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Hans-Joachim Lauth
Marianne Kneuer
Gert Pickel Hrsg.
Handbuch
Vergleichende
Politikwissenschaft
Springer Reference Sozialwissenschaften
Springer Reference Sozialwissenschaften bietet fachspezifisch und transdisziplinär
Fachwissen in aktueller, kompakter und verständlicher Form. Thematisch umfasst
die Reihe die Fachbereiche der Soziologie, Politikwissenschaft, Medien- und Kom-
munikationswissenschaft sowie der Pädagogik.
Handbuch Vergleichende
Politikwissenschaft
Springer VS
# Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich gesch€ utzt. Jede Verwertung, die nicht
ausdr€
ucklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags.
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ur Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die
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berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne
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jedermann benutzt werden d€ urften.
Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in
diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die
Autoren oder die Herausgeber €ubernehmen, ausdr€ ucklich oder implizit, Gewähr f€ur den Inhalt des Werkes,
etwaige Fehler oder Äußerungen.
1
In diesem Handbuch wird im Text auf dem Hintergrund besserer Lesbarkeit keine Geschlechter-
differenzierung vorgenommen. Selbstverständlich sind immer alle Geschlechter gemeint.
v
vi Vorwort
durchgef€ uhrt werden oder die sich dem Vergleich geöffnet haben, werden
einbezogen – auch wenn sie gelegentlich anderen politikwissenschaftlichen Sub-
disziplinen zugeordnet werden oder Überscheidungen bestehen. Auch die Grenzen
mit anderen Disziplinen wie der Philosophie, Soziologie oder Ökonomie sind
zuweilen fließend. Der hier verfolgte breite und integrative Ansatz versucht, ein
immer wieder konstatiertes Gravaminum, dem Mangel disziplinären Br€uckenbauens
und reziproken Austauschs, zu beheben, indem alle jene Themen integriert werden,
wo die vergleichende Perspektive methodisch, konzeptionell und empirisch-
analytisch fruchtbar gemacht werden kann. So wurde bewusst ein Teil zu „Globali-
sierung und Regionalisierung“ in das Handbuch einbezogen, bei dem Aspekte wie
Europäisierung, Mehrebenenanalyse oder auch Vergleichende Außenpolitikfor-
schung aufbereitet werden; Aspekte also, die sich in einem Schnittmengenbereich
zwischen Vergleichender Politikwissenschaft und Internationalen Beziehungen
befinden. Auch bei Aspekten wie sozialen Protestbewegungen, politischer Kommu-
nikation, politischer Kultur oder Wertewandel sind die Argumentations- und Interes-
senmuster subdisziplinär €ubergreifend.
Das Handbuch ist in acht Abschnitte unterteilt und umfasst 65 Beiträge. Nach
einem grundlegenden Beitrag zu den historischen Entwicklungen des Faches (Teil I)
werden methodische Grundlagen und komparative Verfahren sowie Analysetechni-
ken behandelt (Teil II). Theorien und Konzepte stehen im Fokus des nächsten
Bereichs (Teil III). Grundlegende Ordnungsstrukturen (System, Regime und Regie-
rungsformen) werden ebenso aufgegriffen wie zentrale Konzeptionen und For-
schungsperspektiven (Gender, Governance, Partizipation). Ber€ucksichtigt werden
auch unterschiedliche wissenschaftstheoretische Aspekte der Forschungsorientie-
rung (Rational Choice, Konstruktivismus und Institutionen) und Schulen bildende
Theoriestränge (Policy-Theorien und Entwicklungstheorien). Teil IV bis VI folgt der
klassischen Systematik, indem die drei politischen Dimensionen von Polity, Politics
und Policies zur Ordnung der einbezogenen Aufsätze dient. Dabei werden Themen
wie Demokratisierung, Bildungs-, Sozial- und Wirtschaftspolitik, Europäisierung,
direkte Demokratie, Klientelismus, Migrationspolitik und viele andere mehr von
einschlägigen Experten behandelt. Teil VII enthält jene bereits erwähnte Integration
europäischer und internationaler Aspekte in ihrem komparativen Gehalt. Ziel der
Einzelbeiträge ist die Darstellung der zentralen Begriffe und Kategorien f€ur den
Vergleich, welche in diesem Fachgebiet relevant sind. Danach wird ihr Einsatz in der
Vergleichenden Politikwissenschaft dokumentiert. Dies umfasst sowohl konzeptio-
nelle Teile, den Einbezug von Theorien mittlerer Reichweite als auch Übersichten
€uber die zentralen Forschungen und Forschungsergebnisse. Zuletzt werden L€ucken
in den Bereichen aufgezeigt und ein Blick in die Zukunft des Feldes und seiner
Passung in die Vergleichende Politikwissenschaft vorgenommen. Abschließend gibt
Teil VIII einen Überblick €uber zentrale Datenquellen der Vergleichenden Politik-
wissenschaft. Systematisch werden die empirischen Grundlagen angef€uhrt, die in
vielen quantitativen Studien verwendet werden und grundlegenden G€utekriterien
gen€ugen. Gleichfalls werden die gängigen Lexika und spezialisierten Handb€ucher
aufgelistet, die in der komparativen Forschung zum Einsatz kommen. Dies verstehen
wir als wichtige Handreichung, gerade auch f€ur Studierende.
viii Vorwort
2
http://link.springer.com/referencework/10.1007/978-3-658-02993-7.
Vorwort ix
liegt. Die Erstellung hat alle Seiten gefordert, denn der Herstellungsprozess hat
länger gedauert als geplant. Wir danken daher allen Autoren ganz besonders; nicht
nur f€ur ihre Mitarbeit, die dieses Werk hat zustande kommen lassen, sondern auch
f€
ur ihre Geduld. Dem Springer Verlag - ganz besonders: Dr. Andreas Beierwaltes -
ist daf€
ur zu danken, dass er unserem Projekt offen gegen€uberstand und es begeistert
aufgenommen hat. Daniel Hawig hat immer wieder mit Engagement Lösungen
gefunden f€ ur die ein oder andere auftauchende technische Problematik. Auf das
Feedback der Leserschaft und weitere Anregungen sind wir gespannt. Denn auf-
grund des genannten offenen Produktionsverfahrens können die Autoren das Hand-
buch f€ur Vergleichende Politikwissenschaft in Zukunft auf aktuellem Stand zu halten
und die Fachdiskussionen dadurch zu bereichern. Wir hoffen, mit diesem inter-
aktiven Element ebenso zur Verständigung der Fachdiskussion produktiv beizu-
tragen wie die Zeitschrift f€ur Vergleichende Politikwissenschaft (ZfVP).
Hans-Joachim Lauth
Marianne Kneuer
Gert Pickel
Bibliographie
Berg-Schlosser, Dirk, und Lasse Cronqvist. 2012. Aktuelle Methoden der Vergleich-
enden Politikwissenschaft: Eine Eif€uhrung in konfigurationelle (QCA) und
makro-quantitative Verfahren. Opladen/Farmington Hills: Barbara Budrich.
Boix, Charles, und Susan C. Stokes. 2007. The Oxford handbook of comparative
politics. Oxford: Oxford University Press.
Caramani, Daniele. 2014. Comparative politics, 2. Aufl. Oxford: Oxford University
Press.
Hague, Rod, und Martin Harrop. 2013. Comparative government and politics: An
Introduction, 9. Aufl. O: MacMillan.
Jahn, Detlef. 2013. Einf€uhrung in die vergleichende Politikwissenschaft, zweite
Aufl. Wiesbaden: VS Springer.
Landman, Todd, und Neil Robinson. 2009. Sage handbook of comparative politics.
London: Sage.
Lauth, Hans-Joachim, Gert Pickel, und Susanne Pickel. 2014. Vergleich politischer
Systeme: Eine Einf€uhrung. Paderborn/M€unchen/Wien/Z€urich: Schöningh UTB.
Lauth, Hans-Joachim, Gert Pickel, und Susanne Pickel. 2015. Methoden der ver-
gleichenden Politikwissenschaft, 2te aktualisierte und erweitere Aufl. Wiesbaden:
VS Springer.
Wagschal, Uwe, Sebastian Jäckle, und Georg Wenzelburger. 2015. Einf€uhrung in die
Vergleichende Politikwissenschaft: Institutionen – Akteure –Policies. Stuttgart:
Kohlhammer.
Inhaltsverzeichnis
xi
xii Inhaltsverzeichnis
Kathrin Ackermann PhD candidate and research assistant, Institut f€ur Politik-
wissenschaft, Universität Bern, Bern, Schweiz
Andreas Blätte Professor f€ur Public Policy und Landespolitik, Institut f€ur Politik-
wissenschaft, Universität Duisburg-Essen, Duisburg, Deutschland
Matthijs Bogaards Professor, Department of Political Science, Central European
University, Budapest, Ungarn
Helmut Breitmeier Stellvertretender Vorsitzender des Vorstands der Stiftung Ent-
wicklung und Frieden (sef), Professor f€ur Internationale Beziehungen, Institut f€ur
Politikwissenschaft, Universität Gießen, Gießen, Deutschland
Ludger Helms Professor f€ur Vergleich politischer Systeme, Institut f€ur Politik-
wissenschaft, Universität Innsbruck, Innsbruck, Österreich
Detlef Jahn Professor f€ur Vergleichende Regierungslehre, Institut f€ur Politikwis-
senschaft, Universität Greifswald, Greifswald, Deutschland
Anja Jetschke Professorin f€ur Internationale Beziehungen, Institut f€ur Politikwis-
senschaft, Universität Göttingen, Göttingen, Deutschland
Steffen Kailitz Privatdozent, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hannah-Arendt-
Institut f€
ur Totalitarismusforschung, TU Dresden, Dresden, Deutschland
Klaus Kamps Professor f€ur Kommunikationswissenschaft, Hochschule der Me-
dien Stuttgart, Stuttgart, Deutschland
Norbert Kersting Professor f€ur Vergleichende Kommunal- und Regionalpolitik,
Institut f€
ur Politikwissenschaft, Universität M€unster, M€unster, Deutschland
Sascha Kneip Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Wissenschaftszentrum Berlin f€ur
Sozialforschung (WZB), Berlin, Deutschland
Marianne Kneuer Professorin f€ur Politikwissenschaft, Institut f€ur Sozialwissen-
schaften, Universität Hildesheim, Hildesheim, Deutschland
Christoph Knill Professor f€ur Empirische Theorien der Politik, Geschwister-
Scholl-Institut f€
ur Politikwissenschaft, Ludwig-Maximilians-Universität M€unchen,
M€unchen, Deutschland
Michèle Knodt Jean Monnet Professorin, Professorin f€ur Politikwissenschaft, Ins-
titut f€
ur Politikwissenschaft, TU Darmstadt, Darmstadt, Deutschland
Karl-Rudolf Korte Professor f€ur Politikwissenschaft, Institut f€ur Politikwissen-
schaft, Direktor der „School of Governance“, Universität Duisburg-Essen, Duisburg,
Deutschland
Sabine Kuhlmann Professorin f€ur Politikwissenschaft, Verwaltung und Organisa-
tion, Fachgruppe f€ur Politik- und Verwaltungswissenschaft, Universität Potsdam,
Potsdam, Deutschland
Daniel Lambach Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl f€ur Internationale
Beziehungen und Entwicklungspolitik, Institut f€ur Politikwissenschaft, Universität
Duisburg- Essen, Duisburg, Deutschland
Hans-Joachim Lauth Professor f€ur Vergleichende Politikwissenschaft und Sys-
temlehre, Institut f€ur Politikwissenschaft und Soziologie, Universität W€urzburg,
W€urzburg, Deutschland
Antonius Liedhegener Professor f€ur Politik und Religion, Zentrum f€ur Religion,
Wirtschaft und Politik, Universität Luzern, Luzern, Schweiz
Hanna Lierse Doktorandin am Fachbereich Sozialökonomie der Universität
Hamburg, Hamburg, Deutschland
xx Mitarbeiterverzeichnis
Astrid Lorenz Professorin f€ur das Politische System der Bundesrepublik Deutsch-
land/Politik in Europa, Institut f€ur Politikwissenschaft, Universität Leipzig, Leipzig,
Deutschland
Ferdinand M€ uller-Rommel Professor f€ur Vergleichende Politikwissenschaft, Ins-
titut f€
ur Politikwissenschaft, Universität L€uneburg, L€uneburg, Deutschland
Tom Mannewitz Juniorprofessor f€ur Politikwissenschaftliche Forschungsmetho-
den, Institut f€
ur Politikwissenschaft, TU Chemnitz, Chemnitz, Deutschland
Dirk Berg-Schlosser
Zusammenfassung
Der Beitrag behandelt die Entwicklung der Teildisziplin „Vergleichende Politik-
wissenschaft“ beziehungsweise „comparative politics“. Gezeigt werden deren
Ausdifferenzierung und ihre konzeptionellen und methodischen Grundlagen.
Diese haben eine eigene Entwicklungsgeschichte und einen speziellen Stellen-
wert f€ur die VP. Hieran schließt sich eine detaillierte Betrachtung wichtiger
neuerer Forschungsetappen und inhaltlicher Weiterentwicklungen an. Betont
wird die enge Verbundenheit der politischen Entwicklungen mit den jeweils
aktuellen Forschungsfragen. Zum Schluss wird auf aktuelle Herausforderungen
im Sinne wieder verschwimmender Fachgrenzen, auf Mehrebenenanalysen und
interdisziplinäre Ansätze eingegangen.
Schlüsselwörter
Vergleichende Politikwissenschaft • Comparative Politics • Komparative Metho-
den • Systemtheorie • Sozialwissenschaftliches Erklärungsmodell • Qualitative
Comparative Analysis • Area Studies • Mehrebenenanalyse
1 Einleitung
D. Berg-Schlosser (*)
Professor f€ur Politikwissenschaft, Institut f€
ur Politikwissenschaft, Universität Marburg, Marburg,
Deutschland
E-Mail: bergschl@staff.uni-marburg.de
Politisches System
Politische Stile
Internationales System
Internationales System
Institutionen
Soziales System
Politische Kultur
Sozialstruktur
Meso: Aggregierung
(Logik der
Situation) (Logik der
Aggregation)
Abb. 2 Ebenen sozialwissenschaftlicher Analyse nach Coleman. Quelle: adaptiert nach Coleman
(1990, Kap. 1); Esser (1993, S. 98)
(1974, zuerst erschienen 1843) zur€uck. Wie eingangs ausgef€uhrt haben Vergleiche in
der Politikwissenschaft zwar eine sehr viel längere Tradition, der Vergleich als syste-
matische Methode und nicht nur exemplarische Illustration, wie z. B. a. bei Machia-
velli, oder lediglich implizit wie bei Tocqueville (1835/40) ist aber j€ungeren Datums.
Mill’s „method of agreement“ versucht, einen oder wenige gemeinsame Faktoren
bei einer größeren Zahl von Fällen, die ein gemeinsames Phänomen als abhängige
Variable aufweisen, zu isolieren. In dieser Gemeinsamkeit wird dann die Ursache
des beobachteten Phänomens gesehen. Die „method of difference“ wendet hingegen
eine experimentelle Versuchsanordnung an, bei der durch Einf€uhrung eines be-
stimmten Stimulus der eintretende Effekt beobachtet werden kann. Aus praktischen
oder ethischen Gr€ unden scheidet allerdings eine solche Versuchsanordnung f€ur viele
sozialwissenschaftliche Fragestellungen aus. Stattdessen kann die „indirect method
of difference“ auf „quasi-experimentelle“ Art angewendet werden. Durch eine zwei-
stufige Anwendung der Übereinstimmungsmethode zu unterschiedlichen Zeitpunk-
ten vor und nach Eintreten eines bestimmten Ereignisses kann man Faktoren, die
bereits vorher anwesend waren, eliminieren bzw. andere, die erst nachträglich
eingetreten sind, ebenfalls ausschließen.
Alle diese Methoden implizieren aber „positivistische“ Annahmen €uber die
Beziehungen zwischen Ursachen und Wirkung und setzen verhältnismäßig mecha-
nische und deterministische Kausalbeziehungen voraus, die selbst in den „harten“
Naturwissenschaften häufig nicht gegeben sind. Zu tatsächlichen wissenschaftlichen
Entdeckungen f€ uhren sie nur, wenn in der urspr€unglichen Versuchsanordnung der
relevante kausale Faktor bereits enthalten ist, also auch durch entsprechende theorie-
geleitete Hypothesen ber€ucksichtigt wurde. Die Anwendung von Mills Methoden
f€uhrt daher häufig nicht zu neuen positiven Erkenntnissen, sie eignen sich aber
hervorragend, um aufgestellte Hypothesen und Theorien zu testen und im Popper-
schen (1972) Sinne zu falsifizieren.
In ihrer Diskussion der Millschen Methoden legen in ihrem Standardwerk Cohen
und Nagel (1934) daher eindeutig dar, dass diese Verfahren als solche „weder
Methoden des Beweises noch Methoden der Entdeckung“ (S. 266) seien. Dennoch
„sind sie von unzweifelhaftem Wert f€ur den Prozess der Wahrheitsfindung. Dadurch,
dass sie falsche Hypothesen eliminieren, verringern sie das Feld, in dem die wahren
gefunden werden können. Und selbst wenn diese Methoden nicht alle irrelevanten
Faktoren eliminieren können, so ermöglichen sie uns doch annäherungsweise die
Bedingungen des Auftretens („conditions of occurrence“) eines Phänomens zu
bestimmen, so dass wir sagen können, eine Hypothese ist logisch ihren Rivalen
vorzuziehen“ (S. 267, Übersetzung und Hervorhebung durch Verf.).
Gerade auch auf diesem Gebiet waren in den vergangenen Jahrzehnten wichtige
Weiterentwicklungen zu verzeichnen. In einem weiteren Standardwerk unterschie-
den Przeworski und Teune (1970) zwischen „most similar“ und „most different
systems designs“ f€ur systematische Vergleiche. Diese wurden mittlerweile auch im
Hinblick auf unterschiedliche Outcomes (MSDO- und MDSO-Designs) operationa-
lisiert (vgl. Berg-Schlosser und De Meur 2009). Diese Weiterentwicklung der
Millschen Verfahren bei begrenzten Fallzahlen lässt sich im folgenden Schaubild
verdeutlichen (Abb. 3):
Historische Entwicklungen und Grundlagen der Vergleichenden. . . 9
MDSO MSDO
Die stärker schraffierten Flächen geben hier jeweils beim paarweisen bzw. dem
Vergleich von drei Fällen die f€ur das outcome möglicherweise in Frage kommenden
wesentlichen Faktoren wieder, während die weißen Flächen außer Acht gelassen
(„kontrolliert“) werden können. „Most different systems with similar outcomes“
(MDSO) weisen so nur noch relativ geringe Schnittmengen aus, in denen Faktoren
f€
ur die zu erklärenden Unterschiede vermutet werden können. Umgekehrt werden
die Spezifika von „most similar systems with different outcomes“ in den grauen
Randbereichen hervorgehoben.
Parallel dazu wurden neue „makro-qualitative“ Ansätze auf mengentheoretischer
Basis und unter Zuhilfenahme der Booleschen Algebra wie „Qualitative Compara-
tive Analysis“ (QCA) in unterschiedlichen Varianten entwickelt (Ragin 1987, 2000,
2008). Auf diese Weise konnten entscheidende Fortschritte in Untersuchungssitua-
tionen erzielt werden, die von vorneherein mit kleinen oder mittelgroßen Fallzahlen
konfrontiert sind, wie z. B. beim Vergleich politischer Systeme, aber auch in der
Makro-Ökonomie usw. Zentraler Aspekt hierbei ist die Möglichkeit der Reduktion
von Komplexität durch systematische und Schritt f€ur Schritt paarweise Vergleiche, die
letztlich zur Ermittlung der verbleibenden wesentlichen Faktoren („prime implicants“),
z. T. auch in unterschiedlichen Kombinationen („conjunctural causation“), f€uhren. Die
Grundregel lautet dabei: „If two Boolean expressions differ in only one causal condi-
tion yet produce the same outcome, then the causal condition that distinguishes the two
expressions can be considered irrelevant and can be removed to create a simpler,
combined expression“ (Ragin 1987, S. 93). Dies zeigt das folgende Beispiel:
A B C þ A B c ¼ O;
d. h. die eine oder (+ steht f€ur ein Boolesches oder) andere Kombination f€uhrt zum
selben outcome. Dies kann reduziert werden zu: A B = O, wobei die Anwesenheit
oder Abwesenheit von C (ausgedr€uckt durch Groß- oder Kleinschreibung) hier als
irrelevant angesehen werden kann.
Mittlerweile ist diese Methode auch f€ur die Verwendung von mehrwertigen
Variablen („multi-value QCA“, mvQCA) und „fuzzy sets“ (fsQCA) mit der ent-
sprechenden software weiterentwickelt worden (zu Einzelheiten s. Rihoux und
10 D. Berg-Schlosser
Ragin 2009; Berg-Schlosser und Cronqvist 2011). Diese Verfahren stellen einen eigen-
ständigen wichtigen Bereich gerade f€ur Analysen mit relativ geringen Fallzahlen dar im
Gegensatz zu makro-quantitativen statistischen Verfahren, die möglichst große Fall-
zahlen erfordern (vgl. Aarebrot und Bakka 2006; Niedermayer und Widmaier 2006).
Wesentliche Unterschiede gegen€uber bis dahin €uberwiegenden makro-
quantitativen Methoden, die in erster Linie auf statistischen Mittelwerten, Signifi-
kanzanalysen, Korrelationen und Regressionen beruhen, werden in der folgenden
Gegen€ uberstellung deutlich (s. Tab. 1).
Wichtig ist hierbei zu beachten, dass mengentheoretische Ansätze einer unter-
schiedlichen Logik folgen, die notwendige und ausreichende Bedingungen, aber
auch unterschiedliche „konjunkturale“ Konstellationen, d. h. unterschiedliche Kom-
binationen von Faktoren mit demselben Ergebnis (Äquifinalität) ermitteln kann (vgl.
Goertz und Mahoney 2012). Es geht hierbei nicht um ein Konkurrenzverhältnis zu
statistischen Verfahren oder deren Übertragung auf Situationen mit kleinen Fall-
zahlen (wie bei King et al. 1994), sondern um einen eigenständigen supplementären
Ansatz (Brady und Collier 2010), der sich auch in „mixed methods“ Vorgehens-
weisen unterschiedlich mit Fallstudien und statistischen Methoden kombinieren lässt
(Berg-Schlosser 2012b). Auf diese Weise konnte das verf€ugbare analytische Instru-
mentarium der VP entscheidend erweitert und verbessert werden.
Dies ist z. B. auch f€ur Regionalstudien („area studies“) mit von vorneherein
begrenzten Fallzahlen auf der Makro-Ebene von Bedeutung. Diese können jetzt
Historische Entwicklungen und Grundlagen der Vergleichenden. . . 11
stärker analytisch und weniger lediglich deskriptiv betrieben werden, ohne auf f€ur
solche Fallzahlen fragw€urdige statistische Verfahren angewiesen zu sein. Die Ein-
grenzung auf „Theorien mittlerer Reichweite“ kann dabei in einem doppelten Sinn
verstanden werden: Zum einen als Teilbereichstheorien f€ur bestimmte Sachverhalte,
wie z. B. das Wählerverhalten, im Gegensatz zu „großen“, alles erklären wollenden
Theorien; zum anderen als Eingrenzung in Raum und Zeit im Gegensatz zu univer-
salistischen immer und €uberall Geltung beanspruchenden Theorien. Die „Tiefe“
solcher auch auf fundierten historischen, ethnologischen usw. Kenntnissen beruh-
enden Untersuchungen kann so auch theoretisch ertragreicher werden. Der noch
Mitte der 1990er- Jahre erbittert ausgetragene Gegensatz zwischen Vertretern von
gesättigten Regionalstudien wie Gabriel Almond (2002) auf der einen Seite oder
universalistischen „rational choice“ Protagonisten wie Robert Bates (1996) oder
David Laitin auf der anderen Seite hat so eine erhebliche Abschwächung erfahren
(Laitin 2007).
Mittlerweile haben auch „cross area studies“ an Bedeutung gewonnen, die kon-
krete Hypothesen €uber unterschiedliche Regionen hinweg pr€ufen und zu einer
umfassenderen Theoriebildung beitragen, ohne auf fundierte Fall- und Regional-
kenntnisse zu verzichten (Basedau und Köllner 2007; Berg-Schlosser 2012a).
Dies ist in der Regel aber nur arbeitsteilig möglich, um entsprechende historische,
Sprachkenntnisse usw. nutzen zu können.
Trotz solcher Fortschritte sind aber auch weiter bestehende Grenzen ver-
gleichender Analysen und spezifische Probleme zu beachten. Über „dichte“
Beschreibungen, erkennbare „konjunkturale“ Muster und zu beobachtende sta-
tistische Zusammenhänge hinaus stoßen unsere analytischen Verfahren an
Grenzen. So bestehen Probleme von Endogenität, wenn Ursachen und Wirkungen
im Zeitablauf nicht mehr klar unterschieden werden können. Was kam zuerst,
Henne oder Ei? Solche Fragen lassen sich zwar, bestenfalls, in historischen Einzel-
fallanalysen idiographisch behandeln und durch konkretes „process tracing“ in ihrer
Kausalität aufschl€usseln (Beach 2012), Antwort auf längerfristige Zusammenhänge
und Wechselwirkungen geben sie allerdings nicht (Przeworski 2007).
Ebenso können einzelne Fälle beim Vergleich häufig nicht als unabhängig von-
einander angesehen werden. Dies ist als „Galton’s Problem“ schon lange bekannt
und „Domino“- und Nachbarschaftseffekte wie in den Kettenreaktionen in Osteu-
ropa nach dem Fall der Mauer Ende 1989 oder im „arabischen Fr€uhling“ 2011 sind
unverkennbar. Auch hier stößt die analytische Trennschärfe an Grenzen (Berg-
Schlosser 2008). Dasselbe gilt f€ur die Wechselwirkungen zwischen unterschied-
lichen Analyseebenen, z. B. zwischen nationalstaatlichen Aspekten, Ansätzen €uber-
greifender supranationaler Organisation wie in der EU und schließlich globalen
Einfl€ ussen und Auswirkungen. Auf all diese Probleme kann eine „klassische“ ver-
gleichende Betrachtung trotz neuerer methodischer Fortschritte nur unzureichende
Antworten geben. Es sind also zumindest Erweiterungen des bisherigen Erklärungs-
modells ins Auge zu fassen, um hierf€ur die Sicht und, wenn möglich, auch unsere
Instrumentarien zu schärfen.
12 D. Berg-Schlosser
Den ersten gravierenden Einschnitt stellte der Erste Weltkrieg dar. Er war zwar vor
allem ein Krieg zwischen den europäischen Großmächten, er involvierte aber auch
mit ihrem Kriegseintritt 1917 die USA und veränderte mit dem Zusammenbruch des
Habsburger Reichs, des Zarenreichs und des Ottomanischen Reichs entscheidend
die politische Landkarte Europas, aber auch dar€uber hinaus im Nahen Osten und
Afrika (vgl. a. Holzer 2002). Gleichzeitig bedeutete das Kriegsende aber auch einen
wichtigen Schub der Demokratisierung in vielen Staaten. Zahlreiche neue Demo-
kratien entstanden, in bereits älteren wurden Beteiligungsrechte, vor allem f€ur
Frauen, erheblich ausgeweitet. Die unmittelbare Nachkriegszeit blieb aber stark
krisenbehaftet. In mehreren Ländern kam es zu B€urgerkriegen und versuchten oder
auch gelungenen Staatsstreichen, wie durch Mussolini 1923 in Italien. Nach einer
Beruhigungsphase Mitte der 1920er- Jahre f€uhrte dann die Weltwirtschaftskrise nach
1929 zum Zusammenbruch weiterer Demokratien, am spektakulärsten in der
Weimarer Republik mit der Macht€ubernahme durch die Nationalsozialisten 1933.
Die Politikwissenschaft dieser Zeit, sofern von ihr als eigenständiger Disziplin
bereits die Rede sein konnte, war vorwiegend staatsrechtlich geprägt. Die Ursachen
des Scheiterns von Demokratien wurden daher in erster Linie in konkreten Ver-
fassungsmängeln gesehen, wie z. B. den weitgehenden Vollmachten des Reichs-
präsidenten in Artikel 48 der Weimarer Verfassung, oder der Fragmentierung der
Parteienlandschaft durch das Verhältniswahlrecht (Hermens 1941). Die meisten
Historische Entwicklungen und Grundlagen der Vergleichenden. . . 13
Der Zweite Weltkrieg, mit noch verheerenderen Folgen als der Erste, und diesmal,
mit der Beteiligung Japans, wahrhaft globaler Natur bedeutete dann die nächste
einschneidende Zäsur. Erneut veränderte sich die politische Landkarte in Europa
erheblich und geriet bald unter die Vorzeichen der Blöcke der neuen nuklearen
Supernächte USA und Sowjetunion. Aber auch in Asien hatten die Niederlage
Japans und der schwindende Einfluss der europäischen Kolonialmächte zu wesent-
lichen Veränderungen gef€uhrt. Viele Staaten, wie Indien 1947, erlangten ihre poli-
tische Unabhängigkeit und wurden Teil einer neuen „Dritten Welt“. Mit weiteren
Dekolonisierungen im Nahen Osten und Afrika in den 1950er- und fr€uhen 1960er-
Jahren erfuhr die Staatenwelt eine deutliche Ausweitung, ansatzweise artikulierte
sich diese auch als „dritte Kraft“ der „non-aligned countries“, wobei Nehrus Indien,
Sukarnos Indonesien, aber auch Nassers Ägypten eine gewisse Vorreiterolle
einnahmen (Khan 1980).
Mit dieser neuen Vielfalt musste sich auch die sich nun zunehmend eigenständig
entwickelnde Politikwissenschaft befassen. Wie bereits in der Zwischenkriegszeit
deutlich wurde, konnten lediglich verfassungsrechtlich orientierte Ansätze kaum
Aufschl€ usse bieten. Viele Verfassungen der neuen Staaten waren aufwändig verhan-
delt worden, nach der Unabhängigkeit verschwanden sie aber häufig in der Ver-
senkung und machten ganz anderen Realitäten Platz. So musste den jeweiligen
historischen, religiösen, kulturellen, sozialstrukturellen usw. Bedingungen und ih-
rem komplexen Zusammenwirken entschieden mehr Aufmerksamkeit gewidmet
werden. Dies schlug sich z. T. in interdisziplinär ausgerichteten Regionalstudien
(„area studies“) vor allem der vier Großregionen Asien (ohne Sowjetunion und
Großmächte wie China und Japan), sub-saharisches Afrika (das Apartheidregime
in S€udafrika spielte hier eine Sonderrolle), Naher und Mittlerer Osten sowie Latein-
amerika und Karibik nieder. Die Behandlung im Einzelfall blieb aber meist stark
deskriptiv ausgerichtet. Eine politikwissenschaftliche Pionierleistung in dieser Hin-
sicht war der von Almond und Coleman herausgegebene, regional gegliederte
Sammelband „The Politics of the Developing Areas“ (1960).
Die Politikwissenschaft war mittlerweile stark durch „behavioralistische“ Strö-
mungen in den USA geprägt worden, die Einstellungen und Verhaltensweisen auf
der Mikro-Ebene der B€urgerinnen und B€urger in den Vordergrund stellten und diese
mit aufwändigen Methoden der repräsentativen Umfrageforschung untersuchten.
International wegweisend wurde Almond und Verbas „Civic Culture“-Studie, die
neben den angelsächsischen Staaten Großbritannien und USA mit (West-)
Deutschland und Italien auch Zusammenbruchsfälle der Demokratie in Europa und
einen „Dritte Welt“-Staat wie Mexiko einbezog (Almond und Verba 1963, 1980). Im
14 D. Berg-Schlosser
Hinblick auf weiteren sozialen und politischen Wandel ging man dabei von stark
„modernisierungstheoretischen“ Prämissen und Erwartungen aus (vgl. Lerner 1958;
Lipset 1960; Apter 1965), die in den „Entwicklungsländern“ lediglich nachholende
Tendenzen der anderswo bereits fr€uher eingetretenen Entwicklungen sahen. F€ur die
VP besonders einflussreich war das von Almond geleitete „Committee on Compara-
tive Politics“ des amerikanischen „Social Science Research Council“. Aus seiner
Arbeit ging eine Reihe von Sammelbänden hervor, die bis zum Beginn der 1970er-
Jahre grundlegend f€ur die auch internationale Beschäftigung mit dieser Thematik
wurden (z. B. Pye und Verba 1965; LaPalombara und Weiner 1966; Binder 1971).
Die Unzulänglichkeit modernisierungstheoretischer Ansätze wurde in der Zwi-
schenzeit ebenfalls deutlich. „Unterentwicklung“ kann nicht bloß als statischer
Zustand traditionaler Gesellschaften, den diese nachholend €uberwinden, begriffen
werden. In vielen Fällen handelte es sich vielmehr um einen aktiven und sich
fortsetzenden Prozess einer „Entwicklung von Unterentwicklung“ mit langfristig
negativen ökonomischen, sozialen und politischen Konsequenzen. Als Ursachen
hierf€
ur wurden vorwiegend externe Faktoren verantwortlich gemacht wie die häufig
jahrhundertelange koloniale Unterwerfung und Ausbeutung, aber auch die nach der
Unabhängigkeit weiter bestehenden „neo-kolonialen“ außenwirtschaftlichen und
–politischen Abhängigkeiten. Diese „dependenztheoretische“ Betrachtungsweise
wurde in erster Linie von „polit-ökonomischen“ und „historisch-materialistischen“
Erklärungsmustern z. T. marxistischer Provenienz geprägt (vgl. Frank 1969; Cardo-
so und Faletto 1976). Eine spezifische Weiterentwicklung dieses Ansatzes stellen
auch die „Weltsystem“-Analysen von Wallerstein (1973 oder Modelski (1987) dar.
Im R€ uckblick erwies sich aber auch diese „große Theorie“ als einseitig und €uber-
zogen (Menzel 1993).
Einen weiteren Einschnitt stellten dann die „Ölkrisen“ und ihre Folgen dar. Der
„Yom Kippur – Krieg“ 1973 zwischen Israel und seinen Nachbarstaaten f€uhrte zu
einer politischen Solidarisierung wichtiger ölexportierender Staaten, vor allem im
Nahen Osten, und zu einer erfolgreichen Durchsetzung von massiven Ölpreiserhö-
hungen durch das OPEC-Kartell. Dies traf die westlichen Ökonomien erheblich und
f€uhrte zu einer Phase der „Stagflation“, einer fatalen Kombination von wirtschaftli-
cher Stagnation bei steigendem Preisniveau und zunehmender Arbeitslosigkeit.
Gleichzeitig, nicht zuletzt angestoßen auch durch den Bericht des „Club of Rome“
(Meadows et al. 1970), wuchs das Bewusstsein f€ur die Endlichkeit nat€urlicher
Ressourcen und die allgemeineren „Grenzen des Wachstums“.
Politikwissenschaftlich hatte dies zum einen eine stärkere Hinwendung zu kon-
kreten ökonomischen und ökologischen Politiken („policies“) zur Folge. Ihre Unter-
suchung wurde zunehmend auch vergleichend angelegt, um hieraus Lehren f€ur
relativ erfolgreichere Praktiken zu ziehen (z. B. Heidenheimer et al. 1990; Schmidt
2006). Zum anderen verstärkte der Bewusstseinswandel „neue soziale Bewegungen“
im Bereich der Frauen-. Ökologie- und Friedensbewegungen (Rucht 2003; della
Historische Entwicklungen und Grundlagen der Vergleichenden. . . 15
Porta 2011), die in zahlreichen europäischen Staaten auch zur Herausbildung neuer
„gr€uner“ Parteien beitrugen. Die vergleichende Parteienforschung (z. B. Katz und
Mair 1992; M€ uller-Rommel 1993), aber auch die allgemeine Wertewandelforschung
(Inglehart 1977, 1990) wandten sich nun diesen Themen zu.
In globaler Hinsicht war mit diesen Entwicklungen auch eine Verschiebung der
regionalen politischen Gewichte verbunden. Zwar dominierten nach wie vor die
beiden nuklearen Supermächte im Zeichen des Kalten Krieges, ihr Verhältnis zu
einander war aber , vor allem nach dem Machtantritt Gorbatschows in der Sowjet-
union 1985, zunehmend auf „Entspannung“ angelegt. Gleichzeitig verstärkte sich
der Einfluss der Ölmächte, anderer Rohstoffproduzenten, aber auch der eine erfolg-
reiche nachholende Industrialisierung betreibenden „emerging economies“, vor
allem in Ost- und S€udostasien.
Der Fall der Mauer in Berlin am 9. November 1989, dem in einer Kettenreaktion die
Zusammenbr€ uche der kommunistischen Regime in den osteuropäischen Staaten und
schließlich in der Sowjetunion selbst folgten, signalisierte den Anbruch einer weite-
ren Epoche. Zwar bedeutete dies nicht, wie sich sehr schnell zeigen sollte, das
vorzeitig ausgerufene „Ende der Geschichte“ (Fukuyama 1989), die „dritte Welle
der Demokratisierung“ (so nummeriert von Huntington 1991) löste aber erneut einen
Schub in der VP aus. Jetzt standen Fragen der demokratischen Transition (O’Don-
nell et al. 1986), der demokratischen Konsolidierung (Linz und Stepan 1996), aber
auch der sozio-ökonomischen und politischen Transformationen insgesamt
(Merkel und Puhle 1999) im Vordergrund. Die Demokratisierung zunächst in
S€udeuropa und Lateinamerika bereits in den 1970er- und 1980er-Jahren und die
Umbr€ uche in Osteuropa zeigten Folgen auch im sub-saharischen Afrika und in
S€udostasien. Lediglich der Nahe und Mittlere Osten und eine Großmacht wie
China schienen noch resistent. Nahezu zwei Drittel aller UN-Mitgliedstaaten wiesen
jetzt demokratische Verfassungen auf und hielten zumindest formal regelmäßige
Wahlen ab. Weltweite Demokratie schien zum einzigen legitimen „game in town“
(di Palma 1991) geworden zu sein. Aber auch diese Entwicklung sollte nicht
andauern.
Der terroristische Anschlag auf das World Trade Center in New York, das Pentagon
und andere Institutionen in den USA markierte erneut einen dramatischen Ein-
schnitt. Zum einen wurde deutlich, dass globale Entwicklungen bei weitem nicht
nur noch in friedlichen Bahnen verliefen und die einzige verbliebene Supermacht
USA nunmehr mit anderen Gegnern zu rechnen hatte. Dies schien zumindest
Huntington’s andere Aufsehen erregende These vom „clash of civilizations“ (1996)
16 D. Berg-Schlosser
als dem das neue Jahrhundert bestimmenden zentralen Konflikt zu bestätigen. Zum
anderen zeigte dies aber auch, dass es sich bei zahlreichen der gefeierten neuen
Demokratien bestenfalls um neue Fassaden f€ur nach wie vor bestehende autoritäre
und klientilistische Strukturen und bloße „electoral democracies“ handelte. In et-
lichen Fällen f€
uhrte dies gar zum Staatszerfall bis hin zum Staatskollaps, spektakulär
z. B. in Somalia, Liberia, DR Kongo usw., was nicht zuletzt wieder Nährboden f€ur
bewaffnete Milizen und terroristische Gruppierungen wie z. B. a. in Afghanistan
bot. Auch mit diesen Phänomenen musste sich die VP jetzt befassen (vgl. Zartman
1995; Schneckener 2006).
Gleichzeitig r€uckten aber auch Mängel länger bestehender Demokratien und ihre
unterschiedlichen Qualitäten bzw. Defizite in den Blick (vgl. Diamond und Morlino
2005; B€ uhlmann et al. 2008). Die angemessene Konzeptionalisierung moderner
Demokratien und ihre Operationalisierung und Messung in unterschiedlichen Indi-
ces f€
ur den internationalen Vergleich wurden jetzt ebenfalls stärker thematisiert
(Lauth et al. 2000; Munck 2009). Ebenso hatten sich zahlreiche autoritäre Regime
als weiterhin dauerhaftes „game in town“ erwiesen (Brooker 2009; Kailitz und
Köllner 2013) oder neuere „hybride“ Formen entwickelt (Levitsky und Way 2010).
macro-level explanandum
Welt:
Staat: micro-level
actor behavior
macro-level logic of selection
explanandum
micro-level
actor logic of selection behavior
4 Ausblick
gewonnen. Das Ganze wird durch die neuen Möglichkeiten der elektronischen
Kommunikation unendlich erleichtert. Nicht zuletzt die Tatsache, dass heute in
nahezu allen Ländern und Regionen gut informierte und ausgebildete Politikwissen-
schaftler anzutreffen sind, mit denen man „auf Augenhöhe“ verkehrt und sich
austauscht, hat hierzu beigetragen. Auch die bessere Methodenschulung durch
summer schools von APSA, ECPR und IPSA verdient an dieser Stelle Erwähnung.
Wichtige internationale soziale und Forschungsnetzwerke, gerade auch j€ungerer
KollegInnen, konnten auf diese Weise geschaffen werden.
Dennoch bleiben, wie erwähnt, weitere Defizite und Desiderate. Insbesondere
dynamische und Mehrebenenanalysen stellen weitere Herausforderungen dar. Auch
hier sind weitere Fortschritte denkbar. Die jeweiligen Kausalitätsbeziehungen, auch
im Sinne notwendiger und zureichender Bedingungen und eines intensiveren „pro-
cess tracing“ sollten hierbei €uber bloße Korrelationen und Regressionen hinaus
stärker beachtet werden. Nicht zuletzt ein auch historisch gesättigtes Erfahrungs-
wissen kann hierzu beitragen. Die zu beobachtende Annäherung und gegenseitige
Ergänzung von qualitativen und quantitativen Verfahren durch „mixed methods“
und Triangulation geht ebenfalls in die richtige Richtung. Auch hier sind mehr
Pragmatismus und weniger paradigmatische Glaubenskriege angesagt. Eklektizis-
mus sollte dabei kein Schimpfwort sein (Sil und Katzenstein 2010).
Auch eine verstärkte interdisziplinäre Vorgehensweise und Vernetzung bleibt
weiter w€ unschenswert, wenn auch paradoxerweise die jeweiligen Spezialisierungen
immer weiter zunehmen. So stellte die politische Soziologie immer schon einen
besonderen Überlappungsbereich zwischen den Disziplinen, auch in den interna-
tionalen Fachorganisationen, dar. Auch zwischen einer stärker behavioralistisch und
institutionell ausgerichteten Wirtschaftswissenschaft und der Politikwissenschaft
haben die Schnittmengen zugenommen. Dies gilt auch f€ur die Internationale
Politische Ökonomie (IPÖ). Nicht zuletzt angesichts verbreiteten Staatszerfalls und
intensiverer globaler kultureller Kontakte und Konflikte spielen auch ethnologische
und sozialanthropologische Aspekte, wie sie auch in cross area studies ber€ucksich-
tigt werden, nach wie vor eine erhebliche Rolle.
Dies alles erfordert aber immer auch eine klare Konzeptualisierung im Sinne von
Giovanni Sartori (1984) oder Gary Goertz (2006) und eine angemessene Operationa-
lisierung hinsichtlich der zu erhebenden Daten und Informationen im permanenten
Dialog zwischen zunehmend anspruchsvollerer Theoriebildung und empirischer Rea-
lität. Universale „covering laws“ (Hempel 1965) wie in den Naturwissenschaften sind
dabei nicht zu erwarten. Dennoch sind €ubergreifende „set – subset“ – Beziehungen
(Goertz und Mahoney 2012) oder partielle relativ dauerhafte „Theorieinseln“ (Wiarda
und Chalmers 1985) durchaus zu beobachten. VP bleibt dabei einer empirisch-ana-
lytischen und in diesem Sinne „kritisch-rationalen“ Vorgehensweise verhaftet. Wenn
auch unsere Konzepte unzweifelhaft soziale Kontrukte sind (Berger et al. 1969), so
bleibt doch ihre Überpr€ufung an der politischen Realität unabdingbar. Vor „postmo-
dernen“ Anfechtungen bleibt sie daher weitgehend gefeit (Rosenau 1992). Die VP
sollte dabei die erreichten Standards nicht mehr unterschreiten und sie weiter
entwickeln (Munck 2010). Dennoch bleibt dies angesichts unserer im Zeitablauf sich
stets weiter verändernden „plastischen Materie“ eine Sisyphusaufgabe.
Historische Entwicklungen und Grundlagen der Vergleichenden. . . 19
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Teil II
Methodische Grundlagen und Verfahren
Methodologische Grundlagen des
Vergleichs und Vergleichsdesigns
Susanne Pickel
Zusammenfassung
Die Vergleichende Politikwissenschaft setzt systematisch, planvoll, Kriterien ge-
leitet und auf Theorien bezogen mindestens zwei Vergleichsobjekte, die mindes-
tens eine gemeinsame Eigenschaft besitzen, zu einander in Beziehung. Ihre For-
schungsdesigns richten sich zunächst nach der Anzahl der zu untersuchenden
Fälle und der Anzahl der zu erhebenden Variablen. Im Zentrum der vergleich-
enden Analysen stehen die Fallstudie, die statistische Methode und die „ver-
gleichende Methode“, die sich des Most Similar Systems- oder der Most Diffe-
rent Systems-Forschungsdesigns bedient. Die Vergleichende Politikwissenschaft
trifft dort auf Grenzen, wo Regeln der kontrollierten oder repräsentativen Fall-
auswahl verletzt, Variablen nicht ber€ucksichtigt oder externe Einfl€usse €ubersehen
werden.
Schlüsselwörter
Grundlagen • Systematik • Forschungsansätze • Forschungsdesigns • Grenzen
S. Pickel (*)
Professorin f€ur Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Vergleichende Politikwissenschaft,
Institut f€ur Politikwissenschaft, Universität Duisburg-Essen, Duisburg, Deutschland
E-Mail: susanne.pickel@uni-due.de
Die Systematik der Vergleichenden Politikwissenschaft leitet sich aus der theoreti-
schen Fundierung der Forschungsfrage, der Fallauswahl, der Operationalisierung
und der Methode der strukturierten Analyse ab. Zunächst konstruiert die Theorie
Zusammenhänge zwischen Sachverhalten. Aus theoretischen Annahmen werden
Hypothesen abgeleitet, die anhand einer aufeinander abgestimmten Fall- und
Variablenauswahl analysiert werden. Dabei ist entscheidend, dass
Ergebnisse bzw. Schl€usse, die durch die Analysemethoden erzielt werden, m€ussen
interne und externe Validität besitzen. Die interne Validität bezieht sich auf die
G€ultigkeit der deskriptiven oder kausalen Schl€usse f€ur nahezu alle Untersuchungs-
fälle. Es muss belegt sein, dass die unabhängige Variable X tatsächlich den be-
schriebenen Effekt bei der abhängigen Variable Y hervorruft. Externe Validität meint
die G€ ultigkeit der Schl€usse €uber die Untersuchungsfälle hinaus, ihre Generalisier-
barkeit (Peters 1998, S. 48; Keman 2011, S. 53). Wird z. B. ein Zusammenhang
zwischen Demokratiepersistenz und Wirtschaftsleistung anhand der OECD-Länder
belegt, so ist dieser f€ur nahezu alle OECD-Länder g€ultig (interne Validität). F€ur
28 S. Pickel
Diesen Anforderungen einer g€ultigen vergleichenden Analyse kann nur €uber eine der
Forschungsfrage entsprechende Fall- und Variablenauswahl entsprochen werden. Als
Merksatz kann mit Guy Peters aus den Methoden der experimentellen Forschung von
John Stuart Mill abgeleitet werden (Peters 1998, S. 30; Mill 1868, S. 425–448; Jahn
2013; Lauth et al. 2009, S. 220; Keman 2011, S. 57): „Maximize experimental
variance, minimize error variance, and control extraneous variance.“ Diese Vorgabe
gilt uneingeschränkt f€ur quantitative Studien (und die Qualitative Comparative Ana-
lysis), möchte man in der Vergleichenden Politikwissenschaft eine der Forschungs-
frage angemessene Fallauswahl mit einer angemessenen Variablenauswahl verbinden.
Warum ist dieser Merksatz so wichtig? Zum einen beschreibt er die Fehlermög-
lichkeiten der Fall- und Variablenauswahl hinsichtlich der Generalisierungsfähigkeit
der erzielten Analyseergebnisse, zum anderen fordert er Disziplin und Systematik
bei der Auswahl der Fälle und Variablen mit Blick auf die Forschungsfrage.
Die experimentelle Varianz bezieht sich auf die Varianz (beobachtete Differenzen
zwischen den Fällen und/oder Wandel €uber Zeit) der abhängigen Variablen (Y) aus
der Forschungsfrage, die systematisch mit der Varianz der unabhängigen Variable
(n) (X) zusammenhängt (Keman 2011, S. 57; Peters 1998, S. 30–32).
Die Fehlervarianz beschreibt das Auftreten zufälliger Effekte und Fehler innerhalb
der Messungen der abhängigen Variablen. Sie resultieren aus fehlerhafter Fallauswahl
oder fehlerhaften Beobachtungen genauso wie aus fehlerhafter Datenerfassung. Um
den Fehler zu minimieren, kann man die Fallzahl steigern. Da dies aber oftmals nicht
möglich ist, gilt es, die (aus einer Theorie abgeleiteten) Variablen sorgfältig aus-
zuwählen, zu kombinieren (Keman 2011, S. 57) und korrekt zu messen.
Die externe Varianz bezieht sich auf das Drittvariablenproblem. Die Drittvariable
kann auf die Beziehung zwischen X und Y oder auf beide Variablen wirken, d. h.
eine oder mehrere unabhängige Variablen werden nicht in die Analyse
Methodologische Grundlagen des Vergleichs und Vergleichsdesigns 29
1
Soziale Erw€unschtheit bezeichnet ein Antwortverhalten, bei dem der Befragte eine nicht korrekte
Antwort gibt, weil er bef€
urchtet, beim Interviewer mit der korrekten Antwort auf soziale Ablehnung
zu stoßen (zu Effekten sozialer Erw€ unschtheit Stocké 2004).
30 S. Pickel
Systematisches Vergleichen ist mit den Arbeiten von John Stuart Mill (1843) in die
Sozialwissenschaften eingef€uhrt worden.2 Seine Methoden der Differenz („method
of difference“) bzw. Konkordanz („method of agreement“) systematisieren die ver-
gleichende Untersuchung von Variablen, die miteinander in Beziehung stehen. In der
zeitgenössischen politischen Wissenschaft wurde das Vergleichen als Methode erst
wieder ab den späten 1960er Jahren (Berg-Schlosser und M€uller-Rommel 2003,
S. 20–23) vor allem im angelsächsischen Raum eingef€uhrt. Als zentrale Beiträge
gelten die Arbeiten von Przeworski und Teune (1970) und Lijphart (1971, 1975).
Zwei Grundrichtungen des Vergleichens wurden dabei eingeschlagen: Zum einen
setzte sich die von Lijphart3 unterst€utzte Auffassung durch, dass Vergleiche mit
möglichst vielen Fällen bzw. Ländern („Large-N-Analysis“) das Ziel der komparati-
ven Analyse darstellen, zum anderen wurde durch die Einf€uhrung des MSSD und
des MDSD ein Standard f€ur die Fallauswahl einer vergleichenden Studie mit be-
grenzten Fallzahlen vorgelegt. Als grundlegende Basis f€ur die Methoden4 des Ver-
gleichens gilt Lijpharts (1971, S. 682–685) Aufteilung in Fallstudien, vergleichende
Methode, Experiment5 und statistische Methode (Abb. 2).
Alle in Abb. 2 dargestellten Analysedesigns sind geeignet, systematisch verglei-
chende Analysen zu durchzuf€uhren. Einzelfallstudien oder die Untersuchung weni-
ger Fälle werden in der Regel als fallorientiert beschrieben. Grundlage dieser
Vorgehensweise ist eine genaue Kenntnis der Fälle, die entweder durch qualitative
Methoden der empirischen Sozialforschung wie Interviews oder Dokumentenana-
lyse oder durch quantitative Methoden auf der Mikroebene (Individualdatenanalyse)
wie beispielsweise die Umfrageforschung erzielt werden kann. Die Analyse einer
mittleren oder hohen Anzahl von Fällen wird hingegen variablenorientiert genannt,
weil hier die Fälle als Spezifikum hinter die Untersuchung von vom Fall abstrahie-
renden Zusammenhängen von Variablen zur€ucktreten. Die Fälle werden zum Träger
abstrakter Information, die anhand statistischer (Kontroll-)Methoden untersucht
werden; die Ergebnisse sind jedoch leichter generalisierbar als beim fallorientierten
Vorgehen.
2
Als „Urvater“ des systematischen Vergleichens ist Aristoteles anzusehen, der seine Untersuchun-
gen von politischen Systems bereits anhand kategoriengeleiteter Fragestellungen durchgef€ uhrt hat.
3
Lijphart sieht Vergleiche mit kleinerer Fallzahl oder gar Einzelfallstudien eher als Vorstufen breiter
angelegter (Large-N-) Studien.
4
Methode wird nach Lijphart (1971, S. 683) als genereller Zugang angesehen, der von den kon-
kreten Untersuchungstechniken zu unterscheiden ist. Diese Benennung f€ uhrt, da die von ihm als
Analysetechniken eingeordneten Vorgehen € ublicherweise im Sprachgebrauch als sozialwissen-
schaftliche Methoden behandelt werden, nicht selten zu Missverständnissen.
5
Der systematischen Logik folgend gehört auch die experimentelle Methode (McDermott 2002;
Morton und Williams 2009; Faas 2009; Faas und Huber 2010), in der die Untersuchungsanordnung
vollständig kontrolliert wird, zu den Analyseansätzen der Politikwissenschaft. Allerdings spielt sie
f€
ur die Vergleichende Politikwissenschaft bislang eine untergeordnete Rolle.
Methodologische Grundlagen des Vergleichs und Vergleichsdesigns 31
3.1 Fallstudie
Eine sorgfältige Fallauswahl bildet die Basis einer jeden Fallstudie. So banal die
Frage: „Wof€ ur ist dieser Fall ein Fall?“ klingen mag, so schwierig ist oft ihre
Beantwortung. Wenn der Fall nicht f€ur ein theoretisches Konstrukt oder f€ur eine
Typologie von Fällen oder eine bestimmte Entwicklung stehen kann, so fällt seine
Analyse nicht in den Bereich der Vergleichenden Politikwissenschaft. Es fehlt der
comparative merit, der Erkenntnisgewinn durch Vergleich mit ähnlichen oder unter-
schiedlichen Sachverhalten. Dieser kann etwa durch den Abgleich mit aus theoreti-
schen Grundlagen abgeleiteten Kriterien erzielt werden. Unterschiedliche Arten von
Fallstudien kommen dieser Forderung unterschiedlich gut nach (Abb. 3; Hague
et al. 1998, S. 277; Muno 2003, S. 23, 25; siehe auch Lauth et al. 2009, S. 63;
Gerring 2007, S. 90–122).
Die a-theoretische, deskriptive Fallstudie zählt nicht zu den vergleichenden Fall-
studien, da sie keiner systematischen und Kriterien geleiteten Analyseform gehorcht.
Sie kann als explorative Studie Grundlage f€ur eine vergleichende Analyse sein,
wenn aus den Erkenntnissen Merkmale oder Kriterien abgeleitet werden, die zur
Grundlage einer systematischen Analyse gemacht werden. Alle anderen Arten von
Fallstudien unterliegen bestimmten Vergleichsansätzen: Bei repräsentativen Fall-
studien wird ein Fall ausgewählt, der typisch f€ur eine ganze Reihe von Ländern ist,
die bestimmte Merkmale aufweisen. Das Untersuchungsmodell soll getestet und ggf.
geschärft werden. Prototypische Fallstudien bilden die Grundlage f€ur in späteren
Entwicklungen als repräsentativ zu betrachtende Fälle. Die Französische Revolution
Abb. 3 Typen von Fallstudien. Quelle: Eigene Zusammenstellung; siehe Muno (2003, S. 23, 25)
Methodologische Grundlagen des Vergleichs und Vergleichsdesigns 33
3.2.1 Paarvergleiche
Im Bereich der Analyse weniger Fälle, die bei Lijphart (1971) auch die „vergleichen-
de Methode“ umfasst, ist zunächst €uber den Paarvergleich als kleinste Einheit zu
sprechen, der zwei Untersuchungsgegenstände direkt miteinander in Beziehung
setzt. Zwei Fälle werden systematisch und Kriterien geleitet miteinander hinsichtlich
ihrer Ähnlichkeiten oder Unterschiede verglichen. Von besonderem Nutzen f€ur die
Vergleichende Politikwissenschaft sind sogenannte fokussierte Vergleiche, die ein-
zelne Aspekte, die in der Forschungsfrage umrissen werden, thematisieren. Aus dem
Vergleich der Regierungssysteme der USA und Großbritanniens lassen sich etwa
Erkenntnisse € uber die Funktion von Parteien in präsidentiellen und parlamentari-
schen Systemen gewinnen. Hier werden Unterschiede der Regierungssysteme ex-
pliziert. Untersucht man z. B. semipräsidentielle Regierungssysteme, werden häufig
Gemeinsamkeiten mit den anderen beiden Regierungssystemen thematisiert.
F€ur die Vergleichende Politikwissenschaft problematisch können Paarvergleiche
werden, wenn versucht wird, eine Ergebnissicherheit oder Prognosefähigkeit zu
erreichen, die durch zwei Fälle nicht erzielt werden kann. Ginge man etwa anhand
34 S. Pickel
3.2.2 Small-N-Studien
Small-n-Studien umfassen meist drei bis zehn Fälle, aber auch die Analyse von
ca. 20 Fällen zählt noch zu diesem Bereich vergleichender Untersuchungen. Small-
n-Analysen arbeiten noch eher fallorientiert, tendieren aber gerade im Bereich
zwischen 15 und 20 Fällen bereits zur variablenorientierten statistischen Analyse.
Die Untersuchungsmöglichkeiten leiden jedoch nahezu immer darunter, dass zu
viele Variablen anhand zu weniger Fälle analysiert werden sollen. Hierbei entstehen
verschiedene Probleme der Signifikanz und Reliabilität der Ergebnisse, denen man
mit unterschiedlichen Datenerhebungstechniken begegnen kann: Die Fallzahl kann
erhöht werden, indem man die Fälle in einzelne Beobachtungen im Zeitverlauf
aufteilt. Hierbei ist zu beachten, dass die Untersuchungsfälle dann nicht mehr
unabhängig voneinander sind und bei der Anwendung quantitativer Analysemetho-
den mittels spezieller Techniken untersucht werden m€ussen. Die einzelnen Fälle
können in Regionen aufgeteilt werden. Dies sollte jedoch nach einem einheitlichen
Kriterium, z. B. Verwaltungseinheiten, geschehen, die mitunter nicht f€ur jeden
Einzelfall gegeben sind.
Kann man die Untersuchungsfälle nicht erweitern, dann können eventuell die
Untersuchungsvariablen reduziert werden, um statistische Analysemethoden anwen-
den zu können: Dies kann durch eine Zusammenfassung entlang theoretischer Leit-
linien oder durch Indexbildung erfolgen. Auch eine kontrollierte Fallauswahl ent-
lang des Most Similar oder Most Different Systems Designs (siehe
Kap. ▶ Qualitative Comparative Analysis (QCA) in der Vergleichenden Politikwis-
senschaft) hat sich als hilfreich erwiesen.
Als Analysemethoden stehen Typologisierungen (Lauth et al. 2014, S. 37–42),
die Qualitative Comparative Analyses (QCA; Schneider und Wagemann 2012;
Berg-Schlosser und Cronqvist 2012; Rihoux and Ragin 2009; Lauth et al. 2014,
S. 61–63), deskriptiv-analytische, quantitative Verfahren und auf der Ebene der
Individualdaten die statistischen Methode zu Verf€ugung. Die Befragten der Länder-
surveys bilden dann die Untersuchungseinheiten (n = 1000), sie werden als Ele-
mente der Mikroebene innerhalb des Falles untersucht (Lauth et al. 2014, S. 74–82).
Die Aussage wird somit €uber die Untersuchungseinheit getroffen (z. B. die Wähler
in der Bundesrepublik). Die Untersuchungsergebnisse der Einzelfälle werden dann
miteinander verglichen. Dabei können die bereits genannten Verfahren zum Einsatz
kommen.
Methodologische Grundlagen des Vergleichs und Vergleichsdesigns 35
3.3.1 Large-N-Studien
Vom Vorgehen sehr ähnlich ist die Analyse von mittleren Fallzahlen zwischen
20 und 50 Fällen, die im Übergangsbereich der Vielländeranalyse und der Analyse
mit kleinen Fallzahlen liegt. Bei solchen Fallzahlen sind ebenfalls aussagekräftige
statistische Analysen möglich. Grundsätzlich zu bedenken ist, dass sich eine Stei-
gerung der Fallzahlen positiv auf die statistische Überpr€ufbarkeit von Beziehungen
zwischen den Variablen auswirkt, aber nicht notwendigerweise die theoretische
Tiefe erhöht, da auch hier nur eine begrenzte Anzahl von Variablen untersucht
werden kann (Lauth et al. 2009, S. 61).
Unter den Begriff „large-N-Studien“ fallen hingegen alle Untersuchungen mit
einer großen Anzahl an Untersuchungsfällen (>50). Dies können Vollerhebungen
bestimmter Grundgesamtheiten sein, die in einen Vergleich sehr vieler oder aller
Fälle m€ unden oder Grundgesamtheiten als solche können untereinander verglichen
werden, etwa wenn alle afrikanischen mit allen lateinamerikanischen Ländern in
Beziehung gesetzt werden.
Der Vergleich vieler Fälle wird als „variablenorientiert“ und generalisierend be-
schrieben (Landman 2000, S. 24). Üblicherweise wird f€ur die Vielländeranalyse auf
die Ermittlung statistischer Beziehungen (Korrelationsmaße, Regressionskoeffizien-
ten) und die Konstruktion von Typologien zur€uckgegriffen. Die relativ hohen Fall-
zahlen (>50 Fälle) ermöglichen valide statistische Beziehungsmaße, die verallge-
meinerungsfähige Aussagen st€utzen. Zudem können, neben den generalisierenden
Aussagen, abweichende Fälle (‚Deviant Cases‘ oder ‚Outliers‘) identifiziert werden.
Diese können dann in vertiefenden Analysen, auch Einzelfallanalysen, genauer
untersucht werden. Aufgrund ihrer Abstraktheit eröffnen gerade die Vielländer-
analysen die besten Möglichkeiten zur Generalisierung und Prognose, da sie weniger
von Besonderheiten der Einzelfälle abhängen.
Die Analysemethode f€ur medium bis large-N-Studien ist aufgrund der hohen
Fallzahlen die statische Methode (Lauth et al. 2014, S. 63–67). Die abstrahierende
Aussage bezieht sich im Falle von Aggregatdatenanalysen €uber Länder (Makroda-
tenanalyse; vgl. Gert Pickel in diesem Band) auf die Zusammenhänge von Variablen
zwischen den Untersuchungsländern (Ländereigenschaften; Lauth et al. 2014,
S. 66–74). Im Falle von Individualdatenanalysen (z. B. Bevölkerungsumfragen
mit ca. 1000 Befragten) ermittelt der Forscher Zusammenhänge von Variablen
zwischen den Individuen (Personeneigenschaften). Es werden Elemente der Mikro-
ebene innerhalb des Falles verglichen; die abstrahierende Aussage erfolgt €uber die
Variablenverteilung im Land oder bei einem Ländervergleich auch €uber die Eigen-
schaften von Personengruppen (z. B. die Wähler in der Bundesrepublik, in Frank-
reich, in Polen usw.; f€ur weitere Beschreibungen der large-N-Studien vgl. den
Beitrag von Ulrich Rosar).
als Datenpunkte benutzt, ähnlich wie Umfragen Personen als Datenpunkte nutzen.
Im Mittelpunkt stehen Variablen, die f€ur alle Länder vorhanden sind. Die Schluss-
folgerungen solcher Untersuchungen beanspruchen universelle G€ultigkeit €uber alle
Länder der Erde. Sie werden auf Aggregatdatenniveau durchgef€uhrt und sind nur mit
statistischen Verfahren möglich.
Problematisch werden globale Vergleiche, wenn Datenl€ucken entstehen, die
einem selection bias oder nicht kontrollierbaren Datenausfällen geschuldet sind.
Auch Stichproben von Ländern können unter Umständen zu Verzerrungen f€uhren,
da selbst eine echte Zufallsstichprobe keine Repräsentativität des Samples f€ur alle
Länder der Erde gewährleisten kann. Fehlt beispielsweise China oder Großbritan-
nien in einer solchen Stichprobe, fallen je nach Fragestellung ganz spezielle Länder-
besonderheiten aus der Untersuchung heraus. Jahn (2006, S. 232–233) empfiehlt zur
Lösung derartiger Probleme eine eng an der Forschungsfrage orientierte Quotens-
tichprobe.
4 Forschungsdesigns
Variablenzahl
1 i n Fälle
MSSD MDSD
Land 1 Land 2 Land ... Land 1 Land 2 Land ...
Rahmen- A A A A D G
bedingungen B B B B E H
(„kontrollierte“ Variablen) C C C C F I
Erklärende Variable X X Not X X X X
“Outcome” Y Y Not Y Y Y Y
• A, B, C ) a, b, c
• B, C ) b, c
• A ist die Ursache oder eine Bedingung f€ur das Auftreten von a.
und Frankreich f€ur eine Arbeiterpartei stimmen, die Arbeiter in Indien und S€udafrika
dies aber nicht tun, dann kann der Wohlstand des Landes möglicherweise ein
Auslöser f€
ur das variierende Verhalten sein. Dann sind die Wohlstandsunterschiede
der Länder auf ihre Relevanz f€ur das Verhalten der Arbeiter zu untersuchen. Ent-
sprechend ist die inhaltliche Grundthese des MDSD meist relativ einfach zu wider-
legen und ein so gest€utztes Ergebnis kann sowohl als sehr stabil als auch in hohem
Ausmaß als verallgemeinerbar angesehen werden. Muss die These, die auf ein
MDSD gest€ utzt ist, verworfen werden, so kann die Ursache f€ur eine Variation des
Zusammenhangs zwischen X und Y mithilfe eines MSSD bestimmt werden.
Das MDSD folgt der Logik der Method of Agreement von Mill (1868,
S. 426–428; Keman 2011, S. 58–59): Wenn mehrere Beobachtungen einer abhän-
gigen Variable (a) nur eine von mehreren möglichen kausalen Bedingungen gemein-
sam haben (A), dann sind die Bedingungen, in denen alle Beobachtungen
€ubereinstimmen, jene, die die Ausprägung der abhängigen Variable bestimmen.
• A, B, C ) a, b, c
• A, D, E ) a, d, e
• Dann ist A eine Ursache f€ur a.
So hilfreich diese Konzeption ist, ein Problem ist beiden Designs eigen: Sie sind
von der Grundkonzeption her dichotom geprägt. Entweder sind die Variablen (x, y)
vorhanden oder nicht (ja oder nein). Dies lässt keine hohe Erklärungsvarianz zu und
40 S. Pickel
Wendet man man bei der Fallauswahl die Regeln des MSSD an, so ist zu
beachten, dass die Fälle oft relativ homogen (zumindest hinsichtlich der Kontextva-
riablen) sind. Dies erhöht zwar die Möglichkeit des g€ultigen Schließens, kann aber
auch die Varianz des zu vergleichenden Zusammenhangs zwischen unabhängigen
und abhängigen Variablen einschränken (Keman 2011, S. 61).
5.1.2 Drittvariablen
Eine weitere Gefahr der Fehlschl€usse besteht darin, dass eine dritte Variable, die
nicht in das Analysedesign eingeht, die abhängige Variable determiniert. Dieses
Problem wird Drittvariablenproblem oder Problem der vergessenen Variablen (omit-
ted variables) genannt. Drittvariablen sind Einflussfaktoren, die nicht in die Analyse
einbezogen werden, aber einen nennenswerten Effekt auf das Forschungsergebnis
aus€ uben (Lauth et al. 2009, S. 227). Als Folge können Ergebnisse Fehler aufweisen
oder unberechtigter Weise Schlussfolgerungen gezogen werden (Problem der Spu-
riousness): „A spurious explanation is one in which some unidentified factor is
responsible for the outcome, while the identified factor is mistakenly attributed to
having an effect on the outcome“ (Landman 2003, S. 51). Effekte von unbekannten
Drittvariablen können (a) direkt auf die abhängige Variable gerichtet sein. Dabei
wird ein Erklärungsfaktor „einfach“ €ubersehen. Besitzt die Drittvariable (b) einen
Einfluss auf eine unabhängige Variable (UV) und wird der Zusammenhang zwischen
der UV und der abhängigen Variable (AV) nur durch die Wirkung der Drittvariablen
auf die UV hergestellt, so ist der Effekt schon bedeutender, denn das erzielte
Ergebnis ist schlichtweg falsch. Nicht die UV erzeugt eine Varianz der AV, sondern
die Korrelation der UV mit der Drittvariablen, also ist letztendlich die Drittvariable
f€ur die Veränderung der AV verantwortlich. Intervenierende Variable (c) wirken auf
die Beziehung zwischen der UV und der AV. Der Zusammenhang zwischen UV und
AV gilt dann nur unter den Bedingungen der Wirkung der Drittvariable, d. h. die
Wirkung der UV wird eingeschränkt (Lauth et al. 2009, S. 227–228).
Bei dem Problem der Drittvariablen geht es somit um das Blickfeld des For-
schers: Ist es durch mangelhaftes Theorie- und Fallstudium verengt, werden kon-
trastierende Fälle ausgeklammert oder erfolgt eine unzureichende Konzeptspezifi-
kation, so kann das Drittvariablenproblem kaum vermieden werden. Allerdings
gilt es, zwischen Sparsamkeit und (nahezu unerreichbarer) Vollständigkeit der
(maximalistischen) Konzepte abzuwägen.
5.2.1 Fehlschlüsse
Von einer Auswahl an Untersuchungsfällen auf eine Grundgesamtheit zu schließen,
macht nur dann wissenschaftlich Sinn, wenn a) die Fallauswahl repräsentativ f€ur die
Grundgesamtheit ist (z. B. eine Auswahl an OECD-Ländern f€ur die Gesamtheit der
OECD) oder b) die Auswahl nicht gleich der Grundgesamtheit ist (im Beispiel: alle
Länder der OECD). Die Faustregel „je mehr Untersuchungsfälle behandelt werden,
desto verallgemeinerbarer sind die Ergebnisse“ (Lauth et al. 2009, S. 223) gilt nur
42 S. Pickel
dann, wenn die Fallauswahl tatsächlich repräsentativ f€ur die Grundgesamtheit ist.
Hadenius (1992) st€utzt seine Studie zum Zusammenhang von Demokratie und
wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit von Gesellschaften auf 132 Entwicklungsländer.
Die Ergebnisse sind aussagekräftig f€ur Entwicklungsländer, sie sind jedoch aufgrund
äußerst differierender Kontextvariablen keinesfalls aussagekräftig f€ur die OECD-
Welt, auch wenn die Fallzahl sehr hoch ist.
F€
ur die Vergleichende Politikwissenschaft ist u. a. aufgrund der oftmals aus
empirisch-methodischen Gr€unden beschränkten Fallzahl eine Kombination des Re-
präsentativgebotes mit den Auswahlregeln der Forschungsdesigns MSSD und
MDSD geboten. Ein Schließen auf die (wohldefinierte) Grundgesamtheit wird hier
aus inhaltlichen und methodischen Gr€unden möglich. F€ur das MSSD gilt: Je ähn-
licher die Rahmenbedingungen der Fälle sind, desto angemessener ist das Schließen
auf die weiteren Fälle der Grundgesamtheit (Lauth et al. 2009, S. 224). Bleibt
man bei der Anlage des Vergleiches beispielsweise innerhalb einer Area (z. B.
Westeuropa, Asien, Lateinamerika usw.), so kann das erzielte Ergebnis relativ leicht
und valide auf weitere Fälle der Grundgesamtheit €ubertragen werden. F€ur das
MDSD gilt: F€ ur je mehr Fälle die Kovariation von unabhängiger und abhängiger
Variable bestätigt wird, desto angemessener ist das Schließen auf weitere, in den
Rahmenbedingungen höchst unterschiedliche Fälle.
Generell gilt: Die Übertragbarkeit von Ergebnissen innerhalb eines interpretati-
ven Rahmens ist nur dann zulässig, wenn hinter den Ergebnissen eine klar formu-
lierte, plausible theoretische Annahme steht. Eine unreflektierte Übertragung von
festgestellten Zusammenhängen €uber die Untersuchungsfälle hinaus ist wissen-
schaftlich nicht zu rechtfertigen und wäre auch f€ur eine Politikberatung äußerst
problematisch (Lauth et al. 2009, S. 224).
Zur Fehlschlussproblematik gehören auch der individualistische und der ökolo-
gische Fehlschluss (Keman 2011, S. 61). Beide werden im Artikel €uber die Ag-
gregatdatenanalyse ausf€uhrlich behandelt (vgl. Gert Pickel in diesem Band). An
dieser Stelle sei nur erwähnt, dass diese Problematik sich auf Schl€usse zwischen
unterschiedlichen Analyseebenen bezieht. Im Falle des ökologischen Fehlschlusses
wird von Zusammenhängen von Variablen auf der Aggregatdatenebene auf Zusam-
menhänge auf der Individualebene geschlossen, im Fall des individualistischen
Fehlschlusses von Zusammenhängen auf Individualebene auf Zusammenhänge auf
Aggregatebene.
6 Fazit
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Methodologische Grundlagen des Vergleichs und Vergleichsdesigns 45
Gert Pickel
Zusammenfassung
Die Analyse von Makrodaten ist ein Kernbereich der Vergleichenden Politik-
wissenschaft. Mit ihr werden Strukturen und Beziehungen von €ubergeordneten
Einheiten, sog. Makroeinheiten, empirisch untersucht. Sie unterscheidet sich
aufgrund dieser Ausrichtung von der Analyse von Mikrodaten, welche ihren
Schwerpunkt auf die Untersuchung von Individuen legt, sowie der qualitativen
Makroanalyse (QCA; Fuzzy-Set-Analyse). Ihre quantitativ-statistische Kern-
analyseform ist die Aggregatdatenanalyse. Dieses Verfahren greift sowohl auf
prozessproduzierte Daten als auch auf aggregierte Individualdaten zur€uck und
nutzt statistische Auswertungsverfahren, die zumeist auf eine kausale Erklärung
zielen. Quantitative Makroanalysen unterliegen den Problemen des ökologischen
Fehlschlusses, des selection bias und geringer Fallzahlen. Gleichzeitig eröffnen
sie Möglichkeiten auf globale und weitreichende Aussagen €uber gesellschaftliche
Entwicklung. Neuere Ansätze verbinden Aggregatdatenanalysen mit Analysen
von Individualdaten oder auch der qualitativen Makroanalyse, erhöhen die Zahl
der verwendeten Ereignisse und fokussieren immer stärker die Verbindung
zwischen Theorie und empirischer Analyse.
Schlüsselwörter
Aggregatdatenanalyse • Vergleichende Methoden • Gesellschaftsanalyse
G. Pickel (*)
Professor f€ur Religions- und Kirchensoziologie, Institut f€
ur Praktische Theologie, Universität
Leipzig, Leipzig, Deutschland
E-Mail: pickel@rz.uni-leipzig.de
1
Hier sei auf die Darstellung von Claudius Wagemann in diesem Band verwiesen.
Umfragedaten sind €
2
uber den Gedanken der repräsentativen Abbildung von Kollektiven auf
Makroergebnisse ausgerichtet (Ländern, Kulturen, Regionen, seltener Zeitpunkten).
Quantitative makroanalytische Verfahren in der Vergleichenden. . . 49
(z. B. Gujarati und Porter 2009). Sie werden sowohl in der Politikwissenschaft als
auch der Volkswirtschaftslehre eingesetzt.3 Im vorliegenden Beitrag liegt das
Augenmerk auf der Umsetzung der quantitativen Makrodatenanalyse und ihren
spezifischen Problemstellungen mit Blick auf den politikwissenschaftlichen
Vergleich.4
3
Ein politikwissenschaftlicher Bereich der stark in diese Richtung arbeitet ist die politische
Ökonomie.
4
In den letzten Jahren gab es Verschränkungen mit anderen Analyseinstrumenten, die f€ ur die
Vergleichende Politikwissenschaft Erkenntnisgewinne beinhalten. So versuchen Mehrebenenmo-
delle oder Multi-Level-Analysen eine systematische Verbindung zwischen Mikro- und Makroebene
herzustellen (Creswell 2003; Rohlfing 2009; Tashakkori und Teddlie 2010).
5
Globale Aggregatdaten sind als Einheiten an sich zu verstehen und prinzipiell nicht disaggregier-
bar (z.B. parlamentarisches politisches System oder präsidentielles politisches System).
50 G. Pickel
6
Zu Grundlagen der Analyse in der Vergleichenden Politikwissenschaft siehe Susanne Pickel in
diesem Band.
Quantitative makroanalytische Verfahren in der Vergleichenden. . . 51
7
Siehe den Beitrag von Hans-Joachim Lauth in diesem Band.
52 G. Pickel
verwendete Methode der Implementation von Dummys, f€ur einen Zeitraum ein
Ereignis, bzw. eine Aggregateinheit zur€uckzugreifen.8
Es wird deutlich, eine zentrale Anforderung an die Aggregatdatenanalyse liegt in
der Kenntnis des Kontextes der Untersuchungsfälle. Nur durch profundes Wissen
€uber die verwendeten Fälle und eine starke theoretische Einbettung der eingesetzten
Fragestellung ist eine sinnvolle und aussagekräftige Aggregatdatenanalyse möglich.
Diese hohe Relevanz der Rahmenbedingungen in der Aggregatdatenanalyse ist auf
das häufig bestehende Problem der kleinen Fallzahlen (small-n) zur€uckzuf€uhren,
stehen in der Regel verwertbare Kollektiveinheiten nur in einer begrenzten Größen-
ordnung zur Verf€ugung. Dies gilt insbesondere f€ur das am weitesten verbreitete
Vorgehen der Aggregatdatenanalyse mit Ländern als Analyseeinheiten. Bereits
durch die Konzentration auf diese Einheiten findet eine nat€urliche Begrenzung der
Fälle statt, die sich aufgrund der aus Forschungsfrage oder anderen Gr€unden ent-
stehenden zusätzlichen Reduktion der Fälle noch verschärft (z. B. Analyse der
OECD-Staaten oder der Mitglieder der Europäischen Union). Entsprechend wichtig
ist auch ein systematisches Vorgehen bei der Auswahl der Untersuchungsfälle, sind
doch hier die größten Gefahren von systematischen Ergebnisverzerrungen gegeben
(siehe hierzu Abschn. 3).
8
Dummy-Variablen stellen die Repräsentation einer spezifischen Einheit in binominaler Form dar
(z. B. sozialistische Erfahrung/keine sozialistische Erfahrung). Sie werden dann benötigt, wenn
ordinale oder nominale Informationen (z. B. Länderzuweisungen) vorliegen, die man f€ ur weiter-
uhrende (metrische) statistische Analysen verwenden möchte. Die Metrisierung erfolgt €
f€ uber die
Binominalität. Typisch ist die Umsetzung von Ländern in Länderdummies (Deutschland vs. andere,
Frankreich vs. Andere, usw.).
54 G. Pickel
dass die meisten gesellschaftlichen Phänomene nur durch mehrere Faktoren – also
multikausal – erklärbar sind. F€ur diese multikausalen Analysen wird das Verfahren
der ökologischen Regression genutzt.9 Die ökologische Regression verwendet das
statistische Modell der linearen Regression, inklusive aller ihrer Statistiken, f€ur
Analysen mit (teils wenigen) Aggregatfällen. Der Vorzug der ökologischen Regres-
sion gegen€ uber der bivariaten Zusammenhangsanalyse sind ihre größere Zahl an
Kontrollkoeffizienten, eine bessere Absicherung der statistischen Ergebnisse sowie
die Möglichkeit des Einbezugs mehrerer unabhängiger Erklärungsfaktoren. Letzt-
eres erhöht den Informationsgehalt dieser Analyse gegen€uber bivariaten Analysen,
da die relativen Einflussstärken einzelner Faktoren und ein gemeinsames Gesamter-
klärungspotential aller Faktoren berechnet werden kann. Die ökologische Regres-
sion ermöglicht Aussagen €uber die Gesamterklärungskraft des Modells (R-Quadrat)
und relationale Abschätzung der wichtigsten Indikatoren (b-Werte; beta-Werte).
Zudem werden gemeinsame (interaktive) oder intervenierende Effekte von Variablen
in der Analyse sichtbar, die in bivariaten Analysen verborgen blieben. Damit wird
das Problem von Drittvariablen (im Hintergrund wirkende Variable, die aber nicht in
der Analyse erscheinen) reduziert. Zudem besteht die Möglichkeit, mithilfe statisti-
scher Diagnostiken die Qualität der Regression zu €uberpr€ufen. Wichtig f€ur die
ökologische Regression ist die Anzahl der einbezogenen Fälle. Jahn (2006,
S. 375) benennt als Faustregeln, dass sich die notwenige Fallzahl f€ur eine Regres-
sionsanalyse aus der (Zahl der einbezogenen unabhängigen Variablen addiert 1 und
multipliziert um 3 ergibt.
Die in der ökologischen Regression verwendeten Variablen m€ussen metrisch und
linear sein. Zudem sollte es weder Multikollinearität noch eine Autokorrelation der
Fehlerterme vorliegen. Bei Multikollinearität handelt es sich um Beziehungen zwi-
schen den unabhängigen Variablen, die sich auf deren Beziehungen zur abhängigen
Variable verzerrend auswirken. Da die Variablen in der sozialwissenschaftlichen
Realität in der Regel miteinander verkn€upft sind, ist ein gewisses Ausmaß an
Multikollinearität nicht zu vermeiden. Allerdings ist es den Ergebnissen nicht
dienlich, miteinander hochkorrelierende Variable gleichzeitig als unabhängige Prä-
diktoren einzusetzen. Um diese zu identifizieren, empfiehlt sich eine vorherige
Diagnostik anhand einer Korrelationsmatrix der unabhängigen Variablen. Bestimm-
te Effekte beruhen nun auf dem Zusammenspiel von zwei Variablen, also deren
Interaktion. Diese Interaktionseffekte können durch die Modellierung von Inter-
aktionsvariablen €uberpr€uft werden. Zudem es ist ratsam, die vorher in den bivariaten
Analysen identifizierten, Ausreißer aus der Analyse auszuschließen, können sie
doch – bei den zumeist begrenzten Fallzahlen – zu nicht unwesentliche Ergebnis-
verzerrungen f€uhren.
Nun liegen als abhängige Variable nicht immer metrische Merkmale vor. Gerade
in der Vergleichenden Politikwissenschaft finden wir eine Vielzahl nominaler
9
Der Begriff ökologisch bezeichnet die Untersuchung von Aggregaten und räumliche Einheiten und
wurde 1950 von Robinson als Begriff in der Sozialforschung etabliert. Ausf€
uhrliche Überlegungen
zur ökologischen Regression finden sich bei King (1997).
Quantitative makroanalytische Verfahren in der Vergleichenden. . . 55
10
Zu nennen sind z. B. die GESIS in Köln, das Roper Center und das ICPSR in Ann Arbor.
56 G. Pickel
und die Eurobarometer Reihen der Europäischen Union. Neben ihrer breiten Länder-
fächerung liegt ihr Reiz in der Wiederholung, was Zeitvergleiche zulässt.
Vergleichende Umfragedaten geben Auskunft €uber die durchschnittlichen Hal-
tungen der Bevölkerungen innerhalb verschiedener Makroaggregate (z. B. Länder,
Kontinente, Kulturen) und transportieren auf der Individualebene gewonnene
Ergebnisse durch Aggregation, also die Zusammenfassung von Merkmalausprägun-
gen der Mikroebene, auf die Makroebene. Der Einbezug von Umfragedaten
ermöglich es nun Abbildungen der Kultur und Beziehungen zwischen kulturellen
und strukturellen Merkmalen in die Analysen einzubeziehen. Damit sind auch
Aussagen € uber Einfl€usse von gesellschaftlichen Rahmenfaktoren auf Veränderungen
in der Gesellschaft möglich, wie auch Auswirkungen der Veränderungen von ge-
teilten Werten und Normen (Wertewandel). Generell liegt der Nutzen der Aggregie-
rung von Individualdaten in einer stärkeren Ber€ucksichtigung der Haltungen der
ur politische Prozesse.11
B€urger f€
Ohne eine repräsentative Abbildung der Gesamtheiten (Kollektive) ist allerdings
eine sinnvolle Aggregation nicht möglich. Aus statistischen Gr€unden hat sich als
Faustregel die Befragung von ca. 1.000 Befragten als verlässlich durchgesetzt. Über
1.000 Befragte hinausgehende Fallzahlen verbessern die statistische Genauigkeit nur
noch wenig. Wichtig ist allerdings: Repräsentativität hängt nicht von der Fallzahl
ab. Vielmehr sichert allein die gleiche Möglichkeit all derer, die zu einer Grundge-
samtheit gehören, in die Stichprobe Eingang finden, Repräsentativität. Die Zusam-
mensetzung der Stichprobe, nicht die Fallzahl, entscheidet €uber die Repräsentativität
eines Umfragedatensatzes (Schnell et al. 2013, S. 298).
Anders als bei nationalen Umfragen, die eher f€ur Fallstudien (z. B. eine Wahl-
studie f€ur die deutsche Bundestagswahl) eingesetzt werden können, liegt das
Interesse der vergleichenden Surveyanalyse in der Gegen€uberstellung der erzielten
Aggregatausprägungen. Basis f€ur die gewonnenen statistischen Daten sind standar-
disierte Interviews, die in Zahlen transformiert werden. Die Standardisierung
ermöglicht eine Vergleichbarkeit der Individuen innerhalb der Surveys, wie auch
zwischen Surveys in verschiedenen Ländern sowie Aussagen €uber die Gesellschaft
(en). Standardisierte Umfrageverfahren haben sich f€ur die Analyse von Kollektiven
und von Individuen deshalb durchgesetzt, weil sich narrative oder nur semi-
strukturierte Interviews sowie eher individualpsychologische Verfahren aufgrund
ihrer Probleme bei der Verallgemeinerbarkeit nur begrenzt als hilfreich erwiesen
haben.
Neben der regionalen Vergleichbarkeit wird häufig eine zeitliche Vergleichbarkeit
angestrebt. Diese gilt f€ur die meisten Fragenbereiche der European oder World
Values Surveys. Dort erfolgt eine sogenannte Replikation (Wiederholung) bereits
einmal gestellter Fragen. Nur wenn die Fragen der Studie zu t0 wortgetreu in die
Studie t0+1 €ubertragen werden, können die Ergebnisse in der späteren Auswertung
11
Dies hat speziell zu einem Bedeutungsgewinn der politischen Kulturforschung beigetragen,
welche ohne dieses Instrumentarium gar möglich wäre. Siehe hierzu den Beitrag von Pickel und
Pickel in diesem Band.
Quantitative makroanalytische Verfahren in der Vergleichenden. . . 57
miteinander verglichen werden. Dies gilt auch, wenn die erste Frageformulierung
nicht hundertprozentig gelungen ist. Entsprechend kommt der Erstformulierung
einer später zu wiederholenden Frage große Bedeutsamkeit zu. Auch ist es sinnvoll
Fragen aus bereits durchgef€uhrten Erhebungen in die eigene Umfrage zu
€
ubernehmen. Damit eröffnen sich sowohl temporale als auch regionale Vergleichs-
möglichkeiten f€ur die Forscher und zudem die Möglichkeit einer externen Validie-
rung der eigenen Daten (Lauth et al. 2009, S. 140–160).
12
Dieses Problem geringer Fallzahlen f€
ur die Makroebene schlägt sich auch auf die sinnvolle
Umsetzung von Mehrebenenanalysen nieder.
58 G. Pickel
anderen Problem zusammen, dass sich in den letzten Jahrzehnten entwickelt: So hat
sich eine gewisse Überdimensionierung der Analysetechniken bei einer gleichzeiti-
gen Unterdeterminierung der theoretischen Herleitung des Forschungsdesigns und
der Überpr€ ufung von Kontrollvariablen ergeben. Allerdings können elaborierte
statistische Verfahren nicht €uber Schwächen in der Fallauswahl hinweghelfen.
Speziell auch bei aggregierten Umfragedaten tritt häufig ein gewisses Selektions-
problem auf, ist die Länderauswahl in den vergleichenden Surveys doch oft von
anderen Aspekten als inhaltlichen abhängig (finanzielle Möglichkeiten in den Län-
dern, Interessen des Primärforschers). Dies kann man nachträglich nicht beheben,
man sollte allerdings reflexiv und €uberlegt mit diesen Daten umgehen.
In gewisser Hinsicht mit in die Problematik der Selektion fällt auch eine Schwie-
rigkeit der vergleichenden Makroanalyse – ihre starke Konzentration auf die OECD-
Staaten. Aufgrund der guten und leichten Verf€ugbarkeit dieses Datenmaterials
konzentriert sich eine große Gruppe der Aggregatdatenforscher auf deren Analyse.
Sofern dies theoretisch eingebettet und begr€undet wird, ist ein solches Vorgehen
ohne Frage statthaft, gleichzeitig entstehen aber dann Probleme, wenn die Daten zu
schnell als universelle strukturelle Zusammenhänge verallgemeinert werden. Die
Datenverf€ ugbarkeitsproblematik betrifft dabei auch die viel größere Gruppe der
Nicht-OECD-Staaten, f€ur die wesentlich seltener Daten zur Verf€ugung stehen und
die verf€ugbaren zudem gelegentlich unter – teilweise erheblichen – Verlässlichkeits-
problemen leiden. Entsprechend finden sich hier räumliche Grenzen der Aggregat-
datenforschung, die in der Zukunft nur €uber den Ausbau belastbaren Datenmaterials
in allen Gebieten der Welt €uberwunden werden können.
Ebenfalls als Schwierigkeit der Aggregatdatenforschung wird adressiert, dass sie
Akteurverhalten und Akteure zu wenig ber€ucksichtigt. Die Kritik ist, dass akteurs-
theoretische Ansätze in der Aggregatdatenforschung gegen€uber strukturanalytischen
Ansätzen benachteiligt seien. So richtig dieser Einwand an einigen Stellen der
Forschung ist, so ist er nicht un€uberwindbar. So ist es sehr wohl möglich kollektive
Akteure, zum Beispiel Veto-Player, als eigenständige Einflusskomponenten zu ber-
€
ucksichtigen, wie auch die politischen Gemeinschaften als Akteure €uber aggregierte
Individualdaten oder auch Mehrebenenmodelle in die Analysen einzubeziehen.
Letzteres gilt sowohl f€ur Werte, Einstellungen als auch politisches Partizipations-
verhalten. Schwierigkeiten bestehen häufig bei informellen Institutionen und Hand-
lungsweisen, da diese nur schemenhaft Eingang in statistische Indizes nehmen
können. Diesem Umstand versucht man €uber Experten-Judgments zumindest in
Teilen gerecht zu werden (Benoit und Wiesehomeier 2009).
Ein zentrales Problem der Zusammenhangsanalyse von Aggregat- oder Makro-
daten liegt auf der interpretativen Ebene. Es wird als ökologischer Fehlschluss
(ecological fallacy) bezeichnet (Robinson 1950). Hier wird von Zusammenhängen
auf der Aggregatebene auf Individualzusammenhänge geschlossen. Dieser Schluss
ist aber statistisch nicht abgesichert, sondern beruht allein auf die Ausweitung der
Interpretationen. Dies bedeutet nicht zwangsläufig, dass die Schl€usse falsch sind.
Allerdings fehlt ihre Absicherung. Der Versuch einer solchen Übertragung lässt sich
dann nur durch eine starke theoretische Einbettung des €ubertragenen Argumentes
oder eben durch zusätzliche Analysen auf der Mikroebene st€utzen.
Quantitative makroanalytische Verfahren in der Vergleichenden. . . 59
F€
ur Umfragestudien besteht noch ein weiteres Problem: Die Sicherung der funk-
tionalen Äquivalenz von länder- oder kulturvergleichenden Untersuchungsfragen
(Pickel 2003, S. 156–157). Die Schwierigkeiten resultieren aus der Kulturspezifität
von Befragungen: So ist es oft fraglich, inwieweit in allen Untersuchungsgebieten
ein gleiches oder zumindest vergleichbares Verständnis der gestellten Fragen vor-
liegt. Die zu untersuchende Fragestellung soll nun aber in allen Erhebungsgebieten
eine gleiche Bedeutung besitzen (Scheuch 1968), nur dann kann man die in den
verschiedenen Gebieten abgegebenen Antworten direkt untereinander vergleichen.
Eine Möglichkeit der Sicherung funktionaler Äquivalenz liegt in der Übersetzung,
R€uck€ubersetzung (z. B. deutsch nach englisch und zur€uck) des Fragebogens unter
Einbezug einer gemeinsamen Diskussion mit Fachkollegen aus den jeweiligen
Ländern und unter Ber€ucksichtigung eines gemeinsam erarbeiteten Endfragebogen
(Master Copy). Seltener wird versucht in jedem Untersuchungsland ein funktionales
Äquivalent zu bestimmen, entstehen so Daten, die aufgrund ihrer sprachlichen
Inäquivalenz nicht direkt miteinander vergleichbar und auf die Interpretation des
Forschers angewiesen sind. Aus pragmatischen Gr€unden greifen die meisten inter-
national vergleichenden Projekte auf die Wortkonsistenz zur€uck.
Eine Kritik, die sich eher an die vergleichende Umfrageforschung, als einem Feld
der Makroanalyse, wendet, bezieht sich auf die Übertragbarkeit von Individualdate-
nergebnissen auf die Makroebene. Die ermittelten Makrokennzahlen werden als zu
inhomogen angesehen, um Aggregate wirklich abzubilden. Zudem werde gelegent-
lich in eine Umkehrung des ökologischen Fehlschlusses, quasi eines individualisti-
schen Fehlschlusses, verfallen, wo Individualzusammenhänge ungepr€uft als ökolo-
gische Zusammenhänge angesehen werden. Diese Gefahren sind allerdings
beschränkt, da bei vergleichenden Umfragedaten die Möglichkeit besteht, Zusam-
menhänge sowohl auf der Mikro- als auch auf der Makroebene zu testen. Dies
verspricht, so sich die Ergebnisse €uberschneiden, verlässliche Ergebnisse. Nichts-
destotrotz wurde in den letzten Jahren verstärkt in Konzepte zur systematischen
Verbindung von Individual- und Aggregatdaten investiert. Dies dr€uckt sich vor
allem in einer Ausbreitung von Mixed-Method-Designs und der zunehmenden
Beliebtheit von Mehrebenenanalysen aus (Lauth et al. 2009, S. 199–218; Creswell
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Qualitative Comparative Analysis (QCA) in
der Vergleichenden Politikwissenschaft
Claudius Wagemann
Zusammenfassung
In diesem Beitrag wird die Qualitative Comparative Analysis (QCA) als ver-
gleichende Methode vorgestellt. Grundprinzipien von QCA sind ihre Veranke-
rung in der Mengentheorie und die daraus ableitbare Möglichkeit, hinreichende,
notwendige, INUS- und SUIN-Bedingungen in einer vergleichenden Analyse
herauszuarbeiten. So kann ein sehr elaboriertes Niveau kausaler Komplexität
erreicht werden. Mit Fuzzy-Sets ist es zudem möglich, sozialwissenschaftliche
Konzepte zu differenzieren, um nicht auf Dichotomien zur€uckgreifen zu m€ussen.
Idealerweise wird QCA bei mittleren Fallzahlen angewandt.
Schlüsselwörter
QCA • Fuzzy-Sets • Mengentheoretische Methoden • Vergleichende Methode •
Hinreichende und notwendige Bedingungen
1 Einleitung
Seit Mitte der achtziger Jahre wird in der Vergleichenden Politikwissenschaft eine
Methode diskutiert, die unter dem Namen Qualitative Comparative Analysis bzw.
der Abk€urzung QCA bekannt geworden ist. QCA wird vor allem mit dem amerika-
nischen Sozialwissenschaftler Charles C. Ragin in Verbindung gebracht, der diese
Herangehensweise in verschiedenen einschlägigen Publikationen (Ragin 1987,
2000, 2008a) populär gemacht hat. Dabei wird QCA nicht isoliert gesehen, sondern
als Repräsentantin einer breiter gefassten Herangehensweise an vergleichende Ana-
lyse gesehen, die auch als Configurational Comparative Methods (CCM) (Rihoux
C. Wagemann (*)
Professor f€ur Methoden der qualitativen empirischen Sozialforschung, Institut f€
ur
Politikwissenschaft, Universität Frankfurt, Frankfurt, Deutschland
E-Mail: wagemann@soz.uni-frankfurt.de
und Ragin 2009) oder als mengentheoretische Methoden (Schneider und Wagemann
2012) bezeichnet werden. Während Ragin QCA urspr€unglich als dritten Weg zwi-
schen qualitativen und quantitativen Verfahren eingef€uhrt hatte und damit bereits zu
einer Diskussion beigetragen hat, die sich vor allem in der amerikanischen Metho-
dendiskussion erst später voll entfaltet hat (King et al. 1994; Brady und Collier 2004;
Goertz und Mahoney 2012), wird QCA heute als Teil der Fallstudientradition (Roh-
lfing 2012, S. 45–46; Blatter und Haverland 2012, S. 231–235) und damit als eher
qualitative Methode betrachtet. Hierbei ist allerdings zu beachten, dass es verschie-
dene Verständnisse qualitativer Methoden gibt. In Übereinstimmung mit der neu-
esten Fallstudienliteratur wird bei QCA kein interpretatives Interesse zugrunde ge-
legt (Goertz und Mahoney 2012, S. 5), sondern qualitative Methoden werden als
empirische Methoden aufgefasst, die auf formaler Logik, Boolescher Algebra und
Mengentheorie beruhen.
QCA hat in den letzten Jahren starken Aufschwung erlebt. Weder aus der univer-
sitären Lehre noch aus methodologischen und inhaltlichen Forschungsdebatten ist die
Methode wegzudenken. Zahlreiche Anwendungen (Rihoux et al. 2013 bieten einen
exzellenten Überblick), methodologische Veröffentlichungen, Konferenzen und Kurse
zeugen von einer regen Beschäftigung der Fachöffentlichkeit mit QCA; auch f€ur den
deutschsprachigen Raum liegt ein Lehrbuch (Schneider und Wagemann 2007) vor.
Dass es bei aller Begeisterung €uber QCA auch zur Entstehung von Mythen und Über-
treibungen bzw. zu eher problematischen Anwendungen kommt, steht außer Frage.
Dieser Beitrag soll einen ersten Überblick €uber QCA ermöglichen, der zu einer
Einschätzung befähigt, inwieweit QCA einen möglichen methodischen Rahmen f€ur
ein Forschungsprojekt abgeben kann. Dazu werden zuerst die epistemologischen
und methodologischen Grundprinzipien von QCA dargestellt (Abschn. 2). Daran
anschließend werden verschiedene Varianten von QCA (crisp-set QCA, fuzzy-set
QCA, multi-value QCA und temporal QCA) diskutiert (Abschn. 3). Danach werden
die verschiedenen Schritte einer QCA skizziert (Abschn. 4), und es wird kurz auf die
Anwendungsmöglichkeiten von QCA eingegangen (Abschn. 5).
Wenn von einer ‚Methode‘ die Rede ist, dann ist man versucht, vor allem an Techniken
zu denken. Da gibt es standardisierte und qualitative Interviewtechniken; ethnografi-
sche Beobachtungstechniken; oder auch Auswertungstechniken wie multivariate
Regressionsanalyse. Sicherlich ist QCA auch ‚Technik‘ in diesem Sinne, nachdem
es einen Algorithmus gibt, der noch dazu in mehr als einer Computer-Software
niedergelegt worden ist, mithilfe dessen QCA-Analysen durchgef€uhrt werden können.
QCA-Ergebnisse werden meist in Tabellen und/oder Formeln dargestellt bzw. durch
Grafiken visualisiert. Dennoch ist QCA nicht nur ‚Technik‘, sondern kann auch als
Research Design verstanden werden (Schneider und Wagemann 2012, S. 8–13).
Insofern ist es als ‚Methode‘ so zu verstehen wie die ‚Vergleichende Methode‘ oder
das ‚Fallstudiendesign‘, also als forschungsleitender Rahmen, innerhalb dessen
verschiedene Techniken zur Anwendung kommen können.
Qualitative Comparative Analysis (QCA) in der Vergleichenden. . . 65
Schon in der Einleitung wurde auf die mengentheoretische Einbettung von QCA
verwiesen. Hierbei werden sozialwissenschaftliche Phänomene in Mengen darge-
stellt und durch die Beziehungen zwischen den Mengen analysiert. So könnte
beispielsweise eine Menge aller Demokratien gebildet werden, in denen Staaten
wie Deutschland, Österreich, die Schweiz und die USA Mitglieder wären, Nordko-
rea dagegen nicht. Einfache, beschreibende Mengenbeziehungen wären dann die
Schnitt- und die Vereinigungsmenge. W€urden wir beispielsweise die Menge aller
europäischen Staaten definieren und diese Menge mit der Menge aller Demokratien
schneiden, so wären die USA zwar Mitglied in der Menge aller Demokratien, aber
nicht in der Schnittmenge aus Demokratien und europäischen Staaten. Aber solch
einfache Mengenoperationen erbringen €ublicherweise keinen analytisch n€utzlichen
Beitrag, sondern dienen eher dazu, soziale Phänomene – auch im Sinne von Typo-
logien – zu gruppieren und zu ordnen. Spannender wird es, wenn wir Teilmen-
genbeziehungen betrachten. So könnten wir beispielsweise feststellen, dass die
Menge aller EU-Staaten eine echte Teilmenge der Menge aller Demokratien ist.
‚Teilmenge‘ bedeutet, dass alle Elemente, die in der Teilmenge (in unserem Fall der
Menge aller EU-Staaten) sind, auch Mitglieder der Übermenge (in unserem Fall der
Menge aller Demokratien) sind. In diesem Falle könnten wir die sehr einfache
folgende Schlussfolgerung ziehen: wenn ein Staat ein EU-Mitglied ist, dann ist er
auch eine Demokratie. Wir können mittels einer Wenn-Dann-Aussage also die
Teilmenge (Wenn-Komponente) mit der Übermenge (Dann-Komponente) verkn€up-
fen. So wird QCA einsetzbar zur Untersuchung von Wenn-Dann-Hypothesen,
während Je-Desto-Hypothesen eher durch die kovariationalen Verfahren der
Statistik bearbeitbar sind. Diese Teilmengeneigenschaft lässt sich €ubrigens nicht
invertieren (wie ja auch ein ‚wenn. . . dann‘ nicht automatisch ein ‚wenn nicht. . .
dann nicht‘ impliziert): Es gibt nat€urlich Mitglieder der Übermenge (wie z. B. die
USA), die nicht Mitglieder der Teilmenge (EU-Staaten) sind, aber dennoch Demo-
kratien sind. Dies unterscheidet mengentheoretische Verfahren fundamental von
statistischen Verfahren, deren Je-Desto-Beziehungen f€ur alle untersuchten Fälle zu
gelten haben.
Nat€urlich kann es auch Abweichungen von perfekten Teilmengen-Übermengen-
Beziehungen geben. Sollte ein EU-Mitglied seine Verfassung so ändern, dass es
nicht mehr als Demokratie gelten kann (und sollte die EU – was schwer vorstellbar
ist – keine Maßnahmen gegen diese Entwicklungen ergreifen), dann wäre die Wenn-
Dann-Beziehung zwar tendenziell noch feststellbar, aber eben nicht mehr determi-
nistisch auf alle Untersuchungsfälle anwendbar. Wir werden dies weiter unten
(Abschn. 4) als ‚Konsistenzproblem‘ kennenlernen.
Diese Wenn-Dann-Beziehungen können auch als hinreichende und notwendige
Bedingungen formuliert werden. In unserem Beispiel ist es bereits hinreichend zu
wissen, dass es sich bei einem Staat um ein EU-Mitglied handelt. Wenn wir dann
davon ausgehen d€ urfen, dass die Aussage „Wenn EU-Mitglied, dann Demokratie“
gilt, dann können wir automatisch von der EU-Mitgliedschaft auf einen demokrati-
schen Staat schließen. Mengen, die hinreichende Bedingungen darstellen, sind also
immer Teilmengen des sogenannten Outcomes, d. h. derjenigen Menge, die durch
die Bedingungen erklärt werden soll.
66 C. Wagemann
AB þ AC ! Y:
Hierbei steht das Plus-Zeichen – ganz der Konvention Boolescher Algebra folgend
(Schneider und Wagemann 2012, S. 46) – f€ur ein logisches ODER: Die Kombina-
tion AB oder die Kombination ~AC (dies schließt laut formaler Logik auch das
gleichzeitige Vorliegen beider ODER-Komponenten ein) sind hinreichende Bedin-
gungen f€ ur Y. Der zum Y weisende Pfeil verweist auf die hinreichenden (und nicht
notwendigen) Bedingungen.
Aus einer eigentlich recht einfachen Teilmengenanalyse, bei der Schnittmengen
(teilweise negiert) zu Übermengen in Relation gesetzt werden, kann also durchaus
eine recht komplexe Aussage gewonnen werden.
QCA-Ergebnisse wie das Dargestellte sind hierbei vor allem durch drei Kom-
plexitätsaspekte gekennzeichnet:
Zum einen ist hier die Äquifinalität zu nennen. Das heißt, dass – in Abgrenzung
zu statistischen Verfahren, bei denen Variablen in der Analyse um Einfluss konkur-
Qualitative Comparative Analysis (QCA) in der Vergleichenden. . . 67
rieren – durchaus verschiedene Erklärungen f€ur ein und dasselbe Phänomen ange-
geben werden können; in unserem Beispiel wird Y sowohl durch AB als auch durch
~AC erklärt. Dies ist f€ur die Vergleichende Politikwissenschaft nat€urlich eine wich-
tige Eigenschaft: So ist es ja durchaus denkbar, dass beispielsweise Demokratisie-
rungsprozesse in Osteuropa und Lateinamerika nach unterschiedlichen Logiken
verlaufen sind. Gerade bei der Verwendung von Theorien Mittlerer Reichweite
(Merton 1957) oder Area Studies im allgemeinen ist eine solche Möglichkeit der
Formulierung von Kausalbeziehungen sehr n€utzlich. Man beachte, dass diese Mög-
lichkeit, alternative Erklärungen zuzulassen, auch scheinbare Widerspr€uche erlaubt.
In unserem Beispiel ist A dann als positive Menge ein Bestandteil einer hinreich-
enden Bedingung, wenn es mit B kombiniert wird, während im Zusammenhang mit
C die Komplementärmenge (= die Negation) von A, also ~A, verwendet wird.
Während A also im Kontext von B positiv zum Zustandekommen des Outcome
beiträgt, trägt es im Kontext von C in seiner negativen Version bei.
Wie man aus der dargestellten Lösungsformel auch ersieht, werden oftmals auch
Kombinationen bzw. Schnittmengen als hinreichende Bedingungen formuliert,
nachdem eine Bedingung allein die Teilmengeneigenschaft nicht aufweist. Diese
konjunkturale Kausalität ist eine weitere zentrale Eigenschaft kausaler Komplexität
von QCA.
Schließlich ist QCA auch ein Beispiel f€ur asymmetrische Kausalbeziehungen.
Dies haben wir weiter oben schon angesprochen: Während wir zwar in eine Rich-
tung schließen können, lassen sich unsere Schlussfolgerungen nicht invertieren. Nur
weil ein Outcome Y erklärt wird, heißt das noch lange nicht, dass das negierte
Outcome ~Y auch erklärt wird. Dies unterscheidet mengentheoretische Methoden
fundamental von statistischen Methoden, wo statt von Outcomes als Mengen von
Variablen ausgegangen wird, die nicht etwa die Mitgliedschaft oder Nicht-
Mitgliedschaft eines Falles in einer Menge angeben, sondern die Intensität einer
Messung. In solch einem Falle wird ein ‚negatives Outcome‘ schlicht und ergreifend
durch kleine Werte repräsentiert und kann folglich auf demselben Wege wie das
Vorhandensein des Phänomens erklärt werden.
Einzelbedingungen, die auf diese Weise Teil einer äquifinalen und konjunkturalen
hinreichenden Bedingung sind, werden auch als INUS-Bedingungen bezeichnet.
INUS steht hierbei f€ur „insufficient but necessary part of a condition which is itself
unnecessary but sufficient for the result“ (Mackie 1974, S. 62). A, ~A, B und C sind
INUS-Bedingungen im obigen Beispiel.
Im Gegensatz zu hinreichenden Bedingungen (auf die sich der Großteil der
Ausf€ uhrungen dieses Kapitels bezieht) hat die QCA-Community ein eher geringeres
Interesse auf notwendige Bedingungen verwandt. So gibt es wenig (bis gar keine)
Ausf€ uhrungen dazu, wie kausale Komplexität im Falle notwendiger Bedingungen
interpretiert werden kann. Es kam lediglich zu einer vertiefenden Betrachtung von
sogenannten SUIN-Bedingungen als Parallelkonzept zu den INUS-Bedingungen.
Der Definition folgend, handelt es sich hierbei um „sufficient, but unnecessary part
[s] of a factor that is insufficient, but necessary for the result“ (Mahoney et al. 2009,
S. 126). Ohne hierbei auf Einzelheiten eingehen zu wollen, handelt es sich um
zueinander alternative notwendige Bedingungen. Wird zum Beispiel behauptet, dass
68 C. Wagemann
Demokratie erhielte also einen Fuzzy-Wert von beispielsweise 0,8, während ein
Land, das gerade noch so als Demokratie bezeichnet werden kann, mit einem Wert
von 0,6 kalibriert werden könnte (mehr zum Begriff der Kalibrierung findet sich in
Ragin 2008a, S. 71–84). Insofern wird die Dichotomie zwar erhalten, aber differen-
ziert. Diese Beibehaltung der Dichotomie unterscheidet dann auch eine Fuzzy-Skala
von einer intervall- oder ordinalskalierten Skala der Statistik (Diekmann 2011,
S. 291).
Es stellt sich nat€urlich die Frage, wie diese Fuzzy-Werte nun auf die Fälle
‚vergeben‘ werden. Die Antwort ist ebenso einfach wie auch oftmals enttäuschend:
Es gibt keine festgesetzten Regeln. Wichtig ist, dass die Fuzzy-Werte das damit
beschriebene Konzept widerspiegeln. Nötig ist also eine Strategie, mithilfe derer
Ausprägungsintensitäten eines vorher genau definierten Konzepts in quantitative
Werte € ubertragen wird. Hierzu können bereits existierende Skalen verwendet werden
(beispielsweise kann das Bruttoinlandsprodukt als Indikator – vermutlich einer von
mehreren – f€ ur die Wirtschaftskraft eines Landes verwendet werden); es können
bereits existierende Messungen von Phänomenen herangezogen und verarbeitet
werden (was sich vor allem im Falle des Konzepts ‚Demokratie‘ anbietet, das ja in
einer Vielzahl von Indizes zu fassen versucht worden ist, siehe auch Lauth 2004);
oder es können aber auch eigene Indikatorensysteme entwickelt werden. Wichtig ist
hierbei nat€ urlich maximale Transparenz (Schneider und Wagemann 2012,
S. 277–278). Generell lässt sich aber sagen, dass die Kalibrierung mit Fuzzy-Werten
wohl als eine der elaboriertesten und standardisiertesten Vorgehensweisen der Kon-
zeptspezifikation gelten kann. Dies verweist auch auf die Wichtigkeit dieses Schritts
f€ur die Vergleichende Politikwissenschaft im Allgemeinen; auch wenn QCA nicht
angewandt wird, so ist es doch unabdingbar, mit klar und transparent spezifizierten
Konzepten zu arbeiten (Mair 2008).
Grundsätzlich gilt, dass sozialwissenschaftliche Konzepte am ehesten Fuzzy-
Konzepte sind, so dass eine Fuzzy-Set-Analyse in der Vergleichenden Politikwissen-
schaft wohl den Regelfall darstellen d€urfte.
Nichtsdestotrotz haben sich zwei weitere Varianten entwickelt, mit denen ver-
sucht wird, speziellen Problemen einer Fuzzy-Set-Analyse Rechnung zu tragen.
Die erste dieser Varianten ist multi-value QCA (mvQCA) (Cronqvist und Berg-
Schlosser 2009). Damit soll dem Umstand Rechnung getragen werden, dass nicht
alle sozialwissenschaftlichen Phänomene dichotom sind, sondern auch multinomial
sein können. Beispiele hierf€ur sind die Religionszugehörigkeit oder die Berufstätig-
keit, aber auch (auf der Makro-Ebene) verschiedene Regimetypen. Die Debatte hat
hier zweifellos auf einen wichtigen Umstand von QCA verwiesen, nämlich auf den
impliziten Zwang zur Dichotomisierung – schließlich besteht dieser Grundgedanke
ja auch bei fsQCA weiter. Allerdings ist es nicht einfach, hierauf eine Lösung zu
finden. Abgesehen von praktischen Umsetzungsproblemen von mvQCA (nur eine
niedrige Anzahl von Kategorien ist technisch verarbeitbar; das Outcome muss
weiterhin dichotom sein; oftmals erreicht man nur idiosynkratische Erklärungen,
d. h., die Fälle sind so verschieden, dass keine Gemeinsamkeiten herausgearbeitet
werden können) hat sich die Diskussion vor allem an zwei Punkten orientiert: Zum
einen wurde in Frage gestellt, inwieweit mvQCA tatsächlich ein mengentheoreti-
70 C. Wagemann
sches Fundament aufweist (Vink und Van Vliet 2009). Zum anderen wurde gezeigt,
dass alle Vorteile von mvQCA auch dann erzielt werden können, wenn man die
mvQCA-Kategorien in verschiedene csQCA- oder fsQCA-Bedingungen aufsplittet,
ähnlich der Herstellung von Dummy-Variablen in multipler Regressionsanalyse
(Schneider und Wagemann 2012, S. 260–263). Folglich ist mvQCA nat€urlich eine
w€unschenswerte und sinnvolle Erweiterung des Spektrums von QCA-Varianten; die
Analyse kann aber auch im Rahmen einer entsprechend angepassten csQCA oder
fsQCA gleichwertig durchgef€uhrt werden.
Ähnlich verhält es sich mit tQCA (temporal QCA), das allerdings weit weniger
elaboriert worden ist als mvQCA und vor allem auch nicht standardisiert in die
wichtigste Software umgesetzt worden ist. Auch hier gibt es einen Vorschlag, der
einen zusätzlichen logischen Operator (das logische DANN) vorsieht, mit dem
Sequenzen von Bedingungen dargestellt werden können (Caren und Panofsky
2005). Dies verkompliziert die Analyse stark; zudem wurde auch hier nachgewiesen
(Ragin und Strand 2008), dass durch die einfache Schaffung von Bedingungen,
die den Zeitverlauf ausdr€ucken, auch mit csQCA und fsQCA das gleiche
Ergebnis erzielt werden kann (mehr zu den nicht einfachen Möglichkeiten, den
Zeitaspekt in QCA einzubauen, findet sich in Schneider und Wagemann 2012,
S. 263–274).
Sowohl mvQCA als auch tQCA können also in csQCA und fsQCA umgesetzt
werden. Wenn man nun bedenkt, dass eine Dichotomie nichts anderes als ein Fuzzy-
Set mit nur zwei Fuzzy-Werten (nämlich 0 und 1) ist, und folglich csQCA ein
Spezialfall von fsQCA ist, dann gibt es eigentlich keine QCA-Varianten mehr,
sondern nur eine allgemeine QCA, die nichts anderes tut, als Mengenbeziehungen
herzustellen, wobei – im Sinne der Fuzzy-Algebra – auch teilweise Mengenmitglied-
schaften erlaubt sind.
In diesem Beitrag ist es nat€urlich nicht möglich, eine profunde Einf€uhrung in den
Ablauf einer QCA zu geben (siehe hierf€ur Schneider und Wagemann 2012). Daher
werden im Folgenden nur die Grundschritte vorgestellt, ohne dass auf Details
eingegangen wird.
Vorausgeschickt werden soll, dass eine QCA nicht von Hand durchgef€uhrt
werden sollte, sondern auf eine der verf€ugbaren Software-Optionen zur€uckgegriffen
werden soll. Hierbei ist das von Charles C. Ragin selbst betreute Programm fsQCA
wohl die einschlägigste Software; dazu hat sich, vor allem im Zusammenhang mit
der Entwicklung das Programm TOSMANA gesellt, mit dem zwar mvQCA-, daf€ur
aber keine fsQCA-Analysen durchgef€uhrt werden können. Auch STATA hält eine
Syntax f€ur QCA vorrätig. In j€ungster Zeit scheinen dagegen verschiedene R-Pakete
(f€
ur eine Einf€uhrung, siehe Thiem und Dusa 2013) fsQCA als Standardsoftware
abzulösen (f€ur einen Überblick der verschiedenen Software-Optionen, siehe Schnei-
der und Wagemann 2012, S. 282–284).
Qualitative Comparative Analysis (QCA) in der Vergleichenden. . . 71
Bei einer QCA wird u€blicherweise mit der Analyse der notwendigen Bedingun-
gen begonnen (Schneider und Wagemann 2012, S. 278). So können diese Ergeb-
nisse bei der der Analyse hinreichender Bedingungen ber€ucksichtigt werden (f€ur
Einzelheiten, siehe Schneider und Wagemann 2012, S. 201–203). Hierbei wird f€ur
jede Bedingung, ihr Komplement und f€ur alle theoretisch sinnvollen ODER-
Kombinationen von Bedingungen (also so genannte funktionale Äquivalente, siehe
Schneider und Wagemann 2012, S. 74) untersucht, inwieweit die Teilmengenbezie-
hung, wonach das Outcome eine echte Teilmenge der Bedingung ist, erf€ullt ist.
Hierzu wird ein sogenanntes Konsistenzmaß (zwischen 0 und 1) berechnet, das
angibt, inwieweit die empirische Datensituation die Behauptung, eine Bedingung
sei notwendig f€ ur das Outcome, unterst€utzt (Schneider und Wagemann 2012,
S. 139–143). Liegt dieses Konsistenzmaß €uber dem Richtwert von 0,9, so kann
€
uber die Berechnung des Abdeckungsmaßes festgestellt werden, ob die so gefunde-
ne notwendige Bedingung trivial f€ur das Outcome ist oder nicht (Schneider und
Wagemann 2012, S. 144–147). Trivial wäre die notwendige Bedingung dann, wenn
sie um vieles häufiger vorkommt als das Outcome. So ist ‚morgens aufwachen‘
zweifelsfrei eine notwendige Bedingung, um eine Vorlesung zu besuchen, aber es
handelt sich eben um eine triviale notwendige Bedingung, denn ‚morgens aufwa-
chen‘ ist notwendige Bedingung noch f€ur viele andere Tätigkeiten, vom Zähneput-
zen bis zum Schreiben eines Romans.
Die Analyse hinreichender Bedingungen ist dagegen etwas komplexer. Hierzu
muss zuerst die Datenmatrix mit den Fuzzy-Werten in eine Wahrheitstafel umge-
wandelt werden. Eine Wahrheitstafel enthält alle logisch möglichen Kombinationen
von Bedingungen. Werden z. B. die drei Bedingungen A = Föderalistisch organis-
ierter Staat, B = Europäischer Staat, C = Parlamentarisches System spezifiziert, so
ergäben sich die in Tab. 1 dargestellten acht Wahrheitstafelzeilen. In der Wahrheits-
tafelzeile ~A~BC (dies entspricht der mit einem Sternchen * gekennzeichneten Zeile
der Wahrheitstafel, wo A 0, B 0 und C 1 ist) werden nun beispielsweise all
diejenigen Staaten erfasst, die nicht föderalistisch organisiert sind, nicht in Europa
sind, daf€ur aber parlamentarische Systeme sind. Auf diese Art kann jeder Fall einer
Wahrheitstafelzeile zugeordnet werden.
Bei Crisp-Sets gehört jeder Fall nur einer Wahrheitstafelzeile an, dieser daf€ur aber
perfekt, während bei Fuzzy-Sets einzelne Fälle €ublicherweise mehr als einer Wahr-
heitstafelzeile zumindest teilweise angehören. Jede einzelne Wahrheitstafelzeile
72 C. Wagemann
wird nun daraufhin untersucht, ob sie allein bereits eine hinreichende Bedingung f€ur
das Outcome darstellt oder nicht. Mit anderen Worten, es wird festgestellt, inwieweit
die Kombination, die durch die Wahrheitstafelzeile repräsentiert ist (also im Falle der
Sternchenzeile inwieweit die Kombination ~A~BC) eine echte Teilmenge des Out-
comes ist. Dies geschieht wiederum (vor allem) durch Konsistenzwerte (Schneider
und Wagemann 2012, S. 123–129): F€ur jede Wahrheitstafelzeile wird festgelegt, ob
der Konsistenzwert hoch genug ist, dass man von einer hinreichenden Bedingung
sprechen kann oder nicht. (Weitere Kriterien finden sich bei Schneider und Wage-
mann 2012, S. 185). Diejenigen Kombinationen, die diesen Test bestehen, werden
dann mit einem logischen ODER verkn€upft. Werden beispielsweise die ersten
beiden Wahrheitstafelzeilen (mit einem # gekennzeichnet) als hinreichende Bedin-
gungen festgestellt, so wird die Verkn€upfung ~A~B~C + ~A~BC. Das ODER
begr€undet sich durch die Tatsache, dass es aufgrund des Äquifinalitätsaspekts
mehrere hinreichende Bedingungen f€ur ein und dasselbe Outcome geben kann.
Während eigentlich bereits dies ein Ergebnis der Analyse hinreichender Bedingun-
gen ist, kann dieser logische Ausdruck durch Anwendung der Regeln formaler
Logik noch weiter vereinfacht werden (in unserem Beispiel w€urde ~A~B resultie-
ren); man spricht hier auch von einer ‚logischen Minimierung‘ (Schneider und
Wagemann 2012, S. 104–111).
Ein großes Problem besteht nun aber f€ur diejenigen Wahrheitstafelzeilen, die
zwar theoretisch als Kombinationen existieren, f€ur die aber keine empirisch be-
obachtbaren Fälle vorliegen. In unserem obigen Beispiel könnte es z. B. sein, dass es
kein Element in der Kombination AB~C gibt, dass wir also keinen föderalistischen
europäischen Staat mit nicht-parlamentarischem politischen System finden. Nun ist
es nat€urlich schwierig, f€ur empirisch nicht (oder im Falle von Fuzzy-Sets kaum)
existente Kombinationen bzw. f€ur nicht mit Elementen besetzte Mengen festzu-
stellen, inwieweit es sich hierbei um hinreichende Bedingungen bzw. Teilmengen
handelt. Die QCA-Literatur nennt dieses Problem ‚Limited Diversity‘ (Schneider
und Wagemann 2012, S. 152–153) bzw. eingedeutscht ‚Begrenzte empirische
Vielfalt‘ (Schneider und Wagemann 2007, S. 101–105). Begrenzte empirische
Vielfalt prägt im €ubrigen den Großteil empirischer vergleichender Forschung,
nachdem selten bis gar nie alle erw€unschten Varianten und Kombinationen von
Einflussfaktoren empirisch auffindbar sind bzw. nicht einmal existieren.
Nun gibt und kann es kein Allheilmittel f€ur begrenzte empirische Vielfalt geben;
Information, die nicht vorliegt, liegt eben nicht vor. Dennoch gibt es verschiedene
Vorschläge, wie mit Wahrheitstafelzeilen ohne Fälle umzugehen ist: anfangs wurde
vor allem vorgeschlagen, entweder diese Wahrheitstafelzeilen auf keinen Fall als
hinreichende Bedingungen zu betrachten oder aber sie dann als hinreichende Be-
dingungen zu betrachten, wenn dies die Lösung weniger komplex macht (Ragin
1987, S. 104–113). Mittlerweile wurden diese Vorschläge noch vielfach erweitert,
wobei wohl der Vorschlag kontrafaktischer Überlegungen (Ragin und Sonnett 2004;
Ragin 2008b) am weitesten verbreitet sein d€urfte (f€ur eine Darstellung, siehe
Schneider und Wagemann 2012, S. 167–175; zu möglichen Inkohärenzen der
Annahmen mit anderen Ergebnissen der Analyse, wie z. B. den notwendigen
Bedingungen, s.o., siehe Schneider und Wagemann 2012, S. 197–219).
Qualitative Comparative Analysis (QCA) in der Vergleichenden. . . 73
Wie auch die Analyse notwendiger Bedingungen, so kann auch die Analyse
hinreichender Bedingungen mit Konsistenz- und Abdeckungswerten in ihrer G€ute
bewertet werden.
Wie einige j€ ungst erschienene Übersichten (Rihoux et al. 2013; Yamasaki und
Rihoux 2009) verdeutlichen, gibt es kein striktes und genau umrissenes Forschungs-
feld, das f€ur die Anwendung von QCA typisch wäre. QCA-Anwendungen gibt es
vielmehr f€ ur alle möglichen vergleichenden Fragestellungen, auch wenn eine starke
Tendenz hin zur Vergleichenden Politikwissenschaft bzw. zur Vergleichenden
Makro-Soziologie erkennbar ist. Dabei m€ussen die Untersuchungseinheiten nat€ur-
lich keine Länder sein; Organisationen (NGOs, Parteien, Bewegungen) kommen
genauso in Frage wie Gruppen oder gar Individuen.
Es ist mittlerweile auch unmöglich geworden, sich einen Überblick €uber tatsäch-
lich erfolgte QCA-Anwendungen zu verschaffen, nicht zuletzt, nachdem QCA-
Analysen oftmals auch nur einen Teil einer Forschungsarbeit ausmachen und in
ein breiteres Forschungsdesign eingebettet sind.
Was die Möglichkeit einer Anwendung angeht, so sollen hier vier Empfehlungen
ausgesprochen werden:
Erstens: Grundlegend f€ur die Anwendung von QCA ist das Denken in Mengen.
Mengenmitgliedschaften (und damit auch -nichtmitgliedschaften) m€ussen explizit
beschreibbar sein. Es muss möglich sein, Kriterien daf€ur anzugeben, wann ein Fall
als Mitglied einer Menge gelten kann und wann nicht. ‚Variablen‘ im statistischen
Sinne stellen nicht immer automatisch auch Mengen dar. Nat€urlich impliziert diese
Zentralität von Mengen auch, dass prinzipiell dichotome bzw. dichotomisierbare
Konzepte die Grundlage der Mengen bilden – ansonsten ist eine Aufteilung der Fälle
in Mitglieder und Nichtmitglieder nicht möglich. Die Fuzzy-Set-Variante bietet die
Möglichkeit einer Differenzierung, aber auch hier ist das Denken in Dichotomien
wichtiger Bestandteil bei der Kalibrierung der Fuzzy-Werte.
Zweitens ist QCA als mengentheoretische Methode dann angebracht, wenn die
Hypothesen Wenn-Dann-Behauptungen aufstellen. Diese sind implizit mengentheo-
retisch und mit Verfahren, die eher auf Je-Desto-Hypothesen abzielen, nicht
automatisch untersuchbar.
Drittens ist es wichtig, dass sich die Fälle unterscheiden, sowohl hinsichtlich ihrer
Bedingungen als auch hinsichtlich des Outcomes. Die Bedingungen sollten die Fälle
aufgrund der Gefahr von begrenzter empirischer Vielfalt (s.o.) so unterscheidbar wie
möglich machen. So spricht man auch von QCA als einer diversitätsorientierten
Methode (Ragin 2000, S. 12–14). Aber auch das Outcome sollte möglichst stark
variieren; hier geht es schlicht und ergreifend darum, dass auch wirklich Unter-
schiede bestehen, die dann erklärt werden können.
Viertens und schließlich soll noch auf die große Frage der Fallzahl verwiesen
werden. Eher als eine mengentheoretische Methode wird QCA ja gerne als typische
Methode f€ ur mittlere Fallzahlen angepriesen (Schneider und Wagemann 2012,
74 C. Wagemann
€
uberhaupt noch sinnvoll möglich ist. Schließlich ist f€ur eine gute und inhaltlich
valide Kalibrierung die Fallkenntnis von extremer Wichtigkeit. Eine solche
Fallkenntnis ist oberhalb einer gewissen Grenze aber nicht mehr realistisch.
Die vierte Einschränkung betrifft nochmals die großen Fallzahlen und ist eher
eine Vermutung. Die Forschungspraxis hat gezeigt, dass bei großen Fallzahlen eher
unbefriedigende Konsistenz- (und auch Abdeckungs-)-werte erzielt werden. Hierbei
sind vor allem zwei Phänomene oft zu beobachten: Einerseits ähneln sich die
Konsistenzwerte der Wahrheitstafelzeilen zur Identifikation hinreichender Bedin-
gungen oftmals sehr und sind zum großen Teil auch eher niedrig. Offenbar produ-
zieren große Fallzahlen auch recht viele Abweichungen von deterministischen
Aussagen €uber hinreichende Bedingungen. Andererseits werden oftmals nur sehr
niedrige Abdeckungswerte erzielt, d. h., viele Fälle bleiben unerklärt. Man könnte
diese beiden Phänomene auch mit der Aussage illustrieren, dass bei der Analyse
großer Fallzahlen offenbar viel gewollt wird (es gibt viele Fälle zu erklären), dass
deren Erklärung aber so komplex ist, dass sie durch einfache Bedingungsstrukturen
nur unzureichend geleistet werden kann.
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Fallstudien und Process Tracing in der
Vergleichenden Politikwissenschaft
Wolfgang Muno
Zusammenfassung
Process Tracing hat sich in den letzten Jahren als zentraler methodischer Ansatz
zur Durchf€ uhrung von Fallstudien herauskristallisiert. Im vorliegenden Beitrag
wird zunächst auf Fallstudien allgemein und ihr Bezug zur vergleichende
Methode eingegangen. Dann wird Process Tracing als methodischer Ansatz vor-
gestellt. Beispiele von Process Tracing in der Vergleichenden Politikwissenschaft
und der Analyse Europäischer Integration illustrieren die Anwendungsmöglich-
keiten.
Schlüsselwörter
Fallstudien • Vergleichende Methoden • Process Tracing
1 Einleitung
Das Thema Fallstudien wurde lange Zeit eher stiefm€utterlich in der Methoden-
diskussion behandelt. Während Beiträge €uber quantitative Methoden ganze Biblio-
theken f€ullen, sind erst in j€ungster Zeit einige ausf€uhrlichere B€ucher €uber die
Methodik von Fallstudien erschienen (vgl. George und Bennett 2004; Gerring
2007; Blatter und Haverland 2012; Rohlfing 2012; Beach und Pedersen 2013;
Bennett und Checkel 2015; siehe auch Muno 2009). Reflektiert man Fallstudien
im Kontext vergleichender Methoden, so stellen sich zu Recht einige grundlegende
Fragen. Es muss geklärt werden, was eigentlich ein Fall ist und was eine Einzelfall-
studie mit einem Vergleich zu tun hat. Des Weiteren ist zu fragen, welchen Zweck
W. Muno (*)
Privatdozent, Lehrstuhl f€
ur Internationale Politik, Institut f€
ur Politikwissenschaft,
Universität Mainz, Mainz, Deutschland
E-Mail: muno@politik.uni-mainz.de
Fallstudien erf€
ullen und wie sie angelegt sein sollten, d. h. es geht um das konkrete
methodische Vorgehen. Hierbei hat sich zuletzt Process Tracing als zentraler Ansatz
herauskristallisiert, der ausf€uhrlicher vorgestellt wird.
Die scheinbar einfache Frage, was ein Fall ist, ist gar nicht so einfach zu beantworten
(vgl. Ragin 1992). Fälle, so Ragin (1992), können empirisch oder theoretisch ver-
standen werden, spezifisch oder generell, werden als Objekte, d. h. in der Realität
vorhanden, oder als Konvention, d. h. konstruiert, angesehen. Landman (2008)
dagegen vertritt eine konventionelle und gängige Definition in der Vergleichenden
Politikwissenschaft und versteht einen Fall einfach als ein Land. Demnach gäbe es
drei Typen des Vergleichs: ein Vergleich vieler Länder, ein Vergleich einiger weniger
Länder und Studien einzelner Länder, eben eine Fallstudie. Diese Definition ist aber
zu ungenau. So kann eine Länderstudie durch diachrone, d. h. zeitversetzte Unter-
suchungen verschiedener Epochen, Regierungen, etc. oder synchrone Vergleiche
verschiedener Kommunen, Parteien, etc. die Zahl der Untersuchungsobjekte in
einem Land erhöhen. Daher bleibt eine begriffliche Unschärfe, wie auch Jahn
konstatiert, demzufolge die Frage, was ein Fall sei, „abstrakt nicht eindeutig [. . .]
und nur in Verbindung mit dem Erkenntnisinteresse bestimmt werden kann.“ (Jahn
2006, S. 322, siehe auch Lauth et al. 2013). Ein Fall konstituiert sich folglich durch
das Objekt wissenschaftlicher Untersuchung. Es kann sich um ein Land, ein politi-
sches System, eine Institution, eine Organisation, einen bestimmten Prozess, ein
Ereignis, eine Krise, ein Krieg, d. h. ein spezielles Phänomen in einem bestimmten
Zusammenhang handeln. Wichtig ist, dass sich ein Fall klar abgrenzen lässt. „Ulti-
mately, all cases must be constructed. (. . .) the case itself must still be socially
constructed by the researcher. That scholar must decide what the boundaries are for
the case, what the relevant questions are, and what the relevant evidence is.“ (Peters
1998, S. 146)
Eine Fallstudie hat auf den ersten Blick wenig mit vergleichender Politikwissen-
schaft zu tun. So betont Sartori den Unterschied zwischen Einzelfallstudien und der
komparativen Methode: „I must insist that as a ‚one-case‘ investigation the case study
cannot be subsumed under the comparative method“ (Sartori 1994, S. 23, Hervor-
hebung Sartori). Zugleich hat die Einzelfallstudie einen bedeutenden Stellenwert in
der Komparatistik; viele Studien, die in komparativen Journals zu finden sind, behan-
deln nur einen Fall. Nach Sartori lassen sich Einzelfallstudien trotz seiner generellen
Skepsis dann zu Recht zur Komparatistik zählen, wenn sie einen „comparative merit“
aufweisen (Sartori 1994, S. 23). Solch ein komparativer Verdienst kann nur durch
Theorieorientierung erreicht werden. Lijphart, Eckstein, Hague et al. oder Jahn haben
jeweils verschiedene Idealtypen von Fallstudien unterschieden, die hinsichtlich ihrer
Theorieorientierung in theorie-generierende, theorie-testende und solche Studien, die
beides verbinden, unterschieden werden können (vgl. Tab. 1).
Theorie-generierende Fallstudien gehen induktiv vor und versuchen, €uber
die Analyse eines Falles Verallgemeinerungen zu postulieren, theorie-testende
Fallstudien und Process Tracing in der Vergleichenden Politikwissenschaft 81
Fallstudien gehen deduktiv vor und wenden bestehende Annahmen auf spezielle
Fälle an. Eine diszipliniert-konfigurative Fallstudie verbindet Deduktion und
Induktion, indem bestehende Annahme getestet und €uber die Analyse des Falles
neue Annahmen aufgestellt werden.
Ein klassisches Beispiel f€ur eine theorie-generierende Fallstudie ist Guillermo
O’Donnells (1973) Analyse der sozioökonomischen und soziopolitischen Entwick-
lung Argentiniens, aufgrund derer er das Konzept des B€urokratischen Autoritaris-
mus entwickelt (Lauth 1985). In einer Verbindung von modernisierungstheoreti-
schen und marxistisch-dependenztheoretischen Ansätzen verstand O’Donnell die
Diktaturen als das politische Pendant einer bestimmten, problematischen Stufe der
durch industrielle Modernisierung bewirkten gesellschaftlichen Entwicklungspro-
zesse. Zwischen 1930 und 1960, so O’Donnell, war in Argentinien ökonomische
Entwicklung durch binnenmarktorientierte, importsubstituierende Industrialisierung
gelungen, flankiert auf politischem Gebiet durch verteilungsorientierten Populismus,
der sich auf eine Allianz aus Teilen der Mittelschicht mit einer mobilisierten
Unterschicht st€utzte. Diese Strategie stieß in den 1950er-Jahren an ihre finanziellen
Grenzen und machte Anpassungsmaßnahmen erforderlich, die mit einschneidenden
sozialen Einsparungen verbunden waren. Um diese Maßnahmen gegen die zuvor
mobilisierte Bevölkerung durchzusetzen, griff eine neue Koalition aus Bourgeoisie
und großen Teilen der Mittelschicht zur Repression. In Argentinien €ubernahmen
1966 bis 1973 die Militärs die Macht. Die neuen Wirtschaftsprogramme gingen
einher mit Versuchen einer vertiefenden Industrialisierung, d. h. einem Ausbau der
Infrastruktur, Aufbau von industriellen Großbetrieben und Öffnung f€ur Auslands-
kapital, wof€ur technokratisches Know-how benötigt wurde. Die Kombination von
technokratischem Entwicklungsstaat und politischer Repression f€uhrte nach O’Don-
nell zum Entstehen eines b€urokratisch-autoritären Militärregimes in Argentinien.
Die argentinische Erfahrung €ubertrug O’Donnell in ein allgemeines Konzept des
B€urokratischen Autoritarismus, das auf andere lateinamerikanische Länder, aber
auch auf afrikanische und asiatische Regime angewandt wurde (zur Anwendung
des B€urokratischen Autoritarismus auf andere Länder siehe etwa Collier 1979 f€ur
Lateinamerika, Shevtsova 2004 f€ur Russland unter Putin). In ähnlicher Weise hat
O’Donnell das Konzept einer delegativen Demokratie anhand des Beispiels Ar-
gentiniens entworfen, danach entstanden eine Vielzahl von Studien, die hybride
Regimeformen und delegative Demokratien in verschiedenen Ländern identifizier-
ten (O’Donnell 1994; siehe etwa Merkel et al. 2003 und 2006).
82 W. Muno
gens dann auf letztere. Die Argumentation der Monographie kann hier nicht en
Detail behandelt werden, aber im Kern sah Eckstein das „Erfolgsgeheimnis“ Norwe-
gens in einer ausgewogenen Balance zwischen gesellschaftlichem Konsens und
Konfliktlinien im Kontext eines beachtlichen gesellschaftlichen Pluralismus (Eck-
stein 1966, S. 177). Aus dieser Analyse heraus entwickelte Eckstein wiederum
allgemeine Hypothesen €uber die Funktionsweise von stabilen Demokratien und
kombinierte so deduktive und induktive Vorgehensweise.
Eine Fallstudie ist weder eine gute Basis f€ur Generalisierungen noch f€ur Falsifi-
kationen etablierter Theorien (vgl. Lijphart 1971, S. 691; Ragin 2000, S. 90). Sartori
warnt vor „Parochialismus“, d. h. vor der Gefahr, Details und Besonderheiten
€uberzubewerten, etablierte Kategorien allgemeiner Theorien zu ignorieren und so
letztlich nur Ad-hoc-Erklärungen zu produzieren (Sartori 1994, S. 19). Bei solchen
Problemen stellt sich die Frage, wozu €uberhaupt eine Fallstudie gemacht werden
sollte? Ironischerweise liefert gerade der Fallstudienkritiker Lijphart ein Beispiel f€ur
den Sinn von Fallstudien. Anhand der Niederlande entwickelte er das Konzept einer
Konsensdemokratie, was ein wesentlicher Bestandteil späterer weltweit vergleich-
ender Studien zu Erscheinungsformen von Demokratie wurde (vgl. Lijphart 1968,
1984, 1999). Auch das bekannte Cleavage-Konzept nach Stein Rokkan wurde
zunächst anhand des Falles Norwegen entwickelt und später auf andere Länder
€ubertragen (vgl. Rokkan und Valen 1964; Lipset und Rokkan 1967; Jahn 2006,
S. 327). Eine Fallstudie liefert genaueres Wissen €uber einen Fall. Sie muss zwar auf
Verallgemeinerungen weitgehend verzichten, gewinnt aber Tiefe und Dichte des
Verstehens, wie Sartori anmerkt (Sartori 1994, S. 24). Laut Bennett und George
(1998, S. 6) haben Fallstudien unter bestimmten Bedingungen einen komparativen
Vorteil gegen€
uber statistischen Methoden:
Generell liegt die Stärke von Fallstudien im Entdecken und Testen kausaler oder
sozialer Mechanismen. Kausale Mechanismen betreffen soziale oder politische
Prozesse, durch die eine (unabhängige) Variable einen kausalen Effekt auf eine
andere (abhängige) Variable aus€ubt.
Zur Analyse komplexer Phänomene schlagen George und Bennett „Process Tra-
cing“ vor (George und Bennett 2004; vgl. auch Bennett 2010; Collier 2011; Bennett
und Checkel 2012; Beach und Pedersen 2013; Bennett und Checkel 2015). Eine
Vielzahl von mehr oder weniger synonymen Bezeichnungen existiert, die alle
qualitativ-detaillierte Verfahren zur Analyse von Fällen bezeichnen: „causal-process
84 W. Muno
Beweis f€ur seine Schuld, war er aber zweifelsfrei in einer anderen Stadt, so kann er
gar nicht der Täter sein. Ein Doubly Decisive-Test bestätigt notwendige und hinrei-
chende Bedingungen f€ur einen Kausalzusammenhang. Nimmt eine Kamera einen
Tatverdächtigen bei dem Verbrechen auf, so ist seine Schuld bewiesen. Solche Tests
sind in Sozialwissenschaften eher selten, aber eine Kombination von Hoop- und
Smoking Gun-Test erzielen dasselbe Resultat.
5 Zusammenfassung
Die eingangs gestellte Frage, was Fallstudien mit Komparatistik zu tun haben, ist
eindeutig beantwortet: Fallstudien bilden einen wichtigen Teil der vergleichenden
Analyse. Wie gezeigt, kann ein Fall ein beliebiges politikwissenschaftliches Unter-
suchungsobjekt sein, eine Partei, ein Land, ein spezifisches Problem. Das Erkennt-
nisinteresse definiert den Fall. Fallstudien sind allerdings nur dann Teil der ver-
gleichenden Methoden, wenn sie sich nicht auf reine Deskription beschränken,
sondern comparative merit aufweisen, d. h. theoriebezogen sind.
Die Durchf€ uhrung von Fallstudien hat spezifische Vor- und Nachteile. Nachteile
liegen in der begrenzten Generalisierbarkeit der Ergebnisse von Fallstudien und der
Gefahr des Parochialismus, Vorteile in der besseren Erfassung komplexer Variablen,
der Möglichkeit, induktiv neue Variablen und Hypothesen zu entwickeln und der
Möglichkeit der Formulierung kontingenter Generalisierungen, typologischer Theo-
rien sowie kausaler Mechanismen. Zur Durchf€uhrung von Fallstudien wird meist auf
Process Tracing verwiesen, ein Ansatz, mit dem detailliert Prozesse analysiert und so
kausale Mechanismen entdeckt werden. Alternative Kausalmechanismen sollten
getestet werden, um unwahrscheinliche oder nicht zutreffende Mechanismen zu
eliminieren, um letztlich so zu plausiblen Annahmen €uber Wirkungszusammen-
hänge in komplexen Phänomenen zu kommen. Die aufgef€uhrten Beispiele der
Anwendung zeigen die vielfältigen Möglichkeiten und Varianten von Process Tra-
cing. Der Ansatz wird zwar häufig als Metapher benutzt, hat aber das Potenzial zu
einem sinnvollen methodischen Werkzeug, mit dem detaillierte, profunde Fallstu-
dien durchgef€ uhrt werden können, um letztlich kausale Mechanismen und Erklä-
rungen zu identifizieren.
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Komparative Area-Forschung in der
Vergleichenden Politikwissenschaft
Andreas Mehler
Zusammenfassung
Die komparative Area-Forschung ist ein Bindeglied zwischen den klassischen,
interdisziplinär angelegten Area Studies und der Vergleichenden Politikwissen-
schaft. Die Vergleichende Politikwissenschaft stand lange Zeit in der Gefahr,
unbewusst eine starke – europäisch-nordamerikanische – Schlagseite zu perpe-
tuieren, die ihrem Anspruch, universal g€ultige Gesetzmäßigkeiten zu ergr€unden,
entgegensteht. Der weltpolitische Aufstieg der „emerging powers“ und Globali-
sierungsphänomene haben die Bedeutung bislang durch die Politikwissenschaft
vernachlässigter Weltregionen (besonders in Afrika, Asien und Nahost) erhöht. In
einer defensiven Sichtweise hat sich das Spektrum untersuchenswerter Fälle und
Fragestellungen damit erweitert, in einer offensiveren Sichtweise ist die Erarbei-
tung einer deutlich breiteren empirischen Basis zwingend, um €uberhaupt die
universelle G€ultigkeit vieler Lehrsätze oder Modelle aufrecht erhalten zu können.
Die komparative Area-Forschung stellt einen geeigneten Zugang dar, um die
Reichweite von Generalisierungen, aber auch Grad der Spezifizität einzelner
Fälle zu ermitteln. Es können cross-, intra- und interregionale Vergleichsformen
unterschieden werden; sie sind unterschiedlich voraussetzungsvoll, folgen aber
auch unterschiedlichen Erkenntnisinteressen.
Schlüsselwörter
Area Studies • Comparative Area Studies • Regionen • Vergleichende Methode •
Generalisierung
A. Mehler (*)
Direktor des Arnold-Bergstraesser-Instituts, Professor f€
ur Entwicklungspolitik und
Entwicklungstheorie an der Universität Freiburg, Lead Research Fellow am GIGA, Institut f€
ur
Afrika-Studien, Berlin, Deutschland
E-Mail: mehler@giga-hamburg.de
1 Einleitung
Die komparative Area-Forschung versteht sich als Bindeglied zwischen den klassi-
schen Area Studies und systematischen Disziplinen, so auch – und möglicherweise
zuvorderst - der Vergleichen Politikwissenschaft. Zentrale Bestandteile von „Com-
parative Area Studies“ (so die gebräuchliche Bezeichnung) sind a) eine ausgeprägte
Kontextsensibilität (das beinhaltet die Ber€ucksichtigung von Geschichte, Kultur und
räumlichen Aspekten) und b) der explizite, systematische und empirisch gesättigte
vergleichende Ansatz (z. B. Lijphart 1971; Sartori 1994). Die komparative Area-
Forschung bedarf eines hohen Problembewusstseins bei der Verwendung des Area-
Begriffs. Das bedeutet: Die variable Geometrie von Regionen, abhängig von der
jeweiligen Fragestellung, ist immer im Blick zu behalten (Mehler und Hoffmann
2011; Holbig 2015). Innerhalb der klassischen Area Studies haben sich Generatio-
nen von Wissenschaftlern mit der Begrenztheit des eigenen Zugangs auseinander-
gesetzt, ausgehend von der weltweit rezipierten „Orientalismus“-Debatte (zur€uck-
gehend auf die von Edward Said 1978 kritisierten westlichen Konstruktionen „des
Orient“). Weitgehend unbestritten ist auch, dass die landläufige Einteilung der Welt
in Regionen und Subregionen weitgehend externen Setzungen entspricht und €uber
koloniale Vergangenheit und Interessenlagen der Supermächte im Kalten Krieg
zementiert wurden. Maßgeblich f€ur die weitere Entwicklung der Area Studies waren
die Gr€undungen entsprechender Zentren in den USA schon ab der Zwischenkriegs-
zeit. Insofern herrscht hier ein hohes Maß an permanenter (selbst) kritischer Re-
flexion, ob denn die Area-„Container“ nicht eine k€unstliche Einheit vorspiegeln,
Überlappungen zwischen ihnen vielmehr f€ur die Epoche der Globalisierung kenn-
zeichnend sind und transregionale Verflechtungen zwischen den „areas“ handlungs-
wirksamer sind als was innerhalb von irgendwie definierten Weltregionen passiert.
Diese Bereitschaft zu fundamentaler Selbstkritik mag in der Politikwissenschaft
nicht in gleicher Weise bestehen. Gleichwohl – und hier sollte nicht €uber das Ziel
hinausgeschossen werden – gibt es politikwissenschaftliche Fragestellungen, die
nachvollziehbarerweise nach Regionen zu beantworten sind, wenn nämlich genau
die problematische Vergangenheit Strukturen und Institutionen geschaffen hat, die
wirkmächtig fortbestehen. Dennoch gilt als Mahnzeichen: Die Homogenität einer
Region kann nie einfach vorausgesetzt werden, die Zugehörigkeit zu einer gemein-
samen supranationalen Organisation ist nur unter Umständen ein solch einender
Faktor. Außerdem kann die äußere Zuschreibung und Zusammenfassung von Ter-
ritorien (unter Ausgrenzung anderer) zu einer Region bereits eine wenig subtile
Form der Intervention darstellen und die Ergebnisse von Forschung beeinflussen.
Dennoch gibt es einige rezente Beiträge in der Fachdiskussion, die regionaler
Zugehörigkeit größere Erklärungskraft auch f€ur innerstaatliche Entwicklungen
zuweisen als gemeinhin angenommen. Allerdings m€ussen dann Regionen theore-
tisch begr€
undete analytische Kategorien statt unbewegliche geographische Einheiten
sein (Ahram 2011); Regionen lassen sich in der Regel als analytische Kategorien
verwenden, wenn sie durch kontinuierliche (ökonomische, politische, kulturelle)
Austausch- und Differenzierungsprozesse zu in vielerlei Hinsicht geschlossenen
Räumen werden, die weltweite Varianz erklären helfen. Bunce (2000, S. 722) hat
Komparative Area-Forschung in der Vergleichenden Politikwissenschaft 93
den 1970er- und 1980er-Jahren. Möglicherweise war dieses Interesse auch stark aus
der politischen Praxis erwachsen, wobei sowohl Persistenz als auch Zusammen-
bruch autoritärer Herrschaft f€ur an Stabilität interessierte Entscheidungsträger in
Washington von ähnlich hohem Interesse waren. Zur€uckgehend auf die einfluss-
reichen typologischen Arbeiten von Juan Linz, der personalisierte von b€urokratisch-
autoritären Regimen unterschied, und im zweiten Grundtyp besonders den korpora-
tiven Autoritarismus zu beschreiben half, war Lateinamerika in dieser Epoche ein
besonders reiches Untersuchungsfeld, um die Funktionsweise nicht-demokratischer
Regime zu untersuchen. F€ur die oft als „Demokratiewissenschaft“ charakterisierte
Politikwissenschaft war es eine wichtige Erweiterung des konstitutiven Erkenntnis-
interesses, dass nun erklärt werden konnte, wie sich autoritäre Regime legitimieren
und reproduzieren.
Dennoch darf behauptet werden, dass gesamte Weltregionen in der Politikwissen-
schaft bis in die 1990er-Jahre generell nur am Rande vorkamen: Das gilt mindestens
f€ur Afrika, den Nahen Osten und weite Teile Asiens. Dieser Befund korreliert einmal
mit der geringen Demokratieneigung in diesen Regionen bis zum genannten Zeit-
punkt und ebenso mit einer begrenzten weltpolitischen Bedeutung dieser Regionen.
Daran hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten viel geändert. Sowohl der welt-
politische Aufstieg von Regionalmächten wie Brasilien, Russland, Indien, China
und S€ udafrika als auch die verstärkte Wahrnehmung von Aspekten der Globalisie-
rung (z. B. Klimawandel, Auswirkungen schwacher Staatlichkeit etc.) r€ucken bis-
lang wenig beachtete Weltregionen in den Focus der Aufmerksamkeit. Gleichzeitig
ist es bis heute bei einer €uberwältigenden Dominanz von europäischen und nord-
amerikanischen Politikwissenschaftlern in der Disziplin geblieben. Vom Anspruch
her ist die Vergleichende Politikwissenschaft aber eine universale Wissenschaft.
Die Zahl der Politikwissenschaftler, die sich in Europa und den USA intensiv mit
politischen Phänomenen in Afrika, Asien, Nahost und – schon deutlich intensiver –
in Lateinamerika befassen, ist €uberschaubar geblieben. Und ebenso schwach ausge-
bildet sind bislang die meisten politikwissenschaftlichen Fakultäten und Zentren in
diesen Regionen selbst - dies mag auch die geringe Anzahl konzeptioneller Gegen-
entw€urfe aus Afrika, Asien oder Nahost erklären (während z. B. Dependencia-The-
orien auch stark in Lateinamerika wurzelten).
Grundsätzlich darf man davon ausgehen, dass sich dieses Bild weiter graduell
verändern und damit verbessern wird. Mindestens in den demokratischeren Staaten
des Globus erweist sich Politikwissenschaft eben erneut als „Demokratiewissen-
schaft“; Parteien und Parlamente erkennen ihr Interesse an fundierter Expertise zu
ihren eigenen Verfahren, es gibt eine gesellschaftliche Nachfrage nach Politikwis-
senschaft bzw. ihrer Übersetzung in Ratschläge oder gar Handlungsanweisungen.
