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(Perspektiven Der Sozialpolitik) Michael Opielka (Eds.) - Bildungsreform Als Sozialreform - Zum Zusammenhang Von Bildungs - Und Sozialpolitik-VS Verlag Für Sozialwissenschaften (2005)
(Perspektiven Der Sozialpolitik) Michael Opielka (Eds.) - Bildungsreform Als Sozialreform - Zum Zusammenhang Von Bildungs - Und Sozialpolitik-VS Verlag Für Sozialwissenschaften (2005)
Bildungsreform
als Sozial reform
Zum zusammenhang von
Bildungs- und Sozialpolitik
I
VS VERLAG FÜR SOZIALWISSENSCHAFTEN
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Einleitung 7
Michael Opielka
Bildungs armut
Zum Zusammenhang von Sozialpolitik und Bildung 45
] utta Allmendinger und 5 tephan Leibjried
Autorenverzeichnis 156
Einleitung
Michael Opielka
ist das Ausbleiben von Maßnahmen zur Reduktion von Chancenungleichheit er-
schütternd und zugleich deutungsbedürftig. Die hohe soziale Selektion der deut-
schen Schule, ein zentrales Resultat der PISA-Studien, hätte "eigentlich niemanden
überraschen dürfen". Dass es auch anders geht und was dafür künftig erforderlich
wäre, erläutert er an "Vier E" der Bildungsreform: Effektivität, Effizienz, Evidenz
und Erfolgsorientierung.
In den drei folgenden Beiträgen wird die biographische Trias des deutschen
Bildungswesens untersucht: Die Vorschulpädagogik (Rabe-Kleberg), das Schulsys-
tem und sein Kontext (Rauschenbach) und die Hochschulen in ihrem Bezug zum
Arbeitsmarkt (Wagner). Alle drei Felder wurden in den letzten Jahren teils weit
reichenden Reformen unterzogen oder stehen davor.
Die vorschulische Erziehung wird von Ursula Rabe-Kleberg mit den neueren
Befunden der Kindheitsforschung verknüpft. Der "grundsätzlich positive Blick auf
Kinder als eigenständige und eigensinnige Wesen" darf freilich nicht den Blick
darauf trüben, dass gesellschaftliche Strukturen immer mehr an Ungleichheit gerade
auch für Kinder bedeuten. Kinder- und Jugendarmut erschwert für immer mehr
Heranwachsende den Einstieg in die geforderte Normalität. Die pädagogischen
Institutionen können dies freilich nur begrenzt kompensieren. Dass sie dies auch
noch unzureichend leisten, nicht nur, aber besonders auch für Kinder mit Migrati-
onshintergrund, verweist auf institutionelle wie professionelle Mängel. Der Erzie-
herberuf benötigt deshalb nicht nur einen "Zuwachs an inhaltlich-fachlichen Kom-
petenzen", sondern weiters einen "Zuwachs an sozialpolitischer Potenz".
Thomas Rauschenbach knüpft mit seinem Beitrag an der noch vor wenigen
Jahren, zumindest in Westdeutschland, beinahe verteufelten Praxis der "offenen
Ganztagsschule" an, die neuerdings parteiübergreifenden Zuspruch zu genießen
scheint. Ausgehend von den modellhaften Erfahrungen vor allem in Nordrhein-
Westfalen macht er aber deutlich, dass dieser "folgenreichste Eingriff in das System
Schule in der Geschichte der Bundesrepublik" doch noch erhebliche intellektuelle
und praktische Anstrengungen erfordert. Vor allem die Bildungsprozesse "vor und
neben der Schule" werden von den bisherigen Schul- und Unterrichtskonzepten
vernachlässigt. In einem breiten, zugleich pädagogischen, bildungs- wie sozialpoliti-
schen Panorama zeigt er auf, was erforderlich ist und durchaus geleistet werden
könnte, wenn die Akteure, also Professionelle, Eltern und Politiker wollen.
Der Beitrag von Gert G. Wagner konzentriert sich auf die Reformbemühun-
gen innerhalb der Hochschulpolitik, die einerseits die Autonomie der Hochschulen,
andererseits die Anforderungen eines im schnellen Wandel befindlichen Arbeits-
marktes berücksichtigen müssen. Er offeriert ein breites Spektrum teils in der Dis-
kussion bekannter, teils innovativer Vorschläge bis in die Organisation von For-
schung und Lehre. Sein bildungsökonomischer Zugriff strukturiert die Reformim-
pulse und bietet damit eine erfrischende Konsequenz, die natürlich nicht unumstrit-
10 Michael Opielka
ten bleiben muss, beispielsweise im optimistischen Plädoyer für die Einführung von
Studiengebühren.
Im abschließenden Beitrag des Herausgebers wird versucht, den Zusammen-
hang von Bildungs- und Sozialpolitik, wie im Grunde in allen Texten dieses Bandes,
als dynamischen, reformorientierten Kontext vorzuzeichnen. Nach einer Analyse
der Ungleichheiten im deutschen Bildungssystem in international vergleichender
Perspektive, wird der sozialpolitische Blick auf die Strukturen der Bildungsfinanzie-
rung gelenkt. Auch dabei zeigen sich deutsche Eigentümlichkeiten, vor allem aber
ein dramatisches Defizit. In Deutschland wird schlicht zu wenig in Bildung inves-
tiert. Die Frage, ob dieses Investitionsdefizit eher durch private oder durch öffentli-
che Investitionen behoben werde soll, wird hier eindeutig zugunsten der öffentli-
chen beantwortet. Dass die fehlende Investitionsneigung der deutschen Bildungs-
und Sozialpolitik in Bildung auch etwas mit einem qualitativ verengten Bildungsver-
ständnis zu tun hat, wird abschließend nicht nur beklagt, sondern mit praktischen
Reformvorschlägen beantwortet.
Die Idee des Buches und einige Beiträge (Sandkaulen, Wink/er, Rabe-Kleberg)
gehen zurück auf zwei studentische Fachtagungen an der Fachhochschule Jena,
Fachbereich Sozialwesen, die sich in 2004 und 2005 dem Zusammenhang von Bil-
dungs- und Sozialpolitik unter dem Gesichtspunkt von Studiengebühren und Ganz-
tagsschulen gewidmet hatten. Den Studierenden, die sich an der Vorbereitung und
Durchführung dieser Tagungen beteiligt hatten, dem Fachschaftsrat Sozialwesen,
dem Studentenrat und dem Verein der Freunde der Fachhochschule Jena sei für die
praktische wie wirtschaftliche Unterstützung gedankt. Meinen Mitarbeitern Miriam
Federer und Christian Reuter bin ich für die technische Unterstützung bei der Her-
stellung des Buches, aber auch für inhaltliche Hinweise und Diskussionen dankbar.
Bir;git Sandkaulen
I.
Eine kleine Anekdote mag am Anfang stehen. Als Studentin habe ich vor mehr als
zwanzig Jahren ein Auslandsjahr in Frankreich, genauer in Poitiers verbracht: Am
dortigen "Centre de la Recherche sur Hegel et Marx", wie die Einrichtung damals
noch hieß (heute ist sie umbenannt in ein "Zentrum zur Erforschung der Philoso-
phie des deutschen Idealismus"). Ich studierte dort Georg Wilhelrn Friedrich He-
gels berühmtes Hauptwerk, das er 1806 in Jena vollendet und mit knapper Not vor
den Flammen des Napoleonischen Kriegs gerettet hat: die Phänomenologie des Geistes.
Es brauchte nicht viel, um zu sehen, dass der Begriff der "Bildung" in diesem Werk
eine hervorragende Rolle spielt. Das ganze Buch handelt von der Bildung des Be-
wusstseins, das - sowohl als einzelnes wie als kulturelles Bewusstsein - auf dem
Weg einer langen und breiten Erfahrungsgeschichte verstehen lernen soll, was es
selber ist, und dies nur verstehen lernen kann, wenn es begreift, auf welch mannig-
fache Weise es mit der geschichtlichen Welt vermittelt ist.
Dieser Gedanke hat mich fasziniert, und so beschloss ich, zum Thema "Bil-
dung" bei Hegel eine Arbeit zu schreiben, auf französisch, denn schließlich studierte
ich ja in Frankreich. Und da machte ich nun eine verblüffende Erfahrung: Ein
Wort, das im Französischen dem deutschen Ausdruck "Bildung" entsprochen hätte,
gab es nicht. Im Französischen braucht man eine Serie von Wörtern, um die vielfäl-
tigen Aspekte wiederzugeben, die in "Bildung" stecken und die alle in Hegels Ver-
wendung des Begriffs eine Rolle spielen: "formation" (Gestalten oder als Produkt
davon die Gestalt. die Kinder bilden einen Kreis, die Autos bilden eine Schlange),
"developpement" (Entwicklung. Pflanzen bilden Knospen aus), "creation" (bildende
Tätigkeit. "Bildende Künste''), "fondation" (Griindung. Bildung eines Staates), "orga-
nisation" (Aufbau: die Bildung eines Unternehmens, ein Unternehmensgebilde),
"education" oder "culture" (Erziehung. Ausbildung), und schließlich noch "connais-
sances" (Wissen, wie z.B. im "Bildungskanon''). Da es lästig gewesen wäre, ständig
all diese Wörter aufzuzählen, habe ich es in meinem französischen Text kurzerhand
bei dem deutschen Ausdruck "Bildung" belassen. So machte es im Übrigen auch
mein damaliger französischer Dozent. Noch heute höre ich ihn "la Bildung" sagen,
wenn er von einschlägigen Sachverhalten sprach.
12 Birgit Sandkaulen
Die Erfahrung, die ich damals gemacht habe, ließe sich in der englischen Spra-
che jederzeit wiederholen. Auch hier sagt man "education", wenn man Erziehung
oder Ausbildung meint, und spricht andererseits von "formation" und "develop-
ment", wenn man den Vorgang des Gestaltens, das Proftl einer Gestalt oder aber
derlei wie eine Entwicklung im Sinn hat.
Philosophen sind nicht zuletzt dazu da, um Begriffe zu klären - und eben dar-
um ist es mir im Anschluss an meine Anekdote zu run. Wir benutzen das Wort
"Bildung" jeden Tag, so als verstünde es sich von selbst. Kopfzerbrechen hingegen
macht uns die "Bildungs-Reform" oder die Frage "Bildung heute". Was aber ist
eigentlich "Bildung"? Offenbar handelt es sich um einen komplexen Begriff mit
vielen Bedeurungsnuancen: Dies zeigt jedenfalls schon, wie eben demonstriert, der
Blick in ein einfaches Sprachlexikon. Die Frage ist jedoch, wie wir mit diesem weit
reichenden Spektrum von semantischen Assoziationen umgehen, die den Ausdruck
"Bildung" in einem umfassenden Sinne charakterisieren.
11.
vorrangig ein Mittel zu einem äußerlichen Zweck, sondern in erster Linie Zweck in
sich selbst ist.
Was dies für den Begriff "Bildung" konkret bedeutet, ist damit noch nicht ge-
sagt. Indes ist zu befürchten, dass bereits die Rede von einem "Zweck in sich
selbst" genügt, um den V erdacht aufkommen zu lassen, dass sich hier die typisch
weltferne Einstellung der Philosophen geltend macht. Philosophen, so heißt es,
sitzen im Elfenbeinturm, in dem sich trefflich über Bildung als "Zweck in sich
selbst" räsonieren und das harte Erfordernis der Praxis vergessen lässt. Auf diesen
Verdacht antworte ich zunächst mit zwei Thesen, die ich im Folgenden näher aus-
führen und dabei die "Erfahrungen in Jena" in eine gewisse Spannung zum Oberti-
tel "Bildung heute" rücken will.
III.
Das ist nun genauer zu erläutern. Dass sich das Wort "Bildung" nur umständlich in
andere Sprachen übersetzen lässt, habe ich eben herausgestellt.! Interessanterweise
steht dazu in Entsprechung, dass es in der deutschen Sprache selbst von ver-
gleichsweise jungem Gebrauch ist. Erst in der Mitte des 18. Jh. kommt es als "neues
Grundwort" in Umlauf. Und noch 1784 bezeichnet der berühmte Aufklärungsphi-
I Ygl. dazu auch den Artikel "Bildung" von Michel Espagne (Espagne 2004).
14 Birgit Sandkaulen
losoph Moses Mendelssohn den Begriff "Bildung" als einen "neuen Ankömmling in
unserer Sprache C•.. ) vorderhand bloß in der Büchersprache" (Lichtenstein 1971,
Sp. 921): Das heißt in einer Sprache, die sich von der alltäglichen Umgangssprache
unterscheidet.
Von heute aus besehen, wo wir geradezu inflationär von Bildung reden, mag
man das zunächst einmal gar nicht glauben. Und prompt stellt sich die Frage, was
wohl der Anlass war, das "neue Grundwort" Bildung in Umlauf zu bringen, und
was es weiter war, das diesem neuen Wort dann zu der unübersehbaren allgemeinen
Präsenz verholfen hat, von der wir heute noch - und sei es in der angedeuteten
reduzierten Weise - zehren. Ich nähere mich damit den "Erfahrungen in Jena", die
hier tatsächlich von maßgeblicher Bedeutung sind: solchen Erfahrungen nämlich,
wie man sie an diesem Ort um 1800 machen konnte. Um die Pointe dieses Rekurses
zu schärfen, lenke ich den Blick zunächst jedoch in noch einmal ältere Zeiten zu-
rück.
Die Etymologie des Wortes "Bildung" hat ihren Ursprung im Althochdeut-
schen und verweist hier auf die Tätigkeit des "abbildens", das "Bildnis" sowie das
"Gebilde". Die Wurzel der "Bildung" steckt demnach im Bild und im Gebilde als der
Gestalt - und hat demzufolge mit dem heute vorherrschenden Aspekt der Erzie-
hung und Ausbildung zunächst einmal überhaupt nichts zu tun. Bestimmend für die
Bedeutung des Ausdrucks sind vielmehr die anderen von mir schon genannten
Hinsichten, die sich im Assoziationsfeld kreativen Gestaltens bewegen. Und dazu
passt nun wiederum, dass die Substantivform "Bildung" im Spätrnittelalter durch
Meister Eckhart geprägt worden ist. Im Kontext einer hochspekulativen Theologie
deutet er das Bibelwort, wonach Gott den Menschen nach seinem Bild geschaffen
hat, als den Akt einer "Bildung", die nicht ein für allemal am Anfang der Welt statt-
gefunden hat, sondern die sich jederzeit in der menschlichen Seele vollzieht. Indem
Gott sich der Seele ein-bildet, wird die Seele zum Bild Gottes, die ihre reverse Ein-
bildung in Gott im Prozeß des Entbildens, der Befreiung von den Bildern der äu-
ßerlichen Welt realisiert (Lichten stein 1971, Sp. 921f.).
Mit Ausbildung hat das, wie gesagt, nicht das mindeste zu tun. Weit eher träfe
es offenkundig den Punkt, wenn man Bildung und Einbildungskraft assoziierte.
Zugleich jedoch steckt in diesem ursprünglich theologisch-religiösen Sinn der Bil-
dung ein Moment, das dem Verdacht Vorschub zu leisten scheint, dass mit der
Erinnerung an ältere Bedeutungsschichten dieses Wortes wenig mehr anzufangen
sei. Ich meine das Moment, das - einmal ganz abgesehen von der religiösen Dimen-
sion - auf einen Vorgang innerhalb der Seele zielt. Solcher Innerlichkeit steht das Äu-
ßere, die ganze äußere Welt, so scheint es jedenfalls, als irrelevant entgegen. Und
was wäre damit im Ernst gewonnen?
So einfach liegen die Dinge aber nicht. Denn für den Aufstieg der Bildung zu
einem "neuen Grundwort" im 18. Jahrhundert ist dieser Umstand, dass Bildung
zunächst maßgeblich zur Bezeichnung eines inneren Vorgangs eingeführt und ver-
Bildung heute - Erfahrungen in Jena 15
wendet worden ist, offenbar entscheidend gewesen. Denn gerade so entfaltet der
Begriff nun ein entschieden kritisches Potential Unter inzwischen säkularisierten Be-
dingungen wird er zum Verständigungswort all derer, die als vehemente Kritiker
ihrer Zeit, als Kritiker des Rationalismus der Aufklärung von sich reden machen.
Johann Gottfried Herder vor allem hat hier bahnbrechend gewirkt. Worauf die
Epoche der Aufklärung so stolz ist, dies entziffert Herder in einer Streitschrift von
177 4 als die verkehrte Gestalt einer lediglich äußerlichen Bildung, die in ganz me-
chanischer Weise allein auf den Zuwachs an Wissen, auf den Fortschritt einer blo-
ßen Verstandeskultur zielt, und dabei übersieht, dass weder der Gang der menschli-
chen Geschichte noch die Erfüllung menschlichen Lebens an solch einseitigen,
"künstlich" genannten Errungenschaften hängt (Herder 1994, S. 65). Der Aufstieg
der Bildung zum neuen Grundwort verdankt sich also - und das ist im Blick auf die
aktuellen Diskussionen so bemerkenswert - dem kritischen Einspruch gegen die
ausschließliche Zweckrationalität des Wissens, dem Einspruch gegen den "Wahn"
(ebd., S. 66), dergestalt - und zwar unter Beigesellung von "Furcht und Geld' (ebd.,
S. 71) - das Leben beherrschbar zu machen. So verkommen wir, wie Herder
schreibt, zu Funktionen eines ,,politischen Kalküls", wir werden zu "Maschinen" (ebd.,
S.64).
Die Alternative, die demgegenüber in Gestalt einer wohlverstandenen Bildung
beschworen wird, setzt sich von solch mechanistischem Unwesen ab. Worum es
geht und gehen soll, ist eine organische Entfaltung und Entwicklung aller individu-
ellen Kräfte, die das lebendige Leben im Ganzen in Anspruch nimmt. Bildung wird
so zu einem dynamischen Prozeß, der jetzt, bezogen auf das einzelne Individuum
und die Gesellschaft, eine innere Entwicklung und deren äußere Darstellung über-
greift und zum Ziel nicht das ablösbare Produkt einer "Bildungstechnik", sondern
die Verwirklichung von "Humanität" hat.
Der normative, als Zweck in sich selbst zu verstehende Gehalt des Ausdrucks
"Bildung" meint eben dies: die emphatische Bildung zur Humanität. Trainiert in der
möglichst kostenneutralen Evaluation von anwendungsorientiert Nützlichem, wie
wir heute sind, mag uns diese Emphase seltsam berühren. Jedoch sollte man dabei
eben nicht übersehen, was uns dann befremdet. Insofern der Ausdruck Bildung in
dem Moment in virulenten Gebrauch kommt, wo es nicht - um noch einmal Her-
der zu zitieren - um "Papierkultur!' (Herder 1994, S. 69) geht, sondern um die Hu-
manität eines nicht reduzierten Lebens, kann man ihn in dieser seiner ursprüngli-
chen Bedeutung schwerlich in die Ecke einer praxis- und erfahrungsfernen Kopfge-
burt schieben. Was mit der Differenz zwischen der ursprünglichen und der heute
überwiegenden Bedeutung des Begriffs "Bildung" auf dem Prüfstand steht, sind
vielmehr nichts anderes als unterschiedliche Lebensentwürfe selbst.
