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Guten Morgen!

— Dossier »Heimat & Nachhaltigkeit«


Logisch + überfällig
Badhamia utricularis ist ein ungewöhnliches Lebewesen. Ein Schleimpilz, der
kein Pilz ist, sondern eine Plasmodial-Amöbe, ein einzelliges orange-gelbes
Riesenetwas, das locker ein viertel Quadratmeter groß werden kann und das in
unseren Wäldern auf abge­storbenem Holz gar nicht so selten zu finden ist.
In langsamen rhythmischen Kontraktionen bewegt sich dieser Einzeller über
das tote Holz und überwuchert alles, was er verwerten kann. Welch faszinie-
render Anblick, absolut alltäglich, doch den meisten Menschen vollkommen un­
bekannt. Die Umwelt, die uns umgibt, unsere Heimat hat noch viele Geheim-
nis­se, die gelüftet werden sollten.
Längst haben bildende Künstlerinnen und Künstler die Plasmodial-Amöben
als künstlerische Herausforderung entdeckt und setzen den Organismus z. B.
in Kunst­projekten zur Entwicklung vernetzter Navigationsstrukturen ein. In den
Kurz­filmen »Resilient Topographies« und »The Physarum Experiments« kann
man diese Ideen verfolgen. Oder eine Gruppe schwedischer Tänzerinnen nutzt
die amöbialen Bewegungen des Einzellers als Vorlage für ihre Chorografien.
Naturbildung, also das Erkennen der uns umgebenden Umwelt, ist auch eine Dis­
ziplin der Kunst. Schon allein deshalb ist die fast manische Trennung von Kul-
tur und Natur in unseren Schulen und unseren Hochschulen Unsinn und gehört
endlich überwunden.
Die Kooperation zwischen dem Bund für Umwelt und Naturschutz Deutsch-
lands (BUND) und dem Deutschen Kulturrat, über die in diesem Dossier berichtet
wird, ist deshalb logisch und war überfällig.
Das Plasmodium von Badhamia ­utricularis mit seinen ineinanderfließen-
den ­Plasmafortsätzen ist ein passendes Bild für ­Heimat, einer engen Verbin-
dung ­zwischen Kultur und Natur. Nur erkennen müssen wir sie wollen.
Olaf Zimmermann ist Geschäftsführer
des Deutschen Kulturrates und Herausgeber
von Politik & Kultur.
Logisch + überfällig Handelt endlich!
Inhalt OLAF ZIMMERMANN ——— 3

Eine starke Allianz


HELENA MARSCHALL ——— 28

Die Brücke zwischen


SUSANNE KEUCHEL ——— 8
Umwelt und Kultur
JENS KOBER ——— 30
Natur ohne Kultur
hat in einer Gesellschaft Das Ändern leben
keine Perspektive HELENE HELIX HEYER ——— 34

HUBERT WEIGER ——— 10


Brauchen wir Heimat?
Für ein gutes Leben THERESIA BAUER ——— 35

OLAF ZIMMERMANN ——— 12


Der Briefkasten im See
Die querliegende Größe MARTIN HILBRECHT ——— 36

MARC-OLIVER PAHL ——— 15


Kann man Heimat bauen?
Gesellschaftliche MICHAEL BRAUM ——— 39

Nachhaltigkeit Nachhaltigkeit als


MARKUS KERBER ——— 17
Ergebnis von Baukultur
Eine gerechte REINER NAGEL ——— 40

Gestaltung Neues Miteinander


der Globalisierung in der Stadt
HELGE BRAUN ——— 20
BRIGITTE DAHLBENDER ——— 43

Nachhaltigkeit im Land:Gut
Anthropozän KLAUS-MARTIN BRESGOTT ——— 44
BERND SCHERER ——— 24
Grünes Band
Urbane Akupunktur HUBERT WEIGER ——— 45
UWE SCHNEIDEWIND ——— 26
Heimatmarketing
BJÖRN BOHNENKAMP ——— 46

4
Wirtschaft ist Heimat Politik & Kultur Dossiers erscheinen als

Impressum
Beilage zu Politik & Kultur, der Zeitung
JOCHEN ROOSE ——— 48 des Deutschen Kulturrates, herausgegeben
von Olaf Zimmermann und Theo Geißler.

Zwischen Stabilitäts­ Erscheinungsort: Berlin


Redaktionsschluss: 22. September 2020

sehnsucht und Kontakt:


Deutscher Kulturrat e. V.
Fortschrittsglauben Taubenstraße 1, 10117 Berlin
Telefon: 030 . 226 05 28 - 0
TINA TEUCHER ——— 50
Fax: 030 . 226 05 28 - 11
post@kulturrat.de, www.kulturrat.de

Labore der Redaktion:


Olaf Zimmermann (Chefredakteur, V.i.S.d.P.),
Nachhaltigkeitswende Gabriele Schulz (Stv. ­Chefredakteurin),
Theresa Brüheim (CvD), Maike Karnebogen,
MARIA BÖHMER ——— 52
Jens Kober

Verlag:
Das Potenzial der ConBrio Verlagsgesellschaft mbH
Brunnstraße 23, 93053 Regensburg
kulturellen Bildung Telefon: 0941 . 945 93 - 0
Fax: 0941 . 945 93 - 50
SUSANNE KEUCHEL ——— 54
info@conbrio.de, www.conbrio.de

ISBN: 978-3-947308-26-2
Emotionale Zugänge ISSN: 1865-2689

BIRGIT ESCHENLOHR ——— 55 Illustrationen:


Jan Steins, München

Schnee zu Weihnachten! Gestaltung:


4S Design, Berlin
KARSTEN SCHWANKE ——— 57
Druck:
Freiburger Druck, Freiburg

Motor der Veränderung Hinweise:


Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben
ERNST-CHRISTOPH STOLPER ——— 59
nicht unbedingt die Meinung des Deutschen
Kulturrates wieder. Alle ver­öffentlichten Beiträge

Brückenbau sind urheberrechtlich geschützt. Sollte in Bei-


trägen auf das generische Femininum verzichtet
OLAF ZIMMERMANN UND OLAF BANDT ——— 60 worden sein, geschah dies aus Gründen der
besse­ren Lesbarkeit. Selbstverständlich sind
immer weibliche als auch männliche Gruppen­-
Reise ins Glück angehörige ­einbezogen.

JOCHEN DALLMER ——— 62

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6
Jan Steins, der Illustrator dieses Dossiers, zeichnet
­regelmäßig für Zeitschriften und Magazine, immer
auf der Suche nach überzeugenden Bildideen, die er
in wechselnden Techniken umsetzt. Das Thema
»Heimat & Nachhaltigkeit« war für ihn eine willkom-
mene Her­ausforderung. Die Suche nach einem ent­
spannten Heimatbegriff, die kri­tische Betrachtung von
Nation und eine freiere Interpretation von Identität
finden sich oft in seiner Arbeit wieder. Der erzähleri­
sche Bogen in diesem Dossier stellt die Frage »Wie
groß kann Heimat sein und wo fängt Nachhaltigkeit
an?«. Ausgehend vom Geburtsort, dem Zuhause,
von Land und Stadt, über Fragen der Nachhaltigkeit
bis zu den weiten Erzählungen von Deutschland,
Europa und unserem Heimatplaneten – versuchen
die Zeichnungen sich dieser Thematik anzunähern.
Heimat sind für Jan Steins ganz klar Freunde und
Familie, wie er erfahren musste, als er von Berlin
nach ­München zog.

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SUSANNE KEUCHEL

Eine starke Allianz


N achhaltigkeit leitet sich aus der Forstwirtschaft ab:
Es soll nicht mehr verbraucht werden, als jeweils
nachwachsen und künftig wieder bereitgestellt wer-
In Deutschland ist die Agenda 2030 noch nicht wirklich
breit verankert. Umweltverbände wie der BUND setzen
sich hier vorrangig ein, da die Agenda im Einklang mit
den kann. den eigenen ökologischen Zielen steht. Warum kam es
Nachhaltigkeit steht aktuell nicht im Einklang mit hier zu einem Bündnis zwischen BUND und dem Deut-
ökonomischen Prinzipien der Globalisierung, die heu- schen Kulturrat? Und dann noch zu einem Projekt un-
te im Kontext der internationalen Marktverflechtung ter dem für viele fragwürdigen Begriff der »Heimat«?
weltweit gelten. Mit der Ökonomisierung nichtwirt- Heimat ist ein Singularetantum. Der Duden stützt
schaftlicher, gesellschaftlicher Handlungsfelder ging den Einmaligkeitsaspekt durch Bedingungen wie »das
parallel ein kultureller Wandel innerhalb unserer Ge- Land oder die Gegend, wo man geboren und aufge-
sellschaft einher. Dieser manifestiert sich an Begrif- wachsen ist oder wo man sich zu Hause fühlt, weil man
fen wie Selbstoptimierung, Effizienz, Individualisie- schon lange dort wohnt«. Kulturgeschichtlich war Hei-
rung von Lebensstilen, Risikogesellschaft, hier auch, mat zunächst nicht an den Geburtsort gebunden, son-
sich verantwortlich für die Umsetzung »seiner eige- dern an Fragen des Besitzes: Wer Grundeigentum in ei-
nen Präferenzen« unter Wettbewerbsbedingungen zu ner Gemeinde hatte, kam automatisch in den Genuss
zeigen. Dabei wird nach Andreas Reckwitz das Streben des »Heimatrechts« und erhielt damit die Erlaubnis
nach dem »Einzigartigen«, »Singulären« kultiviert. Kul- zur Verheiratung – oder im Falle der Verarmung – die
tur unterstützt so die Akzeptanz ökonomischer Prin- Versorgung durch die Gemeinde. Die Menschenrechts-
zipien innerhalb der Gesellschaft, beispielsweise auch erklärung der UNO von 1948, die das Recht der Rück-
mit dem »urbanen Konzept des Kosmopoliten«, mit sei- kehr in die jeweils eigene Heimat forderte, koppelte das
nen bewusst ausgesuchten, authentischen Konsumgü- Heimatrecht an die Existenz der Person. »Heimat« als
tern und Lebensgewohnheiten – für Reckwitz ein Aus- rückwärtsgewandter Begriff wurde vor allem vom Na-
druck des »globalen Kulturkapitalismus«. tionalsozialismus in Deutschland befördert. Das »re-
Mit Blick auf die Schattenseiten der Globalisierung, gressive« Moment von Heimat sollte als Rückzugsraum
wie gesellschaftliche Spaltung, Zunahme rechtspopu- für jene dienen, die durch die Veränderungen der In-
listischer Strömungen, nationale Abschottung oder dustriegesellschaft, wie Verstädterung, Marktwirtschaft
brennende Fragen des Klimaschutzes, hat Nachhal- oder Verwissenschaftlichung, verunsichert worden wa-
tigkeit als alternatives Steuerungsprinzip politisch ren. Flankiert wurde diese Orientierung durch Heimat-
an Bedeutung gewonnen, so in der UN-Nachhaltig- filme oder Heimatromane.
keitsagenda 2030. Nachhaltigkeit wird hier im Sinne Damit ist das Konzept »Heimat« Beispiel dafür, wie
des Brundtland-Berichtes der Vereinten Nationen ver- sich Betrachtungsweisen durch gesellschaftlichen Wan-
standen: die Bedürfnisse der Gegenwart zu befriedi- del, aber auch kulturelle Narrative, verändern. Inner-
gen, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen halb des gemeinsamen Projekts des Deutschen Kultur-
zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedi- rates und des BUND wurden kulturelle, ökologische und
gen. Die 17 Nachhaltigkeitsziele beziehen sich auf Fra- nachhaltige Perspektiven innerhalb des »Heimatkon-
gen des Klima- und Umweltschutzes, aber auch auf Bil- zepts« diskutiert, so auch die Perspektive der »Heimat«
dung, Städteentwicklung oder beispielsweise gute Ar- als lokale Ebene, als Gegenpol zum Globalen.
beitsplätze. Zur Flankierung der Agenda 2030 wurde Der Kulturwissenschaftler Hermann Bausinger
das Weltaktionsprogramm »Bildung für nachhaltige spricht von »Heimat als Nahwelt, als Rahmen, in dem
Entwicklung« ins Leben geru- sich Verhaltenserwartungen stabilisieren, in dem sinn-
fen, das sich in seiner Umset- volles, abschätzbares Handeln möglich ist«. Heimat
Heimat ist ein zung auf die Säulen Ökonomie, bietet damit Chancen erlebter Einflussnahme, die es
Singularetantum. Ökologie und Soziales bezieht.
Kultur wird hier nicht explizit
in komplexen globalen Welten vielfach nicht mehr gibt.
So ist auch die aktuelle Demokratieverdrossenheit mit
benannt. Auch wenn es immer darauf zurückzuführen, dass selbst auf der nationalen
wieder Stimmen gibt, wie beispielsweise die UNESCO, Politikebene in einem globalisierten Zeitalter vieles
die betont, dass keine Entwicklung ohne die Einbe- nicht mehr demokratisch mitgestaltet werden kann.
ziehung der Kultur nachhaltig sein kann, mit dem Ar- Neben der gestalterischen Perspektive wird Hei-
gument: »Kultur ist das, was wir sind und was ­unsere mat kulturell auch zu einem »Ort der Verbundenheit«,
Identität formt«. durch kulturelle Narrative wie das Bergbaulied, das ört-

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liche Volksfest, der historische Kern einer Gemeinde
und anderen Besonderheiten des Ortes, die es zu ent-
decken gilt. Die Kulturanthropologin Ina-Maria Gre-
verus spricht davon, dass Heimat ein Raum ist, »den
man sich durch einen schöpferischen Prozess aktiv an-
eignen kann«.
Mit dieser Aneignung von »Heimat« ergeben sich fol-
gerichtig auch andere ökologische Ansprüche: Die ei-
gene Heimat soll positiv gestaltet werden: Wir erleben
hier Umwelt unmittelbar und setzen uns dafür ein, dass
Atommüll nicht vor der Haustür gelagert, die Luft oder
das Trinkwasser nicht mit Schadstoffen belastet wird.
So könnte geschlussfolgert werden: Nachhaltigkeit
braucht Heimat – hier auch im übertragenen Sinne –
eine kulturelle Heimat, in Form kultureller Narrative
und Gestaltungsvisionen für heutige und kommende
Generationen! So erklärt sich anschaulich am Beispiel
des Konzepts Heimat die Motivation eines Bündnisses
zwischen dem BUND und dem Deutschen Kulturrat.
Eine ökologische Betrachtung ermittelt anhand des
Wechselspiels von Mensch und Natur Existenzbedin- eine ökologische Identität zu schaffen, wie beispiels-
gungen. Negative Veränderungen der Umwelt führen weise die Philologische Bibliothek in Berlin, das soge-
damit zwangsweise zu dem Schluss der Notwendigkeit nannte »Berlin Brain«, ein Bau, der Ästhetik mit Um-
einer Verhaltensveränderung. Es muss weniger Wasser weltbewusstsein verbindet.
verbraucht werden etc. So wird Nachhaltigkeit oft zu ei- Neben dem kulturellen Narrativ verweist das Archi-
ner »lästigen« Pflicht. Denn Verzicht und Verbote sind tekturbeispiel noch auf einen weiteren gestalterischen
für viele wenig motivierend, ihr Verhalten zu ändern, Aspekt der Künste: Künste als kreativer Motor für alter-
sondern provozieren oft sogar eher Abwehrhaltungen. native Lösungswege. So wird beispielsweise im »Berlin
Eine kulturelle gestalterische Perspektive begreift Brain« die komplette Elektro- und Heizungsanlage mit
Nachhaltigkeit als Vision und nicht als Schadensbe- Rapsöl betrieben.
grenzung. Die kulturelle Dimension, wie wollen wir in Und es gibt eine weitere kulturelle Dimension, die
Zukunft leben und wie können wir erreichen, dass die- des kritischen Korrektivs der »Künste« durch Perspek-
se Vision wahr wird, kann motivierender sein. Zugleich tivwechsel, gesellschaftliche Praxis infrage zu stellen.
liegt das Potenzial der Künste in ihrer Ergebnisoffen- Dies kann sich aktuell auf ökonomische Prinzipien, aber
heit und ihrem experimentellen Vorgehen – als Alter- beispielsweise auch auf Prinzipien einer nachhaltigen
native gegenüber dem Ableiten von normativen Vorga- Gesellschaft in der Zukunft beziehen, um erneut Raum
ben, aufgrund einer Ist-Bilanz. Oftmals entwickeln sich für alternative Werte und Gestaltungsfreiheit der Indi-
hierdurch alternative Gestaltungswege, insbesondere viduen zu schaffen. Aber damit die Zukunftsvision ei-
wenn diese nicht nur ökologische Perspektiven, sondern ner nachhaltigen Gesellschaft Realität wird, bedarf es
weitere, wie die humane, mit einbeziehen. zunächst starker Allianzen für Nachhaltigkeit, wie die
Kultur kann also diverse Beiträge zur Nachhaltigkeit zwischen Kultur und Umweltschutz.
und speziell zu ökologischen Herausforderungen leis-
ten: Sie kann innerhalb der eigenen Organisation ei- Susanne Keuchel ist Präsidentin
nen konkreten Beitrag zum Klima- und Umweltschutz des Deutschen Kulturrates.
leisten, beispielsweise bei Fragen des Catering bis hin
zur Mobilität.
Kultur ist aber auch selbst produzierend tätig, z. B.
im Kontext des Modedesigns oder der Architektur. Hier
geht es nicht nur um Fragen des ökologischen Produ-
zierens, sondern auch darum u ­ lturelle Narrative für

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Natur ohne Kultur
hat in einer
Gesellschaft keine
Perspektive HUBERT WEIGER

E s war Mord! Am Abend noch krähte der


Hahn Marcel unbeschwert auf dem Mist-
haufen, am Morgen lag er erschlagen im
Natur und Kultur nicht als Gegensätze, son-
dern als gegenseitige Durchdringung zu be-
handeln, ist eine zentrale Aufgabe, der sich
Garten. Der Täter war schnell gefunden. Ein der BUND und der Deutsche Kulturrat in ih-
Nachbar war genervt gewesen vom stän- rer Kooperation angenommen haben.
digen Krähen des Federviehs. Diese klei- Denn auch wenn das Gesicht einer Land-
ne Geschichte hat in Frankreich eine hef- schaft durch natürliche Faktoren wie Geolo-
tige Diskussion über das Landleben losge- gie oder Klima bedingt ist, es ist auch immer
treten. Denn das ist nicht so ruhig und idyl- das Ergebnis eines jahrhundertelangen Kul-
lisch, wie es die nach Erholung suchenden turprozesses. Natur und Kultur gehören zu-
Städter sich wünschen. sammen. Auch die Geschichte des Umwelt-
Die ländlichen Traditionen sind in Ge- und Naturschutzes ist die Geschichte gesell-
fahr, denn in den Sommermonaten und Fe- schaftlicher und kultureller Entwicklungen.
rien kommt es immer wieder zu einer Art Die Wurzeln des Naturschutzes sind im
Kulturkampf. Urlauber aus den Metropolen Landschaftsschutz zu suchen. Beziehungen
fallen in die kleinen, landwirtschaftlich ge- zur Ästhetik und zum Heimatschutz lassen
prägten Gemeinden ein, auf der Suche nach sich zurückführen auf die idealisierte, sen-
Ruhe und Erholung. Was sie finden, ist aber timentale Landschaftsmalerei des 16. und
nicht das erhoffte Idyll, sondern die Reali- 17. Jahrhunderts. Um 1800 wurde der Begriff
tät auf dem Lande: arbeitende Menschen, Naturdenkmal durch Alexander von Hum-
krähende Hähne, ratternde Traktoren oder boldt in Reisebeschreibungen aus Amerika
laut muhende Kühe. Nicht alle gehen dage- geprägt. Betont wurden Gefühlsstärke und
gen so rabiat vor wie im Fall Marcel. Aber Heimatbewusstsein, was 1836 zur Auswei-
oft landet der Streit vor Gerichten. Nun for- sung des ersten amtlichen Schutzgebietes
dert der Bürgermeister der kleinen Gemein- in Deutschland führte, des Drachenfelsens.
de Gajac im Département Gironde, das Krä- Heute ist Natur unter unseren mitteleu-
hen der Hähne, Kläffen der Hunde, Muhen ropäischen Bedingungen kaum noch etwas
der Kühe oder das Blöken der Schafe zum Ursprüngliches, sondern etwas vom Men-
nationalen Kulturerbe zu erheben. Dann schen gestaltetes, eine Kultur- und keine
wäre es den lärmempfindlichen Städtern Naturlandschaft. Die Wahrnehmung von
nicht mehr möglich, dagegen zu klagen. Im Landschaft als etwas Schönes charakteri-
Parlament ist ein Gesetz zum Schutz des siert die äußere Erscheinung von Natur und
»sensorischen Erbes« der ländlichen Gegen- Landschaft, die in einer Ganzheitlichkeit mit
den Frankreichs bereits beschlossen. Nun allen Sinnen auf den Menschen wirkt. Wie
fehlt nur noch die Zustimmung des Senats. wir sie wahrnehmen, ist eine Mischung aus

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objektiv Gegebenem, aus Erinnerungen und Deren schwerere Entflammbarkeit im Ver- Es braucht Zeit und Raum, Orte und Be-
Erwartungen, aus der jeweils subjektiven gleich zu anderen Hölzern half beim vor- gegnungsmöglichkeiten, um generationen-
Betrachtungsweise und auch aus der kultu- beugenden Brandschutz. Es gibt zahlrei- übergreifend Visionen für ein gutes Leben
rellen Einbettung. Für jeden ist Landschaft che eindrucksvolle Beispiele, wie neben den zu entwickeln und somit eine gesunde Ba-
etwas anderes, etwas Individuelles. Land- klassischen Nutzungen durch Land-, Forst- sis für gemeinsame Aktivitäten zu bauen.
schaft ist gekennzeichnet von Einzigartig- und Wasserwirtschaft, auch infrastruktu- Natur ohne Kultur grenzt Menschen aus
keit, Unverwechselbarkeit, Eigenart, von relle, kulturelle oder militärische Interes- und wird langfristig keine Zukunft haben.
winzigen Unregelmäßigkeiten. Jedes De- sen die biologische Vielfalt unserer Land- Auch der Schutz von Gebieten, in denen
tail ist ein Unikat, Landschaft kennt keine schaften direkt oder in- sich Natur entwickeln
exakten Wiederholungen. Eine Landschaft direkt in Raum und Zeit darf, braucht die Akzep-
hat ein Gesicht, ist Heimat und ist weder beeinflussten und be-
Eine Landschaft hat ein tanz der Bevölkerung.
austauschbar noch ausgleichbar. Landschaft einflussen. Wie der ehe- Gesicht, ist Heimat Zurückkehrende Wild-
will entdeckt werden, sie hat Spuren, die ge- malige Eiserne Vorhang.
lesen werden wollen. Als schön werden da- Dieser Todesstreifen hat
und ist weder austausch- tiere stellen uns vor He-
rausforderungen, wenn
bei in der Regel Landschaften empfunden, sich während der Jahr- bar noch ausgleichbar. sie, wie z. B. der Biber,
die auch für den Naturschutz bedeutsam zehnte dauernden Tei- Landschaften gestalten.
sind, so z. B. Landschaften mit einer Viel- lung unseres Landes zu einer grünen Le- Das Märchen vom bösen Wolf ist noch tief
falt an Strukturen. benslinie entwickelt. Auf 1.393 Kilometern in unserem Gedächtnis verankert – auch
Wir lieben Wälder mit mächtigen Bäu- leben heute eine Vielzahl von gefährdeten wenn die Gebrüder Grimm damals Märchen
men, in denen wir aufatmen können und Tier- und Pflanzenarten. Das Grüne Band für Erwachsene zusammengetragen hatten,
die uns Erholungsraum bieten. Touristisch ist somit sowohl als Mahnmal einer dunk- in der der Wolf eine ganz andere Bedeu-
haben extensive Weidelandschaften und len, menschenverachtenden Vergangenheit tung hatte. Sobald Weidetiere vom Wolf ge-
blühende Wiesen einen hohen Erholungs- als auch als Hoffnungszeichen für die fried- rissen werden, sind Konflikte vorprogram-
wert. Diese Landschaften wurden über vie- liche Überwindung derselben und für die miert. Auch hier brauchen wir eine Kultur
le Generationen von Menschen gestaltet. Vielfalt und Schönheit der Natur ein wichti- des Miteinanders. Dieses können wir über
Brennrechte für Schnaps waren oft an Obst- ges Symbol. Es verbindet Ost und West und länderübergreifende Naturschutzkonzepte,
bäume gebunden und führten dazu, dass lädt zur Begegnung und zum Erfahren und aber auch über Bildungsmaßnahmen und
zur Geburt eines Kindes ein Apfel- oder Bir- Begreifen unserer gemeinsamen Kulturge- künstlerische Auseinandersetzungen mit
nenbaum gepflanzt wurden. Wenn wir heu- schichte und unseres gemeinsamen Natur- dem Thema fördern. Es gibt fast 40 Nati-
te über Fichtenmonokulturen oder einen erbes ein. Frieden und Demokratie sind kei- onalparks in Europa. Um die Grenzen zu
zu hohen Kieferanteil in manchen Wäldern ne Selbstverständlichkeit. Als Gesellschaft überwinden, braucht es Menschen vor Ort,
klagen, vergessen wir manchmal, welch be- müssen wir Menschen aller Nationen und die sich engagieren.
eindruckende und entbehrungsreiche Kul- »Heimaten« die Möglichkeit bieten, sich Oder Hähne wie Marcel. Der hat vor sei-
turleistung hier für den Wiederaufbau des aktiv einzubringen und sich für gute Ent- nem unsanften Ableben für ausreichend
Waldes vorwiegend von Frauen geleistet wicklungsmöglichkeiten auch für zukünf- Nachkommen gesorgt. Vor Kurzem sind
wurde. Mit Rucksack und Wasserkanister tige Generationen einzusetzen. fünf Küken geschlüpft – ein neuer Hahn
bestiegen diese entschlossenen Frauen zu ist sicher auch darunter.
Fuß unwegsames Gelände, um die frischen
Setzlinge nach dem Pflanzen regelmäßig Hubert Weiger ist Ehrenvorsitzender
zu gießen. Dieses Engagement wurde 1972 des Bund für Umwelt und Naturschutz
mit dem Symbol der Baumpflanzerin auf Deutschland. Er hat zusammen mit
der 50-Pfennig-Münze gewürdigt. Olaf Zimmermann das gemeinsame Pro-
Menschen nutzen oft die scheinbar na- jekt vom Deutschen Kulturrat und BUND
türlichen Ressourcen, um ihre Bedürfnis- »Heimat – was ist das?« entwickelt.
se zu befriedigen. Aus alltäglichen Hand-
lungen wurden die Landschaften geformt,
die uns umgeben. So hat die Dominanz
von Eichen vielerorts banale Gründe: Man
brauchte gutes Holz für die Aussteuermö-
bel und den Hausbau.

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G
ottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) wird gerne Leibniz und Goethe, zwei Persönlichkeiten, die für die
als der letzte Universalgelehrte bezeichnet. Er war Verbindung von Natur und Kultur stehen, die sowohl als
Philosoph, Mathematiker, Jurist, Historiker und Natur- als auch als Geisteswissenschaftler bzw. Künstler
politischer Berater des Hauses Hannover in der frühen tätig waren. Eine Verbindung, die heute ausgesprochen
Aufklärung. In der nach ihm benannten Gottfried Wil- selten zu finden ist. Sehr schnell entscheiden sich Ju-
helm Leibniz Bibliothek – Niedersächsische Staatsbib- gendliche für einen Weg: Natur- oder Geistes- bzw. Ge-
liothek kann unter anderem eine von ihm entwickelte sellschaftswissenschaften. Die einen begeistern sich für
Rechenmaschine bewundert werden. Leibniz beschrieb die belebte Natur, ergründen beim Mikroskopieren das
das Dualsystem, entwickelte Pläne für ein Untersee- ganz Kleine oder schwärmen für das ganz Große und
boot (!), erdachte ein Gerät zur Bestimmung der Wind- streben in die Weiten des Alls; die anderen erfreuen
messung, er gründete eine Witwen- und Waisenkasse, sich an Kunst, sind selbst kreativ, setzen sich mit der
erfand die Endloskette zur Erzförde- Geschichte oder unserer heutigen Gesellschaft und Ge-
rung im Bergbau, verfasste sprach- genwart auseinander. Nur wenige sind in beiden Wel-
Nachhaltige Entwicklung kundliche Schriften unter ande- ten zu Hause. Das führt sehr oft dazu, dass sich die ei-
kann nur mit einem kul­ rem zur Indogermanistik und kor- nen in der BUNDjugend oder den Jugendorganisationen
respondierte mit den Geistesgrößen anderer Umwelt- und Naturschutzverbände engagieren
turellen Wandel gelingen. seiner Zeit. Leibniz war nicht fest- und die anderen Instrumente oder Theater spielen, im
gelegt als Natur- oder Geisteswis- Chor singen, malen, zeichnen, schreiben usw. Nur sehr
senschaftler. Er war ein Gelehrter, der selbstverständ- wenige machen beides.
lich in den sieben artes – Grammatik, Rhetorik, Dia- Das Projekt »Heimat – was ist das?« setzt genau an
lektik, Arithmetik, Geometrie, Musik, Astronomie – zu dieser Stelle an. Es ging darum, Verbindungen zu schaf-
Hause war. Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) fen, von Menschen und Organisationen, die sich für den
war von Beruf Jurist und Beamter im Dienst des Hofes Natur- und Umweltschutz einsetzen, und jenen, die sich
von Weimar. Als Beamter war er unter anderem für den für die Kultur, vor allem die kulturelle Vielfalt, stark ma-
Bergbau und für Holz- und Forstwirtschaft zuständig, chen. Neben den verschiedenen Veranstaltungen, die
ihm wurden die Kammergeschäfte – also die Staats- um die unterschiedlichen Ziele der UN-Agenda 2030
finanzen – anvertraut, er war verantwortlich für Aus- kreisten und stets vom Dialog von Vertreterinnen und
hebung von Rekruten, er war Literat und ein begab- Vertretern aus dem Umweltschutz- und dem Kultur-
ter Zeichner, leitete das Hoftheater und er war Natur- bereich geprägt waren, war unser Ziel, den Dialog vor
forscher mit einem besonderen Interesse für Botanik, Ort zu befördern. Menschen in das Gespräch zu brin-
Geologie und Mineralogie. Bekannt ist ferner seine Far- gen, über tatsächliche oder vermeintliche Grenzen hin-
benlehre. Goethe widmete sich lebenslang intensiv Na- weg sich auszutauschen, die eigenen Zugänge zu reflek-
turstudien, die in sein literarisches Werk Eingang fan- tieren und zu lernen. Dass es Interesse und Bedarf an
den. Als junger Mensch erlernte er selbstverständlich diesem Austausch gibt, zeigt die Ausschreibung zum
die klassischen Sprachen Latein, Griechisch und Heb- letzten Wettbewerb des Fonds Nachhaltigkeitskultur
räisch. Darüber hinaus erlernte er die lebenden Spra- zum Thema »Heimat«, die gemeinsam vom BUND, der
chen Französisch, Italienisch und Englisch. Neben na- BUNDjugend und dem Deutschen Kulturrat in einer Ide-
turwissenschaftlichem Unterricht erlernte er Klavier, enwerkstatt entwickelt worden war. Bewerben konnten
Reiten und Fechten. sich Akteure aus dem Naturschutz- und Umweltbereich
und solche aus der Kultur.

