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Der morgendlie Bli dur die Vorhänge zeigt es: Wieder steht das Auto

mit den unauffälligen Männern von der Stasi vor der Tür. Die I-
Erzählerin, eine Sristellerin aus Ostberlin, weiß si unter ständiger
Beobatung, in ihrer Wohnung, beim Telefonieren, auf dem Weg zu einer
Lesung. Do am Ende dieses Tages werden si au Lüen im System
gezeigt haben, die Anlaß zu Hoffnung geben.
»Was bleibt? … Die Welt, zu der die Welt der Literatur gehört, wäre ärmer
ohne Christa Wolf; dies bleibt.« Neue Zürer Zeitung
Christa Wolf, geboren am 18. März 1929 in Landsberg/Warthe (Gorzów
Wielkopolski), starb am 1. Dezember 2011 in Berlin. Ihr Werk, das im
Suhrkamp Verlag erseint, wurde mit zahlreien Preisen ausgezeinet,
darunter dem Georg-Büner-Preis und dem Deutsen Büerpreis für ihr
Gesamtwerk. Zuletzt veröffentlite sie den Roman Stadt der Engel oder e
Overcoat of Dr. Freud (st 4275).
Christa Wolf
Was bleibt
Erzählung

Suhrkamp
Die Erstausgabe von Was bleibt ersien 1990 im Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar, und zuglei im
Luterhand Literaturverlag, Frankfurt am Main.

Der Text, der dem 2001 ersienenen Band 10 der von Sonja Hilzinger herausgegebenen Werke in
zwölf Bänden folgt, wurde für diese Ausgabe neu durgesehen und korrigiert.

Umslagfoto: Helga Paris

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012


© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2007
Alle Rete vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlien Vortrags sowie der
Übertragung dur Rundfunk und Fernsehen, au einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in
irgendeiner Form (dur Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne srilie Genehmigung
des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektroniser Systeme verarbeitet, vervielfältigt
oder verbreitet werden.
Umslag: Göllner, Miels, Zegarzewski

eISBN 978-3-518-73315-8
www.suhrkamp.de
Nur keine Angst. In jener anderen Sprae, die i im Ohr, no nit auf
der Zunge habe, werde i eines Tages au darüber reden. Heute, das wußte
i, wäre es no zu früh. Aber würde i spüren, wenn es an der Zeit ist?
Würde i meine Sprae je finden? Einmal würde i alt sein. Und wie
würde i mi dieser Tage dann erinnern? Der Sre zog etwas in mir
zusammen, das si bei Freude ausdehnt. Wann war i zuletzt froh
gewesen? Das wollte i jetzt nit wissen. Wissen wollte i – es war ein
Morgen im März, kühl, grau, au nit mehr allzu früh –, wie i in zehn,
zwanzig Jahren an diesen no frisen, no nit abgelebten Tag
zurüdenken würde. Alarmiert, als läute in mir eine Gloe Sturm, sprang
i auf und fand mi son barfuß auf dem sön gemusterten Teppi im
Berliner Zimmer, sah mi die Vorhänge zurüreißen, das Fenster zum
Hinterhof öffnen, der von überquellenden Mülltonnen und Bausu besetzt,
aber mensenleer war, wie für immer verlassen von den Kindern mit ihren
Fahrrädern und Kofferradios, von den Klempnern und Bauleuten, selbst von
Frau G., die später in Kielsürze und grüner Strimütze herunterkommen
würde, um die Kartons der Samenhandlung, der Parfümerie und des
Intershops aus den großen Drahtcontainern zu nehmen, sie pla zu drüen,
zu handlien Ballen zu versnüren und auf ihrem vierrädrigen Karren
zum Altstoffhändler um die Ee zu bringen. Sie würde laut simpfen über
die Mieter, die ihre leeren Flasen aus Bequemlikeit in die Mülltonnen
warfen, ansta sie säuberli in den bereitgestellten Kisten zu stapeln, über
die Spätheimkehrer, die beinahe jede Nat die vordere Haustür aufbraen,
weil sie immer wieder ihren Slüssel vergaßen, über die Kommunale
Wohnungsverwaltung, die es nit fertigbrate, eine Klingelleitung zu
legen, am meisten aber über die Betrunkenen aus dem Hotelrestaurant im
Nebenhaus, die unverfroren hinter der aufgebroenen Haustür ihr Wasser
abslugen.
Die kleinen Tris, die i mir jeden Morgen erlaubte: ein paar Zeitungen
vom Tis raffen und sie in den Zeitungsständer steen, Tisdeen im
Vorübergehen glastreien, Gläser zusammenstellen, ein Lied summen
(»Geht nit, sagten kluge Leute, zweimal zwei ist niemals drei«), wohl
wissend, alles, was i tat, war Vorwand, in Wirklikeit war i, wie an der
Snur gezogen, unterwegs zum vorderen Zimmer, zu dem großen
Erkerfenster, das auf die Friedristraße blite und dur das zwar keine
Morgensonne hereinfiel, denn es war ein sonnenarmes Frühjahr, aber do
Morgenlit, das i liebe, und von dem i mir einen gehörigen Vorrat
anlegen wollte, um in finsteren Zeiten davon zu zehren.
Aber das weiß i do, daß man dur willentlien Entsluß keinen
Himmelssatz erwirbt, der si unter der Hand vermehrt; weiß do: Alle
Nahrung über des Leibes Notdur hinaus wäst uns zu, ohne daß wir sie
Stü um Stü zusammentragen müßten oder düren, sie sammelt si von
selbst, und i fürte ja, alle diese wüsten Tage würden nits beisteuern zu
dieser dauerhaen Wegzehrung und deshalb unaufhaltbar im Strom des
Vergessens abtreiben. In heller Angst, in paniser Angst wollte i mi
jetzt an einen dieser dem Untergang geweihten Tage klammern und ihn
festhalten, egal, was i zu fassen kriegen würde, ob er banal sein würde
oder swerwiegend, und ob er si snell ergab oder si sträuben würde
bis zuletzt. So stand i also, wie jeden Morgen, hinter der Gardine, die dazu
angebrat worden war, daß i mi hinter ihr verbergen konnte, und
blite, hoffentli ungesehen, hinüber zum großen Parkplatz jenseits der
Friedristraße.
Übrigens standen sie nit da. Wenn i ret sah – die Brille hae i
mir natürli aufgesetzt –, waren alle Autos in der ersten und au die in
der zweiten Parkreihe leer. Anfangs, zwei Jahre war es her, daran maß i
die Zeit, hae i mi ja von den hohen Kopfstützen maner
Krafahrzeuge täusen lassen, hae sie für Köpfe gehalten und ob ihrer
Unbeweglikeit beklommen bestaunt; nit, daß mir gar keine Fehler mehr
unterliefen, aber über dieses Stadium war i hinaus. Köpfe sind
ungleimäßig geformt, bewegli, Kopfstützen gleiförmig, abgerundet,
steil – ein gewaltiger Untersied, den i irgendwann einmal genau
besreiben könnte, in meiner neuen Sprae, die härter sein würde als die,
in der i immer no denken mußte. Wie hartnäig die Stimme die
Tonhöhe hält, auf die sie si einmal eingepegelt hat, und wele
Anstrengung es kostet, au nur Nuancen zu ändern. Von den Wörtern gar
nit zu reden, date i, während i anfing, mi zu dusen – den
Wörtern, die, si beflissen überstürzend, hervorquellen, wenn i den Mund
aufmae, angeswollen von Überzeugungen, Vorurteilen, Eitelkeit, Zorn,
Enäusung und Selbstmitleid.
Wissen möte i bloß, warum sie gestern bis na Miernat
dastanden und heute früh einfa verswunden sind.
I putzte mir die Zähne, kämmte mi, benutzte gedankenlos, do
gewissenha versiedene Sprays, zog mi an, die Saen von gestern,
Hosen, Pullover, i erwartete keinen Mensen und würde allein sein
dürfen, das war die beste Aussit des Tages. No einmal mußte i snell
zum Fenster laufen, wieder ergebnislos. Eine gewisse Erleiterung war das
natürli au, sagte i mir, oder wollte i etwa behaupten, daß i auf sie
wartete? Mögli, daß i mi gestern abend läerli gemat hae;
einmal würde es mir wohl peinli sein, daran zu denken, daß i mi alle
halbe Stunde im dunklen Zimmer zum Fenster vorgetastet und dur den
Vorhangspalt gespäht hae; peinli, zugegeben. Aber zu welem Zwe
saßen drei junge Herren viele Stunden lang beharrli in einem weißen
Wartburg direkt gegenüber unserem Fenster.
Fragezeien. Die Zeiensetzung in Zukun gefälligst ernster nehmen,
sagte i mir. Überhaupt: si mehr an die harmlosen Übereinküne halten.
Das ging do, früher. Wann? Als hinter den Sätzen mehr Ausrufezeien als
Fragezeien standen? Aber mit simplen Selbstbezitigungen würde i
diesmal nit davonkommen. I setzte Wasser auf. Das mea culpa
überlassen wir mal den Katholiken. Wie au das pater noster.
Losspreungen sind nit in Sit. Weiß, warum in den letzten Tagen
ausgerenet weiß? Warum nit, wie in den Woen davor, tomatenrot,
stahlblau? Als häen die Farben irgendeine Bedeutung, oder die
versiedenen Automarken. Als verfolgte der undursitige Plan, na dem
die Fahrzeuge einander ablösten, versiedene Parklüen in der ersten oder
zweiten Autoreihe auf dem Parkplatz besetzten, irgendeinen geheimen Sinn,
den i dur inständiges Bemühen herausfinden könnte; oder als könnte es
si lohnen, darüber nazudenken, was die Insassen dieser Wagen – zwei,
drei kräige, arbeitsfähige junge Männer in Zivil, die keiner anderen
Besäigung nagingen, als im Auto sitzend zu unserem Fenster
herüberzublien – bei uns suen moten.
Der Kaffee mußte stark und heiß sein, gefiltert, das Ei nit zu wei,
selbsteingekote Konfitüre war erwünst, Swarzbrot. Luxus! Luxus!
date i wie jeden Morgen, als i das alles beieinanderstehen sah – ein
nie si abnutzendes Suldgefühl, das uns, die wir den Mangel kennen,
einen jeden Genuß durdringt und erhöht. Die Nariten aus dem
Westsender (Energiekrise, Hinritungen im Iran, Abkommen über die
Begrenzung der strategisen Rüstungen: Vergangenheitsthemen!) hörte i
kaum, mein Bli war auf die Eisenstange gefallen, die den zweiten
Ausgang unserer Wohnung – jene Tür, die von der Küe über die
Hintertreppe zum Hofausgang führt – einbrusier verrammelt. Mir fiel
ein, in meinem nätlien Traum war diese unbenutzte, smale,
verdrete, mit ausrangierten Möbeln vollgestellte Treppe reinli gewesen
und lebha begangen von allerlei dreistem Volk, das i in meinen
Traumgedanken »Geliter« nannte – ein Wort, das i diese drahtigen,
behenden, lemurenhaen, jeden Samgefühls baren Männer niemals hören
lassen würde, die si, was i son immer so sehr gefürtet hae!, dur
die todsiere Hintertür Einlaß in unsere Küe versafft haen, si nun
auf der Swelle drängten, si an die eiserne Stange preßten, die
unersüerli in ihren Halterungen lag und merkwürdigerweise von jenen
Elenden respektiert wurde, die do leit unter ihr häen durslüpfen
können, sta dessen aber ihre Leiber gegen sie quetsten, während immer
neue, von einem mir unsitbaren Höllenraen ausgespiene Figuren – ja,
sie wirkten wie Pappfiguren, fla – von hinten nasoben, unglaubli
agil und beredt. Was haen sie eigentli gesagt. Daß wir uns nur ja nit
stören lassen sollten. Daß wir so tun sollten, als seien sie gar nit da. Daß es
das allerbeste wäre, wir würden sie vollständig vergessen. Sie höhnten nit,
es war ihr Ernst, das erbierte mi am meisten in meinem Traum. Da man
si einen Traum nit verbieten, wohl au nit vorwerfen kann, late i
auf, um mir zu beweisen, daß i eigentli son über den Dingen stand.
Das Laen klang gezwungen.
Keine Angst. Meine andere Sprae, date i, weiter darauf aus, mi zu
täusen, während i das Gesirr in das Spülbeen stellte, mein Be
mate, ins vordere Zimmer zurüging und endli am Sreibtis saß –
meine andere Sprae, die in mir zu wasen begonnen hae, zu ihrer vollen
Ausbildung aber no nit gekommen war, würde gelassen das Sitbare
dem Unsitbaren opfern, würde aufhören, die Gegenstände dur ihr
Aussehen zu besreiben – tomatenrote, weiße Autos, lieber Himmel! – und
würde, mehr und mehr, das unsitbare Wesentlie aufseinen lassen.
Zupaend würde diese Sprae sein, soviel glaubte i immerhin zu ahnen,
sonend und liebevoll. Niemandem würde sie weh tun als mir selbst. Mir
dämmerte, warum i über diese Zeel, über einzelne Sätze nit
hinauskam. I gab vor, ihnen nazuhängen. In Wirklikeit date i
nits.
Sie standen wieder da.
Es war neun Uhr fünf. Seit drei Minuten standen sie wieder da, i hae
es sofort gemerkt. I hae einen Ru gespürt, den Ausslag eines Zeigers
in mir, der nazierte. Ein Bli, beinahe überflüssig, bestätigte es. Die
Farbe des Autos war heute ein gedetes Grün, seine Besatzung bestand aus
drei jungen Herren. Ob diese Herren ausgeweselt wurden wie die Autos?
Und was wäre mir lieber gewesen – daß es immer dieselben waren oder
immer andere? I kannte sie nit, das heißt, do, einen kannte i: den,
der neuli ausgestiegen und über die Straße auf mi zu gekommen war,
allerdings nur, um si an dem Bowurststand unter unserem Fenster
anzustellen, und der mit drei Bowürsten auf einem großen Pappteller und
mit drei Srippen in den Tasen seiner graugrünen Kue zu dem Auto
zurügekehrt war. Zu einem blauen Auto, übrigens, mit der Nummer… I
sute den Zeel, auf dem i die Autonummern notierte, wenn i sie
erkennen konnte. Dieser junge Herr oder Genosse hae dunkles Haar
gehabt, das si am Seitel zu liten begann, das hae i von oben sehen
können. Einen Augenbli lang hae i mir in der Vorstellung gefallen,
daß i als erste die beginnende Glatze des jungen Herrn bemerkte, eher als
seine eigene Frau, die womögli nie derart aufmerksam auf ihn herabsah.
I hae mir vorstellen müssen, wie sie dann gemütli in ihrem Auto
beieinanderhoten (im Auto kann es ja sehr gemütli sein, besonders wenn
draußen Wind geht und sogar einzelne Tropfen fallen), wie sie die
Bowürste aufaßen und nit einmal frieren mußten, denn der Motor lief
leise und heizte ihnen ein. Aber was tranken sie dazu? Führten sie, wie
andere Werktätige, jeder eine ermosflase voll Kaffee mit?
Unsere Empfindungen bei solen Gelegenheiten sind kompliziert. Und
die ritigen Wörter hae i immer no nit, immer no waren es
Wörter aus dem äußeren Kreis, sie trafen zu, aber sie trafen nit, sie griffen
Tatsaen auf, um das Tatsälie zu vertusen, so unbekümmert würde
i nit mehr lange drauflos reden können, aber was ist einer, der nit
unbekümmert ist? Bekümmert? Kummervoll? »Kummer«, las i in
Hermann Pauls Deutsem Wörterbu, immer tiefer hineintreibend in
meine Besessenheit: »Kummer« habe im Mielhodeutsen »Su,
Beslagnahme, Not«, in der älteren Retssprae sogar »Arrest« bedeuten
können. Beslagnahme, ja, das traf es, in Beslag genommen
dahinkümmern. »Es reuete ihn, daß er die Mensen gemat hae, und es
bekümmerte ihn in seinem Herzen.« Doktor Martin Luther, der mir
weismaen wollte, daß wir nur zustimmen oder ablehnen, Freund oder
Feind sein können. Deine Rede sei ja, ja und nein, nein.
Was darüber ist, ist vom Übel. Des Doktor Luther Gesimpf auf den
Papst, die gefräßige Sau, dann auf die Bauern, die tollwütigen Hunde.
Glülier Mens, der seinen Erzfeind aus si herausstellen kann. In
meiner Sprae werden Tiernamen nur auf Tiere angewendet werden, nie
würde i, wie andere es taten, die Namen von Sweinen und Hunden,
nit einmal die von Freen oder Reptilien auf die jungen Herren da
draußen münzen können. Was mir fehlte, war wahrseinli ein gesunder
nivellierender Haß.