Das gilt vor Ort und in der Entfernung. Die Begrenztheit nicht nur anekdotischen
Wissens € uber ferne Weltregionen und die Schädlichkeit rein exotisierender
96 A. Mehler
Betrachtungen werden immer dann deutlich, wenn reale Krisen aus räumlich entfernten
Gebieten (2015 z. B. im Jemen, 2013 z. B. im S€udsudan) mittelbar Konsequenzen
auch f€ur Europa nach sich ziehen, weil sich – wie hier – ganze regionale Konflikt-
systeme verschieben. Aber auch Regierungen und Öffentlichkeit in den Ländern, in
denen Politikwissenschaft keine gut verankerte Universitätsdisziplin darstellt, schau-
en zunehmend darauf, welche institutionellen Lösungen f€ur verwandte Pro-
bleme in ähnlichen Kontexten gewählt werden, z.B: im Hinblick auf die Inklusion
wichtiger Minderheiten, auf die Systemanforderungen von Wahlsystemen oder die
Beziehungen zwischen Judikative und Exekutive. Es ist daher nicht vermessen zu
erwarten, dass sich Politikwissenschaft auf globaler Ebene inklusiver gestalten
lassen wird als bisher. Dies kann gelingen, wenn sich die infrastrukturellen und
inhaltlichen Voraussetzungen zur politikwissenschaftlichen Wissensproduktion in
alle Weltregionen verbessert: In Afrika wird Vergleichende Politikwissenschaft
beispielsweise immer noch in höchstens der Hälfte aller Staaten €uberhaupt gelehrt.
Daneben erscheint unausweichlich, dass regionale politikwissenschaftliche Fachver-
bände an Gewicht gewinnen und in den relevanten internationalen Vereinigungen
Vertreter aus Afrika, Asien, Lateinamerika und dem Nahen Osten nicht nur sehr
dosiert oder als Alibi auftreten. Schließlich wird es darum gehen, in den wichtigen
Fachzeitschriften ein Abbild solcher Änderungen zu finden. Die der Politikwissen-
schaft innewohnende Suche nach universalen Gesetzmäßigkeiten erzwingt geradezu
eine Beschäftigung mit bislang ignorierten Weltregionen: Getroffene Aussagen sind
nur so verallgemeinerungsfähig wie der Abdeckungsgrad der Empirie. Schließlich
hat sich die datenmäßige Erfassung afrikanischer, asiatischer, lateinamerikanischer
und nahöstlicher Gesellschaften zusehends verbessert, selbst wenn hier noch erheb-
liche Ungleichgewichte und Zweifel an der Qualität mancher Datensätze bestehen.
Das bedeutet immerhin, dass gerade statistische Verfahren, die in einem dominanten
Zweig der Politikwissenschaft zentral sind, erstmals erfolgversprechend auf weite
Teile der „unterforschten“ Areas ausweitbar erscheinen. Gleichzeitig stellt die Arbeit
zu empirischem Neuland eine der wichtigsten Aufstiegsmöglichkeit f€ur Nach-
wuchswissenschaftler dar.
Mit Blick auf die ung€unstigen Voraussetzungen zur Durchf€uhrung von „klassischer“
Politikwissenschaft – geringe Datenverf€ugbarkeit, wenig lokale Partner und Infra-
struktur – haben sich Angehörige der Disziplin, die dennoch in diesen Räumen
forschen, Erkenntnisse und Methoden benachbarter Disziplinen nutzbar gemacht.
Daraus ergeben sich eine Offenheit auch f€ur innovative Zugänge und ein Zwang zur
Selbstreflexion. Die klassischen Area Studies haben sich immer als disziplinär offen
verstanden (selbst wenn in der praktischen Organisation bestimmte Disziplinen im
Vordergrund stehen mögen – je nach Region sind das verschiedene Wissenschafts-
zweige – grob: Ethnologie in den Afrikastudien, Literaturwissenschaft in den Latein-
amerikastudien, Islamwissenschaft in den Nahoststudien). Allerdings hat diese Zu-
ordnung auch einen Preis: In den klassischen Area Studies ist die vergleichende
Komparative Area-Forschung in der Vergleichenden Politikwissenschaft 97
Methode eher nicht zuhause – f€ur die Vergleichende Politikwissenschaft aber kon-
stitutiv. Keine Generalisierung ohne Vergleich! Zu den am heißesten diskutierten
Fragen bei der Bewertung von Forschungsprojekten und ihren Ergebnissen gehört in
der Disziplin immer, ob denn das Vergleichsdesign den Standards der Disziplin
entspricht. Davon sind die Area Studies noch immer weit entfernt: Lange Zeit war
in den Area Studies das primäre erkenntnistheoretische Ziel eher eines der „Indivi-
dualisierung“, die Beschreibung des Besonderen, als die Generalisierung. Ein expli-
zit komparativer Ansatz könnte zwar auch diesem Ziel dienen, in der Praxis
geschieht dies nicht so häufig. Dementsprechend finden sich bis heute wenige
explizit vergleichende Beiträge in den Top-Journals der Area Studies. Hitzige
Debatten € uber die Daseinsberechtigung der Area Studies, wie sie in den USA noch
in den 1990er-Jahren gef€uhrt wurden, sind weitgehend abgeebbt; Vertreter der
sozialwissenschaftlichen Mutterdisziplinen und der Area Studies beziehen sich
mittlerweile aufeinander (Szanton 2004). Die „tiefe“ Kenntnis und „dichte Beschrei-
bung“ politikwissenschaftlich relevanter Phänomene insbesondere in Afrika, Asien
und Nahost erleben – gerade seit 9/11 – eine starke Nachfrage. Allerdings helfen
Einzelfallkenntnisse alleine nicht, um ein Phänomen einzuordnen.
Die Vergleichende Area-Forschung hebt sich also auch von den Area Studies ab
und zwar eben durch den komparativen Impetus, denn auch das tatsächlich Spezi-
fische eines bestimmten Falles lässt sich nur durch den Vergleich ermitteln (Basedau
und Köllner 2007).
Drei Formen des Vergleichs lassen sich unterscheiden:
Cross-regionaler Vergleich
Cross-regionale Studien, also der Vergleich zwischen Untersuchungseinheiten in
verschiedenen Regionen, (Basedau und Köllner 2007, S.117) verlangen sowohl
sehr gute Vorortkenntnisse als auch methodische Stringenz. Der Vergleich einer
nur kleinen Anzahl von Fällen ist kaum vermeidbar, aber auch methodisch zu
rechtfertigen (Sil 2009). Insbesondere die Fallauswahl muss daher gut begr€undet
werden, weil die unterstellte Homogenität innerhalb einer Area als Begr€undungs-
zusammenhang f€ur Ähnlichkeit nicht zur Verf€ugung steht – der regionale Kontext
tritt hinter andere gemeinsame Kontextbedingungen zur€uck. Es ist gut möglich,
dass die geforderte Kontextsensibilität forschungspragmatisch zur Folge hat, dass
mehrköpfige Forschungsteams mit unterschiedlicher Länderexpertise zusammen-
finden. Ein gutes Beispiel sind neue, „tiefe“ vergleichende Forschungen zu
Präsidialsystemen (Lateinamerika, Afrika, Russland), die ausgewiesene Länder-
spezialisten in Oxford betreiben (Chaisty et al. 2014).
Intraregionaler Vergleich
Komparative Area-Forschung kann durchaus in einer einzelnen Region betrieben
werden. Der intraregionale Vergleich, damit ist der Vergleich von Phänomenen in
einer einzelnen Region gemeint (Basedau und Köllner 2007, S. 116) hat den
offensichtlichen Vorteil, dass viele Hintergrundbedingungen (oftmals im Zusam-
menhang mit Geographie, Klima, Geschichte und Kultur; mitunter Zugehörigkeit
zur selben suprastaatlichen Organisation) recht ähnlich gehalten werden
können. Es ist offensichtlich, dass intraregionale Vergleiche nur zu „bounded
98 A. Mehler
F€
ur die Untersuchung von Normendiffusion können diese verschiedenen Formen
der Vergleichenden Area-Forschung auch gemeinsam nutzbar zu machen, wie un-
veröffentlichte Arbeiten Ahrams am Beispiel des Arabischen Fr€uhlings zeigen
(2014). Einmal ist plausibel, dass sich die Mobilisierung von Demonstranten €uber
Ländergrenzen hinweg in Staaten mit ähnlichen Systemerfahrungen besonders leicht
vollzieht, dennoch ergaben sich Unterschiede in diesem Prozess, die erklärungs-
bed€urftig sind und in einem intraregionalen Vergleichsdesign erklärt werden
können - im Wesentlichen €uber die erheblichen Unterschiede der Legitimations-
quellen autoritärer Regime der Region. Der cross-regionale Vergleich (bei Ahram
mit Mali und Israel) hilft wiederum zu erkennen, welche Elemente im „Arabischen
Fr€uhling“ wirklich „arabisch“ waren. Der interregionale Aspekt ist in dem
erwähnten Beitrag weniger vergleichend angelegt, sondern verweist auf die
Allianzen von Akteuren innerhalb und außerhalb der Region, um zu erklären, wer
besser der Regimeanfechtung standhielt – genau genommen also eher ein
Verflechtungsargument. Eigentlich wäre ein auch intertemporaler Vergleich mit
den fr€uheren regional ausgeprägten Wellen von Demokratisierungsforderungen (also
Subsahara-Afrika und Osteuropa ab 1989/90) der interessantere Zugang.
Der Vergleichenden Area-Forschung liegt zudem das Verständnis zugrunde, dass
Konzepte, Analyserahmen und methodische Werkzeugkästen aus verschiedenen
Disziplinen zusammenwirken sollten. So bleibt zum Beispiel das Vertrauen in
plötzlich verf€
ugbares Datenmaterial zu bislang untererforschten Weltregionen noch
solange begrenzt, wie es an Panelerhebungen und konkurrierenden Befragungen
etwa zum Vertrauen in Institutionen mangelt. Vielfach können bestimmte Erhebun-
gen weiterhin nur (valide) in offeneren Gesellschaften durchgef€uhrt werden. Daraus
ergibt sich, dass qualitative Methoden von großer Wichtigkeit f€ur die Vergleichende
Area-Forschung bleiben, darunter auch Techniken, die eher aus Nachbardisziplinen
stammen (z. B. Focusgruppendiskussionen, teilnehmende Beobachtung). Berg-
Schlosser (2012) sieht die „Qualitative Comparative Analysis“ (QCA) nach Ragin
als besonders geeignete Methode f€ur die Comparative Area Studies an: Auf der
Basis Boolescher Algebra wird es mit dieser Methode möglich, Komplexität durch
Komparative Area-Forschung in der Vergleichenden Politikwissenschaft 99
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Teil III
Theorien und Konzepte
Systemwandel und -wechsel in der
Vergleichenden Politikwissenschaft
Wolfgang Merkel
Zusammenfassung
System, Staat, Regime und Regierung sind die wichtigsten Begriffe, mit denen in
der Politikwissenschaft politische Herrschaftsordnungen systematisch gefasst
werden. Sie beziehen sich auf bestimmte Ordnungen des Politischen, bezeichnen
aber deutlich unterschiedliche Teilmengen des Gesamten. Der abstrakteste der
genannten Ordnungsbegriffe ist zweifellos der des politischen Systems. Vor dem
besonderen theoretischen Hintergrund der Systemtheorie begreift er Regime,
Regierung und Teile des Staates auf einer hohen Abstraktionsebene mit ein.
Was ein politisches System ist, wie es sich von Staat und politischem System
unterscheidet, soll im ersten Teil dieser Abhandlung geklärt werden. Der zweite
Teil wird dem Wandel und Wechsel politischer Regime und Systeme ge-
widmet sein.
Schlüsselwörter
Regime • System • Transformation • Transformationstheorien
Ich habe an zahlreichen Stellen Abhandlungen zu politischen Systemen, ihre Stabilität, Legitimität
und möglichen Transformationsformen verfasst (u. a.: Merkel 2010, 2013, 2014, 2015; Merkel und
Thiery 2010; Merkel et al. 2015). Überschneidungen mit diesen Texten sind nicht zufällig, sondern
unvermeidbar.
W. Merkel (*)
Professor am Wissenschaftszentrum Berlin f€
ur Sozialforschung (WZB), Direktor der Abteilung
Demokratie und Demokratisierung, Leiter des Center for Global Constitutionalism, Berlin,
Deutschland
E-Mail: wolfgang.merkel@wzb.eu
1 Politische Regime
Regime bezeichnen die formelle und informelle Organisation des politischen Herr-
schaftszentrums einerseits und dessen jeweils besonders ausgeformte Beziehungen
zur Gesamtgesellschaft andererseits. Ein Regime definiert die Zugänge zur politi-
schen Herrschaft ebenso wie die Machtbeziehungen zwischen den Herrschaftseliten
und das Verhältnis der Herrschaftsträger zu den Herrschaftsunterworfenen. Beide
Machtbeziehungen die innerhalb der herrschenden Regimeeliten und jene
zwischen den Eliten des Regimes und der Bevölkerung m€ussen bis zu einem
gewissen Grade institutionalisiert sein. Sie m€ussen, wollen sie nicht allein auf
nackter Gewalt aufbauen, Legitimität besitzen und das Verhalten der Herrschafts-
träger und Herrschaftsadressaten normieren. Demokratien, autoritäre und totalitäre
politische Systeme lassen sich aufgrund ihres besonderen Regimecharakters, näm-
lich ihrer internen Herrschaftsorganisation voneinander unterscheiden (O’Donnell
et al. 1986, S. 73; Fishman 1990, S. 428). Ein Regimewechsel etwa von der
Diktatur zur Demokratie oder vice versa ist dann vollzogen, wenn sich Herr-
schaftszugang, Herrschaftsstruktur, Herrschaftsanspruch und Herrschaftsweise
grundlegend geändert haben. Allerdings ist es in der konkreten Regimeforschung
umstritten, wo genau die Grenzlinie zwischen unterschiedlichen Regimen verläuft.
Politische Regime begreifen keineswegs nur die Autokratien und Demokratien
mit ein. Zwischen beiden Prototypen erstreckt sich eine Grauzone von Regimen, die
meist hybride Regime genannt werden (Schmotz 2015). Sie wiederum können als
defekte Demokratien (Merkel 2004) stärker zu rechtsstaatlichen Demokratien oder
als electoral authoritarianism (Schedler 2006) eher zu autokratischen Regimen
tendieren. Die Trennlinie zwischen den einzelnen Typen und Subtypen ist keines-
wegs so scharf, wie dies Regimetypologien bisweilen suggerieren. Es ist stets ein
Element der artifiziellen Regimeabgrenzung involviert. Ist im Jahr 2015 die Ukraine
eine Demokratie oder ein hybrides Regime? Ist Putins Russland schlicht ein autori-
täres Regime, wie es Freedom House behauptet? Und wenn dies der Fall sein sollte,
was war Russland vor Putin unter Jelzin? Eine Demokratie, ein hybrides oder ein
halbanarchisches Regime auf dem Weg zum Staatszerfall? Um dem Problem pro-
blematischer dichotomer Grenzziehungen zwischen autokratischen und demokrati-
schen Regimen zu entgehen, lässt sich die Bandbreite politischer Regime auch
gradualistisch fassen. Dann werden konkrete politische Regime nicht einfach unter
einem Prototyp subsumiert, sondern auf einer skalierten Achse zwischen den be-
grenzenden Polen (Sartori 1995: „polare Typen“) eines perfekten totalitären Regi-
mes und einer idealen Demokratie platziert. Die jeweilige Punktzahl gibt dann den
jeweiligen Demokratiegehalt der politischen Systeme an, ohne sie notwendigerweise
in klare Regimetypen zu unterteilen. Letzteres lässt sich allerdings durchaus mit der
gradualistischen Methode kombinieren, wie dies etwa von Freedom House, Polity IV
oder dem Bertelsmann Transformation Index (BTI) vorgenommen wird.
Regime sind relativ dauerhafte Formen politischer Herrschaftsorganisation. Sie
sind beständiger, als es bestimmte Regierungen sein können, aber sie haben typi-
scherweise k€ urzeren Bestand als der Staat (Fishman 1990, S. 428). Vergleicht man
die durchschnittliche Bestandsdauer von Autokratien, Demokratien und hybriden
Systemwandel und -wechsel in der Vergleichenden Politikwissenschaft 105
2 Staat
Der Staat ist eine noch dauerhaftere Herrschaftsstruktur, die in ihrem Kern die
legitimen (Demokratie) oder illegitimen Zwangsmittel (Autokratie) einschließt, die
notwendig sind, um eine Gesellschaft zu regieren und die daf€ur notwendigen
Ressourcen aus dieser zu ziehen. „A state may remain in place even when regimes
come and go“ (Fishman 1990, S. 428). Regime verkörpern die Normen, Prinzipien
und Verfahrensweisen der politischen Organisation des Staates. Aber erst dessen
staatliches Herrschaftsmonopol und Herrschaftsinstrumentarium versetzen Regie-
rungen in die Lage zu regieren. Während sich im Verlauf einer politischen Trans-
formation die konstituierenden Normen und Prinzipien des Regimes ändern, bleiben
die formalen Strukturen des Staates häufig von vergleichbaren Veränderungspro-
zessen verschont. Wie beunruhigend es auch immer aus einer normativ-demo-
kratischen Perspektive sein mag, in ihrer Struktur kaum zu unterscheidende Staats-
apparate können einem demokratischen System genauso dienen, wie sie vorher
autoritären Regimen gedient haben. Das gilt nicht nur in Hinblick auf die staatliche
Organisationsstruktur, sondern bis in die staatlichen Funktionsträger hinein. Dies
belegen so unterschiedliche historische Transformationserfahrungen wie die
Regimewechsel in Deutschland nach 1918 (politische Eliten, Justiz, Verwaltung)
oder 1945 (Justiz, Verwaltung), in Italien (Justiz, Verwaltung) und Japan (Justiz,
Verwaltung) nach 1945, in Spanien nach 1975 (politische Eliten, Justiz, Verwaltung)
und in Osteuropa nach 1989 (politische Eliten, Verwaltung). Allerdings gilt diese
große Beständigkeit des Staates vor allem f€ur die Länder Westeuropas, Nord- und
S€udamerikas. Dem deutschen Staatsrechtstheoretiker Georg Jellinek (1976[1900])
zufolge kann erst dann von einem Staat gesprochen werden, wenn er diese „drei
Elemente“ einschließt: Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt. In einer zuneh-
menden Zahl von Ländern in Afrika und Asien sind zu Beginn des 21. Jahrhunderts
mindestens eines oder auch alle drei Elemente beschädigt oder nur in Restformen
vorhanden. Failing oder failed states sind zu einem großen Problem f€ur deren
Zivilbevölkerung, aber auch f€ur die internationale Staatenwelt geworden.
3 System
Abb. 1 Das Input-output-Modell des politischen Systems. Quelle: Merkel (2010, S. 56) nach:
Almond und Powell (1988)
1
Diktatur wird hier als Synonym von Autokratie verwandt, während autoritäre wie totalitäre
Regime als Subtypen von Autokratien verstanden werden.
108 W. Merkel
von G€ utern und Werten“, das heißt hoheitlich durchgesetzten politischen Entschei-
dungen wie Gesetzen, Erlassen und Verordnungen. Diese vielfältigen Entscheidun-
gen lassen sich mit Almond und Powell (1988, S. 121 ff.) zu den drei fundamentalen
(policy-)Funktionen extraction, regulation und distribution zusammenfassen. Extra-
ction bezieht sich auf die Fähigkeit des politischen Systems, die notwendigen
materiellen Ressourcen aus der Gesellschaft zu ziehen, die es zur Bewältigung seiner
Aufgaben benötigt. Sie erfolgt in erster Linie €uber die Erhebung von Steuern.
Regulation hingegen meint die Regelung des Verhaltens der B€urger in Hinblick
auf die Beziehungen untereinander und ihr Verhältnis zu den politischen Institutio-
nen. Distribution schließlich bezeichnet die Verteilung von materiellen G€utern,
Dienstleistungen, Status und Lebenschancen innerhalb einer Gesellschaft. Es ist
empirisch keineswegs entschieden, ob hier Diktaturen oder Demokratien leistungs-
fähiger sind. China und Singapur auf der einen und etwa Argentinien oder Griechen-
land auf der anderen Seite sind nur wenige Beispiele, bei denen Demokratien weit
schlechter abschneiden als autokratische Systeme. Insbesondere in den letzten drei
Jahrzehnten haben sich unter den Demokratien zwei typische Schwächen offenbart.
Unter den demokratischen Wettbewerbsbedingungen und den gewachsenen Staats-
aufgaben gelingt es den meisten Demokratien immer weniger, hinreichend und fair
Steuern aus der Gesellschaft zu ziehen. Gleichzeitig haben sie sich mit der Deregu-
lierung der Märkte selbst wichtiger Regulierungsmöglichkeiten beraubt, um das
zentrale demokratische Prinzip der politischen Gleichheit nicht nur de jure, sondern
auch de facto zu garantieren. Die Folgen sind f€ur die Demokratie problematisch. Sie
f€uhren zum Abbau sozialer Schutzgarantien, der mangelnden Produktion kollektiver
G€uter und wachsender Staatsverschuldung (Streeck 2013). Gleichzeitig vermögen
die demokratischen Regierungen kaum mehr, die wachsende sozioökonomische
Ungleichheit zu bremsen (Piketty 2014) und ihre Übersetzung in politische Un-
gleichheit zu verhindern (Merkel 2015).
Output (bindende Entscheidungen, häufig Gesetze) bzw. outcome (die materiellen
Politikergebnisse) und input sind durch einen R€uckkopplungsmechanismus mitein-
ander verbunden. Kommt es aufgrund von Funktionskrisen in der Wirtschaft oder im
politischen System zu einem f€ur weite Teile der Bevölkerung unbefriedigenden
output bzw. outcome, nimmt daher fr€uher oder später auch der notwendige input
an systemstabilisierender aktiver Unterst€utzung und passiver Loyalität ab. Dabei
muss nach Easton (1979, S. 267 ff.) stets zwischen diffuser und spezifischer Unter-
st€utzung unterschieden werden. Die „spezifische Unterst€utzung“ reagiert unmittel-
bar auf die von der Bevölkerung wahrgenommenen Leistungen des politischen
Systems und seiner Herrschaftsträger. Die „diffuse Unterst€utzung“ bezieht sich
stattdessen auf die Fundamente der politischen Ordnung und spiegelt ihre grund-
sätzliche Anerkennung und Legitimität in der Bevölkerung wider.
Schwächen der diffusen oder spezifischen Legitimitätsquelle können in der Regel
f€ur eine gewisse Zeit untereinander kompensiert werden. So kann eine verminderte
Leistungsperformanz des politischen Systems unter Umständen durch die grund-
sätzliche Akzeptanz seiner Normen, Strukturen und Verfahren seitens der B€urger
ausgeglichen werden. Umgekehrt kann aber auch ein Mangel an diffuser Unter-
st€utzung zeitweise durch eine gute Leistungsbilanz des politischen Systems
Systemwandel und -wechsel in der Vergleichenden Politikwissenschaft 109
Politische Systeme erweisen sich dann als beständig und stabil, wenn es ihnen
gelingt, den Herausforderungen ihrer vielfältigen Umwelten wie Wirtschaft, Gesell-
schaft, Natur, aber auch der internationalen Staatenwelt produktiv zu begegnen. Die
Stabilität politischer Systeme ist deshalb stets als eine dynamische Gestaltung dieser
Umwelten zu betrachten. Nicht die statische Bewahrung des Status quo, sondern
seine beständige Veränderung erlauben ein Äquilibrium politischer Systeme
(Sandschneider 1995). Dies ist dann als Systemwandel zu bezeichnen, wenn die
normativen Kernprinzipien gewahrt bleiben, während sich Organisationen,
110 W. Merkel
Als einflussreichster Strang der systemorientierten Ansätze hat sich in der Trans-
formationsforschung die Modernisierungstheorie erwiesen. Ihr Kernsatz lautet: Je
entwickelter Wirtschaft und Gesellschaft eines Landes sind, umso größer sind die
Chancen, dass sich eine dauerhafte Demokratie herausbildet (Lipset 1981). Dieser
enge Zusammenhang zwischen der sozioökonomischen Entwicklungsstufe und der
Demokratiefähigkeit einer Gesellschaft lässt sich anhand eindrucksvoller statisti-
scher Bestätigungen nicht mehr von der Hand weisen.2 Das heißt, je entwickelter ein
Land wirtschaftlich ist, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass dort eine
Diktatur existiert oder längerfristig Bestand haben kann. Umgekehrt bedeutet es: Je
reicher ein Land ist, umso wahrscheinlicher ist es, dass das politische System
demokratisch ist und als Demokratie Bestand haben wird (vgl. auch: Schmidt
2006, S. 441).
Hinter den Korrelationen verbirgt sich jedoch auch ein kausaler Zusammenhang,
der sich verk€
urzt folgendermaßen darstellen lässt: Wirtschaftliche Entwicklung f€uhrt
zu einem ansteigenden Bildungsniveau und zu einer demokratischeren politischen
Kultur. Die B€urger entwickeln tolerantere, gemäßigtere und rationalere Einstellun-
gen, Verhaltensweisen und Werte, die zu einer rationaleren und gemäßigteren Politik
der Regierenden gegen€uber oppositionellen Tendenzen f€uhren. Die durch den Bil-
dungsanstieg gewachsene Tendenz zur politischen Mäßigung wird durch den Wan-
del der Klassen- und Sozialstruktur verstärkt. Denn ein höheres Einkommen großer
Teile der Bevölkerung und die Ausdehnung wirtschaftlicher Existenzsicherung
schwächen den ökonomischen Verteilungskonflikt ab (Lipset 1981, S. 39–51).
2
Vgl. u. a.: Cutright (1963); Dahl (1971); Vanhanen (1984, 1989); Lipset et al. (1993); Boix und
Stokes (2003); Welzel 2013.
Systemwandel und -wechsel in der Vergleichenden Politikwissenschaft 111
4.2 Strukturtheorien
3
In Saudi Arabien ist es allerdings nicht nur der demokratiefeindliche Wahabismus eines traditio-
nellen Islams, der die Demokratie verhindert; auch die wirtschaftliche Monostruktur des Erdölexp-
orts ist der Demokratisierung nicht zuträglich (Smith 2004).
112 W. Merkel
4.3 Kulturtheorien
4.4 Akteurstheorien
4
Der Regimekollaps der Sowjetunion oder die Ereignisse des Arabischen „Fr€
uhlings“ zeigen, dass
der Sturz autokratischer Regime keineswegs zu Demokratien f€uhren muss, sondern nicht selten in
andere Formen diktatorischer Herrschaft f€
uhren kann.
Systemwandel und -wechsel in der Vergleichenden Politikwissenschaft 115
als Abfolge wechselnder strategischer Situationen gesehen. Jede von ihnen ist ge-
kennzeichnet durch die Konfiguration bestimmter politischer Kräfte mit unterschied-
lichen Interessen, die unter Bedingungen handeln, die wiederum Resultate vor-
hergehender Aktionen sind (ebd.). Veränderungen von einer Situation zur nächsten
sind das Ergebnis von Handlungen, an deren Ende Demokratie als kontingentes
Ergebnis stehen kann (Przeworski 1988, S. 60 f., 1992, S. 106), aber nicht stehen
muss.
Der Vorteil handlungstheoretischer Betrachtungen liegt zweifellos in ihrem
Potenzial, auch bei häufig wechselnden Akteurskonstellationen die Erfolgsmöglich-
keiten und Gefährdungen von Demokratisierungsverläufen modellieren zu können.
Mit spieltheoretischen Modellen können so die rationalen Kalk€ule, Koope-
rationen, Koalitionen, aber auch Konflikte der beteiligten Akteure bisweilen
einsichtiger herausgearbeitet und erklärt werden, als dies allein €uber eine „dichte
Beschreibung“ (Geertz) der historischen Ereignisse möglich wäre. Insofern
besitzen die dem „Rational-choice-Paradigma“ verpflichteten Akteurstheorien
nicht nur ein Erklärungs-, sondern auch ein Prognosepotenzial (vgl. Przeworski
1986; Colomer 1991).
Die vier Transformationstheorien haben ihre jeweiligen Stärken und Schwächen.
Erstere lassen sich ausbauen, wenn die Theorien synthetisch verkn€upft werden.
Indem Wirtschaft, Macht und Kultur als wichtige Opportunitätsstrukturen transfor-
matorischen Handelns begriffen werden, werden nicht nur Teilaspekte einer Sys-
temtransformation, sondern diese als Ganzes erklärbar.
Die Theorien wurden mit unterschiedlichem Erfolg auf die dritte Demokratisie-
rungswelle im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts angewendet. Die Akteurs- und
Handlungstheorien €uberwogen bei der Erklärung der erfolgreichen Transformations-
prozesse von kapitalistischen Diktaturen zu kapitalistischen Demokratien in S€ud-
europa (1970er-Jahre) und Lateinamerika (1980er-Jahre). Beim Übergang von
kommunistischen Autokratien zu kapitalistischen Demokratien kamen wieder ver-
stärkt systemtheoretische Erklärungen ins Spiel, die die Komplexität von ganzen
ökonomischen und politischen Systemen sowie ihre potenziell wechselseitig ob-
struktiven Interdependenzen in die Erklärung von Erfolg und Scheitern der ost-
europäischen Transformationen mit einbezogen. Nicht selten wurden sie dabei mit
Rational-choice-Ansätzen kombiniert (Offe 1994; Merkel 2007). Bei den nur mäßig
erfolgreichen Demokratisierungsprozessen im subsaharischen Afrika spielte die
mangelnde Staatlichkeit der Länder eine wichtige Erklärungsrolle. F€ur das weitge-
hende Scheitern des sogenannten Arabischen Fr€uhlings – ein Beispiel f€ur eine
misslungene Metapher – in Nordafrika und im Nahen Osten wurde das Paradigma
des curse of oil oder der radikalisierten Islamisierung der Länder verantwortlich
gemacht. Der Beitrag des Westens (USA, NATO, Frankreich und Großbritannien)
zur Verhinderung nachhaltiger Demokratisierung durch die Zerstörung der Staatlich-
keit in Afghanistan, Irak, Syrien und Libyen wird noch zu wenig in die Erklärungs-
muster mit einbezogen.
Nach dem Auslaufen der langen dritten Demokratisierungswelle Mitte der
1990er-Jahre lassen sich in der Regime- und Transformationsforschung mindestens
zwei neue Stränge erkennen:
116 W. Merkel
Diese zwei Forschungs- und Debattenstränge sollen hier in der gebotenen Knapp-
heit kurz skizziert werden.
Seit Barbara Geddes’ Studie von 1999 wird in der j€ungeren Autokratieforschung
angenommen, dass diktatorische Regime des R€uckhalts in wichtigen politischen und
gesellschaftlichen Gruppen, Institutionen und Aktueren bed€urfen. Ohne diese Insti-
tutionen werden sie weder effizient regieren noch sich dauerhaft an der Macht halten.
Die Einbindung solcher Unterst€utzungseliten birgt gleichermaßen Risiken und Vor-
teile. Zum einen werden potenzielle Opponenten in die Struktur des autokratischen
Regimes eingebunden, zum anderen bieten die Einbindungsmechanismen aber
tatsächlichen Regimegegnern Ressourcen und Plattformen, die sie gegen die dikta-
torische Herrschaft nutzen können.
Trotz dieses Dilemmas betonen Gandhi und Przeworski einseitig den Nutzen von
Institutionen f€ur das (politische) Überleben autokratischer Herrscher (Gandhi und
Przeworski 2006, S. 21). Insbesondere Parteien, Wahlen und Parlamente werden
daf€ur in der neueren Autoritarismus-Forschung genannt (Schedler 2006; Boix und
Svolik 2008). Diese Institutionen erhöhen in der Tat die Transparenz der Macht-
teilung und entschärfen dadurch das Risiko des offenen Ausstiegs relevanter autori-
tärer Faktionen aus der Regimekoalition (moral hazard). Sie stellen zudem Regeln
zur Verhinderung oder zur Beilegung von Disputen unter den autokratischen Eliten
bereit (Brownlee 2007; Magaloni 2008). Dar€uber hinaus binden sie relevante
Gruppen dauerhaft an das Regime, indem sie die Verteilung materieller und imma-
terieller Vorteile zwischen den Regiemunterst€utzern regeln (Greene 2007).
Formelle Institutionen in autokratischen Regimen dienen der Konfliktregulierung
innerhalb der autokratischen Herrschaftseliten sowie der Kooptation von Akteuren,
die €
uber strategisch wichtige Ressourcen verf€ugen. So lautet das Hauptargument der
Rational-choice-Forscher. Allerdings verengt sich die Analyse damit im Wesent-
lichen auf Eliten. Das ist der analytische Preis, den diese in der Autokratieforschung
populäre spieltheoretische Variante des Neoinstitutionalismus unweigerlich zu
zahlen hat.
Nicht zuletzt aufgrund der Dominanz des Rational-choice-Paradigmas wurde das
viel komplexere Wechselspiel zwischen Parteien, Parlamenten und Wahlen mit ihren
wechselseitigen Stärkungen und Schwächungen f€ur autokratische Regime bisher
noch nicht hinreichend untersucht. Insbesondere die ambivalente Wirkung semi-
kompetitiver Wahlen und der Zutritt oppositioneller Gruppen zum Parlament wird
von den elitenzentrierten Rational-choice-Ansätzen analytisch abgedunkelt
(Gerschewski et al. 2013). Es gibt sowohl theoretische (Ressourcentheorie der
Systemwandel und -wechsel in der Vergleichenden Politikwissenschaft 117
Wollte man alle drei Trends nun als Determinanten in die Zukunft hochrechnen,
m€usste man einen klaren Trend zu einer Konvergenz politischer Systeme prognos-
tizieren. Das wäre aber ein ähnlicher Fehler, wie er dem Geschichtsdeterminismus
Fukuyamas oder dem Ökonomismus der Modernisierungstheorie zugrunde liegt.
Tatsächlich werden diese gegenwärtig sichtbaren drei Tendenzen wiederum von
gegenläufigen Demokratisierungsforderungen herausgefordert werden. Dies gilt
nicht nur f€
ur die autoritären Regime, sondern zunehmend auch f€ur die Notwendig-
keit, die etablierten Demokratien weiter zu demokratisieren. Die normative Über-
legenheit der demokratischen Idee setzt sich keineswegs automatisch in der histori-
schen Realität durch. Der Wettlauf der politischen Systeme ist noch lange nicht zu
Ende (vgl. auch: Erdmann und Kneuer 2011).
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Regime in der Vergleichenden
Politikwissenschaft: Autokratie und
Demokratie
Hans-Joachim Lauth
Zusammenfassung
Nach der Präzisierung der zentralen Begriffe Herrschaftsform und Regime wer-
den mit autoritären, totalitären und demokratischen Regimen drei Grundformen
politischer Herrschaftsformen erläutert. Anhand der methodischen Unterschei-
dung von regulären und verminderten Subtypen werden zentrale Subtypen von
autokratischen und demokratischen Regimen vorgestellt. Abschließend werden
bedeutsame Messanlagen der Regimemessung skizziert und diskutiert.
Schlüsselwörter
Demokratie • Diktatur • Herrschaftsformen • Subtypen von autokratischen und
demokratischen Regimen • Regimemessung
Die Bestimmung von politischen Herrschaftsformen ist eine der ältesten Aufgaben
der Politikwissenschaft. Zahllose Studien und Untersuchungen beschäftigen sich bis
heute mit den Grundtypen von Diktatur und Demokratie und ihren Varianten. Aus
der Perspektive der politischen Philosophie ist diese Beschäftigung nicht €uber-
raschend, liegt ihr doch mit dem Topos der „Herrschaft“ eine zentrale Kategorie
des Politischen zugrunde. Neben der Aufgabe ihrer generellen Rechtfertigung stellt
sich die Frage nach der geeigneten und legitimen Form politischer Herrschaft.
1
Dieses Verständnis ist vom Regimebegriff in den Internationalen Beziehungen abzugrenzen, der
abstrakter gefasst ist und nicht €
uber den Herrschaftsbegriff definiert wird (vgl. die Definition bei
Krasner 1983). Nicht gefolgt wird O’Donnell (2004: 15), der eine engere Definition des Regime-
begriffes vorschlägt, der sich maßgeblich auf den Herrschaftszugang (Regierungsämter) bezieht.
Regime in der Vergleichenden Politikwissenschaft: Autokratie und Demokratie 125
2.1 Demokratie
Auch wenn Demokratie bereits in der Antike thematisiert wurde, hat sich ihre
Bedeutung erst mit der Neuzeit umfassend entfaltet. Dabei basieren die Vorstellun-
gen auf verschiedenen philosophischen Traditionen (Rousseau, Montesquieu, Lo-
cke, federalist papers), wobei im deutschsprachigen Kontext die Demokratiefrage
zunächst eher implizit in der Idee der Republik aufgegriffen (Kant und Hegel). Das
eigentliche Zeitalter der Demokratie begann jedoch erst im 20. Jahrhundert, wie die
Entwicklung des Wahlrechts dokumentiert, wobei das Frauenwahlrecht zunächst in
vielen Ländern deutlich nach dem Männerwahlrecht eingef€uhrt wurde. In diesem
Kontext der Demokratisierung stellte sich die Frage nach dem Verständnis von
Demokratie nun dringlicher, da verschiedene Vorstellungen von dem was Demokra-
tie ist oder sein sollte miteinander konkurrierten (zu den maßgeblichen Strömungen
vgl. Dahl 1989; Sartori 1992; Schmidt 2000 und Waschkuhn 1998).
Mit der materiellen und der prozeduralen Vorstellung der Demokratie lassen sich
zwei zentrale Leitideen unterscheiden. Während es in der ersten Version die Politi-
kinhalte (oder Politikergebnisse) sind, welche die Demokratie bestimmen (beispiels-
weise gerechte Verteilung), sind es in der zweiten Version die Verfahren, welche die
Beteiligung an der Herrschaft regeln. Diese zweite Version prozeduralistischer
Demokratietheorien hat sich als die weitaus wirkungsträchtigere gezeigt.2 Doch sie
ist selbst in unterschiedliche Lager ‚gespalten‘. Neben der Unterscheidung zwischen
direkter und repräsentativer Demokratie lassen sich noch andere Leitvorstellungen
von Demokratie nennen: Den Pfaden der direkten Demokratie folgt das Modell einer
Räterepublik, welche die Klassenherrschaft des Proletariats mit speziellen Verfahren
(u. a. imperatives Mandat und Ämterrotation, getreue Repräsentation der sozialen
Schichten, fehlende Gewaltenkontrolle) und revolutionärer Gesinnung verband.
Dagegen folgt der Konstitutionalismus der repräsentativen Fährte und der Begren-
zung der Macht. Loewenstein unterscheidet generell zwischen autokratischen und
konstitutionellen Regimen und stellt somit Demokratien vor allem unter den Vorbe-
halt der Gewaltenteilung und Kontrolle politischer Herrschaft. Das Konzept der
sozialen Demokratie kennt zwei Varianten. In der einen maßgeblichen Version gilt
es, neben dem politischen System gleichfalls alle gesellschaftlichen Subsysteme
(z. B. Schule und Universität, Kultur, Familie) und die Wirtschaft (Unternehmen
und Betriebe) demokratisch zu regeln. In der anderen Variante zeichnet sich die
soziale Demokratie dadurch aus, dass sie zur Erzeugung von sozialer Gerechtigkeit
maßgeblich beiträgt. In der Elitendemokratie wird die Demokratie auf die Funktion
2
Zur ersten Version lassen sich die Modelle einer sozialistischen oder kommunistischen Demokratie
(„Volksdemokratie“) rechnen. Ihren Anspruch als ‚eigentliche‘ Demokratien rechtfertigten sie vor
allem mit dem Hinweis, dass diese nun erstmals die ‚wahren‘ Bed€ urfnisse des Proletariats und
mithin des Volkes zum Ausdruck bringen w€ urden, die in den formalen demokratischen Fassaden
b€
urgerlicher Herrschaft stets verschleiert w€urden. Varianten solch einer Position finden sich in
verschiedenen Demokratiekonzepten in der ‚Dritten Welt‘.
Regime in der Vergleichenden Politikwissenschaft: Autokratie und Demokratie 127
3
Die acht Kriterien (Dahl 1971, S. 3) sind: „1. Freedom to form and join organizations, 2. Freedom
of expression, 3. Right to vote, 4. Eligibility for public office, 5. Right of political leaders to
compete for support and for votes, 6. Alternative sources of information, 7. Free and fair elections,
8. Institutions for making government policies depend on votes and other expressions of prefe-
rence“.
128 H.-J. Lauth
in dem er sechs Ebenen unterscheidet, die sich jeweils mit einer demokratischen
Ausprägung verbinden lassen: Legitimation der Herrschaft, Herrschaftszugang,
Herrschaftsmonopol, Struktur der Herrschaft, Herrschaftsanspruch und Herrschafts-
weise. Eine Adaption dieser sechs Ebenen findet sich im Konzept der Embedded
Democracy (Merkel et al. 2003; Merkel 2010, S. 30–37). Unterschieden werden
dabei f€
unf Teilregime: neben dem zentralen Wahlregime, das Regime der politischen
Teilhaberechte, der effektiven Regierungsgewalt, der horizontalen Gewaltenkontrol-
le und der b€urgerlichen Freiheitsrechte. Einen anderen Weg verfolgen Diamond/
Morlino (2005), die die Qualität der Demokratie anhand der Ausprägung grundleg-
ender Dimension unterscheiden. Sie gehen dabei deutlich €uber die bereits genannten
Vorschläge hinaus.
2.2 Autokratie
Bei der Bestimmung autokratischer Herrschaft (oder von Diktaturen4) ist die Unter-
scheidung zwischen autoritären und totalitären Regimen sinnvoll und notwendig
(Loewenstein 1957; Linz 1975; Lauth 1995), da beide unterschiedliche Leitideen
besitzen, die es nicht erlauben, einen von beiden ‚lediglich‘ nur als Subtypus des
anderen zu begreifen. Beide lassen sich jedoch unter dem Begriff ‚autokratische
Regime‘ (Merkel 1999) subsumieren und von der Demokratie abgrenzen. Was
unterscheidet nun totalitäre von autoritärer Herrschaft?
Zum Totalitarismus gibt es eine F€ulle unterschiedlicher Diskussionsbeiträge.5
Die Anfänge des Begriffes reichen in die 1920er-Jahre des letzten Jahrhunderts
zur€uck. Während er auf der politischen B€uhne zur Eigenbezeichnung des erhobenen
Anspruchs f€ ur eine umfassende Herrschaft gebraucht wurde (Mussolini), diente es in
der wissenschaftlichen Debatte zur Kennzeichnung des neuen Charakters diktatori-
scher Herrschaft. Auch wenn es im Kern kaum Dissens gab, so wurden doch unter-
schiedliche Aspekte totalitärer Herrschaft akzentuiert. Während Hannah Arendt
(1955) die besondere Rolle des Terrors herausgehoben hat, betonen andere Autoren
(Friedrich und Brzezinski 1968) den technischen Charakter totalitärer Herrschaft, die
diese als Phänomen der Neuzeit erscheinen lassen.6 Allen Überlegungen gemeinsam
ist die zentrale Bedeutung der Ideologie. Diese markiert nicht nur die politischen
Überzeugungen und Leitideen, sondern erhebt den Anspruch auf Wahrheit, der
4
Während Diktatur oftmals als genereller Gegenpol zur Demokratie verwendet wird, arbeitet Linz
(2000: 16 ff.) mit einer spezifischen Fassung des Diktaturbegriffes, der lediglich auf Krisen-
Regierung und k€urzere Phasen begrenzt ist, in denen eine Beschneidung von B€ urgerrechten
aufgrund eines Notstandes erfolgt.
5
Richtungweisend sind die Studien von Arendt (1955), Friedrich und Brzezinski (1968). Einen
repräsentativen Überblick liefern die Sammelbände von Backes und Jesse (1984) und Jesse (1999).
6
Die sechs Kriterien von Friedrich und Brzezinski (1968) lauten: umfassende Ideologie, Massen-
partei verbunden mit F€uhrerprinzip, Kontrolle der Gesellschaft (Geheimpolizei), Nachrichtenmo-
nopol und Kontrolle der Massenkommunikation, Kampfwaffenmonopol, Kontrolle und Lenkung
der Wirtschaft und wichtiger gesellschaftlicher Gruppen.
Regime in der Vergleichenden Politikwissenschaft: Autokratie und Demokratie 129
7
Vgl. Linz (2000, S. 81–94). In den 1970er-Jahren gab es eine größere Debatte des Totalitarismus-
konzepts, in der von linker Seite der Vorwurf erhoben wurde, jenes Konzept diene lediglich zur
Diffamierung der sozialistischen Staaten und werde im Rahmen des Kalten Krieges entsprechend
instrumentalisiert. Zugleich wurde versucht, das Konzept gleichfalls auf kapitalistische Staaten
anzuwenden, denen nun ihrerseits ein totalitärer Charakter zugesprochen wurde (Marcuse). Beide
Anliegen sind letztlich in der weiteren Totalitarismusdebatte von einigen Ausnahmen abgesehen
folgenlos geblieben.
130 H.-J. Lauth
nach 1945 die Gruppe autoritärer Regime signifikant zugenommen hatte. Es war nun
nicht sehr befriedigend, all diese Länder – bei deutlich erkennbaren Unterschieden in
ihrer Herrschaftsform – dem gleichen Regimetypus zuzuordnen (vgl. Argentinien,
Mexiko, Kuba, S€ udafrika, Ägypten, Malawi, Syrien, Saudi-Arabien, Iran, Pakistan,
Taiwan, Indonesien u. a.).
Eine der wirkungsträchtigsten Definitionen des Autoritarismus, genauer autoritä-
rer Regime, stammt von Juan Linz. F€ur ihn bilden diese eine eigenständige Herr-
schaftsform, die zwischen totalitären und demokratischen Regimen angesiedelt ist.
Zur Unterscheidung wählt er drei Kategorien, die er mit regimespezifischen Aus-
prägungen verbindet: den Grad des politischen Pluralismus, den Grad der staatlich
gelenkten politischen Mobilisierung und den Charakter der Legitimation. Autoritäre
Regime sind demnach politische Systeme, „die einen begrenzten, nicht verantwort-
lichen politischen Pluralismus haben; die keine ausgearbeitete und leitende Ideolo-
gie, daf€ur aber ausgeprägte Mentalitäten besitzen und in denen keine extensive oder
intensive politische Mobilisierung, von einigen Momenten in ihrer Entwicklung
abgesehen, stattfindet und in denen ein F€uhrer oder manchmal eine kleine Gruppe
die Macht innerhalb formal kaum definierter, aber tatsächlich recht vorhersagbarer
Grenzen aus€ ubt“ (Linz 2000, S. 129).
Linz verwendet andere Kriterien zur Regimeklassifikation als die oben genannten
Vorschläge zur Demokratie, wobei zwei davon – der Grad des politischen Pluralis-
mus und der Legitimationsbezug – bereits, wenngleich in etwas anderer Formulie-
rung, auch bei der Demokratiediskussion aufgegriffen wurde. Neu ist der Aspekt der
Mobilisierung. Es erscheint jedoch durchaus fraglich, ob diese Kategorie erstens so
zentral f€ur das Regimeverständnis ist und zweitens, ob es gen€ugend Trennschärfe
aufweist. So erschließt sich nach der obigen idealtypischen Darlegung des Totali-
tarismus nur bedingt die Notwendigkeit einer ständigen Mobilisierung der Massen
(nicht zu verwechseln mit einer andauernden Lenkung). Außerdem finden sich bei
Linz Subtypen autoritärer Herrschaft mit diesem Merkmal (s.u.).
Ein anderer Vorschlag stammt von Albrecht und Frankenberger (2010a, S. 7), die
drei Merkmale benennen: „(1) die Konzentration von politischer Herrschaft,
(2) exklusive Partizipationsmechanismen und (3) schließlich die Dominanz infor-
meller Mechanismen der Herrschaftsaus€ubung €uber formale Institutionen und Pro-
zesse“. Mit den beiden ersten Kriterien thematisieren sie die begrenzte Kontrolle der
politischen Macht und eingeschränkten Freiheits- und Gleichheitsrechte. Weniger
€uberzeugend ist das dritte Merkmal, da es entscheidend von der Ausprägung bzw.
Typus der informellen Mechanismen und Regeln abhängt (Köllner 2013). Sind sie
mit autoritärer Herrschaftsaus€ubung nicht kompatibel, können sie kein Merkmal
davon sein (zur aktuelle Diskussion von Autokratien vgl. die Beiträge in Kailitz und
Köllner 2013 sowie Albrecht und Frankenberger 2010b; Köllner 2008).
Anhand eines R€uckgriffs auf abstrakte Dimensionen lassen sich drei Dimensio-
nen identifizieren, die f€
ur alle drei Regimetypen grundlegend sind: politische Frei-
heit, politische Gleichheit und politische und rechtliche Kontrolle. Totalitäre Regime
sind dadurch gekennzeichnet, dass sie politische Freiheiten umfassend verweigern,
keine politische Gleichheit kennen, da sie die Macht bei wenigen b€undeln und
die €uberwiegende Anzahl der B€urger total machtlos ist, und somit auch keine
Regime in der Vergleichenden Politikwissenschaft: Autokratie und Demokratie 131
Kontrolle der Herrschaft gegeben ist. Während in autoritären Regimen die drei
Dimensionen in unterschiedlicher Form bereits partiell gegeben sind, weisen Demo-
kratien alle in vollem Umfang auf. Typologisch lassen sich alle drei Regime klar
trennen, allerdings kann es dennoch Schwierigkeiten bei der Klassifikation von
politischen Systemen geben, da die empirischen Befunde auf dem Kontinuum
zwischen beiden Polen – Totalitarismus und Demokratie – liegen und sich somit
auch im Grenzbereich zwischen zwei Regimen befinden können.
8
Zu den modernen Formen zählt er b€ urokratisch-autoritäre Regime, organische Staaten oder
autoritären Korporatismus, mobilisierende autoritäre Regime in postdemokratischen Gesellschaf-
ten, postkoloniale autoritäre Mobilisierungsregime, Rassen- oder ethnische ‚Demokratien‘, unvoll-
kommene totalitäre und prätotalitäre Diktaturen, posttotalitäre Regime. Des Weiteren unterscheidet
Linz noch Formen traditioneller autoritärer Herrschaft, wobei er „sultanistische Regime“ und
„Caudillismo“ und „Caciquismo“ hervorhebt. Ein Überblick € uber die Entstehung systematischer
Regimetypologien findet sich bei Linz (2000, S. 8 f.).
132 H.-J. Lauth
dings mit Skepsis zu betrachten. Weder beruhen die einzelnen Subtypen jeweils auf
den gleichen Kategorien, noch ist es besonders sinnvoll, f€ur die Bestimmung der
Regimecharakteristika das vorangegangene oder das folgende Regime einzubezie-
hen, wie zum Teil praktiziert.9
Weiterf€uhrende Vorschläge stammen von Dieter Nohlen und Wolfgang Merkel.
Nohlen (1987) unterscheidet anhand folgender Kriterien „soziale und politische
Basis, Legitimationsmuster und Ideologie, interne Struktur des Herrschaftsappara-
tes, Beziehungsmuster Machthaber-Machtunterworfene, historischer Kontext sowie
Politikorientierung“ verschiedene Typen autoritärer Herrschaft. Bei Merkel (2010)
basiert die Subtypenbildung maßgeblich auf dem Primärkriterium der Form der
Herrschaftslegitimation, das er mit dem supplementären Kriterium der Herrschafts-
inhaber (F€ uhrer, Partei, Militär, Klerus, Monarch) koppelt. Auf diese Weise unter-
scheidet er neun Typen autoritärer Herrschaft: kommunistisch-autoritäre Regime,
faschistisch-autoritäre Regime, Militärregime, korporatistisch-autoritäre Regime,
rassistisch-autoritäre Regime, autoritäre Modernisierungsregime, theokratisch-auto-
ritäre Regime, dynastisch-autoritäre Regime und sultanistisch-autoritäre Regime.
Barbara Geddes (1999) unterscheidet wiederum nur drei Formen autoritärer
Herrschaft (militärische Herrschaft, Einparteienherrschaft und Personendiktatur),
die unterschiedlich kombiniert sein können. Im Anschluss unterscheiden Hadenius
und Teorell (2007) zwischen Monarchien, Militärregimen und Parteiregimen. Kailitz
(2013) kombiniert beide und f€ugt den Subtypus kommunistische Autokratie hinzu.
Wirkungsträchtig hat sich gleichfalls die Konzeption eines „electoral authoritaria-
nism“ gezeigt, die Legitimations- und Manipulationsstrategien autoritärer Machtha-
ber analysiert (Schedler 2006). Zwei andere Konzepte („patrimonial rule“ and
„rentier states“) können gleichfalls als grundlegende Formen autoritärer Herrschaft
verstanden werden. Beide könnten allerdings (in einer schwächeren Ausprägung)
auch als defizitäre Demokratie verstanden werden. Generell kennzeichnen sie Kli-
entelismus, Cliquenwirtschaft und Missbrauch von Ressourcen. Die Variante „neo-
patrimonial rule“ greift zudem das Merkmal einer rationalen B€urokratie auf, deren
Prägekraft jedoch stets von personeller Entscheidungslogik relativiert wird (Erd-
mann und Engel 2007). Wie die Beispiele zeigen, können Regimetypologien induk-
tiv und deduktiv gewonnen werden. Prinzipiell ließen sich autoritäre Subtypen auch
als diminished subtypes konzeptualisieren, doch wurde diese Möglichkeit bislang
(kaum) aufgegriffen.
Im Unterschied zu autoritären Regimen liegen zu totalitären Regimen keine
umfassenden Subtypologien vor. Solch ein ambitionierter Versuch scheint weder
aus empirischer noch theoretischer Hinsicht besonders sinnvoll, da die Anzahl realer
totalitäre Regime begrenzt ist, und es nicht plausibel ist, f€ur jeden Fall einen eigenen
Subtypus zu entwerfen. Eine nennenswerte Unterscheidung spiegelt sich in der
9
Es ist auch darauf hinzuweisen, dass Linz in der Behandlung der autoritären Subtypen nicht nur
deren Merkmale, sondern auch ihren Ursprung, soziale Verankerung, Stabilität und Spannungen
sowie Wandlungsperspektiven betrachtet und mithin die typologische Arbeit bereits in eine theo-
retische €uberf€uhrt.
Regime in der Vergleichenden Politikwissenschaft: Autokratie und Demokratie 133
10
Die Anzahl der untersuchten Merkmale bleibt somit gleich. Schließt beispielsweise das root
concept Demokratie „freie und faire“ Wahlen ein, kennt der eingeschränkte Subtyp nur beschränkt
„freie und faire“ Wahlen – beispielsweise durch Begrenzung der Wahlberechtigten (wie die
Schweiz bis zur Einf€
uhrung des Frauenwahlrechts 1971).
134 H.-J. Lauth
Demokratie Autokratie
Wie bereits angesprochen, arbeiten fast alle Typologien mit der Unterstellung
eines funktionsfähigen Staates. Doch kann diese Annahme nicht problemlos
€
ubernommen werden, wie die Forschung zur fragilen Staatlichkeit umfassend
dokumentiert.11 Die dort angef€uhrten Tendenzen haben gravierende Auswirkungen
f€ur die Funktionsweise der Regime. So konstatiert Linz (2000, S. XLIV): „Wir
haben es hier nicht mit Staaten oder politischen Regimen zu tun, sondern mit etwas
Neuem, das sicherlich wenig in die Typen von Herrschaft passt, die in diesem Band
diskutiert werden.“ F€ur die klassifikatorische Arbeit bedeutet dieser Befund, dass
zunächst einmal zu pr€ufen ist, inwieweit ein Staat vorliegt. Erst wenn die Staatlich-
keit gegeben werden kann, können die genannten Typologien verwendet werden.
Wenn die Staatlichkeit jedoch nur partiell oder zumindest rudimentär vorhanden ist,
ist im Prinzip zwar eine Klassifikation möglich, allerdings stets im Bewusstsein, dass
eine defizitäre Ausprägung des Regimetypus vorliegt. Mit defizitären (totalitären,
autoritären und demokratischen) Regimen sind höchst unterschiedliche Effekte
verbunden. Während ein ‚defizitäres‘ totalitäres Regime nun nicht mehr so umfas-
send wie es ‚anstrebt‘, die Menschenrechte verletzten kann, kann ein defizitäres
demokratisches Regime die Menschenrechte nicht mehr in dem anvisierten Maße
gewährleisten. Da Regimedefekte aber auch andere Ursachen als unzureichende
Staatlichkeit haben können, wäre zu pr€ufen, ob hier nicht eine spezifische Begriff-
11
€ber vor-
Die Grenzen der Staatlichkeit werden auch empirisch bestimmt. Eine gute Übersicht u
liegende Messanlagen bieten: Fabra Mata, Javier und Ziaja, Sebastian (DIE/UNDP), 2009, Users‘
Guide on Measuring Fragility, Bonn/Oslo.
Regime in der Vergleichenden Politikwissenschaft: Autokratie und Demokratie 135
12
Eine Ausnahme bildet der Vorschlag von Sartori (1989), der anhand von 17 Kriterien die Messung
der Intensität totalitärer Herrschaft ermöglicht. Messungen im Bereich autoritärer Regime betreffen
nicht die Qualität der Herrschaft, sondern die Klassifikation der Befunde (Kailitz 2013).
136 H.-J. Lauth
5 Fazit
Die Entwicklung und Diskussion von Regimetypen und -typologien ist ein not-
wendiger Baustein f€ur den empirischen Vergleich. Dies gilt auch f€ur den Bereich der
Operationalisierung von Regimen (vgl. Demokratiemessung). Die typologische
Arbeit schließt noch keine Theoriebildung im kausalen Verständnis ein. Die Erstel-
lung von Idealtypen und Modellen ist eine notwendige Vorstufe f€ur die Entwicklung
und empirische Überpr€ufung von Hypothesen, die sich zu komplexeren Theorien
verbinden lassen. Oftmals ist es gerade die Vermischung beider Aufgaben, die zu
Missverständnissen f€uhrt.
Auch wenn in diesem Beitrag drei Grundtypen und verschiedene Subtypen von
Regimen dargestellt wurde, ist damit nur begrenzt ein Grundkonsensus skizziert. Die
laufenden Diskussionen beziehen sich sowohl auf die Grundtypen – wie die breite
Debatte €uber die Postdemokratie (Crouch 2008; Streeck 2013) zeigt oder die an
Dynamik gewinnende Autoritarismusdebatte (Kailitz und Köllner 2013) – als auch
auf die Subtypen, die bei autoritären und demokratischen Subtypen immer noch
konzeptionelle Klärungen erfordern, die in ihrer Konzeptualisierung einen klaren
Bezug zu den Grundtypen zu beachten haben – sei es in der Version regulärer oder
verminderter Subtypen. Gleichfalls ein offenes Forschungsfeld bleibt die Regime-
messung, auch wenn konzeptionell und in der Datenerhebung in den letzten Jahren
vieles geleistet wurde; auch hier sind die etablierten methodischen Erfordernisse der
13
http://www.nccr-democracy.uzh.ch/research/module5/barometer/democracy-barometer-for-
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Regime in der Vergleichenden Politikwissenschaft: Autokratie und Demokratie 137
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Regierungssysteme in der Vergleichenden
Politikwissenschaft: Konzepte und Modelle
Ludger Helms
Zusammenfassung
Im Zentrum der konzeptuell orientierten Forschung zu Regierungssystemen im
Rahmen der Vergleichenden Politikwissenschaft steht die Diskussion €uber unter-
schiedliche Regierungsformen. Der internationale Entwicklungstrend in diesem
Bereich ist durch eine wachsende Ausdifferenzierung gekennzeichnet. Längst
wird nicht mehr nur zwischen parlamentarischen und präsidentiellen Systemen
unterschieden, sondern der Semi-Präsidentialismus als dritter Typus mit mehre-
ren Ausformungen €uberwiegend anerkannt. Hinzu kommen Versuche, den unter-
schiedlichen Ausformungen vertikaler Gewaltenteilung politischer Systeme
konzeptuell Rechnung zu tragen. Die spezifischen institutionellen Muster hori-
zontaler und vertikaler Gewaltenteilung können in weiter dimensionierte Kon-
zepte demokratischer Regierungssysteme und Demokratietypen integriert wer-
den. Das außerordentlich einflussreiche Vetospieler-Theorem zielt streng
genommen auf eine Überwindung der maßgeblichen Klassifikationen der klassi-
schen Regierungs(formen)lehre, hat im Zuge eines Rezeptionsstranges, der auf
die konstitutionellen Vetospieler konzentriert ist, jedoch gleichwohl konstrukti-
ves Potential auch innerhalb der vergleichenden Regierungssystemforschung
entfaltet. Zu den j€ungeren Entwicklungstrends der Teildisziplin gehört insbeson-
dere die fortschreitende Expansion in den transnationalen Bereich.
Schlüsselwörter
Institutionen • Gewaltenteilung • Parlamentarismus • Präsidentialismus • Semi-
Präsidentialismus • Vetospieler
L. Helms (*)
Professor f€ur Vergleich politischer Systeme, Institut f€
ur Politikwissenschaft,
Universität Innsbruck, Innsbruck, Österreich
E-Mail: ludger.helms@uibk.ac.at
1 Einleitung
liegt, kann sie allerdings kaum als ein gezielter Beitrag zur Konzeptbildung im
engeren Sinne betrachtet werden.
einheitsstaatlicher und föderativer Systeme droht, aus dem Blick zu geraten. Inner-
halb der konzeptuellen Debatte €uber föderative Systeme wird in der j€ungeren
Literatur außerdem die klassische Unterscheidung zwischen dualen und kooperati-
ven Bundesstaaten mittlerweile von einigen Autoren abgelehnt, zugunsten kom-
plexerer Analysedimensionen wie insbesondere der Ausgestaltung der Kompetenz-,
Ressourcen und Entscheidungsverflechtung von Systemen (vgl. Benz und Lehm-
bruch 2002), ohne dass dieser Zugang bereits zur Entstehung neuer akzeptierter
Referenzkonzepte territorial gewaltenteilender Regierungssysteme gef€uhrt hätte.
Die verstreuten Hinweise aus der empirischen Forschung, dass die Erklärungskraft
der Regierungsform im engeren Sinne f€ur die Struktur des politischen Prozesses und
dessen Ergebnisse in einem System unter bestimmten Bedingungen begrenzt sein
kann, werden in dem außerordentlich einflussreichen Vetospieler-Ansatz von
George Tsebelis (1995, 2002) zu einer grundlegenden Gegenthese verdichtet und
zu einem neuen Theorem weiterentwickelt. Die Vorstellung eines stabilen System-
charakters von demokratischen Gemeinwesen wird dabei zugunsten des Denkens in
dynamischen Konfigurationen von institutionellen und parteipolitischen Vetospie-
lern aufgegeben. Über die Veränderung des „policy status quo“ – dies ist bei Tsebelis
die zentrale abhängige Variable – hängt nach diesem Modell ab (1) von der Anzahl
der Vetospieler, (2) der Konfiguration der Vetospieler-Landschaft und schließlich
(3) der inneren Kohäsion der Vetospieler. Das Denken in den Kategorien von Macht
und Vetomacht ist innerhalb der Systemlehre freilich alles andere als neu, das
spezifische Ensemble speziellerer Propositionen des Theorems hingegen schon.
Besondere Bedeutung kommt der Annahme zu, dass parteipolitische Vetospieler
(etwa innerhalb einer Koalitionsregierung) zu einem faktischen Äquivalent institu-
tioneller Vetoakteure werden können. Dies ist nicht allein dem Anspruch geschuldet,
150 L. Helms
Neben den bereits genannten Konzepten hat im deutschsprachigen Raum jenes der
„eingebetteten Demokratie“ von Wolfgang Merkel und anderen einen beträchtlichen
Einfluss entfaltet. Im Zentrum dieses Konzepts steht das Wahlregime, welches
jedoch von mehreren weiteren Teilregimen umrahmt wird, durch die das demo-
kratische Prinzip gleichsam unter den Schutz des Rechtsstaates gestellt wird. Wie
Immanuel Wallerstein feststellt, können Konzepte nur im Kontext ihrer Zeit ver-
standen werden (Wallerstein 2004, S. 1). Das Konzept der „eingebetteten Demokra-
tie“ entstand in Auseinandersetzung mit der in der Demokratisierungsforschung der
neunziger Jahre vorherrschenden Neigung, das Prädikat „Demokratie“ im Sinne
einer „elektoralen Demokratie“ primär oder gar ausschließlich am Kriterium freier
Wahlen festzumachen. Wer dagegen von den historischen Prozessen der „ersten
Welle der Demokratisierung“ aus denkt, welche durch einen zeitlichen Vorsprung
des Rechtsstaates gegen€uber der Demokratie gekennzeichnet war (Finer 1997), wird
in der rechtsstaatlichen Einbettung des Demokratiekonzepts bei Merkel et al. kaum
ein bahnbrechend innovatives Element zu erkennen vermögen. Die eigentliche
Bedeutung des Konzepts der „eingebetteten Demokratie“ f€ur die Vergleichende
Politikwissenschaft liegt denn auch eher darin, dass auf seiner Basis unterschiedliche
Typen von „defekten Demokratien“ unterschieden werden können, denen jeweils
Regierungssysteme in der Vergleichenden Politikwissenschaft: Konzepte und. . . 151
Wie andere Kernbereiche ist auch das Studium von Regierungssystemen innerhalb
der Vergleichenden Politikwissenschaft durch eine anhaltende Tendenz zur theo-
retisch-konzeptuellen Ausdifferenzierung gekennzeichnet. Dieser Trend ist mit den
beschriebenen Entwicklungen nicht an sein Ende gelangt. Mindestens im Rahmen
einer kurzen Schlussbemerkung sei auf die Ausdehnung der Regierungsformenlehre
in den Bereich transnational strukturierter Gemeinwesen hingewiesen. Diese zeigt
sich vor allem innerhalb der Europaforschung, in der seit den neunziger Jahren
Vorstellungen von der Europäischen Union als eines politischen Systems bzw.
Regierungssystems endg€ultig heimisch geworden sind (vgl. etwa Hix 1999; Hix
und Høyland 2009; Wessels 2008; Hartmann 2009). Längst wird auch nicht mehr
nur auf die prinzipielle Vergleichbarkeit der EU mit anderen Systemen hingewiesen,
sondern der Vergleich auf konzeptuell anspruchsvollem Niveau tatsächlich realisiert
(vgl. etwa Fabbrini 2007). Während es sich dabei bis vor kurzem noch um bemer-
kenswerte Einzelleistungen handelte, hat diese spezifische Ausdehnung der Ver-
gleichenden Politikwissenschaft in den Bereich des Internationalen und Transna-
tionalen hinein mittlerweile Niederschlag auch auf der Ebene entsprechend
ausgerichteter Fachzeitschriften gefunden (vgl. etwa Comparative European Poli-
tics). Aus einer breiteren Perspektive werden die auf Europa bzw. die Europäische
Union bezogenen Entwicklungen als wichtiger Strang innerhalb einer größeren
paradigmatischen Öffnung der Komparatistik hin zum Transnationalen erkennbar.
So findet auch die Beschäftigung mit Fragen eines möglichen Weltsystems (vgl.
152 L. Helms
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154 L. Helms
Nicolai Dose
Zusammenfassung
Je nach theoretischem Kontext bezeichnet Governance Unterschiedliches. In dem
vorliegenden Beitrag werden diejenigen Konzeptionalisierungen von Gover-
nance diskutiert, die gut f€ur einen Vergleich fruchtbar gemacht werden können.
Dabei wird besonderes Augenmerk auf die Governance-Analyse gelegt, mit der
die Blockadeanfälligkeit von realen Struktur-Prozess-Konfigurationen untersucht
werden kann.
Schlüsselwörter
Governance • Institutionen • Netzwerkartige Steuerung • Blockadeanfälligkeit •
Governance-Analyse
Governance hat – gemessen an dem Umfang der Verwendung des Begriffes und der
Zahl der Publikationen zum Thema – Konjunktur (Benz und Dose 2010b; Schuppert
2011; Schuppert und Z€urn 2008). War noch vor zehn Jahren beispielsweise von
Wasserwirtschaft die Rede, spricht man heute von Water Governance (United Na-
tions Development Programme o.J.). Die ubiquitäre Verwendung des Governance-
Begriffes mag damit zusammenhängen, dass er – wie Pierre und Peters (2000, S. 7)
es auf den Punkt bringen – „notoriously slippery“ sei (siehe auch Schuppert 2008).
Die Offenheit des Begriffes erlaubt ganz unterschiedliche inhaltliche Auff€ullungen,
je nach Interesse und Bedarf. Die Breite und Offenheit des Begriffes zeigt sich auch,
wenn man eine Übersetzungsmaschine zu Rate zieht: Der Begriff „governance“ wird
N. Dose (*)
Professor f€ur Politikwissenschaft und Verwaltungswissenschaft, Geschäftsf€ uhrender Direktor des
Instituts f€ur Politikwissenschaft, Universität Duisburg-Essen, Duisburg, Deutschland
E-Mail: nicolai.dose@uni-due.de
vom Englischen ins Deutsche mit „die Herrschaft, das Regieren, die Regierung, die
Regierungsf€ uhrung, die Regierungsgewalt, die Staatsf€uhrung und die Steuerung“
€ubersetzt (www.leo.org, abgerufen am 01.12.2014). Tatsächlich weist der Gover-
nance-Begriff eine erstaunliche Breite auf. Dies ist mitunter Anlass zur Kritik (Offe
2008, S. 67). Wenn man „Governance“ sage, sei damit nicht viel an Information
transportiert. Hier ließe sich entgegnen, dass dem jeweiligen Argumentationszusam-
menhang zu entnehmen sei, von welchem Governance-Begriff die Rede ist. Dies ist
etwa beim Systembegriff oder dem Demokratiebegriff nicht anders. Wovor man sich
allerdings h€uten sollte, ist die umstandslose Vermischung von Forschungsergebnis-
sen, die auf der Basis der zum Teil recht unterschiedlichen Governance-Begriffe und
zugrunde liegenden Forschungsfragen entstanden sind (Dose 2008b, S. 112; Offe
2008, S. 62). Diese Erkenntnis gilt es im Folgenden zu beachten, woraus sich ergibt,
die verschiedenen Vorstellungen von Governance getrennt voneinander zu behan-
deln.
Obwohl komparative Analysekonzepte wie das most similiar und most different
systems design auf mehr als einen Fall verweisen, werden auch theoriegeleitete
Einzelfallstudien mit guten Gr€unden regelmäßig zum Bestand der vergleichenden
Politikwissenschaft gezählt (siehe Aarebrot und Bakka 2003, S. 62–63; Hague und
Harrop 2007, S. 89–92; Lauth et al. 2009, S. 59, 62–68). Dennoch wird in der
nachfolgenden Diskussion der verschiedenen Governancekonzepte versucht, auf
einen vergleichenden Ansatz zu rekurrieren, der €uber die tiefgehende Analyse eines
Einzelfalls hinausgeht – entweder im Längsschnitt oder im Querschnitt. Dabei wird
aber auch deutlich werden – insbesondere wenn ich lediglich das Potenzial f€ur einen
systematischen Vergleich aufzuzeigen in der Lage bin –, dass intensive Einzelfall-
studien durchaus am Anfang einer Mehrfälleanalyse stehen können.
In einer Studie von Hollingsworth und Lindberg (1985) steht das Verhältnis von
Firmen zu ihrer Umwelt im Vordergrund: Sie definieren unter Bezug auf Lawrence
und Dyer (1983): „The objectives of economic governance are efficiently and
adaptively to co-ordinate the activities of firms and their ‚relevant environments‘,
that is, customers, suppliers, competitors, labour, technology generators, govern-
ment agencies etc.“ (Hollingsworth und Lindberg 1985, S. 221). Hiermit entfernen
sie sich ein St€
uck weit von der urspr€unglichen Vorstellung von Coase und William-
son, der zufolge es ja vor allem um die Frage ‚Make or buy?‘, also um das Verhältnis
zu Geschäftspartnern auch im Sinne von Zulieferern geht. Hollingsworth und Lind-
berg weiten also mit ihrer Definition den Bereich der relevanten Akteure deutlich
aus. Sie rekurrieren dabei auf vier Governance-Mechanismen: Sie nennen neben
Markt und Hierarchie (mit den Submechanismen „state“ und „modern corporation“)
auch Clans und Verbandsbeziehungen. Unabhängig von der exakten Spezifizierung
dieser Mechanismen der „economic governance“ (Hollingsworth und Lindberg
1985, S. 221) geht es ihnen um die Darlegung der spezifischen Bedeutung dieser
Mechanismen in unterschiedlichen Sektoren der amerikanischen Ökonomie.
Dieser Ansatz lässt sich auch f€ur eine vergleichend angelegte Betrachtung der
Ökonomien verschiedener Nationalstaaten fruchtbar machen. Mit der auf relativ
abstrakten Kategorien aufbauenden Analyse, die beispielsweise auf mikropolitische
Prozesse nicht eingehen kann, lässt sich dann festmachen, welchen relativen Einfluss
158 N. Dose
der Staat etwa auf die Herausbildung der Luftfahrt-, Halbleiter- oder Nuklearindust-
rie hatte oder dass in Japan Clans eine größere Bedeutung zukommt als in den USA,
wobei es in den USA deutliche Unterschiede im Vergleich der verschiedenen
Sektoren gebe (Hollingsworth und Lindberg 1985, S. 247–249). Dies sind ausge-
sprochen wichtige Ergebnisse, die helfen, verschiedene nationalstaatliche Ökono-
mien in ihrer Differenziertheit zu verstehen, und die darauf aufmerksam machen,
dass die verschiedenen Governance-Mechanismen in Kombination wirken.
Im europäischen und insbesondere im deutschen Kontext hat man es in der Regel mit
einem der genannten Governance-Begriffe zu tun. Im amerikanischen Kontext und
Governance und Steuerungsformen in der Vergleichenden Politikwissenschaft 159
teils auch im europäischen ist dies häufig anders (Lafferty 2004, S. 5–7). Dort wird
der Governance-Begriff sehr stark aus dem Blickwinkel seiner „original steering
conception“ (Pierre und Peters 2000, S. 7; vgl. auch Braithwaite et al. 2007, S. 3;
grundsätzlich kritisch allerdings Grande 2012, S. 581) wahrgenommen. So formu-
lieren Pierre und Peters (2000, S. 1) unter der Überschrift „What is Governance?“:
„. . ., our focus is on the capacity of government to make and implement policy – in
other words, to steer society“. Auch Salamon (2002) bezieht sich in seinem schwer-
gewichtigen Sammelband „The Tools of Government. A Guide to the New Gover-
nance“ sehr stark auf die urspr€ungliche Steuerungstradition, was bereits an seiner
Ausrichtung an den verschiedenen Instrumenten sehr deutlich wird. Selbst in der
deutschen Diskussion gab es Versuche, die Governance-Debatte durch einen Ansatz
zu befruchten, der auf der älteren Steuerungstradition basiert, jedoch viele der
fr€uheren Verk€ urzungen und auch die Veränderungsprozesse verarbeitet hat (Dose
2008a).
Dieser Ansatz war darauf gerichtet, in einem mehrdimensionalen Auswahlpro-
zess dasjenige Instrument (enb€undel), das problemangemessen ist, f€ur das die Im-
plementationsvoraussetzungen gegeben sind und das sich politisch durchsetzen
lässt, herauszufiltern. Der Ansatz ist sowohl analytisch als auch präskriptiv angelegt.
Denn er enthält eine Anleitung zur Analyse, aus der anschließend präskriptive
Hinweise f€ ur eine jeweils angemessene Instrumentierung folgen. Um €uber sie ent-
scheiden zu können, wurden die verschiedenen Instrumente (Ge- und Verbote,
Anzeige- und Genehmigungspflichten, positive und negative finanzielle Anreize,
Information und Beratung, Überzeugung usw.) nach gleichbleibenden Kriterien
(typische Einsatzbereiche, Problemlösungsfähigkeit im Hinblick auf kategorial er-
fasste gesellschaftliche und wirtschaftliche Probleme, Voraussetzungen f€ur einen
erfolgreichen Einsatz, potentielle Einigungskosten, Kosteneffizienz usw.) verglei-
chend analysiert. Gegenstand des Vergleichs waren in diesem Fall folglich die
verschiedenen Instrumente staatlicher Steuerung.
Während viele der anderen Governance-Begriffe in einem mehr oder weniger nor-
mativen Kontext stehen, hat sich – befeuert durch ganz unterschiedliche Arbeiten,
die durchaus begrifflich nicht immer konsistent waren – ein Ansatz entwickelt, der
einen eindeutig analytischen Zugriff aufweist. Ihm liegt eine Definition von Gover-
nance zugrunde, mit der auf kollektives Handeln von Akteuren mit dem Ziel der
Interdependenzbewältigung abgestellt wird (Schimank 2007, S. 31; Benz und Dose
2010c, S. 251). Der Ansatz besteht aus einer Kombination von insgesamt drei
Analyseebenen mit Ausdifferenzierungen auf jeder dieser Ebenen:
Auf der untersten Ebene (Mikrofundierung) werden drei elementare Governance-
Mechanismen unterschieden (wechselseitige Beobachtung, wechselseitige Beein-
flussung und wechselseitiges Verhandeln) (Schimank 2007, S. 32–42). Auf der
mittleren Ebene folgen mit den analytisch zu differenzierenden Governance-Formen
die Ordnungsmodelle wie Markt, Hierarchie, Wettbewerb und Netzwerke. Da die
160 N. Dose
J€
ungste Bem€ uhungen, mit dem sich entwickelnden, analytisch gemeinten Konzept
der informalen Governance die vergleichende Forschung zu befruchten, resultierten
bereits in einer Reihe von vergleichend angelegten Studien (Bröchler und Lauth
2014b). Allerdings verweist die „Diversität der Befunde, die sich schwierig b€undeln
lassen“ (Bröchler und Lauth 2014a, S. 30) auf die Notwendigkeit weiterer konzep-
tioneller Arbeit oder zumindest einer größeren Zahl von Studien, sodass Strukturen
klarer hervortreten. Da es noch an diesen Studien mangelt, wird hier aus den
genannten Governance-Konzepten das letztgenannte, analytische Verständnis von
Governance nochmals aufgegriffen, weil es das größte Potenzial f€ur die vergleichen-
de Forschung aufzuweisen scheint. Aus analytischer Perspektive sind die Gover-
nance-Formen dabei der zentrale Ausgangspunkt, weshalb sie hier einleitend noch
etwas ausf€uhrlicher behandelt werden sollen. Sie bezeichnen eine komplexe Struk-
tur-Prozess-Konfiguration, die Einfluss nimmt sowohl auf den Verlauf als auch das
Ergebnis von Handlungskoordinationen. Sie sollen helfen, die Wechselwirkungen
von Strukturen und Interaktionen zu erklären. So wird beispielsweise davon ausge-
gangen, dass Wettbewerb unter den Bedingungen des Marktes anders verläuft als
politischer Wettbewerb zwischen Parteien. Auch stellt sich Akteurshandeln unter
den Bedingungen von marktlichem Wettbewerb anders dar als unter den Bedingun-
gen von Hierarchie. Dabei wird nicht von einem deterministischen Verhältnis aus-
gegangen, es geht vielmehr um die „endogene Dynamik“ (Benz et al. 2007, S. 21),
die entsteht, wenn Strukturen, Interaktionen und das Handeln von Akteuren in
Wechselwirkung treten (Benz und Dose 2010c, S. 256–257).
Während bereits Governance-Formen f€ur komplexe Struktur-Prozess-Konfigura-
tionen stehen, können sie die Realität häufig noch immer nicht hinreichend abbilden.
Denn Regieren findet meist in komplexen Arrangements statt, in denen unterschied-
liche Akteure (individuelle, kollektive und korporative) in unterschiedlichen institu-
tionellen Kontexten und auf verschiedenen Ebenen (lokal/regional, national, supra-
national und international) zusammenwirken (Benz und Dose 2010c, S. 264).
Governance und Steuerungsformen in der Vergleichenden Politikwissenschaft 161
Solche komplexen Arrangements werden durchaus auch schon einmal von mehr als
nur einer Governance-Form bestimmt, sodass f€ur die empirische Analyse verschie-
dene Kombinationen von Governance-Formen an Bedeutung gewinnen, womit die
bereits erwähnten Governance-Regime ins Spiel kommen.
Das Verhältnis der Governance-Formen zueinander kann entweder als eingebettet
oder als verbunden ausgeprägt sein (Benz 2006, S. 35). Von eingebetteten Koordi-
nationskonstellationen spricht man, wenn die Struktur-Prozess-Konfigurationen
einer Governance-Form die einer anderen dominieren, wie dies klassischerweise
bei Verhandlungen im Schatten der Hierarchie (Scharpf 1993, S. 67–68; Benz 2006,
S. 36–37) der Fall ist. Diese Konstellation ist wenig anfällig f€ur Blockaden; die
Entscheidungssituation ist relativ stabil. Alternativ können Governance-Formen
miteinander verbunden sein. In einem solchen Fall dominiert keine Form die Inter-
aktion, sondern es bestehen vielfältige Wechselwirkungen zwischen den Struktur-
Prozess-Konfigurationen. Konfligieren diese miteinander, kann es zu Spannungen
und Blockaden kommen (Benz und Dose 2010c, S. 264), woraus eine relativ
instabile Entscheidungssituation folgt. Das damit gegebene Analysepotenzial lässt
sich nutzen, um auftretende Blockaden in gegebenen institutionellen Settings zu
erklären oder um vorgeschlagene Reformen des institutionellen Settings unter dem
Gesichtspunkt der Blockadeanfälligkeit vergleichend ex ante zu pr€ufen (siehe f€ur
Beispiele weiter unten Kap. ▶ Qualitative Comparative Analysis (QCA) in der
Vergleichenden Politikwissenschaft).
In den weiter unten folgenden Anwendungen spielen insbesondere politischer
und marktlicher Wettbewerb sowie Hierarchie und Verhandlung als Governance-
Formen eine besondere Rolle, weshalb diese etwas genauer diskutiert werden sollen.
Beim politischen Wettbewerb werden zwei unterschiedliche Anreizmechanismen
wirksam, die jedoch letztendlich auch gerade in Kooperation Bedeutung erlangen.
Erstens ist dies die Mehrung von zur Verf€ugung stehenden Ressourcen, womit bei
Gebietskörperschaften vor allem Steuereinnahmen angesprochen sind. Zweitens ist
die Zunahme von Wählerstimmen Ziel des Wettbewerbs, was letztendlich auf
Machterhalt oder Machterwerb verweist. Der Zusammenhang zwischen diesen bei-
den Anreizmechanismen ist recht offensichtlich. Denn Gebietskörperschaften mit
hohen Steuereinnahmen können durch umfangreiche freiwillige Leistungen (Förde-
rung von Kultur, Sport, Wirtschaft und Wissenschaft) ihre Attraktivität steigern.
Dies kann nicht nur zu höherer Zustimmung bei der nächsten Wahl f€uhren, sondern
auch den Zuzug von Steuerzahlern der oberen Einkommensschichten induzieren,
womit sich dann wiederum die Ressourcenausstattung verbessert.
Marktlicher Wettbewerb wirkt sowohl auf Anbieter als auch auf Nachfrager einer
Leistung oder eines Produkts. Der Annahme nach wollen im Markt beide Seiten ihren
Nutzen maximieren. Die Nachfrager durch gute Produkte zu einem niedrigstmögli-
chen Preis und die Anbieter durch eine Kombination von Preis und verkaufter Menge,
die ihren Gewinn maximiert. Wegen des Verhältnisses von Anbietern und Nachfragern
stehen verschiedene Anbieter in Konkurrenz zueinander. Die Nachfrage schlägt sich
dort nieder, wo die gew€unschte Qualität zum niedrigsten Preis angeboten wird bzw.
zum gew€ unschten Preis die höchste Qualität. Dem Preis und der Preisbildung kommt
im marktlichen Wettbewerb also eine wichtige Koordinationsfunktion zu. Über ihn
162 N. Dose
sind die angebotenen Produkte gut miteinander vergleichbar. Auch weil die tatsäch-
liche Qualität der Produkte häufig im Dunkeln liegt, findet der Wettbewerb sehr stark
€
uber den Preis statt. Ein Unternehmen, das der Wahrnehmung nach gleichwertige oder
minderwertige G€ uter zu einem hohen Preis anbietet, wird €uber kurz oder lang vom
Markt verschwinden. Der sich im Wettbewerb herausbildende Preis bestimmt also
ganz wesentlich das Handeln der Akteure (Benz und Dose 2010c, S. 259).
Als dritte Governance-Form soll hier beispielhaft die Hierarchie skizziert werden.
Sie wird sowohl im Binnenverhältnis von Organisationen (vgl. Williamson 1985) als
auch im Verhältnis von Staat und Verwaltung zu den B€urgerinnen und B€urgern als
externe Normadressaten in Anschlag gebracht. Obwohl man bei Hierarchie geneigt ist,
an ein Über-/Unterordnungsverhältnis zu denken, trifft dieses Bild selten die Realität.
Bei der hierarchischen Koordination spielt Interaktion stets eine wichtige Rolle. Die
Machtverteilung kann asymmetrisch ausgeformt sein, aber das Verhältnis der Akteure
ist auch durch Wechselseitigkeit geprägt (Benz und Dose 2010c, S. 261). Externe
Normadressaten können versuchen, sich der Umsetzung einer Maßnahme durch
Nichtstun zu entziehen oder sie können Rechtsmittel einlegen. Es hängt von der
Kontrolldichte und der konkreten Art der Normierung in dem einer angeordneten
Maßnahme zugrunde liegenden Gesetz ab, wie erfolgreich aus Sicht der Verwaltung
die Handlungskoordination ausfällt. F€ur das Ergebnis der Handlungskoordination ist
wichtig, ob die wesentlichen Erfolgsbedingungen erf€ullt sind (siehe beispielsweise f€ur
materiell-rechtliche Ge- und Verbote Dose 2008b, S. 250–260).
In einem der nachfolgenden Anwendungsbeispiele wird schließlich auch noch
auf die Governance-Form Verhandlung rekurriert. Mit ihr wird auf den Umstand
abgehoben, dass vorgegebene Strukturen den Prozess des Verhandelns lenken (Benz
und Dose 2010c, S. 262–262). Hierbei handelt es sich meist um institutionelle
Regeln, mit denen beispielsweise festgelegt wird, welche Akteure an Verhandlungen
zu beteiligen sind und welche nicht. Geregelt ist gleichermaßen, ob eine Einigung in
Verhandlungen zwangsweise notwendig ist, um zu einer Entscheidung zu gelangen
(Zwangsverhandlungen), oder ob Interessenverfolgung auch wirksam außerhalb von
Verhandlungen möglich ist (freiwillige Verhandlungen). Wichtig ist auch die Frage,
ob das Mehrheits- oder das Konsensprinzip gilt.
Aus der empirischen Verwaltungsforschung ist bekannt, dass die öffentliche Ver-
waltung gelegentlich auf kooperatives Verwaltungshandeln zur€uckgreift, selbst
Governance und Steuerungsformen in der Vergleichenden Politikwissenschaft 163
Ausgangspunkt der hier kurz skizzierten Studie ist eine räumliche Planung, die bei
Realisierung zu einer stark ungleichen Verteilung von Nutzen und Kosten im Raum
gef€
uhrt hätte und tatsächlich auch gef€uhrt hat. Konkret geht um die Ansiedelung
eines Ikea-Möbelmarktes auf der gr€unen Wiese, die aufgrund der besonderen geo-
graphischen Lage dazu f€uhrt, dass die Lasten der Ansiedelung durch Verkehr und
Kaufkraftabzug aus den Innenstädten weitgehend nicht in den Kommunen anfällt,
die von den zusätzlichen Gewerbesteuereinnahmen profitieren. Denkbare Maßnah-
men, um zu einer gerechteren und auch stärker akzeptierten Verteilung von Kosten
164 N. Dose
und Nutzen zu gelangen, können vergleichend unter R€uckgriff auf die Governance-
Analyse im Hinblick auf die von ihnen jeweils bewirkte Blockadeanfälligkeit unter-
sucht werden. Denn bei institutionellen Veränderungen, wie sie hier diskutiert
werden, ist stets von Bedeutung, ob sie das Entscheidungssystem blockadeanfällig
machen oder ob dies vermieden wird.
In einer entsprechenden Studie wurden erstens strengere Anforderungen an die
Genehmigung der erforderlichen Flächennutzungs- und Bebauungspläne, zweitens
bessere politische Beteiligungsmöglichkeiten der negativ betroffenen Kommunen
oder deren B€ urger sowie drittens eine Kompensationslösung und viertens eine
Gebietsreform untersucht. Ohne hier auf das konkrete Vorgehen und das Pr€ufer-
gebnis eingehen zu können (siehe ausf€uhrlicher Dose 2015), ließ sich durch den
R€uckgriff auf die Governance-Analyse die von den verschiedenen institutionellen
Lösungen verursachte Blockadeanfälligkeit abschätzen.
5 Zusammenfassung
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Governance und Steuerungsformen in der Vergleichenden Politikwissenschaft 167
Zusammenfassung
Die enge Verbundenheit von gesellschaftlichen und politischen Wandeln und die
Entwicklungen in der politischen Beteiligung, stellen die Partizipationsforschung
immer wieder vor große Herausforderungen. Dabei zeigt die vergleichende
Forschung immer wieder große Unterschiede in Ausmaß und Umfang politischer
Partizipation zwischen verschiedenen Ländern. Länderspezifischen Charakteris-
tika sind: durchaus geringe Beteiligung, ähnliche Strukturierung des Partizipa-
tionsrepertoires, wandelnde Popularität verschiedener Formen und ständig un-
gleiche Beteiligung. Im Zeitvergleich steht der ständigen Ausweitung des
Repertoires die These eines R€uckgangs des ohnehin niedrigen Niveaus politi-
scher Beteiligung gegen€uber. Die weitere Verbreitung von „individualised collec-
tive action“ und die Benutzung von neuen sozialen Medien wird die Partizipa-
tionsforschung in den nächsten Jahren kennzeichnen.
Schlüsselwörter
Partizipation • Demokratie • Engagement • Ungleichheit • politischer Wandel
1 Einleitung
Zur Wahlurne gehen, eine Petition unterschreiben, auf einem Flash Mob erscheinen,
umweltfreundliche Produkte kaufen, Politiker kontaktieren, eine B€urgerinitiative
gr€
unden, in einer Partei mitarbeiten, demonstrieren, eine Interessengruppe
Wozu sollte man partizipieren? Die klassischen Antworten auf diese Frage in der
Tradition Aristoteles‘ deuten auf die Entwicklungsmöglichkeiten und den selbstver-
wirklichenden Charakter von partizipatorischen Aktivitäten hin, wobei politische
Partizipation als ein integraler Bestandteil des sozialen Lebens betrachtet
wird (Gerhardt 2007, S. 24–29). Außer diesen intrinsischen Begr€undungen f€ur
Partizipation in der Vergleichenden Politikwissenschaft 171
1
Unter diese anderen Aspekte fallen u. a.: Der (il)legale Status oder Verfassungsmäßigkeit, der
tatsächliche Erfolg, die Orientierung auf Eliten oder eine Unterscheidung zwischen kollektiven oder
individuellen Aktivitäten. Siehe Conge (1988), Brady (1998), van Deth (2001) oder Fox (2013) f€ ur
ausf€uhrliche Überblicke.
172 J.W. van Deth
politische Partizipation handelt, ist das beim Kauf von Turnschuhen, dem heim-
lichen Bepflanzen von öffentlichen Gr€unflächen oder dem Anklicken von „Gefällt
mir“ auf der Website einer afrikanischen Hilfsorganisation viel weniger deutlich. Die
Liste dieser letzten Beispiele kann beliebig fortgef€uhrt werden, wobei mit jeder
weiteren Form die Abgrenzungsprobleme des Begriffes der politischen Partizipation
evidenter werden. Offensichtlich kann heutzutage fast jede Handlung jeder B€urgerin
oder jeden B€ urgers irgendwie auch als Form politischer Beteiligung verstanden
werden (van Deth 2001; 2014).
Mit den ständigen Erweiterungen des Repertoires politischer Partizipation ist bereits
eine der wichtigsten Befunde der empirischen Partizipationsforschung dargestellt
(van Deth 2006, S. 175–177). Viele der in dem letzten Abschnitt erwähnten Studien
sind international vergleichend angelegt. Somit ist die kontinuierliche Expansion der
Formen politischer Partizipation auch als ein allgemeines Merkmal demokratischer
Entwicklungen zu betrachten. Allerdings zeigt die vergleichende Partizipationsfor-
schung große Unterschiede in Ausmaß und Umfang politischer Partizipation zwi-
schen verschiedenen Ländern. Diese länderspezifischen Charakteristika können in
vier Punkten zusammengefasst werden: geringe Beteiligung, ähnliche Strukturie-
rung des Repertoires, wandelnde Popularität verschiedener Formen und ständig
ungleiche Beteiligung.
Die kontinuierliche Ausweitung des Repertoires politischer Beteiligungsformen
in den letzten Jahrzehnten hat offensichtlich nicht zu einer ähnlich starken Steige-
rung der Nutzung dieser Möglichkeiten gef€uhrt. Zwar machen klare Mehrheiten der
B€urgerinnen und B€urger bei nationalen Wahlen regelmäßig den Gang zur Wahlurne,
aber fast alle anderen Partizipationsmöglichkeiten werden von erheblich geringeren
Teilen der Bevölkerungen genutzt. Dabei ist es allerdings sofort erforderlich, die
großen Unterschiede zwischen verschiedenen Ländern und Regionen zu ber€ucksich-
tigen. Während in nord- und mitteleuropäischen Ländern die Wahlbeteiligung bei
80 % oder höher liegt, sind die entsprechenden Zahlen in Osteuropa und in den
baltischen Staaten erheblich niedriger (Gabriel und Völkl 2008, S. 282; Hooghe und
Quintelier 2013). Derartige Länderunterschiede haben sich €uber längere Zeit als
durchaus konsistent erwiesen. Von den anderen Formen der politischen Partizipation
werden nur die Beteiligung an Unterschriftensammlungen und an Konsumentenak-
tionen in den letzten Jahren von einem substantiellen Teil der B€urgerinnen und
B€urger genutzt (van Deth 2010; 2012; 2014). Alle anderen Beteiligungsmöglich-
keiten werden nur von klaren Minoritäten der Bevölkerungen angewandt, wobei es
sich f€
ur die meisten Aktivitäten (zum Beispiel Parteimitgliedschaft oder Teilnahme
an Blockaden) um sehr geringe Prozentzahlen handelt (Norris 2002; van Deth 2010;
Keil 2012; Hooghe und Quintelier 2013). Die erwähnten Unterschiede zwischen den
verschiedenen europäischen Regionen sind jedoch auch in diesen Befunden deutlich
sichtbar.
174 J.W. van Deth
2
Politischer Konsum ist die einzige Partizipationsform, die deutlich häufiger von Frauen als von
Männern benutzt wird (van Deth 2010, S. 164).
Partizipation in der Vergleichenden Politikwissenschaft 177
5 Ausblick
Die enge Verbundenheit von gesellschaftlichen und politischen Wandeln und die
Entwicklungen in der politischen Beteiligung, haben die Partizipationsforschung
immer wieder vor große Herausforderungen gestellt. Die ständigen Ausweitungen
des Repertoires erfordern ständig Anpassungen und Ergänzungen vorhandener
Instrumente in Bevölkerungsumfragen sowie den Einsatz innovativer Datenerhe-
bungsverfahren f€ ur die Analyse politischer Ereignisse (Medienanalysen, Aktivisten-
befragungen, Mehrebenenanalysen usw.). Die weitere Verbreitung von Beteili-
gungsformen, welche zu der Kategorie „individualised collective action“ gehören
und der Aufstieg von transnationalen Aktionen wird die Partizipationsforschung in
den nächsten Jahren fast per Definitionem erschweren. F€ur inzidentelle und teils
anonyme Aktivitäten wie „Flash Mobs“, „Guerilla Gardening“ und „Reclaim-the-
Street Parties“ ist es kaum möglich, die Beteiligten zu identifizieren und ihre
Beweggr€ unde systematisch zu erforschen. F€ur manche anderen Aktionen wie Pro-
duktboykotte oder Internetpetitionen ist der politische Bezug nicht immer eindeutig
feststellbar und zudem verhindern Privacy-Regeln die Analyse von Facebook-oder
Twitter-Daten. Die Forschung transnationaler Aktionen steht erst recht noch ganz am
Anfang (Císař und Vráblíková 2013).
Auch in der vergleichenden Partizipationsforschung beginnt die Eule der
Minerva häufig ihren Flug erst mit der einbrechenden Dämmerung: Erst nachdem
die Beteiligung sich tatsächlich ändert, gelingt es der Forschung diese Wandlungen
zu thematisieren und empirisch zu erfassen. Das bedeutet, dass die Partizipations-
forschung weiterhin eng verkn€upft sein sollte mit den Analysen langlaufender ge-
sellschaftlicher und politischer Prozesse. Folglich sind nach wie vor international
vergleichende und longitudinale Ansätze unentbehrlich, da alleine vergleichende
Perspektiven die Wichtigkeit von gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen
f€
ur das Ausmaß und den Umfang der politischen Partizipation der B€urgerinnen und
B€urger angemessen ber€ucksichtigen können.
178 J.W. van Deth
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Formale und informelle Institutionen in der
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Hans-Joachim Lauth
Zusammenfassung
Nach einer begrifflichen Klärung des Institutionenverständnisses werden mög-
liche Interaktionsbeziehungen zwischen formalen und informellen Institutionen
diskutiert. Danach werden zentrale Ansätze und Überlegungen der
neo-institutionalistischen Debatte vorgestellt. Abschließend wird ein knapper
Überblick auf empirische Forschungsfelder im Kontext formaler und informeller
Institutionen gegeben.
Schlüsselwörter
Institutionen • Formale und informelle Institutionen • Neo-Institutionalismus •
Komparative Forschung zu informellen Institutionen
1 Einleitung
2 Institutionenbegriff
Die formale Regelwelt lässt sich in verschiedenen Ebene gliedern. Innerhalb der
grundlegenden Folien von Staat und Regimetypus erfolgt eine Differenzierung des
formalen Institutionendesigns auf der Ebene des Regierungssystems. Im Wesent-
lichen betreffen diese institutionellen Formen die Aufteilung der drei Gewalten
Exekutive, Legislative und Judikative auf Grundlage der Verfassung. Diese legt
die jeweiligen Kompetenzen fest und regelt die Interaktionsbeziehungen (Mitwir-
kung- und Kontrollrechte). Näher bestimmt werden die Rekrutierungsmechanismen
und die Amtsdauer der Funktionsträger. Regierungssysteme in ihrer parlamentari-
schen oder präsidentiellen Form spezifizieren somit die rechtsstaatlich gebundene
Demokratie.
Wenn diese Überlegung auf die Grundidee einer ungebremsten Exekutive einer-
seits und Blockademöglichkeiten der Exekutive anderseits verdichtet wird, dann
lässt sich auch das Vetospieler-Theorem (Tsebelis 2002) in diese Tradition einord-
nen. In eine ähnliche Richtung geht auch die Idee einer Kontrolle der Exekutiven im
Rahmen einer horizontal accountability (O’Donnell 1999), die ein umfassendes
Netz der Kontrollmöglichkeiten bietet (Lauth 2007), das harte (Veto points) und
weiche Blockaden vereinigt. Alle genannten Typen bewegen sich in ihrer institution-
ellen Anlage auf der Ebene von Regierungssystemen und beruhen auf der Idee der
Gewaltenteilung, die jedoch in unterschiedlicher Hinsicht variiert wird.
Trotz vorhandener Unterschiede ist allen Vorschläge folgende Annahme gemein-
sam: Die grundlegenden Institutionen prägen eine je eigene spezifische Funktions-
logik der verschiedenen Regierungssystemen. In Verbindung mit Akteurskonstella-
tionen, deren zentrale Merkmale (als kollektive Akteure) oftmals den Institutionen
selbst entstammen, prägen sie den Handlungskorridor des Regierens. Dessen Aus-
prägung wird wiederum verantwortlich gesehen f€ur die Effektivität oder Performanz
des Regierungssystems, die meist anhand makroökonomischer Daten gepr€uft wird
(Birchfield und Crepez 1999; Gerring et al. 2009). Ein anderes Pr€ufkriterium ist die
Stabilität des Regierungssystems selbst (Cheibub und Limongi 2002).
184 H.-J. Lauth
Mit Staat, Regime und Regierungssystem wurden die formalen Strukturen politi-
scher Ordnung behandelt. Spätestens mit dem Aufsatz von Helmke und Levitsky
(2003) wurde deutlich auf einen blinden Fleck der vergleichenden Politikwissen-
schaft hingewiesen, der im Ignorieren informeller Institutionen besteht. So ist es
bezeichnend dass im Oxford Handbook of political Institutions kein entsprechender
Beitrag zu finden ist; dies ist in dem aktuellen Handbook of Comparative Political
Institutions (Gandhi und Ruiz-Rufino 2015) immerhin gegeben. Zudem finden sich
dort weitere Beiträge zu einzelnen informellen Institutionen. In einem allgemeinen
Verständnis bezeichnen informelle Handlungen solche Handlungen, die nicht formal
geregelt sind. Sie existieren im wirtschaftlichen Kontext, in kulturellen Zusammen-
hängen oder im politischen System. Um den weiten Bereich zu Informellen einzu-
grenzen, konzentriert sich die Institutionenforschung auf informelle Regeln (infor-
melle Verfassung), und bezieht in einem weiteren Sinne informelle Praktiken
beziehungsweise kulturellen Traditionen ein, die gesellschaftliches und politisches
Handeln systematisch formieren.
Unterschieden werden somit (1) informelle Rechtsnormen und informelle Insti-
tutionen von (2) einge€ubten informellen Routinen und Praktiken, die im politischen
Prozess angewendet werden. Anvisiert ist somit nur ein Teil des weiten Spektrums
der informellen Politik (Bröchler und Grunden 2014), der auch nicht deckungsgleich
mit informal Governance ist (Christiansen und Neuhold 2012). Wir sprechen von
informellen Institutionen, wenn sie sanktionsfähige Regeln sind, aber nicht staatlich
kodifiziert beziehungsweise staatlichen Sanktionen unterworfen und somit vor
Gericht einklagbar sind (Lauth 2000). Eine analoge Definition geben Helmke und
Levitsky (2004, S. 727): „We define informal institutions as socially shared rules,
usually unwritten, that are created, communicated, and enforced outside of officially
sanctioned channels.“ Informelle Institutionen m€ussen somit öffentlich kommuni-
ziert und den Beteiligten bekannt sein.
Beispiele f€
ur institutionelle Ausprägungen sind vielfältig. Bedeutende informelle
Institutionen sind Gewohnheitsrecht, Korruption und Klientelismus, wenn sie tief
und fest in der Gesellschaft verankert sind und somit ein sanktionsfähiges Regelwerk
darstellen. Klientelismus und Korruption sind allgemeine Formen, die aber auch
landesspezifische Formen annehmen können. Kulturelle oder religiöse Regeln kön-
nen sowohl als Institution oder als Routinen angelegt sein. Auch gewaltsam agie-
rende Akteure (organisierte Kriminalität) können eine institutionelle Gegenwalt
aufbauen, wobei Gewaltdrohungen (z. B. gegen€uber Richtern oder Journalisten)
gleichfalls eine informelle Institution bilden können (Lauth 2004a).
Informelle politische Institutionen finden sich in allen Ländern. Großbritannien
ist ein oft genanntes Beispiel f€ur die Relevanz informeller Institutionen, die mit den
formalen Institutionen – den britischen Gesetzen – weitestgehend in Einklang stehen
und diese unterst€ utzen. In Deutschland lässt sich ein Koalitionsvertrag zwischen den
Regierungsparteien analog verstehen. Dieser ist vor keinem Gericht einklagbar, wird
er jedoch gebrochen, kann die Höchstsanktion den Verlust der Macht bedeuten.
Diese Beispiele zeigen, dass informelle politische Praktiken ebenso wie infor-
melle Institutionen nicht per se illegal sein m€ussen, vielmehr können sie dazu
dienen, die Unhandlichkeit formaler Regeln zu €uberwinden. Auf diese Weise
Formale und informelle Institutionen in der Vergleichenden. . . 185
verlaufen sie auch in deren Sinne und können ihre Funktionsweise verbessern. Es
lässt sich sogar generell die Behauptung aufstellen, dass kein politisches System
ohne informelle Aktivitäten €uberleben kann (Giordano und Hayoz 2013). Diese
grundlegende Einschätzung wird von Hodgson (2006, S. 18) gleichfalls betont:
„To put it differently, legal or ‚formal‘ institutions that do not have strong ‚informal‘
supports are unsupported legislative declarations rather than real institutions. This
does not mean that legal rules are unimportant but that they become important by
becoming incorporated in custom and habit“. Es kann allerdings auch sein, dass
informelle Praktiken und Institutionen genutzt werden, um die verfassungsmäßige
Ordnung zu umgehen und damit die Geltungskraft formaler Regeln zu schwächen.
Es ist daher im Einzelfall die konkrete Wirkung zu untersuchen.
Informelle Institutionen gelten oftmals auch als ein Teil von kulturellen Mustern.
Sie sind jedoch nicht identisch mit ihnen. Obwohl es schwierig ist, eine allgemein
akzeptierte Definition von Kultur zu finden, so sind doch oft zwei definitorische
Komponenten vorhanden (Pickel and Pickel 2006). Erstens umfasst das Kulturver-
ständnis ein breites Konzept, das Regeln, Werte, Traditionen und Gebräuche ein-
schließt. In einem holistischen Verständnis stehen die einzelnen Aspekte in einer
bestimmten Beziehung und dr€ucken eine kollektive Identität aus, die zu einer
spezifische Interpretation und Konstruktion der Welt f€uhrt und zur Annahme typi-
scher Lebensweise motiviert. Zweitens verf€ugen kulturelle Muster – solange sie
nicht institutionell gelagert sind – nicht €uber eine Sanktionsmacht. Im Aufgreifen der
Unterscheidung von Erwartungen und Werte machen Helmke und Levitsky (2003,
S. 10) auf einen dritten Unterschied aufmerksam: „that defines ‚informal institution‘
in terms of shared expectations rather than shared values“. In diesem Sinne zeigen
informelle Institutionen die kognitive Seite von Kultur an.
Die Überlegungen zu anderen Formen des Informellen haben deutliche Unter-
schiede, aber auch Gemeinsamkeiten aufgezeigt. So können sich die einzelnen
Konzepte teilweise €uberlappen, beziehungsweise gibt es mögliche Übergänge. Bei-
spielsweise können sich informelle Praktiken oder Routinen zu informellen Institu-
tionen verdichten. Informelle Institutionen sind nur ein, wenngleich wichtiger Be-
standteil der informellen Welt.
1
„Perverse elite agreements – i.e. elite agreements on political rules besides or even against the
constitution – supplement the role of other informal institutions by allowing for an elite conduct that
leaves transgression of basic constitutional rules unchecked and becoming itself a rule“ (Thiery
2011, S. 17).
Formale und informelle Institutionen in der Vergleichenden. . . 187
5 Neo-institutionalistische Ansätze
2
Die Stärke oder Schwäche einer informellen Institution kann sich auf ein ganzes Land gleichmäßig
erstrecken oder auch territorial verschieden ausgeprägt sein. Zur Messung institutioneller Stärke
vgl. Levitsky und Murillo 2009.
188 H.-J. Lauth
Die politische Relevanz informeller Institutionen zeigt sich vor allem, wenn diese
miteinander verflochten sind und sich dabei gegenseitig verstärken. Die negative
Wirkung der Verflechtung von Klientelismus, Patronage und Korruption auf die
Demokratie wurde in verschiedenen konzeptionellen Überlegungen erfasst. Dazu
gehört das Theorem der brown areas (O’Donnell 1993, S. 1359 f.), in dem die
territorialen Grenzen formaler staatlicher Regeln thematisiert werden. Gleichfalls zu
nennen sind die Überlegungen zum „delegative code“ (O’Donnell 1996) und zum
„illiberal code“ (Merkel und Croissant 2000); im russischen Kontext wird hier von
„Blat“ gesprochen (Ledeneva 2006 und 2013). In diesen Konzepten wird die
Schwächung formaler Regeln im Kernbereich von Demokratie und Rechtsstaat
durch die Kombination verschiedener Typen informeller Institutionen erfasst. Orga-
nisierte Kriminalität oder Mafia sind ein weiteres Beispiel f€ur solche Verflechtungen,
in denen nun auch die Gewaltdrohung wirksam ist. Rent seeking, ein Konzept, in
dem die systematisch private Aneignung öffentlicher Ressourcen behandelt wird, ist
gleichfalls von informellen Institutionen dominiert, die in Spannung zum Rechts-
staat stehen (Pritzl 1996).
Formale und informelle Institutionen in der Vergleichenden. . . 189
3
Einen Vorschlag, das Kontext des Neo-Patrimonialismus f€ur die vergleichende Forschung syste-
matisch zu erschließen, bietet von Soest 2013, S. 63 f.
190 H.-J. Lauth
dass der Präsident oftmals nicht u€ber eine eigene Mehrheit im Parlament verf€ugt.
Um die prinzipielle Spannung zwischen Mehrparteiensystemen und funktionsfähi-
gen Präsidialdemokratien zu minimieren, also die Regierungsfähigkeit nicht nur
ständig €uber Ad hoc-Mehrheiten zu erreichen, versuchten lateinamerikanische Präsi-
denten in verschiedenen Länder – wie in Bolivien, Brasilien, Chile oder Uruguay –
andere Parteien kontinuierlich in die Regierungsarbeit einzubinden (Nolte 2007).
Praktiziert wird die Aufnahme der Mitglieder anderer Parteien in die Regierung,
programmatische Absprachen oder sogar die Bildung von Allianzen beziehungs-
weise Koalitionen. Letztere Kooperationsform ist wohl in Chile am stärksten
ausgeprägt, in der die Mitgliedsparteien der sogenannten „Concertación“ eine lang-
jährige Koalition vereinbaren und mit gemeinsamen alternierenden Präsidentschafts-
kandidaten in den Wahlkampf ziehen.
Die damit gegebene Praxis f€uhrt mit dem Begriff des Koalitionspräsidentialismus
zu einem neuen Subtypus des Präsidentialismus, der durchaus in der Lage ist, die
faktischen Prozesse angemessen zu erfassen. Die damit gegebenen formalen Rechte
und informelle Praktiken f€uhren zu einer Annäherung der Funktionslogik von
Präsidialdemokratien an die von parlamentarischen Demokratien (Nolte 2007; Kai-
litz 2007). Wenn hierbei der Präsident zudem aus spezifischen politischen (nicht nur
aufgrund strafrechtlicher) Gr€unden vom Amt enthoben werden kann, verschwim-
men die Grenzen zwischen parlamentarischen und präsidentiellen Regierungssyste-
men, denn dieser Tatbestand hebelt das anscheinend dichotomische Merkmal der
Abwahl der Exekutive tendenziell auf.
Eine ganz andere Entwicklung hat sich während der letzten Jahre in einigen
osteuropäischen Staaten vollzogen. Hier wurden die präsidentiellen Kompetenzen
zunächst auf verfassungsrechtlicher Grundlage stark ausgeweitet, so dass die Legis-
lative keine ernsthafte Gegenkraft mehr bilden kann (R€ub 2007, S. 247ff). Beson-
ders signifikant sind die demokratiesperrigen Befunde f€ur Russland, Weißrussland
und der Ukraine (bis 2005). Noch gravierender werden die Auswirkungen aller-
dings, wenn deren Einbettung in informelle Kontexte beachtet wird.
So ist bereits nach der Verfassung der russische Präsident aufgrund der Kompe-
tenzausstattung des Amts eindeutig der dominante Akteur. Doch als Putin in seiner
Phase auch als Ministerpräsident in der Lage ist, von dieser Position die Machtf€ulle
des Präsidenten zu erreichen, wurden die eigentlichen Herrschaftsgrundlagen deut-
lich. Die Grundlagen bilden ein informelles Regelwerk, das die formalrechtlichen
Kompetenzen € uberstrahlt (Gelman 2003; Ledeneva 2006). Die Relevanz informeller
Regeln zeigt sich sehr deutlich, die auch in Phasen weitgehend demokratischer
Herrschaft (Jelzin) vorhanden war, wenngleich in anderer Ausprägung, wie der
Hinweis auf den großen Einfluss der Oligarchen verdeutlichen kann. Solche Befun-
de sind dar€uber hinaus f€ur andere Länder in Osteuropa und Zentralasien kennzeich-
nend (Giordano/Hayoz 2013).
Dieser Befund eines die anderen Gewalten dominierenden Präsidenten ist aber
nicht regionenspezifisch. Ähnliche Beobachtungen wurden in den 1990er-Jahren zu
etlichen lateinamerikanischen Ländern vorgelegt (z. B. Argentinien, Peru und Vene-
zuela). Auch hier wurden starke proaktive Kompetenzen der Präsidenten im legisla-
tiven Bereich festgestellt, die eigenständige Dekretrechte (mit dem Status einer
Formale und informelle Institutionen in der Vergleichenden. . . 191
7 Fazit
Nicht bestritten wird die generelle Bedeutung von Institutionen. Im Gegenteil, sie
tragen maßgeblich dazu bei den Meso-Raum zu strukturieren und die Verbindung
von Makro- und Mikro-Ebene zu ermöglichen. Kritisch angemerkt wird jedoch die
Fokussierung der Politikwissenschaft auf formale Institutionen, ohne die gleichfalls
vorhandene Prägekraft informelle Institutionen zu ber€ucksichtigen. Eine angemes-
sene Analyse der institutionellen Sphäre bedarf der Einbindung von beiden.
So macht die Regierungssystemforschung deutlich, dass die faktische Funktions-
logik durchaus von den idealtypischen Modellvorstellungen abweichen kann. Infor-
melle Praktiken und Institutionen haben gleichfalls Prägekraft, wie die Begriffe
‚Koalitionspräsidentialismus‘ und ‚superpräsidentieller Exekutionalismus‘
192 H.-J. Lauth
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Entwicklungstheorien in der
Vergleichenden Politikwissenschaft
Jörg Faust
Zusammenfassung
Entwicklungstheorien haben sich vornehmlich mit den Ursachen sozioökonomi-
scher und politischer Entwicklung – Modernisierung – in den Regionen Afrikas,
Asiens und Lateinamerikas beschäftigt. Die jeweiligen Trends und Strömungen
weisen dabei starke Parallelen zu €ubergeordneten sozialwissenschaftlichen De-
batten wie auch zu den großen Trends im internationalen System auf. Mit der
zunehmenden Heterogenität der Entwicklungsländer, der zunehmenden globalen
Herausforderungen und der Verbreitung anspruchsvoller Methoden der empiri-
schen Sozialforschung verliert die traditionelle politikwissenschaftliche Entwick-
lungsforschung jedoch immer stärker ihre Eigenständigkeit.
Schlüsselwörter
Entwicklungstheorien • Entwicklungsforschung • Armut • Demokratisierung •
Globalisierung • Entwicklungsländer • Entwicklungspolitik
1 Einleitung
Warum sind manche Länder arm und manche Länder reich? Welche Auswirkungen
haben politische Institutionen auf die wirtschaftliche und soziale Entwicklung in den
Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas. Warum haben sich etliche dieser
Länder in den letzten Jahrzehnten demokratisiert, während andere noch immer durch
autoritäre Regime regiert werden. Wie wirken Globalisierungsprozesse auf die wirt-
schaftliche und politische Entwicklung in nationalstaatlich verfassten Gesellschaften
und welche Rolle kommt globalem Regieren bei der Lösung grenz€ubergreifender
J. Faust (*)
Direktor des Deutschen Evaluierungsinstituts der Entwicklungszusammenarbeit (DEval), Bonn,
Deutschland
E-Mail: joerg.faust@die-gdi.de
Entwicklungsprobleme zu. All diese und ähnliche Fragen zählen zu den wichtigsten
Fragestellungen, mit denen sich Entwicklungstheorien bzw. die politikwissenschaftliche
Entwicklungsforschung beschäftigt. Die politikwissenschaftliche Entwicklungsfor-
schung bzw. sozialwissenschaftliche Entwicklungstheorien wurden hierbei durch zwei
Trends im Anschluss an den zweiten Weltkrieg geprägt. Erstens durch die Entstehung
der modernen, sozialwissenschaftlich geprägten Politikwissenschaft und zweitens durch
internationale Veränderungen, die ein zunehmendes Interesse an politischen Strukturen
in den ehemaligen Kolonien Afrikas, Asiens und Lateinamerikas nach sich zog.
Beide Faktoren waren denn auch prägend f€ur die Subdisziplin. Auf der einen
Seite spiegeln die politikwissenschaftlichen Entwicklungstheorien die epistomolo-
gische Fragmentierung der modernen Politikwissenschaft wider, der ein breit ak-
zeptiertes, wissenschaftstheoretisches Paradigma fehlt. Insofern finden wir in der
politikwissenschaftlichen Entwicklungsforschung denn auch historisch-insti-
tutionelle, kritisch-dialektische, makro-soziologische wie auch ökonomische Theo-
rieansätze, die zur Beschäftigung mit den einleitend genannten Fragestellungen
herangezogen wurden. Erst seit den 1990ern setzten sich allmählich und mit einer
zeitlichen Verzögerung zur Mutterdisziplin moderne, dem Positivismus verpflichtete
Auffassungen von Wissenschaft als mainstream durch.
Was die politikwissenschaftliche Entwicklungsforschung jedoch trotz dieser me-
thodischen Heterogenität einte, war das Interesse an kaum erforschten politischen
Strukturen. Damit einhergehend war die Ansicht, dass die Genese politikwissen-
schaftlicher Theorien nicht umhin könne, sich der Empirie aus den Gesellschaften
Afrikas, Asiens oder Lateinamerikas zu bedienen, die sich in ihren politischen,
ökonomischen, und sozialen Strukturen oftmals deutlich und zuweilen fundamental
von den westlichen Demokratien aber auch von den planwirtschaftlichen Autokra-
tien Osteuropas unterschieden. Da diese Sichtweise auch von Entwicklungsfor-
schern aus verwandten Sozialwissenschaften geteilt wurde, entwickelte sich eine
breit angelegte sozialwissenschaftliches Teildisziplin der development studies, in der
€
uber die Grenzen der einzelnen Disziplinen Entwicklungsherausforderungen in den
Ländern des S€ udens analysiert wurden.
Gegenwärtig jedoch stehen die politikwissenschaftliche Entwicklungsforschung
und sozialwissenschaftliche development studies vor einem radikalen Umbruch.
Aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung in vielen Ländern des S€udens löst sich
die – bereits fr€ uher kritisierte – Demarkationslinie zwischen armem S€uden und
reichem Norden zunehmend auf (Conzelmann und Faust 2009). Auch wenn Armut
und Elend in einigen Entwicklungs- und Schwellenländern noch zentrale Entwick-
lungsbarrieren sind, so nehmen die Wohlstandsunterschiede zwischen den Gesell-
schaften des S€ udens und den hochindustrialisierten Ländern doch stetig
ab. Gleichzeitig ist ein globaler Trend hin zu steigender ökonomischer Ungleichver-
teilung innerhalb nationalstaatlich verfasster Gesellschaften zu konstatieren. Zudem
sind in Zeiten zunehmender ökonomischer Entgrenzung Herausforderungen f€ur die
Entstehung und Konsolidierung demokratischer Regime längst nicht nur auf Ent-
wicklungs- und Schwellenländer begrenzt (Rodrik 2011). Die Bedeutung globaler,
grenz€ ubergreifender Herausforderungen nimmt sowohl f€ur die traditionellen OECD-
Demokratien wie auch f€ur die Entwicklungs- und Schwellenländer zu. Klimawandel
Entwicklungstheorien in der Vergleichenden Politikwissenschaft 199
Während der f€unfziger und sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts nahm das
Erkenntnisinteresse an den politischen Strukturen jener Staaten zu, die in den
Dekolonialisierungsprozessen des 19. (Lateinamerika) und des 20. Jahrhunderts
(Asien, Afrika) entstanden waren. Dieses Interesse hatte einen klaren, realpolitischen
Hintergrund, da die entstehende Systemkonkurrenz zwischen marktwirtschaftlich-
demokratischen und sozialistisch-autoritären Gesellschaftsordnungen einen großen
Informations- und Beratungsbedarf €uber diejenigen Länder generierte, die unter der
Residualkategorie Dritte Welt zusammengefasst wurde. Dabei dominierten in der
Politikwissenschaft zunächst die Modernisierungstheorien, welche die Entwicklung
hin zur rechtsstaatlichen Demokratie schlicht als eine Konsequenz ökonomischer
Modernisierung auffassten (Lipset 1959). Das Kernargument basierte dabei vor-
nehmlich auf der strukturfunktionalistischen Systemtheorie (Almond 1960, 1965),
mit deren Hilfe traditionelle wie moderne Gesellschaften typologisiert wurden.
Entwicklung wurde in seiner ökonomischen Dimension meist am Pro-Kopf-Ein-
kommen festgemacht und in seiner politischen Dimension eng an die politische
Kulturforschung gekn€upft. Entsprechend wurde eine civic culture, die einerseits
staatliche Autorität akzeptiert und zugleich politische Partizipation einfordert, als
Voraussetzung f€ ur das Entstehen und die Stabilität demokratischer Herrschaftssys-
teme identifiziert (Almond und Verba 1963).
Aus methodischer Perspektive vermischten sich in jener Phase historisch-
beschreibende Elemente mit den damals dominierenden strukturfunktionalistischen
Systemtheorien. Dabei wurde im Unterschied zu der sich etablierenden Werte- und
Einstellungsforschung f€ur die OECD Welt in der Entwicklungsforschung nur selten
mit quantitativen Methoden des Vergleichs gearbeitet. Vielmehr dominierten
200 J. Faust
3 Dependenztheorien
Die Dominanz der Modernisierungstheorien erodierte in den 1960er- und dann vor
allem in 1970er Jahren. En vogue waren nun Dependenztheorien und andere Varian-
ten von Abhängigkeitstheorien, die nicht mehr innergesellschaftliche Faktoren son-
dern vielmehr internationale Rahmenbedingungen als zentrale Determinanten gerin-
gerer sozioökonomischer Entwicklung ausmachten (Cardoso und Faletto 1969;
Frank 1969;Wallerstein 1979). Die Kritik der unterschiedlichen Abhängigkeitstheo-
rien an Modernisierungstheorien und Strukturfunktionalismus war insofern nicht
primär auf deren theoretischen und methodischen Schwächen gerichtet, sondern
vielmehr auf deren empirische Engf€uhrung. Abhängige Weltmarktintegration und
offene Ausbeutung der Entwicklungsländer durch die Staaten Westeuropas und
Nordamerikas wurden zu zentralen Erklärungsfaktoren in einem breiten Spektrum
von imperialistischen, marxistischen oder stark sozialreformerisch inspirierten
Theorienansätzen. Sozioökonomische Entwicklungsunterschiede zwischen Staaten
wurden durch deren zentrale bzw. periphere Positionierung im kapitalistischen Welt-
system erklärt. Ebenso wurden die variierenden innergesellschaftlichen Kräftever-
hältnisse und Klassenkonflikte auf die unterschiedliche Einbindung der jeweiligen
Akteure in den Weltmarkt zur€uckgef€uhrt. Kolonialismus und die fortwährende Aus-
€
ubung von politischer Macht seitens der Industrieländergegen€uber Entwicklungs-
ländern beg€ unstigen demzufolge das Entstehen und die Persistenz von kapitalisti-
schen Weltmarktstrukturen, die f€ur die ökonomischen Diskrepanzen zwischen
Staaten wie auch innerhalb von Gesellschaften verantwortlich seien. Demnach
f€
uhren politische Machtasymmetrien im internationalen System zu ungleichen Han-
delsbedingungen (Terms of Trade), die wiederum niedrige Löhne in Entwicklungs-
länder sowie Technologieexporte aus Industrie- in Entwicklungsländer sowie die
Rohstoffausbeutung der Entwicklungsländerbeg€unstigen.
Auch f€ur diese Entwicklung gab es realpolitische Urspr€unge. Erstens waren die
Industrieländer selbst durch emanzipatorische, sozialreformerische und teils marxis-
tisch inspirierten gesellschaftliche Trends gekennzeichnet. Zweitens versuchten eine
ganze Reihe von Entwicklungsländern, sich nicht mehr vom Ost-West-Konflikts
vereinnahmen zu lassen. Ihren Ursprung hatten letztere Bestrebungen in der
Bandung-Konferenz von 1955 sowie in der Gr€undung der Bewegung Blockfreier
Staaten 1961, die zu vermehrten Forderungen nach internationaler Umverteilung
während der sechziger und siebziger Jahre f€uhrten. In Übereinstimmung mit den
Entwicklungstheorien in der Vergleichenden Politikwissenschaft 201
Die dritte Phase der Entwicklungstheorien prägte eine Debatte um die Rolle des
Staates im Entwicklungsprozess und löste den zunehmend fruchtlosen Streit zwi-
schen Modernisierungs- und Dependenztheoretikern ab. Durch die enttäuschende
Performanz keynesianisch inspirierter Politik kam es zu einem wachsenden Einfluss
neoliberaler Politiken in den Industrieländern, die sich im Gefolge der Schuldenkrise
der 1980er-Jahre auch in den Entwicklungsländern verbreiteten. Die Schuldenkrise
hatte massive Erschöpfungserscheinungen staatsinterventionistischer Entwick-
lungstrategien offenbart, von der vielfach gut organisierte gesellschaftliche Akteurs-
gruppen oder Staatsklassen (Elsenhans 1977) zu Lasten großer Bevölkerungsmehr-
heiten profitiert hatten. Die wirtschaftliche Krise bot insofern solchen rent-seeking
Gesellschaften (Krueger 1974) eine Gelegenheit, gemäß neoliberaler Vorstellungen
den Abbau entwicklungsabträglicher Staatsstrukturen voranzutreiben.
Gleichwohl blieb die neoliberale Denkschule in der Entwicklungsforschung nicht
konkurrenzlos. So hatten einige prominente Arbeiten zu asiatischen Staaten nahe-
gelegt, dass auch umfassendere Staatstätigkeit entwicklungsförderlich sein kann
(Wade 1990; Messner und Meyer-Stamer 1994). Deren B€urokratien hatten in einigen
Fällen langfristig angelegte und komplexe Industrialisierungspläne umgesetzt, ohne
gleich eine sozialistisch inspirierte Planwirtschaft zu etablieren. Staatliche Akteure
konnten demzufolge in ein Netzwerk aus privatwirtschaftlichen Interessengruppen
eingebettet sein, ohne hierdurch automatisch ihre staatliche Steuerungsautonomie
bzw. -fähigkeit aufzugeben (Evans 1995). Politische Entscheidungsträger waren
202 J. Faust
1
Eine entsprechende Forschungsperspektive verfolgen die Studien in der Reihe „Politik in Afrika,
Asien und Lateinamerika“, die bei VS Springer erscheint.
206 J. Faust
Grenzziehungen f€ur die theoretische Bearbeitung dieser Themen lassen sich weniger
denn je entlang Nord oder S€ud ziehen. Dies gilt umso mehr, wenn unter dem Aspekt
der ‚nachhaltigen Entwicklung‘ auch die bislang erfolgreichen Industrieländer
wiederum ihr Entwicklungsleitbild neu definieren m€ussen.
Zweitens beg€ unstigt die stetige Verbreitung von Theorien mittlerer Reichweite
und deren Hypothesentests mittels moderner Methoden der empirischen Sozialfor-
schung eine zunehmende Integration der Entwicklungsforschung in die Hauptströ-
mungen der Sozialwissenschaften. In dem Maße wie die Entwicklungsforschung
ihre €
ubergeordneten und relevanten empirischen Fragestellungen mit methodisch
anspruchsvollen Verfahren bearbeitet, werden die Grenzen zu anderen Teildiszi-
plinen zunehmend verschwimmen. Grundsätzlich ist dies zu begr€ußen, da eine
solche Entwicklung Innovationspotential f€ur die gesamte Disziplin verspricht. Das
originär beschreibende und verstehende Element der traditionellen Entwicklungs-
forschung r€ uckt dann aber auch stärker in den Hintergrund, da gleichberechtigt
neben dem Interesse an fernen Ländern und Regionen auch das Interesse an theorie-
geleitetem Arbeiten und methodischen Erhebungs- und Vergleichstechniken steht.
Insofern lässt sich mit Blick auf die Zukunft der politikwissenschaftlichen Ent-
wicklungstheorien ein Paradox konstatieren. Auf der einen Seite sind traditionelle
Forschungsfragen die mit Problemen sozioökonomischer Entwicklung, Frage nach
der Zukunft demokratischer Herrschaft sowie globale Entwicklungsherausforderun-
gen von anhaltender Relevanz. Gleichzeitig jedoch haben die theoretischen und
methodischen Annäherungen zwischen Entwicklungsforschung und sozialwissen-
schaftlichem Mainstream sowie die Heterogenität des S€udens zu einer Auflösung der
f€
ur eine Teildiziplin notwendigen Abgrenzungsmerkmale gef€uhrt.
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Entwicklungstheorien in der Vergleichenden Politikwissenschaft 207
Claudia Wiesner
Zusammenfassung
Gender als Dimension vergleichender Untersuchungen zu ber€ucksichtigen, be-
deutet, vergleichend zu untersuchen, ob und inwieweit geschlechtsbezogene
soziale, ökonomische, oder kulturelle Unterschiede bestehen bzw. konstruiert
werden. Der Beitrag stellt verschiedene Ansätze, Fragen und Bereiche f€ur die
vergleichende Forschung zu Gender vor.
1 Einleitung
C. Wiesner (*)
Privatdozentin, Senior Guest Researcher am Jean Monnet Centre of Excellence “Europe in Global
Dialogue”, TU Darmstadt, Darmstadt, Deutschland
E-Mail: claudia.wiesner@staff.uni-marburg.de
Während „sex“ das biologische Geschlecht bezeichnet, bezieht sich der Begriff
„gender“ auf gesellschaftlich, sozial und kulturell geprägte Geschlechtsrollen. In
der Definition der WHO wird dies so expliziert:
„Sex“ refers to the biological and physiological characteristics that define men and women.
‚Gender‘ refers to the socially constructed roles, behaviours, activities, and attributes that a
given society considers appropriate for men and women.
To put it another way: ‚Male‘ and ‚female‘ are sex categories, while ‚masculine‘ and
‚feminine‘ are gender categories. Aspects of sex will not vary substantially between different
human societies, while aspects of gender may vary greatly (WHO 2013).
Im Folgenden beschreibt die WHO anhand von Beispielen, was die Unterschei-
dung in der Praxis heißt:
„Some examples of sex characteristics: Women menstruate while men do not. Men have
testicles while women do not. Women have developed breasts that are usually capable of
lactating, while men have not. Men generally have more massive bones than women.
Some examples of gender characteristics: In the United States (and most other countries),
women earn significantly less money than men for similar work. In Viet Nam, many more
men than women smoke, as female smoking has not traditionally been considered appro-
priate. In Saudi Arabia men are allowed to drive cars while women are not. In most of the
world, women do more housework than men.“ (WHO 2013)
1
Auf weitere wichtige Themenkomplexe der Gender Studies wie Identität(en) und Queer Studies
kann hier angesichts der Beschränkungen im Umfang nicht näher eingegangen werden.
Gender in der Vergleichenden Politikwissenschaft 211
Ungleichheitsverhältnisse. Der erste Ansatzpunkt ist dabei, dass die beiden Bereiche
keineswegs geschlechtsneutral, sondern vielmehr geschlechtsspezifisch konstruiert
sind, wobei Frauen der Privatheit und Männer der Öffentlichkeit und der Politik
zugeordnet werden (siehe etwa Sauer 2003: 13).
Die geschlechtsspezifisch konnotierte Trennung zwischen Öffentlichkeit und
Privatheit gilt in der feministischen Theorie als grundlegend f€ur den modernen Staat.
Carole Pateman beschrieb in „The Sexual Contract“ (1988) (deutsch: „Vom Ge-
schlechtervertrag“), dass und wie dem scheinbar geschlechtsneutralen Gesellschafts-
vertrag ein unausgesprochener Geschlechtervertrag zugrunde liegt, der Frauen der
Sphäre der Haus- und Familienabeit zuordnet. Diese Zuordnung, so Pateman, habe
die Tragfähigkeit moderner westlicher Staaten begr€undet.
Der zweite Ansatzpunkt der feministischen Kritik ist, dass sich Geschlechter-
unterschiede oftmals im so genannten „Privaten“ zeigen. Einer der zentralen Slogans
der neuen deutschen Frauenbewegung war deshalb „Das Private ist politisch“ und
bezog sich darauf, dass häusliche Gewalt oder ungleiche Machtverhältnisse auch in
Paarbeziehungen eben nicht rein als „privat“ zu behandeln sind, sondern a) Aus-
druck gesamtgesellschaftlicher Strukturen und b) demnach auch politisch und damit
„öffentlich“ anzugehen. Umgekehrt sind verschiedenste Geschlechterunterschiede,
die sich im scheinbar „Privaten“ zeigen, vom „Öffentlichen“ bedingt. So beeinflus-
sen etwa die rechtlichen und steuerlichen Weichenstellungen im Familien-, Sozial-,
Arbeits- oder Steuerrecht die Ausgestaltung von Beziehungs- und Familienmodellen
oder die Verteilung der Haus- und Familienarbeit (Scheele 2009, S. 170).
Eine weitere der grundlegenden Fragen der feministischen Theorie ist die nach
dem Verhältnis von Gleichheit und Differenz. Eine zentrales Thema war dabei, ob
und inwieweit das männliche Individuum Maßstab der Gleichheitsvorstellungen
sein solle. Sollten, mit anderen Worten, Frauen wie Männer werden, damit die
Gleichheit erreicht sei? Oder gehe es nicht viel mehr darum, Frauen in ihrer
Verschiedenheit anzuerkennen, ohne sie deshalb als Männern unterlegen zu betrach-
ten? Um diese Fragen entbrannte eine Debatte – Feministische Theoretikerinnen
ordneten sich zeitweise explizit als „Gleichheitsfeministinnen“ oder als „Dif-
ferenzfeministinnen“ ein.
Simone de Beauvoir gilt mit ihrem zentralen Werk „Le deuxième sexe“ (1949)
(deutsch: „Das andere Geschlecht“) als eine der Begr€underinnen des Gleichheits-
feminismus. Sie prägte den Satz „Zur Frau wird man nicht geboren, man wird dazu
gemacht“, um zu betonen, dass Geschlechterunterschiede nicht angeboren, sondern
gesellschaftlich konstruiert seien. Damit sei Ziel feministischer Politik die Aufhe-
bung der geschlechtsspezifischen gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten und Unter-
schiede. Menschen sollten nach ihren individuellen Fähigkeiten und Vorlieben
leben, nicht nach gesellschaftlich vorgegebenen ▶ Geschlechterrollen.
Der Differenzfeminismus oder kulturelle Feminismus betonte dagegen die Ver-
schiedenheit der Geschlechter, und zwar entweder im Sinne einer biologisch gege-
benen wesensmäßigen Verschiedenheit, oder aber in Bezug auf sozial konstruierte
Differenzen (Rauschenbach 2009 ,S. 5–7). Luce Irigaray, eine der zentralen Theo-
retikerinnen des Differenzfeminismus, betonte, Frauen d€urften nur sich selbst
gleichen wollen und sollten nicht versuchen, die sexuelle Differenz abzuschaffen
212 C. Wiesner
Der erste bezieht sich auf die Rolle der politischen Kultur (wobei diese explizit auch
im Sinne von Deutungsmustern und Symbolen verstanden wird) und dabei
insbesondere auf Rollenzuschreibungen an Frauen (siehe etwa Norris und Ingle-
hart 2001). So zeigt sich etwa in den Transformationsstaaten Mittelost- und
S€udosteuropas deshalb eine besonders geringe parlamentarische Repräsentanz
von Frauen, weil die politische Kultur bis heute davon geprägt blieb, dass in den
sozialistischen Staaten der autoritär-paternalistische Charakter des Staates eine
tatsächliche Emanzipation und eine politische Diskussion dar€uber nicht zuließ
(Hoecker und Fuchs 2004, S. 290).
Ein zweiter Erklärungsansatz bezieht sich auf Sozial- und Gesellschaftsstrukturen
(Norris und Inglehart 2001, S. 127). So zeigt sich in einigen asiatischen Ländern
eine Diskrepanz zwischen erfolgreichen Politikerinnen in staatstragenden Ämtern
und/oder als Oppositionsf€uhrerinnen, sowie der systematischen Unterrepräsenta-
tion von Frauen auf den darunter liegenden legislativen und exekutiven Ebenen.
Oftmals wirken sich hierbei familiäre Strukturen, d. h. die Dominanz bestimmter
traditionell einflussreicher politischer Familien aus (Fleschenberg 2009). Somit
erlaubt die parlamentarische Repräsentation von Frauen alleine kaum
R€uckschl€ usse auf die Geschlechterverhältnisse in einer Gesellschaft. Sie kann
sogar € uber die tatsächlichen Verhältnisse und Einstellungen hinwegtäuschen
(Derichs et al. 2011: 81)
Der dritte Erklärungsansatz verweist auf Intersektionalität in der Selbstidentifikation
von Frauen, d. h., auf die Tatsache, dass Menschen und in diesem Fall Frauen
sich nicht allein als Teil einer einzigen Gruppe identifizieren. In Bezug auf die
vergleichende Untersuchung von Repräsentation ist hier die Frage, inwieweit
214 C. Wiesner
Hier lässt sich z. B. f€ur Deutschland feststellen, dass zwar in der gesellschaft-
lichen Realität die Erwerbsquote von Frauen stark gestiegen ist (siehe dazu BPB
2011b), sich aber das Sozialsystem nach wie vor stark am so genannten „Normal-
arbeitsverhältnis“ orientiert. Dieses geht von einem männlichen Normalarbeitneh-
mer aus, der als Alleinverdiener lebenslang arbeitet und eine nicht arbeitende oder
nur Teilzeit arbeitende Ehefrau und mehrere Kinder ernähren und absichern muss
(„Male-Breadwinner-Modell“ oder auch Ernährermodell). Das „Normalarbeitsver-
hältnis“ wirkt als Norm im Hinblick auf Berechnungen von Arbeitszeiten, Beschäf-
tigungstypen und Beitragsjahren. Sozialsystemische Elemente wie beitragsfreie
Mitversicherung nichtverdienender Ehepartner, Witwenrente oder das Ehegatten-
splititting im Steuerrecht sind Ausfluss dieser Konstruktion (Wiesner 2005). Auch
der im internationalen Vergleich späte Beginn des Ausbaus der Kindertagesbetreu-
ung in Deutschland ist in diesem Zusammenhang zu sehen, ebenso die von der neuen
großen Koalition in Deutschland angestrebte volle Rente nach 45 Beitragjahren. Der
schwedische Sozialstaat, um ein vergleichendes Gegenbeispiel zu nennen, orien-
tierte sich dagegen schon fr€uhzeitig auf das Anliegen, beiden Elternteilen und auch
Alleinerziehenden eine Vollzeiterwerbstätigkeit zu ermöglichen. Als Reaktion auf
die Forderungen der Frauenbewegung wurden familienpolitische Maßnahmen seit
den 1960er Jahren ausgedehnt. Dies hat sich insbesondere im Ausbau der Be-
treuungsmöglichkeiten f€ur Kinder niedergeschlagen (Schmid 2010, S. 232 ff.).
Der schwedische Sozialstaat orientiert sich also an einem anderen Leitbild, nämlich
dem der gleichberechtigten Teilhabe von Frauen und Männern am Arbeitsleben. Die
Erwerbsquote von Frauen, auch wenn sie kleine Kinder haben, ist in Schweden sehr
viel höher als der deutsche (BPB 2011b).
In einen Zusammenhang mit der Untersuchung von Sozialstaatsstrukturen gehört
auch die der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, d. h. der Frage, wie Haus- und
Familienarbeit im Schnitt zwischen den Geschlechtern verteilt sind. Das Ernährer-
modell stärkt eine konservative geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, weil es An-
reize setzt, die eine Vollzeiterwerbstätigkeit von Frauen erschweren (Ehegatten-
splitting, immer noch fehlende Kinderbetreuung), während das schwedische
Modell gegenteilige Anreize setzt. Dort zeigt sich allerdings auch, dass trotzdem
Frauen nach wie vor den größten Teil der Haus- und Familienarbeit erledigen,
auch wenn Männer im EU-Vergleich relativ viel davon €ubernehmen (Beckmann
2007, S. 8).
„Aufgabe der Gemeinschaft ist es, durch die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes und
einer Wirtschafts- und Währungsunion sowie durch die Durchf€ uhrung der [. . .] gemein-
samen Politiken und Maßnahmen in der ganzen Gemeinschaft [. . .] die Gleichstellung von
Männern und Frauen [. . .] zu fördern“, und „Bei allen [. . .] Tätigkeiten wirkt die Gemein-
schaft darauf hin, Ungleichheiten zu beseitigen und die Gleichstellung von Frauen und
Männern zu fördern.“ (Artikel 2 und 3(2) Amsterdamer Vertrag, Europäische Gemeinschaf-
ten 1997, S. 24–25).
Die EU-Politiken und insbesondere die Strukturfonds haben heute f€ur die
Umsetzung von GM eine entscheidende Rolle (Klein 2006, S. 89). Im Unterschied
zu anderen politischen Ebenen wird dabei GM oftmals von oben politisch durchge-
setzt, indem die Mittelvergabe an die Erf€ullung bestimmter Aspekte des GM ge-
koppelt wird, und oftmals auch, indem diese nachzuweisen sind und auch evaluiert
werden (siehe unten).
In Deutschland stellt die Grundgesetzänderung von 1994 eine entscheidende Ver-
pflichtung zu einer aktiven Gleichstellungspolitik dar. In Art. 3, Abs. 2 heißt es: „Der
Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Männern und
Frauen und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin“. GM wurde aller-
dings erst durch die rot-gr€une Bundesregierung 1999 als durchgängiges Leitprinzip
eingef€uhrt. Zunächst erfolgte die Umsetzung lediglich in Modellprojekten und nicht in
Gender in der Vergleichenden Politikwissenschaft 217
Tab. 1 Checkliste GM (Eigene Darstellung, vgl. Wiesner und Bordne 2010, S. 177)
Arbeitsschritte Anforderungen/Überlegungen
1. Repräsentation z. B.
Wie groß ist der Anteil von Frauen und Wie hoch ist der Anteil von Angelegenheiten, die
Männern? (quantitative Angabe) hauptsächlich Frauen oder Männer betreffen?
2. Ressourcen z. B.
Wie werden die verschiedenen Wie sind Gehälter zwischen Frauen und Männern
Ressourcen zwischen Frauen und verteilt?
Männern verteilt? (quantitative Angabe)
3. Realität Ausgehend von den zwei vorausgegangenen
Arbeitschritten, z. B.
Warum ist die Situation so? (qualitative Warum werden Frauen und Männer unterschiedlich
Angaben) behandelt, beurteilt, beteiligt?
Quelle: Eigene Darstellung
umfassenden Bereichen (Döge und Stiegler 2004, S. 138). Auf Länderebene gelten
die Bundesländer Niedersachsen und Sachsen-Anhalt als Vorreiter.
Verschiedene Kommunen setzten GM ebenfalls um. Hier zeigten sich verschie-
dene Praxisschwierigkeiten der Umsetzung: Der Bericht des Deutschen Städtetags
(2003) zu Best Practice Beispielen im Bereich GM beschreibt, dass es nur in einigen
Kommunen gelang, GM-Gremien zu gr€unden, die nicht nur aus Gleichstellungs-
und Frauenbeauftragten bestanden. GM wurde am häufigsten in den Fachbereichen
Stadtplanung, Spielplätze, Jugendarbeit und Verkehrspolitik bearbeitet (vgl. auch die
Befunde von Heister 2007, S. 55–66).
In der feministischen Kritik wird aufgrund solcher Beschränkungen GM oftmals
als neoliberales Konzept beurteilt, das „an den bestehenden Strukturen des Ge-
schlechterverhältnisses nichts ändern werde“ (Heister 2007, S. 50).
Die vergleichende Forschung zu GM hat neben diesen Schwierigkeiten gezeigt,
dass einer mangelnden Verbindlichkeit von GM-Prozessen durch die Formulierung
von Erfolgsindikatoren sowie gegebenenfalls durch die Vereinbarung von Sanktio-
nen bei Nichterreichen entgegengetreten werden kann. Programmplanungen können
in der Regel problemlos durch geschlechtsspezifische Problemanalysen unterf€uttert
werden; daraus sind dann zumeist auch konkrete qualitative und / oder quantitative
Zielvorgaben ableitbar. Gender-Wissen kann durch entsprechende Schulungen ver-
mittelt werden. In Bezug auf GM geht es daher in der vergleichenden Forschung vor
allem um die Betrachtung der Umsetzung in bestimmten Politikbereichen und Pro-
grammen sowie um vergleichende Evaluationsforschung, die insbesondere f€ur
EU-finanzierte Projekte gefordert wird.
Aufgrund bisheriger Erfahrungen mit GM wurden entsprechend eine Reihe von
Instrumenten und Checklisten (siehe dazu auch Wiesner und Bordne 2010, S. 176)
entwickelt, unter anderem die „3 R“-Methode aus Schweden,2 die hier kurz in der
Übersicht dargestellt wird (Tab. 1).
2
Schweden gilt als Vorreiter der Einf€
uhrung von GM: bereits ab wurde hier GM auf nationaler,
regionaler und kommunaler Politikebene umgesetzt.
218 C. Wiesner
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Policy-Theorien in der Vergleichenden
Politikwissenschaft
Reimut Zohlnhöfer
Zusammenfassung
Der Beitrag stellt die wichtigsten theoretischen Ansätze der vergleichenden
Politikfeldanalyse vor. Im ersten Teil werden solche Ansätze diskutiert, die auf
eine einzige unabhängige Variable zur Erklärung von Politikergebnissen fokus-
sieren, nämlich der Funktionalismus (sozio-ökonomische Schule), der
Machtressourcen-Ansatz, die Parteiendifferenzhypothese, die Vetospieler-
Theorie, die Lehre von der Pfadabhängigkeit, die Internationale Hypothese sowie
die Varieties-of-Capitalism-Forschung. Im zweiten Teil werden komplexere An-
sätze vorgestellt, die den Policy-Prozess insgesamt erklären wollen, nämlich der
Akteurzentrierte Institutionalismus, der Advocacy-Coalition-Ansatz, das
Multiple-Streams-Framework sowie die Punctuated Equilibrium-Theorie.
Schlüsselwörter
Vergleichende Politikfeldanalyse • Policy • Theorien • Politische Prozesse •
Politische Inhalte
1 Einleitung
R. Zohlnhöfer (*)
Professor f€ur Vergleichende Analyse politischer Systeme, Institut f€
ur Politische Wissenschaft,
Universität Heidelberg, Heidelberg, Deutschland
E-Mail: reimut.zohlnhoefer@ipw.uni-heidelberg.de
Den Analysen der sozio-ökonomischen Schule zufolge ist Staatstätigkeit als Ant-
wort auf wirtschaftliche und gesellschaftliche Herausforderungen zu verstehen (vgl.
Obinger und Obinger-Gindulis 2013). Demnach m€ussten Regierungen auf neue
Problemlagen, die durch wirtschaftliche oder soziale Veränderungen bedingt seien
und aus denen neue Bedarfslagen der Wähler bzw. der Bevölkerung allgemein
resultieren, reagieren. Die „Übersetzung“ der von der Modernisierung geschaffenen
Problemlagen in problemlösende Politik erfolgt demnach gleichsam automatisch, es
wird ein „Primat des Gesellschaftlichen und de[s] Wirtschaftlichen gegen€uber der
Politik“ (Siegel 2002, S. 40) unterstellt. Entsprechend wird erwartet, dass Regie-
rungen, die vor den gleichen Herausforderungen stehen, auf diese auch in gleicher
Weise reagieren, sodass eine Konvergenz der Regierungspolitik in Ländern mit
gleichen Problemlagen zu erwarten ist. Politik im Sinne von politics findet in diesem
Ansatz keine Ber€ ucksichtigung (vgl. z. B. Zöllner 1963, S. 115).
1
Dieser Abschnitt ist eine gek€
urzte und aktualisierte Fassung von Abschn. 2 aus Zohlnhöfer 2008.
Policy-Theorien in der Vergleichenden Politikwissenschaft 223
und zwar sowohl im Rahmen der industriellen Beziehungen als auch in der Wahl-,
Parlaments- und Regierungsarena.
Je stärker Linksparteien und Gewerkschaften in einem Land sind, desto stärker
sollten also Sozialrechte ausgebaut sein (vgl. Esping-Andersen 1990). Dar€uber
hinaus ist argumentiert worden, dass erfolgreiche sozialdemokratische (oder
b€
urgerliche) Politik nur in kohärenten Konfigurationen möglich ist, also nur dann,
wenn eine sozialdemokratische Regierung auf starke Gewerkschaften (oder eine
b€
urgerliche Regierung auf schwache Gewerkschaften) trifft, während Regierungen,
deren parteipolitische Zusammensetzung der gesellschaftlichen Machtverteilung nicht
entspricht, keinen wirtschaftspolitischen Erfolg haben werden (Alvarez et al. 1991).
Auch das politische Institutionensystem kann den Einfluss von Parteien (und ande-
ren Akteuren) auf die Staatstätigkeit beeinflussen. Dabei geht es einerseits um
Institutionen, die den Entscheidungsprozess in den einzelnen Ländern strukturieren,
also darum, ob die Zustimmung bestimmter Akteure notwendig ist, um Reformen
durchzusetzen. Andererseits m€ussen institutionelle Arrangements untersucht wer-
den, die den zentralstaatlichen Regierungen bestimmte Kompetenzen oder Ressour-
cen vorenthalten, die stattdessen von subnationalen, supranationalen oder anderen
weisungsunabhängigen Institutionen ausge€ubt werden (vgl. Zohlnhöfer 2003).
224 R. Zohlnhöfer
Gemeinsam ist beiden Arten von Institutionen, dass sie den Handlungsspielraum
einer Regierung begrenzen, die Regierung also ihre favorisierten Politiken nicht
umstandslos durchsetzen kann, sondern sie mit anderen Akteuren koordinieren und
diesen in der Regel Konzessionen machen muss.
F€ur die Analyse des Entscheidungsprozesses hat das Vetospieler-Theorem eine
herausragende Bedeutung erlangt (Tsebelis 1995; 2002). Ein Vetospieler ist definiert
als ein Akteur, dessen Zustimmung zu einer Änderung des Status quo notwendig ist.
Es wird erwartet, dass eine Veränderung des Status quo schwieriger wird, je mehr
Vetospieler es gibt und je größer die inhaltliche Distanz zwischen ihnen ist (niedrige
Kongruenz). Ein drittes Kriterium kommt hinzu, sofern kollektive Akteure unter-
sucht werden, nämlich die Kohäsion. Dieses Kriterium bezieht sich auf die Homo-
genität der Positionen innerhalb der Vetospieler; sein Effekt hängt von der innerhalb
des Vetospielers angewendeten Mehrheitsregel ab.
Weniger gut eignet sich das Vetospieler-Theorem zur Analyse von institutionellen
Arrangements, bei denen Kompetenzen oder Ressourcen auf unterschiedlichen
Ebenen angesiedelt sind. Auch weisungsunabhängige Institutionen wie unabhängige
Zentralbanken können es Regierungen schwer machen, ihre präferierte Politik
durchzusetzen, wenn es nicht gelingt, sie zur Kooperation zu bewegen (vgl.
Scharpf 1987).
Jede neue Regierung muss eine Vielzahl von Regelungen und Verpflichtungen
einlösen, die Vorgängerregierungen eingegangen sind. Gerade die Staatsausgaben
sind meist zu €uber 90 % durch gesetzliche oder vertragliche Verpflichtungen fest-
gelegt, sodass der Handlungsspielraum f€ur die Neujustierung der Ausgabenprioritä-
ten fast immer außerordentlich gering ist. Diese Erkenntnis spitzte Richard Rose
(1990, S. 263) zu der Aussage zu: „Policy-makers are heirs before they are choo-
sers“. Damit postuliert er, dass Staatstätigkeit ganz €uberwiegend vom Politikerbe
geprägt sei, ein Einfluss von Regierungswechseln auf die Staatstätigkeit daher
zumindest in kurzer Frist nicht zu erwarten sei. Allenfalls inkrementelle Veränderun-
gen – die allerdings langfristig durchaus wirkungsmächtig werden können – seien
f€ur Regierungen möglich. Das liegt daran, dass Interessengruppen einmal eingef€uhrte
Programme häufig verteidigen und Regierungen daher auf Änderungen verzichten.
Hinzu kommt ein weiteres: Eine einmal implementierte Politik wirkt auf den
politischen Prozess zur€uck und verändert somit die Ausgangslage f€ur neue Reform-
vorhaben (zum Folgenden Pierson 2000). Je länger eine Regelung in Kraft sei, desto
mehr Investitionen w€urden im Vertrauen auf ihr Weiterbestehen getätigt und desto
höher sei der Nutzen des Fortbestehens und umgekehrt die Kosten einer Verände-
rung. Wenn Menschen ihre Lebenspläne wenigstens zum Teil auf ein existenz-
sicherndes Rentensystem und Unternehmen ihre Investitionen auf bestimmte steuer-
liche Regelungen ausrichteten, verursache die kurzfristige und radikale Veränderung
dieser Politiken hohe Kosten. Das heißt nicht, dass €uberhaupt keine Veränderungen
Policy-Theorien in der Vergleichenden Politikwissenschaft 225
Staatstätigkeit ist nicht, wie von den bisher vorgestellten Schulen angenommen,
ausschließlich innenpolitisch determiniert, sondern wird in erheblichem Umfang
von Entwicklungen beeinflusst, die sich auf der internationalen Ebene abspielen.