Für ein gutes Leben OLAF ZIMMERMANN

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Der Charme der Ausschreibung lag darin, dass sie sich Die 2015 verabschiedete UN-Agenda 2030 für nachhal-
für ein gemeinsames Projekt bewerben mussten. Mit tige Entwicklung ist hierfür eine hervorragende Leit-
über 270 Bewerbungen war diese Ausschreibung die er- schnur. Sie zeigt, dass jeder in jedem Land dieses Pla-
folgreichste des Fonds Nachhaltigkeitskultur und be- neten seine Hausaufgaben zu machen hat, um nach-
legt, dass es offenbar das Interesse und den Bedarf nach haltig zu wirtschaften und zu leben.
diesen gemeinsamen Projekten gibt. Ein sehr schöner Dazu gehört auch, über den Tellerrand zu schauen,
Erfolg, der allerdings dadurch getrübt wird, dass der von anderen gesellschaftlichen Bereichen zu lernen und
Fonds Nachhaltigkeitskultur vom Rat für Nachhaltige zusammenzuarbeiten. Ich freue mich daher sehr, dass
Entwicklung nicht fortgeführt wird. Das ist sehr bedau- mit dem Ende des Projektes »Heimat – was ist das?« die
erlich, denn die Resonanz auf den Wettbewerb zeigt den Zusammenarbeit zwischen BUND und Deutschem Kul-
Bedarf an. Generell scheint sich der Rat für Nachhalti- turrat nicht zu Ende ist. Gemeinsam wollen wir uns da-
ge Entwicklung wieder mehr auf die entwicklungs- und für stark machen, dass das Grüne Band als UNESCO-Na-
umweltpolitische Debatte zu konzentrieren als einen tur- und Kulturerbe anerkannt wird, und damit unter-
weiten Blick einzunehmen. So wurde von Bundeskanz- streichen, dass dieses einmalige Zeugnis der überwun-
lerin Angela Merkel am 1. Januar dieses Jahres niemand denen deutschen Teilung nicht nur Überlebensort für
aus dem Kulturbereich in den Rat (2020–2023) berufen. seltene Pflanzen und Tiere ist, sondern auch ein Kul-
Hier wird eine Chance vertan. Denn nachhaltige Ent- turort, ein Erinnerungsort, der uns viel über Gemein-
wicklung ist mehr als Umwelt- und Klimaschutz, sie ist sames und Unterschiedliches in Ost und West zu sagen
mehr als die Umsetzung entwicklungspolitischer Zie- hat. Zusammen wollen wir uns stärker der Frage wid-
le. Nachhaltige Entwicklung kann nur mit einem kul- men, was das gute Leben ausmacht und welchen Bei-
turellen Wandel gelingen. trag die Künste und die Kultur zum guten Leben leis-
In der Zivilgesellschaft ist diese Erkenntnis schon ten und wie dieses gute Leben nachhaltig gelingen kann.
länger angekommen. Im Zuge der TTIP-Proteste in den Die Bereitschaft, aufeinander zuzugehen und vonein-
Jahren 2015 und 2016 verstärkte sich der Austausch der ander zu lernen, ist der Grundstein für die anstehen-
verschiedenen zivilgesellschaftlichen Akteure aus dem den gemeinsamen Debatten, auf die ich mich sehr freue.
Umwelt- und Naturschutz, aus der Wohlfahrtspflege, Auch wenn die Zeit der Universalgelehrten schon
der Entwicklungspolitik, den Gewerkschaften, der Kul- lange vorbei ist, gilt es ganz im Sinne der nachhaltigen
tur und vielen anderen mehr. Dabei ging es für den Kul- Entwicklungen Trennungen zwischen Naturwissen-
turbereich stets um mehr als um Schutzmechanismen schaften, Geisteswissenschaften und Kunst zu über-
vor den marktbeherrschenden US-amerikanischen In- winden und sich gemeinsam für die anstehenden Ver-
ternetkonzernen. Es ging und geht auch um die Frage, änderungen, die uns alle herausfordern, einzusetzen.
wie wir leben wollen und welchen Beitrag Kunst und Nichts ist spannender, nicht ist notwendiger, als ge-
Kultur zu einem guten Leben leisten können. meinsam für ein gutes Leben für alle zu kämpfen.

Olaf Zimmermann ist Geschäftsführer des Deutschen


Kulturrates. Er hat zusammen mit Hubert Weiger
das gemeinsame Projekt vom Deutschen Kulturrat und
BUND »Heimat – was ist das?« entwickelt.

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14
MARC-OLIVER PAHL

Die querliegende Größe


D ie Bewältigung der Covid-19-Pandemie stellt Politik,
Wirtschaft und Gesellschaft vor große Herausforde-
rungen. Die Krise zeigt, dass es möglich ist, für drin-
onen und ethische Verhaltensnormen, Bildung und so-
ziales Engagement, die als Eckpfeiler für Gesellschaften
und Individuen es ermöglichen, geistige und soziale Fä-
gend benötigte akute Unterstützungsmaßnahmen, wie higkeiten auszubilden, Probleme zu erkennen und Lö-
Kurzarbeitergeld oder milliardenschwere Konjunktur- sungsmöglichkeiten zu finden.
pakete, die nötigen finanziellen Mittel bereitzustellen. Spätestens durch die Verabschiedung der 17 Susta-
Die Krise zeigt aber auch, dass in die Prävention weite- inable Development Goals (SDGs) im Jahr 2015 mit ih-
rer Krisen und die Stärkung der gesellschaftlichen Wi- ren insgesamt 169 Unterzielen und der Zielerreichung
derstandsfähigkeit investiert werden muss. Dafür gilt bis zum Jahr 2030 sind die Anforderungen klar vorge-
oberste politische Priorität. Darüber hinaus darf nicht geben und verdeutlichen damit den Auftrag für Poli-
vergessen werden, dass sich die Welt bereits in einer tik und Gesellschaft, einen durchgreifenden Wandel
viel größeren Krise befindet – der Klimakrise. Eine Kri- auf allen Ebenen herbeizuführen. Doch nach gut fünf
se, die nicht allein durch ein Konjunkturpaket über- Jahren der Implementierung der SDGs stehen in vie-
wunden werden kann. Diese aus den Augen zu verlie- len Bereichen die Indikatoren nach wie vor auf Sta-
ren wäre fatal. gnation bzw. Verschlechterung der Situationen. Um
Der Rat für Nachhaltige Entwicklung (RNE) hat im jedoch eine Transformation hin zu einem nachhalti-
Mai 2020 acht Empfehlungen entwickelt, welche einen gen Umgang mit den zur Verfügung stehenden Res-
Weg aus der Krise im Zeichen der Nachhaltigkeit auf- sourcen voranzutreiben – und es sind keine zehn Jah-
zeigen. Ganz entscheidend ist, dass Nachhaltigkeit zum re mehr bis 2030 –, bedarf es neuer Lösungswege, die
Leitprinzip für alle Schritte raus aus der Krise gemacht auf die Durchbrechung bestehender Konsummuster so-
wird, denn für ein späteres grundlegendes Nachkorri- wie Normen- und Wertesysteme abzielen. Dabei spie-
gieren wird es auch in einer finanzstarken Bundesre- len Kultur und ihre zivilgesellschaftlichen und staatli-
publik keinen Spielraum geben. Nachhaltige ökologi- chen Akteure eine starke Rolle. Denn was unter Kultur
sche, soziale wie auch ökonomische Strukturen sind verstanden wird, unterliegt einem permanenten De-
nachweislich weniger risikoanfällig. finitionswandel. Ohne die Schaffung eines Bewusst-
Was grundsätzlich nicht passieren darf, ist ein Besin- seins zur Nachhaltigkeit in der Gesellschaft, ist die
nen auf Altes und Gewohntes. Auch nach der Finanz- Transformation nicht zu bewerkstelligen. Schon Al-
krise in den Jahren 2008 und 2009 sind mit unglaub- dous Huxley schrieb über die Kultur: »… Kultur ist das
licher Geschwindigkeit und unter Missachtung der ei- Treibhaus, das es den menschlichen Fähigkeiten er-
gentlichen Ursachen der Krise alte Strukturen wieder laubt, sich zu entwickeln und zugleich das Gefängnis,
aufgenommen worden – ein Stichwort unter anderem das sie einengt«.
»Hochrisikogeschäfte im Investmentbanking«. Ein Pen-
dant im Nachhaltigkeitsdiskurs wäre ein Zurückfallen Was unter Kultur verstanden
und die Reduzierung von Nachhaltigkeit auf ein Um-
weltprogramm oder den Umweltschutz. Dekaden vor- wird, unterliegt einem permanenten
angeschrittener Debatten um Nachhaltigkeit und Wir- Definitionswandel.
kungen von Programmen wären verloren.
Der RNE fordert und fördert daher unter anderem Auf Initiative des Deutschen Bundestages hin hat der
eine Kultur der Nachhaltigkeit. Es ist nicht ausschließ- RNE im Jahr 2017 den Fonds Nachhaltigkeitskultur ins
lich der Gedanke, dass Nachhaltigkeitspolitik nach wie Leben gerufen. Der Fonds ist ein projektinternes För-
vor zu wenig mit Themen, Konzepten und Prozessen aus derprogramm, welches das transformierende Potenzi-
Kunst und Kultur verbunden ist und umgekehrt. Es geht al der Alltagskultur und von Kulturschaffenden unter-
sehr viel mehr darum, das Leitbild einer nachhaltigen stützt. Künstlerische Beiträge spielen ebenso eine Rolle
Entwicklung zu verwirklichen. Es bedarf tiefgreifender wie politische Kultur und Soziokultur. Thematisch sind
neuer Weichenstellungen in Politik, Wirtschaft und Ge- die vergebenen Förderungen den sogenannten Alltags-
sellschaft, um den Paradigmenwechsel, der alle Berei- kulturen zugeordnet, wie z. B. der Esskultur, der Mo-
che unseres Lebens tangiert, zu vollziehen. Kultur und bilitätskultur und der Modekultur. Die Projekte sollen
gesellschaftlicher Wandel stehen im engen Zusammen- sich den gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen
hang mit nachhaltiger Entwicklung. Es sind die kultu- widmen und damit den Wandel durch eine Neubewer-
rellen Grundwerte der Gesellschaft, Lebensstile, Religi- tung bestehender Routinen vorantreiben. Wesentliche

15
Idee der Förderungen ist die Stärkung längerfristiger Im Rahmen des Projekts wurde der Ideenwettbewerb
gesellschaftlicher Prozesse für eine nachhaltige Ent- zum Thema »Kultur + Nachhaltigkeit = Heimat« entwi-
wicklung und die Verknüpfungen zwischen Akteuren, ckelt, um Akteure aus der Kulturszene und dem Bereich
Sektoren und Lebensbereichen. Silodenken wird auf- Natur- und Umweltschutz dazu aufzurufen, in Koopera-
gebrochen und neue Netzwerke entstehen. tionsprojekten einen Beitrag zu einer nachhaltigen Ent-
Mittlerweile wurden über 80 Projekte mit einer Lauf- wicklungskultur zu leisten. Der Begriff der Heimat ist
zeit von durchschnittlichen zwölf Monaten gefördert. hier das verbindende Glied: So sind z. B. der Wald und
Häufig geht es darum, Unbekanntes zu wagen und Gren- die Landschaft kulturell prägend besetzt. Die Begriffe
zen zu überschreiten, sich auf Neues einzulassen, tech- Landeskultur und Kulturlandschaft unterstrichen dies
nische Möglichkeiten, etwa durch die Digitalisierung, schon früh. Die Resonanz auf diesen Ideenwettbewerb
zu nutzen, aber auch kulturelle Traditionen und Tech- war mit über 270 Projektanträgen überwältigend und
niken neu zu beleben. Kunst und Kultur, Kreativwirt- stellt einen neuen Teilnehmerrekord in den bisher fünf
schaft und Kulturschaffende sind dafür prädestiniert, durchgeführten Ideenwettbewerben des Fonds Nach-
dringend benötigte Veränderungsprozesse anzusto- haltigkeitskultur dar.
ßen und zu begleiten. Neue Lösungswege werden auf- Durch die Covid-19-Pandemie hat sich die geplan-
gezeigt, Denkmuster durchbrochen, Räume und Haltun- te Förderung der Gewinnerprojekte vom Frühjahr 2020
gen werden dargeboten, die zu einem Perspektivwech- in den Herbst verschoben. Nach Sichtung ca. der Hälfte
sel anregen – hin zu mehr Nachhaltigkeit. der Anträge ist davon auszugehen, dass aus den Projekt-
Als sehr gutes Beispiel kann in diesem Rahmen die einsendungen hervorragende Projekte gefördert wer-
Förderung des Deutschen Kulturrates genannt werden. den können. Dies wird ein weiteres Ergebnis der erfolg-
In Zusammenarbeit mit dem Bund für Umwelt und Na- reichen Kooperation mit dem Deutschen Kulturrat sein.
turschutz Deutschland (BUND) tauschen sich seit 2018 Die zurückliegenden drei Jahre des Bestehens des
Kulturschaffende und Naturschutzakteure unter dem Fonds Nachhaltigkeitskultur und die geförderten Pro-
Titel »Heimat – was ist das?« aus, um neue Perspekti- jekte haben gezeigt, dass es wichtig ist, die Kultur als
ven auf Kultur und Umwelt zu fördern. querliegende Größe in den Dimensionen der Nachhal-
tigkeit zu denken. Die Kultur der Nachhaltigkeit als
Handlungsmodus, durch den Wertorientierungen ent-
wickelt, reflektiert, verändert und ökonomische, öko-
logische und soziale Interessen austariert werden. Das
ist keine neue Erkenntnis, es zeigt sich aber, dass ge-
rade in Krisenzeiten systemische Herangehensweisen
für sämtliche Themen der 17 SDGs auf allen Politike-
benen das Gebot der Stunde sind.

Marc-Oliver Pahl ist Generalsekretär des Rates


für Nachhaltige Entwicklung.

16
MARKUS KERBER

Gesellschaftliche
Nachhaltigkeit
Herr Kerber, der traditionelle Heimat­ Welche Vorstellung von »Nachhaltig- Was unterscheidet »Nachhaltig-
begriff ist an Herkunftsorte gebunden. keit« haben Sie? In der aktuellen keit« von »Dauerhaftigkeit«?
Haben Sie einen modernen Heimat­ politischen Diskussion wird der Begriff Mehr als der Begriff der Dauerhaftigkeit im-
begriff, der darüber hinausgeht? oftmals auf Klima- und Umweltpoli- pliziert Nachhaltigkeit etwas Dynamisches.
Unsere Definition als Ministerium, die ich tik fokussiert – ist das zu eng? Eine lebendige Entwicklung so gestalten,
mir auch persönlich zu eigen mache: Hei- Das ist sicher sehr eng. Die wirtschaftliche dass sie nicht zerstörerische Züge annimmt.
mat ist überall dort, wo man sich wohl und und die soziale Nachhaltigkeit wird unter- Deswegen war wahrscheinlich der Bereich
geborgen fühlt, wo man zu Hause sein darf schätzt, nicht von der Bundesregierung, der Ökologie, der sehr nah an der Biolo-
und auch sein möchte. Heimat hat mehre- aber zum Teil im medialen Diskurs. Unsere gie und den Naturwissenschaften ist, ei-
re Dimensionen. Man kann nur dort behei- eigene Zuständigkeit als Bundesministeri- ner der ersten, der das aufgegriffen hat –
matet sein, wo es einem auch emotional um des Innern, für Bau und Heimat (BMI) weil dort erkennbar wurde, dass übermä-
gut geht, wo man eine wirtschaftliche und für Nachhaltigkeit bezieht sich unter an- ßiger Ressourcenverzehr, eine nichtnach-
soziale Basis hat, wo Freunde und Bezugs- derem auf die gleichwertigen Lebensver- haltige Lebensweise in globaler Wirtschaft,
personen sind, wo man selbst dazugehö- hältnisse und auf den gesellschaftlichen Zu- den Menschen die Lebensgrundlage ent-
ren möchte und auch von den anderen ak- sammenhalt. Wenn Lebensverhältnisse zu zieht. Jetzt marschiert aber die Weltbevöl-
zeptiert wird, in einer offenen Gesellschaft. sehr auseinanderdriften, wenn plötzlich alle kerung in Richtung zehn Milliarden Men-
Ich persönlich hatte biografisch mehre- auf die Idee kommen würden oder einem schen. Wir müssen uns verändern in Rich-
re Heimaten, das war nie ein Problem. Es ist Zwang unterlägen, in die Städte zu ziehen, tung Nachhaltigkeit, die dieser Zahl eine
auch wichtig, in einer Welt mit immensen wäre das keine nachhaltige Entwicklung in Existenz ermöglicht.
Migrationsbewegungen zu erkennen, dass einem Flächenstaat. Auf Deutschland bezogen: Wir haben
der Mensch mehrere Heimaten haben kann, Nachhaltigkeit ist für uns eine alle ge- schon länger die Entwicklung, dass Men-
viele sogar gezwungen sind, eine neue Hei- sellschaftlichen Gruppen mitnehmende schen zunehmend pendeln zwischen Wohn-
mat zu finden. Es stimmt aber auch, dass Entwicklung, die nicht zu viele Ressourcen ort und Arbeitsplatz. Durch möglichst de-
viele Menschen ihren Lebensmittelpunkt verzehrt, die nicht Menschen unter Stress zentrale Struktur- und Investitionspolitik,
zunächst mal gern dort behalten möchten, setzt und die ihnen ein gedeihliches, fried- mehr Wohnungsbaupolitik wollen wir die
wo sie geboren und aufgewachsen sind. Als liches und kreatives Zusammenleben mit Voraussetzungen dafür schaffen, dass Men-
wir begannen, den Begriff der Heimatpolitik anderen ermöglicht. Das ist gesellschaftli- schen dort leben können, wo sie gerne leben
in Politik umzusetzen, zeigte uns Professor che Nachhaltigkeit. Eine Gesellschaft, de- wollen – das ist ein Kern der Heimatpolitik.
Jens Südekum aus Düsseldorf bei einer Po- ren Infrastrukturen teilweise verfallen und Nicht nur Metropolen und Oberzentren in
diumsdiskussion mit dem Minister eine er- die von Extremismen bedroht ist, die ihre einem überspannten urbanen Verständnis
staunliche Statistik: 65 Prozent aller Men- Offenheit und Integrationsfähigkeit ver- von Modernität fördern, sondern gleichge-
schen in Deutschland haben ihren Geburts-, liert, ist nicht nachhaltig. Weil das im In- wichtig zwischen urbanen und ländlichen
Lebens- und Todesort innerhalb des Krei- nenministerium nicht negiert wird, ist ei- Räumen den Menschen Lebensmöglich-
ses einer Postleitzahl. Und ebenfalls 65 Pro- ner unserer Kernbegriffe die Wahrung des keit nach ihren Wünschen zu schaffen – im
zent aller Menschen in Deutschland erle- gesellschaftlichen Miteinanders. Prinzip ist das die Rückkehr zu mehr staat-
ben dies in Orten mit weniger als 100.000 lichem Bemühen in der Infrastrukturpolitik
Einwohnern. Das gehört auch zur Realität. und der Daseinsvorsorge. Schulen, Arztpra-
xen, Krankenhäuser, Pflegeheime, Jugend-
häuser, Kinos auch auf dem Land – es sind
eigentlich relativ traditionelle Mittel, die
jetzt ein Revival in der staatlichen Zuwen-
dung erleben.

17
Im Koalitionsvertrag, der die Arbeits­ Dann kam Corona und es funktionierte. Wir Da muss die Heimatpolitik in den nächsten
grundlage dieser Regierung bildet, war hatten uns geirrt, Minister Seehofer, der von Monaten wohl ein Resümee ziehen, einen
eine Kommission zum Thema »Gleich­ Anfang an dieses Modell unterstützte, weil Lessons-learned-Prozess machen: Was ler-
wertige Lebensverhältnisse« beschlos­ er an die Motivation der Mitarbeiter glaub- nen wir daraus für eine stärkere heimische
sen worden. Die hat vor einem Jahr te, lag richtig. Tourismusnutzung? Dafür sind allerdings
einen Bericht vorgelegt, aus dem die die Kollegen aus dem Wirtschafts- und Ver-
Bundesregierung Arbeitsschwerpunk­ Hat die Verbindung von Heimat und kehrsministerium zuständig. Ich vermute,
te ableitete. Ganz vorn steht dabei – Nachhaltigkeit in der Umsetzung dass aber die Tourismusindustrie andere
Sie haben es angedeutet – mehr Geld des Kohleausstiegs – der vielen viel Konzepte entwickeln und anbieten wird.
für Kommunen in ländlichen Räumen, zu langsam geht – eine Chance eige- Dass Millionen Menschen nun an den ei-
mehr Infrastruktur und mehr Wohn­ ner Prägung? Es werden erhebliche genen Strand gehen, kann nicht die Ant-
raumförderung. Diese Baustellen hätte Summen sowohl zur Renaturierung wort sein.
man vorher identifizieren können. als auch zur Schaffung neuer Arbeits-
Das Programm der Bundesregierung und Lebensformen bereitgestellt. Die erste Legislaturperiode, in der
kam, als die Legislaturperiode schon Wir wollten, dass die Kohle-Regionen nicht das Bundesinnenministerium auch als
halb vorbei war. nur finanzielle Subsidien bekommen, da- Heimatministerium fungiert, ist zu
Wenn Sie den Heimatminister Horst See- mit sie sich nicht weiter beklagen, sondern drei Vierteln vorüber. Welches sind –
hofer fragen würden, wäre dessen Antwort dass dort nachhaltige Strukturpolitik ge- unter dem Gesichtspunkt der Verbin­
garantiert: »Ich bin völlig Ihrer Meinung, macht wird. Minister Seehofer hat von An- dung von Heimatpolitik und Nach­
deswegen habe ich dieses Konzept ja aus fang an darauf gedrungen, dass wegfallende haltigkeit – drei Punkte, bei denen Sie
Bayern mitgebracht – die Notwendigkeit Arbeitsplätze durch neue Arbeitsplätze von sagen: Das haben wir geschafft?
war ja schon vor zehn Jahren erkannt wor- Bundesinstitutionen ersetzt werden. Die Geschafft haben wir erstens einen politi-
den.« Und er würde wohl sagen: »Der Bund Bundesregierung hat im Rahmen einer De- schen Denkprozess bei allen Parteien um
braucht manchmal etwas länger, um von zentralisierungsstrategie beschlossen, in- die Deutungshoheit des Begriffs »Heimat«.
den Bundesländern zu lernen.« nerhalb von zehn Jahren 5.000 Arbeitsplät- Der Begriff ist etabliert, jeder hat einen Zu-
Ich glaube, der große Erfolg der Heimat- ze in die Kohleregionen zu bringen. Wir als gang zu Heimatpolitik, wenn auch unter-
politik hat sich besonders vor wenigen Mo- Ministerium wollen vorangehen und 1.500 schiedlich ausgeprägt.
naten gezeigt, im 130-Milliarden-Investiti- Arbeitsplätze über Neuansiedlungen und Zweiter Meilenstein: Wir haben die Zu-
onsprogramm der Bundesregierung als Ant- Stellenaufwuchs bewusst in diesen Kohle- sammenhänge der Lebensverhältnisse, die
wort auf die Coronakrise. Zwei Drittel dieser Ausstiegs-Regionen schaffen. Frage Gleichwertigkeit oder Nicht-Gleich-
Mittel können Sie auf einen oder mehrere wertigkeit operationalisiert und visualisiert.
Faktoren der Kommissionsarbeit zur Schaf- 2020 haben ganz sicher mehr Deut­ Der Deutschland-Atlas, der seit Juli auch
fung gleichwertiger Lebensverhältnisse zu- sche Urlaub und Ferien in Deutsch- online ist, hat zum ersten Mal seit langer
rückführen. Hier zeigt sich ein Umdenken land gemacht als zuvor. Liegt darin so Zeit das Land wieder vermessen und gezeigt,
der gesamten Bundesregierung: Ein Con- etwas wie ein »Kollateralnutzen«, wie disparat die Entwicklung in Deutsch-
nex zwischen Breitbandförderung, einer in- sozusagen Coronabedingte Nähe zur land ist und wie Regionen zum Teil »aus den
telligenten Verkehrswegeführung, zwischen Heimat? Nähten platzen«.
ökologisch-nachhaltiger Finanzierung der Ja und Nein. Es ist sicher ein Vorteil, wenn Der dritte Erfolg: Daseinsvorsorge und
Deutschen Bahn, mehr Dezentralität der Da- viele Bürgerinnen und Bürger jetzt das ei- Infrastruktur sind keine Tabuworte mehr.
seinsvorsorge – das alles spiegelt sich in die- gene Land kennenlernen. Übrigens finden Wir machen uns wieder ernsthafte Ge-
sem Programm zum Teil schon wider. Die- auch viele Menschen, die erst vor 10 oder danken darüber, wie viel Investitionen ein
ses gemeinschaftliche Denken über Ressort- 15 Jahren nach Deutschland kamen und es Land braucht, um nachhaltig in die Zukunft
grenzen hinweg ist für mich materieller Aus- als ihr neues Heimatland entdeckt haben, wachsen zu können.
druck einer Verbindung von Heimatpolitik jetzt raus, was es hier für Ecken gibt. Ich
und Nachhaltigkeit. In der Coronakrise hat war selbst eine Woche an verschiedenen Und welche sind die wichtigsten
sich im BMI gezeigt, dass viele Menschen Orten in Bayern im Urlaub, es war schon er- langfristigen Baustellen?
ganz gern und gut zu Hause arbeiten: Wir frischend zu sehen, dass z. B. türkisch- oder Was ist offen und bleibt zu tun: Das Ganze
hatten Phasen mit 40 Prozent Homeoffice. arabischstämmige Familien aus Duisburg noch stärker ins europäische Denken und
Es ist nichts zusammengebrochen, es gab oder Hamburg Urlaub in den Bergen mach- Handeln zu übertragen, dabei auch noch en-
keinen Leistungsabbruch. Was wir allerdings ten und Deutschland neu kennenlernten. ger mit Frankreich zusammenarbeiten, wo-
schaffen mussten, war mehr Server-Kapazi- Das ist – auch unter Integrationsgesichts- von beide profitieren. Frankreich mit seiner
tät. Die neue Homeoffice-Regelung gab es punkten – ein Vorteil. zentralistischen Struktur hat z. B. großes In-
im BMI schon vor Corona, und wir Staatsse- Der Nachteil: Phänomene wie Massen- teresse, bei uns zu schauen, was wir mit die-
kretäre waren skeptisch, ob das funktioniert. tourismus haben wir in Deutschland, wenn sem – übrigens kaum in andere Sprachen
plötzlich alle auf einmal im eigenen Land übersetzbaren – Begriff »Heimat« machen.
Urlaub machen. Wenn wir das unter dem
Kriterium von Nachhaltigkeit betrachten:

18
Als zweite Herausforderung sehe ich, die
Strukturpolitik stärker mit der Zusammen-
halts- und Integrationspolitik zusammen-
zuführen. Wir machen Integrationskurse,
die zu einem großen Teil die deutsche Spra-
che vermitteln. Aber das reicht nicht. Die
Sprachkompetenz und die Teilhabe am kul-
turellen Leben sind ganz zentrale Schlüssel,
die wir noch stärker anreizen und auch ein-
fordern müssen.
Der Dritte große Bereich: Gesellschafts-
politische Maßnahmen, die soziale Nach-
haltigkeit befördern, verzahnen mit sicher-
heitspolitischen Maßnahmen zur Präven-
tion und Verhinderung von politischen Ex-
tremismen, auf der rechten, aber auch auf
der linken Seite.

Markus Kerber ist Staatssekretär im


Bundesministerium des Innern, für Bau und
Heimat. Die Fragen stellte Hans Jessen –
er ist freier Publizist und ehemaliger ARD-
Hauptstadtkorrespondent.

