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INTERNATIONALE STUDIERENDE UND POLITISCHES ASYL IN DER DDR

Kadriye Karcı

Wer aber sagte uns, was Würde sei? Verantwortlichen für uns gefällt wurden, von
Christa Wolf in »Was bleibt« den Klamotten, die wir tragen, bis hin zu den
Getränken, die wir trinken sollten … Das Ge-
Ich erinnere mich nicht seit wann, jedes Jahr fühl, sich wie ein Objekt zu fühlen, ist wieder
im November lese ich bevorzugt Christa eingetreten, während ich diese Zeilen formu-
Wolf. Es mag sein, dass diese Mühe eine An- liere, allerdings nun im historischen Kontext,
näherung an das Verstehen ist. Ich versuche also ein Objekt der Geschichte, ein Objekt,
wahrscheinlich, mich in ihren Romanen wie- das schreibt und spricht.
derzufinden, vielleicht ist es ein vergeblicher
Versuch, meine Erlebnisse aus einem Sys-
tem, das nicht in der Form erlebt sein sollte, Politischer Flüchtling
aus Christa Wolfs Zeilen herauszulesen, ich
versuche es andersherum zu lesen, die Be-
schattungen, die Abhörungen, und Präsenz Ich bin in die DDR gekommen ohne den heu-
der Polizei vor meiner Türschwelle zu spü- tigen Begriff des politischen Flüchtlings aus
ren, eindringend bis in meine engsten Krei- der BRD zu kennen. Ohnehin habe ich erst
se. Ich versuche, wie Christa Wolf meine nach dem Fall der Mauer während der Be-
innere Stimme zu erreichen. Dieses Jahr be- rufungsphase meines abgelehnten Antrages
gleitet mich Ihr Werk »Was bleibt«, in ihrem auf die deutsche Staatsbürgerschaft erfah-
Titel verzichtet sie auf ein Fragezeichen so- ren, dass ich ein politischer Flüchtling in der
wie überhaupt auf eine Zeichensetzung, zu- DDR war, beziehungsweise nun so betrach-
erst fasse ich es als eine Frage auf und stelle tet wurde.
schnell fest, dass es keine ist. Die Auslas- Nach dem Fall der Mauer hatten die Geset-
sung ist der blanke Versuch, das Gebliebene ze der DDR noch ihre Gültigkeit bis zum 3.
wahrzunehmen. Oktober 1990 und während ich versuchte,
meinen Aufenthaltsstatus/mein Studenten-
Was bleibt visum zu einem fristlosen Aufenthalt zu än-
dern, fand ich heraus, dass ich eigentlich
Nach dem Fall der Mauer habe ich mich ge- das Recht auf eine doppelte Staatsangehö-
fühlt wie ein Objekt, ich wusste nicht, was ich rigkeit in der DDR hatte. Ich war schwanger
begehrte, was ich liebte, welche Farben ich und versuchte mir vorzustellen, in die Türkei
mochte, ob ich eine Hose oder einen Rock zurückzukehren und gleichzeitig meinen le-
anziehen wollte. Ich erzähle das nicht, um galen Aufenthaltsstatus in Deutschland zu
mein Begehren gegenüber dem Konsum sichern. Meinen Antrag auf die Staatsbür-
zum Ausdruck zu bringen, sondern um meine gerschaft stellte ich noch in der DDR. Da
Lage aufgrund der Strukturen zu verdeutli- sich allerdings die bürokratischen Prozes-
chen – weil in der Zeit unserer illegalen Akti- se verzögerten, wurde mein Fall unter den
vitäten alle unsere Entscheidungen von den Kriterien der BRD-Gesetze verarbeitet und
statt einer doppelten Staatsangehörigkeit die Zugänglichkeit zu Büchern und Philoso-
erhielt ich eine Ablehnung. Das hatte viel phen, welche in der DDR nicht zu finden ge-
Aussagekraft. Ich hatte in der DDR gelebt, wesen waren. So habe ich Werke von Rosa
marxistisch-leninistische Philosophie an der Luxemburg und Gramsci erst Jahre später
Humboldt-Universität studiert und folglich lesen können. Ich hatte ihre Bücher einfach
war ich uninteressant für die BRD. Ich habe vorher nicht gesehen und kann mich an de-
mich der Entscheidung widersetzt und habe ren Erwähnung während meines Studiums
Einspruch eingelegt, indem ich klagte. Meine nicht erinnern. Nebst dieser Leerstelle hatten
Akte lag nun der Ausländerbehörde vor und wir unsere kritische Dialektik nicht ausbau-
hier erfuhr ich auch, dass ich ein politischer en können, indem wir die westeuropäischen
Flüchtling war. Ich hatte keinen blassen progressiven, demokratischen oder kommu-
Schimmer, ob in der DDR überhaupt etwas nistischen Werke nicht in die Hände krieg-
wie ein Ausländergesetz existierte, mein Sta- ten – sie waren schlichtweg nicht zu finden
tus beruhte auf inoffiziellen Absprachen der gewesen. Ich beendete mein Studium an der
Kommunistischen Partei Türkei und der SED Humboldt-Universität im Jahr 1991. Im letz-
und das hatte ich nie hinterfragt, da ich nie ten Semester kamen Dozenten aus West-
in eine Situation kam, wo ich mich innerhalb deutschland, um Lesungen und Vorträge
der Gesellschaft in der DDR legal rechtferti- abzuhalten und wir entdeckten gemächlich
gen musste. die uns bisher vorenthaltene Welt.
Der Prozess dauerte an bis 1995/1996 und
ging an das Landesgericht. Ich verlor und
hatte die Option auf Berufung. Allerdings hät- Die größte Erfahrung in meinem Leben
te mich das 30.000 Mark gekostet, falls ich
den Berufungsprozess verlieren würde, wo- Die wollen, dass ich ihnen gleich werde, denn
für ich einfach nicht die Mittel hatte. In dem das ist die einzige Freude, die ihrem armen Le-
Gerichtsbeschluss war festgelegt, dass ich ben geblieben ist: andere sich gleich zu machen.
erst in 8 Jahren wieder einen Antrag auf die Christa Wolf in »Was bleibt«
deutsche Staatsbürgerschaft stellen durf-
te. Das war meine erste Begegnung mit den Ich möchte einen zuvor erwähnten Gedanken
Gesetzen und der gesellschaftlichen Auffas- fortführen; in der Illegalität und in der DDR,
sung in der BRD und der Aushebelung der wobei ich das erst im Nachhinein verstanden
Errungenschaften der DDR. Nachdem mei- habe, wurden wir alle zu Objekten und Funk-
ne Wartezeit für einen erneuten Staatsbür- tionen innerhalb der kommunistischen Par-
gerschaftsantrag abgelaufen war, stellte ich tei der Türkei, wie in allen anderen Parteien,
meinen Antrag erneut. Nach sechs Jahren die Mitglieder der Kommunistischen Inter-
Bearbeitung wurde er angenommen und ich nationale sind. Zu versuchen, die eigene In-
habe die deutsche Staatsbürgerschaft erhal- dividualität wieder zu erlangen und zugleich
ten. Im späteren Verlauf musste ich noch des wieder in einem kapitalistischen System zu
Öfteren feststellen, wie die antikommunisti- sein, obwohl ich genau aus diesem Grund
sche Haltung bis ins tiefste Mark des Staates meine Heimat verlassen hatte, kränkte mich.
drängte. Innerhalb der Partei wurde es zwar nicht of-
Das wohl Positivste am Mauerfall für mich ist fen ausgesprochen, aber es machte sich be-
merkbar, dass die Funktionen und Objekte ßeren zu urteilen, dass ich aussah wie eine
innerhalb einer Partei in konspirativen Be- Kurdin oder Lateinamerikanerin. Ich wün-
wegungen und unter Umständen des Kalten sche mir, dass wir uns nicht nach ethnischen
Krieges keine demokratischen Verhältnis- oder nationalen Zugehörigkeiten definieren
se erwarten konnten, nicht allzu viele Fra- müssen.
