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Katharina Kühl

Familiengeschichten
Zeichnungen von Maria Wissmann
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme
Kühl, Katharina:
Leselöwen-Familiengeschichten / Katharina Kühl
Zeichn. von Maria Wissmann.
1. Aufl. – BindLach : Loewe, 1999
(Leselöwen)
ISBN 3-7855-3359-4
Dieses Buch ist auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt.
ISBN 3-7855-3359-4- 1. Auflage 1999 © 1999 Loewe Verlag GmbH,
Bindlach Umschlagillustration: Maria Wissmann
Inhalt
Raubtierärzte............................ 8
Chaoten-Katja......................... 14
Bunte Bilder............................ 21
Stoppelschnitt und Pferdeschwanz
.............................................. 27
Der Tollpatsch......................... 34
Tanja und die Meckertante....... 42
Mindestens für hundert Jahre... 51
Raubtierärzte
Katrin ist Mannis große Schwester. Sie
ist schon sechs und kommt bald in die
Schule. Trotzdem wird sie nur mit Manni
spielen. Das hat sie ihm fest versprochen.
Natürlich muss Manni bei jedem Spiel
tun, was Katrin sagt. Aber das ist in
Ordnung, denn Katrin hat immer prima
Ideen.
Heute hat sie sich ausgedacht, was sie
beide mal werden wollen.
„Raubtierärzte!“, sagt sie. „Dabei erlebt
man eine Menge Abenteuer. Ich werde
der Arzt und du mein Assistent!“
„Ist ein Assistent etwas Wichtiges?“,
will Manni wissen.
„Na klar! Der Assistent hilft doch dem
Arzt. Aber natürlich ist der Arzt noch
wichtiger!“
„Kann ich dann nicht lieber der
Raubtierarzt werden?“, fragt Manni.
Katrin schüttelt den Kopf: „Kommt nicht
in fage! Das Gefährliche muss immer der
Größere machen!“
Manni glaubt fest daran, dass er eines
Tages genauso groß wie Katrin sein wird.
Aber noch ist es leider nicht so weit.
„Stell dir nur mal vor, wir verarzten
einen Tiger!“, gibt Katrin zu bedenken.
Tiger kennt Manni aus dem Zoo. Nein
danke, da will er lieber der Assistent sein.
„Gut“, sagt Katrin. „Fangen wir gleich
an!“
„Mit einem Tiger?“ Manni reißt
erschreckt die Augen auf.
„Mit einem Minitiger, Dummkopf!“, sagt
Katrin. „Wir müssen doch erst mal üben.
Wir verarzten Mobbel.“
Manni ist erleichtert. Mobbel hat
Streifen wie ein richtiger Tiger, ist aber
viel, viel kleiner. Und gefährlich ist er
ganz bestimmt nicht. Der liegt immer nur
faul auf der Mauer zum Nachbargarten.
Eine Maus würde der nicht mal
bemerken, wenn sie ihn am Schnurrbart
zupfte. Ein echter Trottel!
„Hol meine Arzttasche“, kommandiert
Katrin.
Manni hat es ja geahnt: Die doofen
Dinge muss natürlich der Assistent
machen!

Katrin hat die Arzttasche zum


Geburtstag bekommen. Es ist alles
vorhanden: Mullbinden, ein Gerät zum
Abhorchen, eine Schere, Pflaster,
Fieberthermometer. Nur weiße Arztkittel
sind nicht dabei. Deshalb bindet Katrin
sich und ihrem Assistenten ein weißes
Küchenhandtuch um.
Mobbel sonnt sich auf seiner Mauer. Er
blinzelt träge.
„Dreh ihn um“, ordnet Katrin an.
„Warum?“ Manni findet, dass er wissen
muss, weshalb er etwas tun soll.
„Weil Mobbel Bauchweh hat und ein
Pflaster auf den Bauch bekommen soll!“,
erklärt Katrin.
„Hat er sich überfressen?“
„Zu viele fette Mäuse!“
„Aber Mobbel ist doch viel zu faul zum
Mäusefangen!“
„Nun dreh ihn schon um, zum
Donner!“ Katrin schneidet ein Stück
Pflaster von der Rolle. Manni wälzt den
Kater auf den Rücken. Mobbel lässt es
sich widerstrebend gefallen.
„Halt ihn gut fest!“, mahnt Katrin.
Manni packt Mobbel noch ein bisschen
fester

