Sie sind auf Seite 1von 124

Gernot Böhmes ästhetische

Konzeption der Atmosphäre als


Analyseinstrument literarischer
Prosatexte

Versuch einer theoretischen


Grundlegung

Masterarbeit

zur Erlangung des akademischen Grades


einer Magistra der Philosophie

an der Karl-Franzens-Universität-Graz

vorgelegt von

Felicitas FERDER

Am Institut für Germanistik


Begutachter: Kurt BARTSCH, Ao. Univ-Prof. i. R. Dr. phil.

Graz 2009

-1-
Danksagung

Ich danke dem gesellschaftlichen Raum Universität dafür, dass er seinen zu


befürchtenden Tod als Ort der Auseinandersetzung mit unterschiedlichsten
Wissensformen, der schweifenden Neugier und des kritischen Denkens, trotz
schwerer Krankheit, noch solange hinausgezögert hat, dass ich Bekanntschaft mit
ihm machen durfte.
Ich danke Frau Dr. Doris Plöschberger und Herrn Dr. Günther Höfler, die früh
genug den ersten Kontakt zwischen den Texten Gernot Böhmes und mir hergestellt
haben, sodass das Thema Atmosphären und Literatur sich hartnäckig als Floh in
meinem Ohr und Denken festsetzen konnte und nicht Ruhe gab bis es
Diplomarbeit geworden war.
Ich danke Herrn Prof. Kurt Bartsch dafür, dass er mir und meinem Thema das
Vertrauen entgegengebracht hat, das er mir und meinem Thema entgegengebracht
hat.
Ich danke Johannes Wankhammer, Lukas Waltl, Raphaela Haring und Eva
Kainrad dafür, dass sie von Anfang an meine wirren Reden über Atmosphären und
Literatur nicht nur ertragen, sondern gefördert haben. Eva Kainrad danke ich
darüber hinaus noch für ihre Geduld mit meinen Tipp- und Beistrich- und
…fehlern.

Ich danke meinen Eltern, die nicht nur durch ihre geduldige finanzielle
Unterstützung, sondern auch durch die Stärke und Ruhe, die sie mir vermittelt
haben, nicht zu überschätzenden Anteil daran haben, dass ich mein Studium in der
Art und Weise (und Dauer) absolvieren konnte, in der ich es getan habe.

-2-
Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung .............................................................................................................. 5

2. Darlegung der Konzeption einer Ästhetik als Aisthetik bei Gernot Böhme......... 8

2.1. Atmosphäre als Wahrnehmungsphänomen ..........................................................................8


2.2. Verengung der Wahrnehmung zum Subjekt-Pol der Wahrnehmung: Befindlichkeit........14
2.3. Verengung der Wahrnehmung zum Objekt-Pol der Wahrnehmung ..................................17
2.3.1. Charaktere von Atmosphären......................................................................................18
2.3.2. Erzeugende von Atmosphären-Charakteren – Physiognomien...................................22
2.3.3. Die Anwesenheit der Dinge – Ekstasen ......................................................................24
2.4. Analyse ästhetischer Arbeit als Analyse von Erzeugenden ...............................................26
Exkurs: Die Verwendung des Begriffs der Evokation in der vorliegenden Arbeit...............31
2.5. Abgrenzungen des Atmosphärenbegriffs: Pragmatische Lebenszusammenhänge;
Zeichenwahrnehmung ...............................................................................................................32
3. Atmosphären und Texte? .................................................................................... 36

3.1. Zentrale Einwände..............................................................................................................37


3.2. Zeichen und Medialität bei Böhme ....................................................................................38
3.2.1. Zur sprachlichen Darstellung von Atmosphären.........................................................38
3.2.2. Zeichen und Erscheinungswirklichkeit .......................................................................40
3.2.3. Mediale Vermittlung und leiblich-affektives Erleben.................................................42
3.2.4. Zwischenbilanz: Die Wirklichkeit von Texten ...........................................................46
3.3. Faktoren der Modifikation leiblich-affektiven Erlebens – Spezifikation der Wirklichkeit
von Texten.................................................................................................................................47
3.3.1. Wissen und Wahrnehmung .........................................................................................48
3.3.2. Grad der ‚Umfassendheit’ sinnlichen Erlebens – Der imaginäre gestimmte Raum ...51
3.3.3. Medium und Inhalt / Darstellendes und Dargestelltes ................................................55
3.3.4. Unterschiedliche Wahrnehmungseinstellungen ..........................................................58
3.3.5. Modifiziert Realität die Wirklichkeit? ........................................................................60
4. Möglichkeiten und Grenzen der Atmosphären-Konzeption bei der Analyse
literarischer Texte.................................................................................................... 62

4.1. Pragmatische Grenzziehungen – Einschränkung und Präzisierung des


Untersuchungsbereichs..............................................................................................................62
4.1.1. Empirische Umstände des Leseerlebnisses .................................................................62
4.1.2. Textteile – Textganzes ................................................................................................63
4.2. Das Fehlen von Atmosphäre ..............................................................................................65
4.2.1. Bedingungen der Illusionsbildung und Illusionsstörung aus Perspektive der
Illusionstheorie ......................................................................................................................65
4.2.2. Deskriptionsformen: Fiktionale Dingwelt – Imaginärer gestimmter Raum................70
4.2.3. Evozieren von Atmosphäre / Konstatieren von Atmosphäre ......................................76
4.2.4. Dynamik und Statik – Narration und Deskription ......................................................79
4.3.5. Identifikation und Atmosphäre....................................................................................82

-3-
5. Analyseteil........................................................................................................... 85

5.1. Eckpfeiler der Analyse .......................................................................................................87


5.1.1. Inhaltliche und formale Erzeugende ...........................................................................88
5.1.2. Wissenshorizont ..........................................................................................................89
5.1.3. Ebenen der Textwirklichkeit ......................................................................................90
5.2. Analysen.............................................................................................................................94
5.2.1. Paulus Hochgatterers „Die Süße des Lebens“.............................................................94
5.2.1.1. Kapitel „Null“ ..........................................................................................................94
5.2.1.2. Kapitel „Eins“ ........................................................................................................102
5.2.2. Christoph Ransmayrs „Der fliegende Berg“ .............................................................105
5.2.3. Inka Pareis „Was Dunkelheit war“............................................................................112
6. Ausblick............................................................................................................. 118

Literaturverzeichnis............................................................................................... 121

-4-
1. Einleitung

Der letzte Satz des von Susan Sontag 1964 verfassten Essays „Against Interpretation“ lautet: „In
place of a hermeneutics we need an erotics of art.“1 Sie fordert damit eine Herangehensweise an
Kunst, die nicht mehr interpretatorisch und damit in gewissem Sinne übersetzend und
reduzierend vorgeht – indem sie nämlich im Grunde stets dem Schema folgt: „Look, don’t you
see that X is really – or, really means – A? That Y is really B? That Z is really C?“2. Mit
hermeneutisch-interpretatorischen Übersetzungen meint Sontag hier nicht nur die Reduktion des
Kunstwerks auf seinen Sinn („meaning“) oder eine vermeintliche Intention des Künstlers,
sondern ebenso jene auf das Werk bedingende soziale (z.B. marxistisch orientierte
Ausrichtungen) oder psychologische (psychoanalytisch orientierte Ausrichtungen)
Zusammenhänge.3 Anstelle einer solchen Herangehensweise fordert Sontag (unter anderem)4
einen Zugang, der eine „accurate, sharp, loving description of the appearance of a work of art“5
leistet. Wobei in einer solchen Beschreibung „the sensory experience of the work of art“6 wieder
stärker in den Blickpunkt rücken soll.7
Literarische Texte können beim Leser sinnliches und affektives Erleben evozieren – wer ist nicht
schon in einer fiktionalen Welt versunken, wer wurde noch nicht von einer Figur oder einem
erzählten Geschehen berührt, abgestoßen, ergriffen, erschrocken, beglückt, schockiert? Liegt
nicht der Reiz zahlreicher literarischer Werke weniger darin, dass sie uns Meinungen und
Informationen, Reflexionsanstöße vermitteln, sondern vor allem auch darin, dass sie uns
Zusammenhänge, die wir vielleicht schon kannten, Dinge, die wir vielleicht schon wussten, auf
neue und andere Weise ‚erleben’ lassen? Literaturwissenschaftliche Arbeit besteht meist darin,
den Sinn von Texten zu untersuchen – mit welchen Fragestellungen und Themen setzt sich der
Text wie auseinander? –, ihre Einbettung in einen literaturhistorischen Kontext vorzunehmen
oder strukturelle Fragen in Bezug auf den Text zu beantworten – wie ist das Verhältnis der
Figuren zueinander? Wie ist der Handlungsablauf? Wie ist die Erzählsituation? Die Frage, wie es
einem Text gelingt, dass der Leser den Text nicht nur versteht, sondern auch in irgendeiner

1
Susan Sontag: Against Interpretation. In: S.S.: Against interpretation. And other essays. New York: Farrar, Strauß & Giroux
1967, S. 3-14, S. 14.
2
Ebda, S. 5.
3
Vgl. ebda, S. 3ff.
4
Ihre zweite Forderung besteht darin den Fokus der Interpretation vom Inhalt weg, hin zur Beschreibung der Form zu
verschieben.
5
Sontag, Against interpretation, S. 13.
6
Ebda.
7
Vgl. ebda.

-5-
Weise betroffen, gepackt oder abgestoßen wird durch das, was er liest, wird für gewöhnlich nicht
gestellt. Und doch scheint diese Dimension eine zentrale Dimension literarischer Texte zu sein.
Die vorliegende Arbeit versteht sich als Annäherung an die Frage, wie es literarischen Texten
gelingt, den Leser ‚etwas erleben’ zu lassen, wie es Texten gelingt, mehr zu sein als
Informationsvermittlung, Meinungskundgabe oder Reflexionsanstoß. Sontag fordert eine
„accurate, sharp, loving description of the appearance of a work of art“, die „the sensory
experience of the work of art“ verstärkt in den Blickpunkt rücken soll. Die vorliegende Arbeit
versteht sich als tastender Versuch der Erfüllung dieser Forderung. Der Fluchtpunkt der Arbeit
ist dabei nicht eine Beschreibung davon, welche Erfahrungen der Leser an einem literarischen
Text machen kann, sondern eine Analyseherangehensweise zu entwerfen, die ermöglicht, danach
zu fragen, wie es einem Text gelingt, solches sinnliches und affektives Erleben zu evozieren. Es
geht um die Untersuchung textueller Faktoren, die sinnlich-affektive Erfahrung beim Leser
fördern oder stören bzw. um die Frage, mit welchen Mitteln es einem Text gelingt bestimmte
sinnlich-affektive Erfahrungen zu evozieren. Die theoretische Grundlage hierfür liefert Gernot
Böhmes Arbeit zu Atmosphären. Böhme liefert, am systematischsten ausgeführt in seiner 2001
erschienenen Arbeit „Aisthetik“8, einen Ansatz, der ästhetische Erfahrung als sinnliche
Erfahrung phänomenaler Wirklichkeit beschreibbar macht. Was seinen Ansatz besonders
fruchtbar erscheinen lässt für den Versuch jene Komponenten an Texten zu analysieren, die zum
sinnlich-affektiven Erleben eines Rezipienten beitragen, ist die Tatsache, dass er ästhetische
Erfahrung – verstanden als sinnlich-affektives Erleben – nicht als rein subjektives Phänomen
beschreibt, sondern an die Objekte, die ein solches Erleben evozieren, rückbindet. Böhme liefert
insofern die theoretische Grundlage dieser Arbeit als er zu klären versucht, was unter leiblich-
affektivem Erleben zu verstehen ist. Am Anfang meiner Arbeit wird eine ausführliche Darlegung
von Böhmes Konzeption stehen. Obwohl ich immer wieder auch Texte zur Theorie der
Illusionsbildung heranziehen werde (denen von Böhme abweichende Konzeptionen von
Wahrnehmungen zugrundegelegt sind), habe ich Böhme – wie bereits der Titel meiner Arbeit
anzeigt – als primären Ausgangspunkt gewählt. Meine Arbeit ist der Versuch Böhmes Theorie
als Instrumentarium zur Analyse von literarischen Texten heranzuziehen, ich werde mich
deshalb so eng wie möglich an seinen theoretischen Entwurf halten. Gleichzeitig aber bedeutet
die intensive Beschäftigung mit einem theoretischen Autor stets auch eine kritische
Auseinandersetzung mit seinen Thesen. Um die Ergebnisse dieser Auseinandersetzung nicht
gänzlich verschweigen zu müssen (sie ließen sich verschweigen, denn häufig haben sie keine
direkten Konsequenzen für meine Arbeit), habe ich mich dafür entschieden, sie an geeigneten

8
Gernot Böhme: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre. München: Fink 2001.

-6-
Stellen in Fußnoten darzulegen. Der ausführlichen Darlegung von Böhmes Konzeption der
Atmosphären soll in den Kapiteln 3 und 4 eine Diskussion der Frage folgen, ob Böhmes Theorie
sich überhaupt auf schriftliche Texte anwenden lässt: In welcher Weise kann davon gesprochen
werden, dass Texte Atmosphären evozieren, in welcher Weise kann davon gesprochen werden,
dass Leser, beim Lesen von Texten, Atmosphären wahrnehmen? Wie tragfähig ist die
Konzeption der Atmosphären, so wie sie Böhme entwirft, für eine Analyse literarischer Texte
hinsichtlich der Frage, wie es ihnen gelingt beim Leser sinnliche Erfahrungen zu evozieren? Wo
liegen ihre Grenzen?
Die vorliegende Arbeit ist vor allem der Versuch einer theoretischen Grundlegung, der
Eröffnung einer neuen Perspektive auf Texte. Die Analysen konkreter Textpassagen stehen
weniger im Zeichen der Anwendung eines rigide ausgearbeiteten Analyserasters, sondern bilden
den Abschluss, die Abrundung einer theoretischen Annäherung an eine neue Herangehensweise
an Texte oder Textpassagen. Die Analysen werden mir dazu dienen, das entwickelte
Begriffsinstrumentarium auszuprobieren, offen bleibende Probleme zu verdeutlichen,
theoretische Grundlagen zu veranschaulichen.
Ziel meiner Arbeit ist es nicht eine literaturwissenschaftliche Methodik vorzuschlagen, die,
ihrem Anspruch nach, andere Herangehensweisen und Methoden obsolet macht, sondern in
fundierter Weise eine Perspektive anzudenken, zu eröffnen, die Aspekte an literarischen Texten
zum Vorschein bringt, die verborgen bleiben, wenn man nur die klassischen
literaturwissenschaftlichen Fragen nach Thematik, Motivik, strukturellen Prinzipien etc. an sie
richtet.

-7-
2. Darlegung der Konzeption einer Ästhetik als Aisthetik bei Gernot
Böhme

2.1. Atmosphäre als Wahrnehmungsphänomen

Gernot Böhme stellt in seinem Entwurf einer Ästhetik als Aisthetik, am systematischsten
dargelegt im 2001 erschienenen Text „Aisthetik“, eine Konzeption vor, die ästhetische Erfahrung
als sinnliche Erfahrung phänomenaler Wirklichkeit beschreibbar macht. Was seinen Ansatz
besonders fruchtbar erscheinen lässt für den Versuch jene Komponenten an Texten zu
analysieren, die zum sinnlich-affektiven Erleben eines Rezipienten beitragen, ist die Tatsache,
dass er ästhetische Erfahrung – verstanden als sinnlich-affektives Erleben – nicht als rein
subjektives Phänomen beschreibt, sondern an die Objekte, die ein solches Erleben evozieren,
rückbindet. Das folgende Kapitel dient der ausführlichen Darstellung des von Böhme
entwickelten Ansatzes.

Böhmes Ästhetik versteht sich als „allgemeine Wahrnehmungslehre“9 – Ästhetik vom


griechischen αίσθησις, „Wahrnehmung“, abgeleitet – und damit nicht bloß als Theorie des
Kunstwerks oder als Theorie der ästhetischen Wahrnehmung als eingeschränktem Bereich der
Wahrnehmung. Ästhetische Wahrnehmung wird innerhalb von Böhmes Konzeption zum
redundanten Ausdruck. Im Sinne einer allgemeinen Wahrnehmungslehre ist das Ziel
Wahrnehmungsweisen aufzufinden, die möglichst umfassend und grundlegend sind und von
denen spezifischere Formen der Wahrnehmung abgeleitet werden können.10 Es geht ihm dabei
jedoch nicht darum diese grundlegende Wahrnehmungsform in abstrahierender Spekulation
aufzufinden und zu klären, sondern sein Ausgangspunkt ist, gemäß seiner phänomenologischen
Grundausrichtung, stets das Gegebene so wie es eben gegeben ist. Das heißt bei Böhme im
Speziellen, dass seine Klärungen ihren Ausgang immer von Alltagsbeispielen der Wahrnehmung
nehmen, von Wahrnehmungen, die uns allen bekannt sind (und so etwa auch ihren Niederschlag
in der Alltagssprache finden).
Vermeintlich grundlegende Wahrnehmungsbeispiele wie „Ich sehe einen Baum“ können in
dieser Perspektive nicht mehr Anspruch darauf erheben, grundlegende Beispiele zu sein, von

9
Ebda, S. 29.
10
Vgl. ebda, S. 36.

-8-
denen ausgehend eine Theorie der Wahrnehmung entwickelt werden könnte – solche Beispiele
erweisen sich umgekehrt als sehr spezifische Formen von Wahrnehmung. Zum einen ist in
diesen Wahrnehmungsformen der spezifische „Kanal“ der Wahrnehmung, nämlich das Sehen,
thematisiert. Zum anderen legt eine solche Ausdrucksweise nahe, dass es sich um ein Sehen aus
der Distanz handelt, in dem uns der Baum als Ganzer entgegentritt. Ausgeschlossen bleiben hier
andere Wahrnehmungsperspektiven. Jene etwa, die sich einem bietet, wenn man direkt unter
dem Baum steht. Ausgeschlossen bleibt damit vor allem – darauf will Böhme hinaus – das
leibliche Ich, das den Baum nicht nur sieht oder das Rauschen seiner Blätter hört, sondern auf
nicht mehr eindeutig einzelnen Sinneskanälen zuordenbare Weise vom Baum leiblich-affektiv
betroffen wird, in dem es beispielsweise so etwas wie die Mächtigkeit des Baumes spürt.11
Demgegenüber meint Böhme in der atmosphärischen Wahrnehmung, in der Wahrnehmung von
Atmosphären eine ursprüngliche12 und umfassende Wahrnehmungsweise zu finden. In den
Atmosphären findet Böhme jenen „primären Wahrnehmungsgegenstand“13, von dem er in seiner
Untersuchung ausgeht.14 Die atmosphärische Wahrnehmung ist eine Wahrnehmung, die nicht
differenziert ist in Hinblick auf einzelne Sinneskanäle, sondern die Spüren von Anwesenheit ist.
Weiters ist sie nicht differenziert in Hinblick auf ein spezifisches Objekt, das aus dem
Gesamterleben herausgelöst wäre. Die Wahrnehmung von Atmosphären ist weder in Hinblick
auf den Subjekt-Pol (es ist mein Spüren von etwas) noch in Hinblick auf den Objekt-Pol (was ich
als diffuse Anwesenheit spüre, ist die Anwesenheit von etwas) differenziert. Das heißt, dass
weder das Subjekt als dasjenige, das Wahrnehmungen hat, in der Wahrnehmung als solches
thematisiert wird noch ein Gegenstand, der als von mir abgetrennter Gegenstand, auf den ich
mich in meiner Wahrnehmung ‚bloß’ beziehe, thematisiert wird. Zudem ist atmosphärische
11
Vgl. ebda, S. 36f.
12
Böhmes Verwendung des Begriffs „ursprünglich“ ist durchaus ambivalent. Eingeführt wird die atmosphärische Wahrnehmung
als „ursprüngliche“ Wahrnehmung lediglich als eine Art heuristisches Werkzeug zur Analyse der Wahrnehmung.
Atmosphärische Wahrnehmung ist hier zu verstehen als das Ergebnis einer Suche nach der allgemeinsten Form der
Wahrnehmung in Hinblick auf eine Systematisierung der ästhetischen Erfahrung – eine Art Ur-Ei der Wahrnehmung, von dem
aus dann andere Formen der Wahrnehmung entwickelt werden. (Böhme, Aisthetik, S. 29ff.) Andererseits wird die Bezeichnung
der atmosphärischen Wahrnehmung als „ursprünglicher Wahrnehmung“ auch im Gegensatz verwendet zur „Dingwahrnehmung“,
in der ein abstraktes Subjekt affektiv vollkommen unbetroffen einem Objekt gegenübersteht. Diese Form der Wahrnehmung hat
sich, nach Böhme, erst im Laufe der abendländischen Kultur als Folge und Teil eines Abwehrmechanismus entwickelt.
„Ursprünglich“ wäre hier also durchaus im Sinne von anthropologisch, geradezu metaphysisch ursprünglich zu verstehen. (Vgl.
etwa Böhme, Aisthetik, S. 172.) Die spezifischen Probleme, die sich aus Böhmes Ansatz ergeben, sollen in der vorliegenden
Arbeit, soweit möglich, nicht eigens diskutiert werden, ich werde jedoch, an geeigneten Stellen, immer wieder in Fußnoten auf
sie verweisen. Unter anderem werde ich darlegen, dass und warum ich nicht Böhmes starker Version der Atmosphäre als A-
priori-Anteil der Wahrnehmung folge, in der Atmosphäre die Bedingung dafür ist, dass uns überhaupt etwas erscheinen kann.
Atmosphärenwahrnehmung ist bei mir eher als zwar sehr umfassende Form der Wahrnehmung zu verstehen, die jedoch trotzdem
als eine (damit letztlich spezifische) Wahrnehmungsform neben anderen besteht.
13
Ebda, S. 42.
14
Wolfhart Henckmann weist zu Recht auf die Problematik hin, dass die Rede von Atmosphären bereits eine Abstraktion von
den Wahrnehmungen, die man in der alltäglichen Wahrnehmung erfahren kann, bedeutet. Wir nehmen Heiterkeit, Gemütlichkeit,
Bedrohlichkeit wahr, Konkretes also, wogegen „Atmosphäre“ bereits ein Gattungsbegriff ist, dessen Herleitung Böhme nicht
expliziert und auch nicht rechtfertigt. (Vgl. Wolfhart Henckmann: Atmosphäre, Stimmung, Gefühl. In: Atmosphäre(n).
Annäherungen an einen unscharfen Begriff. Hrsg. von Rainer Goetz und Stefan Graupner. München: kopaed 2007, S. 45-84, S.
55f.)

-9-
Wahrnehmung stets affektiv gefärbt. Eine solche atmosphärische Wahrnehmung15, so sonderbar
sie sich in der theoretischen Formulierung ausmacht, ist uns in unserer alltäglichen Erfahrung
geläufig. Wenn wir etwa eine Feier betreten, werden wir möglicherweise intensiv die
ausgelassene, fröhliche Atmosphäre, die dort herrscht, spüren. Doch dieses Spüren erleben wir
nicht als Zusammensetzung von einzelnen Wahrnehmungen wie etwa dem Lachen von einzelnen
Personen, dem Anstoßen mit Gläsern, den lächelnden Gesichtern, den Körperhaltungen der
Anwesenden und wie sie zueinander im Raum angeordnet sind, den Girlanden, die im Raum
herumhängen, dem Geruch von Kuchen, einer heiteren Musik etc., sondern diese einzelnen
Komponenten kommen uns als eben einzelne Komponenten erst ins Bewusstsein, wenn wir
versuchen unser atmosphärisches Erleben dahingehend zu untersuchen, was alles unser Erleben
hervorgerufen haben mag, wenn wir, wie wir es später mit Böhme werden formulieren können,
versuchen die Erzeugenden der Atmosphäre zu thematisieren.
Im Reden von „Subjekt-Pol“ und „Objekt-Pol“ der Wahrnehmung wird bereits deutlich, dass
Atmosphären nicht als bloß subjektives Phänomen zu verstehen sind. Atmosphären hängen nicht
allein von einem Subjekt ab, das das eigene Empfinden auf seine Umgebung projiziert. Böhme
belegt dies anhand von „Ingressions-“ und „Diskrepanzerfahrungen“16. Beide Erfahrungen sind
im Grunde dadurch gekennzeichnet, dass ich in einen atmosphärischen Raum eintrete, der nicht
per se mit meiner eigenen Stimmung übereinstimmen muss. Ich kann mich, um das bereits
erwähnte Beispiel heranzuziehen, in den Raum einer Feier begeben und die fröhliche Stimmung
kann mich ergreifen (Ingression). Gleichermaßen ist es denkbar, dass ich die herrschende

15
Ich wechsle immer wieder zwischen der Rede von „atmosphärischer Wahrnehmung“ als Wahrnehmungsweise und der Rede
vom „Wahrnehmen von Atmosphären“, in der Atmosphäre als Wahrnehmungsgegenstand erscheint. Diese Ambivalenz ist bei
Böhme angelegt. Zwar reflektiert er sie als solche nicht explizit, doch ließe sich argumentieren, dass diese Ambivalenz nicht auf
einer Ungenauigkeit beruht, sondern im Konzept der Atmosphäre angelegt ist. Die Unterscheidung einer Form der
Wahrnehmung, die als solche einem Subjekt zugeordnet wäre, von einem Gegenstand der Wahrnehmung als Objekt impliziert
gerade die Unterscheidung von Subjekt und Objekt. Böhme versucht aber von einer Wahrnehmung auszugehen, in der diese
Unterscheidung in der Wahrnehmung selbst nicht getroffen wird. „Atmosphären sind etwas zwischen Subjekt und Objekt. Sie
sind nicht etwas Relationales, sondern die Relation selbst.“ (Böhme, Aistethik, S. 54) Ein solches Phänomen lässt sich nicht
eindeutig nach dem Schema Form der Wahrnehmung (der Bezugnahme des Subjekts auf ein Objekt) bzw. Verfasstheit eines
Gegenstandes scheiden, sondern ist gewissermaßen beides. Nichtsdestoweniger sei hier angemerkt, dass eine solche Ambivalenz
zu dem Problem führt, dass durch sie zwei Lesarten möglich sind, die bei Böhme gleichermaßen angelegt sind, aber letztlich in
Widerspruch zueinander stehen. In der einen Lesart sind jenes Verständnis von Leiblichkeit und Affektivität, die Böhme
„Atmosphäre“ nennt, quasi a priori Bedingungen unserer Wahrnehmung von etwas. Atmosphäre ist die Bedingung, dass uns
überhaupt etwas erscheinen kann. Atmosphäre ist in diesem Sinne konzipiert als eine Art Medium, das notwendig dafür ist, dass
wir überhaupt etwas, ein Objekt, ein Ding als präsent erfahren können. Leiblichkeit und Affektivität müssten in dieser Lesart aber
im Erleben nicht stets bewusst miterfahren werden, sondern könnten – wiewohl unbemerkt unser Befinden prägend – verdrängt
werden zugunsten einer Wahrnehmungsweise, in der der Wahrnehmende sich (vermeintlich völlig distanziert und unbetroffen)
auf ein von ihm unabhängiges Objekt der Wahrnehmung bezieht. In der anderen Lesart – ich werde ihr folgen – ist diese
unbetroffene „Dingwahrnehmung“, wie Böhme sie nennt, gerade fundamental von der Atmosphärenwahrnehmung
unterschieden. Atmosphärenwahrnehmung, in dieser zweiten Weise verstanden, beruht darauf, dass der Wahrnehmende sein
leiblich-affektives Erleben einer Atmosphäre eben sehr wohl als solches auch erlebt. In diesem Sinne wird
Atmosphärenwahrnehmung bei mir auch als eine Wahrnehmungsweise neben anderen verstanden – und eben nicht als A-priori-
Zug jeder möglichen Wahrnehmung. Der Grund für meine Entscheidung für diese zweite Lesart liegt darin, dass zwar klar
scheint, dass Böhmes eigentliche Intention ist, Atmosphäre als A-priori der Wahrnehmung zu klären, jedoch die Art und Weise
wie er diese Klärung unternimmt, zu dieser Intention in Spannung steht – ich werde in einer der nächsten Anmerkungen noch
einmal ausführlich darauf zu sprechen kommen.
16
Vgl. Böhme, Aisthetik, S. 46ff.

- 10 -
Atmosphäre zwar spüre, jedoch meine (bedrückte) Eigenstimmung so abweichend ist, dass mich
die Heiterkeit der herrschenden Atmosphäre nicht ergreift. Auch in diesem Fall allerdings wird
die fröhliche Stimmung keineswegs rein rational erkannt, wie Böhme betont (indem etwa durch
bestimmte Indizien auf sie geschlossen wird), sondern auch hier erleben wir die Atmosphäre,
selbst dann, wenn sie uns nicht vollständig ergreift. Plausibel lässt sich das machen, indem man
darauf hinweist, dass die solcherart erfahrene Atmosphäre durchaus meine eigene Stimmung
modifizieren kann, ich kann mich etwa aufgrund der erfahrenen Diskrepanz noch bedrückter
oder melancholischer fühlen, die erfahrene Atmosphäre ergreift mich nicht, lässt mich aber auch
nicht unberührt. Da es Böhme an dieser Stelle darum geht zu zeigen, dass Atmosphären, wie er
es nennt, „quasi objektiven Charakter“ haben, das heißt, keine bloß subjektiven Phänomene sind
(die uns nur qua Projektion als äußerlich erscheinen), muss er freilich bereits einen ersten Schritt
weg von der ursprünglichen Atmosphärenwahrnehmung (in der Ich und Gegenstand
ungeschieden in der Wahrnehmung ko-Präsent sind) machen hin zu einer Wahrnehmungsweise,
in der das erlebende Ich (mit dieser oder jener „Eigenstimmung“) auf eine ihm wenigstens
teilweise und vorübergehend äußerliche Atmosphäre trifft.17 „Beide Erfahrungen [Ingressions-

17
Dass Böhme diesen Schritt von der tatsächlich ursprünglichen, ungeschiedenen Atmosphäre zur Atmosphäre als Gegenstand
der Wahrnehmung so klein erscheinen lässt, ist jener virulente Punkt, an dem sich jene Spannung etabliert zwischen der Intention
der Klärung von Atmosphäre als A-priori-Anteil an jeder Wahrnehmung und Böhmes ‚Ausführung’ dieser Intention. Man könnte
vermuten, dass Böhme verschiedene Wahrnehmungsformen, wie wir sie alltäglich erfahren, untersucht, um aus ihnen den
‚kleinsten gemeinsamen Nenner’ zu destillieren, der dann eben jene A-priori-Atmosphäre wäre. So geht er jedoch nicht vor.
Tatsächlich stellt er jene Wahrnehmungsform, in der wir leiblich-affektiv eine Atmosphäre als doch gegenständlich gegeben
erfahren, als fast identisch mit jener ursprünglichen Atmosphäre dar – bloß, dass eben schon eine ‚marginale’ Differenzierung
von Subjekt und Objekt erfolgt ist. Von dieser fast ursprünglichen Erfahrung ausgehend werden dann durch zunehmende
Ausdifferenzierung von Subjekt und Objekt andere Wahrnehmungsformen abgeleitet. Dass es sich hier jedoch um eine (fast)
ursprüngliche Form der Wahrnehmung handelt, ist wenig glaubwürdig. Die Atmosphäre als Gegenstand der Wahrnehmung, so
wie Böhme sie (auch in seinen Beispielen) beschreibt, scheint mir aufs Engste mit dem verknüpft, was traditionellerweise als
kontemplative Wahrnehmungshaltung bezeichnet wird. Ein Wahrnehmender gibt sich – herausgelöst aus allen pragmatischen
Handlungszusammenhängen – dem Erleben eines ihn ergreifenden sinnlichen Gesamteindrucks hin – eine
Wahrnehmungshaltung, deren Entstehung viele erst fürs 18.Jahrhundert (der Aufklärung) ansetzen. Natürlich kann man
einwenden, dass jedes A-priori, so auch ein A-priori der Wahrnehmung, eine Reinform darstellt, die erst aus komplexen
Zusammenhängen herausgelöst werden muss. Abgesehen davon, dass eine solche Herauslösung in Spannung steht zu Böhmes
Ansinnen von den allgemeinsten, noch nicht spekulativ-theoretisch ausdifferenzierten Wahrnehmungsformen auszugehen,
scheint es mir vollkommen unklar zu bleiben, wie eine solche Atmosphären-Wahrnehmung aus einer Wahrnehmung, die etwa in
einen Handlungszusammenhang eingeflochten ist, herausgelöst werden könnte – dafür ist sie eben gerade zu spezifisch.
Möglicherweise tut sich an diesem virulenten Punkt auch eine ganz fundamentale Problematik der Atmosphäre, verstanden als
stets mitgegebenes A-priori der Wahrnehmung kund. Für Böhme besteht dieser Grundzug von Wahrnehmung in einer
ursprünglichen Ungeschiedenheit von Subjekt und Objekt. Mir scheint, dass bei Elisabeth Ströker – auf die Böhme sich an
einigen Stellen beruft – eine Formulierung auftaucht, in der diese Ungeschiedenheit markant auf den Punkt gebracht wird und
zwar wenn sie spricht davon, dass der gestimmte Raum, der analog zu sehen ist zu Böhmes Atmosphäre, nicht in gerichteter
Einstellung erlebt wird, dass das Erleben des gestimmten Raumes durch das „Fehlen von Intentionalität“ gekennzeichnet ist.
(Elisabeth Ströker: Philosophische Untersuchungen zum Raum. Frankfurt/Main: Klostermann 1965, S. 23.) Die Klärung eines
Phänomens – selbst seine ‚Betrachtung’ in vortheoretischer Einstellung – setzt jedoch stets die intentionale Bezugnahme auf
dieses Phänomen voraus. Tatsächlich ist ja auch in allen Wahrnehmungsformen, die Böhme heranzieht, um das Phänomen der
Atmosphäre zu spezifizieren, die Atmosphäre als leiblich-affektives Erleben oder als Ausstrahlung von etwas etc. thematisch, ist
in der ein oder anderen Form Gegenstand der Wahrnehmung. Banal formuliert: Wenn wir etwas betrachten, klären wollen,
müssen wir unseren geistigen Blick darauf richten, wenn wir unser Erleben klären wollen, müssen wir es uns zum Gegenstand
unserer Betrachtung machen. In diesem Sinne muss aber die ursprüngliche, ungeschiedene Atmosphäre jeder betrachtenden
Untersuchung entzogen sein. Sobald wir uns unser atmosphärisches Erleben thematisch werden lassen, sobald wir nicht mehr
gänzlich im Erleben aufgehen, sondern uns intentional darauf beziehen, ändern wir damit den nicht-intentionalen Grundcharakter
des Phänomens, das wir untersuchen wollen.

- 11 -
und Diskrepanzerfahrungen] implizieren eine Differenz zwischen mir und der Atmosphäre,
wodurch die Atmosphäre dann wirklich als Gegenstand der Wahrnehmung angesprochen werden
kann.“ Durch ein Fortschreiten der Differenzierung von Subjekt- und Objekt-Pol (die jedoch
methodisch bei Böhme keine bloß analytische ist, sondern stets Bezug nimmt auf
Wahrnehmungsweisen, die wir tatsächlich als solche auch erfahren) wird Böhme in Folge zu
weiteren Formen und Gegenständen der Wahrnehmung gelangen. Vorerst jedoch noch ein wenig
mehr zur Grundform der atmosphärischen Wahrnehmung.
Atmosphären haben also quasi objektiven Charakter, wir können sie als von uns geschieden
erfahren und wir erfahren sie als uns ergreifende Stimmungen. Gleichzeitig sind Atmosphären
nichts rein Objektives, das heißt nichts, das unabhängig vom aktuellen Erleben eines Ichs
bestünde. „Atmosphäre ist ein Wahrnehmungsgegenstand und ist nicht anders als in aktueller
Wahrnehmung zu haben.“18 „In dem, was Atmosphären sind, ist immer ein subjektiver Anteil
und sie sind überhaupt nur in aktueller Erfahrung.“19 Atmosphären erfordern ein leibliches
Erlebnissubjekt, das die atmosphärische Gestimmtheit in leiblich-affektiver Weise erfährt.20

Die Atmosphären sind […] weder […] etwas Objektives, nämlich Eigenschaften, die die
Dinge haben, und doch sind sie etwas Dinghaftes, zum Ding Gehöriges, insofern nämlich
die Dinge durch ihre Eigenschaften – als Ekstasen gedacht – die Sphären ihrer
Anwesenheit artikulieren. Noch sind die Atmosphären etwas Subjektives, etwa
Bestimmungen eines Seelenzustandes. Und doch sind sie subjekthaft, gehören zu
Subjekten, insofern sie in leiblicher Anwesenheit durch Menschen gespürt werden und
21
dieses Spüren zugleich ein leibliches Sich-Befinden der Subjekte im Raum ist.

In diesem Sinne sind Atmosphären als etwas zwischen Subjekt und Objekt zu verstehen:
„Atmosphären sind etwas zwischen Subjekt und Objekt. Sie sind nicht etwas Relationales,
sondern die Relation selbst.“22 „[…] dasjenige, wodurch Umgebungsqualitäten und Befinden
aufeinander bezogen sind, das sind die Atmosphären.“23 An den genannten Beispielen zur
Erläuterung der Ingressions- wie der Diskrepanzerfahrung wurde bereits ein weiteres Merkmal
von Atmosphären deutlich, nämlich ihr räumlicher Charakter. „Die Atmosphäre ist […]

Um diesen theoretischen Spannungen und Problematiken zu entgehen und auch schlicht deshalb, weil mir – aus guten Gründen,
dies wird v.a. im 4. Kapitel der vorliegenden Arbeit diskutiert werden – Böhmes Ansatz, so wie er ihn ausgeführt hat, nicht
ausreichend erscheint um alle Formen der Wahrnehmung und des leiblich-affektiven Erlebens hinsichtlich ihrer Grundform zu
klären, habe ich mich für die in einer Anmerkung weiter oben bereits ausgeführten ‚zweiten Lesart’ entschieden, in der
Atmosphären-Wahrnehmung nicht als A-priori jeder Wahrnehmung verstanden wird.
18
Böhme, Aisthetik, S. 50.
19
Ebda, S. 52.
20
Genaueres hierüber vgl. Abschnitt 2.2. der vorliegenden Arbeit.
21
Gernot Böhme: Atmosphäre als Grundbegriff einer neuen Ästhetik. In: G. B.: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik.
Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995. (= edition suhrkamp. 1927.) S. 21-48, S. 33f.
22
Böhme, Aisthetik, S. 54.
23
Böhme, Atmosphäre, S. 23.

- 12 -
gestimmter Raum“24, Atmosphären sind „unbestimmt räumlich ausgebreitete Stimmungen“25.
Dies darf jedoch nicht so verstanden werden, dass sich die Atmosphäre im Raum, verstanden als
geometrischer Raum, ausbreitet, sondern die Atmosphäre konstituiert gewissermaßen eine
spezifische Form von Raum, eben den ‚gestimmten Raum’ – ein Ausdruck, der von Elisabeth
Ströker stammt.

Im Absehen von seinen Gestalten [dem Charakter seiner Gestimmtheit] eine Leerform des
gestimmten Raumes herausarbeiten zu wollen, wäre ohne Sinn. Wohl gibt es auch in ihm
das Erlebnis der Leere, das Betroffensein vom ‚Nichts’, das Schwinden seiner Gestalten
[…]; aber diese Leere als stimmungsmäßig erlebte ist nicht zu verwechseln mit jener
Leerform des Raumes, die ein Denken in abstraktiver Blickwendung meint suchen zu
müssen. Der gestimmte Raum ist nicht nur durch seine Fülle gegeben und mit ihr gelebt,
26
sondern er ist diese Fülle selbst. Ihr Verlust ist zugleich sein Verlust.

Böhme formuliert das so: Atmosphären „sind Räume, insofern sie durch die Anwesenheit von
Dingen, von Menschen oder Umgebungskonstellationen, d.h. durch deren Ekstasen, ‚tingiert’
sind. Sie sind selbst Sphären der Anwesenheit von etwas, ihre Wirklichkeit im Raume.“27
Gestimmter Raum ist Raum, „insofern man in ihn hineingehen kann, in ihm sein, von ihm
umfaßt sein, und insbesondere ist seine Erfahrung qua Befindlichkeit [dem subjektiven Pol der
Atmosphärenwahrnehmung] ja selbst eine Ortserfahrung: Ich bin hier und fühle mich so und so
gestimmt.“28 Das leiblich-affektive Erleben eines gestimmten Raumes steht in deutlichem
Gegensatz zu dem, was Böhme „Dingwahrnehmung“29 nennt, wie sie etwa im Satz „Ich sehe
einen Baum“ ausgedrückt wird. Im einen Fall sind wir leiblich-affektiv betroffen von einem
unbestimmten Raum, der uns umgibt und ergreift. Was „unbestimmt“ meint, ist bei Böhme nicht
eindeutig expliziert. Es lässt sich jedoch vermuten, dass damit die metrische Unbestimmbarkeit
dieses Raumes gemeint ist. Der gestimmte Raum lässt sich nicht vermessen, denn um einen
Abstand zwischen einem Da und einem Dort zu erkunden, muss ich ja die Homogenität der
Atmosphäre vollkommen auflösen hin zu einem eindeutig lokalisierten Ausgangspunkt und
einem eindeutig lokalisierten Endpunkt der Messung.30 Ströker spricht außerdem davon, dass es
im gestimmten Raum keine qualitativ unterscheidbaren Richtungen gibt. Die Stimmung, die
diesen Raum konstituiert, ist eben über den Raum als Ganzen erstreckt und der Raum
unterscheidet sich nicht nach einem rechts oder links, vorne oder hinten: Die Atmosphäre
herrscht schlicht und umgibt mich, sie ist nicht etwa vor mir heiterer als hinter mir – in diesem
24
Böhme, Aisthetik, S. 47.
25
Ebda.
26
Ströker, Raum, S. 31.
27
Böhme: Atmosphäre, S. 33.
28
Böhme, Aisthetik, S. 47.
29
Vgl. ebda, S. 167ff.
30
Vgl. ebda, S. 40

- 13 -
Sinne lässt sich bei einem gestimmten Raum nicht zwischen einem Vor-mir und einem Hinter-
mir unterscheiden.31 Im anderen Fall – dem Fall der Dingwahrnehmung – stehen wir unbetroffen
einem eindeutig lokalisierten und damit umgrenzten Gegenstand gegenüber. In diesem Sinne ist
die Wahrnehmung von Atmosphären schlicht mehr als das Wahrnehmen eines Nebeneinanders
von mehreren Gegenständen. Zwar lässt sich atmosphärische Gestimmtheit in Hinblick auf ihre
Erzeugenden, wie sich später zeigen wird32, analysieren, jedoch in der Wahrnehmung erscheint
sie uns als atmosphärische Ganzheit, in die Gegenstände, das Zwischen-den-Gegenständen
(Abstände, Anordnungen …), Töne, Geräusche, Licht, die Form des (architektonischen oder
natürlichen) Raumes etc. eingehen, uns jedoch nicht als solche erscheinen.
„Wahrnehmung, die sich aus dem Grundereignis von Wahrnehmung, nämlich dem Spüren von
Anwesenheit herleitet, impliziert in nuce zwei Pole, nämlich das Ich und das Ding oder das
Subjekt und das Objekt, Befindlichkeit und Ekstasen von Dingen, die in der Wahrnehmung in
einem Zustand der Ko-Präsenz zusammenhängen.“33 Von der Grundform der
Atmosphärenwahrnehmung lassen sich nun insofern andere Wahrnehmungsweisen herleiten, als
sich in jenen die ursprünglich ungeschiedene Wahrnehmung thematisch hin zum Subjekt-Pol
oder hin zum Objekt-Pol verengt.

2.2. Verengung der Wahrnehmung zum Subjekt-Pol der Wahrnehmung:


Befindlichkeit

Böhmes Methode, in seiner Analyse und Theoriebildung Phänomene heranzuziehen, die uns
auch stets als Wahrnehmungsweisen bekannt sind, führt zu einer Eigenart in seiner Systematik.
Wenn Böhme nämlich die Pole der Atmosphärenwahrnehmung analysieren will, dann muss er
das tun, indem er eine spezifische Wahrnehmungsweise auffindet, in der die Pole selbst
thematisch werden. Der Ausdruck „Verengung hin zu Subjekt-Pol“ ist damit doppeldeutig.
Einerseits bedeutet er eine Verengung des theoretischen Blickwinkels, der die Klärung des
Subjekt-Pols der ursprünglich ungeschiedenen Atmosphäre leisten soll, andererseits ist hier
tatsächlich auch eine spezifische Wahrnehmungsweise gemeint, eine, die sich von der
Atmosphären-Wahrnehmung abhebt, da in ihr Subjekt und Objekt nicht mehr gleichermaßen
präsent sind, sondern sich die Wahrnehmung auf die Seite des Subjekts hin zentriert.

31
Vgl. Ströker, Raum, S. 35ff.
32
Genaueres dazu vgl. Abschnitt 2.3. der vorliegenden Arbeit.
33
Böhme, Aisthetik, S. 74.

- 14 -
Wahrnehmung, die sich aus dem Grundereignis von Wahrnehmung, nämlich dem Spüren
von Anwesenheit herleitet, impliziert in nuce zwei Pole, nämlich das Ich und das Ding
oder das Subjekt und das Objekt, die in der Wahrnehmung in einem Zustand der Ko-
Präsenz zusammenhängen. Spüren von Anwesenheit heißt spüren, daß etwas anwesend ist
und ich mich in seiner Gegenwart in bestimmter Weise befinde. […] Ist Wahrnehmung
Erfahrung von Ko-Präsenz, so geht es also darum herauszuarbeiten, inwiefern
Wahrnehmung von etwas immer zugleich die Wahrnehmung meines eigenen Daseins ist.
Dabei ist allerdings wie immer zu berücksichtigen, daß es unterschiedliche
Wahrnehmungsweisen gibt, bei denen je die eine oder die andere Seite von
34
Wahrnehmung zuungunsten anderer Möglichkeiten ausdifferenziert ist.

Wenn wir unsere eigene Befindlichkeit zum Gegenstand unserer Wahrnehmung machen, richten
wir unsere Aufmerksamkeit auf unser leiblich-affektives Erleben, das als solches auch teilhat an
der Atmosphärenwahrnehmung, ohne dort dabei jedoch thematisch zu werden.
Was ist nun über den Subjekt-Pol der Wahrnehmung zu sagen? „Wahrnehmung ist qua Spüren
eine Erfahrung davon, daß ich selbst da bin und wie ich mich, wo ich bin, befinde.“35 Gemeint ist
damit jedoch mehr als die bloße Perspektivität der Wahrnehmung (etwas von einem bestimmten
Standort aus zu betrachten – wie es etwa auch für die „Betrachtung“ durch eine Kamera gilt),
auch mehr als die Tatsache, dass das Betrachtete für mich (im klassisch phänomenologischen
Sinne – etwa mit Husserl) bedeutungsvoll ist, es geht um die leiblich-affektive Betroffenheit
durch das Wahrgenommene.36 Es gilt also nun zu klären, was Böhme mit leiblich-affektiver
Betroffenheit meint.
Die Bezeichnung Leib hat sich in der Phänomenologie als Begriff etabliert, die die klassische
Trennung von Körper und Seele in Frage stellen und unterlaufen soll.

Der Leib, schon mit der Erfindung der Seele bei den Griechen zu dem geworden, was
dem Menschen äußerlich ist – Kleid, Fahrzeug, Grab –, wird bei Descartes radikal
getrennt von der Seele. Im Prozeß der Aufklärung dann teilt er das Schicksal der Natur: er
wird zugelassen, soweit er vernünftig ist, eine rational durchsichtige und steuerbare
Maschine: als res extensa, Körper. Die Entdeckung des Körpers, als die wissenschaftliche
Medizin ihren Siegeszug antritt, ist zugleich die radikalste Verdrängung des Leibes: die
affektive Betroffenheit, leiblich gespürt, wird zur unheimlichen Anwandlung, zur Grille
oder zum Krankheitssymptom. Die durch die Elimination des Leibes ortlos gewordenen
37
Affekte werden der Seele aufgebürdet.“

Mit dem Konzept der Leiblichkeit wird das Ich nicht mehr als ortloses, immaterielles Vernunft-
Subjekt gedacht, dessen Gefühle einer ebenfalls ortlosen und immateriellen Seele zugeschrieben
werden und dessen Bezug zum eigenen materiellen Körper zum Rätsel wird. Stattdessen geht
Böhme davon aus, dass „der Mensch […] wesentlich als Leib gedacht werden [muß], d.h. so,

34
Ebda.
35
Ebda, S. 42.
36
Ebda, S. 75f.
37
Hartmut Böhme und Gernot Böhme: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel
Kants. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1985. (= sw. 542.) S. 14f.

- 15 -
daß er in seiner Selbstgegebenheit, seinem Sich-Spüren ursprünglich räumlich ist: Sich leiblich
spüren heißt zugleich spüren, wie ich mich in einer Umgebung befinde, wie mir hier zumute
ist.“38 Emotionales Erleben verspüren wir an uns selbst als Leib: Wenn wir Angst haben (weil
wir vielleicht gerade einen Horror-Film ansehen – um ein anschauliches Beispiel herzunehmen),
empfinden wir das Gefühl der Angst nicht als seelischen Zustand, sondern unsere Angst spüren
wir so, dass sich „in uns etwas zusammenzieht“ und wir auf unserer Haut ein Gänsehautgefühl
haben. Doch „affektives“ Erleben meint mehr als wir im engeren Sinne mit Emotionen
assoziieren würden. Nicht nur Trauer, Angst, Freude, Liebe, sondern Emotionen sind spezielle
Fälle von Befindlichkeiten,39 die auch Phänomene umfassen wie das Gefühl von Weite, Enge,
Gespanntheit. All das sind Ausprägungen unseres leiblich-affektiven Erlebens – die enge
Verbundenheit von dem, was wir alltäglicherweise als Emotionen bezeichnen würden, und dem
affektiven Erleben, wie es Böhme versteht, wird besonders deutlich, wenn wir davon sprechen,
dass wir uns bedrückt fühlen. Damit wird auch im Alltag ganz selbstverständlich ein Gefühl
bezeichnet und gleichzeitig wird der räumliche Charakter dieses Gefühls in der Bezeichnung
deutlich. „Affektiv“ meint also nicht im engeren Sinne das Erleben von Emotionen, sondern
spezifiziert gewissermaßen die Räumlichkeit des Leibes: es ist nicht bloß das Oben und Unten
und in den Finger- oder Zehenspitzen, es meint nicht bloß die Tatsache, dass wir uns als in
unserem Leib ausgedehnt spüren und nicht, etwa wenn wir die Hand bewegen, bloß das Gefühl
haben, dass unser Geist kausal auf unseren Körper einwirkt. „Leiblich-affektiv“ betont, dass wir
in unserem leiblichen Erleben auch betroffen sind, unser leibliches Erleben ist für uns

38
Böhme, Atmosphäre, S. 31.
39
Ich behandle hier, zur Klärung dessen, was ‚leiblich-affektives Erleben’ meint, Gefühle und Befindlichkeiten in einem. Da es
Böhme aber um eine Theorie der Wahrnehmung geht, bleibt fraglich, ob man nicht zwischen Gefühlen (als durch Inneres
hervorgerufenes Erleben) und Befindlichkeiten als Subjekt-Pol atmosphärischer Wahrnehmung (als Erleben, das durch Äußeres
mitkonstituiert ist und das wir als uns äußerlich erfahren) unterscheiden sollte. Böhme unterscheidet in Aisthetik (Böhme,
Aisthetik, S. 81) zwischen Befindlichkeit und Gefühl: „Man wird bemerken, daß ich an manchen Stellen vorsichtig formuliert
habe, um durch den Ausdruck auf die Befindlichkeit zu treffen, nicht das Gefühl. Diese Unterscheidung ist sicherlich als solche
problematisch, aber mit Befindlichkeit meint man doch einen Zustand, eben ein Sich-befinden, nicht aber eine Intention, ein
Gerichtet-sein.“ Ich muss gestehen, dass mir nicht ganz klar ist, worauf diese Unterscheidung bei Böhme abzielt, es scheint
jedoch deutlich, dass sie gerade nicht eine Differenzierung in Hinblick darauf ist, ob etwas als ‚aus meinem Inneren kommend’
oder aber als mich ‚von außen betreffend’ erlebt wird, sie kann daher nicht zur Klärung meiner Bedenken herangezogen werden.
Ganz selbstverständlich spricht Böhme im betreffenden Kapitel über die Befindlichkeiten Schmerz, Verliebtheit, Unwohlsein,
Hass etc. Es ist klar, dass es sich dabei um leiblich erlebte Zustände handelt, doch sind diese kaum als Pole der Wahrnehmung
einer äußeren Umgebung, die mich in ihrer Gestimmtheit ergreift, beschreibbar. Sabine Schouten nimmt in ihrer Arbeit zur
„Wahrnehmung und Erzeugung von Atmosphären im Theater“ (Sabine Schouten: Sinnliches Spüren. Wahrnehmung und
Erzeugung von Atmosphären im Theater. Berlin: Theater der Zeit 2007. [Zugl.: Berlin, Univ. Diss. 2006]) eine Unterscheidung
von Gefühl und atmosphärischer Wahrnehmung vor, die eher in eine solche Richtung zu weisen scheint: „Die besondere Qualität
des emotionalen Zustandes, in den die Atmosphäre versetzt, lässt sich am besten ex negativo beschreiben. Die Atmosphäre kann
hasserfüllt sein, aber sie wird nicht als eigener Hass auf jemanden oder etwas erspürt. Sie kann liebevoll sein, aber sie ist nicht
gleichzusetzen mit dem Gefühl der Liebe zu jemandem. Sie kann auch traurig sein, aber sie ist nicht deckungsgleich mit der
eigenen Trauer über einen Verlust.“ (Ebda, S. 68.) Im Unterschied zum Gefühl ist atmosphärisches Spüren durch „raumzeitliche
Gebundenheit“ (Ebda, S. 70) an eine aktuelle Situation gekennzeichnet, sowie dadurch, dass es „von außen an den
Wahrnehmenden herangetragen wird“ (Ebda). Ob diese Spezifikation bereits ausreicht, um die vorgenommene Unterscheidung
tragfähig zu machen, sei dahingestellt. Da meine Arbeit auf eine Analyse textseitiger Faktoren bei der Konstitution
atmosphärischen Erlebens beim Leser abzielt und daher von vornherein eine Situation infrage steht, in der der Leser von etwas
‚von außen’ ergriffen wird, kann hier eine eingehende Diskussion dieser Problematik unterbleiben.