gen stellen oder auch nicht oppositionell An dem Denkmal an der Bernauer Straße
sein durften. Schließlich wurden diese Vor- gehe ich auf die Ostseite der Mauer, dann
gehensweisen von meiner damaligen kom- wieder in den Westen, dann wieder auf die
munistischen Partei der Türkei vergötzt und Ostseite … Östlich oder westlich der Mauer
alle Parteimitglieder waren sowieso schon zu zu sein, ich glaube, dass ich mich auf der Ost-
Volkshelden ernannt. seite immer noch wohler fühle, gesellschaft-
In dem Zustand des Objekts wird das eigene lich gesehen bin ich immer noch im Osten,
Denken nicht mehr gebraucht, beziehungs- oder auf der anderen Seite, hier möchte ich
weise praktiziert, folglich bleibt einem dann auch sein. Wie einige meiner alten Genossen
auch keine Farbe mehr übrig, für die man aus dem Westen es zu sagen pflegten: Ich
sich als Lieblingsfarbe entscheiden könnte. bin eine »Ost-Türkin«, was auch immer das
Natürlich ist das eine Widersprüchlichkeit, bedeuten mag …
da die gleiche Partei, die mich zu diesem Zu- Es ist das Jahr 1984 in Istanbul, mein Vater
stand bringt, mich darin unterstützt und för- und ich sind sehr glücklich darüber, dass ich
dert, eine neue Sprache zu lernen und fünf mein Jurastudium nach einem Jahr abschlie-
Jahre marxistisch-leninistische Philosophie ßen würde. Jede Woche, wenn er aufgrund
zu studieren. Wer hätte das gedacht, dass seiner Arbeit als Lastenfahrer nach Istanbul
ich eines Tages Marx und Kant in ihrer Mut- kommt, träumen wir davon. Allerdings gibt
tersprache lesen und am allerwichtigsten: es Tatsachen, die mein Vater vielleicht er-
verstehen kann, und im Vergleich zu den ahnt, aber nicht weiß. Wie, dass sich unsere
Möglichkeiten der anderen Flüchtlinge …! Jugendorganisation nach dem Putsch am 12.
Die Chance in dem Land zu leben, in dem der September 1980 entschlossen hat, aktiver in
Sozialismus real praktiziert wird, wovon wir das politische Geschehen einzugreifen und
in der Türkei geträumt haben, trotz all meiner ich ein Mitglied dieser Organisation bin, dass
Kritik, das war die größte Erfahrung in mei- viele unserer Freunde in Polizeigewahrsam
nem Leben. sind und dass mein Verlobter und ich ge-
sucht werden.
Mein Vater war in seiner Großfamilie der
Woher kommst Du? Einzige, der sich eine kritische und sozial-
demokratische Haltung angeeignet hat. Wir
waren sechs Geschwister und in unserem
Nachdem die Mauer verschwand, traten die Elternhaus waren Gerechtigkeit, Ehrlichkeit
Nationalitäten wieder in den Vordergrund, und Respekt höchste Werte, danach wurden
was mich sehr stutzig machte. Ich hatte mich wir erzogen. Die literarischen Werke wie von
zuvor nie mit meiner Nationalität vorgestellt. Yasşar Kemal, Yilmaz Güney, Tolstoi, Dosto-
»Woher kommst du?« Woher ich aus der jewski zu lesen war immer eine stark geför-
Türkei stamme? Ich lernte, nach meinem Äu- derte Aktivität. Mit der 68er Bewegung sind
wir als ganze Familie noch politischer gewor- Meine Eltern mussten alles aus eigener Kraft
den. Mein älterer Bruder war an der Universi- finanzieren. Die staatliche Unterstützung
tät einer der Studentenführer. Wie in anderen war äußerst gering und nicht jede/r konn-
europäischen Ländern gab es auch in der Tür- te diese Unterstützung erhalten. Wir waren
kei starke studentische Aktivitäten, in denen sechs Geschwister. Nur mein Vater und eine
mehr demokratische Rechte, wie autonomes meiner Schwestern arbeiteten. Meine Mut-
akademisches Leben, Meinungs- und Pres- ter war Hausfrau. Sie versuchte, neben der
sefreiheit und Versammlungsrecht gefordert Hausarbeit mit Teppichweben den Haushalt
wurden. Wirtschaftlich ging es dem Land zu verbessern. Mein Vater hatte mir aber sei-
auch nicht gut. Die Inflationsrate war sehr ne Unterstützung im Falle einer Zulassung
hoch und Lebensmittel waren knapp. Die zum Jurastudium zugesichert. In Istanbul
Menschen mussten stundenlang anstehen, hatte ich sehr zaghaft die Arbeiten für die
um Nahrungsmittel zu erhalten. Die damali- Jugendorganisation, die der illegalen Kom-
ge Regierung war konservativ. Paramilitäri- munistischen Partei der Türkei (TKP) nahe-
sche Organisationen machten Jagd auf die stand, wiederaufgenommen. Zaghaft und in
demokratischen Kräfte und Student*innen. sich widersprüchlich deshalb, weil ich mein
Mehrere Student*innen wurden entweder Wunschstudium zu Ende bringen wollte und
von diesen paramilitärischen Organisationen die Lage in dem Land und an den Universi-
oder von den Faschisten ermordet. Viele die- täten seit dem Militärputsch 1980 sehr heikel
ser Mordakte wurden bis heute nicht aufge- war. Auf der anderen Seite wollte ich poli-
klärt. Die Aktivitäten von den Student*innen tisch aktiv werden. In der Zeit waren alle po-
wurden dadurch mehr und mehr radikalisiert, litische Aktivitäten unerlaubt, d. h. sie waren
sie besetzten die Universitäten und bestreik- illegal. Angesichts meiner Haltung wurde ich
ten Vorlesungen. Die Studierendenproteste als Kurier für die Verteilung der illegalen Zei-
standen landesweit als erster Punkt auf der tung der Organisation eingesetzt, obwohl ich
Tagesordnung. Schließlich hat die Regierung kein Mitglied der Partei war … Von 1983–1984
in den Großstädten den Ausnahmezustand wollten die TKP und meine Jugendorganisa-
verhängt, worauf im Jahr 1971 ein Militär- tion die politischen Aktivitäten wieder auf-
putsch folgte. In diesen 1970er Jahren hatten nehmen, obwohl weiterhin der militärische
wir viel mit Militär, Gefängnissen und Gerich- Ausnahmezustand herrschte. Es sollte eine
ten zu tun. Diese Zeit war für uns eine der landesweite Verteilaktion der illegalen Partei-
schwierigsten Zeiten unseres Lebens. zeitung Atılım an den Universitäten stattfin-
Nach meinem Besuch eines staatlichen Leh- den. Sie ist aber nicht zustande gekommen,
rergymnasiums bin ich an der Universität in da es kurz davor polizeiliche Durchsuchun-
Izmir 1979 Mitglied der sozialistischen Ju- gen in den Studentenwohnheimen und an
gendorganisation geworden. Nachdem ich den Unis gab. Mehrere Hundert Student*in-
das dortige Studium an der Architekturfakul- nen wurden in Untersuchungshaft gebracht.
tät abgebrochen hatte, begann ich 1982 das Nach den Polizeieinsätzen in der Universität
Jurastudium an der Istanbuler Universität. und in unseren Unterkünften forderte die Or-
Das war ein Luxus für die Einkommensver- ganisation, dass ich mein Studium abbreche,
hältnisse meiner Eltern. An einer Universität aber ich wollte unbedingt zum Jahresende
zu studieren war ein kostspieliges Vorhaben. meine Prüfungen ablegen. Die Partei bestä-
tigte kurz vor den Prüfungen meine Teilnah- ob ich aus der Organisation austrete und zur
me. Zu dieser Zeit erfuhr ich, dass die Polizei Juristin werde, oder ob ich mit meinem Ver-
Freunde über mich befragte. lobten in der Organisation bleibe, um aktiv
Nach meinen Prüfungen ging ich zu meinen am politischen Geschehen teilzuhaben. Das
Eltern zurück, mein Verlobter war bereits in war eine schwierige Entscheidung und ich
die Illegalität gegangen, die Partei forderte entschied mich, unter einer Bedingung ins
mich auf, nach Istanbul zurückzukehren, so- Ausland zu gehen: Ich wollte studieren. Mit
bald es ihrer Meinung nach an der Zeit da- einem gefälschten Pass bin ich mit dem Zug
für wäre. Das war ein schwieriger Sommer am 9. September 1985 mit einem Ticket nach
für mich. Schließlich erhielt ich die erwartete Wien losgefahren. Ich wollte in Sofia ausstei-
Nachricht und verabschiedete mich von mei- gen, mein Verlobter hatte sich zwei Tage zu-
ner Mutter. Sie hatte geahnt, dass etwas nicht vor auf den Weg gemacht.
stimmte, sie sagte »Das wird nicht gut gehen« Am 10. September 1985 kam ich in Sofia an.
und ich kam vorerst nicht mehr zurück. Mein Verlobter und ich blieben dort in ei-
nem Hotel mit Blick auf den zentralen Platz.