. Mobbel ist kitzlig und beginnt zu


strampeln. Außerdem hat er
herausbekommen, dass man Pflaster
nicht fressen kann. Unwillig schlägt er mit
der Pfote zu. Vor Schreck lässt Manni ihn
los, und der Spitzohrpatient
verschwindet fauchend im Gebüsch.
„Du hast ihn laufen lassen“, schimpft
Katrin.
„Er hat mich gekratzt“, versucht Manni
sich zu verteidigen.
„Ist schon okay“, sagt Katrin
versöhnlich. „Vielleicht ist Raubtierarzt
doch zu gefährlich! Ich glaube, wir
werden lieber Menschenarzt. Gib deine
Hand her!“
Mobbels Bauchpflaster landet auf
Mannis Hand. Der Kratzer ist kaum zu
sehen und tut auch gar nicht weh. Aber
Manni findet, dass Arztsein lange nicht
so gefährlich ist wie Assistentsein. Und
darum sollte der Kleinere den Raubtier-
arzt machen! Er sagt es aber nicht.
Große Schwestern behalten ja doch
immer Recht!
Das Pflaster sieht immerhin prima aus.
Chaoten-Katja
Es gibt Kinder, die ihren Anorak auf
den Haken hängen, wenn sie von der
Schule nach Hause kommen, die ihre
schmutzigen Schuhe im Flur ausziehen
und die Monopoly-Kärtchen nach dem
Spielen in den Karton zurücklegen. Die
auch immer alles wieder finden. Solch
ein Kind hätte die Mutter gern. Aber die
Mutter hat Katja. Chaoten-Katja.
Chaoten-Katja wirft ihren Anorak in die
nächste Ecke, behält ihre Schuhe an,
auch wenn sie durch den Matsch
gelaufen ist, und räumt nie irgendetwas
ein. In ihrem Zimmer sieht es immer aus,
als wenn gerade eine Bombe darin
explodiert wäre.
Eine
Es gibt Mütter, denen ist das egal. Die
machen einfach die Augen zu. Oder die
Tür zum Kinderzimmer. So eine Mutter
hätte Chaoten-Katja gern. Aber sie hat
ihre.
Katjas Mutter macht eine Weile die
Augen zu. Dann ruft sie plötzlich aus
heiterem Himmel: „Jetzt reicht es mir
aber mit deiner Unordnung! Jetzt wird
aufgeräumt!“
Der absolute Horror! Katja weiß nicht,
ob es Lehrer oder Mütter sind, die einem
den Tag gründlicher vermiesen können.
Außerdem, was für ihre Mutter
Unordnung ist, ist für Katja urgemütlich.
Was die Mutter dagegen ordentlich
nennt, findet Katja schlicht ätzend. Wo
soll man da anfangen? Entmutigt sieht
Katja sich in ihrem Zimmer um.
Zum Glück fällt ihr da ein, was der
Vater immer sagt: Man muss „planmäßig
vorgehen“.
Das ist die Lösung! Katja weiß jetzt,
was sie zu tun hat: Sie muss sich erst
mal einen Plan machen. Einen
Aufräumplan. Genau! Damit geht dann
alles ratz-fatz. Die Mutter wird staunen!
Katja reißt eine Seite aus ihrem
Schreibheft, sucht einen Bleistift, der
noch nicht abgebrochen ist, wischt mit
dem Ärmel Müll vom Tisch und fängt an.
Klar, ein guter Plan will gründlich
überlegt sein! Soll man zum Beispiel als
Erstes den Papierkorb ausleeren oder
die Spiele einsortieren? Die Puzzleteile
einsammeln oder endlich die Poster
aufhängen? Und was ist mit der
Puppenküche, den schmutzigen T-Shirts
und den herumliegenden Söckchen?
Katja überlegt hin und her, verbraucht
noch sieben Seiten ihres Schreibheftes,
aber dann endlich steht der Aufräumplan.
Damit kann sie jetzt echt „planmäßig
vorgehen“.
Also, Punkt eins: den linken Turnschuh
suchen. Katja sieht sich um, da fällt ihr
Blick auf Carlo. Carlo Brumm, ihren
ältesten und größten Teddybären. In
letzter Zeit hat sie ihn ein bisschen
vernachlässigt. Er sieht traurig aus,
findet sie. Und schmutzig ist er auch.
Also, wenn man schon Ordnung schafft,