So wird hinsichtlich der Globalisierung oft angenommen, diese f€uhre zu wirtschafts-
und sozialpolitischer Konvergenz und einem Abwärtsdruck auf Steuern, Staatsaus-
gaben und Regulierungen (sog. Effizienzthese, vgl. z. B. Scharpf 2000; Busemeyer
2009), während Vertreter der sog. Kompensationsthese davon ausgehen, dass wirt-
schaftliche Offenheit zu einem höheren Niveau sozialer Absicherung f€uhre
(z. B. Cameron 1978; Katzenstein 1985). Die politischen Prozesse einer Anpassung
an Globalisierung bleiben bei den meisten Globalisierungstheoretikern allerdings –
ähnlich wie bei der sozio-ökonomischen Schule – weitgehend unklar, wenn nicht gar
ein Automatismus unterstellt wird (zur Kritik und einem entsprechenden Modell vgl.
Zohlnhöfer 2005).
Bei der Europäischen Union, die eigenständige Rechtssetzungsbefugnisse besitzt,
sind die nationalstaatlichen Anpassungsmechanismen weit weniger unklar, denn die
Mitgliedstaaten sind verpflichtet, europäische Rechtsakte umzusetzen – wenn nicht
gar bestimmte Bereiche (etwa die Geldpolitik) vollständig europäisiert, also natio-
nalstaatlicher Kontrolle gänzlich entzogen sind. Aber auch in anderen Bereichen
sind die Effekte der Europäisierung deutlich sp€urbar. Dabei lassen sich verschiedene
Wege unterscheiden, auf denen die EU die Politik ihrer Mitgliedstaaten beeinflusst
(vgl. etwa Scharpf 1999; Leibfried und Pierson 2000): Die marktschaffende negative
Integration, die eine Vielzahl regulativer und wohlfahrtsstaatlicher Arrangements
der Mitgliedstaaten in Frage stellt und die sich aufgrund der starken Stellung der
Europäischen Kommission und des Europäischen Gerichtshofs relativ leicht durch-
setzen lässt; die marktkorrigierende positive Integration, die grundsätzlich auf na-
tionalstaatlicher Ebene verlorene Handlungsoptionen auf supranationaler Ebene
zur€uckgewinnen könnte, die allerdings aufgrund hoher Mehrheitserfordernisse und
divergierender Interessen der Mitgliedstaaten nur schwer durchsetzbar ist; sowie die
indirekten Effekte, die durch R€uckkopplungen von stärker europäisierten Politikfel-
dern auf weniger stark europäisierte Bereiche entstehen. Nimmt man die genannten
Effekte zusammen, wird man generell sagen können, was Leibfried und Pierson
(2000, S. 288) in Bezug auf die Sozialpolitik schreiben: „Member governments still
‚choose‘, but they do so from an increasingly restricted menu“.
226 R. Zohlnhöfer
Varieties of Capitalism (VoC, dt. Spielarten des Kapitalismus) ist ein neuerer Ansatz
zur Erklärung von Staatstätigkeit, der eine dezidiert unternehmenszentrierte Pers-
pektive einnimmt (vgl. Höpner 2009). Der Ansatz geht davon aus, dass sich Unter-
nehmen in verschiedenen Sphären, nämlich den Arbeitsbeziehungen, den Industrie-
llen Beziehungen, der Unternehmensfinanzierung und -kontrolle (Corporate
Governance), der Ausbildung sowie der Koordination mit anderen Unternehmen,
bewegen und hier jeweils Koordinationsleistungen, nämlich z. B. mit den Mitarbei-
tern, den Geldgebern, Zulieferern etc., zu erbringen sind. Diese Koordinationsleis-
tung kann entweder €uber den Markt oder Formen langfristiger, strategischer Koor-
dination erbracht werden. Gleichzeitig spielen institutionelle Komplementaritäten
eine wichtige Rolle, d. h. wenn in verschiedenen Sphären durch einen bestimmten
Modus koordiniert wird, liegt es nahe – und steigert die Effizienz –, auch in den
restlichen Sphären diesen Koordinationsmodus anzuwenden. Wenn beispielsweise
im Ausbildungsbereich unternehmensspezifische Qualifikationen vermittelt werden,
und daher die Unternehmen die Ausbildung €ubernehmen, liegt es nahe, auch im
Bereich der Arbeitsbeziehungen auf längerfristige Arrangements zu zielen, um die
unternehmensseitigen Investitionen in das Humankapitel des Arbeitnehmers an das
Unternehmen zu binden. F€ur diese Strategie wiederum bedarf es geduldigen Kapi-
tals, das weniger €uber Kapitalmärkte als €uber Hausbanken beschafft werden kann.
Das zentrale Argument des Ansatzes lautet nun, dass sich in nationalen Politi-
schen Ökonomien bestimmte Koordinationsmodi durchsetzen und die entsprech-
enden Staaten dann bestimmte nationale Spielarten des Kapitalismus ausbilden, die
wiederum € uber bestimmte komparative Vorteile verf€ugen. Am einflussreichsten ist
in diesem Zusammenhang die Unterscheidung von Peter Hall und David Soskice
(2001), die zwischen liberalen Marktwirtschaften (Liberal Market Economies, LME)
und koordinierten Marktwirtschaften (Coordinated Market Economies, CME) unter-
scheiden. In ersteren, etwa den USA, wird Koordinierung in erster Linie markt-
förmig vorgenommen, in letzteren, etwa der Bundesrepublik Deutschland, dominiert
die langfristige strategische nicht-marktliche Koordinierung.
Was hat das mit Staatstätigkeit zu tun? Der Schl€ussel zu dieser Frage liegt darin,
dass die jeweilige Spielart des Kapitalismus einen Einfluss auf die Präferenzen der
Unternehmen, aber auch der Arbeitnehmer hat und die Funktionsweise bestimmter
Policies beeinflusst. Das bekannteste einschlägige Beispiel ist der Wohlfahrtsstaat.
Machtressourcen-Theoretiker argumentieren hier wie gesehen, dass die Arbeiter-
klasse f€ur, die Kapitalseite gegen den Wohlfahrtsstaat eintreten, und die Größe des
Wohlfahrtsstaates mithin eine Funktion der Stärke der Arbeiterklasse ist.
VoC-Theoretiker sehen das differenzierter (s. Höpner 2009): Demnach haben Unter-
nehmen in CME durchaus ein Interesse an bestimmten wohlfahrtsstaatlichen Pro-
grammen, nämlich an solchen, die die Humankapitalinvestitionen des Arbeitneh-
mers sch€ utzen. Wenn ein Unternehmen nämlich eine spezifische Qualifikation eines
Arbeitnehmers benötigt, die dieser Arbeitnehmer bei einem anderen Unternehmen
nicht mehr verwenden kann, wird er zur€uckhaltend sein, diese Qualifikation zu
erwerben, wenn er nicht gegen den Verlust seines Arbeitsplatzes gesch€utzt ist. Das
Policy-Theorien in der Vergleichenden Politikwissenschaft 227
heißt, dass bspw. der K€undigungsschutz f€ur Unternehmen in CME n€utzlich ist, damit
Arbeitnehmer in spezifische Qualifikationen investieren. Da andererseits eine solche
Logik in LME nicht vorliegt, sollte also VoC zufolge der K€undigungsschutz in CME
wesentlich weiter ausgebaut sein als in LME.
2.8 Zusammenfassung
Es wäre ein Missverständnis zu glauben, dass sich die bislang vorgestellten theoreti-
schen Ansätze wechselseitig ausschließen. Das Gegenteil ist richtig – sie ergänzen
einander (Schmidt 1993, S. 382). Während der Funktionalismus und die Globalisie-
rungstheoretiker darauf aufmerksam machen, dass Politik auf veränderte Umwelt-
bedingungen reagiert, unterschätzen sie die Gestaltungsmacht politischer Akteure,
die wiederum die Machtressourcen- und Parteiendifferenzansätze ins Zentrum stel-
len. Diese Ansätze wiederum €uberschätzen f€ur sich genommen den politischen
Handlungsspielraum politischer Akteure, der jedoch tatsächlich durch das Politik-
erbe, den Kapitalismustyp, institutionelle Beschränkungen und den Mehrebenen-
charakter vieler politischer Systeme mitunter erheblich – wenngleich im internatio-
nalen Vergleich in unterschiedlichem Umfang – eingeschränkt ist, wie andere
Theorieschulen deutlich machen. Wer Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der
inhaltlichen Politik umfassend verstehen will, sollte also auf eine Kombination der
einzelnen Ansätze zur€uckgreifen und ggf. noch weitere Variablen hinzuziehen. Eine
solche Kombination der Theorieschulen ist auch theoretisch ergiebig, erlaubt sie es
doch, auch Interaktionen zwischen den dargestellten Erklärungsvariablen zu durch-
denken (vgl. Zohlnhöfer 2005; 2013).
Der Akteurzentrierte Institutionalismus (AI), den Renate Mayntz und Fritz Scharpf
(1995; vgl. ausf€
uhrlicher Scharpf 1997) entwickelt haben, versteht sich nicht als
gegenstandsbezogene Theorie, sondern als eine Forschungsheuristik. Ziel ist es, ein
Analysewerkzeug f€ur die Erklärung komplexer Makrophänomene, insbesondere
228 R. Zohlnhöfer
erreichen, während weitreichender Wandel durch drei andere Pfade zustande kom-
men kann. Zum einen ist denkbar, dass exogene Schocks einer Minderheiten-
Koalition die Möglichkeit bieten, zur dominierenden Koalition zu werden. Solche
politikfeld-exogenen Schocks können etwa Regierungswechsel, Veränderungen von
sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen oder auch Entscheidungen in anderen
Politikfeldern sein. Zweitens können interne Schocks, also ein kaum abzustreitendes
Versagen der bisherigen Policy, die Chance zu weitreichendem Policywandel geben.
Drittens schließlich kann weitreichender Wandel unter bestimmten, eher unwahr-
scheinlichen Bedingungen durch Verhandlungen zwischen verschiedenen Koalitio-
nen herbeigef€uhrt werden. Eine zentrale Voraussetzung hierf€ur ist allerdings, dass
der Status quo f€ur beide Seiten inakzeptabel ist.
Der Multiple Streams Ansatz, wie er zuerst von John Kingdon (1984) vorgelegt
worden ist, geht davon aus, dass Politik kein rationales Problemlösen darstellt,
sondern dass Politische Unternehmer von ihnen ausgearbeitete Politiken zu f€ur sie
g€unstigen Zeitpunkten (policy window oder window of opportunity) mit aktuellen
Problemen verkn€ upfen. Es sind also eher die Lösungen, die sich passende Probleme
suchen, nicht umgekehrt!
Nach Kingdon durchfließen drei – weitgehend unabhängige – Ströme das poli-
tische System, die nach unterschiedlichen Logiken funktionieren. Im Problem-Strom
geht es darum, wann Zustände zu politischen Problemen werden, mit denen sich das
politische System beschäftigen muss. Hier spielen Veränderungen bestimmter Indi-
katoren, aber auch einschneidende Ereignisse ( focusing events) eine wichtige Rolle.
Im Policy-Strom geht es dagegen eher um die Ausarbeitung von Policies. Hier
werden von Experten in sogenannten Policy Communities neue Policies vorgeschla-
gen, diskutiert, modifiziert, kombiniert und zur Entscheidungsreife gebracht. Wich-
tig ist, dass es im Policy-Strom um das bessere Argument, nicht um Macht geht;
arguing und nicht bargaining steht im Zentrum. Der Ansatz macht auch Aussagen
dar€uber, welche Policies bessere und welche schlechtere Chancen auf Realisierung
haben. So sind bspw. die Finanzierbarkeit oder die technische Machbarkeit zentrale
Entscheidungskriterien. Der dritte Strom ist der Politics-Strom. Hier geht es um die
politische Durchsetzbarkeit von Politiken, zentrale Akteure sind mithin Regierungen
und Parlamente, Parteien und Verbände, aber auch der Zeitgeist.
Zu einer Verkopplung der drei Ströme kann es kommen, wenn sich ein Window of
Opportunity entweder im Problem-Strom (etwa durch ein einschneidendes Ereignis)
oder im Politics-Strom (z. B. durch einen Regierungswechsel) öffnet. Sind auch die
€ubrigen Ströme reif, existiert also eine entscheidungsreife Alternative (Policy-
Strom), liegt ein Problem vor, auf das diese Lösung „passt“ (Problem-Strom), und
sind die Akteure im Politics-Strom der Lösung gegen€uber aufgeschlossen, kann ein
politischer Unternehmer versuchen, seine favorisierte Lösung auf die Regierungs-
agenda zu bringen.
230 R. Zohlnhöfer
War das urspr€ungliche Modell lediglich auf die Analyse des Agenda-Setting im
präsidentiellen Regierungssystem der USA zugeschnitten, ist der Ansatz inzwischen
weiterentwickelt worden, um auch in parlamentarischen Regierungssystemen und
auch f€
ur den gesamten Willensbildungsprozess angewendet zu werden (vgl. grund-
legend Zahariadis 2003).
3.5 Würdigung
4 Fazit
Der vorstehende Beitrag hat die wichtigsten theoretischen Ansätze der vergleich-
enden Policyforschung knapp vorgestellt. Dass dabei nicht alle Ansätze in einem
Feld, das sich ausgesprochen dynamisch entwickelt, angesprochen werden konnten,
versteht sich von selbst. Wichtig erscheint jedoch vor allem, einen Austausch
zwischen den Vertreterinnen und Vertretern der unterschiedlichen Ansätze in Gang
zu bringen. Während ein solcher Austausch zwischen Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftlern der unterschiedlichen in Abschn. 2 vorgestellten Ansätze
ebenso stattfindet wie zwischen den Forscherinnen und Forschern, die sich auf die
in Abschn. 3 skizzierten Ansätze berufen (mit einer gewissen Ausnahme
hinsichtlich des Akteurzentrierten Institutionalismus), findet Austausch zwischen
Policyforscherinnen, die eher auf Ansätze zur€uckgreifen, die eine Variable ins
Zentrum stellen, und Politikfeldanalytikern, die komplexe Ansätze vorziehen,
bislang noch zu wenig statt – und das, obwohl dieses Kapitel gezeigt hat, dass
durchaus erhebliche Ankn€upfungspunkte bestehen. Wenn der vorliegende Aufsatz
einen kleinen Beitrag zu einem solchen Diskurs leisten könnte, hätte er sein Ziel
mehr als erreicht.
232 R. Zohlnhöfer
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Pfadabhängigkeit in der Vergleichenden
Politikwissenschaft
Johannes Gerschewski
Zusammenfassung
Das Konzept der Pfadabhängigkeit ist in den Sozialwissenschaften weit ver-
breitet. Es betont die Historizität von Ereignissen und wurde vor allem im
Historischen Institutionalismus aufgenommen, um langanhaltende Prozesse zu
erklären. Durch die weite Verbreitung ist das urspr€unglich aus der Ökonomie
stammende Konzept jedoch ausgefasert. In diesem Beitrag wird versucht, drei
unterschiedliche Konzeptionen analytisch voneinander zu trennen. Während ein
weites Verständnis die Bedeutung einer adäquaten historischen Einbettung her-
vorhebt, betont ein Konzept mittlerer Reichweite stärker die Sequenz von Ereig-
nissen. Das enge, institutionenökonomisch fundierte Konzept argumentiert hin-
gegen mit steigenden Skalenerträgen, die man f€ur eine sozialwissenschaftliche
Erklärung in der empirischen Realität aufzeigen sollte. Die große Stärke des
Ansatzes besteht in der Erklärungskraft f€ur institutionelle Langlebigkeit, weist
aber trotz j€
ungster Modifikationen Defizite in der Erklärung von Wandel auf.
Schlüsselwörter
Pfadabhängigkeit • Historizität • Institutionalismus • Stabilität • Wandel
1 Einleitung
Das Konzept der Pfadabhängigkeit hat in den letzten beiden Dekaden eine erstau-
nliche Karriere in der (Vergleichenden) Politikwissenschaft, ebenso wie in den
benachbarten Disziplinen der Soziologie, Geschichtswissenschaft und Ökonomie,
erfahren. Es avancierte in kurzer Zeit zu einem der am häufigsten benutzten Konzepte.
J. Gerschewski (*)
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Wissenschaftszentrum Berlin f€
ur Sozialforschung (WZB),
Berlin, Deutschland
E-Mail: johannes.gerschewski@wzb.eu
Mit dieser weiten Verbreitung ging jedoch auch eine begriffliche Überdehnung einher.
Pfadabhängigkeit hat sich zu einem oftmals zu elastischen Begriff entwickelt,
unter dem verschiedene Phänomene subsumiert werden. Generell beschreibt das
Konzept der Pfadabhängigkeit den Umstand, dass zur€uckliegende Ereignisse und
Prozesse ihren Schatten auf Gegenwart und Zukunft werfen und so das Handeln von
politischen und sozialen Akteuren beeinflussen können. Handlungskorridore veren-
gen sich und schränken die Handlungsalternativen sukzessive ein. Von Vertretern
dieses Ansatzes wird argumentiert, dass wir in der Erklärung gegenwärtiger Sach-
verhalte bem€uht sein m€ussen, der Historizität von Entscheidungen, Institutionen und
Strukturen gerecht zu werden. Wie dies konkret theoretisch gefasst und empirisch
umgesetzt wird, ist jedoch umstritten.
Das weite Verständnis von Pfadabhängigkeit macht darauf aufmerksam, dass die
historische Einbettung von Ereignissen von besonderer Relevanz ist. Goethes be-
r€
uhmter Ausspruch, dass nur der erste Schritt frei ist, versinnbildlicht dieses Denken.
Der Einfluss vergangener Entscheidungen auf spätere wird somit betont. Dies wird
in den Sozialwissenschaften weitestgehend geteilt und findet wenig Widerspruch.
Insofern ist der theoretische Verweis auf Pfadabhängigkeiten oftmals in Verruf
geraten, ein Allgemeinplatz oder lediglich eine Metapher darzustellen. Jedoch
muss das History-Matters-Argument in die Diskussion der Großtheorien
eingebettet werden. Pfadabhängigkeit ist das Grundtheorem des (Historischen)
Neo-Institutionalismus, der sich wiederum in starker Abgrenzung zum behaviora-
listischen Paradigma der 1950er- und 1960er-Jahre entwickelt hat. Im Behavioralis-
mus steht die empirisch beobachtbare, individuelle Handlung im Zentrum der
politikwissenschaftlichen Analyse. Die implizite Annahme ist dabei, dass die Erklä-
rung von Handlungen auf utilitaristische Kosten-Nutzen-Kalk€ule zur€uckf€uhrbar ist.
Pfadabhängigkeit in der Vergleichenden Politikwissenschaft 237
Während das weite Verständnis des Konzepts noch relativ vage auf die historische
Kontextbedingungen rekurriert, ist das Konzept mittlerer Reichweite hier spezifi-
scher. Der theoretische Schl€usselbegriff ist dabei die Sequenz, die die Bedeutung
von räumlichen und zeitlichen Abfolgen von Ereignissen f€ur bestimmte Outcomes
unterstreicht. Das Verständnis von Pfadabhängigkeit mittlerer Reichweite kennt
dabei zwei Arten von Sequenz. Auf der einen Seite wird eine makro-theoretische
Kontinuitätslinie vorgeschlagen und auf der anderen Seite werden konkretere Re-
produktionsmechanismen in den Blick genommen.
Ruth und David Collier haben zu Beginn der 1990er-Jahren ein Standardwerk zur
Entwicklung der lateinamerikanischen Arbeiterbewegung geschrieben, in dem sie
einen Theorierahmen vorschlagen, der Institutionen vor allem als historisches
238 J. Gerschewski
Neben diesen vier Mechanismen findet sich in der Literatur auch die Idee eines
negativen Feedbacks. Hier bildet sich eine Institution durch die bewusste Abwehr-
reaktion gegen Änderungsversuche. Die Entwicklung des anarchischen Staatensys-
tems nach dem Westfälischen Frieden kann hier als Beispiel dienen. Das Gleichge-
wicht souveräner und gleicher Staaten wird dabei gegen unterschiedliche
Hegemoniebestrebungen verteidigt. Ein internationales System setzt sich letztlich
gegen konkurrierende Vorstellungen durch. Das negative Feedback folgt daher einer
idealtypischen Sequenz aus A!B!A!C!A, wobei A das Staatensystem nach
dem Westfälischen Frieden symbolisiert und B bzw. C die jeweiligen Hegemoniebe-
strebungen (Bennett und Elman 2006). In ähnlicher Weise wäre eine zyklische
Sequenz eine Abfolge mit dem Muster A!B!A!B!A. Hier ruft der Erfolg einer
Seite die Gegenseite B auf den Plan, die dann wiederum mobilisiert und A bekämpft
(Page 2006). Eine reaktive Sequenz wäre im Gegensatz hierzu eine Kausalkette bei
der verschiedene Ereignisse aufeinander folgen, die eng miteinander verkn€upft sind.
Ein Ereignis wird dabei stets sowohl als die Reaktion eines vorhergehenden als auch
die Ursache eines darauf folgenden Ereignisses konzipiert: A!B!C!D!E. Es
wird jedoch dabei im Vergleich zu den vorherigen Mechanismen nicht eine Repro-
duktion einer Institution analysiert, sondern vielmehr deren Transformation von A
zu E (Mahoney 2000). Zudem ist hier ein methodologisches Caveat zu beachten. Die
Kausalkette sollte in der Erklärung nicht zu lang werden (oder zu große temporale
oder geographische Spr€unge machen), um plausibel zu bleiben. Die Grundidee
basiert auf einer engen Verkn€upfung der Kettenglieder miteinander. Will man eine
deterministische Erklärung vermeiden, w€urde bereits bei einer jeweiligen Wahr-
scheinlichkeit von 80 Prozent zwischen dem Auftreten der einzelnen Glieder die
Gesamtwahrscheinlichkeit des Eintretens der gesamten Kausalkette unter 50 Prozent
sinken, so dass man eher falsch denn richtig liegt. Zudem ist die Frage der kausalen
Verantwortlichkeit offen. Bei einer solchen Kausalkette zwischen A und E kann es
fraglich sein, ob A wirklich f€ur E kausal verantwortlich ist oder doch zu viele
Zwischenschritte nötig sind.
Der Ursprung des Konzepts der Pfadabhängigkeit findet sich in der Institutionen-
ökonomie und entspricht einem relativ engen Verständnis. Die Institutionenökono-
mik hat sich vor allem in den 1990er-Jahren in Abgrenzung zum dominanten
volkswirtschaftlichen Modell der Neoklassik entwickelt. Die Institutionenökonomik
geht wie die Neoklassik ebenfalls vom homo oeconomicus als dem volkswirtschaft-
lichen Leitbild aus, betont aber stärker die Einbettung der Akteure in institutionelle
Kontexte. Sie richtet sich damit gegen neoklassizistische Gleichgewichtsannahmen
von Angebot und Nachfrage und kritisiert deren inhärentes Effizienzdenken.
Ein Hauptunterschied zwischen den beiden Richtungen besteht in der Frage der
Skalenerträge. Skalenerträge beschreiben wie bei einer totalen Faktorvariation in der
Produktionstheorie das Output steigt, wenn man die Inputfaktoren, beispielsweise
Kapital und Arbeit, ändert. Wenn man beispielsweise mehr landwirtschaftliche
240 J. Gerschewski
Produkte aus einem Feld herausholen will und damit den Output steigern möchte,
muss man den Input, d. h. den Kapital- und Arbeitseinsatz, ebenfalls steigern. Es
können dabei die Maschinen verbessert, der Fuhrpark modernisiert, robustere An-
bausaat benutzt oder auch mehr D€unger verwendet werden. Steigt das Output nun
€
uberproportional zur Änderung der Inputfaktoren und sinken somit die Kosten f€ur
eine zusätzliche Einheit (Grenzkosten) eines Unternehmers, beobachtet man stei-
gende Skalenerträge (increasing returns to scale). In diesem empirisch äußerst selten
zu beobachtenden Fall w€urde man proportional mehr ernten, als man Kosten f€ur eine
zusätzliche Einheit aufbringen muss. F€ur die Modelle der Neoklassik ist dies ein
unmögliches Szenario. Die Neoklassik baut auf konstanten und fallenden Skalener-
trägen auf. Erstere liegen vor, wenn die Grenzkosten mit steigendem Output kons-
tant bleiben. Der am weitesten verbreitete Fall sind jedoch fallende Skalenerträge.
Mit zunehmendem Output steigen die Grenzkosten. In diesem auch intuitiv ver-
ständlichsten Fall nimmt man an, dass beispielsweise das Feld ausgelaugt ist und
man somit immer mehr d€ungen muss (d. h. Inputfaktoren €uberproportional erhöhen
muss), um mehr Ernte einzufahren. Die Kosten f€ur ein zusätzliches Produkt steigen
mit wachsendem Output. Diese fallenden Skalenerträge sind es auch, die es den
Mikroökonomen erlauben, einen Gleichgewichtszustand vorherzusagen, bei dem
die Ressourcen effizient alloziert werden. Historizität spielt in diesem Fall keine
Rolle und der Markt wird zu einem „mere carrier – the deliver of the inevitable“
(Arthur 1989, S. 127).
F€ur die empirische Anwendung des Pfadabhängigkeitskonzepts sind lediglich
Prozesse mit steigenden Skalenerträgen interessant. Dieser Fall bildet wie oben
angesprochen die empirische Ausnahme und ist daher in besonderem Maße begr€un-
dungsw€ urdig. Zwei Beispiele mögen die Idee der fallenden Grenzkosten bei stei-
gendem Output illustrieren: die ber€uhmte QWERTY-Tastatur bei der Schreibma-
schine und die VHS-Videokassette. Hier sind increasing returns zu erwarten. Die
Entwicklung der beiden Märkte folgt nicht einem strikten Effizienzdenken, bei dem
sich ein Gleichgewichtszustand einstellt. Die VHS-Videokassette hatte so beispiels-
weise urspr€ unglich die BETA-Technologie als Konkurrent: Jedoch konnte sie zu
Beginn einen so großen Vorsprung erwirtschaften und diesen Vorteil selber ver-
stärken, dass die technologisch ebenb€urtige BETA-Kassette diesen Vorsprung nicht
mehr wettmachen konnte. Je größer der Marktanteil einer Technologie wurde, desto
größer wurde ihr Nutzen aufgrund von positiven Externalitäten wie der Verbreitung
von Videorecordern oder dem Videoverleih. Es machte schlicht mehr Sinn, die eine
Technologie zu benutzen, die weiter verbreitet war und mit der mehrere Ankn€up-
fungspunkte bestanden (Arthur 1989). Es wurde kein effizientes Gleichgewicht
erzielt, sondern eine Technologie hat die andere gleichwertige Technologie heraus-
gedrängt. In ähnlicher Weise hat auch zuvor Paul David gezeigt, dass es bei der
Verbreitung der QWERTY-Tastatur nicht zu einem neoklassisch vorhersagbaren
Gleichgewicht kommt, sondern dass eine Technologie die andere ausgrenzt und
den Markt dominiert. War die Tastaturanordnung der Buchstaben Q, W, E, R, T und
Y zu Beginn lediglich mit Konstruktionsproblemen zu erklären, die aus heutiger
Sicht mit der Einf€uhrung des Computers irrelevant geworden sind, war sie zudem
der DHIATENSOR-Anordnung damals technisch unterlegen. Mit diesen 10
Pfadabhängigkeit in der Vergleichenden Politikwissenschaft 241
Hohe Transaktionskosten, die mit dem Wechsel eines Pfads einhergehen, erschwe-
ren einen Wechsel von einer zur anderen Institution (North 1990). Zweitens lassen
Lern- und Koordinationseffekt ebenfalls auf steigende Skalenerträge schließen.
Wenn zusätzliches Wissen erworben wird oder Erfahrungen von einem Gebiet in
das andere € uberspringen (spill-over effects), können fallende Grenzkosten resultie-
ren. Drittens rekurrieren Netzwerkeffekte auf den zusätzlichen Nutzen, den man
durch das Hinzuf€ugen eines zusätzlichen Akteurs zu einem Netzwerk erhält. Wird
beispielsweise ein bestehendes Kommunikationsnetzwerk um einen f€unften Akteur
erweitert, erhöhen sich die Verbindungsmöglichkeiten €uberproportional von 12 auf
20. Viertens verweist Arthur noch auf die Rolle von adaptiven Erwartungen. Auf der
Basis zuk€ unftiger Erwartungen wird eine Entscheidung gefällt und das Verhalten
entsprechend angepasst, so dass es zu einer sich selbst bewahrheitenden Vorhersage
kommt. F€ ur alle vier Mechanismen gilt, dass eine Institution in ihrer Wirkung
vertieft wird; sie lässt sich daher als eine Sequenz aus A!A!A!A schreiben.
Lassen sich diese konkreten Mechanismen in der Analyse sozialwissenschaftli-
cher Phänomene nachweisen, kann man auf pfadabhängige Prozesse schließen.
Pierson gilt als einer der prominentesten Autoren, der diese ökonomischen Ein-
sichten auf die Sozialwissenschaften, zumeist auf das Gebiet der Wohlfahrtstaatsre-
formen, € ubertragen hat. Er argumentiert, dass es im Wesen der politischen und
sozialen Interaktion ist, dass es verstärkt zu solchen increasing returns kommen
kann. Sowohl die Kollektivproblematik, die Machtasymmetrien als auch die insti-
tutionelle Dichte und Komplexität politischer Entscheidungsprozesse lassen Pfad-
abhängigkeiten nicht nur in der Ökonomie, sondern gerade auch in den Sozialwis-
senschaften vermuten (Pierson 2000, 2004). Auch wenn der Preis oftmals nicht als
Datum in den Sozialwissenschaften verf€ugbar ist, lässt sich die Idee der steigenden
Skalenerträge € ubertragen. Schl€usselfragen f€ur die empirische Forschung sind dann
Fragen nach dem Vorliegen der vier Eigenschaften (Nicht-Vorhersehbarkeit, Nicht-
Flexibilität, Nicht-Ergodizität, Aufkommen von Pfadineffizienzen) sowie der Me-
chanismen (Fixkostendegression, Koordinierung und Lernen, Netzwerken und
adaptiven Erwartungen). Damit ist ein eng definiertes Verständnis skizziert, das
jedoch den Vorteil einer hohen Konkretisierung mit sich bringt.
Die größte Stärke des Konzepts der Pfadabhängigkeit liegt in seiner Betonung der
Historizität von Ereignissen, dem Eingebettetsein in temporalen Prozessen. In allen
drei hier vorgestellten Varianten des Konzepts ist die Zeitfrage die entscheidende.
Das sehr weite Verständnis gleicht einer generellen Kritik an ahistorischen Rational-
Choice-Verfahren. Diese hat jedoch in den letzten Jahren stärker sowohl die Emer-
genz von Institutionen als auch deren beschränkende Wirkung in den Blick genom-
men, so dass ein History-Matters Argument kaum mehr in Zweifel gezogen wird (Bates
et al. 1998; Katznelson und Weingast 2005; Mayntz und Scharpf 1995). Das Konzept
mittlerer Reichweite argumentiert mit der sequentiellen Abfolge von Ereignissen und
betont zumindest in seiner spezifischeren Variante die Reproduktionsmechanismen
Pfadabhängigkeit in der Vergleichenden Politikwissenschaft 243
3 Zusammenfassung
Das Konzept der Pfadabhängigkeit ist in den Sozialwissenschaften sehr weit ver-
breitet. Es findet seinen Ursprung in der Debatte der Institutionenökonomik, die sich
von der herrschenden Lehrmeinung der volkwirtschaftlichen Neoklassik absetzen
wollte. Dieses enge ökonomische Verständnis, das vor allem auf Technologien
abzielte, wurde in den letzten Jahren in die Sozialwissenschaften transportiert. Es
findet empirische Anwendung in den unterschiedlichsten Feldern. Nicht nur die
244 J. Gerschewski
Vergleichende Politikwissenschaft und hier vor allem die Spielart des Historischen
Neo-Institutionalismus, sondern auch benachbarte sozialwissenschaftliche Sub-
disziplinen wie die Internationalen Beziehungen (IB) oder die Governance-
Forschung haben dieses Konzept f€ur ihre Erklärungen fruchtbar gemacht. Das
Konzept der Pfadabhängigkeit bietet den großen Vorteil, historische Kontinuitätsli-
nien und Mechanismen aufzuzeigen. Es betont, dass gegenwärtiges Handeln
sowohl in der Vergangenheit eingebettet ist als auch zuk€unftige Schatten voraus-
werfen kann. In diesem Sinne bietet es eine „Br€ucke“ zwischen Vergangenem und
Zuk€ unftigem an.
Mit der Ausweitung der Anwendungsfelder ist auch eine konzeptionelle Deh-
nung einhergegangen. Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll, auf unter-
schiedliche Konzepttiefen aufmerksam zu machen. Dieser Beitrag hat dabei zwi-
schen drei Verständnissen von Pfadabhängigkeit unterschieden. Der Kern aller drei
Auffassungen ist die Historizität von Ereignissen und Handlungen, die jedoch
unterschiedlich strikt ausgelegt werden. In der generellsten Form bietet das Konzept
der Pfadabhängigkeit ein notwendiges Korrektiv zu Erklärungen, die den beschränk-
enden Effekt von Institutionen außer Acht lassen. Im Gegenentwurf zu behaviora-
listischen und Rational-Choice Annahmen, dass empirisch beobachtbare Handlun-
gen zentral sind und als effizientes Ergebnis von Kosten-Nutzen-Kalk€ulen
dargestellt werden können, zeigt das Konzept der Pfadabhängigkeit auf, dass die
zeitliche Einbettung von solchen Handlungen verzerrend wirken kann. Eine Hand-
lung zum Zeitpunkt B ist oftmals nicht unabhängig vom vorherigen Zeitpunkt A zu
interpretieren.
Dieses recht vage History-Matters Argument findet heute bei den meisten Sozial-
wissenschaftlern breite Zustimmung. Eine stärkere Engf€uhrung lässt sich in der
Folge bei der Entwicklung von sequentiellen Theorien und Mechanismen feststellen.
Hier liegt die Herausforderung im Aufzeigen der konkreten Reproduktion und ihrer
sequentiellen Mechanismen. Pfadabhängigkeit ist damit immer noch die Br€ucke, die
in der Vergangenheit verankert ist und in die Zukunft reicht. Die Art und Weise, wie
vergangene Strukturen und Ereignisse auf die Gegenwart wirken und die Gegenwart
dann wiederum ihren Schatten auf zuk€unftige Entscheidungen werfen kann, wird
jedoch in diesem Verständnis geschärft. Es ist eine bestimmte zeitliche Abfolge von
Ereignissen. Nicht nur die Geschichte, sondern die Sequenz von Ereignissen ist
entscheidend.
Eine noch restriktivere Vorstellung von Pfadabhängigkeit stammt schließlich aus
der Institutionenökonomie. Wie oben angesprochen bildet es den konzeptionellen
Ursprung, wurde jedoch im Laufe der Zeit immer stärker in den Hintergrund ge-
drängt. Es bietet eine Erklärung daf€ur an, warum sich bestimmte Strukturen selbst
reproduzieren können. Eine solche innere Dynamik beruht auf steigenden Skalener-
trägen, die aus Lern-, Koordinations-, und Netzwerkeffekten sowie der Nicht-Über-
tragbarkeit von Investitionen resultieren. Die Herausforderung f€ur die Sozialwissen-
schaften liegt bei diesem dritten Verständnis in dem Aufzeigen solcher Effekte in der
empirischen Untersuchung. Gelingt dies, verbal oder numerisch, geht dies mit dem
Vorteil einer schlanken Erklärung einher.
Pfadabhängigkeit in der Vergleichenden Politikwissenschaft 245
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Konstruktivistische Ansätze in der
Vergleichenden Politikwissenschaft
Taylan Yildiz
Zusammenfassung
Der Konstruktivismus hat in der Politikwissenschaft einen rasanten Aufstieg
erlebt. Dennoch ist er in der Komparatistik bisher eher vernachlässigt worden.
So fehlen in den einschlägigen Einf€uhrungen der Teildisziplin nach wie vor
eigene Abhandlungen zum Konstruktivismus. Das bedeutet jedoch nicht, dass
er in seiner Forschungspraxis keine Rolle spielen w€urde. Vielmehr zeichnen sich
verstärkt Hinweise ab, die sich f€ur die Eröffnung einer konstruktivistischen Ver-
gleichsperspektive aufgreifen lassen. Im vorliegenden Beitrag soll nach diesen
stillen, teilweise verstreuten Hinwendungen gefragt werden. Zunächst aber f€uhrt
er in die methodologischen Kontroversen ein, die seinen Erfolg in den akademi-
schen Disziplinen ermöglicht haben. Abschließend wird ein Ausblick auf ausge-
wählte Modelle gegeben, die es erlauben, die unterschiedlichen Hinweise stärker
aufeinander zu beziehen und zu systematisieren. Dabei ist jedoch zu beachten,
dass sich der Konstruktivismus aufgrund seiner heterogenen Anlage methodolo-
gisch nicht eindeutig fixieren lässt. Aber genau das eröffnet flexible Anwen-
dungsmöglichkeiten f€ur das theoretische und empirische Arbeiten in der Kom-
paratistik.
Schlüsselwörter
Vergleichende Politikwissenschaft • Konstruktivismus • Interpretative Politikfor-
schung • Doppelte Hermeneutik • Poststrukturalismus
T. Yildiz (*)
Akademischer Rat a. Z. am Lehrstuhl f€ur Politikwissenschaft, Institut f€
ur Politikwissenschaf,
Universität Duisburg-Essen, Duisburg, Deutschland
E-Mail: taylan.yildiz@uni-due.de
1 Einleitung
F€ur die komparative Forschung eröffnet sich durch den Konstruktivismus eine
weitere Theorieperspektive. Ihm liegt allerdings keine einheitliche Theoriebildung
zugrunde. Vielmehr beruht er auf einem breiten Spektrum von Arbeiten, die sich
durch zwei methodologisch offene Annahmen auszeichnen. Eine erste zentrale
These des Konstruktivismus ist, dass die Wirklichkeit nicht objektiv gegeben ist,
sondern nur beobachterabhängig begriffen werden könne. Einer zweiten wichtigen
Vermutung nach kann die Wirklichkeit nicht nur unterschiedlich wahrgenommen
werden. Sie ist zudem sozialen Interventionen ausgesetzt und wird durch tätige
Akteure fortlaufend geformt und €uberformt. Beide Annahmen gehen damit €uber
die in der Politikwissenschaft dominierenden Handlungsmodelle hinaus, insofern
die soziale Konstruktion der Wirklichkeit weder in den rationalen Kalk€ulen der
Akteure (homo oeconomicus) noch in ihren normativen Erwägungen (homo socio-
logicus) allein verankert werden kann. Vielmehr ist vor dem Hintergrund beider
Annahmen danach zu fragen, wie das Wissen €uber die Wirklichkeit hervorgebracht
wird und wie sich die Welt infolge solcher Prozesse verändert1 (Berger und Luck-
mann 1969).
Mit dieser Grundlegung geht die keineswegs einfache Aufgabe einher, sowohl
die eigene Rolle im Forschungsprozess kritisch mitdenken zu m€ussen als auch
kontextsensible Forschungsstrategien zu entwerfen, die den laufenden Wandel des
Beobachteten auf nachvollziehbare Weise sichtbar machen können. Trotz dieser
enormen Schwierigkeit lässt sich eine bemerkenswerte Verbreitung des Konstrukti-
vismus in den akademischen Disziplinen erkennen. Dies, so Ian Hacking, scheint
damit zusammenzuhängen, dass er den Blick vom Zwang etablierter Machtver-
hältnisse befreit und damit selbst tief verankerte Gewissheiten nicht mehr als „unum-
stößlich festgelegt“, sondern als veränderbare Ergebnisse „geschichtlicher Ereignis-
se, sozialer Kräfte und Ideologien“ begreifbar gemacht habe (Hacking 1999, S. 12).
Jedoch ist der Erfolg des Konstruktivismus nicht nur im Hinblick auf den Abbau
€
uberfälliger Ordnungen zu erklären. Auch f€ur die Entfaltung eines zukunftsgerich-
teten Denkens war die Annahme prägend, dass das, was in einem spezifischen raum-
zeitlichen Kontext unmöglich erscheint, durch den organisierten Zusammenschluss
ausgewählter Kräfte möglich gemacht werden könne. Retrospektiv betrachtet gilt
dies f€ur literarische Werke wie Francis Bacons Nova Atlantis oder Harriet Beecher-
Stowes Sklavendrama Onkel Toms H€utte ebenso wie f€ur eine Reihe utopischer
Denkfiguren aus den Natur- und Technikwissenschaften (etwa Quantenphysik,
Kybernetik). Diese und ähnliche Beispiele bekräftigen die konstruktivistische These,
dass sich die Wirklichkeit allein schon durch die Formulierung und Verbreitung
fiktiver Entw€ urfe nachhaltig verändern lässt; besonders dann, wenn sie als beengend
empfunden wird und ein Hebel in Aussicht gestellt werden kann, an dem sich
ihre Befreiung dann auch bewerkstelligen ließe. Dass aber die ideengeleitete
1
F€ur hilfreiche Anmerkungen danke ich den Herausgebern Hans-Joachim Lauth und Marianne
Kneuer sowie Sebastian Jarzebski.
Konstruktivistische Ansätze in der Vergleichenden Politikwissenschaft 249
Veränderung der Wirklichkeit auch im Dienst destruktiver Kräfte stehen kann, wurde
vor allem in Zygmunt Baumans eindrucksvoller Arbeit zum Holocaust (1992)
erkennbar. So verwundert es kaum, dass der Konstruktivismus zunächst eine Viel-
zahl kritischer Studien angeregt hatte, die sich hauptsächlich mit ethnisch motivierter
(Fearon und Laitin 2000) oder auch staatlich organisierter Gewalt (Rae 2002) be-
schäftigen.
Geht man davon aus, dass das grundlegende Anliegen demokratischer Politik die
Verbesserung sozialer Verhältnisse ist, kommt es fast schon seltsam vor, dass der
Konstruktivismus bisher nur zögerlich Eingang in die komparatistische Forschung
gefunden hat. Schließlich kann behauptet werden, dass das Herstellen kollektiv
verbindlicher Entscheidungen eine schöpferische Tätigkeit ist, wodurch der ver-
gleichenden Analyse von politischen Konstruktionsleistungen eine elementare
Bedeutung innerhalb der Politikwissenschaft insgesamt erwächst. Nimmt sich die
Komparatistik dieser Aufgabe an, kann sie nicht nur die theoretische Pluralisierung
und Methodenvielfalt ihres Faches bekräftigen. Sie kann auch den Ausweg aus
einem Grundsatzproblem finden, das mit der zunehmenden Verdichtung von Glo-
balisierungsprozessen einhergeht; und zwar die Tatsache, dass sich Nationalstaaten,
die noch immer als zentrale Vergleichsobjekte gehandelt werden, zunehmend wech-
selseitigen Einfl€
ussen aussetzen. Diese Entwicklung fordert die Vergleichende Poli-
tikwissenschaft dazu auf, plausible Antworten auf die Frage zu finden, wie Gegen-
stände verglichen werden können, die sich immer stärker miteinander verzahnen. Da
das „Verzahnen“ als eine als konstruktive Tätigkeit verstanden werden kann, emp-
fiehlt es sich auch mit konstruktivistischen Vergleichsperspektiven aufzuschlagen.
Eine erste Antwort darauf lässt sich in den Bem€uhungen der Komparatistik
erkennen, neue Typologien zur Grauzonenerfassung zu entwickeln und Kriterien
zur Bestimmung der Schwellenwerte festzulegen (Lauth 2002). Wenngleich dabei
weniger die ordnungspolitischen Folgen der Globalisierung im Fokus stehen, wird
doch auch hier mit dem f€ur konstruktivistische Perspektiven wichtigen Befund
gearbeitet, dass sich jenseits der gängigen Unterscheidungen völlig neue Regime-
typen und Ordnungsmuster etablieren, die bislang nur ungenau beschrieben werden
können. Aber auch dort, wo die Globalisierung als Herausforderung (Galtonsprob-
lem) explizit benannt wird (Jahn 2009), lassen sich konstruktivistische Perspektiven
256 T. Yildiz
erkennen, insofern hier neue Diffusionsmodelle eingef€uhrt werden, die den Einfluss
der Nationalstaaten aufeinander greifbar machen können.
Radikale Varianten aber bleiben nicht auf dieser epistemologischen Ebene stehen.
Sie folgen einer Ontologie der Werdung (Hay 2002), die sich insbesondere f€ur die
kulturellen Interferenzen interessiert und damit nicht die Konstruktionsgegenstände,
sondern die Konstruktionsprozesse in den Fokus r€uckt. Hall und Lamont (2013,
S. 55) benennen drei solcher Modelle, die f€ur die Komparatistik bedeutsam sind:
Das Modell der cultural repertoires, das der symbolic boundaries und der collective
imaginaries. Diese Liste lässt sich durch den Narrativ-Ansatz sinnvoll erweitern.
Ausgangspunkt des ersten Modells ist die Überlegung, dass politische Ordnungen
auf keinen einheitlichen Kulturmustern aufruhen, sondern heterogen verfasst sind.
Dies kann sich in zweifacher Hinsicht äußern: Entweder auf der semiotischen Ebene
als konkurrierende Norm- und Bedeutungssysteme, oder praxeologisch, wenn be-
stimmte Normen und Bedeutungen im Kontext verschiedener Auslegungspraktiken
unterschiedliche Handlungsstrategien evozieren (Swidler 1986). So beziehen sich
Gewerkschaften wie Arbeitgeberverbände gleichermaßen auf den Wert des ökono-
mischen Wachstums, favorisieren aber unterschiedliche Strategien zu ihrer Verwirk-
lichung, so dass trotz normativer Übereinstimmungen oft starke kulturelle Spannun-
gen sp€ urbar werden. Ein weiteres empirisches Anwendungsbeispiel f€ur das Modell
liefert hier – neben Lamont und Thévenot (2000) – auch Yasemin Nuhoğlu Soysal
(1994), die zeigt, wie europäische Integrationspolitiken im Kontext unterschiedli-
cher kultureller Bez€uge auch unterschiedlich evolvieren und wie dieser Prozess
seinerseits von einem globalen Menschenrechtsdiskurs beeinflusst wird. Grundsätz-
licher geht hier Heather Rae (2002) vor, die den Verlauf der europäischen Staats-
bildungen im Hinblick auf die kulturellen Homogenisierungspraktiken untersucht
und dabei die These stärkt, dass kulturelle aber auch physische Gewaltpraktiken f€ur
Ordnungsbildungen elementar sind.
Eine zweite von Hall und Lamont anvisierte Möglichkeit f€ur eine konstruktivis-
tische Vergleichsperspektive bietet das Studium symbolischer Grenzziehungen. Hier
wird der Prozess der sozialen Konstruktion im Hinblick auf die symbolischen
Kategorisierungen untersucht, die die Akteure f€ur die Umsetzung ihrer politischen
Vorhaben benötigen und mittels derer sie die Unterscheidung von Ordnung und
Chaos € uberhaupt erst treffen können. Aus dieser Sicht nehmen moderne Gesell-
schaften traditionelle Differenzen nicht nur widerwillig auf. Sie erzeugen und
reproduzieren sie teilweise auch, oder schaffen gar völlig neue Formen (Bauman
1995; Wieviorka 2003). Deshalb eignet sich der Ansatz auch besonders gut f€ur die
vergleichende Konfliktforschung. Denn dort kann er einen wichtigen Beitrag zur
Frage leisten, wie Differenzen politisiert werden und wie sich innerhalb solcher
Konstruktionen die Anwendung körperlicher Gewalt legitimiert. Die Fokussierung
der vergleichenden Methode auf symbolische Klassifikationen kann aber auch im
Kontext harmloserer Forschungsfelder erfolgen. Denkbar ist beispielsweise der
Vergleich symbolischer Grenzziehungen, wie sie in den verschiedenen Debatten
€uber die Integration von Migranten zu beobachten sind.
Eine dritte Möglichkeit zur Herausbildung eines konstruktivistischen Vergleichs-
designs eröffnet das Modell der kollektiven Imaginative, das von Hall und Lamont
Konstruktivistische Ansätze in der Vergleichenden Politikwissenschaft 257
(2013, S. 57) als „an essential analytical tool for understanding social change“
ausgewiesen wird. Das liegt daran, dass politische Ordnungen nicht nur kulturell
vermittelt sind, sondern in weitaus grundlegenderer Weise auf Imaginativen auf-
ruhen, die das Vergangene mit dem K€unftigen kraft der Phantasie sinnvoll ver-
kn€upfen können und so das Verhältnis der Menschen in der Jetztzeit flexibel halten
(Anderson 1996; Taylor 2004; Steger 2008). Verkn€upfungen dieser Art, so Hall und
Lamont, ermöglichen es nicht nur, dass sich Individuen oder Gruppen mit subjekti-
ven Orientierungen und Symbolen versorgen und dadurch ihre gesellschaftliche
Integrationsfähigkeit verb€urgen können. Sie gestatten es auch, dass sich wider-
standsfähige Institutionen ausbilden und unter den Bedingungen kollektiver Krisen-
erfahrungen kreative Energien abrufbar sind (Bouchard 2008). Dass das Abrufen
kreativer Energien nicht immer gut begr€undete Strategien nach sich zieht, wie oben
angemerkt wurde, zeigt etwa das Beispiel des War on Terror, in dem die literarisch
tradierte Vorstellung von einer City upon a Hill vor dem Hintergrund der Schock-
erfahrung des 9/11 geradezu kreuzz€uglerisch ausgelegt wurde (Gadinger 2015).
Schließlich lässt sich hier noch der Begriff der narrativen Praktiken anf€uhren.
Damit sind literarische Techniken gemeint, die den Gebrauch kultureller Muster,
Symbole oder Imaginative in der kommunikativen Praxis ermöglichen. Dabei zielen
Narrativanalysen besonders auf die Verwendung von Metaphern und Raum-Zeit-
Konfigurationen ab, in deren Referenzahmen politische Zustände kritisiert oder auch
gerechtfertigt werden (Viehöver 2012; Gadinger et al. 2014). Der Blick auf die
sprachliche Praxis sozialer Konstruktionsprozesse zeigt, dass in umkämpften Poli-
tikfeldern besonders das Erzählen sinnstiftend wirkt. Denn dort erlaubt es einzelne
Deutungsschritte auch dann aufeinander abzustimmen, wenn sich die Streitparteien
unablässig um die Forcierung ihres Konfliktes bem€uhen. Dieser Aufgabe werden
narrative Praktiken insbesondere dadurch gerecht, in dem „sie in ihrer Suche nach
Plausibilitäten wenig wählerisch sind (und) auf synkretistische Weise alle verf€ugba-
ren Evidenzen“ zusammenziehen erlauben (Koschorke 2012, S. 238). Der Erfolg
oder das Scheitern von Wahrheitsanspr€uchen wird so weniger von der „empirischen
Verifikation als von der inneren Logik und der rhetorischen Überzeugungskraft der
Erzählung“ abhängig gemacht (Somers 2012, S. 280). Narrativanalysen können
damit einerseits nachvollziehbar machen, wie bestimmte symbolische Ordnungen
und Imaginative Differenzierungsprozesse konstituieren oder gar radikalisieren.
Andererseits sind sie auch in der Lage, vorhandene, aber im Diskurs noch weitge-
hend unerschlossene Perspektiven f€ur eine De-Eskalierung der politischen Sprache
sichtbar zu machen.
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Rational Choice in der Vergleichenden
Politikwissenschaft
Johannes Marx
Zusammenfassung
Rational Choice Ansätze gehören zu den wichtigsten theoretischen Konzepten in
der Vergleichenden Politikwissenschaft. Ihre Kernannahmen und zentralen Axio-
me werden in diesem Beitrag dargestellt. Innerhalb von Rational Choice lassen
sich zwei große Strömungen unterscheiden, die im Hinblick auf ihre dominante
Erklärungsstrategie differieren. Ihre jeweiligen Stärken und Schwächen im Hin-
blick auf die Formulierung sozialwissenschaftlicher Erklärungen werden skizziert
und es wird auf typische Anwendungen in der Vergleichenden Politikwissen-
schaft verwiesen. Es wird argumentiert, dass die Entscheidung f€ur eine dieser
Strömungen Implikationen f€ur die Menge möglicher Fragestellungen und f€ur die
Reichweite der Erklärung hat.
Schlüsselwörter
Rational Choice • Vergleichende Politikwissenschaft • Erklärung
1 Einleitung
J. Marx (*)
Professor f€ur Politische Theorie, Institut f€
ur Politikwissenschaft, Universität Bamberg, Bamberg,
Deutschland
E-Mail: johannes.marx@uni-bamberg.de
Ökonomische Theorien zielen nach gängiger Auffassung auf die Erklärung zielgerich-
teten Handelns ab. Unter Handeln versteht man in den Sozialwissenschaften jene
Akteursaktivitäten, die von Motiven geleitet sind. In gewisser Weise ist das Adjektiv
‚zielgerichtet‘ an dieser Stelle unnötig. Es dient lediglich zur Kennzeichnung derjenigen
Formen von Akteursaktivität, die nicht bloßes Verhalten etwa im Sinne von Reiz-
Reaktion-Automatismen darstellen, sondern die als ‚Handlung‘ bezeichnet werden kön-
nen. Dar€uber hinaus gewährleistet diese Formulierung, dass alle Entitäten, die zu zielge-
richtetem Handeln fähig sind, in dieser Bestimmung des Anwendungsbereichs ökonomi-
scher Theorien enthalten sind. Dies gilt auch f€ur korporative Akteure wie beispielsweise
Unternehmen, Verbände und Staaten. Diese Formulierung verlangt außerdem nicht, dass
die gesamte Aktivität eines Akteurs immer mit Hilfe der ökonomischen Theorie
analysiert werden muss. Neben der Theorie besteht durchaus Platz f€ur nicht-rationale
Aktivitäten, die beispielsweise habituell motiviert oder zufällig gewählt sein können.
Ökonomische Theorien zeichnen sich durch eine Reihe von gemeinsamen Annah-
men aus: Erstens sind die Präferenzen der Akteure eine zentrale Determinante mensch-
lichen Handelns. In den Präferenzen werden die Bed€urfnisse als Antriebskraft des
Akteurshandelns repräsentiert. Rational Choice Theorien sind prinzipiell hinsichtlich
der Zieldimension menschlichen Handelns offen. Es ist eine empirische und keine
theoretische Frage, welche Präferenzen die Akteure aufweisen. Zweitens spielen
Restriktionen eine wichtige Rolle in ökonomischen Handlungserklärungen. Sie erfassen
die in einer Situation gegebenen Beschränkungen des Handlungsraums. Auch die
Restriktionen können materieller (z. B. finanzielle Kosten) und immaterieller Natur
(z. B. moralische Ächtung) sein. Drittens findet sich in ökonomischen Theorien die
Annahme, dass Akteure vor dem Hintergrund ihrer Präferenzen und der in der
Rational Choice in der Vergleichenden Politikwissenschaft 263
H i ¼ Handlungsalternative i
der Akteure nicht ordinaler, sondern kardinaler Natur ist. Eine Reihe weiterer Rationa-
litätsbedingungen muss f€ur die Formulierung kardinaler Nutzenfunktionen gegeben sein
(Nida-R€ umelin 1994), von denen hier nur auf die Bedingung der Kontinuität einge-
gangen werden soll. Angenommen, ein Akteur hätte sich zwischen drei G€utern (A, B, C)
zu entscheiden: Hat er das Gut B sicher, während A mit der Wahrscheinlichkeit p und C
mit der Gegenwahrscheinlichkeit (1-p) eintreten, dann verlangt die Kontinuitätsbedin-
gung, dass eine gewisse Wahrscheinlichkeit p gegeben ist, so dass der Akteur zwischen
B und der Lotterie aus A und C indifferent ist (Lovett 2006, S. 255).
Wenn oben von Präferenzordnung die Rede ist, beziehe ich mich dabei auf eine
Rangordnung der Handlungskonsequenzen. Der Begriff der Präferenzordnung wird
auch in einer zweiten Bedeutung verwendet. Dann bezieht man sich auf die Ordnung
der Handlungsalternativen hinsichtlich der Höhe ihres EU-Wertes. Die Begriffsver-
wendungen können unter gewissen Bedingungen synonym sein: Dies ist der Fall,
wenn wir in einer Welt der Gewissheit ( p ¼ 1 ) agieren und mögliche erwartete
Handlungskonsequenzen einer Handlungsalternative (1 U 1 þ 1 U2 þ . . . 1 Un)
zu einer sicheren Konsequenz Ugewiss zusammengefasst werden können. Mit der
Aus€ ubung einer Handlungsalternative unter Risiko realisiert man jedoch in aller
Regel diverse mehr oder weniger w€unschenswerte Konsequenzen, deren Bewertung
sich in der Präferenzordnung eines Akteurs widerspiegelt. Elster fasst dies folgen-
dermaßen zusammen: „Preferences can be defined over outcomes or over actions. I
shall assume that the latter are derived from the former, so that one prefers an action
over another because one prefers the outcome it brings about“ (Elster 1985, S. 67).
Die zweifache Begriffsverwendung kann zu Problemen f€uhren. Häufig findet
man in der Literatur die Argumentation, dass Handlungsänderungen auf Präferenz-
änderungen zur€ uckgef€uhrt werden. Nicht immer wird dort hinreichend klar, worauf
sich der Präferenzbegriff bezieht. Dieser Zusammenhang wäre aber rein tautologi-
scher Natur, wenn man sich mit ‚Präferenzordnung‘ auf Handlungsalternativen
bezieht. Um die Frage zu einer empirischen Frage zu machen, ist es sinnvoll, beide
Begriffe voneinander zu trennen: Handlungsänderungen haben damit nicht notwen-
dig Präferenzänderungen als Ursache, wenn man sich mit ‚Präferenzordnung‘ auf
die Ordnung der Konsequenzen bezieht.
Im Folgenden sollen zwei unterschiedliche Strömungen innerhalb der ökonomi-
schen Theorien näher vorgestellt werden. Dabei wird ein Fokus darauf gelegt,
welche Unterschiede hinsichtlich der verwendeten Erklärungsstrategie bestehen.
3 Methodologischer Individualismus,
Mehrebenenerklärungen und Strömungen innerhalb von
Rational Choice
Akteur Handlung
f€ur die Position des methodologischen Individualismus entschieden hat. Diese Posi-
tion bestreitet, dass es soziale Gesetzmäßigkeiten auf der Makroebene gibt. Stattdessen
sollen soziale Veränderungen auf das Handeln von Akteuren auf der Mikroebene
zur€uckgef€ uhrt werden. Es handelt sich somit um Mehrebenenerklärungen.
Im Einzelnen werden daf€ur drei Schritte vorgeschlagen (Abb. 1): In einem ersten
Schritt muss die Situationswahrnehmung des Akteurs beschrieben werden (Logik
der Situation). Die bei der Beschreibung zu beachtenden relevanten Merkmale
resultieren aus der verwendeten Handlungstheorie. Aus Rational Choice Perspektive
gilt es, die wahrgenommenen Handlungsalternativen, die mit diesen Alternativen
verbundenen erwarteten Handlungskonsequenzen und ihre Bewertung zu erfassen.
Bei diesem Schritt wird eine Br€ucke von den gegebenen Merkmalen der Handlungs-
situation auf der Makroebene zu der individuellen Interpretation dieser Charakteris-
tika auf der Mikroebene geschlagen und in Form von Br€uckenhypothesen formu-
liert. In einem zweiten Schritt kann dann vor dem Hintergrund dieser Rekonstruktion
der individuellen Handlungssituation das Verhalten des Akteurs in den Blick genom-
men werden. Dieser Schritt wird die Logik der Selektion genannt. Aus Rational
Choice Perspektive wird nun erwartet, dass der Akteur sich rational verhält und
diejenige Handlungsalternative wählt, die seinen Erwartungsnutzen maximiert.
Daneben sind aber auch andere Selektionsregeln denkbar, beispielsweise wenn die
Akteure unter Gewissheit oder Unwissenheit agieren m€ussen. In einem dritten
Schritt kann nun wieder eine Br€ucke zwischen der individuellen Handlung des
Akteurs und der Makroebene hergestellt werden, indem mittels erneuter Br€ucken-
hypothesen der Aggregationsprozess der individuellen Handlungen zu sozialen
Phänomenen gefasst wird (Logik der Aggregation). Auch wenn das Programm
vorsieht, die Explananda auf das intendierte und rationale Handeln von Akteuren
zur€uckzuf€ uhren, erlaubt die Logik der Aggregation Phänomene zu untersuchen, wo
es um nicht-intendierte Effekte rationalen Handelns geht (Schelling 1978). Häufig
werden diese Schritte nicht explizit durchgef€uhrt, implizit findet man sie jedoch in
allen Rational Choice Erklärungen sozialer Sachverhalte wieder.
Neben diesen Gemeinsamkeiten finden sich zwei unterschiedliche Schwerpunktset-
zungen in der positiven Literatur zu Rational Choice (Kliemt 1996): Erstens kann man
die Rational Choice Theorien im Sinne einer Entscheidungstheorie verstehen, die
darauf abzielt, das individuelle Entscheidungsverhalten der Akteure verhaltenstheore-
tisch zu erfassen. Zweitens kann Rational Choice mit dem Ziel zur Anwendung
kommen, typisches Verhalten von Akteuren aus einer externen Perspektive zu erklären
bzw. zu prognostizieren. Die beiden Perspektiven werden in den folgenden zwei Ab-
schnitten detaillierter vorgestellt und im Hinblick auf die Frage diskutiert, auf welche
Strategie sie zur Formulierung sozialwissenschaftlicher Erklärungen zur€uckgreifen.
266 J. Marx
Analysen mit Rational Choice bieten sich an, wenn das Handeln durch formale
Institutionen bestimmt ist und Handlungserklärungen primär mit der Variable ‚Restrik-
tionen‘ arbeiten können. Hier erlauben die Restriktionen, auf das aufwendige
Erheben individueller Präferenzen zu verzichten. Mit einer solchen Strategie lässt
sich allerdings nur typisches Handeln in stark institutionalisierten Kontexten erklä-
ren. Komplexer gestalten sich Erklärungen, wenn es um die Erklärung politischen
Verhaltens geht, das außerhalb formaler Institutionen stattfindet (Mahoney 2000,
S. 90) oder durch Emotionen, Werte oder Kultur bestimmt wird. Hier sind Hand-
lungserklärungen nur möglich, wenn Wissen €uber die Präferenzen zugänglich ist.
Aus der Perspektive der ersten Strömung des Rational Choice Ansatzes sind auch
auf diese Art motivierte Handlungen mit Hilfe des ökonomischen Instrumentariums
erklärbar. Die Herausforderung besteht allerdings darin, die individuelle Definition
der Situation adäquat abzubilden. Dieser Anspruch verlangt tiefe Kenntnisse der
akteursspezifischen Eigenschaften. So lassen sich j€ungere Arbeiten aus der Neuro-
ökonomie oder der Sozialpsychologie als Erweiterungen dieser Rational Choice
Strömung verstehen, die an der Rekonstruktion der individuellen Rationalitätsstan-
dards arbeiten. Die Integration emotionalen Handelns, kognitiver Fehlleistungen etc.
in das Anwendungsgebiet der Theorien rationalen Handelns verlangt jedoch weit-
gehende Modifikationen beispielsweise hinsichtlich der Eigenschaften der Präfe-
renzordnung bzw. des Umgangs der Akteure mit Wahrscheinlichkeiten. Folgt man
dieser Perspektive muss man sich mit der Frage auseinandersetzen, was wir dann
noch mit dem Begriff ‚rational‘ auszeichnen wollen.
Folgt man der zweiten Strömung des Rational Choice Ansatzes, können ökono-
mische Theorien in solchen Fällen lediglich zur Formulierung eines normativen
Rational Choice in der Vergleichenden Politikwissenschaft 269
Ideals herangezogen werden. Mit Hilfe der Rational Choice Theorie ließe sich dann
klären, wie man sich verhalten sollte, wenn man rational agieren möchte. Spannend
ist dann die Frage, warum und in welchem Ausmaß von diesem als rational ge-
kennzeichnetem Verhalten abgewichen wird. Wie dieses abweichende Handeln
erklärt werden kann, ist jedoch aus dieser Perspektive nicht mehr Gegenstand der
Rational Choice Theorie.
Insgesamt betrachtet haben Rational Choice Theorien Stärken in der Aufdeckung
der Mechanismen, warum kollektive G€uter trotz allgemein geteilten Interesses an
diesen G€ utern nicht in ausreichendem Maß produziert werden (Olson 1982, 2000),
warum in manchen strategischen Handlungssituationen gerade die suboptimale
Handlungskonsequenz als Interaktionsergebnis realisiert wird (Tsebelis 1990) und
nur unter gewissen Bedingungen institutionelle Lösungen f€ur solche Probleme
gefunden werden können. Dar€uber hinaus verbindet Rational Choice Studien das
Bem€ uhen, schlanke Erklärungen zu formulieren und daf€ur auf allgemeine Gesetz-
mäßigkeiten zur€ uckzugreifen. Im Mittelpunkt steht der Versuch, mit Hilfe der
Theorie rationalen Handelns eine sinnvolle Verbindung zwischen unabhängigen
Variablen auf der Makroebene, individuellem Handeln auf der Mikroebene und zu
erklärendem Phänomen auf der Makroebene herzustellen, indem der die Variablen
verbindende kausale Mechanismus offengelegt wird.
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270 J. Marx
Zusammenfassung
Sozialkapital stellt ein bedeutendes Konzept innerhalb der Vergleichenden Poli-
tikwissenschaft dar. Basierend auf den Arbeiten von Bourdieu (1983), Coleman
(1990) und Putnam (1993, 2000) beschreibt es den Wert sozialer Beziehungen.
Der vorliegende Beitrag gibt einen Überblick € uber aktuelle konzeptionelle De-
batten in diesem Forschungsfeld sowie €uber empirische Befunde zum Bestand, zu
den Bedingungen und Wirkungen von Sozialkapital.
Schlüsselwörter
Normen der Gegenseitigkeit • Soziales Vertrauen • Soziale Netzwerke • Bedin-
gungen von Sozialkapital • Wirkungen von Sozialkapital
Seit den 1990er-Jahren hat sich das Konzept des Sozialkapitals als feste Größe
innerhalb der Politikwissenschaft etabliert. Seine Urspr€unge gehen auf den amerika-
nischen Pädagogen Lyda Judson Hanifan (1920) zur€uck, der bereits zu Beginn des
letzten Jahrhunderts den Begriff „Sozialkapital“ verwendete, um auf die Wichtigkeit
von zivilem Engagement f€ur die Gemeinschaft und die Demokratie hinzuweisen. Zu
größerer Bekanntheit gelangte Sozialkapital aber erst durch die Arbeiten von Bour-
K. Ackermann (*)
PhD candidate and research assistant, Institut f€
ur Politikwissenschaft, Universität Bern, Bern,
Schweiz
E-Mail: kathrin.ackermann@ipw.unibe.ch
M. Freitag
Professor f€ur Politische Soziologie, Institut f€
ur Politikwissenschaft, Universität Bern, Bern,
Schweiz
E-Mail: markus.freitag@ipw.unibe.ch
dieu (1983), Coleman (1990) und Putnam (1993, 2000), dessen politisch-kulturell
ambitionierten Analysen zu Italien und Amerika das Konzept schließlich fest in der
politikwissenschaftlichen Forschung verankerten. F€ur Bourdieu (1983, S. 190 f.)
steht der Begriff des sozialen Kapitals f€ur „die Gesamtheit der aktuellen und
potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes oder
Anerkennens verbunden sind; oder, anders ausgedr€uckt, es handelt sich dabei um
Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen.“ Der analytische
R€uckgriff auf Sozialkapital war f€ur Bourdieu unumgänglich, um die immerwährende
Reproduktion gesellschaftlicher Ungleichheiten zu erklären, welche durch kultur-
elles und ökonomisches Kapital nur unzureichend erfasst wurde. Coleman (1990)
wiederum bettet Sozialkapital in seine Analysen zu interessengesteuerten Hand-
lungen in sozialen Kontexten ein und versteht unter sozialem Kapital Aspekte
sozialer Beziehungen, wie etwa Vertrauen oder Verpflichtungen, die Kooperation
zwischen rationalen Akteuren ermöglichen. Putnam (1993, 2000) schließlich kon-
kretisiert Colemans Sichtweise und versteht Sozialkapital zunächst als „features of
social organization, such as trust, norms and networks, that can improve efficiency of
society by faciliating coordinated actions“ (Putnam 1993, S. 167). In seinem späte-
ren Werk Bowling Alone verleiht er seiner Definition eine kausale Konnotation, in
dem er eine positive Wirkung von Netzwerken auf die Entwicklung von Normen der
Gegenseitigkeit und des Vertrauens annimmt: „social capital refers to connections
among individuals – social networks and the norms of reciprocity and trustworthi-
ness that arise from them“ (Putnam 2000, S. 19).
Geprägt durch die jeweilige Forschungstradition betonen diese drei Klassiker der
Sozialkapitalliteratur unterschiedliche Aspekte des Konzepts. Der Minimalkonsens
der Definitionen besteht darin, den Wert sozialer Beziehungen als Sozialkapital zu
bezeichnen (Portes 1998; Stolle 2009). F€ur die politikwissenschaftliche Analyse
sind insbesondere die Begriffsbestimmungen und konzeptionellen Blaupausen von
Putnam (1993, 2000) von Relevanz. Die daraus entstandenen Debatten zum Sozial-
kapital stehen im Fokus des vorliegenden Beitrags. Im Anschluss an die konzeption-
ellen Ausf€uhrungen werden empirische Befunde zum Bestand, zu den Bedingungen
und Auswirkungen von Sozialkapital dargelegt.
Ausgehend von der Definition von Putnam (1993, 2000) lassen sich drei Manifes-
tationen des sozialen Kapitals unterscheiden: Soziale Netzwerke, Vertrauen und
Normen der Gegenseitigkeit. Sie variieren hinsichtlich ihrer Entstehungsbedingun-
gen und Wirkungen. Vor diesem Hintergrund hat sich innerhalb der Sozialkapital-
forschung eine getrennte Betrachtung der unterschiedlichen Dimensionen des Kon-
zepts gegen€
uber zusammenfassenden Maßzahlen und Indizes durchgesetzt (Dekker
und Uslaner 2001; Franzen und Pointner 2007; Stolle und Hooghe 2005). Um die
Social Capital in der Vergleichenden Politikwissenschaft 273
1
Die generalisierte Vertrauensfrage in der deutschen Übersetzung des ESS-Fragebogens lautet:
„Ganz allgemein gesprochen: Glauben Sie, dass man den meisten Menschen vertrauen kann, oder
dass man im Umgang mit anderen Menschen nicht vorsichtig genug sein kann?“ (European Social
Survey 2012)
274 K. Ackermann und M. Freitag
f€
ur Großbritannien, dass 40 Prozent der Befragten nicht an Fremde, sondern an
persönlich bekannte Personen denken. Die international vergleichende Studie von
Delhey et al. (2011) kann diese Befunde zwar relativieren und zeigt, dass die Frage
in der Mehrheit der untersuchten Länder €uberwiegend out-group Vertrauen erfasst
(vgl. dazu auch Delhey et al. 2014; van Hoorn 2014; Torpe und Lolle 2011).
Gleichzeitig variiert der tatsächliche Vertrauensradius jedoch beträchtlich zwischen
den einzelnen Ländern: Je nach Land misst die Frage das Vertrauen in einen unter-
schiedlich generalisierten Personenkreis. Freitag und Bauer (2013) unterstreichen
indes, dass die Interpretation der drei Vertrauensarten – partikularistisch, identitäts-
basiert und generalisiert – innerhalb des europäischen Kulturraums vergleichbar ist.
Soziale Netzwerke bilden schließlich die strukturelle Komponente des sozialen
Kapitals ab. Sie beschreiben Bindungen zwischen Individuen, die eine Basis f€ur
vertrauensvolle Kooperation und sozialen Zusammenhalt schaffen. Empirisch kön-
nen verschiedene Formen sozialer Netzwerke unterschieden werden (Freitag 2001,
2004; Putnam und Goss 2001). Zunächst variiert der Formalisierungsgrad der Netz-
werke. Während Vereine oder Freiwilligenorganisationen formelle Netzwerke dar-
stellen, werden Bekanntschaften zu Nachbarn oder Freunden als informelle Netz-
werke bezeichnet. Weiterhin kann eine Beziehung als stark oder schwach bezeichnet
werden. Starke, eng verwobene Bindungen zeichnen sich etwa durch einen häufigen
und regelmäßigen Kontakt innerhalb eines Freundeskreises aus. Fehlt hingegen
diese Regelmäßigkeit der Kontaktmöglichkeiten wird eine Beziehung als schwach
bezeichnet. Laut Granovetter (1973) sind gerade diese schwachen Bindungen wich-
tig, wenn es z. B. um die Suche nach einer Arbeitsstelle geht, da sie Zugang zu
neuen Informationen eröffnen können. Überdies kann zwischen abgrenzenden und
br€uckenbildenden Netzwerken unterschieden werden. Diese Unterscheidung spielt
vor allem im Kontext der Vereinsforschung eine wichtige Rolle. Die Mitglieder
abgrenzender Netzwerke sind hinsichtlich ausgewählter Merkmale (wie etwa Alter,
Geschlecht oder Ethnie), homogen. Br€uckenbildende Netzwerke weisen hingegen
eine heterogene Sozialstruktur auf. Ein typisches Beispiel f€ur ein br€uckenbildendes
Netzwerk ist ein Sportverein. Schließlich lässt sich ein Netzwerk noch bez€uglich
seines Zwecks unterscheiden. Innenorientierte Netzwerke verfolgen Ziele, die vor-
nehmlich die Interessen ihrer Mitglieder bedienen. Dazu zählen beispielsweise Be-
rufsverbände. Außenorientierte Netzwerke zeichnen sich unterdessen durch eine
stärkere Gemeinwohlorientierung aus. Je nach Formalisierung, Dichte, Struktur
und Zweck können soziale Netzwerke unterschiedliche Effekte haben. Daher sind
die genannten Unterscheidungen f€ur empirische Studien von besonderer Bedeutung.
Neben der Debatte um die Kapitalform ist die Frage nach dem Gutscharakter von
Sozialkapital von konzeptueller Relevanz. Im Gegensatz zu privaten G€utern kann
niemandem die Teilhabe und der Nutzen an einem öffentlichen Gut vorenthalten
werden, auch nicht denjenigen, die nichts zu dessen Herstellung beigetragen haben.
Während Bourdieu (1983) eher den privaten Anstrich des sozialen Kapitals heraus-
stellt, kann es den Theorien von Coleman (1990) und Putnam (1993, 2000) zufolge
sowohl ein privates als auch ein öffentliches Gut sein, dessen Nutzen nicht vollstän-
dig privatisiert werden kann (siehe auch Born 2014). Engagiert sich eine Gruppe von
Personen f€ ur die Einrichtung eines Grill- und Spielplatzes in einem Wohnquartier,
profitieren auch diejenigen Bewohnerinnen und Bewohner, die nicht direkt invol-
viert sind. Gleichzeitig können die durch die Zusammenarbeit entstehenden Bezie-
hungen auch einen privaten Nutzen entfalten, wenn sich die Gruppenmitglieder in
der Folge zum Zweck der gegenseitigen und abwechselnden Beaufsichtigung der
Kinder absprechen. Entsprechend kann Sozialkapital als individuelle Ressource auf
der Mikroebene oder als Systemkapital auf der Makro- oder gesellschaftlichen
Ebene wie in den Analysen von Putnam (1993, 2000) konzipiert werden. In seinem
bahnbrechenden Werk Making Democracy Work analysiert Putnam (1993) die
Leistungsfähigkeit subnationaler Verwaltungsorgane in Italien und kommt zum
Schluss, dass die Ausgestaltung der Zivilgesellschaft hierf€ur eine entscheidende
Rolle spielt. Demnach zeigen Politik und Verwaltung in denjenigen Regionen eine
276 K. Ackermann und M. Freitag
3 Sozialkapital im Vergleich
Dänemark
Island
Niederlande
Norwegen
Finnland
Belgien
Irland
Luxemburg
Schweden
Schweiz
Slowenien
Grossbritannien
Deutschland
Frankreich
Tschechische Republik
Österreich
Estland
Italien
Slowakei
Griechenland
Spanien
Portugal
Ungarn
Polen
Türkei
0 20 40 60 80 100
Anteil der Befragten in Prozent
Portugal
Niederlande
Norwegen
Schweden
Israel
Spanien
Dänemark
Island
Schweiz
Belgien
Finnland
Grossbritannien
Deutschland
Kosovo
Slowakei
Slowenien
Irland
Tschechien
Bulgarien
Zypern
Russland
Estland
Polen
Ungarn
20 40 60 80 100
Anteil der Befragten in Prozent
Island
Schweden
Niederlande
Schweiz
Estland
Grossbritannien
Israel
Spanien
Belgien
Irland
Deutschland
Ungarn
Slowenien
Russland
Tschechien
Polen
Slowakei
Zypern
Kosovo
Portugal
Bulgarien
3 4 5 6 7
durchschnittliches allgemeines Vertrauen
Schweiz folgen ihnen und weisen ebenfalls einen hohen Bestand an sozialem
Vertrauen auf (Abb. 3).
Hinsichtlich der Bedingungen von Sozialkapital lassen sich drei Gruppen von
Faktoren unterscheiden. Erstens, kommt mehrheitlich auf der Mikroebene ange-
siedelten Faktoren der Soziodemographie und -ökonomie eine Bedeutung zu (Freitag
2003). Hierbei wird neben dem Alter, dem Geschlecht, dem Einkommen und dem
Erwerbsstatus vor allem auch der Bildungsgrad als wichtiger Einflussfaktor themati-
siert. Höher gebildete Menschen haben einer Studie von Gesthuizen et al. (2008a)
zufolge in allen Bereichen einen höheren Bestand an Sozialkapital vorzuweisen, mit
Social Capital in der Vergleichenden Politikwissenschaft 279
Seit den Anfängen bei Bourdieu, Coleman und Putnam blickt die politikwissenschaft-
liche Sozialkapitalforschung auf eine nunmehr dreißigjährige Geschichte zur€uck. Sie
ist zwar den Kinderschuhen entwachsen, weist aber immer noch einige L€ucken auf
(Bjørnskov und Sønderskov 2013). Hinsichtlich der konzeptuellen Weiterentwicklung
bieten die selten erforschten Normen der Gegenseitigkeit am meisten Potential. Aber
auch die strukturelle Komponente ist bisher meist einseitig beleuchtet worden. Wäh-
rend die Quantität von Netzwerken häufig Gegenstand sozialwissenschaftlicher For-
schung ist, wurde die Qualität, also die tatsächlichen Ressourcen eines Netzwerkes,
nur selten in den Mittelpunkt gestellt. Hier könnte eine stärkere Hinwendung zur
Untersuchung Ego-zentrierter Netzwerke fruchtbar sein. Weiterhin fanden Persönlich-
keitsmerkmale als individuelle Determinanten von Sozialkapital bis dato nur wenig
Ber€ucksichtigung. Auch diese Verbindung zwischen sozialwissenschaftlicher und
psychologischer Forschung birgt Potential f€ur k€unftige Forschungsarbeiten. Außer-
dem wird die „dunkle Seite“ von Sozialkapital nach wie vor nur selten untersucht (van
Deth und Zmerli 2010). Gerade bindende oder innenorientierte Netzwerke, mögli-
cherweise aber auch ausgeprägte Normen der Gegenseitigkeit können negative Fol-
gen, wie beispielsweise Korruption, mit sich bringen (Griesshaber und Geys 2012).
Schließlich gilt es auch in der Sozialkapitalforschung, die Kausalität der Zusammen-
hänge genauer zu hinterfragen. Erste Beispiele zeigen, dass die Anwendung fortge-
schrittener statistischer Verfahren in dieser Hinsicht vielversprechend ist (Atkinson
und Fowler 2014; Bauer 2014; van Ingen und Bekkers 2015).
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Teil IV
Polities
Autokratien und Demokratien in der
Vergleichenden Politikwissenschaft:
Empirische Forschung und Befunde
Gert Pickel
Zusammenfassung
Die Forschungsarbeit zu Demokratien und Autokratien hat in der Vergleichenden
Politikwissenschaft eine lange Tradition. Fragen nach der Durchsetzungskraft der
Demokratie und ihrer Stabilität standen bereits fr€uh in ihrem Fokus. Mit der
zunehmenden Zahl an Demokratien etablierte sich eine stärkere Differenzierung
dieser Betrachtungen, die zum einen die feinere Qualitätsbestimmung von Demo-
kratie und zum anderen die Identifikation von potenziellen Zwischenformen
(hybride Regime, defekte Demokratien) beinhaltete. Begleitet wurde dies von
Fragen nach der Stabilität und der Leistungsfähigkeit entsprechender politischer
Systeme. Dem Befund der Ausdifferenzierung von Herrschaftstypen in eine
größere Vielfalt an Regimeformen steht die Beobachtung einer weiter voran-
schreitenden weltweiten Demokratisierung bei gleichzeitig identifizierbaren Um-
br€
uchen auch zu autokratischen Regimeformen zur Seite. Dabei scheinen Pro-
zesse der Demokratisierung nicht kontinuierlich, sondern in Wellenform zu
verlaufen und sich in der Masse gegen€uber den Veränderungen zur Autokratie
durchsetzen zu können. Hierf€ur sind nicht zuletzt immer noch bestehende Vorteile
in der Leistungsfähigkeit verantwortlich, die aber durch das Entstehen neuerer
Typen hybrider Regime genauso hinterfragt werden kann, wie aufgrund ambiva-
lenter Ergebnisse zur Auswirkung von Modernisierung und ökonomischer Leis-
tungskraft.
G. Pickel (*)
Professor f€ur Religions- und Kirchensoziologie, Institut f€
ur Praktische Theologie,
Universität Leipzig, Leipzig, Deutschland
E-Mail: pickel@rz.uni-leipzig.de
Schlüsselwörter
Demokratie • Autokratie • Politische Systeme • Demokratisierung • Sozialer
Wandel
Im Anschluss an die Überlegungen von Samuel Huntington (1991) zu den drei Wellen
der Demokratisierung und unter Bezugnahme auf die Ergebnisse des transition to
democracy-Projektes von O’Donnell et al. (1986) etablierte sich in der modernen
Demokratieforschung das Bild eines fast zwangsläufigen Wandels hin zur Demokratie.
Die seit dem zweiten Weltkrieg weltweit zu beobachtende Zunahme der Demokratien
st€
utzte den Gedanken, dass reverse waves, die von demokratischen zu autokratischen
Ordnungen zur€ uckschwenken, zumeist nur temporären Charakter besitzen. Diesen
Verweisen auf ein Erfolgsmodell der Demokratisierung treten in j€ungerer Zeit immer
häufiger kritische Stimmen entgegen, die einen fundamentalen Bruch in der transition
to democracy zu erkennen glauben (u. a. Albrecht und Frankenberger 2010).
So wird zum einen auf die Kontingenz von Prozessen des Regimewandels ver-
wiesen, die keine quasi-universelle Annahme zugunsten einer Entwicklung in Rich-
tung des Regimetyps Demokratie zulasse und so auch keine eindeutig identifizierba-
ren kausalen Bez€uge ermögliche. Zum anderen wird seit 2007 ein Ende des
Entwicklungstrends zu mehr Demokratien thematisiert. Aus Sicht der Kritiker sind
die seit diesem Zeitpunkt beobachtbaren Verluste in der Demokratiequalität nicht
mehr allein mit einer temporären reverse-wave zu erklären. Die Entwicklung in
Richtung Demokratie sei häufig €uberbewertet worden und wenn sich nicht schon eine
Trendwende ank€ undige, so w€urden die aktuellen Entwicklungen hin zu autokratischen
Regimeformen bzw. deren teilweise hohe Stabilität doch einem Universaltrend zur
Demokratisierung widersprechen. Beziehe man dann noch die Ausdifferenzierung
einer Vielzahl von hybriden Regimen (Regime, die Merkmale von Autokratien und
Demokratie enthalten) wie auch von elektoralen Demokratien (also Demokratien
minderer Qualität) in die Betrachtungen mit ein, dann könne von einem (quasi unab-
dingbaren) Siegeszug der Demokratie nicht (mehr) gesprochen werden. Vielmehr sei
auf Seiten der in der Transformationsforschung arbeitenden Forscher ein democracy
bias erkennbar, welcher jahrzehntelang den Blick auf demokratische Einbußen ver-
stellt und eine zu optimistische Sicht auf die Entwicklung der Demokratien geworfen
habe. Als Folge dieser kritischen Position kam es in den letzten Jahren zu einer
Wiederbelebung der Beschäftigung mit Autokratien (Kailitz und Köllner 2013),
welche seit den 1970er-Jahren in der Tat etwas in den Hintergrund getreten war.
Gleichzeitig werden andere Demokratieforscher nicht m€ude auf die – aus ihrer
Sicht höchstens temporär unterbrochene – Fortsetzung der Erfolgsgeschichte der
Demokratisierung zu verweisen (Siaroff 2009; Welzel 2013). Ihre Argumentation ist
so einfach, wie bestechend: Es ist doch kaum zu leugnen, dass die Zahl der Auto-
kratien seit dem zweiten Weltkrieg deutlich abgenommen und die Zahl der Demo-
kratien zugenommen habe. Zudem hat selbst f€ur hybride Regime die Implementation
Autokratien und Demokratien in der Vergleichenden Politikwissenschaft:. . . 289
1
Zum Begriff des politischen Regimes siehe hier auch den Beitrag von Wolfgang Merkel in
diesem Band.
2
Zur Definition und Beschreibung von Regime- und Herrschaftstypen sowie von Demokratie und
Autokratie siehe den Beitrag von Hans-Joachim Lauth in diesem Band, zu Prozessen des System-
wandels den Beitrag von Wolfgang Merkel und zu Stabilität von politischen Systemen als Aspekt
der politischen Kulturforschung den Beitrag von Susanne und Gert Pickel.
290 G. Pickel
Abb. 1 Wellen der Demokratisierung (Year-End-Totals). Quelle: Siaroff (2009, S. 275 mit eigenen
Ergänzungen; Anteil der Zusammenbr€ uche = Anteil der Zusammenbr€ uche in Relation zu Anzahl
aller Transitionen in Prozent; DN = Zahl aller eigenständigen politischen Systeme nach Freedom
House; zu den weiteren Kategorisierungen siehe Siaroff 2009)
3
An dieser Stelle möchte ich nicht intensiv auf Debatten u€ber die Präzision und Tragfähigkeit
verschiedener Vorgehen der Demokratiemessung eingehen. Hierzu siehe Pickel und Pickel 2006;
Lauth 2004; M€uller und Pickel 2007. Ebenfalls angesprochen wird die Demokratiemessung in dem
Beitrag von Lauth in diesem Band.
Autokratien und Demokratien in der Vergleichenden Politikwissenschaft:. . . 291
50 46 46
42 41
40
40 35
31 32
30 29
28 28
30 25 25
22
20
10
0
1972-1979 1980-1989 1990-1999 2000-2007 2008-2012
Abb. 2 Entwicklungstrends zur Demokratie nach Freedom House (in Prozent). Quelle: Eigene
Darstellung auf Basis kumulierter Daten des Freedom House-Index (www.freedomhouse.org);
Anteile jeweils Periodensummenwerte der Zustände im Messzeitraum in Prozent aller Länder.
Detaillierte Informationen zu Transitionen und Zusammenbr€
uchen bei Siaroff (2009, S. 268–272)
war. Gleichwohl besteht die Möglichkeit, dass sich Subtypen von Demokratie mit
demokratischen Elementen oder aber auch spezifische Typen hybrider Regime fester
als bislang seitens der Demokratieforschung vermutet etablieren könnten.
Auch das stärker auf die institutionelle Seite der Demokratie ausgerichtete Mess-
instrument von Polity sowie der auf wenigen objektiven Indikatoren beruhende Index
of Democratization von Vanhanen kommen in ihren Berechnungen zu einer vergleich-
baren Steigerung der Anzahl der Demokratien seit dem zweiten Weltkrieg und 1970.
Folgt man diesen Ergebnissen, so erf€ullen sich – zumindest langfristig – die hoff-
nungsvollen Annahmen der modernisierungstheoretisch ausgerichteten Demokratisie-
rungstheorie (Lipset 1981), welche von einer durch sozioökonomische Modernisie-
rung und Bildungsexpansion ausgelösten Demokratisierung mit fortschreitender
Modernisierung ausgeht.4 Allerdings kann dieser Befund nicht als endg€ultiger Beweis
f€
ur eine weitere Ausbreitung der Demokratisierung dienen. Zwar entwickeln sich viele
Länder unter bestimmten Rahmenbedingungen zu Demokratien, aber nicht wenige
andere Länder bleiben langfristig Autokratien. Wir finden entsprechend in den Ein-
ordnungen von Freedom House noch 47 Länder, die 2012 als nicht frei klassifiziert
werden. Zusätzlich stellt sich die Frage, inwieweit man die immerhin 58 Länder, die
2012 als „teilweise frei“ eingestuft werden, nicht eher dem Typus Autokratie zurech-
nen muss. Schließlich weisen sie teils erhebliche Einschränkungen in Kategorien auf,
die man f€ ur eine Einschätzung als Demokratie als maßgeblich erachtet
(z. B. Partizipationschancen der B€urger, Gewährleistung von Freiheitsrechten).
Hier ist es hilfreich die Differenzierung der Herrschaftstypen genauer in den
Blick zu nehmen und den bislang homogenen Block der Autokratien in Typen zu
differenzieren. Hadenius und Teorell (2006) nehmen solche feineren Differenzie-
rungen vor und ber€ucksichtigen auch hybride Regime. Unter R€uckgriff auf eine
Differenzierung von Geddes (1999) zwischen Einparteienregimen, Militärregimen
und personalistischen Regimen unterscheiden sie die nichtdemokratischen Systeme
nach ihrem zentralen Machtmechanismus. Das Ergebnis sind die Obertypen Monar-
chien, Militärregime und Wahlregime, wobei die Wahlregime noch in Keinpartei-
regime, Einparteienregime und beschränkte Mehrparteienregime aufgespaltet wer-
den können. Die beschränkten Mehrparteienregime werden nochmals in Subtypen
mit dominanter Partei oder ohne dominante Partei aufgefächert.5
Nicht nur die Zahl der Demokratien hat sich im Zeitverlauf erhöht, sondern es hat
auch eine Verschiebung zwischen den Typen autokratischer Regime stattgefunden:
Dominierten in den 1970er-Jahren innerhalb der Autokratien noch Militärregime
und Einparteienregime, so erlitten diese spätestens in der dritten Demokratisierungs-
welle um 1990 einen Bedeutungsverlust. Es erfolgte eine Verschiebung hin zu
beschränkten Mehrparteiensystemen. Diese kann man einerseits als Folge von
4
Siehe hierzu auch den Beitrag von Wolfgang Merkel in diesem Band mit den Verweisen auf die
unterschiedlichen Theorien der Transformationsforschung (auch Kollmorgen et al. 2015).
5
In ihrer Typologie finden sich zudem noch Kombinationen der Regimezuordnungen wieder, von
denen die häufigsten das Militärregime mit elektoralen Elementen und das dominante
Mehrparteienregime sind.
Autokratien und Demokratien in der Vergleichenden Politikwissenschaft:. . . 293
60
50
40
30
20
10
0
1972-1977 1978-1983 1984-1988 1989-1993 1994-1999 2000-2005
Monarchie Militärregime Keinparteiensystem
Einparteiensystem beschr. Mehrparteiensystem Andere Form
Demokratie
Abb. 3 Die Entwicklung von Demokratie und Autokratieformen im Zeitvergleich. Quelle: Eigene
Darstellung anhand „Autoregime“-Datensatz von Hadenius und Teorell (2006, S. 25–33);
Kodierung und Klassifikationsschema; Zuordnung zu Regimetyp erfolgt auf Basis des zentralen
Merkmals des Systems; Prozentanteile an den 193 untersuchten Ländern. Mit abweichenden
Kategorien Siaroff (2009, S. 239–263)
6
Die Kategorie „andere Form“ umfasst Länder, die zu den Erhebungszeitpunkten Theokratien waren
oder sich im B€urgerkriegszustand bzw. unter Besetzung durch eine fremde Macht befanden.
294 G. Pickel
Was sind nun die Gr€unde f€ur einen Systemwandel oder Regimepersistenz? Hier hat
sich in der empirischen Forschung der letzten Jahre einiges getan. Zweierlei wird
deutlich: Zum ersten ist zwischen den speziellen (Kombinationen von) und
€ubergreifenden Gr€unden f€ur die Konsistenz von Demokratien oder Autokratien zu
differenzieren (auch Kailitz und Köllner 2013, S. 17–23). Viele Einflussfaktoren
entfalten ihre Wirkung relativ unabhängig vom spezifischen Herrschaftstyp. Dies
trifft zum Beispiel f€ur die ökonomische Effektivität des Systems, seinen Korrup-
tionsgrad oder den Nutzen einer Legitimität des Regimes in der Bevölkerung
zu. Gleichzeitig besitzen auch andere Faktoren, vor allem Akteure und kulturelle
Rahmenbedingungen, f€ur Wandel oder Persistenz eine Bedeutung.7 Zum zweiten
7
Zu den Erklärungsansätzen der Systemwechsel- und Transformationsforschung siehe den Beitrag
von Wolfgang Merkel in diesem Band (auch Merkel 2010).
Autokratien und Demokratien in der Vergleichenden Politikwissenschaft:. . . 295
↑ ↑ ↑ ↑
Weltwirtschaliche Verzahnung Nachbarstaaten und Internaonale Kommunikaonsstrukturen
Grenzkonflikte Organisaonen und Diffusionskanäle
Exogene Faktoren
Abb. 4 Potentielle Faktoren der Stabilität (oder des Wandels) politischer Regime. Quelle: Eigene
Zusammenstellung, siehe Pickel (2013, S. 185)
€
uberstrahlen. Nicht umsonst sind zum Beispiel j€ungere Demokratien wesentlich
anfälliger f€ur einen backslash als Demokratien, die bereits eine längere „Lebenszeit“
haben (Erdmann 2011, S. 29; Markoff 2009, S. 59–60). Faktoren, wie eine geteilte
(nationale) Identität oder eine kollektive Ideologie, helfen die politische Gemein-
schaft zusammenhalten. Gemeinsame Werte, religiöse Überzeugungen aber vor
allem der Bezug auf die Zugehörigkeit zu einer spezifischen politischen Gemein-
schaft wie auch religiöse Gemeinsamkeiten (verbunden mit der Abgrenzung zu
anderen Gemeinschaften, Ethnozentrismus und Feindbildidentifikation außerhalb
der eigenen politischen Gemeinschaft) erweisen sich als systemstabilisierende kul-
turelle Faktoren (Komplex: Identität und Kultur) – egal ob Demokratie oder Auto-
kratie.
So besitzt neben einer guten Performanz auf der ökonomischen Ebene eine von
B€urgern und Eliten geteilte kollektive Ideologie den größten Einfluss auf Demokra-
tisierung oder politische Stabilisierung. Dies gilt vor allem dann, wenn es gelingt
diese als normative Grund€uberzeugungen bei den B€urgern zu verankern – oder den
Eindruck zu erwecken, dass man bereits bei den B€urgern hochgeschätzte Werte in
den Vordergrund seiner Ausgestaltung des politischen Systems r€uckt. Gleichheit ist
eine solche Ideologie, individuelle Freiheit (in Demokratien) eine andere. Gelegent-
lich stellt es ein Problem dar, das zwischen Wertpräferenzen der B€urger Konkurrenz-
verhältnisse bestehen. Manchmal kann dies aber auch genutzt werden. So kann eine
Herrschaftselite, gelingt es ihr Gleichheit oder ein starkes Nationalbewusstsein als
normative Prämisse in der Bevölkerung zu etablieren, damit andere Präferenzen der
B€urger (z. B. Freiheit) ausspielen. Neben den kollektiven Ideologien kann ein
spezifisches persönliches Charisma einer F€uhrungsperson, gerade auch in populisti-
schen Regimen, eine gering ausgeprägte Zivilgesellschaft (und eher apathische
politische Kultur) sowie ein konkreter persönlicher Nutzen aus dem Erhalt des
Regimes (z. B. € uber Klientelismus) Akteure f€ur einen Erhalt des bestehenden
politischen Regimes motivieren.
Doch nicht nur akteurszentrierte Erklärungen, sondern auch institutionelle und
strukturelle besitzen ihre Wirkung (siehe Faust und Muno 1998, S. 145). So ist die
Wirkung von Diffusionsprozessen aufgrund von Demonstrationseffekten „erfolgrei-
cher Regime“ aber auch die Übertragung demokratischer Werte auf die B€urger f€ur
die Delegitimierung autokratischer Regime nicht zu unterschätzen (Lauth und Pickel
2011).8 Dies gilt insbesondere, wenn sich die Vergleichsstaaten durch kulturelle
Ähnlichkeit auszeichnen und damit die Möglichkeit der Herrschenden, nationale
Legitimationsstrategien zur Abgrenzung einzusetzen, untergraben. In der Summe
schlagen sich diese Prozesse erst €uber die Vermittlung durch Bevölkerungshaltungen
oder besser die bestehende oder nicht bestehende Legitimität des politischen Regi-
mes nieder. So kommt der politischen Kultur eine wesentliche Rolle f€ur die Stabilität
politischer Systeme zu. Gerade f€ur Autokratien hängt der Herrschaftserhalt auch nicht
unwesentlich von der Mischung aus Repressionspotential und Repressionswillen
8
Ein typischer Demonstrationseffekt zeigte sich f€
ur die sozialistischen Systeme mit Blick in das
wohlhabende und individuelle Freiheiten gewährleistende Westeuropa.
Autokratien und Demokratien in der Vergleichenden Politikwissenschaft:. . . 297
der Herrschenden ab. Auch die Institutionenstruktur spielt eine Rolle f€ur die Persistenz
des Systems, sind doch parlamentarische Systeme in der Regel etwas stabiler als
präsidentielle (Kailitz 2013; Kailitz und Köllner 2013, S. 17, S. 23–24). Zudem kann
die Einbindung in internationale Organisationen – je nachdem, welche Organisationen
es sind – einen positiven oder aber destabilisierenden Effekt auf das politische Regime
aus€uben (Holbig 2010). Vielerorts ist die Haltung des Militärs und der Ordnungskräfte
zum Regime ein Faktor f€ur oder gegen den Systemerhalt.
F€ur einen konkreten Umbruch zentral ist die Existenz von Akteuren, die einem
Umbruch positiv gegen€uberstehen. Dabei bestimmen die Akteurskonstellationen
den Zeitpunkt des Wandels, die politische Unterst€utzung sowie die Rahmenbedin-
gungen sind ausschlaggebend f€ur eine generelle Wandlungsreife des politischen
Systems. Rahmenbedingungen, wie die Verf€ugbarkeit €uber Restriktionsmittel, die
Resistenzkraft traditional-ideologischer Hemmfaktoren, aber auch die Entwicklung
der soziokulturellen Rahmenbedingungen sind ebenfalls zu ber€ucksichtigen.
Zumeist findet dieser Übergang dann statt, wenn sich oppositionelle Akteure for-
mieren, die bereit sind, die herrschenden Eliten abzulösen und Reformen einzuleiten.
Dies geschieht allerdings vor dem Hintergrund langfristiger Delegitimierungspro-
zesse und einer Erosion der politischen Unterst€utzung der bestehenden politischen
Regime (Inglehart und Welzel 2005) – und dies gleichermaßen f€ur Autokratien wie
Demokratien.
Damit bleibt es einen gesonderten Blick auf den in den Diskussionen dominanten
Faktor zu werfen – der Effektivität und Leistungsfähigkeit politischer Regime und
deren Folgen. Im Rahmen der Effektivitätsdimension ist es insbesondere die (von
ihrer Ausrichtung auf Demokratie oder Autokratie unabhängige) Fähigkeit des
politischen Regimes, seinen B€urgern eine gewisse ökonomische Wohlfahrt zur Ver-
f€ugung zu stellen und auswuchernde Korruption zu vermeiden, die den Systemerhalt
befördert. Gerade der sozioökonomischen Entwicklung wird große Bedeutung f€ur
den Systemerhalt zuteil. Diese stabilisierende Funktion f€ur alle Systeme ist nicht
selbstverständlich, galt doch lange Zeit die Annahme eines konstitutiven Zusam-
menhangs zwischen Wohlstand und Demokratie mit der Aussage: „Die sich mit der
zunehmenden Modernisierung steigernde ökonomische Wohlfahrt befördert die
Demokratisierung“.
Wie empirische Studien zeigen, ist dieser Zusammenhang allerdings in dieser
pauschalen Form so nicht g€ultig (Gasiorowski 2000; Faust und Muno 1998). Teorell
(2010, S. 58, 76) arbeitet zum Beispiel in seinen quantitativ-empirischen Analysen
eine ambivalente Wirkung von Wohlfahrt auf den Demokratisierungsprozess heraus.
Ökonomische Erfolge stabilisieren nicht nur Demokratien, sondern stellen auch f€ur
Autokratien einen der stärksten Resistenzfaktoren gegen den Systemzusammen-
bruch, und damit auch die Demokratisierung, dar. Umgekehrt gilt, ob nun Demo-
kratie, hybrides Regime oder Autokratie, jedes politische Regime unterliegt in länger
andauernden wirtschaftlichen Rezessions- und Krisenphasen einer Gefährdung der
298 G. Pickel
politischen Unterst€utzung durch die B€urger und damit der Gefahr einer wachsenden
politischen Instabilität.9 Der Weg zur Demokratie muss sich also nicht zwingend aus
einer ökonomischen Wohlfahrtssteigerung ergeben, sondern benötigt zusätzliche
Modernisierungsimpulse wie zum Beispiel eine Bildungsexpansion sowie indivi-
duelle Freiheitsgewinne (Lipset 1981; Welzel 2013).
Selbst wenn diese Faktoren langfristig den Trend zur Demokratisierung zu stär-
ken scheinen, gibt es f€ur Autokratien und hybride Regime Schutzfaktoren gegen eine
Demokratisierung. Ein wichtiger Aspekt ist der Zugang zu nat€urlichen Ressourcen,
mit denen die Autokraten in die Lage versetzt werden, ihre Klientel innerhalb der
politischen und wirtschaftlichen Eliten bedienen zu können, ohne gleichzeitig die
Bevölkerung zu stark vernachlässigen zu m€ussen. Diese als „Ressourcenfluch“ oder
„Rentiereffekt“ (Ross 2001; Smith 2004) bekanntgewordenen Überlegungen ver-
weisen darauf, dass es Autokratien mit ihren auf Bodenschätzen beruhenden öko-
nomischen Ressourcen gelingt, Umbr€uche €uber längere Zeit zumindest aufzuschie-
ben und Krisen zu €uberstehen. Sie können ihren B€urgern durch niedrige Steuern und
hohe finanzielle Unterst€utzungsleistungen einen gewissen Wohlstand bieten.
Dadurch vermeiden diese Regime die zu ungerechte Verteilung von Wohlstands-
ressourcen in der Bevölkerung (Boix 2003, S. 35) und verhindern einen niedrigen
Einkommensstand vieler B€urger, der f€ur Unzufriedenheit sorgt und das System
gefährdet (Erdmann 2011, S. 31–34). Diese Maßnahme sichert ihnen politische
Unterst€utzung – und verhindert nach Ross (2001, S. 354–356) zudem den Modern-
isierungseffekt einer demokratiefördernden Industrialisierung mit funktionaler Dif-
ferenzierung der Erwerbsarbeit und Ausbildung einer Mittelschicht, die die Auto-
kratien in Frage stellt (Lipset 1959). Zudem ermöglichen die finanziellen
Möglichkeiten den Ausbau von Repressionskräften (Ross 2001, S. 349–351). Auto-
kratien, die nicht €
uber hinreichend nat€urliche Ressourcen verf€ugen, fällt es schwerer
dauerhaft und gerecht verteilt Wohlstand f€ur die Gesamtbevölkerung bereitzustellen.
Effektivitätseinbr€uche m€ussen nicht zwingend sofort in den Zusammenbruch des
politischen Systems m€unden. Der zeitliche Abstand zwischen ökonomischer Krise
und Zusammenbruch deutet auf eine vermittelnde Stellung der politischen Unter-
st€
utzung durch die B€urger (siehe Abb. 4). In Demokratien scheint insbesondere die
Abhängigkeit der politischen Eliten von Wahlen und zivilgesellschaftlichen pressure
groups eine bessere Verteilung des Erwirtschafteten auf die Bevölkerungen zu
erzwingen, darauf deutet die – allen Diskussionen €uber steigende soziale Ungleich-
heit in den Industrieländern zum Trotz – im Durchschnitt wesentlich geringere
soziale Ungleichheit in Demokratien hin (Gini-Index; Human Development Rep-
orts).10 Autokratische Herrscher sind dagegen auf die Unterst€utzung weniger Eliten
(oft Wirtschaftseliten) angewiesen und m€ussen verstärkt auf deren Renditen achten.
9
Ergebnisse von Pickel (2009: S. 318) zeigen, dass unterdurchschnittliche Wachstumsraten zu
Demokratisierungsverlusten f€uhren, während hohe Wachstumsraten zur Stabilität von Autokratien
beitragen. F€ur die negative Wirkung der geringen Wachstumsraten auf die Demokratien ist eine
schlechtere sozioökonomische Wohlfahrt und politische Effektivität (Korruption, Klientelismus)
förderlich.
10
Ohne Frage wirkt sich hier auch die Verzahnung von Demokratien und Industriestaaten aus.
Autokratien und Demokratien in der Vergleichenden Politikwissenschaft:. . . 299
Dies reduziert die Möglichkeiten sozialer Umverteilung und hat €uber die Zeit oft den
Entzug der politischen Unterst€utzung durch die Masse der B€urger zur Folge, wird
doch ein f€ ur viele Autokratien wichtiges normatives Ziel, das der ökonomischen
Gleichheit bzw. der Partizipation weiter Teile der Bevölkerung am Wohlstand, nicht
eingelöst. Boix (2003) sieht sogar explizit die Verbindung zwischen Wohlstands-
produktion und deren Umverteilung als entscheidend f€ur den Erfolg von Demo-
kratisierungsbestrebungen (auch Kailitz 2013).
Betrachtet man nun die unterschiedlichen Typen politischer Regime unter dem
Blickwinkel ihrer Leistungsfähigkeit, dann war lange Zeit die sozioökonomische
Leistungsfähigkeit von Demokratien in der Regel größer als die von Autokratien. Sie
waren – und sind dies teilweise heute noch – besser in internationale Wirtschafts-
systeme eingebunden und haben die nicht f€ur Militär und Polizei aufgewendeten
Ressourcen zur Steigerung ihrer – zumeist kapitalistischen Wirtschaftssysteme ge-
nutzt. Dies ist aber kein zwingender, universaler Zusammenhang. So zeigen mitt-
lerweile verschiedene Autokratien,11 an vorderster Front China, dass Autokratie und
wirtschaftlicher Erfolg (zumindest temporär) vereinbar sind. Alle politischen
Regime stehen hier aber unter dem primären Anspruch der Bevölkerungen, auf
lange Sicht ein gewisses Maß an Wohlstand zu erzeugen und dieses dann auch in
größeren Teilen auf die B€urger umzuverteilen. Hier ist es noch unklar, wie ob dies
langfristig so ausreichend ist um auch den autokratischen Systemerhalt zu gewähr-
leisten – oder doch langfristig die mit Modernisierung verbundenen Veränderungen
die W€ unsche nach einem mehr an Demokratie ansteigen lassen. So gelingt es
Demokratien scheinbar immer noch besser die Freiheitsbestrebungen der B€urger
zu befriedigen, als dies Autokratien oder hybride Regime erreichen (Welzel 2013).
Gerade in diesem Punkt zeigt sich auch die Begrenztheit der Verf€ugbarkeit €uber
Ressourcen, wie sie durch Bodenschätze bestehen kann. Sie können einen gewissen
Wohlstand durch Umverteilung bereitstellen, lindern aber nur begrenzt den Wunsch
nach Freiheit. Gleichzeitig zeigt sich aber auch, dass B€urger bereit sind Einschrän-
kungen zu akzeptieren, haben sie das Gef€uhl etwas anderes daf€ur zu erhalten.
Wohlstand kann begrenzte Freiheitseinschränkungen zumindest teilweise legitimie-
ren. Der Entschl€ usselung dieser komplexen Wirkungen von Modernisierung, sozio-
ökonomischer Wohlfahrt, Demokratisierung und Systemtyp kommt in der aktuellen
empirischen Forschung immer stärkere Bedeutung zu (Acemoglu und Robinson
2012; Boix 2003; Streeck 2013).
Fasst man die empirische Entwicklung der letzten Jahrzehnte zusammen, so muss man –
allen Gegenbewegungen zum Trotz – von einem langfristigen Erfolgszug der Demo-
kratie sprechen. Seit Ende des zweiten Weltkrieges breitete sich die Demokratie
11
Merkel nennt sie autoritäre Modernisierungsregime. Siehe seinen Beitrag in diesem Band.
300 G. Pickel
weltweit aus – auch wenn dies vielleicht oft nur in Form von elektoralen Demokratien
der Fall war. Dieser Trend in Richtung Demokratisierung ist, zumindest soweit man dies
aktuell sagen kann, ungebrochen. Demokratisierung bedeutet dabei nicht zwangsläufig
immer die Etablierung einer freiheitlichen Demokratie mit allen ihren Aspekten, sondern
beschreibt auch den Prozess des Zugewinns einzelner demokratischer Aspekte f€ur ein
hybrid strukturiertes politisches System. Und Vorsicht: Dieser €ubergreifende Entwick-
lungstrend zur Demokratie schließt Tendenzen der Hybridisierung von politischen
Regimen wie auch der regression of democracy nicht zwingend aus.
Zumeist hat man es mit unterschiedlichen, dynamischen Wellen oder Schw€ungen
zu tun. Konnte man bis in die 1990er-Jahre diese Bewegungen noch relativ klar als
Wellen und Gegenwellen identifizieren, so ist die Beobachtungslage mittlerweile
komplexer und diffuser geworden. Immer häufiger finden unterschiedliche Entwick-
lungsbewegungen in verschiedenen Regionen der Welt gleichzeitig statt. Kommt es
auf der einen Seite der Welt zu Demokratisierung, kann in einem anderen Gebiet ein
Verlust demokratischer Qualität beobachtet werden. Die Veränderungen von einer
zur anderen Herrschaftsform sind dabei in ihren Wegen genauso vielfältig, wie sie
eine große Zahl an unterschiedlichen Regimetypen hervorbringen. So ist die Exis-
tenz von hybriden Regimetypen mittlerweile genauso breit anerkannt, wie das
Bestehen unterschiedlicher Subtypen von Demokratie.
Gr€unde f€ ur Entwicklungen hin zu Demokratie oder zu Autokratie sind vielfältig.
Man ist sich mittlerweile weitgehend einig, dass es Kombinationen von verschiedenen
Ursachen sind, die einen Umbruch oder den Systemerhalt bedingen. Diese Kombina-
tionen können von Land zu Land variieren. Dabei gibt es langfristige Entwicklungen,
die das Feld f€ ur einen Umbruch bereiten können, die aber spezifische Umstände
benötigen (Akteurskonstellationen, Oppositionelle Kräfte usw.), damit dieser wirklich
passiert. Unter den langfristigen Wirkfaktoren d€urfte die sozioökonomische Moderni-
sierung den stärksten Einfluss besitzen. Allerdings impliziert sie sowohl vielfältige
sozialstrukturelle Entwicklungen als auch historische Pfadabhängigkeiten. Der Legiti-
mität der politischen Systeme in ihren Bevölkerungen kommt eine tragende Rolle als
Mittler zwischen vielen langfristigen Einflussfaktoren und dem Umbruch zu.
Sicher ist, die Analyse von Demokratisierung oder auch Gegenprozessen zählt
zum Kerngeschäft der Vergleichenden Politikwissenschaft. In der aktuellen For-
schung zu Typen politischer Systeme r€uckt verstärkt die Untersuchung der Gr€unde
ihrer Differenzierung in den Blick. Speziell die Betrachtung verschiedener Herr-
schaftsmodi als auch deren Legitimationsstrategien werden Ziel der politikwissen-
schaftlichen Analyse. Ob Monarchien, beschränkte Mehrparteienregime, Fassaden-
demokratien, elektorale Demokratien, Einparteiregime, populistische Regime oder
Militärherrschaften – es hat sich nicht nur begrifflich, sondern auch empirisch ein
weites Feld an Regimeformen etabliert. Dabei interessieren vor allem die Gr€unde f€ur
den Wechsel in die eine oder andere Richtung, wie aber auch f€ur die Stabilität von
Demokratien, hybriden Regimen oder Autokratien. Verschiedene scheinen bereits
identifiziert zu sein (z. B. Siaroff 2009, S. 295–305), andere noch nicht. Vor allem
wird es darauf ankommen, die Kombinationen der Einflussfaktoren zu bestimmen,
denn letztendlich interessiert es jeden vergleichenden Forscher, welches Herrschafts-
system zuk€ unftig in seiner Region €uberwiegen wird.
Autokratien und Demokratien in der Vergleichenden Politikwissenschaft:. . . 301
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Staat und Rechtsstaat in der
Vergleichenden Politikwissenschaft
Peter Thiery
Zusammenfassung
Staat und Rechtsstaat bilden – folgt man Fukuyama (2011; 2014a) – zusammen
mit Demokratie die drei Säulen moderner politischer Ordnungen und politischer
Entwicklung und werden zumeist auch als zentrale Konzepte der (vergleichen-
den) Politikwissenschaft bezeichnet (Lauth et al. 2014; Berg-Schlosser und
M€ uller-Rommel 2003). Beide Konzepte sind gleichwohl in mehrerlei Hinsicht
heftig umstritten, was sich auch auf die empirische Forschung auswirkt. Dies liegt
sowohl an inhärenten konzeptionellen Problemen als auch an grundlegenden
Wissenschaftsstandpunkten und €uberdies auch an forschungsstrategischen und
-praktischen („paradigmatischen“) Perspektiven. Im Vergleich scheint gegenwär-
tig das Feld des Rechtsstaats in nächster Zukunft noch aussichtsreichere For-
schungsperspektiven zu bieten. Denn obwohl Rechtsstaat bzw. rule of law – beide
werden im Folgenden weitgehend synonym behandelt – keine wirklich neuen
Gegenstände der Politikwissenschaft darstellen, hat sich eine systematischere
Rechtsstaatsforschung erst in den letzten 20 Jahren entwickelt.
Schlüsselwörter
Staat • Staatlichkeit • Rechtsstaat • Rule of law • Vergleichende Politikwissen-
schaft
1 Einleitung
P. Thiery (*)
Dozent am Institut f€ur Politikwissenschaft, Universität Heidelberg, Heidelberg, Deutschland
E-Mail: peter.thiery@ipw.uni-heidelberg.de
Elemente f€ ur das Handeln politischer Akteure (politics) und f€ur politischen Output
(policies). Diese zusammengefasste Behandlung erklärt sich u. a. dadurch – und hier
scheint die paradigmatisch nach wie vor maßgebliche Konzeption des „modernen“
Staates vom Max Weber durch, wie sie nicht nur Fukuyama aufgreift – dass Staat
zumeist als „Anstaltsbetrieb“ aufgefasst wird, f€ur den eine „Verwaltungs- und
Rechtsordnung“ und damit eine rechtsbasierte Herrschaftsordnung charakteristisch
ist. Dennoch ist es vorab angebracht, eine konzeptionelle Abgrenzung beider Phä-
nomene vorzunehmen. Während die kontinental-europäische (etwa die deutsche
oder auch die „romanische“) Begrifflichkeit beide schon sprachlich eng aufeinander
bezieht, zeigt die englischen Begrifflichkeit (state bzw. stateness vs. rule of law)
deutlicher die zugrunde liegenden unterschiedlichen Funktionslogiken von Staat und
Rechtsstaat. Zwar kann der Staat ohne irgendeine grundlegende rechtliche Ordnung
nicht sinnvoll konzipiert werden, doch ist diese nicht mit einer genuinen Form der
Rechtsstaatlichkeit identisch, es sei denn man konzipiert den Rechtsstaat minima-
listisch bis zur Unkenntlichkeit als „rule by law“. Zugespitzt formuliert: Während
Staat oder „Staatlichkeit“ auf die Potenzierung hierarchischer Kontrolle zielt, geht es
jedweder Form der Rechtsstaatlichkeit im Sinne des rule of law darum, genau diese
Macht zu begrenzen, oder deutlicher: sie allgemeinen Regeln unterzuordnen.
2 Staat
Noch immer bilden Max Webers Staatsdefinition und -verständnis den Angelpunkt
politikwissenschaftlicher Staatsforschung – sei es als Fixpunkt der theoretischen
Auseinandersetzung mit dem Staat (Hay et al. 2006) oder als konzeptionelle Grund-
lage der empirisch-vergleichenden Forschung. Allerdings sind schon sowohl die
Idee als auch das Konzept des Staates nicht unumstritten – Kritiken reichen von der
Nutzlosigkeit des Konzepts als solchem bis hin zu seiner euro-zentristischen
Färbung. Bis heute ist eine Verwendung vor allem im angloamerikanischen Raum
mehr als ambivalent geblieben.
In der Tat ist schon Webers auf den ersten Blick schlanke Definition des Staates
derart voraussetzungsvoll und im Ansatz vielschichtig, dass das Konzept „Staat“ f€ur
Staat und Rechtsstaat in der Vergleichenden Politikwissenschaft 305
empirische Analysen nur schwer handhabbar erscheint. Seine oft zitierte, klassische
Definition lautet: „Staat soll ein politischer Anstaltsbetrieb heißen, wenn und inso-
weit sein Verwaltungsstab erfolgreich das Monopol legitimen physischen Zwanges
f€ur die Durchf€ uhrung der Ordnungen in Anspruch nimmt.“ (Weber 1984, S. 91;
Herv. i.O.). Die von Weber selbst vorgenommenen Hervorhebungen weisen bereits
darauf hin, dass seine Staatsdefinition auf vorgängige Definitionen – wie „Anstalt“,
„Betrieb“ oder „legitim“ – aufbaut. Zudem ist zu beachten, dass sie im Rahmen
seiner Herrschaftssoziologie zu verstehen ist, d. h. Staat bedeutet immer auch (ter-
ritoriale) Herrschaft.
Damit ist angedeutet, dass „Staat“ mehrere Dimensionen umfasst, die je nach
Akzentsetzung auch verschiedene methodologische Grundannahmen implizieren:
(1) Der Staat kann als Akteur begriffen werden (dezidiert: Skocpol 1985, 2008) dem
eigene materielle, personelle und ideelle Ressourcen f€ur seine Handlungen zur
Verf€ugung stehen. (2) Damit ist die Sichtweise verwandt, dass er als komplexe
Organisation (Newton und van Deth 2010) bzw. als Set von B€urokratien (O’Donnell
2010, S. 51–58) aufzufassen ist. (3) Wie insbesondere O’Donnell (2010, S. 93–113)
hervorhebt, ist der Staat auch eine Rechtsordnung, die gesellschaftliche Beziehun-
gen strukturiert und als Herrschaftsverhältnisse konserviert. (4) Schließlich kann der
Staat als „kollektive“ Identität und damit als „kulturelles“ Gebilde (konstruktivisti-
sches Element) aufgefasst werden (O’Donnell 2010, S. 115–131).
Schon die Einordnung des Sujets „Staat“ in der Vergleichenden Politikwissen-
schaft ist deshalb vor allem davon abhängig, wie der Staat grundlegend zu konzi-
pieren ist. In j€
ungerer Zeit scheint sich die Sichtweise durchzusetzen, dass der Staat
nicht als Akteur zu begreifen ist – eine Perspektive, die insbesondere von Rational
Choice-Vertretern (Levi 2002) oder Systemtheoretikern (Almond 1988) stark kriti-
siert wurde. So ist nach Levi (2002, S. 33–34) der Staat „a composite of factors, not
a single variable“ bzw. „an abstraction, but key decisions are made by state personnel
or rulers not by the state per se“. Benz wiederum betrachtet den Staat „als einen
institutionalisierten Handlungskontext, in dem Individuen, Gruppen (kollektive
Akteure) oder Organisationen (korporative Akteure) zusammenwirken, um gesell-
schaftliche Probleme zu lösen bzw. öffentliche Aufgaben zu erf€ullen“ (Benz 2008,
S. 99). Ein ähnliches Verständnis als institutionelle Konfiguration – und gegen
Kritiker wie Levi – konstatiert Vu (2010, S. 164–170) f€ur die j€ungere englisch-
sprachige Staatsforschung. Die Mehrdimensionalität des Staatskonzepts hat neben
methodologischen auch forschungspraktische und forschungslogische Konsequen-
zen, da seine Bestandteile je f€ur sich als (unabhängige wie abhängige) Variablen
dienen bzw. dienen können. Im Zuge einer spezialisierten Forschung wird der
„Staat“ somit gewissermaßen in seine Komponenten zerlegt und erscheint besten-
falls noch als virtuelle Klammer, die die diversen Forschungsstränge bestenfalls als
Chiffre zusammenhält – aber nicht mehr „den Staat“ als eigenständige Variable.
Diesen Komplikationen zum Trotz wird der „Staat“ als Konzept weiterhin be-
nutzt, wobei die Faustregel gilt: Je mehr Makrophänomene analytisch relevant sind
(etwa Fukuyama 2011, 2013; North et al. 2009) und je mehr historisch-institutionell
fokussiert wird – wie besonders im historischen Institutionalismus (Skocpol 1979;
Evans 1995; Ziblatt 2006) – desto selbstverständlicher wird auf den Staat als
306 P. Thiery
Variable rekurriert. Der Nutzen einer solchen Perspektive – so Hay und Lister (2006,
S. 10–13) – liegt vor allem in der institutionellen sowie der historischen Kontextua-
lisierung politischen Handelns. Zudem hat der Staat im Konzept der „Staatlichkeit“
aus diversen Blickwinkeln nicht nur eine neue Relevanz als Analysegegenstand
gefunden, sondern in diesem Zuge auch weitere Operationalisierung erfahren.
Gerade die mehr empirisch ausgerichtete Forschung (neuere Demokratie-/
Autokratieforschung, stateness- bzw. fragile state-Forschung und damit verkn€upft
die Staatlichkeitsmessung) hat Webers Staatsbegriff in ein relativ schlankes Kate-
gorienger€ust umgesetzt, um grundlegende Staatlichkeit zu erfassen und als abhän-
gige wie unabhängige Variable zu betrachten (Fabra Mata und Ziaja 2009).
Im Kern lassen sich demnach f€ur Staatlichkeit drei bzw. vier zentrale Funktions-
elemente benennen und auch f€ur Messung fruchtbar machen. Neben dem (1) staat-
lichen Gewaltmonopol, dessen Bedeutung kaum infrage gestellt wird, sind dies
(2) die Legitimität des Staates aus Sicht der B€urgerInnen, eingeschlossen Einigkeit
€
uber die Zugehörigkeit zum Demos, also „citizenship“ im Sinne von Linz und
Stepan (1996); (3) der Rechtspositivismus (Webers gesatzte Ordnungen, d. h. eine
nicht auf Dogmen basierende Rechtsordnung, die gleichwohl nicht mit Rechtsstaat-
lichkeit zu verwechseln ist); (4) sowie eine grundlegende b€urokratische Staatsorga-
nisation, die eine relativ dauerhafte Extraktion und Verteilung von Ressourcen
erlaubt und hierf€ur in der Lage ist, eine Basis-Infrastruktur zu errichten, die €uber
die Sicherung der Primärfunktion (Befriedung via Gewaltmonopol) hinausgeht.
Staatsb€urokratie und Gewaltmonopol werden zusammen auch als „state capacity“
behandelt (Hanson und Sigman 2013; Hendrix 2010). Bisweilen wird auf das
Element des Rechtspositivismus (Grävingholt et al. 2012; Carment et al. 2010;
Andersen et al. 2014b; Mazzuca und Munck 2014) oder zusätzlich auf Verwaltung
(Møller und Skaaning 2011) verzichtet; der Transformation Index der Bertelsmann-
Stiftung umfasst alle vier Kategorien zur Messung von Staatlichkeit.
Es kann hier nur am Rande erwähnt werden, dass neben der erwähnten Kritik am
Staatskonzept auch zunehmendes Unbehagen an Staatskonzepten á la Weber exis-
tiert. Kern dieser Kritiken ist, dass solche Staatskonzepte eine europäische Sonder-
entwicklung abbilden – wie sie etwa auch Fukuyama konstatiert – die sie kategoriell
verfestigen und so zum Analysestandard erheben („methodologischer Eurozentris-
mus“ nach Burchardt und Peters 2015, S. 257). Noch weiter gehen poststruktura-
listische Ansätze in der Nachfolge Foucaults, die den Staat in „Gouvernementalität“
auflösen.
wird. Zwar wird der Staat etwa in Lehrb€uchern (Berg-Schlosser 2003; Lauth
et al. 2014; Siaroff 2009) als grundlegendes Konzept und Analyseeinheit benannt,
doch kaum eine vergleichende Staatsforschung dargelegt (eine Ausnahme bilden
Newton und van Deth 2010). Gibt es also €uberhaupt (noch) eine nennenswerte
genuine Staatsforschung in der (vergleichenden) Politikwissenschaft? Diese Frage
ist zwar im Grunde positiv, aber dennoch nicht einfach zu beantworten. Zunächst ist
festzuhalten, dass es in der Tat einige zentrale Forschungsstränge gibt, die explizit
als Staatsforschung im engeren Sinne zu bezeichnen sind und nachfolgend näher
beleuchtet werden.
Wie oben erläutert, umfasst der Staat zudem mehrere Dimensionen, die aber in
der differenzierten Forschungslandschaft zum großen Teil aus der Staatsforschung
„ausgewandert“ sind, sofern sie nicht explizit mit Fokus auf den Staat behandelt
werden. Zu ihnen gehören etwa die gesamte Policy-Forschung („Staatstätigkeit“),
Forschungen zum Wohlfahrtsstaat, zur Staatsb€urokratie oder zum nation-building.
Gerade „welfare regimes“ (Skocpol 1992; Pierson 1994) oder die „varieties of
capitalism“ (Hall und Soskice 2001), aber im Prinzip insgesamt die in einer Rechts-
ordnung festgehaltenen Regeln sind Ausdruck der vom Staat garantierten Herr-
schaftsverhältnisse einer Gesellschaft und somit im Kern Gegenstand der Staats-
forschung. Versteht man €uberdies den Staat als Garanten formaler Institutionen
(„Durchf€ uhrung der Ordnungen“ im Weberschen Jargon), so gehören hierzu auch
die Forschungen zu informellen Institutionen, welche eigenständige „Legitimität“
beanspruchen und Staat wie Rechtsstaat gleichermaßen herausfordern (Lauth 2000,
2004b) – dies erstreckt sich auf Felder wie (Neo-)Patrimonialismus (Erdmann und
Engel 2007; Fukuyama 2013, 2014b), Rechtsstaat (Schuppert 2011), Korruption
(Debiel und Gawrich 2013) oder Klientelismus (Kitschelt and Wilkinson 2007;
Stokes 2007).
Im engeren Sinne – d. h. der Staat wird dezidiert als „conceptual variable“ (Nettl
1968) begriffen und auch methodologisch reflektiert – hat der Staat als analytisches
Konzept in der vergleichenden Politikwissenschaft in j€ungerer Zeit wieder stärker
Verwendung gefunden. Zu den zentralen Forschungssträngen gehören – vor allem in
der angloamerikanischen Forschung mit angestoßen durch die „Bringing the State
back in“-Initiative (Evans et al. 1985) die sich allerdings auch heftiger Kritik aus-
gesetzt sah – einige größere Themenfelder, die in j€ungerer Zeit insbesondere durch
den Aufschwung des historischen Institutionalismus weiteren Auftrieb erfahren
haben. Zwei werden näher beleuchtet1: (1) Fragen der Staatsbildung und (2) der
Nexus zwischen „Staat“ und „Demokratie“.
1
Gemäß dem Staatskonzept wären hier auch die vergleichende Verwaltungsforschung (Peters 1988,
1996; Rauch und Evans 1999), bez€ uglich „Legitimität“ die Forschungen zu politischer Kultur und
nation-building (Rokkan 1999; Paine 2014), aber etwa auch der Bereich Staat und „Entwicklung“
zu nennen. Letzterer stellt ein lohnenswertes Forschungsfeld dar, da hier – gerade im zeitgenössi-
schen, zunehmend aber hinterfragten „neoliberalen“ politischen Klima – die Staatsperspektive
einen Mehrwert verspricht f€ ur historische wie zeitgenössische Entwicklungsprozesse und -blocka-
den und Phänomene wie den „Entwicklungsstaat“ und seine Funktionsbedingungen (Evans 1989;
Burchardt und Peters 2015).
308 P. Thiery
1. Staatsbildung: Einer der Hauptstränge der durch die „Bringing the State back
in“-Initiative angestoßenen Staatsforschung widmet sich der Frage, wie und
warum sich der moderne Staat herausgebildet hat. Staatsbildung bzw. „state
formation“ wird in diesem im Wesentlichen historisch-komparativ argumentier-
enden Strang nicht nur als abhängige, sondern auch als unabhängige Variable
betrachtet (Skocpol 2008; Vu 2010). Die Forschung zur Staatsbildung setzt sich
in diversen Forschungslinien mit der Frage auseinander, wie es zu welchen
Staatsformationen kam und welche Auswirkungen diese ihrerseits hatten. Dabei
geht es nicht nur um historische Phänomene oder Erklärungen. Vielmehr soll
auch gezeigt werden, welche Folgen die unterschiedlichen Staatsbildungen f€ur
die weitere Staatsentwicklung beziehungsweise Entwicklung hatten. Im Sinne
des historischen Institutionalismus – Pfadabhängigkeit und „critical junctures“ –
wird davon ausgegangen, dass solche unterschiedlichen Weichenstellungen Fol-
gen f€
ur das weitere Handeln der Akteure im Staat, die Konstitution der Akteure
selbst und ihre Handlungsoptionen haben.
Eine Forschungslinie griff Tillys (1985) klassische Studie zu Staaten und Kriegen
auf, die Krieg als zentralen Kausalmechanismus der Staatsbildung in Europa – oder
genauer der Herausbildung einer zentralisierten B€urokratie – postulierte. Zahlreiche
Studien relativierten allerdings Tillys Thesen. Forschungen zu Europa und USA
zeigten, dass Kriege nicht die einzige auslösende Ursache f€ur Staatsbildung war,
während Analysen zu anderen Weltregionen – Asien (Hui 2005; Kohli 2004), Afrika
(Young 1994; Bratton und Chang 2006) und Lateinamerika (Geddes 1994; Centeno
2002; Dunkerley 2002; Kurtz 2013) – hervorheben, dass einige Faktoren f€ur die
europäische Staatsbildung eher einzigartig waren und nicht ohne weiteres auf andere
Fälle €ubertragen werden könnten (Vu 2010, S. 151–158; von Trotha 1994). Diese
area-bezogenen Forschungen bieten auch weitere Ansatzpunkte f€ur Forschungen,
die solche spezifischen Staatsbildungen im Hinblick auf die Folgen f€ur weitere
politische und ökonomische Entwicklung wie etwa Demokratie untersuchen.
In eine ähnliche Richtung weisen die Arbeiten von Fukuyama (2011, 2014a) und
North et al. (2009). Fukuyama geht es mehr um eine Theorie politischer Entwick-
lung, wobei zum einen die Frage gestellt wird, was €uberhaupt Staatsbildung verur-
sacht, und zum anderen welche Folgen sie f€ur menschliche Entwicklung im Rahmen
moderner politischer Ordnungen hat. Seiner These nach macht die Sequenz einen
Unterschied, ob Demokratisierung im Sinne der Ausweitung des Wahlrechts vor
oder nach der Herausbildung einer modernen Staatsb€ urokratie stattfand – im ersten
Fall drohe die Gefahr einer von Klientelismus und Korruption geprägten und oftmals
bis heute andauernden politischen Ordnung. Mit einem historisch ähnlich weiten
Blick wird bei North et al. Gewalt als Kardinalproblem einer Gesellschaft betrachtet
und wie es relativ dauerhaft gelöst werden kann. Die Autoren argumentieren, dass
konkurrierende Eliten es schaffen das Gewaltproblem so zu lösen, dass sie zunächst
eine Gesellschaftsordnung mit begrenztem Zugang („limited access order“ bzw.
„natural state“) schaffen. Die weitere Frage f€ur die Autoren lautet, wie man von
einer solchen Gesellschaftsordnung zu modernen Gesellschaften („open access
order“) gelangt, wobei sie auf die gesamte Gestalt der politischen, wirtschaftlichen
Staat und Rechtsstaat in der Vergleichenden Politikwissenschaft 309
und sozialen Ordnung fokussieren (zu empirischen Studien s. North et al. 2012). Wie
Fukuyama betrachten sie den Staat auch als unabhängige Variable, wie dies Skocpol
mit ihrem „polity centered approach“ intendierte (Skocpol 2008, S. 114).
2. Der Nexus zwischen „Staat“ und „Demokratie“ hat in j€ungerer Zeit wieder mehr
Aufmerksamkeit erfahren, war aber auch schon vor Beginn der „Dritten Welle“
der Demokratisierung ein Forschungsgegenstand, wie etwa im strukturalistischen
Ansatz von Barrington Moore (1968) oder wiederum in der historisch-
komparativen Forschung des „Bringing the State Back in“-Paradigmas
(Vu 2010; Tilly 2007). Hauptinteresse war dabei, die Urspr€unge von demokrati-
schen bzw. autoritären Institutionen in einem (auch historisch) breiteren Rahmen
der Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft zu analysieren, insbesondere
auch soziale Klassen und ihr Verhältnis zum Staat bzw. bestimmte Machtkons-
tellationen all dieser kollektiven Akteure (Rueschemeyer et al. 1992; Vu 2010,
S. 159–164). Im Zuge der Dritten Welle griff dann seit Mitte der 1990er-Jahre
auch die weitere, empirisch vergleichende Demokratieforschung die Thematik
auf, selbst wenn f€ur Fukuyama noch im Jahr 2014 die Beziehung zwischen Staat
und Demokratie als eine der „most understudied and undertheorized relations-
hips“ (Fukuyama 2014b, S. 1326) gilt.
Prominent bauten Linz und Stepan (1996) „stateness“ in ihr Konzept demokrati-
scher Konsolidierung ein, wobei sie aber von den genannten Staatlichkeitskompo-
nenten letztlich im Wesentlichen auf „citizenship“ und damit auf Legitimität fokus-
sierten. Im Kern behaupteten sie damit, dass Staat und Staatlichkeit eine
Vorbedingung f€ ur „citizenship“ und damit Demokratie sind – eine These, die
Fukuyama (2005) mit Fokus auf Gewaltmonopol und moderne Verwaltung zu
„stateness first“ zuspitzte. Weitere empirische Studien erhärten dies, doch sind auch
Differenzierungen angebracht, wenn Staatlichkeit wie auch Demokratie jeweils als
graduell verstanden sowie ihre Einzelkomponenten beleuchtet werden (Møller und
Skaaning 2011; Fukuyama 2014b). Staatlichkeit, sofern sie eine Mindestschwelle
nicht unterschreitet, scheint demnach wichtiger f€ur Konsolidierung und insbesonde-
re f€
ur die Existenz bzw. Qualität des Rechtsstaats zu sein als f€ur elektorale Demo-
kratien. Eine derart differenziertere Sichtweise gibt auch Hinweise auf mögliche
Synergieeffekte (Mazzuca und Munck 2014), aber auch auf komplexe Spannungs-
verhältnisse zwischen Staatlichkeit und Demokratie (Fukuyama 2014b). Verwandt
bzw. explizit verkn€upft damit sind j€ungere Debatten um „state capacities“, die
u. a. den Blick wiederum auf Regimestabilität als solche ausweiten, also auch das
heterogene Spektrum der Autokratien mit einbeziehen. Sie weisen darauf hin, dass
„coercive capacities“ möglicherweise mehr der Stabilisierung autoritärer Regimes
dienen, während „administrative capacities“ relevanter sind f€ur die Stabilisierung
bzw. Konsolidierung demokratischer Staaten. Nicht zuletzt tragen alle diese Diffe-
renzierungen auch dazu bei, aus der vordergr€undig plausiblen „stateness first“-These
nicht den normativ problematischen Schluss zu ziehen, eine (autokratische) Befes-
tigung von Staatlichkeit – und damit eine St€utzung bestehender Autokratien – sollte
generell einer Demokratisierung vorangehen.
310 P. Thiery
3 Rechtsstaat
Wie bei Staat oder Demokratie handelt es sich auch bei Rechtsstaat um ein um-
strittenes Konzept. Trotz seiner imposanten Karriere hat sich weder eine allgemein
anerkannte Definition noch ein Konsens €uber die Kernelemente durchgesetzt (Ta-
manaha 2004; Trebilcock and Daniels 2008; Møller und Skaaning 2012). Im Kern
konkurrieren d€ unne („thin“) mit „gesättigteren“ („thick“) Konzepten (Tamanaha
2004: 91 ff.), doch ist auch in den jeweiligen Operationalisierungen eine große
Bandbreite von Komponenten zu finden (Staton 2012; Kleinfeld 2006).
In Anlehnung an Tamanaha (2004), Nino (1996) und Møller und Skaaning (2012)
besteht die d€unnste Version des Rechtsstaats im „rule by law“, d. h. Herrschaft
vollzieht sich €uber Gesetze. Dies ist jedoch zu minimalistisch und kommt eher
einem Attribut des Staates gleich, während es im Kern dem Gedanken des Rechts-
staats widerspricht, da der oder die Herrscher die Regeln willk€urlich gestalten
können. F€ ur eine genuin minimalistische Konzeption bedarf es vielmehr als erster
Stufe der formalen Legalität, um Rechtssicherheit zu verb€urgen, d. h. die Gesetze
m€ussen allgemein, bekannt, prospektiv, verständlich und relativ stabil sein sowie
gleich angewendet werden (gleichbedeutend mit dem formalen Rechtsstaat; Lauth
2004a, S. 141 ff.). Über die noch gehaltvolleren Konzeptionen besteht insofern
Konsens, dass dazu die Kontrolle der Herrschaftsträger – Gewaltenteilung, „checks
and balances“ bzw. „horizontal accountability“ (O’Donnell 1998) sowie eine eigen-
ständige und unabhängige Justiz – ebenso gehören wie der materielle Rechtsstaat,
d. h. Gesetze m€ ussen nicht nur formale Bedingungen erf€ullen, sondern finden auch
Barrieren durch die Garantie von Grund- bzw. Menschenrechten.
Während diese Konzepte allesamt einen ähnlichen Begriff des formalen Rechts-
staats zugrunde legen – Rechtsbindung der Regierungsgewalten und Willk€urverbot
in Rechts- und Gesetzesfragen (Lauth 2004a, S. 147 ff.) – variieren sie im Ausmaß
dessen, was als „materiell“ (bzw. substantiell) zu begreifen ist. Am einen Ende der
Skala bewegen sich die Konzepte des politischen Liberalismus, die sich auf die
klassischen „Abwehrrechte“ gegen den Staat konzentrieren. Am anderen Ende
finden sich Konzepte etwa der sozialen Demokratie im Sinne Hermann Hellers,
die einen gesättigteren Begriff dieses materiellen Rechtsstaats vorschlagen und auch
politische und/oder soziale Rechte einbeziehen (Meyer 2011). Diese Strategie birgt
jedoch die Gefahr, das Konzept des Rechtsstaates auszuweiten und zu €uberdehnen
hin auf einen demokratisch verfassten, sozialen Rechtsstaat (2004a, S. 149 ff.).
Allerdings kann es auch vom Forschungsinteresse abhängig sein, welche Kompo-
nenten mit in die Konzeption einbezogen werden sollten. So kann es sinnvoll sein,
etwa die demokratische Genese des Rechts – also Polyarchie im Sinne Dahls – zu
integrieren, wenn Rechtsstaat als solcher den Forschungsgegenstand darstellt. Ande-
rerseits w€urden dadurch Konzeptgrenzen verwischt, wenn etwa im Rahmen der
Demokratieforschung das Konzept einer liberalen Demokratie – hier vereinfacht
verstanden als „Polyarchie plus Rechtsstaat“ – zugrunde gelegt wird.
Staat und Rechtsstaat in der Vergleichenden Politikwissenschaft 311
in the World, teils explizite Rechtsstaatsmessungen wie der Rule of Law-Index des
World Justice Project – rekurrieren zur Konzeptualisierung auf ähnliche Hauptkom-
ponenten, also einerseits die Kontrolle der Herrschaftsträger bzw. Unabhängigkeit
der Justiz, andererseits den (wenigstens minimalen) Bestand an Menschen- und
B€urgerrechten. Dennoch variieren die Konzeptionen beträchtlich, da sie daraus unter-
schiedliche Haupt- und Unterkategorien bzw. Indikatoren entwickeln; auch Mess-
methode und Daten-Aggregation divergieren, was zusammen zu teils eher schwa-
chen Korrelationen zwischen den Messungen f€uhrt und letztlich auch zu
unterschiedlichen Ergebnissen in statistischen Analysen (Skaaning 2010).
4 Perspektiven
Staat und Rechtsstaat sind je auf ihre Weise gängige und nahezu ubiquitäre Konzepte
in der vergleichenden Politikwissenschaft, weisen aber sowohl hinsichtlich Konzep-
tualisierung als auch Anwendung jeweils eigene Schwächen auf. Im Hinblick auf den
Staat ist festzuhalten, dass er zum einen als hochaggregiertes und mehrschichtiges
314 P. Thiery
Konzept äußerst sperrig f€ur empirische Analysen ist und bleiben wird. Mit deshalb,
aber auch aufgrund der disziplinären wie methodischen Ausdifferenzierung der
Forschung um das Sujet Staat herum kann wohl auch in Zukunft kaum von einer
einheitlichen Staatswissenschaft ausgegangen werden. Allerdings könnte der von
Hay und Lister (2006, S. 10–13) hervorgehobene Nutzen des Staatsfokus – institu-
tionelle und historische Kontextualisierung – Ansatzpunkte bieten, das insbesondere
in der angloamerikanischen Forschungstradition verankerte Aversion gegen€uber dem
Staat aufzuweichen. Als „Weberianer“ könnte man – in Übereinstimmung mit
O’Donnell – hinzuf€ugen, dass damit auch die Aspekte von Herrschaft (wieder) eine
größere Rolle spielen könnten. Im Hinblick auf den Rechtsstaat, dessen Bedeutung
f€ur politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen wenig umstritten
scheint, stehen weiterhin Fragen der schärferen Konzeption und valideren Messung
ebenso auf dem Programm wie eine stärkere Synthetisierung der theoretischen
Ansätze zu Ursachen und Wirkungen. Nur zusammengenommen wären dann auch
verlässlichere – und vergleichbare – empirische Analysen möglich. Wie f€ur die
Staatsforschung gilt, dass dies mit einer systematischeren Bestandsaufnahme der
bis dato eher disparaten Forschungslandschaft zu verbinden wäre. Nicht zuletzt sei
darauf verwiesen, dass die analytische Konsolidierung der Staats- und Rechtsstaats-
forschung auch produktive Impulse auf die aktuelle Forschung zur Entgrenzung des
Nationalstaats nach oben und nach unten liefern könnte.
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Fragile Staaten in der Vergleichenden
Politikwissenschaft
Daniel Lambach
Zusammenfassung
Fragile Staatlichkeit (bzw. seine verschiedenen Synonyme wie Staatszerfall,
Staatskollaps oder versagende Staatlichkeit) ist in seiner gegenwärtigen Form
erst seit rund 20 Jahren ein Thema politikwissenschaftlicher Forschung. Aus
Sicht der Vergleichenden Politikwissenschaft sind daran zwei Dinge bemerkens-
wert: Erstens handelt es sich dabei um ein Thema, das eigentlich Teil der klassi-
schen Comparative Politics sein sollte, aber derzeit eher in den Internationalen
Beziehungen, der Konflikt- und der Entwicklungsforschung angesiedelt ist. Die
Vergleichende Politikwissenschaft schöpft demgegen€uber das Potenzial des Kon-
zepts bislang kaum aus. Zweitens gab es inhaltlich ähnliche Konzepte schon
fr€
uher in der Komparatistik, z. B. die Arbeiten zu political development, deren
Erkenntnisse von der aktuellen Forschung nur wenig bis gar nicht ber€ucksichtigt
werden. Positiv gewendet kann man daraus folgern, dass die Vergleichende
Politikwissenschaft viel gewinnen könnte, wenn sie sich systematisch mit dem
Thema fragiler Staatlichkeit beschäftigen und die Forschung an ihre eigenen
Traditionen zur€uckbinden w€urde. Dies w€urde Erkenntnisgewinne f€ur andere
Forschungsstränge versprechen, aber auch der Forschung zu fragiler Staatlichkeit
gut tun.
Schlüsselwörter
Fragile Staaten • Staatlichkeit • Political development • Stateness • Vergleichende
Politikwissenschaft
D. Lambach (*)
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl f€ ur Internationale Beziehungen und
Entwicklungspolitik, Institut f€
ur Politikwissenschaft, Universität Duisburg- Essen, Duisburg,
Deutschland
E-Mail: daniel.lambach@uni-due.de
Die gegenwärtige Beschäftigung mit fragiler Staatlichkeit hat ihre Wurzeln in einem
Aufsatz von 1992, der erstmals die Frage stellte, was der Westen – hier speziell die
USA – tun könne, um „zerfallene Staaten“ ( failed states) zu retten (Helman und
Ratner 1992). Insbesondere in ihrer ersten Dekade befasste sich die Forschung stark
mit Begrifflichkeiten – neben dem zunächst dominanten Konzept des Staatszerfalls
(Gros 1996; Tetzlaff 1993) gab es noch weitere, verwandte Begriffe. Inzwischen hat
sich der Begriff des „fragilen Staates“ als Sammelbegriff etabliert, was auch zu einer
gewissen Integration der verschiedenen Ansätze in einem gemeinsamen Forschungs-
feld beigetragen hat. Im aktuellen Sprachgebrauch wird mit fragiler Staatlichkeit
eine breite Spanne von Beispielen institutionellen Versagens beschrieben. Dazu
gehören die zwar schwachen, aber zumindest noch teilweise funktionsfähigen Staa-
ten ebenso wie die krisengesch€uttelten, zerfallenden Staaten. Am Ende des Konti-
nuums von Staatlichkeit stehen die zerfallenen oder kollabierten Staaten, in denen
die staatlichen Institutionen nahezu jede produktive Arbeit eingestellt haben.
Als Referenzpunkt f€ur diese Kontinuum dient ein Idealtyp von Staatlichkeit, der
sich meist – aber nicht immer – am Staatsbegriff Max Webers orientiert (Weber
1972; Eriksen 2011). In dieser Tradition wird Staatlichkeit hier definiert €uber die
Fähigkeit staatlicher Institutionen, Monopole in den Bereichen a) Gewaltkontrolle,
b) Steuererhebung und c) Rechtsetzung zu etablieren und aufrechtzuerhalten. Staa-
ten sind demnach fragil, wenn sie in diesen drei Bereichen deutliche Defizite
aufweisen.1 Defizite der Gewaltkontrolle äußern sich in mangelnder Kontrolle €uber
das Staatsgebiet und seine Grenzen, in Aktivitäten nicht-staatlicher bewaffneter
Gruppen und in Kriminalität. Defizite in der Steuererhebung zeigen sich anhand
von verbreiteter Steuerhinterziehung, einer mangelhaften Finanzverwaltung und
informeller Steuererhebung durch private Akteure. Defizite der Rechtsetzung äußern
sich in der mangelhaften Durchsetzung staatlichen Rechts sowie der verbreiteten
Nutzung alternativer Rechtssysteme wie Clanrecht oder Lynchjustiz.
Es gibt keine eindeutigen Angaben, wie viele und welche Staaten heutzutage als
fragil, zerfallen oder kollabiert gelten. Verschiedene Forschungsinstitute ebenso wie
Organisationen aus der Entwicklungszusammenarbeit haben eigene Indizes zur
Messung von Fragilität entwickelt (Bethke 2012). Eine präzise Liste fragiler Staaten
ist jedoch genauso unrealistisch wie sinnlos, nicht zuletzt aufgrund der Veränder-
lichkeit der Sachlage. Überdies weist eine große Zahl von Staaten zumindest in
Teilbereichen deutliche Symptome fragiler Staatlichkeit auf. Insofern sollte man
fragile Staatlichkeit nicht als Ausnahme und Abweichung verstehen, sondern als
historischen und aktuellen Normalzustand.
Derartige Defizite staatlicher Institutionen haben nat€urlich Folgen f€ur Frieden und
Entwicklung. So zeigen mehrere Studien, dass fragile Staatlichkeit das Risiko eines
B€urgerkriegs signifikant erhöht (z. B. Bussmann 2009). Gleichzeitig ist fragile
1
Einflussreich sind auch die eher outputorientierten Konzepte von Schneckener (2006) und Rot-
berg (2004).
Fragile Staaten in der Vergleichenden Politikwissenschaft 321
von Interventionen dient. Dieser Auseinandersetzung muss man sich bewusst sein,
wenn man Fragilität als analytisches Konzept verwenden möchte.
2 Analytische Schwachpunkte
Die Literatur zu fragiler Staatlichkeit hat eine Tendenz zur Verwässerung und Über-
dehnung des Konzepts. Sein Hauptproblem ist, dass es Auskunft gibt, was nicht da
ist; es sagt aber nichts dar€uber aus, was da ist. Insofern verrät es uns einiges €uber
unsere eigenen Erwartungen: Wir gehen davon aus, dass jeder Staat €uber funktio-
nierende staatliche Institutionen und eine Zentralisierung und Monopolisierung der
Machtressourcen verf€ugen sollte, dass die staatliche Sphäre ein ausdifferenziertes
und autonomes Teilsystem der Gesellschaft ist und dass Herrschaft an Ämter, nicht
an Personen gebunden sein muss. Wir unterliegen der „Fiktion der Staatlichkeit“
(von Trotha 2011) und halten den modernen Staat f€ur den politischen Normalfall.
Ein Ausdruck dieser hohen Erwartungen ist das idealtypische Staatsverständnis,
das dem Konzept immer auch einen utopischen Charakter verleiht und aus dem
mehrere weitere Probleme hervorgehen. Das eine Problem ist das des Informations-
verlustes: Staatlichkeit wird eindimensional als Abstand zum Idealtyp ausgedr€uckt.
Ein weiteres Problem ist, dass man leicht dem Denkfehler unterliegt, dass, sobald ein
politisches System nach anderen Regeln funktioniert als Webers rational-legales
Modell politischer Herrschaft, man es allein aufgrund dieser Tatsache als instabil,
unterdr€uckerisch und dysfunktional einordnet. Dem Staat wird ein großer ideeller
Ballast aufgeb€ urdet, wenn man annimmt, dass in seiner Abwesenheit der Mensch
des Menschen Wolf werde.
Dabei gibt es gen€ugend Erkenntnisse, dass das Leben in einem fragilen Staat zwar
nicht paradiesisch ist, jedoch keineswegs in einem „Krieg aller gegen alle“ m€undet,
wie es mancher Kommentator in Anlehnung an Thomas Hobbes vermutet. In
kulturell und historisch sehr unterschiedlichen Kontexten finden sich Beweise f€ur
gesellschaftliche Selbstorganisation (Akude et al. 2011). Deshalb ist es sinnvoll,
nicht mehr „fragile Staaten“ als Ganzes zu betrachten, sondern zwischen sub- oder
transnationalen „Räumen begrenzter Staatlichkeit“ (Risse und Lehmkuhl 2007) zu
differenzieren, in denen der Staat eingeschränkte bzw. gar keine Governance-Kapa-
zitäten aufweist. In solchen Kontexten entsteht eine große Vielfalt an Ordnungs-
formen, die von Gewaltordnungen €uber gesellschaftlich-staatliche Hybridformen bis
hin zu parastaatlichen Polities reicht. Nicht-staatliche Akteure werden dort zu An-
bietern von Governance-Leistungen, ob in Kooperation mit oder Konkurrenz zu
den verbliebenen staatlichen Institutionen (exemplarisch Clements et al. 2007). Au-
ßerdem wäre es w€unschenswert, wenn sich die Forschung von der teleologischen
Annahme befreien könnte, dass die Entwicklung jeder Gesellschaft quasi naturge-
setzlich auf die Ausbildung eines modernen, ausdifferenzierten Staatswesens hinaus-
laufe. Dies verdeckt eher die bereits vorhandene Variation aktueller Staatsformen, als
dass es zu deren Verständnis beiträgt (Sørensen 2001).
Weiterhin darf „fragile Staatlichkeit“ auf begrifflicher Ebene nicht als bloßes
Synonym f€ ur einen allgemeinen Krisenzustand, eine Mischung aus Gewaltkonflikten,
Fragile Staaten in der Vergleichenden Politikwissenschaft 323
erklärungsbed€ urftig. Dies gilt umso mehr angesichts der Feststellung aus einer anderen
Standortbestimmung der Vergleichenden Politikwissenschaft, dass „die Untersuchung
der Leistungs- und Innovationsfähigkeit des Staates ein bleibendes Forschungsgebiet
[bilde]“ (Simonis et al. 2007, S. 159).
Diese weitgehende Nichtbeachtung ist besonders €uberraschend, wenn man be-
r€
ucksichtigt, dass sich die Vergleichende Politikwissenschaft von den 1960er bis
1980er-Jahren sehr aktiv mit genau diesem Themenbereich – wenn auch mit einer
anderen Terminologie – beschäftigte. In jener Zeit gehörte die political develop-
ment-Literatur zu einem der innovativsten Bereiche der Vergleichenden Politik-
wissenschaft, wie Hagopian (2000, S. 880) in ihrer Geschichte dieser Schule
darstellt. Wissenschaftler wie Gabriel Almond, James Coleman, Lucian Pye oder
Bingham Powell befassten sich mit politischem Wandel und Entwicklung in den
postkolonialen Staaten Afrikas, Asiens und in Nahost. Ihre modernisierungstheo-
retische Herangehensweise war stark normativ-teleologisch orientiert und geriet
aufgrund empirischer Defizite schnell in die Kritik, so dass sich das Feld von der
Großtheorie hin zur Entwicklung von Theorien mittlerer Reichweite bewegte.