Ich erfuhr erst später, dass es das Hotel der
Entscheidung auszureisen Kommunistischen Partei Bulgariens war. Ein
mir bisher unbekannter Genosse empfing
uns und sagte, dass wir die Hotelzimmer
Nach meiner Ankunft in Istanbul bin ich in nicht verlassen dürften, das Essen werde in
die Illegalität übergetreten. Ich lebte gemein- die Zimmer gebracht. Wir haben zuerst nicht
sam mit meinem Verlobten in einer Wohnung verstanden, was das zu bedeuten hat. Später
der Partei. Tagsüber, wenn die Mieter nicht haben wir uns anhand der Stimmen gedacht,
da waren, durften wir keine Laute machen, die wir aus den anderen Zimmern hörten,
keinen Tee kochen, oder etwas zu Essen zu- dass weitere türkisch sprechende Parteian-
bereiten, nicht einmal das Klo spülen. Wenn gehörige in dem Hotel untergebracht waren
die Mieter von der Arbeit zurückkamen, wur- und sie uns aufgrund der Konspiration nicht
de es entspannter für uns. Natürlich kam sehen durften.
manchmal Besuch und dann mussten wir Der 10. September war der Feiertag des So-
uns in einer kellerartigen Kammer verste- zialismus in Bulgarien. Ich konnte die Feier-
cken und uns reglos hin- legen. Zum Glück lichkeiten etwas vom Balkon aus verfolgen.
kamen die Gäste nicht so oft. Das war eine Am nächsten Morgen teilte uns der Genos-
sehr schwere Zeit für mich, ich konnte mei- se von zuvor mit, dass wir am nächsten Tag
ner Familie nicht schreiben und mein Vater abreisen würden. Wir wussten nicht wohin,
konnte mich nicht mehr wie in den Studen- er hatte keinen Ort erwähnt und wir hatten
tenunterkünften besuchen kommen. auch keine Gelegenheit zu fragen. Am 12.
Wir erhielten nach einer Weile die Entschei- September machten wir uns auf den Weg
dung der Partei; wir sollten ins Ausland. Trotz und erfuhren erst am Flughafen, dass wir in
der Umstände der Konspiration und der nicht die Deutsche Demokratische Republik flie-
vorhandenen Demokratie in unserer illegalen gen würden. Uns wurde mitgeteilt, dass ein
Organisation forderte ich Zeit zum Nach- Genosse uns am Flughafen Schönefeld ent-
denken ein. Ich musste mich entscheiden, gegennehmen werde. Dafür erhielten wir ein
Passwort. Ich bin an diesem Tag das erste Mauer aber wusste ich, weil einige »Gast-
Mal geflogen, und der Ort an dem wir landen arbeiter*innen« aus meiner Heimatstadt in
sollten, war sozialistisch. West-Berlin lebten und arbeiteten. Wenn sie
War es nicht der Ort, von dem wir geträumt in der Türkei waren, erzählten sie uns von der
hatten, während wir Ge- dichte und unsere Mauer. Ich konnte mir aber überhaupt nicht
Marschgesänge auf den Plätzen brüllten? vorstellen, wie sie tatsächlich war.
Nun war ich auf dem Weg dorthin, worü- In den ersten Tagen in Berlin konnte ich nach
ber der griechische Dichter und Kommu- der monatelangen Illegalität kaum realisie-
nist Nâzim Hikmet schrieb: »Wir werden ren, dass ich mich frei bewegen konnte, dass
die Motoren gen dem Blauen steuern« (im ich in einem sozialistischen Land war. Auf je-
Kindergedicht: »Wir werden schöne Tage er- den Fall aber war ich aufgeregt, weil ich mich
leben«). Ich hatte dafür in Kauf genommen, wegen meinen politischen Einstellungen
verhaftet und gefoltert zu werden, ich hatte nicht verstecken musste, keine Angst vor der
meine Heimat dafür verlassen. Mich hatte die Polizei, vor Inhaftierung und Folter haben
Euphorie und auch zu- gleich die Angst er- musste.
griffen, was sollten wir in der DDR machen, Wir bemerkten die Glockengeräusche in der
würden wir studieren können, die Sprache DDR. Ich stellte meine kulturellen Defizi-
lernen, wann würden meine Eltern benach- te fest, als ich katholische Kirchen von pro-
richtigt werden, wie traurig sie doch waren, testantischen Kirchen nicht unterscheiden
als sie mich nicht mehr erreichen konnten. konnte. Obwohl ich aus dem Land stamm-
Meine große Schwester, die auch in der Par- te, wo diese Religion geboren und verbreitet
tei aktiv war, hatte ihnen zuletzt mitgeteilt, wurde. Über sie und über andere Kulturen
dass es mir gut ging. wurde und wird in der Türkei nirgendwo ge-
lehrt.
September 1985, Berlin bot uns viele Grautö-
Meine ersten Tage in der DDR ne. Das Wetter war neblig und ein leichter Re-
gen war stetig vorhanden. Ich erinnere mich
an meine Kopfschmerzen, weshalb schmerz-
In Schönefeld begrüßte uns ein Genosse te es? War es der Abschied, der Frust über
der Kommunistischen Partei der Türkei und das Ungewisse, alles und alle verlassen zu
brachte uns in ein Hotel der SED in der Nähe haben? Die Frage, was meine Schmerzen
der Jannowitzbrücke. Das Hotel war eines auslöste, kann ich bis heute nicht beantwor-
der ersten Gebäude, welches nach dem Fall ten. Jedenfalls waren diese Schmerzen Jah-
der Mauer abgerissen wurde, heute steht re lang mein treuer Begleiter. Im Hotel waren
dort ein Gebäude von internationalen In- die Speisen schön, ich kann mich nicht an
vestmentbankern. Wir durften zwar das Ho- einen Namen der Gerichte erinnern, wir wur-
tel verlassen, sollten uns aber nicht zu sehr den behandelt wie besondere Gäste. In der
entfernen und mit niemandem sprechen. Als Türkei konnte ich mir so ein Essen in einem
treue Soldat*innen der Partei verfolgten wir Restaurant oder Übernachtungen in einem
die Anweisungen und spazierten zwar ein Hotel nicht leisten. Das Gefühl, als ob ich ein
wenig, allerdings sehr zurückhaltend. Berlin besonderer Gast wäre, war mir auch fremd, in
war mir vorher nicht so sehr bekannt, von der der Türkei war ich ja vom Staat unerwünscht.
Der Genosse, der uns in das Hotel brachte, DDR verbracht habe, für mich die bestim-
teilte uns mit, wir sollten Geduld haben, da mende ist. Ich versuche das anzunehmen,
noch andere Genossen erwartet wurden und soweit es mir obliegt. In meiner Zeit in der
ging dann auch wieder. Wir sahen ihn erst DDR habe ich im Rahmen unserer Werte
nach einem Jahr in Berlin wie- der. und politischen Ansichten eine persönliche
Während ich diese Zeilen schreibe, be- Zugehörigkeit entwickelt. Ich habe die inter-
herrschen mich immer wieder die gleichen nationale Solidarität erlebt, ich habe wäh-
Gefühle; der Computer und das Schreibpro- rend meines Studiums mein Bewusstsein,
gramm sind an, und ich frage mich immer für eine gerechte Gesellschaft ohne Ausbeu-
wieder aufs Neue, was wollte ich erzählen? tung, ohne Unterdrückung weiterentwickelt.
