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KREATIVITÄT &

KÜNSTLICHE INTELLIGENZ
Der Mensch als treibende Kraft der KI
Impressum

Herausgeber
BSP Business and Law School – Hochschule für Management und Recht
Calandrellistraße 1-9
12247 Berlin
Tel.: 030 766837 53-100
www.businessschool-berlin.de
Amtsgericht Berlin: HRB 145457 B
Geschäftsführerin: Ilona Renken-Olthoff

Kontaktdaten
BSP Business and Law School
Projekt Mittelstand-Digital Zentrum Zukunftskultur
Thomas Thiessen (Projektleiter)
thomas.thiessen@businessschool-berlin.de
Tel.: 0331 730 404-301

Redaktion
Kristina Bodrožić-Brnić und Herbert Fitzek (verantw.)
Carolin Enke, Antonia Wagner
Gestaltung und Produktion: WorldTribe, Kristina Bodrožić-Brnić
Bildnachweis: Canva Pro (Titelbild), Artikelgrafiken über Quellennachweis der Autor:innen

Stand: März 2022


Kreativität & Künstliche Intelligenz - Seite |2

Über dieses Buch

Das Buch „Kreativität und Künstliche Intelligenz“ ermöglicht Führungskräften in


Unternehmen eine neue und ungewöhnliche Perspektive auf das Thema Künstli-
che Intelligenz. Denn es geht nicht primär um technologische Aspekte der KI. Viel-
mehr behandelt die Publikation auf anspruchsvolle Weise das Zusammenspiel
von Mensch und Technologie und menschlich-kreative Ansätze, die sich in Tech-
nologie-getriebenen Unternehmensprozessen widerspiegeln. In vielfältigen Bei-
trägen aus Kunst, Wissenschaft und Wirtschaft wird aufgezeigt, wie KI und Kre-
ativität sich gegenseitig bedingen und welcher Mehrwert daraus entstehen kann.
Sicherlich ist dieses Buch keine „leichte Kost“. Gleichwohl wird das komplexe
Technologiethema Künstliche Intelligenz laienverständlich im Zusammenhang
mit menschlicher Wirkungs- und Steuerungshoheit gebracht. Zusätzlich bekom-
men Unternehmer:innen praktische Beispiele, konkrete Handlungsempfehlungen
und Unterstützungsmöglichkeiten aus dem Umfeld von Mittelstand-Digital.

Über die Herausgeber

Das Mittelstand-Digital Zentrum Zukunftskultur unterstützt kleine und mittlere


Unternehmen (KMU) dabei, eine zukunftsfähige Unternehmenskultur aufzubauen
und zu leben. Denn die Unternehmenskultur ist Grundlage für eine erfolgreiche
Digitalisierung und eine nachhaltige Entwicklung. Wir fokussieren uns auf die
Menschen inmitten der Veränderungen. Vertrauen, Innovation und Neugier, Zu-
sammenarbeit und Kommunikation sind wichtige Elemente einer solchen Zu-
kunftskultur. Dazu leisten wir Wissenstransfer und ermöglichen Erfahrungsaus-
tausch. Unsere Angebote sind für Unternehmen kostenfrei und werden durch das
Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) im Rahmen des För-
derschwerpunktes Mittelstand-Digital finanziert.

Weitere Informationen finden Sie unter www.digitalzentrum-zukunftskultur.de


Kreativität & Künstliche Intelligenz - Seite |3

Das vorliegende Werk „Kreativität & Künstliche Intelligenz“ ist im Rahmen des Mittel-
stand-Digital Zentrums Zukunftskultur entstanden.

Federführend für die Entwicklung und fachliche Betreuung des Buches sind Kristina
Bodrožić-Brnić und Herbert Fitzek.

Kristina Bodrožić-Brnić ist Geschäftsführerin von WorldTribe, ei-


nem Netzwerk zur Vermittlung von digitalen, kommunikativen
und interkulturellen Kompetenzen. Sie hat ihr Studium in Moder-
ner Sinologie und Ostasiatischer Kunstgeschichte an der Univer-
sität Heidelberg absolviert. Bodrožić-Brnić beschäftigt sich seit
mehreren Jahren intensiv mit Führungskräfteentwicklung und
Veränderungsmanagement in der digitalen Transformation. Ein Schwerpunkt dabei ist
die Verbindung zwischen Kunst/Kreativität und Digitalisierung. Ihr Credo dabei: Digitale
Technologien und Künstliche Intelligenz bieten vielfältige Möglichkeiten der kreativen
Gestaltung in Unternehmen, um Produkt- und Dienstleistungsinnovationen zu entwi-
ckeln.

Herbert Fitzek setzt sich als studierter Psychologe seit Jahren mit
menschlichem Erleben und Verhalten in digitalen Veränderungs-
prozessen auseinander. Seine Schwerpunkte in Forschung und
Beratung sind Kulturpsychologie, Organisationsentwicklung und
Kunstcoaching. Seit 2010 ist er als Prorektor und Professor für
Wirtschaftspsychologie an der BSP Business & Law School tätig
und engagiert sich in nationalen und internationalen Projekten. Im Rahmen des Mittel-
stand-Digital Zentrums Zukunftskultur unterstützt Fitzek mit seiner langjährigen Ex-
pertise bei der Entwicklung verschiedener Transferformate, die kleinen und mittleren
Unternehmen in digitalen Veränderungsprozessen eine Orientierung bieten.
Kreativität & Künstliche Intelligenz - Seite |4

Vorwort
Liebe Leserin, lieber Leser,

„Kreativität & Künstliche Intelligenz“ ist aus zwei Gründen eine ungewöhnliche Publikation: Ers-
tens bringt sie zwei Verhaltensräume in einen Zusammenhang, die nicht unbedingt in natürli-
cher Harmonie zueinanderstehen. Künstliche Intelligenz (KI) entfaltet ihre Wirkung über unbe-
stechliche, klar berechenbare Algorithmen. Kreativität dagegen artikuliert sich in häufig unvor-
hersehbaren Inspirationen und eigentümlichen Formensprachen, die keiner logischen Struktur
entsprechen. KI funktioniert datengetrieben. Kreativität ist ein schöpferisches, oft widersprüch-
liches Phänomen. Zweitens haben wir es mit sehr unterschiedlichen, manchmal sogar gegen-
sätzlichen Ansprüchen zu tun. KI beeinflusst bereits heute und künftig noch deutlich intensiver
ökonomische Strukturen und unternehmerisches Handeln im Wettbewerb. Kreativität ist nicht
primär ertragsorientiert und darf auch unproduktiv sein.

Auf den ersten Blick ist es also herausfordernd, KI und Kreativität in einen Vermittlungsprozess
hinein zu moderieren. Genau diese Ambivalenz ist es andererseits aber, die uns zu dieser Pub-
likation motiviert hat. Wir befinden uns ökonomisch nämlich inmitten eines technologischen
Transformationsprozesses, der ohne Motivation und Akzeptanz der beteiligten Menschen nicht
gelingen wird. Dazu brauchen wir Technologievertrauen und die Einsicht, dass sich Mensch
und Technik nicht gegenüberstehen, sondern Technik von Menschen und für Menschen entwi-
ckelt wird. Wenn wir uns also vergegenwärtigen, dass menschliche Kreativität die Vorausset-
zung für Technologieentwicklung und auch für KI ist, dann bleibt KI ein Teil von uns und funk-
tioniert im Rahmen unserer menschlichen Intentionen.

Was in der Kunst passiert, findet seinen Ausdruck oft auch in der Fabrik, und umgekehrt. Diese
Publikation soll also dazu beitragen, eine Brücke zu schlagen und einen positiven Zugang zu
den Chancen der Digitalisierung zu finden. Digitalisierung und KI bieten spannende Möglich-
keitsräume, die sich in allen Lebensbereichen zeigen und gerade KMU zusätzliche Perspektiven
der Marktteilhabe eröffnen. Am Anfang aber steht die eigene Kreativität und eine offene Hal-
tung. Und immer bleibt der Mensch Treiber von KI.

Wir wünschen Ihnen interessante Einblicke und vielleicht eine neue Sicht auf Technologie als
Teil unseres eigenen Schaffens.

Thomas Thiessen,
Leiter des Mittelstand-Digital Zentrums Zukunftskultur
Kreativität & Künstliche Intelligenz - Seite |5

Inhaltsverzeichnis
Impressum................................................................................................................................................................... 1
Über dieses Buch und die Herausgeber .......................................................................................................... 2
Vorwort ........................................................................................................................................................................ 4
Einleitung: Kreatives Arbeiten mit Künstlicher Intelligenz........................................................................ 6
Künstliche Intelligenz kurz und knapp! Ein Leitfaden für Leser:innen .................................................. 8
Mensch und Künstliche Intelligenz ..................................................................................................................12
Qualitätskontrolle: Die KI entlastet dort, wo der Mensch nicht acht Stunden am Stück
leisten kann (Benjamin Gosse) .................................................................................................................13
Mensch ! Maschine - Geschichte einer (un-)heimlichen Partnerschaft (Herbert Fitzek) ....18
Hybride Intelligenz – natürlich künstlich! (Björn Zwingmann) .....................................................29
Kunst und Künstliche Intelligenz ......................................................................................................................40
Neuronale Netze als Künstler - Oder KI als Werkzeug und Partner? (Ralf Krestel)............41
Verbindung von Kunst, Technologie, KI und Wissen: das Projekt ArchXtonic (Fabrizio
Poltronieri) .......................................................................................................................................................56
Kreativität und Künstliche Intelligenz .............................................................................................................68
UNTITLED: Eine Übung zur (Un-) Übersetz-barkeit poetischer Materie (Graziele Lauten-
schlaeger) .........................................................................................................................................................69
Die menschlichen Sinne als Designmaterial für erklärbare Künstliche Intelligenz (Ale-
xandra Matz) ...................................................................................................................................................79
Emotion und Künstliche Intelligenz .................................................................................................................96
Hey Charly: Ein KI-gesteuerter Roboter erobert Sankt Augustin (David Golchinfar) ..........97
Science-Fiction & KI – Visionen für die digitale Transformation (Isabella Hermann, Rainer
Zeichhardt) .................................................................................................................................................... 102
Affective Computing – Empathie für Mensch und Maschine (Carolin Enke) ....................... 115
Mittelstand und Künstliche Intelligenz........................................................................................................ 126
Kreativität in Kunst und Wirtschaft (Kristina Bodrožić-Brnić) ................................................... 127
Künstliche Intelligenz in Unternehmen - Eine Roadmap für den Mittelstand (Jibinraj An-
tony, Alexandra Ritter) ............................................................................................................................. 138
Informationsmaterialien .................................................................................................................................... 152
KI in Unternehmen: Praxisbeispiel Helmut Meeth GmbH & Co.KG ........................................ 153
Künstliche Intelligenz als Innovationstreiber ................................................................................... 156
Mittelstand-Digital - Kostenfreie Unterstützungsangebote für Unternehmen .................. 158
Kreativität & Künstliche Intelligenz - Seite |6

Einleitung
Kreatives Arbeiten mit Künstlicher Intelligenz

Mit der vorliegenden Publikation wollen wir aufmerksam machen auf die Möglichkeiten
neuer Technologien in Unternehmen - rund um das Thema Künstliche Intelligenz.
Längst ist klar, wie wichtig Technologiethemen auch im Mittelstand geworden sind.
Digitalisierung beherrscht die Ausbildung junger Menschen heute ebenso wie Mathe-
matik und Sprachen. Die Förderinitiative Mittelstand-Digital des Bundesministeriums
für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) hat das Ziel, anspruchsvolle Zusammenhänge
leicht zu erklären, die Menschen bei der Entwicklung technologischer Lösungen mitzu-
nehmen und Hilfestellung beim Ausschöpfen digitaler Potenziale zu geben. Die Ex-
pert:innen und Kreativschaffenden, denen Sie in diesem Band begegnen, kennen das
weite Feld von KI-Anwendungen aus eigener Praxis und behandeln in ihren Beiträgen
die Chancen einer kreativen Nutzung und Weiterentwicklung digitaler Instrumente in
Wirtschaft und Gesellschaft.

Wir starten die Reise mit einem Essay von Herbert Fitzek über die historische Partner-
schaft von Mensch und Maschine unter dem Titel „Mensch ! Maschine - Die Geschichte
einer unheimlichen Partnerschaft” und im Artikel „Hybride Intelligenz - natürlich künst-
lich!” von Björn Zwingmann mit der Zuschreibung menschlicher Eigenschaften („Intel-
ligenz“) zu Maschinen. Ralf Krestel und Fabrizio Poltronieri zeigen auf, wie Künstliche
Intelligenz gemeinsam mit dem Menschen gleichermaßen Lösungen für die Kreativin-
dustrie wie für künstlerische Anwendung entwickeln kann. Die Künstlerin und Forsche-
rin Graziele Lautenschlaeger beschreibt in ihrer Auseinandersetzung mit dem Werk
„Untitled” die konfliktreiche Beziehung zwischen dem Menschen und der noch recht
unvollkommenen KI, die eben weit entfernt davon ist, zu verstehen, was der Mensch
braucht, und umso mehr auf die menschliche Programmierleistung angewiesen ist.

Alexandra Matz plädiert in „Die Menschlichen Sinne als Designmaterial für Erklärbare
Künstliche Intelligenz” für die Aktivierung der Sinne bei der Entwicklung und Produk-
tion nutzerfreundlicher und effizienter KI-Produkte und KI-Dienstleistungen. Dabei gibt
sie uns konkrete Ideen an die Hand, wie solche Entwicklungen gefördert werden kön-
nen. Praktisch wird es auch bei Isabella Herrmann und Rainer Zeichhardt, die den Pool
von kreativen Geschichten aus Science-Fiction in Workshops nutzen, um eine dystopi-
sche (zukunftsängstliche) Grundhaltung in eine antidystopische (positivere) Wahrneh-
mung künftiger technologischer Entwicklungen umzuwandeln. Im darauffolgenden
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Beitrag macht Carolin Enke mit dem Thema „Affective Computing” auf die Berücksich-
tigung von Empathie (Einfühlungsvermögen) bei der Kreation KI-basierter Lösungen
aufmerksam.

Der letzte Themenabschnitt der Publikation geht noch stärker auf praktische Ansätze
ein. Kristina Bodrožić-Brnić verbindet die beiden Welten von kreativer KI-Technologie
und gewachsenem Unternehmertum und setzt ein Ausrufezeichen für die Notwendig-
keit des kreativen Denkens sowohl bei dem Abbau von Ängsten im Betrieb als auch
bei der Entstehung von kundenorientierten Lösungen. Von den Mitwirkenden des Kom-
petenzzentrums Kaiserslautern erfahren wir, welchen Zugang kleine und mittelstän-
dige Unternehmen (KMU) zum Thema Künstliche Intelligenz gewinnen können. Den
Abschluß bilden weiterführende Materialien, die Unternehmen dabei helfen können,
Orientierung auf dem Weg ihrer KI-Implementierung zu finden.

Interviews mit folgenden KI-Praktikern vertiefen die Inhalte des Buchs:


• Benjamin Gosse trainiert mit seinem Start-up „Synsor“ ein KI-Produkt der Qua-
litätskontrolle so, dass es den Menschen nicht ersetzt, aber gemeinsam mit ihm
Prozesse der Qualitätskontrolle verbessert.
• David Golchinfar, Mitarbeiter des Mittelstand 4.0 - Kompetenzzentrums Usabi-
lity, begleitet die nutzerfreundliche Entwicklung des KI-basierten Roboters
„Charly“.

Wir wünschen Ihnen eine spannende und informative Lektüre und stehen Ihnen im
Rahmen des Mittelstand-Digital Zentrums Zukunftskultur jederzeit orientierend zur
Seite!

Herbert Fitzek

Kristina Bodrožić-Brnić
Kreativität & Künstliche Intelligenz - Seite |8

Künstliche Intelligenz kurz und knapp!


Ein Leitfaden für Leser:innen

Künstliche Intelligenz (KI) betrifft mittlerweile alle und wird unter anderem in Smart-
phone Apps oder in Social Media, bei Bankgeschäften und in der Automobiltechnologie
standardmäßig verwendet. Längst sind wir an die kleinen smarten Helfer gewöhnt.
Aber wie funktioniert eine KI denn eigentlich?

Die Antwort ist komplex. Künstliche Intelligenz ist selbst für Menschen, die Grund-
kenntnisse im computertechnischen Bereich mitbringen, nicht leicht zu entschlüsseln.
Daher erläutern wir Ihnen, liebe Leser:innen, auf den folgenden Seiten mit wenigen
Sätzen die wichtigsten Inhalte, auf die Sie beim Lesen der Fachartikel bei Bedarf gerne
zurückgreifen können.

Tipp: Lassen Sie sich nicht verwirren! Der englische Begriff für KI ist „Artificial Intelli-
gence“ (AI) und wird immer häufiger in den deutschen Medien verwendet.

Künstliche Intelligenz oder Machine Learning?


Künstliche Intelligenz ist dem Denken und
der Intelligenz des Menschen in gewisser
Weise unterlegen, doch lässt sich durchaus
von „menschenähnlicher“ Intelligenz spre-
chen, zumal die Verarbeitungskapazität von
Informationen ins Unendliche geht. Das liegt
daran, dass künstliche Intelligenz Algorith-
men und mathematische Gleichungen nutzt,
um Ergebnisse zu erreichen. Manche Ent-
wickler:innen bevorzugen dafür den Begriff
Machine Learning, weil dieser den Lernpro-
Canva Pro Lizenz. zess selbst hervorhebt und die Existenz einer
„Intelligenz“ im eigentlichen Sinne ausschließt. Machine Learning ist demnach lediglich
Lernen auf Datenbasis, doch ähnelt sie der menschlichen Intelligenz, insofern sie Ope-
rationen einschließt, bei denen aufgrund erlernter Erfahrung Entscheidungen selbst-
ständig getroffen werden.
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Schwache KI vs. Starke KI


Obwohl KI sich rasant entwickelt hat,
sprechen wir heute immer noch von einer
schwachen KI. Schwache künstliche Intel-
ligenz filtert Informationen aus enorm gro-
ßen Datensets, um spezifische Probleme
zu lösen. Einer starken KI begegnen wir
hingegen in den Schöpfungen der Sci-
ence-Fiction, von ihr sind wir in der Praxis
noch weit entfernt. Eine solche Intelligenz
würde selbstständig Probleme erkennen,
sich zu deren Lösung das nötige Wissen
aneignen und kreative Lösungen entwi- Canva Pro Lizenz.

ckeln. Menschliche und maschinelle Arbeit würden miteinander verschmelzen und den
potenziellen Einsatzmöglichkeiten (wie auch möglichen Konfliktfeldern) wären kaum
mehr Grenzen gesetzt.

Was ist und kann ein Algorithmus?


Grundlage für maschinelles Lernen und so-
mit für KI sind Algorithmen, vereinfacht ge-
sagt, Kombinationen aus mathematischen
Gleichungen, die zielorientiert zu Lösungen
kommen. Grundlegend dafür ist, dass es eine
klar definierte und endliche Vorgangsweise
für die Lösung eines Problems gibt, wie wir
es aus den mathematischen Gleichungen un-
serer Schulzeit kennen. Es handelt sich also
um eine Art von Rezept mit exakten Mengen
und Ablaufschritten für einen konkreten Ab-
Canva Pro Lizenz.
lauf, der zu einem berechenbaren Ergebnis
führt, wie etwa die Zubereitung eines konkreten Gerichts aufgrund eines bewährten
Rezeptes den jeweils gleichen Geschmack ergeben soll. Damit ein Computerprogramm
programmgemäß „kocht“, müssen die Regeln der Zubereitung in eine für ihn verständ-
liche Sprache übersetzt werden. Das Erstellen von Algorithmen für konkrete Abläufe
von Operationen ist eine der wichtigsten Aufgaben der Programmierer:innen. Anders
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aber als bei klassischen Rechensystemen generieren Algorithmen in aktuellen KI-Sys-


temen selbstständig neue Operationen und Algorithmen.

Tipp: Lesen Sie auch das KI Kochbuch: Rezepte für den Einsatz Künstlicher Intelligenz
in Unternehmen, zu finden unter https://www.mittelstand-digital.de/MD/Redak-
tion/DE/Publikationen/zentrum-kommunikation-ki-kochbuch.html.

Wie hängen Big Data (Große Daten) damit zusammen? Wie lernen
Maschinen?
Mit dem Schlagwort Big Data ist die
elektronische Auswertung ungeheurer
Datenmengen gemeint, die man ge-
meinsam mit Millionen von Menschen
täglich in sozialen Netzwerken wie Fa-
cebook oder LinkedIn hinterlässt. Solche
Daten können unmöglich von klassi-
schen Datenbanken und manuellen
Analyseverfahren durchleuchtet wer-
den.

Für diverse seriöse und nicht-seriöse


Unternehmen sind Big Data zudem „das Canva Pro Lizenz.

Gold unserer Zeit“, da eine zielgruppenorientierte Marktanalyse zur Steigerung des Ab-
satzes von Produkten führt. Auch professionelle Marketingberatungen verwenden
längst nicht mehr selbst angefertigte Einschätzungen, um beispielsweise ihren deut-
schen Kunden bei der Verkaufsstrategie in Südamerika zu helfen. Dank der Auswertung
großer Daten kann man betriebliche Social-Media-Kampagnen ganz gezielt auf das
richtige Publikum ausrichten.

Große Datenmengen sind erforderlich, um erfolgreiches maschinelles Lernen auf den


Weg zu bringen, denn auf der Grundlage unzureichender Daten können erforderliche
Ziele nicht erkannt oder angesteuert werden; ein entstehendes Programm wäre nicht
„intelligent“ genug, um als KI aktiv zu werden.
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Was sind künstliche neuronale Netzwerke?


Deep Learning ist die Grundlage für ak-
tuelle Fortschritte im Bereich von KI. Da-
für braucht es künstliche neuronale
Netzwerke, die dem menschlichen Lern-
prozess ähneln. Einfach gesagt, besteht
der Lernprozess in diesem Fall aus Infor-
mationsaufnahme (Input-Neuronen),
Nachdenken (Hidden-Neuronen) und
dem Entwickeln und Ausführung von
Lösungen (Output-Neuronen). Deep
Learning Anwendungen können „von
sich aus“ lernen. Es erfolgt keine Bestä-
Canva Pro Lizenz. tigung der erlernten Ergebnisse durch
den Menschen.

Tipp: Das ist einfacher zu verstehen, als Sie glauben. Ein typisches Einsatzgebiet ist die
viel genutzte Spracherkennung. Sie sprechen zum Beispiel einen Text über die das Mik-
rofonsymbol auf der Tastatur Ihres Smartphones ein, und das System schreibt dann die
Worte, die Sie an Ihren Kontakt per Nachricht über Ihren Instant-Messaging-Dienst
schicken möchten.

Was kann ein GAN (Generative Adversarial Network)?


In der Kreativarbeit wird oft auf GANs (Generative Adversarial Networks) Bezug ge-
nommen, denn damit kann man auch künstlerische Bilder mit KI erzeugen. Ein solches
Netzwerk ist eine Art unbewachtes maschinelles Lernen, das heißt, kein Mensch sagt,
ob das erreichte Ergebnis richtig oder falsch ist. Zwei künstliche neuronale Netzwerke
(KNN) treten dabei in einem Spiel gegeneinander an. Eines heißt „Generator“ und bietet
dem anderen, das „Diskriminator“ heißt, Daten an. Der Generator muss solche Daten
erzeugen, die „echt“ wirken, während der Diskriminator dann bestimmen muss, ob er
sie für echt oder falsch hält. Weil das ganze an den Turing-Test erinnert, bei dem ein
Mensch die Aufgabe des künstlichen Diskriminators übernimmt, nennt man das GAN
Verfahren auch Turing-Lernen.
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Qualitätskontrolle: Die KI entlastet dann,


wenn der Mensch nicht acht Stunden am Stück
leisten kann

INTERVIEW MIT BENJAMIN GOSSE VON SYNSOR

Benjamin Gosse kommt aus der KI-Entwicklung für


die betriebliche Anwendung. Wenn er ein Produkt
plant, geht es ihm in erster Linie darum, bereits
existente Prozesse für seine Kundschaft zu erleich-
tern. Das von ihm mitbegründete Unternehmen
Synsor.ai entwickelt konkret Produkte zur Quali-
tätskontrolle. Was KI-Systeme alles bieten, wie
Unternehmen damit umgehen und was Kreativität
für ein Start-up bedeutet, erzählte uns der Co-
Founder in einem Interview im Februar 2022.

Herr Gosse, wie sind Sie da hingekom- dass wir auch eine Nische gefunden
men, wo Sie jetzt stehen, und warum hatten, in der auch noch richtig Bedarf
tun Sie genau das, was Sie tun? besteht. Und so sind wir dann zur Ent-
scheidung gekommen, auch miteinan-
Tatsächlich hatte ich direkt bei meiner der zu arbeiten und ein Startup zusam-
ersten Arbeitsstelle schon das Interesse men zu gründen.
für KI entdeckt, weil ich das Gefühl hatte,
dass das mit einer der wichtigen Bau- Bei Synsor.ai entwickeln Sie KI gesteu-
steine die nächsten Jahrzehnte wird. erte Systeme zur Qualitätskontrolle. In
Und als ich dann entschied, mich selbst- traditionellen Betrieben wird diese von
ständig zu machen, musste ich erst ein Menschen durchgeführt. Können Sie
paar Schleifen drehen, habe dann aber uns sagen, weshalb der Mensch mit der
mit Nico einen Co-Founder gefunden, KI auch - oder erst recht - gute Ergeb-
der ebenfalls in die Richtung Künstliche nisse erzielen kann?
Intelligenz wollte. Und deswegen hat
sich da sehr schnell ein Match zwischen Tatsächlich ist es so: Der Mensch als
uns gebildet und wir haben gemerkt, Prüfmittel ist eigentlich schon extrem
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gut. Das Problem ist nur, dass gilt im- trolle. Das Neue ist hier die KI im Hinter-
mer nur dann, wenn der Mensch auch grund, aber im Ergebnis ist es für den
wirklich fit ist, also wach und ausgeruht Kunden nichts Neues. Spannend wird
ist, und nicht schon seit Stunden an sei- es bei uns dann bei dem zweiten Pro-
ner Prüfaufgabe sitzt. Und die Produk- dukt, dem ACT Produkt, denn hier sagt
tion läuft teilweise 24 Stunden am Tag. unser System nicht nur, ob das Produkt
Da ist es natürlich schwer, das einfach gut oder schlecht ist, sondern ob der
als Mensch durchzuhalten. Deswegen: ganze Herstellungsprozess quasi gut
Konstanz und auch Geschwindigkeit und schlecht ist, und was der Kunde tun
und erwartbare Qualität sind einfach soll, um den Prozess von
wichtiger als die Peak-Qualität, die ein „schlecht“ wieder auf „gut“ zu bringen.
Mensch erreichen kann. Deswegen su- Das heißt, es ist einfach eine weiter
chen Hersteller händeringend nach KI, greifende Blickweise. Mittelfristig ist es
die sie dann unterstützt, wenn der auch unser Plan, das ACT System, ohne
Mensch einfach nicht acht Stunden am das FIND System anbieten zu können.
Stück leisten kann. Oder wenn, dann nur Aktuell geht es nur zusammen, weil wir
unter höchster Anstrengung. Da hat KI eine Kamera brauchen, die die Bilder
in den letzten Jahren auch einen wahn- generiert, die wir analysieren, und das
sinnigen Sprung gemacht, weswegen ist erstmal das FIND System. Aber wie
wir jetzt hier auch wirklich gute Ergeb- gesagt, mittel- und langfristig wollen
nisse erzielen können. wir das auch mit Kameras von anderen
Herstellern ermöglichen und sie dazu
Wie funktionieren Ihre beiden KI-Sys- schaltbar machen.
teme FIND und ACT und kann ein Be-
trieb auch beide unabhängig voneinan- Eine Frage aus Sicht von Unternehmen:
der einsetzen? Synsor ist ein KI-Startup. Wie verhält es
sich mit Investitionen und Förderungen
Erstmal zur Frage, was diese beiden in diesem Bereich und was ist schon
Systeme, die wir anbieten, genannt großartig? Und was müsste besser lau-
„FIND“ und „ACT“ tun. FIND ist das, was fen?
man in der Industrie tatsächlich schon
seit vielen Jahrzehnten klassisch kennt. Großartig ist tatsächlich die Anzahl der
Das ist ein Prüfsystem, das dem Kunden aktiven Investoren im Bereich KI, weil
einfach sagt, dass das Produkt, das pro- Investoren verstanden haben, dass KI
duziert wird, gut oder schlecht ist, also wahnsinnig wichtig ist und wahnsinnig
eine klassische visuelle Qualitätskon- viel ausmachen wird. Besser laufen
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könnte tatsächlich das Thema der büro- ist, wenn man als Startup versucht, mit
kratischen Prozesse bei Förderungen. minimalsten Mitteln trotzdem ein kom-
Viele der Förderungen kommen von plexes Produkt zu bauen, das möglichst
staatlichen oder zumindest halbstaatli- früh schon einen Mehrwert beim Kun-
chen Institutionen, und die haben teil- den entfaltet und gleichzeitig nicht an
weise sehr mühsame, bürokratische allen Ecken und Enden auseinander-
Prozesse, die extrem lange dauern. Zu- bricht. Das ist wirklich kreative Arbeit,
mindest auf die Lebenszeit eines Star- weil du musst mit nichts das Maximum
tups bezogen. Das ist etwas, worüber erreichen und musst immer wieder
wir uns schon sehr geärgert haben. Da Probleme kreativ lösen. Das sehe ich als
ist viel Raum für Verbesserungen, ge- größere Kreativitätsherausforderungen,
rade in Deutschland. als wenn es um den Endnutzer geht.

Zum Thema Kreativität. Inwiefern spielt Nennen Sie uns bitte ein Beispiel für
diese eine Rolle bei der Entwicklung Ih- diese Form von Kreativität. Was gab es
rer Technologie? Und braucht man auch für Herausforderungen, die dann mit-
eine ganz besondere Kreativität, wenn hilfe kreativer Ansätze doch gelöst wer-
es um Endnutzer:innen geht? den konnten?

Um vielleicht auf die zweite Frage ein- Also ein Beispiel ist sicherlich unser
zugehen, ich würde es tatsächlich ge- zweites Produkt, das ACT Produkt. Wir
nau umdrehen. Ich glaube, dass die Kre- haben nämlich gemerkt, dass das Pro-
ativität in der gesamthaften Produktent- dukt als Alleinstellungsmerkmal aus
wicklung eine größere Rolle spielt, als strategischen Gründen für Investoren
wenn es dann konkret um einen End- vermutlich nicht mehr interessant ge-
nutzer geht. Warum sehen wir das so: nug ist, und mussten uns dann überle-
Wenn es um die User Experience geht, gen: „Wie schaffen wir es, auf Basis der
also um das, was der Endnutzer wirklich Technologie ein Produkt obendrauf zu
bei der Bedienung des Systems empfin- setzen, welches ein größeres oder noch
det, ist das eher ein Handwerk. Da gibt ungelöstes Problem löst?“ Und da
es enorm qualifizierte Leute, die genau mussten wir ganz unterschiedliche
verstehen, wie man Dashboards gestal- Dinge in einen Topf werfen und es
ten muss, damit sich das für den Nutzer musste ein Ergebnis rauskommen. Wir
gut anfühlt. Das kann man erlernen und mussten zusammenwerfen: Was ist
dann letztlich über eine Agentur ver- technisch möglich? Was ist mit unseren
kaufen. Was viel schwieriger ist, und da Ressourcen möglich? Was ist als Prob-
muss man dann wirklich kreativ werden, lem noch ungelöst? Und was ist auch
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ein Trendthema, bei dem wir sagen, die über die letzten 15-20 Jahre vier
„Okay, da werden Kunden auch in Zu- oder fünf Sachen ausprobiert haben und
kunft verstärkt drauf schauen“, denn alle haben nicht funktioniert. Und jetzt
viele der Probleme, die ungelöst sind, kommen wir um die Ecke und erzählen
sind aus gutem Grund ungelöst, weil das Gleiche nochmal: „Jetzt geht’s! Jetzt
sich eine Lösung einfach nicht rentiert. schaffen wir’s!“ Und deswegen ist am
Das heißt, wir mussten all diese Dinge Anfang noch viel Skepsis da. Aber wenn
in einem Vakuum betrachten und trotz- wir dann bei den Kunden vor Ort sind
dem zu einem Ergebnis kommen, das in und ihnen zeigen, „Wie sieht das Dash-
der Realität dann Bestand hat. Und das board aus? Wie sind die Resultate? Wie
hat schon viel Kreativität und Denkar- ist die Performance?“, dann schwindet
beit erfordert. diese Skepsis oft sehr schnell, und das
Produkt wird auch wegen der Sinnhaf-
Haben Sie schon Erfahrungen mit sol- tigkeit letztlich in der Umstellung ak-
chen Nutzer:innen, die am Ende im Be- zeptiert.
trieb zusammen mit Ihrer KI basierten
Sie sind also in einem Bereich, in dem es
Technologie arbeiten? Und wie reagie-
durchaus schon üblich war, sehr viel
ren diese normalerweise bei der Um-
Technologie in der Qualitätskontrolle
stellung?
zumindest auszuprobieren. Das heißt,
Sie haben vermutlich nicht solche End-
Tatsächlich ist es so, dass gerade in un-
nutzer:innen, die um ihren Arbeitsplatz
serem Bereich die Leute oft skeptisch
fürchten, die Technologie verfluchen,
sind, weil bei dem Thema leider viel ver-
die aber skeptisch sind, weil die frühe-
brannte Erde besteht. Das erklärt sich
ren Produkte auf dem Markt einfach
daraus, dass KI selbst gar nicht so neu
nicht so gut waren.
ist. In unserem Bereich der visuellen
Qualitätskontrolle wird seit 40 Jahren Absolut. Das ist auch ein wichtiger
versucht, über ein gewisses Maß an In- Punkt, der dem Thema oft unterstellt
telligenz, Prüfungen durchzuführen. wird, dass ganz viele Arbeitsplätze
Das hat nur lange Zeit nicht zufrieden- dann hops gehen. Die Realität, die wir
stellend geklappt, weil die KI einfach hier sehen, ist, dass, wenn Mitarbeiter
noch nicht so weit war. Und erst in den von ihren Aufgaben, wie der visuellen
letzten Jahren kamen dann mit dem Kontrolle gelöst werden, sie einfach an-
Deep Learning Technologien auf, die genehmere Aufgaben bekommen, wie
wirklich flexibel waren, einfach zu be- zum Beispiel die Bedienung unseres
dienen und trotzdem mächtig waren. Systems, was weit weniger anstren-
Nur stoßen wir jetzt oft auf Personen, gend ist und was auch viel mehr Spaß
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macht, weil es vielseitiger ist. Und wir einmal geschafft hat, dann funktioniert
haben noch keinen Produzenten ge- es aber ganz gut. Dieses ganze „unsup-
sprochen, der gesagt hat: „Ach super, erwised“, also dieses eigenständige
dann kann ich ja Leute kündigen,“ ob- Lernen, geht viel schneller und viel ein-
wohl das natürlich die erste Erwartung facher. Man gibt dem System letztlich
ist, über die man finanziell gesehen einfach nur Bilder ohne Benennung und
nachdenken würde, aber das ist bisher sagt dem System: „Liebes System, bitte
noch nicht der Fall gewesen. sag du mir, was du für Muster erkennst
in den Daten!” Das System trainiert sich
Wunderbar. Auch das ist die Verant-
so lange selbst, bis es einwandfrei einen
wortung von Unternehmerinnen und
Hund oder eine Katze erkennen kann. Es
Unternehmern - die beiden Welten mit-
wird dann zwar nicht sagen: “Das ist ein
einander arbeiten zu lassen. Jetzt das
Hund, das eine Katze.“ Es wird sagen:
Thema Künstliche Intelligenz und wie
„Das ist Klasse 1“, oder „das ist Klasse
sie arbeitet: Speziell in FIND und in ACT.
2“. Aber man selbst muss im Anschluss
Wie funktioniert das eigenständige Ler-
eigentlich nur noch sagen: „Klasse 1 ist
nen?
der Hund. Klasse 2 ist die Katze.“ Das

Das eigenständige Lernen ist im Engli- heißt, es geht viel einfacher, Systeme zu

schen dieser schöne stehende Fachbe- trainieren und das ist natürlich auch in

griff: das „Unsupervised Learning“. Da der Produktion wahnsinnig wichtig, weil

findet man auch viel Literatur zu. Früher es da sehr oft um Zeit- und Kostenein-

lief das so: Man musste einer KI ganz sparungen geht. Das heißt, sich Monate

viele Bilder von Hunden oder von Kat- Zeit zu nehmen, um ein System anzu-

zen zuführen, und zwar so lange, bis trainieren, ist da schlicht nicht drin.

dann das System irgendwann einen


Herr Gosse, Danke schön, dass Sie das
Hund oder eine Katze erkennen konnte.
so leicht veranschaulicht haben. Wir
Und das ist leider ein relativ langwieri-
wünschen Ihnen und Ihrem Kollegen
ger Prozess. Man braucht sehr, sehr
ganz viel Erfolg mit Ihrem Unternehmen
viele Daten und die Daten müssen auch
Synsor.
sehr gut aufbereitet sein. Wenn man es
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 18

Mensch ! Maschine - Geschichte einer


(un-)heimlichen Partnerschaft

HERBERT FITZEK, MITTELSTAND-DIGITAL ZENTRUM ZUKUNFTSKULTUR

Mag sein, dass es auf den ersten


Maschinen geben uns die Möglichkeit, Blick etwas eigenartig klingt,
unser Leben komfortabel zu gestalten. Mensch und Maschine in einem
Doch was bedeuten Technologien für den Atemzug zu nennen: Der Mensch,
Menschen? Und was passiert, wenn sie das ist doch das (einzige) ver-
sich verselbständigen? Referenzen aus nunftbegabte Lebewesen, das
historischer Literatur und moderner
sich aktuell schon damit herum-
(Film-)Kultur verdeutlichen die zwiespäl-
schlagen muss, nicht mehr Herr
tige Partnerschaft zwischen Mensch und
künstlichen Intelligenzen und zeigen, über die Natur zu sein, sondern
welche Hoffnungen und Ängste der Pflanzen zu hegen, Tiere zu scho-
Mensch auf technologische Entwicklun- nen und das Klima nachhaltig zu
gen projiziert. Was für eine gelungene bewahren. Und nun kommen auch
Beziehungsgestaltung zwischen den un-
noch die Maschinen daher und po-
gleichen Partnern nötig ist, sind daher
chen auf ihre Partnerschaft.
Vorsicht und Vertrauen.
In der Realität der Menschen wa-
ren aber Maschinen immer mehr
als bloß leblose Gerätschaften. Von Anfang an leisteten sie unschätzbare Dienste bei
der Lebensbewältigung, erfüllten Aufgaben, für die sich Menschen entweder zu schade
waren oder zu deren Erfüllung ihre körperliche Konstitution nicht ausreichte. In vielfäl-
tiger Weise nahmen Maschinen den Menschen Handgriffe ab, die wiederkehrende
Routinen erforderten und von Maschinen mit größerer Kraft, Ausdauer und Präzision
erledigt werden konnten. Ohne die Partnerschaft der Maschinen sahen die Menschen
sprichwörtlich alt aus – gutes und langes Leben wurde erst möglich, als Maschinen die
Arbeit erleichterten.

Es ist kein Wunder, dass die Maschinen bald auch in der Fantasie der Menschen einen
Raum als hilfreiche Partner einnahmen, mit denen das Leben schöner und ertragreicher,
komfortabler, zudem durchschlagsfähiger und zerstörerischer zu gestalten war – nie-
mand zeigte deutlicher die Bedeutung der Maschinen für Wunsch und Realität der
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 19

Menschen als Leonardo da Vinci: Sich-Unendlich-Spiegeln, unermessliche Kraft Entwi-


ckeln, das Wunder der Automobilität, Fliegen-Können, unbezwingliche Vernichtung.

Allerdings beließen es schon die frühen Maschinen nicht dabei, den Menschen als
dienstbare Geister zur Seite zu stehen; mit der Zeit machten sie Anstalten, den Men-
schen das Kommando aus der Hand zu nehmen und selbst den Takt anzugeben. In
seinem „Zauberlehrling” versinnlicht Goethe den Aufstieg der Maschinendinge zu
selbsttätigen Akteuren. Einmal entfesselt entwickelten sie ein Eigenleben, das von
Menschenhand nicht mehr zu stoppen war. Maschinen wurden nicht nur zu Konkurren-
ten, sie stellten sich – wie die Besen in Goethes Novelle – auf zwei Beine und nahmen
dabei alle Arten von menschlichen Eigenschaften an (Walt Disney rückt das in seinem
zauberhaften „Fantasia”-Film eindrucksvoll ins Bild). Insbesondere die schon in der
Goethezeit einsetzende Romantik ließ die Maschinen endgültig (wie die Puppen) tan-
zen. E.T.A. Hoffmanns menschliche Puppe „Olympia” (1816) schwingt sich zu künstle-
rischen Höchstleistungen auf und ist dabei genauso anrührend-gefährlich wie Mary
Shelleys schaurig-liebenswertes Maschinenmonster „Frankenstein” (1818). Bemer-
kenswerterweise repräsentieren diese frühen künstlichen Intelligenzen Zwitterwesen
zwischen Natur und Künstlichkeit, deren Verhängnis nicht etwa in der Unvereinbarkeit
von Mensch und Materie liegt, sondern in deren irritierender Untrennbarkeit. Statt als
arbeitsteilige Partner erscheinen Maschinen hier als unheimliche „Doppelgänger“ der
Menschen, die mit mehr oder weniger originalgetreuen (menschlichen) Eigenschaften
ausgestattet sind und eher daran scheitern, zu viel Menschlichkeit angenommen zu ha-
ben, als an ihrer rückständigen Maschinennatur. Die lebensechten Apparate haben sich
durch die Annahme menschlicher Eigenschaften nicht etwa emanzipiert, sondern sind
vielmehr anfällig geworden für Ängste und Abgründe, Sehnsüchte, Launen, Besessen-
heiten und den Hang zum Verbrechen.

Mit der Übernahme aller möglicher menschlicher Eigenschaften sind die Maschinen in
die Falle des Menschlich-Allzumenschlichen getappt: verwundbare Existenzen mit ei-
nem übergroßen Bedürfnis nach Liebe und Anerkennung, nach einer erfüllten Gegen-
wart und einer verheißungsvollen Zukunft. Wenn ihnen zu diesem Zeitpunkt etwas
fehlte, dann jedenfalls nicht der Zugang zu der vermeintlich dem Menschen vorbehal-
tenen Gefühlswelt. Was aber hatten die Maschinen der Romantikepoche falsch ge-
macht? Und gäbe es einen Weg, vom Menschen Anderes und Besseres zu erlernen als
die (romantische) Empfindsamkeit?
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 20

Die Geschichte will weitergesponnen werden, um zu verfolgen, wie sich die Maschinen
in den folgenden 100 Jahren aus der unheimlichen Partnerschaft mit den Menschen
befreiten und zum Machtfaktor in Wirtschaft und Gesellschaft wurden. Das lässt sich
mit der Ausdrucksfülle eines Mediums zeigen, das selbst dem (maschinellen) Fort-
schritt im 19. Jahrhundert zu verdanken ist und die Maschinen gleichsam in voller
Schönheit und Funktion vor Augen stellt, dem bewegten Bild.

Vom Lernen der Maschinen


Die Maschine emanzipierte sich vom Menschen, indem sie sich seinen Schwächen ver-
weigerte und seine „Stärken“ kopierte und aus ihnen Fähigkeiten zu schöpfen begann,
die, anfangs noch belächelt, sich der komplexen Natur des Menschen durch ihre Logik
und Geradlinigkeit als weit überlegen erwies.

Die Domäne des Menschen gegenüber anderen Lebewesen war immer schon seine
enorme Lernfähigkeit. Als Kleinkind ohne fremde Hilfe lebensunfähig, übt der Mensch
auf allen Gebieten der sinnlichen, kommunikativen und operativen Erfahrung Kompe-
tenzen ein, die ihn binnen 20 Jahren zu einem allen anderen Wesen weit überlegenen
Alleskönner werden lassen. Über Beobachtung, Eingriffe, Korrekturen, Rückmeldungen
und Verallgemeinerungen werden ungeheure Archive des Wissens und Könnens in-
stalliert, die auf Abruf komplexe Handlungspraktiken zur Ausführung bringen.