- 16 -
bedeutungsvoll. An einigen Textstellen nennt Böhme affektive Betroffenheit im Gegensatz zu
einer reflexiven Haltung.40 Auch an diesen Stellen wird deutlich, dass die Bezeichnung „affektiv“
die Betroffenheit des erlebenden Ichs betonen soll, denn „reflexiv“ wird demgegenüber so
verwendet, dass es Distanznahme bedeutet. Reflexiv meint nicht die bloße Zuwendung des Ichs
zu sich selbst – in diesem Sinne wäre ja jede Zentrierung der Wahrnehmung auf die eigene
Befindlichkeit reflexiv –, sondern betont die Distanznahme des Ichs zum Gegenstand seiner
Wahrnehmung, sei dieser Gegenstand nun das eigene Ich oder ein wahrgenommenes Äußeres. In
reflexiver Haltung versuchen wir uns gerade nicht mehr von dem, was wir wahrnehmen,
betreffen zu lassen. So können wir aus unserer eigenen Befindlichkeit auch gewissermaßen
heraustreten, uns nicht mehr von ihr betreffen lassen und konstatieren (und nicht etwa klagen
oder jammernd ausrufen): ‚Mir ist kalt.’

2.3. Verengung der Wahrnehmung zum Objekt-Pol der Wahrnehmung

Wurde im vorangegangenen Kapitel die Zentrierung der Wahrnehmung auf den Subjekt-Pol
diskutiert, soll in Folge die Zentrierung der Wahrnehmung auf den Objekt-Pol geklärt werden.
Wahrnehmung ist Wahrnehmung von etwas. Aus der Ungeschiedenheit von Subjekt-Pol und
Objekt-Pol in der ursprünglichen Atmosphären-Wahrnehmung schält sich der Objekt-Pol heraus,
der zwar das erlebende Subjekt noch betrifft, jedoch diesem zunehmend gegenübersteht. Ich
spreche davon, dass der Objekt-Pol dem Subjekt ‚zunehmend’ gegenübersteht, da ‚Objekt-Pol’
nicht schon Dingliches (Tisch, Baum, Skulptur etc.) meint. Wie bereits in 2.1. besprochen, kann
auch eine Atmosphäre, in der noch keineswegs einzelne Dinge als solche in der Wahrnehmung
thematisch werden, als Gegenstand der Wahrnehmung, als ihr Objekt-Pol beschrieben werden.
Atmosphäre ist in diesem Sinne nicht mehr „ursprüngliche“ Atmosphäre, in der Wahrnehmender
und Wahrgenommenes ko-präsent sind, sondern sie wird hier untersucht als Gegenstand der
Wahrnehmung. Ausgehend von diesem noch ziemlich ‚ungegenständlichen’ Gegenstand der
Wahrnehmung, zentrieren sich, im Laufe des folgenden Abschnittes, die untersuchten
Wahrnehmungsweisen und gleichzeitig damit die untersuchten Phänomene zunehmend auf das
hin, was man alltagssprachlich als Gegenstand bezeichnet, nämlich auf das Ding.

40
Vgl. z.B.: Böhme, Aisthetik, S. 38 und S. 67.

- 17 -
2.3.1. Charaktere von Atmosphären

Es gibt unterschiedlichste Ausprägungen von Atmosphären: heitere, ausgelassene, bedrückte,


kalte, melancholische Atmosphäre. Auch spricht man von einer schmuddeligen 50er-Jahre-
Atmosphäre, die etwa in einer Wohnung herrschen mag. Eine Atmosphäre ist also so oder so
ausgeprägt, sie hat ein bestimmtes „Was-Sein“ und dieses „Was-Sein“ nennt Böhme den
„Charakter“ einer Atmosphäre: „Charakter […] ist die besondere Weise, wie uns etwas affektiv
betrifft, und genau das ist mit dem Charakter von Atmosphären gemeint: Die besondere Weise,
in der sie uns anmutet. Die vielen Ausdrücke für Atmosphäre, die wir umgangssprachlich haben,
wie heiter, melancholisch, gedrückt usw. bestimmen Atmosphären in Hinblick auf ihren
Charakter. Der Charakter der Atmosphäre ist gewissermaßen ihr Was-Sein.“41 Aufgrund der
Vielfalt von Atmosphären skizziert Böhme eine mögliche Klassifikation von Atmosphären-
Charakteren (ohne Anspruch auf Vollständigkeit und systematische Abgeschlossenheit).42 Es
gibt gesellschaftliche Charaktere (Eleganz, Reichtum, 20er-Jahre-Atmosphäre,
Kleinbürgerlichkeit etc.), Synästhesien (raue Atmosphäre, feurige Atmosphäre, dichte
Atmosphäre), Stimmungen (heiter, ernst, melancholisch etc.), kommunikative Charaktere
(gespannt, ruhig, feindlich etc.) und Bewegungsanmutungen (drückend, erhebend, weit,
bewegend etc.). Böhme betont, dass im Einzelnen die Bestimmung des Charakters einer
herrschenden Atmosphäre meist schwierig sein wird43, und an dieser Stelle interessieren mich die
einzelnen Klassen von Charakteren auch nur, insofern sie Auskunft über Atmosphären im
Allgemeinen geben. Etwa machen gesellschaftliche und kommunikative Charaktere deutlich,
dass Atmosphären nicht auf das Erscheinen von Natur, von Landschaft beschränkt sind. Auch
Gesellschaftlichkeit kann, wie ohnehin im Beispiel des Betretens einer Feier bereits deutlich
wurde, in seiner atmosphärischen Qualität wahrgenommen werden. Weiters wird deutlich, dass
atmosphärische Erlebnisweisen nicht unbedingt als anthropologische Wahrnehmungskonstanten
verstanden werden müssen. Gesellschaftliche Atmosphären sind offensichtlich durch
Konventionen bestimmt. Auch die Wirkung der Farbe Schwarz als Trauerfarbe beruht auf einer
Konvention. Nichtsdestoweniger prägen solche Konventionen – sobald wir sie einmal einverleibt
haben – unser Erleben, unsere leiblich-affektive Wahrnehmung und zwar selbst dann, wenn wir
uns des konventionellen Charakters bestimmter Atmosphären bewusst sind.
Eine besondere Rolle bei der Klärung atmosphärischer Wahrnehmung spielen die Synästhesien.
Sabine Schouten, für die Böhme eine zentrale theoretische Stütze ist zur Untersuchung von
41
Ebda, S. 52.
42
Vgl. ebda, S. 89f.
43
Vgl. ebda, S. 90.

- 18 -
Atmosphären in Theateraufführungen, unterscheidet hier im Gegensatz zu Böhme, wie mir
scheint zu Recht, zwischen Synästhesien und intermodaler Wahrnehmung.44 Bei Synästhesien
handelt es sich um ein eher seltenes Phänomen, das nur wenigen Personen bekannt ist: Sie
erleben bei Reizung eines Sinnesorgans gleichzeitig ein Reizempfinden eines anderen
Sinnesorgans – sie sehen etwa farbige Flecken, wenn sie einen Ton in gewisser Tonhöhe hören.
Davon unterscheiden sich intermodale Wahrnehmungen, die mehr oder weniger jedem von uns
bekannt sind: Die Beleuchtung in einem Raum erscheint uns als warm, ein Klang kann rau sein,
ein Geruch wird als schwer empfunden. Meist werden solche Bezeichnungen als metaphorische
Bezeichnungsweisen verstanden, in denen Eindrücke aus einem Bereich der Sinnlichkeit, dem
sie ‚eigentlich’ angehören auf einen anderen, ihnen ‚fremden’ Bereich übertragen werden.
Böhme versucht jedoch eine Perspektive auf intermodale Wahrnehmungsphänomene zu
entwickeln, die intermodale Wahrnehmung nicht auf eine bloße (metaphorische) Redeweise
reduziert.45 Da er von einer grundlegenden Wahrnehmungsweise ausgeht, in der die
Wahrnehmung nicht in Hinblick auf einzelne Sinnesbereiche differenziert ist, dreht er die
Sachlage gewissermaßen um. Nicht einzelne Sinneseindrücke (aus einem bestimmen
Sinnesbereich) sind primär, sondern die Erfahrung von Atmosphären ist primär. Daher sind
Rauheit, Kälte, Helligkeit etc. bei ihm auch nicht sinnlich wahrnehmbare Eigenschaften von
Objekten, die auf fremde Sinnesbereiche übertragen werden, sondern umgekehrt sind sie
Charaktere von Atmosphären, die erst in einem zweiten Schritt auf Objekte und ihre
Eigenschaften zurückgeführt werden. Dabei gilt, dass eben unterschiedlichste Gegenstände zu
einem bestimmten atmosphärischen Charakter beitragen, ihn erzeugen können. Eine Atmosphäre
von Kälte kann von einer bestimmten Beleuchtung, von bestimmten Tonqualitäten, bestimmten
Formen von Gegenständen, bestimmten Färbungen etc. hervorgerufen werden.

Kälte, Wärme, Dunkel und Helle, Enge und Weite werden also nicht primär in ihrer
Bedeutung, in der sie Gegenstände bestimmen können, genommen, sondern als
atmosphärische Charaktere. Dann können wir feststellen, daß diese Charaktere durch
unterschiedliche gegenständliche Eigenschaften bzw. Sinnesdaten erzeugt werden
können. In der Erzeugung des Charakters der Kälte kann das Blau durch glatte
abweisende Oberflächen ersetzt werden, oder, wie gesagt, durch versachlichte
Umgangsformen oder vielleicht auch durch eine bestimmte grelle Beleuchtung mit
46
eingeschränktem Frequenzbereich.

Wenn Böhme davon spricht, dass auch das „sachliche Gebaren des Personals“ eine Atmosphäre
von Kälte erzeugen kann, wird, wie er selbst bemerkt, deutlich, dass die einzelnen Klassen von

44
Vgl. Schouten, Sinnliches Spüren, S. 53ff.
45
Vgl. Böhme, Aisthetik, S. 91ff.
46
Ebda, S. 99.

- 19 -
Charakteren nicht eindeutig gegeneinander abgrenzbar sind. Bei dieser atmosphärischen Kälte
ließe sich ebenso gut von einem kommunikativen Charakter sprechen. Die Klassen der
Atmosphärencharaktere sind also durchlässig, Kälte, Weite etc. können je nach Fall anderen
Klassen von Charakteren zugesprochen werden. Hinzu kommt, dass die Intermodalität der
Atmosphärenwahrnehmung bei der Klasse der Synästhesien besonders auffällig ist, quasi in
‚reiner Form’ sichtbar wird, jedoch auch für alle anderen Klassen von Charakteren, für
Atmosphären im Allgemeinen von Bedeutung ist. Es wurde bereits betont, dass
Atmosphärenwahrnehmung ganz allgemein dadurch gekennzeichnet ist, dass sie nicht in
Hinblick auf einzelne Sinneskanäle hin spezifiziert ist. In diesem Sinne sind alle Atmosphären
intermodal. Dies führt Schouten als zentralen Einwand dagegen an, dass Böhme Synästhesien als
eigene Klasse von Atmosphären behandelt:

Was seinen [Böhmes] Ansatz dabei zunächst grundlegend von dem hier verfolgten
unterscheidet, ist seine Auffassung, dass sich Atmosphärisches nicht der intermodalen
Wahrnehmung verdankt, sondern umgekehrt Intermodalität seine Begründung in der
Erspürung von Atmosphären findet […]. Folgte man der Kategorisierung Böhmes, so
hieße dies zunächst, die Intermodalität der atmosphärischen Wahrnehmung käme nur
innerhalb einer atmosphärischen Gruppe, den synästhetischen Charakteren, zum Tragen.
Im Unterschied dazu gehe ich jedoch vielmehr davon aus, dass sich Atmosphärisches
47
generell der intermodalen Sinnestätigkeit verdankt.

Gewissermaßen kritisiert Schouten also, dass Böhme intermodale Wahrnehmung einer


bestimmten Klasse von Gegenständen zuordnet. Stattdessen ist intermodale Wahrnehmung bei
ihr als Form der Wahrnehmung Grundlage für das Erspüren von Atmosphären. Mir scheint dabei
jedoch, dass Schouten Böhmes spezifische Methode verkennt.48 Wie erläutert, betont Böhme,
dass Atmosphären ursprünglich nie in Hinblick auf einzelne Sinnesmodalitäten differenziert sind
– damit ist aber schon gesagt, dass jede Atmosphäre in intermodaler Weise erfahren wird. Der
Grund, warum Böhme diesen Aspekt gerade bei dem Charakter der Synästhesien ausführlich
darlegt, scheint mir in seiner Methode zu liegen. Böhme versucht seinen Betrachtungen stets
Phänomene zugrundezulegen, die als solche in der Erfahrung gegeben sind. Will er den Aspekt
der Intermodalität genauer untersuchen, muss er deshalb eine Wahrnehmungsform finden, in
dem dieser sozusagen ‚in Reinform’ zu Tage tritt. Diese Reinform findet er in den Synästhesien:
Es handelt sich bei ihnen um Wahrnehmungserlebnisse, die dem recht nahe kommen, was man
traditionellerweise als Sinneseindruck bezeichnet: Farben, Töne, Kälte etc. Solche

47
Schouten, Sinnliches Spüren, S. 57.
48
Nachdem Schoutens Ansatz zwar Böhme häufig heranzieht, jedoch seine Theorie nicht, wie es bei mir der Fall ist, als
Ausgangspunkt ihres Ansatzes wählt, kann ihr das jedoch kaum zum Vorwurf gemacht werden. Da Böhme für meine
Untersuchung den zentralen Ausgangspunkt markiert, soll hier die Frage unerläutert bleiben, inwiefern dieser spezifische Ansatz
gewisse Probleme mit sich bringt.

- 20 -
Sinneseindrücke sind die klassischen Beispiele von Philosophie und Naturwissenschaft. Aus
deren Perspektive sind Sinneseindrücke nach Modalitäten getrennt sind und werden verstanden
als Reize, die ausgelöst werden durch objektive Eigenschaften von Dingen. Böhme zeigt jedoch,
dass in der alltäglichen Wahrnehmung selbst für die klassischen Beispiele (Farben, Töne etc.)
dieses Beschreibungsmodell nicht phänomengerecht ist, denn wir nehmen eben nicht nur Farben
und Töne etc. wahr, sondern die Kühle von Blau, das Weiche einer bestimmten Form, das
Schneidende eines Tones – Synästhesien eben.

Die Theorien der Synästhesie leiden im allgemeinen darunter, daß man an das Phänomen
der Wahrnehmung vom naturwissenschaftlichen Standpunkt aus herangeht. Von diesem
Standpunkt aus gesehen sind das erste Gegebene auf der einen Seite die physischen Reize
[kausal hervorgerufen durch gewisse physikalische Eigenschaften von Objekten], auf der
anderen Seite die Sinnesorgane. Diese Zugangsart errichtete implizit unüberschreitbare
49
Schranken zwischen Ton, Farbe, Geruch und Tastqualität.

Und ein paar Passagen weiter:

Gegenüber dem Empfindungselementarismus hat die Wahrnehmungspsychologie in


unserem Jahrhundert Schritt für Schritt die Wahrnehmung in ihrer ganzen Fülle
zurückerobert: Es sind nicht einzelne Sinnesdaten, die man dann vielleicht zu Flächen,
Figuren und Dingen synthetisiert, sondern man sieht immer schon ganze Flächen und
Gestalten. Nein, man sieht nicht nur Gestalten, sondern man sieht von vornherein Dinge.
Aber auch das ist nicht wahr. Man sieht Dinge in ihrem Arrangement, Dinge, die
aufeinander verweisen, man sieht Situationen. Auch diese, ergänzt dann die Philosophie
die Gestaltpsychologie, sind bereits eingebettet in Bewandtnisganzheiten. Situationen
konkretisieren sich nur je von Fall zu Fall auf dem Hintergrund einer Welt. Allerdings die
Welt sieht man nicht. Was ist aber dann dieses Ganze, in das alles Einzelne, das man dann
je nach Aufmerksamkeit und Analyse daraus hervorheben kann, eingebettet ist? Wir
nennen diesen primären und in gewisser Weise grundlegenden Gegenstand der
Wahrnehmung die Atmosphäre. […] Es zeigt sich, daß das primäre und grundlegende
Phänomen der Wahrnehmung, nämlich die Atmosphäre, überhaupt nicht einzelsinnlichen
Charakter hat. […] Schmitz ist vollständig recht zu geben, daß die synästhetischen
Charaktere […] für die Wahrnehmung grundlegender sind als die ‚vermeintlichen Akte
50
oder Empfindungen des Sehens, des Hörens usw.’

In den zitierten Passagen wird deutlich, woher Böhmes Interesse für das Phänomen der
Synästhesie oder intermodalen Qualitäten stammt. Diese Phänomene erlauben eine Kritik
traditioneller philosophischer oder naturwissenschaftlicher Auffassungen von Sinnlichkeit. In
den Synästhesien findet Böhme zwar auch eine spezifische Klasse von Atmosphären-
Charakteren, doch das heißt natürlich nicht, dass der intermodale Charakter der Wahrnehmung
auf diese Klasse von Gegenständen beschränkt bliebe und alle anderen Bereiche der Theorie der

49
Gernot Böhme: Synästhesien. In: G. B.: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995. (= edition
suhrkamp. 1927.) S. 85-98, S. 90.
50
Ebda, S. 94ff.

- 21 -
Wahrnehmung unberührt ließe. Offensichtlich hat die Neubewertung des Phänomens der
Synästhesien auch Konsequenzen für die Wahrnehmung im Allgemeinen.

2.3.2. Erzeugende von Atmosphären-Charakteren – Physiognomien

Es wurde bereits vereinzelt davon gesprochen, dass etwas dazu beiträgt eine bestimmte
Atmosphäre zu erzeugen. Ebenfalls angedeutet wurde, dass in der ursprünglichen Wahrnehmung
von Atmosphären diese Erzeugenden nicht als solche thematisiert werden, die Wahrnehmung
erfährt die Gesamtheit der Atmosphären-Erscheinung, ohne diese auf einzelne erzeugende
Elemente zurückzuführen. Das heißt jedoch offensichtlich nicht, dass solche Erzeugende nur
einer philosophischen Analyse zugänglich wären und Böhme sich so von seiner Methode der
Gewinnung der Phänomene aus der Wahrnehmung, so wie wir sie erfahren, entfernen muss, um
diese Erzeugende in den Blick zu bekommen. Auch in der Lebenswelt nehmen wir nicht
permanent Gesamtheiten von Gestimmtheiten wahr, sondern fokussieren unsere Wahrnehmung,
lassen Einzelheiten thematisch werden. Zum einen in Bezug auf Dinge: Tische, Bäume,
Gesichter etc. Doch zwischen dem atmosphärischen Gesamteindruck und der Wahrnehmung von
Einzeldingen liegen, folgt man Böhme, noch zwei ‚Zwischenstufen’: Physiognomien und
Ekstasen. Wenn wir etwa ein medizinisches Labor betreten, mag es sein, dass wir eine kühle,
sterile Atmosphäre spüren, die gleichzeitig bedrängend wirkt. Wir werden jedoch vielleicht in
der Folge, aus welchen Gründen auch immer51, versuchen, verschiedene Anteile unserer
Wahrnehmung zu isolieren. Den Geruch von Desinfektionsmittel, zahlreiche weiße Flächen,
geometrische Anordnung von Tischen, Geräten, Kabel, Schläuche, eine Anzahl von Geräten,
über deren Funktion wir uns nicht im Klaren sind, Reagenzgläser, Neonlicht, vielleicht das
Summen irgendeines Gerätes etc. Offensichtlich sind wir in dieser Form der Wahrnehmung noch
nicht beim einzelnen Gegenstand angelangt, denn auch ‚undingliche’ Komponenten wie Licht,
Geräusche, Gerüche, die wir nicht auf ihre Quelle hin orten, spielen in unserer Wahrnehmung
eine Rolle. Auch das ‚Zwischen’-den-Dingen trägt zur atmosphärischen Gestimmtheit bei: das

51
Böhme bringt eine solche Differenzierung der Wahrnehmung, weg von dem ursprünglichen Gesamteindruck der Atmosphäre,
stets in Verbindung mit einer Tendenz der Distanzierung: Ich versuche mein Ich, mein Empfinden von der Außenwelt und der
Art, wie sie mich betrifft, loszulösen. Genealogisch gesehen geschieht dies, nach Böhme, stets unter dem Vorzeichen, dass man
sich vor der unangenehm bedrängenden Außenwelt in Schutz nehmen will. Es sei dahingestellt, inwiefern diese Einschätzung
zutrifft. In jedem Fall kann es für uns, ist diese ursprüngliche Distanzierung aus Furcht – will man sie denn annehmen – einmal
vollzogen, verschiedenste Gründe geben, distanziertere Einstellungen der Welt gegenüber einzunehmen. Vielleicht bin ich ja gar
nicht als ‚nur’ Wahrnehmender in diesem Labor, sondern trete hier gerade meine Lehre als Laborant an. In diesem Fall werde ich
Einzelheiten bereits in Hinblick auf meine spätere Tätigkeit wahrzunehmen versuchen. Vielleicht bin ich jedoch auch
„ästhetischer Arbeiter“, wie Böhme es nennt, und untersuche das Labor, um herauszufinden, wie man der herrschenden
Atmosphäre entgegenwirken könnte, um die Befindlichkeit von Angestellten u.ä. in ihrem Arbeitsalltag in eine andere Richtung
zu lenken. Oder aber ich bin Künstler – eine andere Form des ästhetischen Arbeiters – und möchte in einem Projekt meinen
Rezipienten gerade dieser Atmosphäre aussetzen und versuche herauszufinden, welche Elemente an ihrer Erzeugung beteiligt
sind.

- 22 -
„’Zwischen’ ist keine von ihnen [den Dingen52] gelöst zu betrachtende bloße
Anordnungsbeziehung, die mit anderen vergleichbar wäre, sondern ebenfalls eine qualitative,
ausdruckstragende Charakteristik des Dinges selbst.“53 Und doch untersuchen wir, welche
Elemente bei unserer atmosphärischen Betroffenheit zusammenwirken, wir konzentrieren unser
Erleben auf die, wie Böhme es nennen würde, Physiognomie unserer Umgebung. Ein weiterer
Schritt der Fokussierung wäre die Wahrnehmung eines Gegenstandes, jedoch noch nicht als
Ding, sondern hinsichtlich der ‚Ausstrahlung’ dieses Gegenstandes, hinsichtlich der Art und
Weise, wie dieser Gegenstand uns anmutet – der Gegenstand dieser Wahrnehmung wäre die
Ekstase eines Dings, doch dazu erst in 2.3.3.
In der Tradition der Physiognomik wird für gewöhnlich das Erscheinungsbild, etwa eines
Menschen, hergenommen, um davon auf ‚das innere Wesen’, den Charakter, verstanden als
Sammlung von Persönlichkeitsmerkmalen, zu schließen. Böhme jedoch geht es um die
Erscheinungswirklichkeit selbst, nicht um den Schluss auf ‚Inneres’, Verborgenes. „Die
Physiognomie, die ein Mensch hat oder eine Landschaft oder ein Ding, wird also in unserer
Physiognomik nicht als Ausdruck verstanden, sondern als ein Eindruckspotenzial, d.h. dasjenige,
was auf jemanden, der dafür empfänglich ist, einen bestimmten Eindruck machen kann.“54 Von
der Atmosphäre, die jemand ausstrahlt, auf seinen Charakter zu schließen, ist bekanntermaßen
mehr als problematisch. In Böhmes Perspektive ist Physiognomie nicht mehr Ausdruck von
etwas, sondern Eindruckspotenzial. Physiognomie im engeren Sinne ist bei Böhme das
Erzeugende von kommunikativen Atmosphären, Gestik, Mimik, wie wir aufeinander zugehen
oder wie wir uns voneinander abwenden, prägt die kommunikative Atmosphäre. Böhme kennt
jedoch auch einen allgemeinen Begriff der Physiognomie. „Physiognomien sind in gewisser
Weise die Erzeugenden von atmosphärischen Charakteren überhaupt.“55 Zwar benennt Böhme
spezifische Erzeugende für jede Klasse von atmosphärischen Charakteren, so sind
sinnesspezifische Daten (Farben, Töne, Gerüche etc.) die Erzeugenden von Synästhesien, Szenen
die Erzeugenden von Stimmungen, Insignien bzw. Symbole die Erzeugenden von
gesellschaftlichen Charakteren, Formen und Volumina die Erzeugenden von
Bewegungsanmutungen und Physiognomien im engeren Sinne die Erzeugenden von
kommunikativen Charakteren,56 jedoch fungiert der Begriff Physiognomie gewissermaßen als
Sammelbegriff für alle diese Erzeugende.

52
Ströker verwendet den Begriff „Ding“ nicht in dem Sinn wie Böhme es im Normalfall tut, nämlich als jenes reale, objektive
Ding, das als solches die Erscheinungswirklichkeit gerade übersteigt.
53
Ströker: Raum, S. 33f.
54
Böhme, Aisthetik, S. 110.
55
Ebda, S. 103.
56
Vgl. ebda, S. 101ff.

- 23 -
Es wurde bereits erwähnt, dass mit dem Auffinden von Erzeugenden der Wahrnehmende
gegenüber der Atmosphäre in ein gewisses Distanzverhältnis tritt. Der Atmosphäre werden
erzeugende Elemente zugeordnet. Wir bestimmen damit gewissermaßen, ‚wo’ die Atmosphäre
herkommt, und lassen dadurch die diffuse, den gesamten Raum ergreifende Weite der
Atmosphäre zusammenbrechen. „Wenn wir deren Physiognomie als Erzeugende benennen, so
benennen wir damit zugleich einen Ort, von dem die Atmosphäre ausgeht, und lassen implizit zu,
daß sie nicht allgegenwärtig ist.“57 Mit der Benennung von Physiognomien nähert man sich der
eindeutig definierten Lokalität der Dinge an, doch bevor man diese erreicht, muss man noch das
Phänomen der Ekstasen betrachten.

2.3.3. Die Anwesenheit der Dinge – Ekstasen

Mit „Ekstase“ bezeichnet Böhme das „Aus-sich-Heraustreten“ der Dinge. „Dabei ist Aus-sich-
Heraustreten durchaus räumlich gemeint. Es handelt sich um die Art und Weise, in der ein Ding
in den Raum seiner Anwesenheit, seiner sphaera activitatis heraustritt und so dort als anwesend
spürbar wird.“58 In den Ekstasen finden wir nun also Erscheinungswirklichkeiten, die bereits
relativ eindeutig lokalisiert und einem Ding zugeordnet sind. Trotzdem bleibt nach wie vor eine
gewisse Diffusität der Ausstrahlung bestehen, die über das Ding (verstanden als realer
physikalischer Gegenstand) hinausreicht. Das (reale) Ding selbst ist dabei eigentlich nur indirekt
wahrnehmbar, nur erschlossen – das Ding ist das Ergebnis eines Rückschlusses von der
Erscheinungswirklichkeit eines Gegenstandes zur Quelle dieser Erscheinung.59 Die Quelle wird
dabei als unabhängig vom Wahrnehmenden gedacht, von allen ‚subjektiven’ Anteilen der
Wahrnehmung gereinigt. Man könnte formulieren, dass das Ding den Gegenstand meint, in
Hinblick darauf, wie er ist ‚trotz’ unserer Wahrnehmung von ihm, das Ding ist nicht mehr Teil
der leiblich-affektiv erfahrenen Wirklichkeit. Die objektiven Eigenschaften eines Dings sind von
der Art und Weise, wie uns der Gegenstand erscheint, von seiner Erscheinungswirklichkeit
unterschieden. Böhme unterscheidet also zwischen Wirklichkeit (die Ausstrahlung von etwas,
die affektive Tönung des Raumes) und Realität (die objektiven Eigenschaften eines
Gegenstandes): „Es empfiehlt sich […] Wirklichkeit und Realität als zwei verschiedene
Seinsweisen zu unterscheiden. Wirklich ist in diesem Sinne nur das in aktueller Wahrnehmung
Gegebene, real, was dinglich dahinterstehen mag.“60 Eine Skulptur, die nur von einer Seite grell

57
Ebda, S. 111.
58
Ebda, S. 131.
59
Vgl. ebda, S. 164ff.
60
Ebda, S. 56f.

- 24 -
beleuchtet ist, deren andere Seite im Dunklen bleibt und die einen langen Schatten wirft, wird in
spezifischer Weise ausstrahlen, ohne dass diese momentane Ausstrahlung, Glanz, Helligkeit,
Dunkelheit objektive Eigenschaften des Dinges wären. Um ein weiteres Beispiel zu nennen: Ein
silbern lackierter Styroporamboss wird uns als schwer erscheinen auch wenn sein tatsächliches
Gewicht sehr gering ist. Das reale Gewicht eines Gegenstandes lässt sich messen, doch es kann
von der Wirklichkeit eines Gegenstandes unterschieden sein – nur so lässt sich die Irritation
erklären, die auftreten kann, wenn wir einen Gegenstand anheben, der schwer erscheint, aber
sich leicht heben lässt.61 Ein solcher Widerspruch lässt sich nur unter Rückgang (Rückschluss)
auf die Realität des Dings erklären. Doch das bedeutet offensichtlich nicht, dass die Wirklichkeit
in der Realität des Dinges aufginge – auch ‚wenn wir es besser wissen’, wird uns der
Styroporamboss weiterhin schwer erscheinen. Ein weiterer Aspekt der Ausstrahlung der Dinge
liegt darin, dass hierdurch betont wird, dass die Dinge für uns nicht distinkt und gegenseitig
unbeeinflusst ‚nebeneinanderstehen’. Die Erscheinungswirklichkeiten verschiedener Dinge, ihre
Ekstasen, interagieren miteinander. Ganz banal lässt sich das so formulieren: Wenn ein
‚normalgroßer’ Mensch neben einem Riesen steht, wird er uns klein, vielleicht sogar schmächtig
erscheinen. Ebenso modifiziert etwa die Erscheinungswirklichkeit einer farbigen Fläche auf
einer Leinwand unsere Wahrnehmung der daran angrenzenden Farbfläche. Haben wir aber, um
bei diesem Beispiel zu bleiben, im vorangegangenen Kapitel nicht von Farben als
„Erzeugenden“ gesprochen, als Züge der Physiognomie? Tatsächlich ist die Unterscheidung von
Physiognomien und Ekstasen nicht einfach.62 In einem der Essays in Böhmes Atmosphären-
Band, der einige Jahre vor „Aisthetik“ erschienen ist, findet man etwa folgende Passage: „Die
Physiognomik erkennt also Physiognomien, das heißt […] Formen, durch die etwas aus sich
heraustritt und eine Atmosphäre verbreitet. Insofern man diese Formen dem Gegenstand als

61
Hier kündigt sich etwas an, das mir als zentraler philosophischer Einwand gegen Böhme erscheint. Sein Ansatz scheint mir in
einem Spannungsverhältnis zu stehen zwischen dem Ansinnen, Wahrnehmung in möglichst allgemeinem Sinne untersuchen und
zwar als Wahrnehmung, wie sie uns als Wahrnehmung auch in der alltäglichen Erfahrung gegeben ist, und der radikalen
Trennung zwischen Wahrnehmung und Handeln. Offensichtlich ist eine solch radikale Trennung ohne massive Abstraktionsakte
nicht aufrechtzuerhalten. Handeln und Wahrnehmung sind in unserer Erfahrung meist aufs Engste miteinander verwoben. Auch
der Verweis auf Wahrnehmungserlebnisse, in denen die Wahrnehmung nicht immer schon auf Handeln ausgerichtet ist – Böhme
führt ja zahlreiche solcher Beispiele an –, rechtfertigt nicht, von solchen Wahrnehmungsbeispielen als den grundlegenden Weisen
der Wahrnehmung zu sprechen.
62
Tatsächlich begegnen einem innerhalb Böhmes Systematik häufig solch vage Grenzen zwischen Begriffen. Ein Grund dafür
mag darin liegen, dass Böhme erst nach und nach aus verschiedensten Problemen und Lösungsansätzen eine Systematik
entwickelt hat. Im Band „Atmosphäre“ liegen die einzelnen Problemfelder noch disparater nebeneinander und der Ursprung von
einzelnen Elementen der Systematik Böhmes tritt damit stärker hervor. Böhmes Begriff der Physiognomie leitet sich ab von
seinem Versuch eine alternative Physiognomie zu entwerfen, eine Physiognomie des Eindrucks statt des Ausdrucks. Der Begriff
der Ekstasen dagegen steht in engem Zusammenhang mit der Auseinandersetzung Böhmes mit der klassischen Ding-Ontologie,
in der das Ding als scharf umgrenzt und mit ‚objektiven’, teils verborgenen Eigenschaften ausgestattet ist und unabhängig vom
Wahrnehmenden begriffen wird. Im Laufe der Entwicklung von Böhmes Denken verschieben sich die Grenzen zwischen
Begriffen immer wieder leicht oder aber werden gar nicht scharf gezogen.

- 25 -
Eigenschaften attributieren kann, sind sie als Bedingungen seiner Anwesenheit Ekstasen.“63 Und
tatsächlich behandelt etwa Sabine Schouten Ekstasen als die (einzigen) Erzeugenden. „Wie
dieser [Hermann Schmitz] bestimmt er [Böhme] Atmosphären als räumlich ergossen. In
deutlichem Gegensatz zu Schmitz wird die Atmosphäre aber nicht als frei schwebende
Anwesenheit gedacht, sondern auf die Ekstasen der Dinge zurückgeführt.“64 Sie lässt bei ihrem
Versuch, die Erzeugenden von Atmosphären im Theater der theaterwissenschaftlichen Analyse
zugänglich zu machen, den Begriff der Physiognomie vollkommen außen vor und betrachtet
Ekstasen als die Erzeugenden von Atmosphären. Im folgenden Abschnitt möchte ich – da nun
sowohl die Begriffe „Physiognomie“ und „Ekstase“ eingeführt sind – noch einmal die Frage der
Erzeugenden von Atmosphären diskutieren um darzulegen, warum mir der Begriff der
Physiognomie als Beschreibungsinstrument von Erzeugenden geeigneter scheint. Dies soll im
Zusammenhang mit einer Thematik geschehen, für die einerseits die Frage der Erzeugenden eine
besondere Rolle spielt und die andererseits zur eigentlichen Fragestellung meiner Arbeit
hinführt, nämlich jener der ästhetischen Arbeit.

2.4. Analyse ästhetischer Arbeit als Analyse von Erzeugenden

Atmosphären sind nicht nur Wahrnehmungsphänomene, die uns in der Natur begegnen, sondern
Atmosphären können auch geschaffen werden. Ein solches Gestalten von Atmosphären nennt
Böhme ästhetische Arbeit. „Als ästhetische Arbeit soll diejenige Tätigkeit bezeichnet werden,
die Dinge, Räume, Arrangements gestaltet in Hinblick auf die affektive Betroffenheit, die ein
Betrachter […] dadurch erfahren soll.“65 Bühnenbildner, Gartengestalter, Designer etc. verfügen
über implizites Wissen darüber, dass und wie es möglich ist, „durch dingliche, sprachliche oder
musikalische Arrangements Atmosphären erzeugen zu können.“66 Nicht nur künstlerische
Tätigkeit ist (auch) als ästhetische Arbeit zu betrachten, sondern gleichermaßen Tätigkeitsfelder
wie etwa Gartengestaltung, Stadtgestaltung, Design, Formen politischer Inszenierung, ja letztlich
natürlich auch die Arbeit von Frisören (insofern sie die Erscheinungswirklichkeit von Menschen
gestalten) etc. gehört in den Bereich ästhetischer Arbeit. Spricht man von der Erzeugung von
Atmosphären, ist zu bedenken, dass eine Betrachtungsweise, die alleine die ‚entstandenen
Werke’ ins Auge fasst, der ästhetischen Arbeit als solcher nicht gerecht werden kann.

63
Gernot Böhme: Physiognomik in der Naturästhetik. In: G. B.: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik. Frankfurt/Main:
Suhrkamp 1995. (= edition suhrkamp. 1927. NF. 927.) S. 132-151, S.137.
64
Schouten, Sinnliches Spüren, S. 28.
65
Böhme, Aisthetik, S. 53.
66
Ebda, S. 52.

- 26 -
Atmosphären können nicht erzeugt werden als Objekte, als in sich geschlossene Werke, sondern
sind stets angewiesen auf einen Wahrnehmenden, der sie in aktueller Wahrnehmung erfährt.
Eine Analyse von ästhetischer Arbeit über die Analyse von Erzeugenden darf also nicht
verstanden werden als Betrachtung von Kunstwerken ohne jeglichen Rekurs auf ein erlebendes
Subjekt – es wird sich in der Folge zeigen, dass auch die Erzeugenden nicht als tatsächlich
objektive Gegebenheiten verstanden werden können. Und doch hat die Analyse von
Erzeugenden den Vorteil, dass sie, über das bloße Konstatieren eines Etwas-so-und-so-erlebt-
Habens hinausgehend, versucht zu klären, wie, durch welches Arrangement, dieses Erleben
evoziert werden konnte. Denn ebenso wie ästhetische Arbeit Erzeugende mit ihren
Eindruckspotenzialen ‚in Hinblick’ auf die leiblich-affektive Wirkung auf einen möglichen
Rezipienten arrangiert, so kann auch die Betrachtung der so entstandenen ‚Resultate’ durch eine
Analyse der Erzeugenden ‚in Hinblick’ auf einen möglichen Rezipienten geschehen, ohne dass
dabei Bezug genommen werden müsste auf einen tatsächlichen momentan erlebenden
Rezipienten.67 Sowohl für die ästhetische Arbeit als auch für Analyse ihrer ‚Resultate’ spielen
Erzeugende damit offensichtlich eine zentrale Rolle. Es scheint mir daher angebracht, den
Begriff der Erzeugenden noch einmal genauer ins Auge zu fassen.
Ein Zugang, der sich den Erzeugenden zuwendet, erfordert eine spezifische Form der
Wahrnehmung, die von der ursprünglichen Wahrnehmung der Atmosphären unterschieden und
durch größere Distanz zum Gegenstand der Wahrnehmung gekennzeichnet ist. Im bereits
zitierten Essay „Physiognomik in der Naturästhetik“ scheint Böhme sogar noch davon
auszugehen, dass der Unterschied der beiden Zugangsweisen zu Atmosphären (ihr Erspüren und
die Untersuchung ihrer Erzeugenden) ein fundamentaler ist: „Physiognomik ist eine analytische
Erkenntnis und hat mit der Beziehung zwischen der Physiognomie von etwas, d.h. von
Charakterzügen und der durch die bestimmten Atmosphäre, zu tun: Etwas physiognomisch

67
Was wiederum nicht bedeutet, dass nicht sowohl Produzent als auch der Analysierende sich phasenweise in die
Wahrnehmungsweise des leiblich-affektiven Erlebens versetzen müssen, um die Atmosphäre wahrzunehmen, deren Erzeugende
sie versuchen ‚in den Griff zu bekommen’. Offensichtlich ergibt sich daraus ein methodisches Problem, das Ziad Mahayni in
Bezug auf einen ästhetischen Arbeiter – Monet – treffend beschreibt: „Monet malte also, was er als Teil des alles umhüllenden
Umschlags [Monet bezeichnet das, was Böhme später als Atmosphäre beschreiben wird, als ‚envelope’] fühlte. Er malte die
Atmosphäre aus der Perspektive des Ergriffenen. Dies ist ein fast paradoxes Unterfangen, denn die Artikulation des
Atmosphärischen – gleichgültig ob durch Wort oder Bild – ist nur möglich, nachdem man sich aus der Atmosphäre, aus dem
Umschlag befreit, sozusagen herausgenommen hat. Erst dann treten Dinge, Konturen und Einzelheiten hervor, die beschreibend
ausfindig gemacht werden können. Doch im gleichen Moment, in dem sich das Subjekt zusammen mit den Objekten deutlich aus
der Atmosphäre herauszuschälen beginnt, verliert der Wahrnehmende das Gefühl und die Stimmung, die die Atmosphäre
ausgezeichnet haben. Will Monet also malen, was er im Moment des atmosphärischen Ergriffen-Seins spürt, so muß er
versuchen, in den ursprünglichen Zustand, das heißt in den Umschlag und damit vor die Trennung von Subjekt und Objekt
zurückzukehren. Das Malen von Atmosphären kommt einer Gratwanderung gleich, bei der man versucht, in jedem Moment die
Augen neu, wie zum allerersten Mal aufzuschlagen. Man muß sich der Stimmung immer wieder neu aussetzen, um diese in die
analytische Arbeit der künstlerischen Artikulation hinüberretten zu können.“ (Ziad Mahayni: Atmosphäre als Gegenstand der
Kunst. Monets Gemäldeserie der Kathedrale von Rouen. In: Neue Ästhetik. Das Atmosphärische und die Kunst. Hrsg. von Z. M.
München: Fink 2002, S. 59-69, 63.) Was Mahayni für den ästhetischen Arbeiter herausstellt, gilt meiner Ansicht nach
gleichermaßen für den Analysierenden der ‚Resultate’ ästhetischer Arbeit.

- 27 -
erkennen heißt es durch seine Physiognomie erkennen. Man könnte diese Erkenntnis
hermeneutisch nennen, indem sie nämlich gewisse äußere Merkmale von etwas als affektiv
bedeutsam liest.“68 Die Untersuchung von Erzeugenden gleicht, so scheint es dieses Zitat
nahezulegen, mehr einem Verstehen als einem Erleben. Lässt sich so nicht leicht eine
Unterscheidung zwischen Physiognomien und Ekstasen treffen? Physiognomien als Erzeugende
sind Ursachen atmosphärischer Wirkung. Ekstasen dagegen sind selbst solche Wirkungen. Eine
Passage in Böhmes „Aisthetik“ scheint in diese Richtung zu weisen, macht jedoch gleichzeitig
die Ambivalenz des Begriffs der Erzeugenden deutlich, die eine solche Lesart verhindert:

Wichtig ist nun, daß man den Charakter einer Atmosphäre nur bestimmen kann, indem
man sich ihr aussetzt. Er ist nicht von einem neutralen Beobachterstandpunkt aus
festzustellen, sondern nur in affektiver Betroffenheit. Natürlich könnte man versuchen,
auch aus objektiven Konstituentien [!] von Atmosphären […] auf das Wehen einer
Atmosphäre zu schließen, auch dann, wenn man nicht von ihr betroffen ist. Diese
Möglichkeit ist sicherlich von großer Bedeutung und für den Status von Atmosphären als
quasi objektiv ausschlaggebend. Andererseits sind aber Atmosphären eben nur quasi
objektiv, und das heißt, sie sind in ihrem Was-Sein gar nicht vollständig bestimmt ohne
69
denjenigen, der von ihr betroffen ist.

Die Thematisierung von Erzeugenden in der Wahrnehmung bedeutet eine Distanzierung von der
Betroffenheit durch eine Atmosphäre als solche. Doch in „Aisthetik“ scheint Böhme Erzeugende
weniger als objektive Konstituierende zu begreifen, sondern die Erzeugenden sind selbst eine
Erscheinungswirklichkeit, sie sind Erzeugende ja überhaupt nur vermöge ihrer Wirklichkeit und
also nicht im Sinne objektiver Ursachen zu begreifen. Eine Trennung von Ursache und Wirkung
in diesem Sinne lässt sich aufgrund von Böhmes Methodik, der er in „Aisthetik“ folgt, nicht
(mehr) vornehmen. Auch die Physiognomien erscheinen. Sie sind nicht als abstrakte Formen
oder Eigenschaften zu verstehen, die in der Wahrnehmung realisiert oder ‚aufgefüllt’ werden,
eine solche Betrachtungsweise würde Böhmes Vorhaben widersprechen. Solche Eigenschaften
von Dingen, verstanden als Ursache unserer Wahrnehmung, sind selbst nicht mehr Teil der
leiblich-affektiv erfahrbaren Wirklichkeit, sondern sie sind erst (begrifflich und gedanklich)
erschlossen. Sie sind zwar wahrnehmbar, wir können immerhin die Schwere, besser Leichtigkeit
eines Styroporambosses erkennen, indem wir versuchen ihn anzuheben oder indem wir ihn auf
eine Waage stellen, jedoch rechnet Böhme diese Art und Weise des Zugangs zu Dingen der
sogenannten Wahrnehmungsweise der Dingwahrnehmung zu. In der Dingwahrnehmung
versucht der Wahrnehmende sich von seiner leiblich-affektiven Betroffenheit völlig zu
distanzieren und überschreitet die Wahrnehmungswirklichkeit hin zur Erschließung der

68
Böhme, Physiognomik, S. 135.
69
Böhme, Aisthetik, S. 52.

- 28 -
Realität.70 Die Wahrnehmungsweise, die auf Erzeugende gerichtet ist, ist zwar auch von
Distanzierung gegenüber dem ursprünglichen Erleben von Atmosphäre geprägt, jedoch reicht sie
nicht über die Erscheinungswirklichkeit hinaus. Auch Schouten scheint diesen Standpunkt
einzunehmen, wenn sie anmerkt: „Auf solche Untersuchungen [der Wahrnehmungs- und
Gestaltpsychologie zur Wirkung von Sinneseindrücken] soll im Folgenden nicht im Sinne einer
vermeintlichen Empirie der Ekstasen zurückgegriffen werden. Es geht mir nicht um die
Konstatierung objektiver Reiz-Reaktions-Muster, sondern um einen Ausweis über und einen
Einblick in die eigene Introspektion“71. Erzeugende sind also nicht zu verstehen als objektive
Ursachen von Atmosphären. Dies klärt jedoch noch nicht, ob der Begriff der Physiognomie oder
jener der Ekstasen vorzuziehen ist, wenn es um die Beschreibung von Erzeugenden geht, denn
wenn sowohl Physiognomie als auch Ekstasen Teil der Erscheinungswirklichkeit sind, die uns
leiblich-affektiv ergreift, warum kann man dann nicht ebenso gut davon sprechen, dass Ekstasen
in ihrem Zusammenwirken, in ihren Kohärenzen oder gegenseitigen Interferenzen Erzeugende
von Atmosphären sind? Ja, geht nicht Böhme selbst eher davon aus, dass es die Ausstrahlung
von Gegenständen ist, die in ihrem Zusammenspiel Atmosphäre erzeugt, wenn er etwa davon
spricht, dass „es möglich ist, durch bestimmte dingliche Arrangements Atmosphären zu
erzeugen?“72 Außerdem war ja bereits davon die Rede, dass Böhme im Kapitel über Ekstasen
Farben, Formen etc. als Ekstasen bezeichnet (nämlich als Ekstasen der Dinge in ihrer
Wirklichkeit gegenüber den objektiven Eigenschaften der Realität der Dinge), wobei Farben und
Formen an anderer Stelle bereits als Erzeugende gekennzeichnet wurden. Rein auf Ebene des
Textes der Theorie Böhmes lässt sich dagegen einwenden, dass Böhme an zwei Stellen deutlich
Physiognomien als Erzeugende benennt. Zum einen ist das jene Passage, in der er auf das
Kapitel VII., das jenes ist, in dem er die Physiognomien behandelt, vorausweist: „Wir wollen
dieser Frage jetzt nicht nachgehen, weil sie bereits auf das Thema der gegenständlichen
Konstituenten von Atmosphären vorgreift. Dieses Thema wird unter dem Stichwort Erzeugende
in der VII. Vorlesung aufgenommen.“73 Und zum anderen lässt sich das ohnehin bereits in
meinem Abschnitt 2.3.2. gebrachte Zitat anführen, in dem es heißt: „Physiognomien sind in
gewisser Weise die Erzeugenden von atmosphärischen Charakteren überhaupt.“74 Zu einer
Klärung tragen solche Textbelege jedoch offensichtlich nicht bei: Gibt es gute Gründe dafür, die
Physiognomie als Erzeugende gegenüber den Ekstasen vorzuziehen? Um diese Fragen zu

70
Vgl. ebda, S. 167ff.
71
Schouten, Sinnliches Erleben, S. 117.
72
Böhme, Aisthetik, S. 125. [Hervorh. durch die Verfasserin]
73
Ebda, S. 64.
74
Ebda, S. 103.

- 29 -
beantworten, möchte ich eine Passage aus der fünfbändigen von 1779-85 Theorie der
Gartenkunst von C. C. L. Hirschfeld betrachten, in der Böhme eine exemplarische Beschreibung
von Erzeugenden einer Atmosphäre findet:

Die sanftmelancholische Gegend bildet sich durch Versperrung aller Aussicht; durch
Tiefen und Niedrigungen; durch dickes Gebüsch und Gehölz, oft schon durch bloße
Gruppen von hohen starkbelaubten nahe an einander gedrängten Bäumen, in deren
Wipfeln ein hohles Geräusch schwebt; durch stillstehendes oder dumpfmurmelndes
Gewässer, dessen Anblick versteckt ist; durch Laubwerk von einem dunklen und
schwärzlichen Grün, durch tiefherabhängende Blätter und überall verbreitete Schatten;
durch die Abwesenheit alles dessen, was Leben und Wirksamkeit ankündigen kann. In
einer solchen Gegend fallen sparsame Lichter nur durch, um den Einfluß der Dunkelheit
vor dem Traurigen oder Fürchterlichen zu beschützen. Die Stille und Einsamkeit haben
hier ihre Heimath. Ein Vogel, der ungesellig umherflattert, ein unverständliches
Geschwirre unbekannter Geschöpfe, eine Holztaube, die in dem hohlen Gipfel einer
entlaubten Eiche girrt, oder eine verirrte Nachtigall, die ihre Leiden der Einöde klagt – ist
75
zur Ausstaffirung der Scene schon hinreichend.

Einzelne der hier angeführten Erzeugenden können auch als Ekstasen gelesen werden: das
„Dumpfmurmelnde“ als Ausstrahlung des Gewässers etwa oder auch das Dichte, Dunkle,
Undurchsichtige des Gehölzes. Doch schon hier hat man gewisse Schwierigkeiten: Ist etwa
Gehölz als ein Gegenstand, der ausstrahlt, zu verstehen? Schon durch den Ausdruck „Gehölz“
wird deutlich, dass es sich dabei nicht um einen Baum oder einen Busch handelt, sondern eben
um unentwirrbares Gehölz. Auch das Gewässer lässt sich nur mit Mühe als ausstrahlender
Gegenstand begreifen, denn auch das Gewässer ist schon verbunden mit dem Laubwerk, das ja
den Anblick des Gewässers verdeckt. Man könnte nun einwenden, dass ja auch die Ekstasen von
Gegenständen durchaus von den Verbindungen des Gegenstandes mit seiner Umgebung
abhängen, von der Stellung des Gegenstandes im Raum, von der Art, wie er beleuchtet ist etc. Es
gibt jedoch in Hirschfelds Beschreibung auch Aspekte, die nicht mehr als Ausstrahlung, Ekstase
eines Gegenstandes gelesen werden können. Wie sollte etwa die „Versperrung aller Aussicht“ als
Ekstase interpretiert werden? Oder die Schatten, die eben gerade nicht Schatten sind, die ein
Gegenstand wirft, sondern gar nicht auf einen solchen Gegenstand als Quelle bezogen sind?
Gleiches gilt für das Licht: Es ist weder Licht, das von einer Lichtquelle ausstrahlt, noch der
Glanz an einem Gegenstand, es sind einfach Flecken von Helligkeit im Gehölz. Auch „die
Abwesenheit alles dessen, was Leben und Wirksamkeit ankündigen kann“, ist als Ausstrahlung
nicht auf einen Gegenstand bezogen, sondern durchzieht eben gerade das Ganze des gestimmten
Raumes. Die Atmosphäre ist einfach mehr als die Summe aller in einem Raum

75
Christian Cayus Lorenz Hirschfeld: Theorie der Gartenkunst. Bd. 1. Leipzig: Weidmann 1779, S. 211f. Zitiert nach: Böhme,
Aisthetik, S. 128.