Ja, meine Ankunft in der DDR und wie ich Das Gefühl, dass ich ein Teil dieses Kampfes
den Fall der Mauer erlebte. Ist es nicht ein für eine menschlichere Gesellschaft war, hat
Kreislauf, der sich immer wieder abspielt? mich glücklich gemacht. Nein, ich konnte mir
Nicht nur für die Türkei, sondern überall dort, nicht vorstellen, was alles passieren würde,
wo Diktatoren und Kriege sind? Nein, die Zeit wenn die BRD über die DDR herfallen wür-
um 1989-1990, das Ende des Kalten Krieges, de. Allerdings sehe ich am 30. Jahrestag des
kennzeichnet einen besonderen Abschnitt Falls der Mauer und am 29. Jahrestag der
der Geschichte, in der ich als Kommunistin »Wiedervereinigung«, dass der Verlust jener
die gemachten Fehler wahrnehmen konnte, Werte und ihre Zersetzung eine große grund-
beziehungsweise die Fehler zu- tage kamen, legende Rolle spielen für die gesellschaftli-
welche unsere Partei und alle Schwester- chen Probleme, die wir heutzutage erleben.
parteien und die Kommunistische Partei der
UdSSR in der Gründung des Sozialismus ge-
macht hatten; es war die Zeit der Ernüchterung. Wismar – Greifswald – Berlin

Ich schätze mich trotz allem glücklich, sehr


glücklich sogar. Ich war nach Ansicht von Natürlich war die Sprache zu Beginn mei-
manchen verängstigt vor dem Gefängnis ge- ner Zeit in der DDR ein Problem. Zunächst
flohen, nach Ansicht von anderen hatte ich sprach ich Englisch, verlernte es jedoch mit
genau das Richtige gemacht. Was ist richtig der Zeit. Es gab eine Phase, in der ich sprach-
und falsch? Wenn ich rückblickend überle- lich durcheinandergeriet. Letztendlich waren
ge und mir vorstelle, wie mein Leben in der es ja Sprachen, die ich erst später gelernt
Türkei verlaufen wäre, erscheinen mir keine hatte und somit auch schnell wieder verlern-
konkreten Bilder. Es ist viel Zeit vergangen. te. Meinen ersten Deutschkurs begann ich in
Ich wünsche mir immer noch, eine aktive Ju- Wismar, ich war zu der Zeit 24 Jahre alt. In
ristin gewesen zu sein, in Deutschland stellte unserem Wohnheim waren außer uns auch
sich der Versuch als problematisch dar, denn Kommiliton*innen aus Äthiopien, Angola,
der Abschluss aus der Türkei wird hier nicht Syrien und Kambodscha untergebracht. Die
anerkannt und es ist auch nicht möglich, die Äthiopier*innen und Kambodschaner*innen
Abschlüsse anzugleichen. waren sprachlich sehr talentiert, sie lernten
Ich bin schon seit 34 Jahren in Deutschland oft bereits ab frühem Kindesalter eine zwei-
aber ich merke, dass die Zeit, die ich in der te Sprache, deshalb waren sie in dieser Hin-
sicht lernfähiger. Außerdem faszinierte mich nikation in die Türkei. Ich durfte nur alle sechs
das Können der äthiopischen Freund*innen, Monate einen Brief an meine Familie versen-
die sehr gut Tischtennis spielten. Gegen sie den, ich musste immer vom Winter erzählen,
gewann ich nie ein Match. wenn es Sommer war und umgekehrt, weil
Wir waren fünf Personen aus der Türkei, die meine Familie die Briefe erst nach Monaten
gemeinsam ein kommunales Leben in Wis- erhielt. Lange Zeit ging meine Familie davon
mar führten. Wir hatten eine Person als Par- aus, dass wir uns in den Niederlanden auf-
teisekretär gewählt. Unser Genosse, der im hielten, denn wie ich später erfuhr, wurden
Politbüro der Partei tätig war, hatte uns mit- die Briefe von einer niederländischen Ad-
geteilt, dass es unsere Parteiaufgabe sei, eine resse aus in die Türkei gesendet. Wir gaben
neue Sprache zu lernen und zu studieren. Ich unsere Briefe in offenen Umschlägen an die
konnte das nicht ganz nachvollziehen, denn Partei weiter, wir durften keine Informationen
ich hatte sie in Istanbul angefleht, weiter stu- zu den Orten und Ländern, in denen wir uns
dieren zu können und nun war es meine Auf- aufhielten, schreiben, genauso durften auch
gabe, zu studieren. Es fühlte sich für mich so die versendeten Fotos keine Hinweise erhal-
an, als wären wir aussortiert worden. Keine ten. Die offenen Briefe wurden kontrolliert,
Aktionen, keine Proteste oder dergleichen; gegebenenfalls wurden die bedenklichen
nur lernen und lesen. Obwohl es natürlich Passagen rot unterstrichen und die Brie-
auch ein Gewinn für die Partei war, fühlte es fe kamen zurück. Ich tat mich sehr schwer,
sich für uns, die gerade aus der heißen Phase dies zu akzeptieren. So zerriss ich im ersten
des Widerstandes kamen, an als wären wir Jahr meines Studiums in Berlin einen Brief,
passiv gestellt worden. der zurückkam und habe dann vorerst keine
Nach meinem ersten Semester in Wismar Briefe mehr geschrieben.
sollte ich einen Sprachkurs in Greifswald be- Als wir 1986 zurück nach Berlin kamen, er-
suchen, da nun die Entscheidung, welche wartete uns ein anderer Genosse aus der
Studienplätze wir später antreten sollten, ge- Partei am Bahnhof Lichtenberg. Wir erfuhren,
troffen worden war. Deshalb war es für mich dass außer ihm noch drei weitere Genossen
vorgesehen, die Sprachschule an der Ernst in Berlin waren, um zu studieren. Wir freuten
Moritz Arndt Universität in Greifswald fortzu- uns, allerdings entwickelten sich diese Be-
setzen. Mein Ehemann blieb in Wismar und ziehungen selten darüber hinaus, zur selben
ich besuchte ihn fast an jedem Wochenende, Partei zugehörig zu sein. Wir hatten in Wis-
ich kann mich erinnern, wie ich die Zugfahr- mar unsere neuen Identitäten erhalten, ich
ten genoss. Außer meinem Sprachkurs hatte war nun Nordzypriotin und hatte einen ande-
ich ja nichts zu tun, außer Zeitschriften und ren Nachnamen erhalten. Ich behielt meine
Zeitungen von vor Monaten aus der Türkei zu Identität bis 1990, als ich und mein Mann, den
lesen und Deutsch zu lernen. Wenn ich heu- ich offiziell erst 1991 heiratete, bei dem türki-
te daran zurückdenke, könnte man meinen, schen Konsulat in der DDR neue Ausweise
dass ich depressiv war, allerdings war ich in beantragten. Bedingt durch konspirative Zu-
einem sozialistischen Land, ich konnte mich stände fragte mich an der Uni kaum jemand
keineswegs kritisch zu diesem Land verhal- eingehend nach meiner Herkunft, nur weni-
ten, es war alles so, wie wir es uns ausgemalt ge stellten oberflächlich solche Fragen. Es
hatten, das einzige Problem war die Kommu- war dann schließlich eine Gegebenheit, die
mein Mann und ich mit einem Parteigenos-
sen erlebten, als wir 1986 nach unseren Auf- Kampf mit Kant, Hegel, Marx und Engels an
enthalten in Wismar und Greifswald nach der Humboldt-Universität – Internationale
Berlin kamen, die unseren Zustand der Iso- Solidarität erleben
lation auf die Spitze trieb. Wir waren in einem
Studierendenheim in der Nähe des Tierparks
untergebracht, unser Genosse sagte uns, Es ist für mich eine große Ehre, an der Hum-
dass wir draußen kein Türkisch mehr spre- boldt-Universität studiert zu haben und ich
chen durften, wir sollten uns auch nicht in bin der Humboldt-Universität und meinem
der Nähe der Friedrichstraße aufhalten. Dass Studium immer noch sehr verbunden. Ob-
wir kein Türkisch sprechen sollten, konnte wohl ich denke, dass ich den Studieninhalten
ich einigermaßen nachvollziehen. Allerdings nicht ganz gerecht werden konnte, ist und
verstand ich nicht, wie ich an der Humboldt- bleibt es eine Tatsache, dass ich an der glei-
Universität studieren sollte, ohne in der Nähe chen Universität wie Hegel und Marx studiert
der Friedrichstraße zu sein. Es stellte sich habe. Ich las deren Werke in ihrer Original-
später heraus, dass sich unser Genosse, der sprache und das ist mir bis heute sehr wich-
uns Anweisungen erteilte, nicht so gut aus- tig. Allerdings bereitete mir das zugleich sehr
kannte in Berlin. große Schwierigkeiten.