Was den Vorsprung der Menschen gegenüber allen anderen Lebewesen ausmacht,
spornte die Maschinen zur Aufholjagd an. Die Folgerichtigkeit der Lernprogramme kam
dem Maschinenwesen entgegen – rasch eigneten sich die Maschinen komplexe Ver-
knüpfungen an, die es erlaubten, alle möglichen Tätigkeiten rasch, zuverlässig und mit-
einander integriert auszuführen. In frühen Filmen demonstrieren die Maschinen durch
ihr Wummern und Tönen ihr Können als Impulsgeber der industriellen Revolution. So-
wohl das amerikanische Wirtschaftswunder wie die sowjetische Schwerindustrie nutz-
ten die Lernfähigkeit der Maschinen aus, denen die menschliche Arbeitskraft nur mehr
als Planungsinstanz, Kontrolle und Instandhaltung zugeordnet war.
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 21

Die Pioniere der filmischen


Umsetzung in West und Ost
waren Charlie Chaplin und
Sergej Eisenstein. Eisen-
steins „Panzerkreuzer Po-
temkin” und „Streik” (beide
1925) sind getragen vom
expressionistischen Charme
der frühen Technologie.
Chaplin zeigt in seinem Film
„Modern Times” (1936) die
Faszination der Maschinen-
Abbildung 1: Bildzitat aus dem Videoclip „Eingesaugt in die Maschine - Charlie
Chaplin Factory Scene“, Min. 01:00, Youtube: © Roy Export S.A.S., 2019 aus welt, der sich der Mensch
„Modern Times“, Regie: Charlie Chaplin, USA 1936, https://www.y-
outube.com/watch?v=6n9ESFJTnHs. („Charlie“) bedingungslos
unterzuordnen hat und die
durch seinen Einsatz eine reibungslos laufende Fließbandarbeit eher behindert (Abb.1).
Als Teil der Produktionskette immer mehr in die Logik des Fließbandes eingesaugt,
wird Charlie selbst allmählich in eine (nunmehr überzuverlässig funktionierende) Ap-
paratur verwandelt und kehrt als merkwürdiges human-maschinelles Zwitterwesen in
seine Lebenswelt zurück.

Die Maschine auf dem Weg zum intelligenten Wesen


Ihre Stärke und Kapazität erleichterte es den Maschinen, die Leistungen des menschli-
chen Lernens nicht nur zu imitieren, sondern auch zu optimieren. Schnell war klar, dass
Maschinen, verglichen mit Menschen, mehr Ausdauer haben und weniger Fehler ma-
chen, und ihre Lernleistungen auch nicht durch Ablenkung und Desinteresse gefährden.
Allerdings blieb das Lernen der Maschinen lange Zeit an das Schema programmierter
Abläufe gebunden und bedurfte der Anweisung einer letztlich doch überlegenen pla-
nerischen Intelligenz in den strategischen Büros und Chefetagen der Unternehmen
(beides wiederum wirkungsmächtig inszeniert in den genannten Filmkunstwerken).

Spätestens mit dem Siegeszug des Computers eigneten sich die Maschinen auch diese
scheinbar auf ewig für den Menschen reservierte Kompetenz an. Maschinen entwickel-
ten sich zum selbst denkenden (Elektronen-) „Gehirn“ und vollbrachten binnen kürzes-
ter Zeit Verknüpfungsleistungen, die sich der menschlichen Intelligenz bald als eben-
bürtig erwiesen.
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 22

Hinter den Erfolgsmeldungen der Computerindustrie war indessen ein unheimlicher


Unterton vernehmbar, der die Entwicklung einer künstlichen Intelligenz in den Nach-
kriegsjahrzehnten begleitete. Es dauerte nicht lange, und der Mensch schien abgehängt
vom Können der Maschinen. So geschah es etwa in der aufsehenerregenden Entwick-
lung von Schachcomputern (wiederum parallel in den USA und der Sowjetunion – im
Jahr 1967 traten sie zum ersten Mal gegeneinander an). Unüberhörbar mischten sich
Triumph und Entsetzen in den Nachrichten, dass erstmalig ein Computer erfolgreich
gegen einen Menschen gespielt hatte (1956), einen Großmeister besiegte (1977) und
am Ende sogar den amtierenden Schachweltmeister (1996), was einer symbolischen
Kapitulation der Menschheit vor den Rechnerleistungen noch vor der Jahrtausend-
wende gleichkam.

Für die bewegten Bilder


wurde ein anderes Wirkungs-
feld der Maschinen in der
zweiten Hälfte des 20. Jahr-
hunderts wichtiger: der Kampf
um die Vorherrschaft im Welt-
raum, gleichfalls nur möglich
durch den Einsatz künstlicher Abbildung 2: Bildzitat „ V’GER wartet auf seinen Schöpfer“ aus „Star Trek: The
Motion Picture (7/9) – VGER is Voyager 6“, Min. 01:45, Video, Youtube: ©
Intelligenz in der Raumfahrt- Movie CLIP, 2011 aus Robert Wise, „Star Trek“, Motion Picture, USA (1979)
technologie, die aufgrund
menschlicher Rechenleistungen undenkbar gewesen wäre. Kaum eine Technologie hat
die Filmindustrie nachhaltiger geprägt als die Reise ins All, von der beispielsweise in
Amerika der Siegeszug der „Star Trek”-Serie zeugt (ab 1966), in Deutschland im glei-
chen Jahr die ebenso Aufsehen erregende „Raumpatrouille”, besser bekannt unter dem
Titel Raumschiff Orion. Nur 30 Jahre nach „Modern Times” beeindrucken die Maschinen
hier mit einer nie geahnten Überlegenheit, auf deren Grundlage menschliche Wesen in
ferne Galaxien befördert und mit neuen Zivilisationen konfrontiert werden. Den von au-
ratischem Glanz umstrahlten Maschinenwesen – wie im „Star Trek”-Film von 1979
dem rätselhaften „V’ger“-Menetekel – nähert sich die Besatzung der Enterprise mit
kaum getarnter Unterwürfigkeit und Ehrfurcht.
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 23

Maschinen entwickeln Kreativität: von der künstlichen Intelligenz


und zur künstlerischen Potenz
Der Abstand von Maschine und Mensch wurde noch einmal verringert, als die Maschi-
nen weitere 30 Jahre später ein letztes Wesensmerkmal des Menschen für sich ero-
berten und künstliche Intelligenz vordrang in den Bereich des Schöpferischen. Es war
nur mehr ein kleiner Schritt, dass Maschinen nach der Übernahme von Lernfähigkeit
und Intelligenz auch zur höchsten und anspruchsvollsten Leistung des Menschen Zu-
tritt erlangten: der menschlichen Kreativität, der die Spitzenleistungen von Wissen-
schaft und Kunst zu verdanken sind.

Künstliche Intelligenz war trotz gewaltiger Rechnerleistungen letztlich fixiert geblieben


auf logische und algorithmische Operationen, die mit beeindruckender Schnelligkeit
und Vielfalt kombiniert und vernetzt wurden. Wie eine letzte Bastion der Menschen
ragten in diese programmierte Wirklichkeit die einsamen Geistesblitze einzigartiger
Werke oder Erfindungen, die scheinbar nur von genialen Persönlichkeiten hervorge-
bracht werden konnten und von diesen selbst in aller Regel als ungesteuerte
(über-)menschliche Inspiration empfunden wurden. In kreativen Akten entstehen die
höchsten Kulturgüter der Menschheit: Entdeckungen, Erfindungen, Meisterwerke, für
die Ewigkeit mit Preisen ausgezeichnet und ausgestellt in den realen oder virtuellen
Museen der Welt.

An die Schöpferkraft von


Kunst und Wissenschaft ha-
ben sich Maschinen zunächst
ebenso zögerlich und unbe-
holfen herangewagt wie an
das menschliche Lernen und
die natürliche Intelligenz. Nach
dem Gesagten ist die Mensch-
Abbildung 3: Bildzitat – „The Matrix” vs. „Brave New World”, aus „The Ma-
heit gut beraten, genau im Blick trix (Official Trailer)”, Min. 01:51, Video, Youtube: © Peter Wu, 2013

zu behalten, wie Computertechnologien auch die Gipfel der menschlichen Originalität


erklimmen – und tatsächlich zeigt gerade das mit dieser Publikation aufgegriffene Pro-
jekt, wie sehr künstliche Intelligenz der menschlichen Kreativität bereits im Fall der
künstlerischen und medialen Inszenierung von Wirklichkeit auf den Fersen ist.
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 24

Die Filme der jüngeren Vergangenheit greifen diese Annäherung wiederum in beein-
druckenden wie beängstigenden Bildern auf, die nicht mehr nur überlegene Intelligen-
zen inszenieren, sondern weit hintergründigere, dabei umso wirkungsmächtigere
Schöpferwesen, die die Welt nach ihrer Maßgabe aus sich heraus erfinden und beherr-
schen. Noch einmal 30 Jahre nach der Star Trek-Serie zeigt etwa einer der Kultfilme der
Jahrtausendwende eine hinter allem weltlichen Geschehen kunstvoll waltende „Matrix”
(1999), deren Wirken sich nicht nur der Ablauf der Weltgeschichte, sondern auch der
Komfort und das Überleben der Menschen verdankt – solange diese sich ihrer Herr-
schaft bedingungslos und unbewusst ausliefern (Abb.3). Matrix ist so kreativ und form-
vollendet, dass sie keine Ausstellungen und Filmpreise mehr zu ihrer Bestätigung
braucht.

Maschinen sind inzwischen also weit mehr als operative Programme oder Elektronen-
gehirne; sie sind Schöpfer von Wirklichkeit und damit Künstler-Götter, in denen die An-
fälligkeit der menschlichen Existenz für Neigungen und Fehler aller Art durch ungebro-
chene Maschinenkompetenz überwunden ist. Es ist eine „Brave New World“, in der die
Menschen ruhiggestellt und gleichgeschaltet leben können, weil die Maschinen das
Geschehen komplett kontrollieren. Es ist damit aber auch eine brave „New World“, in
der kein Aufmucken und Aus-der-Reihe-Tanzen mehr gestattet und am Ende auch gar
nicht mehr erdenklich ist.

Kein Wunder, dass das Zukunftsthema „Kunst und KI“ nicht nur Begeisterung hervor-
ruft, sondern auch Beklemmung erzeugt. Bei allem Nutzen für Wissenschaft, Techno-
logie, Medizin scheint es naiv, der Vereinigung von künstlicher (Maschinen-)Intelligenz
und künstlerischer Kreativität mit ungebrochenem Fortschrittsglauben zuzuschauen.
Und wem es dabei mulmig wird, nun auch noch den Spitzenplatz menschlicher Leis-
tungsfähigkeit wehrlos an die Maschinen abzugeben, der sei unserer vollen Solidarität
versichert.

Zugleich gilt es zu berücksichtigen, dass die geschilderte und nicht zu unterschätzende


Entfesselung des unheimlichen Partners „Maschine“ nicht ohne menschliche Anteile zu
denken ist. Die hier erzählte „Erfolgs-Geschichte“ der Maschine ist als Erfolg der Leis-
tungsfähigkeit der Maschine, als Geschichte hingegen der Erlebenstätigkeit des Men-
schen zuzuschreiben; sprich: Es sind menschliche Erzählungen, in denen das Vordrin-
gen der Maschinen über Jahrzehnte hinweg Gestalt annimmt. Was in der Weltliteratur
erzählt und über Filme an die Leinwand projiziert wird, verdankt sich dem Erfindungs-
und Erlebnisreichtum der Menschen im Umgang mit alter und neuer Technologie. In
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 25

diesem Sinne sind die Ansichten und Filme über maschinelles Lernen, künstliche Intel-
ligenz und computergetriebene Kreativität im wörtlichen Sinne „Projektionen“. Sie wer-
fen das Bild einer von der Dominanz der Maschinen verängstigten Menschheit an die
Wand, die in der Weiterentwicklung der Maschinen ihre eigenen Eigenschaften („Ler-
nen“, „Intelligenz“, „Kreativität“) rekapituliert. Scheinbar in fremde „Hände“ geraten,
kommen ihr diese (natürlichen) Eigenschaften nunmehr angsteinflößend und bedroh-
lich entgegen.

Das Monster, dem die Menschheit in der fremden Dinglichkeit der Maschinenwesen
„V’ger“ und „Matrix“ begegnet, ist nichts anderes als … sie selbst. Ihre Ambitionen und
Kompetenzen haben Dinge in die Welt gesetzt, die Wohlstand und Fortschritt initiieren
und zugleich damit Mächte entfesseln, die außer Kontrolle geraten und von Menschen-
hand nicht mehr beherrschbar sind und das Leben der (Mit-)Menschen und den Fort-
bestand der Welt konkret gefährden und potenziell vernichten (Waffensysteme, Atom-
energie, Klimakiller).

Die menschgemachten Bedrohungen werden in den Visionen von Literatur und Film –
und damit in den Köpfen der Menschen – vom Urheber abgewendet und einer schein-
bar bedrohlich von außen einwirkenden nicht-menschlichen Technologie zugeschrie-
ben – deren zutiefst menschlicher Ursprung im Übrigen in den manifesten Inhalten der
Bücher und Filme hintergründig erkennbar bleibt: „V’ger“ entpuppt sich am Ende des
Star Trek-Films als vom Menschen vergessene „Voyager“-Sonde, die um jeden Preis
den Weg zu ihrem Schöpfer (dem Menschen) sucht (Abb.2), und die „Matrix“, an der
die Menschheit am Ende des 20. Jahrhunderts sprichwörtlich hängt wie ein Säugling
an der Mutterbrust, ist bei aller Künstlichkeit wirklich und wörtlich die „Mutter“.

Was in der Geschichte (und den Geschichten) der zunehmenden Domestikation des
Menschen durch Maschinen zu erfahren ist, sind zunächst also nicht objektive Merk-
male der Technik, sondern menschliche Abgründe, die sich in der technologischen Be-
herrschung der Natur manifestieren. Gefährlich sind nicht die Maschinen als solche,
sondern die durch Maschinenkraft und Maschinenkunst erreichte Aufrüstung des Men-
schen. Die durch Computerkraft beschleunigte Vervollkommnung der Herrschaft des
Menschen über die Natur hat diesen überhaupt erst in die Lage gebracht, die Natur und
damit seine eigene Lebenswelt in einem Ausmaß zu gefährden, das die Visionen der
noch so zerstörerisch inszenierten Maschinen um ein Vielfaches übersteigt.
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 26

Insofern sind Vorbehalte gegen die (un-)heimliche Partnerschaft von Mensch und Ma-
schine durchaus angebracht: als Kritik an der Entwicklung moralisch bedenklicher
Technologien, am Einsatz künstlicher Intelligenz für zweifelhafte Ziele und am ungesi-
cherten Umgang mit verfügbaren Daten. Allerdings entspricht der Sachstand der tat-
sächlich durch künstliche Intelligenz gesteuerten Abläufe im wirklichen Leben durch-
aus nicht in allen Punkten den Visionen von Buch und Film. Es spricht vieles dafür, dass
die in der Wirtschaft, im Gesundheitssystem, im Alltag der Menschen eingesetzten
künstlichen Intelligenzen weit weniger Stoff für Romane liefern als die mit ihnen ver-
bundenen Horrorszenarien einer maschinengesteuerten Wirklichkeit.

In der Sachbeschreibung des konkreten Einsatzes von künstlicher Intelligenz fällt auf,
wie wenig spektakulär sich die Entwicklungsleistungen der Computertechnologie tat-
sächlich gestalten. Die für Außenstehende gar nicht leicht zu durchschauende Realität
von KI-Grundlagen und Anwendungen hat sich mit ganz anderen Hindernissen abzu-
quälen als mit dem Machtanspruch entfesselter Maschinenmonster.

In vielerlei Hinsicht steht KI noch am Anfang ihrer Einsatzfähigkeit. Sprachprogramme


lassen sich nur in überschaubarem Rahmen praktisch nutzen. Roboter helfen an vielen
Stellen der Fabrikation, scheitern aber im öffentlichen Raum häufig an Kommunikati-
onsbarrieren mit menschlichen Akteuren. Selbstfahrende Automobile kommen seit
Jahrzehnten nicht über den sehr begrenzten Spielraum überschaubarer Schienenwege
hinaus. Die in meinen Text eingestreuten Anwendungsbeispiele sprechen eine ganz
andere Sprache als die auf gleicher technologischer Grundlage basierenden Filmsze-
narien. Produkte stecken oft noch in den Kinderschuhen, Prototypen sind von der
Marktfähigkeit und der Nutzung im großen Stil noch weit entfernt.

Wie steht es um die (un-)heimliche Partnerschaft von Mensch und


Maschine dann wirklich?
In den filmischen Visionen schwingen sich Maschinen dazu auf, sich die Stärken des
Menschen nicht nur anzueignen, sondern diesen nach und nach zu übertrumpfen und
auszustechen: Durch Präzision ihres Lernens zwingen sie den Menschen in ihre Gewalt.
Durch ihre unbegrenzte Rechenleistung hängen sie ihn als Partner ab. Ihre Kreativität
macht den Menschen zur vernachlässigungswerten Marginalie in der Schöpfung.
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 27

Zeitgenossen, die sich dem lernenden, intelligenten und kreativen Netzbetrieb hilflos
ausgeliefert sehen, vergessen leicht, dass hinter den Möglichkeiten der Maschinen im-
mer noch Menschen stehen, deren Intentionen und Operationen das eigentliche Bedro-
hungspotenzial bilden. Umgekehrt sind es aber zugleich Menschen – und damit wir alle
–, die es in der Hand haben, die Lern-, Intelligenz- und Kreativleistungen der Compu-
tertechnologie für den Aufbau einer lebenstauglichen und lebensfreundlichen Wirk-
lichkeit einzusetzen.

Mit dem Rückzug von vermeintlich gefährlicher Technologie ist es somit nicht getan.
Denn die Anwendung von künstlicher Intelligenz bleibt eine unersetzliche Zukunftsop-
tion im Dienst der Steigerung von Lebensqualität und Arbeitszufriedenheit, und sie
führt keineswegs so eindeutig und unrettbar in Richtung von Missbrauch und Über-
macht, wie es die Bedrohungsszenarien der Filmdramaturgie heraufbeschwören. KI
kann vieles, aber computergesteuerte Fortbewegung, Fließbandroboter und Smart Ho-
mes sind weit davon entfernt, die Menschen zu beherrschen – im Gegensatz zu den
filmischen Visionen kämpft die Technik immer noch heftig damit, die immer komplexere
Technologie praktisch nutzbar zu machen.

Der Einsatz von KI in Wirtschaft und Gesellschaft bedarf gewaltiger (innovativer und
finanzieller) Unterstützung, um Computertechnologie für friedliche und freundliche
Zielsetzungen nutzen zu können und die Gefahren des Missbrauchs bestmöglich zu
minimieren. Diese Anstrengungen bedürfen des Vertrauens und der Unterstützung der
Bevölkerung, die Kenntnisse und Zutrauen zu den Potenzialen und Gefahren von KI
erwerben muss, damit die Programme jenseits von Spezialistenkreisen Fuß fassen kön-
nen. Denn langfristig richten sich die Entwicklungsleistungen der KI eben nicht an stra-
tegische Planer, sondern an alle, die in Alltag, Arbeit, Verkehr und Kommunikation un-
terwegs sind. So wichtig es ist, Gefahrenpotenziale zu berücksichtigen, so wichtig ist
es auch, die Chancen der neuen Technologien für den Erhalt der natürlichen Ressour-
cen der Menschheit (Gesundheit, Energie, Klima) anzuerkennen.

Es ist deshalb von Bedeutung – und Ziel unserer Publikation – dafür zu werben, dass
die prospektive Nutzung künstlicher Intelligenz nicht durch die düsteren Visionen von
der Übernahme der Herrschaft durch die Maschinen überlagert wird und sich die Men-
schen aus verdrehter Furcht vor der Selbstzerstörung bei der Entwicklung lebenswich-
tiger oder zumindest lebenserleichternder Technologien behindern.
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Gerade die Brücke zur (KI-)Kunst kann dabei hilfreich sein, den Weg zu den schwer
zugänglichen Betriebssystemen technologischer Innovationen zu bahnen und einen
spielerischen Umgang mit der ungeahnten Medialität künstlicher Intelligenz einzuüben.
KI ist alles andere als ein formaler Algorithmus, sie hebt die Sinnlichkeit der Bilder auf
eine Ebene, die Menschen besser verstehen als abstrakte Erläuterungen oder morali-
sche Appelle. Also keine Scheu vor der neuen Dimension, und Augen auf, was uns im
Bilderreich der KI begegnet!
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Hybride Intelligenz – natürlich künstlich!

BJÖRN ZWINGMANN, BSP BUSINESS & LAW SCHOOL

Vielleicht geht es Ihnen wie mir


Denken wir an Künstliche Intelligenz, ent- und Sie kennen sich ebenfalls
steht sofort ein spontanes (und ambiva- nicht mit den Feinheiten der Pro-
lentes) Bild im Kopf. Geprägt wird dieses grammierung und technischen
nicht zuletzt durch das eigene Selbst- und Realisierung von sogenannten
Weltbild. In neuer Technologie setzt sich
künstlichen Intelligenzen oder
dieses Bild fort und bringt neue Denk-
überhaupt mit Algorithmen und
werkzeuge hervor. Dazu gehören nicht
nur mathematische Systeme, Taschen- Computerprogrammen aus.
rechner und Computer, sondern vieles Macht nichts – oder besser: Glück-
mehr, wie Sprache, Bilder, Musik und Ge- wunsch zu dieser Einsicht! Die
schichten. meisten Menschen überschätzen
nämlich bereits ihr Verständnis
Digitale Technik wird damit zum „hybri-
einfacher Haushaltsmaschinen,
den“ Teil menschlicher Intelligenz. Das
aber geraten dann schnell in Not,
geht jedoch nur gut, wenn wir verstehen,
dass digitale Werkzeuge zwar hoch ef- wenn sie wirklich einmal erklären
fektiv sein können, uns aber niemals das müssen, wie diese im Detail funk-
Denken abnehmen können oder sollen. tionieren. Das nennt man in der
Psychologie Illusion of Under-
standing (vgl. Weber u. Knorr
2020).

Solche Verstehensillusionen hängen damit zusammen, dass es für uns völlig normal
und sogar unvermeidbar ist, uns in Zusammenhängen zu bewegen, die wir weder voll-
ständig durchblicken noch überschauen können und von denen wir uns dennoch ein
handhabbares Bild machen müssen. Sich ein Bild zu machen ist das, was unsere Psy-
che unentwegt tut, wie dies z. B. die Gestaltpsychologie oder auch die Psychologische
Morphologie herausgestellt haben (vgl. Fitzek 1996), und zwar auch, wenn wir jeden
Tag mit hochkomplexen Geräten umgehen und sie nicht wirklich verstehen.
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 30

Aus einer psychologischen Sicht, die ich hier einnehmen möchte, ist dabei entscheidend,
welches Bild wir uns von diesen Maschinen machen und wie dies wiederum mit unse-
rem Bild von uns selbst zusammenhängt. Denn hier droht Gefahr, und zwar grob ge-
sagt sogar aus zwei Richtungen:

(a) Aus der einen Richtung droht die Gefahr, dass wir die Maschinen mit uns selbst
verwechseln, also tatsächlich im engeren Sinne annehmen, sie hätten Geist oder
wären intelligent in dem Sinne wie wir es sind. Spontan erleben z. B. auch Kinder
Gegenstände als beseelt, was der Entwicklungspsychologe Jean Piaget als Ani-
mismus bezeichnete. Das kann in etwas abgeschwächter Form bis ins Erwach-
senenalter fortbestehen (vielleicht kennen Sie Menschen, die mit ihren Autos
reden) oder in ganzen Kulturen vorherrschen. Es scheint jedenfalls ein allgemei-
ner, spontaner Impuls von Menschen zu sein, allem, was ansatzweise mensch-
lich aussieht oder sich ähnlich verhält, auch einen menschlichen Geist zuzuspre-
chen. Der Media-Equation-Ansatz von Reeves und Nass geht zum Beispiel da-
von aus, dass es aus evolutionären Gründen immer schon wichtig war schnell
zu erkennen wann etwas menschenähnlich wirkte (vgl. Schwab 2010). In unse-
rer evolutionären Entwicklung war sehr lange Zeit alles was nach Mensch aus-
sah in der Regel auch tatsächlich ein Mensch (heute ist das natürlich anders).
Ein spontanes Reagieren auf alles was einem Gesicht ähnelt, ist bereits bei Neu-
geborenen zu finden und führt uns auch als Erwachsene noch in die Falle, was
als Pareidolie bezeichnet wird. Verwischen wir jedoch die Unterschiede zwi-
schen Menschen und Maschinen zu stark, sehen wir Computer nicht mehr nur
als Dinge, sondern als Subjekte, dann droht hier die Gefahr, ihnen zu viel zuzu-
trauen, und zwar sowohl im Guten, was dazu führt, dass wir ihnen zu viel von
unserer eigenen freien Entscheidung abgeben, aber auch im Bösen, wenn wir
befürchten, sie könnten ein Bewusstsein erlangen und uns vernichten wollen,
wie in den Filmen 2001: A Space Odyssee, Terminator oder Ex-Machina. Dass
wir hier in den Fantasien über die Maschinen vor allem uns selbst wieder be-
gegnen, verdeutlicht auch Herbert Fitzek im Kapitel Mensch ! Maschine: Die Ge-
schichte einer (un-)heimlichen Partnerschaft dieses Buches.

(b) Aber Gefahr droht nicht nur dort, wo wir die Maschinen verkennen, sondern
auch da, wo wir uns selbst verkennen, indem wir uns mit den Maschinen ver-
wechseln und vergessen, dass wir als Menschen etwas grundsätzlich anderes
sind als Maschinen. Wenn etwas wie menschliches Verhalten aussieht oder wir
es damit durcheinanderbringen (siehe oben), liegt es nahe, aus diesem Etwas
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 31

Rückschlüsse darüber zu ziehen, wer oder was wir als Menschen sind. Unser
Umgang mit den Dingen prägt unser Bild von uns selbst: Psyche entwickelt sich
überhaupt nur in Auseinandersetzung mit Dingen und anderen Menschen und
wird durch beide immer wieder neu geformt (vgl. Heubach 1996, sowie Fit-
zek/Marlovits 2015). Seelische Prozesse sind mit unserer gesamten erlebten
Wirklichkeit verschränkt und nicht einfach in uns oder gar in unserem Gehirn
lokalisierbar, worauf z. B. der Psychologe Wilhelm Salber deutlich hingewiesen
hat. Jüngst hat der Philosoph Markus Gabriel noch einmal viele Argumente dafür
zusammengetragen, warum wir unseren Geist eben nicht mit unserem Gehirn
verwechseln sollten (Gabriel 2016). Einige Modelle der Psychologie (besonders
der kognitiven) haben jedoch kräftig dazu beigetragen die Idee in die Welt zu
setzen, dass unser Geist so etwas sei wie eine Software, die auf unserem Ge-
hirn-Computer läuft. Das nennt man auch die Computermetapher des mensch-
lichen Geistes. Diese Metapher führt jedoch in die Irre, denn nur weil das Ver-
hältnis von Gehirn und Geist dem Verhältnis von Hardware und Software ähnelt,
wäre es falsch, zu denken, dass der Geist wirklich wie ein Computerprogramm
funktioniert.

Dass die Computermetapher des menschlichen Geistes so bereitwillig aufgenommen


wurde hat auch damit zu tun, dass sich daraus verlockende Wunschfantasien ergeben
können: Wäre unser Geist eine Software, könnten wir ihn „updaten“, umprogrammieren
oder auf eine bessere, potenziell sogar unsterbliche Hardware hochladen. Das ist der
Traum des so genannten Post- oder Transhumanismus (vgl. Braidotti 2014) wie er z.
B. im Film Transcendence oder in der Fernsehserie Years and Years dargestellt und im
Silicon Valley wirklich geträumt wird, zum Beispiel vom US-amerikanischen Erfinder
und Unternehmer Ray Kurzweil, der schon in einem Interview in der Frankfurter Allge-
meinen Zeitung am 5. Juli 2000 sagte: „Unser Verständnis von Leben und Tod darf
nicht zulassen, dass die Datei des menschlichen Geistes, die über das genetische Erbe
hinaus auch unsere Erinnerung, unsere Fähigkeiten, unsere Persönlichkeit umfasst, mit
der Hardware stirbt” (zitiert nach Helmes/Köster 2002, S. 345-346). Die Gefahr, die
hier droht, ist die, dass wir unsere eigene Natur missverstehen und darauf hoffen, Über-
menschen werden zu können, was wir einerseits nie erreichen können, und was ande-
rerseits unglaublich destruktiv sein kann wenn wir es versuchen (vgl. Wilhelm Salber.
2014 sowie Daniel Salber 2018). Sich mit dem Bild zu verwechseln, dass wir uns von
uns selbst machen, ist nicht nur eine Gefahr für den mythischen Jüngling Narziss, der
sich in sein Spiegelbild verliebt, sondern vor allem auch für uns Menschen des Insta-
gram-Zeitalters (vgl. Zwingmann 2018).
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Wir sehen also, dass beide Verwechslungsgefahren miteinander zusammenhängen.


Verwechselten wir die so genannten KI mit einem besseren menschlichen Geist, wür-
den wir uns falschen Göttern unterwerfen. Verwechselten wir uns selbst mit Compu-
tern, würden wir dadurch verführt, uns selbst zu vermeintlichen Göttern updaten zu
wollen.

Zum Glück gibt es aus den Geisteswissenschaften, wie z. B. aus Philosophie und Psy-
chologie, Hilfestellungen, um sich ein genaueres Bild davon zu machen, wer wir eigent-
lich sind und was Computer überhaupt nur sein können. Ich möchte in diesem Kapitel
die These vertreten, dass wir als Menschen hybride Intelligenzen sind, nämlich halb
natürlich und halb künstlich. Dabei orientiere ich mich einerseits an den Gedanken des
schon erwähnten Philosophen Markus Gabriel, der den Menschen beschreibt als „das
Tier, das keines sein will“ (Gabriel 2018, S. 17) und andererseits an den Theorien des
Psychologen Wilhelm Salber (Salber 2008, S. 104), der den Menschen als „behinder-
tes Kunstwerk“ beschrieben hat. Diese beiden Kennzeichnungen passen aus meiner
Sicht sehr gut zusammen und könnten helfen uns ein klareres Bild von uns und den
technischen Geräten zu machen, die wir herstellen, also auch von sogenannten künst-
lichen Intelligenzen. Wenn wir uns selbst nicht unter- und unsere Computer nicht über-
schätzen, können wir letztere besser als das nutzen, was sie tatsächlich sind: sehr
hochentwickelte Werkzeuge.

Gabriel (2018) erläutert in seinem Buch „Der Sinn des Denkens“ eine ganze Reihe von
Differenzen zwischen unserer menschlichen Intelligenz und den Computerprogram-
men, die wir als künstliche Intelligenzen bezeichnen. Ich möchte hier, ohne Anspruch
auf Vollständigkeit, nur einige seiner wichtigsten Argumente sehr knapp zusammen-
fassen:

• Computer dienen, wie alle hergestellten Dinge, einer Funktion. Diese liegt zu-
nächst vor allem darin etwas zu berechnen. Rechnen ist zwar eine geistige Funk-
tion aber der Geist verhält sich zu seinen Funktionen wie ein Ganzes zu seinen
Gliedern. Der menschliche Geist kann zwar auch rechnen, aber er ist nicht mit
dieser Funktion identisch. Weil ein Computer rechnen kann, ist er noch nicht
Geist. Geist ist mehr und etwas anderes als seine Funktionen.
• Um etwas berechnen zu können verarbeiten Computer binär codierte Informati-
onen. Das ist ihr Erfolgsgeheimnis, denn tatsächlich lässt sich sehr vieles aus
unserer Wirklichkeit digitalisieren, das heißt, in einen binären Code überführen,
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da es logisch strukturiert ist. Dass aber alles, was es gibt, so logisch strukturiert
und berechenbar wäre, ist eine falsche Behauptung. Insbesondere der mensch-
liche Geist ist es nicht. Die Formen des Seelischen sind vage, kontinuierlich und
nicht binär und diskret-eindeutig. Psyche funktioniert eben psycho-logisch, und
nicht (nur) logisch. Das sehen wir jeden Tag daran, dass Menschen sich eben
auch unlogisch verhalten können. Wir können zwar rechnen, aber Rechenpro-
zesse sind nicht alles, was es im Seelischen gibt.
• Computer sind keine Lebewesen und haben darum auch keine Lebenswelt,
keine biologischen und kulturellen Nischen, in denen sie leben. Sie haben darum
auch keine Überlebensinteressen und deswegen letztlich überhaupt keine Inte-
ressen. Zur Intelligenz gehört aber nicht nur das Lösen, sondern vor allem auch
erst einmal das Stellen von Problemen (vgl. Fitzek, 2008) und das hängt davon
ab, wie wir uns in der Welt vorfinden und verstehen, und welche Interessen und
Ziele wir haben. Der Gestaltpsychologie Karl Duncker schrieb dazu 1945: „Ein
Problem entsteht, wenn ein Lebewesen ein Ziel hat, aber nicht weiß, wie es die-
ses Ziel erreichen kann“ (zitiert nach Hussy, 1998, S. 34). Menschen stellen sich
ihre Probleme aufgrund ihrer biologischen und kulturellen Lebensinteressen.
Computern fehlt beides. Deswegen werden sie sich auch nie ein Problem stellen,
sondern immer nur die (Rechen-)Aufgaben abarbeiten, die Menschen ihnen ge-
ben.
• Wir Menschen interpretieren die Ergebnisse der Rechenarbeit unserer Compu-
ter als Lösungen unserer Probleme – was uns auch häufig weiterhilft. Denn zu-
vor wurden diese Computer ja mit unserem eigenen Problemverständnis gefüt-
tert. Das heißt aber eben noch lange nicht, dass Computer irgendetwas verste-
hen. Markus Gabriel spricht hier von geliehener Intentionalität, womit er meint,
dass Computer sich von sich aus auf gar nichts in der Welt beziehen können.
Ihre Bezugnahme auf wirkliche Gegenstände (Intentionalität) haben wir ihnen
bloß geliehen. Während das menschliche Bewusstsein sowohl intentional ist
(es ist Bewusstsein von etwas), als auch phänomenal (wir erleben sinnliche
Qualitäten), fehlen Computern beide Komponenten. Urlaubsfotos von Kreta er-
innern sich nicht an den Urlaub auf Kreta, wie Gabriel schreibt. Wir erinnern uns
zwar durch das Urlaubsfoto, wenn wir es betrachten, das Foto selbst erinnert
sich jedoch nicht. Selbst wenn man meinen würde, dass sich das Foto irgendwie
intentional auf den Urlaub bezieht, hat es sicherlich kein phänomenales Be-
wusstsein, kein Erleben. Und es wird auch niemals plötzlich in ihm erwachen
(anders als in den Fotos und Gemälden in der Harry-Potter-Reihe, auf die ich
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später noch zu sprechen komme). Und darum wird auch nie in einem Rechenge-
rät ein Bewusstsein erwachen.

Diese Differenzen können ergänzt und ausgeführt werden (wie Gabriel das auch tut)
aber ich hoffe meine knappe Liste reicht dennoch, um entgegen manchen spontanen
Fantasien, die sich schon durch die Bezeichnung Künstliche Intelligenz oder durch Sci-
ence-Fiction-Filme einstellen können, den Blick für die riesigen Unterschiede zwischen
sehr guter Computerleistung einerseits und menschlichem Denken andererseits zu
schärfen. Dass es dennoch zu Verwechslungen und Verwischungen kommt, hat mit
dem schon erwähnten engen Zusammenhang zwischen unserer Psyche und den von
uns hergestellten Dingen zu tun. Gabriel drückt das so aus: „Der Mensch ist in seinem
Selbstverständnis mit der Technik vernetzt. Die tiefe Wurzel dieser Vernetzung geht
meiner Ansicht nach darauf zurück, dass wir Produzenten unserer eigenen Intelligenz
sind“ (Gabriel 2018, S. 20). Was Gabriel hier anführt, ist die allgemein anerkannte Tat-
sache, dass die geistigen Leistungen, auf die wir als Menschen häufig so stolz sind, sich
überwiegend eben nicht aus angeborenen Fähigkeiten erklären lassen, sondern viel-
mehr aus unseren Kulturen. Denn schließlich hatte die Spezies Homo Sapiens schon
die gleiche biologische Grundausstattung, die wir heute haben, lange bevor all die geis-
tigen Leistungen möglich waren, die für uns heute alltäglich sind (vgl. Harari 2013).
Unsere biologisch entwickelte Grundausstattung ist also höchstens die notwendige
Voraussetzung für unseren Geist. Die andere Hälfte besteht aus den Werkzeugen des
Denkens, die wir im Laufe unserer kulturellen Entwicklung produziert haben und die
sich auch in Form von Dingen manifestieren.

Der berühmte Systemtheoretiker Niklas Luhmann war ein außerordentlich produktiver


wissenschaftlicher Autor. Dabei half ihm offenbar eine von ihm selbst entwickelte, ana-
loge künstliche Intelligenz, nämlich sein ebenfalls berühmter Zettelkasten. „Ich denke
ja nicht allein, sondern das geschieht weitgehend im Zettelkasten“, sagte er zu seiner
Arbeitsweise (Luhmann 1987, S. 142, zit. nach Ahrens 2017). Dieser Zettelkasten be-
stand (und besteht immer noch) aus Notizen zu Luhmanns vielfältigen Lektüren, wel-
che er auf Karteikarten festhielt, nach einem festen System nummerierte und außerdem
mit Querverweisen versah. Im Zettelkasten waren also verschiedenste Gedanken ge-
speichert und miteinander verbunden. Aber zugleich konnte Luhmann sie in dieser
Form auch viel freier neu anordnen, als ihm dies z. B. in einem normalen Notizbuch
möglich gewesen wären. Indem er Zettel aus dem Zettelkasten herauszog (bspw. zu
Themen, die ihn gerade interessierten), ihre Zusammenhänge verfolgte und neu anord-
nete, konnte er immer neue Gedankengänge entdecken und entwickeln, woraus
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schließlich sehr viele seiner Texte entstanden. Luhmanns Zettelkasten entspricht zu-
gleich exakt seiner Definition eines Mediums, nämlich dass es aus Elementen oder Er-
eignissen besteht, die nur lose miteinander gekoppelt und daher fähig sind, andere For-
men aufzunehmen und ggf. zu fixieren (vgl. Luhmann 2008). Im besten Sinne hat Luh-
mann also, genau wie er selbst sagt, in seinem Zettelkasten gedacht, indem er im Me-
dium seiner eigenen, auf Zettel aufgeschriebenen und lose miteinander durch Verweise
verknüpften Lektürenotizen neue Formen, nämlich neue Gedankengänge bilden konnte.
Das Medium Zettelkasten war ein Werkzeug seines Denkens, und zwar ein ziemlich
kreatives.

Mit diesem Beispiel im Hinterkopf fällt es nicht schwer einzusehen, dass die menschli-
chen Kulturen ganz allgemein auf genau solchen Denkwerkzeugen basieren und zu-
gleich immer neue Denkwerkzeuge hervorbringen. Grundlegend sind z. B. unsere Spra-
chen, die als Medien wiederum im Prinzip genauso funktionieren wie Luhmanns Zet-
telkasten, nämlich als eine Menge loser Elemente (Wörter), die sich koppeln lassen zu
Formen, z. B. zu Sätzen. Sprachliche Zeichen sind künstlich geschaffene Denkwerk-
zeuge. Wir können also im Medium der Sprache denken. Wir können aber auch in Bil-
dern denken (und durch die Bilder der Kunst ganz neue Gedanken denken) oder in ma-
thematischen Symbolen wie z. B. in Zahlen und Rechenzeichen (und dann auch rechnen,
wenn es denn sein muss und kein Computer zur Hand ist). Manchmal können wir auch
Bilder in Sprache übersetzen (z. B. durch Beschreibung) und manchmal sogar Wörter
oder Bilder in Zahlen, z. B. durch Digitalisierung (dass dabei etwas verloren geht, weil
sich nicht alles in Zahlen erfassen lässt, auch wenn manche das schön fänden, hatten
wir ja schon geklärt).

All diese Medien, und viele weitere, sind nicht einfach natürlich entstanden (auch wenn
wir biologisch Voraussetzungen dafür brauchen), sondern vor allem kulturell produziert
und eingeübt. Genau deswegen ist unsere Intelligenz ein Hybrid aus natürlichen und
künstlichen Komponenten, die sich wechselseitig bedingen und aufeinander einwirken.
Die Grundmedien, in denen wir denken sind unsere Sinne, mit denen wir Gestaltquali-
täten (z. B. anschauliche Formen) erfassen. Auf die enge Verbindung zwischen Seeli-
schem und Sinnlichem wollte Wilhelm Salber mit seinem Begriff der „Psychästhe-
tik“ (Salber 1999, S.39) hinweisen (von psyche = Seele und aísthēsis = Sinnesempfin-
dung). Er bezeichnete die Psyche auch als „Medienseele“ (Salber/Conrad 2006, S. 110),
denn sie ist einerseits das Medium, in welchem uns alle Formen der Wirklichkeit er-
scheinen und andererseits will sich unsere Psyche ständig in anderem ausdrücken,
wozu sie sich dann Medien erfindet, wie z. B. die Sprache oder auch die Kunst.
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Zu den Denkwerkzeugen, die wir geschaffen haben und die uns zu hybriden Intelligen-
zen machen gehören also nicht nur mathematische Systeme, Taschenrechner und
Computer, sondern vieles mehr, wie z. B. Sprache, Bilder, Musik und die Geschichten,
die wir uns durch sie erzählen. In Mythen und Märchen haben Menschen über Genera-
tionen hinweg grundlegende menschliche Problemstellungen und dazugehörigen Lö-
sungsversuche in eine Form gebracht und überliefert. Und in der neueren Literatur oder
im moderneren Kulturmedium des Films (und zuletzt auch der Fernsehserien), haben
wir uns Formen geschaffen, um diese Grundprobleme des Lebens (probeweise) sehr
sinnlich durchleben zu können (vgl. Blothner 1999). Ohne, dass es uns immer bewusst
ist, erfahren wir dabei viel über unsere Kultur und uns selbst. Dies ist eine Funktion, die
zwar im Ausdruck Unterhaltung mitschwingt (hier sorgt die Psyche quasi für ihren kul-
turellen Unterhalt), aber weit mehr ist als Zeitvertreib oder Stimmungsregulation durch
Entertainment. Bücher und Filme, wie z. B. die Harry-Potter-Reihe, sind nicht zufällig
so erfolgreich, und auch nicht nur deswegen, weil ein paar spannende Zutaten zusam-
mengemixt wurden oder weil gar ein dramaturgisches Schema wie eine Heldenreise
angewendet wurde, um eine Geschichte zu konstruieren. Viel wichtiger für den Erfolg
ist, dass hier eine Frage behandelt wird, die nicht nur junge Menschen im Zeitalter der
Digitalisierung stark bewegt: Wie können wir, umgeben von undurchschaubaren Zau-
berdingen, die scheinbar alles möglich machen, daraus Nutzen ziehen, ohne uns selbst
zu verlieren? Da ist ein Junge mit besonderen Talenten, der aber auch bedroht ist. Ob
er sein Potential entfalten kann, hängt nicht nur davon ab, ob er die richtigen Zauber-
kräfte und -dinge hat (Zauberstab oder Smartphones sind hier austauschbar, vgl. dazu
auch Grünewald 2019), sondern vor allem davon, ob er in einer kulturellen Gemein-
schaft ankommt (das ist natürlich die Zauberschule Hogwarts), wo er eine ganze Le-
benswelt findet, in der er sich entwickeln kann, mit Freund:innen und Lehrer:innen, Re-
geln und Tischgemeinschaft, Unterricht, Sport und Spiel. Erst in dieser Kultur lernt er,
wer er ist und wie er seine Zauberwerkzeuge richtig einzusetzen hat (vgl. auch die Ana-
lyse von Harry Potter bei Salber/Conrad 2006, S. 101). Und dieser Aspekt von Harry
Potter ist nicht bloß Fantasie, sondern genau die Situation, in der sich die Menschen im
Zeitalter der Digitalisierung befinden: Um mit den digitalen Zaubergaben etwas anfan-
gen zu können, brauchen wir kulturelle Formen. Wir brauchen Klarheit über unsere
Selbst- und Weltbilder (die Aufgabe der Geistes- und Sozialwissenschaften). Dass z.
B. soziale Medien in Abwesenheit von der richtigen Umgangskultur nicht automatisch
mehr Verbundenheit und demokratische Teilhabe erzeugen, ist eine unübersehbare Er-
kenntnis der letzten Jahre. Genauso wenig erzeugen digitale künstliche Intelligenzen in
Unternehmen von allein eine bessere Kommunikation, bessere Organisationen, opti-
mierte Arbeitsprozesse oder größeren Umsatz. Werkzeuge sind Funktionen, die in ein
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sinnvolles Ganzes, ein Gesamtbild, eingebunden werden müssen. Dieses Gesamtbild


müssen wir uns immer wieder erst einmal klar machen.

Wir sind also selbst Hybride aus natürlicher Entwicklung und künstlich-kultureller Pro-
duktion, weswegen Gabriel uns als das Tier charakterisiert, das keines sein will und
Salber den Menschen als behindertes Kunstwerk sieht. Als Tiere, die keine sein wollen,
entwerfen wir in unserer Kultur ständig Bilder von uns und der Welt. Wir wären gerne
wie diese Bilder, aber zugleich sind wir es nie, sondern bleiben (auch) sterbliche Tiere:
„Behindert ist das Ins-Werk-Setzen von Kunst durch die ‚Natur‘ (…)“ (Salber 2008,
S.104).

