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Schünemann
In Vielfalt
verneint
Referenden in und über Europa
von Maastricht bis Brexit
In Vielfalt verneint
Wolf J. Schünemann
In Vielfalt
verneint
Referenden in und über Europa
von Maastricht bis Brexit
Wolf J. Schünemann
Hildesheim, Deutschland
Springer VS
© Springer Fachmedien Wiesbaden 2017
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Als ich 2014 meine Dissertation endlich in publikationsreife Form gebracht hatte,
waren umfangreiche Kapitel den allemal notwendigen Straffungen und Kürzun-
gen zum Opfer gefallen. Wenngleich diese Konzentration auf das Wesentliche:
die vergleichende Diskursstudie der Referendumsdebatten im europäischen Ver-
fassungsprozess sehr angebracht und zielführend war, schien es mir doch von dem
Moment an bedauerlich, die Zusammenfassungen der theoretischen und empiri-
schen Literatur, das Wissen und die Überlegungen zu konstitutionellen Kontexten
der Volksabstimmungen und die vergleichende Betrachtung der Referendumsdis-
positive gleichsam zurücklassen zu müssen. Auch sie, so dachte ich, sollten zu
einem gegebenen Zeitpunkt in Form einer Veröffentlichung zur Diskussion ge-
stellt werden. Dieser Zeitpunkt ist endlich gekommen, reichlich spät, aber doch
sehr passend. Das, was auf den folgenden Seiten zu lesen ist, erhebt nicht mehr den
Anspruch einer konzisen wissenschaftlichen Studie. Vielmehr handelt es sich um
ein kleines Kompendium von Perspektiven, Annäherungen, Beobachtungen und
Überlegungen zu europapolitischen Referenden. Im Zentrum steht eine verglei-
chende Betrachtung von Referendumstraditionen, -regelungen und -dispositiven,
der durchaus eine politikwissenschaftliche Systematik zugrunde liegt. Und auch
die Ausführungen zu den kausalanalytischen Erklärungsansätzen von Volksab-
stimmungen sowie den diskursanalytischen Verstehensansätzen für Referendums-
debatten knüpfen an die aktuelle wissenschaftliche Literatur an. Bewusst zielt die-
ses Buch aber auf ein breiteres Publikum und ist entsprechend zugeschnitten, ohne
den Anspruch an Wissenschaftlichkeit aufzugeben.
Den ‚Verschnitt‘ aus meiner Dissertation auch noch in relativ knapper Zeit zu
veröffentlichen, dieser pragmatische Wunsch erwies sich aus verschiedenen Grün-
den als illusorisch. Denn es waren neben der Forschungs- und Lehrtätigkeit in an-
deren Bereichen und an anderen Gegenständen doch noch umfangreiche Neu- und
Umbaumaßnahmen erforderlich. Insbesondere die Erweiterung der Fallauswahl
V
VI Vorwort
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V
VII
VIII Inhaltsverzeichnis
7 Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
7.1 Bis hierher und nicht weiter? Ein Referendum für Deutschland . . . . 187
7.2 Auch abstimmen geht nur gemeinsam? Ein Referendum für die EU 192
7.3 Referendum und EU-Integration: demokratische
Dilemmata mit (Mehrebenen-)System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
7.4 Leave means …what exactly? Versuch eines Ausblicks nach dem
Brexit-Votum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198
8 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203
8.1 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203
8.2 Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218
Verzeichnis der Abbildungen
XI
XII Verzeichnis der Abbildungen
XIII
In Vielfalt ver(n)eint:
eine Einleitung 1
jüngerer Zeit darauf verlegt hat, die Ursachen sowohl für das Ausrufen von EU-
Referenden als auch die Gründe für ihr Scheitern kausalanalytisch zu untersuchen
und zu erklären (s. Kap. 6), soll es im Folgenden darum gehen, grundlegende the-
oretische Überlegungen zur direkten Demokratie, institutionelle Gegebenheiten
und konkrete Abstimmungsverläufe zu beschreiben und sie vergleichend gegen-
über zu stellen. Im Anschluss wende ich mich in Kapitel 6 durchaus auch der
Ursachenforschung zu, um ihre Ergebnisse differenziert zu betrachten und von ihr
zu weiteren Reflexionen über den Zusammenhang der europäischen Einigung und
direkter Demokratie fortzuschreiten.
Da eine skeptische Bewertung der Möglichkeit und Sinnhaftigkeit euro-
papolitischer Volksabstimmungen in weiten Kreisen der Europapolitik wie
-wissenschaft verbreitet ist, möchte ich mich zu Beginn des Buches dem Thema
über diese theoretische und durchaus normative Frage annähern, ohne selbst eine
klare Position zu beziehen: Direkte Demokratie – warum (nicht)?
In Ansehung einiger recht pauschal vorgebrachter Kritikpunkte gilt es zu be-
denken, dass direktdemokratische Entscheidungsverfahren in ihrer Gestaltung
und den Wirkungen sehr unterschiedlich ausfallen können. Das mag auch für viele
Vorbehalte relevant sein. Der viel konstatierte Elitenvorteil greift zum Beispiel bei
einer Volksinitiative stärker als bei einem Referendum, bei dem die Initiative aus
dem politischen System hervorgeht oder die Abstimmung gar gemäß Verfassungs-
recht automatisch ausgelöst wird. Außerdem stellt sich in diesem Zusammenhang
die Frage, ob Referenden obligatorisch oder fakultativ sind und wie strikt ihr Ab-
lauf reguliert ist. Zuletzt ist es von Belang und beeinflusst das Verhalten der be-
teiligten Akteure, ob ein Referendumsergebnis rechtsverbindlich ist oder durch
abweichende Entscheidung des Parlaments umgangen werden kann.1 Im Zentrum
dieses Buches wird die differenzierende Typenzuordnung von Länderbeispielen
stehen. Kapitel 4 bereitet sie vor, indem es in die zentralen Kategorien einführt und
die Typologie begründet.
Im Anschluss steht das längste und zentrale Kapitel des Buches. Kapitel 5 um-
fasst die vergleichende Untersuchung der Fallbeispiele mit Blick auf Verfassungs-
bestimmungen, Referendumstradition sowie Referendumsdispositive gemäß den
zuvor gebildeten Typologien. Zuletzt wird zu jedem Beispiel auch der Ablauf eines
Referendums einschließlich der Debatte geschildert, um einen Einblick zu vermit-
teln, wie sich die Regelungen in der Praxis ausgewirkt haben, sowie die Ereignisse
in die EU-Geschichte einzubetten.
Das Legitimitätsdefizit der Europäischen Union ist Gegenstand einer weit verbrei-
teten und vielgestaltigen Kritik. Allgemein werden direktdemokratische Abstim-
mungen als Abhilfe angesehen, um den zunehmend aufscheinenden Akzeptanz-
problemen demokratischer Repräsentativsysteme beizukommen (Wagschal 2007a:
41). Im Rahmen der EU-Integration scheint dieses Rezept indes nicht aufzugehen.
Denn immer wieder hat der – freilich auf nationalstaatlicher Ebene – unternom-
mene Versuch, direktdemokratischen Zuspruch für das europäische Projekt einzu-
holen, das Legitimitätsdefizit erst recht offenbar werden lassen und den Integra-
tionsprozess vor mehr oder weniger große Probleme gestellt. Worin bestehen die
besonderen Schwierigkeiten von Referenden im Kontext europäischer Einigung?
Dies ist die leitende Fragestellung für das gesamte Buch. In diesem Kapitel sollen
zunächst die einzelnen Abstimmungen, die in den weiteren und insbesondere: in
den engeren Gegenstandsbereich der Untersuchung fallen, im Überblick chrono-
logisch gereiht, aber auch nach Typen differenziert aufgeführt werden.
„An ever closer union“: Dieses Motto ist sowohl der politischen EU-Integration vo-
rangestellt als auch in vielen wissenschaftlichen Betrachtungen, insbesondere der
über lange Zeit führenden theoretischen Schule des Neofunktionalismus, erkenn-
bar. Europapolitik und wissenschaftlicher Betrachtung derselben war über lange
Zeit eine Teleologie eingeschrieben. Heute, im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhun-
derts, nach konstitutioneller und ökonomischer Dauerkrise und kürzlich der ersten
Austrittsentscheidung, ist die teleologische Gewissheit nachhaltig verflogen. Klarer
Ausdruck dessen war schon vor der Brexit-Entscheidung 2016 die explizite Forde-
rung des britischen Premierministers Cameron als Teil des neuen „Deals“, mit dem
die britische Abstimmung für den Verbleib in der EU entschieden werden sollte,
das Vereinigte Königreich vom vertraglich festgeschriebenen Entwicklungsziel der
„ever closer union“ auszunehmen (Cameron 2015a; Europäischer Rat 2016). Die
tief sitzende Skepsis gegenüber der europäischen Einigung in vielen Gesellschaf-
ten Europas, die zur Fortschrittslogik – wenngleich mit ungeklärter Finalität – in
einer klaren Spannung steht, ist allerdings schon älter. Nicht erst mit dem britischen
Votum 2016 ist klar geworden, dass alle teleologischen Annahmen, seien sie funk-
tionalistischer oder gar föderalistischer Art, auf sehr unsicheren Grund gebaut sind.
In den dominanten Entwicklungsmodellen der politischen Programmatik wie auch
– und dies ist erstaunlicher – der wissenschaftlichen Betrachtung2 wurde der Faktor
demokratischer Opposition gegen das Einigungsprojekt lange Zeit weitgehend aus-
geblendet oder zumindest unterschätzt. Die trügerische Annahme der dominanten
neofunktionalistischen Integrationstheorie, mit den Wohlfahrtsgewinnen sei ein sog.
„permissiver Konsens“ (Lindberg und Scheingold 1970), also eine Art wohlwollende
Gleichgültigkeit, als Begleitumstand fraglos gegeben und ausreichend für eine fort-
schreitende Vertiefung der Integration, hat sich als allzu notdürftige Behelfsannah-
me erwiesen (vgl. Risse 2010: 4). Erst in jüngerer Zeit sind erhebliche Zweifel daran
in ein erweitertes Angebot wissenschaftlicher Deutungen und theoretischer Angebo-
te aufgenommen worden (Hooghe und Marks 2008; Schünemann 2014).
Historisch betrachtet erlangt das Phänomen demokratischen Widerstands mit
der qualitativen Transformation der Gemeinschaft zur EU schon Anfang der
1990er Jahre an Brisanz und Deutlichkeit. Im Ratifizierungsprozess des Vertrags
von Maastricht zeigt sich zum ersten Mal die verstörende Wirkung demokratischer
Opposition auf das Projekt Europa, welche sich fortan zu einer regelmäßigen, für
die EU zunehmend großen Schwierigkeit ausgewachsen hat.
2 Gilbert (2008a) und Kaiser (2006) weisen die teleologische Voreingenommenheit der
EU-Historiographie in verschiedenen Arbeiten nach.
2.2 Andere Zeiten, andere Referenden 7
3 Hier ist die europapolitische Stoßrichtung gemeint. Die nationale Regierung/die ini-
tiierenden Gruppen machen das Vertrauen/Misstrauen in die Europapolitik/die EU,
gleichsam offensiv und ohne einen Anlass, wie etwa eine Vertragsreform, zum Gegen-
stand einer Volksabstimmung. Innenpolitisch kann dieses Vorgehen durchaus defensiv
sein (Oppermann 2013b).
2.2 Andere Zeiten, andere Referenden 9
kommt, erwiesen sich fortan immer wieder als retardierendes Moment des Integ-
rationsgeschehens. Der beschriebene Wandel lässt sich schon anhand der Statistik
europapolitischer Volksabstimmungen illustrieren. Wie Tabelle 1 zeigt, hat es in
der Geschichte der europäischen Integration von 1972 (Jahr der ersten Volksab-
stimmung) bis zum Brexit-Referendum 2016 insgesamt 53 Referenden gegeben.4
Nur neun davon fallen in die Zeit vor der Unterzeichnung des Maastricht-Vertrags.
Ungeachtet der Phaseneinteilung sollten die Typen der europapolitischen Refe-
renden differenziert werden: Ganz grundlegend kann mit Wagschal (2007a: 50–
51) zwischen Outsider-Referenden, also Abstimmungen in Staaten, die zum Zeit-
punkt des Votums noch nicht Teil der Gemeinschaft sind, und Insider-Referenden,
Abstimmungen in einem Mitgliedstaat, unterschieden werden. Outsider-Referen-
den umfassen im Wesentlichen alle Beitrittsreferenden.5 In diesem Buch werden
Outsider-Referenden weitgehend ausgeblendet. Die hier vorrangig behandelten
Vertragsreferenden, mit denen Nationalstaaten regelmäßig ihre Ratifikationen
von gemeinschaftlichen Vertragsreformen vorgenommen haben, sind der typische
Fall von Insider-Referenden. Daneben gibt es Sach- oder Einzelentscheidungen
von Insidern wie Outsidern, bei denen es um einen Aspekt eines Reformpakets
oder die Übernahme eines Regimes durch einen Drittstaat gehen kann, etwa die
Euro-Einführung, die EU-Sparpolitik, der Beitritt zum Schengen-Raum o.ä. Auch
die Ratifizierung eines Beitrittsvertrags mit einem anderen Kandidatenstaat kann
zu diesem Typ gezählt werden. Eine besondere Form des Insider-Referendums
ist das Austrittsreferendum. Schauen wir auf die Zahlen, so stehen insgesamt 27
Outsider-Referenden (vier vor Maastricht) 26 Insider-Referenden (fünf vor Maas-
tricht) gegenüber. Eine ähnlich gelagerte Differenzierung mit überlappenden Zu-
ordnungen unterscheidet entlang der Dimensionen von Integration (Erweiterung:
26 Abstimmungen und Vertiefung: 23 Abstimmungen).
17 Voten fanden im Rahmen von Vertragsratifizierungsverfahren statt, gehören
also zu dem für dieses Buch besonders wichtigen Typ der Vertragsreferenden (da-
von nur zwei vor Maastricht). 15 Referenden insgesamt sind aus europapolitischer
Sicht gescheitert, also mit dem für die EU-Integration (Vertiefung oder Erwei-
4 Nicht mitgezählt wird das grönländische Referendum von 1985, welches lediglich die
Eigenständigkeit Grönlands zum Gegenstand hatte und nur in diesem Teil des däni-
schen Verwaltungsgebiets durchgeführt wurde.
5 Dieser Typ hat seit den 1990er Jahren erheblich zugenommen. Hornig und Kranenpohl
(2014: 9) bezeichnen diese Zeit auch als Gezeitenwende im Hinblick auf die Referen-
dumspraxis in Europa. Gerade die Abstimmungen aus dem EU-Kontext hätten dabei
eine Rolle gespielt. In der Tat hat „[d]er Integrationsprozess [] einer Reihe von Län-
dern in West- und Osteuropa zu ihren direktdemokratischen Premieren auf nationaler
Ebene verholfen“ (ebd.).
10 2 Referenden und Europa
terung) negativen Ergebnis ausgefallen, davon nur eine einzige Abstimmung vor
Maastricht, alle weiteren im Verfahren der Ratifizierung für den Maastricht-Ver-
trag oder danach.
Wie die Statistik zeigt, hat die Anzahl an Volksabstimmungen nach dem Maas-
tricht-Vertrag deutlich zugenommen (s. auch Hobolt 2009: 6–7; Oppermann 2015:
277). Dieser Befund bleibt natürlich etwas oberflächlich, denn die Rechnung wird
durch das Anwachsen der EU im Zuge der großen Osterweiterung verzerrt. Da
die beigetretenen Länder weit überwiegend zum Instrument des Referendums
griffen, um diesen Schritt konstitutionellen Ausmaßes zu legitimieren und den
jeweiligen Ratifikationsprozess abzuschließen, ist ein größerer Teil der gezählten
Volksabstimmungen eben genau darauf zurückzuführen, ohne dass damit auf die
Bedeutung direktdemokratischer Verfahren allgemein oder für die EU-Entwick-
lung im Besonderen zu schließen wäre. Umso wichtiger ist die Differenzierung
nach Referendumstypen: Schaut man auf den Typ der Insider- und insbesonde-
re Vertragsreferenden, dann wird deutlich, dass nicht die Jahrtausendwende, die
Reform von Nizza oder der Verfassungsprozess den Wendepunkt zu einem ge-
steigerten Bedarf und entsprechender Bedeutung direktdemokratischer Verfahren
für den europäischen Einigungsprozess ausgemacht haben, sondern tatsächlich die
Maastricht-Reform und die qualitative Transformation der EU. Insbesondere die
Vertragsreferenden seit 1992 haben das problematische Verhältnis von Volksab-
stimmungen und EU-Integration zum Ausdruck gebracht.
Konstitutive Findungsreferenden
1972 Frankreich EG-Erweiterung
1972 Irland (outsider) EG-Beitritt
1972 Norwegen (outsider) EG-Beitritt (gescheitert)
1972 Dänemark (outsider) EG-Beitritt
1972 Schweiz (outsider) EG-EFTA-Abkommen
1975 Großbritannien EG-Beitritt
1986 Dänemark Einheitliche Europäische Akte
1987 Irland Einheitliche Europäische Akte
1989 Italien Mandat für das EP für Verfassungsentwurf
Defensive Blockadereferenden
1992 Dänemark Maastricht-Vertrag (gescheitert)
1992 Irland Maastricht-Vertrag
1992 Frankreich Maastricht-Vertrag
1992 Schweiz (outsider) EWR-Beitritt (gescheitert)
2.2 Andere Zeiten, andere Referenden 11
Offensive Misstrauensreferenden
2014 Schweiz (outsider) Aufhebung des Abkommens zur Personenfrei-
zügigkeit
2015 Griechenland Europäische Sparpolitik (gescheitert)
2015 Dänemark Aufhebung des Opt-Outs zur Justiz- und
Polizeizusammenarbeit (gescheitert)
2016 Niederlande Assoziationsabkommen mit Ukraine (gescheitert)
2016 Großbritannien EU-Mitgliedschaft (gescheitert)
Was nun verleiht diesem Typ das große Verstörungspotential? Das hängt mit den
Regelungen für konstitutionelle Reformen der EU zusammen. Die Mitgliedstaa-
ten sind ‚Herren der Verträge‘ und müssen jeder Vertragsänderung im Konsens
zustimmen, was die Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat überneh-
men. Diese Entscheidung muss dann aber in allen Mitgliedstaaten auch je ein-
zeln nach den verfassungsmäßigen Bestimmungen des Mitgliedslands ratifiziert
werden. Das kann in vielen Fällen eine parlamentarische Entscheidung bedeuten,
manchmal aber eben auch per Volksabstimmung geschehen. EU-Vertragsreferen-
den berühren also die gemeinschaftliche Systemgestaltung in der Weise, dass ein
abschlägiges Referendum in einem Einzelstaat den gesamten Reformprozess zum
vorübergehenden Stillstand oder gar zum Scheitern bringen kann.
Beitrittsreferenden als zweiter Typ unterscheiden sich offensichtlich in ihrer
Wirkung. Wenngleich es von europapolitischen wie nationalen Akteuren außer-
ordentlich bedauert werden kann, wenn ein langwieriger Reform- und Annähe-
rungsprozess eines Beitrittskandidaten nicht in die auf beiden Seiten erhoffte Auf-
nahme mündet, hat das zunächst keine Auswirkungen auf die EU-Integration oder
Funktionsweise der Union. Der Beitrittskandidat muss seine Ambitionen zumin-
dest für eine gewisse Zeit zurückstellen, aber die Europäische Union ist dadurch
nicht in ihrem Kern erschüttert, kann ihre politischen Routinen weiter verfolgen.
Sach- oder Einzelentscheidungen sind hinsichtlich ihrer Wirkung wieder anders
zu bewerten. Sie können ähnlich irritierende und retardierende Folgen haben wie
ein Vertragsreferendum. Da hier aber per definitionem nur ein Einzelaspekt aus in
der Regel umfangreicheren Reformpaketen zur Abstimmung steht, sind solche Re-
ferenden im Falle des Scheiterns besonders geeignet, um mit der Gewährung von
Opt-outs kompensiert zu werden, so dass der gesamte Integrationsprozess deshalb
ebenfalls nicht ins Stocken geraten muss.
2.2 Andere Zeiten, andere Referenden 13
14 2 Referenden und Europa
Zuletzt muss noch der jüngst an Aufmerksamkeit gewonnene Typus des Austritts-
referendums erwähnt werden. Dieser bislang seltene Fall steigert das Irritations-
potential gegenüber den Vertragsreferenden noch einmal. Es radikalisiert die zer-
störerische Wirkung anderer Insider-Referenden, indem der Insider beschließen
kann, nicht allein die Systemgestaltung für sich oder für die gesamte EU aufzuhal-
ten, sondern sich selbst aus dem System zu nehmen, also zum Outsider zu werden.
Ein solches Referendum hat es auf nationaler Ebene bislang zweimal in Groß-
britannien gegeben, nämlich 1975, also kurz nach dem EWG-Beitritt des Landes,
2.2 Andere Zeiten, andere Referenden 15
sowie 2016. Die zeitliche Nähe des ersten In-/Out-Referendums zur Aufnahme in
die Gemeinschaft rückt die frühere Abstimmung näher an ein Beitrittsreferen-
dum, sozusagen nach einer Probezeit. Es hat damit nicht die gleiche Dramatik wie
das jüngste sog. Brexit-Referendum, das nach jetzigem Stand der Ereignisse den
Austritt eines großen und bedeutenden Mitgliedstaats nach über 40 Jahren nach
sich ziehen wird. In den folgenden Abschnitten werden die einzelnen Integrations-
schritte und die zugehörigen Referenden kurz chronologisch aufgelistet. Vorab
stellt der Zeitstrahl in Abbildung 2 die Insider-Referenden seit dem Maastricht-
Vertrag in Beziehung zu den Großereignissen der Integrationsentwicklung dar.
Maastricht markierte also den Anfang einer neuen Problematik mit europapoliti-
schen Referenden, die sich bis heute fortgesetzt hat. Der Vertrag von Maastricht
war gewiss eine sehr umfassende Vertragsreform, bildete zugleich Neugründungs-
dokument und kodifizierte wegweisende Entscheidungen. Die Europäische Union
wurde mit ihm erst aus der Taufe gehoben, indem die supranationalen Felder der
Binnenmarktpolitik um intergouvernementale Bestimmungen in den souveräni-
tätsgeladenen Feldern der Innen- und Justizpolitik sowie der Außen- und Sicher-
heitspolitik ergänzt und unter ein gemeinsames institutionelles Dach gesetzt wur-
den: die Europäische Union (Schmidt und Schünemann 2013: 350–357). Hinzu
kam noch, dass der Vorstoß zu einer gemeinsamen Währung nun in verbrieftes
Europarecht umgesetzt und eine konkrete Stufenleiter und Fristenfolge für den
Übergang zum Euro festgeschrieben wurde. Angesichts der großen Fülle des Re-
formgehalts war zumindest in zwei Staaten eine Referendumsentscheidung über
die Ratifizierung unumgänglich, nämlich in Dänemark und in Irland.
Die Iren stimmten im Juni 1992 mit großer Mehrheit (68,7 Prozent) für die
Ratifizierung des Maastricht-Vertrags. Die Dänen votierten allerdings mit einer
knappen Mehrheit (50,3 Prozent) dagegen. Damit stürzten sie die Europapolitik
in eine Krise, der mit Zugeständnissen an die dänische Seite im Sinne einer dif-
ferenzierten Integration und in Form von Opt-outs begegnet werden musste. Zum
einen wurde, wie wir es von späteren Fällen kennen, die konstitutionelle Symbolik
und Rhetorik etwas reduziert, außerdem das bereits im Vertragswerk enthaltene
Subsidiaritätsprinzip betont und in gewisser Weise ausbuchstabiert. Zudem erhielt
Dänemark spezifische Zugeständnisse sowohl hinsichtlich der Gemeinschafts-
16 2 Referenden und Europa
währung6 als auch die Innen- und Justizpolitik betreffend sowie schließlich mit
Blick auf eine sukzessive zu entwickelnde gemeinsame Verteidigungspolitik. Auf
Basis dieser erweiterten Verhandlungsgrundlage wurde im Mai 1993 ein zweites
Referendum abgehalten, das mit einer deutlichen Mehrheit von 56,8 Prozent für
die Ratifizierung ausging (vgl. Nugent 2010: 56).
In der Zwischenzeit hatte auch die französische Führung unter Präsident Mit-
terrand die Bevölkerung zur Abstimmung über die Ratifizierung aufgerufen. Der
Wahlkampf verlief nicht so einfach und klar im Sinne der Befürworter, wie ange-
sichts hoher Zustimmungswerte in frühen Umfragen erhofft – ein typisches Risiko
von durch die Regierung ausgelösten Volksabstimmungen. Im September 1992
sprach sich lediglich eine knappe Mehrheit von 51,05 Prozent für die Vertrags-
reform aus. Nach erfolgreicher Ratifizierung aller direktdemokratisch befassten
Länder sowie Deutschlands – in Deutschland hatte das Bundesverfassungsgericht
in seinem berühmten Maastricht-Urteil (BVerfG 89, 155) über die Zulässigkeit der
Ratifizierung zu urteilen – trat der Vertrag 1993 in Kraft.
6 Dänemark erhielt die Möglichkeit der dritten Stufe der Währungsunion auf eigenen
Wunsch fernzubleiben, vgl. Protokoll über einige Bestimmungen betreffend Däne-
mark.
2.2 Andere Zeiten, andere Referenden 17
wurden. In beiden Fällen wurde die Ratifizierung im Mai 1998 mit komfortablen
Mehrheiten (55,1 bzw. 61,7) angenommen. Am 1. Mai 1999 konnte der Vertrag
nach einem weitgehend unproblematischen Ratifizierungsprozess in Kraft treten.
Als der Amsterdamer Vertrag in Kraft trat, waren bereits elf Staaten auf die drit-
te Stufe der WWU übergegangen und hatten den Euro Anfang desselben Jahres
als Buchgeld eingeführt. Und doch war auch die Übernahme der Gemeinschafts-
währung in zwei Staaten an mitgliedstaatliche Referenden geknüpft. Beide Ab-
stimmungen scheiterten, und die Länder blieben in der Folge bei ihren nationalen
Währungen. Die Dänen votierten schon im September 2000 gegen den Euro. 53,2
Prozent der Wähler stimmten mit Nein. Die Schweden taten es ihnen drei Jahre
später gleich. Hier waren es 55,9 Prozent der Wähler, die sich gegen die Gemein-
schaftswährung aussprachen. Aufgrund des ohnehin existenten Stufenplans der
Währungsunion führten die Voten nicht zu einer existentiellen Krise der Gemein-
schaft, denn die flexible Integration einschließlich Opt-out-Möglichkeiten (s. das
Vereinigte Königreich) waren in dieser Sachfrage ohnehin angelegt.
Die Vertragsrevision von Amsterdam hatte die institutionellen Reformen zur Vor-
bereitung einer geplanten Erweiterung gen Mittel- und Osteuropa nicht vorgenom-
men, sondern vertagt. Dieses Versäumnis wurde allenthalben beklagt. Die Euro-
päische Union war, so die entsprechende Überzeugung, mit Amsterdam noch nicht
erweiterungsfähig. Die Forderungen nach einer schnellen Verständigung über die
ausstehenden Reformen wurden nach Unterzeichnung des Amsterdamer Vertrags
immer lauter, zumal sich zum Teil noch vor dessen Inkrafttreten Entwicklungen
im Rahmen der ESVP sowie hinsichtlich der bevorstehenden Erweiterungsrunde
ergaben, die eine neuerliche Revision der Verträge notwendig erscheinen ließen.
Am 14. Februar 2000 wurde also eine neue Regierungskonferenz eröffnet. Bis
zuletzt waren die Ergebnisse ungewiss. Erst eine Marathonsitzung in Nizza brach-
te die Einigung, die am 11. Dezember verkündet wurde. Der Vertrag von Nizza
konnte in überarbeiteter Fassung am 26. Februar 2001 unterzeichnet werden. Die
Vertragsrevision von Nizza war die erste in der Vertragsgeschichte, die nahezu
ausschließlich institutionelle Änderungen umfasste. Auch sie wurden aber von vie-
len Beteiligten sowie Beobachtern nicht als ausreichend wahrgenommen, um die
18 2 Referenden und Europa
Der Verfassungsprozess der 2000er Jahre sah eine bis dahin ungesehene Ver-
tiefung der Integration vor. Der Vertrag erregte die öffentliche Aufmerksamkeit
wie vermutlich kein Reformvertrag zuvor. Seitdem nach dem Ende der Blockkon-
frontation in den 1990er Jahren die Vorbereitungen für eine große Osterweiterung
begonnen hatten, war die europapolitische Diskussion vom übergeordneten Ziel
geprägt, die institutionellen Strukturen der Gemeinschaft an die bevorstehende
Expansion anzupassen. Die Vertragsreformen von Amsterdam und Nizza, so die
vorherrschende Meinung, hatten die Anpassungsziele deutlich verfehlt. Gerade der
Nizza-Vertrag hatte die Erwartungen in dieser Hinsicht sehr enttäuscht, zumal die
schwierigen Regierungsverhandlungen auch den Ruf nach Neuerungen im Modus
der Systemgestaltung hervorgebracht hatten. Das Vertragswerk selbst schien durch
die Reformen nur noch komplizierter, intransparenter geworden zu sein, die Ver-
handlungen waren nach wie vor durch ihre große Bürgerferne gekennzeichnet,
und die Ergebnisse trugen nur in Trippelschritten zur Steigerung von Effizienz
und Legitimität7 der Entscheidungsprozesse auf europäischer Ebene bei. Je weiter
sich die Gemeinschaftskompetenzen jedoch in den Lebensbereich der Bürger aus-
dehnten, desto drängender wurden in den Augen vieler Beobachter der Abbau des
Demokratiedefizits und die Herstellung einer europäischen Öffentlichkeit.
7 Dieser Dreiklang von Reformzielen fand sich in der Erklärung von Laeken, mit der der
neue Reformprozess angestoßen wurde: „Die Union muss demokratischer, effizienter
und transparenter werden“ (Europäischer Rat 2001: 21).
2.2 Andere Zeiten, andere Referenden 19
Der Ausbruch der Eurokrise wenige Monate nach Inkrafttreten des Lissabon-
ner Vertrags und die notwendige Krisenbewältigung führten die EU-Politik al-
lerdings rasch an die Grenzen des Möglichen im Rahmen des bestehenden Ver-
tragswerks. Dass der sog. Fiskalvertrag, der die teilnehmenden Staaten zu noch
schärferer Haushaltsdisziplin verpflichtet und insbesondere die Festschreibung
einer Schuldenbremse im nationalen Recht verlangt, im März 2012 als ein Do-
kument außerhalb des EU-Rechts vereinbart und unterzeichnet wurde, hatte auch
mit dieser Vermeidungsstrategie zu tun. Denn nach der Einführung des sog. „refe-
rendum lock“ durch den britischen Premierminister Cameron (s. Abschnitt 5.8.1)
hätte es einer aussichtslosen Ratifizierung mittels Referendum in Großbritannien
bedurft. So wurde der Vertrag jenseits des EU-Rechts von nur 25 EU-Mitglied-
staaten unterzeichnet, und zwei Staaten konnten ausscheren, denn auch Tschechien
hatte Bedenken vorgebracht. Ein Referendum gab es dennoch, nämlich in Irland.
Die irische Bevölkerung stimmte am 31. Mai 2012 mit einer Mehrheit von 60,3
Prozent für die Ratifizierung.
Ein weiteres Referendum, das mit der Eurokrisenpolitik in Verbindung stand,
fand Anfang Juli 2015 in Griechenland, also dem vorrangigen Schuldnerstaat der
finanzpolitischen Krisenkonstellation schlechthin, statt. Seit Jahren war die grie-
chische Haushaltspolitik durch die Gläubiger in Form der so genannten Troika,
später der Institutionen (Europäische Kommission, Europäische Zentralbank und
IWF) beaufsichtigt worden. Die für Hilfszahlungen umzusetzenden Bedingungen
bedeuteten tiefe Einschnitte für die griechischen Bürger und die verordneten Maß-
nahmen der Krisenbewältigung sind bis heute unpopulär. Vor diesem Hintergrund
gelang es der linkssozialistischen SYRIZA-Partei unter Alexis Tsipras im Janu-
ar 2015 die Parlamentswahl zu gewinnen und in eine Koalitionsregierung unter
ihrer Führung zu gehen. Fortan wurden die Verhandlungen mit den Gläubigern
zunehmend verhärtet. Ende Juni, kurz vor Fälligkeit weiterer Hilfsgelder, konnten
die griechische Regierung und die Gläubiger sich nicht auf ein Reformpaket ver-
ständigen. Die Regierung lehnte den ultimativen Vorschlag der Institutionen ab,
kündigte ein Referendum über diesen Vorschlag an und plädierte für ein Nein in
der Abstimmung. Für die Vorbereitung des Referendums war nur eine Woche Zeit,
was klar gegen die Richtlinien der Venedig-Kommission (s. Abschnitt 4.4) ver-
stieß und vom Europarat getadelt wurde. Am 5. Juli 2015 votierte eine deutliche
Mehrheit von 61,3 Prozent der Stimmen gegen die weiteren Sparmaßnahmen.11
Ungeachtet dessen, welche Position man zu Referenden allgemein oder diesem
11 Zahlen und weitere Informationen stammen von der offiziellen Seite zum Referen-
dum, die auch auf Englisch verfügbar ist, URL: http://www.referendum2015gov.gr/en/
news/ (9.7.2016).
2.2 Andere Zeiten, andere Referenden 23
im Besonderen haben mag, so fällt in der Folge der Abstimmung doch auf, dass
die getroffene Entscheidung nicht umgesetzt wurde. Zu groß waren die seitens
der EU forcierten ökonomischen Sparzwänge. Unmittelbar nach dem Referendum
ereignete sich eine Regierungskrise in Griechenland. Der umstrittene Finanzmi-
nister Varoufakis erklärte wenige Tage nach der Abstimmung seinen Rücktritt.
Die griechische Regierung reichte einen Vorschlag bei den Gläubigern ein, der
weitgehend dem entsprach, was die Bevölkerung wenige Tage zuvor abgelehnt hat-
te. Das griechische Referendum über die Eurokrisenpolitik ist damit in zweierlei
Hinsicht von großem Interesse: Erstens entspricht es in seiner Stoßrichtung und
Programmatik diesem neuen Typ des europapolitischen Referendums, den ich als
offensives Misstrauensreferendum bezeichne. Zweitens handelt es sich hier auch
im Hinblick auf Referenden allgemein um einen Sonderfall, denn es hatte nicht
nur de jure, sondern auch de facto keine Bindungskraft. Die politischen Akteure
setzten sich, gefangen in den Zwängen von Mehrebenensystem und Verschuldung,
über das Votum der Mehrheit hinweg.
Nur wenige Monate später kam es in Dänemark zu einer weiteren Sachabstim-
mung. Gegenstand war die Aufgabe des historisch erreichten Opt-outs – also ein
faktisches Opt-in – im Bereich der Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit.
Die Abstimmung, die vor dem Hintergrund der verschärften Flüchtlingsproblema-
tik in Europa am 3. Dezember 2015 stattfand, ging bei einer hohen Wahlbeteili-
gung von 72 Prozent mit einer Mehrheit von 53,1 Prozent gegen eine Aufgabe der
Sonderrechte aus.
Anfang April 2016 hielten die Niederlande ihr zweites nationales Referendum
überhaupt und ihre erste bürgerinitiierte Volksabstimmung ab (zum neuen Verfah-
ren s. Abschnitt 5.5.1). Gegenstand war die Ratifizierung des Assoziationsabkom-
mens zwischen der EU und der Ukraine. Damit war nicht nur ein europapolitischer
Gegenstand ausgewählt, nach der verbreiteten Überzeugung vieler Beobachter so-
wie nach den expliziten Wahlkampfsprüchen der Ratifizierungsgegner handelte es
sich hierbei gar um eine Stellvertreterabstimmung, die das öffentliche Misstrauen
gegenüber der EU-Integration insgesamt aussprechen sollte. Rund 61 Prozent der
Wähler sprachen sich gegen die Ratifizierung aus. Wie die durch das Referendum
entstandene Situation bewältigt wird, ist noch nicht entschieden. Im Juni 2016 be-
zeichnete der niederländische Premierminister das Resultat der Volksabstimmung
als „desaströs“ und stellte in Aussicht, dass die Niederlande eine Ausnahme vom
Abkommen erwirken könnten (NRC Handelsblad 2016).
Das jüngste Referendum schließlich hat schon jetzt gravierende innenpolitische
Auswirkungen und wird auch schwerwiegende Folgen für die Europapolitik ha-
ben. Nachdem der britische Premierminister David Cameron bereits im Frühjahr
2013 eine nationale Volksabstimmung über die Zukunft des Vereinigten König-
24 2 Referenden und Europa
reichs in einer reformierten EU angekündigt hatte (Cameron 2013), ist die Fra-
ge über Austritt oder Verbleib nach einer langen Phase der sogenannten „Rene-
gotiation“ am 23. Juni 2016 den britischen Bürgern tatsächlich zur Abstimmung
vorgelegt worden. Eine knappe Mehrheit von 51,8 Prozent sprach sich für einen
Austritt des Königreichs aus der EU aus. Damit bildet das vorerst letzte Referen-
dum unzweifelhaft den dramatischen Höhepunkt der letzten Phase der offensiven
Misstrauensreferenden sowie einen Tiefpunkt in der europäischen Integrations-
geschichte insgesamt. Folgenschwerer hätte das traditionell schwierige Verhältnis
zwischen Referenden und der EU kaum aktualisiert werden können.
Dieses Kapitel hat einen Überblick über die lange Reihe europapolitischer Re-
ferenden gegeben und wichtige Differenzierungen vorgenommen. So besteht ein
wesentlicher Unterschied darin, ob ein noch außenstehender Staat ein Referendum
über einen Beitritt oder die Übernahme eines Regimes vornimmt oder ob ein Mit-
gliedstaat per Referendum über eine Vertragsratifizierung, die Ablehnung einer
einzelnen Maßnahme oder gar den Austritt zu entscheiden hat. Outsider-Referen-
den sind also von Insider-Referenden zu unterscheiden, bei näherem Blick außer-
dem Beitrittsreferenden von Vertragsreferenden und Sachabstimmungen.
Die vorgenommene Phaseneinteilung bezieht sich überwiegend auf die letztge-
nannten Abstimmungstypen. Ihre Zahl hat seit der Maastricht-Reform und der da-
mit verbundenen qualitativen Transformation der Union stark zugenommen. Zu-
dem wurden in europapolitischer Hinsicht negative Ergebnisse häufiger. Nationale
Referenden wurden seither durch Bevölkerungsteile und politische Gruppierungen
regelmäßig und wirksam dazu genutzt, souveränistische Opposition gegen die Ge-
meinschaftskonstruktion zum Ausdruck zu bringen. Waren die frühen konstitu-
tiven Findungsreferenden allenfalls von Fall zu Fall störend, hatten viele Volks-
abstimmungen in der zweiten Phase defensiver Blockadereferenden verstörende
Wirkung auf die Europapolitik. Wesentliche Reformen wurden aufgehalten, ein-
zelne Staaten mussten durch Zugeständnisse und Opt-outs besänftigt werden, so
dass wiederholte Referenden gefälligere Ergebnisse produzieren konnten. Schließ-
lich musste im Verfassungsprozess ein symbolisch aufgeladenes Großprojekt der
Systemgestaltung gänzlich aufgegeben werden.