19
2002 wurde erstmals eine Nachhal­ Inwieweit bedarf es eines Kultur­
tigkeitsstrategie der Bundesregierung wandels in Politik, Wirtschaft
beschlossen. Seitdem wurde sie regel­ und Gesellschaft, um nachhaltige
mäßig fortgeschrieben. Ende dieses Entwicklung weiter konsequent
Jahres soll eine umfassende Weiter­ und umfassend voranzutreiben?
entwicklung der Deutschen Nachhal­ Die Menschheit steht vor einer Jahrhunder-
tigkeitsstrategie vorgelegt werden. therausforderung: einen Weg einzuschla-
Welchen Aspekten wird dabei beson­ gen, der die Belastungsgrenzen unseres Pla-
dere Aufmerksamkeit gewidmet? neten nicht überschreitet. Noch leben wir
Um die Auswirkungen der Corona-Pande- unverändert so, als stünden uns nicht die
mie und hierfür ergriffene Maßnahmen bes- Ressourcen einer, sondern gleich mehrerer
ser berücksichtigen zu können, soll die wei- Erden zur Verfügung.
terentwickelte Deutsche Nachhaltigkeits- Wenn die Wende hin zu einer nachhal-
strategie im Frühjahr 2021 beschlossen wer- tigen Entwicklung gelingen soll, bedarf es
den. Die Weiterentwicklung wurde durch eines gesamtgesellschaftlichen Umdenkens
einen breit angelegten Dialogprozess, vor und Anstrengungen aller Bereiche, eines
allem mit der interessierten Fachöffentlich- Gemeinschaftswerks von Politik, Wirtschaft
keit, vorbereitet. Dieser startete am 29. Ok- und Zivilgesellschaft. Allen voran muss
tober 2019 mit einer Veranstaltung in Berlin, die Politik angesichts der Notwendigkeit
der bis Februar 2020 regionale Konferenzen langfristig wirkender Maßnahmen – bei-
in Stuttgart, Norderstedt und Bonn folgten. spielsweise beim Klimaschutz – die Kraft
Die Diskussionen gaben wichtige Impul- zu grundlegenden Veränderungen haben.
se für die Erarbeitung der Entwurfsfassung, Von der Wirtschaft müssen Klima- und Res-
zu der im Oktober eine öffentliche Konsul- sourceneffizienz als wichtige Zukunftsthe-
tation vorgesehen ist. Mit der Weiterent- men mitgedacht werden. Es bleibt eine Auf-
wicklung der Deutschen Nachhaltigkeits- gabe für Bildung, Wissenschaft, Kultur und
strategie streben wir an, die Umsetzung der Medien, Wirtschaft und Politik, das Wissen
Strategie zu verstärken und zu beschleuni- um Nachhaltigkeitsdefizite und -potenzia-
gen, vor allem in wesentlichen Transforma- le zur allgemeinen Grundlage unseres Han-
tionsfeldern. Auch wollen wir die politische delns zu machen.
Kohärenz verbessern und die Rolle der ge-
sellschaftlichen Akteure stärken.

Eine gerechte
Gestaltung HELGE BRAUN

der Globalisierung

20
Welche Nachhaltigkeitsziele Ende 2018 wurden weitere Aktuali­ Mehr Nachhaltigkeit kann nicht
wurden in dieser Legislaturperiode sierungen – wie die Erhöhung der nur ein deutsches, sondern muss ein
bereits umgesetzt? ­privaten sowie öffentlichen Ausgaben globales Ziel sein. Wie beurteilen
Als Steuerungsinstrument enthält die Stra- für Forschung und Entwicklung auf Sie unter den aktuellen Entwicklungen
tegie seit November 2018 66 Indikatoren mindestens 3,5 Prozent des BIP bis die Umsetzung der UN-Agenda 2030
und Ziele in 38 Bereichen. Dabei sind die 2025 – beschlossen. Inwieweit durch­ für nachhaltige Entwicklung? Können
Indikatoren als sogenannte »Schlüsselin- kreuzt die Coronakrise jetzt die Um- die angesichts der noch verbleiben-
dikatoren« zu verstehen, das heißt, sie ste- setzung dieser und anderer Nach­ den Zeit zum Teil ehrgeizigen Ziele
hen exemplarisch für ein besonders wich- haltigkeitsziele? noch vollständig erreicht werden?
tiges Thema. Die Bundesregierung hat sich zum Ziel ge- Unser Ziel ist eine gerechte Gestaltung der
Alle zwei Jahre berichtet das Statistische setzt, bis 2025 3,5 Prozent der Wirtschafts- Globalisierung im Sinne der Agenda 2030,
Bundesamt als fachlich unabhängige Stelle leistung in Forschung und Entwicklung die allen Menschen ein Leben in Würde und
mit hoher Kompetenz und Neutralität aus- (FuE) zu investieren. Das Ziel ist unbestrit- Sicherheit bietet. Dies bekräftigt auch der
führlich über die Entwicklung der nationa- ten ein wichtiger Indikator in der Nachhal- Koalitionsvertrag. Die Bilanz des ersten
len Nachhaltigkeitsindikatoren. Mit Wet- tigkeitsstrategie zur Messung von Innova- Sustainable Development Goals (SDG)-Gip-
tersymbolen wird der Grad der voraussicht- tion und nachhaltigem Fortschritt. 2018 ist fels auf Ebene der Staats- und Regierungs-
lichen Zielerreichung bewertet. Mit Stand der FuE-Anteil am BIP auf 3,13 Prozent ge- chefs 2019 fiel hingegen verhalten aus: In
2018 waren 37 Indikatoren positiv mit ei- stiegen. Im Vergleich zum Vorjahr war dies den vier Jahren seit Verabschiedung der
ner Sonne bzw. einer Sonne mit Wolke ver- ein Anstieg um über 5 Prozent. Die gestie- Agenda 2030 wurden zwar wichtige Erfol-
sehen. Das heißt, bei Fortsetzung der Ent- gene Investitionstätigkeit von Wirtschaft ge erzielt, z. B. bei Einschulungsraten und
wicklung würde bei diesen Indikatoren die und Staat ist sehr erfreulich und ein deut- Armutsreduzierung. Insgesamt müssen die
Abweichung vom Zielwert weniger als 5 Pro- liches Signal für die Innovationsfreudigkeit internationalen Bemühungen jedoch noch
zent bzw. 5 bis 20 Prozent betragen. Beispie- Deutschlands. Wir haben damit das 3-Pro- deutlich verstärkt werden, um die SDGs bis
le hierfür waren 2018 der Anteil des Stroms zent-Ziel der Europa-2020-Strategie zum 2030 zu erreichen. Der UN-Generalsekretär
aus erneuerbaren Energiequellen am Brut- zweiten Mal in Folge klar erreicht. hat daher eine »Aktionsdekade« ausgeru-
tostromverbrauch, die Erwerbstätigenquo- Die Coronakrise wird natürlich auch auf fen, an der sich auch die Bundesregierung
te, aber auch z. B. die CO₂-Emissionen des diesen Indikator erhebliche Auswirkungen beteiligen wird.
Konsums. haben. Dies hängt einerseits von der Höhe Durch die Covid-19-Pandemie wurde die
des Rückgangs der deutschen Wirtschafts- Situation noch deutlich verschärft: Exper-
leistung und andererseits von der Investiti- ten schätzen, dass die Entwicklung mit ih-
onstätigkeit in FuE ab. Derzeit werden die ren Erfolgen in vielen Bereichen – insbe-
Unternehmen im Rahmen einer Erhebung sondere Gesundheit, Bildung, Ernährungs-
zu ihren FuE-Ausgaben im Wirtschaftsjahr sicherung, wirtschaftliche Entwicklung und
2019 und zu den geplanten FuE-Ausgaben in Beschäftigung – um Jahre zurückgeworfen
diesem Jahr befragt. Erste Ergebnisse wer- werden könnte. Um einige Beispiele zu nen-
den noch im vierten Quartal 2020 vorliegen. nen: Die Weltbank warnt, dass durch die
Dementsprechend können derzeit noch kei- Pandemie 60 Millionen Menschen weltweit
ne belastbaren Aussagen zu den Auswirkun- in absolute Armut fallen könnten. Durch
gen der Pandemie auf die Erreichung des die Überlastung von Gesundheitssystemen
3,5-Prozent-Ziels getroffen werden. Die in Entwicklungsländern und unterbrochene
Bundesregierung hat durch die Maßnahmen Lieferketten wurden in 68 Ländern Impf-
des Zukunftspakets aber wesentliche Impul- programme verzögert oder ausgesetzt. 1,2
se für die Stimulierung der Forschungstätig- Milliarden Kinder und Jugendliche können
keiten gesetzt. In diesem Sinne adressieren derzeit nicht oder nur eingeschränkt zur
wir mit Wasserstoff, künstlicher Intelligenz, Schule gehen.
Quanten- und Kommunikationstechnolo- Die Bundesregierung hat daher 450 Mil-
gien zentrale Zukunftsthemen und unter- lionen Euro zusätzlich für Covid-19 bezo-
stützen diese mit großen Fördervolumina. gene humanitäre Hilfe und 4,25 Milliarden
Auch die Ausweitung der steuerlichen For- Euro für ein Corona-Sofortprogramm für
schungsförderung wird sich positiv auf die 2020/2021 zur Verfügung gestellt: Damit
Investitionsfreudigkeit auswirken. sollen Sofortmaßnahmen, aber auch lang-
fristige Programme in den Bereichen Ge-
sundheit und Pandemiebekämpfung, Er-
nährung, Stabilisierung von Flüchtlings-
und Krisenregionen und Absicherung von
lokalen Unternehmen finanziert werden.
Ziel ist es, Nachhaltigkeit zum Leitprinzip
für die Schritte aus der Krise zu machen –
»green recovery« –, um Systeme damit bes-
ser und widerstandsfähiger gegenüber künf-
tigen Krisen aufzustellen.

21
Ziel 11 der UN-Agenda 2030 fordert, Welche weiteren die Nachhaltig-
dass Städte und Gemeinden inklusiv keit fördernden Vorhaben sind
und nachhaltig gestaltet werden darüber hinaus von der Bundes­
sollen. Wie geht Deutschland hier regierung geplant?
auf Initiative der Bundesregierung Die Bundesregierung unterstützt in allen
mit gutem Beispiel voran? Politikbereichen Maßnahmen zur Förde-
Das SDG 11 »Nachhaltige Städte und Ge- rung einer nachhaltigen Entwicklung. Ak-
meinden« verdeutlicht die global gewachse- tuell zeigt sich das an folgenden Beispielen:
ne Verantwortung von Städten und Gemein- In Deutschland wie für die anderen Län-
den, aber auch die Chancen einer durch sie der hat sich der ohnehin bestehende Hand-
geprägten und nachhaltig gestalteten Ur- lungsdruck für die Erreichung der globa-
banisierung. len Nachhaltigkeitsziele bis 2030 mit den
Die Bundesregierung setzt sich dafür ein, massiven Auswirkungen der Corona-Pan-
dass auf kommunaler Ebene ein Beitrag zur demie überlagert und damit in vielen Be-
Umsetzung der Agenda 2030 und der Errei- reichen verstärkt. Ziel der Bundesregierung
chung der SDGs geleistet wird. Beispielhaft ist es daher, nicht nur auf die Krise zu re-
seien zwei Vorhaben genannt: Im Jahr 2018 agieren, sondern Deutschland schnell auf
wurde »Global – Lokal: Agenda 2030 ver- einen nachhaltigen Wachstumspfad zu füh-
Orten«, ein Projekt zur Unterstützung der ren, der einen Schub für Modernisierung
Erstellung kommunaler Nachhaltigkeits- durch Innovation auslöst und Deutschland
strategien, als Leuchtturmprojekt der Nach- gestärkt aus der Krise führt. Das vom Koa-
haltigkeitsstrategie ausgewählt. Als Pro- litionsausschuss am 3. Juni vorgelegte 130
gramm »Global Nachhaltige Kommune« Milliarden Euro umfassende Paket ist da-
wird es nun durch die Servicestelle Kommu- her auf die Stärkung der Konjunktur, Kri-
nen in der Einen Welt in Zusammenarbeit senbewältigung und zugleich auf die Zu-
mit den Ländern fortgeführt, aktuell in Ba- kunftsfähigkeit Deutschlands ausgerichtet.
den-Württemberg, Bayern, Niedersachsen, Mit dem Zukunftspaket setzen wir Im-
NRW, Rheinland-Pfalz, Thüringen, Saarland, pulse, um die Transformationen im Bereich
Schleswig-Holstein und Thüringen. der Mobilität und Energie zu stärken, aber
Nachhaltige Entwicklung ist auch eine auch die Bildung und Forschung sowie die
zentrale Zielstellung des Smart-City-Dia- Digitalisierung voranzubringen.
logs. Ziel ist es, einen gestaltenden, strate- Mit der Einrichtung der Zukunftskom-
gischen und integrierten Umgang von Kom- mission Landwirtschaft haben wir eine un-
munen mit der Digitalisierung zu unter- abhängige Expertenkommission beauftragt,
stützen und den Erfahrungs- und Wissens­ Empfehlungen für eine nachhaltige, ökono-
austausch zwischen den Projekten, aber misch tragfähige sowie sozial verträgliche
auch mit nicht unmittelbar geförderten und gesellschaftlich akzeptier-
Kommunen, mit nationalen Experten so- te Landwirtschaft am Standort Wir haben damit das
wie europäischen und internationalen Part- Deutschland zu erarbeiten. Sie
nern zu fördern. soll dabei helfen, bestehende 3-Prozent-Ziel der
Zielkonflikte aufzulösen. Nicht Europa-2020-Strategie
zuletzt steht das Thema Wirt-
schaft und Menschenrechte zum zweiten Mal
unter dem Gesichtspunkt Lie- in Folge klar erreicht.
ferketten im Fokus der Bun-
desregierung. Wie im Koalitionsvertrag ver-
einbart, ist eine wissenschaftliche Evaluati-
on des Themas erfolgt. Zur Umsetzung des
Nationalen Aktionsplans Wirtschaft und
Menschenrechte erarbeiten die zuständi-
gen Ressorts derzeit Eckpunkte. Diese wer-
den die Grundlage für unsere nationale Ge-
setzgebung sowie die auf europäischer Ebe-
ne zu führenden Verhandlungen bilden.

Helge Braun ist Bundesminister für besondere


Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramts.
Die Fragen stellte Theresa Brüheim – sie ist
Chefin vom Dienst von Politik & Kultur.

22
23
also einem wirtschaftlichen Kalkül geschuldet. In Folge
dieses Credos wird der Wald im 18. und 19. Jahrhundert
mit gezielten Aufforstungsprogrammen zur rational
geplanten Kultur- und Nutzlandschaft, die mit unbe-
rührter Natur wenig zu tun hat, auch wenn der roman-
tische Mythos vom deutschen Wald anderes suggeriert.
Heute ist Nachhaltigkeit zum Leitbegriff in Politik,
Wirtschaft und Alltag aufgestiegen und spätestens seit
der 2015 verabschiedeten UN-Agenda 2030 für nach-
haltige Entwicklung gilt er als globaler Imperativ. Häu-
fig konzipiert als Gegenmodell und Korrektiv zum Fort-
schrittsglauben der Moderne mit seiner Fixierung auf
Innovation und Machbarkeit, trägt der Nachhaltigkeits-
begriff erstens dazu bei, andere Kriterien und Maßstä-
be in die politische Diskussion einzuführen. Zweitens
verdeutlicht er die Notwendigkeit, die Dinge in größe-
ren Kontexten und Zusammenhängen zu sehen und zu
lesen. Das ist gerade von Bedeutung in einer Gesell-
schaft, deren Wissen immer fragmentierter wird und
in der einzelne Gruppen, Institutionen oder Betrie-
be sich häufig auf Partikularinteressen konzentrieren,
BERND SCHERER ohne das große Ganze in den Blick zu nehmen. Drit-
tens verweist das Kriterium der Nachhaltigkeit darauf,

Nachhaltigkeit dass wir das Morgen mitdenken sollten. Es fordert dazu


auf, die Konsequenzen unseres Handelns für zukünfti-
ge Generationen zu berücksichtigen.
Angesichts des Anthropozäns, mit dem sich das

im Anthropozän Haus der Kulturen der Welt (HKW) schon seit Länge-
rem beschäftigt, gilt es jedoch, das Konzept der Nach-
haltigkeit zu erweitern. Denn die Vorstellung, man kön-
ne und solle die Zukunft mitdenken, unterstellt ein
mehr oder weniger stabiles Erdsystem. Nur dann las-

I
m Begriff der Nachhaltigkeit sind Ökonomie und sen sich klare Annahmen über die Zukunft treffen. Die-
Ökologie unauflöslich miteinander verzahnt. Nach- se Vorstellung rührt von der Erfahrung aus dem Holo-
haltigkeit beschreibt einen Umgang mit Ressourcen zän, der Erdepoche, in der wir bis vor Kurzem lebten.
und Umwelten, durch den sie auf lange Sicht – zumin- Sie war unter anderem geprägt von einem relativ sta-
dest für die nächste Generation – stabilisiert, erhal- bilen Klima, das den Ackerbau und die Seßhaftwer-
ten und verfügbar bleiben sollen. Nachhaltiges Han- dung von Menschen begünstigte und daran anschlie-
deln ist insofern immer schon eine menschliche, eine ßend Städtebau ermöglichte.
kulturelle Operation, denn der Natur selbst ist Nach- Das neue Erdzeitalter des Anthropozäns bringt die-
haltigkeit oder Erhaltung nicht inhärent: auf Dauer se Stabilitätsannahmen ins Rutschen. Dabei spielt die
gestellte »ökologische Gleichgewichte« kennt der im grundlegende Transformation der Naturwissenschaf-
Strom der Zeit forttreibende Wandlungsprozess der ten im 20. Jahrhundert eine entscheidende Rolle. Lag
Evolution nicht. ihre Funktion ursprünglich darin, Erkenntnisse über
Die ökonomische Dimension des Nachhaltigkeits- die Natur in Form von Gesetzen herzustellen, rückte
konzepts zeigt sich schon in den Anfängen seiner Be- mit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert und ver-
griffsgeschichte, die auf die deutsche Forstwissenschaft stärkt nach dem Zweiten Weltkrieg etwas anderes in
des 18. Jahrhunderts zurückgehen. In seiner »Silvicul- den Vordergrund: Statt die Welt bloß zu analysieren,
tura oeconomica« fragte 1713 Hans Carl von Carlowitz schafft die Wissenschaft nun mithilfe von Technolo-
nach der nötigen »Conservation und Anbau des Hol- gien neue Welten. Diese werden synthetisch aus den
zes«, die »eine continuirliche beständige und nachhal- kleinsten Teilen – Atom, Molekül, Bit usw. – aufgebaut,
tende Nutzung« gestatte. Das Prinzip, dem Wald nicht auf die zuvor die Phänomene der Wahrnehmungswelt
mehr Holz zu entnehmen, als nachwachsen kann, ist zurückgeführt worden waren.

24
Durch die Schaffung immer neuer technologischer Inf- nahmen zählen beispielsweise ein Kompensations-Pro-
rastrukturen entsteht eine Dynamisierung, die das Erd- jekt für nicht zu vermeidende Flugreisen: Aus Mitteln
system als Ganzes permanent umformt. In immer kür- der KBB wird die Wiedervernässung eines ehemaligen
zeren Rhythmen entstehen neue Technologien. Das Moores in der Nähe von Oranienburg unterstützt. Oder
Weltverständnis wird nicht mehr durch den Wechsel die Einführung von Leitfäden zur ökologisch nachhal-
zwischen Menschen –, sondern tigen Künstler- und Gästebewir-
zunehmend von sich ablösen- Das stetige Navigieren in tung, zur nachhaltigen Organi-
den Technologiegenerationen sation von Veranstaltungen und
geprägt. Dies führt zu einer De- einer Welt, die sich permanent zur umweltfreundlichen Beschaf-
stabilisierung unserer Welt, die durch das eigene Tun ver- fung notwendiger Materialien.
man sich am Beispiel des Klima- Wie sich das ständige Nachden-
wandels vor Augen führen kann. ändert, ist die Herausforderung ken über nachhaltiges Agieren
Dieser hat dazu geführt, dass in anthropozänen Welten. auswirkt, zeigt folgendes kleine
während der Hurrikansaison in Beispiel: Wurde bei der Herstel-
einem hochindustrialisierten Land wie den USA gan- lung von Merchandising-Stoffbeuteln vor einigen Jah-
ze Infrastrukturen unter Wasser gesetzt werden: Ein ren noch darauf geachtet, dass diese aus Bio-Baumwol-
extremer Eingriff, der, ausgehend von menschlichem le sind, produzieren wir heute nur noch Upcycling-Ta-
Handeln, nämlich industrieller Produktion, über Kli- schen, denn es ist eigentlich nicht das Ziel, neue Mate-
maveränderungen, also natürlichen Prozessen, auf die rialien zu verbrauchen. Kürzlich wurden neue Taschen
Gesellschaft zurückwirkt. hergestellt, zum einen aus alten Teebeuteln, zum an-
Die Dynamiken, mit denen wir konfrontiert sind, deren aus alten Plastikflaschen.
zeichnen eine vorher nicht gekannte Geschwindigkeit Als global agierende Kulturinstitution verstehen wir
und Komplexität aus, während der klassische Nachhal- unter Nachhaltigkeit aber nicht nur den möglichst um-
tigkeitsbegriff hinsichtlich des in ihm steckenden Zeit- weltverträglichen und ressourcenvermeidenden Ein-
begriffs – nämlich die Planbarkeit der Zukunft – die satz von Materialien oder die CO₂-Kompensation von
mehr oder weniger stabile Welt des Holozäns voraus- Flugreisen. Wir beschäftigen uns auch intensiv mit der
setzt. Deshalb wäre die Idee der Nachhaltigkeit zu er- Frage, wie unsere Projekte im kulturellen Feld selbst
weitern um Konzepte wie Plastizität und die dynami- nachhaltig wirken können: Wie kann das am Haus pro-
sche Adaptivität an hochkomplexe Wechselwirkungs- duzierte und präsentierte Wissen möglichst niedrig-
prozesse. Das stetige Navigieren in einer Welt, die sich schwellig und langfristig zugänglich gemacht werden?
permanent durch das eigene Tun verändert, ist die He- Wie kann es offen und anschlussfähig gehalten werden,
rausforderung in anthropozänen Welten. Und Kultur- sodass Diskurse über den Zeitraum eines Projekts hi-
institutionen wie das HKW haben die Aufgabe, diese naus fortgesetzt werden? Zum einen arbeiten wir mit
neuen Formen von Orientierungswissen zu erarbeiten Langzeitprojekten, in denen die einzelnen Teilprojek-
und Strategien des Umgangs zu entwickeln. te in Wechselwirkung miteinander treten und thema-
Ein wesentlicher Impuls für das HKW, sich intensiv tische Stränge über mehrere Jahre hinweg fortgeführt
mit dem Thema Nachhaltigkeit zu beschäftigen, war werden. Zum anderen arbeiten wir momentan am Kon-
das 2010 gemeinsam mit der Kulturstiftung des Bun- zept eines Wissensraums, in dem idealerweise sämt-
des initiierte zweijährige Projekt »Über Lebenskunst«. liche Programmaktivitäten digital zur Verfügung ge-
Grundgedanke war, den vorwiegend dystopisch geführ- stellt werden, intelligent durchsuchbar und miteinan-
ten Klimadiskurs umzudeuten und unter der Leitfra- der verknüpfbar. Der durch die Corona-Pandemie bei
ge »Was könnte das ›gute Leben‹ in der globalen öko- uns wie in vielen anderen Institutionen zu beobach-
logischen Krise sein?« das Publikum zum Akteur zu tende Digitalisierungsschub führt derzeit zu vielfälti-
machen. Dazu wurden lokale Praxen aus Berlin vor- gen neuen Ansätzen und einer produktiven Diskussi-
gestellt, die nachhaltige Lebensmodelle in den Berei- on in dieser Richtung.
chen Nahrungsproduktion, Mobilität, Ressourcenver-
brauch und Bildung erprobten. Bernd Scherer ist Intendant am Haus der
Aus diesem Projekt gingen viele Anstöße hervor, un- Kulturen der Welt (HKW) in Berlin.
sere eigene Arbeit unter dem Aspekt der Nachhaltig-
keit zu überprüfen. So unterziehen sich die Kulturver-
anstaltungen des Bundes in Berlin (KBB), zu der das
HKW gehört, seit 2013 jährlich den strengen Prüfkrite-
rien der EMAS-Zertifizierung. Zu den vielfältigen Maß-

25
S
tädte sind komplexe Organismen. Sie sind oft über
Jahrhunderte gewachsen. In ihnen vermischen
sich Infrastrukturen, Kulturen und ökonomische
Mechanismen. Wie verändert man einen solchen Orga-
nismus? Wie versetzt man Städte in die Lage, mit neu-
en Herausforderungen wie dem Klimaschutz oder neu-
en Vorstellungen guten Lebens umzugehen? Der Bei-
trag plädiert für »urbane Akupunktur« und zeigt an Bei-
spielen auf, wie dies konkret aussehen kann.

Urbane Akupunktur
UWE SCHNEIDEWIND
Von der Zukunftskunst zur
urbanen Akupunktur
Am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie
haben wir im Jahr 2018 in einem Buch, das sich mit den
Mechanismen gesellschaftlicher Veränderungsprozesse
auseinandersetzt, den Begriff der „Zukunftskunst“ ge-
prägt. Damit ist eine Haltung gemeint, sich komplexen
Veränderungsprozessen zu nähern. Zukunftskunst ver-
steht Zukunftsgestaltung als einen kreativen, experi-
mentellen und lustvollen Prozess. Nur das mobilisiert
die notwendigen Energien.
Das gilt gerade für die Debatte über den Umgang mit
dem Klimawandel: Hier bedarf es eines massiven globa-
len Umbaus von Infrastrukturen, von Technologien und
letztlich auch der aktuellen Wirtschaftsweise, um mit
den Herausforderungen umzugehen. Menschen wer-
den sich in Zukunft anders fortbewegen, anders woh-
nen und anders ernähren. Innenstädte und Energiesys-
teme werden anders aussehen, genauso wie die Fahr-
zeuge, die Mobilität ermöglichen. Statt eines »immer
schneller, höher, weiter« braucht es ein Bewusstsein
für andere Qualitäten.
Solche Veränderungen lösen Widerstände und auch
Beharrungskräfte aus. Das ist selbstverständlich. Erst
wenn das Neue erfahrbar und in seinen neuen Qualitä-
ten greifbar wird, lassen sich Menschen bewegen. »Zu-
kunftskunst« bedeutet, genau solche Erfahrungsräume
zu schaffen. Sie will Menschen in kreativer Weise auf
die Reise in die Zukunft mitnehmen. Ästhetische Zu-
gänge schaffen eine Ganzheitlichkeit, die uns in den
oft analytischen und technischen Kategorien der Um-
welt- und Klimadebatte verloren geht.
Städte stehen bei fast allen Diskussionen über die
großen Veränderungsprozesse des 21. Jahrhunderts im
Zentrum: Im Jahr 2050 werden 80 Prozent aller Men-
schen in Städten leben. In Städten fallen die meisten
CO₂-Emissionen und Abfälle an. Hier wird der größte
Teil der Energie und Ressourcen verbraucht. Gleich-
zeitig sind Städte die Orte, an denen Zukünfte neu ge-
dacht werden. Hier finden die führenden kulturellen
und ökonomischen Milieus zusammen. Hier wird Zu-
kunft neu ersonnen.