16 Birgit Sandkaulen
IV.
"Der Begriff der Bildung, der damals zu beherrschender Geltung aufstieg, war wohl
der größte Gedanke des 18. Jahrhunderts" (Gadamer 1975, S. 7). Als Hans-Georg
Gadamer diesen Satz 1960 an prominenter Stelle formulierte, war er zugleich davon
überzeugt, dass sich die Gegenwart des 20. Jahrhunderts im Rekurs auf den Bil-
dungsbegriff "mit dem Jahrhundert Goethes noch immer wie gleichzeitig" fühlen
kann, während die Zeit davor wie eine "geschichtliche Vorzeit" erscheine (ebd., S.
7). Das hatte nun allerdings schon damals Theodor W. Adorno ganz anders gese-
hen, wie in seinem 1959 geschriebenen bösen Aufsatz über die Theorie der Halbbil-
dung nachzulesen ist (Adorno 1997). Erst recht wird heute, mehr als 40 Jahre später,
die Einstellung Gadamers niemand mehr teilen - auch die so genannte Goethezeit
ist uns inzwischen zur "Vorzeit" geworden. Und daran mag man ermessen, mit
welch rasanter Beschleunigung sich unsere Welt seither verändert hat. Sofern wir
aber eine Vielzahl unserer Begriffe wie auch den der Bildung der geradezu revoluti-
onären Modernität der damaligen Zeit verdanken, ist eine Erinnerung an diese
Epoche der Orientierung dienlich.
Damit bin ich nun bei den spezifischen "Erfahrungen in Jena" angelangt. Die
auf Anhieb vielleicht seltsam klingende Auszeichnung einer Stadt - was hat schließ-
lich ein bestimmter Ort mit der Bildungsproblematik zu tun? - ist so merkwürdig
doch wiederum nicht. Denn wenn richtig ist, dass sich, so noch einmal Gadamer, in
der Epoche "zwischen Kant und Hegel [... ] die durch Herder bewirkte Prägung"
des Bildungsbegriffs "vollendet" hat (Gadamer 1975, S. 8), dann bedeutet dies so-
zusagen von selbst, sich an die Adresse Jenas zu wenden: an eine Adresse, an der
sich in der Nachbarschaft Weimars mit Herder und Johann Wolfgang Goethe die
damals entscheidenden intellektuellen Debatten abgespielt haben.
Was kann es heißen, den Begriff der Bildung über das bisher Gesagte hinaus
zu "vollenden"? Tatsächlich fehlt noch eine wichtige Dimension. Herder hatte
gegen die künstlich-mechanische "Maschine" einer in seinen Augen pervertierten
Aufklärung die organische Entfaltung des ganzen Lebens stark gemacht. Wie mein
früheres Beispiel schon zeigte - Pflanzen bilden Knospen aus - war Bildung damit
als ein ganzheitlicher Prozeß verstanden, dessen Nähe zu einem natürlichen Gesche-
hen unübersehbar ist. Wenn die Erde nicht gänzlich ungeeignet ist und die klimati-
schen Umstände nicht allzu störend sind, wenn mit einem Wort ein Organismus am
Wachstum nicht wesentlich gehindert wird, dann wird sich aus einem Samenkorn
eine Pflanze entwickeln, die sich, Knospen und Blüten treibend, natürlich erweise
reproduziert.
Die Einsicht, die demgegenüber Johann Gottlieb Fichtes und Hegels Bil-
dungskonzept trägt,2 ist die, dass menschliches Leben mit den Wachstumsprozessen
, Als weiterer wichtiger Autor ist hier auch Friedrich Schiller zu nennen.
Bildung heute - Erfahrungen in Jena 17
natürlichen Lebens nicht vergleichbar ist. Gewiss: rein körperlich besehen gehören
wir in die Natur wie alle anderen Lebewesen auch. Durch das Charakteristikum des
Geistes unterscheiden wir uns jedoch zugleich von einem nur natürlichen Sein. Ohne
in eine lange Erörterung darüber einzutreten, was diese Dimension des Geistes bei
Fichte und Hegel alles besagt und umfasst, genügt es an dieser Stelle zu vermerken,
dass ihrer Überzeugung nach das menschliche Leben sich nicht - unter geeigneten
Umständen - einfach naturwüchsig entfaltet, sondern aktiv bewältigt werden muss.
Wir haben uns angewöhnt, diesen bedeutsamen Punkt mit dem Unterschied
zwischen Natur auf der einen und Kultur auf der anderen Seite zu bezeichnen. Men-
schen sind nicht nur Natur- sondern wesentlich auch Kulturwesen, das heißt: allein
schon um überleben zu können, sind sie angewiesen darauf, dass sie die Welt, in der
sie leben, bewusst gestalten, und darin ist dann weiterhin impliziert, dass sie sich
eine geistige Wirklichkeit erschließen, in der sie sich zu ihrem Leben in ein Verhältnis
setzen - in der Verständigung über die Welt, woraus die Wissenschaften erwachsen,
und in den spezifisch normativen Orientierungen ihres Zusammenlebens und deren
Darstellung, in Recht und Moral, in Kunst, Religion und Philosophie. All dies um-
fasst der Titel "Kultur". Ernst Cassirer hat dafür den Ausdruck geprägt, dass der
Mensch im charakteristischen Unterschied zu den Tieren ein "animal symbolicum"
sei, ein Symbole schaffendes Tier.
Um nun keinen Missverständnissen Vorschub zu leisten: der Gedanke, dass
Menschen im beschriebenen Sinne symbolschaffende Kulturwesen sind, ist keine
Einsicht, die Fichte und Hegel erst um 1800 erfunden hätten. Dieser Gedanke ist
als solcher vielmehr uralt. Neu hingegen ist, dass das Erfordernis aktiver Weltbewäl-
tigung jetzt mit dem Begriff der Bildung unter den Bedingungen der Moderne und
ihres spezifischen Freiheitsverständnisses zusammengeführt wird. Auch jetzt meint
Bildung keine Technik, sondern wie bisher bei Herder die Entfaltung und Entwick-
lung aller Kräfte und Anlagen, und wie bei Herder wird darunter emphatisch die
Verwirklichung von Humanität verstanden. Gemäß dem Gedanken aber, dass diese
Verwirklichung von humaner Freiheit eine spezifisch kulturelle Aufgabe ist, die sich
nicht gleichsam von selbst erledigt, sondern unter dem Einsatz aller Kräfte gezielt in
Angriff genommen werden muss: diesem Gedanken gemäß gewinnt der Begriff der
Bildung jetzt die Bedeutung einer beträchtlichen Zumutung.
Es genügt nun nicht mehr, gegen die "Mechanik" äußerlichen Wissens auf den
Gang eines natürlich verlaufenden Bildungsprozesses zu setzen. Auch die Assozia-
tion einer Entwicklung, die sich - sofern sie nicht gestört wird - mehr oder weniger
harmonisch vollzieht, wird jetzt außer Kurs gesetzt. Bildung wird jetzt aufgeladen
mit der Assoziation einer unvermeidlichen und jedermann zuzumutenden Anstren-
gung, mit der Erwartung an jeden Einzelnen, in eine Auseinandersetzung einzutre-
ten, in der das, was ein humanes, ein freies und erfülltes Leben sein soll, allererst
erobert werden muss. Vor diesem Hintergrund erscheint Herders Konzept nach-
18 Birgit Sandkaulen
träglich wie eine "Bildungsidylle", aus der Fichte und Hegel die Menschen im Na-
men der Freiheit entschieden vertreiben.
v.
Bildung, die auf Freiheit der Mitglieder einer Gesellschaft zielt, kostet den Preis
einer zumutbaren Anstrengung. Weil niemand, so wie er geht und steht, schon
wirklich frei, sondern eben nur in einem unbestimmten Sinne "ungebildet" ist, und
deshalb auf die fraglose Berücksichtigung seiner Interessen und Vorlieben, wie sie
nun einmal gerade sind, auch gar keinen Anspruch erheben darf, geht der Bildungs-
prozess notwendigerweise mit Irritationen einher. Als Rückfall in den äußerlichen
Zwang einer "Maschine" ist das nicht gemeint. Nicht zu übersehen ist aber, dass
Fichte und Hegel in ihren Überlegungen nüchterner als Herder dem Umstand
Rechnung tragen, dass moderne Gesellschaften kein naturwüchsig harmonischer
Zustand, sondern das Resultat einer politischen Arbeit sind.
Da gibt es beispielsweise das Erfordernis der Arbeitsteilung in je spezialisierten
Berufen, über das Fichte in seiner Antrittsvorlesung 1794 bezeichnenderweise
nachdenkt. Soll diese Spezialisierung nicht Ergebnis einer zwangsweise verordneten
Zuweisung sein, sondern auf freier Berufswahl beruhen (Fichte 1971, S. 320), dann
ist die Bildung zur Freiheit eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass eine solche
Wahl überhaupt begründet getroffen werden kann. Und dies wiederum setzt dann
seinerseits voraus, wie Fichte seinen über fünfhundert Hörern einschärft, dass jeder
bereit sein muss, nicht nur das, was er seinen jeweiligen Anlagen und Fähigkeiten
gemäß kann, andern mitzuteilen, sondern ebenso das, was er von Hause aus nicht
kann, von andern "empfangen" zu wollen (ebd., S. 315). Bildung ist demnach gedacht
als ein anspruchsvoller Sozialisierungsprozess durch wechselseitigen Austausch. Im
Ergebnis soll sie diejenige freie "Gleichheit' erzeugen (ebd., S. 315), die zur Basis
einer freien Entscheidung für etwas Bestimmtes taugt; einer Entscheidung, so fügt
Fichte hinzu, von der sich die Gesellschaft dann allerdings mit Recht einen Nutzen
erwarten darf (ebd., S. 321). Das sind, kurz nach der Französischen Revolution, für
die feudale Ständegesellschaft in Deutschland revolutionäre Ansichten, die sich hier
an einen umfassend konzipierten Bildungsbegriff knüpfen.
Hegel geht auf diesem Wege noch weiter. Es genügt nicht, so hält er in seiner
schon erwähnten Phänomenologie des Geistes fest, das "Dafürhalten aus Autorität in
Dafürhalten aus eigener Überzeugung" zu verkehren, denn ob die eigenen Über-
zeugungen wahr sind, ist mit der Abkehr von äußerlichen Dekreten nicht zwangsläu-
fig garantiert (Hegel 1970, S. 73). Schon ein einziger Passus wie dieser zeigt, worum
es geht: Wie bei Fichte wird der Begriff der Bildung emphatisch aufgeladen in einer
historischen Situation, in der die reale oder mögliche Ablösung der Aristokratie
durch das Bürgertum zu Bewusstsein kommt, und in der nun zugleich darauf reflek-
Bildung heute - Erfahrungen in Jena 19
tiert werden muss, unter welchen Umständen denn die Äußerung eigener Meinun-
gen nicht nur der Form, sondern auch dem Inhalt nach "frei" genannt zu werden
verdient.
Die spätere Rede vom so genannten "Bildungsbürgertum" hat einen betont
negativen Klang. Bildungsbürger werden seit Friedrich Nietzsches Rede vom "Bil-
dungsphilister" assozüert mit den Ausgaben der "Klassiker" in ihrem Bücher-
schrank - und damit ist Bildung dann zu etwas geworden, das man als erstarrte
Attitüde getrost vergessen kann. Die Verklammerung von Bildung und bürgerli-
chem Selbstbewusstsein meint aber demgegenüber ursprünglich, wie bei Hegel zu
sehen, das Gegenteil davon. Bildung ist der Weg zur politischen Partizipation. Des-
halb ist sie im buchstäblichen Sinne Arbeit des Bewusstseins an sich selbst, und
deshalb verlangt sie den Prozeß einer anhaltenden Erfahrung, die den Einzelnen
zwingt, aus dem, was ihm vertraut und sicher scheint, herauszutreten und sich dem
Horizont ungewohnter Perspektiven und Erwartungen auszusetzen. Auf dem Weg
solcher Überlegungen geht Hegel sogar so weit, die "Bildung und ihr Reich der
Wirklichkeit" als die "Welt des sich entfremdenden Geistes" zu charakterisieren
(Hegel 1970, S. 359 ff.). Entfremdung. Auch für Hegel meint dies etwas Negatives,
etwas, das eigentlich nicht sein soll. Jedoch ist er ebenso fest davon überzeugt, dass
wir nur durch die negative Erfahrung von Entfremdung, von Entäußerung hin-
durch begreifen lernen, was der Unterschied zwischen Freiheit und Beliebigkeit ist.
VI.
Unangesehen der Diskussionen, die hier im Einzelnen zu führen wären, mag damit
deutlich geworden sein, welches Potential im Begriff der Bildung wirklich steckt:
Ein Potential, das nichts mit der technischen Hinsicht auf Nutzenmaxirnierung zu
tun hat und als Zweck in sich selbst verstanden sehr wohl auf die Praxis in einem
umfassenden Sinne zielt. Eben weil das aber so ist, kann ich hier noch einen letzten
Gedanken anschließen, der die "Erfahrungen in Jena" mit dem aktuellen Prozeß der
Hochschulreform unmittelbar verknüpft.
Um eine Studienreform ging es damals nämlich auch. Vor dem Hintergrund
der vorgestellten Überlegungen konnte das Universitätssystem so, wie es war, nicht
bleiben. Das heißt nun wirklich ganz konkret: Wer Bildung als Bildung zur Freiheit
versteht, kann die Studierenden unmöglich zwingen wollen, ein vorgeschriebenes
Tableau von Materien lediglich zur Kenntnis zu nehmen, ohne die eigene Urteils-
kraft an ihnen zu schärfen und dann zwangsläufig in die Gefahr bloßen Auswendig-
lernens zu geraten. Und er kann selber unmöglich das Interesse haben, ein einge-
führtes Lehrbuch in die Hand zu nehmen und in seinen Vorlesungen aus diesem
Buch buchstäblich vorzulesen und das Gelesene mit einigen Hinweisen zu kommen-
tieren. Dass dies bis um 1800 die gängige Unterrichtspraxis an den Universitäten
20 Birgit Sandkaulen
war, dass auch Immanuel Kant seine Vorlesungen in Königsberg auf diese Weise
bestritt, muss man wissen, um ermessen zu können, welche universitäre Revolution
Fichte als erster in Jena inszeniert hat.
Fichte hat aus keinem Lehrbuch mehr vorgelesen, sondern seine eigenen Ge-
danken vor seinen Zuhörern entwickelt, die er jeweils Bogen für Bogen dann erst in
den Buchdruck gab. Und er hat es förmlich gehasst, wenn die schulmäßige Erwar-
tung an ihn herangetragen wurde, er solle in immer gleichen Begriffen reden, damit
man die Terminologie besser behalten kann. Fichte wollte Studierende bilden, die
selbständig und kritisch denken lernen, die selbständig und kritisch denken lernen
wollen. Deshalb hat er bewusst seinen Begriffsgebrauch variiert. Er wollte vermei-
den, dass ein Gedanke nicht etwa selber durchdacht, sondern nur repetiert wird wie
etwas, das für die nächste Prüfung lästigerweise präsent sein muss. 3
Diese universitäre Revolution im Zeichen einer auch insofern gar nicht be-
quemen, sondern anstrengenden Bildung zur Freiheit hatte gewaltige Folgen. Denn
aufgrund seiner eigenen "Erfahrungen in Jena" war es Wilhelm von Humboldt, der
wenig später in Berlin die berühmte "Humboldtsche Universitätsreform" ins Werk
gesetzt hat. Im Kontrast zu dem ungeheuren bürokratischen Aufwand, der unsere
Energien in Anspruch nimmt, indem es Abprüfbarkeit zu garantieren, Leistungs-
punkte auszurechnen, neue Studiengänge zu entwerfen und durch Akkreditierungs-
anstalten zu schicken gilt, waren die Prinzipien dieser Humboldtschen Reform
denkbar einfach.
Das Einzige, was zu berücksichtigen war, war die Frage, unter welchen Bedin-
gungen die Bildung zur Freiheit gelingen kann, woraus sich die Antwort auch schon
von selbst ergibt: eben nur unter Bedingungen von Freiheit. Anstatt vorzeitig nach
anwendungs orientiertem Nutzen oder wie in der Schule nach "fertigen Kenntnis-
sen" zu schielen, sollen sich Lehrende und Studierende gemeinsam der Herausfor-
derung einer nie vollendeten Wissenschaft verschreiben - mehr, so Humboldt,
bedarf es nicht, womit er zugleich die Warnung verband, in diese gemeinsame, um
ein Sachinteresse zentrierte Tätigkeit des Forschens, Lehrens und Studierens nur
nicht hindernd einzugreifen. Um einen Elfenbeinturm reiner Wissenschaft, die sich
von allen Erfordernissen des Lebens, nicht zuletzt der Berufstätigkeit entfernt, ging
es dabei keineswegs, im Gegenteil. Gerade weil es sowohl dem Staat als auch der
Menschheit nicht "um Wissen und Reden, sondern um Charakter und Handeln zu
thun" ist, ist diesem Ziel am Besten gedient, wenn Universitäten der Ort sind, an
dem die Anstrengung freien und selbständigen Denkens gründlich geübt werden
darf (Humboldt 1982, S. 255 ff.).
3 Vgl. dazu auch Fichtes späteren Text von 1807: Deducirter Plan einer '{!I Berlin '{!I errichtenden hoheren Lehran-
stalt (Fichte 1971a).
Bildung heute - Erfahrungen in Jena 21
Dem möchte ich nichts hinzufügen - außer der virulenten Sorge, dass "Bil-
dung heute" über dem vorherrschenden Aspekt effizienter Ausbildung das essen-
tielle Erfordernis einer Bildung zur Freiheit aus den Augen zu verlieren droht.
Literatur
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Bildungspolitik nach PISA
Michael Winkler
(1) Irritieren wird nun - erster Punkt -, wenn und wie die Selbstverständlichkeit be-
tont wird, dass es um Bildungspolitik nach PISA geht, zumal in der Zuspitzung auf das
Problem einer Bildungsreform als S o':(jalreform? - wobei dem Fragezeichen ein besonde-
I Zur Kritik an der PISA-Studie und ihrer Rezeption vgl. auch: Winkler 2003a.
24 Michael Winkler
res Gewicht zukommt. Dies ist jedoch besonders wichtig, weil das Thema Bildungs-
politik nach PISA dazu verführen könnte, normativ zu sprechen oder wenigstens die
Aspirationen, die Wünsche und Hoffnungen zu diskutieren, welche sich - im güns-
tigen Falle - nach einer Interpretation und Bewertung der Befunde aufdrängen. Im
weniger günstigen Fall wird aber Bildungspolitik gleichsam jenseits und vor aller
Auseinandersetzung mit den entsprechenden Studien betrieben, zuweilen spekula-
tiv, meist vor allem prätentiös und in der Absicht, ohnedies schon vorhandene
Programmatiken durchzusetzen.
