich, dass das Wissen €uber den Klimawandel in den vergangenen zwei
Jahrzehnten zwar stetig weiterentwickelt wurde. In vielen Mitgliedsstaaten des
Klimaregimes haben aber kurzfristige ökonomische Interessen die Entwicklung
einschneidender Politiken gegen den Ausstoß klimarelevanter Spurengase
verhindert.

3 Fazit und Ausblick

Die Regimeforschung hat sich zu einem eigenständigen und langfristigen For-


schungsprogramm entwickelt, das aber in einem noch breiter angelegten Programm
zur Global-Governance-Forschung aufgegangen ist. Die urspr€ungliche Debatte zwi-
schen dem Neorealismus und dem Neoinstitutionalismus hat mittlerweile an Bedeu-
tung verloren. Mit den Ergebnissen der quantitativen Regimeforschung konnte ge-
zeigt werden, dass internationale Regime einen ganz wesentlichen (eigenständigen)
Beitrag zur Problemlösung leisten können. Die Befunde aus der Regimedatenbank
zeigen aber auch, dass es eine relativ große Varianz zwischen relativen Erfolgsfällen
und auch Misserfolgen bei der Problembearbeitung durch internationale Regime
gibt. Die Problembearbeitung in zwischen-staatlichen Regimen ist wesentlich von
den von der Zivilgesellschaft geleisteten Governance-Beiträgen abhängig. Insofern
m€ussen internationale Regime mehr denn je als Rahmenwerke und Politikforen
verstanden werden, in denen Staaten zwar völkerrechtlich verbindliche Verpflich-
tungen eingehen und somit die Hauptakteure darstellen. Aber ohne die Bereitstel-
lung zusätzlicher Ressourcen, von Wissen und Expertise durch nichtstaatliche Ak-
teure bei der Umsetzung von Normen und Regeln w€urde die Staatenwelt die in
internationalen Regimen formulierten Ziele nicht erreichen (Böhmelt und Betzold
2013). Neben der anstehenden Fortentwicklung der vorhandenen Datensätze in der
Regimedatenbank steht die vergleichende Govenanceforschung vor weiteren Auf-
gaben. Neben internationalen Regimen wurde privaten Formen von transnationaler
Governance mittlerweile besondere Beachtung geschenkt (Flohr et al. 2010). Aber
gerade mit Blick auf diese neuen Typen von Govenancesystemen stellt sich f€ur die
Forschung die Aufgabe, die Befunde einzelner Projekte zu vergleichen. Dar€uber
hinaus muss das Zusammenwirken und Nebeneinander von zwischen-staatlichen
und privaten Regimen innerhalb sogenannter Regimekomplexe (Keohane und
Victor 2011) noch systematischer analysiert werden.
Internationale Regime im politikwissenschaftlichen Vergleich 913

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Regionalisierung im
politikwissenschaftlichen Vergleich

Anja Jetschke

Zusammenfassung
Wir befinden uns in einem Zeitalter der Regionalisierung der internationalen
Beziehungen, wie aber werden Regionalismus und Regionalisierung in vergleich-
ender Perspektive untersucht? In Anbetracht der Vielfalt an Konzepten und Zu-
gängen zu diesem wiederbelebten Forschungsfeld definiert dieser Beitrag
zunächst zentrale Konzepte (Regionalisierung, Regionalismus und regionale
Integration) und grenzt sie voneinander ab. Er stellt dann zwei unterschiedliche
Zugänge zu komparativem Regionalismus dar. Der stärker disziplinär politikwis-
senschaftliche Zugang ist durch die Internationalen Beziehungen geprägt und
untersucht das Phänomen Regionalismus als den eines Aufbaus unabhängiger
Entscheidungsstrukturen auf regionaler Ebene. Ihm wird ein stärker an den Area
Studies ausgerichteter, qualitativer Zugang gegen€uber gestellt und dessen Ver-
gleichsmethodik erläutert.

Schlüsselwörter
Vergleichende Regionalismusforschung • Regionalismus • Regionalisierung •
Regionale Integration • Area Studies

1 Einleitung: Komparativer Regionalismus als


interdisziplinäres Forschungsfeld

Wir befinden uns in einem Zeitalter der Regionalisierung der internationalen Bezie-
hungen (Acharya 2014; Katzenstein 2005; Milner und Kubota 2005; Nolte 2010;
Goertz und Powers 2012). Indikativ f€ur diesen Trend sind die wachsende Zahl der

A. Jetschke (*)
Professorin f€ur Internationale Beziehungen, Institut f€
ur Politikwissenschaft, Universität Göttingen,
Göttingen, Deutschland
E-Mail: anja.jetschke@sowi.uni-goettingen.de; anja.jetschke@giga-hamburg.de

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 915


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_67
916 A. Jetschke

Regionalorganisationen, die seit den 1990er-Jahren sprunghaft angestiegen ist


(Goertz und Powers 2012), eine deutliche regionale Verdichtung von Austausch-
beziehungen zwischen Staaten und gesellschaftlichen Gruppen und der damit ver-
bundene wahrgenommene Bedeutungszuwachs von Regionen in der Weltpolitik
(Buzan und Waever 2003; Paul 2012). Angesichts des Scheiterns von Verhandlungen
auf globaler Ebene, sei es zum Umweltschutz oder Handel, gewinnen die regionale
Ebene und Regionalorganisationen an praktischer Bedeutung. Militärische Interven-
tionen werden zunehmend durch Regionalorganisationen durchgef€uhrt, regionale
Abkommen ersetzen oder ergänzen vielfach globale Abkommen. Angesichts der
Heterogenität und Vielzahl von Staaten, die Kompromisslösungen auf globaler Ebene
oftmals erschweren, bieten regionale Zusammenschl€usse einen sinnvollen Kompro-
miss zwischen dem Bed€urfnis nach Gemeinschaft (community) und dem Erfordernis
nach der Schaffung von Governance-Strukturen in größeren Räumen (scale).
Die beiden Trends Verdichtung regionaler Beziehungen und Gr€undung von
Regionalorganisationen haben zu einer Wiederbelebung der damit verbundenen
Konzepte von Regionalisierung und Regionalismus gef€uhrt und zu einer methoden-
bezogenen Diskussion dar€uber, wie man diese Phänomene am besten misst und
vergleichend erforscht (Katzenstein 2000; Beeson 2005; Sbragia 2008; Lawson
2009; Warleigh-Lack und Van Langenhove 2010; Acharya 2012). Neben den bereits
erwähnten Phänomenen der sehr viel größeren Zahl an Regionalorganisationen und
der steigenden materiellen Integration zwischen Staaten ist es vor allem eine sehr
viel bessere Datenverf€ugbarkeit, die vergleichende Regionalismusforschung
(VR) zu einem vielversprechenden Forschungsfeld macht. Vergleichende Regional-
ismusforschung ist damit ein Feld, „whose time has come“ (Acharya 2012, S. 3).
Diese Entwicklung schlägt sich auch in diversen Handb€uchern zu komparativem
Regionalismus nieder (Beeson und Stubbs 2012; Börzel und Risse im Erscheinen).
VR ist ein interdisziplinäres Forschungsfeld. In einem weiten Sinn umfasst es alle
Forschungsansätze, die sich mit der Verdichtung von regionalen Interaktionszusam-
menhängen im Vergleich zu globalen oder nationalen Interaktionszusammenhängen
beschäftigen. Innerhalb des großen Feldes an Zugängen können vier spezifische
Herangehensweisen unterschieden werden.

1. Die Forschung zur regionalen Integration ist eine der ältesten Forschungsrichtun-
gen und befasst sich vor allem mit der (multifunktionalen) politischen Integration
nationaler Gesellschaften auf regionaler Ebene. Aus historischen Gr€unden domi-
niert hier die Integrationsforschung zu Europa, auch wenn Integrationstheoretiker
das Feld urspr€ unglich im Sinne internationaler Integrationsprozesse breiter defi-
nierten (Nye 1968; Haas 1970) und die außereuropäische Integrationsforschung
floriert (Atkinson 1999; Dabene 2009; Malamud 2012). Die regionale Integra-
tionsforschung hat -aber nicht ausschließlich anhand des Falls der europäischen
Integration - zu einer Vielzahl an Integrationstheorien gef€uhrt, die als Theorien
der (neo-)funktionalen Integration (Haas 2004 [1958]; Schmitter 2005), intergou-
vernementalen (Moravcsik 1998) und supranationalen Integration (Burley und
Mattli 1993; Sandholtz und Stone Sweet 2004) bekannt sind. Die Unterschiede
zwischen diesen Theorien sind an anderer Stelle hervorragend zusammengefasst
Regionalisierung im politikwissenschaftlichen Vergleich 917

und sind nicht Gegenstand dieses Beitrags (Rittberger und Schimmelfennig 2005;
Börzel 2012).
2. Verwandt mit dieser Forschung ist die Forschung zum institutionellen Design von
regionalen Organisationen. Konzeptionell baut sie auf den Definitionen von
regionaler Integration - Delegation und Pooling - fr€uherer Integrationstheoretiker
auf. Sie betrachtet Regionalorganisationen als Subset von internationalen Orga-
nisationen und verortet sich in der Disziplin der Internationalen Beziehungen
(Haftel 2007; Powers und Goertz 2011; Hooghe und Marks 2012).
3. Die an den Area Studies orientierte Regionalismusforschung orientiert sich eben-
falls an den Internationalen Beziehungen und greift auf deren Theorienkanon zur
Erklärung regionaler Phänomene zur€uck, versteht Regionen aber stärker als
ideelle und identitätsstiftende Räume mit ihrem jeweils eigenen Charakter. Bei
diesen Studien steht die empirische Analyse der Veränderungsprozesse innerhalb
von Regionalorganisationen im Mittelpunkt oder deren Einbettung in und Inter-
aktion mit globalen Governancestrukturen (Engel und Gomes Porto 2010; Paul
2012; Aris und Wengger 2013). Ein Teil der Literatur definiert sich explizit als
kritische Forschung zu den beiden bisher genannten Forschungsrichtungen und
moniert sowohl den Eurozentrismus der Integrationsforschung als auch den
wahrgenommenen OECD-Welt-Zentrismus und politikwissenschaftlich-diszipli-
nären Fokus der Forschung zu institutionellem Design (Acharya und Johnston
2007). Ein anderer Teil verortet sich stärker in der internationalen politischen
Ökonomie, analysiert Regionalisierung vor dem Hintergrund von Globalisie-
rungsprozessen und betrachtet Regionen selbst als eingebettet in Strukturen der
Internationalisierung und hegemonialer Macht (Solingen 1998; Breslin und Hig-
gott 2000; Katzenstein 2000; Buzan und Waever 2003; Katzenstein 2005; Han-
cock 2009; Dabene 2012).
4. Die Forschung zum Neuen Regionalismus ist in den Global Studies zu verorten
(Jørgensen und Valbjørn 2012; Söderbaum 2012). Global Studies brechen die
traditionelle Analyseheuristik der internationalen Beziehungen auf und interes-
sieren sich f€ur alle Formen der substaatlichen Mikroregionalisierung, in deren
Zentrum nicht-staatliche Akteure, wie Wirtschafts- und zivilgesellschaftlicher
Akteure oder Migrationsbewegungen stehen (Breslin und Higgott 2000; Hettne
und Söderbaum 2000; Jessop 2003).

Gegenstand dieses Beitrags sind in erster Linie die unter Punkt zwei und drei
aufgef€uhrten Studien, weil sie aus einer Vergleichsperspektive in der Disziplin der
Internationalen Beziehungen besonders interessant sind. Die Studien zur EU-
Integration werden, wie auch andere Einzelfallstudien zu Regionalorganisationen,
hier nicht weiter behandelt, da der Vergleichscharakter fehlt.
Dieser Beitrag gliedert sich in zwei große Sektionen. Der erste Teil f€uhrt in die
grundlegenden Konzepte des Forschungsfeldes ein. Er definiert die Konzepte Regi-
onalisierung, Regionalismus und regionale Integration und grenzt sie voneinander
ab. Der zweite Teil stellt zwei unterschiedliche Zugänge zu komparativem Regio-
nalismus dar. Der stärker disziplinär politikwissenschaftliche Zugang ist durch die
Internationalen Beziehungen geprägt und untersucht das Phänomen Regionalismus
918 A. Jetschke

als den eines Aufbaus unabhängiger Entscheidungsstrukturen auf regionaler Ebene.


Diese Forschung ist nicht nur systematisch vergleichend, sondern auch zunehmend
quantitativ ausgerichtet. Demgegen€uber steht der stärker an den Area Studies aus-
gerichtete, qualitative Zugang. Diesem wird oftmals der Vorwurf gemacht, keine
Vergleichsheuristik zu haben. Ein genauer Blick auf zwei ausgewählte, prominente
vergleichende Studien soll deshalb das Vergleichsdesign dieser Studien als eine
Möglichkeit des systematischen Vergleichs aufzeigen.

2 Regionalisierung, Regionalismus, regionale Integration:


Konzeptualisierung

Innerhalb der komparativen Regionalismusforschung sind die Begriffe Region,


Regionalismus, Regionalisierung und regionale Integration oftmals nicht klar von-
einander abgrenzt. Regionalismus wird beispielsweise nicht nur zur Bezeichnung
eines bestimmten Zustands regionaler Integration verstanden, sondern auch zur
Bezeichnung eines theoriegeleiteten Verständnisses von Integrationsprozessen, in
dem Staaten und Verhandlungen zwischen diesen einen zentralen Stellenwert ein-
nehmen. Regionalisierung bezeichnet nicht nur einen Prozess der Verdichtung von
Interaktionszusammenhängen – insbesondere wirtschaftlicher Art – sondern wird
auch – wie beim Neuen Regionalismus – zur Kennzeichnung eines theoriegeleiteten
Verständnisses von Integrationsprozessen herangezogen, die von nicht-staatlichen
Akteuren wie transnationalen Unternehmen und zivilgesellschaftlichen Akteuren
angetrieben wird (Breslin und Higgott 2000; Söderbaum 2012).
Regionale Integration wird sowohl zur Beschreibung der Verdichtung von Inter-
aktionszusammenhängen verwendet als auch spezifischer f€ur den Aufbau von re-
gionalen Entscheidungsstrukturen auf einer regionalen Ebene (Nye 1968; Lindberg
1970; Lombaerde 2006) und noch spezifischer als ein bestimmter Typus von regio-
naler Integration, den der supranationalen Integration (Börzel 2012). Mangelnde
Trennschärfe zwischen diesen Konzepten m€undet in der Kritik, dass komparative
Regionalismusforschung schon aufgrund des fehlenden Konsenses zu zentralen
Konzepten wenig zukunftsfähig sei (Sbragia 2008). Eine Einigung auf die Definition
zentraler Konzepte wird dabei dadurch erschwert, dass die Begriffe des Regionalis-
mus und der Integration von Regionalismusforschern außerhalb Europas mit dem
Aufbau formaler Institutionen nach dem Vorbild der EU verkn€upft und damit als
eurozentrische Konzepte abgelehnt werden.
Interessanterweise erweist sich gerade der R€uckgriff auf die Klassiker der Integ-
rationstheorie als hilfreich zur Klärung: So hat Joseph S. Nye (1968, S. 855)
Regionalisierung urspr€unglich sowohl im Sinne einer Verdichtung von wirtschaft-
lichen, politischen und sozialen Interaktionszusammenhängen zwischen zwei und
mehr benachbarten Staaten definiert, als auch im Sinne einer Etablierung von
Institutionen auf regionaler Ebene. Demgegen€uber haben aber Ernst Haas (1961)
und Leon Lindberg (1970) bereits fr€uh darauf hingewiesen, dass die politische
Dimension von Integration interessiert und weniger die reale Integration durch
wachsende Transaktionen. Ihnen ging es nicht darum, Integration durch formale
Regionalisierung im politikwissenschaftlichen Vergleich 919