Nicht zufällig ist der Bösewicht in der Harry-Potter-Reihe ein Zauberer, der gerne un-
sterblich werden würde, indem er seine Seele durch schwarze Magie buchstäblich in
Stücke zerreißt und in Dingen einschließt. Dieser Lord Voldemort ist damit ein Transhu-
manist wie aus dem Silicon Valley, der davon träumt kein Menschentier mehr sein zu
müssen, indem er seinen Geist auf eine unvergängliche Hardware hochlädt. Warum
dies in der Realität nicht funktionieren kann, haben wir ja schon gesehen. Aber schon
die Vorstellung ist potenziell destruktiv, weil sie Menschen mit Dingen gleichsetzt. Wir
leben aber (zum Glück) nicht im Digitalen, sondern im ziemlich analogen Alltag. Trotz
aller Digitalisierung wird diese analoge Ebene nie verschwinden. Digitale Technik kann
als Werkzeug ein Teil unserer eigenen hybriden Intelligenz werden. Das geht nur,
wenn wir verstehen, dass digitale Werkzeuge zwar hoch effektiv sein können, aber uns
niemals unser Denken abnehmen können oder sollten.
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Literaturverzeichnis
Ahrens, Sönke, Das Zettelkasten-Prinzip. Erfolgreich wissenschaftlich Schreiben und
Studieren mit effektiven Notizen (Books on Demand, 2017).

Blothner, Dirk, Erlebniswelt Kino. Über die unbewusste Wirkung des Films . (Bergisch
Gladbach: Bastei, Lübbe, 1999).

Braidotti, Rosi, Posthumanismus. Lebens jenseits des Menschen (Frankfurt: Campus


Verlag, 2014).

Fitzek, Herbert, Gestaltpsychologie: Geschichte und Praxis (Darmstadt: Wiss. Buchge-


sellschaft, 1996).

Fitzek, Herbert, Inhalt und Form von Ausdrucksbildungen als Zugangswege zur seeli-
schen Wirklichkeit. Ein Vergleich von Inhaltsanalyse und Morphologie als Methoden-
konzepte der qualitativen Sozialforschung (Lengerich: Pabst Science Publishers, 2008)

Fitzek, Herbert/Marlovits, Andreas, Zum Stand der Dinge. Annäherung an das Gegen-
ständliche (Berlin: Edition Braus, 2015).

Gabriel, Markus, Ich ist nicht Gehirn. Philosophie des Geistes für das 21. Jahrhundert
(Berlin: Ullstein, 2016).

Gabriel, Markus, Der Sinn des Denkens. (Berlin: Ullstein Buchverlag, 2018).

Grünewald, Stephan, Wie tickt Deutschland? Psychologie einer aufgewühlten Gesell-


schaft (Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2019).

Harari, Yuval, Eine kurze Geschichte der Menschheit (München: DVA, 2013).

Helmes, Günter/Köster, Werner, Texte zur Medientheorie (Stuttgart: Reclam, 2002).

Heubach, Friedrich Wilhelm, Das bedingte Leben. Theorie der psycho-logischen Ge-
genständlichkeit der Dinge. Ein Beitrag zur Psychologie des Alltags (München: Wil-
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Hussy, Walter, Denken und Problemlösen (Stuttgart: Kohlhammer, 1998).

Luhmann, Niklas „Das Medium der Kunst”. In: Niklas Luhmann. Schriften zur Kunst und
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Salber, Daniel, Ihr werdet sein wie Gott. Verheißungen und Wirklichkeit der „Globali-
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K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 39

Salber, Wilhelm, Kunst – Psychologie – Behandlung. 3. Aufl. (Köln: Verlag der Buch-
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Salber, Wilhelm / Conrad, Marc, Goethe zum Film. Muster in einer Wirrwarr-Welt. Ein
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Salber, Wilhelm, Die eine und die andere Seite. Reise in ein Verzauber-Land. (Bonn:
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Salber, Wilhelm, Übermensch – Stress, In anders: Zeitschrift für Psychologische Mor-


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Schwab, Frank, Lichtspiele. Eine Evolutionäre Medienpsychologie der Unterhaltung


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Weber, Silvana/Knorr, Elena, Kognitive Verzerrungen und die Irrationalität des Denkens,
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Zwingmann, Björn, Spieglein, Spieglein, Instagram, In anders: Zeitschrift für morpholo-


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K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 40
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 41

Neuronale Netze als Künstler - Oder KI als


Werkzeug und Partner?

RALF KRESTEL, ZBW - LEIBNIZ-INFORMATIONSZENTRUM WIRTSCHAFT


& CAU KIEL

Seit Beginn der Industrialisierung


Deep Learning Methoden haben rasante werden immer mehr Tätigkeiten
Erfolge in der Entwicklung von Technolo- Maschinen übertragen, die bis
gie-Lösungen hervorgebracht. Wenn es dato menschlicher Arbeitskraft
darum geht, Künstliche Intelligenz in der bedurften. Mit Erfindung des
Generierung von Kunst einzusetzen, ste-
Computers waren diese Tätigkei-
hen den Kunstschaffenden vielfältige
ten nicht mehr nur auf körperliche
Formen der Anwendungs- und Entwick-
lungsarbeit zur Verfügung. Dahinter steht Arbeit beschränkt, sondern auch
das bestmögliche Ausschöpfen technolo- geistige Arbeit konnte nun in er-
gischer Potenziale. Der vorliegende Arti- höhtem Maße durch Maschinen
kel eröffnet vielfältige Bezüge zwischen verrichtet werden. Man denke hier
Digitalisierung und Kreativität und wirft beispielsweise an Taschenrech-
einen Blick hinter die Fassade von KI-ba-
ner oder Schachcomputer. Ein
sierter Kunstproduktion.
weiterer wichtiger Schritt hin zu
einer Künstlichen Intelligenz war
die Entwicklung von Methoden
des maschinellen Lernens. Diese erlauben mit Hilfe von großen Datenmengen und ge-
eigneten Lernalgorithmen ein selbstständiges Lernen und bedürfen nicht mehr dem
expliziten Definieren von Regeln durch Programmierer:innen. Selbstfahrende Autos
und maschinelle Übersetzung sind Beispiele von erfolgreichen Anwendungen von ma-
schinellem Lernen. Diese Tätigkeiten sind geistig anspruchsvoll und können nicht ein-
fach nur durch einfache Berechnungen sinnvoll verrichtet werden. Sie erfordern auch
von Menschen eine Ausbildung, das heißt, auch Menschen müssen diese Tätigkeiten
erlernen.

Wenn ein Computer nun komplexe, geistige Aufgaben lösen kann, kann er dann nicht
auch Kunst erschaffen? Zumindest die Erzeugung von Artefakten, die auf den ersten
Blick wie Kunst aussehen, ist in allen Kunstgattungen möglich. Beispiele finden sich
unter anderem in Literatur (Roemmele, 2016; Ghazvininejad, 2016), Musik (Zulić, 2019;
Lopez-Rincon, 2018) und den bildenden Künsten (Colton, 2012; Elgammal, 2017).
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Computer können kunstähnliche Objekte erschaffen, aber es fehlen scheinbar zwei


ganz entscheidende Fähigkeiten: wahres Verständnis und wahre Kreativität, wobei
Kreativität ein Verständnis der Welt im Allgemeinen und der Kunstwelt im Speziellen
wohl voraussetzt. Davon ist die KI-Forschung noch weit entfernt und es ist zurzeit noch
unklar, inwieweit Computer tatsächlich Kreativität ähnlich der des Menschen besitzen
können (Hertzmann, 2018; Still 2019). Zumindest was das Verständnis anbelangt, gibt
es einige Ansätze, die sich unter dem Begriff des Semantic Computing zusammenfas-
sen lassen und in klar umrissenen Szenarien eine Art semantisches Wissen zeigen.

Frühe KI-Forschung hat mit dem Turing-Test ein Verfahren entwickelt, das es ermög-
lichen soll, eine menschenähnliche, künstliche Intelligenz zu bewerten: Eine Person soll
im Dialog mit einer Maschine oder einem Menschen nicht in der Lage sein die Beiden
auseinanderhalten zu können. Für den Fall einer kunsterzeugenden Intelligenz wurde
dieses Verfahren angepasst, indem man einer Kunstexpertin Bilder von menschlichen
Künstler:innen, sowie Werke einer KI vorlegt, und der/die Expert:in dürfte es nicht ge-
lingen, diese entsprechend zuzuordnen (Gangadharbatla, 2021). Diese Art des Turing-
Tests vernachlässigt aber gerade die Prüfung der wesentlichen Fähigkeiten: Verständ-
nis und Kreativität. Anhand der Erzeugung von Literatur kann man dies gut veranschau-
lichen: Texte können syntaktisch korrekt sein, ohne jedoch semantisch sinnvoll zu sein.
Ein bekanntes Beispiel ist der Satz von Noam Chomsky „Colorless green ideas sleep
furiously”, auf Deutsch „Farblose grüne Ideen schlafen wütend” (Chomsky, 1957). Die
Syntax ist korrekt, aber der Satz ergibt keinen Sinn. Ähnlich verhält es sich mit der Kre-
ativität. Gute Dichter:innen können sinnvolle, neue Metaphern erschaffen, was als kre-
ativ wahrgenommen wird. Eine KI kann dies noch nicht eigenständig. In Anlehnung an
das Theorem der endlos tippenden Affen (die irgendwann durch Zufall die Werke
Shakespeares erzeugen würden) würde eine KI heutzutage viel weniger Ausschuss
produzieren und es wäre deutlich einfacher, interessante Schöpfungen unter den zu-
fälligen Erzeugnissen ausfindig zu machen (Meyer, 2017). Was wir daher bei der Er-
zeugung von Literatur, Musik, und bildender Kunst durch KI sehen, ist die Imitation von
Kunst. Dies entspricht nicht unserem heutigen Verständnis von Kunst, findet aber An-
knüpfungspunkte an das Kunstverständnis in der Antike, z. B. bei Platon, wo Kreativität
nicht erstrebenswert war, und Kunst eine Nachahmung der Natur sein soll (Tatarkie-
wicz, 1979).

Wenn Computer nun in der Lage sind, etwas zu erschaffen was keine Kunst ist, wie
kann man daraus eventuell Kunst machen? Zum einen kann man KI als ein Werkzeug
sehen, das Künstler:innen in einem künstlerischen Prozess nutzen können. Diese Sicht
erinnert stark an die Diskussion um Malerei und Fotografie. Auch dort erzeugt nicht das
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Werkzeug Kunst, sondern die Künstler:innen benutzten das Werkzeug, um Kunst zu


erschaffen. Zum anderen kann man die existierende KI-Methoden erweitern, damit
diese eine Art von Kreativität und Verständnis entwickeln. Insbesondere wollen wir uns
der Frage widmen, inwieweit durch den Einsatz von KI-Grenzen der künstlerischen Ar-
beit verschoben werden oder Begriffe wie Kreativität und Kunst durch die Anwendung
auf KI-Methoden eine Bedeutungsänderung erfahren.

Der Begriff der künstlichen Intelligenz ist und war einem ständigen Wandel unterwor-
fen und umfasst eine ganze Reihe von mehr oder weniger „intelligenten“ Methoden. In
der aktuellen Diskussion meint man meist Methoden des maschinellen Lernens und
insbesondere tiefe, neuronale Netze, das sogenannte Deep Learning, wenn man von KI
spricht. Dies ist aber tatsächlich nur ein kleiner Teil der KI-Methoden, welche jedoch für
Aufgaben der Wahrnehmung (Bild, Text, Audio) besonders gute Ergebnisse liefern. Im
Folgenden wollen wir uns daher auf eine bestimmte Art von neuronalen Netzen be-
schränken, den Generative Adversarial Networks, nachdem wir nochmal einen kurzen
Blick auf maschinelles Lernen allgemein werfen.

Maschinelles Lernen für die Kunst


Der Einsatz von Computern in der Kunst ist nicht neu. Digitale Kunst, oder Computer-
kunst im allgemeinen und generative Kunst im speziellen, nutzen oft Computer, um
Kunst zu erschaffen. Das maschinelle Lernen führt nun jedoch in der Kunst wie auch in
der Informatik allgemein einen kompletten neuen Ansatz ein. Während die generative
Kunst ebenso wie klassische Algorithmen typischerweise ein Programm abarbeiten, ist
die Idee des maschinellen Lernens eine fundamental andere. Beim Programmieren
werden Regeln festgelegt, die der Computer abarbeitet. Dabei bekommt das Pro-
gramm eine Eingabe, zum Beispiel die Zahlen „4“ und „2“ und gibt die Zahl „6“ aus. Die
festgelegte Regel in diesem Fall wäre die Addition (Eingabe A + Eingabe B). Beim Ma-
schinellen Lernen fehlt die Angabe der Regel und der Computer muss selbst die Regel
finden, welche aus der Eingabe die Ausgabe erzeugt. Dafür ist neben der Eingabe auch
die gewünschte oder beobachtete Ausgabe notwendig. Da anhand eines Beispiels
diese Regel nicht eindeutig bestimmt werden kann (die Regel könnte in diesem Beispiel
auch (2 x Eingabe A) – Eingabe B lauten), sind mehrere Trainingsbeispiele notwendig.
Je komplizierter die Regeln sind, das heißt je mehr Möglichkeiten und Kombinationen
existieren, desto mehr Trainingsdaten sind notwendig, um möglichst nahe an die ge-
suchte Regel heranzukommen. Das Additionsbeispiel aus dem Bereich der Mathematik
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dient hier nur zur Veranschaulichung. Einsatz findet das maschinelle Lernen eher in an-
deren Bereichen, wo die möglichen Eingaben deutlich komplexer sind, zum Beispiel in
der Bildverarbeitung von Fotos bestehen aus tausenden Pixel.

Was bedeutet das nun für die Generierung von Kunst mit Hilfe von maschinellem Ler-
nen? Während bei generativer Computerkunst der oder die Künstler:in die Regeln fest-
legt und dadurch Einfluss auf den generativen Prozess hat, entfällt dies beim maschi-
nellen Lernen. Hier generiert der Computer die Kunst selbstständig mit Hilfe der zuvor
selbst gelernten Regeln. Als Eingabe braucht der Computer nur Trainingsdaten, also
Beispiele von Gemälden, Zeichnungen, etc. Dieser konzeptionelle Unterschied zwi-
schen klassischem Programmieren und maschinellem Lernen ist gewaltig und hatte zu
außerordentlichen Erfolgen in vielen Bereichen geführt. Eine weitere Steigerung hat
das Gebiet der künstlichen Intelligenz durch die Entwicklung von tiefen, neuronalen
Netzen, sogenanntes Deep Learning, erfahren. Verschiedene Architekturen dieser
Netze können für die Bild- und Sprachanalyse genutzt werden. Zur Erzeugung von Da-
ten jeglicher Art, also auch von Kunst, finden spezielle Deep-Learning-Architekturen
Anwendung, auf die wir im folgenden Teil detaillierter eingehen werden.

„Kreative“ Neuronale Netze


Durch neue Entwicklungen und gesteigerte Rechenleistung konnte die alte Idee von
künstlichen, neuronalen Netzen weiterentwickelt werden und es entstanden tiefe
Netze mit vielen Schichten von künstlichen Neuronen. Der Durchbruch des Deep Lear-
ning wurde Anfang der 2010er Jahre erreicht mit Ergebnissen, die über denen von
Menschen lagen, insbesondere für perzeptorische Aufgaben der Bild- und Sprachver-
arbeitung. Diese großen Deep-Learning-Architekturen wurden genutzt, um zu lernen,
wie Eingabedaten auf Ausgabedaten abgebildet werden: Ein Modell der Daten wird
erzeugt. Das Ziel war dabei meistens die Klassifikation, zum Beispiel das Erkennen von
Hunden oder Katzen auf Fotos (Ciresan, 2012).

Diesen Prozess kann man aber auch umdrehen. Ein Modell, was auf das Erkennen von
Hunden trainiert wurde, kann nun rückwärts angewendet werden: Gegeben ein Foto,
welche Pixel müssen wie verändert werden, damit das Modell einen Hund erkennt?
Die so veränderten Bilder haben eine stark psychedelische Komponente und erinnern
an Traumsequenzen (McCormick, 2015). Daher wurde diese Methode Deep Dream
(Mordvintsev, 2015) genannt. Wählt man weißes Rauschen als Eingabe, erzeugt diese
Methode Bilder von zuvor erlernten Objekten, siehe Abbildung 1.
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Eine weitere wichtige Me-


thode der Anwendung von
Deep Learning im Bereich
der Kunst ist der Neural
Style Transfer (NST) (Gatys,
2016). Hierbei werden der
Inhalt eines Bildes und des-
sen Stil getrennt, sodass der
Stil ausgetauscht werden
kann. Beispielsweise kann
Abbildung1: SEQ Abbildung \* ARABIC1: Ein von DeepDream erzeugtes Bild. man den Inhalt eines belie-
(aus Berov, 2016) bigen Fotos mit dem Stil von
Van Goghs Sternennacht kombinieren, siehe Abbildung 2. Dabei erzeugt das Modell
zwar keine neue Kunst, aber die Fähigkeit Inhalt und Stil zu trennen war ein wesentli-
cher Schritt hin zu einem feingranulareren Umgang der Netze und zu besserem kon-
zeptionellen Verständnis.

Während die beiden beschriebenen Methoden auf Convolutional Neural Networks


(CNN) (Gu, 2018) aufbauen, die primär zur Klassifikation entwickelt wurden, hat sich
mit den Generative Adver-
sarial Networks (GAN)
(Goodfellow, 2014) eine
weitere, neuronale Netz-
werk-Architektur etabliert,
die speziell zur Erzeugung
von Daten, z. B. von Bil-
dern, entwickelt wurde.

Ein GAN besteht dabei aus


zwei neuronalen Netzen,
dem Generator-Netzwerk
und dem Diskriminator-
Abbildung 2: Beispielanwendung des Neural-Style-Transfer-Algorithmus: oben
Netzwerk (Auswahl-Netz- links das originale Foto und in klein jeweils das Bild dessen Stil zur Manipulation ge-
nutzt wurde. (aus Gatys, 2016)
werk). Die Aufgabe des
Diskriminators ist zu unterscheiden, ob ein Eingabebild ein echtes Bild ist, oder ein vom
Generator erzeugtes Bild. Mit jedem Bild, was der Generator erzeugt und der Diskrimi-
nator als Fälschung entlarvt, lernt der Generator ein Bild zu erzeugen, was ein wenig
„echter“ aussieht als das vorherige. Dieser iterative Prozess beginnt mit einem Bild von
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zufälligen Pixeln (Rauschen) und führt dazu, dass nach einer Weile der Diskriminator
nicht mehr unterscheiden kann, ob das ihm vorgelegte Bild nun ein Echtes oder Erzeug-
tes ist. Ein Beispiel eines von einem GAN erzeugten Bild ist das Werk Edmond de Bel-
amy, welches durch seine Versteigerung bei Christie’s nicht nur hohe Aufmerksamkeit
erhielt, sondern auch Fragen nach Urheberschaft und geistigem Eigentum von compu-
tergenerierter Kunst neu aufwarf (McCorrmack, 2019).

Während bei diesen Standard-GANs der menschliche Einfluss auf das erzeugte Bild
auf die Auswahl der Trainingsbilder beschränkt ist, haben neue Entwicklungen nicht
nur neue Anwendungen ermöglicht (Creswell, 2018), sondern bieten auch die Mög-
lichkeit, stärker auf den Erzeugungsprozess Einfluss zu nehmen, zum Beispiel durch
zusätzliche Bedingungen, die für das erzeugte Bild gelten sollen (Mirza, 2014). So lässt
sich beispielsweise der Stil des zu erzeugenden Bildes vorher festlegen, siehe Abbil-
dung 3.

Aktuelle Forschung
(Dobler, 2022) basie-
I
rend auf einer Netz-
werkarchitektur von
NVIDIA (Karras, 2020)
ermöglicht sogar die
Eingabe von mehre-
ren zusätzlichen Be-
dingungen, die das zu
erzeugende Bild er-
Abbildung 3: Generierte Bilder aus drei verschiedenen, zufälligen Eingaben und jeweils ei- füllen soll. Zum Bei-
nem Kunststil als Bedingung. (aus REF: MP, 2021)
spiel kann das Modell
Metadaten mit den Trainingsdaten assoziieren, die dann als weitere Eingabe eine ge-
zieltere Bildgenerierung ermöglichen, siehe Abbildung 4.
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Diese Modelle sind sehr groß und


beschreiben einen latenten Raum
möglicher Bilder. Dieser Raum
wird durch das Training struktu-
riert, sodass sich in diesem sehr
hochdimensionalen Raum be-
stimmte Eigenschaften in Dimen-
sionen, d. h. bestimmten Richtun-
gen in diesem Raum widerspie-
geln. Dies wurde zuerst bei Fotos Abbildung 4: Generierte Bilder mit mehreren Bedingungen.
(aus REF: MP, 2021)
von Gesichtern entdeckt, als so-
genannter Smile-Vektor (Radford, 2015). Übertragen auf ein Modell zur Generierung
von Kunst mit zusätzlichen Metadaten, kann man sich in dem latenten Raum entlang
einzelner Dimensionen bewegen, und damit direkt auf die zu erzeugenden Bilder Ein-
fluss nehmen, siehe Abbildung 5 (aus Dobler, 2022).

Abbildung 5: Eine Annäherung an Leonardo da Vincis Mona Lisa im latenten Raum (Mitte) und davon Richtung Ehrfurcht
(nach links) und Furcht (nach rechts) im latenten Raum bewegend generierte Bilder. (aus REF: MP, 2021)

Dies erlaubt das Explorieren des gelernten, latenten Raums und damit nicht nur mehr
Kontrolle über den Erzeugungsprozess, sondern auch interessante Einsichten in die
Trainingsdaten. Durch Analyse des Raums kann zum Beispiel das Charakteristische ei-
ner Kunstrichtung oder, wie im Beispiel der Abbildung, Emotionen beim Kunstbetrach-
ter rein datengetrieben erforscht werden. Dafür sind entsprechend annotierte Trai-
ningsdaten notwendig. Für das Lernen von Emotionen von Kunstwerken zur Struktu-
rierung des latenten Raumes wurden 80.000 Kunstwerke von Menschen mit ihren as-
soziierten Emotionen annotiert (Achlioptas, 2021).
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Der künstlerische Prozess


Die Möglichkeiten, mit Hilfe künstlicher Intelligenz fotorealistische Bilder zu erzeugen,
sind beeindruckend. Was wie zuvor erläutert noch fehlt, ist die Kreativität und das Ver-
ständnis. Letzteres ist nicht nur zur Erzeugung von Kunst sehr wichtig, sondern auch in
sehr praktischen Anwendungen von Deep Learning, wo eine Fehleinschätzung ernste
Konsequenzen hat, zum Beispiel bei der Erkennung von Tumorzellen. Ein wesentlicher
Nachteil sehr großer, neuronaler Netzwerke ist ihre Unübersichtlichkeit und Komplexi-
tät und daraus resultierende Unmöglichkeit des Nachvollziehens einzelner Entschei-
dungen des Modells. Man spricht daher von Black-Box-Modellen, d. h., man sieht nur
die Daten, die man hineingibt und das Ergebnis, das am Ende herauskommt; eine sinn-
volle Introspektion ist nicht möglich. Ob und gegebenenfalls was das Modell „verstan-
den“ hat, ist nicht nachvollziehbar.

Die aktuelle Forschung beschäftigt sich


daher intensiv mit den Möglichkeiten,
Ausgaben von Deep-Learning-Model-
len zu erklären. In der Praxis könnte dies
folgendermaßen aussehen: Bei der
Bilderkennung können Modelle bei-
spielsweise diejenigen Pixel hervorhe-
ben, aufgrund deren sie glauben, eine
Giraffe statt eines Elefanten zu erken-
nen. Und dies sollte auch bei einem rosa
Elefanten noch funktionieren oder bei
einem Elefanten, den man nur von hin-
Abbildung 6: Generiertes Portrait mit 4 Ohren; das Konzept ten sieht. Dafür ist ein komplexes Ver-
„Ohr“ wird von diesem neuronalen Netz noch nicht verstanden.
(aus Dobler, 2022) ständnis von Elefanten notwendig. Je-
doch ist selbst das offenkundig noch weit von einem Verständnis entfernt, welches
nötig wäre, um bedeutende Kunst zu erschaffen, wo es nicht nur um sachliches Ver-
ständnis geht, sondern auch um das Erkennen komplexer Zusammenhänge, Emotionen
und tradiertem Wissen auf unterschiedlichen Ebenen. Hin und wieder wird das feh-
lende Weltverständnis in einzelnen erzeugten Bildern von kunstgenerierenden Model-
len evident und führt zu skurrilen Ergebnissen, siehe Abbildung 6 (aus Dobler, 2022).

Erschwerend kommt bei der Erschaffung von Kunst hinzu, dass es nicht nur einem Ver-
ständnis der Welt bedarf, sondern auch einem Verständnis des Menschen und dessen
Wahrnehmung, mithin einer echten, holistischen (künstlichen) Intelligenz. Die bespro-
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chenen Methoden entstammen alle dem Bereich des maschinellen Lernens. Insbeson-
dere braucht man Trainingsdaten mit Hilfe derer die Modelle lernen. Für die oben vor-
gestellten GANs bedeutet dies, dass die Bilder, die man dem Netzwerk zum Trainieren
zeigt, den groben konzeptionellen Raum festlegen, indem das Modell neue Bilder er-
zeugen kann. Dies hat zur Folge, dass immer nur ähnliche Bilder oder Kombinationen
von Bildern aus den Trainingsdaten erzeugt werden können, da das Ziel beim Trainie-
ren die Täuschung des Diskriminators war, so dass dieser das erzeugte Bild für ein ech-
tes Bild aus den Trainingsdaten hält. Es wird hierbei - wie bei fast allen Methoden des
maschinellen Lernens - eine Zielfunktion optimiert, d. h. das Modell, welches aus Milli-
onen von Parametern besteht, ändert, solange diese Parameter bis die resultierenden
Bilder aussehen, als könnten sie Teil der Trainingsbeispiele sein. Dies ist ein rein tech-
nisches Unterfangen und setzt nicht nur kein Verständnis der Welt oder auch nur der
Daten voraus, sondern schließt Kreativität (die Erschaffung von etwas konzeptionell
Neuem) von vornherein aus (Stanley, 2015; Amabile, 1983; Hertzmann, 2018; Still,
2019). Um dieser konzeptionellen Kreativlosigkeit zu entrinnen, versuchen Wissen-
schaftler Kreativität explizit in den Generierungsprozess mit einzubeziehen, indem das
neuronale Netz Eigenschaften von Kunststilen erlernt, um dann bewusst bei der Gene-
rierung davon abzuweichen (Elgammal, 2017).

Das (noch) fehlende Verständnis und die damit einhergehende fehlende Intention führt
zwar zu (teilweise) sehr guter Imitation, aber inwieweit man die Imitation oder den An-
schein von Kreativität tatsächlich Kreativität im engeren Sinn nennen darf, bleibt offen.
Legt man eine weniger strenge Definition von Kreativität zugrunde, können Computer
durchaus kreativ sein (Jordanous, 2014). Insbesondere kann Computerkreativität ge-
nutzt werden, um menschliche Kreativität zu erforschen oder vielleicht sogar zu erklä-
ren. Auch ist die Wechselwirkung von Kunst und Kreativität je nach Kunstbegriff (und
Kreativitätsbegriff) nicht eindeutig spezifiziert. Möglich, dass man über den Umweg der
Computerkreativität - was immer man darunter letztlich versteht - etwas über mensch-
liche Kreativität lernen kann. Selbst wenn man Computern die Kreativität grundsätzlich
abspricht, so können ihre Ergebnisse doch mindestens als Inspiration für menschliche
Künstler:innen dienen. Oder man betrachtet Computer im Allgemeinen und Deep-Lear-
ning-Methoden im Speziellen als Werkzeuge des/der Künstlers/Künstlerin. Dies ne-
giert jedoch die erschaffende Qualität gerade bei GANs, die etwas erzeugen, ob nun
kreativ oder nicht. Eine treffendere Betrachtung stellt das Zusammenwirken von gene-
rativen Algorithmen und menschlichen Künstler:innen in den Mittelpunkt. Man spricht
dann von Co-Creation des Künstlers und einer KI (Cizek, 2019).
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Interaktion von Kunstschaffenden und KI


Künstler:innen können auf unterschiedliche Weise Einfluss auf die Ergebnisse eines
GANs nehmen. Abhängig vom Zeitpunkt des konkreten Eingreifens, kann man drei un-
terschiedliche Arten der Einflussnahme unterscheiden:

1. Beim Design des Systems

2. Während des Lernprozesses

3. Während des Erzeugens

Die Ausgestaltung der GAN-Architektur bildet die Ausgangslage. Hier wird festgelegt,
zu was das GAN theoretisch in der Lage ist, sprich: die Mächtigkeit des Modells. Dies
geschieht zum einen über das Festlegen von Hyperparametern, wie zum Beispiel die
Anzahl der Dimensionen des latenten Raums, die Anzahl der Neuronen pro Schicht,
sowie die Anzahl von Schichten des neuronalen Netzes. Auch die Art und Anzahl der
Verbindungen zwischen den Schichten prägt das neuronale Netz. Darüber hinaus muss
festgelegt werden, wie die Eingabe und Ausgabe aussehen soll. Das heißt, die Anzahl
der Pixel für die Trainingsbilder und die Repräsentation dieser Pixel, zum Beispiel als
RGB-Werte. Diese Faktoren legen fest, was das Netz lernen und erzeugen kann. Nutzt
der Künstler eben RGB-Werte, so können die erzeugten Pixel eines Bildes auch nur
Farben aus diesem Bereich darstellen. Vereinfacht könnte man sagen, dass das Design,
beziehungsweise die Designentscheidungen den latenten Raum aufspannen, indem
neue Werke erzeugt werden können. Erwartet die GAN-Architektur nur Pixel, die ent-
weder schwarz oder weiß sind, beinhaltet der latente Raum maximal alle denkbaren
Kombinationen von schwarzen und weißen Pixel, aber keine farbigen. Dabei gilt zu be-
denken, dass, je mächtiger das Modell ist, desto mehr Parameter gelernt werden müs-
sen. Dies wiederum bedeutet, dass eine größere Anzahl an Trainingsbeispielen not-
wendig ist, um komplexere Zusammenhänge zu erlernen. Zur Veranschaulichung dazu
folgende Rechnung: Selbst bei sehr kleinen Bildern, sagen wir 5 mal 5 Pixel und nur
der Wahl zwischen Schwarz und Weiß, ergeben sich mehr als 33 Millionen mögliche,
unterschiedliche Bilder. Der Eingaberaum beinhaltet also 33 Millionen Punkte und je-
der Punkt entspricht einem unterschiedlichen Bild. Die Menge der sinnvollen Bilder,
das heißt der Bilder, die nicht nach zufälligem Rauschen aussehen, ist viel, viel kleiner.
Und je größer der Raum der möglichen Bilder gewählt wird, umso schwieriger ist es
sinnvolle Bilder zu finden und eine Struktur in diesem Raum zu finden. Genau das ist
die Aufgabe des GANs: Einen latenten Raum zu erzeugen und so zu strukturieren, dass
wesentliche Merkmale der Trainingsbeispiele gut repräsentiert werden und die Trai-
ningsbeispiele sinnvolle Nachbarschaftsbeziehungen in diesem Raum ausbilden, das
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heißt, semantisch ähnliche Bilder in diesem Raum nahe beieinander liegen. Dieser la-
tente Raum ist eine komprimierte Version des Eingaberaums und wird definiert durch
die Trainingsbeispiele. Dies bringt uns zur zweiten Art der Einflussnahmemöglichkeiten:
der Auswahl der Trainingsbeispiele während des Lernprozesses. Diese hat wahr-
scheinlich den größten Einfluss auf die Ergebnisse. Sie gilt nicht nur für GANs oder das
Erzeugen von Kunst, sondern für alle Methoden des maschinellen Lernens. So möchte
man im Allgemeinen möglichst objektive Ergebnisse erzielen. Zum Beispiel beim Ein-
satz von KI für die Vorhersage von Rückfallwahrscheinlichkeiten ehemaliger Straftäter.
Durch einen unausgewogenen Trainingsdatensatz, in dem zum Beispiel die Hautfarbe
erfasst und verwendet wurde, lernt die KI ein mögliches Bias in Bezug auf die Hautfarbe
mit. Damit sind keine fairen Vorhersagen zu erzielen. Was im Kontext der Strafverfol-
gung vermieden werden muss, nämlich Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe durch
ungeeignete Auswahl und Repräsentation von Trainingsbeispielen, kann bei GANs ge-
nutzt werden, um das Ergebnis in bestimmte Richtungen zu beeinflussen. Der Künstler
kann durch die Auswahl der Trainingskunstwerke beliebige latente Räume vom Netz-
werk lernen lassen. Ein Beispiel ist die Erzeugung eines Portraits, indem das GAN nur
auf Portraitbildern trainiert wird. Interessanter ist sicherlich die Kombination mehrerer
Arten von Bildern, zum Beispiel barocke Portraits und kubistische Stadtansichten, um
dann den latenten Raum „dazwischen“ zu explorieren. Moderne GAN-Architekturen
erlauben zusätzlich das Definieren von Bedingungen, zum Beispiel in Form von Stich-
wörtern, die den Inhalt definieren, das Genre, usw. (siehe Abbildung 4). Dadurch lernt
das GAN nicht nur einen strukturierten, latenten Raum, sondern auch das Assoziieren
von Bereichen dieses Raums mit bestimmten Bedingungen.

Schließlich bleibt noch die Phase des tatsächlichen Generierens eines Bildes mit dem
trainierten GAN. Hier kann der Künstler unmittelbar Einfluss nehmen – entweder durch
die Selektion bestimmter erzeugter Bilder und dem Verwerfen von Bildern, die dem
Künstler als nicht-geeignet erscheinen, oder durch das Arrangieren und Komponieren
von größeren Werken. Denkbar ist auch die Einbindung der Selektion und Komposition
in den Erzeugungsprozess des GANs. Eine Art des Human-in-the-Loop-Konzepts, bei
dem der Mensch als weitere Eingabequelle für Algorithmen dient. Dies könnte auf viel-
fältige Art und Weise geschehen, zum Beispiel indem der Künstler die Position be-
stimmter Objekte auf der virtuellen Leinwand und auch die Farbgebung verschiedener
Bereiche manuell festlegt. Hier ist der Kreativität des Künstlers keine Grenze gesetzt.
Verschiedenste Projekte und Workshops aus dem Bereich Co-Creation von KI und
Mensch zeigen die Möglichkeiten in diesem Kontext schon jetzt (z. B. auf https://me-
dium.com/artists-and-machine-intelligence, https://computationalcreativity.net/work-
shops/cocreative-iccc20/, https://neuripscreativityworkshop.github.io/2020/).
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Fazit
Unter dem Sammelbegriff der künstlichen Intelligenz werden mathematische bzw. sta-
tistische Methoden zusammengefasst, die aus Trainingsbeispielen Muster erkennen.
Diese Algorithmen des maschinellen Lernens haben durch die Entwicklung von Deep-
Learning-Methoden in den letzten Jahren enorm an Bedeutung gewonnen. Durch das
Trainieren sehr großer neuronaler Netze mit sehr vielen Trainingsbeispielen ist es mög-
lich geworden, semantische Informationen in komplexen Eingabedaten, wie beispiels-
weise Text oder Bilder, zu finden. Generative Adversarial Networks (GANs) können
diese Informationen nutzen, um etwa Bilder zu erzeugen, die denen der Trainings-
menge ähneln. Man könnte also von Amateurkünstler:innen sprechen, der/die nicht
künstlerisch geschult ist, und von (kreativen) Eingaben abhängig ist (Shokry, 2021):
zum Einen von den Programmierern, die die Mächtigkeit und den Raum der möglichen
zu generierenden Bilder festlegen, zum Anderen von den Künstlern, die durch die Aus-
wahl der Trainingsbilder und das konzeptionelle Steuern des Erzeugungsprozesses die
„Amateurkunst“ veredeln. Um wirklich Kunst zu erschaffen, müssen jedoch die Schlüs-
selherausforderungen der allgemeinen KI gelöst werden, d. h. ein Verständnis über die
Welt (und den Menschen) und darauf aufbauend die Fähigkeit, kreativ und intentional
Neues zu erschaffen.

Als Werkzeug und zur Analyse können die heutigen Methoden des maschinellen Ler-
nens gute Dienste leisten. Datengetriebene kunsthistorische Forschung kann durch die
Auswertung und Erforschung der gelernten latenten Räume bisher unentdeckte Mus-
ter finden. Zu Schulungszwecken können wesentliche Eigenschaften von Kunststilen
oder Künstler:innen herausgearbeitet werden. Durch das Interagieren von Laien sowie
Expert:innen mit neuronalen Netzen können interessante Fragestellungen entstehen
und von Menschen erzeugte Kunst neu betrachtet und bewertet werden. Für Kunst-
schaffende ergibt sich die Möglichkeit, auf das (oberflächliche) Wissen über zehntau-
sende Gemälde in Form eines gelernten Modells zugreifen zu können und in Co-Crea-
tion-Setups im Zusammenwirken mit KI-Methoden Neues zu erschaffen.
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Verbindung von Kunst, Technologie, KI und


Wissen: das Projekt ArchXtonic

FABRIZIO POLTRONIERI, DE MONTFORT UNIVERSITY

Anhand seines Werks ArchXTonic zeigt Fabrizio Poltronieri, wie er als Forscher-
künstler vorgeht. Ein Forscherkünstler ist jemand, der sowohl mit den wissen-
schaftlichen Methoden als auch mit der Kunst vertraut ist und daraus etwas
Übergreifendes kreieren kann. Künstliche Intelligenz für künstlerische Zwecke
einzusetzen und dabei den Geist der Wissenschaft voranzutreiben und andere
zum Aufbruch zu motivieren - darum geht es, wenn der Mensch gefordert ist,
seine Umwelt kreativ mitzugestalten.

Was ist ArchXTonic?

In diesem fortlaufenden Kunstprojekt, das kreative KI nutzt, ist die Idee des ‘Ein-
rahmens’ essenziell. Als Menschen begannen, ihre Welt mit Apparaten, bei-
spielsweise Fotoapparaten, festzuhalten, zeigte sich mehr und mehr deren in-
terpretative Macht. Poltronieri ließ seinen Apparat ‘willkürliche’ Videoaufnah-
men in diversen Ländern machen und sichtete die dabei entstandenen enormen
Datenmengen Jahre später, als die Technologie reif dafür war.

Bei ArchXTonic war sein Ziel, einen Algorithmus zu finden, der aus einzelnen
Videosequenzen charakteristische Video-Geschichten entwickelte in der Art ei-
ner automatisch generierten Videocollage. Hierfür ließ er die KI erst Einzelbilder
auswählen und Bildelemente filtern, die als zusammenhängend betrachtet wer-
den konnten. Die KI generiert daraus in Echtzeit traumähnliche oder futuristisch-
wirkende Eigeninterpretationen in der Art von überblendeten Stadtansichten
oder anderen Realitäten, je nach Grundlage des eingespeisten Videodatensets.

Schauen Sie sich gern als Beispiel das Video des Art AI Festivals 2021 über
folgenden Link an, um eine bessere Vorstellung der Ergebnisse zum heutigen
Stand zu sehen.

Titel: Art AI Festival: ArchXtonic by Fabrizio Poltronieri


https://www.youtube.com/watch?v=Pe_a4IKuA50
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Einführung
In diesem Text diskutiere ich einige der Fragen, die mich als Forscher und Künstler, der
mit kreativer Künstlicher Intelligenz (KI) und praxisbasierter Forschung arbeitet, faszi-
nieren. Diese Fragen ergeben sich aus der Kombination von Intuition mit Technologie,
Philosophie, Kunst und Wissenschaft, die ich den Leser:innen näher bringen möchte.
Ich denke, der bedeutendste Beitrag des Textes ist meine Lebenserfahrung, die mir ge-
zeigt hat, wie wichtig es ist, mit Prototypen und fokussierten Projekten unter Verwen-
dung einer aus der Kunst entwickelten Methodik zu arbeiten. Am Ende dieses Artikels
bespreche ich eine praktische Projektumsetzung mit „Creative AI“ (kreativer Künstlicher
Intelligenz) namens ArchXtonic, die mit der in den ersten Abschnitten des Kapitels be-
schriebenen Methodik arbeitet und eine Manifestation der zuvor eingeführten Konzepte
darstellt.

Wie alles begann


Meine Beziehung zur Technologie – und insbesondere zu Computern – ist untrennbar
mit meinem Leben verbunden. Lange bevor Computer praktisch allgegenwärtig waren,
hatte ich bereits einen solchen zu Hause. Ich erinnere mich, dass mein Vater, als ich
etwa acht Jahre alt war, mit einer mysteriösen Kiste nach Hause kam. In dieser Kiste
befand sich etwas noch Mysteriöseres: ein brasilianischer Klon des berühmten ZX
Spectrum, eines britischen 8-Bit-PC. Davor hatte ich lediglich ein paar Videospiele be-
sessen, unter diesen eine „Magnavox Odyssey“ und eine „Intellivision“, aber nichts war
vergleichbar mit dem Mysterium dieser kleinen schwarzen Box, die, wenn sie an einen
Fernseher angeschlossen war, nur eine blinkende Zahl „1“ und den Buchstaben „K“ an-
zeigte, ohne Hinweis darauf, was damit zu tun sei.

Computern wurden damals keine Montage- oder Bedienungsanleitungen, sondern


Programmierhandbücher beigelegt. Einen Computer zu haben, bedeutete für mich so-
mit, Programmieren lernen zu müssen. Also begann ich gleich am Folgetag der Ankunft
des Geräts, meine Freizeit nach der Schule dem Studium des beigefügten Handbuchs
zu widmen, das die Programmiersprache BASIC (Beginners’ All-purpose Symbolic In-
struction Code) lehrte, die damals in den 1980er Jahren vorherrschte.

Dies war der Beginn einer Tätigkeit, die mich nachhaltig geprägt hat, denn das Pro-
grammieren wurde nicht nur zu einem Hobby: Ich verbrachte kaum einen Tag ohne PC,
selbst wenn ich nur fünf Minuten daran arbeitete. Aus den mit BASIC erworbenen
Kenntnissen begann ich, neue Programmiersprachen auszuprobieren. Der Zugang zu
besseren Computern war in Brasilien in den 1980er Jahren schwierig und extrem teuer,
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da die Einfuhr elektronischer Geräte nicht erlaubt und die lokale Industrie Jahrzehnte
im Rückstand war. Heute programmiere ich in verschiedenen Sprachen und betrachte
das Programmieren als äußerst kreatives Tun.

Obwohl ich das Glück hatte, in einem Haus mit einer großen Bibliothek aufzuwachsen,
die Bücher aus verschiedenen Bereichen und zu diversen Themen enthielt, viele davon
über Kunst, dauerte es eine Weile, bis ich das kreative Potenzial von Computern er-
kannte. Erst mein Abschluss in Mathematik weckte mein Interesse daran und zeigte mir,
dass Mathematik der Poesie näher ist als den Ingenieurwissenschaften. Ich begann das
Studium des Grafikdesign, um die Möglichkeiten der Verschmelzung der beiden Berei-
che Programmieren und Design zu erkunden. Dies führte mich zu einem interdiszipli-
nären Master in Pädagogik, Kunst- und Kulturgeschichte und meiner Promotion in Se-
miotik mit einer Arbeit über die Rolle des Zufalls in der Computerkunst. Während der
Promotion gelang es mir, etwas, das bereits Teil meiner Geschichte war, systematisch
zu formulieren, ich wollte lernen und entdecken, indem ich aktiv an etwas arbeitete.
Diese Eigenschaft begleitet mich schon seit meiner Kindheit, unabhängig davon, ob ich
Computer programmiere, neue Algorithmen oder mathematische Erklärungen für Phä-
nomene entwickle oder neue Ausdrucksformen in der Kunst suche.

Ich betrachte meine künstlerische Praxis als Computerkunst, insbesondere als „Crea-
tive AI“, die es mir ermöglicht, ästhetische Hypothesen und viele philosophische Fragen
zu untersuchen. Dabei sehe ich praxisorientierte Forschung als ein Spiel des ständigen
Austauschs zwischen den Fragen, die meine akademische Forschung, meine künstleri-
sche Praxis und eine Reihe philosophischer Theorien darstellen, mit denen ich mich im
Laufe der Jahre auseinandergesetzt habe.

An isolierte Forschung, die nichts mit der Außenwelt und unserem sozialen und wis-
senschaftlichen Kontext zu tun hat, glaube ich nicht. Ich glaube an Forschung, die mit
meinem eigenen Tun und mit bereits existierenden Autor:innen und Theorien in den
Dialog tritt. Es ist die Art von Forschung, die einen Einfluss auf mich ausübt, während
ich einen Einfluss auf den theoretischen Rahmen ausübe.

ArchXtonic als Beispiel der posthistorischen Ära


Das Projekt ArchXtonic, um das es in diesem Essay geht, ist ein Beispiel für diese Vision,
da es aus einer Reihe philosophischer Überlegungen hervorgegangen ist, die in der
praktischen Forschung durch Kunst verwirklicht wurden.
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Ausgangspunkt des Projektes ist eine der theoretischen Ideen des tschechisch-brasili-
anischen Philosophen Vilém Flusser (1920-1991). Ihm zufolge begann nach der Erfin-
dung der Fotografie eine neue Ära, die sogenannte posthistorische Ära. Die neuere Ge-
schichte ist vor allem durch den Übergang von der Vorherrschaft von Maschinen zum
Apparatezeitalter geprägt. Im Allgemeinen sind Apparate keine Maschinen, weil sie
dazu bestimmt sind, die Welt durch Spiele symbolischer Permutationen zu verändern;
das ist genau das, was Computer tun.

