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Kadriye Karcı
Wer aber sagte uns, was Würde sei? Verantwortlichen für uns gefällt wurden, von
Christa Wolf in »Was bleibt« den Klamotten, die wir tragen, bis hin zu den
Getränken, die wir trinken sollten … Das Ge-
Ich erinnere mich nicht seit wann, jedes Jahr fühl, sich wie ein Objekt zu fühlen, ist wieder
im November lese ich bevorzugt Christa eingetreten, während ich diese Zeilen formu-
Wolf. Es mag sein, dass diese Mühe eine An- liere, allerdings nun im historischen Kontext,
näherung an das Verstehen ist. Ich versuche also ein Objekt der Geschichte, ein Objekt,
wahrscheinlich, mich in ihren Romanen wie- das schreibt und spricht.
derzufinden, vielleicht ist es ein vergeblicher
Versuch, meine Erlebnisse aus einem Sys-
tem, das nicht in der Form erlebt sein sollte, Politischer Flüchtling
aus Christa Wolfs Zeilen herauszulesen, ich
versuche es andersherum zu lesen, die Be-
schattungen, die Abhörungen, und Präsenz Ich bin in die DDR gekommen ohne den heu-
der Polizei vor meiner Türschwelle zu spü- tigen Begriff des politischen Flüchtlings aus
ren, eindringend bis in meine engsten Krei- der BRD zu kennen. Ohnehin habe ich erst
se. Ich versuche, wie Christa Wolf meine nach dem Fall der Mauer während der Be-
innere Stimme zu erreichen. Dieses Jahr be- rufungsphase meines abgelehnten Antrages
gleitet mich Ihr Werk »Was bleibt«, in ihrem auf die deutsche Staatsbürgerschaft erfah-
Titel verzichtet sie auf ein Fragezeichen so- ren, dass ich ein politischer Flüchtling in der
wie überhaupt auf eine Zeichensetzung, zu- DDR war, beziehungsweise nun so betrach-
erst fasse ich es als eine Frage auf und stelle tet wurde.
schnell fest, dass es keine ist. Die Auslas- Nach dem Fall der Mauer hatten die Geset-
sung ist der blanke Versuch, das Gebliebene ze der DDR noch ihre Gültigkeit bis zum 3.
wahrzunehmen. Oktober 1990 und während ich versuchte,
meinen Aufenthaltsstatus/mein Studenten-
Was bleibt visum zu einem fristlosen Aufenthalt zu än-
dern, fand ich heraus, dass ich eigentlich
Nach dem Fall der Mauer habe ich mich ge- das Recht auf eine doppelte Staatsangehö-
fühlt wie ein Objekt, ich wusste nicht, was ich rigkeit in der DDR hatte. Ich war schwanger
begehrte, was ich liebte, welche Farben ich und versuchte mir vorzustellen, in die Türkei
mochte, ob ich eine Hose oder einen Rock zurückzukehren und gleichzeitig meinen le-
anziehen wollte. Ich erzähle das nicht, um galen Aufenthaltsstatus in Deutschland zu
mein Begehren gegenüber dem Konsum sichern. Meinen Antrag auf die Staatsbür-
zum Ausdruck zu bringen, sondern um meine gerschaft stellte ich noch in der DDR. Da
Lage aufgrund der Strukturen zu verdeutli- sich allerdings die bürokratischen Prozes-
chen – weil in der Zeit unserer illegalen Akti- se verzögerten, wurde mein Fall unter den
vitäten alle unsere Entscheidungen von den Kriterien der BRD-Gesetze verarbeitet und
statt einer doppelten Staatsangehörigkeit die Zugänglichkeit zu Büchern und Philoso-
erhielt ich eine Ablehnung. Das hatte viel phen, welche in der DDR nicht zu finden ge-
Aussagekraft. Ich hatte in der DDR gelebt, wesen waren. So habe ich Werke von Rosa
marxistisch-leninistische Philosophie an der Luxemburg und Gramsci erst Jahre später
Humboldt-Universität studiert und folglich lesen können. Ich hatte ihre Bücher einfach
war ich uninteressant für die BRD. Ich habe vorher nicht gesehen und kann mich an de-
mich der Entscheidung widersetzt und habe ren Erwähnung während meines Studiums
Einspruch eingelegt, indem ich klagte. Meine nicht erinnern. Nebst dieser Leerstelle hatten
Akte lag nun der Ausländerbehörde vor und wir unsere kritische Dialektik nicht ausbau-
hier erfuhr ich auch, dass ich ein politischer en können, indem wir die westeuropäischen
Flüchtling war. Ich hatte keinen blassen progressiven, demokratischen oder kommu-
Schimmer, ob in der DDR überhaupt etwas nistischen Werke nicht in die Hände krieg-
wie ein Ausländergesetz existierte, mein Sta- ten – sie waren schlichtweg nicht zu finden
tus beruhte auf inoffiziellen Absprachen der gewesen. Ich beendete mein Studium an der
Kommunistischen Partei Türkei und der SED Humboldt-Universität im Jahr 1991. Im letz-
und das hatte ich nie hinterfragt, da ich nie ten Semester kamen Dozenten aus West-
in eine Situation kam, wo ich mich innerhalb deutschland, um Lesungen und Vorträge
der Gesellschaft in der DDR legal rechtferti- abzuhalten und wir entdeckten gemächlich
gen musste. die uns bisher vorenthaltene Welt.