Institutionen als einen (auch normativ w€unschenswerten) Idealtypus von Integration


zu definieren, sondern ihnen ging es um eine disziplinäre Unterscheidung gegen€uber
den Wirtschaftswissenschaften: Zentrales Charakteristikum der Konzepte Regiona-
lismus und Integration sei die Verlagerung von politischer Macht und Entscheidung
von nationalstaatlichen Akteuren zu regionalen Akteuren (vgl. Lindberg 1970,
S. 656). Außerdem hatten sie auch nicht alleine regionale Integration im Sinn,
sondern ihr Konzept war weiter und verstand sich als Konzept zur Erfassung auch
internationaler Integration. Lindberg definierte politische Integration wie folgt
(Lindberg 1970, S. 652): Politische Integration ist der Aufbau - €uber Zeit - von
Institutionen der kollektiven Entscheidungsfindung, auf die Staaten Autorität zur
Beschlussfassung € ubertragen oder in denen sie gemeinschaftlich im Rahmen zwi-
schenstaatlicher Verhandlungen Entscheidungen treffen. Die Übertragung von Auto-
rität zur Beschlussfassung bezeichnete Lindberg als „supranationale Integration“,
die gemeinsame Entscheidungsfindung im Rahmen zwischenstaatlicher Verhandlun-
gen als „intergouvernementale Integration“. Häufiger finden sich f€ur diese Termini
inzwischen die Begriffe „Delegation“ und „Pooling“ (vgl. Lake 2007; Hooghe und
Marks 2012).
Damit sollte der Begriff der Regionalisierung in erster Linie zur Beschreibung
von Prozessen der Verdichtung von Interaktionsbeziehungen verwendet werden,
also zur Beschreibung der vielfach zitierten realen Integrationsprozesse, die –
aufgrund des Fehlens formaler Institutionen - auch als „d€unner Regionalismus“
bezeichnet werden.1
Regionale Kooperation sollte demgegen€uber nach wie vor allem diejenigen
politischen Interaktionen erfassen, die sich ohne den Aufbau neuer institutioneller
Entscheidungsstrukturen vollziehen (Lombaerde und Langenhove 2006), und nicht
einen bestimmten Typus von regionaler Integration in Form des (intergouvernemen-
talen) Poolings, wie es das Handbook of International Relations vorschlägt.2
Schwieriger wird die Unterscheidung zwischen supranationaler und intergouver-
nementaler Integration als zwei klar unterscheidbare Typen (regionaler) Integration.
Denn in vieler Hinsicht hat durch die Einf€uhrung von Mehrheitsentscheiden in
intergouvernemental organisierten Regionalorganisationen ein Prozess der suprana-
tionalen Integration eingesetzt, bei dem Staaten tatsächlich Autorität delegieren, weil
Entscheidungen auf regionaler Ebene unabhängig vom Willen einzelner Staaten

1
„Reale“ Regionalisierung ist dabei inzwischen Gegenstand einer umfassenden Literatur zur ver-
gleichenden Messung und bedient sich ganz unterschiedlicher Methoden. Um analytisch sinnvoll
zu sein, muss diese Verdichtung von Interaktionszusammenhängen – und darauf weist Lelio Iapadre
(2006) hin – sowohl im Vergleich zu einem fr€uheren Zeitpunkt messbar sein, als auch in Relation zu
Integration auf einer internationalen Ebene. Ein angemessener Index muss zudem die Größe der
Region gewichten und dieselbe Bereichsvariabilität aufweisen, um f€ ur den regionalen Vergleich
brauchbar zu sein. Aus diesem Grund schlägt Iapadre vor, statt des gebräuchlichen intraregionalen
Handelsindex den symmetrischen Handelsintroversionsindex als Indikator f€ ur die vergleichende
Regionalismusforschung zu verwenden (Iapadre 2006, S. 71).
2
Regionale Kooperation sei die „joint exercise of state-based political authority in intergovernmen-
tal institutions“, regionale Integration das „setting up of supranational institutions to which
authority is delegated to make collectively binding decisions“ (Börzel 2012, S. 508).
920 A. Jetschke

getroffen werden können. Darauf verweist die Definition von Liesbet Hooghe und
Gary Marks, die den Begriff der supranationalen Integration tatsächlich konzeptio-
nell ausweiten auf intergouvernementale Integration. Supranationalismus ist dann
gegeben, wenn äquifinal entweder €uber Delegation oder Pooling Regierungen ver-
bindliche Entscheidungen treffen, im Falle des Poolings €uber die Abweichung von
der Konsensregel f€ur Entscheidungen (Hooghe und Marks 2012, S. 5).
Der vom Neuen Regionalismus zur Unterscheidung von Regionalismus als
Aufbau formaler Entscheidungsstrukturen beanspruchte Begriff der Regionalisie-
rung sollte hingegen ersetzt werden durch den Begriff der Regionalität (engl.
regionality). Dieser Begriff kommt dem Verständnis des Neuen Regionalismus,
Regionalismus als soziale Praxis aufzufassen, die sich €uber Zeit und Raum unter-
schiedlich manifestiert und an der ganz unterschiedliche Akteure beteiligt sind, am
nächsten (Balsiger und Prys 2014).
Nach der hier vorgeschlagenen Begriffsverwendung bezeichnet also Regionali-
sierung die Verdichtung von wirtschaftlichen, politischen und sozialen Interaktions-
zusammenhängen; Regionalismus beschreibt spezieller den Aufbau von Institutio-
nen der kollektiven Entscheidungsfindung auf regionaler Ebene, die die Merk-
malsausprägungen Delegation und Pooling annehmen können; und Regionalität
beschreibt eine soziale Praxis von unterschiedlichen Akteuren, die dadurch unter-
schiedliche Formen der Regionalisierung konstituieren.

3 Komparativer Regionalismus

Die komparative Regionalismusforschung bedient sich zweier dominanter Unter-


suchungsdesigns. Die Forschung zu Regionalorganisationen untersucht systema-
tisch und zunehmend quantitativ Regionalorganisationen mit großer und mittlerer
Fallzahl (Haftel 2007; Gray 2011; Gray und Killian 2011; Powers und Goertz 2011;
Hooghe und Marks 2012; Haftel 2013). Davon unterscheiden lässt sich die Area
Studies inspirierte Forschung zu Regionalismus, die weniger an institutionellem
Design als vielmehr an den spezifischen Charakteristika von Regionalismus inter-
essiert sind. Hier werden zwei typologisch vorgehende Studien mit kleiner Fallzahl
eingehender behandelt.

3.1 Institutionelles Design von Regionalorganisationen:


Systematisch vergleichend mit großer Fallzahl

Vor allem die rapide wachsende Zahl an Regionalorganisationen seit 1945 macht das
Forschungsfeld der komparativen Regionalismusforschung heute sehr viel interes-
santer als in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Regionalismus wird nicht
mehr nur als Phänomen an sich untersucht, sondern sehr viel stärker systematische
Zusammenhänge, wie beispielsweise der zwischen Einstellungen zu regionaler
Integration und Regionalismus (Schlipphak und Menniken 2011). Viele der neuen
Konzepte zu Regionalismus greifen dabei auf bereits bekannte Konzeptualisierungen
Regionalisierung im politikwissenschaftlichen Vergleich 921

und Operationalisierungen zur€uck, die aufgrund der in den 1960er-Jahren nicht


verf€
ugbaren Daten nicht getestet werden konnten (Nye 1965, 1967, 1968; Schmitter
1969).
Aktuell existieren f€unf größere Datenbankprojekte zu Regionalorganisationen,
die sich alle auf deren institutionelles Design konzentrieren und zum Teil Deter-
minanten regionaler Integration messen. Das größte Projekt wird dabei von Liesbet
Hooghe und Gary Marks geleitet, die den Integrationsgrad von insgesamt 72 inter-
national und regionale Organisationen untersuchen und diesen zu erklären versuchen
(Hooghe und Marks 2012). Yoram Haftel untersucht 28 so genannte „Regional
Integration Arrangements“ auf einen Zusammenhang zwischen institutionellem
Design und friedensfördernden Effekten (Haftel 2007), bzw. intraregionaler Fakto-
ren und Institutionalisierungsgrad (Haftel 2013). Die Datenbank von Gary Goertz
und Cathy Powers umfasst 34 „Regional Economic Institutions (REI)“ und unter-
sucht die Evolution von Regionalorganisationen €uber Zeit (Goertz und Powers
2012). Julia Gray untersucht 51 Regionalorganisation Die größte Datenbank ist
das Comparative Regional Organizations Project (CROP), das von Anja Jetschke
geleitet wird, mit 73 Regionalorganisationen als Untersuchungseinheiten. Sie erhebt
spezielle Diffusionsprozesse zwischen Regionalorganisationen. Die Datenbank ist
deshalb größer, weil sie auch nicht mehr existierende und relativ unbedeutende
Organisationen erfasst (Jetschke 2011).
Die am häufigsten verwendete Operationalisierung von regionaler Integration
erfasst die politische Integration und damit den Aufbau regionaler Institutionen.
Sie orientiert sich an der von Leon Lindberg eingef€uhrten Operationalisierung des
Integrationsgrades (,,Level“) entlang der Dimensionen Eingriffsbreite (,,Scope“),
Eingriffsreichweite oder -tiefe (,,Range“) und dem Gewicht gegen€uber nationalen
Entscheidungsprozessen (,,Decisiveness“) (Lindberg 1970, S. 653).3
Das Datenbankprojekt von Lisbet Hooghe und Gary Marks (2012) greift unmit-
telbar auf diese Operationalisierung zur€uck. Sie interessieren sich f€ur den Integra-
tionsgrad/die Autorität zwischenstaatlicher Organisationen (darunter 33 Regional-
organisationen) gegen€uber ihren Mitgliedsstaaten. Diese wird definiert als
„Delegation“ und anhand der Dimensionen „Zusammensetzung der organisierten
Organe in einer Regionalorganisation“ (Generalsekretariat, Versammlungen, Exe-
kutiven, gerichtsförmige Organe, konsultative Organe) in Bezug auf deren Unab-
hängigkeit von der Kontrolle durch Mitgliedstaaten, die autoritativen Kompetenzen
der regionalen Organe bei der Agendasetzung, bei Entscheidungen, und Vermittlung
in sechs Entscheidungsbereichen: Beitritt, Suspension, konstitutionelle Reform,

3
Die Eingriffsbreite bezeichnet die Zahl der Politikfelder, die unter die Autorität kollektiver Ent-
scheidungsprozesse fallen. Die Reichweite erfasst die Art der Partizipation am kollektiven Ent-
scheidungsprozess. Diese wird in drei Kategorien erfasst: Partizipation lediglich in der Vorstufe der
Entscheidung durch Identifikation eines Problems und das Sammeln von Informationen, während
der Entscheidung durch die Formulierung von Entscheidungsentw€ urfen oder nach der Entschei-
dung durch die Teilnahme an der Durchsetzung. „Gewicht der Entscheidung“ bezeichnet, inwiefern
die Entscheidung Auswirkungen auf die nationale Allokation öffentlicher G€ uter hat (Marks
et al. 2014, S. 9).
922 A. Jetschke

Budgetallokation, finanzielle Nichteinhaltung von Regeln und Politikprozess


(Marks et al. 2014, S. 9). Die abhängige Variable Delegation wird durch die
Addition der Werte f€ur jedes Element berechnet, wobei jede Delegationskomponente
gleich gewichtet wird (Marks et al. 2014: Appendix).
Von der Terminologie her ähnlich, aber unterschiedlich in der Definition erfasst
Tanja Börzel das „level of integration (breadth)“ als Zahl der Angelegenheiten €uber
die eine Regionalorganisation (die EU) Gesetzgebungskompetenz hat. Demgege-
n€uber definiert sie Integrationsbreite („scope (depth)“) als die Prozeduren, nach
denen Politikentscheidungen unter Teilnahme supranationaler Organe und des Mi-
nisterrats gefällt werden (Börzel 2005, S. 220). Je nach dem Grad oder der Kombi-
nation der Einbindung von EU-Rat, Kommission, Parlament und EU-Gerichtshof
wird Integration skaliert, wobei der niedrigste Wert 0 (keine Koordination auf
EU-Ebene) und der höchste Wert 5 (supranationale Zentralisierung) ist. Diese
Kombination liefert ein Maß f€ur politische Integration, die das Ergebnis der Inter-
aktion zwischen den am Entscheidungsprozess beteiligten Organe abbildet. Dieses
Konzept eignet sich vor allem f€ur solche Regionalorganisationen, die €uber eine Form
von Gesetzgebungsverfahren vergleichbar mit der EU verf€ugen.
Die verwendeten Indikatoren ermöglichen grundsätzlich den systematischen
Vergleich von Regionalorganisationen. Der immer wieder zu hörende Vorwurf,
bestehende Modelle seien an der Europäischen Union ausgerichtet, w€urden ihren
Status als Modell f€ur regionale Integration vergegenständlichen und diese zu einer
Richtschnur oder einem Goldstandard erheben (Breslin und Higgott 2000) mag in
Bezug auf die EU-Forschung und deren Perspektive auf Integrationsprozesse außer-
halb der EU zutreffen; sie gibt aber den Forschungsstand der systematisch vergleich-
enden Arbeiten nur unzureichend wieder. Im Gegenteil versprechen die neueren
Erhebungen zum institutionellen Design sehr spannende Erkenntnisse zur Variati-
onsbreite der Integration unter Regionalorganisationen, die interessante weiterge-
hende Fragestellungen in Bezug auf Integration als Prozess und die Effekte regiona-
ler Integration erlauben (Jetschke et al. 2015).
Unabhängig von der Erfassung eines Zustands von regionaler Integration und
deren institutioneller Dynamik stellt sich dann die Frage, wie sich Integration als
Prozess vollzieht und was ihn determiniert. Gibt es Kooperationsfelder, die tenden-
ziell zu mehr Regionalismus beitragen und welche sind das? Gibt es €uberhaupt einen
systematischen Zusammenhang zwischen (bestimmten) Kooperationsfeldern und
institutionellem Design – wie Regionalismustheorien annehmen? Tragen tatsächlich
alle Kooperationsfelder gleichermaßen zu Integration bei? Die fr€uhere Literatur
diskutierte diesen Zusammenhang als Problem der Gewichtung der Kooperations-
felder (Nye 1968, S. 859; Hooghe und Marks 2012, S. 11). Neuere Studien gewich-
ten nicht, da sie sich in erster Linie f€ur den Integrationsgrad interessieren, weniger
f€ur den Prozess der Integration. Sobald es aber um den Prozess geht und was ihn
letztlich antreibt, ist die R€uckbindung an Theorien wieder wichtig und könnten auch
in Zukunft auf der Basis besserer Daten wichtige Impulse f€ur die theoretische
Reflexion gegeben werden. Insbesondere bei den Studien zu Regionalorganisationen
als Subset von internationalen Organisationen stellt sich auch die Frage, ob es eine
eigene Theorie regionaler Integration €uberhaupt braucht. Das wäre genau dann der
Regionalisierung im politikwissenschaftlichen Vergleich 923

Fall, wenn sich die Variablen, die regionale und internationale Integration beeinflus-
sen, voneinander unterscheiden. Darauf deuten die Ergebnisse des Datenbankpro-
jektes von Hooghe und Marks hin: Ein wichtiger Faktor zur Erklärung von regiona-
ler Integration ist „Gemeinschaft“, bei ihnen operationalisiert als gemeinsame
Geschichte in einer Föderation (z. B. die Föderation zwischen f€unf zentralamerika-
nischen Staaten im 19. Jahrhundert) und Widerstand gegen ein koloniales Empire
(Marks et al. 2014, S. 7).
Neuere Studien weisen zudem darauf hin, dass gerade die Forschung zu institu-
tionellem Design Diffusionseffekte bisher vernachlässigt. Dies stellt die f€ur die
vergleichende Regionalismusforschung grundlegende Annahme, dass die Analy-
seeinheiten voneinander unabhängig sind, grundlegend in Frage und wirft metho-
dische Fragen auf. Die Integration von Diffusionsvariablen ist gerade angesichts der
Einbettung von Regionalorganisationen in Globalisierungsprozesse notwendig
(Jahn 2009). Sowohl das Clustering der Gr€undung von Regionalorganisationen
(Regionalismuswellen) als auch auffällige Ähnlichkeiten zwischen den Institutionen
von Regionalorganisationen lassen darauf schließen, dass Entscheidungen €uber
Institutionendesign in einer Organisation von den Entscheidungen in anderen Re-
gionalorganisationen abhängen und dass Lernen, Mimikry und Wettbewerb als
Diffusionsmechanismen eine Rolle spielen (Jetschke und Lenz 2011; Börzel und
Risse 2012; Jetschke und Lenz 2013).