Ein weiteres Merkmal von Apparaten ist laut Flusser, dass sie konstant „zum Angriff
bereit“ sind. Eine Fotokamera zum Beispiel rahmt die Welt auf ihre Weise ein und ver-
führt den Fotografen, auf ihren Knopf zu klicken. Als „wilde Wesen“ rahmen die Appa-
rate somit immer unsere Wahrnehmung ein und machen das Spiel mit ihr verführerisch
und spannend. Wie viele Fotos vom Eiffelturm haben wir gesehen? Wie viele dieser
Bilder sind einzigartig und ordnen sich nicht einer von der Kamera gelieferten Rahmung
unter, die ihre:n Benutzer:in dazu verführte, diesen Moment so einzufrieren, wie er be-
reits von anderen Apparaten und Fotografen in erschöpfendem Ausmaß festgehalten
wurde? Angesichts der Tatsache, dass viele der mit Kameras produzierten Bilder eher
die Sicht der Apparate auf die Szene wiedergeben, als ein neues Bild zu kreieren, be-
schloss ich, diese Verhältnisse in dem 2015 gestarteten Projekt zu untersuchen.

Während dieser Zeit reiste ich in viele Länder, darunter auch nach China, Brasilien, in
die Vereinigten Staaten, nach Kanada, Deutschland, Portugal, Spanien, Großbritannien
und Frankreich. Auf diesen Reisen und in meinem täglichen Leben hatte ich immer die-
selbe Kamera dabei: eine Blackmagic Pocket Cinema Camera. Meine Methode war im-
mer die gleiche und bestand darin, die Kamera willkürlich filmen zu lassen und einzu-
fangen, was auch immer der Apparat von selbst aufnehmen würde. Meine Frage war
es, herauszufinden, welche Art von Ästhetik aus solchen scheinbar banalen Zufallsauf-
nahmen hervorgehen könnte und wie solche Bilder als kreative Quelle dienen können,
um meine kreative KI-Arbeit zu entwickeln, die ich als praxisbasierte Forschung ver-
stehe, wie ich im nächsten Abschnitt zu zeigen versuche.

Theoretische Seite: Wissenschaft, Kunst, Technologie und praxisori-


entierte Forschung
Als Künstlerforscher war mir zu Beginn meiner Karriere nicht ganz klar, wie die beiden
„Kategorien“ – künstlerische Praxis und wissenschaftliche Forschung – miteinander
verflochten sind und sich gegenseitig beeinflussen. Ich habe immer an die Macht der
Wissenschaft geglaubt, was vielleicht ein Erbe aus der Zeit ist, die ich der Mathematik
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gewidmet hatte. Von der Kunst kommt jedoch etwas hinzu, das mich immer wieder
dazu brachte, Dinge neu zu entdecken. Ich hatte das Gefühl, dass Kunst eine Aktivität
sei, die wesentliche Veränderungen in der Welt bewirkt, und dieses Gefühl wurde der
rote Faden meiner Forschung. Ich kann sagen, dass die größte Lektion, die ich in all den
Jahren der Arbeit mit Creative AI, praxisbasierter Forschung und insbesondere mit Ar-
chXtonic gelernt habe, darin besteht, das Gleichgewicht zwischen der künstlerischen
und der wissenschaftlichen Sphäre als fragil zu verstehen. Dennoch bietet die Kunst
einen einzigartigen Weg zur Rationalität, um Neues zu enthüllen.

Was mich schon immer interessiert hat, ist die Frage, wie Methoden entwickelt werden
können, um neues Wissen zu generieren, was dazu führt, die Natur des menschlichen
Geistes aus einer semiotischen Perspektive zu hinterfragen. Denn ein solcher Geist
zeichnet sich dadurch aus, dass er einen wissenschaftlichen, pragmatischen, ontologi-
schen Verstand besitzt, der aus Erfahrung lernt. Erfahrung ist etwas, das schwer zu
katalogisieren oder in Hierarchien einzuordnen ist. Aus diesem Grund hat sich die ak-
tuelle wissenschaftliche Erkenntnis zugunsten der Komplexitätsoffenheit vom Konzept
der „alleinigen Wahrheit“ verabschiedet. Es gibt natürlich immer noch Andersdenkende,
für die praxisorientierte Forschung wahrscheinlich etwas ist, das nicht viel Sinn macht,
weil sie die absolute Wahrheit als das höchste zu verfolgende Gut ansehen.

Was bedeutet es nun zu sagen, dass die Wissenschaft zugunsten der Komplexität auf
die Wahrheit verzichtet hat? Es bedeutet sicherlich nicht, dass die Frage nach der
Wahrheit nicht mehr relevant ist. Es bedeutet vielmehr, dass die fortschrittlichste Wis-
senschaft die Dinge – und sich selbst – stärker anzweifelt als je zuvor. Neues Wissen
aufzubauen bedeutet, Zweifel zu motivieren, und genau das mache ich auch in meinen
Projekten: Ich arbeite mit Zweifeln, die zu Projekten führen, die vorübergehende
Schlussfolgerungen schaffen, die dann wieder zu neuen Zweifeln führen, welche
dadurch wieder neue Projekte auslösen.

Kunst als radikalster Nominalismus

Meiner Ansicht nach ist Kunst eine Aktivität, die darauf abzielt, Fiktionen zu schaffen,
und diese Idee hat meine gesamte Praxis geprägt. Die Kunst ist das Territorium des
radikalsten Nominalismus, der der Realität nichts zu verdanken hat. Nichts hindert die
Kunst an ihrer Aufgabe, Fiktionen zu schaffen. Es ist das Feld der spielerischen Spiele,
der unmöglichen Kombinationen, der Ablehnung deterministischer Rationalität. Hier
zeigt sich der Zweifel in all seiner Pracht und Schönheit. Ihre Fiktionen entstehen durch
eine Denkweise, die auf dem Unbehagen des Zufalls beruht.
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Praxisorientierte Forschung

Es gibt ein Verfahren in der Kunst, wie es ein Verfahren in allen Aktivitäten des Geistes
gibt. Was unterscheidet das Verfahren der Kunst von denen anderer Bereiche? An ers-
ter Stelle ist es ein Verfahren, dessen Ziel in ständiger Bewegung ist. Wie erreicht man
ein Ziel, das sich so darstellt? Wie berechnet man die Position von etwas, dessen Be-
wegung nicht berechnet werden kann? Nur das Experimentieren im weitesten Sinne
kann den Fragenden ein wenig Trost spenden. Alles, was das experimentelle Verfah-
ren der Kunst trifft, kann als gültiges Ziel angesehen werden. Der erfahrene Forscher
muss dann entscheiden, ob das Ziel gut genug ist oder nicht. Ist dies nicht der Fall,
sollte die Suche nach einem geeigneten Verfahren erneut beginnen. Neue Ziele werden
gesucht. Neue Horizonte werden projiziert. Das ist ein offenes Verfahren.

Das Verfahren der Kunst ist durch die Praxis gegeben, die sich mit dem Wesen der
Entdeckung beschäftigt. Dieses Verfahren ist daher ein Spiel. Es muss vom Forscher
und Künstler mit absoluter philosophischer und methodologischer Ernsthaftigkeit ge-
spielt werden. Die künstlerische Praxis schneidet Möglichkeiten aus einem unendlichen
und kontinuierlichen Fluss heraus und verwandelt sie in Phänomene. Das Wichtigste
dabei sind diejenigen Ideen, die frei und unbestimmt entstehen. Dieser Prozess umfasst
die Auswahl und Kombination von Elementen aus einem großen Vorrat an Möglichkei-
ten, um das Forschungsobjekt entstehen und wachsen zu lassen. Dies deckt sich auch
mit den Ideen eines Vorläufers der praxisorientierten Forschung. Der englische Pfarrer,
Statistiker und Philosoph Thomas Bayes (1701-1761), berühmt für seine Lösung eines
Problems der umgekehrten Wahrscheinlichkeit, widersprach der tief verwurzelten
Überzeugung, dass die moderne Wissenschaft Objektivität und Präzision erfordere.
Seine Methode beinhaltet ein gewisses Maß an Glauben und zeigt, dass wir selbst aus
fehlenden und unzureichenden Daten, aus Annäherung und Unwissenheit lernen kön-
nen.

Ich wende mich im Folgenden den praktischen Implikationen von ArchXtonic zu, die die
von mir beschriebene Methodik (siehe Abb. 1) umfassen.
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Abbildung 1: Kunst als methodisches Werkzeug zur Generierung neuen Wissens. Die Übersetzung aus dem Englischen
ins Deutsche ist: „Art“ (Kunst), „Knowledge“ (Wissen), „Fiction“ (Fiktion), „Sciene“ (Wissenschaft) und „Reality“ (Realität).

Die praktische Seite: Die Kombination von kreativer KI, Bildern und
Collagen
Nach der langen Phase des Aufnehmens von Bildern fand ich mich inmitten vieler Fest-
platten wieder, die mit Videodateien gefüllt waren, welche im Laufe der Jahre gesam-
melt wurden. Die erste Herausforderung bestand darin, ein automatisiertes Verfahren
zu entwickeln, um zumindest einen Teil dieses Materials zu prozessieren. Ich habe sorg-
fältig darauf geachtet, die Dateien nach Ort und Datum zu organisieren, was den Pro-
zess viel einfacher gestaltete. Es ist wichtig, dies hervorzuheben, da es beim Umgang
mit einer riesigen Datenmenge in einem langfristigen Forschungsprojekt notwendig ist,
zumindest die grundlegenden Verfahren im Voraus zu planen. Während der Jahre, die
ich dem Filmen dieser in der Einleitung erwähnten Orte gewidmet hatte, war es mein
Ziel, einen Algorithmus für künstliche Intelligenz zu entwickeln, der aus Videofragmen-
ten neue Echtzeit-Erzählungen generieren kann, eine Art automatisch generierte Vide-
ocollage, wobei der Computercode den Motor darstellt, die Bildsprache zu generieren.
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Außerdem war es mein Ziel, nicht alle Videoausschnitte zu verwenden, sondern die
verschiedenen Elemente jedes Einzelbildes, aus dem das Video entstand, mit Masken
auszuschneiden. Auf diese Weise hatte ich eine große Datenbank, in der die in jedem
Ausschnitt enthaltenen Informationen gespeichert sind. Zum Beispiel zeigt das erste
Einzelbild des zehnten Videos ein Paar, das so lange zu Fuß geht, bis sie die Szene
beim Einzelbild Nummer 348 desselben Videos verlassen. Das erste Bild dieses Videos
zeigt auch ein Gebäude, einen Baum und ein Auto, das sich bis zum Bild mit der Num-
mer 158 bewegt, und so weiter.

Ich kann mir vorstellen, dass selbst jemand, der keine Ahnung hat, wie viele Dateien
und Informationen dies darstellt, den mühsamen Arbeitsaufwand visualisieren kann,
der erforderlich ist, um aus dieser Sammlung wertvolle Daten zu extrahieren. Trotz vor-
heriger Planung und trotz all meiner Erfahrung mit dem Arbeiten rund um kreative Pro-
grammierung, künstlicher Intelligenz und Datenbanken, begann ich erst bei meinem
allerersten Versuch mit einem Testvideo zu verstehen, welchen Aufwand die gewählte
Herausforderung mit sich bringen würde.

Prototypenerstellung im Prozess der KI-Entwicklung

Als ich 2015 anfing, darüber nachzudenken, welches Computer-Vision-System ich für
eine solche Aufgabe verwenden könnte, war die Situation nicht sehr ermutigend. Viele
verfügbare Technologien waren nicht ausgereift genug und ich hatte keinen Zugang zu
den notwendigen Geräten. Trotz solcher Rückschläge suchte ich nach kreativen Lösun-
gen, um die Experimente zur Objekterkennung in Bildern zu starten, Prozesse zu opti-
mieren und die Zeit zu reduzieren, die für die Verarbeitung jedes Frames benötigt wird.
Ich habe mehrere Experimente mit einer bekannten Computer-Vision-Bibliothek na-
mens OpenCV durchgeführt, was mir die Zuversicht gegeben hat, dass der Prozess
durchführbar ist, auch wenn die damals erzielten Ergebnisse nicht ganz mit meinen Er-
wartungen übereinstimmten.

Diese methodische Haltung war schon immer Teil meiner Arbeitsweise, das Projekt in
kleine Schritte zu unterteilen und die Validierung durch Prototypen durchzuführen.
Diese Prototypen müssen nicht vollständig funktionsfähig oder gut ausgearbeitet sein.
Sie dienen dazu, Ideen zu validieren und helfen, Herausforderungen und neue Prob-
leme vorherzusehen. Sie helfen mir, Beweise zu analysieren, meine Meinung gegebe-
nenfalls zu ändern, wenn ich neue Informationen erhalte, und, angesichts von Unsi-
cherheit, rationale Entscheidungen zu treffen. Indem ich meine anfängliche Annahme
mit objektiven neuen Informationen aktualisiere, erhalte ich eine neue und verbesserte
Annahme, die ich aus Erfahrung gelernt habe. Tatsächlich ist das eine Art von Logik,
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die das weite Spektrum unserer Erfahrung begründet, die irgendwo in den Grauzonen
zwischen Wahrheit und Unsicherheit, liegt. Wir haben oft nur Informationen über einen
kleinen Teil dessen, worüber wir uns Gedanken machen. Nach der pragmatischen
Doktrin wollen wir alle aufgrund unserer vergangenen Erfahrungen etwas vorhersagen.
Alle Pragmatiker:innen warnen uns jedoch, dass wir unsere Überzeugungen ändern
müssen, wenn wir neue Informationen erhalten wollen.

Da meine Praxis auf kreativen Technologien basiert, war es für mich im Laufe der Jahr-
zehnte von entscheidender Bedeutung, eine Reihe von Bibliotheken, Strukturvorgaben
und Algorithmen zu organisieren, um schnell Programme zu schreiben und verschie-
dene Situationen zu prototypisieren. In den meisten Fällen verwende ich eine Program-
miersprache namens Python, die eine schnelle Entwicklung von Prototypen, Tests und
dem Endprodukt ermöglicht.

Bildsegmentierung

Während der Zeit der Bildersammlung habe ich die Fortschritte in einem Bereich der
künstlichen Intelligenz namens „Bildsegmentierung“ genau verfolgt, bei dem ein digi-
tales Bild in mehrere Segmente unterteilt wird, um die Darstellung des Bildes zu ver-
einfachen oder zu modifizieren, um es dadurch bedeutender und leichter analysierbar
zu machen. Was es tut, ist das Bild in seine „Instanzen“ zu unterteilen, d. h. in Katego-
rien, die zuvor im Algorithmus der künstlichen Intelligenz trainiert wurden. Das Ziel be-
steht darin, Masken um die verschiedenen, in jedem Bild identifizierten Objekte herum
zu bilden (Abb. 2).

Abbildung 2: Ein originales Einzelbild und die entstandene Maske, die von einem Segmentierungsalgorithmus generiert werden.

Mit einer funktionierenden kleinen Datenbank begann ich, einen Algorithmus für künst-
liche Intelligenz zu entwickeln, der in der Lage ist, verschiedene Objekte aus verschie-
denen Videodateien auszuwählen und mit diesen Elementen in Echtzeit eine neue Er-
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zählung, ein neues Video, zu generieren. Eine Art Videocollage, die mit einem soge-
nannten „Apparatus Memories“ (Apparatgedächtnis) erstellt wurde. Dieses Gedächtnis
entsteht aus den Bildern, die automatisch durch eine professionelle Videokamera auf-
genommen, dann automatisch über den von mir programmierten Bildsegmentierungs-
und Verfolgungsalgorithmus ausgewählt und schließlich auch wieder automatisch von
diesem zweiten Programm wie in Abbildung 3 dargestellt neu zu surrealen Bildern
gruppiert werden. Diese Bilder sehen für mich aus, wie utopische (oder oft auch dysto-
pische) Städte aus einer nicht sehr fernen Zukunft oder Vergangenheit. Als Science-
Fiction Fan haben die Bücher von Philip K. Dick und die Vorstellung von Geräten oder
Androiden, die von utopischen oder dystopischen Landschaften, Städten oder Realitä-
ten träumen, meine Vorstellungskraft schon immer maßgeblich beeinflusst.

Abbildung 3: Ein über ArchXtonic generiertes Einzelbild.

Fazit
Dieser Prozess der Videoanalyse ist wegen seines enormen Zeitaufwands noch nicht
abgeschlossen. Dennoch habe ich bereits ausreichend Informationen gesammelt, um
endlose Stunden neuer Videoerzählungen ohne sich wiederholende Elemente generie-
ren zu können. Ich habe jedoch keine Kontrolle über den Prozess, da der Computer, wie
von Flusser (2000) antizipiert, derjenige ist, der die gesamte Erzählung steuert.
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In seiner aktuellen Entwicklungsphase verfügt der Algorithmus von ArchXtonic noch


nicht über einen ausreichend fortgeschrittenen semantischen Einblick, um genaue Ent-
scheidungen über die Position der verschiedenen Elemente zu treffen, die eine Szene
gestalten. Das bedeutet, dass der Algorithmus Personen, Autos, Bäume, Gebäude usw.
erkennt, weil jeder Gegenstand in der Datenbank diese Informationen enthält. Damit
diese Elemente jedoch kohärent miteinander interagieren können, müsste eine neue
und fortgeschrittenere Ebene semantischer Beziehungen aufgebaut werden, welche
Wechselbeziehungen zwischen allen Arten von Komponenten herstellt. Während ich
damit zufrieden bin, wie der Algorithmus seine ästhetischen Entscheidungen trifft,
würde eine ausgefeiltere semantische Schicht durch ein Verfahren, das ein solches
neuronales Netzwerk verwendet, welches darauf trainiert ist, urbane Szenarien zu er-
stellen, neue Horizonte für die Forschung eröffnen. Es könnte auch für die dynamische
und automatisierte Konstruktion von Szenarien in Videospielen oder Virtual-Reality-
Umgebungen verwendet werden. Die Entwicklung dieser Art von Intelligenz ist somit
mein nächstes Ziel für dieses dauernde Projekt.

Letztendlich geht es bei ArchXtonic darum, neues Wissen durch künstliche Intelligenz
mit einer auf künstlerischer Praxis basierenden Methodik zu produzieren und Schnitt-
stellen zur Wissenschaft herzustellen, da Erkenntnistheorie, Wissenschaft und Kunst
nicht nur in ihren spezifischen Domänen behandelt werden können.

Wenn wir die Wissenschaft aus der Kunstperspektive betrachten, bemerken wir in der
Wissenschaft einen fiktiven Aspekt, der oft ignoriert wird. Erst durch die Konstruktion
neuer, nicht abgeschotteter Horizonte, frei von den Barrieren der Linearität, offenbaren
sich komplexere Zusammenhänge. Die Wissenschaft sucht nach der Wahrheit, aber es
ist die Vorstellungskraft, die eine zentrale Rolle beim Aufbau neuen Wissens spielt. Die
Wissenschaft will Wahrheiten offenbaren, und sie erfindet sie auch.

Da die Kunst die Mechanismen der Erfindung kennt, ist es kein Geheimnis, wie viel Er-
findung in der Wissenschaft steckt. Genau das ist das Problem der Wissenschaft aus
Sicht der Kunst, denn während die Wissenschaft versucht, die Wahrheit herauszufin-
den, verdeckt sie diese. Aus Sicht der Wissenschaft ist auch das Problem der Kunst klar,
denn Kunst ist für die Wissenschaft Fiktion. Die beiden sind einander zugewandte Spie-
gel, die sich gegenseitig zeigen. Für mich besteht die große Herausforderung von Ar-
beiten wie ArchXtonic darin, eine kreative Methodik aufzuzeigen, die von der Strenge
und den Schwächen beider Bereiche profitiert.
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In einer immer komplexer werdenden Welt kann ich sagen, dass die wichtigste Lehre,
die mich die praxisorientierte Forschung gelehrt hat, darin besteht, dass es wissen-
schaftliche Methoden gibt, um die sich ständig verändernde Realität zu akzeptieren. In
meinem konkreten Fall ermöglicht mir das fiktive Modell der Kunst neue Erkenntnisse
zu gewinnen, die ihren Weg in die Praxis finden und weitere theoretische Diskussionen
fördern. Die Verbindung aus praxisbezogener Forschung, Kunst und Technologie bietet
mir das ideale Szenario für spielerisches Experimentieren mit wissenschaftlicher
Strenge.

Literaturverzeichnis
Flusser, V. ,Towards a Philosophy of Photography. London: Reaktion books, 2000.

James, W. Pragmatism. Mineola: Dover Publications, 1995.

Mcgrayne, S. The Theory That Would Not Die: How Bayes’ Rule Cracked the Enigma
Code, Hunted Down Russian Submarines, and Emerged Triumphant from Two Centu-
ries of Controversy. New Haven: Yale University Press, 2012.

Menand, L., Pragmatism: A Reader. New York: Vintage, 1997.

Peirce, C. S., Philosophical Writings. Mineola: Dover Publications, 1986.

Poltronieri, F., Communicology, Apparatus, and Post-History: Vilém Flusser’s Concepts


Applied to Video games and Gamification. In: Mathias Fuchs, Sonia Fizek, Paolo Ruffino,
Nicholas Schrape, Rethinking Gamification. Lüneburg: meson press, 2014.
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UNTITLED: Eine Übung zur (Un-) Übersetzbar-


keit poetischer Materie

GRAZIELE LAUTENSCHLAEGER, VALIE EXPORT CENTER LINZ

Für die Nutzung von Künstlicher Intelligenz ist es wichtig, deren Fehlbarkeit
wahrzunehmen. Gerade in den Bereichen der Kunst zeigt sich der Unterschied
zwischen menschlicher und künstlicher Kreativität, denn die für einen Menschen
offensichtlichen Nuancen, beispielsweise in der Poesie, können wegen der
grammatischen Limitation von Algorithmen zu keiner angemessenen Überset-
zung finden, und auch die bildliche Assoziation einer KI ist weit entfernt von
dem, was ein poetischer Vers für den kreativen menschlichen Geist bedeuten
kann – wie in der kollaborativen Arbeit „Untitled“ verdeutlicht wird

Was ist „Untitled“?

In einem medienübergreifenden Übersetzungsexperiment nahmen die Künst-


ler:innen Graziele Lautenschlaeger, Fabrizio Poltronieri und Radamés Ajna das
Gedicht von Ferreira Gullar „Traduzir-se“ (auf Deutsch: ‘Sich-Übersetzen’) zur
Grundlage, um herauszufinden, welche Interpretationen öffentlich verfügbare
KI-Lösungen generieren würden. Dabei wurde das Gedicht mittels eines popu-
lären Übersetzungstools in diverse Sprachen übersetzt, wodurch sich erstaunli-
che Unterschiede ergaben. Als weitere Komponente wurde über Datenbankex-
traktion ermittelt, welche aktuellen bildlichen Assoziationen zu den Versinhal-
ten des Gedichts im Internet kulturübergreifend vorzufinden sind. Auch hier sind
die Ergebnisse disparat. Original und Übersetztes driften in verwunderliche Ext-
reme auseinander.

Eine rein visuelle Version der Arbeit wurde von Radamés Ajna allen am Resultat
Interessierten zur Verfügung gestellt:
https://ou.lc/traduzirse/

Künstliche Intelligenz (KI) ist eines der aktuellen Schlagworte im Zusammenhang mit
technologischer Entwicklung und finanziellen Ressourcen für kreatives Arbeiten. Es
lohnt sich, mit der enormen Vielfalt seiner Anwendungen kritisch auseinanderzusetzen,
insbesondere angesichts der Tatsache, dass beide Begriffe „künstlich“ und „Intelli-
genz“ in den meisten Fällen erhebliche historische und epistemologische Unschärfen
beinhalten. Um nur ein Beispiel zu geben, macht es die Trennung zwischen Natur und
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Kultur fraglich, inwieweit die maschinelle „Intelligenz“ der eigentlich menschlichen In-
telligenz gleicht.

Das Gebiet der Kunst spielt eine wichtige


Rolle bei der Aufdeckung der vielfältigen Wi-
dersprüche, die zusammen mit den utopi-
schen und dystopischen Szenarien verfloch-
ten sind, die solche Versprechen des Wan-
dels grundlegender Rahmenbedingungen
beinhalten, welche inmitten der Techniken
der künstlichen Intelligenz gebracht werden.
Die Beispiele dafür, wie KI in Kunstwerken
eingesetzt wird, legen häufig neue und be-
drohlich ästhetische Ergebnisse frei. Sie ver-
weisen zugleich auf die maschinellen, para-
doxen und letztlich erfolglosen Resultate ei-
ner Technik, die um Optimierung und Effizi-
enz bemüht ist, wenn es darum geht, dem
echten Leben ähnelndes Verhalten zu gene-
rieren. Der Kurzfilm Recoding Art (2018) des
Künstlers Bruno Moreschi und des Medien-
Abbildung 1: Screenshot des Films“ Recoding forschers Gabriel Pereira ist ein Beispiel dafür,
Art“ (2018), in dem ein KI-basiertes Computer-Vision-
System Mondriaans Kunstwerk mit einem TV monitor diese Diskussion anzustoßen. Der Film rollt
verbindet.
ein Experiment auf, das Moreschi und Pereira
mit der Van Abbemuseum-Sammlung (Eindhoven, NL) entwickelt haben, indem sie die
Sammlung durch kommerzielle Bilderkennungs-KI von führenden Technologieunter-
nehmen lesen ließen. Das Projekt zeigte, wie KI-basiertes Computersehen durch ein
produktorientiertes Lesen der Welt beeinflusst wird, und verdeutlicht dabei die unge-
übten Augen der KI, wenn es um andere Werte außerhalb marktorientierter Objekte
geht oder auch wenn es um für abstraktere und beziehungsbezogene Objekte geht.

Basierend auf den Ideen des Medienphilosophen Vilém Flusser möchte ich in diesem
Artikel die Aufmerksamkeit der Leser:innen auf Kunstwerke als Transkreationen lenken
und in einem zweiten Schritt die Implikationen des Einsatzes künstlicher Intelligenz in
übersetzungsbasierten Medienkunstwerken ansprechen, wofür ich das Experiment
„Untitled“ als diskussionswürdiges Beispiel verwende.
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Digitale Medien und die Übersetzung von Materialitäten


Wir versuchen (Medien-)Kunstwerke über den Begriff der Übersetzung von materiellen
Beschaffenheiten zu verstehen. Dafür müssen wir auf die Beschaffenheit digitaler Me-
dien zurückgreifen: den elektrischen Strom. Die menschliche Manipulation von elektri-
schem Strom als Quelle des Informationsaustauschs bedeutet die Manipulation von
Materie in einem für menschliche Wahrnehmungssysteme unzugänglichen Maßstab.
Dies veranlasste Flusser dazu, die Diskussionen über elektronische und digitale Medien
durch ihre „Nulldimensionalität“ zu umschreiben, wo speziell entwickelte Software die
Manipulation von Materie auf atomarer Ebene erlaubt. Dies wiederum ermöglicht die
Schaffung neuer Materialien, die Verbesserung bestehender Materialien und steigert
die Möglichkeiten der Kombination und Rekombination zwischen technischen Gruppen.
Darüber hinaus ermöglicht der elektrische Strom als kleinster gemeinsamer Nenner der
organischen Elemente und der künstlichen elektronischen Geräte den Medienkünst-
ler:innen, sogenannte hybride Medienkunstwerke zu schaffen.

Um konkreter darauf einzugehen, wie Flussers Idee der „Nulldimensionalität“ der Elekt-
rizität und ihrer Modulationen das ermöglicht, was hier „die Übersetzung von Materia-
litäten“ genannt wird, kehren wir zum Beispiel von Recoding-Art zurück und versuchen
die Technik dahinter zu verstehen. Digitalkameras, die in Computer-Vision-Systemen
verwendet werden, empfangen Lichtvariationen in ihren Bildsensoren, und es wird ein
Fluss von Spannungsänderungen erzeugt, der dann von der Maschine auf eine be-
stimmte Weise gelesen wird, die ihn als Ausgabe in einen Bildfluss umwandelt. KI-
Algorithmen, die bei diesen Bildern angewendet werden, setzen das Bild, auf das sie
stoßen, mit anderen markierten Bildern aus Datenbanken in Beziehung und vergleichen
es mit ihnen. Je größer der Datensatz ist, desto größer sind die Chancen auf eine genaue
Übereinstimmung zwischen einer visuellen Eingabe und einer sprachlichen Ausgabe –
einer von Menschen gesteuerten maschinellen Bild-zu-Wort-Übersetzung. (Man muss
immer daran denken, dass es Menschen sind, die Algorithmen codieren und die Bilder
taggen.) Daher können Experimente mit digitaler Technologie und KI als Erweiterung
der menschlichen Übersetzungsmöglichkeiten betrachtet werden. In diesem Sinne sind
das Kunstschaffen und die damit verbundenen Erzählungen ein Übersetzungsprozess,
der die Suche nach Korrespondenzen (Überlappungen) zwischen Empfindungen, Ideen,
Bedürfnissen etc. und speziell organisierten konkreten Materialien, die speziell über-
tragen, entworfen, entwickelt, komponiert/komponiert sind, beinhaltet.

Ein Begriff, den Flusser verwendet, um zu bekräftigen, wie sich menschliche Überset-
zungstätigkeit in der Medienentwicklung manifestiert, ist sein Konzept von Medi-
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umsprüngen: der Akt des Springens von einem Medium zum anderen, also von der Lo-
gik eines Systems zum anderen. Zwischen einem System und einem anderen begegnet
man einer Leere, auf die der Mensch reagiert, indem er das Paradox zwischen Freiheit
und Willkür ausübt. Wir markieren ein Bild aus den unendlichen Möglichkeiten, die wir
haben, und sobald wir das tun, schließen wir subjektiv und willkürlich alle anderen
Möglichkeiten aus.

Zur aporetischen Bedingung der Übersetzbarkeit stellt Flusser fest, dass „Übersetzung
möglich ist (so sagt es unsere Theorie), sofern es für die Sprache, in die und aus der wir
übersetzen, eine Metasprache gibt, die beiden gemeinsam ist“. Sind Elektronik, Codie-
rung und Programmieren nicht die Metasprache, nach der sich die Menschheit seit dem
Turmbau zu Babel sehnt?

Da es theoretisch möglich ist, mithilfe digitaler Medien Korrespondenzen zwischen be-


liebigen physikalischen oder chemischen Phänomenen nach Art von Ein- und Ausgän-
gen herzustellen, stellt sich die Frage, wie solche Korrespondenzen in KI-basierten Me-
dienkunstwerken hergestellt werden können. Was muss dabei zum Ausdruck gebracht
werden, damit es die derzeitigen Investitionen an Zeit, Energie und Ressourcen recht-
fertigen könnte, die man braucht, um Inhalt A in Inhalt B zu übersetzen?

In Anbetracht der Tatsache, dass jede Übersetzung, egal wie wörtlich oder frei sie ist,
immer einen interpretativen Akt darstellt, der von einem Subjekt ausgeführt wird, sind
die genannten Fragen Leitlinien dafür, zu reflektieren, ob sich Künstler:in und Publikum
der willkürlichen Auswahl und der vielfältigen Natur der Materialien und Methoden
(technisch, ästhetisch, symbolisch, usw.) bewusst sind, die in KI-basierten transkreati-
ven Prozessen und Medienkunstwerken verwendet werden.

Untitled: Digitale Medien als Metasprache?


Die Menschheit ist es eher gewohnt, technologische Artefakte als möglichen Ersatz für
ihre eigene Spezies bei einer Reihe von Aufgabenerfüllung zu fürchten, anstatt sie als
potenzielle Unterstützung zu betrachten, insbesondere dann, wenn es um Fragen der
Arbeit geht. Das transmediale Übersetzungsexperiment, das wir „Untitled“ (2019)
nannten, bezweifelte die Tatsache einer universellen Metasprache in den Medien, und
setzte dem ein System gegenüber, das konstruiert wurde, um die „Effizienz“ der derzeit
verfügbaren populären Übersetzungstools zu nutzen und dabei zu untersuchen, wel-
che Grenzen KI-Modellen und maschinellen Fehlern in Bezug auf ästhetische Kontexte
und multimodale Übersetzungen gesetzt sind.
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 73

Das Experiment begann mit Ferreira Gullars Gedicht „Traduzir-se“ (1980), einer exis-
tenziellen lyrischen Übung, die Metaphern einer gespaltenen Subjektivität artikuliert
und die Übersetzung des Selbst als Kern der Kunstpraxis nahelegt. Die künstlerische
Installation bestand darin, neu gemischte audiovisuelle Ausschnitte zu projizieren.
Diese wurden von einer Übersetzungsmaschine generiert, die das Drehen von Tags,
Bildern und Tönen im Zusammenhang mit den Versen von Gullars Gedicht initiierte.
Die Tags, Bilder und Töne wurden aus Datenbanken extrahiert und von KI-trainierten
Modellen artikuliert. Die Besucher:innen konnten die Verse des Gedichts in verschiede-
nen Sprachen - in Portugiesisch (Originalversion), Englisch, Französisch, Deutsch, Ja-
panisch und Spanisch - auswählen und die völlig unterschiedlichen audiovisuellen Er-
gebnisse für denselben Vers in den anderen Sprachen betrachten.

Inspiriert von einem erweiterten Begriff konkreter Poesie und von der von Gullar be-
gründeten Neo-Concrete-Bewegung beschäftigt sich die Installation mit semantischen
Netzwerken, die sich abstrakten Konzepten nähern, die wiederum im Wesentlichen mit
der menschlichen Wahrnehmung verbunden sind, wie z. B. Emotionen, Empfindungen
usw., also existentielle und subjektive Aspekte, die häufig schwer zu beschreiben, zu
kategorisieren und zu taggen sind. Der Name „Untitled“ verweist gleichzeitig auf die
unendlichen Wiedergabemöglichkeiten, die dabei entstehen, und auch auf die Frustra-
tion, die sich einstellt, weil die zum Scheitern verurteilten Übersetzungen kaum seman-
tische Brücken zum ursprünglichen Gedicht schlagen.

Abbildung 2: Screenshot von Untitled (2019) mit portugiesischer Originalversion des Gedichts ‘Traduzir-se’ von Ferreira Gullar,
mit Hervorhebung des Verses „se espanta“.
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 74

Untitled wurde für den Mittelstand-Digital Kongresses entwickelt, der 2019 unter dem
Motto „Vertrauen & Neugier“ in Berlin stattfand. Die technische Grundlage war der
Google-Übersetzer, eine hochmoderne Technologie zur Textübersetzung, kombiniert
mit der fortschrittlichen Youtube-Technologie zur Verknüpfung von Wörtern, Bildern
und Tönen. Durch das Einüben einer multimodalen Sprachübersetzungstechnik, die mit
der durch digitale Medien ermöglichten Konvergenzkultur einherging, führte Untitled
dann die Suche in jeder Sprache durch, wobei die Begriffe jeder Zeile zusammengeführt
wurden.

Trotz der fortschrittlichen Technologie hinter KI-basierten Übersetzungsmaschinen wie


Google, sind Abweichungen über funktionale Übersetzungen hinaus, wenn es um die
Übersetzung von Gedichten geht, offensichtlich, ähnlich wie das, was Moreschi und
Pereira im Kontext der bildenden Kunst in dem zuvor erwähnten Film Recoding Art
zeigten. Folgendes Beispiel soll dies verdeutlichen.

In Untitled lassen sich die fehlgeleiteten maschinellen Ergebnisse direkt am Titel von
Ferreira Gullars Gedicht erkennen, nämlich durch die poetische Verwendung des por-
tugiesischen Verbs „traduzir“ (dt. „übersetzen“) in reflexiver Form (durch das Hinzufü-
gen des Partikels „-se“). Dies war eine Art Wortschöpfung, also „die Übersetzung des
Selbst“, die in den maschinellen Übersetzungen nicht weiter übernommen wurde,
wahrscheinlich weil diese grammatikalische Form auch in den entsprechenden Spra-
chen fehlt.

Man kann die Übersetzungsprobleme innerhalb der Installation Untitled auch aufzei-
gen, indem man einfach diejenigen Begriffe analysiert, die von der maschinellen Über-
setzung von Google in einem Fragment übernommen wurden: „Uma parte de mim /
almoça e janta / outra parte / se espanta“. Eine wörtliche Übersetzung dieser Verse
könnte lauten: „Ein Teil von mir / isst zu Mittag und zu Abend / der andere / erstaunt
sich selbst“ – was einen Kontrast zwischen gewöhnlichen Aufgaben und überraschen-
den Ereignissen ausdrückt. Interessanterweise entfernen die maschinellen Überset-
zungen wiederum die Reflexivität des poetischen Subjekts: Aus dem ursprünglich por-
tugiesischen Ausdruck „se espanta“ (sich erstaunt) erhält man auf Deutsch „erstaun-
lich“ (Abb. 3) und „amazing“ auf Englisch (Abb. 4), wie es in den folgenden Screenshots
erkennbar ist:
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 75

Abbildung 3: Screenshot von Untitled (2019) mit der deutschen Version des Gedichts ‘Traduzir-se’ (1980) von Ferreira Gullar,
mit Betonung des Verses/Begriffs „Erstaunlich“.

Abbildung 4: Screenshot von Untitled (2019) mit der englischen Version des Gedichts ‘Traduzir-se’ (1980) von Ferreira
Gullar, mit Hervorhebung des Verses/Begriffs „Amazing“.

Hier wird nicht nur die Rekursion als syntaktische Funktion der Wörter geändert, son-
dern wir erhalten auch aus dem Verb „se espantar“ in den entsprechenden Redewen-
dungen zwei (unterschiedliche) Adjektive: „erstaunlich“ und „amazing“. Es ist nicht nö-
tig, den Wert oder die Richtigkeit der gewählten Begriffe in der Übersetzung zu analy-
sieren, um zu erkennen, wie die Ouvertüre des poetischen Sprachgebrauchs erhebliche
Probleme im Übersetzungsprozess verursacht, nicht nur in Bezug auf ihre wörtliche
Bedeutung, sondern auch in ihrer Ästhetik und affektiven Macht. Die Verwendung an-
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 76

derer getaggter Medien (bewegter Bilder und Audiofragmente), die durch einen Brenn-
modus/Multiplikationseffekt in Untitled zusammengeführt werden, erhöht die Prob-
leme exponentiell und treibt das Übersetzungssystem zu einer chaotischen Assoziati-
onsmaschine, die das Publikum dazu bringen kann (oder auch nicht), eigene Bedeu-
tungsassoziationen zu kreieren, die mit der ursprünglich übersetzten Poesie nicht mehr
zusammenhängen. Sobald die neue Poesie im Wesentlichen innerhalb des Subjekts
durch ihre/seine Erfahrung entsteht, verliert die ursprüngliche Poesie entlang der Inter-
aktion vollständig ihre Relevanz und ist Auslöser einer unbekannten ästhetischen Er-
fahrung.

Darüber hinaus ist es in diesem Zusammenhang angebracht, sich an die Bemerkung


der Künstler George Lakoff und Mark Johnson zu „Metaphors we live by“ (1980) zu
erinnern, worin sie sagen, dass „es keine Chomskyaner gibt, für die Sprache reine Syn-
tax ist - reine Form, isoliert und unabhängig von jeglicher Bedeutung, Kontext, Wahr-
nehmung, Emotion, Erinnerung, Aufmerksamkeit, Handlung und der dynamischen Na-
tur der Kommunikation."

Untitled war eine Übung zum Paradoxon der (Un-)Übersetzbarkeit poetischer Materie.
Sie nähert sich dem künstlerischen Schaffen spielerisch als Übersetzungsprozess. So
hält es auch die Sensationstheorie von Fernando Pessoa fest: „(1) Jedes Objekt ist eines
unserer Gefühle; (2) Jede Kunst ist eine Umwandlung eines Gefühls in ein Objekt; (3)
Daher ist jede Kunst die Umwandlung eines Gefühls in ein anderes Gefühl.“ In Anbe-
tracht der Komplexität des Übersetzungsprozesses innerhalb des künstlerischen Um-
felds, zeigt die Arbeitsweise von Untitled, dass Transkreationen geradezu zum Verrat
verurteilt sind, was oft eine künstlerische Strategie darstellt, um die erfinderische Di-
mension von Übersetzungen zu erforschen und auch ein Mittel ist, um Neues zu errei-
chen.

In diesem Sinne ist der Einsatz von KI in transkreativen Medienkunstwerken nur ein
weiteres verfügbares Werkzeug auf der Suche nach dem Unheimlichen, Unbekannten,
Unvorhergesehenen. Die abweichenden Übersetzungen prangern die maschinellen
Beschränkungen an und wieder einmal ist KI abhängig von menschlichen Entscheidun-
gen, was die Verantwortung betrifft, Fehler zu integrieren, im Sinne von Lärm, für ge-
wünschte ästhetische und ethische Ergebnisse, somit immerwährend auf der Suche
nach Neuen und die Zunahme der Vielfalt (Diversität).
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Verbleibende Fragen
Der vorliegende Text ist nur ein kleiner Einblick in die Möglichkeiten und Grenzen der
KI-Technologie, Medienkunstwerken unter Berücksichtigung der Übersetzung von Ma-
terialitäten als transkreative Prozesse zu verstehen und auszugestalten.

Unabhängig von verwendeter Technik und Methode ist es notwendig zu identifizieren,


was wert ist, übersetzt zu werden, warum das so ist und vor allem wie es gemacht
wird, um die Bedeutung zeitgenössischer Medienkunst zu erfassen. Wir laden die Le-
ser:innen ein, über folgende Fragen nachzudenken: Was hat KI-basierte Kunst kreativ
beigetragen, abgesehen davon, skrupellose, unethische, reduktionistische Übersetzun-
gen anzuprangern? Und selbst wenn man den zufälligen Übersetzungen keine kultu-
relle Relevanz beimisst: Wie groß ist die Fähigkeit dieser Übersetzungen, sinnvolle Di-
aloge für die Produktion und den Austausch von Wissen anzustoßen?

Angesichts der geschilderten Umstände besteht die größte Herausforderung für


Künstler:innen, die mit KI-Technologie arbeiten, darin, Wege zu finden, ihre Ideen, Kon-
zepte und/oder Empfindungen in die Materialitäten zu übersetzen, mit denen sie arbei-
ten. Diese These ist innerhalb der Kunst nicht neu, aber die zunehmende Komplexität
der Kunstwerke erfordert eine proportional erhöhte Aufmerksamkeit für die Steuerung
des Übersetzungsprozesses.

Literaturverzeichnis
Flusser, Vilém. O universo das imagens técnicas: elogio da superficialidade. (São Paulo:
Annablume 2008).

______. Da tradução. IN Cadernos Brasileiros n. 49 Sep./Okt. 1968. S. 74-81.


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Guldin, Rainer. Pensar entre línguas: A teoria da tradução de Vilém Flusser, São Paulo:
Annablume, 2010.

Lautenschlaeger, Graziele. Sensing and making sense: Photosensitivity and light-to-


sound translations IN Media Art, Bielefeld: transcript 2020.

Moreschi, Bruno; Pereira, Gabriel. Artificial intelligence and institutional critique 2.0: un-
expected ways of seeing with computer vision. IN AI & SOCIETY Issue 4, vol. 36. 2021,
S. 1201-1223.

O´Sullivan, Carol. Introduction: Multimodality as challenge and resource for translation.


IN The journal of specialized translation. Ausgabe 20.07.2013.
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Die menschlichen Sinne als Designmaterial


für erklärbare Künstliche Intelligenz
Ein Plädoyer für menschzentriertes Design von Produkten und Services mit
Künstlicher Intelligenz durch den Einbezug menschlicher Sinne

ALEXANDRA MATZ, SAP SE DEUTSCHLAND

Die Intelligenz steckt in einer Milli-


Wie Künstliche Intelligenz im Bereich arde Zahlen, die man auslesen
Design den Menschen heute und künftig kann. Aber was bedeuten sie? Dies
prägt, ist wichtig, wenn es darum geht, hat für uns Menschen keine intui-
Lösungen anzustreben, die mit dem tive Bedeutung [...]. Man kann am
Menschen und für den Menschen ge- Ergebnis sehen, es hat gut funktio-
schaffen werden. In der Technologie-
niert. Aber warum sie [die KI] es so
Entwicklung von Design spielt dabei die
gemacht hat, kann man nicht er-
Einbindung menschlicher Sinne eine
große Rolle. Design ist auf den ganzen kennen.
Menschen zentriert. Eine erfolgreiche KI Prof. Dr. Hannah Bast
muss demnach die Integration möglichst
vieler Dimensionen von Erfahrung leisten
und sollte schon heute stärkere Anwen-
Künstliche Intelligenz (KI) hat mitt-
dung finden.
lerweile in den verschiedensten
Bereichen der Industrie, des Han-
dels, der Medizin oder Forschung
sowie in vielen Disziplinen der Kunst und des Designs Einzug gehalten. Während die
ersten wissenschaftlichen Grundlagen der KI bereits Mitte des letzten Jahrhunderts ge-
legt wurden, hat sich der Fortschritt dieser Technologie erst in den 2000er Jahren gra-
vierend beschleunigt. Das Ziel aller KI hat der Neurowissenschaftler David C. Marr
(1977) schon sehr früh beschrieben: das Betrachten und Lösen komplexer Rechen-
probleme, anhand von Methoden, die diese Probleme betrachten und – folgend – die
Erstellung von Algorithmen, welche diese Methoden einsetzen, um das Problem in ei-
ner automatisierten Weise zu lösen.

