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publish!

Publizieren als
künstlerische Praxis
herausgegeben von Franz Thalmair

Was bedeutet es heute im künstlerischen


Umfeld zu publizieren? Angesichts
sich verändernder Medienlandschaften,
institutioneller Umbrüche und diskursiver
Verschiebungen, verhandeln Künstler-
Innen die Methoden des Publizierens gerade
neu und führen Brüche ein. Das Dar-
stellungsmedium Buch bleibt, der Umgang
damit hat sich jedoch vom statischen
Objekt hin zum prozessorientierten Werk-
zeug gewandelt. Vielfältige Erscheinungen
wie etwa als Ausstellungsräume begriffene
KünstlerInnenpublikationen, Bücher
im Kontext von Internet- und Netzwerk- Die Website von KUNSTFORUM International
aufgerufen mit Abstract Browsing von Rafaël Rozendaal,
kultur, Distribution als künstlerische https://www.kunstforum.de/archiv/
Methode, von KünstlerInnen geführte
Verlage, Buchhandlungen und Initiativen NACHRICHTEN
oder zahlreiche experimentelle Romane
von KünstlerInnen treten vermehrt auf. von Jürgen Raap
Es zeigt sich, dass es an der Zeit ist, die Frage Museen: 16, Kulturpolitik: 18, Hochschulen: 20,
nach dem Publizieren mit aktuellen Biennalen: 22, Messen: 26, Galerien: 30,
ästhetischen, künstlerischen und gesell- Personalien: 32, Preise: 34, Ausschreibungen: 36
schaftlichen Diskursen zu konfrontieren.
In diesem Themenband „publish!“ dis-
kutieren KünstlerInnen, Herausgeber-
Innen und WissenschafterInnen in Essays
und Gesprächen wie sich das traditionelle
DISSONANTE PERSPEKTIVEN
Publizieren aus der experimentellen Arbeit, Zeit – Getriebeschaden
Kunstszene entwickelt und forcieren eine von Hans Ulrich Reck
neuerliche Beschäftigung mit der Buch- 40

seite im immer dichter werdenden Wald


aus Pixeln des 21. Jahrhunderts.

Cover: Meiré und Meiré


Annette Gilbert
Paul Soulellis
„WAS WIR BRAUCHEN, IST EIN NOCH
VIEL RADIKALERES PUBLIZIEREN“
86

II. Publizieren als Ausstellungspraxis

Gudrun Ratzinger
Auf der Seite wie im Raum
PUBLIZIEREN UND AUSSTELLEN ALS
PRAKTIKEN DER KUNSTPRODUKTION
94

Gudrun Ratzinger
Mariana Castillo Deball
„AUSSTELLEN UND PUBLIZIEREN
ALS TEIL DERSELBEN SITUATION“
104

Gudrun Ratzinger
Slavs and Tatars
DISKURSIVE GASTFREUNDSCHAFT
112

PUBLISH!
Editorial
44

I. Publizieren als Handlungsfeld und Methode

Franz Thalmair
Publizieren als künstlerische Praxis
GESPRÄCHSRUNDE MIT EVA MARIA STADLER,
VANESSA JOAN MÜLLER, SARAH BOGNER
UND JOSEF ZEKOFF (HARPUNE VERLAG),
LUC GROSS (TRAUMAWIEN)
46

Annette Gilbert Slavs and Tatars, Kitab Kebab (Merton to Mazda; 2012),
Vom Rand ins Zentrum – Vom Buch zum Bücher, Metallkebabspieß, ca. 50 × 50 × 50 cm,
Courtesy: Slavs and Tatars
Publizieren
TENDENZEN KÜNSTLERISCHER
PUBLIKATIONSPRAXIS
66

Annette Gilbert
Eva Weinmayr und Rosalie Schweiker
UND STATT ODER – DIE ANATOMIE VON AND
78
III. Publizieren als Kommunikationsakt MONOGRAFIEN/
GESPRÄCHE MIT KÜNSTLERN
Marlene Obermayer
Momente der Distribution
VERLEGEN, PRÄSENTIEREN UND
ARCHIVIEREN ALS KÜNSTLERISCHE PRAXIS
120 Marina Abramović
DIE SERBIN DES SCHMERZES
Marlene Obermayer von Heinz-Norbert Jocks
Gloria Glitzer 172
KUNSTBUCHMESSEN WERDEN ZU ORTEN
DES AUSTAUSCHS, NICHT NUR IN BEZUG
AUF DIE KÜNSTLERISCHEN ARBEITEN
132 Christopher Williams
DIE SPRACHE DER WÄNDE
Marlene Obermayer von Michael Stoeber
Hubert Kretschmer 202
DAS ARCHIV ALS FORSCHUNGSBIBLIOTHEK
142

IV. Publizieren als Schnittstellenfunktion Mika Rottenberg


MENSCH, MARX, MATERIE
Hannes Bajohr von Anneli Botz
In der Asche des Digitalen 218
POSTDIGITALES PUBLIZIEREN HEUTE
150

Hannes Bajohr Andreas Schmitten


Holly Melgard PLÄDOYER FÜRS UNSPRACHLICHE
DIE ZUKUNFT IST NOCH NICHT PASSIERT von Magdalena Kröner
160 230

Hannes Bajohr
J. Gordon Faylor
DATEITYPEN ALS PUBLIKATIONSTAKTIK
166

Christopher Williams, Bergische Bauernscheune,


Junkersholz, Leichlingen September 29, 2009, 2010,
Archival Pigment Print, 50,8 × 61 cm paper, 83,5 × 94 cm
framed, Courtesy: the artist, Galerie Gisela Capitain,
Cologne and David Zwirner, New York / London / Hong Kong
IV. Publizieren als Schnittstellenfunktion

In der Asche des Digitalen


POSTDIGITALES PUBLIZIEREN HEUTE
von Hannes Bajohr

Joey Yearous-Algozin, Air the Trees, 2013, Word-Dokument, Screenshot: Troll Thread