- 30 -
zusammenfließenden Ekstasen. Der Begriff der Physiognomie hat also den Vorteil, dass er nicht
dazu zwingt die Atmosphäre rückzubinden an die Ausstrahlung von dingähnlichen Gebilden, die
zwar ausstrahlen, das heißt, sich diffus in den Raum ausbreiten, aber eben doch einigermaßen
klar lokalisiert sind – als zentrierte Ausstrahlung. Kurz gesagt: Würde man Ekstasen als (einzige)
Erzeugende verstehen, hätte man die Schwierigkeit, Atmosphären auf dingähnliche Erzeugende
zurückführen zu müssen. Tatsächlich beschränkt auch Sabine Schouten in ihrer Analyse
theatraler Atmosphären – entgegen ihrer Behauptung „einzelne Ekstasen“ als Erzeugende zu
untersuchen76 – ihre Betrachtung nicht auf dingähnliche Komponenten der Aufführung, sondern
bezieht etwa Licht und Klänge (die nicht gesungen oder gesprochen, sondern über auf der Bühne
und im Theaterraum verteilte Lautsprecher eingespielt werden und damit nicht zur Ausstrahlung
etwa einer Figur beitragen, sondern den Raum als gesamten prägen) mit ein. Bei meinen späteren
Analysen wird sich zeigen, dass der Begriff der Physiognomie, der von der Vorstellung befreit,
nach dingähnlichen Erzeugenden suchen zu müssen – im literarischen Text könnten das etwa
Gegenstände innerhalb der fiktionalen Welt oder die Ausstrahlung von Figuren sein – gerade für
die Analyse von Texten zentrale Vorteile bietet.
Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass es zwar gewisse Überschneidungen der Begriffe
„Ekstase“ und „Physiognomie“ gibt, dass jedoch der Begriff der Ekstase eindeutig zu eng ist, um
alle Erzeugenden in den Griff zu bekommen, da der Begriff der Ekstase eine schon relativ
eindeutige Lokalisierung der Ausstrahlung impliziert, wogegen der Begriff der Physiognomie
dieser Einschränkung nicht unterliegt.77

Exkurs: Die Verwendung des Begriffs der Evokation in der vorliegenden Arbeit

Evokation meint üblicherweise die „Erweckung von Vorstellungen, Assoziationen“78. Der


Begriff der Evokation ist in meiner Arbeit ein wichtiges sprachliches Instrumentarium, um die
Möglichkeit der In-Bezug-Setzung von Atmosphären und literarischen Texten zu diskutieren. Da
ich in meiner Verwendung des Begriffs jedoch vom allgemeinen Sprachgebrauch abweiche,
scheint es mir geboten, meine Verwendungsweise und die Gründe für meine Verwendung des

76
Vgl. Schouten, Sinnliches Spüren, S. 126ff. Es soll hier nicht unterschlagen werden, dass sich Schouten der damit in
Zusammenhang stehenden Problematik durchaus bewusst ist: „Nachzugehen ist damit der atmosphärischen Verfugung von
leiblich-affektivem Spüren, sinnlichen Qualitäten der Szene und inszenatorischen bzw. mentalen Zuschreibungen. Dieser
Fragestellung ordnet sich die Methodik insofern unter, als mit ihr – entgegen der Überzeugung, dass Atmosphärisches sich nicht
aus der sinnlichen Addition der Theatermittel, sondern aus ihrer Intersensorialität ergibt – einzelne Szenenbestandteile separat
untersucht und erst anschließend auf ihre Interferenzen überprüft werden. [Hervorh. durch den Verf.]“ (Schouten, Sinnliches
Spüren, S. 126)
77
Was nicht bedeutet, dass man nicht von der Physiognomie von solch relativ eindeutig lokalisierten Gegenständen sprechen
könnte – die Frage, ob in einem solchen Fall „Physiognomie“ und „Ekstase“ zusammenfallen, muss hier dahingestellt bleiben.
78
Brockhaus multimedial 2002 premium. Mannheim: Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG 2001. [s.v. Evokation]
[CD-ROM]

- 31 -
Begriffs darzulegen. Ich werde in meiner Arbeit den Begriff der Evokation einigermaßen
äquivalent zur Redeweise des „Ausstrahlen eines Gegenstandes“ verwenden. Es wurde bisher
bereits deutlich, dass Böhme Atmosphären nicht als rein subjektives Phänomen versteht. Das
Erleben von Atmosphären ist nicht auf eine ‚bloße’ Vorstellungstätigkeit des Subjekts
zurückzuführen, sondern ist auch getragen durch Komponenten, die außerhalb des Subjekts
liegen. Wenn wir eine Ausstrahlung von etwas erleben, dann besteht das Erleben dieser
Ausstrahlung nicht darin, dass ein ‚Etwas’ Vorstellungen und Assoziationen in uns hervorruft.
Weiters wurde dargelegt, dass es Formen von zentrierten Atmosphären gibt, die als Ekstasen von
einem Gegenstand ausstrahlen. Atmosphären, so wie Böhme sie begreift, ‚herrschen’ nicht nur,
sondern sie können einen auch von einer diffus lokalisierten Stelle her ergreifen. Warum aber
verwende ich nicht gleich den Ausdruck „Ausstrahlung“? Nun, die Rede von der Ausstrahlung
von etwas hat zum einen den Nachteil, dass sie wiederum den Ekstasen-Begriff gegenüber dem
Physiognomie-Begriff betont. Ekstasen strahlen aus, eine gewisse Physiognomie evoziert eine
Atmosphäre. Zum anderen hat für mich der Ausdruck der Evokation den zentralen Vorteil, dass
er möglichst offen und neutral ist. Er erlaubt es mir – vorerst in durchaus vager Weise – die
Frage zu stellen, ob Texte Atmosphären evozieren. Würde ich danach fragen, ob Texte in dieser
oder jener Form „ausstrahlen“, würde das von vornherein eine so ungewöhnliche
Ausdrucksweise bedeuten, dass es mir unmöglich schiene, sie einzuführen, ohne sie sofort zu
problematisieren. Was an einem Text strahlt aus? Der Text in seiner Materialität? Der
Gegenstand des Textes? Was ist unter ‚dem Gegenstand eines Textes’ zu verstehen? Strahlt die
dargestellte fiktionale Welt aus? Müsste man hier nicht eher davon sprechen, dass innerhalb
einer fiktionalen Welt eine gewisse Atmosphäre ‚herrscht’? Diese Fragen müssen geklärt
werden, doch sie können erst in einem späteren Abschnitt meiner Arbeit geklärt werden. Die
Ausdrucksweise der ‚Evokation von Atmosphären’ erlaubt es mir, mich behutsam an diese
Fragen heranzutasten, ohne mich schon von Anfang an gedrängt zu fühlen, sie zu diskutieren.

2.5. Abgrenzungen des Atmosphärenbegriffs: Pragmatische


Lebenszusammenhänge; Zeichenwahrnehmung

Böhmes Entwurf einer Theorie der Wahrnehmung führt ihn von der ursprünglichen
atmosphärischen Wahrnehmung über die Wahrnehmung von Atmosphären, der Explikation des
Subjekt-Pols über das Erleben der eigenen Befindlichkeit sowie der Explikation des Objekt-Pols
– einerseits über die Vorstellung von Erzeugenden, andererseits über die Ekstasen als

- 32 -
Ausstrahlung der Dinge – schließlich zu den Dingen. Mit diesem objektiven Ding ist für Böhme
der eigentliche Bereich der Wahrnehmung jedoch bereits überschritten. Das Ding als solches
kann im eigentlichen Sinne nicht wahrgenommen, sondern nur erschlossen werden. Mit dem
Ding, das in vollkommen distanzierter Dingwahrnehmung (die streng genommen keine reine
Wahrnehmung mehr ist) erfasst wird, stößt man also, nachdem man das ganze Feld
atmosphärischer Erlebnisweisen durchschritten hat, an eine Grenze des Atmosphären-Begriffs.
Mit der genauen Betrachtung dessen, was Böhme unter „Erzeugenden“ versteht, wurde bereits
ein Grundstein gelegt, um ‚Resultate’ ästhetischer Arbeit in Hinblick auf die Atmosphären, die
sie evozieren, zu betrachten. Bevor ich nun tatsächlich in die Diskussion einsteige, ob und wie
der Begriff der Atmosphäre für die Analyse von Literatur herangezogen werden kann, müssen
jedoch neben der Gegenüberstellung von Atmosphären-Erleben und Dingwahrnehmung noch
zwei weitere Abgrenzungen des Atmosphären-Begriffs, die Böhme zieht, betrachtet werden, die
in Bezug auf die Analyse von Literatur eine zentrale Rolle spielen werden.
Böhme versteht Wahrnehmung in seiner Ästhetik als ursprünglich von pragmatischen
Zusammenhängen herausgelöst: „In der Ästhetik ginge es gerade nicht, wie im praktischen
Leben, um die Dinge und unsere Bedürfnisse nach ihnen, sondern um die Wahrnehmung als
solche und wie es uns bei der Wahrnehmung ergeht.“79 Kunst bedeutet für Böhme daher auch
einen ausgezeichneten Kontext, um sich der Erfahrung von Atmosphären auszusetzen, da
„faktisch die Erfahrung der Wirklichkeit immer in die Auseinandersetzung mit der Realität
eingebettet ist, und Erscheinung immer als Erscheinung von etwas gewertet wird“80. In der
Auseinandersetzung mit Kunst ist der Rezipient von konkreten Handlungszusammenhängen
entbunden und er kann sich deshalb ‚gefahrlos’ auf Atmosphären einlassen. Das Spezifische des
Böhmeschen Ansatzes macht es dabei aus, dass für ihn diese Handlungsentlastung nicht zu einer
spezifischen ästhetischen Form der Wahrnehmung führt, sondern dass in solchen Situationen
Wahrnehmung quasi in reiner Form erfahrbar wird.81 Diese Grundhaltung wird auch an den

79
Böhme, Aisthetik, S. 73.
80
Ebda, S. 187.
81
Böhme scheint mir hierin eine Abstraktion vorzunehmen, die seinem grundsätzlichen Ansatz, von möglichst allgemeinen
Formen der Wahrnehmung auszugehen, zuwiderläuft. Diese Ambivalenz zeigt sich unter anderem darin, dass er zum einen
Atmosphärenwahrnehmung als ursprüngliche Wahrnehmung versteht, allerdings gleichzeitig, wie im eben angeführten Beispiel
etwa, zugeben muss, dass „faktisch“ Wahrnehmung sich kaum von Handlungszusammenhängen lösen lässt. Ein weiteres Zitat
lässt sich anführen, dass dies sehr markant darstellt: „[…] was diese Autoren [Martin Seel, u.a.] als ästhetische Wahrnehmung
bezeichnen, kommt in jeder gewöhnlichen Wahrnehmung vor – nur daß in gewöhnlicher Wahrnehmung, nämlich solcher, die
eingebettet in Handlungskontexte ist, es niemals bei der Wahrnehmung als solcher bleiben kann: Man überspringt die
Wahrnehmung immer schon [!] durch Schlüsse auf Realität und übergeht sie, indem man immer schon handelt.“ (Böhme,
Aisthetik, S. 118.). Interessant in Bezug auf diese Problemstellung ist auch die Untersuchung von Elisabeth Ströker. Auch für sie
ist es ein zentrales Interesse, lebensweltliche Erfahrung von Raum zu thematisieren, doch für sie gehört der Aktionsraum ebenso
zum gelebten Raum wie der atmosphärisch gestimmte Raum (als eine dritte Form des gelebten Raumes nennt sie den
„Anschauungsraum“). Zwar lässt sich mit Böhme gegenüber Ströker einwenden, dass in ihren Begriff des Aktionsraums die
affektive Komponente der Wahrnehmung zu wenig Eingang findet, umgekehrt jedoch bedeutet der Verweis auf die fundamentale
Bedeutung von Handlungen auch für unsere Wahrnehmung einen zentralen Einwand gegen Böhme. Man könnte zu bedenken

- 33 -
Beispielen, die er zur Illustration anführt, deutlich. Dort, wo etwa der Wahrnehmende, der in der
Nacht aufwacht und eine bedrohliche Atmosphäre spürt, sich aus dieser Atmosphäre herauslöst
und die Mücke identifiziert, die er als Quelle der atmosphärischen Gestimmtheit des Raumes
ortet, um sich daranzumachen sie zu erschlagen, dort bricht, nach Böhme, die ursprüngliche
Atmosphärenwahrnehmung zusammen.82 Dort, wo ich mich daranmache, auf die Welt, wie ich
sie in der Atmosphärenwahrnehmung erfahre, zu reagieren, entferne ich mich von der
grundlegenden Form der Wahrnehmung. Da der Leser bei seinem Erleben von Texten sich
ebenfalls in einer handlungsentlasteten Situation befindet, bleibt vorerst unklar, inwiefern dieser
Ausschluss der Handlungsdimension aus der Wahrnehmung für meine Arbeit relevant ist, und
ich möchte es in diesem Kapitel auch dabei belassen, da es mir hier vor allem darum geht,
möglichst nahe bei Böhme bleibend, seinen Ansatz zu kennzeichnen. Die Feststellung, dass
Böhme Wahrnehmungen als ‚handlungsfremd’ kennzeichnet, liefert jedoch ein wichtiges
Fundament vor allem für manche Ausführungen im vierten Kapitel meiner Arbeit. Es wird sich
zeigen, dass zwei weitere Einschränkungen der Wahrnehmung, die, wie mir scheint, in engem
Zusammenhang mit der handlungsfremden Wahrnehmung bei Böhme stehen, – nämlich die
Nicht-Thematisierung der Zeit als Faktor der Wahrnehmung sowie die Nicht-Thematisierung
von Handlungen als Gegenstand der Wahrnehmung – bedeutsame Konsequenzen haben für den
Versuch das Atmosphären-Konzept heranzuziehen, um literarische Texte zu analysieren.
Eine weitere Abgrenzung ergibt sich bei Böhme aus dem Wunsch eine Ästhetik zu entwickeln,
die „die Verengung der Ästhetik auf Semiotik und Hermeneutik“83 überwindet. Die
Wahrnehmung von Atmosphären soll verstanden werden als unmittelbares, leiblich-affektives
Erleben und steht in diesem Sinne dem Verstehen, Entschlüsseln von Zeichen – die nicht
Anwesenheit spürbar werden lassen, sondern auf Abwesendes verweisen – gegenüber.
Offenkundig ist diese Unterscheidung für meine Arbeit von wesentlicher Relevanz. Muss nicht
ein solches Verständnis von Atmosphären zur Folgerung führen, dass ein Ansatz, der versucht
Böhmes Konzeption heranzuziehen, um literarische Texte zu analysieren, von vornherein zum
Scheitern verurteilt sein? Literarische Texte sind nicht, wie man etwa in Bezug auf Bilder
einwenden könnte, nur innerhalb eines spezifischen theoretischen Ansatzes als Zeichenkomplexe
zu verstehen, literarische Texte sind ganz offenkundig Zeichenkomplexe. Damit ist das
Verstehen von Zeichen jeder Erfahrung, die man im Umgang mit Texten haben kann,

geben, dass die Radikalität, mit der Böhme, auch in seinen Beispielen, die Handlungskomponente des menschlichen Daseins in
seiner Konzeption der Atmosphären ausschließt, die Gefahr birgt, dass Atmosphären gerade nicht mehr als ursprüngliche
Wahrnehmungsphänomen verstanden werden können, die mit Fortgang der aufklärerischen Zivilisation bloß verdrängt wurden.
Seine Konzeption der Atmosphärenwahrnehmung lässt den Verdacht aufkommen, dass es sich dabei um eine Wahrnehmung
handelt, die – gerade umgekehrt – als kontemplativer Umgang mit Welt erst im Zuge der Aufklärung möglich wird.
82
Vgl. Böhme, Aisthetik, S. 168.
83
Ebda, S. 145.

- 34 -
vorgelagert und es scheint unmöglich hier von unmittelbarer, leiblich-affektiver Wahrnehmung
zu sprechen. Der folgende Abschnitt wird aus einer ausführlichen Diskussion dieser Problemlage
heraus eine Grundlegung der Rede von Atmosphären in Bezug auf literarische Texte versuchen.

- 35 -
3. Atmosphären und Texte?

Der Versuch, Böhmes Konzeption von Atmosphären und die Betrachtung literarischer Texte
zusammenzuführen, lässt sich grundsätzlich auf zweierlei Weise unternehmen. Zum einen kann
Literatur betrachtet werden als Reden über Atmosphären. Ein solcher Ansatz würde sich mit der
Darstellung von Atmosphären in literarischen Texten auseinandersetzen. Der gestimmte Raum,
den die Atmosphäre konstituierte, wäre die fiktionale Welt. Atmosphäre würde verstanden
werden als Wirklichkeit für eine Figur, die Figur wäre der (fiktionale) Subjekt-Pol der
untersuchten Atmosphäre. Wäre keine solche Figur auffindbar, könnte man Atmosphäre – ohne
Bezugnahme auf ein (dargestelltes) ‚erlebendes Subjekt’ – als thematisierte Atmosphäre
behandeln, als Versuch der Versprachlichung einer Erfahrung des Autors oder aber als
literarische ‚Theorie der Atmosphären’, ähnlich wie Texte etwa in der soziologisch
ausgerichteten Literaturwissenschaft teilweise betrachtet werden als Modellierung von Sozialität.
Der Fokus läge bei dieser ersten Herangehensweise auf der dargestellten fiktionalen Welt, der
Rezipient könnte außen vor gelassen werden. Der andere Weg besteht darin, danach zu fragen,
ob und wie Texte atmosphärisch auf Leser wirken. Es ist dieser zweite Zugang, den ich in
meiner Arbeit verfolge. Es geht nicht um die Frage, wie und von welchen Atmosphären Texte
berichten, nicht also um die Frage, wie ein Autor sein atmosphärisches Erleben versprachlicht,
auch nicht um die Frage, welchen Atmosphären er seine Figuren aussetzt, sondern um die Frage,
wie ein Autor welche sprachlichen Elemente arrangiert, um beim Leser leiblich-affektives
Erleben zu evozieren. Ein Text soll als Komplex von Erzeugenden betrachtet werden, um jene
Komponenten zu bestimmen, die bei der Evokation einer Atmosphäre zusammenwirken.
Gleichzeitig indiziert die ausschließliche Ausrichtung meiner Arbeit auf Prosatexte bereits, dass
es mir nicht darum geht, die Ebene des Dargestellten auszuschließen und nur etwa die
Lautlichkeit, Intonation etc. bei laut vorgelesenen Gedichten zu untersuchen oder die
Atmosphäre von Theateraufführungen. Das führt aber zu dem Problem, dass das einzig
Wahrnehmbare bei einem geschriebenen Text vermeintlich in bestimmter Weise angeordnete
Zeichen sind, Zeichen in einer gewissen typographischen Gestalt, in gewisser Größe, mit
gewissem Zeilenabstand. Alles Dargestellte dagegen, die fiktionale Welt, ist nur qua Vermittlung
durch eben diese Zeichen vorhanden und damit der unmittelbaren Wahrnehmung überhaupt nicht
zugänglich. Die im vorangegangenen Abschnitt ‚angerissene’ Problematik, die sich für den
Versuch der Anwendung von Böhmes Konzeption der Atmosphären auf literarische Texte
aufgrund seiner Unterscheidung von leiblich-affektivem Erleben und Verstehen von Zeichen

- 36 -
ergibt, bedeutet wohl die zentrale Grundfragestellung, mit der sich die vorliegende Arbeit
auseinanderzusetzen hat. Wenn man akzeptiert, dass literarische Texte Komplexe von Zeichen
sind, dann scheint die Rede von atmosphärischem Erleben von Texten von vornherein zum
Scheitern verurteilt.

3.1. Zentrale Einwände

„Die Möglichkeit der Erfahrung von Atmosphären ist an die Wahrnehmung der gegenwärtigen
Umgebung gebunden. […] Anders als in der Fotografie oder Malerei, die ihrerseits zwar an der
Herstellung einer Raumstimmung beteiligt sein können, aber in denen das Atmosphärische selbst
nur als Repräsentation möglich wird, sind Atmosphären Bestandteil aller raumgreifenden
Künste, vom Theater über die Performance hin zur Installation.“84 Sabine Schouten versteht den
Begriff der Atmosphäre in recht restriktiver Weise. Sie schließt sowohl Gemälde als auch rein
sprachliche Gebilde aus,85 wenn es um das Hervorrufen von Atmosphären geht. Auch
Theateraufführungen rufen in sehr unterschiedlichem Maße Atmosphären hervor, so spielen für
Schouten in der Guckkastenbühnenaufführung Atmosphären nur eine untergeordnete Rolle.
Obwohl die Autorin die Möglichkeit des Bezugs des Atmosphären-Konzepts auf Texte gar nicht
diskutiert, finden sich zahlreiche Textstellen, die als zentrale Einwände gegen ein solches
Vorhaben in Anschlag gebracht werden können.
„Die Möglichkeit der Erfahrung von Atmosphären ist an die Wahrnehmung der gegenwärtigen
Umgebung gebunden“, heißt es in der eben zitierten Passage. Atmosphärisch erfahren kann nur
werden, was unmittelbar erfahren wird, das heißt, was unmittelbar den Sinnen zugänglich ist.
Das durch einen Text Dargestellte ist dem Leser nicht direkt zugänglich, sondern durch Zeichen
vermittelt. Das scheint auch durch Böhmes Rede von der „Ko-Präsenz“ von Wahrnehmendem
und Wahrgenommenem in der Atmosphären-Erfahrung bestätigt zu werden. Atmosphären
können nur dort auftreten, wo sie sich in den Raum, in dem sich Wahrnehmender und
Wahrgenommenes befinden, ergießen können. So merkt Schouten an: „Diese Abhängigkeit des
Atmosphärischen von unserer Anwesenheit im Raum ist zugleich das grundlegende Kennzeichen
des Theaters. Ohne den Raum, in dem Zuschauer und Darsteller zur gleichen Zeit

84
Sabine Schouten: Der Begriff der Atmosphäre als Instrument der theaterästhetischen Analyse. In: TheorieTheaterPraxis. Hrsg.
von Hajo Kurzenberger und Annemarie Matzke. [Berlin]: Theater der Zeit [2004]. (= Recherchen. 17.) S. 56-65, S. 57.
85
Und entfernt sich damit explizit von Böhme, der immer wieder davon spricht, dass sowohl Gemälde als auch Texte als Objekt-
Pol eine Atmosphäre entstehen lassen können. Sabine Schouten dagegen: „In Abgrenzung zu Gernot Böhme muss hier jedoch
zwischen der symbolischen Darstellung und dem Erleben des Atmosphärischen deutlich differenziert werden.“ (Schouten,
Sinnliches Erleben, S. 95.)

- 37 -
zusammenkommen, findet kein Theater statt.“86 Wie erläutert, ist der räumliche Charakter ein
zentrales Bestimmungsmerkmal von Atmosphären. Ein Text jedoch hat überhaupt keine
räumliche Dimension, er ist keine Raumkunst. Bezieht man jedoch die Atmosphäre auf den
dargestellten Raum, auf die fiktionale Welt, so muss man einwenden, dass hier zwar von
Räumlichkeit gesprochen werden kann, jedoch in diesem Fall der Leser nicht in diesem Raum
leiblich anwesend ist, er ist nur ‚geistig’ dort, in seiner Vorstellung. Der Leser befindet sich in
dem Raum, in dem er eben gerade ein Buch liest, und nicht innerhalb der fiktionalen Welt, von
der er liest.
Die zentralen Einwände, die gegen die Möglichkeit der Anwendung der Atmosphären-
Konzeption auf literarische Texte sprechen, sind also die folgenden: das Fehlen der sinnlichen
Unmittelbarkeit des Dargestellten aufgrund der medialen Vermittlung. Zweitens die Tatsache,
dass das Dargestellte durch Zeichen vermittelt ist, die im Prozess des Lesens entschlüsselt,
verstanden werden müssen. Schließlich das Fehlen einer Text-Räumlichkeit, die den Leser als
Atmosphäre umschließt. Die Auseinandersetzung mit der in diesen Einwänden
zusammengefassten Grundproblematik soll im folgenden Abschnitt über die Diskussion einiger
hierfür zentraler Textstellen bei Böhme erfolgen.

3.2. Zeichen und Medialität bei Böhme

3.2.1. Zur sprachlichen Darstellung von Atmosphären

Atmosphäre ist ein Wahrnehmungsgegenstand und ist nicht anders als in aktueller
Wahrnehmung zu haben. Es könnte sein, daß diese Tatsache das Verhältnis zwischen
Atmosphäre und dem Begriff der Atmosphäre besonders prekär gestaltet. […] Wenn ich
Atmosphäre denke bzw. über Atmosphären rede, beziehe ich relativ zur Atmosphäre einen
anderen Ich-Standpunkt, als ich in der Wahrnehmung von Atmosphären habe. Denn in der
Wahrnehmung von Atmosphäre bin ich entweder selbst in die Atmosphäre
stimmungsmäßig aufgelöst oder aber ich bin selbst noch in der Distanzierung von ihr
affektiv betroffen. Im Denken von Atmosphäre erhebe ich mich über diese Verhältnisse
87
gewissermaßen in eine andere Dimension, in eine Dimension der Unbetroffenheit.

Dieses Zitat scheint auf den ersten Blick nahezulegen, dass Sprache überhaupt kein geeignetes
Mittel ist, um Atmosphären zu evozieren. Sprache besteht aus Begriffen, die stets etwas
Allgemeines sind und daher keine konkrete Wahrnehmungssituation schaffen können. Man kann
sich sprachlich nur über Atmosphären ‚verständigen’, man kann erzählen, dass man diese oder
jene Atmosphäre empfunden hat, doch die Erzählung macht die Atmosphäre noch nicht präsent.

86
Schouten, Begriff der Atmosphäre, S. 57.
87
Böhme, Aisthetik, S. 50f.

- 38 -
Der Hörer kann sich höchstens, wenn er ähnliche Erlebnisse kennt, an diese eigenen Erlebnisse
zurückerinnern, er wird jedoch durch die bloße Erzählung des anderen nicht jener Atmosphäre
ausgesetzt, von der sein Gegenüber erzählt. Das wäre eine mögliche Lesart der gegebenen
Textstelle. Auffällig ist jedoch, dass Böhme hier nicht den Rezipienten von Sprache, sondern den
Sprecher selbst thematisiert. Weiters irritiert die Betonung des Denkens innerhalb dieses Zitats.
Böhme scheint hier nicht auf eine Situation abzuzielen, in der ein Erzählender einem Zweiten
von Atmosphäre erzählt. Das lässt sich auch dadurch belegen, dass Böhme einige Zeilen nach
der angegebenen Passage gerade unterscheidet zwischen einer Redeweise, in der ein Sprecher
über sein atmosphärisches Erleben berichtet, und einer Redeweise, in der ganz allgemein über
Atmosphären gesprochen wird – die zweite wäre die vor allem problematische.88 Der Verweis
auf einen Artikel Böhmes lässt diese Lesart plausibel erscheinen. Auch in „Phänomenologie oder
Ästhetik der Natur?“89 spricht Böhme vom grundsätzlichen Unterschied zwischen der Erfahrung
eines Phänomens und der Rede von einem Phänomen. Böhme ergänzt jedoch gleichzeitig, dass
es Möglichkeiten gibt, die Erfahrung von Atmosphären auch durch sprachliche Mittel zu
vermitteln. Er nennt dabei zum einen Goethes Farbenlehre, die er als Didaktik versteht, als
Anleitung dazu, wie der Leser die besprochenen Erfahrungen selbst machen kann. Die andere
Möglichkeit der Vermittlung, die Böhme sieht, ist für den Kontext meiner Arbeit von
besonderem Interesse, denn es handelt sich um die Vermittlung von Atmosphären durch Kunst.
„Das Besondere des sprachlichen Kunstwerks, insbesondere der Lyrik, besteht ja darin, dass sie
eine Sprachverwendung darstellt, in der nicht nur Informationen oder Fakten mitgeteilt werden,
sondern dem Leser oder Hörer selbst Erfahrungen vermittelt werden.“90 Tatsächlich gibt es einige
Stellen, an denen Böhme explizit davon spricht, dass Texte atmosphärisches Erleben beim Leser
evozieren können, es soll in Folge nur noch eine besonders eindeutige Stelle91 herausgegriffen
werden: „Das Eigentümliche bei einer Geschichte, die man liest oder die vorgelesen wird, ist ja
dies: sie teilt uns nicht nur mit, daß irgendwo anders eine bestimmte Atmosphäre geherrscht

88
Vgl. ebda, S. 51.
89
Vgl. Gernot Böhme: Phänomenologie oder Ästhetik der Natur? In: Zur Phänomenologie der ästhetischen Erfahrung. Hrsg. von
Anna Blume. Freiburg und München: Alber 2005. (= Neue Phänomenologie. 2.) S. 17-25.
90
Ebda, S. 24.
91
Obwohl Böhme, vor allem zu Beginn seiner Arbeiten am Atmosphärenbegriff, offensichtlich schlicht (man möchte fast sagen
intuitiv) davon überzeugt ist, dass Texte Atmosphären evozieren, ist seine Wortwahl zum Teil nicht eindeutig. Häufig verwendet
er Beispiele aus der Literatur als Berichte über Atmosphären-Erleben (des Autors/Erzählers). Bei einer solchen
Verwendungsweise bleibt aber letztlich ungeklärt, ob der Leser das dargestellte Erleben eben nur versteht oder durch die
Schilderungen tatsächlich auch bei ihm Erleben evoziert wird. Vgl. dazu etwa das folgende Zitat: „Die Berufung auf Dichter,
wenn man über Dämmerung spricht, ist nicht zufällig. Obgleich sie jedermann erfahren kann, scheint es einer besonderen
Sensibilität und Ausdrucksfähigkeit zu bedürfen, um zu sagen, was sie ist, und um mitzuteilen, wie man sie empfindet.“ (Gernot
Böhme: Das Atmosphärische der Dämmerung. In: G. B.: Anmutungen. Über das Atmosphärische. Ostfildern vor Stuttgart: Ed.
Tertium 1998, S. 13-34, S. 16.)

- 39 -
habe, sondern sie zitiert diese Atmosphäre selbst herbei, beschwört sie.“92 Doch trotz dieses
Zitats und zweier kurzer Texte, in denen Böhme darzulegen versucht, durch welche Mittel ein
Text Atmosphären evoziert,93 bleibt eine Grundlegung solcher Analysen aus. Auch wenn meine
Arbeit bemüht ist Böhmes Konzeption möglichst nahe zu bleiben, kann die bloße Angabe seiner
Überzeugung, dass Texte Atmosphären evozieren können, nicht ausreichen. Immerhin, das
wurde bereits dargelegt, gibt es gewichtige Einwände, die dagegen sprechen, Texten
atmosphärisches Eindruckspotenzial zuzusprechen. Es gilt diesen weiter nachzugehen.

3.2.2. Zeichen und Erscheinungswirklichkeit

Ein für den hier besprochenen Zusammenhang zentraler Abschnitt in Böhmes „Aisthetik“ ist
jener, in der er sich mit Zeichen auseinandersetzt. Ein Zitat daraus lautet:

Es ist nun die Frage, auf welche Weise der Zeichenbegriff und damit Semiotik und
Hermeneutik in die neue Ästhetik einzuführen sind. Wenn der Maler René Magritte
feststellt, daß es je eine fundamental andere Art sei, wie wir Bilder sehen und wie wir
Schrift lesen, so dürfte der Unterschied zwischen dem Spüren von Atmosphären und dem
Deuten von Zeichen noch radikaler sein. Es ist auch damit zu rechnen, daß von einem
Ansatz der Ästhetik als einer Theorie sinnlicher Wahrnehmung die Hermeneutik und
Semiotik nicht vollständig eingeholt werden können. Das Deuten von Zeichen und das
Verstehen von Sinn sind immer auch intellektuelle Prozesse und überschreiten als solche
die Sinnlichkeit. […] An irgendeiner Stelle ist mit einem Umschlagen der
Wahrnehmungsweise, nämlich von einem Spüren der Atmosphäre zum Lesen von
94
Zeichen, zu rechnen.

Um gewissermaßen die Grenzen auszuloten, die der Ästhetik als Aisthetik gesetzt sind, versucht
Böhme in der Folge eine spezifische Form von Zeichen zu untersuchen, die
wahrnehmungsmäßig gerade an dieser Grenze angesiedelt sind – Symbole. Böhme versteht ein
Zeichen als etwas, „das nicht in dem aufgeht, was es ist, sondern auf etwas anderes verweist“95.
Ein Symbol ist ein spezielles Zeichen, nämlich „ein Zeichen, das ist, was es bedeutet“96. Um zu
verdeutlichen, was er hier meint, führt Böhme einerseits Herrschaftsinsignien, andererseits das
Beispiel des Geldes an.97 Beide bezeichnen einerseits etwas, im einen Fall die Königswürde, im
anderen Fall einen bestimmten Wert. Gleichzeitig aber sind sie, was sie bedeuten.

92
Gernot Böhme: Das Schöne und andere Atmosphären. 13. Vorlesung. In: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht.
Darmstädter Vorlesungen. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1985, S. 192-207, S. 203.
93
Vgl.: Gernot Böhme: Atmosphärisches in der Naturerfahrung. In: G. B.: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik.
Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995. (=edition suhrkamp. 1927.) S. 66-84. Außerdem: Gernot Böhme: Der Raum des Gedichts. In:
Wer Eile hat, verliert seine Zeit. Raum für Sprache – Raum für Literatur. Texte zur IX. Literaturbegegnung Schwalenberg. Mit
14 Photographien von Ines Kreisler. Hrsg. von Brigitte Labs-Ehlert. Detmold: Literaturbüro Ostwestfalen-Lippe 2001 S. 95-111.
94
Böhme, Aisthetik, S. 147.
95
Ebda, S. 148.
96
Ebda
97
Vgl. ebda, S. 148ff.

- 40 -
Königsinsignien haben, wenigstens im Mittelalter, die Königswürde gewissermaßen inkorporiert,
erst durch die Übergabe der Insignien wurde der König zum König. Beim Geld ist es heute noch
so: Wer einen Geldschein zerstört, zerstört gleichzeitig den Wert, den der Geldschein eigentlich
‚nur’ bezeichnet. Ich habe diese beiden Beispiele angeführt, da sie mir den auf den ersten Blick
schwer einsichtigen Fall der Symbole zu veranschaulichen scheinen, jedoch sind die Beispiele
für den hier diskutierten Problemzusammenhang nur bedingt relevant. Königsinsignien so wie
Geldscheine ‚sind’, was sie bedeuten, in dem Sinn, dass sie die gesellschaftliche Realität
(Königswürde, Wert), auf die sie verweisen, auch selbst sind. Viel wesentlicher ist jedoch jene
Art von Symbolen, für die auf andere Weise gilt, dass sie ‚sind’, was sie bedeuten, nämlich jene
Symbole, die die Wirklichkeit (im Böhmeschen Sinne der Erscheinungswirklichkeit) selbst sind,
die sie bezeichnen, das heißt, die die Erscheinungswirklichkeit, auf die sie verweisen, auch
atmosphärisch präsent sein lassen. Um diesen Fall zu erläutern, führt Böhme das Beispiel des
Fotos einer geliebten Person an.98 Wenn wir das Portrait einer geliebten Person aufstellen, tun
wir das nicht aus demselben Grund, aus dem in unserem Pass ein Foto von uns klebt. Ein
Passfoto verweist auf den Inhaber des Passes. Indem das Foto auf uns als Person verweist,
ermöglicht es uns den Pass, und damit eine bestimmte Identität zuzuordnen. Der Fall des
Portraits ist jedoch ein anderer:

Es wäre ganz sinnlos, solche Fotos […] als Zeichen für die entsprechende Person zu
verstehen. Vielmehr werden die Bilder verwendet, um diese Person in gewissem Sinne
anwesend sein zu lassen. Freilich ist das eine andere Art von Präsenz als die, die sie
hätten, wenn sie konkret leiblich da wären. […] Nach unseren Untersuchungen über
Physiognomie dürfte es aber nicht schwer sein, diesen Unterschied klarzumachen: Es ist
der Unterschied zwischen Wirklichkeit und Realität. Durch ein Portrait kann jemand
durchaus anwesend sein, nämlich im Sinne seiner physiognomischen Ausstrahlung, nicht
aber als konkret handelndes Subjekt und mit der Unbestimmtheit der Möglichkeiten, die
99
ihm als solchem wie auch als Körper zukommen.

Interessant ist nun hierbei, dass derselbe Typ von Gegenstand – nämlich Fotos – einmal als
Zeichen und einmal als Symbol (mit eigener leiblich-affektiven Erscheinungswirklichkeit)
betrachtet werden kann. Ob etwas ein Symbol ist oder ein Zeichen entscheidet sich nicht am
Objekt, sondern an der Wahrnehmungsform, mit der man sich einem Gegenstand zuwendet.100
Dass jene Gegenstände, die wir als Zeichen verstehen, nach Böhme nicht per se als Zeichen im
Sinne eines bloßen Abbildes, als ‚leerer Fingerzeig’ auf etwas Abwesendes gelten müssen, zeigt
sich auch an Folgendem:

98
Vgl. ebda, S. 150f.
99
Ebda, S. 150f.
100
Was nicht bedeuten soll, dass uns in allen Situationen alle Wahrnehmungsformen gleich zugänglich sind. Etwa durch
kulturelle Prägungen können wir manchen Gegenständen vornehmlich als Zeichen und nicht als Symbol begegnen.

- 41 -
Ich möchte nun behaupten, daß Symbole ursprünglicher sind als Zeichen. Das scheint
bereits im empirischen Sinne zu gelten, wenngleich das nicht leicht nachweisbar ist.
Bekannt ist ja, daß kleine Kinder keinen Unterschied zwischen den Worten und den
Sachen, die sie bezeichnen, machen. Ähnlich scheinen die ersten bildnerischen Werke des
Menschen für sie die Sache selbst gewesen zu sein. Diese Einheit von Zeichen und Sache
selbst beruht nach unserer Analyse darauf, daß in diesem Sinne mit die Sache selbst ihre
Erscheinungswirklichkeit gemeint ist. Erst die Differenzierung von Sein und Schein läßt
auch die Differenz von Zeichen und Bezeichneten entstehen. Das Bild wird dadurch zum
bloßen Abbild, einem Zeichen für das, was nun die Sache selbst ist, nämlich das Original.
Diese Differenzierung entwertet auch das Zeichen selbst. War es zunächst Wirklichkeit
von etwas, im Sinne von Erscheinungswirklichkeit, so wird es nun bloßes Anzeichen,
101
Kennzeichen, Symptom.

Etwas, das in gewisser Hinsicht als Zeichen betrachtet werden kann, kann also – in anderer
Hinsicht – auch erlebt werden, etwas sein, das Erscheinungswirklichkeiten, das heißt
Atmosphären, evoziert. Der Übergang von einer Ästhetik als Aisthetik zu einer semiotischen
Ästhetik verläuft nicht zwischen zwei voneinander abtrennbaren Gegenstandsbereichen, sondern
bezeichnet zwei verschiedene Herangehensweisen an einen Gegenstand. Dies wird auch
deutlich, wenn Böhme an Caspar David Friedrichs Bild „Dorflandschaft bei
Morgenbeleuchtung“ einmal die Erscheinungswirklichkeit beschreibt, die er an dem Bild erfährt,
und danach, in hermeneutisch-semiotischer102 Herangehensweise die allgemein-allegorische
Tragweite des Bildes deutet.103

3.2.3. Mediale Vermittlung und leiblich-affektives Erleben

Der Versuch Atmosphären mit literarischen Texten in Verbindung zu bringen, gestaltet sich auch
deshalb so schwierig, weil Böhme sich kaum theoretisch mit der Frage medial vermittelter
Wahrnehmung auseinandersetzt, sondern sowohl in seinen Ausführungen als auch in seinen
Beispielen meist ‚unmittelbare’ Wahrnehmungserlebnisse untersucht. In „Aisthetik“ spricht er
nur einmal explizit über Medien – und meint damit Medien der Telekommunikation:

Diese apparativ vermittelten Wahrnehmungsweisen können in der Tat Zweifel eigener Art
mit sich bringen, und man wird sie nicht einfach durch eine Ausweitung des Begriffs der
leiblichen Anwesenheit lösen können. […] Das Wahrnehmungsinstrument, hier der Stock,
wurde gewissermaßen als Leiberweiterung interpretiert. All diese Probleme muß man
natürlich behandeln, aber nicht so, daß man einen allgemeinen Begriff von Wahrnehmung
bildet, der sie alle enthält. Vielmehr kann man eben auch, wie wir es tun, von elementaren
Wahrnehmungsereignissen ausgehen, also dem unmittelbaren Spüren von Anwesenheit,
und damit rechnen, daß sich daraus durch Ausdifferenzierung und Vermittlung

101
Böhme, Aisthetik, S. 151.
102
Es sei hier dahingestellt, inwiefern hermeneutische Ansätze sich tatsächlich auf solche rein intellektuellen Deutungen
beschränken. Ich folge in meiner Verwendung des Begriffs Hermeneutik einfach der Verwendungsweise Böhmes, der
„Hermeneutik“ als Schlagwort verwendet für eine Haltung, in der das Kunstwerk als Zeichen verstanden und gedeutet wird,
indem man versucht, herauszuarbeiten, was das Kunstwerk bedeutet, bezeichnet, aussagt.
103
Vgl. Böhme, Aisthetik, S. 153ff.

- 42 -
Wahrnehmungsweisen entwickeln, bei denen der Kontakt zur Welt dünner und die Ko-
104
Präsenz mit dem Wahrgenommenen nur indirekt sein wird.

Interessant ist, dass Böhme hier vor allem apparativ vermittelte (oder generierte)
Wahrnehmungen erwähnt (Monitor, Telefon, Fernsehen), bei der Diskussion der
Bildproblematik jedoch nie davon spricht, dass auch hier wohl von medial vermittelter (bzw.
generierter) Wahrnehmung gesprochen werden kann. Weiters fällt auf, dass Böhme im
angegebenen Zitat nicht per se ausschließt, dass auch medial Vermitteltes uns in leiblich-
affektivem Erleben präsent wird, sondern er spricht davon, dass in solchen Fällen „der Kontakt
zur Welt dünner“ wird. Ein weiteres Mal möchte ich einen anderen Text Böhmes heranziehen,
um das gegebene Zitat zu beleuchten. In seinem Aufsatz „Der Raum leiblicher Anwesenheit und
der Raum als Medium von Darstellung“105 unterscheidet Böhme drei Formen von Räumen:
Handlungsraum, Stimmungsraum und Wahrnehmungsraum.106 Der Artikel befasst sich vor allem
mit der Unterscheidung dieser drei Formen von Räumen, in denen wir leiblich anwesend sind,
gegenüber abstrakten Räumen beziehungsweise „Räumen der Darstellung“, wie er sie nennt. Der
abstrakte Raum ist im Wesentlichen jener, den wir gemeinhin im Kopf haben, wenn wir von
„Raum“ sprechen. Es ist der leere, geometrische Raum, der ‚angefüllt’ wird mit Dingen. Ein
Raum, der messbar ist und unabhängig von einer leiblich in diesem Raum anwesenden Person
gedacht wird. Böhme betont dagegen – und er reiht sich damit in die phänomenologische
Tradition ein –, dass dieses Konstrukt des abstrakten Raumes kein selbstverständliches ist und
nicht der Art und Weise entspricht, wie wir in unserer lebensweltlichen Erfahrung Raum
erfahren. Relevant für die vorliegende Arbeit ist dabei vor allem die Tatsache, dass er zur
Diskussion dieser These auch das Beispiel virtueller Räume diskutiert. In virtuellen Räumen sind
wir über mediale Vermittlung mit ‚bloßen Bildern’ konfrontiert, doch den Charakter virtueller
Räume erhalten sie, nach Böhme, gerade dadurch, dass sie sich mit dem Raum unserer leiblichen
Anwesenheit verschränken. Durch Avatare (virtuelle Darstellungen von uns) können wir etwa
innerhalb dieser Räume agieren – sie werden dadurch zu unserem Handlungsraum. Durch
Datenhelme werden sie uns in umfassender Weise anschaulich – sie werden zu unserem
Wahrnehmungsraum. In beiden Fällen können sie unsere leiblich-affektive Gestimmtheit prägen
und sind so auch Stimmungsräume – Atmosphärenräume. Offenkundig ist hier die Möglichkeit
leiblich-affektiver Erfahrung eines gestimmten Raumes nicht an die Unmittelbarkeit im Sinne
von Unvermitteltheit des Wahrgenommenen gebunden, sondern in gewissem Sinne verhält es

104
Ebda, S. 75.
105
Vgl. Gernot Böhme: Der Raum leiblicher Anwesenheit und der Raum als Medium von Darstellung. In: Performativität und
Medialität. Hrsg. von Sybille Krämer. München: Fink 2004, S. 129-140.
106
Er folgt damit in diesem Text im Großen und Ganzen der Konzeption von Elisabeth Ströker.

- 43 -
sich gerade umgekehrt: Der gestimmte Raum entfaltet sich dort, wo ich Stimmung, Atmosphäre,
affektive Aufgeladenheit und Ausstrahlung erlebe.

Zwar ist der leibliche Raum jeweils der Raum, in dem ich leiblich anwesend bin, er ist
aber zugleich die Ausdehnung oder besser die Weite meiner Anwesenheit selbst. Der
Stimmungsraum ist der Raum, der mich in gewisser Weise stimmt, aber zugleich die
Ausgedehntheit meiner Stimmung selbst. Der Handlungsraum ist der Raum, in dem ich
handeln kann, aber zugleich der Spielraum meiner Möglichkeiten. Der
Wahrnehmungsraum ist der Raum, in dem ich etwas wahrnehme, aber zugleich die
107
Ausbreitung meiner Teilnahme an den Dingen.

Und noch prägnanter einige Zeilen zuvor: „Der Raum ist insofern mein Raum, als er die
Ausdehnung meines Handelns, Wahrnehmens und Spürens ist.“108 Dort, wo mein Handeln
hinreicht, ist mein Handlungsraum, dort, wo mein Wahrnehmen hinreicht, ist mein
Wahrnehmungsraum und dort, wo mein Spüren hinreicht, ist gestimmter Raum – ob medial
vermittelt (bzw. generiert) oder nicht. Auch Ströker betont die Abhängigkeit des gestimmten
Raumes von leiblich-affektivem Erleben:

Nicht steht der gestimmte Raum dem Erlebnissubjekt als ein vom ihm unabhängiger,
ansichseiender gegenüber, der allererst wirken müßte, damit auf ihn ‚reagiert’ werden
könnte; nicht hat der Raum ein vom Erlebnissubjekt losgelöstes Eigendasein, zu dem das
letztere zusätzlich eine Beziehung stiften könnte – als Raum meiner Bewegung ist er
vielmehr Raum durch mich, wie mein Erleben ebenso durch ihn ist. […] Der gestimmte
Raum bietet sich in seiner Fülle. Es zeigt sich, daß diese nicht bloß ein methodisches
Hilfsmittel ist, nur eine bestimmte Zugangsart zu ihm, der außer in ihr noch anderweitig
faßbar wäre, sondern daß er diese Fülle selbst ist. Ihr Schwinden ist deshalb nicht nur
109
Verschwinden von etwas in ihm, sondern ist Verlust seiner als Ganzes.

Die vorangegangenen Passagen lassen erheblichen Zweifel daran aufkommen, dass


Unmittelbarkeit ein Kriterium für leiblich-affektives Erleben ist. Tatsächlich ist der Begriff der
Unmittelbarkeit ein äußerst problematischer. Unmittelbarkeit kann offensichtlich nicht im Sinne
von geometrischer oder zeitlicher Nähe oder Präsenz gemeint sein. Niemand würde daran
zweifeln, dass ein Sternenhimmel in einer dunklen Nacht atmosphärisch erlebt werden kann,
obwohl die Sterne räumlich weit von uns entfernt sind und das Licht, das uns erreicht, vom
realen Stern, der es ausstrahlte, schon Jahre entfernt ist.110 Wie soll also Unmittelbarkeit

107
Böhme, Raum leiblicher Anwesenheit, S. 136.
108
Ebda, S. 135.
109
Vgl. Ströker, Raum, S. 51.
110
Ströker spricht in Bezug auf gestimmte Räume nicht nur vom Fehlen von Richtungen, sondern auch vom Fehlen von Nähe
und Ferne als Gliederungen innerhalb des gestimmten Raumes. Nähe und Ferne sind eigene Gestimmtheiten, die wir als solche
erleben können, sie meinen dann jedoch gerade nicht Nah-Sein und Fern-Sein im Sinne von geringerem oder größerem Abstand.
Nähe und Ferne als qualitative Gestimmtheiten können damit auch nicht als Ersatz für den Begriff der Unmittelbarkeit herhalten.
Näher ist nicht unmittelbarer und ferner ist nicht weniger unmittelbar. „Nicht darin liegt allein die Bedeutung der Nähe eines
Dinges im gestimmten Raum, daß sie dessen Gehalt deutlich zur Erscheinung bringt, sondern daß es mir nahe ist. Nähe und

- 44 -
bestimmt werden? Die vorangegangenen Ausführungen machen deutlich, dass auch medial
Vermitteltes von Böhme nicht als per se atmosphärenfremd gedacht wird. Medial vermittelte
Darstellungen können durchaus leiblich-affektives Erleben evozieren. Spätestens an dieser Stelle
muss nun fraglich werden, was Böhme mit dem Begriff der Ko-Präsenz von Wahrnehmendem
und Wahrgenommenem meint. War mit diesem Ausdruck nicht ein für allemal die
Notwendigkeit der gemeinsamen Anwesenheit in einem Raum festgeschrieben? Man könnte nun
einwenden, dass ja offensichtlich, auch bei medial vermittelter Wahrnehmung, wenigstens das
Instrument der Vergegenwärtigung im selben Raum mit uns sein muss – der Fernseher bei einem
Fernsehbild, der Datenhelm bei einem virtuellen Raum. Offensichtlich geht dieser Einwand
jedoch an der Fragestellung vorbei, denn es geht ja um die Frage der Anwesenheit des
Dargestellten, nicht des Darstellenden. Tatsächlich ist darüber hinaus, im Sinne Böhmes, der
Datenhelm gar nicht anwesend, denn der Datenhelm selbst geht ja (sofern er bequem genug ist)
in unser Erleben gar nicht selbst mit ein. Wenn man sich eine jener Stellen, in denen er den
Begriff der Ko-Präsenz verwendet, ansieht, bemerkt man, dass Ko-Präsenz nicht im Sinne der
gemeinsamen Anwesenheit in einem messbaren, objektiven Raum gemeint ist. „Wahrnehmung,
die sich aus dem Grundereignis von Wahrnehmung, nämlich dem Spüren von Anwesenheit
herleitet, impliziert in nuce zwei Pole, nämlich das Ich und das Ding oder das Subjekt oder das
Objekt, die in der Wahrnehmung in einem Zustand der Ko-Präsenz zusammenhängen. Spüren
von Anwesenheit heißt spüren, daß etwas anwesend ist und ich mich in seiner Gegenwart in
bestimmter Weise befinde.“111 Ko-Präsenz meint allein die spürbare Anwesenheit ‚für uns’, das
heißt, in unserem Erleben. Man gelangt also auch bei der Betrachtung der Ko-Präsenz zu einem
ähnlichen Ergebnis wie bei der Betrachtung der geforderten Unmittelbarkeit. Präsenz meint nicht
etwa eine irgendwie geartete objektiv räumliche Anwesenheit, sondern meint Spürbarkeit. Ich
wiederhole das bereits gegebene Zitat: „Der Raum ist insofern mein Raum, als er die
Ausdehnung meines Handelns, Wahrnehmens und Spürens ist.“ Die gemeinsame Anwesenheit
von Wahrnehmendem und Wahrgenommenem in einem Raum ist gefordert, doch ist der Raum,
der hier angesprochen ist, nicht der geometrische Raum, sondern der gestimmte Raum. Dieser
existiert jedoch nicht unabhängig von unserem Erleben, sondern in Abhängigkeit von diesem.
Ebenso wie in Bezug auf den Handlungsraum gilt, dass dort, wo ich handelnd eingreifen kann,
sich mein Handlungsraum erstreckt, ebenso gilt für den Stimmungsraum, dass sich dort, wo sich
eine von mir erlebte Gestimmtheit erstreckt, auch von Stimmungsraum, von atmosphärischer
Gestimmtheit zu sprechen ist.

Ferne sind keine attributiven Bestimmungen der gewahrten Dinge, sondern meine Weise des Gewahrens.“ (Ströker, Raum, S.
34.)
111
Böhme, Aisthetik, S. 74.

- 45 -
3.2.4. Zwischenbilanz: Die Wirklichkeit von Texten

Wenn man nun die Analysen der vorangegangenen Abschnitte zusammenfasst, so lässt sich
sagen, dass atmosphärisches Erleben nicht abhängig gemacht werden kann von der
unmittelbaren, unvermittelten Wahrnehmung von etwas, das als es selbst und nicht als
Dargestelltes anwesend ist. Atmosphärisches Erleben kann schlicht deshalb nicht von diesen
Faktoren abhängig gemacht werden, weil sich die Rede von ‚Unmittelbarkeit’ sowie jene von
Sachen, die als sie selbst anwesend sind, wenn man Böhme folgt, gar nicht mehr eindeutig
formulieren lassen. Die ‚Sachen’ (freilich nicht in ihrer Realität, sondern in ihrer
Erscheinungswirklichkeit) sind als sie selbst anwesend, wenn wir sie in ihrer
Erscheinungswirklichkeit erfahren. Ein atmosphärisch gestimmter Raum eröffnet sich schlicht
dann, wenn wir eben eine atmosphärische Gestimmtheit erfahren. Ausschlaggebend sind in
beiden Fällen nicht ‚objektive’ Gegebenheiten (die Tatsache, dass es sich beim
Wahrgenommenen nicht um ein Zeichen handelt und um nichts medial Vermitteltes), sondern
unser Erleben von etwas. Zugespitzt bedeutet das für die Problemstellung der vorliegenden
Arbeit, dass die Tatsache, dass ein Text aus einer Kette von Buchstaben besteht, allein noch kein
Hindernis dafür ist, dass diese Kette von Buchstaben und das, was sie bedeuten, nicht als
Erscheinungswirklichkeit leiblich-affektiv erlebt werden kann. Es bedeutet weiters, dass nicht
primär nach einer Räumlichkeit ‚im Text’ – etwa einer fiktionalen Welt – als Bedingung für die
Rede von Atmosphären gesucht werden muss, sondern dass nach leiblich-affektivem Erleben bei
Lesern gefragt werden muss und in einer solchen Erlebnisweise das Vorhandensein eines
gestimmten Raumes impliziert ist.112 Von Atmosphäre kann schlicht überall dort gesprochen
werden, wo sie erlebt wird. Dass aber literarische Texte durchaus intensiv erlebt werden können,
das werden die meisten Leser aus eigener Erfahrung bestätigen können.113 Auch der
literaturwissenschaftlichen Forschung ist die Tatsache nicht fremd, dass Texte sinnliche

112
Streng genommen muss hier eingewandt werden, dass diese Folgerung auf einem logischen Fehlschluss beruht. Zwar verhält
es sich so, dass gestimmte Räume abhängig sind von leiblich-affektivem Erleben. Daraus lässt sich jedoch nicht folgern, dass
leiblich-affektives Erleben eine hinreichende Bedingung für das Vorhandensein von gestimmten Räumen ist. In einer Anmerkung
zum zweiten Kapitel meiner Arbeit habe ich bereits von der wahrscheinlich zu treffenden Unterscheidung zwischen
Atmosphären-Erleben und Gefühlserleben gesprochen (vgl. die vorliegende Arbeit Abschnitt 2.2.). Auch Gefühlserleben ist
leiblich-affektives Erleben, die Unterscheidung des Gefühlserlebens vom Atmosphären-Erleben als etwas, das mich von meinem
Inneren her ergreift, impliziert jedoch, dass sich beim Gefühlserleben kein gestimmter Raum eröffnet, den ich als mich von außen
ergreifend erfahre. Ich werde in einem späteren Teil meiner Arbeit außerdem vorschlagen, dass gewisse Formen leiblich-
affektiven Erlebens von Texten nicht sinnvoll mit dem Ansatz des Atmosphären-Erlebens, so wie ihn Böhme konzipiert, fassbar
sind. Gleichzeitig werde ich argumentieren, dass umgekehrt bestimmte Formen leiblich-affektiven Erlebens von Texten adäquat
nur über das Erleben von Atmosphären analysierbar sind. Dadurch, dass es gewisse Formen des leiblich-affektiven Erlebens von
Texten gibt, die (in gewissen Grenzen, die noch zu erörternd sind) treffend mit dem Begriff der Atmosphäre gefasst werden
können, scheint mir damit jedoch auch die Rede vom gestimmten Raum in Bezug auf literarische Texte gerechtfertigt.
113
Jene Passagen, in denen Böhme davon spricht, dass Texte Atmosphären evozieren, können in diesem Zusammenhang als
‚Erfahrungsbezeugungen’ gelesen werden – woher sonst sollte seine Überzeugung stammen, wenn er nicht auch selbst die
Erfahrung leiblich-affektiven Erlebens von Texten gemacht hätte.