Durch die Entwicklung von immer leistungsfähigeren Rechnern, dem Erfolg neuer Al-
gorithmen, dem Einsatz zunehmend kleinerer, genauerer und empfindlicherer Sensoren
(z. B. Bildsensoren in Kameras, Fahrzeugen, Messtechnik oder Medizintechnik) und der
allgemeinen Vernetzung von digitalen Produkten und Dienstleistungen (Services), er-
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 80

geben sich immer neue Anwendungsfelder für KI. Beispiele hierfür sind die Fertigungs-
steuerung oder –wartung, Entwicklung und Betrieb (teil-) autonomer Fahrzeuge oder
Fluggeräte, wissenschaftliche und medizinische Fachbereiche wie z. B. die Krebsfor-
schung, oder intelligente Sprachsysteme und Bots (auch „Conversational User Inter-
faces“ genannt). Auch in Kunst und Design hat KI Einzug gehalten. So werden bei-
spielsweise im Textildesign inzwischen über KI moderne Färb- und Druckmuster auf
Basis von Daten aus bevorzugten Mustern junger Menschen generiert, die es traditio-
nellen Handwerksbetrieben ermöglichen, durch die Ansprache dieser Zielgruppe ihre
Existenz zu sichern (Raviprakash et al. 2019).

Dieser Artikel hat nicht zum Ziel, die detaillierten technischen und mathematischen Zu-
sammenhänge der KI zu beschreiben. Er will, im Rahmen von menschzentriertem De-
sign, Möglichkeiten aufzeigen, um über die Ansprache der menschlichen Sinne die Da-
ten und Ergebnisse der KI für die Benutzer KI-basierter Produkte und Services verständ-
lich zu machen. Dennoch ist es wichtig, eine Abgrenzung dreier wichtiger Hauptbegriffe
voranzustellen, die im Sprachgebrauch häufig vermischt werden (Laura Ferrarello
2021, Applied AI Design. Vorlesung, Royal College of Art, London. Dezember 2021):

Künstliche Intelligenz (KI):

KI ist ein Sammelbegriff, der sowohl die künstliche, menschenähnliche Intelligenz in


Maschinen der Robotik wie auch die des maschinellen Lernens umfasst (Goodfellow et
al. 2016, S. 9). Letzterer Aspekt – das maschinelle Lernen – steht im Fokus dieses Ar-
tikels.

Maschinelles Lernen (ML):

ML ist also eine Ausprägung der KI und beschäftigt sich mit Software-gestützten und
auf Algorithmen basierenden Techniken. Mithilfe dieser können große Datenmengen
analysiert werden, z. B. um aus diesen Daten wiederkehrende Muster ermitteln und
Vorhersagen für zukünftige Ereignisse liefern zu können, oder aus diesen Datenmen-
gen neue Erkenntnisse und somit neues Wissen zu generieren (Raj und Seamans 2019).

Deep Learning (DL):

Deep Learning Modelle (DL), sind eine Unterkategorie von ML. Sie basieren auf künst-
lichen neuronalen Netzen und imitieren die Funktionsweise des menschlichen Gehirns.
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 81

DL Modelle werden auch als „Black-Box“ (Holzinger 2018) beschrieben, da nicht er-
kennbar ist, auf Basis genau welcher Methoden und Kriterien die DL Algorithmen (von-
einander) lernen und sich so selbst erweitern.

Mit der exponentiellen Entwicklung der KI ergeben sich jedoch neue Problemfelder. So
bedarf es Überlegungen hinsichtlich der sozialen und ethischen Konsequenzen bei der
Sammlung und Interpretation, sowie bei der Nutzung dieser Daten und Ergebnisse. Be-
troffen sind z. B. Aspekte des Datenschutzes oder die Gefahr von künstlich generierten
Vorurteilen auf Basis fehlerhafter oder voreingenommener Datensätze (Galdon et al.
2020).

Obwohl KI eine komplexe Technologie ist, können ‚simplere‘ ML-Modelle Rechenwege


nutzen und Ergebnisse liefern, die – entsprechend aufbereitet – für Menschen durchaus
noch nachvollziehbar sind. Dagegen sind die Rechenwege und Resultate von Deep
Learning Modellen (DL) für Menschen meist nicht mehr nachvollziehbar. Die bruch-
stückhafte oder gänzlich fehlende Nachvollziehbarkeit und Erklärbarkeit der von einer
KI vorgelegten Ergebnisse, und wie diese für den Menschen aufbereitet werden, ist ein
eigener Forschungsbereich innerhalb der KI. Dieser Bereich der „Erklärbaren Künstli-
chen Intelligenz“ (Explainable AI, XAI) wurde in den letzten Jahren aufgrund der starken
Durchsetzung vor allem des ML in allen Bereichen des Lebens immer wichtiger. Denn
immer mehr Menschen werden in ihrer Arbeit mit ML-generierten Daten und Ergebnis-
sen konfrontiert – ob Programmierer:innen, Data Scientists, Designer:innen oder die
Anwender:innen der KI-gestützten Produkte oder Services.

Nicht alle Beteiligte im Prozess des Designs und der Entwicklung von KI-basierten
Systemen müssen Data Scientists sein oder ML-Algorithmen programmieren können,
dennoch müssen sich alle mit den Prinzipien, Funktionsweisen und Hintergründen so-
wie Risiken der KI auseinandersetzen. Sie sollten es als Chance sehen, mit KI und XAI
ein neues Designmaterial zur Hand zu haben, das einzigartige Möglichkeiten zur Ge-
staltung für neue, intelligente, menschzentrierte und faire Anwendungen bietet (Holm-
quist 2017; Engenhart und Loewe 2020).

Der Vorteil von ML-basierten Systemen liegt in der Automatisierung von wiederkeh-
renden Aufgaben und der Verarbeitung und Analyse von enormen, für Menschen nicht
handhabbaren Datenmengen. In vielen Fällen wird für diese Datenverarbeitung keine
Interaktion von Menschen mehr benötigt (Holzinger 2018). Für die Fälle jedoch, in de-
nen Menschen mit ML-generierten Daten und deren Ergebnissen arbeiten, es also um
Interaktionen zwischen Mensch und Maschine geht, werden für die Darstellung der Er-
gebnisse des ML vorwiegend visuelle Informationen verwendet (Adadi und Berrada
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 82

2018). Anwendungen wie Frühwarnsysteme z. B. in Flugzeugen oder autonomen Fahr-


zeugen unterstützen ihre Benutzer:innen eventuell noch mit zusätzlichen Sprachansa-
gen oder akustischen (Warn-) Signalen. Menschen nutzen allerdings eine Kombination
oder alle ihre Sinne, um ein Verständnis von den Informationen und der Welt um sie
herum zu erlangen oder Neues zu erlernen, so auch z. B. den Tast- oder Riechsinn.
Diese Sinne sind jedoch bisher in der Gestaltung und im Design der ML-Kommunikation
an AnwenderInnen unterrepräsentiert. Dieser Artikel zeigt auf, warum speziell bei der
Gestaltung zukünftiger KI-Produkte alle menschlichen Sinne einbezogen werden soll-
ten und liefert Anregungen und Ideen dazu, wie das geschehen kann.

Erklärbare Künstliche Intelligenz (XAI)


Künstliche Intelligenz und der Bedarf der Erklärbarkeit ihres Handelns, ihrer Auswir-
kungen und Ergebnisse

Das Ziel der XAI ist es, Modelle, Methoden und Werkzeuge zu entwickeln, die es er-
möglichen, KI-Systeme und deren Ergebnisse besser zu verstehen und zu interpretie-
ren (Samek et al. 2021, S. 248). Derzeit kann die Kommunikation zwischen KI und dem
Menschen dahingehend beschrieben werden, dass die KI, durch die Betrachtung, Aus-
wertung und ggf. auch Extrapolation von (sehr) großen Datenmengen, dem Menschen
ein Ergebnis (z. B. einen Datensatz, eine Handlungsanweisung, eine Verlaufsprognose,
etc.) anbietet. In dieser Interaktion mit Maschinen oder KI stehen für Menschen oftmals
Fragen des Vertrauens an erster Stelle und bilden daher eine der zentralen Fragestel-
lungen der XAI (Galdon et al. 2020). Beispiele dieser Fragen sind:

• Warum wurde eine Empfehlung des Systems genau in dieser Art und Weise
gegeben?
• Auf welcher Wahrscheinlichkeit basiert eine bestimmte Vorhersage?
• Welche Daten wurden für das Ergebnis oder die Vorhersage verwendet?
• Was passiert mit den durch Anwender:innen angestoßenen Korrekturen der von
der KI vorgeschlagenen Daten oder Ergebnisse?

Um derartige Fragen beantworten zu können oder gar nicht erst aufkommen zu lassen,
müssen die dem ML zugrundeliegenden Modelle von Menschen verstehbar und erklär-
bzw. interpretierbar sein (Adadi und Berrada 2018, S. 52153). Verstehen geht über das
bloße Erkennen und Wahrnehmen hinaus, es ist die gesamte „intellektuelle Erfassung
des Zusammenhangs (Context)“ eines Sachverhaltes. Erklärbarkeit (die Interpretation)
beinhaltet das Verständnis von Ursache und Wirkung (Kausalität) in kommunikativer,
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 83

z. B. sprachlicher Form (Holzinger 2018, S. 139). Verständliche und erklär- bzw. inter-
pretierbare Information gibt Menschen, neben dem Gefühl des Vertrauens in die Rich-
tigkeit von Daten und Ergebnissen auch das Gefühl, noch eine Möglichkeit zum Eingrei-
fen oder der Korrektur dieser zu haben – das Gefühl der Kontrollmöglichkeit ist für Men-
schen essenziell (Schmidt 2020, S. 1). Dieses Einbeziehen des Menschen in die KI er-
öffnet weitere Möglichkeiten für die Zusammenarbeit von Mensch und Maschine, z. B.
das maschinelle Lernen angereichert durch von Anwender:innen korrigierten Daten,
oder die Kommunikation von neuen Erkenntnissen und Zusammenhängen, die die KI
gefunden oder selbst erzeugt hat (Adadi und Berrada 2018, S. 52143).

Richtlinien und Prinzipien


Akademische Gruppen, Regierungsbehörden und Industrieunternehmen haben Richt-
linien und Prinzipien für XAI und für den Umgang mit KI im Zusammenhang mit
menschzentriertem Design von Produkten und Services aufgestellt. Beispiele sind die
„Lingua Franca“ von Polytoptal (Agarwal 2020), Microsoft (Amershi et al. 2019),
Google oder SAP (Jobin et al. 2019), wie auch z. B. die ‚Ethik-Leitlinien für eine Vertrau-
ensvolle KI‘ der Europäischen Union (Generaldirektion Kommunikationsnetze, Inhalte
und Technologien 2019). Diese Richtlinien beinhalten auch die Kernpunkte und Forde-
rungen der Forschergruppe ‚FATx‘ an eine XAI: Fairness, Verantwortung (Accountabi-
lity) und Transparenz gegenüber den Menschen, welche die Systeme nutzen oder von
ihnen betroffen sind (Vultureanu-Albisi, Badica 2021, S.1).

Die verschiedenen Richtlinien und Prinzipien lassen sich, zusammen mit den Zielen der
XAI und den Bedürfnissen der Anwender:innen hinsichtlich einer menschzentrierten
Gestaltung und Entwicklung von Produkten und Services, wie folgt darstellen (Abb. 1):

Abbildung 1: Zusammenfassung notwendiger Komponenten für ein holistisch gestaltetes und entwickeltes Produkt oder einen
Service mit KI.
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 84

Heute erfolgt die Kommunikation der durch ML erzeugten Interpretationen, Handlungs-


anweisungen und Ergebnissen meist über visuelle Grafiken: statische Informationen
wie die Anzeige skalenbasierter Wahrscheinlichkeitswerte via Indikatoren bis zu Bipar-
titer Graphen (Samek et al. 2021, S. 258), aber auch detaillierte, interaktive Anzeige-
formen, wie Heatmaps. Eine Kombination beider Formen ist für die Transparenz und
das Verständnis der Informationen unabdingbar. Denn nur so wird es Anwender:innen
ermöglicht, Schritt für Schritt und kontextbezogen mehr Informationen und Erklärun-
gen einzusehen, wie das System zu einem Ergebnis oder einer Empfehlung gelangt ist
(das Design Prinzip des „Progressive Disclosure“), (Springer und Whittaker 2019; SAP
2021). Visuelle Informationen können komplexe Sachverhalte sehr anschaulich und in-
formativ darstellen, aber sie unterstützen in den wenigsten Fällen die Ansprache wei-
terer menschlichen Sinne, die zu einem verbesserten Verständnis der Informationen
führen könnten. Durch den Einbezug aller menschlicher Sinne ergibt sich ein Verbes-
serungspotential nicht nur in Bezug auf die Verstehbarkeit der Informationsinhalte,
sondern auch hinsichtlich Inklusion, Fairness und Transparenz: nicht alle Menschen
können visuelle Information einfach und vollständig erfassen – ob aufgrund schlechten
Sehens, Stärken in Ausbildung und Beruf, die nicht im Bereich der Datenanalyse liegen
oder bei Menschen, die Informationen kognitiv mit mehreren oder anderen Sinnen bes-
ser erfassen können (z. B. Menschen, die synästhetisch wahrnehmen, d. h., bei denen
ein bestimmter sensorischer Stimulus andere Sinne aktiviert, z. B. Klänge visualisiert
oder Farben geschmeckt werden (Merter 2017, 4520).

Menschliche Sinne: ihre Bedeutung und Anwendungen


Auch wenn der Sehsinn der weitaus dominierende Sinn für die Wahrnehmung ist, ler-
nen Menschen mit allen menschlichen Sinnen und nehmen Informationen dementspre-
chend mit einem oder mehrerer ihrer Sinne auf. Dies bezeichnet man als „Multimodale
Wahrnehmung“ (Ansorge und Leder 2011, S. 135) oder auch Multisensorische Erleb-
nisse („Multisensory Experiences“ (Velasco und Obrist 2020, S. 2)). Beispiele hierfür
sind das Lernen von Wörtern einer Sprache, bei der die Kombination von Wort mit bild-
licher Darstellung für verbesserte Merkfähigkeit sorgt (Mayer et al. 2015), die Orientie-
rung in einem Raum mit dem Sehsinn und dem Gleichgewichtssinn des Ohres oder, als
dreidimensionale Erfahrung, zusätzlich mit dem Tastsinn (Ansorge und Leder 2011, S.
136), z. B. beim Greifen und Berühren von gewebten Textilien.

Kunst und Design nutzen multisensorische Konzepte in vielfältiger Weise, beispiels-


weise bei der Präsentation von Kunstwerken in multimedialer und -sensorischer Form
in Museen, die zusätzlich zum Audio-Guide und der visuellen Erfahrung, das Betasten
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 85

von Repliken eines Kunstwerkes erlaubt. Auch die Ansprache von Tast-, Hör-, Ge-
ruchs- und Geschmackssinn sind möglich, wie z. B. bei der Ausstellung eines Kunst-
werkes von Francis Bacon im Tate Sensorium, Tate Britain, London (Ablart et al. 2017;
Tate Gallery 2015). Ebenfalls im Museums-Kontext ermöglichen es die neuen Interak-
tionsmöglichkeiten zwischen Mensch und KI den Anwender:innen immer weitere, neue
Verbindungen zwischen (zufälligen) Text- oder Bildartefakten von Sammlungen zu su-
chen und zu entdecken (Hügin et al. 2021). Nicht zuletzt erlaubt die Gestaltung von
multisensorischen Erlebnissen und Anwendungen auch die Einbindung der Menschen,
die nicht alle Sinne nutzen können, aber so dennoch die relevanten Informationen er-
halten und miterleben können (Livingston und Haines-Trautman 2018).

Sinne, Materialien und Technologie


In den letzten Jahren wurde auch im Bereich der Mensch-Computer Interaktion, und
speziell im Design der Benutzeroberflächen digitaler sowie der Oberflächen interakti-
ver, physischer Produkte vermehrt Bezug auf sensorische Elemente genommen: z. B.
Smartphones, die taktiles Feedback durch Vibrationen abhängig vom Berührungsdruck
der Nutzer:innen geben. Aber auch die Verbindung von Technologie und Materialien,
die nicht direkt mit digitalen Produkten in Verbindung gebracht werden und auf natür-
lichen und handwerklich bearbeiteten, Signal-leitfähigen Oberflächen wie Edelmetal-
len, Leder, Holz und Textilien basieren, können für die Kommunikation bei der Mensch-
Maschinen Interaktion genutzt werden – und stellen somit alternative Mediatoren zu
rein digitalen und visuellen Interaktionsmöglichkeiten dar (Tsaknaki 2014). Speziell am
Beispiel von smarten Textilien oder Kleidungsstücken („Smart Textiles“ oder „Smart
Wearables“) lässt sich eindrücklich veranschaulichen, wie Technologie und handwerk-
liches Wissen und Material eingesetzt werden können: Anouk Wipprecht entwirft
Kleid-Kreationen aus Stoffen und 3D-gedruckten Elementen, die Entfernungs- oder
thermische Sensoren einsetzen, um bei Annäherung von Personen z. B. spinnenähnli-
che Gliedmaßen (Cass 2016; Wipprecht 2021) zu bewegen und die in Zukunft auch
von ihren Träger:innen durch Reaktionen auf menschliche Stimuli immer mehr lernen
und sich anpassen können (Ruckdashel et al. 2021).

Technologie nutzt, ergänzt und spricht also bereits menschliche Sinne in vielen Szena-
rien an. Augmented Reality (AR) und Virtual Reality (VR) schaffen multidimensionale
und -sensoriale Umgebungen und Erlebnisse. Diese Anwendungen bilden zwischen
einer „virtuell angereicherten“ Realität (AR) und kompletten, virtuellen Welten (VR)
auch alles im Spektrum zwischen AR und VR (Mixed Reality, MR) ab. Ein Beispiel für
AR ist die Nutzung einer Smartphone-App, welche die umgebende Realität mit grafisch
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 86

erzeugten Ebenen überlagert, wie im bekannten Pokemon-Spiel, oder bei der Simula-
tion von Wänden und Mobiliar bei einer Raumplanung. VR erstreckt sich hin zu kom-
plett immersiven digitalen, Realitäten, deren menschliche Besucher:innen mit keinen
physischen, realen Objekten mehr interagieren und in denen auch die Sinneserfahrun-
gen, wie z. B. das Gefühl, eine Blume zu berühren oder deren Geruch wahrzunehmen,
virtuell kommuniziert werden (Velasco und Obrist 2020, S. 31–34). Der Umgang und
Einbezug menschlicher Sinne wird auch im „Metaverse“ essentiell sein: Das Metaverse
ermöglicht Menschen Erlebnisse in gleichzeitig realen und digitalen Welten, und wird
ein komplexes Zusammenspiel und einen Austausch von Daten, Inhalten sowie digita-
len Gütern, Werkzeugen und Werten in bisher unvorstellbarem Ausmaß mit sich brin-
gen (Ball 2022). Es ist keine Erfindung oder ein Alleinstellungsmerkmal der Firma Meta
(ehemals Facebook), da es sich bereits seit vielen Jahren dezentral entwickelt. Dennoch
zeigt sich die Wichtigkeit des Metaverse unter anderem durch den Fokus, den Firmen
wie Meta auf zukunftsweisende Entwicklungen legen, z. B. durch Akquisitionen wie
dem Anbieter für VR Headsets, „Oculus“ (Forbes 2021). Viele der Entwicklungen im
und für das Metaverse werden mit KI unterstützt und erklärbare, verständliche und
multisensorielle Rückmeldungen der KI an den Menschen benötigt. Diese Rückkopp-
lung rein visuell zu gestalten, wird dem möglichen menschlichen Erfahrungsspektrum
nicht gerecht werden.

Menschliche Sinne als Erweiterung der KI und KI als Erweiterung


menschlicher Sinne
Im Zusammenhang mit KI werden die menschlichen Sinne zum einen als sensorische
Erweiterung, sozusagen als Datenlieferant für die KI genutzt, zum anderen als Reakti-
ons- und Kommunikationsweg der Technologie zum Menschen (Kelly und Hamm
2013).

Die fünf Hauptsinne des Menschen werden von Technologie seit vielen Jahren imitiert,
erweitert und für die Erfassung von Daten genutzt. Bildsensoren können mittlerweile
weit mehr Details und Farben erkennen als das menschliche Auge, und die KI nutzt die
Imitation des menschlichen Sehsinns in der Bilderkennung. Sensoren sind schneller als
das menschliche Auge und helfen Mensch und Maschine bei der Erfassung von Objek-
ten, Formen und Farben. Sensoren, z. B. verbunden mit unseren Händen oder der Haut
liefern Daten zu Temperaturen oder Beschaffenheit des berührten Materials. KI-unter-
stützte Systeme erkennen Stimmen, Befehle, aber auch Atemgeräusche und können
anhand des Gehörten die erforderlichen Antworten anbieten oder beispielsweise
Schlüsse über den vermutlichen Gesundheitszustand eines Patienten geben. Geruchs-
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 87

und Geschmackssensoren können in Zukunft Patienten, die diese Sinne (vorüberge-


hend) verloren haben, z. B. vor gefährlichen Stoffen in der Raumluft warnen.

Im Folgenden wird erläutert, wie der Umgang mit den menschlichen Sinnen in Gestal-
tungs- und Entwicklungsprozessen von Produkten mit KI eingebettet werden könnte
und sollte.

Die menschlichen Sinne als Designmaterial für XAI


In allen Gestaltungsprozessen, seien es Softwareanwendungen, physische Produkte
oder Dienstleistungen und egal, ob diese KI-gestützt ist oder nicht, es ist notwendig,
sich mit den Szenarien, Umgebungsvariablen und dem Kontext der Anwender:innen
wie auch der eingesetzten Technologie auseinanderzusetzen. Die Disziplin des User
Experience Design (UX) untersucht beispielsweise welche Arbeitsabläufe von Mitar-
beiter:innen verfolgt werden, welche Aufgaben wie bearbeitet werden, welche Bedürf-
nisse erfüllt sein müssen, welche den Arbeitsfluss behindernden Elemente oder Prob-
leme neu- oder umgestaltet werden sollten, damit die Arbeit effizient, fehlerfrei und
auch kreativ erfolgen kann.

Im Rahmen von KI arbeiten Designer mit diesen Nutzerinformationen und gestalten die
Erlebnisse der Datenaufbereitung und der Kommunikation der KI-Ergebnisse basierend
auf Informationsarchitekturen, Interaktionsflüssen, Entwurfsmustern, Farben, oder Ty-
pographie – ihrem Designmaterial. Auch Technologiefragen müssen diskutiert werden:
für welche Problemstellung macht es Sinn KI einzusetzen, welche Daten können wie
genutzt werden, welche Arbeitsschritte können durch KI unterstützt werden, um mehr
kreativen Raum für andere Aufgaben zu schaffen, welche (auch weitreichenden) Ef-
fekte und Konsequenzen wird die KI-gestützte Anwendung haben, etc. Idealerweise
arbeitet ein multidisziplinäres Team aus z. B. Entwickler:innen, Data Scientists, Produkt
Manager:innen und Designer:innen an einem mit KI-gestützten Produkt. Das Team
muss sich zwingend mit den Möglichkeiten sowie den Gefahren ihres Produktes oder
Service auseinandersetzen, d. h. sich die KI als Designmaterial aneignen (Holmquist
2017, S. 31). Nur so können die Möglichkeiten der Technologie verstanden und be-
wusst eingesetzt werden und menschzentrierte Produkte und Services mit KI gestaltet
und entwickelt werden.

Sich die KI als Designmaterial zu erarbeiten und zu nutzen ist allerdings nur ein wichti-
ger Teil im Gestaltungsprozess. Man muss sich gleichzeitig auch den menschlichen
Sinnen als Designmaterial widmen und die entsprechenden Erkenntnisse in das Design
integrieren. Die Beschäftigung mit den menschlichen Sinnen in diesem Zusammenhang
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entspricht also ebenso einem Designmaterial (Abbildung 2) wie die vorangestellten


Beispiele (Interkationsflüsse, Farben, Typographie etc.). Ziel ist es, dieses Designmate-
rial „menschlicher Sinn“ zu verstehen und es gestaltend so einzusetzen, dass es für
Anwender:innen zu einer optimalen, multisensoriellen Erfahrung aber gleichzeitig kei-
ner einseitigen Überreizung eines Sinnes oder einer allgemeinen Informationsüberflu-
tung kommt. Wenn Anwender:innen eine auf sie und ihre Sinneswahrnehmung zuge-
schnittene, personalisierte Erklärbarkeit erhalten, können sie sich - auch mit Hilfe der
KI - genau auf die Themen, Punkte und Datenpunkte fokussieren, die für sie und ihre
eigentlichen Arbeitsziele wichtig sind (Schmidt 2020, S. 4).

Abbildung 2: Stark vereinfachte Darstellung der Integration von menschlichen Sinnen als Designmaterial (Gestaltung Pikto-
gramme der menschlichen Sinne: Irina Mir).

Szenarien für den Einsatz der menschlichen Sinne im XAI-Kontext


Folgend sollen einige Denkanstöße für die Nutzung der menschlichen Sinne als Teil
der XAI gesetzt werden. Sie sollen mögliche Szenarien darstellen aber auch die Not-
wendigkeit der Beschäftigung mit ihnen als Designmaterial aufzeigen.

Mit der Haut ist der Tastsinn das größte Sinnesorgan des Menschen. Menschen neh-
men über die Haut Signale sehr feinfühlig war, ob Temperaturveränderungen oder die
Reaktion auf bestimmte Stoffe oder Oberflächenbeschaffenheiten. Gleichzeitig reagiert
die Haut auf Stimmungen oder Empfindungen und sendet selbst Informationen aus, z.
B. den Stresslevel eines Menschen anhand der veränderten Hautspannung, was wie-
derum als Rückmeldung an die KI gesendet werden kann. Zusätzlich zu herkömmlicher,
visueller Information könnten XAI-Informationen auch graduell, über wärmeleitende
Textilien, an den Tastsinn des Menschen kommuniziert werden, wenn es z. B. darum
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 89

geht, bei einer statistischen Auswertung die Wahrscheinlichkeit von Temperaturerhö-


hungen eines Waldbodens durch Borkenkäferbefall nachzuvollziehen. Alternative In-
teraktionsflächen wie 3D-gedruckte Reliefdrucke können es auch sehbeeinträchtigten
Menschen ermöglichen, Verlaufsgrafiken und statistische Verdichtungen zu analysie-
ren.

In AR-unterstützen Szenarien, z. B. in der Wartung von Maschinen, sogenannten „In-


telligent Decision Support Systems“ (Illankoon und Tretten 2021, S. 824), wird das Zu-
sammenspiel der Ansprache von menschlichen Sinnen und die Kommunikation zurück
an die Maschine bereits genutzt, indem z. B. ein Techniker über Robotik-Erweiterungen
per Impulse der Hände angewiesen wird, bestimmte Bewegungen auszuführen, wobei
das System wiederum von seinen Bewegungen lernt.

Der Hörsinn nimmt feinste Unterschiede in Modulation und Frequenz von Geräuschen,
Tönen oder Stimmen wahr. So könnten Anwender:innen bei der (visuellen) Analyse
einer Heatmap-Grafik mit Ergebnissen von simulierten neuen Gen-Sequenzierungsme-
thoden noch akustische Hilfsmittel zur Seite gestellt werden, z. B. wenn sich die Ergeb-
nisse außerhalb der bekannten Norm aber noch in einer vorgegebenen Toleranz bewe-
gen. Dies könnte über die Kommunikation umgebender Hintergrundklänge erfolgen,
die wahrnehmbar, aber unauffällig genug sind, um den Arbeitsablauf nicht zu belasten
(An et al. 2019). Resultate, die neuartige Ergebnisse vermuten lassen, könnten ebenso
kommuniziert werden wie negative Ausreißer, z. B. die entsprechend durch eine akus-
tische Warnung hervorgehoben werden.

Ähnliches gilt für die Ansprache des Gleichgewichtssinnes, der bei einer Erdbebensi-
mulation realistisches, sensorisches Feedback an die Wissenschaftler:innen liefern
könnte, sollte die KI eine neue Gefahrenstelle entdeckt haben.

Als Signal für den Abschluss eines Prozesses könnte ein Produkt für visuell oder akus-
tisch eingeschränkte Anwender:innen statt z. B. einer Dialogbox auf dem Bildschirm
wahlweise ein Ton- oder Vibrationssignal zur Verfügung stellen.

Geschmacks- und Geruchssinn: Menschen reagieren sehr sensibel auf Geschmacks-


und Geruchsveränderungen. Unbekannter Geschmack oder Geruch führt meist sofort
zu einer erweiterten Aufmerksamkeit, selbst wenn Menschen mit anderen Dingen be-
schäftigt sind. Auch hier könnten Anomalitäten oder vermutlich fehlerhafte Ergebnisse
in der Duft- oder Geschmackslandschaft entsprechend hervorgehoben werden, um
Nutzter:innen auf bestimmten Datenkonstellationen oder Ergebnisse hinzuweisen.
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Menschliche Sinne als Feedbackkanal für die Kommunikation von


Mensch zu Maschine
Durch die Kommunikation an die verschiedenen oder multiplen menschlichen Sinne
werden von Menschen unterschiedlichste muskuläre, chemische und kognitive Reakti-
onen ausgelöst. Diese bieten nicht nur die Möglichkeit ‚einfache‘ Daten der Reaktion
des Menschen an die KI zurückzuführen, sondern bei entsprechender Interpretation der
Kausalität einen Feedback-Loop zwischen Mensch und Maschine zu ermöglichen. Re-
agieren Anwender:innen z. B. ärgerlich oder zornig, weil sie die präsentierten Ergeb-
nisse als falsch oder lückenhaft betrachten, verändert sich aufgrund der Gemütsbewe-
gung die Hautspannung, welche unterschiedlich intensiv ausfallen kann (Domhardt
2018, S. 33). Auch über Stimmerkennung würde dieser Fakt aufgenommen werden.
Diese Erkenntnis weist auf den Bedarf einer umfassenden Analyse oder Korrektur hin
und kann an die KI zurückgemeldet werden. Es ergibt sich dadurch eine Interaktion, die
Koexistenz und Teamarbeit zwischen Mensch und Maschine zu Grunde legen kann
(Lawless et al. 2019).

In Anbetracht der unendlichen Anzahl von Produkten und Services, die Anwender:in-
nen derzeit angeboten werden und die in Zukunft unter Verwendung von KI auf den
Markt kommen werden, können dies nur ein paar Beispiele für die vielen Kommunika-
tionsmöglichkeiten zwischen menschlicher Wahrnehmung und KI sein.

Neue Aufgaben für Unternehmen und Wissenschaft


Dieser Artikel und die oben genannten Beispiele sollen eine Anregung für Unterneh-
men und ihre Mitarbeiter:innen sein, ihre (KI-)Produkte, Services und deren Anwen-
dungskontexte vor dem Hintergrund der menschlichen Sinne zu betrachten. Nur so
können die in der Interaktion zwischen Mensch und Produkt/Service generierten Daten,
Informationen und Ergebnisse optimal aufbereitet werden. Dabei sollte der Fokus nicht
nur auf die visuelle Kommunikation beschränkt bleiben. Die Ansprache der anderen
menschlichen Sinne neben dem Sehsinn bietet vielfältige Möglichkeiten, um Anwen-
der:innen von KI-basierten Anwendungen dabei zu unterstützen, Informationen und Er-
gebnisse der Systeme besser zu verstehen und aufzunehmen und aktiver Teil einer
Mensch-Maschine Interaktion zu sein.

Es besteht weiterer Studienbedarf, um die technischen Realisierungsmöglichkeiten der


XAI mit und über die menschlichen Sinne zu untersuchen. Es geht insbesondere darum,
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 91

die Zusammenhänge von Akzeptanz, Gebrauchstauglichkeit und Inklusion für alle An-
wender:innen, aber auch für alle am Gestaltungs- und Entwicklungsprozess Beteilig-
ten, herauszuarbeiten.

Mitarbeiter:innen in Unternehmen selbst sind Expert:innen im Umgang mit Materialien,


ob in der Fertigung, Prototypmodellierung oder Qualitätssicherung, ob Stahl, Ton,
Wolle oder Textinhalte, und sie kennen die sensorischen Qualitäten dieser Produkte
sehr gut. Die Entwicklung und der Fortschritt hin zu multisensoriellen Informations- und
Ergebnisweitergabe, ob diese nun von einer KI kommt oder noch von Menschen selbst
generiert werden, können und sollten Unternehmen auch selbst in Angriff nehmen.

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Hey Charly: Ein KI-gesteuerter Roboter ero-


bert Sankt Augustin

INTERVIEW MIT DAVID GOLCHINFAR VOM MITTELSTAND 4.0 - KOMPE-


TENZZENTRUM USABILITY

David Golchinfar ist leitender Entwickler im Bereich


Service-Robotik und KI-Trainer im Mittelstand 4.0-
Kompetenzzentrum Usability der Region Nord. Seit
2018 arbeitet er an KI-gesteuerten Interaktionsro-
boter Charly. In einem Interview erzählt David Gol-
chinfar, wie Service-Roboter in diversen Umgebun-
gen eingesetzt werden und welche Leistungen Un-
ternehmer:innen über das Mittelstand 4.0-Kompe-
tenzzentrum Usability in Anspruch nehmen können.

Herr Golchinfar. Ich würde gerne als al- Weiterhin haben wir verschiedene The-
lererstes mehr über das Mittelstand 4.0 menbereiche, z. B. die Sensibilisierung
- Kompetenzzentrum Usability erfahren. im Bereich Digitalisierung und KI, die
Was kann ich als Unternehmerin dort Qualifikation, Erprobung und auch Um-
erfahren, welche Hilfestellungen kön- setzung. Wir sind in verschiedene Regi-
nen mir gegeben werden und was sind onen aufgeteilt. Wir im Bereich Bonn
Ihre persönlichen Schwerpunkte? sind der Region Nord zugehörig und da
haben wir die Spezialisierung der
Also, das Mittelstand-4.0 Kompetenz- Mensch-KI-Zusammenarbeit, bzw.
zentrum Usability gehört auch zu Mittel- Mensch-Roboter-Zusammenarbeit, zu
stand-Digital und wir informieren kleine der auch Charly gehört. Und darin liegt
und mittlere Unternehmen über die auch ein wenig mein Spezialgebiet.
Chancen und Herausforderungen der
Digitalisierung und helfen da mit Exper- Ich habe den kleinen Charly schon groß
tenwissen, mit Demonstrationszentren, in der Einleitung angekündigt. Was ist
Best-Practice-Beispielen, und natürlich Charly und wie fingen die Arbeiten an
auch mit Netzwerken, in denen eben ein Charly an?
Erfahrungsaustausch durchgeführt
werden kann.
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Also, Charly heißt eigentlich Pepper Software für diesen Roboter entwickelt,
und wurde von dem japanischen Unter- damit Charly sich in der Apotheke zu-
nehmen Softbanks entwickelt. Wir ha- rechtfindet.
ben ihm den Namen Charly gegeben,
damit er von allen Leuten schnell iden- Charly ist ein sogenanntes Umset-
tifiziert werden kann, da der Name sich zungsprojekt. Er unterstützt die Arbeit
auch einfach aussprechen lässt und der Mitarbeitenden einer Apotheke.
auch bei älteren Personen schon be- Sind weitere Charlys geplant oder dient
kannter ist. Es ist ein humanoider Robo- seine Technologie nur der Inspiration für
ter, der die Möglichkeiten hat, zu navi- andere?
gieren. Er kann Animation durchführen.
Er kann kommunizieren, also er kann Er ist unter anderem eine Inspiration,
sprechen. Wir nutzen ihn jetzt aktuell klar. Aber wir nutzen ihn auch schon in
unter anderem im Einsatz in einer Apo- anderen Bereichen, tatsächlich auch in
theke in Sankt Augustin. Wir hatten da- einem Shoppingcenter in Sankt Augus-
mals das Glück auch zum Beginn des tin eingesetzt. Er hat versucht, sich um
Kompetenzzentrums, dass die Apo- die Kunden zu kümmern, deren Anlie-
theke auf uns zugekommen ist. Es ist gen auch einigermaßen zu erfüllen und
eine sehr digitale Apotheke und sie wenn es darum ging, dass die Kunden
wollten sich digital noch stärker aufstel- wissen wollten, wie sie zum speziellen
len und haben dann einfach bei uns an- Store kommen, hat Charlie ihnen auch
gefragt, ob wir irgendwelche Unterstüt- dort geholfen, die Wegplanung durch-
zungsmöglichkeiten haben. Das Ganze geführt und ihnen diese mitgeteilt. Es
haben wir dann auch gemacht. Wir ha- gibt auch noch einen anderen Servicero-
ben uns getroffen. Wir haben zusam- boter, den wir im Einsatz haben. Das ist
men einen Workshop durchgeführt und der Temi. Der sieht allerdings nicht ganz
erstmal identifiziert, wo man eigentlich so humanoid aus und eignet sich da
die Mitarbeiter dort, in welcher Weise eben eher im Gesundheitswesen, um
auch immer, unterstützen kann, und dort gegebenenfalls z. B. die Pflege zu
sind dann auch sehr schnell zu den Zie- unterstützen.
len gekommen, dass wir die Mitarbeiter
im Kundenservice unterstützen wollten, Zusätzlich haben wir mit der Apotheke
eben bei einfachen Aufgaben. Und so ist auch noch ein weiteres Umsetzungs-
es dazu gekommen, dass wir dann ge- projekt derzeit in der Durchführung. Da
meinsam mit der Apotheke dieses Pro- geht es darum, einen Sprachassistenten
jekt gestartet haben und auch gemein- zu nutzen, der verschiedene Bereiche in
sam mit der Apotheke so gesehen die der Apotheke dokumentieren kann, bzw.
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 99

mit denen man vor Ort dokumentieren Also, das ist tatsächlich komplett unter-
kann. schiedlich. Da kann man nicht genau ir-
gendwelche Gruppen betiteln, wie zum
Beispiel, zu behaupten, ältere Leute wä-
Menschen und Roboter - Das Thema ist
ren da voreingenommener. Das kann ich
nicht erst seit gestern da. Anders als
so nicht unterstreichen. Es gibt ältere
extrem echt wirkende japanische Robo-
Leute, die sehr zurückhaltend auf diesen
terköpfe, haben Sie sich dazu entschie-
Roboter reagieren, am liebsten gar nicht
den, Charly klein, rund und weiß zu ge-
irgendwie mit ihm in Interaktion treten
stalten. Seine großen Augen machen
möchten, sondern eben mit dem
ihn wirklich zum perfekten, empathisch
Mensch sprechen möchten. Aber es gibt
wirkenden Helfer. Ihre Wahl dieses
zum Beispiel auch ältere Leute, die in
Looks, hat die genau damit etwas zu tun,
der Apotheke sehr interessiert waren
dem Wunsch menschenbegleitend, un-
und versucht haben mit ihm Dialoge zu
gefährlich und empathisch zu wirken?
führen. Ebenso ist es auch bei jüngeren
Leuten. Die haben kleinere Besucher,
Ja, genau das. Das Unternehmen hat in
die ihn superniedlich fanden und ver-
Japan damals eine sehr starke Studie
sucht haben, ihn als Freund anzusehen.
durchgeführt, in der es auch darum ging,
Aber wir hatten auch Besucher, die sich
welche Erscheinungsbilder von Service-
wirklich erschrocken haben und auch da
Robotern überhaupt schon von Men-
kann man wie gesagt derzeit meiner
schen so akzeptiert werden, bzw. ange-
Meinung nach noch nicht genau sagen,
nommen werden. Und da hat sich im-
wie das ganze so angenommen wird, ob
mer wieder herausgestellt, dass Men-
positiv oder negativ.
schen dieses Kindchenschema sehr in-
teressant finden und sich damit an-
freunden können. Daher auch diese gro- Wie reagiert Charly auf die Menschen,
ßen Augen, dieses runde Gesicht und technisch gesehen? Ist er beispiels-
auch die teilweise sehr kindliche weise sprachlich flexibel, wenn er Kun-
Stimme. Das ist das, was derzeit bei den dinnen und Kunden informiert? Kann er
Menschen viel Akzeptanz stößt. vielleicht mehrere Sprachen? Auf wel-
che Art von Daten greift Charly zurück,
um funktionieren zu können?
Wie reagieren die Menschen eigentlich
auf Charly?
Charly verfügt einmal über eine Ge-
sichtserkennung, das heißt, er erkennt
es, wenn Menschen in seiner Nähe sind
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 100

und hat daneben die Möglichkeit, vorde- Zu Beginn des Projekts muss ich dazu
finierte Strukturen abzuspielen, um sagen, waren wir nicht DSGVO-kon-
erstmal die Aufmerksamkeit des Men- form, weil, wie schon gesagt, große Un-
schen auf sich zu lenken. Dann hat er ternehmen sehr starke Tools haben und
weiterhin die Möglichkeit, über eine so- da wollten wir erst einfach mal schauen,
genannte Sprach-Engine, auch Dialog- was überhaupt möglich im Rahmen die-
Engine genannt, mit dem Menschen zu ses Service-Roboters, wie komplex wir
kommunizieren und auch einfache Dia- da die Dialoge auch gestalten können.
loge mit ihm durchzuführen. Das Ganze Wir sind allerdings auch schon zum Jah-
lief so ab: Wir haben damals damit an- resanfang 2021, glaube ich, umgestie-
gefangen die Sprach-Engine oder auch gen, und haben nach und nach auch O-
Dialog-Engine von einem sehr großen pen-Source-Technologien, die DSGVO-
Unternehmen zu nutzen, und da kann konform sind, genutzt, so dass wir der-
man verschiedenste Trainingssätze ein- zeit in keinem Technologie-Aspekt des
binden, sodass sich das Robotersystem Roboters die DSGVO nicht einhalten
z. B. auf einige Sachen, die in der Apo- könnten. Wir versuchen da Technolo-
theke häufig vorkommen, natürlich dann gien zu nutzen, die frei verfügbar sind
automatisiert auch antworten kann. Wir und mittlerweile auch sehr gut funktio-
haben die Möglichkeit über ein soge- nieren, sodass man da keinen Unter-
nanntes Triggerwort. Wenn man jetzt z. schied mehr zu den großen Global
B. „Charly“ gesagt hat, hat er zugehört Player Software-Systemen hat.
und gefragt, ob er einem weiterhelfen
kann. Aber auch während der Corona-
Was bedeuten Robotikentwicklungen
Zeit hatten wir ihn noch weiterhin eine
und KI für die Veränderungsmöglichkei-
gewisse Zeit im Einsatz. Da wollte man
ten traditioneller mittelständiger Be-
natürlich den direkten Kontakt vermei-
triebe? Worin sehen Sie Chancen?
den. Unten an seinem Fuß hat er des-
halb einen sogenannten Bumper, auf
Grundsätzlich sollte man immer unter-
den man dann mit seinem Fuß Corona-
streichen, das KI bzw. Service-Robotik
konform mit ihm interagieren konnte.
niemals einen Menschen ersetzen kann.
Wir selbst sind darauf ausgerichtet, im-
Wenn man Charly in Deutschland oder mer zu schauen, dass es eine Mensch-
auch innerhalb der EU zum Laufen brin- Roboter oder Mensch-KI-Zusammenar-
gen möchte, steht man immer auch vor beit gibt, und in diesen Punkten bin ich
den Hürden der Konformität mit dem mir relativ sicher, dass die KI sehr gut im
Datenschutz. Wie gehen Sie vor, um Mittelstand unterstützen kann, wenn es
DSGVO-konform bleiben zu können?
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 101

darum geht, eben kleine bzw. auch läs- haupt auch lohnt, wenn man das dauer-
tigen Aufgaben an die KI zu übergeben, haft einsetzen würde. Und sollte es
so dass die Mitarbeiter mehr Zeit für dann nachher z. B. zu einem dauerhaf-
qualitativ hochwertigere Aufgaben ha- ten Einsatz kommen, gibt es derzeit
ben und so die Kollaboration in Zukunft auch verschiedenste Mietmodelle von
ja weiter forciert werden kann. solchen Service-Robotern und dann
geht es eben nur noch um die Software-
Entwicklung, die durch ein externes Un-
Die Umstellung oder Erweiterung eines
ternehmen durchgeführt werden kann.
Betriebs zu neuen Technologien bringt
Die Akzeptanz durch Mitarbeitende ist
für viele Unternehmerinnen und Unter-
auch dann gegeben, wenn wir innerhalb
nehmer oft zwei Probleme mit sich: Die
dieses Pilotprojektes schauen, welche
Finanzierung dessen und die Akzeptanz
Möglichkeiten der Roboter den Mitar-
durch Mitarbeitende. Wie gehen Sie im
beitern zur Verfügung stellt, um sie zu
Mittelstand 4.0 - Kompetenzzentrum
entlasten. Ich denke, da wird der ein
Usability beide Problembereiche an?
oder andere Mitarbeiter, der vorher viel-
leicht was pessimistischer war, auch se-
Im Kompetenzzentrum Usability haben
hen, dass man eine gute Unterstützung
wir eben die Möglichkeiten, dass wir ge-
findet.
meinsam mit Unternehmen im kosten-
freien Rahmen auch Umsetzungspro-
jekte oder Pilotprojekte durchführen Herzlichen Dank, Herr Golchinfar, dass
können. Da haben die Unternehmen Sie sich heute die Zeit genommen ha-
einfach mal die Möglichkeit auch zu ben, mit uns zu sprechen. Den Projekten
schauen, was so ein System bei ihnen der Service-Roboter wünschen wir viel
leisten kann, und ob sich sowas über- Erfolg!
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 102

Science-Fiction & KI – Visionen für die digi-


tale Transformation

ISABELLA HERMANN, STIFTUNG ZUKUNFT BERLIN


& RAINER ZEICHHARDT, MITTELSTAND-DIGITAL ZENTRUM ZUKUNFTS-
KULTUR

Künstliche Intelligenz (KI) [1] hat in den


Science-Fiction ist ein beliebtes letzten zehn Jahren rasante Fortschritte
Filmgenre, das nicht zuletzt die Re- gemacht und ermöglicht Prozessopti-
flexion von gängigen Technikvor- mierung, Effizienzsteigerung und Vor-
stellungen und die Entwicklung von hersagemodelle in verschiedensten Be-
zukunftsfähigen Visionen leistet. In
reichen. Mit der Technik gehen Hoffnun-
Zukunftslaboren, die sich mit dem
gen und Chancen einher, Verbesserun-
technologischen Wandel befassen,
werden daraus Methoden abgelei- gen beispielsweise in der Medizin, im
tet, die kreative und wünschens- Energieverbrauch, in der Logistik oder in
werte Visionen für das Mind-Set der Mobilität zu erzielen. Doch die An-
von Gegenwart und Zukunft entwi- wendung von KI ist auch mit Ängsten
ckeln. Mittels kreativen Einsatzes verbunden, wie z. B. Verstetigung von
von Filmbeispielen kann dieser
Diskriminierung, mangelnde Transpa-
Mind-Change in Coaching-Forma-
renz und Nachvollziehbarkeit, Überwa-
ten zur Wirkung kommen.
chung und Kontrollverlust, Übermacht
der Maschinen oder schlichtweg Über-
forderung durch die Möglichkeiten der
Technik. Diese Ängste führen zu negativen Zukunftsnarrativen, die lähmend und ein-
schränkend wirken. Um die Ängste anzugehen und die Chancen der Technik für eine
bessere Zukunft zu nutzen, brauchen wir allerdings positive und einfallsreiche Zu-
kunftserzählungen.