Der Prozess dauerte an bis 1995/1996 und
ging an das Landesgericht. Ich verlor und
hatte die Option auf Berufung. Allerdings hät- Die größte Erfahrung in meinem Leben
te mich das 30.000 Mark gekostet, falls ich
den Berufungsprozess verlieren würde, wo- Die wollen, dass ich ihnen gleich werde, denn
für ich einfach nicht die Mittel hatte. In dem das ist die einzige Freude, die ihrem armen Le-
Gerichtsbeschluss war festgelegt, dass ich ben geblieben ist: andere sich gleich zu machen.
erst in 8 Jahren wieder einen Antrag auf die Christa Wolf in »Was bleibt«
deutsche Staatsbürgerschaft stellen durf-
te. Das war meine erste Begegnung mit den Ich möchte einen zuvor erwähnten Gedanken
Gesetzen und der gesellschaftlichen Auffas- fortführen; in der Illegalität und in der DDR,
sung in der BRD und der Aushebelung der wobei ich das erst im Nachhinein verstanden
Errungenschaften der DDR. Nachdem mei- habe, wurden wir alle zu Objekten und Funk-
ne Wartezeit für einen erneuten Staatsbür- tionen innerhalb der kommunistischen Par-
gerschaftsantrag abgelaufen war, stellte ich tei der Türkei, wie in allen anderen Parteien,
meinen Antrag erneut. Nach sechs Jahren die Mitglieder der Kommunistischen Inter-
Bearbeitung wurde er angenommen und ich nationale sind. Zu versuchen, die eigene In-
habe die deutsche Staatsbürgerschaft erhal- dividualität wieder zu erlangen und zugleich
ten. Im späteren Verlauf musste ich noch des wieder in einem kapitalistischen System zu
Öfteren feststellen, wie die antikommunisti- sein, obwohl ich genau aus diesem Grund
sche Haltung bis ins tiefste Mark des Staates meine Heimat verlassen hatte, kränkte mich.
drängte. Innerhalb der Partei wurde es zwar nicht of-
Das wohl Positivste am Mauerfall für mich ist fen ausgesprochen, aber es machte sich be-
merkbar, dass die Funktionen und Objekte ßeren zu urteilen, dass ich aussah wie eine
innerhalb einer Partei in konspirativen Be- Kurdin oder Lateinamerikanerin. Ich wün-
wegungen und unter Umständen des Kalten sche mir, dass wir uns nicht nach ethnischen
Krieges keine demokratischen Verhältnis- oder nationalen Zugehörigkeiten definieren
se erwarten konnten, nicht allzu viele Fra- müssen.