In der Tat ist nach der Veröffentlichung der ersten PISA-Studie ein solches
Verfahren üblich geworden;2 boshaft formuliert dient beispielsweise die Studie
dazu, dem Willen der Finanzminister nach Verkürzung der Schulzeiten gerecht zu
werden. Auf der Wunschliste - neudeutsch: Agenda - steht seitdem vor allem, dass
die Bundesrepublik, ihre Schulen und ihre fünfzehnjährigen Schüler einen Ranking-
Platz mindestens im oberen Drittel erreichen, weil andernfalls die wirtschaftliche
Leistungsfähigkeit des Landes und der Wohlstand aller gefährdet seien. Das bildet
den Kern einer solchen normativen Bildungspolitik. Sie trägt allerdings zugleich ein
gesellschafts theoretisches Argument mit, nämlich die Sorge um Belastungen der
Nationalökonomie. Insofern versteckt sich in den einschlägigen Überlegungen und
Projekten von vornherein ein sozialreformerisches Element - über dessen Substanz
man streiten kann: Alison Wolf von der University of London hat in ihrem hüb-
schen Buch "Does Education matter? Myths About Education and Economic
Growth" überzeugend dargestellt, wie schwach die Beziehungen zwischen Bildung
und Ökonomie ausfallen; mit wirtschaftlichen Effekten lassen sich Bildungsinvesti-
tionen nur eingeschränkt rechtfertigen, sie benötigen vielmehr eine soziale und
kulturelle Begründung, die sich auf eine Vorstellung von gewünschter politischer
Ordnung stützt (Wolf 2002, v.a. S. 244ff.).
Das Dilemma solcher - sozusagen apriorisch - normativ geladenen Auseinan-
dersetzung mit Untersuchungen des Bildungssystems besteht aber darin, dass sie
sich häufig gar nicht auf die Untersuchungen selbst einlässt. Wenn überhaupt liest
man sie unter den Prämissen der schon vorher gefassten Vorstellungen, die letztlich
dann verwirklicht werden sollen. Was die Untersuchungen eigentlich besagen, ob sie
überhaupt im Blick auf die oft weit reichenden Reformpläne Datenmaterial und
Argumentationshilfe bieten, gerät zur Nebensache. Wer seine Absichten bestätigt
sieht, wird dann kaum nach den Voraussetzungen und Implikationen einer - wie
2 Die Unterscheidung zwischen der ersten und der zweiten, 2004 vorgestellten PISA-Studie (Deutsches
Pisa-Konsortiwn 2004) ist im Zusammenhang des mit diesen Untersuchungen betriebenen Politainments
von Bedeutung. Denn: während noch im Vorfeld dieser zweiten Veröffentlichung aus dem OECD-
Programm eine erhebliche Aufmerksamkeit von Medien und Politik bestand, ist diese praktisch mit der
Veröffentlichung in Deutschland nahezu vollständig zusammengebrochen. Das Interesse an der Studie
wie an der Bildungspolitik insgesamt hat sich wieder auf das Norrnalniveau des Desinteresses eingepen-
delt. (Anders übrigens - beispielsweise - in Österreich; dort hat die zweite Untersuchung für erhebliche
Resonanz gesorgt, weil die Ergebnisse deutlich gegenüber den Daten von 2000 abfielen.)
Bildungspolitik nach PISA 25
(2) Warum eher skeptisch, wenn nicht sogar pessimistisch argumentiert wird, kön-
nen - zweiter Punkt - einige Textausschnitte deutlich machen, die hier kurz, aber
durchaus kontextgerecht zu präsentieren sind. Nach den Ergebnissen aus der ersten
Erhebungswelle des OECD Programme flr International Student Assessment ist eine
Vielzahl von Veröffentlichungen, von Pamphleten und Studien, vor allem aber auch
von Konzepten und Programmen erschienen, mit welchen die vermeintlichen oder
tatsächlichen Defizite des deutschen Bildungswesens behoben werden sollen. Es ist
praktisch unmöglich, sie nur im Blick zu behalten, geschweige denn zu lesen. Zu-
dem wirken wohl Selektionsmechanismen, die der Formel gehorchen, nach welcher
nicht sein darf, was nicht sein soll. Symptomatisch dafür könnte sein, wie etwa die
so genannte IGLU-Studie (also die Internationale-Grundschul-Lese-Untersuchung)
deutlich weniger Beachtung fand, weil ihre Ergebnisse keineswegs dramatisch
schlecht ausfielen und somit das Verdikt über das Bildungssystem schlechthin eben
nicht bestätigten (vgl. Bos u.a. 2003, auch Mullis u.a. 2003).
26 Michael Winkler
Unter diesen Publikationen nach PISA gäbe es jedenfalls nicht nur viele Perlen
zu nennen, die Aufsehen erregten; vielmehr erweisen sich manche bei genauerer
Betrachtung als arg klein geratene, zudem taube Nüsse. Dennoch verrät mancher
dieser Texte eine Substruktur des neuen Bildungsdiskurses, wie er im Zusammen-
hang der PISA-Untersuchung hervortritt.
Dies gilt nun auch für die folgenden Textpassagen, die - nota bene - nicht aus
Erhebungen und Darstellungen stammen, welche im unmittelbaren Kontext von
PISA entstanden sind. Weder die OECD noch das Max-Planck-Institut, nicht ein-
mal - so wenigstens die Hoffnung - die deutschen Kultusminister haben etwas mit
ihr zu tun. Sie sind vielmehr der im Internet veröffentlichten Kurzfassung der Stu-
die "Bildung neu denken! Das Zukunftsprojekt" entnommen (Vereinigung der
Bayerischen Wirtschaft 2003). Diese Studie wurde von der Vereinigung der Bayeri-
schen Wirtschaft in Auftrag gegeben und von der Bayerischen Metall- und Elektro-
industrie gefördert. Mit ihrer Durchführung wurde das renommierte Forschungsin-
stitut Prognos beauftragt, Leitung der Studie und Gesamtredaktion lagen in den
Händen von Dieter Lenzen, seines Zeichens eine der herausragenden Figuren der
bundes deutschen Erziehungswissenschaft und gegenwärtig amtierender Präsident
der Freien Universität Berlin. Bedingt durch geschickte Veröffentlichungsstrategien
fiel die Medienresonanz auf die Studie entsprechend groß aus - nicht zuletzt gab
Dieter Lenzen eine Reihe von bemerkenswerten Interviews (u.a. in der Internet-
Ausgabe der Zeitschrift "der Stern"). Erstaunlicherweise fand die Buchveröffentli-
chung der Studie (Lenzen 2003) kaum mehr Aufmerksamkeit - das könnte mit den
Halbwertszeiten von medial dramatisierten Ereignissen, vielleicht sogar mit der
Substanz der Studie zu tun haben.
Zwei Grundlinien bestimmen diese: Die erste wird sichtbar an den in der Studie
als Herausforderungen benannten, allerdings widersprüchlich erscheinenden Vor-
aussagen, dass einerseits künftig mit einer "zeitlichen und räumlichen Entkoppelung
der Arbeitsnehmer von ihrem ,Betrieb"', mit mehr Selbständigkeit und Diskontinui-
täten in der Erwerbsbiografie zu rechnen sei. Auf der anderen Seite werden "Ver-
änderungen in der Lebenswelt [erwartet], die den Unterschied zwischen Arbeit und
Privadeben verringern werden, persönliche und soziale Beziehungen erschweren"
(Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft 2003, S. 3). Hier soll nicht über den empi-
rischen Gehalt dieser Annahmen gestritten werden - vieles deutet darauf hin, dass
zwar Standardarbeitsverhältnisse absolut geringer werden, sich aber strukturell deut-
lich weniger stark verändern, als diese These behauptet. Entscheidend scheint je-
doch, wie das vordergründige Paradox, nämlich Entkoppelung des Individuums
vom Betrieb bei gleichzeitiger Verschmelzung von Arbeit und Privatheit darauf
hinweist, dass und wie die Subjekte in ihrer Verfassung, mithin gleichsam ohne Dis-
tanzierungschance dem Produktionsgeschehen unterworfen werden; man kann von
einer Art Kapitalisierung der Subjekte sprechen, für die inzwischen der Ausdruck
"Employability" geprägt worden ist. Die Reform des Bildungswesens zielt also
Bildungspolitik nach PISA 27
tion verbundene Beifügung: "aber Leisrungsfahigen". Der schnelle Blick, der von
Rürup bis Hartz, von Schröder über Stoiber bis Westerwelle darauf trainiert wurde,
nach der Leistung derjenigen zu fragen, welchen öffentliche Unterstützung gnaden-
halber gewährt wird, der schnelle Blick, der durch die öffentlich praktizierte Kritik
am - wie die Bild-Zeirung formuliert - "Sozialschmarotzerrum" gehärtet und blind
geworden ist, übersieht glattweg, dass hier nicht mehr von "Leisrungswillzgen" die
Rede ist. Bislang gebot der Rest von Anstand, wenigstens nur die zu diskriminieren,
denen man mangelnden Willen in die Schuhe schieben konnte - wie etwa die ost-
deutschen Arbeitslosen, die partout keine Arbeitsplätze finden wollen. Nein: Hier
geht es schon um die "Leisrungsfahigen". Ausgeschlossen werden also jene, die aus
welchen Gründen auch immer, eine geforderte Leisrung nicht zu erbringen imstan-
de sind, also: Behinderte, Kranke, Kinder mit Lernschwierigkeiten, junge Menschen
in belasteten Lebenssiruationen, die ihnen alle Kraft rauben. Das ist, mit Verlaub
gesagt, Faschismus pur - aber bislang hat offensichtlich niemand auch nur ein
Quäntchen Anstoß daran genommen.
(3) Die von Dieter Lenzen und Prognos verwendete Formulierung ist skandalös; sie
belegt durchaus den neuerdings in Bildungsdingen ungestraft erhobenen Ton (wo-
bei irritierend hinzu kommt, dass die Srudie bislang in den einschlägigen Fachzeit-
schriften nicht rezensiert worden ist). Dennoch soll sie nicht im Zentrum einer
Auseinandersetzung um Bildungspolitik stehen. Sie dient nur als Kulisse, um im
dritten Punkt der Frage nachzugehen, ob und in welchem Sinne wir überhaupt von
einer Bildungspolitik nach PISA sprechen können.
Sicher ist - der eben untersuchte Text belegt dies nachdrücklich -, dass im Zu-
sammenhang des Programme for International Student Assessment die Auseinanderset-
zung um Bildung eine neue Qualität gewonnen hat. Dabei fallt auf, dass weder das
Verfahren einer international vergleichend angelegten Srudie noch ihre Befunde als
sensationell gelten dürfen. Abgesehen von regelmäßigen, mit standardisierten Indi-
katoren arbeitenden Erhebungen, wie sie Education at a Glance zu Grunde liegen, hat
die OECD immer wieder Vergleichssrudien organisiert, in welchen die Bundesre-
publik Deutschland selten gut abgeschnitten hat: Regelmäßig wurde die Unterflnan-
zierung des Bildungssystems bemängelt (vgl. z.B. Lührig 1973), immer wurde auf
das Ungleichgewicht in der Aufmerksamkeit auf den Elementar- und Primarbereich
einerseits (vgl. aber auch zur "Grundschulmisere": Jochimsen 1971) und dem gut
ausgestatten Sekundarbereich hingewiesen, geradezu notorisch wurde die soziale
Selektivität des Bildungssystems festgehalten. Im Blick auf die Leisrungsmängel in
performance und out-put des Bildungssystems hatte zudem schon die Third International
Mathematics and Science Stucfy (TIMSS) unter Fachleuten für Aufsehen gesorgt. Parallel
zu PISA muss man die Internationale Civic Education Srudy (vgl. Torney-Purta u. a.
2001) mit ihren beunruhigenden Ergebnissen zur politischen Bildung und zum
sozialen Engagement deutscher Jugendlicher wie endlich die schon genannte, im
Bildungspolitik nach PISA 29
Rahmen der Progress in International Reading Literary Stu4J durchgeführte IGLU (Inter-
nationale Grundschul-Lese-Untersuchung) stellen. Zudem hatten schon andere
darauf hingewiesen, dass dem deutschen Bildungswesen schlicht Todsünden zu
bescheinigen seien (Richter 2001).
So verblüffend dies jedoch dennoch klingen mag: Es ist eigentlich falsch, von
einer Bildungspolitik nach dem PISA-Programm auszugehen. Denn seine grundle-
genden Intentionen entstanden schon früher und sind in das Design der Untersu-
chung eingegangen. Noch gravierender wirkt, dass von einer Bildungspolitik im
strengen Sinne einer distinkten, von klar erkennbaren Akteuren getragenen Praxis
der Entscheidungen keine Rede sein kann. Es gibt keine identifizierbaren Politiker,
keine klaren Programmatiken, es gibt auch keine verlässlich operierenden Ministe-
rien und Verwaltungen. Es gibt vor allem keine Öffentlichkeit mehr, in der die
Angelegenheiten des Bildungssystems in einer Art und Weise verhandelt werden,
die dann in demokratisch legitimierten Formen durch den Gesetzgeber ausgespro-
chen und geregelt werden. In Wirklichkeit wird das Geschehen durch eine Vielzahl
von heterogenen Einflüssen bestimmt. Vor allem die so genannte Wirtschaft be-
klagt Mängel der Ausbildung, wobei sie sich selbst ihren Verpflichtungen zuneh-
mend entzieht. Das geschieht übrigens mit der symptomatischen Pointe, noch
sprachlich die Beweispflicht für erfolgreiche Bildungsanstrengung zu verdrehen;
drückte etwa noch vor einem Jahrzehnt der Ausdruck "Ausbildungsfihigkeit" aus,
was ein Unternehmen oder Betrieb in Sachen Ausbildung zu leisten imstande war,
hat man unter der Hand dies nun in einen Ausdruck verkehrt, der die Fähigkeit
bezeichnet, sich einer Ausbildung unterziehen zu können (vgL Winkler/Kratochwil
2002).
Während aber die Klage der Wirtschaft wenigstens insofern rational zu rekon-
struieren ist, als sie mit der Zahl der Ausbildungsplätze korreliert, haben sich insbe-
sondere die Hochschulen damit hervorgetan, immer lauter das Klagelied über die
Studierfähigkeit anzustimmen. Bei all dem spielt viel Vergesslichkeit mit: Es waren
beispielsweise eben diese Hochschulen gewesen, die auf eine Reform der gymnasia-
len Oberstufe und die Einführung des Kollegstufensystems drängten, um nun bitter
zu beklagen, dass die Allgemeinbildung auf der Strecke geblieben sei. Endlich wären
noch ein paar weitere Akteure zu nennen, die subtil und sublim mitspielen - in
einem Maße freilich, dass man den Gedanken an kleine Verschwörungen einfach
nicht verdrängen kann. So hat sich beispielsweise der Bertelsmann-Konzern ganz
systematisch in die Bildungsdebatte und in Funktionen des Bildungssystems einge-
schlichen (vgL Schöller 2001); eines der maßgebenden Institute der Universitätsbe-
wertung, das eHE, ist eine Einrichtung des Bertelsmannkonzerns. Der Konzern hat
sich zudem mit einer Vielzahl von Aktivitäten in allen Bereichen des pädagogischen
Systems engagiert, wenngleich inzwischen sein Interesse doch abflaut. Insider spre-
chen von einem zwar zynischen, aber ziemlich radikalen Rückzug, weil die Gewinn-
aussichten deutlich geringer ausfallen als erhofft. Andere stehen jedoch schon in
30 Michael Winkler
den Startlöchern: Microsoft greift in der Fernsehwerbung ungeniert auf das staatli-
che Bildungssystem zu, die Beratungsgesellschaft McKinsey etabliert sich als eine
Instanz, welche die Debatte um Bildung vorantreibt, wobei insbesondere die Neu-
rowissenschaften in den Vordergrund geschoben werden. Unstrittig handelt es sich
stets um ehrenwerte Gesellschaften, die nur unser aller Bestes wollen. Aber worin
besteht wohl dieses Beste und vor allem: Warum wollen sie dieses Beste von uns
auch noch nehmen?
Dann: Die Debatte um Bildung und - so muss man ergänzen - Erziehung hat
in den letzten zehn Jahren eine neue Tiefendimension gewonnen. Sie lässt sich am
Titel einiger Bücher erkennen, die einige Popularität erhalten haben: Hermann
Giesecke sprach vom "Ende der Erziehung", um wenig später in seinem Buch
"Wozu ist die Schule da?" zu fordern, dass Schule sich auf Unterricht konzentrieren
müsse und nicht mit pädagogischen Aufgaben überfordert werden dürfe, die das
Elternhaus zu erledigen habe (Giesecke 1996). Peter Struck mahnte neue Lehrer für
das Land an (Struck 1994), empfahl sich zudem mit der Kunst der Erziehung (Struck
1996, vgl. Winkler 1997), während Petra Gerster und Christian Nürnberger (2001)
den Erziehungsnotstand ausriefen, bis endlich Susanne Gaschke (2001) die "Erzie-
hungskatastrophe" festgestellt hat; auch Kanzler Schröders Gattin hat sich einschlä-
gig geäußert.
Keines dieser Bücher plagt sonderliche Klugheit, für keines kann man Konsis-
tenz behaupten, geschweige denn, dass sie empirische oder gar theoretisch-reflexive
Qualität hätten. Auch wenn sie häufig mit dem Gestus von Ratgebern auftreten,
drücken diese Bücher allerdings allesamt ein dunkles Unbehagen gegenüber dem
pädagogischen System aus. Dieses wird als nicht mehr leistungsfahig beschrieben
und verurteilt. Folgt man den Diagnosen, versagen eigentlich alle und müssen daher
an die Kandare genommen werden: Die Eltern, die Erzieherinnen, Lehrerinnen,
Sozialpädagoginnen, vor allem aber die Kindern und Jugendlichen selbst; als
Grundmotive werden vorgetragen, dass ihnen nicht genug Grenzen gesetzt werden,
dass sie zu wenig Leistung bringen, zu wenig lesen, aber auch zu wenig sich auf
Naturwissenschaft, Technik und Informationstechnologien einlassen, aber dann
doch zu angepasst an die Konsumgesellschaft wären und zuviel an Computern
säßen.