Science-Fiction stellt hier eine Methode dar, verschiedene Technikvorstellungen zu re-


flektieren und eigene Zukunftsvisionen zu entwickeln. Generell ist Science-Fiction die
Kunstform, die in Büchern, Filmen, Graphic Novels oder Games über alternative Tech-
nik-Zukünfte erzählt. Der Ausgangspunkt ist zumeist ein fiktiver wissenschaftlich-tech-
nologischer Fortschritt, der die Science-Fiction Welt von der Welt, wie wir sie kennen,
unterscheidet. Auf diese Weise werden offene Gedankenspiele ermöglicht, wie sich
neue Technologien auf die Gesellschaft auswirken und vor allem welche Werte hinter
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 103

der Technologie – wie beispielsweise KI – stehen. Science-Fiction spielt dabei vor dem
Hintergrund tatsächlicher stattfindender technischer Entwicklungen, öffnet aber das
Denken, weil sie nicht an lineare Extrapolation, plausible Szenarien oder den Einschrän-
kungen des sogenannten Zukunftstrichters gebunden ist (Steinmüller 2016). Science-
Fiction wird so zu einer Methode innerhalb von Zukunftslaboren, die sich mit dem tech-
nologischen Wandel befassen und gleichzeitig kreative und wünschenswerte Zu-
kunftsvisionen für einen Mind-Change entwickeln.

Science-Fiction als Methode des digitalen Transformationsmanage-


ment

Digitales Transformationsmanagement

Der digitale Wandel ist in vollem Gange. Begriffe wie „Disruption“, „digitale Revolu-
tion“, „digitale Transformation“ deuten darauf hin, dass technologischer Fortschritt und
Digitalisierungsprozesse zu weitreichenden und grundlegenden gesellschaftlichen so-
wie wirtschaftlichen Veränderungen führen. Personen und Organisationen stehen da-
mit vor der Herausforderung, in einem sehr komplexen, dynamischen und unsicheren
Umfeld zu agieren und handlungsfähig zu bleiben.

In der Managementforschung und -praxis existieren zahlreiche Konzepte, Methoden,


Instrumente und Tools, um Wandel im Kontext der Digitalisierung auf verschiedenen
Ebenen (z. B. Prozesse, Strukturen, Kulturen) – trotz der hohen Dynamik und Unsicher-
heit – aktiv zu gestalten (vgl. z. B. Doppler/Lauterburg 2019; Reinhard 2020). Moderne
Changemanagement- und Digital Leadership-Ansätze fokussieren u. a. darauf, Orien-
tierung im Chaos zu stiften, digitale Visionen zu vermitteln, Komplexität zu reduzieren
und Widerstände gegen Veränderungen abzubauen. Auf der anderen Seite werden
Methoden intentional dazu eingesetzt, um weiteren digitalen Wandel zu initiieren oder
sogar noch zu verstärken. Ziel dabei ist es, Personen, Gruppen und Organisationen aus
der sogenannten „Komfortzone“ zu bewegen und die Konfliktdynamik des Wandels als
Quelle für Innovation und Entwicklung zu nutzen (vgl. dazu Zeichhardt 2016; 2019).

Science-Fiction kann hier als Instrument des digitalen Transformationsmanagements


im Allgemeinen und bei Change-Aktivitäten im Zusammenhang mit Künstlicher Intel-
ligenz im Besonderen (z. B. bei der Implementierung von KI in Unternehmen) auf ver-
schiedenen Ebenen einen wichtigen Beitrag leisten.
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 104

Science-Fiction Dystopien – Sensibilisierung für die digitale Zukunft

Ein erstes Einsatzfeld von Science-Fiction ergibt sich aus der Möglichkeit einer Sensi-
bilisierung von Menschen für Zukunftsthemen. So können bestehende Science-Fiction
Geschichten im Rahmen von Organisationsentwicklungs- oder Coachingaktivitäten als
Tool dazu genutzt werden, um Organisationsmitglieder mit technologischen Innovati-
onen zu konfrontieren und darüber in einen gemeinsamen Diskurs einzutreten. Vor al-
lem Filme über Künstliche Intelligenz in Form von Robotern und lernenden Algorithmen
können bei den Rezipienten sowohl positive als auch negative Emotionen freisetzen
und erleichtern über ihre Bilder den Zugang zu komplexen und abstrakten Technikthe-
men (The Royal Society 2018, Cave/Dihal 2019). Gerade zu Beginn von Changema-
nagement-Projekten kann darüber bei den Beteiligten des Wandels „Awareness“ für
das Thema KI geschaffen werden.

Ein Großteil der Science-Fiction basiert allerdings auf dystopischen Erzählungen, d. h.


es werden vor allem zukünftige technologische Schreckensszenarien mit KI und nega-
tive Folgen für die gesellschaftliche Ordnung dargestellt (Irsigler/Orth 2018): Huma-
noide Roboter geraten außer Kontrolle und verbünden sich gegen die Menschheit (z. B.
der Film „I, Robot” aus 2004 mit Will Smith in der Hauptrolle); technologische Singu-
larität entwickelt ein destruktives Eigenleben (z. B. „Transcendence’“aus dem Jahr 2014
mit Johnny Depp); Menschen und Künstliche Intelligenz gehen pathologische Bezie-
hungen ein (z. B. die Liebesgeschichte „HER“ aus dem Jahr 2013 mit Joaquin Phoenix
und Scarlett Johansson, die dem Operation System „Samantha“ ihre Stimme lieh), etc.

Aus der Forschung und Praxis des Changemanagements und der Katastrophenpäda-
gogik ist bekannt, dass „Angst“ als Interventionstool im Rahmen von Wandelaktivitä-
ten durchaus verhaltenswirksam sein kann – insbesondere aufgrund der Bestrebungen
einer Angstabwehr seitens der Betroffenen. Allerdings besteht die Gefahr, dass die
durch Dystopien freigesetzten negativen Emotionen zu Hoffnungslosigkeit, Resigna-
tion und Ablehnung führen und darüber Wandelbarrieren eher festigen, statt diese auf-
zubrechen.

Trotzdem lassen sich Dystopien konstruktiv als Instrument des Changemanagements


einsetzen. So können mit Hilfe von dystopischer Science-Fiction aktuell vorherrschende
Technik-Ängste herausgearbeitet werden, um darüber einen fruchtbaren Diskurs zu er-
öffnen, wie es möglich ist, eine beispielsweise negative Entwicklung zu verhindern bzw.
technologische Entwicklungen aktiv und positiv zu gestalten.
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 105

Science-Fiction als Methode wünschenswerter Zukünfte

Nachhaltiger und ermächtigender ist jedoch das zweite Einsatzfeld, nämlich eigene
Narrative und Visionen für wünschenswerte Zukünfte zu entwickeln, in denen Künstli-
che Intelligenz und digitale Transformation eine positive Rolle einnehmen können.
Mögliche Umsetzungsformate im Changemanagement stellen z. B. Zukunftswerkstät-
ten und Zukunftslabore dar. In solchen Veranstaltungen lässt sich ein geschützter
Raum öffnen, um mit verschiedenen Zukünften zu experimentieren (Bergheim 2020).

Dabei geht es nicht um das Entwickeln von rein utopischen Zukunftsbildern, die uner-
reichbare Lebensformen, Technologien oder Gesellschaftsordnungen darstellen. Ide-
altypische Utopien sind als Methode für das Changemanagement ambivalent. Auf der
einen Seite können Menschen durch die Reflexion von Wunschvorstellungen radikale
technologische Entwicklungen positiv konnotieren und ihre Ängste abbauen. Durch ein
positives Framing ließe sich beispielsweise die Technikakzeptanz von KI erhöhen. Auf
der anderen Seite besteht die Gefahr, dass utopische Szenarien aufgrund ihrer imma-
nenten Unerreichbarkeit trotz ihrer positiven Ausrichtung eher demotivieren und Wan-
delaktivitäten hemmen. Utopien sind letztlich auch dann als Methode für ein modernes
Changemanagement problematisch, wenn in ihnen ein finaler Harmoniezustand defi-
niert wird – nach dem Motto „gute Menschen leben dank Künstlicher Intelligenz glück-
lich in einem technologischen Schlaraffenland“. Ein solch finaler Zustand der Stabilität
impliziert eine in der Zukunft liegende neue „Komfortzone“. Diese Idee ist nicht verein-
bar mit einem modernen digitalen Transformationsverständnis, welches Wandel nicht
als temporär begrenzte Phase zwischen stabilen Gleichgewichtszuständen, sondern
als kontinuierlichen Dauerzustand versteht.

Auch in der Science-Fiction kann man das „Schwarz-Weiß-Denken“ in Kategorien von


Utopie und Dystopie bzw. die Linearität von Extremszenarien kritisch sehen. Statt der
angstbesetzten dystopischen Resignation und/oder einem Streben nach unerreichbarer
Utopie erscheint es ein besserer Ansatz zu sein, aktiv gegen die dystopischen Visionen
zu rebellieren, um damit kreative Entwürfe für unvollkommene, aber bessere Zukünfte
zu gestalten. Das Konzept einer „Anti-Dystopie“ stellt damit einen integrativen Ansatz
dar, der besonders anschlussfähig an ein modernes Changemanagement-Verständnis
ist.
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 106

Digital Mindset Change durch Anti-Dystopien

Eine anti-dystopische Haltung stellt sich gegen Extreme der Dystopie und der Utopie
und akzeptiert die Widersprüchlichkeiten der Welt, um positive Visionen von nicht per-
fekten Zukünften zu gestalten (Hermann i.E.). Dieses Verständnis der Anti-Dystopie ist
kompatibel mit einer modernen Haltung gegenüber digitalem Wandel, dem sogenann-
ten Digital Mindset, welches in besonderem Maße durch Umgang mit Spannungsfel-
dern, Ambidextrie, Dilemmamanagement und Resilienz gekennzeichnet ist (Zeichhardt
2019, S. 27f.).

Durch kreative Gedankenspiele in Zukunftslaboren lassen sich neue, positive Narrative


entwickeln und wünschenswerte Visionen der Zukunft gestalten, die mit den Ambiva-
lenzen von Utopie und Dystopie spielen. Im Vergleich mit der klassischen Szenario-
technik im Zukunftstrichter geht es hier vielmehr darum, auch außerhalb des Trichters
mehrdimensionale Zukunftsnarrative (im Sinne von Lösungen zweiter Ordnung) zu ent-
wickeln und eigene Zukunftsbilder kritisch zu hinterfragen (Abb.1).

Abbildung 1: Klassischer Zukunftstrichter erweitert um anti-dystopisches Outside-the-Box-Denken (eigene


Darstellung).
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 107

Science-Fiction im Changemanagement – Beispiele aus der Praxis


Die obigen Ausführungen zeigen, dass Science-Fiction als Changemanagement-Me-
thode in unterschiedlichen Ausprägungen zum Einsatz kommen kann. Zum einen las-
sen sich bestehende (dystopische) Science-Fiction Geschichten als Reflexionstool für
digitalen Wandel einsetzen, zum anderen kann Science-Fiction als kreative Methode
im Rahmen von Zukunftslaboren genutzt werden. Im Folgenden wird für beide Anwen-
dungsfelder ein Beispiel mit Bezug zu Künstlicher Intelligenz präsentiert.

Science-Fiction als Reflexionstool: Ava aus ,Ex_Machina’

Der 2015 erschienene populäre britische Science-Fiction Film „Ex_Machina“ [2] von
Alex Garland kann als Impuls für eine kritische Auseinandersetzung mit Technologie
und Gesellschaft dienen (Hermann 2020, 2021). In dem Film entwickelt der Unterneh-
mer Nathan in einem Labor in der Wildnis den humanoiden, „weiblichen“ Roboter Ava
und lässt seinen schüchternen Mitarbeiter Caleb einfliegen, um in der Form eines „um-
gedrehten“ Turing-Tests zu prüfen, wie menschlich Ava ist. Ava durchschaut das Spiel,
führt beide Männer rücksichtslos hinters Licht und entkommt.

Wie ist der Film nutzbar, um für KI im Rahmen von digitalen Wandelaktivitäten zu sen-
sibilisieren? Welche „Lernziele“ könnten mit dem Film in einem Change-Workshop er-
reicht werden? In der Science-Fiction lässt sich zunächst zwischen der technischen und
der gesellschaftlichen Perspektive unterscheiden. Technisch zeigt „Ex_Machina“ die KI-
Methode des „Maschinellen Lernens“ auf, denn Ava’s zwar rein fiktives, blauschim-
merndes „Gehirn“ aus „strukturiertem Gel“ ist wohl von realen selbstlernenden Algo-
rithmen inspiriert, die in Unmengen an zugeführten (und im Film illegal gehackten)
menschlichen Interaktionsdaten Muster erkennen – so kann Ava „menschlich“ agieren.
Die Ausgangslage des Films lädt zudem zur Diskussion genereller Begrifflichkeiten wie
„Mensch-Maschine-Interaktion“, „Intelligenz“, „Singularität“, „Turing-Test“ oder „Da-
tensicherheit“ ein.

Hier endet allerdings der Bezug zur technischen Realität, was im Workshop zur Dis-
kussion von „technischen Mythen“ anregen kann, die der Film darstellt:

• Mythos 1: Ein einziger genialer Wissenschaftler kommt in der Einsamkeit zu


technischen Durchbrüchen ≠ Wissenschaft und Technik als Teamwork;
• Mythos 2: KI entwickelt einen eigenen Willen und Bewusstsein ≠ KI ist ein tech-
nisches Werkzeug, das von Menschen zu bestimmten Zwecken gebaut und ein-
gesetzt wird;
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 108

• Mythos 3: KI stellt sich gegen den Menschen ≠ wie jede Technologie bedarf auch
KI ethische Werte, technische Standards und Regulierung, die von Menschen
gesetzt werden müssen.

Zu beachten ist, dass „Ex_Machina“ als Film eine dramatische Geschichte erzählt, die
ein menschliches Publikum mitreißen soll, und keine technische Dokumentation dar-
stellt. Daher eignet sich der Film vor allem, um sich aus einer gesellschaftlichen Per-
spektive mit der Technik auseinanderzusetzen. Sichtweisen können hier beispielsweise
sein:

• Werte und Ziele von Technikentwicklung,


• Bild von Technik als desaströs und ins Verderben führend,
• Emotionale Beeinflussung durch KI im Interesse Dritter,
• Maskuline Tech-Entwickler und Darstellung von KI als „weiblich“,
• Frauenbild in der Tech-Industrie und Diversität im Allgemeinen.

Hier ließe sich zum „realen“ Abgleich innerhalb des Workshops der humanoide Robo-
ter ,Sophia’ von Hanson Robotics [3] gegenüberstellen, der mit verrutschter Mimik und
Gestik vorprogrammierte Antworten ausspuckt: Ist Sophia mehr als ein Marketing-Gag?
(Estrada 2018).

Am Beispiel des dystopischen Films „Ex_Machina“ kann man Entwicklung, Anwendung


und Darstellung von KI kritisch und schon mit Blick auf wünschenswerte Visionen dis-
kutieren. Kreativer, aber auch anspruchsvoller, ist es, eigene anti-dystopische Narrative
zu entwickeln.

Science-Fiction-Zukunftslabore

Die Zielsetzung unseres Science-Fiction-Zukunftslabors im Rahmen eines Change-


Programms ist es, ein Mindset für die Offenheit verschiedener Zukünfte zu entwickeln
(Abb.1). Speziell was den Einsatz von KI anbelangt, geht es um kreative Ideen, aber
auch kritische Reflexion der Technikentwicklung. Das Science-Fiction-Zukunftslabor
baut auf den gängigen drei Phasen einer Zukunftswerkstatt auf: Bestandsaufnahme-
und Dystopiephase, Phantasie- und Utopiephase, Realisierungs- und Strategiephase
(vgl. dazu schon Jung K. / Müller T. 1989), erweitert diese jedoch um eine Anti-Dysto-
piephase:

• Bestandsaufnahme- und Dystopiephase: Was sind aktuelle Kritikpunkte oder


Ängste, die in die Zukunft gedacht werden? Diese Phase kann wie im vorherigen
Kapitel durch Science-Fiction als Reflexionstool angeleitet werden.
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 109

• Phantasie- und Utopiephase: Was sind Ideen, Geschichten, Gefühle, Bilder einer
wünschenswerten Zukunftsvision, in der die Kritikpunkte bewältigt wurden?
• Realisierungs- und Strategiephase: Was können wir jetzt konkret tun, um uns
der Vision anzunähern? Welche Handlungsempfehlungen ergeben sich für uns
selbst, das Team, das Unternehmen, politische Entscheider:innen, weitere Ak-
teure und Stakeholder?
• Anti-Dystopiephase: Welche aktuellen Ängste stehen hinter den Kritikpunkten,
welche Wünsche hinter den Zukunftsvisionen? Abgleich und Reflexion der kon-
kreten Handlungsempfehlungen für gute Zukünfte mit dem Ist-Zustand; Ent-
wicklung eines Mindset, das Widersprüchlichkeiten und Spannungsfeldern po-
sitiv gegenübersteht.

Die Phasen können durch verschiedene Elemente spielerisch interaktiv unterstützt


werden, wie zum Beispiel:

• Gestaltung von Postern, Kollagen, Moodboards: In Gruppenarbeit könnten die


Teilnehmer:innen eines Workshops Artefakte Künstlicher Intelligenz, Bilder,
Cartoons, Filmcover etc. recherchieren und grafisch aufbereiten, um unter-
schiedliche Facetten von KI zu visualisieren und anschließend kritisch zu disku-
tieren.
• Einsatz von Serious Games als aktivierender Zugang zu komplexen Zukunfts-
themen: Ein Beispiel ist das „Future Game 2050“ [4]. Hierbei handelt es sich um
ein Kartenspiel auf Basis der Personatechnik. Mit diesem Tool können in einem
Workshop verschiedene neue anti-dystopische Berufsbilder im Jahre 2050 (z.B.
Mondpräsidentin, KI-Trainerin oder Cyborg Beraterin) als „Archetypen der Zu-
kunft“ diskursiv entwickelt werden, um darüber Zielbilder und Szenarien für
Strategie- und Innovationsprozesse zu ergründen.
• Science-Fiction Geschichten schreiben, Science-Fiction Kurzfilme produzieren
oder Improvisationstheater vorführen: Eine besonders kreative Methode stellt
die Kreation und Präsentation eigener Science-Fiction dar. Der Fantasie sind hier
keine Grenzen gesetzt. So könnten die Teilnehmer:innen in Gruppenarbeit bei-
spielsweise auch konkrete Bezüge zum eigenen Organisationskontext herstel-
len („Mein Arbeitsplatz im Jahre 2050“; „Die Jobsuche der Zukunft“; „KI ermög-
licht 2-Tage-Woche“).
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 110

All diese Methoden unter-


stützen das Denken in al-
ternativen Extremszenarien
und erweitern damit den
Bezugsrahmen für Prob-
lemlösungen „outside the
box“. Die Einnahme einer
Metaperspektive, das Os-
zillieren zwischen Dystopie
Abbildung 2: Science-Fiction Zukunftslabor in der Durchführung im Januar 2022. und Utopie (im Sinne eines
Kipp-Phänomens) und das diskursive Gedankenspiel mit unterschiedlichen anti-dysto-
pischen Entwicklungen trainiert Flexibilität und Offenheit und bereitet damit wichtige
Voraussetzungen für das digitale Transformationsmanagement.

Die Anti-Dystopie stellt eine geeignete Perspektive für einen Change des Digital
Mindsets dar, weil sie eben gerade nicht auf Ängste fokussiert, sondern ermutigt, eine
positive Grundhaltung gegenüber technologischen Entwicklungen in der Zukunft ein-
zunehmen. Empowerment steht im Vordergrund statt Resignation.

Utopie, Dystopie & Anti-Dystopie: Einsatzmöglichkeiten und -gren-


zen im digitalen Transformationsmanagement – ein Überblick
Die folgende Tabelle zeigt zusammenfassend die Möglichkeiten und Grenzen von un-
terschiedlicher Science-Fiction als Methode des digitalen Transformationsmanage-
ments auf und enthält Anwendungsbeispiele auf Basis bestehender Science-Fiction-
Kunstformen bzw. als kreatives interaktives Workshop-Format.
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 111

Science-Fiction als Methode des digitalen Transformationsmanagements

Utopie Dystopie Zukunftstrichter Anti-Dystopie


Definition Szenario einer idealen Schreckenssze- Szenariotechnik: Positiver Umgang mit Dys-
positiven Zukunft nario der Zu- Utopie vs. Dysto- topie durch Akzeptanz von
kunft pie Mehrdeutigkeiten
Möglichkeiten Reflexion über wün- Reflexion des Thinking outside Empowerment zum positi-
im Change- schenswerte Entwick- Worst Case- the box; Erweite- ven Digital Mindset-
management lungen, Awareness für Szenarios, Bear- rung des Bezugs- Change; Entwicklung krea-
Zukunftsthemen, positi- beitung von rahmens durch tiver wünschenswerter Vi-
ves Framing von tech- Ängsten ggü. Szenariowechsel sionen für Zukunftsfragen
nischem Fortschritt technologi- einer „VUCA-Welt“ [5]
schem Wandel
durch konstruk-
tive Problemlö-
sungen
Grenzen im Resignation bei uner- Festigung von Schwarz-weiß Erfordert Zeit, Offenheit
Change- reichbarem Idealzu- Wandelbarrie- Denken zwischen und „geschützte“ Räume
management stand (Anti-Utopie); ren durch Angst Utopie oder Dys- zur Entfaltung von Kreati-
Stabilisierung des Sta- vor der Zukunft topie; lineare Ext- vität
tus quo durch Flucht in remszenarien und
parallele Traumwelt; extreme Prob-
Utopie als zukünftige lemlösungen
Komfortzone
Anwendungs- z. B. Science-Fiction Bekannte Sci- z. B. utopischer Serious Games wie z. B.
format: Nut- Genre „Solar Punk“ ence-Fiction und dystopischer „The Future Game 2050“
zung beste- Filme, z.B. Hol- Podcast aus der
hender Sci- lywood Block- „Zukunft“ der
ence-Fiction buster wie „Ter- Bundeszentrale
minator” oder für politische Bil-
„Matrix” dung [6]
Anwendungs- Entwicklung von utopi- Entwicklung von Klassische Sze- Science-Fiction- Zukunfts-
format: inter- schen Narrativen dystopischen nariotechnik im labore, entlang verschie-
aktiver Work- Narrativen Kontext des Zu- dener Phasen und Zu-
shop kunftstrichters kunftsperspektiven

In diesem Beitrag wurde Science-Fiction als besondere Methode mit vielfältigen Ein-
satzmöglichkeiten im Changemanagement vorgestellt. Science-Fiction kann in Form
von Geschichten und Filmen als Tool für eine kritische Reflexion verschiedener Zu-
kunftsthemen des digitalen Wandels – wie z. B. künstliche Intelligenz – genutzt werden.
Darüber hinaus ermöglicht Science-Fiction einen Zugang zur kreativen Auseinander-
setzung mit alternativen technologischen Entwicklungen. In Science-Fiction-Zukunfts-
laboren lassen sich positive und negative Szenarien (Utopien und Dystopien) konstru-
ieren und gegenüberstellen. Darüber kann im anti-dystopischen Sinne ein fruchtbarer
Diskurs über konkrete Möglichkeiten der aktiven Gestaltung einer wünschenswerten
Zukunft im Hier und Jetzt bereitet werden.
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 112

Literaturverzeichnis & Verweise


[1] Wir folgen einer breiten Definition von Künstlicher Intelligenz, worunter regelba-
sierte Expertensysteme genauso verstanden werden wie solche Systeme, die auf
künstlichen neuronalen Netzen basieren. Diesem Verständnis folgt auch die Definition
der deutschen KI-Strategie (Die Bundesregierung 2019).

[2] Der Trailer zum Blockbuster „Ex_Machina“ kann unter folgendem Link angeschaut
werden: www.youtube.com/watch?v=ds0B0apvkS0 (10.01.22).

[3] Ein Video von Hanson Robotics über „Sophia Awakens“ findet sich unter folgenden
Link: www.youtube.com/watch?v=LguXfHKsa0c (10.01.

[4] Website von TheFutureGame2050: www.thefuturegame2050.com (10.01.21).

[5] VUCA ist ein Akronym und steht für volatility, uncertainty, complexity, ambiguity.

[6] Der Dystopie-Podcast ist zu sehen unter: www.bpb.de/mediathek/309812/m-03-


02-dystopie-podcast (10.01.22); der Utopie-Podcast unter: www.bpb.de/media-
thek/309811/m-03-01-utopie-podcast (10.01.22).
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 113

Bergheim, S. (2020): Zukünfte: Offen für Vielfalt. ZGF Verlag, Frankfurt/Main.

Cave, S./Dihal, K. (2019): Hopes and fears for intelligent machines in fiction and reality,
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Die Bundesregierung (2018): Strategie Künstliche Intelligenz. Berlin https://www.bun-


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Doppler, K./Lauterburg, C. (2019): Change Management: Den Unternehmenswandel


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Affective Computing – Empathie für Mensch


und Maschine

CAROLIN ENKE, MITTELSTAND-DIGITAL ZENTRUM ZUKUNFTSKULTUR

Künstliche Intelligenz (KI) findet ver-


Emotionen lenken die Aufmerk- mehrt Einsatz in zahlreichen Arbeits-
samkeit und beeinflussen die Ent- und Lebensbereichen. Ob bei der Ana-
scheidungsfindung. Da das lyse von großen Datenmengen, dem au-
menschliche Sozialverhalten un- tonomen Fahren oder dem Online-
mittelbar auf Emotionen beruht, ist
Shopping. Treffen Mensch und Ma-
es naheliegend, dass auch künstli-
schine in der Kommunikation aufeinan-
che Systeme Emotionen in der In-
teraktion mit dem Menschen be- der, wird sichtbar, dass der Technologie
rücksichtigen. Um Emotionen zu er- empathische Fähigkeiten fehlen, welche
kennen und zu klassifizieren, bedarf in der Zusammenarbeit und Kommuni-
es empathischer (zutiefst menschli- kation mit dem Menschen unabdingbar
cher) Fähigkeiten. Technologien sind. Empathie ist die Voraussetzung
hingegen benötigen eindeutige In-
dafür, sich in den Gefühlszustand seines
putdaten. Das schafft Herausforde-
Gegenübers zu versetzen und damit das
rungen und macht Raum für krea-
tive KI-Lösungen. Ob in Pflegeein- Miteinander gefühlsecht zu gestalten.
richtungen, beim Vermitteln von Sprachsysteme wie Alexa und Siri ver-
Lerninhalten oder dem Autofahren stehen bisher nur Befehle und einfache
– die Praxis zeigt zahlreiche An- Anfragen. Demgegenüber wurden unter
wendungsbeispiele dafür, wie der dem Stichwort „empathischer KI“ Sys-
Einsatz von empathischer KI gelin-
teme mit dem Anspruch entwickelt,
gen kann.
emotionale Signale empfangen und
wiedergeben zu können. Bei einer em-
pathischen KI stehen der Dialog sowie
Äußerungen, die sich aufeinander beziehen, im Mittelpunkt. In diesem Zusammenhang
spricht man von Affective Computing, auf Deutsch „gefühlsbetonte Datenverarbei-
tung“. Hierbei erfolgt eine Untersuchung von Mimik und Gestik für die Klassifizierung
von Emotionen, wie Freude, Angst oder Ärger. Es bleibt die Frage, wie gut und wie
vollständig sich die empathischen Fähigkeiten von Menschen durch Technologie wie
die Gesichts- oder Pupillenanalyse abbilden lassen.
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Unsere Emotionen – Die Basis für eine empathische Technologie


Bedeutung von Emotionen

Was wir fühlen, wie intensiv unsere Gefühle sind und was davon wir mit unserer Um-
welt teilen ist höchst individuell, unterschiedlich und hängt von zahlreichen Faktoren
ab. Dies lässt darauf schließen, wie komplex und vielschichtig der menschliche Ge-
fühlshaushalt ist. Die Psychologie nähert sich den Gefühlen des Menschen zum Bei-
spiel dadurch, dass sie Emotionen herausstellt. Diese Emotionen sind gekennzeichnet
durch Gesichtsausdrücke, welche Menschen von Geburt an aufweisen und welche
auch bis zu einem gewissen Grad gleich ausgedrückt werden. Eine Emotion ist eine
Reaktion auf einen Reiz, die durch körperliche Erregung und durch subjektive Wahr-
nehmung hervorgerufen wird. Hierbei werden zwei Arten von emotionalen Zuständen
unterschieden: Basisemotionen und Nicht-Basisemotionen. Basisemotionen sind durch
den Menschen gar nicht oder nur sehr schwer zu unterdrücken und entstehen automa-
tisch in einer Person. Typische Beispiele für Basisemotionen sind Angst, Überraschung,
Freude, Ekel, Ärger oder Trauer. Diese Emotionen weisen muskuläre Reaktionsmuster
auf, die sich kulturell kaum voneinander unterscheiden. So ist beispielsweise bei Ärger
Stirnrunzeln aktiviert, die Nase leicht gerümpft und die Lippen sind schmal. Nicht-Ba-
sisemotionen sind solche Emotionen, die einer gewissen Kontrolle unterliegen, d. h., sie
werden durch den Menschen und zum Teil durch seinen Charakter hervorgerufen. Bei-
spiele für Nicht-Basisemotionen sind Langeweile, Verwirrung, Frustration oder Neugier.
Eine Emotion stellt somit eine innere Erregung da, die häufig mit beobachtbaren Aus-
drucksverhalten wie Gestik, Mimik und anderer nonverbaler Kommunikation einherge-
hen. Diese körperlich auftretenden Komponenten geben uns einen Einblick in den emo-
tionalen Zustand des Menschen und sind ein Ausdruck von Kommunikation
(Kampling/Heger/Niehaves 2017, S. 8f.).

Drei zentrale Funktionen von Emotionen

Emotionen besitzen drei zentrale Eigenschaften: Sie sind informativ, situativ und sozial.
Zum Ersten dienen Emotionen dazu, uns die Relevanz von Reizen und Ereignissen im
Hinblick auf unsere Bedürfnisse, Pläne und Ziele anzuzeigen. Zweitens dienen sie dazu,
uns auf den Umgang mit der gegenwärtigen Situation vorzubereiten. Orientiert an den
individuellen Bedürfnissen lenken Emotionen somit unser Verhalten sowie unsere Mo-
tivation und unterstützen uns dabei, uns an situative Gegebenheiten anzupassen. Wer-
den wir bedroht löst dieser Zustand ein Gefühl der Angst in uns aus sowie das Bedürf-
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nis zu fliehen. Drittens haben Emotionen eine soziale Funktion. Sie dienen dazu, ande-
ren Menschen etwas über unseren Zustand zu vermitteln. Emotionen sind somit ein
wesentlicher Faktor der Beziehungsgestaltung, denn sie sind ein Ausdruck unserer Ge-
fühle und eröffnen dem Nächsten die Möglichkeit, auf uns zu reagieren (Bak 2019, S.
177ff.).

Ausdrucksformen von Emotionen

Emotionen sind die Grundlage unseres Erlebens und ermöglichen es, angemessen auf-
einander zu reagieren. Vielen Menschen fällt es schwer, eigene Gefühle zu verbalisie-
ren oder auch offen über Gefühle zu sprechen. Daher ist es förderlicher, wenn unsere
Emotionen zum Ausdruck bringen, wie wir uns fühlen und damit die Möglichkeit eröff-
net wird, in den Dialog zu gehen. Bei Kommunikation denken wir zunächst sofort an
Sprache. Schätzungen zufolge ist jedoch die nonverbale Kommunikation in Form der
Körpersprache weitaus wichtiger für das gegenseitige Verständnis. Mimik und Körper-
sprache vermitteln oftmals weitaus wichtigere Informationen über den Menschen als
seine Worte, denn erstere werden meist nicht bewusst kontrolliert. Unsere Körperspra-
che bringt demnach vieles zum Ausdruck: Emotionen, Einstellungen, Sympathien und
zum Teil auch unsere Motive. So verrät die Sitzposition des Gegenübers, ob er/sie sich
in der gegebenen Situation wohlfühlt oder nicht. Emotionen sind damit nicht nur sub-
jektive Erlebnismuster, sie beeinflussen auch die Körperkoordination, angefangen bei
der Mimik über unseren Stimmausdruck bis hin zur gesamten Körperhaltung. Das Aus-
drucksverhalten hat somit stets eine kommunikative Ebene. Damit die kommunikative
Funktion von Emotionen sich im Austausch bewährt, muss der Mensch über ein Ver-
ständnis seiner eigenen Emotionen verfügen. Hierüber werden ihm auch die Emotionen
seiner Kommunikationspartner:innen zugänglich. Es ist ihm möglich, zu verstehen und
sich in andere Gefühlslagen hineinzuversetzen. In diesem Zusammenhang spricht man
von Empathie.

Empathie - Die menschliche Fähigkeit, Emotionen zu verstehen


Einer der wichtigsten Kompetenzen des Menschen ist die Empathie. Sie beschreibt die
Fähigkeit, sich in die Gefühlswelt des Gegenübers hineinzuversetzen und dessen Emp-
finden nachzuvollziehen. Jeder Mensch verfügt von Geburt an über empathische Fähig-
keiten. Die körperliche Grundlage dafür sind sogenannte Spiegelneuronen, die sich
zwischen dem dritten und vierten Lebensjahr beim Menschen entwickeln. Diese Ner-
venzellen sind dafür zuständig, Gefühle und Handlungen zu verstehen. Dennoch sind
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nicht alle Menschen dazu in der Lage, sich in andere einzufühlen und mit ihnen zu leiden
oder sich mit ihnen zu freuen. Mit der Äußerung von Emotionen richtig umgehen zu
können, setzt voraus, dass der Mensch sich seiner eigenen Emotionen bewusst ist. Je
besser eigene Gefühle wahrgenommen werden, umso leichter fällt es, die Emotionen
bei anderen zu erkennen und zu verstehen.

Empathie verbindet Menschen auch dann miteinander, wenn ganz unterschiedliche


Meinungen bestehen. Sie ist ein wichtiger Bestandteil für die Gestaltung von Bezie-
hungen und hat positive Auswirkungen auf unsere Persönlichkeit und unseren Alltag.
Menschen mit hoher Empathie verarbeiten Gefühle besser, blenden Stress- oder Kon-
fliktsituationen leichter aus und besitzen die Fähigkeit, ihre Gedanken zu sortieren und
bewusst zu reagieren. Empathische Menschen bewerten im Dialog mit dem Nächsten
die emotionale Verfassung nach den folgenden vier Säulen:

• Wahrnehmung: Wie geht es dem anderen? Anhand von Stimme, Mimik und
Gestik kann der Mensch die Gefühle des Gegenübers erkennen.
• Verständnis: Warum geht es ihm/ihr so? Im nächsten Schritt werden die Motive,
Ursachen, Bedürfnisse für die emotionale Verfassung des Gegenübers näher
beleuchtet.
• Antizipation: Wie wird der/die andere weiterhin reagieren? Hier heißt es, sich
damit auseinanderzusetzen, welche Folgereaktionen eigene Worte und Hand-
lungen beim Gegenüber auslösen.
• Resonanz: Wie reagiere ich auf potenziell auftretende Reaktionen? Mithilfe un-
serer Handlungen und Worte geben wir unserem Nächsten ein Gefühl der Ak-
zeptanz und verhalten uns zu seinem Besten.

Empathie ist erlernbar. Damit dies gelingen kann, spielen folgende Aspekte eine wich-
tige Rolle:

• Das Kennenlernen seiner Selbst. Bevor die Gefühle eines anderen wahrgenom-
men werden können, benötigt der Mensch ein Bewusstsein über seine eigenen
Gefühle. In diesem Zusammenhang spielt die eigene Selbstreflexion eine be-
deutende Rolle.
• Die Emotionen meines Gegenübers. Im Gespräch heißt es, zwischen den Zeilen
zu lesen und nicht konkrete Aussagen miteinzubeziehen. Hierfür wird die Auf-
merksamkeit bewusst auf Stimme, Mimik und Gestik gelenkt.
• Das Zeigen von Interesse. Damit Empathie entwickelt werden kann, muss ein
grundsätzliches Interesse an den Gefühlen anderer bestehen und es müssen
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Gesprächsmöglichkeiten geschaffen werden, bei denen es erlaubt ist, offen


seine Bedürfnisse zum Ausdruck zu bringen.
• Nachfragen, wie z-B. „Was macht dich so glücklich?“ – Mit den richtigen Fragen
wird dem Gegenüber ein Interesse an dessen Gefühlslage vermittelt und man
erhält Informationen, die dabei unterstützen, Emotionen zu verstehen.

Menschen neigen dazu, schnell zu urteilen, wenn sie etwas nicht verstehen. Für den
Menschen, der die Emotion selbst erlebt, ist diese real. Indem wir uns bewusst machen,
dass wir die Emotionen des Gegenübers bedingungslos anerkennen und nicht bewer-
ten, kann ein besseres Verständnis für die Gefühlslage entstehen.

Empathische Menschen wirken zugänglich und vermitteln das Gefühl, dass sie sich für
das Gesagte interessieren: Sie hören zu, erfassen, was den Nächsten beschäftigt und
besitzen die Fähigkeit, die Botschaften zwischen den Worten zu hören. Wenn eigene
Emotionen vorherrschen, sind Empathie, das Interesse an der anderen Person sowie
die Bereitschaft, diese verstehen zu wollen, eingeschränkt. Um Emotionen zu erkennen,
bedarf der Mensch empathische Fähigkeiten. Technologie hingegen benötigt Inputda-
ten für das Erkennen von Emotionen (Lichtenberg 2021, S. 43ff.).

Emotionen messen – Ein Vergleich von Mensch und Maschine


Gefühlsausdrücke des Menschen

Indem wir die Aufmerksamkeit auf Gesprächspartner richten, können wir ihre Körper-
sprache deuten. Oft sehen wir eine völlig andere Perspektive als die verbalisierte und
können somit unser Gegenüber besser verstehen. Die nonverbalen Botschaften der
Kommunikation lassen sich inzwischen recht gut objektivieren. Beim Messen von Emo-
tionen stehen Aspekte, wie die Stimme, Gestik, Körperrhythmus und Körperhaltung so-
wie Gesichtsausdruck und Mimik zur Verfügung. Spricht eine Person in einer hohen
Tonlage oder schweigt sie desinteressiert? Bewegt sie ihren Körper schnell vor und
zurück oder präsentiert sie sich in einer zusammenfallendenden Sitzposition? Setzt sie
ihre Hände beim Sprechen ein oder legt sie ihren Kopf auf die Seite? All diese Anzei-
chen geben objektivierbare Einblicke in die Gefühlswelt des Menschen.

Neben der Mimik, Gestik und Körpersprache dient auch die Stimme als eine große In-
formationsquelle für die Analyse von Emotionen. Unsere Stimme enthält messbare
emotionale Merkmale wie Tonlage, Stimmklang, Sprachmelodie und -rhythmus. Diese
Parameter geben Aufschluss darüber, in welchem psychischen und emotionalen Zu-
stand sich die Person gerade befindet und das ganz unabhängig vom eigentlichen In-
halt des Gesagten (Argyle 2013, S. 11f., 16f., 18, 101ff.).
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Indem sich Technologie menschlicher Ausdrucksformen, wie Mimik, Gestik, Körper-


sprache und Stimme bedient, entsteht die Möglichkeit, den Gefühlszustand eines Men-
schen zu erkennen, zu bewerten und darauf individuell zu reagieren. Das objektivierte
Unterscheiden von menschlichen Emotionen wird somit zur Grundlage für die Entwick-
lung einfühlsamer Fähigkeiten von künstlicher Intelligenz.

Technologische Messverfahren für ein digitales Verständnis von


Emotionen
Empathie ist eine im gegenseitigen Verständnis der Menschen begründete Fähigkeit,
welche auf der Kommunikationsfunktion der Emotionen beruht. Die Maschine nutzt di-
gitale Emotionserkennungssysteme, mit deren Hilfe Emotionen erkannt und entspre-
chendes Verhalten abgeleitet werden. Bei der digitalen Emotionserkennung erfolgt
eine automatisierte und echtzeitbasierte Analyse von Emotionen. Hierbei werden
Messgrundlagen aus Informatik, Medizin und Psychologie herangezogen, um mensch-
liche Reaktionen zu erfassen, zu bewerten, zu klassifizieren und zu interpretieren. Im
Folgenden werden zwei technologische Messverfahren näher beschrieben, welche für
die Analyse menschlicher Emotionen herangezogen werden: das Facial Action Coding
System (FACS) (deutsch: Gesichtsanalyse) und Eye-Tracking (deutsch: Pupillenana-
lyse).

Bei der Gesichtsanalyse handelt es sich um Messungen, die Gesichtsbewegungen er-


kennen und verschiedenen Emotionen zuordnen. Neben der Bewegung von Gesichts-
muskeln werden auch Kopf- und Augenbewegungen berücksichtigt. Dabei wird das
Gesicht gefilmt, während es unterschiedlichen Reizen ausgesetzt ist. Auf diese Weise
lässt sich bestimmen, welche Emotionen beim Betrachten eines Reizes empfunden
werden. Die Analyse zerlegt die menschliche Mimik in 44 Einzelteile, aus denen sich
einzeln oder in der Kombination mit mehreren Teilen alle mimischen Ausdrücke be-
schreiben und klassifizieren lassen.

Die Pupillenanalyse erfasst die visuelle Aufmerksamkeit. Die Aufmerksamkeit des


Menschen lässt darauf schließen, welche Reize dieser in seiner Umgebung wahrnimmt.
Neben Blickbewegungen werden auch Indikatoren berücksichtigt wie Time-to-first-fi-
xation (TTFF) und Time-to-Click (TTC). TTFF gibt die Dauer vom ersten Erscheinen des
visuellen Reizes bis zur ersten Wahrnehmung an. Die Fixationsdauer misst die Länge
der visuellen Betrachtung, d. h. über welche Zeitspanne sich die Aufmerksamkeit des
Menschen auf einen bestimmten Reiz fokussiert. Der TTC Indikator findet vor allem in
der Werbung Anklang. Gemessen wird die Zeit zwischen der Betrachtung eines Reizes
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und der daraus angestrebten Handlung. Die Pupillenanalyse bereichert die Emotions-
analyse, indem erkannt wird, welcher visuelle Reiz eine bestimmte Emotion oder Re-
aktion auslöst.

Für die Erkennung von Emotionen stehen der Technologie viele weitere Datenquellen
zur Verfügung, wie die Zusammensetzung der Atemluft, die Leitfähigkeit der Haut, der
Klang der Stimme, die Wahl der Worte und der Pulsschlag (Hahn/Klug/Riedmüller
2020, S. 24ff.; Ottler 2016, S. 137ff.)