I kannte sie ja nit. Was wußte i son von ihnen. Selbst das
Kennzeien »Ledermäntel« war ja ein überholtes Klisee, Dederonanoraks
haen si son längst durgesetzt, aber ob dieses Einheitskleidungsstü
ihnen von ihrer Dienststelle für den Außendienst geliefert wurde oder ob sie
zum Jahresende eine Versleißgebühr bekämen und wie ho die etwa sein
könnte – das alles häe i nit zu sagen gewußt. Und kannte man
heutzutage nit son den halben Mensen, wenn man seine
Arbeitsbedingungen kannte? Zum Beispiel häe mi au interessiert, wie
bei ihnen die täglie Arbeitseinteilung vor si ging, oder der
Befehlsempfang, wie man das wohl nennen mußte, und ob bestimmte Posten
beliebter waren als andere, die Autoposten zum Beispiel beliebter als die
Türstehposten. Und, wenn i son mein Interesse anmeldete: Ob jene, die
mit ihren Umhängetasen auf den Straßen patroullieren, tatsäli in
diesen Täsen ein Sprefunkgerät mit si führen, wie das Gerüt es
steif und fest behauptet. I hae manmal den Verdat, in den Tasen
wäre nits als ihr Frühstüsbrot, das sie aus mensli verständlier
Imponiersut konspirativ versteten. Eine verzwite Art von
Amtsanmaßung. Jedenfalls verbot es si, vor einen von ihnen hinzutreten
und höfli zu fragen: Verzeihen Sie bie, was haben Sie eigentli in Ihrer
Tase? Ebensowenig konnte man si bei den Autobesatzungen
erkundigen, ob sie mit Abhörgeräten ausgerüstet waren und wie weit
gegebenenfalls deren Radius reite. Andere Vertraulikeiten hingegen
würden si nit verbieten, au im Umgang mit ihnen gab es einen Codex,
der si allerdings kaum erlernen ließ, man hae ihn oder man hae ihn
nit. Zum Beispiel bedauerte i es immer no, daß i nit glei
damals, als es anfing, in den ersten kalten Novembernäten, meinem
Impuls gefolgt war und ihnen heißen Tee hinuntergebrat hae. Daraus
häe si eine Gewohnheit entwieln können, persönli haen wir do
nits gegeneinander, jeder von uns tat, was er tun mußte, man häe ins
Gesprä kommen können – nit über Dienstlies, Go bewahre! –, aber
über das Weer, über Krankheiten, Familiäres.
Nun aber Sluß. Mein besämendes Bedürfnis, mi mit allen Arten
von Leuten gut zu stellen. Den Tee damals haen wir selber getrunken, spät
in der Nat, im dunklen Zimmer am Fenster stehend, an das wir am
nästen Tag diese Gardine hängten. Plötzli habe i das Lit anknipsen,
dit ans Fenster treten und zu ihnen hinüberwinken müssen. Worauf sie
ihre Seinwerfer dreimal kurz aufblitzen ließen. Sie haen Humor. Ein
bißen beruhigter, ein bißen weniger bedrüt als sonst waren wir
slafen gegangen. Bedrüt? Das hae i mir do nie zugeben wollen.
Jetzt tat is eben, vielleit war das ein erster notwendiger Sri auf
Unrühmlies hin. Empfanden nit Kinder so, wenn der erzürnte Vater
ihnen dur ein kurz angebundenes »Gute Nat!« bedeutet hat, daß er
nit unversöhnli ist? Und wie anders als kindli, kindis, sollte man die
unaufhörlien Gedankenmonologe nennen, auf denen i mi ertappte
und die allzuo in der absurden Frage endeten: Was wollt ihr eigentli?
Wieviel i no zu lernen hae! Eine Institution anreden, als sei sie ein
Mens! Aber über diese frühe Phase war i do hinaus, beswitigte i
mi selbst, Beteuerungen unterliefen mir nit mehr, seit wann eigentli?
Eines Tages hae i begriffen, für Beteuerungen und Erklärungsversue
gab es keinen Adressaten, i mußte annehmen, wogegen i mi so lange
gesträubt hae, die jungen Herren da draußen waren mir nit zugängli.
Sie waren nit meinesgleien. Sie waren Abgesandte des anderen. Lange
son war es mir nit mehr in den Sinn gekommen, dit an jenen Autos
vorbeizustreien und grimmigen Gesits hineinzustarren, um den
gläsernen Blien der Insassen zu begegnen, deren Aurag es do sein
mußte, als das, was sie waren, ausgemat zu werden und dadur Wut,
besser: Angst zu erzeugen, die bekanntli mane Mensen zum
Einlenken treibt, andere zu unüberlegten Handlungen, wele ihrerseits
wieder als Indizienbeweis dienen konnten für die Notwendigkeit der
Observation. Irgend jemand, das fühlte i stark, mußte versuen, diesen
Teufelskreis zu durbreen.
Einmal, in meiner neuen freien Sprae, würde i au darüber reden
können, was aber swierig werden würde, weil es so banal war: Die
Unruhe. Die Slaflosigkeit. Der Gewitsverlust. Die Tableen. Die Träume.
Das ließe si wohl sildern, do wozu? Es gab ganz andere Ängste auf
der Welt. Das Haar, wie es büselweise ausging. Na und? Inzwisen war es
diter nagewasen als zuvor, und die Tableen lagen unbenutzt in der
Sublade. Alles renkte si ein. Die Träume. Das ja. Das bestri i mir
nit, aber wo auf der Welt können Mensen heutzutage ohne Alpträume
leben? Nein. Jeden Tag sagte i mir, ein bevorzugtes Leben wie das meine
ließe si nur dur den Versu retfertigen, hin und wieder die Grenzen
des Sagbaren zu übersreiten, der Tatsae eingedenk, daß
Grenzverletzungen aller Art geahndet werden. Do, sagte i mir, während
mir bewußt wurde, daß i seit Minuten son auf den Fernsehturm starrte,
der si halbrets in meinem Gesitsfeld über dem Häusermassiv von
Augen- und Frauenklinik erhob, do der Spragrenze würde i mi erst
nähern, wenn i mir zutraute zu erklären, warum an jenen Tagen, an
denen die Autos nit in Wirklikeit, nur als Phantombild auf meiner
Netzhaut vorhanden waren, die Angst nit von mir wi, nit einmal
geringer war als an Tagen der offensitlien Observation. Dazu, date
i, müßte i mir mal was einfallen lassen, egal in weler Sprae.
Wieviel Zeit wollte i mir eigentli no geben?
Zeit war eines meiner Stiworte. Eines Tages war mir klar geworden,
daß es vielleit mehr als alles andere ein gründli anderes Verhältnis zur
Zeit war, das mi von jenen jungen Herren da draußen – sie standen no
dort, ja do! – untersied. Jenen nämli war ihre Zeit wertlos, sie
vergeudeten sie in einem unsinnigen, gewiß aber kostspieligen Müßiggang,
der sie do auf die Dauer demoralisieren mußte, aber das sien ihnen ja
nits auszumaen oder ihnen, im Gegenteil, die Vermutung kam mir
plötzli, gerade ret zu sein. Mit beiden Händen, lustvoll geradezu, warfen
sie ihre Zeit zum Fenster hinaus; oder nannten sie das womögli Arbeit,
was sie taten? Vorstellbar war sogar das. Vorstellbar, nein: wahrseinli
war es, daß sie abends ihrer Frau ein Gesit zeigten, aus dem abzulesen
war, wie unersetzli sie si an diesem Tag wieder haen maen dürfen.
Allerdings hörte man au gerütweise, daß si manmal einer von ihnen
am Abendbrois, in Gegenwart der halbwüsigen Kinder, mit den
Erkenntnissen des Tages brüstete: menslie Swäen der observierten
Objekte, abstruse Liebesaffären zum Beispiel, die, düre man reden, manen
oder mane ganz sön in die Bredouille bräten. Do swieg man
zuverlässig wie ein Grab. Man swieg wirkli, davon war i überzeugt.
Bramabarsierende Väter die Ausnahme. In Wirklikeit mußten sie alle
wissen, daß sie, jeder von ihnen, von einer Sekunde zur anderen überflüssig
werden konnten.
Jedesmal, wenn mir dieser Gedanke kam, wurde mir kalt wie beim
erstenmal.
Das Telefon. Ein Freund. Grüß di, sagte i. Nein, er störe mi bei
keiner witigen Arbeit. Warum denn nit, sagte er strafend. A, sagte i,
die Frage ließe si nit in einem Satz beantworten. I könne ruhig
mehrere Sätze maen, sagte er. Zum Mitsreiben, sagte i. Aber da
untersätze i do wohl unsere tenisen Möglikeiten, sagte er. Ein
Tonband werde man für uns beide do übrig haben! Was das kostet, sagte
i.
Folgte die Art von Laen, die wir uns für genau diese Gelegenheiten
angewöhnt haen, ein bißen herausfordernd, ein bißen eitel. Und wenn
keiner mithörte? Wenn wir mit unserer Selbstübersätzung und
Mutspielerei ins Leere liefen? Das würde nit den geringsten Untersied
maen. Darüber wollte i nadenken.
Wie i denn klinge, heute morgen.
Na wie denn?
Na, sagte mein Freund, nit unbedingt high, würde i spreen. Oder
täuset mi mein Ohr.
O, sagte i, wie könnte i anders als high sein, wenn du mi son mal
anrufst – und so weiter.
So spraen wir immer, am wahren Text vorbei. I mußte an die zwei,
drei Male denken, als der wahre Text mir do entslüp war, weil i
keine Kra hae, ihn zurüzuhalten, und wie seine Augen, seine Stimme
si da verändert haen. Wie es H. gehe, fragte er jetzt. Gut, sagte i, i
kann ihn namiags besuen. Und wir, Madame? fragte er. Wann sehen
wir uns? I sagte den wahren Text: Möglist bald. Na denn, sagte er. Er
werde in den nästen Tagen in der Stadt sein und mir vorher durgeben,
wann i das Kaffeewasser aufsetzen solle. Da sollten si gewisse von uns
beiden hogesätzte Persönlikeiten ruhig ihren Kopf darüber zerbreen,
wofür »Kaffeewasser« das Codewort sein könnte.
Diese Art Späße liebe i nit besonders. Kaffee? sagte i. Und i
date, du würdest Tee bevorzugen. Mitniten, sagte er, und i solle nun
nit den ganzen Code dureinanderbringen. Bon, sagte i. Und er, na
einer kurzen Pause, mit unveränderter Stimme: Du hast Besu, wie?
Au diese Fragen liebte i nit, sagte aber ja, außerstande zu lügen.
Na, hervorragend, sagte mein Freund. Auf bald also.
Da hörte i mi auf einmal laut ins Telefon rufen: Du! Hör mal! Einmal
werden wir alt sein, bedenkst du das!
Er hae aufgelegt. I aber setzte mi wieder an meinen Sreibtis und
slug die Hände vors Gesit. Ja. So verbringen wir unsere kurzen Tage. I
weinte nit. I hae, wenn i es mir ret überlegte, son ziemli lange
nit mehr geweint.
Obwohl i an diesem Tag no nits getan hae, würde i jetzt, mien
in der Arbeitszeit, einkaufen gehen. Es war ein Sieg der anderen, da mate
i mir nits vor, denn wenn es eine Moral gab, an der i festhielt, so war
es die Arbeitsmoral, au weil sie imstande zu sein sien, Verfehlungen in
anderen Moralsystemen auszugleien. I wollte nit aufgeben, wie jene
jungen Herren aufgegeben haen, als sie si, ansta ordentli zu arbeiten,
vielleit aus einem untilgbaren Hang zur Ein- und Unterordnung zu sol
notdürig verbrämtem Nitstun anheuern ließen.
Was denn. Son wieder den Kopf anderer Leute zerbreen? Suhe
überstreifen, Mantel an, die Tür doppelt, am liebsten, wenn es mögli wäre,
dreifa versließen, so wenig das, wie i ja wußte, im Ernstfall nützen
würde, denn mindestens ein-, wahrseinli aber zweimal haen im
vorigen Sommer jene jungen Herren oder deren Kollegen mit einer
Spezialausbildung im Türenöffnen unsere Wohnung in unserer Abwesenheit
aufgesut, ohne allerdings mit dem Sauberkeitsfimmel von Frau C. zu
renen, die, wenn sie na getaner Arbeit die Wohnung verläßt, ihre
eigenen Fußstapfen mit einem weien Tu hinter si wegwist, so daß es
ihren Verdat erregen mußte, als si am nästen Tag die Profilsohle eines
Männersuhs, Größe 41/42, deutli auf einigen Türswellen und auf dem
dunklen Parke im Mielzimmer abgedrüt hae. Worauf Frau C., die
nit leit zu entmutigen ist, na sorgfältiger Beseitigung dieser Spuren
und ehe sie wiederum aus der Wohnung ging, »na altbewährter Manier«,
wie sie sagte, ein wenig Mehl auf den Fußabtreter hinter der Eingangstür
stäubte, das erwartungsgemäß die Fußspuren am nästen Tag viel
deutlier hervortreten ließ. Außerdem haben im Bad die Serben des
Wandspiegels im Wasbeen gelegen, ohne daß si für diesen Tatbestand
eine natürlie Erklärung häe finden lassen. Wir mußten also davon
ausgehen, daß die jungen Herren ihren Besu in unserer Wohnung gar
nit verheimlien wollten.
Einsüterung nenne man das, sagte ein Bekannter, der genau Beseid
zu wissen vorgab, aber waren wir eingesütert? Nun gut.
Selbstverständli redeten wir in der Wohnung mit anderen sehr leise, wenn
bestimmte emen auamen (und sie kamen immer auf), i stellte das
Radio laut bei gewissen Gespräen, und manmal zogen wir den
Telefonsteer aus der Stedose, wenn Gäste da waren, do blieb uns
bewußt, daß die Maßnahmen der anderen und unsere Reaktionen darauf
ineinandergriffen wie die Zähne eines gut funktionierenden
Reißverslusses. Hoffnung ließ si nit daraus ableiten. Hoffnung lag
vielleit in der Tatsae, daß i mi seit dem vorigen Sommer in meiner
eigenen Wohnung nit mehr zu Hause fühlte.
I trat auf die Straße. Standen sie no da? Sie standen da. Würden sie
mir folgen? Sie folgten mir nit. Na der Meinung unseres
beseidwissenden Bekannten waren wir der niedersten Stufe der
Observation zugeteilt, der warnenden, mit der Maßgabe an die
ausführenden Organe: auffälliges Vorhandensein. Eine ganz andere Stufe
war die Verfolgung auf Sri und Tri mit ein, zwei, bis zu ses Autos
(was das kostete!), wieder eine andere die heimlie Observierung, die in
Frage kam, wenn das zu observierende Objekt als ernstli tatverdätig
galt. Dies also betraf uns wohl nit? Der Beseidwissende zute die
Aseln. Denkbar war immerhin, daß au zwei versiedene Arten der
Observation an ein Objekt gewendet würden.
Übrigens konnte man mir ja au zu Fuß folgen. I konnte in der
Saufensterseibe des Kosmetikladens keinen Verdätigen entdeen. Mit
leiser Bestürzung beobatete i, wie i anfing, aufzuatmen. Die
Amatowa, hae ein Spezialist für russise Literatur mir versiert, habe
zwanzig Jahre lang einen persönlien Begleiter gehabt. Dies stellte i mir
nun vor, während i unverfolgt und unbegleitet wie ein normaler Mens
die Friedristraße hinunterging und mi fragen mußte, wodur i dieses
Vorret verdiente. Eine Ahnung dämmerte mir, von wel strenger,
absoluter Art die Freiheit im innersten Innern lüenloser Einkreisung sein
mag. Mir haen sie nit einmal die Instrumente gezeigt, date i. Aber
wie kam i darauf. Ja: Sie spielten im Berliner Ensemble am Abend den
»Galilei«, es stand in großen Bustaben swarz auf weißer Leinwand,
und niemand hinderte sie daran, denn dies war ein Stü aus der Zeit, in
der die reinlie Dialektik no Geltung hae, ebenso wie die Wörter
»positiv« und »negativ«, und in der es einen Sinn hae, die »Wahrheit«
auszuspreen, und böse war, sie zu versweigen, nit zu reden von der
gemeinen Lüge, die vom Übel war und dem Lügner ein sletes Gewissen
mate, von dem Reste si sogar bis auf unsere Tage hinübergereet haben.
