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Seenotrettung: Der Mythos vom Pull-Faktor

Die neue Libyen-Mission der EU ist von der Angst bestimmt, noch mehr Menschen nach Europa zu
locken. Dieser Ansatz ist nicht nur unethisch, sondern auch unvernünftig.
Ein Gastbeitrag von Matteo Villa
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Der Mythos vom Pull-Faktor – Seite 1


Die Operation EUNAVFOR MED Sophia der Europäischen Union endet in diesem März. Diese
Operation – erst viel gepriesen, dann viel verspottet – zeigt sinnbildhaft, wie vergiftet die Debatte
um die Rettung von Leben im Mittelmeer in den vergangenen Jahren geworden ist. Die Operation
offenbart aber noch einen größeren Missstand: das Versäumnis der EU-Mitgliedsstaaten, eine
Einigung darüber zu erzielen, wie Migrationspolitik auf vernünftige und rationale Weise gestaltet
werden kann.
Vergangene Woche haben die EU-Außenminister beschlossen, die Operation Sophia einzustellen
und gemeinsam eine neue, ganz andere Operation zu starten. Bei dieser Operation geht es
ausdrücklich darum, "einen Pull-Faktor zu vermeiden", der Migranten erst zur Überfahrt aus Libyen
ermutigen könnte. Diese neue Operation soll vermutlich im Osten Libyens zum Einsatz kommen,
an einem Abschnitt der libyschen Küste (Cyrenaika), von wo aus seit mindestens 2017 keine
Migranten und Flüchtlinge mehr die Überfahrt nach Europa angetreten haben.

Matteo Villa
ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Italian Institute for International Political Studies (ISPI). Er
arbeitet im Migrationsprogramm des ISPI, wo er sich hauptsächlich mit internationalen
Migrationsbewegungen und der europäischen Migrationspolitik befasst. Er hat die G20, das
italienische Parlament, das britische Unterhaus und die Stadt Mailand beraten.
Wie viel Angst die Staats- und Regierungschefs der EU vor einer Zunahme der
Migrationsbewegungen haben, zeigt sich auch in ihrer Ankündigung, die Operation sofort
auszusetzen, sobald es Anzeichen dafür gibt, dass sie als "Pull-Faktor" wirkt. Wie die Staatschefs
nachweisen wollen, dass diese Operation tatsächlich mehr Menschen dazu ermutigt, auf Boote
Richtung Italien zu steigen, erklärten sie nicht. So ein Ansatz schwächt die neue Operation und wird
sie anfällig machen für die politischen Launen einzelner Mitgliedsstaaten. Aber wie konnte es so
weit kommen?
Zwischen Mai 2015, als sie gestartet wurde, und Juli 2018, als sie ihren letzten Einsatz im zentralen
Mittelmeerraum hatte, rettete die Operation EUNAVFOR MED rund 43.000 Menschen. Die
Operation wurde Sophia genannt, nachdem eine gerettete Frau im August 2015 ein Mädchen an
Bord eines zur Operation entsandten, deutschen Schiffs zur Welt gebracht hatte. Das kleine
Mädchen war das erste Kind, das jemals an Bord eines deutschen Militärschiffs geboren wurde.
Die EU-Operation mit Sitz in Italien wurde nicht mit dem speziellen Auftrag gestartet, Migranten
auf See zu retten, sondern Schmuggel und Menschenhandel zu bekämpfen. Das internationale Recht
schreibt jedoch vor, dass Menschen, deren Boote in Seenot geraten sind, immer gerettet und an
einen sicheren Ort gebracht werden müssen. Darunter fallen in jedem Fall jene Menschen, die auf
klapprigen Booten, oft ohne funktionierenden Motor, im offenen Meer treiben. Die Operation
Sophia hat eben diese Menschen mehr als drei Jahre lang gerettet. Sophia sorgte auch dafür, dass
die von Migranten benutzten Boote von den Schmugglern nicht erneut verwendet werden konnten:
Im Laufe der Jahre wurden mehr als 550 Boote zerstört.