26
Die Stadt ist daher der natürliche Ort für »Zukunfts- Zur Vielfalt urbaner Akupunktur –
kunst«. Wie wird aber Zukunftskunst in Städten leben- von ikonographischen Gebäuden bis
dig? Diese Frage führt zum Begriff der »urbanen Aku- zum Tag des guten Lebens
punktur«, der aus der Debatte über moderne Stadtent- Die Möglichkeiten, über produktive und heilende Na-
wicklung kommt. delstiche auf die Stadtentwicklung Einfluss zu nehmen,
Der Rückgriff auf eine medizinische Analogie – »Aku-sind vielfältig. Dabei spielen ästhetische und künst-
punktur« – für städtische Veränderungsprozesse ist lerische Interventionen eine zentrale Rolle. Denn die
selbst schon eine künstlerische Intervention. Sie machtKunst hilft uns, neue Blicke auf Bestehendes zu werfen.
die Bilderwelt, die wir mit »Akupunktur« verbinden, für Wandgemälde oder (Licht)Kunst-Installationen las-
einen neuen Blick auf die Veränderungen in Städten sen uns eine neue Perspektive auf bestehende Gebäu-
verfügbar. Denn gerade Städte erscheinen uns oft hoch- de gewinnen. Sie helfen uns, oft vergessene Schönheit
komplex und im wahrsten Sinne in »Stein gemeißelt«: von Gebäuden und Quartieren wiederzuentdecken. Sie
Ein Stadtlayout, Gebäude, Straßen und Infrastrukturen motivieren plötzlich Menschen, sich neu und anders für
sind Konstanten, die über Jahrzehnte, manchmal schon ihr Quartier einzusetzen. Sie schaffen Anreize für In-
über Jahrhunderte bestehen. Dazu kommen 100.000 vestoren, sich in einer Stadt zu engagieren.
und mehr Menschen, durch die Stadt nur lose gekop- Neben der Umwidmung von Gebäuden gibt es eine
pelt, die ihrem eigenen Lebensplan nachgehen: Wie ist weitere Form der Akupunktur, deren Bedeutung nicht
in einem solchen komplexen und gewachsenen System unterschätzt werden darf: Dies sind zeitlich befriste-
eine umfassende Veränderung möglich? te Eingriffe in das Stadtleben und das Stadtbild. Ist es
»Akupunktur« eröffnet den Blick auf eine faszinie- beim Gebäude eine räumliche Intervention, die weit
rende Antwort: Ein kleiner Stich an einer systemisch über den eigentlichen Raum der Intervention hinaus-
relevanten Stelle wirkt auf den gesamten Organismus, wirkt, ist es beim temporären Eingriff ein Moment, der
hilft ihn zu beleben. Das ist die Vision und das Ver- weit über diesen kurzen Zeitraum hinaus ausstrahlt. Zu
sprechen von Akupunktur. Möglich wird das alles, weil solchen Interventionen gehören z. B. die Zwischennut-
zungen von Gebäuden. Hier wird über einen begrenz-
ten Zeitraum deutlich, was ein Gebäude jenseits sei-
Wie ist in einem solchen komplexen ner ursprünglichen Nutzung sein kann. Das lädt dazu
und gewachsenen System eine ein, die bestehenden Konventionen der Gebäudenut-
zung zu sprengen.
umfassende Veränderung möglich? Genauso wirksam sind zeitliche Interventionen in
das Stadtleben. Der »Tag des guten Lebens« in Köln
man Energieflüsse und systemische Zusammenhänge lässt seit vielen Jahren einzelne Kölner Quartiere ei-
im Organismus versteht. Das eröffnet die Chance, mit nen Sonntag autofrei werden. Er vermittelt den Men-
einer kleinen Intervention große Wirkung zu entfalten. schen ein Gefühl dafür, welches Potenzial an Lebens-
Schaut man auf Städte, die sich in den letzten Jah- qualität in ihrem Viertel steckt, wenn man den Auto-
ren und Jahrzehnten grundlegend gewandelt haben, verkehr anders organisiert. Das schafft oft überhaupt
dann waren es oft solche Akupunkturen, die den Wan- die Voraussetzung dafür, schwierige Diskussionen über
del ausgelöst haben: eine urbane Seilbahn wie in Me- eine Mobilitätswende anzustoßen und durchzuhalten.
dellín oder Bogota, ein Museum wie in Bilbao oder eine
kluge Radwege-Infrastruktur wie in Kopenhagen oder Fazit: Mut zur Akupunktur
vielen niederländischen Städten. Das Bild der »Akupunktur« ist kraftvoll. Es macht Mut,
Urbane Akupunktur sucht Interventionspunkte, an dass auch komplexe und kaum beherrschbar scheinen-
denen die Möglichkeiten der Stadt als Ganzes aufleuch- de Organismen, in guter Weise bewegt werden können.
ten. Dies beseitigt Blockaden im Kopf und weckt ganz Viele Beispiele zeigen, dass Akupunktur auch für Städte
neue Energien. funktioniert. Durch zum Teil kleine Interventionen las-
sen sich ganz andere und neue Energien freisetzen. Las-
sen Sie uns daher Zukunftskünstlerinnen und -künst-
ler werden und mehr Akupunktur in unseren Städten
wagen!

Uwe Schneidewind ist Professor für Innovations-


management und Nachhaltigkeit an der
Bergischen Universität Wuppertal und Oberbürger-
meister-Kandidat der Stadt Wuppertal.

27
HELENA MARSCHALL

Handelt endlich!
Wie hält Fridays for Future die poli­ Wann geht es wieder auf die Straße? Auch Künstlerinnen und Künstler
tischen Forderungen angesichts der In der Coronakrise haben wir erlebt, wie im- beziehen konkret Stellung für mehr
aktuellen Situation bedingt durch mer wieder auf die Wissenschaft verwie- Klimaschutz und Umweltschutz.
die Corona-Pandemie auf der politi­ sen wird und deren Empfehlungen auch be- Es gibt eine Gruppe #Artists4Future,
schen und medialen Agenda? folgt werden. Dies ist bei der Klimakrise lei- in Anlehnung an die Fridays-for-
Natürlich sind auch wir durch die momen- der nicht der Fall. Deshalb haben wir keine Future-Bewegung. Was kann Kunst
tane Situation krass eingeschränkt, weil wir Wahl, wir müssen wieder auf die Straße, um und Kultur zur Bekämpfung der
als Bewegung von Anfang an auf Großde- den Druck auf die Politik aufrechtzuhalten. Klimakrise beitragen?
mos und Massenmobilisierung gesetzt ha- Für den 25. September 2020 haben wir zum Es ist uns immer wichtig zu sagen, dass wir
ben. Das einfach weiterzumachen wäre aber weltweiten Klimastreik aufgerufen. Es gibt jede und jeden brauchen. Durch die Ge-
unter den aktuellen Verhältnissen absolut dann wieder in allen Städten Demos, die- schichten, die wir uns erzählen, durch die
unangemessen. Wir überlegen, wie wir uns ses Mal mit Hygienekonzepten. Musik, die wir gemeinsam machen, werden
weiter zeigen können, schreiben Hygiene- auch unsere Themen transportiert. Kultur
konzepte, stellen kleinere Aktionen auf die Was ist die wichtigste Forderung bindet uns als Gesellschaft zusammen. Die-
Beine und machen Fahrraddemos mit Ab- von Fridays for Future? ser Kampf, den wir führen, ist lang, hart und
stand. Und das geht! Wir wollen, dass schon unterschriebene Ver- immer wieder auch frustrierend. Und auch
Dazu kommt, dass jetzt alle über Coro- träge auch eingehalten werden. Fridays for beängstigend, wenn wir sehen, wie stark
na sprechen, was ja auch wichtig ist. Fatal Future fordert die Umsetzung der Ziele des die Auswirkungen der Klimakrise schon
ist aber zu glauben, dass die Klimakrise et- Pariser Abkommens. Entscheidend für die in anderen Regionen der Welt zu spüren
was für später ist, worum wir uns kümmern Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels ist, die Treib- sind. Wie Menschen ihre Heimat und Le-
können, wenn die Corona-Pandemie vorbei hausgasemissionen so schnell wie möglich bensgrundlage verlieren. Da ist es wichtig,
ist. Das ist ein Fehlschluss, denn die Klima- stark zu reduzieren. Wenn wir die Klimaka- durch Musik und Kunst auch wieder Kraft
krise ist akut. Die letzten vier Jahre sind die tastrophe verhindern wollen, muss die Re- und Mut zu schöpfen. Die Leute sollen ja
heißesten Jahre seit es Wetteraufzeichnun- gierung das tun, wozu sie sich selbst 2015 auch eine gute Zeit haben und die Bewe-
gen gibt. Was uns aber auch ganz wichtig verpflichtet hat. gung am Leben erhalten.
ist: Fridays for Future ist kein Selbstzweck.
Wir wollen medial Aufmerksamkeit, nicht Beim weltweiten Klimastreik im ver­ Helena Marschall ist Aktivistin bei Fridays
der medialen Aufmerksamkeit wegen, son- gangenen September sind in Deutsch­ for Future. Die Fragen stellte Jens Kober –
dern damit entsprechende Politik gemacht land rund 1,4 Millionen Menschen er ist Referent für Nachhaltigkeit und Kultur
wird, um gegen die Klimakrise zu kämp- gemeinsam mit Fridays for Future auf beim Deutschen Kulturrat.
fen. Die Klimakrise ist das Thema, worüber die Straße gegangen. Auch der Deut­
sich die meisten Menschen in Deutschen- sche Kulturrat hat seine Mitglieder
land sorgen machen, noch vor Corona. Des- aufgefordert, an den Demos teilzuneh­
halb sehen wir auch die Medienvertreter in men. Fühlen Sie sich manchmal von
der Verantwortung, weiterhin darüber zu anderen vereinnahmt?
berichten, auch wenn wir nicht die gleiche Ziel des großen Klimastreiks im vergange-
Präsenz auf der Straße zeigen können wie nen September war ja gerade, dass alle mit-
vor Corona. machen. Wir haben alle aufgefordert, sich
am Streik zu beteiligen. Gesellschaftliche
Mehrheiten für eine andere Politik sind da,
wir müssen sie nur sichtbar machen. Und
es ist doch toll, wenn der ein oder die an-
dere ein Selfie von der Demo postet, auch
wenn seine Gewerkschaft nicht immer ganz
so konsequent handelt, wie wir es fordern.
Letztlich haben wir aus diesem Tag sehr
viel positive Energie mitgenommen, weil
so viele Menschen gekommen sind. Weil sie
kommen wollten, um unsere Forderungen
zu unterstützen.

28
29
D
ie Idee der nachhaltigen Entwicklung ist im Kern
ein kulturelles Projekt. Die 17 globalen Nachhal-
tigkeitsziele sind gleichzeitig Kompass und Motor
einer kulturellen Veränderung, die auf ein gutes Leben
aller Menschen auf unserem Planeten zielt. Die Not-
wendigkeit, nachhaltig zu leben, kann der Startpunkt
für einen grundsätzlichen kulturellen Wandel unserer
Gesellschaft sein, um einfach, besser und anders zu le-
ben. Der Wandel zu einem Leben, auf das wir uns freuen.
Kultur ist Ausdruck von menschlichem Gestaltungs-
willen. Jedoch endeten viele dieser Gestaltungen für
Natur und Umwelt in der Vergangenheit katastrophal.
Mahnende Beispiele sind der Energie- und Ressourcen-
verbrauch unseres Lebensstils und die Auswirkungen
unseres Konsums. Wenn es darum geht, nachhaltige
Verhaltensweisen zu fördern, schauen wir immer noch
viel zu sehr auf die Entwicklung neuer Technologien
und nicht auf die erforderlichen kulturellen Kompe-
tenzen oder sozialen Innovationen. Grund genug also,
um die Zusammenarbeit zwischen zivilgesellschaftli-
chen Akteuren aus der Umwelt- und Kulturpolitik aus-
zuweiten und mit neuem Fokus zu versehen.
Der Deutsche Kulturrat und der Bund für Umwelt
und Naturschutz (BUND) haben diese Notwendigkeit
erkannt und die Gelegenheit ergriffen. Mithilfe des Ra-
tes für Nachhaltige Entwicklung und dessen Fonds für
Nachhaltigkeitskultur wurde im September 2018 ein
gemeinsames Projektbüro ins Leben gerufen. Ziel die-
ser auf zwei Jahre angelegten Kampagne ist es, eine
Brücke zwischen dem Nachhaltigkeitsdiskurs des Na-
tur- und Umweltbereiches und kulturpolitischen De-
batten zu schlagen.
Ein Rückblick: Um unsere kulturell und organisato-
risch sehr unterschiedlichen Verbände zusammenzu-
bringen und die kulturelle Dimension der Nachhaltig-
keit zu erkunden, war es wichtig, Strukturen zu schaffen,
die diese außergewöhnliche Kooperation tragen. Des-
halb wurde eine sogenannte Vernetzungsgruppe initi-
iert, in der das Präsidium und die Geschäftsführung bei-
der Verbände vertreten sind. Diese begleitet die Koope-
ration und bringt die nötigen Entscheidungen auf den
Weg. Gemeinsam motivieren BUND, BUNDjugend und
der Deutsche Kulturrat ihre Mitglieder zu Kooperatio-
nen und ermutigen, den zivilgesellschaftlichen Diskurs
zu gestalten. Bei einer ersten Pressekonferenz wurde
die Stellungnahme »Kulturelle Bildung und Umweltbil-
Die Brücke
dung: Zukunft ganzheitlich und nachhaltig gestalten«
vorgelegt, um gemeinsam mehr Unterstützung für die
Bildung für nachhaltige Entwicklung einzufordern und
die Zusammenarbeit der Öffentlichkeit vorzustellen.
zwischenJENS KOBER
Thematischer Schwerpunkt dieses Projekts, aber
nicht einziger Inhalt, ist die Diskussionsreihe »Heimat:
Was ist das?«. Wir zeigen damit, dass die aktuelle De-
batte um den Begriff Heimat keine rückwärtsgewandte
Umwelt und
Diskussion ist, sondern sich vielmehr um die Zukunfts-
frage dreht, in was für einem Land wir leben wollen und
welche Veränderungen nötig sind, um neue Perspekti- Kultur
30
ven auf eine nachhaltige Zukunft zu schaffen. Die Ko- Die Veranstaltungsreihe »Heimat – Was ist das?« um-
operation ist von der Hoffnung getragen, dass BUND fasst mehrere öffentliche Diskussionsveranstaltungen,
und Deutscher Kulturrat voneinander lernen und Ge- die sich unterschiedlichen Aspekten der Heimat-De-
meinsamkeiten entdecken. Kultur entsteht aus Viel- batte widmeten. Inmitten des Museums der bilden-
falt – Natur lebt von Vielfalt. den Künste Leipzig thematisieren wir den Verlust von
Voraussetzung für eine gelingende Kooperation ist, Heimat durch Diktatur und Umweltzerstörung. Wolf-
dass die beteiligten Akteure sich über die Ziele der Dietrich Freiherr Speck von Sternburg macht erleb-
Zusammenarbeit einig werden, ihre Erwartungen for- bar, wie er durch sein Wirken und
mulieren und sich ihrer Verschiedenheit bewusst sind. Engagement für die Kunst eine Doch je mehr um die
Deshalb haben wir zu Beginn einen Workshop organi- neue Heimat gefunden hat. In der
siert, um die Aktiven beider Verbände mit einzubin- Lesung »Schneisen der Zeitge- Deutungshoheit
den, zur Mitarbeit einzuladen und gemeinsam die Ver- schichte. Erich Loest als politischer gerungen wird, desto
anstaltungsreihe »Heimat: Was ist das?« zu konzipie- Mensch« beschreibt Regine Möbi-
ren. Schon beim ersten Treffen war zu erleben, dass us einen Menschen, der seine Hei- mehr besteht die Gefahr,
jede und jeder einen ganz individuellen Zugang zu dem mat Leipzig liebte, den Sozialismus dass Heimat spaltet.
Thema Nachhaltigkeitskultur im Allgemeinen und Hei- ernst nahm und sich immer wieder
mat im Speziellen hat. Der Begriff Heimat ermöglicht mit Texten einmischte, die zur Debatte aufriefen, auch
dabei einen emotionalen Zugang und erleichtert den wenn das für ihn persönlich harte Konsequenzen nach
Einstieg in den Diskurs. So wird Heimat zu einem idea- sich zog. Die Frage des Tages »Geht Heimat immer nur
len Ausgangspunkt für politische Diskussionen und zi- verloren oder kann sie neu entstehen?« stand im Zent-
vilgesellschaftlichem Wirken. Heimat hilft zu reflektie- rum der abendlichen Podiumsdiskussion, die im Schat-
ren, woher wir kommen und wohin wir wollen. Heimat ten Alter Meister für rege Beteiligung sorgte. Wer mag,
ist der Debattenbegriff der Zeit. Uns eint der Wille, den kann diese in der MDR-Mediathek nachhören.
Kampfbegriff Heimat nicht den Rechten zu überlassen. Wenn Heimat mehr ist, als der Ort der Kindheit, wenn
Denn seitdem viele Menschen, die ihre Heimat verlo- es vor allem der Ort ist, an dem wir mit unserer Um-
ren haben, nach Deutschland gekommen sind, wird um welt unmittelbar in Berührung kommen, dann kann, ja
den Begriff gerungen, vehement wie selten zuvor. Der muss Heimat immer wieder neu entstehen. Hier kön-
Bundespräsident hat Heimat zum Thema gemacht und nen selbst vormals Fremde aktiv werden und Verant-
es gibt inzwischen sogar einen Bundesminister dafür. wortung übernehmen. Hier kann gestaltet und verän-
Doch je mehr um die Deutungshoheit gerungen wird, dert werden. Denn Heimat ist nicht etwas Feststehen-
desto mehr besteht die Gefahr, dass Heimat spaltet. des, Unveränderliches, sondern entsteht immer wie-
Jeder Versuch, dieses schöne, verklärte und oft miss- der neu durch die Menschen, die sie gestalten. Wie im
brauchte Wort für andere zu deuten, ist immer auch Neuseenland, wo in der Vergangenheit ganze Landstri-
eine Kampfansage. Heimat sollte nicht spalten, son- che für die Energieversorgung verwüstet, Dörfer ab-
dern Gemeinsamkeiten offenlegen. gebaggert und Heimat vernichtet wurde. Heute ist et-
Was das konkret bedeutet, zeigt sich in der Idee, beim was völlig Neues entstanden. Die ehemalige Krater-
Rat für Nachhaltige Entwicklung für einen Ideenwett- landschaft südlich von Leipzig wurde nach dem Ende
bewerb zu werben, um innovative Kooperationsprojek- des Braunkohlebergbaus renaturiert und geflutet. Eine
te zwischen Kultur- und Umweltbereich an verschiede- faszinierende Melange aus Wohnen und Freizeit, Na-
nen Orten im ganzen Land zu fördern. In einer intensi- tur und Kultur, Action und Entspannung ist entstan-
ven Debatte entstanden Ideen, die dazu führten, dass den. Die riesigen Schaufelradbagger stehen nur noch
ein Jahr später der Ideenwettbewerb »Kultur + Nach- als stählerne Zeugen einer vergangenen Ära am Hori-
haltigkeit = Heimat« durch den Fonds Nachhaltigkeits- zont. Kaum ein Ort ist wohl besser geeignet zu zeigen,
kultur ausgerufen wurde. Mit über 280 Einsendungen dass die Debatten um den Begriff Heimat sich immer
sollte dies der Wettbewerb mit der größten Resonanz auch um die Zukunftsfrage drehen, in was für einem
beim Fonds werden. Land wir leben wollen.

31
32
Städte sind Orte der Utopien, der Kunst, der Imagina- Neben den Veranstaltungsformaten zum Thema Heimat
tion, der Heimat. Im Spannungsfeld von Vergangenheit nutzen wir auch vielfältige Möglichkeiten, die Debatte
und Zukunft, von gewachsenen Lebensformen und neu- um die kulturelle Dimension der Nachhaltigkeit in an-
em digitalen Zeitalter, von Nostalgie und Utopie, haben dere gesellschaftliche Bereiche zu tragen. Denn immer
wir in Heidelberg erkundet, was eine Stadt lebenswert mehr Menschen wird bewusst, dass ein grundlegender
macht. Unter dem bewusst zweideutigen Titel diskutier- Wandel von Lebensstil und Kultur notwendig ist, da-
ten wir im Bürgerhaus der Bahn- mit wir unsere Klimaziele errei-
stadt unter anderem mit There- chen. Wie wir diesen kulturellen
sia Bauer, Klaus Staeck, Ange-
Heimat hilft zu reflektieren, Wandel gestalten können und
lika Zahnt und Michael Braum, woher wir kommen und mit welchen gesellschaftlichen
ob man Heimat planen und bau- Strategien der Klimakrise ange-
en kann und wie eine nachhal-
wohin wir wollen. Heimat ist der messen begegnet werden kann,
tige Stadtentwicklung aussehen Debattenbegriff der Zeit. mit diesen Fragen befassten wir
kann. Und ob die angeblich welt- uns gemeinsam mit anderen
weit größte Passivhaussiedlung auf dem ehemaligen Nichtregierungsorganisationen beim Berliner Klima-
Bahngelände tatsächlich so innovativ ist, wie die Pla- gespräch: »Jetzt noch kurz die Welt retten – Wie kom-
ner es gerne darstellen, oder eigentlich nur halbwegs men wir beim Klimaschutz vom Wissen zum Handeln?«.
zeitgemäßes Bauen darstellt. Mit dem Zeiss-Groß-Planetarium Prenzlauer Berg un-
Bad Alexandersbad, der Ort unseres Kolloquiums ternahmen wir eine Reise in die »Kultur der Dunkel-
»Nachhaltigkeit braucht Heimat – Das Grüne Band als heit« und thematisierten, was es für Menschen und Na-
Erinnerungsort und Chancen für periphere ländliche tur bedeutet, wenn die Nacht immer mehr verschwin-
Räume«, lag einmal mitten in Deutschland. Durch Krieg det. Beim Mercator-Forum »Engagement fürs Klima«
und Eisernen Vorhang wurde es zum Zonenrandgebiet. in Essen waren wir eingeladen, unter dem Motto: »Wir
Industrie und Menschen wanderten ab. Nazis machten sind kein Umweltverband – was kümmert uns das Kli-
den Nachbarort Wunsiedel zur Wallfahrtsstätte für Ru- ma«, zu berichten, warum die Klimakrise auch kultur-
dolf Hess. Aber gemeinsam haben die Menschen aus politisches Thema sein muss. Und zeigten dann auch
dem Fichtelgebirge gegen die Neuen Rechten Wider- ganz praktisch in der Berlinischen Galerie mit anderen
stand geleistet und diese aus Wunsiedel vertrieben. Hier kulturellen Akteuren, wie Nachhaltigkeit und Energie-
erlebten wir, dass Kultur und Vielfalt auch in der soge- wende als kulturelle Aufgaben angenommen werden
nannten Provinz eine Heimat haben. Doch braucht es und welchen Beitrag die Künste zum Bewusstseinswan-
besonders im ländlichen Raum Orte, an denen Zusam- del leisten. Auf der re:publica diskutierten wir die kul-
mensein jenseits von Arbeit und Familie möglich ist, so- turelle Dimension der Verkehrswende und als Teil der
genannte »Dritte Orte«. Plätze, an denen Menschen zu- Ringvorlesung an der Humboldt-Universität die Rolle
sammenkommen können, um, ohne Zwang zum Kon- der Kultur als zivilgesellschaftlicher Akteur bei Verän-
sum, Kunst und Kultur zu leben und Zukunft zu gestal- derungsprozessen. Als solcher bringt sich der Deutsche
ten. Und sich ihrer Vergangenheit zu erinnern. Wie am Kulturrat auch in andere Netzwerke ein, die sich der
Grünen Band, dessen Nominierung als UNESCO Welt- Nachhaltigkeit annehmen. Gemeinsam mit dem Netz-
kultur- und Naturerbe nun gemeinsames Ziel von BUND werk Gerechter Welthandel und dem Netzwerk Agen-
und Deutschem Kulturrat ist. da 2030, in denen sich umwelt-, entwicklungs- und so-
Dann kam das Virus, das uns allen zeigte, dass es zialpolitische Verbände zusammengeschlossen haben,
in unserer globalisierten Welt kaum noch wirkliche verfassen wir unter anderem Stellungnahmen zur Wei-
Grenzen gibt. Unser Heimatplanet als Ganzes ist be- terentwicklung der Deutschen Nachhaltigkeitsstrate-
troffen, alle Menschen stehen unerwartet vor einer gie und führen Veranstaltungen durch, um gemeinsam
neuen, schwierigen Herausforderung. Abstand halten Druck auf die Politik auszuüben, mehr Nachhaltigkeit
heißt die Devise, Kontakte sollen vermieden werden, im Regierungshandeln zu zeigen. Denn eins hat uns die
das kulturelle Leben nur noch virtuell stattfinden. Kooperation zwischen BUND und Deutschem Kultur-
So mussten auch wir die weiteren, geplanten Veran- rat auf jeden Fall noch einmal verdeutlicht: Gemein-
staltungen erst verschieben, dann absagen. Nach dem sam sind wir stark, gemeinsam können wir mehr errei-
ersten Schock ist es aber gelungen, unseren Diskurs chen. Denn noch ist die kulturelle Dimension der Nach-
fortzuführen, alternative Konzepte zu entwickeln und haltigkeit nicht allen bewusst.
Neues auszuprobieren. Die Tagung, die die Synergien
zwischen Umweltbildung und kultureller Bildung stär- Jens Kober ist Referent für Nachhaltigkeit
ken wollte, wurde von der Akademie der kulturellen Bil- und Kultur beim Deutschen Kulturrat.
dung in Remscheid in Kooperation mit dem WDR in ein
Radio-Format verwandelt. Mit »Ja.Aber.Und.« entsteht
beim Deutschen Kulturrat ein neues Debattenformat
im Netz. In der ersten Ausgabe konnten online und
live Zuschauerinnen und Zuschauer mit unseren Gäs-
ten über das Thema Grünes Band Deutschland und Eu-
ropa ins Gespräch kommen.

33
HELENE HELIX HEYER

Das Ändern leben


H eimat: Das klingt nach einsamen Kühen und tro-
ckenem Gugelhupf, irgendwo im Nirgendwo. Hei-
mat: Das klingt nach völkischen Siedlern, die in bran-
das Freihandelsabkommen Mercosur, das Klimaziele
verfehlt und zum institutionellen Genozid der Indige-
nen beiträgt. Solange kein angemessener Umgang mit
denburgischen Dörfern aus einem völkischen Verständ- Deutscher Schuld am Kolonialismus und Imperialis-
nis heraus naturnah wirtschaften und eigentlich an mus gefunden ist, kann es keinen echten Klimaschutz
Blut und Boden denken. Warum also sollte sich ein Ju- geben. Solange Unterdrückung und Ausbeutung herr-
gendverband wie die BUNDjugend mit Heimat ausei- schen, kann es keine Heimat geben.
nandersetzen? Ganz einfach: Weil ein Austausch über Ich gebe zu: Das wirkt zunächst erschlagend, und ich
Heimat dazu einlädt, gemeinsam Bilder unserer Ge- frage mich: Kann eine echte Debatte über Heimat der
sellschaft zu malen. Schlüssel zu einer Vision einer sozial-ökologischen Ge-
Wir als junge Generationen sind von Klimakrise, Ar- sellschaft sein? Solch Wandel geschieht kaum von heut
tensterben und Rechtsruck besonders betroffen. Die auf morgen, obgleich die Zeit drängt. Das Auszuformu-
kommenden Herausforderungen sind gigantisch. Wie lieren vielfältiger Visionen von Heimaten ist Grundlage
oft schon habe ich weinselige Abende in meiner WG- für ein Wandel in der Haltung, die wir zu Dingen (nicht)
Küche verbracht und mir dabei ein radikal anderes Le- haben. Eine Haltungsänderung manifestiert sich als ge-
ben ausgemalt: mit realer Demokratie und intakter Um- lebter Kulturwandel in Sachen Lebensstil und Streitfä-
welt. Einmal wäre beinahe Ernst Bloch reingeplatzt und higkeit und mündet nach dem Reflektieren eigener Pri-
hätte verkündet: Was ihr redet, ist utopisch. Heimat ist vilegien in geändertes Tun.
Utopie! Im Prinzip hoffe ich das, ja. Doch wenn ich ehr- »Du musst dein Ändern leben«, könnte durchaus
lich bin, ist Heimat auch dystopisch und zerstörerisch: zum Leitspruch und Treiber der großen Transformation
Heimat als Albtraum. Der Gedanke an Heimat kann voll werden, sofern Individuum, Interessensgruppe und In-
Wut und Ohnmacht sein. Im rheinischen Braunkohle- stitutionen echte Verantwortung fürs eigene Tun über-
revier etwa werden alte Dörfer und Kirchen abgeris- nehmen. Die Rufe nach einer Beteiligung von Menschen
sen und gewachsene Gemeinschaften auseinanderge- mit struktureller Benachteiligung an politischen Pro-
rissen. Nur, um sie durch klaffe­nde Tagebauten zu er- zessen tangieren im Kern sogar eine kulturelle Frage:
setzen. Weltweit zwingen Landnahme, Raubbau und Wie ist unser gesellschaftliches Miteinander gestaltet,
Umweltzerstörung Menschen um die vulnerabelsten Gruppen besonders gut zu un-
zu Flucht und zur Aufgabe ih- terstützen? Wen beziehen wir in wegweisende Prozesse
Kann eine echte res Heims. Niemand flieht frei- ein? Wessen Stimmen werden gehört? In welcher Wei-
Debatte über Heimat willig. Umso wichtiger, dass wir se wollen wir uns über Visionen und Vorstellungen ei-
als demokratische Gesellschaft ner gerechten Gesellschaft austauschen?
der Schlüssel zu Menschen mit Fluchterfahrung Als Jugendverband stellen wir uns diesen großen
einer Vision einer Asyl gewähren. Fragen. Das Prinzip Verantwortung für kommende Ge-
sozial-ökologischen unsAlsfürBUNDjugend setzten wir
die Teilhabe aller Men-
nerationen, die wir als BUNDjugend tragen, orientiert
sich am lokalen und globalen Gemeinwohl. Eine geän-
Gesellschaft sein? schen ein, reflektieren eige- derte Haltung öffnet jetzt politische und kreative Räu-
ne Privilegien und sind sensi- me für eine solidarische Zukunftskunst. Dafür braucht
bel für unterdrückende Machtstrukturen. Die imperi- es starke Bündnisse, die sich stützen, hinterfragen und
ale Lebensweise des Nordens, deren Teil wir sind, fußt voranbringen. In diesem Sinne ist das Kooperations-
auf kolonialen, rassistischen Strukturen und führt zu projekt mit dem Deutschen Kulturrat ein flauschiges
schmerzlicher Unterdrückung und Ausbeutung in Län- Stück Heimat geworden.
dern des globalen Südens. Die kulturelle Dimension der
Nachhaltigkeit: Sie wird sichtbar in den Diskussionen Helene Helix Heyer ist Mitglied im Bundes-
um den Umgang mit Kulturgut aus der Kolonialzeit vorstand der Jugend im Bund für Umwelt
und setzen sich fort in den zähen Verhandlungen um und Naturschutz Deutschland (BUNDjugend).

34
THERESIA BAUER

Brauchen wir Heimat?