Nach der Annahme des Lissabon- und im Kontext des Fiskalvertrags verfolgten
die europapolitischen Eliten eine betont zurückhaltende Strategie in der System-
gestaltung. Referenden hatten so verstörend gewirkt, dass sie nach Möglichkeit
2.3 Zwischenfazit 25
vielfach auf Reflexionen und Einschätzungen über das Wissen und die Vernunft
der Wahlberechtigten auf (vgl. Lupia und Matsusaka 2004: 467). Als handlungs-
leitende Disposition des Individuums ist dessen politisches Wissen, dessen auf-
geklärte Informiertheit, dessen Fähigkeit zur vernünftigen Entscheidung Kernbe-
standteil jeder politischen Anthropologie. Sie entscheidet letzten Endes darüber,
welches Beteiligungsniveau dem Einzelnen im politischen Prozess zugetraut oder
– wie es diesbezüglich raffinierter argumentierende Theoretiker einer liberal-re-
präsentativen Demokratie formulieren würden – zugemutet werden kann. Verein-
fachend lässt sich sagen, dass einander an den Polen eines normativen Konflikts
um die Sinnhaftigkeit direktdemokratischer Verfahren zwei Lager weitgehend un-
versöhnlich gegenüber stehen: auf der einen Seite die Anhänger einer elitistischen
oder minimalistischen, in jedem Fall liberal-repräsentativen Demokratievorstel-
lung und auf der anderen Seite enthusiastische Befürworter eines partizipatori-
schen Modells, ausgedrückt in einer gleichsam gelebten Volkssouveränität, einer
tatsächlichen Selbstregierung des Souveräns oder zumindest einer Starken Demo-
kratie (Barber 1994) mit am politischen Prozess beteiligten, aufgeklärten Bürgern
(„participationist“/„direct-democracy school“ vs. „representationist“/„accountable
elites school“, Butler und Ranney 1994b: 12–13, s. auch Luthardt 1994: 15). Die
Anhänger einer möglichst umfänglichen Bürgerpartizipation, von Rousseau und
Mill bis hin zu Pateman und Barber, tendieren dazu, die Selbstregierung des Volks
in die Tat umzusetzen und die existierenden Strukturen politischer Repräsentation,
stark zu beschneiden.12 Ebendiese Selbstregierung ist den Verfechtern einer skep-
tischen politischen Anthropologie und einer realistischen oder minimalistischen
Theorie der Demokratie, die von Madison bis zu Schumpeter und Sartori reicht,
eine gefährliche Illusion. Die direkte politische Partizipation des Einzelnen ist aus
dieser Perspektive äußerst riskant und daher auf den gelegentlichen Wahlakt zu re-
duzieren, wobei die eigentliche politische Entscheidungsarbeit den gewählten Re-
präsentanten, den Eliten und Experten im Sinne aller Beteiligten zu überlassen sei.
12 Bei keinem anderen Vertreter des politischen Denkens wird dieser Gedanke so deut-
lich wie bei Rousseau selbst, dem „theorist par excellence of participation“ (Pateman
1970: 22). Das Volk, der Souverän kann ihm zufolge zumindest in seiner legislati-
ven Funktion nicht repräsentiert werden: „Je dis donc que la souveraineté n’étant que
l’exercice de la volonté générale ne peut jamais s’aliéner, et que le souverain, qui n’est
qu’un être collectif, ne peut être représenté que par lui-même“ (Rousseau 1993: 190).
Was die exekutive Gewalt betrifft, so kann und muss das Volk auch Rousseau zufolge
durchaus repräsentiert werden: „il est clair que dans la puissance Législative le Peuple
ne peut être réprésenté; mais il peut et doit l’être dans la puissance exécutive, qui n’est
que la force appliquée à la Loi“ (ebd.: 252).
3 Theorie der direkten Demokratie 29
14 Vor ihm sprach schon Carl Schmitt (1958: 319) mit Blick auf die Weimarer Verfassung
von der „Doppeltheit von zwei verschiedenartigen Rechtfertigungssystemen, dem par-
lamentarisch-gesetzgebungsstaatlichen Legalitätssystem und der plebiszitär-demokra-
tischen Legitimität“.
3 Theorie der direkten Demokratie 31
präsentativdemokratie sei nicht nur „a sorry substitute for the real thing“ (Dahl
1982: 13). „Direkte Demokratie und repräsentative Demokratie“, so Kielmansegg
(2013: 108), „stehen nicht im Verhältnis des Mehr und Weniger zueinander, re-
präsentative Demokratie ist keine Minderform der direkten Demokratie“. Dieser
Einwand ist in jedem Fall zutreffend, wenn man die Entwicklung moderner De-
mokratien betrachtet. Diese haben sich nicht evolutionär aus den unmittelbaren
Demokratien der griechischen Antike herausgebildet, und deren Unmittelbarkeit
drückte sich nicht im Abhalten von Referenden im heutigen Sinne aus. Die moder-
ne Demokratie ist als Repräsentativsystem entstanden und hat ihren historischen
Ursprung im Ständewesen (Brunner 2001: 215; Fraenkel 1958: 6). Die direktde-
mokratischen Verfahren, die ihr seit Einführung des allgemeinen Wahlrechts in
vielen Gesellschaften beigemengt worden sind, sind allesamt jüngere Erfindun-
gen, die die Entscheidungsfindung in bestimmten Sachfragen näher an ein – damit
politisch partiell anerkanntes – Ideal der Selbstgesetzgebung heranführen sollen
(Loewenstein 1969 [1957]: 267–268). Dieses Ideal aber gehört genuin nicht zum
repräsentativen, sondern zum plebiszitären Regierungssystem, wie sie Ernst Fra-
enkel unterschied (Fraenkel 1958: 7). Damit stehen die beiden Systeme nicht in
einem prinzipiellen Widerspruch (Dreier und Wittreck 2010: 13).
Ein weiteres verbreitetes Argument bezieht sich auf die praktischen Zwänge
einer modernen Massendemokratie. Demnach mag die Versammlung aller Bürger
zur Beratung und Abstimmung politischer Sachfragen „für eine verhältnismäßig
unkomplizierte Gesellschaftsordnung auf einem kleinen Staatsgebiet“ (Loewens-
tein 1969 [1957]: 74) wie den Stadtstaat in der griechischen Antike, als typisches
Vorbild für die Selbstregierung des Volkes oder die „unmittelbare Demokratie“
(ebd.), noch möglich gewesen sein, sie scheint aber in den heutigen Staaten mit
Millionen von Einwohnern schlicht nicht mehr umsetzbar (Dahl 1982: 13).15 Die-
ses pragmatische Argument der Repräsentationsbefürworter hat angesichts der
rasanten Entwicklung moderner Kommunikationsmedien gerade in den vergan-
genen beiden Jahrzehnten an Plausibilität eingebüßt (vgl. Barber 1994, 247ff.; Se-
tälä 1999: 2; Qvortrup 2002). Insbesondere das Internet als Massenphänomen seit
Mitte der 1990er Jahre und das Aufkommen des ‚Mitmach-Netzes‘ (Web 2.0) und
der sozialen Netzwerke Mitte der 2000er Jahre sind durch teils euphorische Vi-
sionen direkter Demokratieformen in großem Maßstab begleitet worden (im Sinne
der „Cyberdemocracy“, Kneuer 2013a: 17).16 Regelmäßig wurde dabei sogar der
aus kulturkritischem Trotz und Belegen aus der empirischen Forschung daherkommen
(Hindman 2009; Kneuer 2013a, 2013b).
3.1 Über die Unwissenheit der Massen 33
So fällt der typische Bürger auf eine tiefere Stufe der gedanklichen Leistung, sobald
er das politische Gebiet betritt. Er argumentiert und analysiert auf eine Art und Wei-
se, die er innerhalb der Sphäre seiner wirklichen Interessen bereitwillig als infantil
anerkennen würde. Er wird wieder zum Primitiven. Sein Denken wird assoziativ und
affektmäßig“ (ebd. 414–417).
17 Bei näherer Betrachtung fällt auf, dass sich Schumpeter im Grunde nahezu ausschließ-
lich an der Rousseauschen Vorstellung einer volonté générale abarbeitet und keines-
wegs wie behauptet die gesamte Lehre der Demokratie im 18. Jh. beleuchtet (vgl.
Schmidt 2010: 185).
18 „les démocraties représentatives contemporaines s’étant précisément construites à
partir du postulat de l’incapacité de l’électorat à se prononcer sur des questions de
politiques publiques“ (Sauger et al. 2007: 37; Aarts und Van der Kolk 2005: 159).
34 3 Theorie der direkten Demokratie
Zu den aus seiner Theorie abgeleiteten Sätzen für Wahlen allgemein, die er im
abschließenden Kapitel seiner theoretischen Schrift auflistet und die von vielen
empirischen Sozialwissenschaftlern auch auf dem Feld der Referendumsforschung
regelmäßig als theoretische Ausgangspunkte für ihre Analysen gewählt werden,
zählen die folgenden Annahmen:
„Satz 11. Viele Bürger, die sich an Wahlen beteiligen und dies für wichtig halten,
sind dennoch über die Streitfragen, um die es bei der Wahl geht, nicht gut infor-
miert. […]
Satz 12. Weil fast jedem Bürger klar ist, daß seine Stimme bei der Wahl nicht ent-
scheidend ist, besteht für die meisten Bürger nur ein sehr geringer Anreiz, vor der
Wahl Informationen zu erwerben. […]
Satz 13. Ein großer Prozentsatz der Bürger – einschließlich der Wähler – informiert
sich nicht in bedeutendem Ausmaß über die Streitfragen, um die es bei der Wahl
geht, selbst wenn diese Bürger den Wahlausgang für wichtig halten“ (Downs 1968:
292).
Anknüpfend an Downs machen Lupia und McCubbins die Frage nach Wissen
und Information gar zum Ausgangspunkt dessen, was sie in ihrer gleichnamigen
Studie als Demokratisches Dilemma bezeichnen. In ihrer weiter entwickelten
ökonomischen Theorie der Demokratie gehört das Aufmerksamkeits- und Infor-
mationsdefizit des typischen Bürgers ebenso wie bei Downs zu den essentiellen
Grundannahmen, die sie zu Beginn ihrer Arbeit formulieren:
„Most citizens have scant information about politics. Indeed, after attending to their
families, jobs, hobbies, social commitments, and various other demands, most peo-
ple have little time left to inform themselves about the events on Capitol Hill, in the
state capitol, or in city hall“ (Lupia und McCubbins 1998: 17).
Das eigentliche Dilemma, welches sie freilich durch andere Annahmen ihres Mo-
dells aufzulösen suchen, besteht dann eben darin, dass die Institution der Demo-
kratie von den Wählern vernünftige Entscheidungen verlange, die die Bürger aber
im Regelfall – zumindest von sich aus – nicht zu leisten in der Lage seien: „The
democratic dilemma is that the people who are called upon to make reasoned
choices may not be capable of doing so“ (ebd. 1, s. auch 13). Dieses Aufmerk-
samkeitsdefizit und der daraus resultierende Informationsmangel der Bürger sind
vielen Beobachtern zufolge insbesondere für Referendumssituationen kennzeich-
nend, weshalb das Argument bis heute immer wieder gegen direktdemokratische
Entscheidungsverfahren angeführt wird (vgl. Uleri 1996: 15; Gallagher 1996a:
3.1 Über die Unwissenheit der Massen 35
„daß eine Referendumsdemokratie rasch und katastrophal an den Klippen der kogni-
tiven Unfähigkeit scheitern würde. Die Wahldemokratie schiebt das Problem hinaus,
sie verlangt von der Wählerschaft keine Sachkenntnis, keine kognitiven Fähigkei-
ten“ (Sartori 2006: 133).
19 Der partizipatorischen Schule um Barber tue ich hier unter Umständen Unrecht,
wenn ich ihm einen positivistischen Wissensbegriff unterstelle. Politisches Wissen
bezeichnet zumindest Barber selbst als „in jedem Fall und immer vorläufig“ (Bar-
ber 1994: 163). Es habe Anteil am „evolutionären Charakter alles Politischen“ (ebd.)
und erscheine in seiner starken Demokratie „eher schöpferisch als abbildend“ (ebd.:
164). Hier ist Barber also sehr nah an den Grundannahmen des Sozialkonstruktivis-
mus. Folglich wundert es nicht, dass er an verschiedenen Stellen ausdrücklich auf
den amerikanischen Pragmatismus (ebd.: 174–175) und auch die Theorie Bergers und
Luckmanns (ebd.: 207) verweist. Andererseits lässt die oben zitierte Klage über die
angebliche Heuchelei von Politikern und Sozialwissenschaftlern, die sich nicht um
die ausreichende Information der Wähler bei gelegentlichen Referenden kümmerten,
zumindest auf keine konsequente Anwendung wissenssoziologischer Erkenntnisse
schließen.
3.1 Über die Unwissenheit der Massen 37
„Als eine Wissenschaft, die sich mit menschlichem Erleben und Handeln befaßt,
muß sie alltäglich konstituierten Sinn, also Wissen, immer schon voraussetzen. Auch
wenn sie aus dem »Verstehen« keine zuverlässige Methode zu entwickeln vermag,
muß sie ihren Gegenstand zunächst einmal durch Verstehen von intendiertem Sinn
gewinnen“ (Luhmann 2010: 11).
„Dass die Bürger für die Entscheidung komplexer Sachfragen unzureichende Kom-
petenz aufwiesen, überzeugt wenig, da ihre Repräsentanten in vielen Sachfragen
ähnlich inkompetent sind und beide auf die Expertise anderer zurückgreifen müs-
sen“ (2003: 108; s. auch Budge 2012: 27).
Merkel eine nuanciertere Kritik und Skepsis erkennen lassen (Kielmansegg 2013;
Merkel 2011; Schmidt 2010). Mitunter nehmen diese auch von politanthropoligi-
schen Einschätzungen gänzlich Abstand und verweisen schlicht auf die notwendi-
ge Komplexitätsreduktion, die jeder direkten Sachabstimmung innewohnt. Denn
diese bedeutet nun einmal die Engführung eines vielschichtigen politischen Pro-
blems, das von Fachausschüssen der repräsentativen Institutionen über lange Zeit
beraten werden könnte, auf eine einfache Ja-/Nein-Entscheidung, die disjunkt und
gewissermaßen ‚unheilbar‘ entschieden werden müsse (Hornig und Kranenpohl
2014: 10; Kielmansegg 2013: 111). Auf der anderen Seite und in gewissem Wider-
spruch dazu werden verschiedentlich gerade die großen Fragen konstitutioneller
Reichweite als geeigneter für Volksabstimmungen betrachtet denn die demgegen-
über kleinteilige und u.U. regelmäßigere Abstimmung über konkrete Reformvor-
haben und Sachfragen (Merkel 2011: 53).
Gerade auch EU-Vertragsreferenden erscheinen vielen Beobachtern als Ent-
scheidungen über besonders komplexe Gegenstände, weshalb die Annahme nahe
liegt, dass die Bürger zu einem aufgeklärten Votum über europäische Vertragstex-
te im Grunde genommen nicht in der Lage seien. Dieses Argument hat sich in vie-
len Reaktionen auf gescheiterte europapolitische Ratifizierungsreferenden in der
Tat aktualisiert. Als Beispiel kann hier folgendes Zitat des Politikwissenschaftlers
Jürgen Hartmann stehen:
„Die Verfassung wie auch der Reformvertrag und alle seine Vorläufer waren Eliten-
projekte. Wie soll ein Bürger, der sein Geld nicht mit Politik und Politikwissenschaft
verdient, beurteilen können, was mit einer Reform der Union auf ihn zukommt?
Der Einwand des bereits fortgeschrittenen Laien, es sei eine Zumutung, über einen
Verfassungsvertrag abzustimmen, der auf knapp 400 Seiten im Format DIN-A-4
wirtschafts-, wettbewerbs- und umweltrechtliche Spezialnormen und Ausnahmebe-
stimmungen aufführt, also in mehr als 50 Jahren Integrationspolitik gewachsene
Materien, die sich nur einigen Tausend Spezialisten erschließen, sei hier nur der
Vollständigkeit halber erwähnt“ (2009: 195).
Ein ähnlich vorgetragenes Argument im Hinblick auf das mangelnde Wissen und
die unzureichende Informiertheit der Wähler hat in den untersuchten Referen-
dumsdebatten eine mehr oder weniger große Rolle gespielt (vgl. Abschnitt 6.5).
Gewiss können europapolitische Referenden als besonders gute Beispiele für
die große Kluft zwischen den Auswirkungen einer EU-Reform und der tatsächli-
chen Kenntnis des jeweiligen Reformdokuments angesehen werden. Allerdings ist
auch im Sinne der civic-education-Annahme festzustellen, dass diese Kluft nach
aller Anschauung auch und in der Regel deutlicher in den Gesellschaften besteht,
die bei einer parlamentarischen Abstimmung geblieben sind, in denen also keine
3.2 Über die Tyrannei der Mehrheit 39
20 Wenngleich nicht repräsentativ und in Absicht wie Wirkung tendenziös, mag ein Aus-
schnitt aus einer Sendung des ARD-Politmagazins Panorama zur Illustration dienen.
In Kurzinterviews, einer Art Quiz, mit Bundestagsabgeordneten kurz vor deren par-
lamentarischer Abstimmung zur Ratifikation des Verfassungsvertrags 2005 zeigten
diese eklatante Unkenntnis betreffend den zur Abstimmung gestellten Vertragstext..
Das Video mit dem Titel „Panorama befragt Politiker zur EU-Verfassung“ ist bis heute
online abrufbar: https://www.youtube.com/watch?v=ci_LRzKKLCs (18.7.2016).
40 3 Theorie der direkten Demokratie
21 Dies kann bis hin zu sog. „hate legislation“ reichen (Rourke et al. 1992: 65).
3.2 Über die Tyrannei der Mehrheit 41
Ebenso verbreitet ist nach wie vor auch die paradox22 erscheinende Behauptung,
dass gerade Referendumssituationen gut organisierten, finanzstarken Organisatio-
nen ermöglichten, die Gesetzgebung über Gebühr zugunsten ihrer Partikularinte-
ressen und zulasten des Gemeinwohls zu beeinflussen:
Wieder lässt sich eine frühe Formulierung der Kritik in den Federalist Papers
finden, worin James Madison argumentiert, dass das Gemeinwohl durch die ver-
mittelnde Stimme der Repräsentanten durchaus verlässlicher und besser zu för-
dern sei als durch die Stimme des Volks selbst: „that the public voice, pronounced
22 Nicht von ungefähr nennt Elisabeth Gerber ihre umfassende Studie zum Thema, in der
sie die verbreitete Kritik freilich empirisch widerlegt, The Populist Paradox (Gerber
1999).
3.3 Über den Missbrauch durch Eliten 43
by the representatives of the people, will be more consonant to the public good
than if pronounced by the people themselves, convened for the purpose“ (Nr. 10,
Hamilton et al. 2003: 77). Er warnt in diesem Zusammenhang ausdrücklich vor
dem Missbrauchspotential direktdemokratischer Entscheidungsfindung: „Men of
factious tempers, of local prejudices, or of sinister designs, may, by intrigue, by
corruption, or by other means, first obtain the suffrages, and then betray the in-
terest of the people“ (ebd.). Karl Loewenstein sieht deshalb gar eine ausgeprägte
„Vorliebe“ autokratischer und autoritärer Regime für direktdemokratische Verfah-
ren, weil sich diese „mit Propaganda und Druck besser manipulieren“ ließen „als
das immerhin rationalere Verfahren in einer Repräsentativversammlung“, wobei
der Rationalitätsvorsprung für das Repräsentativsystem wie selbstverständlich ge-
setzt wird (Loewenstein 1969 [1957]: 270).
Bis heute ist das sog. „referendum capture“ ein vielfach beobachtetes Phäno-
men und zum geflügelten Wort gerade in der US-amerikanischen Betrachtung di-
rektdemokratischer Praxis geworden (Schmidt 2010: 252). Auch in der deutschen
Diskussion über eine Einführung direktdemokratischer Verfahren auf Bundesebe-
ne (s. Abschnitt 7.1) flammt der Verdacht, diese dienten vor allem der Verführung
der Massen, immer wieder auf und wird mit den Erfahrungen aus Weimarer Re-
publik und NS-Regime begründet. Mit der Abqualifizierung der direkten Demo-
kratie als „Prämie für jeden Demagogen“ (zit. nach Kielmansegg 2013: 115) hat
der erste Bundespräsident Heuss in dieser Sache gewissermaßen den Ton gesetzt
(dazu Schmidt 2010, 344 u. 350).
Heute hat auch dieser Kritikstrang im Lichte empirischer Forschungsergeb-
nisse differenziertere Formen angenommen und richtet sich vornehmlich auf die
überproportionale Abstimmungs- und Kampagnenbeteiligung gut situierter und
gebildeter Bevölkerungsschichten. In seiner knappen Bewertung von Volksab-
stimmungen, gemessen an den zehn Herausforderungen für die Demokratie zu
Beginn des 21. Jahrhunderts, beschreibt Wolfgang Merkel die Perspektive des „un-
teren Drittels unserer Gesellschaft“ und konstatiert: „So paradox es auch klingen
mag: Dessen Interessen sind in repräsentativen Institutionen besser aufgehoben als
in Entscheidungen, die ‚das Volk‘ trifft“ (Merkel 2011: 55).
Die Paradoxie dieses Befunds besteht, allgemein ausgedrückt, darin, dass di-
rektdemokratische Verfahren potentiell höhere Beteiligungschancen bieten, diese
Chance sich, wie es empirische Studien belegen, allerdings nicht in einer tatsäch-
lichen Egalisierung der Beteiligungsniveaus niederschlägt (Kielmansegg 2013:
119). Qvortrup verweist in diesem Zusammenhang auf Studien zur schweizeri-
schen Referendumsdemokratie, die einen hohen Einfluss von Schichten mit hö-
heren Einkommen und höherem Bildungsgrad auf das Zustandekommen und die
Resultate von Volksabstimmungen zeigen: „It has been suggested that the flaw
44 3 Theorie der direkten Demokratie
in the Swiss referendum heaven is that the chorus sings with a strong upper-class
accent“ (Qvortrup 2002: 34; vgl. Kriesi 2005; Schmidt 2003: 117 u. 119).
Weitere empirische Belege für die Annahme weisen einige Arbeiten aus der
US-amerikanischen Referendumsforschung aus (vgl. Magleby 1984; Cronin 1989:
62ff.; Luthardt 1994: 59). Gerade in den USA wird die Befürchtung des Miss-
brauchs von Referenden auch durch die allgemeine Wirkung ungleicher Finanz-
ausstattungen im politischen Wettbewerb verstärkt. Entsprechend beschreibt Cro-
nin die vorherrschende Einschätzung: „The traditional view of American politics
is that it takes three things to win elections: money, money, and money. Another
old saw simply states: ‚Money talks.‘“ (1989: 99). In seiner eigenen Forschung
weist Cronin allerdings nach, dass diese simple Formel selbst für die US-amerika-
nische Referendumserfahrung pauschal nicht gilt und dass in Volksabstimmungen
durchaus auch finanziell schlechter ausgestattete, gleichwohl leidenschaftliche und
gut organisierte Kampagnen erfolgreich sein können. Ebenso entwickelt Gerber in
ihrer Studie mit dem Titel „The Populist Paradox“ das Argument, „that the rela-
tionship between money and influence is far more complex and more limited than
many observers believe“ (1999: 6, 138–139; vgl. auch Kriesi und Bernhard 2014:
10). In die gleiche Richtung weisen die von Lupia und Matsusaka (2004) ebenfalls
für die US-amerikanischen Staaten zusammengetragenen Forschungsergebnisse.
Auch die in Kapitel 5 präsentierten Länderbeispiele unterstützen die Forderung
nach einer differenzierteren Betrachtung der Wirkungen politischer, organisatori-
scher oder finanzieller Ressourcen.
Ob mit Blick auf das „referendum capture“ oder die soziale Selektivität, das
Argument der paradoxen Effekte erfolgt vielfach zu pauschal. Die Kritikpunkte
beziehen sich z.B. in stärkerem Maße auf die Volksinitiative, die zusätzlich zur
eigentlichen Wahl- im Regelfall noch eine ebenso aufwändige Unterschriftenkam-
pagne im Vorfeld erfordert (Lupia und Matsusaka 2004). Hier besteht ein Unter-
schied zu Referenden, die aus dem politischen System heraus, auf Grundlage fa-
kultativer oder obligatorischer Verfassungsbestimmungen, initiiert werden.
Allerdings lässt sich auch das gegenläufige Urteil finden, wonach gerade die
Referenden von oben oder auch „Sachplebiszite“ unter besonderem „Manipula-
tionsverdacht“ zu stehen hätten. So argumentiert etwa Abromeit (2003: 101–102):
„[D]enn die jeweiligen politischen Lager werden ihre Anhänger in der Weise zu
mobilisieren versuchen, dass Loyalität gegenüber der Partei Vorrang vor der Sach-
frage hat“. Dieser Einwand geht in eine andere Richtung. Er setzt bei der par-
teipolitischen Organisation der Politikvermittlung an und vermag gerade deshalb
nicht zu überzeugen. Selbst wenn der unterstellte Zusammenhang besteht, stellt
sich die Frage, wo das Problem liegt. Die Parteien wirken selbstverständlich an der
politischen Willensbildung mit. Das gilt auch für Referendumsdebatten. Freilich
3.3 Über den Missbrauch durch Eliten 45
versuchen sie auch diese Kampagnen zur eigenen Profilierung und Wählerbindung
zu nutzen und wirken gerade dadurch als Intermediäre (Budge 2012). Damit ist üb-
rigens noch nicht gesagt, dass ihr Kalkül im kritischen Sinne Abromeits aufgeht.
Vielmehr darf mit Loewensteins Worten vermutet werden:
„Die politischen Parteien schalten sich auch bei der Volksabstimmung als Rich-
tungsweiser ein. Die Erfahrungen zeigen jedoch, daß die Wähler bei Volksabstim-
mungen die Parteidirektiven weniger willig befolgen als bei gewöhnlichen Wahlen“
(Loewenstein 1969 [1957]: 268; s. auch de Vreese 2006).
Ist das Referendum nicht in erster Linie ein Instrument zur Verhinderung politi-
scher Maßnahmen? Steht es damit nicht tendenziell dem gesellschaftlichen Fort-
schritt entgegen und wirkt konservativ, indem sich das Volk, direkt befragt, als
übermächtiger Vetospieler an den Status quo klammert und so Stillstand erzeugt?
Auch so wird der gesellschaftliche Nutzen direktdemokratischer Verfahren ver-
breitet infrage gestellt, indem auf ihre in der Tendenz konservative Wirkung, ihre
„Status-quo-Verliebtheit“ verwiesen wird (Schmidt 2003: 116; vgl. ferner Gal-
lagher 1996a: 235; Linder 2012: 283–285; Luthardt 1994: 160; Vatter 2007: 85).
Schon der berühmte britische Rechtshistoriker Henry Sumner Maine behauptete
im ausgehenden 19. Jahrhundert, dass das Referendum „can only be considered
as thoroughly successful by those who wish that there should be as little legisla-
tion as possible“ (Maine 1976: 111). In jüngerer Vergangenheit kam insbesondere
von Seiten politischer Ökonomen Kritik an der angeblich bremsenden Wirkung
durch die direkte Demokratie (vgl. Vatter 2007) auf. Auch Qvortrup beschreibt das
Referendum allgemein als ein dem Wesen nach konservatives Instrument: „The
referendum is by its very nature a conservative weapon; the voters can only di-
sapprove measures put before them“ (2002: 90, 2013: 8). Wieder einmal scheint
eine Differenzierung zwischen den Verfahrensarten angebracht, wie sie in Kapitel
4 unterschieden werden. So schreibt Bogdanor die konservative Stoßrichtung vor
allem dem verfassungsrechtlich vorgeschriebenen, obligatorischen, Referendums-
instrument zu:
3.4 Über die konservative Wirkung von Referenden 47
Auch Setälä hält fest, dass vor allem das obligatorische Referendum im Rahmen
der Gesetzgebung (oft z.B. der Verfassungsänderung) als Referendumstyp, der das
Wahlvolk bewusst als zusätzlichen Vetospieler einführt, einen in der Regel wir-
kungsvollen konservativen Sicherungsmechanismus darstelle: „Law-controlling
referendums are pro-status-quo institutions, because they complicate the proce-
dures of legislative change“ (1999: 72, s. auch 94; dazu auch Schmidt 2010: 349).23
Ist diese Wirkung bei solchen Verfahren also geradezu beabsichtigt, ist fraglich,
ob sie auch für jede andere Volksabstimmung, insbesondere z.B. solche, die auf
Initiativen aus der Gesellschaft zurückgehen, unterstellt werden kann. Im Kontrast
zu den Vorgenannten sieht Kielmansegg (2013: 121) die Status-Quo-Tendenz vor-
nehmlich bei dem fakultativen Referendum schweizerischen Zuschnitts gegeben,
das „zusätzliche Akteure mit Vetomacht ins Spiel“ bringe und dadurch den Status
quo begünstige. Steht das Referendum seiner verfassungsrechtlichen Konstruk-
tion nach (obligatorisch oder fakultativ) also für die Möglichkeit der Verhinderung
einer im politischen System generierten Abstimmungsvorlage, so ist die Volks-
initiative gerade umgekehrt auf die Erneuerung und die Eingabe in das politische
System gerichtet (vgl. Vatter 2007: 89). In jedem Fall ist mit der unten noch näher
zu beschreibenden sog. Status-quo-Hypothese in der empirischen Referendums-
forschung eine deutliche Spur dieser Kritik wiederzufinden (s. Abschnitt 6.6).
Die Status-quo- und/oder Bremseffekt-Annahme ist immer wieder mit Blick auf
europapolitische Referenden artikuliert worden (Qvortrup 2002: 75). Sie wurde in
zahlreichen Kommentaren und Analysen auch auf den europäischen Verfassungs-
prozess und die in diesem Kontext gescheiterten Referenden übertragen. Dabei
offenbaren die entsprechenden Wissenschaftler eine bewusste oder unbewusste
Anhängerschaft an eine progressives Metanarrativ europäischer Geschichtsschrei-
bung (Gilbert 2008), eine wenig problematisierte Fortschrittsgläubigkeit, die mit
der EU zumindest bis zu den Krisen der jüngeren Jahre in weiten Kreisen publizis-
tischer und auch wissenschaftlicher Betrachtung verbunden war. Denn wenn die
3.5 Zwischenfazit
„Sozialwissenschaftler und politische Eliten haben allzu oft diese Form der Heu-
chelei gepflegt. Sie legen dem Volk Referenden vor, ohne dafür zu sorgen, daß es
hinreichend informiert ist, eine ausführliche Debatte stattfindet bzw. der Einfluß des
Geldes und Manipulation durch die Medien klug ausgeschaltet werden, und werfen
ihm dann vor keine Urteilskräfte zu besitzen“ (Barber 1994: 151).
3.5 Zwischenfazit 49
„auch die Wissenschaft tat sich, bei allem Fleiß der Empirie, schwer damit, aus
einem eher sterilen Pro und Contra hinauszufinden. Auch die wissenschaftliche De-
batte wurde zu sehr als eine andere Art von Parteienstreit geführt“.
Über die Nachzeichnung der Konfliktlinien hinaus beteiligt sich dieses Buch in-
des nicht an dem „Glaubensstreit“ (ebd.). In den folgenden Kapiteln werden diese
normativen Fragen, die im Wesentlichen um die kognitiven Fähigkeiten des Men-
schen, sein Wissen und dessen Manipulierbarkeit kreisen, nicht weiter verfolgt und
zu ihnen wird auch keine Position bezogen.
Mit Blick auf das, worum es in diesem Buch einzig geht, nämlich EU-Referen-
den, sind ohnehin spezielle Antworten auf die aufgeworfenen Fragen zu geben,
wie am Ende jedes Abschnitts gezeigt worden ist. Alles in allem ist gerade bei den
im Folgenden beschriebenen Fällen zudem festzuhalten, dass es sich nicht um eine
einfache politische Sachfrage gehandelt hat, sondern immer um Fragen konstitu-
tionellen Zuschnitts. Dies gilt für jede EU-Vertragsreform und insbesondere, wenn
diese den Anspruch erhebt, eine Verfassung zu sein, und weitreichende Souveräni-
tätsübertragungen zugunsten eines übergeordneten politischen Gemeinwesens mit
50 3 Theorie der direkten Demokratie
sich bringt. Ob diese Veränderungen zum Guten oder zum Schlechten sind, liegt
im Auge des Betrachters und muss im politischen Konflikt ausgehandelt werden.
Ein besonderes Legitimationsbedürfnis kann allerdings nicht von der Hand ge-
wiesen werden. Dieses mag zur Forderung und zur Durchführung von Referenden
führen. Wie Gallagher mit Blick auf Verfassungsänderungen im nationalen Rah-
men festhält, stellt sich die eingangs formulierte Frage, was an einem Referendum
eigentlich auszusetzen sei, also mit Blick auf Volksabstimmungen in konstitutio-
nellen Fragen – und damit auch für die meisten EU-Vertragsreformen und ihre
Ratifizierung – in zugespitzter Form:
„If a constitution is to be amended, why should this not be done by means of the
referendum? The referendum seems as legitimate a way of changing a constitution as
any, and indeed a more legitimate way than most“ (Gallagher 2001: 231).
Die bloße Tatsache, dass ein solches Referendum auch Verlierer produziert und
dies die Anhänger einer fortschreitenden Integration einschließlich vieler europa-
politischer Elitenakteure sind, reicht als Gegenargument nicht aus. Viele andere
– das hat dieses Kapitel gezeigt – treffen auf den besonderen Gegenstand europa-
politischer Volksabstimmungen nicht zu oder differenzieren zu wenig nach Ab-
stimmungsarten. Umso wichtiger scheint es, im folgenden Kapitel eine gründliche
Typologie direktdemokratischer Verfahren vorzunehmen.
Kategorisierung direkter Demokratie:
Typenbildung und Klassifikationen 4
Dennoch lässt der Überblick über die terminologischen Angebote ein ver-
breitetes und sinnvolles Muster einer Typologisierung mittels mehrdimensionaler
Dichotomiebildung erkennen. Für die folgende Darstellung wurden drei zentrale
Dichotomien ausgewählt (und ggf. für den Gegenstand angepasst): Referendum vs.
Volksinitiative, obligatorisch vs. fakultativ und rechtsverbindlich vs. konsultativ.
Einen nicht zuletzt mit Blick auf die Terminologie eigenen Typologisierungsvor-
schlag möchte ich lediglich im Hinblick auf eine vielfach übersehene, gleichsam
konstitutive Eigenart von Volksabstimmungen vornehmen. Hierbei handelt es sich
um den Apparat von Regeln und Praktiken zur Vorbereitung und Durchführung
von Referenden. Diesen Apparat bezeichne ich als Referendumsdispositiv und
weise dieser Variable je nach Ausprägung verschiedener Faktoren drei Werte zu,
nämlich schwach, mittel und streng.
Im Sinne einer klaren Begriffsdefinition ist allerdings bereits mit dem Refe-
rendumsbegriff eine analytische Trennung vorzunehmen. Demnach kann man
das direktdemokratische Untersuchungsfeld in einem ersten Schritt anhand des
Kriteriums ordnen, von wo aus eine Volksabstimmung initiiert wird. Ergreift das
‚Volk‘ oder besser: ergreifen gesellschaftliche Gruppierungen selbst die Initiative,
indem sie eine politische Sachfrage meist mittels Unterschriftenkampagnen in den
Gesetzgebungsprozess einbringen und ggf. eine sachunmittelbare Abstimmung
darüber aktiv auslösen, dann handelt es sich um eine Volksinitiative. Kommt es zu
einem Bürgervotum aber aufgrund der sei es freiwilligen, sei es verfassungsrecht-
lich vorgeschriebenen Auslösung durch eine Regierung oder aus dem Parlament,
in jedem Fall nicht aus der Zivilgesellschaft, sondern aus dem politischen System
heraus, dann spricht man von einem Referendum (vgl. Smith 1976: 5). Hierzu heißt
es bei Uleri:
„a significant and relevant criterion must be offered to clearly distinguish two gene-
ral classes of popular votes: referendum and initiative. This criterion should be the
promoter of the vote, and the chief demarcation line is between popular votes promo-
ted at the voters’ request and votes promoted by other agents“ (1996: 10).
Aus der Dichotomie Initiative versus Referendum ergibt sich eine zugespitzte De-
finition im engeren Sinn für das Referendum. Luthardt bestimmt den Begriff bei-
spielsweise wie folgt:
„Beim Referendum wird über ein vom Parlament beschlossenes Gesetz vor dessen
definitivem Inkrafttreten ein Volksentscheid abgehalten, der eine verwerfende oder
bestätigende Funktion haben kann. Das Referendum bildet mithin den Abschluß ei-
nes politischen Entscheidungsprozesses“ (1994: 35–36; s. auch Möckli 1994: 89–90;
Gerber 1999: 3).
Da die Distinktion über den auslösenden Akteur und diejenige über den Zeitpunkt
in der Entscheidungsfindung in einigen Fällen unterschiedliche Typenzuordnun-
gen hervorbringen, gibt es offensichtlich einen Graubereich und Hybridformen.
Besonders herausgefordert werden die kategorialen Dichotomien insbesondere
durch den Typ Abstimmung, der zwar durch gesellschaftliche Initiative ausgelöst
wird, bei dem der Gesetzgebungsprozess aber bis dahin innerhalb des normalen
parlamentarischen Betriebs verlaufen ist, also keine ursprüngliche Eingabe seitens
eines Teils der Wahlbevölkerung vorliegt. Im schweizerischen Fall ist dieser Typ
als fakultatives Referendum (abweichend von der später vorzunehmenden Termi-
nologie) bezeichnet. Parlament und/oder Regierung werden also hier gewisser-
maßen dazu genötigt, den regulären Gesetzgebungsprozess zu unterbrechen und
den Entscheidungsgegenstand in einem Referendum dem Volk vorzulegen. Auch
Frankreich verfügt seit kurzer Zeit über das Instrument eines volksinitiierten Re-
ferendums (Art. 11 Abs. 3 Verf.), das allerdings bis heute noch nicht zur Anwen-
dung gekommen ist. Ähnliches gilt für die Niederlande, wo ein vom Volk initiier-
tes Referendum seit Juli 2015 möglich ist. Sowohl mit Blick auf das empirische
Vorkommen als auch auf das oben definierte Definitionskriterium stellt der Fall
des volksinitiierten Referendums eine Ausnahme dar. Stefan Vospernik trägt die-
ser Besonderheit in seiner funktionalen Typenbildung Rechnung. Denn er unter-
scheidet vier grundlegende Funktionen von direkter Demokratie, darunter neben
Konsultation und Dezision auch Initiative und Initiative auf Dezision (Vospernik
2014: 126). Mit dieser funktionalen Differenzierung ist die Dichotomie zwischen
Initiative (mit unterschiedlichen Zielen/Wirkungen) und Referendum (mit unter-
schiedlichen Zielen/Wirkungen) wieder hergestellt.
Für diese Darstellung europapolitischer Referenden möchte ich an der einfachen
Unterscheidung von Referendum und Initiative festhalten, denn diese lässt sich im
Sinne der Komplexitätsreduktion auf den Untersuchungsgegenstand anwenden: In
der Tat sind die hier darzustellenden europapolitischen Volksabstimmungen alle-
samt Referenden im oben definierten engen Sinn. Der Sonderfall eines vom Volk
(oder Teilen davon) initiierten Referendums findet sich nicht. In allen Fällen wurde
der direktdemokratische Entscheidungsprozess von der Regierung bzw. aus dem
politischen System heraus und nicht aus der Bevölkerung angestoßen. Da dies so
ist und obwohl sich die folgenden Unterscheidungen mit Einschränkungen auch
auf Volksinitiativen anwenden ließen, wird der an dieser Stelle erreichte analyti-
4.2 Obligatorisch versus fakultativ 55
Eine wichtige zweite Unterscheidung ergibt sich aus der Frage, ob ein Referendum
zu einer politischen Sachfrage verfassungsrechtlich vorgeschrieben ist, also unab-
hängig vom Kalkül politischer Akteure und ihrer situationsbezogenen Beschlüsse
durchgeführt werden muss, oder ob die Durchführung in der Entscheidungsho-
heit eines politischen Akteurs liegt, folglich kein Automatismus existiert und die
Volksabstimmung aus politischen Erwägungen geplant oder eben auch umgangen
werden kann. Ein Referendum, das sich direkt aus den verfassungsrechtlichen Be-
stimmungen ableitet, wird in vielen Typologien als obligatorisches Referendum
bezeichnet. In englischsprachigen Texten ist entsprechend meist vom mandato-
ry referendum die Rede (vgl. Suksi 1993: 7; Butler und Ranney 1994a: 1; Uleri
1996: 6; Setälä 1999: 71). Einige Verfassungen, so wie die dänische (Artikel 88)25
oder irische (Artikel 46), schreiben einen solchen Referendumsautomatismus für
Verfassungsänderungen verbindlich vor. Die „auslösende Instanz“ ist hier „quasi
eingebaut“ (Abromeit 2003: 103). Die dänische Verfassung kennt überdies noch
den Sonderfall eines „bedingt-obligatorische[n]“ Referendums (Giese und Rehmet
2015: 4), das für die Übertragung von Hoheitsrechten an überstaatliche Organisa-
tionen vorgesehen ist und für fast alle Referenden mit Europabezug angewendet
worden ist (s. Abschnitt 5.2.1). Nach Artikel 20 des dänischen Grundgesetzes sind
„Where the expressed opinion of the people settles the matter definitely, the refe-
rendum is decisive, but where the result of the vote is not decisive and binding and
where the issue is subjected to another body, such as parliament, for a final decision,
then the referendum is consultative“ (Suksi 1993: 29).