150
Ende Januar 2015 stand auf der Brooklyn-Seite des hinter uns liegt, einen Schwellenmoment einer sol-
East River, nur ein paar Blocks von meiner Woh- chen Technisierung erleben, der im Begriff des Post-
nung entfernt, ein Lagerhaus in Flammen. Noch digitalen aufgefangen wird. Die Tatsache, dass etwas
Wochen später war in der Gegend der Schnee von digital produziert, verteilt oder rezipiert wird, ist
Aschekrümeln schwarz gepunktet und man konnte nicht mehr das erste, was wir an ihm bemerken. Nur
in dieser Zeit oft Menschen beobachten, die sich ein plötzliches Ereignis des Widerstands kann diesen
interessiert auf den Gehweg niederbeugten oder Sachverhalt stören und ihn erlebbar machen. Die
etwas vom Boden aufhoben und es studierten. Das versengten Dokumente im Schnee sind ein noch
Gebäude lagerten Dokumente der Stadt New York. gewissermaßen „natürlicher“ postdigitaler Unfall.
Angesengte Krankenhausrechnungen, Gerichtspro- Kunst dagegen kann ihn bewusst und kontrolliert
tokolle und Kontoauszüge waren zusammen mit der herbeiführen und erfüllt damit die von Viktor
Asche in den Himmel gestiegen und lagen nun über Šklovskij proklamierte Aufgabe, durch das Verfah-
ganz Williamsburg und Greenpoint verstreut. Ob- ren des Ostranenie – der Verfremdung – eingefahre-
wohl aber knapp dreißigtausend Kubikmeter Papier ne Wahrnehmungsmuster zu „entautomatisieren“.8
verbrannten, gingen keine wesentlichen Informatio- Man kann dort von postdigitalem Ostranenie spre-
nen verloren: Die Stadt hatte alle wichtigen Doku- chen, wo Kunst versucht, durch Verfremdung sicht-
mente bereits digitalisiert, und was durch das Feuer bar zu machen, was im Prozess der Technisierung
vernichtet wurde, war die materielle Redundanz des des Digitalen unsichtbar zu werden droht. Anders
immateriell bereits Gesicherten.1 als bei Šklovskij geschieht das nicht so sehr auf der
Wenn die Rede auf das „Postdigitale“ kommt, Ebene von Diktion und Erzählperspektive, sondern
muss ich muss an diese Episode denken. Bereits in im Bereich der künstlerischen Materialität selbst –
zwei Ausgaben von KUNSTFORUM International auch dort, wo diese Materialität nur virtuell ist.
diskutiert,2 ist das Postdigitale seiner Popularität
zum Trotz ein Begriff von einiger Vagheit. Im Kern
ist damit dreierlei gemeint: die Durchmischung Die Tatsache, dass etwas digital
und das Zusammenwachsen analoger und digitaler produziert, verteilt oder rezipiert
Medien;3 eine Sehnsucht nach der „Humanisierung wird, ist nicht mehr das erste, was
digitaler Technologien“;4 und eine Zeit, in der „das wir an ihm bemerken.
Wort ‚digital‘ nichtssagend geworden ist, seitdem fast
alle Informations- und Kommunikationstechnologie
digital funktioniert.“5 Unausgesprochen bleibt in die- POETIK DER VERFREMDUNG
sen Definitionen das ihnen Gemeinsame, dass näm-
lich das Postdigitale vor allem eine Welterfahrung Um das Jahr 2010 herum entwickelte sich eine Form
bezeichnet, die meistenteils unterhalb der Wahrneh- experimentellen literarischen Publizierens, zu des-
mungsschwelle bleibt, wenn sie nicht eigens zu Be- sen wichtigsten Akteuren die Gruppen Troll Thread
wusstsein gebracht wird – wie im Fall der versengten und Gauss PDF gehören.9 Gemein ist ihnen, dass sie
Dokumente im Schnee: Erst durch diese Überreste ihre Publikationstätigkeit ganz offensiv als künstle-
einer eigentlich obsoleten analogen Technik erfuh- rische Praxis verstehen10 und im Spiel mit dem ver-
ren die Bewohner Brooklyns überhaupt von diesen wickelten Komplex von analog und digital eine im-
Daten und der Tatsache ihrer Digitalisierung. plizite Poetik postdigitaler Verfremdung verfolgen.
Der Philosoph Hans Blumenberg hat gegen J. Gordon Faylor, Betreiber von Gauss PDF, be-
die „Technik“ den Begriff der „Technisierung“ ab- schränkte sich anfangs allein auf die Bereitstellung
gesetzt.6 Technik schlägt sich als Tatsache in der von Dateien. Statt des Textgenres erhob er den Da-
Objektivität ihrer Artefakte nieder. Einmal einge- teityp zur bestimmenden Ordnung, um neue lite-
führt, ist sie da, nur um durch bessere, neuere Tech- rarische Konstellation zu ermöglichen (siehe das
nik ersetzt zu werden. Technisierung hingegen ist Interview auf Seite 166 in diesem Heft). So findet
die ständig fortlaufende Entwicklung, durch die sich Sophia Le Fragas UND3RGR0UND L0V3R5
Technik in den Hintergrund unserer alltäglichen (Gauss PDF, 2015) im MOV-Format auf gauss-pdf.
Erfahrungen zurücksinkt. Blumenberg nannte die- com. Das etwa achtminütige Video ist ein kontinu-
ses Alltagsbewusstsein mit einem Edmund Husserl ierlicher Screengrab einer Desktop-Oberfläche, die
entlehntem Begriff die „Lebenswelt“.7 Ist Lebens- einen Chat im Twitter-Messenger zeigt; die ablau-
welt für Blumenberg das, was in ihrer unzweideuti- fende Konversation enthüllt sich als Re-Enactment
gen Offensichtlichkeit allen Widerstand vermissen von Jean Tardieus absurdem Drama Les amants du
lässt, der sie für uns bemerkbar machen würde, métro (1952) in einer digitalen Umgebung – Le Fraga
bezeichnet Technisierung das langsame In-die- spricht von einem „Comedy-Ballet without Dance
Lebenswelt-Sinken dessen, was einstmals künstlich, or Music“. Auch Francesca Capones I Honor the Huge
unnatürlich, aufdringlich und neu erschien. Blue (Gauss PDF, 2015) ist eine MOV-Datei, wobei
Es scheint, dass wir heute, da das Aufkommen der in diesem Video Texte der Dichterin Lorine Niede-
Digitaltechnologie bereits mehr als eine Generation cker in Wiederholungen und Gabelungen einem

151
animierten konkreten Gedicht gleich über den Eigners Version nur physisch, durch Anstreichun-
Bildschirm mäandern. Der Effekt ist eine postdigita- gen etwa, in den Text eingreifen können, sind sie in
le Verfremdung: Der scheinbar kühl-technizistische Yearous-Algozins Version gleichberechtigt mit dem
Rückzug auf das Dateiformat unterläuft eingefah- Autor – auch wenn die implizite Einladung weniger
rene Gattungszuschreibungen und entautomatisiert in der Veränderung des Textes als der Variablen des
auf einer rein kategorialen Ebene klassische Erwar- Dokuments besteht: Nicht nur Schriftgröße, Zeile-
tungen an Literatur. numbruch und Format der Seite, auch Wörterbuch-
Eine ähnliche Remedialisierung und Appro- sprache und sogar Word-Version selbst bestimmt
priation vorhandener Werke findet sich in auch die sich ergebenden visuellen Muster. Air the Trees
in Joey Yearous-Algozins Air the Trees (Gauss PDF, macht sichtbar, wie sehr softwareimmanente Para-
2013), einem Text in Microsoft Words DOC-For- meter bei der Textproduktion ihre Finger im Spiel
mat. Yearous-Algozin kopierte das Gedicht Air the haben, und bringt die Instabilität jener Produkti-
Trees des amerikanischen Dichters Larry Eigner in onsstufe zu Bewusstsein, die der fixen Druckseite
ein Word-Dokument und stellte die Textfarbe auf normalerweise vorangeht. Gerade diese Instabilität
weiß. Unter all dieser „Luft“ des versteckten Textes im Übergang zwischen zwei Medien – der digitalen
bleiben allein die „Bäume“ aus grünen und roten Datei und dem klassischen Buch –, erweist sich ne-
Schlangenlinien übrig, mit der Word Grammatik- ben der Konzentration auf das Dateiformat als das
und Orthografiefehler anzeigt. Wo LeserInnen von produktivste Spielfeld postdigitaler Verfremdung.

Joey Yearous-Algozin, 9/11 911


CALLS IN 911 PT. FONT
(Titelseite), 2012, PDF und
Print-on-Demand, Screenshot:
Troll Thread