dann mit allem Drum und Dran!
Katja läuft ins Badezimmer. Im
Waschbecken bereitet sie ein Bärenbad
mit ganz viel Schaum. Carlo hat es
wirklich einmal nötig! Sie setzt Carlo
hinein und schrubbt ihn gründlich! Dass
Wasser und Schaum dabei reichlich
überschwappen, ist nicht Katjas, sondern
Carlos Schuld. Er ist einfach zu groß für
das Becken. Katja braust ihn deshalb in
der Duschwanne ab. Und danach muss
Carlo natürlich trockengerubbelt werden.
Doch das ist nicht so einfach. Nachdem
Katja alle Handtücher verbraucht hat, ist
sein Fell immer noch patschnass. Egal,
wozu gibt es einen Föhn? Föhn, Kamm
und Bürste. Nichts sieht unordentlicher
aus als ein strubbeliger Bär!
Katja ist so mit Carlo Brumms Toilette
beschäftigt, dass sie nicht bemerkt, wie
die Badezimmertür aufgeht.
„Ja, was ist denn hier los?“, ruft die
Mutter entsetzt. „Ich denke, Katja, du
räumst auf?“
„Na, ich bin doch dabei, Mama! Alles
planmäßig!“
„Planmäßig?“, fragt die Mutter
verständnislos.
„Genau. Ich hab nur die Reihenfolge
ein bisschen geändert. Carlo hat mich so
traurig angesehen, weißt du!“
Die Mutter schüttelt den Kopf. Es ist
bereits Abend. In Katjas Zimmer sieht es
mehr denn je nach einer Explosion aus.
Vom Badezimmer ganz zu schweigen!
Chaoten-Katja!
„Ich gebe auf!“, murmelt die Mutter.
Bunte Bilder
„Kommt überhaupt nicht infrage! Um
diese Zeit wird nicht mehr
ferngesehen!“ Die Mama schüttelt
energisch den Kopf.
„Aber alle anderen Kinder in der Klasse
dürfen die Serie sehen. Nur ich nicht!“,
versucht Ulli es noch einmal.
„Es ist mir egal, was die anderen
Kinder dürfen. Du gehst jedenfalls
schlafen“, antwortet die Mama. „Morgen
früh kommst du wieder nicht aus dem
Bett!“
Ulli ist sauer. Es ist ungerecht! Alle
werden Bescheid wissen. Nur er kann in
der Pause wieder nicht mitreden. Wie
immer. Auslachen werden sie ihn!
„Wie wäre es, wenn ich dir nachher
etwas vorlese?“, schlägt der Papa vor.
„Vorlesen ist doof!“, mault Ulli.
„Ach, und warum ist Vorlesen doof?“,
will der Papa wissen.
„Weil man da nur zuhören kann. Man
sieht nichts. Das ist mopslangweilig.
Beim Fernsehen sieht man bunte Bilder.
Das ist spannend!“
„Dann soll ich dir also nichts vorlesen?“
„Doch!“, erwidert Ulli schnell, denn
Vorlesen ist immer noch besser als gar
nichts.
„Na schön“, antwortet der Papa. „Wenn
du im Bad fertig bist, komme ich zu dir!“
Auf den Papa ist Verlass. Wenig später
sitzt er bei Ulli auf der Bettkante. Er hat
ein dickes Buch mitgebracht.
„Sind da bunte Bilder drin?“, fragt Ulli.
„Nein“, antwortet der Papa. „Aber weißt
du was? Ich habe eine Idee!“
„Ja...?“ Ulli ist nicht begeistert. Ein
Buch ohne Bilder ist wie ein Eisbecher
ohne Sahne!
„Pass auf!“, sagt der Papa. „Während
ich vorlese, schließt du die Augen. Mach
sie einfach zu, und ich wette, dann siehst
du viele bunte Bilder!“
„Okay!“ Soll der Papa ruhig glauben,
dass er auf so etwas hereinfällt! Ulli
angelt sich seinen Bären, kuschelt sich in
die Decke und kneift die Augen fest zu.
Der Papa schlägt das Buch auf.
Und tatsächlich kommen beim Zuhören
die Bilder. Ganz von allein. Viele bunte,
aufregende Bilder: Ulli sieht ein tosendes,
bleigraues Meer. Mit weiß
aufschäumenden Wellen. Er sieht einen
Dreimaster. Und gleich noch einen
Segler, einen kleineren, der rasch aufholt.
In seinem Mast flattert die
Totenkopfflagge. Und da: Piraten!