3.2 Area Studies und Regionalismus: Systematisch vergleichend


mit kleiner Fallzahl

Wie eingangs erwähnt, haben in den letzten Jahren auch die Area Studies zentrale
Beiträge zum Verständnis vor allem von Regionalorganisationen außerhalb Europas
geleistet. Ihrem Selbstverständnis nach legen Area Studies ein stärkeres Gewicht auf
kulturelle Ordnungsvorstellungen und historische Pfadabhängigkeiten, die Koope-
ration in Regionalorganisationen prägen und vor deren Hintergrund sich das insti-
tutionelle Design von Regionalorganisationen erst erschließt. Diese Herangehens-
weise hat zu einer F€ulle von Einzelfallstudien gef€uhrt, die vor allem das Verständnis
f€
ur die unterschiedlichen Voraussetzungen und Ideen von Regionalisierung außer-
halb Europas erhöhen. Sie haben zu einer großen Zahl hermeneutisch-typologischen
Bezeichnungen zur Charakterisierung von Regionalismen gef€uhrt, wie „hegemonia-
ler“ und „post-hegemonialer Regionalismus“ in Lateinamerika (Battaglino 2012;
Dabene 2012; Malamud 2012; Riggirozzi 2012; Riggirozzi und Tussie 2012),
offener (Phillips 2002; Carranza 2006) oder wettbewerblicher Regionalismus in
Asien und Lateinamerika (Flores-Quiroga 2009; Solis et al. 2009) oder

uberlappender Regionalismus in Afrika und Lateinamerika (Weiffen et al. 2013).
Eine Diskussion € uber die f€ur Area Studies jeweils spezifische Vergleichsmethodik
und deren Forschungsdesign steht hier erst am Anfang (Ahram 2011; Acharya 2012;
van Langenhove 2012).
Im Folgenden soll deshalb anhand zweier prominenter Beispiele illustriert wer-
den, wie ein systematischer Vergleich in den Area Studies aussehen könnte, um
924 A. Jetschke

Tab. 1 Typologien von Regionalismus nach Katzenstein (2005)


Existenz und liberale
Kultur eines globalen
Hegemons Existenz und institutionelle Kultur von Kernstaaten
Formal Informell
Ja Offener Regionalismus mit Offener Regionalismus mit
formalem institutionellem informellem Netzwerk-
Design Design
(Europa) (Asien)
Nein
Quelle: Eigene Darstellung, basierend auf Katzenstein (2005)

anhand des Beispiels dann zu argumentieren, dass der typologische Vergleich sich in
besonderer Weise f€ur die komparative Regionalismusforschung aus einer Area
Studies Perspektive eignet.
Peter Katzenstein vergleicht in A World of Regions Regionalismus in Ostasien
und Europa. Die abhängige Variable ist bei ihm die Variation zwischen Institutiona-
lisierungsprozessen in den beiden Regionen. Ostasiatischer Regionalismus wird von
ihm als auf informellen Regeln gr€undend und durch Netzwerkbildung geprägt
charakterisiert, während europäischer Regionalismus durch den Aufbau formaler
Institutionen geprägter ist. Allerdings zeichnen sich beide Regionalismen durch
wirtschaftliche Offenheit aus. Weder beim ostasiatischen noch beim europäischen
Regionalismus handelt es sich um regionale Handelsblöcke mit hohen Außenzöllen.
Damit ist seine abhängige Variable tatsächlich das institutionelle Design der Koope-
rationsbeziehungen, die er als kategoriale Variable (informelles Netzwerk, formale
Organisation) spezifiziert und die jeweils einen niedrigen oder hohen Grad an
Formalisierung bezeichnet. Sein kausales Narrativ betont die Rolle der US-
Hegemonie nach dem Zweiten Weltkrieg, die insgesamt zu einer Liberalisierung
regionaler Wirtschaftsstrukturen beigetragen hat. Gleichzeitig betrachtet er diesen
Einfluss als gefiltert durch sogenannte Kernstaaten, das sind die wichtigsten regio-
nalen Allianzpartner (Deutschland und Japan). Deren enge Anbindung an die USA
ermöglichte es den USA einerseits, ihre liberalen Ideen in den jeweiligen Regionen
zu verankern. Andererseits sorgte deren variierende innerstaatliche Struktur daf€ur,
dass sich die tatsächliche Form des Regionalismus in Europa und Asien bemerkens-
wert unterscheidet.
Katzensteins Vergleichsmethode ist typologisch oder – in Jahns (2005) Termino-
logie – konfigurativ-ideographisch.
In diesem Fall sind die beiden typologischen Merkmale von Regionalismus 1) die
Existenz einer wirtschaftsliberalen Hegemonie (wobei die zweite Ausprägung die
Abwesenheit einer solchen Hegemonie oder eine Hegemonie mit einer anderen
Wirtschaftsideologie sein könnte) und 2) die Existenz von sogenannten Kernstaaten
in einer Region und deren institutionelle Kultur.
Wie durch die Tab. 1 deutlich wird, nutzt Katzenstein nicht alle Merkmalskom-
binationen f€ur eine Analyse regionaler Ordnungen. Nicht untersucht werden Fälle,
die zwar die Eigenschaft eines formalen oder informellen Regionalismus erf€ullen,
die aber in Abwesenheit eines Hegemons gegeben sind. Interessant wäre zu
Regionalisierung im politikwissenschaftlichen Vergleich 925

Tab. 2 Zusammenhang Ideologie innerstaatliche Interessengruppe und Typus der regionalen


Ordnung
Militaristisch-nationalistisch-
Ideologie der Interessengruppe Internationalistisch konfessionell
Internationalistisch Liberale regionale Gemischte regionale Ordnung
Ordnung
Militaristisch-nationalistisch- Gemischte regionale Protektionistische, regionale
konfessionell Ordnung Ordnung
Quelle: Eigene Darstellung, basierend auf Solingen (1998)


uberpr€ ufen, ob im synchronen Vergleich €uber Regionen hinweg, oder im diachronen
Vergleich verschiedener historischer hegemonialer Ordnungen (z. B. Großbritan-
nien und den USA) sich regionale Ordnungen unterscheiden. Weiter könnte man
untersuchen, ob es weitere institutionelle Kulturen von Kernstaaten gibt, die einen
weiteren, bisher nicht genannten Typus regionaler Integration bezeichnen oder ob
Regionalisierung ohne die Existenz von Kernstaaten beobachtbar ist.
Eine ähnliche typologische Herangehensweise finden wir bei Etel Solingen, die
einen Schritt weiter geht und ihre idealtypischen Ordnungen f€ur die Erklärung
beobachtbaren Verhaltens nutzt. Auch Etel Solingens Buch Regional Orders at
Centuries Dawn (1998) ist von den Area Studies geprägt. Auch sie untersucht
institutionelle Designs regionaler Kooperation, wobei nicht Regionalorganisationen
sondern „variierende regionale Ordnungen“ die ihre abhängige Variable bilden.
Solingens liberale Theorie regionaler Ordnung geht von den Präferenzen inner-
staatlicher Interessengruppen aus. Deren ideologische Ausrichtung (wirtschaftslibe-
ral-internationalistisch, militärisch-nationalistisch-konfessionell) entscheidet, wel-
che regionale Ordnung sich institutionalisiert. Treffen zwei Staaten mit jeweils
dominierenden wirtschaftsliberalen Gruppen aufeinander, institutionalisiert sich eine
liberale Ordnung. Beim Aufeinandertreffen zweier militärisch-nationalistisch-kon-
fessionell Gruppen entsteht eine stabile aber protektionistische regionale Ordnung.
Und beim Aufeinandertreffen von Staaten, bei denen in einem Staat liberale, im
anderen Staat Militärisch-nationalistisch-konfessionelle Gruppen aufeinandertref-
fen, entsteht eine gemischte Ordnung. Die Merkmale und ihre jeweiligen Ausprä-
gungen lauten also: wirtschaftsideologische Ausrichtung (internationalistisch, mili-
tärisch-nationalistisch-konfessionell) und Kombination der Gruppen (gleiche
Ausrichtung, gemischte Ausrichtung) (vgl. Tab. 2).
In einem zweiten Schritt €uberf€uhrt Etel Solingen diese Typologie in Erwartungen

uber die Friedfertigkeit der jeweiligen regionalen Ordnung (vgl. Tab. 3). Sowohl
liberale also auch illiberale Ordnungen sind mit einem friedlichen Außenverhalten
assoziiert, gemischte Ordnungen mit einer hohen Zahl militarisierter Konflikte in der
Region.
Besonders fruchtbar wäre es, seine auf einer typologischen Vergleichsmethode
basierende Erklärung systematisch f€ur die komparative Regionalismusforschung
fruchtbar zu machen. Dies könnte im Übrigen auch ein Weg sein, die regional-
spezifische Perspektive der Area Studies stärker in der Methodendebatte zu veran-
kern.
926 A. Jetschke

Tab. 3 Zusammenhang Ideologie innerstaatliche Interessengruppe und Friedfertigkeit der regio-


nalen Ordnung
Militaristisch-nationalistisch-
Ideologie der Interessengruppe Internationalistisch konfessionell
Internationalistisch Friedenszonen Konfliktzonen
Militaristisch-nationalistisch- Konfliktzonen Friedenszonen
konfessionell
Quelle: Eigene Darstellung, basierend auf Solingen (1998)

4 Zusammenfassung

Der vorliegende Beitrag zeigt den Stand der komparativen Regionalismusforschung.


Er verweist zu Beginn auf konzeptionelle Unklarheiten und definiert die zugrunde-
liegenden Begriffe Regionalismus, regionale Integration und Regionalisierung. Mit
dem neu eingef€ uhrten Begriff der Regionalität soll dem Umstand Rechnung ge-
tragen werden, dass es sich dabei auch konzeptionell um ein anderes Verständnis von
Regionalismus handelt, dem mit dem Begriff des Neuen Regionalismus nur unzu-
reichend Rechnung getragen wird. Der zweite Teil hat die dominanten Ansätze zur
komparativen Regionalismusforschung beschrieben und anhand des institutionellen
Designs von Regionalorganisationen zwischen den eher disziplinär-quantitativ
orientierten Studien und den Area Studies orientierten, qualitativ-typologisch arbei-
tenden Fallstudien unterschieden. Insgesamt zeigt der Beitrag, dass sich das Feld der
komparativen Regionalismusforschung enorm entwickelt. Vor allem zeigt es, dass
der immer noch zu hörende Vorwurf, die Regionalismusforschung sei eurozentrisch
nicht trägt. Das Feld entwickelt sich eher in Richtung der Internationalen Beziehun-
gen. Weder bewahrheitet sich bisher die d€ustere Einschätzung, dass es an gemein-
samer Terminologie und Konzepten mangelt, noch nimmt der singuläre Status der
EU eine große Stellung in der quantitativen oder qualitativen Forschung ein. Damit
ist die komparative Regionalismusforschung in der Tat ein Bereich, deren Zeit
gekommen ist.

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Vergleichende Außenpolitikforschung

Sebastian Harnisch

Zusammenfassung
Der Beitrag verortet die vergleichende Außenpolitikanalyse zunächst gegen€uber
den Internationalen Beziehungen und anderen Wissenschaftsdisziplinen. Hierbei
wird die Entwicklung der wichtigsten Erklärungsansätze als Reaktion auf theo-
retische Veränderungen in den Nachbardisziplinen sowie der praktischen Politik
interpretiert. Die Analyse wendet sich dann der Frage zu, inwiefern sich auto-
kratische und demokratische Außenpolitiken unterscheiden und welche Bedeu-
tung dabei internen Institutionen, Interessen sowie externen Strukturen (Macht-
relationen, Organisationen und Wertordnungen) zukommt.

Schlüsselwörter
Vergleichende Außenpolitikanalyse • Sicherheitspolitik • Internationale Bezie-
hungen • Demokratie • Autokratie

1 Einleitung

Die vergleichende Außenpolitikanalyse hat seit Mitte des 20. Jahrhunderts unter-
schiedliche Positionen gegen€uber den Internationalen Beziehungen (IB) sowie ande-
ren Wissenschaftsdisziplinen, wie beispielsweise der Geschichtswissenschaft, der
Psychologie oder Soziologie eingenommen. In diesem Kontext haben theoretische
Auseinandersetzungen innerhalb der IB, aber auch realpolitische Ereignisse die
Fragestellungen dieser Teildisziplin und ihre Rolle gegen€uber der praktischen Politik
(! Politikberatung) wesentlich geprägt. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist die
theorieorientierte Außenpolitikanalyse in allen drei großen Theoriesträngen der IB

S. Harnisch (*)
Professor f€ur Internationale Beziehungen und Außenpolitik, Institut f€
ur Politikwissenschaft,
Universität Heidelberg, Heidelberg, Deutschland
E-Mail: sebastian.harnisch@uni-heidelberg.de

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 931


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_68
932 S. Harnisch

stark vertreten, ohne ihren urspr€unglichen Erklärungspfad aufzugeben. Dieser beruht


auf der Annahme, dass Außenpolitik primär als Entscheidung von Individuen und
Kleingruppen € uber Politikinhalte verstanden wird (Carlsnaes 2013).
Vor diesem Hintergrund adressiert der Beitrag zunächst definitorische und kon-
zeptionelle Fragestellungen. Sodann wird ein kurzer systematischer Überblick der
theoretischen Erklärungsansätze und Forschungsfelder gegeben. Hierbei wird argu-
mentiert, dass die Entwicklung der vergleichenden Außenpolitikanalyse bis 1989 als
wachsende Entfaltung von drei Ansätzen begriffen werden kann, wobei deren
Richtung und Auffächerung auf theoretische Veränderungen in Nachbardisziplinen
sowie die politische Praxis zur€uckgehen (Harnisch 2003). Der Beitrag schließt mit
einigen kurzen Anmerkungen zu den Entwicklungsperspektiven der Teildisziplin.

2 Vergleichende Außenpolitikanalyse: Definitionen und


Konzeptionen

Im allgemeinen Sprachgebrauch wird Außenpolitik als Handeln eines Staates ge-


gen€uber ‚dem Ausland‘, meist gegen€uber anderen Staaten verstanden. Wissenschaft-
lich lässt sich Außenpolitik jedoch präziser fassen. Sie umfasst diejenigen politi-
schen Inhalte und organisatorischen Steuerungsformen eines völkerrechtlich
anerkannten Gemeinwesens – meist eines Staates -, die auf externe Akteure (bei-
spielsweise andere Staaten, internationalen Organisationen oder Nichtregierungs-
organisationen) in der Umwelt des jeweiligen Gemeinwesens gerichtet sind. ‚Au-
ßenpolitik‘ setzt also nicht unbedingt Nationalstaaten voraus, die in internationalen
Beziehungen organisiert sind. Auch supranationale Organisationen (beispielsweise
Teile der Europäischen Union) oder völkerrechtlich umstrittene Gemeinwesen (bei-
spielsweise die Republik Kosovo) können eine Außenpolitik haben.
Der Begriff Außenpolitik geht gleichwohl auf die Abgrenzung von Innenpolitik
(national-)staatlicher Gemeinwesen zur€uck. Dieses Begriffsverständnis hat sich seit
dem Westfälischen Frieden von 1648 von Europa ausgehend in allen Weltregionen
etabliert. Disziplinär ist die vergleichende Außenpolitikforschung daher an der
Grenzlinie zwischen der Vergleichenden Regierungslehre und Policy-Forschung
einerseits und der Analyse der internationalen Beziehungen andererseits zu verorten.
Konzeptionell lassen sich mit Blick auf die Unterscheidung des Politikbegriffs in
Politics (Prozesse), Polity (Strukturen) und Policy (Inhalte) zwei distinkte For-
schungstraditionen identifizieren: eine politics-orientierte Tradition, deren Erklä-
rungsgegenstand der außenpolitische Entscheidungsprozess bzw. eine (Reihe von)
Entscheidung(en) ist; und eine policy-orientierte Strömung, die die Politikinhalte
und dahinterliegende Wertzuweisungen analysiert (Carlsnaes 2013, S. 304).
Veränderungen in der praktischen Politik haben die klare Trennung zwischen
Innen- und Außenpolitik jedoch verwischt. Diese umfassen insbesondere die
Zunahme zwischenstaatlicher Interdependenzen, das heißt: wechselseitige Abhän-
gigkeiten zwischen Staaten, die mit Kosten verbunden sind, sowie die im Laufe des
20. Jahrhunderts rasch wachsende Zahl an internationalen und supranationalen
Organisationen. Globale Entwicklungen (beispielsweise Klimaveränderungen und
Vergleichende Außenpolitikforschung 933

die Verbreitung von Informations- und Kommunikationstechnologien), regionale


(siehe der „Arabische Fr€uhling“) und lokale Entwicklungen (wie die Anwendung
von Giftgas im syrischen B€urgerkrieg 2013) verändern die Macht-, Interessen- und
Wertkonstellationen innerhalb und außerhalb von Staaten und anderen Gemeinwe-
sen. Dies hat zur Folge, dass sich die Grenzlinie zwischen Innen- und Außenpolitik
sukzessive verschiebt (Rosenau 1997).
Diese Grenzverschiebung verändert dabei nicht nur die Konstellation der Exe-
kutive und der darin arbeitenden Fachministerien – insbesondere der Außenministe-
rien – sowie der Legislative (Pahre 2006). Vielmehr findet staatliches Außenhandeln
zu Beginn des 21. Jahrhunderts zunehmend auch im Verbund mit oder in Konkur-
renz zu nichtstaatlichen Akteuren und internationalen Institutionen statt. Hieraus
haben sich diverse Formen des Regierens im Sinne von Governance auf unterschied-
lichen Ebenen jenseits des Nationalstaates entwickelt (Rosenau und Czempiel 1992).