Kampagne gegen private Seenotretter


Doch die Operation Sophia geriet zunehmend in die Kritik. In Italien wurde bemängelt, dass eine
EU-weite Operation die Menschen systematisch nur in einem einzigen Mitgliedsstaat von Bord
bringen würde, da sie vorsieht, im nächstgelegenen Hafen eines ausreichend großen EU-Landes
anzudocken. Was zunächst wie ein nachvollziehbarer Einwand wirkte, wurde zu einer
Verschwörungstheorie aufgebauscht, der zufolge der damalige italienische Premierminister Matteo
Renzi eine Art Tauschhandel eingegangen sein soll: Er habe die Migranten in Italien nur aussteigen
lassen, um im Gegenzug von der Europäischen Kommission die Gewähr zu erhalten, mehr
Schulden machen zu können.
Auch wurde die Operation Sophia seit Ende 2016 in die Kampagne gegen private Seenotretter
verwickelt. Private Seenotretter wurden beschuldigt, ein Pull-Faktor für Migranten aus Libyen zu
sein. Je näher und häufiger Rettungsschiffe an der libyschen Küste eingesetzt würden, so die
Argumentation, desto mehr Menschen würden versuchen, von Libyen nach Europa zu gelangen.
Diese Behauptung erschien so logisch, dass nur wenige sie infrage stellten oder Belege dafür
erwarteten. Auffällig ist, dass die ersten Anschuldigungen bezüglich eines vermeintlichen Pull-
Faktors aus einem vertraulichen Bericht der EU-Grenzbehörde Frontex stammen. Dabei
beschäftigte Frontex zum Zeitpunkt dieses Berichts eine eigene Marineoperation und tut das noch
immer.
Wir können mehr Leben retten
Die Retter, deren Schiffe von NGOs betrieben wurden, wurden beschuldigt, Schmuggler und
Menschenhändler zu unterstützen – eine Behauptung, die nach über drei Jahren und 18 getrennten
Ermittlungen ständig widerlegt wurde. Die Operation Sophia wurde zunächst lediglich beschuldigt,
als unbeabsichtigter Magnet für Überfahrten nach Europa zu fungieren. Doch je stärker sich viele
politische Parteien in Europa gegen die Retter im zentralen Mittelmeerraum stellten, desto größer
wurde auch ihre Kritik an Sophia. In Italien plädierten sowohl die rechte Liga von Matteo Salvini
als auch die populistische Fünf-Sterne-Bewegung für die Einstellung der Operation.
Die EU-Mitgliedsstaaten haben unterschiedliche Ansichten zur Operation Sophia vertreten.
Bundeskanzlerin Angela Merkel etwa hat sie mehrfach verteidigt. Doch auch innerhalb der CDU
hat ihre Position zunehmend an Unterstützung verloren. Wie stark die Vorbehalte vieler Länder in
Europa gegen Sophia waren, wurde deutlich, als im Juni 2018 eine neue italienische Regierung
gewählt wurde. Unter der Führung von Premierminister Giuseppe Conte und unterstützt von der
Liga und der Fünf-Sterne-Bewegung plädierte die italienische Regierung umgehend für die
Beendigung der Operation. Die Unterstützung für die Marinemission der EU aus den anderen 27
Ländern war so gering, dass in nur einem Monat fast alle Schiffe von Sophia aus dem zentralen
Mittelmeerraum verschwunden waren. Nach dem Juli 2018 führte die Operation Sophia keine
einzige Rettung mehr durch, auch unterbrach sie weder den Schmuggel noch den Menschenhandel.
Im März 2019 folgte dann die formale Aufkündigung der Operation: Die EU-Mitgliedsstaaten
stimmten zu, alle Schiffe abzuziehen, also eine Marinemission ohne Schiffe zu betreiben.
In dieser Zeit wurde die Behauptung, dass Rettungseinsätze als Pull-Faktor fungierten, kaum
hinterfragt. Bloße Anekdoten schienen ihn zu belegen: Nachdem Italien seine Operation Mare
Nostrum gestartet hatte, stieg die Zahl der Abfahrten aus Libyen sprunghaft an. Dem steht aber eine
andere Entwicklung gegenüber: Nach dem Juli 2017, als zwei EU-weite Marineoperationen
durchgeführt wurden, Sophia und Triton, sank die Zahl der Abfahrten aus Libyen um 75 Prozent,
bis Mitte 2018 war sie um 95 Prozent niedriger als 2016.
Da es kaum offizielle Forschung dazu gibt, hatten mein Kollege Eugenio Cusumano und ich eine
Idee. Im Jahr 2019 waren alle offiziellen staatlichen Rettungsschiffe aus dem zentralen Mittelmeer
verschwunden. Allein private Rettungsschiffe von NGOs waren noch vor der Küste Libyens im
Einsatz. Wir fragten daher: Steigert die Präsenz von NGOs in unmittelbarer Nähe der libyschen
Küste die Überfahrten von Menschen aus Libyen?

Die Menschen fliehen vor Krieg und Instabilität


Wir haben Daten für den größten Teil des Jahres 2019 gesammelt und ein Papier veröffentlicht, das
belegt, dass dies nicht der Fall ist. Wir stellten fest, dass die Rettungsaktivitäten von NGOs die Zahl
der Abfahrten aus Libyen nicht erhöhten; die Zahl war fast genau identisch mit der Zeit, als keine
Schiffe in der Region anwesend waren. Die Zahl jener, die die Überfahrt aus Libyen antraten,
schien eher vom Wetter beeinflusst zu sein – mit steigenden Temperaturen wagen mehr Menschen
die Überfahrt, bei starken Winden weniger – und von den politischen Bedingungen in Libyen, nicht
aber von der Präsenz von Rettungsbooten. Wir sammeln bis heute diese Daten und können sagen:
Für die Zeit zwischen Januar 2019 und Mitte Februar 2020 lässt sich ein Pull-Faktor ausschließen.
All das zeigt, wo die EU versagt. Es wäre naiv, zu argumentieren, dass politische
Entscheidungsträger nicht auf einen möglichen Pull-Faktor achten sollten. Unsere Ergebnisse
zeigen jedoch, dass es einen vorsichtigeren Ansatz bei der Migrationspolitik braucht, der sich an
Belegen orientiert. Wir verfügen heute über die Daten und Mittel, um das richtige Gleichgewicht
zwischen Ethik und Sicherheitsbedenken zu finden.
Eine vernünftige Strategie wäre es, mit einer kleinen Anzahl von Schiffen zu beginnen und zu
testen, ob sie die Abwanderung von Migranten aus Libyen erheblich erhöhen würden. Wenn dies
nicht der Fall ist, wäre es eine Win-win-Situation: Wir könnten mehr Leben retten, ohne zu
riskieren, dass sich sehr viel mehr Menschen auf den Weg nach Europa machen. Leider wählt die
EU einen anderen Weg.
Aus dem Englischen übersetzt und bearbeitet von Andrea Backhaus.
Link zum Forschungspapier https://cadmus.eui.eu/handle…

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