Sie kommen näher und näher. Jetzt


kann Ulli ihre grimmigen Fratzen
erkennen, wilde, zottelige Bärte,
schwarze Augenklappen, Narben,
goldene Ohrringe. Er hört sogar ihr
hämisches Lachen. Schon schwingen
sie die Enterhaken. Da gelingt es dem
Kapitän im letzten Moment, das Ruder
herumzureißen. Eine Böe fährt
rauschend in die Segel, der Dreimaster
zischt wie ein Pfeil davon.

Die Piraten fallen zurück und sind bald


nicht mehr zu sehen. Der Dreimaster ist
gerettet. Die Mannschaft jubelt. Der
kleine Schiffsjunge im Ausguck lacht und
winkt Ulli fröhlich zu. Er winkt noch immer,
als der Papa schon lä ngst aufgehört hat
zu lesen.
Vorsichtig klappt der Papa das Buch zu,
streicht Ullis Decke glatt, macht das Licht
aus und geht auf Zehenspitzen leise
hinaus.
Stoppelschnitt und Pferdeschwanz
Nur der Mutter gelingt es, die beiden
auseinander zu halten. Anne und Maria
sind Zwillinge. Sie sehen sich ähnlich wie
ein Entenküken dem anderen Enten-
küken, wie ein rotes Gummibärchen
einem anderen roten Gummibärchen
oder wie..., egal! Jedenfalls kann sie
keiner außer ihrer Mutter voneinander
unterscheiden. Der Oma gelingt es
manchmal. Dem Vater nur mit Mühe.
Dass die beiden Mädchen ständig wie
die Kletten zusammenhängen und auch
immer die gleichen Sachen tragen,
macht die Dinge nicht einfacher!
In der Schule ist es immer ein
Riesenspaß, wenn alle zu rätseln
beginnen, ob sich gerade Anne oder
Marie meldet. Nur Frau Hoffmann, die
Lehrerin, findet das gar nicht lustig.
„Wie soll ich euch beide denn
beurteilen?“, fragt sie. „Was soll ich euch
für Noten geben, wenn ich nie weiß, wer
mir auf meine Fragen antwortet?“
In ihrer Not wendet sie sich an die
Mutter, und die weiß schließlich Rat.
„Anne, Marie!“, ruft sie die beiden
Mädchen eines Nachmittags. „Ab
morgen zieht ihr euch so an, dass man
euch in der Schule nicht mehr
verwechseln kann!“
„Oh nein, Mama!“, kommt der
gemeinsame Protest.
„Na schön.“ Die Mutter gibt scheinbar
nach. „Dann tragt ihr weiter die gleichen
Sachen. Was ist eure Lieblingsfarbe?“
„Blau!“, ruft Anne.
„Rot!“, ruft Marie.
Die Mutter lächelt. „Dachte ich es mir
doch!“, sagt sie. „Na, dann schaut euch
an, was ich euch aus der Stadt
mitgebracht habe!“

„Neue Klamotten! In Blau und in Rot!“,


ruft Anne begeistert.
„Aber abgesehen von der Farbe ist
alles gleich!“, sagt Anne.
„Alles okay?“, fragt die Mutter. „Aus
euren anderen Sachen wart ihr ja schon
ein bisschen herausgewachsen!“
Von nun an trägt Anne in der Schule
immer Blau und Marie Rot. Außerdem
flicht die Mutter Anne morgens einen
Zopf, während sie Maries Haar zu einem
Pferdeschwanz bindet. So ist es mit der
Lehrerin abgemacht.