Eine Gesite des sleten Gewissens, date i, wäre einzubeziehen in
das Nadenken über die Grenzen des Sagbaren; mit welen Wörtern
besreibt man die Spralosigkeit des Gewissenlosen, wie geht, fragte i
mi, Sprae mit nit Vorhandenem um, das keine Eigensaswörter,
keine Substantive an si duldet, denn es ist eigensaslos, und das Subjekt
fehlt ihm duraus, so wie das gewissenlose Subjekt si selber fehlt, date
i weiter, do stimmte das überhaupt? Sute i nit nur na
Vorwänden, jene vielleit do nit eigensaslosen jungen Männer aus
meinem Mitgefühl auszustoßen, weil sie mi aus dem ihren ausgestoßen
haen? Wie du mir, so i dir. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Meine neue
Sprae, date i gegen mi selbst, müßte au von ihnen spreen
können, wie sie si jeglier Spraohnmat annehmen sollte.
Über die Weidendammer Brüe ging i immer wieder gerne. Der arme
BB, mit seinem Glauben an den Unglauben, den er »Wissensa« nennt,
mit seinen entslossenen Teilungsversuen, mit denen er si, wie mit dem
Handbeil, eine Sneise dur das Diit der Städte und Länder slägt,
überzeugt, längs dieser Wunde werde die Welt in ihre zwei Hälen
auseinanderfallen. Aber hinter ihm slägt der Urwald zusammen, und vor
uns tut si der Abgrund auf. Galilei, listig und furtsam, entzieht si der
Inquisition und reet sein Werk. Die Kire, die ihn zu verniten droht, hat
ihm immerhin die Waffe geliefert, mit deren Hilfe er gegen sie standhalten
kann: den Glauben an den Sinn der Wahrheit. Er mußte nur mit der Angst
fertig werden. Eine reine Charakterfrage also, ob er gegen die Lüge antrat.
Wir, angstvoll do au, dazu no ungläubig, traten immer gegen uns
selber an, denn es log und katzbuelte und geiferte und verleumdete aus uns
heraus, und es gierte na Unterwerfung und na Genuß. Nur: Die einen
wußten es, und die anderen wußten es nit.
Über das Brüengeländer gebeugt, sah i die Enten und Möwen, einen
Lastkahn mit swarzrotgoldener Flagge. Wind ging, wie meistens. Am
Seitelpunkt der Brüe hängt der gußeiserne Preußenadler, der mir
spöis entgegensah und den i im Vorbeigehen leit mit der Hand
anrührte. Wie immer, wenn i über diese Brüe lief, kamen die endlosen
Gänge mir wieder in den Sinn, die mi damals, vor mehr als zwei Jahren,
dur diese Straßen getrieben haen, und i erinnerte mi, wie i mi
samlos na Ruhe gesehnt hae, um beinahe jeden Preis, und daß i nit
einmal die Erinnerung an Freude, Glü hae ertragen können und daß i,
wenn im Fernsehen ein Film gezeigt wurde, in dem eine Hoffnung
eingefangen war, der i au einst angehangen hae, ohne weiteres in
Tränen ausbreen konnte, und nie würde i den Augenbli vergessen –
blilos stand i gerade vor dem Saufenster einer gewöhnlien Drogerie
– als, wie ein Blitz, die Erkenntnis mi traf, daß es der Smerz war, der
mi umtrieb. I hae ihn nit erkannt. Der rasende, blanke Smerz hae
von mir Besitz ergriffen, si in mir eingenistet und ein anderes Wesen aus
mir gemat.
Zeitli fiel das ja mit dem Auauen der jungen Herren vor unserer Tür
zusammen, die allerdings nit ahnen konnten, daß wir uns nie begegnen
würden: Während sie aus ihrem Untergrund auauten, sank i in einen
anderen hinab und fand mi auf unbekanntem Gelände. Eine Hand hae
mir ans Herz gegriffen, eine andere meine Augen berührt. I war in der
Fremde. Viele Woen lang lief i dur namenlose Straßen einer
namenlosen Stadt. Es wurde Winter, Mats, Sneeregen, nasse Kälte bis
auf die Knoen, mein Fleis durdringend, als wäre es nit da. Aber es
beherbergte no eine mae Erinnerung an frühere Freuden, Brot, Wein, die
Liebe, den Geru der Kinder, die Abbilder von Landsaen, Städten,
Gesitern. Jetzt entströmte ihm eine Trostlosigkeit, daß i date, ein
kühler Hau müsse, für jedermann spürbar, von mir ausgehen.
Nitsdenkend ging i die paar Srie an der niedrigen
Steinbalustrade entlang, die unterbroen wird dur die Einmündung des
Weges zur Tür jenes Glaspavillons – im Volksmund »Tränenbunker«
genannt –, in dem die Umwandlung von Bürgern versiedener Staaten,
au meines Staates, in Transitäre, Touristen, Aus- und Einreisende
vollzogen wurde, in einem von grünlien Kaelwänden reflektierten Lit
aus sehr ho gelegenen smalen Fenstern, in dem als Polizisten oder
Zollbeamte gekleidete Gehilfen des Meisters, der diese Stadt beherrste, das
Ret ausübten, zu binden und zu lösen. Dieser Bau müßte als Monstrum
dastehen, sollte seine äußere Gestalt seinem Zwe entspreen, und nit als
Normalbau aus Steinen, Glas und Eisenverstrebungen, umgeben von
gepflegtem Rasen, dessen Betreten natürli verboten war. Den Argwohn
gegen diese gepflegten Objekte hae i au lernen müssen, hae begriffen,
daß sie alle dem Herrn gehörten, der unangefoten meine Stadt beherrste:
der rüsitslose Augenblisvorteil.
Da erst wurde i gewahr, daß vorher ein geheimes Feuer im Innern dieser
Stadt geglüht hae, no kannte i seinen Namen nit, aber seit dem Tag,
an dem es ausgelöst, als alle seine Nebenfeuer erstit, alle seine
verborgenen Fünken ausgetreten werden sollten, war i reungslos seiner
Magie verfallen. No mußte i mit allen anderen in einer verlorenen Stadt
leben, einer unerlösten, erbarmungslosen Stadt, versenkt auf den Grund von
Nitswürdigkeit. Nats hörte i das Stampfen des Roboters, der mir seine
eiserne Hand auf die Brust legte. Aus einem Ort war die Stadt zu einem
Nit-Ort geworden, ohne Gesite, ohne Vision, ohne Zauber, verdorben
dur Gier, Mat und Gewalt. Zwisen Alpträumen und sinnlosen
Tätigkeiten verbrate sie ihre Zeit – wie jene Jungs in den Autos, die mehr
und mehr meiner Stadt Sinnbild wurden.
Jetzt mußte i mit einem Mensen aus Fleis und Blut reden. I trat in
den kleinen Spirituosenladen unter dem S-Bahnbogen Friedristraße, die
Verkäuferin, eine ältere Frau mit dünnem, zweifarbigem Haar auf dem Kopf,
sien gerade auf mi gewartet zu haben. Sie fing aufs Geratewohl ein
Gesprä über den roten Sekt an, den sie tatsäli im Angebot hae und
dessen alität keineswegs alle Kunden zu sätzen wußten. Befriedigt
holte sie mir eine zweite Flase aus dem Regal.
Ob sie son lange hier arbeite? A, ihr ganzes Leben lang. Hier, oder
hier herum. Sie sei Urberlinerin.
Da könne sie wohl was erzählen.
A. Was das angehe – wenn sie da einmal anfangen würde! Die
kuriosesten Dinge häen si vor ihren Augen zugetragen. Die Frau liebte
das Wort »kurios«, sie wiederholte es. I fragte mi, ob i imstande war,
no mehr kuriose Gesiten anzuhören, i stellte mi aber interessiert
an den Erinnerungen der Verkäuferin, die nit anders als sauerli sein
konnten, und das waren sie au, aber was mi überraste: die Frau wußte
es. Sie war eine Ausnahme. Zuerst hörte i es an ihrem Ton, bis i begriff:
Wirkli, sie hing immer no an ihrer jüdisen Freundin, mit der
zusammen sie jung gewesen war, mit der zusammen sie jeden Morgen mit
der S-Bahn vom Alex zum Kudamm gefahren war – sie in das Kaufhaus, in
dem sie Lehrling war, die Freundin (Elfriede hieß sie, Elfi: I bie Sie, eine
Jüdin und Elfi!) in die Bank, Zahlen addieren. Es langweilte sie. Wann das
war? Fünfunddreißig, sesunddreißig… Sie brauen nit groß zu guen.
Elfis Freund, der SS-Führer, hae ihr angeboten, sie rauszubringen, aber sie:
Nee, bloß, wenn meine Familie mit kann, sonst nit. Der Kerl war ja
verrüt na ihr. Na klar konnte das nit gut gehen, aber hinterher ist
man ja immer slauer als vorher. Er muß für sie do was zuretorganisiert
haben, die Rede war von Holland, und da müssen sie ihm draufgekommen
sein. Jedenfalls, eines sönen Tages, als wir wieder um die Ee
Joaimsthaler kommen, wo er immer mit seinem Auto gestanden und auf
Elfi gewartet hat, damit er wenigstens einen Bli von ihr erwiste für den
Tag, da steht sein Auto wieder, und im Vorbeigehn sehen wir, es ist besetzt
von Herren mit diesen Trencoats und diesen Sporthüten, und Elfis
Freund von der SS sitzt neben dem Steuer und blit stur geradeaus, und i
sage dur die Zähne zu Elfi: Nit umdrehn, du! Immer stur geradeaus, und
bloß jetzt nit rennen! Und das haben wir durgehalten. Na, von dem Kerl
hat sie dann ja au nie mehr was gehört. Alles kann man nit haben,
vielleit hat ers kapiert. – Dreißig Mark, der Sekt.
Von si aus sien die Frau nits weiter sagen zu wollen, sie mußte
gefragt werden. Elfi? Die haben sie dann natürli au geholt.
Zweiundvierzig, als sie den letzten Sub Juden aus Berlin wegbraten. Mit
ihrer ganzen Familie. I persönli hab keine Freundin wie sie mehr
gefunden, man wird ja wähleris, hab i nit ret? Und was einem
jahrzehntelang im Kopf rumgehen kann. Einen häe man zur Not
versteen können. Aber eine ganze Familie?
Alles Irrsinn, sagte sie no hinter mir her. Wenn i so zurüdenke, der
reine Irrsinn.
Darauf wollte i nit glei zurükommen, i starrte blilos in die
Auslagen der Bahnhofsbuhandlung, umkreiste erfolglos den Zeitungskiosk
und entsloß mi, do no in die neue Kaufhalle im Japanhaus zu
gehen; einkaufen, das bewährte Betäubungsmiel, slug nit an, aber i
bekam Sanddornmost für H., er habe immer Durst, hae er mir gesagt. Die
Frauen, die an der Kasse anstanden, waren fast alle zu di und hielten si
slet. I sute gewohnheitsmäßig das eine Gesit, das si mir auf
Anruf zuwenden würde, fand es nit, bis eine jüngere Frau, die na gar
nits aussah, einer anderen, älteren, den Vortri ließ, weil sie nit mehr
stehen konnte. Also ist es do mögli, date i. Es müßte do mögli
sein. Trotzdem wi das starke absondernde Gefühl von Fremdheit nit,
aber i wußte, daß i mi nit daran klammern dure. Selbst wenn die
vor mir in der Slange nits wußten; kaum etwas ahnten; was slimmer
war: nits wissen wollten – so dure man do nit zu kurz zielen, um sie
zu erreien, lieber etwas höher, weiter, auf Zukun hin.
Ja, ja do. I wurde mir selber lästig. I ging no in die Post, Geld
holen. Jemand, der mi gekannt häe, häe mir angesehen, wie gereizt i
war. Mir war jetzt alles zuviel, mir dauerte jetzt alles zu lange, obwohl i
mi gleizeitig fragen mußte, wohin i so snell wollte, wona es mi
so eilig verlangte. Dieses tief verswiegene Doppelleben immer. Dieser Reiz
des Ungewissen, von dem man abhängig werden kann wie von einer Droge.
Daß i immer den Zwang fühlte, alles auszudrüen. Dabei hae i
meinen alten Bekannten längst entdet und er mi au, da war i sier.
Für den Bruteil einer Sekunde haen unsere Blie si gepat, aber
Jürgen M. wollte mi nit kennen, um Bruteile von Sekundenbruteilen
hae sein Bli si eher zurügezogen als der meine. Das kannte i ja.
Und wie i das kannte: der Vorhang, der vor den Augen des anderen
niedergeht; die Fishaut, die das Weiße im Auge des Freundes überzieht;
das Gewölk, das seine Linse trübt. Wir haben uns nit gesehen, nie
gekannt. Au gut. Besser so. Da läßt man si eben am anderen Salter
abfertigen. Da ist man auffällig mit den Papieren besäigt, die man dem
Postfräulein vorweisen muß, da mat man si no mit unnötigen
Formularen zu saffen, um nur ja nit am Ausgang mit mir
zusammenzutreffen. Aber der andere, diesmal also Jürgen M., kann ruhig
sein: I spiele mit. I bin son draußen. I denke nit daran, mi
umzudrehen.
Seit wann ging i eigentli nit mehr auf einen alten Bekannten zu,
ohne sier zu sein, daß er mir begegnen wollte? Seit wann strete i
niemandem mehr als erste die Hand hin? Fing kein Gesprä mehr an? Zog
mi zurü? Preisfrage: Wie viele müssen bei deinem Anbli auf die
andere Straßenseite übergeweselt sein, angelegentli die näste
Saufensterauslage betratet, im Restaurant den Platz geweselt, dir in
der Versammlung den Rüen zugedreht haben, bis du begreifst und di
passend verhältst? Wie o mußt du »Zufall« gedat haben, bis du bereit
bist, »Absit« zu denken? I mußte grinsen, weil es mi immer aufs neue
freut, wenn i herausfinde, daß die Statistik die wirklien Fragen nit
beantworten kann.
Kein Verlust, date i. Jürgen M. war kein Verlust, warum störte es mi
also, wenn er mi mied? Warum störte es mi jedesmal wieder? Warum
härtete man dagegen nit ab? Was funktionierte da nit bei mir? Weler
Meanismus war da nit intakt?
Also nun mal der Reihe na, und keine Hektik. Jürgen M. Wann habe i
diesen Jürgen M. zum letzten Mal gesehen. Vor Jahr und Tag, soviel steht
fest. Unangenehm kann der Anlaß nit gewesen sein. Hae i ihn nit
wegen seiner großgemusterten Krawae aufgezogen? Er aber überreite
mir mit einer spöisen Verbeugung das Glas Sekt, das er si gerade von
einem Table genommen hae, holte si selbst ein neues und stieß mit mir
an. Lange nit gesehen und do wiedererkannt. Ob mir die Bilder gefielen,
wollte er wissen, i sagte, teils, teils. Es war diese Ausstellungseröffnung im
Marstall, die Dinge liefen gerade nit ganz slet, Leute trafen si, die
si lange nit begegnet waren und fragten si gegenseitig ihre
Lebensumstände ab, als häen sie die vergangenen Jahre in versiedenen
Ländern verbrat. Wir haen die Jahre in versiedenen Ländern verbrat.
Wie immer, wenn es si einigermaßen maen läßt, hielt i mi an die
Spielregeln und fragte Jürgen M., womit er seine Tage verbringe. I? sagte
er. A weißt du, man slaut si so dur.
Mehr hae er nit gesagt, wenn i es mir genau überlegte. Jürgen M.,
Freund der Studienfreundin, dem seine Freunde eine glänzende Zukun
prophezeiten. Jürgen M., der Philosoph. Hae er nit mit ein paar
brisanten Veröffentliungen auf si aufmerksam gemat? Damals, fiel
mir ein, war er slanker und trug das Haar geseitelt, längst nit mehr
Freund der Freundin, erst verlor i ihn aus dem Auge, dann sie. Publizierte
er eigentli no in den einslägigen Zeitsrien? War das Bu, von
dem er unaufhörli geredet hae, jemals ersienen? War er geseitert,
enäust von si und der Welt, mied vielleit deshalb die Begegnung mit
früheren Bekannten? Häe i also auf ihn zugehen sollen? Aber war da
nit no irgend etwas gewesen mit Jürgen M.?
Hinter mir kam jemand und pfiff so laut und srill, daß es in der S-
Bahnunterführung widerhallte und den Verkehrslärm übertönte. Was pfiff
der eigentli, das Lied kannte i do: »Dem Karl Liebknet haben wirs
gesworen, der Rosa Luxemburg reien wir die Hand«, pfiff der Mann. I
weinte. Das mußte aufhören. Es würde ja au leider aufhören,
wahrseinli son bald. Der Mann, der das Lied pfiff, ein breiter, swerer
Mann um die Vierzig, hae einen swarzen Manesteranzug an, wie die
Zimmerleute ihn tragen, aber ohne blanke Knöpfe; breitbeinig und pfeifend
ging er, unbekümmert darum, ob die Leute si na ihm umsahen, bis zur
Tür der kleinen Konditorei, in der er verswand.