3 Die Entwicklung der Teildisziplin Vergleichende


Außenpolitikanalyse

Den Grundstein der Vergleichenden Außenpolitikanalyse als eigenständiger Teil-


disziplin der IB legten Anfang der 1950er-Jahre Richard Snyder und seine Kollegen.
Sie brachen mit der herrschenden Vorstellung des Staates als einheitlich und rational
agierendem Akteurs und r€uckten den außenpolitischen Entscheidungsprozess zwi-
schen unterschiedlichen Einzelpersonen und Ministerien als Erklärungsfaktor f€ur
Policy-Varianz in den Mittelpunkt ihrer Analysen (Snyder et al. 1954). Der Aufstieg
der USA zu einer der beiden rivalisierenden Supermächte im Ost-West-Konflikt
unterst€
utzte diese Entwicklung. Dies stand im Zusammenhang mit einer stetigen
Nachfrage der US-Administration nach Erklärungen f€ur das Verhalten anderer Staa-
ten sowie dem Bestreben, die eigenen Entscheidungsprozesse zu verbessern.
Vor dem Hintergrund der sich rasch entfaltenden psychologischen Erklärungen
f€ur den Zweiten Weltkrieg entwickelte sich Mitte der 1950er-Jahre ein zweiter
zentraler Strang von Ansätzen, der die Bedeutung von ‚psychologischen Milieus‘
und allgemeinen persönlichen Einstellungen, Charaktereigenschaften und Emotio-
nen f€ur außenpolitische Entscheidungen hervorhob (Sprout und Sprout 1957). In
diesem Strang wurden fr€uhe Studien von Leites (1951) zum sowjetischen Politb€uro
und George und George (1956) zur Persönlichkeit und Außenpolitik Woodrow
Wilsons stark von der aufkeimenden Psychoanalyse beeinflusst. Nachfolgende Un-
tersuchungen von Wohlstetter (1962) und George (1969) zur US-Fehlwahrnehmung
im Vorfeld von Pearl Harbor zielten hingegen eher auf die Identifikation von
systematischen Unterschieden im Bereich von Informationsverarbeitungskapazitä-
ten sowie kognitiven Einstellungen (sog. Operational Codes oder Denkbildern).
Bemerkenswert an den Arbeiten beider Autoren ist jeweils ihre Rezeption von
Erkenntnissen aus der klinischen und Persönlichkeitspsychologie (Levy 2013,
S. 306).
934 S. Harnisch

Im Zuge der behaviouristischen Wende in den amerikanischen Sozialwissen-


schaften r€ uckte James Rosenau mit seiner „Pre-Theory“ (1966) die Außenpolitik-
analyse deutlich an die komparative Politikwissenschaft heran. Rosenau zielte
hierbei auf eine Theorie mittlerer Reichweite. Diese sollte anhand von akteurs-
spezifischen Hypothesen (territoriale Größe, Wirtschaftskraft etc.) mit Hilfe statisti-
scher Verfahren zu €uberpr€ufbaren und generalisierbaren Aussagen €uber den außen-
politischen Output von Staaten f€uhren. Zwar scheiterte dieses Unterfangen trotz
umfangreicher und methodisch versierter Forschungsprojekte (Smith 1986), den-
noch entwickelte sich aus diesen Forschungsbem€uhungen in Abgrenzung zur beha-
viouralistischen Wende in der Außenpolitikanalyse eine politiknahe Forschung.
Diese wirkte basierend auf einer realistischen Tradition (Morgenthau 1948) politik-
beratend auf die US-Außenpolitik ein (Carlsnaes 2013, S. 300).
In der von Steuerungsambitionen geprägten und sich an naturwissenschaftlichen
Standards orientierenden politikwissenschaftlichen Forschung der 1970er-Jahre ent-
wickelten sich zwei bedeutsame Forschungslinien in der Tradition von Snyder et al.:
Eine Linie, die sich primär mit Entscheidungen in Gruppen auseinandersetzte (Janis
1972), und eine weitere, die sich mit Politikfindungsprozessen in Organisationen
und zwischen außenpolitischen B€urokratien befasste (Allison 1971). Letztere €ubte
auch maßgeblichen Einfluss auf die deutschsprachige Forschung aus (Haftendorn
1978).
Blickt man dabei auf die klassische Studie von Allison zum US-Verhalten in der
Kubakrise, fällt auf, dass dieser drei Erklärungsansätze hervorhebt: 1) einen tradi-
tionellen rationalistischen Ansatz, der von der Regierung als einheitlichem und
rationalem Akteur ausgeht; 2) einen Organisationshandlungsansatz, der die Auswahl
und Befolgung von Routineverfahren, in den Mittelpunkt der Analyse stellt und 3)
ein B€ urokratiepolitikmodell (BPM). Letzteres wurde später auch Governmental
Politics-Ansatz genannt und zieht das Eigeninteresse der beteiligten B€urokratien
und die Aushandlungsprozesse zwischen diesen zur Erklärung kompromissgetriebe-
ner Entscheidungen heran (Allison 1971; Allison und Zelikow 1999; Halperin und
Clapp 2006). Im Zentrum dieser auf den US-Entscheidungsprozess fokussierten
Untersuchung stand die Annahme, dass außenpolitische Entscheidungen auf einen
Kompromiss zwischen den B€urokratien zur€uckgehen, deren Vertreter das Eigenin-
teresse der B€ urokratie (Kompetenzerhalt, Machtausbau etc.) systematisch €uber ein
gemeinsames ‚nationales Interesse‘ stellen. Ausgangspunkt der Argumentationsket-
te ist der Gedanke, dass ‚your stand depends on where you sit‘. Diese Überlegungen
werden von der Bargaining-These und der Resultant-These ergänzt: Erstere bein-
haltet die Annahme, dass B€urokratien Kompromisse aushandeln, während letztere
behauptet, dass diese Kompromisse nicht ein nationales Interesse widerspiegeln,
sondern f€ ur das Gemeinwesen suboptimale – oft paradoxe – Ergebnisse mit sich
bringen. Die weitere BPM-Forschung setzte an diesen drei Strukturkomponenten
des Erklärungspfades an.
Gleichwohl merkten Kritiker in diesem Kontext an, dass das BPM-Modell nur
unzureichend zwischen organisatorischen Einfl€ussen (Wie stark sind einzelne Ent-
scheidungsträger in die Organisationskultur hineinsozialisiert?) und akteursspezifischen
Vergleichende Außenpolitikforschung 935

Einfl€ ussen (Wie stark werden Entscheidungsträger durch Wiederwahl oder Politik-
präferenzen motiviert?) zu unterscheiden vermöge (Smith 1980). Zum anderen
wurde angemahnt, dass das Modell den kompetitiven Charakter der Verhandlungen
zwischen den B€ urokratien €ubertrieben darstelle, sodass Entscheidungsprozesse im
Konsensverfahren oder durch Überzeugungsarbeit keine hinreichende Beachtung
fänden (Art 1973). Schließlich wurde auch die Resultant-These mit dem Vorwurf
angegriffen, dass sie einen unintendierten Effekt unterstelle, wo tatsächlich inten-
tionale Prozesse (Konsensfindung) am Werke gewesen sein könnten.
Blickt man demgegen€uber auf die psychologisch informierte Außenpolitikanaly-
se sind auch hier Traditionslinien erkennbar: Zum einen sind Studien €uber die
psychologische Dimension von Außenpolitik auf der Ebene von Entscheidungsträ-
gern zu nennen (beispielsweise Holsti 1976). Diese betonen den Einfluss von Denk-
bildern sowie die Bedeutung von (Fehl-)Perzeptionen in der internationalen Politik
(beispielsweise Jervis 1976). Zum anderen lässt sich eine Forschungstradition
erkennen, die ihren Aufmerksamkeitsfokus auf die Ebene von Gesellschaften richtet
und beispielsweise den Einfluss der öffentlichen Meinung vor dem Hintergrund des
Vietnamkrieges (Mueller 1973) analysiert oder aber nationalen Rollenkonzepte von
Entscheidungseliten richtet (Holsti 1970).
Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes trat die Außenpolitikforschung in eine
neue, vergleichsweise produktive Phase ein, die neben wichtigen vergleichenden
Überblickswerken (Hudson 2007; Smith et al. 2008; Kirchner und Sperling 2010;
Beasley et al. 2013) auch die Etablierung der zwei Fachzeitschriften „Foreign Policy
Analysis“ und „Zeitschrift f€ur Außen- und Sicherheitspolitik“ mit sich brachte. Die
Schwerpunkte der bundesdeutschen Forschung lagen in dieser Phase im Bereich von
Kontinuität und Wandel der deutschen und europäischen Außenpolitiken sowie
demokratischer Staaten (Brummer 2013; Evangelista et al. 2008; Harnisch und
Maull 2001; Harnisch und Schild 2014; Maull 2006; Hellmann 2006; Hellmann
et al. 2015; Geis et al. 2013; Keil und Stahl 2014; Rittberger 2001). In den letzten
Jahren wurde das Forschungsfeld zudem stark ausgeweitet und in Richtung auf eine
breitere, theorieorientierte und vergleichende Forschungsperspektive hin weiterent-
wickelt (Brummer und Hudson 2015; Harnisch et al. 2015; Hellmann und Jørgensen
2015).
Da nur wenige Politikwissenschaftler den Systembruch von 1989 antizipiert
hatten und weite Teile der Zunft kein Erklärungsinstrumentarium daf€ ur bereithielten,
wie es zu solchen Systemumbr€uchen hatte kommen können (Lebow und Risse-
Kappen 1995), setzte eine intensive Suche nach alternativen Ansätzen ein: So
wurden akteursspezifische Ansätze wiederentdeckt, die die zentrale Rolle von ein-
zelnen Entscheidungsträgern wie Michail Gorbatschow f€ur systemische Prozesse
w€urdigten. Zudem begann die Suche nach ideenspezifischen Ansätzen, die den
Wandel von außenpolitischen Einstellungsmustern wie außenpolitischen Kulturen,
Identitäten und Rollen zu erklären vermochten, da solche Wandlungsprozesse
sowohl f€ ur das friedliche Abschmelzen des Ost-West-Gegensatzes als auch das
Aufkommen ethnisch-nationalistischer Expansionspolitiken verantwortlich gemacht
wurden (Hudson 2008, S. 26–27).
936 S. Harnisch

3.1 Systemische Theorien und Außenpolitikanalyse

Systemische oder strukturelle Ansätze, wie der Neo-Realismus, zielen zuerst auf die
Erklärung eines regelmäßigen Verhaltens bestimmter Staatstypen. Sie nehmen daher
konsequenterweise regelmäßig nicht den Policy-Output einzelner Nationalstaaten in
vergleichender Perspektive oder gar Einzelentscheidungen in den Blick. Vielmehr ist
f€
ur neo-realistische Ansätze die Frage entscheidend, wie die Beschaffenheit einer
Struktur auf das Konflikt- oder Kooperationsverhalten von Staatengruppen oder
allen Staaten wirkt. Beispielsweise könnte eine Studie fragen, wie die Machtvertei-
lung zwischen Großmächten (Struktur) auf die Konflikthäufigkeit oder die Bereit-
schaft zur dauerhaften Souveränitätseinschränkung von Staatengruppen oder allen
Staaten wirkt.
Außenpolitikanalyse aus der realistischen Perspektive beginnt mit der Grundan-
nahme, dass die Machtstruktur (anarchische Ordnung) und relative Machtverteilung
(Anzahl der Machtpole und deren Größe) im internationalen System den größten
Einfluss auf die Außenpolitik aller Staaten aus€ubt. Welche Motive welche Gruppe
von Staaten zu welchem Verhalten anleiten, wird spätestens seit dem Zusammen-
bruch der bipolaren Struktur und dem Aufkommen und der Persistenz der
US-amerikanischen Vormachtstellung unter realistischen Außenpolitiktheoretikern
kontrovers diskutiert: Offensive Neorealisten, wie John Mearsheimer gehen davon
aus, dass Großmächte in einem unsicheren Umfeld offensiv, kompetitiv und expan-
siv handeln. Defensive Neorealisten argumentieren, dass Großmächte und andere
Staatengruppen am Erhalt ihrer Machtposition interessiert sind und geographische,
technologische und politische Faktoren die Varianz ihres positionalen Strebens
erklären können (Glaser 1995). Dar€uber hinaus hat sich unter R€uckgriff auf klassi-
sche Texte des Realismus eine Gruppe von Neoklassischen Realisten gebildet, die
die systemische Perspektive von Kenneth Waltz 1979 mit subsystemischen (Regie-
rungssystem, Entscheidungsgruppenkonstellationen) und individuellen Faktoren zu
verkn€upfen suchen (beispielhaft Lobell et al. 2009).
Ausgangspunkt institutionalistischer Theorien ist die Annahme, ebenso wie im
Neorealismus, dass Staaten die wichtigsten Akteure in den iB sind und diese in
einem anarchischen Umfeld agieren. Internationale Institutionen bilden zumeist den
Willen ihrer Mitglieder ab, die sich ihrer instrumentell bedienen, um ihre Interessen
durchzusetzen. Im Gegensatz zum Realismus gehen Institutionalisten aber davon
aus, dass Institutionen helfen können, die systemischen Effekte des anarchischen
Systems zu lindern, indem sie 1) einen fixen Verhandlungsrahmen bereitstellen, 2)
eine präzise Definition von Kooperation ermöglichen, 3) Themenverkn€upfungen
erlauben und 4) legitime Sanktionsmöglichkeiten bei Fehlverhalten bereithalten
(Keohane und Martin 2003, S. 80). Dar€uber hinaus unterscheiden sich Institutiona-
lismen – der rationale, der soziologische und der historische – jedoch in ihren
Erklärungen €uber das Verhalten von Staaten in internationalen Organisationen sowie
bei deren Gr€undung oder bei deren Aufk€undigung.
Vor diesem Hintergrund hat sich die institutionenorientierte Außenpolitikfor-
schung in den letzten Dekaden vor allem zwei Themenkomplexen zugewandt:
zum einen der Frage, inwieweit internationale Organisationen und hier vor allem
Vergleichende Außenpolitikforschung 937

die Europäische Union eine eigenständige Außenpolitik jenseits ihrer Mitgliedstaa-


ten verfolgen können; zum anderen konzentrierte man sich auf die Frage, inwiefern
diese Institutionen die Präferenzen oder gar die Identitäten ihrer Mitglieder durch
Prozesse der Sozialisation, beispielsweise im Sinne der Europäisierung verändern
können (f€ur die EU: Larsen 2009; Wong und Hill 2011). In diesem Kontext hat das
Aufkommen autokratischer Großmächte (China und Russland) im Verbund mit der
Bildung neuer internationaler Organisationen mit primär autokratischer Mitglied-
schaft (unter anderem Shanghai Cooperation Organization) dazu gef€uhrt, neben der
Effektivität externer Demokratieförderung auch die externen Bedingungsfaktoren
f€ur die Persistenz und das Außenverhalten von Autokratien systematischer zu
untersuchen (Burnell und Schlumberger 2010; Vanderhill 2013).