- 46 -
Erfahrungen evozieren können. Damit in Zusammenhang stehende Fragestellungen werden unter
anderem von Theoretikern der sogenannten „Illusionsbildung“ diskutiert.114 Es wird dort davon
gesprochen, dass wir bei der Lektüre von Texten etwas haben können, das als „quasi-
Wahrnehmung“, „als-ob-Wahrnehmung“ oder als „Erlebnisillusion“ bezeichnet wird. Gerade
diese Ausdrucksweisen weisen aber auf ein Dilemma hin: Einerseits wird niemand bestreiten,
dass man bei der Lektüre von Texten leiblich-affektives Erleben erfahren kann. Gleichzeitig wird
man doch aber darauf bestehen, dass die sinnlichen Erfahrungen, die wir an Texten machen
können, irgendwie unterschieden sind von jenen, die wir in ‚echten’‚ ‚unmittelbaren’
Wahrnehmungen machen. Wurde im vorangegangenen Abschnitt gerechtfertigt, dass auch in
Bezug auf Texte prinzipiell von Atmosphären gesprochen werden kann, soll nun im Folgenden
diskutiert werden, wie die Spezifika der Wirklichkeit von Text – ohne Rekurs auf den
problematischen Begriff der Unmittelbarkeit – gefasst werden können. Gleichzeitig damit sollen
auch die Grenzen deutlich werden, derer man gewahr sein muss, wenn man von Atmosphären in
Bezug auf Texte spricht.

3.3. Faktoren der Modifikation leiblich-affektiven Erlebens – Spezifikation der


Wirklichkeit von Texten

Böhme spricht an einer bereits zitierten Stelle davon, dass bei medial vermittelter Wahrnehmung
„der Kontakt zur Welt dünner und die Ko-Präsenz mit dem Wahrgenommenen nur indirekt sein
wird“115. Dies deutet an, dass Atmosphären nicht nur entweder erlebt werden oder schlicht
fehlen, sondern dass es gewisse graduelle Abstufungen ihrer Präsenz gibt. Da solche
Abstufungen, wie gezeigt wurde, schwer über Begriffe wie Unmittelbarkeit oder räumliche
Anwesenheit gefasst werden können, soll stattdessen von Graden der „Intensität“ oder
„Prägnanz“ von Atmosphären gesprochen werden. Im vorangegangenen Kapitel habe ich
herausgearbeitet, dass Böhme die Möglichkeit der Evokation von Atmosphären nicht per se auf
einen bestimmten Gegenstandsbereich einschränkt, sondern dass etwa Bilder einmal distanziert
als Zeichen wahrgenommen, aber auch als Wirklichkeiten erlebt werden können. Erleben schien
bisher allein von der Wahrnehmungshaltung des Wahrnehmenden abzuhängen. In der Folge
werde ich nochmals auf einige eher subjektive Faktoren (etwa Wahrnehmungshaltung oder

114
Für meine Arbeit wird vor allem die eingehende Diskussion dieser Thematik durch Werner Wolf von Bedeutung sein.
(Werner Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst. Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf
englischem illusionsstörenden Erzählen. Tübingen: Niemeyer 1993. (= Buchreihe der Anglia, Zeitschrift für englische Philologie.
32.) [Vorher: München, Univ. Habil.-Schr. 1991.])
115
Böhme, Aisthetik, S. 75.

- 47 -
persönlichen Wissenshorizont) eingehen, aber auch einige objektive Faktoren diskutieren, die
leiblich-affektives Erleben modifizieren können, – sei es der Intensität nach, sei es der Qualität
des Erlebens nach. Die Art und Weise, wie wir etwas erleben, hängt nicht nur an unserer
Wahrnehmungseinstellung, sondern ist auch durch das Wahrgenommene mitkonstituiert, in
diesem Sinne geht es nun darum Spezifika und Grenzen atmosphärischen Erlebens von Texten
auszuloten. Dabei sollen nach wie vor literarische Texte im Allgemeinen – als besonderer
Bereich von Atmosphären-Phänomenen – betrachtet werden. Die Fragestellung, die damit
vorerst ausgeschlossen bleibt116, ist jene nach der ‚Reichweite’ der Atmosphären-Konzeption
innerhalb des Gegenstandsbereichs literarischer Texte, das heißt die Frage danach, was an
Texten sinnvoll mit dem Instrumentarium der Atmosphären-Konzeption untersucht werden kann,
und damit auch die darauf aufbauende Frage, wie einzelne Texte Atmosphären evozieren.

3.3.1. Wissen und Wahrnehmung

Im Abschnitt 3.2.2. bin ich von Böhmes Analyse eines Fotos, das einerseits Zeichen, andererseits
Symbol (das als solches Atmosphäre evoziert) ist, direkt zum Text als Zeichen und Symbol
übergegangen. Man mag nun einwenden, dass, auch wenn einige Theoretiker, wie etwa Umberto
Eco, auf der Arbitrarität auch von Bilderzeichen bestehen, es doch offenkundig erscheint, dass
das Erkennen eines Bildes auf weniger Voraussetzungen beruht als das Verstehen eines Textes –
ohne dieses Verstehen kann ein Text aber auch keine Wirklichkeit entfalten117. Es scheint mir
jedoch so zu sein, dass auch, wenn die Voraussetzungen verschieden sind, sie sich nicht
fundamental voneinander unterscheiden. Die Voraussetzung(en), die alle diese Formen von
Wahrnehmung bedingen, ist das Vorhandensein von Wissen. Es gibt „die Atmosphäre der 20er
Jahre, die Atmosphäre eines Boudoirs, eine Kasernenhof-Atmosphäre oder eben auch die
Atmosphäre der Eleganz, der Kleinbürgerlichkeit, der Wohlanständigkeit, des Reichtums, der
Armut usw. Solche Atmosphären haben durchaus konventionellen Charakter, bzw. es ist zu
vermuten, daß sie durch konventionelle Erzeugende zustande kommen.“118 Böhme kennt also
konventionelle Atmosphären. Bei diesen ist es ganz offenkundig, dass Wissen, das wir uns
‚einverleibt’ haben – darüber, was das bedeuten soll, wird gleich gesprochen werden –, unser
Erleben mitkonstituiert. Dies gilt jedoch nicht nur für kulturelles Wissen, sondern gleichermaßen
für unseren biographischen Horizont. Das Foto des von uns geliebten Menschen, das wir uns

116
Ich werde mich im 4. Kapitel meiner Arbeit ausführlich damit befassen.
117
Außer auf Ebene der typographischen Form, der Materialität des Papiers, der Anordnung der Zeichen – alles Aspekte, die für
die vorliegende Arbeit nicht von Interesse sind.
118
Böhme, Aisthetik, S. 89.

- 48 -
aufstellen, um diesen Menschen in gewissem Sinne präsent sein zu lassen, würde offenkundig
nicht das gleiche Erleben bei uns hervorrufen, wenn wir diesen Menschen nicht kennen würden.
Atmosphärische Wahrnehmung heißt nicht, dass wir es hier mit einer ‚reinen
Wahrnehmungsform’ zu tun haben, wenn man unter reiner Wahrnehmung etwas versteht, was
völlig unabhängig von Wissen und Verstehen ergreift. Mit Sabine Schouten lässt sich
zusammenfassend formulieren: „Die Stimmung wird […] zugleich von sinnlichen als auch von
mentalen Vorstellungen bestimmt. Unter letztere fallen: die kulturell codierten, referenziellen
Bedeutungen zeichenhafter Objekte; interpretative Zuschreibungen; das spezifische Wissen,
welches an die Umgebungen und Situationen herangetragen wird; erinnerte Erfahrungen, die
sich mit ihnen verbinden und die persönlichen Assoziationen und Wertungen, mit denen wir
ihnen begegnen.“119 Schouten kritisiert in diesem Zusammenhang an Böhme, dass aufgrund der
Tatsache, dass Wissen Erleben von Atmosphären mitkonstituiert, die Unterscheidung zwischen
dem kognitiven Erfassen, dem Verstehen von etwas und dem leiblich-affektiven Erleben von
Atmosphären nicht aufrechterhalten werden kann.120 Zum Teil hat sie damit sicher Recht121, doch
scheint sie mir in mancher Hinsicht Böhme nicht ganz richtig zu verstehen. Es ist ein
Missverständnis, Böhmes Unterscheidung zwischen Verstehen und Erleben so zu interpretieren,
dass jede Wahrnehmung, die auch auf Wissen beruht, die atmosphärische Intensität stören und
mindern würde. Wie bereits erläutert meint Böhmes Unterscheidung nichts anderes als zwei
verschiedene Wahrnehmungsformen, die nicht aufgrund der Art ihrer Konstitution, sondern
durch die Art des Involviertseins des Wahrnehmenden in seiner Wahrnehmung unterschieden
sind. Reflexion und Verstehen meinen bei Böhme gerade nicht, dass etwas verstanden worden
sein muss, um erlebt werden zu können, sondern meinen einen distanzierten Umgang des
Wahrnehmenden mit dem Wahrgenommenen. Dabei führt die Tatsache, dass Wissen ein
bestimmtes Erleben mitkonstituiert, gerade nicht ‚automatisch’ zu einer solchen Distanznahme –
wie gerade an Böhmes Beispiel des Familienportraits sowie der konventionellen Atmosphären
ersichtlich wurde. Schoutens Missverständnis scheint mir damit auf der Ausklammerung der
Frage zu beruhen, wie aktiv der Wahrnehmende auf das Wissen, das er braucht, um eine
Wahrnehmungssituation zu erfassen, zugreift bzw. zurückgreifen muss – wie präsent dem
Wahrnehmenden in seiner Wahrnehmung ist, dass hier etwas verstanden werden muss, bevor es
erfasst wird. Manches Wissen, über das wir verfügen, ist uns so selbstverständlich, dass es langer
Forschungen bedarf, um es als (konventionelles) Wissen offenzulegen – etwa, dass kleine
Mädchen rosa tragen und Buben gerne mit Autos spielen. Auch derjenige, der sich das Portrait
119
Schouten, Sinnliches Erleben, S. 78f.
120
Vgl. ebda, S. 77.
121
Insofern sie die Rolle von Wissen für das Erleben von Atmosphären expliziert. Das unterbleibt bei Böhme vollkommen.

- 49 -
eines geliebten Menschen aufstellt, wird nicht jedes Mal, wenn er das Portrait anblickt, zuerst die
einzelnen Gesichtszüge des Fotos entschlüsseln müssen, um dann zu erkennen, dass es sich bei
dem Foto um ein Abbild des geliebten Menschen handelt. Auch bei Aufführungen, die sich der
Guckkastenbühne bedienen, wird sich der Zuschauer nicht in jedem Moment der Aufführung in
vollem Maße dessen bewusst sein, dass die Beamtenstube, die er auf der Bühne sieht, gar keine
Beamtenstube ist, sondern bloß – auf das Wissen des Zuschauers rekurrierend – eine
Beamtenstube bezeichnet. Er wird genauso vorübergehend vergessen, dass ein wesentlicher
Unterschied der dargestellten von der realen Beamtenstube ist, dass er im Theater nicht auf die
Bühne gehen kann, um einen Amtsweg zu erledigen. Den Umstand, dass uns in manchen
Situationen manches Wissen so selbstverständlich ist, dass wir es nicht erst in einem aktiven
Verstehensversuch heranziehen müssen, sondern es als Horizont schlicht in unser Erleben
eingeht, ohne dass wir uns dessen in jedem Moment bewusst wären, das meine ich mit meinem
Ausdruck des „einverleibten“ Wissens.
Für das Verstehen von Texten gilt nun das gleiche. Zwar sind zahlreiche Wissensbestände am
Verstehen von Texten beteiligt – Sprachverstehen, Lesekenntnisse, Worterkennung,
grammatikalisches Wissen, Textformenwissen, nicht zuletzt semantisches Wissen etc. –, doch
können diese Kenntnisse und Fähigkeiten so einverleibt worden sein, dass wir uns nicht mehr in
jedem Moment der Lektüre Verstehensleistungen abringen müssen, sondern dass uns das
Gelesene ‚unmittelbar’ zugänglich wird. In der Illusionstheorie wird das, etwa bei Smuda, als ein
„Hindurchgehen“ durch die materielle und bezeichnende Komponente des Kunstwerks
beschrieben: „durch den Wahrnehmungsgegenstand Gemälde hindurch versetzen wir uns
vorstellungsmäßig ins Bild“122. Wenn wir in die Lektüre vertieft sind (und unsere
Lesefähigkeiten gut sind), nehmen wir keine Buchstabenketten mehr wahr, sondern erleben eine
Textwelt.123 Die Ausdrucksweise, wonach wir ‚durch Zeichen hindurchgehen hin zur Textwelt’,
macht jedoch im Kontext Böhmes keinen Sinn mehr. Bei Böhme wird das Erleben, wie gezeigt
wurde, gewissermaßen absolut gesetzt. Die Wirklichkeit, die wir an einem Text erfahren, ist
Wirklichkeit durch unser Erleben. Wenn wir in unserem Erleben vergessen, dass wir Zeichen

122
Manfred Smuda: Der Gegenstand in der bildenden Kunst und Literatur. Typologische Untersuchungen zur Theorie des
ästhetischen Gegenstands. München: Fink 1979. (= Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste. 54.) S. 31
123
Offenkundig sind bei der Lektüre von Literatur zahlreiche Wissensformen involviert, die über Sprach- und Textverstehen
hinausgehen. Etwa können intertextuelle Bezüge und Wissen um literaturgeschichtliche Traditionen ins Erleben einfließen.
Interessant ist hier, dass der Ansatz der vorliegenden Arbeit eine Grenze hermeneutischer Arbeit deutlich macht, wenn es darum
geht, einem Leser einen Text zugänglich zu machen. Die Explikation von Wissen, das nötig ist, um einen Text zu ‚verstehen’, ist
noch nicht hinreichend, um dem Leser das Erleben der Textwirklichkeit zu ermöglichen. Selbst wenn er über den Horizont, den
das Verständnis eines Textes erfordert, ‚informiert’ ist, wird er den Text nach wie vor nur ‚verstehen’ können. Erst wenn dieses
Wissen (etwa durch regelmäßigen Umgang mit Literatur, die dieses Wissen abruft) ‚einverleibt’, selbstverständlich geworden
sein wird, wird er den Text auch erleben können.

- 50 -
wahrnehmen und Wissen unser Erleben mitkonstituiert, können wir von Atmosphären-Erleben
im eigentlichen Sinn sprechen.
Wissen modifiziert unser Erleben, das heißt jedoch nicht, dass es in jedem Fall die Intensität
unseres Erlebens senkt. Gleichzeitig ist offenkundig, dass wir eine Textwirklichkeit nicht in
derselben Weise erleben, wie wir die Wirklichkeit etwa einer schmuddeligen 50er-Jahre-
Wohnung erleben. Selbst im Vergleich zu bildlichen Zeichen scheinen sprachliche Zeichen einen
anderen Charakter anzunehmen. Wenn wir eine Pfeife auf einem Bild als Pfeife wahrnehmen –
Bedingung dafür, dass für uns der Satz ‚Ceci n’est pas une pipe’ Sinn macht, gerade deshalb,
weil er uns treffend darauf aufmerksam macht, dass das Bild eben doch in einer bestimmten
Perspektive ‚nur’ Zeichen ist –, so würden wir, wenn wir das Wort „Pfeife“ auf einem leeren
Blatt Papier lesen, niemals sagen: ‚Das ist eine Pfeife.’ Weshalb auch der Satz: ‚Ceci n’est pas
une pipe’, geschrieben nach dem Wort Pfeife kaum Sinn macht. Schriftzeichen scheinen also,
auch dann, wenn man streng vom Erleben des Wahrnehmenden ausgeht, eine gewisse Opazität
aufzuweisen. Es sei hier dahingestellt, wodurch sich diese Opazität erklären lässt,
möglicherweise schlicht durch die Tatsache, dass wir erst relativ spät und in einem mehr oder
weniger mühevollen Prozess lernen, schriftliche Sprachzeichen zu entziffern. Auch unser
Erleben der Wirklichkeit einer ‚echten’ Pfeife (etwa als gemütlich, gediegen, großväterlich etc.)
beruht auf Wissen, doch in Bezug auf Sprachzeichen ist es uns ungleich deutlicher bewusst, dass
wir hier Verstehensarbeit leisten –, einen Signifikanten aufgrund von angeeignetem Wissen mit
einem Bedeuteten verbinden. Auch wenn es häufig vorkommt, dass wir im Lesen die Zeichen
‚aus den Augen verlieren’, automatisch verstehen und Textwirklichkeit als solche erleben, so
lässt sich als ein erstes Charakteristikum von Textwirklichkeiten formulieren, dass sie
gewissermaßen recht instabil sind im Vergleich zu anderen Wirklichkeiten. Es gibt Phasen im
Lesen, in denen wir die Textwirklichkeit intensiv erleben, in denen wir das momentane
Bewusstsein darüber, dass unsere Lektüre auf einem Entziffern von Zeichen auf Basis eines
Wissenshorizontes basiert, verlieren – und in diesem Sinne lässt sich von Atmosphären von
Texten im eigentlichen Sinne sprechen. Doch gleichzeitig sind diese Wirklichkeiten ständig am
Kippen, sehr leicht können wir aus dem Text ‚herauskippen’, sehr leicht kommt uns unser Lesen
als Verstehen ins Bewusstsein und die Wirklichkeit des Textes bricht damit zusammen.

3.3.2. Grad der ‚Umfassendheit’ sinnlichen Erlebens – Der imaginäre gestimmte Raum

Wir bemerken, dass wir unaufmerksam sind, dass unser Lesen bloß ein Über-die-Zeilen-Gleiten
unseres Blicks ist und dass wir gar nicht wirklich verstehen, was wir da lesen. Oder wir sitzen

- 51 -
lesend in einem Lokal und werden ständig durch das Gespräch am Nebentisch vom Text
abgelenkt. Die Wirklichkeit von Texten ist instabil und leicht kippen wir aus ihr heraus. Im
vorangegangenen Kapitel wurde dies anhand der Rolle des Wissens bei der Konstitution von
Erleben erläutert, im gegenwärtigen Kapitel soll dieser Gedanke weiterentwickelt werden,
anhand von etwas, das ich vorläufig mehr als vage als „Grad der Umfassendheit sinnlichen
Erlebens“ bezeichnet habe. Was ist hiermit gemeint?
„Die sensorische Bildwelt der Alltagswirklichkeit unterscheidet sich grundsätzlich von der
Bildwelt des Films nicht nur durch die faktische Abwesenheit des vom Bild Bezeichneten,
sondern auch durch seine modale Komplexität.“124 In den bisherigen Ausführungen wurde
dargelegt, dass die von Michael Hauskeller erwähnte „faktische Abwesenheit des vom Bild
Bezeichneten“ nicht ausreicht, um die Spezifität der Wirklichkeit von Symbolen zu klären – ein
solcher Unterschied besteht (nach Böhme) in der Realität des Bildes, jedoch gerade nicht für
seine Wirklichkeit. Hauskellers zweiter Punkt jedoch scheint mir ein wesentlicher. Im Kino
riechen und schmecken wir das im Film Dargestellte nicht, wir können uns auch im dargestellten
Raum nicht bewegen und uns fehlen mögliche taktile Eindrücke. „Stattdessen haben wir nur
akustische und visuelle Bilder, und auch diese machen immer nur einen Teil der erlebten
Wirklichkeit aus, weil die Bilder des Films uns niemals ganz umschließen, sondern eingebettet
bleiben in die modale Komplexität der Betrachtungssituation.“125 Man könnte versucht sein,
daraus zu folgern, dass der große Unterschied von Textwirklichkeiten zu anderen Wirklichkeiten
darin besteht, dass beim Lesen nur der Augensinn bedient wird – wir sehen Zeichen. Das gerade
aber ist die falsche Folgerung. Es geht ja nicht um die Materialität der Zeichen, sondern um die
evozierte Wirklichkeit. Muss man nun aber nicht davon sprechen, dass Texte überhaupt keine
Sinne bedienen – Texte bringen uns dazu, uns etwas vorzustellen? Tatsächlich ist dies ein
zentrales Problem, das ich in meiner Arbeit nicht ‚angehen’ kann – ich werde später nochmals
kurz darauf zu sprechen kommen. Fragt man nun nach dem Wirklichkeits-Eindruck, den die
fiktionale Welt auf uns ausübt, dann gilt, dass einige Illusionsforscher durchaus davon ausgehen,
„daß narrative Werke auch nichtvisuelle Vorstellungen erzeugen können“126. Fragt man jedoch
nach der Wirklichkeit und nicht nach den Konstitutionsbedingungen von Erleben, dann wird es
problematisch, überhaupt verschiedene Sinneskanäle streng zu unterscheiden – atmosphärische

124
Michael Hauskeller: Atmosphären erleben. Philosophische Untersuchungen zur Sinneswahrnehmung. Berlin: Akademie
Verlag 1995, S. 185.
125
Ebda.
126
Wolf, Illusion, S. 104.

- 52 -
Wahrnehmungen sind intermodal127. Wirklich ausschlaggebend ist jedoch, dass Textwirklichkeit
für uns niemals umfassend werden kann. Ebenso wie im Kino die Wirklichkeit des Films
konkurrieren muss mit unserem Popcorn essenden Nachbarn, mit dem Gefühl des Kinositzes, auf
dem wir sitzen, mit einem durch die Dunkelheit tendenziell atmosphärisch neutralisierten128, aber
doch als Dunkelheit präsent bleibenden Umraum, ebenso befinden wir uns auch, wenn wir lesen,
in einer Umgebung, die gegenüber der Textwirklichkeit eine eigene Präsenz entfaltet. Hinzu
kommt, dass selbst, wenn unsere Umgebung völlig gegenüber der Textwirklichkeit zurücktritt,
weil es still, relativ dunkel etc. ist, wir doch darauf angewiesen bleiben, ein Buch vor Augen zu
haben. Über die Wirklichkeit des Buches können wir kaum hinwegsehen, wir müssen es in der
Hand halten, immer wieder umblättern, haben es mehr oder weniger (je nach Intensität der
Leseerfahrung) als Papier und Druckerschwärze vor Augen. Weiters wird an diesem Punkt
deutlich, dass es sich um eine besondere Form von Wirklichkeit handelt. Zwar können wir Texte
leiblich-affektiv und damit in ihrer Wirklichkeit erfahren. Wir erfahren beim Lesen
Atmosphären, gestimmte Räume, doch diese Räume fügen sich nicht nahtlos in unsere
Umgebung. Sie mögen mit unserer restlichen Umgebung interferieren, die Textwirklichkeit kann
auch auf unsere Umgebungswirklichkeit ausstrahlen und wir mögen nach der Lektüre eines
Textes unsere Umgebung für eine bestimmte Zeit anders erfahren als vor der Lektüre. Trotzdem
ist die Wirklichkeit eines Textes auf andere Weise Teil unserer Umgebung wie ein Gemälde in
einem Museum oder ein Film im Kino. Die Wirklichkeit, die wir beim Lesen erleben, ist eine
vorgestellte.129 Tatsächlich stellt diese vermeintlich offensichtlichste und klarste aller
Gegebenheiten innerhalb meines Ansatzes ein veritables Problem dar. Texte entfalten – wenn
auch instabile – Wirklichkeiten. In diesem Sinne können wir auch beim Lesen von Texten davon
sprechen, dass wir Wahrnehmungen haben. Diese Wahrnehmungen unterscheiden sich in vielen
Punkten von Wahrnehmungen, die wir in anderen Wahrnehmungszusammenhängen haben – das
gegenwärtige Kapitel versucht, diese Unterschiede auszuloten. Es ist nicht ganz klar, wie die
unabweisbare Rolle der Vorstellung hier Eingang finden soll. Ströker betont in einer
Anmerkung: „Es ist phänomenologisch klar zu scheiden zwischen dem gestimmten Raum im
eigentlichen Sinne, d.h. einem Raum, der sich bei bestimmten und jederzeit frei vollziehbaren
Einstellungsänderungen des Subjekts als der ‚wirkliche’ Raum bietet, in dem es sich selbst als

127
So spricht auch Hauskeller davon, dass Filme die ihnen fehlenden Dimensionen kompensieren können, eben gerade weil
„Empfindungsqualitäten unterschiedlicher Modalität miteinander in vergleichende Beziehung gesetzt werden können“
(Hauskeller, Sinneswahrnehmung, S. 186) und zwar durch die ihnen gemeinsame Atmosphäre, die sie evozieren.
128
Sowohl Schouten (vgl. Schouten, Sinnliches Spüren, S. 145f.) als auch Hauskeller (vgl. Hauskeller, Sinneswahrnehmung, S.
187.) betonen einerseits die Rolle der ‚Eigenatmosphäre’ des Publikumsraumes und stellen gleichzeitig die Bedeutung der
Verdunkelung als Versuch dar, diese Publikums-Eigenatmosphäre einzudämmen.
129
Dies unterscheidet etwa auch die Lektüre von Lyrik vom Hören von Gedichten. Wir können auch beim Lesen von Gedichten
deren Lautlichkeit als Wirklichkeit erfahren, doch es handelt sich um eine imaginierte Wirklichkeit.

- 53 -
Körper real vorfindlich werden kann und einem gestimmten ‚Raum’ im übertragenen Sinne,
wobei die ‚Über-tragung’ ihrerseits ein deutlich aufweisbares Erlebnisdatum ist“130. Imaginäre
Räume lassen sich also von anderen Wirklichkeiten dadurch unterscheiden, dass wir uns von
unserer gegenwärtigen Umgebung lösen und uns in eine andere Wirklichkeit ‚hinversetzen’. Es
ist offenkundig Teil unserer Wahrnehmung, dass wir irgendwann ein Buch zur Hand nehmen
und zu lesen beginnen – erst dann können wir Textwirklichkeit erleben. Gleichzeitig
kennzeichnen sich imaginäre gestimmte Räume dadurch, dass sie uns nicht in beliebiger
Einstellung zur Verfügung stehen – sie eröffnen uns, zumindest sofern es sich um
Textwirklichkeiten handelt, keinen Handlungsraum – wir können in der fiktiven Welt nicht
agieren. Was jedoch auch hier unerklärbar bleibt, ist der offenkundige Unterschied zwischen
etwa der Wahrnehmung eines ‚echten’ Tons in einer unangenehm hohen Frequenz und der
gelungenen textlichen Darstellung eines solchen Tons. Zwar werden wir in beiden Fällen
qualitativ ähnliche Wirklichkeiten erleben (uns unangenehm betroffen, bedrängt, gespannt
fühlen), jedoch werden beide Erlebnisse der Intensität nach massiv differieren. Die schlichte
Tatsache, dass im einen Fall unsere Sinnesorgane ‚tatsächlich’ gereizt werden, wogegen im
anderen Fall das, was wir sinnlich erfahren, nicht direkt auf der Reizung von Sinnesorganen
beruht, lässt sich, wenn man die Betrachtungsweise streng auf das dem Wahrnehmenden
Gegebene beschränkt, nicht leicht klären. Es ist offenkundig, dass es einer eingehenden
Untersuchung der Rolle der Vorstellungskraft in der Wahrnehmung bedarf, um den Charakter
der Wahrnehmung imaginärer gestimmter Räume zu fassen. Ich habe diesen Schwachpunkt
meines Ansatzes bewusst herausgestellt – die vorliegende Arbeit versteht sich als tastender
Versuch –, ich kann im Rahmen meiner Arbeit jedoch die in diesem Zusammenhang
notwendigen Untersuchungen nicht unternehmen.131 Ich werde also im Folgenden die
Bezeichnung „imaginärer gestimmter Raum“ verwenden, ohne dass die ungelösten Probleme,
die damit verknüpft sind, vergessen werden dürfen.
In 3.1. wurde als einer von drei zentralen Einwänden derjenige gebracht, dass uns Texte nicht
atmosphärisch umschließen können. Hierin liegt nun tatsächlich ein markanter Unterschied zu
jenen ursprünglichen Atmosphären, wie sie Böhme bestimmt. Zwar können Texte Wirklichkeit
entfalten, doch diese Wirklichkeiten bleiben dunkel lokalisiert als ein vom Text evozierter

130
Ströker, Raum, S. 25.
131
Ein zentrales Ziel der Illusionstheorie liegt im Versuch Unterschiede zwischen lebensweltlicher, ‚echter’ Wahrnehmung und
der Wahrnehmung von Kunstgegenständen, wie eben Texten, herauszuarbeiten. Auch die Frage nach der Rolle der
Vorstellungskraft in beiden Formen der Wahrnehmung hat dort (vgl. etwa Smuda, Gegenstand Kunst, S. 10ff.) zentralen
Stellenwert – man denke in diesem Zusammenhang auch an Isers Konzeption von „Leerstellen“. Jene Ansätze, die mir aus dem
Feld der Theorie der Illusionsbildung bekannt sind, weichen jedoch in ihrem Grundverständnis davon, was Wahrnehmung ist,
massiv von Böhme ab. Ein Versuch der Verbindung beider Ansätze würde deshalb ausführliche vergleichende Überlegungen
voraussetzen, die mir im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht möglich sind.

- 54 -
imaginärer gestimmter Raum, der in ‚Konkurrenz’ tritt zu unserer ‚realen’ Umgebung, die sich
während unseres Lesens jederzeit bemerkbar machen kann. Zwar können umschließende
Atmosphären in Texten dargestellt sein, doch ihre Wirklichkeit werden sie stets ‚nur’ als
imaginäre gestimmte Räume entfalten. Man könnte zur Kennzeichnung dieses Unterschiedes
formulieren, dass Textwirklichkeiten uns erfassen, aber niemals umfassen.

3.3.3. Medium und Inhalt / Darstellendes und Dargestelltes

Die Art des Mediums, dessen Inhalt wir als Wirklichkeit erleben – wobei sich zeigen wird, dass
wir nicht nur dessen Inhalt leiblich-affektiv erfahren –, modifiziert unser Erleben, sei es durch
den Grad an sinnlicher Umfassendheit, sei es durch den Grad an Präsenz, den das jeweilige
Medium als Medium in der Wahrnehmung selbst behält. In den vorangegangenen Kapiteln
wurde dabei festgestellt, dass das Medium Text aus verschiedenen Gründen ein eher
‚undurchsichtiges’ Medium ist, die Wirklichkeiten, die es evoziert, sind relativ instabil. Nun
haben nicht nur unterschiedliche Medien unterschiedliche Grade von ‚Durchlässigkeit’, sondern
auch innerhalb eines Mediums kann das Medium unterschiedlich präsent sein. Der Datenhelm ist
ein recht umfassendes Medium: Zwar bleibt auch hier eine sinnliche Beschränktheit vorhanden,
es fehlen Geruchs- und Geschmackseindrücke, aber visuelle, taktile und auditive Eindrücke
sowie die Möglichkeit zu Bewegung und Handlung sind möglich. An sich kann man also davon
ausgehen, dass Datenhelme recht intensiv erlebbare Wirklichkeiten präsentieren132 können. Diese
Annahme basiert jedoch stets auf der Annahme einer ‚klaren’ Darstellung. Ist die
Datenverarbeitung des Datenhelms zu langsam, ruckeln die Bilder, die wir sehen, kommt es zu
Störungen irgendwelcher Art oder ist die Darstellung zu schematisch, dann ist es möglich, dass
die Intensität der Wirklichkeit, die wir erleben, geringer wird oder die Wirklichkeit überhaupt
zusammenbricht. Wenn wir mit jemandem telefonieren, wird unser Gesprächspartner für uns in
gewissem Sinne anwesend sein – bis die Verbindung schlecht wird und wir kaum mehr als
Krachen und Rauschen hören. Die bildliche Darstellung einer morgendlichen Landschaft wird
uns eine morgendliche Landschaft leiblich-affektiv erleben lassen, außer die Darstellung ist so
verfremdet, dass es uns bei der Betrachtung nicht mehr selbstverständlich ist, dass wir hier eine
morgendliche Landschaft sehen. Wenn die mediale Präsentation gestört ist, wird das die
Atmosphäre abschwächen oder gänzlich zusammenbrechen lassen. Das Erleben wird der

132
Ich spreche absichtlich von Präsentation statt von „Vermittlung“. Vermittlung lässt automatisch daran denken, dass durch ein
Medium etwas ‚Dahinterliegendes’ oder ‚Abwesendes’ dargestellt wird. Es wurde jedoch gezeigt, dass Wirklichkeit im
Böhmeschen Sinne als Wirklichkeit auch anwesend ist – unabhängig ob Medien hier die Erscheinungswirklichkeit konstituieren.
Die Betonung der Anwesenheit von Wirklichkeit soll durch den Ausdruck „Präsentation“ geleistet werden.

- 55 -
Intensität nach vermindert bis hin zur Langeweile oder bricht ganz in unbeteiligtem Registrieren
der Störung zusammen. Interessant ist hier, dass eine solche Störung nicht nur die Intensität
unseres Erlebens modifizieren kann, sondern auch die Qualität der Atmosphäre. Wenn bei einem
Telefonat die Verbindung zunehmend schlechter wird, wird die atmosphärische Nähe zu
unserem Gesprächspartner gestört sein, doch bedeutet das noch nicht, dass wir diese Störungen
neutral erleben. Es kann sein, dass sich durch die Störung selbst eine neue Atmosphäre aufbaut,
nämlich jene von Unerreichbarkeit, Ferne des Gesprächspartners. Gleiches kann für den
Datenhelm gelten. Wenn die Darstellung durch die Störung nicht vollkommen zusammenbricht,
ist vorstellbar, dass die Störung die Wirklichkeit so modifiziert, dass wir die Störung als
beklemmend, verwirrend, bedrängend erleben. Besonders deutlich mag hier das Beispiel des
vergilbten und zerknitterten Fotos sein. Natürlich wird dadurch das Dargestellte schwerer
erkennbar, doch muss das noch nicht zu einem Zusammenbruch der Wirklichkeit des Bildes
führen. Gerade dadurch, dass das Foto zerknittert und vergilbt ist, mag es eine besonders
intensive Atmosphäre evozieren. Gleiches gilt für das Gemälde. Das erschwerte Erkennen des
Dargestellten kann zum Zusammenbruch der Atmosphäre führen, kann jedoch auch dazu führen,
dass der Wahrnehmende seine Wahrnehmungseinstellung ändert und sein leiblich-affektives
Erleben auf die Wirklichkeit von Farben und Formen unabhängig vom Bedeuteten richtet.133 Das
Medium kann, sobald es in der Wahrnehmung präsent wird, zur ‚reinen’ Störung werden, die
überhaupt nicht mehr leiblich-affektiv erlebt wird, sie kann aber auch eingehen in das Erleben
und es in seiner Qualität modifizieren.134

133
Smuda geht in diesem Zusammenhang gerade den umgekehrten Weg. Er spricht davon, dass der Wahrnehmende, der zuerst
und eigentlich mit der Materialität eines Kunstwerks konfrontiert ist, sich abwendend von dieser materialen Realität (dem
„Bildding“) einen Einstellungswechsel hin zum Kunstgegenstand als imaginärem Gegenstand (dem „Bildobjekt“) vollziehen
muss. (Vgl. Manfred Smuda: Wahrnehmungstheorie und Literaturwissenschaft. In: Sozialität und Intersubjektivität.
Phänomenologische Perspektiven der Sozialwissenschaften im Umkreis von Aron Gurwitsch und Alfred Schütz. Hrsg. von
Richard Grathoff und Bernhard Waldenfels. München: Fink 1983. (= Übergänge. Texte und Studien zu Handlung, Sprache und
Lebenswelt. 1.) S. 272-292, S. 275ff.) Wieder jedoch gilt, dass eine direkte Integration seiner Position in meinen Ansatz
schwierig ist, da sich seine Grundauffassung von Wahrnehmung stark von Böhmes Auffassung unterscheidet. Problematisch
scheint mir in diesem Zusammenhang vor allem, dass er im Gegensatz zu Böhme von einer Grundform der Wahrnehmung
ausgeht, die auf Einzelgegenstände gerichtet ist. Wahrnehmungseinstellungen, die etwa auf die affektiv erfahrene Ganzheit einer
Landschaft gerichtet sind, sind bei ihm schon in lebensweltlicher Wahrnehmung keine Wahrnehmungen im eigentlichen Sinne
mehr, sondern zwar auf Wahrnehmungen fußend, jedoch eigentlich Resultate der Vorstellungskraft. (Vgl. Smuda, Gegenstand
Kunst, S. 12ff.)
134
In diesem Sinne folgt mein Ansatz einer von Sibylle Krämer für den von ihr herausgegebenen Band konstatierten Tendenz zur
Umschiffung von „Scylla und Charybdis der Mediendebatte“ (Sibylle Krämer: Was haben ‚Performativität’ und ‚Medialität’
miteinander zu tun? Plädoyer für eine in der ‚Aisthetisierung’ gründende Konzeption des Performativen. Einleitung. In:
Performativität und Medialität. Hrsg. von S. K. München: Fink 2004, S. 13-32, S. 22.). Medientheorie spielt sich, nach Krämer,
in einem theoretischen Spannungsfeld ab zwischen Medienmarginalismus, der Medien bloß die Funktion des Vermittelns
zuspricht, die umso besser erfüllt wird, desto neutraler das Medium gegenüber dem Dargestellten bleibt, und einem
Mediengenerativismus, der – wie etwa bei McLuhan – die wirklichkeitskonstituierende Funktion von Medien gänzlich deren
Form und gerade nicht deren Inhalt zuschreibt. (Vgl. Krämer, Performativität Medialität, S. 22ff.) Wenn ich von einer
Mittlerposition spreche, die mein Ansatz einnimmt, muss hierbei jedoch betont werden, dass meine Herangehensweise prinzipiell
blind ist für jene Effekte des Mediums als Form, die McLuhan und andere zu fassen versuchen. (Vgl. etwa Marshall McLuhan:
Understanding Media. The extensions of man. London und New York: Routledge 2006.) Wenn Medien unsere Wahrnehmungen
auf so fundamentaler Ebene konstituieren, dass gilt “they [...] configure the awareness and experience of each one of us“
(McLuhan, Understanding Media, S. 23.), dann ist offenkundig, dass diese Konstitutionsleistung von Medien dem

- 56 -
Grundsätzlich gilt dies auch für Texte, jedoch in modifizierter Weise. Auch im Lesen sind wir
mit der Materialität des Buches konfrontiert, die zu Störungen der Wirklichkeit führen kann. Die
Schrift ist zu klein oder schwer entzifferbar, das Buch ist zu schwer etc. In unserem normalen
Umgang mit literarischen Texten – dies gilt vor allem für Prosatexte – wird die Präsenz des
Mediums in diesem Sinne jedoch nur zur Störung des Erlebens der Textwirklichkeit führen. Die
materielle Beschaffenheit des Buches modifiziert nur in seltenen Fällen unser Erleben der
Textwirklichkeit qualitativ (etwa, wenn wir in einem besonders alten, kunstvoll gestalteten Buch
lesen). Offenkundig gibt es jedoch eine Ebene der Vermittlung oder Darstellung, die die
Textwirklichkeit massiv mitkonstituiert und ihre Wirklichkeit auch qualitativ modifiziert, es
handelt sich dabei um jene Ebene, die man als Ebene der Form bezeichnen kann: Wortwahl,
Lautlichkeit, Syntaktik, Stil, Erzählerposition etc. Für die vorliegende Arbeit sind hier zwei Fälle
zu unterscheiden. Zum einen können formale Elemente als Erzeugende fungieren und die
Physiognomie eines Textes prägen. In der Wahrnehmung der Textwirklichkeit durch den
Erlebenden werden sie in diesem Fall überhaupt nicht eigens als formale Elemente
wahrgenommen. Im gegenwärtigen Kapitel geht es jedoch gerade um Fälle, in denen das
Darstellende, Vermittelnde selbst präsent wird. In diesem Zusammenhang gilt für die Ebene der
Form Gleiches wie für andere Formen der Darstellung. Wenn durch verschiedenste Formen
verfremdeter Darstellung das Dargestellte schwieriger wahrzunehmen wird, so kann dies
einerseits zu einem völligen Zusammenbrechen der Textwirklichkeit führen oder aber die
Textwirklichkeit wird qualitativ modifiziert, die Form kann als Form ihre eigene Wirklichkeit
evozieren – analog zur Wirklichkeit, die Farben und Formen eines Gemäldes evozieren können.
Dies sei vorerst nur angedeutet und soll in Kapitel 5 der vorliegenden Arbeit ausführlicher
besprochen werden. Wesentlich ist jedoch, dass mein Ansatz sich hier von den mir bekannten
Ansätzen der Illusionsforschung abhebt, die davon ausgehen, dass lediglich der Inhalt eines
Textes eine „Erlebnisillusion“ evozieren kann und jedes Präsentwerden der Form, jede
‚Ablenkung’ vom Inhalt dagegen eine Distanznahme und eine Störung der Illusion (und damit
des Erlebens) bewirkt.135 Wenn uns das im Text Dargestellte nicht mehr selbstverständlich

Wahrnehmendem normalerweise eben gerade nicht in der Wahrnehmung selbst präsent wird. Jene „numbness“, die McLuhan als
zentralen Effekt ansieht, den Medien als Extensionen unserer (Sinnes-)organe auf ebendiese haben, kann selbst gerade nicht –
oder nur in Ausnahmefällen – wahrnehmend erfasst werden. Deshalb hebt McLuhan den Moment der Ablöse der Vorherrschaft
einer medialen Form durch eine andere als Moment der Möglichkeit der Bewusstwerdung der Sozialität, Wahrnehmung,
Verhalten konstituierenden ‚Macht’ der Medien hervor: „The hybrid or the meeting of two media is a moment of truth and
revelation from which new form is born. For the parallel between two media holds us on the frontiers between forms that snap us
out of the Narcissus-narcosis. The moment of the meeting of media is a moment of freedom and release from the ordinary trance
and numbness imposed by them on our senses.” (McLuhan, Understanding Media, S. 61.)
135
Siehe etwa Wolf: „Illusion bezieht sich im Gegensatz zur Distanz nie auf ‚Formales’, sondern immer auf ‚Inhaltliches’, d.h.
daß ihr Objekt die im Kunstwerk vermittelte Welt, nicht aber die Vermittlung selbst ist.“ (Wolf, Illusion, S. 42) Eine Ausnahme
muss Wolf jedoch bereits für die sogenannte „Sekundärillusion“ machen, die im Gegensatz zur „Primärillusion“ (gerichtet auf
die diegetische Textwelt) auf die vermittelnde Ebene eines präsenten Erzählers gerichtet ist. (Vgl. Wolf, Illusion, S 102f.)

- 57 -
zugänglich ist, sondern uns aus welchen Gründen auch immer136 fremd, unzugänglich und kaum
mehr erkennbar wird, kann das entweder zu einem Zusammenbrechen der Textwirklichkeit
führen oder aber einen Einstellungswechsel bewirken, durch den die Störung selbst als
Wirklichkeit erfahren wird. Der Textgegenstand, der als atmosphärisch erfahren werden kann, ist
also nicht auf die fiktive Welt reduziert, sondern kann sowohl formale als auch inhaltliche
Komponenten umfassen.

3.3.4. Unterschiedliche Wahrnehmungseinstellungen

Bereits in Kapitel 2 meiner Arbeit wurde davon gesprochen, dass die distanzierte Form der
Dingwahrnehmung sich von der Atmosphären-Wahrnehmung nicht dadurch unterschiedet, dass
es sich dabei um Zugangsweisen zu verschiedenen Gegenstandsbereichen handelt, sondern dass
die Dingwahrnehmung Effekt einer Distanznahme des Subjekts ist, damit Ergebnis einer
geänderten Einstellung zur Welt und zur eigenen Wahrnehmung. Im gegenwärtigen Kapitel
wurde diese Einsicht vertieft, indem dargestellt wurde, dass Ähnliches für die Unterscheidung
von Zeichenwahrnehmung und Erleben von Wirklichkeiten gilt. Gleichzeitig ging es mir darum
aufzuzeigen, welche Faktoren auf Seite des wahrgenommenen Gegenstandes das Erleben
modifizieren. Im Zuge dessen hat sich herausgestellt, dass Wechsel der
Wahrnehmungseinstellung nicht nur bedeutsam sind für den Wechsel zwischen distanzierter und
erlebender Wahrnehmung, sondern wechselnde Wahrnehmungseinstellungen auch wechselnde
Wirklichkeiten konstituieren. Der vorliegende Abschnitt dient mir dazu, die Frage der
Einstellungswechsel noch einmal – diesmal verstärkt in Hinblick auf Texte – zu thematisieren.
In den vorangegangenen Abschnitten ging es immer wieder darum, dass Textwirklichkeiten
instabil sind, dass Schriftzeichen eine gewisse Opazität aufweisen. Durch verschiedenste
Umstände können wir uns dessen bewusst werden, dass Lesen ein aktiver Verstehensprozess ist.
Darüber hinaus sind wir im Lesen ständig von einer anderen als der Textwelt betroffen, die
jederzeit präsent werden und das Erleben der Textwelt stören kann. Alles dies führt zu einer
Distanznahme und zu einem Zusammenbrechen der Textwirklichkeit. Eine weitere Form der
Distanznahme ist mit der Tatsache verbunden, dass Texte relativ leicht als Vermittelnde und
Darstellende zum Gegenstand unserer Wahrnehmung werden. Wolf spricht in diesem
Zusammenhang von einer der ästhetischen Illusion eigenen Oszillation zwischen Distanz und

136
In der Illusionstheorie wird zu Recht immer wieder die Notwendigkeit der Nähe des Dargestellten zur lebensweltlichen
Wahrnehmung ausgeführt. Meiner Ansicht nach müssen hier jedoch auch Faktoren wie der persönliche Wissenshorizont betont
werden – was einem ungeübten Leser schwer zugänglich erscheinen mag, kann für einen erfahrenen Leser gerade intensive
Wirklichkeit evozieren.

- 58 -
Illusion. Unsere Wahrnehmung pendelt immer wieder zwischen „Erlebnisillusion“, das heißt
dem Bezogensein auf die „illusionistische Welt“, und Distanz, der rationalen
Auseinandersetzung mit dem Werk, der Reflexion über „die ästhetische Struktur des Werkes und
seiner Intentionen“137, in der „das Werk mit seiner Thematik, Funktion und ästhetischen Struktur
erfaßt“138 wird. Wenn man dies in Analogie setzt mit Böhmes Rede von der distanzierten
Dingwahrnehmung, dann lässt sich einem Textgegenstand, der als Wirklichkeit erfahren wird,
ein ‚Textding’ gegenüberstellen. Mit Textding ist hier eben gerade nicht das Buch in seiner
Materialität gemeint, sondern das, was Texthermeneutik ins Auge fasst – den Textsinn,
verstanden als Komplex von Themen, Figurenkonstellationen, Erzählperspektiven, Motivik,
ästhetischer Struktur etc. Es muss hier jedoch wiederum betont werden, dass diese
Komponenten, meines Ansatzes nach, nicht per se distanziert wahrgenommen werden. Der
Einstellungswechsel zwischen Illusion und Distanz muss also durch eine zweite Form von
Einstellungswechsel ergänzt werden. Die Abwendung von der fiktionalen Welt muss nicht
unbedingt zur distanzierten Betrachtung führen, sondern kann auch zum leiblich-affektiven
Erleben der Darstellung (anstatt des Dargestellten) führen.
Eine weitere Wahrnehmungseinstellung139, die unser Erleben der Intensität nach modifiziert, ist
jene, die sich auf die Erzeugenden von Textwirklichkeit richtet. Wie in Kapitel 2 bereits
ausführlich erläutert, ist diese Einstellung noch von der Dingwahrnehmung unterschieden, da sie
den phänomenalen und leiblich-affektiven Anteil weiterhin erfasst, jedoch bereits stärker
distanziert. Für die Textwirklichkeit bedeutet dies, dass wir uns zwar quasi analytisch mit
inhaltlichen und formalen Erzeugenden der Textwirklichkeit auseinandersetzen, uns jedoch dafür
stets auch ihrer atmosphärischen ‚Ausstrahlung’ gewahr sein müssen. Textwirklichkeit wird hier
nicht in vollem Sinne als Atmosphäre erlebt, jedoch setzen wir uns auch nicht in gänzlich
distanzierter Weise mit dem Text als Ding auseinander.

137
Wolf, Illusion, S. 67.
138
Ebda, S. 66.
139
Es sei an dieser Stelle nicht verschwiegen, dass Schouten im Anschluss an Moritz Geiger eine Unterscheidung vornimmt von
„betrachtender Einstellung“ und „aufnehmender Einstellung“ (die sich wiederum in „gegenständliche Art aufnehmender
Einstellung“, „stellungnehmende Einstellung“, „sentimentalische Einstellung“ und „einfühlende Einstellung“ unterteilt). (Vgl.
Schouten, Sinnliches Spüren, S. 199ff.) Diese Unterscheidung dient ihr in der Folge dazu, unterschiedliche Intensitäten (bedingt
durch subjektive als auch durch objektive Komponenten) theatraler Atmosphären und in Zusammenhang damit unterschiedliche
Funktionen von theatralen Atmosphären zu unterscheiden. Geigers Unterscheidung, soweit Schouten sie darstellt, scheint mir vor
allem verschiedene Wahrnehmungshaltungen, die das Subjekt einnehmen kann, ins Auge zu fassen. Da meine Arbeit letztlich
jedoch auf eine Beschreibung textueller Faktoren der Evokation von Atmosphären abzielt, scheint mir eine detaillierte
Unterscheidung von subjektiven Wahrnehmungshaltungen nicht notwendig. Schoutens daran anschließende Überlegungen
werden zum Teil Eingang in meine Arbeit finden, sind aber in anderen Aspekten wenig brauchbar, da es Schouten ja um die
Untersuchung theatraler Atmosphären geht. In meiner Klärung der spezifischen Wirklichkeit von Texten habe ich demgegenüber
bzw. in Analogie dazu (unter bisherigem Ausschluss der Frage nach der Funktion von Atmosphären) versucht darzulegen, mit
welchen Besonderheiten der Intensität von Atmosphären bei Texten zu rechnen ist.

- 59 -
3.3.5. Modifiziert Realität die Wirklichkeit?

Bei Böhme sind Erscheinungswirklichkeit und Realität streng getrennt. Die Realität eines Dings,
auf das wir Bezug nehmen müssen, wenn wir etwa handelnd mit ihm umgehen, ist bei Böhme
nicht mehr Teil der Wahrnehmung im eigentlichen Sinne (mindestens nicht Teil atmosphärischer
Wahrnehmung). In diesem letzten Abschnitt soll nun, über Böhme hinausgehend, die Frage
gestellt werden, inwiefern das Wissen um die Realität einer Erscheinungswirklichkeit und unsere
mögliche reale Betroffenheit von ihr sehr wohl unser Erleben dieser Erscheinungswirklichkeit
modifizieren.
Wolf unterscheidet „Erlebnisillusion“ von „Referenzillusion“. Erlebnisillusion meint dabei das
„das quasi sinnliche Eintreten in die Textrealität“140 und ist damit dem gleichzusetzen, was ich
als Atmosphären-Erleben zu erfassen suche. Referenzillusion meint demgegenüber den Glauben
an die Wahrheit und Authentizität des Dargestellten und damit „den Schein einer Beziehbarkeit
auf konkrete und spezifische Elemente der Lebenswelt, also die Illusion einer Einzel- oder
Realreferenz“141. Referenzillusion ist auch bei Wolf keine Bedingung für die Erlebnisillusion,
diese kann sich unabhängig von jener aufbauen – und doch „heißt [das] nicht, dass der Aufbau
einer Referenzillusion nicht die Erlebnisillusion fördern kann“142. Böhme müsste dies meiner
Ansicht nach leugnen. Gleichzeitig ist es plausibel, dass unser Wissen – um ein extremes
Beispiel herzunehmen – um den ‚Holocaust’ unser leiblich-affektives Erleben beim Lesen von
Texten, die sich mit Erfahrungen des Holocaust auseinandersetzen, stark modifiziert und
intensiviert. Gleiches gilt für das Verhältnis von Filmen und Nachrichtensendungen. Eine U-
Bahn, die Zentimeter vor einer auf die U-Bahn-Schienen gestürzten Person gerade noch zum
Stehen kommt, ist in Filmen längst ein Klischee, das kaum mehr leiblich-affektive Wirkungen
evoziert. Ein per Handy-Kamera gefilmter Bericht in den Nachrichten von einer betrunkenen
Frau, der genau dies geschah, hat bei mir vor einigen Wochen intensiven Schrecken ausgelöst.143
Der Glaube an die Wahrheit von etwas Wahrgenommenem modifiziert also unser Erleben.
Prinzipiell betrachten wir literarische Texte (heutzutage) als fiktionale Texte. Innertextliche
Komponenten – etwa ein Erzähler, der die Authentizität des Erzählten beteuert, wird auf unseren
Glauben nur wenig Einfluss haben, er ist zum konventionellen Element geworden, das wir als
Teil der Fiktion auffassen – haben im Großen und Ganzen ihre ‚Authentifikationsautorität’

140
Wolf, Illusion, S. 57.
141
Ebda
142
Ebda, S. 59.
143
Ich werde im folgenden Kapitel zu argumentieren versuchen, dass diese Form leiblich-affektiver Wirkung aufgrund des
Geschehnis-Charakters des Wahrgenommenen wahrscheinlich nicht adäquat mit dem Konzept der Atmosphären zu fassen ist –
für die an dieser Stelle behandelte Fragestellung scheint mir dies jedoch nicht relevant.