Einer ihrer Kritiker war Huntington, der in seinem Werk zu Modernisierungs-
konflikten bereits das Forschungsthema fragiler Staatlichkeit vorwegnahm:
„The most important political distinction among countries concerns not their form
of government but their degree of government“ (1969, S. 1). Während sich das
Feld des political development ausdifferenzierte, folgten in Huntingtons Fußstap-
fen Theorien schwacher Staaten (weak states), die insbesondere die Einbettung des
Staates in der Gesellschaft thematisierten (z. B. Migdal 1988; Rothchild und
Chazan 1988). Jedoch wurden diese vielversprechenden Ansätze nicht weiter
gef€uhrt, da sich mit der Transitionstheorie ein neues Paradigma durchsetzte, das
sich – in Umkehrung von Huntingtons Diktum – wieder stärker mit Regierungs-
formen befasste.
Als sich in den 1990er-Jahren die Forschung zu Staatszerfall und Staatskollaps
entwickelte, geschah dies in weitgehender Unkenntnis der komparatistischen Vor-
läufer (ausf€
uhrlich Lambach 2011), obwohl staatliche Institutionen zum absoluten
Kerngebiet der Vergleichenden Politikwissenschaft gehören. Forschungsfelder wie
Patronage, Klientelismus und Neopatrimonialismus (z. B. Arriola 2009; Beissinger
und Young 2002; Erdmann und Engel 2007) gehören bereits dazu, ebenso die
komparative Staatsbildungsforschung (z. B. Thies 2009; Vu 2010). In punkto fra-
giler Staatlichkeit ist der Forschungsgegenstand disziplinär jedoch heute in den
Internationalen Beziehungen bzw. Querschnittsfeldern wie Konflikt- oder Entwick-
lungsforschung verankert.
Zwar gibt es eine komparative Erforschung fragiler Staatlichkeit, z. B. zu den
Ursachen von Fragilität (Lambach und Bethke 2012 bieten einen Überblick €uber den
Forschungsstand). So unternehmen B€uttner (2004), Lambach (2009), Schneckener
(2006) und Schubert (2005) Small-N-Vergleiche, die auf qualitativen Fallstudien
berufen, während Lambach, Bayer und Johais (2013) QCA-basierte Vergleiche an-
stellen. Grävingholt, Ziaja und Kreibaum (2012) sowie Carment und Samy (2012)
setzen auf Large-N-Analysen mit dem Ziel, unterschiedliche Typen von Fragilität zu
Fragile Staaten in der Vergleichenden Politikwissenschaft 325
verbessert. Ähnlich argumentiert Slater (2008), dass kompetitive Wahlen und Mas-
senmobilisierung die territoriale Ausweitung der staatlichen Reichweite befördern.
In der afrikabezogenen Forschung spielen fragile Staatlichkeit und verwandte
Konzepte eine größere Rolle. Hier zeigen eine Vielzahl von Beiträgen zu politischer
Kultur (Bayart 1993), zu Klientelismus und Neopatrimonialismus (Erdmann und
Engel 2007) sowie zu Hybridität (Meagher 2012), dass formelle Institutionen dort
mehr als in anderen Regionen mit informellen Praktiken vermischt, durch diese
instrumentalisiert oder substituiert werden. Der afrikanische Staat „funktioniert“
(Chabal und Daloz 1999), jedoch nicht nach den Regeln, die man als externer
Beobachter mit Weberschen Idealen von Staatlichkeit erwarten w€urde. Die Ursachen
daf€ur liegen in kolonialen Traditionen, den Staatsbildungsstrategien autoritärer
Regimen in der postkolonialen Phase sowie der politischen Geographie des Konti-
nents, die eine Institutionalisierung vieler Staatswesen erschwert (Herbst 2000;
Thies 2009). Auch die aktuelle Debatte, ob das urspr€unglich asiatische Modell des
Entwicklungsstaates in Afrika umgesetzt werden könnte, dreht sich um die Frage, ob
afrikanische Staaten €uber die notwendige institutionelle Kapazität verf€ugen (Mu-
samba 2010).
4 Perspektiven
Dieser Forschungsstränge zum Trotz bleibt festzuhalten, dass die Beschäftigung der
Vergleichenden Politikwissenschaft mit fragiler Staatlichkeit ausbaufähig ist. Dabei
bietet eine tiefere Auseinandersetzung mit dem Thema interessante Perspektiven f€ur
die Vergleichende Politikwissenschaft.
Erstens ist fragile Staatlichkeit ein Konzept, das nicht nur auf einzelne Regionen
anwendbar ist und deshalb transregionale Vergleiche ermöglicht. Zwar gibt es be-
rechtigte Debatten dar€uber, inwieweit ein einheitlicher Idealtyp den Realitäten
von Staatlichkeit in unterschiedlichen Regionen gerecht wird, es ist jedoch unstrittig,
dass es globale Normen und Vorstellungen von Staatlichkeit gibt, die von Eliten und
B€urgern weltweit geteilt werden. Zweitens kann man das Konzept auch räumlich
desaggregieren, indem man von „Räumen begrenzter Staatlichkeit“ statt fragilen
Staaten spricht (wie es der Sonderforschungsbereich 700 tut). Dies ermöglicht eine
produktive Erforschung von Variation innerhalb von Staaten (exemplarisch Bouzia-
ne et al. 2013).
Drittens und letztens stellt fragile Staatlichkeit f€ur viele Forschungsgegenstände
der Vergleichenden Politikwissenschaft eine wichtige unabhängige oder intervenie-
rende Variable dar, die zu oft noch nicht ausreichend ber€ucksichtigt wird. In der
Demokratisierungsforschung geschieht dies bereits zum Teil (z. B. bei Bratton und
Chang 2006; Zulueta-F€ulscher 2014), wenn auch noch nicht deutlich genug. Hier
lässt sich beispielsweise die These aufstellen, dass Transitionen in konsolidierteren
Staatswesen anders scheitern als in fragilen Staaten: Während es in ersteren zu auto-
ritärer Regression kommt, f€uhren letztere eher zu B€urgerkriegen (Akude et al. 2009).
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Staatsstrukturen in der Vergleichenden
Politikwissenschaft: Föderal- und
Einheitsstaat
Jörg Broschek
Zusammenfassung
Die territoriale Dimension von Staatlichkeit ist den vergangenen Jahrzehnten
wieder sp€ urbarer geworden. Die supranationale Integrationsdynamik innerhalb
der Europäischen Union, Prozesse der Devolution wie in Großbritannien oder
Italien beziehungsweise der Föderalisierung wie in Belgien, und eine Vielzahl
von Institutionenreformen in etablierten Föderalstaaten belegen dies. Oftmals
liegt diesen institutionellen Dynamiken eine „Reaktualisierung“ territorial defi-
nierter Konfliktlinien zugrunde. Ungeachtet dieser aktuellen Entwicklungen zeigt
dieser Beitrag indes, dass Territorialität seit jeher eine wichtige Rolle f€ur die
Binnenstruktur des Staates gespielt hat.
Schlüsselwörter
Mehrebenenregieren • Föderalismus • Einheitsstaat • Regionalisierung • Zentra-
lisierung • Dezentralisierung • Souveränität
1 Einleitung
J. Broschek (*)
Associate Professor, Department of Political Science, Wilfrid Laurier University, Waterloo, Kanada
E-Mail: jbroschek@wlu.ca
Zentrum-Peripherie Konflikte, die sich auf unterschiedliche Art und Weise in der
institutionellen Architektur von Staaten manifestieren.
Allen Staatsbildungsprozessen ist naturgemäß eine Zentralisierungsdynamik
inhärent. Historisch wurde versucht, auf dem Wege der politischen Strukturierung
(„political structuring“) die peripheren bzw. „unterworfenen“ Gebiete innerhalb
eines sich konsolidierenden Staates durch institutionelle Einbindung zu befrieden,
um dadurch internen Protest zu kanalisieren (Bartolini 2005; Ferrera 2005; Rokkan
1999). Territoriale Grenzen innerhalb eines Staates blieben so oftmals und allen
Zentralisierungsdynamiken zum Trotz durchaus wirkungsmächtig. Sie bieten des-
halb einen wichtigen Ausgangspunkt f€ur den Vergleich divergenter Pfade der Staats-
entwicklung.
Vor diesem Hintergrund können zunächst grob zwei Varianten des modernen
Staates differenziert werden: Der Einheits- und der Föderalstaat. Der zentrale Unter-
schied zwischen beiden Varianten liegt dabei nicht im jeweiligen Zentralisierungs-
grad (vgl. auch Kaiser et al. 2012) begr€undet. Sowohl Einheits- wie auch Föderal-
staaten können eine eher zentralistische oder dezentrale Staatstruktur aufweisen.
Zudem ist die Staatstruktur keineswegs statisch, sondern dynamisch (vgl. Benz
2012; Benz und Broschek 2013). Der jeweilige Zentralisierungs- bzw. Dezentrali-
sierungsgrad verändert sich entsprechend oftmals im Zeitverlauf. Schließlich können
sich beide Varianten des modernen Staates auch mit Blick auf die institutionelle
Verkn€ upfung von gesamt- und sub- bzw. gliedstaatlicher Ebene durchaus ähnlich
sein. Das differenzmarkierende Kriterium zwischen Einheitsstaat und Föderalstaat
ist deshalb eher verfassungsrechtlicher Natur und betrifft die Frage der Souveränität
der substaatlichen Einheiten: Während sie im Föderalstaat auf einer eigenständigen
Grundlage steht, gilt sie im Einheitsstaat lediglich abgeleitet.
Die Tatsache, dass eine föderative Staatsorganisation oftmals als Abweichung
von der Norm des Einheitsstaates interpretiert worden ist, scheint auf den ersten
Blick den empirischen Verhältnissen zu entsprechen. Lediglich ca. 25 von insgesamt
etwas mehr als 190 Staaten weltweit weisen eine föderative Staatsorganisation auf
(vgl. Hueglin und Fenna 2006). Faktisch lebt heute allerdings fast die Mehrheit der
Weltbevölkerung in einem Föderalstaat. Ausgehend von den ersten modernen Bun-
desstaaten in Nordamerika (USA 1787, Kanada 1867) und Europa (Schweiz 1848,
Deutschland 1871) fand der Föderalstaat vor allem seit der zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts eine wachsende Verbreitung.
Eine besondere Attraktivität €ubt er naturgemäß auf bevölkerungsreiche und groß-
räumige Länder aus. Neben den USA und Australien zählen heute auch Indien,
Russland, Pakistan oder Brasilien zur Gruppe der Föderalstaaten. Einen Bedeutungs-
zuwachs erfährt der Föderalstaat zudem aufgrund der Gleichzeitigkeit von Globali-
sierungs- und Regionalisierungsprozessen im „postwestfälischen“ Kontext. Viele
Beobachter betrachten den Föderalismus deshalb mehr denn als je eine zeitgemäße
Form der Staatsorganisation. Eine besonders aktuelle Erscheinungsform des Föde-
ralismus stellt schließlich die Europäische Union (EU) dar. Der europäische Inte-
grationsprozess hat, wie u. a. Stefano Bartolini (2005) in seiner historisch-komparativ
angelegten Studie gezeigt hat, das etablierte System von Nationalstaaten transfor-
miert und dadurch in eine neue entwicklungsgeschichtliche Stufe €uberf€uhrt. Obwohl
Staatsstrukturen in der Vergleichenden Politikwissenschaft: Föderal-. . . 333
die Gegenwart, und dies obwohl sich die Realität damals wie heute nur bedingt
diesen Kategorien f€ugt (vgl. Benz 2008; Grimm 2009). Nach Bodin liegt die staat-
liche Souveränität absolut, unteilbar und zeitlich unbegrenzt konzentriert in den
Händen eines Gesetzgebers.
Obwohl sich im Zuge der Fundamentaldemokratisierung des modernen Staates
der Ursprung der Souveränität vom Monarchen zum Volk verlagerte, wurde in dieser
Interpretationslinie das Prinzip der Unteilbarkeit vielfach fortgeschrieben. So wurde
der Staat beispielsweise in Anlehnung an den Republikanismus Rousseauscher
Prägung als Instrument der Volonté générale konzipiert, wobei die Konzentration
staatlicher Handlungsmacht in einer zentralen Körperschaft eine unabdingbare Vor-
aussetzung und Folge dieses Souveränitätsverständnisses ist. Ebenso findet sich
diese Denkfigur in der von der deutschen Staatslehre entwickelten Drei-Elemente-
Lehre, der zufolge der moderne Staat durch die Einheitlichkeit von Staatsgebiet,
Staatsvolk und Staatsgewalt gekennzeichnet ist. Souveränität bezieht sich dabei zum
einen auf das Außenverhältnis von Staaten im internationalen System als eine
Grundvoraussetzung des klassischen Völkerrechts, wie es sich im Gefolge des
Westfälischen Friedens von 1648 herausgebildet hatte. Sie bezieht sich zum anderen
nach innen und kommt in dem exklusiven Recht zur legitimen Aus€ubung des
Gewaltmonopols €uber rechtlich gleichgestellte Staatsb€urger innerhalb eines territo-
rial begrenzten Herrschaftsverbandes zum Ausdruck.
Aus dem Blickwinkel eines solchen Souveränitätsverständnisses erscheint der
Föderalstaat notwendig als eine unvollkommene Abweichung von der Norm. Voll-
zieht sich der Wandel einer Konföderation zu einem Föderalstaat, wandert gewisser-
maßen der Ort der Souveränität von den Gliedern auf den neugegr€undeten Bund,
wobei erstere Staatsqualität behalten. Zugrunde liegt diesem Gr€undungsakt in der
Regel – zumindest implizit – die Vorstellung eines revolutionären Aktes, im Zuge
dessen sich der Ursprung staatlicher Souveränität von den einzelnen Mitgliedstaaten
einer Konföderation (Staatssouveränität) auf die neue, sich auf dem Wege der Ver-
fassungsgebung konstituierende politische Gemeinschaft (Volkssouveränität) ver-
lagert. Auf der rechtlichen Ebene wird aus einem ehemals völkerrechtlichen Vertrag
eine bundesstaatliche Verfassung, es findet entsprechend eine „Auswechslung des
Legitimationssubjekts“ (Oeter 2001, 253) statt.
Mit Blick auf den Föderalstaat erweist sich die Prämisse unteilbarer Souveränität
faktisch allerdings als eher unbrauchbar und irref€uhrend. So beschäftigte sich bei-
spielsweise die Staatsrechtslehre im deutschen Kaiserreich mit der eher m€ußigen
Frage, ob die Einzelstaaten, der Bundesrat oder aber die gesamtstaatliche Ebene des
Deutschen Reiches letztlich der Träger staatlicher Souveränität sei (vgl. Oeter 1998,
33 ff.). Auch f€ ur das Verständnis der Europäischen Union hat sich die an der
dichotomischen Gegen€uberstellung von Staatenbund und Bundesstaat bzw. von
Vertrag versus Verfassung als wenig n€utzlich erwiesen. Das Bundesverfassungsge-
richt hat in seinem Maastricht-Urteil von 1993 den Ausweg darin gesehen, mit dem
Begriff des Staatenverbundes dessen hybride Natur zu charakterisieren. Obwohl die
Rechtsprechung damit die Grenzen der nach wie vor einflussreichen Staatenbund-
Bundesstaat Differenzierung im Grunde anerkennt, betont sie mit der neuen Be-
griffsschöpfung zugleich die Einzigartigkeit bzw. den sui generis Charakter der
Staatsstrukturen in der Vergleichenden Politikwissenschaft: Föderal-. . . 335
begrenzter Souveränitätstransfer
Staatsgewalt
Einheitsstaat Föderalstaat
Staatsgebiet
Substaatliche territoriale
Einheiten (delegierte
Souveränität) Gliedstaaten
(eigenständige
Souveränitätsgrundlage/
föderatives Prinzip)
Staatsvolk/Staatsvölker
(Volkssouveränität/demokratisches Prinzip.)
Europäischen Union – ein aus Sicht der vergleichenden Forschung eher unbefriedi-
gendes Vorgehen.
Wie die Parallelen in der Diskussion €uber die staatsrechtlichen Grundlagen der
Reichsverfassung von 1871 und der Europäischen Union nach Maastricht zeigen,
f€
uhrt die Vorstellung von der Unteilbarkeit staatlicher Souveränität an der Realität
vorbei. Tatsächlich macht eine dichotomische Gegen€uberstellung wenig Sinn, so-
lange sie Denkmustern verhaftet bleibt, die Souveränität f€ur unteilbar halten und die
es deshalb kaum vermögen, die Besonderheit des Föderalismus analytisch einzu-
fangen. Im Hinblick auf die klassische Drei-Elemente-Lehre der Staatstheorie,
wonach die Staatsgewalt, das Staatsgebiet sowie das Staatsvolk konstitutiv f€ur den
modernen Staat sind, so lässt sich zunächst festhalten, weicht das föderative Prinzip
im Hinblick auf alle drei Elemente vom Einheitsstaat ab (vgl. Abb. 1):
1. Die Staatsgewalt ist geteilt und wird prinzipiell von Bund und Gliedstaaten
ausge€ubt. Gesamtstaatliche Souveränität konstituiert sich sowohl durch die
Volkssouveränität als auch durch die Souveränität territorial definierter Subein-
heiten.
2. Das Staatsgebiet ist territorial aufgegliedert, wobei im Unterschied zum Einheits-
staat die Existenz der Gebietskörperschaften nicht von der zentralen Ebene ab-
geleitet ist, sondern auf eigenständiger Souveränitätsgrundlage steht.
3. Während im Einheitsstaat eine direkte und unmittelbare Beziehung zwischen
Staat und B€ urgern besteht, wird diese im Föderalstaat um eine zwischengeschaltete
336 J. Broschek
Souveränität
konzentriert delegiert geteilt delegiert konzentriert
untere Ebene obere Ebene
Abb. 2 Souveränität und Staatsstruktur. Quelle: modifiziert nach Schultze (1992, S. 96)
Staatsstrukturen in der Vergleichenden Politikwissenschaft: Föderal-. . . 337
Commission, die ihre Vorschläge Ende November 2014 vorgelegt hat, betont zudem
an mehreren Stellen die Notwendigkeit, die Dauerhaftigkeit eines neuen Arrange-
ments quasi-konstitutionell zu besiegeln (Smith Commission 2014).
Gerade die gegenwärtigen Devolutionsprozesse verdeutlichen einmal mehr die
Notwendigkeit, das tradierte Repertoire vergleichender Kategorien weiter zu verfei-
nern. Die Frage nach dem Schwellenwert, der den Übergang vom Einheits- zum
Föderalstaat markiert und es dadurch ermöglicht, Devolutions- von Föderalisie-
rungsprozessen zu unterscheiden, ist alles andere als leicht zu bestimmen und
entsprechend umstritten. Während der Multi-level Governance Ansatz von dieser
Frage im Grunde abstrahiert, indem er Konfigurationen und Prozesse der Mehre-
benenpolitik (weitgehend) unabhängig von der jeweiligen Staatsform untersucht, hat
Franz Xavier Barrios-Suvelza (2012; 2014) j€ungst eine differenzierte Klassifikation
entworfen, die die Möglichkeiten f€ur die vergleichende Analyse der territorialen
Dimension von Staatlichkeit erweitern. Diese Klassifikation basiert auf der Unter-
scheidung zwischen „einfachen“ (simple) und „zusammengesetzten“ (composite)
Formen politischer Systeme. Auf dieser dichotomischen Gegen€uberstellung aufbau-
end lassen sich konkrete Erscheinungsformen des Staates typologisch zuordnen,
wobei Barrios-Suvelza die Qualität der Herrschaftsaus€ubung durch territoriale Ein-
heiten innerhalb des Staates, ihr strukturelles Gewicht, die Art ihrer hierarchischen
Einbindung sowie den Grad der territorialen Segmentierung des Staates als Kriterien
zur Typenbildung heranzieht.
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Verwaltung in der Vergleichenden
Politikwissenschaft
Sabine Kuhlmann
Zusammenfassung
Die international vergleichende Verwaltungswissenschaft (Comparative Public
Administration) ist in den vergangenen Jahrzehnten zu einem wichtigen Teil-
segment der vergleichenden Politikwissenschaft geworden. Im vorliegenden Bei-
trag wird am Beispiel wesentlicher Typologien, Begriffe und Forschungserträge
herausgearbeitet, welche Rolle das Vergleichen in der Verwaltungswissenschaft
und die öffentliche Verwaltung als Gegenstandsbereich der vergleichenden Poli-
tikwissenschaft spielen. Es werden zentrale Befunde zur Wirkungsweise und zum
Erklärungsbeitrag unterschiedlicher Verwaltungssysteme in vergleichender Pers-
pektive vorgestellt.
Schlüsselwörter
Comparative Public Administration • Kommunale Selbstverwaltung • Öffentli-
cher Dienst • Organisation • Verwaltungswissenschaft
S. Kuhlmann (*)
Professorin f€ur Politikwissenschaft, Verwaltung und Organisation, Fachgruppe f€
ur Politik- und
Verwaltungswissenschaft, Universität Potsdam, Potsdam, Deutschland
E-Mail: sabine.kuhlmann@uni-potsdam.de
Verwaltungs-
profil/ Verwaltungstradition Verwaltungsaufbau
Ländergruppe
Rechtsstaatskultur, Legalismus
Kontinental-
Schweiz: Trennung Staat- Föderal-dezentral; starke
europäisch-föderal
Gesellschaft schwächer; Kommunalverwaltung
(D, A, CH)
Beamtentum, Legalismus
schwächer
traditionell f€
ur Verwaltungssysteme der napoleonischen Ländergruppe (siehe oben)
charakteristisch ist, die f€ur abgrenzbare Fachaufgaben spartenhafte Behördenapparate
von der (zentral)staatlichen bis auf die lokale Ebene aufweisen. Wenngleich empirisch
zumeist Mischungen dieser Idealtypen von Verwaltungsorganisation vorzufinden sind,
lassen sich die verschiedenen nationalen Verwaltungssysteme doch als entweder dem
Gebiets- oder dem Aufgabenorganisationsmodell nahestehend einordnen.
Im Mittelpunkt des Vergleichs von öffentlichen Personalsystemen (Comparative
Civil Service Systems; siehe Page 1992; Schnapp 2004; Raadschelders et al. 2007;
Derlien und Peters 2009) stehen Ministerialb€urokratien bzw.-eliten, d. h. ein Ver-
waltungssegment, das vorrangig mit Politikformulierung und kaum mit Politikvoll-
zug befasst ist. Vor diesem Hintergrund bildet die Politisierung der Verwaltung eine
der wichtigsten Analysekategorien dieses Forschungsstranges. Grob werden zwei
Kategorien (mit weiteren Verfeinerungen und Nuancierungen; hierzu Schwanke und
Ebinger 2006) unterschieden: Die „formale Politisierung“ bezieht sich auf die
(partei-) politisch kontrollierte Besetzung von administrativen Schl€usselpositionen
bis hin zum Phänomen der „Ämterpatronage“. Dagegen umfasst die „funktionale
Politisierung“ die politisch responsiven, vorausschauenden, Politikrationalitäten
antizipierenden und auf Politikprozesse Einfluss nehmenden Handlungsweisen von
Ministerialb€ urokraten (vgl. Mayntz und Derlien 1989; Peters 2009). Hinsichtlich der
formalen Politisierung wird klassischerweise Großbritannien als ein Extrempol an-
gef€uhrt, da sein Civil Service traditionell als unpolitisch und neutral gilt (ähnlich
Schweden). Als der andere Extrempol können die USA mit ihrem oft kritisierten
spoil system genannt werden, das durch den Austausch zahlreicher Ministerialbeam-
ter nach Regierungswechseln gekennzeichnet ist. Auch f€ur die s€udeuropäischen
Civil Service-Systeme sind eine ausgeprägte parteipolitische Rekrutierungs- und
Beförderungspraxis in der Ministerialverwaltung bis hin zu Ämterpatronage und
Klientelismus zwischen politischen Parteien und Verwaltung charakteristisch (Ita-
lien, Griechenland, Spanien; vgl. Kickert 2011). Massive Ämterpatronage wurde
ferner f€
ur Frankreich und Belgien festgestellt (M€uller 2001). F€ur Deutschland gilt im
Vergleich dazu eine mittlere, tendenziell aber zunehmende formale Politisierung der
Ministerialb€ urokratie (vgl. Schwanke und Ebinger 2006).
Funktionale Politisierung wird in der vergleichenden Forschung einerseits €uber
die Befragung von Spitzenb€urokraten zu ihrer Einstellung hinsichtlich der politi-
schen Aspekte ihrer Arbeit erhoben (vgl. Aberbach et al. 1981; Mayntz und Derlien
1989; Schwanke und Ebinger 2006). Andererseits lässt sich das Einflusspotenzial
von Ministerialb€ urokratien auf Policy-Making-Prozesse anhand konkreter organisa-
tionsstruktureller Arrangements ermitteln, von denen angenommen wird, dass sie
die Chancen der Verwaltungsakteure bestimmen, auf Policy-Making-Prozesse Ein-
fluss zu nehmen (Schnapp 2004). Res€umierend kommen die vorliegenden Ver-
gleichsstudien zu dem Ergebnis, dass den Spitzenb€urokraten der Länder Deutsch-
land, Österreich, Frankreich, Schweden, Großbritannien und bei den mittel- und
osteuropäischen Ländern auch Ungarn ein hoher Policy-Making-Einfluss zuge-
schrieben werden kann (vgl. Page und Wright 1999; Meyer-Sahling und Veen
2012, S. 8). Dagegen haben die Ministerialbeamten in Italien, Griechenland und
Belgien eher einen geringen Einfluss auf Policy-Making-Prozesse.
350 S. Kuhlmann
Zentral-lokale-Verflechtung; Hoch: F, I, H
Mittel: D
Zugang „nach oben“ (access) Gering: UK, S
5 Verwaltungsreformen
1
Dies schließt nicht aus, dass ihre Ergebnisse und Wirkungen auch auf nicht-intendierten Effekten
der eingeleiteten Reformen oder „emergenten“ Entwicklungen beruhen.
Verwaltung in der Vergleichenden Politikwissenschaft 353
S. 199 f.; Ritz 2003, S. 180). Fasst man Verwaltungspolitik als Policy, so lässt sie
sich auf den gesamten Politikzyklus beziehen und es wird möglich, die verschiede-
nen Phasen von der Politikinitiierung €uber die Programmformulierung und -durch-
f€
uhrung bis hin zur Wirkungsmessung und Politikterminierung oder -reformulierung
zu untersuchen. Dabei stellt die nur „lose Koppelung“ von Reformrhetorik (talk),
Handlungsprogrammen (decision) und tatsächlichen Veränderungen (action) eine
durchaus funktionale und rationale Strategie in organisatorischen Reformprozessen
dar (vgl. Jann 2006; Brunsson 1989).
In der vergleichenden Verwaltungswissenschaft werden verschiedene Typen und
„Pfade“ von Verwaltungsreformen unterschieden. Ein wesentlicher Pfad der Ver-
waltungsreform in Europa betrifft die Umschichtung von Verwaltungskompetenzen
im Mehrebenensystem, womit Prozesse der De-/Rezentralisierung von Aufgaben,
Regionalisierung, Devolution bis hin zur „Quasi-Föderalisierung“ angesprochen
sind. In den letzten Jahrzehnten sind in einer wachsenden Zahl bislang unitarisch
verfasster europäischer Länder Prozesse der Dezentralisierung in Gang gesetzt
worden – sei es als Föderalisierung bzw. Quasi-Föderalisierung (Belgien, Spanien,
Italien, Großbritannien) oder als „einfache“ Regionalisierung (Frankreich, Schwe-
den). Dar€ uber hinaus ist es in vielen Staaten zu einer (weiteren) Abschichtung von
Verwaltungskompetenzen von der (zentral)staatlichen Ebene auf die kommunalen
Gebietskörperschaften gekommen. Inwieweit sich die Aufgaben€ubertragung auf die
Performanz des Verwaltungshandelns auswirkt, ist in der vergleichenden Forschung
bislang umstritten (vgl. Kuhlmann et al. 2011). Ein weiterer Strang der Verwal-
tungsreform europäischer Staaten betrifft die territoriale Neugliederung von Ver-
waltungseinheiten oder auch „territoriale Konsolidierung“ subnationaler Räume
(territorial consolidation; vgl. Baldersheim und Rose 2010). Hier bewegen sich
die europäischen Reformansätze insbesondere zwischen den beiden Extrempolen
der – eher weichen Variante von – Verwaltungskooperation oder auch trans-scaling
(Bsp. Frankreich, Italien, Spanien, S€uddeutschland) und der – radikaleren Form von –
Gebietsfusionen oder up-scaling (Großbritannien, Skandinavien, Nord- und teils
Ostdeutschland). Schließlich ist als ein wichtiger Reformbereich der Verwaltung in
Europa die Modernisierungsbewegung im Rahmen des New Public Management
(NPM) zu erwähnen (vgl. Pollitt und Bouckaert 2004, 2011; Kuhlmann 2010), die
sowohl externe als auch interne Reformelemente beinhaltet. In Abkehr vom Konzept
des expansiven Wohlfahrtsstaates und der „klassisch-b€urokratischen“ Verwaltung
zielt das NPM einerseits darauf, den Aktionsradius des Staates neu zu bestimmen
(einzuschränken), Marktmechanismen zu stärken, Wettbewerb zu fördern und die
Position des B€ urgers als Kunden zu kräftigen. Andererseits geht es im Binnenver-
hältnis darum, betriebswirtschaftliche Managementmethoden einzuf€uhren,
b€urokratische Organisationsstrukturen aufzubrechen und die Handlungssphären
von Politik und Verwaltung klarer zu entkoppeln. Inzwischen ist allerdings
angesichts der erneuten verwaltungs- und ordnungspolitischen Umorientierung
seit Beginn des neuen Jahrtausends und besonders im Zuge der globalen
Finanz- und Wirtschaftskrise auch von Post-NPM oder dem „Neo-Weberian State“
die Rede (vgl. Bouckaert 2006; Pollitt und Bouckaert 2011). Damit sind Ansätze
von Re-Regulierung, Wiederverstaatlichung, whole-of-government-Reformen (d. h.
354 S. Kuhlmann
2
In dieser Hinsicht gibt es offenkundige Überschneidungen mit dem Soziologischen Institutiona-
lismus, weswegen beide Ansätze häufig auch zusammen betrachtet werden (siehe Goetz 2006).
356 S. Kuhlmann
Nach Pollitt (2001) muss f€ur eine differenzierte Untersuchung von Konvergenz
oder Divergenz jedoch ein genauerer Blick auf die verschiedenen Phasen von
Reformprozessen in den jeweiligen Ländern geworfen werden. Mit dem Ziel,
Konvergenz präziser zu fassen (clarifying convergence), schlägt Pollitt (2001) in
Anlehnung an Brunsson (1989) eine Differenzierung nach vier Ebenen oder Phasen
vor:
6 Zusammenfassung
2010, S. 762) entnehmen, die wesentliche Aussagen zur Wirkungsweise und zum
Erklärungsbeitrag unterschiedlicher Verwaltungssysteme in vergleichender Perspek-
tive enthalten. Hier können und sollten zuk€unftige Studien ankn€upfen, um dadurch
die Theorie- und Konzeptentwicklung der CPA weiter voranzubringen.
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Verfassungsgerichte in der Vergleichenden
Politikwissenschaft
Sascha Kneip
Zusammenfassung
Die vergleichende Verfassungsgerichtsforschung ist ein vergleichsweise junges
Feld der Vergleichenden Politikwissenschaft. Der vorliegende Beitrag untersucht
normative Positionen der Debatte, theoretische und methodische Erklärungsan-
sätze richterlichen Handelns sowie zentrale Fragen und Ergebnisse der empirisch-
vergleichenden Gerichtsforschung. Theoretisch ist das Feld geprägt von behavi-
oralistischen und neo-institutionalistischen Ansätzen, inhaltlich ist insbesondere
die Frage von Bedeutung, welche Rolle Verfassungsgerichte in demokratischer
Politik spielen, wie stark sie in sie hineinwirken und welche Folgen dies f€ur
demokratisches Regieren hat.
Schlüsselwörter
Rechtsstaat • Demokratie • Verfassung • Gerichte • Qualität der Demokratie
1 Einleitung
S. Kneip (*)
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Wissenschaftszentrum Berlin f€
ur Sozialforschung (WZB),
Berlin, Deutschland
E-Mail: sascha.kneip@wzb.eu
Zum einen beschränkten sich die juristischen Studien häufig auf entweder normative
oder deskriptiv-beschreibende Aspekte in der Darstellung einzelner Verfassungs-
gerichte (Hönnige 2007, S. 29 ff.) und ließen damit manche f€ur die Politikwissen-
schaft interessante Frage wie jene nach der Dynamik zwischen Verfassungsgericht
und Gesetzgeber oder möglichen Justizialisierungseffekten durch verfassungsge-
richtliches Agieren unbeachtet. Zum anderen erlebte die politikwissenschaftliche
Verfassungsgerichtsforschung mit dem relativen Erfolg der dritten Demokratisie-
rungswelle in S€ud-, Mittel- und Osteuropa, Ost- und S€udostasien und Lateiname-
rika neuen Auftrieb, da in ihrer Folge sowohl das normative Zusammenspiel von
Rechtsstaat und Demokratie als auch die Rolle rechtsstaatlicher Institutionen und
Akteure in konkreten Demokratisierungsprozessen neue Aufmerksamkeit erlangte.
Beides, die Desiderate rechtswissenschaftlicher Institutionenbeschreibungen wie
die empirischen Veränderungen in der demokratischen Welt selbst, f€uhrte zu einem
Aufschwung der vergleichenden politikwissenschaftlichen Verfassungsgerichtsfor-
schung auch diesseits der Vereinigten Staaten.
Diesem nachholenden Aufschwung ist geschuldet, dass sich das vergleichende For-
schungsfeld bislang als noch nicht €ubermäßig strukturiert darstellt. Gleichwohl
lassen sich einige gemeinsame theoretische und methodische Zugänge, For-
schungsthemen und Forschungsergebnisse benennen. Vier Gegenstandsbereiche
prägen die Beschäftigung der vergleichenden Politikwissenschaft mit Verfas-
sungsgerichten in besonderer Weise: erstens die normative Diskussion um die
Stellung der Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Rechtsstaat und Demokratie,
zweitens die theoretisch-methodische Diskussion um das angemessene Erklä-
rungsmodell richterlichen Handelns, drittens die Analyse institutioneller Mecha-
nismen im Kontext verfassungsgerichtlichen Agierens und viertens deren Aus-
wirkungen auf das Funktionieren von politischen Systemen im Allgemeinen und
von Demokratien im Besonderen.
kann, lässt sich nicht ohne weiteres a priori definieren, welche Fragen Verfassungs-
gerichte legitimerweise anstelle des Gesetzgebers beantworten d€urfen und welche
nicht; das Agieren der Gerichte ist hier prinzipiell unbeschränkt. Grenzen lassen sich
allenfalls mit Hilfe funktionell-rechtlicher (Schuppert 1980; Hesse 1981) oder demo-
kratiefunktionaler Überlegungen (Kneip 2006, 2009) definieren.
Nicht nur die normative Stellung der Verfassungsgerichtsbarkeit ist in der Forschung
umstritten, auch die empirischen Erklärungsansätze zum Handeln von Verfassungs-
gerichten unterscheiden sich zum Teil erheblich. Das theoretische Verständnis des
Agierens von Verfassungsgerichten ist heute – wie andere Teilbereiche des Faches
auch – maßgeblich von den Diskussionen und Debatten der US-amerikanischen
Politikwissenschaft geprägt. Drei Erklärungsansätze lassen sich unterscheiden: das
Rechtsmodell (‚legal model‘), das Einstellungsmodell (‚attitudinal model‘) und das
auf Rational-Choice-Annahmen basierende strategische Modell (‚strategic model‘).
Das Rechtsmodell geht von der Annahme aus, dass sich richterliches Handeln –
und damit auch das Agieren eines Gerichts insgesamt – vor allem €uber die institu-
tionellen Vorgaben des Rechts selbst erklären lässt. Richterinnen und Richter sind
nach dieser Auffassung vor allem darin bestrebt, Rechtsnormen adäquat zur Geltung
zu bringen und €uber die Anwendung vorliegender Rechtsvorschriften auf den
jeweiligen Fall (verfassungsrechtliche Normen, Gesetze, allgemeine Grundsätze des
Rechts, moralische Rechtsprinzipien) unter Zuhilfenahme bestimmter Auslegungs-
methoden des Rechts zu einer weitgehend adäquaten Fallentscheidung zu gelangen
(grundlegend: Dworkin 1978, 1985, 1986, 1996). Vorhandene individuelle Präferen-
zen der Richter werden eingehegt durch die rechtlichen Normen selbst, durch dem
Recht innewohnende systematische und moralische Prinzipien sowie durch fr€uhere
Präzedenzentscheidungen eines Verfassungsgerichts.
Diese Handlungsprägung von Richterinnen und Richtern durch rechtliche und
moralische Normen oder politische Leitideen betonen auch neuere institutionalisti-
sche Ansätze, die sich in der Tradition des historischen Institutionalismus verorten
lassen (Clayton und Gillman 1999; O'Brian 2003). Als handlungsleitend gelten hier
insbesondere juristische Doktrinen, formale institutionelle Regeln und innerinstitu-
tionelle Normen.
Der Auffassung, dass das Agieren von Gerichten vor allem durch (rechtliche)
Normen bestimmt wird, widerspricht dezidiert das sogenannte Attitudinal- oder
Einstellungsmodell (Schubert 1965; Segal und Cover 1989; Segal und Spaeth
1993; Segal et al. 1995; Segal und Spaeth 2002). Dieses geht davon aus, dass
Richterinnen und Richter – wie andere (politische) Akteure auch – vor allem daran
interessiert sind, ihre eigenen politischen Präferenzen und Vorstellungen durchzu-
setzen, und dass sie daran weder durch institutionelle noch durch rechtlich-
normative Schranken gehindert werden. Die Gr€unde hierf€ur sind aus Sicht dieses
Ansatzes – zumindest f€ur den meist exemplarischen Fall des US Supreme Court – in
Verfassungsgerichte in der Vergleichenden Politikwissenschaft 365
4 Empirische Gerichtsforschung
oder als eigenständiges Staatsorgan betrachtet wird, wie weit es seine interne
Struktur und Arbeitsweise selbst organisieren kann, ob es sein Budget während
der Haushaltsverhandlungen selbst verhandelt und wie leicht oder schwer die das
Gericht betreffenden Verfassungsnormen und Verfassungsgerichtsgesetze geändert
werden können (siehe f€ur das Bundesverfassungsgericht Kranenpohl 2010). Weitere
wichtige Faktoren f€ur die Unabhängigkeit eines Verfassungsgerichts können
€uberdies eine gewachsene Rechtskultur sein, eine hohe Fragmentierung des politi-
schen Systems oder einmal mehr die empirische Vertrauensbasis eines Gerichts in
der Bevölkerung. Obwohl zu diesen Fragen bislang keine umfangreichen vergleich-
enden Untersuchungen vorliegen, deuten die bisherigen Analysen auf eine große
empirische Variationsbreite hin (siehe z. B. Br€unneck 1992; Stone Sweet 2000; Gins-
burg 2003; Helmke und Ríos-Figueroa 2011).
Wirkungsbezogenen Analysen wiederum geht es insbesondere um die Frage des
Zusammenspiels von Verfassungsgerichtsbarkeit und Politik sowie um die Wirkung
des konkreten gerichtlichen Agierens auf Politik und Gesellschaft. Die insbesondere
außerhalb der Vereinigten Staaten von Amerika zentrale Thematik der „Justiziali-
sierung“ von Politik durch verfassungsgerichtliches Agieren (siehe oben) zielt im
Kern auf die Frage, inwieweit sich Gerichte und politische Akteure in ihrer Arbeit
gegenseitig beeinflussen und begrenzen. Als weitgehender Konsens darf hierbei
gelten, dass der Einfluss der Verfassungsgerichtsbarkeit auf die Politik im Zeitver-
lauf zugenommen hat (Landfried 1984, 1988; Tate und Vallinder 1995; Shapiro und
Stone Sweet 2002; Domingo 2004, Hirschl 2007; Stone Sweet 2010; Hirschl 2011).
Tatsächlich spricht wenig daf€ur, dass die Rolle von Verfassungsgerichten im demo-
kratischen politischen System in den letzten Jahrzehnten schwächer geworden ist.
Demokratische Systeme ohne formale Verfassungsgerichtsbarkeit sind an einer Hand
abzuzählen (Vereinigtes Königreich, Niederlande, Schweiz), und die Wirkung
aktiver Verfassungsgerichte auf die Politik hat nicht nur in Europa, sondern auch in
Lateinamerika oder Asien grosso modo zugenommen (Lösing 2001; Ginsburg 2003;
Helmke und Ríos-Figueroa 2011).
Allerdings sollte die Justizialisierungsthese unter verschiedenen Gesichtspunkten
qualifiziert und relativiert werden: Zum einen handelt es sich im globalen Maßstab
keineswegs um ein gleichermaßen stark ausgeprägtes Phänomen. Auch wenn Ver-
fassungsgerichte in Lateinamerika und Asien insgesamt betrachtet heute stärker,
unabhängiger und aktiver sind als vor 20 Jahren, sind ihre Stellung und ihr Einfluss
– von einzelnen Ausnahmen abgesehen – doch immer noch deutlich schwächer als
in Europa oder den USA. Auch innerhalb Europas unterscheiden sich Stärke und
Unabhängigkeit der Gerichte zum Teil erheblich (Kneip 2008). Zum anderen brem-
sen offenkundig individuelle wie institutionelle Faktoren Justizialisierungstenden-
zen mitunter, etwa die oben bereits angesprochenen individuellen Handlungsmotive
von Richtern oder institutionelle Mechanismen, die Handlungsspielräume von Ge-
richten begrenzen, eine strategische Selbstbeschränkung von Richtern und Gerichten
zur Folge haben und die Implementierung von Gerichtsentscheidungen verzögern
oder ganz verhindern (Gawron und Rogowski 2007). Zuweilen gelingt es politischen
Akteuren auch, wie es etwa derzeit in Ungarn zu beobachten ist, die Einflussmög-
lichkeiten von Verfassungsgerichten €uber institutionelle (Verfassungs-)Reformen
Verfassungsgerichte in der Vergleichenden Politikwissenschaft 369
5 Zusammenfassung
zum Thema noch eine u€ber die Zeit zunehmende Justizialisierung zu erkennen,
betonen neuere Analysen eher die (institutionellen) Grenzen solcher Justizialisie-
rungsprozesse oder binden die Analyse verfassungsgerichtlichen Agierens an die
Frage zur€uck, ob ein aktives Handeln von Verfassungsgerichten nicht vielleicht
sogar positiv f€
ur demokratisches Regieren sein kann. Insgesamt fehlt es dem For-
schungsfeld bislang noch sowohl an umfassenden interregionalen Vergleichsanaly-
sen als auch an fundierteren Analysen zum Zusammenhang von Rechtsstaatsqualität
und verfassungsgerichtlichem Agieren, um solche Fragen verlässlich beantworten
zu können.
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372 S. Kneip
Astrid Lorenz
Zusammenfassung
Der Beitrag skizziert zunächst die Entwicklung des Verfassungsvergleiches. Er
identifiziert eine inhaltliche und regionale Verbreiterung von einem theoretisch-
normativen Interesse an der Ortung eines besten Regierungssystems und dem
Fokus auf Westeuropa und Nordamerika hin zu empirischen Fragen der Ver-
fassungsentwicklung und mehr areas. Danach erläutert er das politikwissen-
schaftliche Verständnis von Verfassungen, ihre Inhalte und Form und konfrontiert
dabei die klassischen verfassungstheoretischen Überlegungen mit empirischen
Beobachtungen. Deutlich wird, dass die empirische Varianz größer ist, als theo-
retisch vermutet. Der nachfolgende Überblick €uber wichtige Gegenstände und
Befunde der aktuellen Forschung zeigt, dass auch die Erklärung dieser Varianz
trotz großer Fortschritte noch vor Rätseln steht. Abschließend sondiert der Bei-
trag, wie die Erkenntnisl€ucken geschlossen werden könnten und plädiert f€ur mehr
interdisziplinäre und interregionale Analysen.
Schlüsselwörter
Verfassungen • Verfassungsgebung • Verfassungsänderung • Expliziter Wandel •
Impliziter Wandel
1 Einleitung
A. Lorenz (*)
Professorin f€ur das Politische System der Bundesrepublik Deutschland/Politik in Europa, Institut
f€
ur Politikwissenschaft, Universität Leipzig, Leipzig, Deutschland
E-Mail: astrid.lorenz@uni-leipzig.de
ist aufs Engste mit der Entwicklung der Politikwissenschaft selbst verwoben. Schon
Aristoteles und Polybios verglichen die Verfassungen im damaligen Griechenland
bzw. der römischen Republik mit dem Ziel einer Regime- bzw. Herrschaftsanalyse.
Unterschiedliche Varianten der Machtkontrolle unter Ber€ucksichtigung der jeweili-
gen Sozialstruktur herauszuarbeiten und ein ideales Institutionenmodell zu finden,
blieb €uber lange Zeit das Hauptanliegen von Verfassungsvergleichen. Die Analysen
und ihre Rezeption konzentrierten sich ab dem 17. Jahrhundert nicht mehr nur auf
Europa, sondern auch auf Nordamerika (Vorländer 2009, S. 21 ff.).
Trotz dieser langen Tradition gibt es €uber die Entwicklung von Verfassungen und
ihre Gr€ unde noch immer relativ wenig gesichertes empirisches Wissen. Dies gilt
insbesondere f€ ur die Räume jenseits der westlichen Staatenwelt. Die theoretischen
Grundannahmen und staatsrechtlichen Konstrukte wurden vor dem Erfahrungshin-
tergrund bestimmter westlicher moderner Staaten entwickelt und lassen sich bei
genauerer Betrachtung auf viele andere Fälle nicht oder nur eingeschränkt anwen-
den. Erst seit den 1990er-Jahren wurden Verfassungen jenseits der vergleichenden
Regimeanalyse verstärkt Gegenstand vergleichender empirischer Forschung. Hin-
tergrund waren die zahlreichen Systemwechselprozesse, die auch Verfassungs(neu)
gebungen beinhalteten sowie die generelle Wiederentdeckung von Institutionen mit
der Entwicklung des Neo-Institutionalismus.
Der vorliegende Beitrag gleicht im zweiten Abschnitt klassische verfassungs-
theoretische Überlegungen mit Befunden empirischer Untersuchungen ab. Dabei
widmet er sich dem Verständnis, den Funktionen, Inhalten und der Form von Ver-
fassungen. Der dritte Abschnitt gibt einen Überblick €uber den aktuellen Stand der
Forschung. Auf dieser Basis schlägt Abschnitt vier vor, welchen Fragestellungen im
Zusammenhang mit Verfassungen sich die vergleichende Politikwissenschaft
k€unftig verstärkt widmen sollte. Der Beitrag endet mit einer Zusammenfassung.
in die Privatsphäre und Unternehmen zu berechtigen (bspw. u€ber das Recht auf
Enteignung). Recht allein kann die Umsetzung allerdings nicht garantieren. So
setzen Sozialstaatsgarantien die Verf€ugbarkeit entsprechender Ressourcen voraus.
Drittens ist neben der rechtlichen Legitimation der Eigenständigkeit politisch-
administrativer Einheiten und der Regulierung von Grundrechten und Teilhaberech-
ten der Bevölkerung und kollektiver Akteure die Regelung der Staatsorganisation
eine wichtige Funktion von Verfassungen. Sie verteilen die politischen Aufgaben
und Kompetenzen zwischen verschiedenen Akteuren des Regierungssystems. Durch
die Festschreibung als Verfassungsnorm werden diese Zuweisungen unter einen
besonderen Schutz gestellt. Damit begrenzen Verfassungen die Aus€ubung von
Herrschaft, ohne dass zwangsläufig Demokratie festgeschrieben sein muss. So ver-
f€ugen auch Autokratien heute €uber Verfassungen, die Mechanismen der Machtbe-
grenzung installieren, ohne dass diese den Erfordernissen einer Demokratie gerecht
werden oder aber tatsächlich Beachtung finden. Unterhalb der Verfassung können
weitere Regelungen getroffen werden, etwa in Form von Gesetzen. Diese gewähren
aber einen geringeren Schutz, vor allem wenn sie mit einfacher Mehrheit geändert
werden können. Dies ist ein Grund daf€ur, warum kleinere Oppositionsparteien oft
auf die Verankerung parlamentarischer Minderheitenrechte in der Verfassung selbst
und nicht nur in der Geschäftsordnung des Parlaments dringen.
Nichtfestschreibungen in Verfassungen wirken sich immer zugunsten aktueller
Regierungsmehrheiten aus, die dann frei gestalten und entscheiden können. Mehr-
heiten geben also mit der Fixierung von Normen in der Verfassung Handlungsfrei-
heiten ab; die Souveränität wird vom pouvoir constituant auf den pouvoir constitué
€ubertragen. Daf€ur können Verfassungsgeber in Verfassungen Mechanismen f€ur die
Überwachung der Rechtseinhaltung und Sanktionierung von Verstößen installieren,
Änderungen des Textes an anspruchsvolle Vorgaben binden und bestimmte Bereiche
von Änderungen ausnehmen. Eine Verfassung kann ewige Geltung beanspruchen –
entweder explizit, d. h. im genauen Wortlaut, oder implizit durch Verzicht auf die
Benennung eines Geltungszeitraumes. Manche Verfassungen enthalten jedoch auch
Vorschriften f€ur den Fall einer Verfassungsneuschreibung, wobei die Bindewirkung
gegen€ uber k€unftigen Verfassungsgebern fraglich ist.
Verfassungen können auch dem Zweck dienen, €uber den Weg einer spezifischen
Ausgestaltung dieser Regelungsbereiche dauerhaft eine symbolisch-integrative
Funktion zu erf€ullen. Um die Verpflichtung gegen€uber bestimmten Traditionslinien
oder aber den Vollzug eines Bruches zusätzlich symbolisch zu unterstreichen,
werden häufig Präambeln zum eigentlichen Verfassungstext formuliert, die zwar
rechtlich nicht direkt binden, deren Formulierung aber bei der Verfassungsgebung
nicht minder umstritten sein muss als die Regularien mit konkreter Bindungswir-
kung. Typische Präambelinhalte sind die Positionierung gegen€uber dem vorange-
gangenen politischen System, zur Religion (z. B. Gottesbezug, Bekenntnis zum
Laizismus) oder zu €ubergeordneten politischen Zielen.
Dass nicht alle genannten Inhalte in gleicher Weise tatsächlich in Verfassungen
geregelt sind, äußert sich in ihrem extrem unterschiedlichen Umfang. Es gibt sehr
schmale Verfassungen (z. B. USA, Norwegen, Japan) und sehr regelungsintensive
Verfassungen (z. B. Portugal, Schweden, Uruguay). Auch innerhalb von Verfassungen
Verfassungen in der Vergleichenden Politikwissenschaft 377
differiert die Regelungsdichte nach Materien. Daf€ur gibt es bislang keine systemati-
schen Erklärungen. Negative politische Erfahrungen mit bestimmten Materien
(beispielsweise Grundrechtsverletzungen oder Kompetenzstreitigkeiten zwischen
Organen), die politische Kultur oder Orientierungen an bestimmten Vorbildverfas-
sungen sind zumindest teilweise Gr€unde.
Wie alle Institutionen kann eine Verfassung schriftlich kodifiziert sein (in einem
oder mehreren Dokumenten), muss es aber nicht. Dies impliziert, dass es nicht einen
konkreten Akt der Verfassungsgebung geben muss, sondern sie als Prozess erfolgen
kann, was zunächst besonders in Staaten mit Gewohnheitsrecht (common law)
verbreitet war. Aktuell ist allerdings nur die britische Verfassung nicht schriftlich
kodifiziert, sondern beruht auf Konventionen und Gerichtsurteilen. Die meisten
anderen g€ ultigen Verfassungen sind in jeweils einem Dokument zusammengefasste
Rechtstexte. Es gibt aber auch die Variante, dass mehrere Dokumente als Verfassung
gelten oder dass bestimmte weitere Rechtstexte zusätzlich zur Verfassung Verfas-
sungsrang erhalten (z. B. Neuseeland). In diesem Falle ist ihr Status zumeist aus dem
Basisverfassungstext abgeleitet (z. B. Tschechische Republik, Frankreich). Anders
in Israel. Hier verabschiedete das Parlament nie eine formelle Verfassung, wohl aber
verschiedene Grundgesetze. Wie die Unabhängigkeitserklärung erhielten sie formal-
rechtlich gegen€ uber anderen Gesetzen keinen höherwertigen Status, wurden jedoch
durch anspruchsvollere Änderungsklauseln besonders gesch€utzt. Erst viel später
entschied der Oberste Gerichtshof Israels, dass diese Rechtsakte anderem Recht
vorangehen.
Weitere wichtige Konzepte der vergleichenden Verfassungsforschung sind der
Konstitutionalismus sowie expliziter und impliziter Verfassungswandel. Von Kons-
titutionalismus ist dann zu sprechen, wenn in einem System Begrenzungen der
Regierungsmacht, Rechtsstaatlichkeit und der Schutz der Grundrechte gewährleistet
sind (Rosenfeld 1992, S. 497). Expliziter Verfassungswandel meint konkrete Ein-
griffe in den Verfassungstext bis hin zur Verabschiedung eines neuen Dokumentes.
Impliziter Verfassungswandel beinhaltet Änderungen der Verfassungsrealität, die
nicht in Textmodifikationen abgebildet sind. Er erfolgt beispielsweise €uber substan-
ziell neue Auslegungen und Erweiterungen von Verfassungsnormen durch Gerichte.
Aus der Darstellung wird ersichtlich, dass die Befunde der vergleichenden
empirischen Forschung zu Verfassungen, die im nächsten Abschnitt vorgestellt wird,
die klassischen verfassungstheoretischen Konzepte durchaus in Teilen in Frage
stellen, so dass sie sich nicht im Abpr€ufen bestimmter Kausalannahmen erschöpfen
kann, sondern auch mit konzeptionellen Fragen befassen muss.
Machtkämpfen von Akteuren bzw. bestimmter politischer Prozesse und weniger als
Produkt homogener innerstaatlicher Verfassungsgemeinschaften. Drittens versucht
sie zu verstehen, wie genau die Wirkung von Verfassungen von diesen und anderen
Rahmenbedingungen beeinflusst ist. Viertens thematisiert sie aber auch klassische
politikwissenschaftliche Bewertungsmaßstäbe in den Analysen wie Legitimation,
Transparenz, Partizipation, Inklusion, Kontrolle, Stabilität oder Effizienz.
Seit dem „empirical turn“ in der Verfassungsforschung genießen folgende Ge-
genstände eine besondere Aufmerksamkeit: die Entstehung von Verfassungen, die
Verbreitung von Verfassungsnormen, die Effekte von Verfassungen und Verfas-
sungsgebungsverfahren, Verfassungsänderungen sowie die Methodik und die grund-
sätzliche Anlage von Erklärungsmodellen.
Zur Entstehung von Verfassungen gibt es €uberwiegend vergleichende Fallstudien
mit wenigen Fällen. Aufgrund der zentralen Bedeutung der Verfassungsgebung f€ur
Transformationsprozesse richtete sich die Aufmerksamkeit besonders auf die Trans-
formationsstaaten der verschiedenen Demokratisierungswellen. Untersucht wurde,
welche politischen Kräfte die Verfassungsgebung dominieren, welche Rolle die
Träger des vorangegangenen Systems spielen und wie Konflikte gelöst werden
(Elgie und Zielonka 2001; Elster et al. 1998).
In den vergangenen Jahren wurden unterschiedliche, teils ausf€uhrliche Daten-
sätze zu Verfassungen und Verfassungsgebungen zusammengestellt (Elkins
et al. 2013; Elkins 2010; Widner 2013; Lorenz 2008; Lutz 1995), die es ermögli-
chen, u. a. prozedurale und regionale Muster von Verfassungsgebungen in größerem
Maßstab quantitativ zu untersuchen (z. B. Elkins 2010). Beispielsweise wird hier
deutlich, dass in Lateinamerika häufiger neue Verfassungen eingef€uhrt wurden als in
Europa und nicht nur, wie in der klassischen Verfassungstheorie suggeriert, im
Ergebnis eines Systemwechsels oder sozialer Revolutionen. Die Häufung von rep-
lacements regte die wissenschaftliche Neugier an. Quantitativ-vergleichende Analy-
sen zu Lateinamerika untersuchten, unter welchen Bedingungen eine Verfassung
hier durch eine neue ersetzt wurde (Negretto 2009).
Die neuen Datensammlungen wurden bereits genutzt, um in quantitativ-
vergleichenden Studien nach Mustern der Verbreitung von Verfassungsnormen zu
suchen. Zuvor tauchte die Diffusion von Verfassungsnormen lange Zeit nur spora-
disch und als Nebenthema in qualitativ vergleichenden Studien zur Verfassungs-
politik auf, etwa im Zusammenhang mit den postsozialistischen Verfassungsgebun-
gen in Osteuropa. Die den Analysen zugrunde liegende Messung der Eigenschaften
von Verfassungen ist teilweise mit vielen Indikatoren sehr umfassend (Elkins
et al. 2013), ihre Eignung aber dennoch wie bei jeder Innovation diskussionsw€urdig.
Sie erfasst beispielsweise aufgrund der einfachen Messbarkeit nur bestimmte For-
mulierungen und formelle Eigenschaften von Verfassungen, blendet damit mögli-
cherweise die eigentlich relevanten Indikatoren aus oder €ubersieht funktionale
Äquivalente.
Ein großer Anteil von Studien zur Verfassungspolitik geht der Frage nach, ob
Verfassungen die zum Verabschiedungszeitpunkt bestehenden Macht- und Interes-
senstrukturen auf Dauer stellen (weil nur so die Zustimmung relevanter Akteure
gesichert werden kann) oder ob es Wege gibt, etwas substanziell Neues zu schaffen
Verfassungen in der Vergleichenden Politikwissenschaft 379
und somit keine Perpetuierung des Status quo vorzunehmen. Damit verbunden ist
die Frage, inwieweit eine Steuerung durch Verfassungsrecht (constitutional engi-
neering) möglich und effektiv ist.
Während zunächst besonders einzelne zentrale Elemente von Verfassungen the-
matisiert wurden, wie etwa die Entscheidung f€ur ein präsidentielles oder ein parla-
mentarischen System oder die Passfähigkeit im Verhältnis zur politischen Kultur,
gibt es in j€
ungster Zeit recht viele Studien zur Verfassungsgebung in Postkonflikt-
gesellschaften bzw. in heterogenen Gesellschaften. Darin wird untersucht, ob be-
stimmte Verfahren der Verfassungsgebung (Runde Tische, Konvente o. ä.) allein
oder in Kombination mit der Festschreibung bestimmter Verfassungsinhalte
(z. B. Rechte f€ur indigene Völker) dazu geeignet sind, gesellschaftliche und poli-
tische Konflikte zu €uberbr€ucken oder zu lösen, eine Verfassungsgemeinschaft ent-
stehen zu lassen oder zumindest durch die Schaffung eines akzeptierten institution-
ellen Rahmens ihre k€unftige friedliche Austragung erwirken. Überwiegend handelt
es sich hierbei um qualitativ-vergleichende Fallstudien (Ghai und Galli 2006; Land-
fried 2006; Elkins und Sides 2007; Hart 2001; Nolte und Schilling-Vacaflor 2012).
Häufig gehen sie vom Konzept eines „neuen Konstitutionalismus“ aus. Er hat
ähnlich wie der neue bzw. Neo-Institutionalismus die Wechselbeziehung zwischen
Akteuren und Institutionen im Blick, beobachtet die Etablierung ganz neuer institu-
tioneller Arrangements des Umgangs mit Diversität, Direktdemokratie und
Staatlichkeit und ber€ucksichtigt die Rolle von Verfassungsgerichtsbarkeit.
Eine größere Anzahl neuerer Studien befasst sich mit Verfassungsänderungen.
Die Beobachtung, dass diese viel häufiger auftreten, als die klassische Verfassungs-
theorie vermuten ließ, regte die weitere Forschung an. Unterschieden werden kann
zwischen Analysen allgemeiner Muster der Verfassungsänderungspolitik und sol-
chen, die einzelne Determinanten (z. B. Globalisierung, europäische Integration,
gesellschaftliche Konflikte) in den Mittelpunkt stellen. Jeweils gibt es quantitativ-
und qualitativ-vergleichende Studien.
In quantitativ-vergleichenden Studien zeigte sich u. a., dass die meisten Ver-
fassungsänderungen in Föderalstaaten mit höherer parlamentarischer Fragmentie-
rung stattfinden, die seltensten in Föderalstaaten mit geringer Fragmentierung.
Gepr€ uft wurde der Effekt des Umfangs bzw. der Regelungsdichte der Verfassung,
ihres Alters, der H€urde f€ur Verfassungsänderungen (konstitutionelle Rigidität),
der Föderalismus/Unitarismus-Dimension und anderer Variablen auf die Häufigkeit
von Verfassungsänderungen (Lutz 1995; Lorenz 2005, 2008; Roberts 2009). Die
Auswahl der vermuteten Faktoren ber€ucksichtigt die Entstehungsbedingungen der
Verfassungen zumeist nicht, sondern fokussiert institutionelle Eigenschaften der
Verfassung (Rigidität etc.) selbst oder aktuelle Kontextbedingungen und basiert
damit auf der Annahme, dass der Wandel von Verfassungen anders zu erklären ist
als ihre Einf€uhrung.
Die Analysen zeigen oft keinen oder einen uneindeutigen Effekt der untersuchten
Faktoren. So dämpft eine sehr hohe Änderungsh€urde offenbar die Änderungshäufig-
keit, während eine niedrige bis hohe Rigidität f€ur sich genommen keine besondere
Erklärungskraft aufweist. Zudem wurde (bei jeweils konstanter Rigidität) eine zykli-
sche Verteilung von Verfassungsänderungen in Demokratien beobachtet, die sich
380 A. Lorenz
5 Fazit
dienten. Dabei konzentrierten sie sich auf Fragen der Machtteilung sowie einzelne
europäische Fälle, später ergänzt um die Region Nordamerika. Erst in den letzten
zwei Jahrzehnten schenkte die vergleichende Politikwissenschaft den Verfassungen
eine dar€
uber hinaus gehende Aufmerksamkeit.
Die neueren empirischen Befunde stellen die klassischen verfassungstheoreti-
schen Annahmen teilweise infrage. Abschn. 2 erläuterte dies anhand der Definition
von Verfassungen, der ihnen €ublicherweise zugeschriebenen Funktionen, ihrer In-
halte und Form. Der dritte Abschnitt skizzierte, mit welcher spezifischen Herange-
hensweise die vergleichende Forschung andere Studien zu Verfassungen sinnvoll
ergänzt und identifizierte als zentrale Forschungsgegenstände die Entstehung von
Verfassungen, die Verbreitung von Verfassungsnormen, die Effekte von Verfassun-
gen und Verfassungsgebungsverfahren, Verfassungsänderungen sowie die Methodik
und die grundsätzliche Anlage von Erklärungsmodellen. Abschn. 4 hob besonders
den Bedarf einer engeren Verzahnung von quantitativer und qualitativer Methodik
und einer Kooperation mit der Rechtswissenschaft als k€unftige Aufgabe der
Forschung hervor.
Es wurde erkennbar, dass die vergleichende Forschung in recht kurzer Zeit
Indizien f€
ur viele Zusammenhänge fand und andere vermutete Zusammenhänge,
etwa zum Effekt der Verfassungsänderungsh€urde ersch€utterte. Weiterhin gibt es
jedoch kein ausgefeiltes Modell zur Erklärung der Entstehung und des Wandels
von Verfassungen. Daher besteht ein großer Bedarf an konzeptioneller und empiri-
scher Forschung fort.
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Vergleichende Regionenforschung in der
Politikwissenschaft
Zusammenfassung
Untersuchungen subnational angesiedelter Gebietskörperschaften in Form einer ver-
gleichenden Regionenforschung r€ucken zunehmend in den Mittelpunkt des analyti-
schen politikwissenschaftlichen Interesses. Hierf€ur zeichnen sich neben dem allge-
meinen Bedeutungsgewinn der Regionen auch die mit Blick auf das
Forschungsdesign, die Messung und die Theoriebildung einhergehenden Potentiale
verantwortlich. Der vorliegende Beitrag stellt einige ausgewählte Arbeiten der ver-
gleichenden Regionenforschung in Deutschland vor und diskutiert die Vorteile, die mit
einer vergleichenden Regionenforschung f€ur die Politikwissenschaft verbunden sind.
Schlüsselwörter
Subnationale Analyse • Institutionen • Staatstätigkeit • Politische Kultur
1 Einleitung
Die deutsche Politikwissenschaft zeigt mit Blick auf die Erforschung subnationaler
Gebietskörperschaften viele Jahre lang ein besonders ausgeprägtes Interesse an der
Blockademacht der Länder im Bundesrat, deren Einfluss auf die Bundespolitik und
T. Heinsohn (*)
Akademischer Rat, Lehrstuhl Politikwissenschaft II, Institut f€
ur Sozialwissenschaften, Universität
D€usseldorf, D€usseldorf, Deutschland
E-Mail: till.heinsohn@uni-duesseldorf.de
M. Freitag
Professor f€ur Politische Soziologie, Institut f€
ur Politikwissenschaft, Universität Bern, Bern,
Schweiz
E-Mail: markus.freitag@ipw.unibe.ch
1
Die Ausf€uhrungen zu den Entwicklungslinien und dem Forschungsstand beruhen auf den
Vor€uberlegungen von Freitag und Vatter (2008b) und Freitag et al. (2010).
Vergleichende Regionenforschung in der Politikwissenschaft 387
Diese schließen neben der Kulturregion, der Wirtschaftsregion und der Verwaltungs-
region auch die durch kollektive soziale oder politische Erfahrungen einende Sozial-
region mit ein. Gemäß Hölcker (2004, S. 13) findet sich „angesichts fließender
Übergänge zwischen den einzelnen Homogenitätskriterien und den regionalen
Funktionen“ in der Literatur ein weitgehend pragmatischer Ansatz zur Erforschung
von Regionen. Dieser grenzt Region als subnationales Untersuchungsfeld aber in
jedem Fall zu einer €ubergeordneten territorialen Einheit ab. Werden dazu zwei oder
mehrere Regionen miteinander in Beziehung gesetzt und wird damit beabsichtigt,
Identität, Gleichheit, Ähnlichkeit oder Verschiedenheit zwischen den Regionen
entlang bestimmter Merkmale herauszuarbeiten, handelt es sich nach unserem Ver-
ständnis um eine vergleichend angelegte Regionenforschung. Diese Forschungsan-
lage wartet mit zahlreichen Vorteilen auf, die sie f€ur die Sozialwissenschaften zu
einer wichtigen Bereicherung und auch in Deutschland zu einer immer beliebteren
Forschungsstrategie werden lässt. Der vorliegende Beitrag greift ausgewählte Stu-
dien der vergleichenden Regionenforschung zu Institutionen, Staatstätigkeiten und
politischer Kultur in Deutschland auf und stellt daran anschließend die Vorteile der
vergleichenden subnationalen Analyseperspektive heraus.
In Anbetracht der Einschränkung des Forschungsstandes auf Studien zu Deutsch-
land muss selbstverständlich angemerkt werden, dass die vergleichende Regionen-
forschung €uberall dort ihre Anwendung erfährt, wo föderale Strukturen eines Staates
die Voraussetzungen daf€ur schaffen. Neben zahlreichen hier keine Erwähnung find-
enden Arbeiten im US-amerikanischen Kontext stellen unter anderen die Studien von
Keating (1998) und Vatter (2002) Standardwerke der vergleichenden Regionenfor-
schung dar und bieten vertiefende Einblicke in den Forschungsbereich außerhalb
Deutschlands. Michael Keating zeichnet in The New Regionalism in Western Europe
etwa das Bild eines neu konfigurierten und verstärkt auftretenden Regionalismus in
Westeuropa, welcher insbesondere durch zwei Faktoren gekennzeichnet ist: Zum
einen enden Regionen nicht an nationalstaatlichen Grenzen, sondern reichen €uber
diese hinaus. Regionen stellen in der europäischen und internationalen Politik somit
unabhängige Akteure dar und bilden eigenständige politische Arenen, in denen
Probleme benannt, Politiken debattiert und Maßnahmen umgesetzt werden. Zum
anderen finden sich die Regionen in einem Wettstreit untereinander wieder, der nicht
länger durch die Nationalstaaten alleine moderiert wird. So haben Globalisierung und
europäische Integration dem traditionellen Handel, bei dem die Regionen ihre poli-
tische Unterst€
utzung gegen den Schutz vor dem Weltmarkt und f€ur staatliche Zusch€us-
se eintauschten, gewissermaßen die Grundlage entzogen. In Kantonale Demokratien
im Vergleich wiederum wirft Adrian Vatter einen Blick auf die 26 Schweizer Kantone
und stellt diese als einzigartiges Forschungslabor auf kleinem Raum dar, welches
ideale Bedingungen f€ur vergleichende politikwissenschaftliche Analysen bildet. Seine
Ausf€ uhrungen widmen sich zunächst der Beschreibung und der Analyse der Ent-
stehungsgr€unde, Interkationen und Wirkungen ausgewählter politischer Institutionen
in den Schweizer Kantonen. Unter Zuhilfenahme politisch-institutioneller Hypothesen
legt der Autor schließlich ein besonderes Augenmerk auf die Ursachen f€ur Regie-
rungsstabilität, Parteienfragmentierung und die Nutzung der direkten Demokratie.
388 T. Heinsohn und M. Freitag
Zur besseren Übersicht bietet es sich zunächst an, die Vielzahl an Studien zur vergleich-
enden Regionenforschung in Deutschland verschiedenen Bereichen zuzuordnen. Diese
erfassen Studien zur politischen Institutionenforschung, zur Staatstätigkeitsforschung
und schließlich Forschungsarbeiten, die sich mit politischer Kultur und den politi-
schen wie sozialen Einstellungen der B€urgerinnen und B€urger auf subnationaler
Ebene auseinandersetzten. Zudem erfordert der Rahmen dieses Beitrags eine Be-
schränkung der Ausf€uhrungen zum Forschungsstand auf einige ausgewählte und aus
unserer Sicht besonders wegweisende Studien, die sich vielfach auf die deutschen
Bundesländer beziehen.
Die Urspr€ unge der politischen Institutionenforschung auf regionaler Ebene in
Deutschland sind eng mit dem komparativen Konzept der Konkordanz- und Kon-
kurrenzdemokratie von Gerhard Lehmbruch (1967) verbunden. Nebst einer Vielzahl
kommunaler Einzelfalluntersuchungen gehen dabei insbesondere die Studien von
Cusack (1999) und Holtkamp (2006) einen wichtigen Schritt in die Richtung einer
systematisch vergleichenden Analyse subnationaler und kommunaler Institutionen.
Während Thomas R. Cusack die Vetospielertheorie von Tsebelis (2002) anhand der
unterschiedlichen Kommunalverfassungen in Deutschland zu €uberpr€ufen ersucht,
widmet sich Lars Holtkamp der Frage nach den Ursachen f€ur die augenscheinlich
ausgeprägte konkordanzdemokratische Akteurskonstellation auf kommunaler
Ebene. Beide Studien bedienen sich der Einteilung in Konkordanz- und Konkurrenz-
demokratien und lassen die weniger schwierig operational zu fassende Unterschei-
dung von Mehrheits- und Konsensusdemokratie weitgehend außer Acht. Diese auf
Lijphart (1984; 1999) zur€uckgehende Kategorisierung fokussiert anstelle von
zumeist informellen institutionellen Arrangements zudem stärker auf zentrale und
messbare politisch-institutionelle Konfiguratoren (Freitag et al. 2010, S. 11). So
bedienen sich beispielsweise Freitag und Vatter (2008a) der Lijphartschen Kon-
zeption als analytische Folie und verorten die 16 deutschen Bundesländer auf einem
Kontinuum zwischen Konsensus- und Mehrheitsdemokratie. Auf diese Art und
Weise werden insgesamt acht politisch-institutionelle Konfiguratoren systematisch
und komparativ erörtert und regional unterschiedliche Demokratiemuster identifi-
ziert. Auch Wehling (2004), Leunig (2007) und Gunlicks (2003) liefern aufschluss-
reiche Erkenntnisse €uber die Institutionenordnung in den deutschen Gliedstaaten.
Hans-Georg Wehling stellt die 16 deutschen Bundesländer etwa anhand ihrer politi-
schen Verhältnisse (Verfassung, Parteien, Wahlen und Verwaltungsaufbau) vor und
nimmt den deutschen Föderalismus in seiner spezifischen Ausprägung, seiner ge-
genwärtigen Gestalt, seiner Entwicklung, seinen Problemen und Reformperspekti-
ven genauer unter die Lupe. Die Regierungssysteme der deutschen Länder und die
darin vorherrschende institutionelle Vielfalt sind Gegenstand der Forschungen von
Sven Leunig. Arthur Gunlicks richtet sein Augenmerk zusätzlich auf die Rolle und
die Funktionsfähigkeit der Länder im europäischen Kontext und stellt fest, dass die
Länder aktiv auf die Herausforderungen der europäischen Integration reagieren.
Bemerkenswert sind auch die systematischen und umfassenden Darstellungen di-
Vergleichende Regionenforschung in der Politikwissenschaft 389
Bildungswesen, in den öffentlichen Sektor und in den Bereich der inneren Sicher-
heit. Diese Politikbereiche sind unter SPD-Regierungen materiell und personell
besser ausgestattet als unter CDU-Regierungen, während bez€uglich der
Ressourcen-Transfers in das Verkehrswesen und in die regionale Wirtschaftsför-
derung kaum Unterschiede auszumachen sind. Ebenfalls gibt es in wirtschaftlichen
Krisenzeiten keine nennenswerten Differenzen in der Ausgaben- und Bildungspoli-
tik zwischen SPD- und CDU-gef€uhrten Ländern. Seit der Wiedervereinigung ge-
winnt dieser Forschungszweig aber zunehmend an Bedeutung. Analysen der Indus-
trie- und Arbeitsmarktpolitik decken beachtliche Differenzen zwischen den
Strategien der einzelnen Bundesländer in Ost- und Westdeutschland auf. Als Ur-
sachen f€ ur die regionalen Unterschiede in der Arbeitsmarktpolitik werden unter
anderem wirtschaftsstrukturelle, fiskalische und politische Faktoren angef€uhrt (Blan-
cke 2004; Schmid 2001; Schmid und Blancke 2001). Ein besonderes Interesse gilt
auch der Erörterung der ungleichen fiskalpolitischen Ausrichtung einzelner deut-
scher Gliedstaaten. Im Unterschied zu Autoren wie Galli und Rossi (2002) oder auch
Seitz (2000) sehen Wagschal und Wenzelburger (2008) hier einen Zusammenhang
zwischen den parteipolitischen Farben der regierenden Parteien und dem Zuwachs
der Verschuldung eines Bundeslandes pro Kopf. Nicht €uberraschend finden sich
auch einige Arbeiten zur Bildungspolitik in den Ländern (Schlicht 2010; Schniewind
et al. 2010; Wolf 2006). Auf diesem Politikfeld genießen die Bundesländer noch
weitgehende Handlungsautonomie, was nicht nur aus methodischen Gr€unden die
politikwissenschaftliche Analyse staatlichen Handelns reizvoll macht. Abschließend
sei hier auch noch auf die Studie von Julia von Blumenthal (2009) verwiesen, die
sich auf eindr€ uckliche Art und Weise den bundesländereigenen Entscheidungsproz-
essen zur Kopftuchfrage widmet und zeigt, dass nicht der Parteienwettbewerb allein,
sondern historisch-kulturelle Unterschiede zwischen den Ländern die Entscheidung
€uber das Kopftuchverbot erklären.
Die Forschungen von Haus (2002), Huschka (2002) und Vetter (2002) wiederum
liefern vertiefende und komparativ angelegte Einblicke in die politische Kultur und
die politischen wie sozialen Einstellungen der B€urgerinnen und B€urger auf subna-
tionaler Ebene in Deutschland. Denis Huschka zeichnet mittels eines R€uckgriffs auf
25 Indikatoren aus den unterschiedlichsten Lebensbereichen ein detailliertes Bild
bestehender Niveauunterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern. Bedauer-
licherweise lässt die Studie dabei aber eine systematische Analyse der Bestim-
mungsgr€ unde unterschiedlicher Lebensqualität vermissen. Im Zuge der Sozialkapi-
talforschung widmen sich Blume und Sack (2008) sowie Freitag und Traunm€uller
(2008) den regionalen sozialen Partizipationsmustern, Vertrauensbeständen und
Reziprozitätsnormen auf subnationaler Ebene. Dabei fördern die f€ur die unterschied-
lichen Formen sozialen Kapitals getrennt erfolgenden Bestandsaufnahmen erheb-
liche regionale Unterschiede zu tage. Die ermittelten Sozialkapitalmuster lassen sich
auf unterschiedliche kulturelle und strukturelle Bedingungen zur€uckf€uhren und
gehen auch mit unterschiedlichen Wirkungen f€ur die politische, ökonomische und
soziale Performanz einer Region einher (Freitag und Traunm€ uller 2008). Inzwischen
findet sich eine Vielzahl politisch-soziologischer Forschungen, die streng kompara-
tiv auf subnationaler Ebene operieren. Hierzu zählt die Studie zu politischen Orien-
Vergleichende Regionenforschung in der Politikwissenschaft 391
tierungen im regionalen Kontext von van Deth und Tausendpfund (2013). Laut
dieser trägt die lokale Ebene dazu bei, die Legitimität des politischen Systems zu
stärken und das Vertrauen in die Demokratie zu fördern, weil die räumliche Nähe
intensivere Kontakte mit Politikern erleichtert, mehr Möglichkeiten der Beteiligung
bietet und eine größere Vertrautheit mit dem politischen Prozess erlaubt. Magin
(2010) beleuchtet die Beteiligung von Frauen in der Kommunalpolitik und geht den
Unterschieden auf den Grund, die zwischen den Parlamenten der 436 Landkreise
und kreisfreien Städte in Deutschland bestehen. Besonders „frauenfreundliche“
Kreise zeichnen sich demnach durch ein hohes Wohlstandsniveau aus und wählen
ihre Vertretung in großen Wahlkreisen. Dar€uber hinaus zeigen freiwillige partei-
interne Quoten eine positive Wirkung, aber auch ein verstärkter Wettbewerb zwi-
schen den Parteien kommt der Frauenrepräsentation zugute. R€uckenwind f€ur Kom-
munalpolitikerinnen scheint es weiterhin dort zu geben, wo es ein gut ausgebautes
Kinderbetreuungsangebot gibt, wo Frauen sich verstärkt in Freiwilligenorganisatio-
nen engagieren und wo sich traditionelle Partnerschaftsmodelle auf dem R€uckzug
befinden. Die kontrovers gef€uhrte Debatte €uber den Zusammenhang zwischen kul-
tureller Vielfalt und sozialem Zusammenhalt greifen Gundelach und Traunm€uller
(2010) in ihrer Forschung auf. Die empirischen Ergebnisse liefern erste Belege
daf€ur, dass kulturelle Heterogenität auch in Deutschland eine erhebliche Herausfor-
derung f€ ur die sozialen Bindekräfte darstellt. Unterschiedliche Spendenkulturen in
den deutschen Landkreisen und kreisfreien Städten sind Gegenstand der Unter-
suchungen von Stadelmann-Steffen und Traunm€uller (2010). Laut ihrer Erkenntnis
unterscheiden sich die deutschen Landkreise und kreisfreien Städte nicht nur hin-
sichtlich des Anteils Spendender. Unterschiede lassen sich auch mit Blick auf die pro
Kopf geleistete Spendenhöhe ausmachen und sind durch einen Mix aus sozio-
ökonomischen, kulturellen und politischen Faktoren zu erklären. Abschließend sei
an dieser Stelle noch auf die Studie von Franzen und Botzen (2011) verwiesen,
welche sich der Beziehung zwischen Vereinen und dem Wohlstand von Regionen
widmet und darlegt, dass Kreise mit einer hohen Vereinsdichte auch €uber ein hohes
Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner verf€ugen.
Erweiterung des Analysefokus. Spielen wir etwa mit dem Gedanken, den Einfluss
von politisch-institutionellen Faktoren auf die aggregierten Fluktuationsraten in den
drei nationalstaatlichen Parlamenten Deutschlands, Österreichs und der Schweiz zu
schätzen, so stehen wir sehr schnell vor dem Problem, dass f€ur die Durchf€uhrung
eines solchen statistischen Tests ausreichend Informationen in Form von unabhän-
gigen Beobachtungen erforderlich sind. Stehen diese Informationen nicht in
ausreichender Anzahl zur Verf€ugung – wie im Beispiel von nur drei nationalstaat-
lichen Parlamenten – sind stichhaltige Aussagen €uber den Untersuchungsgegenstand
bei Vorliegen zu vieler Erklärungsfaktoren nicht möglich (Ebbinghaus 2009, S. 203;
Lauth et al. 2009, S. 272). Betrachten wir aber anstelle der drei Parlamente auf
nationalstaatlicher Ebene die insgesamt 51 Gliedstaatenparlamente auf Bundeslän-
der- und Kantonsebene, so haben wir auf einen Schlag ausreichend Informationen
f€ur eine verlässliche statistische Schätzung politisch-institutioneller Einflussgrößen
zur Verf€ ugung. Hinzu kommt, dass sowohl bei innerstaatlichen (»Within-Nation-
Comparisons«) als auch bei zwischenstaatlichen (»Between-Nation-Comparisons«)
Vergleichen einander ähnlicher subnationaler Einheiten eine stärkere Kontrolle €uber
die eigentlich erklärenden Variablen durch eine Fixierung der nicht im Fokus des
Analyseinteresses stehender Einflussfaktoren erfolgt (Snyder 2001, S. 94–96;
Trounstine 2009). Auf der Suche nach politisch-institutionellen Determinanten
parlamentarischer Mitgliederfluktuation in den 51 subnationalen Parlamenten
Deutschlands, Österreichs und der Schweiz profitieren wir so zusätzlich durch die
weitgehende Homogenität der Untersuchungseinheiten hinsichtlich einer Vielzahl
nicht politisch-institutioneller Faktoren. Die mit dieser Fallauswahl einhergehende
Kontrolle ökologischer, historischer, kultureller, und sozioökonomischer Faktoren
ermöglicht also die gezielte und selektive Analyse der Zusammenhänge zwischen
politischen Institutionen und dem Ausmaß parlamentarischer Mitgliederfluktuation.
Auch hinsichtlich der Messung eröffnet die vergleichende Regionenforschung
vielversprechende Perspektiven und Einsichten. Stein Rokkan (1970, S. 49) hat zu
Recht auf die Gefahr der Verschleierung vorliegender subnationaler Heterogenität
durch den R€ uckgriff auf nationale Durchschnittswerte oder Aggregatdaten in quali-
tativen und quantitativen Arbeiten hingewiesen. Die vergleichende subnationale
Analyseperspektive tritt dieser als »whole-nation-bias« bezeichneten Gefahr explizit
entgegen, indem sie genau diesen regionalen Differenzen und Komplexitäten
gerecht wird (Lijphart 1975). Fehlerhafte Kodierungen und das Ziehen scheinbar
existierender, aber tatsächlich falscher, kausaler Zusammenhänge können so um-
gangen werden. Dar€uber hinaus wird durch die vergleichende subnationale Analy-
seperspektive vermieden, dass die Charakterisierung eines Nationalstaats aus-
schließlich auf Basis des Wissens um eine subnationale Einheit erfolgt, €uber die
bereits besonders viele Erkenntnisse vorliegen oder die aufgrund ihrer Wesensz€uge
besonders ins Auge sticht. Aus solchen »invalid-part-to-whole mappings«, also dem
fälschlicherweise angenommenen R€uckschluss von den Entwicklungen eines (mög-
licherweise nur scheinbar) repräsentativen, regionalen Analysefalls auf den Natio-
nalstaat, können Fehlkodierungen resultieren, die Bem€uhungen zur Deskription,
dem Aufsp€ uren kausaler Inferenzen und schließlich auch der Theoriebildung abträg-
lich sind (Snyder 2001, S. 99).
Vergleichende Regionenforschung in der Politikwissenschaft 393
Zuletzt ist der subnationale Vergleich auch hinsichtlich der Theoriebildung mit
weitreichenden Potenzialen verbunden. So bietet die vergleichende Regionenfor-
schung die Aussicht auf ein besseres Verständnis f€ur politische Strukturen, Prozesse
und Inhalte auf nationaler Ebene, da diese von subnationalen Akteuren maßgeblich
beeinflusst und mitbestimmt werden. Dar€uber hinaus wird der subnationale
Vergleich dem stetig zunehmenden Interaktionsprozess zwischen nationalen und
subnationalen Akteuren gerecht. Durch die explizite und genaue Erfassung dieser
Austauschprozesse entsteht ein besseres Verständnis f€ur die Entwicklungen und
Strukturen auf allen staatlichen Ebenen (Snyder 2001, S. 100). Zuletzt macht die
vergleichende Regionenforschung auch den Blick f€ur die sich auf subnationaler
Ebene in unterschiedlicher Form und variierendem Ausmaß vollziehenden ökono-
mischen und politischen Wandlungs- und Diffusionsprozesse frei. Die sich somit
ergebende Sensibilität f€ur die tatsächlichen, regional unterschiedlichen Gegeben-
heiten und dar€ uber hinaus möglicherweise vorliegenden dynamischen Wechselwir-
kungen zwischen den staatlichen Einheiten eröffnet große Potenziale hinsichtlich der
Deskription und der Theoriebildung (Snyder 2001, S. 103). So sprechen Hilde-
brandt und Wolf (2008, S. 14–15) Regionen zu Recht den Charakter eines wert-
vollen Laboratoriums f€ur den Test und die Weiterentwicklung von Theorien zu, in
welchem eine urspr€unglich f€ur den nationalen Fall entwickelte Theorie auch f€ur die
subnationale Ebene auf den Pr€ufstand gestellt werden kann (Snyder 2001, S. 95).
Eine sich mitunter ergebende analytische Problemstellung des subnationalen Ver-
gleichs stellt dabei aber die bisweilen nicht immer gewährleistete Unabhängigkeit
der Untersuchungsfälle dar, die insbesondere durch Diffusionsprozesse eine beson-
dere Herausforderung erfährt.
4 Ausblick
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Vergleichende Regionenforschung in der Politikwissenschaft 397
Norbert Kersting
Zusammenfassung
Kommunalforschung untersucht angesichts hoher Diversität der kommunalen
Einheiten und ihrer Pfadabhängigkeiten und Beharrungsmechanismen, die sich
in Zentralisierung und administrativer Kultur manifestieren, vor allem internatio-
nale Trends in Richtung Konvergenz und Isomorphismus. Globale Reformagen-
den werden lokal aufgegriffen und je nach nationalen Ausgangsbedingungen im
Bereich der Verwaltungsreformen (Funktional- und Territorialreformen, Binnen-
reform der Kommunalverwaltungen), bei den politisch administrativen Reformen
(„vom lokalen Parlamentarismus zum lokalen Präsidentialismus“) und bei demo-
kratischen Innovationen in Form von neuen Beteiligungsinstrumenten („partizi-
pativer turn“) unterschiedlich aufgegriffen.
Schlüsselwörter
Kommunalpolitik • Partizipation • Verwaltung • Innovation • Mehrebenensystem
1 Einleitung
N. Kersting (*)
Professor f€ur Vergleichende Kommunal- und Regionalpolitik, Institut f€
ur Politikwissenschaft,
Universität M€unster, M€unster, Deutschland
E-Mail: norbert.kersting@uni-muenster.de
Städte waren und sind zunehmend durch Diversität geprägt: Sozialer Wandel (Abbau
von Milieus, Individualisierung, Mangel an sozialem Kapital), multikulturelle Struk-
turen, demographischer Wandel (graue Gesellschaft) sowie ökonomische Ungleich-
heit (Prekarisierung) nehmen zu. Der Wandel und die wachsende Ungleichheit
deuten auf eine gesellschaftliche Integrationskrise hin. Hieraus resultiert die Not-
wendigkeit zu sozialer Innovation und einem Diversity Management, das sich im
Spannungsfeld zwischen kultureller Angleichung und Förderung von Vielfalt
verorten muss (Häußermann et al. 2008; Kersting et al. 2009).
Auch die Kommunalpolitik steckt in einer Legitimitätskrise. Die Wahlbeteiligung
sinkt in Deutschland seit den Siebzigern kontinuierlich und hat auf kommunaler
Ebene ein sehr niedriges Niveau erreicht. Lokale Politik ist zudem mit zunehmen-
dem Protest konfrontiert. Die politische Unzufriedenheit – insbesondere mit den
politischen Parteien – manifestiert sich in zunehmender politischer Apathie und
Zynismus. Lokale Politik und lokale Verwaltungen reagieren darauf mit neuen
sozialen und politischen Beteiligungschancen. Kommunen werden Laboratorien
und Wegweiser f€ ur soziale und demokratische Innovation.
Weltweit zeigen sich unterschiedliche Trends und Phasen von Dezentralisierung
und Zentralisierung. Sie sind begleitet von Modernisierungswellen (Verwaltungsre-
form, Partizipative Reformen), die insbesondere die Kompetenzen der Räte
einschränken (Kommunaler Postparlamentarismus).
Während in den USA und in Großbritannien der Anschluss f€ur die Modernisierung
des öffentlichen Dienstes vor allem aus neokonservativen Kreisen herr€uhrte, waren
es in Neuseeland und Australien insbesondere linke Labour-Politiker, die den Re-
formprozess in die Wege leiteten (siehe dazu auch Osborne und Gabler 1992; Peters
1995; Pollitt und Bouckaert 2000). In vielen Ländern zeichnete sich €uber alle
Parteigrenzen hinweg ein konsensuelles Modernisierungskonzept ab, das in unter-
schiedlichen Diskursarenen und Gemeinden auf einem ähnlich gelagerten, am
NPM-Modell orientierten Staatsverständnis basiert (Kersting et al. 2009).
Deutschland als Nachz€ugler besaß bis in die 1980er-Jahre insbesondere im
Ausland den Ruf, eine besonders leistungsfähige, auf Rechtstaatlichkeit basierende
B€urokratie zu besitzen (Naschold 1993). So lag hier der Anteil des öffentlichen
Dienstes an der Gesamtbeschäftigung mit nur 14,8 Prozent (1991) niedriger als in
Großbritannien (19,9 Prozent) und in den USA (14,9 Prozent) (Wollmann 2008).
Mitte der 1990er-Jahre entwickelte man in Anlehnung an die NPM-Debatte und die
holländische Stadt Tilburg ein Neues Steuerungsmodell, das sich wie ein Buschfeuer
in allen Bundesländern und in fast allen deutschen Gemeinden als Referenzmodell
weiter verbreitete. Deutlich wurde aber auch, dass zumindest Mitte der 1990er-Jahre
eine Vielzahl der Kommunen von einer abgeschlossenen Realisierung weit entfernt
waren und sich noch in der Einf€uhrungsphase befanden (Bogumil et al. 2007).
3 Fazit
oder „parlamentarische“ Strukturen. Bis auf wenige Ausnahmen lässt sich ein Trend
zur Direktwahl von B€urgermeistern und zu präsidentiellen strong mayor-Verfassun-
gen erkennen, die politische Legitimation und administrative Kompetenzen bei
den Verwaltungsspitzen miteinander verbinden. Die starke exekutive B€urger-
meisterverfassung entkräftet die als Dualismus angelegte kommunale Gewal-
tenteilung zwischen Exekutive und Legislative (Lijphart 1992). Die Gemeinderäte
können oft ihrer Kontrollfunktionen und ihrer ohnehin schwach ausgeprägten Pla-
nungsfunktion ebenso wenig nachkommen wie ihrer Repräsentativfunktion. Es fehlt
an Druckmitteln gegen€uber dem durch die Direktwahl gestärkten „exekutiven
B€urgermeister“. Das Wiederwahl-Kalk€ul des B€urgermeisters, eine starke Zivilge-
sellschaft und der B€urgerentscheid werden zum zentralen Faktor f€ur exekutive
accountability. Ber€ucksichtigt man den Wissensvorsprung der Exekutive sind
aber weitere Kontrollinstrumente nötig. Diese Kontrolle wird zunehmend
durch neue zivilgesellschaftliche Akteure sowie durch neue Beteiligungsinstrumente
erreicht. Die hier vertretene Kompetenzverlust-These geht davon aus, dass die
neuen Beteiligungsinstrumente den Kompetenzverlust der Gemeinderäte nicht
kompensieren.
Die kommunale Verwaltungsreformen (Dezentralisierung und politisch administ-
rative Reformen) und die Politische Partizipationsreform sind zwei Seiten einer
Medaille. Letztere wird zunehmend durch Verwaltung initiiert. Demokratie und
Effizienz ist hierbei kein Widerspruch. In der neuen B€urgergesellschaft stehen die
Bewohner der Städte und Gemeinden als Kunde und als B€urger zunehmend im
Mittelpunkt des Interesses. Inwieweit die angebotenen Beteiligungsräume nur sym-
bolisch und nicht nachhaltig sind, bleibt Frage der Kommunalforschung.
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Teil V
Politics
Wahlsysteme in der Vergleichenden
Politikwissenschaft
Matthijs Bogaards
Zusammenfassung
Dieser Beitrag betrachtet Wahlsysteme und fasst die wichtigsten Erkenntnisse aus
der Literatur zu Wahlsystemen in etablierten und jungen Demokratien zusammen.
Der Schwerpunkt liegt auf den Auswirkungen des Wahlrechts auf den Typus des
Parteiensystems und dessen Rolle als Vermittler zwischen Gesellschaft und Staat
in pluralen Gesellschaften.
Schlüsselwörter
Wahlrecht • Verhältniswahl • Mehrheitswahl • kombinierte Wahlsysteme • Par-
teiensystem • gespaltene Gesellschaften • Wahlsystemdesign
1 Einführung
1
F€ur Lijpharts Kommentar zu diesen unfairen Resultaten, siehe Bogaards (2015). Dieser Hand-
buchbeitrag basiert auf Bogaards (2009)
M. Bogaards (*)
Professor, Department of Political Science, Central European University, Budapest, Ungarn
E-Mail: Visbogaards@ceu.edu
beobachtet: „Das Wahlsystem kann somit den Ausschlag daf€ur geben, welche Partei
die Regierung und welche die Opposition €ubernimmt. Das Wahlsystem macht
demnach einen wahrlich großen Unterschied!“.
Der Eingangssatz des Internationalem IDEA Handbuchs f€ur Wahlsystemdesign
(Reynolds et al. 2005, S. 1) lautet: „The choice of electoral system is one of the most
important institutional decisions for any democracy. In almost all cases the choice of
a particular electoral system has a profound effect on the future political life of the
country.“ (siehe auch Derichs und Heberer 2006). Das Wahlsystem wird als
Schl€usselelement zur Erreichung einer ganzen Reihe von Zielen verstanden: von
der fairen Repräsentation, €uber die Stärkung der Wähler-Kandidatenbeziehung, der
Institutionalisierung sowie Nationalisierung des Parteiensystems, Erhöhung der
Anzahl der Frauen in Parlamenten, einer beschränkter Polarisierung bis hin zur
Verh€utung der Fragmentierung, sozialem Frieden und demokratischer Konsolidie-
rung.
Dieses Kapitel fasst den Kenntnisstand der politischen Auswirkungen von Wahl-
gesetzen zusammen. Eine Auswahl muss getroffen werden, „da electoral systems
constitute one of the oldest and most prolifically studied subjects of our discipline“
(Htun und Powell 2013, S. 808). Das Kapitel betrachtet schwerpunktmäßig die
klassische Beziehung zwischen dem Wahlsystem und dem Parteiensystem sowie
dar€
uber hinaus die Herausforderungen an das Design des Wahlsystems in gespalte-
nen Gesellschaften.
Eine Unterscheidung in drei große Familien von Wahlsystemen ist gängig: Ver-
hältniswahl (proportional representation = PR), relative/absolute Mehrheitswahl
und kombinierte Wahlsysteme, welche die Entscheidungsregeln der ersten beiden
verbinden.2 Obwohl das €ubergeordnete Ziel des Verhältniswahlsystems die propor-
tionale Repräsentation ist, hängt der eigentliche Grade der (Un-) Gleichverteilung
von zwei Faktoren ab: dem Sitzverteilungsschl€ussel und der Wahlkreisgröße. Lij-
phardt (1994) hat nachgewiesen, dass die Wahlkreisgröße die bedeutsamere Variable
ist und dass die zunehmende Größe eines Wahlkreises eine höhere Proportionalität
des Wahlausgangs ermöglicht. Streng genommen werden bei Mehrheitswahl Re-
präsentanten durch eine absolute Mehrheit (50 % + 1) gewählt, aber oft wird der
Begriff f€
ur Wahlsysteme gebraucht, in denen die relative Mehrheit (mehr Wahl-
stimmen als jeder andere Kandidat) gen€ugt. Wenn der Wahlgewinner eine absolute
Mehrheit braucht, ist oft ein zweiter Wahlgang notwendig, wie in Frankreichs double
ballot.
2
Eine Quelle von unschätzbarem Wert f€ ur Wahlsysteme, Wahlen und Wahlresultate ist die Reihe
regionaler Datenhandb€ ucher, die von Dieter Nohlen herausgegeben werden und bei Oxford Uni-
versity Press erscheinen.
Wahlsysteme in der Vergleichenden Politikwissenschaft 417
Die Auswahl des Wahlsystems wird oft als Kompromiss zwischen Repräsentativität
und Regierungsfähigkeit formuliert (Nohlen 2013). Es wird angenommen, dass die
Repräsentativität durch Verhältniswahl in Mehrpersonenwahlkreisen, verbunden mit
einem Mehrparteiensystem und einer Koalitionsregierung, maximiert wird, wohin-
gegen Regierungsfähigkeit durch ein System der relativen Mehrheitswahl in Einer-
wahlkreisen mit einem Zweiparteiensystem und Einparteienregierung beg€unstigt
wird. In der Demokratietypologie von Arend Lijphart (2012) ist die Auswahl des
Wahlsystems an zwei fundamental verschiedene Demokratietypen gebunden:
Konsens- versus Mehrheitsdemokratie.
Wahlgesetze markieren sowohl Ursachen als auch Folgen. Das Wahlsystem
utzt die Ausformung des Parteiensystems, aber es sind die Parteien, die €uber
unterst€
das Wahlgesetz entscheiden. Sie handeln aus unterschiedlichsten Gr€unden, die vom
Eigeninteresse der Akteure, ein Amt zu gewinnen, bis zur Umsetzung favorisierter
Politikinhalte, wie normative Konzeptionen €uber die Funktionsweise des politischen
Systems, reichen (Benoit 2007).
Josep Colomers (2004, S. 3) ‚Mikro-Makro-Regel‘ besagt, dass „large prefer the
small and the small will prefer the large“. Mit anderen Worten: Große Parteien
bevorzugen kleine Wahlbezirke und Mehrheitswahl, wohingegen kleine Parteien
große Wahlbezirke und Verhältniswahl bevorzugen. Andererseits beanspruchen
soziologische Sichtweisen, dass sowohl das Wahlgesetz als auch die Parteien durch
zugrundeliegende strukturelle, kulturelle und historische Variablen der Gesellschaft
determiniert sind (Rokkan 1970).
Maurice Duverger (1954) war der erste Forscher, der eine systematische und empi-
rische Untersuchung der politischen Auswirkungen von Wahlgesetzen aus einer
vergleichenden Perspektive durchgef€uhrt hat. Die ganze Literatur, die um die zwei
418 M. Bogaards
Gesetze von Duverger herum entwickelt wurde (1964, S. 217, 239), stellt fest, dass
„the simple-majority single-ballot system favors the two-party system‘ und ‚the
simple-majority system with second ballot and proportional representation favors
multi-partyism“. In der Tat weitet Duverger (1955) schon bald die Zahl der Gesetze
auf drei aus: „1) proportional representation tends to lead to the formation of many
independent parties, 2) the two-ballot majority systems tend to lead to the formation
of many parties that are allied with each other, 3) the plurality rule tends to produce a
two-party system“ (Duverger 1986, S. 70). Obwohl Sartori (1986) die Ausf€uhrun-
gen Duvergers als dessen besten Vorschlag lobt, wurde dieser nicht von der inter-
nationalen, englischsprachigen politikwissenschaftlichen Literatur aufgegriffen, da
dieser nur in französischer Sprache verf€ugbar war.3 Duverger erklärte die beobach-
teten politischen Wirkungen der Wahlgesetze durch ihre mechanischen und psycho-
logischen Effekte. Der mechanische Effekt ist eine technische Prozedur, durch
welche die Stimmen in Sitze €ubersetzt werden. Der psychologische Effekt bezieht
sich auf die Weise, in welcher die Wahrnehmung des Wahlsystems das strategische
Verhalten von Wählern, Kandidaten und Parteien beeinflusst (Blais und Carty 1991).
Auf Duverger aufbauend, entwickelt Sartori (1968) seinen eigenen Gesetzes-
korpus. Dieser wird als soziales Wissenschaftsgesetz konstruiert, das heißt, „general-
izations endowed with explanatory power that detect a regularity“ (Sartori 1994,
S. 31). Die Erklärungskraft unterscheidet ein Wahlgesetz von einem statistischen
Gesetz, welches eine bestätigte Häufigkeit lediglich quantifiziert. Ausnahmen kön-
nen behandelt werden, „by entering a necessary condition that restricts the ap-
plicability of the law (. . .), or by incorporating the exception(s) into a reformulation
of the law that subsumes them“ (Sartori 1994, S. 32). Sartori verfolgt beide Wege.
Das Ergebnis sind vier präzise formulierte Vorhersagen zu den politischen Aus-
wirkungen von Wahlgesetzen (Sartori 1986). Zudem stehen weitere Regeln zur
Verf€ugung, die die politischen Wirkungen von Wahlsystemen mit zwei Wahlgängen
erfassen (Sartori 1994).
Sartoris Gesetze sind in notwendigen und hinreichenden Bedingungen formuliert.
(1) Relative Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen verursacht ein Zweiparteiensystem,
aber nur in Anwesenheit eines strukturierten Parteiensystems. Auch gilt, dass wenn
politische Minderheiten geographisch konzertiert sind (2), dies nicht in einem
nationalen Zweiparteiensystem resultieren wird, da die Akteure sich von einem
Wahlkreis zum anderen unterscheiden. In anderen Worten, die genaue Auswirkung
eines Wahlgesetzes wird zu einer Angelegenheit der politischen Geographie.
Die Verhältniswahl ist ein tolerantes bzw. ‚schwaches‘ Wahlsystem. Von selbst
hat es keinen reduzierenden Effekt auf die Zahl der Parteien. Jedoch reduzieren die
meisten Länder mit Verhältniswahl durch einige Maßnahmen die Proportionalität
der jeweiligen Systeme, indem sie Wahlh€urden, kleine Wahlkreisgrößen und
3
Aus demselben Grund haben Dieter Nohlens in Deutschland veröffentliche Studien nicht viel
Aufmerksamkeit in der internationalen Politikwissenschaft erhalten. Die Situation unterscheidet
sich zu den lateinamerikanischen Ländern, wo spanische Übersetzungen seiner Arbeit ein ent-
sprechendes Publikum finden.
Wahlsysteme in der Vergleichenden Politikwissenschaft 419
bestimmte Formeln bei der Umrechnung von Stimmen in Sitze verwenden. Unter
Einbeziehung dieser Differenzen prognostiziert Sartori, dass (3), je weniger propor-
tional die Verhältniswahl ist, desto höher ist der reduzierende Effekt in einem
strukturierten Parteiensystem. Wenn ein reines Verhältniswahlsystem in der Kombi-
nation mit einem unstrukturierten Parteiensystem verwendet wird, (4) so ist alles
möglich.
In einem präsidentiellen Regierungssystem, kann die Zahl der Parteien nicht
ausschließlich durch das Wahlgesetz f€ur Parlamentswahlen erklärt werden. F€ur
Lateinamerika wurde gezeigt, dass das präsidentielle Regierungssystem, relative
Mehrheitswahl bei der Präsidentenwahl und die gleichzeitig stattfindende Wahlen
alle dazu dienen, die Zahl der Parlamentsparteien zu senken (Jones 1995).
Obwohl Sartoris Weiterentwickelung Duvergers Arbeit als „little but a relic“ ausse-
hen lässt, orientieren sich große Teile der Wissenschaft weiterhin an Duvergers
„battered classic“ (Daalder 1983, S. 12; 10). Bezeichnenderweise beinhalten die
Publikationen von Riker (1982) und Shugart (2005) nicht einmal einen Verweis auf
Sartori, obwohl sie behaupten, eine Akkumulation von Wissen €uber die politischen
Folgen von Wahlgesetzen aufzuzeigen. Die Forschung konzentriert sich vornehm-
lich auf das Vorhaben, Duvergers Gesetze zu quantifizieren (siehe auch Cox 1997).
Die „generalized Duverger’s rule“, abgefasst von Taagepera und Shugart (1989,
S. 145) liest sich wie folgt: „the effective number of electoral parties is usually
within plus or minus 1 unit from N = 1.25 (2 + log M), whereby M stands for
average district size. ‚Duverger’s Generalized Rule‘ is a statistical law, which
represents an empirical fit strengthened by some theoretical plausibility
(a hypothesis, if you will) and saddled with many deviating data points“ (Taagepera
und Shugart 1989, S. 146).
Ber€ucksichtigt man auch die Größe des Parlaments, bietet Taagepera (2007) die
folgende Formel an: N = (MS)1/6. Aus dem Produkt der durchschnittlichen Größe
der Wahlkreise (M = magnitude) und der Größe des Parlaments (S = assembly
size) wird die sechste Wurzel gezogen. F€ur die Niederlande mit einer Wahlkreis-
größe von 150 Sitzen ergibt sich eine effektive Zahl von 5,2 Parlamentsparteien,
welche tatsächlich dem durchschnittlichen Wert von 4,87 in der Zeitspanne zwi-
schen 1945–2010 nahe kommt (Lijphart 2012: 305). Obwohl ihr eine sehr gute
Eignung zugesprochen wird, spiegelt die Formel jedoch nicht empirische Muster
wider, sondern prognostiziert einen erwarteten Wert auf der Grundlage keiner weite-
ren Informationen als den eingef€ugten Variablen und einigen mathematischen De-
duktionen. Sie ist nur f€ur einfache Wahlsysteme valide, womit solche mit relativer
Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen oder Verhältniswahl in Mehrpersonenwahlkrei-
sen von ziemlich einheitlichen Maßen gemeint sind. Sie gilt nur f€ur stabile Demo-
kratien. Sie beansprucht den ‚globalen Durchschnitt‘ und ist bewusst blind gegen-
€
uber Aspekten, die die politische Kultur des Landes einbeziehen, wodurch es zu
Abweichungen kommen kann. Wahrscheinlich hatte Sartori (2004, S. 786) diese
420 M. Bogaards
Wie das Wahlsystem, kann das Parteiensystem sowohl Folge und Ursache sein.
uhrt das Parteiensystem selbst als Kontextvariable an.4 Der Unter-
Sartori (1968) f€
schied zwischen strukturierten und unstrukturierten Parteiensystemen unterst€utzt die
Erklärung, warum dieselben Wahlgesetze verschiedene politische Folgen in ver-
schiedenen Kontexten haben. Daher schlussfolgern Jon Elster et al. (1998, S. 129)
in ihrer Studie zu post-kommunistischen Ländern in Osteuropa, dass „given pro-
grammatically diffuse parties, their weak organizational basis, an unsatisfactorily
structured party system, and volatile voter alignments, electoral rules are unable to
reduce the number of parties and to structure the party system“.
Aufgrund der niedrigen Institutionalisierung des Parteiensystems erwarten wir
gemäß Sartori, dass die politischen Folgen der Wahlgesetze in neuen Demokratien
schwer vorhersagbar sind. Im Falle der geographisch konzentrierten Gruppen, und
auch hier folgen wir Sartori, erwarten wir, dass relative Mehrheitswahlen nicht mit
einem Zweiparteiensystem in Zusammenhang stehen. In der Tat haben das viele
Studien herausgefunden. In den neuen Demokratien Osteuropas, sind durch relative
und absolute Mehrheitswahlen in Einerwahlkreisen unabhängige und kleine, lokale
Parteien in die Parlamente durchgedrungen (Moser 2001). Studien zu Afrika haben
die Auswirkungen der räumlichen Verteilung ethnischer Gruppen auf Wahlergeb-
nisse aufgezeigt (Brambor et al. 2007).
Die empirischen Studien zum Einfluss des Wahlsystems hängen entscheidend
von der Methode ab, die Parteien als solche zu zählen. Quantitative Analyseansätze
der Beziehung zwischen Stimmen und Sitzen haben mathematische Formeln ange-
nommen, die auf der relativen Größe der Parteien basieren. Standardmäßig kommt in
der Literatur der Index von Laakso und Taagepera (1979) zum Einsatz, der die
effektive Anzahl der Parteien (N) misst, wobei eins durch die Summe der quadrierten
relativen Stimmen- oder Sitzanteile der Parteien (p) geteilt wird (Formel: N = 1/
(pi2 + pi2 + pn2)). Der Index kann f€ur die Bestimmung der effektiven Zahl von
Wahlparteien (unter Verwendung von Stimmenanteilen) oder Parlamentsparteien
(unter Verwendung der Sitzanteile) verwendet werden.
Die effektive Anzahl an Parteien ist eine schwache Richtschnur zur Identifikation
des Typus des Parteiensystems (Bogaards 2004a). Zum Beispiel hatte S€udafrika seit
4
urde heute als ‚institutionalisiertes‘ Parteiensystem bezeichnet
Das strukturierte Parteiensystem w€
werden. Mainwaring und Scully (1995, S. 15) identifizieren vier Kriterien der Institutionalisierung:
1) Wettbewerbsstrukturen äußern sich in der Regelmäßigkeit; 2) Parteien entwickeln eine stabile
Verankerung in der Gesellschaft; 3) B€urger und Organisationen nehmen Parteien und Wahlen als
das einzig legitime Mittel wahr, um zu bestimmen, wer regiert; 4) Parteiorganisationen m€ ussen
‚relativ robust‘ sein.
Wahlsysteme in der Vergleichenden Politikwissenschaft 421
dem Ende der Apartheid zwischen 2.0 und 2.3 effektive Parteien im Parlament.
Demnach ähnelt es der britischen oder amerikanischen Art des Zwei-
Parteiensystems, in Wirklichkeit hat S€udafrika aber ein dominantes Parteiensystem
bei dem die regierende Partei des Afrikanischen Nationalkongresses (ANC) nie
weniger als 63 Prozent der Stimmen und Sitze erhielt.
Sartori schlägt eine alternative Methode f€ur die Zählung der Parteien vor. Nur
solche Parteien sind relevant, welche entweder €uber Koalitions- oder Erpressungs-
potenzial verf€ugen. Eine Partei hat Koalitionspotenzial, wenn sie, ungeachtet ihrer
Größe‚ „may be required as a coalition partner for one or more of the possible
governmental majorities“ (Sartori 1976, S. 122). Eine Partei hat Erpressungspoten-
zial „whenever its existence, or appearance, affects the tactics of party competition“
(Sartori 1976, S. 123). F€ur präsidentielle Systeme gilt, „the counting criteria must be
reformulated and relaxed, for the parties that count are simply the ones the make a
difference in helping (or obstructing) the president’s election, and that determine his
having (or not having) a majority support in the legislative assemblies“ (Sartori
1994, S. 34). Mithilfe von Sartoris Zählregeln ist es einfach die Einparteiendomi-
nanz zu identifizieren, insofern nur eine relevante Partei vorhanden ist. Ein weiterer
Vorteil von Sartoris Zählregeln ergibt sich daraus, dass diese mit seiner Typologie
des Parteiensystem verbunden sind.
Welches ist das am besten geeignete Wahlgesetz f€ur eine (neue) Demokratie mit
pluraler oder gespaltener Gesellschaft; einer Gesellschaft in der sozio-kulturelle Diffe-
renzen wie Rasse, Ethnie, Sprache, Religion und Region politisch salient sind (Horo-
witz 1985; Reilly 2001)? Hier ist das Wahlsystem im weitesten Sinne zu verstehen, das
auch die Regulierung von Parteiregistrierungen und die Kandidatennominierung
umfasst, welche in der Anfangszeit von besonderer Bedeutung sind (Bogaards 2008).
Die langjährige Gegen€uberstellung von Mehrheitswahl und Verhältniswahl ver-
liert viel von seiner Relevanz, wenn sozio-kulturelle Gruppen geographisch konzen-
triert sind, wie es oft der Fall ist.5 Vielmehr geht es darum, ob das Wahlsystem die
gesellschaftlichen Trennlinien auf der parlamentarischen Ebene aggregiert, partei-
politisch €ubersetzt oder ihre Politisierung blockiert. Tab. 1 gibt einen Gesamt€uber-
blick, wie die Funktionen der Aggregation, Übersetzung und Blockierung des
Parteiensystems mit dem Wahlsystem korrespondieren.
In einer Demokratie kann die Blockierungsfunktion durch das Verbot ethnischer
Parteien erreicht werden. Beim Versuch, ethnische Konflikte durch die Verhinderung
politischer Organisation zuvorzukommen, hat die Mehrzahl der afrikanischen Staaten
5
Mehrheitswahl hat eine ung€ unstige Eigenschaft, die jedoch von Bedeutung ist, vor allem in
Gesellschaften geprägt von einem Mangel an Vertrauen und einem Übermaß an Ungleichheit:
Die Bestimmung der Grenzen der zahlreichen Wahlbezirken bietet die Möglichkeit zu Gerrymande-
ring und riskiert daher die Politisierung der Wahlorganisation.
422 M. Bogaards
6
Zwar gibt es f€ur die Termini der Wahlsystemtypen teilweise deutsche Entsprechungen, aber im
Folgenden werden die englischen Bezeichnungen verwendet, um Verwechslungen zu vermeiden.
Alternativstimmgebung (= AV) und System der € ubertragbaren Einzelstimmgebung (= STV) sind
solche Beispiele, wohingegen f€ur constituency pooling keine Konvention besteht.
Wahlsysteme in der Vergleichenden Politikwissenschaft 423
Die Alternative Vote ist ein Mehrheitswahlsystem mit starken Anreizen f€ur vote
pooling zu gegebenen Umständen. Vote pooling tritt auf, wenn politische F€uhrer
nach der Unterst€ utzung außerhalb ihrer eigenen Gruppe streben, um Wahlen zu
gewinnen und Wähler €uber Gruppengrenzen hinweg Stimmen austauschen (Horo-
witz 1985). AV f€uhrt nur zur vote pooling in heterogenen Wahlkreisen, deren
Grenzen schwer zu ziehen sind, wenn Gruppen sich geographisch konzentrieren.
In diesem Fall ist Constituency Pooling eine Alternative (Bogaards 2003). Consti-
tuency Pooling bedeutet, dass ein Kandidat in mehreren Wahlkreisen gleichzeitig zur
Wahl steht. Um den Gewinner auszumachen, wird die totale Anzahl der Stimmen
eines Kandidaten €uber alle Wahlkreise hinweg berechnet. Der erfolgreiche Kandidat
muss daher Stimmen von verschiedenen Landesteilen, die von verschiedenen
Gruppen bewohnt werden, auf sich vereinen. Constituency Pooling wurde in
Uganda im Jahr 1970 entwickelt, ist aber nie getestet worden.
Von den Verhältniswahlsystemen wird vote pooling nur durch das Single Trans-
ferable Vote (STV) unterst€utzt. Das STV ist ein Verhältniswahlsystem mit Präferenz-
wahl. Da das STV mit Mehrpersonenwahlkreisen funktioniert, ist die notwendige
Bildung heterogener Wahlkreise ein wenig leichter. Da jedoch der Schwellenwert,
um einen Sitz zu gewinnen, niedriger ist, sind auch die Anreize f€ur vote pooling
schwächer.
Eine Besonderheit, die die Aggregation fördert, ist Mehrheitswahl mit Regional-
Quorum. In Nigeria, Kenia und seit kurzem in Indonesien, muss ein erfolgreicher
Präsidentschaftskandidat nicht nur eine allgemeine Stimmenmehrheit bzw. eine
relative Mehrheit gewinnen, sondern er/sie muss auch einen Mindestprozentanteil
der Stimmen von einer Mindestanzahl der Regionen erzielen.
Die Artikulationsfunktion des Parteisystems kann erhalten werden, indem reser-
vierte Sitze f€
ur Minderheiten festgesetzt werden, wie in einigen Ländern Osteuropas
(Bogaards 2004b). In Lateinamerika haben Kolumbien und Venezuela einige Sitze
f€
ur Indigene reserviert. Diese Praxis ist umstritten, da sie auf die Vorbestimmung
sozio-kultureller Gruppen und die Identifikation der Kandidaten und/oder Wähler
mit einer gekennzeichneten Gruppe, baut. Allgemeiner formuliert, die Artikulation
lässt sich am besten durch eine listenweise Verhältniswahl gewährleisten – dem
favorisierten Wahlsystem in Friedensabkommen nach B€urgerkriegen rund um die
Welt (Bogaards 2013). Verhältniswahlsysteme erleichtern die parlamentarische
Repräsentation kleiner, verstreuter Gruppen. Jedoch kann die Artikulation auch
durch relative und absolute Mehrheitswahl im Falle einer geographisch konzentrier-
ten Minderheit erreicht werden (Bochsler 2010).
8 Schluss
Der Beitrag hat den Stand der Disziplin hinsichtlich politischer Auswirkungen von
Wahlgesetzen mit dem Fokus auf das Parteiensystem untersucht. Es wurde festge-
stellt, dass Sartoris Werk immer noch von Nutzen ist. Sartoris Unterscheidung
zwischen strukturierten und unstrukturierten Parteiensystemen unterst€utzt die Erklä-
rung, warum Wahlsysteme in neuen Demokratien nicht dieselben Auswirkungen
424 M. Bogaards
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Wahlforschung in der Vergleichenden
Politikwissenschaft
Kai Arzheimer
Zusammenfassung
In den 1970er-Jahren hat sich die bis dahin US-amerikanisch geprägte Wahlfor-
schung internationalisiert. Seit den 1990er-Jahren ist der Mainstream der Wahl-
forschung vergleichend ausgerichtet, da sich die Wirkung institutioneller und
anderer kontextueller Variablen nur so kontrollieren lässt. Eine leistungsfähige
Forschungsinfrastruktur hat diese Entwicklung ermöglicht und vorangetrieben.
Schlüsselwörter
Wahlforschung • Class Voting • Rational Choice • Sozialpsychologie • Cleavages
1 Einleitung
Die Wahlforschung ist eines der wichtigsten Teilgebiete der Politischen Soziologie.
Sie operiert damit an der Schnittstelle zwischen Politikwissenschaft und Soziologie.
Zunächst war die Wahlforschung ganz auf die Erklärung nationaler Phänomene
ausgerichtet. Verglichen wurden hier lediglich die Verhältnisse innerhalb eines
politischen Systems, etwa in Frankreich (Siegfried 1913) oder den USA (Key 1959).
Seit etwa Ende der 1960er-Jahre hat jedoch die international vergleichende Pers-
pektive in der Wahlforschung stetig an Bedeutung gewonnen. Ausgangspunkt f€ur
diese Entwicklung war das Interesse der Vertreter des sozialpsychologischen Modells
(Abschn. 2.2) ihre Befunde in einem „most dissimilar“ Design zu validieren (Miller
1994, S. 256). Umgekehrt zog die an der University of Michigan/Ann Arbor behei-
matete Forschergruppe Kollegen aus der ganzen Welt, insbesondere aber aus Nord-
West-Europa an. Auf diese Weise entstanden Kooperationsbeziehungen zwischen den
K. Arzheimer (*)
Professor f€ur Innenpolitik/Politische Soziologie, Institut f€
ur Politikwissenschaft,
Universität Mainz, Mainz, Deutschland
E-Mail: arzheimer@politik.uni-mainz.de
Leitern verschiedener nationaler Wahlstudien, die teils €uber Jahrzehnte Bestand hatten
(Miller 1994, S. 256–259) und den Grundstein f€ur die Institutionalisierung der ver-
gleichenden Wahlforschung seit den 1970er-Jahren legten (Mochmann 2002).
Der vorliegende Beitrag gliedert sich in zwei Teile. Abschnitt 2 gibt zunächst
einen knappen Überblick €uber die wichtigsten Ansätze der allgemeinen Wahlfor-
schung. Abschnitt 3 stellt dann die wichtigsten Forschungsfelder, Datenquellen und
Methoden der vergleichenden Wahlforschung vor.
Die Anfänge der Wahlforschung liegen in der offiziellen Statistik des 19. Jahrhunderts
und im Werk André Siegfrieds, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts damit begann,
Wahlergebnisse mit kartographische Methoden darzustellen und Zusammenhänge
etwa zwischen der Siedlungsstruktur und dem Abschneiden bestimmter Parteien zu
untersuchen. Den Kern der modernen Wahlforschung bilden aber drei Theorieb€undel,
die Mitte des 20. Jahrhunderts in den USA begr€undet wurden und schlagwortartig als
soziologischer, sozialpsychologischer und ökonomischer (oder rationalistischer)
Ansatz bezeichnet werden.1 In der Forschungspraxis werden häufig in sehr pragmati-
scher Weise Elemente aus allen drei Ansätzen kombiniert. Wie eine explizite Verbin-
dung der Theorien aussehen könnte, diskutieren Rudi und Schoen (2005).
1
Naturgemäß können diese Ansätze hier nur in extrem verk€urzter Form skizziert. Ausf€
uhrlichere
Darstellungen finden sich in den Lehrb€
uchern von B€urklin und Klein (1998), Pappi und Shikano
(2007) und (Roth 2008). Eine umfangreiche W€urdigung dieser und anderer Ansätze bietet das von
Falter und Schoen herausgegebene Handbuch Wahlforschung (Falter und Schoen 2005).
Wahlforschung in der Vergleichenden Politikwissenschaft 429
demographischer Merkmale wie des Berufs, der ethnischen Gruppe oder der Reli-
gionszugehörigkeit recht gut voraussagen: „A person thinks, politically, as he is,
socially“ (Lazarsfeld und Gaudet, 1944, S. 27). Lazarsfeld et al. erklären diesen
Befund mit der Dynamik kleiner Gruppen und dem Wunsch des Individuums, sich
normkoform zu verhalten, gehen aber nicht auf die gesellschaftlichen Voraussetzun-
gen f€
ur die Entstehung solcher Muster ein.
Diesen fehlenden Baustein liefert der makrosoziologische Ansatz, dessen Wurzel
in den Arbeiten der Soziologen Stein Rokkan und Martin Semour Lipset zur
Entstehung der westeuropäischen Parteiensysteme liegt (Lipset und Rokkan 1967).
Lipset und Rokkan f€uhren diese auf eine Reihe sozio-politischer Großkonflikte
uck,2 in deren Verlauf es zu einer dauerhaften Verbindung zwischen
(cleavages) zur€
bestimmten sozialen Gruppen und Parteien (z. B. Arbeiter -ê sozialistische/sozial-
demokratische Parteien) gekommen sei. Die f€ur ein Land charakteristische Konfi-
guration dieser Konflikte entscheidet aus Sicht von Lipset und Rokkan dar€uber,
welche und wieviele Parteien existieren.
Mikro- und makrosoziologischer Ansatz zeichnen gemeinsam ein plausibles Bild
davon, wie soziale und historische Faktoren das Wahlverhalten beeinflussen können.
Damit sind sie insbesondere f€ur die (international) vergleichende Wahlforschung bis
heute von Bedeutung, weil die Wirkung dieser Faktoren naturgemäß nur in ver-
gleichender Perspektive sichtbar werden kann. Außerhalb von Phasen revolutionärer
Umbr€ uche tun sich die soziologischen Ansätze jedoch schwer damit, Veränderungen
im Wählerverhalten zu erklären. Dies erklärt den Erfolg des sozialpsychologischen
Ansatzes, der im nächsten Abschnitt vorgestellt werden.
In den späten 1940er-Jahren begann sich am Survey Research Center der University
of Michigan/Ann Arbor eine Arbeitsgruppe um den Sozialpsychologen Angus
Campbell mit dem Wahlverhalten der Amerikaner zu beschäftigen. Dabei griffen
sie auf die Konzepte und Methoden der repräsentativen Umfrageforschung zur€uck.
Im Mittelpunkt des neuen Ansatzes standen drei Einstellungen (Dispositionen ge-
gen€uber politischen Objekten): Kandidaten- und Sachfragenorientierungen sowie
die Parteiidentifikation, ein dauerhaftes, €uber die konkrete Wahlentscheidung hin-
ausweisendes Gef€ uhl der Verbundenheit mit einer der beiden großen amerikanischen
Parteien.
Da diese Einstellungen der eigentlichen Wahlentscheidung unmittelbar vorgela-
gert sind, wurde eine erste Studie (Campbell, Gurin und Miller 1954) als tautolo-
gisch kritisiert. Die Ann Arbor-Gruppe reagierte auf diese Kritik, indem sie in der
2
Die vier Grundtypen von Konflikten Staat vs. (katholische) Kirche, Zentrum vs. Peripherie, Arbeit
vs. Kapital und Stadt vs. Land ¨C stehen im Zusammenhang mit revolutionären sozialen Umwäl-
zungen in der Geschichte des jeweiligen Landes. Lipset und Rokkan begr€ unden ihren urspr€un-
glichen Ansatz unter R€ uckgriff auf das Werk Talcott Parsons’ (Parsons 1960). F€ ur die weitere
Rezeptionsgeschichte spielte dieser systemtheoretische Unterbau aber keine Rolle.
430 K. Arzheimer
In Anlehnung an das Vorgehen in der Ökonomie geht Downs zunächst davon aus,
daß die Akteure € uber vollständige Präferenzen und Informationen verf€ugen. Diese
zweite Annahme gibt Downs dann schrittweise auf um so zu zeigen, daß der
R€uckgriff auf Ideologien und ähnliche Konstrukte eine durchaus rationale Strategie
sein kann, wenn die Kosten f€ur die Beschaffung zusätzlicher politischer Informatio-
nen deren erwarteten Nutzen deutlich €uberschreiten.
Zu Downs‘ bekanntesten Ergebnissen gehört neben dem auf Hotelling 1929
zur€uckgehenden Medianwähler-Theorem ¨C in einem Zweiparteiensystem mit einer
einzelnen Policy-Dimension werden die Programme rationaler Parteien an der
Position des Wählers konvergieren, der die ideologische Mitte des Elektorats re-
präsentiert -C- das Wahlparadoxon, das sich aus der rein instrumentellen Motivation
der Wähler ergibt.
Da Wähler sich nach den Modellannahmen ausschließlich f€ur ihr Einkommen aus
der Regierungstätigkeit interessieren, ergibt sich der Nutzen der Wahlteilnahme aus
der Differenz zwischen dem Einkommen, das sie unter der von ihnen bevorzugten
Partei erzielen, und dem Einkommen, das ihnen zufließt, wenn statt dessen die
zweitplazierte Partei die Regierung €ubernimmt. Anders als bei einer Kaufent-
scheidung kann der einzelne Wähler aber nicht eigenständig dar€uber entscheiden,
welche Partei die Wahl gewinnen soll. Vielmehr muß der potentielle Nutzen der
Wahlteilnahme mit der Wahrscheinlichkeit gewichtet werden, daß der Wähler selbst
die entscheidende Stimme abgibt, die der bevorzugten Partei zum Sieg verhilft.
Diese Wahrscheinlichkeit ist unter den Bedingungen einer Massendemokratie ver-
schwindend gering, so daß die Kosten der Wahlbeteiligung (vor allem die aufge-
wendete Zeit) deren erwarteten Nutzen stets €ubersteigen.3 Rationale Wähler sollten
sich deshalb nicht an Wahlen beteiligen. Dennoch liegt die Wahlbeteiligung bei
nationalen Wahlen in Demokratien meist deutlich höher als 50 Prozent.
Seit Erscheinen der „Economic Theory“ haben sich viele hervorragende Theore-
tiker darum bem€ uht, das Wahlparadoxon aufzulösen. Stärker empirisch orientierte
Forscher hingegen sehen in den realen Wahlbeteiligungsraten „the paradox that ate
Rational Choice Theory“ (Grofman 1993). Dennoch konnte sich ca. seit den 1970er-
Jahren eine Strömung der empirischen Wahlforschung entwickeln, die sich explizit
in die Tradition von Downs stellt. Dabei lassen sich vier Felder unterscheiden, auf
denen besonders intensiv geforscht wird:
3
Dies gilt sofern die Wahlteilnahme keinen ergebnisunabhängigen (intrinsischen) Nutzen stiftet,
was aber den Grundannahmen des Modells widersprechen w€ urde.
432 K. Arzheimer
3. Die Bedeutung der Wirtschaftslage f€ur die Erfolgsaussichten von Regierung und
Oppostion (Lewis-Beck und Paldam, 2000).
4. Die Analyse von Anreizen zum taktischen Wählen,4 die der Kontext und insbe-
sondere das Wahlsystem auf rationale Wähler aus€uben (Cox 1997).
Insbesondere die letzten drei Felder sind f€ur die vergleichende Wahlforschung
von großer Bedeutung.
3 Vergleichende Wahlforschung
3.1 Forschungsfelder
3.1.1 Kontextvariablen
In der Forschungspraxis existiert faktisch keine Trennung zwischen (international)
vergleichender und nationaler (oder subnationaler) Wahlforschung. Nur wenige
Forscherinnen und Forscher, die in diesem Bereich aktiv sind, sehen sich ausschließ-
lich als Länderspezialisten oder Komparativisten. Dennoch gibt es einige typische
Forschungsfelder, die in der national orientierten Forschung keine oder eine gerin-
gere Rolle spielen. Dies erklärt sich daraus, daß einige f€ur die Wahlforschung
interessante Variablen innerhalb eines politischen Systems €uber längere Zeiträume
völlig oder fast stabil sind.
An erster Stelle ist hier das Wahlsystem zu nennen, das in etablierten Demokratien
nur höchst selten verändert wird, da eine Veränderung in der Regel nicht im Interesse
der Parteien liegt, die dar€uber im Parlament zu entscheiden haben. Kommt es
tatsächlich zu einem Wechsel des Wahlsystems wie etwa 1996 in Neuseeland, so
stellt sich außerdem die Frage, inwieweit das Wählerverhalten vor und nach der
Wahl € uberhaupt miteinander vergleichbar ist, und ob ein Wechsel des Wahlsystems
möglicherweise eine Folge langfristiger Veränderungen im Wahlverhalten als deren
Ursache ist. Deshalb bietet es sich an, die Wirkung von Wahlsystemen im inter-
nationalen Vergleich zu untersuchen. Im Mittelpunkt steht dabei häufig die Frage,
ob, wie von (Duverger 1951) in seinem ber€uhmten „Gesetz“ behauptet, das Wahl-
system einen entscheidenden Einfluß auf das Format des Parteiensystems hat.
Dabei ist allerdings zu beachten, daß Wahlsysteme innerhalb einer Region oft
kaum variieren. So zeigt ein Blick in die Datenbank der Internationalen Parlamenta-
rischen Union, daß lediglich acht von 64 europäischen Staaten ein Mehrheitswahl-
system verwenden. Bei den karibischen Staaten hingegen sind es 14 von 22 Staaten,
in denen nach diesem System gewählt wird (http://www.ipu.org/).
Neben dem Wahl- und Parteiensystem wurden und werden in der international
vergleichenden Wahlforschung eine Vielzahl weiterer Kontextvariablen untersucht.
4
Taktisches Wählen liegt dann vor, wenn sich eine Wählerin bewußt nicht f€ ur die eigentlich
bevorzugte Partei entscheidet, etwa weil sie glaubt, daß diese in einem Mehrheitswahlsystem
ohnehin keine Chance hat, ins Parlament einzuziehen.
Wahlforschung in der Vergleichenden Politikwissenschaft 433
3.1.3 Nichtwahl
In den letzten drei Dekaden ist die Wahlbeteiligung in Westeuropa (vgl. Abb. 1),
aber auch in anderen Weltregionen deutlich erkennbar gesunken. Da es sich hier klar
um einen länder€ubergreifenden Trend handelt, ist das Phänomen der Nichtwahl zu
einem wichtigen Gegenstand der vergleichenden Wahlforschung geworden. Im
Zentrum des Interesses stehen dabei drei Variablenkomplexe:
Im Ergebnis zeigt sich, daß institutionelle Faktoren, die aus einer Rational
Choice-Perspektive die Kosten der Wahlbeteiligung beeinflussen, einen erheblichen
Teil der Varianz zwischen den Ländern erklären können. Besonders starke Effekte
haben -C- wenig €uberraschend ¨C das Bestehen einer Wahlpflicht sowie die
automatische Registrierung von Wählern, Möglichkeiten zur Briefwahl sowie das
434 K. Arzheimer
100
AT
AT ATNL NL NL BE
AT NL BE NLIT ITAT AT
NL
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Wahlbeteiligung
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80 FR FR DKFI SE FR GR ES NL AT SE NL NL IT
SE GB NL GB PT FR DE
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60 FR
GB FR PT
PT
FR
50
1940 1960 1980 2000 2020
Jahr
Abhalten von Wahlen an arbeitsfreien Tagen (Franklin und Oppenhuis 1995). Ein
hoher Anteil von Jung- und Erstwählern reduziert ceteris paribus die Wahlbeteiligung,
da die Teilnahme an Wahlen f€ur viele B€urger eine Gewohnheit darstellt, die sich im
Lebensverlauf stabilisiert (Plutzer 2002).
Beide Faktoren können aber das Absinken der Wahlbeteiligung nicht erklären, da
in fast allen Gesellschaften das Durchschnittsalter der Wähler durch den demo-
graphischen Wandel steigt und die institutionellen H€urden f€ur die Wahlteilnahme
in vielen Ländern gesenkt wurden. Der R€uckgang der Wahlbeteiligung muß deshalb
primär auf politisch-kulturelle Wandlungsprozesse, d. h. auf das Verblassen von
Wahlnormen und den Bedeutungszuwachs alternativer Beteiligungsformen (Norris
1999) zur€ uckzuf€
uhren sein, die in verschiedenen Ländern unterschiedlich weit
fortgeschritten sind. Auch die Abschwächung und allmähliche Auflösung von
Parteibindungen (dealignment, siehe Dalton und Wattenberg 2000), die mit dem
oben beschriebenen Bedeutungsverlust der traditionellen cleavages einhergeht, gilt
als wichtiger Faktor f€ur das Sinken der Wahlbeteiligung.
5
Wie Lewis-Beck und Stegmaier (2009) zeigen, beschäftigte sich aber bereits die Ann Arbor-
Gruppe mit diesem Thema. Der Ansatz ist damit auch mit einer sozialpsychologischen Perspektive
kompatibel.
Wahlforschung in der Vergleichenden Politikwissenschaft 435
3.3 Methoden
Dank der „Technological Revolution“ (Karvonen und Ryssevik 2001) in der Erhe-
bung und Verbreitung von Umfragedaten (die nicht zuletzt auch eine forschungs-
politische und -kulturelle Revolution darstellt) verf€ugt die vergleichende Wahlfor-
schung heute €uber Möglichkeiten, die in den 1990er-Jahren noch als utopisch galten.
Eine ähnliche Revolution hat sich auch auf dem Gebiet der Analysetechniken
und der Computerhardware vollzogen. Die Datensätze, die in der vergleichenden
Wahlforschung verwendet werden, sind f€ur sozialwissenschaftliche Verhältnisse
sehr groß. So umfaßt beispielsweise die (partielle) Kumulation der
Eurobarometer-Daten (Schmitt et al. 2009) mehrere 100 000 Fälle, was einigen
hundert Megabyte entspricht. Während fr€uhere Versionen dieser Kumulation die
zum Zeitpunkt ihrer Erstellung verf€ugbaren PCs an den Rande ihrer Leistungsfä-
higkeit brachten, lassen sich die heutigen, weitaus umfangreicheren Datensätze
problemlos mit Geräten aus den Regalen der Discounter bearbeiten. Parallel dazu
ist das technische Niveau der Analysen kontinuierlich gestiegen, weil Auswer-
tungsverfahren, die fr€uher eigene Programmierkenntnisse erforderten, in Summer
Wahlforschung in der Vergleichenden Politikwissenschaft 437
6
So gibt es beispielsweise innerhalb der Europäischen Union keinen föderalen Staat mit einem
Mehrheitswahlsystem.
438 K. Arzheimer
sätze „schwach“ (Western und Jackman 1994) ein in der makro-quantitativen For-
schung bekanntes grundsätzliches Problem, das auch durch die Verwendung moder-
ner Analyseverfahren und die gleichzeitige Ber€ucksichtigung von Mikro-Daten
nicht zu lösen ist.
4 Überschrift
Bereits seit den 1970er-Jahren haben sich durch den Vergleich von Ergebnissen aus
nationalen Wahlstudien die Perspektiven der Wahlforschung erheblich erweitert. Die
Anfänge der EES in den späten 1970er-und dann der CSES in den 1990er-Jahren
markieren den Übergang zu einer Forschung, die von vornherein auf eine Äquiva-
lenz der Konzepte und Instrumente ausgerichtet und damit genuin vergleichend
angelegt ist. Die fast flächendeckende Freigabe von Datensätzen f€ur Sekundärfor-
scher €
uber das Internet, die Fortschritte in der Computertechnik und die Verbreitung
moderner statistischer Methoden haben in den letzten zwei Dekaden einen weiteren
rasanten Fortschritt ermöglicht. Trotz der obengenannten Probleme zählt die inter-
national vergleichende Wahlforschung heute sowohl in der Wahlforschung als auch
in der Vergleichenden Politikwissenschaft zu den am weitesten entwickelten Sub-
disziplinen.
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Direkte Demokratie in der Vergleichenden
Politikwissenschaft
Theo Schiller
Zusammenfassung
Direkte Demokratie als institutionelle Form themenzentrierter B€urgerbe-
teiligung nimmt in den letzten Jahrzehnten zu, ist aber noch nicht €uberall
verbreitet. Die sehr unterschiedlichen Verfahrensvarianten (obligatorische Re-
ferenden und durch Staatsorgane oder B€urgergruppen initiierte Volksabstim-
mungen) verteilen sich ungleichmäßig €uber die Länder (nationale Ebene,
Bundesstaaten). Verfahrensunterschiede, Länderverteilung und Anwendungs-
häufigkeit machen vergleichende Analysen interessant, f€uhren jedoch wegen
Heterogenität des Feldes zu Begrenzungen. Untersuchungen innerhalb von
Weltregionen (besonders Europa) sind häufiger als €ubergreifende Studien.
Prozessverläufe und Aspekte von Ergebniswirkungen und Demokratiequalität
werden oft mit einer begrenzten Anzahl von Fällen und Entscheidungsthemen
eher diskursiv erörtert. Eine wichtige vergleichende Fragestellung verortet die
Wirkungsmechanismen direktdemokratischer Verfahren im Kontext politischer
Systemstrukturen wie Parteien und verschiedener Regierungssysteme, nicht
zuletzt auch verschiedenartiger Demokratiemodelle wie Mehrheitsdemokratie
und Konsensdemokratie. Qualitative Aspekte direkter Demokratie wie politi-
sche Artikulation, Kontrolle, Partizipation und Legitimation sind in breiter
angelegten Vergleichen nur partiell untersucht.
Methodisch wurden einige quantitativ ausgerichtete empirisch-analytische
Studien unternommen, doch qualitative Ansätze erweisen sich f€ur kleinere Fall-
zahlen als empfehlenswert.
T. Schiller (*)
Institut f€ur Politikwissenschaft, Universität Marburg, Marburg, Deutschland
E-Mail: schiller@staff.uni-marburg.de
Schlüsselwörter
Direkte Demokratie • Volksinitiative • Volksbegehren • Volksabstimmung •
Volksentscheid • Plebiszit • Obligatorisches Referendum • Measures of Direct
Democracy (MDD) • Quorum • Verfassungsreferendum • EU-Vertragsänderungen
1 Einleitung
2 Informationsgrundlagen
Während in einzelnen Ländern wie der Schweiz und den USA (Ebene der Einzel-
staaten) längere Forschungstraditionen bestanden, setzten länder€ubergreifende Publika-
tionen zur direkten Demokratie erst in den 1970er-Jahren im Zuge der neueren Diskus-
sion €
uber politische Partizipation (wieder) in nennenswertem Umfang ein. Wegbereiter
war der Sammelband „Referendums“ (Butler und Ranney 1978), der zu „Referendums
around the World“ (1994) aktualisiert und erweitert wurde. Wenngleich nicht im strikten
Sinne vergleichend, boten diese Bände umfangreiches Beschreibungsmaterial f€ur Ent-
stehungsprozesse, Verfahrensregeln und Anwendungen in vielen Ländern. Informa-
tionsreich und stärker vergleichend ausgerichtet waren dann Möckli (1994) mit Schwer-
punkt auf die Schweiz und Kalifornien, Luthardt (1994) zu den westeuropäischen
Ländern und ähnlich informativ „The Referendum Experience in Europe“ (Gallagher
und Uleri 1996). Eine regionale Erweiterung des Spektrums repräsentieren die Länder-
analysen zu Mittel- und Osteuropa (Auer und B€utzer 2001; Neumann und Renger
2012). Grundlagen f€ur Lateinamerika bieten u. a. Lissidini et al. (2008) sowie Altman
(2011, S. 110–187), der dar€uber hinaus globalere Fragen verfolgt. Übersichtsbeiträge
f€
ur alle Kontinente/Weltregionen enthält neuerdings Qvortrup (2014).
Einen stärker dokumentarischen Charakter haben Publikationen wie Kaufmann
und Waters (2004) zu Europa, ähnlich das „Guidebook to Direct Democracy in
Switzerland and beyond“ von Kaufmann et al. (2005–2010) mit mehreren Ausgaben
in zahlreichen Sprachen. Auf einen weltweiten Länder- und Anwendungshorizont
richtet sich „Direct Democracy. The International IDEA Handbook“ (2008). F€ur
Asien ist verf€ugbar: „Direct Democracy in Asia: a Reference Guide to the Legisla-
tions and Practices (Hwang 2006).
Als Informationsquellen unverzichtbar sind die Webseiten des Zentrums f€ur
Demokratie Aarau, Schweiz, mit dem Forschungszentrum f€ur direkte Demokratie
(www.c2d.ch), die Suchmaschine www.sudd.ch, International IDEA (www.idea.int/
databases) sowie von Democracy International und IRI Europe (www.direct-
democracy-navigator). F€ur Vergleiche in Deutschland stellt die NGO ‚Mehr-Demo-
kratie‘ umfangreiches Material zur Verf€ugung (http://www.mehr-demokratie.de/ra
nkings-berichte.html). In den herkömmlichen weltweiten Demokratieindizes
(z. B. Freedom House, POLITY) spielte direkte Demokratie kaum eine Rolle. Neu-
ere Indikatorenprojekte integrieren nun direkte Demokratie, so das Demokratiebaro-
meter (www.democracybarometer.org) sowie die Plattform Varieties of Democracy
(www.V-Dem.net).
444 T. Schiller
4 Fragestellungen/Analyseschwerpunkte
Auf diesem Hintergrund bieten sich der Forschung vielfältige Fragestellungen f€ur
vergleichende Analysen, von denen einige stärker bearbeitet wurden. Es liegt nahe,
dass dabei verschiedenartige methodische Ansätze in Frage kommen. Neben tradi-
tionell vorherrschenden qualitativen Fallbeschreibungen und -vergleichen treten zu-
nehmend quantitative empirisch-analytische Ansätze. Angesichts der faktischen
Heterogenität des Feldes stoßen sie jedoch auf spezifische Schwierigkeiten. Da
Vergleiche zur direkten Demokratie öfters mit kleineren Fallzahlen arbeiten m€ussen,
kann die stärkere Nutzung von Methoden wie Qualitative Comparative Analysis
(QCA) hilfreich sein.
Erklärungen f€ur die Entstehung von Verfahrensregelungen in diversen Ländern
wurden bisher eher in historischen Einzelstudien oder in kleinen Vergleichsgruppen
untersucht (ein typologischer Vorschlag bei Schiller 2011a). Die Häufigkeit von
Verfahrensanwendungen wird oft punktuell, landesspezifisch erklärt, wobei auch
Besonderheiten von Verfahren, etwa diverse Restriktionen eine Rolle spielen; ver-
einzelt wird empirisch-analytisch vorgegangen (vgl. unten a). Nicht selten konzen-
triert sich die Fragestellung auf Themenbereiche direktdemokratischer Verfahren,
dann r€ ucken Motive der Verfahrensauswahl, besondere Konfliktstrukturen, der
Prozess- und Kampagnenverlauf, die Ergebnisses und die politischen Entschei-
dungswirkungen in Bezug auf Innovationsgehalt und soziale Auswirkungen in den
Vordergrund. Ein weiteres, allgemeineres Diskussionsfeld sind mögliche Wirkungen
von Institutionen und Prozessen direkter Demokratie im Kontext der politisch-
institutionellen Systemstrukturen, wof€ur sich der Rahmen politischer Systemver-
gleiche besonders eignen sollte. Schließlich stellen sich auch normative Fragen nach
der Realisierung der demokratietheoretischen Versprechen direkter Demokratie.
Auch wenn diese theoretisch breit und häufig im landesspezifischen Rahmen disku-
tiert werden, kann auch vergleichende Forschung zu Klärungen dar€uber beitragen,
inwieweit direkte Demokratie qualitative Beiträge zur Demokratie im Ganzen er-
bringen kann, wie politische Partizipation und politische Gleichheit beeinflusst wird
oder welches Potential f€ur Konfliktlösungen eingesetzt werden kann.
4.1 Anwendungshäufigkeit
Schweiz allein entfallen 167 Fälle oder 51 Prozent. Das beschränkt von vornherein
die Suche nach erklärenden Aussagen.
Alle Länder differenziert Altman nach Demokratien, Autokratien und Hybrid-
Systemen, die an Hand kombinierter, bekannter Demokratie-Indizes unterschieden
werden; der Anteil der Demokratien beträgt ein Drittel.1 Die Verfahrensfälle werden
diesen Systemtypen zugeordnet, damit der politische Systemkontext als ein mögli-
cher Erklärungsfaktor genutzt werden kann.
Aus einer umfangreichen Diskussion von Theorieansätzen wird eine größere Zahl
möglicher Erklärungsvariablen destilliert, insbesondere zu Regimestrukturen, Be-
völkerungsgröße, wirtschaftliche Faktoren (Kaufkraftparität, GDP/Wachstum),
fr€
uher Kolonie Großbritanniens, fr€uher kommunistischer Staat, soziale Diversität,
MDDs in Nachbarstaaten. Verf€ugbare, zum Teil modifizierte internationale Daten-
sätze dienen als operationale Grundlage der Korrelationsanalyse.
Im Ergebnis fand er deutliche Zusammenhänge zwischen einem hohen Demo-
kratiestandard und der Häufigkeit von CI-MDDs, aber auch von top-down-MDDs.
Fr€uhere kommunistische Staaten zeigten ebenfalls mehr Anwendungshäufigkeit bei
beiden Formen, während Präsidialregime und Militärdiktaturen nur, aber in relevan-
tem Umfang, Top-down-Verfahren praktizierten. Als weiterer Einflussfaktor wurde
die Existenz von direkter Demokratie in Nachbarstaaten als Diffusionsprozess iden-
tifiziert (Altman 2011, S. 81–87).
Kein signifikanter Zusammenhang fand sich zwischen MDD-Häufigkeit und den
ökonomischen Faktoren, einer föderalistischen Ordnung, der Bevölkerungsgröße
und sozialer Diversität. Deutlich negativ wirkte sich offenbar der fr€uhere Status als
britische Kolonie aus, während dieser Faktor in allgemeinen Demokratievergleichen
regelmäßig positiv nachgewiesen wurde.
Diese zum Teil €uberraschenden Ergebnisse bilden sich auch klar in den Aus-
wertungsmodellen ab, die die Schweiz wegen ihrer verzerrenden hohen Anteile
ausklammern. Insgesamt erscheinen die Resultate begrenzt. Immerhin unterstrei-
chen sie f€ur b€
urgerinitiierte Verfahren den engen Zusammenhang mit hohen allge-
meinen Demokratiestandards in den relativ wenigen einschlägigen Ländern. Das gilt
auch f€ur einen Teil der Top-Down-Verfahren, f€ur die andererseits ein beträchtlicher
Anteil einem autoritären Regimekontext entstammt. Nicht in die Analyse einbezo-
gen hat Altman die Frage, ob spezifische Entstehungsbedingungen der direktdemo-
kratischer Verfahren weitere Einfl€usse im Sinne einer Pfadabhängigkeit in Gang
bringen und ob inhaltlich-thematische Faktoren auch f€ur die Erklärung von
Verfahrenshäufigkeit herangezogen werden könnten. Auch d€urfte die liberale oder
restriktive Ausgestaltung der Verfahrensh€urden nicht ganz ohne Auswirkung auf die
Häufigkeit von b€ urgerinitiierten Verfahren (Volksinitiativen/-begehren, Gesetzesre-
ferendum) bleiben.
1
Altman (2011, S. 69) zeigt ein Schaubild der quantitativen Entwicklung der Regimetypen, wonach
die drei Typen im Jahr 2000 jeweils etwa 60 Länder umfassen. Die genauen Zahlen werden nicht
genannt. Auch vermisst man eine Aufteilung der staats-initiierten Referenden zwischen den
Regimetypen.
448 T. Schiller
2
Die Bezeichnung „direkte Demokratie“ oder „measures of direct democracy – MDD“ (Altman)
wird unter solchen nicht-demokratischen Kontextbedingungen allerdings irref€
uhrend und sollte
vermieden werden; passender ist der (in Deutschland leider inflationär gebrauchte) Ausdruck
„Plebiszit“ oder neutraler „Volksabstimmung“.
450 T. Schiller
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Parteien und Parteiensysteme in der
Vergleichenden Politikwissenschaft
Zusammenfassung
Parteien und Parteiensystemen sind zentrale Bestandteile des demokratischen
Prozesses. Der Beitrag stellt zentrale Definitionen und verschiedene Typologien
vor, mit denen einerseits Parteien und andererseits Parteiensysteme, die hier
getrennt behandelt werden, erfasst werden können. Einbezogen werden zudem
Faktoren der Entstehung von Parteien und der Dynamik des Parteiensystems. Der
Blick richtet sich dabei nicht nur auf die ‚klassischen‘ Fälle der Parteien- und
Parteiensystemforschung, nämlich West- und Nordeuropa sowie USA. Vielmehr
werden Forschungsfragen hinsichtlich anderer Regionen einbezogen, so dass
spezifische Problemlagen von Parteien und Parteiensystemen in divergenten Kon-
texten zur Sprache kommen. Nicht behandelt werden Parteien in Autokratien.
Schlüsselwörter
Parteien • Parteiensystem • Linkages • Institutionalisierung • Parteien in Trans-
formation • Krise der Parteien
1 Einleitung
Parteien gehören zum Kernbereich einer jeglichen Demokratie und u€ben f€ur sie
vitale Funktionen aus. Dazu gehören die kommunikativen Funktionen der Interes-
senartikulation und -aggregation ebenso wie die Repräsentation der B€urgerinteressen
M. Kneuer (*)
Professorin f€ur Politikwissenschaft, Institut f€
ur Sozialwissenschaften, Universität Hildesheim,
Hildesheim, Deutschland
E-Mail: kneuer@uni-hildesheim.de
H.-J. Lauth
Professor f€ur Vergleichende Politikwissenschaft und Systemlehre, Institut f€
ur Politikwissenschaft
und Soziologie, Universität W€urzburg, W€ urzburg, Deutschland
E-Mail: hans-joachim.lauth@uni-wuerzburg.de
Während fr€ uhe Definitionen von Parteien noch stark auf Parteiinteresse im Sinne des
nationalen Interesses fokussiert (S. E. Burke), so besteht heute ein allgemeiner
Konsens, dass Parteien folgende Merkmale aufweisen: Der Begriff der politischen
Partei bezeichnet im Allgemeinen eine Gruppe ähnlich gesinnter Personen, die sich
in organisatorischer Form an der politischen Willensbildung beteiligt und danach
strebt, durch Wahlen politische Positionen zu besetzen und ihre Ziele in einem
politischen Gemeinwesen durchzusetzen (Winkler 2010, S 216). Zur Klassifikation
von Parteien werden verschiedene Zugänge genutzt: 1) programmatische Interessen,
2) die vorliegenden Organisationsformen und 3) die Entstehungsbedingungen.
So lassen sich, erstens, diverse ideologische Parteifamilien unterscheiden (Alan
Ware 1996, S. 22): liberale und radikale Parteien, konservative Parteien, christdemo-
kratische Parteien, sozialistische und sozialdemokratische Parteien, kommunistische
Parteien, rechtsextreme Parteien, regionale und ethnische Parteien, Bauernparteien
sowie ökologische Parteien.
Was zweitens die Organisationsform angeht, werden in einer historischen Pers-
pektive, die nach der Reihenfolge des Erscheinens gelistet ist, folgende Parteitypen
unterschieden, die stets von mehreren Merkmalen geprägt sind (Gunther und Dia-
mond 2001; Saalfeld 2007): Honoratiorenpartei, Klassenpartei, Massenpartei, Volks-
partei und/oder Catch-all party sowie Kartellpartei. In organisatorischer Sicht
wird zwischen zentralistischer oder dezentraler Parteistruktur, Kaderpartei/Avant-
gardepartei, Mitgliederpartei, Wählerpartei oder Sympathisantenpartei differenziert.