Im letzteren Fall wird das Volk gewissermaßen nur angehört oder konsultiert, wes-
halb eine solche Abstimmung verbreitet als konsultatives (auch „advisory“, Uleri
1996: 7), jedenfalls nicht-bindendes Referendum (auch „nonbinding“, Hug 2002:
25) bezeichnet wird. In diesem Sinne unterscheidet Vospernik (2014: 126) in sei-
nem Funktionskatalog der Direktdemokratie die Konsultation grundlegend von
der Dezision. In der tatsächlichen Wirkung allerdings kommen sich die beiden
funktionalen Typen sehr nah. Deshalb ist das Attribut konsultativ auch vorzuzie-
hen. Denn in der demokratischen Praxis gibt es im Grunde kein nicht-bindendes
Referendum (vgl. ebd., Luthardt 1994: 173–174; van Holsteyn 1996: 135; für die
EU-Verfassungsreferenden auch Bieber 2006: 60). Gallagher führt hierzu treffend
aus:
„If a particular referendum were genuinely seen as only advisory, with parliament
really free to disregard the result, it would be little more than an expensive opinion
poll or mid-term poll, with voters able to vote ‚irresponsibly‘ (or not at all), safe in
the knowledge that the politicians will make the final decision after considering the
question carefully. Although several countries (Denmark, Finland, Italy, Norway,
Sweden and the United Kingdom) have held referendums that have formally been
only advisory, it is clear that in practice these develop their own momentum and
become effectively binding. […] If a referendum is to be held at all, there seems no
good reason why its result should not be binding“ (Gallagher 1996a: 246–247).
sein müssten, und einer verfassungspolitischen Perspektive, aus der dieses sym-
metrische Verhältnis nicht besteht:
„Während die Korrektur eines Parlamentsgesetzes durch das Volk im Konzept der
Direktdemokratie ausdrücklich intendiert ist, würde die Direktdemokratie ad ab-
surdum geführt, wenn das Parlament einen Volksentscheid schon am nächsten Tage
wieder aufhöbe. Volksbeschlossene Gesetze erfordern deshalb einen höheren Be-
standsschutz als Parlamentsgesetze“ (Decker 2014: 26).
teidigern eines Status quo, neben dem erfolgreichen Wahlkampf als Gewinnmög-
lichkeit für die eigene Position eine Boykottstrategie eröffnen. Demnach käme es
für die Gegner eines Beschlusses nur darauf an, dass insgesamt zu wenige Bürger
über die Sachfrage abstimmen, ganz gleich, welche Mehrheitsverhältnisse dabei
zum Ausdruck kommen (IDEA 2008: 57; Kielmansegg 2013: 121). Zum Beispiel
kann ein Beteiligungsquorum etwa von 50 Prozent zu gravierenden Verzerrun-
gen führen. Wenn 26 Prozent der Wahlberechtigten für eine Vorlage stimmen, 25
Prozent aber dagegen, hätte die Abstimmung die Beteiligungshürde überschritten,
und der Vorschlag hätte Erfolg. Wenn hingegen 49 Prozent der Wahlberechtigten
für eine Vorlage votieren und niemand dagegen, würde das Quorum unterschrit-
ten, und das sehr viel breiter unterstützte Vorhaben würde scheitern. In diesem
Beispiel wird die Wahrscheinlichkeit einer Boykottstrategie durch eine schwache
Opposition unmittelbar plausibel.
Angemessener scheint demgegenüber eine qualifizierte Mehrheit oder eine
doppelte Mehrheit, so dass eine Abstimmungsmehrheit, um erfolgreich zu sein,
darauf überprüft wird, ob sie zugleich ein gewisses Quorum der Wahlbevölkerung
repräsentiert. Sie könnte allerdings zu Unverständnis und einer politisch heiklen
Situation führen, wenn eine Mehrheit im Referendum sich für einen Vorschlag
ausspricht, dieser dann aber doch aufgrund anderer Kriterien nicht umgesetzt
wird: „the majority will feel that they have been deprived of victory without an
adequate reason“ (Venice Commission 2007: 23). Aus diesen Gründen spricht
sich die vom Europarat eingesetzte Kommission für Demokratie durch Recht (sog.
Venedig-Kommission) in ihren Richtlinien für gute Referendumspraxis sowohl
gegen Beteiligungs- als auch gegen Zustimmungsquoren aus (Venice Commission
2007, Kap. III, Abschnitt 7).
nicht immer schon im Verfassungstext niedergelegt sein. So ist vielleicht eine Ty-
penbildung vorzuziehen, wie Uleri sie unter Rückgriff auf Nevil Johnsons Refe-
rendumstypologie aus den 1980er Jahren vornimmt. Er spricht von „prescribed“
versus „discretionary“ (Johnson 1981: 21–22; Uleri 1996: 6). Ich selbst habe an
anderer Stelle von prädisponierten vs. nicht-prädisponierten Referenden gespro-
chen (Schünemann 2013b). Mit dieser Dichotomie kann unterschieden werden, ob
die Durchführung einer Volksabstimmung sich auf rechtliche Regelungen (Ver-
fassung, einfache Gesetze etc.) stützt oder ob das direktdemokratische Instrument
ad hoc reguliert wird und entsprechende Vorschriften im Vorfeld der Ausrufung
(noch) nicht bestanden haben bzw. mit dieser Abstimmung das erste Mal quasi
erprobt werden. Mit „Dispositiv“ als Regelungsapparat für die Durchführung von
Volksabstimmungen und die vorangehenden Debatten und „prädisponiert“ zur
Beschreibung einer fortgeschriebenen und erprobten Regulierung ist freilich auch
hier eine eigene, ebenfalls idiosynkratische Typenbildung hinzugefügt.
Die abweichende und eigenartige Terminologie ist begründungsbedürftig. Sie
ist in bewusster Anlehnung an das Vokabular der Diskurstheorie entwickelt wor-
den. Demnach steht der Diskurs in Beziehung zu einem Dispositiv, definiert als
„die materielle und ideelle Infrastruktur“ (Keller 2007: 64, 2008a: 92–93; „Macht-
Wissens-Komplex“, Bublitz 2006: 231), aus der jener hervorgeht:
„Ein Dispositiv ist der institutionelle Unterbau, das Gesamt der materiellen, hand-
lungspraktischen, personellen, kognitiven und normativen Infrastruktur der Pro-
duktion eines Diskurses […] Dazu zählen bspw. die rechtliche Fixierung von Zu-
ständigkeiten, formalisierte Vorgehensweisen, spezifische (etwa sakrale) Objekte,
Technologien, Sanktionsinstanzen, Ausbildungsgänge u.a.“ (Keller 2008b: 258).
Damit sind also ausdrücklich auch Gesetze, Verordnungen und übrige Verhaltens-
vorschriften sowie etablierte Praktiken gemeint, die im vorliegenden Beispiel für
Kampagnen und Abstimmungen gelten. Die hier zu untersuchenden Volksabstim-
mungen, vor allem aber auch die Kampagnen im Vorfeld, unterliegen zweifellos
solchen Dispositiven. Das übergeordnete Regelungsgebäude nenne ich Referen-
dumsdispositiv.
Interessant ist zudem – und damit lässt sich die Einführung des Dispositiv-
begriffs noch einmal gut begründen –, dass und wie die Ausgestaltung des Re-
ferendumsdispositivs regelmäßig selbst ein heftig umkämpfter Gegenstand der
Debatten wird. Das Dispositiv wird im Streit der Wahlkampflager gewissermaßen
immer mit verhandelt und entsprechend im Nachgang von Abstimmungen durch
Reformen, Gerichtsurteile etc. verändert (Irland ist hierfür ein sehr gutes Beispiel,
IDEA 2008: 158). Genealogisch betrachtet, geht damit das Dispositiv selbst aus
4.4 Das Referendumsdispositiv: schwach, mittel, streng 61
dem Diskurs hervor.26 Dies steht im Einklang mit den grundlegenden diskurstheo-
retischen Annahmen wie auch mit der empirischen Realität (s. die Referendums-
geschichte Irlands in Abschnitt 5.7).
Unabhängig von der gewählten Bezeichnung wird allerdings bei näherer Be-
trachtung schnell deutlich, dass sich ein dichotomes Muster der Unterscheidung
bei dieser Dimension nicht wirklich aufdrängt, nicht einmal anbietet. Denn irgend-
eine Regulierung wird es schon geben, wenn ein Referendum durchgeführt wird,
und sei es nur, dass viele Schritte auf Grundlage des nationalen Wahlgesetzes voll-
zogen werden.27 Die Frage, wann dieses Dispositiv erlassen worden ist, ist von sehr
viel geringerem Interesse als die Frage nach seiner konkreten Ausprägung. Dabei
eröffnet gerade diese Frage die Möglichkeit weiterer Differenzierungen, die in den
meisten der vorliegenden Studien nicht vollzogen werden. Viele vergleichende Re-
ferendumsstudien und auch weitreichende Entwürfe allgemeiner Modelle leiden
darunter, dass sie die Regulierungsdimension und damit eine Dimension, auf der
weite und potentiell wirkungsvolle Variation zu finden ist, nicht oder nicht ausrei-
chend berücksichtigen (z.B. Vospernik 2014).
Erst in den vergangenen Jahren ist eine Reihe von vergleichenden Kompendien
und Studien erschienen, die sich systematisch mit der Regulierungsdimension von
Referenden befasst. Eine katalytische Wirkung zeigte in diesem Kontext der Vor-
stoß zur Definition von Standards zur Durchführung von Volksabstimmungen, der
seit Anfang der 2000er Jahre im Europarat deutlich wurde. Die sog. Venedig-Kom-
mission (Europäische Kommission für Demokratie durch Recht) des Europarats
erarbeitete auf Basis eines umfassenden Fragebogens zu rechtlichen Vorschriften
und praktischen Erfahrungen für und mit Referenden, der von 33 Mitgliedstaaten
beantwortet wurde, im Jahr 2005 zunächst eine vergleichende Analyse über „Refe-
renden in Europa“ (Venice Commission 2005). Die Erkenntnisse der Studie haben
26 Das lässt sich besonders gut am britischen Beispiel zeigen. Hier ist es der Wahlkom-
mission, die für die korrekte Durchführung von Referenden zuständig ist bzw. die
Aufsicht führt, in ihrem abschließenden Bericht vorbehalten, Empfehlungen zur An-
passung der Regelung und Praktiken auszusprechen, s. etwa den Bericht zum schotti-
schen Unabhängigkeitsreferendum 2014 (Electoral Commission UK 2014).
27 Die Richtlinien für eine gute Praxis bei Referenden der Venedig-Kommission machen
es zur Bedingung, dass ein Referendumsinstrument in irgendeiner Form auf konsti-
tutioneller oder gesetzlicher Ebene verfügbar ist: „referendums cannot be held if the
Constitution or a statute in conformity with the Constitution does not provide for them,
for example where the text submitted to a referendum is a matter for Parliament’s
exclusive jurisdiction“ (Venice Commission 2007, Kap. III, Abschnitt 1). Diese Vor-
schrift lässt ad hoc kodifizierte und spontan regulierte Volksabstimmungen für den
spezifischen Fall zumindest zweifelhaft erscheinen, gerade in Verbindung mit der fak-
tischen politischen Verbindlichkeit von Referenden (s. Abschnitt 4.3).
62 4 Kategorisierung direkter Demokratie
ein gutes Jahr später zur Vorlage eines Richtlinienkatalogs für die angemessene
Durchführung von Referenden geführt (Venice Commission 2007). Diese Richt-
linien haben zwar keine verbindliche Geltung für die Mitglieder des Europarats,
aber auf der Grundlage des Katalogs gibt der Europarat seine Bewertungen und
Empfehlungen zu konkreten Referenden ab.
Nur ein Jahr nachdem die Richtlinien der Venedig-Kommission veröffentlicht
waren, erschien ein Handbuch zur direkten Demokratie, herausgegeben vom In-
ternational Institute for Democracy and Electoral Assistance (IDEA 2008). Die
Schilderungen und Empfehlungen des Handbuchs liegen insgesamt sehr nahe an
der Studie der Venedig-Kommission. Seine besondere Stärke liegt in der Präsenta-
tion empirischer Befunde zur Verbreitung direktdemokratischer Verfahren im glo-
balen Maßstab. An dritter Stelle in dieser Reihe vergleichender Darstellungen von
Referendumsregularien ist das von Karin Gilland Lutz und Simon Hug herausge-
gebene Kompendium „Financing Referendum Campaigns“ (Gilland Lutz und Hug
2010) zu nennen. Hier liegt der Fokus, wie der Titel verrät, auf den Regulierungen
zur Kampagnenfinanzierung. Aber auch Medienanteile und ihre Verteilung bzw.
Regulierung spielen in vielen Beiträgen eine Rolle. Neben den nationalen Einzel-
fallstudien enthält der Band von Gilland Lutz und Hug eine vergleichende Be-
trachtung von Referendumsdispositiven in Europa und Lateinamerika (Zellweger
et al. 2010). Ebenso wie die vergleichende Studie der Venedig-Kommission und
das IDEA-Handbuch bleibt aber auch diese vergleichende Darstellung von Zell-
weger et al. weitgehend deskriptiv.
Der bislang systematischste Entwurf für ein Analyseraster, ja sogar einen „In-
dex of campaign regulation“ haben Reidy und Suiter (2015) vorgelegt. Ihnen geht
es nach eigenen Angaben zunächst nur darum, internationale Variation messbar
zu machen. Auch sie schreiten noch nicht zur Hypothesenbildung und -prüfung
im Sinne kausalanalytischer Forschung voran. Der eingeführte Index für die Re-
gulierung von Referendumskampagnen kann für die Fortentwicklung des Feldes
als Orientierungspunkt dienen. Er weist allerdings noch einige Schwächen auf.
So geben die Autorinnen den identifizierten regulatorischen Kategorien nicht das
gleiche Gewicht, sondern zählen die binär kodierten Einzelelemente (8 für Kam-
pagnenfinanzierung, 2 für Referendumsaufsicht/-kommission) zusammen, um den
Gesamtindikator zu erhalten. Die ungleiche Gewichtung wird nicht begründet und
führt im Ergebnis zu kontraintuitiven Bewertungen. Dennoch bieten die Autorin-
nen ein hilfreiches Raster für die empirisch vergleichende Analyse.
In der Tat ist für eine differenzierte Bewertung konkreter direktdemokratischer
Entscheidungsakte jenseits abstrakter normativer Überlegungen (s. Kap. 3) die
Frage des Wie von entscheidender Bedeutung. Denn ob die Bürger ausreichend
informiert sind, wird nicht zuletzt davon abhängen, ob und wie Finanzmittel für
4.4 Das Referendumsdispositiv: schwach, mittel, streng 63
die Verbreitung von neutralen Informationen bereitgestellt werden und wie die
Informationsversorgung reguliert oder organisiert wird. Ferner wird die Antwort
auf die Frage, ob gut organisierte und finanzstarke Gruppierungen eine Volks-
abstimmung und die vorangehende Kampagne über Gebühr beeinflussen können,
während andere Organisationen und Gruppierungen das Nachsehen haben, nicht
zuletzt davon abhängen, ob eine Regulierung für die Kampagnenfinanzierung,
etwa in Form einer Deckelung von Ausgaben für die Wahlwerbung, besteht oder
gar öffentliche Mittel für die Kampagnen an beide Lager fair verteilt werden. Auch
kann, um ein „referendum capture“ zu vermeiden, eine Regulierung der Medien in
Wahlkampfzeiten zugunsten ausgewogener Berichterstattung und Wahlwerbung
vorgenommen werden. Ferner lässt sich vorschreiben, dass zumindest die Durch-
führung eines Referendums, unter Umständen gar die Aufsicht über die Kampag-
nen, von einer unabhängigen Kommission vorgenommen wird und nicht von Re-
gierungsstellen, wodurch ein möglichst unparteiischer Ablauf garantiert werden
kann. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, wie die Abstimmungs-
frage von wem formuliert wird. Wie wird sichergestellt, dass sie leicht verständ-
lich und nicht suggestiv oder tendenziös im Sinne eines Lagers formuliert ist?
Von diesen Weichenstellungen dürfte es abhängen, ob ein Referendum etwa durch
eine Regierung instrumentalisiert werden kann. Tatsächlich findet sich jeder dieser
Regelungsgegenstände neben anderen in mindestens einem der untersuchten Fälle
geregelt (darüber hinaus IDEA 2008; Venice Commission 2005). Dass die meisten
dieser Regulierungen offensichtlich darauf gerichtet sind, den Skeptikern zu be-
gegnen und die Schwächen direktdemokratischer Verfahren abzumildern oder zu
beheben, macht es umso erstaunlicher, dass die Referendumsforschung die Ausge-
staltung dieser Dispositive über lange Zeit vernachlässigt hat. In Kapitel 5 werden
die konkreten Referendumsdispositive der einzelnen Beispielländer beschrieben.
Wo Einschätzungen und Bewertungen des Referendumsdispositivs vorgenommen
werden, orientieren sich diese an den genannten Dokumenten der Venedig-Kom-
mission (Venice Commission 2005, 2007), ergänzt durch die wenigen verfügbaren
vergleichenden Studien (Reidy und Suiter 2015).
Die Referenden werden demnach in ein grobes Raster geordnet, nämlich da-
nach, ob das zugrundeliegende Dispositiv als schwach, mittel oder streng bewertet
werden kann. Als Faktoren für die Evaluation werden die folgenden berücksich-
tigt:
höheren Ebene als der eines einfachen Gesetzes, z.B. in Form einer Verfas-
sungsvorschrift, kodifiziert sein (Venice Commission 2007, Kap. II, Abschnitt
2.b). Bestimmungen auf Ad-hoc-Basis sollten in jedem Fall vermieden werden
(IDEA 2008: 195–196).
b) Einsetzung einer unabhängigen Referendumskommisson (RefKom)
Die entsprechende Richtlinie der Venedig-Kommission verlangt zumindest für
die Durchführung der Volksabstimmung die Zusammensetzung einer überpar-
teilichen und in ihrer Zusammensetzung ausgewogenen Kommission. Hinsicht-
lich der Kampagnen verpflichtet sie die Regierungsstellen lediglich auf eine
möglichst neutrale und faire Information der Wähler. Zwar kann Regierungs-
stellen eine gemäßigte Parteilichkeit im Referendumswahlkampf zugestanden
werden, solange für neutrale Informationsverbreitung gesorgt ist. Allerdings
sollte der Einsatz öffentlicher Mittel durch die Behörden für Kampagnenzwe-
cke untersagt und Verstöße sanktioniert werden (Venice Commission 2007,
Kap. I, Abschnitt 2.2.i u. 3.1.a, b u. f; Kap. II, Abschnitt 3.1; s. auch IDEA 2008:
65).
c) Neutrale Informationsversorgung (z.B. durch RefKom)
Laut den Richtlinien müssen die Bürger mit ausreichender und ausgewogener
Information versorgt werden. Dazu zählt auch der integrale Text eines Geset-
zes oder hier: einer Vertragsreform. Dies sollte zumindest durch die Veröf-
fentlichung des Dokuments in der Staatszeitung wenigstens zwei Wochen vor
dem Termin der Volksabstimmung erfolgen. In jedem Fall sind die Wähler
möglichst mit der Wahlbenachrichtigung mit einem erklärenden Dokument zu
versorgen, das in neutraler Weise Pro- und Contra-Argumente zusammenfasst
und auch die aus neutraler Sicht zu erwartenden Folgen beider Wahloptionen
beschreibt (Venice Commission 2007, Kap. I, Abschnitt 3.1.d; Reidy und Suiter
2015: 163).
d) Frageformulierung von neutraler Seite (z.B. durch RefKom)
Die Formulierung der zur Abstimmung gestellten Frage hat einen potentiellen
Einfluss auf das Ergebnis und seine Akzeptanz. Die Venedig-Kommission for-
dert eine klare und verständliche Fragestellung, die keine Antwort suggeriert
und mit Ja oder Nein zu beantworten ist (Venice Commission 2007, Kap. I,
Abschnitt 3.1.c; s. auch IDEA 2008: 54–55, 196).
e) Regulierte Wahlkampffinanzierung
Das einfachste Verfahren für eine basale Aufsicht über die Kampagnenfinan-
zierung ist die Verpflichtung aller wahlkämpfenden Akteure, die eingesetzten
Mittel offenzulegen. Laut Richtlinie der Venedig-Kommission sollen die für
den Referendumswahlkampf eingesetzten Mittel, ganz gleich von welcher Par-
tei oder Gruppierung, transparent gemacht werden. In der Praxis erweist sich
4.5 Zwischenfazit 65
die Richtlinie oft als schwer durchsetzbar. Zunächst setzt sie die verbindliche
Registrierung aller an den Kampagnen beteiligten Akteure voraus. Im Nach-
gang der Abstimmung soll eine Berichtspflicht bestehen und eine Überprüfung
der Kampagnenfinanzierung erfolgen.
Ferner empfiehlt die Kommission die ausgewogene Zuteilung von Wahlkampf-
hilfen aus öffentlichen Mitteln für beide Lager. Zu diesem Zweck können An-
spruch und Höhe an bestimmte Bedingungen geknüpft werden, etwa zurück-
liegender Wahlerfolg, Stimmenanteil, Parlamentssitze etc. Die Regulierung
der Kampagnenfinanzierung kann mit einer Ausgabenobergrenze einhergehen
(Venice Commission 2007, Kap. I, Abschnitt 2.2.d, g und h; Kap. II, Abschnitt
3.4).
f) Regulierte Medienberichterstattung, Zuteilung von Medienanteilen
Die Kommission plädiert für die Sicherstellung von Ausgewogenheit der medi-
al verbreiteten Wahlwerbung beider Seiten (Unterstützer und Gegner) vor allem
in den öffentlich-rechtlichen Medienformaten. Bei den privaten Medienträgern
sollte ein fairer Zugang für beide Lager gewährleistet werden (Venice Commis-
sion 2007, Kap. I, Abschnitt 2.2.b und e).
4.5 Zwischenfazit
Jede Typologie direkter Demokratie hat sich auch mit dem unklaren und proble-
matischen Begriff des Plebiszits auseinanderzusetzen. Wie Suksi zutreffend an-
merkt, bildet das Plebiszit eine Art „left-over category“ (1993: 10). Aus völker-
rechtlicher Sicht kann unter Plebiszit zunächst ein Territorialentscheid verstanden
werden, wie er in Europa insbesondere im Zuge der Friedensordnung nach dem
Ersten Weltkrieg in verschiedenen Regionen zur Anwendung gekommen ist (vgl.
Deszõ 2001: 265). Karl Loewenstein (1969 [1957]: 271–272) erkennt zwar bereits
in seiner Verfassungslehre den diffusen Gebrauch der Vokabel, lässt sie aber selbst
ausschließlich für solch extrakonstitutionelle Fragen, also „Volksabstimmungen
über nichtverfassungsrechtliche und nichtgesetzgeberische Gegenstände“ gelten.
Plebiszite werden aufgrund historischer Erfahrungen oft als von oben inszenierte
und besonders manipulierte Volksabstimmungen dargestellt und damit als Teil des
Instrumentenkastens zur Herrschaftssicherung von autokratischen Regimen ange-
sehen (Qvortrup 2013: 20). Daher rühren pejorative Konnotationen, die sich auch
in demokratischen Gesellschaften mit dem Begriff verbinden. Für Deutschland
dient in diesem Zusammenhang etwa die angeblich missbräuchliche Verwendung
während der Weimarer Republik als Negativbeispiel (dazu korrigierend Schiffers
2000). In der französischen Diskussion resultieren die negativen Assoziationen aus
66 4 Kategorisierung direkter Demokratie
„no two countries have identical electoral systems, and none have identical regu-
lations for the conduct of referendums. The laws governing the organization and
finance of Yes and No campaigns and the format of the ballot paper vary, as does the
significance attached to the result“ (1994a: 6).
Unter den nordeuropäischen Staaten ist Dänemark die Demokratie, die am stärks-
ten vom Instrument des Referendums Gebrauch gemacht hat (Nilson 1978: 169;
Bogdanor 1994: 70; Venice Commission 2005: 26; Schmidt 2010: 339). Seit der
Reform des dänischen Grundgesetzes 1916 hat es 22 Volksabstimmungen gege-
ben. Zum einen wird nach Art. 88 des Grundgesetzes die Konsultation der Be-
völkerung für Verfassungsänderungen verlangt (konstitutionelles Referendum).
Dabei gilt ein Zustimmungsquorum von 40 Prozent der Stimmberechtigten. In
der Abstimmung muss damit die einfache Stimmenmehrheit einhergehen. Zum
anderen wird ein spezielles obligatorisches Referendum für die Veränderung des
Wahlalters nach Art. 29 Grundgesetz verlangt.
Darüber hinaus kennt die dänische Verfassung auch ein fakultatives Referen-
dum nach Art. 42. Es ist in seiner dänischen Ausgestaltung ein Instrument der
parlamentarischen Minderheit, indem die Volksabstimmung von einem Drittel der
Abgeordneten im Parlament ausgelöst werden kann. Deshalb wird dieses Instru-
ment auch Oppositionsreferendum genannt. Hierbei gilt ein Ablehnungsquorum
von 30 Prozent aller Stimmberechtigten.
Gewissermaßen als Hybridform sieht die dänische Verfassung zudem ein „be-
dingt-obligatorisches“ Referendum (Giese und Rehmet 2015: 4) vor, das für die
Übertragung nationaler Hoheitsrechte an internationale Organisationen gleichsam
halbautomatisch ausgelöst wird, wenn die parlamentarische Unterstützung sich
nicht in einer übergroßen Mehrheit manifestiert. Art. 20 Grundgesetz verpflichtet
die Regierung dazu, eine Volksabstimmung anzusetzen, wenn im Folketing zwar
die gesetzgebende Mehrheit erreicht ist, nicht aber ein hohes Quorum von fünf
Sechsteln der Mitglieder, und die Regierung an ihrer Vorlage festhält. Da dieses
Quorum in europapolitischen Vertragsratifizierungen regelmäßig unterschritten
worden ist, hat sich das bedingt-obligatorische Referendum nach Artikel 20 (in
der Ausführung in Anlehnung an Art. 42) als geradezu typisches Verfahren für
europapolitische Volksabstimmungen in Dänemark etabliert.
Auch für den Fall, dass eine Ratifizierungsentscheidung die Fünf-Sechstel-Hür-
de erreicht, bleibt die Möglichkeit eines fakultativen Referendums. Hierbei handelt
es sich um eine aus dem Parlament initiierte Volksabstimmung: das sogenannte
Parlamentsreferendum. Gemäß Art. 19 und 42(6) kann für internationale Verträge
mit einfacher Mehrheit und auf Basis eines Gesetzes ein Volksentscheid anbe-
raumt werden. Für diese Art Volksabstimmung entfällt das Zustimmungsquorum.
72 5 EU-Referenden im Vergleich
Referenden nach der dänischen Verfassung sind unter den genannten Bedingungen
(also vor allem Quoren) rechtsverbindlich und können vom Folketing nicht mehr
überstimmt werden.
Dänemark zählt innerhalb Europas auch zu den Ländern, die am häufigsten
Referenden über europapolitische Gegenstände durchgeführt haben (Buch und
Hansen 2002: 1 u. 7). Seit dem Eintritt des Königreichs in die Europäische Wirt-
schaftsgemeinschaft 1973 bzw. dem vorangegangenen Referendum 1972 sind die
Beziehungen Dänemarks zur EU durch Volksabstimmungen und entsprechend
heikle Ratifizierungssituationen geprägt. Sieben der insgesamt 22 dänischen
Volksabstimmungen betrafen europäische Abstimmungsgegenstände, waren über-
wiegend Vertragsreferenden. So haben die Dänen nach einem Beitrittsreferendum
1972 vierzehn Jahre später über die Einheitliche Europäische Akte (EEA) abstim-
men dürfen, dann zweimal, nämlich 1992 und im Folgejahr über den Maastricht-
Vertrag (beim zweiten Mal in Verbindung mit dem Edinburgh-Abkommen über
die dänischen Opt-outs) sowie auch 1998 über den Amsterdamer Reformvertrag.
Im Jahr 2000 kam es mit einem im Ergebnis abschlägigen Votum über die Ein-
führung des Euro zu einer ersten europapolitischen Sachabstimmung. Im Dezem-
ber 2015 folgte die zweite und vorerst letzte Sachabstimmung Dänemarks, näm-
lich ein Referendum über ein faktisches Opt-in im Bereich der Polizeilichen und
Justiziellen Zusammenarbeit (ebenfalls abgelehnt). Die genannten Abstimmungen
erfolgten überwiegend ‚halbautomatisch‘ nach Art. 20 Grundgesetz, weil der Ra-
tifizierungsbeschluss im Parlament die nötige Fünf-Sechstel-Mehrheit verfehlt
hatte. Ausnahmen dazu bilden allerdings die Referenden über die Einheitliche
Europäische Akte 1986 sowie die zweite Abstimmung über den Maastricht-Ver-
trag (plus Opt-outs) 1993. In diesen beiden Fällen kam das Parlamentsreferendum
zur Anwendung.
Aus dem Vorangegangenen wird klar, dass das dänische Verfassungsrecht Refe-
renden über europäische Vertragsratifizierungen nicht zwingend vorschreibt. In-
74 5 EU-Referenden im Vergleich
Beispiele aus den 1990er Jahren zeigen klar, dass die direktdemokratische Ent-
scheidung in Dänemark geradezu zum Standardverfahren für europapolitische
Vertragsreformen geworden war. Darüber hinaus erstreckt sich diese ‚Referen-
dumsgarantie‘ auch auf die im Kontext der Maastricht-Referenden ausgehandel-
ten Opt-outs und die darin vereinbarten Sonderrechte (Buch und Hansen 2002: 8;
Petersen 1998: 5). Mit dieser Tendenz lassen sich die Sachabstimmungen über die
Euro-Einführung 2000 oder über die Aufgabe der Sonderstellung hinsichtlich der
Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit 2015 erklären, denn beide Ausnah-
meregelungen sind Teil des mit dem Abkommen von Edinburgh ausgehandelten
Pakets.
Die gescheiterte Euro-Einführung hatte für die proeuropäischen Elitenakteure
eine herbe Enttäuschung bedeutet und eine stärkere Zurückhaltung gegenüber dem
Referendumsinstrument bewirkt. Diese Skepsis schlug sich in einer Änderung
der verfassungswirklichen Praxis nieder. Dies wurde schon bei Ratifizierung des
Nizza-Vertrags deutlich (Buch und Hansen 2002: 8), für die die Konsultation der
Bevölkerung ausblieb. Offensichtlich wurde dem Vertrag nicht die hinreichende
Substanz im Sinne einer weiteren Kompetenzübertragung zugesprochen. Ganz an-
ders verhielt es sich freilich wenige Jahre später mit der Ratifizierung des Vertrags
über eine Verfassung für Europa. Für diesen wegweisenden und bahnbrechenden
konstitutionellen Schritt war auch in Dänemark ein Referendum vorgesehen. Be-
obachter erwarteten eine kritische Debatte und eine knappe Abstimmung. Nach
den überraschenden Niederlagen der Vertragsbefürworter in Frankreich und den
Niederlanden zählte Dänemark allerdings zu den Ländern, die ihre Volksabstim-
mungen zunächst aussetzten. Da das Dokument auf europapolitischer Verhand-
lungsebene infolge der Misserfolge aufgegeben wurde, kam es auch nicht mehr zu
einem dänischen Referendum. Statt für eine Wiederaufnahme des Ratifikations-
prozesses entschieden sich die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten
bewusst für den als nüchternes Reformdokument gehaltenen Lissabon-Vertrag, der
hinsichtlich seiner Form und seiner symbolischen Gestalt in der Tradition früherer
Reformverträge stand. Der substanzielle Gehalt war allerdings immens und die
enthaltenen Reformmaßnahmen nahezu vollumfänglich aus dem Verfassungsver-
trag übertragen worden. Trotz der evidenten Kompetenzübertragungen und der
zu erwartenden großen Effekte auf die europäische Systementwicklung ging der
Reformvertrag aber unterhalb der Referendumsschwelle durch das dänische Rati-
fizierungsverfahren. Die Dänen begnügten sich mit einer parlamentarischen Ab-
stimmung, worin spätestens eine partielle Abkehr von der Referendumsgewohnheit
in europapolitischen Fragen zum Ausdruck kommt. Wenngleich diese wesentliche
Vertragsreform aus direktdemokratischer Sicht gewissermaßen ausgelassen wur-
de, scheint die Garantie für die dänischen Opt-outs indes weiterhin zu bestehen.
76 5 EU-Referenden im Vergleich
5.2.2 Referendumsdispositiv
gen (Reidy und Suiter 2015: 162). Klärende Informationen werden zusätzlich zum
Wahlzettel zwar verbreitet, allerdings durch die Regierung und nicht durch eine
neutrale Kommission. Auch die Frageformulierung erfolgt durch die Regierung.
Insgesamt ist das dänische Referendumsdispositiv auf mittlerem Niveau einzu-
ordnen.
aktiv. Wie in anderen Beispielen sprach sich der parteipolitische Mainstream, die
politische Mitte, für die Ratifizierung aus, also die Regierungsparteien plus die
liberale Venstre-Partei, die Zentrumspartei (Centrum-Demokraterne), die Konser-
vative Volkspartei (Konservative Folkeparti) und die Christdemokraten (Kristen-
demokraterne). Widerstand formierte sich an den Rändern des politischen Spek-
trums. Auf der politischen Linken warb vor allem die so genannte Einheitsliste
(Enhedslisten), eine Kampagnenkooperation linker und linksextremer Gruppie-
rungen, für ein Nein. Die Sozialisten (Socialistisk Folkeparti) spalteten sich über
die Abstimmungsfrage, so dass Vertreter in beiden Lagern stritten. Auf der rechten
Seite waren es die Dänische Volkspartei (Danske Folkeparti) und die Fortschritts-
partei (Fremskriedtspartiet), die Wahlkampf gegen die Ratifizierung führten.
Der Amsterdam-Vertrag sah als wesentliche Reform die Integration des Schen-
gen-Besitzstands in das Gemeinschaftsrecht vor. Die Integration in den Bereichen
Inneres und Justiz stieß in Dänemark traditionell auf großen Widerstand. Die Re-
form war in Dänemark folglich sehr umstritten, berührte sie doch ein nationales
Kernanliegen, dem nach der ersten Maastricht-Abstimmung mit einer Ausnahme-
regelung Rechnung getragen worden war. Auf der anderen Seite hatte sich die dä-
nische Regierung ein entsprechend aktualisiertes Opt-out durch die europäischen
Partner garantieren lassen. Dass die Befürworter auf die Ausnahmeregelung ver-
wiesen, hielt die Gegner freilich nicht davon ab, den Schengen-Besitzstand und
die Kooperation auf justizieller Ebene zu wesentlichen Streitpunkten der Debatte
zu machen (Petersen 1998: 28). Andere Kritikpunkte, die von der politischen Lin-
ken artikuliert wurden, waren die Tendenz zur Abschottung im Sinne einer „Fes-
tung Europa“ sowie die unzureichenden Maßnahmen und Garantien im Bereich
der Umweltpolitik. Allgemein zeigten sich souveränistische Bedenken gegenüber
einer fortschreitenden politischen Integration zulasten nationaler Identität und
Autonomie. Die Vertragsbefürworter argumentierten demgegenüber mit den zu
erwartenden positiven ökonomischen Effekten. Sie verwiesen auf die Qualität der
EU-Integration als einem beispiellosen Friedensprojekt mit konkreter Aussicht auf
die Integration der osteuropäischen Nachbarländer. Sie machten deutlich, dass ein
aktualisiertes Bekenntnis zu den dänischen Ausnahmeregelungen erreicht worden
sei. Schließlich warnten sie vor einer Isolation Dänemarks vom Gemeinschafts-
projekt und bestanden darauf, dass eine Nachverhandlung für diesen Vertrag nicht
möglich bzw. nicht zu erwarten sei (s. Überblick in Buch und Hansen 2002: 15).
Betrachtet man die Entwicklung der öffentlichen Meinung im Vorfeld der Ab-
stimmung, so hatte es in den ersten Umfragen aus dem Vorjahr noch einige An-
zeichen für ein knappes Votum gegeben. Im Laufe des Frühjahrs 1998 indes wur-
den die Aussichten für einen Wahlsieg der Ratifizierungsbefürworter zunehmend
besser (s. Abb. 3).
80 5 EU-Referenden im Vergleich
28 Auch hier zeigt sich die Tendenz der EU-Referendumsforschung vornehmlich Refe-
renden mit negativem Ergebnis als einschneidende Ereignisse des Integrationsgesche-
hens aufzugreifen und zu analysieren.
82 5 EU-Referenden im Vergleich
Die Durchführung von Referenden in Spanien ist auf verschiedenen Wegen ver-
fassungsrechtlich vorgesehen, geschieht aber sehr selten. Art. 92 der spanischen
Verfassung sieht die Möglichkeit vor, „[p]olitische Entscheidungen von besonderer
Tragweite“ dem Volk zur Abstimmung vorzulegen. Das Referendum muss vom
Kongress, der ersten Parlamentskammer, mit absoluter Mehrheit genehmigt, vom
Ministerpräsidenten vorgeschlagen und vom König festgesetzt werden. Solche fa-
kultativen Referenden in Spanien sind konsultativ, binden die Entscheidungsträger
also nicht. Im Nachgang einer Volksabstimmung ist für eine verbindliche Gesetz-
gebung immer noch die Zustimmung beider Parlamentskammern erforderlich.
Anders verhält es sich bei den obligatorischen Volksabstimmungen, die für be-
stimmte Verfassungsänderungen nach Artikel 168 der Verfassung verbindlich vor-
geschrieben sind (etwa betreffend die Staatsform und -organisation, die Monarchie
oder die Grundrechte und -freiheiten). In ähnlicher Weise ist auch die Verfassung
des demokratischen Spaniens 1978 selbst mit einem Referendum angenommen
worden (s. damit obsolet gewordenen Art. 3 Verf.). Trotz weiter zurückreichender
Erfahrungen mit direktdemokratischen Verfahren etwa im Hinblick auf Regional-
streitigkeiten oder die Referendumspraxis in der Franco-Diktatur kann die Volks-
abstimmung über die nationale Verfassung als eigentlicher Präzedenzfall für das
spanische Referendum gelten. Zuletzt besteht für weitere Verfassungsänderungen
auch die Möglichkeit eines Oppositionsreferendums nach Art. 167 Abs. 3 Verf.,
wonach innerhalb von 15 Tagen nach dem parlamentarischen Beschluss eines ent-
sprechenden Gesetzes, ausgehend von einem Zehntel der Abgeordneten von einer
der beiden Parlamentskammern, ein Referendum erzwungen werden kann. Bisher
gibt es mit Ausnahme der Verfassungsgebung keine Beispiele für die verschiede-
nen genannten Typen rechtsverbindlicher Referenden. Stattdessen sind die zwei
nach 1978 erfolgten Konsultationen, die beide internationale Organisationen be-
trafen, auf Basis des Artikels 92 erfolgt (Giese und Rehmet 2015).
Passend zur allgemein schwach ausgebildeten Referendumserfahrung hatte
Spanien vor dem Verfassungsvertrag 2005 keine europapolitische Entscheidung
zuvor zur Volksabstimmung gebracht. Mit einer parlamentarischen Ratifikation
begnügten sich die Spanier demnach sowohl für den Beitritt zur Europäischen
Gemeinschaft selbst als auch für alle Vertragsreformen danach, darunter so ge-
wichtige wie den Maastricht-Vertrag. Auch der Vertrag von Lissabon wurde auf
parlamentarischem Weg ratifiziert.
5.3 Spanien: das Referendum als Ausnahmezustand 83
5.3.2 Referendumsdispositiv
Laut Verfassung liegt das formelle Recht, ein konsultatives Referendum nach
Artikel 92 der Verfassung auszurufen und den Termin festzusetzen, beim König.