gen stellen oder auch nicht oppositionell An dem Denkmal an der Bernauer Straße
sein durften. Schließlich wurden diese Vor- gehe ich auf die Ostseite der Mauer, dann
gehensweisen von meiner damaligen kom- wieder in den Westen, dann wieder auf die
munistischen Partei der Türkei vergötzt und Ostseite … Östlich oder westlich der Mauer
alle Parteimitglieder waren sowieso schon zu zu sein, ich glaube, dass ich mich auf der Ost-
Volkshelden ernannt. seite immer noch wohler fühle, gesellschaft-
In dem Zustand des Objekts wird das eigene lich gesehen bin ich immer noch im Osten,
Denken nicht mehr gebraucht, beziehungs- oder auf der anderen Seite, hier möchte ich
weise praktiziert, folglich bleibt einem dann auch sein. Wie einige meiner alten Genossen
auch keine Farbe mehr übrig, für die man aus dem Westen es zu sagen pflegten: Ich
sich als Lieblingsfarbe entscheiden könnte. bin eine »Ost-Türkin«, was auch immer das
Natürlich ist das eine Widersprüchlichkeit, bedeuten mag …
da die gleiche Partei, die mich zu diesem Zu- Es ist das Jahr 1984 in Istanbul, mein Vater
stand bringt, mich darin unterstützt und för- und ich sind sehr glücklich darüber, dass ich
dert, eine neue Sprache zu lernen und fünf mein Jurastudium nach einem Jahr abschlie-
Jahre marxistisch-leninistische Philosophie ßen würde. Jede Woche, wenn er aufgrund
zu studieren. Wer hätte das gedacht, dass seiner Arbeit als Lastenfahrer nach Istanbul
ich eines Tages Marx und Kant in ihrer Mut- kommt, träumen wir davon. Allerdings gibt
tersprache lesen und am allerwichtigsten: es Tatsachen, die mein Vater vielleicht er-
verstehen kann, und im Vergleich zu den ahnt, aber nicht weiß. Wie, dass sich unsere
Möglichkeiten der anderen Flüchtlinge …! Jugendorganisation nach dem Putsch am 12.
Die Chance in dem Land zu leben, in dem der September 1980 entschlossen hat, aktiver in
Sozialismus real praktiziert wird, wovon wir das politische Geschehen einzugreifen und
in der Türkei geträumt haben, trotz all meiner ich ein Mitglied dieser Organisation bin, dass
Kritik, das war die größte Erfahrung in mei- viele unserer Freunde in Polizeigewahrsam
nem Leben. sind und dass mein Verlobter und ich ge-
sucht werden.
Mein Vater war in seiner Großfamilie der
Woher kommst Du? Einzige, der sich eine kritische und sozial-
demokratische Haltung angeeignet hat. Wir
waren sechs Geschwister und in unserem
Nachdem die Mauer verschwand, traten die Elternhaus waren Gerechtigkeit, Ehrlichkeit
Nationalitäten wieder in den Vordergrund, und Respekt höchste Werte, danach wurden
was mich sehr stutzig machte. Ich hatte mich wir erzogen. Die literarischen Werke wie von
zuvor nie mit meiner Nationalität vorgestellt. Yasşar Kemal, Yilmaz Güney, Tolstoi, Dosto-
»Woher kommst du?« Woher ich aus der jewski zu lesen war immer eine stark geför-
Türkei stamme? Ich lernte, nach meinem Äu- derte Aktivität. Mit der 68er Bewegung sind
wir als ganze Familie noch politischer gewor- Meine Eltern mussten alles aus eigener Kraft
den. Mein älterer Bruder war an der Universi- finanzieren. Die staatliche Unterstützung
tät einer der Studentenführer. Wie in anderen war äußerst gering und nicht jede/r konn-
europäischen Ländern gab es auch in der Tür- te diese Unterstützung erhalten. Wir waren
kei starke studentische Aktivitäten, in denen sechs Geschwister. Nur mein Vater und eine
mehr demokratische Rechte, wie autonomes meiner Schwestern arbeiteten. Meine Mut-
akademisches Leben, Meinungs- und Pres- ter war Hausfrau. Sie versuchte, neben der
sefreiheit und Versammlungsrecht gefordert Hausarbeit mit Teppichweben den Haushalt
wurden. Wirtschaftlich ging es dem Land zu verbessern. Mein Vater hatte mir aber sei-
auch nicht gut. Die Inflationsrate war sehr ne Unterstützung im Falle einer Zulassung
hoch und Lebensmittel waren knapp. Die zum Jurastudium zugesichert. In Istanbul
Menschen mussten stundenlang anstehen, hatte ich sehr zaghaft die Arbeiten für die