Schließlich ist es relevant, ob eine Partei basisdemokratisch aufgestellt ist oder von
den Funktionären (Funktionärspartei) dominiert wird, wie bereits fr€uh von Michels
(1911) wirkungsträchtig thematisiert.
Vor allem die Konzepte von Volkspartei und Kartellpartei wurden in der ver-
gleichenden Forschung in den letzten Jahren aufgegriffen (Katz und Mair 1995).
Während mit der Volkspartei dabei oftmals eine Niedergangsthese verbunden wurde,
so erscheint mit der Kartellpartei ein neuer Typus, der sich durchsetzen könnte
(siehe Kap. ▶ Qualitative Comparative Analysis (QCA) in der Vergleichenden
Politikwissenschaft. In der typologischen Konstruktion werden mit Volkspartei
folgende Merkmale/Kriterien verbunden (Mintzel 1984): mehrheitsfähige Partei-
programme mit Tendenz zur Mitte, eine sozialstrukturell breit aufgestellt Wähler-
schaft, geringere Bedeutung der Mitglieder gegen€uber der Parteiorganisation und
eine Stimmenmaximierung auf der Grundlage einer Parteifamilienzugehörigkeit.
Das letzte Kriterium ist wichtig zur Abgrenzung gegen€uber einer Catch-all Party,
die diese Zugehörigkeit vermissen lässt. Dagegen haben Volksparteien stets einen
Markenkern, der nicht ignoriert werden kann (siehe aktuelle Positionsdebatten bei
SPD und CDU).
Katz und Mair argumentieren, dass auf den Typus der Volkspartei derjenige der
Kartellpartei gefolgt ist. Die Kartellpartei stellt demnach ein neues Phänomen der
westeuropäischen Demokratien dar und bildet eine „ever closer symbiosis between
parties and the state“ (Katz und Mair 1995, S. 6) ab. Merkmale dieser Kartellpartei
sind (Katz und Mair 1995): Die soziale Basis sind nicht die Mitglieder, sondern die
456 M. Kneuer und H.-J. Lauth
Parteifunktionäre selbst, die eine eigene ‚politische Klasse‘ bilden. Das primäre
Interesse liegt folglich in der Machterhaltung der Parteif€uhrung bzw. -funktionäre.
Dabei versuchen sie nicht nur, die Wahlämter zu besetzen, sondern den Staat selbst
zu ‚kolonisieren‘. Hierbei besteht eine informelle Koalition der etablierten Parteien.
F€ur die gegenseitige Penetration von Staat und Partei sehen Katz und Mair vor allem
zwei externe Faktoren: zum einen die steigende staatliche Subvention von Parteien
(durch Parteienfinanzierung) sowie die Möglichkeit der Parteien, sich direkt €uber die
Massenmedien an die Wähler zu wenden und €uber die Medien die Wählerschaft zu
mobilisieren. Der Typus der Kartellpartei unterstellt, dass sich die demokratietheore-
tisch stets als wichtig eingeschätzte Verbindung zwischen Partei und B€urger ent-
koppelt und beide in gegenseitiger Autonomie zueinander stehen (siehe Katz und
Mair 1995, S. 18). Dieses Modell wird – auch hinsichtlich der empirischen Evidenz –
kontrovers diskutiert.
Mit dem Fokus auf deutsche und westeuropäische sowie nordamerikanische
Parteien gerieten lange populistische Parteien aus dem Blick, die speziell im latein-
amerikanischen Kontext eine beachtliche Rolle spielen (siehe Weyland 2001; Werz
2003; Hawkins 2010). Dort wird inzwischen bei Beachtung der vorliegenden Unter-
schiede zwischen einem klassischen Populismus (à la Peron) und einem Neo-
Populismus differenziert. Bei all dieser Vielfalt der empirischen Erscheinungen ist
eine präzise Fassung eines Konzepts des Populismus umstritten. Zwei Punkte
werden jedoch gemeinsam betont. Populistische Parteien betonen den Unterschied
zwischen Volk und politischer Elite/Regierung und sie verstehen sich als Vertretung
des (einfachen) Volkes gegen€uber einer abgehobenen politischen Elite. Ebenfalls hat
die Parteiorganisation eine eher sekundäre Bedeutung. Die populistische F€uhrung –
meist ist es ein charismatischer Parteif€uhrer – spricht die Wählerschaft direkt an.
Deutlich kontroverser wird die Frage nach einer populistischen Parteiprogram-
matik diskutiert. Allein der Hinweis auf die Ausprägungen eines Links- und eines
Rechtspopulismus verdeutlicht die Schwierigkeit hier einen gemeinsamen Nenner
zu finden (Priester 2012). Verwiesen wird daher stärker auf gemeinsame Strukturen
der Programmatik (starke Vereinfachung, einfache Lösungen, deutliche Abgrenzun-
gen (wir – die anderen), emotionale Ansprache) und den Kommunikationsstil (Mair
2002; Decker 2006; Jagers und Walgrave 2007).
Schließlich ist mit der Klientelpartei auf einen weiteren Parteitypus hinzuweisen,
der in vielen Klassifikationskatalogen fehlt und eine gewisse Ähnlichkeit zur We-
ber’schen Patronagepartei aufweist.1 Maßgeblich wird damit ein Element der Orga-
nisationsform erfasst. Demnach strukturieren asymmetrische persönliche Abhängig-
keitsstrukturen das Innenleben einer Partei und räumen der Parteif€uhrung
(Parteif€uhrer) eine außergewöhnliche starke Machtstellung ein. Da aber auch die
Interessen der Klienten nicht vollständig ignoriert werden können, um den kliente-
listischen Tausch nicht zu gefährden, besteht die andauernde (latente) Verlockung,
1
Eine Ausnahme bildet der 15 Parteitypen umfassende Typologisierungsvorschlag von Gunther und
Diamond 2003, die aber klientelistische Parteien weitgehend in die Phase der ‚Vormoderne‘
ansiedeln und erwarten, dass diese mit der Modernisierung verschwinden.
Parteien und Parteiensysteme in der Vergleichenden Politikwissenschaft 457
Staatsmittel zur mehr oder weniger legalen Versorgung der Klienten einzusetzen.
Beispiele finden sich sowohl in Europa (Griechenland) als auch vielfach in Latein-
amerika (z. B. Argentinien, Venezuela und Mexiko; vgl. respektive Meinardus 2013;
Kestler 2009; Schröter 2011).
Drittens, werden f€ur die Entstehung von Parteien grundlegende und andauernde
gesellschaftliche Konfliktlinien als ursächlich angesehen. Dar€uber hinaus sind pro-
grammatische Divergenzen zu betrachten, die zu Neugr€undungen von Parteien in
Sinn von Abspaltungen f€uhren. Schließlich sind vor allem bei klientelistischen und
personendominierten Parteien (siehe Populismus) zu beachten, dass der gleiche
Mechanismus (Abspaltung/Neugr€undung) bei persönlichen Konflikten und Macht-
streben zu beobachten ist.
In ihrer f€
ur die vergleichende Forschung äußerst wirkungsträchtigen Studien
erachten Lipset und Rokkan (1967) folgende Cleavages (Konfliktlinien) als zentral
ur die Entstehung von Parteien: Staat – Kirche, Stadt – Land, Zentrum – Peripherie,
f€
Arbeit – Kapital. Die Bildung von konservativen bzw. christdemokratischen Parteien
auf der einen Seite und liberalen Parteien auf der anderen Seite wird beispielsweise
mit dem ersten Cleavage verbunden. Generell ist darauf hinzuweisen, dass nicht jede
Konfliktlinie mit der Bildung von Parteien einhergehen muss. Es kann bereits be-
stehenden Parteien gelingen, auch neue Cleavages zu integrieren und somit
mehrere zu repräsentieren. F€ur viele Jahre dominierte der Gegensatz Arbeit versus
Kapitel die Formation der maßgeblichen Parteien. Dieser hat inzwischen an Bedeu-
tung verloren, während Regionalparteien in etlichen Ländern (als Ausdruck des
Gegensatzes von Zentrum und Peripherie) wieder an Bedeutung gewonnen haben
(siehe etwa die Regionalparteien in Spanien, Italien oder die SNP in Schottland)
(Kemmerzell 2008). Überraschend war und ist f€ur viele auch die partielle Aufwer-
tung der religiösen Cleavages in den letzten Jahren, die zumindest im westeuropäi-
schen Kontext – mit der Ausnahme Nordirland – keine wesentliche Rolle gespielt
haben.
Neben den genannten ‚klassischen‘ Cleavages wird inzwischen auch eine weitere
Konfliktlinie als maßgeblich f€ur Parteigr€undungen im ökologischen Spektrum ange-
sehen. Angesprochen ist der von der Wertewandelforschung festgestellte Gegensatz
von Materialisten und Postmaterialisten (Inglehart 1984). Im internationalen Ver-
gleich lassen sich zwei weitere Konfliktlinien anf€uhren: Unabhängigkeitsbewegung
versus Kolonialmacht; System versus Anti-Systemparteien. Während die erste zu
Gr€undung von staatgr€undenden Parteien f€uhrte, die sich oftmals in Einparteien-
systeme oder dominante Parteisysteme transformierten und viele Jahrzehnte prägend
waren, war der zweite Gegensatz im Kontext der demokratischen Transformationen
weitaus weniger prägend, wenn €uberhaupt nachweisbar. Schließlich wird eine wei-
tere Konfliktlinie erkennbar, nämlich zwischen libertär-kosmopolitischen einerseits
und autoritär-nationalistischen Wertemustern andererseits, die sich zuvorderst an der
Haltung zu Einwanderung und ebenso an der Einstellung zur europäischen Integra-
tion manifestiert. Während sich die ablehnende Haltung zur Einwanderung in rechts-
populistischen Parteien findet, formiert sich in einigen EU-Mitgliedsstaaten eine
Konfliktlinie, die in unterschiedlicher Nuancierung von der Abwehr zu starker
EU-Regulierung bis hin zur völligen Ablehnung der Mitgliedschaft reicht. Diese
458 M. Kneuer und H.-J. Lauth
tatives Kriterium. Abhängig von der Existenz von Anti-System-Parteien ergab sich
so die Unterscheidung zwischen moderaten und polarisierten Parteiensystemen
(Sartori 1976). Lange stellte diese Klassifizierungen entlang der beiden Dimensio-
nen (der Zahl der Parteien und ideologische Polarisierung) das dominante Refe-
renzmodell dar, nach dem sich Ein-, Zweiparteiensystemen, gemäßigt plurale und
polarisierte plurale Parteiensystemen unterscheiden ließen; letztere konnten dabei
auch von einer dominanten Partei geprägt sein.
Ware (1996) greift bei seinem Analyserahmen zur€uck auf die relevanten parla-
mentarischen Parteien und kommt zu einer Einteilung, die neben dem Dominieren
einer Partei, dem Zwei- und Zweieinhalb-Parteiensystem drei Subtypen f€ur solche
Parteiensysteme ausmacht, die mehr als zweieinhalb Parteien aufweisen (Ware 1996).
Die stärkere Ausdifferenzierung trägt dem Wandel der Parteiensysteme Rechnung,
der eine Zunahme an relevanten parlamentarischen Parteien ergab. Ein sehr viel
sparsameres Konzept legte Mair (1997, S. 212) vor, der nach lediglich einem
Kriterium, nämlich der Struktur des Parteienwettbewerbs unterscheidet: Bei offenen
Wettbewerbsstrukturen, bei denen allen Parteien Zugang zur Regierung haben, sind
innovative Regierungskonstellationen (etwa bei der Koalitionsbildung) ebenso wie
ein partielles Alternieren der Regierung möglich (ehemalige Regierungsparteien
verbleiben in der Regierung und koalieren mit ehemaligen Oppositionsparteien).
Geschlossener Wettbewerb zeigt sich durch einen auf bestimmte Parteien beschränkten
Zugang zur Regierung, durch bekannte Koalitionsmuster und durch vollständige
Regierungswechsel.
Neben diesen Klassifizierungsansätzen zielen Vorschläge der letzten Jahrzehnte
auf ein feinkörnigeres Erfassen des Formats von Parteiensystemen. So dient die
Messung der „effektiven Zahl der Parteien“ zur Feststellung der Fragmentierung des
Parteiensystems.2 Hoch fragmentierte Parteiensysteme liegen vor, wenn die effek-
tive Zahl der Parteien €uber f€unf liegt, mittlere Werte liegen zwischen drei und f€unf
effektiven Parteien und eine niedrige Fragmentierung findet sich bei weniger als drei
effektiven Parteien. Einen anderen wichtigen Parameter bildet die Volatilität der
Wählerstimmen, mit der von Wahl zu Wahl die Wanderung der Wähler zwischen den
Parteien erfasst werden kann.3 Sowohl die Fragmentierung als auch die Volatilität
lassen auf diese Weise insbesondere den komparativen Blick auf die Strukturierung
der Parteiensysteme sowie auf Veränderungen im Zeitverlauf zu.
2
Vgl. Laakso und Taagepera 1979: Effektive Anzahl der Parteien = 1/(P12 + Pi2 + Pn2); jeweils
Stimmenanteil; empirische Befunde zur effektiven Anzahl von Parteien finden sich bei Lijp-
hart 1999.
3
Zur Messung der Volatilität wird die Pedersen-Formel benutzt, bei der die Stimmanteile der
Parteien zweier Wahlen erfasst werden, das Ergebnis der Ausgangswahl von dem der darauf
folgenden Wahl subtrahiert wird und die Summe dieser Differenz f€
ur alle Parteien durch den Faktor
Xn
jV i ðtÞ V i ðt þ 1Þj
zwei geteilt wird: ¼
i¼1
2
Grob kann man von niedriger Volatilität bei unter zehn und von hoher Volatilität bei € uber
30 Prozent sprechen.
460 M. Kneuer und H.-J. Lauth
4
Siehe hierzu u. a. den Beitrag von Pickel und Pickel im vorliegenden Band zur politischen
Kulturforschung.
462 M. Kneuer und H.-J. Lauth
5
Siehe hierzu den Beitrag von Mehlert im vorliegenden Band.
Parteien und Parteiensysteme in der Vergleichenden Politikwissenschaft 463
machte sie aufmerksam auf Leistungen und Schwächen ihres Gegenstandes, auf
Defizite und Probleme, die immer auch R€uckwirkungen haben auf das politische
System als Ganzes. Die aktuelle Forschung beschäftigt sich nicht nur mit den
skizzierten Themen, sondern greift auch ‚neue‘ Fragen auf. Das Spektrum ist weit
gefasst (Kr€uper et al. 2015). Es enthält Studien zu innerparteilichen Rekrutierungs-
und Karrieremustern mit Blick auf Gendergleichheit (Reiser 2014) sowie Analysen
der Bedeutung von neuen sozialen Medien und Kommunikationsformen f€ur die
soziale Interaktion von Parteien, es umfasst Fragen der Möglichkeit der Etablierung
von funktionierenden Parteiensystemen im europäischen Mehrebenenmodell (Mit-
tag und Steuwer 2010) und ber€ucksichtigt aktuelle Veränderungen in vielen Par-
teiensystemen, die mit dem Entstehen von Parteien (in der EU oftmals rechtspopu-
listischer Prägung) oder dem Niedergang langjähriger Regierungsparteien verbunden
sind. Hier bleibt zu klären, inwieweit solche Krisentendenzen Ausdruck einer
allgemeinen Krise der Demokratie selbst sind.
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Parlamente in der Vergleichenden
Politikwissenschaft
Stefan Marschall
Zusammenfassung
Im internationalen Vergleich findet sich eine große Varianz in den Strukturen,
Funktionen und der Macht von Parlamenten. Parlamentarische Körperschaften
bieten deswegen ergiebige Untersuchungsobjekte f€ur eine komparativ ausgerich-
tete Institutionenforschung sowie f€ur den Vergleich von politischen Systemen.
Die Etablierung von parlamentarischen Institutionen jenseits des Nationalstaates
stellt die vergleichende Forschung wiederum vor konzeptionelle Herausforde-
rungen, da sich hier eine substanzielle Transformation des Parlamentarismus in
Theorie und Praxis abzeichnet.
Schlüsselwörter
Repräsentation • Gesetzgebung • Demokratie • Mehrebenensystem • Legislative •
Europäisches Parlament
1 Einleitung
S. Marschall (*)
Professor f€ur Politikwissenschaft, Institut f€
ur Sozialwissenschaften, Universität D€
usseldorf,
D€usseldorf, Deutschland
E-Mail: stefan.marschall@uni-duesseldorf.de
nur (noch) bedingt erf€ullen. Aber gerade der Widerspruch zwischen formalen
Aufgaben und tatsächlichen Leistungen kann heuristisch aufschlussreich sein,
insbesondere in einer empirisch vergleichenden Perspektive.
Zweitens können Parlamente auch als Schl€ussellochorganisationen verstanden
werden, da ihre Analyse tiefreichende Einblicke erlaubt, die €uber die vergleichende
Untersuchung eines spezifischen Körperschaftstyps hinausgeht. Parlamente sind mit
zahlreichen anderen Akteuren des jeweiligen Systems komplex verflochten; ihre
Rolle und Struktur sind Ausdruck des Kontextes, den die jeweilige Polity setzt. So
kann die diachron und synchron vergleichende Untersuchung von Parlamenten auch
Erkenntnisse €uber die Merkmale und den Wandel von Systemen und Systemtypen
generieren, innerhalb derer die Parlamente verortet sind.
Drittens drängt die empirische F€ulle parlamentarischer Körperschaften eine ver-
gleichende Analyse nahezu auf. Da es sich hier um eine €uber Jahrhunderte in vielen
Staaten und auf verschiedenen Ebenen existente Organisationsform handelt, liegt
eine große Menge an Fällen vor, die miteinander in Beziehung gesetzt werden
können – entweder in „most similar systems“- oder „most different systems“-
Designs, in vergleichenden Fallstudien oder in „large n“- Analysen (vgl. die Beiträge
in Döring 1995 und in Martin et al. 2014). Parlamente können dabei sowohl als
abhängige als auch als unabhängige Variable modelliert werden: Entweder hat ihre
Varianz entsprechende Auswirkungen auf die Qualität der Systeme, in denen sie
angesiedelt sind, sowie auf die jeweilige Policy-Performanz. Oder die Unterschiede
respektive Ähnlichkeiten zwischen parlamentarischen Körperschaften sind ein Er-
gebnis von systemspezifischen unabhängigen Variablen und Kontextbedingungen.
In diesem Beitrag werden einige dieser Vergleichspotenziale und -befunde aus
der Parlamentarismusforschung vorgestellt. Nach der Abgrenzung des Gegenstands
werden in einem ersten Schritt aus einer vergleichenden Perspektive die Struktur und
Organisation von Parlamenten thematisiert, bevor die parlamentarischen Funktionen
behandelt werden. Entscheidend, auch in komparativer Hinsicht, ist die Frage nach
der Macht von Parlamenten, die der Folgeabschnitt in den Blick nimmt. Hierbei wird
kritisch Bezug genommen auf die pauschale These von einem Machtverlust von
Parlamenten im politischen Prozess. Der letzte Abschnitt diskutiert, welche konzep-
tionellen Probleme die Entstehung eines transnationalen Parlamentarismus f€ur die
vergleichende Parlamentarismusforschung generiert.
Mitglieder von denjenigen, die sie vertreten sollen, in regelmäßigen Wahlen bestimmt
werden. Dies gewährleistet – zumindest theoretisch – parlamentarische Responsivi-
tät und Verantwortlichkeit.
Eine Parlamentarisierung f€uhrt jedoch nicht zwangsläufig zu einer Demokratisie-
rung staatlicher Strukturen (Weber 1971, S. 383, Original 1918); die bloße Existenz
eines gewählten Parlaments macht aus einem System nicht unmittelbar ein demo-
kratisches. Ein demokratischer Parlamentarismus setzt die regelmäßige Wahl dieser
Körperschaften entlang bestimmter demokratischer Prinzipien (z. B. allgemein,
geheim) voraus; zudem m€ussen die jeweiligen Parlamente eine entscheidende Rolle
im politischen Prozess spielen. Parlamentarismus hat also sowohl eine „input“- als
auch eine „output“-Komponente.
Parlamentarische Körperschaften zeichnen sich zudem durch organisationsbezo-
gene Merkmale aus: Parlamente verf€ugen €ublicherweise €uber ein Selbstorganisa-
tionsrecht; sie bestimmen autonom €uber ihre eigenen Spielregeln, beispielsweise
indem sie sich eine Geschäftsordnung geben. Üblicherweise entscheiden Parlamente
selbständig €uber ihre Sitzungstermine und ihre Tagesordnung. Ihre interne Organi-
sation wird davon geprägt, dass die Mitglieder des Parlaments individuell gleichbe-
rechtigt sind und gesch€utzt werden (Loewenberg 1971, S. 3). Im modernen Parla-
mentarismus ist das „freie Mandat“ der Standard geworden: Abgeordnete sind –
zumindest rechtlich gesehen – nur ihrem Gewissen unterworfen. Sie werden in ihrer
Mandatszeit vor Strafverfolgung durch das Immunitätsrecht gesch€utzt; dieser Schutz
kann nur durch das Parlament selbst aufgehoben werden. Die Freiheit ihres Han-
delns im Parlament wird durch Indemnitätsregelungen gewährleistet: Abgeordnete
d€urfen nicht wegen ihrer Äußerungen oder ihres Abstimmungsverhaltens strafrecht-
lich belangt werden – auch nicht nach dem Ende ihrer Mandatszeit. Die Arbeitsweise
von Parlamenten ist gekennzeichnet durch ein hohes Maß an Transparenz und
Öffentlichkeit. Die Idee der „Debatte“, der öffentlichen Auseinandersetzung, ist
f€ur parlamentarische Körperschaften zentral – und bereits in ihrem Namen und ihrer
Entstehungsgeschichte angelegt (Marschall 2005a, S. 24–28). Entscheidungen wer-
den € ublicherweise €uber das Mehrheitsprinzip getroffen. Zugleich sind parlamenta-
rische Minderheiten mit Rechten ausgestattet, die von der Mehrheit nicht ohne
weiteres aufgehoben werden können. Aber auch unter Ber€ucksichtigung all dieser
gemeinsamen Merkmale von Parlamenten findet sich immer noch eine Vielzahl von
unterschiedlichen Ausformungen dieses Organisationstyps.
Eine erste strukturelle Unterscheidung betrifft die Frage, ob sich das Parlament aus
einer oder zwei Kammern zusammensetzt (Heller und Branduse 2014). Daten der
Interparlamentarischen Union zufolge waren 2013 von den weltweit erfassten 192
nationalen Parlamenten 77, also rund 40 Prozent, bikameral aufgebaut (www.ipu.
org/parline-e [30.10.2014], siehe auch Haas 2010, S. 13). Setzt sich ein Parla-
ment aus zwei Häusern zusammen, dann steht dies oft in Verbindung mit der
föderalen Struktur des jeweiligen politischen Systems (Patterson und Mughan
472 S. Marschall
1999, S. 10). Aber auch in unitarischen Systemen wie dem französischen kann es
zweite Kammern geben. Die Kompetenzen zweiter Häuser in Parlamenten reichen
von der Konsultation bis hin zur umfassenden und verbindlichen Einbindung in
legislative Entscheidungsverfahren auf Augenhöhe mit den ersten Kammern. Im
letztgenannten Fall nehmen zweite Kammern unter Umständen die Position eines
Veto-Spielers ein, der Entscheidungen blockieren kann (Tsebelis 2002). Entspre-
chend ist die Existenz von Oberhäusern oder Senaten f€ur Arend Lijphart ein Indi-
kator daf€ur, dass ein System als Konsensusdemokratie (vs. Mehrheitsdemokratie)
bezeichnet werden kann, innerhalb derer kompromissorientierte Verhandlungspro-
zesse ablaufen (Lijphart 2012). Die Varianz in der Art der Zusammensetzung sowie
der Macht und Funktion der zweiten Kammern ist erheblich und oftmals pfadab-
hängig (Riescher et al. 2010).
Eine ähnliche Pfadabhängigkeit findet sich hinsichtlich der Größe parlamentari-
scher Körperschaften. Bei Parlamenten handelt es sich generell um Viel-Personen-
Organisationen; gleichwohl variiert die konkrete Anzahl ihrer Mitglieder. Der Umfang
parlamentarischer Körperschaften scheint prima vista und plausiblerweise abhängig
von der jeweiligen Bevölkerungsgröße zu sein. Gleichwohl liegt hier kein eindeutiger
und linearer Zusammenhang vor. Rein Taagepera hat aufgrund eines empirischen
Vergleichs eine Formel aufgestellt, nach der man die Größe einer parlamenta-
rischen Körperschaft (speziell der ersten Kammern) in Relation zur Größe der zu
vertretenden Gruppe bestimmen kann: Er definiert – auch unter Einbezug normativ-
funktionaler Erwägungen – die typische Größe parlamentarischer Körperschaften
als die Kubikwurzel aus der Bevölkerungszahl (Taagepera 1972). Damit markiert
er eine empirische Tendenz, kann aber letzten Endes die deutliche Varianz und
die Abweichungen von dieser „Regel“ nicht erfassen, die in spezifischen Systement-
wicklungen begr€ undet sind.
Typisch f€ur Parlamente ist, wie angesprochen, der Umstand, dass ihre vielen
Mitglieder gleichberechtigt sind. Dennoch gibt es innerhalb parlamentarischer Kör-
perschaften faktisch verschieden einflussreiche Abgeordnetenrollen. Dies hängt mit
der internen Organisation von Parlamenten zusammen. Parlamente kennen zunächst
Leitungspositionen und -organe. An der Spitze von Parlamenten stehen Präsidenten
oder Speaker, die €ublicherweise aus der Mitte des Hauses kommen. Diese leiten die
parlamentarischen Sitzungen und vertreten das Parlament nach außen. Zwei Vor-
sitzendenrollen lassen sich dabei grob unterscheiden: (1) Der „Präsident“ ist der
Prototyp des Parlamentsvorsitzenden kontinentaler Prägung. Präsidenten verf€ugen
€uber eine eingeschränkte Verfahrensmacht und verlieren durch die Übernahme der
Position nicht ihre Parteizugehörigkeit. (2) Der „Speaker“ – ein Beispiel ist der
Vorsitzende des britischen Unterhauses – ist ein mit weitreichenden Kompetenzen
ausgestatteter Funktionsträger. Er/sie agiert nicht nur als Sitzungsvorstand €uber-
parteilich, sondern hat auch während der Amtszeit alle Parteiämter ruhen zu
lassen. Marcello Jenny und Wolfgang C. M€uller schlagen eine weitere Differenzie-
rung vor, die €
uber die binäre Unterscheidung hinausgeht. Dabei sortieren sie entlang
der beiden Kriterien Macht und Parteilichkeit. Neben dem o. a. Speaker- und
Präsidententyp (letzteren bezeichnen sie als „minor party position“-Typ) f€uhren sie
noch den schwachen parteineutralen Vorsitzenden und den starken, parteipolitisch
Parlamente in der Vergleichenden Politikwissenschaft 473
4 Funktionen im Vergleich
1
Neben den beiden Reinformen lassen sich noch verschiedene Zwischenformen ausmachen (semi-
präsidentiell, parlamentarisch-präsidentiell, präsidentiell-parlamenarisch (siehe Duverger 1980;
Shugart und Carey 1997).
Parlamente in der Vergleichenden Politikwissenschaft 475
Der vergleichende Blick auf die parlamentarischen Funktionen macht deutlich, dass
alleine auf der Grundlage ihrer jeweiligen Verortung im institutionellen Design von
Demokratien und auf der Grundlage ihrer Beziehung zu anderen Organen Parla-
mente eine unterschiedliche Machtstellung in ihren jeweiligen Systemen einnehmen.
Insofern stellen funktionale Typologien von Parlamenten zugleich auch Machttypo-
logien dar: Unterschiedliche Aufgabenzuschreibungen implizieren unterschiedliche
Einflusspotenziale.
Solche Machttypologien, die funktionell ansetzen, sind beispielsweise in den
siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts entwickelt worden, z. B. von Nelson
Polsby in seinem Eintrag im „Handbook of Political Science“ (Polsby 1975). Polsby
2
Richard Fenno spricht mit Blick auf US-amerikanische Parlamentarier von „hill style“- vs. „home
style“-Abgeordneten (Fenno 1978).
476 S. Marschall
(Andersen und Burns 1996). Nicht zuletzt sind Prozesse der Globalisierung und
Europäisierung f€ur den Machtverlust der Parlamente verantwortlich gemacht wor-
den. Der normativ geprägte Entparlamentarisierungstopos hat dabei nicht nur in der
Wissenschaft Raum gegriffen. Auch im innerparlamentarischen und journalistischen
Diskurs findet sich die Klage €uber die abnehmende Macht parlamentarischer Körper-
schaften.
Kennzeichnend f€ur die These von der Entparlamentarisierung sind (1) die pau-
schale Qualität der Diagnose und (2) ihr Fokus auf etablierte westliche national-
staatliche Demokratien:
(1) Entparlamentarisierung wird als ein genereller Trend verstanden, der parlamen-
tarische Körperschaften erfasst hat und mit einem Machtgewinn der Exekutive
einhergeht. Dies scheint jedoch zu kurz gegriffen – insbesondere im Sinne von
„policy matters“. Angezeigt sind deswegen politikfeld- oder gar einzelfallbezo-
gene vergleichende Analysen von Entscheidungsprozessen, die den konkreten
Einfluss von Parlamenten auf Entscheidungsmaterien und konkrete Entschei-
dungen zu tarieren helfen und damit herausarbeiten können, unter welchen Be-
dingungen Parlamente welche Form von Macht haben (z. B. f€ur das Politikfeld
Sicherheitspolitik Dieterich et al. 2009; Ondarza 2012).
(2) Die Entparlamentarisierungsdebatte bezieht sich primär auf westliche Demo-
kratien (insbesondere auf die nationalstaatlichen Parlamente innerhalb der Eu-
ropäischen Union, vgl. Sch€uttemeyer 2009). Dieser Fokus blendet freilich Fälle
aus, in denen Parlamente (auch heute noch) zu den einflussgewinnenden Akteu-
ren gehören, zum Beispiel in Transformationsstaaten. Die These verliert damit
auch an Erklärungskraft f€ur Phänomene wie das Europäische Parlament und
andere trans- oder internationale parlamentarische Körperschaften (s. u.).
Jenseits des Nationalstaates hat sich in den letzten Jahrzehnten inter- und transna-
tionaler Parlamentarismus etabliert. Parlamentarische Körperschaften, in der Regel
als „Parlamentarische Versammlungen“ oder „Transnationale Versammlungen“ be-
478 S. Marschall
können. Dabei vermag die Analyse der Entwicklung eines transnationalen Parla-
mentarismus auch Hinweise auf die Zukunft der nationalen Parlamente geben,
welche sich ebenfalls heterogener werdenden Gesellschaften gegen€ubersehen und
deren Linkage-Strukturen sich gleichfalls verändern.
7 Fazit
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Präsidenten und Regierungen in der
Vergleichenden Politikwissenschaft
€ller-Rommel
Florian Grotz und Ferdinand Mu
Zusammenfassung
Der vorliegende Beitrag beschreibt zwei dominante Forschungsstränge in der
empirisch-vergleichenden Analyse von Präsidenten und Premierministern: die
institutionellen und die persönlichkeitsbezogenen Ansätze. Zunächst werden jene
politisch-institutionellen Rahmenbedingungen dargestellt, welche die Regie-
rungschefs mit formaler Machtkompetenz ausstatten (strukturorientierte Ansätze)
bzw. deren Handlungskorridore definieren (prozessorientierte Ansätze). Zweitens
werden Persönlichkeitsstrukturen von Regierungschefs mit deren politischen
Entscheidungsprozessen in Verbindung gebracht. Dabei liegt ein besonderer
Akzent auf der Darstellung der „Personalisierung“ von Politik sowie der unter-
schiedlichen politischen F€uhrungsstile. Abschließend werden Perspektiven f€ur
die zuk€ unftige Forschung aufgezeigt.
Schlüsselwörter
Politische Exekutive • Regierungspolitik • Präsidentielle Systeme • Parlamenta-
rische Systeme • F€uhrungsstil • Politische Persönlichkeit
F. Grotz (*)
Professor f€ur Vergleichende Regierungslehre, Institut f€
ur Politikwissenschaft, Helmut-Schmidt-
Universität Hamburg, Hamburg, Deutschland
E-Mail: grotz@hsu-hh.de
F. M€uller-Rommel
Professor f€ur Vergleichende Politikwissenschaft, Institut f€
ur Politikwissenschaft, Universität
L€uneburg, L€uneburg, Deutschland
E-Mail: muero@uni.leuphana.de
1 Einleitung
1
Präsidenten und Premierminister kommen auch in autoritären Regimen vor, haben dort aber eine
grundsätzlich andere Stellung inne und werden deshalb im Rahmen dieses Beitrags nicht weiter
ber€ucksichtigt. Aus Gr€
unden der Lesbarkeit verwenden wir im Folgenden nur männliche Formen,
meinen aber ausdr€ucklich beide Geschlechter.
Präsidenten und Regierungen in der Vergleichenden Politikwissenschaft 485
2 Politisch-institutionelle Rahmenbedingungen
€
uber umfangreiche formale und informelle Vollmachten, die ihn zum dominanten
politischen Akteur machen (vgl. etwa R€ub 2008). Daher wird die Machtposition von
Präsidenten nicht nur in präsidentiellen Systemen, sondern auch in system€ubergreif-
enden Vergleichsstudien analysiert.
In der Literatur finden sich zwei idealtypische Herangehensweisen, um die po-
litische Stellung von Präsidenten und Premierministern systematisch zu erfassen:
zum einen strukturorientierte Ansätze, die die Stärke des Amtsinhabers an institu-
tionellen Merkmalen festmachen, und zum anderen prozessorientierte Ansätze, die
primär auf die Machtkonstellationen zwischen den relevanten Akteuren abstellen.
Systemen jederzeit von der Legislative abberufen werden können, ist ihre Amtszeit –
im Gegensatz zu Staatspräsidenten – weder rechtlich fixiert noch weist sie eine
Höchstgrenze auf. In einigen Untersuchungen wird daher schlicht die Amtsdauer
eines Premiers als Proxy f€ur seine Stärke bzw. Schwäche herangezogen (Baylis
2007). Auch wenn ein gewisser Verbleib im Amt als notwendige Bedingung f€ur
eine aktiv-gestaltende F€uhrungsrolle gelten kann, greift doch eine rein temporale
Operationalisierung f€ur prime ministerial power zu kurz: Warum sollte die Macht-
position eines (länger amtierenden) Regierungschefs kontinuierlich zunehmen?
Dar€uber hinaus sind Premierminister weitaus stärker in das Kabinett ein-
gebettet als Staatspräsidenten. Analysen, die die institutionellen Kompetenzen eines
Premiers erfassen wollen, konzentrieren sich daher meist auf seine Vollmachten
gegen€uber den anderen Regierungsmitgliedern. Dabei geht es primär um seine
„Organisationsgewalt“, d. h. inwieweit er die einzelnen Minister unabhängig vom
Staatspräsidenten und/oder dem Parlament ernennen und entlassen darf. Ebenso
relevant ist die regierungsinterne „Leitfunktion“ des Premiers, d. h. inwiefern er
bei Kabinettsentscheidungen ein herausgehobenes Stimmgewicht hat (Beichelt und
Keudel 2011). Aufgrund der „arkanen Natur“ intraexekutiver Prozesse sind die
Kompetenzen parlamentarischer Regierungschefs jedoch – wenn €uberhaupt – nur
in sehr allgemeiner Form festgeschrieben. Nicht selten stehen gegenläufige Hand-
lungsmaximen nebeneinander, wie im deutschen Grundgesetz, das zwischen
Kanzler-, Ressort- und Kabinettsprinzip unterscheidet (Art. 65 GG).
Mithin erscheint auch die formal-institutionelle Kompetenzausstattung als unzu-
reichend, um die politische Stärke von Premierministern adäquat zu erfassen. Vor
diesem Hintergrund haben Bergman et al. (2003, S. 179 ff.) eine zweidimensionale
Kategorisierung von prime ministerial powers entwickelt, die die institutionellen
Kompetenzen des Premiers („institutional powers“) mit Strukturmerkmalen des
Parteiensystems verbindet, welche f€ur die Machtbasis einer parlamentarischen
Regierung und des ihr vorstehenden Premiers zentral sind („powers from party
system format and party cohesion“). So entsteht eine Matrix, die plausible Differen-
zierungen zwischen westeuropäischen Premierministern im historischen und inter-
nationalen Vergleich erlaubt. Allerdings wurde dieses Kategorienschema bislang
weder auf parlamentarische Systeme außerhalb Westeuropas angewendet noch als
Analyserahmen verwendet, um die (F€uhrungs-)Rolle von Premiers bei der politi-
schen Willensbildung und Entscheidung vergleichend zu untersuchen. Hier könnten
k€
unftige Studien fruchtbar ansetzen.
Ein zweiter Strang politisch-institutioneller Ansätze bemisst die Macht eines Regie-
rungschefs nicht an dessen formaler Kompetenzausstattung, sondern an politischen
Verhaltensmustern innerhalb des gegebenen Institutionenrahmens. Aus dieser Sicht
lautet die zentrale Forschungsfrage, ob und wie sich Präsidenten und Premierminis-
ter gegen konkurrierende Akteure im politischen Prozess behaupten und somit eine
F€uhrungsposition im Regierungssystem einnehmen.
488 F. Grotz und F. M€
uller-Rommel
3 Persönlichkeitsbezogene Ansätze
und „[do they . . .] matter more throughout time“ (Garzia 2014, S. 15). Eine Akzen-
tuierung persönlichkeitsbezogener Faktoren findet sich schon seit längerem in der
amerikanischen Wahlkampfforschung. Demnach hängt der Wahlerfolg von US-Prä-
sidentschaftskandidaten primär von deren Persönlichkeitsprofil ab, während die
inhaltlichen Positionen der politischen Parteien nur eine untergeordnete Rolle spie-
len (Miller und Shanks 1996). Auch jenseits des US-Kontextes ist eine zunehmende
Personalisierung von Regierungspolitik zu beobachten: In vielen Ländern besteht
ein deutlicher Zusammenhang zwischen der Popularität von Regierungschefs
und der öffentlichen Bewertung der jeweiligen Regierungen (Schlesinger 1997;
McAllister 2003; Campus und Pasquino 2006).
In der aktuellen Regierungsforschung wird zudem die These vertreten, dass die
Personalisierung von Politik mit einer wachsenden Macht des Regierungschefs
einhergeht. Interessanterweise ist dieser Trend nicht nur in präsidentiellen, sondern
auch in parlamentarischen Systemen zu beobachten (Dowding 2013; McAllister
2007; Poguntke und Webb 2005). Demnach werden Premierminister in westlichen
Demokratien mit mehr medialer Aufmerksamkeit bedacht und erfahren eine größere
Bedeutung innerhalb ihrer Parteiorganisation. Gleichzeitig verf€ugen sie €uber mehr
Machtressourcen, weil ihre Regierungszentralen in den vergangenen Jahrzehnten –
ähnlich wie in präsidentiellen Systemen – beträchtlich ausgebaut und mit mehr
Kompetenzen ausgestattet wurden.
Die Gr€ unde, die f€ur das erweiterte „empowerment“ von Regierungschefs
geltend gemacht werden, sind vielfältig. So legt die zunehmende Internationali-
sierung von Politik, bei der Gipfeltreffen von Staats- und Regierungschefs eine
herausgehobene Rolle spielen, eine Machtkonzentration innerhalb der Exekutive
nahe. Zugleich scheint die Auflösung gesellschaftlicher Konfliktlinien entlang der
Links-Rechts-Dimension die Programme der Parteien zu nivellieren, was die
Bedeutung des (partei-)politischen F€uhrungspersonals im Allgemeinen und der
Premierminister(kandidaten) im Besonderen stärkt. Überdies befördern die mo-
dernen Massenmedien die persönlichkeitszentrierte Darstellung und Wahrneh-
mung von Spitzenpolitikern. Nicht zuletzt machen der größere Umfang und die
gestiegene Komplexität der Staatsaufgaben zentralistische Entscheidungsstruktu-
ren erforderlich.
So unstrittig dieser system€ubergreifende Trend ist, so kontrovers wird die Frage
diskutiert, wie er zu beurteilen ist. Poguntke und Webb (2005) sprechen angesichts
des Machtzuwachses von Premierministern von einer „Präsidentialisierung“ parla-
mentarischer Systeme, was suggeriert, dass sich die Rolle und Funktion politischer
Exekutivspitzen unabhängig von den institutionellen Grundstrukturen angleichen.
Damit haben die beiden Autoren eine intensive Debatte ausgelöst (Foley 2013;
Heffernan 2013; Webb und Poguntke 2013). Eine dezidierte Gegenposition zur
Präsidentialisierungsthese nimmt etwa Dowding (2013) ein, der argumentiert, dass
der Machtgewinn von Premierministern eher die parlamentarischen Strukturen
stärkt, weil Premierminister primär von der Parlamentsmehrheit und nicht (wie in
präsidentiellen Systemen) vom Wähler kontrolliert werden. Daher fände in parla-
mentarischen Demokratien derzeit keine „presidentialization“, sondern vielmehr
eine „prime-ministerialisation“ statt.
Präsidenten und Regierungen in der Vergleichenden Politikwissenschaft 491
Wenn die Personalisierung von Politik eine Machtkonzentration zugunsten von Re-
gierungschefs bewirkt, wird die Frage bedeutsam, wie Präsidenten und Premierminis-
uhrungsrolle aus€uben. Die „Politische F€uhrung“ von Regierungschefs wird in
ter ihre F€
der Politikwissenschaft aus unterschiedlichsten Perspektiven untersucht (vgl.
u. a. Elgie 1995; Hennis 1990, S. 48–50; Helms 2000, 2005; Rose und Suleiman
1980). Dazu zählt auch eine Forschungsrichtung der politischen Psychologie, die sich
mit der Analyse von F€uhrungsstilen beschäftigt.
Von grundlegender Bedeutung ist hier die Studie von Barber (1972), der den
F€uhrungsstil von US-amerikanischen Präsidenten anhand von zwei Dimensionen
erfasst hat. Die erste Dimension bezieht sich auf das Selbstbild des Amtsinhabers
hinsichtlich seiner politischen Aufgaben („aktiv vs. passiv“), die zweite auf sein
Rollenverständnis gegen€uber dem Amt („positiv vs. negativ“). Durch die Verkn€up-
fung beider Dimensionen kommt Barber zu vier idealtypischen F€uhrungsstilen, aus
denen sich theoretische Verhaltensannahmen ableiten lassen. Der aktiv-positive
Präsident denkt rational. Er will gestalten und verändern. Dabei arrangiert er sich
mit seiner Umwelt und hat lediglich Probleme mit Personen, die seinen rationalen
Handlungsstil nicht verstehen. F€ur Barber ist dieser Typ die Idealbesetzung. Der
aktiv-negative Präsident ist ambitioniert und machthungrig. Er will sich selber und
anderen etwas beweisen und zeigt deshalb eine hohe Einsatzbereitschaft im Amt. Er
betrachtet die Umwelt jedoch als Hindernis bei der Durchsetzung seiner Ziele. Sein
Verhalten ist vielfach durch Aggressivität geprägt, was ihm politisch schadet. Der
passiv-positive Präsident hat ein geringes Selbstwertgef€uhl. Er ist gerne im Amt,
solange er bei den Wählern beliebt ist. Sein politisches Handeln ist primär durch
äußere Ereignisse bestimmt und basiert auf enger Kooperation mit anderen. Seine
politische Durchsetzungskraft ist vergleichsweise schwach ausgeprägt. Der passiv-
negative Präsident besitzt ebenfalls ein geringes Selbstvertrauen. Er sucht die per-
sönliche Bestätigung im Amt und €ubt dieses pflichtbewusst aus. Sein F€uhrungsstil
gilt als konfliktscheu und unsicher.
In der Folgezeit wurden weitere Typologien präsidialer F€uhrungsstile entwickelt.
So unterscheidet Johnson (1974) zwischen einem formalisierten, einem kompetiti-
ven und einem kollegialen Stil. George (1988) ergänzte diese Typologie der F€uh-
rungsstile um drei Komponenten: die kognitiven Fähigkeiten von Präsidenten, ihre
potentielle Konfliktbereitschaft bei politischen Entscheidungsprozessen und die
Wirksamkeit präsidentieller F€ uhrungsstile.
Die genannten konzeptionell-theoretischen Ansätze blieben bislang weitgehend
auf den US-amerikanischen Kontext beschränkt. Weder wurden sie f€ur den
492 F. Grotz und F. M€
uller-Rommel
4 Zusammenfassung
Empirisch-vergleichende Analysen der Rolle und Funktion von chief executives sind
mit besonderen Schwierigkeiten verbunden. Daher ist der komparativ abgesicherte
Erkenntnisstand – trotz der herausragenden Bedeutung des Themas – noch immer
relativ begrenzt. Gleichwohl haben die vorangegangenen Ausf€uhrungen auf min-
destens drei Aspekte verwiesen, aus denen sich aussichtsreiche Forschungsperspek-
tiven ergeben.
Erstens könnten institutionenbezogene und persönlichkeitsbezogene Ansätze
systematischer als bislang kombiniert werden. Der „akteurzentrierte Institutionalis-
mus“ (Mayntz 1995) böte hierzu einen geeigneten Rahmen. Zweitens d€urfte die
Forschung von einem intensiveren konzeptionell-theoretischen Austausch zwischen
Präsidenten- und Premierminister-bezogenen Studien profitieren. Dies gilt insbeson-
dere f€ur die Weiterentwicklung institutioneller Machtindices, aber auch f€ur eine
stärker komparative Anwendung persönlichkeitsbezogener Analysekategorien. Drit-
tens erscheint eine geographische Ausdehnung der empirischen Basis angezeigt.
Während die präsidentenbezogene Forschung den interregionalen Vergleich außer-
europäischer Staaten gerade zu entdecken beginnt (Chaisty et al. 2014), ist die
Premier-bezogene Literatur noch €uberwiegend auf (einzelne) westeuropäische Län-
der beschränkt. Hier könnten insbesondere die parlamentarischen Regierungssyste-
me der mittel- und osteuropäischen Staaten den Erfahrungshorizont etablierter
Demokratien produktiv ergänzen.
Präsidenten und Regierungen in der Vergleichenden Politikwissenschaft 493
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Regierungszentralen in der Vergleichenden
Politikwissenschaft
Stephan Bröchler
Zusammenfassung
Der Beitrag f€uhrt in ein wichtiges Teilgebiet der Regierungsforschung ein: in die
Analyse des Zentrums der Regierung. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie Re-
gierungszentralen zur Unterst€utzung der exekutiven Spitze in unterschiedlichen
demokratischen Regierungssystemtypen beitragen. Um ihre Funktion als Hilfs-
instrument erf€ ullen zu können, sind sie als spezialisierte Funktionssysteme in
charakteristischer Weise in die politische Institution Regierung mehrdimensional
eingebettet. In einem ersten Schritt wird dargelegt, wie Regierungszentralen in
die politische Institution Regierung eingeflochten sind. Der zweite Schritt f€uhrt in
wichtige Fragestellungen der Forschung ein.
Schlüsselwörter
Regierungskanzlei • Regierungszentrale • Zentrum der Regierung • Core Execu-
tive • Funktions- und Handlungsraum Regierung • Leadership • Politikmanage-
ment • politische Planung • politikwissenschaftliche Technikforschung • formale
und informale Politikberatung von innen
„The President needs help“, so lautete das zugespitzte Fazit eines Gutachtens des
Brownlow Committee aus dem Jahre 1937. Das Expertengremium war von US-
Präsident Franklin D. Roosevelt eingesetzt worden, um Vorschläge zur Verbesserung
des US-Regierungsapparates zu erarbeiten. Der Report war folgenreich. Er f€uhrte
wenige Jahre später zur Gr€undung der Regierungszentrale1 des US-Präsidenten: dem
1
Die Begriffe Regierungszentrale, Regierungskanzlei und Zentrum der Regierung werden im
Folgenden synonym verwendet.
S. Bröchler (*)
Privatdozent, Institut f€ur Sozialwissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland
E-Mail: stephan.broechler@sowi.uni-hu.de
„Executive Office of The President of the United States“ (EOP). Dar€uber hinaus ist
das Res€ umee f€
ur das Verständnis der Rolle von Regierungszentralen instruktiv. Es
lenkt den Blick auf die Kernfunktion des Zentrums der Regierung: die politisch-
administrative Unterst€utzung der exekutiven Spitze.
Der folgende Beitrag f€uhrt in ein wichtiges Teilgebiet der Regierungsforschung
ein: in die Analyse des Zentrums der Regierung. Regierungszentralenforschung
(Bröchler 2011), so wird argumentiert, lässt sich als eine integrative politikwissen-
schaftliche Forschungsrichtung beschreiben. Unter ihrem Dach vereint sie unter-
schiedliche wissenschaftliche Disziplinen, Forschungsthemen, theoretisch-
konzeptionelle Herangehensweisen und methodische Zugänge. Im Mittelpunkt steht
die Frage, wie Regierungszentralen zur Unterst€utzung der exekutiven Spitze beitra-
gen. Auf zwei Ebenen soll nach Antworten gesucht werden. In einem ersten Schritt
wird dargelegt, wie Regierungszentralen in die politische Institution Regierung
eingebettet sind. Der zweite Schritt f€uhrt in wichtige Fragestellungen der For-
schung ein.
2
Instruktiv sind die Tagungen und Publikationen des internationalen „Network of Senior Officials
from Centres of Government (CoG)“ der OECD. Beispielsweise die Publikation zum Thema
Vergleich von Regierungszentralen in OECD Staaten (James und Ben-Gera 2004).
500 S. Bröchler
3
In der Presidency Forschung lassen sich Arbeiten zu folgenden Bereichen unterscheiden: Genese
und Organisation der US-Präsidentschaft, Präsidentenbiographien, Präsidentschaftswahlen, Präsi-
dentengattinnen und das Verhältnis von Präsident und Kongress. Hingewiesen sei auf die Beiträge
der Zeitschrift „Presidential Studies Quarterly“.
Regierungszentralen in der Vergleichenden Politikwissenschaft 501
Ein weiteres Forschungsthema beschäftigt sich mit der Bedeutung des organisatori-
schen Aufbaus f€ ur die Funktionserf€ullung von Regierungszentralen. Analysen zei-
gen, dass die Strukturdimension des Zentrums der Regierung eine starke Prägekraft
besitzt: Sie kanalisiert, normiert und strukturiert die Ordnung der Institution Re-
gierung in erheblichem Maße (König 1990a). Die Organisation der Regierung wird
als Voraussetzung und Folge des Regierens verstanden (König 1990a und 1990b).
Die Regierungsorganisation stellt eine wichtige Bedingung f€ur die Möglichkeit von
Regierungspolitik dar. Sie garantieren jedoch den Regierungschefs keine unbegrenz-
te Entscheidungsmacht. In Deutschland werden der Steuerung der Ressorts durch
das Bundeskanzleramt – trotz Richtlinienkompetenz – insbesondere durch die in der
Verfassung formal kodifizierte Ressortautonomie- und das Kollegialprinzip (Art
65 GG) wie auch durch das informale Parteien- und Koalitionsprinzip (Korte
2010, S. 20) hohe H€urden gesetzt. In Großbritannien hegen vor allem informale
Konventionen, wie die „departmental autonomy“ und „cabinet collegiality“, die
Willk€ur der „prime ministerial authority“ des Regierungschefs und seiner Regie-
rungszentrale No. 10 ein (Bröchler 2014).
Als Herausforderung f€ur die vergleichende Forschung erweist sich, dass jede
organisatorische Architektur einer Regierungszentrale ein Unikat darstellt. Dies soll
an zwei Beispielen kurz illustriert werden. Das Bundeskanzleramt in Berlin weist in
formaler Hinsicht einen monokratisch-hierarchischen Organisationsaufbau auf. Es
ist am Einliniensystem orientiert, das eine klare Zurechenbarkeit sichern soll (Kieser
und Walgenbach 2010). Kennzeichnend sind besonders zwei Organisationsformen
(Busse und Hofmann 2010): Spiegelreferaten kommt eine wichtige Scharnierfunk-
502 S. Bröchler
tion zu. Sie sind Arbeitseinheiten im Kanzleramt, die dem wechselseitigen Informa-
tionsaustausch zwischen Regierungszentrale und Ministerien dienen. Querschnittre-
ferate haben demgegen€uber die Aufgabe, ressort€ubergreifende Policies zu koordi-
nieren.
Die britische Regierungszentrale ist organisatorisch zweigeteilt und setzt sich aus
dem Prime Minister´s Office (PMO) und dem Cabinet Office (CO) zusammen. Das
PMO ist die dem britischen Regierungschef zuarbeitende Organisation der unmit-
telbaren Nahzone, die das politische Umfeld nach innen organisiert und den Infor-
mationsfluss nach außen – besonders zu Parteien, Parlament und Medien – reguliert
(Judge 2005, S. 1). Die Tätigkeitsbereiche sind nach funktionalen Aufgabenschwer-
punkten geordnet: Policy Directorate; Strategy Unit; Communications; Political
operations und Government relations (Budge et al. 2007, S. 103 f.) Das Cabinet
Office (CO) ist zuständig f€ur die Koordination der Regierung (Premierminister,
Vize-Regierungschef und Kabinett) und erf€ullt essentielle Sekretariatsfunktionen.
Es ist vielgestaltig organisiert (Judge 2005, S. 152 f.).
Markante Unterschiede zeigen sich im Grad der rechtlichen Formalisierung der
Regierungszentralen. Die Arbeit des deutschen Bundeskanzlersamtes ist in hohem
Maße formal durch Grundgesetz und Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundes-
regierung verrechtlicht. In Großbritannien ist dies nicht der Fall. Die Arbeitsweise
der Regierung wird in erster Linie durch informelle Regeln und Praktiken bestimmt,
die nur zum Teil verschriftlicht sind (Bröchler 2014; Glaab 2014). Erst seit neuem
liegen Regeln und Praktiken der Regierungsf€uhrung in einem Vademecum, dem
Cabinet Manual, vor, die vom Civil Service gesammelt und verschriftlicht wurden
(Cabinet Office 2011). Im Unterschied zur Geschäftsordnung der Bundesregierung
hat das Cabinet Manuel keinen rechtsverbindlichen Charakter.
4 Leadership
F€ur das Verständnis der Funktionsweise von Regierungszentralen greift die Regie-
rungszentralenforschung eine bedeutsame Problemstellung der exekutiven Leader-
ship-Forschung auf: das „Agent-Structure“-Problem (Helms 2014; Glaab 2007).
Dabei geht es um Frage, ob entweder Akteure oder Strukturen sich als entscheidende
Faktoren f€ur politische F€uhrung erweisen. Im Blick auf das Zentrum der Regierung
interessiert sich Regierungszentralenforschung f€ur die politisch-administrative
Ermöglichung exekutiver Leadership.
In der Kontroverse um die „Kanzlerdemokratie“ (Niclauß 2004) wurde das
„Agent-Structure“-Problem zum zentralen Gegenstand. Im Sinne der „Agent“ Per-
spektive wurde postuliert, dass der persönliche F€uhrungsstil f€ur die Rolle der
Regierungskanzleien im politischen Prozess bestimmend ist: Auf den Kanzler
kommt es an! Demgegen€uber kritisiert die „Structure“-Sicht vehement die Fixierung
auf Persönlichkeitsfaktoren (Murswieck 1990). Dem personenzentrierten Verständ-
nis der politischen F€uhrung des Kanzleramtes als „Ein-Mann-Geschäft“ wird ein
alternatives Verständnis gegen€ubergestellt. Es wird argumentiert, dass die
Erforschung von F€uhrungsstilen, die sich auf die Person des Kanzlers und seiner
Regierungszentralen in der Vergleichenden Politikwissenschaft 503
5 Politikmanagement
politischer Mitarbeiterposten besetzt werden. Jedoch wird auch f€ur Deutschland eine
zunehmende schleichende Parteipolitisierung in Schl€usselpositionen diagnostiziert
(König 2011, S. 60).
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Eliten und Leadership in der
Vergleichenden Politikwissenschaft
Manuela Glaab
Zusammenfassung
Der vorliegende Beitrag behandelt relevante Ansätze und Zugänge der Eliten-
wie auch der Leadership-Forschung und beleuchtet das Spannungsverhältnis
beider Begriffe zum vorherrschenden Demokratieverständnis, welches auf der
normativen Prämisse politischer Gleichheit und Freiheit beruht. Es werden außer-
dem relevante Forschungsstränge und ausgewählte Forschungsfragen aufgezeigt,
die sich mit dem Konnex von Eliten und Leadership befassen.
This article explains concepts of and research approaches to political elites as
well as political leadership and discusses how both relate to liberal democracy.
Moreover, relevant strands of empirical research are presented, focusing on elite
recruitment, leadership roles and the public sphere.
Schlüsselwörter
Politische Eliten • F€uhrung • Political Leadership • Public Leadership • Demo-
kratie • Rekrutierung • F€uhrungsrollen und -qualitäten • Kommunikation
M. Glaab (*)
Professorin f€ur Politikwissenschaft, Institut f€
ur Sozialwissenschaften Landau, Universität Koblenz-
Landau, Landau in der Pfalz, Deutschland
E-Mail: glaab@uni-landau.de
Im Blick auf die Vorbehalte gegen den Elitebegriff ist auf „wertmäßige Vorbelastun-
gen“ (Schluchter 1963, S. 233) zu verweisen, die auch und gerade im Zusammen-
hang mit Fragen politischer F€uhrung virulent sind. Beide Begriffe stehen in einem
Spannungsverhältnis zum vorherrschenden Demokratieverständnis, welches auf der
normativen Prämisse politischer Gleichheit und Freiheit beruht. Ausschlaggebend
hierf€
ur ist, dass der Herrschaftszugang in repräsentativen Demokratien durch regel-
mäßig stattfindende, freie und faire Wahlen bestimmt wird, zeitlich befristet bleibt
und grundsätzlich allen B€urgerInnen offen steht. Damit bleibt die „Repräsentations-
elite“ (ebd., S. 254) – also die gewählten politischen Amtsträger und Mandats-
inhaber – vertikaler Herrschaftskontrolle durch das Wahlvolk ausgesetzt.
Kritisch einzuwenden ist aber nicht nur, dass die Chancen auf politische Teilhabe
in der Gesellschaft ungleich verteilt sind, so dass ressourcenstarke Personen oder
Personengruppen € uber größere Einflussmöglichkeiten verf€ugen und eher in öffent-
liche Ämter gelangen. Dar€uber hinaus bleibt auch die Rolle der demokratisch
legitimierten F€uhrungseliten umstritten. In der Sichtweise realistischer Demokratie-
theorien, nicht zufällig auch bezeichnet als elitistische Ansätze, steht die Konkurrenz
der politischen Eliten um die Mehrheit der Wählerstimmen im Zentrum. Eine
Elitenherrschaft auf Zeit wird als zweckmäßig erachtet, weil diese – im Unterschied
zum ‚einfachen Wahlvolk‘ – dazu qualifiziert seien, komplexe politische Probleme
zu bearbeiten sowie problemadäquate Entscheidungen zu fällen und zu verantworten
Eliten und Leadership in der Vergleichenden Politikwissenschaft 513
(Elcock 2001), die sich auf das Akteursgeflecht im Mehrebenensystem des Regierens
und die Interaktion mit nicht-staatlichen Akteuren beziehen. Wo im „Schatten der
Hierarchie“ (Scharpf 1991, S. 629) kooperiert wird, sind nicht formale Anweisungen
sondern informale Steuerung und Koordination vorherrschend. In erster Linie geht es
hier um F€uhrungsleistungen im Bereich des Netzwerkmanagements, die teilweise von
nicht-staatlichen, privatwirtschaftlichen oder zivilgesellschaftlichen Akteuren wie
NGOs € ubernommen werden (vgl. Helms 2012, S. 5). Aber auch relevante Funktionen
im Kernbereich der Regierungsf€uhrung – wie die effektive Organisation des Regie-
rungsapparats, die Definition der Regierungsagenda bis hin zur Formulierung von
Problemlösungen sowie die Koordinierung und Durchsetzung der Regierungspolitik –
sind keineswegs allein durch hierarchische, sondern ebenso durch informal-
kooperative Handlungsformen bestimmt (vgl. Glaab 2014). Informalisierung eröffnet
aber auch Einflusschancen f€ur die beteiligten Eliteakteure, was auf neue Anforde-
rungen von Transparenz und Kontrolle verweist.
Einen komparativen Zugang eröffnet der in der neo-institutionalistischen For-
schung angesiedelte interaktionistische Ansatz politischer F€uhrung, der von einer
Wechselbeziehung personaler und struktureller Faktoren ausgeht (Elgie 1995). Den
Akteuren – mit ihren individuellen Ambitionen und F€uhrungsqualitäten – wird ein
eigenständiger Einfluss auf das Politikergebnis zugestanden. Bei der Verfolgung
ihrer politischen Ziele orientieren sie sich jedoch am vorhandenen Handlungskorri-
dor, der durch das sogenannte „leadership environment“ strukturiert wird, abhängig
von der Verf€ ugbarkeit formaler wie auch informaler Machtressourcen aber auch
verändert werden kann. Das komplexe Zusammenwirken institutioneller wie auch
politisch-kultureller Kontextfaktoren erzeugt regelhafte Politikmuster, die – wie
durch Vergleichsstudien belegt wird (Elgie 1995; Helms 2005) – zur Ausprägung
spezifischer F€ uhrungsstile in unterschiedlichen Regierungssystemen f€uhren. Stärker
zu gewichten ist der personale Faktor in politischen Umbruchsituationen bzw. in
Phasen von Regimewechseln. Da die institutionellen Regelsysteme noch nicht als
gefestigt gelten können, eröffnen sich hier größere, jedoch keineswegs unproblema-
tische Spielräume politischer F€uhrung: „‘personal rule’ tends to prevail in states
where the legitimate authority of individuals in top executive positions is less well
established by constitution and laws“ (Edinger 1990, S. 513 f.; weiterf€uhrend
u. a. Rose und Mishler 1996; Bos und Helmerich 2006).
Die Eliteforschung besitzt eine lange Tradition, gleichwohl existieren keine genuin
elitetheoretischen Konzepte (Imbusch 2003). Begriffe, Konzepte und Befunde steu-
ern nicht nur Politikwissenschaft und Soziologie, sondern auch Sozialpsychologie
und Geschichtswissenschaft bei. Ähnliches gilt f€ur die – sich zunehmend auch in der
deutschsprachigen Politikwissenschaft etablierende – Leadership-Forschung, die
einige Schnittmengen mit der Eliteforschung aufweist. Eine Minimaldefinition des
Elitebegriffs rekurriert auf die folgenden Merkmale (Endruweit 1979, S. 33; Wald-
mann 2011, S. 112): Es handelt sich erstens um eine gesellschaftliche Minderheit
Eliten und Leadership in der Vergleichenden Politikwissenschaft 515
(Personen, Gruppen, Schichten etc.), die zweitens der Mehrheit der Gesellschaft
€uberlegen ist und die drittens aus einem Auswahlprozess hervorgeht. Begriffsbil-
dend wirkten dar€uber hinaus die normative, funktionale und machtpolitische Pers-
pektive, anhand derer sich im Spektrum der Eliteforschung drei konkurrierende, aber
keineswegs trennscharfe Elitekonzepte identifizieren lassen (ausf€uhrlicher Endru-
weit 1979; Kaina 2002, 2006; Waldmann 2011):
1. Der Begriff der Werteliten umfasst diejenigen, die durch ihr Verhalten die in einer
Gesellschaft geltenden Grundwerte am glaubw€urdigsten zu repräsentieren vermö-
gen. Deren Einfluss ist nicht erfassbar anhand formaler Positionen, sondern resul-
tiert in erster Linie daraus, dass ihre Mitglieder als Vorbilder wirken. Auf diese
Weise bieten sie anderen Personen Orientierung und tragen zum gesellschaftlichen
Zusammenhalt bei. Bezweifelt wird jedoch nicht nur, dass dies in modernen, sich
immer weiter ausdifferenzierenden Gesellschaften gelingen kann. Es stellt sich
auch die Frage, wer die Wertehierarchie bestimmt und inwieweit diese G€ultigkeit
beanspruchen kann (auch die Konstruktion eines „wertfreien“ vs. „wertgeladenen“
Wertelitenbegriffs vermag dies nicht zu lösen; vgl. Endruweit 1979, S. 37).
2. Dagegen bezieht sich der Begriff der Funktionseliten auf diejenigen, „die sich
durch ihre Fähigkeiten und Leistungen der Gemeinschaft als besonders n€utzlich
erweisen“ (Waldmann 2011, S. 112). Der Begriff geht zur€uck auf Otto Stammer
(1951), der – in kritischer Auseinandersetzung mit dem F€uhrerprinzip und dem
Eliteversagen in Deutschland – bereits Anfang der 1950er-Jahre die Notwendig-
keit von Eliten f€ur das Funktionieren der Demokratie betonte (Schluchter 1963,
S. 235). Gemäß dem funktionalen Begriffsverständnis erfolgt die Elitenselektion
prinzipiell aufgrund des Leistungsprinzips (ähnlich die sogenannte Leistungs-
elite; vgl. Endruweit 1979, S. 38-40), genauer anhand der in den verschiedenen
gesellschaftlichen Funktionsbereichen geltenden spezifischen Anforderungen.
Aus der jeweils eigenständigen Elitenselektion resultiert notwendigerweise Eli-
tenkonkurrenz, doch wird angenommen, dass Kommunikation und Austausch-
prozesse zwischen den verschiedenen Funktionskomplexen integrierend wirken
und zum Systemerhalt beitragen. Der Begriff der Funktionseliten ermöglicht es,
die funktionale Differenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme abzubilden und ist
nicht beschränkt auf formale, hierarchische politische Entscheidungssysteme.
Allerdings bleibt fraglich, wie „Leistungsqualifikation im Hinblick auf gesamt-
gesellschaftliche Bed€urfnisse gerade in komplexen Gesellschaften“ (Endruweit
1979, S. 40) bestimmt werden kann.
3. Als Machteliten werden schließlich diejenigen bezeichnet, denen es aufgrund
ihrer €uberlegenen Ressourcenausstattung gelingt, ihre Interessen und Ziele auch
gegen vorhandene Widerstände durchzusetzen. Eng damit verkn€upft ist der
Begriff der Positionselite, der weniger die reale Machtaus€ubung als vielmehr
die mit einer bestimmten Position verbundenen Machtpotenziale als maßgeblich
erachtet. So umfasst der von C. Wright Mills geprägte Begriff der „power elite“
diejenigen Personen, „whose positions enable them to (. . .) make decisions
having major consequences. Whether they do or do not make such decisions
is less important than the fact that they do occupy such pivotal positions“
516 M. Glaab
1
In der Perspektive der Leadership-Forschung stellt sich in ähnlicher Weise das Problem, den
effektiven Einfluss von F€
uhrungsakteuren bzw. -handeln zu messen (vgl. Helms 2012, S. 6–8).
Eliten und Leadership in der Vergleichenden Politikwissenschaft 517
Zu den Klassikern der Eliteforschung zählen die Anfang des 20. Jahrhunderts von
Gaetano Mosca, Robert Michels und Vilfredo Pareto verfassten Beiträge (vgl. Röh-
rich 1975, mit Abdrucken der Originale). Das Forschungsinteresse jener „machia-
vellistischen Elitetheoretiker“ richtete sich primär auf die Machtelite (im Zusam-
menhang damit steht auch die ideologische Aufladung des Begriffs). Gemeinsam ist
ihnen ein dichotomes Gesellschaftsbild, in dem sich aufgrund der Universalität
politischer und sozialer Ungleichheit (herrschende) Eliten und (beherrschte) Nicht-
Eliten gegen€ uberstehen. In den 1950er-Jahren erlebte die Eliteforschung, ausgehend
von den USA, einen neuen Aufschwung. Es setzte sich zusehends, allerdings
keineswegs unwidersprochen (Hartmann 2004, S. 66–70), das Paradigma des „Eli-
tenpluralismus“ durch, welches sich gegen die von der älteren Elitetheorie vertretene
Annahme einer „Elite-Masse-Dichotomie“ sowie einer – unbeschadet möglicher
innerelitärer Machtkonflikte existierenden – „kohäsiven Elite“ wandte (Hoffmann-
Lange 2003, S. 111). Vielmehr impliziere die in modernen Gesellschaften vorherr-
schende Differenzierung, dass Eliten jeweils nur gesellschaftliche Teilstrukturen
repräsentieren. Im theoretischen Fokus steht in der Folge die Frage nach der Elite-
nintegration bzw. die „Problematik kollektiver Entscheidungsfindung und die
Kooperationsfähigkeit von Eliten“ (ebd., S. 117).
Festzustellen sind allerdings erhebliche Diskontinuitäten sowie Desiderate im
Bereich der vergleichenden, empirischen Eliteforschung. Aufgrund der länderspezifi-
schen Kontextbedingungen sowie des beträchtlichen Erhebungsaufwands dominieren
Länderstudien bzw. Ländervergleiche mit kleinen Fallzahlen. Schwerpunkte bildeten
bis in die 1990er-Jahre Untersuchungen zu Eliten in Entwicklungsländern, in der
sozialistischen Staatenwelt und in industriellen Demokratien, die weitgehend unver-
bunden nebeneinander stehen (Hoffmann-Lange 1992b, S. 89). Seither hat sich der
Forschungsstand verdichtet, doch €uberwiegen weiterhin Einzelbeiträge und Sammel-
werke, was ein eher fragmentiertes Bild ergibt. Einen zentralen Gegenstand der Elite-
forschung bildet traditionell die Auseinandersetzung mit den Machtstrukturen in In-
dustriegesellschaften (siehe die Kontroverse zwischen „Elitisten“ und „Pluralisten“).2
2
Hiervon gehen weiterhin wichtige theoretische und methodische Impulse aus (vgl. Herzog 1982,
S. 102–107; Best und Higley 2010).
518 M. Glaab
3
Die Rekrutierung von Parlamentariern wie auch Kabinettsmitgliedern in nicht konsolidierten oder
auch defekten Demokratien erscheint hingegen stärker von personalen Faktoren bestimmt und weist
spezifische Diskontinuitäten auf; f€
ur das russische Präsidialsystem vgl. Semenova (2011).
520 M. Glaab
Die Eliteforschung befasst sich dar€uber hinaus mit dem Selbstverständnis und der
Rollenwahrnehmung von Eliten. Im Zentrum des Interesses stehen hier Fragen der
politischen Repräsentation und Legitimation. Dazu werden Wertorientierungen und
politische Einstellungen von Elitegruppen hinsichtlich möglicher Diskrepanzen ge-
gen€ uber den Präferenzen der Gesamtbevölkerung analysiert, mit uneinheitlichen
Befunden. Im Kontext der Wirtschafts- und Finanzkrise wurde beispielsweise ermit-
telt, dass die Wahrnehmung und Bewertung der sozialen Verhältnisse durch Eliten und
Gesamtbevölkerung in Deutschland deutlich auseinanderklaffen (Hartmann 2013). Im
Blick auf das Leadership von Eliten wäre expliziter nach dem Spannungsverhältnis
von Responsivität und F€uhrung zu fragen. Die j€ungere Forschung rekurriert dabei
unter anderem auf Prinzipal-Agent-Modelle. So hat Best (2009) f€ur Deutschland
gezeigt, dass insbesondere aus den Volksparteien stammende Bundestagsabgeordnete
4
Im Unterschied dazu schließen sozialpsychologische Ansätze von Persönlichkeitsfaktoren auf
Prozesse der Elitenselektion wie auch die politischen Präferenzen von Eliten. F€
ur deutsche Parla-
mentarier vgl. bspw. Best 2007.
Eliten und Leadership in der Vergleichenden Politikwissenschaft 521
der politischen Kommunikation, die häufig auch mit dem Schlagwort der ‚Medien-
demokratie‘ belegt werden. Marktorientierte Selektionskriterien und Präsentationsre-
geln bestimmen zunehmend die Politikberichterstattung der Massenmedien. Daraus
resultieren Regelveränderungen f€ur die Politik, die sich der Medienlogik anpassen
muss, wenn sie deren Selektionsfilter €uberwinden und die Öffentlichkeit erreichen will.
Das Konzept des Public Leadership betont F€uhrungsressourcen, die aus der
öffentlichen Sichtbarkeit von F€uhrungsakteuren bzw. deren öffentlichkeitsorientier-
ten Handlungen erwachsen (vgl. ausf€uhrlicher Glaab 2010). Die personalisierte
Politikberichterstattung fokussiert bevorzugt auf Spitzenpolitiker, weshalb diese
€uber einen privilegierten Zugang zur Medienarena verf€ugen, den sie je nach indivi-
dueller Kommunikationskompetenz – unterst€utzt durch ein professionelles Kommu-
nikationsmanagement – strategisch nutzen können. Public Leadership bezeichnet
jedoch nicht lediglich mediale Präsenz und Prominenz, sondern bezieht sich kon-
kreter auf die Mobilisierung öffentlicher Unterst€utzung und die Organisation von
Mehrheiten zur Durchsetzung der verfolgten politischen Ziele. Das Public Leader-
ship wird erst zur Machtprämie, wenn hierdurch die Stimmen-, Ämter- und Policy-
Maximierung erleichtert wird.
Politische Eliten profitieren vom Aufmerksamkeitsvorsprung, den sie in der
Medienöffentlichkeit genießen, da er ihnen potenziell Deutungsmacht verleiht.
Allerdings können deren Protagonisten keineswegs ein Realitätsdeutungsmonopol
beanspruchen, sondern konkurrieren mit anderen Deutungsangeboten. In einem sich
verschärfenden medialen Aufmerksamkeitswettbewerb bedarf es geeigneter Kom-
munikationsstrategien, um die relevanten Teile der Öffentlichkeit erreichen und von
den eigenen Deutungsangeboten €uberzeugen zu können. Dabei spielen individuelle
Leadership-Skills wie Charisma, Glaubw€urdigkeit, Überzeugungskraft und Rhetorik
eine wichtige Rolle. Relevant sind außerdem medienzentrierte Strategien des Poli-
tikmarketings, die auf die Mobilisierung öffentlicher Unterst€utzung abzielen.
Nicht zu € ubersehen sind jedoch mögliche dysfunktionale Effekte, die aus der
„kommunikative(n) Doppelrolle“ (Sarcinelli 2011, S. 174) politischer Eliten er-
wachsen. Der Kampf um öffentliche Aufmerksamkeit folgt einer Wettbewerbslogik,
wird nicht selten auf konfrontative Weise ausgetragen und soll letztlich Zustimmung
generieren. Gleichzeitig agieren politische Eliten in Verhandlungssystemen, die von
„Vertraulichkeit, Diskretion und Informalität“ (ebd.) gekennzeichnet sind. Durch
eine Verletzung dieser Spielregeln riskieren sie Vertrauensverluste bei Verhand-
lungspartnern und schränken durch öffentliche Vorfestlegungen möglicherweise
den eigenen Verhandlungsspielraum ein. Samuel Kernell (2006, S. 4) stellt mit Blick
auf die US-amerikanische Regierungspraxis sogar eine fundamentale Inkompatibi-
lität des Going Public mit den Erfordernissen des Bargaining fest. Auch das soge-
nannte Permanent Campaigning, d. h. eine kampagnenförmige Regierungsf€uhrung
mithilfe von Methoden der Meinungsforschung und des Politikmarketings, zeitigt
ambivalente Effekte. Eine Schwäche besteht in der mangelnden Kohärenz und
Verbindlichkeit tagespolitisch fixierter Zielsetzungen. Zwar kann diese Unbestimmt-
heit kurzfristig taktische Vorteile verschaffen, doch hat sie auch Glaubw€urdigkeits-
verluste zur Folge – was letztlich die Orientierungsfunktion politischer F€uhrung
gefährdet und Allegiance-Defizite nach sich zieht.
Eliten und Leadership in der Vergleichenden Politikwissenschaft 523
Aus Sicht der Eliteforschung wird angenommen, dass „medial vermittelte Infor-
mationen f€ur die Bewertung von F€uhrungskräften an Bedeutung gewonnen (haben), so
dass Elitenvertrauen als dynamisches Interaktionssystem in wachsendem Maße von
politischen Kommunikationsprozessen durchdrungen wird.“ (Kaina 2002, S. 271)
Dies verweist abermals auf die hohen kommunikativen Anforderungen, denen sich
Eliteakteure in der Mediendemokratie zu stellen haben. Bemerkenswert erscheint in
diesem Zusammenhang, dass die politischen Eliten (in Regierung, Parlament und
Parteien) nach Daten der Potsdamer Elitestudie von 1995 (vgl. Kaina 2001) ihre
„F€uhrungskapazität“ selbst als eher begrenzt und stark belastet einschätzen. Zeitpro-
bleme stellen hierbei einen wichtigen Faktor dar, sowohl im Hinblick auf die interne
als auch die externe Politikvermittlung. Handlungskorridore erscheinen durch die
wachsende Problemkomplexität, aber auch durch gestiegene Anspr€uche der Bevölke-
rung eingeschränkt. „Anpassungsleistungen“ (Sarcinelli 2011, S. 176) sind in Formen
der direkten B€ urgeransprache, aber auch in plebiszitären Tendenzen oder populisti-
schen Politikangeboten zu sehen. Die Personalisierung der Politik in den Massen-
medien hat zudem R€uckwirkungen auf die Elitenrekrutierung, da sowohl die inner-
parteilichen Machtstrukturen als auch die Wahlkampagnen zunehmend als „leader
centred“ eingestuft werden (vgl. Poguntke und Webb 2005; Benz und Higley 2009).
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Eliten und Leadership in der Vergleichenden Politikwissenschaft 525
Zusammenfassung
Zivilgesellschaft (ZG) und Neue Soziale Bewegungen (NSB) erhalten seit den
1990er-Jahren immer größere politische sowie wissenschaftliche Aufmerksamkeit.
Denn zunehmend wurde erkannt, dass ZG und NSB in politischen Systemen - seien
sie demokratisch, nichtdemokratisch oder in Transformation - zentrale Funktionen
und Aufgaben € ubernehmen. Der Beitrag verortet die beiden Konzepte innerhalb der
vergleichenden Politikwissenschaft, umreißt aktuelle Forschungsansätze und liefert
eine Übersicht €uber vergleichende Datenquellen.
Schlüsselwörter
Zivilgesellschaft • Neue Soziale Bewegungen • Interessenvermittlung • Nichts-
taatliche Leistungserbringung • Protest
1 Einleitung
Zivilgesellschaft (ZG) und Neue Soziale Bewegungen (NSB) erhalten seit den 1990er-
Jahren verstärkte Aufmerksamkeit in der vergleichenden Politikwissenschaft. Denn es
zeigte sich, dass neben den politischen Institutionen auch ZG und NSB zentrale
Aufgaben und Funktionen in allen politischen Systemen €ubernehmen. In Transforma-
B. Geißel (*)
Professorin f€ur Politikwissenschaft und politische Soziologie, Leiterin der Forschungsstelle
‘Demokratische Innovationen’, Institut f€ur Politikwissenschaft, Universität Frankfurt, Frankfurt,
Deutschland
E-Mail: geissel@soz.uni-frankfurt.de
M. Freise
Akademischer Oberrat am Institut f€
ur Politikwissenschaft, Westfälische Wilhelms-Universität,
M€unster, Deutschland
E-Mail: freisem@uni-muenster.de
2 Zivilgesellschaft
spielsweise €
uber die Zuordnung von Genossenschaften zur ZG zu streiten. Einerseits
zeichnen diese sich durch eine demokratische Organisationskultur, Mitbestimmung,
Selbsthilfe und eine starke Mitgliederorientierung aus, was sie als zivilgesellschaft-
liche Akteure klassifiziert, andererseits sind sie als Wirtschaftsunternehmungen
ebenso dem persönlichen Profit ihrer Mitglieder verpflichtet (Alscher 2011).
Die bisherigen Diskussionen zeigen bereits, dass sich ZG u€ber die vorgestellten
Definitionen hinaus auf vielfältige Weise unterscheidet. Es gibt Assoziationen, die
sich in erster Linie als politisch-demokratische Interessenvermittlung verstehen,
Gruppen, die vor allem Serviceleistungen erbringen, und Assoziationen, die der
Selbstorganisationen dienen. Dabei sind wiederum jene Akteure zu unterscheiden,
die gleichzeitig Akteure und Nutznießer ihrer Aktivität sind, und jene, bei denen
Akteure und Nutznießer nicht identisch sind. Tabelle 1 gibt einen Überblick €uber
zivilgesellschaftliche Assoziationen mit ihren jeweiligen Zielen.
2.3 Funktionen
Die Politikwissenschaft fokussiert vornehmlich das Verhältnis von ZG und Staat und
fragt nach den Funktionen, die ZG in demokratischen, in nicht-demokratischen
Staaten sowie in Transformationsprozessen €ubernimmt (z. B. Merkel und Lauth
1998). Während zivilgesellschaftliche Aktivitäten als Grundvoraussetzung f€ur das
Funktionieren von Demokratien und als Bestandteil demokratietheoretischer Ent-
w€ urfe gelten (Kocka 2003, S. 32; Adloff 2005; Klein 2001), besteht in autoritären
Staaten generell ein eingeschränkter Spielraum f€ur zivilgesellschaftliche Organisa-
tionen und zivilgesellschaftliches Handeln. Dennoch weisen auch autoritäre Staaten
häufig im Bereich der Serviceerbringung systemrelevante zivilgesellschaftliche
Strukturen auf. Ihre demokratischen Funktionen kann ZG jedoch nicht oder nur
eingeschränkt wahrnehmen und entsprechende Gruppierungen sind einer ständigen
Bedrohung seitens des Staates ausgesetzt. In Transformationsgesellschaften spielen
ZG häufig eine zentrale Rolle bei Systemveränderungen.1
In diesem Beitrag konzentrieren wir uns auf f€unf zentrale Funktionen, die ZG in
demokratischen Gesellschaften zugeschrieben werden (z. B. Merkel und Lauth
1998). Typischerweise werden diese Funktionen in modernen Demokratietheorien
miteinander verwoben, je nach theoretischer Provenienz jedoch unterschiedlich ge-
wichtet. Als ideengeschichtlich älteste lässt sich (1) die Protektionsfunktion identi-
fizieren. Demnach ist ZG ein Schutzraum gegen einen allmächtigen Staat, der in die
Privatsphäre der B€urgerinnen und B€urger vordringt. Diese Funktion wird heute vor
allem von nordamerikanischen Theoretikerinnen und Theoretikern verfochten, die
f€ur einen minimalistischen Staat eintreten (von Beyme 2000). Eine zweite wichtige
1
Siehe hier auch die Beiträge von Lauth und Pickel in diesem Band.
530 B. Geißel und M. Freise
Die vergleichende Politikwissenschaft bezieht sich auf das Konzept der ZG vor
allem im Kontext der Transformations-, der Partizipations- und Demokratie- sowie
der Wohlfahrtsstaatsforschung.
Die Transformationsforschung befasst sich vor allem seit dem Zusammenbruch des
real-existierenden Sozialismus mit der Rolle der ZG. Sie fragt nach der Einflussstärke
von ZG und hat den Einfluss unterschiedlicher interner und externer Faktoren heraus-
gearbeitet. Dazu gehören unter anderem die Ausprägung des abgelösten autoritären
2
Siehe hierzu den Beitrag von Freitag und Ackermann in diesem Band.
Zivilgesellschaft und soziale Bewegungen in der Vergleichenden. . . 531
Soziale Bewegungen, worunter sowohl die neuen als auch die alten Bewegungen zu
fassen sind, werden nach einer allgemein akzeptierten Definition von Roth und
Rucht (2002, S. 297) definiert als „auf eine gewisse Dauer gestellte und durch eine
kollektive Identität abgest€utzte Versuche von Gruppen, Organisationen und Netz-
werken, grundlegende gesellschaftliche Veränderungen (. . .) herbeizuf€uhren oder zu
verhindern.“ NSB weisen teilweise Ähnlichkeiten zu den älteren sozialen Bewegun-
gen wie beispielsweise der Arbeiterbewegung auf, aber ebenso Differenzen. Fr€uhere
soziale Bewegungen zielen zwar ähnlich wie die NSB auf gesellschaftliche Verän-
derungen, sie unterscheiden sich von den NSB allerdings durch die Akteure, Ziele
und Organisations- sowie Aktionsformen. NSB ist dabei ein Sammelbegriff f€ur
verschiedene politische Strömungen, welche im Gefolge der Studentenbewegung
seit den späten 1960er-Jahren aufkamen. Zu den wichtigsten NSB zählten zunächst
die Ökologiebewegung, die zweite Welle der Frauenbewegung, die Lesben- und
Schwulenbewegung und die Friedensbewegung (Roth und Rucht 2008). Seit den
1990er-Jahren schoben sich vor allem die Themen Globalisierung und Globalisie-
rungskritik in den Vordergrund.
NSB können als Ausdruck zivilgesellschaftlichen Handelns betrachtet werden, da
sie als kollektive Akteure Interessen vertreten. Sie haben jedoch, im Gegensatz zur
ZG, einen in erster Linie politischen Charakter, da sie versuchen, gesellschaftlichen
Wandel anzustoßen, voranzutreiben oder umzukehren, und sie bedienen sich Ak-
tionsformen, die nicht in das zivilgesellschaftliche Repertoire passen. In einigen
Studien werden jedoch NSB und ZG – ebenso NSB und Protest – zusammengefasst
(z. B. McAdam et al. 2005; Westle 2004).
Die Akteure (also die Träger- und Anhängergruppen) der NSB sind themenspezifisch
breit gestreut. Zu einzelnen Themen, z. B. lokalen Umweltproblemen, lassen sich
Personen aus allen Bevölkerungsschichten mobilisieren. Die Mehrheit der Träger-
und Anhängerschaft entstammt jedoch – im Gegensatz zu den alten Bewegungen –
der gebildeten Mittelschicht, sind also €uberwiegend Personen mit hoher formaler
Schulbildung. Am stärksten beteiligen sich jene aus dem Sektor der Humandienst-
leistungen (Roth und Rucht 2002, S. 298). Weiterhin spielt das Alter eine Rolle; es
sind eher die j€ungeren und mittleren Generationen, welche sich in den NSB enga-
gieren. Frauen und Männer beteiligen sich in nahezu gleichem Umfang (Westle
2004). Das Interesse an Politik und das Gef€uhl subjektiver politischer Kompetenz
gehen mit einer Tendenz zu NSB-Aktivitäten einher, ebenso eine linke politische
Selbsteinstufung und eine postmaterialistische Wertorientierung. Die Bewertungen
der eigenen und der gesellschaftlichen Wirtschaftslage sind irrelevant (Westle 2004).
534 B. Geißel und M. Freise
3.3 Funktionen
gegen€ uber der Partizipation von „Gruppen an den Rändern des Institutionensys-
tems“, häufig wechselnde Regierungs- und Oppositionsparteien, die Wahrnehmung
einflussreicher Verb€undeten sowie politische Konflikte zwischen Eliten (Tarrow
1991, S. 652–653). Im Zusammenhang mit dem Ansatz der Gelegenheitsstrukturen
ist weiterhin der Political-Process-Ansatz zu nennen. Dieses vor allem von Tilly
(1978) und McAdam (1983) ausgearbeitete Konzept betont den Zusammenhang
zwischen institutionalisierter Politik und sozialen Bewegungen (z. B. Della Porta
und Diani 1999, S. 9–11) sowie die Interaktionen von Bewegungen und deren
Bezugsgruppen.
Im Framing-Ansatz werden Strategien von NSB untersucht, gesellschaftliche
Ereignisse so zu „rahmen“ und zu interpretieren, dass Mobilisierung gelingt (Snow
et al. 1986). Beispielsweise wurde die Abtreibungsdebatte in verschiedenen Staaten
mit unterschiedlichen Deutungsmustern „gerahmt“, in den USA etwa als individuel-
les Wahlrecht („pro choice“) und in der Bundesrepublik als Frauenrecht („Mein
Bauch gehört mir“). (Mobilisierungs-)Erfolge sind aus dieser Perspektive abhängig
vom passenden „Framing“.
Seit einigen Jahren zeichnen sich Weiterentwicklungen im Zuge von Globalisie-
rungsprozessen ab. NSB agieren zunehmend transnational und diese Entwicklung
spiegelt sich in aktuellen Forschungsansätzen wider. Dabei lassen sich drei Ansätze
unterscheiden. Eine erste Kategorie umfasst normativ argumentierende Publikatio-
nen, die in transnationalen Bewegungen (einschließlich zivilgesellschaftlicher As-
soziationen) die Hoffnung auf eine „bessere Welt“ setzen. Die zweite Art an Publi-
kationen umfasst vergleichende Studien mit einer stärker analytischen Perspektive,
häufig mit Fokus auf die globalisierungskritischen Bewegungen (‚global justice
movements‘; Andretta et al. 2003). Die dritte Kategorie umfasst Studien, die sich
auf NSB-Aktivitäten im Kontext eines spezifischen Themas konzentrieren, z. B. zu
Landminen, und häufig wenig Forschungstheoretisches beitragen.
Daten zu NSB werden in der Regel aus zwei Quellen gewonnen. Zum einen bezieht
sich die NSB-Forschung auf Survey-Daten, zum anderen auf Dokumente, wie
beispielsweise Presseberichte. Survey-Daten liegen vor seit der Political Actions
Studie (Barnes et al. 1979) und haben in den letzten Jahren einen enormen Boom
erfahren, z. B. mit dem World Values Survey. Diese Umfragen weisen darauf hin,
dass weltweit eine seit den 1970er-Jahren kontinuierlich anwachsende Anzahl an
Personen in verschiedenen NSB partizipiert.3 Beispielhaft werden in Tab. 2 Daten
zur Beteiligungsformen der NSB in Großbritannien, Deutschland und Frankreich
dargestellt.
3
Zur vergleichenden politischen Partizipationsforschung siehe auch den Beitrag von van Deth in
diesem Band.
Tab. 2 Teilnahme an Beteiligungsformen der NSB (Angaben in Prozent)
Großbritannien Deutschland Frankreich
1974 1981 1990 2000 2008 1974 1981 1990 2000 2008 1981 1990 2000 2008
Unterschriften sammlung 22 63 75 79 66 30 46 55 51 48 44 51 68 66
Genehmigte Demonstration 6 10 13 13 16 9 14 25 27 30 26 31 40 37
Boykott 5 7 14 17 10 4 7 9 10 7 11 11 13 8
Wilder Streik 5 7 8 10 n.a. 1 2 2 2 n.a. 10 9 13 n.a.
Hausbesetzung 1 2 2 2 n.a. <1 1 1 <1 n.a. 7 7 9 n.a.
Gewalt gegen Sachen 1 2 n.a. n.a. n.a. <1 1 n.a. n.a. n.a. 1 n.a. n.a. n.a.
Gewalt gegen Personen <1 1 n.a. n.a. n.a. <1 1 n.a. n.a. n.a. 1 n.a. n.a. n.a.
Quelle: Daten 1974 – 2000 berechnet von Rucht (2005) u. a. auf Basis Political Action Study (1974/5) und World Values Survey (1981, 1990/1991); Daten 2008
ergänzt von den Autoren auf Basis World Value Survey (2008)
Zivilgesellschaft und soziale Bewegungen in der Vergleichenden. . .
537
538 B. Geißel und M. Freise
4 Zusammenfassung
In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten wurde erkennbar, dass ZG und NSB in
Transformationsgesellschaften sowie in Demokratien nicht nur in der Leistungser-
bringung, sondern auch hinsichtlich ihrer politischen Funktionen immer wichtiger
werden. Aktuelle Entwicklungen verweisen darauf, dass die Bedeutung in den
nächsten Jahren zunehmen wird (z. B. Arabischer Fr€uhling, Stuttgart 21, Pegida).
Das hat vor allem zwei Gr€unde: In vielen autoritär gef€uhrten Staaten lassen sich
Bewegungen in Zeiten neuer sozialer Medien wie dem Internet immer schwerer im
Zaum halten. Und in den etablierten Demokratien des Westens lässt sich gegenwär-
tig ein allgemeines Unbehagen an der vermeintlich verknöcherte Repräsentativ-
demokratie feststellen, welches zum Aufflackern vielfältiger ZG- und NSB-Aktivi-
täten f€
uhrt.
Angesichts dieser – unterschiedlichen – demokratischen Herausforderungen wer-
den ZG und NSB häufig als Garant f€ur Demokratie und als Gegenentwurf zu
sklerosierten Strukturen in nicht-demokratischen sowie in demokratischen Systemen
dargestellt. Die Beziehungen zwischen ZG, NSB, Staat und Demokratie sind jedoch
komplex und vielschichtig – und gestalten sich je nach nationalstaatlichem und
internationalem Kontext unterschiedlich. Deshalb sollten sich die Sozialwissen-
schaften h€uten, ZG und NSB pauschal als demokratische Hoffnungsträgerinnen zu
€uberzeichnen. Zwar sind sie f€ur das Funktionieren einer Demokratie unerlässlich,
gleichwohl können in ihnen auch autoritäre, exkludierende und unsolidarische
Verhaltensmuster heranwachsen, wie beispielsweise die Pegida-Bewegung zeigt.
Welche (demokratieförderlichen) Funktionen NSB und ZG in welchen Kontexten
und unter welchen Bedingungen €ubernehmen (können) – diese empirische Frage
wird die Vergleichende Politikwissenschaft noch einige Zeit beschäftigen.
Zivilgesellschaft und soziale Bewegungen in der Vergleichenden. . . 539
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Politische Kultur in der Vergleichenden
Politikwissenschaft
Zusammenfassung
Das Forschungsinteresse der politischen Kulturforschung gilt der Kongruenz von
politischer Kultur und politischer Struktur sowie der Legitimität politischer
Systeme. Ziel ist die Bestimmung und Erklärung der Vorbedingungen politischer
Stabilität. Politische Kultur beschreibt die subjektive Seite von Politik und wird
als ein B€ undel an Einstellungen und Werten verstanden, das auf verschiedene
politische Objekte ausgerichtet ist. Die politische Kulturforschung schließt an die
Systemtheorie an, besitzt einen streng analytischen Charakter sowie eine empi-
rische Ausrichtung, die eine Untersuchung sowohl von Demokratien als auch
Autokratien zulässt. Sie ist in hohem Maße komparativ angelegt und gilt als ein
zentraler konzeptioneller Ansatz der Vergleichenden Politikwissenschaft. Als
Grundlage dienen komparative Bevölkerungsumfragen.
Schlüsselwörter
Vergleichende Politikwissenschaft • Demokratie • Politische Kultur • Legitimität
S. Pickel (*)
Professorin f€ur Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Vergleichende Politikwissenschaft,
Institut f€ur Politikwissenschaft, Universität Duisburg-Essen, Duisburg, Deutschland
E-Mail: susanne.pickel@uni-due.de
G. Pickel
Professor f€ur Religions- und Kirchensoziologie, Institut f€
ur Praktische Theologie, Universität
Leipzig, Leipzig, Deutschland
E-Mail: pickel@rz.uni-leipzig.de
In der Anfangszeit der Politikwissenschaft setzte sich die Analyse politischer Sys-
teme hauptsächlich mit politischen Institutionen und strukturellen Rahmenbedin-
gungen politischen Handelns auseinander. Der B€urger kam in diesen Betrachtungen
häufig nur am Rande vor und spielte f€ur das politische Geschehen eine eher unter-
geordnete Rolle. Die historisch ausgerichteten institutionalistischen und systemtheo-
retischen Ansätze sahen B€urger €uberwiegend als von Außenbedingungen determi-
niert und entsprechend in ihren Handlungen (und damit auch in ihren politischen
Wirkungen) als beschränkt an. In den 1960er-Jahren f€uhrten Erfahrungen aus For-
schungsarbeiten des Behaviorismus sowie der Entwicklungsländerforschung zu
einem gewissen Umdenken. In Erweiterung der Grundgedanken der Systemtheorie
von Talcott Parsons (1951; Parsons/Shils 1951), entwickelten verschiedene angel-
sächsische Politikwissenschaftler (Gabriel Almond, David Easton, Seymour
M. Lipset, Sidney Verba) Konzepte, die von einem größeren Einfluss der B€urger
auf Stabilität und Wandel politischer Systeme ausgingen. Diese Konzepte wurden in
der Folgezeit unter dem Ansatz der politischen Kulturforschung zusammengefasst.
Er beinhaltet eine Vielzahl theoretischer Überlegungen, konzeptioneller Annahmen
und empirischer Analysen.Uneinigkeit besteht darin, ob es sich um eine geschlos-
sene Theorie oder ein B€undel von Annahmen und Ansätzen handelt. Mehrheitlich
hat sich in den letzten Jahrzehnten jedoch seine Beurteilung als relativ geschlossener
analytischer Forschungsansatz durchgesetzt, der Grundannahmen f€ur die verglei-
chende empirische Analyse politischer Systeme liefert. Als verbindendes Ziel aller
darin zusammengefassten Überlegungen gilt, dass sich die politische Kulturfor-
schung zur Aufgabe macht, Aussagen €uber die Verankerung der politischen Systeme
in ihren Gesellschaften vorzunehmen.
Zur Ausbreitung der politischen Kulturforschung haben unterschiedliche Aspekte
beigetragen: (1) Zum ersten etablierte sich eine gestiegene Sensibilität f€ur kulturelle
Entwicklungen in Gesellschaften und f€ur die politischen Einstellungen der B€urger.
So zeigte sich, dass sich viele politische Entwicklungen eben nicht allein aus
objektiven Rahmenbedingungen erklären ließen. Zum Teil waren sie Folge politi-
scher Handlungen der B€urger, die in erheblichem Umfang subjektiven Wahrneh-
mungen der Rahmenbedingungen unterworfen waren. Gerade die Protestbewegun-
gen der 1960er-Jahre wiesen auf potentielle Diskrepanzen zwischen den
vorherrschenden politischen Strukturen und den Vorstellungen der B€urger hin, die
politische Sprengkraft und auch gesellschaftlichen Veränderungsdruck mit sich brach-
ten. (2) Durch diese Entwicklungen kamen verstärkt Prozesse der Individualisierung
und der zunehmenden Handlungsautonomie der B€urger in den Blick. Der Behavioris-
mus widmete sich den Einstellungen und Handlungen der B€urger und trug zu wissen-
schaftlichen Rezeptionsgewinnen der politischen Kulturforschung bei. (3) Relevant
war und ist die methodische Weiterentwicklung der vergleichenden Surveyforschung.
Sie sorgte f€ur belastbare Information €uber das zentrale Ziel der politischen Kultur-
forschung, Einstellungen und Werte der B€urger, und ermöglichte €uber diesen Erkennt-
nisgewinn hinaus kulturvergleichende Perspektiven. (4) Als Triebkraft ebenfalls nicht
Politische Kultur in der Vergleichenden Politikwissenschaft 543
zu unterschätzen ist die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu beobachtende
Ausbreitung demokratischer politischer Systeme (ob nun linear oder in Demokratisie-
rungswellen). Da in Demokratien den B€urger eine wesentlich höhere Bedeutung f€ur das
politische System zugestanden wird als in anderen Regimetypen, förderte die Verbrei-
tung dieses Regimetyps auch das Interesse an den politischen Überzeugungen seiner
B€urger.
Die Bedeutung der zeitweise zunehmenden Verbreitung demokratischer politi-
scher Regime f€ ur die Ausbreitung der politischen Kulturforschung wird dadurch
gest€
utzt, dass sich das, seit den 1980er-Jahren kurzzeitig etwas erlahmte, Interesse an
den politischen Einstellungen der B€urger seit Beginn der Transformationen in
Lateinamerika und Osteuropa erheblich revitalisiert hat. Fragen nach der (zuk€unfti-
gen) Stabilität junger Demokratien, der Bedeutung der Bevölkerung im Rahmen des
Institutionenbildungsprozesses (der teilweise ja auch ein Staatenbildungsprozess
war) und das gestiegene Interesse an differenzierteren Analysen demokratischer
Systeme verhalf der politischen Kulturforschung zu einer bis heute wichtigen
Funktion in der Bestimmung der Stabilität (und oft auch Qualität) von Demokratien
in vergleichender Perspektive. Dieser Relevanzgewinn zeigt sich in der Responsi-
vität anderer theoretischer Zugänge f€ur verschiedene Aspekte der politischen Kultur.
So integrierten der Neoinstitutionalismus wie auch Varianten der Rational Choice-
Theorie mittlerweile kulturelle Elemente in ihre Ansätze (Lauth et al. 2014).
Was erfasst der Begriff der politischen Kultur €uberhaupt? Hier€uber entz€undete sich
bereits zu Beginn der politischen Kulturforschung einige Kritik. Max Kaase (1983)
äußerte mit Blick auf das Konzept der politischen Kulturforschung, dass der Ver-
such, den Begriff „politische Kultur“ zu fassen, dem Unterfangen gleicht, einen
Pudding an die Wand nageln zu wollen. Die Definition wie auch die Verwendung des
Begriffs durch verschiedene Forscher variiere so stark, dass von einem einheitlichen
Konzept keine Rede sein könne. Diese skeptische Betrachtungsweise ist mittlerweile
weitgehend € uberwunden (Salzborn 2011). In der Vergleichenden Politikwissenschaft
hat sich eine Begriffsfassung von politischer Kultur durchgesetzt, die analytisch und
auf empirische Überpr€ufbarkeit ausgerichtet ist. Politische Kultur sind in diesem
Verständnis die auf politische Objektive ausgerichteten Einstellungen und Wert-
orientierungen der B€urger (Easton 1975).
Damit sind es subjektive Haltungen, die eine politische Kultur konstituieren. Der
politischen Kulturforschung geht es jedoch nicht um die Einstellungen des Einzel-
b€urgers f€
ur sich, sondern um das Kollektiv und dessen repräsentative Überzeugun-
gen.1 Eine politische Kultur ist entsprechend ein B€undel aus Einstellungen und
1
Dies schließt nicht aus, dass individuelle Orientierungen f€
ur die politische Kulturforschung von
Interesse sind, sie werden innerhalb der Länder mit Blick auf spezifische Beziehungsmuster zu
anderen Einstellungen oder Umfeldbedingungen untersucht.
544 S. Pickel und G. Pickel
Werten der B€ urger eines Gebietes oder Kollektivs (Almond und Verba 1963). Unter-
schiede der politischen Kultur(en) zwischen Subgruppen von Gesellschaften erhal-
ten dann Bedeutung, wenn es um den Erhalt oder die Gefährdung des politischen
Systems geht. Kurz gesagt: Das zentrale Ziel der politischen Kulturforschung ist die
Erfassung „subjektiver“ Rahmenbedingungen, d. h. der politischen Kultur einer
Gesellschaft, die die Stabilität eines politischen Systems fördern oder gefährden.
Dieses analytische Begriffsverständnis unterscheidet sich strikt von einem normati-
ven oder alltäglichen Verständnis von politischer Kultur.2 Das Alltagsverständnis
deutet politische Kultur im Sinne politischer Umgangsformen oder Politikstile und
beurteilt dabei angestellte Beobachtungen zumeist unter einem wertenden Aspekt
(Verstoß, Mangel, Verlust usw.). Im Sinne der (klassischen) politischen Kulturfor-
schung beinhaltet politische Kultur aber keine Wertung, sondern sie ist eine neutrale
Bezeichnung geb€undelter Einstellungen. Entsprechend hat auch jedes Land eine
bestimmte politische Kultur, die Frage ist nur, welche Ausprägung sie besitzt und
in welchem Verhältnis sie zur politischen Struktur steht.
F€ur dieses Verhältnis zwischen Kultur und Struktur stellt die politische Kultur-
forschung Annahmen auf: Fehlt eine zumindest positiv-neutrale Haltung gegen€uber
dem politischen System, dann unterliegt dieses im Krisenfall (egal, ob dieser ökono-
misch, politisch oder sozial ist) der Gefahr eines Zusammenbruchs (Lipset 1981). Die
B€urger sind immer weniger bereit, aktiv f€ur das gegenwärtige System einzutreten und
den bestehenden Regeln und Normen zu folgen. Die politische Struktur wandelt sich
(Reform) oder es kommt zu einem Zusammenbruch (Kollaps, Revolution). Aber auch
die politische Struktur, zum Beispiel das Institutionensystem, den Erwartungshaltun-
gen der B€ urger gerecht werden. Zentraler Bezugspunkt f€ur die Stabilität eines politi-
schen Systems ist die Kongruenz von politischer Kultur und Struktur. Demokratische
Institutionen benötigen zum Beispiel eine demokratische politische Kultur, um sich
entfalten zu können und adäquat zu funktionieren. Dies impliziert ein gewisses
Wohlwollen der B€urger gegen€uber der Struktur ihres demokratischen Systems und
die Akzeptanz demokratischer Grundwerte wie auch die Einhaltung der demokrati-
schen Regeln durch die politischen Eliten. Nicht immer muss die ganze Bevölkerung
die Einstellungen teilen, allerdings zielen die Annahmen der politischen Kulturfor-
schung auf die Überzeugungen der Mehrheitsbevölkerung oder zumindest politisch
besonders relevanter Gruppen von einer hinreichenden Gruppengröße. Zum Beispiel
sollten mindestens 75 Prozent der Bevölkerung demokratische politische Überzeugun-
gen besitzen, damit eine Demokratie auch Krisenphasen €ubersteht. Nur wenn keine
größeren Gruppen von etwa 15 Prozent der Bevölkerung in einer Demokratie existie-
ren, die sie ablehnen oder – noch problematischer – aktiv gegen sie vorgehen, ist ihr
Überleben € uber eine längere Zeit zu erwarten (Diamond 1999).
Aus den bisherigen Ausf€uhrungen wird deutlich, dass die politische Kulturfor-
schung von ihrem Beginn an vor dem Hintergrund demokratischer Systeme gedacht
wurde. Zwar verweisen nahezu alle Ansätze der politischen Kulturforschung auf die
2
Völlig zu unterscheiden ist der Kulturbegriff von einem Hochkulturverständnis, welches sich auf
den Bereich der K€unste bezieht.
Politische Kultur in der Vergleichenden Politikwissenschaft 545
Effekvität
+ -
+ A B
Legimität
- C D
Abb. 1 Raster f€ur eine Typologisierung von Ländern nach Seymour M. Lipset. Quelle: Lipset
(1981, S. 68)
3
Bei Lipset wird ausschließlich von Effektivität gesprochen.
Politische Kultur in der Vergleichenden Politikwissenschaft 549
Systeme erwartet werden. Box C beinhaltet zwar effektive, aber (noch) nicht als
legitim angesehene politische Systeme. Sie leben von ihrer (oft ökonomischen)
Leistungsfähigkeit. Kommt es in diesen Systemen zu wirtschaftlichen und politischen
Krisen, so ist ihr Überleben nicht gesichert, da sie keinen grundsätzlichen Halt in der
Bevölkerung besitzen. Sie funktionieren zwar, sind aber instabil. Die geringste Ver-
änderung in der kurzfristig angelegten Effektivität kann zu ihrem Zusammenbruch
f€uhren. Systeme des Typs C können auch – betrachtet man es in zeitlicher Perspektive
– ein Übergangsstadium hin zu Typ A darstellen. So wird zum Beispiel die Ausbil-
dung von politischer Legitimität als Folge der ökonomischen Erfolge des deutschen
Systems der Nachkriegszeit als typisches Beispiel f€ur eine solche Entwicklung ange-
f€
uhrt. Politische Systeme in Box B befinden sich zwar gerade in einer Effektivitäts-
krise, können aber auf einen Legitimitätsvorschuss zur€uckgreifen. Erst wenn die
Effektivitätskrise länger anhält, kommt es zu einer Gefährdung des politischen Sys-
tems. In Demokratien wäre eine typische Reaktion auf Effektivitätskrisen der Aus-
tausch des politischen Personals durch Abwahl der Regierung. Erst wenn sich dies
nicht als eine erfolgreiche Strategie gegen die negativ bewertete Leistungsfähigkeit
des politischen Systems erweist, entstehen tiefer gehende Probleme auf der Ebene der
generellen politischen Ordnung eines Systems – es entsteht eine Legitimitätskrise des
politischen Systems (vgl. Watanuki et al. 1975; Pharr und Putnam 2000).
Aufgrund der vorliegenden (dynamisch angelegten) Typologisierung können
somit nicht nur Aussagen zur Stabilität von politischen Systemen getroffen, sondern
auch Prozesse zunehmender oder abnehmender Stabilität erfasst werden. Es finden
sich dabei seltener direkte Übergänge zwischen A und D, sondern eher Entwicklun-
gen, in denen Länder unterschiedliche Phasen durchlaufen: so zum Beispiel D
= > C = > A (ein instabiles System wird ökonomisch erfolgreich und kann sich
durch dauerhaften Erfolg Legitimität sichern) oder A = > B = > D (ein fr€uher
stabiles System bleibt €uber lange Zeit ineffektiv und bricht schlussendlich zusam-
men). Diese Prozesse sind dabei in jeder Stufe und zu jeder Zeit reversibel, benöti-
gen aber einen gewissen zeitlichen Spielraum.
David Easton (1965, 1975) konzentrierte sich auf die Systematisierung der Ziel-
punkte der politischen Einstellungen der B€urger und die Form der Beziehung
zwischen den B€ urgern und diesen Objekten. Auch f€ur ihn ist die Stabilität des
politischen Systems – die er als Persistenz bezeichnet – zentral. Er nennt die
Beziehung zwischen B€urger und politischem System „politische Unterst€utzung“
(political support). Der Begriff der (politischen) Unterst€utzung wird als eine Ein-
stellung verstanden, mit der sich eine Person gegen€uber einem (politischen) Objekt
orientiert. Wie bei dem Begriff „politische Kultur“ ist „politische Unterst€utzung“
keine normative, sondern eine analytische Bezeichnung. Alle Objekte können nach
Easton positiv oder negativ unterst€utzt werden. F€ur den Erhalt der Persistenz eines
politischen Systems ist allerdings eine €uberwiegend positive politische Unterst€ut-
zung vonnöten. Diese Unterst€utzung (support) erhält das politische Regime im
550 S. Pickel und G. Pickel
Unterstützungsobjekte
In der Folge der Wirtschaftskrisen der 1970er- und 1980er-Jahre etablierten sich
Debatten € uber eine Legitimitätskrise westlicher Demokratien (vgl. Watanuki
et al. 1975; Pharr und Putnam 2000). Sie st€utzten sich neben der Beobachtung einer
sinkenden Wahlbeteiligung und eines Zuwachses an unkonventionellen Formen
politischer Proteste auf eine sinkende Zufriedenheit mit den westlichen Demokra-
tien. Die aus diesen Diskussionen erwachsende Renaissance der politischen Kultur-
forschung äußerte sich in ihrer Entwicklung hin zu einer nun expliziten Form der
„kulturellen Demokratieforschung“ (Fuchs 2002). Dies war angesichts der bereits
beschriebenen impliziten Tendenzen in den Arbeiten Almond und Verbas (1963),
Eastons (1965) und Lipsets (1959, 1981) nur konsequent. So sind die (f€ur die
politische Kulturforschung grundlegenden) Beziehungen zwischen Struktur und
Kultur empirisch eigentlich fast nur f€ur demokratische oder teildemokratische Sys-
teme sinnvoll zu bestimmen. Eine Konzentration auf Demokratien lässt zumindest
das normative Grundger€ust (Freiheit, Gerechtigkeit, Kontrolle, Partizipation, Wett-
bewerb), zu dem sich die B€urger bekennen können, klar erkennen. Der empirische
Gewinn dieser nun vollzogenen Einschränkung auf Demokratien liegt in einer
besseren Spezifikation des empirischen Instrumentariums. Erfolgte bei der Frage
nach der Demokratiezufriedenheit „im Land“ eine (wenn auch f€ur die Stabilität des
politischen Regimes nicht uninteressante) Vermengung von spezifischen und diffu-
sen Unterst€ utzungselementen, zielen Fragen nach der „Demokratie als dem ange-
messensten Regierungssystem“ oder nach der „Zustimmung zur Idee der Demokra-
tie“ oder auch die Frage nach der Ablehnung anti-demokratischer Regimealternativen
(Militär, Sozialismus, Diktatur, Monarchie) stärker auf die diffuse Unterst€utzung oder
die Legitimität des demokratischen Systems bzw. der Demokratie an sich. Dies deutet
auf eine wichtige Modifikation im sich immer stärker durchsetzenden Konzept der
politischen Unterst€utzung hin. So differenziert Dieter Fuchs (2002, 2007) zwischen
den normativen Prinzipien (Wertemuster) der Demokratie, deren implementierter
(Institutionen-)Struktur und der Performanzebene der implementierten Demokratie
und setzt diese drei Unterst€utzungsobjekte zusätzlich in ein hierarchisches Verhältnis
zueinander. Damit wurde die Identifikation zeitlicher Abläufe möglich, die zusätzlich
eine Aussagekraft hinsichtlich der Genese politischer Unterst€utzung besitzt. Eine
positive politische Unterst€utzung auf der obersten Hierarchieebene der Werte beein-
flusst die Beurteilung der Struktur und der Leistungen der demokratischen Institutio-
nen. Umgekehrt wirkt aber – und dies deckt sich mit den Überlegungen Eastons,
Lipsets und Almond und Verbas – die gesammelte Perzeption des Outputs des
politischen Systems u€ber längere Zeit wieder auf die langsam verlaufende Ausbildung
der Wertebene zur€uck.
Zudem stellt Fuchs (2002, S. 36–37) den Konstrukten der Einstellungen konkrete
Zielebenen auf der Ebene der politischen Struktur gegen€uber. Aufgrund dieser
Festlegung erreicht er eine eindeutige Trennung zwischen Einstellungskonstrukten
und Systemkonstrukten (bzw. systemischen Konsequenzen), was ihm die Möglich-
keit eröffnet, konkrete Kriterien f€ur die Einhaltung oder Nichteinhaltung demo-
552 S. Pickel und G. Pickel
Demokraeverständnis
Idenfikaon mit der
Anerkennung der Idenfikaon mit der Naon bzw. Identäts-
a polischen polischen empfinden mit der
Gemeinscha Gemeinscha (mulethnischen)
polischen Gemeinscha
Unterstützung des
Einschätzung der aktuellen polischen
System- Verwirklichung der Systems im Land
c unterstützung Werte und Normen
des polischen Systems Legimität des
aktuellen polischen
Systems
Erwartungssicherheit Instuonenvertrauen
Vertrauen bzgl. der Werte und Vertrauen in Amtsträger
d
Normen des polischen
Regieren zum
Systems Gemeinwohl
polische und
wirtschaliche
Performanz- Zufriedenheit mit der
Leistungsfähigkeit der
e bewertung tatsächlichen
Amtsträger
Amtsführung
polische Effekvität
wirtschal. Effekvität
Abb. 3 Demokratieverständnis und politische Kultur. Quelle: Fuchs (2002, S. 37); Norris (1999,
2011, S. 24, 44); umfangreiche eigene Ergänzungen
des politischen Systems durch seine B€urger. Wenn die B€urger das politische System,
seine Institutionen und Autoritäten unterst€utzen, dann verlangen sie auch eine
Gegenleistung: Sie erwarten, dass die Autoritäten in der Lage sind, die B€urger in
angemessener Weise zu versorgen (e). Dies impliziert jedoch nicht nur eine Ver-
554 S. Pickel und G. Pickel
sorgungsleistung im Sinne einer sozialen und wirtschaftlichen F€ursorge, die sich aus
einer prosperierenden Ökonomie speist, sondern auch eine politische Leistung der
Autoritäten im Sinne verbindlicher und gemeinwohlorientierter politischer Entschei-
dungen und Ergebnisse (bei Easton 1975 spezifische Unterst€utzung der politischen
Autorität).
Erste empirische Untersuchungen zur Wirkung der Demokratievorstellungen auf
die politische Kultur ost- und westeuropäischer Gesellschaften zeigen, dass Freiheit,
soziale Gleichheit und politische Kontrolle die Demokratiebilder der Europäer
prägen – allerdings wirken sich in Demokratien nur die Freiheitsvorstellungen auf
die Dimensionen der politischen Kultur aus. Sie unterst€utzen das Legitimitätsemp-
finden und die Duldsamkeit der B€urger in Zeiten wirtschaftlicher und/oder politi-
scher Krisen (Pickel 2014). In ähnliche Richtung deuten neuere Untersuchungen von
Ronald Inglehart und Christian Welzel (2005). Sie untersuchen €uber den Weg des
„Humankapitals“ sowohl die Prägekraft der politischen Kultur f€ur die politischen
Strukturen als auch deren Beziehung zu Modernisierungsprozessen. Unter Nutzung
von Daten der World Values Surveys kommen sie zu dem Ergebnis, dass sozioöko-
nomische Modernisierungsprozesse, wenn auch aufgrund unterschiedlicher
historisch-kultureller Rahmenbedingungen pfadabhängig, Prozesse der Selbstentfal-
tung fördern (siehe hierzu den Beitrag zu Wertewandel) und diese wiederum eine
Nachfrage nach Demokratie entwickeln. Dabei stellt eine demokratische politische
Kultur als Zielvorstellung der B€urger das zentrale Bindeglied zwischen den Selbst-
entfaltungswerten und der politischen Struktur dar (vgl. Welzel 2013).
Insgesamt deuten die vorliegenden komparativen Befunde der politischen Kultur-
forschung genauso wenig auf eine grundsätzliche Legitimitätskrise in den west-
lichen Demokratien hin so fällt die Zustimmung zu Demokratie als Staatsform in
den westlichen Demokratien der Regel €uberwältigend aus – wie sie Hinweise auf
eine R€uckkehr zu einer unhinterfragten „demokratischen Untertanenkultur“ erbrin-
gen. Allerdings zeigt letzteres die nicht unerhebliche Kritik an der aktuellen Demo-
kratie und ihren Autoritäten (Stichwort: Politikverdrossenheit), die vielerorts be-
steht. Regionale Differenzen finden sich aufgrund verschiedener Faktoren, unter
denen Modernisierung ein nicht zu unterschätzender Aspekt ist. So ist die Unter-
st€
utzung der Demokratie in Westeuropa am höchsten, lässt aber in den hybriden
Regimen der ehemaligen UdSSR genauso nach wie in manchem lateinamerikani-
schen Staat. In Autokratien sind mit der Einf€uhrung von Elementen der Demokratie
sogar systemdestabilisierende Entwicklungen verbunden. Doch auch dort funktio-
niert das Konzept der politischen Kulturforschung, nur sind es andere Bezugsobjekte
und Normen, auf die sich die Einstellungen der B€urger beziehen. Relativ einig ist
man sich, dass zwischen den Zustimmungen zu verschiedenen Objekten des
politischen Systems und der politischen Struktur zwingend unterschieden werden
muss. Sie € uben nicht nur einen deutlich unterschiedlichen Effekt auf die
Stabilität des politischen Systems aus, sondern werden auch unterschiedlich wahr-
genommen. Die relativ kritische Haltung gegen€uber Politikern und Parteien
(rund 10 bis 20 Prozent Vertrauen) steht einer positiven Haltung zur Staatsform
Demokratie (70 bis90 Prozent Zustimmung) genauso gegen€uber, wie das Vertrauen
in unterschiedliche politische Institutionen (systematisch) variiert.
Politische Kultur in der Vergleichenden Politikwissenschaft 555
Die Bedeutung der politischen Kultur und ihrer Erforschung f€ur die Vergleichende
Politikwissenschaft ist nicht zu unterschätzen. Zum einen handelt es sich bei der
politischen Kulturforschung um einen originär f€ur die Komparatistik entwickelten
Bereich, der € uber seine interkulturelle Anlage ein wesentliches Erklärungspotential
f€
ur Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Ländern, Regionen und Kulturen be-
reitstellt. Zum anderen erfolgt €uber den Aspekt der politischen Kultur der Einbezug
des „politischen“ B€urgers in die politikwissenschaftliche Forschung. Speziell der
Blick auf die Stabilität aller Formen politischer Regime macht die politische Kultur-
forschung im Zeitalter einer steigenden Relevanz der sogenannten Zivilgesellschaft
so interessant.
Zwar war die analytische Fassung von politischer Kultur immer wieder Kritik
ausgesetzt, zum einen stammt aus dem Umfeld des „cultural turn“ der Vorwurf, dass
symbolische als auch nicht systematisch-kulturelle Aspekte politischer Kultur aus
dem Blick verloren w€urden (Dittmer 1977; Rohe 1990), zum anderen wenden
institutionelle Ansätze ein, es sei eine Dominanz der Strukturen gegen€uber der
politischen Kultur zu präjudizieren und nicht zuletzt fordert die Rational-Choice-
Theorie, eine stärkere Präzisierung der Motive f€ur entsprechendes Handeln Letzt-
endlich entstand bislang aus keinem der Kritikansätze eine analytische Alternative
f€
ur die vergleichende Analyse zu den mittlerweile ausgereiften systematischen
Konzepten, die hier präsentiert wurden. Ob man „nur“ Einstellungen und Werte
oder aber auch Symboliken und politische Stile ber€ucksichtigt, immer wird ein
Gegenpol zur politischen Struktur aufgenommen, der eine Erweiterung sowohl rein
historisch-institutionalistischer als auch systemtheoretischer Ansätze erfordert.
Strukturen sind nicht nur aus Strukturen zu erklären. Und hier ist es nicht erst der
„cultural turn“ in den Sozialwissenschaften, der die Bedeutung des B€urgers und die
Bedeutung von Werten ins Blickfeld r€uckte, bereits fr€uh verwiesen die Fragen nach
der Legitimität politischer Strukturen auf die Bedeutung von Kultur. Dies darf aber
nicht dazu f€ uhren, politische Kulturen jeweils als einzigartig oder nicht empirisch
bestimmbar anzusehen. F€ur diese (auch komparative) Erforschung liefert die poli-
tische Kulturforschung das analytische Handwerkszeug.
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Wertewandel in der Vergleichenden
Politikwissenschaft
Christoph Mohamad-Klotzbach
Zusammenfassung
Der Beitrag widmet sich dem Thema Wertewandel im Kontext der Vergleichenden
Politikwissenschaft. Neben zentralen Begriffen (Werte, Wertorientierungen und Wer-
tewandel) werden die theoretischen Ansätze von Ronald Inglehart (Materialismus-
Postmaterialismus) und dessen Weiterentwicklungen u. a. in Zusammenarbeit mit
Christian Welzel (Human Empowerment Approach, Selbstentfaltungswerte), sowie
von Shalom H. Schwartz (Wertekreis-Konzept) vorgestellt. Abschließend wird die
Bedeutung des Wertewandels f€ur die komparative Forschung skizziert.
Schlüsselwörter
Werte • Wertorientierungen • Wertewandel • Postmaterialismus • Emanzipative
Werte • Selbstentfaltung • Postmodernisierung • Human Development Sequence •
Wertekreis-Modell • Values • World Values Survey • Schwartz Value Survey
1 Einleitung
Werte gehören seit den Arbeiten von Emile Durkheim und Max Weber zu den
zentralen Konzepten der Sozialwissenschaften, da sie eine wichtige Rolle f€ur die
Erklärung u. a. von sozialer Ordnung und Struktur sowie sozialem Wandel darstel-
len (Parsons und Shils 1951). „Values are used to characterize cultural groups,
societies, and individuals, to trace change over time, and to explain the motivational
bases of attitudes and behavior.“ (Schwartz 2012, S. 3) F€ur die Vergleichende
Politikwissenschaft sind insbesondere die Arbeiten von Ronald Inglehart
C. Mohamad-Klotzbach (*)
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl f€ ur Vergleichende Politikwissenschaft und
Systemlehre, Institut f€
ur Politikwissenschaft und Soziologie, Universität W€urzburg, W€
urzburg,
Deutschland
E-Mail: ch.mohamad@uni-wuerzburg.de
(1971, 1977, 1990, 1997) prägend, die den Einfluss von Wertorientierungen und
ihres Wandels sowohl auf politische Einstellungen als auch auf politisches Handeln
belegen. In den vergangenen vier Jahrzehnten wurden diese Überlegungen und
Befunde intensiv diskutiert, das Konzept von ihm und anderen weiterentwickelt
sowie alternative Wertekonzepte eingebracht.
Eine der anerkanntesten Definitionen des Begriffs Wert stammt von Clyde Kluck-
hohn: „A value is a conception, explicit or implicit, distinctive of an individual or
characteristic of a group, of the desirable which influences the selection from
available modes, means, and ends of action.“ (Kluckhohn 1951, S. 395 – Herv.
im Orig.) Vier Aspekte sind an dieser Definition zentral f€ur das Verständnis von
Werten. Erstens sind Werte nicht direkt beobachtbar, sondern sind von den Aussagen
und dem Handeln von Individuen und/oder sozialen Gruppen zu abstrahieren.
Zweitens können als Träger von Werten sowohl Individuen als auch soziale Gruppen
gesehen werden. Dieser Aspekt ist entscheidend f€ur die Frage, auf welcher Ebene
empirische Analysen ansetzen sollten – auf der Mikro- oder auf der Makro-Ebene
(Lane und Wagschal 2012; Welzel 2009, S. 109–110). Drittens sind Werte Vor-
stellungen des W€ unschbaren (Kluckhohn 1951), die somit als motivationaler Faktor
im Sinne von Zielorientierungen dienen können (Meulemann 1996, S. 49; Rokeach
1973, S. 9–10). Und viertens m€ussen Werte als verhaltensrelevant angesehen wer-
den, da sie die Auswahl der zur Verf€ugung stehenden Formen, Mittel und Ziele von
Handlungen beeinflussen. Sie unterst€utzen somit das Individuum, bei Handlungs-
alternativen Prioritäten zu setzen (Rokeach 1973, S. 24).
Werte sind somit Handlungen und Einstellungen vorgelagert. Aus diesem Grund
nimmt man im Rahmen der Werteforschung an, dass Werte €uber eine gewisse
Stabilität bzw. Dauerhaftigkeit verf€ugen. „Von ihrer Struktur her gesehen sind sie
in den Individuen prinzipiell tiefer verankert und daher weniger veränderbar als
Meinungen, Urteile, Einstellungen oder Bed€urfnisse.“ (Hepp 1994, S. 4). Werte
können deshalb von anderen Konstrukten wie Ideologien,1 Einstellungen, Ideen
oder Interessen unterschieden werden (Kluckhohn 1951, S. 421–433; Rokeach
1973, S. 17–22). Da Werte im Rahmen des Sozialisationsprozesses internalisiert
werden, wird als weitere Annahme vertreten, dass „Werte an die existenziellen
Lebensbedingungen und die aus diesen erwachsenden Erfahrungen der Menschen
gekoppelt“ (Welzel 2009, S. 110) sind. Diese Verbindung von Werten und Lebens-
bedingungen spielt f€ur die Theorie des Wertewandels eine entscheidende Rolle.
In der Literatur findet man eine Vielzahl von Vorschlägen f€ur Wertetypen oder
-gruppen (Hillmann 2003). Neben den Konzepten von Inglehart, Welzel und Schwartz,
1
Ideologien sind wie Werte auch langfristig wirksam, jedoch sind sie im Vergleich zu Werten
pejorativ aufgeladen und basieren i.d.R. auf einem System von Ideen, die z.B. nur von einer
Minderheit einer Gesellschaft geteilt werden (vgl. Kluckhohn 1951, S. 432–433).
Wertewandel in der Vergleichenden Politikwissenschaft 559
sei auf die Überlegungen von Flanagan (1982), Hofstede (2001) oder Klages (1984;
Klages et al. 1992) weiterf€uhrend verwiesen. Milton Rokeach, einer der Gr€underväter
der Werteforschung, unterscheidet terminal values von instrumental values (Rokeach
1973, S. 7–8, 12). Erstere formulieren „end-states of existence“, d. h. letzte, höchste
Werte bzw. Ziele, die – analog zu sog. ‚Grundwerten‘ – von der Bevölkerungsmehrheit
geteilt werden. Hierzu zählen u. a. Freiheit, Gleichheit, gesellschaftliche Anerkennung,
Gl€uck und Frieden. Instrumentelle Werte hingegen „sind als Sollvorstellungen bez€ug-
lich des Verhaltens auf Mittel und Handlungsweisen zur Erreichung von Terminalwer-
ten gerichtet [. . .] [,] decken sich mit persönlichkeitsnahen Kompetenz- und
Selbstverwirklichungs-Werten [. . .] [sowie] interpersonal bedeutsamen moralischen
Werten und Tugenden“ (Hillmann 2001, S. 18). Dazu gehören Eigenschaften wie
ehrgeizig, ehrlich, gehorsam, intellektuell, liebevoll, mutig und tolerant.
Wertorientierungen sind von Werten theoretisch zu unterscheiden, auch wenn
diese Unterscheidung nicht einheitlich und teilweise unscharf vollzogen wird (Lane
und Wagschal 2012, S. 112). Unter Wertorientierungen „versteht man diejenigen
Werte, die die Menschen [. . .] tatsächlich verinnerlicht haben.“ (Welzel 2009,
S. 109) Sie weisen eine gewisse Kohärenz auf, die sich auf Einstellungen und
Handlungen – im privaten wie politischen Raum – auswirken und sind „nicht auf
moralisch w€ unschbare Werte eingeengt“ (Welzel 2009, S. 109). Wertorientierungen
können somit als analytischer und normativ neutraler Begriff angesehen werden. Zu
den klassischen Wertorientierungen zählen Lane und Wagschal (2012, S. 85–86)
Materialismus vs. Postmaterialismus, Links- vs. Rechtspositionierung sowie das
Spannungsfeld von Religiosität vs. Säkularisierung. Zu den eher neueren zentralen
Orientierungen zählen sie Vertrauen (Warren 1999) sowie Egalitarismus
vs. Individualismus (Wildavsky und Swedlow 2006).
Diese (und andere) Wertorientierungen dienen als Erklärungsfaktoren (unabhän-
gige Variablen) f€ur unterschiedlichste Phänomene (potentielle abhängige Variablen).
Einstellungen zu Umwelt und Klimawandel, zu Arbeits- und Berufsauffassungen,
zur Rolle von Familie und Partnerschaft sowie zur Globalisierung können auf Basis
der Verteilung von Wertorientierungen innerhalb einer Gesellschaft bzw. zwischen
Gesellschaften untersucht werden (van Deth und Scarbrough 1995). Vorherrschende
politische Kulturen können als Verteilungsmuster der Wertorientierungen €uber unter-
schiedliche Gebiete und Regionen verstanden werden.
Im Kontext der ‚Theorie des Wertewandels‘ wird davon ausgegangen, dass sich die
Verteilung der diversen Wertorientierungen innerhalb einer Gesellschaft im Zeitver-
lauf ändert. Der prominenteste Vertreter der Wertewandelforschung, Ronald Ingle-
hart, versucht in seinen ersten Studien politischen Wandel in den entwickelten
Industriestaaten des Westens zu erklären (Inglehart 1971, 1977). Er geht von zwei
Beobachtungen aus: Erstens stellt er einen Wertewandel in den westlichen Gesell-
schaften fest. Dieser findet aus seiner Sicht in Form einer Verschiebung von
560 C. Mohamad-Klotzbach
2
In seinem grundlegenden Aufsatz aus dem Jahr 1971 verwendet er noch die Begriffe acquisitive
value preferences und post-bourgeois value preferences f€ ur die beiden polaren Typen von Wert-
orientierungen. Da diese jedoch aus seiner Sicht die ökonomische Basis des Wertewandels zu sehr
betonen, hat er sich f€ur die „Materialismus“-Bezeichnung entschieden (Inglehart 1971, 1977,
S. 28).
3
Siehe auch den Beitrag von Pickel und Pickel in diesem Handbuch.
Wertewandel in der Vergleichenden Politikwissenschaft 561
4
Alternative Überlegungen verweisen auf die Möglichkeit des Werteverlustes (genereller Werte-
verlust ohne Ersatz eines Wertemusters durch ein anderes; Noelle-Neumann) oder der Wertediffe-
renzierung/-pluralität (lässt mehrere Wertemuster nebeneinander zu; Klages 1984).
5
Eine Übersicht zu zentralen Surveydaten findet sich im Beitrag von Stark und Mohamad-
Klotzbach in diesem Handbuch.
Wertewandel in der Vergleichenden Politikwissenschaft 563
6
Weitere Aspekte siehe Welzel (2009, S. 126–134).
564 C. Mohamad-Klotzbach
7
Religiosität war anfangs auch noch Teil des Wertekanons, wurde dann später aber ausgegliedert;
Welzel et al. 2003.
566 C. Mohamad-Klotzbach
8
In einer neueren Publikation haben Schwartz und andere eine Reformulierung seiner Theorie
vorgenommen (Schwartz 2012). Diese enthält nun nicht mehr 10, sondern 19 Wertetypen im
Rahmen des motivationalen Kontinuums (Schwartz 2012, S. 684), die sich weitgehend in der
empirischen Überpr€ufung bestätigen ließen.
9
Schwartz (1994, S. 23) verweist auf einen elften Wertetyp (Spiritualität), der Werte vereint, die als
motivationales Ziel die Suche nach dem Sinn des Lebens beinhalten (spezifische Einzelwerte: Sinn
des Lebens, ein spirituelles Leben, innere Harmonie). Dabei ist es umstritten, inwiefern sich dieser
Wertetyp von den drei universellen Anforderungen ableiten lässt. Schwartz kommt zu dem Schluss,
dass er kultur€ubergreifend nicht implizit angenommen werden kann.
Wertewandel in der Vergleichenden Politikwissenschaft 567
Tab. 2 (Fortsetzung)
universelle
zentrales spezifische Werte- Anforderung
Wertetyp motivationales Ziel Einzelwerte Dimension (en)
Konformität Beschränkung von Höflichkeit, Bewahrung Interaktion
Handlungen und Gehorsam, Gruppe
Impulsen, die andere Selbstdisziplin,
beleidigen oder ehrerbietig gegen€uber
verletzen könnten oder Eltern und älteren
gegen soziale Menschen
Erwartungen und
Normen verstoßen
Sicherheit Sicherheit, Harmonie familiäre Sicherheit, Bewahrung Organismus
und Stabilität der nationale Sicherheit, Interaktion
Gesellschaft, von soziale Ordnung, Gruppe
Beziehungen und des sauber, niemandem
Selbst etwas schuldig
bleiben
Quelle: Schmidt et al. ( 2007, S. 262, 265); Schwartz (1994, S. 22); eigene Zusammenstellung
Abb. 1 Das Wertekreis-Modell von Schwartz. Quelle: Schmidt et al. (2007, S. 265); Eigene
Darstellung
kontextfreien Denken erzogen wurden, zu erheben. Der PVQ enthält kurze verbale
Portraits von 40 verschiedenen Menschen (PVQ 40). Jedes Portrait beschreibt
„Ziele, Erwartungen oder W€unsche einer Person, die implizit auf die Wichtigkeit
eines einzelnen Wertetyps hinweisen.“ (Schmidt et al. 2007, S. 263) Die
€
ubergeordnete Frage f€ur die Befragten lautet: „Wie ähnlich ist Ihnen diese Person?“
Wertewandel in der Vergleichenden Politikwissenschaft 569
Welzel betont die Bedeutung der Werteforschung, die „Einsichten in die Motiva-
tionsgrundlagen menschlichen Handelns“ ermöglicht und somit als „Grundlagen-
forschung im eigentlichen Sinne“ (Welzel 2009, S. 134 – Herv. CMK) verstanden
werden kann. Die Forschungsergebnisse zeigen, dass sowohl Werte an sich, als auch
der Wertewandel als eigenständiges Phänomen, Implikationen f€ur gesellschaftliche
und politische Entwicklungen haben. Die Veränderung der Sozialmilieus hat Aus-
wirkungen auf das Wahlverhalten und die Bereitschaft zu (unkonventioneller) politi-
scher Partizipation. Ebenso sind aufgrund des Wertewandels Veränderungen in den
politischen Einstellungen zu beobachten, wie die Zunahme der sog. kritischen
B€urger (critical citizens; vgl. Geißel (2011); Norris (1999)), die zunehmend weniger
Vertrauen in hierarchische Institutionen wie Parteien haben, sich gleichzeitig als
politisch kompetent wahrnehmen und entsprechend mehr politisch partizipieren
(wollen).
10
Die f€unf Persönlichkeitsfaktoren (Big Five) lauten Neurotizismus, Extraversion, Offenheit f€
ur
Erfahrung, Gewissenhaftigkeit und Verträglichkeit (vgl. Lang und L€
udtke 2005).
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Protestkulturen in der Vergleichenden
Politikwissenschaft
Franziska Deutsch
Zusammenfassung
Politischer Protest ist heute aufgrund seiner Verbreitung und Akzeptanz in der
Bevölkerung ein wesentliches Merkmal moderner Gesellschaften. Der Beitrag
gibt einen Überblick dar€uber, wie die Vergleichende Politikwissenschaft dieser
Entwicklung Rechnung getragen hat: Unterschiedliche Ansätze aus Forschung zu
sozialen Bewegungen und politischer Partizipation geben Aufschluss dar€uber,
wie Protest ermittelt werden kann, welche Kontextbedingungen seine Entstehung
befördern und welche individuellen Bestimmungsfaktoren die Teilnahme an
politischem Protest erklären können.
Schlüsselwörter
Protest • Politische Partizipation • Soziale Bewegungen • Partizipatorische
Revolution
1 Einleitung
F. Deutsch (*)
University Lecturer, Field Coordinator at the Bremen International Graduate School of Social
Sciences (BIGSSS), Jacobs University Bremen, Bremen, Deutschland
E-Mail: f.deutsch@jacobs-university.de
verbreiteter wird und damit ein wesentlicher Bestandteil moderner Gesellschaften ist
(Norris 2002). F€ ur die Vergleichende Politikwissenschaft ist Protest als Untersu-
chungsgegenstand aber nicht nur aufgrund seiner gestiegenen Bedeutung als poli-
tische Beteiligungsform relevant, sondern auch aufgrund seiner Rolle in politischen
Wandlungsprozessen, so z. B. beim Zusammenbruch nicht-demokratischer Regime
im Zuge der dritten Demokratisierungswelle oder des Arabischen Fr€uhlings.
Der folgende Beitrag gibt einen Überblick dar€uber, wie die Vergleichende Politik-
wissenschaft dieser Entwicklung Rechnung getragen hat. Nach einer Begriffsklärung
werden zwei unterschiedliche Forschungsansätze zu politischem Protest vorgestellt,
die sich in ihren Fragestellungen, Analyseebenen und Methoden unterscheiden, aber
mit ihren Ergebnissen beide wesentlich zum Verständnis von politischem Protest
beigetragen haben: Die Forschung zu sozialen Bewegungen und die umfragebasierte
Partizipationsforschung. Nach einer Skizzierung des Forschungsstands werden
abschließend noch einige Herausforderungen der aktuellen Protestforschung heraus-
gearbeitet.
1
Siehe hierzu auch die Beitrag von Jan W. van Deth zu politischer Partizipation, von Susanne und
Gert Pickel zur politischen Kulturforschung und zu Werten und Wertewandel von Christoph
Mohammad in diesem Handbuch.
Protestkulturen in der Vergleichenden Politikwissenschaft 577
3 Protestforschung: Unterschiedliche
Forschungstraditionen
Wie lassen sich Entstehung, Verlauf oder Häufigkeit von politischem Protest erklä-
ren? Politischer Protest ist vielschichtig, er unterliegt nicht nur einem Wandel €uber
Zeit, sondern unterscheidet sich auch in Form, beteiligten Akteuren, Inhalten und
578 F. Deutsch
Zielen, Mitteln und Dauer. Ihn als empirisches Phänomen messbar oder gar zu einem
Untersuchungsobjekt der Vergleichenden Politikwissenschaft zu machen, stellt eine
große Herausforderung dar. Sicherlich liegt in dieser Problematik einer der Gr€unde
daf€ur, warum es in der Protestforschung an einer einheitlichen Forschungsagenda,
perspektive und -methodik mangelt (Rucht 2007). Die Protestforschung ist bis
heute im Wesentlichen von zwei politikwissenschaftlich-soziologischen Traditionen
geprägt und ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten verstärkt durch sozial- und
politisch-psychologische Ansätze und Methoden ergänzt worden.
Eine Forschungstradition zur Untersuchung politischen Protests ist in den
Studien der sozialen Bewegungen (Social Movements) verankert.2 Soziale Bewe-
gungen sind ein „auf gewisse Dauer gestelltes und durch kollektive Identität
abgest€ utztes Handlungssystem mobilisierter Netzwerke von Gruppen und Organi-
sationen, welche sozialen Wandel mit Mitteln des Protests – notfalls bis hin zur
Gewaltanwendung – herbeif€uhren, verhindern oder r€uckgängig machen wollen“
(Rucht 1994, S. 76 f.).
Die Untersuchungsergebnisse basieren zumeist auf Fallstudien, die zum Teil
auch vergleichend angelegt sind (siehe z. B. f€ur Umweltproteste Rootes 2003; f€ur
neue soziale Bewegungen Rucht 1994; Kriesi et al. 1995).3 Die methodischen
Ansätze sind vielfältig (f€ur eine Übersicht siehe Klandermans und Staggenborg
2002; della Porta 2014), neben historischen Überblicken finden sich auch
Interview-, Fokusgruppen- oder Fragebogenstudien. Weit verbreitet ist dar€uber
hinaus die Untersuchung von Protestereignissen, die auf der Basis von Polizeibe-
richten und Zeitungsartikeln identifiziert und kodiert werden. Diese Untersuchun-
gen haben zahlreiche wichtige Erkenntnisse geliefert, insbesondere mit Blick auf
die Entstehung, Entwicklungen und Erfolge sozialer Bewegungen: Protest ist
weniger das Ergebnis verf€uhrbarer, €uber Gef€uhle mobilisierter Massen (siehe dazu
Le Bons Psychologie der Massen (2008[1895]), eines der fr€uhen Werke der
politischen Psychologie). Relative Deprivation und kollektive Unzufriedenheit,
resultierend aus einer Diskrepanz zwischen Erwartung und Realität, sind wichtige
Faktoren (Gurr 1970), reichen aber nicht aus, um die Entstehung von Protest zu
erklären. Zusammengefasst in Japps vielzitierter Beobachtung bedeutet dies:
„Grievances are everywhere, movements not.“ (Japp 1984, S. 316). Politische
Möglichkeitsstrukturen (Political Opportunity Structures, POS) und Ressourcen,
die von den Gruppen organisiert werden können, sind ebenso zentral (Tarrow
2011; McCarthy und Zald 1977). Unter den Möglichkeitsstrukturen gelten nicht
besonders responsive oder repressive, sondern eine Mischung von relativ offenen
bzw. relativ geschlossenen politischen Systemen als g€unstige Rahmenbedingung
von Protest (siehe dazu Eisingers (1973) vergleichende Studie zu politischem
Protest in 43 amerikanischen Städten). Zudem kommt der Elitenkonstellation eine
2
Siehe dazu auch das Kapitel von Brigitte Geißel in diesem Handbuch.
3
Häufiger allerdings lassen sich Sammelbände zu einem eigentlich vergleichend angelegten Thema
finden, die sich aus lose verkn€ upften, einzelnen Länderfallstudien zusammensetzen (siehe
z. B. Klandermans und van Stralen 2015).
Protestkulturen in der Vergleichenden Politikwissenschaft 579
besondere Rolle zu, da Eliten als Teil des politischen Machtgef€uges die Anliegen
der sozialen Bewegung unterst€utzen können oder nicht (dazu und f€ur einen Über-
blick zu den POS-Dimensionen siehe McAdam 1996, S. 27).
Die Studien dieses Forschungszweiges der Protestforschung unterliegen aller-
dings Einschränkungen: Aufgrund ihres Untersuchungsgegenstandes können sie nur
bedingt Aussagen zu individuellen Bestimmungsgr€unden von Protestpartizipation
(z. B. Ressourcen, Motivation, etc.) treffen. Zum anderen – und dieser Grund ist
gewichtiger – ist die Vergleichbarkeit und damit Generalisierbarkeit von Ergebnis-
sen stark eingeschränkt (Walgrave und Rucht 2010a, S. xiv).
Eine andere Forschungstradition ist in der Politischen Partizipationsforschung
verankert und aus dem Politischen Kulturansatz von Almond und Verba (1963)
hervorgegangen (siehe auch Pickel und Pickel 2006).4 Zentral f€ur diese For-
schungstradition ist die Political Action Study von Barnes und Kaase et al.
(1979), die erstmals Bestimmungsgr€unde f€ur Protestverhalten systematisch und
im Ländervergleich untersuchte. Die Studie prägte den bis heute verwendeten
Begriff der unkonventionellen Partizipation, der Protestverhalten als eine Form
politischer Partizipation in Abgrenzung zur Beteiligung an Wahlen sowie konven-
tionellen Partizipationsformen konzeptualisierte. Protest wird als Ergebnis einer
„partizipatorischen Revolution“ (Kaase 1982) verstanden, die zu einer Auswei-
tung des b€urgerlichen Partizipationsrepertoires und einer De-Institutionalisierung
von politischer Beteiligung gef€uhrt hat. Der Fokus ist also ein anderer als in der
auf soziale Bewegungen gerichteten Protestforschung: Hier geht es weniger um
ein spezifisches Protestereignis oder die Handlungsstrategien und -optionen ein-
zelner Protestgruppen, sondern vielmehr um die generelle Verankerung und
Akzeptanz dieser Beteiligungsform in der Bevölkerung sowie deren Bedeutung
f€
ur die Demokratie.
Während der Begriff der unkonventionellen Partizipation heute aufgrund der
hohen Verbreitung und Akzeptanz von Protestaktivitäten – einige sprechen von
einer „Normalisierung“ des Protests und der Protestteilnehmer (Van Aelst und Wal-
grave 2001) – eigentlich obsolet geworden ist, haben neuere Studien zu politischer
Partizipation Protest als eigenständige Dimension politischer Beteiligung auch sta-
tistisch und im Ländervergleich belegen können (Teorell et al. 2007; f€ur eine
theoretische Diskussion siehe Ekman und Amna 2012).
Ausmaß und Bestimmungsgr€unde von politischem Protest werden in der ver-
gleichenden Partizipationsforschung meist mit Hilfe von repräsentativen Bevölke-
rungsumfragen untersucht. So haben Fragen zur Teilnahme und Bereitschaft zur
Teilnahme an Protestaktivitäten wie Petitionen, Demonstrationen oder Boykotten
aus der Political Action Study der 1970er-Jahre Eingang gefunden in die Fragebögen
der ländervergleichenden European Social Survey (ESS, seit 2000) und World
Values Survey/European Values Study (WVS/EVS, seit 1981) und können im
4
Siehe hierzu den Beitrag der gleichen Autoren in diesem Handbuch.
580 F. Deutsch
Zeitverlauf analysiert werden.5 Untersuchungen auf der Basis dieser Daten haben
gezeigt, dass individuelle Ressourcen (z. B. Bildung, Einkommen, höhere Schicht-
zugehörigkeit, etc.), politisches Interesse, eine eher linke politische Orientierung,
aber auch postmaterielle und emanzipatorische Wertorientierungen Protestbeteili-
gung erklären können (Barnes und Kaase et al. 1979; Verba et al. 1995; Norris 2002;
Inglehart und Welzel 2005). Zudem erlaubt dieser Ansatz auch, systematisch nach
dem Einfluss von politischen, ökonomischen und kulturellen Kontextfaktoren im
weiteren Sinne zu fragen. So wird individuelle Protestbeteiligung nicht nur durch
einen höheren ökonomischen Entwicklungsstand eines Landes und demokratischen
Institutionen beeinflusst (Dalton et al. 2010), sondern auch von einem emanzipatori-
schen Werteklima in der Gesellschaft (Welzel und Deutsch 2012).
Kontextfaktoren im engeren Sinne, wie zum Beispiel der unmittelbare Mobilisie-
rungskontext einer Protestbewegung, m€ussen in der umfragebasierte Partizipations-
forschung weitgehend unber€ucksichtigt bleiben. Kritisiert wird dieser Forschungs-
ansatz immer wieder daf€ur, dass Aussagen €uber Verhalten getroffen werden sollen,
dieses aber nicht direkt gemessen bzw. beobachtet wird. Vielmehr erfasst man in
Befragungen bestenfalls berichtetes Verhalten, das der Befragte im Moment der
Selbstauskunft aus seiner Erinnerung rekonstruieren muss. Diese Selbstauskunft,
so zeigen psychologische Studien, ist fehlerhaft, insbesondere dann, wenn
r€
uckblickend Gr€ unde f€ur ein bestimmtes Verhalten angegeben werden sollen (f€ur
einen kritischen Überblick zum Verschwinden von Studien tatsächlichen Verhaltens
zugunsten von Fragebogenstudien siehe Baumeister et al. 2007). Auch lassen sich
Kausalitätszusammenhänge aufgrund der gleichzeitigen Messung von Verhalten und
möglichen Erklärungsfaktoren mit Hilfe von Umfragedaten nur eingeschränkt
€
uberpr€ufen.
Die beiden vorgestellten politikwissenschaftlichen Forschungsfelder – soziale
Bewegungen und umfragebasierte politische Partizipationsforschung – unterschei-
den sich in ihren unterschiedlichen Fragestellungen und Analyseebenen. Fraglos
sind beiden Ansätzen Grenzen gesetzt bei dem Versuch, politischen Protest zu
ermitteln und zu erklären. Dennoch tragen beide wesentlich zum heutigen
5
Frageformulierung aus dem ESS 2012: „Es gibt verschiedene Möglichkeiten, mit denen man
versuchen kann, etwas in Deutschland zu verbessern oder zu verhindern, dass sich etwas ver-
schlechtert. Haben sie im Verlauf der letzten 12 Monate irgendetwas davon unternommen? Haben
Sie: ein Abzeichen oder einen Aufkleber einer politischen Kampagne getragen oder irgendwo
befestigt; sich an einer Unterschriftensammlung beteiligt; ein B€
urgerbegehren oder Volksbegehren
unterschrieben; an einer genehmigten öffentlichen Demonstration teilgenommen; bestimmte Pro-
dukte boykottiert“?
Frageformulierungen aus dem WVS 2010–14: (1) „Jetzt lese ich Ihnen verschiedene Arten von
politischen Aktionen vor. Könnten Sie mir zu jeder dieser Aktionen sagen, ob Sie sich schon einmal
an ihr beteiligt haben, ob Sie das vielleicht einmal tun w€ urden, oder ob Sie sich unter keinen
Umständen an so etwas beteiligen w€ urden: Unterschriftenaktion, Petition; Boykott; Friedliche
Demonstration; Streiks; eine andere Form des Protests.“ (2) „Sagen Sie mir f€ ur folgende Aktionen,
wie oft Sie sich an diesen im letzten Jahr beteiligt haben: Unterschriftenaktion, Petition; Boykott;
Friedliche Demonstration; Streiks; eine andere Form des Protests (Antwortmöglichkeiten: Über-
haupt nicht / einmal / zweimal / dreimal / mehr als dreimal)“.
Protestkulturen in der Vergleichenden Politikwissenschaft 581
4 Fazit
Politischer Protest gehört heute bei den B€urgern in westlichen Demokratien selbst-
verständlich zum Repertoire politischer Partizipation. Auch ist es unstrittig, dass
politischer Protest in Nicht-Demokratien zur Destabilisierung und Transition zu
Demokratie beiträgt (siehe z. B. McAdam et al. 2001; Ulfelder 2005). Vergleichend
angelegte empirische Proteststudien, die Aussagen zur Verbreitung und Akzeptanz
von Protest in nicht-demokratischen Gesellschaften erlauben, sind jedoch rar. Ver-
wunderlich ist das nicht: Zum einen stammen die Theorien zur Entstehung und
Erklärung von politischem Protest sowohl in der Partizipationsforschung als auch in
der Forschung zu sozialen Bewegungen aus den USA und Westeuropa. Zum anderen
gestaltet sich die Datenlage (und damit verbunden auch Fragen von Finanzierung,
Durchf€ uhrbarkeit und Validität von vergleichend angelegten empirischen Studien)
schwierig, auch wenn es in den vergangenen zwei Jahrzehnten gelungen ist, die
vergleichend angelegten Umfrageprojekte wie den World Values Survey oder Afro-
barometer um zahlreiche nichtdemokratische Länder und damit die Datenbasis f€ur
statistische Analysen zu erweitern (Dalton et al. 2010; Resnick und Casale 2011;
Welzel und Deutsch 2012).
Auf zwei Herausforderungen der vergleichenden Protestforschung soll zum
Abschluss noch hingewiesen werden: (1) die Kontextualisierung von Protest bei
gleichzeitiger Ber€ ucksichtigung psychologischer Faktoren und (2) die Frage nach
Wirkungszusammenhängen und Kausalität (Klandermans und van Stekelenburg
2013).
Die erste Herausforderung betrifft die Integration der beiden Forschungstraditio-
nen zu Protest, die sich innerhalb der Vergleichenden Politikwissenschaft entwickelt
haben und noch immer nicht ausreichend Bezug zueinander nehmen. Wie es gelin-
gen kann, zeigt jedoch eine Studie zum weltweit bislang größten Protestereignis, den
Anti-Kriegsdemonstrationen vom 15. Februar 2003 – allein in Deutschland gingen
mehr als 500.000 Menschen gegen den Irak-Krieg auf die Straßen, weltweit waren es
Millionen. Rund um dieses eine Protestereignis untersuchte eine Forschergruppe um
Walgrave und Rucht (2010b) in einer vergleichend angelegten Studie (acht Länder,
elf Städte) sowohl die verschiedenen Kontextbedingungen f€ur die Demonstrationen
(u. a. Gelegenheitsstrukturen, Rolle der Sozialen Bewegungen, Mobilisierungska-
näle) als auch mittels Befragungen die individuellen Ressourcen, Motivationen und
Verhaltensweisen der Demonstranten.