- 60 -
verloren. Jedoch können extratextuelle Komponenten (Genrebezeichnung Autobiografie,
Kontextwissen) uns dazu bringen an die Wahrheit des Erzählten zu glauben – in solchen Fällen
wird wahrscheinlich auch unser Texterleben modifiziert werden.
Eine weitere Frage, die ich an dieser Stelle diskutieren möchte, ist jene danach, ob die Tatsache,
dass wir als Handelnde einer Wirklichkeit ausgesetzt sind, unser Erleben modifiziert. Auch hier
müsste man mit Böhme sagen, dass sobald uns etwas aufgrund pragmatischer Zusammenhänge
betrifft, man es schon mit einer ‚verunreinigten’ Wahrnehmung zu tun hat. Wenn wir handelnd
an etwas Interesse haben oder von Handlungen anderer betroffen werden, haben wir den Bereich
der Erscheinungswirklichkeit überschritten hin zu einer pragmatischen Realität. Dieser Aspekt
ist deshalb relevant, weil man bekanntermaßen sowohl beim Lesen eines Textes als auch bei der
Rezeption einer typischen Guckkastenvorstellung ‚ruhig gestellt’ ist, man ist nicht mehr
Handelnder und was man wahrnimmt und erlebt, betrifft einen auch nicht als Handelnden. Dabei
lassen jedoch etwa Schoutens faszinierende Beschreibungen von Theaterinszenierungen, in
denen Zuschauer – obwohl sie zu jedem Zeitpunkt über den fiktionalen Charakter des
Geschehens Bescheid wussten – als Handelnde in ein Geschehen eingebunden sind,144 massiven
Zweifel daran aufkommen, ob nicht die Tatsache, dass wir als Handelnde, Reagierende, als
Betroffene in ein Geschehen eingebunden sind, die Intensität unseres Erlebens massiv steigert.
Wenn dies stimmt, dann würde man in Bezug auf Textwirklichkeiten, von denen wir per se als
Nicht-Handelnde ergriffen werden, auch in dieser Hinsicht von ganz spezifischen Formen von
Wirklichkeit sprechen müssen.

144
Vgl. v.a. Schouten, Sinnliches Spüren, S. 220ff.

- 61 -
4. Möglichkeiten und Grenzen der Atmosphären-Konzeption bei der
Analyse literarischer Texte

Im vorangegangenen Kapitel wurde versucht die spezifische Wirklichkeit von Texten


herauszuarbeiten, das heißt, es ging darum zu klären, in welchem Sinne denn von Atmosphären
gesprochen wird, wenn davon gesprochen wird, dass Texte Atmosphären evozieren. Nun soll ein
weiterer Schritt getan werden in der Entwicklung einer Methode der Analyse der Evokation von
Atmosphären durch literarische Texte. Es soll nämlich nach der Reichweite, nach Möglichkeiten
und Grenzen einer solchen Analyse gefragt werden. Mein Ansatz versteht sich nicht als
Herangehensweise, die andere literaturwissenschaftliche Herangehensweisen – aufgrund eines
Anspruchs den gesamten Bereich literarischer Texte und jedes Einzelwerk in seiner Gesamtheit
zugänglich zu machen – obsolet macht. Es muss also eine Spezifizierung des Anspruchs meines
Analyseansatzes erfolgen, einerseits (in einem ersten, kurzen Abschnitt) in Bezug auf die Frage,
welche Untersuchungsgebiete, obwohl sie fußend auf der Atmosphären-Konzeption möglich
wären, von mir dennoch ausgeschlossen werden. Und andererseits in Bezug auf die Frage, was
an literarischen Texten durch die Atmosphären-Konzeption, so wie ich sie verstehe, gar nicht
sinnvoll erfasst werden kann.

4.1. Pragmatische Grenzziehungen – Einschränkung und Präzisierung des


Untersuchungsbereichs

4.1.1. Empirische Umstände des Leseerlebnisses

Wie bereits ausgeführt, hängt jedes konkrete Erleben einer Atmosphäre von einer Reihe von
kulturellen sowie subjektiven Faktoren ab. Diese reichen von recht basalen kulturellen Wissens-
und Bedeutungshorizonten über spezifischere Wissenshorizonte – etwa einzelner sozialer
Gruppen145 – bis hin zu momentanen, subjektiven Umständen wie Aufmerksamkeit, Interesse
und der momentanen Bereitschaft einen Text zu ‚erleben’. Offenkundig ist damit ein breites Feld
von Fragestellungen gegeben, die ausgehend von der Atmosphären-Konzeption her untersucht

145
Hier bestünde möglicherweise ein Anknüpfungspunkt etwa zu Stanley Fishs Konzeption der „Interpretive Communities“.

- 62 -
werden können.146 Dieses gesamte Feld soll jedoch im Rahmen der vorliegenden Arbeit
ausgeschlossen werden – Ziel meiner Analyse ist die Klärung textseitiger Faktoren, die, als
Erzeugende verstanden, nachvollziehen soll, wie ein Text diese oder jene Atmosphäre evoziert.
Da Atmosphären sich jedoch stets und ausschließlich in der aktuellen Wahrnehmung eines
Wahrnehmenden konstituieren, können die von mir als „empirische Umstände“ bezeichneten
Faktoren nicht einfach ‚beiseitegeschoben’ werden. Das Konzept eines ‚idealen Lesers’
einzuführen, bedeutet letztlich die Verwischung der Tatsache, dass auch bei der Konzentration
auf textseitige (und damit ‚objektive’) Faktoren der Ausgangspunkt der Analyse stets das eigene
Erleben bleiben muss, das notwendigerweise von ‚empirischen Umständen’ geprägt ist. Dies
betrifft nicht erst die Frage, welche Atmosphäre man beim Lesen eines Textes erlebt
(unterschiedliche Erlebnisweisen werden unter Umständen auch zum Auffinden
unterschiedlicher Erzeugender führen), sondern bereits die Frage, ob ein Text oder eine
Textpassage überhaupt Atmosphäre evoziert. Die Ergebnisse der Analysen von Atmosphären-
Erzeugenden werden keine absoluten Erkenntnisse sein, die unbedingt Geltung haben, sondern
werden Erkenntnisse im Sinne von so etwas wie einer ‚wenn-dann’-Relation sein: „Wenn ich
diese oder jene Atmosphäre erlebe, dann scheinen mir diese und jene textuellen Faktoren die
Erzeugenden zu sein.“ „Wenn ich beim Lesen eines Textes Atmosphäre wahrgenommen habe,
liegt es daran und daran.“ „Wenn ich beim Lesen eines Textes keine Atmosphäre gespürt habe,
dann liegt es daran und daran.“

4.1.2. Textteile – Textganzes

Abgesehen davon, dass – wie in den folgenden Abschnitten erläutert werden wird – sich der
Atmosphären-Ansatz nicht dazu eignet, Texte in ihrer Gesamtheit zu erfassen, werde ich in der
vorliegenden Arbeit auch nicht Texte als Ganzes, insofern sie Fragestellungen rund um
Atmosphären zugänglich wären, zu analysieren versuchen. Ich werde mich auf einzelne
Passagen beschränken und zwar konkret auf Anfangspassagen von literarischen Prosatexten. In
Analogie zu Schoutens Untersuchungen von Atmosphären in Guckkastentheateraufführungen ist
es als kein Zufall zu betrachten, dass mir Anfangspassagen als für die Analyse besonders
geeignet erscheinen.

146
Als allgemeinste Fragestellung wäre etwa jene nach den Bedingungen von Atmosphären-Wahrnehmung überhaupt zu denken:
In meinem Verständnis von Atmosphäre, das Atmosphäre nicht als A-priori-Anteil an jeder Wahrnehmung versteht, kann
Atmosphären-Erleben letztlich als Ganzes hinsichtlich seiner kulturellen Bedingtheit diskutiert werden. Gibt es kulturelle
Voraussetzungen – und wenn ja, welche sind es –, die das Erleben von Atmosphären in dieser Weise möglich machen?

- 63 -
Die Funktion der atmosphärischen Einstimmung lässt sich oft in narrativen
Theaterarbeiten beobachten, in denen das Atmosphärische an die Seite vieler anderer
erzählerischer Mittel tritt. […] Nicht selten ist der Begriff der Einstimmung dabei
wörtlich zu nehmen, da eine Vielzahl von Aufführungen mit einer für den weiteren
Verlauf prägenden Atmosphäre einsetzen und den Zuschauer damit bereits mit einem
147
eröffnenden Statement zur emotionalen Qualität des weiteren Geschehens konfrontiert.

Dies weist darauf hin, dass Atmosphären in Textzusammenhängen bestimmte Funktionen


zukommen (können). Die Frage nach solchen Funktionen – die Frage der Eingebundenheit der
Atmosphären in gesamttextliche Zusammenhänge und damit auch etwa die Frage nach dem
Zusammenhang zwischen Atmosphären und der Konstitution von Bedeutung (dem Textsinn) –
wird in meiner Arbeit außen vor bleiben. Ebenso werden sich meine Analysen nicht mit
Fragestellungen befassen, die man mit dem Schlagwort einer ‚atmosphärischen Dramaturgie’
umschreiben könnte. Eine atmosphärische Dramaturgie wäre eine, deren Bogen sich nicht durch
narrative Zusammenhänge fassen lässt (Handlungsverkettungen, Figurenmotivationen etc.),
sondern sich durch eine Aufeinanderfolge verschiedener atmosphärischer Gestimmtheiten
ergäbe.148
Die starke Eingrenzung des Untersuchungsfeldes auf einzelne Textpassagen hat den Vorteil, dass
diese umso detaillierter ins Auge gefasst werden können. Die möglicherweise unkonventionelle
Vorgangsweise in der Mitte einer Arbeit zwei Abschnitte dafür zu verwenden, um
klarzumachen, worüber man in Folge nicht sprechen will, leitet sich aus meinem Wunsch ab, den
Eindruck zu vermeiden, Analyse von Atmosphären könne nur verstanden werden als eine Art
‚Scheuklappen-Lektüre’, die sich einzelne Textteile ‚herauspickt’ ohne jemals die Frage in
Betracht zu ziehen, wie diese mit dem Textganzen zusammenhängen – und damit auch ohne
jemals die Frage in Betracht zu ziehen, welche Relevanz die Ergebnisse einer solchen
Betrachtung für die Betrachtung des Gesamttextes haben können.
Neben diesen pragmatischen Grenzen, die schlicht durch den begrenzten Rahmen der
vorliegenden Arbeit gesetzt sind, scheint es mir auch einige prinzipielle Grenzen zu geben,
außerhalb derer die Konzeption von Atmosphären, so wie sie Böhme entwickelt, nicht mehr
tragfähig ist. Im Folgenden soll es darum gehen diese Grenzen auszuloten. Es wurde bereits
angedeutet, dass es, trotz einiger fundamentaler Schwierigkeiten der Integration von Böhmes
Theorie der Wahrnehmung mit Theorien der Illusionsbildung, einige Schnittpunkte gibt
zwischen jenen Theorien und meinem Ansatz. In der Folge sollen mir Ansätze der Theorie der

147
Schouten, Sinnliches Spüren, S. 209.
148
Schouten denkt den Begriff der atmosphärischen Dramaturgie an für die Analyse postdramatischer Aufführungsformen, in
denen narrative Strukturen keine Rolle mehr spielen und deren Abläufe somit besser fassbar sind, wenn man sie hinsichtlich der
Evokation eines „leiblich-affektiv empfundenen Spannungsbogen[s]“ (Schouten, Sinnliches Spüren, S. 171) betrachtet und nicht
nach einem plot fragt.

- 64 -
Illusionsbildung immer wieder als Folie dienen, um einerseits einige wesentliche Punkte meiner
Konzeption zu verdeutlichen und um andererseits Grenzen der Böhmeschen Theorie für die
Analyse von Texten deutlich zu machen.

4.2. Das Fehlen von Atmosphäre

4.2.1. Bedingungen der Illusionsbildung und Illusionsstörung aus Perspektive der


Illusionstheorie

Werner Wolf versucht in seiner bereits erwähnten ausführlichen Untersuchung Illusionsbildung


zu klären, indem er versucht die „werkseitigen Strukturen illusionsbildender Kunst als Imitation
lebensweltlicher Wahrnehmung“149 ins Auge zu fassen. Er entwickelt in diesem Zusammenhang
sechs textseitige Prinzipien, die als Analoga zu Prinzipien lebensweltlicher Wahrnehmung die
Bildung von Illusionswirkung fördern: das Prinzip der anschaulichen Welthaftigkeit, das Prinzip
der Sinnzentriertheit, das Prinzip der Perspektivengebundenheit, das Prinzip der
Medienadäquatheit, das Prinzip der ‚Interessantheit’ und das Celare-artem-Prinzip.150 Das Prinzip
der anschaulichen Welthaftigkeit meint die Notwendigkeit – um illusionsfördernde Wirkung zu
erzielen – eine fiktive Welt zu entwerfen, innerhalb derer sich ein gewisser
Ereigniszusammenhang entwickeln kann. Dabei „muß der Illusionstext erstens auf konkrete
‚Äußerlichkeiten’ der in ihm entworfenen Sachverhalte achten. Und damit der Eindruck einer
‚Welt’ entsteht, muß er zweitens diese Äußerlichkeiten in einer gewissen Fülle und mit einer
bestimmten Freude am Detail präsentieren.“151 Dabei gilt jedoch, dass eine Überfülle an Details
umgekehrt gerade zu einer illusionsstörenden Wirkung führen kann. Das Prinzip der
Sinnzentriertheit knüpft an die Tatsache an, dass wir in lebensweltlicher Wahrnehmung nicht
eine Überfülle an neutralen Details wahrnehmen, aus denen wir in bewusster Aussonderung
Relevantes von Irrelevantem unterscheiden, sondern Relevanzstrukturen bereits an der
Konstitution unserer Wahrnehmung beteiligt sind. So muss auch ein Text eine gewisse
Sinnzentriertheit aufweisen. In Bezug auf ein Kunstwerk gilt dabei gegenüber lebensweltlicher
Wahrnehmung, dass der Rezipient ungleich höhere Sinnansprüche stellt. Wir wissen, dass wir es
bei einem Kunstwerk mit einem gemachten Gegenstand zu tun haben, und erwarten daher, dass
das uns Präsentierte nicht Beliebiges ist, sondern eben ‚Sinn macht’. Dabei meint Sinn

149
Wolf, Illusion, S. 70.
150
Ebda, S. 133ff.
151
Ebda, S. 135.

- 65 -
Sinnhaftigkeit auf vielen Ebenen: eine gewisse Geordnetheit des Geschehens, thematische
Relevanz – es wird bis zu einem gewissen Grad deutlich, dass es in dem Text um ‚irgendetwas’
geht –, eine gewisse ästhetische Überstrukturiertheit – Motivketten, Stil etc. –, um nur einige zu
nennen. Das Prinzip der Perspektivengebundenheit meint, dass der literarische Text in gewissem
Maße sich der lebensweltlichen Erfahrung der Abgeschattetheit unserer Wahrnehmung anpassen
muss, will er illusionsbildend wirken. Das bedeutet im Wesentlichen einen behutsamen Umgang
mit Informationsvergabe und eine gewisse Situationsgebundenheit der Darstellung. Das Prinzip
der ‚Interessantheit’ bedeutet, dass der Text eine gewisse Mischung aus Wahrscheinlichkeit und
Neuartigkeit des Dargestellten finden muss und dass er schlicht den Leser packt, etwa durch
einen interessanten plot. Die Prinzipien der Medienadäquatheit und das Celare-Artem-Prinzip
meinen im Grunde beide, dass ein gewisser Umgang mit dem Medium Sprache nötig ist, um das
Medium der Vermittlung und damit die Gemachtheit des Textes nicht zu deutlich in den
Vordergrund rücken zu lassen. Beides würde den Eindruck, es als Leser mit einer autonomen
fiktionalen Welt und dem damit ablaufenden Geschehen zu tun zu haben, gefährden. Alle diese
Faktoren spielen bei der Illusionsbildung zusammen. Bedeutsam ist hier, dass es einen gewissen
durchaus weiten Rahmen gibt, innerhalb dessen Texte gegen einzelne dieser Prinzipien
verstoßen können, ohne ihre illusionsbildende Wirkung zu verlieren. Auch gilt, dass Illusion
nicht von einem Text als Ganzem hervorgerufen wird oder eben nicht, sondern dass einzelne
Passagen stärker illusionsstörend angelegt sein können, ohne dass dadurch verhindert würde,
dass der Leser den Text später wieder als Erlebnisillusion erfahren kann.
Obwohl meine Zusammenfassung die Thesen Wolfs stark verkürzt darstellt, wird deutlich, wo
Anknüpfungspunkte und wo Divergenzen zu meinem Ansatz liegen. Wo ich im
vorangegangenen Kapitel vor allem versucht habe die spezifische Wirklichkeit des Textes zu
fassen, dort liefert Wolf einen ausführlichen Ansatz dafür zu erklären, wie es Texten
grundsätzlich überhaupt gelingt, Wirklichkeit zu entfalten. Dabei gilt jedoch, dass mein
Atmosphären-Begriff in mancher Hinsicht weiter und in anderer Hinsicht enger gefasst ist als
Wolfs Begriff der Erlebnisillusion. Zwar ist die Anbindung an lebensweltliche Wahrnehmung
auch als Faktor für die Evokation von Atmosphären relevant, doch gilt das für meinen Ansatz
nur mit einiger Einschränkung. Da ich Atmosphäre nicht als gelungene Imitation
lebensweltlicher Wahrnehmung verstehe, sondern als eigene Form von Wahrnehmung, ergeben
sich einige Verschiebungen. Ein wesentlicher Punkt ist hier die bereits dargestellte Ausweitung
der Möglichkeit zur Evokation von Atmosphären auf das Vermittelnde, auf das Medium selbst.
Atmosphäre kann nicht nur durch den Inhalt, das Dargestellte evoziert werden, sondern in
manchen Fällen auch durch das Vermittelnde – entweder im Fall der auch von Wolf erwähnten

- 66 -
Sekundärillusion (Präsentwerden des Erzählers), aber auch durch ein Präsentwerden des Texts
(in Stil, Lautlichkeit etc.) selbst. Diese Verschiebung betrifft vor allem das Prinzip der
Medienadäquatheit sowie das Celare-Artem-Prinzip, in gewissem Sinne jedoch auch das Prinzip
der anschaulichen Welthaftigkeit – ein Text kann durchaus auch dann Wirklichkeit entfalten,
wenn er von der Darstellung einer quasi-realistischen fiktionalen Welt abrückt.
Die Prinzipien der anschaulichen Welthaltigkeit, der Perspektivengebundenheit und der
Sinnzentriertheit können als Prinzipien von Wolf mehr oder weniger direkt übernommen
werden, jedoch ergeben sich Ergänzungen durch Böhmes modifizierte Vorstellung von
Wahrnehmung. Zentral ist, dass Illusionstheoretiker im Wesentlichen von einer lebensweltlichen
Wahrnehmung ausgehen, die eher an der Ding- oder Realitätswahrnehmung orientiert ist.
Deutlich wird dies, wenn es um die Deskription von Welt geht. Hier steht stets die Frage nach
der Beschreibung von Gegenständen im Mittelpunkt. Anschaulichkeit wird dabei eher als
gelungene Darstellung der ‚Oberfläche’ der Dinge verstanden und weniger als Evokation von
Atmosphäre. In diesem Zusammenhang steht auch ein zentrales Problem der Illusionsforschung.
Ein dargestellter Gegenstand in der fiktionalen Welt ist im Gegensatz zu Gegenständen der
Lebenswelt dadurch gekennzeichnet, dass er dem Rezipienten nur als dargestellter zugänglich
ist. Wo ein Wahrnehmender in der Lebenswelt theoretisch die Möglichkeit hat, den Gegenstand
in unendlich vielen ‚Ansichten’ zu untersuchen (er kann ihn beliebig drehen und aus
verschiedenen Perspektiven betrachten, er kann ihn berühren, seine Oberfläche genauer
untersuchen, ihn evtl. hochheben, kann ihn unter der Lupe betrachten oder ihn gar mittels
naturwissenschaftlicher Techniken analysieren etc.), bleibt der Rezipient eines Textes auf die
Ansicht beschränkt, die ihm durch den Text geliefert wird. „Im Unterschied zu lebensweltlicher
Wahrnehmung, die ihre Objekte zwar auch in gewissem Umfang defizitär erfaßt, sind diese
Unbestimmtheitsbeträge aber aufgrund der schematischen Natur der Textobjekte an diesen selbst
nicht zu tilgen. Der Leser ist damit in ganz anderer Weise auf den endlichen Text verwiesen als
der Wahrnehmende auf sein potentiell unendlich mannigfaltiges Objekt.“152 Man könnte nun
annehmen, dass ein Text, der einen Gegenstand besonders genau beschreibt, der
lebensweltlichen Wahrnehmung am nächsten kommt, das ist aber gerade nicht der Fall. Diese
Tatsache wird, etwa bei Smuda153, so erklärt, dass bei zu detaillierter Beschreibung dem Leser
die Möglichkeit genommen wird, seine Vorstellungstätigkeit zu entfalten. Da aber der
Gegenstand der Darstellung ein imaginärer Gegenstand ist, ist die Konstitution desselben durch
den Leser eben gerade an dessen Vorstellungstätigkeit gebunden. Dies mag zutreffen, doch lässt

152
Ebda, S. 91.
153
Vgl. Smuda, Gegenstand Kunst, S. 52.

- 67 -
sich mit Böhme ergänzen, dass es von vornherein ein Irrtum ist, davon auszugehen, dass wir die
Welt in lebensweltlicher Wahrnehmung besonders ‚detailgetreu’ wahrnehmen. Die
Wahrnehmung ist auf die Wirklichkeit gerichtet, diese aber ‚besteht’ nicht aus detaillierten
Eigenschaften der Dinge, sondern aus deren Ausstrahlung, der Atmosphäre.154 Der untersuchende
Zugang zur Welt, der ja letztlich erst die potenzielle Mannigfaltigkeit der Ansichten eines Dings
eröffnet,155 ist ein spezieller, der nicht als der ‚normale’ Zugang zu Welt betrachtet werden sollte.
Wenn Smuda meint, dass eine Deskription besonders illusionsbildend wirkt, wenn sie „die
Darstellung einer Ansichtenmannigfaltigkeit des Gegenstands meidet und sie auf ein Schema
reduziert [..., durch das] ein latenter Wissensvorrat aktiviert werden kann“156, so kann mit Böhme
vermutet werden, dass gerade solche Details relevant sein werden, die die Ekstase eines
Gegenstands (oder einer Figur) betreffen, seine Erscheinungswirklichkeit also und nicht seine
Realität – was damit konkret gemeint sein kann, soll später geklärt werden. Man könnte sogar
vermuten, dass hierdurch auch die Rede von der Notwendigkeit der Ergänzung von Lücken im
Dargestellten ergänzt werden könnte. Natürlich wird der Leser beim Lesen eines Textes
automatisch das Beschriebene in seiner Vorstellung ‚auffüllen’ und konkretisieren, doch ist
fraglich, ob der Aspekt dieses Auffüllens tatsächlich so zentral ist, wie er in der Illusions- und
Rezeptionstheorie häufig behandelt wird. Wenn es nämlich dem Text darum geht eine
Wirklichkeit, eine Atmosphäre zu evozieren, dann spielt es keine Rolle, mit welchen Details der
Leser diese Wirklichkeit auffüllt. Es würde etwa, um ein Beispiel zu nennen, keine Rolle spielen,
ob ein Leser bei der Beschreibung eines fröhlichen Kinderzimmers sich ein Schaukelpferd, eine
Sternschnuppenbettwäsche und gelbe Tapeten vorstellt, sondern es geht um die Wirklichkeit
eines fröhlichen Kinderzimmers, die er leiblich-affektiv erlebt.
In noch anderer Hinsicht ist die vorrangige Ausrichtung auf das Paradigma der
Dingwahrnehmung in der Illusionstheorie zu ergänzen. Smuda etwa scheint eine Störung der
Illusionsbildung bereits überall dort anzunehmen, wo nicht mehr eine ‚Realität’ der fiktionalen

154
Man könnte über Böhme hinaus ergänzen, dass wir dort, wo wir in pragmatischen Handlungszusammenhängen wahrnehmen,
erst recht nicht auf die Details von Dingen achten, sondern diese in ihrer Relevanz für unser Handeln erfahren.
155
Ich denke, dass dies nicht mit der Tatsache verwechselt werden sollte, dass wir lebensweltlich selbstverständlich davon
ausgehen, dass wir es mit Gegenständen zu tun haben, die autonom, das heißt unabhängig von unserer Wahrnehmung existieren.
Zwar wird die potenzielle Mannigfaltigkeit der Ansichten meist benutzt, um gerade dieses Faktum zu explizieren, doch scheint
mir hier ein Unterschied zu bestehen. Die Rede von den potenziell mannigfaltigen Ansichten eines Gegenstandes legt –
zumindest als Konnotation – doch nahe, dass wir lebensweltlich die Gegenstände, mit denen wir zu tun haben, tatsächlich aus
unterschiedlichen Ansichten ‚untersuchen’, um uns ihnen anzunähern, und eben aufgrund unserer begrenzten Zeit diesen
Vorgang irgendwann abbrechen. Gerade diese Konnotation führt ja dann auch zur Verwunderung einerseits darüber, dass wir bei
der Lektüre von Texten gar kein Problem damit haben, dass uns die dargestellten Gegenstände eben nur, im Extremfall, eine
Ansicht dargeboten wird. Und gleichzeitig führt sie zur Verwunderung, dass Texte, die übermäßig ausführliche
Detailbeschreibungen – mannigfaltige Ansichten – liefern, eher illusionsstörend wirken. Tatsächlich ist es aber so, dass unsere
Überzeugung es mit einem autonomen, von unserer Wahrnehmung unabhängigen Gegenstand zu tun zu haben, auch dann
besteht, wenn wir nur eine einzige Ansicht von einem Gegenstand haben (etwa von einem Baum, der am Zug, in dem wir sitzen,
so schnell vorbeirast, dass wir ihn kaum erblicken).
156
Smuda, Gegenstand, Kunst, S. 52.

- 68 -
Welt für den Leser rekonstruierbar ist, wo eindeutige räumliche und zeitliche Verortbarkeit des
Erzählten verloren gehen etwa durch das Ineinanderfließen von Traum und Wirklichkeit,
Erinnerung und Wahrnehmung. Ebenso reicht für ihn die Aufsplitterung in nicht mehr in ein
einheitliches Bild integrierbare Perspektiven bereits aus, um die Illusionsbildung zu stören.157
Zwar entwickelt Smuda seinen Standpunkt anhand der Analyse der Anfangspassage von
Faulkners „The Sound And The Fury“, die, wie mir scheint, tatsächlich auch nicht besonders viel
an Atmosphäre evoziert, doch scheint mir Wolfs Prinzip der Sinnzentriertheit als Erklärung
hilfreicher. Ein Text kann sich durchaus mehr oder weniger weit von der Konstruktion einer
kohärenten fiktionalen ‚Realität’ entfernen, solange trotzdem ein gewisses Maß an
Sinnzentriertheit auf einer anderen Ebene gewahrt bleibt. So ist etwa bei Inka Pareis Roman
„Was Dunkelheit war“158 kaum zu rekonstruieren, was ‚wirklich geschehen ist’, Erinnerung und
Gegenwart verschwimmen und die Wahrnehmung der Hauptfigur ist nur bedingt verlässlich.
Trotzdem bleibt die illusionsbildende Wirkung eindeutig gewahrt, da der alte, gebrechliche
Mann in jenem ihm fremd bleibenden, vor kurzem ererbten Haus als Sinnzentrum vorhanden
bleibt. Interessant in Hinblick auf die vorliegende Arbeit ist in diesem Zusammenhang, dass auch
das Herrschen einer gewissen Atmosphäre ein mögliches Sinnzentrum liefern kann. Eine
notwendige und interessante Fragestellung, die ich jedoch in meiner Arbeit nicht beantworten
kann, ist jene danach, wie sehr der Aufbau einer kohärenten Textrealität unterbleiben kann,
solange atmosphärische Kohärenz gewahrt bleibt.
Als letztes der sechs Prinzip von Wolf bleibt das Prinzip der ‚Interessantheit’. Die
Ausgewogenheit zwischen Bekanntem und Unbekanntem, zwischen Wahrscheinlichem und
Unwahrscheinlichem ist offenkundig ein zentraler Faktor dafür die Aufmerksamkeit des Lesers
zu garantieren und damit zu gewährleisten, dass dieser willig und fähig bleibt sich der
Wirklichkeit des Textes auszusetzen. Weiters muss strukturell eine gewisse Überschaubarkeit
der Handlungsstränge (die jedoch weiter gefasst ist als bei Smuda) gegeben sein sowie inhaltlich
das Vorhandensein von ‚Ereignishaftem’, eine gewisse Fülle von Handlungen und
Geschehnissen. Von besonderem Interesse für die vorliegende Arbeit ist, dass Wolf als Aspekt
der Förderung der Illusionsbildung „Strategien, die an die Leseraffekte appellieren“159, ansieht.
Die affektive Komponente beim Vorgang des Lesens spielt also eine große Rolle für das
Leserinteresse. Mit Böhme kann diese affektive Komponente jedoch neu formuliert werden: Es
geht nicht (nur) darum, dass ein Text an die Gefühle des Leser ‚appelliert’ (Gefühle als etwas
Subjektives können immer nur durch den Leser selbst ‚erzeugt’ werden, selbst dann wenn sie als
157
Vgl. ebda, S. 101ff.
158
Inka Parei: Was Dunkelheit war. Roman. München: btb 2007. (= btb. 73261.)
159
Wolf, Illusion, S. 180.

- 69 -
Reaktion auf den Text vom Leser ‚erzeugt’ werden – der Text kann nur an die Gefühle des
Lesers „appellieren“), sondern es geht darum, dass Text(teile), die Atmosphäre evozieren, das
Leserinteresse fördern.
Bisher wurde hauptsächlich davon gesprochen, dass der Atmosphären-Ansatz einiges als
leiblich-affektiv erfahrbar betrachtet, das von Wolf nicht mehr als Illusion betrachtet wird.
Jedoch gilt auch, dass bei Weitem nicht alles, was von Wolf unter dem Aspekt der
Illusionsbildung besprochen wird, auch für die Analyse von Atmosphären sinnvoll fassbar ist.
Nicht jede Illusion bedeutet gleichzeitig die Evokation leiblich-affektiven Erlebens und nicht
jede Form von leiblich-affektivem Erleben lässt sich sinnvoll über die Atmosphären-Konzeption
beschreiben.

4.2.2. Deskriptionsformen: Fiktionale Dingwelt – Imaginärer gestimmter Raum

Es wurde bereits davon gesprochen, dass ausgehend von Böhme (und in Anlehnung an Wolf) bei
der Begegnung mit einem literarischen Text zwischen zwei Wahrnehmungshaltungen
unterschieden werden kann. Zum einen das leiblich-affektive Erleben einer Textwirklichkeit und
zum anderen die distanzierte ‚hermeneutische’160 Haltung des Verstehens, in der der Leser
unbetroffen bleibt vom Gelesenen und seinen Fokus eher auf das Erschließen der Textrealität,
verstanden als Textsinn richtet (Was ist das Thema des Textes? Was sind seine Bauprinzipien?
etc.). Gleichzeitig wurde im vorangegangenen Kapitel davon gesprochen, dass eine zentrale
These der Illusionstheorie (im Anschluss an phänomenologische Untersuchungen etwa von
Husserl) ist, dass der (dargestellte) künstlerische Gegenstand nicht der potenziellen
Mannigfaltigkeit von Ansichten offensteht, sondern aufgrund der notwendigen Begrenztheit des
literarischen Textes unbestimmt bleibt161. Für den Zusammenhang der vorliegenden Arbeit kann
diese These reformuliert werden zu der These, dass die dargestellte Welt unsere Haltung zu ihr
bis zu einem gewissen Grad bestimmt. Sie eröffnet uns nicht die Möglichkeit ihr in beliebiger
Wahrnehmungshaltung zu begegnen, sondern ordnet unseren Zugang zu ihr vor. Ein Text kann
nicht eine potenziell unendlich mannigfaltige Realität darstellen, der erst der Leser in einer

160
Wieder wird ‚hermeneutisch’ hier im weitesten Sinne verstanden. Es geht um jede Haltung, die den Text letztlich als
Oberflächenphänomen betrachtet, von dem aus auf tieferliegende Strukturen geschlossen werden muss – in diesem Sinne fallen
auch etwa psychoanalytische oder sozialwissenschaftliche Ansätze darunter.
161
Im Gegensatz zum lebensweltlichen Gegenstand, der zwar faktisch für uns in seiner Bestimmtheit unzugänglich bleibt, da die
Erfassung dieser Bestimmtheit eine unendliche Reihe von Ansichten erfordern würde, doch gleichzeitig als potenziell bestimmter
gegeben ist. (Vgl. Smuda, Gegenstand Kunst, S. 30.) Wir sind – zumindest lebensweltlich – Realisten: Wir gehen im Alltag
davon aus, dass ein Gegenstand, mit dem wir konfrontiert sind, unabhängig von unserer Wahrnehmung als bestimmter
Gegenstand existiert. Dies wäre, nebenbei bemerkt, auch ein weiterer zentraler Einwand gegen Böhme. Auch wenn wir
lebensweltlich keine philosophisch ausgearbeitete Dingontologie entwickeln, haben wir doch (zumindest ab einem gewissen
Lebensalter) immer schon die Überzeugung mit Realität (verstanden als von uns unabhängig und einigermaßen stabil
existierende Objektwelt) und nicht nur mit Wirklichkeiten zu tun zu haben.

- 70 -
gewissen Perspektive begegnet, sondern der Text selbst liefert schon eine gewisse Perspektive
mit.162 „Für den narrativen Text läßt sich […] eine besondere Nähe zur alltäglichen Erfahrung
dann erzielen, wenn Erzählsituation und -perspektive die subjektive Begrenztheit
lebensweltlichen In-der-Welt-Seins möglichst weitgehend imitieren.“163 Doch selbst wenn der
Text sich der Illusionsbildung verweigert und sich von der Form der Perspektivität
lebensweltlicher Wahrnehmung entfernt, so gibt er doch eine Perspektive (als ‚Nicht-
Perspektive’) vor, die eben gerade zur Folge hat, dass der Leser die dargestellte Welt gerade
nicht mehr als seiner Lebenswelt ähnlich rezipieren kann – und damit eine Störung der
Illusionswirkung eintritt. Dies bedeutet etwa auch, dass der Text, selbst dann, wenn er eine
kohärente fiktive Welt aufbaut, diese entweder eher als atmosphärisch dichte – in der
Perspektive leiblich-affektiver Gestimmtheit – oder aber als eher neutrale, wenig gestimmte – in
der Perspektive der Dingwahrnehmung – gestalten kann. Dem Leser steht es in diesem
Zusammenhang in Bezug auf die fiktionale Welt nicht frei zwischen Atmosphärenwahrnehmung
und Dingwahrnehmung zu wählen. Ein Biologe kann in der Lebenswelt trotz einer
atmosphärisch dichten nebligen Sumpflandschaft von der Atmosphärenwahrnehmung zur
Dingwahrnehmung wechseln und Flora und Fauna – die Realität – der Sumpflandschaft
untersuchen. Dem Leser eines Textes steht diese Möglichkeit nicht offen. Einer atmosphärisch
dicht dargestellten nebligen Sumpflandschaft kann er nicht in der Wahrnehmungshaltung der
Dingwahrnehmung begegnen.
Es gilt also in Bezug auf Texte zwischen zwei Ebenen der Dinglichkeit zu unterscheiden. Zum
einen ist es der Textgegenstand als Realität (der Textsinn) gegenüber der Textwirklichkeit (als
leiblich-affektiv erfahrbarer Textgegenstand). Auf dieser Ebene hat der Leser die Freiheit zur
Wahl der Wahrnehmungseinstellung in ganz analoger Weise zur Lebenswelt. Zum anderen
jedoch ist davon auszugehen, dass nicht jede dargestellte fiktionale Welt – auch dann, wenn sie
als Illusion vorstellbar wird – atmosphärisch aufgeladen ist, nicht jede dargestellte fiktionale
Welt evoziert Atmosphären. In diesem Sinne kann von einer fiktionalen Dingwelt gegenüber
dem imaginären gestimmten Raum gesprochen werden. Auf dieser Ebene steht dem Leser die
Wahl der Wahrnehmungshaltung nicht offen, sondern er ist auf die ‚Perspektive’ der Darstellung
angewiesen. Begegnet er solchen Textpassagen im Modus der Atmosphären-Wahrnehmung
(statt in ‚hermeneutischer’-distanzierter Haltung), dann läuft seine Wahrnehmung
gewissermaßen ins Leere – er wird trotzdem kein intensives leiblich-affektives Erleben

162
„Die Darstellung der Fiktion […] ist nicht eine Darstellung der Welt, sondern eine Darstellung der Organisationsmöglichkeit
von Erfahrungskomplexen.“ Karlheinz Stierle: Was heißt Rezeption bei fiktionalen Texten? In: Poetica 8 (1975), S. 345-387, S.
375.
163
Wolf, Illusion, 159.

- 71 -
verspüren. Ich kann also in Bezug auf den Text meine Wahrnehmungshaltung frei wählen,
jedoch nicht in Bezug auf die dargestellte Welt.164
In diesem Sinne ist die Textwirklichkeit (als leiblich-affektiv wirksame) enger zu fassen als
Wolfs Begriff der Erlebnisillusion. In Bezug auf das Prinzip der anschaulichen Welthaftigkeit
formuliert Wolf:

Lebensweltliche Wahrnehmung geht von der Existenz einer ‚objektiven’ Realität


außerhalb des Wahrnehmenden aus, auf deren autonome Gegenstände er seinen Blick
richten kann. Analog dazu muß der Illusionstext […] überhaupt erst einmal ‚Objekte’
schaffen, die dem Leser dann scheinbar autonom gegenüberstehen, d.h., er muß eine
fiktive Welt inszenieren. Das aber verlangt bereits, daß der Text mit den Objekten auch
ein raum-zeitliches Koordinatensystem entwirft, innerhalb dessen sie vorstellbar werde.
Näherhin wird durch räumliche Objekte (durch Figuren und die ‚Raumbühne’, auf die sie
165
gestellt werden) eine Basis für Seinsillusion gebildet.

In diesem Zitat ist eine phänomenologische Erkenntnis enthalten, die gegen Böhmes Vorstellung
der Atmosphären-Wahrnehmung, verstanden als A-priori-Wahrnehmung, eingewandt werden
muss. Auch in lebensweltlicher Wahrnehmung ist für uns Welt nicht eine unzusammenhängende
Folge von Erscheinungswirklichkeiten, die wir niemals hin zur Realität überschreiten.
Tatsächlich basiert lebensweltliche Wahrnehmung natürlich nicht auf einer philosophisch
ausgearbeiteten Ding-Ontologie (jene Zielscheibe, auf die Böhmes Ausarbeitung des
Atmosphären-Ansatzes unter anderem abzielt), doch haben wir – ab einem gewissen Lebensalter
– sehr wohl die selbstverständliche Überzeugung es mit einer von uns unabhängig bestehenden
Welt und in ihr mit den von uns unabhängig existierenden Dingen zu tun zu haben.166 Dies
jedoch nur am Rande, die kurze Erläuterung hat sich durch Wolfs Zitat gewissermaßen
aufgedrängt. Wesentlich ist jedoch, dass Wolf hier als Bedingung für die Evokation von Illusion
die Inszenierung einer fiktionalen Welt nennt. Dass eine solche Inszenierung auch stattfinden
kann, ohne dass damit schon eine leiblich-affektiv erfahrbare Textwirklichkeit konstituiert

164
Die Sachlage ist tatsächlich ein wenig komplexer als hier dargestellt. Wenn nämlich der Text die dargestellte Welt in
distanzierter Haltung darstellt, so lässt das immer noch die Möglichkeit offen, dass dadurch eine intensiv erfahrbare Erzählerfigur
charakterisiert wird – der Leser wird dann etwas erleben, was ich später Sekundär-Atmosphäre nennen möchte. Die Problematik
ergibt sich aus meinem Begriff der Textwirklichkeit, die sich ja nicht auf die dargestellte fiktionale Welt beschränkt, sondern
auch andere Textebenen als leiblich-affektiv erfahrbar versteht. Es scheint mir jedoch an diesem Punkt wichtig, die
grundsätzliche Unterscheidung zwischen Textrealität und fiktionaler Dingwelt zu etablieren, die Verfeinerung und Präzisierung
dieser Unterscheidung wird an geeigneter Stelle später vorgenommen.
165
Wolf, Illusion, S. 134f.
166
Vgl. etwa Merleau-Ponty: „Das Sehding (die fahle Scheibe des Mondes) oder Tastding (mein Schädel, wie ich ihn tastend
fühle), das sich durch eine Reihe von Erfahrungen hindurch für uns als dasselbe durchhält, ist weder ein wirklich subsistierendes
quale, noch der Begriff oder das Bewußtsein einer solchen objektiven Eigenschaft, sondern ein von unserem Blick oder unserer
Bewegung stets Wiedergefundenes oder Wiedergefaßtes, einer Frage, auf die sie mit Genauigkeit antworten. Der dem Blick oder
dem Abtasten begegnende Gegenstand erweckt eine bestimmte Bewegungsintention, die nicht auf die Bewegung des eigenen
Leibes, sondern auf das Ding selbst, in dem sie gleichsam festgemacht ist, abzielt. Indem meine Hand um das Harte und Weiche,
mein Blick um das Mondlicht weiß, verbinde ich mich in gewisser Weise dem Phänomen selbst und kommuniziere mit ihm.“
(Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung. Aus dem Franz. übers. und eingeführt durch eine Vorrede von
Rudolf Boehm. Berlin: de Gruyter 1965. (= Phänomenologisch-Psychologische Forschungen. 7.) S. 367.)

- 72 -
würde, soll in Folge anhand der Anfangspassage von Fontanes „Effi Briest“167 diskutiert
werden.168
Auf den ersten eineinhalb Seiten wird eine fiktive Bühne des Herrenhauses inszeniert, auf der in
Folge Effi und ihre Mutter vorgestellt werden und vor allem Effi als Figur charakterisiert wird.
Für die gegenwärtige Diskussion interessieren mich tatsächlich nur diese ersten eineinhalb
Seiten169 – vor dem ‚Auftritt’ von Mutter und Tochter. Innerhalb dieser Passage gibt es durchaus
‚atmosphärische Marker’, wie ich sie nennen möchte, die dazu dienen könnten, Atmosphäre zu
evozieren. Unter atmosphärischen Markern möchte ich Signifikanten verstehen, die semantisch
Ausstrahlungscharaktere, Charaktere von Atmosphären oder Erzeugende bezeichnen (ohne
tatsächlich schon Erzeugende zu sein, denn zu solchen werden sie ja erst, wenn tatsächlich
Atmosphäre evoziert wird). In „Effi Briest“ ist die Rede von „helle[m] Sonnenschein“ (Z. 3),
von einer „mittagsstille[n] Dorfstraße“ (Z. 3f.), von einem auf dem Dach „blitzenden […]
Wetterhahn“ (Z. 16f.), von „ein paar mächtige[n] alte[n] Platanen“ (Z. 26), von „dem im vollen
Schatten liegenden Fliesengange“ (Z. 34.f) und „von wildem Wein umrankte[n] Fenster[n]“ (Z.
36). Es ist weiters von einem „Teich mit Wassersteg und angeketteltem Boot“ (Z. 20f.) die Rede.
Trotz dieser Marker entstand beim Lesen dieser Passage – auch nach mehrmaligem Lesen – kein
atmosphärischer Eindruck. Ich hatte sogar arge Mühe das Dargestellte zu visualisieren, und der
Aufbau eines ausgefüllten Vorstellungsbildes vollzog sich als Dechiffrierungsarbeit. Gibt es nun
textuelle Faktoren, die dies erklären können? Mir scheint das durchaus der Fall zu sein.
„In Front des schon seit Kurfürst Georg Wilhelm von der Familie von Briest bewohnten
Herrenhauses zu Hohen-Cremmen fiel heller Sonnenschein auf die mittagsstille Dorfstraße,
während nach der Park- und Gartenseite hin ein rechtwinklig angebauter Seitenflügel einen
breiten Schatten erst auf einen weiß und grün quadrierten Fliesengang und dann über diese
hinaus auf ein großes in seiner Mitte mit einer Sonnenuhr und an seinem Rande mit Canna indica
und Rhabarberstauden besetztes Rondell warf.“ (Z. 1ff.) Bereits in diesen ersten Zeilen sind
atmosphärische Marker mit Elementen verknüpft, die mir für die Evokation von Atmosphäre
hinderlich scheinen. Es kommen schon im ersten Satz drei Namen vor, deren Zusammenhang
noch dazu durch eine komplexe syntaktische Struktur nicht auf den ersten Blick ersichtlich ist.
Ein Herrenhaus in einem gewissen landschaftlichen Zusammenhang kann leicht Atmosphäre
evozieren, doch hier ist es in einen ‚Namenszusammenhang’ gestellt, der als solcher mehr einem
167
Theodor Fontane: Effi Briest. Roman. Mit einem Nachwort von Kurt Wölfel. [Nachdruck] Stuttgart: Reclam 1994. (= UB.
6961.)
168
Implizit wird damit natürlich auch die Frage diskutiert, welche textuellen Faktoren Atmosphären-Wahrnehmung fördern –
oder, wie in diesem Fall, behindern. Die in der Folge entwickelten Indikatoren dürfen jedoch keinesfalls verabsolutiert werden.
Sie können nur als vorläufige Thesen verstanden werden, die jedoch stets durch die Erfahrung eines konkreten Textes widerlegt
werden können.
169
Ich werde einzelne Zitate durch Angabe der Zeile im Fließtext zitieren.

- 73 -
historisch-touristischen Führer entnommen scheint als einem Roman. Der Kurfürst Georg
Wilhelm mag dem Leser zu Fontanes Zeiten ein selbstverständlicher Begriff gewesen sein, der
die lange Dauer, für die das Herrenhaus bereits Sitz der Familie Briest ist, erfahrbar macht, doch
mir fehlt dieser selbstverständliche Wissenshorizont. Auch die beiden anderen Namen „Familie
Briest“ und „Hohen-Cremmen“ haben für mich keinerlei atmosphärische Aufladung, es sind für
mich schlicht neutrale Bezeichnungen. Namen drohen, indem sie die Realität und Identität von
Orten und Personen bezeichnen – und nicht deren Erscheinungswirklichkeit –, atmosphärische
Wirkung eher zu stören, vor allem dann, wenn sie nicht zu Symbolen mit eigener
Erscheinungswirklichkeit geworden sind (der Name Rothschild für Reichtum und Macht; der
Name Joseph als eher einfacher, ländlicher Name).
Die mittagsstille Dorfstraße, die das Potenzial hätte, als gestimmter Raum entwickelt zu werden,
wird in der Blickrichtung des Erzählers sofort verlassen hin zur Park- und Gartenseite. Der helle
Sonnenschein wird dort ersetzt durch einen „breiten Schatten“ (Z. 6). Doch auch dieser Schatten
wird nicht zum Erzeugenden einer eigenen Erscheinungswirklichkeit, denn das, worüber er sich
erstreckt, erscheint nicht schattig, sondern geradezu ‚unbetroffen’ vom Schatten: Die Fliesen
etwa bleiben – trotz Schatten – weiß und grün. Ebenso ergeht es allen ‚Orten’, die für sich
Atmosphäre evozieren könnten. Sie sind aufgelöst in ihren Zusammenhang zum Rest des
Anwesens und zu baulichen Komponenten des Herrenhauses selbst. Die Gesamtheit dieser
Komponenten wirkt aber nicht zu einer einheitlichen Atmosphäre zusammen – die
atmosphärische Homogenität, von der Böhme spricht, die ein Text evozieren muss, um aus
einem Nebeneinander von Gegenständen einen gestimmten Raum zu machen,170 ist hier nicht
gegeben. „[…] an Tagen aber, wo die Sonne niederbrannte, wurde die Gartenseite ganz
entschieden bevorzugt, besonders von Frau und Tochter des Hauses, die denn auch heute wieder
auf dem im vollen Schatten liegenden Fliesengange saßen, in ihrem Rücken ein paar offene, von
wildem Wein umrankte Fenster, neben sich eine vorspringende kleine Treppe, deren vier
Steinstufen vom Garten aus in das Hochparterre des Seitenflügels hinaufführten.“ (Z. 31ff.) Der
vor der brennenden Sonne schützende, schattige Platz wird sofort ‚neutralisiert’ durch seine
Öffnung hin zum Hochparterre des Seitenflügels.171 Der Erzählerblick bietet dem Leser wenig
Möglichkeit einen gestimmten Raum zu konstituieren, sondern evoziert eher so etwas wie einen
mit konkreten Eindrücken aufgefüllten Lageplan des herrenhäuslichen Anwesens. Neben den
atmosphärischen Markern sind auf diesen eineinhalb Seiten beinahe genauso viele Marker eines

170
Vgl. Böhme, Raum des Gedichts, S. 105f.
171
Für den heutigen Leser bedeuten sicherlich auch Ausdrucksweisen wie „wurde […] entschieden bevorzugt“ eine starke
Neutralisierung eines möglichen atmosphärischen Eindrucks. Das Passiv ist geradezu Inbegriff einer distanzierenden Sprache.
Jedoch spielt gerade bei solchen sprachlichen Details der kulturelle Wissenshorizont eine besondere Rolle, weshalb ich in Bezug
auf diesen Text zögere die Betrachtung des ‚Stils’ in die Diskussion mit hineinzunehmen.

- 74 -
‚geometrischen’ Raumes zu finden: „ein rechtwinklig angebauter Seitenflügel“ (Z. 5f.), „einige
zwanzig Schritte weiter, in Richtung und Lage genau dem Seitenflügel entsprechend“ (Z. 10ff.),
„Fronthaus, Seitenflügel und Kirchhofsmauer bildeten ein einen kleinen Ziergarten
umschließendes Hufeisen“ (Z. 17ff.), von der Schaukel wird gesagt, dass „deren horizontal
gelegtes Brett zu Häupten und Füßen an je zwei Stricken hing“ (Z. 22f.), und in Bezug auf eine
Treppe sagt der Erzähler, dass sie „vier Steinstufen“ hat (Z. 37f.). Wie Ströker betont, spielen
jedoch für den gestimmten Raum messbare Abstände, geometrische Anordnungen etc. keine
Rolle.172 Wenn man der Illusionstheorie darin folgt, dass eine gewisse Nähe zu lebensweltlicher
Wahrnehmung illusionsbildende Wirkung fördert, so kann man folgern, dass Marker, die einen
geometrischen Raum bezeichnen, das Erleben eines gestimmten Raumes massiv stören.
Auch scheint die Tatsache, dass der Erzähler einen allgemeinen Eindruck des Anwesens geben
möchte und nicht eine momentane Erscheinungswirklichkeit – zumindest in diesem Fall –, die
Evokation einer Atmosphäre zu stören. Immer wieder sind einzelne Kommentare eingestreut, die
‚nur’ Information vermitteln: etwa wenn es heißt, dass der Wetterhahn „neuerdings“ (Z. 16)
wieder vergoldet ist. Das Anwesen wird überblicksmäßig betrachtet: An Tagen mit bewölktem
Himmel sitzt man lieber an der Frontseite (vgl. Z. 29), gleich darauf wird ergänzt, dass man
jedoch an heißen Tagen den Garten bevorzugt (vgl. Z. 31f.).

Für den narrativen Text läßt sich […] eine besondere Nähe zur alltäglichen Erfahrung
dann erzielen, wenn Erzählsituation und -perspektive die subjektive Begrenztheit
lebensweltlichen In-der-Welt-Seins möglichst weitgehend imitieren. Das heißt konkret,
daß als Perspektivträger innerdiegetische Figuren (womöglich ‚mittlere Helden’ bzw.
Reflektorfiguren) aufgrund ihres lebensecht lückenhaften Wissens und ihrer
eingeschränkten, ‚partiellen’ Sicht einem extradiegetischen Perspektivträger vorzuziehen
sind, der aus ‚olympischer’ Warte und dem entsprechenden Wissen etwa eines auktorialen
173
‚omniscient narrator’ die Textwelt zur Anschauung bringt.

Dies scheint mir zuzutreffen, wenn man einen Erzähler in seiner Funktion als Vergeber von
Informationen betrachtet, jedoch nicht unbedingt, wenn man ‚den Ort seines Blickes’ meint. Der
Erzähler in „Effi Briest“ ‚schwebt’ über dem Anwesen, er überblickt es quasi aus der
Vogelperspektive, erkennt geometrische Anordnung, kann problemlos von der Front des
Herrenhauses auf dessen Rückseite springen. Doch dies allein scheint mir noch nicht
ausschlaggebend für das Fehlen von Textwirklichkeit, für die Störung der Evokation von
Atmosphäre. Man denke etwa an einen Erzähler, der über einen zerstörten, verrottenden
Landstrich ‚hinwegzieht’. Mir scheint das Vorhandensein von Markern des ‚geometrischen
Raumes’ und das Fehlen eines ‚atmosphärischen Sinnzentrums’ hier vor allem ausschlaggebend.

172
Vgl. Ströker, Raum, S. 31ff.
173
Wolf, Illusion, 159.

- 75 -
Die Anfangspassage von „Effi Briest“ inszeniert zweifellos eine fiktionale Bühne, diese wird
jedoch als fiktionale Dingwelt und nicht als Erscheinungswirklichkeit arrangiert. Die
Beschreibung evoziert beim Leser den Glauben an eine autonome fiktionale Welt (fiktionale
Realität) – „Seinsillusions“, wie es bei Wolf heißt –, ohne dass diese jedoch in der diskutierten
Passage als sinnliche Erscheinungswirklichkeit präsent würde.