152 publish! – IV. Publizieren als Schnittstellenfunktion


PUBLIZIEREN „AUF ABRUF“

Yearous-Algozin gehört, zusammen mit Holly Textprogramm ein, werden die gesamten zwei Bände
Melgard und Chris Sylvester, zum Verlagskollektiv mit einem Mal erneut entzifferbar. Wieder ist – wie
Troll Thread. Seit seiner Gründung 2011 publiziert schon bei „Air the Trees“ – der Text „versteckt“, behält
die Gruppe alle Werke zugleich als PDF-Datei und aber, hinter den Beschränkungen der Druckseite, in
als gedrucktes, per Print-on-Demand (POD) her- der Datei seine Lesbarkeit bei.
gestelltes Buch. Troll Thread können als Erfinder
dieses dualen Publishing-Modells gelten; 2013
folgte Faylor mit dem Imprint Gauss PDF Edi- Inhalt, Datei und Buchobjekt
tions und es hat seitdem viele Nachahmer gefun- sind so miteinander verschränkt,
den.11 Die Vorteile des Digitaldrucks springen ins dass sie jeweils aufeinander
Auge: POD reduziert die Produktionskette auf ein verweisen – postdigitaler geht
absolutes Minimum – wie aus einem übergroßen
Laserdrucker kommt in einem Schritt das fertige es kaum.
Buch, inklusive Bindung, Umschlag und Beschnitt.
Bereits seit den Neunzigerjahren für größere Ver- Das Spiel mit der merkwürdigen ontologischen
lagshäuser attraktiv, um ohne Lagerkosten ihre Struktur von POD behandelt rechtlich besonders
Backlist lieferbar zu halten, hat doch erst die Mög- prekär das Buch Money, dessen AutorIn nur als
lichkeit der Nutzung für PrivatkonsumentInnen „Maker“ bezeichnet wird (Troll Thread, 2012; siehe
durch Firmen wie Lulu.com oder Blurb.com einer das Interview mit Holly Melgard in diesem Band).
ganzen Subkultur postdigitalen Publizierens zur Jede Seite von „Money“ ist mit der Vorder- und
Blüte verholfen. Das gedruckte Buch, immer wie- Rückseite eines Dollarscheins bedruckt, was seine
der totgesagt, ist hier nicht als Gegenmodell zum Herstellung zu einer Straftat werden ließe,  könnte
Digitalen, sondern gerade in Verknüpfung mit man angeben, wer effektiv für diese Geldfälschung
ihm wieder attraktiv geworden.12 zur Verantwortung zu ziehen wäre – neben AutorIn
Während fast jedes heute gedruckte Buch auf sind sowohl die KäuferInnen, die die Materialisie-
einem digitalen Master beruht, ist bei POD die rung der an sich legalen PDF in Auftrag geben, als
Verbindung zwischen Datei und Objekt besonders auch der POD-Service selbst mögliche Kandidaten.
instabil; aufgrund der Leichtigkeit der Produkti-
on und Verbreitung, die ein Dienst wie Lulu bie-
tet, kann es durch künstlerische und literarische PERFORMATIVE ANEIGNUNG
Mittel untersucht, manipuliert und in krisenhafte
Extreme gedrängt werden. Gerade weil jedes POD- Gerade die performative Dimension eines Werkes
Objekt auf einer PDF-Datei basiert, ist es kein wie „Money“ macht deutlich, dass, wie die Medien-
einfach analoges Ding, sondern, mit mit Vilém wissenschaftlerin Whitney Anne Trettien schreibt,
Flusser gesprochen, ein Unding, dessen eigentüm- POD „die Grenzen zwischen Büchern, Faksimiles,
licher ontologischer Status zwischen analog und elektronischen Dateien und Datenbanken neu um-
digital oszilliert.13 Der Inhalt des PDF bestimmt reißt und dabei die Beziehungen zwischen Lesern,
nicht nur die Formatierung der Datei, auch ist die Autoren und Herausgebern rekonfiguriert.“14 Daher
Datei durch die Vorgaben der Buchproduktion kann auch nicht die Rede davon sein, es handele
bestimmt, die wiederum die Poetik beeinflussen: sich hier lediglich um im Digitaldruck hergestellte
Inhalt, Datei und Buchobjekt sind so miteinander artist’s books, in der das Buch zum Medium und Ort
verschränkt, dass sie jeweils aufeinander verwei- des Kunstwerks wird. Ganz explizit distanzieren sich
sen – postdigitaler geht es kaum. Gauss PDF und Troll Thread vom System der Kunst
Ein direktes Spiel mit dieser Verweisstruktur ist und betonen ihre Zugehörigkeit zur Literatur, auch
etwa Joey Yearous-Algozins 9/11 911 Calls in 911 Pt. wenn ihre Publikationen regelmäßig die Grenzen
Font (Troll Thread, 2012). Das Buch enthält ziemlich des traditionell Literarischen überschreiten. Wo
genau das, was sein Titel ankündigt: die ersten 911 bei Le Fraga und Capone die literarischen Bezüge
Zeichen aus einem Telefonprotokoll von Anrufen trotz der Remedialisierung noch überdeutlich wa-
bei der 911-Feuerwehrnummer am 11. September ren, macht sich in vielen Werken Literarizität nicht
2001 – das alles aber in der Schriftgröße 911, was den mehr an formalen oder inhaltlichen Kriterien, nicht
wenige Zeilen umfassenden Text auf über neunhun- einmal mehr an Textualität selbst, sondern allein am
dert Seiten dehnt, die auf zwei Lulu-Bände aufgeteilt bloßen Publiziertsein im Medium des Buches fest.
sind. Die Buchstaben sind in dieser Schriftgröße zu In Liquidation von Holly Melgard und Joey
riesig für die einzelnen Seiten des Buchs, der Text in Yearous-Algozin (Troll Thread, 2017) findet sich
seiner Überdimensioniertheit kaum mehr sequenziell bis auf eine kurze Einführung überhaupt kein
lesbar. Öffnet man aber das PDF auf dem Computer Text, stattdessen enthält es über dreihundert Fo-
und wählt den Text aus, kopiert ihn und fügt ihn in ein tos von der Abwicklung des bankrotten Casinos

153 Hannes Bajohr – In der Asche des Digitalen


Lauren Klotzman, Meat Joy Error Failure, 2015, PDF und Lawrence Giffin, Non Facit Saltus, 2014, PDF und
Print-on-Demand, Screenshot: Troll Thread Print-on-Demand, Screenshot: Troll Thread

Trump Taj Mahal in Atlantic City. Auch Primary Sour- Gauss PDF, 2014), dessen Seiten die Anweisung ent-
ce von Francesca Capone (Gauss PDF, 2015) ist weit halten, wie man zur jeweils nächsten kommt, wenig
von einem konventionellen Literaturverständnis mehr als ein Buch gewordener Algorithmus ist. Bei-
entfernt: Es besteht aus Screenshots der iPhone-App de verlangen statt klassisch-hermeneutischem Lesen
WordLens, die ihr vor die Handykamera kommen- eine konzeptuelle Lektüre, erlauben so aber eine
den Text in Echtzeit, aber nicht immer ganz korrekt nahezu unendliche Breite an möglichen Inhalten.
übersetzen kann, und der Capone die sowjetische Mit Sinn für historische Gerechtigkeit mag man
Gedichtanthologie Den’ Poėzii (Tag der Poesie) darin die Rache der Literatur an der bildenden
von 1962 vorhielt; die von WordLens produzierten Kunst erkennen: Wo im zwanzigsten Jahrhundert
Varianten füllen das Buch. die Kunst der große Allesfresser war, vom dem kei-
Ohne Frage sind solche Gesten für eine Genera- ne Gattung nicht verspeist werden konnte, fordert
tion selbstverständlicher, die durch die konzeptuelle im einundzwanzigsten Jahrhundert die Literatur
Literatur sensibilisierten worden ist – einer Litera- mit derselben appropriativen Geste ihre Eigenstän-
tur also, für die weniger der Inhalt, sondern die Idee digkeit wieder ein. Das geht so weit, dass selbst Ed
hinter einem Text zählt.15 Lauren Klotzmans Meat Ruschas Twentysix Gasoline Stations (1963), das ge-
Joy Error Failure (Troll Thread, 2015) – einer in ei- meinhin als das erste artist book gilt, von Angela
nem Texteditor geöffneten Videodatei von Carolee Genusa als Twentysix Gasoline Station Prices (Gauss
Schneemanns Performance Meat Joy von 1964 – ist PDF, 2013) parodiert, dem Kunstsystem entrissen
mit seinen 5000 Seiten aus Code-Rohdaten schier und wieder der Literatur einverleibt werden kann.
unlesbar, während Lawrence Giffins Non Facit Saltus Die Abstammung von den kleinen Lyrikpressen

154 publish! – IV. Publizieren als Schnittstellenfunktion


Francesca Capone, Primary Source, 2015, PDF und Francesca Capone, Primary Source, 2015, PDF und
Print-on-Demand, Screenshot: Gauss PDF Print-on-Demand, Screenshot: Gauss PDF

Nordamerikas ist bei beiden Projekten unüber- wird mit einer NFO-Datei ausgeliefert, die an die
sehbar, ebenso wie deren Zurückweisung als nos- ASCII-Kunst früher illegaler Software-Bundles er-
talgisch analog. Wo das beliebtestes Format der innert – doch die Möglichkeit, diese Bände auch
Lyrikpressen das oft handgebundene, bibliophile per POD als physisches Buch in Händen zu halten,
und in niedriger Auflage zirkulierende chapbook führt die Verschiebung von Maßstäben zwischen
ist, betonen Gauss PDF und Troll Thread einen Stil dem Analogen und dem Digitalen vor Augen: Big
des radikalen Do-it-yourself – einer „maker culture“, Data als Druckwerk erschiene im Kontext klassi-
wie Annette Gilbert es nennt,16 die gerade keine scher Lyrikpressen wie ein Kategorienfehler, ist
regressive Sehnsucht nach Qualität, sondern die aber gerade darin ein effektiver Fall postdigitaler
schnelle, einfache Produktion antreibt. Data Dumps Verfremdung.
nennen Troll Thread ihre Werke ironisch, was sich Freilich ist der künstlerische Unabhängigkeit ver-
ästhetisch in einer stilbildenden Schlampigkeit wie sprechende Digitaldruck Segen und Fluch zugleich.
einem Hang zur Überproduktion niederschlägt, In How to stop worrying abt the state of publishing when
der selbst wieder postdigitale Verfremdungseffek- the world’s burning and everybody’s broke anyways and
te zeitigt: Stephen McLaughlins Puniverse (Gauss all you really care abt is is if anyone is even reading your
PDF, 2014) etwa umfasst 57 etwa 160-seitige PDFs work (Troll Thread, 2016) erklärt Yearous-Algozin
voller Kalauer, die durch die Anwendung eines Schritt für Schritt, wie man eine eigene postdigita-
Reimwörterbuchs auf einen Satz von Redewen- le Publikationsplattform aufsetzt – Bereitschaft zur
dungen generiert werden. Wohl ist Puniverse in Selbstausbeutung immer vorausgesetzt: „this is poe-
seiner PDF-Form schnell herunterzuladen – und try, you shouldn’t be making a profit.