3.2 Demokratische und autokratische Außenpolitiken im


Vergleich

Dass Demokratie im Innern eines Staates dessen Verhalten nach außen beeinflusst,
gehört seit Thukydides zum Kernbestand der internationalen politischen Theorie.
Seither ist intensiv untersucht worden, inwiefern bestimmte Ideen, Institutionen und
Interessen das Außenverhalten von Demokratien prägen: Das Spektrum reicht von
der Friedfertigkeit €uber die besondere Vertragstreue bis hin zur Fähigkeit eine
imperiale (Über-)Expansion zu vermeiden (exzellenter Überblick bei Schultz 2013).
Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes, der Ausweitung der Zahl demokratischer
Gemeinwesen und Gemeinschaften (NATO/EU) hat sich auch die Anzahl und
Richtung der Forschungsbeiträge dramatisch verändert. So ist die vergleichende
Forschung zur Friedfertigkeit als auch zum Kriegsgebaren von Demokratien gleich-
sam explodiert (Geis und Wagner 2011): Aus rationalistisch-institutionalistischer
Perspektive wird dabei die Anzahl der Veto-Spieler bei der Entscheidung oder die
Sanktionsfähigkeit der Bevölkerung €uber Wahlen f€ur das (zur€uckhaltende) Konflikt-
verhalten verantwortlich gemacht (Russett 1993, S. 38–40), wenngleich Kaufmann
(2004) f€ur die US-gef€uhrte Intervention im Irak (2003) eindrucksvoll zeigen konnte,
wie eine € uberzeugte Exekutive demokratische Kontroll- und Selektionsmechanis-
men durch Verschleierung und Bedrohungsinflation umging.
In dieser Forschungstradition zeigten Lake (1992) und nachfolgend Bueno de
Mesquita et al. 2003, wie elektorale Erwägungen der regierenden Eliten die Auswahl
„gewinnbarer Kriege“ ermöglichen. Sodann spezifizierte Siverson 1995, dass De-
mokratien in Konflikten weniger Opfer zu beklagen haben, was unter anderem
Schörnig (2007) auf die vermehrte Verwendung moderner Waffentechnologie (ins-
besondere Drohnen) zum Schutze der eigenen Soldaten zur€uckf€uhrt.
Zieht man jedoch in Betracht, dass Demokratien (aber auch andere Regime-
Typen) immer weniger zwischenstaatliche Kriege f€uhren, dann relativiert sich der
Befund. Die wachsende Zahl von demokratischen Interventionen aus humanitären
Gr€unden, die bislang in keinem Fall zu selbsttragenden Friedens- und Staatsbil-
dungsprozessen gef€uhrt haben (siehe etwa Bosnien, Kosovo, Afghanistan, Irak),
verdeutlichen, dass militärische Überlegenheit nicht mit der Durchsetzbarkeit der
938 S. Harnisch

eigenen Ordnungsvorstellungen verwechselt werden sollte. Zudem haben Mansfield


und Synder (2005) deutlich gemacht, dass Regime in demokratischen Transition-
sprozessen möglicherweise besonders anfällig sind, externe Konflikte zur Stabilisie-
rung ihrer Herrschaft zu instrumentalisieren.
Aus einer sozialkonstruktivistischen Perspektive weisen Geis et al. 2010 in einer
vergleichenden diskursanalytischen Studie nach, dass verschiedene Typen von De-
mokratien nicht nur unterscheidbare Rechtfertigungen f€ur militärische Interventio-
nen nutzen, die an distinkte Selbstbeschreibungen (Identitäten) r€uckgebunden sind,
sondern auch sehr unterschiedliche „Interventionsprofile“ ausbilden (Stahl und
Harnisch 2009).
Sozialkonstruktivistische Ansätze gehen davon aus, dass neben materiellen auch
ideelle (immaterielle) Strukturen das Handeln von Akteuren prägen (Wendt 1999).
Sie unterscheiden sich damit nicht nur von systemischen Theorien (Neorealismus,
Neoinstitutionalismus, Weltsystemansatz), sondern auch von vielen liberal-ideellen
und kognitionspsychologischen Ansätzen. Grundlegende sozialkonstruktivistische
Annahme ist jeweils, dass Strukturen auf Akteure wirken, indem sie ihnen Identitä-
ten (Selbstzuschreibungen), Rollen (funktionale Positionen in einer Gruppe) und
Normen (intersubjektiv geteilte, wertegest€utzte Erwartungen angemessenen Verhal-
tens) zur Befolgung geben, die die Akteure selbst konstituieren. So argumentieren
rollentheoretische Ansätze beispielsweise, dass Staaten nicht funktional gleich sind
(Thies 2010), sondern durch die Einnahme von bestimmten und aufeinander bezo-
genen Rollen (‚leader und follower‘) differente Positionen in der Sozialstruktur der
Internationalen Beziehungen innehaben und entsprechend different agieren (Har-
nisch et al. 2011).
Die Persistenz autokratischer Regime in einer durch Demokratien geprägten
internationalen Umwelt und die ökonomische sowie politische Performanz der auto-
kratischen Großmächte VR China und Russland hat das Interesse der vergleichenden
Außenpolitikforschung an Autokratien unterschiedlichen Typs deutlich genährt.
Zwei große Trends sind hierbei erkennbar: Ein Literaturstrang beschäftigt sich,
angetrieben von der Forschungsagenda des Theorems des demokratischen Friedens,
mit der Friedfertigkeit bzw. Konfliktträchtigkeit von Autokratien. Unter dem Titel
„Dictatorial Peace?“ präsentieren Peceny et al. 2002 beispielsweise interessante
Daten f€ur personalisierte, Militär- und Einparteienregime: Sie zeigen, dass personal-
isierte Regime und Militärregime seit 1945 keine militärische Konflikte ausgetragen
haben, wohl aber in gemischten Dyaden häufiger Konflikte initiieren. Dass personal-
isierte Regime in militärischen Konflikten unterlegen sind, weil ihre Alleinherrscher
oft den Gegner ebenso f€urchten wie einen Putsch des eigenen Militärs und sie
deshalb den Austausch militärisch wichtiger Informationen unterbinden, wird durch
eine erhellende Einzelfallstudien zum Irak untermauert (Woods et al. 2006). Weeks
2008 und Koschut 2012 zeigen zudem auf unterschiedlichen Kausalpfaden, dass
einzelne Autokratietypen sehr wohl in der Lage sind, kostenträchtige Signale in
Verhandlungen zu senden und nicht-demokratische Sicherheitsgemeinschaften zu
bilden.
Eine zweite Forschergruppe nimmt, vor dem Hintergrund der tagespolitischen
Diskussion um eine „Achse des Bösen“, speziell die Frage der nuklearen Bewaffnung
Vergleichende Außenpolitikforschung 939

von Autokratien in den Blick. Way und Weeks (2012) können u€berzeugend darle-
gen, dass die mangelnde Differenzierung zwischen personalisierten Regimen und
anderen Formen autokratischen Regierens daf€ur verantwortlich ist, dass der Regime-
typus bislang nicht als Prädiktor f€ur Proliferationsverhalten anerkannt wurde. Ihre
Befunde werden durch Einzelfallstudien von Hymans 2006, 2008 gest€utzt: Dieser
kann zum einen plausibel aufzeigen, wann und unter welchen Bedingungen be-
stimmte Regime-Typen entschieden haben, eine technische Option zum Bau von
Nuklearwaffen in die tatsächliche Realisation umzuwandeln. Zum anderen weist
Hymans aber auch nach, welche (autokratischen) Regime an den hohen technischen
und organisatorischen H€urden zum Aufbau, zum Unterhalt und zur erfolgreichen
Produktionsreife eines Nuklearwaffenprogramms gescheitert sind.
Vergleicht man abschließend die Außenpolitikforschung mit der Public-Policy-
Forschung vor dem Ende des Ost-West-Konfliktes, dann werden, neben der schwachen
„Impact-Orientierung“ der Außenpolitikanalyse (Rittberger und Wolf 1985, S. 212),
zwei divergierende Trends sichtbar: Einerseits f€uhrt die Europäisierung von Staatlich-
keit in weiten Teilen Europas zu einer thematischen und theoretischen Annäherung der
Außenpolitikanalyse an die „Public Policy-Forschung“ (Wessels und Weiler 1988);
andererseits trennt sich die Außenpolitikforschung, nach etlichen problematischen
Erfahrungen mit großskaligen quantitativen Vergleichsstudien (Smith 1986), von der
vergleichenden Policy-Forschung insofern ab, als komparative Studien, die auf nomo-
thetische Aussagen zielen und auf quantiativen Regressionsanalysen beruhen eher zur
Ausnahme denn zur Regel werden (Hudson und Vore 1995).
Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes verändert sich die Positionierung der
theorie-orientierten Außenpolitikanalyse gegen€uber der vergleichenden Politikfor-
schung erneut: Zum einen lehnt sich die Außenpolitikanalyse stärker an die IB-
Forschung an, die sich ihrerseits entlang der traditionellen Großtheorien ausdifferen-
ziert (Harnisch 2003). Zum anderen sorgt die sozialkonstruktivistische Wende in den
Internationalen Beziehungen auch in der Außenpolitikanalyse f€ur eine neue, sich
ausdifferenzierende Entwicklungsdynamik: Es entwickeln sich in Europa und Ame-
rika distinkte sozialkonstruktivistische Ansätze (Checkel 2008); zudem r€uckt die
sozialkonstruktivistische Wende in der Außenpolitikanalyse diese wieder näher an
die vergleichende Politikforschung heran, indem die Outcomes, insbesondere aber
die R€ uckwirkungen der Policies auf den Akteur stärker zum Gegenstandskern wer-
den. Schließlich f€ uhrt der Dialog zwischen Außenpolitikanalyse und anderen Dis-
ziplinen, und hier insbesondere der Psychologie, zu einer substantiellen Forschungs-
dynamik, insbesondere in den USA, die in einigen Teilgebieten, so etwa der
Lernforschung, zu einer weiteren Annäherung der beiden Forschungsfelder f€uhrte.

4 Zusammenfassung

Dieser kurze Überblick hält einige Einsichten f€ur die zuk€unftige Entwicklung der
Vergleichenden Außenpolitikanalyse als IB-Teildisziplin bereit. Erstens lässt sich
nach einer langen Phase der Abgrenzung von der Lehre der Internationalen Bezie-
hungen in den 1950er- und 1960er-Jahren eine deutliche Wiederannäherung der
940 S. Harnisch

vergleichenden Außenpolitikforschung an diese, aber auch andere Disziplinen fest-


stellen. Dies wird in der Auffächerung der drei traditionellen IB-Theorien deutlich.
Es zeigt sich aber auch in der starken Stellung vieler sozialkonstruktivistischer
Ansätze, die durch ihr konstitutionslogisches Argument – Akteur und Struktur
bedingen sich gegenseitig (Wendt 1998) – die Außenpolitikanalyse direkt an die
IB-Forschung anbinden. Während ein Ende dieser Entwicklung nicht absehbar ist,
deutet Vieles sogar auf eine Vertiefung und Systematisierung dieser Verkn€upfung
hin. Zweitens trägt, wie gezeigt, die Analyse der Außenpolitik unterschiedlicher
demokratischer und autokratischer Regime-Typen dazu bei, dass Außenpolitikfor-
schung und komparative Policy-Forschung eng kooperieren. Dies schlägt sich nicht
nur in den Policy-Inhalten, sondern auch zunehmend in Politics und Polity der
Außenpolitik nieder. Dies resultiert nicht zuletzt aus dem Globaltrend, dass das
Regieren jenseits des Nationalstaates auf diesen zur€uckwirkt.
Die damit zusammenhängende ‚Europäisierung‘ und ‚Domestizierung‘ (Harnisch
2006) von Außenpolitik sind nur zwei Entwicklungstrends, die diese wachsende
Interaktion zwischen politischen Gemeinwesen und ihrer Umwelt kennzeichnen. Da
zudem staatliche Außenpolitik zunehmend auf nicht-staatliche Akteure einwirkt, ist
eine weitere Verschränkung der beiden Teildisziplinen wahrscheinlich. Empirisch
plausibel ist dies beispielsweise im Hinblick auf die asymmetrischen Reaktionen von
islamistischen Terrorgruppen auf die wachsende Anzahl demokratischer Interventio-
nen, ebenso wie vor dem Hintergrund der größer werdenden Skepsis afrikanischer
Nichtregierungsorganisationen gegen€uber der chinesischen Ressourcensicherungs-
politik. Drittens r€uckt durch diesen Trend die Wirkungsanalyse von Außenpolitik
wieder in den Blick der Teildisziplin. Sie war zuvor aus vielfältigen Gr€unden weitge-
hend in die IB ausgelagert worden war. Ferner wird Außenpolitikforschung zunehmend
auch Governanceforschung, weil demokratische Außenpolitiken aufgrund hoher Rati-
fikationserfordernisse immer häufiger die Schwelle der völkervertragsrechtlichen Ver-
pflichtung scheuen und informelle Regelungen zum Teil mit privaten Akteuren bevor-
zugen. Schließlich zeigen die vielen einzelnen Forschungskontroversen, unter anderem
dar€uber, was denn nun genau das Explanans sei, dass konstruktive Auseinandersetzun-
gen €uber den Gegenstand, die Methoden und Theorien selbst immer wieder dazu
beitragen, die Teildisziplin zu erneuern und neu zu verorten.

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Teil VIII
Materialien
Zentrale Datenquellen, Handbücher und
Zeitschriften

Toralf Stark und Christoph Mohamad-Klotzbach

Zusammenfassung
Dieser Beitrag liefert einen Überblick u€ber zentrale Datenquellen, Handb€ucher
und Zeitschriften aus dem Bereich der Vergleichenden Politikwissenschaft. Ziel
ist es, sowohl Studierenden als auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern
dieser Disziplin, Orientierungspunkte aufzuzeigen, die als Ausgangspunkt oder
Vertiefung f€
ur weitere Recherchen dienen können.

Schlüsselwörter
Vergleichende Politikwissenschaft • Qualitative Methoden • Quantitative Metho-
den • Politics • Polity • Policy • Handb€ucher • Wissenschaftliche Zeitschriften •
Aggregatdaten • Individualdaten • Überblick

1 Einleitung

Dieser Beitrag bietet einen kommentierten Überblick zentraler Datenquellen, Hand-


b€
ucher und Zeitschriften, die im Bereich der Vergleichenden Politikwissenschaft
zum State of the Art gehören. Dies erleichtert die Durchf€uhrung von Abschluss-,
Qualifikations- und Forschungsarbeiten.
Der Beitrag gliedert sich in drei Teile: Zunächst werden zentrale Individual- und
Aggregatdatenquellen der Vergleichenden Politikwissenschaft vorgestellt (2). Im
Anschluss erfolgt ein Überblick zu grundlegenden Handb€uchern der Komparatistik

T. Stark (*)
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl f€
ur Vergleichende Politikwissenschaft, Institut f€
ur
Politikwissenschaft, Universität Duisburg-Essen, Duisburg, Deutschland
C. Mohamad-Klotzbach
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl f€ ur Vergleichende Politikwissenschaft und Systemlehre,
Institut f€ur Politikwissenschaft und Soziologie, Universität W€
urzburg, W€urzburg, Deutschland
E-Mail: ch.mohamad@uni-wuerzburg.de

# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 947


H.-J. Lauth et al. (Hrsg.), Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft,
Springer Reference Sozialwissenschaften, DOI 10.1007/978-3-658-02338-6_70
948 T. Stark und C. Mohamad-Klotzbach

(3), der abschließend um eine kursorische Zusammenstellung relevanter nationaler


und internationaler Zeitschriften der Disziplin ergänzt wird (4).