4.2.3. Evozieren von Atmosphäre / Konstatieren von Atmosphäre

Im vorangegangenen Kapitel ging es unter anderem darum herauszustellen, dass es Formen der
Inszenierung der fiktionalen Welt gibt, die das Erleben einer Atmosphäre fördern oder stören
können. Dabei stellte sich als vorläufige Annahme heraus, dass atmosphärische Marker, die rein
aufgrund ihrer Semantik atmosphärisches Eindruckspotenzial haben, dann zu Erzeugenden
werden, wenn sie zu einem homogenen gestimmten Raum zusammenwirken174 und sich darüber
hinaus nicht durch Marker des geometrischen Raumes oder durch stimmungsneutrale Namen
und Ähnliches eine Störung ihrer Wirkung ergibt. Reicht es also, um Atmosphäre zu evozieren,
aus, wenn ein Erzähler von Atmosphäre (und nichts anderem) spricht?
Immer wieder betont Böhme die Problematik Atmosphäre sprachlich adäquat zu erfassen.
Sprache tendiert per se zu Vergegenständlichung. Sätze, die normalerweise herangezogen
werden, um typische Wahrnehmungsereignisse darzustellen, bezeichnen ein wahrnehmendes
Subjekt (z.B: „ich“), ein Verb der Wahrnehmung (z.B.: „sehen“) und ein Objekt (z.B. „Baum“).
Solche Sätze sind wenig geeignet, um Atmosphäre zu evozieren. Doch auch Sätze, die sich nicht
auf ein typisches Ding, sondern auf Atmosphären als Gegenstand der Wahrnehmung richten, wie
etwa „Ich erlebe eine heitere Atmosphäre“ scheinen mir wenig Atmosphäre zu evozieren. Dass
ein Text Atmosphäre oder atmosphärisches Erleben darstellt, scheint nicht auszureichen, um für
den Leser Atmosphäre zu evozieren. Atmosphären können zum Thema der Rede gemacht
werden, ohne dass diese Darstellung selbst schon Atmosphäre evozieren würde. Sprache kann
Atmosphäre zum Thema machen und konstatieren, ohne sie deshalb schon zu evozieren.
Zwischen der Darstellung von Atmosphäre und der Evokation von Atmosphäre ist zu
unterscheiden. Eine anfängliche These von mir – in Analogie zu Wolfs Feststellung, dass ein
Text, um illusionsbildend zu wirken, lebensweltliche Wahrnehmung möglichst imitieren muss –
bestand darin, zu vermuten, dass Texte, die intensive Atmosphäre evozieren, den Erzähler oder
die erlebende Figur sowie die präsentierte Welt ‚verungegenständlichen’. Ein besonders

174
Dabei ist zu betonen, dass dieser nicht auf eine Szene innerhalb der fiktionalen Welt beschränkt bleiben muss. Dazu jedoch
später.

- 76 -
markantes Beispiel wie solche ‚Verungegenständlichung’ aussehen könnte, liefert die
Anfangspassage von Büchners „Lenz“: „Den 20. ging Lenz durchs Gebirge. Die Gipfel und
hohen Bergflächen im Schnee, die Täler hinunter graues Gestein, grüne Flächen, Felsen und
Tannen. Es war nasskalt, das Wasser rieselte die Felsen hinunter und sprang über den Weg. Die
Äste der Tannen hingen schwer herab in die feuchte Luft. Am Himmel zogen graue Wolken,
aber alles so dicht, und dann dampfte der Nebel heraus und strich schwer und feucht durch das
Gesträuch, so träg, so plump.“175 Zwar wird im ersten Satz ein neutrales Datum angegeben und
die Hauptfigur benannt, doch in den darauffolgenden Sätzen ist diese als Subjekt der
Wahrnehmung nicht mehr vorhanden. Dem Leser wird die Welt ohne das ‚Dazwischenschalten’
eines wahrnehmenden Subjekts präsentiert. Die fiktionale Welt ihrerseits ist keine Welt
distinkter Objekte. Der Nebel, die Feuchtigkeit, die Massivität der Luft löst die Konturen auf und
alles scheint ineinander zu gleiten und zu verschwimmen: Felsen, Tannenäste, der Gehweg. Es
stellte sich jedoch heraus (wie auch im anschließenden Analyseteil deutlich werden wird), dass
die Auflösung des explizierten wahrnehmenden Subjekts im Text und die Auflösung der
eindeutig lokalisierbaren Dinglichkeit der dargestellten Gegenstände viel zu eng gefasste
Kriterien sind, um zwischen der Darstellung und der Evokation von Atmosphäre zu
unterscheiden. Zwar mag die ständige Thematisierung eines wahrnehmenden Subjekts und die
Explizierung seines Erlebens einer Atmosphäre bis zu einem gewissen Grad stören, doch
zwischen dem bloßen Benennen und damit Konstatieren einer Atmosphäre („Damals herrschte
eine heitere Atmosphäre“) und einer Textpassage wie jener Büchners liegt ein breites Kontinuum
an Möglichkeiten der Textgestaltung zwischen der Darstellung und der Evokation von
Atmosphäre. Es gilt jedoch – um zur eingangs gestellten Frage zurückzukehren –, dass es für die
Evokation von Atmosphäre sicher noch nicht ausreicht, wenn ein Text über Atmosphäre spricht.
Auch das ‚Auseinanderfalten’ der in der Benennung „heitere Atmosphäre“ völlig
vergegenständlichten Atmosphäre zu einer Reihe von atmosphärischen Markern ist zwar
sicherlich ein wesentlicher Schritt, reicht aber alleine für sich noch nicht aus um Atmosphäre zu
evozieren. Selbst dann kann nämlich durch die Art der Vermittlung des Erzählers die
atmosphärische Wirkung gestört werden. In diesem Zusammenhang soll noch einmal die im
Abschnitt 2.4. zitierte Passage von Hirschfeld betrachtet werden: Diese Passage besteht aus
nichts Anderem als dem Arrangement atmosphärischer Marker (immerhin geht es Hirschfeld ja
darum Erzeugende von Atmosphäre zu beschreiben) und doch evoziert der Text kaum
Atmosphäre. Zum einen liegt das sicher daran, dass dieser Text als theoretischer Text rezipiert

175
Georg Büchner: Lenz. In: G. B.: Lenz. Der Hessische Landbote. Nachwort von Martin Greiner. [Nachdruck] Stuttgart:
Reclam 2002. (= UB. 7955.) S. 3-33, S. 3.

- 77 -
wird, die Haltung des Lesers ist damit automatisch eher eine ‚hermeneutische’ – er will den Text
verstehen und erwartet gar nicht, dass es hier etwas zu erleben gibt. Mir scheint jedoch, dass
auch wenn diese Passage ein Ausschnitt aus einem literarischen Text wäre, die evozierte
Atmosphäre – sofern überhaupt vorhanden – nicht besonders intensiv wäre. „Die
sanftmelancholische Gegend bildet sich durch Versperrung aller Aussicht“ Der erste Satz wirkt
bereits distanzierend, das Sanftmelancholische wird als solches benannt und vergegenständlicht.
Doch dies schließt nicht aus, dass die Vergegenständlichung der Atmosphäre später aufgelöst
wird und der Text Wirklichkeit entfaltet – Wolf betont, dass einzelne Störungen der
Illusionsbildung diese nicht nachhaltig beeinträchtigen, gleiches gilt für Atmosphären. Doch die
Benennung der Atmosphäre wird durch die Syntax Hirschfelds immer ‚weitergetragen’. Die
atmosphärischen Marker werden bei ihm nicht zu Erzeugenden einer Textwirklichkeit, weil sie
über mehr als die Hälfte der kurzen Passage durch die einleitende Präposition „durch“ stets auf
die „sanftmelancholische Gegend“ syntaktisch bezogen bleiben. Das dicke Gebüsch und Gehölz,
die Wipfel und dumpfmurmelnden Bäche werden dem Leser nicht als solche präsentiert, sondern
stets als das, wodurch die sanftmelancholische Gegend gebildet wird: „Die sanftmelancholische
Gegend bildet sich durch Versperrung aller Aussicht; durch Tiefen und Niedrigungen; durch
dickes Gebüsch und Gehölz [usw.]“. Im zweiten Teil des Abschnitts fehlt die Präposition
„durch“, doch die Evokation der Atmosphäre wird hier wiederum (wenn auch weniger als in der
ersten Hälfte) gestört durch die verallgemeinernde Einleitung „In einer solchen Gegend […]“
und durch die abschließende, wiederum verallgemeinernde Bemerkung „[…] ist zur
Ausstaffierung der Scene schon hinreichend.“ Diese die sinnlichen Eindrücke
zusammenfassenden und konstatierenden Kommentare stören die Evokation von Atmosphäre,
weil sie eine distanzierte Haltung gegenüber dem Dargestellten indizieren, die der Leser, der sich
mit dem hier inszenierten ‚point of view’ identifiziert176, übernehmen muss. Der Versuch diese
Passage zu erleben, wird vielleicht aufgrund der Dichte der atmosphärischen Marker nicht völlig
ins Leere laufen, jedoch erheblich gemindert sein – und das obwohl das einzige Thema des
Textes Atmosphäre ist.

176
Zur Rolle der Identifikation mit einem textlichen Perspektivezentrum vgl. Wolf, Illusion, S. 109. Freilich steht bei Wolf eine
solche Identifikation eher im Zeichen der Illusionsbildung – der Leser übernimmt einen ‚point of view’ und wird so Teil der
fiktionalen Welt, doch wie bereits erläutert, bedeutet das noch nicht, dass die dargestellte Welt deshalb schon atmosphärische
Wirkung entfalten muss. Zwar sind wir bei der Lektüre der Passage von Hirschfeld mit einer dargestellten Welt, die wir uns auch
vorstellen können, konfrontiert – und nicht etwa mit einem abstrakten begrifflichen Schema von Atmosphäre-Erzeugenden –
doch die atmosphärische Wirkung dieser Welt ist durch die ‚Erzähler’-Kommentare erheblich gemindert. Geradezu
paradoxerweise begegnet uns hier Atmosphäre als Teil einer dargestellten Dingwelt.

- 78 -
4.2.4. Dynamik und Statik – Narration und Deskription

In den vergangenen Abschnitten wurde von Atmosphäre stets in Zusammenhang mit


Deskriptionen in literarischen Texten gesprochen, in Zusammenhang mit dem Aufbau einer
fiktionalen Welt als ‚Bühne’. Es wurde jedoch nicht auf das Geschehen eingegangen, das sich
auf dieser Bühne abspielen kann. Wolf spricht im Zusammenhang des Prinzips der
Medienadäquatheit davon, dass in der Sprache als narrativem Medium – vor allem gilt das
natürlich für erzählende Texte – „Geschehensillusion“ (erzeugt durch die dynamischen Elemente
der Narration) gegenüber der „Seinsillusion“ (erzeugt durch statische Elemente der Deskription)
überwiegen muss, um insgesamt die Erlebnisillusion aufrechtzuerhalten.177 Wo Deskriptionen die
Narration überwuchern, droht eine Störung der illusionsbildenden Wirkung. Tatsächlich ist wohl
davon auszugehen, dass leiblich-affektives Erleben, das mit Geschehenszusammenhängen
verbunden ist (ein typisches Beispiel wäre hier Spannung), um einiges intensiver erlebt wird als
jenes Erleben, das mit Deskriptionen verbunden ist. Es ist jedoch kein Zufall, dass ich trotzdem
bisher ausschließlich beschreibende Elemente an Texten untersucht habe. Meiner Ansicht nach
ist der Atmosphären-Begriff von Böhme – so wie er ihn ausgearbeitet hat178 – nicht gut geeignet,
um dynamische Elemente von Texten zu fassen zu bekommen. Ich bin hier damit an einem
Punkt angelangt, an dem die Grenzen des Atmosphären-Ansatzes besonders deutlich werden,
denn offenkundig wird der Geltungsbereich der hier angedachten Analysemethode erheblich
eingeschränkt, wenn man alle dynamischen Textelemente, alle Momente des Ereignishaften in
Texten als Untersuchungsbereich ausschließt. Es ist dies gleichzeitig der Punkt, an dem das
Fehlen von Atmosphäre nicht ein Fehlen von textuellen Faktoren, die leiblich-affektives Erleben
fördern, bedeutet, sondern an dem Formen des leiblich-affektiven Erlebens von Texten als nicht
mehr mit dem Begriff der Atmosphäre fassbar betrachtet werden. Es geht hier nicht darum zu
sagen, dieses und jenes an einem Text scheint mir kaum leiblich-affektives Erleben zu evozieren,
sondern es geht mir darum zu sagen, dies und jenes kann offenkundig leiblich-affektives Erleben
evozieren, aber es ist ein Erleben, das sich nicht als Atmosphären-Wahrnehmung beschreiben
lässt. Was bringt mich dazu diese Unterscheidung und diesen Ausschluss vorzunehmen?
Der Grund dafür liegt schlicht darin, dass Böhme den Atmosphären-Begriff a-zeitlich entwickelt.
Zwar ist Atmosphäre, als Phänomen, das streng an aktuelles Erleben gebunden ist, implizit auch
in der Zeit erstreckt – das Erleben einer Atmosphäre dauert –, doch das bedeutet noch nicht, dass

177
Vgl. Wolf, Illusion, S. 97ff.
178
Ich füge das immer wieder hinzu. Der Grund dafür liegt in der bereits mehrfach in Anmerkungen besprochenen Diskrepanz
zwischen seiner offenkundigen Intention Atmosphären als A-priori der Wahrnehmung zu entwickeln und seinem ‚tatsächlichen’
Ansatz, so wie er ihn entwickelt.

- 79 -
Zeitlichkeit selbst deshalb schon leiblich-affektiv erlebt würde. Ebenso gilt, dass Böhme zwar
immer wieder davon spricht, dass das Verklingen von Glocken zu einer abendlichen Atmosphäre
beiträgt,179 doch auch dieses Verklingen ist gewissermaßen eine atmosphärische Qualität als
solche und wird nicht verstanden als das Ereignis, das darin besteht, dass die Glocken
irgendwann zu läuten aufhören. Was genau verstehe ich nun aber unter Erleben von Zeitlichkeit?
Tatsächlich kann ich nicht genau fassen, was darunter zu verstehen ist – hätte ich eine
ausgearbeitete Theorie des Phänomens Zeit, könnte ich Böhmes Ansatz einfach darum erweitern
und dynamische Elemente von Texten wären innerhalb meines Ansatzes fassbar –, aber ich
möchte einige Ansatzpunkte nennen. Wolf nennt in seinen Ausführungen zu lebensweltlicher
Wahrnehmung Zeit neben Raum als Grundkategorie der Erfahrung.180 Zeitlichkeit bedeutet hier
Kausalität – die selbstverständliche Annahme, dass Ereignisse nicht nur hintereinander
geschehen, sondern auch als Ursache und Wirkung miteinander verknüpft sind. Weiters nennt er
hier die ‚geschichtenhafte’ Organisation unserer Erfahrung. Wir erleben nicht nur eine endlose
Kette von kausalen Abfolgen, sondern für uns ist auch der Anfang und das Ende von etwas
selbstverständlicher Teil der Erfahrung. Hinzufügen könnte man auch das Erwarten von etwas
(hier ist die Rolle leiblich-affektiven Erlebens besonders deutlich). Wir erleben nicht nur im
Jetzt, sondern verstehen uns immer schon im Bezug auf Vergangenheit und Zukunft. Man könnte
die Vermutung anstellen, dass Böhmes Ausklammerung der Zeit sich erklären lässt durch die
Ausklammerung des engen Zusammenhanges von Wahrnehmung und Handeln. Möglicherweise
lässt sich unser Zeiterleben in engem Zusammenhang damit verstehen, dass wir immer schon
nicht nur wahrnehmende, sondern auch handelnde Wesen sind. In der Handlung antizipieren wir
immer schon das Zukünftige, das wir erwarten, bewirken oder aber vermeiden wollen.181
Atmosphären-Erleben, so wie es Böhme beschreibt, ist jedoch immer auf Gegenwärtiges
gerichtet. Dies lässt sich anhand der Atmosphäre der Bedrohlichkeit zeigen. Bedrohlichkeit ist
offenkundig ein Phänomen an der äußersten Grenze zum Erleben von Zeit. Und doch würde man
von einer bedrohlichen Atmosphäre dann sprechen, wenn die vorhandene Umgebung
Bedrohlichkeit ausstrahlt. Die Erzeugenden dieser Atmosphäre der Bedrohlichkeit werden dabei
zum Teil auch solche sein, die als Anzeichen fungieren für etwas, dessen Ankunft als bedrohlich
betrachtet wird. Sobald jedoch die Situation vor allem mehr betrachtet wird in Hinblick auf das

179
Vgl. etwa Böhme, Atmosphärisches, S. 66.
180
Vgl. Wolf, Illusion, S. 84f.
181
Vgl. dazu etwa: „Der Begriff ‚Handeln’ soll hier menschliches Verhalten bezeichnen, das vom Handelnden im voraus geplant
ist, also ein auf einen vorgefaßten Entwurf gegründetes Verhalten. […] Jedes Entwerfen besteht im phantasierenden,
vorstellenden Erwarten zukünftigen Verhaltens;“ (Alfred Schütz: Wissenschaftliche Interpretation und Alltagsverständnis
menschlichen Handelns. In: A. S.: Gesammelte Aufsätze. Bd. 1: Das Problem der sozialen Wirklichkeit. Mit einer Einf. von Aron
Gurwitsch und einem Vorwort von H. L. Breda. Aus dem Amerik. übers. von Benita Luckmann und Richard Grathoff. Den
Haag: Nijhoff 1971, S. 3-54, S. 22.)

- 80 -
Kommende, das sich in ihr ankündigt, richtet sich das Erleben auf dieses Kommende und wendet
sich daher gerade ab von der gerade herrschenden Atmosphäre. Das Kommende ist nicht mehr –
besser gesagt noch nicht – Teil der gegenwärtig herrschenden Atmosphäre und sobald das
Kommende da ist, wird die Atmosphäre umschlagen. Es ist möglich, dass eine Urwald-
Umgebung als bedrohliche Atmosphäre geschildert ist (vgl. etwa Joseph Conrads „Heart of
Darkness“). Wenn jedoch die Bedrohlichkeit darauf ausgerichtet ist und sich daher speist, dass in
den nächsten Augenblicken ein Tiger aus dem Dickicht hervorspringt, ist die Wahrnehmung
nicht mehr primär auf die Bedrohlichkeit der präsenten Umwelt gerichtet, sondern auf das
Auftauchen des Tigers als zukünftiges, befürchtetes Ereignis. Um ein anderes, hinsichtlich der
Unterscheidung einer atmosphärischen Bedrohlichkeit und einer Bedrohlichkeit als Erwartung
des Zukünftigen noch problematischeres Beispiel zu nennen: Die bedrohliche Atmosphäre vor
einem Gewitter erhält ihre Bedrohlichkeit zweifellos auch aus der Tatsache, dass wir wissen,
dass sich hier ein Gewitter ankündigt. Doch wenn wir unsere Wahrnehmung auf das kommende
Gewitter ausrichten und uns deshalb etwa Unterstand suchen, entfernt sich unsere Wahrnehmung
von der reinen atmosphärischen Wahrnehmung. Und sobald das Gewitter eingetroffen ist, wird
auch die Atmosphäre der Bedrohlichkeit in sich zusammenfallen und durch eine andere, eine
Gewitteratmosphäre, ersetzt werden. Dabei kann diese Aufeinanderfolge mit Böhmes
Atmosphären-Begriff nicht als zeitliche Kontinuität verstanden werden, als ein Erleben, in dem
verschiedene Gestimmtheiten als ‚geschichtenhafte’ Einheit erlebt werden, sondern ein Wechsel
von einer Atmosphäre zu einer anderen kann bei ihm immer nur als ‚Umschlagen’ begriffen
werden. Atmosphärisches Erleben ist auf die Gegenwart gerichtet und Atmosphäre als
Gegenstand der Wahrnehmung ist selbst etwas Statisches. Unterschiedliche Atmosphären
können sich aneinanderreihen, sie können ineinander umschlagen, doch können sie niemals als
integrale Momente eines Geschehens erfasst werden. Es ist immer nur eine nach der anderen –
ohne kausale Verbindungen, ohne Anfang und Ende einer Ereignisfolge, ohne Geschichte.182
Atmosphären als Gegenstände sind etwas Statisches, so können auch Handlungen,
Ereignisfolgen nicht adäquat über den Begriff der Atmosphäre gefasst werden. Natürlich gehen
auch Handlungen, Bewegungen als Erzeugende in das Erleben einer Atmosphäre ein, doch eben
gerade nicht in ihrer spezifischen Zeitlichkeit. Die belebte Atmosphäre eines Marktplatzes ist
natürlich durch allerlei Treiben geprägt, doch die Atmosphäre selbst immer eben trotzdem nur

182
Als weiterer Beleg dafür, dass Böhme Zeitlichkeit in seinem Entwurf nicht mit bedenkt, kann die Tatsache angeführt werden,
dass er zwar an zahlreichen Stellen davon spricht, dass Ekstasen von Gegenständen miteinander interferieren, nicht als eins neben
dem anderen wahrgenommen werden, sondern in der Einheit, die sie schaffen (und die auch die Qualität der einzelnen Ekstasen
selbst modifiziert), an keiner Stelle spricht er jedoch davon, dass Atmosphären in ihrer zeitlichen Abfolge in ähnlicher Weise
interferieren. Die Rede von der Ruhe vor dem Sturm bezeichnet nicht nur einen bedrohlichen Anteil an einer gegenwärtigen
Stille, sondern lässt auch die Tatsache anklingen, dass Gewaltiges nach einer ruhigen, sanften Atmosphäre umso gewaltiger
erscheint.

- 81 -
die homogene und konstante Atmosphäre der Belebtheit. Handlungen gehen in sie nicht in Form
eines Vorher und eines Nachher ein, eines Ereignisses oder Geschehens, sondern als Erzeugende,
für die jede zeitliche Dimension irrelevant ist.

4.3.5. Identifikation und Atmosphäre

Der gängige Begriff, um Emotionalität beim Erleben von literarischen Texten zu thematisieren,
ist jener der Identifikation. Da Identifikation analog zur Alltagssprache dabei eher verstanden
wird als das Sich-Hineinversetzen in eine Figur, ist der Atmosphären-Begriff offensichtlich
geeigneter, um andere Formen der affektiven Teilnahme, des affektiven Erlebens eines Textes zu
thematisieren. Man könnte also eine Unterscheidung vorschlagen zwischen Identifikation –
leiblich-affektives Erleben, das evoziert ist durch das geschilderte Erleben einer Figur – und
Atmosphärenwahrnehmung – leiblich-affektivem Erleben, das durch anderes als eine Figur
evoziert ist. Tatsächlich scheint mir diese Trennung jedoch problematisch. Eine der Leistungen
des Atmosphären-Begriffs scheint mir gerade zu sein, dass er die Frage ins Blickfeld rückt,
wodurch das ‚Mitleben’ mit einer Figur evoziert wird. Häufig ist es nämlich gerade so, dass das
Erleben oder die Befindlichkeit einer Figur in einem Text ‚versinnlicht’ wird, das heißt, nicht
(nur) vermittelt wird durch das Reden über die Gefühle der Figur, sondern etwa dadurch, dass
die Umwelt der Figur atmosphärisch deren Befindlichkeit widerspiegelt. Ein typisches Beispiel
hierfür wären „Die Leiden des jungen Werthers“ von Goethe. Doch auch wenn die
Befindlichkeit einer Figur nicht ‚veräußerlicht’ wird, innerlich bleibt, wird dieses Innenleben
häufig über Vergleiche fühlbar gemacht, die große Nähe zu atmosphärischen Phänomenen
aufweisen: „Er merkt jetzt eindeutig die Wirkung des Laufens, spürt, wie in ihm, ausgehend von
den Beinen und Ohren, dieses Gerüst wächst, das ihn stützt. In Windeseile hat es Ausläufer
gebildet, winzige blanke Drahtgeflechte, die sich um seine Nervenbahnen legen.“183 Nicht
umsonst wird für das Innere der Menschen häufig die Metapher „Seelenlandschaft“ verwendet.
Man könnte hier einwenden, dass solche ‚Versinnlichungen’ ja eben gerade nur metaphorische
sind. Das Innenleben eines Menschen im eigentlichen Sinne ist nicht als Atmosphäre
wahrnehmbar, da Atmosphärenwahrnehmung eben auf Wahrnehmbares und damit Äußerliches
gerichtet ist. Diese Argumentation ist jedoch problematisch. Ich versuche den Atmosphären-
Begriff ja gerade nicht auf die dargestellte Welt, verstanden in totaler Analogie zur ‚realen’
Welt, zu beschränken. Versinnlichtes Innenleben kann meiner Ansicht nach sehr gut mit dem
Konzept der Atmosphäre analysiert werden.

183
Paulus Hochgatterer: Die Süße des Lebens. Roman. Wien: Deuticke 2006, S. 16.

- 82 -
Trotzdem bleibt eine eindeutige Abgrenzung zwischen Identifikation und Atmosphäre schwierig.
Die Diskussion dieser Frage fällt umso schwerer, als Böhme an keiner Stelle das Erleben des
anderen und das Verhältnis des eigenen Erlebens zum Erleben des anderen thematisiert. Man
könnte dies darauf zurückführen, dass Identifikation insgesamt durch den Begriff der
Atmosphäre ersetzt werden sollte, da wir ja lebensweltlich das Erleben des anderen tatsächlich
nur durch sein Äußeres erfahren. Wir erfahren sein Innenleben nur, indem wir es als seine
Ausstrahlung erfahren. Diese Argumentation ist jedoch wenig tragfähig. Zum einen stimmt sie
schon nicht für lebensweltliche Erfahrung. Wir können uns sehr gut einfühlen in die
Befindlichkeit eines anderen, etwa wenn wir erfahren, dass eine geliebte Person des anderen
verstorben ist. Wir können uns hier auch dann einfühlen, wenn der andere gar nicht anwesend
ist. Identifikation und Empathie haben viel damit zu tun, dass man sich ‚an die Stelle des anderen
versetzt’, und nicht unbedingt damit, dass man die Ausstrahlung des anderen erfährt. Hinzu
kommt, dass diese vermeintliche Beschränkung auf das äußerliche Erscheinen bei literarischen
Texten ja eben gerade nicht zutrifft. Wir erleben die Atmosphäre, die in einer dargestellten Szene
herrscht, häufig nicht nur durch die Gestaltung einer Umwelt, sondern auch dadurch, dass uns
die Befindlichkeit einer Figur geschildert ist. Sollte man also überall dort, wo der Fokus des
Textes auf der Befindlichkeit einer Figur liegt, von Identifikation statt von Atmosphäre
sprechen? Zitate, wie jenes aus Hochgatterers „Die Süße des Lebens“, lassen eine solch strikte
Trennung problematisch erscheinen. Diese Problematik wird auch in meiner Analyse der
Anfangspassage von Ransmayrs „Der fliegende Berg“ deutlich werden, in der die herrschende
Atmosphäre vor allem auch die Befindlichkeit des Ich-Erzählers ist. Bei der Schilderung von
Figuren ist man im Normalfall mit einem Ineinander von Außen und Innen konfrontiert, dass
eine Unterscheidung Identifikation (als Mit-Fühlen) und Atmosphäre (als erlebte Ausstrahlung
einer Figur oder deren Umwelt) unmöglich macht.
Es scheint mir jedoch einen Pol des Kontinuums zwischen Atmosphäre und Identifikation zu
geben, in der leiblich-affektives Erleben eines Textes eindeutig als Identifikation bezeichnet
werden muss, jedenfalls solange der Begriff der Atmosphäre nicht das Erleben von Zeit und
Handlung einschließt. Das lebensweltliche Beispiel der verstorbenen geliebten Person führt
genau in diese Richtung. Denn wieder ist es hier ja ein Ereignis, ein Geschehen, dass diese Form
des Miterlebens evoziert. Der Begriff der Identifikation muss auf jene Fälle angewandt werden,
in denen das Mitleben mit einer Figur an einen dynamischen Geschehenszusammenhang
gebunden ist, in dem eine Figur entweder handelt oder etwas erleidet. Auch scheint mir der
Begriff der Identifikation geeignet, wo sich der Leser affektiv zu Normen oder Meinungen einer
Figur verhält, sie ablehnt oder (selbst wenn dies nur spielerisch und für den Zeitraum der Lektüre

- 83 -
der Fall sein sollte) annimmt. In gewissem Sinne gehören Normen und Werthaltungen von
Figuren ja zur Realität eines Textes und nicht zu dessen Erscheinungswirklichkeit. Normen und
Werte sind als solche nicht wahrnehmbar und der Leser muss stets (außer sie sind als solche
expliziert) von Handlungen oder Äußerungen einer Figur auf deren Haltung zurückschließen.
Ein weiterer Fall, auf den der Begriff der Identifikation wohl treffender anzuwenden ist als jener
der Atmosphäre, ist einer, in dem tatsächlich nur das Gefühlsleben einer Figur geschildert ist,
ohne dass dieses Gefühlsleben in irgendeiner Weise versinnlicht wäre („Er war sehr traurig.“).
Trotz dieses Versuchs Fälle zu fassen, in denen eindeutig von Identifikation gesprochen werden
muss, bleibt eine Grenzziehung zwischen Atmosphäre und Identifikation problematisch.
Insgesamt scheint mir das Problem der Unterscheidung zwischen Identifikation und
Atmosphären-Erleben hier nur angedacht und kaum gelöst zu sein. Ein weiterer Schritt in diese
Richtung wäre eine ausführliche Analyse des Identifikationsbegriffs, so wie er gegenwärtig in
der Literaturwissenschaft verwendet wird184, auch hierfür gilt jedoch, dass mir eine solche
Untersuchung im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht möglich ist. Was bleibt ist die
Überzeugung, dass die Rede von Atmosphären eine Perspektive auf die Darstellung des Erlebens
von Figuren (das Verschwimmen von Innen und Außen; die Versinnlichung von Erleben) und
deren Vermittlung an den Leser eröffnet, die bei der Verwendung des Begriffs der Identifikation
eher verdeckt bleibt.

184
Wolf etwa betont, dass der Begriff der Identifikation im Rahmen der Illuionstheorie ausgeweitet werden muss – etwa zum
Begriff der Empathie, zur Bewunderung, zum Interesse und zu Mitleid – und gerade nicht bloß als Einfühlung in eine Figur
verstanden werden soll. Auch dient ihm der Begriff der Identifikation zur Bezeichnung der Übernahme der illusionistischen
Perspektivik des Textes durch den Leser. (Vgl. Wolf, Illusion, S. 109.)

- 84 -
5. Analyseteil

Die Analysen, die hier versucht werden sollen, verstehen sich nicht als erste Resultate einer voll
entwickelten Methodik, sondern gewissermaßen noch als Teil der theoretischen Grundlegung
selbst. Zwar sollen im ersten Teil dieses Kapitels einige mögliche Fragestellungen und Begriffe
entwickelt werden, die als Leitfäden und als ‚Zentren’ von Atmosphären-Analysen dienen
können und insofern eine Art methodischen Grundstock liefern, doch werden mir meine
Analysen auch immer wieder dazu dienen, Vorteile und Schwächen des Atmosphären-Ansatzes
zu diskutieren sowie die theoretischen Vorarbeiten der vorangegangenen Kapitel im Konkreten
nachzuvollziehen, zu veranschaulichen und auf die in diesem Zusammenhang nach wie vor
bestehenden Probleme hinzuweisen.
Es wurde bereits mehrfach erwähnt, dass es mir bei der Analyse von Atmosphären, die von
Texten evoziert werden, nicht darum geht, den Charakter dieser oder jener Atmosphäre
herauszuarbeiten, zu deuten. Wie Schouten in Bezug auf ihre Arbeit treffend formuliert hat:
„Mein Ziel liegt […] nicht in der Bestimmung verschiedener Charaktere der Atmosphäre in
unterschiedlichen Aufführungen (etwa ihre Heiterkeit oder Bedrohlichkeit). Diesen [!] vermag
sich der Zuschauer in Reflexion auf sein eigenes Gespür selbst zu versichern.“185 „Wichtig ist
[…], daß man den Charakter einer Atmosphäre nur bestimmen kann, indem man sich ihr
aussetzt. Er ist nicht von einem neutralen Beobachterstandpunkt aus festzustellen, sondern nur in
affektiver Betroffenheit“186, betont Böhme. Niemand kann einem Leser verbieten, diese oder jene
Atmosphäre beim Lesen eines Textes zu verspüren, und niemand kann einem Leser verbieten,
beim Lesen eines Textes gar keine Atmosphäre zu verspüren. Das Erleben von Atmosphäre ist
leiblich-affektives Erleben und hat keinen Urteilscharakter. In diesem Sinne kann auch nicht
davon gesprochen werden, dass dieses oder jenes Erleben ‚falsch’ wäre. Was die Analyse von
Erzeugenden (oder wenn keine Atmosphäre erlebt wird, die Analyse ‚störender’ textueller
Elemente) jedoch verspricht, ist die Einsicht in die Art der Gemachtheit eines Textes. Wie
gelingt es einem Text Atmosphäre zu erzeugen oder mit welchen Mitteln stört er die Evokation
von Atmosphäre.187 Mein Ansatz liefert damit gleichzeitig ein Instrumentarium, um das eigene

185
Schouten, Sinnliches Spüren, S. 16f.
186
Böhme, Aisthetik, S. 52.
187
Die Evokation von Atmosphäre soll hier keinesfalls als Wertkriterium behandelt werden. Zweifellos macht es den Reiz
zahlreicher literarischer Texte aus, dass sie uns etwas erleben lassen, und häufig werden literarische Wertungen durch den
Verweis auf atmosphärische Dichte, sinnlicher Anschaulichkeit etc. begründet. Doch würde man, meiner Ansicht nach, Formen
und Wirkungsmöglichkeiten von Literatur zu Unrecht reduzieren, wollte man sie auf den einzigen Wert beschränken, dass sie
Atmosphäre evozieren sollen. Dies gilt umso mehr, als der Atmosphären-Ansatz, so wie ich ihn in dieser Arbeit entwickle, wie

- 85 -
Erleben – über den Rekurs auf den Text – diskutierbar zu machen. Offenkundig ist damit nicht
gemeint, dass etwaige Gesprächsteilnehmer sich über ihr Erleben ‚einigen’ können oder müssen
– die Art und Weise, wie man bei der Lektüre einen Text erlebt hat, lässt sich retrospektiv nicht
‚ummodeln’. Einerseits erscheint mir jedoch durch meinen Ansatz die Reflexion auf das eigene
Erleben sowie dessen Versprachlichung erleichtert und andererseits eröffnet sich durch ihn eine
neue Perspektive für intensive Auseinandersetzungen mit einem Text. Dabei ist nicht
auszuschließen (mindestens mir ist es tatsächlich mehrmals so ergangen), dass eine solche
Auseinandersetzung mit einem Text das Erleben bei einer nächsten Lektüre beeinflussen kann.
Dies scheint mir nun aber gerade nicht ein Argument für die Subjektivität oder
Momentabhängigkeit des Erlebens zu sein, sondern dafür, dass Atmosphären-Analysen als so
etwas wie Wahrnehmungshilfen verstanden werden können. Gesprächspartner können einander
in der Diskussion auf textuelle Faktoren aufmerksam machen, die sie bei einer ersten Lektüre
‚überlesen’ haben. Bindet man das eigene Erleben in einer aufmerksamen und detaillierten
Analyse an textuelle Faktoren rück, dann scheint mir die Rede über das eigene Erleben und die
Erzeugenden desselben nicht mehr oder weniger subjektiv als jede andere interpretative
Auseinandersetzung mit Texten.
Die Analyse von Textwirklichkeiten ist offenkundig nicht das Erleben selbst. Dies bedeutet
jedoch, dass vom Analysierenden eine problematisch zwiespältige Lesehaltung abverlangt wird.
Mahayni analysiert das Paradoxe einer solchen Haltung äußerst treffend in Bezug auf den
ästhetischen Arbeiter Monet:

Monet malte also, was er als Teil des alles umhüllenden Umschlags [Monet bezeichnet
das, was Böhme später als Atmosphäre beschreiben wird als ‚envelope’] fühlte. Er malte
die Atmosphäre aus der Perspektive des Ergriffenen. Dies ist ein fast paradoxes
Unterfangen, denn die Artikulation des Atmosphärischen – gleichgültig ob durch Wort
oder Bild – ist nur möglich, nachdem man sich aus der Atmosphäre, aus dem Umschlag
befreit, sozusagen herausgenommen hat. Erst dann treten Dinge, Konturen und
Einzelheiten hervor, die beschreibend ausfindig gemacht werden können. Doch im
gleichen Moment, in dem sich das Subjekt zusammen mit den Objekten deutlich aus der
Atmosphäre herauszuschälen beginnt, verliert der Wahrnehmende das Gefühl und die
Stimmung, die die Atmosphäre ausgezeichnet haben. Will Monet also malen, was er im
Moment des atmosphärischen Ergriffen-Seins spürt, so muß er versuchen, in den
ursprünglichen Zustand, das heißt in den Umschlag und damit vor die Trennung von
Subjekt und Objekt zurückzukehren. Das Malen von Atmosphären kommt einer
Gratwanderung gleich, bei der man versucht, in jedem Moment die Augen neu, wie zum
allerersten Mal aufzuschlagen. Man muß sich der Stimmung immer wieder neu aussetzen,
um diese in die analytische Arbeit der künstlerischen Artikulation hinüberretten zu
188
können.

im vorangegangenen Kapitel ausführlich diskutiert wurde, ein recht eng beschränkter ist, der nicht erlaubt, alle Formen leiblich-
affektiven Erlebens zu fassen.
188
Mahayni, Atmosphäre, S. 63.

- 86 -
Gleiches gilt für den analysierenden Nachvollzug des eigenen Erlebens sowie der textuellen
Konstituenten desselben. Die Analyse von Erzeugenden bedeutet eine Distanznahme vom
ursprünglichen Erleben der Atmosphäre bei einer ersten Lektüre. Gleichzeitig jedoch kann diese
Distanz keine vollkommene sein, der Analysierende muss stets wach bleiben für sein eigenes
leiblich-affektives Erleben, sonst verlöre er den Zugriff auf Erzeugende, die ja, wie bereits
ausführlich erläutert, selbst atmosphärische Phänomene sind. Diese methodische Problematik
kann nicht aufgelöst werden, man kann nur das eigene Bewusstsein dafür schärfen.

5.1. Eckpfeiler der Analyse

Arbeiten, die versuchen Erzeugende von Atmosphäre zu analysieren, gehen meist so vor, dass
sie anfangs einen Erfahrungsbericht abgeben, in dem sie versuchen ihr ursprüngliches
(‚voranalytisches’) Erleben zu explizieren. Atmosphäre konstituiert sich in aktuellem Erleben,
eine Analyse, die sich nicht in der einen oder anderen Form reflexiv auf dieses Erleben bezieht,
verschleiert ihre Bedingtheit und geht letztlich an dem vorbei, was analysiert werden soll – die
Erzeugenden werden nur dann zu solchen, wenn sie Erzeugende einer Atmosphäre sind und
damit Aspekte des eigenen Erlebens. Ich werde auch in meinen Analysen diese Praxis
aufrechterhalten. Im Anschluss an diesen ersten Schritt entwickeln diese Arbeiten eine Art
Katalog von Parametern, die es erlauben, die Erzeugenden zu klassifizieren. Bei Lorenz, die eine
Analyse des Museums für Moderne Kunst in Frankfurt am Main versucht, sind dies etwa
Raumform (Höhe, Enge, Beleuchtung etc.); Raumklima (Form-, Farb- und
Materialbeziehungen); Raumausstattung (Möblierung, Zwischenräume, Menschen im Raum);
Anordnung der Objekte im Raum; Beschaffenheit des Bodens, der Fenster, der Raumöffnungen;
Beleuchtungsverhältnisse; die Menschen im Raum (viele/wenige, ihre Bewegungsart, Gemurmel
etc.).189 Bei Schouten sind es Bühnenraum, Licht und Farbe, Akustik, Körper und Kostüme,
Publikum.190 Für die Analyse von literarischen Texten könnte man neben der Unterscheidung
von formalen und inhaltlichen Komponenten etwa Parameter andenken wie Gestaltung der
fiktionalen ‚Umwelt’, äußere Figurenausstrahlung, ‚innere Landschaft’ der Figuren. Es scheint
mir jedoch fraglich, ob nicht jene Faktoren, die in literarischen Texten zur Evokation von
Atmosphäre beitragen können, zu vielfältig und zu komplex sind, als dass eine Beschränkung auf
ein solches ‚Korsett’ von Parametern nicht eine zu starke Einengung des Blicks bei der Analyse

189
Vgl. Claudia Lorenz: Atmosphäre. Eine praktische Annäherung an den ästhetischen Begriff Gernot Böhmes am Beispiel des
Museums für moderne Kunst Frankfurt am Main. Online unter: http://www2.rz.hu-
berlin.de/museumspaedagogik/forschung/lorenz/atmosphaere.html [Stand 2008-09-29].
190
Vgl. Schouten, Sinnliches Spüren, S. 129ff.

- 87 -
von Texten bedeuten würde. Die Tatsache, dass die hier vorgelegten Analysen sich nicht als
Resultat, sondern als Teil der theoretischen Grundlegung verstehen, hat den letzten Ausschlag
dafür gegeben, für die vorliegende Arbeit von einer Entwicklung eines Parameter-Kataloges
abzusehen. Es geht im Folgenden stattdessen darum, Vorschläge zu präsentieren, um welche
Fragestellungen sich eine Analyse von Atmosphären zentrieren könnte und welche
Grundbegrifflichkeiten mir für eine solche Analyse nützlich erscheinen.

5.1.1. Inhaltliche und formale Erzeugende

Die Atmosphären-Analyse setzt sich mit der Frage auseinander, welche textuellen Faktoren
Atmosphäre evozieren. Ziel ist es damit die Erzeugenden der Atmosphäre, das heißt die
Physiognomie eines Textes oder einer Textstelle herauszuarbeiten. Dabei ist die Physiognomie
eines Textes nicht zu reduzieren etwa auf gewisse Merkmale der fiktionalen Welt. Es geht nicht
nur um Landschaften oder Umwelten, die als Bühne für den Text dienen, sondern etwa auch um
die Ausstrahlung von Figuren, die Art und Weise, wie sie ihre Umwelt erfahren. Nicht zuletzt
spielen formale Komponenten eine Rolle, wenn es um die Erzeugung von Atmosphären geht.
Erzählperspektive, syntaktische Strukturen, Stil, Wortwahl etc. haben Einfluss auf die
Textwirklichkeit. Dabei müssen zwei Fälle unterschieden werden. Im einen Fall unterstützen
formale Erzeugende inhaltliche Erzeugende, sie wirken zusammen zu einer Atmosphäre. Dem
Leser wird hier die formale Ebene des Textes, sofern er sich nicht vom Text distanziert, kaum
bewusst, denn er erlebt ja die Atmosphäre, die von beiden gleichermaßen evoziert wird. Im
anderen Fall – er soll genauer in 5.1.3. besprochen werden – entfalten formale Elemente eine
eigene Erscheinungswirklichkeit, das heißt, sie sind nicht mehr eindeutig an die Wirklichkeit der
dargestellten fiktionalen Welt rückbindbar. Das kann entweder dadurch geschehen, dass formale
Elemente in deutlichem Gegensatz zum dargestellten Inhalt stehen beziehungsweise ihn stark
modifizieren oder aber dadurch, dass schlicht keine klar erkennbare fiktionale Welt dargestellt
ist.
In diesen beiden Fällen formaler Erzeugender kann man von formalen Erzeugenden sprechen, im
einen Fall gehen sie jedoch völlig auf in der Atmosphäre, die sowohl von inhaltlichen als auch
von formalen Erzeugenden evoziert wird. Im anderen Fall emanzipieren sich die formalen
Erzeugenden so weit, dass der Leser nicht mehr über sie – im wahrsten Sinne des Wortes –
hinwegsehen kann.
Wie bereits mehrmals erwähnt, kann sich die Atmosphären-Analyse auch mit der Frage
auseinandersetzen, warum manche Textpassagen gerade keine Atmosphäre evozieren. In diesem

- 88 -
Zusammenhang kann freilich nicht mehr von Erzeugenden gesprochen werden – Erzeugende
sind Erzeugende von Atmosphären, wird keine Atmosphäre evoziert, kann auch nicht von
Erzeugenden gesprochen werden. Um trotzdem textuelle Faktoren hinsichtlich ihrer – in diesem
Fall eben nicht vorhandenen – Erscheinungswirklichkeit benennen zu können, soll hier der
Ausdruck „Marker“ verwendet werden. Atmosphärische Marker etwa sind Signifikanten, von
denen man aufgrund ihrer Semantik annehmen kann, dass sie als Erzeugende fungieren, solche
Signifikanten wären etwa „Morgen“, „Abend“, „Kälte“, „Weite“, „aufleuchten“,
„durchscheinen“, „Dunkelheit“, „stählern“, um nur einige zu nennen. Es sind dies Wörter, die
von sich aus schon eher phänomenale Erscheinungswirklichkeit beschreiben und weniger ‚reale’
Dinge – „Morgen“ und „Abend“ sind als solche keine naturwissenschaftlichen Gegebenheiten
(die Tageszeiten sind naturwissenschaftlich beschrieben durch die Drehung der Erde um sich
selbst, wodurch an einem bestimmten Punkt der Erde die Sonne abends untergeht und morgens
aufgeht – der Tag ist aus naturwissenschaftlicher Perspektive geteilt in Tag und Nacht; dass
jedoch die paar Stunden rund um diesen Sonnenauf- und Sonnenuntergang für uns ebenfalls eine
besondere Qualität haben, sodass wir nicht nur Tag und Nacht, sondern eben auch Morgen und
Abend erfahren und benennen, bleibt naturwissenschaftlicher Betrachtung fremd), ebenso wie
„Dunkelheit“ – naturwissenschaftlich gesehen lediglich das Fehlen von Licht. Wenn in einer
Passage, in der atmosphärische Marker vorkommen, jedoch dennoch keine Atmosphäre evoziert
wird, gilt es für die Atmosphären-Analyse zu klären, welche textuellen Faktoren eine solche
Evokation stören.

5.1.2. Wissenshorizont

Wie bereits ausführlich erläutert spielt der Wissenshorizont des Erlebenden für das Erleben von
Atmosphären eine entscheidende Rolle. In Bezug auf Texte betrifft das nicht nur
Sprachverstehen, Lesekenntnisse, Textverstehen usw., sondern auch kulturelles Wissen,
literaturgeschichtliches Wissen, auf das Leser zurückgreifen, um Texte zu verstehen. Eine
zentrale Aufgabe der Atmosphären-Analyse liegt in der Explikation des Wissenshorizontes, der
selbstverständlich und für den Leser unbemerkt in die Konstitution von Atmosphären einfließt.
Zum einen fördert dies die Möglichkeit der Diskussion von unterschiedlichem Atmosphären-
Erleben, denn dieses unterschiedliche Erleben lässt sich unter Umständen auf unterschiedliche

- 89 -
Wissenshorizonte zurückführen, die Leser bei ihrer Lektüre jeweils hatten191, zum anderen
erlaubt eine solche Explikation gleichzeitig Augenmerk darauf zu legen, was der Autor selbst gar
nicht explizit angesprochen, sondern nur implizit angedeutet hat und durch welche Mittel.
Häufig meinen Rezensenten, die an Texten Knappheit und Präzision des Autors loben, dass
tatsächlich nur ausgesprochen wurde, was notwendig ist, und trotzdem eine klare Wirklichkeit
entsteht. Das aber bedeutet ein gelungenes Verhältnis zwischen Expliziertem und Angedeutetem
und damit ein gelungenes Arbeiten mit dem (wahrscheinlichen) Wissenshorizont des Lesers.
Zweifellos wirkt ein Zuviel an selbstverständlicher Information häufig störend für den Leser und
behindert damit auch die Evokation von Atmosphäre. Umgekehrt droht ein Zuwenig an Details
und Information den Text schablonenhaft und wenig plastisch wirken zu lassen. Smuda meint,
dass Deskriptionen, um illusionsfördernd zu wirken, sich eines gewissen Schematismus in der
Darstellung bedienen müssen. „Indirekt ist diese Beschreibung, weil sie die Darstellung einer
Ansichtenmannigfaltigkeit des Gegenstands meidet und sie auf ein Schema reduziert. Dieses
wirkt aber gerade deshalb umso evokativer, weil an ihm ein latenter Wissensvorrat aktiviert
werden kann. Die Spärlichkeit des Schemas dient hier geradezu als Anreiz für die
mannigfaltigen Ansichten des imaginär konstituierbaren Gegenstands.“192 Die Frage jedoch, wo
ein Zuwenig an sinnzentrierten Details und wo ein Zuviel an solchen Informationen vorhanden
ist, wird wahrscheinlich nicht generell, sondern nur im Rahmen konkreter Analysen zu
beantworten sein.

5.1.3. Ebenen der Textwirklichkeit

Wolf reduziert Illusion auf inhaltliche Komponenten. Wenn Illusion dadurch erzeugt wird, dass
ein Text lebensweltliche Wahrnehmungen ‚imitiert’, wenn Illusion bedeutet, dass man einen
Text erlebt, als ob man die dargestellte Welt wahrnehmen würde, dann ist klar, dass eine solche
Illusion auch davon abhängt, dass ein Text eine fiktionale Welt darstellt. Der Begriff der
Atmosphäre ist hier weiter gefasst als der der Illusion bei Wolf, insofern in meinem Ansatz
davon ausgegangen wird, dass auch formale Elemente, Elemente der Vermittlung und nicht nur
des Vermittelten eine eigene Wirklichkeit entwickeln. Je nachdem, ob die evozierte Atmosphäre
eindeutig auf eine dargestellte Welt zurückführbar bleibt und damit evozierte und dargestellte
Atmosphäre übereinstimmen, oder ob die Ebene der Vermittlung sich von der Ebene der

191
Ein unterschiedlicher Wissenshorizont meint hier nicht unbedingt einen prinzipiell unterschiedlichen Wissens- oder
Kenntnisstand, sondern kann durchaus auch bedeuten, dass die Leser bei der Lektüre schlicht unterschiedliche Assoziationen
hatten.
192
Smuda, Gegenstand Kunst, S. 52.

- 90 -
dargestellten Welt emanzipiert, sollen in der Folge drei Formen von Textwirklichkeiten
unterschieden werden.
Jene Form der Atmosphäre, in der dargestellte und evozierte Wirklichkeit übereinstimmen, soll
Primäratmosphäre genannt werden. Die Wirklichkeit, die der Leser erfährt, bleibt hier eindeutig
bezogen auf die dargestellte fiktionale Welt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die
Primäratmosphäre nur durch inhaltliche Erzeugende konstituiert wäre, durch Erzeugende, die
auch Gegenstände der fiktionalen Welt sind. Dies ist einer der zentralen Gründe dafür, den
Begriff der Physiognomie für Erzeugende jenem der Ekstasen vorzuziehen. Es ist bedeutend
einleuchtender, etwa bei einem gehetzten Stil, der zu einer gehetzten Primäratmosphäre beiträgt,
von Physiognomie zu sprechen als von der „Ausstrahlung“ dieses Stils. Wie bereits erläutert,
arrangieren Texte nicht lediglich Welt, sondern sie geben stets eine gewisse Gestaltetheit dieser
Welt, eine Perspektive dieser Welt vor. Insofern tragen immer auch formale Erzeugende mehr
oder weniger zur Konstitution der Primär-Atmosphäre bei, dienen hier jedoch lediglich zur
Formung der Wirklichkeit des Dargestellten und bleiben demnach eng an die fiktionale Welt
gebunden.
Dem entgegen steht die Sekundäratmosphäre – ich wähle diese Bezeichnungen in Anlehnung an
die Unterscheidung zwischen Primär- und Sekundärillusion. Von Sekundäratmosphäre soll
überall dort gesprochen werden, wo die erzählende Instanz deutliche Eigenpräsenz gewinnt
gegenüber dem, was sie erzählt. Zu erinnern wäre hier etwa an das Beispiel von Hirschfeld,
vorgestellt als Passage aus einem literarischen Text. Inhaltlich – auf Ebene der dargestellten
Welt – ist von einer intensiv atmosphärisch wirkenden Gartenlandschaft die Rede. Doch diese
Atmosphäre wird dem Leser gegenüber nicht evoziert. Zu distanziert ist die Form der
Darstellung. Innerhalb eines geeigneten Kontextes könnte diese Textpassage trotzdem
atmosphärisch wirken, indem nämlich eine besonders distanzierte Erzählerfigur präsent gemacht
würde. Für die Sekundäratmosphäre ist bedeutsam, dass sie sich stets auf ein Verhältnis von
Vermitteltem und Vermittelndem bezieht, jedoch nicht etwa auf die immer gleiche Erzählerfigur
beschränkt ist. Die Ausstrahlung einer Figur kann innerhalb einer Rahmenerzählung Teil der
Primäratmosphäre sein, wird jedoch, sobald die Figur die Binnenerzählung ausbreitet (sofern die
Figur als Vermittelnde auch in ihrer Erzählung etwa durch ihre spezifische Ausdrucksweise
präsent bleibt), zur Sekundäratmosphäre. Ein personaler Erzähler dagegen prägt zwar als
Erzählperspektive offenkundig die Intensität der Evokation von Atmosphäre, doch wird er selbst
gerade nicht präsent. Er schmiegt sich an Figuren an und wird als Vermittelnder nicht spürbar.
Auch wenn die fiktionale Welt durch die Augen einer Figur dargestellt, und damit in gewissem

- 91 -
Sinn durch sie vermittelt wird, bleibt dies Teil der Primäratmosphäre, da die Figuren Teil der
dargestellten fiktiven Gegenwart sind.
Die formale Atmosphäre schließlich kennzeichnet sich dadurch, dass der Leser etwas leiblich-
affektiv erlebt, was weder eindeutig auf eine dargestellte Welt noch auf eine präsente
Erzählerfigur zurückführbar ist. Dies kann entweder deshalb so sein, weil die formale
Darstellung eine Wirklichkeit evoziert, die der Primäratmosphäre entgegenläuft, sie stört, oder
aber weil eine dargestellte Welt, auf die eine formale Wirklichkeit direkt rückbeziehbar wäre,
fehlt. Die formale Atmosphäre meint also nicht bloß jene formalen Komponenten, die zur
Atmosphäre, die ein Text evoziert, beitragen, sondern meint diese nur insofern, als solche dem
Leser in seinem Erleben auch präsent werden. Solchen formalen Atmosphären wird man vor
allem in lyrischen Texten häufig begegnen, wenn nämlich weder das lyrische Ich als besonderer
Charakter (wie es etwa in Rollen-Lyrik der Fall wäre) präsent wird noch das Dargestellte im
Sinne einer dargestellten Szene deutlich wird.
Die drei Formen von Atmosphäre betreffen nicht drei unterschiedliche strukturelle Ebenen von
literarischen Texten, die in jedem Text herauspräpariert werden könnten, sie bleiben innerhalb
der Ordnung des phänomenal Gegebenen – sonst könnte man bei ihnen nicht mehr von
Atmosphären sprechen. Während der literaturwissenschaftliche Begriff des Erzählers per se auf
jeden literarischen Text angewandt werden kann, so gilt, dass von Sekundäratmosphäre nur dann
zu sprechen ist, wenn eine solche Vermittlerfigur tatsächlich als ‚Person’ präsent wird. Während
in jedem literarischen Text formale Komponenten integrale Bestandteile des Werks sind, ist von
formaler Atmosphäre nur dann zu sprechen, wenn sie – wenigstens passagenweise – als solche
eine eigene Wirklichkeit entfalten. Hierbei wird offenkundig, dass die einzelnen Typen von
Atmosphäre nicht eindeutig gegeneinander abgrenzbar sind. Wann etwa haben sich formale
Elemente so weit von der dargestellten Welt emanzipiert, dass man von einer formalen
Atmosphäre sprechen kann? Als ein Indikator könnte möglicherweise die Frage dienen, ob der
Leser einen Wechsel seiner Wahrnehmungseinstellung vornehmen muss, um Sekundär- und
formale Atmosphäre erleben zu können. Wenn Vermittlerfigur oder formale Mittel die
Primäratmosphäre mitkonstituieren, dann intensivieren sie das Erleben des Lesers. Emanzipieren
sie sich zu einer eigenen Wirklichkeit, werden sie die Wirklichkeit der Primäratmosphäre eher
stören. Um diese ‚Störung’ als eigene Wirklichkeit zu erfahren, wird der Leser einen
Einstellungswechsel vornehmen müssen, er wird seine Wahrnehmung auf die Erzählerfigur oder
die formale Wirklichkeit ausrichten müssen und damit weg von der Ebene des Dargestellten. Um
dies an einem Beispiel zu veranschaulichen, soll ein Blick auf den Anfang von Martin Walsers
„Ein fliehendes Pferd“ geworden werden.