Aber der kommt bald ein Verdacht:


„Anne, Marie“, fragt sie misstrauisch,
„tauscht ihr etwa eure T-Shirts?“
„Niemals!“, antwortet Anne.
„Manchmal!“, antwortet Marie.
Die Klasse kichert.
„Es ist wirklich nicht einfach mit euch
beiden!“, seufzt die Lehrerin. „Ich werde
dafür sorgen, dass eine von euch in die
Parallelklasse versetzt wird!“
Anne und Marie sehen sich erschreckt
an.
Am nächsten Morgen fehlen die
Zwillinge. Doch plötzlich, die Stunde hat
längst begonnen, geht die Tür auf, und
da sind sie: Anne und Marie. Eins der
beiden Mädchen trägt igelartige, kurze
Stoppelhaare, das andere den
gewohnten Pferdeschwanz.
„Ich bin Anne! Dass das klar ist!“, sagt
der Igel. „Ich habe es satt, dauernd
verwechselt zu werden!“
„Ich bin Marie!“, sagt der Pferde-
schwanz. „Ich will endlich nur noch ich
sein!“
„Und ich“, sagt die Lehrerin, „ich bin
froh, dass das R ätselraten jetzt vorbei ist.
Anne, setz dich. Marie, komm an die
Tafel!“
Der Tollpatsch
Tobias kann sich noch so sehr
vorsehen. Es passiert einfach immer
wieder: Er stolpert über die Teppichkante.
Oder über seine eigenen Füße. Er wirft
mit dem Ärmel eine Tasse um. Oder lässt
das Brötchen auf seine Jeans fallen.
Meistens mit der Marmeladenseite nach
unten!
„Du bist ein richtiger kleiner
Tollpatsch!“, sagt seine Mutter dann
immer lachend und wischt oder sammelt
auf, was eben aufzuwischen oder
aufzusammeln ist. Aber in letzter Zeit
lacht die Mama weniger, wenn Tobias
mal wieder etwas umgeworfen hat. Seit
das Baby da ist.
Babys sind auch Tollpatsche, findet
Tobias. Sie spucken, sie sabbern und
machen in die Windeln. Aber bei Babys
scheint das keinen zu stören. Eins ist klar:
Zwei Tollpatsche sind zu viel für eine
Mama! Deshalb kommt die Oma
angereist.
Jetzt hat die Mama jede Menge Zeit für
das Baby. Und die Oma für Tobias. Sie
spielt mit ihm zum Beispiel
Mensch-ärgere-dich-nicht. Wenn Tobias
dabei die Püppchen umwirft, lacht sie nur.
Und wenn er mogelt, merkt sie das nicht

einmal. Die Oma geht auch mit Tobi


einkaufen. Einmal entdecken sie in
einem Laden etwas ganz Tolles: eine
Flasche mit einem Segelschiff im Bauch.
„Das ist ein Buddelschiff!“, sagt die
Verkäuferin. Sie holt es vom Regal
herunter und stellt es auf den Ladentisch.
Jetzt kann Tobias es genau betrachten:
die beiden Masten, die winzigen Segel,
das Ruder. Aber auf einmal, Tobi weiß
nicht warum, fällt die Flasche herunter
und zerspringt. Dabei bricht das schöne
Segelschiff entzwei.

„Oh nein!“, ruft die Verkäuferin, „was


bist du doch für ein Tollpatsch!“
Tobias fängt sofort an zu weinen. Vor
Schreck, und weil er weiß, dass man
dann weniger ausgeschimpft wird.
Die Oma schimpft auch nicht. Wortlos
bezahlt sie den Schaden. Erst draußen
vor dem Geschäft sagt sie: „So geht das
nicht weiter. Komm!“
Sie nimmt Tobias an die Hand und geht
mit ihm in ein Geschäft, in dem er noch
nie gewesen ist. Eine Weile spricht sie
mit einem Mann im weißen Kittel. Der
winkt sie und Tobias in ein Hinterzimmer.
Dort muss Tobias auf einen hohen Stuhl
klettern. Der Mann, den die Oma
„Optiker“ nennt, setzt ihm ein ulkiges
Gestell auf die Nase. Tobias kann nun
nur noch mit einem Auge sehen. Der
Optiker fragt ihn: „Was siehst du?“