Eine weitere Anweisung war, dass wir nicht An der HU waren sowohl Student*innen aus
so viele Fragen stellen sollen. Wenn wir zum illegalen Schwesterparteien wie der meinen,
Beispiel eine schiefe Mauer sehen sollten, sei als auch entsandte Studierende aus legal
es wichtig, nicht zu fragen, weshalb denn die agierenden kommunistischen Parteien und
Mauer schief sei. Die Genossen aus der SED deren Jugendorganisationen. Es war eine in-
würden schon ganz genau wissen, warum sie ternationale Universität, so gab es Studieren-
die Mauer schief erbauen ließen. Die symbo- de aus Nordjemen, Bolivien, Griechenland
lische Bedeutung dieser Anweisung verstand und Angola in meiner Klasse. Im Studie-
ich erst im Laufe der Zeit. Eines Tages sind rendenwohnheim kamen dann noch Mitbe-
wir hoch auf die Aussichtsplattform im Fern- wohner*innen aus Palästina, Chile, Brasilien,
sehturm am Alexanderplatz und konnten die Kuba hinzu. Es gab auch einige wenige Stu-
Mauer um Berlin in aller Klarheit sehen. In dierende aus Syrien, die meist Ingenieurwe-
meiner Wahrnehmung damals sah ich Ost- sen studierten. Sie bezahlten ihr Studium in
Berlin in den Mauern und nicht West-Ber- Fremdwährungen und waren auch nicht son-
lin. Es war steigende Isolation einerseits, auf derlich engagiert im politischen Sinne.
der anderen Seite ein Versuch, mich mit der Das Studium an der Humboldt-Universität
Notwendigkeit der Mauer zu identifizieren war ein Paradebeispiel für die internationale
und einen Ausweg daraus zu finden, worauf Solidarität, schließlich kann man es als mutig
diese Notwendigkeit beruht. Obwohl meine bezeichnen, auf Grundlage eines neunmona-
Universität sehr nahegelegen zur Grenze am tigen Sprachkurses Philosophie zu studieren.
Brandenburger Tor war, näherte ich mich die- Innerhalb unserer Seminargruppe wurden
sem Übergang nur ein, zwei Mal aus der Fer- uns zwei Kommilitonen zugewiesen, mit de-
ne, zum Übergang an der Warschauer Straße nen wir uns regelmäßig trafen und über die
ging ich erst nach dem 9. November 1989. Themen, sowie die Lesungsnotizen spra-
chen. Das systematische Mitschreiben von so waren insgesamt die Lebensstandards
Vorlesungen hatte ich in der Türkei in solcher sehr schlecht, uns hatte man auch Lebens-
Form nie gelernt, Gliederungen und Konzep- mittelkarten für Zucker und einige weitere
te für Mitschriften waren im Gegensatz zu Nahrungsmittel ausgehändigt. Abgesehen
meinen einheimischen Kommilitonen neu für von prächtigen U-Bahn-Stationen, Alleen
mich. Ich hatte zwar kein besonderes Talent und Schulen, waren zum Beispiel die Rega-
für die Sprache, aber war stets sehr fleißig le der Supermärkte leer, es wurden Bauern-
und lernbereit, ich bemühte mich tage- und märkte errichtet und ich lernte dort, wie ich in
nächtelang einen Satz von Marx, Kant oder Russland einen einzigen Pfirsich kaufe. Ich
Hegel zu verstehen, wobei die Sätze oft gan- empfand es als eine vergleichbar bedenkli-
ze Absätze lang waren. che Situation wie in der DDR, wo wir für Früh-
Wie eingangs angedeutet, leistete das Büro lingszwiebeln und Salate anstehen mussten.
für internationale Studierende ebenfalls sei- Moskau sah aus 25 Kilometern Entfernung
nen Beitrag zur Solidarität und stand uns bei schön aus, um es in Nâzım Hikmets Worte zu
allen Sorgen und Problemen zur Verfügung. fassen. Als ich allerdings die Wellblechbau-
Wir hatten außerdem die wunderbare Mög- ten in den Vororten von Moskau sah und sah,
lichkeit, den sogenannten Studentensommer wie an den Ausgängen der Bahnhofsstation
für uns zu entdecken. Es war ein Austausch- Lenin Kinder bettelten, dachte ich mir, dass
programm unter den sozialistischen Ländern. dies nicht der Sozialismus sein könnte, von
Das Programm war so strukturiert, dass drei dem wir träumten. Ich hielt dennoch an mei-
bis vier Wochen in einem Land gearbeitet nem Glauben an eine bessere Welt durch
wurde und man sich dann für zwei Wochen den Sozialismus fest, das musste alles einen
einem Urlaubsprogramm anschließen konn- guten Grund haben und die Partei arbeitete
te. Unser erstes Ziel war natürlich die Sow- bestimmt schon an einer Lösung.
jetunion. Wir konnten schließlich 1988 nach Während meiner zweiten Studentensom-
Moskau und arbeiteten in einer Brotfabrik. merreise nach Moskau hörte ich in einzelnen
Im Anschluss bereisten wir Kiew, Tallinn und Gesprächen von meinen Freunden von der
Riga als Gruppe. Im Vergleich zur DDR kann Humboldt-Universität wie sie über die Stasi
ich sagen, dass wir hier erst dem echten So- sprachen, es hörte sich zusammenhanglos
zialismus begegnet sind, die Lebensqualität an, zugleich auch riesig, ich konnte es nicht
war in der DDR um ein Vielfaches höher. Die glauben. Auf der anderen Seite tobte der Kal-
Produktionsgeräte in der Brotfabrik stamm- te Krieg, und meiner Ansicht nach taten die
ten aus der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg, Imperia- listen alles, um das sozialistische
die Hälfte der Produktion war unbrauchbar, System zu zerschlagen. Trotzdem hatte die
denn aufgrund des schlechten Zustands der Arbeit des KGB und der Stasi, indem sie so
Geräte kamen die Brote nicht richtig aus der massiv die eigenen Bewohner*innen aus-
Form und ein Teil der Brote brannte sich im- spionierten, andere Dimensionen angenom-
mer weiter in die Formen ein. Der Anteil an men. Natürlich verstand ich die Ausmaße
Broten, der unschön aussah, wurde an die erst nach dem Fall der Mauer. Das Thema in
Armee gesendet oder mit Gärungsmitteln zu unserer eigenen Partei zu besprechen, führ-
Kuvasz verarbeitet, was überall umsonst zu te auch zu keinem Ergebnis, denn wir soll-
finden war. Das war für uns völlig irritierend, ten uns nicht in die interne Politik des Landes
ein- mischen, wo wir nur zu Gast waren. Die- zurückkehren würden. Es war für uns ein un-
selbe Antwort hatten wir auch im Gespräch beschreibliches Gefühl der Leere.
zur Assimilationspolitik der bulgarischen KP In der Zwischenzeit erreichte die Glasnost-
gegenüber den türkischstämmigen Einwoh- Perestroika trotz des Widerstands durch
ner*innen in Bulgarien erhalten. Denn die die SED die Humboldt-Universität. Im Zuge
sozialistische Republik Bulgarien hatte von dessen wurden Dozent*innen eingeladen,
1987-1988 Namensänderungen bei denjeni- welche sich kritisch mit der Politik und der
gen angeordnet, die keine slavischen Namen Ideologie der kommunistischen Partei der
hatten. Sowjetunion (KPdSU) auseinandersetzten.
So hatte ich zwei Mal die Gelegenheit, Vor-
lesungen von Ernest Mandel beizuwohnen.
Diese Vorlesungen waren mir sehr wichtig,
um die historischen Auseinandersetzungen
Nicht mehr illegal zwischen Stalin und Trotzki, die Schwer-
punkte dieser Auseinandersetzung, Fehl-
entwicklungen und deren Ursachen eines
Glasnost und Perestroika erreichten auch sozialistischen Staates zu verstehen. Über-
unsere Partei schon 1987. Vereinigungs- haupt konnte ich dadurch kritische und
bemühungen der Parteien TKP (Türkische selbstkritische Meinung über unsere Ideolo-
Kommunistische Partei) und TIP (Türkische gie, über das Parteileben entwickeln.