Eine zweite Herausforderung findet sich in der Theorieentwicklung und empiri-
schen Erfassung der Auswirkungen von politischem Protest (siehe Kolb 2007 zu den
politischen Auswirkungen sozialer Bewegungen). Die Schwierigkeit liegt v. a. an
der Wechselwirkung mit einer Vielzahl anderer Faktoren, die an unterschiedlichen
Stellen des politischen Prozesses eine Rolle spielen können, so dass Rucht zu dem
582 F. Deutsch
Schluss kommt: „It is safe to say that the size and forms of protest are at best
indirectly linked to the outcomes“ (Rucht 2007, S. 719). Aber auch auf der Indivi-
dualebene lassen sich Kausalzusammenhänge außerhalb des Labors nur bedingt
untersuchen. Die Frage, wieso Menschen ähnliche Situationen und Umstände unter-
schiedlich wahrnehmen und wie sich diese Wahrnehmung in Protestaktivitäten
€
ubersetzt, steht im Zentrum psychologischer Protestforschung (van Stekelenburg
und Klandermans 2013). Eine innovative Umsetzung dieser Fragestellung findet
sich bei van Stekelenburg et al. (2013), die mit einer Längsschnittbefragung die
Entwicklung einer neu errichteten Wohngegend begleiteten und damit Kausalzu-
sammenhänge und Wechselwirkungen von Einstellungen, sozialen Netzwerken und
Protestaktivität untersuchen konnten. Auch hier gelingt eine Integration unterschied-
licher Forschungsmethoden, die beispielhaft f€ur weitere Protestforschung sein
könnte.
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Extremismusforschung in der
Vergleichenden Politikwissenschaft
Zusammenfassung
Der Beitrag erklärt, was Sozialwissenschaftler unter Extremismus verstehen und
warum die Erforschung extremer Bewegungen und Parteien f€ur die vergleichende
Politikwissenschaft von einer großen, allzu häufig unterschätzten Bedeutung ist.
Der Überblick beschränkt sich auf die empirische Forschung zur linken und
rechten Variante des Extremismus. Es wird eine Karte entfaltet, auf der sich
neben gut erschlossenen Bereichen (etwa Aufstieg des Faschismus in der Zwi-
schenkriegszeit) noch ausgesprochen viele blinde Flecken zeigen (etwa zur
Bedeutung extremistischer Parteien in Entwicklungsländern wie Indien). Den
Forschungszweig kennzeichnet noch ein gewisser Parochialismus. Phänomene
jenseits Europas finden zu wenig Beachtung. Besonders zahlreich sind zudem die
Desiderate im Bereich der Forschung zum Linksextremismus.
Schlüsselwörter
Extremismus • Radikalismus • Bewegungsforschung
1 Einleitung
S. Kailitz (*)
Privatdozent, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hannah-Arendt-Institut f€
ur
Totalitarismusforschung, TU Dresden, Dresden, Deutschland
E-Mail: kailitz@hait.tu-dresden.de
T. Mannewitz
Juniorprofessor f€ur Politikwissenschaftliche Forschungsmethoden, Institut f€
ur Politikwissenschaft,
TU Chemnitz, Chemnitz, Deutschland
1978, S. 428). Die Geschichte des politischen Extremismus ist in dieser Hinsicht
kurz. Es ist wenig sinnvoll, den Ausdruck auf geistige Strömungen in der Zeit vor
der Entstehung des modernen demokratischen Verfassungsstaats im 18. Jahrhundert
anzuwenden. Extremistische Ideologien setzen die Existenz demokratischen und
verfassungsstaatlichen Ideenguts voraus, weil sie zugleich antidemokratisch und/
oder antikonstitutionell sowie mit ihrer Berufung auf Volk und Gesetz häufig
pseudodemokratisch und pseudokonstitutionell sind.
Der Extremismusbegriff lässt sich enger oder weiter fassen. Ein Verständnis,
demzufolge jede Bewegung oder Person bereits als extremistisch gilt, die eine
antidemokratische und/oder antikonstitutionelle Position vertritt, ist deutlich umfas-
sender als eine Interpretation, die dieses Etikett nur vergibt, wenn politisch moti-
vierte Gewalt ins Spiel kommt. Auf internationaler Ebene hat sich nicht zuletzt
infolge des NSDAP-Aufstiegs in den 1920er- und 1930er-Jahren die Auffassung
durchgesetzt, nicht nur Mittel, sondern auch Ziele könnten eine demokratische
Verfassung aus den Angeln heben. Auf dieser Grundlage werden nicht-gewalttätige
Bewegungen wie etwa der „McCarthyism“ in den USA oder der französische „Front
National“ als extremistisch klassifiziert (statt vieler Backes 1989; Mudde 2002;
Wintrobe 2006). Diese Bestimmung des Gegenstands der Extremismusforschung
wurzelt in der sozialwissenschaftlichen Totalitarismusforschung (u. a. Friedrich und
Brzezinski 1956; Linz 2000; Schapiro 1972): Die Bezeichnung „extremistische
Partei“ korrespondiert mit den Regimetypen, die lange mit den Begriffen „Totali-
tarismus“ und/oder „Post-Totalitarismus“ etikettiert wurden und neuerdings als
„Ideokratie“ firmieren (Backes 2013; Backes und Kailitz 2013; Bernholz 2001;
Kailitz 2013; Piekalkiewicz und Penn 1995).
Auf der Ebene politischer Parteien ist die Unterscheidung zwischen Demokratie
und Extremismus mindestens ebenso wichtig wie jene zwischen rechts und links.
Politische Philosophen wie Norberto Bobbio haben dies immer wieder mit
€uberzeugenden Argumenten dargelegt. Ihm zufolge lassen sich vier politische Spek-
tren ausmachen: die extreme Linke („egalitarian and authoritarian“), die moderate
Linke („egalitarian and libertarian“), die moderate Rechte („libertarian and inegalita-
rian“) und die extreme Rechte („antiliberal and antiegalitarian“) (Bobbio 1996).
Empirisch wurde diese Zweidimensionalität des Parteienwettbewerbs bzw. dessen
zweidimensionale Wahrnehmung, die auf eine hufeisenförmige Struktur des politi-
schen Wettbewerbs hinweist, mit Blick auf Deutschland nachgewiesen. Die Ambitio-
nen von Linksextremisten richten sich besonders gegen gewaltenteilende Elemente
des demokratischen Verfassungsstaates. Politische Gewalttaten aus diesem Spektrum
treffen in erster Linie Angehörige der wirtschaftlichen und politischen Elite.
Als rechtsextrem(istisch) bezeichnet man jene Gruppierungen und Personen, die
aus rassistischen (Nationalsozialisten) oder nationalistischen (Nationalisten, Neue
Rechte) Gr€ unden bestimmten Teilen der Bevölkerung, hauptsächlich Ausländern
und Staatsb€ urgern ausländischer Abstammung, keine oder nur stark eingeschränkte
Rechte zubilligen und/oder diese aus dem Land treiben wollen. Den einen dient die
„Volksgemeinschaft“ als Fluchtpunkt ihrer Gedankenwelt, den anderen die Nation.
Allen Rechtsextremisten, den Nationalisten wie den Rassisten, ist das Streben nach
einer ethnisch homogenen Gemeinschaft eigen. Politische Gewalttaten aus diesem
Extremismusforschung in der Vergleichenden Politikwissenschaft 587
Wer die Herrschaft der NSDAP, den Zweiten Weltkrieg und den Mord an
den europäischen Juden, die Herrschaft der kommunistischen Parteien und den
jahrzehntelangen Kalten Krieg oder auch die Terroranschläge von „Al Qaida“
(siehe Stichwort „Terrorismus“) vor Augen hat, erkennt leicht die gesellschaft-
liche Bedeutung des politischen Extremismus. Zwischen der alleinigen diktatori-
schen Machtaus€ ubung extremistischer Parteien von rechts und links, konkret
faschistischer und kommunistischer Parteien (also nicht bloß rechts- und links-
populistischer Parteien), und staatlicher Massengewalt besteht ein starker, von
Forschern wie Manus Midlarsky und Rudolph Rummel belegter, empirischer
Zusammenhang (Courtois 1998; Kallis 2011; Midlarsky 2011; Rummel und
Bauer 2003).
Außerdem gilt die Verbreitung toleranter Einstellungen als €uberlebenswichtig f€ur
die Demokratie (Diamond 1999, p. 166; Linz und Stepan 1996, p. 15). Ein wesent-
licher Indikator f€
ur die Verankerung demokratischer Prozesse und Werte ist die
Minimierung der Unterst€utzung extremistischer Parteien und Bewegungen (Almond
und Verba 1963; Dahl 1989; Lipset und Raab 1978). Diese sind – neben demo-
kratiefeindlichen Kräften im Militär – die zentralen demokratiegefährdenden Ak-
teure (Huntington 1968, p. 412; Linz 1978). Als konsolidiert wird eine Demokratie
588 S. Kailitz und T. Mannewitz
erst dann angesehen, wenn kein bedeutender Akteur eine Diktatur errichten möchte
(Linz und Stepan 1996).
Wirtschaftliche Krisen (etwa Hyperinflation) und/oder negative wirtschaftliche
Wachstumsraten und/oder hohe Arbeitslosigkeit bereiten extremistischen Parteien –
wie etwa im Europa der Zwischenkriegszeit – den Boden (Linz 1978; Bromhead
et al. 2013). Als Paradebeispiel wird das gleichzeitige Anwachsen der Arbeitslosen-
quote in der Weimarer Republik und des Wahlanteils der NSDAP angef€uhrt
(u. a. Lepsius 1978), wenngleich diese seinerzeit deutlich seltener von Arbeitslosen
gewählt wurde als die KPD (Falter 1986; Falter 1991; Fischer 1986).
Extremismus wird nicht erst dann zum Problem, wenn er Herrschaft aus€ubt oder
zu Gewaltexzessen f€uhrt: Extreme Parteien stellen ein Hindernis f€ur Regierungs-
bildungsprozesse, f€ur notwendige politische Reformen und f€ur hohe Regierungs-
stabilität dar (etwa Powell 1982, Kap. „Mikroanalytische Verfahren in der Vergleich-
enden Politikwissenschaft“, „Fallstudien und Process Tracing in der Vergleichenden
Politikwissenschaft“, „Komparative Areaforschung in der Vergleichenden Politik-
wissenschaft“, „Systemwandel und -wechsel in der Vergleichenden Politikwissen-
schaft“; 1986; Sartori 1976, Kap. „Fallstudien und Process Tracing in der Verglei-
chenden Politikwissensc“): Stabile Mehrheiten sind in einer Demokratie schwierig
zu erreichen, wenn zentrale Akteure als Gegner der Demokratie anzusehen sind und
die demokratischen Parteien daher nicht mit ihnen koalieren. Weiterhin tragen
extremistische Parteien zur Ideologisierung der innenpolitischen Debatte (Sartori
1976) und zu politischen Unruhen (Hibbs 1973) bei.
In Krisenzeiten kann laut Giovanni Sartori ein größerer Wahlerfolg extremer
Parteien zudem in einer Handlungsspirale m€unden, an deren Ende eine Demokratie-
krise, ja ein Demokratiezusammenbruch steht – wie in Deutschland und Italien in der
Zwischenkriegszeit. Eine extreme Partei schlage demnach eine allzu einfache Ex-
tremlösung entweder zu Gunsten der kapitalistischen Elite (extreme Rechte) oder zu
deren Ungunsten (extreme Linke) vor. Der von aufstrebenden links- oder rechts-
extremen Parteien ausgehende Druck verschiebe die Policy-Positionen konkurrie-
render links- und rechtsdemokratischer Parteien in Richtung der Extreme. Daraus
folge eine Polarisierung der Parteien und Wähler, welche die Entstehung politischer
Gewalt beg€ unstige (siehe auch Capoccia 2002). Neuere Forschungsergebnisse, etwa
von Bermeo (2003) und Kailitz (2011), stellen allerdings in Frage, ob erstens solche
Polarisierungsprozesse eine Vorbedingung f€ur Demokratiezusammenbr€uche sind
und ob zweitens eine Demokratie, die solche Polarisierungsprozesse erlebt, in der
Regel zusammenbricht.
Neben der breiten Untersuchung aktueller extremistischer Phänomene – vor
allem im Bereich des Rechtsextremismus und des Islamismus – sp€urt die Wissen-
schaft gegenwärtig der Bedeutung extremistischer Bewegungen f€ur die Welle der
Demokratiezusammenbr€uche in der Zwischenkriegszeit nach (Capoccia 2005). Sie
konzentriert sich insgesamt besonders auf die etablierten westlichen Demokratien
und hier auf europäische Staaten (u. a. Jesse und Thieme 2011). Studien zu extre-
mistischen Bewegungen in Afrika, Asien und Lateinamerika sind im Vergleich dazu
viel zu selten; zu den Ausnahmen zählen etwa die Arbeiten von Hartmann (2006),
McGee (1999) und Ollapally (2008). Der Blick €uber den „Tellerrand“ der westlichen
Extremismusforschung in der Vergleichenden Politikwissenschaft 589
3 Extreme Parteien
ließ sich unterscheiden zwischen den stark an Moskau orientierten und den soge-
nannten „eurokommunistischen“ Formationen. In Europa kamen maoistische Par-
teien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts €uber den einen oder anderen
Achtungserfolg nicht hinaus (Alexander 2001) – anders als in Asien (Böke 2007;
Marks 1996), insbesondere Indien, wo unzählige regional operierende Gruppierun-
gen („Naxaliten“) eine virulente politische, teils gewalttätige Kraft wurden. Gesell-
schaftlichen R€uckhalt verschaffen ihnen die grassierende Armut und massive sozio-
ökonomische Disparitäten (Raghavan 2011) – ähnlich wie in Lateinamerika.
Angesichts der destabilisierenden Wirkung auf die weltweit größte Demokratie
verwundert das geringe sozialwissenschaftliche Interesse: Eine sich noch weiter
öffnende Schere zwischen Arm und Reich in Indien und ein daraus resultierender
Sprung ins autokratische Lager könnten dazu f€uhren, dass k€unftig Menschen, die
unter einem freien Regime leben, weltweit wieder eine Minderheit bilden.
Eine Reihe von Studien widmete sich nach dem Zusammenbruch der sowjet-
kommunistischen Regime – mal eher deskriptiv, mal methodisch anspruchsvoller –
den verschiedenen Reaktionsmustern linksextremer Formationen auf die politischen,
sozialen und wirtschaftlichen Umwälzungen im Osten Europas (Backes und Moreau
2008; Bell 1993; Botella und Ramiro Fernández 2003; Bozóki und Ishiyama 2002;
Bull und Heywood 1994; Grzymała-Busse 2002; March 2011). Als erfolgreichste
Strategie – vor allem im postkommunistischen Raum – erwies sich die vollständige
Sozialdemokratisierung, mithin der Abschied von revolutionärem Impetus und der
Diktatur des Proletariats. Diesen Weg wählten etwa die fr€uheren Staatsparteien in
Polen (SLD), Ungarn (MSZP) und der Slowakei (SDL‘). Sie steigerten mit dem
Öffnungsprozess ihre Attraktivität gegen€uber der Bevölkerung und haben sich nicht
selten zu demokratischen Volksparteien entwickelt. Damit verließen sie das Gebiet
der Extremismusforschung.
Andere Organisationen wie etwa Die Linke in Deutschland oder der PCF in
Frankreich lassen sich als ideologisch heterogene Sammlungsparteien am linken
Rand der Parteiensysteme begreifen, die an revolutionären Zielen festhielten, vom
organisatorischen Leninismus aber Abstand nahmen. Sie versammeln Gruppen und
Gr€uppchen, die das gesamte Spektrum links der Sozialdemokratie abdecken: von
engagierten Sozialstaatsbef€urwortern und durchaus regierungswilligen Gewerk-
schaftsmitgliedern bis hin zu Trotzkisten und Stalinisten. Entsprechend heterogen
setzt sich die Wählerschaft zusammen. Diese „Sammlungs“-Strategie ist bisweilen
von beachtlichem und andauerndem elektoralem Erfolg gekrönt.
Schwierigkeiten, sich dem Sog der Bedeutungslosigkeit zu entziehen, haben
insbesondere jene Formationen, die an einer orthodox-kommunistischen Ideologie
und Struktur festgehalten haben. Sie sind in Ost wie West häufig zu bei Wahlen
bedeutungslosen Sekten geworden, die sich sowohl von den großen Sammlungs-
parteien als auch von anderen, ideologisch festgefahrenen Kleinstparteien mit größ-
ter Vehemenz abschotten. Der Trotzkismus ist unter ihnen weit verbreitet, doch auch
sowjetkommunistische Parteien fehlen hier nicht – vor allem im postkommunisti-
schen Raum (z. B. KSS in der Slowakei, KSČM in Tschechien oder MP in Ungarn).
Eine Sonderstellung hat die russische KPRF inne, die bei Parlaments – wie Präsi-
dentschaftswahlen von Zeit zu Zeit sehr hohe Stimmzahlen einfährt. In ihrer Ideo-
594 S. Kailitz und T. Mannewitz
logie paaren sich originär kommunistische Ideale zum Teil mit nationalistischen und
chauvinistischen Ressentiments.
Kommunistische Parteien schneiden bei Wahlen im Durchschnitt deutlich
schlechter ab als in Richtung Sozialdemokratie reformierte Parteien. Allerdings
gelingt ihnen von Zeit zu Zeit, vor allem in den postkommunistischen Staaten, ein
Achtungserfolg – Voraussetzung daf€ur ist jedoch die ausbleibende Konkurrenz mit
Sammlungsparteien aus dem eigenen Lager. Im Übrigen zeichnen in erster Linie
ökonomische Faktoren f€ur die Wahlbilanz des Linksextremismus verantwortlich: Im
Westen Europas sind dies vornehmlich die Arbeitslosenquoten, im Osten die
Gesamtheit sozioökonomischer Folgekosten der Transformationsprozesse (Manne-
witz 2012). Dies hat Linksextremisten in postkommunistischen Staaten sogar einige
Regierungsbeteiligungen beschert (Olsen et al. 2010): etwa der PSM in Rumänien
(1992–1996), der PCRM in Moldawien (2001–2010), der SRP in Polen
(2006–2007) und der ZRS in der Slowakei (1994–1998).
Die gegenwärtige Linksextremismusforschung fällt vor allem durch offene De-
siderata auf: Vergleiche – zwischen Parteien und Ländern – gehören noch immer zur
Ausnahme. Außerdem erheben die meisten Studien lediglich deskriptiven Anspruch.
Die Strategien und Taktiken kommunistischer Parteien, um an die Macht zu gelan-
gen (Ausnahme: Zinner 1963), die Ursachen f€ur die Stabilität linksextremistischer
Ideokratien und das Entwicklungspotential linker autoritärer Regime liegen daher
weithin im Dunkeln; die generellen Erfolgs- und Misserfolgsbedingungen (und
damit Ursachen demokratischer Stabilität) ebenso – wenngleich sich ökonomische
Disparitäten und Armut als linksextremistischer Nährboden herauszukristallisieren
scheinen. Am stärksten widmete sich die vergleichende Extremismusforschung dem
Linksextremismus in Europa und Nordamerika (Chiocchetti 2013; Klehr 1988;
Mannewitz 2012; March 2011; McKay 2005). Allerdings sind dies Regionen, die
nicht durch starke linksextreme Parteien auffallen. Eine vergleichende Linksextre-
mismusforschung zu Afrika oder Asien existiert praktisch nicht, zu Lateinamerika
entwickelt sie sich gerade. Dies erscheint problematisch angesichts der Bedeutung
der Parteien f€
ur die innere Sicherheit und die Stabilität großer Demokratien (Indien)
und f€ur die weltweiten Etablierungs- und Konsolidierungschancen der Demokratie
(Lateinamerika und S€udostasien).
4 Zusammenfassung
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Politische Kommunikation in der
Vergleichenden Politikwissenschaft
Zusammenfassung
Kommunikation ist f€ur die Politik systemnotwendig. Politische Kommunikation
legitimiert Politik. F€ur die B€urger ist Politik primär medienvermittelt. Die Medien
sind zum Format-, Takt-, Bild- und Modellgeber der Politik avanciert. Der
Beitrag bietet eine Einf€uhrung zum Thema politische Kommunikation sowie eine
Ausf€ uhrung zur wechselseitigen Beziehung zwischen Medien und Politik.
Zudem wird ein Überblick zum Beitrag der vergleichenden Politikwissenschaft
in der Analyse politischer Kommunikation geboten. L€ucken auf dem heutigen
Forschungsstand werden aufgezeigt.
Schlüsselwörter
Politische Kommunikation • Legitimation • Medien • Vergleichende Politikwis-
senschaft
Der Gegenstand der politischen Kommunikation hat sich gerade in den letzten
Jahren erheblich ausdifferenziert – neue Akteure politischer Kommunikation, neue
Formen und Kommunikationswege sowie unterschiedliche Wirkweisen politischer
Kommunikation sind seit vielen Jahren in das Blickfeld der Forschung geraten
(Kamps und Nieland 2006; Vowe und Dohle 2007; Sarcinelli 2013). Besondere
Aufmerksamkeit hat die Frage erhalten, welche spezifischen Anforderungen in der
Kommunikation von Reformprojekten („Inhalte“) (Weidenfeld 2007; Delhees
et al. 2008; Korte 2008) sowie die Wirkung digitaler Informations- und Kommuni-
kationstechnologien (Buchstein 1996; f€ur einen Überblick z. B. Siedschlag 2003) zu
beachten sind. Politische Kommunikation hat f€ur unterschiedliche Akteure und
Handlungsfelder eine unterschiedliche Bedeutung. Ebenso wie sich die Inhalte der
Kommunikation unterscheiden, wird politische Kommunikation von Akteuren
unterschiedlich gehandhabt. In der Forschung werden vor allem Parteien, die Exe-
kutive und das Parlament gesondert voneinander betrachtet.
Gerade in der politischen Kommunikation von Parteien als Akteure der politi-
schen Willensbildung ist die Innen- und Außenkommunikation in den vergangenen
Jahren komplexer geworden (Sarcinelli 2013). Parteien folgen dabei eigenen
„Organisationsrationalitäten und Kommunikationslogiken“ (Wiesendahl 2002,
S. 354 ff.). Beteiligung und innerparteiliche Mitbestimmung wurden vor allem in
der vergangenen Legislaturperiode zu zentralen kommunikativen Mobilisierungs-
instrumenten. Alle Parteien haben mehr oder minder kollaborative Mitwirkungs-
möglichkeiten sowohl den Mitgliedern als auch Nicht-Mitgliedern eröffnet. Formate
und Reichweiten der Mitgliederbeteiligung variieren zwischen den Parteien jedoch
teilweise erheblich (Korte und Treibel 2012).
ur die Exekutive – unterteilt in die/den Bundeskanzler/in und den Bundes-
Auch f€
präsidenten – hat politische Kommunikation zweierlei Funktionen. F€ur die/den
Bundeskanzler/in ist politische Kommunikation ein Hauptbestandteil zum Macht-
erwerb, Machterhalt und Machtverlust. „Sach- und machtpolitische Konstellationen,
spezifische institutionelle Arrangements und die Einbindung in die Kontingenz
politisch-historischer Entscheidungen (f€uhren) zu ganz unterschiedlichen Informa-
tionspraktiken und Kommunikationsweisen“ verschiedener Regierungschefs
(Sarcinelli 2013, S. 99). F€ur den Bundespräsidenten ist politische Kommunikation
ein Stilinstrument. Über Rhetorik und Sprache wird der persönliche Stil eines
Bundespräsidenten geprägt und Autorität geschaffen. Durch Kommunikation ist
der Bundespräsident in der Lage persönliche Themen zu setzen und seinen eigenen
Regierungsstil zu prägen (Sarcinelli 2009, S. 284 ff.; Sarcinelli 2013, S. 99).
Auch das Parlament ist als „Schl€usselinstitution“ politischer Kommunikation zu
betrachten (Sarcinelli 2013, S. 98). In Wirklichkeit ist diese Schl€ usselrolle aber
durch die Medienpräsenz der Exekutive in den Schatten geraten. Das Parlament ist
gleichwohl ein prädestinierter Ort f€ur die öffentliche Kommunikation mit verschie-
denen Handlungslogiken, je nachdem welcher Bereich – ob vertrauliche Sitzungen
oder öffentliche Debatten – zum Objekt politischer Kommunikation wird. Auch
Parlamentarier selbst gelten als verschiedene Kommunikationstypen, wobei das
606 K.-R. Korte und S. Regge
Spektrum von Nutzern innovativer Medientechnologien bis hin zu Nutzern von eher
traditionellen Kommunikationskanälen reicht (Sarcinelli 2013; Zittel 2010).
5 Mediatisierung
€
uber den Zugang politischer Akteure zur Öffentlichkeit und bestimmen auf diese
Weise deren Handlungs- und Einflussmöglichkeiten; sie interpretieren und
bewerten in einer medienspezifischen Weise das politische Geschehen – neben den
Akteuren, Ereignissen und Themen auch politische Anspr€uche, Unterst€utzung und
Entscheidungen – und strukturieren damit den Systeminput und - output (Schulz
2008, S. 59).
(Almond und Powell 1978; Almond und Powell 1996). Auf Grund des gewachsenen
„Selbstbewusstseins der Medien“ (die sich gelegentlich als vierte Gewalt in der
Demokratie verstehen) und der „explosionsartigen Ausbreitung der Kommunika-
tionsmedien“ entwickelte sich politische Kommunikation zu einem Bestandteil der
Informationsgesellschaft (Pickel 2013, S. 257).
Auch Norris untersucht politische Kommunikation in globaler Perspektive in
westlichen Demokratien. Institutionelle Faktoren bedingen politische Kommunika-
tion (Norris 2000). Systemische Ansätze zur Strukturierung des politischen Systems
wurden von Jarren und Donges ausgearbeitet. Die Autoren beschreiben das Hand-
lungssystem, das die Funktion in der Formulierung und Artikulation politischer
Interessen und Legitimierung politischer Entscheidungen bedingt. Das politische
System bildet den Rahmen, in dem politische Kommunikation stattfindet, institu-
tionelle Faktoren ermöglichen und beschränken Handlungen politischer Kommuni-
kation (Jarren und Donges 2011). Zu nennen ist ferner die Studie von Gunther und
Mughan zum Zusammenhang zwischen Qualität einer Demokratie und politischer
Kommunikation (Gunther und Mughan 2000). Ein theoretischer Fortschritt findet in
der Entwicklung von Mehrebenenheuristiken statt, die sich in der Unterscheidung
zwischen Untersuchungsgegenstand und Kontextbedingungen in der komparatisti-
schen Forschung unterscheiden. So wird untersucht, wie und inwiefern sich Hand-
lungen von Akteuren mit konkreten Strukturbedingungen systematisch korrespon-
dieren (Esser und Hanitzsch 2012).
Politische Kommunikation verläuft in der Regierungsforschung (Korte und
Grunden 2013) zwischen drei Akteursgruppen, die unterschiedliche Rollen als
Sender und Empfänger wahrnehmen: politische Akteure, Medien und B€urger. Die
Vermittlung politischer Ideen erfolgt von politischen Akteuren €uber Medien an die
B€urger. Mit der Analyse dieser Vermittlungsfunktion befasst sich die vergleichende
Regierungsforschung im Hinblick auf Fragestellungen zu den Kernbegriffen der
Regierungsforschung: Steuerung und Macht. Gerade in vergleichender Perspektive
wird deutlich, dass sich strukturell unterscheidende Regierungstypen unterschiedli-
cher Kommunikationsinstrumente und Strategien bedienen. Moderne Demokratien
weisen Ähnlichkeiten beispielsweise in der Bedeutung der Medien innerhalb des
politischen Systems auf, jedoch lassen sich systemische und kulturelle Unterschiede
im Vergleich der politischen Kommunikation unter modernen Demokratien nach-
weisen (Korte und Diermann 2008; Diermann 2011). Auf institutioneller Ebene
wurde das Zusammenwirken politischer Strukturen auf Basis systemtheoretischer
Konzepte als politisch-administratives System konzeptualisiert. Es werden unter-
schiedliche Bereiche der Entscheidungsträger (Parlament, Aussch€usse, Regierung)
im Hinblick auf ihre Interaktionen analysiert. Hierdurch entwickelte sich eine
Verbindung zwischen Institutionen und ihren Rollen im politischen Prozess. Auf
der strukturellen Ebene lassen sich politikfeldspezifische Ansätze erkennen, die sich
vor allem mit dem Inhalt, Strukturen und Form von Politik (Lauth und Wagner 2006,
S. 16; auch Glaab und Korte 2012).
Zur vergleichenden Regierungsforschung bietet sich zum Überblick eine Syste-
matisierung entlang der drei bereits oben genannten Dimensionen politischer
Kommunikation an. Patzelt unterscheidet politische Kommunikation in drei
Politische Kommunikation in der Vergleichenden Politikwissenschaft 609
7 Fazit
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Politische Kommunikation in der Vergleichenden Politikwissenschaft 613
Marianne Kneuer
Zusammenfassung
Das Internet und die sozialen Medien haben nicht nur die Kanäle politischer
Kommunikation vervielfacht, sondern zugleich die Art der Kommunikation und
damit auch die Interaktionsmöglichkeiten zwischen politischen Akteuren, gesell-
schaftlichen Gruppen und B€urgern erheblich verändert. Dieser Beitrag nimmt
zunächst Begriffsklärungen vor in diesem €uberaus dynamischen und un€ubersicht-
lichen Feld, legt die zentralen normativen Zugänge und theoretischen Konzepte
dar und greift einige empirische Befunde und Betätigungsfelder auf. Zudem wird
auf die Rolle digitaler Medien in Autokratien eingegangen. Das letzte Kapitel
schließlich zeigt die beträchtlichen Forschungsdesiderate und ebenso großen
Forschungs perspektiven auf, die diesem jungen Thema innewohnen.
Schlüsselwörter
Internet • Soziale Medien • E-government • E-participation • E-democracy •
Online-Kommunikation
1 Einleitung
Das Internet und die sozialen Medien haben nicht nur die Kanäle politischer
Kommunikation vervielfacht, sondern zugleich die Art der Kommunikation und
damit auch die Interaktionsmöglichkeiten zwischen politischen Akteuren, gesell-
schaftlichen Gruppen und B€urgern erheblich verändert. Bereits mit den Anfängen
des Internets in den 1990er-Jahren haben sich vor allem Möglichkeiten der Informa-
tionsverbreitung ebenso wie die der Informationsgewinnung deutlich erweitert.
M. Kneuer (*)
Professorin f€ur Politikwissenschaft, Institut f€
ur Sozialwissenschaften, Universität Hildesheim,
Hildesheim, Deutschland
E-Mail: kneuer@uni-hildesheim.de
Websites stellten neue Orte der Selbstdarstellung von Akteuren dar und gaben deren
Zielsetzungen einen neuen Rahmen. E-Mails vereinfachten insbesondere internen
Informationsaustausch in Parteien, Organisationen, Gruppen und machten Vernet-
zung billiger, schneller und erhöhten die Reichweite der Kommunikation. Das
Aufkommen neuer Anwendungen im Web 2.0 hat die Vernetzung noch sehr viel
weiter getrieben. Die Dynamik der technischen Entwicklung (drahtlose Netzwerke,
Internet €
uber mobile Endgeräte, social software, social media) hat Formen der Online-
Kommunikation und -Interaktion, aber vor allem auch der weitgehenden, nämlich
unendlichen, und grenz€uberschreitenden Vernetzung auf sozialen Plattformen erheb-
lich erweitert. Über rein kommunikativen Austausch hinaus ermöglichen soziale
Medien zugleich Interaktionen zwischen den Nutzern etwa von Microblogs wie
Twitter, content communities wie Tumblr oder sozialen Netzwerken wie Facebook.
Insbesondere seit Politik als kommunikativer Prozess in Mediengesellschaften
verstanden wird, beschäftigt die Politikwissenschaft der Einfluss von Medien auf die
öffentliche Meinungsbildung, auf die Verständigungs- und Aushandlungsprozesse
zwischen den politischen Eliten, gesellschaftlichen Akteuren und der Bevölkerung
sowie schließlich auf politische Entscheidungen (siehe dazu auch den Beitrag
„Medienpolitik“ in diesem Band). Insofern Politik kommunikativ vermittelt werden
muss – der Begriff der Politikvermittlung geht auf Ulrich Sarcinelli (1987) zur€uck –
r€ucken neben der Informierung und Orientierung der B€urger die Zustimmungs-
abhängigkeit und die Begr€undungsbed€urftigkeit von Politik in den Vordergrund.
Zugleich eröffnen digitale Medien neue Wege sowohl der Teilnahme an öffentlicher
Meinungsbildung (Stichwort: Diskurs und Deliberation) als auch der Teilhabe an
politischen Entscheidungen (Stichwort: e-participation).
Ähnlich wie bei vorhergehenden Innovationen fragt sich in Bezug auf die Emer-
genz des Internets und sozialer Medien, inwieweit sich die Rahmenbedingungen von
Politikvermittlung verändert haben und welchen Einfluss die Funktionslogik dieser
neuen IKT auf politische Kommunikation und dar€uber hinaus auf politische Prozes-
se im Allgemeinen hat. Analog den Kontroversen im Zusammenhang mit fr€uheren
Innovationen, bei denen strittig war, inwieweit der jeweilige Innovationsschub und
die damit verbundenen Nutzungspotenziale des „neuen“ Mediums positive oder
negative Wirkungen entfalten, verhält es sich auch bei den digitalen Medien. Bereits
der Einzug des Internets hatte Anfang der 1990er-Jahre eine erhebliche Netzeupho-
rie ausgelöst, die mit der Verbreitung sozialer Medien ein neuerliches Aufleben
erfuhr. Diese optimistischen oder auch utopischen Hoffnungen richten sich insbe-
sondere auf ein demokratiebelebendes Potenzial durch erweiterte Möglichkeiten von
Partizipation, Deliberation, Transparenz und Responsivität oder gar auf demokrati-
sierende Wirkungen digitaler Medien als „liberation technology“ (Diamond 2010),
also in der Überwindung autokratischer Herrschaft. Demgegen€uber stehen skepti-
sche Stimmen, die entweder lediglich eine Spiegelung der bereits vorhandenen
Muster von Partizipation und Deliberation vermuten oder gar einen Qualitätsverlust
demokratischer Prozesse (siehe zu diesen beiden Diskurssträngen detailliert).
In Bezug auf den Forschungsgegenstand Internet bzw. soziale Medien – die hier
als digitale Medien zusammengefasst werden – ergeben sich f€ur die Politikwissen-
schaft vielfältige Ansatzpunkte, da inzwischen eine Mehrheit der politischen
Digitale Medien in der Vergleichenden Politikwissenschaft 617
Institutionen und Akteure auf digitale Medien zur€uckgreifen, und dies auf allen
Ebenen – von der lokalen €uber die nationale und transnationale (europäische) bis
hin zur globalen Ebene. Es hat sich eine Trias der Beschäftigung herausgebildet,
nämlich, erstens, Internet-Governance (bei Fraas et al. 2012, S. 113 auch Online-
Polity genannt), bei der technische Aspekte im Vordergrund stehen wie Aufbau und
Unterhaltung der technischen Infrastruktur, Standardisierung z. B. der Software
sowie Aspekte der Regulierung. Zweitens ist f€ur Regierungen, aber auch die EU
oder internationale Organisationen in der Gestalt der Netzpolitik ein neues Politikfeld
(Online-Policy) entstanden, bei dem Aspekte der Regulierung Teil der staatlichen
Problemlösung und rechtlicher Regelung werden, etwa im Hinblick auf Urhe-
berrecht, Datenschutz, Jugendschutz, Netzzugang, Netzneutralität oder auch Be-
kämpfung von Cyberkriminalität. Und drittens schließlich umfasst Online-
Kommunikation politischer Akteure – sowohl top-down als auch bottom-up – den
Bereich, bei dem es um netzbasierte politische Prozesse geht bzw. um die Aus-
wirkungen digitaler Medien auf politische Strukturen und Prozesse (Online-Politics).
Dieser Beitrag wird sich auf die letztere Dimension konzentrieren und sich dabei
zum einem aus theoretischer Sicht und zum anderen auf der Grundlage empirischer
Befunde vor allem zwei Fragen zuwenden: Wie verändern sich politische Prozesse
auf Grund der Nutzung digitaler Medien durch politische Akteure? Sind diese
Veränderungen als bereichernd oder dysfunktional zu beurteilen? In einem ersten
Schritt werden zunächst Begriffsklärungen vorgenommen in einem €uberaus dynami-
schen, sich technologisch ständig verändernden und daher leicht un€ubersichtlichen
Feld. Im dritten Kapitel werden dann die zentralen normativen Zugänge und theo-
retischen Konzepte vorgestellt. Kapitel vier greift einige empirische Befunde und
Betätigungsfelder auf. Kapitel f€unf geht auf die Rolle digitaler Medien in Auto-
kratien ein und trägt damit der Tatsache Rechnung, dass sich Nutzung und Einfluss
digitaler Medien auf Grund der unterschiedlichen Kontextualität in etablierten
Demokratien anders darstellt als in Autokratien oder jungen Demokratien. Das letzte
Kapitel schließlich zeigt die beträchtlichen Forschungsdesiderate und ebenso großen
Forschungs perspektiven auf, die diesem jungen Thema innewohnen.
„The willingness, on the part of the government, to use ICT to provide high quality
information (explicit knowledge) and effective communication tools for the specific purpose
of empowering people for able participation in consultations and decision-making, both in
their capacity as consumers of public services and as citizens.“ (UN 2003, S. 11).
„An ‘Electronic Democracy’ is any democratic political system in which computers and
computer networks are used to carry out crucial functions of the democratic process – such
as information and communication, interest articulation and aggregation, and decision-
making (both deliberation and voting) (Hagen o.J.; siehe auch Hagen 1997).
Das Konzept elektronischer Demokratie kann daher, so Zittel, als „Programm zur
Reform repräsentativer Demokratie begriffen werden“ mit dem Ziel von mehr
Partizipation und einer Veränderung des Verhältnisses von B€urger und Staat (Zittel
2001, S. 173). Andere Autoren dagegen r€ucken das e-democracy-Konzept eher in
die Nähe von e-government, also einem top-down-Ansatz, bei dem der B€urger als
620 M. Kneuer
Kunde des politischen Systems betrachtet wird (Grundwald et al. 2006, S. 64). Dies
w€urde wohl fallweise B€urgerbeteiligung beinhalten, aber €uber von der Regierung
geöffnete und bereitgestellte Kanäle (Siedschlag et al. 2002). Weitgehende Einigkeit
jedoch besteht darin, dass elektronische Demokratisierung zwar auf die Verbesse-
rung repräsentativer Demokratie, nicht aber auf ihr Ersetzen durch netzbasierte
Direktdemokratie abzielt (Hagen o.J.).
Dagegen wird mit Cyberdemocracy oft ein neues Modell, nicht nur im Sinne der
Ergänzung direktdemokratischer Elemente, sondern als Selbstregierung durch die
B€urger (Hague und Loader 1999, S. 3; Hagen o.J.), was es zu dem weitestgehenden
Typus netzbasierter Demokratie macht. Hier kommt die Vision zum Tragen, den
Zustand athenischer partizipativer Demokratie im Zeitalter der Digitalisierung und
Interaktivität zu verwirklichen: eine elektronische agora bzw. ekklesia. Insofern geht
dieses Modell auch €uber die Idee einer „€uber den elektronischen Diskurs selbst
organisierten virtuellen Gemeinschaft mit größerem politischen Einfluss des Einzel-
nen, einem geschärften demokratischen Bewusstsein und einem intensivierten
urgerlichen Engagement“ (Grundwald et al. 2006, S. 64 – Hervorhebung im
staatsb€
Original) hinaus. Fuchs differenziert zwei Erwartungskomponenten: Zum einen
sollen B€urger durch technologisch erleichterte Referenden wieder umfassend und
dauerhaft am Regieren beteiligt werden, zum anderen soll durch die interaktive
Kommunikation der B€urger in einem virtuellen Raum deliberativ ein gemeinsamer
Wille des Demos konstituiert werden (Fuchs 2004, S. 39). Damit bedeutet Cyber-
democracy letztlich das Ersetzen repräsentativer Demokratie durch die Selbstregie-
rung der B€ urger via Netz.
Unabhängig von der existierenden Begriffskonfusion sind diesen Konzepten
verschiedene normative Annahmen und insofern graduelle Erwartungen an die
vom Internet zu leistenden Funktionen inhärent, wobei die Zielvorstellungen alle-
samt auf eine netzoptimistische Zugang zur€uckgehen. Grob lassen sie sich in drei
Kategorien fassen: Erstens die Vereinfachung der B€urger-Staat-Interaktion, Effizi-
enzsteigerung, auch Kostensenkung; zweitens die Verbesserung politischer Prozes-
se, etwa durch Ergänzung onlinebasierter Elemente von Teilhabe, Konsultation etc.;
und drittens schließlich das Konzept des Ersetzens des repräsentativen Demokratie-
modells durch die digitale Selbstregierung der B€urger.
Der Einzug des Internets Anfang der 1990er-Jahre löste zunächst eine erhebliche
Netzeuphorie aus, die Politiker ebenso erfasste wie Wissenschaftler. Alte demo-
kratietheoretische Forderungen an die Medien, die längst als Utopien abgetan wor-
den waren, schienen nun plötzlich realisierbar. Das Internet wurde zum Utopieträger
mit Heilsversprechungen (Della Porta 2013; Kneuer 2013a; Bucher 2009; Coleman
und Blumler 2009; Norris 2001; Wilhelm 2000). Dies betraf zum einen die Hoffnung
auf bessere Zugangschancen zur öffentlichen Meinungsbildung f€ur gesellschaftliche
Akteure, die sich außerhalb der politischen B€uhne befinden. Zudem konnte nun die
Digitale Medien in der Vergleichenden Politikwissenschaft 621
Blogs etc. zur Dispersion von Öffentlichkeit, zu einer Myriade von selbstreferen-
tiellen Teilöffentlichkeiten, zu „Informations-Kokons“, die die gemeinsame öffent-
liche Sphäre, die f€ur ein politisches Gemeinwesen essentiell ist, unterminieren.
Netzneutralisten oder -realisten betrachten das Internet als neutrales Medium, das
prinzipiell zur Modernisierung und Verbesserung der Demokratie dienen kann,
allerdings unter bestimmten und klar definierten Bedingungen. Vertreter wie Benja-
min Barber (1998) und Claus Leggewie (1998) unterstreichen die ambivalente
Wirkung des Internets auf politische Strukturen und Prozesse. Infolgedessen sehen
sie sowohl mögliche Chancen als auch Risiken. Aus der Analyse und Abwägung
demokratieförderlicher und -hinderlicher Effekte ergibt sich die Schlussfolgerung,
dass, wenn die Technologie der Demokratie dienen solle, sie entsprechend „pro-
grammiert“ werden muss (Barber 1998). Ob demokratische Prozesse letztlich
erleichtert oder unterminiert werden, hänge nicht von der Technologie ab, „sondern
von der Qualität unserer politischen Institutionen und dem Charakter unserer
B€urger“ (Barber 1998, S. 131 f.). Zu den Netzrealisten kann man auch jene Stimmen
zählen, die vor der Überhöhung der Technologie warnen, deterministische Folge-
rungen negieren und auf „teleologische Fallen“ hinweisen (Coleman und Blumler
2009, S. 9). Deterministische Annahmen zur Wirkung des Internets vernachlässigen
die Akteursperspektive, was besonders dann problematisch wird, wenn es um die
Untersuchung von Partizipation und Aktivismus geht (Dahlgren 2013, S. 42). Dies
wird bei der Netzwerktheorie kritisiert. Sie erodiere die Handlungsperspektive und
ersetzt diese durch eine formalistische Idee von Netzwerkstrukturen. Soziale Akti-
vität werde auf die Angebotsseite der Technologien reduziert, wobei die Akteure
selbst ebenso wie Aspekte von Identitäten und Narrativen verloren gingen (Gerbaudo
2012, S. 9).
Zusammenfassend zeigt der Blick auf die theoretischen Debatten, dass sich der
anfängliche netzeuphorische Bias €uber das Veränderungspotenzial des Internets auf
politische Prozesse zwar abgeschwächt hat – auch, weil empirische Befunde eine
realistischere Sicht auf das Phänomen hervorriefen. Nichtsdestotrotz bleiben die
dargestellten Positionsbestimmungen bestimmend. Ähnlich wie in den 1990er-
Jahren lassen sich in den j€ungeren Debatten der letzten zehn Jahre, die sich auf
den nächsten Schritt der Nutzung, das Web 2.0 und die Wirkung sozialer Medien
beziehen, jene drei Hypothesenstränge – Netzoptimismus, Netzpessimismus und
Netzneutralismus – wiedererkennen.
4 Empirische Befunde
und wenn ja: höheres Einkommen geprägt ist (f€ur Deutschland: siehe van Eimeren
und Frees 2014). Des Weiteren belegen empirische Studien insofern die Verstärker-
hypothese, als dass vor allem jene B€urger das Netz f€ur politische Information oder
Aktivitäten nutzen, die ohnehin politisch interessiert und aktiv sind, während die
„apathische Mehrheit“ durch die neuen digitalen Partizipationsformen kaum abge-
schmolzen werden konnte.
Insgesamt bescheinigen Studien folgende, im Großen und Ganzen konsen-
suellen Befunde: Die Online-Formen des Engagements ersetzen im Allgemeinen
nicht die traditionellen Formen, sondern ergänzen sie eher; nur dort, wo das
Internet eine Vereinfachung bietet, kann es auch zu Verdrängungseffekten kom-
men. Die B€ urger, insbesondere auch die J€ungeren, nutzen online – ähnlich wie
offline – stark die Form von Online-Petitionen sowie Abstimmungen €uber poli-
tische Sachverhalte (Köcher und Bruttel 2011, S. 44; Ritzi et al. 2012, S. 23;
AVIIG 2014, S. 28 f.). Die Messung von Reichweite und Zeitaufwand (AVIIG
2014, S. 31) belegt sehr deutlich, dass Nutzungsformen mit hohen Nutzerzahlen
bei geringem Zeitaufwand (Online-Petitionen zeichnen, politische Sachverhalte
abstimmen) Nutzungsformen gegen€uberstehen, in die wenige Nutzer einen
hohen Zeitaufwand stecken (€uber B€urgerhaushalte beraten, an Online-
Konsultationen teilnehmen, Online-Petitionen erstellen). Insofern deutet Einiges
auf ein sich abzeichnendes „participatory divide“ hin. Ritzi/Schaal/Kaufmann
beziehen dies in der Betrachtung der Nutzungsmotive auf den Umstand, dass es
mehr Menschen um symbolische Partizipation geht – ein Zeichen setzen – denn
um instrumentelle Partizipation – im Sinne eines Engagements, das auf politi-
sche Einflussnahme zielt (Ritzi et al. 2012, S. 26). Deswegen – so die Autoren –
kann „mehr Partizipation im Netz nicht die Partizipationsdefizite in der realen
Welt kompensieren“ (ebd. 2012, S. 35). Eine weitere solche participatory divide
kann – ebenfalls f€ur die j€ungere Generation – darin bestehen, dass die Nutzung
der Partizipationsformen negativ korreliert mit dem damit verbundenen Auf-
wand: Je anspruchsvoller die Beteiligungsform ist, desto weniger wird sie ge-
nutzt (Ritzi et al. 2012, S. 23). Dies unterst€utzt die Ergebnisse der Studie von
Emmer et al., die alle Aktivitäten, bei denen man eigene Beiträge (eigene
Homepage, Beiträge in Bild oder Film, Blogs) abzufassen hat, gering sind
(2011: 161–198). Das lässt den Schluss zu, dass gerade bei den J€ungeren die
schnelle und niederschwellige Aktion im Vordergrund steht. Weiterhin ern€uch-
ternd ist eine weitere Facette des participatory divide: Dass nämlich die höheren
Bildungsschichten das Internet wesentlich konsequenter f€ur die Verbesserung
ihrer Information und Meinungsbildung nutzen, während die unteren Bildungs-
schichten auf das Netz primär f€ur im Alltag einsetzbare „Nutzwertinformation“,
Kommunikation und Unterhaltung zur€uckgreifen (Köcher und Bruttel 2011,
S. 40). Politische Beteiligung scheint im Netz eher neue Kluften widerzuspie-
geln, als dass sie neue Bevölkerungskreise erfasst oder neue Wege politischer
Einflussnahme aufzeigt. Zudem zieht sich ein Befund durch alle Studien: Die
Wirkungen der Online-Nutzung f€ur politische Zwecke ist sozial selektiv; mobi-
lisierend wirkt diese vor allem bei J€ungeren.
626 M. Kneuer
Die neuen IKT eröffnen daher sowohl Möglichkeiten f€ur die Befreiung von
Autokratien als auch f€ur subtile Formen sozialer Kontrolle und innovative Legitima-
tionsmechanismen durch Autokratien. Aus einer netzrealistischen Sicht kann die
Wirkung digitaler Medien nicht einem einzigen Ergebnis – entweder Befreiung oder
Kontrolle – zugeordnet werden. Eine neue Software-Anwendung, so erfindungsreich
sie sein mag, hält nicht per se eine Lösungskompetenz f€ur soziale oder politische
Probleme bereit. Die maßgeblichen Kräfte f€ur die Beendigung von Autokratien und
f€
ur das Initiieren von Demokratisierungsprozessen sind die Akteure, also die B€urger,
zivilgesellschaftliche Organisationen und Bewegungen, Parteien und Interessen-
gruppen, freie (!) Medien sowie die relevanten politischen Eliten. Was die neuen
Medien somit schaffen können, sind alternative Opportunitätsstrukturen f€ur diese
Akteure. Es ist jedoch (und es war auch schon vor der digitalen Ära) ein Trugschluss,
Medien ein alleiniges Potenzial zur Lösung politischer Probleme inklusive
Regimewechsel zuzuschreiben und ihre Wirkungsmacht damit zu hypostasieren.
(Kneuer 2013b)
Die Frage nach der Wirkmächtigkeit des Netzes im politischen Bereich erfordert ein
umfassendes Forschungsprogramm. Hier konnten nur skizzenhaft einige Aspekte
angerissen werden, von der generellen Frage geleitet, welche Leistungen digitale
Medien erbringen. Grundsätzlich gilt es zwischen der Angebotsseite und der Nach-
frageseite zu unterscheiden. Inwieweit e-government oder e-participation-Angebote
angenommen werden und ob sie die anvisierten Ziele erf€ullen, ist dabei genauso
offen wie die Einflusschancen und Effekte von B€urgeraktivitäten im Netz, die sich
an Politiker, Parteien, Interessengruppen etcrichten.
Bislang steht die Erforschung etablierter Demokratien im Vordergrund, nicht
zuletzt, weil die hohen Erwartungen an ein Reform- oder Erneuerungspotenzial
vor allem auf die Erm€udungserscheinungen des repräsentativen Modells, auf die
wachsende Entfremdung zwischen B€urgern und Politikern, auf die abnehmende
konventionelle Beteiligung abzielten. Sowohl konzeptionelle Zugänge als auch
empirische Untersuchungen m€ussen sich jedoch in drei Dimensionen bewegen: In
Bezug auf Demokratien steht zu Debatte, inwiefern das technische Potenzial des
Netzes, vor allem sozialer Netzwerke, dazu in der Lage ist, Defizite im Funktionie-
ren der heutigen demokratischen Systeme auszumerzen und Verbesserungen zu
erreichen oder ganz anders: inwiefern auf Grund der Funktionslogik sozialer Medien
Dysfunktionalitäten im demokratischen Gef€uge entstehen, die nicht nur einer Er-
neuerung der repräsentativen Demokratie entgegenstehen, sondern sogar kontra-
produktive Effekte hervorbringen (siehe dazu Kneuer 2013a). In Bezug auf Demo-
kratisierung ist weiterhin ungeklärt, unter welchen Kontextbedingungen und auf
Grund welcher Akteurskonstellationen soziale Medien Liberalisierungsprozesse
oder gar Regimewechsel unterst€utzen können. In Bezug auf Autokratien bestehen
große L€ ucken einerseits bei der Klärung, welche Rolle digitale Medien zur
628 M. Kneuer
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Korruptionsforschung in der
Vergleichenden Politikwissenschaft
Zusammenfassung
Die Korruptionsforschung stellt in der vergleichenden Politikwissenschaft ein
j€
ungeres Gebiet dar, das erhebliche transdisziplinäre Bez€uge, insbesondere zur
Ökonomie, aufweist. Der Aufschwung des Forschungszweigs in den vergange-
nen zwei Jahrzehnten hängt eng zusammen mit der Verf€ugbarkeit aggregierter
Datensätze und Indizes, aber auch mit den insbesondere von der Weltbank
initiierten Antikorruptionsmaßnahmen im Kontext des in den 1990er-Jahren
dominanten Good Governance-Paradigmas. Die wissenschaftliche Analyse be-
fasst sich dabei neben Entwicklungs- und Transformationsländern inzwischen
auch eingehend mit etablierten, marktwirtschaftlich verfassten Demokratien.
Zugleich zeigt sich im Feld der Korruptionsbekämpfung, dass die Übertragung
institutioneller Blaupausen gerade in Ländern mit fragiler Staatlichkeit an enge
Grenzen stößt.
Schlüsselwörter
Korruptionsforschung • Korruptionsbekämpfung • Institutionen • Regimetypen •
Demokratiedefekte • Fragile Staatlichkeit
A. Gawrich (*)
Professorin f€ur Internationale Integration mit besonderem Bezug auf das Östliche Europa, Institut
f€ur Politikwissenschaft, Universität Gießen, Gießen, Deutschland
E-Mail: andrea.gawrich@sowi.uni-giessen.de
T. Debiel
Professor f€ur Internationale Beziehungen/Außen- und Entwicklungspolitik, Institut f€
ur
Politikwissenschaft, Universität Duisburg-Essen, Duisburg, Deutschland
E-Mail: tobias.debiel@inef.uni-due.de
1 Einleitung
Der Begriff Korruption lässt sich zur€uckf€uhren auf die lateinischen Begriffe corrup-
tio und corrumpere, die vielfach mit „Verderben“ €ubersetzt werden. Des Weiteren
bedeutet das Verb rumpere „brechen“ oder „zerreißen“. Urspr€unglich waren diese
Begriffe primär auf das Gemeinwesen bezogen und weniger auf das Handeln von
Individuen (von Alemann 2005, S. 16). In der Korruptionsforschung der j€ungeren
Vergangenheit stand hingegen zunächst das individuelle Handeln im Vordergrund,
systemische Korruptionsanalysen kamen später hinzu.
Ein heute verbreiteter definitorischer Zugang zur Korruption verweist auf den
Missbrauch von öffentlicher Macht zur Erlangung eines persönlichen Vorteils, wie
es etwa in der mittlerweile klassischen Definition von Johnston (1998, S. 322) zum
Ausdruck kommt, der aus politikwissenschaftlicher Sicht Korruption als „abuse of
public office, powers, or resources for private benefit“ bestimmt hat. Ganz ähnlich
ausgerichtet ist das entwicklungspolitisch einflussreiche Begriffsverständnis der
Weltbank von Korruption als „abuse of public office for private gain“ (World Bank
2007, S. 3). Ein Amtsträger oder eine Amtsträgerin unternimmt dabei, so eine
Definition von Ruth Zimmerling (2005, S. 88), eine amtliche Handlung, f€ur welche
er oder sie qua Amt nicht autorisiert ist und die ein derart wahrgenommener Be-
standteil einer Tauschbeziehung ist. Diese vorherrschenden Definitionen greifen
allerdings in vielerlei Hinsicht zu kurz. So spiegelt etwa die Formulierung „abuse
of power“ eine weitgehende Orientierung an formalen Regel€ubertretungen wider –
was unzureichend ist, kann doch die Regelsetzung selbst bereits durch Korruption
beeinflusst worden sein. Maxwell Cameron bringt diese Problematik auf den Punkt
(2007, S. 4), wenn er meint: „one cannot have confidence in the ability of a corrupt
legislator to make good laws“. Wichtig erscheint insofern, dass empirische For-
schung auch einbezieht, ob ein bestimmtes Verhalten gemessen an kontextgebunde-
nen sozialen Maßstäben, die von den jeweiligen rechtlichen Normen abweichen
können, als legitim oder illegitim betrachtet werden kann (von Alemann 2005,
S. 13–49).
Auch der Begriff des „privaten Nutzens“ ist zu eindimensional. Denn das Motiv
f€
ur Korruption in der politischen Sphäre liegt oftmals weniger in rein privaten
Selbstbereicherungsmotiven als vielmehr im Erhalt oder im Ausbau politischer
Macht (Rose-Ackerman 2008), wobei die Profiteure im engeren Sinne dann etwa
die eigene Partei, ethnische Gruppe oder Region sein können (Tanzi 1998, S. 8–9).
Korruption in der politischen Sphäre kann insofern treffender als Missbrauch eines
öffentlichen Amtes im Sinne einer Verletzung formaler Regelungen bzw. sozialer
Normen € uber richtiges Verhalten mit dem Ziel, private oder politische Vorteile zu
erzielen, verstanden werden. Aber auch diese weiter gefasste Definition bleibt
nat€urlich begrenzt, insofern sie korrupte Praktiken allein unter privaten Akteuren
ohne unmittelbare Beteiligung von öffentlichen Amtsträgern außen vor lässt,
obwohl derartige Vorteilsnahme nicht nur in der allgemeinen Wahrnehmung, son-
dern durchaus auch strafrechtlich unter den Tatbestand der Korruption fällt.
Das soziale Phänomen des Missbrauchs öffentlicher Macht fand seinen Weg in
die breitere politische und später auch wissenschaftliche Debatte insbesondere durch
Korruptionsforschung in der Vergleichenden Politikwissenschaft 635
die Konzeptualisierungen der Weltbank seit Ende der 1980er-Jahre (Tanzi 1998,
S. 8) sowie durch die Nichtregierungsorganisation Transparency International ab
den 1990er-Jahren (Schröder 2011, S. 4).
Die wissenschaftliche Befassung mit Korruption ist in einer größeren Zahl von
Forschungsdisziplinen verankert, die von unterschiedlicher Relevanz f€ur die poli-
tikwissenschaftliche Analyse sind. Eine hilfreiche Fundierung f€ur die vergleichende
Politikwissenschaft bieten geschichtswissenschaftliche Analysen, welche historische
Wurzeln zeitgenössischer Korruption herausarbeiten (bspw. ist zum Verständnis der
postsowjetischen Korruption die Kenntnis der Macht- und Wirtschaftsstrukturen der
Sowjetunion notwendig). Die vergleichende Politikwissenschaft hat das Potenzial
historischer Strukturanalysen auf der Makro-Ebene noch nicht €ubermäßig ausge-
schöpft (Beispiele wären Mungiu-Pippidi 2013; Ryan 2013).
Die kriminologische Korruptionsforschung richtet demgegen€uber den Blick stär-
ker auf die Mikro-Ebene und untersucht, welche Dispositionen, Motive und Um-
feldfaktoren Individuen zu korruptivem Verhalten verleiten (Gray 2013). Auf der
Meso-Ebene wiederum gehen organisationstheoretische und soziologische Analy-
sen u. a. der Frage nach, warum Korruption trotz eindeutiger Rechtsnormen in
bestimmten Kontexten auf soziale Akzeptanz stößt und welche Rolle soziales
Vertrauen f€ur die Entwicklung von Korruption spielt. Derartige Ansätze helfen
insbesondere, systemische Korruption zu verstehen, bei der rechtliche und soziale
Normerwartungen grundlegend voneinander abweichen oder konfligieren können
(z. B. Rothstein 2013). Eine Herausforderung f€ur die etablierten Ansätze stellt die
sozial- und kulturanthropologische Forschung dar, die den westlichen bias vor-
herrschender Korruptionskonzepte aufdeckt und die pejorative Wirkung von Sprech-
akten entlarvt. Es wird moniert, dass Interaktionen und Praktiken, die in einigen
außereuropäischen Gesellschaften dortigen Normen entsprechen und zuweilen
durch koloniale Einfl€usse beg€unstigt wurden, häufig unter Vernachlässigung dieser
Kontexte analysiert w€urden (z.B. Torsello 2011, S. 16–20).
Substantieller Austausch findet zwischen der politikwissenschaftlichen und der
wirtschaftswissenschaftlichen Korruptionsforschung statt. Letztere befasst sich pro-
minent mit den Auswirkungen unterschiedlicher Korruptionsniveaus auf Wachstum,
Armut und Verteilungsgerechtigkeit sowie mit den dahinterstehenden funktionalen
Zusammenhängen und Kausalketten, f€ur die nicht zuletzt die staatliche Verfasstheit
von Bedeutung ist (siehe Abschn. 3.1). Neben der vorwiegend makro-ökonomisch
Korruptionsforschung in der Vergleichenden Politikwissenschaft 637
Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts wurde die Befassung mit Korruption
zunehmend auch in der Transformationsforschung populär. Die auf die Demokrati-
sierungswelle folgende Stagnation defekter Demokratien bzw. elektoraler Autokra-
tien r€
uckte schwache formelle Institutionen in den Vordergrund. Dabei wird mittler-
weile erkannt, dass Reformen nicht zwangsläufig die positiven Effekte haben, die f€ur
weitgehend konsolidierte Demokratien unterstellt werden können. Denn Demokra-
tisierungsprozesse können selbst zunächst eine Destabilisierung und ein Macht-
vakuum mit sich bringen, welche Korruption beg€unstigen (Doig und Theobald
2000; Amundsen 1999).
Defizite hinsichtlich der Rechtstaatlichkeit, der Gewaltenteilung sowie der Trans-
parenz des Regierens, dem politischen Wettbewerb aber auch kapazitäre Überforde-
rungen staatlicher Administrationen gelten als zentrale Ursachen f€ur Korruption in
der Sphäre des Politischen. Vice versa ist dann – trotz der oben dargestellten
Einschränkungen – eine Behebung von Demokratiedefekten essentiell f€ur die Ver-
ringerung von Korruption. Als bedeutend gilt nicht nur die Stärkung demokratischer
Institutionen, sondern auch der Zivilgesellschaft und der öffentlichen Verwaltung,
bspw. durch transparente Rekrutierung von staatlichen Bediensteten (z. B. Johnston
2013).
Dementsprechend deuten empirisch-quantitative Studien (Manow 2005) darauf
hin, dass in jungen und schwachen Demokratien Korruption eher noch stärker
ausgeprägt ist als in autoritär regierten Ländern. Dies zeigen ebenso Studien mit
regionaler, vergleichender oder Einzelfallperspektive. Bspw. verstärkte in
Subsahara-Afrika die „dritte Welle“ der Demokratisierung die Hybridität politischer
Herrschaft und f€uhrte nicht zur Überwindung neopatrimonialer Strukturen (Erdmann
2002). Die Einf€ uhrung von Mehrparteiensystemen und Wahlen erhöhte den Wett-
bewerb zwischen rivalisierenden Klientelgruppen, ohne dass sich die informellen
Mechanismen des Machtzugangs und Machterhalts veränderten. Dies perpetuierte
auch die Korruptionsmuster – oftmals mit erhöhtem Ressourcenaufwand (Mungiu-
Pippidi 2006).
Korruptionsforschung in der Vergleichenden Politikwissenschaft 641
Mit r€uckläufiger Zahl von Autokratien seit den 1990er-Jahren haben sich gerade
in Weltregionen, die von staatlicher Fragilität sowie wiederkehrender kollektiver
Gewalt geprägt sind, hybride Regime etabliert. Sie entwickeln sich in der Regel
nicht linear in die eine oder andere Richtung. Unter diesen Umständen können, wie
large-n-Studien nahelegen (Fjelde und Hegre 2014), selbst hohe Korruptionsniveaus
Stabilität befördern, insofern sie zur Machtkonzentration beitragen und die Koopta-
tion politischer Herausforderer erleichtern.
Allerdings ist die stabilisierende Wirkung von Korruption prekär: Zunächst
€
uberdecken korrupte Praktiken die staatliche Desintegration, jedoch eine Teilautono-
mie von politischer und gesellschaftlicher Sphäre bildet sich nicht heraus. Stattdes-
sen zementiert Korruption den Einfluss der häufig entlang ethno-regionaler Linien
organisierten Elitennetzwerke, die sich nicht selten im Rahmen eines „hegemonial
exchange“ (Rothchild 1986) staatliche Positionen und Ressourcen zukommen las-
sen. Diese sind folglich einem demokratisch organisierten Wettbewerb entzogen.
Außerdem behindert die an öffentliche Ämter gebundene Korruptionsmöglichkeit
die Herausbildung einer eigenständigen ökonomischen Klasse, da Aufstiegs- und
Wohlstandschancen nicht an den Markt, sondern an Patronage und Klientelismus
gebunden sind (Englebert 2000). Zudem befördern kurzfristige Rentenmaximie-
rungsstrategien und Selbstprivilegierung Misswirtschaft, die bei einer abnehmenden
Verf€ugbarkeit von Ressourcen in destruktive politische und soziale Verteilungs-
kämpfe umzuschlagen droht. Sinkende Einnahmen aus nat€urlichen Ressourcen oder
externen Finanzzufl€ussen, zum Beispiel im Rahmen der Entwicklungszusammen-
arbeit (EZ), können dann rasch in eine grundlegende Krise von Staat und Gesell-
schaft umschlagen.
In der Entwicklungspolitik ist die Relevanz von Korruption unter anderem in der
Erklärung von Paris €uber die Wirksamkeit der EZ (2005), im Aktionsplan von Accra
(2008) und durch den G20-Gipfel in Seoul 2010 dokumentiert. Vor allem die
Weltbank trieb konkrete Maßnahmenpakete voran (z. B. World Bank 2007), die
im Wesentlichen die folgenden Elemente enthielten:
• Beratung bei Gesetzgebungen und bei Regelungen zur Besoldung und Beförde-
rung im öffentlichen Dienst;
• Etablierung von Behörden zur Korruptionsbekämpfung;
• Förderung von Transparenz und Rechenschaftspflicht im staatlichen Finanzma-
nagement;
• Unterst€utzung unabhängiger Gerichtsbarkeit, der Rechtsweggarantie und trans-
parenter Strafverfolgung;
• Stärkung von Kontrollinstitutionen wie Parlamenten, Medien und zivilgesell-
schaftlichen Organisationen (Debiel und Pech 2010).
logiken verankert sind sowie neben einer Macht- und Ungleichheitsdimension auch
mit Reziprozität und Solidarität einhergehen, was als „moral economy of corruption“
verstanden werden kann (de Sardan 1999). So geht die EZ inzwischen vermehrt auf
lokale Legitimitätsvorstellungen ein. Andernfalls, so eine OECD-Studie, best€unde
die Gefahr, die Autorität staatlicher Akteure zu untergraben (OECD/DAC 2010,
S. 50, 57). Diese könnten ihre Akzeptanz in der Bevölkerung gegen€uber rivalisie-
renden Akteuren oftmals nur sichern, wenn sie nicht zu umfassend den internationa-
len Good Governance-Idealen zu entsprechen versuchen.
6 Fazit
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Klientelismus und Patronage in der
Vergleichenden Politikwissenschaft
Wolfgang Muno
Zusammenfassung
Klientelismus beschreibt eine längerfristige, persönliche und asymmetrische
Beziehung zwischen zwei Akteuren, Patron und Klient, in deren Zentrum ein
reziproker Austausch von Ressourcen steht. Mit der Diskussion um informale
Institutionen in der vergleichenden Politikwissenschaft ist auch Klientelismus
wieder stärker ins Interesse gekommen. Im folgenden Beitrag werden zunächst
Charakteristika des Konzepts „Klientelismus“ diskutiert, ebenso verwandte Be-
griffe wie Patrimonialismus, Neopatrimonialismus, Patronage und Korruption. In
einem zweiten Teil werden dann Beispiele f€ur empirische Analysen diskutiert,
qualitative wie quantitative. Schließlich geht es um Erklärungsansätze, wobei
Klientelismus als abhängige und unabhängige Variable gesehen wird, d. h. es
geht einerseits um Determinanten, andererseits um Konsequenzen von Kliente-
lismus.
Schlüsselwörter
Klientelismus • Neo-Patrimonialismus • Patronage
1 Einleitung
In j€
ungster Zeit haben viele Studien der vergleichenden Politikwissenschaft die
Relevanz informaler Institutionen betont (siehe etwa O’Donnell 1996 oder Lauth
1999 und 2015). Informale Institutionen sind „socially shared rules, usually unwrit-
ten, that are created, communicated, and enforced outside of officially sanctioned
channels“ (Helmke und Levitsky 2006: 5). Klientelismus beschreibt eine solche
W. Muno (*)
Privatdozent, Lehrstuhl f€
ur Internationale Politik, Institut f€
ur Politikwissenschaft, Universität
Mainz, Mainz, Deutschland
E-Mail: muno@politik.uni-mainz.de
informale Institution, eine soziale Beziehung, die auf geteilten sozialen, nicht kodi-
fizierten Regeln basiert. Der Begriff stammt vom lateinischen „cluere“, was „hören,
gehorchen“ bedeutet. Ein Klient war im Rom der Antike jemand, der einen Anwalt
hatte, der ihn vor Gericht vertrat, gleichzeitig meinte „clientela“ eine Gruppe von
Menschen, die in der Öffentlichkeit von ihrem „patronus“ vertreten wurden. Die
Klienten waren freie Gefolgsleute eines Adeligen, keine Sklaven, beide waren durch
einen sakralen Ethik- und Verhaltenskodex miteinander verbunden. Die Klienten
offerierten Arbeit, insbesondere aber politische Unterst€utzung bei Wahlen, daf€ur
bekamen sie vom Patron Schutz, Arbeitsstellen und vielleicht sogar Land (Weber
2005: 1023 f.). Sowohl Patron wie Klienten vererbten ihren Status, so entstanden
langandauernde, € uber Generationen existierende soziale Netzwerke.
Die Beschreibung des antiken Klientelismus ist auch heute von Relevanz, die
Charakteristika existieren auch in modernen Formen. Solche Formen sozialer Be-
ziehungen werden auch durch ähnliche Begriffe beschrieben, etwa Patrimonialis-
mus/Neopatrimonialismus oder Patronage, gelegentlich wird Klientelismus auch mit
Korruption gleichgesetzt, außerdem existieren regionale Versionen wie “Caudillis-
mo“ in Lateinamerika, „Caciquismo“ in Mexiko, „Bossism“ in den Philippinen,
„Marabout“ im Senegal. Diese Begriffe werden teilweise synonym, teilweise zur
Abgrenzung oder Differenzierung verwandt (Brinkerhoff und Goldsmith 2002: 3).
Im folgenden Beitrag werden zunächst Charakteristika des Konzepts „Klientelis-
mus“ diskutiert, ebenso verwandte Begriffe wie Patrimonialismus, Neopatrimonia-
lismus, Patronage und Korruption. In einem zweiten Teil werden dann Beispiele f€ur
empirische Analysen diskutiert. Schließlich geht es um Erklärungsansätze, wobei
Klientelismus als abhängige und unabhängige Variable gesehen wird, d. h. es geht
einerseits um Determinanten, andererseits um Konsequenzen von Klientelismus.
Klientelismus aber meist nur auf Austausch reduziert, oftmals auf Stimmenkauf
(so etwa bei Stokes et al. 2013, vgl. Hilger 2011, Sartori 2009).
Der Austausch von materiellen oder immateriellen G€utern ist ein zentrales Attri-
but von Klientelismus, was insbesondere in ökonomischen Ansätzen bzw. einer
Rational Choice-Perspektive betont wird (z. B. Robinson und Verdier 2002). Aber
auch Rational Choice-Ansätze reduzieren nicht zwangsläufig Klientelismus einseitig
auf den Austausch. Kitschelt und Wilkinson etwa haben zwar eine Principal-Agent-
Perspektive, plädieren aber f€ur ein differenzierteres Konzept (Kitschelt und Wilkin-
son 2007). Kerncharakteristika bzw. Attribute von Klientelismus umfassen mehr als
nur den reziproken Austausch von Ressourcen, es handelt sich um eine länger-
fristige, persönliche und asymmetrische Beziehung zwischen zwei Akteuren, Patron
und Klient (Weber Pazmiño 1991, Hilgers 2011, Muno 2013). Ein Patron verf€ugt
€uber gewisse Ressourcen, etwa Geld, G€uter, Jobs, Zugang zu Dienstleistungen oder
Schutz, also allgemein die Möglichkeit von Protektion, die er seinem Klienten zur
Verf€ugung stellt. Daf€ur ist der Klient zu Gegenleistungen verpflichtet, er stellt seine
Arbeitskraft zur Verf€ugung oder seine politische Unterst€utzung. Klientelismus muss
nicht zwangsläufig politisch sein. Ein Patron kann ein Unternehmer oder Grundbe-
sitzer sein, der Arbeitsstellen und Protektion f€ur die Arbeitskraft seiner Klienten
bietet. Sofern aber öffentliche Ressourcen benutzt werden, der Patron nur aufgrund
eines öffentlichen Amtes Patron ist oder politische Unterst€utzung im Spiel ist, wird
aus einer privaten sozialen Beziehung eine politische.
Patron und Klient machen aus der Beziehung eine dyadische (Landé 1977),
allerdings ist manchmal ein Broker zwischengeschaltet, insbesondere, wenn ein
Patron viele Klienten hat (Weber Pazmiño 1991: 35). Im Gegensatz zu einem Patron
hat ein Broker aber keine echte Verf€ugungsgewalt €uber Ressourcen, sondern ist nur
Mittler, die Dyade wird zwar so zu einer Triade, im Kern geht es aber immer noch
um eine dyadische Patron-Klient-Beziehung. Eine solche Beziehung ist mehr als
nur eine rein sporadische Geschäftsbeziehung, sie ist persönlich, „face-to-face“
(Mainwaring 1999) und entwickelt sich €uber einen gewissen Zeitraum, manchmal
sogar €uber Generationen. Es gibt kein direktes quid-pro-quo im Austausch, vielmehr
m€ussen die Akteure ein gewisses Maß an Vertrauen und Zuversicht haben, dass der
jeweils andere auch trotz des zeitlichen Abstands seine Verpflichtungen einhält
(Lauth 2004: 209). Kitschelt und Wilkinson sprechen von „widely held cognitive
expectations about appropriate behavior“ (Kitschelt und Wilkinson 2007: 18),
Auyero identifiziert solche kognitiven Erwartungen als tief verwurzelte Gef€uhle
von Loyalität und Verpflichtung (Auyero 2000).
Die Asymmetrie der Beziehung dr€uckt sich durch die unterschiedliche Verteilung
der Ressourcen, insbesondere aber durch den unterschiedlichen Status aus. Der
Patron kontrolliert Geld, G€uter, Zugänge und hat Prestige, der Klient hat nur sich
selbst. James Scott definierte Klientelismus als „instrumental friendship in which an
individual of higher socioeconomic status (patron) uses his own influence and
resources to provide protection or benefits, or both, for a person of lower status
(client) who, for his part, reciprocates by offering general support and assistance,
including personal services, to the patron“ (Scott 1972: 92, eigene Hervorhebung).
Analog formuliert Christopher Clapham (1982: 4): „The simplest definition is likely
652 W. Muno
Wie bereits erwähnt, gibt es seine Reihe von ähnlichen, mitunter synonym, aber auch
zur Unterscheidung benutzten Konzepte. Im Folgenden wird auf Korruption, Patro-
nage und Patrimonialismus/Neopatrimonialismus eingegangen.
Klientelismus ist, wie erwähnt, im Gegensatz zu Korruption mehr als nur ein
Austausch, mehr als nur ein oberflächliches Treffen. Bei Korruption fehlt häufig das
persönliche Element, in der Regel das Zeitliche. Oft kennen sich die Korruptions-
partner kaum, es kann etwa auch ein unbekannter Polizist sein, den man nach einer
Verkehrskontrolle besticht und niemals wieder sieht. Im Klientelismus besteht
dagegen eine enge persönliche Verbundenheit €uber einen längeren Zeitraum. Ge-
meinsamkeiten sind der Austauschcharakter, der mit Ausnahme von Unterschlagung
auch bei Korruption vorliegt, und die Informalität. Zudem ist es wichtig, woher der
Patron die Ressourcen hat, die er seinen Klienten zur Verf€ugung stellt. Er kann
private Ressourcen nutzen oder, wenn er ein öffentliches Amt hat, staatliche. Im
letzten Fall handelt es sich um Unterschlagung öffentlicher Mittel und damit um
einen Missbrauch eines öffentlichen Amtes zum privaten Vorteil, die klassische
Definition von Korruption. Damit sind Klientelismus und Korruption keine de-
ckungsgleichen Konzepte, weisen aber eine gemeinsame Schnittmenge auf (vgl.
Muno 2013).
Patronage wird in zwei Varianten diskutiert (vgl. Kopecky und Mair 2012). In
einer weiten, unspezifischen Konzeption ist Patronage der Tausch von öffentlichen
G€utern f€
ur politische Unterst€utzung. Patronage und Klientelismus wären in dieser
Perspektive „largely the same phenomenon“ (Piattoni 2001a: 7). Diese unspezifische
Variante sehen Kopecky, Mair und Spirova als „electoral resource“. Speziell die
spezifische Ausprägung als Stimmenkauf („Vote-buying“) wird oft mit Klientelis-
mus gleichgesetzt (so etwa Stokes et al. 2013). Es handelt sich aber nicht um
identische Phänomene. Stimmenkauf ist ein „one-shot, direct exchange“ (Hilgers
2011) und hat wenig mit der komplexen sozialen Beziehung zu tun, die
Klientelismus ist.
Als spezifische Konzeption unterscheiden Kopecky und Mair davon Patronage
als „organizational resource“ (2012: 7). In dieser Perspektive vergibt die Partei, die
Wahlen bzw. Ämter gewonnen hat, öffentliche Jobs an verdiente Parteimitglieder,
um so institutionelle Kontrolle zu erlangen. Zwar gibt es immer noch einen gemein-
samen Mechanismus des Austauschs bei Klientelismus und Patronage, auch die
zeitliche Dimension ist gegeben; Verbundenheit wird durch gemeinsame Überzeu-
gungen, Erwartungen und Loyalität erreicht, aber Patronage wird eher durch einen
unpersönlichen Parteiapparat, nicht aber durch einen persönlichen Patron ausge€ubt,
das Augenmerk liegt hier auf der „party machine“ und „machine politics“ (so auch
Klientelismus und Patronage in der Vergleichenden Politikwissenschaft 653
schon Scott 1969). Damit befindet sich die Analyse nicht mehr auf einer mikro-
soziologischen Ebene wie bei einer klientelistischen Patron-Klient-Beziehung, son-
dern auf einer mesosoziologischen von Organisationen und Institutionen (so auch
Erdmann und Engel 2007: 107).
Auf einer makrosoziologischen Ebene befindet sich wiederum Neopatrimonialis-
mus, was eine hybride Regimeform beschreibt, bei der traditionelle und moderne
Herrschaftselemente vermischt sind und Klientelismus ein Herrschaftsmechanismus
ist (ausf€
uhrlicher Erdmann und Engel 2007). Diese makrosoziologische Perspektive
orientiert sich an Max Weber. Weber unterschied drei reine Formen legitimer
Herrschaft: eine rational-legale, eine charismatische und eine traditionale Form
(Weber 1973: 151 ff.). Klientelismus war bei Max Weber mit der Aus€ubung tradi-
tioneller Herrschaft verbunden (Weber 2005: 167 ff.). Der „Herr“ ist durch die
Macht traditionaler Vorschriften und durch den Glauben an die Heiligkeit der
Ordnung legitimiert. Eng damit verbunden waren bei Weber „patriarchale“ und
„patrimoniale“ Herrschaft: die letzte ist eine Sonderform der ersten, beide sind
Formen traditionaler Herrschaft (Weber 2005: 739 ff.). Klientelismus beschreibt
die soziale Beziehung, die traditionale Herrschaft ausmacht.
In neueren Diskussionen wird Patrimonialismus als eine Herrschaftsform ange-
sehen, in der es keine Unterscheidung zwischen privat und öffentlich gibt, der Staat
ist das Privateigentum des Herrschers, Militär und B€urokratie sind nur ihm persön-
lich verantwortlich (Erdmann 2001). Davon zu unterscheiden ist Neopatrimonialis-
mus als hybride Regimeform, in der patrimoniale Herrschaft parallel zu Elementen
einer rational-legalen, b€urokratischen Herrschaft existiert, in symbiotischer Form
verwoben, und Klientelismus ein, aber nicht der einzige Herrschaftsmechanismus ist
(Bratton und van de Walle 1997, Erdmann 2013).
Dass die erläuterten Konzepte trotz der konstatierten Unterschiede gleichwohl oft
synonym genutzt werden, liegt zum einen in einer mangelnden konzeptionellen
Klarheit vieler empirischer Studien, zum anderen in unterschiedlichen mikro-, meso-
oder makrosoziologischen Perspektiven auf gleiche empirische Phänomene, aber
auch in wissenssoziologischen unterschiedlichen Traditionen. So kann der Gebrauch
der unterschiedlichen Bezeichnungen oftmals eher auf (weberianische oder regio-
nale) Wissenschaftstraditionen denn auf substanzielle Unterschiede zur€uckgef€uhrt
werden (so auch Piattoni 2001a). Im angelsächsischen Sprachraum ist der Begriff
Patronage weiter verbreitet, Studien aus und €uber Lateinamerika und S€udeuropa
nutzen eher den Begriff Klientelismus, die Forschung zu Afrika und teilweise auch
zu Asien präferiert Neopatrimonialismusmus.
3 Empirische Analysen
Die Forschung zu Klientelismus kann in drei Phasen unterteilt werden (vgl. Hicken
2011, Hilgers 2011). Die erste Generation der 1960er- und 1970er-Jahre war im
modernisierungstheoretischen Paradigma verhaftet und sah Klientelismus als ein
Relikt traditionaler Gesellschaften (etwa Landé 1977, Schmidt et al. 1977, Eisen-
stadt und Lemarchand 1981). Da sich Klientelismus aber nicht auflöste, versuchten
654 W. Muno
Forscher in einer zweiten Phase die Persistenz und Anpassung des Klientelismus
auch in modernisierten oder sich modernisierenden Gesellschaften zu erforschen
(etwa Clapham 1982, Eisenstadt und Roniger 1984). Auf diese Forschung aufbau-
end konzentrieren sich neuere quantitative wie qualitative Beiträge in der dritten
Phase auf den Versuch, einerseits systematische oder genauere empirische Informa-
tionen zu gewinnen und andererseits verallgemeinerbare und €uberpr€ufbare Hypo-
thesen und kausale Erklärungen zu entwickeln (paradigmatisch daf€ur Stokes
et al. 2013, ähnlich Piattoni 2001b, Schröter 2001, Kopecky, Mair und Spirova
2012, Hilgers 2012, Paulus 2013, siehe auch Stokes 2007).
Dabei gibt es zwei grundsätzliche Herangehensweisen, eine qualitative, soziolo-
gische oder ethnologische, die „dichte Beschreibungen“ (Geertz 2003) von begrenz-
ten Fallstudien liefert, und eine quantitativ-komparative, die versucht, Klientelismus
zu messen. Ein Beispiel f€ur die ethnologische Annäherung ist Javier Auyeros Studie
„Poor People’s Politics“ (2000), ein Beispiel f€ur die quantitative Herangehensweise
ist das „Democratic Accountability and Linkages Project“, das unter der Leitung von
Herbert Kitschelt an der Duke University durchgef€uhrt wurde (DALP 2015).
Auyero spricht von der „Peronist public performance“ (Auyero 2000: 121). Mit
einer permanenten Wir-Rhetorik und Verweisen auf die historische Verbundenheit
von Evita Perón mit den Armen wird das Wir-Gruppen-Gef€uhl von Peronisten
gestärkt und eine emotionale Bindung und Loyalität hergestellt. Insbesondere diese
symbolische und kognitive Dimension, die historisch-emotionale Reproduktion
kollektiver peronistischer Identität, die mit dem Klientelismus einhergeht, sieht
Auyero als zentrales Bindemittel und als Mechanismus, der die alltägliche Funkti-
onsweise peronistischer klientelistischer Netzwerke in Armenvierteln und die damit
verbundene Reproduktion peronistischer Identität sowie die Frage, warum die meis-
ten Armen nach wie vor den Peronismus unterst€utzen, wesentlich erklärt.
Die Analyse war die erste, ausf€uhrliche ethnologische Untersuchung des moder-
nen, urbanen Klientelismus in Argentinien und erbrachte herausragende Einsichten
in die argentinische politische Soziologie. Allerdings ist eine solche „dichte Be-
schreibung“ und Einzelfallstudie in ihren Aussagen und ihrer Reichweite begrenzt.
exzellente Quelle f€ur Forschung zum argentinischen Klientelismus dar und können
etwa helfen, die detaillierten Beobachtungen von Auyero in einen breiteren Kontext
zu stellen. Interessanterweise gaben nur 7 Prozent der befragten Wähler an,
€
uberhaupt G€ uter während des Wahlkampfs erhalten zu haben, dagegen aber etwa
20 Prozent der peronistischen Sympathisanten. Eine deutliche Mehrheit gab aber an,
nicht bei der Stimmabgabe beeinflusst gewesen zu sein, und 90 Prozent f€uhlten sogar
grundsätzlich keine Verpflichtung nach Geschenken im Wahlkampf (Stokes
et al. 2013: 36 ff.). Solche Aussagen stehen teilweise im Widerspruch zu Auyeros
Analyse, aber nochmals kann auf den Unterschied zwischen Stimmenkauf und Kli-
entelismus hingewiesen werden, was eine mögliche Erklärung hierf€ur sein könnte.
Ein ähnliches Forschungsdesign hat Schröters Studie zu Klientelismus in Mexiko
(2011). 49 Interviews und 450 Befragungen wurden durchgef€uhrt, um Prozesse,
Strukturen und Entwicklungen des mexikanischen Klientelismus zu untersuchen.
Konstatiert wird ein R€uckgang des parteipolitischen Klientelismus, wenngleich er
nicht ganz aus den Köpfen von Beteiligten und Beobachtern verschwunden ist.
Damit ist die Studie zwar etwas bescheidener im Umfang als die von Stokes et al.,
aber daf€
ur hat Schröter ein differenzierteres Konzept von Klientelismus, das dem
hier beschriebenen entspricht und sich nicht auf Stimmenkauf beschränkt. Metho-
disch gesehen handelt es sich bei beiden Untersuchungen um exzellente Primär-
quellen, wobei der Aufwand aber so immens ist, dass er sich f€ur systematisch-
komparative Studien kaum wiederholen lässt.
Eine sparsame Alternative stellen Expertenbefragungen dar, wie sie f€ur das
„Democratic Accountability and Linkages Project“ durchgef€uhrt wurden. Ziel des
Projektes war es, programmatische und nicht-programmatische (klientelistische)
Verbindungen zwischen Parteien und Wählern zu untersuchen. (Kitschelt 2011,
Kitschelt und Freeze 2011). 89 Länder wurden analysiert, 16 in Westeuropa, 19 post-
kommunistische Staaten, 22 Länder in den Amerikas, 15 in Afrika und 17 in Asien
und dem Mittleren Osten. Mehr als 1400 Befragungen wurden per E-Mail oder
brieflich durchgef€uhrt, Zielgruppen waren Akademiker, Journalisten und Politiker.
Der standardisierte Frageboden bestand aus f€unf Teilen, zunächst wurde nach Partei-
organisation gefragt (12 Fragen), dann nach Austauschpraktiken (13 Fragen), es
folgten 6 Fragen zu Wahlen, 8 zu programmatischen Positionen der Parteien, und
schließlich folgten zusammenfassende Urteile. Speziell im zweiten Teil wurde
explizit nach klientelistischen Praktiken gefragt und Kitschelt stellt auch
€uberblicksartig Ergebnisse auf Basis dieser Fragen vor (Kitschelt 2011).
Demnach weisen wohlhabende OECD-Länder ein niedriges Niveau von Klien-
telismus auf, insbesondere nordeuropäische Staaten und Kanada, die nahezu gar
keinen Klientelismus haben, dagegen sind aber kontinentaleuropäische Länder wie
Italien und Griechenland, Israel, Japan, Korea und die USA in einem unteren bis
mittleren Bereich einzustufen. Postkommunistische Länder weisen eine große Vari-
anz auf, mit einem eher niedrigen Niveau in den meisten zentraleuropäischen Staaten
bis hin zu hohen Werten in Bulgarien, Mazedonien oder der Mongolei. Auch f€ur
Lateinamerika gilt eine solch große Varianz, mit Uruguay, Chile und Costa Rica an
einem Ende des Spektrums, mit wenig Klientelismus, und Ländern wie Argentinien,
Panama, Paraguay und der Dominikanischen Republik mit hohen Werten am
Klientelismus und Patronage in der Vergleichenden Politikwissenschaft 657
anderen Ende des Spektrums. Länder des Mittleren Ostens und Asiens differieren
ebenfalls, diese Varianz reduziert sich allerdings, nimmt man Israel, Japan und Korea
in die OECD-Gruppe mit auf, dann sind die €ubrigen Länder der beiden Regional-
gruppen mit eher hohen Werten in einem Cluster zu finden. Mit Ausnahme von
S€udafrika und Botswana, die einen mittleren Klientelismuswert aufweisen, befinden
sich alle anderen afrikanischen Länder in einem Cluster mit den höchsten Kliente-
lismuswerten.
Insgesamt bietet dieser Datensatz einen guten Ansatz zur Messung von Kliente-
lismus, konzeptionell wird sich nicht nur auf Stimmenkauf beschränkt. Die metho-
dischen Grenzen sind aber offensichtlich. Wie bei allen Expertenbefragungen han-
delt es sich um subjektive Einschätzungen, auch ist die Anzahl der Befragten
begrenzt, was alles zu Verzerrungen und falschen Werten f€uhren kann. Auch wird
hier explizit eher nach Parteiverbindungen gefragt, also in diesem Sinne weniger
nach einer persönlichen Beziehung zwischen Patron und Klient, sondern nach
Patronage. Doch trotz dieser Begrenzungen kann der Datensatz klar als Fortschritt
im Versuch der komparativen empirischen Erfassung und vergleichenden Analyse
von Klientelismus eingestuft werden.
sich aber empirisch nur bedingt gezeigt hat. Vielmehr hat sich Klientelismus als
wandelbar und anpassungsfähig erwiesen.
Auf einer mesosoziologischen Ebene werden Parteien und Parteiensysteme als
erklärende Variablen herangezogen, insbesondere in der Forschung zu Patronage,
Stimmenkauf und „citizen-politician linkages“ (Kitschelt und Wilkinson 2007,
Kopecky und Mair 2012). So sind ein geringes programmatisches Profil und eine
geringe „nat€ urliche“ soziale Verankerung von Parteien Faktoren, die Anreize dar-
stellen, auf Klientelismus, Patronage und Stimmenkauf zu setzen. Aus institutio-
neller Sicht ist es die Schwäche oder Nichtfunktionalität formaler Institutionen, die zu
informalen Institutionen wie Klientelismus f€uhrt (O’Donnell 1996, Schedler 2004,
Lauth 2004). Allerdings ist es in dieser Perspektive schwer, eine Kausalitätsrichtung
zu erkennaen, können doch auch informale Institutionen gerade die Ursache von
Defiziten formaler Institutionen sein. Hicken f€uhrt als weitere Erklärungsfaktoren f€ur
Klientelismus, die in der Forschung diskutiert werden, kulturelle Normen, Ethnizität,
Wahlsysteme und Regimeformen an (Hicken 2011: 302). Ergänzt werden m€usste noch
organisierte Kriminalität, die in einem engen Zusammenhang mit Klientelismus und
Korruption steht (vgl. exemplarisch Krauthausen 2013). Die diverse Diskussion zeigt,
dass es keine anerkannte und €uberzeugende Erklärung gibt, vielmehr werden ad hoc
verschiedene Variablen herangezogen, die sich f€ur Einzelfälle oder f€ur die konkreten
Untersuchungsdesigns anbieten, ohne systematisch zu €uberzeugen.
Wenn auch die Suche nach €uberzeugenden Determinanten von Klientelismus
offen bleibt, so stellt sich die Frage nach Wirkungen und Konsequenzen, Kliente-
lismus wird von der abhängigen zur unabhängigen Variable. Generell wird Kliente-
lismus als negativ eingeschätzt, Klientelismus, so der Konsens in der Literatur, hat
negative Auswirkungen auf die Funktionsweise von Demokratie, auf die Einstellun-
gen der B€ urger zum politischen System und auf die Regulierungskapazität von
Regierungen. Klientelismus f€uhrt zur Ber€ucksichtigung und Durchsetzung partiku-
lärer Interessen, statt dass universal öffentliche G€uter bereitgestellt werden (Hicken
2011: 302). Das f€ uhrt zu Ineffizienz, ist aber schon aus demokratietheoretischer Sicht
als negativ einzuschätzen, insbesondere, wenn ein informaler Mechanismus wie
Klientelismus so weit verbreitet ist und praktiziert wird, dass er als informale
Institution angesehen werden muss. So f€uhrt Hans-Joachim Lauth aus: „Die Folgen
f€
ur eine Demokratie können in dreifacher Perspektive gravierend sein: Erstens
unterhöhlen sie [informale Institutionen] die staatliche Souveränität, indem sie das
Gewaltmonopol brechen und die Möglichkeiten effektiven Regierens beschneiden.
Zweitens unterminieren sie den Rechtsstaat, indem sie seine formalen Regeln
missachten und die Gewaltenteilung partiell aufheben. Drittens beeinträchtigen sie
den demokratischen Prozess, indem sie den Präferenztransfer der formalen demo-
kratischen Verfahren manipulieren und demokratische Institutionen okkupieren“
(Lauth 1999: 81). Gero Erdmann sieht Neopatrimonialismus gar als zentrale Erklä-
rung f€ur die „apokalyptische Trias“ von Staatsversagen, Staatszerfall und Staats-
kollaps in Afrika (Erdmann 2014).
Eine Ausnahme dieser Einschätzung stellt die Perspektive dar, Klientelismus sei
unter suboptimalen Bedingungen eine zwar normativ nicht w€unschenswerte, aber
aus wertneutraler Sicht wenigstens funktionierende Möglichkeit der Partizipation
Klientelismus und Patronage in der Vergleichenden Politikwissenschaft 659
und Inklusion (exemplarisch f€ur diese Argumentation Hicken 2011: 302, Paulus
2013). Zwar sind universalistische Distributionsmechanismen wie etwa eine funk-
tionierende Sozialpolitik ohne Zweifel besser, aber wenn formale Mechanismen der
sozialen Inklusion unzureichend entwickelt oder f€ur viele unerreichbar sind, dann
bildet Klientelismus eine erreichbare Alternative: „Klientelistische Netzwerke bil-
den das funktionale Äquivalent f€ur universelle Sozialprogramme, indem der Patron
seinen sozial höheren Status und Zugang zu Ressourcen ausnutzen kann, d. h. dem
Klienten etwas anbieten kann, zu dem dieser sonst keinen Zugang hat“ (Paulus 2013:
48, vgl. auch Kitschelt 2000: 847 ff.). Dass Klientelismus f€ur bestimmte Akteure
einen Nutzen hat, ist evident, denn w€urde er niemandem nutzen, w€urde er nicht
existieren (Auyero 1999: 304 f.). Aber die Inklusion einiger Klienten bedeutet
gleichzeitig die Aufrechterhaltung der Exklusion derjenigen, die sich außerhalb
der klientelistischen Netzwerke befinden. Aus einer utilitaristischen Sicht ist daher
Klientelismus sicherlich besser als Nichts, aber dieser positive Aspekt sollte nicht
die oben erwähnten inhärenten Probleme und negativen Konsequenzen €uberdecken.
Dies gilt umso mehr, wenn klientelistische Muster in organisierter Kriminalität
angesiedelt sind oder auf state capture ausgerichtet sind.
5 Zusammenfassung
„Clientelism exists in all polities“, vermerkte van de Walle, „the forms it takes, its
extent, and its political functions vary enormously, however, across time and place“
(van de Walle 2007: 50). Zudem handelt es sich um ein informales Phänomen, das
nur sehr schwer zu erfassen ist, außerdem gibt es seine Reihe von Konzepten wie
Korruption, Patronage oder Neopatrimonialismus, die zwar verwandt, aber nicht
identisch sind, trotz einer häufig synonymen Nutzung in Studien, die zu wenig Wert
auf konzeptionelle Klarheit legen.
Bereits vor mehr als 25 Jahren hat Landé als grundsätzliche Probleme bei der
Erforschung von Klientelismus drei Aspekte aufgef€uhrt, einmal die Konzeptionali-
sierung, zum zweiten die Erfassung (und in diesem Sinne Messung), und schließlich
die Erklärung (Landé 1983). Wie in diesem Beitrag gezeigt, hat die neuere For-
schung insbesondere zu den ersten beiden Aspekten wichtige Beiträge geleistet und
so zu wissenschaftlichem Fortschritt beigetragen. Bez€uglich einer Erklärung von
Klientelismus ist aber noch immer eine große Divergenz festzustellen, einfache
Rational Choice-Erklärungen eines Tauschs zum gegenseitigen Vorteil konkurrieren
mit differenzierten, soziologischen Erklärungen, die Klientelismus als komplexe
soziale Beziehung interpretieren. Die Entwicklung einer Theorie mittlerer Reich-
weite mit plausiblen Mechanismen zur Erklärung von Klientelismus steht noch aus.
Aber die Kombination von Ergebnissen soziologischer Feldforschung, wie bei
Auyero (2000), von Surveys in einzelnen Ländern wie Argentinien (Stokes
et al. 2013) und Mexiko (Schröter 2001), und von vergleichenden Expertenbefra-
gungen (DALP 2015) erscheint eine sinnvolle und mögliche Strategie, um dies zu
erreichen.
660 W. Muno
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662 W. Muno
Manfred G. Schmidt
Zusammenfassung
„Sozialstaat“ meint eine weit ausgebaute, tendenziell die gesamte Staatsb€urger-
schaft umfassende Sozialpolitik. Er ist – in unterschiedlichen Größenordnungen
und Formen – mittlerweile ein Kennzeichen insbesondere von wirtschaftlich
wohlhabenden Demokratien. Zugleich ist der Sozialstaat ein wichtiges Unter-
suchungsfeld der vergleichenden Politikforschung. Diese beschreibt, typologi-
siert, erklärt und bewertet die verschiedenen Sozialstaaten, die Determinanten der
Sozialstaatsentwicklung in den Aufbau-, Ausbau-, Umbau- und R€uckbauphasen
und erörtert auch die Wirkungen des Sozialstaats auf Wirtschaft, Gesellschaft und
Politik. Das vorliegende Kapitel informiert €uber die Grundz€uge dieser Forschung
und ihre wichtigsten Ergebnisse.
Schlüsselwörter
ursorge • Sozialstaat • Sozialstaatstypen • Sozialversicherung • Staats-
F€
urgerversorgung • Wohlfahrtsstaatsregime • Dekommodifizierung • Machtres-
b€
sourcen • New Politics of the Welfare State • Reformen (in der Sozialpolitik),
Ausbaureformen, Umbau- und R€uckbaureformen
1 Begriff
„Sozialstaat“ ist ein Begriff der politischen und der wissenschaftlichen Sprache f€ur
eine Sozialpolitik, die weit ausgebaut ist und die große Mehrheit der Staatsb€urger
vor Risiken sch€ utzt, gegen die sich der Einzelne meist nicht aus eigener Kraft
versichern kann. Der Sozialstaatsbegriff wird in einem sehr weiten, nahezu die
2 Sozialstaatsformen
2.1 Es gibt nicht nur einen Sozialstaat, sondern viele verschiedenartige Sozialstaa-
ten. Die Sozialstaatsforschung ist dieser Vielfalt mit Typologien zu Leibe ger€uckt.
Eine der gängigen Typologien unterscheidet idealtypisierend zwischen Staats-
b€urgerversorgung, Sozialversicherung und F€ursorge. „Staatsb€urgerversorgung“
steht f€ur eine Sozialpolitik, die allen Staatsb€urgern zugutekommt, aus Steuern
finanziert und vom Staat organisiert wird. „Sozialversicherung“ hingegen meint eine
Sozialpolitik, deren Kern die Pflichtversicherung (insbesondere von Arbeitnehmern)
gegen Gefährdungen der gesellschaftlichen Existenzgrundlage der Versicherten und
der Versichertengemeinschaft ist. Sozialversicherungen sind Solidargemeinschaften,
in denen erst die Zahlung von Beiträgen Leistungsanspr€uche begr€undet. Als
„F€ursorge“ schließlich gilt eine nachrangige Sozialpolitik, die vor allem tätig wird,
wenn dezentralere Netze wie Markt oder Familie beim Sozialschutz versagen und
ihre Leistungen nur f€ur enger definierte, in der Regel bed€urftige Zielgruppen erbringt.
2.2 Die Unterscheidung zwischen Staatsb€urgerversorgung, Sozialversicherung und
F€ursorge beeinflusste auch G. Esping-Andersens viel beachtete Differenzierung dreier
„Worlds of Welfare Capitalism“: sozialdemokratisch, konservativ und liberal (Esping-
Andersen 1990). Diese Unterscheidung fußt auf Messlatten der „Dekommodifizie-
rung“ und der „wohlfahrtsstaatlichen Regime“. Die „Dekommodifizierung“ soll den
Grad erfassen, in dem Individuen oder Familien aufgrund der Sozialpolitik „einen
gesellschaftlich akzeptablen Lebensstandard unabhängig von der Erwerbsbeteiligung
aufrechterhalten können“ (Esping-Andersen 1990, S. 37; Übers. d. Verf.) und den
Schutz messen, den die Sozialpolitik dagegen bietet, Risiken wie Alter, Krankheit
oder Invalidität allein oder vorrangig individuell aus Arbeitsentgelt zu versichern.
Angezeigt wird ein hohes (niedriges) Niveau der Dekommodifizierung vor allem
Sozialstaat in der Vergleichenden Politikwissenschaft 667
Viele Faktoren bestimmen den Auf- und den Ausbau des Sozialstaates (Alber 1982;
Castles et al. 2010). Man hat sie unter anderem zu funktionalistischen, konflikt-
theoretischen und institutionentheoretischen Ansätzen geb€undelt. Funktionalistische
Ansätze deuten die Sozialpolitik €uberwiegend als Reaktion auf Funktionsl€ucken in
der Existenzsicherung großer Bevölkerungsmassen, die von Industrialisierung und
Urbanisierung verursacht wurden. Konflikttheorien hingegen sehen den Hauptmotor
der sozialstaatlichen Politik vor allem in der Kräfteverteilung zwischen Gruppen und
Klassen und ihren Machtressourcen. Institutionentheorien schließlich erklären die
Gestaltung von Sozialpolitik vor allem mit den Spielregeln, die in der Politik, der
Gesellschaft und der Wirtschaft eines Landes herrschen.
Zur Erklärung des Auf- und Ausbaus sozialstaatlicher Politik eignen sich vor
allem sechs Faktorenb€undel (vgl. Castles et al. 2010; Schmidt et al. 2007).
1. Das erste Faktorenb€undel ist sozio-ökonomischer Art und Stoff insbesondere f€ur
Modernisierungstheorien. Der Auf- und Ausbau eines Sozialstaats erfolgt meist
ab einem wirtschaftlichen Entwicklungsniveau in der Größenordnung von 6.000
bis 10.000 Dollar pro Kopf in Preisen von 1990. Sozialpolitisch förderlich sind
ferner ein vergleichsweise rasch voranschreitender Prozess der wirtschaftlichen
Entwicklung einschließlich zunehmender Urbanisierung sowie die Alterung der
Bevölkerung.
2. Machtressourcen prägen ebenfalls den Auf- und Ausbau der Sozialpolitik. Sozial-
staatsförderlich wirkt insbesondere die Präsenz einer starken Arbeiterbewegung,
das zeigen vor allem Esping-Andersen (1990) und Huber und Stephens (2001,
2012), während Länder mit schwacher Arbeiterbewegung typischerweise Spät-
starter der Sozialpolitik wurden und oft auch Nachz€ugler blieben.
3. Regierungsparteien mit starken Präferenzen f€ur sozialen Ausgleich sorgen eben-
falls f€
ur eine ehrgeizige Sozialpolitik. Als besonders einflussreich entpuppen sich
dabei, so zeigt die Parteiendifferenztheorie, meist die sozialdemokratischen und
christdemokratischen Parteien Westeuropas (Schmidt 2010). Beide sind Sozial-
staatsparteien, beide favorisieren starke soziale Sicherungssysteme und beide
engagieren sich in der sozialpolitischen Regulierung der Arbeitswelt – und
unterscheiden sich damit markant von den marktfreundlichen, sozialstaatsdistan-
zierten liberalen und säkular-konservativen Parteien.
4. Weiterhein prägen politisch-institutionelle Bedingungen den Sozialstaatsaufbau
und -ausbau. Eine Demokratie, insbesondere eine seit langem verwurzelte Demo-
kratie, ist eine f€
ur die Sozialpolitik g€unstige Rahmenbedingung. In ihr sind auch
die „Habenichtse“ stimmberechtigt, einschließlich der großen Sozialstaatsklientel
(im Sinne des Anteils der Wahlberechtigten, der seinen Lebensunterhalt
€
uberwiegend aus Sozialleistungen finanziert) (McGuire 2010).
5. Sozialpolitische Kompensation von Weltmarktintegration und sozialstaatsfreund-
liche Diffusion durch Mitgliedschaft in internationalen Organisationen sind wei-
tere Antriebskräfte des Sozialstaats. Freilich sind gegenläufige Einfl€usse ebenfalls
Sozialstaat in der Vergleichenden Politikwissenschaft 671
formbef€ urworter. Zudem verengen Politik-Erblasten den Spielraum f€ur Umbau- oder
R€uckbaumaßnahmen: Enge Reformgrenzen setzen beispielsweise die eigentums-
rechtlichen Anspr€ uche, die die Beitragszahler in Sozialversicherungen erworben
haben. Überdies hat die Sozialpolitik eine eigene Machtbasis hervorgebracht, die
als Barriere gegen Umbau- und R€uckbaureformen wirkt: die Kunden der Sozial-
politik, die Sozialstaatsklientel, und die Professionals des Sozialstaates. Beide
können zudem auf den Schulterschluss mit den Gewerkschaften zählen. Diese sind
ebenfalls an einer starken Sozialpolitik elementar interessiert, weil diese die Orga-
nisation, die Mitglieder und die Lohnpolitik der Gewerkschaften vor dem Stoß der
Konjunkturschwankungen sch€utzt und somit gegen die Wechsellagen der Wirtschaft
weitgehend abschirmt.
Die Schwierigkeiten von Sozialstaatsumbau- und -r€uckbaumaßnahmen sind aller-
dings nicht un€ uberwindbar. Das lehren vergleichende Studien zur Sozialpolitik
(Obinger et al. 2010) und zur „Liberalisierungspolitik“ (Höpner et al. 2011). Der
internationale Vergleich zeigt ferner, dass Regierungen unterschiedlichster Couleur –
Rechts-, Mitte- und Linksregierungen – an Umbau- und R€uckbaureformen beteiligt
sind. Er deckt aber auch auf, dass solche Reformen erhebliche wahlpolitische
Risiken beinhalten. Allerdings wachsen die Chancen einer Regierung, trotz Sozial-
staatsumbau und -r€uckbau wahlpolitisch zu re€ussieren, wenn sie daf€ur Zustimmung
mobilisieren, die stärksten Kritiker einbinden, auf einen unabweisbaren Problem-
druck verweisen und f€ur ihre Politik gleichsam ein Mandat erringen kann. Förderlich
f€ur eine Umbau- und R€uckbaupolitik sind zudem reformpolitische Gelegenheiten.
Jene Regierungen haben tendenziell bessere Chancen, auch größere Umbau- oder
R€ uckbaureformen politisch durchzustehen, die f€unf Bedingungen erf€ullen: 1) eine
landesweite Krisenstimmung und landauf landab die Überzeugung, dass zur Lösung
der Krise ein Politikwechsel in Richtung der angezielten Um- und R€uck-
baumaßnahmen unabdingbar sei, 2) ein Mandat f€ur die Reform, 3) ein Honey-
Moon-Effekt, der es erlaubt, alle Nebenwirkungen der Reform in den ersten
Monaten nach dem Regierungswechsel als Folge von Versäumnissen der Vorgänger-
regierung darzustellen, 4) eine schwache oder diskreditierte Opposition und 5) eine
relativ hohe politisch-ideologische Homogenität der Regierungsparteien. Unter
diesen Bedingungen können Linksregierungen – wie in Schweden in den 1990er-
Jahren –, aber auch b€urgerlich-liberale Regierungen, wie die CDU/CSU/FDP-
Koalition nach dem Regierungswechsel von 1982, das Wagnis von Umbau- und
R€ uckbaumaßnahmen eingehen und dennoch bei Wahlen erfolgreich abschneiden.
Sind diese Bedingungen nicht erf€ullt, wie bei den Arbeitsmarktreformen der rot-gr€u-
nen Regierung Schröder, den sogenannten „Hartz“-Reformen, dann verschlechtern
sich die wahlpolitischen Chancen einer Reformregierung rapide.
Eine große Varianz kennzeichnet die Wirkungen von Sozialstaaten. Weit ausgebaute
Sozialstaaten erf€
ullen ihre ureigenen Aufgaben des Sozialschutzes im Wesentlichen.
Beispielsweise sch€utzen sie ihre B€urger zuverlässig vor materieller Verelendung.
Sozialstaat in der Vergleichenden Politikwissenschaft 673
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Baden.
Umwelt in der Vergleichenden
Politikwissenschaft
Detlef Jahn
Zusammenfassung
Der Aufsatz f€ uhrt in die vergleichende Umweltpolitik ein. Es wird gezeigt, wie
Umweltprobleme mit der zunehmenden Industrialisierung moderner Gesellschaften
akut wurden, und die Politik sowohl innenpolitisch als auch auf internationaler Ebene
aktiv begann, diese einzudämmen. Die Politikwissenschaft reagierte darauf mit zum
Teil neuen Ansätzen (Ökologische Modernisierung) oder nutzte Analysekonzepte
aus bekannten Bereichen. Dabei wurden unter anderem innovative Ansätze ent-
wickelt, die den politischen Prozess in vergleichender Perspektive betrachten. Stärker
als in anderen Politikbereichen, sind im Umweltbereich Rahmenbedingungen zu
beachten, auf die in diesem Aufsatz ebenfalls eingegangen wird. Insgesamt zeigt
sich, dass die politikwissenschaftliche Analyse von Umweltpolitik und -performanz
zu einem der innovativsten Gebiete der vergleichenden Politikwissenschaft gehört.
Schlüsselwörter
Umweltpolitik • Umweltperformanz • Ökologische Modernisierung
1 Einleitung
Der Beitrag stellt eine Einf€uhrung in den empirischen Problembereich der länder-
vergleichenden Umweltpolitik sowie eine Bestandsaufnahme gegenwärtiger politik-
wissenschaftlicher Forschung in hochentwickelten demokratischen Industriegesell-
schaften dar (f€
ur Einf€uhrungen, die auch andere Länder mit einbeziehen siehe Muno
2010; Tosun 2015). Als Umweltpolitik bezeichnet man die Gesamtheit der politi-
schen Bestrebungen, welche den Erhalt von nat€urlichen Lebensgrundlagen des
D. Jahn (*)
Professor f€ur Vergleichende Regierungslehre, Institut f€
ur Politikwissenschaft, Universität
Greifswald, Greifswald, Deutschland
E-Mail: djahn@uni-greifswald.de
Menschen sowie der Natur an sich bezwecken. Der Beitrag ist wie folgt aufgebaut:
Zunächst wird ein Überblick €uber Aufkommen und Wahrnehmung von Umwelt-
problemen im Verlauf der Geschichte gegeben. Daraufhin werden die wesentlichen
nationalen und internationalen politischen Maßnahmen beschrieben, die den Um-
weltzustand in modernen Industriegesellschaften verbessern sollen. Prominente
Indizes zur Messung des Umweltzustandes werden im dritten Abschnitt erläutert,
wobei die Notwendigkeit einer Unterscheidung von Umweltzustand und Umwelt-
performanz verdeutlicht wird. Abschnitt 4 stellt wesentliche theoretische Ansätze
der Politikwissenschaft dar, Umweltperformanz zu erklären. Abschnitt 5 geht auf die
Rahmenbedingungen ein, die die Umweltperformanz wesentlich beeinflussen. Der
Schlussteil fasst die Ergebnisse insbesondere im Hinblick auf Stärken und Schwächen
der gegenwärtigen Forschung zusammen und deutet auf Forschungsl€ucken hin.
2 Haupttext
Umweltprobleme haben eine lange Geschichte, in der sich gezeigt hat, dass sie zu
gravierenden gesellschaftspolitischen Veränderungen und sogar zum Untergang von
Hochkulturen f€ uhren können (Hughes 1994; siehe auch Sallares 1991). Auch hat
schon Max Weber ([1922] 1976, S. 274, 640, 756) eindrucksvoll darauf hinge-
wiesen, dass die Regulierung der Wasserwege mit der Absicherung der Machtelite
und dem Aufbau eines Verwaltungssystems in Ägypten und auch in China zur Zeit
der ersten Hochkulturen zusammenhängt.
Globale und nationale Umweltprobleme haben in der Zeit nach dem Zweiten
Weltkrieg stark zugenommen. Wenngleich schon mit Beginn der industriellen Revo-
lution die Produktivität und die Umweltverschmutzung stark anstieg, entwickelte
sich erst später eine Dynamik, die heute als das „1950er Syndrom“ bezeichnet wird,
welches tiefgreifende Veränderungen der Produktions- und Lebensweise in Folge
einer rasanten Zunahme von Energieverbrauch, Bruttoinlandsprodukt, Siedlungs-
fläche, Abfall und Schadstoffbelastung umfasst (Pfister 1995, S. 23).
Mit der zunehmenden Ressourcennutzung kam es zu einschneidenden Umwelt-
katastrophen, wie dem Londoner Smog und fog 1953, der Quecksilbervergiftung in
den 1950er-Jahren in Minamata (Japan) oder der hohen Luftbelastung in urbanen
Ballungszentren. In den 1960er und fr€uhen 1970er-Jahren reagierte die Politik mit
Umweltgesetzen und Regulierungen, wobei die USA, Japan und Schweden als
Vorreiterländer betrachtet werden können. Allerdings entwickelte sich nur langsam
ein Umweltbewusstsein und Umweltpolitik wurde zunächst nicht als eigenständiger
Politikbereich begriffen. In den USA hatte das Buch von Rachel Carson (Carson
1962) zum Vogelsterben durch das Insektizid DDT eine alarmierende Wirkung auf
die Öffentlichkeit. In der Bundesrepublik war 1969 die erste sozialliberale Koalition
unter Willy Brandt ausschlaggebend f€ur die Einf€uhrung von Umweltpolitik
(H€unemörder 2004). Allerdings stieß das Thema in der Bevölkerung auf wenig
Umwelt in der Vergleichenden Politikwissenschaft 679
Die vergleichende Politikwissenschaft ist vor allem daran interessiert, welche politi-
schen Faktoren f€ur eine bessere Umweltpolitik oder Umweltperformanz ausschlag-
gebend sind. Ansätze, die sich als besonders fruchtbar erwiesen haben, werden im
Folgenden dargestellt. Diese Ansätze beziehen sich sämtlich sowohl auf innen-
politische als auch auf internationale Aspekte und lassen sich mit den Begriffen
ökologische Modernisierung, Institutionalismus und Ressourcenmobilisierung
benennen (Duit 2014).
12 60
10 40
8 20
6 0
4 −20
10 20 30 40 50 10 20 30 40 50
BIP pro Kopf (in Tausend US$) BIP pro Kopf (in Tausend US$)
Abb. 1 Trends von Umweltindikatoren – Kohlendioxid und Stickoxide. Quelle: OECD Daten.
2.4.2 Institutionalismus
Im Bereich des Institutionalismus sind insbesondere Studien in der Tradition des
Neokorporatismus und der Vetospielertheorie hervorzuheben. Schon fr€uhe Studien
Umwelt in der Vergleichenden Politikwissenschaft 683
2.4.3 Ressourcenmobilisierung
Der Ansatz der Ressourcenmobilisierung geht davon aus, dass eine Regierungsbe-
teiligung gr€ uner Parteien sich in einer erhöhten umweltpolitischen Aktivität
ausdr€ uckt. So zeigen Studien, dass die Betonung von gr€unen Positionen der Regie-
rungsparteien zu einer signifikanten Steigerung von Umweltmaßnahmen (Knill
et al. 2010) und zur Steigerung der Umweltperformanz (Jahn 2016) f€uhrt.
Der Ansatz kann jedoch auch außerhalb der parlamentarischen Regierungspolitik
angewandt werden. So zeigt sich, dass die Förderung alternativer Entwicklungs-
konzepte durch Umweltbewegungen weitreichende Folgen haben kann (Giugni
2004; Jahn 2016).
Neben nationalen Regierungen und sozialen Bewegungen wirkt auch die EU als
Agenda Setter. Die Umweltpolitik der EU weist eine hohe Regelungsdichte auf. In
keinem anderen Politikfeld wurden mehr Richtlinien und Anweisungen ausgespro-
chen. Wenngleich die europäische Umweltpolitik in enger Abstimmung mit den
Mitgliedsländern erfolgt, ist die Befolgung der EU Maßnahmen (compliance) nicht
besonders hoch (Börzel et al. 2010; Knill und Tosun 2008). Insbesondere in der
Umweltpolitik wurde ein misfit, also eine Diskrepanz zwischen der europäischen
und nationalen Umweltregulierung als Hauptfaktor f€ur die Nicht-Befolgung europä-
ischer Maßnahmen ausgemacht (Börzel 2000; Jahn 2016).
684 D. Jahn
3 Zusammenfassung
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Steuern in der Vergleichenden
Politikwissenschaft
Zusammenfassung
Dieser Beitrag erörtert Grundlagen der Steuerpolitik. Er definiert die Zwecke der
Besteuerung, unterscheidet die wichtigsten Steuertypen, diskutiert generelle
steuerpolitische Entwicklungen der letzten 50 Jahre und vergleicht die nationalen
Steuersysteme von Ländern innerhalb und außerhalb der OECD. Weitere Themen
sind die Bestimmungsfaktoren nationaler Steuerpolitik und die Auswirkungen
der Besteuerung auf Umverteilung und Wirtschaftswachstum.
Schlüsselwörter
Steuern • Progression • Umverteilung • Wirtschaftswachstum
1 Einleitung
Die Erhebung von Steuern ist eine der Kernkompetenzen des Staates. Ohne Steuer-
einnahmen sind Regierungen kaum handlungsfähig, da ihnen die nötigen finan-
ziellen Mittel zur Politikgestaltung fehlen. Sie können keine öffentlichen G€uter
produzieren und nicht umverteilen. Um es kurz mit Edmund Burke zu sagen: „Die
Einnahmen des Staates sind der Staat“ (1790: xv). Im folgenden Kapitel erläutern
P. Genschel (*)
Professor of Comparative and European Public Policy, Robert Schuman Centre for Advanced
Studies, European University Institute, San Domenico di Fiesole, Italien
E-Mail: Philipp.Genschel@EUI.eu
H. Lierse
Doktorandin am Fachbereich Sozialökonomie der Universität Hamburg, Hamburg, Deutschland
L. Seelkopf
Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Zentrum f€
ur Sozialpolitik (ZES), Universität Bremen, Bremen,
Deutschland
E-Mail: laura.seelkopf@uni-bremen.de
wir die grundsätzlichen Ziele der Steuerpolitik, f€uhren die wichtigsten Steuerarten
ein und beschreiben die Hauptentwicklungen der Steuersysteme verschiedener west-
licher und nicht-westlicher Länder in den letzten Jahrzehnten. Wir diskutieren
nationale und internationale Einflussfaktoren auf die Steuerpolitik und erörtern die
Auswirkungen der Besteuerung auf Umverteilung und Wirtschaftswachstum.
3 Steuerarten
Regierungen unterscheiden sich nicht nur darin, welche relative Wichtigkeit sie den
drei Hauptzielen der Steuerpolitik zumessen, sondern auch in den Instrumenten, mit
welchen sie diese Ziele verfolgen. Gewöhnlich wird zwischen zwei Grundtypen von
Steuern unterschieden: direkten und indirekten Steuern.
Steuern in der Vergleichenden Politikwissenschaft 691
Abb.1 Die durchschnittliche Entwicklung der Steuereinnahmen und des Steuermixes in entwi-
ckelten Demokratien. Quelle: OECD Statistical Database (2013)
Steuern in der Vergleichenden Politikwissenschaft 693
Auch ein relativ großer Anteil des Konsums wird im informellen Sektor oder von
Kleinunternehmern mit unterentwickelter Buchhaltung abgewickelt. Drittens, ver-
ugen die meisten Entwicklungsländer nur €uber geringe Verwaltungsressourcen.
f€
Dies erschwert die effektive Erhebung komplexer Steuern wie der Einkommens-
oder der Mehrwertsteuer und verlagert einen Großteil des Steueraufkommens auf
einfacher zu besteuernde Transaktionen wie die Ein- und Ausfuhr von Waren. Neben
der geringeren administrativen Kapazität Steuern zu erheben, besteht in vielen Ent-
wicklungsländern auch stärkerer Widerstand in der Bevölkerung Steuern zu bezah-
len. Aufgrund von Korruption und einem geringen Angebot an öffentlichen G€utern
existiert weniger Vertrauen in die Regierung die erhobenen Steuern im Sinne des
Gemeinwohls zu verwenden.
Das Steueraufkommen, der Steuermix und das Steuerdesign werden von verschiede-
nen nationalen und internationalen Faktoren beeinflusst. Dazu gehören das Niveau
öffentlicher Ausgaben, die administrativen Kapazitäten des Staates, politische Insti-
tutionen und parteipolitische Prozesse, sowie internationale Institutionen und grenz-
€uberschreitende Lernprozesse und Wettbewerbsdynamiken.
Die Staatsausgaben sind in den letzten 50 Jahren schneller gestiegen als die
Steuereinnahmen. In der OECD wuchsen sie von durchschnittlich 27 Prozent des
BIP im Jahr 1950 auf 45 Prozent 2005. Die Haupttriebkraft f€ur diesen Anstieg war
der Ausbau des Wohlfahrtsstaates. Die Sozialausgaben beanspruchen inzwischen
mehr als 50 Prozent des öffentlichen Haushaltes entwickelter Demokratien. Zwi-
schenstaatliche Unterschiede im Steueraufkommen werden fast vollständig durch
zwischenstaatliche Unterschiede bei den Sozialausgaben erklärt. Der wesentliche
Unterschied zwischen Hoch- und Niedrigsteuerländern besteht mit anderen Worten
in der Größe ihres Wohlfahrtsstaates. Auch wenn der enge Zusammenhang zwischen
Steuereinnahmen und Sozialausgaben weitgehend unbestritten ist, ist die Richtung
der Beeinflussung weniger eindeutig. Einige Autoren argumentieren, dass hohe
Steuereinnahmen und ein leistungsfähiges Steuersystems die Voraussetzung f€ur
den Aufbau eines großen Wohlfahrtsstaats sind und diesem historisch vorausgehen
(Kato 2003). Andere hingegen sind der entgegensetzten Meinung und sehen in
hohen Steuern die notwendige Folge anschwellender Sozialabgaben (Lindert 2004).
Die administrativen Kapazitäten des Staates beeinflussen neben dem allgemeinen
Steueraufkommen auch den Steuermix und das Steuerdesign (Peters 1991). Tradi-
tionelle Steuern wie Straßenbenutzungsgeb€uhren, Zölle, spezielle Verbrauchssteuern
oder Grundsteuern sind relativ leicht zu €uberwachen und einzutreiben. Einige dieser
Steuern, insbesondere Zölle, gelten jedoch aus ökonomischer Sicht als wettbewerbs-
verzerrend und ineffizient. Mit wachsender administrativer Kompetenz stellten die
westlichen Länder ihre Steuersysteme deshalb auf breitere Bemessungsgrundlagen
um. Im Bereich der indirekten Steuern wurden Geb€uhren, Zölle und spezielle Ver-
brauchsteuern seit den 1920er-Jahren durch allgemeine Umsatzsteuern und seit den
1960ern durch eine allgemeine Mehrwertsteuer ergänzt und verdrängt. Im Bereich
696 P. Genschel et al.
der direkten Steuern ermöglichte der Ausbau der Steuerverwaltung die Abkehr von
Grund- und Vermögenssteuern hin zur allgemeinen Einkommensbesteuerung. Die
Einf€uhrung und Ausbreitung des Quellenabzugsverfahrens seit den 1940er-Jahren
erleichterte die Einbeziehung niedriger Einkommen ins Einkommensteuersystem
und beförderte die Umwandlung der Einkommensteuer von einer Klassen- in eine
Massensteuer. Beim Quellenabzugsverfahren wird die Einkommensteuerschuld von
Arbeitern und Angestellten direkt an der Quelle vom Arbeitgeber einbehalten und an
den Staat abgef€ uhrt und nicht durch die Steuerpflichtigen selbst entrichtet. Viele
Eigenarten der Besteuerung in Nicht-OECD Ländern wie z. B. die bereits erwähnte
Verbreitung von Einheitssteuern in Transitionsländern oder die starke Rolle von
Zöllen und speziellen Verbrauchssteuern in Entwicklungsländern lassen sich durch
mangelnde administrative Kapazitäten in der Steuerverwaltung erklären.
Steuern sind ein zentrales wirtschafts- und verteilungspolitisches Thema. Nach
einer traditionellen Daumenregel stehen linke oder sozialdemokratische Parteien f€ur
hohe und progressive Steuern, da ihre Wähler eher der unteren Hälfte der Ein-
kommensverteilung angehören. Hingegen repräsentieren konservative Parteien eher
die reiche Hälfte der Bevölkerung, weshalb diese einen Staat mit niedrigerer Steu-
erlast und weniger umverteilenden Steuern bevorzugen (Wilensky 2002). Dieser
Regel folgend sollte man in Ländern mit hoher Einkommensungleichheit wie in den
Vereinigten Staaten eine linkere Steuerpolitik erwarten.
Jedoch gibt es viele andere Faktoren, die diese einfache Logik abschwächen oder
sogar umkehren können. Erstens ist der Parteienwettbewerb mehrdimensional und
basiert nicht nur auf Steuerpräferenzen, was den Effekt der Einkommensverteilung
auf die Steuerpolitik abschwächt. Zweitens ist es möglich, dass gerade linke Parteien
vor hohen progressiven Steuern aufgrund möglicher negativer makroökonomischer
Auswirkungen zur€uckschrecken. Lieber nehmen sie relativ regressive Steuern in
Kauf, als auf kostspielige Umverteilungsprogramme auf der Ausgabenseite verzich-
ten zu m€ussen.
Auch institutionelle Faktoren bestimmen den Einfluss parteipolitischer Präferen-
zen. Konsens-Demokratien, Verhältniswahlsysteme und Koalitionsregierungen, sowie
starke Interessengruppen schwächen tendenziell den Einfluss von traditioneller
Parteienpolitik. Mehrheitsdemokratien und Einparteienregierungen verstärken ihn.
Angeblich ist dies der Grund, warum angelsächsische Mehrheitsdemokratien wie die
USA einen größeren Teil ihres Steueraukommens durch Einkommen- und Körper-
schaftsteuern realisieren als die eher konsensuellen Demokratien in Skandinavien
und Kontinentaleuropa (z. B. Hays 2009).
Die Forschung hat bislang €uberwiegend Steuerentscheidungen in demokratischen
Systemen untersucht. Wenig Beachtung hat dabei die Rolle von autokratischen
Regimen gefunden, obwohl in vielen Ländern der Welt keine demokratisch legiti-
mierten Steuerentscheidungen getroffen werden. Autokratische Regierungen unter-
scheiden sich in einigen essentiellen Aspekten. So können Diktaturen Steuern unter
Gewaltandrohung eintreiben, was zu der Vermutung f€uhrte, dass Autokratien in
Entwicklungsländern höhere Steuereinnahmen erzielen können als Demokratien.
Dies ist jedoch widerlegt (Cheibub 1998). Neuere Forschung geht davon aus, dass
Demokratien im Vorteil sind, da diese mit mehr Vertrauen seitens der Bevölkerung
Steuern in der Vergleichenden Politikwissenschaft 697
rechnen können und daher weniger Steuern hinterzogen werden (Levi 2006). Dies
gilt auch f€
ur internationale Investoren: so m€ussen autokratische Regierungen höhere
Steueranreize setzen als Demokratien, um ausländisches Kapital ins Land zu locken
(Genschel et al. 2013; Li 2006).
Des Weiteren beeinflussen internationale Faktoren die nationale Steuerpolitik
(Ganghof 2006; Genschel 2012; Rixen 2008; Swank 2006). Zum einen spielt die
Ideendiffusion zwischen Staaten eine wichtige Rolle. So zog die große amerika-
nische Steuerreform 1986 eine Welle neoliberaler Reformen in anderen Ländern
nach sich, die das US-Modell imitierten. Ein solches Nachahmen und Lernen von
Staaten stellt einen Erklärungsansatz f€ur den Trend hin zu niedrigeren Einkommen-
steuerspitzensätzen dar (Swank 2006).
Zum anderen sind nationale Regierungen durch den internationalen Steuerwett-
bewerb in ihrer Handlungsfreiheit eingeschränkt. Dieser hat die Senkung der Kör-
perschaftsteuersätze seit den 1980er-Jahren massiv vorangetrieben (Ganghof 2006).
Steuerwettbewerb betrifft kleinere Staaten in zweifacher Hinsicht mehr als große:
wenn sie hohe Unternehmenssteuern beibehalten, verlieren sie durch Steuerflucht
einen relativ größeren Anteil ihrer Steuerbasis. Wenn sie die Steuern jedoch senken,
profitieren sie stärker, da sie aus den größeren Nachbarländern potentiell eine relativ
größere Steuerbasis anlocken können. Irland hat zum Beispiel einen recht aggressi-
ven Steuerwettbewerb betrieben, um sein Wirtschaftswachstum anzukurbeln.
Dar€
uber hinaus können internationale Organisationen einen maßgeblichen Ein-
fluss auf nationale Steuerpolitiken aus€uben. Die Europäische Union (EU) schränkt
beispielsweise die Steuerpolitik ihrer Mitgliedstaaten in mehrere Hinsicht ein: Sie
gibt eine Unter- und eine Obergrenze f€ur die Mehrwertsteuer vor und auch der
Europäische Gerichtshof nimmt €uber Gerichtsurteile indirekt Einfluss auf Steuerent-
scheidungen (Genschel und Jachtenfuchs 2011). Der Einfluss anderer internationaler
Organisationen ist subtiler. So versucht die WTO internationale Normen f€ur die
Handelsbesteuerung zu etablieren und die OECD bietet unter anderem Standardver-
träge f€
ur bilaterale Doppelbesteuerungsabkommen an.
Während wir im ersten Absatz die theoretischen Ziele von Steuern erläutert haben,
sind die tatsächlichen Auswirkungen auf die Ressourcenallokation, die Umvertei-
lung und das Wachstum eine empirische Frage. Die Bereitstellung öffentlicher G€uter
durch den Staat ist weitgehend unumstritten. Ob eine Regierung generell die nötigen
Mittel hierf€
ur erheben kann, ist nicht steuerspezifisch, sondern eher abhängig von
der allgemeinen administrativen Kapazität und dem Entwicklungsniveau des Staa-
tes. Die Auswirkungen von Steuern auf das Wirtschaftswachstum und auf die Ein-
kommensverteilung im Land werden hingegen wesentlich stärker diskutiert.
Ein steuerpolitisches Ziel ist die Reduzierung der nationalen Einkommensun-
gleichheit. Dies kann direkt durch progressive Besteuerung des Primäreinkommens
geschehen oder indirekt durch die Verwendung des Steueraufkommens f€ur (umver-
teilende) Sozialausgaben. Etablierte Demokratien verwenden €ublicherweise beide
698 P. Genschel et al.
7 Fazit
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Staatsfinanzen in der Vergleichenden
Politikwissenschaft
Uwe Wagschal
Zusammenfassung
Ausgehend von den unterschiedlichen Theorien der vergleichenden Policy-
Forschung werden in dem Beitrag die wichtigsten Bestimmungsgr€unde der Staats-
finanzen diskutiert. Der Beitrag beschäftigt sich dabei mit den Staatseinnahmen,
den Staatsausgaben, der Staatsverschuldung sowie der Haushaltskonsolidierung.
Als besonders erklärungskräftig f€ur alle Bereiche der Staatsfinanzen erweisen sich
sozioökonomische Faktoren. Aber auch politische Faktoren, wie die parteipoliti-
sche Zusammensetzung von Regierungen sowie institutionelle Besonderheiten
leisten einen Beitrag zur Erklärung der unterschiedlichen Varianz.
Schlüsselwörter
Steuern • Staatsausgaben • Staatsverschuldung • Haushaltskonsolidierung •
Steuerwettbewerb
1 Einleitung
U. Wagschal (*)
Professor f€ur Vergleichende Regierungslehre, Seminar f€
ur Wissenschaftliche Politik, Universität
Freiburg, Freiburg, Deutschland
E-Mail: uwe.wagschal@politik.uni-freiburg.de
darstellen können oder nur einen intervenierenden Charakter im Sinne von Rand-
bedingungen haben. Überwiegender Konsens in der theoretischen Literatur ist,
dass Institutionen keinen eigenständigen kausalen Erklärungsfaktor konstituieren
(Weaver und Rockman 1993; Scharpf 2000).
5. Eine weitere Schule beschäftigt sich mit den Wirkungen der Globalisierung und
der Intensivierung internationaler Wirtschaftsströme. Eine typische Fragestellung
dieser Schule ist: Inwieweit f€uhrt Globalisierung – €uber den zunehmenden
Anpassungsdruck und Wettbewerb der Nationalstaaten – zu mehr Steuerrefor-
men? Gibt es etwa ein „race to the bottom“ (Peterson 1995), in dem Steuerein-
nahmen wegbrechen, weil international mobiles Steuersubstrat sich dorthin ori-
entiert, wo die geringste Besteuerung herrscht?
6. Die These der Erblast (Policy-Inheritance) verweist darauf, dass der Handlungs-
spielraum der Regierungen durch die Erblasten aus der Vergangenheit stark
eingeschränkt ist (Rose und Davies 1994). Durch Gesetze, Programmentschei-
dungen und die Staatstätigkeit aus fr€uheren Zeiten (z. B. Staatsverschuldung)
bleiben nur noch wenige Wahlmöglichkeiten. Rose und Karran (1987) haben aus
diesem Blickwinkel die Frage untersucht, wie und in welchem Ausmaß sich
Steuersysteme verändert haben.
Im Gegensatz zur Analyse der Einnahmen und der Staatsverschuldung, die erst
später in den Mittelpunkt empirischer polit-ökonomischer Analysen gelangten,
standen die Staatsausgaben, was Struktur und Niveau anbelangt, mehr im Zentrum
des Erkenntnisinteresses der politikwissenschaftlichen Policy-Forschung. Dies lag
Staatsfinanzen in der Vergleichenden Politikwissenschaft 705
darin begr€ undet, dass in den Staatsausgaben zunächst die zentrale Stellgröße f€ur die
Staatstätigkeit gesehen wurde und zudem die Vorstellung vorherrschte, dass die
Staatseinnahmen den politischen Präferenzen und Entscheidungen im Hinblick auf
die Staatsausgaben zu folgen hätten.
Langfristige „Entwicklungsgesetze“ der Staatsausgaben sind in der deutschen
Finanzwissenschaft in den Gesetzen von Adolph von Wagner, Popitz und Brecht
formuliert. Das Wagner’sche „Gesetz des wachsenden Staatsbedarfs“ (1980) geht
davon aus, dass Regierungen wegen vermehrter Ausgaben f€ur Kultur- und Sozial-
zwecke die Staatsausgaben sowohl absolut als auch relativ zur Wirtschaftsleistung
ausdehnen. Das Popitz’sche Gesetz beschreibt eine „Anziehungskraft des größeren
Etats“, d. h. eine Zentralisierung der öffentlichen Ausgaben. Das Brecht’sche Gesetz
stellt eine enge Beziehung zwischen der Bevölkerungsdichte und den Staatsausga-
ben her. Diese finanzwissenschaftlichen Ausgabengesetzen, die sozioökonomische
Größen in den Mittelpunkt stellen, aber in der empirischen Überpr€ufung nur teil-
weise € uberzeugen konnten (am ehesten noch das Wagner’sche Gesetz, wenn man die
Sättigungsproblematik außen vor lässt), haben polit-ökonomische Analysen schon
fr€uhzeitig die Wichtigkeit sozioökonomischer Variablen f€ur die Variation der Staats-
ausgaben identifiziert (Wilensky 1975). Zu den sozioökonomischen Faktoren kön-
nen auch die exogenen Störungen durch Schocks im Sinne von Peacock und Wise-
mann (1967) zählen. Soziale Umwälzungen, sei es durch Krieg oder etwa dem
Vereinigungsschock, f€uhren demnach zu einer Erhöhung der Staatsausgaben, die
nach Abarbeitung des Schocks durch das politische System nicht wieder auf das
Ausgangsniveau zur€uckgehen.
Historische Studien zur Entwicklung der Staatsausgaben und des Wohlfahrtsstaa-
tes haben jedoch, neben den sozioökonomischen Variablen, auch politisch-
institutionelle Faktoren identifiziert (Kohl 1985; Flora 1986). Bei Kohl wurden etwa
Faktoren wie der Korporatismus, aber auch die Partizipation als Wachstumsmotoren
der Staatsausgaben identifiziert. Dieser „Robin-Hood-Effekt“ der Demokratie
(Downs 1957) kann theoretisch aus dem Bed€urfnis nach Umverteilung ärmerer
Bevölkerungsschichten abgeleitet werden, die auf Grund ihrer erhöhten Partizipa-
tion und der Wahl von Parteien, die ihre Präferenzen vertreten, letztlich eine solche
Politik erreichen. Dies bedeute gleichzeitig, dass Wahlsysteme, die eine erhöhte
Partizipation ermöglichen, insbesondere Verhältniswahlsysteme, mit einer höheren
Staatsausgabenquote assoziiert sind. Auch dies haben verschiedene Studien gezeigt
(Persson und Tabellini 1999). Überdies wird dem Föderalismus eine bremsende
Wirkung auf die Staatsausgaben zugeschrieben (Obinger et al. 2005). Während dies
in der historischen Perspektive noch zutreffen mag, kann die Föderalismusthese
kritisiert werden, da sie theoretisch Ansätze f€ur Rent-Seeking bietet und zudem die
Kosten des Föderalismus höher sind als fr€uher vermutet.
Bei der Untersuchung der Globalisierungsthese hat etwa Cameron (1978) schon
fr€uh gezeigt, dass eine hohe Einbindung in den Weltmarkt und die Offenheit der
Ökonomie mit höheren Staatsausgaben einhergehen, quasi als Kompensation und
Schutz der Bevölkerung vor diesem erhöhten Risiko (Rodrik 1997).
Hinsichtlich der politisch-institutionellen Determinanten der Staatsausgaben
haben zahlreiche empirische Studien heterogene Befunde hervorgebracht. Wenig
706 U. Wagschal
In der Geschichte zeigt sich bei der Staatsverschuldung ein Auf und Ab, wobei
Kriege und Wirtschaftskrisen als massive externe Schocks sowie Verschwendungs-
sucht absolutistischer Herrscher die Verschuldung antrieben. Nach dem Zweiten
Weltkrieg bauten die wichtigsten Industrienationen ihre Schulden zunächst €uber
einen längeren Zeitraum ab. Dabei half ihnen das lang anhaltende Wirtschaftswachs-
tum des „Goldenen Zeitalters“ bis Anfang der 1970er-Jahre. Seither schwollen die
Staatsschulden jedoch an wie bisher noch nie in Friedenszeiten: Bis 2013 liegt der
(ungewichtete) Durchschnitt der Schuldenquote der wichtigsten 23-OECD-Länder
bei 96,7 Prozent des BIP. Betrachtet man alle 34 OECD-Länder so liegt die Schul-
denquote in der gesamten OECD bei 111 Prozent des BIP.1
In den vergangenen Dekaden war in zahlreichen westlichen Industrieländern ein
Anstieg der Staatsverschuldung zu beobachten. Dieser Zusammenhang wird in
Abb. 1 dargestellt, die in einem Streudiagramm sowohl das Niveau als auch die
Veränderung der Verschuldung im Zeitraum 1991 bis 2013 darstellt. Spitzenreiter
ist – mit deutlichem Abstand zu den nachfolgenden Ländern – Japan. Japan
unterscheidet sich jedoch insofern von den nachfolgenden Ländern Griechenland,
1
In der Abgrenzung der OECD werden die „General government gross financial liabilities as a
percentage of GDP“ betrachtet (Datenabruf am 08. Mai 2014. www.oecd.org).
Staatsfinanzen in der Vergleichenden Politikwissenschaft 707
Portugal und Italien, als diese eine weitaus höhere Auslandsverschuldung aufweisen
und daher auch anfälliger sind f€ur Spekulationen an den Finanzmärkten und große
Kursbewegungen bei den Renditen von Staatsanleihen. Die Abbildung 1 zeigt
jedoch noch weitere interessante Details: So haben f€unf Länder sogar in den letzten
32 Jahren ihre Verschuldungsquote senken können, Schweden, Dänemark, die
Niederlande, Belgien und Neuseeland. Einige andere Länder haben die Verschul-
dungszuwächse zumindest moderat gestalten können. Es zeigt sich €uberdies, dass
die Varianz der Verschuldung zwischen den einzelnen Ländern im Zeitablauf zuge-
nommen hat.
Deutschland liegt 2013 mit einer OECD-Schuldenquote von 88,5 Prozent des
BIP (dieser Wert weicht von den Daten des bundesdeutschen Finanzministeriums ab,
welches 82 Prozent Gesamtverschuldung f€ur 2013 ausweist) unterhalb des OECD-
Durchschnitts2 und weist einen deutlichen Verschuldungszuwachs f€ur den Zeitraum
nach 1991 auf, der sich im oberen Drittel der OECD-Ländergruppe befindet. Die
deutsche Einheit ist hier nur als eine Teilursache auszumachen.
2
Aus Gr€unden der internationalen Vergleichbarkeit werden hier die Daten der OECD verwendet.
Ursachen der Unterschiede sind unterschiedliche Abgrenzungen und Zurechnungen, etwa f€ur die
Aufwendungen der europäischen Finanzkrise.
708 U. Wagschal
Umstritten ist, ab welcher Höhe die Verschuldung zu einem Problem wird und die
Staaten besondere Anstrengungen unternehmen m€ussen, die Schuldenquoten, das
heißt die Höhe der Verschuldung in Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP), zu
reduzieren. In einem wichtigen Beitrag haben Reinhart und Rogoff (2009) festge-
stellt, dass die Staatsverschuldung ab einer Schuldenquote von ungefähr 90 % zu
einem Problem f€ ur die öffentlichen Haushalte wird und sich das Wirtschaftswachs-
tum verlangsamt.
Die Betrachtung der expliziten Staatsschulden und Defizite geben jedoch keinen
vollständigen Überblick €uber die gesamte Verschuldungssituation eines Staates. Die
Lasten f€ ur die Zukunft, etwa in Folge der geänderten Demographie, sowie die
Nichtber€ ucksichtigung der impliziten Verpflichtungen der öffentlichen Hand stellen
ein Problem der exakten Erfassung zuk€unftiger Lasten dar. So liegen in Deutschland
die zuk€ unftigen Pensionslasten mittlerweile deutlich höher als die explizite Staats-
schuld. Aktuelle Zahlen (Moog und Raffelh€uschen 2011: 18) schätzen f€ur Deutsch-
land eine implizite Staatsverschuldung, die alle Verpflichtungen aus Staatsschulden,
Pensionslasten und eingegangenen Leistungsversprechen ber€ucksichtigt, von
ca. 109 Prozent des BIP. Der US-Ökonom Kotlikoff (Kotlikoff und Burns 2012),
auf den das Konzept der impliziten Verschuldung und des „Generational Accoun-
ting“ zur€ uckgeht, warnte schon vor einem „Clash of Generations“, bei dem die
Nutznießer der Verschuldung – vor allem die Älteren – die nachkommenden Gene-
rationen (und Steuerzahler) „ausbeuten“. Die implizite Verschuldung wird im Fol-
genden nicht weiter betrachtet, sie stellt jedoch einen wichtigen Aspekt bei der
Diskussion um Generationengerechtigkeit und der langfristigen Tragfähigkeit der
Verschuldung dar.
Über der deskriptiven Betrachtung von Verschuldungsindikatoren hinaus ist eine
zentrale Frage, ob exogene oder (politisch) endogene Faktoren die Verschuldung
antreiben? Die Beantwortung dieser Fragen kann letztlich nur durch empirische
Untersuchungen erfolgen.
Exogene Faktoren sind durch Politiker nicht direkt zu beeinflussen. Neben klassi-
schen Ursachen wie Krieg, Staatszerfall und Systemwechsel beeinflussen vor allem
sozioökonomische Faktoren die Staatsverschuldung. Ein starkes Wirtschaftswachs-
tum beispielsweise bremst €uber höhere Steuereinnahmen und geringere Arbeitslo-
sigkeit den Schuldenanstieg. Und umgekehrt waren makroökonomische Schocks und
Krisenereignisse („displacement effects“; Peacock und Wiseman 1967) der Motor f€ur
Niveauverschiebungen der Staatsverschuldung nach oben. Ein eher moderater Ein-
fluss ist dagegen der Inflation zuzuschreiben. Historisch ist diese zwar eine €ubliche
Variante, Verbindlichkeiten des Staates abzubauen, unabhängige Notenbanken haben
diesem Vorgehen jedoch zumeist Grenzen gesetzt. Als exogener Faktor können auch
demographische Faktoren gelten. So ist etwa die Seniorenquote eine starke Triebkraft
der Staatsausgaben und der Staatsverschuldung: Andererseits kann dieser demo-
graphische Faktor zu einer endogenen Variablen werden, wenn man ihn polit-öko-
nomisch interpretiert. So kann die elektorale Bedeutung der Senioren ausgabenstei-
gernd wirken, indem die Parteien diese Wählergruppe besonders beg€unstigen.
Der wohl prominenteste endogene Faktor in der Verschuldungsliteratur ist die bereits
erwähnte – vermeintlich verschuldungserhöhende – Wirkung von Wahlen: Regierungen
Staatsfinanzen in der Vergleichenden Politikwissenschaft 709
gleich welcher politischen Couleur verschulden sich vor Wahlen stärker. Nordhaus
(1975) deckte die Bedeutung des politischen Konjunkturzyklus auf und Edward
Tufte (1978) fand hierf€ur empirische Evidenz, die jedoch in späteren Studien meis-
tens nicht bestätigt werden konnte.
Niskanen (1971) unterstellte als weiteren (endogenen) Einflussfaktor, das die
B€urokratie ein inhärentes Interesse an einer Maximierung ihres Einflusses besitzt,
d. h. vor allem an Budgetsteigerungen. Auch hier sind die Ergebnisse nicht
€
uberzeugend, so dass der B€urokratieeinfluss auf den Verschuldungsanstieg umstrit-
ten bleibt. F€ur Deutschland zeigt sich in den letzten Jahren – zumindest beim
Bundespersonal – ein deutlicher Abbau der Beschäftigung. Das öffentliche Personal
wird insofern also eher zur Haushaltskonsolidierung genutzt. Allerdings sind durch
die impliziten Zahlungsversprechungen f€ur die Pensionen der Beamten und Pensio-
nisten des öffentlichen Dienstes stark wachsende Ausgaben f€ur die kommenden
Jahrzehnte zu erwarten.
In demokratischen Systemen ist eine der zentralen Fragen im Hinblick auf Unter-
schiede in der Staatstätigkeit, ob Parteien einen Unterschied bei der Verschuldung
machen. In Anlehnung an die Parteiendifferenztheorie von Hibbs (1977, 1994) wird
man davon ausgehen, dass linke Regierungen in Krisenzeiten eine höhere Verschul-
dung in Kauf nehmen als rechte Regierungen, da das vorrangige Ziel linker Regie-
rungen – gemäß ihrer Kernwählerschaft – eine niedrige Arbeitslosenquote ist.
Zudem sind linke Regierungen eher der Politik des „deficit spending“ verhaftet,
was als „intellektueller Motor“ f€ur eine steigende Verschuldung angesehen werden
kann (Buchanan und Wagner 1977). Folgt man dagegen der „modifizierten Steuer-
glättungshypothese“ (Wagschal 1996), so werden sich jedoch b€urgerliche und rechte
Regierungen stärker als linke Regierungen verschulden. Analog zur Parteiendiffe-
renzhypothese steht die Wählerbasis der Parteien wieder als treibende Kraft im
Hintergrund. B€ urgerliche Regierungen haben das vorrangige Ziel, die Steuerbelas-
tung f€ur ihre Klientel zu mindern. Die Wählerbasis b€urgerlicher Parteien profitiert
dabei mehr von Steuersenkungen, während vor allem untere Einkommensklassen
bei einer Schuldenfinanzierung im Vergleich zu einer Steuerfinanzierung relativ
schlechter gestellt sind (Wagner 1980, 262 f.; zuerst 1897). Daher werden
b€urgerliche Regierungen eher zu Steuersenkungen und somit zu relativ höheren
Defiziten tendieren als linke Regierungen, die eher zu Steuererhöhungen tendieren,
um eine Umverteilung herzustellen. Empirisch (Wagschal 1996) gab es – im inter-
nationalen (statistischen) Vergleich – bis Ende der 1990er-Jahre eindeutige Evidenz
f€ur eine im Vergleich höhere Verschuldung unter b€urgerlichen Regierungen (mit
Japan, Italien, Belgien, Irland als besonders deutliche Beispiele). Dies gilt – auch
aufgrund der Einf€uhrung des Euro und der sich verringernden Varianz bei den
Defiziten – seitdem nicht mehr.
Ein verschuldungserhöhender Effekt wurde €uberdies bei Regierungen mit mehre-
ren Koalitionspartnern behauptet (De Haan et al. 1999), wobei die empirischen
Befunde jedoch stark von der Fallauswahl, dem Untersuchungszeitraum sowie der
Operationalisierung der erklärenden Variable abhängen. Die Begr€undung dieses Frag-
mentierungsarguments liegt in der vermeintlichen Schwäche von Koalitionsregierun-
gen und einer daraus resultierenden Unfähigkeit, eine glaubw€urdige Fiskalpolitik zu
710 U. Wagschal
betreiben. De Haan und Sturm (1999) konnten diese Vermutung jedoch empirisch
nicht bestätigen. F€ur die Haushaltskonsolidierung spielt jedoch sowohl im interna-
tionalen (Wagschal und Wenzelburger 2008) als auch im Bundesländervergleich die
Stärke der Regierung – im Sinne weniger Koalitionspartner – ein signifikante Rolle.
5 Haushaltskonsolidierung
Der Abbau der Verschuldung folgt nicht derselben Logik wie die Wege in die
Verschuldung. Haushaltskonsolidierung ist €uberdies ein mehrdimensionales Prob-
lem, welches Veränderungen der Budgetdefizite und des Schuldenstandes sowie eine
zeitliche Komponente beinhaltet. Die Erklärung der Determinanten von Haushalts-
konsolidierungen und der gewählten Konsolidierungsstrategien kann wieder €uber
die in der Einleitung vorgestellten polit-ökonomischen Theorien sowie Theorien der
Staatstätigkeitsforschung geleistet werden. Als externe Parameter f€ur Konsolidie-
rungsstrategien spielen dabei zunächst die ökonomischen (v. a. Wirtschafts-
wachstum und Zinsentwicklung) und politischen-institutionellen Rahmenbedingun-
gen eine entscheidende Rolle.
Die Exekutive kann inhaltlich eine Konsolidierung entweder (a) €uber eine Reduk-
tion der Ausgaben, (b) €uber eine Einnahmeerhöhung oder (c) €uber einen Mix beider
Strategien erreichen. Die Frage, welche Konsolidierungen erfolgreicher sind – ein-
nahmen- oder ausgabenseitige – wird in der Literatur uneinheitlich beantwortet
(Alesina und Perotti 1995; Alesina und Ardagna 1998). Empirische Ergebnisse aus
zahlreichen Studien deuten jedoch darauf hin, dass nachhaltige Konsolidierungen
stärker auf der Ausgabenseite ansetzen und dort hauptsächlich Transfers und Perso-
nalausgaben im öffentlichen Sektor gek€urzt werden. Eigene Analysen (Wagschal
und Wenzelburger 2008) bestätigen diesen Befund und haben einen eindeutigen
statistischen Zusammenhang zwischen ausgabenseitigen Konsolidierungen und
Konsolidierungserfolg identifiziert.
Auch im internationalen Vergleich zeigt sich bei einer Analyse der funktionalen
Ausgaben der Konsolidierungs- und Nicht-Konsolidierungsländer (auf Basis der
sogenannten COFOG-Kategorien = Classification of Functions of Government),
dass die Konsolidierer im Gegensatz zu den Nicht-Konsolidierern ihre Gesamt-
ausgaben deutlich stärker gesenkt haben. Die Aufschl€usselung nach einzelnen
Politikfeldern ergibt zwar eine besondere Ausgabenk€urzung beider Ländergruppen
in folgenden Bereichen: (1) allgemeine Verwaltung, (2) wirtschaftliche Angelegen-
heiten (v. a. Subventionen, etwas weniger Investitionen) sowie (3) Verteidigung.
Stellt man jedoch das Ausgabenprofil der Konsolidierer dem der Nicht-Kon-
solidierer gegen€ uber, so lassen sich bemerkenswerte Unterschiede beobachten.
Letztere erhöhten ihre Ausgaben besonders f€ur Soziales und Gesundheit.
Einnahmeerhöhungen als zweite mögliche Konsolidierungsstrategie f€uhren dage-
gen in der Regel nur zu einer kurzfristigen Entspannung und erhöhen auch die
Anspr€ uche ans Budget. Im Zuge der politischen Umsetzungsstrategie können punk-
tuelle Einnahmeerhöhungen allerdings durchaus sinnvoll sein, wie die Beispiele in
Belgien oder Schweden gezeigt haben.