2 Zentrale Datenquellen für empirische Analysen in der


Vergleichenden Politikwissenschaft

Die Vergleichende Politikwissenschaft widmet sich verschiedensten Forschungsge-


genständen und Fragestellungen. Die jeweils notwendigen Informationen
(d. h. Daten) – z. B. Angaben zu persönlichen Verhältnissen oder politischen Ein-
stellungen – können in unterschiedlichsten Datenquellen recherchiert werden. Zen-
tral hierf€ur sind v. a. bereits vorhandene Individual- und Aggregatdaten, deren
Erhebungsmethoden in anderen Beiträgen dieses Handbuchs erläutert werden.
Empirische Befunde, die im Rahmen eines qualitativen Forschungsprozesses und
hier im Speziellen in Experteninterviews erhoben werden, sind nur sehr selten als
Datensatz offen zugänglich. Zumeist handelt es sich hierbei um streng vertrauliche
Daten, die aufgrund ihrer Struktur und geringer Fallzahlen die notwendige Anony-
mität des/der Befragten nicht gewährleisten können (Behnke et al. 2006, S. 33–35).
Der Fokus bei der folgenden Vorstellung von Datenquellen konzentriert sich daher
auf quantitative Erhebungsmethoden.
Hierf€ur unerlässlich ist die bereits oben angesprochene Unterscheidung zwischen
Individualdaten (Mikroebene) und Aggregatdaten (Meso- und Makroebene). Auf der
Mikroebene ist das Individuum mit seinen Einstellungen, Werten, Verhaltensweisen
und sozialstrukturellen Merkmalen der Untersuchungsgegenstand. Erhoben werden
diese Daten mittels repräsentativer Umfragen (Surveys), Beobachtungen und Experi-
menten. Ist von Aggregatdaten die Rede, so stellen Parteien oder Verbände auf der
Mesoebene und Staaten auf der Makroebene die Analyseeinheiten dar (Jahn 2006,
S. 264). Bei dieser Form der kollektiven Eigenschaften handelt es sich um amtliche
Statistiken, Indizes oder Strukturdaten, die auf Basis aggregierter Individualdaten,
Ereignisdaten oder Erhebungen privater Organisationen generiert werden.
F€ur all diese Datenarten werden im Folgenden wesentliche Quellen tabellarisch
vorgestellt. Zunächst erfolgt f€ur die Individualdatenanalyse ein Überblick €uber die
zentralen Surveys der empirischen Sozialforschung (Abschn. 2.1). Der Abschnitt
€uber die Aggregatdaten (Abschn. 2.2) enthält zum einen die wichtigsten Demo-
kratieindizes der Vergleichenden Politikwissenschaft und zum anderen eine Über-
sicht der wichtigsten Quellen f€ur eine Reihe von Aggregatdaten. Zudem erfolgen
drei Verweise auf Datenplattformen, die derartige Daten zur Verf€ugung stellen. Alle
diese Datenquellen werden hinsichtlich ihrer Struktur, der Erhebungsjahre, der geo-
grafischen Abdeckung und der Indikatorenvielfalt kurz erläutert.

2.1 Individualdaten

F€ur die Untersuchung nationaler Forschungsfragen bieten sich je nach wissenschaft-


licher oder thematischer Ausrichtung vier Datengrundlagen an: F€ur politikwissen-
schaftliche Fragestellungen sind das die Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozi-
Zentrale Datenquellen, Handbücher und Zeitschriften 949

alwissenschaften (ALLBUS), das Politbarometer und die German Longitudinal


Election Study (GLES). Bei eher soziologisch orientierten Forschungsvorhaben
bietet das Sozioökonomische Panel (SOEP) die geeignete Datenbasis.
Die Vergleichende Politikwissenschaft zielt aus ihrem Selbstverständnis heraus
auf die Verallgemeinerbarkeit ihrer Ergebnisse. Hieraus ergibt sich der Bedarf an
länder- und zeit€ubergreifenden Surveys, wie sie im zweiten Teil der Tab. 1 unter
international beschrieben sind (Norris 2009). Der wohl meistgenutzte Survey,
v. a. aufgrund seiner zeitlichen und regionalen Reichweite ist der World Values
Survey (WVS), der inzwischen sechs Wellen umfasst. Allerdings konnte sich in
den vergangenen Jahren eine Reihe von weiteren Surveys etablieren (z. B.
Afrobarometer, Latinobarometro), die insbesondere durch ihre regionale Schwer-
punktsetzung eine gute Ergänzung oder sogar Alternative darstellen (siehe http://
www.globalbarometers.org; Chu et al. 2008). Allen gemeinsam ist die durchschnitt-
liche Stichprobengröße von ca. 1.000 Befragten, die allgemein als repräsentativ f€ur
ländervergleichende Analysen anerkannt wird (Behnke et al. 2006, S. 150). Ein
umfassenderer Überblick zu verf€ugbaren Individualdatensätzen findet sich bei
der GESIS (http://www.gesis.org/das-institut/kompetenzzentren/fdz-internationale-
umfrageprogramme/international-data-resources). Die Validität der Datensätze
schwankt. Dies hängt zum einen mit infrastrukturellen Bedingungen zusammen,
die die Umfragen in manchen Ländern auf urbane Zentren begrenzen. Zum anderen
können autoritäre Regimekontexte das Frageverhalten beeinflussen. Es sollte daher
stets die kommentierende Sekundärliteratur zu den Daten ber€ucksichtigt werden.

2.2 Aggregatdaten

Die folgenden Ausf€uhrungen zu verf€ugbaren Aggregatdaten fokussieren v. a. auf


häufig verwendete Demokratieindizes. Die wohl bekanntesten unter ihnen sind der
Vanhanen Index, Freedom House (FH), das Polity IV Projekt, die World Governance
Indicators (WGI) sowie der Transformationsindex (BTI) und die Sustainable Gover-
nance Indicators (SGI). Die beiden letztgenannten werden jeweils von der Bertels-
mann Stiftung publiziert. Das Democracy Barometer (NCCR) und der Kombinierte
Index der Demokratie (KID) sind zwei noch relativ junge Messinstrumente. Während
die zwei erst genannten Indizes vor allem auf die Systemmessung konzentrieren,
suchen die €ubrigen f€unf nach Qualitätsunterschieden innerhalb von politischen Regi-
men, hier vorrangig von Demokratien. Weitergehend ist das Varieties of Democracies
Project (V-Dem). Anhand von 329 Indikatoren können Ursachen f€ur die In-/ Stabi-
lität von Demokratien untersucht werden. Damit können sowohl qualitative als auch
systemische Unterschiede zwischen Demokratien aufgedeckt werden.
In Tab. 2 werden die Eckpunkte der Index-Konstruktion sowie die abgedeckten
Zeiträume und Länder skizziert. Detailliertere Informationen zur Konstruktion sind
unter den angegebenen Quellen zu finden. Ferner ermöglichen die Veröffentlich-
ungen von Susanne Pickel und Gert Pickel (2006, 2012), Hans-Joachim Lauth
(2010, 2011) sowie Detlef Jahn (2013) tiefergehende Einblicke in die methodische
Anlage und Validität der aufgef€uhrten Indizes.
950

Tab. 1 Übersicht €uber die zentralen Individualdatensätze national und international


Geografische
Abdeckung/
Name Thematische Schwerpunkte Zeitraum Stichprobengröße Bezugsquelle
National
Allgemeine Bevölkerungs- – Politische Einstellungen (immer) Zweijährige Westdeutschland, GESIS
umfrage der Sozialwissen- – Thematische Blöcke (alle 10 Jahre) Erhebung seit 1980 n=2400; (www.gesis.org)
schaften (ALLBUS) – Gesellschaftsrelevante Themen (alle Ostdeutschland, n=1100
4 bis 6 Jahre)
Politbarometer – Wählerverhalten Monatliche Erhebung Westdeutschland, n=1000 GESIS
– Meinungen zu aktuellen politischen seit 1977 Ostdeutschland, n=700
Problemlagen und Spitzenpolitikern
German Longitudinal Election – Institutionalisierung der Langfristpanel Dreiwellige Panel seit Deutschland, GESIS
Study (GLES) zur Bundestagswahl, der BTW 1994 im n= ca.1000
– Kernkomplex von Wahlfragen aktuelle Wahlturnus
gesellschaftliche Probleme
Sozio-ökonomisches Panel – Jährliche Schwerpunktthemen Jährliche Deutschland, DIW www.diw.de/
(SOEP) (z. B. Soziale Sicherung, Energie und Panelerhebung seit n=20.000 (aus 11.000 soep)
Umweltverhalten, Weiterbildung und 1988 Haushalten)
Qualifikation)
International
World Values Survey (WVS) – Gesellschaftliche Einstellungs- und 1981, 1990, 1995, 90 Länder weltweit www.
Wertestruktur 2000, 2005, 2010 worldvaluesurvey.org
– Fragen zur Lebenszufriedenheit, der
Familie, Religion, Ökonomie und
aktuelle gesellschaftliche Probleme und
Herausforderungen
European Values Study (EVS) – Siehe WVS 1981, 1990, 1999, 47 europäische Länder GESIS
2008
T. Stark und C. Mohamad-Klotzbach
European Social Survey (ESS) – Individuelle Orientierungen und Zweijährig seit 2002 26 europäische Länder www.
Einstellungen gegen€ uber der EU europeansocialsurvey.
– Sehr umfangreiche Standard- org
demografie
– Wechselnde gesellschaftsrelevante
Themenblöcke
European Election Studies – Einstellungen und 1979, 1989, 1994, 24 europäische Länder eeshomepage.net
(EES) Performanzbewertung der EU 1999, 2005, 2009
– Wahlbeteiligung und Wahlverhalten
bei den jeweiligen Europawahlen
Eurobarometer (EB) – soziale und politische Einstellungen, Zweimal Jährlich seit Mitgliedstaaten der EU http://ec.europa.eu/
z. B. gegen€ uber der Integration von 1974 public_opinion/
Minderheiten, dem Euro, der index_en.htm
europäischen Erweiterung und zur
Politik der europäischen Union
Afrobarometer – Lebenszufriedenheit, institutionelles 1999, 2003, 2005, Begonnen mit 12 Ländern, www.afrobarometer.
Vertrauen, Partizipation, Governance 2008, 2012 derzeit 35 Länder org
– Standarddemographie
Zentrale Datenquellen, Handbücher und Zeitschriften

Arabbarometer (AB) – Governance, politische Einstellungen, 2006, 2007, 2008 10 Länder www.arabbarometer.
politische, soziale und kulturelle org
Wertestruktur
Latino barometro – Lebenszufriedenheit, institutionelles Jährlich seit 1995 19 s€
udamerikanische www.
Vertrauen, Partizipation, Governance Länder, ohne Kuba, Haiti latinobarometro.org
– Standarddemographie und Puerto Rico
Asianbarometer – Institutionelles Vertrauen, politische 2003, 2008, 13 asiatische Länder, www.asianbaromter.
Partizipation, Traditionalismus 2012 unstetige Teilnahme org
– Sozioökonomische Faktoren
(Fortsetzung)
951
Tab. 1 (Fortsetzung)
952

Geografische
Abdeckung/
Name Thematische Schwerpunkte Zeitraum Stichprobengröße Bezugsquelle
Asiabarometer – Alltagssituationen der Bevölkerung 2002, 2003, 2004, Asiatische Länder in www.asiabarometer.
hinsichtlich Arbeitsbedingungen, 2005, 2006, 2007, wechselnden Samples org
Familie, Einstellungen gegen€ uber 2008
sozialen und politischen Institutionen,
Wirtschaftsbewertungen
International Social Survey F€
unfjährlich wechselnde Themenblöcke: Jährlich seit 1984, 48 Länder, weltweit GESIS
Programme (ISSP) – Role of Government immer wechselnder
– Social Networks Themenblock
– Social Inequality
– Familiy and Changing Gender Roles
– Work Orientations
Comparative Study of – Wahlverhalten, soziale und politische 1996 – 2001, 2001 – 36 Länder, weltweit http://cses.org/
Electoral Systems (CSES) Konfliktlinien, 2005
– Entwicklung demokratischer
Institutionen
Luxembourg Income Study – Einkommensstudie mit Fragen zum 1980, 1985, 1990, 29 Länder, http://www.
Database (LIS) Erwerbseinkommen, 1995, 2000 hochentwickelte lisdatacenter.org/
Vermögenseinkommen, Steuern, Renten Industrienationen
und öffentliche Transferleistungen
– Daten zur Einkommens-ungleichheit
(GINI-Koeffizient) und
Armutsentwicklung
– Enthält zudem Daten der Wealth Study
Database (LWS)
Quelle: Eigene Zusammenstellung; Anmerkung: Bei den Angaben zur Stichprobengröße handelt es sich a) um ca.- Angaben und b) variieren sie €uber die
Erhebungswellen. Die Fallzahlen beziehen sich auf die Daten der letzten bzw. aktuellsten Erhebungswelle
T. Stark und C. Mohamad-Klotzbach
Tab. 2 Übersicht €uber die zentralen Demokratieindizes
Geografische
Name Konstruktion Zeitraum Abdeckung Bezugs quelle
Vanhanen Index – Parteienwettbewerb und Partizipation der B€urger 1810 – 2000 187 Länder www.prio.no/Data/
– Gleichwertige Berechnung zum Index of Democracy Governance
(Polyarchie)
Polity IV – Wettbewerbscharakter der politischen Beteiligung 1800 – heute 167 Länder, www.systemicpeace.
– Regulation der politischen Beteiligung (Inklusion) Einwohnerzahl org/polity/polity4.htm
– Wettbewerbscharakter der Rekrutierung der Exekutiven größer 500.000
– Offenheit der Rekrutierung der Exekutiven
– Machteinschränkung der Regierung
Freedom House (FH) Politische Rechte: 1972 – heute 195 Länder http://www.
– Aktives und passives Wahlrecht, politischer Pluralismus freedomhouse.org/
und Partizipation reports
– Arbeit der Regierung,
B€urgerliche Freiheiten:
– Meinungs- und Glaubensfreiheit
– Versammlungs- und Organisationsfreiheit
Zentrale Datenquellen, Handbücher und Zeitschriften

– Rechtsstaat
– Persönliche Autonomie und Individualrechte
Bertelsmann Trans- – Einschätzungen zum Stand der politischen und 2003, 2006, 128 Länder weltweit http://www.bti-
formations-index wirtschaftlichen Transformation bilden den Status-Index 2008, 2010, project.de/index/
(BTI) – Politische Gestaltung auf dem Weg zur Demokratie und 2012, 2014
der Markwirtschaft bildet den Management-Index
gewichtet mit einem Schwierigkeitsgrad
Sustainable – Statusindex misst die Demokratiequalität und die 2009, 2011, 2014 41 Länder, OECD http://www.sgi-
Governance Performanz in zentralen Politikfeldern (Wirtschaft/Arbeit, und EU-Staaten network.org/
Indicators (SGI) Soziales, Sicherheit, Ressourcen)
– Managementindex erfasst die Governancekapazitäten der
OECD-Staaten (Steuerung, Politikumsetzung,
Lernfähigkeit, Beteiligung)
953

(Fortsetzung)
954

Tab. 2 (Fortsetzung)
Geografische
Name Konstruktion Zeitraum Abdeckung Bezugs quelle
Kombinierter Index – Messung der Regimequalität durch Kombination von 1996–2012 161 Länder www.
der Demokratie (KID) Freedom House, Polity IV und den World Governance politikwissenschaft.
Indicators uni-wuer-zburg.de
– Abdeckung der Dimensionen Freiheit, Gleichheit und
Kontrolle
World Governance – Voice and Accountability 1996–2012 215 Länder, weltweit www.govindicators.
Indicators (WGI) – Political Stability and Absence of Violence org.
– Government Effectiveness
– Regulatory Quality
– Rule of Law
– Control of Corruption
Democracy Qualitätsmessung der Demokratie € uber drei Dimensionen: 1990–2012 70 Länder http://www.
Barometer (NCCR) – Individuelle Freiheiten, Rechtsstaatlichkeit, democracybarometer.
Öffentlichkeit org/
– Wettbewerb, Gewaltenteilung, Gestaltungsmacht der
Regierung
– Transparenz, Partizipation, Repräsentation
Varieties of Bestimmung von Demokratievariationen, ausgehend von 1900–heute 163 Länder https://v-dem.net/
Democracy (V-Dem) der elektoralen Demokratie: DemoComp/en
– partizipativ
– liberal
– konsensual
– egalitär
– deliberativ
– mehrheitlich
Quelle: Eigene Zusammenstellung
T. Stark und C. Mohamad-Klotzbach
Zentrale Datenquellen, Handbücher und Zeitschriften 955