Arbeiter Partei) nahmen an Fahrt auf und Wende – Demokratischer Sozialismus vs.
die beiden Parteien kamen zu einer Verein- Vereinigung?
barung. Es wurde entschieden, dass die Par-
tei nicht mehr illegal agieren werde und so
wurde angestrebt, die Partei in die Legalität Wir hatten mittlerweile eine Wohnung an der
zu führen. Deshalb kehrten die beiden Sekre- Storkower Straße erhalten, in der zuvor ein
täre der Partei, welche in der Türkei gesucht chilenischer Kommunist wohnte. Wir hatten
wurden, zurück in die Heimat und wurden einen Fernseher und ein Telefon, wobei wir
direkt am Flughafen festgenommen. Eine das Telefon bis 1990 nicht benutzten und
außergewöhnliche internationale Solidarität als treue Soldaten der Partei auch nie West-
unterstützte die Legalisierungspolitik. Dies Sender einschalteten. Am 9. November 1989
hatte für uns zur Folge, dass uns 1989 gesagt empfingen wir dann die Nachricht, dass die
wurde, dass wir uns nun selbst um unsere Grenzübergänge nun offen seien. Wir saßen
Angelegenheiten kümmern müssten, und wie erstarrt vor dem Fernseher. Da wir in ei-
selbst entscheiden sollten, was wir nach dem nem Hochhaus wohnten, zogen wir nie die
Studium machen möchten – genauso wurde Gardinen zu. An diesem Abend taten wir es.
uns auch gesagt, dass fortan die Partei und Zuerst überkam uns ein tiefes Schweigen,
die bisherigen Strukturen nicht mehr exis- wir verfolgten wie gebannt die Nachrichten;
tierten. Natürlich brach zuerst Panik aus, ich ohne zu wissen, zu verstehen, was passier-
war schwanger, wir hatten keine gültigen Pa- te und was noch passieren würde, ohne Par-
piere, und wir wussten überhaupt nicht, was tei zu sein. Wir wussten von den Protesten,
uns erwarten würden, falls wir in die Türkei die in Leipzig angefangen hatten. Was die
Proteste zu bedeuten hatten, war mir aller- 9. November hatten wir die Wohnung eine
dings nicht so klar. Was war denn im kapi- Woche lang nicht verlassen. Wir gingen nur
talistischen Westen, dass man dafür auf die raus, um das Notwendigste zu kaufen und
Straße gehen muss und protestieren? Wir kehrten schnell wieder nach Hause, wir wa-
waren aus einem halb-entwickelten kapita- ren einfach erschlagen. Nach der Woche bin
listischen System geflohen, was war daran ich raus und wollte zu meiner Universität ge-
so begehrenswert? Demokratische Rechte, hen, ich ging am Alexanderplatz vorbei und
demokratische Abläufe innerhalb der Partei, war zu Fuß unterwegs Unter den Linden.
das alles hatte ich zu dem Zeitpunkt nicht auf Beim Lustgarten und vor dem Palast der Re-
meinem Zettel, für mich war der Sozialismus, publik konnte ich dann meinen Augen nicht
das System, das Richtige. Natürlich schaute trauen, ein Dutzend LKW beladen mit Bana-
ich aus einer völlig anderen Perspektive und nen, Tchibo Kaffee und Wiener Würstchen
ich musste einsehen, dass ich die Menschen, hatte geparkt. Hunderte Menschen standen
die in einem realsozialistischem Land lebten, vor den Lastwagen und alle rangen um die
nie verstanden hatte. Es ging nicht nur um Ware, mit der sie beschmissen wurden. Ich
Reisefreiheit, es ging um die Freiheit, sou- war erstarrt, es war grauenhaft. War das die
verän entscheiden zu können. Die Bildungs- Freiheit also, Chiquita Bananen? War Tchibo
wege und das Gesundheitssystem waren Kaffee die Freiheit? Ich kehrte um und ging
um- sonst, es gab keine Arbeitslosigkeit, weinend nach Hause.
keine Sorgen, einen Arbeitsplatz zu finden. Ich hatte in der DDR nie Probleme mit der
Nach der Planökonomie war es sogar schon Reisefreiheit, ich hatte auch nie probiert
festgelegt, wo man in ein-zwei Jahren arbei- nach West-Europa zu reisen. Wie ich wieder
ten würde. Was könnte man noch verlangen? einmal erst im Nachhinein erfuhr, hatte ich
dachte ich mir. Die grundlegende Entschei- eigentlich das Recht nach West-Berlin und
dungsfreiheit darüber und ob eine solche West-Europa zu reisen, wir waren einfach
gegeben ist, war allerdings der ausschlag- zu treue Parteisoldat*innen. Schließlich hat-
gebende Punkt. Der Westen zögerte natür- te uns die DDR Zuflucht geboten. Es fällt mir
lich nicht, den Aufschrei nach mehr Freiheit schwer, meinen damaligen Geisteszustand
zu manipulieren. Er instrumentalisierte die wiederzugeben. Ich bin für die Freiheit, aller-
Menschen, die für Freiheit auf die Straßen dings fällt es mir sehr schwer, unsere Situ-
gingen und stellte es dar, als wäre es ein Auf- ation als Student*innen in der DDR mit den
ruf zur Konsumfreiheit. Ja, wir waren erstarrt heutigen Studierenden zu vergleichen, die
vor dem Fernseher. nach Deutschland kommen. Meine Aufga-
Wir wussten nicht mehr, wen wir nach Rat be war keine akademische Arbeit, ich war in
fragen konnten. Es gab so- gar Anzeichen ein sozialistisches Land gekommen aufgrund
dafür, dass sich ein bewaffneter Straßen- meiner ideologischen Probleme mit dem tür-
kampf anbahnen würde und wir waren er- kischen Staat. Das war ein Klassenkampf,
schrocken. Wir sahen zu, wie die Massen was ist schon die Reisefreiheit? Ich habe die
sich auf den Mauern türmten, wie sie sich Intentionen der Opposition in der DDR erst
freuten, kurz dachte ich sogar, dass das al- Jahre später in Gänze verstanden. Bei den
les Konterrevolutionäre seien, klar, die Stasi Montagsdemonstrationen ging es nicht per
hatte also doch recht behalten. Nach dem se um eine Vereinigung mit der BRD. Viel
mehr verlangten die Menschen mehr demo- ten Verein konnte ich erneut beobachten,
kratische Freiheit. Dieses Verlangen wurde dass sich, ähnlich wie bei den Montagsde-
schnell unter Kontrolle gebracht und gemä- monstrationen, auch in Bezug auf den Verein
ßigt. An der Universität besuchte ich wei- alle für einen demokratischeren Sozialismus
terhin Seminare. Es herrschte aber großes und nicht für eine Vereinigung einsetzten.
Chaos, keiner verstand so richtig, was sich Wir sind alle von einer Vereinigung von zwei
abspielte, allmählich veränderte sich die Art gleichwertigen Staaten ausgegangen und wir
der Lehrinhalte und Vorlesungen, es wurde glaubten daran, dass es auch in der Mehrheit
kritischer gegenüber dem System gelehrt, der BRD so wahrgenommen würde.
ein Paradebeispiel hierfür waren die Vorle- Nachdem die Grenzen im Jahr 1989 geöff-
sungen von Rainer Land zum Thema Afgha- net wurden, wollte ich nur so schnell wie
nistan. In der Türkei rechtfertigte ich 1978 den möglich meine Prüfungen abschließen und
Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan, meine Diplomprüfung ablegen, das hatte
das war selbstverständlich für meine Rolle die oberste Priorität für mich. 1991 legte ich
als Mitglied der Parteijugend. In den Lesun- meine Diplomarbeit über das Thema »Mo-
gen von Rainer Land wurde uns ein anderes derne Rechtsstaatsidee bei Montesquieu
Bild gezeigt, sei es im Hinblick auf die Ag- und Kant« ab und beendete mein Studium.
rarpolitik oder den sozialistischen Staat vor Am 31. Dezember 1989 rief ich das erst Mal,
Ort. Unser Philosophiedozent Prof. Gerd Irr- nachdem ich die Türkei verlassen hatte, aus
litz war mein Lieblingsdozent, ich liebte seine der Telefonkabine gegenüber der Amerika
Vorlesungen. Die Lehrkräfte wurden ausge- Gedenkbibliothek am Halleschen Tor meine
tauscht, es kamen sogar einige Dozenten von Mutter an. Nach 1991 habe ich angefangen,
der Freien Universität Berlin (FU) und hielten wieder in die Türkei zu reisen.