um Nahrungsmittel zu erhalten. Die damali- Jugendorganisation, die der illegalen Kom-
ge Regierung war konservativ. Paramilitäri- munistischen Partei der Türkei (TKP) nahe-
sche Organisationen machten Jagd auf die stand, wiederaufgenommen. Zaghaft und in
demokratischen Kräfte und Student*innen. sich widersprüchlich deshalb, weil ich mein
Mehrere Student*innen wurden entweder Wunschstudium zu Ende bringen wollte und
von diesen paramilitärischen Organisationen die Lage in dem Land und an den Universi-
oder von den Faschisten ermordet. Viele die- täten seit dem Militärputsch 1980 sehr heikel
ser Mordakte wurden bis heute nicht aufge- war. Auf der anderen Seite wollte ich poli-
klärt. Die Aktivitäten von den Student*innen tisch aktiv werden. In der Zeit waren alle po-
wurden dadurch mehr und mehr radikalisiert, litische Aktivitäten unerlaubt, d. h. sie waren
sie besetzten die Universitäten und bestreik- illegal. Angesichts meiner Haltung wurde ich
ten Vorlesungen. Die Studierendenproteste als Kurier für die Verteilung der illegalen Zei-
standen landesweit als erster Punkt auf der tung der Organisation eingesetzt, obwohl ich
Tagesordnung. Schließlich hat die Regierung kein Mitglied der Partei war … Von 1983–1984
in den Großstädten den Ausnahmezustand wollten die TKP und meine Jugendorganisa-
verhängt, worauf im Jahr 1971 ein Militär- tion die politischen Aktivitäten wieder auf-
putsch folgte. In diesen 1970er Jahren hatten nehmen, obwohl weiterhin der militärische
wir viel mit Militär, Gefängnissen und Gerich- Ausnahmezustand herrschte. Es sollte eine
ten zu tun. Diese Zeit war für uns eine der landesweite Verteilaktion der illegalen Partei-
schwierigsten Zeiten unseres Lebens. zeitung Atılım an den Universitäten stattfin-
Nach meinem Besuch eines staatlichen Leh- den. Sie ist aber nicht zustande gekommen,
rergymnasiums bin ich an der Universität in da es kurz davor polizeiliche Durchsuchun-
Izmir 1979 Mitglied der sozialistischen Ju- gen in den Studentenwohnheimen und an
gendorganisation geworden. Nachdem ich den Unis gab. Mehrere Hundert Student*in-
das dortige Studium an der Architekturfakul- nen wurden in Untersuchungshaft gebracht.
tät abgebrochen hatte, begann ich 1982 das Nach den Polizeieinsätzen in der Universität
Jurastudium an der Istanbuler Universität. und in unseren Unterkünften forderte die Or-
Das war ein Luxus für die Einkommensver- ganisation, dass ich mein Studium abbreche,
hältnisse meiner Eltern. An einer Universität aber ich wollte unbedingt zum Jahresende
zu studieren war ein kostspieliges Vorhaben. meine Prüfungen ablegen. Die Partei bestä-
tigte kurz vor den Prüfungen meine Teilnah- ob ich aus der Organisation austrete und zur
me. Zu dieser Zeit erfuhr ich, dass die Polizei Juristin werde, oder ob ich mit meinem Ver-
Freunde über mich befragte. lobten in der Organisation bleibe, um aktiv
Nach meinen Prüfungen ging ich zu meinen am politischen Geschehen teilzuhaben. Das
Eltern zurück, mein Verlobter war bereits in war eine schwierige Entscheidung und ich
die Illegalität gegangen, die Partei forderte entschied mich, unter einer Bedingung ins
mich auf, nach Istanbul zurückzukehren, so- Ausland zu gehen: Ich wollte studieren. Mit
bald es ihrer Meinung nach an der Zeit da- einem gefälschten Pass bin ich mit dem Zug
für wäre. Das war ein schwieriger Sommer am 9. September 1985 mit einem Ticket nach
für mich. Schließlich erhielt ich die erwartete Wien losgefahren. Ich wollte in Sofia ausstei-
Nachricht und verabschiedete mich von mei- gen, mein Verlobter hatte sich zwei Tage zu-
ner Mutter. Sie hatte geahnt, dass etwas nicht vor auf den Weg gemacht.
stimmte, sie sagte »Das wird nicht gut gehen« Am 10. September 1985 kam ich in Sofia an.
und ich kam vorerst nicht mehr zurück. Mein Verlobter und ich blieben dort in ei-
nem Hotel mit Blick auf den zentralen Platz.