155 Hannes Bajohr – In der Asche des Digitalen


Angela Genusa, Twentysix Gasoline Station Prices, 2013, PDF, Screenshot: Gauss PDF

PRODUKTION UND IMMATERIELLE ARBEIT Freilich ist der künstlerische


Unabhängigkeit versprech-
Auch diese Kritik ökonomischer Strukturen aber
kann postdigital in Szene gesetzt werden. Der eben-
ende Digitaldruck Segen und
falls mit POD arbeitende Künstler Jean Keller veröf- Fluch zugleich.
fentlichte 2013 sein Black Book (2013), einen Band
von 740 Seiten – der von Lulu zugelassenen Maxi-
mallänge – der komplett schwarz ist. Eine Gallone angehäuft hat. Weil Lulu es seinen Autoren über-
Tinte kostet über 4000 Dollar, erklärt Keller auf der lässt, den Verkaufspreis eines Buchs zu bestimmen,
Lulu-Verkaufsseite, weshalb ein schwarzes Buch „für während der Produktionspreis derselbe bleibt, kostet
den Künstler die geringsten Kosten bei maximalem Melgards Buch 329,53 Dollar – was ihren gesamten
Wert“ ergebe. Eine solche Subversion, die in der Ma- Glücksspielinvestitionen entspricht, »plus die Sum-
terialität des Werks selbst seine Aussage trifft, zeigt me, die Lulu für den Druck berechnet«. Auf diese
Autoren als Contentproduzenten, die im revenue Weise wird bei Keller und Melgard das Ökosystem
stream für Firmen wie Lulu lediglich als Verrichter Lulu selbst zum Spielfeld einer institutionellen
immaterieller Arbeit auftauchen. Kritik, die dergestalt noch ihre eigenen Enttäuschun-
Ähnlich stellt Holly Melgard in Reimbur$ement gen hyperreflexiv produktiv zu machen vermag.
(Troll Thread, 2013) die Scans von Lottoscheinen Die Relevanz postdigitaler Literatur rührt von
aus, die sie im Laufe der Jahre im Zocken um die seiner Fähigkeit her, durch Verfremdung eine In-
für die künstlerische Arbeit nötige Subsistenz stabilität zu adressieren, die auf einen allgemeinen

156 publish! – IV. Publizieren als Schnittstellenfunktion


Joey Yearous-Algozin, How to stop worrying abt the state of publishing when the world’s burning and everybody’s broke
anyways and all you really care abt is is if anyone is even reading your work, 2016, PDF, Screenshot: Troll Thread

Stephen McLaughlin, Puniverse (NFO-Datei), 2014, Stephen McLaughlin, Puniverse, 2014, PDF
Textdatei, Screenshot: Gauss PDF und Print-on-Demand, Screenshot: Gauss PDF

157 Hannes Bajohr – In der Asche des Digitalen


Holly Melgard, Reimbur$ement, 2013, PDF und
Print-on-Demand, Screenshot: Troll Thread

Jean Keller, The Black Book, 2013,


Print-on-Demand, Foto: Hannes
Bajohr, Courtesy: Jean Keller

158 publish! – IV. Publizieren als Schnittstellenfunktion


Prozess digitaler Technisierung hinweist – sei es in
seiner technologischen Form, bei der Untersuchung
der ontologischen Oszillation zwischen Seite und
Datei, Buch und PDF, digital und analog oder, wie
Melgard und Keller es tun, in ihren sozioökonomi-
schen Rahmungen. Die Medienwissenschaftlerin
Sophie Seita sieht in dieser Bewegung eine Neue
Avantgarde, die nicht mehr dem make it new folge,
Ezra Pounds Schlachtruf der Moderne, sondern
ein make it now fordere und sich in „though ex- HANNES BAJOHR
periments in contemporaneity“ versuche.17 Diese Philosoph, Literaturwissenschaftler und Schriftsteller; ge-
boren 1984 in Berlin, Promotion über Hans Blumenbergs
Gegenwärtigkeit nicht aufzugeben mag auch für Sprachtheorie an der Columbia University, New York. Derzeit
Faylor den Ausschlag gegeben haben, Gauss PDF wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Literatur- und
einzustellen, sobald es die dreihundertste Veröf- Kulturforschung, Berlin, wo er das Forschungsprojekt „Nega-
fentlichung erreicht hat. Noch liegt dieser Punkt in tive Anthropologie“ leitet; Mitübersetzer von Kenneth Golds-
einiger Ferne, aber mit Hysterically Real, SOd Press miths „Uncreative Writing“ (Berlin: Matthes und Seitz 2017)
und Herausgeber der Werke von Judith N. Shklar im Verlag
oder 0x0a hat Faylor bereits jetzt neue Mitstreiter Matthes & Seitz. Zuletzt erschienen „Code und Konzept. Li-
gefunden, die in der Asche des Digitalen weiter die teratur und das Digitale“ (Berlin: Frohmann 2016) und „Halb-
postdigitale Situation artikulieren.18 zeug: Textverarbeitung“ (Berlin: Suhrkamp 2018).

ANMERKUNGEN

1 Vivian Yee, „Fire at a Brooklyn Warehouse Puts Private Lives 11 Das duale PDF/POD-Modell ist mittlerweile ein weicher
on Display“, in: New York Times, 1. Februar 2015. Standard für experimentelles Schreiben und wurde bereits vom
2 KUNSTFORUM International, Nr. 242/2016 und 243/2016. Kunstbetrieb kopiert. Die Zürcher Ausstellung „Poetry Will Be
3 Alessandro Ludovico, Post-Digital Print: The Mutation of Pu- Made By All“, kuratiert von Hans Ulrich Obrist und Kenneth
blishing Since 1894, Eindhoven/Rotterdam: Onomatopee 2012. Goldsmith, zeigte 2014 Bücher von Autoren, die nach 1989
4 Melvin L. Alexenberg, The Future of Art in a Postdigital Age: geboren wurden; auf der begleitenden Website konnten alle
From Hellenistic to Hebraic Consciousness, Chicago: Intellect Titel entweder heruntergeladen oder als POD bei Lulu gekauft
2011, S. 10. Dabei wird nicht selten eine Rückkehr zu bewusst werden.
vor-digitalen Techniken propagiert, etwa dem Siebdruck oder, 12 Vgl. Franz Thalmair, „Totgesagte leben länger: Das gedruck-
wie im Falle der Zine-Kultur, der Fotokopie. Siehe Anna Poletti, te Buch im postdigitalen Zusammenhang“, in: KUNSTFORUM
„Genre and Materiality: Autobiography and Zines“, in: Kiene Bril- International, Nr. 243/2016, S. 98-111.
lenburg Wurth, Kári Driscoll, Jessica Pressman (Hg.), Book Pre- 13 Vilém Flusser, „Das Unding I & II“, in: Dinge und Undin-
sence in a Digital Age, London: Bloomsbury 2018, S. 90-108. ge: Phänomenologische Skizzen, München: Hanser 1993, S.
5 Florian Cramer, „Postdigitales Schreiben“, in: Hannes Ba- 80–89.
johr (Hg.), Code und Konzept: Literatur und das Digitale, Berlin: 14 Whitney Anne Trettien, „A Deep History of Electronic Textu-
Frohmann 2016, S. 28-43, hier: S. 31 ality: The Case of ‚English Reprints Jhon Milton Areopagitica‘“,
6 Hans Blumenberg, „Lebenswelt und Technisierung unter in: Digital Humanities Quarterly 7 (1), 2013.
Aspekten der Phänomenologie“, in: ders., Schriften zur Technik, 15 Vgl. Kenneth Goldsmith, Uncreative Writing: Sprachma-
Berlin: Suhrkamp 2015, S. 163-202. nagement im digitalen Zeitalter, Berlin: Matthes & Seitz 2017.
7 Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaf- Mittlerweile wurde der Begriff des „Postkonzeptuellen“ für diese
ten und die transzendentale Phänomenologie, Den Haag: Nijhoff neue Generation vorgeschlagen, vgl. Felix Bernstein, Notes on
1976. Post-Conceptual Poetry, Los Angeles: Insert Blanc Press 2015.
8 Viktor Sklovskij, „Die Kunst als Verfahren“, in: Jurij Striedter 16 Gilbert, „Publishing as Artistic Practice“, S. 17.
(Hg.): Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literatur- 17 Sophie Seita, „Thinking the Unprintable in Contemporary
theorie und zur Theorie der Prosa. München: Fink 1971, S. 5-35. Post-Digital Literature“, in: Chicago Review Nr. 61/2017, S. 175-
9 trollthread.tumblr.com; gauss-pdf.com. 208, hier: S. 192.
10 Dieses Schlagwort geht zurück auf Annette Gilbert, „Pub- 18 www.hystericallyreal.com; staleobjectsdepress.tumblr.com;
lishing as Artistic Practice“, in: dies. (Hg), Publishing as Artistic 0x0a.li.
Practice, Berlin: Sternberg Press 2016, S. 6-39.