Bevor die Technologie eine Emotion des Menschen erkennen kann, muss eine Unter-
scheidung von Gefühlszuständen vorgenommen werden. Hierfür werden vielfach die
bekannten Basisemotionen herangezogen. Darauf aufbauend kann die Technologie
programmiert werden, um entsprechend der aufkommenden Emotionen empathische
Reaktionen und Antworten zu verzeichnen. Auffällig ist, dass sich Emotionserken-
nungssysteme derzeit nur auf eine sehr grobe Unterteilung menschlicher Gefühle be-
schränken. Vor allem die Vermischung von verschiedenen Emotionen stellt eine große
Herausforderung für die Technologie dar.

Mehr als nur eine Maschine – Potenziale von emotional intelligenten


Technologien
Affective Computing ist ein wichtiger Baustein für die Ausgestaltung der Schnittstelle
zwischen Mensch und Maschine. Auch wenn Technologien niemals zu echter Empathie
durchdringen werden, sind sie in der Lage, eine sachgerechte Bewertung des Gefühl-
zustands vorzunehmen. Somit kann Künstliche Intelligenz nicht nur Routineaufgaben
im Büro erledigen, Versicherungsfälle abwickeln oder Teile der Kundenkommunikation
führen, sondern auch für anspruchsvolle Tätigkeiten eingesetzt werden. Besonders in
sehr stressbelasteten Arbeitsumgebungen wie einem Krankenhaus, in denen über ei-
nen längeren Zeitraum hohe Aufmerksamkeit bestehen muss, können empathische
Technologien die Sicherheit für Ärzteschaft und Patient:innen verbessern. Indem
Stresssituationen und emotionale Ausnahmezustände erkannt werden, eröffnet das
die Möglichkeit einer frühzeitigen Reaktion sowie das Anstoßen entsprechender Maß-
nahmen.

Ob in Pflegeeinrichtungen, beim Vermitteln von Lehrinhalten oder dem Autofahren:


Wie der Einsatz von empathischer KI gelingen kann, zeigen die folgenden Anwen-
dungsbeispiele.
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Emotionssensitive Pflegeroboter

Roboter sind Maschinen, die dem Aussehen des Menschen ähneln können und Funkti-
onen übernehmen, die sonst von Personen ausgeführt werden. Diese Art von Techno-
logie wird immer häufiger in verschiedenen Lebensbereichen angetroffen. Sehr deut-
lich wird dies am Beispiel von Haushalts- und Pflegerobotern, denen im Hinblick auf
eine alternde Gesellschaft verstärkt die Rolle eines/einer Mitbewohner:in und Wegge-
fährt:in zukommt. Erste Pflegeeinrichtungen und Krankenstationen in Deutschland set-
zen gezielt Roboter für Alltagsaufgaben und Interaktionserlebnisse ein. Der emotions-
sensitive Roboter unterstützt hier bei körperlichen Aufgaben wie dem Aufräumen und
Sauberhalten der Wohnung, dient als Hilfe bei der persönlichen Hygiene, kann aber
auch kognitive Aufgaben übernehmen wie z. B. die Erinnerung zur Einnahme von Me-
dikamenten oder das Vorlesen von Geschichten. Der Einsatz von Technologie stellt da-
mit eine Assistenz für Einrichtungen dar und ermöglicht es älteren Menschen, länger
ein selbstständiges Leben zu führen (Janowski/Ritschel/Lugrin/André 2018, S. 63, 71ff.,
75ff.).

Emotionssensitive Lernsysteme

Emotionen, vor allem auch negative, sind beim Lernen nicht vermeidbar und spielen
eine entscheidende Rolle für den Lernerfolg. Darüber hinaus besitzt jeder Mensch sein
eigenes Lerntempo und -vorgehen bei der Aneignung von Lerninhalten. Empirische Be-
funde zeigen sogar einen hinderlichen Zusammenhang zwischen negativen Emotionen
und dem Lernerfolg. Die bisherige Forschung hierzu nähert sich dem Thema vor allem
durch Methoden, mit deren Hilfe die Emotionen der Lernenden von außen reguliert
werden sollen. Durch gestalterische Raumelemente sowie die Regulierung von Pausen
und Störgeräuschen wird die Lernumgebung so gestaltet, dass positive Emotionen her-
beigeführt werden. Erste Forschungen im Projekt „Affective Autotutor“ zeigen, dass ein
emotionssensitives Lernsystem den Gemütszustand über Körpersprache, Gesichts-
und Spracherkennung beim Lernenden erfassen kann, um somit Anforderungen anzu-
passen und Hilfestellungen zu leisten. Das bedeutet etwa, dass eine Person, die Frust-
rationen erkennen lässt, leichtere Aufgaben erhält, um besser motiviert zu werden, und
jemand, der gelangweilt wirkt, stärker gefördert wird. Eine emotionale KI kann somit
direkt Einfluss auf die Emotionen der Lernenden nehmen und motivierende Lernerfolge
mitgestalten (Kampling/Heger/Niehaves 2017, S. 6f.).
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Emotionssensitives Fahrerassistenzsystem

Fahrerassistenzsysteme wie Brems- und Spurhalteassistenten, Regensensoren sowie


Tempomate sind weitverbreitete Technologien in Fahrzeugen, welche eine erhöhte Si-
cherheit für Fahrer:innen und andere Verkehrsteilnehmer:innen im Straßenverkehr ge-
währleisten. Bei emotionssensitiven Fahrerassistenzsystemen handelt es sich um inte-
grierte Kameras im Fahrzeug, die über Sensoren den emotionalen Zustand wie z. B. die
Verringerung der Aufmerksamkeit des Fahrenden erkennen. Das hierdurch auftretende
Risiko wird durch nutzerspezifische Warnungen, z. B. Leucht- oder Akustiksignale be-
einflusst. Eine andere Möglichkeit bieten solche Fahrerassistenzsysteme durch die Ver-
netzung mit weiteren Systemen im Fahrzeug. Hierbei wird das Assistenzsystem mit
einem Brems- oder Spurhaltesystem des Autos gekoppelt, um bei erhöhtem Risiko in
die Brems- und Lenkvorgänge des Fahrzeugs einzugreifen. Fahrerassistenzsysteme,
die während des Fahrens gezielt den emotionalen Zustand des Fahrenden analysieren
und entsprechende Handlungen anstoßen, tragen maßgeblich zur Verbesserung der
Verkehrssicherheit bei (Kampling/Heger/Niehaves 2017, S. 10f.).

Glaubwürdige digitale Gefühlsausdrücke

Für den Aufbau eines Vertrauensverhältnisses benötigt die Maschine neben dem Ein-
ordnen und einem angemessenen Reagieren auf menschliche Emotionen auch selbst
einen glaubhaften emotionalen Ausdruck in der Kommunikation. Um Emotionen zu si-
mulieren, besitzen manche Technologien - vor allem Roboter - zusätzliche Motoren zur
Bewegung von Mundwinkeln, Augenbrauen, Augenlidern oder auch Ohren. Weitere
Möglichkeiten sind die Anpassung der Sprachausgabe und das Abspielen emotional
behafteter Geräusche, etwa Weinen oder einer fröhlichen Fanfare, sowie der Einsatz
von Farbsignalen, welche physiologische Reaktionen wie Erröten und Erblassen nach-
ahmen können. Die Maschine ist somit inzwischen so weit entwickelt, verbale und non-
verbale Signale, wie das Herstellen von Blickkontakt, Nicken oder Kopfschütteln zu si-
mulieren und gezielt einzusetzen. Wenn ‚intelligente‘ Maschinen den Gefühlszustand
des Menschen besser verstehen lernen und durch ihre technischen Möglichkeiten eine
einfühlsame Kommunikation gestalten können, steigen die Akzeptanz und das Ver-
trauen gegenüber computergestützten Systemen. Damit eröffnet sich die Möglichkeit,
eine Technologie als Wegbegleiter:in oder auch Teampartner:in einzusetzen
(Janowski/Ritschel/Lugrin/André 2018, S. 71 ff.).
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Fazit
Emotionen lenken unsere Aufmerksamkeit und beeinflussen unsere Entscheidungsfin-
dung. Da das menschliche Sozialverhalten stark auf Emotionen beruht, ist es nahelie-
gend, dass auch künstliche Systeme Emotionen berücksichtigen müssen, sofern sie mit
Menschen interagieren. Für die Interaktion zwischen Mensch und Maschine bedeutet
das, dass menschliche Emotionen zuverlässig erkannt und differenziert werden und
angemessen auf diese reagiert wird. Die Entwicklung von Maschinen mit der Fähigkeit
zur Empathie stellt jedoch eine Herausforderung dar. Zum einen werden Kenntnisse
über Gefühlszustände eines Menschen benötigt, die sich teilweise unbewusst und auf
vielfältige Weise in dessen Mimik, Gestik, Körperhaltung und Sprache widerspiegeln.
Zum anderen muss die Technologie über die Fähigkeit verfügen, sich in die Gefühle des
Gegenübers, wie z. B. Stress oder Ärger, hineinzuversetzen, um angemessen auf diese
reagieren zu können. Diese Fähigkeit erfordert eine Vertrautheit mit dem Erlebnis einer
Emotion.

Erste Anwendungsbeispiele (vgl. Abschnitt 4) zeigen, dass es der Technologie möglich


ist, eine empathische Kommunikation und Zusammenarbeit mit dem Menschen einzu-
gehen. Damit die Maschine diese ausführen kann, ist sie abhängig von der Empathie
des Menschen. Denn die Technologie ist ein durch den Menschen gestaltetes Objekt.
Somit steht am Anfang solcher Entwicklungen das menschliche Wissen über die Em-
pathie. Je mehr sich der Mensch in dem Verständnis für Empathie übt, desto mehr Mög-
lichkeiten stehen ihm beim Programmieren von IT-Anwendungen zur Verfügung.
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 125

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Kreativität in Kunst und Wirtschaft

KRISTINA BODROŽIĆ-BRNIĆ, WORLDTRIBE

Erst in der sogenannten Moderne und


Der Dialog zwischen Kreativbran- vorwiegend im 20. Jahrhundert wurden
che (einschließlich Kunst) und an- Kunst und Wissenschaft voneinander
deren Industrien kann über techno- getrennt. In zahlreichen früheren euro-
logische Entwicklungen gestärkt päischen und asiatischen Kulturen stu-
werden und führt gerade im Be- dierten die gesellschaftlichen Eliten Na-
reich der Künstlichen Intelligenz zu
turwissenschaften und Historie gleich-
essenziellen, den Menschen ins
Zentrum rückenden Veränderun- berechtigt neben Malerei, Musik oder
gen. Hochwertige Integrationsleis- Poesie. Nicht umsonst galt Athene’ in
tungen und die Berücksichtigung der griechischen Mythologie sowohl als
ethischer Fragen sind dabei Ziele, Schutzgöttin der Kunst wie auch der
die es zu erreichen gilt. Diskutiert Wissenschaft. Die recht junge Trennung
werden u. a. eine Arbeit des welt-
zwischen den beiden Bereichen, unter-
weit etablierten Künstlers Refik A-
stützt durch Industrialisierung und mas-
nadol und das ImageNet Roulette
der University of California, Ber- sive politische Verwerfungen, führte
keley. dazu, dass Kunst eher als ineffizientes
Beiwerk in der sozialen Realität gesehen
wurde und noch immer als solches be-
trachtet wird. Interessanterweise führt
die Digitalisierung und insbesondere die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz zu ei-
ner Rückbesinnung darauf, Kreativität und industrielle Innovationen zusammenzubrin-
gen und sogar miteinander in einen inspirierenden Dialog treten zu lassen.

Und in der Tat: Erst seit wenigen Jahren wird so intensiv und anwendungsbezogen über
Künstliche Intelligenz (KI) gesprochen. Allerdings ist Künstliche Intelligenz kein brand-
neues Thema. Bereits seit Jahrzehnten wird über Funktion und Wirkung von KI disku-
tiert. Tatsächlich wurde schon in den 1970er Jahren an Computertechnologien ge-
forscht, die selbstlernend und zu „menschenähnlichen“ Schlussfolgerungen in der Lage
sind. Der Begriff „Künstliche Intelligenz” wurde erstmals 1956 geformt. Seitdem ist viel
passiert. Insbesondere „Künstliche Neuronale Netzwerke“ (KNN) haben es möglich ge-
macht, KI tatsächlich „menschentauglich“ zu machen. Was genau an solchen KNN-Lö-
sungen anders ist und wie dabei auch die Kunst ins Spiel kommt, möchte ich in den
folgenden Ausführungen erörtern.
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Das Verhältnis von Kreativität & KI


Als jemand, der mit digitaler Kommunikation arbeitet und gleichzeitig schon immer
kunstbegeistert war, bin ich 2018 zum ersten Mal dem Thema der Künstlichen Intelli-
genz in der Kunst begegnet. Anlass war, dass ich im Rahmen eines Kunstprojekts mit
einer Gruppe brasilianischer Kreativschaffender zusammenarbeitete. Meine damaligen
Kolleginnen und Kollegen versuchten miteinander die Grenzen von Algorithmen in der
Poesie zu erkunden. Es ging darum, die „unübersetzbaren“ Ideen der geistigen Schöp-
fung von Menschen darzustellen, also eine Poesie zu zeigen, die von Computern nicht
nachvollzogen werden konnte, weil diese Gedichte originär menschliche Schöpfungen
waren. Das Werk, auf das ich mich hier beziehe, hat den vielsagenden Titel „Untitled”
(Abb. 1). Dieses aus meiner Sicht sehr interessante und noch immer hochaktuelle Werk
wird ebenfalls in der hier vorliegenden Publikation von Graziele Lautenschlaeger im
Artikel „UNTITLED: Eine Übung zur (Un-)übersetzbarkeit poetischer Inhalte” vorge-
stellt.

Abbildung 1: Ein Screenshot aus der Arbeit „Untitled“, Graziele Lautenschlaeger, Fabrizio Poltronieri und Radamés Ajna 2019.

Kunst beruht auf Kreativität - aber was ist Kreativität? Hier scheiden sich bis heute die
Geister! Wir verwenden diesen Begriff gleichermaßen bei den spielerischen Zeichnun-
gen von Kindern wie bei Arbeiten etablierter klassischer und zeitgenössischer Künstler.
Kreativ kann auch eine politische Lösung, ein Kochrezept oder die Inneneinrichtung ei-
ner Wohnung sein. Auch in täglichen Arbeitsprozessen loben wir unsere Kolleg:innen
für „kreative“ Lösungen oder Start-ups für ihren Innovationsgeist. Der Begriff „Kreativi-
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 129

tät“ scheint also in erster Linie die menschliche Eigenschaft zu sein, etwas Neues, Über-
raschendes und Originäres zu schaffen. Die Grenzen der eigenen Möglichkeiten und
den vorgegebenen Gestaltungsrahmen in Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft neu oder
aus anderer Perspektive zu deuten oder zu verschieben. Kreativität ist somit nicht ein-
deutig definierbar und gewinnt gerade hierdurch an besonderem Charme.

In der vertieften Auseinandersetzung mit dem Begriff vermengen wir Kreativität gerne
mit ihrer etwas braveren Schwester, der Intelligenz. Beides, Kreativität und Intelligenz,
wurde in vielen westlichen Kulturen über lange Zeit allein dem Menschen zugeschrie-
ben. Doch nach und nach sorgten menschliche Kreativität und Intelligenz dafür, dass
auch Maschinen immer smarter wurden. Ungefähr ab dem Jahr 2000 etablierte sich
Maschinenintelligenz zunehmend im sozialen und ökonomischen Alltag. Anfangs wa-
ren wir fasziniert von Berichten über Schachcomputer oder die Verbindung von Kühl-
schränken mit dem Internet, die den Eigentümer:innen mitteilten, was denn nun fehle
und die mittlerweile sogar selbstständig die Lebensmittelbestellung durchführen kön-
nen. Was dann auch nebenher geschah, war die Geburtsstunde amerikanischer Tech-
Giganten. Unternehmen wie Google, Facebook, Apple entstanden und erreichten in ra-
santem Tempo auch außerhalb der USA ein Millionenpublikum. Solche Tech-Unter-
nehmen verstanden sehr früh die Rolle von KI als künftigen Ertragsfaktor und inves-
tierten seit jeher enorme Summen in Entwicklungen Künstlicher Intelligenz und in die
dazugehörige Forschung. Mit der Zeit führte dies zu Durchbrüchen der KI-Technologie
auf ganzer Linie.

„Kreativ“ waren die Beispiele Künstlicher Intelligenz aber noch für lange Zeit nicht.
2016 wurde Deep Learning tatsächlich erstmals als übergreifende Lösung zum Voran-
treiben von KI-Technologien bekannt, nachdem die KI AlphaGo den damaligen Euro-
pameister im Go (einem komplexen strategischen Brettspiel) besiegte. Und im magi-
schen Jahr 2018, als das selbstlernende Verfahren Generative Adversial Networks
(GAN) in der Forschung und Entwicklung Verbreitung fand, entstand ein unmittelbarer
Zusammenhang zwischen KI und den traditionellen Gestaltungsprozessen der Bilden-
der Kunst. Das oft zitierte Werk „Portrait of Edmond De Belamy” ging bei Christie’s für
bis heute sagenhafte 432.500 US-Dollar über das Pult. Und der Künstler? Ein Algo-
rithmus! Sein Name? Min G max D Ex[log(D(x))]+Ez[log(1-D(G(z)))]. Doch tatsächlich
stand hinter dem Werk das Kollektiv Obvious mit Hugo Caselles-Dupré, Pierre Fautrel
und Gauthier Vernier, die sich als Forscherkünstler verstehen. Besonders ist nach Mei-
nung des Kollektivs an diesem Portrait, dass es ein echter Ausdruck der schöpferischen
Kreativität einer KI im Bereich der Malerei sei, denn erstmals hatte eine KI selbstständig
durch Trial & Error und mit eigenständigen Lernprozessen ein Werk hervorgebracht,
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 130

das durchaus von einem Menschen hätte geschaffen sein können. Denn den „Turing-
Test” zu bestehen, dies war das Kriterium: Wenn ein Mensch nicht mehr unterscheiden
könne, was vom Menschen und was von der Maschine geschaffen ist, dann sei dies ein
klarer Beleg für die Kreativität der Künstlichen Intelligenz.

Mittlerweile arbeiten immer mehr Künstler:innen mit Künstlicher Intelligenz. Wir sehen
das Wirken von KI in allen relevanten Bereichen der visuellen Kunst, der digitalen Kunst
und auch der sozial orientierten Kunst. KI stellt dar, sie schmückt, sie hinterfragt Dinge,
sie überrascht und regt an – sie tut eben genau all das, was Kunst tun darf oder tun
sollte.

Künstler:innen, deren Wirken wir heute in diesem Bereich wahrnehmen, sind neben
vielen anderen sich etablierenden Namen beispielsweise Refik Anadol, Fabrizio Poltro-
nieri, Sougwen Chung und Mario Klingemann. Dabei gehen die Kunstschaffenden ganz
unterschiedlich vor. Refik Anadol verbildlicht spezifische Datensets, die von einer KI
durchgearbeitet werden. Fabrizio Poltronieri nutzt KI vornehmlich, um eine Verbindung
zwischen Mensch und Code herzustellen. Sougwen Chung malt mit Robotern und Ma-
rio Klingemann produziert mit KI eindrucksvolle Gemälde, die mittlerweile einer breiten
Öffentlichkeit bekannt sind. Es bestehen also sehr unterschiedliche Ansätze der In-
tegration von Künstlicher Intelligenz in der Kunstkreation. Der Anteil von Maschine und
Mensch im eigentlichen Schaffensprozess variiert dabei permanent. Die Art von Krea-
tivität, die sich hieraus ergibt, ist aber immer auf zweifache Weise mit dem Menschen
verbunden. Der erste Aspekt ist die Einspeisung von großen Datenmengen mit einer
bestimmten Zielsetzung, mal mit und mal ohne „Training“ der KI. Hinzu kommt ein
zweiter Aspekt: Hinter dem Werk, das die KI schafft, steht immer der kreativ-schöpfe-
rische Mensch, der die KI als Handwerkszeug zum eigeninspirierten Arbeiten verwen-
det, ganz wie Pinsel und Farbe es in der klassischen Malerei sind. Natürlich ist das Re-
sultat bei der Einbindung einer selbstständigen elektronischen Intelligenz weitaus
„vorhersehbarer“ als in einem „klassisch“ entwickelten Werk. Jedoch sind diese beiden
Aspekte immer die Basis und das wahrhaft kreative Potenzial einer zeitgenössischen
Kunst, die Digitales und Menschliches zu verbinden versucht.

Interessant ist bei alledem nun die Frage, wie sich diese integrative Wirkung von
menschlicher Kreativität und technologisch unterstütztem Output im ökonomischen
Kontext darstellt. Denn unser Anliegen ist es, eine Brücke zwischen dem kreativen In-
put und dem ökonomischen Output von Technologieeinsatz zu bauen. Hier sind wir
schnell bei einer zentralen Fragestellung von Unternehmen: Was kostet es mich? Und
was bringt es mir? Lange lebten wir mit dem Kosten-/Nutzen-Argument und der Wer-
tung, die Implementierung von KI sei viel zu teuer. Diese Annäherungsweise ist weit
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überholt. Der Computer-Wissenschaftler Kai-Fu Lee beispielsweise weist nach, dass


KI-Technologie heute viel günstiger ist als noch zum Beginn der KI-Visionen vor 40
Jahren. Und auch über die „utopische Phase“ der Einschätzung dessen, was KI alles
kann, sind wir längst hinweg. Denn wir sind bis heute immer noch nur dazu in der Lage,
„schwache KI“ einzusetzen, also eine Künstliche Intelligenz, die nur ganz spezifische
Probleme lösen kann und nicht etwa selbstständig neue Problemfelder sucht, analy-
siert und Lösungen darbietet, wie es in Science-Fiction-Filmen oft dargestellt wird.

Auf diesem Wege ist KI dabei, in den Unternehmen anzukommen. Das zeigen auch alle
relevanten Studien, u. a. eine Erhebung des Bundesministeriums für Wirtschaft und
Energie aus dem Jahr 2019. Laut dieser Studie haben 17.500 Unternehmen im Be-
richtskreis der Innovationserhebung KI eingesetzt und dabei etwa 4,8 Milliarden Euro
ausgegeben, also rund 270.000 Euro pro Unternehmen. Es werden immer mehr Un-
ternehmen, die ihr Geschäftsmodell auf KI ausrichten, und die Investition in KI wird über
Open Source-Tools wie beispielsweise Übersetzungsdienste, Chatbots und offene
Programmiercodes immer günstiger. Ganz oben auf der Liste stehen dabei Anwendun-
gen, die gar nicht so weit entfernt sind von kreativem Arbeiten, namentlich maschinel-
les Lernen und maschinelles Beweisen, Verfahren der Bild- oder Tonerkennung sowie
wissensbasierte Systeme.

All diese dynamischen Entwicklungen sind aber auch widersprüchlich. Denn einerseits
können Unternehmen aller Größen und Branchen vom Einsatz Künstlicher Intelligenz
profitieren. Die Möglichkeiten reichen von der Kontaktverbesserung mit Kund:innen
mittels Chatbots, Userprofilen und ähnliches, über die Individualisierung von Angebo-
ten und personalisierten Services bis hin zu Automatisierungen, Qualitätskontrollen in
der Produktion, Optimierungen der Logistik und dynamischer Preisgestaltung. Ande-
rerseits wirkt Künstliche Intelligenz auf viele Menschen, weil sie noch so neu und nicht
immer leicht zu verstehen ist, sehr befremdlich. Gerade im betrieblichen Umfeld ent-
stehen immer wieder Missverständnisse, Ängste und oft auch eine ablehnende Hal-
tung. Gefragt sind deshalb besondere Vermittlungsstrategien. KI-Kunst und weitere KI-
Kreativbereiche wie Design haben hierbei ein besonders großes Potenzial, bei Unter-
nehmer:innen und Mitarbeitenden Berührungsängste abzubauen, zum eigenen kreati-
ven Schaffen von KI anzuregen und zum Verstehen des übergreifenden Nutzens neuer
Technologien beizutragen.
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KI & Die Macht der Kunst


Warum aber ist die skeptische Haltung gegenüber KI-Technologien trotz all ihrer
Chancen und Potenziale noch so weit verbreitet? Einer der üblichen Einwände gegen
den KI-Einsatz lautet: Künstliche Intelligenz entscheidet ohne Empathie und ist unfähig
zu ethischem Verhalten, was bei der Arbeit mit Menschen von höchster Wichtigkeit ist.
Berichte über unfaire Entlassungen, fehlerhafte Verdachtsfälle bei polizeilichen Ermitt-
lungen und Diskriminierung nach Geschlecht, Alter, Herkunft und Hautfarbe häufen
sich. Trotz aller Optimierung der Algorithmen trifft eine KI immer noch keine „mensch-
lichen“ Entscheidungen, so das Argument.

Oder vielleicht ja doch? Ich habe oben am Beispiel von Kunstschaffenden ausgeführt,
dass die Verantwortung eines „errechneten“ Ergebnisses letztlich auf die Entwickler:in-
nen zurückzuführen ist. Wir sind es schließlich, die Algorithmen mit großen Datenpa-
keten „füttern“. Die KI entscheidet logisch auf Basis des „Erlernten“, also auf Basis un-
serer tatsächlich subjektiv intendierten Entscheidungsgrundlage. Diese subjektive Sicht
fließt in KI-Rechenprozesse mit ein und schafft eigene Realitäten, die sich zum Beispiel
in den viel diskutierten Filterblasen abbildet. Soziale Realität funktioniert also durchaus
nicht immer nach ethisch formulierten Prinzipien, die aus Philosophie, Religion, Politik,
Gesetzgebung und anderen normativen Quellen stammen. Künstliche Intelligenz ver-
selbstständigt sich gewissermaßen entlang der von uns unmittelbar vorgegebenen
Datenbasen.

Aber was können wir dann überhaupt noch beeinflussen, wenn wir nicht in der Lage
sind, den Lernprozess der Maschinen im Detail zu steuern? Es ist relativ einfach, Kate-
gorien wie „Winter“, „Menschen“, „Tiere“, „Malstil“ zur Dateneinspeisung zu verwenden.
Weibliche und männliche Elche haben visuell ganz klare Unterscheidungsmerkmale,
eine überschaubare Variationsbreite an Fellfarben, sie sprechen keine Fremdsprachen,
haben keine unterschiedlichen Meinungen und pochen nicht auf ihre Rechte. Menschen
zu kategorisieren ist dagegen unendlich komplex, und aus menschlichem Handeln ler-
nen zu wollen - das ist auch für die KI herausfordernd. Die Datenbasis muss „stimmen“,
das heißt, geltende gesellschaftliche Übereinkünfte zu ethischem Verhalten reflektie-
ren. Darin liegt die Verantwortung der handelnden Personen. Wie wir beispielsweise
aus Shalini Kantayyas Dokumentarfilm „Coded Bias“ (Russland, 2020) gelernt haben,
ist die/der Entwickler:in nicht wirklich unschuldig, wenn es um Benachteiligungen in
Kategorien wie Beruf, Geschlecht und Rasse geht. Denn die meisten angewandten KI-
Systeme bedienen heutzutage lediglich die technischen Lösungsvorgaben ihrer Auf-
traggeber:innen. Sie werden zu diesem Zweck relativ schnell und praktisch orientiert
programmiert, wodurch sie „tendenziös“ agieren können, und dann gleich unter Volllast
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eingesetzt, um einen bestimmten Zweck zu erfüllen. Wir kennen dies aus den Skanda-
len der KI-basierten Wählerbeeinflussung im Trump-Wahlkampf in den USA. Ethische
Fragen werden dabei nicht berücksichtigt. Und das ist nicht die Schuld der „Maschine“.
Entschuldigungen und Ausreden, wie „Diskriminierung ist eben unsere Realität!” dürfen
laut Kantayya nicht erlaubt werden, solange es Menschen sind, die Maschinen mit In-
halten „füttern“ und gegebenenfalls auch „rational“ erschlossene Ergebnisse korrigie-
ren können. KI-Ergebnisse basierend auf Datenanalysen, müssten also „manuell“ nach-
bearbeitet werden, um unseren gesellschaftlichen Grundsätzen von Gleichheit und
Freiheit gerecht zu werden.

Insofern zeigt KI-basierte Kunst, wie auch in politischen, wirtschaftlichen oder anderen
gesellschaftlichen Bereichen ein verantwortungsvoller Umgang mit KI geschehen kann.
Im Bereich der KI-Kunst treffen sich Forscher:innen, Entwickler:innen und Künstler:in-
nen, um neue Räume zu begehen. Es ist ihre Neugier und Kreativität, die Entwicklungen
vorantreibt. Sie nutzen Entwicklungen und Impulse aus unterschiedlichen Bereichen für
eigene kreative Lösungen und werden durch die entstandenen Werke ihrerseits selbst
zu einer Inspirationsquelle, beispielsweise für die Entwicklung und Nutzung von KI-
Technologien in industriellen Produktionsprozessen. Es geht also um gegenseitige,
technologiegestützte Inspiration über menschliche Kreativität.

Ein interessanter Hinweis an dieser Stelle: Historisch betrachtet hatte Kunst immer das
Potenzial, der Gesellschaft verborgene oder übersehene Wirklichkeiten aufzuzeigen.
Kunst vermochte es, Augen zu öffnen, die Meinung der Menschen zu beeinflussen und
die bestehenden Herrschaftsordnungen in Frage zu stellen. Sie ist somit auch ein ein-
flussreiches Werkzeug zur positiven Entwicklung einer Gesellschaft. Durch alle Jahr-
hunderte hinweg haben religiöse und politische Eliten die Wirkung von Kunstwerken
auch genau deshalb gefürchtet. Diese kraftvolle Wirkung künstlerischen Schaffens
möchte ich am Beispiel einiger KI-Künstler:innen verdeutlichen.

Neue Räume schaffen über Kreative KI


Beeindruckende Beispiele für einen offenen Umgang mit KI und menschlicher Interak-
tion sind die Datenskulpturen und Installationen von Refik Anadol. Als Künstler möchte
er, dass Künstliche Intelligenz menschlicher und nicht der Mensch maschinenähnlicher
wird. Anadol arbeitet in seinen Kunstwerken mit öffentlich zugänglichen personenbe-
zogenen Daten und zielt darauf ab, kollektive menschliche Erinnerungen zu reflektieren.
Teils verweist der Künstler indirekt auf die Problematik des Schutzes personenbezoge-
ner Daten, da sie allzu leicht zu neuen Zwecken gebraucht werden können. Dabei wirkt
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 134

das Resultat seiner Kunst so beeindruckend unschuldig. In seinen Kreationen lässt


Anadol uns auf interessante Weise darauf hoffen, dass Maschinen selbst träumen kön-
nen, während sie unsere vielfältigen Gefühlswelten und kulturelle Artefakte aller Zei-
ten aus der Datenmenge herausinterpretieren.

In seiner Arbeit „Archive Dreaming“ wurde Refik Anadol von der SALT Research-Un-
ternehmensgruppe damit beauftragt, ihre Dokumentenarchive zu sichten. Er nutzte ma-
schinelle Lernalgorithmen, um die Beziehungen zwischen 1,7 Millionen Dokumenten
zu entdecken und entsprechend zu sortieren. Die Interaktionen der in den Archiven ge-
fundenen multidimensionalen Daten wurden dann wiederum in eine immersive Medi-
eninstallation namens „Archive Dreaming” übersetzt, die im Rahmen von „The Uses of
Art: Final Exhibition” mit der Unterstützung des Kulturprogramms der Europäischen
Union präsentiert wurde. „Archive Dreaming” schafft eine hybride Beziehung zwischen
Architektur und Medienkunst mit maschineller Intelligenz, die die Grenzen zwischen
historisch und modern, materiell und digital, zwei- und dreidimensional verwischen
lässt (Abb.2).

Was können wir aus diesem


künstlerischen Entwicklungspro-
zess lernen? Wir sehen, dass die
Zusammenarbeit des Menschen
mit Künstlicher Intelligenz nicht
immer direkt über einen ziel- und
ergebnisorientierten spezifischen
Algorithmus erfolgen muss. Viel-
Abbildung 2: Screenshot, Stelle 1:03 min aus Refik Anadols Video zum mehr entstehen aus der Daten-
Projekt „Archive Dreaming“ auf der Webseite des Künstlers,
https://refikanadol.com/works/archive-dreaming/ aufbereitung über Umwege auch
vielfältige „Nebenerzeugnisse”
mit in diesem Fall faszinierender Wirkung. Über die Flut von Daten entstehen neue
Einsichten auf Eigenheiten im menschlichen Verhalten. Durch solche Learnings können
wir beispielsweise das Design oder die Struktur von Begegnungsräumen und Archi-
tekturen gestalten.

KI-Einsatz und ethische Reflektionen


Das zweite Beispiel, das ich erwähnen möchte, ist ein bekanntes Kunstprojekt namens
ImageNet Roulette (Abb.2), das an der University of California, Berkeley, produziert
wurde. ImageNet Roulette ist ein KI-basiertes Programm, das menschliche Porträts
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 135

mithilfe Künstlicher Intelligenz eine Charakterisierung zuordnet. Frauen wurden in der


KI häufiger nach ihrem äußeren Erscheinungsbild bezeichnet als Männer und die Haut-
farbe eines Menschen konnte zu negativen Zuschreibungen durch die KI führen. Diese
KI führt also zu Stereotypisierungen und sogar zu rassistischen Ergebnissen. In dem
Projekt ging es nicht darum, den Einsatz von KI grundsätzlich zu kritisieren. Ziel des
Projekts war vielmehr, ein notwendiges Bewusstsein für die Unvollkommenheit algo-
rithmischer Technologien zu schaffen und tatkräftiges Handeln zu provozieren. Her-
ausgestellt wurde: Die Entwicklung und Verwendung der Algorithmen benötigten eine
„untechnische“ ethische Dimension, die nicht von den Maschinen aufgebracht werden
kann, sondern nur durch Menschen, welche Algorithmen entwickeln, mit der KI arbeiten
und Ergebnisse korrigieren. ImageNet Roulette intendiert also, dass jeder angewand-
ten KI-Technologie ein ethisches Fragenset zugrunde liegen sollte. Die gesetzlich ge-
forderte Gleichbehandlung aller Mitarbeitenden ist ein Anhaltspunkt für diesbezügli-
che Reflektionen. Gleichwohl gibt es keine Richtlinien dazu, die sich auf KI-Einsatz in
Unternehmen beziehen. Umso wichtiger ist ein entsprechendes Bewusstsein bei Ent-
wickler:innen und Anwender:innen industrieller KI-Lösungen.

Gelegentlich werde ich


rund um solche KI-Themen
als Speakerin zu Konferen-
zen eingeladen, auf denen
Vertreter:innen verschiede-
ner Branchen die Chance
haben, sich mit der Rolle
des Menschen beim Einsatz
digitaler Technologien aus-
einander zu setzen. Ich ver-
stehe es in diesem Kontext
als meine Aufgabe, zu ver-
deutlichen, wie sehr Abbildung 3: Screenshot der Arbeit "ImageNet Roulette" aus dem im Web veröf-
fentlichten Fachartikel von Trevor Paglen. Auf dem Foto zu sehen sind Personen,
menschliche Kreativität die die der Algorithmus mit den Kategorien "Versager, Loser, Nicht-Beginner, erfolg-
lose Person" assoziiert.
Technologie beeinflusst. https://paglen.studio/2020/04/29/imagenet-roulette/
Kunst kann komplexe Aus-
sagen in einfache Sprache übersetzen. Auf diese Weise können Menschen ohne tech-
nologischen Hintergrund die Nutzung und das Potenzial von Künstlicher Intelligenz ge-
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 136

meinsam erleben. Dieser Ansatz, Kreativität und industrielle Entwickler:innen mit Ver-
treter:innen aus kleinen- und mittelständischen Unternehmen miteinander in Kontakt
treten zu lassen, ist eine vielversprechende Möglichkeit zum Abbau von Berührungs-
ängsten. Denn nur dadurch entstehen Innovationen, dass wir gemeinsam an technolo-
gischen Lösungen arbeiten und dabei immer den Menschen in den Mittelpunkt der Di-
gitalisierung stellen.

Fazit
In meinem Beitrag und in den beiden beschriebenen künstlerischen KI-Interpretationen
möchte ich deutlich machen, dass menschliche Kreativität die Basis von KI ist. Denn KI-
Anwendungen sind kein rein technisches Thema, sondern eines, das auf vielfältige
Weise menschliche Kreativität, menschliche Impulse, menschlichen Erfindungsgeist
und immer menschliche Steuerung braucht. Die Bedeutung des menschlichen Denkens,
Handelns und Fühlens sollte deshalb immer im Zentrum stehen. Wenn wir kreative KI
zum unternehmerischen Einsatz bringen, dann sollten die Leitfragen sein: Wie entste-
hen die geforderten KI-Lösungen eigentlich? Auf welche Weise können diese KI-Lö-
sungen kreativ sein? Welche Art und Grad von Kreativität muss die/der Entwickler:in,
die beauftragt wird, aufbringen? Wie interagieren die Lösungen mit dem Menschen im
jeweiligen Kontext? Darüber hinaus auch: Wie beleben und bereichern „praktisch ge-
dachte“ digitale Technologien kreatives und künstlerisches Schaffen? Und welche Im-
pulse kann künstlerisch-kreatives Wirken mit KI dann dem Einsatz von KI in der Indust-
rie geben? Es geht also immer um Vertrauen in Technologie und die Motivation zur
Nutzung von Künstlicher Intelligenz ohne Berührungsängste und mit der Integration
menschlicher Kreativität in digitale Zusammenhänge. Es erscheint dabei noch als lan-
ger Weg, KI-Technologien zu ethisch vertretbaren und breit eingesetzten Systemen
werden zu lassen. Kunst kann uns aber sicher dabei helfen, an die Bedeutung des Men-
schen in technologischen Entwicklungen erinnern. Sie kann uns auch dabei helfen, die
menschliche Integrität zu betonen, damit alle eine bessere Chance haben, ihr Potenzial
auszuschöpfen, ohne zu stark von „voreingenommenen“ Algorithmen beeinflusst oder
bewertet zu werden. Daher sollten wir Kunstschaffende darin fördern, eine stärkere
Rolle bei der Gestaltung der KI-Ethik und der Interaktion von Mensch und KI sowohl in
der Forschung als auch in der industriellen Anwendung zu spielen. In diesem Sinne
möchte ich meine Gedanken mit einem Zitat des besprochenen Künstlers, Refik Anadol,
schließen, das mich besonders inspiriert:
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 137

Ich denke, es (kognitives menschliches Element) wird die Chance eröffnen, Daten in
Objekte zu verwandeln, die für Menschen wirklich nützlich sein können, anstatt [bloß]
ein langweiliges Produkt zu sein.

Literaturverzeichnis
Anadol Refik, Archive Dreaming auf Webseite des Künstlers, https://refikana-
dol.com/works/archive-dreaming/ - letzter Aufruf 14.03.2022.

Crawford, Kate; Paglen Trevor, Excavating AI: The Politics of Images in Machine Learn-
ing Training Sets, https://excavating.ai/ - letzter Aufruf 14.03.2022.

Kantayya, Shalini (Regie), Film: Coded Bias, 1Std25 Minuten, USA, 2020, Netflix-Ver-
sion vom Juni 2021.

Nunez, German A., Fabrizio Poltronieri: Iconic Theogonies – The presentation of Com-
putational Gods On Website Studio International, 17.11.2014, https://www.studioin-
ternational.com/index.php/fabrizio-poltronieri-iconic-theogonies-presentation-compu-
tational-gods-review - letzter Aufruf 14.03.2022.

Sirit, Timur, Artificial intelligence brushstrokes of ‘machines’ space memory’ In Daily


Sabah, 24.03.2021, https://www.dailysabah.com/business/tech/artificial-intelligence-
brushstrokes-of-machines-space-memory - letzter Aufruf 14.03.2022.

Srinivasan, Ramya, UCHINO Kanji, The Role of Arts in Shaping AI Ethics auf COER
Workshop Proceedings, Vol. 2812, 2021 http://ceur-ws.org/Vol-2812/RDAI-
2021_paper_3.pdf - letzter Aufruf 14.03.2022.
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 138

Künstliche Intelligenz in Unternehmen - Eine


Roadmap für den Mittelstand

ALEXANDRA RITTER & JIBINRAJ ANTONY,


MITTELSTAND-DIGITAL ZENTRUM KAISERSLAUTERN

Unsere Intelligenz macht uns


Die Einführung neuer digitaler Technologien zu Menschen, und KI ist eine
wie Künstlicher Intelligenz bringt viele Chan- Erweiterung dieser Qualität.
cen, aber auch Unsicherheiten mit sich. Da- Künstliche Intelligenz erweitert,
mit die Implementierung gelingt, kann es was wir mit unseren Fähigkei-
hilfreich sein, Kreativität als wertvolles In- ten tun können. Auf diese
strument im Prozess zu betrachten. Wie
Weise lässt es uns menschli-
diese Schritt-für-Schritt in die Umsetzung
kommt und worauf dabei zu achten ist, erfah-
cher werden.
ren Sie in diesem Artikel. Sie lernen eine kon- Yann LeCun,
krete Roadmap kennen, die den Weg zur An- Computerwissenschaftler &
wendung Künstlicher Intelligenz im unter- Professor an der
nehmerischen Rahmen veranschaulicht. New York University

Künstliche Intelligenz (KI) ist im 21. Jahrhundert ein viel diskutierter Begriff. Obwohl KI
keine neue Technologie aus diesem Jahrhundert ist, erscheint sie vielen Menschen noch
immer als etwas Futuristisches. Dabei ist KI zu einem Teil unseres Lebens geworden
und bereits in vielen persönlichen Geräten integriert, die unser Leben einfacher und
effizienter machen, wie z. B. Amazon Alexa oder Google Nest. KI hat einen stark trans-
formativen Charakter und prägt die aktuelle Zeit entscheidend mit. Es ist offensichtlich,
dass KI unsere Zukunft verändern wird, aber wie und zu welchem Grad? Das ist noch
eine offene Frage.

In unserem Alltag und alltäglichen Umfeld finden wir etliche Produkte und Dienstleis-
tungen, die durch unterschiedliche KI-Formen unterstützt werden. Wir erleben einen
KI-Boom. Die Zahl der aktiven Forschungsprojekte auf diesem Gebiet nimmt täglich
exponentiell zu [1]. Die Technologie wird immer feiner abgestimmt, revolutioniert zahl-
reiche Methoden in der Industrie und bringt Veränderungen für viele konventionelle
Ansätze. Und bei all dieser Entwicklungen lassen wir uns nicht wegen der Möglichkeit
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einer übermenschlichen Intelligenz abschrecken, wie sie in vielen uns bekannten Sci-
ence-Fiction-Filmen dargestellt wird. Müssen wir uns tatsächlich vor einer solchen Su-
perintelligenz fürchten, die die gesamte Menschheit vernichten könnte? Darauf lässt
sich eindeutig mit „Nein“ antworten. Die KI der Zukunft ermöglicht es Menschen, bes-
sere Entscheidungen zu treffen, wobei sie den Menschen unterstützt, um ungerechte
und diskriminierende Ergebnisse zu vermeiden. Allerdings sind wir noch sehr weit von
dieser Stufe der KI entfernt.

Unsicherheit bei Veränderung


Angst vor Veränderungen hat es in der Geschichte
der Menschheit immer gegeben, von der Entwick-
lung der Räder bis zur Informationstechnologie, z. B.
zu Beginn der IT-Revolution in den frühen 1980er
Jahren, als die ersten Personal Computer von IBM
(Commodore 64, 1981) und Apple (Macintosh,
1984) auf den Markt kamen. Diese neue Entwick-
lung löste bei vielen schnell Furcht vor Massenar-
beitslosigkeit aus. Bereits 1978 prognostizierte das
deutsche Nachrichtenmagazin „Der Spiegel” unter
dem Titel „Die Computer-Revolution: Fortschritt Abbildung 1: Titelblatt der Zeitschrift "Spie-
macht arbeitslos”, dass sich diese Computerrevolu- gel", Ausgabe 16/1978.

tion von früheren technologischen Innovationen unterscheide (siehe Abb. 1).