Ich erfuhr erst später, dass es das Hotel der
Entscheidung auszureisen Kommunistischen Partei Bulgariens war. Ein
mir bisher unbekannter Genosse empfing
uns und sagte, dass wir die Hotelzimmer
Nach meiner Ankunft in Istanbul bin ich in nicht verlassen dürften, das Essen werde in
die Illegalität übergetreten. Ich lebte gemein- die Zimmer gebracht. Wir haben zuerst nicht
sam mit meinem Verlobten in einer Wohnung verstanden, was das zu bedeuten hat. Später
der Partei. Tagsüber, wenn die Mieter nicht haben wir uns anhand der Stimmen gedacht,
da waren, durften wir keine Laute machen, die wir aus den anderen Zimmern hörten,
keinen Tee kochen, oder etwas zu Essen zu- dass weitere türkisch sprechende Parteian-
bereiten, nicht einmal das Klo spülen. Wenn gehörige in dem Hotel untergebracht waren
die Mieter von der Arbeit zurückkamen, wur- und sie uns aufgrund der Konspiration nicht
de es entspannter für uns. Natürlich kam sehen durften.
manchmal Besuch und dann mussten wir Der 10. September war der Feiertag des So-
uns in einer kellerartigen Kammer verste- zialismus in Bulgarien. Ich konnte die Feier-
cken und uns reglos hin- legen. Zum Glück lichkeiten etwas vom Balkon aus verfolgen.
kamen die Gäste nicht so oft. Das war eine Am nächsten Morgen teilte uns der Genos-
sehr schwere Zeit für mich, ich konnte mei- se von zuvor mit, dass wir am nächsten Tag
ner Familie nicht schreiben und mein Vater abreisen würden. Wir wussten nicht wohin,
konnte mich nicht mehr wie in den Studen- er hatte keinen Ort erwähnt und wir hatten
tenunterkünften besuchen kommen. auch keine Gelegenheit zu fragen. Am 12.
Wir erhielten nach einer Weile die Entschei- September machten wir uns auf den Weg
dung der Partei; wir sollten ins Ausland. Trotz und erfuhren erst am Flughafen, dass wir in
der Umstände der Konspiration und der nicht die Deutsche Demokratische Republik flie-
vorhandenen Demokratie in unserer illegalen gen würden. Uns wurde mitgeteilt, dass ein
Organisation forderte ich Zeit zum Nach- Genosse uns am Flughafen Schönefeld ent-
denken ein. Ich musste mich entscheiden, gegennehmen werde. Dafür erhielten wir ein
Passwort. Ich bin an diesem Tag das erste Mauer aber wusste ich, weil einige »Gast-
Mal geflogen, und der Ort an dem wir landen arbeiter*innen« aus meiner Heimatstadt in
sollten, war sozialistisch. West-Berlin lebten und arbeiteten. Wenn sie
War es nicht der Ort, von dem wir geträumt in der Türkei waren, erzählten sie uns von der
hatten, während wir Ge- dichte und unsere Mauer. Ich konnte mir aber überhaupt nicht
Marschgesänge auf den Plätzen brüllten? vorstellen, wie sie tatsächlich war.
Nun war ich auf dem Weg dorthin, worü- In den ersten Tagen in Berlin konnte ich nach
ber der griechische Dichter und Kommu- der monatelangen Illegalität kaum realisie-
nist Nâzim Hikmet schrieb: »Wir werden ren, dass ich mich frei bewegen konnte, dass
die Motoren gen dem Blauen steuern« (im ich in einem sozialistischen Land war. Auf je-
Kindergedicht: »Wir werden schöne Tage er- den Fall aber war ich aufgeregt, weil ich mich
leben«). Ich hatte dafür in Kauf genommen, wegen meinen politischen Einstellungen
verhaftet und gefoltert zu werden, ich hatte nicht verstecken musste, keine Angst vor der
meine Heimat dafür verlassen. Mich hatte die Polizei, vor Inhaftierung und Folter haben
Euphorie und auch zu- gleich die Angst er- musste.
griffen, was sollten wir in der DDR machen, Wir bemerkten die Glockengeräusche in der
würden wir studieren können, die Sprache DDR. Ich stellte meine kulturellen Defizi-
lernen, wann würden meine Eltern benach- te fest, als ich katholische Kirchen von pro-
richtigt werden, wie traurig sie doch waren, testantischen Kirchen nicht unterscheiden
als sie mich nicht mehr erreichen konnten. konnte. Obwohl ich aus dem Land stamm-
Meine große Schwester, die auch in der Par- te, wo diese Religion geboren und verbreitet
tei aktiv war, hatte ihnen zuletzt mitgeteilt, wurde. Über sie und über andere Kulturen
dass es mir gut ging. wurde und wird in der Türkei nirgendwo ge-
lehrt.