Was mithin an Kritik vorgetragen wurde und wird, ist einigermaßen absurd; es
lohnt eigentlich fast nicht, sich damit auseinander zu setzen. Aufregender ist jedoch
die Veränderung bei den Akteuren dieses Paidotainment. Charakteristisch ist für sie
nämlich, dass und wie die Autoren allesamt in einem ganz eigentümlichen Zwi-
schenfeld von Wissenschaft und Medien angesiedelt sind und agieren. Zumindest
einige kommen aus dem Wissenschaftssystem, legitimieren sich im Spiel der Exper-
ten durch ihre so begründete Fachkompetenz. Zugleich zeichnet alle diese Bücher
aus, dass ihre Inhalte vor der Buchveröffentlichung schon journalistisch vorgestellt
wurden, zum Teil - so bei Susanne Gaschke - in Reportagen oder auch - so bei
Bildungspolitik nach PISA 31
(4) Was aber - vierter Punkt - passiert nun eigentlich konkret? Die Antwort fillt
keineswegs leicht, weil aufgrund der eingeschränkten Bundeskompetenz und der
Bildungshoheit der Länder eigentlich von vielen Bildungspolitiken gesprochen werden
muss. Dennoch zeichnet sich eine radikale, in ihren Konsequenzen dramatische
Veränderung ab. Sie hat sich zunächst angedeutet in dem Programm der rot-grünen
Bundesregierung, für den Ausbau einer Ganztagsbetreuung ein befristetes Budget
zur Verfügung zu stellen, das von den Ländern abgerufen werden kann. Wer die
Debatte etwas genauer verfolgt hat, kann feststellen, dass die unionsregierten Län-
der zunächst mit einer unwirschen Geste dieses Angebot zur Seite schieben wollten,
dann aber innegehalten haben. Der Grund dafür zeigt sich inzwischen. Weitgehend
hinter verschlossenen Türen tagte die so genannte Föderalismuskommission, die
eine Neuordnung der Verhältnisse zwischen Bund, Ländern und Kommunen vor-
bereitet. Dabei geben die Länder Kompetenzen im Bildungsbereich an den Bund
.1 In Verbindung mit der Einführung der neuen, dreijährigen BA-Studiengänge führt dies nun zu der
Konsequenz, dass der deutsche BA-Abschluss in den USA nicht anerkannt wird; während dort ein
vierjähriges Studimn auf einer zwälfJährigen Schulzeit aufbaut, wird die Ausbildungszeit in Deutschland
dann insgesamt mn ein Jahr zu kurz ausfallen.
34 Michael Winkler
ab, für das Zugeständnis, dass der Bund die Rahmenkompetenz im Bereich der
Jugendhilfe zugunsten der Länder schwächt. Flankierend wird der Rechtsanspruch
auf Hilfen zur Erziehung zurückgenommen, wie er das Kernstück von SGB VIII
darstellt. Inzwischen hat diese Entwicklung eine weitere Dimension angenommen.
So will das Land Thüringen nun - dem Beispiel anderer Länder folgend - den V or-
schulbereich künftig im Kultusministerium ansiedeln. Damit wird zwar vordergrün-
dig eine alte Forderung des - übrigens von der Union stets abgelehnten - Bildungs-
gesamtplans realisiert; andererseits muss man nicht nur einen Verlust der inzwi-
schen entwickelten Fachkompetenz in Sachen Elementarpädagogik befürchten,
vielmehr wird so das SGB VIII, somit die Rechtsgrundlage der Jugendhilfe fuettiert,
wenn nicht sogar zerstört.
Vor diesem Hintergrund wird nachvollziehbar, wie die Kultusministerkonfe-
renz sich relativ unproblematisch darauf einigen konnte, so etwas wie nationale
Bildungsstandards entwickeln zu wollen und deren Realisierung durch ein Institut
prüfen zu lassen, das an der Berliner Humboldt-Universität angesiedelt wird. Es ist
bislang zwar noch völlig offen, wie diese Bildungsstandards formuliert und verbind-
lich gemacht werden sollen, letztlich läuft das Verfahren auf die Einführung von
eher konventionellen Tests hinaus. Doch werden neue Leistungsanforderungen
etabliert - sichtbar in einer Einführung zentraler Prüfungen vor allem im Sekundar-
bereich, zudem in den zentral organisierten Tests auf unterschiedlichsten Stufen des
Bildungssystems. Dabei wird in einer End-of-the-Pipe-Strategie festgesetzt, was als
Ergebnis von Bildungsanstrengungen herauskommen soll - wobei zugleich, hierin
PISA folgend, die Träger des Bildungsgeschehens offen bleiben.
Damit konkretisiert sich, was als Deregulierung in den oben zitierten Textstel-
len auch angesprochen wurde. Entscheidend ist nur noch, ob das Endergebnis den
Maßstäben entspricht. Um welchen Preis es erzeugt wurde, beschäftigt nicht mehr.
Entsprechend zurückhaltend verhält man sich gegenüber Qualitätsstandards, die
sich auf Struktur und Prozess beziehen (anders dagegen: Avenarius u.a. 2003 z. B.
89ff.); völlig ausgeblendet bleibt, ob und inwiefern man sich zu den Inputfaktoren
verhalten soll. Unklar ist daher der künftige Status der Schulen (vgl. auch hier: Ave-
narius u.a. 2003). So räumen einige Länder den Schulen erweiterte Handlungsmög-
lichkeiten ein, wenn und sofern sie sich mit eigenen Schulprogrammen profilieren.
Andere verstärken die Aufsicht über die Schulen. Undeutlich ist ebenfalls, wie Leh-
rerinnen befähigt werden sollen, Tests als diagnostisches Instrumentarium zu nut-
zen; bislang sind sie jedenfalls weder mit ausreichenden Fähigkeiten ausgestattet
noch aber so ausgebildet worden, dass die Ergebnisse produktiv für die Förderung
der Kinder und Jugendlichen genutzt werden könnten. Völlig unklar ist endlich, wie
Schülerinnen und Schüler unterstützt und gefördert werden sollen, die bei solchen
Tests schlecht abschneiden - faktisch sollen der Druck des Schulsystems ebenso
gesteigert werden wie seine Selektivität. Man kann also davon ausgehen, dass die -
auch medikamentöse - Zurichtung von Schülern zunimmt (man denke nur an die
Bildungspolitik nach PISA 35
ADS-Debatte), dass die Jugendhilfe ein erweitertes Betätigungsfeld bei der Bearbei-
tung von Schulversagern erhält, dass vor allem die Zahl der vergessenen, weil aus-
gegrenzten Schüler zunimmt. Dies wird um so stärker der Fall sein, je mehr Markt-
mechanismen in das Bildungssystem eingeführt werden, die Schulen also auf eigene
Einnahmen angewiesen sind. Unzweifelhaft benötigen sie dann eine reputierliche
Klientel und werden sich all derjenigen entledigen, die als auffällig und störend das
Image der Schule schädigen.
Endlich: PISA erinnert energisch an das, was ein jeder kritischer Beobachter
des Bildungssystems schon immer wusste - aber in der alten Bundesrepublik nicht
sagen durfte, wenn er nicht des Landes und in die DDR verwiesen werden wollte:
Das bundesdeutsche Bildungssystem wirkt hochgradig sozial selektiv (vgl. z.B. All-
mendinger 1999). Je höher der Einkommens- und Bildungsstatus von Eltern, um so
größer ist die Chance, das Schulsystem erfolgreich in einem Bereich zu absolvieren,
der weiterführende Bildungsmöglichkeiten eröffnet. Freilich muss man hier ein
wenig vor den Verzerrungen warnen, die in der Debatte entstanden sind: Alle Bil-
dungs systeme dieser Welt reproduzieren soziale Ungleichheit, sie sind unvermeid-
lich ungerecht, wenn in Gesellschaften soziale Ungleichheit herrscht und somit die
Chancen Bildungsmöglichkeiten wahrzunehmen in einer Weise verteilt sind, die mit
sozialer Herkunft, sozioökonomischen Status zu tun haben. Etwas banal formuliert:
In Klassengesellschaften reproduzieren Bildungssysteme eben wiederum die Klas-
senzugehörigkeit (vgl. Bourdieu/Passeron 1973, Bourdieu 2001, Sünker 2003, 2004,
Sünker u.a. 1994).
Während aber in der Mehrzahl der Gesellschaften der sozioökonomische Sta-
tus und somit soziale Herkunft sich vor allem an der Stufe zum tertiären Bereich
diskriminierend auswirken, besteht das eine Problem in Deutschland darin, dass die
soziale Selektion des Bildungswesens sehr früh einsetzt - faktisch (etwa im Blick auf
den Zugang zur deutschen Sprache als Verkehrssprache) schon vor den formal
organisierten Bildungsprozessen, verschärft dann im Laufe der ersten zehn Jahre
des Schulunterrichts, nicht zuletzt aufgrund einer frühen Verteilung an der Stufe
von Primarbereich zu Sekundarbereich. Das andere Problem ist noch heikler: Das
bundesdeutsche Bildungssystem ist offensichtlich bei fast einem Viertel der Kinder
und Jugendlichen nicht in der Lage, diesen die basalen Grundlagen zu geben, die sie
für eine Existenz in dieser Gesellschaft benötigen. Vieles deutet darauf hin, dass
genau diese rund 25 Prozent auch jenem Viertel entsprechen, das als sozial hoch
belastet gelten muss - wobei nicht zuletzt Migrationshintergründe eine Rolle spie-
len. Es ist immerhin erst im Zusammenhang der PISA-Studie deutlich geworden,
dass für ein Drittel der in Deutschland lebenden jungen Menschen Migration und
ethnische Differenz eine entscheidende Erfahrung darstellen - vorher sprach man
von den acht bis zehn Prozent Ausländern, die eigentlich zu vernachlässigen seien.
Hier nun stellt sich allerdings die Frage nach dem Zusammenhang von Bil-
dungsreform und Sozialreform. Die soziale Selektivität des Bildungssystems lässt
36 Michael Winkler
sich nur mindern, wenn man einerseits schon möglichst frühzeitig herkunftsbeding-
te Hindernisse durch ge zielte Förderung kompensiert, andererseits Familien, Eltern,
Kindern und Jugendlichen mit belasteten und belastenden Lebensbedingungen eine
hinreichende Unterstützung sichert, die ihnen ermöglicht, für eine ganze Bildungs-
karriere Bildungsangebote wahrzunehmen. Dabei kommt es sowohl darauf an,
Familien direkt zu stützen, wie aber auch den jungen Menschen die nötige Umge-
bung für ihre Lernanstrengung zu sichern; gut ausgestattete Ganztagsschulen sind
hier unverzichtbar, wobei sie auch noch positive Effekte für die politische Sozialisa-
tion nach sich ziehen.
Indes: Die Wirklichkeit dieser Sozialreform sieht dramatisch anders aus: Es
gab kaum eine Reaktion auf den PISA-Befund zur sozialen Selektivität des Bil-
dungssystems - selbst der 10. Kinder- und Jugendbericht, der nachdrücklich auf das
Problem der Armut unter Familien und bei Minderjährigen hingewiesen hat, erzeug-
te mehr Echo (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
1998). Auch damals wurde freilich nur festgehalten, kein Kind müsse in Deutsch-
land verhungern. Dass aber Kinder und Jugendliche systematisch von Bildungs-
möglichkeiten ausgeschlossen werden, wird schlicht und einfach nicht zur Kenntnis
genommen. Es gibt keine Strategien, dem entgegen zu wirken. 4 Im Gegenteil: Alle
jüngeren Maßnahmen in der Reform des Sozialsystems gehen zu Lasten von Fami-
lien und Minderjährigen. Schon jetzt ist in den bundesdeutschen Großstädten rund
ein Viertel der Minderjährigen auf Sozialhilfe angewiesen. Die im Rahmen der so
genannten Hartz IV-Regelungen erfolgte Zusammenlegung von Arbeitslosengeld
und Sozialhilfe, das so genannte Arbeitslosengeld II, wird die Zahlen der Kinder
explosionsartig in die Höhe schnellen lassen, die von Armut betroffen sind. Und
weiter: Jede Maßnahme, die auf gesteigerte Selbstverantwortung gegenüber den
Risiken des Lebens, gegenüber Krankheit und Alter zielt, schmälert die Budgets der
Familien, geht zu Lasten der Kinder und Jugendlichen. Endlich: Jede bildungspoliti-
sche Strategie, die auf den Out-Put sieht und keine Qualitätskriterien für Struktur
und Prozess festhält, jede Deregulation im Bildungssystem führt unweigerlich dazu,
dass die Anforderungen an die einzelnen Familien steigen, ihren Beitrag für den
Bildungsgang der Kinder zu leisten - wer dem nicht nachkommen kann, der muss
damit rechnen, aus dem System ausgeschlossen zu werden: So erwarten weiterfüh-
4 Übrigens reagiert hier auch die Kinder- und Jugendhilfe hochgradig problematisch, wenn sie nun
gleichsam auf die Bildungsdebatte aufspringt, Bildung als eine ihrer genuinen Aufgaben betrachtet und
bewertet, damit aber die Arbeit an den sozialen Rahmenbedingungen, an der Ausgangslage des Lernens,
wie vor allem auch Fragen der Erziehung ausblendet. Sie muss selbst begreifen, dass sie eine genuine,
unverzichtbare Aufgabe darin hat, Sozialität und Individualität (nicht nur) junger Menschen so zu si-
chern, dass sie dann an formalisierten Bildungsprogrammen überhaupt erst teilhaben können. \' ersteht
sie sich selbst als Bildungsinstanz, dann gibt sie ihre eigenen Kompetenzen preis - mit der Folge, dass die
systemisch nötigen Leistungen überhaupt nicht mehr realisiert werden, für die sie nun in der Tat zustän-
dig ist. Sie reduziert sich dann auf Nothilfe, statt zu realisieren, dass sie in modernen Gesellschaften eben
eine infrastrukturelle Aufgabe als \' orbedingung des Schulsystems zu bewältigen hat.
Bildungspolitik nach PISA 37
rende Schulen inzwischen regelmäßig, dass Familien über pes und über einen In-
ternetanschluss verfügen; wer dies nicht tut, ist beispielsweise in Bayern praktisch
nicht mehr in der Lage, die in der Kollegstufe obligatorische Facharbeit anzuferti-
gen.
Armut ist heute in Deutschland jung; Armut in Kindheit und Jugend aber be-
deutet immer, dass man lebenslang betroffen ist (vgl. Palentien u.a. 1999). Der Zy-
nismus in der gegenwärtigen Situation besteht darin, dass dies nicht wahr- und ernst
genommen wird, die Politik die Lasten vielmehr weiter zu Ungunsten von Familien
verlagert; sie schließt damit Kinder und Jugendliche von Bildung aus. Hier flndet
eine Bildungsreform statt, die mit gesellschaftlichem Ausschluss operiert - nur
nebenbei: Dass die jetzt anstehende Novelle des Kinder- und Jugendhilfegesetzes
eine zunehmende Eigenbeteiligung von Eltern an der Finanzierung der Hilfen zur
Erziehung vorsieht, dass dies inzwischen in einigen Ländern auch für die ambulan-
ten Hilfen vorgesehen wird, die - wie etwa die Tagesgruppen - eine eminente Be-
deutung haben, um Schule bewältigen zu können, all dies bestätigt den Befund. Wer
nicht leistungsfähig ist, wird schlicht ausgeschlossen.
(5) Gibt es, um endlich zum fünften Punkt zu kommen, eine theoretische Interpre-
tation des Geschehens? Zwei Stichworte sollen genügen - wobei die Gefahr nicht
zu übersehen ist, dass sie polemisch übertreiben:
Das erstes Stichwort schließt an Überlegungen an, die Zygmunt Bauman in
den letzten Jahren an unterschiedlichen Stellen vorgetragen hat (vgl. Bauman 2000,
Bauman/Tester 2001). Es lautet: Bildungspolitik als AusgreniJIng. Mit PISA bricht eine
Bildungspolitik durch, die in der Tat eine Sozialreform beabsichtigt. Es geht ihr um
eine tief greifende und nachhaltig wirkende Umstellung dieser Gesellschaft. Diese
Umstellung wird ausgelöst durch einen Prozess der Deregulierung, der Entstaatli-
chung des Bildungssystems. Der ökonomisch geschwächte Staat verzichtet von sich
aus, die Infrastrukturen der Gesellschaft zu erhalten und zu steuern. Das Bildungs-
system ist aber eine der zentralen Infrastrukturen, möglicherweise eine wichtige
Bedingung des Reichtums einer Gesellschaft, sicher aber die zentrale Voraussetzung
für soziale und kulturelle Integration ihrer Mitglieder.
Der Rückzug des Staates aus der Subsidiierung des Bildungssystems wird meist
mit dem Verweis auf die Funktionsfähigkeit des Marktes gerechtfertigt, der auch die
Qualität des Bildungsangebots steigern soll. Nur: Dieser Verweis taugt nicht, weil
am Markt nur agieren kann, wer dazu überhaupt fähig ist. Wer kein Geld hat, kann
Bildungsleistungen nicht erwerben. Der Hinweis entbehrt auch nicht des Zynismus,
weil auf der Hand liegt, wie sich die sich selbst überlassenen Schulen jener Kinder
entledigen werden, die den Leistungsstandards nicht entsprechen - dabei handelt es
sich um keine Spekulation: Aus den USA wie aus Großbritannien weiß man, dass an
den PISA-Erhebungen schwierige Kindern gar nicht teilgenommen oder nach Hau-
38 Michael Winkler
terne orientiert. PISA schlägt einen radikal neuen Weg ein, indem das Programm
einen eigenen Bewertungsmaßstab entwickelt, der im Prinzip zwei Dimensionen
hat: Auf der einen Seite schlägt PISA nämlich ein Modell dessen vor, was junge
Menschen an Kompetenzen benötigen, um erfolgreich in modemen Gesellschaften
leben zu können; PISA zeichnet somit ein stark normative Komponente aus, die an
die alte Debatte um Allgemeinbildung anknüpft. Auf der anderen Seite bestimmt
das Forschungsdesign die Frage nach der Leistungsfähigkeit des Bildungssystems.
Was halten die Gesellschaften in ihren nationalen Bildungssystemen bereit, um dem
Nachwuchs hinreichende Möglichkeiten zu eröffnen, in dieser Gesellschaft agieren
zu können? Dabei liegt eine Besonderheit der PISA-Studie darin, dass sie mit einem
abstrakten Verständnis von Bildungssystem operiert und sich nicht auf Schule allein
konzentriert; sie richtet tendenziell ihre Aufmerksamkeit auf die gesamten Anstren-
gungen, die eine Gesellschaft im Blick auf Bildungsprozesse unternimmt, ohne
jedoch die institutionellen Formen zu beurteilen, in welchen dies geschieht. Faktisch
behandelt PISA das Bildungssystem als black box, dessen Out-put gemessen wird;
die Studie macht also direkt keine Aussagen darüber, welche Form der schulischen
Organisation als besonders hilfreich erscheint. Insofern sind die Debatten darüber,
ob man ein Gesamtschulsystem mit Ganztagsbetrieb dem hochselektiven System
der Bundsrepublik vorziehen sollte, durch PISA nicht gedeckt - und selbst Re-Ana-
lysen der Daten geben hier keinen eindeutigen Aufschluss.
Die von PISA aufgeworfene Frage darnach, über welche Fähigkeiten und Fer-
tigkeiten Menschen verfügen sollten, ist nun keineswegs originell (vgl. z. B. Tenorth
1994). Schon Wilhelrn von Humboldt hat sie in den Mittelpunkt seiner bildungs-
theoretischen Überlegungen gestellt. Eine solche Frage kann man jedoch in zweier-
lei Hinsicht verfolgen: Einmal kann man - wie Humboldt dies vorrangig getan hat -
eine Vorstellung des idealen, des umfassend, allseitig und zugleich harmonisch und
entwickelten Menschen entwerfen; man stellt dann einen Begriff von Subjektivität
in den Mittelpunkt, an welchen eine formale Bildungstheorie anschließt. Zum ande-
ren kann man danach fragen, was die jeweilige Gesellschaft an Individuen benötigt,
um erfolgreich weiter bestehen zu können; Allgemeinbildung wird dann durch
Nützlichkeitserwartungen definiert, die letztlich ökonomisch bestimmt sind.