159 Hannes Bajohr – In der Asche des Digitalen


IV. Publizieren als Schnittstellenfunktion

Amelia Dale, Tractosaur, 2015, PDF und Print-on-Demand, Foto: Holly Melgard, Courtesy: Troll Thread

160
Holly Melgard
DIE ZUKUNFT IST NOCH NICHT PASSIERT
Ein Gespräch von Hannes Bajohr

Hannes Bajohr: Was ist Troll Thread und wie ist es


entstanden?
Holly Melgard: Chris Sylvester gründete Troll
Thread im Jahr 2011, als er seine Gedichte auf ei-
nem Tumblr-Blog veröffentlichte und sie sowohl
als frei herunterladbare PDFs als auch als Print-on-
Demand-Bücher über Lulu zum Kauf zur Verfügung
stellte. Chris pries uns Troll Thread an, indem er
sagte: „Das ist ein Ort, an dem wir unsere Gedichte
veröffentlichen können, die niemand sonst haben
will!“ Und diese Möglichkeit hat uns umgehauen.
Hier war ein Publishing-Modell, dem wir noch nie
zuvor in der Szene der kleinen Lyrik-Pressen begeg-
Holly Melgard, Foto: Joey Yearous-Algozin net waren: Auf Troll Thread benötigen Bücher, um
in der Welt zu sein, keine Zeit- oder Geldinvestitio-
Auf dem Tumblr-Blog, der für das experimentelle nen, und gleichzeitig konnten wir eine Verbindung
Publikationskollektiv Troll Thread als Homepage zum gedruckten Buchmedium und seiner Art von
fungiert (trollthread.tumblr.com), verbirgt sich hinter Lesekompetenz aufrechterhalten.
dem Menüpunkt „About“ nur der enigmatische Slo-
gan: „Troll Thread is Troll Thread.“ Wer mehr wissen Abgesehen davon, dass du als Autorin dort Bücher
will, muss sich die Werke der über fünfunddreißig veröffentlichst, was ist deine organisatorische Rolle
AutorInnen, die als PDF kostenlos herunterzuladen bei Troll Thread?
oder als Print-on-Demand-Buch zu erstehen sind, Ich betreue die Website und mache das Design
selbst ansehen. Die Ablehnung einfacher Konsu- unserer Bücher – und zwar so, dass sie eine visuelle
mierbarkeit und die formale Reduktion schon des In- Kontinuität besitzen und trotzdem noch irgendwie
terface steht bei Troll Thread für ein Publizieren, die schnell gemacht und locker aussehen. Keiner von uns
sich so weit wie möglich vom literarischen System hat Zeit, das übliche paratextuelle Publishing-Spiel
ab- und dem der Kunst zugewandt hat. Und doch zu spielen – Rezensionen einzuwerben, Klappentex-
bleibt für Holly Melgard, Mitbegründerin von Troll te zu schreiben, Buchpräsentationen zu organisieren
Thread, der Bezug zur Literatur zentral. Mit einem usw. –, deshalb versuche ich, die Information „den
Auge für die medialen Vorbedingungen aller Publi- Wegen des geringsten Widerstands“ nehmen zu las-
kationstätigkeit und dem Festhalten an der „Buch- sen. Meine Buchgestaltung war Teil davon, ich habe
kompetenz“ tritt sie im Interview für die Relevanz von aber auch die Anzahl der notwendigen Klicks auf
Lyrik in ihrer größtmöglichen Breite gerade in post- der Website reduziert. Mich interessiert es sehr, so
digitalen Zeiten ein und berichtet von Troll Thread den Paratext im Kontext des Online-Publizierens
als einem Freiraum der Differenz. neu zu denken.

161
in der Poesie auf seltsame Weise umgehen, die repe-
titiv und/oder mimetisch sind, kein Problem damit
haben, wenn nötig dumm oder witzig zu sein, die
sich nicht über ihre LeserInnen stellen. Und Werke,
die sich kritisch mit Fragen der Zugänglichkeit von
Digitalität und Druckerzeugnissen, mit kulturellen
und sozialen Themen befassen.

Wo immer es möglich ist,


versuchen wir, Troll Thread
als Zuhause für Texte zu
nutzen, die eigensinnig sind
Bücherauslage der Troll Thread-Titel, 2017, Foto und
Courtesy: Holly Melgard Uns geht es nicht um Innovation und Neuheit, viele
unserer Sachen sind derivativ, regressiv und halbher-
zig. Was wir suchen, ist wohl eher Differenz-Werke, die
die Arten von Gedichten, die in der Welt existieren
können, vermehrt. Und nicht zu vergessen: Werke,
die unseren Job am wenigsten wie gemeinnützige
Arbeit und so egoistisch wie möglich erscheinen
lassen. Zwischen meinem Job für die Universität,
meiner Dissertation, meinen Gedichten und meiner
Verlagsarbeit habe ich nicht viel Energie übrig, um
für andere zu arbeiten. Oft habe ich nicht genug
Zeit, um zu duschen. Während den Büchern, die wir
herausgeben, weniger materielle Grenzen gesetzt
sind als solchen, die eine feste Druckauflage haben,
sind wir als RedakteurInnen in der Arbeit, die wir
aufwenden können, beschränkt – also sollten unsere
Das Troll Thread-Kollektiv (v.l.n.r.): Chris Sylvester, Holly AutorInnen das Axiom des Do-it-yourself wirklich
Melgard, Joey Yearous-Algozin, 2017, Foto und Courtesy: ernstnehmen. Werke, die bereits voll realisiert, autark
Holly Melgard
und wartungsarm sind, sind für uns am attraktivsten.

Mir scheint, viele eurer Bücher spielen direkt mit


ihrer Medialität als Werke, die im Print-on-Demand-
Verfahren hergestellt werden.
Unbedingt. Ein Buch, über das ich noch immer
nachdenke, ist „Money“. Als AutorIn wird einfach
Wie unterscheidet sich TT von einem Verlag oder einer „Maker“ angegeben, weil unklar ist, wer technisch
Galerie im herkömmlichen Sinne? als UrheberIn zu gelten hat. Diejenige Person wäre
Das Offensichtlichste ist, dass wir nicht von einem rechtlich belangbar für das Verbrechen seiner Her-
zentralen Ort aus operieren. Beim Zitieren von Bü- stellung. Das Buch besteht aus 734 vollfarbigen
chern oder Galerien zeigt man normalerweise den Ort Seiten, auf denen sich Scans einer Hundert-Dollar-
an, an dem das Werk veröffentlicht oder ausgestellt Note in Originalgröße befinden –  Vorder- und
wurde. Bei uns bin ich nicht sicher, wie ich zitieren Rückseite. Das Buch verwendet also Print-on-De-
soll, woher dieses Werk geographisch kommt. Wir ar- mand um Geld zu fälschen. Weil das illegal ist, ent-
beiten dezentral, weshalb wir auch nicht alle unserer hält das Buch eine Warnung, die darauf hinweist,
AutorInnen kennen. Wir haben etwa Amelia Dale bis dass das Recht keine klare Auskunft darüber gibt,
heute nicht persönlich getroffen, sind aber trotzdem wer genau für die Geldfälschung zur Rechenschaft
geradezu besessenen von ihrem Buch „Tractosaur“. zu ziehen wäre, da das Buch erst über einen Print-
on-Demand-Service physische Materialisierung fin-
Was verbindet die Troll-Thread-Publikationen? det – sind AutorIn, KäuferIn oder die POD-Firma
Wo immer es möglich ist, versuchen wir, Troll schuld? Es enthält zudem die Kontaktdaten für das
Thread als Zuhause für Texte zu nutzen, die eigensin- Public Affairs Office, das sich in den USA mit solchen
nig sind, etwa, was Leerraum, Wiederholungen, Farben, Fragen befasst. Um das nur klarzustellen: Das Foto
Anzahl der Bände und Maßstab angeht. Wir mögen des Geldscheins stammt einfach aus einer Google-
Texte, die mit Konventionen und Modeerscheinungen Bildsuche, die bereits anderswo online gestellt