„Nur einen großen braunen Fleck“,


antwortet Tobias.
Der Mann verändert etwas an dem
Apparat und fragt wieder: „Was siehst du
jetzt...?“
„Und jetzt...?“
„Und jetzt...?“
Und Tobi antwortet: „Einen braunen
Fleck!“
„Einen braunen Bauch!“
„Einen braunen Bauch mit Armen,
Beinen und Kopf!“
„Einen Teddybär!!“
Nun kommt das andere Auge an die
Reihe. Danach darf Tobias von dem
Stuhl wieder herunterklettern.
„Klarer Fall“, sagt der Optiker. „Du
brauchst eine Brille. Es wundert mich,
dass du nicht dauernd etwas
umgeworfen hast!“
Tobias und die Oma gucken sich an
und lachen.
Zu Hause erzählen sie alles der Mama.
Die nimmt Tobi in ihre Arme und drückt
ihn ganz fest. „Mein kleiner Tollpatsch
braucht eine Brille“, ruft sie. „Dass ich
Dummkopf nicht selber darauf
gekommen bin!“
Tobis Augen werden zur Sicherheit
noch einmal von einem Augenarzt
geprüft. Ein lustiges Brillengestell darf er
sich selber aussuchen.
Eine Woche später ist die neue Brille
fertig. Tobias setzt sie auf – und staunt:
Die Welt sieht plötzlich ganz anders aus!
Die Autos haben Nummern. Der weiße
runde Fleck oben am Kirchturm ist eine
Uhr. Mit Zahlen, einem großen und
einem kleinen Zeiger. Das Gras ist nicht
einfach nur Gras, sondern besteht aus
tausend einzelnen Halmen.
„Ich sehe, was vorher gar nicht da war!“,
ruft Tobias. „Und alles haargenau! Das
ist wie Zauberei! Einfach obersuper!“
„Obersuper!“, bestätigt die Oma. „Und
ich werde beim
Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel nun nie
mehr mogeln können!“
Da muss Tobi lachen, und die Oma
lacht mit.
Tanja und die Meckertante
„Tschüss, Mama!“ Tanja hakt den Gurt
ihres signalroten Ranzens ein, tritt in den
Flur und wirft die Tür krachend hinter sich
ins Schloss. Wie immer guckt sie zuerst
vorsichtig über das Geländer, ob die
Meckertante auch nicht zu sehen ist.
Tante Rosinski. Sie ist eine entfernte
Tante von Papa. Außerdem gehört ihr
das Haus. Sie wohnt im Erdgeschoss
und sieht alles. Und wehe, es putzt sich
jemand nicht ordentlich die Füße ab oder
macht die Tür nicht leise zu. Dann gibt es
ein Donnerwetter. Kinder kann sie
überhaupt nicht ausstehen und
besonders nicht Tanja. Tanja nennt sie
heimlich die Meckertante.
Heute scheint die Meckertante
verschlafen zu haben. Umso besser!
Tanja will das eine Stockwerk gerade auf
dem Treppengeländer hinunterrutschen,
da geht unten die Tür auf. Jetzt bleibt ihr
nichts übrig, als die Treppe zu Fuß
herunterzuhüpfen. Wobei sie extra laut
aufstampft. Soll die Meckertante sich
doch aufplustern!
Aber diesmal bleibt das Donnerwetter
aus. Tanja sieht die Tante in ihrer
offenen Tür stehen. Gebückt. Mit einer
Hand hält sie sich den Rücken. Die
andere krampft sich um einen Müllbeutel.
Ihr Gesicht ist von Schmerzen verzerrt.
Zum ersten Mal fällt Tanja auf, dass sie
schon ziemlich alt sein muss. Schüchtern
fragt Tanja: „Soll ich den Müll
wegbringen?“
Tante Rosinski nickt dankbar. Tanja
trägt den Beutel auf den Hof, wo sie ihn
in eine der Tonnen wirft. Als sie
zurückkommt, steht die alte Frau immer
noch am gleichen Fleck. Sie hat sich
jedoch ein wenig aufgerichtet.
„Mein Ischias“, seufzt sie. „Danke,
mein Kind!“
Es ist das erste Mal, dass Tanja die
Meckertante lächeln sieht. Diese
plötzliche Freundlichkeit ist ihr
unheimlich.
„Ich muss los!“, ruft sie und ist schon
aus der Tür.