Dabei handelt der König auf Grundlage eines Vorschlags des Ministerpräsiden-
ten (Bernhardt 2006: 104). Diesem wiederum muss das Abgeordnetenhaus mit
absoluter Mehrheit zustimmen. Das königliche Dekret enthält laut zugehörigem
Ausführungsgesetz („Ley Orgánica sobre regulación de las distintas modalidades
de referéndum“) den kompletten Text des Gesetzesvorschlags oder zumindest eine
klare Beschreibung des Abstimmungsgegenstands. Außerdem muss die Abstim-
mungsfrage, müssen die Abstimmungsfragen, darin im Wortlaut aufgeführt sein.
Zuletzt setzt das Dekret den Termin an, der in einer Zeitspanne von 30 bis 120 Ta-
gen nach dem Dekret folgen muss. Das Dekret muss nicht allein über die nationale
Staatszeitung, sondern auch über die offiziellen Mitteilungsblätter der betroffenen
Regionen sowie über die führenden Medien des Landes verbreitet werden.
Hinsichtlich der Durchführung der Volksabstimmung selbst orientiert sich das
Referendumsgesetz eng am nationalen Wahlgesetz (Closa Montero und Bellolio
2010: 148). Um einen Wahlausschuss zu bilden, sind die Parteien und Koalitionen,
die im Parlament vertreten sind oder bei den letzten Wahlen zum Abgeordneten-
haus mindestens drei Prozent der Stimmen gewinnen konnten, aufgerufen, Mit-
glieder zu benennen. Es ist der Regierung und anderen Amtsträgern untersagt,
aktiv in die Kampagne eines Lagers einzugreifen oder gar öffentliche Mittel für
Kampagnenzwecke einzusetzen (s. Art. 50 Wahlgesetz; IDEA 2008: 146; Reidy
und Suiter 2015: 161; Venice Commission 2005: 18). Die offizielle Wahlkampagne
muss mindestens zehn, darf aber maximal 20 Tage andauern. Sie endet am Vortag
des Referendums. Die Veröffentlichung oder Verbreitung von Meinungsumfragen
ist für die letzten fünf Tage vor der Abstimmung gesetzlich untersagt. Für die
Kampagne sind die öffentlich-rechtlichen Medien verpflichtet, den im Parlament
vertretenen Parteien gratis Sendezeit zur Verfügung zu stellen. Die Parteien kön-
84 5 EU-Referenden im Vergleich
nen diese Kontingente für Wahlwerbung nutzen. Ihre Größe richtet sich nach dem
letzten Wahlerfolg bei nationalen Wahlen (Closa Montero und Bellolio 2010: 151;
Venice Commission 2005: 17). Zudem gab es zumindest für das spanische EU-
Verfassungsreferendum neben der regulären Parteienfinanzierung auch spezielle
Mittel für die Kampagnenfinanzierung. Die Sonderzuschüsse konnten ausschließ-
lich durch Parteien beantragt werden, sie richteten sich nach der Anzahl der Stim-
men bzw. Sitze nach der letzten Parlamentswahl und wurden durch das Innen-
ministerium vergeben. Sie mussten ebenso wie Spenden und andere Finanzmittel
auf separaten Konten abgelegt werden, über die im Nachgang des Referendums
Bericht zu erstatten war (Closa Montero und Bellolio 2010: 152–153; Tabelle mit
den Zuschüssen für die Parteien). Alles in allem ist das spanische Referendums-
dispositiv als mittel anzusehen.
29 Im zweiten Halbjahr 2004 sprachen sich 72 Prozent der Befragten dafür aus, dass es
sich bei der EU-Mitgliedschaft ihres Landes um eine gute Sache handle (Standard
Eurobarometer 62, Herbst 2004). Im Jahr vor Ausbruch der Eurokrise lagen die Zu-
stimmungswerte zur Mitgliedschaft des eigenen Landes in der EU immer noch auf
5.3 Spanien: das Referendum als Ausnahmezustand 85
demselben, relativ hohen Niveau (71 Prozent, Standard Eurobarometer 72, Frühjahr
2009).
30 Die PSOE erreichte nicht die absolute Mehrheit an Sitzen im Abgeordnetenhaus und
bildete folglich eine Minderheitsregierung (Bernhardt 2006: 104).
86 5 EU-Referenden im Vergleich
der oppositionellen Partido Popular (PP): Sie argumentierte, die Eile der Regie-
rung ließe nicht genügend Zeit, um die Bürger ausreichend über den Vertrag und
seine Inhalte zu informieren (Bernhardt 2006: 109). Es wurde befürchtet, dass ein
kurzer und schneller Wahlkampf sich nicht allein negativ auf das Informationsni-
veau, sondern auch auf die Beteiligung auswirken würde. Tatsächlich entwickelte
sich die Partizipationsrate zur spannendsten Frage des Wahlkampfs, stand ein Ja
zum Verfassungsvertrag doch früh fest und wurde durch sukzessive veröffentliche
Umfragen bestätigt.
Der Wahlkampf war insgesamt von geringer Intensität. Die Regierung selbst
hatte sich mit der Informationskampagne zumindest die letzten 30 Tage vor der
Abstimmung ohnehin zurückzuhalten. Die Kampagnen lagen in den Händen der
Parteien, die damit nach Meinung vieler Beobachter aber zu spät, nämlich erst
Mitte bzw. Ende Februar begannen (Bernhardt 2006: 111). Mit der Sozialistischen
Arbeiterpartei sowie der Volkspartei (PP) traten die beiden stärksten politischen
Kräfte, die Regierungspartei sowie die führende Oppositionspartei, für eine Zu-
stimmung zum Verfassungsvertrag ein. Daneben war mit der Koalition der Kana-
rischen Inseln (Coalición Canaria) nur eine einzige der in Spanien insgesamt be-
deutenden Regionalparteien entschieden für den Verfassungsvertrag. Alle anderen
Parteien waren zunächst unentschieden oder kritisch. Schon zu Beginn der De-
batte entschieden sich jedoch sowohl die baskisch-nationalistische PNV (Partido
Nacionalista Vasco) als auch die liberal-konservative CiU (Convergència i Unió)
für ein positives Votum und führten ihre Wahlkämpfe entsprechend. Andere Re-
gionalparteien wie die Republikanische Linke von Katalonien (Esquerra Republi-
cana de Catalunya, ERC), die linke Partei der Region Aragon (Chunta Aragonesis-
ta, CHA) und der Nationalistische Block Galiziens (Bloque Nacionalista Galego,
BNG) kämpften gegen die Ratifizierung. Ebenso positionierte sich die Vereinigte
Linke Spaniens (Izquierda Unida) klar im Nein-Lager. Hinzu kamen einige Be-
wegungen von Globalisierungskritikern. Allerdings hielt sich die Zivilgesellschaft
im Wahlkampf im Vergleich zu Frankreich und Irland insgesamt zurück (Kölling
2005: 8–19).
Abbildung 5 zeigt die Entwicklung der Meinungsumfragen von Dezember
2004 bis Februar 2005. Im Dezember und früher zeichnete sich die große Unter-
stützung für den Verfassungsvertrag unter den Befragten klar ab. Demgegenüber
war die Ablehnung sehr gering. Trotz geringfügiger Schwankungen blieben die
Ergebnisse im Verhältnis weitgehend stabil. Bis zuletzt gaben fast 40 Prozent der
Befragten an, unentschieden zu sein, was angesichts des Abstands zwischen Ja und
Nein in den Umfragen allerdings nicht ernsthaft irritieren musste.
Der Ausgang der Volksabstimmung kam vor diesem Hintergrund sehr erwartet.
Die hohe Zustimmung von über 77 Prozent der Stimmen war gewiss ein eindrucks-
5.3 Spanien: das Referendum als Ausnahmezustand 87
volles Ergebnis. Allerdings wurde auch im Nachgang des Votums weiter über die
niedrige Beteiligung diskutiert: Trotz des Abstimmungserfolgs aus Sicht der Re-
gierung waren der wenig intensive Wahlkampf und die niedrige Wahlbeteiligung
von 42,32 Prozent doch eine Enttäuschung für viele Beobachter (Closa Montero
und Bellolio 2010: 157; Torreblanca 2005). Die Partizipation war die niedrigste in
allen Urnengängen seit dem Ende der Franco-Diktatur.
Abbildung 5 Entwicklung der Meinungsumfragen (Institut Opina für SER Radio) zwi-
schen Dezember 2004 und Februar 2005. Quelle (Zahlen): Übersicht über
die Umfrageergebnisse des Instituts Opina für SER Radio, URL: https://
web.archive.org/web/20050209031149/http://www.cadenaser.com/static/
pulsometro/anteriores/encuesta_050207.htm (23.12.2015).
Die Verfassung der V. Französischen Republik von 1958 enthält in Artikel 3 ein
starkes Bekenntnis zur Volkssouveränität. Dieses ist unmittelbar verbunden mit
dem Instrument des Referendums: „La souveraineté nationale appartient au peu-
ple qui l’exerce par ses représentants et par la voie du référendum“ (Art. 1 Abs.
1). Unter den weiteren Bestimmungen finden sich zwei Wege, 31 ein nationales Re-
ferendum durchzuführen: Zum einen sieht die Verfassung ein fakultatives Refe-
rendum nach Artikel 11 vor, zum anderen ist daneben nach Artikel 89 auch ein
bedingt-obligatorisches Referendum für Verfassungsänderungen vorgeschrieben,
welches allerdings per Präsidentenbeschluss durch eine Abstimmung der beiden
im Kongress versammelten Parlamentskammern ersetzt werden kann.32 Für die
31 Nach der die Ratifizierung des VV vorbereitenden Verfassungsänderung vom 28. Fe-
bruar 2005 sind es streng genommen drei, denn seither ist auch für jeden Beitritt eines
Landes zur EU ein nationales Referendum vorgeschrieben, das gegebenenfalls vom
Präsidenten einzuleiten ist (Art. 88-5 Verfassung der V. Republik).
32 Das Referendum nach Art. 89 wird von einigen Analysten auch als obligatorisches
Referendum geführt (vgl. Morel 1996). Angesichts der Tatsache, dass eine Volksab-
5.4 Frankreich: das Referendum als Spezialität 89
Anders als Artikel 89 Verf., als die eigentliche Rechtsgrundlage für Verfassungs-
revisionen, sieht Artikel 11 mithin außer der Alternativoption eines gemeinsamen
Vorschlags von Nationalversammlung und Senat keinerlei Beteiligung des Parla-
ments im weiteren Verfahren vor: „Under Article 11, the legislature has no role,
but is bypassed through the referendum“ (Bogdanor 1994: 50; s. auch: 31). Das
sog. Heraushalten des Parlaments („mise hors jeu du parlement“, Conseil Cons-
titutionnel und Rousseau 2008) kann bereits als eine spezifische Eigenschaft des
stimmung hier umgangen werden kann, ist eine solche Bezeichnung aber irreführend.
33 Die sehr seltene Nutzung mag auch dazu beitragen, dass diese Referendumsart in eini-
gen vergleichenden Überblicken zu direktdemokratischen Verfahren übersehen oder
ausgelassen wird (etwa Wagschal 2007a: 46).
34 Die Revision hat dem ersten Absatz lediglich eine Reform betreffend die Umweltpoli-
tik als Abstimmungsgegenstand hinzugefügt und darüber hinaus in neuen Absätzen
Bestimmungen zur Auslösung und Durchführung des Referendums, insbesondere zur
Unterrichtung des Parlaments ergänzt (vgl. République Française 2008: Art. 4).
90 5 EU-Referenden im Vergleich
Ziel die Bestätigung der absoluten Macht des Regenten war (zur problematischen
napoleonischen Tradition des Referendums vgl. Bogdanor 1994: 48; Hamon 2010:
107).35 Nach diesen historischen Erfahrungen blieb das Referendumsinstrument
während der Dritten und Vierten Republik weitgehend diskreditiert. Das erste Re-
ferendum der Fünften Republik war sogleich die Geburtsstunde ihrer Verfassung.
Der Gründungsvater der neuen Republik, Charles de Gaulle, schätzte die Praxis
des Referendums als „la plus nette, la plus franche, la plus démocratique qui soit“
(zit. nach Ponceyri 2005: 91). Die Verfassung knüpfte an die spezielle französi-
sche Tradition an, indem sie mit Artikel 11 den direkten Anruf der Bevölkerung
durch das Staatsoberhaupt ermöglichte. Ganz im Sinne de Gaulles konnten Par-
teien und Parlament gezielt umgangen werden, und das Referendum stellte ein
wirksames Disziplinierungsinstrument gegenüber der Volksvertretung im ohne-
dies rationalisierten französischen Parlamentarismus dar (vgl. Luthardt 1994, 64
u. 168). Fünfmal machte de Gaulle während seiner Präsidentschaft von der direkt-
demokratischen Option Gebrauch. Im Jahr 1962 löste er eine heftige politische und
staatsrechtliche Debatte aus, als er eine bedeutende Verfassungsänderung nach
Artikel 11 Verf. am Parlament vorbei legitimieren ließ, anstatt die Volksvertreter
entsprechend der Vorschrift nach Artikel 89 einzubinden (vgl. Morel 1996: 71).
Die umstrittene Einführung der Direktwahl des Staatspräsidenten wäre vom Par-
lament aller Wahrscheinlichkeit nach nicht gebilligt worden. De Gaulle knüpfte
zudem an die starke Personalisierung in der französischen Referendumstradition
an. Jede Volksabstimmung wurde so zu einer Legitimierung seiner eigenen Macht-
position. Demnach war es in gewisser Weise nur konsequent, dass er die Personali-
sierung der Abstimmungen bis zum bitteren Ende forttrieb. Als sein zweites Revi-
sionsvorhaben 1969 an einer ablehnenden Mehrheit im Referendum scheiterte, trat
de Gaulle von seinem Amt zurück. Diesem Beispiel ist Jacques Chirac 2005 nicht
gefolgt, und in der Zwischenzeit waren alle Präsidenten mit ihren Projekten in den
Volksabstimmungen, wenn auch teils knapp, erfolgreich gewesen. So oder so ist
der Ausgang französischer Referenden aber stets eng mit der Popularität und dem
politischen Schicksal ihrer Initiatoren verknüpft (vgl. Möckli 1994: 362).
Neben der plebiszitären Funktion des Referendums nach Artikel 11 sowie dem
taktischen Heraushalten des Parlaments kam in den französischen Referenden
nach der Ära de Gaulles, nämlich vor allem in den drei Volksabstimmungen über
europäische Themen, ein weiteres präsidentielles Kalkül zum Vorschein, nämlich
35 Als besonders anschauliches Beispiel kann das Plebiszit Napoleons I. vom 18. Mai
1804 dienen, in dem er sich vom Volk die Kaiserwürde antragen ließ: „Le peuple veut-
il l’hérédité de la dignité impériale dans la descendance directe, naturelle, légitime et
adoptive de Napoléon Bonaparte?“ (zit. nach Möckli 1994: 37).
92 5 EU-Referenden im Vergleich
mensionen. Innerhalb von über fünfzig Jahren kam es zehnmal zur Volksabstim-
mung, davon allein fünfmal in den ersten elf Jahren der jungen Republik unter
Charles de Gaulle. Das Referendum in Frankreich wird nur bei besonders bedeu-
tenden politischen Entscheidungen angewandt, und dies auch nur dann, wenn der
Staatspräsident Grund genug hat, von einem Sieg in der Abstimmung auszugehen
(vgl. Hug 2002: 29; hierzu allgemein LeDuc 2002: 727). Für den Präsidenten als
Initiator stellt das Referendum allerdings immer ein riskantes Manöver mit un-
gewissem Ausgang dar: „a basically risky device for its initiators“ (Morel 1996:
84). Tabelle 5 führt die zehn bis heute erfolgten Referenden auf. Im folgenden Ab-
schnitt wird das französische Referendumsdispositiv behandelt.
5.4.2 Referendumsdispositiv
geregelt. Wie das Referendum selbst liegen auch viele Entscheidungen das Dis-
positiv betreffend in der Hand der Exekutive und werden per Dekret in Vorberei-
tung jeder einzelnen Abstimmung neu erlassen. Ein genuines Referendumsgesetz
gibt es hingegen nicht (vgl. Mayer 2006: 50), was vom Verfassungsrat wie dem
Staatsrat in der Vergangenheit immer wieder kritisiert wurde (Hamon 2010: 110).
Während sich die Organisation und Durchführung der Abstimmung selbst an den
Inhalten des Code électoral sowie an der sukzessive weiterentwickelten nationalen
Wahlgesetzgebung36 orientiert, zeigen sich im Hinblick auf die Organisation der
Referendumskampagnen deutlichere Regelungslücken. Für das Referendum über
den EU-Verfassungsvertrag enthielt ein präsidentielles Dekret vom 17. März 2005
(Président de la République 2005a) die relevanten Vorschriften. Darin wurde der
offizielle Wahlkampfzeitraum auf die zwei Wochen vom 16. Mai bis einschließlich
zum Vortag der Abstimmung festgelegt (vgl. Aboura 2005: 1094). Parteien und
politische Vereinigungen konnten auf Antrag als offiziell wahlkämpfende Akteure
bevollmächtigt werden, wenn ihnen entweder mindestens fünf Abgeordnete der
Nationalversammlung oder des Senats angehörten oder wenn sie bei der Wahl
zum Europäischen Parlament im Vorjahr mindestens fünf Prozent der nationalen
Wählerstimmen erhalten hatten. Die entsprechend zugelassenen Organisationen37
waren laut Dekret dazu berechtigt, an ausgewiesenen Plätzen Wahlplakate aufzu-
hängen. Außerdem hatte jede entsprechend berechtigte Partei Anspruch auf freie
Sendezeit in öffentlichen Rundfunk- und Fernsehsendern. Der Conseil supérieur
de l’audiovisuel wurde mit der ausgewogenen Verteilung von Sendezeiten in Höhe
von jeweils 140 Minuten sowie mit der Kontrolle der praktischen Umsetzung der
Regelung beauftragt (Conseil supérieur de l‘audiovisuel 2005; zu diesem Verfah-
ren ausführlich Aboura 2005; Hamon 2010: 111; Sauger et al. 2007: 62–65). Frank-
reich zählt damit zu den wenigen Beispielen, in denen sich die Verpflichtung zu
einer fairen Verteilung von Sendezeiten auf Befürworter und Gegner in einem
Referendumswahlkampf auch auf private Medien erstreckt (Venice Commission
2005). Auf der anderen Seite ist kommerzielle Wahlwerbung ohnehin gesetzlich
untersagt (Reidy und Suiter 2015: 166). Dieses Verbot bezieht sich anders als bei
anderen Wahlkämpfen allerdings nicht auf die drei Monate vor der Abstimmung,
sondern lediglich die drei letzten Wochen (Hamon 2010: 112). Morel konstatiert
38 Dennoch wurde die Wahl des Artikels 11 durch Chirac doch auch vereinzelt kriti-
siert: „La décision de recours au référendum sans pour autant consacrer le pouvoir
constituant du peuple est un acte de souveraineté présidentielle. Il y a substitution de
souverain“ (Carpentier 2005: 47).
5.4 Frankreich: das Referendum als Spezialität 97
Wirkung auf die bürgerlichen Belange zur Folge gehabt hätte und der sich über-
dies einen konstitutionellen Anstrich gab, nun auch dem Volk vorgelegt würde.
Zudem hatte der britische Premierminister Tony Blair bereits im April 2004 ange-
kündigt, die Bürger in seinem Land, auch ohne die vergleichbare republikanische
und direktdemokratische Tradition, über den Verfassungsvertrag per Referendum
abstimmen zu lassen. Auch daraus erwuchs für Chirac ein gewisser Zugzwang
(vgl. Whitman 2005: 677). Hinzu kamen innenpolitische und taktische Motive,
wie die Tatsache, dass die Wahlkämpfer der eigenen Partei UMP (Union pour
un mouvement populaire) in der vorangegangenen Kampagne zur Europawahl
mit einem Referendum in Frankreich geworben hatten und den Präsidenten nun
drängten, ihr Wahlversprechen einzulösen. Insgesamt scheint die Entscheidung
zur Initiative tatsächlich durch eine Vielzahl externer Faktoren vorgegeben ge-
wesen zu sein; Morel konstatiert in Bezug auf das EU-Verfassungsreferendum die
geradezu obligatorische Qualität der Volksabstimmung („référendum politique-
ment obligatoire, ou de facto obligatoire“, Morel 2005: 18). Der Präsident sei im
eigentlichen Sinne nicht „maître de l‘initiative“ (ebd.: 23) gewesen. Doch auch
für Chirac selbst, der spätestens seit dem schlechten Abschneiden seiner Partei
bei den Regional- und Europawahlen 200439 politisch angeschlagen war, bedeu-
tete ein Referendum in einer vermeintlich sicheren Frage – denn zur Zeit seiner
Verkündung lagen die Zustimmungswerte noch bei über 60 Prozent (vgl. Abb.
7) – eine willkommene Gelegenheit, mittels der plebiszitären Funktion des Re-
ferendums die eigene Machtposition wieder zu stärken (vgl. Ponceyri 2005: 74).40
Selbst innerhalb der Partei konnte er die direktdemokratische Bestätigung gut ge-
brauchen, denn mit dem damaligen Parteivorsitzenden und Innenminister Nicolas
Sarkozy stand ein mächtiger Konkurrent um die Kandidatur bei der bevorstehen-
den Präsidentschaftswahl 2007 bereit (vgl. hierzu auch Giblin 2005: 21). Zuletzt
versprach das Referendum eine Spaltung des gegnerischen Lagers (vgl. Schild
2005: 189; zu den potentiellen Gründen des Präsidenten auch Martin 2005). Aus
dieser Sicht lässt sich das innenpolitische Kalkül des Präsidenten bei Ausrufung
des Referendums auch als eine zweigliedrige Wiederwahlstrategie interpretie-
ren: Zum einen ging es ihm darum, die eigene Machtposition innerhalb seiner
Partei sowie der Gesellschaft zu stärken, auf dass er noch einmal mit der Unter-
stützung des bürgerlichen Lagers für die Wahlen im Jahr 2007 rechnen könne.41
Zum anderen wollte er die Linke spalten, um seine Wiederwahl wahrscheinlich
zu machen (vgl. Marthaler 2005: 3). Das Ergebnis des Referendums erscheint aus
dieser Perspektive zweischneidig: Während Chirac die Spaltung der Linken ge-
lang, konnte er selbst nicht davon profitieren. Die willkommene Schwächung des
Gegners glückte nur zum Preis der eigenen politischen Niederlage:
„Ce fut d’ailleurs une des motivations chiraquiennes du recours au référendum: dans
l’adversité, diviser l’adversaire. Diviser l’adversaire, diviser la gauche: sur ce point
le calcul présidentiel a dépassé toutes ses espérances, au point même de devenir
peut-être le plus redoutable des boomerangs“ (Duhamel 2005: 21; vgl. auch Mauduit
2005).
Das Referendum über die EU-Verfassung in Frankreich war mithin ein präsiden-
tielles Projekt, von dessen Gelingen oder Scheitern auch das politische Schicksal
des Präsidenten betroffen sein würde. Am Nationalfeiertag, dem 14. Juli 2004,
verkündete Chirac feierlich, dass das französische Volk in der zweiten Jahres-
hälfte 2005 zur Abstimmung über die Ratifikation gebeten werde (vgl. Marthaler
2005: 1). Während der eigentlichen Kampagne kam es wiederholt zu umstritte-
nen, weil nicht als Wahlkampfaktivität gewerteten, Interventionen des Präsidenten
(Hamon 2010: 113). Zur berühmtesten und denkwürdigsten Veranstaltung wurde
eine Fernsehdebatte zur Hauptsendezeit mit 80 Jugendlichen am 14. April 2005.
Die Unterredung war von wechselseitigem Unverständnis geprägt. Unerwartet
konfrontierten die vermeintlich europhilen, zukunftsorientierten Adoleszenten
des ausgewählten Publikums den Staatschef mit ihren sozialen Ängsten, worauf
dieser wenig mehr als ein pastorales «N’ayez pas peur!» („Fürchtet Euch nicht!“42)
zu entgegnen wusste (vgl. Ponceyri 2005: 80). Das Echo in der französischen Pres-
selandschaft sowie in politikwissenschaftlichen Beiträgen war verheerend: Die
Sendung wurde keineswegs zur erhofften Trendwende gegen den Vormarsch der
Neinsager, sondern vielmehr zum deutlichen Zeichen für die Entfremdung der po-
litischen Elite von den Sorgen der Bevölkerung sowie verunsichernden Menetekel
41 Für Leiße (2009: 170–171) war es vor allem der innenpolitische Druck, der Chirac
dazu veranlasste, ein Referendum durchzuführen. Die Annahme eines differenzierten
Kalküls des Staatspräsidenten scheint in jedem Fall plausibler als der plumpe Vorwurf
einer „krassen Fehleinschätzung“, wie die Entscheidung Chiracs von Hartmann in
dessen Überlegungen zum Verfas-sungsprozess bewertet wird (vgl. Hartmann 2009:
194).
42 S. auch Artikel unter gleich lautendem Titel in Frankfurter Allgemeine Zeitung vom
16. April 2005.
5.4 Frankreich: das Referendum als Spezialität 99
für den späteren Sieg des Nein (vgl. Barbier und Mandonnet 2005; Cautrès 2005:
78-79 u. 86-87; Dabi 2005: 131; Germanangue 2005: 74; IDEA 2008: 147; Reimon
und Weixler 2006: 13ff.). Bereits gut einen Monat zuvor hatte Chirac angesichts
steigender Umfragewerte für das Lager der Vertragsgegner in anderer Form steu-
ernd in die Kampagne eingegriffen: Per Dekret vom 9. März 2005 (Président de la
République 2005b) setzte er mit dem 29. Mai einen deutlich früheren Termin als
vorgesehen für das Referendum an, in der Hoffnung, die Mehrheit der Befürworter
bis dahin halten zu können.
Auch jenseits der Präsidentenpartei UMP sprachen sich alle Parteien rund um
die politische Mitte für die Vertragsratifizierung aus. Eine besonders entschiedene
Kampagne führten die Zentristen der UDF (Union pour la démocratie françai-
se). Auch die gemäßigten Parteien der oppositionellen Linken, also die PS (Parti
Socialiste) und die Grünen (Les Verts) zählten zu den Ratifizierungsbefürwortern
und ihre offiziellen Kampagnen unterstützten diese Position. Allerdings hatten
beide Parteien mit Abweichlern zu kämpfen. Insbesondere die Spaltung der PS
durch ein Ausscheren populärer Abgeordneter wie Henri Emmanuelli und ins-
besondere den früheren Premierminister Laurent Fabius prägte den Wahlkampf
und kann als eine Ursache für das Scheitern des Reformprojekts gelten. Denn trotz
eines internen Referendums im Herbst 2004, das eine klare Mehrheit für die Rati-
fizierung ergab, zerfiel die Partei während der Referendumsdebatte zunehmend in
zwei Lager, so dass in der öffentlichen Wahrnehmung das neu konstituierte Non
Socialiste von einem Oui Socialiste, also der offiziellen Parteilinie, unterschieden
wurde, die PS als Partei dahinter jedoch verschwand.
Offen und einhellig für ein Nein warb hingegen ein breites Tableau der ext-
remen Linken sowie eine Reihe souveränistischer und nationalistischer Parteien
am rechten Rand. Auf der extremen Linken waren es zum einen die PCF (Par-
ti Communiste Français) sowie die trotzkistischen Splitterparteien LCR (Ligue
Communiste Révolutionnaire) und LO (Lutte Ouvrière). Dem standen auf der ex-
tremen Rechten vor allem der FN (Front National), aber auch Splitterparteien aus
früheren Abspaltungen von Zentristen bzw. Zentristen wie das MPF (Mouvement
pour la France), RPF (Rassemblement pour la France) gegenüber.
Abbildung 7 zeigt, dass eine mehrheitliche Ablehnung laut den regelmäßig
veröffentlichten Umfragen der führenden Meinungsforschungsinstitute bereits
ab März 2005 immer wahrscheinlicher wurde. Sowohl im Ja- als auch im Nein-
Lager zeigten sich Interessengruppen, insbesondere Gewerkschaften, und zivil-
gesellschaftliche Gruppierungen ausgesprochen aktiv. Eine besondere Rolle für
das linke Lager der Referendumsgegner spielte die globalisierungskritische Or-
ganisation ATTAC (für eine ausführliche Darstellung der Akteure s. Schünemann
2014: 119–155).
100 5 EU-Referenden im Vergleich
Bei der Abstimmung am 29. Mai sprach sich eine klare Mehrheit von 54,7 Pro-
zent der Wähler gegen den Verfassungsvertrag aus. Die Wahlbeteiligung erreichte
5.5 Niederlande: das Referendum als nationaler Präzedenzfall 101
dabei einen hohen Wert von fast siebzig Prozent. Nach dem negativen Abstim-
mungsergebnis war Chirac der große Verlierer des eigenen Referendums. Eine
Niederlage in der Volksabstimmung selbst hatte vor Chirac nur de Gaulle 1969
erleiden müssen. Er hatte dies zum Ende seiner Präsidentschaft gemacht. Chirac
folgte diesem Beispiel nicht, eine derartige Konsequenz hatte er niemals auch nur
in Aussicht gestellt. Er zog es vor, seinen Premierminister Raffarin zu entlassen
und bereits am 2. Juni 2005 eine neue Regierung unter Dominique de Villepin zu
ernennen.
Das niederländische Referendum vom 1. Juni 2005 stellte einen nationalen Prä-
zedenzfall dar (vgl. Elzinga 2005: 88). Nie zuvor in der fast zweihundertjähri-
gen Geschichte des Königreichs hatte es eine landesweite Volksabstimmung ge-
geben (vgl. Besselink 2007: 117; Nijeboer 2005: 393).43 Die Niederlande zählten
43 Wenn u.a. Hesse (2007: 167) das letzte landesweite Referendum von 1798 anspricht,
dann meint er freilich die Zeit der Batavischen Republik, die unter starkem franzö-
102 5 EU-Referenden im Vergleich
sischen Einfluss stand. Das Königreich der Niederlande entstand hingegen erst 1815
(vgl. North 2008: 80ff.). „Das erste Referendum in unserem Land fand 1797 statt, das
letzte 1805“ (Lucardie 1997: 109).
44 In einigen Fällen stand dabei das Revisionsvorhaben derart im Vordergrund der Wahl-
debatte, dass die Abstimmung geradezu Züge eines Referendums trug. Dies war so-
wohl bei den Wahlen von 1917 der Fall als auch bei denjenigen im Jahr 1948 (Parle-
mentair Documentatie Centrum 2011).
5.5 Niederlande: das Referendum als nationaler Präzedenzfall 103
D66 hatte sich seit ihrer Gründung 1966 die Einführung direktdemokratischer
Verfahren in das als verkrustet angesehene Repräsentativsystem auf die Fahne ge-
schrieben. Auch die anderen Parteien der politischen Linken fanden zunehmend
Gefallen an einer Reform. 1982 wurde eine unabhängige Expertenkommission45
unter Leitung des früheren Ministerpräsidenten Biesheuvel, eines Christdemokra-
ten, einberufen, die nach dreijährigen Beratungen einen Bericht (Relatie kiezers-
beleidsvorming) vorlegte, in dem sie die Einführung von Referenden und Volksin-
itiativen auf nationaler Ebene empfahl (vgl. van Holsteyn 1996: 127; Elzinga 2005:
93; Lucardie 1997: 109). Für die weitgehenden Vorschläge fand sich allerdings
keine Mehrheit im Parlament. Erhebliche Widerstände gingen zu dieser Zeit vor
allem vom CDA (Christen-Democratisch Appèl) sowie auch von der VVD (Volks-
partij voor Vrijheid en Democratie) aus. Bis heute ist die niederländische Diskus-
sion über direktdemokratische Partizipation durch eine grundsätzliche Skepsis,
insbesondere bei den konfessionellen Parteien, geprägt, die in einer direkten Be-
teiligung der Bürger einen Angriff auf die bestehenden Repräsentativstrukturen
sehen:
„Examining the history of Dutch debate on the referendum, it can be concluded that
one fundamental and principal objection has always determined the outcome. The
referendum is viewed as a threat to the primacy of the representative system“ (van
Holsteyn 1996: 128).
45 Das Gremium unter Biesheuvel war nur eine von insgesamt sieben Staatskommissio-
nen, die sich im Laufe des 20. Jahrhunderts mit der Einführung direktdemokratischer
Verfahren befassten (vgl. Nijeboer 2005: 394).
104 5 EU-Referenden im Vergleich
5.5.2 Referendumsdispositiv
Das Trw, das seit dem Jahresbeginn 2005 nicht mehr in Kraft war, hatte vor allen
Dingen den Weg von einer einleitenden über eine definitive Bürgerinitiative bis
hin zum eigentlichen Referendum bestimmt sowie die rechtlichen Regelungen zur
Abstimmung festgelegt, ein Kapitel zum Ablauf der Referendumskampagne hatte
es aber nicht enthalten. Das Referendumsgesetz von 2005 (Wet raadplegend refe-
rendum Europese Grondwet) hingegen beinhaltete in seinem Kapitel 9 alle wesent-
lichen Bestimmungen eines Referendumsdispositivs im hier definierten Sinn. In
der Hauptsache wurde für die Zeit der Kampagne die Einrichtung einer unabhän-
gigen Referendumskommission vorgesehen, deren fünf Mitglieder vom Minister
46 Gegen diese Erwartung betonen allerdings Andeweg und Irwin (2009: 258) den gro-
ßen Widerstand von Parlamentariern nach dem EU-Verfassungsreferendum.
106 5 EU-Referenden im Vergleich
des Innern und für Angelegenheiten des Königreichs ernannt werden sollten. Ihre
Hauptaufgaben lagen in der Verbreitung neutraler Informationen über den zu rati-
fizierenden Vertrag sowie in der gerechten Verteilung öffentlicher Mittel an Orga-
nisationen beider Lager sowie für neutrale Kampagnen. Das Referendumsgesetz als
temporäre Rechtsvorschrift legte fest, dass nur über einen spezifisch formulierten
Text abgestimmt werden könne (Venice Commission 2005: 12). Entsprechend ver-
langte es, dass jede Gemeinde den Vertragstext kostenfrei für die Bürger verfügbar
zu machen – der integrale Text ist allen Bürgern in den Rathäusern zugänglich zu
machen (ebd.: 15) – und die von der Referendumskommission zu erarbeitende Zu-
sammenfassung des Vertragstexts (Referendumcommissie 2005b: 17) an alle Haus-
halte zu verschicken hatte (Art. 9 und 26 Abs. 1 Referendumsgesetz). Hinsichtlich
der öffentlich-rechtlichen Medien war lediglich vorgesehen, dass sie Sendezeit für
politische Parteien zur Verfügung stellen, die diese für ihre Referendumskam-
pagnen nutzen können (Venice Commission 2005: 17). Die Ausgewogenheit der
Medienberichterstattung wurde aber weder von öffentlich-rechtlichen noch von
privaten Sendeanstalten verlangt (Reidy und Suiter 2015: 165). Für die Kampag-
nensubventionen wurde ein Fonds in Höhe von einer Million Euro vorgesehen (Art.
26 Abs. 3 Referendumsgesetz). Die individuellen Ausgaben der Akteure für ihre
Kampagnen wurden allerdings nicht registriert oder reguliert (gedeckelt). Selbst
ein Verbot des Einsatzes öffentlicher Mittel für Kampagnenzwecke durch die Re-
gierung bestand nicht. Näheres zur Ausschüttung der Wahlkampfhilfen durch die
Kommission findet sich im Abschnitt 5.5.3 zum eigentlichen Ablauf der Referen-
dumskampagne in den Niederlanden. Die Referendumskommission hatte zuletzt
den allgemeinen Auftrag, das Ministerium in der Vorbereitung des Referendums
zu unterstützen. So legte die Kommission in Absprache mit dem Innenministerium
auch das Datum für die Abstimmung fest und formulierte die Fragestellung (vgl.
Harmsen 2005: 3; Nijeboer 2005: 398): „Sind Sie für oder gegen die Zustimmung
der Niederlande zum Vertrag über eine Verfassung für Europa?“ Die Antwortmög-
lichkeiten auf dem Stimmzettel lauteten „voor“ („für“) und „tegen“ („gegen“). Das
niederländische Referendumsdispositiv nimmt, gemessen an den internationalen
Vergleichsfällen, eine mittlere Position ein.
wobei der CDA als stärkste Partei der Regierungskoalition sich bis zuletzt gegen
eine Konsultation der Bevölkerung aussprach und seine gewählten Mitglieder in
allen parlamentarischen Abstimmungen darüber entsprechend votierten. Bereits
während der Konventsverhandlungen waren allerdings in der niederländischen
Debatte Stimmen aufgekommen, die ein Referendum über das Konventsergebnis
forderten und damit für die Durchführung einer ersten landesweiten Volksabstim-
mung eintraten. Zunächst war es der Abgeordnete der sozialdemokratischen PvdA
(Partij van de Arbeid) und Konventsvertreter Timmermans,47 der in der Zweiten
Kammer der Generalstaaten Ende Oktober 2002 eine entsprechende Initiative ein-
brachte (Tweede Kamer 2002). Darin forderte er zwar in der Hauptsache ein euro-
paweites Referendum. Für den Fall aber, dass eine solche EU-Abstimmung nicht
möglich sein sollte, sah der Antrag ein nationales Referendum vor. Timmermans’
Antrag wurde am 5. November 2002 mit 72 zu 70 Stimmen abgelehnt. Bereits
ein halbes Jahr später kam es zu einer weiteren Initiative zur Durchführung eines
konsultativen Referendums. Dieses Mal reichten die Abgeordneten Farah Karimi
(GroenLinks), Niesco Dubbelboer (PvdA) und Boris van der Ham (D66) einen
ausformulierten Gesetzesvorschlag ein, der konkrete Bestimmungen zur Durch-
führung und zum neu zu etablierenden Referendumsdispositiv enthielt (Tweede
Kamer 2003; vgl. auch Van der Kolk und Aarts 2005a: 14–15; Nijeboer 2005: 396).
Nach Prüfung und Anerkennung durch den Staatsrat sowie den Wahlrat wurde
der Gesetzesvorschlag am 25. November 2003 von einer Mehrheit der Zweiten
Kammer angenommen. Die Fraktionen von CDA, CU (ChristenUnie) und SGP
(Staatkundig Gereformeerde Partij) stimmten gegen das Referendum, weil ihre
Vertreter das direktdemokratische Verfahren prinzipiell als Unterwanderung der
repräsentativen Legislativstrukturen auffassten. Die VVD-Fraktion schwankte,
entschied sich schließlich für eine Volksabstimmung und verschaffte dem kon-
sultativen Referendum damit die Mehrheit (vgl. Harmsen 2005: 3).48 Die Zustim-
mung zu einem Referendum durch die Zweite Kammer wurde bei einer zweiten
Abstimmung im Oktober 2004 bekräftigt. Diese war nötig geworden, nachdem
die Staats- und Regierungschefs den Verfassungsvertrag auf ihrem Dezember-
Gipfel 2003 zunächst nicht hatten verabschieden können. Im ursprünglichen Ent-
wurf des Referendumsgesetzes war allerdings als Termin für die Abstimmung der
Tag der Europawahlen 2004 vorgesehen, der nach dem vorläufigen Scheitern der
Verabschiedung auf europäischer Ebene nicht mehr einzuhalten war. Der nieder-
ländische Senat, der zu diesem Zeitpunkt noch nicht über den Gesetzesentwurf
entschieden hatte, sandte ihn an die Zweite Kammer zurück und forderte entspre-
chende Änderungen. Die endgültige Entscheidung über den modifizierten Geset-
zesentwurf und damit über ein konsultatives Referendum fiel schließlich im Senat.
Nicht früher als am 25. Januar 2005 votierte eine Mehrheit der Abgeordneten der
Ersten Kammer für den Gesetzesentwurf, und damit starteten die Vorbereitungen
für das Referendum (vgl. zum parlamentarischen Entscheidungsprozess Van der
Kolk und Aarts 2005a: 14–15).
Bereits am 8. Februar setzte die Zweite Kammer, wie im verabschiedeten
Gesetz vorgeschrieben, eine fünfköpfige, unabhängige, überparteiliche Referen-
dumskommission unter Leitung des Staatsrechtsprofessors Tijn Kortmann ein, die
in Absprache mit der Regierung das Datum und die Frage für die Abstimmung
festlegte. Auch verteilte sie gleichmäßig Unterstützungsgelder in der Gesamthöhe
von einer Million Euro an wahlkämpfende Organisationen beider Lager sowie an
solche, die neutrale Informationen bereitstellten (jeweils 400.000 Euro pro Lager,
200.000 Euro für neutrale Kampagnen). Die potentiellen Subventionsempfänger
hatten hierzu Anträge einzureichen.49 Die Bewilligung oder Ablehnung von An-
trägen sowie die Höhe der ausgeschütteten Beträge führten verschiedentlich zu
Kritik an der Referendumskommission von beiden Seiten (vgl. Peeperkorn 2005).