162 publish! – IV. Publizieren als Schnittstellenfunktion


worden war. Außerdem verdient Troll Thread kein werden alle auf die eine oder andere Weise mit digi-
Geld an seinen Büchern, weshalb man das Buch talen Mitteln produziert, ganz gleich, ob sie einfach
wirklich nicht „Money Maker“ nennen kann. Aber getippt und per E-Mail an uns gesendet, in Textver-
fürchte immer noch, dass wir eines Tages einen An- arbeitungsprogrammen geschrieben oder mittels
ruf erhalten … Die Existenz dieses Buches ist eine Suchmaschinen und ihrer Funde zusammengestellt
ständige Quelle der Sorge, aber auch der Provoka- werden.Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts kon-
tion für mich. zentrierten sich viele DichterInnen (und Akademi-
kerInnen) auf die materiellen Grenzen, durch die
Seht ihr euch als Avantgarde zukünftiger Entwicklun- die Buchseite, die Schreibmaschine oder der Atem
gen im Publishing? den Zeilenumbruch bestimmt, was eine große Sache
Schwer zu sagen, denn: 1) Die Zukunft ist war, weil die Zeile das Maß und der Bedeutungs-
noch nicht passiert und 2) weil wir Literaturwis- modus des Gedichts ist. Wenn ich also ein Gedicht
senschaftler sind, hat die Universität den Begriff umformatiere, das uns gesendet wurde, muss ich fast
„Avantgarde“ für uns ruiniert. Zumindest kann immer mit dem Cursor durch das Dokument gehen,
ich mich nicht an eine Zeit erinnern, in der wir um zu sehen, welche Zeilenumbrüche die Auto-
sie effektiv in einem Gespräch benutzt haben. Das rInnen absichtlich gesetzt haben und welche auf
liegt wahrscheinlich daran, dass Theoretiker in den Standardeinstellungen des verwendeten Text-
den Siebziger- und Achtzigerjahren diesen Begriff verarbeitungsprogramms beruhen. Das Arbeiten
derart aufgeladen und damit völlig unzugänglich zwischen Digitalem und Analogem zwingt uns als
gemacht haben. Auch erscheint, wenn man genug HerausgeberInnen dazu, für die Übersetzbarkeit des
gelesen hat, alles, was einem früher neu vorkam, Gedichts auf verschiedene Bildschirme und Formate
schließlich wie ein Echo des Alten. Auf der ande- zu sorgen. Jeder Text, den wir bei TT veröffentlichen,
ren Seite sehe ich TT als etwas, das an vorderster wurde sorgfältig formatiert, um möglichst viele In-
Front steht: Die meisten Bürger in den USA wer- formationen über seine materielle Zusammenset-
den ärmer und die Kunstförderung wird an allen zung zu erhalten – ein weiterer Vorteil der Arbeit
Ecken und Enden gekürzt. In dieser Zeit ist TT ein mit POD ist, dass wir an dieser Front (Farbe, Länge
Veröffentlichungsmodell, das für überarbeitete und usw.) keine Kompromisse eingehen müssen, um Bü-
unterbezahlte Menschen geeignet ist. cher veröffentlichen zu können. Aber ehrlich gesagt
ist es schwer zu sagen, was nicht Technologie ist. Ein
Buch ist auch eine Technologie (jetzt paraphrasiere
Das Buch verwendet also Print- ich Tan Lin und Angela Genusa).
on-Demand um Geld zu fälschen.
In welcher Beziehung steht ihr zu anderen Verlagen/
Kollektiven, die ähnlich arbeiten wie ihr?
Warum die Notwendigkeit des Publizierens auf Pa- Truck Books, das von Kristen Gallagher und
pier, wenn es auch rein digital ginge? Chris Alexander gegründet wurde, war schon früh
Die meisten AutorInnen, die wir veröffentlichen, ein wichtiger Bezugspunkt für uns, weil ihr Vorbild
schreiben auf Computern/Smartphones, aber was wir uns erlaubte zu tun, was wir tun. Gerade befinden
machen, will den Bezug zur »Buchkompetenz« und sie sich in einer Phase der Untätigkeit, aber wir ste-
dem Wissen, das über das Buchobjekt transportabel hen immer noch in engem Dialog mit ihnen. Es gibt
wird, nicht verlieren. Es war für uns interessanter, sich noch viele andere, wie etwa 0x0a – und natürlich
das Gedicht an der Kreuzung dieser beiden konkur- ist Gauss PDF ein großer Verbündeter und Gordon
rierenden Kulturtechniken ereignen zu lassen, als Faylor ein guter Freund.
dem einen Modus gegenüber den anderen zu privile-
gieren. Angesichts der Gefahr, dass alle möglichen Ar-
ten von Information (symbolisch und materiell) im Ein Buch ist auch eine Technologie
Text verloren gehen können, wenn man das Wissen
um den Buchdruck in das digitale Paradigma über- Gordon gab kürzlich bekannt, dass er Gauss PDF
setzt, will ich lieber mit der Spaltung zwischen diesen nach der 300. Veröffentlichung einstellen werde.
beiden simultanen Formen der Lese- und Schreibfä- Welche Auswirkungen hat das auf Troll Thread?
higkeit (Buchgebunden und digital) herumspielen Gauss und TT sind gewissermaßen zusammen
als das Chaos ihrer Koexistenz zu bereinigen. groß geworden. Es wird scheiße sein, nicht mehr ne-
ben diesem Geschwisterkind zu produzieren. Gauss’
Wie wichtig ist der technische Aspekt für eure Pra- Abwesenheit wird ein riesiges Loch hinterlassen,
xis, sowohl bei der Erstellung von Texten als auch bei von dem ich nur hoffen kann, dass es mehr Plattfor-
deren Verbreitung? men füllen werden. Und derweil ist es immer noch
Der technische Aspekt ist insofern wichtig als er so, dass die meisten experimentellen DichterInnen
schlicht da ist – digitale Rechensysteme sind für uns das gebundene Buch mit einer limitierten Auflage
allgegenwärtig. Die Texte, die wir veröffentlichen, bevorzugen (vielleicht, weil es sich autoritativer

163 Holly Melgard


Holly Melgard / Joey Yearous-Algozin, Liquidation, 2017,
PDF und Print-on-Demand, Screenshot: Troll Thread

164 publish! – IV. Publizieren als Schnittstellenfunktion


Maker, Money, 2012, Print-on-Demand, Foto: Holly Melgard, Courtesy: Holly Melgard

anfühlt?). Troll Thread hat etwa im Laufe der Jah- HOLLY MELGARD
re Angebote bekommen, unseren Katalog in einen Holly Melgard ist Mitgründerin des Verlagskollektivs Troll
Verlag zu überführen, der jedem Buch eine eigene Thread und Autorin der Poems for Baby -Trilogie, The Making
Auflage geben kann, was die Gedichte »legitimer« of The Americans, Black Friday, Reimbur$ement (alle Troll Th-
erscheinen ließe, wie es heißt. Und als ich im Herbst read) sowie Cats Can’t Taste Sugar (Gauss PDF) und „Catcall“
(Ugly Duckling Presse). Zusammen mit Joey Yearous-Algozin
mein erstes Buch bei einem externen Verlag veröf- schrieb sie White Trash (Troll Thread) und  Holly Melgard’s
fentlichte Catcall, Ugly Duckling Presse, gratulierten Friends and Family (Bon Aire Projects). Sie performte ihre
mir die Leute immer wieder zu meinem „ersten Gedichte und Soundworks in Institutionen wie dem New
Buch“ – dabei habe ich seit 2011 sieben Bücher bei York Museum of Modern Art und dem Los Angeles Muse-
um of Contemporary Art. Ihre Texte erschienen in „l’Officiel
TT veröffentlicht. Wir brauchen mehr, nicht weniger
Art“, „6x6“ und „Best American Experimental Poetry 2015“.
Lyrik. Gauss half dabei, indem er zeigte, dass Litera- Sie ko-kuratiert die Segue Reading Series und die Literatur-
tur, die in einem Online-Raum ausgetauscht wird, zeitschriften „P-Queue“ sowie „Slightly West“. Sie wurde mit
eine legitime materielle Existenz und Lebensfähig- der Dissertation Poetics of Ubiquitization: Textual Conditions
keit besitzt. Ich meine, es ist nun einmal so: Die USA of/for the Ubiquitous Computing Age am Buffalo Poetics Pro-
gram promoviert und unterrichtet Kreatives Schreiben an der
erfahren im Moment durch die Trumpokalypse eine
City University, New Work. Holly Melgard lebt in Brooklyn.
immense kulturelle Neudefinition, die uns vor allem
online vermittelt wird. Dieses traumatische Erlebnis
ist nicht weniger real, nur, weil wir es nicht zuerst
durch Bücher erfahren. Und jetzt mit dem Tod der
Netzneutralität   … Gauss’ Ruhestand ist jedenfalls
erschreckend. Ich bin nur froh, dass sein Archiv on-
line bleibt. Die Welt ist wärmer mit Gauss.