Lesungen. In der Kantine wurden hitzige Dis-
kussionen geführt, ich enthielt mich bewusst, Erste Erfahrungen von Diskriminierung
denn ich blieb der Linie treu, mich nicht in die in West-Berlin – »Ost-Türkin«
Politik der Schwesterparteien einzumischen.
Wir erfuhren, dass einige unserer Dozent*in-
nen in den Westen ausgewandert waren. Es Nach der Wende hatte ich stets das Ge-
wurde auch bekannt, dass einige aus unserer fühl, dass ich nicht gut genug war, mir wurde
Seminargruppe für die Stasi arbeiteten. dies ständig vermittelt. Ich konnte bis dahin
Zu dieser Zeit warteten alle auf die Einzel- ganz gut mit meinem Studienstipendium le-
heiten der Abkommen zwischen den bei- ben, musste aber eine Arbeit finden, nach-
den Staaten und es wurde viel diskutiert, ich dem ich die Uni abgeschlossen hatte. Ich
nahm an Versammlungen zu diesen Diskus- konnte zu dem Zeitpunkt noch nicht wirklich
sionen teil. Im Jahre 1990/1991 organisierten flüssig Deutsch sprechen. Das Leben wur-
wir einige Treffen mit Freund*innen aus dem de nicht leichter für mich nach dem Fall der
Westen und Studierenden aus dem Fach Mauer und der Wiedervereinigung, ich hatte
Türkische Ökonomie. Wir hatten uns über- zwar mein Studium rechtzeitig beendet, aber
legt, einen solidarischen Verein zu gründen. hatte nun einen Sohn und musste feststel-
Leider haben wir unsere Idee nie umgesetzt. len, dass mein akademisches Diplom zwar
Während der Bemühungen zu dem besag- anerkannt wurde, aber keinen Platz im be-
ruflichen akademischen System hatte: »Di- die ähnlich wie ich politische Schwierigkei-
plomphilosophin gibt es nicht in der BRD.« ten mit dem türkischen Staat hatten. Dieses
Alles was mit der DDR zu tun hatte, wurde war nur durch eine Kooperation der TKP mit
ohne jeglichen Widerstand entfernt und al- deren Schwesterparteien möglich. Letzten
les, was in der BRD gängig war, wurde ohne Endes habe ich dann doch die Vielzahl der
zu hinterfragen in den Neuen Bundesländern Betitelungen als Ausländer, Fremde, Einwan-
implementiert. Mein gesellschaftlicher Sta- derin, Deutsche mit Migrationshintergrund,
tus hatte sich verändert, nach den damali- die wir über die Jahre in Mengen erhalten ha-
gen Gesetzen war ich eine Ausländerin mit ben, mit ihnen geteilt. Wir, auf der anderen
fristlosem Aufenthalt. Viele Fabriken wurden Seite, fühlten uns als Kommunist*innen er-
ohne guten Grund geschlossen, Abkommen niedrigt, weil wir uns statt mit verehrten so-
mit anderen Staaten wurden annulliert, die zialistischen Werten mit solchen Problemen
Arbeitslosigkeit stieg rasant an und plötz- beschäftigen mussten. All diese Probleme
lich waren viele der Arbeitslosen auslän- hätte es nicht gegeben, wenn wir den Klas-
disch. Plötzlich tauchten ganz viele Vereine senkampf gewonnen hätten, genauso die
auf und versuchten, die Arbeit des Staates gesellschaftlichen Probleme einer Frau wie
im Bereich Arbeitslosigkeit und Ausländer- Gleichstellung bzw. gleicher Lohn für gleiche
politik im Rahmen von Staatsvorgaben im Arbeit. Die Informationen, die rückblickend
ehrenamtlichen Bereich zu bewerkstelligen. mit Perestroika und Glasnost und der dar-
Genau im Rahmen der Arbeitsbeschaffungs- auffolgenden Wende kamen, waren scho-
maßnahmen nahm ich in solch einem Verein ckierend für uns. Sogar die Mindestmaße der
in Lichtenberg die Arbeit als Sozialberaterin universellen Menschenrechte wurden von
auf. In West-Berlin habe ich keine Arbeit ge- sozialistischen Staaten unterschritten. Das
sucht. Ich war aus dem Osten, also blieb ich beste Beispiel hierfür war die Situation der
auch dort. Diese Maßnahmen waren oft be- Vertragsarbeiter*innen aus Vietnam, Ango-
fristet, sowie auch unsere Maßnahme, die für la und Mosambik. Es war eine große Enttäu-
zwei Jahre angesetzt war. Wir waren finan- schung, zu sehen, unter welchen Umständen
ziert durch Mittel der Ausländerbeauftragten die Mitarbeiter*innen vor dem Fall der Mau-
und wurden sehr streng kontrolliert. Durch er leben mussten und auch, wie dann alles
diese Arbeit nahm ich Verbindungen zu Mi- in der BRD unternommen wurde, damit sie
grantenvereinen aus dem Westen auf und nicht im Land blieben.
lernte immer mehr Menschen aus der Türkei 1996 entschied ich mich: Auch wenn ich ei-
kennen. nes Tages in die Türkei zurückkehren wer-
Ich habe es von Beginn an nie verheimlicht, de, möchte ich statt in einer rein türkischen
wo ich lebe, wie ich in die DDR kam. Aber Partei oder Organisation in einer politischen
wie sollten die Menschen es fassen, wenn Partei in Deutschland agieren. Es war einfach
nicht mal meine alten Parteigenoss*innen eine Entscheidung, ich hätte ja alles machen
versuchten, mir näher zu kommen. Eine Tür- können und mich von der Politik entfernen
kin, die in der DDR lebt? Die Geschichte war und wäre vielleicht sogar Künstlerin gewor-
für viele Menschen schlichtweg nicht zu fas- den. Aber ich wollte in das politische Ge-
sen. Viele wussten einfach auch nicht von schehen und ein Teil davon sein und so bin
der Möglichkeit, in die DDR einzureisen, ich Mitglied in der PDS geworden und habe
das nie verheimlicht. alsozialismus folgenden, hitzig debattierten
Trotz einiger Phasen der Arbeitslosigkeit be- großen Theorien und umgesetzten Praktiken
endete ich 1999 mein Jurastudium, das ich und deren Entwicklung beiwohnen. Natür-
1985 mit meiner Ausreise in die DDR unter- lich hing ich einerseits mit meinem Herzen
brochen hatte, in der Türkei und wurde dort und meinen Gedanken an meiner alten Par-
zur Juristin. Leider konnte ich meinen Beruf in tei in der Türkei. Ich hatte Sehnsucht nach
Deutschland nicht ausüben. Ich hatte einen unseren Genossinnen und Genossen, mei-
neuen akademischen Titel, aber als über- nen Jugendfreund*innen, nach unserem En-
qualifizierte Arbeitskraft ging ich in die Akten thusiasmus, etwas zu bewegen. Ich hatte
und erhielt aufgrund meines Titels nie einen immer noch mehr Interesse daran, was in
Vorschlag für eine Bewerbung vom Arbeits- der Türkei politisch passierte. Wie sehr ich
amt, wenn ich arbeitslos war. Bis 2001 wur- mir wünschte, dass ich meine politischen Ak-
den alle meine Bewerbungen in West-Berlin tivitäten in der Türkei fortführen könnte. Es
abgelehnt. Ich verheimlichte meine Vergan- ist aber nicht so weit gekommen. Meine alte
genheit und meinen Lebenslauf nicht und Partei war in unterschiedlichen Konstellatio-
hatte auch nicht vor, diese zu verheimlichen. nen bis 1990 aktiv. Ich versuchte, aus meinen
Das war mein Risiko, obendrein war ich Mit- praktischen Erfahrungen nützliches Wissen
glied bei der PDS, Obacht! für die geschichtliche Aufarbeitung der lin-
Ich beteiligte mich an den Vorarbeiten zu ken Bewegung in der Türkei zu ziehen, aller-
einem Projekt im Gesundheitsbereich. Falls dings ist die erbitterte Sturheit meiner alten
das Projekt genehmigt werden sollte, wäre Partei und der linken Ideologie, sich gegen
ich auch eine Mitarbeiterin des Projekts ge- eine solche Aufarbeitung zu wehren, um eine
worden. Als es fertig war und nur noch die Erneuerung zu vollziehen, bis heute gültig
Bewerbung ausstand, teilte mir der Vorstand und ein Problem.