A nfang des Jahres habe ich in meiner Heimatstadt
Heidelberg eine Rede zum Thema »Heimat gestal-
ten« gehalten. Dies war Teil einer Veranstaltungsrei-
Heimat ist demnach da, wo man sich einbringt, wo man
teilhaben kann. Heimat ist da, wo man sich für einen
Flecken Erde und die Menschen darauf mitverantwort-
he des Deutschen Kulturrates und des BUND. Schon lich fühlt, und diesen Ort besser machen will. Zum Bei-
damals habe ich sie dafür gelobt, dass sie sich eines spiel durch kommunalpolitisches Engagement, durch
so komplizierten Themas wie Heimat angenommen Natur- und Umweltschutz, durch ehrenamtliche Ar-
haben. Seither ist viel passiert und das Lob gilt heu- beit in Sport- oder Stadtteilvereinen oder durch aktive
te mehr denn je. Denn Heimat bleibt ein schwieriges, Nachbarschaftshilfe. Alle diese Dinge binden den Men-
schillerndes Wort. Es beginnt damit, dass es keine ein- schen an den Raum und füllen ihn mit Leben. Dadurch
deutige Definition hat. Jeder kann es mit einer anderen entstehen Heimatgefühle. Und ich finde, das sind Hei-
Bedeutung und mit anderen Emotionen füllen. Dem ei- matgefühle ohne Ambivalenz, sondern Ausdruck von
nen wird es warm ums Herz, dem anderen zu eng. Die gutem Leben. Ein Land, in dem Menschen sagen, »Mei-
eine empfindet Sehnsucht, die andere Beklemmung. ne Heimat ist mir wichtig«, ist etwas, auf das man auch
Auch die Begriffsgeschichte von »Heimat« ist ein stolz sein darf. Solange dieser Stolz nicht gegen ande-
schwieriges Kapitel. Im Nationalsozialismus wurde die re gerichtet ist.
Idee von Heimat vor allem verwendet, um alles Nicht- Ich bin überzeugt davon, dass Heimat nichts mit
Deutsche auszuschließen. In den Jahren danach wur- Land oder Stadt zu tun hat. Und ich bin überzeugt da-
de der Begriff eher romantisch entpolitisiert und der von, dass Städte so weiterentwickelt und gebaut werden
Rückzug in die unberührte Natur als Inbegriff einer müssen, dass Menschen, in all ihrer Verschiedenheit,
heilen Welt verstanden. Seit einigen Jahren erleben sich darin wirklich begegnen können. Es gibt mehr au-
wir, wie von der politisch rechten Ecke versucht wird, tofreundliche Städte als Städte, die mit einem Fokus auf
die Heimatgefühle wieder zu kapern und identitäts- Menschenfreundlichkeit gebaut wurden. Glücklicher-
politisch aufzuladen. weise legen aber Stadtplanerinnen und -planer einen
Für viele steht Heimat aber einfach für die Sehnsucht immer größeren Schwerpunkt darauf, dass Städte die
nach dem Ort, wo die Welt in Ordnung ist und wo ich Orte sind, an denen Gesellschaft stattfindet. An denen
selbstverständlich dazugehöre. In dieser Assoziation Menschen Beziehungen aufbauen können, zueinander
schimmert das auf, das sich so politisch aufladen lässt: und zum Raum um sich herum. Auch die Politik hat da-
Denn sie kann als Gegenentwurf genutzt werden zu ei- für zu sorgen, dass solche Räume entstehen, erhalten
ner Realität, in der sich Menschen schlecht zurechtfin- werden und für die gesamte Stadtgesellschaft inklusiv
den und nicht mehr heimisch fühlen. Da ist es nur ein sind. Denn an diesen Orten gelingt Heimat.
kleiner Schritt, um bei einer vermeintlich deutschen Ist Heimat jetzt also ein Konzept, das wir brauchen?
Leitkultur zu landen, bei der es keinen Platz für Neu- Ich glaube: In einer Bedeutung, die Fremdes und Neues
es, für Vielfalt und Verschiedenheit gibt. Was machen ausschließt, ganz sicher nicht. Aber es lohnt sich, den
wir also mit diesem ambivalenten Begriff, mit dieser Begriff mit einer Bedeutung zu füllen, die die Men-
ambivalenten Sehnsucht, die für die Rechten so ver- schen, das Miteinander und das Verantwortungsge-
führerisch ist? fühl ins Zentrum rückt. Dann wird aus dem Heimat-
Ich bin Heidelbergerin. Heidelberg ist mein Zuhau- begriff so etwas wie eine Utopie eines schützenswer-
se, da fühle ich mich wohl. Dabei bin ich nicht in Hei- ten Raums. Und so eine Idee von Heimat brauchen wir
delberg geboren, sondern in der Pfalz. Ich habe Hei- auf jeden Fall.
delberg zu meiner Heimat gemacht: Ich habe hier stu-
diert, meine Familie gegründet, bin hier politisch aktiv Theresia Bauer MdL ist Ministerin
geworden. Jetzt darf ich Heidelberg als Landtagsabge- für Wissenschaft, Forschung und Kunst
ordnete vertreten, was noch einmal eine ganz beson- in Baden-Württemberg.
dere Verbundenheit schafft.
Heimat und Herkunft sind also nicht dasselbe. Für
viele Menschen bedeutet es das größte Glück, wenn es
so ist. Aber man kann, und manche Menschen müssen
das leider gezwungenermaßen, eine neue Heimat fin-
den, fernab vom Herkunftsort.
Deswegen lautet eine simple Definition: Heimat
ist die Beziehung zwischen Mensch und Raum. Bezie-
hungen entstehen durch Interaktionen, durch sozia-
les Handeln und durch Begegnung. Heimat wäre da-
mit eben nicht die unberührte Natur. Heimat muss ge-
lebt werden.

35
H
eimat ist kein Ort, Heimat ist ein Ge- Denn dieser wurde durch Deiche von seinen Man radelt vorbei am Floßgraben, auf Leip-
fühl« singt ein bekannter deutscher Flussläufen, welche immer einmal über die ziger Gebiet auch Batschke genannt. Dieser
Musiker. Doch hat er recht? Bedingt Ufer traten, den Wald überfluteten und so wurde im 16. Jahrhundert zum Holztrans-
das eine nicht das andere? Sorgt der Ort für die auwaldtypische Vegetation sorgen, port angelegt und ist heute so etwas wie der
für das Gefühl oder sorgen doch vielmehr getrennt. Die Deiche als technisch-kulturel- naturpolitische Brennpunkt der Stadt. Knie-
Beziehungen zu anderen Menschen dafür? le Leistung des Hochwasserschutzes schnei- tief verbindet er die Pleiße mit dem Cos-
Mitteldeutsches Braunkohlerevier. Süd- den den Auwald, welcher vor pudener See. An seinen teil-
raum von Leipzig. Der Cospudener See, ein den Menschen hier war, von Die Dürrejahre weise steilen Ufern hat der
Projekt der Expo 2000. Wo sich früher das seinem dringend benötig- Eisvogel inmitten der Groß-
Dorf Cospuden befand, gibt es heute einen ten Wasser ab. Nun versu- lassen immer mehr stadt eine neue Heimat ge-
Briefkasten im See. Schwimmend, mit Segel- chen wir Menschen diesen Bäume absterben. funden. Der Floßgraben ist
oder Paddelboot kann Mensch dort Post Auwald künstlich am Leben aber gleichsam auch die ein-
einwerfen und diese kommt auch an. Ein- zu halten. So ganz will man sich dann doch zige Wasserverbindung aus der Stadt in die
mal wöchentlich erfolgt während der Som- nicht von der ursprünglichen Heimat tren- südlichen gefluteten Braunkohletagebau-
mersaison die Leerung und dazu gibt es ei- nen und versucht, sie zu erhalten, denn die- löcher. Bald soll es möglich sein, von den
nen ganz besonderen Poststempel. Wo frü- ser Rest-Auwald ist immer noch der größ- südlichen Seen durch die Stadt, den künst-
her einmal Dorf‌leben stattfand, gibt es heu- te innerstädtische Auwald Europas, sozu- lich angelegten Karl-Heine-Kanal, den Lin-
te ein wassertouristisches Highlight. sagen die Kronjuwelen in der Naturausstat- denauer Hafen – bis vor Kurzem einer der
Große Teile des Leipziger Auwalds, für tung der Stadt. seltenen Häfen, der nicht über den Wasser-
viele ein Teil der Heimat, wurden durch den Leipzig heute, die Boomtown des Os- weg erreichbar war –, dem höher liegenden
Braunkohletagebau abgebaggert. Kirchen tens, die am schnellsten wachsende Stadt und unverbundenen Elster-Saale-Kanal, der
wurden entweiht und Menschen wurden Deutschlands. Zuzug bedeutet: neue Hei- Saale, der Elbe bis in die große weite Welt
zwangsumgesiedelt, in eine neue Heimat. mat gesucht, gewünscht und gefunden. zu segeln. Oder wird da doch nur die Mög-
Heute ist dieser Auwald ein Wald mit vie- Doch was ist attraktiv an dieser neuen Hei- lichkeit für eine Bootseinkaufstour für Be-
len Problemen. Die Dürrejahre lassen im- mat, welche für manch andere die verlorene wohner und Bewohnerinnen von Blankene-
mer mehr Bäume absterben. Der menschge- Heimat ist? Ja, es sind auch die neu entste- se geschaffen? Trägt jetzt der Eisvogel oder
machte Waldumbau mittels Femellöchern, henden Badeseen des künstlichen Leipziger der schiffbar gemachte Floßgraben zu ei-
soll die auwaldtypische Zusammensetzung Neuseenlandes, die alle den Bergbau als Ur- nem positiven Heimatgefühl bei? Die Ant-
erhalten. sprung haben. Es ist die Tour mit dem Fahr- worten werden verschieden sein.
rad aus einem der zentrumsnahen Grün- Alles im Leben verändert sich und so un-
derzeitviertel durch den übrig gebliebenen terliegt auch Heimat der ständigen Verän-
Auwald, um dann das kühlende und erfri- derung. Sie ist also auch nicht mehr als eine
schende Nass zu genießen und beim an- Momentaufnahme oder ein Gefühl der Ver-
schließenden Sonnenbaden den Anblick gangenheit.
des im Volksmund Wolkenmaschine – we-
gen der riesigen Wasserdampfwolken – ge-
nannten Braunkohlekraftwerks Lippendorf
geboten zu bekommen.

Der Briefkasten im See MARTIN HILBRECHT

36
Die ehemaligen Braunkohleanlagen bag-
gerten von den 1930er Jahren bis zur Wen-
de 1989 im Raum Leipzig insgesamt 300
Quadratkilometer Heimat ab – eine Fläche
von der Größe Münchens. Heute gibt es im
Südraum von Leipzig nur noch den aktiven
Braunkohletagebau Vereinigtes Schleen-
hain. Wenn es heute heißt »Alle Dörfer blei-
ben«, dann ist das ein konservatives Anlie-
gen, der Erhalt des Bestehenden, die Angst
vor dem Heimatverlust, für den Erhalt von
bekannter Heimat, gegen weitere Briefkäs-
ten in heimatverlorenen Seen, an welchen
die Grundstücke für Höchstpreise veräu-
ßert werden. Das Dorf, welches heutzuta-
ge im Süden von Leipzig bleiben soll, heißt
Pödelwitz. Zurzeit scheint der heimatliche
Beharrungswille einem weiteren Briefkas-
ten im See überlegen.

Martin Hilbrecht ist Vorsitzender


vom BUND Leipzig.

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38
Kann man MICHAEL BRAUM

Heimat bauen?
B
ereits im ausgehenden 19. Jahrhundert beschrieb Ressort, das man bespielen kann. Gleichwohl möchte
»Heimat« das idealisierte Gegenbild der sich durch ich der Notwendigkeit des Regionalismus in der Archi-
die Industrialisierung verändernden Gesellschaft tektur in der zunehmend globaler werdenden Welt das
mit ihren wirtschaftlichen, sozialen und politischen Wort reden. Es ist unstrittig, dass wir regionale Identi-
Spannungen. »Heimat« sollte Sicherheit suggerieren, täten im globalen Kontext im baulichen wieder stärken
indem sie die Vergangenheit zum Maßstab setzte und müssen. Dies schulden wir nicht nur den Herausfor-
sich der Abgrenzung gegenüber dem Fremden bedien- derungen aus dem Klimawandel, in dem die Verwen-
te. Ist eine Gesellschaft erst einmal verunsichert, sucht dung von Baustoffen, die dem natürlichen Stoffkreis-
sie nach den »verlorenen Schätzen« und einen dieser lauf wieder zugeführt werden können, an Bedeutung
Schätze scheint sie in der »Heimat« zu finden. Ein ver- gewinnen, sondern auch schlicht der architektonischen
gleichbares Phänomen zeigt sich heute im Übergang Verantwortung, Identifikation zu schaffen. Es ist eher
von der Industrie- zur Wissensgesellschaft. das Zuhause, das wir bauen. Das Zuhause ist vielfältig
Die Debatte über »Heimat« ist aktueller denn je – und facettenreich. Es hat sehr viel mit identitätsstif-
nicht nur in Bayern und Nordrhein-Westfalen mit für tender und regional spezifischen Architekturen zu tun.
die »Heimat« zuständigen Ministerien – sondern auch Eine ausschließlich baukulturellen Ansprüchen genü-
im Bund. Hier reüssiert das ursprüngliche Stadtent- gende Architektur ist nie allein die Voraussetzung, um
wicklungs- und Bauministerium inzwischen im Innen- Heimat zu bauen. Auch die »Platte« in der DDR emp-
ressort und führt den Titel Ministerium des Innern, für finden, die, die dort leben, als »Heimat«. Eine differen-
Bau und Heimat. zierte und identitätsprägende Architektur kann nicht
Die Debatte um »Heimat« ist jedoch schwierig, ist sie mehr sein als ein Mosaikstein, der im besten Fall dazu
zum großen Teil rückwärtsgewandt bis hin zu nationa- beiträgt, sich zu Hause zu fühlen.
len Zügen. Die Emotionalisierung spiegelt sich in einer Zugebenermaßen ist es nicht leicht, den im Grund-
starken Gefühlsempfindung wider, die sich als ganz spe- verständnis in die Vergangenheit gewandten Begriff
zifisches Wertgefüge versteht. Dieses wird in verschie- progressiv zu verwenden, so harmlos »Heimat« erst ein-
denen Facetten spürbar. Im Banalen einer neuen Hei- mal zu klingen scheint. Wir müssen uns dieser Her-
matliteratur, im Suspekten einer zunehmenden Brauch- ausforderung stellen. Die Kernfrage dabei ist, wie viel
tumspflege, im Negativen im Versuch der Abgrenzung von unserer Heimat wir abgeben müssen, damit sie
gegenüber anderen Kulturen sowie im Kritischen in ei- auch Fremden eine Heimat werden kann. Dazu müs-
ner retrospektiv orientierten Stadtbilddebatte. sen wir den Begriff mit neuen Inhalten füllen, die Par-
Überdacht habe ich mein Verhältnis zur »Heimat« allelheimaten zulassen. »Heimat« sehe ich mehr als Be-
ein erstes Mal Mitte der 1980er Jahre. Es war der Film ziehungsgeflecht, das heißt, mehr ein soziokulturelles
von Edgar Reitz »Heimat – eine deutsche Chronik«, der als ein bauliches Phänomen. Der Ort, das Bauliche, wird
das auslöste, und zuletzt während des Besuchs der Bi- nur zum Symbol von Heimat stilisiert. Heimat ist per se
ennale 2016. Zwei unterschiedliche Annäherungen, die nicht negativ, aber, um nicht negativ zu sein, muss sie
doch eines gemeinsam haben. Ist es bei Edgar Reitz der offen für das Fremde sein und darf nicht ausgrenzen.
Ort, dem niemand entrinnen kann, sondern emotional »Patria est, ubicumque est bene«, sagte schon Cicero
verbunden bleibt, auch wenn er ihm zu entfliehen ver- – zu Deutsch »Meine Heimat ist dort, wo ich mich wohl-
sucht, so ist es beim deutschen Beitrag bei fühle«. Und ich würde ergänzen, nicht nur ich, sondern
Heimat ist kein der Biennale 2016 »Making Heimat« der auch andere. Oder wie es Armin Nassehi formuliert:
Versuch, Vertriebenen im fremden Land Heimat ist der Ort, an dem man sich nicht rechtferti-
Ressort, das man eine »neue Heimat« zu geben. Gemein- gen muss, dass man da ist. Da spielt die Architektur si-
bespielen kann. sam ist beiden Annäherungen, dass Hei- cherlich eine Rolle, doch erscheinen mir architektoni-
mat Sehnsuchtsraum und Werteentwurf sche Stildebatten fehl am Platze.
zugleich ist. Es gibt sie also, die Heimat, aber in unter-
schiedlichen Facetten: als Erklärung der eigenen Her- Michael Braum ist Stadtplaner, Hoch-
kunft, als kritische Reflexion, als Gefühl der Geborgen- schullehrer und Direktor der Internationalen
heit und des Vertrauten und als Beziehungsgeflecht. Bauausstellung in Heidelberg.
Kann man unter diesen komplexen Umständen so
etwas wie Heimat bauen? Ich denke nicht, auch, wenn
das zuständige Ministerium so firmiert. Heimat ist kein

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Nachhaltigkeit als REINER NAGEL

Ergebnis von Baukultur


V
ergeblich reklamierten einige Online-Kommenta- Barrierefreiheit und zum Thema Städtebau. Die in Bau-
re der Zugeschalteten bei der diesjährigen 20. Jah- stoffen gebundene Primärenergie eines zuvor abgeris-
reskonferenz des Rates für Nachhaltige Entwick- senen Altbestandes wird jedoch noch nicht mitgerech-
lung, die als Online-Konferenz abgehalten wurde, die net. Dabei gehen hier häufig nicht nur materielle Wer-
vierte Säule der Nachhaltigkeit: Kultur. Das Wort wur- te in der Ökobilanz verloren, sondern für viele Ortsan-
de einfach in den Vorträgen und Diskussionsbeiträgen sässige ein Stück ihrer Heimat. Als kulturelle Leistung
nicht genannt. Dabei besteht längst gesellschaftlicher und schöpferischer Ausdruck prägt die gebaute Umwelt
Konsens zu einem solchermaßen ergänzten Nachhal- ganz wesentlich unsere Wahrnehmung von ortsgebun-
tigkeitsviereck. Im Umweltbereich und der Politik wird dener Identität. Heimat ist eben vor allem ein gebauter
aber weiterhin die Trias der Nachhaltigkeit aus Ökolo- Ort. Sie entscheidet durch ihre Gestaltung über Wohl-
gie, Ökonomie und sozialer Verankerung gebetsmüh- befinden oder Unbehagen. Gebäude und technische In-
lenhaft in Texten und Reden verwendet. Kultur wächst frastrukturen sind die langlebigsten Produkte unserer
nicht an oder passt nicht in den mühsam erarbeiteten Lebensrealität. Während die Lebensdauer eines Mobil-
Interessenausgleich. telefons im Durchschnitt 2,5 Jahre beträgt, werden Ge-
Möglicherweise ist der Begriff Kultur allein zu un- bäude ohne Weiteres 100 Jahre alt und älter.
spezifisch, und der Bezug zur Baukultur kann helfen, Erhalt und qualifizierender Umbau ortsbildprägen-
Blick und Verständnis auf eine umfassende Nachhal- der Gebäude sind daher so etwas wie die kulturelle Ba-
tigkeit, die besser noch mit lebensweltlicher Ganzheit- sis nachhaltigen Bauen. Deshalb sollte genau geprüft
lichkeit bezeichnet werden kann, zu öffnen. Der Begriff werden, ob sich ein Gebäude sanieren lässt und/oder
der Nachhaltigkeit bezieht aus baukultu- noch für andere Nutzungen eignet. Eine
reller Sicht die Elemente Raum- und Ge- Heimat ist eben kreative Auseinandersetzung mit vor-
staltqualität sowie Planungs- und Prozes- handener Bausubstanz führt zudem oft
squalität mit ein. Nachhaltige Bauprojek- vor allem zu architektonisch anspruchsvollen und
te berücksichtigen nicht nur ökologische ein gebauter Ort. stadtbildbereichernden Ergebnissen, etwa
und soziale Standards sowie wirtschaft- durch An- und Umbauten. Auf die Zukunft
liche Machbarkeit. Sie stellen sich der Verantwortung, gerichtet, können die kleinen Schritte einer ortsbezo-
ihre Umgebung angemessen zu gestalten, mit Rück- genen Umbaukultur eine Alternative für die von Lai-
sicht etwa auf historische und stadträumliche Bezüge en und Fachleuten gleichermaßen beklagte Gestal-
– und dies als Ergebnis einer reflektierten und konsen- tungsarmut und Uniformität vieler Neubauten bieten.
sorientierten Planungskultur. Beim Thema Wohnen tragen vor allem der Umbau
In ökologischer Hinsicht kommt dem Bauwesen eine und der Bau von Mehrfamilienhäusern bei gleichzeiti-
Schlüsselrolle bei der Umsetzung von Ressourceneffi- ger Reduzierung des Neubaus von Einfamilienhäusern
zienz und Klimaschutz zu. Das Bauen verursacht ei- zu einer ressourcenschonenderen, weil weniger Fläche
nen Großteil der klimarelevanten Emissionen. Nach- »verbrauchenden«, nachhaltigen Bauweise bei. Neben
haltige Baustoffe und -produkte müssen daher so her- der klimaschützenden Wirkung eines verringerten Flä-
gestellt sein, dass sie lange nutzbar sind und in einem chenverbrauchs ist hierbei auch die Frage des Wohnens
zirkulären Wirtschaftssystem gut funktionieren. Sie in der Zukunft relevant. Eine zunehmende Individua-
sollten sortenrein trennbar und wiederverwertbar sein. lisierung durch Einzelhäuser in Baugebieten ohne Öf-
Auf Gebäudeebene misst sich ökologische und wirt- fentlichkeit oder die steigende Anzahl von Kleinwoh-
schaftliche Nachhaltigkeit nicht an der hohen Anfangs- nungen fordern zu einer Debatte über neue, gemein-
rendite von Investitionen, sondern über die Effizienz im schaftliche Wohnformen heraus.
Lebenszyklus. Ersteres lässt sich im heutigen Nachfra- Wie kann man sich aber nachhaltige Gebäude als
gemarkt über Schlichtbauen erreichen – über die Le- Ergebnis von Baukultur konkret vorstellen? Nun, den-
bensdauer betrachtet rechnen sich allerdings wertige ken Sie an den umgebauten Kulturpalast Dresden, den
Baustoffe sowie eine hohe handwerkliche und gestal- Bahnhof Sangerhausen oder die lebendige Nachbar-
terische Qualität. Hier setzen Zertifizierungsverfahren schaft in der Samtweberei Krefeld – nachzulesen in den
wie das Bewertungssystem Nachhaltiges Bauen für Bun- Baukulturberichten der Bundesstiftung.
desgebäude (BNB) an. Sie bewerten auch die soziokul-
turelle und funktionale Qualität. Das reicht von Aufent- Reiner Nagel ist Vorstandsvorsitzender
haltsqualitäten über Flexibilität für die Nutzer bis zur der Bundesstiftung Baukultur.

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BRIGITTE DAHLBENDER

Neues Miteinander
in der Stadt
U nsere Städte sind die Zentren von Fortschritt, Wirt-
schaft, Bildung, sozialem Miteinander und Integ-
ration. Der urbane Raum kann wesentlich zur Lösung
Zurzeit verlieren die Innenstädte als Orte des Mitei-
nanders, des Einkaufens und des kulturellen Lebens
zunehmend an Bedeutung. In Konkurrenz zu Online-
unserer großen ökologischen Probleme beitragen, des- Shopping und Internetnutzung drohen sie zu veröden.
halb müssen Städte zum Zentrum nachhaltiger Ent- In den letzten Jahrzehnten war die Erreichbarkeit mit
wicklung werden. Wenn sie erfolgreich Klimaschutz dem Auto ein ganz zentraler Faktor für ihre Attraktivi-
betreiben, sich zur Drehscheibe nachhaltiger Mobili- tät. Es entwickelte sich die autogerechte Stadt mit gro-
tät entwickeln und das gesamte Beschaffungswesen ßen Straßenzügen, Parkflächen und wenig städtischem
an Nachhaltigkeitskriterien und »fairem Handel« aus- Grün. Gerade diese Entwicklung macht sich in der Kli-
richten, sind sie auf dem richtigen Weg. Hinzu kom- makrise durch Überhitzung und Anreicherung an Stadt-
men müssen neue Dimensionen des gemeinschaftli- stoffen bemerkbar. Der Straßenraum muss durchgrünt
chen Lebens und der umfassenden Beteiligung der Zi- werden für eine kühlere und gesündere Luft mit schat-
vilgesellschaft. Nur wenn es uns gelingt, unsere urba- tenspendenden Bäumen und Fassadenbepflanzungen.
nen Räume in diesem Sinne nachhaltig zu entwickeln, Der Anteil der Autos in den Innenstädten muss we-
wird es uns gelingen, die großen ökologischen und so- sentlich reduziert werden, damit der Straßenraum als
zialen Krisen zu überwinden. Aufenthaltsort und Erlebnisraum von den Menschen
Zwar gibt es bereits heute gute Ansätze in vielen zum Leben und beim Einkaufen genutzt werden kann.
Städten, wie beispielsweise Siedlungen in Passivhaus- Innenstädte und Einzelhandel könnten so in Konkur-
standard, Ausbau von Fahrradwegen oder mehr blü- renz zum Online-Shoppen überleben. Zugleich wird
hende Wiesen in der Stadt. Doch sind diese immer nur Fläche frei, die zur nachhaltigen Wohnbebauung ge-
Leuchtturmprojekte, die in einzelnen Bereichen umge- nutzt werden kann.
setzt werden. Gleichzeitig geht an vielen anderen Orten Um nachhaltige Stadtentwicklung mit seinen neu-
in derselben Stadt die umweltzerstörerische Planung en Lebensstilen umzusetzen, reichen Gemeinderats-
und Bauweise voran, wie beispielsweise flächenfressen- beschlüsse und Verwaltungshandeln nicht aus. Dies
de Bauweise, Straßenneubau, Gewerbegebiete im Au- wird nur unter Einbeziehung und mit Beteiligung der
ßenbereich und viel zu wenig Grün in der Stadt nach Zivilgesellschaft gelingen. Von der Jugend bis zu den
dem alten Motto: »Stadt ist Stein und autogerecht«. Senioren müssen die Menschen in die Planungen mit-
Der urbane Raum muss sich viel grundlegender än- einbezogen werden. Bürgerinnen und Bürger werden
dern. Im Wohnungsbau muss flächensparend und mit bereits in viele Planungen wie bei Stadtquartiersent-
ökologischen Materialien Lebensraum geschaffen wer- wicklungen und Fahrradwegen eingebunden. Dies ge-
den, der nicht individuellen Ansprüchen nach immer schieht jedoch wenig strategisch und nicht im Sinne
mehr Fläche Folge leistet, sondern viel Wohnraum auf einer ganzheitlichen Entwicklung einer nachhaltigen
wenig Fläche schafft. Dies sollte als Chance begriffen Stadt. Zudem werden oft genug Menschen mit Mig-
werden für ein stärkeres Miteinander durch Nutzung rationshintergrund oder auch finanzschwache Men-
von Gemeinschaftsräumen und für ein intensiveres schen nicht einbezogen.
und sich unterstützendes Zusammenleben von Jung Das sind nur einige Bereiche der komplexen Struk-
und Alt. tur einer Stadt. In der Perspektive einer ökologischen
Es bedarf also einer Neuentwicklung des Verständ- und nachhaltigen Stadtentwicklung gibt es jedoch ei-
nisses von Wohnen und Leben in der Stadt. Dazu ge- nige ganz wichtige Elemente, die unverzichtbar sind:
hört auch die Realisierung von autoarmen Wohnge- Klimaschutz, neue Mobilität, neue Wohn- und Lebens-
bieten und Innenstädten. Der Außenraum in der Stadt formen und attraktive autoarme Innenstädte. Die um-
muss wieder zum Lebensraum werden. Ebenso wird fassende Beteiligung der Bevölkerung bei diesen Pro-
der Klimaschutz durch entsprechende Bauweise, So- zessen birgt die Chance auf ein neues Miteinander.
lardächer und -fassaden, Nutzung von Abwärme und
neuen Formen der Mobilität ganz wesentlich reali- Brigitte Dahlbender ist Landesvorsitzende BUND für
siert werden. Umwelt und Naturschutz Baden-Württemberg.