Was das finanzielle Referendumsdispositiv anbelangt, monierten die Vertragsgeg-
ner zudem die zusätzliche finanzielle Ausstattung, die sich die Regierung für den
Fall einer schwierigen Kampagne in Reserve hielt. Zunächst ging es um eine ge-
heime Kriegskasse („oorlogskas“) von 1,5 Millionen Euro (vgl. Volkskrant 2005a,
2005b), später genehmigte sich das Kabinett mit Zustimmung der Zweiten Kam-
mer weitere 3,5 Millionen Euro für die Endphase der Kampagne (vgl. Lucardie
2005: 117).50
Im April versandte die Referendumskommission eine Zusammenfassung des
Verfassungsvertrags an alle niederländischen Haushalte. Der Sendung beigelegt
waren auch Übersichten über die Argumente des Ja- und des Nein-Lagers. Anders
als in Frankreich wurde den Bürgern nicht das komplette Dokument nach Hau-
se geschickt, der Verfassungsvertrag war jedoch in Postämtern, Bibliotheken und
verschiedenen Regierungsstellen in einem 15-seitigen Zeitungsformat („grond-
49 Über 300 Anträge wurden bei der Referendumskommission eingereicht. Eine voll-
ständige Liste der Subventionsempfänger inklusive der erhaltenen Beträge findet sich
auf der archivierten Internetseite der Referendumskommission (Referendumcommis-
sie 2005a).
50 Gegen diese Verwendung öffentlicher Gelder strengte das Comité Grondwet Nee ein
juristisches Eilverfahren an, allerdings ohne Erfolg.
5.5 Niederlande: das Referendum als nationaler Präzedenzfall 109
wetkrant“) kostenfrei erhältlich (vgl. Lucardie 2005: 107). Seitens der Regierung
war für die Durchführung des Referendums das Innenministerium zuständig, die
Informationskampagne zum Vertragstext übernahm das Außenministerium. Mit-
te März 2005 legte die Regierung ihren Gesetzesvorschlag zur Ratifizierung des
Verfassungsvertrags der Zweiten Kammer vor. Die Verabschiedung wurde vom
Ausgang des konsultativen Referendums abhängig gemacht.
Sowohl die Tatsache, dass die niederländische Bevölkerung, die Parteien, die
Politiker und Medien Referenden und Referendumskampagnen nicht gewohnt wa-
ren („Finding themselves on the unfamiliar terrain of a referendum campaign“,
Harmsen 2005: 2), als auch der Umstand, dass die Regierung wider Willen mit
einer Volksabstimmung konfrontiert worden war und gegenüber dem Referendum
an sich sowie aktiver Kampagnenarbeit zurückhaltend eingestellt blieb, werden als
mögliche Ursachen dafür angeführt, dass die Referendumsdebatte in den Nieder-
landen von einer vergleichsweise geringen Intensität war (vgl. Lucardie 2005: 106–
107). Die Regierung stellte ihre Zurückhaltung zwar als bewusste Strategie dar:
„Wenn man zu früh beginnt, läuft man Gefahr, dass man den Effekt abschwächt“,
so wurde Außenminister Bot im April in der Zeitung De Volkskrant zitiert (Volks-
krant 2005e; vgl. auch Van der Kolk und Aarts 2005b: 153). Nicht allein Lucardie
bewertet das Verhalten der Regierung und des Ja-Lagers allgemein – ob nun aus
strategischer Überlegung oder Unvermögen – aber als großen Fehler: „Zuallererst
überließen die Befürworter aus Unerfahrenheit mit Referendumskampagnen, aus
Übermut oder aus Furcht vor Polarisierung die Initiative den Gegnern“ (Lucardie
2005: 110; s. auch Andeweg und Irwin 2009: 235). Während in Frankreich längst
eine lebhafte nationale europapolitische Diskussion ausgebrochen war, kam die
Debatte in den Niederlanden in der Tat nur sehr mühsam in Gang und wurde über-
dies immer wieder von anderen Themen und Ereignissen überlagert. Gewann die
Referendumsdebatte im April 2005 auch etwas an Fahrt (vgl. Kleinnijenhuis et al.
2005: 125), so schwächten sich die Aktivitäten zu Beginn des Folgemonats rund
um das 25-jährige Thronjubiläum von Königin Beatrix und während der kurzen
Parlamentsferien erneut ab, bevor alle Akteure in den letzten Wochen vor dem
Referendum ihre Bemühungen intensivierten. Zwischen der Entscheidung im Se-
nat über das Abhalten des Referendums und der Abstimmung selbst lag ohne-
hin nur ein vergleichsweise kurzer Zeitraum von gerade einmal vier Monaten für
den Wahlkampf. Eine ähnlich lebhafte nationale Debatte wie in Frankreich 2005
oder in Irland 2008 kam in den referendumsunerfahrenen Niederlanden bis zuletzt
nicht zustande (vgl. Harmsen 2005: 3).
Betrachtet man die Positionen der Parteien und Akteure, so stellten sich auch
hier alle Parteien des politischen Mainstream hinter die Vertragsratifizierung, also
sowohl die Regierungsparteien, CDA, VVD und D66, als auch die größte Op-
110 5 EU-Referenden im Vergleich
mangelnden Gottesbezug in der Präambel in die Debatte ein (für eine ausführliche
Darstellung der Argumente s. Schünemann 2014: 327–390).
Auch in den Niederlanden zeichneten sich in den regelmäßig veröffentlichten
Umfrageergebnissen der führenden Meinungsforschungsinstitute zunächst (Ende
2003) hohe Zustimmungswerte für die Ratifizierung ab. Dies änderte sich aller-
dings, je näher die Abstimmung tatsächlich rückte (vgl. Abbildung 9). Früher noch
als in Frankreich oder Irland zeigten zumindest einige51 Meinungsumfragen höhe-
re Werte für die Ablehnung denn für die Zustimmung an und erzeugten damit eine
Unsicherheit unter den Ratifizierungsbefürwortern, die noch dadurch verschärft
wurde, dass jeweils hohe Anteile der Befragten angaben, noch unentschieden zu
sein. In den letzten Wochen vor der Abstimmung sagten die Institute dann weitest-
gehend übereinstimmend eine deutliche Ablehnung voraus (vgl. Sommer 2005).
51 Die Umfragen der Institute Interview-NSS und Marketresponse zeichneten lange ein
abweichendes Bild von den Resultaten von Maurice de Hond und TNS-NIPO. Van
der Kolk und Aarts untersuchen die Abweichungen im Detail und problematisieren
dabei auch die Rolle von Umfrageinstituten in Wahlkämpfen und ihren Einfluss auf
die Kampagnenarbeit (Van der Kolk und Aarts 2005b, s. auch Abschnitt 6.1 in diesem
Buch).
112 5 EU-Referenden im Vergleich
Am 1. Juni 2005 wurde die Ratifizierung den niederländischen Wählern als simp-
le Frage zur Abstimmung vorgelegt: „Sind Sie für oder gegen die Zustimmung
zum Vertrag über eine Verfassung für Europa durch die Niederlande?“ Die Wähler
stimmten mit einer überdeutlichen Mehrheit von 61,5 Prozent gegen den Vertrag.
7,7 Millionen Niederländer gaben ihre Stimme ab. Das ergab eine Wahlbeteiligung
von 63,3 Prozent. Da es sich lediglich um ein konsultatives Referendum handelte,
war theoretisch freilich auch ein abweichendes Votum des Parlaments und da-
mit eine Ratifizierung des Vertrags trotz des Scheiterns im Referendum möglich.
Faktisch aber hatten sich fast alle Parlamentsfraktionen bereits im Vorfeld des
Urnengangs darauf festgelegt, die Wählerentscheidung zu respektieren. Zwar war
52 Mit den Umfragen im Mai änderte das Institut Maurice de Hond die Frage nach der
Wahlabsicht. Die „weiß nicht“-Kategorie wurde gestrichen. Zur besseren Vergleich-
barkeit wurden auch von TNS NIPO nur die entsprechenden Daten gewählt, obwohl
hier die „weiß nicht“-Kategorie weiter zur Auswahl stand.
5.6 Luxemburg: Abstimmung unter anderen Umständen 113
114. Ersteres wird durch das Parlament initiiert, Letzteres kann bei Verfassungs-
änderungen entweder durch die parlamentarische Opposition (mehr als ein Viertel
der Abgeordneten) oder von einem Teil der Wahlbevölkerung (25.000 Wählerin-
nen und Wähler) ausgelöst werden. Bislang ist es allerdings noch nicht zu dieser
Variante gekommen. Stattdessen hat es seit der Abstimmung über die Regierungs-
form 1919 insgesamt sieben Volksabstimmungen nach Art. 51 Abs. 7 Verf. ge-
geben. Dabei hatten die ersten beiden – am selben Tag wie die Abstimmung über
die Regierungsform fand auch ein Votum über die wirtschaftliche Orientierung
nach Frankreich oder Belgien statt – die Besonderheit, dass sie keine Ja-/Nein-
Entscheidungen darstellten, sondern jeweils mehrere Optionen zur Wahl stellten.
Vor dem Referendum über die EU-Verfassung von 2005 war es seit einem aus
Regierungssicht gescheiterten Referendum über die Auflösung der Kommunisti-
schen Partei und anderer verfassungsfeindlicher Organisationen im Jahr 1937 über
68 Jahre zu keiner Volksabstimmung gekommen. Die negativen Erfahrungen der
damaligen Regierung können als ein Erklärungsfaktor dafür herangezogen wer-
den, dass von den Verfahren in der Folge so lange kein Gebrauch gemacht wurde
(Dumont und Poirier 2006: 1183). Für die Europapolitik Luxemburgs heißt das:
Vor dem Verfassungsvertrag wurden weder die Gründungsverträge der ursprüng-
lichen Gemeinschaften noch die zahlreichen Vertragsreformen einem Referendum
unterworfen. Vielmehr stellte das Referendum 2005 die erste Gelegenheit für die
luxemburgische Bevölkerung dar, europapolitische Themen direktdemokratisch
zu debattieren und zu entscheiden. Man kann für Luxemburg mithin keineswegs
von einer ausgeprägten Referendumstradition oder -praxis sprechen. Das luxem-
burgische Referendum fand also schon insofern unter besonderen Umständen
statt, als es ein über lange Zeit brachliegendes Instrument reaktivierte. An die
Erfahrung von 2005 schloss sich ebenfalls kein reger Gebrauch an. Allerdings
kam es weitere zehn Jahre später, im Juli 2015, zu gleich drei Volksabstimmun-
gen (Amtszeitbeschränkung für Minister, Wahlrecht für Ausländer, Senkung der
Wahlberechtigung von 18 auf 16 Jahre). Tabelle 6 listet alle bislang durchgeführten
Volksabstimmungen in Luxemburg auf.
5.6 Luxemburg: Abstimmung unter anderen Umständen 115
5.6.2 Referendumsdispositiv
information betreffend, enthält das Dispositiv nur wenige Regeln. So ist lediglich
vorgeschrieben, den integralen Text eines zur Abstimmung gestellten Reformdo-
kuments in den Wahllokalen auszustellen und ihn auch innerhalb der letzten beiden
Wochen vor der Volksabstimmung für alle Wähler zugänglich zu machen (Art. 33
Referendumsgesetz). Anders als in Frankreich und den Niederlanden wurden den
Parteien und wahlkämpfenden Akteuren keine öffentlichen Mittel zur Verfügung
gestellt. Dementsprechend fand auch keine Registrierung von Kollektivakteuren
statt, noch wurden Sendezeiten in Rundfunk und Fernsehen vergeben oder deren
Verteilung reguliert. Damit ist das luxemburgische Referendumsdispositiv insge-
samt als schwach zu bewerten. Luxemburg verfügt im internationalen Vergleich
über ausgesprochen wenige konstitutionelle oder einfachgesetzliche Rechtsregeln
zur Durchführung von Volksabstimmungen.
war allerdings ein zweites Votum frühestens drei Monate später verlangt. Für die
Zwischenzeit wurde das Referendum geplant. Die faktische Verbindlichkeit des
Referendums wurde durch die Parlamentarier derart bestätigt, dass sie am 8. Juni
eine Resolution verabschiedeten, in der sie sich auf eine Übernahme des Bürger-
votums verpflichteten.
Der politische Konsens über die europäische Integration im Allgemeinen und
die Verfassungsgebung im Besonderen war in der parlamentarischen Politik be-
sonders stark ausgeprägt. So kündigte keine Partei mit Parlamentsvertretung ihren
Widerstand gegen das Vertragswerk an. Lediglich die rechte ADR (Alternativ
Demokratesch Reformpartei) war über die Frage gespalten und fand nicht zu einer
einheitlichen Position (Hausemer 2005: 2). Einzelne Politiker brachten allerdings
ihre Skepsis zum Ausdruck. So gab es einen kleinen Teil von Parlamentsabge-
ordneten, die individuell für ein Nein im Referendum warben (wie z.B. der grüne
Abgeordnete Jean Huss, Dumont und Poirier 2006: 1191–1192). Der organisierte
Widerstand gegen die Ratifizierung wurde der außerparlamentarischen Opposi-
tion überlassen. Insbesondere das so genannte ‚Komitee für ein Nein‘, eine Kam-
pagnenkooperation aus verschiedenen Gruppierungen auf der politischen Linken,
artikulierte einen sichtbaren Widerstand. Zum Komitee gehörten die Partei Die
Linke (Déi Lenk), das luxemburgische ATTAC-Netzwerk, die Freunde von Le
Monde diplomatique, die Friedensinitiative als pazifistische Bewegung sowie die
sozialistische Studentengewerkschaft UNEL (Dumont und Poirier 2006: 1191).
Daneben trat auch die Kommunistische Partei Luxemburgs mit einem Wahlkampf
gegen die Ratifizierung in Erscheinung.
Ein besonderer Kontextfaktor oder Umstand (s. Abschnittstitel) im Luxem-
burger Fall war neben der hohen generellen pro-europäischen Einstellung der
Bevölkerung die Personalisierung der Abstimmung durch den populären Regie-
rungschef. Juncker machte früh deutlich, dass er sein politisches Schicksal an den
Ausgang des Referendums knüpfen wollte und kündigte Ende Dezember 2004,
also unmittelbar vor Antritt der Ratspräsidentschaft durch Luxemburg, für den
Fall einer Abstimmungsniederlage seinen Rücktritt als Ministerpräsident an
(Hausemer 2005: 2). Diese beiden Faktoren mögen das Ja begünstigt haben. Einen
deutlichen Gegenwind spürten die Befürworter indes, nachdem die Franzosen und
Niederländer das Vertragswerk abgelehnt und die EU in eine tiefe Krise gestürzt
hatten. Plötzlich erschien ein Nein auch im europhilen Luxemburg nicht mehr
ausgeschlossen. Auf ihrem regulären Gipfeltreffen im Juni 2005 verordneten die
Staats- und Regierungschefs sich selbst inmitten der Ratifikation eine „Phase der
Reflexion“ (Dumont und Poirier 2006: 1188, s. auch Abschnitt 2.2.6). Andere Re-
gierungen entschieden sich daraufhin, ihre Ratifizierungsverfahren, darunter auch
solche mit Referenden, vorerst aufzuhalten bzw. zu verschieben. Luxemburg hielt
118 5 EU-Referenden im Vergleich
Abbildung 12 gibt das Ergebnis der Volksabstimmung wieder. Betrachtet man die
Kontextfaktoren (generelle Unterstützung der EU-Integration und Popularität Jun-
ckers), lag die Zustimmung mit 56,62 Prozent der Stimmen eher niedrig. Allerdings
5.7 Irland: das Referendum als Gewohnheit 119
ist ein starker Effekt der vorangegangenen Abstimmungen in Frankreich und den
Niederlanden sowie der damit einhergegangenen Verunsicherung ebenfalls anzu-
nehmen (Hausemer 2005: 4). Wegen der Wahlpflicht lag die Beteiligung für ein Re-
ferendum sensationell hoch. Dennoch blieben immer noch viele Wähler den Wahl-
lokalen fern und riskierten damit eine Geldstrafe von 500 Euro (Hausemer 2005: 5).
Unter den Länderbeispielen der vorliegenden Studie ist die irische Republik das
Land mit der intensivsten direktdemokratischen Praxis (Venice Commission 2005:
26; Schmidt 2010: 339). Seit dem Inkrafttreten der irischen Verfassung 1937 bis
zum Jahr 2008 war es in Irland zu insgesamt 28 Volksabstimmungen gekommen.
Nach den zwei Abstimmungen zum Lissabon-Vertrag waren es weitere acht (zum
Teil gebündelt am selben Tag abgehalten). In allen Fällen handelte es sich um be-
absichtigte oder durchgeführte Verfassungsänderungen in Form von Amendments
(vgl. Luthardt 1994: 77), für deren definitive Annahme die Verfassung in Artikel
46 ein obligatorisches Referendum vorschreibt, das durch kein anderes Verfah-
ren zu umgehen ist. Damit ist Irland eines der wenigen Länder weltweit, das eine
Volksabstimmung für jede Verfassungsänderung verbindlich vorschreibt (Bogda-
nor 1994: 28 u. 79–80; Gallagher 2010: 80; IDEA 2008: 188). Im entscheidenden
Absatz 2 des Artikels 46 heißt es:
120 5 EU-Referenden im Vergleich
„the procedure of legislative referendum has never been used in Ireland, largely be-
cause of the fact that a recourse to such a referendum would be politically feasible
only in very exceptional situations unlikely to arise under a majority government“
(Suksi 1993: 204; s. auch Gallagher 1996b: 89).
53 Gallagher (1996c: 88) ist der Auffassung, das Parlament müsse nur über den Vorgang
des Referendums, nicht aber über die Substanz des Änderungsvorschlags abstimmen.
Dies geht aus dem Verfassungstext allerdings so nicht hervor. In seiner Darstellung des
Verfassungsänderungsverfahrens von 2010 ist von dieser Einschränkung auch nicht
mehr die Rede (Gallagher 2010: 80).
5.7 Irland: das Referendum als Gewohnheit 121
54 Gallagher (1996c: 90) nennt vier Typen von Fragen: institutionelle, technische, mora-
lische sowie solche zur europäischen Integration. Zählt man allerdings die Fälle, sind
die letzteren Typen von hervorragender Bedeutung. Sinnott (2002: 812) zählt lediglich
zwei: religiös-moralische sowie Regimefragen.
122 5 EU-Referenden im Vergleich
liert wurde er aber letztlich erst durch die Entscheidung des Supreme Court (vgl.
Sinnott 2002: 814; Gilland 1999: 431). Seit dem EG-Beitritt des Landes wurden
mithin alle europäischen Reformverträge per Referendum ratifiziert. Vor dem Lis-
sabon-Vertrag scheiterte schon der Vertrag von Nizza in einer ersten Abstimmung
der Iren im Jahr 2001 und konnte erst im zweiten Anlauf ratifiziert werden. Eine
Gesamtdarstellung aller Referenden in Irland bis heute bietet Tabelle 7.
5.7.2 Referendumsdispositiv
Zur Durchführung der Referenden ist in der irischen Verfassung (Artikel 47) le-
diglich festgelegt, dass für das aktive Wahlrecht die gleichen Bestimmungen gel-
ten wie bei Parlamentswahlen und dass die Regulierung der Volksabstimmungen
ansonsten durch ein separates Gesetz erfolgt. Die darauf basierende Referendums-
gesetzgebung in Irland wurde im Laufe der Jahre immer weiter entwickelt und hat
124 5 EU-Referenden im Vergleich
„The case of Ireland is unique in the EU because of the constitutional and legal
framework within which referendums are conducted. […] Pro- and anti-EU actors
in Ireland operate within a context whereby political communication on European
matters is carefully regulated“ (Laffan und O’Mahony 2008: 4).
tungen des Nein-Lagers verbreitet worden seien und die Kommission geradezu
nach Nein-Argumenten gesucht habe, um eine ausgewogene Informationsbilanz
zu erreichen (Laffan und O‘Mahony 2008: 113; Gallagher 2010; Gilland 1999:
437). Das Referendumsgesetz wurde daraufhin im Dezember 2001 abgeändert,
indem die kritisierten Passagen gestrichen wurden (IDEA 2008: 150; Oireachtas
2001b). In jedem Fall ist die Referendumskommission eine international beachtete
Institution (Rehmet 2002), die als Vorbild etwa für das niederländische Dispositiv
angesehen werden kann.
Außerdem sieht das irische Referendumsdispositiv vor, dass nur über einen
spezifisch formulierten Text abgestimmt werden kann (Venice Commission 2005:
12). Der integrale Text ist in den Postämtern allen Bürgern zugänglich zu machen
(ebd.: 15). Eine erklärende Broschüre wird den Wählern nur dann zugesandt, wenn
die Kammern des Parlaments dies entscheiden. Die Broschüre muss neutral ge-
staltet werden.
Was die Rolle der Medien angeht, ist das öffentliche Rundfunk- und Fernseh-
unternehmen RTÉ (Raidió Teilifís Éireann) seit einem Urteil des High Court aus
dem Jahr 1998, angestrengt durch den Direktor der EU-kritischen National Plat-
form Coughlan, verpflichtet, im Zeitraum von Referendumswahlkämpfen Sende-
zeiten gleichmäßig und fair auf Vertreter beider Lager zu verteilen (Laffan und
O‘Mahony 2008: 48 u. 112; Gilland 1999: 431). Daneben sind auch private Me-
dienanstalten zu einer fairen Berichterstattung verpflichtet (Venice Commission
2005: 17). Kommerzielle Wahlwerbung ist hingegen verboten (Reidy und Suiter
2015: 166). Während das irische Referendumsdispositiv mithin über weitgehende
Regelungen auf dem Feld der Wählerinformation verfügt, gibt es keine öffentliche
Wahlkampffinanzierung. Die politischen Parteien55 unterliegen allerdings gemäß
dem Wahlgesetz von 1997 (Oireachtas 1997) einer öffentlichen Rechenschafts-
pflicht insbesondere den Erhalt von Spenden betreffend. Ebenfalls als Reaktion
auf die erste Abstimmung über den Nizza-Vertrag und angesichts der teils un-
durchsichtigen Finanzierung wesentlicher Wahlkampfakteure aus der Zivilgesell-
schaft wurde im Rahmen einer Gesetzesänderung im Oktober 2001 (Oireachtas
2001a) die Rolle einer sog. Drittpartei (third party) definiert. Damit ist jede Ein-
zelperson oder Gruppe gemeint, die nicht durch regelmäßige Wahlteilnahme und
Registrierung den offiziellen Status einer politischen Partei hat, aber dennoch
Einzelspenden für politische Tätigkeit oberhalb eines Grenzbetrags von rund 127
Euro (ehemals 100 Ir£) empfängt (Art. 22-2-aa). Darunter fallen also auch solche
55 Sie können nach Teil III des Wahlgesetzes von 1997 (Oireachtas 1997) einen An-
spruch auf regelmäßige Parteienfinanzierung im Verhältnis zum Wahlerfolg geltend
machen.
126 5 EU-Referenden im Vergleich
Bezug auf Referenden immer wieder auch die Debatten selbst prägen, darin mit-
verhandelt werden und entsprechend regelmäßig im Nachgang von Abstimmungen
modifiziert werden, rechtfertigt die Wahl und Einführung des Dispositivbegriffs
in die Referendumsterminologie.
vor allem der Regierung und den Koalitionsparteien von verschiedenen Akteuren,
darunter auch den Oppositionsparteien FG (Fine Gael) und LP (Labour Party),
die den Vertrag unterstützten, angelastet.
Den verfassungsändernden Gesetzesvorschlag zur Ratifizierung des Lissabon-
Vertrags verabschiedete die irische Regierung am 26. Februar 2008, der Text wur-
de am 6. März veröffentlicht. Am selben Tag setzte die Regierung gemäß dem
Referendumsgesetz von 1998 eine Referendumskommission unter der Leitung des
Richters Iarfhlaith O’Neill ein. Die Kommission bekam Mittel in Höhe von fünf
Millionen Euro für eine neutrale und ausgewogene Informationskampagne zuge-
wiesen. Ungefähr 90 Tage nach Einberufung der Kommission waren für die Vor-
bereitung des Referendums vorgesehen, so dass allseits mit einem Votum Ende
Mai oder Anfang Juni gerechnet wurde. Der irische Premierminister (Taoiseach)
Bertie Ahern ließ sich allerdings Zeit, das konkrete Datum für das Referendum zu
benennen, was von verschiedener Seite scharf kritisiert wurde (Cochrane 2008;
Hayes 2008). Erst Anfang April fiel die Entscheidung auf den 12. Juni als Tag
für die Abstimmung (O‘Regan 2008). Über das Referendumsthema hinaus stand
Bertie Ahern in dieser Periode unter starkem politischen Druck, weil während
der Verhandlungen des sog. Mahon-Tribunals immer mehr pikante Details über
einen Korruptionsskandal aus früheren Zeiten als Finanzminister bekannt wurden
(Murphy 2008: 2; FitzGibbon 2009: 10). Die Affäre führte schließlich zum Rück-
tritt Aherns vom Amt des Premierministers, den er Anfang April ankündigte. Die
Regierungsumbildung unter dem neuen Taoiseach Brian Cowen ließ dann aber
bis zum 8. Mai auf sich warten, wodurch Laffan und O’Mahony zufolge ein poli-
tisches Vakuum entstand, das die Vertragsgegner für ihre Zwecke nutzen konnten
(Laffan und O‘Mahony 2008: 116–117).
Ungeachtet der turbulenten Lage der Regierung sorgte die parlamentarische
Behandlung des Lissabon-Vertrags hingegen für keinerlei Schwierigkeiten.
Nach mehrwöchigen Verhandlungen im Dáil wurde die Verfassungsänderung
am 29. April mit einer großen Mehrheit der Abgeordneten gebilligt; allein die
fünf Vertreter der Sinn Féin stimmten gegen die Vorlage. Zehn Tage später, am
9. Mai, erfolgte die Zustimmung des irischen Senats (s. Gesetzestext Dáil Éire-
ann 2008).
Parallel zum parlamentarischen Verfahren wurde ein intensiver Wahlkampf ge-
führt. Auch im irischen Referendum warb ein zentraler Block, bestehend aus den
Regierungsparteien FF (Fianna Fáil) und der in Auflösung begriffenen Kleinpar-
tei PDs (Progressive Democrats) sowie den Oppositionsparteien FG und LP, für
ein Ja zur Ratifizierung. Eine bemerkenswerte Sonderrolle spielten demgegenüber
die Grünen (Green Party, GP): Als Partnerin in der Regierungskoalition konnten
sie sich nicht zu einer einheitlichen Position im Wahlkampf entscheiden, weil ein
5.7 Irland: das Referendum als Gewohnheit 129
entsprechendes internes Votum für eine Ja-Kampagne zwar von der Mehrheit ge-
fällt wurde, aber das selbst gesetzte Zwei-Drittel-Quorum für derlei Entscheidun-
gen verfehlte.
Im Nein-Lager befand sich demgegenüber nur eine einzige Partei mit Sitzen im
Dáil, nämlich die linksrepublikanische SF (Sinn Féin). Neben der SF führte eine
Reihe kleiner linker Splitterparteien ebenfalls mehr oder weniger sichtbare Wahl-
kämpfe gegen die Vertragsratifizierung, darunter etwa die SP (Socialist Party),
die PBPA (People Before Profit Alliance) oder die RSF (Republican Sinn Féin).
Auf der politischen Rechten waren es mit dem bereits erwähnten Libertas-Institut,
einem neokonservativen Think Tank des Unternehmers Declan Ganley, und der
katholisch-fundamentalistischen Cóir-Organisation zivilgesellschaftliche Akteure
oder Drittparteien im Sinne des irischen Dispositivs, die die Debatte mit ihren
Kampagnenaktivitäten und unterschiedlich gelagerten Kernargumenten dominier-
ten. Als Quelle von Expertise und Argumentation betätigte sich auf dieser Seite des
Spektrums auch die aus einer langen Reihe europapolitischer Volksabstimmungen
in Irland bekannte NP (National Platform), ein Think Tank um das euroskeptische
Urgestein Anthony Coughlan. Auch im linken Nein-Lager waren zahlreiche zi-
vilgesellschaftliche Organisationen, etwa aus der Friedensbewegung (etwa Peace
and Neutrality Alliance oder Action from Ireland) oder Ad-Hoc-Gruppierungen
von Globalisierungskritikern (z.B. Campaign against the EU Constitution oder
VoteNo.ie), im Wahlkampf aktiv. Das gleiche gilt für Gewerkschaften und Verbän-
de. Letztere, gerade Unternehmensverbände, unterstützten freilich vornehmlich
die Ja-Kampagne. Im Ja-Lager fand sich mit der IAE (Irish Alliance for Europe)
auch eine breite, akteursübergreifende Kampagnenkooperation (für eine ausführ-
liche Darstellung der Akteure s. Schünemann 2014: 193–232).
Thematisch drehten sich die Kampagnen der Befürworter überwiegend um die
wirtschaftliche Position Irlands in der Gemeinschaft. Vor dem Hintergrund ins-
besondere der Investitionsabhängigkeit des Landes wurde vor einem möglicher-
weise als Abkehr von Europa verstandenen Nein gewarnt. Ferner dienten auch
in Irland die institutionellen und demokratischen Reformen als Pro-Argumente.
Demgegenüber kritisierten die Vertragsgegner die in ihren Augen nur schlecht
verborgenen föderalistischen Ambitionen des Reformvertrags. Sie sahen die EU
auf dem Weg zum europäischen Superstaat, was für Irland die Rückentwicklung
zu einer bloßen Provinz bedeutete. Die Gegner kritisierten zudem die angeblich
neoliberale Ausrichtung der Wirtschafts- und Finanzpolitik, das fortbestehende
Demokratiedefizit, die Militarisierung der Gemeinschaft und Gefährdung der iri-
schen außenpolitischen Neutralität. Schließlich brachten die Akteure auf der ext-
remen Rechte, insbesondere Cóir auch sozialethische Bedenken (z.B. Einführung
130 5 EU-Referenden im Vergleich
von Abtreibung, Sterbehilfe etc.) zum Ausdruck (für eine ausführliche Darstellung
der Argumente s. Schünemann 2014: 391–487).
Meinungsumfragen wiesen bald in die eine, bald in die andere Richtung, gaben
allerdings ungeachtet der methodenbedingten Differenzen zwischen den Ergebnis-
sen verschiedener Institute über lange Zeit keinen eindeutigen Trend zu erkennen.
Erst kurz vor der Abstimmung verzeichneten die beiden führenden Meinungsfor-
schungsinstitute in ihren Umfragen einen deutlichen Zuwachs bei den Nein-Stim-
men. In Verbindung mit der bis zuletzt großen Zahl der Unentschlossenen galt
eine Ablehnung des Vertrags somit in der letzten Woche vor dem Referendum als
wahrscheinlich (s. Abb. 13).
Abbildung 13 Ausgewählte Meinungsumfragen der Institute Red C für die Sunday Busi-
ness Post und TNS mrbi für die Irish Times zwischen Januar und Juni
2008. Quelle (Zahlen): Red C abrufbar unter: http://redcresearch.ie/wp-
content/uploads/PDF/SBP8thJunePollReport.pdf (nicht mehr verfügbar);
TNS mrbi: Irish Times vom 26. Jan., 17. Mai u. 6. Juni 2008.
5.7 Irland: das Referendum als Gewohnheit 131
Bei dem Referendum am 12. Juni 2008 wurde den Bürgern die Verfassungsän-
derung im Wortlaut des 28. Amendment zur Abstimmung vorgelegt. Im Wesent-
lichen sah das Gesetz zur Verfassungsänderung einen neuen Paragraphen im Art.
29 Abs. 4 der irischen Verfassung vor, der es dem Staat erlaubte, den Vertrag von
Lissabon zu ratifizieren.56 Eine Mehrheit von 53,4 Prozent sprach sich gegen die
Verfassungsänderung und damit den Lissabon-Vertrag aus. Dabei lag die Wahlbe-
teiligung mit über 53 Prozent klar über derjenigen des ersten Nizza-Referendums
(34,8%), das im Juni 2001 gescheitert war. Die Niederlage im Referendum traf
die junge Regierung unter Premierminister Cowen schwer (Laffan und O‘Mahony
2008: 262), in intuitiven Reaktionen aus den europäischen Partnerländern wur-
den zudem vor allem die innenpolitische Situation, die schlechte Kommunikation
durch die Regierung und der schwache Wahlkampf der Regierungsparteien für
das Scheitern der Ratifizierung verantwortlich gemacht. Die Warnungen einiger
Befürworter während der Kampagnen, Irland könne sich auf europäischer Ebe-
ne isolieren, fanden in der ein oder anderen Forderung nach Quasi-Sanktionen,
z.B. in Form eines vorübergehenden Ausschlusses Irlands aus der EU, ihr schrilles
Echo, bevor sich die Europapolitiker allmählich von ihrem Schock erholten und
56 Der Vorschlag findet sich im Anhang des von der Regierung herausgegebenen Be-
richts zu den Referendumsergebnissen in der irischen Republik, abrufbar unter: http://
www.environ.ie/sites/default/files/migrated-files/en/Publications/LocalGovernment/
Voting/FileDownLoad%2C1894%2Cen.pdf (letzter Zugriff: 20.7.2016).
132 5 EU-Referenden im Vergleich
Nach dem Scheitern des ersten Referendums über den Lissabon-Vertrag war die
irische Regierung mit einer dilemmatischen Situation konfrontiert (Coakley 2010:
27): Während von Seiten der europäischen Partner Druck auf das Land ausgeübt
und eine aktive Schadensbegrenzung verlangt wurde, konnte der Reformvertrag
als Gegenstand eines zweiten Referendums – die Wiedervorlage war bereits 2002
als Ausweg nach dem Scheitern des Nizza-Vertrags gewählt worden – im Grunde
nicht verändert werden, weil eine wirkliche, substanzielle Modifikation die neuer-
liche Zustimmung und Ratifizierung durch alle Mitgliedstaaten erfordert hätte,
unter den Partnern jedoch nicht die geringste Bereitschaft bestand, das Verhand-
lungspaket noch einmal aufzuschnüren und in eine weitere Runde des mühsamen
Ratifikationsprozesses einzutreten. Die Wiedervorlage des gleichen Dokuments
war jedoch innenpolitisch ein heikles Manöver. Zum einen hatte der Taoiseach
am Tag nach dem ersten Referendum seinen Respekt vor der Entscheidung des
irischen Volks beteuert: „In a democracy the will of the people as expressed at
the ballot box is sovereign. The Government accepts and respects the verdict of
the Irish people“ (Cowen 2008d), und folglich drohte eine zweite Abstimmung
über den gleichen Vertrag die Glaubwürdigkeit der Regierung nachhaltig zu be-
schädigen. Zum anderen war auch der Ausgang eines zweiten Referendums völlig
ungewiss. Dennoch lief sehr bald alles auf eine zweite Volksabstimmung in Irland
hinaus. Um trotz des weitestgehend unveränderbaren Gegenstands den Anschein
eines „new deal“, eines substanziell veränderten Angebots zu erwecken, das der
Bevölkerung neuerlich zur Abstimmung vorgelegt werden könne, bemühte sich
die irische Regierung, die wesentlichen Bedenken der Wähler auszumachen und
diesbezüglich mit den europäischen Partnern Zugeständnisse zu vereinbaren. Die
Ratspräsidentschaft für das zweite Halbjahr 2008 unter der Führung des französi-
schen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy unterstützte die irischen Regierungsver-
treter in ihren Anstrengungen. Diese hatten zunächst im direkten Nachgang des
Referendums, im Juli und August 2008, umfangreiche Ex-post-Studien zum Wahl-
ergebnis durch das Meinungsforschungsinstitut Millward Brown IMS in Auftrag
5.7 Irland: das Referendum als Gewohnheit 133
gegeben. Im September erschien der erste Bericht des Instituts (Millward Brown
2008), ein abschließender ausführlicherer Bericht des UCD Geary Institute, basie-
rend auf den von Millward Brown ermittelten Daten, wurde im März 2009 vor-
gelegt (Sinnott et al. 2009). Bereits im November 2008 hatte der von den beiden
Parlamentskammern gemeinsam gebildete, überparteiliche Unterausschuss über
Irlands Zukunft in der Europäischen Union (Sub-Committee on Ireland’s Future
in the European Union) seinen Abschlussbericht veröffentlicht, der ebenfalls der
Analyse des Referendumsergebnisses gewidmet war und daraus Handlungsoptio-
nen ableitete (Oireachtas 2008).
Derart ausgerüstet, nahm Premierminister Cowen im Dezember 2008 am Brüs-
seler Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs teil. Die Vertreter der 27 EU-
Mitgliedstaaten verständigten sich darauf, der irischen Bevölkerung in verschie-
denen Fragen entgegenzukommen. Zunächst wurde die im irischen Referendum
sehr kontrovers diskutierte Reduktion des Kommissionskollegiums, die der Lissa-
bon-Vertrag vorsah, fallen gelassen. Auch künftig sollte es bei einem Kommissar
pro Mitgliedstaat bleiben. Konkret heißt es dazu in den Schlussfolgerungen des
Vorsitzes „dass – sofern der Vertrag von Lissabon in Kraft tritt – […] ein Beschluss
gefasst wird, wonach weiterhin ein Angehöriger jedes Mitgliedstaats der Kommis-
sion angehören wird“ (Europäischer Rat 2008: 2).
Einzig dieses Zugeständnis an die irischen Vertragskritiker bedeutete eine all-
gemeine Modifikation des Reformprojekts, die auch alle übrigen Mitgliedstaaten
betraf. Demgegenüber wurden mit den so genannten Garantien solche Zugeständ-
nisse vereinbart, die sich auf die in den Berichten der Wahlforschungsinstitute
ausgemachten Ursachen für die Ablehnung im ersten Referendum richteten und
lediglich den gleichsam soziosynkratischen Bedenken der Iren begegneten (zum
Begriff der Soziosynkrasie s. Schünemann 2014: 95–96). Die von den 27 Staats-
und Regierungschefs auf ihrem Gipfeltreffen am 19. Juni 2009 getroffene Verein-
barung enthält Klarstellungen zu solchen Themen, die in der europapolitischen
Diskussion Irlands seit jeher eine problematische Rolle gespielt und entsprechend
schon zuvor irische Sonderklauseln und Ausnahmen begründet hatten, nämlich zu
sozialethischen Fragen wie Abtreibung und Sterbehilfe (Sektion A), zur Steuer-
politik (Sektion B) sowie zur außenpolitischen Neutralität Irlands (Sektion C). Der
Beschluss der Staats- und Regierungschefs über diese Klarstellungen oder Ga-
rantien hat den Status eines Abkommens im internationalen Recht; es ist mit In-
krafttreten des Reformvertrags wirksam geworden. Zudem wurde vereinbart, dass
die Klarstellungen dem Vertragswerk bei seiner nächsten Änderung (z.B. bei der
Aufnahme eines weiteren Mitgliedstaats) als Protokoll hinzugefügt werden sollen.
Die Vereinbarung umfasste ferner eine unverbindliche Feierliche Erklärung zu
den Rechten der Arbeitnehmer, zur Sozialpolitik und zu anderen Angelegenheiten
134 5 EU-Referenden im Vergleich
(Solemn Declaration on Workers‘ Rights, Social Policy and other Issues) sowie
schließlich eine weitere nationale Erklärung Irlands über seine Sonderrolle bei der
Beteiligung an Maßnahmen im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicher-
heitspolitik (GASP).57 Während auf europäischer Ebene die Garantien vereinbart
wurden, lief in Irland bereits der Wahlkampf für das zweite Referendum.