165 Holly Melgard


IV. Publizieren als Schnittstellenfunktion

J. Gordon Faylor
DATEITYPEN ALS PUBLIKATIONSTAKTIK
Ein Gespräch von Hannes Bajohr

Sophia Le Fraga, UND3RGR0UND L0V3R5: A Comedy-Ballet without Dance or Music, 2015, Videodatei,
Screenshot: Gauss PDF/J. Gordon Faylor

166
hier in den USA – weil ich die Werke meiner Freun-
dInnen verfügbar machen wollte, die nirgendwo
anders verlegt wurden. Aber wo die meisten Klein-
verlage sich auf ein einziges Medium konzentrieren,
seien es jetzt Bücher oder Platten oder etwas Ande-
res, da wollte ich einen sehr viel interdisziplinäreren
Rahmen zulassen.

Was hat dich denn dazu bewogen, nach einer Phase


reiner Onlinepublikation mit GPDF Editions auch in
den Print zu gehen?
Das war ein ähnlicher Impuls wie der, der mich
J. Gordon Faylor, Foto: Lanny Jordan Jackson ursprünglich hat Gauss PDF gründen lassen: Weil
ich die Arbeit von AutorInnen, die mochte, eben
nicht gedruckt sehen konnte und weil ich wusste,
dass in vielen Fällen das Self-Publishing ihre ein-
zige andere Option war. Ich liebe Bücher und es
bereitet mir große Freude, sie zu gestalten. Und
der Print-on-Demand-Service, den Lulu anbietet,
macht es sehr einfach, Bücher ohne finanzielles Ri-
siko herzustellen (vom Preis für die Bücher, die man
dann selbst kauft, einmal abgesehen). Selbst, wenn
die Druckqualität bei Lulu sehr schwankt, erlaubt
es mir doch, schnell und billig zu agieren. Ich will
es eigentlich vermeiden, Technologie zu sehr zum
Für jenen Teil der amerikanischen Literaturszene, Zentrum meiner Publikationspraxis zu machen,
der sich als „postkonzeptuell“ versteht, gehört der auch wenn es sich nicht bestreiten lässt, dass eine
Verlag Gauss PDF zu einer seiner wichtigsten Ver- Unternehmung wie Gauss PDF ohne das Internet
breitungsorgane. Mit einem Geschmack an postdi- völlig unmöglich wäre. Außerdem erscheint mir
gitaler Ästhetik und Willen zum Experiment will sein die Konzentration auf Dateitypen als eine offen-
Gründer und Betreiber, der Lyriker J. Gordon Fay- sichtliche Taktik, der noch viel zu wenige Veröf-
lor, Genregrenzen einreißen. Ein Mittel dazu ist die fentlichungen nachgehen  – vor allem, wenn man
Konzentration auf Dateiformate: Videos oder ZIP- die reiche Vielfalt an Formen bedenkt, die es im
Dateien können ebenso literarische Werke sein wie Internet gibt. Ich denke vor allem an ZIP-Dateien
die PDFs, die zum Download bereit stehen, oder und die Möglichkeit, in ihnen ganz ungezwungen
die in der Reihe GPDF Editions erscheinenden eine Konstellation zwischen verschiedenen Materi-
Bücher, die über die Print-on-Demand-Plattform alien herzustellen – etwa bei Danny Snelsons EXE
Lulu hergestellt werden. Im Interview spricht Faylor TXT, das sowohl als ZIP-Ordner und als Print-on-
über Gauss PDF als anarchischem Projekt, dem er Demand-Buch erschien.
als Gegenwartspraxis auch ein Ablaufdatum ein-
geschrieben sieht, über die Politik des DIY und die Was unterscheidet Gauss PDF von einem Verlag oder
Grenze verschwimmende zwischen Verlagswesen einer Galerie im traditionellen Sinn?
und künstlerischem Kuratieren. Vor allem unterscheidet es sich dadurch, dass es
nur online existiert, dass es keinen Profit macht und
Hannes Bajohr: Was ist Gauss PDF und wie ist es nichts „for sale“ ist (alle Bücher werden zum Selbst-
entstanden? kostenpreis verkauft). Ich stelle es mir lieber als ein
J. Gordon Faylor: Gauss PDF ist, einfach gesagt, Archiv und nicht so sehr wie einen Verlag vor. Aber
ein Verlag für digitale Arbeiten, der alle möglichen es gibt noch einen wichtigeren Unterschied, einen
Dateitypen begrüßt. Alle Publikationen stehen ökonomischen. Ich hänge einer Art minimalisti-
kostenlos zum Download bereit. Die einzigen Para- schem Do-it-yourself-Ethos an, das darauf abzielt,
meter für das Einreichen von Werken sind, dass sie den Publikationsprozess so reibungslos wie möglich
abgeschlossen sind und exklusiv bei uns erscheinen. zu gestalten. Das heißt, so wenig Geld zu investieren,
Diese sehr offenen Vorgaben lassen dann alles zu, wie zum Überleben des Projekts gerade noch nötig
von PDFs und JPGs zu ZIP-Dateien oder Videos. sind. Mein Hintergrund in der Lyrikszene war da
Das Imprint GPDF EDITIONS ist darüber hinaus hilfreich – in den USA ist das Publikum, das an Lyrik
ein Kanal, über den ich physische Bücher per Print- interessiert ist, extrem klein, Geld lässt sich damit
on-Demand bei Lulu.com verlege. Gegründet habe nicht machen, nicht einmal durch staatliche Förde-
ich Gauss PDF 2010 aus demselben Grund, aus dem rung. Das hat auch eine gewisse Nonchalance oder
viele kleine Verlagsprojekte entstehen, zumindest Indifferenz gegen Marketing und Publicity zufolge.

167
01 Danny Snelson,
EXE TXT (Inhalt des
ZIP-Ordners), 2015,
ZIP-Datei, Screenshot:
Gauss PDF/J. Gordon
Faylor

02 Danny Snelson,
EXE TXT (Detail des
Print-on-Demand-
Buches), 2015, Print
on Demand, Foto:
Hannes Bajohr,
Courtesy: Gauss
PDF/J. Gordon Faylor

03 Buffy Cain,
(n+1)+1“, 2015, PDF
und Print on Demand,
Screenshot: Gauss
PDF/J. Gordon Faylor

01

… öfter passiert es, dass die „Vision“ privilegieren, indem ich ganz einfach sehr
verdammten Dinger mir einfach viel schlampiger, uneinheitlicher und lockerer
vorging. Dass bei Gauss PDF alles so unverlässlich
in den Schoß fallen. ist, macht es für mich und für das Publikum die-
ser Werke (wer immer das ist), sehr viel aufregen-
Wer publiziert bei Gauss PDF? Gehst du auf Autor- der. Außerdem erlaubt es ein rhizomatisches und
Innen zu? multidirektionales Wachstum, statt eines engen,
Jeder kann bei mir veröffentlichen. Was den Reiz hierarchischen. Viele der AutorInnen sind nicht nur
der Arbeit mit Gauss PDF in den letzten sieben gute SchriftstellerInnen,  sondern auch faszinieren-
Jahren ausgemacht hat, ist, wie natürlich sich der de KünstlerInnen, die auf ganz überraschende Weise
Katalog ausgeweitet hat – durch Mundpropaganda zwischen vielen Medien arbeiten. Deshalb bin ich
oder glückliche Zufälle. Es sind auch Freundschaften vorsichtig, Gauss PDF
entstanden, einfach, weil sich manche Leute für die
Seite interessierten, mir geschrieben und Arbeiten
angeboten haben. Manchmal betreibe ich auch Ak- Eine Strategie von mir ist
quise bei KünstlerInnen oder AutorInnen, deren Ar- es, jemanden, der mir etwa
beit mich interessiert, aber öfter passiert es, dass die ein Lyrikmanuskript schickt,
verdammten Dinger mir einfach in den Schoß fallen. dazu aufzufordern, statt-
Ohne Frage entstand Gauss PDF aus den Lyrikszenen
New Yorks und Philadelphias, hat sich seitdem aber dessen ein Video oder eine
davon gelöst und über sie hinaus erweitert. MP3 einzureichen.
Gibt es literarische oder künstlerische Qualitäten, die
die bei Gauss PDF erscheinenden Werke verbindet? als „literarische“ Vertriebskanal zu bezeichnen, und
Das ist schwer zu beantworten, zum Teil deshalb, nicht nur, weil dieser Begriff eine bestimme histori-
weil meine Intention seit Beginn des Verlages war, sche Linie aufruft (sehr weiß, sehr männlich), die vie-
so vielfältig wie möglich zu veröffentlichen, manch- le der Arbeiten, die ich veröffentliche, unterlaufen,
mal selbst gegen meinen eigenen Geschmack. Ich parodieren oder offen ablehnen. Als exemplarische
wollte traditionelle kuratorische Empfindsam- Gauss PDF-Publikation könnte man etwa (n+1)+1
keiten untergraben, die eine individualistische nennen. Es verbindet fortgeschrittene Technik mit