OECD, PISA und die der Studie folgende Bildungspolitik wählen den zweiten
Weg, obwohl sie dies nicht so leicht zu erkennen geben (vgl. Klausenitzer 2002,
Sünker 2003, 2004). Zwar weckt den Verdacht einen prioritär nützlichkeits- und
verwertungsorientierten Sicht, dass etwa Fragen von Emotionalität und Affektivität,
der moralischen Entwicklung, aber auch der politischen Beteiligung bei PISA nicht
nur in den Hintergrund gerückt, sondern glattweg verschwunden sind. Man kann
freilich argumentieren, dass dies einer forschungstechnischen Notwendigkeit ent-
sprach und unvermeidlich ist, man muss zudem feststellen, dass etwa bei der Civic
Education Study die deutschen Jugendlichen in Sachen des politischen Engage-
ments gar nicht so sonderlich gut abgeschnitten haben. Gleichwohl hat eben dieses
40 Michael Winkler
aufgezwungen, sie eben diszipliniert, wobei zugleich auch inuner Zonen unbotmä-
ßigen Verhaltens entstanden. Jetzt wird ein neuer Mechanismus etabliert: Man lässt
die Subjekte im Regen stehen, im schlimmsten Verfall verkommen sie in Armut, im
günstigen Fall strengen sie sich lebenslang an, um ihre Bildungschancen zu wahren;
sie strengen sich an, gewiss für sich, aber eben auch - die USA und Großbritannien
lehren dies - für die Banken, von denen sie die Kredite erhalten, um für das Leben
lernen zu können, für ein Leben, das ihnen niemals mehr gehört.
Gewiss: Das ist ein trübe Prognose, die zumindest als eine Dimension der Bil-
dungspolitik nach PISA zu erkennen ist. Es lässt sich nicht ausschließen, dass es
Alternativen dazu gibt, sowohl zu der kleinen, hier nur angedeuteten Theorie, wie
vor allem zu der von ihr beschriebenen Praxis. Um solche Alternativen muss aber
gerungen werden. Es ist eine Frage der Praxis, dass eine andere Bildungsreform und
eine Sozialreform möglich werden, die diesen Namen verdienen.
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Bildungs armut
Zum Zusammenhang von Sozialpolitik und Bildung
1 Der Beitrag ist eine überarbeitete Fassung des unter dem Titel "Bildungsannut" in "Aus Politik und
Was ist Bildungsarmut? Die Beantwortung dieser Frage ist für eine nationale Be-
richterstattung von zentraler Bedeutung. Man könnte ähnlich vorgehen wie bei
anderen individuellen Armutslagen (unangemessenes Wohnen, schlechte Gesund-
heit und mangelndes Einkommen) und einen absoluten Maßstab an die Verteilung
von Bildungsressourcen anlegen: einen reinen Mindeststandard. Dieses Minimum
könnte durch Alphabetisierung, Absolvieren der Haupt- und der Berufsschulpflicht
2 Der ostasiatische Weg ist noch ausgeprägter auf Humankapital orientiert, vgl. Schmidt 2002, Rieger
/Leibfried 1999, S. 414ff.
Bildungsarmut 47
oder das Erreichen bestimmter Kompetenzen bestimmt werden. Ein relativer Maß-
stab würde auf das ganze Bildungs-Ressourcen-Gefüge abheben, auf die Positionie-
rung in einem Verteilungs spektrum. So wären etwa alle im unteren Quintil oder
Quartil der Bildungsverteilung bildungs arm.
Wir können die Verteilung von Bildungsressourcen national - in Deutschland
- oder international betrachten, so im Vergleich der EU-Mitgliedstaaten. Personen,
die national gesehen "bildungsreich" sind, können international "bildungsarm" sein.
Die internationale Öffnung der Märkte - bei Waren und Arbeitnehmern -lässt eine
nur nationale Sicht auf Reichtum und Armut an Humankapital immer hinfilliger
werden: Das Veralten einzelner Berufsbilder in Ausbildungsberufen lässt sich nur
vor diesem Hintergrund verstehen. Schnell verarmen hier Reiche, man betrachte
nur die veränderte Beruflichkeit rund um die Neuen Technologien in den letzten 20
Jahren. Die Diskussion, welche die deutsche akademische Ausbildung an den USA
misst und im oberen Bereich des Humankapitals ansetzt, trägt dieser transnationa-
len Vernetzung Rechnung (vgl. Allmendinger 1999).
national international
1 3
Absolut
Analphabetismus Analphabetismus
2 4
Folgt man dieser in Abbildung 1 umrissenen Logik, eröffnet dies Perspektiven für
eine Berichterstattung über Armut und Reichtum, in der die "Produktion" von
Bildung systematisch in den Blick kommt. Aus einer Vielfalt möglicher Messgrößen
sollten dabei nur wenige zentrale herausgegriffen werden: Zertiftkate und Kompe-
tenzen.
a) Zertifikate
Absolute Bildungsarmut ließe sich nationalstaatlich anhand fehlender Abschlusszer-
tiftkate messen. Wie beim Existenzminimum der Sozialhilfe ergäbe sich so ein
zwingender Mindeststandard für alle. Er wird durch die umfassende Haupt- und
48 Jutta Allmendinger und Stephan Leibfried
b) Kompetenzen
Seit PISA lässt sich Bildungsarmut auch über Kompetenzen messen. PISA berichtet
über das Verteilungs spektrum von Schülerleistungen in Leseverständnis, Mathema-
tik, Naturwissenschaften und Eicherübergreifenden Kompetenzen,3 so dass Armuts-
und Reichtumsindizes für die Leistungen selbst entwickelt werden können (zu ei-
nem breiten Überblick vgL UNICEF 2002).
4 Die komplexe Konstruktion der Kompetenzsrufen wird erläutert in: Deutsches PISA-Konsortium
2001, S. 88ff. Die Anforderungen der Kompetenzsrufe Ir sind als Mindeststandard anzusehen. Kompe-
tenzsrufe I markiert also einen noch darunter liegenden Schwellenwert, also rlie Unterschreitung eines
Mindes t -Mindes tstandards.
; Um extreme Werte am untersten Rand auszuschließen, berichten wir nur rlie Werte zwischen dem 5.
und 10. PerzentiI (Hundertstelwert) der Gesamtverteilung von Kompetenzen.
50 Jutta Allmendinger und Stephan Leibfried
I
Finnland "" (2.6) 89
":"Mda 634 (1.6) 115
Hcu~nd 529 (2.81 108
_Iitn 528 (l.S1 102
"
-I
Irland 527 (3.21
lCo~a 52512.41 70
Ve~j nigtH lCIlnig~ich 52312.61 100
Japan 522 (5.21 86
Sch~" 516 (2.21 92
Ost~rmc. h 507 (2.4) 93
Belgien' S07 13.61 107
Island S07 1I.s1 92
No~n SOS 12.1) 104
Fran~ich SOS (2.71 92
-
Ve~ i nigto Staallen S04 [7.01 lOS
OECO-Oun:hldlnltt 500 10,6) 100
OIne ....rt 49712,41 98
-
SclIwei.
Sp.wn
494 [4.21
493 (2,7)
102
85
•
-
r.dl«hi..,he ""pub! ik 492 {2,41 96
IlaMn 487 (2,9) 91
lltiItsc:hland 484 (2.S1 111
--
lJfthlle"'~" 483 (4.11 t6
Ullgam 480 14.01 94
Polen 479 (4,51 100
Griechenland 47415.01 97
Poltvgat 470 14,5) 97
AussiKhe FIIde.a!loft 482 14,2) 12
Lettland 4S8 (5.31 102
l.wcembu'9 441 11 ,61 100
MoiM 422 13.31 86
lnosi licn 3941 (3,1) 81
11 In IV v
""'lentjl •
......
Mifte lw.n und IConli"'n.z1nt...... 01 I I:!: 2 SEI
1 Im flämischen Teil Belgiens liegt der Mittelwert bei 532 (SE=4,3; SD=96), im wallonischen
bei 476 (SE=7,2; SD=111). - Quelle: Deutsches PISA-Konsortium 2001, S. 106, Abb. 2.11.
Abbildung 2: Verteilung von Kompetenzstufen im internationalen Vergleich
Bildungsarmut 51
In Deutschland steht dem die wichtige Frage entgegen: Inwieweit sind Kompeten-
zen als solche für den Eintritt ins Beschäftigungssystem und für Karrieremobilität
überhaupt wesentlich? Arbeitgeber fragen selten nach Kompetenzen, sondern nach
Zertiftkaten. Bildungsarmut über Zertiftkatsmangel zu bestimmen wäre angemesse-
ner, wenn dies die relevante Schaltgröße ist und weil seine Auswirkungen bekannt
sind. Über die langfristigen Folgen geringer Kompetenz wissen wir wenig. Geht es
um Folgen von Bildungsarrnut für die Integration in den Arbeitsmarkt, wären in
Deutschland Zertiftkate aufschlussreicher als Kompetenzen. Das Gegenteil gilt,
wenn wirtschaftliche Prosperität, also Innovationsfähigkeit der Wirtschaft, betrach-
tet werden soll, wenn es um individuelle, nicht am wirtschaftlichen Erfolg zu mes-
sende Entfaltungsmöglichkeiten geht. Beides hängt wesentlich von den grundlegen-
den Kompetenzen der Individuen ab, nicht von der Papier-, der Zertifikatsform.
Kompetenz- oder Zertifikatsmaße? Solange beide Messungen sich nicht über-
lappen, sind Bildungsarme über beide Maße gleichermaßen zu bestimmen. Mit
Kompetenzmaßen sind Zertifikatsmaße von Armut nicht zu ersetzen, nur zu ergän-
zen.
Bislang berichteten wir über Bildungsarmut als institutionell geprägtes, auf individu-
eller Ebene gemessenes Merkmal. Aggregiert kann man auf das gesamte Vertei-
lungsspektrum abstellen. Bildungssysteme in ihrer Gesamtheit lassen sich danach
beurteilen, wie eine Jahrgangskohorte sich auf unterschiedliche Bildungsabschlüsse
verteilt, aber auch danach, wie und in welchen Kompetenzwertbereichen sie über
Kompetenzstufen hinweg streut.
Ein solcher Ländervergleich lässt Muster erkennen, die sich aus dem Zusam-
menwirken absoluter Kompetenzarmut mit absolutem Kompetenzreichtum erge-
ben. "Vier Welten" der Kompetenzverteilung lassen sich unterscheiden (siehe Ab-
bildung 3; vgl. Allrnendinger/Leibfried 2002, S. 304). In einigen Ländern treten
Bildungsarmut und -reichtum gleichzeitig auf, die Kompetenzverteilung umfasst das
gesamte Spektrum von absoluter Bildungsarmut bis zu absolutem Bildungsreich-
tum: so etwa in Deutschland, den USA und der Schweiz. Diagonal gegenüber ftn-
den sich die wenigen Länder, die weder absolute Kompetenzarmut noch -reichtum
kennen: Korea und Spanien. Alle anderen Länder liegen zwischen diesen beiden
Polen: Sie kennen nur absolute Kompetenzarmut, aber keinen absoluten Kompe-
tenzreichtum: etwa Mexiko, Brasilien und Luxemburg. Oder sie kennen - spiegel-
Bildungsannut 53
absolute Kompetenzannut
ja nem
1 3
ja Deutschland, Polen, Belgien, Finnland, Kanada, Japan,
absoluter USA, Schweiz, Dänemark und Schweden, Frankreich, Island
Kompetenz- Norwegen und Irland
reichtum
2 4
nem Portugal, Brasilien, Mexiko, Südkorea und Spanien
Luxemburg, Liechtenstein,
Ungarn und Griechenland
" Diese Zusammenhänge lassen sich für Deutschland, für das eine ausgeprägte Differenzierung besteht,
veranschaulichen: Die Standardabweichung beträgt 111 Punkte und fillt damit wesentlich höher als der
54 Jutta Allmendinger und Stephan Leibfried
Kompetenzdifferenzierung
1 3
hoch zentral zentripetal
Kompetenz- Finnland Großbritannien
niveau (291/546) (355/529)
2 4
niedrig peripher zentrifugal
Brasilien Deutschland
(284/396) (366/484)
Anmerkung: Die erste in der Klammer hinter dem Land ausgewiesene Zahl kennzeichnet die
Bandbreite zwischen dem 95. und dem 5. Perzentil. Die zweite Zahl bezeichnet den nationa-
len Mittelwert im Kompetenzniveau.
Abbildung 4: Ausgewählte institutionelle Stellgrößen für Differenzierungs- und
Niveaueffekte Ge illustriert anhand der ausgeprägtesten Länder)
Den Differenzierungseffekt hat vor allem das dreigliedrige Schulsystem mit seiner
frühen, nur schwer revidierbaren Selektion von Schüler(inne)n in drei unterschiedli-
che "Bildungsklassen"J Bildungsferne, sprachferne und kompetenzschwache Schü-
ler(innen) können nicht in einem Lehr- und Lernzusammenhang mit ihrem starken
Gegenüber wachsen. Empirische Untersuchungen in den USA und Großbritannien
haben immer wieder belegt, dass kompetenzheterogene Lernumwelten kompetenz-
armen Schülern helfen und kompetenzreichen Schülern kaum schaden.
Der Niveaueffekt dürfte vor allem mit der vergleichsweise niedrigen deutschen
Bildungsausgabenquote zusammenhängen. 8 Besondere Defizite bestehen in der
OECD-Durchschnitt von 100 oder der USA-Wert von 105 aus. Beim Niveau liegen wir mit dem Mittel-
wert von 484 Punkten in der Endgruppe der OECD-Länder. Der OECD-Durchschnitt liegt bei 500, mit
den USA bei 504 Punkten und Spitzenreiter Finnland bei 546. Deutschland ist ein kompetenzmäßig
"zentrifugal" aufgestelltes Land, geprägt durch eine Tendenz weg von der Reichturnsmitte hin zur Ar-
mut. Mit den "zentripetalen" USA kontrastiert Deutschland, weil die Chancengleichheit geringer ist als in
den USA und ein Weniger an durchschnittlicher Bildung geboten wird.
, Nach der PISA-Studie funktioniert diese Zuweisung weitgehend: Das durchschnittliche Kompetenzni-
veau von Sonder-, Haupt-, Mittelschule und Gymnasium unterscheidet sich deutlich. Zur Leistungsver-
teilung nach Bildungsgängen vgl. Deutsches PISA-Konsortium 2001, S. 120ff.
8 Schmidt (2002) stellt auf ein Bündel von neun Ursachen für die mäßigen deutschen Bildungsinvestitio-
nen ab. Zu einer Kontroverse über den Zusammenhang zwischen Ausgabenentwicklung und Schüler-
kompetenzen vgl. Gundlach u.a. 2001, die einen OECD-weiten "Produktivitätskollaps" sehen, wobei die
Bildungsarmut 55
Finanzierung des primären, unteren sekundären und tertiären Bereichs; die Finan-
zierung konzentriert sich auf den oberen Sekundarbereich und die berufliche Bil-
dung, also auf "die Ausbildung für die mittleren bis höheren Berufspositionen einer
Industriegesellschaft" (vgl. Schmidt 2002, S. 6f.). PISA misst die mangelnden
Grundkompetenzen knapp hinter dem Ende dieser langen (relativen) Vernachlässi-
gung. Die mangelnden Kompetenzen von Kindern im sekundären Bereich lassen
sich also durch ein Zusammenwirken von fehlenden Bildungsausgaben und einer
Konzentration der Ausgaben im oberen Sekundarbereich erklären.
Weitere Gründe dürften mit Niveau- und Differenzierungseffekten gleicher-
maßen verbunden sein. Die zeitliche Beschränkung des Unterrichts auf wenige
Stunden am Tag überbetont Rezeption und Abstraktion und verzichtet, verglichen
mit Ganztagsschulen, eher auf Anwendung der Wissensinhalte. Weiterhin scheinen
sich deutsche Kinder-"gärten" als reine Kinderpflegestätten zu verstehen, nicht aber
als Bildungsstätten mit curricularem Auftrag. Bildung setzt also spät, nicht früh und
spielerisch an (vgl. Gottschall 2001). Das schmal gehaltene "Schulfenster" und die
Vernachlässigung des Kindergartens als Lernherausforderung lässt der Differenzie-
rung nach Herkunft ihren "natürlichen" Herkunfts-Lauf. Der untere Kompetenzbe-
reich ist keiner pull-Wirkung nach oben ausgesetzt, die das durchschnittliche Niveau
anhöbe. Herausforderungen für höhere Kompetenzstufen bleiben so eng begrenzt.
Gehen wir den "vier Welten der Kompetenzproduktion" angelehnt an Gosta
Esping-Andersen (1990) nach bzw. mit Francis G. Castles (vgl. Castles 1993) den
"Families of Nations", so ftnden sich in Auswertung von Abbildung 5 einige inte-
ressante Anhaltspunkte (vgl. Allmendinger/Leibfried 2002, S. 307ff.). Die "Famili-
es", die auf Verwandtschaft im allgemein politisch-kulturellen Rahmen abstellen,
dürften dabei aufschlussreicher sein.
Zunächst zu den Welten- bzw. jamilies-Lehren: Die Homogenität, also die ge-
ringe Kompetenzdifferen':(jerung, die je ausgeprägter ausfallt, je höher das Maß in der
Spalte "Streuung 95-5" ausfallt, ist in den nordischen Ländern (mit niedrigen 311)
schon weit deutlicher ausgeprägt als in den anglo-amerikanischen Ländern (mit
höheren 331). Die konservativen Länder gehen hier (mit 336) noch einen kleinen
Schritt weiter in Richtung mehr Kompetenzdifferen':(jerung, also hin zu größerer Un-
gleichheit im Bildungsergebnis, wobei Österreich der leichte Ausreißer in Richtung
weniger Differenzierung ist. Der Durchschnitt aller OE CD-Länder beträgt 328, ihn
unterbietet nur die nordische Regimegruppe. Im KompetenZ?Jiveau verkehrt sich dann
die Reihenfolge gegenüber der Differenzierung: Hier kommen die angloamerikani-
schen Länder (mit 524) als erste ins Ziel, gefolgt von den nordischen Ländern (mit
514); Finnland ist mit 546 der große nordische Ausreißer nach oben, auf den wir in
Deutschland fast ausschließlich abgestellt haben. Erst dann kommen als einzige
Lehrer mit ihren Gehältern die eigentlichen Gewinner sind, vgl. auch Schmidt 2002, S. 9; und ferner
Glennerster 2001, S. 19, der jedenfalls für Großbritannien in den letzten 5 Jahren von einer "Produktivi-
tätsexplosion" ausgeht, wobei die Schüler die Gewinner sind.