Im Großen und Ganzen waren es dieselben Kollektivakteure, die in einer ähnli-
chen Konstellation um den Abstimmungsgegenstand stritten wie im Vorjahr. Eine
bedeutende Abweichung ist darin zu sehen, dass Libertas für die zweite Referen-
dumsdebatte nur noch eine untergeordnete Rolle spielte. In der Zwischenzeit war
Libertas mit dem Versuch, sich bei den Europawahlen 2009 in verschiedenen Län-
dern als Partei zu profilieren und Sitze zu erlangen, bis auf eine Ausnahme kläglich
gescheitert. Im irischen Referendumswahlkampf wenige Monate nach den Wahl-
niederlagen waren das Institut und insbesondere ihr Gründer von der Bildfläche
verschwunden. Declan Ganley trat lediglich in den letzten beiden Wochen vor der
Abstimmung in Erscheinung (Ganley 2009). Die einzelnen Auftritte waren aber
weit davon entfernt, eine gezielte, intensive und vor allem wirkungsvolle Kampa-
gne zu ergeben. Wichtig für das Ja-Lager war eine sehr viel intensivere und auf-
wändigere überparteiliche Koordination von Kampagnenaktivitäten, gepaart mit
einer Vielzahl eigener Aktivitäten, die von der im Vorfeld neu zusammengestellten
Ireland for Europe-Plattform betrieben wurde. Das Bündnis unter der Leitung des
früheren PD-Politikers und Präsidenten des Europäischen Parlaments Pat Cox so-
wie der renommierten Europawissenschaftlerin Brigid Laffan stand im Zentrum
der Kampagnenaktivitäten im Ja-Lager. Ferner gelang es diesmal auch der GP,
bei der parteiinternen Abstimmung das nötige Zweidrittelquorum zu überschrei-
ten und mit einer offiziellen Kampagne in Erscheinung zu treten (Gormley 2009).
Zuletzt beteiligte sich eine Reihe finanzstarker Unternehmen wie Intel, Microsoft
oder Ryanair mit Materialien aus eigenen Mitteln und unter eigenem Namen an
den Kampagnen (Fitzgerald 2009).
Hinsichtlich der Themen und Argumente spielten die sog. Garantien erwar-
tungsgemäß eine wesentliche Rolle im Wahlkampf. Während die Referendums-
befürworter, allen voran die Regierung, herausstellten, wie weit die anderen Mit-
gliedstaaten Irland entgegengekommen seien, so dass nun tatsächlich ein neues
Angebot auf dem Tisch liege, konterten die Kritiker, es sei genau der gleiche Ver-
trag („exactly the same treaty“, Sinn Féin 2009), der nun im zweiten Anlauf durch-
57 Die komplette Vereinbarung findet sich im Anhang der Schlussfolgerungen des Vor-
sitzes des Europäischen Rates vom 18./19. Juni 2009, abrufbar unter: https://www.
consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/docs/pressdata/en/ec/108622.pdf (letzter Zu-
griff: 20.7.2016).
5.7 Irland: das Referendum als Gewohnheit 135
Wer mit Blick auf den Titel des Unterabschnitts diesen schnell abzuarbeiten ge-
denkt, mit dem Hinweis darauf, dass das Vereinigte Königreich weder über eine
Verfassung noch über eine Referendumstradition verfüge, macht es sich zu ein-
fach. Denn zum einen finden sich in Ermangelung einer geschriebenen Verfassung
grundlegende Gesetze zu konstitutionellen Fragen, die eine De-facto-Verfassung
ergeben. Im Political Parties, Elections and Referendums Act (PPERA) aus dem
Jahr 2000 lässt sich z.B. die aktuelle Rechtsgrundlage u.a. zu Referenden im Kö-
nigreich finden. Zum anderen muss heute selbst für Großbritannien von einer spe-
ziellen Referendumstradition gesprochen werden, zumindest im Hinblick auf die
Europapolitik. Zwar hat es vor dem jüngsten, dem sog. Brexit-Referendum erst eine
Volksabstimmung mit europapolitischem Gegenstand gegeben, aber zumindest die
Ankündigung europapolitischer Referenden ist zu einer tatsächlichen Tradition ge-
worden, die seit John Major in den späten 1990er Jahren jeder Premierminister, egal
von welcher Partei, mindestens einmal aktualisiert hat (Oppermann 2015: 277).
Major versprach 1996, die Entscheidung über einen britischen Euro-Beitritt an ein
5.8 Großbritannien: das Referendum als europapol. Präzedenzfall 137
Votum der Bürger zu koppeln. Sein Nachfolger Blair übernahm dieses Verspre-
chen. Es war seine Labour-Regierung, die die Einführung von Volksabstimmungen
in ihrem Wahlprogramm vorgesehen hatte (Labour Party 1997). Mit ihrer Mehrheit
im Unterhaus verabschiedete sie im Jahr 2000 das PPERA. 2004 schworen sich
alle großen Parteien auf die Abhaltung eines nationalen Ratifizierungsreferendums
zum Europäischen Verfassungsvertrag ein. Der Premierminister kündigte es ent-
sprechend an, so dass eine Durchführung der Volksabstimmung im Ratifikations-
prozess bevorstand, allerdings in Reaktion auf die gescheiterten Referenden in
Frankreich und den Niederlanden abgesagt werden konnte. Demgegenüber gelang
es der Labour-Regierung unter Gordon Brown im Folgenden den Lissabonner Re-
formvertrag auf gewohnt parlamentarischem Wege ratifizieren zu lassen. Dieser
Schritt war ausgesprochen umstritten. Er wurde nicht zuletzt vom damaligen Oppo-
sitionspolitiker Cameron heftig bekämpft. In einem Gastbeitrag für die Sun sprach
Cameron von einer „cast-iron guarantee“, wonach unter seiner Führung auch diese
Vertragsreform dem Volk zur Abstimmung vorgelegt würde: „Today, I will give this
cast-iron guarantee: If I become PM a Conservative government will hold a refe-
rendum on any EU treaty that emerges from these negotiations“ (Cameron 2007).
Die Labor-Regierung hatte hingegen schon am Übergang von Blair zu Brown rote
Linien gezogen („red lines“), womit sie sich Zugeständnisse seitens der europa-
politischen Partner, die ein britisches Referendum unbedingt verhindern wollten (s.
Abschnitt 2.2.6), sichern konnte (Oppermann 2013a: 79 u. 84). Nach dem Regie-
rungswechsel war es zu spät, diese Garantie noch am Vertrag von Lissabon selbst
einzulösen. Stattdessen ließ die Regierung Cameron 2011 mittels des European
Union Act gesetzlich ein so genanntes „referendum lock“ beschließen. Demnach
muss fortan jede substanzielle Änderung des EU-Vertragswerks per Referendum
ratifiziert werden (Oppermann 2015: 277).
Galten Volksabstimmungen lange Zeit nicht zuletzt aufgrund der obersten Ent-
scheidungshoheit des Parlaments als inkompatibel mit der britischen De-facto-
Verfassung (Bogdanor 1994: 33), sind sie seit einigen Jahren zu einem möglichen
Instrument in der britischen Politik und einem – wenn auch weiterhin seltenen
– Element der Verfassungswirklichkeit geworden (ebd.: 281): „The place of the
referendum within British constitutional practice has certainly grown“ (Tierney
2015: 230). Wenngleich die meisten Premierminister ihre Referendumsverspre-
chen aus vielerlei Gründen nicht haben einlösen müssen, ist aus den Ankündi-
gungen dennoch so etwas wie eine Referendumserwartung in europapolitischen
Belangen entstanden.
Überhaupt waren es fast immer Fragen der regionalen (oder nationalen) Auto-
nomie, die zu sachunmittelbaren Entscheidungen vorgelegt wurden. Die in einer
dynamischen Abfolge veranstalteten Volksabstimmungen im Kontext der Devo-
138 5 EU-Referenden im Vergleich
lution in Nordirland, Schottland und Wales haben dabei allerdings stets nur die
betroffenen Bevölkerungsteile eingeschlossen. Demgegenüber ging es, wenn tat-
sächlich das ganze britische Volk zur Abstimmung aufgerufen war, bis auf eine
einzige Ausnahme (das Referendum über die Wahlreform 2011) um die Haltung
Großbritanniens zur europäischen Einigung, konkreter: Austritt oder Verbleib im
je aktuellen Gemeinschaftskonstrukt (s. Tabelle 8).
Damit könnte der Titel des gesamten Abschnitts ebenfalls als irreführend wahr-
genommen werden, nämlich insofern, als es sich beim britischen In-/Out-Referen-
dum im Juni 2016 aus britischer Sicht eben nicht wirklich um einen Präzedenzfall
handelt, denn schon kurz nach Eintritt des Vereinigten Königreichs in die Europäi-
sche Gemeinschaft stellte der damalige Premierminister und Labour-Politiker Ha-
rold Wilson die Frage nach einem raschen Rückzug aus der EWG zur nationalen
Abstimmung. Die Hintergründe dieser Entscheidung zeigen bemerkenswerte Par-
allelen zur Situation vierzig Jahre später. Damals war es allerdings die Labour Par-
ty, die über den Beitritt zur Gemeinschaft tief gespalten war. Um ein Auseinander-
brechen der Partei zu vermeiden, ließ stets die proeuropäische Parteiführung, noch
zu Oppositionszeiten, die Forderung eines Referendums zu. Nachdem es dazu in
Vorbereitung des Beitritts nicht gekommen war, führte die Labour-Regierung nach
ihrer Wahl 1974 Nachverhandlungen mit den Partnern in der Gemeinschaft. Dar-
aufhin kam es zum Votum über den Verbleib in einer entsprechend reformierten
Gemeinschaft. Die Abstimmung am 5. Juni 1975 ging damals – und hier endet die
Parallelität der Ereignisse zu 2016 – mit einer hohen Zustimmung von 67 Prozent
für den Verbleib aus (Bogdanor 1994: 39–40). Vor diesem Hintergrund ist also
eher das erste nationale Referendum 1975 als Präzedenzfall anzusehen. Es löste
zwar keine weiteren landesweiten Abstimmungen aus, trug aber durchaus stark
zur Dynamik bei, die in die ersten Devolutionsreferenden in Schottland und Wales
keine vier Jahre später mündete (ebd.: 42).
Quelle (Zahlen): Bericht des House of Lords (2010) sowie Dokumentation der Electoral
Commission, URL: http://www.electoralcommission.org.uk/find-information-by-subject/
elections-and-referendums/past-elections-and-referendums/referendums (29.6.2016).
61 Mit der Frage der Notwendigkeit einer geschriebenen Verfassung für derartige Schutz-
mechanismen haben sich Experten im Rahmen eines Berichts des House of Lords
140 5 EU-Referenden im Vergleich
Dies ist sowohl aus theoretisch-normativer Perspektive von Belang (s. die Kritik
an der potentiellen Tyrannei der Mehrheit in Abschnitt 3.2) als auch von Interesse,
wenn man die nachträglichen Klagen infolge des Brexit-Votums betrachtet, wo-
nach eine Abstimmung über den Verbleib in der EU nicht oder nur mit erhöhten
Zustimmungs- und Beteiligungsquoren hätte zugelassen werden sollen (Rogoff
2016). Zumindest diese weniger tiefgreifenden Einschränkungen dezisionistischer
Entscheidungsgewalt könnten freilich auch in einem eigenständigen Referendums-
gesetz festgehalten werden. Bei einer solchen Lösung wäre nur fraglich, inwieweit
spätere Parlamente sich daran binden ließen (House of Lords 2010: 28–29).
Das britische Parlament ist so souverän – so lässt sich zugespitzt formulieren –,
dass es sich in jeder politischen Sachfrage selbst entmachten kann. Diese Selbst-
entmachtung ist natürlich nicht de jure, sondern allenfalls de facto gegeben. Das
Referendumsinstrument in Großbritannien ist konsultativ. Es kann aufgrund der
Parlamentssouveränität nicht rechtsverbindlich sein, wie der Bericht des House
of Lord zur Referendumspraxis im Vereinigten Königreich aus dem Jahr 2010
festhält: „because of the sovereignty of Parliament, referendums cannot be legally
binding in the UK, and are therefore advisory“ (House of Lords 2010: 46; s. auch
Bogdanor 1994: 44). Dennoch spricht trotz geringer nationaler Referendumstradi-
tion vieles dafür, dass selbst für Großbritannien der Grundsatz gilt, dass es fak-
tisch keine nicht-bindenden Volksabstimmungen gibt. So heißt es auch im benann-
ten Bericht des Oberhauses weiter: „However, it would be difficult for Parliament
to ignore a decisive expression of public opinion“ (ebd.). Das Brexit-Referendum
2016, über dessen faktische Bindungswirkung zum heutigen Zeitpunkt (Juni 2016)
noch nicht entschieden ist, könnte ein gutes Anschauungsobjekt werden, um die
politische Bindung des Parlaments durch ein im Ergebnis klares, aber knappes
Votum zu prüfen.
5.8.2 Referendumsdispositiv
Die britische Volksabstimmung über den Austritt aus der EU im Juni 2016 hatte ei-
nen langen Vorlauf. Im Januar 2013 schon hatte der britische Premierminister David
Cameron in seiner sog. Bloomberg Speech angekündigt, im Fall seiner Wiederwahl
die Bevölkerung des Landes bis spätestens 2017 über den Verbleib des Königreichs
in einer gegebenenfalls reformierten EU entscheiden zu lassen (Cameron 2013). Als
wesentlicher Grund für seine umstrittene Ankündigung gilt die Zerrissenheit seiner
Partei in der Europafrage. Die ohnehin traditionelle EU-Skepsis unter den briti-
schen Konservativen war zuvor nicht zuletzt aufgrund einer rechts von der Partei
erstarkenden UK Independence Party (UKIP) immer lauter geworden und drohte
die Partei zu spalten. Eine große Gruppe von Abgeordneten in der eigenen Fraktion
hatte schon zuvor vehement nach einem Referendum verlangt. Im Oktober 2011
hatten 81 konservative Abgeordnete einen entsprechenden Gesetzesentwurf unter-
stützt (zur sog. „Tory backbench rebellion, s. Oppermann 2015: 283). Mit seinem
Entschluss zielte Cameron also ganz ähnlich wie Harold Wilson 40 Jahre zuvor
mit der Labour Party darauf, seine Partei in dieser Frage zu befrieden und auch den
gesellschaftlichen Konflikt über die britische Stellung in der EU durch ein direkt-
demokratisches Bekenntnis zum Verbleib beilegen zu können.
Um sein Ziel zu erreichen und die Euroskeptiker in der eigenen Fraktion im
Zaum zu halten, war es für den britischen Premierminister wichtig, als harter Ver-
handlungsführer gegenüber Brüssel aufzutreten. Schon sein erster Auftritt dort
nach der Ankündigung des Referendums anlässlich des EU-Gipfeltreffens im
Februar 2013 stand in diesem Zeichen. Cameron gehörte zu den Staats- und Re-
gierungschefs, die für den sog. Mehrjährigen Finanzrahmen 2014-2020 erstmals
Kürzungen gegenüber dem vorangegangenen Siebenjahreszeitraum erwirkten.63
Allerdings hielt das Jahr 2014 für Cameron und die Konservative Partei einige
Rückschläge auf europapolitischem Terrain bereit. Zum Ersten ging die Partei aus
der Europawahl im Mai nur als drittstärkste Kraft hervor. Die euroskeptische UK
Independence Party von Nigel Farage hingegen erhielt mit knapp 27 Prozent die
meisten Stimmen. Freilich konnte dieses Ergebnis die Entscheidung zum Referen-
63 S. Berichterstattung des Telegraph vom 08. Februar 2013: „Cameron triumphs as Eu-
ropean leaders agree on first-ever budget cut“ (Telegraph 2013).
5.8 Großbritannien: das Referendum als europapol. Präzedenzfall 143
dum nur bestätigen. Weiteres Ungemach entstand allerdings im Kontext der Bil-
dung einer neuen EU-Kommission. Diese soll sich zwar prinzipiell am Ergebnis
der Europawahlen orientieren. Dieses Mal hatte sich über diese vertragsrechtliche
Soll-Bestimmung hinaus im Europawahlkampf aber eine besondere Parlamenta-
risierung des Systems angekündigt, indem die EP-Fraktionen mit Spitzenkandida-
ten in die Europawahlen einzogen. Cameron wollte es im Nachgang der Wahlen
nicht akzeptieren, dass der Kandidat der siegreichen EVP-Fraktion, der frühere
luxemburgische Premierminister Juncker, an den Staats- und Regierungschefs, die
das formale Vorschlagsrecht innehaben, vorbei, seinen Anspruch auf das Amt des
Kommissionspräsidenten geltend zu machen versuchte. Cameron drang mit sei-
nem Widerstand nicht durch. Juncker wurde zum designierten Präsidenten und mit
der Bildung einer Kommission beauftragt. In seinem diesbezüglichen Statement
vor dem House of Commons sprach Cameron von einem „bad day for Europe“
(Cameron 2014). Im Oktober desselben Jahres kam von Seiten der EU zudem eine
Forderung von Nachzahlungen zum EU-Budget in Höhe von gut zwei Milliarden
Euro, gegen die Cameron ebenfalls erbittert stritt.64
Über lange Zeit sowie auch in dieser Periode war es unklar gewesen, ob der Pre-
mierminister sein Versprechen eines Referendums überhaupt wahrmachen müss-
te. Zweimal warden die von der Conservative Party eingebrachten Referendum
Bills im Gesetzgebungsprozess abgelehnt worden, zum ersten Mal im Dezember
2013 vom House of Lords.65 Im Oktober 2014 scheiterte eine zweite Referendum
Bill, diesmal im House of Commons.66 Solange die Konservativen nicht über eine
eigene Mehrheit im Parlament verfügten, sondern auf den ausgesprochen proeuro-
päischen Koalitionspartner, die Liberaldemokraten (LibDems), angewiesen waren,
war eine Realisierung der Referendumsoption unwahrscheinlich. Die Parlaments-
wahl im Mai 2015 markierte diesbezüglich einen entscheidenden Wendepunkt. Im
Angesicht wenig verlässlicher Meinungsumfragen mussten sich die Konservativen
auf eine Abwahl oder den Fortbestand der Koalitionsregierung einstellen. Beide
Optionen hätten ein Referendum faktisch verhindert. Die Labour-Partei,67 aber
auch der proeuropäische Koalitionspartner hätten die Abhaltung eines Referen-
dums blockiert. Vor diesem Hintergrund hatten die Konservativen das Referendum
als Kernelement in ihr Programm für die Parlamentswahlen 2015 aufgenommen:
„we will hold an in-out referendum on our membership of the EU before the end
of 2017“ (Conservatives 2015). Nach dem überraschend deutlichen Wahlsieg der
Tories im Mai 2015 führte an der Volksabstimmung tatsächlich kein Weg vorbei
(Oppermann 2015). Dementsprechend war das Referendum auch Teil der Queen’s
Speech vom 27. Mai 2015. Schon einen Tag später wurde eine neue EU Referen-
dum Bill ins Parlament eingebracht. Das Gesetz erhielt im Dezember die finale Zu-
stimmung und wurde als European Union Referendum Act 2015 veröffentlicht.68
In der Zwischenzeit empfahl die Wahlkommission eine Änderung der dem Volk
vorzulegenden Frage. Der Gesetzesvorschlag hatte als Frage vorgesehen: „Should
the United Kingdom remain a member of the European Union?“ Antwortmög-
lichkeiten waren ja oder nein. Obwohl für die Bewertung von Referendumsfragen
grundsätzlich einfache Fragen, verbunden mit Ja/Nein-Antwortoptionen empfoh-
len werden, begründete die Kommission ihre abweichende Entscheidung mit einer
gewissen Verzerrung zugunsten der Zustimmung, welche die Akzeptanz eines Vo-
tums zum Verbleib hätte gefährden können. Deshalb empfahl sie die Änderung der
Frage in „Should the United Kingdom remain a member of the European Union
or leave the European Union?“ Als Antwortmöglichkeiten wurden „Remain“ und
„Leave“ vorgegeben. Dieser Forderung wurde im September durch Parlamentsbe-
schluss entsprochen. Schließlich wurden Fragestellung und Alternativoptionen im
European Union Act von 2015 (Section 1) so festgeschrieben.
Auf europapolitischer Bühne hatte Cameron zunächst die keineswegs leichte
Aufgabe, mit den Partnern Zugeständnisse auszuhandeln, die es ihm erlaubten, ei-
nen neuen Deal über die Mitgliedschaft des Königreichs in der EU zu präsentieren.
Die Partner empfingen den britischen Premierminister in dieser Angelegenheit
zwar nicht mit offenen Armen, aber sie hatten doch ebenfalls ein Interesse daran,
die aus der Perspektive mancher unnötige Volksabstimmung durch Zugeständnis-
se an die Briten im proeuropäischen Sinne zu beeinflussen. Dennoch unterscheidet
sich die Situation grundlegend von der eines mitgliedstaatlichen Referendums im
Rahmen eines Ratifikationsprozesses. Während die Partnerstaaten bei letzterem
auf die Zustimmung jedes Mitgliedstaats angewiesen sind, um das gemeinsame
Reformziel zu erreichen, verhält es sich im Falle des Austrittsreferendums um-
gekehrt. Die Kosten sind asymmetrisch zulasten des Austrittskandidaten verteilt.
Seine Verhandlungsmacht ist deutlich geringer (Oppermann 2015: 287–288).
Schon auf dem Juni-Gipfel 2015 brachte Cameron die Frage von Nachverhandlun-
gen auf die Agenda. Sie wurde von den Staats- und Regierungschefs allerdings auf
den zweiten Gipfel im Dezember vertagt. Für die Analyse und Beobachtung der
Entwicklungen in Großbritannien rund um die Referendumsfrage richtete die EU-
Kommission eine so genannte „Brussels task force on strategic issues related to
the UK referendum“ unter Leitung des britischen Kommissionsbeamten Jonathan
Faull ein. Die Kommission nahm zum September 2015 ihre Arbeit auf.
Im November 2015, nach dem Parteitag der britischen Konservativen im Vor-
monat, schickte Premierminister Cameron seine konkretisierte Liste mit Re-
formforderungen nach Brüssel. Er ging in dem Schreiben an den Präsidenten des
Europäischen Rats Tusk auf vier Bereiche ein (die sog. „four areas“), für die er
Forderungen formulierte:
Am Ende übte der britische Premier offenen Druck auf die Partnerstaaten aus, in-
dem er seine Bereitschaft, für einen Verbleib des Königreichs in der EU zu werben,
unmissverständlich an die Erfüllung der Forderungen koppelte:
„I hope and believe that together we can reach agreement on each of these four areas.
If we can, I am ready to campaign with all my heart and soul to keep Britain inside
a reformed European Union that continues to enhance the prosperity and security of
all its Member States.“ (Cameron 2015a: 6)
146 5 EU-Referenden im Vergleich
Am Tag der Übermittlung des Schreibens machte Cameron die Forderungen mit
seiner Europarede bei Chatham House öffentlich. Wie in seinem Schreiben setzte
er hierin auf die Forderung nach einer größeren Flexibilität der EU, die sich in den
genannten vier Bereichen konkret auswirken solle. Auch machte er deutlich, dass
er, sofern ein neuer Deal geboten würde, mit vollem Einsatz für den Verbleib des
Königreichs kämpfen würde. Andernfalls aber – so wiederholte er die unmissver-
ständliche Drohung – könne er für nichts garantieren: „I rule nothing out.“ An die
eigene Bevölkerung und die politische Elite gewendet, machte er den Einsatz in
der bevorstehenden Abstimmung deutlich: „Leave means leave“ (Cameron 2015b).
Eine zweite Entscheidung und damit eine Revision eines einmal gefällten Aus-
trittsbeschlusses könne es nicht geben.
Der Präsident des Europäischen Rates gab seine Einschätzung zur Erfüllbarkeit
der britischen Forderung in seinem Schreiben an die Staats- und Regierungschefs
von Anfang Dezember 2015 (Tusk 2015). Auf dem wenige Tage später beginnenden
EU-Gipfel spielte die Frage des bevorstehenden britischen Referendums erneut nur
eine untergeordnete Rolle. Die Flüchtlingsfrage sowie die gemeinsamen Anstren-
gungen zur Terrorismusbekämpfung infolge der Anschläge von Paris im Novem-
ber dominierten die Agenda des Treffens (Europäischer Rat 2015). Ein „Deal“ für
Großbritannien wurde allerdings für Februar 2016 in Aussicht gestellt. Bis dahin
begab sich Cameron auf eine Tour zu den europäischen Partnern, um die Möglich-
keiten eines Pakets von Zugeständnissen auszuloten. Auch EU-Ratspräsident Tusk
führte zahlreiche Sondierungsgespräche. Tatsächlich kursierte Anfang Februar
2016 ein Entwurf für die Vereinbarungen. Auf dem Sondergipfel am 18. und 19.
Februar wurde der Deal dann von den Staats- und Regierungschefs beschlossen.
Die Schlussfolgerungen des Vorsitzes (Europäischer Rat 2016) enthielten ein
Bündel von sechs Erklärungen, mit denen auf alle vier Felder der britischen Forde-
rungen eingegangen wurde (Hummer 2016: 144).
materiellen Gehalt dieser Klarstellung bei der nächsten Anpassung der Ver-
träge in das Primärrecht zu übernehmen (S. 16). Die Entpflichtung hinsichtlich
des Ziels der „immer engeren Union der europäischen Völker“ hat weitgehend
symbolischen Wert (Oppermann 2015; demgegenüber sehr kritisch: Hummer
2016). Im Bereich der Subsidiaritätskontrolle blieb es im Wesentlichen bei
einem starken Bekenntnis zu den mit dem Lissabon-Vertrag eingeführten Ver-
fahren (S. 17-18).
4. Änderungen des Sekundärrechts wurden vor allem im Zusammenspiel von So-
zialleistungen und Freizügigkeit vorgesehen. So wurde die Änderung zweier
Verordnungen und einer Richtlinie in Aussicht gestellt, um die Höhe ausge-
führter Sozialleistungen an Kinder an das Niveau im jeweiligen Heimatland
anzupassen, den Bezug von öffentlich finanzierten Lohnergänzungsleistungen
nach der Dauer des Aufenthalts (bis zu vier Jahre) gestaffelt zu strukturieren
und schließlich den Missbrauch der Freizügigkeit durch Scheinehen zu begren-
zen (S. 19-24 u. 33-36). Das Thema Sozialleistungen und Freizügigkeit war
sicher der umstrittenste Punkt der Forderungen Camerons. Die erreichten Zu-
geständnisse sind mit Blick auf die weitgehenden Bedenken innerhalb der briti-
schen Regierungspartei allenfalls als marginal einzustufen. Insofern ist es ver-
ständlich, dass insbesondere dieses Thema mit dem neuen Verhandlungspaket
nicht ausgestanden war, sondern im Wahlkampf aufgegriffen wurde.
Allen Beschlüssen und Erklärungen der Staats- und Regierungschefs wurde die
gleichsam salvatorische Klausel hinzugefügt, dass sie nur im Falle eines Remain-
Votums, nämlich am Tag darauf, Geltung erlangen würden. Andernfalls, also bei
einer Austrittsentscheidung – so hält es die Erklärung unmissverständlich fest –
würden die Verhandlungsergebnisse unverzüglich hinfällig. Cameron akzeptierte
das Verhandlungsergebnis und führte fortan auf dieser Grundlage seinen Wahl-
kampf. Mit der Mitgliedschaft in der EU, den Opt-outs und neuen Garantien habe
man sich „the best of both worlds“ sichern können, wie der Premier in einer zent-
ralen Wahlkampfrede am 9. Mai betonte (Cameron 2016).
Auf der innenpolitischen Bühne hatte der Premierminister schon zuvor für eine
erhebliche Intensivierung des Wahlkampfgeschehens gesorgt. Denn Anfang Janu-
ar hatte er das Kollegialprinzip für das Kabinett bezüglich des In-/Out-Referen-
dums ausgesetzt. Damit hatten auch Minister der Regierung die Möglichkeit, für
den Austritt zu werben. Als Cameron am 20. Februar das Datum für die Volks-
abstimmung bekannt gab, ergriffen die Kabinettsmitglieder Michael Gove, Chris
Gayling, Iain Duncan Smith, John Whittingdale und Theresa Villiers umgehend
diese Möglichkeit und wichen öffentlichkeitswirksam von der Linie des Premiers
ab. Am Tag darauf verkündete auch Boris Johnson, der ehemalige Londoner Bür-
148 5 EU-Referenden im Vergleich
germeister, dass er für das Leave-Lager Wahlkampf machen würde, womit dieses
einen führenden Tory-Politiker als Zugpferd gewann.
Anfang Februar griff im Hintergrund auch das Referendumsdispositiv, und die
Wahlkommission nahm Registrierungen von Organisationen mit Wahlkampfab-
sicht an. Am 13. April ernannte die Kommission die sog. „designated lead cam-
paigns“ für die beiden Lager des Referendums: „The In Campaign Ltd“ und „Vote
Leave Ltd“. Beide Organisationen hatten sich bereits im Oktober des Vorjahres
gegründet und hatten sich nun neben anderen für die zentrale Stellung beworben.
Nach der Entscheidung kamen ausschließlich diese beiden parteiübergreifenden
Wahlkampforganisationen in den Genuss der in Abschnitt 5.8.1 beschriebenen
Privilegien und durften Wahlkampfaufwendungen bis zu einer durch den Euro-
pean Union Referendum Act noch einmal erhöhten Obergrenze von 7 Mio. GBP
vornehmen. Sie erhielten jeweils Unterstützungsmittel von bis zu 600.000 GBP.
Mit dem 15. April begann die offizielle und regulierte Wahlkampfperiode. Der
27. Mai markierte den Eintritt in die so genannte „purdah period“ (28 Tage vor
der Abstimmung). In diesem Zeitraum war es der nationalen Regierung sowie lo-
kalen Administrationen untersagt, Material zum Referendum zu veröffentlichen
(Section 125 PPERA). Ausgenommen davon war freilich die Wahlkommission.
Sie versandte eine Informationsbroschüre zur Abstimmung an alle Haushalte des
Landes, darin enthalten auch je eine Kurzdarstellung der wesentlichen Argumente
beider Lager durch die designierten Organisationen selbst (Electoral Commission
UK 2016).
Der Wahlkampf hatte lange vor der offiziellen und regulierten Referendumspe-
riode begonnen. Schon im Juli 2015 hatte sich die Kampagne Leave.EU gegründet.
Sie hatte enge personelle Verbindungen zur UKIP und somit zunächst auch zu
deren charismatischen Führungsfigur Nigel Farage. Aufgrund von Querelen inner-
halb von Vote Leave sowie zwischen Vote Leave und Leave.EU formierte sich
später, nämlich erst im Januar 2016, die Kampagnenorganisation Grassroots Out.
Wieder waren Farage und andere UKIP-Politiker eng eingebunden, daneben aber
auch Konservative und sogar einige prominente Abweichler der Labour Party, wie
insbesondere die Unterhausabgeordnete Kate Hoey.
Der Wahlkampf wurde hart und erbittert geführt. Der Riss ging bis in die Par-
teien hinein. Das ist offensichtlich für die Konservativen. Doch auch die Labour
Party hatte mit innerparteilichen Dissidenten zu kämpfen. Außerdem trat der Par-
teiführer Corbyn in den Augen vieler EU-Befürworter nicht leidenschaftlich ge-
nug für die europäische Sache ein.69 Es wurde bis zuletzt um die unentschiedenen
69 Im Nachgang zum Referendum mündete diese Kritik in eine Rebellion innerhalb der
Labour Party. Ende Juni 2016 sprach sich eine große Mehrheit der Parlamentsabgeord-
5.8 Großbritannien: das Referendum als europapol. Präzedenzfall 149
Wähler gestritten (s. Abbildung 16). Viele gesellschaftliche Akteure ergriffen Po-
sition für ein Lager. Die meisten großen Unternehmen sprachen sich aufgrund der
ökonomischen Ungewissheit eines Leave-Votums für einen Verbleib aus. Demge-
genüber stand eine Reihe kleinerer und mittlerer Unternehmen, die für einen Aus-
tritt eintraten (z.B. in Form eines offenen Briefs von über 200 Kleinunternehmern,
The Telegraph 2016). Die wirtschaftlichen Risiken bildeten ein zentrales Argu-
ment der Kampagne der Befürworter. Dies schlug sich auch in den Nachwahlbe-
fragungen nieder, in denen die ökonomischen Risiken als wichtigster Grund für
einen Verbleib genannt wurden (Lord Ashcroft Polls 2016). Unterstützt wurde das
Remain-Lager gerade in diesem Argument von vielen internationalen Partnern.
Neben den Vertretern der europäischen Partnerländer und der EU-Organe sprach
sich am 22. April auch US-Präsident Barack Obama bei einem Besuch in England
für einen Verbleib des Königreichs in der Gemeinschaft aus (Guardian 2016a).
Im Mai 2016 brachte die Bank of England in ihrem vierteljährlich erscheinenden
Inflation Report eine deutliche Warnung vor den ökonomischen Folgen und einer
möglichen Rezession zum Ausdruck (Bank of England 2016: 41–44). Mit nahen-
dem Wahltermin und bei weiterhin knappen Umfrageresultaten versuchten auch
die EU-Spitzen und Politiker der Nachbarländer durch Anmerkungen von extern
in die Debatte zu intervenieren. Sie wiesen überwiegend auf die großen Schwie-
rigkeiten hin, in die das Land sich mit einer Austrittsentscheidung bringen würde.
Damit sollte dem Leave-Lager in Aussicht gestellt werden, dass es nicht leicht
würde, im Falle eines Austrittsentscheids an den Verhandlungstisch zurückzukeh-
ren und gute Bedingungen für Verhandlungen über die künftige Beziehung des
Königreichs zur Gemeinschaft zu erlangen. Allerdings erhielten die EU-Gegner
starken Rückenwind durch die sehr deutlich für einen Austritt plädierende Tab-
loid-Presse. Diese und wenige Qualitätsorgane wie die Times sprachen sich mit
klarer Herausgeberlinie für eine Abkehr von der EU aus. Demgegenüber standen
Leitorgane wie The Guardian oder The Economist, die offen für einen Verbleib
des Königreichs in der EU plädierten.
Im Wahlkampf stellten die EU-Gegner das Austrittsvotum als letzte Chance
dar, die Kontrolle über die nationalen Belange zu erhalten, anstatt sie weiterhin
nicht-gewählten Bürokraten in Brüssel zu übertragen. „Our last chance to take
back control“, so lautete der zentrale Slogan der Vote Leave-Kampagne (Electoral
Commission UK 2016: 5). Laut Umfragen verfing dieses Souveränitäts- oder Au-
tonomieargument der Brexit-Befürworter am stärksten bei den Wählern. Befragte
neten der Partei in einem unverbindlichen Misstrauensvotum gegen Corbyn aus (BBC
2016).
150 5 EU-Referenden im Vergleich
„The Leave side presented the referendum as a unique opportunity to vote leave to
regain control of British borders and restrict immigration. Survey evidence suggests
that this was a core concern among Leave voters, and ultimately outweighed the fear
of economic insecurity that the Remain camp had argued would follow from a Leave
vote” (Hobolt 2016).
Laut Nachwahlbefragungen rangiert die Aussicht auf bessere Kontrolle über Im-
migration und Grenzschutz an Stelle zwei der wichtigsten Motive der Austritts-
befürworter (Lord Ashcroft Polls 2016).
Wie Abbildung 16 deutlich zeigt, lagen die Ergebnisse der Meinungsumfragen
bis zuletzt sehr dicht beieinander. Eine Woche vor dem Referendumstermin sorgte
der Mord an der jungen Parlamentsabgeordneten der Labour Party Jo Cox für eine
nationale Erschütterung. Der Wahlkampf wurde für zwei Tage unterbrochen. Das
Attentat eines Einzeltäters hatte durchaus Bezugspunkte zum Wahlkampfgesche-
hen. So war Cox eine glühende Verfechterin des Verbleibs in der EU. Der Täter
5.8 Großbritannien: das Referendum als europapol. Präzedenzfall 151
hatte laut Zeugenaussagen das nationalistische Motto „Britain first“ gerufen, bevor
er zur Tat schritt (Guardian 2016b).
5.9 Zwischenfazit
Feld vorzubringen. Der zweite wiegt schwerer als der erste. Beide haben sie mit
der artifiziellen Trennung zwischen der Abstimmung als politischem Entschei-
dungsmoment und der vorangehenden Debatte als gesellschaftlichem Kommuni-
kationsereignis zu tun. Der erste trifft die mit den Mitteln der Meinungs- und
Einstellungsforschung operierende Referendumsforschung allgemein, der zweite
lediglich den international vergleichenden Einsatz derselben.
Den ersten Einwand provozieren die Meinungsforschungsinstitute geradezu, in-
dem sie nicht nur Material für die Aufarbeitung eines Referendums als punktueller
Abstimmung bieten, sondern in ähnlicher Weise parallel zur Debatte Daten er-
heben und in die öffentliche Auseinandersetzung einspeisen. Sie werden damit zu
einem Teil des Kommunikationszusammenhangs, dessen Ausgang sie analysieren
wollen. Wer glaubt, diese Verwicklung sei völlig unproblematisch, der muss schon
sehr starr an einem geradezu solipsistischen Rational-Choice-Modell der Wähler-
motivation festhalten. Wer hingegen den Kampagnen, dem Verlauf der Debatte
und den Akteuren darin einen Einfluss auf die Wählermotivation zuspricht, der
wird nicht ganz an der aktiven Rolle der Meinungsforschung vorbeikommen und
sie auch problematisieren müssen (Van der Kolk und Aarts 2005b). Es ist dabei
nicht nur anzunehmen, dass etwa die Ermittlung des Vorteils auf der einen Seite
das andere Lager zu intensiverem Kampagneneinsatz veranlassen oder eine große
Zahl von Unentschiedenen im Vorfeld einer Abstimmung den Kampf um diese
Wählergruppe auf beiden Seiten verstärken wird. Diese Effekte können als rund-
weg willkommen im Sinne der lebhaften Demokratie und Spannungssteigerung
im Wahlkampf betrachtet werden.
Kampagnenakteure lassen sich aber auch von den darüber hinaus abgefrag-
ten Meinungsbildern und inhaltlichen Botschaften der Institute beeinflussen. Die
publikumswirksam verbreiteten Umfrageresultate fließen immer wieder in die
Debatte mit ein und zeigen dort Wirkung. Ein gutes Beispiel für die (Nach-)Wir-
kungen der Meinungsforschung auf Referendumsdebatte und Abstimmung bietet
der Fall des irischen Referendums über den Lissabon-Vertrag. In den regelmäßig
publizierten Vorwahlumfragen spielte das für die Kampagnenakteure begehrte
Lager der Unentschiedenen (im Regelfall als „weiß nicht“ oder „don’t know“ be-
zeichnet) eine große, nicht allein die Spannung steigernde Rolle. Die Ambiguität
der Befragtenkategorie („don’t know“) spiegelte sich in der Auseinandersetzung
wider und beeinflusste mittelbar auch die wissenschaftlichen Analyseergebnisse.
Nachdem die Meinungsforschungsinstitute bis kurz vor der Abstimmung einen
großen Anteil Unentschlossener ermittelt hatten, richteten sich die Kampagnen
verschiedener Vertragsgegner verständlicherweise auf diese Wählergruppe aus.
Vor allem der sprachbildnerisch griffige Slogan „If you don’t know, vote no“ fand
große Verbreitung.
6.1 Zwischen Abstimmungen und Debatten 157
Parallel dazu kursierte das Argument der Vertragsgegner, das auf den Wissens-
mangel der Bevölkerung mit Blick auf den zur Ratifizierung stehenden Vertrag
hinwies.70 Auch in diesem Zusammenhang gab es also ein von den Meinungs-
forschungsinstituten ebenfalls identifiziertes „don’t know (enough)“-Motiv des
ablehnenden Lagers. In der vorhersehbaren Kommunikationsspirale zwischen
Meinungsforschungsinstituten und Öffentlichkeit wurde daraus ein recht undurch-
dringliches Amalgam (s. auch Qvortrup 2013: 102). Die große Konjunktur die-
ses vermengten Komplexes schlug sich in mehrfacher Hinsicht in den Exit Polls
der Meinungsforscher nieder. Denn zum einen hatten sie die flexiblen Teile ihrer
Fragebögen (etwa die Frage nach den Abstimmungsmotiven) bereits auf den in
Kenntnis der Debatte hoch sinnvollen und viel versprechenden Wissensmangel
ausgerichtet. Zum anderen zeigte sich dann in der Tat auch im Ergebnis verschie-
dener Analysen der Wissensmangel als zentraler Befund, ja als durchschlagende –
in diesem Fall von Regierungsseite sogar offiziell sanktionierte (Millward Brown
2008; Sinnott et al. 2009) – Erklärung für den irritierenden Sieg des Nein. Diese
und andere Verzerrungs- und Folgeeffekte einer sozialen Konstruktion unter Be-
teiligung der Meinungs- und Einstellungsforschung sind für die empirische So-
zialforschung, wo nicht explizit reflektiert, durchaus problematisch.
