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– Zu Marie Luise Kaschnitz’ Gedicht „Genazzano“ aus – Ein Glossar –
Begierde
Marie Luise Kaschnitz: Gesammelte Werke in Sieben
Bänden. Band V: Die Gedichte. –
Im Kern
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Zugaben von Durchreisenden
Nicht so in „Genazzano“. Hier vertraut die Dichterin ganz auf die Kraft der Bilder.
Bilder, die ohne ihre geliebten Adjektive auskommen: golden, marmorn, magisch, #Tuerlesung
bleich. Gefährliches Schmieröl der Poesie.
Ortsangaben als Titel finden sich in der Lyrik der Kaschnitz häufig. Genazzano, ein
#tuerlesung 0.08 – Ri…
Dorf von fünftausend Seelen etwa fünfzig Kilometer südlich von Rom, muß man
nicht kennen. Nach wenigen Worten haben wir ein romanisches Bergstädtchen vor
Augen; beinah nature morte, wäre da nicht das Klappern der Eselshufe. In der
winterlich starren Stadt ist Bewegung, wenn auch nur hörbar und nur von einem
Tier, das dem Menschen dient. Kein Lachen, kein Rufen, keine Stimmen. Die
Skizze kommt in den ersten fünf Versen ohne Verben aus; sie würden den Ort in
der Zeit verankern, doch er liegt außerhalb von ihr. #tuerlesung 0.08 – Richard Pietraß:
In der Zeit hingegen lebt das Lyrische Ich. Dreimal wird der Gegensatz beschworen Hundewiese, Klausur & Amok
zwischen dem zeitlosen Ort, dem dauernden „ Hier“, und dem zeitverfallenen Ich, weitere Tuerlesungen ...
das um seine Vergänglichkeit weiß. Es steht nicht, es „stand“ am Brunnen und
„wusch“. Nicht „Hier“ und jetzt, sondern „Hier“ und einst. Das alterslose Dorf, das
gealterte Ich. Zeile sechs und sieben halten die Stimmung der Erinnerung in der
Schwebe. Noch könnten „Brunnen“ und „Brauthemd“ heitere Bilder auslösen, Lyrikschaufenster
wehmütigen Rückblick. Doch dies macht die nächste Zeile zunichte:
Aus der Zeitlosigkeit in die Vergangenheit versetzt, gerät der Leser in die
Verstörung. Aus welcher Zeit spricht dieses Ich? Wo ist eine Gegenwart? Ist das
Ich auch aus der Zeit gefallen? Tot? Die folgenden Zeilen lassen beide Deutungen
offen: das Lyrische Ich als Erinnerndes; das lyrische Ich als Wiedergängerin. Die
Bilder sind so gehalten, daß sie auf eine Tote so gut wie auf eine waschende Frau
zutreffen können. Das Gesicht kann ein Spiegelbild sein oder wirklich „weiß / Im
schwarzen Wasser“ liegen. „Im wehenden Laub der Platanen“ zeigt sich Natur in
ihrer Vergänglichkeit. Doch „wehend“ ist auch die immerwährende Bewegung des
Adhoc
Windes, äußerster Gegensatz zu dem dann folgenden Schlußbild.
Anders als der Entwurf des Orts in den Eingangszeilen ist dieses letzte Bild PlanetLyrikHall ist sichtbar
Vergangenheit: Die „Hände waren / Zwei Klumpen Eis“, eine umgangssprachliche
Felix Philipp Ingolds unveröcentlichte
Metapher, unheimlich erst durch ihre Weiterführung: fünf Finger werden zu „fünf Manuskriptauswahl in Skorpioversa
Zapfen“, die „klirrten.“ Wer dächte da nicht an Hölderlin, wer hörte nicht sein Felix Philipp Ingolds Timelinehelix
„Weh mir“ bis an den Brunnen in den Zeilen von „Genazzano“. Doch wo bei Skorpioversa
Hölderlin „klirren die Fahnen“ sind es hier vereiste Finger, die ein Geräusch Felix Philipp Ingold: „Gekriegte“
erzeugen, ähnlich dem Klappern der Eselshufe. Anders als in Hölderlins späten Harmonie
Versen aus den „Nachtgesängen“ ist das Leben hier nicht abgestorben. Eis kann Vers-Fungible Token
wieder in Bewegung geraten, Wasser werden, in den Kreislauf des Lebens
Lyrikschaufenster
zurückkehren.
Felix Philipp Ingold: Nachruf Pierre
Die Erstarrung ist zeitweilig, Leblosigkeit vorübergehend, das Lebendige wartet.
Chappuis
Denn das Lyrische Ich hat die Zeit der Vereisung überwunden, es spricht als
Gedicht verstanden – Goldschatz
Wiedergeborenes. Wiedergeboren in „Genazzano am Abend“, in die Zeitlosigkeit, gehoben
wo das „Klirren“ aufgeht im „gläsernen Klappern“. Der einzelne vergeht, aber der
Tod ist kein Ende, sondern ein Wendepunkt, eine Station. Das Spiel des Lebens
zwischen „Brauthemd“ und „Totenhemd“ kann aufs neue beginnen, der Kette des
Seins ein weiteres Glied hinzugefügt werden. Luchterhands Loseblatt Lyrik
„Den Werdegang eines gelungenen Gedichts zu erklären… ist schlechthin
unmöglich“, schreibt der Dichter Peter Huchel in seinem Nachwort zu den Versen
der Kaschnitz, sein Gelingen bleibe „Geheimnis“. Daß „Genazzano“, jedem Versuch
seiner „Entschlüsselung“ zum Trotz, dieses „Geheimnis“ zu wahren weiß, macht
seine verstörende Eindringlichkeit aus, die zu immer neuen Deutungen
herausfordert. Ganz im Sinne der Dichterin:
Das gedruckte Gedicht, die gedruckte Geschichte sind Freiwild, sie gehören mir
nicht mehr, und jeder kann sie sich auslegen, wie er will.
Das Spiel des Lebens, das Spiel der Deutung, wir müssen uns hineinbegeben, nur
so halten wir uns und die Dichtung lebendig.
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Ulla Hahn, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie.
Fünfundzwanzigster Band, Insel Verlag, 2002
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