56 Jutta Allmendinger und Stephan Leibfried
Weltengruppe, die unter der OECD-Durchschnittsmarke von 500 liegt, als Schluss-
licht die deutschsprachigen ("konservativen") Länder (mit 495), darunter auch
Deutschland mit dem niedrigsten Wert in dieser Ländergruppe von 484.
noch einmal betonter, und dann überraschend hoch (mit 350) in den zwei beson-
ders stark ausgeprägten kontinentalen Bundesstaaten, nämlich in Deutschland (mit
366) und der Schweiz (mit 335), nicht aber in Österreich (mit 307). Im Kompetenzni-
veau liegen alle föderalen Länder zusammen genommen (mit 508) über dem OECD-
Mittelwert (von 500). Allerdings liegen die kontinentalen Föderalstaaten (mit 495)
schon etwas unter dem Mittelwert und - vernachlässigt man Österreich (mit 507)
als einen eher föderalistisch verkleideten Einheitsstaat - so fmden wir Deutschland
samt der Schweiz (mit zusammen durchschnittlich 489) wieder als Schlusslichter im
Kompetenzniveau abgesetzt. Echter Föderalismus wirkt also als eine Art "Verstär-
ker": Er schützt dezentrale Tendenzen zur stärkeren Zergliederung des Bildungssys-
tems ebenso wie dezentrale Tendenzen nicht hinreichend in Bildung zu investieren.
4. Perspektiven
9 Ein so ausgeprägter Föderalismus findet sich nur noch in der Schweiz, Österreich, den USA, Kanada
und Australien. Viele dieser Länder stellen sich allerdings bildungs politisch besser als Deutschland.
10 Selbst die Reformparolen überlappen sich inzwischen: In der Sozialhilfe ist der in Richtung Arbeits-
markt "aktivierende Sozialstaat" und "Fördern und Fordern" bundesweit das Panier, von Roland Koch
bis Gerhard Schröder. Die gleiche Maxime ("Fördern und Fordern") gilt nun auch im Bildungswesen,
etwa in Hessen, vgl. Wenz u.a. 2001.
Bildungsarmut 59
Literatur
Allmendinget, Jutta (1999): Bildungsarmut. Zur Verschränkung von Bi/dungs- und So~alpolitik. In:
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Soziale Benachteiligung im Bildungswesen
Die Reduktion von Ungleichheit als pädagogischer Auftrag
Wolfgang Bö'ttcher
riert werden, denn hier ftnden sich Ansätze für ernstzunehmende Versuche, die
Verkoppelung von Herkunft und Schulerfolg zu reduzieren.
"Die schichtspezifische Auslese durch die Schule ist in der modernen Gesellschaft, in
der die formalen Schranken für den Zugang zu weiterführenden Schulen gefallen sind,
vor allem durch einen zirkulären Verlauf des Sozialisationsprozesses bestimmt. Die So-
zialisation durch den Beruf prägt in der Regel bei den Mitgliedern der sozialen Unter-
schicht andere Züge des Sozialcharakters als bei den Mitgliedern der Mittel- und Ober-
schicht. Während der Sozialisation durch die Familie werden normalerweise die jeweils
typischen Charakterzüge der Eltern an die Kinder weitervermittelt. C...) Da die Sozialisa-
tion durch die Schule auf die Ausprägung des Sozialcharakters der Mittel- und Ober-
schicht besser eingestellt ist als auf die der Unterschicht, haben es die Kinder aus der
Unterschicht besonders schwer, einen guten Schulerfolg zu erreichen. Sie erlangen häu-
fig nur Qualifikationen für die gleichen niederen Berufspositionen, die ihre Eltern be-
reits ausüben. Wenn sie in diese Berufspositionen eintreten, dann ist der Zirkel ge-
schlossen" (Rolff 1997, S. 36).
Diese "Zirkelthese" stammt aus der Diplomarbeit Hans-Günter Rolffs, die erstma-
lig 1967 veröffentlicht wurde und mittlerweile neun Auflagen erreichte. Wenn auch
die Situation auf dem Arbeitsmarkt die Lage für die Kinder aus der Unterschicht
noch verschärft wurde, weil häuftg Arbeitslosigkeit am Ende des Schulweges droht,
so hat die These auch heute noch nichts von ihrer erklärenden Kraft verloren. Der
"harte Kern" der schichtspeziftsch orientierten Sozialisationsforschung ist ein kau-
salanalytisches Modell der Erklärung ungleicher Bildungschancen, in dem insbeson-
dere die primäre Sozialisation in der Familie als zentrales Explanans galt. Als eine
Besonderheit von Rolffs Zirkelthese kann zweifels frei gelten, dass hier Schule nicht
nur als Selektionsinstanz gesehen wird, die mittels Zensuren die bildungs fernen
Kinder aussiebt, sondern Schule wird verstanden als eigene Sozialisationsinstanz,
die mit dem Milieu der Unterschichtskinder kollidiert. Rolffs Analyse zeigt also,
dass viele der Gründe für die reale Chancenungleichheit in der Schule und im
Schulsystem selbst zu ftnden sind: In der Art und Weise, wie Schule mit einer hete-
Soziale Benachteiligung im Bildungswesen 63
rogenen Schülerschaft umgeht, wie sie selektiert, wie sie Herkunft negiert und wie
sie diskriminierend sozialisiert (vgl. Geulen 2000).
Im Rahmen ihrer Analyse der klassenspezifischen Chancenungleichheiten an
französischen Hochschulen entwickelten Bourdieu und Passeron Thesen, die erklä-
ren sollen, wie soziale Tatbestände in der Praxis der Bildungsinstitutionen in natür-
liche umgedeutet werden. Die Leistungen von Studierenden werden demnach von
diesen und ihren Professoren entweder der "unmittelbaren Vergangenheit" zuge-
schrieben - also z.B. den Effekten von Seminaren - oder aber "der Begabung oder
der Persönlichkeit" (Bourdieu/Passeron 1971, S. 30t). Tatsächlich aber seien sie ab-
hängig von unmittelbar "aus dem Herkunftsmilieu übernommenen kulturellen
Gewohnheiten und Möglichkeiten", die durch frühzeitige und ebenfalls mit der
Herkunft eng verknüpfte Bildungsorientierungen verstärkt werden (ebd.). Gerade
das Ignorieren der sozial bedingten Ungleichheit führe zu ihrer Verschärfung.
Eine alternative Erklärung zur Genese ungleicher Bildungschancen bietet der
handlungstheoretische Ansatz Boudons (1974). Er unterscheidet zwischen dem
primären und dem sekundären Sozialisationseffekt. Der primäre Effekt beschreibt
die Korrelation zwischen dem Status der Herkunftsfamilie und dem Schulerfolg, die
wesentlich durch das kulturelle Kapital und seine Weitergabe durch Erziehung oder
Sozialisation hergestellt wird. Stärkere Erklärungskraft aber hätten die in der Soziali-
sationstheorie marginalisierten sekundären Sozialisationseffekte. Sie stellen ab auf
einen Zusammenhang zwischen Bildungswahlen - also Entscheidungen des Einzel-
nen bzw. seiner Eltern in Bezug auf die eigene Bildungskarriere - und sozialer Her-
kunft. Bei institutionell vorgegebenen Wahlentscheidungen ergeben sich relativ
resistente Muster schichtspezifischer Wahlen, weil gleiche Entscheidungen für Kin-
der unterschiedlicher Herkunft unterschiedliche Kosten und Nutzen generieren.
Die Wahlen (z.B. Kindergartenbesuch, Schulartwahl nach der Grundschule, Eintritt
in eine gymnasiale Oberstufe, Fächerwahl in der Oberstufe, Studium, Fächerwahl
im Studium ... ) lassen sich abstrakt als alternative Entscheidungen zwischen (a) und
(b) beschreiben, wobei die Wahrscheinlichkeit für eine bestimmte Entscheidung
zunimmt, je geringer die Kosten und je höher der mit dieser Entscheidung verbun-
dene Nutzen sind. Mit einem einfachen Modell simuliert Boudon den sekundären
Sozialisationseffekt. Er stellt das Bildungssystem als eine Folge von Entscheidungs-
punkten bzw. Weichen oder "Abzweigen" dar, an denen Schüler zwei Optionen
haben, wobei eine immer höhere Bildungschancen impliziert als die andere. Die
Wahrscheinlichkeit, den höher bewerteten Weg einzuschlagen, ist abhängig von der
Schulleistung, die ja, im Sinne des primären Sozialisationseffektes, schichtspezifisch
variiert. Aber gemäß der entscheidungstheoretischen Grundannahme des sekundä-
ren Effektes fallen solche Wahlen auch bei gleicher Leistung tendenziell unter-
schiedlich aus. Entscheidend ist, dass Boudon von relativ geringen Graden des
sekundären Effektes ausgehen kann, um dann doch dramatische Effekte simulieren
zu können.
64 Wolfgang Böttcher
Die soziale Reproduktion durch die Elirninierung bildungs ferner Schichten er-
folgt wirkungsvoll, wie die Statistik belegt, gleichwohl "sanft", wie Selbstverständ-
lichkeit und Akzeptanz dieser Mechanismen zeigen: Die Erfolgreichen und die
Gescheiterten gleichermaßen glauben an natürliche Fähigkeiten und Verdienst. Die
Ausgeschlossenen glauben an die Legitimität des Ausschlusses, den Privilegierten
hilft das Bildungssystem, nicht als Privilegierte zu erscheinen, weder vor sich selbst
noch vor den anderen (vgl. Bourdieu/Passeron 1971, S. 226ff.).
1 Bei Bourdieu und Passeron (1971) heißt es kritisch: "Die Tragweite der sozialen Ungleichheitsfaktoren
ist so groß, dass auch eine wirtschaftliche Angleichung nicht viel ändern würde, da das Bildungssystem
inuner weiter soziales Privileg in Begabung oder individuelles Verdienst umdeuten und die Gleichheit
dadurch legitimieren würde" (ebd., S. 45).
Soziale Benachteiligung im Bildungswesen 65
änderte nur wenig am weitgehenden Ausschluss der Kinder bildungs ferner Schich-
ten aus den Institutionen der "höheren" Bildung.
Die relative Erfolglosigkeit, die wir beim Abbau schichtspezifischer Chance-
nungleichheit konstatieren, mag vielfältige Ursachen haben. Nicht nur, dass manche
Maßnahme allenfalls halbherzig ergriffen wurde, auch die Untauglichkeit bestimm-
ter Instrumente ist nicht auszuschließen. Auch muss festgehalten werden, dass
Bildungsungleichheit erst im Kontext sozialer Ungleichheit entsteht. Maßnahmen,
die der Reduktion der Benachteiligung von Arbeiterkindern im Bildungswesen
dienen sollten, dürften sich demnach nicht nur auf den engeren Bereich der Bil-
dungspolitik beschränken (vgl. BMBW 1981, S. 80).
Es lässt sich mangels ausreichender Wirkungsanalysen, zu kurz greifender Pro-
grammatiken und mangelhafter Umsetzungen kaum erwarten, dass die Reduktion
von Bildungsbenachteiligung erfolgreich hätte gelingen können. Als Zwischenfazit
lässt sich ziehen, dass die PISA-Befunde der hohen sozialen Selektion der deut-
schen Schule eigentlich niemanden hätten überraschen dürfen, zumal auch nach der
Hausse der Ungleichheitsforschung zahlreiche Bestätigungen der Befunde vorliegen
(z.B. Hansen u.a. 1986, Rodax 1989, Böttcher 1991, Köhler 1992, Rolff 1997).
Angesichts der geäußerten Bestürzung in weiten Kreisen von Politik und Öf-
fentlichkeit muss man fragen: Folgen nunmehr Anstrengungen, Benachteiligungen
ernsthaft angreifen zu wollen? Sollte die normative Entscheidung zugunsten einer
Prioritätensetzung zur Reduktion von Benachteiligung ausfallen, müssten damit
verbundene Maßnahmen in den Kontext einer paradigmatischen Neuorientierung
gestellt werden, die sichern hilft, dass Reformprojekte tatsächlich zielgerichtet, kos-
tengünstig und wirksam implementiert werden. Ein Angebot für eine solche Kon-
zeption möchte ich im Folgenden knapp erläutern.
Griffig ließe sich bei diesem Konzept von den ,,4 E" der Schulreform sprechen:
Effektivität, Effizienz, Evidenz, Erfolgsorientierung.
Effektivität bezieht sich auf Arbeitsergebnisse (vgL hierzu z.B. Timrnermann
1998, S. 219ff.)2. Gefragt wird: Hat eine Organisation oder bis zu welchem Grade
hat eine Organisation ein Ziel erreicht? Ein Effektivitätsvergleich stellt auf das Ver-
hältnis unterschiedlicher Arbeitsergebnisse zueinander ab. Technisch gesprochen
beschreibt er die Relation unterschiedlicher, aber vergleichbarer Outputs.
Zum Effizienzbegriff schreibt Liket: "Bei Effizienz (Zweckmäßigkeit) steht die
Frage im Vordergrund, mit welchen Anstrengungen die Aktivität verrichtet wird.
Welche Anstrengungen (Kosten, Energie) sind nötig, um das Ziel zu erreichen?"
(1993, S. 127). Effektivität vergleicht demnach Ziele und Ergebnisse (Outcomes),
Effizienz setzt Inputs und Ergebnisse ins Verhältnis. Der Begriff fungiert genauer
betrachtet als normative Richtschnur: In der einen Variante soll der Einsatz verfüg-
barer Ressourcen mit bestmöglicher Outputmaximierung erfolgen (Maximie-
rungspinzip). In der anderen Variante soll ein definiertes Produkt bzw. eine definier-
te Leistung mit möglichst niedrigem Einsatz erreicht werden (Minimierungsprin-
zip)3. Effizienz, so kann man populär formulieren, heißt: Das Beste aus den zur
Verfügung stehenden Mittel machen! Wenn also bessere Lerneffekte bei Schülern
mit gleichen Mitteln (Geld, Zeit, Engagement etc.) erreicht werden können, ist ein
solches Vorgehen effizient. Bei gleichem Lerneffekt und gleichzeitig geringerem
Aufwand gilt das ebenfalls. Effizienz aber ist nicht mit Kostenreduktion gleichzu-
setzen. Die Suche nach Effizienz hat auch keinerlei normativen Bezug zu dem, was
eine pädagogische oder eine soziale Organisation erreichen soll, also der inhaltlichen
Füllung der mit Effektivität bezeichneten Dimension (vgL auch Hanushek u.a.
1994, S. xx).
Mit dem dritten Kriterium, Evidenz, ist ein weiteres ökonomisches Argument
genannt: Pädagogische Maßnahmen müssen nachweisen, Evidenzen dafür beibrin-
gen, dass sie ihren Zweck oder ihre Zwecke erreichen. Fehlende empirische Er-
folgskontrolle unterstützt die These von der (möglichen) Verschwendung oder
wenigstens mangelnder Zieltreue von Ressourcen in (vielen) pädagogisch organi-
sierten Prozessen. Wenn es richtig ist, dass bislang Effekte pädagogischer Neuerun-
gen eher unterstellt als untersucht wurden, dann ist hiermit ein bedeutendes Defizit
angesprochen, das auch pädagogisch - und nicht nur ökonomisch - negative Kon-
, Auch Liket (1993) verwendet in pädagogischen Zusammenhängen die Kategorie Effektivität ähnlich
wie von Timmennann vorgeschlagen: "Bei Effektivität (Wirksamkeit) wird die Frage gestellt, ob das Ziel,
das man sich gesetzt hat, erreicht wird" (ebd., S. 127).
3 In beiden Fällen kommt es darauf an, keine Ressourcen zu verschwenden, denn das käme einem nicht
Entscheidungspunkte zu reduzieren. Als wirkungsvoll könnte sich auch eine positiv diskriminierende
Schulfinanzierung erweisen (zu konzeptionellen Überlegungen vgl. BauerjBittlingmayer 2005).
Soziale Benachteiligung im Bildungswesen 69
6 Siehe: http://www.kmk.org/schul/home1.htm
Soziale Benachteiligung im Bildungswesen 71
"If we specify the core of knowledge that all children should share, then we can guaran-
tee equal access to that knowledge, and compensate for the academic advantages some
students are offered at horne. In a eore Knowledge school, disadvantaged children, like
all children, enjoy the benefits of important, challenging knowledge that will provide
the foundation for successfullater Iearning" (Hirsch 1995, S. xvü).
Ähnlich kritisiert Huisken die Konsequenzen einer Vorstellung, welche die unglei-
chen Bildungschancen der Kinder aus Arbeiterfamilien mit ihrem - beim Schulein-
tritt schon weitgehend festgelegten - "Sozialcharakter" erklärt und damit die Schule
weitgehend aus der Verantwortung nehmen will. Er erklärt süffisant, "dass es am
Umgang der Schule mit solchen Mitbringseln liegen muss, wenn die Lücken im
Unterricht nicht behoben, sondern festgeschrieben und dann exekutiert werden. (...)
Unterschiedliche Voraussetzungen können sich also nur deshalb als Unterschiede
im Schulerfolg niederschlagen, weil es in der Schule gar nicht um Bildung, d.h. um
72 Wolfgang Böttcher
das Ausräumen von Wissensmängeln geht" (Huisken 1998, S. 133). Und eine Spur
zynischer schreibt Huisken weiter: "Die Unterschichtskinder kommen laut Pädago-
gik nicht einfach mit Wissensmängeln in die Schule. Sie sind mit einem ,Sozialcha-
rakter' ausgestattet, der sie für die Bildungsanstrengungen der Schule recht ungeeig-
net macht" (ebd., S. 134). Das Kerncurriculum ist der Versuch, die WissensdefIzite
auszugleichen, statt die Kinder aus bildungs fernen Schichten ihrem wahrscheinli-
chen sozialen Schicksal zu überlassen.
Alle Kinder können aber erst dann höhere Leistungen erbringen, wenn gezielte
ausgleichende Maßnahmen für diejenigen ergriffen werden, die in Gefahr sind, die
Standards (oder Kerncurricula) nicht zu erreichen. Ein Plädoyer für klare Standards
muss die Forderung nach Förderungsinstrurnenten beinhalten. 7 Das ist auch ein
Plädoyer für das Ende der "Glockenkurvenmentalität", die es für normal hält, dass
mehr oder weniger viele Kinder nur ein mangelhaftes oder ungenügendes Wissen
und Können erwerben und die große Masse mit einem die Oberflächlichkeit und
Unvollständigkeit des Gelernten widerspiegelnden "befriedigend" zertifiziert wird.
Deshalb sind der Reduktion von Ungleichheit verpflichtete Standards auch nach
oben offene Minimalstandards und nicht Regelstandards, wie in der KMK-Version,
die per defmitionem bereits legitimieren, dass eine Gruppe von Schülern unterhalb
des Durchschnitt- oder Regelniveaus bleibt. Dagegen steht die pädagogische opti-
mistische Version, die der verstorbene AFT-Präsident Al Shanker auf eine knappe
Formel brachte: "All can learn". Wer immer dieses Credo ex ante anzweifelt, muss
sich fragen lassen: Wozu Pädagogik?
Mit dem Konzept starker Standards einher geht das Potenzial zu einer wirkli-
chen "Schulrevolution". Starke Standards nämlich ermöglichen nicht nur, den Leis-
tungsstand von Schülern, sondern im Prinzip auch Erfolg oder Misserfolg von
Lehrern und Schulen zu identifizieren (vgl. Böttcher/Klemm 2002).