Konnte i mir zu diesem Mann eine Frau vorstellen? I konnte es nit.
Immer kann i mir zu bestimmten Frauen keinen Mann vorstellen, dieses
eine Mal war es umgekehrt. Der Mann war eine Ausnahme. Zu Jürgen M.
konnte i mir ohne weiteres eine Frau vorstellen, eine von diesen gehobenen
Dutzendfrauen, denn von meiner Freundin, die swierig, aber do etwas
Besonderes gewesen war, konnte er do nur zu einer Dutzendfrau gegangen
sein. Oder hae meine Freundin ihn damals verlassen? War es uns allen
nit etwas rätselha gewesen, warum die beiden si getrennt haen, na
all den Jahren?
Verdammt no mal, was ging dieser Jürgen M. mi eigentli an. War
er es überhaupt wert, daß i mi mit ihm besäigte. Hae er nit
damals, in einer ähnli angespannten Zeit wie dieser hier, diesen
widerlien Artikel gegen seinen Professor gesrieben! Das sah mir ähnli,
daß i das vergessen, daß i nit wahr gemat hae, was i mir
vorgenommen hae: nit mehr mit ihm zu reden. Ihn wegen dieser blöden
Krawae anzuspreen und mi dann no zu wundern, wie diensteifrig er
mir seinen Sekt gegeben hae! Er war einfa erleitert gewesen, daß i
überhaupt mit ihm spra. Nun aber hae si alles no einmal gedreht, die
Dinge liefen nit gut, nein, das taten sie wirkli nit, und Jürgen M.
konnte es si ohne weiteres leisten, mi nit zu kennen. Mehr no: Er
dure mi gar nit anspreen. Vielleit wußte er sogar, daß…
Also nun mal der Reihe na. Und keine Hektik. Was sollte er wissen? Was
konnte ein Mann wie Jürgen M. wissen, über die kargen öffentlien
Verlautbarungen und die üppigen Gerüte hinaus, die ihm vielleit
duraus genügen moten. Immerhin mußte ja, außer meinen Freunden,
no irgend jemand von der Existenz der jungen Herren vor meiner Tür
informiert sein. Zum Beispiel derjenige, der sie dort aufgestellt hae. Da war
sie wieder, meine fixe Idee, i erkannte sie sofort, mußte mi aber do
genußvoll in sie hineinbohren: daß es jemanden geben mußte, der außer
dem wirkli Witigen alles über mi wußte. Auf irgendeinem
Sreibtis, in irgendeinem Kopf mußten sließli alle Informationen
über mi – die der jungen Herren, die der Telefonüberwaer, die der
Postkontrolleure – zusammenlaufen. Wie, wenn es der Sädel von Jürgen M.
wäre?
In dem Gedanken sien eine Wahrseinlikeit zu steen, denn mein
zweiter unwillkürlier Gedanke war: Da häe er endli, was er braut.
Dieser zweite Gedanke erstaunte mi. Seit wann hae i etwas gegen
Jürgen M.? Seit wann glaubte i zu wissen, was der braute? Was hae i
denn no, ohne es überhaupt zu merken, über Jürgen M. gespeiert?
Jürgen M. als Referent – wahrhaig, au das hae es gegeben. Vor oder
na der Affäre mit seinem Professor? Das wußte i nit mehr. Der Ruf der
Offenheit ging ihm voraus, und es stimmte, er war offen, aber auf mi
wirkte alles, was er sagte, wie eine Retfertigung für frühere oder spätere
Handlungen. I erinnerte mi, wie fasziniert viele unserer Kollegen von
Jürgen M. waren: Endli mal einer, der’s sagt, wie es ist. Er bekam starken
Beifall, erinnerte i mi, und i wollte, swer bedrüt, snell na
Hause gehen, aber er paßte mi an der Tür ab und sleppte mi mit in
die Bierstube. Es wurde eine große Runde, ein langer Abend. Daß Jürgen M.
trank, hae i nit gewußt. Als er anfing, unkontrolliert zu reden, mate
i den Fehler, ihn zu fragen: Warum trinkst du? Da warf er seinen Kopf zu
mir herum, als häe i ihm einen Slag versetzt. Immer obenauf, Madam!
sagte er. Der Mens haßte mi. Hab i dir was getan, sagte i hilflos,
und der eine Satz dursta den Damm, den Jürgen M. um si
aufgesüet hae, und unaufhaltsam entströmte ihm ein Selbstbekenntnis,
das i anhören mußte und nit anhören wollte, denn i wußte: Dana
haßt er mi nit nur; dana wird er mir gefährli. Aber i war im
Bann seiner Wut und meiner eigenen Neugier, und so erfuhr i denn, daß
er, Jürgen M., seit Jahren mi und mein Leben verfolgte. Daß er jedes Wort
kannte, das i gesagt oder gesrieben, vor allem jedes Wort, das i
verweigert hae; daß er meine Verhältnisse so genau kannte, wie ein
Außenstehender die Verhältnisse eines anderen überhaupt kennen kann;
daß er si in mi hineingedat, hineingefühlt hae mit einer Intensität,
die mi bestürzte, und daß er mi – was ihn zur Weißglut reizte – für
erfolgrei und glüli hielt. Und für homütig, das vor allem. Homütig,
fragte i törit, inwiefern denn das. Insofern i zu glauben seine, man
könne alles haben, was i hae, ohne dafür seine Seele zu verkaufen. Aber
i bie di, sagte i, um nur die Beklemmung zu durbreen, wir sind
do nit mehr im Mielalter! – An dem Abend hae i Pe, i gab ihm
nur Stiworte, auf die er gewartet zu haben sien, denn nun pate es ihn
erst ritig. Nit im Mielalter! Da habe man es. Das sei es ja gerade, was
zu glauben i mir herausnähme, wahrseinli sogar wirkli glaube und
nit nur, wie er lange gedat habe, als Losung raffiniert vor mir hertrage,
um mir dahinter alles erlauben zu können, denn wer würde einer solen
Losung heutzutage widerspreen? Deine ganze Traumtänzerei, sagte
Jürgen M., dieses Gehabe auf dem Seil, ohne abzustürzen. Nun aber, unter
vier Augen, wolle er mir mal den Star steen. Nit im Mielalter? O do,
Madam. Wir sind im Mielalter. Es hat si nits geändert, abgesehen von
Äußerlikeiten. Und es wird si nits ändern, und wenn man si als
Wissender über die Masse der Unwissenden erheben wolle, dann müsse man
seine Seele verkaufen, wie eh und je. Und, wenn i es genau wissen wolle,
Blut fließe au dabei, wenn au nit das eigene. Nit immer das eigene.
Jetzt wußte i wieder, was i damals plötzli begriff: Sie haen ihn in
der Hand. Und i erinnerte mi, daß mein Homut – darin mote er
ret haben, begabter Psyologe, der er war – mi hinriß, ihn leise zu
fragen: Warum steigst du nit aus. Und wie er weiß wurde wie die Wand,
die Augen aufriß, sein Gesit dem meinen nah brate, daß i seinen
Bieratem ro, und deutli und stonütern drei Worte sagte. I – habe –
Angst. Glei dana spielte er wieder den Betrunkenen, i stand auf,
klope auf den Tis und ging. Dana habe i Jürgen M. jahrelang nit
gesehen, habe die Szene vergessen, die er niemals vergessen wird, und nun
muß er mi nit mehr kennen, sitzt in dem Haus mit den vielen Telefonen
und sammelt na Herzenslust alle Nariten über mi, die kein anderer
bekommen könnte, und dankt jeden Morgen seinem Sisal, das ihn an
diesen Platz gestellt hat, an dem er seinem leidensalien Gelüst Genüge
tun und zuglei der Gesellsa nützli sein kann.
Wie i selbst, auf meinem Platz.
Blind lief i über die Weidendammer Brüe, auf der anderen Seite und
in entgegengesetzter Ritung, und mußte an die Aktendeel denken, in
denen do sierli all die Nariten über mi gehortet wurden. Dazu
aber mußten sie zuvor ausgewählt, formuliert, womögli einer Sekretärin
diktiert werden. Oder wie hae man si das vorzustellen. Hae i mir
vorzustellen, daß Jürgen M. morgens pünktli um at sein Büro betrat und
als erstes – diese kleine Eitelkeit gestaete i meiner Phantasie – na
einem dünnen Aktendeel mit meinem Namen griff. Darin also der Berit
vom Vortag, Jürgen M. konzentrierte si genußvoll. Aha. Gestern – das war
heute – hae sie um neun Uhr fünfundvierzig ein Telefonat geführt. Anrufer:
Folgte der Name meines Freundes. Folgte die Mitsri unseres Gespräs,
über die Jürgen M., der si jetzt sierli Humor leisten konnte,
smunzeln würde. Au Geringsätzung würde er si leisten.
»Codewort«, »Kaffee«, »Tee« – a ihr armen Laien! Jürgen M. war
Famann, wenn i ihn mir ritig vorstellte, und intelligent, wie er au
war, mußte ihn do eines sönen Morgens bei der Lektüre des
zweihundertsiebenunddreißigsten Tagesberits seiner Gewährsleute
unvermeidli das Grauen paen ob der Vergeblikeit seines Tuns, denn
wenn er in all den Aktendeeln bläerte, hier eine Zeile las, dort ein
Stenogramm, da ein Gespräsprotokoll, und wenn er si dann fragte, was
er über dieses Objekt jetzt wußte, was er vorher nit gewußt hae, so mußte
er si ehrlierweise sagen: nits. Und wenn er si weiter fragen würde,
was er erreit hae, würde er si abermals sagen müssen: nits.
Das aber wußte i besser. Viel hae er erreit, der Gute, ziemli viel,
aber er konnte nit wissen, was, denn das haben seine Spitzel nit gehört,
seine Tonbänder nit aufgezeinet, es ist aus zu feinem Stoff, es entslüp
ihnen, au das diteste Netz fängt es nit ein, und wenn i mi nun
selber fragte, was dieses geheimnisvolle »Es« denn eigentli war, so hae
i keinen Namen dafür, unzufrieden mit mir und ohne billigen zu können,
was i jetzt vorhae, ging i über den Parkplatz, steuerte auf das
flasengrüne Auto zu (sie standen no da, was hae i denn gedat?), es
war elf Uhr fünfzehn, i stri ganz nahe am Auto vorbei und ertappte die
drei jungen Herren just beim Frühstü. Der hinterm Lenkrad saß, hae
seine Brotbüse auf den Knien, der neben ihm biß in einen Apfel, und der
hinten im Fond trank hingegeben aus einer Bierlemon-Flase. Er
verslute si nit, als mein Gesit vor ihm ersien, ungerührt trank er
weiter, aber alle drei bekamen sie wie auf Kommando diesen gläsernen Bli.
Mag sein, sagte i mir, während i anstandshalber quer über den
Parkplatz zum Brieasten ging, als häe i irgendwele Postsaen
einzuwerfen, und es sogar so weit trieb, die Geste des Einwerfens
vorzutäusen – mag ja sein, sie lernen diesen gläsernen Bli auf ihrer
Sule. Außer Gesellsaswissensaen müssen sie do au
irgendwele praktisen Fertigkeiten lernen. Mag do sein, im zweiten
Ausbildungsjahr steht wöentli einmal auf dem Stundenplan: Training
des gläsernen Blis.
Und wenn es gar nit Jürgen M. ist, sondern jemand anderes?
Die Stimme kannte i. Sön guten Tag, lieber Selbstzensor, lange nits
von Ihnen gehört. Also wer soll es denn sein, wenn nit Jürgen M., na
deiner Meinung? – Ein unvoreingenommener Beamter, der di gar nit
kennt. – Das wäre mir sogar lieber. – Lieber ist gut. – Immerhin. Einer, der
kein persönlies Interesse an mir hat. Der mir nits beweisen will. Der
mi nit auf meinem ureigenen Feld aussteen will.
Wie Jürgen M.? Komm zu dir!
Aus Erfahrung wußte i: Innerer Dialog ist dem inneren Dauermonolog
vorzuziehen. Also gab i meinem inneren Zensor zu bedenken, was den
Jürgen M. sierli antreibe: Nämli daß er dana gierte, mir zu
beweisen, nit nur ein Sreiber könne alles über eine Person herausfinden
– er könne das, auf seine Weise, au. Au er könne si, wie jeder x-
beliebige Autor, zum Herrn und Meister seiner Objekte maen. Da aber
seine Objekte aus Fleis und Blut sind und nit, wie die meinen, auf dem
Papier stehen, ist er der eigentlie Meister, der wirklie Herr.
Und du, sagte die unwillkommene Stimme, die sehr taktlos sein kann,
willst also mit ihm in den Webewerb treten? Willst den Fehdehandsuh
aufnehmen? Ihm zeigen, wer der Meister ist? Da hat er do son
gewonnen, dein sauberer Jürgen.
Aber was soll i denn sonst maen, fragte i mi, während i den
Brieasten im Hausflur aufsloß, Post und Zeitungen herausnahm, was soll
i denn maen. Die Treppe ho, auf den Flurspiegel zu, der no nit
zerslagen ist. Daß i blaß war, hae nits zu sagen, Lumangel eben, da
wünste die Stimme mir viel Vergnügen im Mielalter, und i nannte sie
unversämt. Übrigens, habe der brausetrinkende junge Mann da unten im
Auto nit etwas Rührendes gehabt? – I solle einen unwürdigen Vorgang
nit verniedlien. – So gehe es no um Würde? – No? Aber das fange
do gerade erst an.
Wer aber sagte uns, was Würde sei?
I fing an, meine Post zu lesen, na den üblien Präliminarien;
nadem i mi vergewissert hae, daß kein unliebsamer Absender dabei
war, keiner, der mi ängstigte. Nadem i die Umsläge so gegen den
Liteinfall gehalten hae, bis jener si spiegelnde Kleberand zutage trat,
der offenbar dur das zweite Zukleben entstand. Viel seltener waren die
Klebränder der Briefumsläge stärker gewellt als übli, und nur vereinzelt
fand i den Briefbogen innen an das Kuvert angeklebt. Derartige Pannen
sollten vermeidbar sein. Irgendwo – sierli nit mal im verborgenen –
mußte es ein riesiges Haus geben (oder gab es etwas kleinere Häuser in allen
Bezirken?), in dem tägli waggonweise Post angeliefert wurde, die dann an
einem langen Fließband von fleißigen Frauenhänden sortiert und na uns
undursaubaren Gesitspunkten anderen Stowerken zugeleitet wurde,
wo wiederum Frauen über Dampf – oder gab es inzwisen effektivere
Methoden? – vorsitig, vorsitig die Briefe öffneten und sie dem
Allerheiligsten zuführten, in dem versierte Kollegen die
Ablitungsapparaturen bedienen moten, die wir in unseren Bibliotheken
und Verlagshäusern so smerzli vermißten. Ein Heer von Mitarbeitern,
dem niemals eine Würdigung in der Presse zuteil wurde; dem kein Tag im
Jahr gewidmet war, wie den Bergleuten, den Lehrern oder den Mitarbeitern
des Gesundheitswesens; eine gewiß immer weiter anwasende Sar, die
si damit abfinden mußte, im Dunkeln zu wirken. Das Wort »Dunkelziffer«
hakte si in mir fest, i srieb es auf einen Zeel. Die Tätigkeit großer
Bevölkerungsteile verswindet in einer Dunkelziffer. I sah
Mensenmengen in einen tiefen Saen eintauen. Ihr Los kam mir nit
beneidenswert vor.
Die Zeitungen legte i beiseite, nadem i die Slagzeilen überflogen
hae. Drei Briefe hae i no nit geöffnet. I wußte, von wem sie
kamen, obwohl auf dem einen weder ein Absender stand no eine
Briefmarke klebte: Der Absender, ein sehr junger Diter, pflegte seine Post
selbst in meinen Hausbrieasten zu steen. I hae ihn no nie gesehen.
Na seinen Gediten – diese neuen waren in einem Lager für
vormilitärise Ausbildung entstanden – stellte i mir einen zartgliedrigen
stillen Jungen mit sanen blauen Augen vor, der li, ohne si wehren zu
können, und überlebte, indem er Gedite srieb; i las die Gedite dieses
Jungen widerstrebend, weil i ihm nit helfen konnte, i srieb ihm
ausweiend, und i war manmal wütend auf ihn, mehr no auf mi.
Er konnte mein Sohn sein. I glaubte vorherzusehen, was auf ihn wartete.
Sie rannten ins Messer. Die jungen Herren, die vor meiner Tür standen – in
die seine würden sie ohne weiteres eintreten. Dies war der Untersied
zwisen uns beiden – ein entseidender Untersied. Ein Graben. Mußte
i rüberspringen?
Jetzt kämen wir endli an die ritigen Fragen, teilte mir die bewußte
Stimme mit. Man erkenne sie daran, daß sie einem außer Smerz au eine
gewisse Befriedigung bereiteten.