Wenig später betritt Herr Flottmann,


der Briefträger, das Haus. Hier verteilt er
die Post immer im Eiltempo. Nur schnell
wieder weg, bevor die alte Nörgeltante
ihn voll sülzt!
Heute hat er ein Päckchen für Kramers
dabei. In den Briefkasten passt es nicht.
Also muss er wohl oder übel die drei
Treppen nach oben stiefeln! Da öffnet
sich die Tür im Erdgeschoss. „Auch das
noch“, denkt Herr Flottmann. „Jetzt gibt
es gleich wieder ein Gezeter!“
Doch die alte Frau fragt nur: „Wohin
wollen Sie?“
„Zu Kramers“, antwortet der Briefträger
und zeigt auf das Päckchen.
„Geben Sie es mir, ich muss später
sowieso nach oben gehen!“, bietet sie
ihm freundlich an.
„Danke!“, sagt der Briefträger
überrumpelt. Was ist heute nur mit der
Nörgeltante passiert? Kein Gemecker!
Und sie nimmt ihm auch noch einen Weg
ab? Fröhlich pfeifend verlässt Herr
Flottmann das Haus.
Draußen hat ein feiner Nieselregen
eingesetzt. Trotzdem bleibt der
Briefträger am Zebrastreifen stehen und
lässt ein Auto vorbeifahren. Die
Freundlichkeit der alten Frau hat auch
ihn freundlich gestimmt. Und dieser
Fahrer scheint es besonders eilig zu
haben.
Der Autofahrer ist tatsächlich spät dran.
Er hat sich beim Rasieren geschnitten,
dabei sein bestes Hemd dreckig
gemacht, und obendrein ist ihm auch
noch ein Schnürsenkel gerissen.
Ausgerechnet heute, wo er pünktlich im
Büro sein muss! „Nett von dem Brief-
träger, mir den Vorrang zu lassen“, denkt
der Autofahrer. „Hätte er doch gar nicht
nötig gehabt. Noch dazu bei dem
Regen!“ Plötzlich schämt er sich. „Ich bin
ein rücksichtsloser Hornochse“, sagt er
sich und nimmt den Fuß vom Gaspedal.
„Was soll die Raserei! Einmal tief
durchatmen! Komme ich eben zu spät
ins Büro!“
Zwei Straßen weiter hüpft plötzlich ein
Kind zwischen zwei parkenden Autos auf
die Fahrbahn. Ohne sich umzugucken.
Der Autofahrer tritt wie wild auf die
Bremse, und es gelingt ihm tatsächlich,
dem Kind schlingernd auszuweichen.
Doch ihm zittern die Knie vor Schreck.
Nicht auszudenken, was hätte passieren
können, wenn er immer noch so gerast
wäre!
Das Kind scheint nichts von der Gefahr
bemerkt zu haben. Es ist schon auf der
anderen Straßenseite. Der signalrote
Ranzen tanzt lustig auf seinem Rücken.
„Vielleicht ist die Meckertante ja gar
keine Meckertante“, überlegt Tanja.
„Vielleicht ist sie nur eine sehr, sehr alte
Tante.“ Sie hüpft weiter, wobei sie Acht
gibt, nicht auf die Pflasterfugen zu treten.
Mindestens für hundert Jahre
Sven ist ein Angeber. Das steht für
Toni fest. Immer hat er das Neueste und
das Beste. Und wie er damit rumprotzt!
Ein Fahrrad mit 18 Gängen, Roller-
skates in Neonfarben und jetzt diese
Inlineskates. Dabei wackelt er darauf
herum wie eine fußlahme Ente. Zum
Totlachen! Kein Wunder, dass er immer
für sich alleine ist! Wer will sich mit so
einer Niete schon abgeben!
Toni hockt auf der Rinnsteinkante. Die
Ellenbogen auf die Knie gestützt und das
Kinn in den Händen vergraben. So
beobachtet er Sven schon eine ganze
Weile. Er würde sich jedenfalls nicht so
dämlich anstellen, wenn er solche tollen
Skates hätte! In null Komma nix könnte
er damit Achter fahren! Alles Banane! Er
wird es ja doch nie beweisen können.
Viel zu teuer, die Dinger!
Täuscht er sich, oder guckt der Blödi
öfter zu ihm rüber?
Toni springt auf und schlendert lässig
auf die andere Straßenseite. Ein runder
Stein zum Dribbeln kommt ihm gerade
recht. Da eiert dieser Typ doch direkt auf
ihn zu. Toni kann nicht anders: Er
schubst den Stein in Svens Richtung.
Der schafft es nicht, ihm auszuweichen,
und landet auf seiner Nase. Direkt vor
Tonis Füßen.
„Wenn du damit nicht laufen kannst,
warum lässt du es nicht bleiben?“, fragt
Toni schadenfroh.
„Kannst du es denn besser?“, schnappt
Sven zurück.
„Ich? Ich hab gar keine Skates!“, sagt
Toni und ärgert sich sofort darüber. Was
geht das schließlich den Angeber an.
„Dafür hast du aber eine große Klappe,
was?“ Sven pustet auf seine Hand, die er
sich beim Sturz aufgeschürft hat.
Toni fühlt sich plötzlich ziemlich mies.
„Komm, steh auf!“, sagt er und streckt
Sven die Hand hin.
„Ich kann alleine aufstehen!“, erwidert
Sven wütend.