- 92 -
Plötzlich drängte Sabine aus dem Strom der Promenierenden hinaus und ging auf ein
Tischchen zu, an dem noch niemand saß. Helmut hatte das Gefühl, die Stühle dieses
Cafés seien für ihn zu klein, aber Sabine saß schon. Er hätte auch nie einen Platz in der
ersten Reihe genommen. So dicht an den in beiden Richtungen Vorbeiströmenden sah
man doch nichts. Er hätte sich möglichst nah an die Hauswand gesetzt. Otto saß auch
schon. Zu Sabines Füßen. Er sah aber noch zu Helmut herauf, als wolle er sagen, er
betrachte sein Sitzen, solange Helmut sich noch nicht gesetzt habe, als vorläufig. Sabine
bestellte schon den Kaffee, legte ein Bein über das andere und schaute dem trägen
Durcheinander auf der Uferpromenade mit einem Ausdruck des Vergnügens zu, der
ausschließlich für Helmut bestimmt war. Er verlegte seinen Blick auch wieder auf die
Leute, die zu dicht an ihm vorbeipromenierten. Man sah wenig. Von dem wenigen aber
193
zuviel.

Eine Urlaubsszene. Helmut ist nicht damit zufrieden, wo die Gruppe, mit der er unterwegs ist,
sich hinsetzt. Er ist ein wenig überfordert. Die dichte Atmosphäre von Hektik und Bedrängtheit
scheint mir hier massiv durch formale Erzeugende evoziert. Zwar gibt es einige inhaltliche
Erzeugende, die zu dieser Atmosphäre beitragen – „Vorbeiströmende“, „Sabine saß schon“, die
Leute, die zu dicht an Helmut vorbeipromenieren –, doch wird dies ungleich intensiviert durch
etwas, was man die Sprunghaftigkeit der Darstellung nennen könnte. „Plötzlich drängte Sabine
aus dem Strom der Promenierenden hinaus und ging auf ein Tischchen zu, an dem noch niemand
saß. Helmut hatte das Gefühl, die Stühle dieses Cafés seien für ihn zu klein, aber Sabine saß
schon.“ Es macht den Eindruck, dass der Blick des personalen Erzählers, der an die Figur
Helmut gebunden ist, zu langsam ist für das Geschehen. Er nimmt nicht wahr, wie sich die
einzelnen Figuren hinsetzen, wenn der Blick sich auf sie richtet, haben sie bereits entschieden
sich hinzusetzen – und sitzen auch schon. Die Überfordertheit von Helmut scheint mir vor allem
durch diesen ‚gehetzten’ Erzählerblick evoziert zu werden. Trotzdem würde ich hier nicht von
einer formalen Atmosphäre sprechen. Die formalen Erzeugenden intensivieren – modifizieren
vielleicht sogar – die Primäratmosphäre, doch stören sie damit keineswegs das Erleben des
Dargestellten. Der Leser muss keinen Einstellungswechsel vornehmen, um den Text leiblich-
affektiv zu erleben.
Ich verzichte hier auf weitere Beispiele zur Verdeutlichung der drei Formen von Atmosphären,
da sich meine Analyse des ersten Kapitels von Ransmayrs „Der fliegende Berg“ auf den Versuch
der Anwendung dieser Begrifflichkeit konzentrieren wird.

193
Martin Walser: Ein fliehendes Pferd. Novelle. In: M. W.: Werke in zwölf Bänden. Hrsg. von Helmuth Kiesel unter
Mitwirkung von Frank Barsch. Bd. 5: Seelenarbeit. Roman. Ein fliehendes Pferd. Novelle. Brandung. Roman. Dorle und Wolf.
Novelle. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, S. 269-357, S. 273.

- 93 -
5.2. Analysen

Meine Analysen werden sich jeweils mit den Anfangspassagen von Paulus Hochgatterers „Die
Süße des Lebens“ (Kapitel Null und Eins), Christoph Ransmayrs „Der fliegende Berg“ (Kapitel
1) und Inka Pareis „Was Dunkelheit war“ (ca. die ersten 30 Seiten) beschäftigen. Diese Auswahl
hat sich schlicht aus der Tatsache ergeben, dass diese drei Texte (im Speziellen die gewählten
Ausschnitte) bei einer ersten Lektüre recht intensives Erleben bei mir ausgelöst haben.194 Der
Vorteil der Kürze der gewählten Passagen liegt darin, dass sich dadurch für die Analyse die
Möglichkeit eröffnet, sehr ausführlich und detailliert auf sie einzugehen.

5.2.1. Paulus Hochgatterers „Die Süße des Lebens“

5.2.1.1. Kapitel „Null“

Bei der ersten Lektüre dieser Passage erlebte ich eine Atmosphäre großer Wärme und
Geborgenheit. Die Stube des Großvaters war in meiner Vorstellung nicht einengend dunkel,
sondern hell, der Küchentisch, an dem Großvater und Enkel sitzen, ist aus Holz. Das
Zusammensein der beiden strahlt Entspanntheit, Gelassenheit und Ruhe aus. Draußen ist es kalt,
aber umso wärmer und behaglicher ist es drinnen. Bei einer Rezensentin liest sich das
folgendermaßen: „Alles scheint in wohlige Wärme verpackt. Der Großvater spielt mit dem Kind
‚Mensch ärgere dich nicht’; es weihnachtet; eine behagliche Atmosphäre liegt in der Luft. […]
Nichts kräuselt die trauliche Stimmung. Die Dinge sind von Wärme umströmt.“195 Doch die
Atmosphäre schlägt bald um und weicht einer Stimmung bedrängender Bedrohlichkeit. Der
Großvater verlässt die Stube und das alleingelassene Kind folgt ihm hinaus in Kälte und
Dunkelheit. Nach einigem Herumstapfen findet es ihn ermordet und grausig verstümmelt im
Schnee.

In den meisten der von mir eingesehenen Besprechungen wurde von den Rezensenten diese
Anfangspassage eigens erwähnt – man könnte meinen, wenig ungewöhnlich, handelt es sich
doch (unter anderem) um einen Krimi und da werden in einer Besprechung für gewöhnlich auch
die Umstände des Mordes rekapituliert, der ja die Geschichte erst ins Rollen bringt. Auffälliger

194
Wie in Abschnitt 4.2.2. deutlich geworden ist, muss eine Atmosphären-Analyse nicht immer auf Texte zugreifen, die intensiv
erlebt worden sind, man kann auch die Frage stellen, warum andere Texte gerade nicht intensiv erlebt worden sind.
195
Pia Reinacher: Die ganz normale Verrücktheit. Paulus Hochgatterers Psychokrimi stöbert das Böse in der Idylle auf. In: FAZ
vom 10. 11. 2006, S. 38.

- 94 -
ist da vielleicht schon, dass zahlreiche Rezensenten nicht nur relativ detailliert den Zustand der
Leiche des Großvaters, seinen ‚zermantschten’ Kopf beschreiben, sondern auch die diesem
Leichenfund vorausgehende Szene anklingen lassen, mindestens, dass es das Enkelkind ist, das
den Großvater findet, und dass die beiden davor „Mensch ärgere dich nicht“ gespielt haben. Ich
vermute, obwohl sich das freilich rein anhand der Rezensionen nicht nachweisen lässt – diese
können nur Indizien liefern –, dass die Darstellung der grausig zugerichteten Leiche nur einen
(vielleicht sogar geringen) Teil der Wirklichkeit dieser Szene ausmacht. Die Atmosphäre, die
diese Passage evoziert, ist schon vorher dicht, und der Schrecken setzt nicht erst ein, als das Kind
den Großvater findet.
Der Text setzt ein mit einer einen ganzen Absatz langen Beschreibung, wie das Kind Kakao
trinkt. Im zweiten Absatz wird der Großvater eingeführt. Zusätzlich erfährt der Leser, dass
gerade Weihnachten gewesen ist. „Er weiß zwar, dass es [das Kind] allerlei neue Sachen zu
Weihnachten bekommen hat, Lego, Bücher, eine Tierfamilie und einen Game Boy, aber seit das
Kind zählen kann, spielt er mit ihm ‚Mensch ärgere dich nicht’.“ (S. 7) Weihnachten evoziert
Winterlichkeit. Das Kind trinkt Kakao. Das evoziert, dass es draußen kalt, aber drinnen umso
wohlig wärmer ist. Obwohl bis dahin an keiner Stelle die Rede davon ist, wird spürbar, dass das
Kind nicht beim Großvater zu Besuch, sondern hier zuhause (später stellt sich heraus, dass die
Eltern im Haus nebenan wohnen) ist. Der Text spielt (vgl. die Weihnachtsgeschenke) in der
Gegenwart und da ist es eher außergewöhnlich, dass Großfamilien in einem Haus wohnen.
Dieser Wissenshorizont lässt schon, bevor es durch die Erwähnung der schwarzen Bäume vor
dem Fenster (man erlebt diese Bäume als hoch, mächtig, wahrscheinlich Nadelbäume) und der
Scheune explizit gemacht wird, ahnen, dass es sich hier um eine ländliche Gegend handelt. Eine
bäuerliche Stube wird davor schon evoziert, ein Tisch mit Eckbank (tatsächlich wird dies auf
Seite 10 in einer kurzen Andeutung bestätigt, wenn es heißt: „Das Kind klettert die Bank entlang
zur Nische“). Jedenfalls ist der Raum kein städtisches Wohnzimmer.196 Die bäuerliche
Atmosphäre ist hier aber auch keine bedrückende, einengende. Das Verhältnis zwischen
Großvater und Kind ist spürbar gut. Das Kind fühlt sich wohl und ärgert sich nicht etwa darüber,
dass es nicht mit seinem neuen Game-Boy spielen kann, es ist nicht ungeduldig darüber, dass es
hier mit dem Großvater ‚Mensch ärgere dich nicht’ spielt. Der Erzähler verteilt die
Informationen nicht explizit konstatierend. Es heißt nicht „Es ist kurz nach Weihnachten.“,
sondern es ist von den Sachen die Rede, die das Kind zu Weihnachten bekommen hat. Dass der

196
Auch Doris Plöschberger spricht in ihrer Rezension davon, dass hier ‚Mensch ärgere dich nicht’ „wie es sich gehört, am
Küchentisch“ (Doris Plöschberger: Einer würfelt, und einer fliegt raus. In: Tages-Anzeiger vom 10. 11. 2006, S. 59.) gespielt
wird. Zwar wird allein dadurch noch nicht eindeutig, dass der Text auch bei ihr eine bäuerliche Stube evoziert hat, eindeutig ist
aber, dass auch bei ihr kein Wohnzimmer evoziert wurde.

- 95 -
Text eine ländliche Gegend als Bühne wählt, wird erst explizit, als man es schon längst weiß.
Vieles bleibt offen, ohne dass diese Offenheit dem Leser bewusst würde. „Das Kind“ (S. 7) und
„der Großvater (S. 7) spielen ‚Mensch ärgere dich nicht’. Man erfährt in diesem Kapitel Null
weder Geschlecht noch Namen des Kindes. In vielen Texten funktioniert eine solche allgemeine
Bezeichnungsweise als Indiz, dass der Text nicht eine bestimmte Figur meint, sondern
Allgemeingültiges über ‚den Menschen’ erzählen will, das ist hier offensichtig nicht der Fall –
man versteht den Text nicht falsch, wenn man übersieht, dass das Kind nur „das Kind“ ist197. Das
Kind ist ein ganz individuelles, mit Wohnort, Spielsachen, individuellen Tagträumen und
Vorstellungen, schließlich mit einem individuellem Schicksal – der Ermordung des Großvaters.
Ich vermute, dass die allgemein bleibende Formulierung hier die Evokation von Atmosphäre
fördert. Man könnte argumentieren, dass durch die dadurch gegebene Vagheit sich das Kind in
der Vorstellung des Lesers nicht konkretisiert und damit auch nicht zu einer Außensicht
vergegenständlicht wird. Jede spezifische Aufladung des Kindes mit Sinn (eben durch
Geschlecht oder Namen) droht das Kind in irgendeine Richtung ‚abzustempeln’, ‚einzuordnen’,
stattdessen bleibt es hier nur Kind, eher jung, freundlich, ‚unschuldig’ (um einen für den
gegebenen Zusammenhang eigentlich zu stark pathetischen Ausdruck zu verwenden), vielleicht
sollte man es als eine Art Leerform bezeichnen, die es dem Leser erleichtert sich in die Situation
einzufühlen. Ich bin nicht sicher, ob diese Erklärung tragfähig ist und auch nicht, ob die
evozierte Atmosphäre nicht ebenso dicht wäre, wenn das Kind jetzt schon als Mädchen namens
Katharina eingeführt würde (diese Information erhält man tatsächlich erst in Kapitel Drei), in
jedem Fall aber stört die Vagheit (auch Aussehen von Kind und Großvater werden kaum
beschrieben) die Evokation von Atmosphäre nicht.
Wie erwähnt, nimmt sich Hochgatterer198 einen ganzen Absatz – sogar den überhaupt ersten
Absatz des Textes – Zeit, um zu beschreiben, wie das Kind seinen Kakao trinkt. Genauer müsste
man formulieren: Es trinkt ihn nicht, sondern „schiebt den Finger langsam über den Rand der
Tasse, bis die Fingerkuppe die gekräuselte Oberfläche berührt“ (S. 7). Es trinkt nicht den Kakao,
sondern fischt die Milchhaut von der Oberfläche, obwohl „es weiß, dass manche Menschen
keine Milchhaut mögen“, um sie genüsslich zu verspeisen (obwohl tatsächlich auch dieses
Verspeisen nicht expliziert wird). Für die Evokation einer Atmosphäre von Ruhe und Wohligkeit
scheint mir dieser erste Absatz absolut zentral. Bedeutsam ist hier nicht nur, dass das Kind einen
Kakao trinkt (trägt bei zur Evokation von Wärme), genauso wie es ihn mag (trägt bei zur
Evokation von Wohlgefühl), sondern auch die Länge und Ausführlichkeit der Beschreibung in

197
Tatsächlich wird in keiner mir bekannten Rezension ein Wort darüber verloren. In den meisten wird „das Kind“ sogar bereits
als ein Mädchen oder sogar schon als Katharina bezeichnet – das erfährt der Leser jedoch erst knapp vierzig Seiten später.
198
Ich spreche hier vom Autor als Arrangeur von Atmosphären.

- 96 -
personaler Perspektive. Das Kind erhält dadurch eine Ausstrahlung der Versunkenheit in seine
Tätigkeit, nichts ist hier an Hektik, Unruhe oder Ungeduld zu spüren. Die Bedachtheit und
Langsamkeit, mit der das Kind sich mit seinem Kakao beschäftigt, hat nichts Zwanghaftes, die
Beschäftigung mit dem Kakao erscheint nicht als Zeichen von Verlegenheit oder Fremdheit („Es
weiß, dass manche Menschen keine Milchhaut mögen, aber das ist ihm egal. Der Kakao
schmeckt bitter, genau so, wie es ihn mag“ (S. 7). Bereits hier ist klar, dass das Kind – wo immer
es auch ist, das weiß man an dieser Stelle noch nicht – hier in der ein oder anderen Form daheim,
in vertrauter Umgebung ist. Auch die Atmosphäre der Beziehung zum Großvater wird
vorbereitet und zwar schlicht dadurch, dass er in diesem ersten Absatz nicht vorkommt, er ist
selbstverständlich da, seine Anwesenheit ist nichts, womit sich das Kind auseinandersetzen
müsste. Die durch diesen ersten Absatz evozierte Ruhe wird später bestätigt, ergänzt durch die
Selbstverständlichkeit des Spielens. „[…] seit das Kind zählen kann, spielt er [der Großvater] mit
ihm ‚Mensch ärgere dich nicht’. Weihnachten, hat er gemeint, sei kein Grund, etwas daran zu
ändern. Am Anfang hat er dem Kind beim Zählen geholfen oder sich zu seinen Gunsten
verrechnet, aber das ist jetzt alles nicht mehr nötig.“ (S. 7) Diese Regelmäßigkeit, die im zweiten
Absatz in interner Fokalisierung durch den Großvater thematisiert wird, die Betonung des
Großvaters, dass es schon immer so war und deshalb auch jetzt so gemacht wird, könnte für sich
genommen leicht in Richtung einer bedrückenden Eintönigkeit kippen, in Richtung einer
befehlenden Gewalt des Großvaters über das Kind, doch das geschieht hier nicht. Kind und
Großvater sind sich einig. Auch diese Einigkeit, das Einverständnis zwischen Kind und
Großvater werden durch den ersten Absatz zentral miterzeugt. Denn das beinahe
selbstvergessene Wohlgefühl des Kindes ‚blockiert’ von vornherein jede Spaltung, jede
Spannung zwischen Großvater und Kind. „Nichts kräuselt die trauliche Stimmung.“199 Die
Wirklichkeit dieser Einvernehmlichkeit wird im dritten Absatz bestätigt200 – und zwar, wie mir
scheint, eher durch formale als durch inhaltliche Erzeugende. Inhaltlich geht es hier nicht mehr
um irgendein Wohlgefühl des Kindes, sondern nur um das Spiel der beiden, das heißt inhaltlich
erzeugender Faktor der Einvernehmlichkeit der beiden ist hier ‚nur’ das Fehlen von Spannungen,
von Streit, Widerwillen. Formal jedoch tut sich hier mehr. Während im zweiten Absatz die
interne Fokalisierung durch den Großvater geschieht – „Der Großvater spielt mit dem Kind

199
Reinacher, Verrücktheit, S. 38.
200
Der Ausdruck „bestätigen“ ist ein problematischer. Ich möchte betonen, dass es sich für den Leser freilich nicht um die
Bestätigung einer vorher aufgestellten reflexiven Vermutung, nicht um die Wiederholung einer gegebenen Information handelt.
Es geht um die Bestätigung, Verstärkung einer leiblich-affektiv erlebbaren Wirklichkeit – mehrere Erzeugende wirken hier zu
einer einheitlichen Gestimmtheit zusammen. Der Leser erfährt diese Gestimmtheit, die einzelnen Erzeugenden kommen ihm
beim Lesen als solche nicht ins Bewusstsein, so nimmt er auch nicht ein abgeschlossenes Vorher wahr, das in einem Nachher
bloß wiederholt wird, nicht eine ‚erste Information’, die durch eine zweite Information bestätigt wird. ‚Bestätigen’ meint hier
also eine Form des Zusammenwirkens von Erzeugenden.

- 97 -
‚Mensch ärgere dich nicht’. Er weiß zwar, dass es allerlei Sachen zu Weihnachten bekommen
hat, aber […]“. (S. 7 – Hervorh. durch die Verfasserin) –, so scheint der Beginn des dritten
Absatzes einen Wechsel zurück zur internen Fokalisierung durch das Kind vorzunehmen: „Drei.
Das Kind rückt den Stöpsel, der sich im Spiel befindet, Feld für Feld vor. Es hat immer nur einen
Stöpsel im Spiel, und es hat immer die Farbe Gelb.“ (S. 7). Diese Fokalisierungsverschiebung
verschwimmt aber, denn genauso wie im zweiten Absatz wird im dritten die Beständigkeit ihres
Spiels betont: „Die Spielfiguren des Kindes heißen Stöpsel, jene des Großvaters Soldaten. Das
war von Anfang an so. […] Der Würfel kollert bis an den Rand der Tischplatte. Auf dem Boden
gilt es nicht. Auch das war von Anfang an so.“ (S. 7) Die Atmosphäre der Einvernehmlichkeit
zwischen Großvater und Kind wird hier durch ein Verschwimmen der Fokalisierung erzeugt, die
in der Anapher „‚Noch einmal’, sagt der Großvater. ‚Noch einmal’, sagt das Kind.“ (S. 7f.)
kulminiert. Danach kippt die Fokalisierung wieder eindeutig in eine Fokalisierung durch das
Kind, die in Folge auch beibehalten wird.
Die erste Ahnung, dass an dieser Idylle bald etwas bröckeln könnte, bekommt man, als man
erfährt, dass die Spielfiguren des Großvaters Soldaten heißen (vgl. S. 7), und als es heißt „Der
Stöpsel steht jetzt unmittelbar vor dem Eingang zum Stall. Wenn der Großvater eine Vier wirft,
ist er [der Stöpsel] tot.“ (S. 8.) Mir scheint jedoch, dass vor allem diese erste Andeutung
eigentlich nur rein kognitiv rezipiert werden kann. Der Großvater hat nichts Soldatisches an sich,
die Betonungen, dass das Spiel, wie sie es jetzt spielen, schon immer gespielt worden ist, hat
nichts Bedrohliches, da das Kind hier so offenkundig mit ihm übereinstimmt. Als
Literaturwissenschaftler ist man schlicht darauf getrimmt, die Bezeichnung der Spielfiguren als
Soldaten als mögliche Vorausdeutung nicht zu übersehen (tatsächlich stellt es sich später als
solche heraus) und mir scheint nicht, dass sie hier zur Erzeugenden einer Atmosphäre würde.
Auch „tot sein“ ist eine gängige Redeweise beim Spielen, die aufgrund der sonst herrschenden
Ruhe und Wärme höchstens leise Vorahnungen weckt. Deutlicher leiblich-affektiv spürbar wird
die Bedrohlichkeit aber, wenn die letzten Sätze dieses Absatzes lauten: „als ihn das Kind gefragt
hat, warum er keine Kerzen [auf den Weihnachtsbaum] aufgesteckt hat: ‚Wenn ich einschlafe, ist
das gefährlich.’ Vier.“ Dass es gefährlich ist für den Großvater Kerzen auf den Weihnachtsbaum
zu stecken, evoziert automatisch das Bild eines brennenden Weihnachtsbaums. Und der
Großvater würfelt eine Vier – der Stöpsel ist tot. Es ist jedoch wiederum nicht nur der Inhalt
dieser Sätze, sondern vor allem auch, dass der Absatz abrupt mit ihnen endet. Die Wirkung wäre
eine ungleich geringere, wenn dieselben Sätze in der Mitte eines Absatzes stünden, sofort durch
ein Weitergehen des Spiels ‚übertaucht’ würden. Der Beginn des folgenden Absatzes lautet
dann: „Es läutet an der Tür. Der Großvater steht auf. Er wirft einen Blick auf das Spielfeld. Am

- 98 -
Schluss hängt seine Hand für einen Sekunde an der Tischkante fest. Das Kind sieht nicht, wer in
der Tür steht. Der Großvater spricht. Der andere spricht. Der Großvater wendet sich noch einmal
um. ‚Vier’, sagt er, ‚ich hab dich.’ Dann zieht er seine Jacke über und geht.“ (S. 8) Das Läuten
an der Tür verstärkt die vorher bereits angeklungene Bedrohlichkeit. Die Atmosphäre schlägt an
diesem Punkt endgültig um. Läuten an der Tür ist ein klassisches Suspense-Mittel – wie erwähnt,
müssen in die Analyse von Atmosphären auch solche Wissenshorizonte miteinbezogen werden,
die gewissermaßen „Intertexte“ verständlich machen, in diesem Fall zu klassischen Motiven201
der sogenannten Trivialkultur. Die Tür klingelt, offenkundig wird kein Besuch erwartet, der
Großvater wirkt zwar nicht beunruhigt, doch er gibt auch nicht darüber Bescheid, wo er hingeht,
und das Kind sieht nicht, wer in der Tür steht. Die Wirklichkeit des unheimlichen Unbekannten,
der plötzlich an der Tür klopft, wird hier evoziert. Im Satz „Am Schluss hängt seine Hand für
eine Sekunde an der Tischkante fest“ wird eine Wirklichkeit des Abschieds, des Verlusts
(wahrscheinlich wieder aus dem Kontext der ‚Trivialkultur’, des Kinos etc.) evoziert: noch ein
letzter Augenblick des Festhaltens bis der Abschied vollzogen ist und der andere entschwindet –
dabei ist klar (qua einverleibtem Wissenshorizont), dass dieses Entschwinden ein endgültiges
sein wird. Das Kind blickt aus dem Fenster (vgl. S. 8). Draußen ist es dunkel, schwarze Bäume
sind zu sehen, atmosphärisch dringt die Kälte von draußen nach innen herein. Das Kind strahlt
nun eine gewisse Unruhe aus, wobei diese Unruhe und die Atmosphäre von Bedrohlichkeit nicht
leicht zu analysieren sind. Zum einen gibt es in den folgenden Absätzen einige Marker für
Bedrohlichkeit. Draußen ist Nacht, schwarze Bäume bauen sich vor dem Fenster auf (vgl. S. 8),
als das Kind nach draußen geht, ist es kalt, der Mond scheint grell auf der Schneefläche (vgl. S.
10), was die Kälte des hier evozierten gestimmten Raumes noch betont. Diese Marker scheinen
mir Erzeugende zu sein – sie evozieren Atmosphäre –, doch wenn man sich die betreffenden
Textpassagen im Detail ansieht, ist man verwundert, denn immer wieder stehen diese Marker in
Kontexten, die sie relativieren: Die Dunkelheit der Nacht wird sofort aufgehoben durch die
friedlich wirkenden Fenster des nebenan liegenden Elternhauses. Ähnliches bei den schwarzen
Bäumen: „Schräg hinter dem Haus die schwarzen Bäume, zwischen die man treten kann, und
man ist trotzdem nicht im Wald. Wenn Emmy [der Hund] dabei ist, ist es überhaupt leicht, und
man kann gehen und gehen, von Stamm zu Stamm, so weit, bis man das Himbeergebüsch sieht,
und man hat immer noch keine Angst.“ (S. 8f.) Von der hell aufleuchtenden Schneefläche wird
gesagt, dass sie „aufstrahlt wie die Milchglaskugel im Badezimmer“ (S. 10) – auch eine

201
Wieder meint hier Motiv nicht einen rational-reflexiven Zusammenhang. Es geht hier nicht darum, dass das Motiv als Motiv
rational wiedererkannt wird und dadurch etwa der Bezug zu einer bestimmten Texttradition hergestellt wird, sondern um das
‚Aufrufen’ eines einverleibten Wissenshorizonts. Dieses einverleibte Wissen ist Sediment des immer und immer wieder
erfahrenen Bedeutungszusammenhanges, dass, wenn es in einem bestimmten Genre von Film oder Text unerwartet an der Tür
läutet, Schreckliches zu erwarten ist.

- 99 -
Assoziation mit Vertrautem, Friedlichem. Zum einen könnte das zu der Schlussfolgerung führen,
dass mein Erleben einer bedrohlichen Atmosphäre hier nur Projektion, das heißt etwa bedingt
war durch einen persönlichen biographischen Horizont, der sich bei genauerer Betrachtung des
Textes als nicht angemessen herausstellt. Mir scheint jedoch, dass dieser Verdacht bereits durch
die vorher analysierte Passage rund um das Läuten an der Tür entkräftet ist – immerhin steht ja
am Ende der Szene der Fund einer grausig zugerichteten Leiche. Deshalb war meine erste These
in Bezug auf diese Passagen, dass hier der interessante und für die vorliegende Arbeit natürlich
sehr bedeutsame Fall vorliegt, dass die dargestellte Atmosphäre sich in dieser Textpassage von
der für den Leser arrangierten Atmosphäre abhebt. Die Figur, so die Idee, spürt hier gar nicht
jene Bedrohlichkeit, die dem Leser deutlich präsent ist. Bis direkt vor dem Leichenfund gibt es
nämlich einige Marker, dass sich das Kind durchaus noch wohlfühlt, etwa nur ein paar Zeilen
davor: „Es nimmt die rechte Furche und geht auf das schwarze Viereck der Scheune zu. Seitlich
davon tauchen im Mondlicht das Schneekind und der Schneehund auf, die sie gemeinsam vor
zwei Tagen gebaut haben. Alles ist noch da, die Mütze, der Besen, die Kastanie, die als
Schnauzenspitze vorne drauf hockt. Das Kind stellt sich dazu, eng neben den Hund, reckt den
Arm zur Seite, als hätte es auch einen Besen in der Hand. ‚Jetzt sind wir zu dritt’, sagt es. Es
dreht sich herum und herum und fühlt sich zufrieden, so als würde die ganze Welt es
betrachten.“ (S. 11) Soll hier möglicherweise die noch vorhandene Sorglosigkeit in dem Sinn als
Erzeugende wirken, dass man den Wunsch hegen soll, das ahnungslose Kind vor dem ihm
bevorstehenden Leid zu schützen? Hier würde man wohl eher von Identifikation sprechen
(indem wir den Wunsch verspüren das Kind zu schützen, treten wir in einen imaginierten
pragmatischen Zusammenhang ein). Es fällt nämlich auf, dass der Schrecken des Kindes, auch
dann als es die Leiche findet, erst relativ spät und recht moderat expliziert wird, Hochgatterer
trägt hier nicht dick auf: „Das Kind erschrickt.“ Das ist alles. Natürlich ist, als das Kind die
Leiche findet, sein Schrecken intensiv spürbar, die Ruhe der Sprache des Textes und das
Verhalten des Kindes weisen hier auf einen Schutzmechanismus hin, das Kind ist unter Schock –
tatsächlich wird sich in einem späteren Kapitel herausstellen, dass es seitdem nicht mehr spricht.
Der personale Erzähler, der diesen Schock quasi mitvollzieht, kann hier gar nicht in grellen
Farben den Schrecken ausmalen. Unterliegt seine Rede vielleicht bereits vorher dem kindlichen
Schutzmechanismus? Stimmt es vielleicht gar nicht, dass das Kind noch ganz ruhig ist und dass
der Leser die Atmosphäre, die der Text ihn erleben lässt, zu Unrecht auf das Erleben des Kindes
projiziert? Müsste man nach genauer Lektüre sagen, dass die Ausstrahlung der Sorge, der
Unruhe, die das Kind für mich hatte, keine textliche Basis hat? Ich denke, es lassen sich sehr

- 100 -
wohl textuelle Erzeugende finden für diese Ausstrahlung.202 Die vorhin zitierte Passage rund um
die schwarzen Bäume, ist nicht völlig friedlich. Die Umgebung draußen ist kein ähnlich
vertrauter Raum wie die Stube des Großvaters vorher: „Wenn Emmy dabei ist, ist es überhaupt
leicht, man kann gehen und gehen […] und man hat immer noch keine Angst.“ (S. 8f.) Die Angst
wird hier zwar nicht als empfundene angesprochen, aber als mögliche, die Empfindung des
Kindes ist jedenfalls nicht euphorisch, wenn es daran denkt, so weit zu gehen, es ist leicht soweit
zu gehen, aber wenn der Hund nicht dabei ist, schon nicht mehr ganz so leicht. Im Absatz darauf
wird ein Tagtraum erzählt, den das Kind manchmal hat. Es ist ein Tagtraum, der von geschützten
und friedlichen, warmen Orten handelt: „Es stellt sich vor, dass der Mond am Himmel steht und
dass Emmy dabei ist und dass es Kastanien essen kann und Heu und dass es draußen ein wenig
kalt ist und innen drin ganz warm“ (S. 9). Interessant ist, dass sich das Kind, wenn man davon
ausgeht, dass es noch nicht beunruhigt ist, genau in dieser Situation – geschützter Ort, draußen
kalt, innen warm – befindet. Dadurch, dass hier davon gesprochen wird, dass das Kind sich eine
solche Situation vorstellt, bekommt das Geschilderte jedoch den Charakter einer Sehnsucht und
damit von etwas, das eben nicht momentan präsent ist. Auch die folgenden Absätze sind von
einer latenten Unruhe geprägt: „Der gelbe Stöpsel steht da, ruht sich aus und ist beinah schon in
Sicherheit. Der blaue Soldat steht auch da und ruht sich aus. Eigentlich könnte es so sein, dass
beide nichts von dem wissen, was sie erwartet.“ (S. 9) Das Kind nimmt den gelben Stöpsel vom
Spielbrett, weiß aber, dass es das eigentlich nicht darf: „Es wird den Stöpsel und den Soldaten
wieder auf ihre Felder stellen, versprochen, den Stöpsel genau vor den Stall und den Soldaten
vier Schritte dahinter, so als wäre nichts gewesen;“ (S. 9.) Als das Kind sich auf den Weg nach
draußen macht, heißt es: „Das Kind klettert von der Bank, die rechte Hand um die Spielfigur
geschlossen“ (S. 10), eine gewisse Geste des Halt-Suchens.
In diesem ersten Kapitel von „Die Süße des Lebens“ haben wir es mit einem Phänomen an der
Grenze zwischen Deskription und Narration zu tun. Ich habe den Text in Hinblick auf eine
Atmosphäre der Bedrohlichkeit analysiert, doch gibt es gute Argumente dafür, hier eher von
einer narrativen Spannung zu sprechen, die nicht adäquat im Rahmen der Atmosphären-
Konzeption erfasst werden kann. Der Haupteinwand gegen eine Betrachtung als Atmosphäre
scheinen mir eben gerade jene Zwischenpassagen zu sein, die Zweifel daran aufkommen haben
lassen, ob das Kind selbst überhaupt beunruhigt ist, nachdem der Großvater das Haus verlassen
hat. Im ersten Absatz nach seinem Fortgehen wird der familiäre Kontext aufgerollt: „Gegenüber

202
Immer wieder wird hier implizit die Problematik der Atmosphären-Analyse deutlich, die ich in 4.1.1. versuchte dadurch zu
fassen, dass ich sagte, eine Atmosphären-Analyse könne keinen Absolutheitsanspruch erheben, sondern trage immer wenn-dann-
Charakter. Es ist leicht vorstellbar, dass ich die hier in Folge besprochenen Textpassagen anders interpretiert hätte, wenn ich den
Text so erlebt hätte, dass das Kind bis zum Leichenfund ruhig ist.

- 101 -
mit erleuchteten Fenstern das Haus, in dem die Eltern wohnen, die Schwester, der Bruder,
Emmy, der Hund, Gonzales, die Springmaus, die dem Bruder gehört, obwohl er sie nicht füttert“
(S. 8). Danach folgt der Tagtraum über die geschützten Orte. Ein wenig später (vgl. S. 10) folgt
ein anderer Tagtraum: Ein blaues Pferd kommt mit dem gelben Stöpsel als eine Art rettender
Ritter herangaloppiert und nimmt das Kind mit. Beides sind Träume von Schutz und
Unbeschwertheit. Alle diese Zwischenpassagen haben zwar affektiv aufgeladenen semantischen
Gehalt, doch ich hatte bei der Lektüre stets den Eindruck, dass man versucht ist über sie
hinwegzulesen. Die – bei genauer Betrachtung – inhaltlich doch recht ausgefallenen Passagen
(Stöpsel auf dem Pferd) blieben mir nach den ersten Lektüren kaum im Gedächtnis203 und in
keiner der mir bekannten Rezensionen werden sie eigens erwähnt. Es scheint also, als würde der
Leser durch sie weniger eine Intensivierung der beklemmenden Atmosphäre erleben (etwa
dadurch dass ihm jene Unbeschwertheit und jene Ausgelassenheit vor Augen geführt wird, die
bald verloren sein wird), sondern als würde er eine Intensivierung durch dynamische
Textelemente evozierter Spannung erleben, dadurch, dass das zu erwartende Geschehen durch
sie hinausgezögert wird. In diesem Zusammenhang würden diese Zwischenpassagen weniger
durch das ihn ihnen Dargestellte leiblich-affektive Wirkung entfalten, sondern mehr als
‚dramaturgische’ Elemente zeitlicher Verzögerung zur Entfaltung eines Spannungsbogens. Dem
Leser werden sie in ihrem konkreten Inhalt kaum präsent, weil der größte Teil seiner
Aufmerksamkeit auf das zu erwartende schreckliche Geschehen gerichtet ist.

5.2.1.2. Kapitel „Eins“

Bei meiner ersten Lektüre erlebte ich eine getriebene Figur, einen Läufer, der früh morgens als
es noch beinahe finster ist, durch eine fast höllenhaft, dämonisch anmutende Umwelt läuft.

Dieses Erleben lässt sich nur teilweise durch textuelle Faktoren erklären. Bei genauerer
Betrachtung des Textes stellt es sich nicht so dar, dass die Umwelt durch die interne
Fokalisierung durch den Läufer besonders bedrohlich und dämonisch wirken würde (wie sich
etwa die Landschaften im „Werther“ sehr wohl an das Erleben Werthers ‚anpassen’), sondern es
ist die versinnlichte Innen-Welt des Läufers, die diese Atmosphäre evoziert. Die äußere
Umgebung des Läufers hat nichts Dämonisches an sich, es handelt sich, wie man vom ersten

203
Die Frage, ob man sich an manche Textpassagen erinnert, könnte als Indiz genommen werden, dass diese Passagen
atmosphärisch wirksam sind. Wenn es stimmt, wie Wolf sagt – und wie etwa auch in der Lernpsychologie bekannt ist –, dass
Affektivität Interessantheit steigert und damit wahrscheinlicher wird, dass man sich merkt, was man in diesem affektiven
Zusammenhang erfährt, dann würde das, was nicht leiblich-affektiv erfahren wird, schlechter gemerkt werden.

- 102 -
Kapitel her annehmen kann, auch in diesem zweiten Kapitel um eine ländliche Gegend, die
jedoch hier fast wie ein Vorort wirkt. „Er hält schräg über die freie Fläche auf die Platane zu, die
nahe der Mauer steht, schlüpft durch das Lanzengittertor, das nur angelehnt ist“ (S. 14), nach ein
paar Zeilen läuft er an „eingeschossigen Siedlungshäuser[n]“ vorbei, „in den Vorgärten
Buchsbaum und Säulenthujen“ (S. 15). Er läuft am Haus des Steuerberaters vorbei, an
Kindergarten und Volksschule (vgl. S. 15) und so geht sein Weg weiter. Sehen wir uns jedoch
den Läufer selbst an, seine ‚Seelenlandschaft’.
„Er öffnet das Fenster. Kälte fällt in den Raum. Zuerst ist es still, dann hört man in der Ferne das
Starten des Autos. Sonst rührt sich nichts.
An der Wand das Plakat mit der Regel. Er spürt, wie er auseinanderbricht. Die Sätze.
Höre mein Sohn auf die Weisung des Meisters.
Es beginnt in der Mitte. Eine Bruchlinie, die er nicht orten kann.“ (S. 13)
Die Atmosphäre von Kapitel Null wird in diesen ersten Zeilen von Kapitel Eins fortgesetzt,
intensiviert, aber auch modifiziert. Nichts mehr bleibt von (wenn auch verlorener) Friedlichkeit
und Idylle. Was bleibt sind Kälte und Bedrohung – eine atmosphärische Gestimmtheit, die auch
von einigen Rezensenten genannt wird, wenn es darum geht eine Grundatmosphäre, die den Text
insgesamt prägt, zu kennzeichnen: die verschiedenen Perspektiven „fügen sich allesamt zu einer
literarisch brillant erzeugten kalten, düsteren Stimmung“204, „Hochgatterer präsentiert ein
Panoptikum gefährdeter und verstörter Seelen, die in der alpenländischen Winterlandschaft mit
ihren Dämonen kämpfen“205, „es geht ihm [Hochgatterer] um eine scharfe Gesellschaftsstudie
aus den trostlos opulenten Zeiten heute, hier im tiefsten Österreich und überall, wo Wohlstand
und Verwahrlosung sich dicht verflechten – und dieses Bild einer kalten Vorhölle gelingt ihm
bestens“206.
Die Kälte wird zu Beginn des Kapitels Eins intensiv atmosphärisch spürbar, es heißt nicht: „es
wurde kalt“, sondern „Kälte fällt in den Raum“, Kälte ist hier etwas Massives, etwas, das sich
ausbreitet wie Nebel, nur härter und schneidender. Die Figur, die in personaler Perspektive
dargestellt ist, erlebt sich als bedrohte, ihr Inneres ist versinnlicht durch die Bewegung des
Auseinanderbrechens, durch eine Bruchlinie. Der Läufer evoziert eine Atmosphäre der
Bedrohung, weil er sich selbst als bedroht erlebt. Seine Darstellung evoziert Gehetztheit,
Getriebenheit. „Die Nacht ist schwarz wie das Innere eines Samtsackes. Das treibt ihn an. Am
Abend war der Himmel noch sternenklar. […] Für eine Weile war er unbesiegbar. Jetzt ist die
Hölle hinter ihm her.“ (S. 14) Diese Anmutung des bedrängenden Zerfalls wird ergänzt durch
204
Andreas Wirthensohn: Mehr als ein Krimi. In: Wiener Zeitung (extra) vom 23. 9. 2006, S. 11.
205
Oliver Pfohlmann: Fließende Grenzen. In: Frankfurter Rundschau vom 15. 11. 2006, S. 16.
206
Franz Haas: Auslöschung im frostigen Österreich. In: NZZ vom 21. 11. 2006, S. 27.

- 103 -
eine Atmosphäre (hier als ‚Seelenlandschaft’) von Härte, Starrheit, Unnachgiebigkeit, Kälte. „Er
merkt jetzt eindeutig die Wirkung des Laufens, spürt, wie in ihm, ausgehend von den Beinen und
den Ohren, dieses Gerüst wächst, das ihn stützt. In Windeseile hat es Ausläufer gebildet, winzige
blanke Drahtgeflechte, die sich um seine Nervenbahnen legen.“ (S. 16) Diese Härte baut sich
nach innen hin auf – der Läufer wirkt kontrolliert, und Regeln haben große Bedeutung für ihn
(später wird sich herausstellen, dass er Priester ist, doch das ist in diesem Kapitel vorerst kaum
erahnbar). Die Regeln helfen ihm dabei sich selbst in der Hand zu haben. „Er steht da. Das
Brennen auf der Haut. Nur die Fingerspitzen sind frei davon. Von draußen kommt ein
wischendes Geräusch. Vermutlich der Fuchs, der über den Hof schleicht. Eine Luft ohne Geruch.
Der Mond ist längst weg. Alles eine Täuschung. Langsam spannt er die Oberschenkel. Die
Regel. Worte, die er zusammenführt.“ (S. 13) Vor dem Laufen wärmt er sich auf, jedes Mal auf
die gleiche Weise, denn: „Ab vierzig nimmt die Gefahr von Muskelfasereinrissen eklatant zu. Er
hat das knapp nach seinem Geburtstag gelesen, in der Wochenendbeilage einer Zeitung. Die
Dinge, die einem Angst machen, erfährt man immer im richtigen Moment.“ (S. 13) Er hört beim
Laufen stets dieselbe Nummer: „Father of the Night“ von Bob Dylan über iPod – in
Dauerschleife (vgl. S. 14). Für die Figur gilt es – hier im wahrsten (Doppel-)Sinn des Wortes –
festzuhalten, wer sie ist. „Wenige Dinge weiß ich sicher, denkt er. Ich heiße Joseph Bauer. Ich
lebe in einer verworrenen Welt. Ich habe ein Gelübde abgelegt. Ich sage auswendig Sätze auf.
Ich laufe.“ (S. 19) Nicht zuletzt ist das Laufen erzeugender Faktor für die Ausstrahlung von
Härte, die einerseits Zwangscharakter hat, Schutz und Flucht bedeutet, gleichzeitig aber
Stählung. Je länger die Figur läuft, desto mehr ist die Härte nicht mehr eine, an der sie sich
festhalten kann und muss, sondern eine, die sie ausstrahlt, Härte und Stärke, die sie selbst ist. „In
weiten Schritten läuft er dahin, stößt sich mit den Ballen kräftig ab. So beginnt Fliegen, er kennt
das aus manchen Träumen.“ (S. 16f.) Die Härte, die der Leser atmosphärisch spürt, wird jedoch
nicht nur erzeugt durch den Umgang des Läufers mit sich selbst, sondern auch durch die
Darstellung seiner Haltung gegenüber seinen Mitmenschen. „Treuhänder: Ein Gauner, der
Finanzbeamte besticht und seine Kunden erpresst, das ist die Wahrheit. Der dann dasteht im
Lodengilet, die schwer versilberte Uhrkette quer über den Wanst, Dreitagebart, genagelte Schuhe
und die Lesebrille an der Kordel. Knall ihm eine, denkt er, hau ihm die Faust gegen die
Schneidezähne.“ (S. 15) „Es gibt Menschen, die haben überhaupt keine Bodenberührung.
Clemens ist zum Beispiel einer dieser Permanentschweber. Wie auf einem Luftkissen gleitet er
über Treppen, Schotter, Grashalme, ständig einen Fingerbreit über Grund, im Gesicht dabei diese
nach innen gekehrte Arroganz, diese Überheblichkeit von Amts wegen.“ Der Läufer begegnet
der Welt mit Geringschätzung. Die Gewalt, die er imaginiert als Umgang mit dieser Welt, ist

- 104 -
jedoch auch keine völlig entfesselte, sondern gewinnt ihren Reiz für die Figur gerade daraus,
dass sie kontrolliert bleibt: „Irgendwann einmal wird er ihm [dem Wirtschaftstreuhänder] eine
knallen, einfach so, nicht brutal, sondern eine mittelfeste, flach gehaltene Ohrfeige, eher eine
kleine politische Kundgebung als ein Gewaltakt. Überhaupt ist das kontrolliert Brachiale eine
chronisch vernachlässigte Angelegenheit in der Darstellung weltanschaulicher Positionen. Dabei
geht es nicht primär um Zerstörung, sondern um dort und da eine Handlung mit muskulärem
Nachdruck.“ (S. 17) Nicht nur ist die Gewalt, die der Läufer imaginiert, kontrolliert, sogar die
Art, wie er diese Gewalt imaginiert, ist kontrolliert – die erlebte Rede, die sie ausdrückt, ist in
gewählter, elaborierter Sprache verfasst, zwar wird davon gesprochen, dass der Läufer dem
Wirtschaftstreuhänder eine „knallen“ will, doch würde ein sich in seinem Affekt Verlierender
kaum formulieren: „Überhaupt ist das kontrolliert Brachiale eine chronisch vernachlässigte
Angelegenheit in der Darstellung weltanschaulicher Positionen.“
Die Physiognomie des Textes, die in Kapitel Eins eine Atmosphäre von Kälte, Bedrohlichkeit
und Härte evoziert, besteht vor allem aus Erzeugenden, die in Zusammenhang mit der Figur des
Läufers stehen und weniger mit einer fiktionalen Umwelt oder Außenwelt. Die leiblich-affektive
Wirkung entsteht aus einem Ineinander von Innen und Außen (auch hier wird das kaum
aufzulösende Zusammenwirken von Atmosphäre und Identifikation wieder deutlich).
Erzeugende, verstanden als ausstrahlende Gegenstände – als Ekstasen –, ließen dieses Ineinander
kaum fassen. Die Atmosphäre dieses Kapitels resultiert nicht aus einer Reihe von Gegenständen
der fiktionalen Welt, es ist auch nicht die etwa äußerliche Ausstrahlung einer Figur, es ist eine
Physiognomie, zusammengesetzt aus der in der fiktiven Welt herrschenden Kälte, der
sprachlichen Gestaltung des Kapitels, Haltungen der Figur, ihrem Laufen, ihrer Befindlichkeit,
und der Versinnlichung ihrer ‚Seelenlandschaft’.

5.2.2. Christoph Ransmayrs „Der fliegende Berg“207

„Der fliegende Berg“ setzt ein mit einer Passage, in der der Ich-Erzähler seinen eigenen Tod in
einem Bergmassiv in Tibet schildert. Doch die Felsen, zu deren Fuß der Sterbende liegt, erlebte
ich nicht als erdrückende Schwere und auch der Tod (der, wie sich einige Seiten später
herausstellen wird, keiner ist – der Ich-Erzähler wird gerettet) wird nicht als zerreißender,
schmerzverzerrter Schrecken spürbar. Die Atmosphäre dieses ersten Kapitels hatte für mich
etwas Schwebendes, Leichtes, die Höhe der Berge und die Tiefe der Täler waren Weite, eine
Weite, die jedoch nicht als Leere spürbar wurde, sondern eine Weite, die sich fast anfühlte wie

207
Christoph Ransmayr: Der fliegende Berg. Roman. Frankfurt/Main: Fischer 2006.

- 105 -
ein Fluidum, das einen trägt, in dem man schwimmen kann. Die Art und Weise wie mich dieser
Text anmutete, erinnert stark an das, was Böhme als „Ozeanisches Gefühl“ bezeichnet, es
handelt sich um „einen Zustand des Sich-Fühlens, in dem gerade das eigene Hier undeutlich wird
und ich mich in der Weite verliere, gewissermaßen mit der Welt eins seiend“208. Das Ozeanische
Gefühl ist damit der Erfahrung von Schreck und Schmerz entgegengesetzt, in der ich „aus
meiner diffusen Ausgelegtheit in die Welt und meiner leiblichen, unbestimmten Ergossenheit in
die Weite auf mich zurückgeworfen [werde…] Der Schmerz bannt mich auf eine überdeutlich
werdende Lokalität – nämlich die meines Leibes –, der ich entfliehen möchte, aber nicht
kann.“209
Interessant ist, dass ich bei einer zweiten, eher auf eine Analyse der Erzeugenden ausgerichteten
Lektüre diese Atmosphäre als zwar intensiv, aber auch sehr kurz erlebte, nach kurzer Zeit schien
sich der Text zu verlaufen und keine Wirklichkeit mehr zu evozieren. Mir scheint, dass dieser
Eindruck bei der analysierenden Lektüre dadurch entstand, dass ich mich zu sehr auf die
Primäratmosphäre konzentrierte, alles, was von ihr abwich, über sie hinauswies, wurde von mir
nur als Störung wahrgenommen. Bei einer dritten Lektüre, im Zuge derer ich versuchte wieder
weniger voreingenommen auf den Text zuzugehen, erlebte ich ihn wieder ziemlich intensiv. Ich
werde in der Folge versuchen darzustellen, dass der Text, um als Wirklichkeit erlebbar zu
werden, immer wieder Einstellungswechsel zwischen den Formen der Atmosphäre für den Leser
erforderlich macht. Bei meiner ersten Lektüre habe ich diese Einstellungswechsel anscheinend
relativ automatisch vorgenommen, doch bei meiner zweiten Lektüre, die völlig auf die Analyse
der Primäratmosphäre fokussiert war, vollzog ich sie nicht und die Wirklichkeit des Textes
entfaltete sich für mich daher nicht.