Meister Neunmalklug wußte wieder mal alles besser.
Gebe es nit Tage, an denen i sütig auf diese Fragen sei?
Na und? Ein soler Tag sei heute jedenfalls nit.
Au darüber behauptete mein Partner unterritet zu sein. Es sei wohl
eher einer meiner swäeren Tage. I verbat mir die Einmisung. –
Okay, okay. Er sei ja sließli nit als Riter über mi eingesetzt. –
Sondern? – Als Begleiter, lautete der lakonise Beseid, den i nur
sarkastis kommentieren konnte: als persönlier Begleiter. Die Anspielung
ließ ihn kalt. Aufgebrat wollte i wissen, wer ihn denn eingesetzt habe,
und er antwortete ungerührt: Du selbst, Swester. Wenn du di bie
erinnern willst.
I selbst. Über die zwei Worte kam i lange nit hinweg. I selbst. Wer
war das. Weles der multiplen Wesen, aus denen »i selbst« mi
zusammensetzte. Das, das si kennen wollte? Das, das si sonen wollte?
Oder jenes drie, das immer no versut war, na derselben Pfeife zu
tanzen wie die jungen Herren da draußen vor meiner Tür? He, Freunden:
Mit welem von den dreien hältst du es? Da swieg mein Begleiter,
verstimmt, aber hilfrei. Das wars, was i braute: glauben zu können,
daß i jenen Drien eines nahen Tages ganz und gar von mir abgelöst und
aus mir hinausgestoßen haben würde; daß i das wirkli wollte; und daß
i, auf Dauer gesehen, eher diese jungen Herren da draußen aushalten
würde als den Drien in mir.
Woran mote es liegen, daß seit einiger Zeit eine jede Wahl, vor die i
mi gestellt sah, nur eine Wahl zwisen slimm und slimmer war?
Lernte man einfa särfer sehen mit den jungen Herren vor der Tür?
Ablenkungsmanöver. I hae jetzt endli den zweiten Brief zu öffnen,
der von einem meiner nästen Freunde kam. Der, na den Einflüsterungen
eines anderen Freundes, seit langem ein fester Mitarbeiter der anderen und
auf mi angesetzt sein sollte. Falls das stimmte, häen die si ihre Post-
und Telefonüberwaung, ihre eingebauten Mikrophone und die jungen
Herren vor unseren Fenstern sparen können: Dieser Freund würde sie alle an
Effektivität überbieten. Jürgen M. könnte alle anderen Protokolle und
Tonbänder in den Papierkorb werfen und braute nur die Berite meines
Freundes abzuheen. Nit daß die mir im Sinne der Behörde gefährli
werden konnten. In einem tieferen Sinn allerdings häe es kaum etwas
Gefährlieres für mi geben können. Gewiß: Jürgen M. könnte si an
meinen innersten Gedanken delektieren; vor allem aber wäre dann kein
Verlaß auf irgendeinen Mensen, und der Zug zur dunklen Seite des Lebens
hin, den i wieder stark spürte, würde stärker werden, vielleit allzu
verführeris, vielleit unwiderstehli, und »Leben« würde das, wohin es
mi zog, nit mehr heißen. Wie aber hieß das, was nit mehr Leben war?
Nein. I wollte den Brief jetzt no nit lesen.
Also nun mal langsam. Eins na dem anderen. Und keine Hektik.
Stehn sie no da?
Sie stehen da, und sie werden au heute stehenbleiben, das weißt du
ganz genau.
Und wozu haben die das nötig. Wenn er ihnen do alles sagt?
Also nun hör mal zu. Trotz kann ja was Sönes sein, aber ein kühler
Kopf wäre besser. Gut: Nehmen wir unseren Freund. Nehmen wir an, er
müßte ihnen zu Willen sein.
Müßte?
Müßte! Dein verdammter Homut immer! Was sollte er also maen? Uns
sein Herz aussüen? Damit wir niemals wieder ein unbefangenes Wort
mit ihm reden können?
Was sonst?
Heilige Einfalt! Zum Beispiel: seinen Aurag zum Sein erfüllen. Nits
liefern, was sie nit sowieso wissen. Ihnen keine Handhabe geben, weder
gegen di no gegen si selbst. Auf dem Seil tanzen.
Artisten, redete i kummervoll in mir mit mir, Artisten wir alle. Do will
i ihn dann nit zum Freund haben.
Du bist und bleibst ein Luxusgesöpf. Was denkst du übrigens, auf wele
Weise und mit wessen Hilfe er von denen loskommen könnte.
Do wohl nit –
Genau. Nur mit deiner Hilfe.
Wenn er es überhaupt will.
Warum sollte er es nit wollen. Du kennst seine Biografie.
Mein Freund srieb aus H., wo er an einem Kongreß teilnahm, er sehne
si dana, in meiner Küe mit mir Tee zu trinken und na Herzenslust
mit mir zu reden. Wenn das ein diskreter Hinweis darauf sein soll, daß in
unserer Küe keine Wanzen verstet sind… Ist ja gut. I säme mi.
I setzte mi an den Sreibtis und srieb meinem Freund, i stee
gerade in einer swierigen Phase. Gedanken kämen in mir auf, vor denen
i selbst ersree. Binnen kurzem, wenn wir in meiner Küe zusammen
Tee trinken würden, könnten wir darüber reden.
Wer weiß, date i, und mein innerer Begleiter war mir böse wegen des
Vorbehalts, und i fragte: Soll i ihn ohne Vorbehalt in meine Küe
lassen, und er sagte: Ohne Vorbehalt. – Aber er würde nits merken; i
würde ganz natürli wirken, das kann i nämli. Und sogar, bis zu
einem gewissen Grad, offen.
Die famose innere Stimme swieg, swieg, swieg.
Ein Brief lag no da, der auffallendste von allen, ein langgestretes
weißes Viere. Ihn hae i nit na verdätigen Anzeien überprü:
Gab es sie, wollte i es nit wissen. Ein amtlies Sreiben. Zerstreut
slitzte i den Umslag mit dem Brieföffner auf. Die Sekunden, die i
dafür braute, die i braute, den Brief herauszunehmen und ihn zu
entfalten, genügten, eine Kee von entlegenen Einfällen passieren zu lassen.
Puskin. Der Briefband, der gerade herausgekommen war. Seine
säumende Wut, als er entdete, daß die zaristise Postzensur einen
seiner Briefe an seine Frau erbroen hae. Sein Pathos: So war ihnen nit
einmal der vertraulie Gedankenaustaus zwisen Gaen heilig! Seine
Überreaktion: daß er dann lange nit an seine Frau sreiben konnte. Und
mein unwillkürlies Geläter, als i das las, mein Gefühl der
Überlegenheit: Diese überempfindlien Diter aus dem neunzehnten
Jahrhundert!
Wie lange war es her, daß i keine vertraulien und vertrauten Briefe
mehr gesrieben hae. Daß i mi zwingen mußte, überhaupt zu
sreiben. I wußte es nit mehr. Wann hae die Zeit der Als-ob-Briefe
begonnen – als i mi entslossen hae, zu sreiben, als ob niemand
mitläse; als ob i unbefangen, als ob i vertrauli sriebe. I wußte es
nit mehr. Nur soviel wußte i: Für spontane Briefe war i verdorben, und
die Verbindung zu entfernt wohnenden Briefpartnern tronete aus. Konnte
i darüber no Bedauern empfinden? Entsetzen? War es mir nit
selbstverständli geworden? Sie saffen es, date i. Und wie sie es
saffen.
Der Brief hae einen imponierenden Brieopf, und er war kurz. Der
Mann, der ihn gesrieben hae, war bei dem Brieopf-Amt angestellt und
wollte si mir als anständiger Mens präsentieren. Au in swierigen
Zeiten bliebe er ein anständiger Mens, sollte i dem Brief entnehmen,
au in swierigen Zeiten ließe er mi nit fallen. Mehr nit? date i,
halb erleitert, halb enäust, und zweifellos ungeret. Immerhin srieb
er mir auf Dienstbogen! –, es wäre do gelat, wenn es ihm nit gelingen
sollte, mi in den Veranstaltungsplan seiner Institution »einzubauen«, – er
srieb »einbauen«, in Anführungsstrien, als Zeien, daß ihm die Ironie
in seinem Angebot bewußt war. Date er, daß i Geld braue? Nein, das
date er nit. Mein Rat, meinte er feinfühlig, meine gelegentlie Mitarbeit
könne seinem Laden – er srieb: »meinem Laden hier« – nur gut tun. Es
wäre do gelat, wenn er mi nit demnäst dazu überreden könnte.
Bei der Gelegenheit werde er mir dann au erzählen, wie es ihm »seitdem«
– das einzige Wort, das ihm unkontrolliert entslüp war – ergangen sei.
Aber i wisse ja: Unkraut vergeht nit.
Sweigen, Sweigen. Sendepause. Falls du denkst, der kann mir no
weh tun… Übrigens denkst du ritig: Er kann mir weh tun. Er kann es
wieder.
Dem Brief entströmte ein feines Aroma von Selbstaufgabe. Das war ja
wohl bei ihm angelegt. Und jetzt sreibt er mir diesen Brief, um mir das
Gegenteil zu beweisen. Und den hebt er si gut auf, als Beweisstü für
seinen solidarisen Mut. Aber: Einladen wird er mi nit. Meinen Rat
erfragen wird er nit. In seinen Veranstaltungsplan einbauen wird er mi
au nit. Die Liste, die ihm das verbietet und auf der au mein Name
steht, wird er womögli hinter seinem Brief an mi abheen, im gleien
Aktenstü.
Na und? Tun wirs zu den Kuenkrümeln.
Zum zweiten Mal an diesem Tag klingelte das Telefon. Eine
Frauenstimme. Warum ist die so aufgeregt, fragte i mi, no ehe i
wissen konnte, mit wem i spra. Sie war aufgeregt, weil sie für den
Abend Komplikationen fürtete. Sie war die Kollegin K. vom Kulturhaus,
die mi zu meiner Überrasung für diesen Abend zu einer Lesung
eingeladen hae, und sie wollte nun wissen, ob i nit eine halbe Stunde
vor Beginn erseinen könnte.
Gewiß, sagte i, aber warum?
Um jede Gefahr, daß es zu unliebsamen Zwisenfällen kommen könnte,
abzubloen.
Sie hae »abbloen« gesagt. Es war die Sprae, es war der Tonfall, die
mi ins Switzen braten. Wele unliebsamen Zwisenfälle denn,
fragte i munter.
Frau K. bereute son ihre Ausdrusweise, sie wiegelte ab. A, nits
Besonderes. Nur so im allgemeinen.
Darauf ließ si nun nits mehr sagen, außer: Ist gut. I komme früher.
Dann mußte i den Hörer auflegen. I wierte Unrat.
Jetzt war es na zwölf. Standen sie no da?
Sie standen da.
Also essen wir etwas. Man sollte an solen Tagen nit allein sein
müssen.
Allein? Fast nits konnte i mehr denken oder sagen, ohne meinen
Zensor gegen mi aufzubringen. Wenn du mit diesem selbstmitleidigen
Geflenne nit aufhörst…
Nun, nun. Übrigens gebe i dir ret. I werde, du weißt son, wen,
ohne Vorbehalte in meine Küe lassen. I werde nit vergessen haben,
was i heute über ihn gedat habe. I werde ihm aber glauben, daß er an
mir hängt. Und wer soll ihn da herausholen, wenn nit einer, an dem er
hängt. – Wenn er wirkli heraus will. – Wenn er wirkli drinstet. –
Einer muß es ja sein. Hast du vergessen, wie viele Angriffsfläen er ihnen
bietet? – A ser di do zum Teufel mit deiner bigoen Moral.
Vielleit haen wir do nit einen der allerswästen Tage erwist.
I wärmte mir die Rindfleissuppe vom Vortag und aß atlos, dabei
hörte i die gleien Nariten wie am Morgen. Vom Hof her kamen jetzt
Kinderrufe, aus dem fünen Sto des Nebengebäudes, das meiner Küe
gegenüberliegt, antwortete Slagermusik, glei würde Frau G. mit ihrer
grünen Mütze erseinen und si erbiert gegen den Lärm zur Wehr setzen.
Sie tat es.
I stand wieder am Sreibtis, hae es aber vermieden, aus dem Fenster
zu sehen. (Sie waren no da.) I setzte mi und begann, die Eintragungen
in meinem dien grünen Tasenkalender nazuholen, die i in den
letzten Tagen versäumt hae. Einmal würde i in einem Zimmer sitzen –
i stellte es mir kahl vor, ein normales Bürozimmer –, und man würde mir
Fragen stellen. Fragen versiedenen Grades, darunter unverfänglie; i
aber hae mir vorgenommen, auf keine einzige Frage zu antworten und
würde mi daran halten (o deine Einbildungen, Swester!). Dann, na
ein, zwei oder zwanzig Stunden – spra man nit von Verhören, die über
Tage gingen, mit kurzen Pausen? – würde mein Verhörer dieses die grüne
Notizbu hervorziehen, in das i gerade gewissenha eintrug, was i
heute, gestern, vorgestern getan, gelesen, gehört, wen i gesehen hae, sogar
weles Weer mir aufgefallen war. Nun, würde mein Verhörer sagen – er
würde bis zu den Fragen drien, au vierten Grades sehr höfli bleiben
und erst bei den Fragen fünen Grades ganz plötzli sehr grob werden,
aber i wäre darauf gefaßt und würde au der Grobheit standhalten, ihr
vielleit sogar leiter als der Höflikeit (Swester! Swester…): Nun,
würde er sagen. Reden wir Klartext. Und er würde mir aus meinem eigenen
Notizbu mit meinen eigenen Worten auf jede Frage die Antworten
vorlesen, die i eben no so stolz verweigert hae. Und nun, Herr
Neunmalklug, kannst du mir erklären, warum i trotzdem alle diese
Eintragungen mae, außer aus Stolz, Tollkühnheit, Homut?
Weil du denkst: Sie werden es nit wagen.
Sweigen.
Jetzt mußte i zum Telefon gehen, wählen, lausen. Hab i di etwa
gewet, sagte i, etwas zu suldbewußt. Nein, sagte meine jüngere
Toter. Aber sie frühstüe gerade. – Was denn. – Die Aufzählung war lang
und wurde gebilligt: Das sei also, was sie »Frühstü« nenne. Andere Leute
würden si davon zwei Tage ernähren. – Dafür esse sie dann au zwei
Tage lang nits. – Dies sei ja das Unglü. – Sie erfragte und erhielt
Auskun über ihren Vater. – And what about Yourself, Ma’am? – O
marvellous, sagte i, und sie sagte: Primiximo, worauf i sie aufforderte,
si einer allgemein verständlien Redeweise zu bedienen, was sie entrüstet
ablehnte. Wie Sie denken, Frollein, sagte i. Aber womit verbringen Sie Ihre
müden Tage? – Oh, dear! sagte die jüngere Toter. Bie keine
Indiskretionen! – Jetzt mal im Ernst: Släfst du genug. – Aye, aye, Sir. –
Gehst du au mal sön spazieren. – Aye, aye, Sir. – Du, sagte i, dies sag
i dir: Wenn i eines Tages wegen seeliser Grausamkeit die Verbindung
zu dir abbree, dann wirst du im Rinnstein sitzen, und deine heißen
Tränen werden fließen. Lady, sagte meine jüngere Toter, das nehm i mir
aber jetzt entsetzli zu Herzen.
In der gleien Sekunde legten wir beide auf. Mir war do wohler. I sah
aus dem Fenster. Da standen sie also immer no. Moten sie. Was mi
betraf, i würde jetzt Pause maen. I zog im Slafzimmer die Vorhänge
zu und legte mi ins Be. Dies war eine der tief erleiterten Minuten des
Tages. Kein fremder Mens, kein fremder Bli, vielleit nit einmal ein
fremdes Ohr folgten mir in diesen Raum. I genoß die unaussprelie
Wohltat, unbeobatet und allein zu sein und keine Forderung an mi zu
haben. Nit denken, nit arbeiten. Nits herausfinden, nits wissen
wollen. Ruhig auf dem Rüen liegen, die Augen sließen, atmen. Atmen.
I atme. I denke nit. I bin ruhig.
Mein innerer Bli fand einen hohen, fahlen Rundhorizont über einer
dunklen Seibe. Sollte das eine Bühne sein? Alle meine Gedanken wien
hin zu diesem Horizont. Saenha flogen sie davon, große träge
Fledermäuse. Sie saffen es. Unsinn. Die kommen nit weit. Die knallen
si die Köpfe ein. Der Horizont ist aus Marmor. Siehst du das nit. Die
kamen alle sön brav zu mir zurügekroen. Auf diese Weise werd i sie
nit los.