168 publish! – IV. Publizieren als Schnittstellenfunktion


02

03 03

169 J. Gordon Faylor


Sophia Le Fraga, UND3RGR0UND L0V3R5: A Comedy-Ballet without Dance or Music“, 2015, Videodatei, Screenshot:
Gauss PDF/J. Gordon Faylor

einem subversiven Punk-Ethos. Um den Text des Bu- lieber auf Nummer sicher und spezialisieren sich.
ches zu produzieren, verwendete Buffy Cain einen Damit begrenzen sie sich aber darauf, was bestehen-
Algorithmus für maschinelles Lernen. Nachdem de Disziplinen zu bieten haben. Anstatt also die Idee
damit jedes Wort in einer Ausgabe des Magazins des „Genres“ umzudefinieren, konzentriere ich mich
n+1 grammatisch analysiert worden war, lud sie ein lieber auf den Dateityp einer Publikation, weil er auf
(sehr großes) Wörterbuch herunter und ersetzte je- die die vielen Prozesse aufmerksam macht, die in-
des Substantiv, das der Parser in n+1 fand, mit dem nerhalb und außerhalb eines bestimmten Werks ab-
nächstfolgenden Substantiv aus dem Wörterbuch. laufen. Davon sind einige „künstlerisch“ und andere
Anders gesagt, mit algorithmischer Hilfe konnte nicht. Das lässt die Materialität des Werks sichtbarer
Cain Ton und Stil eines hochgeachteten Kulturma- werden und das wiederum erhöht die Chance, die
gazins parodieren und destabilisieren. Sie stellt auf eigenen ideologischen, auf Genres fixierten Vorur-
urkomische Weise die Materialität der Wörter in den teile aufzubrechen.
Vordergrund und enthüllt eine surreale und oft ver-
drängte Potentialität von Sprache. Da du von DIY-Ethos und der Auflösung von Genre-
grenzen sprichst – siehst du Gauss PDF als ein politi-
Ist Gauss PDF eine Art, wie die Zukunft künstleri- sches oder zumindest kulturpolitisches Projekt?
schen Verlegens aussehen könnte? Auch wenn jede Art des Publizierens –  und
Ich will mir Gauss PDF, noch weniger mich Kunstproduktion überhaupt – immer in Politik
selbst, als Vorbote irgendwelcher Zukünfte vorstel- verwickelt ist, bin ich doch zögerlich, den verschie-
len; überhaupt frustriert mich jede Form von Tech- denen Werken bei Gauss PDF irgendeine übergrei-
no-Fetischismus und -determinismus. Meine Ziele fende Ideologie zuzuschreiben. Andererseits kann
sind viel einfacher und drehen sich vor allem darum, ich auch nicht leugnen, dass mein Ansatz aus einer
verschiedene Formen gegenseitig ins Gespräch zu tiefsitzenden Skepsis stammt, was konventionellere
bringen, und zwar ganz einfach dadurch, dass ich sie Verlage und/oder Galerien betrifft. Natürlich ist das
in nächster Nähe zueinander ausstelle. In den USA eine Kritik, die vor allem durch die Zugänglichkeit
werden die verschiedenen Medien- und Kunstarten und den operationellen Minimalismus von Gauss
oft viel zu streng voneinander abgetrennt, oder die PDF artikuliert wird. Was ich stärker machen will,
eine Form dient bloß als Ornament einer anderen – ist eine Art herausfordernder und kritisch-bewuss-
ein Beispiel dafür wäre, wie Dichtung in den letzten ter Porosität, die sich in der Spannweite der auf
Jahren im Umfeld der bildenden Künste eingesetzt Gauss PDF verfügbaren Werke widerspiegelt, statt
und aufgewertet wurde. Eine Strategie von mir ist es, sie getrennt zu betrachten, als das Auspinseln oder
jemanden, der mir etwa ein Lyrikmanuskript schickt, Erfüllen vorherbestimmter Haltungen. Ich glaube,
dazu aufzufordern, stattdessen ein Video oder eine Gauss PDF wäre auch dann noch nötig, wenn es
MP3 einzureichen. Nur, indem man diesen geschlos- eine bessere staatliche Kunstförderung in den USA
senen Schleifen entkommt, kann man erkennen, wie gäbe. Schließlich bedeutet Kunstförderung Abhän-
die Genres, in denen wir arbeiten, aufgebaut und gigkeit vom Staat – und dessen Launen ändern sich
ideologisch strukturiert sind. Meiner Erfahrung stets. Und außerdem weigere ich mich zu glauben,
nach, gehen viele AutorInnen und KünstlerInnen dass mehr Geld „bessere“ Kunst ergäbe. Indem ich

170 publish! – IV. Publizieren als Schnittstellenfunktion


Francesca Capone, I honor the huge blue, 2015, Videodatei, Screenshot: Gauss PDF/J. Gordon Faylor

unabhängig arbeite, kann ich konsequenter die also die Leute diese Werke kontextualisieren oder
Verantwortung für die Werke übernehmen, die ich erkunden. Trotzdem liebe ich das Verlegen. Wahr-
hoste, größere Risiken eingehen (oder willkürliche scheinlich beginne ich mit etwas Neuem in diesem
Manöver vollziehen), ohne durch den Stumpfsinn Bereich, nachdem ich eine ordentliche Pause hatte.
des Antragsschreibens hindurchgehen zu müssen. Es ist schwer, darüber zu spekulieren, wie dieses
Ende andere Projekte, etwa Troll Thread, beeinflusst,
Wie sieht deine Beziehung zu anderen Verlagen/ aber die große Vielzahl an Verlagen/Labels, die ich
Kollektiven aus, die in einem ähnlichen Modus arbeiten, oben genannt habe, zeigen ja, dass die Projekte nicht
etwa Troll Thread? weniger werden –  eher im Gegenteil!
Troll Thread und Gauss PDF nahmen zur selben
Zeit den Betrieb auf, auch wenn wir einander zu
dieser Zeit nicht kannten; heute sind wir Freunde. Schließlich bedeutet Kunst-
Trotzdem habe ich nicht zu besonders vielen ande- förderung Abhängigkeit vom
ren Verlagen oder Labels direkte Beziehungen, im Staat – und dessen Launen
Sinne von Gruppenidentität, auch wenn mich die ändern sich stets
Arbeit von anderen Publikationen, Labels und Platt-
formen freut und bestärkt. Ich denke an: Lateral
Addition, SOd press, Kinet Media, Golias Books, Basic
Editions, Make Now Press, OSR Tapes, Hysterically
Real, Madacy Jazz, Veneer Magazine, und psalmus
diuersae. Sie alle versuchen sich in aufregenden neuen
Möglichkeiten in der Produktion und Distribution
von Kunst und/oder Literatur.

Du hast angekündigt, dass du Gauss PDF mit der


300. Veröffentlichung einstellen willst – warum und
was bedeutet das für die Szene?
J. GORDON FAYLOR
Gauss PDF zu betreiben ist eine Arbeit, die ich J.  Gordon  Faylor ist Gründer und Herausgeber von „Gauss
liebe – Arbeit ist es aber doch. Ich bin froh, dass ich PDF“ (www.gauss-pdf.com) und ist leitender Redakteur der
die Seite so lange habe unterhalten und viele außer- Plattform „Open Space“ des San Francisco Museum of Modern
gewöhnliche und wunderbare Werke habe hosten Art (http://openspace.sfmoma.org). Er ist Autor von „The
Puppet Wedding“  (Smiling Mind Documents),  „Registration
können, aber es erscheint mir angemessen, die Pu-
Caspar“  (Ugly Duckling Presse),  „The Sycophant“  (TROLL
blikationen gewissermaßen historisch einzuklam- THREAD), „Annealing 8 pp. Scuffle“ (eohippus labs), „Marginal
mern – zu sagen: „Das hier ist ein bestimmtes Netz- Twin Contribution“  (TROLL THREAD) und  „Docking, Rust
werk aus einer bestimmten Zeit.“ Was in sich keinen Archon“  (bas-books); zusammen mit Brandon Brown hat er
Abschluss hat, wird schnell schal. So hat die Geste drei Bände mit Weihnachtsgedichten geschrieben. Feuilleto-
nistische Arbeiten erschienen in „Jacket2“ und „MAY.“ Faylor
des Abschließens auch das Potential, die Aufmerk-
lebt in Oakland, California.
samkeit zu steuern, die dem Katalog zuteilwird – wie

171 J. Gordon Faylor

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