Umständlich beginnt er, seine


Inlineskates auszuziehen. Er sieht Toni
nicht an, als er sagt: „Wenn du keine
Skates hast, kannst du meine haben! Mir
ist sowieso die Lust vergangen!“
„Du spinnst ja!“, stammelt Toni
verblüfft.
„Ich habe zwei Paar!“, sagt Sven.
„Was?“ Toni kann es nicht fassen. „Ein
Paar für alltags und eins für sonntags,
was?“, versucht er zu spotten.
„Ein Paar von meinem Vater und eins
von meiner Mutter“, sagt Sven.
„Das ist doch bescheuert!“
„Genau!“ Sven nickt. „Meine Eltern sind
geschieden. Ich habe fast alles doppelt.“
„Mann, du hast es gut!“
„Mir wäre lieber, ich würde die öfter mal
sehen. Aber mein Vater hat eine neue
Familie.“
„Und deine Mutter?“
„Arbeitet. Die sehe ich nur abends.
Manchmal!“, setzt er hinzu. „Und wie ist
das bei dir?“
„Genau umgekehrt. Meine Eltern sind
immer da. Keine Arbeit. Und dann sind
da noch die drei Mädchen. Alles
Nervensägen!“
„Bei euch ist immer toll was los, oder?“,
fragt Sven.
„Kann man sagen!“, murmelt Toni.
„Weißt du was?“ Sven wird plötzlich
lebhaft. „Du kannst alles kriegen, was ich
doppelt habe!“
Toni verschlägt es die Sprache. Erst
nach einer Weile fragt er: „Du meinst
geschenkt? Das geht nicht! Meine Eltern
würden das nie erlauben! Und deine
bestimmt auch nicht!“
„Die würden es nicht mal mitkriegen,
Mann!“
„Egal“, Toni schüttelt den Kopf, „ich
lasse mir nichts schenken!“
„Dann...“, Sven überlegt, „dann
vielleicht leihen? Nur so? Ich meine,
solange wir zusammen sind? So
ungefähr für...“
„... hundert Jahre?“, fragt Toni und
guckt in eine andere Richtung.
„Für hundert Jahre mindestens!“, sagt
Sven.
Gemeinsam gehen die beiden Jungen
weiter. Jeder trägt einen der Inlineskates.
Sven geht auf Socken. Es ist ein neues,
tolles Gefühl!
Katharina Kühl, geboren 1939 in Stettin, studierte
Soziologie und Sprachen. Seit 1971 ist sie freie
Autorin und schreibt Hörspiele, Rundfunkfeatures
sowie Kinder- und Jugendbücher. Sie lebt mit ihrer
Familie in Hamburg.

Maria Wissmann wurde 1961 in Berlin geboren


und wohnt dort immer noch mit ihrem Mann und ihrem
kleinen Sohn. Schon als Kind hat sie gerne gemalt
und gezeichnet, und sie hat dies nach Abschluss
eines Grafik-Design-Studiums 1987 zu ihrem Beruf
gemacht. Neben Kinderbüchern hat sie auch
Schulbücher und Bildergeschichten für das
Kinderfernsehen illustriert.

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