Auf wele Weise wird man Gedanken los. Indem man sie denkt. Denkt
und wieder denkt. Durdenkt. Zu Ende denkt. Gäbe es einen Apparat, der
alle Hoffnung, die no in der Welt ist, bündelt und wie einen Laserstrahl
gegen diesen Horizont aus Stein ritet, ihn aufsweißt, durbrit.
Jetzt denkst du wie sie. Apparate, Strahlungen, Gewalt. Jetzt verlängerst
du ihr bißen Gegenwartsmat in die Zukun hinein. Dann häen sie
di.
Denkst du, das wüßte i nit? Denkst du, i denke, daß i das ganz
Andere bin? Die Reinheit, Wahrheit, Freundlikeit und Liebe? Denkst du,
i wüßte nit, was die brauen? I weiß es. Die wollen, daß i ihnen
glei werde, denn das ist die einzige Freude, die ihrem armen Leben
geblieben ist: andere si glei zu maen. Denkst du, i spüre nit, wie
sie an mir herumtasten, bis sie den swaen Punkt gefunden haben, dur
den sie in mi eindringen können? I kenne diesen Punkt. Do den sag
i niemandem, nit einmal dir, und nit einmal in Gedanken.
Wie stellst du dir also deine Zukun vor.
Da flogen alle die großen saenhaen Fledermäuse wieder auf, ein
unheimlier Swarm.
Weißt du wirkli nit, daß man si mane Wörter manmal
verbieten muß? Um si nit zu swäen? Um nit wei zu werden?
Soll es also künig um Härte gehen.
Das Gegenteil von wei ist nit hart. Das Gegenteil von wei ist
unnagiebig, fest.
Hört si phantastis an. Und in wele deiner vielen Tasen zauberst
du deine Angst?
Mein bißen Angst? Damit müssen wir leben. Wem das nit paßt, der
kann ja gehen. Und wer mir Angst maen will mit diesen Bildern, die er
mir dur den Kopf jagt – seit einer Minute war der Rundhorizont
verswunden, i sah vergierte Räume –, wer mi damit fertigmaen
will, der geht au. Und zwar ganz snell.
Aha. Falls das eine Kündigung war – i nehme sie an.
I slief dann do no ein. Die Bilder, die i zuletzt sah, waren sarf
abgegrenzte Aussnie eines männlien Körpers, den i kannte,
unversöhnlie Liebesszenen, die mi im Wazustand erstaunt häen.
Rüsitslos führte ein Traum mir vor, wie die Geburtshülle eines Embryos
besädigt wird, dazu hörte i, in höhnisem Tonfall, die Worte: In einer
Glüshaut geboren! Den Sinn verstand i im Erwaen, do wozu der
Hohn? Warum diese Verletzungen, die man si au no selber beibringen
muß.
Keine Antwort. Die Kündigung blieb gültig. Da zog i mi an, kote
starken Kaffee und setzte mi an den Sreibtis, Foltertis. Standen sie
no da? Sie standen nit mehr da. Das flasengrüne Auto war weg. Sie
haen es aufgegeben. Sie haen si endli überzeugt, daß…
Vier Plätze weiter na links stand das weiße Auto, besetzt mit zwei
Mann. Alles, wie es si gehört.
Es war fünfzehn Uhr.
Dur das rete Erkerfenster konnte i die Friedristraße bis zum S-
Bahnhof überblien, dur das linke Erkerfenster bis zur Oranienburger. In
beiden Ritungen das Gesiebe der Mensen. Tausende von ahnungslosen
Landsleuten, die Stunde um Stunde zwisen mir und dem weißen Auto da
drüben vorübergingen, die es na Hause zog oder zu ihrer Arbeitsstelle oder
zu ihrer Geliebten oder zu ihren Gesäen. Die ihr normales Leben, das an
ihnen haete, überallhin mitnahmen.
Solange i nit bereit wäre, mit irgendeinem von ihnen zu tausen,
war mein Homut ungebroen, und die Hauptbelehrungen standen mir
no bevor. Oder ihnen? Die Fremdheit, die mi von der Menge trennte,
glaubte i, trennte die Menge au von si selbst.
So hae i no nit gedat, aber die Zeit sien gekommen, so und
no ganz anders zu denken. Anders und anderes. Die Menge nit immer
nur als unfehlbar, als Riter, als übergeordnet; als die vielen, die es besser
wissen, die i nit mißaten, kränken, ignorieren dure; als die große
Masse, die im Zweifelsfalle immer ret hae. Da ging sie an meinem
Fenster vorbei, wußte nits und hae nit ret no unret, denn sie war
eine Konstruktion. Und war es nit denkbar, daß es nit auf sie ankam,
sondern auf die einzelnen Mensen, die ja und nein sagen konnten, den
Arm automatis heben oder die Zustimmung verweigern, auf Weisung den
ersten Stein werfen oder das Urteil nit anerkennen. Ob es nit auf jeden
dieser vielen da unten einzeln ankam, zum Beispiel auf dieses Mäden, das
si eben zwisen dem weißen Auto und dem danebenstehenden
swarzgelben durwand, das jetzt quer über den Rasenstreifen ging, der
Parkplatz und Bürgersteig voneinander trennt, das an der Fußgängerampel
warten mußte und nun zielstrebig die Fahrbahn überquerte. Ein Mäden
wie Tausende, nit groß, weder dünn no di, mit sehr kurz
gesnienem braunen Haar und einem bräunlien Gesit. Grüne Kue,
die Tase über die Sulter gehängt.
Man mußte nur einen einzelnen ins Auge fassen, son war man seine
Angst los.
I mußte mi fertig maen, die Tase für H. paen, die Suhe
anziehen, in knapp einer halben Stunde begann im Krankenhaus die
Besuszeit. Es klingelte. Sehr zur unreten Zeit, sagte i mir, um meinen
Sre vor mir selber zu überdeen. Wer klingelte? Heute? Bei mir? Am
besten, man mate gar nit erst auf. I sli dur den Flur, lauste an
der Tür. Die Kee vorlegen? Unsinn. So fängt es an.
Zuerst date i an eine Sinnestäusung. Draußen stand das Mäden,
das i eben die Straße hae überqueren sehen. Sehr kurzes braunes Haar.
Braunes Gesit. Kue. Umhängetase.
Wer site die? Da sah sie mi an, und i begann mi zu sämen.
So unbefangen wie mögli bat i sie herein. Mit diesem Mäden trat
etwas mir vom Ursprung her Verwandtes und zuglei ganz und gar
Fremdes über meine Swelle. Man konnte ihm – wie jung es war! Zwanzig?
Zweiundzwanzig? – nit sagen, es solle do seine Kue ausziehen. Das
Mäden nannte seinen Namen, der mir entfernt bekannt vorkam, und
mein Gefühl verditete si, daß dieses Mäden meine Wohnung nie mehr
verlassen würde. I zog nit, wie es vernünig gewesen wäre, im
Vorbeigehen den Telefonsteer heraus, i riskierte es, dieses Mäden in
meinem Zimmer, an meinem runden Tis in die womögli abhörbereiten
Mikrophone über si spreen zu lassen, denn dazu war es gekommen, das
hae i glei begriffen. Dur ein paar snelle Fragen und Antworten
wurde klar, daß der Name dieses Mädens wirkli mit einer bestimmten
Affäre an einer bestimmten Universität, im Zusammenhang mit
Denunziationen, mit Verfahren und Erpressungen aufgetaut war, daß
wirkli sie es war, die man damals vom Studium ausgeslossen hae, da
sie nit zu den Erpreßbaren gehörte.
Ritig, ja, i erinnerte mi an diese Gesite, die i vom Hörensagen
kannte, aber die war do – wie lange her? Ein Jahr? Zwei Jahre? Ja. Aber,
sagte das Mäden nun, beinahe beiläufig und gewiß nit, um damit zu
protzen, dana habe eine zweite Affäre sie für ein Jahr ins Gefängnis
gebrat, daher habe sie nit früher kommen können. Als seien wir seit
zwei Jahren verabredet gewesen. Nun endli war die Atmosphäre
hergestellt, auf die i seit dem Eintreten des Mädens gefaßt gewesen war.
»Gefängnis« war das Wort, das unsere Verwandtsa in Frage stellte. Es
ließ si nits dazu sagen, nits fragen. Das Mäden kramte in der
Umhängetase und zog endli ein paar Bläer daraus hervor, ein
Manuskript, das war der Anlaß für ihren Besu, und i las die Bläer
sofort, obwohl i glei am Anfang gesagt hae, i müsse gehen.
Als i den kurzen Text gelesen hae, fragte i das Mäden, wem sie
ihn außer mir no gezeigt habe. Ihrer Swester also, einem Freund, ihrem
Mann.
Jetzt stand i auf und zog den Telefonsteer heraus. Das Radio wollte
i nit anstellen, das Mäden sollte mi nit für ängstli oder für
eingebildet halten. Sie sei also verheiratet. Ja. Ihr Mann habe zu ihr
gehalten, aber was sie mae, interessiere ihn nit.
In Zeiten wie diesen, ging es mir flütig dur den Kopf, werden alle
unsere Swäen wa, oder unsere Stärken werden zu Swäen. Es war
mir nit gegeben, einen guten Text für slet zu erklären oder die Autorin
eines guten Textes nit zu ermutigen. I sagte, was sie da gesrieben
habe, sei gut. Es stimme. Jeder Satz sei wahr. Sie solle es niemandem zeigen.
Diese paar Seiten könnten sie wieder ins Gefängnis bringen.
Das Mäden wurde vor Freude wei, es löste si, begann zu reden. I
date: Es ist soweit. Die Jungen sreiben es auf. Das Mäden erzählte von
seinem harten Leben, jetzt wollte es sein innerstes Wesen hervorkehren, aber
wohin sollte das führen, i mußte es zügeln, i konnte nit dulden, daß es
in diesem zutraulien Zustand auf die Straße trat, i mußte es fragen, wie
es im Gefängnis war, mußte mir anhören, die Kälte sei das slimmste
gewesen. Und die hohen Normen bei der Strumpffabrikation. Und die
Nierensmerzen. Es werde dort einfa zu wenig geheizt.
Das alles in meinem warmen Zimmer, i mit Strümpfen an den Beinen.
I mußte jetzt, falls es mögli war, diesem Mäden Angst einjagen. Mußte
ihm sagen, die größten Talente seien in deutsen Gefängnissen vermodert,
dutzendweis, und es sei nit wahr, daß ein Talent der Kälte und der
Demütigung und der Zermürbung besser widerstehe als ein Nialent. Und
daß no in zehn Jahren Mensen Sätze würden lesen wollen, wie sie sie
srieb.
Und daß sie, bie, nit in jedes offene Messer laufen sollte.
So solle sie si aufsparen? Aber wofür?
Liebe sie nit ihren Mann?
Der habe sie geheiratet, um ihr Sierheit zu geben. Er halte zu ihr. Sie
gefährde ihn, er habe ein Amt. Liebe? Nein.
Und wolle sie keine Kinder?
Früher son, oja. Nun nit mehr. Übrigens habe man sie dort, da man
ihre Nierensmerzen verkannte, an der Gebärmuer operiert.
Sweigen.
Das Mäden hae ein Einsehen. Sie wolle si do nit ins Verderben
stürzen. Nur habe sie es eben gern, etwas aufzusreiben, was einfa wahr
sei. Und dies dann mit anderen zu bereden. Jetzt. Hier.
Das Mäden, date i, ist nit zu halten. Wir können sie nit reen,
nit verderben. Sie soll tun, was sie tun muß, und uns unserem Gewissen
überlassen. Sie ging. I sah ihr vom Fenster aus na. Sie überquerte die
Straße, slängelte si zwisen den Autos dur, direkt an dem weißen
Auto vorbei, unberührt von den gläsernen Blien der jungen Herren, ging
über den Parkplatz und entswand ihren und meinen Blien.
Jetzt habe i mir nit ihre Adresse geben lassen.
Jetzt stee i den Telefonsteer wieder rein, mae mi fertig, sließe
die Tür ab, gehe. Im Krankenhaus muß die Besuszeit inzwisen
begonnen haben.
Mein Auto stand sieben Plätze neben dem weißen, das i keines Blies
würdigte. I stieg ein, ließ den Motor an. Das Mäden fragte nit
krämeris: Was bleibt. Es fragte au nit dana, woran es si erinnern
würde, wenn es einst alt wäre.
I fuhr den Weg na, den das Mäden gegangen sein konnte, i
konzentrierte mi auf die Bürgersteige, verursate beinahe einen Unfall,
als i den Kopf mit dem braunen kurzen Haar in der Menge entdet zu
haben glaubte und, ohne Rüsit auf den Verkehr, am Rinnstein zu halten
sute, mußte weiterfahren, von wütendem Hupen gedrängt, i hae den
braunen Kopf aus den Augen verloren. Keine Adresse. Das haben wir sauber
hingekriegt.
Während i weiterfuhr, tadellos und exakt, alle Regeln des
Straßenverkehrs bedienend, gesah etwas Merkwürdiges mit mir. Irgend
etwas ging mit mir vor, mit meinem Sehvermögen, oder, genauer, mit
meinem gesamten Wahrnehmungsapparat. Verkehrstütig blieb i, das
war es nit; i sah nit mehr ritig. I sah nit mehr, was i sah,
obwohl do die Häuser, Straßen, Mensen mir keineswegs unsitbar
geworden waren, das nit. Was ist mit uns, hörte i mi denken,
mehrmals hintereinander, sonst fehlten mir die Worte, sie fehlen mir bis
heute. Versusweise sage i, es war ein Band gerissen zwisen mir und
der Stadt – vorausgesetzt, »Stadt« kann no stehen für alles, was Mensen
einander antun, Gutes und Böses. Nit, daß i Angst gehabt häe,
verrüt zu werden. I hae weder Angst no überhaupt ein Gefühl, au
mit mir selbst stand i nit mehr in Kontakt, was waren mir Mann,
Kinder, Brüder und Swestern, Größen gleier Ordnung in einem System,
das si selbst genug war. Das blanke Grauen, i hae nit gewußt, daß es
si dur Fühllosigkeit anzeigt. Mühelos fädelte i mi aus dem Verkehr,
sah mir selbst aus einer gewissen Höhe nit ohne Anerkennung dabei zu,
bog links ab in den Zufahrtsweg zum Krankenhaus, fand, als sei das
selbstverständli, glei einen Parkplatz und wunderte mi au nit,
daß man in ein Gebäude, das sarf und fläig, wie aus Pappe
ausgesnien, dagestanden hae, dann plötzli do hineingehen konnte,
daß es dort ein, wenn au smutziges, Treppenhaus gab, Aufsrien mit
Pfeilen zu den versiedenen Stowerken und Stationen, an denen entlang
i snell und sier in den zweiten Sto, zur Station C 1 und vor ein
Zimmer mit der Nummer siebzehn fand. I ordnete meine Gesitszüge, sie
entspraen dann dem Gesitsausdru einer Frau, die ihren Mann im
Krankenhaus besut, i klope an, öffnete die Tür, trat ein, nite dem
jungen Mensen zu, der im ersten Be lag, trat an das zweite, sah mir aus
einer gewissen Höhe dabei zu, sah mi läeln, beugte mi über das
Gesit, das da in den Kissen lag und küßte es.
I sah mir aus einer gewissen Höhe dabei zu.
I fragte, was zu fragen war, empfing die Antworten, die i kannte,
stellte den Sanddornsa auf den Nais, pate leere Flasen und
smutzige Wäse ein, mate alles ganz et und ganz natürli, vermied
nit einmal Wörter wie »Sorge« und »Sehnsut«, da einem ja, wenn man
nits fühlt, alle Wörter frei zur Verfügung stehen. I nahm au Anteil,
forste na Einzelheiten, wollte über die kleinsten Fortsrie der
Genesung unterritet werden, über Bruteile von Fiebergraden, alle
Abstufungen von Smerz. Nein, eine wirklie Gefahr habe es nit
gegeben, das wußte i ja, wenn i au gestern den ganzen Vormiag
über unruhig gewesen war. So sagte i, und es stimmte, i war unruhig
gewesen, und wußte im gleien Augenbli, daß i mit diesem
wahrheitsgetreuen Satz Mißtrauen ween mußte, das er aber nit sofort
äußern würde. Er würde nur fragen: Und sonst? Das tat er jetzt.
Und sonst?
Sonst? Nits Besonderes. Ziemlie Ruhe. Wenig Leute. Tut ganz gut. A
wo, keine Vorkommnisse. Also wirkli. Slafen? Aber ja. Hervorragend.
Also wirkli. Über mi muß man si keine Gedanken maen.
Warum sagst du heute immerzu »also wirkli«, sagte H.
I? sagte i. Sag i das?