Der Spiegel sagte damals voraus, dass die Computerrevolution nicht nur viele Arbeits-
plätze in den Automatisierungssektoren eliminieren, sondern auch keine bedeutende
Anzahl von Arbeitsplätzen in der Computerproduktion oder anderswo in der Wirtschaft
schaffen würde [2]. Wenn wir uns jedoch in der heutigen Welt umsehen, haben Com-
puter den Arbeitsmarkt längst revolutioniert. Computer haben zwar einerseits tatsäch-
lich einige Arbeitsplätze mit sich wiederholenden Abläufen oder erhöhter körperlicher
Anstrengung übernommen, aber andererseits haben sie mehr Arbeitsplätze in anderen
Bereichen geschaffen und den allgemeinen Lebensstandard der Gesellschaft erhöht.
Während der Corona-Pandemie 2020 haben Computer eine verstärkte Home-Office-
Arbeitskultur ermöglicht. In ähnlicher Weise lassen sich auch in der zukünftigen KI-Ära
fortgeschrittene kulturelle und soziale Veränderungen vorhersagen.
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Lassen wir uns zum Beispiel von der positiven Seite der KI inspirieren: Wenn es um
eine speziell auf einen Bereich zugeschnittene Aufgabe geht, wie bspw. Anomalie-Er-
kennung in Datensätzen, ist die KI darin häufig besser als der Mensch. Eine solche KI
wird „schwache KI“ genannt, welche derzeit sehr erfolgreich Anwendung findet. Die
schwache KI versteht gemeinsame Merkmale in gegebenen multidimensionalen Daten,
die ein Mensch niemals visualisieren könnte. Dazu ergänzend kann sie komplexe ma-
thematische Funktionen erzeugen, ohne diese explizit zu programmieren. Dies ist der
Grund für den großen Erfolg, den die Technologien des maschinellen Lernens und des
Deep Learning derzeit erleben. Aus industrieller Sicht bringen diese Techniken einen
größeren Mehrwert für die Ziele eines Unternehmens, weshalb die meisten Großunter-
nehmen bereits damit begonnen haben, in die Forschung und Entwicklung von aufga-
benspezifischen KI-Tools innerhalb ihrer Organisation zu investieren. Die kleinen und
mittleren Unternehmen (KMU) sind allerdings häufig noch skeptisch gegenüber solch
großen Veränderungen. Hier kommt unsere kreative Arbeit ins Spiel. Das Mittelstand
Digital Zentrum Kaiserslautern (MDZ Kaiserslautern) [3] führt kleine und mittlere Un-
ternehmen an die KI-Implementierung heran, indem es ihnen die Berührungsangst vor
KI nimmt, Mythen aus dem Weg räumt und das passende Wissen vermittelt. Einfach-
heit und Kreativität sind die Grundlagen für unsere Methoden. Im Folgenden wird dar-
gestellt, auf welchen Wegen Unternehmen an das Thema Künstliche Intelligenz im ei-
genen Betrieb herangeführt werden können.

Das Mittelstand-Digital Zentrum Kaiserslautern unterstützt Unter-


nehmen beim praxisnahen Einsatz von KI
Das Mittelstand-Digital Zentrum Kaiserlautern holt die Unternehmen in Rheinland-
Pfalz genau an dem Punkt des digitalen Transformationsprozesses ab, an dem sie ge-
rade stehen. Hierfür sind wir zusammen mit 25 weiteren Zentren deutschlandweit als
Förderinitiative vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz ins Leben ge-
rufen worden. Für die Unternehmen und deren vielfältige Bedürfnisse ist unser Leis-
tungsangebot nicht nur kostenfrei, sondern auch individuell zugeschnitten. Wir identi-
fizieren Handlungsbedarfe und unterstützen die KMU im gesamten digitalen Transfor-
mationsprozess, um deren Wettbewerbsfähigkeit zu fördern.

Hierfür ist es unerlässlich für Unternehmen, sich mit Technologien der Künstlichen In-
telligenz zu beschäftigen und die KI-Potenziale für das eigene Unternehmen zu nutzen.
Zum Antreiben des zukunftsrelevanten Themas KI gibt es in den Zentren professionelle
KI-Trainer:innen. Diese sensibilisieren Vertreter:innen von KMU zielgerichtet im Bereich
der künstlichen Intelligenz und leisten praxisnahe Unterstützung für deren Einsatz.
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Künstliche Intelligenz als Chance


Doch wo stehen KMU derzeit beim Thema KI? Viele sind gerade erst am Anfang des
Veränderungsprozesses und beschäftigen sich mit den Themen der Digitalisierung und
in diesem Zusammenhang auch mit dem Trendthema Künstliche Intelligenz. Sobald es
neue Technologien schaffen, einen internen Prozess nachhaltig zu vereinfachen, rückt
die Umsetzung dieser Technologien in den Fokus der Unternehmen. Diese schreiten
jedoch nur langsam voran, da es für sie oft herausfordernd ist, ins das KI-Zeitalter auf-
zubrechen, wenn sie sich noch am Anfang eines herkömmlichen Digitalisierungspro-
zesses befinden. Bei näherer Beschäftigung mit KI wird schnell klar, dass solche An-
wendungen eine gute Datengrundlage und eine funktionierende Dateninfrastruktur be-
nötigen, da Daten normalerweise das „Futter“ für eine KI-Anwendung darstellen.

Zu Beginn verschaffen KI-Trainer:innen sich einen Überblick zu Unternehmensberei-


chen und -prozessen, die mit KI-Anwendungen ausgestattet werden sollen bzw. auf
die die KI-Anwendung später Einfluss nehmen wird. Sobald es dann in Richtung Um-
setzung des ersten KI-Projekts geht, bietet es sich für KI-Einsteiger:innen an, zuerst die
sogenannten „Low Hanging Fruits“ (auf Deutsch ,tief hängende Früchte’) ins Auge zu
fassen, d. h. diejenigen Anwendungen auszuwählen, die am schnellsten und leichtes-
ten umzusetzen sind.

Neben solchen KMU, die noch Kenntnisse über die Potenziale und den Nutzen von KI
benötigen und noch kein konkretes KI-Projekt identifizieren konnten, gibt es auch KMU,
die bereits eine genaue Vorstellung vom Einsatz von KI haben und sich mit einem kon-
kreten KI-Projekt an unser Kompetenzzentrum wenden. KI-Trainer:innen helfen auch
hier zum einen bei der Identifikation der KI-Potenziale und eines konkreten KI-Projektes,
indem sie das nötige Know-how vermitteln und, zum anderen unterstützen sie bei der
Umsetzung von KI-Projekten. Wie sie dieses Know-how vermitteln und Unternehmen
auf ihrem Weg bis zum Einsatz von KI unterstützen, wird nachstehend mithilfe einer
Roadmap (Abbildung 2) des Kompetenzzentrums erklärt.
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 142

Kreativität als wertvolles Instrument bei der Implementierung

Abbildung 2: Roadmap zum Einsatz von KI mit dem MDZ Kaiserslautern.

Entlang der gesamten Roadmap begleiten wir die Unternehmen praxisnah und indivi-
duell. Hierbei finden kreative Arbeitsprozesse für das Entwickeln und Designen unserer
Formate statt, sodass der Wissensaufbau über KI gefördert und gleichzeitig die Angst
gegenüber KI bei den KMU abgebaut werden kann. Die Reise zum Einsatz von KI in
einem KMU in Zusammenarbeit mit dem MDZ Kaiserslautern beginnt beim Informieren
und Qualifizieren im gleichen Bereich. Hier starten die KMU mit unseren Infomaterialien,
Veranstaltungen und Self-Service Angeboten, wie beispielsweise der Lern- und Akti-
onsplattform (LEA) oder dem KI-Readiness Check. Ergänzend durch unsere Best Prac-
tices und Demonstratoren, wie z. B. PAUL (Produktion und Automatisierung erLeben),
können die KMU einen Einblick in die KI-Praxis bekommen. Hat ein KMU selbst oder
durch unsere Angebote bereits einen ersten KI-Anwendungsfall in seinem Unterneh-
men identifiziert, so geht es auf unserer Roadmap weiter zur Strategieunterstützung für
das ausgewählte KI-Projekt. Hier führen wir mit den KMU Ideentage und Ideenwerk-
stätten durch und können anschließend in einer nachfolgenden Projektbegleitung in
Richtung Umsetzung des KI-Projektes unterstützen.
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 143

Informieren & Qualifizieren


Die ersten Schritte auf dem Weg zum Einsatz von KI beschreitet ein KMU mit der Teil-
nahme an einer oder mehrerer unserer Informations- und Qualifizierungsformate. Un-
sere Informationsformate sind so zugeschnitten, dass sie für Teilnehmende aus allen
Bereichen einfach verständlich sind. Wir unterstützen die Wissenssuchenden bedarfs-
gerecht, entweder auf einem sehr grundlegenden oder auf einem technisch anspruchs-
volleren Niveau. Denn Bildung ist der beste Weg, um Unsicherheiten oder Ängste zu
bekämpfen. Diese sollen mithilfe unserer Unterstützung in Motivation umgewandelt
werden, damit Angestellte und Führungskräfte eines KMU zur Akzeptanz und zum
Ausprobieren neuer Technologien bewegt werden.

Schritt 1: Veröffentlichungen & Veranstaltungen

Das Mittelstand-Digital Zentrum Kaiserlautern bietet verschiedene Formen von Veran-


staltungen [4] und Publikationen [5] an, die sich an unterschiedliche Zielgruppen rich-
ten. Unsere KI-Trainer:innen teilen ihr Fachwissen aus diversen Forschungsbereichen
der KI mithilfe von Seminaren oder Workshops. Diese Veranstaltungen sind für uns ein
effektiver Weg, um möglichst vielen Unternehmen, die neue KI-Technologien und -An-
wendungen näher zu bringen. Auch in der aktuellen Corona-Pandemiezeit ist es Ver-
treter:innen von KMU möglich, an unsere Veranstaltungen in virtuellen Formaten teil-
zunehmen. Expert:innen berichten darin Teilnehmenden aus erster Hand über ihren
Einsatz von KI, z. B. im Kundenservice oder bei virtuellen Messen und sprechen u.a.
auch über den Zusammenhang von KI und Ethik im Mittelstand.

Unsere Publikationen vermitteln zudem komplexe Informationen in möglichst einfacher


Form. Ein gutes Beispiel dafür stellt das „KI-Kochbuch - Rezepte für den Einsatz Künst-
licher Intelligenz in Unternehmen“ [6] dar, 2021 in Kooperation mit allen Kompetenz-
zentren deutschlandweit unter dem Schirm von Mittelstand Digital zusammengestellt
und herausgegeben. Die Publikation bringt mögliche Anwendungsfelder von KI näher
und zeigt anhand von Praxisbeispielen zukunftsfähige Lösungen auf. Darin werden zu-
dem Methoden, wie z. B. der KI-Readiness Check (KIRC), vorgestellt, die im eigenen
Unternehmen eingesetzt werden können. Der Name des Buches versteht sich dabei
auch als Motto, denn bei der Künstlichen Intelligenz ist es wie bei einem guten Gericht:
das Rezept muss stimmen. Dabei muss das „Rezeptbuch“ nicht chronologisch gelesen
werden; jede:r kann sich die Beiträge aussuchen, die ihn oder sie am meisten anspre-
chen. Interessierte können das KI Kochbuch auf der Seite von Mittelstand Digital her-
unterladen.
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 144

Schritt 2: Best Practice Beispiele

Ein wichtiger Bestandteil in unseren Veranstaltungen und Veröffentlichungen sind


stets Best Practice Beispiele [7], in denen wir den erfolgreichen Einsatz von KI in Un-
ternehmen selbst zeigen. Viele der ausgewählten Unternehmen haben wir zuvor aktiv
bei der Umsetzung eines KI-Projekts begleitet. Ihr Beispiel dient der Motivation und
Inspiration für diejenigen KMU, die sich noch am Anfang der Reise befinden und hier-
durch Einsatzbereiche oder Use Cases für KI in ihrem eigenen Unternehmen identifizie-
ren können. Durch die Vorstellung der Best Practice Beispiele erhalten KMU zudem
einen besseren Einblick in unsere Angebote und Vorgehensweisen.

Zwei solcher Beispiele sind die Satherm GmbH und die Helmut Meeth GmbH & Co. KG,
die bestehende Herausforderungen mit KI-basierten Technologien lösen konnten. Fol-
gend werden die Umstände der Motivation zur KI-Implementierung im jeweiligen Un-
ternehmen genauer erläutert werden.

Erstes Beispiel: Die Satherm GmbH


musste knapp 20.000 Rechnungen pro
Jahr manuell verarbeiten. Diese analo-
gen Prozesse waren sehr zeitaufwen-
dig, weshalb hierfür zwei bis vier Mitar-
beiter:innen zuständig waren. Zudem
war eine gewisse Fehlerquote durch
die manuellen Eingaben unvermeidbar.
In Kooperation mit dem Mittelstand
4.0-Kompetenzzentrum Saarbrücken
wurde die Verarbeitung von Eingangsrechnungen und die Rechnungsstellung automa-
tisiert. Hierfür wurde eine Software eingesetzt, welche in der Lage ist, Elemente in einer
Rechnung zu identifizieren und zu extrahieren, unabhängig davon, ob die Rechnung als
Bilddatei oder als PDF-Datei vorliegt. Anschließend werden die extrahierten Dateien
in sogenannte codierte Dateien umgewandelt, die dann von einem Computer verarbei-
ten werden können. Durch den Einsatz von KI-Algorithmen wurden in den letzten Jah-
ren erhebliche Fortschritte in der optischen Zeichenerkennung gemacht. Im Rahmen
unserer Kooperation mit der Satherm GmbH wurden verschiedene Anbieter solcher
Systeme recherchiert und verglichen. Letztlich hatte man sich für das Start-Up Natif.ai
entschieden, mit Sitz im Saarland.
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 145

Zweites Beispiel: Für die Produktion ih-


rer RAL-geprüften Fenster und Haus-
türen bezieht Helmut Meeth GmbH &
Co. KG Glasscheiben verschiedener
Zulieferer. Um späteren Kunden- und
Lieferantenreklamationen vorzubeu-
gen, ist es von strategischer Relevanz,
dass die gelieferten Glasscheiben den
qualitativen Anforderungen genügen.
Ursprünglich erfolgte die Qualitätsprü-
fung im Wareneingang durch eine analoge, optische Sichtprüfung durch die Mitarbei-
tenden. Diese Tätigkeit erforderte ein hohes Maß an Konzentration und führte durch die
einsetzende Ermüdung der Angestellten zu einer unvermeidbaren Fehlerquote. Dem-
entsprechend war das Ziel der Zusammenarbeit mit dem Zentrum Kaiserslautern die
Einführung einer KI-basierten Bilderkennungstechnologie, welche die Glasscheiben
automatisch auf Fehler untersucht. Dadurch sollten Mitarbeitende entlastet, und Qua-
lität und Effizienz der Prüfprozesse verbessert werden. Um Unterstützung zu erhalten,
wandte sich das Unternehmen an das Mittelstand 4.0-Kompetenzzentrum Kaiserslau-
tern. Im Zuge der Kooperation wurde gemeinsam ein detailliertes Lastenheft erstellt, in
welchem sowohl der Funktionsumfang der KI-basierten Lösung als auch die Anforde-
rungen an Hard- und Software spezifiziert wurden. Basierend hierauf wurden geeig-
nete Anbieter recherchiert und Machbarkeitsstudien durchgeführt. Es wurden zudem
verschiedene Unternehmen identifiziert, welche durch qualitativ hochwertige Kamera-
technologien aufgenommene Bilder entsprechend den Fehlertypen klassifizieren und
somit als Gut- bzw. Schlechtteil kategorisieren können. Nach der finalen Anbieteraus-
wahl durch die Helmut Meeth GmbH & Co. KG begann die gemeinsame Entwicklung
des neuen Prüfstandes mit dem ausgewählten Partnerunternehmen.

Diese beiden Best-Practice Beispiele sollen KMU zeigen, wie sie zum digitalen Vorrei-
ter werden können und bereits heute KI-Technologien zur Lösung vorliegender Prob-
leme im Unternehmen einsetzen können. Durch den Einblick in das Vorgehen anderer
Unternehmen bei KI-Projekten bauen KMU Berührungsängste gegenüber KI ab und der
Weg zum Einsatz fällt leichter.

Schritt 3: KI-Readiness-Check (KIRC)

Das Tool „KI-Readiness-Check (KIRC)“ [8] steht jedem Unternehmen online frei zur
Verfügung. Zu finden ist es auf unserer „Plattform für Innovation“ WERNER. Nachdem
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 146

wir die KMU durch erstes KI-Grundlagenwissen und Best-Practice-Beispiele neugierig


gemacht haben und diese vielleicht erste KI-Anwendungsfälle für ein KI-Projekt in ih-
rem Unternehmen identifizieren konnten, sollen KMU ihre eigene Bereitschaft für ein
solches KI-Projekt einschätzen. Dabei hilft KIRC, denn zu diesem Bereitsein zählen ne-
ben IT-Infrastrukturen auch Faktoren, wie definierte Prozesse und Fähigkeiten sowie
Akzeptanz durch Mitarbeiter:innen. Mit dem KIRC können KMU schnell und einfach ihre
Reife für ein KI-Projekt messen und erhalten Handlungsempfehlungen für nächste
Schritte. Durch personalisierte und spezifische Empfehlungen bekommen sie detail-
lierte Informationen dazu, wie sie ihren Reifegrad konkret verbessern können. Außer-
dem erhalten sie Informationen zu themenbezogenen Veranstaltungen und zu
deutschlandweit passenden KI-Trainern:innen des Mittelstand-Digital Netzwerks. Das
KIRC-Fragenportfolio umfasst Fragen aus den vier Themenfeldern „Anwendungsbe-
reiche und Technologien“, „Prozesse, Strategie und Organisation“, „Mitarbeiter:innen“,
„wirtschaftliche Perspektive, Produkte und Dienstleistungen“ sowie einem fünften Be-
reich mit allgemeinen Fragen. Weitere Informationen hierzu finden Sie auf unserer
Webseite: https://kompetenzzentrum-kaiserslautern.digital/readiness-check/ .

Schritt 4: LEA

Neben unseren Veranstaltungen, Veröffentlichungen und dem KI-Readiness-Check


können KMU das erste KI-Wissen über unser Online-Angebot weiter vertiefen. Hierfür
stehen Kurse auf der digitalen Lern- und Aktionsplattform (LEA) [9] zur Verfügung, die
deutschlandweit allen Interessenten offensteht. Themen, wie KI in der Produktion, di-
gitale Geschäftsmodelle oder ortsunabhängiges Arbeiten, sind dort als Lerneinheiten
verfügbar und können individuell durchlaufen werden. Die abwechslungsreichen Lern-
formate gliedern sich in die fünf Themenbereiche „Digitalisierung von Prozessen und
Produkten“, „Digitalisierung in der Produktion“, „Digitalisierungsstrategie und Ge-
schäftsmodelle“, „Mensch und Organisation in der Digitalisierung“ sowie dem übergrei-
fenden Thema „digitaler Transformationsprozess“. Innerhalb der Lerneinheiten finden
sich auch Elemente wie Interviews, Tool-Clips, Quizze oder weitergehende Informati-
onen zum Download. Der Austausch mit anderen Nutzenden erfolgt über Foren zu den
Kursen und Themen. Als besonderes Highlight steht auf LEA das beliebte Planspiel
„Digitalisierung richtig angehen“ zur Verfügung.
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 147

Schritt 5: PAUL

Nachdem viel theoretisches Wissen durch unsere Veranstaltungen, Veröffentlichun-


gen oder der LEA-Plattform aufgebaut wurde und KMU neugierig auf die Leistungsfä-
higkeit von KI-Technologien geworden sind, geht es bei unserem Schulungsdemonst-
rator PAUL [10] nun darum, KI auch zu erleben. Dieser wurde entwickelt, um die neuen
Technologien und aktuelle Forschung im Kontext von Industrie 4.0 erlebbar und greif-
bar zu machen. PAUL steht für „Produktion und Automatisierung erLeben“ und soll
KMU nachhaltig und spielerisch für die oft abstrakten und sehr theoretischen Konzepte
von Industrie 4.0 und künstlicher Intelligenz begeistern.

Mit dem Erleben-Konzept und einem bewusst sehr spielzeughaften, einfachen Design
der Hardware- und Softwarekomponenten wird das Ziel verfolgt, KMU dazu anzuregen,
eigene Ideen zu entwickeln und konkrete Anwendungsfälle im eigenen Unternehmen
identifizieren zu können. Besucher:innen können hierüber selbst ein Produkt fertigen,
wodurch die Hemmschwelle gegenüber neuen Technologien gesenkt und bestehende
Ängste und Sorgen gezielt abgebaut werden sollen. Neben Möglichkeiten zur Digitali-
sierung rund um Produktionsprozesse werden Methoden zur Zusammenarbeit zwi-
schen Mensch und Maschine, Konzepte zur Nachrüstung bestehender Maschinen (Ret-
rofitting) sowie die Einsatzmöglichkeiten künstlicher Intelligenz in direkten und indirek-
ten Bereichen der Fertigung gezeigt und spielerisch greifbar gemacht.

Was macht PAUL?

In PAUL werden kleine Spielwürfel in individuellen Konfigurationen gefertigt, um bei-


spielhaft das Prinzip individueller Produkte in kleinen Losgrößen, bis hin zu Losgröße 1
demonstrieren zu können. Eine Losgröße (eng. Batch Size), ist dabei die Menge an Tei-
len oder Baugruppen, die produziert werden. Der Würfel repräsentiert ein individuali-
sierbares Beispielprodukt, das für jeden Besucher direkt greifbar und verständlich ist.
In einer Bestellmaske kann ein solcher Würfel konfiguriert werden. Der aktuelle Aufbau
des Demonstrators umfasst mehrere Module, anhand derer verschiedene Technolo-
gien gezeigt werden, wie z. B. eine Mensch-Maschine Schnittstelle (etwa bei Tablets
und Smartphones), oder auch ein einfach gestaltetes Assistenzsystem, das den Wer-
kenden durch den Produktionsprozess führt.
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 148

Abbildung 3: Schulungsdemonstrator PAUL.

Worin steckt dann die KI?

Der ursprüngliche Aufbau wurde nachträglich um ein KI-Modul erweitert, das PAUL
zusätzliche Fähigkeiten der künstlichen Intelligenz verleiht. Mit der Erweiterung des
Moduls sollten typische menschliche Fähigkeiten, wie das Sehen und das Hören von
Maschinen, demonstriert werden. Gezeigt wird dies explizit durch den Einsatz einer
Spracherkennungstechnologie sowie eines Chatbots, über die bspw. Würfelbestellun-
gen durchgeführt oder Lagerbestände abgefragt werden können. Sprache und Schrift
als Kommunikationsmedium bringen die Maschine näher an die Verständigung mit
Menschen heran und erleichtern somit die Bedienung erheblich.

Auch im indirekten Bereich der Fertigung kann künstliche Intelligenz unterstützen. Auf-
wändige und fehleranfällige Aufgaben, wie das Übermitteln und Einpflegen von Lie-
ferscheinen und Rechnungen, können automatisch durchgeführt werden. PAUL nutzt
dazu einen einfachen Scanner, der Rechnungen und Lieferscheine in Papierform digita-
lisiert und für eine KI-Komponente zur Verfügung stellt. Diese erkennt aufgeführte Pos-
ten, Stückzahlen und Beträge und führt sie automatisch dem Warenwirtschaftssystem
zu. Explizit soll mit dem KI-Modul demonstriert werden, dass künstliche Intelligenz
rund um die Fertigung den Menschen unterstützen und diesen nicht ersetzen soll. Eine
Maschine kann den Menschen mithilfe künstlicher Intelligenz wie eine elektronische
Kolleg:in zur Seite stehen.
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 149

Schritt 6: Strategieunterstützung & KI Implementierung

Hat ein KMU ausreichend Informationen und Kompetenzen im Bereich KI gesammelt


und konnte sich für die Umsetzung von KI qualifizieren, entsteht in den meisten Fällen
im Anschluss bei dem ein oder anderem KMU eine konkrete Projektidee. Diese gilt es
dann strategisch zu planen und anschließend zu entwickeln. Um Unternehmen beson-
ders in diesen entscheidenden Phasen zu begleiten, bietet das Mittelstand-Digital
Netzwerk, und dementsprechend auch das Mittelstand-Digital Zentrum Kaiserslautern,
individuelle Unterstützungen für konkrete Projekte von KMU an. Diese Unterstützungs-
formate werden KMU in drei verschiedenen Varianten angeboten: Ideentag, Ideen-
werkstatt und Projektbegleitung. Solche Angebote ermöglichen es uns, KMU genau an
dem Punkt abzuholen, an dem diese momentan stehen, um dann mit unserer Unter-
stützung ihre Ideen in die Realität umzusetzen. So eignet sich ein Ideentag, um bei-
spielsweise eine bestehende KI-Idee seitens des Unternehmens für ein Projekt noch-
mals klar zu definieren oder überhaupt eine solche Idee zu entwickeln, falls das Unter-
nehmen noch keinen Anwendungsfall identifizieren konnte. Dagegen geht es in einer
Ideenwerkstatt und einer Projektbegleitung dann konkreter in Richtung Umsetzung der
KI-Idee. Daher spielen auf dem Weg zur Digitalisierung und KI-Transformation solche
zugeschnittenen Formate eine entscheidende Rolle, um ganz individuell auf die Ziele
eines KMU eingehen zu können.

Der erste Schritt Richtung KI


Die Transformationskraft der künstlichen Intelligenz ist sehr stark. Sie wird definitiv die
Lebensqualität der zukünftigen Generation verbessern. Der Einsatz von KI kann KMU
einen immensen Mehrwert einbringen, aber die Angst vor der Veränderung und das
Fehlen des zugehörigen Wissens sind noch oft Hindernisse auf dem Weg zu größerem
Erfolg. Mit unseren oben aufgeführten Tools und Formaten unterstützen wir dabei,
diese Angst über Wissensvermittlung und durch Beispiele abzubauen, damit diese ihre
Ziele besser erreichen können. KI ist die Zukunft und es ist der richtige Zeitpunkt, die
ersten Schritte in diese Richtung zu unternehmen. Innerhalb von Mittelstand Digital
begleiten wir KMU, die Unterstützung suchen, und gemeinsam können wir ein KI-Ver-
ständnis schaffen, das den Menschen einschließt und auf die Reise neue Implementie-
rungen im Unternehmen mitnimmt.
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 150

Literaturverzeichnis & Verweise


[1] arXiv submission rate statistics, 2019. [Online]. URL: https://ar-
xiv.org/help/stats/2019_by_area/index.

[2] David, D., The Rise of the Machines: how computers have changed work, University
of Zurich: UBS Center Public Paper Series 4, University of Zurich: UBS International
Center of Economics in Society., 2015.

[3] Webseite des Mittelstand-Digital Zentrum Kaiserslautern, 2021. [Online]. URL:


https://digitalzentrum-kaiserslautern.de/.

[4] MDZ- Veranstaltungen, 2021, URL: https://digitalzentrum-kaiserslautern.de/veran-


staltungen.

[5] MDZ-Downloads, 2021, URL: https://digitalzentrum-kaiserslautern.de/download.


K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 151

[6] KI-Kochbuch: Rezepte für den Einsatz Künstlicher Intelligenz in Unternehmen , BSP
Business School Berlin – Hochschule für Management GmbH in Koopration mit DFKI
GmbH & FTK e.V., 10 März 2021. URL: https://www.mittelstand-digi-
tal.de/MD/Redaktion/DE/Publikationen/zentrum-kommunikation-ki-kochbuch.html.

[7] Best Practices: So geht Digitalisierung im Mittelstand, MDZ Kaiserslautern, 2021.


URL: https://digitalzentrum-kaiserslautern.de/best-practices.

[8] KI-Readiness-Check, DFKI, 2021. URL: https://werner.dfki.de/readiness-welcome.

[9] Willkommen auf der Lern- und Aktionsplattform LEA, 2021. URL: https://lea.ita-
kl.de/dmz/.

[10] Schulungsdemonstrator PAUL und seine eStandards, 2021. URL: https://kompe-


tenzzentrum-kaiserslautern.digital/panorama-tour-paul/.

[11] HELMUT MEETH GmbH & Co. KG, [Online]. URL: https://helmut-
meeth.com/ueber-uns/.

[12] Lernende Systeme - Die Plattform für Künstliche Intelligenz, 2021, URL:
https://www.plattform-lernende-systeme.de/home-en.html

[13] „Satherm GmbH,“ URL: https://satherm.com/de/.


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KI in Unternehmen: Praxisbeispiel Helmut


Meeth GmbH & Co.KG

Das Unternehmen
Die Helmut Meeth GmbH & Co. KG ist seit
1985 am Markt etabliert. Am Firmensitz in
Wittlich in der Eifel sind zurzeit rund 150
Mitarbeiter beschäftigt. Hergestellt werden
hier sowohl Fenster als auch Haustüren aus
dem Werkstoff PVC. Hochwertige Materia-
lien, Fertigungstechnik auf dem neusten
Stand und strenge Qualitätsrichtlinien füh-
Abbildung: Betriebsalltag in der Firma Meeth GmbH &
Co.KG, Rechte beim Mittelstand-Digital Zentrum Kaisers- ren zu Produkten, die höchste Ansprüche er-
lautern Der
füllen. / A. Sell.
Vertrieb läuft bundesweit und im benachbarten Ausland über den Fachhan-
del, regional auch im Direktvertrieb.

Informieren & Qualifizieren: Der KI-Readiness-Check als wichtiges


Werkzeug
Bevor sich die Helmut Meeth GmbH für eine Zusammenarbeit mit dem Mittelstand-
Digital Zentrum Kaiserslautern entschieden hat, hat sich das Unternehmen auf Veran-
staltungen des Zentrums grundlegende Informationen über die Einsatzgebiete von
Künstlicher Intelligenz eingeholt. Im nächsten Schritt ist das Unternehmen auf das
Zentrum zugegangen und hat anschließend den KI-Readiness-Check gemacht, um zu
prüfen, inwiefern der Betrieb auf die Einführung von KI vorbereitet ist und ob eine Im-
plementierung überhaupt sinnvoll ist.

Strategieunterstützung: Damit sich der Betrieb auf sein Tagesge-


schäft konzentrieren kann
1. Meilenstein: Kick-Off der KI-Projektbegleitung

Digitalisierung und Automatisierung des optischen Prüfverfahrens von Fensterglas –


unter diesem Motto stand die KI-Projektbegleitung mit der Helmut Meeth GmbH & Co.
KG.n. Gemeinsam mit den KI-Trainer:innen des Mittelstand-Digital Zentrums Kaisers-
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 154

lautern hat das Unternehmen sein bis dato analoges optisches Prüfverfahren der Glas-
scheibens unter die Lupe genommen. Das Ziel war: Der anstrengende und zeitauf-
wendige Prüfprozess durch einen Mitarbeiter soll mithilfe einer digitalen, auf Künstli-
cher Intelligenz basierenden Anwendung vereinfacht werden. So sollte auf die bereits
durchgeführte Vorarbeit aus der KI-Ideenwerkstatt mit Meeth aufgebaut werden. Im
virtuellen Kick-Off Workshop wurde zunächst die grundsätzliche Vorgehensweise der
Projektbegleitung besprochen und der Name der KI-Projektbegleitung festgelegt: „Ein-
führung eines KI-basierten optischen Prüfverfahrens für Fensterglas“. Außerdem
wurde ein erster Zeitplan für die weiteren Schritte erstellt und das Lastenheft, welches
in der Ideenwerkstatt formuliert worden ist, finalisiert.

2. Meilenstein: Eingrenzung der Anbieterauswahl

Beim zweiten Workshop haben die KI-Trainer:innen gemeinsam mit den Projektverant-
wortlichen von Meeth die Anbieterauswahl eingegrenzt. Es wurden ein paar Anbieter
ausgewählt, die die an die Lösung gestellten Anforderungen voraussichtlich am besten
erfüllen können. Einige dieser Auswahlkriterien sind zum Beispiel, dass das System KI-
gestützt sein soll und dass der Anbieter bereits ähnliche Anwendungsfälle wie den
Use-Case der Projektbegleitung umgesetzt hat. Konkret soll die Lösung aus einer
Technologie, die die Daten der Glasscheiben erfasst, und einer passenden Software
bestehen, so dass die gelieferten Glasscheiben vor Einbau in Tür- und Fensterrahmen
automatisch auf Fehler überprüft werden können. Die Verantwortlichen von Meeth ha-
ben die ausgewählten Anbieter in einem nächsten Schritt mithilfe des Lastenhefts an-
gefragt und gemeinsam mit dem Projektteam vom Zentrum Kaiserslautern deren An-
gebote verglichen.

3. Meilenstein: Machbarkeitsstudien

Mit dem gemeinsam mit dem Mittelstand-Digital Zentrum Kaiserslautern erstellten


Lastenheft, wurden von der Helmut Meeth GmbH & Co. KG einige Anbieter für die Qua-
litätskontrolle angefragt und Machbarkeitsstudien in Auftrag gegeben. Als vielverspre-
chend erwies sich ein Unternehmen aus Rheinland-Pfalz, da es über das Wissen und
die Erfahrung mit KI, Kameras und Sensoren verfügt. Im Rahmen der Machbarkeitsstu-
die wurden eine Vielzahl potenzieller Glasfehler in ein selbstlernendes System einge-
speist, welches dann erkennt, ob diese noch toleriert werden können oder das Glas
nicht verwendet werden kann. In den darauffolgenden Wochen wurde die Machbar-
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 155

keitsstudie beendet, mit den Erkenntnissen und den Details daraus hat das Unterneh-
men den Auftrag für die automatisierte Anlage ausgeschrieben. „Die Zusammenarbeit
mit dem Zentrum Kaiserslautern hat uns schon jetzt begeistert, da wurde aus unserer
Idee sehr schnell eine fundierte Planung und Umsetzung“, sagte Markus Jungbluth,
Projektleiter bei der Helmut Meeth GmbH.

4. Meilenstein: Abschluss der Projektbegleitung

Nach erfolgreicher Erstellung des detaillierten Lastenhefts für ein System zur optischen
Qualitätskontrolle auf Basis von KI bei der Helmut Meeth GmbH und Co. KG stand bei
dem mittelständischen Hersteller von RAL-zertifizierten Fenstern und Türen schließ-
lich die finale Anbieterauswahl und Implementierung der KI-Lösung mit dem Anlagen-
bauer an. Diesen Schritt führt das Unternehmen selbstständig mit dem ausgewählten
Anbieter aus und die konkrete Projektarbeit des Mittelstand-Digital Zentrums Kaisers-
lautern endete an dieser Stelle. Der Input der Digitalisierungsexpert:innen ist eingear-
beitet und verwertet und die gemeinsame Projektbegleitung somit offiziell abgeschlos-
sen. In einem weiteren Schritt wird Helmut Meeth die ausgewählte Technologie dann
in Ihre bestehende Produktion einbinden und die Mitarbeitenden so von der anstren-
genden Aufgabe der optischen Qualitätskontrolle entlasten.
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 156

Künstliche Intelligenz als Innovationstreiber

Einsatz von KI im Unternehmen


KI-Anwendungen eröffnen dem Mittelstand ein breites Spektrum an Chancen, um die
Wertschöpfung zu bereichern, indem Prozesse optimiert und neue Geschäftsmodelle
generiert werden. Beispiele für KI-Anwendungen aus der aktuellen unternehmerischen
Praxis sind die vorausschauende Wartung von Produktionsmaschinen durch die
Sammlung, Analyse und Nutzung von Daten (Smart Data-Analysen), der Einsatz von
Bilderkennung zur automatischen Sortierung von beispielsweise Batterien oder Le-
bensmitteln oder die (Kunden-) Kommunikation mithilfe von textbasierten Dialogsys-
temen (Chatbots).

KI - Sensibilisierung der Mitarbeitenden


Die Wirtschaft wandelt sich in einem atemberaubenden Tempo, so dass man als Un-
ternehmer aber vor allem auch als Mitarbeitender den Überblick darüber verliert, was
es für Fortschritte und Neuerungen gibt. Diese Orientierungslosigkeit aber auch die
Umstände, dass KI oftmals als kompliziert wahrgenommen wird, sind zwei der Gründe,
weshalb nach wie vor große Bedenken beim Einsatz von KI bestehen, sowohl beim
Management als auch bei den Mitarbeitenden. Es fehlt an Vertrauen in KI, was in Be-
denken und Ängsten und schließlich in einer geringen Akzeptanz mündet. Damit KI-
Lösungen jedoch effektiv im Unternehmen genutzt und KI-Projekte erfolgreich durch-
geführt werden können, müssen die Mitarbeitenden mitziehen. Hier gilt es, eine inno-
vationsfreundliche und eine sich gegenseitig unterstützende Unternehmenskultur zu
pflegen. Das Management trägt dabei eine besondere Verantwortung und sollte die
Bedenken und Ängste ihrer Belegschaft ernst nehmen und im Falle von Zweifeln recht-
zeitig gegensteuern.

Gleichzeitig sollte frühzeitig Transparenz geschaffen werden, um die nachhaltige Ak-


zeptanz und Mitarbeit der Arbeitnehmenden zu fördern. Die jeweilige Ausgestaltung
innerhalb der Unternehmen entscheidet, ob der Einsatz von KI für die Belegschaft ent-
oder belastend wirken und ob sie die Effizienz des Unternehmens nachhaltig steigert.

Um den Mitarbeitenden die Ängste und Bedenken zu nehmen und die Einführung von
KI-gestützten Technologien so reibungslose wie möglich zu gestalten sollten folgende
Schritte berücksichtigt werden:
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 157

Big Picture aufzeigen:


• Erklären Sie, welches Ziel (z. B. effizientere Prozesse, weniger Fließbandarbeit)
mit dem Einsatz von Künstlicher Intelligenz verfolgt wird.
• Was sind die Gründe für den KI-Einsatz und welchen Vorteil bringt sie?
• An welchen Stellen genau soll die KI eingesetzt werden, welche Aufgabe hat
sie und wo sind die Grenzen?

Ängste nehmen:
• Gehen Sie auf die (einzelnen) Mitarbeitenden ein.
• Erklären Sie, inwieweit sich die Tätigkeitsprofile und die individuelle Rolle der
Mitarbeitenden verändern wird.
• Gehen Sie auf die Fragen ein, welchen Einfluss die KI auf die jeweiligen Arbeits-
bereiche haben wird und was für Berührungspunkte die Arbeitnehmenden mit
der KI haben werden.

Qualifizierung:
• Um das Verständnis für KI zu stärken und auch um einen Umgang mit KI über-
haupt zu ermöglichen, bedarf es der Weiterbildung und Qualifizierung der Be-
legschaft.
• Entsprechend der jeweiligen Berührungspunkte müssen einzelne Mitarbeitende
zu Expert:innen ausgebildet werden, bei anderen reicht ein grundlegendes Ver-
ständnis.

Wie kann ich KI verstehen lernen?


Das Mittelstand 4.0-Kompetenzzentrum Cottbus thematisiert in seiner neuen Publika-
tion „Künstliche Intelligenz im Mittelstand“ grundlegende Themenschwerpunkte, die
bei der Einführung von Künstlicher Intelligenz in Ihrem Unternehmen berücksichtigt
werden sollten. Weitere Informationen rund um KI finden Sie auf der Webseite des
Zentrums.
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 158

Mittelstand-Digital – Kostenfreie Unterstüt-


zungsangebote für Unternehmen

Mit regionalen und thematischen Zen-


tren bietet Mittelstand-Digital im gan- Was ist Mittelstand-Digital?
zen Bundesgebiet kompetente und an-
bieterneutrale Anlaufstellen zur Infor- Das Netzwerk Mittelstand-Digital
mation, Sensibilisierung und Qualifika- informiert kleine und mittlere Unter-
nehmen über die Chancen und Her-
tion: Hier können kleine und mittelstän-
ausforderungen der Digitalisierung
dische Unternehmen und Handwerks-
und unterstützt finanziell bei Digita-
betriebe durch Praxisbeispiele, De- lisierungsprojekten.
monstratoren, Informationsveranstal-
tungen und den gegenseitigen Aus- Zu Mittelstand-Digital gehören:
tausch die Vorteile der Digitalisierung • die geförderten Zentren,
• das Investitionszuschusspro-
erleben.
gramm Digital Jetzt und
KI ist einer der zentralen Inhalte des • die Initiative IT-Sicherheit in
Förderschwerpunktes Mittelstand-Di- der Wirtschaft samt der
gital im Rahmen des Bundesministeri- Transferstelle IT-Sicherheit
im Mittelstand (TISiM).
ums für Wirtschaft und Klimaschutz
(BMWK). In diesem Zusammenhang
werden in unterschiedlichen Mittel-
stand-Digital Zentren auch KI-Trainer:innen ausgebildet, die mit kostenfreien und an-
bieterneutralen Workshops, Unternehmensbesuchen, Vorträgen, Roadshows und vie-
len anderen Angeboten über das Thema Künstliche Intelligenz aufklären. Eine Liste zu
den KI-Trainer:innen finden Sie auf der Webseite vom BMWK / Angebote / KI-Trainer
und auf den folgenden Seiten.

• Nutzen Sie auch die bundesweiten Workshops und Veranstaltungen rund um


das Thema KI.
• Informieren Sie sich in unserem KI-Kochbuch über Einsatzgebiete, Anwendun-
gen und Praxisbeispiele sowie rechtliche und ethische Aspekte bei der Einfüh-
rung von KI.
• Machen Sie den KI-Readiness-Check.
• Sprechen Sie uns direkt an, um bei der Einführung von KI in Ihrem Unternehmen
begleitet zu werden. Wir unterstützen Sie von der Identifikation eines konkreten
Anwendungsfalls, über den Projektplan, bis hin zu Recherche geeigneter Anbie-
ter.
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 159

Mittelstand-Digital Zentren und ihre KI-Trainer:innen


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Ein neues Lernangebot für die direkte Anwendung


Sie möchten KI auch in Ihrem Unternehmen einführen und sind gerade auf dem Weg
nach einem geeigneten Einstieg? Erste Recherchen zeigen, dass es an Informationen
und Kursen nicht mangelt, doch was ist notwendig, um wirklich anzufangen? Mittel-
stand-Digital hat genau dafür ein kostenfreies Lernangebot geschaffen, welches Sie
bei der Einführung von KI-Anwendungen im Betrieb unterstützt! Dieses Lernangebot
erklärt KMU eine ganzheitliche Strategie für die Einführung von KI. Es zeigt Schritt für
Schritt auf, was KMU tun müssen, um sich dem Einsatz von KI zu nähern. Es geht dabei
nicht in erster Linie um die Technik, sondern darum, wie Sie bei der Implementierung
einer KI-Lösung im eigenen Unternehmen vorgehen sollten. Der Kurs setzt also an dem
Punkt an, an dem sich ein Unternehmen für die Einführung von KI entschieden hat und
nun wissen möchte, wie es vorgehen soll bei der Auswahl der konkreten Lösung und
der Implementierung.

Worum geht es?

Der Onlinekurs "KI-Kompetenz für KMU - Ein Anwendungskurs" gibt KMU einen Ein-
blick darüber, welche Schritte gegangen werden müssen, um mit KI anzufangen. Ganz
praktisch und pragmatisch wird erklärt, was die ersten Überlegungen sein sollten. Das
begleitende Übungsheft enthält viele Fragen und Raum für eigene Gedanken, so dass
Sie sich Gedanken zur Anwendung von KI in Ihrem eigenen Unternehmen machen kön-
nen.
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 162

Wie ist der Kurs aufgebaut?

Der Kurs beschäftigt sich mit folgenden zentralen Fragestellungen:

• Welcher Mehrwert, aber auch Herausforderungen sind mit der Einführung von
KI verbunden?
• Welche Aspekte müssen beim Kauf oder auch bei der Selbstentwicklung von KI
beachtet werden?
• Welche strategischen Aspekte und Voraussetzungen müssen für eine langfris-
tige KI-Einbindung geschaffen werden?

Begleitend zum Onlinekurs und Übungsheft wird es eine Anwendungsfall-Bibliothek


geben. In dieser werden über 100 Anwendungsfälle ausführlich (mit ca. 300 Worten
je Anwendungsfall) beschrieben. Die Anwendungsfälle sind nach Unternehmensfunk-
tionen (sowie HR, Logistik, etc.) sortiert und für branchenspezifische Anwendungsfälle
nach unterschiedlichen Branchen geclustert. Die Anwendungsfälle sind auf einer inter-
aktiven Webseite dargestellt und dienen als Inspirationsquelle für KMU, die mit KI an-
fangen wollen, aber noch nicht wissen, wie sie KI in ihrem Unternehmen einsetzen kön-
nen.

Was sind die Voraussetzungen für eine Teilnahme?

Das Programm richtet sich an Management, Geschäftsführung, interessierte Mitarbei-


ter:innen von mittelständischen Unternehmen (unabhängig von der Branche oder der
Größe des Unternehmens).

Für die Teilnahme sollte eine erste Sensibilisierung, also ein grundlegendes Interesse
dem Thema gegenüber, und erste Informationen- für das Thema KI bereits stattgefun-
den haben, es wird jedoch kein tiefergehendes Wissen über KI benötigt. Da es sich um
einen onlinebasierten interaktiven Kurs handelt, der im Browser läuft, können Sie den
Kurs im eigenen Tempo machen.

Anmeldung

Start des Programmes ist April 2022. Alle weiteren Informationen zu dem Kurs und der
Anmeldung finden Sie unter www.mittelstand-digital.de/ki-anwendungskurs.

Ihr Ansprechpartner:
Christian Märkel
E-Mail: c.maerkel@wik.org
K r e a t i v i t ä t & K ü n s t l i c h e I n t e l l i g e n z - S e i t e | 163

Nutzen Sie auch “Digital Jetzt” – die Investitionsförderung für KMU


Digitale Technologien und Know-how entscheiden in der heutigen Arbeits- und Wirt-
schaftswelt über die Wettbewerbs- und Zukunftsfähigkeit von Unternehmen. Damit
der Mittelstand die wirtschaftlichen Potenziale der Digitalisierung ausschöpfen kann,
unterstützt das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) kleine und
mittlere Unternehmen (KMU) mit dem Programm „Digital Jetzt – Investitionsförderung
für KMU“. Das Programm bietet finanzielle Zuschüsse und soll Firmen dazu anregen,
mehr in digitale Technologien sowie in die Qualifizierung ihrer Beschäftigten zu inves-
tieren.

Alle Informationen zu „Digital Jetzt“ finden Sie auf der Seite des Bundesministeriums
für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK).

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