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D erzeit veranstaltet das Kulturbüro des
Rates der EKD in 20 Orten in den neuen
Bundesländern das Projekt »Land:Gut2020«,
An ihnen entzünden sich viele Projekte. Sie
stehen nicht nur von alters her verlässlich
als Wahrzeichen des Ortes und sind wich-
Symbolisches Zeichen des Projektes ist al-
lerorten ein klimaverträglicher Baum, der
mit allen Projektpartnern gemeinsam ge-
das 2019 entwickelt und erstmals durchge- tigster Bezugspunkt für den eigenen Hei- pflanzt wird. Er zeigt, wie viel Zeit ins Land
führt wurde. Es wird wesentlich durch die matbegriff, sie sind darüber hinaus histo- geht und wie viel Pflege nötig ist, bis etwas
Beauftragte der Bundesregierung für Kul- risch gewachsene Lernorte, die immer neu wurzelt und Früchte trägt. Zum anderen ist
tur und Medien (BKM) gefördert. Ziel von gesehen und aus unterschiedlichsten Blick- es ein bierdeckelgroßes Messingschild, das
»Land:Gut2020« sind gleichwertige Lebens- winkeln heraus verstanden werden wollen. unter dem assoziativen Symbol einer Blu-
bedingungen auf dem Land durch kreative Die geförderten Projekte zielen darum me, eines Kompasses, eines Kreuzes, eines
Teilhabe und eine kulturell inspirierende weniger auf zur betrachtenden Auseinan- Windrades oder der Sonne die Aufschrift
Gemeinschaft. dersetzung angelegte, temporäre künstle- trägt: Landgut – Kultur gebraucht und ge-
Während das Projekt 2019 als einmali- rische Interventionen oder Ähnliches als nutzt. Jede und jeder, der vor dem kleinen
ges Pilotprojekt gedacht war, hat es durch vielmehr auf selbstwirksame, Gemeinschaft Schild steht, sieht und erkennt sich spie-
den Erfolg und die Strahlkraft dieser Initi- stiftende und fördernde Initiativen, auf ein gelnd darin selbst.
ativen im Bereich kultureller Bildung und gemeinsames ökologisches Bewusstsein
kulturell-künstlerischer Projekte 2020 eine zugunsten der Bewahrung der Vielfalt der Klaus-Martin Bresgott ist Projekt-
Neuauflage erleben können und sein Spek- Schöpfung und auf reflektierende kulturelle initiator im Kulturbüro der Evangelischen
trum noch einmal erweitert. Bildung durch die Wahrnehmung und Wie- Kirche in Deutschland.
Die Projektorte liegen in den neuen Bun- derentdeckung eigener Schätze und Traditi-
desländern mit dem Schwerpunkt auf Regi- onen, der daraus erwachsenden Verantwor-
onen, die in Bezug auf die Einzelindikato- tung für territorial und individuell gebun-
ren Wirtschaft, Demografie und Infrastruk- denes Wissen und dessen Bewahrung und
tur gefährdet sind. Die Projektpartner sind Fortschreibung im Kontext unserer Zeit. So
entweder Kirchengemeinden oder kulturell ist »Land:Gut2020« vermehrt auf die Zu-
aktive Vereine, die mit Kirchengemeinden sammenarbeit mit Schulen ausgerichtet,
punktuell zusammenarbeiten und das Ziel um über den schulischen Bildungskanon
derartig gleichwertiger Lebensbedingungen hinaus ganzheitlich mit der kulturellen
auf dem Land aktiv im Blick haben. Dabei Vielfalt des Lebens im eigenen Kontext in
geht es nicht um kurzfristig abrechenbaren Berührung zu kommen. Motor dafür ist al-
Erfolg, sondern um gute Ideen, die wach- lerorten die Erkenntnis: Was ich nicht ken-
sen, die der angesprochenen Gefährdung ne, kann ich nicht schätzen – was ich nicht
das kulturelle Gedächtnis und dessen tief schätze, kann ich nicht bewahren. Mutma-
wurzelnde Energie entgegen halten und so cher für die Initiatorinnen und Initiatoren,
die kulturellen Selbsterhaltungskräfte der die größtenteils nach langen, fordernden
Region eigeninitiativ durch Aktivistinnen Arbeitstagen ihre Lust, ihr Können und ihr
und Aktivisten vor Ort fördern. Engagement im Ehrenamt in die Waagscha-
Eine wichtige logistische Anlaufstelle le legen und viel Hartnäckigkeit und lan-
für diese Projekte sind in der Regel Pfarr- gen Atem dafür brauchen, ist Dieter Fringe-
ämter, weil Pastorinnen und Pastoren und lis kleiner Vierzeiler: wie man ein regiment
ihre Mitarbeitenden vor Ort verfügbare An- aufstellt / ich stehe zu mir / jetzt sind wir /
sprechpersonen sind und eine erste, orga- schon zwei. Aus dieser sich multiplizieren-
nisatorisch entlastende Infrastruktur bie- den Motivation heraus sind etwa die Kino-
ten. Wichtig sind darüber hinaus vor allem kirche in Lansen, das Projekt zur pommer-
die Kirchgebäude selbst als Symbol kultu- schen Romantik in Düvier und die Baum-
reller Beheimatung und historischer Ver- Plantage für die Zukunft in Liepen in Meck-
wurzelung. Sie sind für alle Stadt- und Dorf- lenburg-Vorpommern, die Kulturbühne in
bewohner und -besucher unabhängig ihrer Bobbau/Wolfen, das Paschleber-Kalender-
konfessionellen Bindung sicht- und nutz- Theater in Klein Paschleben und das Blä-
barer Bezugspunkt ihrer kulturellen Akti- ser-Kinder-Musical in Fleetmark in Sach-
vitäten und Orientierung. sen-Anhalt, We4bee in der Bienengartenkir-
che in Roldisleben und die Friedrich-Press-
Erinnerung in Bischofferode in Thüringen
oder das Sankt-Nikolai-Schatztruhen-Pro-
jekt in Bad Düben und das begehbare Laby-
rinth in Erinnerung an den Pädagogen und
Philosophen Comenius in Herrnhut in Sach-
sen auf den Weg gebracht worden.

Land:Gut KLAUS-MARTIN BRESGOTT

44
Im Beisein eines der Hauptprotagonisten der Wende in
Europa, Michail Gorbatschow, feierten wir am 19. Juni
2002 gemeinsam mit über 500 begeisterten Menschen
die Einweihung des West-Östlichen Tores, einem vom
BUND entwickelten LandArt-Projekt, als Symbol für
die überwundene deutsch-deutsche Grenze im thü-
ringisch-niedersächsischen Grünen Band im Eichsfeld.
Während dieser hochemotionalen Veranstaltung – als
sich viele Teilnehmende ihre alten DDR-Personalaus-
weise von Gorbatschow signieren ließen – wurde von
mir das erste Mal die faszinierende Idee eines mehr als
12.500 Kilometer langen europäischen Grünen Ban-
HUBERT WEIGER des entlang des gesamten ehemaligen Eisernen Vor-
hangs öffentlich geäußert und Gorbatschow spontan

Grünes Band als Schirmherr gewonnen. Aus diesem Gedanken hat


sich eine paneuropäische Initiative entwickelt, die die
europäische Idee wie keine andere widerspiegelt. Ak-
teure aus 24 Anrainerstaaten und von den unterschied-
lichsten Fachgebieten kooperieren über Grenzen hin-

U m die Gegenwart zu verstehen und um Zukunft po-


sitiv gestalten zu können, braucht es das Kennen
der Geschichte. Wie kaum ein anderes Projekt ist das
weg zur Bewahrung der einzigartigen Natur- und Er-
innerungslandschaft.
Die Bedeutung des Grünen Bandes Europa als Sym-
Grüne Band dazu geeignet, sowohl als Mahnmal einer bol für zukunftsweisenden europäischen Naturschutz,
dunklen, menschenverachtenden Vergangenheit als grenzübergreifende Zusammenarbeit und als einzigar-
auch als Hoffnungszeichen für die friedliche Überwin- tige Erinnerungslandschaft für kommende Generatio-
dung derselben und für die Vielfalt und Schönheit der nen – als ein Symbol für Freiheit, Frieden und Demo-
Natur – von der wir alle ein Teil sind – zu dienen. All kratie und für ein vereintes, friedliches Europa – muss
dies ist nur möglich durch das Nicht-Vergessen des- gewürdigt werden: mit der Ausweisung als Weltnatur-
sen, was dort einmal war. Das Grüne Band ist ein Natur- und Kulturerbe der Vereinten Nationen. Auf der Um-
und Kulturerbe, das sich während der Jahrzehnte dau- weltministerkonferenz im Oktober 2019 in Hamburg
ernden Teilung unseres Landes entwickelt hat und auf haben die Umweltminister aller Bundesländer den Be-
1.393 Kilometern in Deutschland einer großen Vielzahl schluss gefasst, dass die Bundesregierung die Initiative
von gefährdeten Tier- und Pflanzenarten Heimat bie- ergreifen soll, das Grüne Band Europa als gemischtes
tet. Es ist der einzige existierende länderübergreifen- UNESCO-Weltkultur- und Weltnaturerbe zu nominie-
de Lebensraumverbund in Deutschland und ein leben- ren. Es ist sehr erfreulich, dass damit eine langjähri-
diges Denkmal an die überwundene deutsche Teilung. ge Forderung des BUND aufgegriffen und ihr auch von
Es verbindet Ost und West und lädt zur Begegnung staatlicher Seite Nachdruck verliehen wurde.
ein: zum Erfahren und Begreifen unserer gemeinsa- Der BUND kooperiert schon seit längerer Zeit eng
men Geschichte und unseres gemeinsamen Naturerbes. mit dem Deutschen Kulturrat im Projekt »Heimat und
Nur dort, wo man das Grüne Band als Spur in der Nachhaltigkeit«. Unsere gemeinsame Tagung »Das
Landschaft sieht und erfahren kann, wird die Erinne- Grüne Band als Erinnerungsort und Chancen für peri-
rung an eines der prägendsten Kapitel der deutschen phere ländliche Räume« im Februar 2020 in Bad Ale-
Geschichte auch für nachfolgende Generationen erhal- xandersbad hat gezeigt, wie wichtig und aktuell das
ten. Als lebendiges Denkmal ist damit das Grüne Band Thema Erinnerungslandschaft ist. Ich freue mich da-
heute für viele Menschen ein ganz persönlicher Erin- her außerordentlich darüber, dass wir in Zukunft ge-
nerungsort, der ihre eigene Familiengeschichte erzählt. meinsam daran arbeiten werden, die Nominierung und
Das Grüne Band Deutschland lässt uns aber auch weit Ausweisung des Grünen Bandes Europa als UNESCO-
über den nationalen Tellerrand hinausblicken. Denn Welterbe zu unterstützen. Das Engagement des Deut-
auch in anderen Regionen Europas richtete sich die schen Kulturrates für dieses Ziel dokumentiert zent-
Aufmerksamkeit schon früh auf die Schätze der Grenz- ral die Bedeutung des Grünen Bandes Europa für unse-
natur entlang des Eisernen Vorhangs. re europäische Kultur und Identität und ist damit von
entscheidender Bedeutung, um das Ziel UNESCO-Welt-
kultur- und Weltnaturerbe zu erreichen.

Hubert Weiger ist Ehrenvorsitzender des Bund für


Umwelt und Naturschutz Deutschland.

45
BJÖRN BOHNENKAMP

Heimatmarketing
W
as bedeutet eigentlich Heimatmarketing – ein neuer Begriff Zum anderen wird Heimat zunehmend nicht mehr nur als ein ex-
für etwas, was unter Standortmarketing längst bekannt ist? klusives Konzept für Menschen verstanden, deren Familien seit je-
Nicht ganz. Es gibt durchaus Gemeinsamkeiten: Standort- her mit einer Region verbunden sind. Stattdessen wird Heimat als
marketing, Regionalmarketing oder auch Städtemarketing zielen ein offenes Konstrukt verstanden – als eine Einladung zur Teilha-
darauf ab, einen Raum in eine Marke zu verwandeln. Dieser Raum be. Dabei spielt es nur eine untergeordnete Rolle, ob man dort ge-
wird entsprechend von anderen Räumen differenziert und für ver- boren ist, aufgewachsen, ob man dort lebt – Heimat ist eine indi-
schiedene Zielgruppen als attraktiv dargestellt. Dazu gehören Tou- viduelle Kategorie der Verbundenheit und der Zugehörigkeit zu
risten, die in Restaurants essen, in Läden einkaufen und Kultur- einem Raum, die ganz unterschiedlich interpretiert werden kann.
einrichtungen besuchen, aber auch Studierende oder Wirtschafts- Für die einen ist Heimat ihr Geburtsort, für die anderen der Ort,
unternehmen, die sich ansiedeln wollen. Ein gutes Standortmar- an denen sie sich etwas aufgebaut haben – für die anderen ein fer-
keting hat daher auch eine Vielzahl von Angeboten im Blick, es ner Sehnsuchtsort.
koordiniert und unterstützt die Händler in den Innenstädten, aber So kann Heimat zum Referenzpunkt für zwei verschiedene poli-
auch die Restaurationsangebote und nicht zuletzt sämtliche Kul- tisch-kulturelle Programme werden – einerseits für ein Programm
tur-, Unterhaltungs- und Erlebnisangebote. des traditionellen Konservativismus, andererseits für ein eher pro-
Im Unterschied zum Standortmarketing bezieht sich Heimat- gressives Programm, das auf Nachhaltigkeit und Diversität abzielt.
marketing ebenfalls auf einen Raum – es richtet sich aber nicht Die Rolle der Kultur kann zwischen diesen beiden Polen oszil-
an Menschen außerhalb dieses Raumes, sondern ganz gezielt an lieren – einerseits kann sie sich auf Pflege von Bauwerken, histo-
die, die sich mit diesem Raum verbunden fühlen und ihn als ihre rischen Gegenständen der Region, von Traditionen beziehen, an-
Heimat wahrnehmen. Es ist der Blick nach innen, der Heimatmar- dererseits kann sie sich auf die immer wieder neue Aneignung die-
keting auszeichnet und damit auch der Blick auf die Beziehungen ser Region und damit auch ihrer Wandelbarkeit beziehen. Sie kann
der Menschen mit diesem Ort. sich an den exklusiven Kreis der dazugehörigen richten, sie kann
Dabei war Heimat nicht immer ein unproblematischer Begriff. aber auch neue Angebote schaffen, eine Bindung zu einer Region
Ablehnung hat dieser Begriff vor allem erlebt, wenn eine star- aufzubauen und diese als Heimat wahrzunehmen.
ke Orientierung an der Heimat mit einer Ablehnung des Frem- Nehmen wir hier als ein Beispiel die Stadt Karlsruhe, in der sich
den und des Wandels einhergeht. Diese Art der Einengung hatte das Zentrum für Kunst und Medien (ZKM) nicht als nur eines der
insbesondere in den 1950er und 1960er Jahren große Konjunktur, renommiertesten Museen der Welt versteht, sondern auch als ein
beispielsweise ausgedrückt im Genre des westdeutschen und ös- Forum, in dem Besucher vor Ort Fragen der Zukunft diskutieren
terreichischen Heimatfilms. Heimat geriet in Verruf, weil ihr ei- können. Auch das Badische Staatstheater hat seine aktuelle In-
nerseits eine Entdeckung kultureller Vielfalt und andererseits ein tendantur zunächst einmal mit einer groß angelegten Besucher-
Wunsch nach Transformation von Traditionen und überkommen- studie begonnen, um die Frage zu stellen, welches Theater ange-
den Gesellschaftsstrukturen entgegengesetzt wurde. messen für die Region ist – und führt diese regionale Orientierung
Mittlerweile hat der Begriff allerdings eine erstaunliche Re- mit ihrem Volkstheater weiter, das ganz gezielt auf einen Einbezug
naissance erlebt. Dafür sind insbesondere zwei Entwicklungen der Karlsruher Bevölkerung setzt. Nicht zuletzt ist das KIT als in-
verantwortlich. Zum einen hat sich im Zuge einer stärkeren Aus- ternational erfolgreiche Universität stolz auf ihr Reallabor, in der
bildung eines Bewusstseins für ökologische Nachhaltigkeit auch Forschung ganz gezielt mit und an Beispielen der Region erfolgt.
eine stärkere Sensibilität für re- Doch wofür brauchen wir jetzt ein gutes Heimatmarketing? Es
Heimat ist eine gionale Produktion herausgebil- ist ein weitverbreitetes Missverständnis, dass Marketing nur dar-
det. Nur ein Beispiel von vielen, auf setzt, Logos und Slogans zu kreieren. Marketing ist viel mehr
indivi­duelle Kategorie aber ein besonders gelungenes für und setzt viel früher an: Es versucht, Bedürfnisse zu verstehen und
der Verbundenheit eine Neu-Entdeckung der Heimat erst im zweiten Schritt entsprechende Lösungen dafür anzubieten.
ist die Stadt Münster. Hier bieten Und genau in diesem Sinne sollte Heimatmarketing wirken: In ers-
und der Zugehörigkeit alt eingesessene Restaurants wie ter Linie Räume schaffen für die Bewohner einer Region, für die
zu einem Raum. der »Kiepenkerl« eine Heimatkü- diese Region eine Heimat darstellt – und mit diesen ins Gespräch
che an, die sich nicht nur auf re- kommen, Aushandeln, wie man sich gemeinsam Heimat vorstellt,
gionale Rezepturen konzentriert, sondern diese teilweise neu er- wie man Orte gestaltet und welche Angebote man schafft. Dabei
findet, auf Nachhaltigkeit setzt und damit auch regional herge- kann die Kultur mit ihrer Fähigkeit zu Dialog und visionärer Vor-
stellte Zutaten verwendet. Hier gibt es zahlreiche Neugründungen, stellungskraft eine besonders wichtige Rolle spielen.
die Kaffeeröstungen, Bier, Marmeladen oder Wurstwaren herstel-
len. Sie verbinden eine positive Besetzung der Münsterländer Hei- Björn Bohnenkamp ist Professor für Marketing,
mat mit einer nachhaltigen Anbauweise, die insbesondere jungen Medien und Consumer Culture an der Karlsruhe
Zielgruppen zunehmend wichtiger wird. International University.

46
47
Herr Roose, Sie sind Autor der Studie In der Studie haben Sie untersucht,
»Wirtschaft ist Heimat – Regionaler wie in den Kohleregionen an Saar
Strukturwandel in Biografien und Er- und Ruhr, in der Lausitz und bei
wartungen der Bevölkerung«. Der Titel Chemnitz der Strukturwandel infol­
»Wirtschaft ist Heimat« klingt zuerst ge des Kohleausstiegs erlebt wird.
einmal nach einer ungewohnten De­ Was war der Anlass zu dieser Unter­
finition von Heimat. Inwiefern kann suchung?
Wirtschaft Heimat sein? Perspektivisch steigt Deutschland aus der
Ja, Wirtschaft ist Heimat – das war auch für Kohleförderung und -verstromung aus. Die-
uns das überraschende Ergebnis der Studie. sen Umstand und die Diskussion dazu ha-
Wir haben untersucht, wie Menschen den ben wir zum Anlass genommen, uns genau-
wirtschaftlichen Strukturwandel erleben er anzusehen, welche Erfahrungen bereits
und wahrnehmen. Dabei ist deutlich gewor- damit gemacht wurden. Wir wollten wis-
den, dass der Strukturwandel auch Men- sen, wie blickt die Bevölkerung darauf? Wie
schen betrifft, die beruflich nicht direkt be- erleben die Menschen diese Veränderung?
troffen sind. Wir haben angenommen, dass Dafür haben wir exemplarisch zwei west-
er vor allen Dingen Menschen umtreibt, die deutsche und zwei ostdeutsche Regionen
in den von Strukturwandel stark betroffe- ausgewählt, in denen die Kohleförderung
nen Branchen arbeiten. Aber es hat sich ge- prägend ist oder war – und die bereits Er-
zeigt, dass Menschen in einer Region insge- fahrungen mit Strukturwandel angesichts
samt den Strukturwandel von Wirtschafts- deutlich rückläufiger Kohleförderung ha-
branchen, die die Region prägen, intensiv ben.
erleben. Wenn Branchen in die Krise gera-
ten und sogar weitgehend verschwinden, Welchen Fragen sind Sie bei der Unter­
wird es als ein Verlust erlebt – unabhän- suchung speziell nachgegangen?
gig davon, ob man persönlich, z. B. in Be- Uns haben zwei Sachen interessiert. Ers-
ruf oder Einkommen, betroffen ist. Die wirt- tens: Wie findet sich der Strukturwandel
schaftliche Prägung der Region ist Teil des in den Berufsbiografien wieder? Zweitens:
Heimatgefühls. Wie beurteilen Menschen den Strukturwan-
del? Dazu haben wir standardisierte Befra-
gungen in Form von Telefoninterviews in
diesen vier Regionen und deutschlandweit
als Vergleich durchgeführt. Zusätzlich ha-
ben wir mit Menschen in den Regionen in
Tiefeninterviews gesprochen. In diesen of-
fenen Gesprächen erzählen die Leute, wie
sie den Strukturwandel erleben.

Wirtschaft ist
Heimat JOCHEN ROOSE

48
Es wurden exemplarisch zwei ostdeut­ Welche weiteren zentralen Erkennt­ Wie sieht dieser Prozess des Verlustes
sche und zwei westdeutsche Regionen nisse gehen aus der Studie hervor? und der Neuausrichtung von Heimat
untersucht. Welche Unterschiede Kommt es zum Strukturwandel, ist es nicht an einem konkreten Beispiel aus? Was
sind bei Ihren Untersuchungen in Ost nur wichtig, dafür zu sorgen, dass es wie- ist da das neue Heimatstiftende in
und West deutlich geworden? der Arbeitsplätze gibt, dass es wirtschaft- den untersuchten Regionen?
Ostdeutschland und Westdeutschland sind lich weitergeht. Es muss auch sicherge- In der Region Chemnitz ist der Wandel bei-
sehr unterschiedlich von Strukturwandel stellt werden, dass dem Verlust an Heimat- spielsweise besonders lange her. Da kann
betroffen. Das ist keine Überraschung. Na- gefühl Rechnung getragen wird. Das heißt, man sehr deutlich sehen, dass die Traditi-
türlich war der Wandel in Ostdeutschland der Wirtschaftsbereich, der verschwunden on der Bodenschatzgewinnung in der Re-
von einer staatsgelenkten Wirtschaft zu ei- oder stark geschrumpft ist, muss in seiner gion abgelöst wurde durch die Identifika-
ner sozialen Marktwirtschaft ein schwie- Geschichte als Teil der Heimat festgehalten tion mit dem Maschinenbau. Die neue Er-
riger Prozess. Bis heute prägt er die Wirt- und gepflegt werden. In dieser Weise kann zählung ist: Wir sind eine innovative Ma-
schaftssituation und Biografien in den ost- der Wandel von Heimat begleitet werden. schinenbauregion. Wir sind die Heimat der
deutschen Bundesländern stark. Das wur- Dieses Bewahren der Vergangenheit gehört Automobilindustrie. Wir haben innovative
de auch in vielen Aspekten unserer Studie zur Region, zur Heimat dazu. technische Hochschulen mit langer Tradi-
deutlich. Beispielsweise haben wir die Leu- tion. Daraus erwächst eine wirtschaftliche
te gefragt, ob sie in ihrer Berufsbiografie ar- Stärke, die nun angesichts des Wandels der
beitslos waren. Wenig überraschend, haben
Kommt eine prägende Automobilindustrie weg von Verbrennungs-
die Menschen in Ostdeutschland häufiger Branche in die Krise, motoren wieder vor einer grundlegenden
und für längere Zeit Arbeitslosigkeit erlebt. Umwälzung steht. Den Menschen sind die
Allerdings hat uns überrascht, dass sich
kommt ein Teil der Heimat Schwierigkeiten bewusst, aber gleichzeitig
die untersuchten Regionen weniger stark in die Krise. spürt man einen Stolz auf die Innovations-
vom jeweiligen Landesdurchschnitt unter- region. Die Menschen sagen: »Hier gibt es
scheiden. Wir gingen davon aus, dass die Aber auch der Blick nach vorn ist in dieser fantasievolle Maschinenbauer, die das hin-
Kohleregionen besonders problematische Situation von besonderer Bedeutung: Man kriegen«.
Regionen in den jeweiligen Landesteilen muss die Augen offenhalten – nicht nur Ähnlich ist es im Saarland, das historisch
seien. Das ist tendenziell nicht so. nach neuen Arbeitsplätzen, sondern auch stark durch den langen Kohleabbau geprägt
nach einer wirtschaftlichen Neuprägung ist. Hier spielt der Verlust, da die letzte Ze-
Welche Folgen hat regionaler und von Heimat. Das muss nicht heißen, dass che schon länger zu ist, auch eine weniger
wirtschaftlicher Strukturwandel für eine prägende Branche durch eine andere große Rolle. Aber es gibt immer noch den
das Heimatgefühl bzw. das Heimat­ ersetzt wird – kann es aber durchaus. Stolz auf die Völklinger Hütte als Weltkul-
bewusstsein? Neuausrichtung von Heimat heißt nicht, turerbe, als Zeichen der starken Vergangen-
Strukturwandel heißt, dass Branchen oder dass es keinen Verlust gibt. Beides läuft par- heit. Und zugleich entsteht ein neuer Stolz
Wirtschaftsbereiche von Veränderungen be- allel. Auch die Menschen, mit denen wir ge- auf die wachsende IT-Region Saarland.
troffen sind, die eine ganze Region prägen. sprochen haben, haben natürlich die Pro- Dabei konnten wir auch sehen, dass die
Das betrifft alle, da die Wirtschaft Teil von zesse gesehen, die zur Krise der Kohleförde- Zufriedenheit der Menschen größer ist,
Heimat ist. Wir haben mit den Menschen, rung führen. Dabei sind die Konstellationen wenn sie die regionale Wirtschaft als stark
insbesondere in den offenen Interviews, unterschiedlich: Zum Teil sind es Marktent- einschätzen. Dann ist die Lebens-, die Wohn-
über Heimat gesprochen. Deutlich wurde, wicklungen, zum Teil geologische Gegeben- und die Berufszufriedenheit höher. Deut-
wie sehr Menschen an ihrer Heimat hän- heiten, zum Teil Politik, zum Teil der Kli- lich wurde dabei, dass dieses Gefühl einer
gen. Das haben wir in allen Regionen ge- mawandel. Es erscheint vielen verständlich, starken Wirtschaft in der Region nicht iden-
hört. Zu dieser Heimat gehört die regiona- aber dennoch geht etwas verloren, was den tisch ist mit den Zahlen der Wirtschafts-
le Wirtschaft. Kommt eine prägende Bran- Menschen lieb und wertvoll ist. Das macht statistik. Die Menschen haben tendenziell
che in die Krise, kommt ein Teil der Heimat traurig. Und dann zu sehen, dass etwas Neu- eine etwas andere Wahrnehmung, als man
in die Krise. Wenn es zum Strukturwandel es wächst, das kann auch Freude machen. es aufgrund der wirtschaftlichen Zahlen
kommt, dann ist das ein Stück Heimatver- Das gilt auch für die wirtschaftliche Dimen- annehmen könnte. Jenseits der faktischen
lust. Und das tut vielen Menschen weh. sion von Heimat. wirtschaftlichen Situation gibt es eine Er-
zählung der regionalen Wirtschaft. Diese
Erzählung prägt das Heimatgefühl und das
Wohlbefinden mit.

Jochen Roose ist Autor der Studie »Wirtschaft


ist Heimat – Regionaler Strukturwandel in
Biografien und Erwartungen der Bevölkerung«.
Die Fragen stellte Theresa Brüheim – sie ist
Chefin vom Dienst von Politik & Kultur.

49
Zwischen Stabilitäts-
sehnsucht und
Frau Teucher, was umfasst nach­ Sie beraten unter anderem zum Wenn Unternehmen offen für Kooperatio-
haltiges Wirtschaften heute? Thema Unternehmenserfolg nen sind, ergeben sich neue Möglichkeiten
Wenn Unternehmen im wahrsten Sinne durch Nachhaltigkeit. Inwieweit geht für Innovationen. So hat sich z. B. der Bio-
des Wortes Ver-Antwortung, die »Respon- das eine mit dem anderen einher? zidproduzent Reckhaus für die Gedanken
se Ability«, übernehmen, handeln sie nach- Einen krassen Kulturwandel legt z. B. das von Künstlern geöffnet und sich der Fra-
haltig. Weil sie Antworten und Lösungen Unternehmen Rügenwalder Mühle hin. Der ge gestellt: Welchen Wert haben Insekten
für die Probleme unserer Zeit finden, statt eingefleischte Wursthersteller hat sich zum für einen Insektenbekämpfungsmittelher-
diese zu vergrößern. Und weil sie die Wirt- Ziel gesetzt, bis 2020 ein Drittel seines Um- steller? Aus der ungewöhnlichen Zusam-
schafts- und Lebensgrundlagen erhalten satzes mit vegetarischen Produkten zu ma- menarbeit und intensiven Dialogen ent-
und fördern, statt sie weiter zu zerstören. chen. Nach dem Motto: »Weil wir Fleisch so stand ein neues Geschäftsmodell: Insect
Sustain-able ist, wer fähig ist, Ressourcen lieben, machen wir es jetzt auch aus Pflan- Respect. Seither hat sich das Familienun-
in Kreisläufen zu erhalten und dabei Wert zen«. Verständlicherweise ging der Bundes- ternehmen für völlig neue Kooperationen
zu schöpfen. Also: Gemeinwohl stärken, ge- verband der Deutschen Fleischwarenindust- geöffnet: Mit Wissenschaftlern erarbeitete
sellschaftliche Herausforderungen lösen, rie auf die Barrikaden, man bringe damit die man ein Kompensationsmodell zum Aus-
erneuerbare Energien nutzen, Zusammen- Branche in Verruf. Aber die Kundinnen und gleich von Insektenverlusten, mit Umwelt-
arbeit fair gestalten. Kunden lieben die vegetarischen Schnitzel, organisationen und Naturmuseen entwi-
Nuggets und Burger. Arbeitgeberattraktivi- ckelte man Veranstaltungsformate wie den
Ein Blick zurück: Inwieweit hat bereits tät und Mitarbeiterzahlen sind signifikant Tag der Insekten, der inzwischen Tausende
ein Kulturwandel hin zum nachhalti­ gestiegen. Der nachhaltige Geschäftsmo- Engagierte aus dem gesamten deutschspra-
gen Wirtschaften stattgefunden? Wie dellwandel bringt hier verbessertes Image, chigen Raum zusammenbringt. Gemein-
flächendeckend ist er bisher? Motivation, Innovation und Wettbewerbs- sam mit dem Deutschen Kulturrat stellen
Wie jede gesellschaftliche Veränderung ist vorteile: 2019 war das erfolgreichste Jahr in wir für die nächste Tagung 2021 die Frage
dieser Kulturwandel ein Aushandlungspro- der Firmengeschichte. Solche Korrelationen ins Zentrum: Was können Kunst und Kul-
zess, mit Treibern und Bremsern, Visionen zwischen Umweltperformance und Finanz- tur für die Förderung von Biodiversität und
und Machtstrukturen. Am Anfang hieß Un- performance zeigen auch wissenschaftliche Insektenschutz leisten?
ternehmensverantwortung, der Gesellschaft Studien: Unternehmen mit hoher Nachhal-
etwas zurückzugeben, durch Spenden an tigkeitsexpertise tendieren zu höheren Fi- Sie publizieren zu verschiedenen
gemeinnützige Zwecke. Später erweiterte nanzergebnissen. Wer sich mit Zukunfts- Themen rund um Nachhaltigkeit –
sich die Bedeutung: Auf Gesetzeseinhaltung themen beschäftigt, erhöht damit seine unter anderem zu Wachstum.
und Compliance, auf Umweltmanagement- Resilienz – also die Fähigkeit, mit Verän- Welche Bedeutung hat Wachstum
systeme und gesellschaftliches Wirken als derungen und Umbrüchen flexibel umge- für die nachhaltige wirtschaftliche
Corporate Social Responsibility. In den letz- hen zu können. Entwicklung?
ten Jahren rückt die Frage ins Zentrum, wie Biologinnen und Biologen sagen: In der
Nachhaltigkeit im Kerngeschäft oder sogar Als sogenannter »Sustainable Match­ Natur wächst alles bis zur Erreichung sei-
als Geschäftsmodell selbst aussehen kann. maker« bringen Sie Organisationen, ner idealen Größe. Nichts wächst unend-
Von einem flächendeckenden Kulturwandel Menschen und Firmen zusammen, lich oder ungebremst – außer ein Tumor.
kann noch nicht die Rede sein: Nach wie vor um gemeinsam die richtigen Rahmen­ Wir Menschen wollen immer beides: Si-
sind die negativen Auswirkungen des Wirt- bedingungen für nachhaltiges Wirt­ cherheit und Unsicherheit, Wachstum und
schaftens noch größtenteils externalisiert, schaften zu schaffen. Wie sieht das in Bewahrung. Schon im Begriff »nachhalti-
das heißt, andere bekommen sie zu spüren: der Praxis aus? Können Sie Beispiele ge Entwicklung« steckt beides: »Nachhal-
Menschen in fernen Ländern durch Ausbeu- geben? Wo ist nachhaltige Zusammen­ tig« spiegelt unsere Stabilitätssehnsucht,
tung und Menschenrechtsverletzungen oder arbeit bisher besonders gelungen? »Entwicklung« unseren Fortschrittsglau-
Menschen, die in der Zukunft leben und Fol- ben. Totaler Stillstand wäre gleichbedeu-
gen von Klimaerhitzung und Naturzerstö- tend mit Tod, also verbinden wir Wachs-
rung ausbaden müssen. tum mit Leben und verteidigen das Recht
der Wirtschaft auf Wachstum wie das Recht
der Menschen auf Leben.