Und doch handelt es sich hierbei um das geringere Problem. Man mag es dem
Fatalismus oder der Gelassenheit des sozialkonstruktivistisch geschulten Beob-
achters zuschreiben, aber die Verwicklung von Meinungsforschungsinstituten in
gesellschaftliche Kommunikationszusammenhänge und insbesondere Wahlkämp-
fe ist eine Realität, die sich weder verleugnen noch beheben lässt. Die empirische
Wissenschaft muss sich hier keine prinzipielle Enthaltsamkeit auflegen. Problem-
bewusstsein und eine gewisse Bescheidenheit in der Ergebnisinterpretation wür-
den schon genügen.
Denn unter den angebrachten Vorbehalten ist der durch die Umfrageforschung
erhobene Datenschatz ja in der Tat eine unverzichtbare Ressource für die diffe-
renzierte Analyse einer bestimmten, d.h. in einem bestimmten soziokulturellen
Kontext durchgeführte, Volksabstimmung. Damit komme ich zu meinem zwei-
ten, dem gravierenderen Einwand: Denn mag die Meinungsforschung sich bei der
Einzelfallanalyse noch über die eigene aktive Rolle im abgeschnittenen Debat-
tengeschehen hinwegtäuschen und dennoch sehr brauchbare Daten für die Unter-
suchung sozialer Realität hervorbringen, wird die artifizielle Trennung von Ab-
stimmungsergebnis und Debattenkontext, die dem Datenmaterial eingeschrieben
70 Dies war zweifellos begünstigt durch die Tatsache, dass eine konsolidierte Fassung
des Vertragswerks nach den Modifikationen des Lissabonner Reformvertrags erst zu
einem späten Zeitpunkt in der Debatte überhaupt verfügbar war.
158 6 Empirische Referendumsforschung
71 Für die irischen Abstimmungen erklärt Qvortrup (2013: 103) den Zusammenhang mit
der Wirkung euroskeptischer Presse britischen Ursprungs (Sun, Mirror, News of the
World etc.) in dieser Wählerschicht. Dies böte u.U. auch eine Erklärung für das Er-
6.1 Zwischen Abstimmungen und Debatten 159
Der Wähler und seine Stimme sind konkret nicht ohne Weiteres (nämlich zu-
nächst einmal die vorangegangene Debatte) zu verstehen, denn zumindest in der
Masse ist doch anzunehmen, dass er (der Wähler) erst durch sie (die Debatte) zu
seinem evaluativen Gespür gelangt, um die Wahlentscheidung in der ungewohnten
Ruhe und Einsamkeit der Wahlkabine weniger zu fällen als zu Papier zu bringen.
Anders als es die Meinungs- und Einstellungsforschung für das Umfragedesign
vereinfachend annehmen muss, handelt es sich bei den Einstellungen und Motiven
der Probanden eben nicht um mehr oder minder gegebene, stabile Dispositionen
wie Alter, Geschlecht und Einkommenssituation. Einstellungen, Meinungen und
Wissen sind keine Eigenschaften individueller Akteure. Sie sind „keine indivi-
duellen Angelegenheiten“, sondern sie „haben ihre Entstehungsbedingungen not-
wendig in gesellschaftlichen Kommunikationsprozessen“ (Schünemann 2014: 46).
Übrigens wird diese Tatsache bereits im Design ausgefeilter Fragebögen (ob
durch Wissenschaftler oder kommerzielle Meinungsforscher vorgenommen) zu
einer Herausforderung, welche die Vergleichbarkeit der Ergebnisse von vornhe-
rein erschwert. Wird nämlich neben tatsächlichen Eigenschaften und dem Ab-
stimmungsverhalten – schon hier sind die Beziehungen zueinander losgelöst von
der jeweiligen Debatte schwer zu verstehen – auch die Abstimmungsmotivation
abgefragt, dann wird der Fragebogendesigner an einer Kategorisierung möglicher
oder wahrscheinlicher Motive (sei es nur für den Interviewer oder sichtbar zur
Auswahl auch für die Probanden) nicht vorbeikommen. Ein probates Mittel, um
passende und erschöpfende Kategorienkataloge für die Abstimmung zu gewin-
nen, ist freilich die Orientierung an der jeweiligen, durch Medienberichterstattung
dokumentierten Debatte. Wie sonst ließe sich erklären, dass sich in den etwa in
Abschnitt 6.4 aufgegriffenen Umfrageuntersuchungen solche Motive und Aussa-
gen ergeben oder teils schon im Fragebogen vorgegeben sind, die an das jeweilige
Debattengeschehen unmittelbar anknüpfen und teilweise nur im Kontext desselben
Sinn haben? Die Motive sind aus den in der jeweiligen Debatte ohnehin kursieren-
den Aussagen gebildet worden. Wieder gilt, dass dieses Vorgehen für eine Einzel-
falluntersuchung eher unproblematisch ist. Für die Evaluation und Nachlese der
Kampagnenakteure wird eine derart gestrickte Umfrageuntersuchung in jedem
Fall sehr hilfreich sein. Für die international vergleichende empirische Wahlfor-
schung, die vom individuellen Wähler als transkultureller Vergleichsgröße aus-
geht, sind die derart erhobenen Daten indes problematisch, denn die abgefragten
Einstellungen und Motive werden durch Umfragedesign oder -auswertung not-
wendig gleichsam resozialisiert, d.h. im Lichte des jeweiligen gesellschaftlichen
gebnis des britischen Brexit-Votums 2016. In jedem Fall werden hier strukturelle Be-
dingungen der Debatten reflektiert.
160 6 Empirische Referendumsforschung
Kontextes interpretiert und kategorisiert. Damit allerdings wird die Ableitung ge-
neralisierbarer behavioristischer Axiome à la: Wenn ein Wähler alt/jung ist oder
sich schlecht informiert fühlt, stimmt er mit größerer Wahrscheinlichkeit mit Ja/
Nein, erheblich erschwert (Schünemann 2014: 46–47 u. 66).
Obgleich dieses zweite Problem einer vergleichenden Referendumsforschung
mit den üblichen Mitteln offensichtlich und gravierend ist, wird es im entspre-
chenden Forschungsfeld nur höchst selten benannt. Wagschal (2007a: 55), der
selbst solche Vergleichsstudien vorgelegt hat, ist in diesem Zusammenhang als
Positivbeispiel hervorzuheben, denn er problematisiert diese Unverbundenheit und
daraus resultierende Unsicherheit, was die unterstellten Einfluss- und Kausalver-
hältnisse betrifft:72
72 Freilich hält ihn das nicht davon ab, ebensolche Vergleiche mit geringer Kontextsensi-
bilität durchzuführen und die Referendumsdebatten lediglich nach einem sehr groben
Schema für die Faktorenprüfung zu operationalisieren (Wagschal 2007a, 2007b).
6.1 Zwischen Abstimmungen und Debatten 161
Blickt man von heute 25 Jahre zurück, so war der öffentliche Dissens über das
europäische Einigungsprojekt zu dieser Zeit eine neuartige und irritierende Beob-
achtung. Im Sinne neofunktionalistischer Integrationstheorie (Haas 1958) gingen
nicht wenige Beobachter davon aus, die EU entwickle sich stetig auf das unbe-
stimmte Ziel der immer engeren Union der zusammengeschlossenen Völker zu.
Sie würde zwar nicht durch eine euphorische Stimmung und EU-Identifikation
beflügelt, und doch ruhte sie auf dem soliden Sockel einer wohlwollenden Gleich-
gültigkeit, des sogenannten „permissiven Konsenses“ (Lindberg und Scheingold
1970), die sich auch in Umfragedaten über lange Zeit empirisch niederschlug (vgl.
Risse 2010: 4)
Die ersten Anzeichen eines öffentlichen Widerstands gegen das Einigungspro-
jekt und insbesondere das Scheitern oder Aufhalten europapolitischer Kernpro-
jekte in nationalen Volksabstimmungen waren dementsprechend von politischen,
aber auch von wissenschaftlichen Akteuren nicht leicht einzuordnen. Gerade die
Politik- und Europawissenschaft tat sich schwer im Umgang mit dem neuen Phä-
nomen. Die Irritationen, die teilweise bis in die jüngste Zeit reichen, haben nicht
zuletzt mit einer eigentümlichen Historiographie der EU-Integration zu tun, die
insbesondere in Form eines prävalenten proeuropäischen Metanarrativs zu beob-
achten gewesen ist (Gilbert 2008; Kaiser 2006). Die Geschichte der europäischen
Integration ist zumindest bis zum Ausbruch der Eurokrise als Fortschrittsgeschich-
te erzählt worden. Stagnation war aus dieser Perspektive vorläufig, Rückschritte
waren im Grunde nicht vorgesehen oder wurden im Rahmen flexibler Integration
eingehegt und auf wenige Integrationsbestände und Mitgliedstaaten beschränkt.
Schließlich wurden Krisen in der Regel als Chancen für weitere Integration ver-
standen. Im Feld der wissenschaftlichen Forschung schlägt sich die gewisse Par-
6.2 Die Bedeutung genereller Unterstützung 163
gumentierende Identitätsthese zu halten sein sollte, müsste man sich ihr vermutlich
auf andere Weise denn über die in ihren Niveaus und Schwankungsbreiten sehr
kontextsensible Umfrageforschung nähern, deren Ergebnisse über die je nationa-
len Kontexte hinweg schwer vergleichbar scheinen.73 Damit gelangen wir zurück
zum ausführlich beschriebenen Ausgangsproblem.
Bleiben wir aber zunächst bei der Identitätsthese in ihrer weniger reflexiven
Form. Intuitiv mag der unterstellte Zusammenhang natürlich von hoher Plausibili-
tät sein. Zu seiner Überprüfung lassen sich die Abstimmungsergebnisse zunächst
ganz grob mit den z.B. im Rahmen des Eurobarometers erhobenen Zustimmungs-
werten zur EU-Integration in Bezug setzen. Die Ergebnisse sind in dieser Hinsicht
allerdings nicht sehr aussagekräftig. Die Abbildungen 18 und 19 zeigen die Daten
für zwei regelmäßig erhobene Fragen des Standard-Eurobarometers an. Zum Ers-
ten wird nach der Unterstützung der Mitgliedschaft gefragt: „Ist die Mitglied-
schaft [des Landes] in der EU Ihrer Meinung nach a) eine gute Sache?“; zum Zwei-
ten die Frage nach den Vorteilen durch die EU-Mitgliedschaft gestellt: „Hat Ihrer
Meinung nach [das Land] insgesamt gesehen durch die Mitgliedschaft Vorteile
oder ist das nicht der Fall?“ Die Abbildungen zeigen jeweils nur die prozentualen
Ergebnisse für die positiven Antwortmöglichkeiten auf. Ein generalisierbarer Zu-
sammenhang mit entsprechender Variation über die Mitgliedstaaten ist nicht zu
erkennen. Das Zustimmungsniveau scheint in jedem Fall kein brauchbarer Indika-
tor für die Erfolgswahrscheinlichkeit eines EU-Vertragsreferendums zu sein. Dies
lässt sich ganz grob schon daran ablesen, dass Frankreich mit dem gescheiterten
Referendum über den Verfassungsvertrag zwar im Vergleichsfeld die niedrigste
Zustimmung aufweist (gegenüber dem EU-Durchschnitt etwas niedriger), ein laut
Umfragen gegenüber der EU (auch während des Verfassungsprozesses) vergleichs-
weise positiv gestimmtes Volk wie die Iren in der Vergangenheit aber mehrere
Vertragswerke abgelehnt hat, so auch den Lissabon-Vertrag 2008. Allenfalls inner-
halb einzelner Zeitreihen ist ein Abwärtstrend im Kontext scheiternder Volksab-
stimmungen zu beobachten, wobei die Richtung der Kausalität hier nicht eindeutig
zu bestimmen ist, weil auch konflikthaft ausgetragene Referendumskampagnen
sowie ein negatives Ergebnis selbst dazu geeignet sind, das Ansehen der EU tem-
porär zu beschädigen.
73 Oder aber man gibt sich mit weniger zufrieden als mit der Identität und fragt gleich nur
nach den Zustimmungswerten. Mittels einer kleinteiligeren Periodisierung im Vorfeld
eines einzelnen Referendums haben etwa Schuck und De Vreese (2008) eine entspre-
chende Studie vorgelegt, um den Einfluss von genereller Zustimmung und Skepsis auf
die Wahlabsicht zu untersuchen.
6.2 Die Bedeutung genereller Unterstützung 165
Ist die Frage noch stärker auf die individuellen Vorteile des einzelnen Mitglied-
staats ausgerichtet, wird also nach den Vorteilen der Mitgliedschaft gefragt, ergibt
sich ein ähnliches Bild (s. Abbildung 19). Die Schwankungen sind hier insgesamt
noch geringer. Generalisierbare Aussagen über einen Zusammenhang von gefühl-
tem Vorteil und Referendumsausgang lassen sich auch hier nicht erkennen.
166 6 Empirische Referendumsforschung
Die Identitätsthese und ihre grobe Überprüfung mittels Umfragedaten liefern also
weniger Erklärung denn Ausgangsirritation für viele Arbeiten. Es ist folglich kein
Wunder, dass eine Reihe von Studien zu den gescheiterten Referenden im europäi-
schen Konstitutionalisierungsprozess gerade von diesem Befund aus ihren Aus-
gang nimmt und betont, dass das jeweilige Wahlvolk prinzipiell keine skeptische
oder kritische Haltung gegenüber der EU-Integration gezeigt habe (Lubbers 2008;
Marthaler 2005; Quinlan 2008; Schild 2005). Gerade aus dieser Dissonanz zwi-
schen gehobenem Zustimmungsniveau und Ablehnung in der Volksabstimmung
entsteht vielfach das Untersuchungsinteresse.
6.3 Die Bedeutung parteipolitischer Bindungen 167
Wie bereits an anderer Stelle deutlich geworden ist, besteht eine lang anhalten-
de und kontroverse Diskussion darüber, welche Rolle Parteien in Referendums-
kampagnen im Allgemeinen spielen und inwieweit ihre Wahlempfehlungen die
individuelle Abstimmungsmotivation beeinflussen (Abromeit 2003; Hornig 2014;
Loewenstein 1969 [1957]; de Vreese 2006). Betrachtet man EU-Vertragsreferen-
den, besteht im Hinblick auf parteipolitische Akteure und das politische Reprä-
sentativsystem zunächst ebenfalls ein Anlass zur Irritation (Lang und Majkowska
2005; Besselink 2006). Die vom Mainstream des parteipolitischen Spektrums und
insbesondere von parlamentarisch vertretenen Parteien unterstützten Positionen
decken sich zumindest im Falle gescheiterter Referenden nicht mit den in der Ab-
stimmung ausgedrückten Wählerpräferenzen. Auf jeden Fall liefert das Ausmaß
in der Regel sehr breiter parlamentarischer Zustimmung keinen verlässlichen In-
dikator für den Ausgang eines europapolitischen Referendums, wie Abbildung 20
anschaulich macht. Sie zeigt die Mehrheitsverhältnisse und/oder Abstimmungs-
ergebnisse hinsichtlich des jeweiligen zur Ratifizierung stehenden Vertragstextes
in den nationalen Parlamenten für sechs der sieben in diesem Band behandelten
Volksabstimmungen. In allen in diesem Band untersuchten Fällen mit Ausnah-
me des britischen In-/Out-Referendums, das aus verschiedenen Gründen einen
Sonderfall darstellt, lagen die verschiedentlich dokumentierten Zustimmungsra-
ten innerhalb der Abgeordnetenhäuser bei knapp 80 bis zu 100 Prozent, so dass
sich in allen Fällen, insbesondere aber bei Voten mit ablehnenden Ergebnissen,
eine breite Kluft zwischen parlamentarischem (faktischem oder hypothetischem)
Zustimmungsvotum und dem eigentlichen Bürgervotum deutlich manifestiert hat
(Whitman 2005: 673).
168 6 Empirische Referendumsforschung
Diese grundlegende Beobachtung deckt sich voll und ganz mit den Befunden zur
euroskeptischen Parteipolitik (Hooghe et al. 2002; Taggart 1998; Taggart und
Szczerbiak 2004). Demnach finden sich die EU-kritischen Parteien, die auch in
europapolitischen Volksabstimmungen regelmäßig zur Ablehnung aufrufen, an
den Rändern des Parteienspektrums. Extreme Rechte und extreme Linke rahmen
einen prinzipiell proeuropäischen Mainstream ein. In der Literatur finden sich da-
für verschiedene Bezeichnungen: „coalisés de circonstance“ (Bélorgey 2005: 97),
„patchworks of protest“ (Harmsen 2005: 5), „Pakt der Extreme“ (Schünemann
2014: 78). An anderer Stelle habe ich anhand der drei gescheiterten Referenden im
Verfassungsprozess gezeigt, dass die jeweiligen Kräfte an den Rändern des poli-
tischen Systems, wenngleich sie jede intentionale Kooperation zwischen den Ex-
tremen ausschließen, doch zu einer teils gemeinsamen diskursiven Praxis neigen
und also regelmäßig in Diskurskoalitionen zusammenfinden (Schünemann 2014:
504–506).
Es ist zudem davon auszugehen, dass die einseitige Positionierung der Parla-
mentsvertreter und ihrer politischen Gruppierungen in erheblichem Maße dazu
beigetragen haben, dass in der Referendumsdebatte Raum und Aufmerksam-
keit für bekannte euroskeptische Splitterparteien und Bewegungen sowie allerlei
Gruppierungen und Ad-hoc-Formationen vor allem in den gegnerischen Lagern
gegeben war. Debattenanalysen zeigen klar auf, dass im politischen Regelbetrieb
marginalisierte oder schlicht nicht oder noch nicht existente Formationen eine be-
deutende Kampagnenaktivität entfalten und zu zentralen Kollektivakteuren des
Referendumsgeschehens aufsteigen können (ebd.).
Dennoch ist die Differenzierung nach Parteibindung auf Basis der rationalisti-
schen Annahme – eines von Downs‘ Gesetzen zum Wahlverhalten (Downs 1968)
–, dass Wähler ihre Wahlmotivation auch in Referenden auf die Wahlempfehlun-
gen von Parteien ausrichteten, eine beliebte Übung der politik-soziologischen Um-
frageuntersuchungen und findet auch auf europapolitische Abstimmungen Anwen-
dung (Hobolt 2006; LeDuc 2002; Lemmenicier 2005; Sinnott 2002). Lawrence
LeDuc (2002: 724) beurteilt etwa mit Blick auf das norwegische EU-Beitrittsrefe-
rendum von 1994 die Performanz der beiden führenden Parteien wie folgt:
zahl der Sitze (eigentlich 166) abgezogen. Luxemburg: Abstimmung in der Abgeord-
netenkammer am 28.6.2005, Quelle: http://www.verfassung-fir-europa.lu/de/actuali-
tes/2005/06/28vote_chd/index.html.
170 6 Empirische Referendumsforschung
Bindungen – ein Unterschied zu machen. Hier zeigt sich einmal mehr die Schwie-
rigkeit, generalisierbare Annahmen zu formulieren, denn die Bindewirkung natio-
naler Parteipolitik wird nicht zuletzt auch davon abhängen, welche Alternativ- und
Protestakteure sich in den jeweiligen Debatten herausbilden und positionieren (s.
vorangegangenen Abschnitt). Die artifizielle Trennung von Debatte und Abstim-
mung zeigt hier also wieder ihre Wirkung.
Wenn wir trotz dieser strukturellen und funktionalen Differenzen von euro-
papolitischen Volksabstimmungen und nationalen Wahlen an der Annahme der
nationalen Nebenwahl festhalten wollen, dann legen wir uns damit auf ein enges
Verständnis von second order fest. Demnach müssten wir in der Analyse eines
Referendumsergebnisses tatsächlich aufzeigen können, dass die nationale Partei-
politik einen signifikanten Einfluss auf die Verteilung von Zustimmung und Ab-
lehnung gehabt hat oder sich die Wählerinnen und Wähler z.B. mit einem negati-
ven Votum vornehmlich gegen die politische Führung oder den Ausrufenden einer
Volksabstimmung wenden wollten.
Betrachten wir jedoch die vielen Aussagen und Bewertungen, durch die gera-
de die gescheiterten Referenden im EU-Verfassungsprozess als nationale Neben-
wahlen (ab-)qualifiziert wurden, fällt auf, dass sie das Second-order-Etikett sehr
viel weiter auslegen. Demnach sei schon die Behandlung von europapolitischen
Aspekten, die durch das zur Abstimmung stehende Vertragswerk nicht abgedeckt
sind, als nebensächlich und nicht gegenstandsgerecht zu bewerten. Damit fiele
freilich auch der ausgedrückte Unmut über die Osterweiterung oder eine mögliche
Erweiterung um die Türkei nicht mehr in den zulässigen Debattenrahmen, wenn
diese Punkte nicht im zur Abstimmung stehenden Vertragstext kodifiziert sind.
Aus guten Gründen könnte man all die genannten Punkte freilich auch im Sinne
eines erweiterten Issue-voting-Kriteriums deuten (wie etwa Hausemer 2005: 6).
Die Ausdehnung, welche die Second-order-Hypothese mit Blick auf EU-Re-
ferenden regelmäßig erfährt, knüpft sowohl an die verbreitete Skepsis gegenüber
direktdemokratischen Argumenten als auch die europapolitische Grundhaltung
an, die sich auch auf viele wissenschaftliche Beobachter überträgt. Ähnlich wie
in zahlreichen politischen Reaktionen finden sich auch viele wissenschaftliche
Kommentare, die von einer sachfernen Abstimmung ausgehen und – wieder aus-
schließlich oder überwiegend – die ablehnenden Voten auf irrationale und gegen-
standsunabhängige Motive und kollektive Ängste zurückführen. An vielen Stellen
scheint die damit verbundene Parteinahme ähnlich deutlich hervor wie in einem
Aufsatz Marholds, in dem es zu den Referenden im europäischen Verfassungspro-
zess wie selbstverständlich und undifferenziert heißt,
172 6 Empirische Referendumsforschung
„dass es ja nicht eigentlich der Verfassungsvertrag selbst war, der die Ablehnung
hervorgerufen hatte – entweder er war nicht verstanden oder verfälscht worden und
die wesentlichen Motive des Widerwillens in den Wählerschaften bezogen sich auf
die nationale, nicht die europäische Ebene“ (Marhold 2011: 19).
Das Zitat bringt eine Mischung aus zwei gängigen Hypothesen zum Vorschein,
die im Folgenden noch näher zu untersuchen sind. Zum einen ist dies die Second-
order-Hypothese, zum anderen aber die Annahme eines mit der Ablehnung ver-
bundenen Mangels an Gegenstandswissen (s. Abschnitt 6.5).
An dieser Stelle bleiben wir aber zunächst bei der Frage der sachgerechten Ab-
stimmung. Die Hypothese der nationalen Nebenwahl (second order) ist ursprüng-
lich in der Erforschung der ersten Europawahlen entstanden (Reif und Schmitt
1980). Mit Blick auf Europawahlen ist die Annahme hochgradig plausibel und sie
ist seither durch eine ganze Reihe von Wahlanalysen bestätigt worden (Hix und
Marsh 2011; Marsh 1998; Schmitt 2005; Träger 2015; Weber 2007). Die Über-
tragung auf europapolitische Referenden wurde insbesondere durch Franklin
et al. (Van der Eijk und Franklin 1996; Franklin et al. 1994a; 1994b; Franklin
et al. 1995; Franklin 2002; Schneider und Weitsman 1996) geleistet.75 Auch die
Gegenhypothese hat in einer Reihe von Studien für europapolitische Referenden
Unterstützung gefunden (Beach und Nielsen 2007; Beach 2009; Garry et al. 2005;
Siune et al. 1994; Svensson 2002; für vier Ref. im Verfassungsprozess: Glencross
und Trechsel 2011). Die widerstreitenden Hypothesen wurden auch im Kontext
des EU-Verfassungsprozesses für verschiedene Abstimmungen überprüft. Die Se-
cond-order-Annahme fand insbesondere mit Blick auf das französische Referen-
dum über den EU-Verfassungsvertrag 2005 Bestätigung (u.a. Dabi 2005; Le Gall
2005a; Marthaler 2005; Moravcsik 2005, 2006; Muxel 2006; für andere: Mazzu-
celli 2005; Nijeboer 2005).
Wie kann die Second-order-Hypothese substanziell überprüft werden? Wag-
schal (2007a: 57) wählt als Proxy-Variable in seiner vergleichenden Untersuchung
verschiedener Faktoren die Nähe zur letzten nationalen Wahl, womit er freilich bei
einem engen Verständnis von nationaler Nebenwahl (der Regierungen) bleibt, das
er so einzig abbilden kann. Nur wenn unter second order im strengen Sinne tat-
sächlich eine Strafabstimmung gegen die amtierende Regierung verstanden wird,
das Abstimmungsverhalten zumindest stark mit der Popularität der amtierenden
Regierung korreliert, hat etwa die Operationalisierung Sinn, wie sie Wagschal
(2007a: 57) über den Proxy des zeitlichen Abstands zur letzten Wahl vornimmt.
76 Im Regelfall handelte es sich um offene Fragen. Allerdings hatte der Interviewer eine
von den Umfragedesignern vorgegebene Liste von Gründen, denen er oder sie die von
den Befragten genannten Gründe zuzuordnen hatte.
77 Im Flash-Eurobarometer (Nr. 168) zum spanischen Referendum über den Verfassungs-
vertrag war die Frage nach den Gründen nicht enthalten. Die Ergebnisse für Spanien
sind einer repräsentativen Nachwahlbefragung des spanischen Radiosenders Cadena
SER vom 23. Feb. 2005 entnommen.
174 6 Empirische Referendumsforschung
herhalten müssen (Perrineau 2005: 234; ähnlich für die Niederlande Bellmann
2006). Eine ähnliche Bewertung zeichnet sich in Teilen schon jetzt für das bri-
tische Brexit-Votum ab. Auch hier könnten die vielen Analysen, die auf eine
Spaltung der Wähler in bildungsferne und einkommensschwache Globalisie-
rungsverlierer gegenüber gut gebildeten und besser situierten EU-Befürwortern
(Goodwin 2016; Hobolt 2016) hinweisen, in ein größeres Second-order-Argument
einmünden. Diese Wahrnehmung führt unmittelbar zurück zur problematischen
Bewertung des Gegenstandsbezugs. Wird etwa für Frankreich die Schwerpunkt-
setzung auf ökonomische Themen (Arbeitslosigkeit, Desindustrialisierung etc.)
und entsprechende Motive als eher national und wenig sachbezogen bewertet,
scheint dies fraglich. Denn abgesehen davon, dass Wirtschaft und Wirtschafts-
politik im europäischen Binnenmarkt hochgradig interdependent sind, wurden
die Schwierigkeiten der nationalen Volkswirtschaft auch konkret von vielen Ver-
tragsgegnern eben mit europapolitischen Entscheidungen und Weichenstellungen
begründet, nicht zuletzt auch solchen Reformen, die durchaus im zur Abstim-
mung stehenden Vertragstext enthalten waren.
Tabelle 10 Am häufigsten genannte Gründe für ein Nein in den Referenden im euro-
päischen Verfassungsprozess. (Offene Frage: Welche sind alle Ihre Gründe,
aus denen Sie beim Referendum über die EU-Verfassung/den Vertrag von
Lissabon mit Nein gestimmt haben? – Kodierung durch Interviewer – zehn
häufigste Nennungen)
SPANIEN 2005
Grund Prozent der
befragten
Nein-Wähler
Aufgrund fehlender Übereinstimmung mit dem Verfassungsinhalt 64,9
Um mit der Stimmabgabe die Regierung zu bestrafen 9,3
Weil ich der Parteibindung gefolgt bin 1,0
Informationsmangel 12,4
Keine Anerkennung des Volkes 4,1
Ich wurde darauf hingewiesen 1,0
Fehlende Berücksichtigung religiöser Werte 1,0
Eigene Überzeugung 1,0
Weitere 4,1
Weiß nicht 0,0
6.4 Die Frage nach dem sachgerechten Referendum 175
FRANKREICH 2005
Grund Prozent der
befragten
Nein-Wähler
Negative Konsequenzen für die französische Wirtschaft/Unterneh- 31
mensverlagerungen/Arbeitslosigkeit
Aktuelle wirtschaftliche Situation, Arbeitslosigkeit 26
Projekt zu wirtschaftsliberal 19
Protest gegen den Präsidenten/die Regierung/bestimmte pol. Parteien 18
Zu wenig soziales Europa 16
Zu komplex 12
Ablehnung eines EU-Beitritts der Türkei 6
Verlust nationaler Souveränität 5
Informationsmangel 5
Widerstand gegen Europa/die europäische Konstruktion/Integration 4
NIEDERLANDE 2005
Grund Prozent der
befragten
Nein-Wähler
Informationsmangel 32
Verlust nationaler Souveränität 19
Protest gegen die nationale Regierung/bestimmte pol. Parteien 14
Europa ist zu teuer 13
Widerstand gegen Europa/die europäische Konstruktion/Integration 8
Negative Konsequenzen für die Wirt-schaft/Unternehmensverlagerun- 7
gen/Arbeitslosigkeit
Ich kann nichts Positives zum Vertrag sagen. 6
Das Projekt geht zu weit/zu schnell 6
Zu technokratisch/juristisch/zu viel Reglementierung 6
Ablehnung neuer Erweiterungsschritte 6
LUXEMBURG 2005
Grund Prozent der
befragten
Nein-Wähler
Negative Konsequenzen für die luxemburgische Beschäftigungssitua- 37
tion / Abwanderung von luxemburgischen Unternehmen / Verlust von
Arbeitsplätzen / Widerstand gegen die Bolkestein-Richtlinie
Aktuelle wirtschaftliche Situation, Arbeitslosigkeit 23
Zu wenig soziales Europa 22
Vertrag geht zu weit / zu schnell 20
176 6 Empirische Referendumsforschung
Quelle: Flash Eurobarometer 171, 172, 173 u. 245; für Spanien: Umfrage Cadena SER, URL
https://web.archive.org/web/20050302041537/http:/www.cadenaser.com/static/pulsometro/
anteriores/encuesta_050228.htm (10.6.2016).
Hier zeigt sich erneut der Mehrwert komplementärer Debattenanalysen (s. unten).
Denn – wie das Beispiel der französischen ökonomisch motivierten Kritik zeigt
– empfiehlt es sich, im Sinne einer konstitutiven Abhängigkeit der Abstimmungs-
motivation von der jeweiligen Debatte, den Bezug zum Debattengeschehen her-
zustellen und den in der Referendumssituation konstruierten Sinn hinter einem
Motiv zu ergründen. Dieses komplementäre Vorgehen liegt sogar nahe, denn auch
die vielen kritischen Stimmen gegen europapolitische Referenden, die auf den
mangelnden Gegenstandsbezug abzielen, machen ihre Kritik mindestens ebenso
sehr an den angeblich unsachlich geführten Kampagnen und Debatten fest wie
an der durch die Meinungsforschung abgefragten Abstimmungsmotivation. Eine
systematische Prüfung des Gegenstandsbezugs in drei EU-Referendumsdebatten
(Frankreich und Niederlande 2005 sowie Irland 2008) habe ich an anderer Stelle
6.5 Wissensmangel und die kognitive Mobilisierung in EU-Fragen 177
durchgeführt (Schünemann 2014). Darin habe ich mich an einer engeren Defini-
tion des Gegenstandsbezugs orientiert, wonach dieser nur dann als gegeben ge-
wertet wurde, wenn in den Argumentationen auf spezifische Vertragsbestandteile
rekurriert wurde. Im Ergebnis ging aus der vergleichenden Debattenanalyse mehr
oder minder klar eine Bestätigung der abgewandelten Issue-debating-Hypothese
hervor. Der französische Fall war der einzige in der Vergleichsgruppe, in dem
ein typisches Second-order-Motiv im engen Sinne, nämlich die Straf- oder Denk-
zettelabstimmung gegen die eigene Regierung, überhaupt explizit zum Ausdruck
gekommen war.
Die Befunde der Debattenanalyse gehen noch weiter: Der von Kritikern im-
plizit vielfach mit geäußerte Verdacht, es seien insbesondere die Euroskeptiker
und Vertragskritiker, die unsachlich argumentierten, in dem Sinne, dass sie von
dem eigentlich zur Abstimmung stehenden Vertragstext abwichen, während sich
die Kampagnen der europapolitischen Befürworter durch größeren Gegenstands-
bezug auszeichneten, ließ sich nicht bestätigen. Im Gegenteil: Die Kampagnen der
Gegner zeichneten sich durch einen engeren Vertragsbezug aus als diejenigen der
Befürworter, welche vielmehr an die großen Linien der Integration anzuknüpfen
suchten und mit Metaargumenten wie einer traditionellen Bindung oder der dro-
henden Isolation für ihre Sache argumentierten (Schünemann 2014: 502–504).
andersetzung mit den Inhalten der Vertragsreform (einschließlich der stärkeren Ein-
bindung politischen Personals für die Kampagnenführung) in den Fällen mit einem
Bürgervotum ungleich größer waren, als in solchen Fällen, in denen allein die Par-
lamentarier, vorbereitet durch ihre fraktionsinternen Spezialisten, zur Abstimmung
gebeten waren. Damit ist für sich genommen ein höherer Grad der Bürgerinforma-
tion anzunehmen, wie er sich im internationalen Vergleich durchaus gezeigt hat und
wie er auch allgemein von Befürwortern direkter Demokratie gerade als positiver
Effekt entsprechender Verfahren hervorgehoben wird (hierzu Freitag und Wagschal
2007: 9). Vor diesem Hintergrund bedeutet das Festhalten an einer skeptischen Per-
spektive eine weitgehendere Auslegung der zentralen Annahme, weil nicht mehr im
rein quantitativen Sinne von einem Informationsmangel ausgegangen werden kann,
sondern qualitativ von einem erhöhten Grad der Fehlinformation, die das Resultat
einer Volksabstimmung negativ beeinflusst. Hinsichtlich der Überprüfung reicht
demnach eine bloß quantitative Messung von Information offensichtlich nicht aus,
sondern die ungleich schwierigere qualitative Kontrolle auf den Gehalt und Effekt
des ‚rechten Wissens‘ muss vorgenommen werden.
Über die von Skeptikern lagerübergreifend unterstellte Tendenz direktdemo-
kratischer Abstimmungsverfahren hinaus werden zudem Unwissen und Desin-
formation einseitig den Ratifizierungsgegnern in einer europapolitischen Volks-
abstimmung (sowie mitunter noch den Nichtwählern) zugeschrieben. Konkret
wird ihnen zum Mindesten ein geringeres Gegenstandswissen zugesprochen als
den Befürwortern. Diese zusätzliche, nicht referendumsspezifische Annahme zur
asymmetrischen Wissensverteilung hat ihren Ursprung wiederum in der EU-For-
schung. Die leitende Hypothese knüpft erkennbar an Ingleharts Theorem der ko-
gnitiven Mobilisierung an (Inglehart 1970). Aus diesem Ursprung leitet sich auch
die umgekehrte Tendenz ab, den Informations- und Wissensmangel wie selbst-
verständlich mit dem Nein-Lager zu assoziieren. So wird das Defizit in der Regel
nicht der gesamten Wahlbevölkerung zugeschrieben, sondern einem Teil von ihr,
dem Nein-Lager. Mit Blick auf die Kampagnen seien die Befürworter aus dieser
Perspektive nicht in der Lage gewesen, das korrekte Wissen gegenüber den in den
Nein-Kampagnen kursierenden Un- und Halbwahrheiten zu vermitteln. Andern-
falls hätte das Ja geradezu obsiegen müssen, denn – so die besonders optimistisch
formulierte Annahme –: „Je mehr jemand den Vertragstext kennt, desto größer ist
die Wahrscheinlichkeit, dass er dafür ist. Das bedeutet mittelbar auch, dass, je bes-
ser die Bürger informiert sind, desto größer sind die Chancen, dass sie das Projekt
unterstützen“ (Voogd 2005).78
78 Das von Voogd und anderen vorgebrachte euphorische Argument steht natürlich in
besonderer Spannung zur Tatsache, dass nur in wenigen europäischen Staaten über-
6.5 Wissensmangel und die kognitive Mobilisierung in EU-Fragen 179
Blickt man auf die soziodemographischen Untersuchungen der Daten aus den
Nachwahlbefragungen der hier behandelten Referenden, so zeigen sie allesamt
Korrelationen des Abstimmungsverhaltens mit Variablen wie Bildungsstand, so-
zialer Schicht und Herkunft, die sich auf Basis entsprechender Einordnungen im
Sinne der kognitiven Mobilisierungshypothese lesen lassen. Darüber hinaus tritt
der Informations-/Wissensmangel als Motiv für ein Nein-Votum prominent in den
Nachwahlbefragungen zum niederländischen und irischen Referendum hervor.
Dementsprechend hat eine Reihe von Sekundäranalysen für das niederländische,
insbesondere aber für das irische Referendum dieses Motiv als entscheidenden
Erklärungsfaktor für das Scheitern der Referenden ausgemacht (Hesse 2007;
O‘Brennan 2009; Quinlan 2008; Sinnott et al. 2009; Vreese und Boomgaarden
2005). Auch in Spanien, Luxemburg und Frankreich scheinen der Informations-
grad und das entsprechende Empfinden die Wahlmotivation mehr oder weniger
stark beeinflusst zu haben (s. Tabelle 10). Allerdings ist auch an dieser Stelle noch
einmal daran zu erinnern, dass sich in den abgefragten Abstimmungsmotiven eben
auch Kampagneninhalte widerspiegeln. In solchen Abstimmungen also, deren vo-
rangegangene Debatten durch das Thema des Informationsmangels (oder auch der
Unentschlossenen in den veröffentlichten Umfragen: „don’t know“) stark geprägt
waren, ist ein hoher Wert für das entsprechende Motiv von vornherein zu erwarten
(Qvortrup 2013: 102).
Neben der Möglichkeit, den Informations- und Wissensmangel unter den ein-
gestandenen Abstimmungsmotiven der Befragten zu suchen – die Debattenabhän-
gigkeit ist hier offensichtlich – lässt sich zur Überprüfung dieser Annahme freilich
auch ein anderes Verfahren wählen, nämlich die Aufnahme solcher Fragen, die
das Wissen und die Informiertheit des Wählers selbst evaluieren. Hierbei ist dann
mindestens zwischen einem subjektiven Wissen (Wissens-/Informiertheitsgefühl)
und einem objektiven Wissen (tatsächliche Faktenkenntnis) zu unterscheiden. Da-
rüber hinaus ließe sich auch, wie Sinnott et al. (2009) es tun, zwischen einem
allgemeinen EU- und einem spezifischen Vertragswissen differenzieren. In jedem
Fall stellen sich schwierige Fragen und Probleme bei der Erhebung der nötigen
Daten wie auch bei der Bewertung der Resultate. Zudem bleibt die Richtung der
Kausalität für den durch die Hypothese der kognitiven Mobilisierung implizierten
Zusammenhang notwendig unbestimmt (Endogenitätsproblem). Denn so plausi-
bel die Abhängigkeit der Anhängerschaft vom spezifischen Gegenstandswissen
auch sein mag, die Annahme einer Dependenz des Gegenstandswissens von der
haupt direkt über den Verfassungsvertrag abgestimmt werden durfte und damit die
allgemeine Beschäftigung mit dem Thema und auch dem Vertragstext dort ungemein
größer war als in den vielen Partnerstaaten mit parlamentarischer Ratifizierung.