September 1985, Berlin bot uns viele Grautö-
Meine ersten Tage in der DDR ne. Das Wetter war neblig und ein leichter Re-
gen war stetig vorhanden. Ich erinnere mich
an meine Kopfschmerzen, weshalb schmerz-
In Schönefeld begrüßte uns ein Genosse te es? War es der Abschied, der Frust über
der Kommunistischen Partei der Türkei und das Ungewisse, alles und alle verlassen zu
brachte uns in ein Hotel der SED in der Nähe haben? Die Frage, was meine Schmerzen
der Jannowitzbrücke. Das Hotel war eines auslöste, kann ich bis heute nicht beantwor-
der ersten Gebäude, welches nach dem Fall ten. Jedenfalls waren diese Schmerzen Jah-
der Mauer abgerissen wurde, heute steht re lang mein treuer Begleiter. Im Hotel waren
dort ein Gebäude von internationalen In- die Speisen schön, ich kann mich nicht an
vestmentbankern. Wir durften zwar das Ho- einen Namen der Gerichte erinnern, wir wur-
tel verlassen, sollten uns aber nicht zu sehr den behandelt wie besondere Gäste. In der
entfernen und mit niemandem sprechen. Als Türkei konnte ich mir so ein Essen in einem
treue Soldat*innen der Partei verfolgten wir Restaurant oder Übernachtungen in einem
die Anweisungen und spazierten zwar ein Hotel nicht leisten. Das Gefühl, als ob ich ein
wenig, allerdings sehr zurückhaltend. Berlin besonderer Gast wäre, war mir auch fremd, in
war mir vorher nicht so sehr bekannt, von der der Türkei war ich ja vom Staat unerwünscht.
Der Genosse, der uns in das Hotel brachte, DDR verbracht habe, für mich die bestim-
teilte uns mit, wir sollten Geduld haben, da mende ist. Ich versuche das anzunehmen,
noch andere Genossen erwartet wurden und soweit es mir obliegt. In meiner Zeit in der
ging dann auch wieder. Wir sahen ihn erst DDR habe ich im Rahmen unserer Werte
nach einem Jahr in Berlin wie- der. und politischen Ansichten eine persönliche
Während ich diese Zeilen schreibe, be- Zugehörigkeit entwickelt. Ich habe die inter-
herrschen mich immer wieder die gleichen nationale Solidarität erlebt, ich habe wäh-
Gefühle; der Computer und das Schreibpro- rend meines Studiums mein Bewusstsein,
gramm sind an, und ich frage mich immer für eine gerechte Gesellschaft ohne Ausbeu-
wieder aufs Neue, was wollte ich erzählen? tung, ohne Unterdrückung weiterentwickelt.
Ja, meine Ankunft in der DDR und wie ich Das Gefühl, dass ich ein Teil dieses Kampfes
den Fall der Mauer erlebte. Ist es nicht ein für eine menschlichere Gesellschaft war, hat
Kreislauf, der sich immer wieder abspielt? mich glücklich gemacht. Nein, ich konnte mir
Nicht nur für die Türkei, sondern überall dort, nicht vorstellen, was alles passieren würde,
wo Diktatoren und Kriege sind? Nein, die Zeit wenn die BRD über die DDR herfallen wür-
um 1989-1990, das Ende des Kalten Krieges, de. Allerdings sehe ich am 30. Jahrestag des
kennzeichnet einen besonderen Abschnitt Falls der Mauer und am 29. Jahrestag der
der Geschichte, in der ich als Kommunistin »Wiedervereinigung«, dass der Verlust jener
die gemachten Fehler wahrnehmen konnte, Werte und ihre Zersetzung eine große grund-
beziehungsweise die Fehler zu- tage kamen, legende Rolle spielen für die gesellschaftli-
welche unsere Partei und alle Schwester- chen Probleme, die wir heutzutage erleben.
parteien und die Kommunistische Partei der
UdSSR in der Gründung des Sozialismus ge-
macht hatten; es war die Zeit der Ernüchterung. Wismar – Greifswald – Berlin