50
TINA TEUCHER

Fortschrittsglauben
Auf einem Planeten mit endlichen Ressour- In diese Richtung verlagern sich nun auch
cen hat zwar das materielle Wachstum sei- die Wertflüsse der Finanzwirtschaft – weg
ne Grenzen, doch wir können die Idee des von fossilen Energien hin zu nachhaltigen
Wachstums von ihrer Dinglichkeit befreien. Anlagen, die soziale und ökologische Krite-
Glück, gute Ideen, künstlerische Ausdrucks- rien berücksichtigen. Wenn Nachhaltigkeit
fähigkeit, freies Denken oder menschliche der Zweck ist, wird die Digitalisierung zum
Zusammenarbeit können unendlich wach- Mittel dafür: Wir befinden uns am Beginn
sen. Zukunftsfähige Geschäftsmodelle wid- einer Zeit, in der digitale Währungen einen
men sich solchen Mehrwerten. ähnlichen kulturellen Wandel wie die Ver-
breitung des Internets auslösen könnten.
Was sind die Trends für nachhaltiges
Wirtschaften von morgen? Tina Teucher ist Moderatorin, Rednerin und
Die Megatrends durchdringen alle Ebenen: ­Beraterin für zukunftsfähiges Wirtschaften.
Klimaneutralität wird zum neuen Normal. Sie ist Mitglied des Gesamt­vorstands beim
Die Mobilitätswende ergänzt die Energie- Bundes­deutschen Arbeitskreis Umweltbe­
wende. Natur zieht wieder mehr in den All- wusstes Management (B.A.U.M. e.V.) und
tag ein. Unseren Enkeln wird es absurd vor- im Aufsichtsrat der Future eG. Die Fragen
kommen, dass wir Gebäude nicht begrünt stellte Theresa Brüheim – sie ist Chefin
haben, dass die Städte grau und trist wa- vom Dienst von Politik & Kultur.
ren. Gleichzeitig halten Automatisierung
und künstliche Intelligenz überall Einzug.
Zunehmende Diversität prägt die Arbeits-
welt. Der Umgang mit dauernder Unsicher-
heit überholt alte Führungskonzepte, treibt
die Einführung von »New Work«-Prinzipien
voran und macht mehr Menschen zu Mit-
denkenden und Mitentscheidenden. Die
Thematisierung von Emotionen, Bewusst-
sein, Achtsamkeit, teils auch Spiritualität
verändert die Zusammenarbeit und ermög-
licht Umdenken und Neuhandeln für große
Menschheitsherausforderungen wie Klima-
wandel, Armutsbekämpfung und Biodiver-
sitätsverlust. Kooperationen gewinnen an
Bedeutung, weil nicht zuletzt die Vereinten
Nationen mit ihren 17 Zielen für nachhalti-
ge Entwicklung betonen, dass die Weltge-
meinschaft zusammenarbeiten muss, um
diese Vision für 2030 umzusetzen.

51
Labore der MARIA BÖHMER

Nachhaltigkeitswende
V
or fünf Jahren wurde die Agenda 2030 verabschie-
det: ein globaler Zukunftsver­trag, der 17 Ziele
nachhaltiger Entwicklung umfasst, die Sustaina-
ble Development Goals (SDGs). Er verpflichtet uns dazu,
die endlichen Ressourcen unseres Planeten sowie un-
ser natürliches und kulturelles Erbe zu schützen und
zu bewahren. Wichtige Elemente der Agenda 2030 fin-
den sich bereits 1972 in der UNESCO-Welterbekonven-
tion: Der Schutz und Erhalt unseres Natur- und Kutur-
erbes als zentrale UNESCO-Ziele sind nachhaltig per
se. Doch die Agenda 2030 macht deutlich, dass unser
Auftrag weit über den reinen Erhalt unseres Erbes hin-
ausgeht: Wir brauchen eine nachhaltige Gestaltung al-
ler Prozesse, die in Zusammenhang mit Welterbestät-
ten stehen. Folgerichtig wurde die Welterbekonven-
tion 2015 um ein Richtlinienpapier ergänzt, das eine
ganzheitliche Transformation vorsieht.
Fünf Jahre sind seitdem vergangen – die Zwischen-
bilanz zeigt, dass uns die Zeit ausgeht: Um die Agenda
2030 noch erfüllen zu können, ist die schnelle Umset-
zung innovativer Lösungen unabdingbar. Die Verein-
ten Nationen haben daher das Jahrzehnt des Handelns
ausgerufen – Anlass für die Deutsche UNESCO-Kom-
mission, mit Beteiligten aus ganz Deutschland auszu-
loten, wie die Transformation in Welterbestätten umge-
setzt werden kann. Wie ein roter Faden zog sich bei der
im Herbst 2019 veranstalteten Tagung »Welterbe und
Nachhaltigkeit – Gesellschaftlicher Auftrag und Poten-
ziale« die Erkenntnis durch die Vorträge, dass die größ-
te Innovationskraft, die klügsten Lösungsansätze und
die bestmöglichen Synergien entstehen, wenn ein of-
fener Dialog mit allen Beteiligten geführt wird.

52
Ein Besuch in der Bamberger Altstadt, die seit 1993 Welt- zeitig können die Besucherströme auch zu einer Bedro-
kulturerbe ist, zeigt, wie ein solch komplexer Entwick- hung für die Welterbestätten werden, werden sie nicht
lungsprozess gelingen kann. Die Bamberger Verant­ nachhaltig gesteuert. Ein eindrucksvolles Beispiel da-
wortlichen nahmen das Richtlinienpapier zum Anlass, für, wie nachhaltiger Tourismus und inklusives Wirt-
ihren ursprünglichen Managementplan für die Welter- schaftswachstum über Grenzen hinweg implementiert
bestätte konsequent zu überarbeiten. Eingebunden wa- werden können, ist der Naturraum Wattenmeer. Hier
ren alle, die mit dem Welterbe zu tun haben – Fachleu- hat die trinationale Kooperation zwischen Deutschland,
te genauso wie die Bürgerschaft und Interessengemein- Dänemark und den Niederlanden eine sektorenüber-
schaften. Entstanden ist die Strategie für einen Weg der greifende Nachhaltigkeitsstrategie ausgehandelt, die
Nachhaltigkeit, den alle Beteiligten gemeinsam gehen. allen Beteiligten nützt und direkt zur Umsetzung der
So vernetzen sich beispielsweise Stadtplanungs- und SDGs 8 und 11 beiträgt: Sie schützt die Welterbestätte
Umweltamt mit der Interessengruppe Bamberger Gärt- selbst, stärkt die regionale Wirtschaft und sichert der
ner zum Erhalt von Gärtnerflächen in der Altstadt. Bam- lokalen Bevölkerung eine nachhaltige Lebensgrund-
bergs urbane Gärtnertradition bringt uns zu dem zwei- lage und Einkommen in zukunftsfähigen Gewerben.
ten wichtigen Auftrag der Welterbestätten: Vermittlung Gerade in Bezug auf die wirtschaftliche Situation
und Bildung, ein Schlüsselinstrument zur Umsetzung stellt die durch Covid-19 entstan­dene Krisensituation
der Nachhaltigkeitsziele. Die Stätten vermitteln Iden- viele Welterbestätten vor große Herausforderungen,
tität, Stabilität und Gemein­samkeit, sie zeugen von Er- für die es gilt, Lösungen zu finden. Während Wattwan-
rungenschaften der Vergangenheit und stehen für nach- derungen und Altstadtführungen in kleineren Grup-
haltige Entwicklung. Sie sind ganz besondere Lernor- pen stattfinden können, müssen
te, die uns Geschichte als stetigen Wandel zeigen, so Stätten, die nicht im Freien zu Die Herausforderung,
dass wir verstehen, dass die Gegenwart das Resultat ei- besichtigen sind, Flexibilität be-
ner Entwicklung ist, deren Fortsetzung wir selbst in der weisen. Ein Beispiel ist das ehe- digitale Formate zufinden,
Hand haben. Wer Bamberg besucht, entdeckt in der his- malige Erzbergwerk Rammels- löste eine ungeheure
torischen Gärtnertradition einen Schlüssel zur Zukunft. berg im Harz: Führungen un-
Seit dem 14. Jahrhundert wird dort auf öffentlichen Flä- ter Tage waren hier lange nicht Kreativität bei den Ver­
chen Gemüse angebaut, ein Phänomen, das heute in möglich, doch dann entstand antwortlichen aus.
Großstädten weltweit als »Urban Gardening« wieder- die Idee, die geschlossenen Be-
entdeckt wird. Kein Wunder, ist es doch ein Beispiel par sucherwagen umzubauen, und jetzt fährt man offen –
excellence für nachhaltige Entwicklung: Die regiona- ein Paradebeispiel für die Widerstandskraft der Stätten
le Sortenvielfalt wird erhalten, traditionelles Gärtner- in der Krise. Gemeinschaftlich setzten die Welterbestät-
wissen weitergegeben, die regionale Wirtschaft durch ten beim diesjährigen Welterbetag innovative Akzente:
lokale Dienstleister gestärkt und das Klima durch kur- Die Herausforderung, digitale Formate zu finden, lös-
ze Wege geschützt. te eine ungeheure Kreativität bei den Verantwortlichen
Auch bei einem Besuch in Augsburg entdecken wir aus, die durch eine enorm positive Resonanz der Öffent-
Verbindungen zwischen histo­rischer und zukünftiger lichkeit belohnt wurde. Fazit ist, dass digitale Formate
Entwicklung. Wer Augsburg besichtigt, findet überall auch zukünftig von Anfang an mitgedacht und gezielt
Zeugnisse der über 500 Jahre alten Geschichte nach- eingesetzt werden können, beispielsweise, wenn mul-
haltiger Wassernutzung. Zu bestaunen ist ein komple- tilateraler, weltweiter Austausch oder die Partizipati-
xes Zusammenspiel von Kanälen, Pumpen, Türmen, on junger Menschen im Vordergrund stehen.
Kraftwerken bis hin zu kunstvoll gestalteten Renais- All diese Beispiele zeigen: Welterbestätten sind La-
sance-Brunnen, aus denen bis heute sauberes Trink- bore für nachhaltige Entwicklung. Labore, in denen
wasser sprudelt. Seit 2019 ist das Wassermanagement- die Verantwortlichen gemeinsam mit allen Beteilig-
System Weltkulturerbe, als einzigartiges Beispiel dafür, ten aus Kultur, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Poli-
wie industrielles Fach- und Praxiswissen über Jahrhun- tik im wahrsten Sinne des Wortes experimentieren. La-
derte weiterentwickelt wurde. Somit ist Augsburg ge- bore, in denen mit Mut und Offenheit neue nachhalti-
radezu prädestiniert dazu, sich aktiv für das Ziel 6 der ge Lösungen gefunden oder alte wiederentdeckt wer-
Agenda 2030 einzusetzen und den Dialog mit Ländern den. Geschieht dieser Prozess im offenen Dialog eines
des globalen Südens zu suchen, in denen bis heute nicht weltweiten Netzwerks, so können erfolgreiche nach-
alle Menschen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben. haltige Lösungen aus Welterbestätten verbreitet und
In einem weiteren Bereich können Welterbestätten in andere Bereiche übertragen wer­den und so weltweit
maßgeblich zur Umsetzung der Agenda 2030 beitragen: zur Umsetzung der Agenda 2030 beitragen.
als Motoren nachhaltiger wirtschaftlicher Entwicklung.
Denn eine Aufnahme in die Welterbeliste fördert die Maria Böhmer ist Präsidentin
wirtschaftliche Entwicklung der Region enorm. Gleich- der Deutschen UNESCO-Kommission.

53
Potenzial für Synergien Unterschiedliche Zum Potenzial
Zur Umsetzung der Agenda 2030 für nach- Bildungsperspektiven Gerade in diesen Unterschieden liegt jedoch
haltige Entwicklung wurde im Jahr 2015 das Kulturelle Bildung bezieht jedoch ihre nor- das Potenzial ertragreicher Synergien unter
UNESCO-Weltaktionsprogramm »Bildung mative Setzung wie Partizipation, Inklu- der Prämisse: Jeder Bildungsbereich behält
für nachhaltige Entwicklung« (BNE) ins Le- sion oder Respekt vor kultureller Vielfalt seine Eigenarten und Zielperspektiven bei.
ben gerufen. Hierzu wurden in Deutschland auf die Gestaltung des Bildungsprozesses. Denn es bedarf starker Subjekte bzw. Per-
eine Nationale BNE-Plattform und beglei- Letztlich bildet sich hier auch das Prinzip sönlichkeiten, die eigene Standpunkte und
tende Gremien eingerichtet. So existiert »Nachhaltigkeit« ab, in Form des humanis- Haltungen für sich entwickelt haben, um
in der Vielzahl dieser Gremien auch das tischen Anspruchs auf eine nicht endende sich in einem zweiten Schritt für andere, das
Partnernetzwerk »Kulturelle Bildung und prozessorientierte »Selbstbildung«. Gemeinwohl und/oder die Umwelt einzu-
Kulturpolitik«. Innerhalb des BNE-Fach- BNE zielt auf eine Wertevermittlung bei setzen. Zugleich birgt die Ergebnisoffenheit
diskurses spielt jedoch kulturelle Bildung den Lehrenden ab, hier normative Werte und Mehrperspektivität der kulturellen Bil-
keine zentrale Rolle. Stattdessen stützt sich wie »Empathie«, »Solidarität« oder »Ge- dung die Chance, neue gesellschaftliche Lö-
BNE bei seiner Umsetzung auf die zentra- rechtigkeit«, damit diese Verantwortung für sungswege zu entdecken, derer es bedarf,
len Säulen Ökonomie, Soziales und vor al- das Gemeinwohl und die Umwelt überneh- um der Komplexität der Ziele der Agenda
lem Ökologie.

Das Potenzial
Übereinstimmungen
innerhalb der Bildungsziele
Dabei finden sich durchaus Schnittmengen
in den Bildungszielen von BNE und kultu-

der kulturellen
reller Bildung. So streben beide einen Per-
spektivwechsel auf gesellschaftliche Praxis
und damit auch einen emanzipatorischen
Bildungsanspruch an.

Bildung
Kulturelle Bildung arbeitet mit dem Me-
dium der Künste, innerhalb derer das äs-
SUSANNE KEUCHEL
thetische Prinzip des Regelbruchs angelegt
ist. Künste entziehen sich immer aufs Neue
selbstgesetzten Normen und ermöglichen
so auch »mehrperspektivische« Zugänge
und Interpretationen. Mit dieser Art Pers- men. Mit dieser Zielgerichtetheit von BNE 2030 gerecht zu werden, so ökologische mit
pektivwechsel können sie gesellschaftliche ergibt sich ein weiteres Unterscheidungs- humanen und ökonomischen Zielen in ei-
Entwicklungen kreativ vorantreiben. Zu- merkmal. Kulturelle Bildung ist prozesso- nen »kulturellen« Einklang zu bringen. Da-
gleich sieht sich kulturelle Bildung in ei- rientiert. Mit dem Anspruch auf Selbstbil- bei gilt es zu beachten, dass die Ergebnis-
ner humanistischen Tradition: Bildung sol- dung und dem Rückgriff auf ein sinnliches offenheit der kulturellen Bildung zugleich
le sich »in Kultur vollziehen«. Im Sinne der Medium der Künste, das auch emotional auf immer auch das Potenzial eines kritischen
Selbstbildung und Selbstbestimmung geht den Betrachter einwirken kann, steht kultu- Korrektivs zu BNE beinhaltet, beispielswei-
es dabei auch um einen emanzipatorischen relle Bildung zugleich einer konkreten Wer- se innerhalb der Gemeinwohlorientierung
Anspruch, die Mündigkeit des Individuums tevermittlung ablehnend gegenüber. Hier darauf zu achten, dass ausreichend Frei-
zu stärken, beispielsweise durch Entlarvung ergibt sich in Teilen auch ein Unbehagen raum für die Entwicklung des Individuums
kultureller Machtverhältnisse. der Akteure bei Kooperationen mit BNE in besteht.
BNE strebt einen konkreten gesellschaft- der aktuellen Praxis: Künstlerisch-ästhe-
lichen Perspektivwechsel an, weg von rein tische Praxis soll nicht instrumentalisiert Susanne Keuchel ist Präsidentin
ökonomischen Erwägungen und persönli- werden für eine Erziehung zum Mülltren- des Deutschen Kulturrates.
chem Wettbewerbsdenken hin zu nachhalti- nen, Wassersparen etc.
gem und gemeinwohlorientiertem Denken: Hier manifestiert sich einer der größten
Der Einzelne soll lernen, »die Auswirkungen Unterschiede: Kulturelle Bildung konzen-
des eigenen Handelns auf die Welt zu ver- triert sich im Sinne der Selbstbildung auf
stehen und verantwortungsvolle Entschei- die Stärkung des Subjekts, das Schaffen von
dungen zu treffen«. Der Rahmen für diese Freiräumen zur Entwicklung eigener Hal-
Entscheidungen ist dabei vorgegeben durch tungen. BNE setzt dagegen auf eine gemein-
die 17 Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030. wohlorientierte Perspektive: Es geht um die
Beiden Bildungsbereichen gemeinsam Übernahme von Verantwortung für andere,
ist damit auch ein Setzen normativer Bil- letztlich also eine Begrenzung egoistischer
dungsziele. Interessen im Sinne einer Gemeinschaft.

54
D
ie zukunftsfähige Gestaltung einer nachhaltigen blikation Manfred Mistkäfer Magazin. Wichtig ist uns
Gesellschaft erfordert Umdenken und den Wil- ebenfalls die Aus- und Weiterbildung der ehrenamtli-
len zur Neuorientierung aller gesellschaftlichen chen BUND-Aktiven. Neben Kinder- und Jugendleiter-
Bereiche. Die Welt und die Herausforderungen ihrer lehrgängen bilden wir Streuobstpädagogen, Wildkat-
nachhaltigen Entwicklung ganzheitlich zu begreifen, zenretter oder Schmetterlingsguides aus.
macht einen tiefgreifenden Wandel erforderlich. Um Mit Aktionen wie dem Tagfaltermonitoring unter-
die Nachhaltigkeitsziele der UN-Agenda 2030 umset- stützen aufmerksame Naturfreunde durch Meldungen
zen zu können, bedarf es des Engagements der gan- den BUND, um somit bessere Zahlen zur Entwicklung
zen Gesellschaft. dieser faszinierenden Gaukler der Lüfte zu erheben.
Die Zusammenarbeit von BUND und Deutschem Auch unsere Wildkatzenretter unterstützen uns durch
Kulturrat zeigt, dass Umwelt- und kulturelle Bildung das Ausbringen von Lockstöcken aktiv dabei, wissen-
eng miteinander verbunden sind: Die Umweltbildung schaftlich belastbare Daten zur Wildkatzenpopulati-
mit ihrem Blick auf den verantwortlichen Umgang mit on zu erfassen. Mit dem Projekt »Ökologische Nische
Ressourcen und die kulturelle Bildung mit ihrer Ergeb- Friedhof« startet der BUND ein neues Mitmach-Projekt
nisoffenheit für neue Perspektiven und Lösungswege zum Schutz von Wildbienen. Dank der wilden Groß-
sind eine entscheidende Grundlage zum Erreichen der stadtnatur ist Berlin »Nachtigallen-Hauptstadt«. Am
Nachhaltigkeitsziele der UN. Museum für Naturkunde Berlin läuft seit drei Jahren
Am Anfang steht bei der Umweltbildung sehr oft der das Citizen Science Projekt »Forschungsfall Nachti-
Wunsch nach Wissensvermittlung, dem Aufzeigen von gall«. Mehr als 2.500 Citizen Scientists haben schon
Handlungsoptionen. Wir möchten Menschen begeis- 7.000 echte Nachtigallen über die vom Museum ent-
tern und ihnen praktische Alternativen für den Alltag wickelte App Naturblick gemeldet. So bringt das Mu-
bieten. Bekanntlich motiviert Wissen allein nicht zum seum für Naturkunde Berlin einmal mehr über seine
Handeln. Es braucht mehr emotionale Zugänge. Und Forschung und Veranstaltungen Natur und Kultur zu-
diese liefern wir im Bereich Umweltbildung mit Freu- sammen. So können sich interessierte Bürgerinnen in
de. So macht es allen Generationen Spaß, in der BUND der Natur auch mit neuen Medien einbringen und den
Bacherlebnisstation Ladenburg mit dem Biberruck- BUND aktiv unterstützen.
sack auf Tour zu gehen und mit allen Sinnen in die Le- Manchmal entwickeln sich Oasen für Wildtiere auch
benswelt des Landschaftsgestalters Biber abzutauchen. an ungewöhnlichen Stellen. So wurde der ehemalige
Sehr beliebt sind auch Ernteeinsätze in BUND Streu- Todesstreifen zum Grünen Band des Lebens.
obstwiesen, gerade dann, wenn auch noch der Apfel- Im Rahmen unseres gemeinsamen Projektes fanden
saft frisch vor Ort gepresst und verkostet wird. Ein be- etliche Beratungen und auch kleinere Kooperations-
sonderes Augenmerk legen wir auf Naturerlebnisräu- projekte mit Kulturtreibenden statt. Neben der Bera-
me in Städten. Ein tolles Beispiel dafür sind die Kin- tung der Ach-Ja Theaterbühne Essen zur Entwicklung
derwildnis in Bremen und Nienburg. Hier gehen Kinder des Stückes »Motte will Me(h)er« gab es auch erste
auf Entdeckertour und erleben Natur neu. Der Kräu- Filmprojekte für ein Online-Vergnügen zum Thema
tergarten der Ökostation Freiburg ist eine Oase für alle Streuobstwiese für Familien, Ideen für eine Weiter-
Sinne. Da die Eindrücke auch zum Ausdruck gebracht entwicklung von Kleidertauschbörsen, ein Kasperle-
werden sollen, bieten wir Kindern über den Naturta- theaterstück über den »grauen Helden«, basierend auf
gebuchwettbewerb ein besonders Angebot: Sie können einem Text der Slampoetin Jessy James LaFleur, japa-
allein oder in einer Gruppe ein Tagebuch über Pflanzen nisches Erzähltheater zum Buch »Mein Wildbienen-
oder Tiere vor ihrer eigenen Haustüre gestalten, die- Buch« und vieles andere mehr.
se einsenden und tolle Preise gewinnen. Begleitet wird
das Projekt von Manfred Mistkäfer, dem langjährigen Birgit Eschenlohr ist BUND Projektleiterin im
Experten und ehrenamtlichen Berater der Begleitpu- Diskursprojekt Heimat & Nachhaltigkeit.

Emotionale Zugänge
BIRGIT ESCHENLOHR

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56
Schnee zu KARSTEN SCHWANKE

Weihnachten!
Herr Schwanke, Sie sind als Meteo­ Wie viel Arbeitszeit verwenden Sie Der Wetterbericht im Fernsehen ist
rologe, Journalist und Moderator für die meteorologische Analyse, wie ein journalistisches Produkt – mein
für die Öffentlich-Rechtlichen tätig. viel für die journalistische Arbeit? Eindruck ist, dass dieser in den letz­
Das ARD-Wetterteam ist vor Kurzem Das geht ineinander über, wir arbeiten für ten Jahren im Zuge des Klimawandels
nach Frankfurt zum HR umgezogen. das Medium Fernsehen. Das heißt, selbst politischer geworden ist. Inwieweit
Dort bereiten Sie mit den Kolleginnen eine einfache Wetterkarte, die ich erstel- hat sich die Haltung der Meteorologen
und Kollegen werktags die Wetterin­ le, erläutere ich einem Meteorologen an- verändert?
formationen für rund 35 TV-Wetter­ ders als unseren Zuschauern. Ich versuche, Ja, definitiv – aber ich kann nur für mich
berichte sowie die Vorhersagen für die ein Deutsch zu wählen, mit dem das Wet- sprechen. 1995, als ich anfing, war es kom-
Radioprogramme und Webangebote ter möglichst verständlich und plastisch ist. plett neu, dass es einen journalistischen
auf. Wie sieht ein klassischer Arbeits­ In zwei Minuten Wetterbericht stecken so Wetterbericht im Fernsehen gab, der als
tag bei Ihnen aus? viele Informationen drin – angefangen von unterhaltendes Element verstanden wur-
Wir sind ein großes Team von ca. 70 Leuten, den Himmelsrichtungen innerhalb des Sen- de. Gerade unter Jörg Kachelmann gab es
die im Schichtbetrieb arbeiten. Ich selbst degebietes über den zeitlichen Ablauf bis eine Veränderung der Sprache und des An-
bin vor allem für zehn Fernsehsendungen hin zu den Erklärungen, warum etwas pas- satzes. Wir wollten Geschichten finden, wir
zuständig. Klassischerweise komme ich ge- siert. Daher ist mein Hauptaugenmerk im- wollten unterhalten. In den letzten Jahren
gen 14 Uhr ins Büro, schaue mir die Wetter- mer darauf gerichtet, das Wetter zugleich geben wir deutlich mehr Informationen an
lage an und diskutiere sie mit einem an- so einfach und korrekt wie möglich zu prä- die Zuschauerinnen und Zuschauer weiter.
deren Meteorologen. Dann mache ich mir sentieren. Entsprechend ist jede Wettersen- Während der Dürre der letzten beiden Jah-
Gedanken zu den verschiedenen Sendun- dung ein journalistisches Produkt mit me- re beispielsweise konnten wir sehr gut über
gen für ARD, WDR, SWR, RBB und NDR, ich teorologischem Hintergrund. Hinzu kommt, den Dürrezustand der Böden in Deutsch-
überlege mir individuelle Einstiege in die dass das Wetter nicht am frühen Nachmit- land berichten. Das sind Informationen, die
Moderation: sei es eine Unwetterwarnung tag fertig geplant ist: Vor jeder Sendung hätte ich vor zehn Jahren noch gar nicht ge-
oder eine Geschichte zu extremen Höchst- schaue ich auf die aktuellen Radar- und habt. Heute können wir etwas über die Ge-
bzw. Tiefsttemperaturen. Dann bereiten wir Satellitenbilder und prüfe, ob das, was ich schwindigkeit des Abschmelzens des grön-
zusammen diese Sendungen vor: Das heißt, im Kopf habe, noch mit der Realität über- ländischen Eises sagen – auch das sind In-
wir geben unsere Gedanken den Grafikern, einstimmt. Abends kommen immer wieder formationen, die ich vor zehn Jahren nicht
die die Wetterkarten erstellen. Am späten neue Wettermodelle von den Großrechen- gehabt hätte. Es gibt auch immer mehr Wet-
Nachmittag gegen 17 Uhr beginnen wir im zentren herein. Das heißt, wir aktualisie- terstationen – und anhand der Messungen
Studio aufzuzeichnen. Ich moderiere die ren im Verlauf eines Abends ständig unsere sehen wir immer häufiger den Klimawandel.
verschiedenen Sendungen: die eine Hälfte Wettervorhersagen. Die Vorhersage, die ich Dieser zeichnet sich schon seit einigen Jahr-
live, die andere Hälfte wird aufgezeichnet. um 15 Uhr mache, ist definitiv anders als die zehnten ab, aber unsere Messwerte der letz-
Jede Sendung hat ein anderes Wetter in Vorhersage, die ich um 22 Uhr geben werde. ten Jahre weltweit zeigen, wie sich an allen
einer anderen Region mit einer anderen Ecken und Enden der Klimawandel und sei-
Sendelänge. Ich moderiere ohne Promp- ne Auswirkungen beschleunigen. Beispiels-
ter – alles, was ich berichte über das Wet- weise haben Waldbrände, die ich auf Satel-
ter, habe ich im Kopf. Deshalb ist es wich- litenbildern in Sibirien sehe, einen wichti-
tig, dass ich es mit erarbeite. Das ist ein Ar- gen Einfluss auf unser Wetter. Das sind na-
beitstag – und der geht bis zum Ende der türlich Geschichten, die ich aufnehme, um
Tagesthemen bis 23 Uhr. den Leuten hier zu verdeutlichen, wie groß
das Problem ist. Insofern wird mein Wet-
terbericht politischer, weil es mich zuneh-
mend erschreckt, wie gelähmt oftmals Po-
litik und Gesellschaft sind, obwohl die Fak-
ten auf dem Tisch liegen.