„Der fliegende Berg“ ist im Flattersatz verfasst, in freiem Vers, der zwar nicht gereimt und nicht
durchgängig rhythmisiert ist, in dem die Sprache jedoch durch markante Zeilen- und
Strophenumbrüche eine gewisse Musikalität erhält. Aufgrund der unübersehbaren formalen
Gestaltung könnte man hier bereits versucht sein von einer formalen Atmosphäre zu sprechen.
Wie von zahlreichen Rezensenten bemerkt wird, entsteht hier eine Atmosphäre der Erhabenheit,
eine Atmosphäre von Größe und fast mythischer Bedeutsamkeit. „Ein Anflug von Manierismus
überdreht manchmal die Sprachschraube […]; und das Explizite der vielen Rufzeichen und
Kursivsetzungen […] bemüht einen unnötigen narrativen Zeigefinger. Es hebt Bedeutungen
hervor, wie die Form das Erhabene ausstellt, als sei die Schrift des Werkes in Marmor

208
Böhme, Aisthetik, S. 79.
209
Ebda.

- 106 -
gehauen“210, „Das ungewöhnliche Schriftbild […] lädt ein zu einer fast weihevollen Lektüre“211,
„Wo verläuft die Kitschgrenze, in welchen sprachlichen Höhen? Wie weit trägt
Gegenwartsliteratur nicht nur ungefiltertes, sondern durch die äußere Form sogar noch
verstärktes Pathos?“212, „Der unkonventionelle Zeilenbruch stimmt den Leser auf einen ‚hohen
Ton’ ein“213. Tatsächlich scheint mir diese Form eine eigene Wirklichkeit zu entwickeln an jenen
Stellen später im Text, in denen dieser „hohe Ton“ auf noch dazu einer modernen Welt
zugehörige Alltäglichkeiten stößt. Von einigen Rezensenten werden solche Passagen als
problematisch erlebt: „Der hohe Ton, den Ransmayr wie kaum einer beherrscht, läuft Gefahr,
sich abzunutzen, und er stößt da an seine Grenzen, wo es Banales zu erklären gibt (wie etwa
beim Mousepad).“214 Gleichgültig, wie man solche Passagen bewertet, besteht hier doch
eindeutig eine Spannung zwischen der Wirklichkeit, die der Text durch seine Form, und jener,
die er durch die dargestellte Welt entwickelt. An solchen Stellen ist die Rede von einer formalen
Atmosphäre eindeutig gerechtfertigt. Man könnte von einer solchen Spannung auch in Bezug auf
die ersten Zeilen des Romans sprechen. Der (Beinahe-)Tod eines Bergsteigers in einer
unwirtlichen Umwelt wird hier in hohem Ton geschildert und, so könnte man formulieren,
verklärt. „Bei aller Drastik der geschilderten Naturunbilden wirken die Szenerien bislang oft
etwas kulissenhaft, das Wilde wurde vom sprachlichen Gleichmaß gezähmt und hinterlässt den
Eindruck von etwas Ordentlichem. Sauberem.“215 „Die Poesie prägt diesen Text. Auch in
existenzieller Not kippt Ransmayrs großer Gesang nicht in bedrohliches Moll, sondern schwingt
sich auf zu blumigen, salbungsvollen Exerzitien. Als einer der beiden Brüder in ein Eisloch fällt
und Todesängste auszustehen hat, lässt Ransmayr seinen Erzähler tirilieren“216. Der Rezensent
bezieht sich hier zwar nicht auf die Anfangspassage – und man wird ihm zu Gute halten, dass er
es bewusst nicht tut –, jedoch wäre es durchaus denkbar, dass mancher in ganz ähnlicher Weise
über die ersten paar Zeilen des Romans spricht. Wenn man dem Text hier Verklärung vorwirft,
so muss man es ihm allerdings als ganzem vorwerfen und nicht nur seiner sprachlichen Form.
Denn die Atmosphäre der Erhabenheit, der existenziellen Bedeutsamkeit und fast mythischen
Höhe wird auch durch inhaltliche Erzeugende ‚bestätigt’. Die ersten paar Zeilen des Romans
lauten: „Ich starb / 6840 Meter über dem Meeresspiegel / am vierten Mai im Jahr des Pferdes.“
(S. 9) Zwar herrscht extreme Kälte, doch „Ich fror nicht“ (S. 9). Auch spürt der Ich-Erzähler

210
Klaus Zeyringer: Hoch hinaus. In: Der Standard (Album) vom 23. 9. 2006, S. 6.
211
Uwe Schütte: Hoffnung auf die unbelehrbare Unvernunft. In: Wiener Zeitung (extra) vom 30. 9. 2006, S. 5.
212
Christoph Schröder: Der Berg der Erkenntnis. In: Frankfurter Rundschau vom 28. 9. 2006, S. 20.
213
Klaus Nüchtern: Von Bergen und Brüdern. In: Falter (Buchbeilage) vom 6. 10. 09, S. 6f.
214
Andreas Breitenstein: Am Vermessungspunkt des Lebens. In: NZZ vom 23. 9. 2006, S. 32.
215
Evelyne Polt-Heinzl: Nach dem Unbekannten … In: Die Furche vom 28. 9. 2006, S. 18.
216
Wolfgang Paterno: Über allen Gipfeln ist Ruh’. In: profil vom 25. 9. 2006, S. 153.

- 107 -
keine Schmerzen, keine Angst. Ein Rezensent formuliert: „Die poetische Form nimmt als Gefäß
eine Verwandlung in sich auf, die aus der Konfrontation mit dem mythischen Berg hervorging
[…] Es ist die Intensität des Lebens in Extremsituationen, in der die Archaik der Gefühle
zurückkehrt und in der die Existenz plötzlich nicht mehr zufällig und kontingent, sondern
notwendig und unbedingt ist.“217 Dargestellte Welt und Form wirken, mindestens ganz zu Beginn
des Romans, zu einer homogenen Atmosphäre zusammen. Ich würde deshalb an dieser Stelle
noch nicht von der Evokation einer autonomen formalen Atmosphäre sprechen. Man könnte
dieses Ineinander einer unübersehbaren formalen Geprägtheit und des Dargestellten mit einem
vergilbten und verknitterten Hochzeitsportrait von Großeltern vergleichen. Niemand wird nicht
bemerken, dass das Foto vergilbt und verknittert ist, doch ebenso wenig wird dies vom
Enkelkind als Störung, als Diskrepanz zur Wirklichkeit des Fotos erlebt werden, sondern als
Intensivierung der Atmosphäre des lang Vergangenen.
Die Erzeugenden der Primäratmosphäre sollen hier nur kurz angedeutet werden. Die Atmosphäre
der Weite ergibt sich, meiner Ansicht nach, bereits daraus, dass jene Felsnische, von der man
annehmen kann, dass der Erzähler in ihr liegt, als solche nicht geschildert wird. Nach den bereits
zitierten Anfangszeilen heißt es: „Der Ort meines Todes / lag am Fuß einer eingepanzerten
Felsnadel, / in deren Windschatten ich die Nacht überlebt hatte.“ (S. 9) Die Härte des
Untergrundes ist nicht geschildert, ebensowenig die genaue Lage und Stellung des Körpers des
Erzählers. Der Erzählerblick ist aufgelöst in die Höhen und Tiefen, die ihn umgeben. „Ich fror
nicht. Ich hatte keine Schmerzen. / Das Pochen der Wunde an meiner linken Hand / war seltsam
taub. / Durch die bodenlosen Abgründe zu meinen Füßen trieben Wolkenfäuste aus Südost.“ Und
im nächsten Absatz, der nächsten ‚Strophe’: „Der Grat, der von meiner Zuflucht / weiter und
weiter / bis zur Pyramide des Gipfels emporführte, / verlor sich in jagenden Eisfahnen, / aber der
Himmel über den höchsten Höhen / blieb von einem so dunklen Blau, / daß ich darin Sternbilder
zu erkennen glaubte“ (S. 9) Gerade Wendungen wie „weiter und weiter“, „über den höchsten
Höhen“ betonen diese Weitungstendenz und evozieren gleichzeitig jenen Schwebezustand, von
dem schon gesprochen wurde. Der Blick fasst nicht einzelne in sich abgeschlossene
Bildausschnitte, etwa den Gipfel, sondern gleitet fließend umher. Einige Zeilen später vermischt
sich die Wirklichkeit des Berges mit der Wirklichkeit des Meeres. „Ich starb hoch über den
Wolken / und hörte die Brandung, / glaubte die Gischt zu spüren, / die aus der Tiefe zu mir
emporschäumte / und mich noch einmal hochtrug zum Gipfel, / der nur ein schneeverwehter
Strandfelsen war / bevor er versank.“ (S. 10) Bezogen auf die dargestellte ‚Realität’ müsste man
hier sagen, der Erzähler beginnt angesichts des Todes zu phantasieren. Bezogen auf die

217
Ijoma Mangold: Höhenrausch im Flattersatz. In: Süddeutsche Zeitung vom 22. 9. 2006, S. 16.

- 108 -
Wirklichkeit des Textes fügen sich diese ‚Halluzinationen’ nahtlos ein in die evozierte
Atmosphäre und intensivieren den Charakter des Schwebenden, Leichten, den Charakter einer
Auflösung in Weite, die jedoch nichts von einem bedrohlichen Zerfall hat.
Direkt nach diesen Zeilen wird diese Atmosphäre jedoch gestört: „Das Krachen des Steinhagels,
/ der mir die Hand wundgeschlagen hatte, / das Fauchen der Böen, mein Herzschlag … /
verhallten in der Flut.“ (S. 10) Zwar haben auch diese Zeilen einen ‚versöhnlichen’
Schlusspunkt, in dem alles Schwere von der Atmosphäre abfällt, doch das Krachen, der
Steinhagel, die wundgeschlagene Hand sind zu intensiv, um durch die abschließende
‚Versöhnung’ in ihrer Wirklichkeit gänzlich aufgelöst zu werden. Auch die darauffolgenden
Zeilen evozieren durch die Frageform eine fast getriebene Unruhe: „War ich am Grund des
Meeres? / Oder am Gipfel?“ (S. 11) Bleibt man hier auf die Primäratmosphäre fokussiert, erlebt
man kaum mehr etwas, die Weite löst sich auf, die dargestellte Welt wird undeutlich, tritt zurück
hinter der vermittelnden Instanz, doch nimmt man einen Wechsel der Wahrnehmungseinstellung
vor, dann beginnt sich einem die Wirklichkeit des Textes als Sekundäratmosphäre zu entfalten.
Der Ich-Erzähler tritt nun nicht mehr als Erlebender, sondern als Vermittelnder des Geschehens
in den Vordergrund. Diese Störung der Primäratmosphäre, das Präsentwerden der
Vermittlungsebene wird neben anderem durch die häufigen Zeitenwechsel zwischen Präteritum
und Plusquamperfekt und schließlich sogar zur Gegenwart bewirkt. „Wir hatten uns im
Wettersturz / der vergangenen Nacht verloren. / Ich war gestorben. / Er hatte mich gefunden. //
Ich öffnete die Augen. Er kniete neben mir. / Hielt mich in seinen Armen. Ich lebte. / Mein Puls
tobte in der Steinschlagwunde / an meiner Hand; mein Herz. // Wenn ich heute / an jene
Mondnacht zurückdenke, […]“ (S. 11) Hier kann sich kaum mehr Primäratmosphäre entfalten,
da der Erzähler keine homogene Szene mehr entwirft. Das Einander-Verlieren wird sofort
abgelöst durch das Geborgen-Werden. Der geborgene Bruder erwacht aus seinem Ozeanischen-
Gefühlszustand und ist nun nicht mehr schwebend, aufgelöst, sondern schrickt auf: „Steh auf!“,
die Stimme seines Bruder reißt ihn heraus, sein Herzschlag tobt – dies jedoch wird wiederum
abgelöst durch die Bezugnahme auf eine Gegenwart, aus deren Perspektive das Vergangene fern
und beinahe entschwunden scheint. Die Atmosphäre, die ab hier evoziert wird, ist kaum mehr
jene einer geschilderten Szenerie, sondern wird erlebbar als Ausstrahlung des Ich-Erzählers, der
erinnert, Vergangenes im Erzählen wiedererlebt, zu fassen versucht. Die immer wiederkehrende
Frageform, Strophen, die abbrechen, sich verlaufen, ohne zu einem klaren Ende zu finden („[…]
und dann durch den hüfthohen Schnee jenes Sattels, / auf dem wir uns verloren …“, S. 11), die
Hilflosigkeit des geborgenen Ich-Erzählers, der jedoch seinen Bruder, seinen Retter zurücklassen
muss, evozieren eine Ausstrahlung der Unruhe, der Verlorenheit. Diese Ausstrahlung wird

- 109 -
ergänzt und betont durch Momente der Wärme, die der Erzähler (und der Leser) erlebt, wenn der
Bruder ihn hält und zurück ins Leben holt und wenn von Nyema die Rede ist: „Wenn ich an
diesen Irrweg durch ein Eislabyrinth / in die bewohnte Welt denke, die irgendwo unter
Wolkentürmen im Abgrund lag, / dann sehe ich immer auch Nyema, // höre ihre besänftigende
Stimme, / das Klimpern der Korallen- und Muschelketten um ihren Hals / und spüre die Wärme
ihrer Hände, // sehe Nyema, / als wären es ihre Arme / und nicht die meines Bruders gewesen, /
die mich damals umfingen“ (S. 12). Doch auch diese Wärme, die Aufgehobenheit, die der
Verlorene gleichzeitig mit seiner Hilflosigkeit verspürt, werden nicht als herrschende
Atmosphären einer dargestellten Szene spürbar – dafür wechseln die szenischen
Zusammenhänge zu schnell –, sondern nur in Bezug auf den Erzähler und seine Erinnerungen.
Man ist hier nun mit einer leiblich-affektiv erfahrbaren Erinnerungslandschaft konfrontiert, die
jedoch (anders als etwa die ‚Seelenlandschaft’ in Hochgatterers Kapitel Eins) nicht an eine
szenisch ausgeformte Gegenwart gebunden ist. Sie entfaltet sich nur als Sekundäratmosphäre, als
Wirklichkeit eines erinnernden, erzählenden Ichs. Zwar war dieses Ich auch schon in den ersten
Zeilen dieses Romans formal gesehen der Erzähler, doch scheint mir dort die Rede von einer
Textwirklichkeit als Primäratmosphäre eindeutig angemessener: Das erinnernde Ich geht dort
praktisch gänzlich im erlebenden Ich auf – als das Erleben ordnender, erinnernder Charakter
wird es erst später präsent. Der Erinnernde bleibt nicht abstrakte Ordnungsinstanz, sondern wird
als Erzählerfigur präsent. An einer Stelle mündet diese Präsenz sogar in eine dargestellte
Gegenwart, die in Anklängen eine eigene Primäratmosphäre entfaltet: „Heute, / während ich auf
Horse Island / durch das sonnendurchflutete Haus / meines Bruders gehe, / von einem leeren,
hallenden Zimmer zum anderen, / und durch ein von den Salzblüten der Gischt / fast blind
gewordenes Fenster die Brandung sehe […]“ (S. 21) Doch auch diese Wirklichkeit wird nur in
Anklängen präsent, sofort fällt der Erzähler wieder in die Vergangenheit zurück, in Reflexionen
und Erinnerungen.
Der Erzähler wird hier als erinnernder Charakter präsent, als Figur, die dem Tod nahe war und
wieder zurückgeholt wurde, die durch Nyema, durch die Fürsorge ihrer Retter Wärme erfahren
hat und nun auf der Suche nach ihrer Geschichte ist, doch scheinen mir manche formale
Gestaltungsmittel noch über diese Atmosphäre hinaus zu wirken. Zweimal wird in kursiver
Schrift und als eigene ‚Strophe’ „Steh auf!“(S. 13, S. 15) wiederholt. Einmal heißt es: „Hörst du
mich! / Steh auf!“ (S. 18) und einmal „Erinnere dich.“ (S. 18) In einer weiteren abgesetzten
Zeile, diesmal nicht kursiv: „Mein Bruder ist tot.“ (S. 19) In diesen abgesetzten einzelnen Zeilen
klingt das erste in eine Strophe eingebundene „Steh auf!“ (S. 11) wieder, mit dem der Bruder den
Ich-Erzähler aus seinem tranceartigen Zustand zwischen Leben und Tod herausreißt. Durch die

- 110 -
schwebend-ruhige Atmosphäre der Weite, die der Leser in den Passagen zuvor erlebte, wirkt
dieses Herausreißen – betont durch die Kursivsetzung – auch auf den Leser als Riss, als
Aufschrecken, ähnlich dem Gefühl, das man hat, wenn man im Traum irgendwo hinunterstürzt
und darüber in einem erschrockenen Zucken aufwacht. In dieser ersten Passage auf Seite 11 ist
das „Steh auf!“ eingebunden in eine Szene und so Teil der Primäratmosphäre, doch die eben
geschilderte Wirkung löst sich von der Primäratmosphäre und wird danach – ohne szenischen
Kontext – wieder evoziert. Ich denke, dass diese Einschübe durchaus als formale Atmosphäre
betrachtet werden können. Zwar handelt es sich sicher um eine formale Atmosphäre, die nah an
der Grenze zur Sekundäratmosphäre liegt, doch scheinen mir die Risse, die sich durch sie auftun,
das Aufschrecken, das durch sie evoziert wird, zu sehr eine eigene Wirklichkeit zu entfalten, als
dass man sie innerhalb der Ausstrahlung des Erzählers fassen kann. Der Erzähler ist mehr oder
weniger intensiv in seiner Erinnerung versunken, ist auf der Suche nach seiner Geschichte und
wird in dieser Suche als Figur präsent, doch diese Einschübe scheinen mir weder die
ursprüngliche Primäratmosphäre neu zu evozieren noch den Erzähler in seiner Befindlichkeit
präsent werden zu lassen, sie scheinen genau dazwischen zu liegen. Natürlich wird man, geht es
darum dieser Passage einen ‚hermeneutischen’ Sinn abzugewinnen, interpretieren, dass hier der
Vorgang des Erinnerns veranschaulicht werden soll: noch recht ungeordnete Bruchstücke, die im
Bewusstsein des Ichs auftauchen, die Massivität, mit der die Erinnerung das gegenwärtige Ich im
ruhigen Irland heimsucht – „Vom Taumel zur Klarheit geht der Weg des Romans – hier sucht
einer, sich selbst ins Leben zurückzuerzählen. Aus dem Höhenrausch des Anfangs findet die
Erzählung wieder zur Meereshöhe und zur Chronologie (aus der sie immer wieder jäh die
Erinnerung zumal an das Gipfel-Endspiel reisst [!]).“218 Doch scheint mir diese Verbindung
zwischen den Einschüben und dem Erzähler sich im Lesen selbst gerade nicht aufzudrängen. Die
Wirklichkeit dieser aufschreckenden Einschübe sind nicht Rufe, durch die der Erzähler
heimgesucht wird. Zu geordnet ist dessen Erinnern trotz seiner fragenden Zwischensätze, trotz
des Bruchstückhaften der Szenen, die er erinnert, zu knapp, zu direkt sind die Einschübe. Die
Massivität des Aufschreckens wird nur mir als Leser dieses Textes spürbar, ich erlebe sie nicht
als ein Aufschrecken des Erzählers, der nach einem dieser Einschübe – „Mein Bruder ist tot.“ (S.
19) – sofort fortfährt: „Seit mehr als einem Jahr liegt er nun / im Eis begraben, / am Fuß der
Südwand des Phur-Ri, / durch die wir damals drei Tage und zwei Nächte / hinabgeklettert
waren“ (S. 19).

218
Breitenstein, Vermessungspunkt, S.32.

- 111 -
5.2.3. Inka Pareis „Was Dunkelheit war“

Bei der Lektüre von Inka Pareis „Was Dunkelheit war“ erlebte ich eine Atmosphäre, die man
eigentlich sumpfig nennen müsste, schmutzig, braun, dunkelgrün, feucht, muffig, eine
Atmosphäre, in der alle klaren und hellen Formen in Schlammigkeit versinken. Ein alter Mann,
dessen physische Gebrechlichkeit und Ausgesetztheit man spürt, jeder seiner Schritt lässt die
Furcht vor einem gefährlichen Sturz aufkommen. Seine Welt ist sumpfig, aber auch bedrohlich,
die Textwirklichkeit ist eine Dunkelheit, in der man die gespannte Anstrengung aller Sinne spürt,
dieses Dunkel zu durchdringen, doch wo Licht aufleuchtet, bedeutet das nicht befriedigende
‚Erleuchtung’, Aufhellung, sondern Blendung, die aufschrecken, aber wiederum nichts erkennen
lässt.

Das Haus, das der Mann erbt, „hatte eine Nachkriegsfassade, schmutzig und ausdruckslos […].
Der Putz an der Vorderfront bestand aus rauhen, wurmförmigen Kerben, in denen sich der Dreck
der Jahrzehnte eingelagert und schwarze Rillen gebildet hatte.“ (S. 7) „Der Tisch war meistens
leer bis auf eine farblose Decke und eine Dose aus Tropenholz, die für Besucher gedacht war
und steinalte Zigaretten enthielt.“ (S. 9) Die Klappläden des Hauses gegenüber sind braun (vgl.
S. 14), der Himmel im Sommer war „stickig und heiß und der Himmel fast immer auf eine
dunstige, verschmierte Art hellblau gewesen“ (S. 15), in der Mitte des Hofs ist eine Senke, die
zum Abwasserkanal führt und aus der es, wenn der Hof unter Wasser steht, nach Unrat stinkt
(vgl. S. 15f.). Die Farbe in der die Gänge gestrichen sind, ist ein „düsteres Gelb oder Grün auf
Resten einer Tapete, die nur noch durch den Anstrich haftete. Er roch feucht und metallisch.“ (S.
17). Als der Mann nachts aus seiner Wohnung hinaus auf den Gang tritt, heißt es: „Der Gang war
schmal und niedrig, es roch nach Nikotin.“ (S. 21). In nahezu jeder Beschreibung von Parei wird
irgendetwas ‚präsentiert’, das wirkt, als wäre es am Verfaulen. Interessant ist, dass dieses
Verfaulen der Dinge nicht nur als Zustand spürbar wird, sondern fast als Bewegung, als eine Art
Zerfließen der Formen. Mir scheint, dass diese Ausstrahlung durch die gehäufte Verwendung
von Tiervergleichen evoziert wird: „Der Putz an der Vorderfront bestand aus rauhen,
wurmförmigen Kerben“ (S. 7), „Unter ihm lag eine dicke Asphaltkurve, die sich lautlos
verfärbte, sie wand sich wie der Rücken eines Tieres um die Häuser“ (S. 9). „Die Fassade des
Gebäudes gegenüber war nur wenige Schritte entfernt, sie neigte sich nach vorn, eine Wand aus
Schieferplatten, wie riesige Reptilschuppen aneinandergeschichtet“ (S. 10). Tiere evozieren
automatisch den Eindruck, dass sich hier etwas windet, etwas in Bewegung ist.

- 112 -
Das Zerfließen und Uneindeutig-geworden-Sein der Dinge wird außerdem evoziert durch die ins
Leere laufenden Gedanken, Handlungen und Wahrnehmungen der Hauptfigur: „Der alte Mann
hatte nicht damit gerechnet, daß er es [das Haus] erben würde, er hatte einen Schreck
bekommen, als er davon erfuhr. Im ersten Moment hatte er sich an den früheren Besitzer nicht
mehr erinnern können.“ (S. 7) Im nächsten, direkt darauffolgenden Absatz wird die bereits
angesprochene schmutzige Fassade des Hauses beschrieben. Die Frage, wer der frühere Besitzer
war, bleibt, – fast müsste man sagen: im wahrsten Sinne des Wortes – vorerst gänzlich in der
Schwebe. In seinem neu ererbten Haus ist der alte Mann fremd geblieben: „Wenn er müde war
oder wenn er ein paar Gläser zuviel getrunken hatte, kam es manchmal vor, daß er sein Bett nicht
auf Anhieb finden konnte, oder er ertappte sich dabei, die Türen auf der falschen Seite zu
suchen.“ (S. 8) Manchmal weiß er, wenn er aus dem Schlaf aufschreckt, nicht so genau, wo er
ist, wie spät es ist. „Etwas unangenehm Lautes riß ihn kurze Zeit später hoch. Er war
zusammengeschreckt, offenbar war er noch einmal eingedöst. Er mochte das Geräusch nicht, er
fror.“ (S. 13) Dieses unangenehm Laute wird nicht sofort identifiziert, es bleibt vorerst
unbestimmt, man weiß nicht, was hier laut ist. Das Erschrecken, das immer wieder vom Text
evoziert wird, wirkt, meiner Ansicht nach, umso intensiver als der alte Mann eine Atmosphäre
extremer Zerbrechlichkeit evoziert. „Inka Parei stellt die körperlichen und geistigen Mühen des
Alters meisterlich dar, detailliert und so anschaulich, dass man sich nach der Lektüre kaum noch
aus dem Sessel zu erheben vermag.“219 Der alte Mann wirkt verloren: „Er war am Fenster
eingedöst und mit dem Ohr gegen die Scheibe gestoßen. […] Einen Moment lang war ihm nicht
klar, wo er sich befand. Er hatte einen schlechten Traum gehabt.“ (S. 9) Immer wieder nickt er
ein, schreckt auf, nickt wieder ein, immer wieder setzen Absätze abrupt ein damit, dass der alte
Mann aus dem Schlaf aufschreckt. „Ein paar Minuten lang achtete er nur auf seinen Atem.“ (S.
10) Das ist kein beruhigtes, medidatives Atmen, es ist beunruhigte, gespannte
Selbstbeobachtung. Jederzeit kann etwas in ihm oder an ihm aussetzen: „Er betrachtete seine
Beine. Sie waren an den falschen Stellen dick, nicht dort, wo die Muskeln sein sollten, und
dadurch sahen sie ganz gerade aus und auf eine schlaffe Art biegsam, wie die Glieder von
Stofftieren.“ (S. 16) Die Zerbrechlichkeit wird auch durch die unendliche Langsamkeit spürbar,
mit der der alte Mann gezwungen ist, sich fortzubewegen. „Er wartete ab, bis der Schwindel
nachließ, dann nahm er seine Krücken, graue Stangen, die in drei Gummifüßen endeten. Er
tastete sich langsam vor, wie er es immer am Anfang tat oder auf rutschigem Boden oder wenn
er sich unsicher fühlte. Er stütze sich rechts auf und schob den Fuß etwas nach vorne und dann
die linke Krücke, bis Beine und Krücken versetzt zueinander standen wie vier Gliedmaßen“ (S.

219
Daniela Strigl: Der alte Mann und die RAF. In: Falter (Buchbeilage) vom 21. 10. 2005, S. 16.

- 113 -
16) „Am Ende führte eine kurze Treppe nach unten. Als er sie erreicht hatte, blieb er stehen. Er
konnte die Gehhilfen beim Treppensteigen nicht gebrauchen und mußte sie deshalb mit dem
Stoffriemen, der an einem der Griffe hing, aneinanderbinden, um sie sich über die Schulter zu
hängen, und dann, dachte er, würde er die Geländerstangen fest packen, mit beiden Händen, um
seine Beine langsam und nacheinander entlang der Stufen nach unten zu schieben.“ (S. 22) Jeder
Schritt wird zum Wagnis, die Unklarheit der Dinge rund um ihn wird dem Mann zur
Beunruhigung: „Er dachte über die Uhrzeit nach. Im Taumel des Aufwachens hatte er sein
Zeitgefühl verloren, das brachte ihn durcheinander, er wußte sonst immer genau, wie spät es
war.“ (S. 14)
Es ist Nacht, undurchdringliche Dunkelheit herrscht: „Er schrak hoch und rieb sich die
ausgekühlte Seite seines Gesichts. Draußen war Nacht, aber er hatte die Dunkelheit nicht
kommen sehen, auch nicht den Regen. Der Regen hatte überhaupt kein Geräusch.“ Wo das
Tropfen des Regens auf Scheiben möglicherweise tröstlich wirken könnte, macht der stille
Regen die Dunkelheit nur noch massiver. Immer wieder spürt man, wie Sinne und Gedanken des
alten Mannes sich anspannen und versuchen, das ihn umgebende Dunkel zu durchdringen, doch
es gelingt ihm nicht. Der alte Mann schreckt ständig auf. Er wacht nicht nur über seinen Atem,
sondern auch über sein Haus, jedes Geräusch, jede Lichtreflexion wird ihm zum bedrohlichen
Geheimnis. „Er wußte nicht, gegen welche Katastrophen das Haus wirklich geschützt war, er
war jetzt immer wachsam.“ (S. 11) Hier wird freilich die Wachsamkeit in Bezug gesetzt zu einer
eher recht ‚profanen’ Bedrohung, einer möglichen Katastrophe, durch die das Haus beschädigt
wird, doch die gleiche gespannte Wachsamkeit kennzeichnet seine gesamte Wahrnehmung.
Auch für den Leser bleiben die Geheimnisse und Gefahren, die der alte Mann überall spürt, nicht
belächelbarer Spleen, sondern werden Wirklichkeit. Direkt nach der Passage über die
Versicherung des Hauses, die in den Satz „er war jetzt immer wachsam“ mündet, folgt eine
Passage, in der der Mann eine Szene in der gegenüberliegenden Wohnung beobachtet:

Das Kinderzimmer befand sich ein Stockwerk höher, es war meistens unaufgeräumt, ihm
kam es verwahrlost vor. […] Es waren Mädchen, er verstand nicht, warum sie keine
Nachthemden trugen. Sie saßen auf dem oberen Bett, ein Knäuel aus mageren Armen und
Beinen in Schlafanzügen aus Frottee. […] Als die Kinder sahen, daß jemand kam,
trennten sie sich und schrien laute durcheinander. Eine Männerhand kam ins Bild, eine
Faust, in die zwei Zahnbürsten eingeschlossen waren. Der Wirt war ein kräftiger,
schwarzhaariger Mann, ungefähr Mitte Fünfzig, unter seinen Augen hingen auffallend
dicke Tränensäcke. Er deutete auf herumliegende Gegenstände im Zimmer und schrie
etwas und dann trat er ans Bett der Kinder und öffnete seine Gürtelschnalle. […] Fast
konnte er [der alte Mann] das zischende Geräusch hören, mit dem das Leder des Gürtels
aus den Schlaufen rutschte. (S. 11f.)

- 114 -
Die Bedrohlichkeit der Atmosphäre in dieser Szene wird wohl kaum von einem Leser als
lächerliche Überempfindlichkeit des alten Mannes erfahren werden. Sie ‚bestätigt’ die latente
Bedrohung, die alle Geräusche, alle Eindrücke in diesem Text entfalten. Man spürt die
Ausgesetztheit des alten Mannes in der nächtlichen Dunkelheit und Stille, in der jedes Geräusch
umso deutlicher hörbar wird – ohne dadurch schon entzifferbar zu werden. „Etwas unangenehm
Lautes riß ihn kurze Zeit später hoch. Er war zusammengeschreckt, offenbar war er noch einmal
eingedöst. Er mochte das Geräusch nicht, er fror.“ (S. 13) „Da war es schon wieder, das seltsame
Geräusch, offenbar rüttelte unter ihm jemand an der Tür zum Hotel.“ (S. 14) „Der alte Mann zog
seinen Pullunder über die Hüfte. Das Rütteln unten hörte nicht auf, es war ein beunruhigendes
und drängendes Geräusch, und dazu wurde jetzt auch geklopft.“ (S. 16) Die Person, die an der
Tür rüttelt, wirkt als Eindringling. Daran anschließend folgt die bereits zitierte Passage über die
zerbrechlichen Beine des alten Mannes. Mit denen ist er dem Eindringling hilflos ausgesetzt. Das
macht den Weg hinunter zum Hotel, das einen Teil des von ihm geerbten Hauses ausfüllt, zum
Wagnis. „Hinter sich spürte er den Luftzug seines geöffneten Wohnzimmerfensters, dann schlug
es zu, und mit ihm die Tür, und fast zeitgleich knallte unten im Bauch des Hauses ein
Kellerschloß.“ (S. 20) Türenknallen – Aufschrecken. „Er lehnte sich gegen die Wand und rieb
seinen Kopf für einen Moment an ihrer Kälte.“ (S. 20) Kurze Erschöpfung nach dem Schrecken,
doch gleich ein neues Erschrecken: „Dann fiel ihm etwas ein. Er fühlte in der vorderen
Hosentasche nach seinem Schlüsselbund [hat er ihn verloren/vergessen?], aber noch während er
das tat, wußte er schon, daß er den Schlüssel bei sich hatte“ (S. 20) – neuerlich Beruhigung. In
der herrschenden Dunkelheit bedeutet Licht, das aufleuchtet, nur Blendung und wirkt genauso
erschreckend wie die unzuordenbaren Geräusche. „Das Treppenhauslicht spiegelte sich im Lack
der Tür und blendete ihn.“ (S. 21) Die Atmosphäre wird zunehmend drückend und beklemmend:
„Er stieß die Tür auf und wich etwas zurück, eine unangenehme, stickige Wärme kam ihm
entgegen. Er mußte husten“ (S. 21). „Der Gang war schmal und niedrig, es roch nach Nikotin.“
(S. 21) Der Fremde taucht im Dunkel auf, doch wird er nur nach und nach erkennbar, nur durch
einzelne Lichtflecken, das, was von ihm im Dunklen bleibt, bleibt bedrohlich, gefährlich. „Durch
die Tür drangen ein paar Lichtflecken der Hofbeleuchtung herein. […] Er sah die Spitzen zweier
Schuhe und in grauen Flanell gehüllte Knie, und erst dann nahm er den Rest wahr, den ganzen
Mann, er saß an der Wand, mit angezogenen Beinen und war ganz offensichtlich bewußtlos oder
eingeschlafen.“ (S. 23) Der ‚Eindringling’ wirkt hier plötzlich harmlos, doch die Beruhigung hält
nicht an, sofort folgt wieder ein aufschreckender Sinneseindruck, das Gefühl des
Ausgesetztseins: „Die Scheinwerfer eines im Hof ausparkenden Autos richteten sich auf die Tür
und erhellten den Vorraum, das verwirrte ihn. […] Er wußte, die ganze Situation würde jetzt

- 115 -
ohne sein Zutun voranschreiten, er stand bloß mittendrin, wehrlos, in einem fremden
Treppenhaus.“ (S. 23f.) Auch wenn der Leser wohl durch die Freundlichkeit des Fremden und
der sein Verhalten erklärenden Aussage, dass er nur etwas habe ausladen wollen und das Schloss
klemme, eine gewisse Beruhigung spüren wird, so wird er trotzdem nicht ganz immun werden
gegenüber dem Erleben des alten Mannes. Dieser bleibt gegenüber dem Fremden wachsam:
„Dann hörte er ein Schleifen. Es klang so, als ob schwere Schachteln oder Kartons unter einem
Bett hervorgezogen und hochgewuchtet wurden“ (S. 29) und später fällt ihm auf, „daß der Mann
schnell atmete, obwohl er ihn nicht hatte springen oder laufen sehen.“ (S. 29) Das normalste
Geräusch der Welt, wenn jemand etwas ausladen muss – das Schleifen von Schachteln –, wird
durch den spannungsvoll aufgeladenen Kontext und durch den tastenden Vergleich „es klang so,
als ob“ zu etwas Bedrohlich-Geheimnisvollem. Ebenso das schnelle Atmen des Mannes. Die
Ausdrucksweise und die Wahrnehmungen des alten Mannes erwecken den Eindruck, als läge in
allen Dingen etwas Bedrohliches, etwas Geheimnisvolles und Verborgenes, das gebannt werden
muss, indem man ihm auf den Grund geht, indem man es mit bis zum Äußersten gespannten
Sinnen „ausleuchtet“ – doch trotz aller Anstrengungen bleiben die Dinge ungreifbar.
Natürlich stimmt es, wenn es, wie in einer Rezension von Ursula März, heißt:

In seinem Wachtraum gehen Realität und Halluzination ineinander über, und Inka Parei
ist eine Meisterin dieses Übergangs. Der Fremde zum Beispiel, der dem alten Mann
plötzlich auf einer Treppe gegenübersteht, kann realer Einbrecher oder Traumgestalt sein,
ein Erinnerungsphantom oder sogar der Alte selbst, der sich im Fieber seiner letzten
Lebensstunden als anderer sieht. Die ganze Topografie des Hauses ist nichts anderes als
eine Metapher des biografischen Geländes, das der Alte ein letztes Mal durchstreift, auf
220
der Suche nach der Wahrheit jener verdrängten Kriegsszene.

Natürlich lässt sich die Beunruhigung, die Gespanntheit, mit der der alte Mann seiner Umwelt
begegnet, als Zeichen des zunehmend misslingenden Vergessens lesen, der Schrecken als der
Schrecken der Vergangenheit, der verdrängten Schuld, die sich langsam und eruptiv Luft macht:
„Im Sterben blickt er in seine Vergangenheit. Da lauert, was Dunkelheit war (und bleiben wird),
da lauert seine Schuld. Vor der ist er weggelaufen sein Leben lang, die hat er verdrängt. Jetzt
drängt sie herauf, fliegen ihm Fetzen von Bildern ins löchrig gewordene Hirn.“221 Doch wer den
Text auf diese ‚hermeneutische’ Dimension reduziert und darüber seine sinnlich erfahrbare
Wirklichkeit unerklärt lässt222, wer an ihm interpretierend nur auf das Finden einer Aussage
abzielt, die der Text vielleicht tätigt über die Wucht der Rückkehr von Verdrängtem, über das
Leben im „Deutschen Herbst“ 1977 usw., der lässt eine wesentliche Dimension dieses Textes

220
Ursula März: Ein alter Mann im Gebäude der Erinnerung. In: Tages-Anzeiger vom 7. 1. 2006, S. 43.
221
Krekeler, Totentanz, S. 4.
222
Tatsächlich wird von zahlreichen Rezensenten die sinnliche Prägnanz und Erfahrbarkeit des Textes herausgestrichen.

- 116 -
unbeleuchtet, jene nämlich der Atmosphäre, die er evoziert und die der Leser bei der Lektüre
leiblich-affektiv an ihm erlebt.

- 117 -
6. Ausblick

Die ersten tastenden Schritte in Richtung einer Analyse textueller Faktoren der Evokation von
leiblich-affektivem Erleben beim Leser sind getan. In der vorliegenden Arbeit wurde versucht
unter Heranziehung von Böhmes Theorie der Atmosphären als zentraler theoretischer Grundlage
eine solche Analyse als Analyse von Erzeugenden zu entwerfen. Erzeugende haben als
Gegenstandskonstituenten zentralen Anteil an der Konstitution von Atmosphären im aktuellen
Erleben eines Wahrnehmenden. Als Physiognomie eines Textes evozieren sie leiblich-affektives
Erleben bei einem Leser. Sie sind zentraler Untersuchungsgegenstand, wenn es darum geht zu
fragen, wie ein Text Atmosphäre evoziert.
Mit der Physiognomie eines Textes ist der Untersuchung eine ‚objektive’ Grundlage gegeben.
Eine Untersuchung in diesem Sinne ist nun nicht mehr zurückgeworfen auf das der Betrachtung
unzugängliche aktuelle Erleben eines Subjekts, sondern sie findet ihren Gegenstand (auch) im
Text selbst. Wie in der Arbeit an mehreren Stellen ausführlich erläutert wurde, bedeutet das
jedoch nicht, dass das erlebende Subjekt dadurch ‚neutralisiert’ werden könnte. Atmosphäre
konstituiert sich ausschließlich im Erleben des Wahrnehmenden und erst durch ein solches
Erleben werden textuelle Komponenten zu Erzeugenden von Atmosphären. Die von mir
vorgeschlagene Herangehensweise an Texte kann keine absolut gültigen Erkenntnisse über
Machart und Wirkungsweise von Texten liefern. Ob ein Text Atmosphäre evoziert und welche
Atmosphäre er evoziert, bleibt in letzter Instanz vom erlebenden Leser abhängig. Was mir mein
Ansatz jedoch zu leisten scheint, ist die Öffnung des literaturwissenschaftlichen Blicks für diese
Dimension literarischer Texte. Gleichzeitig scheint er mir ein Instrumentarium zu liefern, um das
eigene Erleben – über den Rekurs auf den Text – diskutierbar zu machen, damit zielt meine
Arbeit in letzter Konsequenz nicht nur auf literaturwissenschaftliche Arbeiter, sondern auch auf
den interessierten ‚nicht-professionellen’ Leser. Durch meinen Ansatz ist die Reflexion auf das
eigene Erleben sowie dessen Versprachlichung – und damit Diskutierbarkeit – erleichtert und es
eröffnet sich dadurch eine neue Perspektive für intensive Auseinandersetzungen mit einem Text.
Dabei ist nicht auszuschließen, dass eine derartige Auseinandersetzung mit einem Text das
Erleben bei einer nächsten Lektüre beeinflussen kann. Atmosphären-Analysen können in diesem
Sinne als Wahrnehmungshilfen verstanden werden.
Ich habe mich in der vorliegenden Arbeit bemüht, die Schwächen, die mein Ansatz hat, nicht zu
verbergen, sie sollen hier im Sinne des Vorschlags weiterführender Forschungsperspektiven
nochmals zusammengefasst werden.

- 118 -
Ein zentraler ‚blinder Fleck’ meiner Arbeit bleibt die Rolle der Vorstellungskraft für das leiblich-
affektive Erleben von Texten. Böhme nimmt keine eindeutige Bestimmung des Verhältnisses
von Wahrnehmung und Vorstellungskraft für das Erleben vor, die sich auf das Feld literarischer
Texte erweitern ließe. Umgekehrt lassen sich bestehende Theorien zur Illusionsbildung in
literarischen Texten, die sich mit der Rolle der Vorstellungskraft bei der Rezeption
auseinandersetzen, nicht nahtlos mit Böhme in Einklang bringen, da der Begriff der
Wahrnehmung, den sie ihren Arbeiten zugrunde legen, ein anderer ist. Man kann nicht Böhmes
Konzeption als Theorie der Wahrnehmung heranziehen und dem eine Theorie der
Vorstellungskraft ‚aufpfropfen’. Wahrnehmung und Vorstellungskraft stehen in enger Beziehung
zueinander und die theoretische Bestimmung der einen Fähigkeit hat Konsequenzen für die
theoretische Auffassung, die man sich von der anderen Fähigkeit macht. Weiterführende
Arbeiten müssten eine Basis finden, die beide Fähigkeiten von vornherein in ihrem
Zusammenspiel zu fassen versucht. In Zusammenhang damit würde auch eine eingehendere
Untersuchung der Einstellungswechsel stehen, die der Lesende vornehmen muss, um einen Text
leiblich-affektiv erleben zu können.
Eine weitere Forschungsperspektive ergibt sich durch die, meiner Ansicht nach, absolut
unzureichende Auseinandersetzung mit der leiblich-affektiven Wahrnehmung von Zeitlichkeit
bei Böhme. Erst eine Arbeit, die diese Dimension ‚einholt’, darf darauf hoffen, in umfassender
Weise textuelle Faktoren analysierbar zu machen, die leiblich-affektives Erleben beim Leser
evozieren. Wie Wolf – und mit ihm freilich eine lange Tradition der Betrachtung erzählerischer
Texte – meiner Ansicht nach zu Recht betont, liegt der Vorrang von Erzähltexten in der
Narration von Geschehen und Handlungszusammenhängen. Gegen meine Arbeit muss ins Feld
geführt werden, dass intensives leiblich-affektives Erleben gerade auch von den dynamischen
Textkomponenten evoziert wird. Eine Ausweitung des Atmosphären-Ansatzes über statische
Textkomponenten hinaus würde einen Schritt hin zur Analyse der Physiognomie von gesamten
Texten bedeuten. Evozieren Texte als Ganzes – nicht nur einzelne Textpassagen – so etwas wie
eine Grundatmosphäre? Immer wieder wird in Rezensionen versucht eine derartige
Gesamtatmosphäre von Texten zu fassen. Lässt sich dies auch in die wissenschaftliche
Betrachtung überführen? Und wenn ja, durch welche Mittel wird so eine Grundstimmung durch
einen Text evoziert?
Die Betrachtung der Evokation leiblich-affektiven Erlebens sollte jedoch auch insofern
ausgedehnt werden, als sie angebunden werden sollte an die Dimension des Textsinns. Welche
Funktionen übernehmen Atmosphären in gesamttextlichen Zusammenhängen? Welche Rolle
spielen Atmosphären für die Konstitution von Textsinn? In einem solchen Rahmen würde sich

- 119 -
wohl auch die Diskussion über das Vorhandensein oder Fehlen einer möglichen kritischen
Dimension des Atmosphären-Ansatzes aufdrängen. Die Evokation von Illusion, von affektivem
Erleben steht aus verschiedensten Perspektiven stets unter einem gewissen ‚ideologischen’
Verdacht. Ein weiterführender Ansatz könnte und sollte sich mit diesem Verdacht
auseinandersetzen. Auch für Böhme weist die Analyse von Atmosphären stets auf einen
kritischen Fluchtpunkt hinaus. Ohne dies jemals im Detail auszuführen, betont Böhme an
zahlreichen Stellen, dass Atmosphären, insofern sie die Befindlichkeit der Menschen
modifizieren, auch massiven Einfluss auf deren Ansichten und auf deren Handeln haben können.
In diesem Zusammenhang könnte man Atmosphären-Analyse einbeziehen in eine Betrachtung,
die versucht ‚Überzeugungs-Strategien’ literarischer Texte offenzulegen. Literarische Texte
reproduzieren gesellschaftliche Machtzusammenhänge, reflektieren oder modifizieren sie. Wenn
wir nicht nur verstehende, handelnde, sondern auch leiblich-affektiv erlebende Wesen sind, dann
dürften Atmosphären dabei eine zentrale Rolle spielen.
Die ersten tastenden Schritte in Richtung einer Analyse textueller Faktoren der Evokation von
leiblich-affektivem Erleben beim Leser sind getan. Vielleicht ist eines der erfreulichsten
Ergebnisse meiner Arbeit, dass diese ersten Schritte sich nicht als Schritte hinein in eine
Sackgasse erwiesen haben, sondern sich ausgehend von diesem Punkt mannigfaltige Wege
eröffnen für ein Weiterdenken.

- 120 -
Literaturverzeichnis

Theoretische Literatur

Böhme, Gernot: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre.


München: Fink 2001.

Böhme, Gernot: Atmosphäre als Grundbegriff einer neuen Ästhetik. In: G. B.: Atmosphäre.
Essays zur neuen Ästhetik. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995. (= edition suhrkamp. 1927.) S. 21-
48.

Böhme, Gernot: Das Atmosphärische der Dämmerung. In: G. B.: Anmutungen. Über das
Atmosphärische. Ostfildern vor Stuttgart: Ed. Tertium 1998, S. 13-34.

Böhme, Gernot: Atmosphärisches in der Naturerfahrung. In: G. B.: Atmosphäre. Essays zur
neuen Ästhetik. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995. (= edition suhrkamp. 1927) S. 66-84.

Böhme, Gernot: Phänomenologie oder Ästhetik der Natur? In: Zur Phänomenologie der
ästhetischen Erfahrung. Hrsg. von Anna Blume. Freiburg und München: Alber 2005. (= Neue
Phänomenologie. 2.) S. 17-25.

Böhme, Gernot: Physiognomik in der Naturästhetik. In: G. B.: Atmosphäre. Essays zur neuen
Ästhetik. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995. (= edition suhrkamp. 1927) S. 132-151.

Böhme, Gernot: Der Raum des Gedichts. In: Wer Eile hat, verliert seine Zeit. Raum für Sprache
– Raum für Literatur. Texte zur IX. Literaturbegegnung Schwalenberg. Mit 14 Photographien
von Ines Kreisler. Hrsg. von Brigitte Labs-Ehlert. Detmold: Literaturbüro Ostwestfalen-Lippe
2001, S. 95-111.

Böhme, Gernot: Der Raum leiblicher Anwesenheit und der Raum als Medium von Darstellung.
In: Performativität und Medialität. Hrsg. von Sybille Krämer. München: Fink 2004, S. 129-140.

Böhme, Gernot: Das Schöne und andere Atmosphären. 13. Vorlesung. In: Anthropologie in
pragmatischer Hinsicht. Darmstädter Vorlesungen. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1985, S. 192-207.

Böhme, Gernot: Synästhesien. In: G. B.: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik.
Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995. (= edition suhrkamp. 1927.) S. 85-98.

Böhme, Hartmut; Böhme, Gernot: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von
Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1985. (= sw. 542.)

Brockhaus multimedial 2002 premium. Mannheim: Bibliographisches Institut & F. A.


Brockhaus AG 2001. [s.v. Evokation] [CD-ROM]

Hauskeller, Michael: Atmosphären erleben. Philosophische Untersuchungen zur


Sinneswahrnehmung. Berlin: Akademie Verlag 1995.

- 121 -
Henckmann, Wolfhart: Atmosphäre, Stimmung, Gefühl. In: Atmosphäre(n). Annäherungen an
einen unscharfen Begriff. Hrsg. von Rainer Goetz und Stefan Graupner. München: kopaed 2007,
S. 45-84.

Krämer, Sibylle: Was haben ‚Performativität’ und ‚Medialität’ miteinander zu tun? Plädoyer für
eine in der ‚Aisthetisierung’ gründende Konzeption des Performativen. Einleitung. In:
Performativität und Medialität. Hrsg. von S. K. München: Fink 2004, S. 13-32.

Lorenz, Claudia: Atmosphäre. Eine praktische Annäherung an den ästhetischen Begriff Gernot
Böhmes am Beispiel des Museums für moderne Kunst Frankfurt am Main. Online unter:
http://www2.rz.hu-berlin.de/museumspaedagogik/forschung/lorenz/atmosphaere.html [Stand
2008-09-29].

Mahayni, Ziad: Atmosphäre als Gegenstand der Kunst. Monets Gemäldeserie der Kathedrale
von Rouen. In: Neue Ästhetik. Das Atmosphärische und die Kunst. Hrsg. von Z. M. München:
Fink 2002, S. 59-69.

McLuhan, Marshall: Understanding Media. The extensions of man. London und New York:
Routledge 2006.

Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung. Aus dem Franz. übers. und
eingeführt durch eine Vorrede von Rudolf Boehm. Berlin: de Gruyter 1965. (=
Phänomenologisch-Psychologische Forschungen. 7.)

Schouten, Sabine: Der Begriff der Atmosphäre als Instrument der theaterästhetischen Analyse.
In: TheorieTheaterPraxis. Hrsg. von Hajo Kurzenberger und Annemarie Matzke. [Berlin]:
Theater der Zeit [2004]. (= Recherchen. 17.) S. 56-65.

Schouten, Sabine: Sinnliches Spüren. Wahrnehmung und Erzeugung von Atmosphären im


Theater. Berlin: Theater der Zeit 2007. [Zugl.: Berlin, Univ. Diss. 2006].

Schütz, Alfred: Wissenschaftliche Interpretation und Alltagsverständnis menschlichen


Handelns. In: A. S.: Gesammelte Aufsätze. Bd. 1: Das Problem der sozialen Wirklichkeit. Mit
einer Einf. von Aron Gurwitsch und einem Vorwort von H. L. Breda. Aus dem Amerik. übers.
von Benita Luckmann und Richard Grathoff. Den Haag: Nijhoff 1971, S. 3-54.

Smuda, Manfred: Der Gegenstand in der bildenden Kunst und Literatur. Typologische
Untersuchungen zur Theorie des ästhetischen Gegenstands. München: Fink 1979. (= Theorie und
Geschichte der Literatur und der schönen Künste. 54.)

Smuda, Manfred: Wahrnehmungstheorie und Literaturwissenschaft. In: Sozialität und


Intersubjektivität. Phänomenologische Perspektiven der Sozialwissenschaften im Umkreis von
Aron Gurwitsch und Alfred Schütz. Hrsg. von Richard Grathoff und Bernhard Waldenfels.
München: Fink 1983. (= Übergänge. Texte und Studien zu Handlung, Sprache und Lebenswelt.
1.) S. 272-292.

Sontag, Susan: Against Interpretation. In: S. S.: Against interpretation. And other essays. New
York: Farrar, Strauß & Giroux 1967, S. 3-14.

- 122 -
Stierle, Karlheinz: Was heißt Rezeption bei fiktionalen Texten? In: Poetica 8 (1975), S. 345-
387.

Ströker, Elisabeth: Philosophische Untersuchungen zum Raum. Frankfurt/Main: Klostermann


1965.

Wolf, Werner: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst. Theorie und
Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. Tübingen: Niemeyer
1993. (= Buchreihe der Anglia, Zeitschrift für englische Philologie. 32.) [Vorher: München,
Univ. Habil.-Schr. 1991.]

Texte

Büchner, Georg: Lenz. In: G. B.: Lenz. Der Hessische Landbote. Nachwort von Martin Greiner.
[Nachdruck] Stuttgart: Reclam 2002. (= UB. 7955.) S. 3-33.

Fontane, Theodor: Effi Briest. Roman. Mit einem Nachwort von Kurt Wölfel. [Nachdruck]
Stuttgart: Reclam 1994. (= UB. 6961.)

Hochgatterer, Paulus: Die Süße des Lebens. Roman. Wien: Deuticke 2006.

Parei, Inka: Was Dunkelheit war. Roman. München: btb 2007. (= btb. 73261.)

Ransmayr, Christoph: Der fliegende Berg. Roman. Frankfurt/Main: Fischer 2006.

Walser, Martin: Ein fliehendes Pferd. Novelle. In: M. W.: Werke in zwölf Bänden. Hrsg. von
Helmuth Kiesel unter Mitwirkung von Frank Barsch. Bd. 5: Seelenarbeit. Roman. Ein fliehendes
Pferd. Novelle. Brandung. Roman. Dorle und Wolf. Novelle. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997,
S. 269-357.

Literatur zu Paulus Hochgatterer

Haas, Franz: Auslöschung im frostigen Österreich. In: NZZ vom 21. 11. 2006, S. 27.

Plöschberger, Doris: Einer würfelt, und einer fliegt raus. In: Tages-Anzeiger vom 10. 11. 2006,
S. 59.

Pfohlmann, Oliver: Fließende Grenzen. In: Frankfurter Rundschau vom 15. 11. 2006, S. 16.

Reinacher, Pia: Die ganz normale Verrücktheit. Paulus Hochgatterers Psychokrimi stöbert das
Böse in der Idylle auf. In: FAZ vom 10. 11. 2006, S. 38.

Wirthensohn, Andreas: Mehr als ein Krimi. In: Wiener Zeitung (extra) vom 23. 9. 2006, S. 11.

Literatur zu Christoph Ransmayr

- 123 -
Breitenstein, Andreas: Am Vermessungspunkt des Lebens. In: NZZ vom 23. 9. 2006, S. 32.

Mangold, Ijoma: Höhenrausch im Flattersatz. In: Süddeutsche Zeitung vom 22. 9. 2006, S. 16.

Nüchtern, Klaus: Von Bergen und Brüdern. In: Falter (Buchbeilage) vom 6. 10. 09, S. 6f.

Paterno, Wolfgang: Über allen Gipfeln ist Ruh’. In: profil vom 25. 9. 2006, S. 153.

Polt-Heinzl, Evelyne: Nach dem Unbekannten … In: Die Furche vom 28. 9. 2006, S. 18.

Schröder, Christoph: Der Berg der Erkenntnis. In: Frankfurter Rundschau vom 28. 9. 2006, S.
20.

Schütte, Uwe: Hoffnung auf die unbelehrbare Unvernunft. In: Wiener Zeitung (extra) vom 30. 9.
2006, S. 5.

Zeyringer, Klaus: Hoch hinaus. In: Der Standard (Album) vom 23. 9. 2006, S. 6.

Literatur zu Inka Parei

Krekeler, Elmar: Rödelheimer Totentanz. In: Die Welt (Die literarische Welt) vom 19. 11.
2005, S. 4.

März, Ursula: Ein alter Mann im Gebäude der Erinnerung. In: Tages-Anzeiger vom 7. 1. 2006,
S. 43.

Noltze, Holger: Herbstschatten liegen über Deutschland. In: FAZ vom 19. 10. 2005, S. L4.

Strigl, Daniela: Der alte Mann und die RAF. In: Falter (Buchbeilage) vom 21. 10. 2005, S. 16.

Alle verwendeten Rezensionen wurden vom Innsbrucker Zeitungsarchiv bezogen.

- 124 -

Das könnte Ihnen auch gefallen