Vor dem Hintergrund meiner Skizze wird deutlich, dass der Staat völlig neue Auf-
gaben zu erfüllen hat. Wer einige der internationalen Entwicklungen betrachtet,
kann zum Eindruck kommen, dass Schulreform nicht "aus dem System heraus"
entsteht, sondern einer beherzten und kompetenten politischen Umsteuerung be-
darf. Wieder nur kann ich beispielhaft vorgehen, indem ich eine neue BildungsfI-
nanzierung, die Frage defizitärer Bildungsforschung und das Fehlen einer gesell-
schaftlichen Vision skizziere.
- Ein der Chancengleichheit verpflichtetes System klarer Standards mit relativ regelmäßiger Evaluierung
dient der Diagnose, nicht der Selektion - es erlaubt demnach die Identifizierung derjenigen, die Lücken
aufweisen. Je früher sichtbar wird, welche Kinder nicht hinreichend vom Bildungsangebot profitieren,
desto Erfolg versprechender sind pädagogische Interventionen.
Soziale Benachteiligung im Bildungswesen 73
Auch wenn Bourdieu und Passeron zufolge das "kulturelle Privileg" so domi-
nant ist, dass auch und insbesondere finanzielle Ausgleichsmaßnahmen nicht nur
"wirkungslos bleiben, sondern sodann Ungleichheiten noch wirkungsvoller als
Unterschiede im Lerneifer oder Begabung legitimiert werden können" (Bour-
dieu/Passeron 1971, S. 45), sind Umschichtungen der Bildungsfmanzierung wahr-
scheinlich eine Bedingung für Gleichheitsgewinne. Heute spiegelt der öffentliche
Mitteleinsatz im Bildungswesen die Hierarchie der Bildungswege wider; er privile-
giert die Privilegierten und er benachteiligt die Benachteiligten. Das gegenwärtige
System ist von einem hohen Ausmaß an Verteilungsungerechtigkeit geprägt (vgl.
zum Folgenden auch Sachverständigenrat Bildung 1998). Ungerechtigkeiten beim
Einsatz öffentlicher Ressourcen finden sich insbesondere bei der Kombination von
Gebührenfreiheit und -pflicht, beim Ressourceneinsatz für unterschiedliche Bil-
dungswege und bei der Konzentration der Mittel auf unterschiedliche Stufen des
Bildungssystems. Eine dem ökonomischen Programm verpflichtete Politik könnte -
ganz im Gegensatz zum Staus quo - dort scharfe Grenzen ziehen, wo öffentlich
finanzierte Organisationen (hier: Schulen) keinen Beitrag zum sozialen Ausgleich
leisten. Schulen, denen dies hingegen gelingt, könnten besonders honoriert werden.
Eine Schule in einem solchen System würde nicht nach dem absoluten Leistungsni-
veau beurteilt, sondern nach dem, was sie zur Verbesserung von Leistungen beige-
tragen hat, nach dem "Mehrwert", den sie geschaffen hat. Schwierige oder günstige
Ausgangsbedingungen würden berücksichtigt. Inwieweit eine neue Schulfmanzie-
rung - zum Beispiel zur Durchsetzung aufgabenspezifischer Personalwirtschaft,
pädagogischer Förderkonzepte oder besonderer Organisations formen - tatsächlich
eine Reduktion von Ungleichheit bewirken kann, ist Gegenstand notwendiger empi-
rischer Prüfung.
Der letzte Hinweis leitet über zu einer weiteren neuen Aufgabe des Staates. Es
bedarf einer Förderung der Wirkungsforschung. Während der 1960er und 1970er
Jahre nährte eine Vielzahl von wissenschaftlich begleiteten Modellprojekten die
Vorstellung, dass man mit gewissen Wahrscheinlichkeiten feststellen kann, "welche
Veränderungen notwendig sind, um Arbeiterkindern die gleiche Teilnahme an allen
Bildungsangeboten zu ermöglichen" (BMBW 1981, S. 86). Die empirische erzie-
hungswissenschaftliche Forschung verzeichnet jedoch seitdem allgemein - und
insbesondere mit Blick auf unser Thema - ganz erhebliche Desiderata. Eine Stär-
kung empirischer Forschung bedarf gleichzeitig der verstärkten Disseminierung der
Forschungsergebnisse auf eine Art und Weise, die für die Praxis brauchbar ist. Mit
der Etablierung von starken Bildungsstandards könnte beispielsweise auch die Pro-
duktion von Lernmaterial für Lehrer einhergehen: paradigmatische Unterrichtstun-
den auf Video, am Curriculum orientierte fachliche Kurse und ähnliche Maßstäbe
74 Wolfgang Böttcher
8 Solches Material reduziert im Übrigen nicht die pädagogische Kompetenz oder Autonomie des Lehrers,
es endastet ihn im Gegenteil für die Wahrnehmung anderer Aufgaben, wie die z.B. stärkere Individuali-
sierung seiner pädagogischen Aktivitäten.
9 Siehe: http://www.bmbf.de/de/1125.php
Soziale Benachteiligung im Bildungswesen 75
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76 Wolfgang Böttcher
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Von Generation zu Generation?
Kleine Kinder und soziale Ungleichheit in Deutschland
Ursula Rabe-KlebeT,
Im Zuge eines beschleunigten Aufholprozesses hat sich in den letzten zehn bis
fünfzehn Jahren das Bild vom kleinen Kind in der deutschen Gesellschaft - Ost wie
West - stark verändert. Länger als in vergleichbaren anderen Gesellschaften - zu
nennen sind vor allem die angelsächsischen und skandinavischen Länder (vgl. z.B.
Veil 2003, Whalley 2001) - wurden hier Kinder im vorschulischen Alter als noch
schwache, sich nur langsam entwickelnde und deshalb vor dem Unbill der harten
Welt zu schützende Wesen betrachtet, die von Erwachsenen zu erziehen, belehren
und nicht zuletzt auch zu zivilisieren seien. Kinderbetreuung wurde und wird in
Deutschland weiterhin als Aufgabe der Sozialpolitik gefasst, wobei allerdings in
zunehmendem Maße der Bildungsauftrag des Kindergartens, der seit 1990 im Kin-
der- und Jugendhilfegesetz verankert ist, aber lange kaum beachtet wurde, nun als
der wichtigere neben den Aufgaben der Erziehung und Betreuung herausgestellt
wird (SGB VIII KJHG, § 22; Bundesjugendkuratorium 2004). Wenn wir heute von
kleinen Kindern reden, dann eher davon, dass sie großartige Forscher seien (Lae-
wen/Andres 2002), dass sie sich selbst bilden (Schäfer 2001), sozialkompetente
Vermittler in unübersichtlich gewordenen Puzzlefamilien seien und vor allem von
strahlender Intelligenz (Rabe-Kleberg 2001, bildung: elementar 2004).
Diese Prozesse der Veränderung des Kindbildes und der entsprechenden ge-
sellschaftlichen Diskurse über Kinder und Kindheit befördern zum einen die in
Deutschland überfillige Etablierung einer Kleinkindpädagogik in Wissenschaft und
Praxis, die an biographisch frühen Bildungsprozessen orientiert ist, zum anderen
aber auch sozial- und bildungspolitische Reformen des Bereichs elementarer Bil-
dung mit dem Ziel, diese Einrichtungen für alle Kinder bereitzustellen - wenn nicht
sogar ihren Besuch verpflichtend zu machen. In diesem Veränderungs- und Durch-
setzungsprozess sozial- und bildungspolitischer Reformen wurden von den Akteu-
ren bislang Fragen der Folgen sozialer Ungleichheit für die Kinder und der Hilfebe-
dürftigkeit von Familien eher vermieden. Hierfür mag es zwei Erklärungen geben,
eine pädagogische und eine soziologische:
• Pädagogisch wird davon ausgegangen, dass jedes Kind in seiner Individualität
und Persönlichkeit mit seinen Stärken gestärkt werden müsse. Probleme, Be-
hinderungen, Schwächen der Kinder werden - so die optimistische und positi-
ve pädagogische Sichtweise - dabei reduziert.
78 Ursula Rabe-Kleberg
Der grundsätzlich positive Blick auf Kinder als eigenständige und eigensinnige
Individuen ist als professionelle pädagogische Fiktion zu verstehen. Sie ist notwen-
dig für die Durchsetzung eines neuen normativen Konzeptes, eines Paradigma- und
Habituswechsels, vor allem bei Erzieherinnen in der Praxis der Früherziehung un-
abdingbar, darf aber nicht mit einer realanalytischen Kategorie verwechselt werden,
mit dem die Lage der Kinder und ihr Handeln - auch in pädagogischen Institutio-
nen - abzubilden und zu untersuchen sind.
Soziale Ungleichheit und ihre Folgen für Lebenslagen und Bildungsprozesse
auch von kleinen Kindern zu thematisieren ist aber kein Rückfall in ein überwunden
geglaubtes Kindbild, vielmehr eine dringlich notwendige Ergänzung des Bildes von
Kindheit und Kindern - sozusagen der gesellschaftliche Rahmen für dieses Bild.
Und dieser gesellschaftliche Rahmen ist rissig, splitterig auf der einen Seite und
goldverziert auf der anderen - um das einmal so auszudrücken. Zudem ist die deut-
sche Tradition der sOi/alpadagogischen Tradition des Kindergartens mit den beiden
historischen Wurzeln in der sozialen und der bildungstheoretischen Begründung
noch letztlich im internationalen Vergleich als auch für andere Länder als vorbild-
lich hervorgehoben worden (OECD 2004, Rabe-Kleberg 2004). Im Diskurs und in
den politischen Auseinandersetzungen sollte dieses "Erbe" mehr gewürdigt werden.
Begreifen wir Kindheit als ein Strukturmoment von Gesellschaft und Kinder
als Mitglieder der Gesellschaft, dann sind sie von Phänomenen der sozialen Un-
gleichheit betroffen - und zwar als Kinder in spezifischer Weise. Die soziale Lage
der Kinder und die soziale Konstitution von Kindheit im Verhältnis der Generatio-
nen und ihrer Abfolge zu betrachten - wie es die Überschrift verspricht - mag
zunächst den Anschein erwecken, hier werde einer gewissen Naturwüchsigkeit der
Vererbung von ungleichen Chancen oder Positionen in Gesellschaft das Wort gere-
det - und damit ihrer Schicksalhaftigkeit. Dies ist selbstverständlich nicht an dem!
Generation selbst - so ist zu zeigen - ist Ergebnis gesellschaftlicher Konstruktions-
prozesse und die jeweilige historische und kulturelle Ausprägung der generationalen
Verhältnisse ebenso.
Jede Gesellschaft steht vor der Aufgabe, das Verhältnis der Generationen zu
ordnen. Auch Deutschland befindet sich - wie andere vergleichbare Gesellschaften
- seit einigen Jahren in einem langsamen Prozess der Neuordnung von Sozialpolitik
und Sozialstaat. Die Ordnung des Generationenverhältnisses ist dabei ein entschei-
dender Punkt. Die Frage, wie und ob sich in Zukunft die soziale Lage der Kinder
Von Generation zu Generation? 79
verändern wird, hängt wesentlich von dem Ausgang dieser generationalen Aushand-
lungsprozesse ab (Kaufmann 1997, Opielka 2004).
Im Folgenden sollen die Konsequenzen der generationalen "Vererbung" sozia-
ler Ungleichheit für kleine Kinder und ihre Rezeption in den Diskursen über die
Reform des Elementarbereichs der Bildung betrachtet werden. Hierzu werden wir
erstens die "Erfindung" von Kindheit als ein Projekt der Moderne thematisieren, als
einen Prozess, in dessen Verlauf Kindheit als ein sozialer Raum konstruiert wurde,
in dem die Kinder vor Gesellschaft geschürzt werden sollten und überprüfen, in
welcher Weise solche Kindheitsdiskurse bis heute unser Denken beeinflussen.
Zweitens werden wir die aktuelle "Wiederentdeckung" sozialer Ungleichheit thema-
tisieren und das generationale Verhältnis als ein zentrales Element der Ungleich-
heitslagen von Kindern kennzeichnen und in einem lerzten Schritt auf politische
und professionelle Strategien eingehen, die sich auf Veränderung und Verbesserung
von ungleichen Lebens- und Bildungschancen von Kindern beziehen.
Bis heute werden auch von kritischen Sozial- und Erziehungswissenschaftlern aktu-
elle gesellschaftliche heterogene, plurale und multikulturelle Verhältnisse für Kinder
eher als Chance und Herausforderung begriffen (z.B. BMFSFJ 1998). Die Perspek-
tive auf Bornierungen aufgrund ungleich verteilter Handlungsressourcen gerät bis
heute immer wieder aus dem Blick. Eine umfassende Definition dessen, was wir
unter sozialer Ungleichheit verstehen, wird von Reinhard Kreckel (1992, S. 17)
vorgelegt:
"Soziale Ungleichheit im weiteren Sinne liegt überall dort vor, wo die Möglichkeiten des
Zugangs zu allgemein verfügbaren und erstrebenswerten sozialen Gütern und/oder zu
sozialen Positionen, die mit ungleichen Macht - und/oder Interaktionsmöglichkeiten
ausgestattet sind, dauerhafte Einschränkungen erfahren und dadurch Lebenschancen
der betroffenen Individuen, Gruppen oder Gesellschaften beeinträchtigt oder begüns-
tigt werden."
1 Eine angebliche "Neutralität" gegenüber dem Geschlecht der Kinder stellt eine vergleichbare "gut
gemeinte" Ignoranz gegenüber den virulenten Problemen der Kinder dar, eine Haltung, die in vielen
Einrichtungen anzutreffen ist.
2 Im Rahmen mehrerer Forschungsprojekte wurden von der Autorin und ihren Mitarbeiterinnen seit
1992 ca. 80 berufs-biographische Interviews in Ost- und Westdeutschland geführt, in denen dieses
Muster immer wieder anzutreffen ist.
Von Generation zu Generation? 81
Bildungsforscher haben vermehrt seit den 1990er Jahren nachdrücklich auf das
hartnäckige Weiterexistieren ungleich verteilter Bildungschancen hingewiesen (Mül-
ler 1994, Müller/Haun 1994, Bloß feld 1985, Rodax/Meier 1997), die sich trotz
eines gewissen Fahrstuhleffektes im Rahmen der Bildungsexpansion nach der Her-
kunft der Kinder durchsetzen und Deutschland im internationalen Vergleich inzwi-
schen eine Spitzenposition eingebracht haben, nämlich die im Abstand zwischen
den Bildungschancen der sozial Schwachen und denen der führenden Schichten
(Baumert/SchÜ1ner 2001). Ein Ergebnis, das in den letzten Jahren gesellschaftspoli-
tisch weitgehend ignoriert oder gar aktiv zugedeckt wurde. So weist die offizielle
Bildungsstatistik seit 1990 keine Daten mehr über die Herkunft der Schüler und ihre
Verteilung auf Schultypen aus (Geißler 2004). Ungleiche Chancen im Bildungswe-
sen, nicht zuletzt aufgrund der Verteilung der Kinder im dreigliedrigen Schulsystem,
werden in den politischen Diskursen eher "naturalisiert" als Ausdruck unterschied-
licher individueller Leistungspotentiale verstanden - und damit gesellschaftlich
immer wieder neu legitimiert.
In der so genannten Hamburger Untersuchung zum Selektionsverhalten von
Grundschullehrern im Übergang zum Gymnasium konnte zudem klar rekonstruiert
werden, dass Kinder aus der Unterschicht und von alleinerziehenden Müttern bei
gleichen Leistungen deutlich seltener für eine weiterführende Schule empfohlen
werden als Kinder aus höheren Schichten und "ordentlichen" Familienverhältnissen
(Lehmann/Peek 1997, auch Rolff 1997). Diese Ergebnisse haben ebenfalls bislang
keinen "Schock" ausgelöst, weder in der bildungspolitischen noch in der erzie-
hungswissenschaftlichen Diskussion!
Der so genannte PISA-Schock wurde ja auch weniger durch die Aussagen über
die sozial ungleich verteilten Bildungsprozesse ausgelöst oder gar durch die Tatsa-
che, dass es Jungen waren, die vor einem Bildungsdesaster stehen. Also nicht soziale
und genderspezifische Ungleichheit haben die nachfolgende Diskussion beherrscht,
sondern der Rangplatz Deutschlands in der Welt, der durch das nur eben auch nur
mittelmäßige Abschneiden der Spitzen im Bildungssystem erzeugt wurde.
Das für Deutschland typische wechselseitige Ausblenden von Sozialpolitik und
Bildungspolitik (Gottschall 2002) muss durchbrochen werden, will man die Konse-
quenzen sozialer Lebenslagen von Kindern und ihren Eltern in Beziehung zu Bil-
dungsprozessen und -institutionen bringen und wenn man fragen will, was und wie
Bildung effektiv zur Verbesserung sozialer Lebenslagen und damit zum Abbau von
Ungleichheit beiträgt (Mierendorff/Olk 2003).
In diesem Zusammenhang kann auch das Muster "Von Generation zu Gene-
ration" neu hinterfragt und als vermeintliches Schicksal aufgelöst werden.
• Zum einen ist zu fragen, was eine Gesellschaft als Ganze für die nachwach-
sende Generation "übrig" hat. Ob sie weiter so tun kann, als hätte sie diese gar
nicht nötig oder als könne sie sich selbst überlassen. Oder ob sie - wie die
82 Ursula Rabe-Kleberg
Im Folgenden sollen diese Fragen vor allem unter dem Aspekt der frühkindlichen
Bildung im Kindergarten3 betrachtet werden. Dies vor allem, weil aktuell in den
politischen Diskussionen in den Ausbau der Elementarbildung geradezu illusionäre
Hoffnungen gesetzt werden, als könnte dort den meisten Problemen im Sozial- und
Bildungswesen erfolgreich begegnet werden, auch deshalb, weil dort die Welt noch
in Ordnung sei und die Gesellschaft vor der Tür bliebe.
Als eines der entscheidenden Phänomene, die auch kleine Kinder mit den Wi-
dersprüchen der Gesellschaft konfrontieren, ist das der Kinderarmut zu nennen -
und zwar in aller Härte, weil nämlich für jüngere Kinder die Chance, dass es in einer
armen Familie lebt, größer ist als für ältere. Über die Hälfte der von Armut bedroh-
ten kleinen Kinder leben bei alleinerziehenden Müttern (BMFSF] 1998, S. 89).
Armut und vor allem Kinderarmut sind seit den entsprechenden Studien und Be-
richten aus den 1990er]ahren (Housten 1991, Child Development 1994, AWO-ISS
2000, Walper 1999, BMGS 2005) als das entscheidende Merkmal für nachhaltig
ungleiche Lebens-, Gesundheits- und Bildungschancen anzusehen.
Dabei ist zunächst der generationale Aspekt hervorzuheben: Familien, die von
Armut bedroht sind, senken die Erwartungen an die Bildungsprozesse ihrer Kinder
radikal ab und verstärken so Selektionsprozesse der Schule und der Lehrer noch
weiter (Geißler 2004). Diese Tendenz wird bei niedrigem Bildungsstand der Eltern
verstärkt, bei höherem aber gebremst. Eltern mit niedrigem Einkommen können
ihren Kindern aber eben auch nicht zusätzliche Erfahrungen und Bildungsanregun-
gen bieten, zudem leben diese Familien zumeist in Wohnvierteln, die anregungsarm,
vielleicht sogar bedrohlich sind. Einkommensarmut mutiert so zu kultureller und
Bildungsarmut.