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Ihre politische Haltung dazu zeigen Es wird mir leichter gemacht, es wird mir
Sie auf Twitter: Am 8. Juli twitterten mit mehr Spaß angeboten und ich muss
Sie anlässlich eines Tagesschau-Be­ mich nicht durch einen Dschungel mit El-
richtes über die Rekordtemperaturen lenbogen kämpfen.
in Sibirien, am 24. Juli machten Sie da­
rauf aufmerksam, dass eine Verdopp­ Das Wetter ist auch für die Heimat
lung des CO₂-Gehaltes zu einer Erwär­ von Bedeutung: In Berlin sind die
mung von 2,6 bis 3,9 Grad führt. Was Winter Grau in Grau, in Hamburg ist
ist jetzt zu tun, um unsere Heimat, man besser beraten, nicht ohne Re­
wie wir sie kennen, zu erhalten – von genschutz aus dem Haus zu gehen, am
Politik, Wirtschaft und Gesellschaft? Thüringer Becken bleiben die Wolken
Das ist eine ganz einfache Antwort. Es ist immer hängen. Inwieweit ist dieses
das zu tun, was wir seit 100 Jahren wissen, Bild von Heimat, das wir haben, durch
was wir tun müssen: Wir müssen wegkom- das Wetter geprägt?
men vom Verbrennen von Kohle, Öl und Es ist sehr stark davon geprägt. Mit dem Be-
Gas. Das Wissen liegt auf dem Tisch und wir griff Heimat verbinde ich Kindheit und Ju-
müssen es wirklich umsetzen. Die Aufgabe gend – die Schulzeit, die Ferien, die Freizeit,
der Politik mit Unterstützung der Gesell- mit den Fahrrädern in den Wald fahren usw.
schaft ist, dass die Randbedingungen dafür Und das ist immer geprägt von Wettererleb-
noch stärker geschaffen werden. Stichwort nissen. In meiner Kindheit und Jugend wa-
CO₂-Bepreisung – das läuft zu schleppend. ren viele Sommer verregnet und kühl.
Stichwort Kohleausstieg – ja, es gibt einen Ich denke übrigens bei Heimat nicht an
Kohleausstieg, aber den bestehenden zu die Momente, in denen ich in meinem Zim-
feiern wäre aberwitzig. Ich muss nieman- mer saß und ein Buch gelesen habe, son-
dem mehr sagen, was zu tun ist. Alle Ent- dern es sind immer Outdoor-Aktionen, an
scheider und jeder, der sich dafür interes- die ich mich erinnere und mit Heimat ver-
siert, wissen, was zu tun ist. Aber was noch binde. Ich komme aus Brandenburg: Seen,
immer nicht angekommen ist, dass wir das Getreidefelder, Pilze in den Wäldern suchen
in einem höheren Tempo tun müssen. – das sind Bilder, die ich mit Heimat verbin-
de. Und die sind ganz stark wetterabhängig.
Braucht es dafür den kulturellen Wer in Bayern am Alpenrand wohnt, für
Wandel hin zu mehr Bewusstsein den sind es die Schneefelder in den Hoch-
für Nachhaltigkeit? gebirgslagen, die noch im Mai und Juni
Das frage ich mich: Braucht es noch mehr weiß in der Sonne glänzen. Das wird sich
Bewusstsein? Braucht es mehr Wissen? ändern und damit wird sich ein anderes
Oder ist das nicht eigentlich schon da?Wir Bild dieses Heimatbegriffes im Kopf fest-
erleben eine Gegenreaktion aus Angst, dass setzen, als wir es noch haben.
das eigene Leben verändert werden muss.
Aus Angst, dass auf uns etwas zukommt, das Für viele Menschen gehört Schnee zu
wir nicht abschätzen können. Aus Angst, Weihnachten, die Ostereier sollten
dass das, was wir im Laufe des Lebens ge- am besten draußen bei Sonnenschein
schaffen haben – ein Auto, ein kleines Rei- gesucht werden. Welche Auswirkun­
henhaus, der Urlaub mit dem Flugzeug ans gen hat dann entsprechend das verän­
Mittelmeer – verloren geht. Aus Angst, dass derte Klima auch auf unsere kultu-
unser Leben teurer wird usw. Aus dieser relle Wahrnehmung von Feiertagen?
Angst entsteht eine Negierung des Wissens. Ich glaube, wir werden immer Lieder über
Unterstützt wird diese Tendenz von Popu- weiße Weihnachten hören, auch wenn es
listen auf der ganzen Welt: Wissenschaft- keine mehr geben wird – und das ist ja ab-
liche Tatsachen werden einfach ignoriert. zusehen. Wir hängen an diesen Sehnsuchts-
Wir müssen diese Angst ernst nehmen bildern. Was jedoch in Mitteleuropa unbe-
und uns fragen: Wie viele sträuben sich da- nommen vom Klimawandel bleibt, ist, dass
gegen? Warum sträuben sie sich dagegen? Weihnachten die dunkelste Zeit ist. Dunkel-
Ich denke, eine Förderpolitik, die so ausge- heit kann auch zu besinnlichen Momenten
staltet wird, dass ich belohnt werde, wenn führen, die dieses Fest ausmachen, selbst
ich mich in die nachhaltige Richtung be- wenn es nicht mehr schneien sollte. Die
wege, könnte deutlich besser laufen. War- Wahrscheinlichkeit, dass die Ostereier drau-
um ist Norwegen das Land mit den meisten ßen gesucht und gefunden werden können,
Elektroautos? Weil dort die Förderung am steigt hingegen deutlich an.
höchsten ist. Warum fahren in Amsterdam
und Kopenhagen so viel mehr Menschen Karsten Schwanke ist Meteorologe,
mit dem Fahrrad? Weil dort pro Kopf in die Journalist und Moderator. Die Fragen
Fahrradinfrastruktur wesentlich mehr in- stellte Theresa Brüheim – sie ist
vestiert wird. Chefin vom Dienst von Politik & Kultur.

58
Motor der ERNST-CHRISTOPH STOLPER

Veränderung
D
ie Geburtsstunde der engeren Kooperation zwi- ressen der Autokonzerne orientiert, um eine ökologi-
schen BUND und Deutschem Kulturrat war auch sche Agrarpolitik oder auch um die Etablierung sozia-
gleichzeitig ein Highlight politischer Bewegungen ler Grundsicherungssysteme?
in Deutschland. Nicht viele Bewegungen haben so viele Zweifel sind erlaubt. Nach den Erfahrungen der Co-
Menschen und Organisationen zusammen und auf die ronakrise dürfte es das Argument »Geht nicht« eigent-
Straße gebracht wie die gegen das Handelsabkommen lich nicht mehr geben. Denn Klimawandel, Verlust von
TTIP. Zu nennen sind außerdem noch die Friedensbe- Biodiversität, Hunger und Armut sind für ein weltoffe-
wegung der 1980er Jahre und die Klimabewegung. Be- nes Land wie Deutschland mindestens so bedrohlich
wegungen dieser Größe entstehen dort, wo Widersprü- wie das Virus. Aber schon bei der Umsetzung des Koh-
che offensichtlich werden und grundlegende Werte be- leausstiegs zeigt sich wieder der bekannte Trott von
droht sind – sei es beim Opfern von Demokratie, Umwelt Nichthandeln, Verzögern und Zerreden.
und Sozialstandards auf dem Altar des Freihandels oder Wenn aber Regierungen ihrem Auftrag nicht nach-
bei der Bedrohung unserer Lebensgrundlagen durch kommen, Probleme zu lösen, dann sind Nichtregie-
Krieg oder Klimakatastrophe. rungsorganisationen umso mehr gefordert, selbst Lö-
Meist stehen Bewegungen Regierungen gegenüber, sungen zu entwickeln. Dies kann nur in breiten Bünd-
die nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems nissen geschehen. Die Zusammenarbeit zwischen Um-
sind. Gerade gegenüber der Klimabewegung hat die weltverbänden, Gewerkschaften und Sozialverbänden
Bundesregierung im Herbst letzten Jahres ein erschre- ist hierfür ein Beispiel, aber auch die Kooperation zwi-
ckendes Maß an Kleinmut gezeigt. Nur wenige Hun- schen BUND und Deutschem Kulturrat. Als Nichtregie-
dert Meter von den Hunderttausenden, die an diesem rungsorganisationen haben wir dabei den unbestreit-
Tag in Berlin demonstrierten, wurde im Bundeskanz- baren Vorteil, nicht immer auf die kurzfristige Maxi-
leramt ein Dokument des Zauderns und der Ängstlich- mierung von Gewinnen oder Stimmanteilen schielen
keit verabschiedet – von der Regierung als »Klimapa- zu müssen, sondern langfristiger und konzeptioneller
ket« apostrophiert, obwohl doch der Begriff des »Kli- denken zu können.
mapäckchens« noch eine der freundlicheren Bezeich- Gerade der Kulturbereich hat in diesem Kontext eine
nungen dafür war. immer größer werdende Bedeutung. Wenn wir es schaf-
Doch derartige Strategien des Schönredens, Ver- fen wollen, Wirtschaft und Gesellschaft innerhalb der
schleierns und Verzögerns fruchten nicht mehr. Wie in planetaren Grenzen zu entwickeln, dann liegt das Heil
Andersens Märchen »Des Kaisers neue Kleider« wird of- nicht in der immer effizienteren Produktion von im-
fenbar, dass hinter den vielen Zeit- und Maßnahmen- mer mehr Konsumgütern, sondern in einer Wirtschaft,
plänen, Kommissionen und Untersuchungsvorhaben die erheblich weniger Ressourcen verbraucht und dras-
oft nichts anders steckt als die Angst vor unbequemen tisch weniger Abfall und Klimagase erzeugt. Dies wird
Entscheidungen. »Aber er hat ja gar nichts an«, ruft im eine Welt der Dienstleistungen und insbesondere der
Märchen das Kind beim Anblick des Kaisers und ent- zwischenmenschlichen sein: in Gesundheit und Pfle-
larvt das feine Gespinst wechselseitiger Schönredne- ge, Bildungsstätten und Kitas – aber eben auch im Be-
rei. Die Kinder unserer Zeit heißen Greta oder Rezo reich der Kultur – vom Konzert über bildende Künste
und sie enthüllen in erfrischender Unbefangenheit die bis hin zum hochwertigen Videospiel.
Wolkenschiebereien der Berliner Politik. Dass der Bundesregierung in der Coronakrise die
Bewegungen können viel erreichen: Sie können Pro- Rettung der Lufthansa wichtiger war als die Unterstüt-
bleme aufdecken, sie können Druck machen. Was sie zung vieler freischaffender Kulturschaffender und an-
aber nicht können, ist effektive Gesetzgebung und kon- derer Dienstleister, zeigt, wie notwendig die noch in-
sequentes Regierungshandeln ersetzen. Deshalb ste- tensivere Zusammenarbeit von Umwelt-, Sozial- und
hen Parlamente und Regierungen im Fokus der Erwar- Kulturverbänden in den kommenden Jahren ist.
tungen. Werden sie den Mut haben, sich mit mächtigen
Interessengruppen anzulegen, wenn es um eine wirk- Ernst-Christoph Stolper ist Mitglied des BUND
liche Klimapolitik und Energiewende geht, um eine und Leitungskreis-Sprecher des NGO-Bündnisses
Verkehrspolitik, die sich nicht vorrangig an den Inte- »Forum Umwelt und Entwicklung«.

59
Seit zwei Jahren kooperieren der Wenn Sie auf die Zusammenarbeit Wenn wir eine aktive und erfolgreiche
BUND und der Deutsche Kulturrat zurückblicken, welches Highlight Transformation wollen, reichen die techni-
intensiv im Rahmen des vom Rat für aus der Kooperation nehmen Sie mit? schen Argumente nicht, sondern wir müs-
Nachhaltige Entwicklung geförder- Was ist Ihnen besonders in Erinne- sen auch die kulturelle Debatte führen und
ten Projektes »Heimat – was ist das?«. rung geblieben? gestalten.
Ziel ist es, eine Brücke zwischen dem Bandt: Für mich war die erste Veranstaltung
Nachhaltigkeitsdiskurs des Natur- zum Thema Heimat in Leipzig ein besonde- Zimmermann: Das möchte ich gern unter-
und Umweltbereiches und kulturpo­ res Erlebnis. Wir sind dort mit Menschen ins stützen, denn es ist der Kern unserer Ko-
litischen Debatten zu schlagen. Wie Gespräch gekommen, die ihr Leben lang mit operation. Wir als Deutscher Kulturrat ha-
ist es aktuell um diese Brücke bestellt, und von der Kohle gelebt haben. Ihre Exis- ben uns durch diese Kooperation mit dem
Herr Zimmermann? tenzgrundlage war Kohle. Mir war es wich- BUND sehr intensiv mit der Agenda 2030
Zimmermann: Ich finde, dieser Brückenbau tig, da hineinzuspüren, was es für Menschen und den 17 Nachhaltigkeitszielen beschäf-
ist wirklich gut gelungen. Es sind zwei sehr bedeutet, was es für ihre Identität leistet. tigt. Das war ein Novum, jetzt haben wir
unterschiedliche Bereiche zusammenge- Eine ökologische Debatte allein reicht nicht, uns deutlich dazu positioniert. Dabei konn-
kommen, der Natur- und der Kulturbereich. um eine Transformation zu gestalten. Mein ten wir auf dem Wissen des Umweltberei-
Beide haben, wenn man sich die Geschichte Highlight war zu sehen, wie der Funke des ches aufbauen, der uns jahrelange Erfah-
anschaut, zu Beginn ihrer Gründung inten- Verständnisses zwischen den Identitäten rungen in der Auseinandersetzung mit die-
siv zusammengearbeitet, aber sich im Laufe von Menschen und den ökologischen An- sen Themen voraus hat.
der Jahrzehnte voneinander entfernt. Jetzt liegen übersprang. Wie Olaf Bandt sagt: Eine Neubesinnung
arbeiten wir wieder enger zusammen, und der Gesellschaft im Sinne von mehr Nach-
zwar nicht mehr nur in einzelnen Aktio- Zimmermann: Mir ist zum einen der An- haltigkeit kann nur erreicht werden, wenn
nen. Denn so hatte die Annäherung vor ei- fang unserer Kooperation anlässlich des die kulturelle Struktur verändert wird. Wir
nigen Jahren wieder begonnen, als wir uns Protestes gegen TTIP und CETA beson- wissen heute alle, dass wir so nicht weiter-
gemeinsam gegen die beiden Freihandels- ders in Erinnerung. Es ist dem BUND zu machen können, sonst wird uns der Klima-
abkommen TTIP und CETA gewehrt haben. verdanken, dass wir für den Deutschen Kul- wandel umbringen. Wir müssen viel nach-
Heute arbeiten wir inhaltlich zusammen – turrat eine neue Aktionsform entdeckt ha- haltiger mit unserer Erde umgehen, sonst
wie beim Thema Heimat. ben, nämlich die Großdemonstration. Da- schlägt sie so brutal zurück. Wir haben kein
bei haben wir von den erfahrenen Kollegin- Wissensdefizit – dafür haben die Umwelt-
Herr Bandt, inwieweit hat sich in nen und Kollegen aus dem Umweltbereich verbände seit vielen Jahrzehnten gesorgt.
dieser Zeit beim Natur- und Umwelt­ eine ganze Menge gelernt. Zum anderen Trotzdem leben viel zu wenige nachhaltig.
bereich eine Sensibilisierung für liegt mir die Debatte, die wir gemeinsam Wissen allein führt nicht zum Erfolg. Wir
die kulturpolitischen Debatten rund zum Grünen Band bei der Veranstaltung in brauchen auch eine kulturelle Transforma-
um Nachhaltigkeit eingestellt? Bad Alexandersbad geführt haben, beson- tion. Wenn wir jetzt stärker zusammenar-
Bandt: Zu Beginn der Zusammenarbeit ders am Herzen. Wir haben dort im Win- beiten und das Wissen mit der kulturellen
waren die Mitglieder des BUND sehr über- ter das Grüne Band besucht. Und dabei die Veränderungsmöglichkeit zusammenfüh-
rascht über diese Kooperation. Dass wir bei wichtige Erkenntnis gefasst, dass es sich ren, werden wir erfolgreicher sein.
einem Thema wie den Freihandelsabkom- beim Grünen Band um etwas handelt, das
men zusammenarbeiten würden, hatte nie- sowohl für den Natur- als auch für den Kul- Wie wird die weitere Zusammen-
mand geahnt. Wir haben gelernt, dass man turbereich gleichermaßen wichtig ist. Hier arbeit zwischen BUND und
politische Fragen nicht nur aus der ökolo- wurde noch mal deutlich, dass trotz zahl- Deutschem Kulturrat aussehen?
gischen Perspektive betrachten muss, son- reicher Unterschiede die Gemeinsamkei- Bandt: Wir wollen im Bereich Wohlstand
dern wir müssen auch fragen, was diese für ten überwiegen. und Glück zusammenarbeiten. Dabei ist
unsere kulturelle Identität bedeuten. die zentrale Frage für die Transformation
Die Diskussion um das Thema Heimat Herr Bandt, was konnte der Natur- unserer Gesellschaft: Was ist ein gutes Le-
hat gezeigt, wie vielfältig die Zusammen- und Umweltbereich in den letzten zwei ben? Wir leben immer noch mit viel zu ho-
arbeit zwischen BUND und Deutschem Kul- Jahren vom Kulturbereich lernen? hen Rohstoff- und Energieverbräuchen, die
turrat ist und welche Chancen sie eröffnet. Wo sind Inspirationen entstanden? sich auch bei der kompletten Umstellung
Nicht bei all unseren Mitgliedern ist das Bandt: Wir konnten insbesondere lernen, auf erneuerbare Energien und Elektroautos
Thema Heimat sofort auf Begeisterung ge- dass die Umgestaltung im Sinne des Klima- so weltweit nicht fortsetzen lassen. Immer
stoßen. Aber zu sehen, was die Diskussion schutzes, diese tiefgreifenden Veränderun- mehr Menschen wollen Zugang zu Sicher-
um die kulturelle Dimension von Heimat gen, nicht nur technischen und naturwis- heit und Wohlstand. Dafür ist das westliche
umfasst und dass diese uns als BUND wei- senschaftlichen Logiken folgen, sondern Wohlstandsmodell nicht geeignet.
terbringt, ist der große Schritt, den wir in dass sie ganz wesentlich in die kulturelle
den letzten zwei Jahren getan haben. Identität von Menschen eingreifen werden.

Brückenbau OLAF ZIMMERMANN UND OLAF BANDT

60
Wir wollen uns fragen, was ist Wohlstand, Aber die Frage ist doch, ob das ein Verzicht Deshalb animiere ich auch andere im Kul-
was ist ein gutes Leben, was ist gute Ar- ist? Verlieren wir dabei wirklich etwas? Oder turbereich, denn es kann nicht nur Aufgabe
beit? Man muss nicht viel verbrauchen, um gewinnen wir nicht viel mehr? Wir müs- des Deutschen Kulturrates als Spitzenver-
gut zu leben. Dabei sind kulturelle Fragen sen darüber nachdenken, ob ein gutes Le- band sein, sondern es muss auf allen Ebe-
zentral. Wie entsteht Glück? Was kann der ben wirklich bedeutet, viel zu haben? Die- nen, in den Ländern, in den Kommunen, in
Einzelne tun, wie kann er sich ein gutes Le- se Veränderung der Sichtweise können wir den unterschiedlichen kulturellen Berei-
ben gestalten? Was braucht es für politi- nur gemeinsam herstellen. Ich freue mich chen, umgesetzt werden.
sche Rahmenbedingungen? Das kann ich darauf, jetzt gemeinsam zu diskutieren, wie
nicht naturwissenschaftlich beantworten. man diese beiden Welten zusammenbringt. Bandt: Mein Anspruch wäre, dass wir das,
Zu einem guten Leben gehört sicherlich Ich bin mir sicher, dass uns diese Form des was wir oft im Kleinen erleben, die Diskussi-
eine gewisse materielle Absicherung, die positiven Verzichts freier macht. Sie be- onen zwischen Kulturschaffenden und öko-
viele Menschen auf der Welt noch nicht er- schränkt uns nicht, sie nimmt uns nichts logischen Nachhaltigkeitskämpfern poli-
reicht haben. Aber gerade in Deutschland weg, sie bringt uns dem Leben näher. tisch, gesellschaftlich, medial wirksam nach
leben sehr viele Menschen weit über dem außen tragen. Das ist eine spannende Ziel-
Standard. Wie lässt sich das in ein Lebens-Zu einer erfolgreichen Zusammen­ vorstellung.
modell mit politischer Rahmensetzung arbeit gehört auch kritische Selbst­
überführen, bei dem weniger Konsum, we- reflexion. Wie kann in Zukunft Was fordern der Kultur- und Um-
niger Besitz, weniger Verbrauch zu mehr die Zusammenarbeit noch besser weltbereich jetzt gemeinsam von der
Glück und Wohlstand führen? Das ist eines ­gelingen? Was ist dafür zu tun? Politik? Was ist zu tun, damit im
der zentralen Themen, denen wir in unserer Zimmermann: Ich bin ein ungeduldiger Sinne der Agenda 2030 in den nächs­
weiteren Kooperation nachspüren wollen. Mensch. Es gibt Menschen, die mit dem ten zehn Jahren nachhaltige Fakten
Alter ruhiger werden. Bei mir ist das leider geschaffen werden?
Zimmermann: Aktuell wird die Nachhal- umgekehrt. Mir geht der allgemeine Prozess Bandt: Wir müssen das, was wir als BUND
tigkeitsdebatte vor allem unter dem Ar- zu mehr Nachhaltigkeit immer noch viel zu und Deutscher Kulturrat gemeinsam ge-
gument des Verzichts geführt: Wir dürfen langsam. Daher wünsche ich mir noch mehr lernt haben, noch bewusster in die Politik
nicht mehr so viel reisen und fliegen, wir Engagement. Ich möchte, dass wir noch tragen. Denn der Zusammenhang zwischen
dürfen nicht mehr so viele Rohstoffe ver- stärker auf den BUND zugehen, noch mehr Kultur, Umweltschutz, Nachhaltigkeit und
brauchen und so weiter. miteinander machen. Denn diese Koopera- Transformation wird noch zu wenig gese-
tion hat den Deutschen Kulturrat auf den hen. Wenn es um nötige Veränderungen
richtigen Weg gebracht: Wir schauen wei- geht, wird noch zu viel von der Politik über
ter über den eigenen Tellerrand hinaus. Da- Widerstände gestöhnt.
raus können wir eine ganze Menge für an-
dere Prozesse lernen. Zimmermann: Als zivilgesellschaftliche Ak-
teure sind wir weiter als die Politik, insbe-
sondere was die Kooperationen angeht. Es
gibt für uns bei diesem Thema keine strikte
Trennung mehr zwischen Umwelt- und Kul-
turbereich. Ich würde mir wünschen, dass
es zwischen der Staatsministerin für Kultur
und Medien und der Bundesumweltministe-
rin viel mehr gemeinsame Aktivitäten gibt.
Als ein anderes gemeinsames politisches
Ziel unterstützen wir gemeinsam die No-
minierung des Grünen Bandes als UNESCO
Weltkultur- und Weltnaturerbe. Das ist et-
was ganz Konkretes. Hier können wir zei-
gen, dass die Zusammenarbeit zu einem ge-
meinsamen Ertrag führt. Und das sollten wir
auch in Zukunft verstärkt machen: Wir wol-
len der Politik zeigen, dass die strikte Tren-
nung von Kultur und Umwelt von gestern ist.

Olaf Zimmermann ist Geschäftsführer des


Deutschen Kulturrates. Olaf Bandt ist
Vorsitzender des Bund für Umwelt und Natur-
schutz Deutschland (BUND). Die Fragen
stellte Theresa Brüheim – sie ist Chefin vom
Dienst von Politik & Kultur.

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W
ährend das Thema Nachhaltigkeit in Die Forschung im Bereich subjektives Wohl-
den letzten Jahren enorm an Bedeu- befinden hat inzwischen viele solide Ergeb-
tung gewonnen hat, wurde auch das nisse generiert, was das Glück und die Zu-
Thema Glück zunehmend populär. Neben friedenheit von Menschen beeinflusst. Hier
zahlreichen Ratgebern gibt es auch eine va- kann die Nachhaltigkeitsforschung anknüp-
lide Forschung zur Frage, was Menschen fen und Pfade erkunden, die Glück und
glücklich macht. Der passende Begriff lau- Nachhaltigkeit verbinden. So trägt der Kon-
tet subjektives Wohlbefinden und beinhal- takt zur Natur zum Wohlbefinden bei und
tet sowohl das Glücklichsein im Sinne von der Naturfreund kann einen entsprechend
positiven Gefühlszuständen als auch den nachhaltigen Lebensstil entwickeln, in-
Aspekt von Zufriedenheit, also der Bewer- dem er sein Wohlbefinden im Naturgenuss
tung des eigenen Lebens – in Teilen oder statt im Konsum findet. Aber auch die Kul-
im Ganzen. turfreundin, die sich eher für das künstle-
Ausgehend vom Befund, dass wir ­derzeit rischen Schaffen als für den Kleingarten be-
nicht nachhaltig leben, jedoch nach mehr geistert, folgt einer Idee von Wohlbefinden,
Wohlbefinden streben, stehen Nachhaltig- die mit einer nachhaltigen Lebensweise ein-
keit und Wohlbefinden offenbar im akuten hergehen kann, wenn dies auch indirekt ge-
Konflikt zueinander. Grund- schieht. Wenn Menschen sich
legend bedingen sie sich je- einer Sache widmen, die in
doch, denn Nachhaltigkeit ist
Wie viel ist genug? sich ressourcenarm ist und
ein anthropozentrisches Kon- Genug wofür? vom Wachstumsparadigma
zept, was das gute Leben al- Abstand nimmt, etwa der Ge-
ler Menschen, heute und in Zukunft, er- nuss von Kultur oder die eigene künstle-
möglichen soll. Somit gilt es, das Mitein- rische Betätigung, ist dies ebenso ein An-
ander von Wohlbefinden und Nachhaltig- satz für Suffizienz. Genau an dieser Schnitt-
keit zu erforschen und dabei den Blick zu stelle steht die Rolle von Kunst und Kultur
fokussieren. So zeigt sich, dass Wohlstand besonders im Fokus, denn sie bieten eine
und Wohlbefinden nur bedingt miteinander Orientierung jenseits des vorherrschen-
korrelieren: Während wir einerseits immer den, enorm materialistischen Verständnis-
mehr Wohlstand schaffen und dafür im- ses von Wohlstand, das allzu oft das ver-
mer mehr Ressourcen verbrauchen, steigt sprochene Wohlbefinden ohnehin nicht ge-
das Wohlbefinden kaum noch weiter an neriert. Statt lediglich auf Selbstbegrenzung
oder sinkt sogar. Das Ideal des materiellen zu drängen, braucht es mehr Perspektive ei-
Wachstums hat also offenbar eine Eigendy- ner qualitativen Entwicklung für die Men-
namik entwickelt, die nicht mehr zu einem schen und unsere Gesellschaft, sodass per-
immer besseren Leben der Menschen bei- sönliche Entfaltung und Vielfalt willkom-
trägt. Die Forderung nach Postwachstum men sind.
und Suffizienz ist aus dieser Sicht nicht nur Die Philosophie der Lebenskunst for-
ökologisch dringend geboten, sondern bie- muliert dies in ihrem Ansatz. In seinen
tet auch eine relevante kulturelle Perspek- Forschungen zur Lebenskunst fragte sich
tive und stellt mithin eine zivilisatorische Foucault, warum es nicht jedem Menschen
Aufgabe dar. Die Frage nach dem »Wie viel möglich sein sollte, aus seinem Leben ein
ist genug?« muss einhergehen mit der Fra- Kunstwerk zu machen. Dies erinnert an das
ge »Genug wofür?«, also der Auseinander- Diktum von Joseph Beuys »Jeder Mensch ist
setzung mit den Ideen des guten Lebens. ein Künstler«. Beide Aussagen verweisen
Reise
Den Blick auf das Wohlbefinden zu rich- auf die Kernform von Lebenskunst, sich aus
ten, bietet dabei eine vielversprechende Al- dem oktroyierten Kreislauf von Produktion
ternative zur moralischen Forderung nach und Verbrauch, von Arbeit und Konsum zu
Verzicht und der Idealisierung einer ökolo- befreien. Dazu gehören zahlreiche Formen:
insJOCHEN DALLMER
gisch motivierten Askese. das künstlerische Schaffen ebenso wie die
Muße, das Miteinander, das Spiel, die Kon-
templation. Sie tragen zum Wohlbefinden
bei, ohne der nachhaltigen Entwicklung ab-
träglich zu sein. Das reflektierte – oder auch
Glück
aufgeklärte – Streben nach Wohlbefinden
kann in diesem Verständnis ein wertvoller
Beitrag zur Entwicklung einer nachhaltigen
Lebensweise sein.

Jochen Dallmer ist Politikwissenschaftler


und freier Referent zu den Themen Nachhaltig-
keit und Glück sowie im Bildungsbereich.

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