In einer Minute hast du jetzt zweimal »also wirkli« gesagt, sagte H.
Laß mi zufrieden, sagte i. Der Satz mußte beswiegen werden. Heul
ruhig, sagte H. na einer Weile. I sob den Stuhl weg und setzte mi auf
sein Be. Das sähen die Swestern nit gern, sagte er.
Wie geht es dir, fragte i, alles no mal von vorne. Die gleien
Antworten auf andere Fragen. Er sah blaß aus, ein Zug in seinem Gesit
war mir unbekannt. Mit dem Finger fuhr i die Linien na, die i kannte.
Er war in Gefahr gewesen. Gestern hae i mi, einen ganzen Vormiag
lang, gewaltsam der Sreensvorstellung eines Lebens ohne ihn erwehren
müssen. Es ist alles gut gegangen, sagte i. Es ist alles gut.
Ja?
Also wirkli.
Später erzähl i dir alles. Befürte nits. I befürte au nits mehr.
Es liegt alles an uns selbst, weißt du. La nit, wenn Laen dir weh tut.
Du kannst mi no genug auslaen, später. Du kannst mi Go sei
Dank no lange genug auslaen, Mann. Du, auf einmal bin i so froh,
daß i gar nit weiß, wohin. Di nit mal anfassen können.
Also gut. Jetzt zieh i mal los.
Im Auto sang i. I sang »Auf einem Baum ein Kuu saß,
simsaladimbambasaladusaladim«. Die saffen uns nit, Mann. I stellte
das Radio an, sang laut die Slager mit, i fuhr zu snell die Leninallee
hinunter, entsloß mi plötzli, do no eine Kleinigkeit in der Grillbar
zu essen und riß au son das Steuer herum, zum Parkplatz auf der
anderen Straßenseite. Jetzt erst kam das Signal »Wenden verboten« in
meiner Großhirnrinde an. Aber es wird do nit glei…
Do. Ein Pfiff. An dieser Ee stand also ein Verkehrspolizist auf
Dauerposten, dessen Winken i brav zu folgen, dem i gehorsam die
Fahrpapiere zu reien hae, freundli und tatbewußt. Am besten glei
selbst das Vergehen benennen, nits besönigen, aber Gründe anführen,
die der son besänigte Gesetzeshüter bei si selbst in mildernde
Umstände verwandeln kann. Einen Stempel gab der mir nit mehr, den
Augenbli hae er verpaßt, zehn Mark, bestenfalls, und wenn er si auf
eine Diskussion einließ, womögli nur fünf. Was sollte Watmeister B. mit
einem Straäter anfangen, der freimütig zugab, diese Stree öer zu fahren,
der nits zu seiner Entsuldigung anführte als einen Zustand von
»Geistesabwesenheit« und der zu allem Übel eine Frau war? Er konnte mir
nur die Papiere zurügeben, die fast serzha klingende Mahnung
anfügen: Aber nie mehr hier wenden! – konnte mit der Hand an der Mütze
grüßen und mir gute Fahrt wünsen.
So konnte es aber nit weitergehen.
Es ging nit so weiter. Im Bistro gab es unfreundlie Kellner,
sleppende Bedienung, i mußte gehen, ohne gegessen zu haben. Aus
Erfahrung wußte i, daß Hunger spätestens na einer Stunde wieder
vergeht. Es wurde dunkel. In einer der finsteren abbrureifen Straßen hinter
dem Alexanderplatz stellte i auf gut Glü das Auto ab, sute lange in der
falsen Ritung na dem Kulturhaus, und als i es endli fand, war die
halbe Stunde, die i der Veranstaltungsleiterin zugesagt hae, son
angebroen. I strahlte nit mehr, aber ein Rest Übermut war geblieben.
Übermütig drängte i mi dur den Mensenpulk, der die Tür des
Kulturhauses bloierte, laend überzeugte i die jungen Leute, daß sie
mi son durlassen müßten, die das dann, ebenfalls laend, au taten.
An der verslossenen Eingangstür groß das Sild: AUSVERKAUFT. Links
und rets von der Tür je ein junger Herr. Nun sieh dir das an. Unauffällig
kann man das nit nennen. Die jungen Herren maten keine Umstände,
höfli signalisierten sie na innen, man solle die Tür öffnen. So gesah es.
Vier, fünf junge Mäden und Frauen und zwei junge Herren standen im
Flur, um mi höfli zu begrüßen. Eine Falle! date i in meiner
übertriebenen Art, während i ringsum Hände süelte, in der Verwirrung
einige mehr, als nötig gewesen wäre. CLUB DER VOLKSSOLIDARITÄT las
i auf einem Türsild reter Hand, und dann wurde i von einem
eilfertigen jungen Mäden die Treppe hogeführt, auf eine große Insri
zu: WACHSTUM – WOHLSTAND – STABILITÄT. Wastum, Wohlstand,
Stabilität las i meanis no einmal. Wo waren wir hier eigentli. I
spürte Lust, mi in diese Frage zu verbeißen, do war das nit der
Zeitpunkt dafür, i sah es ein.
Das Zimmer der Abteilungsleiterin für kulturelle Veranstaltungen, ein
Abstellraum für ältere Büromöbel, übertraf an Unwirtlikeit beinahe jedes
andere Bürozimmer, das i kannte. Drei Uraltplakate an den Wänden
halfen der kulturellen Atmosphäre, die die Kollegin K. si wohl vorstellte,
nit auf. Die Kollegin K. gab vor, si über meinen Anbli wahnsinnig zu
freuen, mir kam sie eher wahnsinnig aufgeregt vor. Sie trug einen
grasgrünen Pullover, auf dem genau zwisen ihren beiden Brüsten ein
faustgroßes gehämmertes Bronzesild hing. I fragte mi, ob diese Frau
vielleit Brunhilde hieß, aber es häe mir nit wirkli genützt, das zu
wissen. Dann fing sie zu spreen an, in einer snellen, überstürzten Art,
die das Sild auf ihrer Brust zum Klirren brate. Was war mit ihr? Mit
wasendem Erstaunen, dann mit wasendem Verständnis sah i ihre
Finger auf der Tisplae umhergreifen, sah, wie ihr Bli si in die
entlegenste Zimmeree bohrte und begriff: Diese Frau hae Angst. Die
Maßeinheit für die Größe ihrer Angst war das Klirren des Sildes auf ihrer
Brust. Ganz leise klingelte es, wenn sie ihren Chef erwähnte; der hae es
offenbar nit für nötig befunden, sie gegenüber den »höheren Stellen« zu
deen, bei deren Nennung ihr Sild lauter klirrte. Immerhin sei es ihr
gelungen, au diese Stellen, die sie stark bedrängt haben mußten, zur
stillsweigenden Duldung dieser Veranstaltung zu bewegen, weil sie
sowieso nit mehr abzublasen gewesen war. Laut aber läutete das
Bronzesild von Frau K. Sturm, wenn sie auf die Besuer vor der Tür zu
spreen kam, die keinen Einlaß mehr gefunden haen. Eine derartige
Zusammenroung hae der Kollegin K. gerade no gefehlt.
Au mir hae etwas Derartiges gerade no gefehlt, aber das sagte i
nit. Im Gegenteil. I mobilisierte meine einslägigen Erfahrungen, die
nit unerhebli waren, und fing an, Frau K. Fragen zu stellen, die ihr
gleizeitig den Rüen stärken und mi möglist umfassend informieren
sollten. Es gibt da eine Tenik, die i einem Außenstehenden nit
erklären könnte; i nehme an, in jedem Land gibt es Gespräe, deren
Hintersinn einem nur aufgeht, wenn man sie mit Dutzenden ähnlier
Gespräe über den gleien Gegenstand vergleit.
Was war also mit den höheren Stellen. – Die höheren Stellen befürteten,
daß etwas passieren könnte. – Was zum Beispiel. – Zum Beispiel
provozierende Fragen aus dem Publikum. – Aha. Der Pegel für no zu
duldende Fragen seint weiter abgesunken zu sein. Aber keine Bange, Frau
K., das mae i son. Sließli bin i kein Neuling.
War i kein Neuling? Ehrli gesagt, gerade heute fühlte i mi als
Neuling.
Was no, Frau K. – Also Auslandskorrespondenten. – Wele
Auslandskorrespondenten. – Die si eingeslien haben könnten,
obwohl… – Obwohl was? Ist dies eine öffentlie Veranstaltung oder nit? –
Son. Obwohl…
Kurz und gut, man hae Vorkehrungen getroffen. – Vorkehrungen?
Jetzt läutete bei mir ein wohlbekanntes Glöen Alarm. Jetzt trat i
mit der Kollegin K. in Verhandlungen ein, die, von meiner Seite zäh, taktis
klug und freundli geführt, die Widerstandskräe der vor kurzem erst aus
üringen in die Slangengrube Hauptstadt verslagenen
Abteilungsleiterin ma setzte. Na manem Hin und Her und reiliem
Sildgerassel lieferte sie mir mit einer Geste, die der Kapitulation eines
Heeres würdig gewesen wäre, die Liste der geladenen Teilnehmer aus.
Wahrhaig, die ehrte mi. Niemand war vergessen.
I sagte Frau K., daß die Liste mi ehre. Aber was die ses laufenden
Nummern bedeuten sollten, hinter denen weder eine Dienststelle no ein
Name verzeinet war. Dazu swieg Frau K. und sah auf ihren Sreibtis.
Da swieg au i und sah auf ihren Sreibtis. Nur ses, date i
fast getrost. Wenn i mi an jene Veranstaltungen erinnerte, bei denen fast
ein Viertel… Also von »Fortsri« sollte man in einem bestimmten
Zusammenhang lieber nit spreen. Das einzige ist, jetzt nit den Humor
verlieren.
So fragte i Frau K., ob denn, na dieser imponierenden Liste,
überhaupt no normales Publikum zu erwarten sei. Damit hae i sie nun
aber beinahe beleidigt. Selbstverständli habe sie au »Leute von der
Straße« hereingelassen. Das waren ihre Worte, die meinen Humor beinahe
vollständig wiederherstellten. Wir werden im Alter wenigstens etwas haben,
wovon wir zehren können.
Nun mußte aber Frau K. eiligst hinuntergehen und das Publikum
draußen vor der Tür dazu bringen, si zu zerstreuen. – Und wenn man
no ein paar hereinließe, die Tür zum Treppenhaus öffnete? – Dies konnte
Frau K. aus feuerpolizeilien Gründen nur als unsilien Antrag
ablehnen. Allein gelassen, bläerte i in meinem Manuskript, tronete mir
den Sweiß vom Gesit und bespritzte mi mit Kölniswasser. Haen
diese alten unübersitlien Berliner Häuser nit alle einen versteten
Hinterausgang? Mündete der nit vielleit neben der Tür zur Toilee, die
i no unauffällig aufsuen könnte? Wobei i, ebenso unauffällig, die
Toileentür mit dem Ausgang verweseln könnte? Daß es das erste Mal
wäre, war sließli kein Argument. Einmal muß man mit allem anfangen.
Da kam Frau K. son zurü. Hae die wartende Gruppe si zerstreuen
lassen? – Leider nein. – Frau K., die an vielen Stellen gebebt hae, seit i
sie kannte, bebte nun au am Kinn. Was immer no gesehen mote,
ließ sie mi wissen, sie sei entslossen, die Veranstaltung beginnen zu
lassen. Da unten, an der Einlaßtür, mußte mit ihr etwas passiert sein. Wie
sie nun vor mir herging, geht nur ein zum Äußersten entslossener Mens.
Wenn Grün wirkli die Farbe der Hoffnung ist, ihr grüner Pullover
signalisierte alles möglie, Hoffnung nit. An der Tür zum
Veranstaltungsraum stellte si heraus, daß sie nit gedate, mi zu
begrüßen. I solle einfa vorgehen und fris von der Leber weg beginnen.
Die Leute merken son von selbst, wenns anfängt, sagte Frau K. Mein lieber
Mann, date i. Das haen wir allerdings no nit.
In dem Raum war es still. In einem smalen Gang zwisen Stuhlreihen
slängelte i mi zum Podium dur, auf dem ein nater Holztis
stand, ein einfaer Stuhl, eine Lampe. I nahm die hohe Stufe, setzte mi.
Zwei, drei Händepaare klatsten. Die gehörten also nit zu den sesen in
der Liste. Oder gerade do? I sagte, was i lesen wollte, und begann.
Den Text kannte i auswendig. Die Sätze betonen si von selbst, die
Stimme hebt si, senkt si, wird weier, härter. Wie es si gehört. Alles
meanis, keiner wird es merken. Aus welen Gründen Sie, meine Damen
und Herren, immer gekommen sein mögen: Sie werden korrekt bedient
werden. Das Honorar, mit dem Sie mi gedungen haben, ist beseiden,
aber i liefere Ihnen den vollen Gegenwert. Was i ganz gerne wüßte:
Mußten Sie etwa in die eigene Tase greifen, oder haben Ihre jeweiligen
Dienststellen Ihnen die eine Mark fünfzig pro Eintriskarte bezahlt, wie i
do hoffen will? Müssen Sie Kulturbeflissenheit wenigstens vortäusen für
diesen Job, oder nit einmal das? Und wie sind Ihre Instruktionen? Beifall
am Ende, und wenn ja, wie stark? Oder Mißfallenskundgebungen? Aber bei
weler Gelegenheit? Arbeiterfäuste sind ja wohl nit mehr zeitgemäß.
WACHSTUMWOHLSTANDSTABILITÄT
Oja. Sie werden bedient werden. Eines Tages werdet ihr bedient sein,
Kolleginnen und Kollegen. Übrigens: Warum gerade ihr? Warum gerade
dieser junge Kerl da vorne links, dem der Sweiß von der Stirn rinnt, aber
er wist ihn nit ab? Traut er si nit, um nit aufzufallen? Ist er so
interessiert, wie er tut? Und das Mäden hinter ihm, die Langhaarige – wo
könnte die angestellt sein. Oder sind die beiden gar nit herbeordert,
sondern gehören zu denen »von der Straße«? Zu denen, für die i ganz
anders lesen müßte. Warum müßte: Muß. Und wenns nur die beiden wären.
Aber es können au zwei, drei Dutzend sein, und i habe nit mehr an
sie gedat. Und warum ist mir nit eingefallen, daß es au für die
anderen lohnen würde, für die, die man hergesit hat? Denn wo steht
gesrieben, daß sie aus Eisen, daß sie nit au verführbar sind.
Also gut. Jetzt streng i mi an.
Jetzt legte i keinen Wert mehr auf eine Einteilung des Publikums, na
welen Gesitspunkten au immer. Wie si in den über hundert
versiedenen Köpfen die Welt spiegeln mote – i wollte für diese eine
Stunde meine Welt in ihre Köpfe pflanzen. I hae keine Einwände, nit
den mindesten Vorbehalt mehr gegen irgendeinen dieser Zusauer, und –
zwar konnte is nit swören, do glauben wollte i es nur zu gerne –
au die ses oder wie viele es sein moten, vergaßen vielleit für kurze
Zeit nit ihren Aurag, do ihr Vorurteil. Denn wo kämen wir hin, wenn
es Mode würde, in die Hand zu spuen, die einer dir offen hinhält.
I sah, wie gerne die Kollegin K. die Pause, die vor dem ersten
Diskussionsredner eintri, dazu benutzt häe, die Veranstaltung zu
sließen, die zu eröffnen sie si standha geweigert hae. No war nits
passiert, aber in jeder Sekunde – zum Beispiel jetzt, da der junge Mann aus
der ersten Reihe aufstand, der, der so switzte – konnte es passieren. Aber
der junge Mann wollte ja nur wissen, wann das Bu erseinen würde, und
slauer häe au keiner von den sesen die Diskussion eröffnen können,
denn nun verstri Zeit mit Sainformationen über die Herstellung von
Büern. »Salie Atmosphäre« könnte in den Beriten stehen, die
hoffentli morgen an geeigneter Stelle zusammenliefen. Die Diskussion
fand in einer salien Atmosphäre sta.
Aber man soll si nit zu früh freuen. Man soll die Wasamkeit den
eigenen Gefühlen gegenüber niemals vernalässigen. Es erhob si in der
letzten Reihe eine junge Frau von der Art, gegen die i wehrlos bin, und
brate das Wort »Zukun« ins Spiel – ein Wort, gegen das wir alle wehrlos
sind und das imstande ist, die Atmosphäre eines jeden Raumes zu verändern
und eine jede Mensenansammlung zu bewegen. Die junge Frau –
Lehrerin? Musikstudentin? Tenise Zeinerin? – häe si nie das Herz
gefaßt, öffentli zu spreen, wenn sie nit extra gekommen wäre, um die
für sie unaufsiebbare Frage zu stellen: auf wele Weise aus dieser
Gegenwart für uns und unsere Kinder eine lebbare Zukun herauswasen
solle.