180 6 Empirische Referendumsforschung
ches Risiko im Verhältnis zum Erhalt des Status quo“ (Sauger 2006: 57; s. auch
Qvortrup 2013: 105). Auch für Lucardie steht fest: „In Angst und Wut werden
Menschen immer eher ‚nein‘ als ‚ja‘ sagen, lieber alles beim Alten lassen als der
Ungewissheit von Veränderung unterliegen“ (Lucardie 2005: 122). Sowohl die in-
tuitive als auch die empirisch-analytische Beobachtung europapolitischer Refe-
renden sprechen dafür, dass die Gleichung so einfach allerdings nicht aufzustellen
ist. Nehmen wir nur den Fall eines Referendums über eine einfache EU-Vertrags-
ratifizierung in einer Sukzession von Vertragsreformen und einen Mitgliedstaat,
der durch das Verfassungsrecht zu einem direktdemokratischen Verfahren ge-
zwungen ist und sich bereits seit mehreren Jahrzehnten als Vollmitglied in der EU
und ihren Vorläuferorganisationen befindet (etwa Irland). Wie schlüssig ist es bei
einem solchen Staat davon auszugehen, dass die Ablehnung der Vertragsreform
ein Festhalten am Status quo impliziert, wenn diese Abstimmung doch eine erheb-
liche Störung des Integrationsprozesses und eine mögliche Gefährdung der eige-
nen Stellung in der Gemeinschaft bedeutet? Demgegenüber wäre doch gerade die
Pro-Abstimmung auf der anderen Seite als Bekenntnis zum traditionellen Modus
europäischer Integration und im Sinne eines pfadabhängiges Fortschreitens als
gleichsam ‚prozeduraler Status quo‘79 zu bewerten. Dies zeigt sich hervorragend
in den Argumentationen der Ratifikationsbefürworter im Verfassungsprozess, die
jeweils düstere Verlusts- und Isolationsszenarien für den Fall der Ablehnung einer
Vertragsreform gezeichnet haben (Schünemann 2014: 245-247, 345-347, 405-410).
Aktuelle Illustration der Unschärfe bietet zudem das britische In-/Out-Refe-
rendum. Hier stand offensichtlich die Out- oder Leave-Option in einer Tradition
mit euroskeptischen Positionen, die sich in früheren Vertragsreferenden in der Ab-
lehnung ausgedrückt hatten. Gleichzeitig spricht intuitiv nahezu alles dafür, das
In- oder Remain-Votum als status-quo-orientiert zu bewerten.
Gerade für das britische Referendum bestanden große Erwartungen an den Sta-
tus-quo-Effekt, war die Ungewissheit infolge eines Nein-Votums doch sehr groß
(Oppermann 2015: 291). Dass dieser Effekt sich nicht oder nicht ausreichend aus-
wirkte, lässt an der Eignung der Annahme für die Europapolitik erhebliche Zwei-
fel aufkommen.
Um der definitorischen Unschärfe zu entgehen, habe ich das Status-quo-Ar-
gument an anderer Stelle in eine Hypothese über den strukturellen Vorteil der
79 Dieser Ausdruck muss paradox anmuten. Berechtigung kann er eher weniger über
die eigentliche Bedeutung der Begrifflichkeiten, denn über den sozialpsychologischen
Ursprung der Annahme erfahren, denn das Fortschreiten oder Mitlaufen birgt hier
weniger Verunsicherungspotential denn das Mitlaufen. Stillstand ist hier Wandel, Be-
wegung Kontinuität.
182 6 Empirische Referendumsforschung
6.7 Zwischenfazit
„Wie nach den Referenden in Frankreich und den Niederlanden besteht eine Reak-
tion in einem Unverständnis, dass der Reformvertrag, mit dem die Regierungen und
Parlamente doch gegenüber dem bestehenden Vertragswerk von Nizza wesentliche
Fortschritte im Hinblick auf Handlungsfähigkeit und Bürgernähe erreichen wollten,
von eben jenen abgelehnt wird, für die die Vertragsmütter und -väter diese vertrags-
rechtliche Verbesserung eigentlich gedacht und mühsam erarbeitet haben. Beklagt
wird von vielen Akteuren in den EU-Institutionen, dass die politischen Verantwort-
lichen in Irland diesen europäischen Mehrwert nicht ausreichend kommuniziert
haben. Zu überlegen ist deshalb nach dieser Sicht, wie dieser ‚Betriebsunfall‘ zu
reparieren ist“ (Wessels 2008: 312–313; s. auch Bélorgey 2005: 97).
ne doch nicht so weit her ist. Anstatt die Gläubigerinstitutionen vom harten Kurs
abzubringen, musste die Regierung – freilich vor dem Hintergrund existentieller
Nöte und finanzieller Abhängigkeit – das Bürgervotum weitestgehend ignorieren
und sich nach einer Krise und Neuformierung an die Umsetzung der sowohl von
ihr selbst als auch mehrheitlich von den Bürgern abgelehnten Reformvorhaben
machen.
Geht es nach den Forderungen gewisser Politiker und Parteien, dann könnten
dem britischen Beispiel dennoch weitere Mitgliedstaaten folgen und die Gretchen-
frage der EU-Mitgliedschaft per Referendum klären lassen. Zumindest in Däne-
mark, Frankreich, Polen und den Niederlanden gibt es erste Vorstöße in diese
Richtung. Auch in anderen Ländern mit geringerem euroskeptischen Mobilisie-
rungspotential sowie schwächerer Referendumstradition wird die Durchführung
von Volksabstimmungen gerade zu europapolitischen Themen immer wieder ins
Spiel gebracht. Werden europapolitische Referenden also ein Gegenstand für die
Forschung bleiben? Es sieht durchaus danach aus. Aufbauend auf dieser allgemei-
nen Perspektive, werden die kommenden Abschnitte die Debatte um europapoliti-
sche Referenden in Deutschland und die Forderung nach europaweiten Referenden
behandeln. Zudem werde ich Überlegungen zum Kern der Problembeziehung zwi-
schen EU und dem Referendumsinstrument schildern. Schließlich darf angesichts
der Themenkonjunktur ein verfrühter und vorsichtiger Ausblick auf die Folgen des
britischen Austrittsvotums nicht fehlen.
Fast am Ende dieses Buches angelangt, soll ein Blick auf Deutschland geworfen
werden. Wenn man sich über europapolitische Volksabstimmungen Gedanken
macht, dann kommt Deutschland als Beispiel bislang nicht in den Sinn. Stattdes-
sen schaut man auf die europäischen Partner- und Nachbarländer, in denen solche
Referenden in den vergangenen 20 Jahren seit der Maastricht-Reform abgehalten
worden sind. In der Bundesrepublik Deutschland hat es bisher keine Volksabstim-
mung auf nationaler Ebene gegeben. Für sie gibt es mit Ausnahme des Artikels
146 GG, der das Ende des Grundgesetzes an eine direktdemokratisch legitimierte,
neue Verfassung koppelt, keine verfassungsrechtlichen Vorschriften.80
80 Klar ist diese Ausnahme allerdings auch nicht. Denn, wie Dreier und Wittreck (2010:
19–20) zutreffend betonen, erlaube die „i.ü. heillos umstrittene Schlußvorschrift des
Art. 146 GG […] zwar weiterhin die Ablösung des Grundgesetzes durch eine neue
188 7 Perspektiven
Verfassung, schweigt sich über das procedere auf dem Weg dorthin aber vornehm
aus.“
81 In besonders einprägsamer Form hat Ernst Fraenkel die Weimarer Erfahrungen zum
Ausdruck gebracht: „In ihrer Geburtsstunde hatte sich die Weimarer Republik zu
einem plebiszitären Typ bekannt; in ihrer Todesstunde erhielt sie die Quittung“ (Fra-
enkel 1958: 52; zu den Weimarer Erfahrungen: Schiffers 2000).
82 In Bayern und Hessen existiert zudem ein obligatorisches Referendum für Verfas-
sungsänderungen (Dreier und Wittreck 2010: 15).
7.1 Bis hierher und nicht weiter? Ein Referendum für Deutschland 189
der EU. Auslöser dafür war insbesondere ein Interview von Bundesfinanzminis-
ter Wolfgang Schäuble mit dem Magazin Spiegel, in dem dieser einen Volksent-
scheid über weitere Schritte der europäischen Integration in Aussicht gestellt hatte
(Spiegel Online 2012a). Mit dieser für Schäuble selbst sowie die CDU insgesamt
untypischen Position rannte er, so schien es, überwiegend offene Türen ein, und
immer mehr Stimmen wurden vernehmbar, die gerade im Rahmen der Europapo-
litik für eine Einführung direktdemokratischer Entscheidungsverfahren plädier-
ten. Dies gilt in besonderem Maße für die Schwesterpartei CSU. Ihr Vorsitzender
Seehofer hatte sich schon früher für europapolitische Volksabstimmungen aus-
gesprochen. Im Hinblick auf die Stabilisierung der Gemeinschaftswährung und
die umfangreichen Garantien, die Deutschland in diesem Rahmen zu übernehmen
hatte, brachte auch der ehemalige SPD-Finanzminister und Kanzlerkandidat der
SPD Steinbrück, die Erwartung zum Ausdruck, in den kommenden zwei Jahren
müsse es zu einer Volksabstimmung über die Zukunft der EU kommen (Spiegel
Online 2012b). Sein Parteivorsitzender Sigmar Gabriel griff einige Wochen spä-
ter einen Vorschlag aus der Wissenschaft auf, wonach angesichts der Etablierung
einer Haftungsgemeinschaft nachholend eine legitimatorische Grundlage zu ent-
werfen wäre, über die dann die Völker Europas in Referenden entscheiden können
müssten (FAZ 3.8.2012).
Es soll hier nicht der Eindruck entstehen, als hätten sich alle politischen Kräfte
in Deutschland jemals klar zu direktdemokratischen Entscheidungen im Allge-
meinen oder zu europapolitischen Volksabstimmungen im Besonderen bekannt.
Nach der Konjunktur des Themas im Kontext der Eurokrise zeigten schon die
Bundestagswahlprogramme der im Parlament vertretenen Parteien von 2013 in
dieser Frage keine einheitliche Linie. Am klarsten fiel eine entsprechende Forde-
rung im „Bayernplan“ der CSU, dem Programm für die Landtagswahl 2013, aus.
Darin fand sich ein Plädoyer für bundesweite Volksabstimmungen für drei euro-
papolitische Entscheidungsfälle: nämlich die Übertragung neuer Kompetenzen
auf die europäische Ebene, die Aufnahme neuer Mitgliedstaaten sowie finanziel-
le Hilfen für die Partnerländer im Rahmen der Krisenpolitik. Eine vergleichbare
Forderung ist im Programm von CDU/CSU für die Bundestagswahl indes nicht
zu finden.
Das Bundestagswahlprogramm der SPD enthielt zwar einen Vorschlag zur
Einführung bundesweiter Volksentscheide und -begehren. Dieser war aber nicht
speziell auf die Europapolitik gerichtet. Ähnlich verhielt es sich im Programm der
Linken. Bündnis 90/Die Grünen forderten Volksentscheide auf Bundes- und auf
europäischer Ebene. Im Hinblick auf die Entwicklung der EU sahen sie indes die
Notwendigkeit von europaweiten Volksabstimmungen. Das FDP-Programm be-
190 7 Perspektiven
„So sind nach der am 30. Juni 2009 ergangenen Entscheidung des Bundesverfas-
sungsgerichts zum Vertrag von Lissabon in Deutschland Verfassungsänderungen,
welche Kompetenzen an die Europäische Union abtreten und dabei den Bereich der
Ewigkeitsklauseln tangieren, kaum ohne ein obligatorisches Referendum möglich,
denn ‚Ohne den ausdrücklich erklärten Willen der Völker sind die gewählten Organe
nicht befugt, in ihren staatlichen Verfassungsräumen ein neues Legitimationssub-
jekt zu schaffen oder die vorhandenen zu delegitimieren‘ (BVerfGE 123, 267 (404))“
(Kirchgässner 2010: 72).
Vor diesem Hintergrund sowie mit dem Wissen, das in den vorangegangenen
Kapiteln besprochen wurde, lassen sich folgende Fragen stellen: Welche direkt-
demokratischen Verfahren sind für Deutschland denkbar? Welche sind möglich?
Welche sind insbesondere für Deutschland geeignet?
Mit Blick auf das deutsche Verfassungsrecht lässt sich feststellen, dass im
Grundgesetz bisher kein Referendum vorgesehen ist. Ausnahmen bilden die Ver-
fassungsgebung nach Artikel 146 GG (s. oben) sowie auch die Neugliederung des
Bundesgebietes nach Artikel 29 GG, bei dem allerdings nur die Bevölkerungen
der betroffenen Bundesländer abzustimmen hätten. Ähnlich wie im niederländi-
schen Fall bedeutet das Fehlen einer entsprechenden Bestimmung aber nicht, dass
eine nationale Volksabstimmung zu anderen Fragen ausgeschlossen wäre. Auch
im Nachbarland gibt es bis heute keine verfassungsrechtliche Regelung zur Durch-
führung eines Referendums. Dennoch wurde im Kontext des europäischen Ver-
fassungsprozesses durch einfaches Gesetz beschlossen, die Ratifizierung des euro-
päischen Verfassungsvertrags dem Volk vorzulegen. Ein solcher Weg ließe sich
unter Umständen auch in Deutschland beschreiten, um die hohen Hürden einer
Grundgesetzänderung im Einzelfall zu umgehen.
7.1 Bis hierher und nicht weiter? Ein Referendum für Deutschland 191
Nicht umgehen ließe sich hingegen der Bundestag.83 Wieder lohnt sich ein ver-
gleichender Blick in die Niederlande oder das Vereinigte Königreich. Hier war der
konsultative Charakter des Referendums die notwendige Bedingung seiner ver-
fassungsrechtlichen Zulässigkeit. Die Freiheit des Abgeordneten hätte eine Bin-
dungswirkung durch ein Referendum nicht erlaubt. In ähnlicher Weise ist auch für
Deutschland nur die Einführung eines konsultativen Referendums denkbar. Eine
Umgehung des Parlaments oder eine Art imperatives Mandat für den Einzelfall
des Referendums scheinen mit dem Grundgesetz (insb. dem freien Mandat des Ab-
geordneten nach Art. 38) unvereinbar. Es ist allerdings noch einmal festzuhalten,
dass auch dieser Referendumstyp in der Realität bindende Wirkung entfaltet. Be-
trachtet man die Erfahrungen in anderen Ländern, so brauchen sich die politischen
Akteure also nicht einzubilden, sie könnten eine Volksabstimmung kontrollieren
und behielten im Zweifelsfall das letzte Wort. Frank Decker macht aus diesem lo-
gischen Effekt des Nebeneinanders von Parlaments- und Volksgesetzgesetzgebung
ein Argument gegen die Kompatibilität der Systeme:
In diesem Sinne sieht auch Manfred G. Schmidt für den Fall einer direktdemokra-
tischen Systemreform schwere Konflikte nicht allein mit dem Parlament, sondern
auch mit den Ländern und dem Bundesverfassungsgericht aufziehen (Schmidt
2003: 120).
Zuletzt gilt es im Hinblick auf eine kurz- oder mittelfristige Umsetzbarkeit
von Referendumsforderungen zu bedenken, dass Deutschland zu den wenigen
Staaten ohne jegliche nationale Referendumserfahrung zählt. Dementsprechend
müssten alle Regelungen zur Abstimmung, das gesamte Referendumsdispositiv,
83 Was in diesem Zusammenhang aus dem Zustimmungsrecht des Bundesrats für Ein-
spruchsgesetze würde, ist gänzlich ungeklärt (Decker 2014: 31–33; Schmidt 2003:
120).
192 7 Perspektiven
für den Präzedenz- oder Einzelfall erst beraten und beschlossen werden. Dazu
gehören etwa verbindliche Aussagen dazu, wer den Termin und die Frage eines
Referendums bestimmt; wer ggf. für die Verbreitung von neutralen Informatio-
nen zuständig ist; ob und in welcher Höhe öffentliche Mittel zu Kampagnenzwe-
cken aufgewendet werden dürfen; ob und in welcher Weise öffentliche Mittel an
Parteien und andere kollektive Akteure verteilt werden; wie viel Sendezeit und
Raum den Kampagnen in Rundfunk und Fernsehen gewährt werden muss oder
darf; u.v.m. Ich führe diese Elemente an dieser Stelle vor allem auf, um zu verdeut-
lichen, dass in der Tat nicht zu erwarten ist, dass sich ein Referendum quasi über
Nacht beschließen und in kurzer Frist durchführen lässt. Sollte eine solche Option
für Deutschland gewählt werden, müsste mit großer Wahrscheinlichkeit die Ver-
fassung geändert werden. Im Anschluss daran müsste ein Referendumsdispositiv
verhandelt und rechtswirksam beschlossen werden. Dann erst könnten Termin und
Frage festgesetzt und eine Debatte in Gang gesetzt werden.
Abschließend möchte ich noch auf eine Forderung eingehen, die in der europapoli-
tischen Diskussion immer wieder zu hören war und ist: den Vorschlag eines ge-
meinsamen Referendums für alle Bürger der EU zum selben Zeitpunkt (Eberhard
und Lachmayer 2010: 278; theoretischer Vorschlag bei Pogge 1997). Aufgekom-
men ist diese Forderung nicht von ungefähr im Kontext der EU-Verfassungsge-
bung in den 2000er Jahren. Zunächst war es etwa der niederländische Europapoli-
tiker Timmermans (heute Vizepräsident der Kommission), der in seinem Entwurf
für ein nationales Referendumsgesetz aus dem Jahr 2002 betonte, die eigentliche
Präferenz sei es, eine europaweite Abstimmung durchzuführen (Tweede Kamer
2002). Nach den gescheiterten Referenden, also unter dem Eindruck einer durch
nationalstaatliche Voten erzwungenen Stagnation des Einigungsprojekts und an-
gesichts von Umfragen und Analysen, aus denen zum Teil sehr heimische Ableh-
nungsgründe abgelesen wurden (s. Abschnitt 6.4), hatten entsprechende Forderun-
gen eine gewisse Konjunktur. Über den Verfassungsvertrag hätte in allen Staaten
der EU ein gemeinsames Referendum an ein und demselben Tag stattfinden müs-
sen, um die Domestizierung und Nationalisierung der Voten zu vermeiden, so das
Argument. Von herausragender Position aus stellte etwa der damalige belgische
Premierminister Verhofstadt die Forderung nach einem europaweiten Referen-
dum. Er sprach sich in einem in Buchform herausgegebenen Manifest dafür aus,
dass „ein neues Europa“
7.2 Auch abstimmen geht nur gemeinsam? Ein Referendum für die EU 193
Noch inmitten der sog. „Reflexionsphase“, im August 2006, machte sich mit dem
ehemaligen österreichischen Bundeskanzler Schüssel der damalige EU-Ratspräsi-
dent diesen Vorschlag zu eigen (vgl. Wagschal 2007a: 55).
Der Vorschlag Schüssels wurde zwar offensichtlich nicht aufgegriffen, aber die
Idee findet sich verbreitet wieder. Es reicht ein Blick in die letzten Europawahl-
programme bundesdeutscher Parteien 2014, um ein Fortleben dieses Vorschlags
zu sehen. In ihren Wahlprogrammen forderten auch die Parteien Bündnis 90/Die
Grünen sowie FDP europapolitische Volksabstimmungen, welche aus Sicht der
Parteien nur als europaweite Referenden Sinn hätten.
Der Wunsch nach EU-weiten Volksabstimmungen über europapolitische Ent-
wicklungsfragen klingt angesichts der Entscheidungsgegenstände in Vertragsre-
ferenden zunächst nur konsequent. Bei Beitritts-, Austritts- oder einzelnen Sach-
abstimmungen verhält es sich natürlich anders. Dennoch erscheint die Forderung
unrealistisch, nimmt sie doch ein Gemeinschaftsbewusstsein vorweg, das so nicht
gegeben scheint. Neben dieser grundlegenden Schwierigkeit müssen auch ganz
praktische Probleme bedacht werden: Nach welchen rechtlichen Regeln etwa soll-
te eine solche Volks- oder besser: Völkerabstimmung durchgeführt werden? Wie
könnte sie allseits akzeptable und verbindliche Ergebnisse produzieren? Müssten
hierzu erst neue europäische Regeln gegeben werden, wäre dies kaum unterhalb
der Schwelle einer Vertragsänderung möglich. Denn bisher überlässt das euro-
päische Primärrecht den Ratifikationsprozess der Verfassungsautonomie der Mit-
gliedstaaten (Eberhard und Lachmayer 2010: 279). Die Aussichten auf einstimmi-
ge Annahme einer Vertragsrevision seitens der Mitgliedstaaten, mit der diese jener
Autonomie entsagen, stehen, gelinde gesagt, nicht zum Besten. Doch selbst wenn
man sich auf eine europarechtliche Grundlage und darüber hinaus noch auf ein ge-
meinsames Verfahren einigen könnte, was bliebe von der Einigkeit nach Ausgang
der Abstimmung? Nehmen wir einmal an, eine Mehrheit der Europäerinnen und
Europäer stimmte für eine EU-Vertragsreform, aber die sicher publikumswirk-
sam veröffentlichten Resultate für einzelne Länder, etwa Deutschland, Frankreich,
Tschechien, zeigten abweichende Mehrheiten: Wäre es in einer solchen Situation
denkbar, dass sich Deutsche, Franzosen und Tschechen in Anerkennung eines eu-
ropäischen Demos der gemeinschaftlichen Mehrheitsentscheidung unterwürfen?
Nach heutigem Stand der gleichsam mentalen Integration ist das nicht zu erwarten.
Referenden stellen besonders radikale Varianten der Mehrheitsdemokratie dar (s.
194 7 Perspektiven
Kritik an der sog. Tyrannei der Mehrheit, Kap. 3.2), zu deren Akzeptanzbedingun-
gen eine gewisse Homogenität der Wählergemeinschaft gehört. Bei europaweiten
Referenden wäre von einer ausgesprochen großen Heterogenität der Wählerschaft
auszugehen, so dass direktdemokratische Entscheidungen mit Sicherheit struktu-
relle Minderheiten und damit erhebliche Akzeptanzprobleme produzieren würden
(Abromeit 2000: 192).
Ähnliche Bedenken bringt Jürgen Habermas zum Ausdruck. Zunächst formu-
liert er in seiner 2008 erschienenen Aufsatzsammlung „Ach, Europa“ zu Beginn
des Abschnitts „Die Zukunft Europas“ zwar eine klare Prognose, verbunden mit
dem Wunsch nach einem EU-weiten Referendum:
„Wenn es nicht gelingt, bis zur nächsten Europawahl im Jahre 2009 die polarisie-
rende Frage nach der finalité, dem Worumwillen der europäischen Einigung zum
Gegenstand eines europaweiten Referendums zu machen, ist die Zukunft der Eu-
ropäischen Union im Sinne der neoliberalen Orthodoxie entschieden“ (Habermas
2008: 85).
Wenig später stellt er aber im Sinne der oben angeführten Bedenken zum Verfah-
ren klar, dass als Erfolgsbedingung eine doppelte Mehrheit von Mitgliedstaaten
und Bevölkerung zu formulieren sei. Zudem schlägt er vor, dass einzelne Staaten
mit negativen Teilvoten an das Ergebnis nicht gebunden wären, sondern aus der
fortintegrierten Gemeinschaft ausscheiden und sich auf eine niedrigere Stufe eines
abgestuften Integrationsmodells begeben könnten:
„Die Vorlage gälte als angenommen, wenn sie die »doppelte Mehrheit« der Staaten
und der Bürger auf sich vereinigt. Gleichzeitig würde das Referendum nur die Mit-
gliedstaaten binden, innerhalb deren sich jeweils eine Mehrheit der Bürger für die
Reform entschieden hat. Europa würde sich damit vom Modell des Geleitzuges ver-
abschieden, worin der Langsamste das Tempo angibt“ (Habermas 2008, 87, s. auch
125).
Was die Akzeptanz des Ergebnisses eines EU-weiten Referendums betrifft, scheint
der Vorschlag Habermas‘ aussichtsreicher. Allerdings bleiben Bedenken hinsicht-
lich der technischen, rechtlichen und politischen Durchführbarkeit erhalten. Au-
ßerdem ist auch der explizite Optimismus im Sinne der Integrationsentwicklung
infrage zu stellen. Die Erfahrung der Volksabstimmungen in den Nachbarländern
Frankreich und den Niederlanden, deren Wahlkämpfe zu großen Teilen parallel
zueinander stattfanden, lässt die Hoffnung transnationaler Harmonisierung und
Relativierung rein nationaler Deutungsweisen unbegründet erscheinen (Schüne-
7.3 Referendum und EU-Integration: demokratische Dilemmata 195
mann 2014; skeptisch auch Wagschal 2007a: 55). Die Freigabe an die Adresse der
nationalstaatlichen Politik, der EU zu einem gemeinsamen Datum quasi konstruk-
tiv das Misstrauen auszusprechen und sich damit zumindest aus der Kerngruppe
des Integrationsgeschehens zu entfernen, könnte angesichts der aktuellen Reputa-
tion der Union in vielen Gesellschaften Anreize in die falsche Richtung setzen und
erst recht zu Spaltung und Zerfall beitragen.
Am anderen Ende der Skala steht der Vorschlag Heidrun Abromeits (2000:
196), ein europaweites „obligatorisch-konstitutionelles Referendum“ für jede Ver-
tragsreform einzuführen, bei dem eine „Mehrheit der Abstimmenden (ohne Quo-
rum) in allen Mitgliedsländern erforderlich“ wäre. Diese „direktdemokratische
Version des nationalstaatlichen Vetos“ wäre bei aller Steigerung der Input-Legi-
timität nach den bisherigen Erfahrungen das Ende der vertraglich kodifizierten
Systemgestaltung.
„In Vielfalt ver(n)eint“, dieses griffige Wortspiel ist als Abwandlung des Mottos der
europäischen Integration als Hinweis darauf gemeint, dass die wesentliche Entste-
hungs- und Erfolgsbedingung der europäischen Einigung in den vergangenen Jahr-
zehnten, nämlich die Anerkennung und der Respekt gegenüber der Diversität und
Heterogenität der in der EU integrierten Mitgliedstaaten und Gesellschaften auch
der Ursprung der verschiedenen Erscheinungsformen ihres chronischen Legitimi-
tätsdefizits ist. Um die Vielfalt zu wahren und in das System einzuschreiben, kann
dieses nur als Mehrebenensystem mit einer Verteilung hoheitsrechtlicher Aufga-
ben über die verschiedenen Niveaus und parallel zueinander gestalteten Legitima-
tionswegen organisiert sein. Dennoch erwachsen daraus auch die Dilemmata der
europäischen Demokratie. Dass die Integration heterogener Gesellschaften und
insbesondere das fortbestehende Nebeneinander demokratischer Öffentlichkeiten
das grundlegende Problem des europäischen Repräsentationssystems darstellt, ist
intensiv thematisiert und diskutiert worden (Kielmansegg 2003). Mit Referenden
könnte es sich diesbezüglich anders verhalten, zumal die direkte Beteiligung der
Bevölkerungen in demokratischen Systemen allgemein als Möglichkeit gilt, Dys-
funktionalitäten und Unzufriedenheit mit dem Repräsentativbetrieb zu begegnen.
Wenn wir beobachten – und dieses Buch hat im Vorangegangenen viel Anschau-
ungsmaterial dafür geboten –, dass das direktdemokratische Versprechen sich im
Rahmen der europäischen Integration nicht erfüllt, stellt sich die Frage: warum?
Offensichtlich wirkt sich das Grundproblem auch auf diese andere Form der Ent-
196 7 Perspektiven
Bestimmungen enthalten, die im heimischen Kontext fremd sind und der eigenen
verfassten Ordnung an der einen oder anderen Stelle entgegenstehen.
Die EU steht tatsächlich vor einem demokratischen Dilemma besonderer Art.
Und damit ist nicht das stark durch rationalistische Annahmen geprägte Dilemma
nach Lupia/McCubbins (1998, s. Kap. 3.1). Die EU ist hochgradig legitimations-
bedürftig. Die prozeduralen Pfade, auf denen die Mitgliedstaaten der EU Legiti-
mität leihen bzw. über das Europäische Parlament herstellen, reichen nicht aus.
Die EU kann eine direkte außergewöhnliche Legitimation, wie sie ein deutlich
gewonnenes Referendum bieten könnte, gerade im aktuellen Krisenkontext sehr
gut gebrauchen. Zugleich fehlt es an Legitimität in vielen Gesellschaften, um sol-
che Referenden tatsächlich auch mit einiger Wahrscheinlichkeit gewinnen zu kön-
nen. Stattdessen kommt der strukturelle Vorteil der Gegner, der selbst aus einem
demokratischen Dilemma im Mehrebenensystem heraus resultiert, noch hinzu.
Während das EU-System sich also selbst legitimieren können muss, sind solche
Voten aber nur im Rahmen der nationalen politischen Primärgemeinschaft an-
erkennungsfähig zu organisieren. Ein europaweites Referendum würde zum einen
nach jetzigem Stand nicht zugelassen, zum anderen wäre ein Übergehen national
abweichender Mehrheiten als europapolitische Minderheiten aufgrund der Hetero-
genität der Gesellschaften und ihrer vorwiegend nationalen Differenzierung nicht
möglich.
Sind europapolitische Referenden deshalb ein generelles, prinzipiell vermeidba-
res Problem für die europäische Integration? Ist der Annahme eines Bremseffekts
direktdemokratischer Entscheidungsfindung (s. Abschnitt 3.4) auf übergeordne-
ter Ebene insofern Recht zu geben, als ein verstärkter Einsatz europapolitischer
Volksabstimmungen den europäischen Integrationsprozess ausbremst, verlang-
samt, womöglich gar aufhält? Ist dieser Effekt gar im strukturellen Aufbau der EU
angelegt? Diese These ist angesichts der vorangegangenen Kapitel schwer von der
Hand zu weisen. Allerdings scheint mit dem Verzicht auf das direktdemokratische
Instrument, wenn er sich denn überhaupt erreichen lässt, auch nur die Stagnation
erreichbar zu sein. Wie die zurückhaltende Systemgestaltung sowie der Reputa-
tionsverlust der EU in der jüngeren Vergangenheit deutlich gezeigt haben, wird
die EU sich nicht weiter entwickeln und in die Kompetenzbereiche der Mitglied-
staaten eingreifen können, wenn sie nicht irgendwann die vorzugsweise in einem
direktdemokratischen Wahlakt ausgedrückte Unterstützung der Bürger erhält oder
zumindest in die Lage gerät, die auf nationaler Ebene direktdemokratisch gestal-
tete Herausforderung regelmäßig zu bestehen. Sollte es der Europäischen Union
gelingen, in einer substantiellen Anzahl an Mitgliedstaaten diesen Zuspruch zu
erhalten, wäre dies ein Segen für die Integration, auch wenn die nötige Entschei-
dungsfindung zur Abspaltung weiterer Staaten führen könnte.
198 7 Perspektiven
Andernfalls könnten sich Referenden als Fluch für die europäische Einigung
erweisen. Denn sie lassen sich zunehmend schlechter umgehen. Eine Legitimitäts-
abfrage für substantielle Systemgestaltung scheint ebenso unausweichlich wie der
beschriebene strukturelle Vorteil von Integrationsskeptikern und -gegnern in Re-
ferendumssituationen, wenn es nicht zu einer transnationalen Öffnung und Durch-
dringung der demokratischen Teilöffentlichkeiten kommt. Im europäischen Mehr-
ebenensystem mit seiner fragmentierten Öffentlichkeit lastet dieser gegnerische
Vorteil auf der EU-Politik. Sie kann ihn nicht abschütteln, sondern muss lernen,
ihm zu begegnen. Eine daraus resultierende neue Offenheit der EU-Politik für die
Bedenken, ja den Unmut großer Teile der nationalen Gesellschaften im Sinne einer
weiteren Flexibilisierung der Integration, liegt als Allheilmittel nahe. Aber die
Vielfalt als Quelle von Erfolg und Misserfolg europäischer Einigung bleibt damit
als paradoxe Kraft erhalten und wird gar vergrößert.
politische Ebene. Die Fragen lauten: 1. Wie geht die EU mit dem austrittswilligen
Großbritannien um? Welche Optionen scheinen möglich? 2. Wie wahrscheinlich
sind Ansteckungseffekte des britischen Referendums in anderen EU-Staaten? 3.
Bedeutet das britische Votum den Anfang vom Ende der EU, also den Startschuss
für einen schleichenden Zerfallsprozess oder kann die EU gar gestärkt aus der
Krise hervorgehen? Aus meiner Sicht sind die drei Fragen aufbauend aufeinander
zu beantworten.
Zum Ersten ist es ein bekanntes Muster im Kontext europapolitischer Volks-
abstimmungen, den Schwarzen Peter einseitig der nationalen politischen Führung
zuzuschieben. „Ihr wolltet das Referendum, ihr habt es verloren, jetzt habt ihr die
Suppe gefälligst auch selbst auszulöffeln“. In Vorbereitung des Referendums im
Vereinigten Königreich sowie im unmittelbaren Nachgang desselben, findet diese
Argumentation großen Anklang. Gerade mit Blick auf die britischen Verhältnis-
se scheint es vielen Analysten und Europapolitikern gerade jetzt besonders ange-
bracht, diese Karte zu ziehen, denn es ging hier ja nicht um irgendein abstraktes
Vertragswerk, dessen Ratifizierung zur Abstimmung stand. Das In-/Out-Referen-
dum ist von besonderer Qualität. Von Anfang an ging es um eine historische Ent-
scheidung, die nun tatsächlich gefällt worden ist und Konsequenzen haben sollte:
„Leave means leave“, so war die Ansage von Premierminister Cameron in seiner
Chatham House-Rede im November 2015 (Cameron 2015b), so hallte es nach der
Abstimmung von einer Reihe führender Europapolitiker zurück. Der deutsche
CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok etwa und andere benutzten das Bild einer
zerrütteten Ehe und forderten harte Scheidungsverhandlungen, um Ansteckungs-
effekte zu vermeiden (DLF und Brok 2016). Der französische Präsident Hollande
trat in einer ersten öffentlichen Reaktion, seiner Rolle gemäß, diplomatischer auf,
ließ an der klaren Konsequenz, die das Votum auf EU-Ebene nach sich ziehen
müsse, allerdings keinen Zweifel (France Info 2016). Die Verhandlungsposition
der EU scheint aus dieser Perspektive nicht schlecht, denn die Briten werden ein
wirtschaftliches und politisches Interesse an der fortgesetzten Teilnahme am Bin-
nenmarkt haben und können mit diesem Druckmittel dazu gebracht werden, den
gesamten Regelungsapparat etwa im Rahmen einer EWR-Mitgliedschaft (Euro-
päischer Wirtschaftsraum, s. Norwegen) zu übernehmen. Dies würde neben den
als bürokratisch empfundenen Produktvorschriften und vielen anderen Regularien
auch die umstrittene Arbeitnehmerfreizügigkeit einschließen.
Wenngleich eine wie auch immer konkret ausgestaltete EWR-Option für das
Vereinigte Königreich durchaus möglich ist und nach allem Dafürhalten wenn
überhaupt am innenpolitischen Widerstand im Vereinigten Königreich scheitern
200 7 Perspektiven
würde, ist die harte Tour auf dem Weg dorthin kein wahrscheinliches Szenario.84
Sie passt nicht zur Europäischen Union, weder historisch noch aktuell. Die EU
ist kein einheitlicher Akteur, sondern eine komplexe Kompromissfindungsmaschi-
nerie mit aktuell noch 28 nationalen Steuermännern und -frauen zuzüglich einer
supranationalen Bürokratie. Zumindest wenn es um die großen historischen Ent-
scheidungen und die Systemgestaltung geht – in diese Kategorie fallen die briti-
schen Austrittsverhandlungen ohne Zweifel –, ist der intergouvernementale Kreis
zuständig. Er verfügt über keine Faust, mit der er auf den Tisch schlagen könnte.
Er wird zu keiner einheitlichen Position finden, die Großbritannien aufgrund eines
demokratischen Mehrheitsvotums effektiv in den Senkel stellt, und dem Land die
kalte Schulter zeigt. Stattdessen greifen verschiedene Mechanismen: Zum Ersten
wissen viele im Kreis der Staats- und Regierungschefs wie Außenminister, dass
sie ein ähnliches Referendum in ihrem Land nicht verhindern, geschweige denn
mit Sicherheit gewinnen könnten. Dies spricht für Empathie und Milde zumindest
hinter verschlossenen Türen. Hinzu kommt die mangelnde Harmonie zwischen
den Mitgliedstaaten und ihren Führungen sowohl im Hinblick auf ihre generelle
europapolitische Positionierung, ihre Betroffenheit vom Brexit, auf die Präferen-
zen hinsichtlich seiner Ausgestaltung als auch die Zukunftspläne für die Gemein-
schaft. Zwischenstaatliche Verhandlungen auf EU-Ebene zeichnen sich trotz aller
Konflikte in der Regel durch einen erprobten Pragmatismus aus. Die Verhältnisse
sind wie sie sind und auf dieser Grundlage müssen Entscheidungen gefällt werden.
Auch ohne den professionellen Pragmatismus von Außenpolitikern und Re-
gierungschefs spricht vieles für Besonnenheit und eine milde Reaktion auf das
Ausstiegsvotum. Jenseits von Abschreckungsrhetorik gegenüber Nachahmern
ist keinem Mitgliedstaat in der EU mit einer anhaltenden Verschlechterung der
wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zu Großbritannien gedient. Gera-
de aktuell ist die welt- und europapolitische Lage angespannt genug, um in der
Enttäuschung über den Ausgang des britischen Referendums nicht auch noch die
Fassung und das politische Augenmaß zu verlieren. Demnach ist, zumindest wenn
die Briten sich, vorerst ein letztes Mal, an die europarechtlichen Spielregeln halten
und das geordnete Verfahren nach Art. 50 EUV wählen,85 nach einer gewissen Zeit
der Aufregung eine Mäßigung und der Übergang zu einer konstruktiven Bewäl-
tigung der Krise zu erwarten. Vieles läuft also auf einen sanften Brexit und eine
84 Die folgenden Überlegungen sind zum Teil in ähnlichem Wortlaut online in Interna-
tionale Politik und Gesellschaft erschienen (Schünemann 2016).
85 Noch ist zum Unmut der EU-Führungsriege und der Partnerstaaten nicht geklärt,
wann die Regierung auf den offiziellen Pfad einbiegt.
7.4 Leave means …what exactly? Versuch eines Ausblicks 201
hin stark beschränkt ist. Nach dem Votum der Briten könnte sich der Wind also
auch schnell wieder drehen oder legen. Auf der anderen Seite sollte auch jedem
klar sein, dass mit einem aufgrund der oben skizzierten Analogie der Verhältnisse
möglichen Referendum in Frankreich nach der Präsidentschaftswahl eine durch-
aus existentielle Bedrohung für die EU bevorstehen würde. Denn stimmten die
Franzosen ebenfalls für einen Austritt aus der EU, wäre das Ende des Integrations-
projekts wahrscheinlich.
Der Vollständigkeit halber ist auch auf das optimistische Szenario einzugehen,
das mit der teleologischen Voreingenommenheit früher Integrationstheorien im
Einklang steht. Demnach könnte in der Krise auch eine Chance für die europäi-
sche Einigung bestehen. Denn die EU wäre fortan von ihrem größten Störenfried
befreit. In den Augen einiger Verfechter klassischer Ansichten über die europäi-
sche Einigung könne eine Vertiefung der Integration ohne Großbritannien leichter
möglich sein. Die Vereinigten Staaten von Europa könnten kommen. Es ist klar,
dass dieses Szenario trotz weniger verbliebener Anhänger, wie etwa dem frühe-
ren belgischen Premierminister und Vorsitzenden der liberalen Fraktion im Euro-
päischen Parlament Verhofstadt, hoffnungslos aus der Zeit gefallen scheint und
heute nicht mehr realistisch ist, wenn es dies denn je war. Denn ein hinreichender
kontinentaleuropäischer Konsens über die Zukunft Europas und zentrale europa-
politische Herausforderungen (ökonomische Stabilität im Euroraum, Bewältigung
der Flüchtlingsproblematik etc.) scheint in einer 28-1er Gemeinschaft ebenfalls
nicht gegeben. Auch ein Kerneuropa der Gründergemeinschaft oder eine sonstige
Avantgarde ist nicht in Sicht, ganz zu schweigen von einer belastbaren demokrati-
schen Legitimität für eine vertiefte politische Integration in den Mitgliedstaaten.
Die Idee von Kerneuropa und andere Konzepte differenzierter Integration
führen uns zurück zu dem oben benannten Ausgangsproblem. Die EU-Integra-
tion kann nur erfolgreich sein, wenn sie auf die Heterogenität der Mitgliedstaaten
Rücksicht nimmt. Die zu Recht gepriesene Vielfalt stellt aber zugleich eine große
Herausforderung für die Demokratisierung der Gemeinschaft dar. Dies zeigt sich
insbesondere in Referendumssituationen. Am Ende bleibt das dilemmatische Ver-
hältnis ungelöst bestehen: Die europäische Einigung hat ein Problem mit der de-
mokratischen Legitimität, aber sie funktioniert nicht ohne. Sie hat ein Problem mit
Referenden, aber sie muss direktdemokratische Bürgervoten aushalten können, um
als politische Gemeinschaft überlebensfähig zu sein.
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