Staatsfinanzen in der Vergleichenden Politikwissenschaft 711
Die Analyse des Beginns von Konsolidierungen ist oft mit Krisen assoziiert.
Zahlreiche Beispiele wie Schweden, Belgien, die Niederlande oder auch j€ungst
Griechenland können hierf€ur als – zunächst anekdotische – Evidenz gelten. Damit
wird auch die populäre Auffassung gest€utzt, dass erst eine Krise vorliegen muss,
bevor Reformen in Gang gesetzt werden (Mulas-Granados 2006). Die statistischen
Auswertungen (Wagschal und Wenzelburger 2009) zeigen in der Tat die gute Er-
klärungskraft etwa des Misery-Index (ein Maß f€ur den Problemdruck eines Landes
der sich aus der Arbeitslosenquote und der Inflationsrate zusammensetzt) f€ur den
Beginn einer Konsolidierung. F€ur Länder ist in ihrer Politikwahl die Entwicklung im
Längsschnitt als auch die Entwicklung im Vergleich zum Benchmark der OECD-
Länder wichtig. Der Zusammenhang f€ur die ökonomische Problemdruckvariable,
Beginn und auch Erfolg der Konsolidierungsbem€uhungen ist eindeutig.
Das Timing von Haushaltskonsolidierungen ist eine weitere wichtige Stellgröße
f€
ur den Erfolg. Soll mit der Konsolidierung unmittelbar nach großen Machtwechseln
begonnen werden oder benötigt eine Regierung etwas Zeit, bevor sie diese durch-
f€
uhrt? Es zeigt sich (Wagschal und Wenzelburger 2008), dass die meisten Konsoli-
dierungsfälle spätestens ein Jahr nach einem politischen Machtwechsel begonnen
wurden. Konsolidierungen versprechen offenbar dann Erfolg, wenn sie z€ugig nach
einer substantiellen Änderung der Regierungszusammensetzung durchgef€uhrt wer-
den. Dieser in der Literatur als „honeymoon“-Effekt (Williamson und Haggard
1994) bezeichnete Zusammenhang zeigt, dass aufgrund der hohen Legitimation
nach einem Wahlsieg, der einem Machtwechsel in der Regel vorausgeht, solche
Reformen als Regierungsprogramm einfacher und mit einer höheren Glaubw€urdig-
keit durchgesetzt werden können.
Ein maßgeblicher Faktor, der positive Haushaltsentwicklungen der vergangenen
Jahre mitverantwortete, war der R€uckgang des Zinsniveaus. Die Zinsdividende, bedingt
durch die Einf€uhrung des Euro und die „Stabilitätsleihe“ der Hartwährungsländer, war
ein zentraler Faktor f€ur die Haushaltskonsolidierung in vielen Ländern nach 1999.
Jedoch entfiel f€ur diese Länder gleichzeitig auch die Möglichkeit, durch Inflation ihre
Schulden zumindest teilweise zu entwerten und durch Abwertungen ihren Produktivi-
tätsnachteil auszugleichen. F€ur Deutschland war die Zinsdividende nach der Eu-
roeinf€
uhrung gering. Erst in der Finanz- und Wirtschaftskrise, die sich zur Euro- und
Staatsschuldenkrise weiter entwickelte, reduzierten sich die Nominalzinsen f€ur Deutsch-
land beträchtlich. Während sich die Schulden zwischen 2000 und 2013 um knapp
40 Prozent erhöhten, sanken die Zinsausgaben um 21,4 Prozent. Läge der Zins weiter
auf dem Niveau des Jahres 2000, so m€usste der Bund etwa 55 Milliarden an Zinsen
aufwenden, also etwa 23 Milliarden mehr als 2013 tatsächlich aufgewendet wurden.
Durch die zentralen Arbeiten von von Hagen (1992), Hallerberg und von Hagen
(1999) sowie Hallerberg (2003) können die unterschiedlichen Budgetinstitutionen
der einzelnen Länder quantitativ erfasst werden. Dabei spielt es eine Rolle, ob ein
Land dem sogenannten Delegations- bzw. dem „Commitment“-Ansatz folgt. Typi-
scherweise wird in Mehrheitssystemen der Delegationsansatz, der eine Stärkung des
Finanzministers beinhaltet, stärker verfolgt als etwa in konsensdemokratisch orga-
nisierten Ländern, die eher an einer Einbindung aller Akteure interessiert sind und
somit den „Commitment“-Ansatz wählen.
712 U. Wagschal
6 Zusammenfassung
Beurteilt man die Wichtigkeit der einzelnen Determinanten sowie der verschiedenen
Theorieschulen f€ ur die vier betrachteten Bereiche der Staatsfinanzen, dann sind
sozioökonomische Faktoren am erklärungskräftigsten. Auch die Politikerblastthese
kann eine gewisse Relevanz beanspruchen. Dennoch zeigt sich auch die Bedeutung
politisch-institutioneller Stellgrößen. So kann man eine eindeutige Ausgaben- und
Besteuerungsdifferenz zwischen unterschiedlichen Parteienfamilien identifizieren.
Linksparteien geben mehr aus und erheben höhere Steuern. Jedoch zeigt sich bei der
Residualgröße aus diesen beiden Variablen, dem Haushaltsdefizit, dass sich €uber
lange Zeit im internationalen Vergleich eine stärkere Verschuldung bei den
b€urgerlichen Parteien einstellte – im Unterschied zur Bundesrepublik. Dies kann
mit Hilfe der parteipolitischen Steueranpassungshypothese erklärt werden, die bei
den Interessen- und Präferenzlagen der jeweiligen Kernwählerschaft die
Ursache hierf€ ur verortet. Mitte der 1990er-Jahre, als durch Globalisierung und
Staatsfinanzen in der Vergleichenden Politikwissenschaft 713
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Wirtschaftspolitik in der Vergleichenden
Politikwissenschaft
Zusammenfassung
Wirtschaftspolitik wird in unterschiedlichen Ländern oft mit abweichenden Zie-
len und mit anderen Instrumenten sowie unter anderen politisch-ökonomischen
Bedingungen betrieben. Die Vergleichende Politikfeldanalyse betrachtet dieses
komplexe Feld v. a. aus der Sicht der Staatstätigkeit unter Ber€ucksichtigung von
Policy, Politics und Polity, während die klassische VWL und die Vergleichende
Politische Ökonomie vom Markt und dem Unternehmen ausgehen. Im Unter-
schied zur VWL wird der Markt in der Vergleichenden Politischen Ökonomie
aber nicht abstrakt betrachtet, sondern als eingebettet, wodurch sich unterschied-
liche Varianten von Marktwirtschaften bzw. eine Variety of Capitalism ergeben.
Schlüsselwörter
Vergleichende Politische Ökonomie • Politikfeldanalyse • Institutionen • Keyne-
sianismus • Monetarismus • Korporatismus • Varieties of Capitalism
Wirtschaftspolitik umfasst ganz generell betrachtet alle Versuche einer Steuerung der
Ökonomie durch den Staat. Dabei kann unterschieden werden nach den großen
Teilgebieten wie Ordnungs-, Struktur- und Prozesspolitik. Diese lassen sich wiede-
D. Buhr (*)
Professor f€ur Policy Analyse und Politische Wirtschaftslehre, Institut f€
ur Politikwissenschaft,
Universität T€ubingen, T€
ubingen, Deutschland
E-Mail: daniel.buhr@uni-tuebingen.de
J. Schmid
Professor f€ur Politische Wirtschaftslehre und Vergleichende Politikfeldanalyse, Institut f€
ur
Politikwissenschaft, Universität T€ubingen, T€ubingen, Deutschland
E-Mail: josef.schmid@uni-tuebingen.de
Damit wird zugleich die verbreitete Ansicht relativiert, wonach der (freie) Markt
im Zentrum der Analyse steht, und wo davon ausgegangen wird, dass dieser Markt
und der darin existierende Wettbewerb langfristig die Systeme und Wirtschafts-
politiken konvergieren lassen w€urden. Jedoch haben weder Globalisierung noch
Europäisierung zu einer Vereinheitlichung von Wirtschaften und Wirtschaftspoliti-
ken gef€uhrt. Es bestehen zwar Gemeinsamkeiten, aber eben auch Unterschiede. So
hat die Einf€uhrung des Euro sehr unterschiedliche Wirkungen gezeigt: Während in
der BRD die Exporte deutlich – gemessen am magischen Viereck sogar in einem
problematischen Umfang – gestiegen sind, hat sich die Leistungsbilanz der Mittel-
meerländer erheblich verschlechtert (Vergl. FAS vom 10. November 2013, S. 26).
Die „Marktwirtschaft“ kann somit sehr unterschiedlich gedacht und ausgestaltet
sein (Polanyi 1944), was einerseits auch mit unterschiedlichen Wirtschaftspolitiken
zu tun hat, aber nat€urlich selbst wiederum auch Auswirkung auf diese hat. Michaela
Hölzl (2011, S. 10) bettet die (soziale) Marktwirtschaft in national unterschiedliche
kulturelle und politisch-institutionelle Settings ein: „Die Beschäftigung mit der
kulturellen Einbettung einer Gesellschaft kann anhand der ‚facettenreichen Arbeits-
verschränkungen‘ (Siegel/Jochem) zwischen Staat und Markt ihren Anfang finden.
Anhand der Dichotomie von Staat und Markt lassen sich nicht nur R€uckschl€usse auf
die kulturelle Einbettung ziehen, sondern auch auf die formulierten Ziele der kol-
lektiven oder individuellen politischen Akteure.“ Daran anschließend ergeben sich
folgende Unterschiede im internationalen Vergleich (Tab. 2).
2 Hauptteil
Tab. 2 Markt und Staat – Kulturelle Einbettungen in Großbritannien, Deutschland und Schweden
angelsächsischer
Typ Kontinentaleuropäischer Skandinavischer Typ
(Großbritannien) Typ (Deutschland) (Schweden)
Zentrale Rolle von
Markt zentral marginal marginal
Staat marginal subsidiär zentral
Individuum/ Individuum Familie Individuum
Familie
Denkrichtung
regulative Freiheit, Wettbewerb, Status und sozialer Ausgleich,
Idee Selbstverantwortung Hierarchie
politische Freiheit, Wettbewerb, Konsens, Universalismus
Semantik ökonomische Kooperation, Konsens, Verhandlung,
Argumentation, Sozialpartnerschaft Gerechtigkeit,
Wettbewerb Entfaltung, Kooperation
Arbeitsmarktpolitik
Bezugspunkt Wahrung der Stabilität des Sicherung der
staat licher Vertragsfreiheit Normalarbeitsverhältnisses Vollbeschäftigung
Intervention
Rolle des Marktaktivierer Kompensierer Arbeitgeber
Staates
Quelle: nach Hölz (2011, S. 39)
nomische Theorieschulen: die Neoklassik auf der einen, der Keynesianismus auf der
anderen Seite.
Gest€utzt auf Befunden wie Weltwirtschaftskrisen, Zeiten galoppierender Inflation
und Massenarbeitslosigkeit zweifeln keynesianische Ökonomen an den Selbsthei-
lungskräften des Marktes. Sie gehen vielmehr davon aus, dass Märkte inhärent
instabil sind und es innerhalb von Konjunkturzyklen zu großen Nachfragel€ucken
kommen kann. Dabei treten typische Konstellationen auf: Während einer Rezession
steigt die Arbeitslosigkeit an, während die Inflation niedrig ist und sogar noch sinkt.
Umgekehrt steigt diese in Boomphasen, während dann Vollbeschäftigung herrscht.
Dieser auch Phillips-Kurve genannte trade-off ist eine wichtige Grundlage der
Stabilitätspolitik geworden, was Helmut Schmidt einmal so formuliert hat: Lieber
5 % Inflation als 5 % Arbeitslosigkeit. In diesen Zeiten fl€uchten sich private Haus-
halte und Unternehmen – aus „Angst“ vor der Zukunft aber auch aufgrund zu hoher
Zinsen – ins Sparen. Damit verlieren der Zinssatz und die Geldpolitik ihre aus-
gleichende Wirkung. Zusätzliches Geld verschwindet in der „Liquiditätsfalle“. Um
die Wirtschaft aus einer solchen Krise herauszuf€uhren, muss die gesamtwirtschaft-
liche Nachfrage gesteigert werden, was zugleich die pessimistische Erwartungshal-
tung beenden soll (Schmid und Buhr 2012).
Hier plädiert John Maynard Keynes in seinem Hauptwerk „Allgemeine Theorie
der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“ (Keynes 1936) f€ur eine Intervention
des Staates in den Wirtschaftskreislauf. Durch eine antizyklische Fiskalpolitik –
auch Globalsteuerung genannt. So soll der Staat während einer Rezession die ent-
Wirtschaftspolitik in der Vergleichenden Politikwissenschaft 721
GMT-Index
8
Politische Unabhängigkeit
7
6 NL BRD
5 USA
4 It CH
3 IR DK A, Ö
2 Gr S F
1 Port J, GB B
NZ
0
0 1 2 3 4 5 6 7 8 9
Ökonomische Unabhängigkeit
wachsende Geldmenge erreicht werden könne. Daher auch der Name Monetarismus.
Dabei kommt also der Geldpolitik eine entscheidende Rolle zu, die meist von (mehr
oder weniger) unabhängigen Notenbanken gesteuert wird. Aber auch hier treten
Variationen auf, denn die nationalen Notenbanken verf€ugen bis in die 80er Jahre
hinein € uber eine unterschiedliche politische und ökonomische Unabhängigkeit.
Nach dem Index von Grilli et al. (1991, hier nach Rehm 1999, S. 12) ergibt sich
f€ur 18 OECD-Länder im Zeitraum 1950–89 folgendes Bild – mit einer leicht
erkennbaren besonderen Positionierung des deutschen Falles (Abb. 1).
Staatliche Interventionen im Bereich der Wirtschaftspolitik beäugt Friedman
demzufolge recht kritisch. In seinem ber€uhmt gewordenen Buch „Capitalism and
Freedom“ empfiehlt er unter anderem die Abschaffung von Agrarsubventionen; die
Beseitigung von mengenmäßigen Importbeschränkungen und Zöllen; den Verzicht
auf staatlich garantierte Mindestlöhne, die es in den USA gibt; die Streichung aller
staatlichen Mittel f€
ur den sozialen Wohnungsbau; die vollständige Privatisierung der
gesetzlichen Sozialversicherung sowie die Aufhebung des Postmonopols. Zudem
schlägt Friedman vor, sämtliche Sozialleistungen durch eine negative Einkommens-
steuer f€ur Familien unterhalb der Armutsgrenze zu ersetzen). In dieselbe Richtung
wirken angebotstheoretisch orientierte Autoren (z. B. R. Lucas, G. Stigler oder
W. Sinn), die sich f€ur Deregulierung und Flexibilisierung in der Wirtschaftspolitik
aussprechen und vor allem den Wettbewerb auf den Märkten fördern wollen (Vgl.
dazu Schmid und Buhr 2012). Demzufolge w€urde sich am Ende auch genau dort das
Kapital (Investitionen) ansiedeln, wo es die attraktivsten Anlagemöglichkeiten
(z. B. niedrige Steuern und Abgaben) fände und sich daraufhin Wachstum und
Beschäftigung einstellen.
In die gleiche Richtung argumentieren Autoren wie Marx, Wagner (1893) oder
Wilensky (1975), die innerhalb der vergleichenden Staatstätigkeitsforschung der
Wirtschaftspolitik in der Vergleichenden Politikwissenschaft 723
F€
ur den Vergleich von Wirtschaftspolitiken sind ebenfalls Ansätze geeignet, die vor
allem die Polity als unabhängige Variable betrachten. Sie betonen die Relevanz
politisch-institutioneller Strukturen (z. B. Tsebelis 1995) und Institutionen (z. B.
Granovetter 1985; Hall und Soskice 2001; Schmidt et al. 2007). Denn Akteure und
Interessen stoßen weder in der Wirtschaft noch in der Politik in einem leeren Raum
aufeinander. Vielmehr werden sie durch Institutionen kanalisiert und diese Konfi-
gurationen prägen die Systeme bzw. Wirtschaftsmodelle. Sie umfassen dabei Ent-
scheidungssysteme wie Märkte, Verhandlungen, Hierarchie bzw. Organisationen
wie Unternehmen, Verbände und Staat (Kruber 2002, 95 ff.).
Kritisch wird etwa der Föderalismus in der BRD gesehen. Die Ökonomen
Norbert Berthold und Holger Frick weisen dem Bundesstaat zwar im Prinzip eine
724 D. Buhr und J. Schmid
„Der korporative Föderalismus deutscher Prägung ist somit alles andere als markterhaltend.
Da kein institutioneller Wettbewerb die Politiker und B€ urokraten diszipliniert, gelingt es
nicht, staatliche Eingriffe zu begrenzen. Mit dem Bundesgesetzgeber besteht ein einziger
und geeigneter Ansprechpartner f€ ur die W€
unsche von Interessengruppen. Als Folge bremsen
Markteingriffe die wirtschaftliche Dynamik. Ein markterhaltender Föderalismus, der die
relevanten wirtschaftspolitischen Kompetenzen dezentralen Ebenen zuweist, erschwert sol-
che Interventionen. Sanktionsmechanismen f€ ur wirtschaftlichen Erfolg bzw. Misserfolg
blieben funktionst€uchtiger, die Wirtschaft entwickelte sich dynamischer“ (Berthold und
Frick 2005, S. 9)
Diese skeptische Einschätzung findet sich auch in der Scharpf´schen These von
der Politikverflechtungsfalle; freilich ist auch dieses nicht unumstritten, denn in
einem Vergleich der sieben föderativen und vierzehn unitarischen politischen Sys-
teme in der OECD im Zeitraum 1973–1984 weisen zwar einerseits die föderativen
Staaten ein etwas geringeres Wirtschaftswachstum auf, sie verzeichnen jedoch
andererseits eine leicht niedrigere Arbeitslosigkeit und deutlich geringere Inflation
(vgl. Schmid 1987).
In komparativer Perspektive auf die Wirtschaftspolitik €ubertragen lassen sich
somit Systemunterschiede von Nationalstaaten analysieren und unterschiedliche
Ausprägungen von Wirtschaftspolitik erklären. Hier können neben dem Födera-
lismus eine Vielzahl von Variablen in die Analyse eingebunden werden: z. B. der
Grad staatlicher Interventionen in die Wirtschaft, Typen von Produktionsregimen,
die Art der Einbindung von Organisationen (z. B. Gewerkschaften, Unterneh-
mens- und Wohlfahrtsverbände, Banken, Kammern usw.) in nationale Wirt-
schaftsordnungen ebenso wie informelle Strukturen zwischen den politischen,
gesellschaftlichen und ökonomischen Systemen (vgl. Blancke 2006, 206).
Ausgangspunkt dieser theoretischen Ansätze ist dabei immer die Interdependenz
von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Innerhalb und zwischen diesen
Bereichen existieren formelle und informelle Institutionen, deren Funktionswei-
sen untersucht werden, um Zusammenhänge zwischen den volkswirtschaftlichen
Strukturen und dem Outcome eines gesamtgesellschaftlichen Systems herzustel-
len. Meist unterstellen die Ansätze der vergleichenden Kapitalismusforschung
eine große Rationalität der Akteure – vor diesem Hintergrund hat sich die
Wirtschaftspolitik also am jeweiligen Kapitalismustyp zu orientieren, weil die
Regierungen an Wiederwahl interessiert sind und sich daher an den klassischen
Outcome-Indikatoren wie (hohes) BIP, (niedrige) Arbeitslosenquote etc. messen
lassen. Freilich ber€ucksichtigen sie dabei die konkreten politischen, institution-
ellen und kulturellen Verhältnisse und weniger die Rationalität eines abstrakten
Marktes.
Das produziert zugleich systemspezifische Probleme und Performanzdefizite,
die als „Trilemma der Dienstleistungsökonomie“ gefasst worden sind (Abb. 2).
Die Institutionen eines Systems zu analysieren, gehört zum Kerngeschäft der
Politikwissenschaft. Daher finden sich auch eine ganze Reihe von Ansätzen, die den
Wirtschaftspolitik in der Vergleichenden Politikwissenschaft 725
Haushaltsdisziplin
Christdemokratisch-
zentristisch Liberal
Gleichheit Beschäftigung
Sozialdemokratisch
Abb. 2 Das Trilemma der Dienstleistungsökonomie. Quelle: nach Jochem (2009, S. 61)
Die Varieties of Capitalism (VoC) Ansätze gehen der Frage nach, inwiefern durch
(spezifische) gesellschaftliche Institutionen wirtschaftliche Wettbewerbsvorteile f€ur
Nationen entstehen und warum manche Volkswirtschaften, gemessen am wirtschaft-
lichen Outcome, erfolgreicher sind als andere (Vgl. Hall und Soskice 2001). Vor dem
Hintergrund von Globalisierung, Europäisierung und mancher ökonomischer Krise
wird untersucht, wie exogene Schocks innerhalb des Systems verarbeitet werden und
welche Strukturen daf€ur verantwortlich sind. Hall/Soskice liefern dazu ein analyti-
sches Instrumentarium, um diese Strukturen und institutionellen Gef€uge von Kapi-
talismen vergleichen zu können, aber auch Erklärungen f€ur (unterschiedliche) öko-
nomische Performanz zu finden, die im nächsten Schritt Prognosen €uber k€unftige
Entwicklungen spezifischer Ökonomien erlauben. Die Autoren nehmen dabei
also vor allem die institutionelle Einbettung von Unternehmen in den Blick – und
deren Auswirkung auf die Innovationsdynamiken und Wachstumsraten einer
Volkswirtschaft (vgl. Hall und Soskice 2001, S. 44). An North angelehnt definieren
Hall/Soskice Institutionen als ein Set von formellen und informellen Regeln, die von
den Akteuren aus normativen, kognitiven oder materiellen Gr€unden befolgt und im
Sinne der Pfadabhängigkeit auch immer wieder bestätigt werden. Die zentralen
Akteure innerhalb der untersuchten Institutionen sind Unternehmen, die sich im
Rahmen von Handelsunionen, Unternehmensverbänden etc. in den Beziehungen zu
Beschäftigten, Zulieferern und Kunden, Kredit- und anderen Kapitalgebern sowie
Eigent€umern unterschiedlich – „marktlich“ (LME) oder „strategisch“ (CME) –
koordinieren. Je nachdem, ob marktliche oder strategische Koordination dominie-
ren, lassen sich Volkswirtschaften idealtypisch als „liberal market economies“ oder
„coordinated market economies“ typologisieren. Charakteristisch f€ur LMEs ist eine
Koordination, die €uber den Markt, durch Wettbewerb und formale Verträge ge-
kennzeichnet ist. In CMEs dagegen findet strategische Koordination €uber Netz-
werke, Verbände und informelle Verträge statt (vgl. Hall und Soskice 2001).
Hall/Soskice untersuchen zudem, wieweit sich existierende Institutionen gegensei-
tig beeinflussen und ob die Funktionalität einer Institution von der Präsenz einer
anderen Institution abhängt. In einem solchen Fall sprechen die Autoren – ankn€upfend
an Aoki (2001) – von „institutionellen Komplementaritäten“ (vgl. Hall und Soskice
2001, S. 17). Diese sorgen daf€ur, dass beispielsweise auch im Falle eines externen
Schocks die beteiligten Akteure nicht zum Pfadwandel neigten, sondern eher gemäß
ihrem typischen Koordinationsmodus handelten. Folglich käme es dann zu einer
Entwicklung in Richtung der Idealtypen und damit auch zu einer (persistenten)
Divergenz der Kapitalismustypen. Dabei weisen Hall/Soskice mit verschiedenen
sozioökonomischen Indikatoren nach, dass jene Volkswirtschaften, die den beiden
Idealtypen am nächsten kommen, den höchsten ökonomischen Output haben. Ein
Befund, der später aber sowohl bestätigt (z. B. Hall und Gingerich 2004; Schneider
und Paunescu 2012) als auch verworfen (z. B. Kenworthy 2006) worden ist (Tab. 3).
Diese Überlegungen €uber die Vielfalt an kapitalistischen Marktwirtschaften zei-
gen zum einen, wie eng die Interdependenz von Wirtschaft und Politik in einigen
Fällen verläuft, und dass es zum anderen keinen „one best way“ gibt (Schmid und
Buhr 2012). Gerade diese Erkenntnis ist es, die den VoC-Ansatz f€ur den Vergleich
von Wirtschaftspolitiken so interessant macht.
Wirtschaftspolitik in der Vergleichenden Politikwissenschaft 727
So hilfreich der Ansatz von Hall/Soskice f€ur die Analyse der economic
governance von Volkswirtschaften sein mag, so begrenzt ist er auch. Zahlreiche
Länder (und Regionen) blieben jahrelang unber€ucksichtigt, auch weil das klas-
sische VoC-Raster nicht auszureichen schien, um Prozesse zwischen Staat und
728 D. Buhr und J. Schmid
Was können die skizzierten Ansätze der Politikfeldanalyse und der politischen
Ökonomie zum Vergleich von Wirtschaftspolitik beitragen? Sehr viel, bilden sie
doch hilfreiche Analyseraster und Typologien, um sowohl die Polity- und Politics-
als auch Policy-Dimension im Politikfeld Wirtschaftspolitik analysieren und so die
makroökonomischen Konzepte von keynesianischer versus neoliberaler Interven-
tion zu kontextualisieren. Das macht sie sodann auch f€ur die praktische Politik
(beratung) interessant. Beispielsweise lassen sich die Erfolge bestimmter Policies
auch hinsichtlich der Auswirkungen auf jeweilige institutionelle Komplementaritä-
ten in den entsprechenden Kapitalismustypen prognostizieren bzw. ein – institutio-
nell aufgeklärtes – Lernen von anderen organisieren und beurteilen. So gehen Hall
und Gingerich (2004) beispielsweise hinsichtlich der Performanz unterschiedlicher
Kapitalismen von einer u-Kurve aus. Je näher die Volkswirtschaften dem jeweiligen
Idealtyp (LME oder CME) kämen, desto erfolgreicher sei der ökonomische Output.
Gleichwohl ein Befund, den Kenworthy (2006) deutlich relativiert und in Frage
stellt.
Daneben gibt es ein hohes Erweiterungs- und Analysepotenzial in der bereits
angelegten Mehrebenenbetrachtung: Neben der hier behandelten nationalen Ebene
kann die regionale Ebene ergänzend in den Blick genommen werden und die dort
verbreiteten Konzepte wie regionale Innovationssysteme (Cooke et al.1998); Clus-
terforschung (Porter 1991; Florida 2002; vgl. auch Beck/Heinze/Schmid 2014) usw.
aufgenommen werden. Sinnvollerweise bezieht sich dann der Fokus ebenfalls stär-
ker auf die regionale bzw. regionalisierte Wirtschaftspolitik.
Sowohl auf den wissenschaftlichen Erkenntnisstand als auch die praktischen
Erfolge und Potenziale in der Wirtschaftspolitik bezogen gilt freilich das alte Motto
von Sören Kierkegaard: „Das Vergleichen ist das Ende des Gl€ucks und der Anfang
der Unzufriedenheit.“
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Bildung in der Vergleichenden
Politikwissenschaft
Zusammenfassung
Die vergleichende Politikwissenschaft leistet einen bedeutenden Beitrag in der
Bildungsforschung, denn sie kann die Determinanten der Veränderungsprozesse
in Bildungssystemen analytisch erklären. In der Mehrheit der OECD-Staaten lässt
sich mit dem Wandel von der Input- zur Output- und Wettbewerbssteuerung ein
€
ubergreifender Paradigmenwechsel in der Organisations- und Steuerungsphiloso-
phie von Schulsystemen feststellen. Dabei bestehen deutliche Unterschiede zwi-
schen den Ländern in Ausprägung und Geschwindigkeit. Am Beispiel von Schul-
reformen in Deutschland, Schweden und den USA zeigt unser Beitrag die
Potenziale vergleichender, politikwissenschaftlicher Forschung. Unseren Analy-
sen zufolge sind Veränderungen in den Schulsystemen auf vielfältige politische
wie institutionelle Faktoren zur€uckzuf€uhren und erst durch eine Vergleichsper-
spektive können Determinanten identifiziert werden.
Schlüsselwörter
Neue Steuerung • Schulpolitik • Deutschland • USA • Schweden
R. Nikolai (*)
Juniorprofessorin f€ur Systembezogene Schulforschung, Institut f€
ur Erziehungswissenschaften,
Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland
E-Mail: rita.nikolai@hu-berlin.de
K. Rothe
Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Systembezogene Schulforschung, Institut f€
ur
Erziehungswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland
E-Mail: kerstin.rothe@hu-berlin.de
1 Einleitung
F€
ur unsere Analyse entlang der drei ausgewählten Länderbeispielen betrachten wir
folgende Aspekte: (1) das Wohlfahrtstaatsmodell sowie das damit zusammenhängende
Bildungsverständnis des Landes; (2) die Funktionalität des öffentlichen Schulsystems
sowie die ökonomische Lage und Art und Höhe öffentlicher Bildungsausgaben als
Ausdruck der Staat-Markt-Beziehungen; (3) die konstitutionelle Vetostruktur, die
Parteienkonstellation sowie die Kompetenzaufteilung f€ur den Schulbereich.
2.1 Deutschland
1
In der beruflichen Bildung und im Kindergartenbereich sind private Akteure jedoch stark enga-
giert. Auch in der Hochschulbildung etabliert sich ein entsprechender Markt privater Anbieter.
738 R. Nikolai und K. Rothe
wurde jedoch in den 2000er-Jahren der Elternwille als Instrument der freien Schul-
wahl gestärkt. In einzelnen Bundesländern können Eltern ihre Kinder auf Schulen
auch außerhalb ihres zuständigen Schulbezirks schicken (Riedel et al. 2010) und
immer häufiger ist bei der Wahl der zuk€unftigen weiterf€uhrenden Schulform nicht
mehr die Grundschulempfehlung sondern der Elternwunsch entscheidend (F€ussel
et al. 2010). Damit wurde im konservativen Wohlfahrtsstaat Deutschlands die Rolle
der Familie als Entscheidungsinstanz im Schulwesen gestärkt.
2.2 Schweden
Zudem weitete sie 1992 die freie Schulwahl auf die Wahl zwischen öffentlichen und
privaten Schulen aus und öffnete damit das Fenster f€ur marktorientierte Reformen.
Wieder im Amt stellte die sozialdemokratische Regierung 1994 die Finanzierung der
privaten Schulen mit öffentlichen Schulen gleich. In der Folge kam es zu einem
enormen Anstieg des Privatschulsektors vor allem in urbanen Regionen. Proteste
von Lehrergewerkschaften gegen die zunehmende Privatisierung gab es zwar reich-
lich, doch konnten diese den parlamentarischen Entscheidungsprozess nicht blo-
ckieren. Anders als in Deutschland ist die Entscheidungsfindung in Schweden
auf zentralstaatlicher Ebene angesiedelt und dementsprechend die Anzahl von
Vetospielern im Vergleich auch geringer. Kennzeichen der Debatte um freie Schul-
wahl und Bildungsgutscheine war zudem, dass nicht von „privaten“ sondern von
„freien Schulen“ gesprochen wurde. Den sozialdemokratischen wie auch konserva-
tiven Regierungen gelang es, die Einf€uhrung von Bildungsgutscheinen mit Aspekten
der Deregulierung und größerer Wahlfreiheit anstelle von Privatisierung zu ver-
kn€upfen. Mit der Wahlfreiheit erfolgte auch eine Stärkung des Elternwillens. Die
privaten Schulen gleichen dabei vielmehr den aus den USA bekannten charter
schools: Zwar sind privaten Schulen autonom in der Gestaltung des Schullebens,
des Unterrichts und der Einstellungspraxis von Lehrerinnen und Lehrern, da sie
jedoch öffentlich finanziert werden und einem nationalen Curriculum verpflichtet
sind, werden die privaten Schulen als Teil des universalen sozialdemokratischen
Wohlfahrtsstaats angesehen (Klitgaard 2007).
Die j€
ungsten Reformen in Schweden weisen auf eine Reanimierung des sozial-
demokratischen Wohlfahrtsstaates hin, da die Schulinspektionen nicht nur gestärkt,
sondern auch zur€ uck in zentrale Verantwortung des Staates gelegt wurden (Lindgren
et al. 2012, Rönnberg 2014). Dieser erneute Wandel wird auch als Reaktion auf die
schlechter werdenden PISA-Ergebnisse dargestellt. Denn während die Leistungen
der schwedischen Sch€ulerinnen und Sch€uler in der ersten PISA-Studie von 2000 in
den getesteten Domänen noch oberhalb des OECD-Durchschnitts lagen, kam es in
den folgenden Leistungserhebungen zu Abnahmen in den Kompetenzwerten. Bil-
dungspolitikerinnen und -politiker in Schweden f€uhren das darauf zur€uck, dass die
Schulreformen der 1990er-Jahre ihre negative Wirkungen erst im Verlauf der 2000er-
Jahren entfalteten (Kobarg und Prenzel 2009). Anders als in vielen Staaten der OECD
ist in Schweden in Folge der PISA-Studien keine Zunahme von Dezentralisierung
und Wettbewerb zu verzeichnen, sondern eine Kehrtwende zur€uck zu mehr Zentral-
staatlichkeit im Sinne des sozialdemokratischen Wohlfahrsstaatsmodells.
2.3 USA
Auch im liberalen Wohlfahrtsstaat der USA liegt die Verantwortung f€ur Bildung
grundsätzlich beim Staat, jedoch zeichnen sich die USA durch eine hohe Wett-
bewerbsorientierung und eine Beschränkung der staatlichen Verantwortlichkeit in
der Bildungsfinanzierung aus (Busemeyer und Nikolai 2010, Nikolai 2007). Die
OECD hat ihrem Organisationstyp entsprechend eine ökonomische Perspektive auf
Bildung und schuf durch den vereinheitlichten Referenzrahmen eine Legitimations-
740 R. Nikolai und K. Rothe
basis f€
ur marktbasierte und output-orientierte Steuerungsmechanismen im Schulbe-
reich. In liberalen Staaten wie den USA gab es diese Legitimationsbasis allerdings
schon fr€uher, da sie dem liberalen Bildungsverständnis entspricht und das Schulsys-
tem traditionell eng mit den Erfordernissen des Marktes gekoppelt ist sowie Steuer-
ungsinstrumente wie Leistungsstanderhebungen und Schulinspektionen seit jeher
€
ublich sind.
Eine starke Orientierung am Bildungsoutput im Schulbereich gibt es in den USA
bereits den 1980er-Jahren. Entsprechend spielten die Ergebnisse internationaler
Schulleistungsstudien hier kaum eine Rolle. Anders als in Deutschland waren die
Qualitätsmängel des US-amerikanischen Schulsystems bereits seit dem Nation at
Risk-Report aus dem Jahre 1983 bekannt und f€uhrten schon zu diesem Zeitpunkt zu
einem Bildungsschock (Martens 2010). In der Folge wurden seit den 1980er-Jahren
zahlreiche Systeme zur Sicherstellung und Kontrolle von Schulqualität erprobt, die
auf die Wirkung quantitativer Wachstumsziele verbunden mit konsequenten Sank-
tionierungen setzen (Mintrop und Sundermann 2012). Die beiden Instrumente der
Wettbewerbs- und Output-Steuerung wurden ähnlich wie in England (West und
Ylönen 2010) auch in den USA miteinander kombiniert. Diese Reformen gingen
jedoch von Akteuren auf lokaler und bundesstaatlicher Ebene aus, denn im Gegen-
satz zu Schweden ist das Bildungssystem in den USA dezentral organisiert. Der
nationale Staat hat keine Kompetenz in der Bildung und es gibt keine nationalen
Curricula oder sonstige einheitlichen Vorgaben f€ur das Schulsystem (Martens 2010).
Selbst die Bundesstaaten lassen in der Regel den Schulbezirken in Fragen der
Struktur und den Inhalten freie Entscheidung.
Seit den 1990er-Jahren lassen sich allerdings Zentralisierungsversuche nachzeich-
nen. In Reaktion auf den Aktivismus der Bundesstaaten infolge des Nation at Risk-
Berichts gab es von Republikanern wie Demokraten Versuche, auf Bundesebene
national einheitliche Bildungsstandards zu etablieren (Busemeyer 2006, S. 75 f.).
Die begonnenen Versuche einer stärkeren Zentralisierung der Schulpolitik wurde in
den 2000er-Jahren mit dem Bundesgesetz No Child Left Behind (NCLB) (2002)
fortgef€uhrt (Martens 2010). Dieses Bundesgesetz, das von einer Koalition von Re-
publikanern, Demokraten sowie Wirtschaftsverbänden und B€urgerrechtsbewegungen
mit großen Hoffnungen unterst€utzt wurde, kn€upft den Empfang von Bundesmitteln
an das jährliche Testen von Sch€ulerinnen und Sch€ulern und verpflichtet die Bundes-
staaten, Bildungsstandards zu setzen. Können Schulen in den Testungen keine Fort-
schritte nachweisen, so m€ussen diese mit Sanktionen rechnen. Eltern wurden zudem
mit dem NCLB-Gesetz in ihrer Schulwahl gestärkt. Obwohl mit dem NCLB-Gesetz
die Autonomie der Bundesstaaten in der Schulpolitik ausgehöhlt wurde und trotz aller
Kritik an bislang ausbleibenden Leistungssteigerungen und „teaching to the test“-
Effekten (Ravitch 2010), wurde das Gesetz in den Bundesstaaten sowohl von Re-
publikanern wie Demokraten getragen. Eine Einmischung der Bundesebene wird
akzeptiert, da die mangelnde Qualität der Schulen in der Schwäche einer lokalisierten
Bildungspolitik gesehen wird und die Ausrichtung auf Standards und Einhaltung von
Performanzkriterien das Bildungsverständnis in den USA dominieren. Die öffent-
lichen Ausgaben f€ur Schulen sind daher im internationalen Vergleich leicht
€
uberdurchschnittlich, liegen jedoch unterhalb der Ausgaben von Schweden.
Bildung in der Vergleichenden Politikwissenschaft 741
Der Schulbereich ist in den USA ein mehrheitlich staatlich finanzierter Bereich,
allerdings werden die öffentlichen Schulen - anders als in Deutschland und Schweden -
aus kommunalen Steuergeldern finanziert, weshalb die Zahlungen an die Schulen
entsprechend der Höhe der Steuereinnahmen der Kommunen stark variieren. In
Distrikten mit vielen wohlhabenden Einwohner sind die Schulen sehr gut ausge-
stattet, während f€ ur die Schulen in wirtschaftlich ärmeren Gegenden nur wenige
Steuermittel ausgegeben werden können (Busemeyer 2006). Eine Art Länderfinanz-
ausgleich zur Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse wie in Deutschland gibt
es in den USA nicht. Im Gegensatz zum Tertiärbereich sind die privaten Ausgaben f€ur
den Schulsektor im internationalen Vergleich jedoch niedrig (OECD 2013, S. 295).
Gleichwohl gab es auch in den USA seit den 1980er-Jahren Versuche, die Privatisie-
rung von Schulen voranzutreiben. Ein Vorstoß der Reagan-Administration 1983
zielte darauf ab, die bundesstaatliche Finanzierung von privaten Schulen in eine
steuerliche Beg€ unstigung von Schulgeld oder Bildungsgutscheinen umzuwandeln.
Der Vorschlag, auf Bundesebene Bildungsgutscheine einzuf€uhren fand jedoch keine
mehrheitliche Zustimmung von Demokraten und Republikanern im Kongress. Gegen-
wind erfuhren die Pläne zur Einf€uhrung von Bildungsgutscheinen auf nationaler
Ebene zudem durch die zwei größten Lehrerorganisationen (National Education
Association, American Federation of Teachers) und weiteren intrastaatlichen Interes-
senvertretungen wie dem Council of Great City Schools oder der Education Commis-
sion of the States. Diese Organisationen f€urchteten um ihren Einfluss in der Schul-
politik und beschworen die Gefahr einer stärkeren Segregation im Schulsystem sowie
den Bedeutungsverlust öffentlicher Schulbildung (Klitgaard 2008). Zudem wurde im
Gegensatz zu Schweden die Einf€uhrung von Bildungsgutscheinen im Diskurs von
Seiten der bundesstaatlichen Regierung mit einer Verbesserung der Bildungschancen
von bildungsfernen Gruppen begr€undet, die jedoch bei Eltern aus der Mittelschicht
nicht auf Interesse stieß. Vielmehr wurde die Einf€uhrung von Bildungsgutscheinen auf
lokaler Ebene in zahlreichen Bundesstaaten in lokalen Referenden abgelehnt. Eltern
aus gut situierten Schuldistrikten bef€urchteten, dass bildungsferne Eltern aus ärmeren
Nachbarschaften ihre Kinder auf Schulen in guter Nachbarschaft schicken w€urden und
die Qualität der Schulen dadurch verschlechtert w€urde (Klitgaard 2007). Nur in ein-
zelnen Bundesstaaten wurden Bildungsgutscheine auf lokaler Ebene eingef€uhrt (Cor-
tina und Frey 2009). Während in den USA die nationenweite Einf€uhrung von Bil-
dungsgutscheinen sowohl an Vetospielern im Kongress als auch auf lokaler Ebene
scheiterte, spielen die charter schools als staatlich autonome Vertragsschulen ein
große Rolle. Dabei wird zwischen dem Management einer Schule und einer Schulbe-
hörde eine Zielvereinbarung geschlossen, die zumeist die Erfolgsquote der Sch€uler-
schaft in den standardisierten Leistungstests des jeweiligen Bundesstaates zugrunde
legen. Dar€uber hinaus sind die Vertragsschulen autonom in allen Schulangelegenhei-
ten. Die charter schools wurden anders als die Bildungsgutscheine weniger kontrovers
betrachtet (Moe 2001, S. 40, Vergari 2007) und sie wurden in den Bundesstaaten
sowohl von Republikanern als auch Demokraten eingef€uhrt. Mit den charter schools
wurde als „public-private hybrid“ (Vergari 2007, S. 16) eine Institution innerhalb des
staatlichen Schulsystems geschaffen, deren starke Perfomanzfokussierung weitere
Reformdynamiken im staatlichen Schulsystem entfalten d€urften. Die Wahlfreiheiten
742 R. Nikolai und K. Rothe
der Eltern beziehen sich dabei vor allem auf das staatliche Schulwesen und die charter
schools garantieren, dass das Schulwesen nach wie vor in öffentlicher Hand verbleibt.
3 Fazit
In der Steuerung von Schulsystemen lässt sich in vielen Ländern eine klare Trend-
wende hin zu einer stärkeren Fokussierung auf die Überpr€ufung von Bildungser-
gebnissen von Sch€ulerinnen und Sch€ulern feststellen. Ebenso wurden marktbasierte
Mechanismen in den Schulsystemen etabliert bzw. verstärkt. Dabei lassen sich
unterschiedliche Geschwindigkeiten und Umsetzungen des neuen Steuerungspara-
digmas in der Schulpolitik feststellen. In unserem Beitrag haben wir am Beispiel von
Deutschland, Schweden und den USA illustrieren können, welche Rolle vor allem
institutionelle und politische Faktoren dabei einnehmen.
Die wachsende Zahl an politikwissenschaftlichen Analysen zur Schulpolitik in
den OECD-Mitgliedstaaten liefert erste Befunde, dass durch Vergleichsstudien wie
PISA zum einen national bereits gefasste Reformpläne zum Zuge kamen, aber
dar€uber hinaus auch gänzlich neue Steuerungsmaßnahmen in den Bildungssystemen
angeregt wurden. Durch den Vergleich der Leistungsfähigkeit der Bildungssysteme
untereinander unterliegt Bildungspolitik somit nun auch internationalen Einfl€ussen
und einem transnationalen Diskurs. Internationale Akteure wie die OECD treten als
relevante Player in der Bildungspolitik auf den Plan und ergänzen die bisherige
nationale und lokale Mehrebenenstruktur (G€ur et al. 2012, Hartong 2012). Obwohl
sich die OECD als intergouvernementale Einrichtung nur „weicher“ Steuerungs-
instrumente bedienen kann und sie die Aktivität ihrer Mitgliedsstaaten €uber das so
genannte „peer pressure“ steuert (Leibfried und Martens 2008, S. 5, Rautalin und
Alasuutari 2009, S. 539 f.), hat sie die nationale Ebene nachhaltig beeinflusst und
dem Politikfeld Bildung auf nationaler wie internationaler Ebene eine zuvor unvor-
stellbare Relevanz verschafft. In Deutschland konnte durch den PISA-Schock die
institutionelle Blockierung von Reformen durch externen Druck €uberwunden wer-
den. Unsere Befunde legen nahe, dass zum einen die realistische Betrachtung des
eigenen Schulsystems, die konstitutionelle Vetostruktur und die traditionelle, insti-
tutionelle Zuständigkeit f€ur Bildung einen Einfluss auf die Art und Weise der Ein-
f€
uhrung neuer Steuerungsstrategien haben und zum anderen letztlich doch die
nationalen Akteure bestimmen, ob und wie die internationalen Vergleichsstudien
ihren Einfluss gelten machen können und welche Implikationen daraus folgen. Die
jeweiligen Regierungen und die maßgeblich von den Reformen betroffenen Interes-
sengruppen in den Ländern sind die zentralen Akteure, die den ‚impact‘ durch die
internationalen Organisationen aufnehmen, selektieren und so auswerten, dass diese
f€ur die eigenen Belange nutzbar gemacht werden können.
Unsere Analysen haben jedoch auch gezeigt, dass Reformen in den Schulsyste-
men nicht immer und schon gar nicht allein auf den Einfluss internationaler Sch€uler-
leistungsstudien zur€uckzuf€uhren sind und in einigen Ländern Reformen bereits in
den 1980er und 1990er-Jahren vorgenommen wurden. Das jeweilige Wohlfahrtss-
taatmodell, die Staat-Markt-Beziehungen in der Bildungsfinanzierung und die gene-
Bildung in der Vergleichenden Politikwissenschaft 743
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Politik und Religion in der Vergleichenden
Politikwissenschaft
Antonius Liedhegener
Zusammenfassung
Das Wechselverhältnis von Politik und Religion ist eine Querschnittsaufgabe der
Vergleichenden Politikwissenschaft. Die j€ungst intensivierte Erforschung dieses
fundamentalen Zusammenhangs hat auch in der Vergleichenden Politikwissenschaft
zu erheblichen Erkenntnisfortschritten gef€uhrt. Die Befunde sprechen im interna-
tionalen, system€ubergreifenden Vergleich f€ur eine ambivalente Rolle von Religion
und Religionen in gewalttätigen Konflikten, aber auch in Demokratisierungsproz-
essen und innenpolitischen Entscheidungsprozessen. Die Debatte um die angemes-
sene Typologisierung der sehr unterschiedlichen Staat-Religionen-Arrangements
und deren Wirkung auf bestimmte Politikfelder in liberalen Demokratien hat gezeigt,
dass die gängige Vorstellung der strikten Trennung von Staat und Kirche in keinem
politischen System einen empirischen Sachverhalt der polity-Ebene erfasst. Aussa-
gen €uber den empirischen Zusammenhang von Religion und Politik im Sinne von
politics und policy sind ebenfalls nur schwer oder gar nicht generalisierbar, ver-
gleichende Fallstudien daher zum Verständnis dieser komplexen Wechselverhältnis-
se unverzichtbar. Die Frage nach der empirischen Datenbasis der Statistiken zur
Religionszugehörigkeit in Europa macht exemplarisch sichtbar, dass die Verglei-
chende Politikwissenschaft auf Kenntnisse der religionsbezogenen Nachbarwissen-
schaften wie die Religionssoziologie und Religionswissenschaft angewiesen ist,
wenn fundierte empirische Erkenntnisse zur politischen Rolle von Religionen und
€
uber Kausalbeziehungen zwischen Politik und Religion gewonnen werden sollen.
Schlüsselwörter
Religionsgemeinschaften • Staat-Religionen-Verhältnis • Religiöse organisierte
Interessen • Religionspolitik • Public religions • Zivilgesellschaftliches Engagement
A. Liedhegener (*)
Professor f€ur Politik und Religion, Zentrum f€
ur Religion, Wirtschaft und Politik, Universität
Luzern, Luzern, Schweiz
E-Mail: antonius.liedhegener@unilu.ch
Das Verhältnis von Politik und Religion ist in Bewegung geraten, die Rolle von
Religion und Religionsgemeinschaften in der Politik strittig geworden. Das Bild der
einst€
urzenden Twin-Towers in New York hat das politische Gewicht der fundamen-
talen Veränderungsprozesse, die seit den ausgehenden 1970er-Jahren in den ver-
schiedensten Teilen der Welt zu beobachten sind, schlagartig ins Bewusstsein der
Öffentlichkeit gehoben. Debatten um die „R€uckkehr der Religionen“ (Riesebrodt
2000) werden in westlichen Demokratien in der Medienöffentlichkeit wie auch quer
durch die unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen engagiert gef€uhrt,
zumal die heute zum Teil naiv anmutenden Säkularisierungsvorstellungen der fr€uhen
Sozialwissenschaften im weltweiten wie europäischen Maßstab offenkundig so nicht
eingetreten sind (Gabriel et al. 2012; Berger 2013). Mit einer gewissen zeitlichen
Verzögerung hat auch die empirische bzw. Vergleichende Politikwissenschaft das
ehedem eher randständige, disziplinär meist vorschnell der Ideengeschichte zuge-
wiesene Thema breit aufgegriffen (Pelinka 2005, S. 113–132; Liedhegener 2008;
Pickel 2011; Minkenberg 2010b, 2011, 2012; Rasmussen 2011. Ältere Texte in:
Madeley 2003). Die in j€ungerer Zeit rasch zunehmende Institutionalisierung auch
der politikwissenschaftlichen Forschung zu Politik und Religion spricht daf€ur, dass
Religion und Religionen als f€ur Politik und Gesellschaft dauerhaft relevant einge-
stuft werden. So existiert seit 2000 der DVPW-Arbeitskreis „Politik und Religion“,
seit 2001 die Buchreihe „Politik und Religion“ (heute Springer VS), seit 2008
erscheint die Zeitschrift „Politics and Religion“. Ebenfalls j€ungeren Datums sind
die ECPR-Standing group „Religion and Politics“, das Exzellenzcluster „Religion
und Politik“ der Universität M€unster, das Schweizer „Zentrum f€ur Religion, Wirt-
schaft und Politik“ (ZRWP) sowie der Forschungsverbund „Religion and Transfor-
mation in Contemporary European Society“ (RaT) der Universität Wien.
Das Wechselverhältnis von Politik und Religion ist systematisch betrachtet aber
weniger ein separates Forschungsfeld als vielmehr eine Querschnittsaufgabe, die der
Politikwissenschaft insgesamt und der Vergleichenden Politikwissenschaft im Be-
sonderen gestellt ist. Diese Querschnittsaufgabe betrifft alle zentralen Aspekte von
Politik im Sinne von polity, politics und policy sowie alle Teildisziplinen, gängigen
Forschungsfelder und Methoden der Politikwissenschaft. Die intensivierte Erfor-
schung des Fundamentalzusammenhangs von Politik mit Religion hat nicht zuletzt
in der Vergleichenden Politikwissenschaft zu erheblichen Erkenntnisfortschritten
gef€uhrt (Forschungsberichte in Gill 2001; Jelen und Wilcox 2002; Liedhegener
2008; Haynes 2010; Pickel 2011). Die aktuellen Forschungen kann man im Wesent-
lichen f€unf unterschiedlichen, f€ur das Wechselverhältnis von Politik und Religion
grundlegenden Problemkreisen zuordnen. Diese sind der Zusammenhang von Reli-
gion und Gewalt (2.), das Staat-Religionen-Verhältnis (3.), der politische Einfluss
von Religionen in unterschiedlichen politischen Systemen (4.), die politische Regu-
lierung von Religion seitens staatlicher Akteure durch „Religionspolitik“ (5.) sowie
die Bedeutung des Zusammenhangs von Religion und Zivilgesellschaft f€ur Politik
und politische Kultur (6.). Betrachtet man die im Folgenden vorgestellten Studien
Politik und Religion in der Vergleichenden Politikwissenschaft 749
und Befunde als Teil der Vergleichenden Politikwissenschaft und zugleich als Bei-
träge zu einer interdisziplinären empirischen Religionsforschung, lassen sich einige
R€uckfragen und zuk€unftige Aufgaben f€ur die weitere Forschung formulieren (7.).
In der klassischen liberalen Lesart der Modernisierung galt es als ausgemacht, dass
Religion im Zuge der Säkularisierung aus den Prozessen der politischen Willensbil-
dung und Entscheidungsfindung verschwinde oder ggfs. bewusst fernzuhalten sei
(Beiner 1995, S. 1054). Einen nachhaltigen, breit rezipierten Kontrapunkt dazu hat
der Soziologe José Casanova mit seinem Buch „Public Religions in the Modern
World“ von 1994 gesetzt. Er differenzierte Säkularisierung in drei unterschiedliche,
nicht zwingend miteinander verkoppelte Prozesse: die Trennung von Staat und
Kirche im Zuge der Ausdifferenzierung eigenständiger Systeme in der Gesellschaft,
den gesellschaftlichen Bedeutungsverlust von Glaubens€uberzeugungen und religiö-
sen Praktiken sowie den Glaubensverlust auf individueller Ebene. Die politische
Öffentlichkeit gliederte er im Anschluss an ein gängiges Modell der comparative
politics in drei Arenen bzw. Ebenen – Staat, politische Gesellschaft (Parteipolitik),
Zivilgesellschaft – und analysierte sodann mehrere Länder- bzw. Fallbeispiele auf
die Art und Weise des politischen Engagements von Religionsgemeinschaften in
ihnen. Als musterg€ultige Form einer neuen, demokratieförderlichen Form einer
public religion erschienen ihm der j€ungere amerikanische Katholizismus, wie er
im Gefolge des Zweiten Vatikanischen Konzils entstanden war. Er agierte in der
zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit, hielt sich aber nach Casanovas Ansicht von
der parteipolitischen und staatlichen Arena fern, so dass er als zivilgesellschaftliche
Stimme und Korrektiv gegen politische Fehlentwicklungen in der Gesellschaft
wirken konnte. Dies entsprach dem normativen Anliegen Casanovas, Religion als
politischen Faktor strikt auf den Raum der zivilgesellschaftlichen Debatte zu begren-
zen. In diesem Punkt bestehen große Ähnlichkeiten zum Konzept der post-säkularen
Gesellschaft, wie es J€urgen Habermas etwas später an verschiedenen Stellen entfaltet
hat (Habermas 2001; Überblick in Willems 2013). Auch Habermas will eine Brand-
mauer zwischen religiös-politischen Anliegen und dem demokratischen Entschei-
dungsprozess errichtet wissen (Habermas 2005, S. 131). Die international gef€uhrte
Theoriedebatte dazu ist beachtlich angewachsen (etwa Taylor et al. 2010; Mendieta
und Van Antwerpen 2011), fiel aber nicht durch Bezug zu vorliegenden empirischen
Forschungsergebnissen auf.
Der amerikanische Politikwissenschaftler und f€uhrende Vertreter der Vergleich-
enden Politikwissenschaftler Alfred Stepan brachte nicht nur eine ganze Reihe von
empirischen Beispielen bei, die zeigen, dass die eingeforderte Trennungslinie zwi-
schen Zivilgesellschaft und (Partei-)Politik von religiösen Akteuren regelmäßig
€
uberschritten wird. Er lieferte im Anschluss an eine pluralismustheoretische Bestim-
mung der Grundideen liberaler Demokratien auch eine tragfähige Begr€undung f€ur
legitime Formen der Teilnahme von Religionsgemeinschaften am politischen Wett-
bewerb (Stepan 2000). Schaut man genauer hin, zeigt die vergleichende empirische
Forschung einen engen Zusammenhang von Religionen und politischen Strukturen
und Prozessen. Bedingt durch die Entstehung weltanschaulich-religiöser Milieus
bzw. Sondergesellschaften im 19. und fr€uhen 20. Jahrhundert weisen die Parteien-
systeme vieler Demokratie bis heute Parteien auf, die im weitesten Sinne als
Politik und Religion in der Vergleichenden Politikwissenschaft 753
religiöse Parteien zu klassifizieren sind (Mohseni und Wilcox 2009; Frey 2009;
Minkenberg 2010a). Nicht zuletzt wegen ihrer häufigen Regierungsbeteiligung
besitzen die Parteien der christdemokratischen Parteienfamilie ein besonderes Ge-
wicht (Hanley 1996; Liedhegener und Oppelland 2012). Der klassische, €uber die
Religionszugehörigkeit sozialstrukturell verankerte Zusammenhang von Religion
und Wahlverhalten ist – trotz mancher Abschwächungen – in vielen etablierten
liberalen Demokratien nach wie vor nachweisbar (Broughton und ten Napel 2000).
Angesichts der im Zuge von sozialer Mobilität und Individualisierung generell
sinkenden Vorhersagbarkeit von Wahlergebnissen erstaunt, dass Religion in vielen
westlichen Demokratien im Vergleich mit anderen Erklärungsfaktoren eine stärkere
Erklärungskraft zukommt (Dalton 2006, S. 162), wobei mittlerweile die Stärke der
individuellen Religiosität – in der Wahlforschung gemessen als Kirchgangshäufig-
keit – wichtiger ist als die ehedem so wichtige Konfessionszugehörigkeit. Auch
Formen neuer Religiosität (New Age etc.) scheinen einen, wenn auch schwachen,
Einfluss zu haben (Siegers 2012). Wahlentscheidend ist der Faktor Religion am
ehesten in den USA (Smidt et al. 2010).
Außerhalb der westlichen Welt stellen sich die Fragen anders. Von ganz erheb-
lichem Gewicht war bis vor kurzem jene, ob aus den religiösen Protestbewegungen
und Teilen der fundamentalistischen Gruppen des konservativen Islam wie etwa der
Muslimbruderschaft mittelfristig nicht doch religiös fundierte demokratische Par-
teien hervorgehen könnten, die dem Demokratisierungsimpuls des arabischen
Fr€uhlings zu einem dauerhaften Erfolg verhelfen könnten (Mohseni und Wilcox
2009, S. 220–226). Entgegen der verbreiteten öffentlichen Wahrnehmung
beschränkt sich die beachtliche politische Mobilisierungs- und Konfliktfähigkeit
von Religion aber keineswegs auf den islamischen bzw. arabischen Raum. Der
Hindu-Nationalismus in Indien, buddhistische Mönche in Sri Lanka oder Burma
(Myanmar) sowie bestimmte christliche Gemeinschaften im s€udlichen Afrika, etwa
in Nigeria, sind prominente Beispiele (Eckert 2003; Friedlander 2009).
Im Zuge der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung ist relativ fr€uh €uberlegt
worden, welchen Einfluss die verschiedenen konfessionellen Traditionen auf die
wohlfahrtsstaatlichen Arrangements in Europa und Nordamerika haben. Insbeson-
dere dem Katholizismus wird attestiert, dass sein historisch großer Einfluss in den
ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg die Herausbildung des Modells
eines subsidiären Sozialstaats ermöglicht hat (Esping-Andersen 1990; Schmid
2002). Vor allem dieser starke Einfluss des Katholizismus hat zu der generalisier-
enden Annahme gef€uhrt, dass im Ländervergleich die jeweilige konfessionelle
Tradition bzw. Religionsgeschichte als erklärende Variable f€ur die Wahl von Politi-
ken eingesetzt werden kann (Castles 1994; Gabriel 2000). Diese Grundannahme der
Wohlfahrtsstaatenforschung wurde daher auf weitere Politikfelder wie die Lebens-
schutzpolitik oder Migrations- und Integrationspolitik €ubertragen (Minkenberg
2003, 2008). Allerdings stößt die Erklärungskraft der in diesem Ansatz benutzten
makro-qualitativen Methode dann an ihre Grenzen, wenn es um die Entstehung bzw.
Ursachen konkreter Politikergebnisse geht. Da das Wechselverhältnis von Religion
und Politik in seiner historischen Tiefenstruktur wie im Kontext aktueller politischer
Systeme und deren politischer Kultur extrem vielschichtig ist, muss das
754 A. Liedhegener
5 Neue Religionspolitik?
allem um die Regulierung von Religion durch Akteure des politischen Entschei-
dungszentrums, d. h. in Demokratien primär durch Parlamente und Regierungen.
Weltweit sind die mehr oder weniger willk€urlichen Einzelnormierungen religiösen
Verhaltens beachtlich (Fox 2013). F€ur viele Staaten Europas sind zunehmend reli-
gionspolitische Aktivitäten im engeren Sinne zu registrieren (Ferrari und Pastorelli
2012). Im Kontext verfassungsstaatlicher Demokratien wirft diese Art von staat-
licher Politik zwei grundlegende Fragen auf. Wo liegen die Grenzen demokratischer
Politik auf der Basis von Mehrheitsentscheiden gegen€uber Religionsgemeinschaf-
ten, seien dies die etablierten Kirchen und religiösen Organisationen oder religiöse
Minderheiten? Darf und kann der Staat rechtlich normieren, was als Religion zu
gelten hat? Schon Alexis de Tocqueville, der Bewunderer der amerikanischen
Demokratie und fr€uhe F€ursprecher der modernen Demokratie im 19. Jahrhundert,
betonte bekanntlich die Gefahr der „Tyrannei der Mehrheit“ (Tocqueville 1987).
Gegenwärtig ist zu beobachten, dass demokratische Mehrheiten per Parlamentsbe-
schluss oder direktdemokratische Referenden Gesetze durchsetzen, die vor allem
kleinere Religionsgemeinschaften und speziell den Islam betreffen und so die öffent-
liche Religionsaus€ubung regulieren. Vielfach geschieht dies im Kontext von integra-
tionspolitischen Debatten (Brunn 2012). Verbote von Kopft€uchern, Minaretten und
Burkas in verschiedenen Bereichen der Öffentlichkeit stehen prominent f€ur den
Versuch, durch Mehrheitsentscheide „schlechte“ von „guter“ Religionsaus€ubung
zu scheiden und eine durch Säkularisierung und Migration veränderte religiöse
Landschaft zu regulieren (Vatter 2010; Rosenberger und Sauer 2012). Normativ
betrachtet ist sicher nicht jedes religionspolitische Vorgehen zwingend illegitim,
denn nicht jedwede Form religiöser Praxis kann in Demokratien tolerabel sein
(Brocker 2012). Auch die Religionsfreiheit kennt Grenzen. Aber die „neue Reli-
gionspolitik“ europäischer Staaten verstößt in der Praxis doch meist gegen den Sinn
der Religionsfreiheit als Grund- und Menschenrecht und betrifft bzw. benachteiligt
vor allem Frauen.
Bislang zu wenig in Rechnung gestellt worden sind die möglichen negativen
Folgen einer aktiven Religionspolitik, nämlich Religion und religiöse Identitäten als
solche zu politisieren und zu polarisieren, Minderheiten auf Grund ihrer Religions-
zugehörigkeit zu diskriminieren und Gesellschaften dadurch zu spalten. Das Kon-
zept der associational democracy schlägt einen anderen Weg vor: Es plädiert f€ur eine
möglichst große, im Rahmen der Rechtsordnung demokratischer Staaten – soweit
möglich – gleichmäßig gewährleistete Autonomie aller Religionsgemeinschaften,
um Konflikte zwischen Staat und Religionen zu befrieden, in der Gesellschaft Frei-
räume, Entfaltungsmöglichkeiten und das Potential freiwilligen Engagements zu
schaffen und auszuweiten (Bader 2007).
Der Umgang mit religiöser Vielfalt entscheidet sich nicht allein in Verfassung und
Politik, sondern auch und vor allem in der Gesellschaft selbst. Als Leitbild west-
licher Demokratien dient dazu die Idee der aktiven Zivilgesellschaft. Besonders in
756 A. Liedhegener
die Meso-Ebene ist f€ur die Formulierung politischer Interessen wie die Unterst€ut-
zung eines politischen Systems von erheblicher Bedeutung, wenn nicht gar ent-
scheidend. Religiöse Vereine und Organisationen €ubernehmen soziale, karitative
und kulturelle Aufgaben, aus den Religionsgemeinschaften heraus entsteht politi-
sches Engagement (Roßteutscher 2009; Liedhegener 2011). An diesem Übergang
von Zivilgesellschaft und politischem System werden so durch Elitenhandeln die
Legitimation von Institutionen und Entscheidungsträgern verhandelt bzw. hergestellt
und damit zentrale Beiträge zur sozialen und systemischen Integration von Gesell-
schaften geleistet (Friedrichs und Jagodzinski 1999; Liedhegener 2014).
Dieser Zusammenhang ist nicht nur in Demokratien relevant, sondern spielt auch
f€ur die Überwindung von Diktaturen eine wesentliche Rolle. Insbesondere f€ur die dritte
und vierte Welle der Demokratisierung schufen Veränderungen im religiösen Bereich
wichtige Voraussetzungen. Denn religiöse Akteure lieferten wichtige Beiträge zum
Aufbau einer regimekritischen Zivilgesellschaft und trugen zum Systemwechsel aktiv
bei (Huntington 1991, S. 74–85). Dieser Demokratisierungsschub, der im letzten
Drittel des 20. Jahrhunderts mit dem Übergang Portugals und Spaniens zur Demokratie
begann und nach 1989/90 erstmals in der Geschichte dem Systemtyp der liberalen
Demokratie in der Mehrheit aller Staaten zum Durchbruch verhalf, betraf anfangs
€
uberwiegend Länder mit einer katholischen Tradition und Bevölkerungsmehrheit,
woran das Zweite Vatikanische Konzil durch die Anerkennung von Religionsfreiheit
und Volkssouveränität seinen Anteil hatte (Sigmund 1987). Der anschließende Einsatz
der Päpste und der Weltkirche verhalf zahlreichen Protestbewegungen und Opposition-
ellen in Osteuropa und Lateinamerika zum Erfolg. Ungleich schwerer taten sich vor
allem viele der katholischen Bischöfe in Ländern wie etwa Polen damit, nach dem
Systemwechsel ihren neuen Ort in einer demokratischen Zivilgesellschaft und Politik
zu bestimmen. Die positive Rolle von religiösen Akteuren in der Phase des System-
wechsels setzt sich also nicht ohne Weiteres in der Phase der Konsolidierung der
Demokratie fort (Lauth 2013). Ein positiver Beitrag von Religion zu Demokratisie-
rungsprozessen ist im arabischen Raum bislang nur ansatzweise zu erkennen. Im
internationalen Vergleich erwiesen sich bis vor kurzem die muslimisch geprägten
Länder insbesondere dieser Region durchgängig als Autokratien (Merkel 2003; Fish
2002). Diskutiert wird, ob dieser Zusammenhang allein oder vor allem auf den Islam
als Glaubenssystem zur€uckzuf€uhren sei (Lane und Redissi 2009, S. 167–170). Auf-
fallend ist die durchgehende rechtliche und politische Schlechterstellung von Frauen in
dieser Region, die auf starke Defizite der sich nur langsam ausbildenden Zivilgesell-
schaften verweist (Fish 2002; Inglehart und Norris 2003).
Im Zusammenspiel der Qualitäten der Zivilgesellschaft und der Leistungen des
politischen Systems entscheidet sich in jungen und etablierten Demokratien, wie
Menschen verschiedener Religionen, Herkunft und Überzeugungen miteinander
umgehen, wie sich Religionsgemeinschaften auf lokaler, regionaler und gesamtgesell-
schaftlicher Ebene einbringen können und wie politische Partizipation gelingt. Im
g€unstigen Fall entsteht daraus gesellschaftlicher Zusammenhalt, auf den auch hoch-
differenzierte moderne Gesellschaften – zumindest nach Ansicht der politischen
Kulturforschung – nicht verzichten können (Pickel und Pickel 2006, S. 49–57).
Dieses komplexe Bedingungsgef€uge bedarf freilich weiterer empirischer Forschung.
758 A. Liedhegener
Das Verhältnis von Politik und Religion ist kein Forschungsgegenstand, der exklusiv
in der Politikwissenschaft bzw. der Vergleichenden Politikwissenschaft zu behan-
deln wäre. Schon die bisherige Darstellung hat erkennen lassen, dass eine der
Besonderheiten dieses Forschungsfeldes seine prinzipiell notwendige und daher
praktisch kaum zu umgehende Interdisziplinarität ist (Causey et al. 2010, S. 376;
Pickel 2011, S. 295–299). Alle behandelten Problemkreise weisen eine deutliche
Nähe zu der einen oder anderen Nachbardisziplin der Politikwissenschaft auf. Zu
nennen sind vor allem die Rechts- und Geschichtswissenschaft, die politische
Zeitgeschichte, die Religionswissenschaft, die Theologie, die Religionsökonomie,
die Soziologie und hier insbesondere die Religionssoziologie. Diese Tatsache lässt
dieses rasch wachsende Forschungsfeld derzeit besonders un€ubersichtlich erschei-
nen. Zur Verbesserung der Situation hat die empirische Politikwissenschaft diszip-
linär einige Aufgaben im Rahmen ihrer Teildisziplinen der Regierungssystemanaly-
se und Vergleichenden Politikwissenschaft zu bewältigen. Andere sind im Verbund
mit anderen Fächern in einer inter- und transdisziplinären empirischen Religions-
forschung zu leisten.
Im Blick auf die genuinen Aufgaben der Politikwissenschaft sollten Wege zur
stärkeren Integration der Ergebnisse der mittelfristig wohl rasant anwachsenden Zahl
vergleichender qualitativer wie quantitativer Studien gesucht werden. Auffallend ist,
dass sich ein forschungsfeldspezifischer Grundbestand an heuristischen und erklär-
enden Konzepten, Modellen und Theorien bislang nicht herauskristallisiert hat.
Jenseits der verbreiteten und durchaus fruchtbaren Anwendung allgemeiner politik-
wissenschaftlicher Grundkonzepte wie das der Differenzierung von Politik in polity,
politics und policy, des Konzepts des politischen Systems oder grundlegender Typo-
logien politischer Systeme finden sich zwar eine Reihe von empirischen Studien, die
im konzeptionellen Teil eigene theoretische Ideen und Vorstellungen entwickeln.
Aber die Konsolidierung eines wenn auch vielleicht in manchen Teilen noch strit-
tigen, aber eben doch angebbaren gemeinsamen theoretischen Fundus, wie ihn etwa
die vergleichende Wahlforschung oder die Religionssoziologie kennen, hat bislang
nicht stattgefunden. Ein gewisses Maß an geteilter empirischer politischer Theorie
wäre aber nicht nur w€unschenswert, sondern erscheint geradezu notwendig, um
Ergebnisse vergleichbar zu machen und systematische Fortschritte zu erzielen
(Liedhegener 2011; Malloy 2013; Pickel 2011). Dies w€urde die Chancen erhöhen,
vergleichende Fallstudien f€ur weitergehende Generalisierungen nutzen zu können.
Forschungspraktisch d€urfte in naher Zukunft sicherlich ein breiter Raum f€ur Meta-
Studien entstehen, die sich auf vorliegende Monographien, Sammelbände und ggfs.
Aufsätze st€utzen.
Verstärkt zu diskutieren und in einem interdisziplinären Umfeld zu €uberpr€ufen
wäre auch die grundlegende, oft nur wenig reflektierte Begrifflichkeit zum religiösen
Feld. Verglichen mit der Religionssoziologie oder Religionswissenschaft wird ins-
besondere der Begriff der Religion in der Vergleichenden Politikwissenschaft ein
wenig stiefm€ utterlich behandelt und selten ausbuchstabiert. Dabei ist kaum zu
Politik und Religion in der Vergleichenden Politikwissenschaft 759
€
ubersehen, dass die meisten Vertreterinnen und Vertreter der Vergleichenden Politik-
wissenschaft mit einem zwar sehr plausiblen, aber eben doch speziellen Religions-
begriff arbeiten, wie er sich aus der europäischen und j€ungeren amerikanischen
Religionsgeschichte ergeben hat. Unter Religion wird hier in aller Regel ein System
kollektiver Sinnstiftung auf der Basis geteilter Überzeugungen und Praktiken mit
Bezug auf eine transzendente, sakrale oder göttliche Wirklichkeit sowie der Fähig-
keit, soziale Institutionen und Organisationen hervorzubringen, verstanden (exemp-
larisch Gill 2001, S. 120; weitere Nachweise in Liedhegener 2008). Dieser Begriff
hat durchaus große Vorteile, denn er lässt sich f€ur die empirische Forschung entlang
der Inhalte und organisatorischen Strukturen der allermeisten religiösen Großtradi-
tionen gut operationalisieren. Und in der Tat sind die politisch relevanten Sachver-
halte zahlreich, bei denen Religionsgemeinschaften gewinnbringend als kollektiv
agierende Akteure aufgefasst werden können (Wilcox et al. 2008; anders Mitchell
2007). Diese Stärke der Begriffsbildung und -verwendung der Vergleichenden
Politikwissenschaft sollte aber nicht den Blick daf€ur verstellen, dass dieser Standard-
begriff in manchen Bereichen wie etwa der Binnendifferenzierung von religiösen
Akteuren und ihren Handlungsmotiven, zivilreligiösen Phänomenen oder quasi-
religiösen Elementen von Ideologien problematisch oder auch irref€uhrend sein kann
(Bizeul 2009). Nicht zuletzt im Hinblick auf die zunehmend wichtigere Beschäfti-
gung mit religiösen Identitäten und ihren politischen Auswirkungen sollte die Ver-
gleichende Politikwissenschaft €uber Begriffe und Theorien von Religion verstärkt
nachdenken (Pickel 2011, S. 295; Gryzmala-Busse 2012, S. 423–426).
F€
ur die Vergleichende Politikwissenschaft wie f€ur die empirische Religionsfor-
schung insgesamt ist schließlich die Frage zuverlässiger Daten zentral. International
vergleichbare, zuverlässige und f€ur die Forschung frei zugängliche Daten wie die
RAS-Daten von Jonathan Fox sind immer noch selten. Dass in diesem Bereich f€ur
die empirische Forschung noch eine ganze Reihe von Problemen bereit liegt, zeigt
die auf den ersten Blick einfache, aber de facto gegenwärtig nicht zuverlässig
beantwortbare Frage nach der Religionszugehörigkeit der Bevölkerung in Europa.
Zahlenangaben zur Religionszugehörigkeit sind zwar immer wieder Teil politischer
Debatten und Argumente, insbesondere wenn es um muslimische Minderheiten und
deren soziale Integration geht. Dementsprechend warten zahlreiche Veröffentlich-
ungen mit eigenen Tabellen zur Religionszugehörigkeit in Europas Staaten auf
(Alesina et al. 2003; Gerhards 2006; Minkenberg 2007, 2012). Ein systematischer
Vergleich dieser und anderer in der Forschung verwendeten Daten zeigt f€ur viele
Länder massive, f€ur eine exakte Wissenschaft nicht akzeptable Abweichungen
(Liedhegener und Odermatt 2014). Die Tatsache, dass es sich hier um eine Grund-
lagenfrage jeder empirischen Religionsforschung handelt, mahnt zumindest zu einer
gewissen Vorsicht bei makro-quantitativen Studien, die Daten zur Religionszugehö-
rigkeit als erklärende Variable benutzen.
Wenn die vorgestellten Ergebnisse der Vergleichenden Politikwissenschaft einen
generellen Eindruck zum Verhältnis von Politik und Religion in der Gegenwart
vermitteln, dann den, dass generalisierende Aussagen zur Natur und Wirkung von
Religion in politischen Strukturen, Prozessen und Kulturen kaum möglich sind.
Unter normativen Gesichtspunkten wird man daher mit Scott Appleby von einer
760 A. Liedhegener
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Migrationspolitik in der Vergleichenden
Politikwissenschaft
Andreas Blätte
Zusammenfassung
Auch im Zeitalter der Migration halten Staaten am Anspruch fest, Wanderungs-
bewegungen zu steuern. In den verschiedenen Bereichen des Migrationsgesche-
hens (Flucht, Asyl, Arbeitsmigration, Familiennachzug) gelingt dies in unter-
schiedlicher Weise. Vergleichende Forschung zur Migrationspolitik kann zur
Aufklärung € uber Möglichkeiten und Grenzen der Steuerung von Migration bei-
tragen. Zu ber€ucksichtigen ist dabei, wie verwoben Staaten durch transnationale
sozial Räume sind. Insbesondere in Europa sind die Zuständigkeiten der Europä-
ischen Union zum Teil weitreichend. Interessante vergleichende Forschungsper-
spektiven ergeben sich aus den Folgen von Migration f€ur Parteiensysteme,
politische Interessenvermittlung und politische Kultur.
Schlüsselwörter
Migrationspolitik • Einwanderung • Integrationspolitik • Ländervergleich
1 Einleitung
Migrationspolitik ist das Feld staatlichen Handelns, in dem eine politische Gestal-
tung von grenz€ uberschreitenden Wanderungsbewegungen angestrebt wird. Dieses
Steuerungsbem€ uhen ist ein Kern moderner Staatlichkeit, weil Fragen der inneren
und äußeren Sicherheit, des sozialen Zusammenhalts und der wirtschaftlichen
Wohlfahrt stets unaufhebbar mit der Steuerung von Migration verbunden sind – so
die These vom „Migrationsstaat“ (Hollifield 2004). Migrationspolitik ist damit
weder ein randständiges noch ein weiches Handlungsfeld. Solchermaßen bedeutend
A. Blätte (*)
Professor f€ur Public Policy und Landespolitik, Institut f€
ur Politikwissenschaft, Universität
Duisburg-Essen, Duisburg, Deutschland
E-Mail: andreas.blaette@uni-due.de
f€
ur viele Staaten, scheint sich eine international vergleichende Perspektive
anzubieten. Migration als grenz€uberschreitendes Phänomen impliziert dabei, dass
Staaten keine voneinander unabhängigen Untersuchungseinheiten sind. Länderver-
gleichende Perspektiven zur Migrationspolitik ber€ucksichtigen dies und tragen so
zum Verständnis politischer Prozesse in der globalisierten Welt bei.
Migrationspolitik stößt an Grenzen, Wanderungsbewegungen tatsächlich zu steu-
ern. Migration beruht auf individuellen Entscheidungen. Die Migrationsforschung
weist darauf hin, dass diese von vielen Faktoren abhängen und nicht notwendig der
Logik des staatlichen Regel- und Steuerungskontexts folgen (Fussell 2012). Recht-
lichen und administrativen Kategorisierungen, die etwa systematisch zwischen Flucht-
und Arbeitsmigration unterscheiden, stehen weit komplexere soziale Zusammenhänge
gegen€ uber. Politische Steuerung ist dadurch nicht nur analytisch, sondern auch nor-
mativ herausgefordert: Politische und gesellschaftliche Reaktionen auf Migration sind
selten „k€uhl“. Gerade die Staaten der Europäischen Union stehen auch durch einen
erheblichen Anstieg der Fluchtmigration aufgrund gewaltsamer internationaler und
innerstaatlicher Konflikte einerseits, einem Bedarf an einer Einwanderung qualifizier-
ter Arbeitskräfte aufgrund des demographischen Wandels andererseits vor erheblichen
politischen Herausforderungen. Welche Ansätze der politischen Steuerung es gibt,
inwiefern diese wirksam sein können und wo diese ihre Grenzen finden, ist also eine
relevante Aufgabe komparativer politikwissenschaftlicher Forschung.
In der politikwissenschaftlichen, vergleichenden Forschung zur Migrationspolitik
stellen oftmals vergleichende Fallstudien die präferierte Methode dar. Doch kann
sich die Forschung auch auf eine Reihe gut zugänglicher (amtlicher) Statistiken
st€utzen. Mit einer Einf€uhrung in die zur Verf€ugung stehenden Statistiken soll im
folgenden zweiten Abschnitt zugleich ein Überblick €uber das internationale Wander-
ungsgeschehen gegeben werden. In einem dritten Schritt wird ein Überblick €uber
ländervergleichende Zugänge zur Migrationspolitik gegeben. Solchermaßen ausge-
richtete Forschung muss heute – viertens – die Kritik eines „methodologischen
Nationalismus“ beachten und gerade im europäischen Kontext die Einbettung der
Migrationspolitik in die Politik im europäischen Mehrebenensystem ber€ucksichti-
gen. Im f€ unften Schritt soll daher auch auf Forschungsperspektiven hingewiesen
werden, welche sich mit Integration und den Migrationsfolgen beschäftigen. Im
Schlussteil wird die eurozentrische Ausrichtung der vergleichenden Migrationspo-
litikforschung problematisiert: Ein weitergehendes Verständnis der Möglichkeiten
der politischen Steuerung von Migration w€urde gerade auch von mehr Forschung
zur Migrationspolitik von Auswanderungsländern profitieren.
Der Beginn des 21. Jahrhunderts ist durch einen erheblichen Anstieg der inter-
nationalen Migration gekennzeichnet. Eine weltgeschichtliche Ausnahmeperiode
ist dies angesichts fr€uherer Völkerwanderungen nicht, doch ist die der Konzeption
der Nation nach eher migrations-averse Welt der Nationalstaaten durch Arbeits-
migration und Fluchtbewegungen herausgefordert. Es wird ein „Zeitalter der
Migrationspolitik in der Vergleichenden Politikwissenschaft 769
1
http://www.un.org/en/development/desa/population/migration/index.shtml.
2
http://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php/Migration_and_migrant_population_
statistics/de.
3
http://www.oecd-ilibrary.org/social-issues-migration-health/international-migration-outlook_
1999124x.
770 A. Blätte
Personen aus den Staaten Lateinamerikas vor und Großbritannien beschränkt den
Zuzug von Personen aus den Commonwealth-Staaten nicht.
Im europäischen Kontext schafft die Freiz€ugigkeit innerhalb der Europäischen
Union eine weitreichende, bewusst eingegangene Beschränkung der Gestaltungs-
spielräume durch Migrationspolitik. Die Freiz€ugigkeit ist €uber den Vertrag €uber die
Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV, hier Art. 45) abgesichert und gilt als
grundlegende Norm des europäischen Vertragswerks. Die Mobilität innerhalb der
Europäischen Union ist ein weiterer großer Aspekt der Migration, der außerhalb der
Verf€ ugungsmöglichkeiten der Mitgliedstaaten der Europäischen Union steht.
Der migrationspolitische Gestaltungsspielraum von Staaten ist durch ihre Ver-
fassungsnormen, durch internationales Recht und im EU-Kontext durch Europarecht
eingeschränkt. Doch Staaten gestalten Politik und es bleibt eine erhebliche Variation
der Steuerungsansätze. Es gibt Überblickswerke, die zum globalen Überblick bei-
tragen (Gieler 2003), es gibt gut verf€ugbare Zahlen zum Umfang von Migration,
doch gibt es keine etablierten Indikatoren f€ur einen globalen Vergleich der Mi-
grationspolitiken aller Staaten. Es stellt sich auch die Frage, ob angesichts der
gegebenen globalen Disparitäten Vergleichsmaßstäbe definiert werden können, die
f€ur alle Staaten gleichermaßen sinnvoll sind.
Zumindest f€ ur den Großteil der industrialisierten Staaten bietet der Migrant
Integration Policy Index (MIPEX) eine vergleichende Bewertung acht migrations-
und integrationspolitischer Handlungsfelder f€ur die EU-Staaten sowie f€ur Austra-
lien, Kanada, Island, Japan, S€udkorea, Neuseeland, Norwegen, die Schweiz, die
T€urkei und die Vereinigten Staaten. Der MIPEX beruht auf einer Einschätzung der
g€ultigen rechtlichen Regelungen durch Länderexperten. Die Indikatoren werden seit
2004 erstellt. Das Messkonzept des MIPEX ber€ucksichtigt dabei erstens nur die
rechtlichen Rahmenbedingungen der Migrations- und Integrationspolitik. Dem MI-
PEX liegt zweitens die Annahme zugrunde, dass politische und rechtliche Bestim-
mungen auf einer Skala mit den Polen „exklusiv“ und „restriktiv“ einerseits, „in-
klusiv“ und „liberal“ andererseits eingestuft werden können. Es basiert dabei auf der
starken normativen Prämisse, dass mehr Offenheit und Gleichheit immer der Vorzug
zu geben sei. Der MIPEX soll mit dieser Stoßrichtung eine Argumentationshilfe f€ur
zivilgesellschaftliche Akteure sein. So n€utzlich der MIPEX ist, so m€ussen sich
wissenschaftliche Arbeiten €uber die normativ-aktivistischen Intentionen im Klaren
sein. Die rein numerische Orientierung des Vergleichs zeigt auch, wie erforderlich
die detailliertere qualitative Analyse bleibt. F€ur wissenschaftliche kausale Frage-
stellungen zur Migrationspolitik im Sinne der Tradition der Vergleichenden Staats-
tätigkeitsforschung sind zudem theoretische und empirische Anreicherungen erfor-
derlich, welcher Art die Variation der Migrationspolitik ist, welche Ursachen diese
hat und wie wandlungsfähig diese sein werden und was die tatsächlichen Wirkungen
von Migrationspolitik f€ur Migration sind.
Dass es Länder mit einem tradierten Selbstverständnis als Einwanderungsland
gibt, die sich durch ihr politisch-kulturelles Selbstverständnis von Staaten ohne ein
solches Selbstverständnis unterscheiden, ist ein Gemeinplatz. Als klassisches
Einwanderungsland schlechthin gelten die Vereinigten Staaten von Amerika. Das
Argument, dass ein nationales Selbstverständnis als historisch-kulturelle Prägungen
Migrationspolitik in der Vergleichenden Politikwissenschaft 773
Parteien unter Umständen gegen eine Ausweitung der Einwanderung votieren wer-
den, um die Interessen einkommensschwächerer Gruppen zu vertreten, f€ur die das
Lohngef€ uge durch eine Einwanderung billiger Arbeitskräfte unter Druck geraten
könnte. Mehr Aufmerksamkeit seitens der Wissenschaft erfahren hingegen rechts-
populistischen Parteien und die Frage, wie deren Aufkommen regierende Parteien
unter Druck setzt, Möglichkeiten des Zuzugs einzuschränken oder eine Abkehr vom
Multikulturalismus zur vollziehen (Givens 2005; Han 2015).
Interessante Forschungsfragen ergeben sich nicht allein durch einen Fokus auf
politische Beschlussfassungen. Staaten sind durch innenpolitische und internationale
Restriktionen eingeschränkt, die Ausrichtung der Migrationspolitik zu bestimmen.
Der Druck durch eine tendenziell einwanderungsskeptische öffentliche Meinung und
das Aufkommen rechtspopulistischer Parteien f€uhrt politische Akteure dazu, zumin-
dest symbolisch die Restriktion von Zuwanderung zu proklamieren. Doch es besteht
eine erhebliche Divergenz zwischen einer oft migrationsskeptischen Rhetorik und
beschlossenen politischen Maßnahmen (im Sinne von outcomes) einerseits und der
tatsächlich erreichten Steuerung von Migration andererseits. Das Syndrom von tough
talk and weak action (Boswell und Geddes 2011) und die Schwierigkeiten liberaler
Demokratien, tatsächliche Migrationskontrolle auszu€uben, zieht sich wie ein roter
Faden durch die Migrationspolitik. Dies resultiert aus einem Spannungsfeld wider-
streitender Logiken, das von James Hollifield als „liberales Paradoxon“ (liberal
paradox) analysiert wurde (Hollifield 1992). Um wettbewerbsfähig sein und Wohl-
fahrt gewährleisten zu können, sind Staaten einerseits in Zeiten der Globalisierung
ökonomisch auf Migration angewiesen. Andererseits bleibt der Nationalstaat der
Grundbaustein der internationalen Ordnung. Die Aus€ubung von Migrationskontrolle
ist ein Eckpfeiler nationalstaatlicher Souveränität, zumal sie die erforderliche Iden-
tifikation und Loyalität der B€urger mit dem Staat sichert. Dieser kaum aufhebbare
Widerstreit findet Entsprechungen in der Praxis der Migrationskontrolle. So fördert
vergleichende Implementationsforschung das Verständnis f€ur die Prozesse, welche
die L€ucke zwischen behaupteter Intention und tatsächlichen outputs erklären. Studien
zur Implementation von Migrationspolitik zeigen hier insbesondere die Ermessens-
spielräume und vor allem Handlungsrestriktionen derjenigen in der Exekutive, die
tatsächlich Migrationskontrolle umsetzen (Ellermann 2009).
Migration ist ein grenz€uberschreitender Prozess, der als solcher f€ur vergleichende
Forschungsdesigns die Annahme der Unabhängigkeit der Beobachtungseinheiten
untergräbt. Das Galton-Problem, das durch die Globalisierung virulent wird (Jahn
2006), betrifft gerade auch den Vergleich von Migrationspolitiken. Ein rasch ange-
wachsener Zweig der Migrationsforschung problematisiert die nationalstaatliche
Orientierung der Forschung und hält einem „methodologischen Nationalismus“
(Wimmer und Glick-Schiller 2002; Amelina et al. 2012) eine dezidiert transnationale
Forschungsperspektive entgegen. Diese Forschung begn€ugt sich nicht mit der Dia-
gnose, dass es Migrationssysteme (Kritz 1992) gibt, die zwischen bestimmten
Migrationspolitik in der Vergleichenden Politikwissenschaft 775
6 Perspektiven
Migration im 21. Jahrhundert ist ein globales Phänomen, das Regionen und Konti-
nente miteinander verbindet. Die großen globalen Wanderungsbewegungen vollzie-
hen sich von Asien in die Golfstaaten, von Latein- nach Nordamerika, von Afrika
778 A. Blätte
und Mittel- und Osteuropa nach Westeuropa. Durch Kriege und B€urgerkriege
kommt es zu massiven Fl€uchtlingsbewegungen in Afrika und im Nahen und Mitt-
leren Osten. Wenn trotz der solchermaßen globalen Dimension von Migration hier
vor allem die Staaten der Europäischen Union im Mittelpunkt standen, so ist dies ein
methodisch induzierter Eurozentrismus, der aus der Frage nach den Möglichkeiten
vergleichender politikwissenschaftlicher Forschung resultiert. Die Analyse von
Migration muss globale Zusammenhänge ber€ucksichtigen. Ein globaler, politikwis-
senschaftlicher Vergleich von Migrationspolitiken scheitert bislang an der Verf€ug-
barkeit von Daten und wird auch durch Grenzen der Vergleichbarkeit eingeschränkt.
Die Beschäftigung mit klassischen Einwanderungsländern wie den USA, Kanada,
Australien oder Neuseeland, bleibt von erheblichem heuristischen Wert und liefert in
der politischen Praxis immer wieder Anregungen f€ur einen Transfer politischer
Programme im Sinne eines policy transfer (Dolowitz und Marsh 1996). Forschungs-
designs f€ur vergleichende Arbeiten im systematischen Sinne lassen sich hingegen
besser f€
ur einen Vergleich der europäischen Staaten definieren.
Insofern dies den Stand der Forschung markiert und ein Eurozentrismus der
vergleichenden Forschung zur Migrationspolitik feststellbar ist, so bedeutet dies
nicht, dass sich Forschungspotenziale darin erschöpfen m€ussten. Europa wird es
schon allein aufgrund der geographischen Lage schwer fallen, eine Abschottung
gegen Wanderungsbewegungen zu erreichen; wirtschaftliche Attraktivität und der
demographischer Wandel lassen Realisierbarkeit und W€unschbarkeit einer Null-
Migrations-Politik zweifelhaft erscheinen; die Transformation europäischer Gesell-
schaften durch Migration ist längst in Gang gesetzt, so dass hier f€ur lange Zeit
Nährstoff f€ur Forschung bleiben wird. Doch Migration wird nur unzureichend ver-
standen, wenn nur die Zielländer von Migration zum Gegenstand der Analyse
werden. Auswanderung, sei sie gezielt durch die Migrationspolitik eines anderen
Staates herbeigef€uhrt oder nicht, hat erhebliche Folgen in den Ländern, die von
dieser betroffen sind. Es verändert sich die demographische Situation und es kommt
zu Verlusten von Humankapital, wenn gerade mobile Personen mit höheren Bil-
dungsabschl€ ussen auswandern. Die R€uck€uberweisungen von Ausgewanderten nut-
zen bestimmten gesellschaftlichen Gruppen mehr als anderen. All dies hat politische
Folgen, etwa f€ur die Frage, ob Auswanderungsländer eine Migrationspolitik betrei-
ben, die eine Migrationskontrolle anderer Staaten wahrscheinlicher macht. All dies
könnte auch der Gegenstand vergleichender politikwissenschaftlicher For-
schung sein.
Migration ber€ uhrt stets auch normative Fragen. Ob es €uberhaupt ein normativ
begr€undbares Recht von Staaten gibt, durch Migrationspolitik die Bewegung von
Personen zu steuern, zu kontrollieren und zu beschränken, bleibt eine schwierige
Frage der normativen politischen Theorie (Carens 1987, Zolberg 2012). Wie her-
kömmliche Konzeptionen der Staatsb€urgerschaft durch Migration und Transnationa-
lismus herausgefordert sind, fordert ein Nachdenken €uber die normativen Grund-
lagen des modernen Staates heraus (Bauböck 1994, 2012). Die normativ strittigen
Fragen durchziehen die Literatur zur Migrationspolitik. Abgesehen von der Frage,
welche Folgen eine gezielte Anwerbung hochqualifizierter Arbeitskräfte als Verlust
von Humankapital f€ur Herkunftsländer hat: Wie ist dies normativ zu bewerten? Das
Migrationspolitik in der Vergleichenden Politikwissenschaft 779
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Zivil-militärische Beziehungen in der
Vergleichenden Politikwissenschaft
Aurel Croissant
Zusammenfassung
Die Analyse zivil-militärischer Beziehungen als Teilgebiet der Vergleichenden
Politikwissenschaft beschäftigt sich mit einem zentralen Ordnungsproblem mo-
derner Gesellschaften. Im Zentrum steht die doppelte Herausforderung der Insti-
tutionalisierung politischer Kontrolle €uber das Militär und der Gewährleistung
effektiver Sicherheit f€ur den Nationalstaat und seine B€urger. Forschungsschwer-
punkte sind die vorwiegend mit qualitativen Methoden des Vergleichs betriebene
Analyse des Verhältnisses von Militär und Politik in demokratischen Transforma-
tionsprozessen, die makro-quantitativ vergleichende Coup-Ursachen-Forschung
sowie die Methoden und Theorien kombinierende Analyse der politisch-militär-
ischen Beziehungen in Diktaturen. Ein noch neues, vielversprechendes For-
schungsgebiet ist die Untersuchung der Auswirkungen zivil-militärischer Bezie-
hungen auf die politische Performanz von Demokratien und Diktaturen.
Schlüsselwörter
Zivil-militärische Beziehungen • Demokratie • Autokratie • Transformation •
Militärputsch
1 Einleitung
A. Croissant (*)
Professor f€ur Politikwissenschaft, Institut f€
ur Politische Wissenschaft, Universität Heidelberg,
Heidelberg, Deutschland
E-Mail: aurel.croissant@urz.uni-heidelberg.de
immer eindeutig. Zudem wird damit keine Aussage €uber den Grad der strukturellen
und funktionalen Verschiedenartigkeit von ziviler und militärischer Sphäre getroffen
(vgl. Schiff 2009). Besonders schwierig zu trennen ist beides in Militärregimen, da
hier das Militär dar€uber entscheidet, welche Ziele es verfolgt, welche sozialen Kräfte
es bei der Herrschaftsaus€ubung einbindet, wie die Macht im politischen
System verteilt ist und wie das Verhältnis zwischen Regierung und Streitkräften
beschaffen sein soll (Arceneaux 2001, S. 8–9). Letztendlich ist eine analytische
Unterscheidung aber unerlässlich, um zivil-militärische Beziehungen €uberhaupt
untersuchen zu können (Feaver 1996). Auch deshalb ist der Vorschlag, das
traditionelle („orthodoxe“) Konzept der zivil-militärischen Beziehungen zugunsten
des Sicherheitssektorbegriffs aufzugeben (vgl. Forster 2002), nicht zielf€uhrend.
Vor allem aber €ubersieht er, dass es bei der Forschung zu zivil-militärischen
Beziehungen um die Analyse des Verhältnisses von Militär und ziviler
Gesellschaft bzw. Politik geht, beim Sicherheitssektor hingegen um die (meist
Policy-bezogene) Analyse von Strukturen und Prozessen der Produktion öffentlicher
(Un)Sicherheit.
Von den Überlegungen Platons €uber die Stellung der Krieger in der Polis bis zu den
fr€uhen soziologischen Ausf€uhrungen zum Verhältnis von Militär und Gesellschaft
bei Gaetano Mosca und Max Weber haben sich etliche Analytiker der Politik mit
dem Thema auseinandergesetzt (Kernic 2001). Die Anfänge einer theoretisch fund-
ierten und empirisch-analytischen sozialwissenschaftlichen Militärforschung sind
jedoch j€ungeren Ursprungs. Sie gehen zur€uck auf Samuel P. Huntingtons Fr€uhwerk
The Soldier and the State (1957) und Morris Janowitz’ Abhandlung The Professio-
nal Soldier (1960). Letzterer gilt als Begr€under der modernen Militärsoziologie. F€ur
die komparative Politikwissenschaft bedeutender ist Huntingtons Theorie der zivil-
militärischen Beziehungen. Sie ist bis heute eine Standardreferenz f€ur die politik-
wissenschaftliche Diskussion der zivil-militärischen Beziehungen insbesondere in
der nordamerikanischen Literatur (Feaver 2003, S. 7).
Ausgehend von dem metatheoretischen Raster, das Mark Lichbach (1997) f€ur die
comparative politics ausgearbeitet hat und das von David Pion-Berlin (2001) f€ur die
zivil-militärischen Beziehungen adaptiert wurde, können die meisten Theorien einer
von drei research schools zugeordnet werden (Croissant und K€uhn 2011, S. 15–60):
mit anderen (zivilen) Gruppen bereit. Die Unterordnung des Militärs unter die
politische Kontrolle oder deren Fehlen ist letztlich im professionellen „Ethos“ des
Offizierskorps begr€undet.
2. „Strukturalistische Ansätze“ untersuchen den Einfluss struktureller Variablen auf
die zivil-militärischen Beziehungen. Mit Easton (1990) lassen sich zwei Theo-
rierichtungen unterscheiden. Ein Strang fragt nach den Auswirkungen der „Struk-
turen höherer Ordnung“, wie sozioökonomische Modernisierung oder die Struk-
turen des internationalen Systems. Der andere Strang fokussiert auf die kausalen
Effekte der „Strukturen niederer Ordnung“, also der politischen Institutionen, auf
das Verhalten individueller oder kollektiver Akteure. Vertreter der strukturalisti-
schen Theorieströmung sind Finer (1962), Huntington (1962), Desch (1999)
sowie, aus neoinstitutioneller Perspektive, Avant (1994) und Pion-Berlin
(1997). Desch etwa betont mit seiner strukturalistischen Theorie, warum äußere
Bedrohungen der nationalen Sicherheit wie im Kalten Krieg stabile zivile Kon-
trolle beg€
unstigen und weshalb innere Unruhen sie belasten. Neoinstitutionelle
Ansätze zeigen, wie die Fähigkeit ziviler Politiker zur Einf€uhrung militärstrategi-
scher Neuerungen (Avant 1994) und die Neuordnung der politisch-militärischen
Beziehungen im Übergang von der Diktatur zur Demokratie (Pion-Berlin 1997)
von den institutionellen Ressourcen der Akteure beeinflusst werden.
3. „Rationalistische“ (handlungstheoretische) Ansätze richten ihr Augenmerk auf
die Interessen und Präferenzen, die Handlungen und die strategischen Interaktio-
nen von politischen Akteuren und Militärs, die jeweils als rationale, nutzen-
maximierende Akteure konzipiert werden (Trinkunas 2005; K€uhn 2013). Der
derzeit wichtigste Beitrag zur Theoriebildung ist Peter Feavers (2003) spieltheo-
retisches Modell der zivil-militärischen Beziehungen. Es r€uckt das zentrale Pro-
blem ziviler Kontrolle ins Zentrum der Theoriebildung: Wie stellt der Prinzipal
(die politische F€uhrung) sicher, dass der Agent (das Militär) in seinem Sinne
handelt? Um dies zu analysieren, entwickelt Feaver iterative Spiele, in denen die
Interaktionen von Prinzipal und Agent durch das gemeinsame Wissen €uber die
Struktur, Kosten und wahrscheinlichen Ergebnisse ihrer Handlungen geprägt
sind. Damit legt Feaver eine Theorie ziviler Kontrolle in Demokratien vor, die
sich mit wenigen Modifikationen auch auf Autokratien €ubertragen lässt. Doch
auch seine Theorie hat Grenzen. Da das Modell die Anerkennung des Primats der
politischen F€uhrung durch das Militär als gegeben voraussetzt und annimmt, dass
der Prinzipal jederzeit die Option besitzt, das Militär bei Fehlverhalten („shir-
king“) zu sanktionieren (Feaver 2003, S. 57–58), eignet es sich nicht f€ur junge
Demokratien, in denen dieser Zustand erst erreicht werden muss.
dem Ende des Ost-West-Konflikts ist auch das Interesse an den zivil-militärischen
Beziehungen in etablierten Demokratien wiedererwacht. Diese Forschung ist zum
Teil stark anwendungsorientiert, beschäftigt sich mit den Auswirkungen des sozialen
und technologischen Wandel auf das Militär bzw. auf sein Verhältnis zur Gesell-
schaft und sucht nach alternativen Lösungsvorschlägen f€ur praktische Sicherheits-
probleme. Im Zusammenhang mit der in den USA in den 1990er-Jahren mit nicht-
konklusiven Befunden diskutierten These vom Entstehen einer kulturellen „Kluft“
(gap) zwischen ziviler Gesellschaft und Militär (Feaver und Kohn 2001) sowie der
auch in der deutschsprachigen Forschung rezipierten Debatte um eine Militarisie-
rung demokratischer Verfassungsstaaten (Deitlhoff und Geis 2010) hat auch die
Frage der demokratischen Kontrolle der Streitkräfte neue Beachtung erfahren.
Nachfolgend werden beispielhaft zwei aktuelle Forschungsschwerpunkte darge-
stellt: die zivil-militärischen Beziehungen in demokratischen Transformationsproz-
essen und die Analyse politisch-militärischer Beziehungen in Autokratien.
Zu der Frage, wie junge Demokratien mit dem Ordnungsproblem der zivilen
Kontrolle umgehen, gibt es viel aktuelle Forschung. Allerdings sind die Grenzen
möglicher Generalisierungen der Befunde zu beachten (s. Abschn. 3). Relativ ge-
sichert scheint, dass die Form des autoritären Regimes und seines Niedergangs von
Bedeutung sind. Ein Vergleich der meisten Transitionen in Lateinamerika mit dem
postkommunistischen Osteuropa und jungen Demokratien in Asien und Afrika
belegt, dass die Institutionalisierung demokratischer politischer Kontrolle €uber das
Militär besonders dort schwer fällt, wo der Übergang aus einem militarisierten
autoritären Regime erfolgt, und wo Militärs die Transition planen, lenken oder im
Ringen mit zivilen Eliten gestalten (Ag€uero 2009). Bedeutsam ist auch, wie stark die
Legitimität ziviler Institutionen in Transformationsgesellschaften ausgeprägt ist
(Croissant und K€ uhn 2011). Letzteres hängt wiederum mit den internationalen und
innergesellschaftlichen Konfliktlagen und Bedrohungsszenarien zusammen, mit der
Integrationsleistung der politischen Institutionen, Parteien und intermediären Orga-
nisationen sowie der Frage, ob gesellschaftliche Eliten in Konflikten mit anderen
Teileliten das Militär umwerben und hierdurch als innenpolitischen Machtfaktor
aufwerten. Letzteres ist besonders hinderlich f€ur die Institutionalisierung ziviler
Kontrolle, „denn eine Armee, die umworben wird, ist eine Armee die schwer zu
reformieren ist“ (Serra 2010, S. 239).
Ordnung und dem Beitrag des Militärs zur Staats- oder Regimegr€undung. Internatio-
nale Faktoren und das regionale Umfeld spielen ebenfalls eine Rolle. Wichtig ist
ferner, ob es Diktatoren gelingt, zivile Eliten f€ur das Regime zu kooptieren, ihre
Fähigkeit zur Legitimation des eigenen Herrschaftsanspruchs gegen€uber den Herr-
schaftsunterworfenen sowie das Maß an Repression, mit dem Herrscher auf Legitima-
tionsl€
ucken reagieren und ob sie hierzu das Militär einsetzen. Von Bedeutung ist
zudem, wie Diktatoren versuchen, das Militär zu kontrollieren oder einen stabilen
Modus der Machtteilung zu gewährleisten. In Frage kommen verschiedene, in der
Literatur mitunter verk€urzt als „Putschprävention“ („Coup-proofing“, Quinlivan
1999) bezeichnete Strategien. Zu den robusten, tief in die Machtsphäre des Militärs
eingreifenden Maßnahmen gehört die Aufstellung alternativer bewaffneter Verbände
zum Schutz des Regimes, die Förderung von Konkurrenz um politische oder wirt-
schaftliche „Renten“ unter Offizieren sowie der Aufbau eines umfassenden Über-
wachungssystems. Dazu zählt auch die Rekrutierung der oberen Offiziersränge vor-
nehmlich aus Angehörigen jener Gesellschaftsgruppen, die auch die Spitzen des
Regimes stellen, die Schaffung eines Indoktrinationssystems, um die Wertvorstellun-
gen des Militärs denen des Regimes anzugleichen, oder die Gewährung von Privile-
gien und Karrierechancen in Staat und Wirtschaft im Tausch f€ur regimekonformes
Verhalten (Powell 2012). Aktuelle Analysen der j€ungsten Aufstände im Nahen und
Mittleren Osten zeigen, dass der Mix dieser Strategien einen wichtigen Beitrag liefert
zur Erklärung der unterschiedlichen Reaktionsweisen des Militärs in den arabischen
Staaten (Makara 2013; Frisch 2013; Albrecht, Croissant und Lawson 2015). Ge-
naueres wird aber erst gesagt werden können, wenn Untersuchungen zur Funktion
und Stellung von Militärs in Autokratien vorliegen, die sowohl aktueller also auch
methodisch und theoretisch versierter als die derzeit verf€ugbaren Studien sind. Diese
Forschungsl€ucke zu schließen, ist eine dringliche Aufgabe f€ur die Politikwissenschaft.
Die Gestaltung der Beziehungen von Staat, Gesellschaft und Streitkräften ist ein
zentrales Ordnungsproblem in allen politischen Systemen, die €uber militärische
Organisationen verf€ugen. Die theoretische und empirische Analyse des Verhältnis-
ses von Militär und Politik steht im Zentrum der vergleichend-politik-
wissenschaftlichen Forschung. Untersuchungsgegenstand eines Großteils der
Forschungsliteratur ist in der ein oder anderen Form die von Feaver (1996) als
„civil-military problematique“ charakterisierte Herausforderung, sowohl starke In-
stitutionen der politischen Kontrolle des Militärs und anderer bewaffneter Dienste zu
etablieren und gleichzeitig sicherzustellen, dass die Akteure des Sicherheitssektors
in die Lage versetzt werden, effektiv den Schutz und die Sicherheit der B€urger zu
gewährleisten (Ag€uero 2009: 59). Die konkrete Ausformung dieser Herausforde-
rungen in der Realität und welche Fragestellungen sich daraus f€ur die Vergleichende
Politikwissenschaft ergeben variieren mit dem Charakter der politischen Ordnung,
den Merkmalen der Gesellschaft, in der die Streitkräfte eingebettet sind, und den
potentiellen oder akuten Sicherheitsproblemen, denen sich Nationalstaaten
Zivil-militärische Beziehungen in der Vergleichenden Politikwissenschaft 793
gegen€ uber sehen. In den etablierten Demokratien der Kern-OECD-Welt steht die
zweite Facette der zivil-militärischen Problematik – die Gewährleistung effektiver
Sicherheit – im Vordergrund, während in jungen Demokratien oder Staaten im
Übergang von der Diktatur zur Demokratie die Institutionalisierung effektiver Me-
chanismen demokratischer Kontrolle mindestens im gleichen Maße, häufig aber
stärker noch, die politische Agenda prägt. Auch in autoritären Regimen wird man
unterscheiden m€ ussen. So kann zwar kein Diktator gegen das eigene Militär regie-
ren. Wie prominent die Stellung von Militäreliten in der Regimekoalition ist, hängt
jedoch von einer Vielzahl von Faktoren ab. Wiederum hat dies Auswirkungen auf
die konkrete politikwissenschaftliche Forschung. So ist die Analyse der Urspr€unge,
Formen und Konsequenzen von Militärherrschaft f€ur große Teile der Forschung €uber
zivil-militärische Beziehungen außerhalb der OECD-Welt lange Zeit ein dominantes
Thema gewesen, nicht aber f€ur jenen Forschungszweig, der sich mit Militär und
Sicherheitspolitik in den kommunistischen Einparteien-Diktaturen der Warschauer
Pakt-Staaten beschäftigte. Es kommt auch nicht von ungefähr, dass in der auf
Lateinamerika bezogenen Forschung, die einen Schwerpunkt der vergleichenden
Analyse zivil-militärischer Beziehungen bildete, kaum €uber das Verhältnis von
Militär, Politik und Gesellschaft im sozialistischen Kuba geschrieben wurde.
Auffällig und f€
ur die Perspektiven der komparativ-politikwissenschaftlichen For-
schung besonders relevant ist jene eigent€umliche Schieflage der Forschungsliteratur,
welche nach einer vorr€ubergehenden Hochphase der Beschäftigung mit Militär und
Diktatur in den letzten Jahrzehnten fast ausschließlich die zivil-militärischen Bezie-
hungen in (jungen) Demokratien untersucht hat. Es bleibt zu hoffen, dass die ver-
gleichende Autoritarismusforschung stärker noch als bisher die Institution des Mi-
litärs und die Bedeutung der Beziehungen von Militär und politischer F€uhrung f€ur
die Persistenz und Performanz autokratischer Herrschaft in den Blick nehmen wird.
Dabei sollten Politikwissenschaftler weniger auf die „klassischen“ Fragen der Coup-
Ursachen-Forschung oder Analyse von Militärregimen fokussieren, sondern viel-
mehr die Rolle des Militärs in autoritären Politikprozessen („authoritarian politics“;
Frantz und Ezrow 2011) und deren Relevanz f€ur die Erklärung der spezifischen
Politik- und Performanzprofile autoritärer Herrschaft in den Blick nehmen. Welche
kausalen Prozesse hier wirken und inwieweit dies zur Persistenz autokratischer
Herrschaft beiträgt, wurde bislang kaum systematisch erkundet.
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Innere Sicherheit in der Vergleichenden
Politikwissenschaft
Georg Wenzelburger
Zusammenfassung
Die Politik der Inneren Sicherheit ist aus politikwissenschaftlicher Sicht
bisher nur wenig untersucht worden. Dabei zeigt sich eine durchaus beachtliche
Varianz der Policies im Vergleich westlicher Industriestaaten. Der Beitrag nimmt
diese zwischenstaatlichen Unterschiede zum Ausgangspunkt, und zeigt – nach
einer konzeptionellen Einordnung zentraler Begriffe – mithilfe mehrerer
Indikatoren auf, dass sich bei einem zwischenstaatlichen Vergleich der
Policies der Inneren Sicherheit gewisse Länderfamilien abbilden. Diese ähneln
bekannten Typisierungen der vergleichenden Policy-Forschung, wie etwa dem
Families-of-Nations-Konzept. In einem zweiten Schritt diskutiert der Beitrag
unter R€uckgriff auf den Forschungsstand, wie sich die Gemeinsamkeiten und
Unterschiede zwischen den Staaten erklären lassen. Er plädiert dabei f€ur ein
politikwissenschaftliches Erklärungsmodell, das sowohl sozio-ökonomische
Kontextvariablen als auch die politischen Akteure und ihre Ideologie sowie das
sie umgebende institutionelle Umfeld in die Analyse einbezieht.
Schlüsselwörter
Innere Sicherheit • Law and Order • Policy-Forschung • Kriminalpolitik
G. Wenzelburger (*)
Juniorprofessor f€ur Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Politische Ökonomie, Fachgebiet
Politikwissenschaft, TU Kaiserslautern, Kaiserslautern, Deutschland
E-Mail: georg.wenzelburger@sowi.uni-kl.de
In regelmäßigen Abständen r€uckt die Politik der Inneren Sicherheit ins Zentrum der
politischen Debatte. Sei es in Folge von Gewalttaten, nach terroristischen Anschlä-
gen oder im Zuge der Aufdeckung krimineller Netzwerke – politische Akteure
reagieren häufig schnell und öffentlichkeitswirksam mit Forderungen nach schärf-
eren Gesetzen oder konkreten Vorschlägen zur, so zumindest die Rhetorik, Verbes-
serung der Inneren Sicherheit1. Während diese Reaktionsmechanismen quasi auto-
matisch in allen westlichen Demokratien abzulaufen scheinen (zum Zusammenhang
zwischen Sicherheitsgef€uhl und Sicherheitspolicies: vgl. Pratt 2007), ist sowohl das
Ausmaß der tatsächlichen Gesetzesänderungen wie auch das Niveau des staatlichen
Eingriffs in Freiheitsrechte im Namen der Sicherheit sehr unterschiedlich (zu Anti-
Terror-Gesetzen: vgl. Epifanio 2011; f€ur einen allgemeinen Überblick: vgl. Wenzel-
burger 2014). Diese zwischenstaatliche Varianz ist f€ur vergleichende Politikwissen-
schaftler ein untersuchenswertes Phänomen und bildet den Ausgangspunkt f€ur
diesen Aufsatz.2
Angesichts der wiederkehrenden Prominenz des Themas in der öffentlichen und
politischen Debatte ist es verwunderlich, dass sich die politikwissenschaftliche
Analyse der Politik der Inneren Sicherheit insbesondere aus einer empirisch-
vergleichenden Perspektive eher zur€uckhaltend entwickelt hat. Auch heute gilt in
großen Teilen noch immer die Einschätzung von Marie Gottschalk (Gottschalk
2008, S. 237): „Political scientists have traditionally left the study of crime and
punishment to the criminologists“. Um sich einen Überblick €uber den Forschungs-
stand zur Inneren Sicherheit zu verschaffen, m€ussen Forscher also auf die Arbeiten
in unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen zur€uckgreifen – und zwar insbeson-
dere auf die Studien von Kriminologen, Juristen, politischen Philosophen und
Soziologen, die Fragen der Inneren Sicherheit aus ihrer jeweiligen disziplinären
Tradition untersucht haben. Während die politische Philosophie insbesondere die
Balance zwischen Sicherheit und Freiheit in den Blick genommen hat (Jenkins-
Smith und Herron 2009; Riescher 2010; Waldron 2003, 2006), fokussierten Juristen
auf die rechtlichen Grundlagen (der Ausweitung) der Sicherheitsgesetzgebung
(Denninger 2008; Frankfurter Rundschau 2000; Hassemer 2002) und stritten
€uber Konzepte wie das „Feindstrafrecht“ (Jakobs 1985; 2010). Kriminologen
wiederum untersuchten unter anderem die Gr€unde f€ur Unterschiede in der
Kriminalität, Sanktionspraxis und Gefangenenraten in verschiedenen Ländern
1
F€ur hilfreiche Kommentare bedankt sich der Verfasser bei Helge Staff und Mathis Petri.
2
Dieser Aufsatz beschränkt sich auf die Untersuchung der Politik der Inneren Sicherheit in ent-
wickelten Demokratien, also etwa in den OECD-Mitgliedsstaaten. Der Grund hierf€ ur liegt in der
Tatsache begr€undet, dass die Politik der Inneren Sicherheit z. B. in Entwicklungs- und Schwellen-
ländern und insbesondere in fragilen Staaten andere Dynamiken aufweist, weil es in diesen Ländern
häufig zunächst um die Herstellung bzw. Sicherung eines Mindestmaßes an Innerer Sicherheit geht.
Beispiele f€ur Studien in diesen Kontexten sind etwa Brock et al. (2012) sowie Hills (2000) zu
Fragen der Sicherheit in fragilen Staaten oder Dammert (2012) sowie M€ uller (2012) zur Rolle von
Innerer Sicherheit in den Schwellenländern Lateinamerikas.
Innere Sicherheit in der Vergleichenden Politikwissenschaft 799
(D€unkel et al. 2010; Tonry 2007), und Soziologen analysierten etwa Bestimmungs-
faktoren von Kriminalitätsfurcht (Farrall et al. 2009; Hale 1996; Hummelsheim
et al. 2011; LaGrange und Ferraro 1989).
Die politikwissenschaftliche Forschung beschränkt sich schließlich hauptsächlich
auf die Analyse der institutionellen Ausgestaltung des Politikfelds der Inneren
Sicherheit und der damit verbundenen Kompetenzabgrenzungen und -verschiebun-
gen – etwa im deutschen Bundesstaat (Beste 1983; Endreß 2013; Lange 1999), im
europäischen Kontext (Glaeßner und Lorenz 2005) oder auch im Vergleich zu
anderen Nationalstaaten (Oldopp 2012). Daneben setzt sich die Forschung mit
dem Sicherheitsbegriff und dessen Erweiterung in räumlicher und sachlich-
inhaltlicher Hinsicht auseinander (Daase 2010; Heinrich und Lange 2008).
Empirisch-vergleichende Studien der Policies der Inneren Sicherheit sind hingegen
rar, weshalb auch dieser Aufsatz im Folgenden häufig auf die vergleichenden
kriminologischen Studien in diesem Bereich zur€uckgreift (Cavadino und Dignan
2006, 2014; Lacey 2008, 2012; Tonry 2007).
Angesichts der dargestellten Disparität des empirisch-vergleichenden For-
schungsstandes zur Politik der Inneren Sicherheit hat der vorliegende Beitrag zwei
Zielsetzungen. Er vermisst erstens das Politikfeld der Inneren Sicherheit empirisch
und zeigt dabei die Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Ländervergleich auf.
Zweitens diskutiert er darauf aufbauend die Ergebnisse des Forschungsstands mit
Blick auf die Frage, wie die vorliegende zwischenstaatliche Varianz in der Politik der
Inneren Sicherheit erklärt werden kann.
Sicherheit‘ etwas eigenartig Vages anhaftet, so dass darunter jeder etwas anderes
versteht“ (Widmer 1995, S. 11). Ein Grund hierf€ur mag darin liegen, dass sich
auch die politische Philosophie, welche die Begriffe unserer Disziplin prägt, mit
dem Sicherheitsbegriff lange Zeit nur in Abgrenzung zum Freiheitsbegriff
(Jenkins-Smith und Herron 2009; Riescher 2010; Waldron 2003), nicht jedoch in
Bezug auf seine eigenständige Bedeutung beschäftigt hat. Jeremy Waldron (2006)
hat auf dieses Manko hingewiesen und eine Begriffsbestimmung erarbeitet, die
zwischen „pure safety“ (keine Bedrohung f€ur Leib und Leben) und einem ver-
tieften und verbreiterten Sicherheitskonzept unterscheidet, das auch Fragen der
gef€uhlten Sicherheit und der Bedrohung der Lebensweise aufnimmt. F€ur die
konzeptionelle Eingrenzung hilft diese Begriffsbestimmung deshalb weiter, weil
sie darauf hinweist, dass sich der Kern der Inneren Sicherheit auf Fragen der
Kriminalitätsbekämpfung (also der „pure saftey“) bezieht, dass unter Innere
Sicherheit jedoch – je nach gewählter Abgrenzung – auch die Dimension des
Sicherheitsgef€ uhls fallen kann oder, noch weitergehend, die Frage, ob ein Staat
seinen B€ urgern die Möglichkeit zusichert, ihren „way of life“ zu verwirklichen
(Waldron 2006, S. 506).3
Mit dieser Differenzierung des Sicherheitsbegriffs nach der Breite des Konzepts
lässt sich auch eine Querverbindung zum „erweiterten Sicherheitsbegriff“ ziehen,
der die urspr€ unglich analysierte militärische und nationale Sicherheit sowohl um
neue Sachdimensionen (ökologisch, ökonomisch, humanitär) als auch räumlich
verbreitert (von nationaler Sicherheit zur globalen Sicherheit) (Chandler 2008;
Daase 2010). F€ ur die Analyse der Policies der Inneren Sicherheit ist aus dieser
Debatte insbesondere die Einsicht relevant, dass Innere Sicherheit heute nicht mehr
ohne transnationale Phänomene wie zum Beispiel den internationalen Terrorismus
oder globale Cyberkriminalität zu denken ist, die Aktivitäten auf nationaler und –
und das ist die entscheidende Erweiterung – auch auf internationaler Ebene nach sich
ziehen. Die Bemerkung des ehemaligen Verteidigungsministers Peter Struck,
wonach die Sicherheit Deutschlands „nicht nur, aber auch am Hindukusch ver-
teidigt“ wird (Deutscher Bundestag 2004, S. 8601), steht hier geradezu exempla-
risch f€
ur die Verbindung beider Politikfelder.
Welche R€ uckschl€usse lassen sich aus diesen konzeptionellen Erwägungen f€ur die
Eingrenzung des Forschungsfelds zur Politik der Inneren Sicherheit und der empiri-
schen Analyse der staatlichen Policies ziehen? Erstens ergibt sich aus der konzep-
tionellen Diskussion, dass zum Kern der Politik der Inneren Sicherheit die Kriminal-
politik gehört – also etwa Gesetze im Bereich des Strafrechts. Dar€uber hinaus
spricht, zweitens, Vieles f€ur eine Einbeziehung von Policies, die primär auf die
Verbesserung des Sicherheitsgef€uhls der Bevölkerung abzielen (Albrecht 2007;
Glaeßner 2003, S. 31) und z. B. polizeirechtliche Maßnahmen wie die Verlagerung
von polizeilicher Ermittlungsarbeit ins Vorfeld der Kriminalität einschließen. Drit-
tens hat die Diskussion der konzeptionellen Grundlagen gezeigt, dass Policies im
Rahmen der Terrorbekämpfung zwar eng mit der Politik der Inneren Sicherheit
verbunden sind, jedoch Abgrenzungsentscheidungen nötig werden, weil sich
Anti-Terror-Policies häufig auch auf Fragen der äußeren Sicherheit und damit
auf den Bereich der Außen- und Verteidigungspolitik beziehen. Wo hier die Trenn-
linie im Hinblick darauf gezogen wird, was noch bzw. was nicht mehr zur genuinen
Politik der Inneren Sicherheit zählt, hängt stark von der Stoßrichtung der jeweiligen
Untersuchung ab (f€ur eine mögliche Abgrenzung: vgl. Epifanio 2011). In der
folgenden vergleichenden Analyse der Politik der Inneren Sicherheit wird die
Grenze an dieser Stelle etwas enger gezogen und solche sicherheitsrelevanten
Policies von der Analyse ausgeschlossen, die sich primär auf die Terrorbekämpfung
außerhalb des Territoriums des jeweiligen Nationalstaats beziehen.
F€ur eine Policy-Analyse der Politik der Inneren Sicherheit ist die konzeptionelle
Verortung und Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes ein wichtiger, erster
Schritt. Strebt man jedoch eine empirische Vermessung und Analyse des Politikfelds
an, ist ein zweiter Schritt notwendig, der Innere Sicherheit als Policy-Problem defi-
niert und damit die „konkrete Politik“ (Schmidt 1988, S. 1) ins Zentrum r€uckt
(Wenzelburger 2013, S. 5–6). Folglich bezieht sich die abhängige Variable einer
Policy-Analyse weder auf die institutionelle Ausgestaltung des Politikfelds (hierzu
z. B. Lange 1999), noch auf Kompetenzabgrenzungen unterschiedlicher Akteure in
Mehrebenensystemen (Oldopp 2012) oder auf die Diskurse zum Thema Sicherheit
(hierzu die vielen Studien zur Versicherheitlichung: z. B. Buzan et al. 1998). Viel-
mehr geht es bei einer Analyse der Policies um die konkret beobachtbare Staats-
tätigkeit, also um staatliche Maßnahmen z. B. in Form von Gesetzen oder Verord-
nungen, die sich mit Fragen der Inneren Sicherheit in der oben entwickelten
Abgrenzung beschäftigen. Diese lassen sich nach ihrer Wirkungsweise auf einem
Kontinuum zwischen repressiv und liberal verorten (Kitschelt 1994: S. 8–39;
Schmidt 2010, S. 359). Damit sind die Ausprägungen festgelegt, welche Policies
der Inneren Sicherheit annehmen.
Empirische Untersuchungen zur Politik der Inneren Sicherheit haben die ab-
hängige Variable, also die Politik der Inneren Sicherheit (je nach Disziplin mit
teilweise unterschiedlichen Bezeichnungen), meist €uber einen der folgenden f€unf
Indikatoren operationalisiert: €uber die Gesetzgebung (z. B. Newburn 2007), die
Sanktionspraxis der Gerichte (z. B. D€unkel et al. 2010), die Gefangenenrate
(z. B. Downes und Hansen 2006; Sutton 2000, 2004), das Polizeipersonal
(z. B. Tepe und Vanhuysse 2013), oder aber die Staatsausgaben (z. B. Norris 2007;
Wenzelburger 2014). Alle diese f€unf Operationalisierungen lassen sich mit
der oben abgeleiteten Definition der Politik der Inneren Sicherheit in
Verbindung bringen, auch wenn sie jeweils unterschiedliche Bereiche der Policies
abbilden (ausf€ uhrlich zu den einzelnen Messkonzepten: Wenzelburger 2013:
S. 6–9).
802 G. Wenzelburger
Die Analyse der Gesetzgebung stellt eine sehr direkte Messung des Policy-Output
dar, weil sie die legislative Aktivität im Politikfeld der Inneren Sicherheit aufnimmt,
also die „konkret messbare Regulierungs- und Steuerungsaktivitäten des Staates“
(Knill et al. 2010, S. 417) beschreibt. Allerdings blendet der Fokus auf die
Gesetzgebung das Verhalten der Akteure im Justizsystem aus. Staatsanwälte können
auf Basis der gleichen faktischen gesetzlichen Lage unterschiedlich harte Strafen
fordern und Richter unterschiedlich scharf urteilen, was schließlich zu einem ab-
weichenden Policy-Outcome (z. B. gemessen durch Gefangenenraten) f€uhren kann.
Wählt man die Sanktionspraxis der Gerichte als abhängige Variable, so gilt umge-
kehrt, dass dadurch zwar der legislative Policy-Output nur indirekt gemessen wird
(Urteile basieren auf der gesetzlichen Grundlage), mögliche Veränderungen der
Rechtsprechung jedoch Eingang in die Messung finden. Eine kriminologische
Parallele findet dieser empirische Zugang im theoretischen Konzept der „juridical
punitivity“, das sich mit Veränderungen der Sanktionspraxis beschäftigt (Kury
et al. 2004). Die Gefangenenrate nimmt den Policy-Outcome im Politikfeld der
Inneren Sicherheit auf und wird sowohl durch die Sanktionspraxis der Gerichte als
auch durch Gesetzgebung beeinflusst. Polizeipersonal d€urfte f€ur die Außendarstel-
lung von Politikern eine wichtige Bezugsgröße darstellen, „[because] changes in
police employment figures are easy for politicians to communicate and for voters to
register“ (Tepe und Vanhuysse 2013, S. 169). Entsprechend bietet sich die Zahl der
Polizeibeamten als Indikator insbesondere dann an, wenn der Einfluss (partei-)
politischer Faktoren untersucht wird. Auch ländervergleichende Untersuchungen
sind mit diesen Daten möglich, da sie f€ur eine Reihe von Staaten (und Jahren)
vorliegen. Allerdings ist der Indikator sicherlich nicht erschöpfend, da sich die
Politik der Inneren Sicherheit in Form von Gesetzen wandeln kann, ohne dass sich
die Zahl der Polizisten ändert. Ein sehr globales Maß f€ur die Politik der Inneren
Sicherheit sind schließlich die Staatsausgaben, da diese Größe von allen zuvor
genannten Indikatoren beeinflusst wird. Insofern sind Staatsausgaben ein guter
Kennwert, um einen ersten sehr allgemeinen Eindruck von der Entwicklung der
Policies in einem Land oder im Ländervergleich zu erhalten. Allerdings gilt auch f€ur
die Staatsausgaben, dass sie nicht alle Veränderungen im Bereich der Politik
der Inneren Sicherheit erfassen. Insbesondere regulative Entscheidungen, die keine
budgetäre Wirkung entfalten, werden nicht abgebildet, wenn man Staatsausgaben
analysiert.
Diese kurze Darstellung möglicher empirischer Zugänge zur Politik der Inneren
Sicherheit4 zeigt sehr deutlich, dass unterschiedliche Indikatoren zur Auswahl
stehen, um das Politikfeld zu vermessen. Aus Sicht der vergleichenden Policy-
Forschung d€ urften neben den Staatsausgaben insbesondere die Gesetzgebung und
das Polizeipersonal relevant sein, während vor allen Dingen die Sanktionspraxis
4
Nicht diskutiert habe ich in diesem Abschnitt Indikatoren des Policy-Outcome – wie etwa das
Sicherheitsgef€uhl oder die Sicherheitslage (z. B. Kriminalitätsrate), die traditionelle Untersu-
chungsgegenstände der Kriminologie sind und an dieser Stelle aufgrund der großen kausalen
Distanz zu politikwissenschaftlichen Erklärungsansätzen nicht behandelt werden.
Innere Sicherheit in der Vergleichenden Politikwissenschaft 803
Worin unterscheiden sich die Policies der Inneren Sicherheit der westlichen Indust-
riestaaten? Und welche Tendenzen lassen sich €uber die Zeit feststellen? Greift man
zur Klärung dieser Fragen zunächst auf die Gefangenenrate, die Staatsausgaben
sowie die Zahl der Polizisten in einem Land als makro-quantitative Indikatoren
zur€uck, zeigt sich eine deutliche Varianz zwischen den hier exemplarisch ausge-
wählten Ländern (vgl. Abb. 1). Zunächst zu den Unterschieden im Querschnitt: Hier
liegt Norwegen bei allen drei Indikatoren deutlich unter dem OECD-Schnitt, wäh-
rend in Großbritannien erkennbar mehr f€ur öffentliche Ordnung und Sicherheit
ausgegeben wird als im Mittel der OECD-Länder und auch etwas mehr Menschen
inhaftiert sind als im Durchschnitt. Deutschland nimmt bei diesen beiden Indikato-
ren eine Mittelposition ein, während in der Bundesrepublik €uberdurchschnittlich viel
Polizeipersonal eingestellt ist. Allerdings ist zumindest bei letzterem Indikator die
Vergleichbarkeit wegen unterschiedlicher Zählweisen in den Staaten leicht einge-
schränkt. Dies gilt jedoch nicht, wenn man die Entwicklung der Indikatoren €uber die
Zeit in den einzelnen Ländern betrachtet. Hier fällt bei der mittleren Gefangenenrate
eine deutliche Steigerung im Beobachtungszeitraum auf, die auf einen bedeutsamen
Anstieg in Großbritannien und in den USA zur€uckgeht. Gleiches gilt f€ur die Staats-
ausgaben, die in Großbritannien deutlich gewachsen sind. Im Gegensatz dazu
herrscht in Deutschland wie in Norwegen große Konstanz (bzw. sogar ein leichter
R€uckgang der Ausgaben in Norwegen). Unter dem Strich fallen die zwischenstaat-
lichen Unterschiede größer aus als die Variation €uber die Zeit. Einzig bei der
Gefangenenrate ist ein gewisser Anstieg zwischen 1995 und 2008 zu beobachten.
Auf Basis der drei Indikatoren ist es mithilfe einer Clusteranalyse auch
möglich zu bestimmen, ob sich manche Staaten hinsichtlich ihrer Politik der
Inneren Sicherheit ähnlicher sind als andere. Betrachtet man zunächst die Niveaus
(gemessen € uber die Mittelwerte der drei Variablen f€ur den Beobachtungszeitraum),
zeigen sich – unabhängig von den jeweils verwendeten Distanz- und Ähnlichkeits-
maßen – drei Ergebnisse (vgl. Abb. 2, links): Erstens gruppieren sich die Länder
tendenziell zu vier Clustern: Im ersten Cluster befinden sich s€udeuropäische
Länder: Spanien, Italien und Portugal; das zweite Cluster besteht aus den vier
kontinentaleuropäischen Ländern Frankreich, Belgien, Deutschland und Österreich
sowie Irland. In der dritten Ländergruppe vereinigen sich die beiden skandinavi-
schen Länder Dänemark und Norwegen sowie Luxemburg. Und zuletzt ergibt sich
ein viertes, etwas heterogeneres Cluster, das seinerseits aus zwei Subgruppen be-
steht (Neuseeland, Schweden und Finnland auf der einen und die Schweiz, die
Niederlande sowie Kanada und Australien auf der anderen Seite). Zweitens macht
804 G. Wenzelburger
0.5
0
1995
1996
1997
1998
1999
2000
2001
2002
2003
2004
2005
2006
2007
2008
Gefangenenrate (100 000 EW)
160
140
120
100
80
60
40
1995
1996
1997
1998
1999
2000
2001
2002
2003
2004
2005
2006
2007
2008
300
250
200
150
100
1995
1996
1997
1998
1999
2000
2001
2002
2003
2004
2005
2006
2007
2008
USA
UK
Spain
Portugal
Italy
France
Belgium
Ireland
Germany
Austria
Luxembourg
Norway
Denmark
New Zealand
Sweden
Finland
Netherlands
Canada
Switzerland
Australia Niveaus (Mittelwerte)
0 2 4 6
USA
Switzerland
Sweden
Germany
Canada
Finland
Norway
Austria
Portugal
France
Denmark
Spain
Ireland
Luxembourg
Belgium
New Zealand
UK
Netherlands
Australia Veränderung (Anfang−Ende)
0 1 2 3 4 5
die Clusterung deutlich, dass die USA einen ganz eigenständigen Weg gehen, was
angesichts der im Nationenvergleich völlig aus dem Rahmen fallenden Gefangenen-
rate nicht verwundert. Zudem ist auch Großbritannien unabhängig und gruppiert
sich erst spät zum kontinentaleuropäischen und s€udeuropäischen Cluster. Und
drittens lässt sich inhaltlich festhalten, dass das mediterrane Cluster die höchsten
Werte in allen drei Indikatoren aufweist, während die Länder in Cluster 3 eher
wenig ausgeben, inhaftieren und Polizisten einstellen (vgl. Obere Tabelle in
Abb. 2).
806 G. Wenzelburger
5
Aufgrund der doch relativ heterogenen Cluster (vgl. Standardabweichungen) ist bei der folgenden
Interpretation eine gewisse Zur€
uckhaltung geboten.
Innere Sicherheit in der Vergleichenden Politikwissenschaft 807
Der Forschungsstand zur Politik der Inneren Sicherheit erweist sich als verhältnis-
mäßig disparat, was insbesondere daran liegt, dass Forscher aus unterschiedlichen
wissenschaftlichen Traditionen mit den jeweils disziplineigenen theoretischen sowie
methodischen Zugängen die Politik der Inneren Sicherheit untersucht haben. Dabei
€
uberwiegen die kriminologischen Analysen (Cavadino und Dignan 2006; Downes
und Hansen 2006; D€unkel et al. 2010; Norris 2009; Smit et al. 2008; Snacken 2010;
Tonry 2007; Young und Brown 1993), während Studien mit einem genuin politik-
wissenschaftlichen Bezug eher rar sind (Ausnahmen in der deutschsprachigen Lite-
ratur: Busch 2007, 2010; Glaeßner 2010). Der folgende Überblick €uber den For-
schungsstand zielt darauf ab, diese Vielzahl unterschiedlicher Analysen zu
systematisieren. Die Systematisierung erfolgt anhand der kausalen Distanz des
jeweiligen Erklärungsansatzes zum Policy-Output.6 Auf diese Weise lassen sich drei
Arten von Erklärungen unterscheiden: Zum einen Ansätze, welche die Unterschiede
in der Politik der Inneren Sicherheit auf umfassende Trends zur€uckf€uhren – etwa auf
die Entwicklung einer Risikogesellschaft (Beck 2011; Singelnstein und Stolle 2012);
Zum zweiten Erklärungen, die am politischen Kontext ansetzen, in dem politische
Entscheidungen getroffen werden und zum Beispiel politische Institutionen wie das
Wahlsystem f€ ur zwischenstaatliche Unterschiede verantwortlich machen (Lacey
2010); Und zum dritten Ansätze, die auf die politischen Akteure fokussieren und
deren Ideologie bzw. deren parteipolitische Ausrichtung zum Ausgangspunkt neh-
men (Wenzelburger 2014).
Erklärungen der Politik der Inneren Sicherheit durch umfassende Trends lassen sich
in drei Subgruppen unterteilen: Strukturfunktionalistische Theorien argumentieren,
dass verschiedene ökonomische und soziale Bedingungen die Policies der Inneren
Sicherheit beeinflussen. Rezession und Arbeitslosigkeit (Chiricos und Delone 1992;
Rusche und Kirchheimer 1968), höhere Kriminalitätsraten (Bottoms 1995; Gott-
fredson und Hindelang 1979) oder die Wahrnehmung eines solchen vermeintlichen
Anstiegs durch die Mittelklasse (Garland 2001) wurden insbesondere von der
Kriminalsoziologie daf€ur verantwortlich gemacht, dass sich ein Land schärfere
sicherheitspolitische Gesetze gibt. Zunehmende Globalisierung und die damit ver-
bundene Verbreitung des neoliberalen Kapitalismus wurden ebenfalls als Ursache
f€ur repressivere Politik identifiziert (Downes 2011; Garland 2001; Muncie 2011),
wobei unterschiedliche kausale Mechanismen diskutiert werden: Erstens wird argu-
mentiert, dass die Globalisierung ökonomische Unsicherheit insbesondere auf dem
6
Eine solche Betrachtungsweise findet sich zum Beispiel in einem der klassischen Modelle der
Policy-Forschung bei Hofferbert (1974).
808 G. Wenzelburger
Der direkte politische Kontext, in dem politische Akteure €uber Policies der Inneren
Sicherheit entscheiden, spielt eine gewichtige Rolle in mehreren Erklärungsansät-
zen. Mikrosoziologische Erklärungen gehen davon aus, dass eine direkte Verbindung
zwischen den Einstellungen der B€urger (Kontext) und Policy-Entscheidungen be-
steht (Roberts et al. 2003). Katherine Beckett (1997, S. 15) nennt diesen Zusam-
menhang daher treffend die „democracy-at-work“-These, zeigt aber gleichzeitig
auch auf, dass die Kausalität ebenso in die umgekehrte Richtung verlaufen kann,
wenn nämlich Politiker die öffentliche Meinung beeinflussen7. Dass die historische
und kulturelle Tradition eines Landes politische Entscheidungen prägt, wird von
Forschern wie Savelsberg (2011) anerkannt und kann als Pfadabhängigkeit von
Policies interpretiert werden. Eng mit dieser Einsicht verbunden sind auch Erklä-
rungen der Inneren Sicherheitspolitik mithilfe von Regimeansätzen, nach denen die
spezifische Organisation des kapitalistischen Systems (z. B. nach dem Varieties-of-
Capitalism-Ansatz: vgl. Lacey 2008) oder die Struktur des Wohlfahrtsstaates (Ca-
vadino und Dignan 2006) die Staatstätigkeit im Politikfeld der Inneren Sicherheit
beeinflussen und auf einmal eingeschlagenen Policy-Pfaden halten. Daneben
wird auch Interessengruppen, etwa Opferschutz-Verbänden, ein Einfluss auf die
7
Ein weiterer wenn auch nicht politischer Kontextfaktor sind die budgetären Rahmenbedingungen
(vgl. dazu Tepe und Vanhuysse 2013; Wenzelburger 2014). Je nach budgetärem Handlungsspiel-
raum ist es f€ur Politiker mehr oder weniger gut möglich, repressivere Sicherheitspolitik umzusetzen,
da auch rein regulativer Politik letztendlich budgetäre Effekte haben kann (z. B. aufgrund steig-
ender Inhaftierungsraten) (Gottschalk 2010).
Innere Sicherheit in der Vergleichenden Politikwissenschaft 809
Obwohl umfassende Trends wie auch der politische Kontext die Überlegungen
politischer Akteure beeinflussen, sind es am Ende die Akteure selbst, die sich f€ur
oder eine neue gesetzliche Regelung entscheiden: „[H]uman beings have to act for
there to be a policy“ (Hofferbert 1974, S. 226). Entsprechend r€ucken die Präferenzen
dieser Akteure in den Mittelpunkt – auch bei der Erklärung der Politik der Inneren
Sicherheit. Zentraler Ansatzpunkt der Forschungen ist dabei traditionellerweise die
parteipolitische Ausrichtung der Akteure (in der Regel der Regierung). Und in der
Tat weist der Forschungsstand einen Zusammenhang zwischen der politischen
Ideologie amtierender Regierungen und Policy-Outputs nach (Wenzelburger
2014), wobei die ideologische Achse nicht einer wirtschaftspolitischen Links-
Rechts-Dimension folgt, sondern eher einer gesellschaftspolitischen Dimension,
die liberale von autoritärer Programmatik unterscheidet.9
8
Dass Mehrheitswahlsysteme freilich nicht immer zur beschriebenen Dynamik f€ uhren, wird in
diesem Zusammenhang nicht weiter betrachtet.
9
Exemplarisch lässt sich dies an vielen europäischen liberalen Parteien zeigen (Laver und Hunt
1992; Pappi und Shikano 2004).
810 G. Wenzelburger
Unabhängig vom Einfluss der parteipolitischen Ideologie auf die Policies unter-
suchen einige Studien jedoch auch die Entwicklung der Parteiprogrammatik. Insbe-
sondere Fallstudien zu den USA und Großbritannien haben gezeigt, dass die ideo-
logischen Positionen der großen Parteien zum stärker autoritären Pol auf besagter
Achse wandern (Downes und Morgan 2007; Farrall und Jennings 2012, S. 468;
Medina-Ariza 2006, S. 183; Morgan 2006; Newburn 2006, 2007). Roberts
et al. (2003, S. 161) beschreiben den Grund f€ur diese Dynamik wie folgt: „It is the
fear of being seen as ‚soft on crime‘ – or at least as being softer than one’s political
opponents – rather than a commitment to ‚out-tough‘ them that tends to drive
politicians to the extremes of penal excess.” Dass der politische Kontext und
insbesondere das Wahlsystem sowie der sich daraus ergebende Parteienwettbewerb
diese Tendenz zu schärferer Sicherheitsgesetzgebung beschleunigen kann, verdeut-
licht die Arbeit von Lacey (2008).
4 Fazit
Die Politik der Inneren Sicherheit fristet bisher ein Schattendasein in der vergleich-
enden Policy-Forschung. Dennoch ist die Staatstätigkeit in diesem Politikfeld durch
große zwischenstaatliche Unterschiede gekennzeichnet, die eine Erklärung erfor-
dern. Dieser Beitrag hat nach einer konzeptionellen Einordnung des Untersuchungs-
gegenstandes anhand von drei makro-quantitativen Indikatoren dargestellt, wie die
Unterschiede im Ländervergleich aussehen. Interessanterweise zeigen sich gewisse
Ländercluster,10 die bekannten Konzepten aus der vergleichenden Politikforschung
ähneln – etwa dem Families-of-Nations-Konzept (Castles 1993).
Diese empirisch beobachtbaren Muster werfen die Frage nach möglichen Erklä-
rungen auf. Durchforstet man den Forschungsstand, der stärker durch Untersuchun-
gen aus der Kriminologie bzw. der Soziologie als durch politikwissenschaftliche
Analysen geprägt ist, finden sich zahlreiche unterschiedliche Erklärungen. Sie
basieren meist auf einzelnen Fallstudien oder einem Vergleich weniger Staaten und
differenzieren kaum zwischen einer Erklärung der zeitlichen Dynamik und einer
Erklärung der zwischenstaatlichen Varianz. Ebenso unterschiedlich ist die kausale
Distanz, welche die einzelnen Ansätze zum Policy-Output einnehmen. Eine politik-
wissenschaftliche Erklärung der Policies der Inneren Sicherheit tut daher gut daran,
diese Unterschiede in der Perspektive der Ansätze – von großen Theorien, die
umfassende Trends identifizieren, zu akteurspezifischen Erklärungen – in Rechnung
zu stellen und danach zu fragen, wie die kausalen Pfade aussehen d€urften, die
letztlich den Policy-Outcome hervorbringen. Dass dabei politische Entscheidungs-
träger ebenso eine Rolle spielen d€urften wie Institutionen und gesellschaftlicher
Wandel, ist vorherzusehen. Die Herausforderung f€ ur die zuk€unftige Forschung liegt
darin, die Interaktionen zwischen den unterschiedlichen möglichen Einflussfaktoren
10
Dies gilt stärker f€ur die zwischenstaatlichen Unterschiede im Niveau, weniger f€
ur die Betrachtung
der Entwicklung (also: der Veränderung) der Politik der Inneren Sicherheit € uber die Zeit.
Innere Sicherheit in der Vergleichenden Politikwissenschaft 811
herauszuarbeiten. Eine Voraussetzung hierf€ur ist jedoch auch, dass auf Seiten der
abhängigen Variablen – also den Policies der Inneren Sicherheit – noch umfang-
reichere und international vergleichbare Daten insbesondere zur Gesetzgebung in
den einzelnen Ländern vorliegen.
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Entwicklungspolitik: in der Vergleichenden
Politikwissenschaft
Christof Hartmann
Zusammenfassung
Entwicklungspolitik als Gegenstand der vergleichenden Politikwissenschaft ist
ein neues Forschungsfeld. Die andauernde Unklarheit €uber den Gegenstandsbe-
reich der Entwicklungspolitik wie auch der Umstand, dass entwicklungspoliti-
sche Maßnahmen sich im Wesentlichen an Zielgruppen in weit entfernten Län-
dern richten, und ihre Implementierung und Zielerreichung daher nur schwer
dokumentiert werden kann, erschweren die systematische und vergleichende
Untersuchung. Das Aufkommen der sogenannten Neuen Geber macht eine ver-
gleichende Betrachtung von Entwicklungspolitik zwar noch lohnenswerter als
zuvor, stellt die Forschung aber vor große methodische Herausforderungen.
Immerhin wird die starke Prägung der Entwicklungspolitik durch b€urokratische
Strukturen und politische Institutionen in Geber- wie auch Empfängerländern
auch weiterhin Ausgangspunkt f€ur vergleichende Fragestellungen sein.
Schlüsselwörter
Entwicklungspolitik • Entwicklungszusammenarbeit
1 Einleitung
C. Hartmann (*)
Professor f€ur Internationale Politik und Entwicklungspolitik, Institut f€
ur Politikwissenschaft,
Universität Duisburg-Essen, Duisburg, Deutschland
E-Mail: christof.hartmann@uni-due.de
Sinne als ‚Entwicklungspolitik‘ definiert werden soll, wie auch u€ber G€utekriterien
der Entwicklungszusammenarbeit.
Im Zeitverlauf ist es etwa bei der Definition von (öffentlichen) Leistungen als
Entwicklungszusammenarbeit zu Diskussionen dar€uber gekommen, ob Militär- und
Polizeihilfe, humanitäre Hilfe, Schuldenerlass, oder die Kosten f€ur Asylbewerber/
innen oder Studierenden aus Entwicklungsländern als ‚Entwicklungspolitik‘ angese-
hen werden sollen. Im Mittelpunkt dieser umstrittenen Definition der Entwicklungs-
politik standen freilich weniger akademische Kontroversen, sondern der politische
Versuch, möglichst viele staatliche Leistungen als entwicklungsrelevant anzuerken-
nen, hatte doch eines der wichtigsten G€utekriterien (neben der Notwendigkeit einer im
Vergleich zu Marktbedingungen g€unstigeren Finanzierung) darin bestanden, dass sich
die bilateralen Geberländer im UN-Rahmen seit 1970 grundsätzlich dazu verpflichtet
hatten, 0,7 % ihres BSP/BNE f€ur entwicklungspolitische Leistungen aufzuwenden
(OECD 1984). Von Anfang an bestimmte daher weniger die tatsächliche Eignung von
Politik zur Verbesserung der Lebensbedingungen in Entwicklungsländern die ent-
wicklungspolitischen Debatten als vielmehr der Umfang von Mittelfl€ussen, die an
der volkswirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Geberländer bemessen wurde.
Im Mittelpunkt dieser offiziellen Entwicklungszusammenarbeit (ODA) standen
bilaterale und multilaterale Geberorganisationen. Bilaterale Geber sind die staat-
lichen Entwicklungsbehörden der westlichen Industrieländer, während multilaterale
Geber internationale Organisationen (in der Regel als Teil des UN-Systems) oder
regionale zwischenstaatliche Organisationen sind (wie die EU oder regionale Ent-
wicklungsbanken), die aus eigenen Mitteln oder denen ihrer Mitgliedsländer eben-
falls Entwicklungsprojekte und -programme finanzieren.
In den westlichen Industrieländern ist es historisch zu unterschiedlichen institu-
tionellen Ausprägungen des entwicklungspolitischen Systems gekommen, was zu
Unterschieden sowohl bei der vertikalen als auch horizontalen Koordination von
Entwicklungspolitik gef€uhrt hat. Auf der horizontalen Ebene unterscheiden sich
Staaten insbesondere danach, ob sie ein eigenes der Entwicklungspolitik gewidme-
tes Ministerium aufweisen, oder ob Entwicklungspolitik durch das Außenministe-
rium mit abgedeckt wird. Damit einhergehen unterschiedliche Rollenzuweisungen
in den Partnerländern, wo entwicklungspolitische Anliegen durch die Botschaften
oder Außenstellen von Entwicklungsagenturen wahrgenommen werden. Abwei-
chend von der in Deutschland seit Jahren gef€uhrten Debatte um den drohenden
Ansehensverlust, der mit der Auflösung eines eigenständigen Ministeriums verbun-
den wäre (etwa Nuscheler 2006), zeigt der internationale Vergleich, dass entwick-
lungspolitische Anliegen unter dem Dach des Außenministeriums durchaus gut
vertreten werden können. Allerdings bestehen Schnittmengen einer weit verstanden
Entwicklungspolitik nicht nur zu unterschiedlichen Teilbereichen der Außenpolitik,
sondern auch zu einer Vielzahl anderer Ressorts, etwa dem Wirtschafts-, Finanz-,
Agrar-, Umwelt- oder Bildungsministerium, so dass die Herausforderung horizonta-
ler Koordination nicht durch die Eingliederung der Entwicklungspolitik in das
Außenressort allein gelöst werden kann (Brombacher 2009; OECD 2014).
In vertikaler Hinsicht weisen die Geberländer noch weitaus größere Unterschiede
in der Verteilung von Aufgaben und Kompetenzen auf. Deutschland galt €uber
818 C. Hartmann
OECD-Kriterien f€ur Entwicklungshilfe entsprochen hätten. F€ur viele neue Geber wie
Indien, T€urkei oder China, die selbst vor z. T. noch großen Entwicklungsproblemen
stehen, ist die Vergabe von Krediten ganz unmittelbar verkn€upft mit nationalen Politi-
ken der Rohstoffsicherung, der Außenwirtschafts- und Außenpolitik. Der Fokus auf
Armutsbekämpfung, der bei der Entwicklungspolitik der OECD-Länder oft im Mittel-
punkt steht, verliert bei den neuen Gebern daher an Bedeutung (Dreher et al. 2011).
Die ‚neuen‘ Geber stellen damit zugleich das im OECD-Kontext entwickelte
‚enge‘ Verständnis von Entwicklungspolitik als ‚Entwicklungshilfe‘ in Frage. Eine
Öffnung des Begriffs der Entwicklungspolitik war allerdings zuvor auch in der
OECD-Welt erfolgt, wenn auch mit anderer Stoßrichtung. Die seit den 1970er-Jahren
von Dependenztheoretikern propagierte Idee, dass Entwicklungsziele nicht primär in
den Entwicklungsländern, sondern hauptsächlich durch Veränderung der globalen
Rahmenbedingungen erreicht werden könnte, erlebte seit den 1990er-Jahren in einer
moderaten Variante eine neue Konjunktur. In Deutschland wurde eine solche ‚weit‘
verstandene Entwicklungspolitik nach dem Machtwechsel zur rot-gr€unen Regierung
1998 unter dem Schlagwort der ‚globalen Strukturpolitik‘ zum offiziellen Leitbild der
Entwicklungspolitik, ohne dass in der Praxis von der Schwerpunktsetzung bei der
Projekt- und Programmarbeit in den Entwicklungsländern abgegangen worden wäre.
Von der ‚Versicherheitlichung‘ (Maihold 2005) bis zu den Sustainable Development
Goals (Loewe 2012) ist die direkte Verkn€upfung von lokalen Entwicklungsprozessen
mit politischen und wirtschaftlichen Veränderungen im internationalen System immer
wieder unterstrichen worden. Die Annahme, Entwicklungspolitik sei im Wesent-
lichen eine entwicklungsförderliche Form globalen Regierens, m€usste allerdings auch
zu entsprechenden institutionellen Anpassungen f€uhren, damit die Priorisierung ent-
wicklungspolitischer Ziele bzw. generell die Kohärenz im außenpolitischen Handeln
garantiert ist (Ashoff 2009; Messner und Faust 2012).
Ebene eines Projektziels mit angemessenen Indikatoren messen. Der Erfolg von
Maßnahmen wird dabei jedoch in der Regel nicht im Vergleich zu anderen Projekten
oder einem abstrakt definierten Vergleichsmaßstab untersucht, sondern entlang der
zu Beginn der Intervention festgelegten spezifischen Projektziele. Einer guten Ziel-
formulierung liegt zwar in der Regel eine Hypothese €uber Ursache und Wirkung von
Maßnahmen zugrunde. Die Evaluierung von Projekten befasst sich dann in der
Regel damit, die Zielerreichung zu bestimmen und mehr oder weniger explizit die
G€ultigkeit einer zuvor festgelegten kausalen Wirkungshypothese zu belegen (Hem-
mer 2010; Caspari und Barbu 2008). In der letzten Dekade kommt es allerdings
vermehrt zu experimentellen Untersuchungsdesigns, bei denen der Erfolg eines
Projekts durch systematischen Vergleich mit einer Kontrollgruppe ohne entspre-
chende Intervention gepr€uft wird (Banerjee und Duflo 2011). Diese aufgrund des
großen damit verbundenen Aufwands eher beispielhaft betriebenen Formen der
Evaluierung haben ebenfalls das primäre Ziel, nachzuweisen was wirkt oder nicht.