Die konzeptionellen Unterschiede der jeweiligen Messinstrumente sind vielfältig,


angefangen bei unterschiedlich ausgeprägten Demokratiedefinitionen, Anzahl der
untersuchten Länder und Anzahl der gemessenen Indikatoren. Sie differieren zudem
hinsichtlich der Erhebungsmethoden. Während der Vanhanen Index, das Democracy
Barometer und der KID ausschließlich Aggregatdaten nutzen, verkn€upft der WGI
bereits erhobene Aggregatdaten mit Experteneinschätzungen; die verbleibenden
Indizes nutzen ausschließlich Experteneinschätzungen. Dies gilt auch f€ur den von
Transparency International organisierten Corruption Perception Index (CPI). Munck
und Verkuilen (2002) sowie M€uller und Pickel (2007, 2008) haben sehr hilfreiche
Aufsätze zu den Vor- und Nachteilen der jeweiligen Regime-Indizes verfasst, die f€ur
eine tiefergehende Analyse empfohlen werden. Einen weiteren guten und kritischen
Überblick zum Themenkomplex liefert zudem das ZfVP-Sonderheft „Indizes in der
Vergleichenden Politikwissenschaft“ (Pickel und Pickel 2012).
Auch die vergleichende Autokratieforschung, die sich der Varianz von autoritären
Herrschaftssystemen mit unterschiedlichen Fragestellungen widmet, entwickelte
eine Reihe von Datensätzen. Zu den bekannteren Datensätzen zählen das Autocratic
Regime Data Set von Geddes et al. (2014), das Authoritarian Regimes Dataset
(ARD) von Wahman et al. (2013), der Democracy and Dictatorship (DD)-Datensatz
von Cheibub et al. (2010) und der National Elections Across Democracies and
Autocracies (NELDA)-Datensatz von Hyde und Marinov (2012). Neuerdings ist
auch der Political Regimes-Datensatz von Kailitz (2013) zu beachten.
Seit ein paar Jahren etabliert sich mit der Erforschung fragiler Staatlichkeit ein
weiterer Themenkomplex, in dem Indizes zur Messung von Staatlichkeit einen
breiten Raum einnehmen. Zu nennen sind hier u. a. der Fragile States Index (Fund
for Peace/Foreign Policy), der Index of State Weakness in the Developing World
(Brookings Institution) sowie der Global Peace Index (Institute for Economics &
Peace). Einen guten Überblick €uber die wesentlichen Indizes sowie deren Vor-
und Nachteile liefert der Users Guide on Measuring Fragility (Fabra Mata und
Ziaja 2009). Insbesondere f€ur Forscher im Bereich der Friedens- und Konfliktfor-
schung könnten sowohl das Minorities at Risk (MAR)-Projekt (http://www.cidcm.
umd.edu/mar/) als auch die Datenbank CONIS (Conflict Information System)
des Heidelberger Instituts f€ur Internationale Konfliktforschung (HIIK) hilfreich sein,
auf deren Basis das jährliche Konfliktbarometer erstellt wird (http://www.hiik.de/
index.html).
Im Rahmen der vergleichenden Policy-Forschung sowie der vergleichenden
Wohlfahrtsstaatsforschung werden u. a. Datensätze der Weltbank, der OECD oder
von Eurostat verwendet (Schmid 2006; Schmidt 2006). Daneben existieren auch
spezifischere Datensätze, die sich u. a. mit Lohnersatzraten befassen, wie z. B. das
Comparative Welfare Entitlements Dataset (CWED) (Scruggs et al. 2014) oder das
Social Citizenship Indicator Program (SCIP) (Korpi und Palme 2007). Im Rahmen
der Varieties of Capitalism-Forschung wird gerne mit dem Koordinierungsindex von
Hall und Gingerich (2009) gearbeitet.
Die Beschreibung weiterer Datenquellen f€ur Aggregatdaten lässt sich aufgrund
ihrer Diversität in dem vorliegenden Rahmen nur auf ein paar zentrale Beispiele
beschränken (weiterf€uhrend auch Jahn 2013, S. 458–461). Am Ende von Tab. 3
956

Tab. 3 Übersicht €uber Datenquellen zu einzelnen Aspekten politischer Systeme


Geografische
Name Konstruktion Zeitraum Abdeckung Bezugs quelle
World DataBank – World Development Indicators mit 1960–2008 209 Länder http://databank.worldbank.org/
umfassenden Statistiken zur data/home.aspx
Wirtschaftsentwicklung, Klimawandel,
Gesundheitsentwicklung, Bildung u.v.m.
OECD – Umfassende Datensammlung zu allen Seit 1960 Weltweite www.oecd.org
Ländern der Welt, Abdeckung
– Datenbanken zur Wirtschafts-, Sozial- und
Umweltpolitik,
Human Development Index – Kombination von Lebenserwartung, 1980–2012 186 Länder http://hdr.undp.org/en/
(HDI) Bildungszugang und Einkommen statistics/
– Ermöglicht Gruppenanalysen f€ ur die
jeweiligen Subindikatoren
Database on Political – Regierungssystem, Parteien, 1975–2010 180 Länder www.nsd.uib.no/
Institutions Wahlregularien, Stabilität und macrodataguide/
Gewaltenteilung, Föderalismus
Election Passport – Breite Datenbank zu Wahlergebnissen aus Abhängig vom 90 Länder www.electionpassport.com
Ländern mit durchgängigen Wahlen, Land
inklusive kleiner Parteien,
– Namen von unabhängigen und
unregelmäßigen Kandidaten
Comparative Manifesto – Parteienperformance und Informationen Teilweise seit 55 Länder, nur https://manifesto-project.wzb.
Project zu den jeweiligen Regierungs- und 1945 Demokratien eu/
Parteiensystem,
– Analyse von Parteiprogrammen
International Labour Übersicht zu allen Statistikquellen Teilweise seit Weltweite www.ilo.org/global/lang–en/
Organisation (ILO) bez€
uglich des Arbeitsmarktes 1950 Abdeckung index.html
T. Stark und C. Mohamad-Klotzbach
Eurostat uber Europa,
– Amtliche Statistiken € Seit 1958 Europa http://epp.eurostat.ec.europa.
Wirtschaft und Finanzen, Bevölkerung und eu/portal/page/portal/eurostat/
soziale Bedingungen, internationale home
Zusammenarbeit
Statistisches Bundesamt – Bereitstellung amtlicher Statistiken zu den Teilweise ab Deutschland, www.destatis.de/DE/Startseite.
Bereichen Arbeitsmarkt, Bevölkerung, 1950 Europa und html
Preise, Verdienste und Arbeitskosten, weltweit
volkswirtschaftliche Gesamtkosten
Council of European Social – Dachorganisation der nationalen Abhängig von den Daten in den http://www.cessda.org/about/
Science Data Archives Datenarchive in Europa, momentan sind es jeweiligen Archiven
(CESSDA) 23 Mitglieder
– Koordination des Datenmanagements
Macro Data Guide Soziale, politische und ökonomische Daten Quellenabhängig Weltweite www.nsd.uib.no/
Abdeckung macrodataguide/
DEVECON DATA Soziale, politische und ökonomische Daten Quellenabhängig Weltweite www.devecondata.blogspot.de
Abdeckung
ICPSR Data Archive Soziale, politische und ökonomische Daten Quellenabhängig Weltweite http://www.icpsr.umich.edu/
Abdeckung mit icpsrweb/ICPSR/index.jsp
Zentrale Datenquellen, Handbücher und Zeitschriften

Fokus USA,
The Dataverse Project Programmgest€utztes Datennetzwerk zur Quellenabhängig Weltweite http://dataverse.org/
Freigabe und dem Austausch persönlicher Abdeckung
Datenquellen
Quelle: Eigene Zusammenstellung
957
958 T. Stark und C. Mohamad-Klotzbach

finden sich die Verweise auf drei Webseiten, die bereits eine umfangreiche Samm-
lung der verschiedensten Aggregatdaten bereitstellen.

3 Zentrale Handbücher der Vergleichenden


Politikwissenschaft

Politikwissenschaftliche Handb€ucher und Handwörterb€ucher liefern Einblicke zum


jeweiligen Forschungsstand in einem bestimmten Themengebiet. Die Beiträge
werden von Fachleuten der Disziplin verfasst und bieten „höchst voraussetzungs-
volle Diskurs€ uberblicke“ (Stykow et al. 2009, S. 266), die jedoch den Vorteil haben,
möglichst viele Informationen bez€uglich zentraler Themen, Begriffe, Theorien,
empirischer Befunde, Werke und Autoren des jeweiligen Gegenstandsbereichs zu
ur die Einarbeitung in ein neues Themenfeld ist der Blick in Handb€ucher –
liefern. F€
neben fachwissenschaftlicher Lexika und Wörterb€ucher (z. B. Nohlen und Grotz
2011; Nohlen und Schultze 2010; Schmidt 2010) – der erste richtige Schritt.
Tab. 4 liefert einen Überblick €uber die in den letzten Jahren erschienenen zahl-
reichen Handb€ ucher. Im englischsprachigen Raum und somit mit internationaler
Reichweite sind die drei großen Wissenschaftsverlage Oxford University Press,
Sage und Routledge mit ihren Handbuchreihen f€uhrend. Im Bereich der Vergleich-
enden Politikwissenschaft existieren sowohl €ubergreifende Publikationen, die die
Breite der Disziplin widerspiegeln (Boix und Stokes 2009; Landman und Robinson
2009), als auch Bände, die sich den drei Gegenstandsbereichen polity, politics und
policy zuordnen lassen. Zu den zentralen Handb€uchern zählen dabei u. a. Political
Institutions (Rhodes et al. 2008), Political Behavior (Dalton und Klingemann 2007),
das Handbuch Wahlforschung (Falter und Schoen 2014) und die Bände zur Gover-
nance-Forschung (Benz et al. 2007; Bevir 2011; Levi-Faur 2012). Im Bereich der
Methoden-Handb€ucher werden sowohl qualitative als auch quantitative Methoden
aufgegriffen, wobei v. a. die Bände von Byrne und Ragin (2009) zu Case-Based
Methods sowie das Handbuch zur sozialwissenschaftlichen Datenanalyse (Wolf und
Best 2010) f€ ur Komparatisten von besonderem Interesse sein d€urften.
Im deutschsprachigen Raum sind seit Jahren die von Wolfgang Ismayr heraus-
gegebenen Bände zu den politischen Systemen West- und Osteuropas maßgebend
(Ismayr 2009, 2010), die bereits mehrfach aktualisiert wurden und deren einschlä-
gige Autoren in ihren Beiträgen grundlegende Einblicke in die Konstruktionsmerk-
male der jeweiligen politischen Systeme ermöglichen. Hierzu zählen u. a. die Dar-
stellung der Verfassungsentwicklung, eine Beschreibung von Exekutive, Legislative
und Judikative mit ihren jeweiligen Funktionslogiken sowie Merkmale des Wahl-
und Parteiensystems, der Massenmedien oder der politischen Kultur. In der j€ungeren
Vergangenheit sind Veröffentlichungen mit ähnlicher Struktur zu den politischen
Systemen Ostasiens (Heberer und Derichs 2008), Nord- und Lateinamerikas (St€uwe
und Rinke 2008), des Baltikums (Knodt und Urdze 2012) und Skandinaviens
(Jochem 2012) erschienen. Ergänzt werden diese Bände durch vergleichbare Hand-
b€ucher aus dem englischsprachigen Raum (vgl. Tab. 5) sowie durch zahlreiche
Monographien und Sammelbände zu Konstruktionsmerkmalen einzelner politischer
Zentrale Datenquellen, Handbücher und Zeitschriften 959

Tab. 4 Übersicht €uber zentrale Handb€


ucher der Vergleichenden Politikwissenschaft
Vergleichende – Routledge Handbook of Democratization (Haynes 2012)
Politikwissenschaft – The Oxford Handbook of Comparative Politics (Boix und
allgemein Stokes 2009)
– The Sage Handbook of Comparative Politics (Landman und
Robinson 2009)
Politikwissenschaft – A New Handbook of Political Science (Goodin und
allgemein Klingemann 1996):
– The Oxford Handbook of Political Science (Goodin 2011)
Polity – Handbuch Bundesverfassungsgericht im politischen System
(van Ooyen und Möllers 2015)
– Handbuch Föderalismus. Föderalismus als demokratische
Rechtsordnung und Rechtskultur in Deutschland, Europa und
der Welt (Härtel 2012)
– Handbuch Transformationsforschung (Kollmorgen et al. 2014)
– Routledge Handbook of International Statebuilding (Chandler
und Sisk 2013)
– Routledge Handbook of Regionalism and Federalism
(Loughlin et al. 2013)
– Routledge Handbook of Comparative Political Institutions
(Gandhi und Ruiz-Rufino 2015)
– The Oxford Handbook of Legislative Studies (Martin
et al. 2014)
– The Oxford Handbook of Political Institutions (Rhodes
et al. 2008)
– The Oxford Handbook of Political Leadership (Rhodes and
Hart 2014)
– The Sage Handbook of Leadership (Bryman et al. 2011)
– The Sage Handbook of Nations and Nationalism (Delanty und
Kumar 2006)
– Wahlrecht und Parteiensystem. Zur Theorie und Empirie der
Wahlsysteme (Nohlen 2014)
Politics – Handbook of Party Politics (Katz und Crotty 2006)
– Handbuch Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände in
Deutschland (Schroeder und Weßels 2010)
– Handbuch der deutschen Parteien (Decker und Neu 2013)
– Handbuch Gewerkschaften in Deutschland (Schroeder 2014)
– Handbuch Parteienforschung (Niedermayer 2013)
– Handbuch Politische Partizipation von Frauen in Europa.
2 Bände (Hoecker 1998; Hoecker und Fuchs 2004)
– Handbuch Wahlforschung (Falter und Schoen 2014)
– Handwörterbuch zur politischen Kultur der Bundesrepublik
Deutschland (Greiffenhagen und Greiffenhagen 2002)
– The Handbook of Social Capital (Castiglione et al. 2008)
– The Oxford Handbook of Civil Society (Edwards 2011)
– The Oxford Handbook of Political Behavior (Dalton und
Klingemann 2007)
– The Sage Handbook of Political Communication (Semetko
und Scammell 2012)
(Fortsetzung)
960 T. Stark und C. Mohamad-Klotzbach

Tab. 4 (Fortsetzung)
Policy – Handbook of Public Policy (Peters und Pierre 2006)
– Handbuch Governance. Theoretische Grundlagen und
empirische Anwendungsfelder (Benz et al. 2007)
– Handbuch Policy-Forschung (Wenzelburger und Zohlnhöfer
2015)
– Handbuch Regierungsforschung (Korte und Grunden 2013)
– Handbuch Sozialpolitiken der Welt (Porsche-Ludwig
et al. 2013)
– International Handbook on Informal Governance (Christiansen
und Neuhold 2012)
– The Oxford Handbook of Governance (Levi-Faur 2012)
– The Oxford Handbook of Public Policy (Goodin et al. 2008)
– The Oxford Handbook of the Welfare State (Castles
et al. 2010)
– The Sage Handbook of Governance (Bevir 2011)
– The Sage Handbook of Public Administration (Peters und
Pierre 2012)
Methoden – Best Practices in Quantitative Methods (Osborne 2008)
– Handbuch der sozialwissenschaftlichen Datenanalyse (Wolf
und Best 2010)
– Methoden der vergleichenden Politik- und Sozialwissenschaft.
Neue Entwicklungen und Anwendungen (Pickel et al. 2009)
– The Oxford Handbook of Political Methodology
(Box-Steffensmeier et al. 2008)
– The Sage Handbook of Case-Based Methods (Byrne und
Ragin 2009)
– The Sage Handbook of Grounded Theory (Bryant und
Charmaz 2007)
– The Sage Handbook of Online Research Methods (Fielding
et al. 2008)
– The Sage Handbook of Public Opinion Research (Donsbach
und Traugott 2008)
– The Sage Handbook of Qualitative Research (Denzin und
Lincoln 2011)
Quelle: Eigene Zusammenstellung

Systeme. Des Weiteren existieren auch Datenhandb€ucher zu speziellen Themen-


komplexen, wie z. B. die Datenhandb€ucher zu Wahlen auf verschiedenen Kontinen-
ten (u. a. Nohlen et al. 1999; Nohlen 2005; Nohlen und Stöver 2010).