des Vereins mit, dass ich aufgrund meiner Innerhalb meiner Arbeit in der Politik hier in
politischen Vergangenheit, meiner Zeit in der Deutschland stellte ich fest, dass ich mich
DDR und meiner Mitgliedschaft bei der PDS als Einwanderin mit Einwanderungspolitik
die Förderung des Projekts gefährde. Des- beschäftigen musste und dass ich ständig
halb wurde ich gebeten, das Projekt zu ver- in diese Richtung gelotst wurde, obwohl ich
lassen, da sie die Bewerbung in dieser Form ebenso Interesse an Wohnungs- und Bil-
nicht dem Senat vorlegen würden. Später dungspolitik oder auch Gesundheitspolitik
wurde das Projekt genehmigt, und ich war hatte. Also wurden die Betitelungen, die mir
kein Teil davon. Das war die größte berufliche aufgrund der Gesetzeslage gegeben wurden,
Diskriminierung, die ich im Westen erlebte. in der Politik fortgeführt und übernommen.
Solche Vorfälle setzten sich bis 2001 fort, bis Natürlich war die Einwanderungspolitik ein
ich schließlich einen Arbeitsplatz in West- wichtiges Feld, trotzdem zeigt uns diese Be-
Berlin als Sozialarbeiterin erhielt. Das war für obachtung, dass Probleme nicht als Ganzes
mich ein Wendepunkt, mit dem ich eine Hür- betrachtet werden. Weil ich eine Person mit
de überwunden habe. Migrationsgeschichte bin, bin ich auf direk-
Ich habe in meiner Zeit bei der PDS gelernt, te oder indirekte Weise dahingehend moti-
wie wichtig es ist, sich der Geschichte zu viert worden, in diesem Politikbereich aktiv
stellen. Auch konnte ich den dem Post-Re- zu werden.
Es ist interessant, denn ich habe mich stets
wohler gefühlt, wenn ich mit DDRler*innen Was bleibt
umgeben war, denn ich war eine von ihnen,
unsere Gefühlswelten hatten Gemeinsamkei-
ten. Es ist immer noch so ähnlich, auch wenn Rückblickend würde ich gerne mit dem Wis-
ich mittlerweile viele gute Freund*innen und sen, der kritischen Annäherung von heute,
Kolleg*innen aus dem Westen habe. Ich lebe meine früheren Zeiten wiedererleben. Ich
heute immer noch in der Nähe der Mauer im meine damit die Erlebnisse aus meiner Partei
Osten. Derweil setzte ich meine politische und die Erlebnisse in der DDR. Die wichtigs-
Arbeit in der Partei fort, und ich wurde als te Erfahrung aus meiner Zeit in der DDR ist,
erste Migrantin in den Landesvorstand der wie mein Verständnis der Demokratie immer
PDS gewählt und kandidierte 2006 für das wieder auf den Prüfstand gestellt wurde.
Landesparlament. Zwischen 2010 und 2012 Mir widerfuhr die Unmenschlichkeit, die fast
war ich Abgeordnete des Landesparlaments. allen DDR-Bürgern wiederfahren ist; als es
Anschließend arbeitete ich von 2012 bis 2016 klar wurde, dass ich in einen Sitz im Landes-
in der Rosa Luxemburg Stiftung und versuch- parlament beziehen würde, sollte ich den
te in den ersten drei Jahren das Büro in der offiziellen Nachweis erbringen, keine Sta-
Türkei zu eröffnen. Das war eine sehr zermür- si- Informantin gewesen zu sein. Was oder
bende Arbeit sowohl für die Stiftung als auch wen sollte ich in meiner Situation innerhalb
für mich. Ich ging als die Büroleiterin in die der illegalen Konspiration denn ausspioniert
Türkei nach Istanbul. Istanbul hatte sich seit haben? Das war für mich offensichtlich. Ich
1985 sehr verändert, die bürokratischen Pro- habe dann meine Stasiunterlagen eingefor-
zesse gerieten immer wieder ins Stocken, ich dert und in den Dokumenten ist zu sehen,
sprach persönlich mit vielen hochrangigen dass es keinerlei Zugehörigkeit oder Zusam-
Bürokraten und mit einigen Ministern. Meine menarbeit gegeben hat. Eine ähnliche Hal-
Gefühlslage war aufgewühlt, ich sprach als tung hatten meine türkischen Genoss*innen
Deutsche für eine deutsche Stiftung vor und aus dem Westen. Immer, wenn irgendwel-
erkannte meine Lage, meine Telefone wur- che Nachrichten zu Stasifunktionen von Tür-
den abgehört und ich wurde beschattet. Ich keistämmigen kursierten, fragten sie mich,
war während der Gezi-Proteste 2013 vor Ort, wann denn meine Funktionen an das Tages-
durfte allerdings keine politische Aktivität licht kommen werden. Sie wollten einfach
oder Präsenz zeigen, nicht mal als Beobach- nicht wahrhaben, dass in der Hinsicht in mei-
terin, um nicht das Vorhaben der Stiftung zu nem Fall nichts zu finden war.
gefährden. Ich habe kaum die Wohnung ver- Meine Gedanken zur DDR, meine Unruhe
lassen und musste an meine Zeit der Illega- bezüglich der zum Vorschein gekommenen
lität aus früherer Zeit zurückdenken. Nichts Informationen zu den Ungerechtigkeiten der
hatte sich verändert für mich? Schließlich SED und der DDR habe ich lange Zeit in mir
verliefen die Bemühungen, das Büro in Istan- diskutiert. Das Vorgehen der Partei, im stali-
bul zu eröffnen, im Sande. Das Ministerium nistischen Geiste Strafen gegen die Intellek-
des Inneren der Türkischen Republik hatte tuellen im eigenen Land verhängt zu haben,
den Antrag abgelehnt. zu erfahren, dass die DDR, die zuvor noch
die Taktgeberin in den Friedensverhandlun-
gen in Helsinki gewesen war, aufgrund der »Nur keine Angst. In jener anderen Sprache,
finanziellen Schwierigkeiten Handel mit Waf- die ich im Ohr, noch nicht auf der Zunge habe,
fen betrieben oder die Assimilationspolitik in werde ich eines Tages auch darüber reden.«
Bulgarien unter dem Deckmantel des Sozia- Christa Wolf in »Was bleibt«
lismus gut geheißen hatte, das alles führte
mich in eine verheerende Demotivation. Die
Rückkehr der Führungsriege der TKBP (Ver-
einigte Kommunistische Partei der Türkei) zur
Aufnahme der legalen politischen Arbeit war
der Beginn des Zerfalls und zeigte beispiel-
haft, wie schwierig es ist, sich neu zu erfin-
den. Mich schmerzt es bis heute am meisten,
wie mit den Errungenschaften der DDR nach
dem Fall der Mauer umgegangen wurde. Al-
les wurde einfach entsorgt, Marx’ und Lenins
Bücher lagen überall herum, aber wie viele
konnte ich schon sammeln? Bis heute be-
wahre ich die Werke von Marx und Engels,
die ich vor der Polizeiakademie in Biesdorf
gefunden habe, mit großer Sorgfalt auf. Die
Entsorgung aller Werte, die innerhalb der 40
Jahre aufgebaut wurden, wirkt sich auf die
Generation von heute aus, die damals noch
im Kindesalter war. Es gibt einen Verlust der
Übertragung, niemand steht noch für die
Werte von damals ein und das ist eine der Er-
klärungen für den Aufstieg der rechten Ten-
denzen in den neuen Bundesländern. Werte
wie Solidarität, wie Antifaschismus, Antiras-
sismus, Kampf für eine menschliche Gesell-
schaft für Menschen ohne Ausbeutung und
Unterdrückung.

Ich habe diese Zeilen zum 30. Jahrestag des


Falls der Mauer geschrieben und fühle mich
weiterhin emotional aufgewühlt. Jedoch bin
ich sehr froh, dass wir die kritischen Tage da-
mals ohne die Anwendung von Ge- walt er-
lebt haben. Das ist mir besonders wichtig.

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