Die Kritik an der Evaluierungspraxis der entwicklungspolitischen Organisationen
entz€undete sich an dem Umstand, diese gäben sich mit der Erreichung der selbst
formulierten Projektziele zufrieden, ohne zur Kenntnis zu nehmen, dass auf der
gesamtgesellschaftlichen Ebene bei wichtigen Entwicklungsindikatoren €uberhaupt
keine oder nur geringe Fortschritte zu beobachten waren (sog. Mikro-Makro-Parado-
xon). Seit Beginn der 1990er-Jahre befasste sich eine stark vergleichende und quan-
titativ ausgerichtete Forschung folglich mit den Determinanten der Effektivität von
Entwicklungszusammenarbeit auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene (Hansen und
Tarp 2001). In dieser Literatur ging es allerdings primär um den Vergleich unter-
schiedlicher Empfängerländer, d. h. einer Untersuchung der Frage, ob der Umfang
der geleisteten €
uber alle Geber hinweg aggregierten Zahlungen mit Verbesserungen
bei Pro-Kopf-Einkommen oder anderen sozio-ökonomischen Indikatoren korrelierte.
Folglich konzentrierte sich die Forschung dann auch stark auf Variablen auf Empfän-
gerseite wie Governance, armutsorientierte Politik oder Absorptionsfähigkeit.
Im entwicklungspolitischen Diskurs wurden auch mehrere Gr€unde f€ur eine unzu-
reichende Effektivität von Entwicklungszusammenarbeit angef€uhrt, die auf Geber-
seite liegen (Birdsall 2008). In der sog. Pariser Erklärung wurden fehlende Koordi-
nation unter Gebern, sowie fehlender Harmonisierung untereinander und mit den
Empfängerregierungen als wesentliche Ursache diagnostiziert (OECD 2005). Die
Forschung hat das Problem fehlender Koordination nicht nur in der Abstimmung
verschiedener Geberländer, sondern auch in den strukturellen Bedingungen und
Handlungsanreizen innerhalb von mit Entwicklungspolitik befassten b€urokratischen
Organisation von Ministerien und dem Pluralismus von Institutionen gesehen (Faust
2013; Lundsgaarde 2013b).
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Medienpolitik in der Vergleichenden
Politikwissenschaft
Zusammenfassung
Das Kapitel stellt Medienpolitik als Politikfeld vor, relevante Akteure, Institutio-
nen und Organisationen sowie die zentralen Strukturen und Prozesse. Dargestellt
werden, auch perspektivisch, Zugänge der vergleichenden Forschung im Feld.
Dabei wird die handlungsprägende Heterogenität erörtert und in ihrer feldspezifi-
schen Relevanz f€ur die Politikwissenschaft besprochen. Die Analysen kennzeich-
nen sich dabei nach wie vor durch ihre nationalstaatliche Orientierung. Allerdings
entwickelt sich in der Netzpolitik ein Forschungsfeld, in dem auch komparative
inter- und transnationale Untersuchungsanlagen an Bedeutung gewinnen.
Schlüsselwörter
Vergleichende Medienpolitik • Medienpolitik • Media Governance • Kommuni-
kationspolitik • Medienregulierung • Netzpolitik
1 Begriffe
Medienpolitik ist jenes Handeln, das auf die Herstellung und Durchsetzung ver-
bindlicher Entscheidungen zur Organisation, Funktionssicherung und Ausgestaltung
von Mediensystem und medienvermittelter öffentlicher Kommunikation gerichtet ist
(Dreyer 2006, S. 223–224; Puppis 2007, S. 34). Sie richtet sich auf die ‚klassischen‘
K. Kamps (*)
Professor f€ur Kommunikationswissenschaft, Hochschule der Medien Stuttgart, Stuttgart,
Deutschland
E-Mail: kamps@hdm-stuttgart.de
F. Marcinkowski
Professor f€ur Kommunikationswissenschaft, Institut f€
ur Kommunikationswissenschaft, Universität
M€unster, M€unster, Deutschland
E-Mail: frank.marcinkowski@uni-muenster.de
Medien – Presse, Rundfunk und Fernsehen –, das Internet als „neue“ mediale
Plattform sowie die Telekommunikation. Medienpolitik konstituiert sich systema-
tisch als Ordnungspolitik, Infrastrukturpolitik, Medien-Organisationspolitik, Perso-
nalpolitik sowie Programm- und Informationspolitik (Schatz et al. 1990; Jarren
1998, S. 616; Sarcinelli 2005, S. 32).
Bei der Findung und Legitimation medienpolitischer Entscheidungen sind meist
Akteure und Organisationen beteiligt, die in einem engen Verständnis nicht dem
politischen System zuzuordnen sind: Intermediäre Institutionen wie Verbände, die
Kirchen, Organe der Selbstregulation, Stiftungen u. Ä. Daher ist vermehrt auch von
Media Governance die Rede – ein Begriff, der institutionelle Regelungsstrukturen
(wie Ko- oder Selbstregulierung) umfasst und medienpolitisches Handeln nicht mit
staatlichem Handeln gleichsetzt. Sie wird, wie andere Politikfelder, dem Wirkungs-
bereich eines vorwiegend korporatistisch organisierten politisch-administrativen
Systems zugeordnet (Jarren and Donges 1997, S. 234–235; Vowe 2003, S. 212).
Media Governance betont dar€uber hinaus in der politikwissenschaftlichen Konno-
tation (vgl. Benz 2004; Mayntz 2005, S. 15) institutionalisierte Formen der Ko-
orientierung von staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren zur kollektiven Rege-
lung medienbezogener Sachverhalte (vgl. Donges 2007a).
Gelegentlich ist statt von Medienpolitik oder Media Governance auch von Kom-
munikationspolitik die Rede (Wittkämper 1996; Sarcinelli 2005, S. 31). Damit ist in
der Regel ein breiteres Verständnis gesellschaftlicher Kommunikation gemeint, das
auch Individualkommunikation umfasst (Vowe 2003, S. 215). Steht die mediale
Kommunikation im Mittelpunkt – was €uberwiegend in der politischen Debatte der
Fall ist –, so ist der Begriff Medienpolitik gebräuchlicher.
Schließlich bleibt festzuhalten, dass Medienpolitik im €ublichen Verständnis nicht
mit ‚politischer Kommunikation‘ verwechselt werden sollte, die mit oder mittels
Medien politische Ziele durchsetzen und vermitteln möchte. „Sinnvollerweise kann
nicht (. . .) von Medienpolitik gesprochen werden, wenn es um Wirkungen von
Medien auf Politik geht oder wenn sich Politik der Medien bedient, sondern erst
dann, wenn es um Entscheidungen €uber mediale Kommunikation geht.“ (Vowe
2003, S. 213; Herv. i. O.)
Auf nationaler Ebene sind es zunächst Parlamente und Regierungen, die Entschei-
dungen im medienpolitischen Feld treffen. Allerdings charakterisiert Medienpolitik
sich nicht durch einen einzig politischen Zugriff: Beteiligt sind nicht-staatliche
Akteure, die eigene Ziele haben und Einfluss nehmen auf die Regeln und Organisa-
tion medialer Kommunikation und zum Teil in die Ko- und Selbstregulierung ein-
gebunden sind. Das betrifft die Intermediären, die Medienunternehmen, ihre Ver-
bände, Sozialverbände und mehr (vgl. Puppis 2007, S. 43).
Neben den Parlamenten und (Länder-)Regierungen mit ihren Ministerien – wobei
in Deutschland die Staats- und Senatskanzleien häufig medienpolitische Verantwor-
tung tragen (und das Feld ‚Chefsache‘ ist) – ist das Bundesverfassungsgericht ein
wichtiger medienpolitischer Akteur und hat bspw. die Meinungs-, Presse- und
Rundfunkfreiheit (so im „Spiegel-Urteil“ von 1966) zu einem eigenständigen Kom-
munikationsgrundrecht ausgestaltet oder das duale Rundfunksystem und die Be-
stands- und Entwicklungsgarantie der öffentlich-rechtlichen Sender näher bestimmt
(vgl. Wittkämper 1996, S. 10; Mai 2005, S. 28; Kops 2009).
Politische Akteure sind auch in den Rundfunk- und Medienräten der Länder zu
finden, die die öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunkanbieter kontrollieren.
Medienpolitik in der Vergleichenden Politikwissenschaft 829
Zwar sollen die Räte die Gesellschaft spiegeln. Deshalb sind intermediäre
Institutionen wie die Kirchen, Gewerkschaften und Sozialverbände dort vertreten.
Faktisch sind die Gremien gleichwohl parteipolitisch geprägt, weil u. a. Parlamente
und Regierung eigene Entsendungsrechte besitzen (vgl. Humphreys 1996, S. 152;
Dreyer 2006, S. 224).
Der Bund und die Länder sitzen in unterschiedlicher Konstellation auch in den
Verwaltungsräten der öffentlich-rechtlichen Sender. Der Beauftragte der Bundes-
regierung f€ ur Kultur und Medien konzentriert sich derzeit auf Filmpolitik und neu-
erdings auf die Netzpolitik. Die Länderregierungen wiederum koordinieren ihre
Rundfunkpolitik € uber die Rundfunkkommission der Länder, in der die Rundfunk-
referenten der Regierungen wichtige Vorarbeiten leisten und der Ministerpräsiden-
tenkonferenz (MPK) vorlegen. Faktisch handelt die MPK als Rundfunkkommission,
wenn sie sich mit Medienfragen beschäftigt.
Die Landesmedienanstalten haben die Aufgabe, die privaten elektronischen Me-
dien zu kontrollieren. Dar€uber setzen sie auch z. B. durch Fördermaßnahmen,
Informationsveranstaltungen und -medien sowie in der Arbeitsgemeinschaft der
Landesmedienanstalten (ALM) medienpolitische Akzente. 1996 wurde die Kom-
mission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich (KEK) gebildet, die als
Beschlussorgan der Landesmedienanstalten Fragen der Sicherung der Meinungs-
vielfalt durch private Rundfunkanbieter behandelt. Die Kommission f€ur Jugend-
medienschutz (KJM) ist ähnlich mit den Landesmedienanstalten assoziiert und setzt
sich auf der Grundlage eines Staatsvertrages mit inhaltlichen Fragen des Jugend-
medienschutzes bei den privaten Rundfunkveranstaltern auseinander.
Demgegen€ uber werden die 16 Mitglieder der Kommission zur Ermittlung des
Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten (KEF) direkt von den Ministerpräsidenten der
Länder bestellt. Sie berichten den Länderparlamenten und geben (mit Blick auf die
Wirtschaftlichkeit und den Rundfunkauftrag) Empfehlungen zur Höhe der Rund-
funkgeb€ uhren, die f€ur die öffentlich-rechtlichen Sender erhoben werden.
F€ur die Telekommunikation ist die Bundesnetzagentur zu nennen, die unter
bundesministerieller Aufsicht den Telekommunikationsmarkt beobachtet und ande-
ren Aufgaben nachkommt, etwa als „Wurzelbehörde“ des Signaturgesetzes, das
heißt sie pr€uft und akkreditiert Anbieter von elektronischen Signaturen.
Dar€uber hinaus sind noch Interessensgruppen medienpolitisch tätig – so der
Verband Privater Rundfunk und Telemedien (VPRT), der sich nach der Einf€uhrung
des dualen Rundfunksystems 1985 als Gegenpart der öffentlich-rechtlichen Medien
etablierte. Hinzu kommen weitere Verbände – der Kabelanbieter, der Filmschaf-
fenden oder der Journalisten (vgl. Dreyer 2006, S. 225).
Schon dieser national konzentrierte Abriss zeigt: Der medienpolitische Sektor ist
fragmentiert, horizontal wie vertikal, was Entscheidungsfindungen zuweilen er-
schwert. Das Feld ist nicht einer Entscheidungsebene zuzuordnen – was sich ob
des Kulturföderalismus und der Hoheit des Bundes €uber Telekommunikation viel-
leicht vermuten ließe: Bund und Länder sowie nicht-politische Akteure sind betei-
ligt, vor allem wenn sich die Produktion, Verbreitung und Anwendung von Kom-
munikationsinhalten nicht eindeutig der Telekommunikation oder dem Rundfunk
zurechnen lassen (bspw. Teleshopping oder Auskunftsdienste; vgl. Mai 2005,
830 K. Kamps und F. Marcinkowski
Bei komparativ angelegten medienpolitischen Analysen lassen sich grob zwei Zugänge
unterscheiden: einer, der in einer Makro-Perspektive Kommunikationsverfassungen
von Ländern vergleicht, einer, der in einer Meso- oder Mikro-Perspektive stark fall-
bezogen wenige Länder und konkrete Forschungsobjekte betrachtet, etwa Regulie-
rungsstrukturen und/oder -handeln in einem spezifischen Mediensektor. Im Folgenden
skizziert eine exemplarische Beschreibung einiger Studien die Variation vergleichender
Anlagen in der medienpolitischen Analyse (vgl. Kleinsteuber 2003, S. 389–395).
Die einflussreichsten Studien auf der Makroebene d€urften die Four Theories of
the Press von Siebert et al. (1956) sein sowie die Folgestudie von Hallin und
Mancini (2004). Sie typologisieren Journalismuskulturen – als Folge medienpoliti-
schen Handelns und manifester Grundsatzentscheidungen. Hallin und Mancini
gehen von vier Variablen aus, die f€ur die Ausgestaltung eines nationalen Medien-
systems prägend sind: 1) Die Struktur des Pressemarktes. 2) Der Grad der Politi-
sierung von Massenmedien. 3) Der Grad der Professionalisierung des Journalismus.
4) Die Einflussnahme durch den Staat (Regulierungsgrad, Grad der Subventionie-
rung). Mit Hilfe dieser vier Kategorien werden drei Mediensystemmodelle unter-
schieden, auf die sich die reale Vielfalt der Medienordnungen in den OECD-Staaten
reduzieren lässt: das „polarisiert-pluralistische“, das „demokratisch-korporatisti-
sche“, das „liberale“ Mediensystem (Hallin und Mancini 2004, S. 69-79). Im pola-
risiert-pluralistischen Modell ist der Einfluss der Politik auf die Medien groß: €uber
Gremien der Rundfunkanbieten, einen hohen Grad an ideologischem Parallelismus
in der Presse oder ein hohes Maß an Subventionierung, Regulierung u. Ä. Der
Professionalisierungsgrad des Journalismus ist geringer. Etwa Spanien, Portugal,
Italien (teils auch Frankreich) werden diesem Modell – mit graduellen Unterschie-
den – zugeordnet. Auch im demokratisch-korporatistischen Modell dominiert Poli-
tik (weniger bei den Printmedien, die dem ökonomischen Sektor zugeschrieben
werden). F€ ur den politischen Einfluss bei den elektronischen Medien gilt meist eine
politics-in-broadcasting-Struktur, in der wichtige gesellschaftliche Gruppen an der
Steuerung der Medien beteiligt sind. Trotz eines Einflusses der Politik, der €uber das
832 K. Kamps und F. Marcinkowski
punkte komparativer Ansätze bilden könnten (vgl. Donges und Puppis 2010, S. 93):
1) die physische Infrastruktur, 2) die logische Struktur, 3) die Inhalte.
Die physische Infrastruktur (‚physical layer‘) umfasst die Hardware und Distri-
butionsnetze. Hier ergeben sich z. B. Fragen des Netzzuganges: Ob etwa der Staat –
wie in der Schweiz seit 2008 – einen Zugang zu Breitbandnetzen als Grundversor-
gung definiert oder dies (und der Ausbau des Netzes) mit allen Folgen („digital
divide“) dem Wettbewerb €uberlassen wird.
Die logische Struktur (‚code‘) meint beispielsweise Internet-Protokolle wie TCP
oder IP und ihre Koordinierung respektive Verwaltung (z. B. IP-Adressen). Hier haben
sich bereits internationale Kooperationen der Selbst- und Ko-Regulierung ergeben.
Die Schicht der Inhalte (‚content layer’) ist der derzeit vielleicht brisanteste
politische Sektor der Netzpolitik. Hier geht es konkret darum, ob und wenn ja wie
welche illegalen und schädlichen Inhalte verbreitet werden – oder ob nicht das Netz
staatliche Regulierungsmaßnahmen von vorneherein unmöglich macht. Die im
Wettbewerb stehenden Provider sowie Social Networks-Unternehmen spielen in
diesem Kontext eine besondere Rolle (vgl. die Beiträge in Hachmeister und
Anschlag 2013).
Von einer komparativen Netzpolitikforschung kann also derzeit nur in Ansätzen
gesprochen werden. In der Kommunikationswissenschaft ist die vergleichende Ana-
lyse von Struktur-, Aggregat- und Nutzerdaten im “content layer“ weit verbreitet –
explizit medienpolitische Elemente werden dabei weitgehend ignoriert. Während auf
der Systemebene die Frage der globalen Netzarchitektur und ihre Verwaltung eine
Rolle spielt (vgl. Puppis 2007), so sind die policies in der Netzregulation und die
Einbindung von Wettbewerbern Gegenstand komparativer Netzpolitik (z. B. Eko
2001, 2008). Interessanterweise ergibt sich mit der Netzpolitik nun auch auf der
Eben der politics ein Sektor vergleichender Forschung: Die (relativen) Erfolge von
z. B. den Piraten in Deutschland (ähnlich eben auch andernorts) haben gezeigt,
welche auch parteipolitische Brisanz in sozialen, kulturellen oder ökonomischen
Gestaltungszielen im Netz liegt. Insofern könnte hier €uber System- und Regulations-
vergleiche hinaus das Feld selbst zum Objekt komparativer Studien machen.
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Technologiepolitik in der Vergleichenden
Politikwissenschaft
Roland Czada
Zusammenfassung
Der internationale Vergleich von Technologiepolitik zeigt signifikante Unter-
schiede in der Schwerpunktbildung sowie der Höhe und Struktur der Ausgaben
f€
ur Forschung und Entwicklung. Sie sind von hochgradiger Pfadabhängigkeit
gekennzeichnet. Außerdem trägt nur eine Minderheit hoch entwickelter Industrie-
staaten zur Mehrzahl technologischer Innovationen bei. Im Vergleich dieser
Länder erweisen sich historisch geronnene Strukturmerkmale der Wirtschafts-
organisation und der staatlichen Technologieadministration sowie die Relation
von staatlichen Subventionen zu privatwirtschaftlichen Finanzierungsanteilen als
maßgebliche Determinanten der Technologiepolitik und ihrer Erfolgsbilanz.
Schlüsselwörter
Technologiepolitik • Forschung • Entwicklung • Deutschland • USA • Europä-
ische Union • Politische Ökonomie
R. Czada (*)
Professor f€ur Staat und Innenpolitik, Institut f€
ur Sozialwissenschaften, Universität Osnabr€
uck,
Osnabr€uck, Deutschland
E-Mail: roland.czada@uni-osnabrueck.de
Auf der Basis einer von Hilbert und López (2011) vorgelegten Auszählung der
Kapazitätsentwicklung gängiger Medientechnologien zur Übertragung und Aufbe-
wahrung von Bild, Film, Ton und Text wird angenommen, dass seit 2002 weltweit
mehr Informationen digital verf€ugbar sind als im Analogformat. Das Datum markiert
den Übergang vom Gutenbergzeitalter in eine Zukunft digitaler Medien und Kommu-
nikationsformen. Der Begriff einer von elektronischer Datenverarbeitung bestimmten
Dritten Technologischen Revolution war bereits Ende der 1980er-Jahre geprägt wor-
den. Daniel Bell (1989: S. 164 f.) beschreibt sie als eine auf die Mechanisierung,
Elektrifizierung und Chemisierung folgende industrielle Entwicklungsphase, in der
Elektronik, Miniaturisierung, Digitalisierung, Computer und Softwareprodukte die
Arbeits- und Lebensweisen umwälzen und dabei eine „Informationsgesellschaft“
hervorbringen. Bell sah voraus, dass Information als immaterielles Gut keine normale
Handelsware darstellt. Da sie auch nach ihrer Weitergabe verf€ugbar und beliebig
reproduzierbar bleibt, wirft sie eigentums- und handelsrechtliche Fragen auf. Infor-
mation besitzt Merkmale eines öffentlichen Gutes und Tendenzen zur Monopolisie-
rung, die mit gängigen Eigentumsverhältnissen und Marktvorstellungen nicht kompa-
tibel sind und daher Probleme politischer Regulierung aufwerfen (Eimer 2007; Haunss
2013). Was die fr€uhe Debatte zur Informationsgesellschaft noch nicht erahnte, ist die
mit der Verbreitung von digitalen Netztechnologien einhergehende Möglichkeit einer
ständigen Kontrolle der Nutzung und der Nutzer von Information.
Anders als in dem auf technische Artefakte und deren Herstellung gerichtete Tech-
nikdiskurs der fr€uhen Nachkriegsjahrzehnte r€uckten spätestens mit der Jahrtausend-
wende immaterielle G€uter, Wissen und der Umgang mit Information in den Vorder-
grund.1 Die erfolgreichsten und teuersten Unternehmen der Welt besitzen keine Fabriken
mehr. Der Wert von Apple, Google, Microsoft, Facebook besteht €uberwiegend aus
Software, Konstruktionsplänen, Patenten einschließlich der Organisationsressourcen
und Governance-Institutionen, die diese immateriellen G€uter eigentumsrechtlich absi-
chern. Je mehr Wissenskapital, Universitäten, Hochschulabsolventen, Patente und
Unternehmen ohne Fabrikation ( fabless companies) ein Land besitzt und je mehr es
diese zu sch€ utzen weiß, eine umso größere Technikkompetenz kann es sich nun
zuschreiben.2 Die Software- und Halbleiterindustrie entwickelte sich so im Verein mit
Informations- und Kommunikationstechnologien zum R€uckgrat aller Industriebranchen.
Nahezu jedes intelligente Produkt basiert inzwischen auf technologischen Grund-
fertigkeiten und Netzg€utern, die in der Form von Wissenskapital auf wenige, hoch
entwickelte Industriestaaten konzentriert sind. In ihnen sind die institutionelle und
1
Dies wird auch in der Außenhandelspolitik erkennbar. Freihandelskonflikte, wie sie im Rahmen
der Doha-Runde, der TRIPS-Vereinbarung (Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights)
oder der TITIP-Verhandlungen (Transatlantic Trade and Investment Partnership) zutage traten,
stehen zunehmend im Zusammenhang mit geistigen Eigentumsrechten insbesondere im Bereich
von Riskotechnologien, und Arzneimittelpatenten.
2
Die OECD verwendet eben diese Indikatoren zur Erfolgsmessung nationaler Innovationssysteme
(OECD 2015).
Technologiepolitik in der Vergleichenden Politikwissenschaft 841
Deutschland Frankreich
31.962 17.541
UK - 13.744
Japan - 34.679
Italien - 11.085
Spanien - 8.355
Kanada - 7.736
Niederlande - 5785
Australien - 4.501
USA - 132.477
3
Der Begriff ‚Triadische Patentfamilie‘ bezieht sich auf den sowohl beim Europäischen Patentamt,
dem US Trademark and Patent Office und dem Japanischen Patentamt f€ ur dieselbe Erfindung
beantragten und gewährten Patentschutz.
842 R. Czada
500
USA
450
400
350 EU (28)
VR China
Mrd. USD (PPP)
300
250
200
150
100 Deutschland
Südkorea
Frankreich
UK
Abb. 2 Entwicklung der Gesamtausgaben f€ ur Forschung und Entwicklung (in Mrd. US$–PPT).
Quelle: OECD (http://stats.oecd.org/Index.aspx?DataSetCode=MSTI_PUB. Zugegriffen am
22.02.2016). Grafik: Czada
4
Der Einkauf von Technologien setzt vorhandene Kapazitäten zu deren Weiterentwicklung, einem
freien Markt f€ur Unternehmen und Patente sowie die Publikation technologierelevanter For-
schungsergebnisse voraus. Tatsächlich betreiben viele Staaten ein systematisches globales Moni-
toring der Forschungs- und Technologieentwicklung, teils in offener Form, teils im Rahmen ver-
deckter, nachrichtendienstlicher Beobachtung (vgl. Everett 2013; Hannas et al. 2013; George 2014).
Technologiepolitik in der Vergleichenden Politikwissenschaft 843
0 1 2 3 4 5
Israel 4.25
Korea 4.03
Finnland 3.43
Japan 3.35
Dänemark 3.02
Schweiz 2.96
Deutschland 2.88
Österreich 2.81
USA 2.81
Slovenien 2.58
Frankreich 2.23
Estland 2.16
Singapur 2.02
Niederlande 1.97
VR China 1.95
Tschechien 1.79
Kanada 1.71
UK 1.63
Irland 1.58
Portugal 1.37 Regierung
Ungarn 1.27
Industrie
Spanien 1.27
Italien 1.26 Ohne Zuordnung
Russland 1.13
Türkei 0.92 Ausland
Polen 0.89
Slovakei 0.81
Südafrika 0.76
Griechenland 0.69
Argentinien 0.58
Rumänien 0.48
Chile 0.36
0 1 2 3 4 5
Nach den USA erf€ullen –mit deutlichem Abstand – nur noch Japan und einige
europäische Länder, insbesondere Deutschland, Frankreich und Großbritannien, die
institutionellen und materiellen Voraussetzungen zur Behauptung vorderer Rang-
plätze im globalen Technologiewettlauf. Außerhalb der OECD Welt sind in dieser
Größenordnung nur Russland und China erwähnenswert. Allerdings berichten beide
Länder nur Daten zu den jährlichen Gesamtausgaben f€ur Forschung- und Entwick-
lung. Sie sind insofern mit den in Abb. 1 enthaltenen Staatsausgaben nicht verglei-
chbar. Russland beziffert seine Gesamtaufwendungen auf 41 Mrd., die VR-China
auf 336 Mrd. US-Dollar (jeweils kaufkraftbereinigt 2013. OECD 2015). China hat
Deutschland in dieser Kategorie bereits 2003 €uberholt. Das Land ist in kurzer Zeit
auf den zweiten Platz der großen Forschungsnationen vorger€uckt und im Begriff die
Europäische Union als nach Nordamerika zweitstärkste Forschungsregion zu
€uberholen (Abb. 2). Bei den Schaubildern Abb. 1 bis 4 ist zu beachten, dass es sich
844 R. Czada
0 1 2 3 4 5
Die Frage nach den sozialen, kulturellen und politischen Voraussetzungen von
technischen Innovationen ist immer auch die Frage, warum sie an bestimmten Orten
und zu bestimmten Zeiten gemacht wurden und in welchen wechselseitigen Zusam-
menhängen sie zu sehen sind. Trotz aller Kontroversen – etwa dar€uber, inwieweit
fr€uhe technische Fortschritte Europas in kultureller Abgeschlossenheit oder im
Austausch mit den Zivilisationen des Orients verlaufen sind (Yazdani 2014) –
stimmen neuere Forschungsbeiträge darin €uberein, dass Kultur, Politik und das
Rechtswesen wesentlichen Einfl€usse auf die Entwicklung und Anwendung von
Technik aus€ ubten, und zugleich von diesen beeinflusst wurden (Yazdani 2014;
Landes 1998).
Der Zusammenhang von Technologie und Politik findet sich in Gestalt der
Förderung und Auswirkungen von Militärtechnik in allen politischen Gemeinwesen.
Ein Beispiel ist die Einf€uhrung der Hoplitenr€ustung, die im griechischen Altertum
zur Institutionalisierung von Wahlverfahren und damit zum Durchbruch der antiken
Demokratie f€ uhrte (Cartledge 1977; Salmon 1977; Bryant 1990). Das Pilum (Wurf-
spieß) und seine technologische Verfeinerung sind vielfach als Voraussetzung der
„Weltherrschaft“ des antiken Rom beschrieben worden (Campbell 2002).
Technologiepolitik erlangte erst mit der Industrialisierung einen neuen, insbeson-
dere ökonomischen und beschäftigungspolitischen Stellenwert. Ihre Missionsorien-
tierung zusammen mit Aufbau von Großforschungseinrichtungen begann im und
nach dem zweiten Weltkrieg. Zahlreiche technologische Durchbr€uche – die Fern-
sehtechnik, die Radarortung, Luftfahrttechnologien wie der D€usenantrieb, ein erster
Vorstoß in den Weltraum, neue Stahlsorten, die Kernspaltung und die Atombombe,
Kernreaktoren, die bald nach Kriegsende f€ur U-Bootantriebe und Kraftwerke ver-
f€
ugbar wurden, wirksame Antibiotika und die Verbreitung neuer Plastikwerkstoffe
gehen auf Entwicklungen der Jahre zwischen 1930 und 1945 zur€uck. In den meisten
Fällen standen massive staatliche Eingriffe und Fördermaßnahmen dahinter, die
nicht nur das Kriegsgeschehen beeinflussten, sondern dar€uber hinaus die industrielle
Nachkriegsentwicklung entscheidend prägen sollten.
Nach dem Zweiten Weltkrieg setzt sich die zu Kriegszeiten eingeschlagene
„Missionsorientierung“ fort, die sich auf wenige, f€ur besonders relevant gehaltene
und prestigeträchtige Großtechnologien konzentrierte (vgl. Tab. 1). In Westeuropa
entwickelten sich zu der Zeit grenz€uberschreitende Technologieprojekte zuerst in der
Kernenergieforschung gefolgt von der Luft- und Raumfahrtkooperation. Der Erhalt
der internationalen Wettbewerbsfähigkeit bestimmt ab Mitte der 1970 Jahre nicht
Tab. 1 Typen und Ansätze der Forschungs- und Technologiepolitik
Paradigma der
Schwerpunktsetzung Inhaltliche Ausrichtung Legitimationsmuster Institutionelle Rahmung
„Klassische“ „Großtechnologien“: R€ ustung, Luft- und Produktion von „öffentlichen“ und Zentrale Definition von Schwerpunkten,
Missionsorientierung Raumfahrt, Energie, utern.
„meritorischen“ G€ Schaffung von thematisch
Verkehrsinfrastrukturen, spezialisierten öffentlichen
Gesundheitstechnologien, u. a. Großforschungseinrichtungen.
Industriepolitische Informations- und Unterst€utzung der industriel len Versuch der besseren Planung,
Förderung von Kommunikationstechnologien, Wettbewerbsfähigkeit, behauptetes Technologievorschau,
Schl€
usseltechnologien Biotechnologie, Materialtechnologien, Marktversagen auf Grund von Technologiebewertung.
Umwelttechnologien, dynamischen und statischen Zunehmende Festschreibung von
Nanotechnologien, etc. Skaleneffekten (Größenvorteilen), Schwerpunkten in „Nationalen
große Spill-overs insbesondere von Technologieschwerpunktprogrammen“.
„generischen“ Technologien.
Systemische Ansätze Starke Betonung von funktionalen Verhinderung von „Systemversagen“ in Ausweitung der Zahl der Akteure
Schwerpunkten (Gr€ undungsförderung, der Interaktion unterschiedlicher (Finanzmarkt-Akteure, Normungs- und
Wissenschafts-Wirtschafts- Akteure und gesellschaftlicher Regulierungsinstitutionen,
kooperationen, Regulierung etc.), Subsysteme. Ausbildungseinrichtungen, etc.),
Transformation von thematischen zunehmende Ausdifferenzierung
Technologiepolitik in der Vergleichenden Politikwissenschaft
7 56 39
Staatliche Koordinaon
Etassche Steuerung
Zentralisierung der Technologiepolik
6 121
55
. 0,56
5
26 53
46
4 67
3 43
71
47
2 MARKT- ADMINISTRATIVER
WETTBEWERB PLURALISMUS
1 139
0
0 10 20 30 40 50 60
Staatsanteil an den Gesamtausgaben für Forschung und Entwicklung (Prozent)
Abb. 5 Administrative Struktur, Finanzierung und Erfolgsbilanz von Technologiepolitik. Die Blasen
repräsentieren die Anzahl triadischer Patente pro Million Einwohner als Erfolgsindikator der Techno-
logiepolitik. Die Regressionslinie zeigt, dass der Staatsanteil an den Gesamtausgaben f€
ur Forschung und
Entwicklung geringf€ugig mit Merkmalen der der politisch-administrativen Struktur zusammenhängt,
wobei allerdings administrative Zentralisierung zumeist mit hohen staatlichen Ausgabenanteilen ver-
bunden ist. Quellen: OECD (2015); NRC (2010); Kaiser (2008); Kitschelt (1994). Grafik: Czada.
Schmidt) vorgedacht (Hauff und Scharpf 1975; Mutert 2000) und ist – wie wir heute
wissen – zuerst in den USA, namentlich im Silicon Valley, verwirklicht worden.
Bei allen Unterschieden der Governance von Technologiepolitik besitzen alle
neueren technologischen Durchbr€uche gemeinsame technologische Grundlagen, wie
sie der russische Ökonom Nikolai Kondratieff in seiner industriellen Zyklentheorie
beschrieben hat (Kondratieff 1926). Der in den 1970er-Jahren einsetzende, f€unfte
Kondratieff-Zyklus umfasst die Mikroelektronik und Softwareindustrie, Informa-
tion- und Kommunikation, die wiederum die Herstellung und Anwendung vieler
Produkte zur€ uckliegender Kondratieff-Zyklen revolutionierten. Kondratieff-Zyklen
werden heute anhand ihrer Leittechnologien so interpretiert (Nefiodow 2006):
Dampfmaschine, Schwerindustrie, Textil (I. Kondratieff 1780–1830), Eisenbahn,
Stahl (II. Kondratieff 1830–1880), Elektrotechnik, Chemie (III. Kondratieff
1880–1930), Automobil, Petrochemie, Pharmazie, Atomkraft, Luft- und Raumfahrt
(IV. Kondratieff 1930–1970), Mikroelektronik, Information und Kommunikation
852 R. Czada
5
Zusammen repräsentieren sie acht Prozent der „triadischen Patente“, die von 1998 bis 2010
zugleich beim Europäischen Patentamt, dem US Patent Office und dem Japanischen Patentamt
erfolgreich angemeldet wurden. Indes stammen von diesen 611 403 Patenten allein 447 807 aus den
USA, Japan und Deutschland. Damit liegen 73,2 Prozent des f€ ur die gegenwärtige Technologie-
entwicklung relevantesten Wissenskapitals in nur drei Ländern.
Technologiepolitik in der Vergleichenden Politikwissenschaft 855
letztlich ein Bild extremer Ungleichheit, die von der sozialwissenschaftlichen For-
schung bislang kaum oder nur aus der Nutzer- und Konsumentenperspektive als
„Digitale Kluft“ (digital gap, digital divide) thematisiert wurde (Arnhold 2003). Die
Ungleichverteilung technologischer Produktivkräfte findet demgegen€uber erst j€ungst
im Rahmen von Patentkonflikten etwa im Arzneimittelbereich Beachtung (Eimer und
L€utz 2010). Auch in dieser Perspektive zeigt sich die umfassende Bedeutung dieses
‚Politikfeldes‘ als Gegenstand nationaler und regionaler, wettbewerbsorientierter
Entwicklungsstrategien und Teil der internationalen Politischen Ökonomie.
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856 R. Czada
Detlef Jahn
Zusammenfassung
Globalisierung ist ein Prozess der Staaten näher aneinander r€uckt. Die Ursachen dieses
Prozesses liegen in technologischen Innovationen und politischen Maßnahmen, die
eine Erleichterung des grenz€uberschreitenden Austauschs zwischen den Ländern
erlauben. Indem sich Länder durch Wettbewerb, Lernen, Nachahmung und zum Teil
auch durch Zwang an anderen Ländern orientieren, kann es zu einer Angleichung von
Politiken kommen oder auch zu politischen Prozessen, die die Politik in den einzelnen
Länder durch internationales Regieren (global governance) bestimmen.
Schlüsselwörter
Globalisierung • Interdependenz • Diffusion • Konvergenz • Global Governance
1 Einleitung
Globalisierung ist ein Begriff der in aller Munde ist. Er spielt im alltäglichen Leben,
der Politik und der Politikwissenschaft eine wesentliche Rolle. In fast allen Hand-
b€
uchern zur vergleichenden Politikforschung und den internationalen Beziehungen
sowie Einf€uhrungen in die Politikwissenschaft finden sich spezielle Abhandlungen
zum Thema Globalisierung (siehe etwa Bernauer et al. 2016; Zohlnhöfer 2015; Z€urn
2013). Dabei ist Globalisierung ein schillernder Begriff zu dem eine eindeutige
Definition fehlt. So kommen viele Studien zu sehr unterschiedlichen Schlussfolge-
rungen €uber die Ablaufprozesse und Wirkungen der Globalisierung. Ohne den
Anspruch zu erheben dieses Defizit in diesem Handbuchartikel zu lösen, widmet
sich der Beitrag verschiedenen Aspekten der Globalisierung und gibt damit einen
D. Jahn (*)
Professor f€ur Vergleichende Regierungslehre, Institut f€
ur Politikwissenschaft, Universität
Greifswald, Greifswald, Deutschland
E-Mail: djahn@uni-greifswald.de
groben Überblick €uber eines der gegenwärtig populärsten Themen der vergleich-
enden Politikwissenschaft und der internationalen Beziehungen. Der Artikel grenzt
zunächst das Thema dahingehend ein, dass eine Begriffsbestimmung diskutiert wird.
Sodann werden die Ursachen der Globalisierung dargestellt. Die folgenden beiden
Abschnitte behandeln die Kernbereiche der Globalisierung aus politikwissenschaftli-
cher Sicht. Globalisierung an sich konstituiert sich als Prozess und muss deshalb
primär als solcher erfasst werden. Dies kann einmal ausgehend von einem einzelnen
Land geschehen (monadischer Ansatz) oder – was der interaktiven Charakteristik der
Globalisierung näher kommt – als diffusionaler Ansatz (Jahn 2006, 2009). Schließ-
lich wird im f€
unften Absatz auf die Wirkungen der Globalisierung eingegangen, die
in der Konvergenz von Politiken oder gar von fundamentalen Veränderungen des
politischen Prozesses bestehen kann. Der letzte Abschnitt fasst die Ergebnisse
zusammen und gibt einen Ausblick auf die zuk€unftige Globlisierungsforschung.
2 Haupttext
Prinzipiell sind alle Prozesse, die weltweit oder €uber mehrere Länder hinweg ablau-
fen unter dem Begriff der Globalisierung zu erfassen (global aus dem Lateinischen
„die Kugel“ oder auch €ubertragen „die Weltkugel“). Solche Prozesse betreffen
sowohl die Verbreitung von Hollywoodfilmen und von internationaler Musik, sowie
die Championsleague als auch den internationalen Welthandel und Migrationsströ-
me. Dabei beschreibt Globalisierung den Prozess der zunehmenden internationalen
Verflechtung von Wirtschaft, Politik, Kultur und der zunehmenden Kommunikation
zwischen Individuen, Institutionen, Ländern, Gesellschaften und Regionen.
Wenngleich die meisten Autoren betonen, dass Globalisierung als Prozess zu
verstehen ist, wird in Definitionen oftmals der Prozess mit den möglichen Konse-
quenzen desselben unmittelbar verkn€upft: „Globalization thus decribes a process in
which the world moves towards an integrated global society and the significance of
national border decreases“ (Z€urn 2013, S. 402). Analytisch ist es ung€unstig, den
Prozess Globalisierung mit den möglichen Ergebnissen dieses Prozesses (integrierte
Weltgesellschaft und abnehmende Bedeutung von Ländergrenzen) zu kombinieren.
Denn wenn man Phänomene mit Konzepten erklären möchte, die dem Phänomen
schon innewohnen, erklärt man Gleiches mit Gleichem (Endogenitätsproblem). Eine
Voraussetzung jeglicher Kausalanalyse ist, dass das Ergebnis nicht schon durch die
erklärenden Variable impliziert wird. Denn die zunehmende internationale Verflech-
tung oder Interdependenz (Jahn und Stephan 2015), die als Globalisierung ver-
standen werden kann, muss nicht zu den genannten Ergebnissen f€uhren. Deshalb
bevorzugt dieser Artikel eine eindeutige Definition von Globalisierung als Prozess
einer fortschreitenden internationalen Verflechtung. Dieser Prozess wird in der ver-
gleichenden Politikwissenschaft als zunehmende Interdependenz (von Ländern oder
anderer Untersuchungseinheiten) oder auch als Diffusion behandelt (Jahn 2006,
2009).
Globalisierung und Vergleich 863
Bevor im dritten und vierten Abschnitt des Beitrages auf diesen Aspekt zur€uck-
gekommen wird und die kausalen Mechanismen von Diffusion dargestellt werden,
wird im nächsten Abschnitt näher auf die Ursachen der Globalisierung eingegangen.
Globalisierung ist ein Prozess, der menschlichem Handeln innewohnt und der sich in
sämtlichen historischen Phasen finden lässt. Globalisierungenstendenzen, also die
Verflechtung von Gesellschaften, traten schon in fr€uher Zeit auf, wenn etwa ver-
schiedene Gesellschaften ihre G€uter oder Dienstleistungen austauschten. Dabei
standen durchaus rationale Erwägungen im Vordergrund. Waren oder Dienstleistun-
gen, die man selber nicht herstellen wollte oder konnte, konnten relativ problemlos
angeeignet werden, indem man mit anderen Gesellschaften in Kontakt trat und diese
begehrten G€ uter mit eigenen Waren oder Dienstleitungen tauschte. Allerdings liefen
diese Prozesse nicht immer friedlich ab. Insbesondere die kulturelle Diffusion der
mazedonischen Lebensweise durch Alexander dem Großen ist in der Literatur aus-
f€uhrlich dokumentiert (Bell 1948).
Die Kolonialisierung weiter Teile der Erde durch die europäischen Kolonial-
mächte initiierte eine erste Welle der Globalisierung ab dem 16. Jahrhundert. Diese
fand erst mit Beginn des Ersten Weltkrieges ein abruptes Ende. Eine zweite Globa-
lisierungsphase begann erst nach dem Zweiten Weltkrieg und nahm in den 1970ern
und dann wieder in den 1990ern-Jahren an Fahrt auf. Dabei zeigt sich, dass die
Globalisierung keineswegs global – im Sinne von weltumspannend – ist, sondern
dass es sich um regionale Globalisierungssch€ube handelt (Jahn 2009). Insbesondere
Teile der hochentwickelten Länder verdichteten ihre Beziehungen während andere
Teile der Erde von der Globalisierung relativ unber€uhrt blieben, allen voran Afrika.
Die Triebkräfte der gegenwärtigen Globalisierungsprozesse liegen vor allem in
technologischen Innovationen, die die Transportwege verk€urzten (etwa Suez- und
Panamakanal) oder effizienter gestalteten (Erfindung der Eisenbahn, Großschiff-
fahrt, Flugverkehr). Hinzu traten Kommunikationsmittel, wie Radio, Fernsehen,
Telefon und Internet, die Informationen zwischen vielen Personen gleichzeitig
vermitteln können oder die Kommunikation €uber weite Distanzen ermöglichen.
Einmal in Gang gesetzt, entstand ein sich selbst verstärkender Prozess. Technische
Innovationen ermöglichten Globalisierung und die internationale Verflechtung för-
derte wiederum die Fortentwicklung von technischen Hilfsmitteln, die den inter-
nationalen Kontakt vereinfachen (bspw. Kommunikations- und Transporttechnolo-
gie) und somit den Globalisierungsprozess wiederum verstärken.
Neben den technologischen Innovationen sind auch politische Prozesse in Gang
gesetzt worden, die die internationale Verflechtung vorantreiben. Globalisierung
verlangt nach einem möglichst einfachen grenz€uberschreitenden Austausch von
G€ utern und Dienstleistungen. Diese Triebkraft drängt darauf, dass die einzelnen
Länder ihre Handelsschranken abbauen und grenz€uberschreitenden Handelsaus-
tausch zulassen und vereinfachen. Globalisierung bezieht sich jedoch nicht nur auf
wirtschaftliche Abläufe. Es kommt auch zu sozialen, kulturellen und politischen
864 D. Jahn
Interdependenzen. Aus der Sicht des einzelnen Landes kann man beobachten, dass
Staaten stärker international eingebettet sind. Wenngleich dieseFeststellung die Glo-
balisierung nicht als interaktiven Prozess erfasst, gibt sie erste Anhaltspunkte zu einer
Internationalisierung der Staaten, auf die der nächste Abschnitt näher eingeht.
Ein erstes Indikatorenb€undel zur Beschreibung von Globalisierung ist durch die
internationalen Einbettung von Staaten gegeben. Es werden etwa die Außenhandels-
quote (Anteil des Exports + Anteil des Imports dividiert durch das Bruttosozialpro-
dukt), der Anteil von Auslandsinvestitionen u. Ä. erfasst. Neben den tatsächlichen
Wirtschaftsströmen gelten auch staatliche Maßnahmen, wie der Abbau von Zöllen
und anderen Restriktionen des Außenhandels als Indikatoren der internationalen
Einbettung von Volkswirtschaften.
Ein heute etablierter Index zur Erfassung der internationalen Einbettung von
Staaten (der fälschlicherweise als Globalisierungsindex bezeichnet wird) stellt In-
formationen f€ur fast alle Staaten der Erde f€ur die wirtschaftliche, soziale, kulturelle
und politische Einbettung zur Verf€ugung (http://globalization.kof.ethz.ch/) (Dreher
et al. 2008). Die wirtschaftliche Einbettung wird durch Wirtschaftsströme und
Außenhandelsbeschränkungen erfasst. Die sozialen und kulturellen Aspekte umfas-
sen die Kommunikationsfrequenz mit Personen im Ausland, Nutzung neuer Tech-
nologie der Informationsverbreitung, Kontakt zu anderen Kulturen sowie das Durch-
dringen des nationalen Marktes mit ausländischen kulturellen Waren (B€ucher und
Zeitschriften) und Dienstleistungen. Der Indikator der politischen Einbettung er-
fasst, inwieweit sich ein Land international engagiert (Mitgliedschaft in internatio-
nalen Organisationen, Mitwirkung an UNO-Aktionen, Entwicklungshilfe) und im
Ausland durch Botschaften oder NGOs Präsenz zeigt.
Methodologisch handelt es sich hier um eine monadische Auffassung von inter-
nationaler Einbettung, weil jeweils nur von einem einzelnen Land ausgegangen
wird. Angebrachter f€ur das Erfassen von Globalisierungsprozessen ist eine Analyse
der Beziehungsgeflechte in denen sich ein Land befindet. Diffusionale Analysen
stellen den Diffusionseffekt in den Mittelpunkt einer Analyse der Globalisierung und
sind damit näher am Konzept der Globalisierung im Sinne eines Prozesses.
(Zugehörigkeit zu einer Länderfamilie) erfasst werden. Das heißt, man muss jene
Anhaltspunkte erfassen, die die Beziehungen zwischen den Analyseeinheiten bestim-
men. In sozialen Abhängigkeitsnetzwerken kann etwa die Kontakthäufigkeit zwischen
Personen als ein Indiz f€ur Verflechtung benutzt werden. Es zeigt sich zum Beispiel,
dass, wenn zwei oder mehr Personen häufig Kontakt haben, sich ihre Ansichten zu
spezifischen Fragen annähern (Huckfeldt et al. 2004). In der vergleichenden Politik-
wissenschaft haben sich einige Mechanismen, durch die sich Diffusion beschreiben
lässt, als besonders wesentlich herauskristallisiert (Jahn 2015; Jahn und Stephan 2015):
Wettbewerb: Wettbewerb ist durch antizipiertes oder reaktives Verhalten eines
Landes als Antwort auf das Verhalten anderer Länder mit dem Ziel verbunden,
wirtschaftliche Vorteile zu erhalten. Die kompetitive Steuerpolitik von Staaten ist
ein typisches Beispiel der Diffusion durch Wettbewerb. Um etwa Firmenansiedlun-
gen im eigenen Land zu fördern, erscheint es als rational, dass jedes Land versucht,
seinen Steuersatz ein wenig niedriger zu setzen, als jene Länder, mit denen es
konkurrieren. Wenn mehrere Länder diese Strategie verfolgen, f€uhrt dies zu einem
Wettlauf, der die Steuersätze aller Länder reduziert und als Delaware-Effekt oder als
race to the bottom bezeichnet wird. Der Begriff des Delaware-Effekts geht auf das
ausgehende 19. Jahrhundert zur€uck, als Delaware mit New Jersey im Wettbewerb
stand, neue Firmen anzusiedeln, und dabei die Geb€uhren der Registrierung von
Unternehmen und deren Steuersätze senkte. Allerdings haben Studien gezeigt, dass
die Diffusionseffekte durch den Filter der nationalstaatlichen Politik gehemmt wer-
den und damit ein race to the bottom oftmals unterbunden wird.
In anderen Politikbereichen zeigt sich, dass Wettbewerb zwischen den Ländern
auch ein race to the top bewirken kann. David Vogel (1995; 1997) hat in seiner
Studie zeigen können, dass die kalifornische Gesetzgebung der 1970er bis 1990er-
Jahre höhere Emissionsstandards f€ur Autoabgase durchgesetzt hat, was die Auto-
bauer in den USA und auch in anderen Ländern mit niedrigen Standards dazu
veranlasste, landesweit Automobile mit geringerer Emission herzustellen. Dieser
positive Effekt wird auch als Kalifornien-Effekt bezeichnet, da in Vogels Untersu-
chung die höheren Emissionsstandards zunächst in Kalifornien eingef€uhrt wurden.
Die Intensität von Wettbewerb zwischen Ländern kann durch die Handelsbezie-
hungen zwischen den Ländern erfasst werden. Ein weiterer Indikator, der die Stärke
von Wettbewerb zwischen Ländern erfasst, ermittelt beispielsweise in wieweit sich
die Profile von exportierten Produkten und Waren zwischen den Ländern ähneln
(Cao und Prakash 2010, 2012). So können etwa Länder, die nur gering miteinander
im Handel stehen auf Drittmärkten starke Konkurrenten sein und somit eine inten-
sive Wettbewerbsbeziehung unterhalten.
Lernen: Übernahme durch Lernen erfolgt, wenn politische Akteure neue Informa-
tionen aus anderen Ländern erlangen und wenn sich damit ihre Ansichten und Über-
zeugungen verändern. Diffusionsstudien, die Lernen als zentrale Kategorie untersu-
chen, beziehen sich auf wirtschaftliche Aspekte, wie Privatisierung oder globale
Finanzpolitik (Meseguer 2005; Quinn und Toyoda 2007). Andere untersuchen Sozial-
politik (Gilardi 2010; Schmitt und Obinger 2013) oder politische Innovationen (Volden
2006). In diesen Studien muss neben der Übernahme einer politischen Maßnahme auch
der Schritt der kognitiven Veränderung der Akteure erfasst werden.
866 D. Jahn
Lernen kann auch eine „negative“ Diffusion auslösen. Einmal können die politi-
schen Akteure eines Landes zu dem Schluss kommen, dass eine politische Maß-
nahme in einem anderen Land nicht zu dem gew€unschten Ergebnis f€uhrte. Dann
wird sich das lernende Land von dieser Maßnahme distanzieren und andere Wege
suchen. Zum negativen Lernen gehört auch das Phänomen des Trittbrettfahrens.
Indem Akteure in einem Land sehen, dass andere Länder sich eines Problemes
annehmen, wird eine weitere Initiative auf diesem Gebiet als nicht notwendig
erachtet. In der Umweltpolitik unternehmen zum Beispiel manche Staaten keine
Anstrengung, da andere Staaten ihre Umweltperformanz verbessern, was zu einer
globalen Reduktion der Umweltbelastung f€uhrt.
Nachahmen: Nachahmen basiert auf gemeinsamen Normen und dem Erf€ullen
von vermeintlich erw€unschtem Verhalten. Damit betont dieser kausale Mechanismus
nicht die Rationalität eines Diffusionsprozesses, sondern r€uckt die Angemessenheit
in den Mittelpunkt (Checkel 2006). Die Diffusion von Werten und Normen entsteht
etwa durch gemeinsame Mitgliedschaft in internationalen Organisationen (Bearce
und Bondanella 2007). Finnemore und Sikkink (1998) zeigen, dass eine bestimmte
Anzahl von Staaten eine neue Norm akzeptiert haben muss (sie schätzen etwa ein
Drittel) bis eine Kaskade der Normverbreitung entsteht. Staaten sind f€ur eine
Normangleichung empfänglich, da sich dadurch ihre eigene Legitimation festigt.
Zwang und Konditionalität: Policies und polities können durch den Druck von
internationalen Organisationen oder mächtigen Staaten oktroyiert werden. Wenn-
gleich in der OECD-Welt eine erzwungene Übernahme wie im Fall der Einf€uhrung
bestimmter politischer Institutionen in den ehemaligen Kolonien nicht vorzufinden
ist, können durch eine Selbstverpflichtung oder durch politischen Druck bestimmte
Politiken gefördert werden. Insbesondere im Zuge der Beitrittsverhandlung zur
Osterweiterung der EU wurden den beitrittswilligen Ländern Auflagen vorgegeben,
die erf€
ullt werden mussten, wenn sie Vollmitgliedschaft in der EU erlangen möchten
(Übernahme des acquis communautaire). Braun und Gilardi (2006, S. 309–310)
sehen den Einfluss der EU auf die neuen Mitgliedsstaaten in Zentralosteuropa als
Mechanismus, der einer „erzwingenden“ Einflussnahme nahekommt. Auch die vor-
geschriebenen wirtschaftlichen und politischen Maßnahmen f€ur Griechenland durch
die Troika (Europäische Zentralbank, Internationaler Währungsfond, EU-
Kommission) in der Finanzkrise kann als Diffusion durch Konditionalität aufgefasst
werden. Simmons u. a. (2006, S. 791) sprechen von „weichem Zwang“, wenn sich
starke Staaten zusammenschließen und eine internationale Vereinbarung treffen, der
sich wiederum andere Staaten anschließen m€ussen.
Die diffusionalen Interdependenzen von Ländern lassen sich nicht so leicht
darstellen, wie die monadischen. Die Erfassung von Diffusion erfolgt anhand von
räumlichen Regressionen oder Prozessanalysen. Im ersten Fall kann man von
Diffusion ausgehen, wenn der Koeffizient einer Diffusionsvariable (spatial lag)
signifikant ist. So haben etwa Studien gezeigt, dass ab einem gewissen Punkt
Diffusion in den OECD-Ländern im Bereich der Sozialpolitik ausgelöst wurde und
dass dieser Effekt im Zeitverlauf, insbesondere in den 1990er-Jahren rasant zuge-
nommen hat (Jahn 2009).
Globalisierung und Vergleich 867
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Mehrebenanalyse in der Vergleichenden
Politikwissenschaft
Zusammenfassung
Dieser Beitrag macht deutlich, an welchen Stellen und wie eine vergleichende Pers-
pektive bei der Analyse von zum Teil einmaligen Mehrebenensystemen besondere
Erkenntnisgewinne verspricht. Er widmet sich (1) der vergleichenden Föderalismus-
forschung; (2) dem Vergleich regionaler Zusammenschl€usse; (3) dem europäischen
Mehrebenensystem und dort insbesondere (4) dem Prozess der Europäisierung.
Schlüsselwörter
Mehrebenenregieren • Föderalismus • Regionale Zusammenschl€usse • Europä-
ische Union • Europäisierung
1 Einleitung
Regieren in Mehrebenensystemen hat seit Mitte der 1990er-Jahre seinen festen Platz
auf der politikwissenschaftlichen Forschungsagenda (Piatoni 2010). Damit geriet ein
Typus von politischen Systemen in den Blick, dessen territoriale Gliederung als
zentrales Charakteristikum in einigen Fällen einmalig zu sein scheint. Dies macht
M. Knodt (*)
Jean Monnet Professorin, Professorin f€
ur Politikwissenschaft, Institut f€
ur Politikwissenschaft,
TU Darmstadt, Darmstadt, Deutschland
E-Mail: knodt@pg.tu-darmstadt.de
M. Stoiber
Professor f€ur Vergleichende Politikwissenschaft, Institut f€
ur Politikwissenschaft, FernUniversität
Hagen, Hagen, Deutschland
E-Mail: michael.stoiber@fernuni-hagen.de
J. Broschek
Associate Professor, Department of Political Science, Wilfrid Laurier University, Waterloo, Kanada
E-Mail: jbroschek@wlu.ca
den Gegenstand des Mehrebenensystems auf den ersten Blick f€ur die vergleichende
Analyse sperrig. Dieser Beitrag wird jedoch durch einen systematischen Überblick
aus dem Blickwinkel der comparative politics deutlich machen, an welcher Stelle
und wie eine vergleichende Perspektive bei der Analyse von Mehrebenensysteme
besondere Erkenntnisgewinne verspricht. Mehrebenenanalysen im Sinne der forma-
len Modellbildung sind nicht Gegenstand dieses Beitrags.
Traditioneller Weise stellt die vergleichende Föderalismusforschung das erste
Forschungsfeld dar, in der Föderalstaaten als Mehrebenensysteme in ihrer Entste-
hung, Entwicklung und Funktionsweise analysiert werden. Zweitens können die EU
und andere, sich aus mehreren Nationalstaaten zusammensetzende regionale Zu-
sammenschl€ usse (ASEAN, MERCOSUR etc.), als Mehrebenensysteme unter den
gleichen Kriterien wie Föderalstaaten miteinander verglichen werden. Der weitaus
größte Anteil der Mehrebenenliteratur fällt dabei sicherlich auf die EU, so dass
drittens eine spezifische Fragestellung der comparative politics zunächst die Analyse
dieses politischen Systems ist, wobei die Forschung mit der Charakterisierung der
EU als ein System „sui generis“ (Jachtenfuchs 1997) zumindest zu einer Klassifi-
zierung gefunden zu haben scheint. In der Analyse der EU als Mehrebensystem
ergibt sich viertens aus vergleichender Perspektive der größte Erkenntnisgewinn
durch den Integrations-induzierten Prozess der Europäisierung. Dieser zielt auf die
Effekte der Europäischen Integration auf die unteren Ebenen der Mitgliedstaaten und
deren Untereinheiten ab (vgl. u. a. Radaelli 2003).
Ausgehend von dem klassischen Fokus der comparative politics auf sowohl Insti-
tutionen und Strukturen politischer Systeme (polity-Dimension), Prozesse und Inter-
aktionsmuster der an den Prozessen beteiligten Akteure (politics-Dimension) sowie
Inhalte (policies) kollektiver Entscheidungen, die f€ur das jeweilige politische System
bindend sind, skizzieren wir vier Forschungsfelder, in denen vergleichende Analy-
sen im Rahmen der Mehrebenenthematik vorzufinden sind: (1) die vergleichende
Föderalismusforschung, (2) der Vergleich von regionalen Zusammenschl€ussen,
(3) die Charakterisierung der EU als spezifisches politisches System sowie (4) die
vergleichende Analyse der Auswirkungen der Europäisierung auf die unteren Ebe-
nen der EU.
Die regionale Zusammenarbeit von Staaten hat sich seit Mitte der 1980er-Jahre
quantitativ wie auch qualitativ stark intensiviert. Sie treten dabei sowohl als
Mehrebenanalyse in der Vergleichenden Politikwissenschaft 875
Die gängige Bezeichnung der EU als System „sui generis“ (Jachtenfuchs 1997;
Jachtenfuchs und Kohler-Koch 2004) trifft zwar das Gesamtphänomen, erweist sich
jedoch gerade f€ ur die vergleichende Analyse als untauglich und versperrt den Blick
auf mögliche Vergleichsperspektiven. Denn auf den ersten Blick sperrt sich die EU
gegen die gängigen Konstruktionen politischer Systeme und staatlichen Handelns
im Sinne von Regierungshandeln. Politische Entscheidungen im „Staatenverbund“
können weder auf das Handeln einer einzigen europäischen Regierung zur€uckge-
f€uhrt werden noch mit der Summe des Regierungshandelns seiner Mitgliedstaaten
gleichgesetzt werden.
Auch die Versuche, das europäische Mehrebenensystem nach gängigem Muster
zu typologisieren und somit f€ur den Vergleich furchtbar zu machen, kann als wenig
gelungen bezeichnet werden. Knelangen (2005) versucht, dabei die EU als struktu-
rell ähnlich mit parlamentarischen, präsidentiellen und vor allem semi-präsiden-
tiellen Systemtypen zu charakterisieren. Dies allerdings mit deutlichen Abweichun-
gen gegen€ uber diesen Typen, die durch den nicht-staatlichen Charakter der EU zu
begr€ unden sind. Deshalb kreiert er den neuen Typ des „intergouvernementalen
Semi-Präsidentialismus“, der auf die Ähnlichkeiten mit dem semi-präsidentiellen
Systemtyp verweist und zugleich den zum Teil intergouvernementalen Charakter der
EU reflektiert (Knelangen 2005, S. 7). Doch macht dieser Einordnungsversuch
wenig Sinn: So sind die Parallelen zum Semi-Präsidentialismus aufgrund der spezi-
fischen Funktionsweise von Kommission, Rat und Parlament, die in keiner Weise
die f€ur staatliche (demokratische) Systeme vorgesehenen Funktionen erf€ullen bzw.
sich in keinerlei Schema der Trennung von Exekutive und Legislative einordnen
lassen, doch nur scheinbar gegeben. So ist es m€ußig dar€uber zu streiten, ob die
Möglichkeit der Abwahl der Kommission durch das Parlament als Indikator f€ur ein
semi-präsidentielles System taugt oder nicht, wenn der Kommissionspräsident keine
Mehrebenanalyse in der Vergleichenden Politikwissenschaft 877
der in solchen Systemen €ublichen Funktionen aus€ubt und durch grundsätzlich andere
Mechanismen ins Amt kommt.
Damit stellt die EU einen Gegenstand dar, bei dessen Analyse auf den ersten
Blick wenig klassische Ansatzpunkte f€ur die vergleichende Forschung zu finden
sind. Daher macht es mehr Sinn, sich €uber das Konzept des Regierens zu nähern.
Nicht zuletzt durch den Bedeutungsverlust des Nationalstaates und die Verwischung
territorialer Grenzen im Prozess des Regierens erwies sich der Zwei-Ebenen-Ansatz
aus den 1980er-Jahren (vgl. Putnam 1988) Anfang der neunziger Jahre als zu
restriktiv f€ur eine Reihe von neu aufkommenden auch komparativen Fragestellun-
gen. So lenkten die Diskussionen um regionale Bewegungen, um Regionen als
eigenständige Mitspieler in der europäischen Politik, die Anerkennung der regiona-
len Ebene und das Einbeziehen subnationaler Akteure in das komplexe System
europäischer Entscheidungsprozesse die Aufmerksamkeit auf die ebenen-
€ubergreifende Politikgestaltung. Gerade die Forschung €uber die europäische Regio-
nalpolitik hat gezeigt, dass neben nationalen Regierungen eine Vielzahl von subna-
tionalen, nationalen und europäischen Akteuren – öffentliche und private Akteure –
in europäisches Regieren eingebunden sind (vgl. Heinelt 1996; Knodt 1998). Die
zentralen Charakteristika des europäischen Mehrebenensystems sind dabei (vgl.
Knodt 2005): (1) Die EU als polyzentrisches System mit multiplen Arenen und
Netzwerken; (2) die institutionelle Balance der unterschiedlichen Akteure auf der
europäischen Ebene, die die sich in einem steten Spannungsverhältnis zwischen der
notwendigen R€ ucksichtnahme auf die Partikularinteressen und dem Bestreben der
Förderung der Gemeinschaft changiert; (3) die Konsensorientierung in einem inter-
aktiven Raum, in dem konsensorientierte Politikgestaltung harten Verhandlungen
vorgezogen wird.
Wie wird in einem solch hybriden und verflochtenen Gebilde regiert? Welches
sind die institutionalisierten Formen und welches die zentralen Prozess-Elemente
des Entscheidungssystems? Damit lenken wir den Blick weg von den vergeblichen
Versuchen, die polity der EU mit Hilfe der gängigen oder leicht angepassten Typo-
logien der Vergleichenden Regierungslehre zu untersuchen. Vielmehr lenken wir
den Blick auf die politics-Dimension, die eine ganze F€ulle von Vergleichsmöglich-
keiten bietet. Exemplarisch sei hier nur die Forschung zur Interessenvermittlung in
der EU genannt, in der Akteursqualitäten und – strategien wirtschaftlicher und
gesellschaftlicher Interessen ebenso wie die Einbindungspolitik der Europäischen
Kommission und des Europäischen Parlaments mannigfaltige Ansatzpunkte f€ur den
Vergleich mit nationalstaatliche bekannten Phänomenen bietet (vgl. dazu u. a. Knodt
et al. 2012).
auch die institutionellen Rahmenbedingungen eine Rolle, letztlich aber stehen ins-
besondere die Prozesse selbst im Vordergrund. Dazu werden die zentralen Institutio-
nen und Akteure identifiziert und die politischen Prozesse und Entscheidungsver-
fahren nachgezeichnet. Häufig geht das mit einer Analyse der Interaktionsmuster
einher. Ein besonders Augenmerk liegt aber auf den Interessenkonstellationen und
den konkreten Politikinhalten und schließlich zentral auf der Implementation selbst.
Als idealtypisches Beispiel dieser Forschungstradition kann der Sammelband von
Heinelt und Knodt (2010) dienen, der einer je nach Politikfeld auftretenden
Mischung der von Hooghe und Marks (2003) vorgenommenen Unterscheidung
zwischen zwei Typen von Mehrebenensystemen, dem allgemeinen Zwecken dien-
enden („general-purpose jurisdictions“) im Sinne föderaler Ordnung organisierten
Typ I und dem sich auf spezifische Zwecke sogenannte „funktionaler Zweckver-
bände“ konzentrierenden Typ II nachgeht.
Wie unser Überblick gezeigt hat, ist der vergleichende Zugriff auf Mehrebenensys-
teme in den verschiedenen Forschungsfeldern unterschiedlich weit vorangeschritten.
F€ur die zuk€unftige Forschung sehen wir folgende Herausforderungen und Chancen:
Im Bereich des Vergleichs von Föderalstaaten bietet der Mehrebenenansatz eine
Fokussierung auf die spezifischen Koordinations- und Steuerungsprobleme und damit
auf die politics- und policy-Dimension an. Hier ist die Forschung sicherlich noch am
Anfang. Noch größer sind die Möglichkeiten im Bereich des Vergleichs regionaler
Zusammenschl€ usse. Bislang dominiert die Betrachtung aus Sicht der Internationalen
Beziehungen, der sich weniger den internen Mechanismen widmet. Doch bietet es sich
an, auch f€ ur weitere Institutionen neben der EU den Mehrebenencharakter selbst
vergleichend zu analysieren. Welche Koordinationsprobleme bestehen in welchem
institutionellen setting; wie werden diese jeweils gelöst; wie können Gemeinsamkeiten
und Unterschiede in den Prozessen und deren Erfolgen erklärt werden? Hier können
Erkenntnisse aus der vergleichenden Föderalismusforschung oder der Europafor-
schung fruchtbar gemacht werden, um Hypothesen zu generieren.
Innerhalb der EU-Forschung ist der Zugriff auf Mehrebenensysteme mittels des
Konzepts des Regierens sicherlich am weitesten vorangeschritten. Hier wurde deut-
lich, dass sich selbst die EU als System „sui generis“ nicht generell gegen ver-
gleichende Forschung sperrt, wenn man die reduzierte polity-Perspektive verlässt.
Zusätzlich kann eine stärkere Ber€ucksichtigung klassischer Konzepte aus der com-
parative politics hilfreich sein. Insbesondere im Rahmen der Europäisierungsdebatte
kann eine Systematisierung in zwei Richtungen erfolgen: Erstens kann bei einer
Fallauswahl explizit auf Typologien zur€uckgegriffen werden, um die institutionellen
und prozeduralen Unterschiede der Mitgliedstaaten kontrollieren zu können. Zwei-
tens können spezifische System-Eigenschaften explizit als unabhängige Variablen
getestet werden, um Varianzen auf der unteren Ebene der EU zu erklären.
Mehrebenanalyse in der Vergleichenden Politikwissenschaft 881
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EU und Europäisierung aus komparativer
politikwissenschaftlicher Perspektive
Zusammenfassung
Das Feld der Europäisierungsforschung beschäftigt sich mit Veränderungen unter-
schiedlicher Aspekte nationaler Politik, welche ursächlich auf die Europäische Union
bzw. den europäischen Integrationsprozess zur€uckgehen. Konkret wird analysiert wie
sich politische Inhalte, institutionelle Arrangements oder auch die politische Ausein-
andersetzung durch den Einfluss der EU verändern. Zusätzlich wird untersucht, durch
welche Mechanismen dieser Einfluss transportiert wird und unter welchen Bedingun-
gen dieser zu starken bzw. schwachen Veränderungen auf nationaler Ebene f€uhrt.
Schlüsselwörter
Europäisierung • Europäische Union • Implementationsforschung • Institution-
eller Wandel
1 Einleitung
Der Umfang und die Heterogenität dieser sich unter dem Schlagwort der „Europä-
isierungsforschung“ versammelten Literatur ist mittlerweile beträchtlich. Manche Stu-
dien verwenden den Begriff „Europäisierung“ synonym f€ur den europäischen Integra-
tionsprozess. Dies wird teilweise als „bottom-up“ Europäisierungsperspektive
C. Adam (*)
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl f€ ur Empirische Theorien der Politik, Geschwister-
Scholl-Institut f€ur Politikwissenschaft, Ludwig-Maximilians-Universität M€
unchen, M€ unchen,
Deutschland
E-Mail: christian.adam@gsi.uni-muenchen.de
C. Knill
Professor f€ur Empirische Theorien der Politik, Geschwister-Scholl-Institut f€
ur Politikwissenschaft,
Ludwig-Maximilians-Universität M€ unchen, M€ unchen, Deutschland
E-Mail: christoph.knill@gsi.uni-muenchen.de
bezeichnet (z. B. Lawton 1999: 92; Risse et al. 2001: 4). Das Gros der sich rund um das
Schlagwort der Europäisierung versammelnden Studien konzentriert sich jedoch auf die
Analyse von Konsequenzen des Integrationsprozesses f€ur die nationale Ebene; die
sogenannte „top-down“ Perspektive der Europäisierung. Dementsprechend fokussiert
dieser Beitrag auf diesen letzteren – wie wir denken – konstitutiven Kern der Europä-
isierungsforschung. So existieren mittlerweile eine Reihe exzellenter Einf€uhrungs- und
Überblicksartikel, die sich jeweils Teilbereichen der Europäisierungsforschung widmen
(Goetz und Meier-Sahling 2008; Ladrech 2009; Treib 2008).
Um dennoch einen möglichst anschaulichen Überblick €uber das gesamte For-
schungsfeld bieten zu können, bedient sich dieser Beitrag einer grammatikalischen
Analogie. Konkret kann demnach der konstitutive Gegenstand der Europäisierungs-
forschung als Forschung verstanden werden, die an einer speziellen Subjekt-Prädi-
kat-Objekt Konstellation interessiert ist. So beschreibt das Schlagwort der „Europä-
isierungsforschung“ Studien, die sich mit der Validität folgender Prämisse
beschäftigen: Der europäische Integrationsprozess (Subjekt) beeinflusst bzw. verän-
dert (Prädikat) die nationale Politik (Objekt).
Die Heterogenität des Forschungsfeldes ergibt sich durch zwei Differenzierun-
gen. Erstens durch eine differenzierte Betrachtung – um im gewählten grammatika-
lischen Bild zu bleiben – des Objekts „nationale Politik“: Was verändert sich konkret
auf nationaler Ebene? So untersuchen manche Studien die Veränderung von Inhalten
nationaler Politik, während andere an der Veränderung nationaler institutioneller
Arrangements oder nationaler politischer Auseinandersetzung interessiert sind.
Zweitens, versucht die Europäisierungsforschung die oben beschriebene konstitu-
tive Subjekt-Prädikat-Objekt Konstellation durch adverbiale Bestimmungen zu er-
gänzen, welche die Umstände eines Geschehens näher charakterisieren. Meist zielen
Untersuchungen auf die Bestimmung adverbialer Instrumentalbestimmungen ab, die
angeben, wodurch der europäische Integrationsprozess nationale Politik beeinflusst
(Mechanismen). Zusätzlich liegt der Fokus auf adverbialen Konditionalbestimmun-
gen, die bestimmen, unter welchen Bedingungen verschiedene Mechanismen mehr
oder weniger Wirkung entfalten.1
1
Zusätzlich lässt sich zunehmend auch ein Interesse an Fragen erkennen, die auf die Bestimmung
adverbialer Lokalbestimmungen abzielen. Diese Studien analysieren, wo der Integrationsprozess
nationale Politik beeinflusst: Wie unterscheidet sich der Einfluss zwischen alten und neuen Mit-
gliedstaaten? Wie ist dieser Einfluss in auch jenseits der aktuellen geographischen Grenzen der
Europäischen Union beschaffen? Dieser Beitrag klammert dieses Feld aufgrund von Platzbeschrän-
kungen jedoch aus. Siehe jedoch: (Schimmelfennig 2012; Sedelmeier 2011).
EU und Europäisierung aus komparativer politikwissenschaftlicher. . . 887
sich hierdurch (a) die Inhalte nationaler Politik (b) die nationalen politischen und
administrativen Institutionen und (c) der nationale politische Wettbewerb.
Dass die EU Einfluss auf die Inhalte nationaler Politik nimmt, kann wohl als intuitiv
plausibelster Aspekt der Veränderungen auf nationaler Ebene gesehen werden.
Schließlich ist es ein zentrales Ziel der europäischen Verträge und der Verabschie-
dung europäischer Rechtsakte, „gemeinschaftsverträgliche“ und mitgliedstaatliche
Regeln f€ur bestimmte Politikbereiche zu definieren. Vielfach impliziert diese Vor-
gabe Regelungen zur wechselseitigen Anerkennung, eine partielle Angleichung
(Definition nationaler Minimum- oder Maximalstandards) oder eine vollständige
Harmonisierung nationaler Regelungen (Holzinger und Knill 2005).
Die nationale Einhaltung, Umsetzung und Anwendung solcher Vorgaben ist jedoch
keinesfalls ein trivialer Prozess. Nationale Abweichungen werden dabei auf unter-
schiedlichen Dimensionen erfasst: Erstens analysieren Studien in diesem Kontext, ob
europäische Vorgaben fristgerecht umgesetzt werden (z. B. Kaeding 2006; Masten-
broek 2003). Dies ist insbesondere bei der Analyse der nationalen R€uckwirkungen
europäischer Vorgaben in Form von Richtlinien relevant, welche zunächst innerhalb
einer vorgegebenen Frist in nationales Recht €ubersetzt (transponiert) werden m€ussen.
Da hierbei jedoch nur die P€unktlichkeit der Transposition Ber€ucksichtigung findet,
versuchen andere Studien die inhaltliche Richtigkeit der Transposition zu untersuchen
(z. B. Falkner et al. 2005). Diese zu beurteilen ist jedoch ein ressourcenintensiver
Prozess, der u. a. weitreichendes juristisches Beurteilungsvermögen verlangt. Dem-
entsprechend beschränken sich Studien mit diesem analytischen Fokus entweder auf
die Analyse weniger ausgewählter Richtlinien (Falkner et al. 2005; Knill und Len-
schow 1998). Oder sie setzen auf die Beurteilungsfähigkeit der Kommission, indem sie
die Anzahl eingeleiteter Vertragsverletzungsverfahren gegen Mitgliedstaaten untersu-
chen und dabei Verfahren, die aufgrund verspäteter Umsetzung eingeleitet wurden,
ausklammern (z. B. Mbaye 2001). Insgesamt geben diese Forschungsstrategien aber
wohl auch nur den Blick auf die „Spitze des Eisbergs“ der Implementationsprobleme in
der EU frei (Falkner et al. 2007).
2
Zur genaueren Diskussion der Literatur mit diesem Fokus siehe: (Goetz und Meier-Sahling 2008).
888 C. Adam und C. Knill
auf supranationale Entwicklungen sichern konnten.3 Dies gelang gerade auch durch die
Formierung europapolitischer Aussch€usse in nationalen Parlamenten.
Zusätzlich scheinen nicht alle Mitgliedstaaten in gleichem Maße von dieser De-
bzw. Re-Parlamentarisierung beeinflusst zu sein. Indizes von Raunio (2005) oder
auch Saalfeld (2005) können dabei helfen, den Einfluss nationaler Parlamente auf
supranationale Entwicklungen vergleichend zu analysieren.
3
Ähnlich auch Judge (1995).
4
Einen sehr viel detaillierten Überblick €
uber die Entwicklungen in diesem Teilbereich der Europä-
isierungsforschung als uns an dieser Stelle möglich ist, liefert Ladrech (2009).
890 C. Adam und C. Knill
Ein erster Mechanismus, durch den die EU auf ihre Mitgliedstaaten einwirkt, ist die
Vorgabe politischer Inhalte und institutioneller Arrangements, die es auf Seiten der
Mitgliedstaaten aktiv umzusetzen gilt. Auf supranationaler Ebene wird ein institu-
tionelles Modell definiert, an das nationale Regelungen angepasst werden m€ussen
(Knill und Lehmkuhl 1999). Dieser Mechanismus der Europäisierung findet sich vor
allem in Bereichen der sogenannten positiven Integration (Taylor 1983) in Form
marktkorrigierender, re-regulativer Eingriffe wie sie typischerweise in den Berei-
chen Umweltschutz, Arbeitsschutz, oder Verbraucherschutz vorkommen. Diese
erfordern die Umgestaltung und Umformung bestehender nationaler Arrangements
entlang konkreter Vorgaben (Scharpf 1994, 1999). Durch die explizite Vorgabe
bestimmter politischer Inhalte wirkt die EU somit häufig direkt auf den Inhalt
nationaler Policies ein.
Zweitens wirkt die EU auf ihre Mitgliedstaaten u€ber die Veränderung nationaler
Gelegenheitsstrukturen ein (Knill und Lehmkuhl 1999). Hierzu gehören Verände-
rungen der strukturellen Möglichkeit der Partizipation an politischen Entscheidun-
gen sowie Veränderungen der Ressourcenallokation. Nationale Gelegenheitsstruktu-
ren verändern sich zunächst durch die mit dem Integrationsprozess einhergehende
Fragmentierung politischer Systeme infolge der Einf€uhrung einer weiteren – einer
supranationalen – Ebene. Hierdurch erhöht sich die Anzahl politischer Arenen in
denen Akteure tätig werden können (Goetz und Hix 2000; Kelemen 2011). Zusätz-
lich verändert die EU nationale Gelegenheitsstrukturen insbesondere durch markt-
schaffende Verbote bestimmter Handlungen. Um das ökonomische Herzst€uck des
Integrationsprozesses verwirklichen zu können, musste der Handlungsspielraum der
Mitgliedstaaten in einigen Bereichen eingeengt werden. Konkret wurde ihnen bei-
EU und Europäisierung aus komparativer politikwissenschaftlicher. . . 891
Europäisierung muss sich freilich nicht auf politische Zwangsaus€ubung oder recht-
liche Verpflichtung beschränken. Vielmehr spielt sich ein bedeutender Teil nationa-
ler R€uckwirkungen der europäischen Integration auf eher „weichen“ Kanälen ab, in
deren Rahmen sich die EU auf die Stimulation nationaler Lernprozesse beschränkt.
Entsprechend basieren nationale Anpassungen weniger auf Zwang und Ver-
pflichtung, sondern auf Freiwilligkeit. Wenn europäische Vorgaben etwa nur emp-
fehlenden Charakter haben, sind die Mitgliedstaaten generell frei in ihrer Entschei-
dung, diesen Vorgaben zu folgen oder nicht. Gerade in diesem Zusammenhang
d€urfte häufig die diskursive Verbreitung von Ideen und Überzeugungen der Wir-
kungskanal sein, wodurch nationale Politik beeinflusst wird (Holzinger und Knill
2005; Schmidt 2002). So liefern supranationale Akteure, Handlungen und Entwick-
lungen argumentative Andockungspunkte f€ur politische Akteure auf nationaler
Ebene, welche auch ohne eine konkrete und verbindliche Vorgabe von europäischer
Ebene nationale Veränderungen bedingen können. Knill und Lehmkuhl (1999)
diskutieren dies beispielsweise im Kontext nationaler Eisenbahnregulierung.
892 C. Adam und C. Knill
Je höher die Zahl der Länder ist, die einen bestimmten Ansatz €ubernehmen, desto
wahrscheinlicher wird es, dass sich die Suche nach Legitimität in mitgliedstaatlich-
em institutionellem Wandel niederschlägt (Meyer und Rowan 1977). Zudem erhö-
hen Konstellationen hoher Unsicherheit (DiMaggio und Powell 1991: 70), Zeitdruck
(Bennett 1991: 223) und der Versuch, hohe Informationskosten zu vermeiden (Tews
2002: 180) die Wahrscheinlichkeit, dass nationale Institutionen dem Mainstream
angepasst werden.
Die Frage, ob europäische Politik eher auf Verbindlichkeit oder Freiwilligkeit
abhebt, ist vielfach weniger im Sinne einer bewussten Entscheidung der Europä-
ischen Kommission zu verstehen, sondern ergibt sich aus der Bereitschaft der Mit-
gliedstaaten, in einem bestimmten Politikbereich Kompetenzen auf die europäische
Ebene zu verlagern. Gerade im Bereich der Sozialpolitik, wo die politische Bereit-
schaft zur Vergemeinschaftung relativ gering ausgeprägt ist, lässt sich diese weiche
Form europäischer Einflussnahme beobachten. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund
hat sich die EU im Rahmen der sogenannten Offenen Methode der Koordinierung
einen institutionellen Rahmen zur Stimulation freiwilliger Prozesse des Informa-
tionsaustausches und des Politiklernens gesetzt.
Die vorangegangene Diskussion machte bereits deutlich, dass der Einfluss des
europäischen Integrationsprozesses auf nationale Politik nicht einheitlich ist. Der-
selbe europäische Stimulus m€undet in unterschiedlichen Mitgliedstaaten in unter-
schiedlichen Reaktionen. Supranationale Einfl€usse zeigen sich in manchen Mitglied-
staaten deutlich stärker als in anderen. Dementsprechend gilt zu klären, unter
welchen Bedingungen die EU nationale Politik verändert. Grundsätzlich scheinen
drei Faktoren das tatsächliche Ausmaß EU-induzierter Veränderungen zu bedingen:
(a) das Ausmaß implizierter Veränderungen, (b) der nationale Wille zur Beeinflus-
sung dieser Prozesse und (c) die Möglichkeit oder Kapazität, nationale Veränder-
ungsprozesse zu beeinflussen.
Nicht zuletzt hängt der tatsächliche Einfluss der EU auf nationale Politik von der
Möglichkeit ab, entsprechende nationale Anpassungen aktiv herbeizuf€uhren oder zu
verhindern. Dies wird insbesondere am Beispiel des Einflusses supranationaler
Policies auf nationale politische Inhalte deutlich. So scheint gerade die nationale
Verwaltungskapazität entscheidend zu bedingen, wie schnell und korrekt europä-
ische Vorgaben national umgesetzt werden (Börzel et al. 2011; Börzel et al. 2010;
Hille und Knill 2006; Toshkov 2007). Doch nicht nur technische und administrative
Ressourcen sind Teil dieser Möglichkeit der Einflussnahme auf die Wirkung supra-
nationaler Entwicklungen auf nationaler Ebene. Gleichzeitig sind im nationalen
politischen System nicht alle Akteure gleichermaßen in der Lage, ihren ideologi-
schen Präferenzen tatsächlich Wirkung zu verschaffen. Ob dies dem jeweiligen
Akteur gelingt, hängt davon ab, wie dessen Zugang zum politischen Entscheidungs-
prozess ausgestaltet ist. Deutlich wird dieser Einfluss der nationalen Vetospieler-
Struktur in mehreren Studien zu EU-induziertem Wandel nationaler politischer
Inhalte (Haverland 2000; Kaeding 2008).
Die Frage, wie fragmentiert bzw. zentralisiert politischer Einfluss im jeweiligen
nationalen politischen System verteilt ist, wird auch jenseits der Veränderung politi-
scher Inhalte relevant. So gelingt es gerade nationalen Parlamenten dort besser,
europapolitische Handlungen ihrer nationalen Exekutive zu kontrollieren, wo die
Macht der Exekutive stark fragmentiert ist (z. B. Holzhacker 2005). Grundsätzlich
EU und Europäisierung aus komparativer politikwissenschaftlicher. . . 895
5 Kritische Würdigung
5
In den Bereichen Regionalpolitik und Beihilfepolitik ist dieser Fokus jedoch interessanterweise
vor allem hinsichtlich der alten westeuropäischen Mitgliedstaaten relevant, während die neuen
osteuropäischen Staaten recht gut beleuchtet sind (Bache 2010; Blauberger 2009a, 2009b; Bruszt
2008; Hughes und Sasse 2004).
896 C. Adam und C. Knill
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Internationale Regime im
politikwissenschaftlichen Vergleich
Helmut Breitmeier
Zusammenfassung
Die vergleichende Analyse internationaler Regime begann mit der Erforschung der
Einflussfaktoren auf die Regimeentstehung. In diesem Kontext entstanden verglei-
chende Studien, die auf einer relativ kleinen Fallzahl beruhten. Mit der Hinwendung
der Regimeanalyse zur Untersuchung der Regimeeffektivität wuchs gleichzeitig die
Erkenntnis, dass die gewonnenen Befunde nur dann auch generalisierbar sind, wenn
diese auf der Grundlage von „large-n-studies“ gewonnen werden. Mit dem Aufbau
einer Datenbank €uber internationale Umweltregime wurde die quantitative Regime-
analyse forciert. Durch die in dieser Datenbank enthaltenen Befunde konnte der
empirische Nachweis erbracht werden, dass internationale Regime tatsächlich einen
kausalen Einfluss auf verschiedene Dimensionen der Regimeeffektivität (z. B.
Zielerreichung, Problemlösung und Compliance) aus€uben.
Schlüsselwörter
Internationale Regime • Regimeentstehung • Effektivität von Regimen • Umwelt •
Datenbank € uber internationale Regime
1 Einleitung
H. Breitmeier (*)
Stellvertretender Vorsitzender des Vorstands der Stiftung Entwicklung und Frieden (sef), Professor f€
ur
Internationale Beziehungen, Institut f€
ur Politikwissenschaft, Universität Gießen, Gießen, Deutschland
E-Mail: helmut.breitmeier@sowi.uni-giessen.de
zu integrieren (Rittberger 1990; Efinger et al. 1993). Beide Projekte kamen auf der
Grundlage der vergleichenden Fallanalyse zu dem Ergebnis, dass machtbasierte
Faktoren f€ur die Entstehung der untersuchten internationalen Regime keine hinrei-
chende Erklärung bieten. In beiden Projekten bestätigten sich zudem die jeweiligen
interessen-basierten Erklärungen. Das T€ubinger Projekt konnte zum Beispiel die
Relevanz spieltheoretischer Erklärungen untermauern, wonach die Wahrscheinlich-
keit der Entstehung eines internationalen Regimes ganz wesentlich von der Situa-
tionsstruktur (bzw. der Interessenkonstellation) in einem Problemfeld abhängt.
Dar€uber hinaus entwickelte das T€ubinger Projekt auch einen eigenen problemstruk-
turellen Ansatz, der sich f€ur die Erklärung der Regimeentstehung als tauglich
erwiesen hat. Die europäische Regimeforschung räumte in dieser Phase normativen
Aspekten (u. a. der Frage nach der Verteilungsgerechtigkeit) einen größeren Stel-
lenwert ein als die nordamerikanische. Mit der vergleichenden Erforschung der
Entstehung internationaler Regime war auch eine konzeptionelle Weiterentwicklung
des Regimekonzepts als solches verbunden. Beide Projekte entwickelten Kriterien
f€
ur die Bestimmung der problemfeldspezifischen Grenzen einzelner Regime, f€ur die
Bestimmung des Zeitpunkts der Regimeentstehung bzw. der Beendigung eines
internationalen Regimes und f€ur die geographische Reichweite bzw. Geltung der
Regimeregeln.
Tab. 1 (Fortsetzung)
Regime Regimeelemente
14. London Convention Regime Wastes and Substances the Dumping of which is
1972–1998 Prohibited (1972–1991) (1991–1998) • Wastes
and Substances which, in Principle, may be
Dumped (1972–1991) (1991–1998) • Regulation
of Incineration at Sea (1978–1991) (1991–1998)
15. ECE-Regime on Long-Range LRTAP-Convention (1979–1982) (1982–1998) •
Transboundary Air Pollution (LRTAP) First Sulphur Protocol (1985–1998) •
1979–1998 Nox-Protocol (1988–1998) • VOCs-Protocol
(1991–1998) • Second Sulphur-Protocol
(1994–1998)
16. North Sea Regime 1972/74–1998 OSCOM/PARCOM (1972/74–1984) • OSCOM/
PARCOM/OSPAR (1984/92–1998) • North Sea
Conferences (1984–1998)
17. Oil Pollution Regime 1954–1998 Oilpol (1954–1978) • MARPOL (1973/78–1998)
• Regional Memoranda of Understanding
(1982–1998)
18. Regime for Protection of the Rhine Berne Convention (1963–1998) • Chloride
Against Pollution 1963–1998 Pollution Convention (1976–1998) • Chemical
Pollution Convention (1976–1998)
19. Ramsar Regime on Wetlands Ramsar Convention (1971–1987) (1987–1998)
1971–1998
20. Regime for Protection of the Black Sea Bucharest Convention and Protocols (1992–1998)
1992–1998 • Black Sea Strategic Action Plan (1996–1998)
21. South Pacific Fisheries Forum Agency General Management of Fisheries (1979–1982)
Regime 1979–1998 (1982–1995/97) (1995/97–1998) • Compliance of
Fisheries Management (1979–1982) (1982–1995/
97) (1995/97–1998)
22. Stratospheric Ozone Regime Vienna Convention (1985–1990) (1990–1998) •
1985–1998 Montreal Protocol (1987–1990) 1990–1998) •
London Amendment (1990–1998) • Copenhagen
Amendment (1992–1998) • Multilateral Fund
(1990–1998)
23. Tropical Timber Trade Regime International Tropical Timber Agreement
1983–1998 (1983–1998)
Quelle: Eigene Darstellung
Die grundlegenden Ziele eines Regimes werden in der Regel in den entsprech-
enden völkerrechtlichen Dokumenten explizit formuliert. Der Antarktisvertrag von
1959 zielt zum Beispiel darauf ab, 1) Konflikte €uber das Territorium der Antarktis zu
vermeiden, 2) die internationale wissenschaftliche Kooperation in der Antarktis zu
verbessern, und 3) dass nur friedliche Aktivitäten in der Antarktis durchgef€uhrt
werden. F€ ur die in der Regimedatenbank enthaltenen Elemente der 23 Regime
wurden insgesamt 524 solcher Ziele bestimmt. Die Daten zeigen, dass mehr als
75 Prozent dieser Ziele auch erreicht wurden. Ermittelt wurde dar€uber hinaus auch
der kausale Einfluss, der dem internationalen Regime f€ur den gemessenen Grad der
Erreichung bzw. Nichterreichung von Zielen zugewiesen wurde. In nahezu 70 Pro-
zent der Fälle, in denen die formulierten Ziele der Regime erreicht wurden, hatten die
Regime selbst einen großen kausalen Einfluss auf die Zielerreichung. In 25 Prozent
dieser Fälle wurde Regimen zumindest eine gewisse kausale Bedeutung f€ur die
Zielerreichung zuerkannt (Breitmeier 2008, S. 129 ff.).
Die von einem Regime bearbeiteten Probleme wurden von den Fallstudienexper-
ten vor der eigentlichen Codierung ebenfalls gemeinsam definiert. Das 1954 errich-
tete Regime gegen Ölverschmutzung (Oil Pollution Regime) bearbeitet zum Beispiel
das Phänomen der Ölverseuchung von K€usten und das Sterben von Seevögeln, das
durch Ölverschmutzung aus Schiffs- und Tankerunfällen bzw. durch das absichtliche
Ableiten von Öl verursacht wird. Das 1982 mit der Wiener Konvention zum Schutz
der Ozonschicht entstandene Ozonregime bearbeitet das Problem des R€uckgangs des
Ozons in der Stratosphäre durch ozonzerstörende Stoffe. Einzelne Regime bearbei-
ten mehrere Probleme, bei denen bei der Problembearbeitung Zielkonflikte entstehen
können. Das internationale Walfangregime von 1946 konzentrierte sich nicht nur auf
den Schutz der Walbestände, sondern legte den Schwerpunkt der Problembearbei-
tung auch auf eine geordnete Entwicklung der Walfangindustrie. In etwas mehr als
der Hälfte der f€ ur die 23 Regime codierten 195 Probleme hat sich der Zustand
entweder bedeutend (25 Prozent) oder leicht (26 Prozent) verbessert. In ca.
20 Prozent der Fälle blieb der Zustand eines Problems unverändert. In etwas weniger
als 30 Prozent der Fälle verschlechterte sich die Situation sogar. Im Teilsegment
jener Probleme, bei denen eine Verbesserung des Zustands gemessen wurde, hatten
Regime in ca. der Hälfte dieser Fälle einen bedeutenden oder sehr starken Einfluss
f€
ur die beobachteten Verbesserungen (Breitmeier 2008, S 134 ff.). Dies zeigt einer-
seits, dass internationale Regime einen kausalen Einfluss auf die Problemlösung
haben können. Weitere in der Regimedatenbank enthaltene Befunde können diese
Korrelation zwischen dem Zustand des Problems und dem von Fallstudienexperten
identifizierten kausalen Einfluss eines Regimes untermauern. In diesen Fällen des
relativen Erfolgs stellen internationale Regime jeweils eine sehr breite Palette von
institutionellen Mechanismen und programmatischen Aktivitäten bereit, die zur
Problembearbeitung benötigt werden. Die kausale Wirkung dieser Mechanismen
kann allerdings durch die quantitative Analyse allein nicht immer hinreichend
bewiesen werden. Daher muss die quantitative Analyse auch durch qualitative
Befunde ergänzt werden, welche die Wirkung dieser Mechanismen veranschauli-
chen. So tragen Compliance-Mechanismen im Einzelfall dazu bei, dass Transparenz
Internationale Regime im politikwissenschaftlichen Vergleich 911
€
uber das gegenseitige Verhalten bez€uglich der Normeinhaltung geschaffen und das
Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten gestärkt wird. Mechanismen zum Capacity-
Building stellen Staaten mit unzureichenden finanziellen, technologischen und epis-
temischen Kapazitäten zusätzliche Unterst€utzung bereit und erleichtern diesen die
effektive Umsetzung von Regimeregeln. Mechanismen zur Streitbeilegung sorgen
daf€ur, dass mögliche Zweifel €uber die Normeinhaltung einzelner Staaten fr€uhzeitig
aufgeklärt werden.
Neben der Datenbank €uber internationale Umweltregime hat das sogenannte
„Oslo-Seattle-Projekt“ (ein von Arild Underdal und Edward Miles geleitetes
norwegisch-amerikanisches Projekt) ebenfalls eine vergleichende Untersuchung
der Effektivität internationaler Regime vorgenommen (Miles et al. 2002). Im Oslo-
Seattle-Projekt wurden f€ur 14 Umweltregime qualitative Fallstudien entwickelt, die
sich – verglichen mit dem Regimedatenbankprojekt – an einem schlankeren Code-
book mit Variablen orientierten. Die im Oslo-Seattle-Projekt gewonnenen Daten
wurden zudem in eine eigene Datenbank €ubertragen. Beide Projekte, das Regime-
datenbankprojekt und das Oslo-Seattle-Projekt behandeln die Effektivität von inter-
nationalen Regimen als wichtige abhängige Variable. Beide Projekte gehen von
einem ähnlichen Verständnis der abhängigen Variablen der Effektivität aus, opera-
tionalisieren diese aber teilweise unterschiedlich. Das Oslo-Seattle-Projekt gewann
zum Beispiel Daten €uber die relative Effektivität. Dabei wurde bewertet, wie der bei
Vorhandensein eines Regimes beobachtbare Wandel des Verhaltens von Regimemit-
gliedern bzw. der Performanz von Problemen im Vergleich zur kontrafaktischen
Situation einzuschätzen ist, in der es nicht zur Bildung eines Regimes gekommen
wäre (no-regime-counterfactual). Diese Nicht-Regime-Situation bildet gewisserma-
ßen ein „Worst-Case-Szenario“, demgegen€uber die aktuell zu beobachtende Perfor-
manz eines Regimes normalerweise in einem „guten Licht“ erscheint. Zudem wird
auch untersucht, wie das Verhalten der Regimemitglieder bzw. der Stand der Prob-
lembearbeitung im Vergleich zum „kollektiven Optimum“, das dem hypothetischen
„Idealzustand“ darstellt, zu bewerten ist. Das Oslo-Seattle-Projekt beruht auf einem
Kern problemtypologischer Hypothesen, die um komplexere Variablen wie der
Malignität eines Problems (problem-malignancy) und der Problemlösungskapazität
(problem-solving-capacity) angesiedelt sind.
Eine von Mitgliedern beider Projekte vorgenommene vergleichende Auswer-
tung der Befunde der Datenbank €uber internationale Regime und des Oslo-Seattle-
Projekts zeigte, dass diese Projekte die Relevanz von internationalen Regimen f€ur
die grenz€ uberschreitende Problembearbeitung deutlich bestätigen (Breitmeier
et al. 2011). Die detailliertere Auswertung beider Projekte zeigte €uberdies, dass
die kausale Relevanz von Regimen f€ur die Problemlösung eng mit bestimmten
institutionellen Eigenschaften von Regimen verkn€upft ist bzw. von sozialen
Praktiken abhängt, die durch internationale Regime ermöglicht werden. Dies lässt
sich u. a. am Beitrag von programmatischen Aktivitäten von Regimen (z. B.
wissenschaftliches Monitoring, Überpr€ufung der Implementation, Forschung und
Informationsaustausch) zeigen, den diese f€ur die Verbesserung der epistemischen
Grundlagen (z. B. Wissen €uber Ursachen und Wirkungen eines Problems,
912 H. Breitmeier
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Regionalisierung im
politikwissenschaftlichen Vergleich
Anja Jetschke
Zusammenfassung
Wir befinden uns in einem Zeitalter der Regionalisierung der internationalen
Beziehungen, wie aber werden Regionalismus und Regionalisierung in vergleich-
ender Perspektive untersucht? In Anbetracht der Vielfalt an Konzepten und Zu-
gängen zu diesem wiederbelebten Forschungsfeld definiert dieser Beitrag
zunächst zentrale Konzepte (Regionalisierung, Regionalismus und regionale
Integration) und grenzt sie voneinander ab. Er stellt dann zwei unterschiedliche
Zugänge zu komparativem Regionalismus dar. Der stärker disziplinär politikwis-
senschaftliche Zugang ist durch die Internationalen Beziehungen geprägt und
untersucht das Phänomen Regionalismus als den eines Aufbaus unabhängiger
Entscheidungsstrukturen auf regionaler Ebene. Ihm wird ein stärker an den Area
Studies ausgerichteter, qualitativer Zugang gegen€uber gestellt und dessen Ver-
gleichsmethodik erläutert.
Schlüsselwörter
Vergleichende Regionalismusforschung • Regionalismus • Regionalisierung •
Regionale Integration • Area Studies
Wir befinden uns in einem Zeitalter der Regionalisierung der internationalen Bezie-
hungen (Acharya 2014; Katzenstein 2005; Milner und Kubota 2005; Nolte 2010;
Goertz und Powers 2012). Indikativ f€ur diesen Trend sind die wachsende Zahl der
A. Jetschke (*)
Professorin f€ur Internationale Beziehungen, Institut f€
ur Politikwissenschaft, Universität Göttingen,
Göttingen, Deutschland
E-Mail: anja.jetschke@sowi.uni-goettingen.de; anja.jetschke@giga-hamburg.de
1. Die Forschung zur regionalen Integration ist eine der ältesten Forschungsrichtun-
gen und befasst sich vor allem mit der (multifunktionalen) politischen Integration
nationaler Gesellschaften auf regionaler Ebene. Aus historischen Gr€unden domi-
niert hier die Integrationsforschung zu Europa, auch wenn Integrationstheoretiker
das Feld urspr€ unglich im Sinne internationaler Integrationsprozesse breiter defi-
nierten (Nye 1968; Haas 1970) und die außereuropäische Integrationsforschung
floriert (Atkinson 1999; Dabene 2009; Malamud 2012). Die regionale Integra-
tionsforschung hat -aber nicht ausschließlich anhand des Falls der europäischen
Integration - zu einer Vielzahl an Integrationstheorien gef€uhrt, die als Theorien
der (neo-)funktionalen Integration (Haas 2004 [1958]; Schmitter 2005), intergou-
vernementalen (Moravcsik 1998) und supranationalen Integration (Burley und
Mattli 1993; Sandholtz und Stone Sweet 2004) bekannt sind. Die Unterschiede
zwischen diesen Theorien sind an anderer Stelle hervorragend zusammengefasst
Regionalisierung im politikwissenschaftlichen Vergleich 917
und sind nicht Gegenstand dieses Beitrags (Rittberger und Schimmelfennig 2005;
Börzel 2012).
2. Verwandt mit dieser Forschung ist die Forschung zum institutionellen Design von
regionalen Organisationen. Konzeptionell baut sie auf den Definitionen von
regionaler Integration - Delegation und Pooling - fr€uherer Integrationstheoretiker
auf. Sie betrachtet Regionalorganisationen als Subset von internationalen Orga-
nisationen und verortet sich in der Disziplin der Internationalen Beziehungen
(Haftel 2007; Powers und Goertz 2011; Hooghe und Marks 2012).
3. Die an den Area Studies orientierte Regionalismusforschung orientiert sich eben-
falls an den Internationalen Beziehungen und greift auf deren Theorienkanon zur
Erklärung regionaler Phänomene zur€uck, versteht Regionen aber stärker als
ideelle und identitätsstiftende Räume mit ihrem jeweils eigenen Charakter. Bei
diesen Studien steht die empirische Analyse der Veränderungsprozesse innerhalb
von Regionalorganisationen im Mittelpunkt oder deren Einbettung in und Inter-
aktion mit globalen Governancestrukturen (Engel und Gomes Porto 2010; Paul
2012; Aris und Wengger 2013). Ein Teil der Literatur definiert sich explizit als
kritische Forschung zu den beiden bisher genannten Forschungsrichtungen und
moniert sowohl den Eurozentrismus der Integrationsforschung als auch den
wahrgenommenen OECD-Welt-Zentrismus und politikwissenschaftlich-diszipli-
nären Fokus der Forschung zu institutionellem Design (Acharya und Johnston
2007). Ein anderer Teil verortet sich stärker in der internationalen politischen
Ökonomie, analysiert Regionalisierung vor dem Hintergrund von Globalisie-
rungsprozessen und betrachtet Regionen selbst als eingebettet in Strukturen der
Internationalisierung und hegemonialer Macht (Solingen 1998; Breslin und Hig-
gott 2000; Katzenstein 2000; Buzan und Waever 2003; Katzenstein 2005; Han-
cock 2009; Dabene 2012).
4. Die Forschung zum Neuen Regionalismus ist in den Global Studies zu verorten
(Jørgensen und Valbjørn 2012; Söderbaum 2012). Global Studies brechen die
traditionelle Analyseheuristik der internationalen Beziehungen auf und interes-
sieren sich f€ur alle Formen der substaatlichen Mikroregionalisierung, in deren
Zentrum nicht-staatliche Akteure, wie Wirtschafts- und zivilgesellschaftlicher
Akteure oder Migrationsbewegungen stehen (Breslin und Higgott 2000; Hettne
und Söderbaum 2000; Jessop 2003).
Gegenstand dieses Beitrags sind in erster Linie die unter Punkt zwei und drei
aufgef€uhrten Studien, weil sie aus einer Vergleichsperspektive in der Disziplin der
Internationalen Beziehungen besonders interessant sind. Die Studien zur EU-
Integration werden, wie auch andere Einzelfallstudien zu Regionalorganisationen,
hier nicht weiter behandelt, da der Vergleichscharakter fehlt.
Dieser Beitrag gliedert sich in zwei große Sektionen. Der erste Teil f€uhrt in die
grundlegenden Konzepte des Forschungsfeldes ein. Er definiert die Konzepte Regi-
onalisierung, Regionalismus und regionale Integration und grenzt sie voneinander
ab. Der zweite Teil stellt zwei unterschiedliche Zugänge zu komparativem Regio-
nalismus dar. Der stärker disziplinär politikwissenschaftliche Zugang ist durch die
Internationalen Beziehungen geprägt und untersucht das Phänomen Regionalismus
918 A. Jetschke
1
„Reale“ Regionalisierung ist dabei inzwischen Gegenstand einer umfassenden Literatur zur ver-
gleichenden Messung und bedient sich ganz unterschiedlicher Methoden. Um analytisch sinnvoll
zu sein, muss diese Verdichtung von Interaktionszusammenhängen – und darauf weist Lelio Iapadre
(2006) hin – sowohl im Vergleich zu einem fr€uheren Zeitpunkt messbar sein, als auch in Relation zu
Integration auf einer internationalen Ebene. Ein angemessener Index muss zudem die Größe der
Region gewichten und dieselbe Bereichsvariabilität aufweisen, um f€ ur den regionalen Vergleich
brauchbar zu sein. Aus diesem Grund schlägt Iapadre vor, statt des gebräuchlichen intraregionalen
Handelsindex den symmetrischen Handelsintroversionsindex als Indikator f€ ur die vergleichende
Regionalismusforschung zu verwenden (Iapadre 2006, S. 71).
2
Regionale Kooperation sei die „joint exercise of state-based political authority in intergovernmen-
tal institutions“, regionale Integration das „setting up of supranational institutions to which
authority is delegated to make collectively binding decisions“ (Börzel 2012, S. 508).
920 A. Jetschke
getroffen werden können. Darauf verweist die Definition von Liesbet Hooghe und
Gary Marks, die den Begriff der supranationalen Integration tatsächlich konzeptio-
nell ausweiten auf intergouvernementale Integration. Supranationalismus ist dann
gegeben, wenn äquifinal entweder €uber Delegation oder Pooling Regierungen ver-
bindliche Entscheidungen treffen, im Falle des Poolings €uber die Abweichung von
der Konsensregel f€ur Entscheidungen (Hooghe und Marks 2012, S. 5).
Der vom Neuen Regionalismus zur Unterscheidung von Regionalismus als
Aufbau formaler Entscheidungsstrukturen beanspruchte Begriff der Regionalisie-
rung sollte hingegen ersetzt werden durch den Begriff der Regionalität (engl.
regionality). Dieser Begriff kommt dem Verständnis des Neuen Regionalismus,
Regionalismus als soziale Praxis aufzufassen, die sich €uber Zeit und Raum unter-
schiedlich manifestiert und an der ganz unterschiedliche Akteure beteiligt sind, am
nächsten (Balsiger und Prys 2014).
Nach der hier vorgeschlagenen Begriffsverwendung bezeichnet also Regionali-
sierung die Verdichtung von wirtschaftlichen, politischen und sozialen Interaktions-
zusammenhängen; Regionalismus beschreibt spezieller den Aufbau von Institutio-
nen der kollektiven Entscheidungsfindung auf regionaler Ebene, die die Merk-
malsausprägungen Delegation und Pooling annehmen können; und Regionalität
beschreibt eine soziale Praxis von unterschiedlichen Akteuren, die dadurch unter-
schiedliche Formen der Regionalisierung konstituieren.
3 Komparativer Regionalismus
Vor allem die rapide wachsende Zahl an Regionalorganisationen seit 1945 macht das
Forschungsfeld der komparativen Regionalismusforschung heute sehr viel interes-
santer als in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Regionalismus wird nicht
mehr nur als Phänomen an sich untersucht, sondern sehr viel stärker systematische
Zusammenhänge, wie beispielsweise der zwischen Einstellungen zu regionaler
Integration und Regionalismus (Schlipphak und Menniken 2011). Viele der neuen
Konzepte zu Regionalismus greifen dabei auf bereits bekannte Konzeptualisierungen
Regionalisierung im politikwissenschaftlichen Vergleich 921
3
Die Eingriffsbreite bezeichnet die Zahl der Politikfelder, die unter die Autorität kollektiver Ent-
scheidungsprozesse fallen. Die Reichweite erfasst die Art der Partizipation am kollektiven Ent-
scheidungsprozess. Diese wird in drei Kategorien erfasst: Partizipation lediglich in der Vorstufe der
Entscheidung durch Identifikation eines Problems und das Sammeln von Informationen, während
der Entscheidung durch die Formulierung von Entscheidungsentw€ urfen oder nach der Entschei-
dung durch die Teilnahme an der Durchsetzung. „Gewicht der Entscheidung“ bezeichnet, inwiefern
die Entscheidung Auswirkungen auf die nationale Allokation öffentlicher G€ uter hat (Marks
et al. 2014, S. 9).
922 A. Jetschke
Fall, wenn sich die Variablen, die regionale und internationale Integration beeinflus-
sen, voneinander unterscheiden. Darauf deuten die Ergebnisse des Datenbankpro-
jektes von Hooghe und Marks hin: Ein wichtiger Faktor zur Erklärung von regiona-
ler Integration ist „Gemeinschaft“, bei ihnen operationalisiert als gemeinsame
Geschichte in einer Föderation (z. B. die Föderation zwischen f€unf zentralamerika-
nischen Staaten im 19. Jahrhundert) und Widerstand gegen ein koloniales Empire
(Marks et al. 2014, S. 7).
Neuere Studien weisen zudem darauf hin, dass gerade die Forschung zu institu-
tionellem Design Diffusionseffekte bisher vernachlässigt. Dies stellt die f€ur die
vergleichende Regionalismusforschung grundlegende Annahme, dass die Analy-
seeinheiten voneinander unabhängig sind, grundlegend in Frage und wirft metho-
dische Fragen auf. Die Integration von Diffusionsvariablen ist gerade angesichts der
Einbettung von Regionalorganisationen in Globalisierungsprozesse notwendig
(Jahn 2009). Sowohl das Clustering der Gr€undung von Regionalorganisationen
(Regionalismuswellen) als auch auffällige Ähnlichkeiten zwischen den Institutionen
von Regionalorganisationen lassen darauf schließen, dass Entscheidungen €uber
Institutionendesign in einer Organisation von den Entscheidungen in anderen Re-
gionalorganisationen abhängen und dass Lernen, Mimikry und Wettbewerb als
Diffusionsmechanismen eine Rolle spielen (Jetschke und Lenz 2011; Börzel und
Risse 2012; Jetschke und Lenz 2013).
Wie eingangs erwähnt, haben in den letzten Jahren auch die Area Studies zentrale
Beiträge zum Verständnis vor allem von Regionalorganisationen außerhalb Europas
geleistet. Ihrem Selbstverständnis nach legen Area Studies ein stärkeres Gewicht auf
kulturelle Ordnungsvorstellungen und historische Pfadabhängigkeiten, die Koope-
ration in Regionalorganisationen prägen und vor deren Hintergrund sich das insti-
tutionelle Design von Regionalorganisationen erst erschließt. Diese Herangehens-
weise hat zu einer F€ulle von Einzelfallstudien gef€uhrt, die vor allem das Verständnis
f€
ur die unterschiedlichen Voraussetzungen und Ideen von Regionalisierung außer-
halb Europas erhöhen. Sie haben zu einer großen Zahl hermeneutisch-typologischen
Bezeichnungen zur Charakterisierung von Regionalismen gef€uhrt, wie „hegemonia-
ler“ und „post-hegemonialer Regionalismus“ in Lateinamerika (Battaglino 2012;
Dabene 2012; Malamud 2012; Riggirozzi 2012; Riggirozzi und Tussie 2012),
offener (Phillips 2002; Carranza 2006) oder wettbewerblicher Regionalismus in
Asien und Lateinamerika (Flores-Quiroga 2009; Solis et al. 2009) oder
€
uberlappender Regionalismus in Afrika und Lateinamerika (Weiffen et al. 2013).
Eine Diskussion € uber die f€ur Area Studies jeweils spezifische Vergleichsmethodik
und deren Forschungsdesign steht hier erst am Anfang (Ahram 2011; Acharya 2012;
van Langenhove 2012).
Im Folgenden soll deshalb anhand zweier prominenter Beispiele illustriert wer-
den, wie ein systematischer Vergleich in den Area Studies aussehen könnte, um
924 A. Jetschke
anhand des Beispiels dann zu argumentieren, dass der typologische Vergleich sich in
besonderer Weise f€ur die komparative Regionalismusforschung aus einer Area
Studies Perspektive eignet.
Peter Katzenstein vergleicht in A World of Regions Regionalismus in Ostasien
und Europa. Die abhängige Variable ist bei ihm die Variation zwischen Institutiona-
lisierungsprozessen in den beiden Regionen. Ostasiatischer Regionalismus wird von
ihm als auf informellen Regeln gr€undend und durch Netzwerkbildung geprägt
charakterisiert, während europäischer Regionalismus durch den Aufbau formaler
Institutionen geprägter ist. Allerdings zeichnen sich beide Regionalismen durch
wirtschaftliche Offenheit aus. Weder beim ostasiatischen noch beim europäischen
Regionalismus handelt es sich um regionale Handelsblöcke mit hohen Außenzöllen.
Damit ist seine abhängige Variable tatsächlich das institutionelle Design der Koope-
rationsbeziehungen, die er als kategoriale Variable (informelles Netzwerk, formale
Organisation) spezifiziert und die jeweils einen niedrigen oder hohen Grad an
Formalisierung bezeichnet. Sein kausales Narrativ betont die Rolle der US-
Hegemonie nach dem Zweiten Weltkrieg, die insgesamt zu einer Liberalisierung
regionaler Wirtschaftsstrukturen beigetragen hat. Gleichzeitig betrachtet er diesen
Einfluss als gefiltert durch sogenannte Kernstaaten, das sind die wichtigsten regio-
nalen Allianzpartner (Deutschland und Japan). Deren enge Anbindung an die USA
ermöglichte es den USA einerseits, ihre liberalen Ideen in den jeweiligen Regionen
zu verankern. Andererseits sorgte deren variierende innerstaatliche Struktur daf€ur,
dass sich die tatsächliche Form des Regionalismus in Europa und Asien bemerkens-
wert unterscheidet.
Katzensteins Vergleichsmethode ist typologisch oder – in Jahns (2005) Termino-
logie – konfigurativ-ideographisch.
In diesem Fall sind die beiden typologischen Merkmale von Regionalismus 1) die
Existenz einer wirtschaftsliberalen Hegemonie (wobei die zweite Ausprägung die
Abwesenheit einer solchen Hegemonie oder eine Hegemonie mit einer anderen
Wirtschaftsideologie sein könnte) und 2) die Existenz von sogenannten Kernstaaten
in einer Region und deren institutionelle Kultur.
Wie durch die Tab. 1 deutlich wird, nutzt Katzenstein nicht alle Merkmalskom-
binationen f€ur eine Analyse regionaler Ordnungen. Nicht untersucht werden Fälle,
die zwar die Eigenschaft eines formalen oder informellen Regionalismus erf€ullen,
die aber in Abwesenheit eines Hegemons gegeben sind. Interessant wäre zu
Regionalisierung im politikwissenschaftlichen Vergleich 925
€
uberpr€ ufen, ob im synchronen Vergleich €uber Regionen hinweg, oder im diachronen
Vergleich verschiedener historischer hegemonialer Ordnungen (z. B. Großbritan-
nien und den USA) sich regionale Ordnungen unterscheiden. Weiter könnte man
untersuchen, ob es weitere institutionelle Kulturen von Kernstaaten gibt, die einen
weiteren, bisher nicht genannten Typus regionaler Integration bezeichnen oder ob
Regionalisierung ohne die Existenz von Kernstaaten beobachtbar ist.
Eine ähnliche typologische Herangehensweise finden wir bei Etel Solingen, die
einen Schritt weiter geht und ihre idealtypischen Ordnungen f€ur die Erklärung
beobachtbaren Verhaltens nutzt. Auch Etel Solingens Buch Regional Orders at
Centuries Dawn (1998) ist von den Area Studies geprägt. Auch sie untersucht
institutionelle Designs regionaler Kooperation, wobei nicht Regionalorganisationen
sondern „variierende regionale Ordnungen“ die ihre abhängige Variable bilden.
Solingens liberale Theorie regionaler Ordnung geht von den Präferenzen inner-
staatlicher Interessengruppen aus. Deren ideologische Ausrichtung (wirtschaftslibe-
ral-internationalistisch, militärisch-nationalistisch-konfessionell) entscheidet, wel-
che regionale Ordnung sich institutionalisiert. Treffen zwei Staaten mit jeweils
dominierenden wirtschaftsliberalen Gruppen aufeinander, institutionalisiert sich eine
liberale Ordnung. Beim Aufeinandertreffen zweier militärisch-nationalistisch-kon-
fessionell Gruppen entsteht eine stabile aber protektionistische regionale Ordnung.
Und beim Aufeinandertreffen von Staaten, bei denen in einem Staat liberale, im
anderen Staat Militärisch-nationalistisch-konfessionelle Gruppen aufeinandertref-
fen, entsteht eine gemischte Ordnung. Die Merkmale und ihre jeweiligen Ausprä-
gungen lauten also: wirtschaftsideologische Ausrichtung (internationalistisch, mili-
tärisch-nationalistisch-konfessionell) und Kombination der Gruppen (gleiche
Ausrichtung, gemischte Ausrichtung) (vgl. Tab. 2).
In einem zweiten Schritt €uberf€uhrt Etel Solingen diese Typologie in Erwartungen
€
uber die Friedfertigkeit der jeweiligen regionalen Ordnung (vgl. Tab. 3). Sowohl
liberale also auch illiberale Ordnungen sind mit einem friedlichen Außenverhalten
assoziiert, gemischte Ordnungen mit einer hohen Zahl militarisierter Konflikte in der
Region.
Besonders fruchtbar wäre es, seine auf einer typologischen Vergleichsmethode
basierende Erklärung systematisch f€ur die komparative Regionalismusforschung
fruchtbar zu machen. Dies könnte im Übrigen auch ein Weg sein, die regional-
spezifische Perspektive der Area Studies stärker in der Methodendebatte zu veran-
kern.
926 A. Jetschke
4 Zusammenfassung
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Vergleichende Außenpolitikforschung
Sebastian Harnisch
Zusammenfassung
Der Beitrag verortet die vergleichende Außenpolitikanalyse zunächst gegen€uber
den Internationalen Beziehungen und anderen Wissenschaftsdisziplinen. Hierbei
wird die Entwicklung der wichtigsten Erklärungsansätze als Reaktion auf theo-
retische Veränderungen in den Nachbardisziplinen sowie der praktischen Politik
interpretiert. Die Analyse wendet sich dann der Frage zu, inwiefern sich auto-
kratische und demokratische Außenpolitiken unterscheiden und welche Bedeu-
tung dabei internen Institutionen, Interessen sowie externen Strukturen (Macht-
relationen, Organisationen und Wertordnungen) zukommt.
Schlüsselwörter
Vergleichende Außenpolitikanalyse • Sicherheitspolitik • Internationale Bezie-
hungen • Demokratie • Autokratie
1 Einleitung
Die vergleichende Außenpolitikanalyse hat seit Mitte des 20. Jahrhunderts unter-
schiedliche Positionen gegen€uber den Internationalen Beziehungen (IB) sowie ande-
ren Wissenschaftsdisziplinen, wie beispielsweise der Geschichtswissenschaft, der
Psychologie oder Soziologie eingenommen. In diesem Kontext haben theoretische
Auseinandersetzungen innerhalb der IB, aber auch realpolitische Ereignisse die
Fragestellungen dieser Teildisziplin und ihre Rolle gegen€uber der praktischen Politik
(! Politikberatung) wesentlich geprägt. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist die
theorieorientierte Außenpolitikanalyse in allen drei großen Theoriesträngen der IB
S. Harnisch (*)
Professor f€ur Internationale Beziehungen und Außenpolitik, Institut f€
ur Politikwissenschaft,
Universität Heidelberg, Heidelberg, Deutschland
E-Mail: sebastian.harnisch@uni-heidelberg.de
Einfl€ ussen (Wie stark werden Entscheidungsträger durch Wiederwahl oder Politik-
präferenzen motiviert?) zu unterscheiden vermöge (Smith 1980). Zum anderen
wurde angemahnt, dass das Modell den kompetitiven Charakter der Verhandlungen
zwischen den B€ urokratien €ubertrieben darstelle, sodass Entscheidungsprozesse im
Konsensverfahren oder durch Überzeugungsarbeit keine hinreichende Beachtung
fänden (Art 1973). Schließlich wurde auch die Resultant-These mit dem Vorwurf
angegriffen, dass sie einen unintendierten Effekt unterstelle, wo tatsächlich inten-
tionale Prozesse (Konsensfindung) am Werke gewesen sein könnten.
Blickt man demgegen€uber auf die psychologisch informierte Außenpolitikanaly-
se sind auch hier Traditionslinien erkennbar: Zum einen sind Studien €uber die
psychologische Dimension von Außenpolitik auf der Ebene von Entscheidungsträ-
gern zu nennen (beispielsweise Holsti 1976). Diese betonen den Einfluss von Denk-
bildern sowie die Bedeutung von (Fehl-)Perzeptionen in der internationalen Politik
(beispielsweise Jervis 1976). Zum anderen lässt sich eine Forschungstradition
erkennen, die ihren Aufmerksamkeitsfokus auf die Ebene von Gesellschaften richtet
und beispielsweise den Einfluss der öffentlichen Meinung vor dem Hintergrund des
Vietnamkrieges (Mueller 1973) analysiert oder aber nationalen Rollenkonzepte von
Entscheidungseliten richtet (Holsti 1970).
Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes trat die Außenpolitikforschung in eine
neue, vergleichsweise produktive Phase ein, die neben wichtigen vergleichenden
Überblickswerken (Hudson 2007; Smith et al. 2008; Kirchner und Sperling 2010;
Beasley et al. 2013) auch die Etablierung der zwei Fachzeitschriften „Foreign Policy
Analysis“ und „Zeitschrift f€ur Außen- und Sicherheitspolitik“ mit sich brachte. Die
Schwerpunkte der bundesdeutschen Forschung lagen in dieser Phase im Bereich von
Kontinuität und Wandel der deutschen und europäischen Außenpolitiken sowie
demokratischer Staaten (Brummer 2013; Evangelista et al. 2008; Harnisch und
Maull 2001; Harnisch und Schild 2014; Maull 2006; Hellmann 2006; Hellmann
et al. 2015; Geis et al. 2013; Keil und Stahl 2014; Rittberger 2001). In den letzten
Jahren wurde das Forschungsfeld zudem stark ausgeweitet und in Richtung auf eine
breitere, theorieorientierte und vergleichende Forschungsperspektive hin weiterent-
wickelt (Brummer und Hudson 2015; Harnisch et al. 2015; Hellmann und Jørgensen
2015).
Da nur wenige Politikwissenschaftler den Systembruch von 1989 antizipiert
hatten und weite Teile der Zunft kein Erklärungsinstrumentarium daf€ ur bereithielten,
wie es zu solchen Systemumbr€uchen hatte kommen können (Lebow und Risse-
Kappen 1995), setzte eine intensive Suche nach alternativen Ansätzen ein: So
wurden akteursspezifische Ansätze wiederentdeckt, die die zentrale Rolle von ein-
zelnen Entscheidungsträgern wie Michail Gorbatschow f€ur systemische Prozesse
w€urdigten. Zudem begann die Suche nach ideenspezifischen Ansätzen, die den
Wandel von außenpolitischen Einstellungsmustern wie außenpolitischen Kulturen,
Identitäten und Rollen zu erklären vermochten, da solche Wandlungsprozesse
sowohl f€ ur das friedliche Abschmelzen des Ost-West-Gegensatzes als auch das
Aufkommen ethnisch-nationalistischer Expansionspolitiken verantwortlich gemacht
wurden (Hudson 2008, S. 26–27).
936 S. Harnisch
Systemische oder strukturelle Ansätze, wie der Neo-Realismus, zielen zuerst auf die
Erklärung eines regelmäßigen Verhaltens bestimmter Staatstypen. Sie nehmen daher
konsequenterweise regelmäßig nicht den Policy-Output einzelner Nationalstaaten in
vergleichender Perspektive oder gar Einzelentscheidungen in den Blick. Vielmehr ist
f€
ur neo-realistische Ansätze die Frage entscheidend, wie die Beschaffenheit einer
Struktur auf das Konflikt- oder Kooperationsverhalten von Staatengruppen oder
allen Staaten wirkt. Beispielsweise könnte eine Studie fragen, wie die Machtvertei-
lung zwischen Großmächten (Struktur) auf die Konflikthäufigkeit oder die Bereit-
schaft zur dauerhaften Souveränitätseinschränkung von Staatengruppen oder allen
Staaten wirkt.
Außenpolitikanalyse aus der realistischen Perspektive beginnt mit der Grundan-
nahme, dass die Machtstruktur (anarchische Ordnung) und relative Machtverteilung
(Anzahl der Machtpole und deren Größe) im internationalen System den größten
Einfluss auf die Außenpolitik aller Staaten aus€ubt. Welche Motive welche Gruppe
von Staaten zu welchem Verhalten anleiten, wird spätestens seit dem Zusammen-
bruch der bipolaren Struktur und dem Aufkommen und der Persistenz der
US-amerikanischen Vormachtstellung unter realistischen Außenpolitiktheoretikern
kontrovers diskutiert: Offensive Neorealisten, wie John Mearsheimer gehen davon
aus, dass Großmächte in einem unsicheren Umfeld offensiv, kompetitiv und expan-
siv handeln. Defensive Neorealisten argumentieren, dass Großmächte und andere
Staatengruppen am Erhalt ihrer Machtposition interessiert sind und geographische,
technologische und politische Faktoren die Varianz ihres positionalen Strebens
erklären können (Glaser 1995). Dar€uber hinaus hat sich unter R€uckgriff auf klassi-
sche Texte des Realismus eine Gruppe von Neoklassischen Realisten gebildet, die
die systemische Perspektive von Kenneth Waltz 1979 mit subsystemischen (Regie-
rungssystem, Entscheidungsgruppenkonstellationen) und individuellen Faktoren zu
verkn€upfen suchen (beispielhaft Lobell et al. 2009).
Ausgangspunkt institutionalistischer Theorien ist die Annahme, ebenso wie im
Neorealismus, dass Staaten die wichtigsten Akteure in den iB sind und diese in
einem anarchischen Umfeld agieren. Internationale Institutionen bilden zumeist den
Willen ihrer Mitglieder ab, die sich ihrer instrumentell bedienen, um ihre Interessen
durchzusetzen. Im Gegensatz zum Realismus gehen Institutionalisten aber davon
aus, dass Institutionen helfen können, die systemischen Effekte des anarchischen
Systems zu lindern, indem sie 1) einen fixen Verhandlungsrahmen bereitstellen, 2)
eine präzise Definition von Kooperation ermöglichen, 3) Themenverkn€upfungen
erlauben und 4) legitime Sanktionsmöglichkeiten bei Fehlverhalten bereithalten
(Keohane und Martin 2003, S. 80). Dar€uber hinaus unterscheiden sich Institutiona-
lismen – der rationale, der soziologische und der historische – jedoch in ihren
Erklärungen €uber das Verhalten von Staaten in internationalen Organisationen sowie
bei deren Gr€undung oder bei deren Aufk€undigung.
Vor diesem Hintergrund hat sich die institutionenorientierte Außenpolitikfor-
schung in den letzten Dekaden vor allem zwei Themenkomplexen zugewandt:
zum einen der Frage, inwieweit internationale Organisationen und hier vor allem
Vergleichende Außenpolitikforschung 937
Dass Demokratie im Innern eines Staates dessen Verhalten nach außen beeinflusst,
gehört seit Thukydides zum Kernbestand der internationalen politischen Theorie.
Seither ist intensiv untersucht worden, inwiefern bestimmte Ideen, Institutionen und
Interessen das Außenverhalten von Demokratien prägen: Das Spektrum reicht von
der Friedfertigkeit €uber die besondere Vertragstreue bis hin zur Fähigkeit eine
imperiale (Über-)Expansion zu vermeiden (exzellenter Überblick bei Schultz 2013).
Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes, der Ausweitung der Zahl demokratischer
Gemeinwesen und Gemeinschaften (NATO/EU) hat sich auch die Anzahl und
Richtung der Forschungsbeiträge dramatisch verändert. So ist die vergleichende
Forschung zur Friedfertigkeit als auch zum Kriegsgebaren von Demokratien gleich-
sam explodiert (Geis und Wagner 2011): Aus rationalistisch-institutionalistischer
Perspektive wird dabei die Anzahl der Veto-Spieler bei der Entscheidung oder die
Sanktionsfähigkeit der Bevölkerung €uber Wahlen f€ur das (zur€uckhaltende) Konflikt-
verhalten verantwortlich gemacht (Russett 1993, S. 38–40), wenngleich Kaufmann
(2004) f€ur die US-gef€uhrte Intervention im Irak (2003) eindrucksvoll zeigen konnte,
wie eine € uberzeugte Exekutive demokratische Kontroll- und Selektionsmechanis-
men durch Verschleierung und Bedrohungsinflation umging.
In dieser Forschungstradition zeigten Lake (1992) und nachfolgend Bueno de
Mesquita et al. 2003, wie elektorale Erwägungen der regierenden Eliten die Auswahl
„gewinnbarer Kriege“ ermöglichen. Sodann spezifizierte Siverson 1995, dass De-
mokratien in Konflikten weniger Opfer zu beklagen haben, was unter anderem
Schörnig (2007) auf die vermehrte Verwendung moderner Waffentechnologie (ins-
besondere Drohnen) zum Schutze der eigenen Soldaten zur€uckf€uhrt.
Zieht man jedoch in Betracht, dass Demokratien (aber auch andere Regime-
Typen) immer weniger zwischenstaatliche Kriege f€uhren, dann relativiert sich der
Befund. Die wachsende Zahl von demokratischen Interventionen aus humanitären
Gr€unden, die bislang in keinem Fall zu selbsttragenden Friedens- und Staatsbil-
dungsprozessen gef€uhrt haben (siehe etwa Bosnien, Kosovo, Afghanistan, Irak),
verdeutlichen, dass militärische Überlegenheit nicht mit der Durchsetzbarkeit der
938 S. Harnisch
von Autokratien in den Blick. Way und Weeks (2012) können u€berzeugend darle-
gen, dass die mangelnde Differenzierung zwischen personalisierten Regimen und
anderen Formen autokratischen Regierens daf€ur verantwortlich ist, dass der Regime-
typus bislang nicht als Prädiktor f€ur Proliferationsverhalten anerkannt wurde. Ihre
Befunde werden durch Einzelfallstudien von Hymans 2006, 2008 gest€utzt: Dieser
kann zum einen plausibel aufzeigen, wann und unter welchen Bedingungen be-
stimmte Regime-Typen entschieden haben, eine technische Option zum Bau von
Nuklearwaffen in die tatsächliche Realisation umzuwandeln. Zum anderen weist
Hymans aber auch nach, welche (autokratischen) Regime an den hohen technischen
und organisatorischen H€urden zum Aufbau, zum Unterhalt und zur erfolgreichen
Produktionsreife eines Nuklearwaffenprogramms gescheitert sind.
Vergleicht man abschließend die Außenpolitikforschung mit der Public-Policy-
Forschung vor dem Ende des Ost-West-Konfliktes, dann werden, neben der schwachen
„Impact-Orientierung“ der Außenpolitikanalyse (Rittberger und Wolf 1985, S. 212),
zwei divergierende Trends sichtbar: Einerseits f€uhrt die Europäisierung von Staatlich-
keit in weiten Teilen Europas zu einer thematischen und theoretischen Annäherung der
Außenpolitikanalyse an die „Public Policy-Forschung“ (Wessels und Weiler 1988);
andererseits trennt sich die Außenpolitikforschung, nach etlichen problematischen
Erfahrungen mit großskaligen quantitativen Vergleichsstudien (Smith 1986), von der
vergleichenden Policy-Forschung insofern ab, als komparative Studien, die auf nomo-
thetische Aussagen zielen und auf quantiativen Regressionsanalysen beruhen eher zur
Ausnahme denn zur Regel werden (Hudson und Vore 1995).
Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes verändert sich die Positionierung der
theorie-orientierten Außenpolitikanalyse gegen€uber der vergleichenden Politikfor-
schung erneut: Zum einen lehnt sich die Außenpolitikanalyse stärker an die IB-
Forschung an, die sich ihrerseits entlang der traditionellen Großtheorien ausdifferen-
ziert (Harnisch 2003). Zum anderen sorgt die sozialkonstruktivistische Wende in den
Internationalen Beziehungen auch in der Außenpolitikanalyse f€ur eine neue, sich
ausdifferenzierende Entwicklungsdynamik: Es entwickeln sich in Europa und Ame-
rika distinkte sozialkonstruktivistische Ansätze (Checkel 2008); zudem r€uckt die
sozialkonstruktivistische Wende in der Außenpolitikanalyse diese wieder näher an
die vergleichende Politikforschung heran, indem die Outcomes, insbesondere aber
die R€ uckwirkungen der Policies auf den Akteur stärker zum Gegenstandskern wer-
den. Schließlich f€ uhrt der Dialog zwischen Außenpolitikanalyse und anderen Dis-
ziplinen, und hier insbesondere der Psychologie, zu einer substantiellen Forschungs-
dynamik, insbesondere in den USA, die in einigen Teilgebieten, so etwa der
Lernforschung, zu einer weiteren Annäherung der beiden Forschungsfelder f€uhrte.
4 Zusammenfassung
Dieser kurze Überblick hält einige Einsichten f€ur die zuk€unftige Entwicklung der
Vergleichenden Außenpolitikanalyse als IB-Teildisziplin bereit. Erstens lässt sich
nach einer langen Phase der Abgrenzung von der Lehre der Internationalen Bezie-
hungen in den 1950er- und 1960er-Jahren eine deutliche Wiederannäherung der
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Teil VIII
Materialien
Zentrale Datenquellen, Handbücher und
Zeitschriften
Zusammenfassung
Dieser Beitrag liefert einen Überblick u€ber zentrale Datenquellen, Handb€ucher
und Zeitschriften aus dem Bereich der Vergleichenden Politikwissenschaft. Ziel
ist es, sowohl Studierenden als auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern
dieser Disziplin, Orientierungspunkte aufzuzeigen, die als Ausgangspunkt oder
Vertiefung f€
ur weitere Recherchen dienen können.
Schlüsselwörter
Vergleichende Politikwissenschaft • Qualitative Methoden • Quantitative Metho-
den • Politics • Polity • Policy • Handb€ucher • Wissenschaftliche Zeitschriften •
Aggregatdaten • Individualdaten • Überblick
1 Einleitung
T. Stark (*)
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl f€
ur Vergleichende Politikwissenschaft, Institut f€
ur
Politikwissenschaft, Universität Duisburg-Essen, Duisburg, Deutschland
C. Mohamad-Klotzbach
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl f€ ur Vergleichende Politikwissenschaft und Systemlehre,
Institut f€ur Politikwissenschaft und Soziologie, Universität W€
urzburg, W€urzburg, Deutschland
E-Mail: ch.mohamad@uni-wuerzburg.de
2.1 Individualdaten
2.2 Aggregatdaten
Arabbarometer (AB) – Governance, politische Einstellungen, 2006, 2007, 2008 10 Länder www.arabbarometer.
politische, soziale und kulturelle org
Wertestruktur
Latino barometro – Lebenszufriedenheit, institutionelles Jährlich seit 1995 19 s€
udamerikanische www.
Vertrauen, Partizipation, Governance Länder, ohne Kuba, Haiti latinobarometro.org
– Standarddemographie und Puerto Rico
Asianbarometer – Institutionelles Vertrauen, politische 2003, 2008, 13 asiatische Länder, www.asianbaromter.
Partizipation, Traditionalismus 2012 unstetige Teilnahme org
– Sozioökonomische Faktoren
(Fortsetzung)
951
Tab. 1 (Fortsetzung)
952
Geografische
Abdeckung/
Name Thematische Schwerpunkte Zeitraum Stichprobengröße Bezugsquelle
Asiabarometer – Alltagssituationen der Bevölkerung 2002, 2003, 2004, Asiatische Länder in www.asiabarometer.
hinsichtlich Arbeitsbedingungen, 2005, 2006, 2007, wechselnden Samples org
Familie, Einstellungen gegen€ uber 2008
sozialen und politischen Institutionen,
Wirtschaftsbewertungen
International Social Survey F€
unfjährlich wechselnde Themenblöcke: Jährlich seit 1984, 48 Länder, weltweit GESIS
Programme (ISSP) – Role of Government immer wechselnder
– Social Networks Themenblock
– Social Inequality
– Familiy and Changing Gender Roles
– Work Orientations
Comparative Study of – Wahlverhalten, soziale und politische 1996 – 2001, 2001 – 36 Länder, weltweit http://cses.org/
Electoral Systems (CSES) Konfliktlinien, 2005
– Entwicklung demokratischer
Institutionen
Luxembourg Income Study – Einkommensstudie mit Fragen zum 1980, 1985, 1990, 29 Länder, http://www.
Database (LIS) Erwerbseinkommen, 1995, 2000 hochentwickelte lisdatacenter.org/
Vermögenseinkommen, Steuern, Renten Industrienationen
und öffentliche Transferleistungen
– Daten zur Einkommens-ungleichheit
(GINI-Koeffizient) und
Armutsentwicklung
– Enthält zudem Daten der Wealth Study
Database (LWS)
Quelle: Eigene Zusammenstellung; Anmerkung: Bei den Angaben zur Stichprobengröße handelt es sich a) um ca.- Angaben und b) variieren sie €uber die
Erhebungswellen. Die Fallzahlen beziehen sich auf die Daten der letzten bzw. aktuellsten Erhebungswelle
T. Stark und C. Mohamad-Klotzbach
Tab. 2 Übersicht €uber die zentralen Demokratieindizes
Geografische
Name Konstruktion Zeitraum Abdeckung Bezugs quelle
Vanhanen Index – Parteienwettbewerb und Partizipation der B€urger 1810 – 2000 187 Länder www.prio.no/Data/
– Gleichwertige Berechnung zum Index of Democracy Governance
(Polyarchie)
Polity IV – Wettbewerbscharakter der politischen Beteiligung 1800 – heute 167 Länder, www.systemicpeace.
– Regulation der politischen Beteiligung (Inklusion) Einwohnerzahl org/polity/polity4.htm
– Wettbewerbscharakter der Rekrutierung der Exekutiven größer 500.000
– Offenheit der Rekrutierung der Exekutiven
– Machteinschränkung der Regierung
Freedom House (FH) Politische Rechte: 1972 – heute 195 Länder http://www.
– Aktives und passives Wahlrecht, politischer Pluralismus freedomhouse.org/
und Partizipation reports
– Arbeit der Regierung,
B€urgerliche Freiheiten:
– Meinungs- und Glaubensfreiheit
– Versammlungs- und Organisationsfreiheit
Zentrale Datenquellen, Handbücher und Zeitschriften
– Rechtsstaat
– Persönliche Autonomie und Individualrechte
Bertelsmann Trans- – Einschätzungen zum Stand der politischen und 2003, 2006, 128 Länder weltweit http://www.bti-
formations-index wirtschaftlichen Transformation bilden den Status-Index 2008, 2010, project.de/index/
(BTI) – Politische Gestaltung auf dem Weg zur Demokratie und 2012, 2014
der Markwirtschaft bildet den Management-Index
gewichtet mit einem Schwierigkeitsgrad
Sustainable – Statusindex misst die Demokratiequalität und die 2009, 2011, 2014 41 Länder, OECD http://www.sgi-
Governance Performanz in zentralen Politikfeldern (Wirtschaft/Arbeit, und EU-Staaten network.org/
Indicators (SGI) Soziales, Sicherheit, Ressourcen)
– Managementindex erfasst die Governancekapazitäten der
OECD-Staaten (Steuerung, Politikumsetzung,
Lernfähigkeit, Beteiligung)
953
(Fortsetzung)
954
Tab. 2 (Fortsetzung)
Geografische
Name Konstruktion Zeitraum Abdeckung Bezugs quelle
Kombinierter Index – Messung der Regimequalität durch Kombination von 1996–2012 161 Länder www.
der Demokratie (KID) Freedom House, Polity IV und den World Governance politikwissenschaft.
Indicators uni-wuer-zburg.de
– Abdeckung der Dimensionen Freiheit, Gleichheit und
Kontrolle
World Governance – Voice and Accountability 1996–2012 215 Länder, weltweit www.govindicators.
Indicators (WGI) – Political Stability and Absence of Violence org.
– Government Effectiveness
– Regulatory Quality
– Rule of Law
– Control of Corruption
Democracy Qualitätsmessung der Demokratie € uber drei Dimensionen: 1990–2012 70 Länder http://www.
Barometer (NCCR) – Individuelle Freiheiten, Rechtsstaatlichkeit, democracybarometer.
Öffentlichkeit org/
– Wettbewerb, Gewaltenteilung, Gestaltungsmacht der
Regierung
– Transparenz, Partizipation, Repräsentation
Varieties of Bestimmung von Demokratievariationen, ausgehend von 1900–heute 163 Länder https://v-dem.net/
Democracy (V-Dem) der elektoralen Demokratie: DemoComp/en
– partizipativ
– liberal
– konsensual
– egalitär
– deliberativ
– mehrheitlich
Quelle: Eigene Zusammenstellung
T. Stark und C. Mohamad-Klotzbach
Zentrale Datenquellen, Handbücher und Zeitschriften 955
Fokus USA,
The Dataverse Project Programmgest€utztes Datennetzwerk zur Quellenabhängig Weltweite http://dataverse.org/
Freigabe und dem Austausch persönlicher Abdeckung
Datenquellen
Quelle: Eigene Zusammenstellung
957
958 T. Stark und C. Mohamad-Klotzbach
finden sich die Verweise auf drei Webseiten, die bereits eine umfangreiche Samm-
lung der verschiedensten Aggregatdaten bereitstellen.
Tab. 4 (Fortsetzung)
Policy – Handbook of Public Policy (Peters und Pierre 2006)
– Handbuch Governance. Theoretische Grundlagen und
empirische Anwendungsfelder (Benz et al. 2007)
– Handbuch Policy-Forschung (Wenzelburger und Zohlnhöfer
2015)
– Handbuch Regierungsforschung (Korte und Grunden 2013)
– Handbuch Sozialpolitiken der Welt (Porsche-Ludwig
et al. 2013)
– International Handbook on Informal Governance (Christiansen
und Neuhold 2012)
– The Oxford Handbook of Governance (Levi-Faur 2012)
– The Oxford Handbook of Public Policy (Goodin et al. 2008)
– The Oxford Handbook of the Welfare State (Castles
et al. 2010)
– The Sage Handbook of Governance (Bevir 2011)
– The Sage Handbook of Public Administration (Peters und
Pierre 2012)
Methoden – Best Practices in Quantitative Methods (Osborne 2008)
– Handbuch der sozialwissenschaftlichen Datenanalyse (Wolf
und Best 2010)
– Methoden der vergleichenden Politik- und Sozialwissenschaft.
Neue Entwicklungen und Anwendungen (Pickel et al. 2009)
– The Oxford Handbook of Political Methodology
(Box-Steffensmeier et al. 2008)
– The Sage Handbook of Case-Based Methods (Byrne und
Ragin 2009)
– The Sage Handbook of Grounded Theory (Bryant und
Charmaz 2007)
– The Sage Handbook of Online Research Methods (Fielding
et al. 2008)
– The Sage Handbook of Public Opinion Research (Donsbach
und Traugott 2008)
– The Sage Handbook of Qualitative Research (Denzin und
Lincoln 2011)
Quelle: Eigene Zusammenstellung
Aktuelle und kontroverse Diskussionen der Disziplin und ihrer zahlreichen Subdis-
ziplinen finden in den zentralen wissenschaftlichen Zeitschriften statt, die u. a. von
nationalen oder internationalen politikwissenschaftlichen Dachverbänden,
Zentrale Datenquellen, Handbücher und Zeitschriften 961
1
Peer-reviewed Journals sind wissenschaftliche Zeitschriften, die zur Qualitätssicherung der Bei-
träge €uber ein Begutachtungsverfahren verf€ ugen. Dabei werden die eingereichten Manuskripte in
einer anonymisierten Fassung an zwei bis drei themen- und/oder methodenkundige Experten
verschickt, die das jeweilige Manuskript anhand verschiedener Kriterien wie der wissenschaftlichen
Qualität und Originalität sowie der theoretischen und thematischen Relevanz bewerten sollen. Ein
solches Verfahren wird als double-blind bezeichnet, da weder der Autor/die Autorin des Manu-
skripts die Gutachter kennt, als auch die Gutachter (im Idealfall) nicht wissen (und auch nicht
rekonstruieren können), wer das Manuskript verfasst hat. Aufsätze in solchen Zeitschriften gelten in
der Wissenschaft als qualitativ besonders hochwertig (Greener 2011, S. 24–26). Dies muss jedoch
nicht heißen, dass in Zeitschriften ohne ein solches Verfahren die Qualität der Beiträge unbedingt
schlechter ist.
Zentrale Datenquellen, Handbücher und Zeitschriften 963
zuletzt Fragen der Europäischen Integration und des Erweiterungsprozesses als auch
die Auswirkungen politischer und ökonomischer Entwicklungen. Die Zeitschrift er-
scheint bei Palgrave Macmillan seit 2013 sechsmal pro Jahr (bis 2012: 5x/Jahr), wobei
mindestens eine Ausgabe pro Jahr einen Themenschwerpunkt besitzt. Zwar ist der
Fokus dieses Journals aufgrund seiner europäischen Forschungsausrichtung etwas
enger als der von CP, CPS und ZfVP, jedoch kann es aufgrund seiner dezidiert
komparativen Ausrichtung zu dieser €ubergeordneten Kategorie gezählt werden.
Ergänzend zu diesen vier Periodika existieren eine ganze Reihe weiterer renom-
mierter Fachzeitschriften im deutschsprachigen, europäischen und internationalen
Kontext, die immer wieder komparative Analysen veröffentlichen bzw. ihre Schwer-
punkte auf Teilbereiche der Vergleichenden Politikwissenschaft und Systemlehre
legen und in der Regel neben thematischen auch regionale Schwerpunkte (Area-
Studies) setzen (vgl. Tab. 6).
Im europäischen Kontext ist insbesondere das European Journal of Political
Research (EJPR) des European Consortium for Political Research (ECPR)
zu nennen. Ergänzt wird das EJPR um das jährlich erscheinende Political Data
Yearbook, das politisch relevante Ereignisse und Statistiken der europäischen
Staaten, bspw. Wahlergebnisse oder institutionelle Veränderungen, als auch von
ausgewählten weiteren Staaten (u. a. Australien, Kanada und USA) dokumentiert.
Des Weiteren existieren Journals, die ihren Schwerpunkt im sozialwissenschaft-
lichen Methodenbereich haben. Hierzu zählen bspw. die stärker soziologisch ausge-
richteten Zeitschriften Journal of Mixed Methods Research, Sociological Methods
and Research oder Qualitative Research sowie das seit 2013 neu erscheinende
Political Science Research and Methods.
Zwei Schwerpunkte sollen abschließend noch genannt werden. Zum einen ist die
Demokratie- bzw. Demokratisierungsforschung zu nennen, die einen Kernbereich
der Vergleichenden Politikwissenschaft ausmacht. Diese Subdisziplin verf€ugt mit
dem Journal of Democracy (JoD) und Democratization €uber zwei Periodika, die
federf€uhrend im Bereich der Transformations- sowie der demokratischen Konsoli-
dierungsforschung sind. Seit 2005 existiert mit dem Taiwan Journal of Democracy
(TJD) eine j€ ungere Publikation, die den Forschungsfokus insbesondere auf den
asiatischen Raum legt und hierbei sowohl konzeptionelle als auch empirische Bei-
träge veröffentlicht.
Zum anderen ist der Forschungsbereich der Einstellungsforschung zu erwähnen,
der einen wichtigen eigenständigen Beitrag zur Komparatistik liefert. Neben Public
Opinion Quarterly (POQ) und Political Behavior zählt das International Journal of
Public Opinion Research (IJQM) zu den f€uhrenden Publikationen in diesem Bereich
und liefert Einblicke in konzeptionelle, empirische und methodologische Weiter-
entwicklungen dieses Forschungsbereiches, welche sowohl f€ur Wahl- als auch Ein-
stellungsforschern von Interesse sein können.
Gleichfalls sind Journals zu erwähnen, die eine Area-Fokussierung aufweisen,
d. h. sich auf politikwissenschaftliche Analysen in bestimmten Regionen oder Konti-
nenten spezialisiert haben. Hierzu zählen u. a. Osteuropa, das Journal of Asian Studies,
African Affairs oder Latin American Research Review sowie die Area-spezifischen
Journals, f€
ur die sich das GIGA verantwortlich zeigt (z. B. Africa Spectrum).
964 T. Stark und C. Mohamad-Klotzbach
Tab. 6 Übersicht €uber zentrale nationale und internationale Zeitschriften der Vergleichenden
Politikwissenschaft
Komparativ ausgerichtete – Comparative Politics (CP)*
Zeitschriften – Comparative Political Studies (CPS)*
– Zeitschrift f€
ur Vergleichende Politikwissenschaft (ZfVP)*
– Comparative European Politics (CEP)*
– Journal of Comparative Politics*
Zentrale Zeitschriften im – Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ)
deutschsprachigen Raum – Forschungsjournal Soziale Bewegungen (FJ SB)
– Kölner Zeitschrift f€ur Soziologie und Sozialpsychologie
(KZfSS)*
– Leviathan*
– Österreichische Zeitschrift f€ur Politikwissenschaft (ÖZP)*
– Politische Vierteljahresschrift (PVS)*
– Schweizerische Zeitschrift f€ur Politische Wissenschaft (SZPW)*
– Zeitschrift f€
ur Parlamentsfragen (ZParl)
– Zeitschrift f€
ur Politik (ZfP)*
– Zeitschrift f€
ur Politikwissenschaft (ZPol)*
– Zeitschrift f€
ur Soziologie (ZfS)*
– Zeitschrift f€
ur Staats- und Europawissenschaften (ZSE)*
Wichtige europäische – Acta Politica*
Zeitschriften – British Journal of Political Science (BJPolS)*
– East European Politics*
– European Journal of Political Research (EJPR)* und Political
Data Yearbook
– European Political Science (EPS)
– European Political Science Review (EPSR)*
– Journal of European Public Policy*
– Scandinavian Political Studies*
– West European Politics*
Wichtige internationale – American Journal of Political Science (AJPS)*
Zeitschriften – American Political Science Review (APSR)*
– Annual Review of Political Science
– British Politics*
– Commonwealth & Comparative Politics*
– Comparative Sociology*
– Development and Change*
– German Politics*
– Governance*
– Government and Opposition*
– International Political Science Review (IPSR)*
– International Social Science Review*
– Journal of Comparative Policy Analysis*
– Journal of Comparative Policy Analysis: Research and Practice
(JCPA)*
– Journal of Elections, Public Opinion & Parties*
– Journal of Public Policy*
– Journal of Social Policy*
– Legislative Studies Quarterly*
– Parliamentary Affairs*
– Party Politics*
– Perspectives on Politics*
(Fortsetzung)
Zentrale Datenquellen, Handbücher und Zeitschriften 965
Tab. 6 (Fortsetzung)
– Political Studies*
– PS: Political Science and Politics*
– Publius: The Journal of Federalism*
– Social Policy & Administration*
– Social Policy and Society*
– Third World Quarterly*
– World Politics*
Demokratie(sierungs)- – Journal of Democracy (JoD)
forschung – Democratization*
– Taiwan Journal of Democracy (TJD)*
Politische – Public Opinion Quarterly (POQ)*
Einstellungsforschung – Political Behavior*
– International Journal of Public Opinion Research*
Journals mit Methoden- – Forum Qualitative Sozialforschung (FQS)*
Schwerpunkt – International Journal of Qualitative Methods (IJQM)*
– Journal of Mixed Methods Research (JMMR)*
– methoden daten analysen (mda)*
– Political Science Research and Methods (PSRM)*
– Qualitative Research (QRJ)*
– Sociological Methods & Research (SMR)*
Quelle: Eigene Zusammenstellung; *Zeitschriften, die €
uber ein double-blind peer-review-Verfahren
verf€ugen
Zuletzt sei noch auf die zahlreichen Working und Discussion Paper- und
Research Paper-Series von nationalen und internationalen Forschungseinrichtungen
hingewiesen. Hierzu zählen u. a. das GIGA in Hamburg/Berlin, die Stiftung Wis-
senschaft und Politik (SWP), das Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) sowie das
Max-Planck-Institut f€ur Gesellschaftsforschung Köln (MPIfG).
Um den Überblick nicht vollends zu verlieren und immer auf dem Laufenden zu
bleiben, bieten die Verlage der Fachzeitschriften immer mehr Services wie z. B.
Issue- oder TOC-Alerts an, die u. a. per Email darauf aufmerksam machen, sobald
eine neue Ausgabe des jeweiligen Journals, ein neues Sonderheft oder Online-First-
Beiträge erschienen sind. F€ur diese Alerts kann man sich auch eintragen, wenn man
das Journal nicht abonniert hat.
Da das Publizieren v. a. in peer-reviewed Journals ein zunehmend wichtiger
Bestandteil f€
ur die Karriereverläufe in der Politikwissenschaft ist und die Möglich-
keit, kumulativ zu promovieren oder zu habilitieren, kontinuierlich ausgebaut wird,
ist eine Auseinandersetzung mit den gängigen Periodika der jeweiligen Disziplin
unumgänglich.
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