4 Zentrale Zeitschriften der Vergleichenden


Politikwissenschaft

Aktuelle und kontroverse Diskussionen der Disziplin und ihrer zahlreichen Subdis-
ziplinen finden in den zentralen wissenschaftlichen Zeitschriften statt, die u. a. von
nationalen oder internationalen politikwissenschaftlichen Dachverbänden,
Zentrale Datenquellen, Handbücher und Zeitschriften 961

Tab. 5 Übersicht €uber wichtige Übersichtswerke mit regionalem Schwerpunkt


Deutschland und – Die politischen Systeme Osteuropas (Ismayr 2010)
Europa – Die politischen Systeme Skandinaviens (Jochem 2012)
– Die politischen Systeme Westeuropas (Ismayr 2009)
– Die Regierungssysteme der deutschen Länder (Leunig 2012)
– Gesetzgebung in Westeuropa. EU-Staaten und Europäische Union
(Ismayr 2008)
– Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik
Deutschland (Andersen und Woyke 2013)
– Regierungssysteme in Mittel- und Osteuropa (Grotz und M€ uller-
Rommel 2011)
– The Oxford Handbook of Local and Regional Democracy in Europe
(Hendriks et al. 2010)
Asien – Einf€uhrung in die politischen Systeme Ostasiens. VR China,
Hongkong, Japan, Nordkorea, S€ udkorea, Taiwan (Heberer und Derichs
2008)
– Routledge Handbook of South Asian Politics. India, Pakistan,
Bangladesh, Sri Lanka, and Nepal (Brass 2009)
Afrika – Routledge Handbook of African Politics (Cheeseman et al. 2013)
Lateinamerika – Die politischen Systeme in Nord- und Lateinamerika (St€ uwe und
Rinke 2008)
– Routledge Handbook of Latin American Politics (Kingstone und
Yashar 2013)
Baltikum – Die politischen Systeme der baltischen Staaten (Knodt und Urdze
2012)
Vergleichende – Demokratien im Vergleich. Einf€ uhrung in die vergleichende Analyse
Darstellungen politischer Systeme (Abromeit und Stoiber 2006)
– Politische Systeme im Vergleich (Lauth 2014)
Quelle: Eigene Zusammenstellung

Sektionen oder Arbeitskreisen und deren Mitgliedern herausgegeben werden. Fach-


zeitschriften liefern neben Forschungsergebnissen im Rahmen von Aufsätzen, For-
schungsberichten, Literaturberichten und Kommentaren auch Einblicke in aktuelle
Schwerpunktthemen und Debatten auf Tagungen (Tagungsberichte) oder j€ungst
erschienene Publikationen (u. a. Dissertationen, Habilitationen) aus der Disziplin
(Rezensionen), die von fachkundigen Experten verfasst werden.
Aufgrund der zunehmenden Ausdifferenzierung der Vergleichenden Politik-
wissenschaft kann nicht von dem einen zentralen Journal gesprochen werden,
welches alle Wissenschaftler dieser Disziplin lesen m€ussen oder sollten. Wie bei
den Handb€ uchern existieren sowohl Journals, die die Breite der Comparative
Politics abdecken, als auch gegenstandsspezifische Zeitschriften, die f€ur Kompa-
ratisten ebenfalls von Interesse sein können. Der folgende Überblick zu zentralen
Journals der Komparatistik umfasst sowohl internationale als auch nationale Pub-
likationen umfasst (vgl. etwas ausf€uhrlicher Hartmann und Sanders 2013,
S. 151–192).
962 T. Stark und C. Mohamad-Klotzbach

Die Publikationsform ‚Zeitschriften‘ differenziert sich in Journals mit und ohne


Begutachtungsverfahren (peer-review).1 Vier peer-reviewed Journals sind zu nen-
nen, die die Vergleichende Politikwissenschaft in ihrer Breite abdecken und kon-
zeptionelle, empirische und methodische Beiträge publizieren. Die beiden ältesten
und somit einschlägigsten Zeitschriften sind Comparative Politics und Comparative
Political Studies, die beide seit 1968 erscheinen. Comparative Politics (CP)
erscheint vierteljährlich und versteht sich als ein internationales Journal, welches
vergleichende Beiträge zu politischen Institutionen und Prozessen veröffentlicht.
Sowohl hinsichtlich der Fallauswahl als auch der methodischen Zugänge ist die
Zeitschrift umfassend aufgestellt. Areas wie u. a. die Europäische Union, Asien,
Afrika oder der Nahe und Mittlere Osten sind ebenso zu finden, wie case studies und
small-, medium- oder large-n-Vergleiche.
Comparative Political Studies (CPS) erscheint monatlich bei Sage und widmet
sich Analysen auf zwischenstaatlicher und innerstaatlicher Ebene. Inhaltliche
Schwerpunkte sind u. a. die Europäische Integration, Arbeitsmarktpolitik, demo-
kratische Konsolidierung, Wahlsysteme und Menschenrechte. Es werden sowohl
qualitative als auch quantitative Manuskripte veröffentlicht. Die Studien befassen
sich mit dem Nahen und Mittleren Osten, Ost- und Westeuropa, Nord- und Latein-
amerika als auch Asien.
Die j€ungste Zeitschrift dieser Disziplin ist die Zeitschrift f€ur Vergleichende
Politikwissenschaft/Comparative Governance and Politics (ZfVP), die seit 2007
bei Springer/VS Journals erscheint. Die ZfVP ist, analog zum Selbstverständnis
des Faches, international ausgerichtet und publiziert sowohl deutsch- als auch
englischsprachige Beiträge. Sie setzt sich zum Ziel, die Breite des Faches sowohl
in theoretischer, methodischer und regionaler Perspektive widerzuspiegeln. Seit
2013 erscheint die ZfVP vierteljährlich (bis 2012: 2x/Jahr), wobei zusätzlich seit
2011 Schwerpunkthefte im Rahmen von Special Issues veröffentlicht werden (vgl.
Erdmann und Kneuer 2011; Pickel und Pickel 2012; Debiel und Gawrich 2013;
Bröchler und Lauth 2014; Steinbrecher et al. 2014). Herausgegeben wird die ZfVP
vom Arbeitskreis „Demokratieforschung“ der DVPW.
Seit 2003 erscheint mit Comparative European Politics (CEP) ein Journal, das sich
zum Einen dezidiert mit politischen und ökonomischen Entwicklungen innerhalb und
außerhalb der Europäischen Union und zum Anderen der globalen Einbettung Europas
andererseits aus vergleichender Perspektive auseinandersetzt. Hierzu zählen nicht

1
Peer-reviewed Journals sind wissenschaftliche Zeitschriften, die zur Qualitätssicherung der Bei-
träge €uber ein Begutachtungsverfahren verf€ ugen. Dabei werden die eingereichten Manuskripte in
einer anonymisierten Fassung an zwei bis drei themen- und/oder methodenkundige Experten
verschickt, die das jeweilige Manuskript anhand verschiedener Kriterien wie der wissenschaftlichen
Qualität und Originalität sowie der theoretischen und thematischen Relevanz bewerten sollen. Ein
solches Verfahren wird als double-blind bezeichnet, da weder der Autor/die Autorin des Manu-
skripts die Gutachter kennt, als auch die Gutachter (im Idealfall) nicht wissen (und auch nicht
rekonstruieren können), wer das Manuskript verfasst hat. Aufsätze in solchen Zeitschriften gelten in
der Wissenschaft als qualitativ besonders hochwertig (Greener 2011, S. 24–26). Dies muss jedoch
nicht heißen, dass in Zeitschriften ohne ein solches Verfahren die Qualität der Beiträge unbedingt
schlechter ist.
Zentrale Datenquellen, Handbücher und Zeitschriften 963

zuletzt Fragen der Europäischen Integration und des Erweiterungsprozesses als auch
die Auswirkungen politischer und ökonomischer Entwicklungen. Die Zeitschrift er-
scheint bei Palgrave Macmillan seit 2013 sechsmal pro Jahr (bis 2012: 5x/Jahr), wobei
mindestens eine Ausgabe pro Jahr einen Themenschwerpunkt besitzt. Zwar ist der
Fokus dieses Journals aufgrund seiner europäischen Forschungsausrichtung etwas
enger als der von CP, CPS und ZfVP, jedoch kann es aufgrund seiner dezidiert
komparativen Ausrichtung zu dieser €ubergeordneten Kategorie gezählt werden.
Ergänzend zu diesen vier Periodika existieren eine ganze Reihe weiterer renom-
mierter Fachzeitschriften im deutschsprachigen, europäischen und internationalen
Kontext, die immer wieder komparative Analysen veröffentlichen bzw. ihre Schwer-
punkte auf Teilbereiche der Vergleichenden Politikwissenschaft und Systemlehre
legen und in der Regel neben thematischen auch regionale Schwerpunkte (Area-
Studies) setzen (vgl. Tab. 6).
Im europäischen Kontext ist insbesondere das European Journal of Political
Research (EJPR) des European Consortium for Political Research (ECPR)
zu nennen. Ergänzt wird das EJPR um das jährlich erscheinende Political Data
Yearbook, das politisch relevante Ereignisse und Statistiken der europäischen
Staaten, bspw. Wahlergebnisse oder institutionelle Veränderungen, als auch von
ausgewählten weiteren Staaten (u. a. Australien, Kanada und USA) dokumentiert.
Des Weiteren existieren Journals, die ihren Schwerpunkt im sozialwissenschaft-
lichen Methodenbereich haben. Hierzu zählen bspw. die stärker soziologisch ausge-
richteten Zeitschriften Journal of Mixed Methods Research, Sociological Methods
and Research oder Qualitative Research sowie das seit 2013 neu erscheinende
Political Science Research and Methods.
Zwei Schwerpunkte sollen abschließend noch genannt werden. Zum einen ist die
Demokratie- bzw. Demokratisierungsforschung zu nennen, die einen Kernbereich
der Vergleichenden Politikwissenschaft ausmacht. Diese Subdisziplin verf€ugt mit
dem Journal of Democracy (JoD) und Democratization €uber zwei Periodika, die
federf€uhrend im Bereich der Transformations- sowie der demokratischen Konsoli-
dierungsforschung sind. Seit 2005 existiert mit dem Taiwan Journal of Democracy
(TJD) eine j€ ungere Publikation, die den Forschungsfokus insbesondere auf den
asiatischen Raum legt und hierbei sowohl konzeptionelle als auch empirische Bei-
träge veröffentlicht.
Zum anderen ist der Forschungsbereich der Einstellungsforschung zu erwähnen,
der einen wichtigen eigenständigen Beitrag zur Komparatistik liefert. Neben Public
Opinion Quarterly (POQ) und Political Behavior zählt das International Journal of
Public Opinion Research (IJQM) zu den f€uhrenden Publikationen in diesem Bereich
und liefert Einblicke in konzeptionelle, empirische und methodologische Weiter-
entwicklungen dieses Forschungsbereiches, welche sowohl f€ur Wahl- als auch Ein-
stellungsforschern von Interesse sein können.
Gleichfalls sind Journals zu erwähnen, die eine Area-Fokussierung aufweisen,
d. h. sich auf politikwissenschaftliche Analysen in bestimmten Regionen oder Konti-
nenten spezialisiert haben. Hierzu zählen u. a. Osteuropa, das Journal of Asian Studies,
African Affairs oder Latin American Research Review sowie die Area-spezifischen
Journals, f€
ur die sich das GIGA verantwortlich zeigt (z. B. Africa Spectrum).
964 T. Stark und C. Mohamad-Klotzbach

Tab. 6 Übersicht €uber zentrale nationale und internationale Zeitschriften der Vergleichenden
Politikwissenschaft
Komparativ ausgerichtete – Comparative Politics (CP)*
Zeitschriften – Comparative Political Studies (CPS)*
– Zeitschrift f€
ur Vergleichende Politikwissenschaft (ZfVP)*
– Comparative European Politics (CEP)*
– Journal of Comparative Politics*
Zentrale Zeitschriften im – Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ)
deutschsprachigen Raum – Forschungsjournal Soziale Bewegungen (FJ SB)
– Kölner Zeitschrift f€ur Soziologie und Sozialpsychologie
(KZfSS)*
– Leviathan*
– Österreichische Zeitschrift f€ur Politikwissenschaft (ÖZP)*
– Politische Vierteljahresschrift (PVS)*
– Schweizerische Zeitschrift f€ur Politische Wissenschaft (SZPW)*
– Zeitschrift f€
ur Parlamentsfragen (ZParl)
– Zeitschrift f€
ur Politik (ZfP)*
– Zeitschrift f€
ur Politikwissenschaft (ZPol)*
– Zeitschrift f€
ur Soziologie (ZfS)*
– Zeitschrift f€
ur Staats- und Europawissenschaften (ZSE)*
Wichtige europäische – Acta Politica*
Zeitschriften – British Journal of Political Science (BJPolS)*
– East European Politics*
– European Journal of Political Research (EJPR)* und Political
Data Yearbook
– European Political Science (EPS)
– European Political Science Review (EPSR)*
– Journal of European Public Policy*
– Scandinavian Political Studies*
– West European Politics*
Wichtige internationale – American Journal of Political Science (AJPS)*
Zeitschriften – American Political Science Review (APSR)*
– Annual Review of Political Science
– British Politics*
– Commonwealth & Comparative Politics*
– Comparative Sociology*
– Development and Change*
– German Politics*
– Governance*
– Government and Opposition*
– International Political Science Review (IPSR)*
– International Social Science Review*
– Journal of Comparative Policy Analysis*
– Journal of Comparative Policy Analysis: Research and Practice
(JCPA)*
– Journal of Elections, Public Opinion & Parties*
– Journal of Public Policy*
– Journal of Social Policy*
– Legislative Studies Quarterly*
– Parliamentary Affairs*
– Party Politics*
– Perspectives on Politics*
(Fortsetzung)
Zentrale Datenquellen, Handbücher und Zeitschriften 965

Tab. 6 (Fortsetzung)
– Political Studies*
– PS: Political Science and Politics*
– Publius: The Journal of Federalism*
– Social Policy & Administration*
– Social Policy and Society*
– Third World Quarterly*
– World Politics*
Demokratie(sierungs)- – Journal of Democracy (JoD)
forschung – Democratization*
– Taiwan Journal of Democracy (TJD)*
Politische – Public Opinion Quarterly (POQ)*
Einstellungsforschung – Political Behavior*
– International Journal of Public Opinion Research*
Journals mit Methoden- – Forum Qualitative Sozialforschung (FQS)*
Schwerpunkt – International Journal of Qualitative Methods (IJQM)*
– Journal of Mixed Methods Research (JMMR)*
– methoden daten analysen (mda)*
– Political Science Research and Methods (PSRM)*
– Qualitative Research (QRJ)*
– Sociological Methods & Research (SMR)*
Quelle: Eigene Zusammenstellung; *Zeitschriften, die €
uber ein double-blind peer-review-Verfahren
verf€ugen

Zuletzt sei noch auf die zahlreichen Working und Discussion Paper- und
Research Paper-Series von nationalen und internationalen Forschungseinrichtungen
hingewiesen. Hierzu zählen u. a. das GIGA in Hamburg/Berlin, die Stiftung Wis-
senschaft und Politik (SWP), das Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) sowie das
Max-Planck-Institut f€ur Gesellschaftsforschung Köln (MPIfG).
Um den Überblick nicht vollends zu verlieren und immer auf dem Laufenden zu
bleiben, bieten die Verlage der Fachzeitschriften immer mehr Services wie z. B.
Issue- oder TOC-Alerts an, die u. a. per Email darauf aufmerksam machen, sobald
eine neue Ausgabe des jeweiligen Journals, ein neues Sonderheft oder Online-First-
Beiträge erschienen sind. F€ur diese Alerts kann man sich auch eintragen, wenn man
das Journal nicht abonniert hat.
Da das Publizieren v. a. in peer-reviewed Journals ein zunehmend wichtiger
Bestandteil f€
ur die Karriereverläufe in der Politikwissenschaft ist und die Möglich-
keit, kumulativ zu promovieren oder zu habilitieren, kontinuierlich ausgebaut wird,
ist eine Auseinandersetzung mit den gängigen Periodika der jeweiligen Disziplin
unumgänglich.

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