Sie spra ohne Betonung, sie warf si nit auf, klagte nit an, ließ
nits durblien. Sie wollte nur wissen. Alle im Saal haen das Signal
vernommen, ein jeder auf seine Weise. Das Bronzesild der Kollegin K.
begann verzweifelt zu seppern, das half ihr nun rein gar nits mehr. Und
wenn in großer Leutsri die Wörter WACHSTUM WOHLSTAND
STABILITÄT an der Wand ersienen wären – nits häe mehr geholfen,
denn nun standen die wirklien Fragen im Raum, die, von denen wir leben
und dur deren Entzug wir sterben können.
I sagte etwas in dieser Art und gab mir Mühe, wie i es mir angewöhnt
hae, die junge Lehrerin, die vielleit arglos unter Argen saß, na Kräen
zu deen und den Anlaß für ihre Frage auf mi zu nehmen. Glei
sämte i mi dieses Manövers, denn an mehreren Stellen im Saal gingen
die Hände ho, erhoben si Stimmen, die die Frage der jungen Frau nit
nur als ihre eigene wiederholten, sondern sie erweiterten und si in
unbekümmerter und rüsitsloser Manier auf sie einließen. Was taten
diese Leute. Sie braten si in Gefahr. Aber mit welem Ret hielt i sie
für dümmer als mi? Mit welem Ret nahm i mir heraus, sie vor si
selbst zu sützen?
Da swieg i denn und hörte zu, wie i in meinem Leben nit o
zugehört hae. I vergaß mi, man vergaß mi, zuletzt vergaßen wir alle
Zeit und Ort. Der Raum lag im Halbdunkel. Mit den Formen fiel bald die
Förmlikeit. Es fiel die entsetzlie Angewohnheit, für andere zu spreen,
jeder spra si selbst aus und wurde dadur angreifbar, manmal zute
i no zusammen: Wie angreifbar. Aber das Wunder gesah, keiner griff
an. Ein Fieber erfaßte die meisten, als könnten sie es nie wieder gutmaen,
wenn sie nit sofort, bei dieser vielleit letzten Gelegenheit, ihr Serflein
beisteuerten für jenes merkwürdig nahe, immer wieder si entziehende
Zukunswesen. Jemand sagte leise »Brüderlikeit«. Wahnsinn, date i;
ein anderer sprang auf, süelte die Fäuste, griff si an den Kopf vor soviel
Naivität und wußte nit, wie ihm gesah, als sie ihm von versiedenen
Seiten ganz ruhig den Gebrauswert des utopisen Wortes vorhielten;
setzte si kopfsüelnd, ein anderer, der si gerne reden hörte, wurde
heiter auf das Wesentlie hingelenkt, das immerhin au er meinen mote.
Als stehe man vor einem Fest, wurde die Stimmung im Saal immer loerer.
Butitel wurden dur den Raum gerufen, mane notierten sie si, andere
fingen an, mit ihren Nabarn zu reden, um die junge Frau, die zuerst
gesproen hae, bildete si ein Kreis.
Wo hae nur die Kollegin K. ihre Sinne. Trug sie nun Verantwortung oder
nit. Aber da war sie son, leise klirrend, sporenklirrend, häe man
denken können. No grüner war ihr Pullover, no röter simmerten ihre
Wangen. Bebte sie? Gewiß, sie bebte. Ihr Körperbeben übertrug si auf ihre
Stimme, die denno entslossen klang. Dies sei nun aber der rete
Moment. Ein jedes Beisammensein müsse einmal. Daher beende sie hiermit,
und sie glaube im Namen aller zu spreen. Die Dankesformel. Die Blumen:
fünf Gerberastiele, in Asparagis eingebunden. Einen guten Nahauseweg
allerseits.
Do blieb man sitzen. Hae Frau K. si geirrt? War es do nit der
rete Moment? Andererseits: Worauf wartete man no? Das wußte keiner,
aber als der alte Mann in der zweiten Reihe si erhob, der aussah wie ein
Arbeiterveteran, da sien man gerade auf ihn gewartet zu haben. Er wolle
nur, als der weitaus Älteste in dieser Runde, si das Ret nehmen zu einer
kleinen Freundlikeit. Damit holte er aus einem uralten Leinenbeutel einen
flaen, in Seidenpapier gewielten Karton, den er mir überreite. Jetzt
konnte gelat, geklatst werden, man konnte aufstehen und si allmähli
zerstreuen. Einige braten Büer zum Signieren na vorn, unter ihnen
die junge Frau, die na unserer Zukun gefragt hae. Was sie mae. –
A, Krankenswester. – Warum sie da »a« sage. – A, das sei do
nits Besonderes.
Hier häe der Abend enden müssen. Sta dessen gab es ein Naspiel.
Die beiden jungen Leute, die si von der Tür her näherten und bisher nit
im Publikum gewesen waren, eröffneten es. Ein harmloser junger Mann, ein
nees junges Mäden mit blondem krausem Haar. Während i ihre Büer
signierte, nannte der junge Mann seinen Namen. Er war es also, der mir seit
einigen Monaten seine Gedite in den Brieasten stete. Das träfe si ja
gut, daß man si auf diese Weise einmal zu Gesit bekäme.
Da fragte der junge Mann: Wissen Sie eigentli, daß man die Wartenden
unten vor der Tür mit der Polizei auseinandergetrieben hat?
Das Gefühl, als sinke in mir ein Fahrstuhl sehr snell na unten, kannte
i ja. Mit der Polizei? Aber warum denn? Und i soll das gewußt…
Kollegin K.!
Die Kollegin K. stand bereit. Ja leider. Leider sei es nötig gewesen,
polizeilien Sutz in Anspru zu nehmen. Die Zusammenroung sei
ausfallend und aggressiv geworden.
Die beiden, Junge und Mäden, sagten leise: Das ist nit wahr.
Nit wahr? Das wußte die Kollegin K. nun aber besser. Sie selbst habe
man besimp, als sie versut hae, die Zusammenroung gütli
aufzulösen.
Gütli! sagten die beiden Jungen wie aus einem Mund.
Sie, fragte i die Kollegin K., habe also von dem Polizeieinsatz gewußt?
Ihn womögli sogar veranlaßt?
Das habe alles seine Ordnung und Ritigkeit. Man habe sie sließli
vom Revier aus angerufen, um ihr zu versiern, ein Einsatzwagen stehe auf
Abruf bereit.
Wann! Wann habe man sie vom Revier aus angerufen.
Gegen halb sieben. Natürli, vor der Veranstaltung. Aber es war ja
abzusehen gewesen, was da kommen würde.
Aber was denn. Was sei denn gekommen, fragten der Junge, das Mäden
und i.
Da stand, wie aus dem Boden gewasen, neben der von Kopf bis Fuß
klirrenden und bebenden Kollegin K. ein Mann, kaum größer als sie, aber
offensitli um ein, zwei Gehaltsstufen kompetenter: der Leiter des
Clubhauses selbst, ihr Chef. Der si nun do gezwungen sah, sein
Inkognito zu lüen. Einfa, um den jungen Leuten hier mal. Also im
Klartext: Was gekommen sei? Nun. Er habe mal, vor Jahren, angefangen,
Jura zu studieren. Aber au ohne das: Ein jeder gesund empfindende
Mens nenne, was dann gekommen sei, Hausfriedensbru. Und gegen
Derartiges unterhalten wir allerdings, au wenn das manen Leuten nit
passe, glülierweise eine slagkräige Polizei. Dies bloß mal zur
Klarstellung. Im übrigen habe ja die Polizei überhaupt nit durgegriffen,
wie es ihr gutes Ret gewesen wäre.
Mir, sagte das junge Mäden, hat einer von ihnen gesagt, uns häen sie
in Nullkommanits auf drei, vier Lastwagen geladen und abtransportiert,
dann wäre die Lu sauber.
Gesagt! sagte der Clubhausleiter überlegen. Aber was haben die Polizisten
getan!
Sie haben die Leute, die unten im Hausflur standen, rausgedrängelt und
gesubst.
Na also, da sagen Sie es selbst. Die Polizei hat auf unblutige Weise das
Hausret wiederhergestellt. Ob denn die Kollegin Sristellerin überhaupt
wisse, daß ihre Fans si gewaltsam Zugang ins Haus versafft häen.
Gewaltsam! sagte der junge Mann. Draußen wars langweilig, wir
vertrieben uns die Zeit mit allerhand Blödsinn. Von der Tür rief einer, einen
Dietri müßte man haben!, da hat einer einen na vorne durgegeben,
damit maten sie die Tür auf, ging ganz leit, und ein paar sind
reingegangen. Das war alles. Vollkommen friedli wars, sogar lustig, so was
wie ein Happening. Glauben Sie bloß nit, irgendeiner wollte Ihre
Veranstaltung stören.
Was i glaubte, war unerhebli. I sah, die Kollegin K. hae zwar von
dem Polizeieinsatz, nit aber von dem Hausfriedensbru gewußt und war
nun sehr erleitert. I fragte mi au, was eigentli die beiden jungen
Männer gemat haen, die vorne an der Tür standen, als der Dietri
durgereit wurde. War er vielleit au in ihre Hände gekommen? An
dieser Gesite war etwas von Grund auf Unstimmiges, was mir sehr zu
denken gab. Dieser Anruf um halb sieben, als kein Mens an einen Dietri
date… Oder do? I hae mi zu früh gefreut. Jürgen M. oder wer au
immer kriegte seinen Berit, wahrseinli sogar drei, vier saige Berite,
die ihn befriedigen und meine Akte bereiern würden. Und wäre es nit
denkbar, daß mein alter Freund Jürgen M., der seine jungen Männer so
lange ergebnislos vor unserer Tür herumstehen ließ, si eine sole
Bereierung meiner Akte etwas kosten ließe. Denkbar son, sagbar nit.
Unsagbar. Unausspreli.
Also gehen wir.
Einen Moment no. Der Clubhausleiter wollte nun do no Gelegenheit
nehmen, zusammenfassend festzustellen, daß er den Abend im großen und
ganzen für duraus gelungen halte und daß die unliebsamen Zwisenfälle
am Rande die Kollegin Sristellerin ja gar nit betroffen häen. Am
besten, sie vergäße sie überhaupt möglist snell. Dies fand die Kollegin K.
au, klirrenden Sildes und bebenden Kinns. Die Augen fest auf ihren
Chef geheet, formulierte sie den Satz vor, den sie in ihren Berit
hineinsreiben würde: Die Lesung verlief normal, in einer aufgeslossenen
Atmosphäre und zur Zufriedenheit des Publikums.
So ist es, sagte ihr Chef.
I ging, flankiert von den jungen Leuten. Jemand brate mir die
Blumen na, die i liegengelassen hae. Die beiden begleiteten mi bis
zum Auto; ist son besser, sagte der Junge. Viel redeten wir nit. Die
Draußenstehenden seien wirkli friedli gewesen, friedli und
unprovokativ. Man habe miteinander geredet. Sie beide zum Beispiel – sie
häen si dabei überhaupt erst kennengelernt.
Sön, sagte i.
I sei jetzt wohl müde.
Ja.
Ob es eine gute Diskussion gewesen sei.
O do. Es ging um Zukun, wissen Sie. Was bleibt.
Was bleibt.
I mußte laen. I wußte, es war gefährli, wenn i jetzt anfing zu
laen. I saffte es, aufzuhören. Die jungen Leute stellten fest, daß sie
beide den gleien Heimweg haen. Auf ein andermal, sagte i, stieg ins
Auto und fuhr los. I date nits weiter, als daß i müde war.
Und wenn sie nun wirkli wele von den Jungen auf ihre Lastwagen
geladen und mitgenommen häen. Und wenn sie nun… Jetzt waren wir
soweit. I konnte nits mehr tun. Kaltgestellt nennt man das. Mit dem
Rüen an der Wand.
Um diese Zeit gibt es keinen Verkehr mehr in der Oranienburger, erst
ret nit in der Tuolskystraße. I fuhr meanis und parkte in der
ersten Reihe auf dem großen Parkplatz, unseren Fenstern direkt gegenüber,
unmielbar neben dem Auto, in dem zwei junge Herren saßen und rauten.
Dieses Auto mote bei Tageslit blau sein. Dunkelblau. Soll es. Solln sie.
Bei Tageslit und au nats, sommers und winters.
Es war dreiundzwanzig Uhr fünf.
Die Wohnung war dunkel und still. I ging dur alle Zimmer, barfuß,
und knipste alle Lampen an. In der Küe stellte i die Gerbera ins Wasser.
I starrte in die Bildröhre auf den Ansager, der mir Gute Nat wünste
und entswand. I musterte die Sallplaen dur. Exsultate Jubilate.
Was soll das mir. Was mir das smerzli geliebte »Fremd bin i
eingezogen«. Fremd zieh i wieder aus.
Nits trifft.
An den Büerregalen entlangstreien, sogar die Trileiter nehmen, die
oberen Reihen durforsen, hier einen Burüen antippen, da einen Titel
ausprobieren. Nits geht mehr. Alle guten Geister, sogar meine Heiligen,
haen mi verlassen. Einzelne Zeilen mote es no geben. Mit meinem
Mörder Zeit… Das ging. Mit meinem Mörder Zeit bin i allein.
Ins Bad gehen, in den Spiegel starren, den i nit zerslagen konnte,
weil sie ihn vor mir zerslagen haen. Die Weien waren gestellt. Der
Gang betoniert, dur den sie uns treiben würden. Ins Zimmer zurügehn,
das Radio anstellen. Den Konfektkarton auswieln, den der weißhaarige
Mann mir gesenkt hae. Die Karte lesen, die dabeilag. Der Mann war also
ein Pfarrer und wünste mir Goes Segen. Bei lauter Radiomusik, Slager,
saß i und aß ein Stü Konfekt na dem anderen, bis der Karton halb leer
war.
Was jetzt.
Das Telefon klingelte. Es war Miernat. Meine älteste Toter hae von
einem Freund erfahren, was los gewesen war. Einer von denen, die draußen
gestanden haen. Sie häen nit provoziert, sollte sie mir sagen. Wirkli
nit. Sie seien ganz gut gelaunt und heiter gewesen. Sie häen mir keine
Swierigkeiten maen wollen. – Weiß i do. – Aber wie klingt denn
deine Stimme. – Normal, nehme i an. – Manmal, sagte meine kluge
älteste Toter, müsse man si einfa am eigenen Sopf paen und si
ein paar Jahre voraus versetzen. – A. Das sei also ihr Rezept. Warum sie
nit im Be liege, sondern zu natslafender Zeit in der Weltgesite
herumtelefoniere. – Darauf wolle i do wohl keine Antwort haben. Ob es
dem Vater besser gehe. – Ja. – Also! Alles könne man eben nit haben.
Stünden sie wieder vorm Haus? – Sie stünden. – Störe es mi no. – Nein.
Es störe mi nit mehr. Aber daß au meine eigenen Töter mir
naspionierten, das störe mi. – Na dann tsüs, sagte meine Toter. Was
i no sagen wollte: Sie haben ja ret, dir zu mißtrauen. – Das fange i
gerade zu begreifen an, sagte i.
Als i den Hörer aufgelegt hae, slug das Telefon sofort wieder an. Ein
Mann, den i nur flütig kannte, wollte mir sagen, er habe am Abend vor
dem Kulturhaus zwisen den jungen Leuten gestanden. Die häen wirkli
nit provoziert. – Das wisse i, sagte i. – Wie es mir gehe. – Gut, sagte
i. – Wirkli? – I sagte: Besser. – I gebe Ihnen mal meine
Telefonnummer, sagte der Mann, an den i mi auf einmal erinnerte. Sie
können mi immer anrufen, au nats. – I sagte: Meine Güte.
Telefonseelsorge. – Maen Sie si nur lustig, sagte der Mann. Ist mir sogar
lieber als was anderes.
I srieb mir die Nummer auf. I ging dur alle Zimmer und drehte
alle Litsalter aus, bis nur no die Sreibtislampe brannte. Diesmal
haen sie mi aber beinahe gehabt. Diesmal haben sie, ob sie es nun darauf
angelegt haen oder nit, den Punkt getroffen. Den i eines Tages, in
meiner neuen Sprae, benennen würde. Eines Tages, date i, werde i
spreen können, ganz leit und frei. Es ist no zu früh, aber ist es nit
immer zu früh. Sollte i mi nit einfa hinsetzen an diesen Tis, unter
diese Lampe, das Papier zuretrüen, den Sti nehmen und anfangen. Was
bleibt. Was meiner Stadt zugrunde liegt und woran sie zugrunde geht. Daß
es kein Unglü gibt außer dem, nit zu leben. Und am Ende keine
Verzweiflung außer der, nit gelebt zu haben.

Juni/Juli 1979
November 1989

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