Die Studien für Deutschland (AWO-ISS 2000, Walper 1999) sowie eine Reihe
von entsprechenden internationalen und vergleichenden Untersuchungen (Child
development 1994, Housten 1991) verweisen übereinstimmend auf Folgen, die
arme Kinder ertragen müssen. Hierzu gehören vor allem eine bedrohte Gesundheit
und ein fehlendes Wohlgefühl (well being), ein oftmals angeschlagenes Selbstbild
3 Unter Kindergarten sollen hier alle sozialpädagogischen Einrichtungen für Kinder von 0 bis 6 Jahren
verstanden werden.
Von Generation zu Generation? 83
und insgesamt eine schwache Sozialentwicklung. Alles Merkmale, die sich ganzheit-
lich gesehen auf die Entwicklung von Motivation, Intelligenz, Sprache, und damit
letztlich auf die Bildungsprozesse auswirken.
Zu fragen ist, wie mit den Folgen generationaler Armut der Familien und der
Kinder umzugehen und ihnen entgegenzuwirken sei. Dabei werden vor allem
kommunikative, soziale und pädagogische Möglichkeiten reflektiert, d.h. politische
und professionelle Strategien im Sozial- und Bildungsbereich diskutiert. 4
In aktuellen bildungs- und sozialpolitischen Diskursen wird der Ausbau von Ein-
richtungen für frühe Bildung, Erziehung und Betreuung - also Tagespflege, Krip-
pen, Kindergärten und Kindertageseinrichtungen - zunehmend mit Hoffnungen
und Funktionen begründet, die schon angesichts der Fülle der zusätzlichen Aufga-
ben vermutlich in den Bereich der Illusionen zu verweisen sind. Da soll der Besuch
der Einrichtungen die Kinder in die Lage versetzen, mit einem möglichst gleichen
Niveau an "Schulreife" in Bezug auf soziale, sprachliche und kognitive Kompeten-
zen in die Schule zu kommen - gänzlich unabhängig von sozialer und ethnischer
Herkunft, sozialen Lebenslagen und Bildungsniveau ihrer Familien.
Zunehmend wird der Ausbau dieser Einrichtungen selbst an diese Hoffnungen
geknüpft, so dass hier ein sozial- und bildungspolitisches Dilemma entsteht. Macht
man darauf aufmerksam, dass diese Hoffnungen - zumal unter den heutigen Rah-
menbedingungen in den Kindereinrichtungen - überzogen sind, zerstört man u. U.
die wachsende Bereitschaft, den Ausbau vorschulischer Bildungseinrichtungen
voranzutreiben. Unterstützt man statt dessen die politischen Hoffnungen und
Funktionszuweisungen in der vagen Hoffnung, auf dieser politischen "Welle" den
notwendigen Ausbau realisieren zu können, trägt man dazu bei, die Einrichtungen
wieder in eine "soziale Ecke" abzudrängen.
Sinnvoll erscheint es deshalb, den Diskurs über die möglichen Leistungen
frühkindlicher Bildungsprozesse zur Verbesserung der Lebenslagen und Zukunfts-
chancen von Kindern angesichts von sozialer Ungleichheit auf der Basis wissen-
schaftlicher Erkenntnisse und wissensbasierter Programme zu führen. Hierzu im
Folgenden drei zentrale grundlegende Überlegungen.
Zunächst sind die Kinder selbst als Akteure ihrer Bildungsprozesse zu thema-
tisieren und in ihrem Umgang mit den Folgen der sozialen Ungleichheit in ihrer
schlimmsten Ausprägung, der ökonomischen und kulturellen Armut. Empirische
Befunde zeigen, dass Kinder je nach Alter und Geschlecht höchst unterschiedlich
, Fiskalische und finanzielle Interventionen der Umverteilung und Absicherung der von Armut bedroh-
ten Kinder und ihrer Familien werden hier nicht thematisiert, was deren Relevanz und Dringlichkeit
keineswegs schmälern soll.
84 Ursula Rabe-Kleberg
mit den Erfahrungen von Kinderarmut umgehen. Es gibt auf der einen Seite sog.
"fitte Kinder", die sich als kaum beeinträchtigt erweisen, allerdings auch mehrfach
beeinträchtigte Kinder auf der anderen Seite. Aber es fmden sich auch solche Kin-
der, die sich sozial kompetent Hilfe und Förderung durch Institutionen und signifi-
kante Andere besorgen. Aus der Resilienzforschung weiß man, dass unter Umstän-
den nur eine starke erwachsene Person schon ausreicht, die Kinder vor den sozialen
und kulturellen Auswirkungen der Armut zu schützen, wenn sich diese als zuverläs-
sig und verantwortlich erweist. Dies können Eltern, Großeltern sein, aber auch
Professionals oder ganz andere Personen (Opp u.a. 1999).
Hieraus erwachsen für Professionals der Kleinkinderziehung Aufgabe und
Verantwortung. Professionals müssen kompetent sein und in die Lage versetzt
werden, solche Aufgaben zu erkennen, zu übernehmen und in enger Kooperation
mit den Eltern und anderen zuständigen Professionen auszufüllen.
Für Eltern und die gesamte Familie in schwierigen ökonomischen und sozialen
Lebenslagen scheinen deren Bildungsstand und das interne kommunikative Klima
dafm entscheidend zu sein, welches Engagement sie für die Bildung und andere
existentielle Bedürfnisse ihrer Kinder aufbringen und ob auf Zuverlässigkeit und
Verantwortung ihrerseits gesetzt werden kann (Iben 2001, Wieners 2001, Zinn-
ecker/Silbereisen 1996). Engagement der Eltern hängt aber auch ganz entscheidend
von den Erfahrungen der Eltern mit der Wirksamkeit ihres Tuns und den Möglich-
keiten der Partizipation ab. Studien aus Großbritannien und anderen europäischen
Ländern haben gezeigt, dass auch Eltern aus unteren sozialen Schichten und von
niedrigem Bildungsniveau in die Arbeit der Kindereinrichtungen integriert werden
können und sich selbst dabei durchaus weiterentwickeln (Whalley 2001, INT2 2004,
Bundesjugendkuratorium 2004a).
Zu den Voraussetzungen, dass Eltern sich in die Lage versetzen, sich trotz
prekärer Lebenslagen für ihre Kinder und deren Zukunft einsetzen, gehört aber
auch, dass Kindergärten wirklich zu Häusern für Kinder und Familien werden (peu-
cker/Riedel 2004). Die meisten Einrichtungen erfüllen heute kaum diese Bedingun-
gens, und damit auch nicht die gesetzlichen Verpflichtung des Kinder- und Jugend-
hilfegesetzes, nach der alle Einrichtungen für Kinder den Auftrag haben, gleiche
Lebensverhältnisse zu sichern und dabei Benachteiligung zu vermeiden bzw. abzu-
bauen.
Erfahrungen zeigen, dass arme Familien, insbesondere Migrantenfamilien,
auch dann das Kinderbetreuungsangebot nicht annehmen, wenn es nahezu kosten-
frei ist. Hier fehlen auf Seiten der Eltern Information über die Möglichkeiten früh-
kindlicher Erziehung und Vertrauen in die fremde Kultur, unter Umständen aber
; Auch in Deutschland gibt es inzwischen einige Einrichtungen, die sich hier erfreulich abheben, z.B. in
Berlin das PFH, das Projekt "Monheim für Kinder - MoKi", das lris-Regenbogenzentrum in Halle und
Einrichtungen im Rahmen des Bündnisses für Familien insbesondere in Nürnberg, um nur eine kleine
Auswahl zu nennen.
Von Generation zu Generation? 85
auch die Fähigkeit, sich den Regelmäßigkeiten einer Einrichtung anzupassen (Anne
Kinder in einem reichen Land 2004/05). Kostenfreiheit würde demnach nur wenig,
Kindergartenpflicht dagegen einiges dazu beitragen, dass auch diese Kinder eine
Chance auf ein vielfaltiges Angebot erhalten.
Ob das Bildungsangebot des Kindergartens in seiner heutigen Ausprägung
zum Abbau von Ungleichheit wesentlich beiträgt, ist allerdings fraglich. Auch wenn
dieses von allen erwartet wird. Untersuchungen über mittel- und längerfristige Aus-
wirkungen des Kindergartenbesuchs erbringen widersprüchliche Ergebnisse, zum
einen zeigen sie für Großbritannien, dass der Kindergartenbesuch in der kognitiven
Entwicklung den Kindern einen Vorsprung erbringt (EPPE 2004). Zum andern -
dies gilt vor allem für deutsche Verhältnisse - sind ähnliche Ergebnisse empirisch
hier (noch) nicht nachzuweisen (Kreyenfeld 2004, Becker/Lauterbach 2004).
Unter Umständen sind die Ergebnisse in Deutschland auf den (noch) niedri-
gen Stand der Entwicklung der Einrichtungen als Bildungsorte zurückzuführen
(Tietze 2002). Auszuschließen ist aber auch nicht, dass bei deutschen Erzieherinnen
mehr oder weniger ausgeprägte Vorbehalte gegen Eltern aus der Unterschicht und
nicht zuletzt gegen ausländische Eltern zu ftnden sind. Zu bedenken ist, dass der
Beruf der Erzieherin in Deutschland - vor allem in Ostdeutschland - von sozialem
Abstieg bedroht ist. Aufgrund der verbreiteten Praxis der Teilzeitarbeit nähert sich
das Gehalt einer Erzieherin dem Niveau der Armutsgrenze an. Von ihnen sind
deshalb eher Abgrenzungstendenzen zu erwarten als solidarische Kooperation.
Die allseits geforderte Professionalisierung des Erzieherinnenberufs wäre da-
her nicht nur mit einem Zuwachs an inhaltlich-fachlichen Kompetenzen verbunden,
sondern auch mit einem Zuwachs an sozialpolitischer Potenz, die diese in die Lage
versetzt, sich advokatorisch für die Kinder und ihre Familien einzubringen.
Abschließend ist festzuhalten, dass die fachliche wie politische Diskussion um
die Fragen der sozialen Ungleichheit in ihren Auswirkungen auf kleine Kinder und
die Aufgaben, die sich daraus für die Organisation und Professionalisierung der
Kleinkinderziehung in Deutschland ergeben, erst begonnen hat. Sozial- und bil-
dungspolitische Ansätze und Überlegungen, empirische Ergebnisse und politische
Programmatiken müssen hier zusammengeführt werden, um die biographisch und
gesellschaftlich nachhaltigen Folgen früh erfahrener sozialer Ungleichheit zu mini-
mieren.
Frühe Bildung erhält dann den Sinn die Personen, die Kinder, zu stärken, nicht
zuletzt für den Umgang mit Ungleichheit und Ungerechtigkeit in der Gesellschaft.
86 Ursula Rabe-Kleberg
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Bildung, Erziehung und Betreuung in der offenen
Ganztagsschule
Thomas Rauschenbach
Nie war so viel Bildung wie heute.! Aller Orten wird über Lernen und Bildung dis-
kutiert, darüber, ob die Kinder in Deutschland richtig lernen, ob sie das Richtige
lernen und ob sie genügend lernen. Dabei ist die Debatte längst nicht mehr nur auf
Schule und Unterricht beschränkt; die Ausweitung des Bildungsauftrags für den
Kindergarten, eine V orverlegung des Einschulungsalters und der Ausbau der Ganz-
tagsschule sind nur einige Stichworte, die als des Rätsels Lösungen verkauft werden,
mit deren Hilfe die "deutsche Schmach von PISA" vergessen gemacht werden soll.
Im Kontext dieser Frage der Bildung geht es nicht nur darum, die immer
schneller wachsende Stoffmenge an Fakten, Informationen und Erkenntnissen
lernend zu verarbeiten, sondern zugleich auch zu lernen, die Chancen und Risiken
einer individualisierten Lebensführung zu bewältigen. Konnten die Menschen frü-
her auf den vorgefertigten Schienen eines durchschnittlichen Lebensverlaufs in die
vorbeikommenden Züge einsteigen - wohlgeordnet nach Klassen und Schichten -
müssen sie nunmehr in einem Straßengewirr mit vielen Abzweigungen und viel
Verkehr ihre Lebensführung selbst in die Hand nehmen. Insoweit haben sie heute
zwar deutlich verbesserte Optionen, Tempo und Richtung selbst zu bestimmen,
aber auch das erhöhte Risiko, bei der kleinsten Unachtsamkeit die richtige Abzwei-
gung zu verpassen, von der Fahrbahn abzukommen oder am Ende der Straße in
einer Sackgasse zu landen. Diese veränderte Aufgabe der Lebensführung stellt eine
eigene und neue Herausforderung mit Blick auf die Bildungs- und Lernprozesse
von Kindern dar.
Ausgelöst durch die erste PISA-Studie sind Bildung und Lernen verstärkt in
das Blickfeld von Politik und Öffentlichkeit geraten. Beunruhigt durch Schreckens-
szenarien, denen zufolge der Wirtschaftsstandort Deutschland durch diese neuerli-
che Bildungskatastrophe gefährdet sei, wurde Bildung wie niemals zuvor in den
Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt, verbunden mit der Hoffnung, dass insti-
tutionelle Reformen zu einer Verbesserung des Lernens und der Lemergebnisse
führen.
1 Überarbeite und erweiterte Fassung eines Vortrags auf der Veranstaltung ,,1 Jahr offene Ganztags-
grundschule in NRW" in Hamm arn 11.2.2005.
90 Thomas Rauschenbach
Doch so einfach ist die Sache nicht. Deutlich wurde mit den PISA-Ergeb-
nissen, dass schulexterne Faktoren die getesteten Kompetenzen bei den Schülerinnen
und Schülern in entscheidender Weise beeinflussen. Denn: Schulische Leistungen
sind in Deutschland in erheblichem Maße von der Herkunft abhängig. Schulerfolg
wird den Kindern buchstäblich (wieder) in die Wiege gelegt. So haben beide PISA-
Studien als "Risikogruppe" Kinder aus "bildungsfernen Schichten" bzw. mit Migra-
tionshintergrund identifiziert, deren Ergebnisse befürchten lassen, dass diese auch
im weiteren Verlauf ihres Lebens den Anschluss an Ausbildung und Beruf, an Teil-
habe und sozialer Integration verlieren (vgl. Baumert/Schümer 2001). Dies ist eine
Herausforderung, die über ein enges schulisches Bildungsverständnis deutlich hi-
nausweist, deren jugend-, familien- und sozialpolitischen Facetten unübersehbar
sind.
Der unbestreitbare historische Erfolg des Bildungsortes Schule - im Sinne des
damit verbundenen Fortschritts, Bildungfür alle zu ermöglichen - hat wesentlich mit
dazu beigetragen, dass die Bildungsfrage nicht nur immer stärker auf die Schule
ausgerichtet wurde, sondern dass damit zugleich auch andere Bildungsorte als die
unbeobachtete Seite des Bildungsgeschehens aus dem Blick geraten sind (vgl. Ot-
to/Rauschenbach 2004). Dem in jüngerer Zeit immer wieder verwendeten Slogan
"Bildung ist mehr als Schule" (vgl. Bundesjugendkuratorium u.a. 2002) widersprechen
auch die PISA-Verantwortlichen nicht, zielt doch deren Erhebungskonzept nicht
nur auf schulische Leistungen. Neben den Kompetenzmessungen zur sprachlichen,
mathematischen und naturwissenschaftlichen Grundbildung wurden im Jahr 2003
zusätzlich auch fachübergreifende Problemlösefahigkeiten getestet. Bei diesem
praktischen Problemlösen schnitten die deutschen Schülerinnen und Schüler inte-
ressanterweise international vergleichsweise gut ab. "Diese Art des Problemlösens
wird", so Manfred Prenzel, Deutschlands Hauptverantwortlicher für die PISA-
Studie 2003, "jedoch in erster Linie nicht im Unterricht vermittelt, sondern im All-
tag außerhalb der Schule".2
Allein dies ist ein Hinweis, die Blickrichtung auch auf die Lernorte jenseits der
Schule auszuweiten. Damit aber korrespondieren zwei Fragen, zum einen die Frage,
wo und wie die Jugendlichen die verschiedenen Kompetenzen eigentlich erwerben,
d.h. nach der Relevanz anderer Bildungsorte; und zum anderen die Frage nach den
Bildungsinhalten, also danach, was sie lernen sollen und ob insoweit - etwa bei PISA
- Bildung bereits in ausreichender Breite ins Blickfeld gerückt worden ist.
Beide Überlegungen sind keineswegs trivial. Bildung und Lernen findet neben
seiner curricular gestalteten Form in der Schule auch andernorts statt. So gibt es
vielfältiges Wissen, sichtbare Kompetenzen, vorhandene Fertigkeiten und Fähigkei-
ten, die jenseits der Schule gelernt werden: zufällig, geplant, nebenbei, spontan -
jedenfalls nicht in Rahmen schulischen Unterrichts. Dieser Teil des meist unbeo-
Sofern man Bildung nicht nur mit dem Erwerb einer beruflichen QualifIkation für
das spätere Arbeitsleben gleichsetzt, sondern als einen kognitiven, sozio-
emotionalen, moralischen und praktisch-instrumentellen Herstellungs- und Befähi-
gungsprozess von größtmöglichster Autonomie und sozialer Verantwortung in allen
Lebensbereichen versteht, kann man davon ausgehen, dass viele Bereiche des alltäg-
lichen Lebens hierzu wichtige Beiträge leisten, auch wenn die Wirkung nicht-
geplanter Settings sehr unterschiedlich, nicht so zielgenau und die Eintrittswahr-
scheinlichkeit erfolgreicher Lernprozesse dort geringer sein mag. Bildungsdebatten
sind in Deutschland oftmals in den Binnenlogiken von Bildungsinstitutionen ver-
haftet. Da der Blick dabei in der Regel nicht auf jeweils andere Bildungsinstanzen
sowie damit verbundene Systemübergänge und noch weniger auf non-formale und
informelle Lernprozesse außerhalb dieser Institutionen fällt, gelingt es oft nicht, die
Komplexität unterschiedlicher Lern- und Lebenswelten als eine Einheit zu betrach-
ten und dadurch die wechselseitigen, positiven wie negativen Einflüsse gezielt zum
Ausgangspunkt zu machen. Der Horizont öffnet sich erst, wenn man Bildung im
Lebenslauf betrachtet und Bildungsverläufe als Produkt eines aufeinander folgenden
und zeitgleichen Zusammenspiels von unterschiedlichsten Bildungsorten und
-modalitäten versteht:
1. Alles beginnt mit der Familie. Sie lässt sich als eine Bildungswelt ganz besonde-
rer Art kennzeichnen: In der Familie ist in Sachen Bildung "alles möglich", a-
ber "nichts sicher". Und dennoch wird sie in der Bildungsforschung eher als
Hintergrundsvariable denn als Einflussgröße verwendet. Als eigenständiger Bil-
dungsort, als Ort des Geschehens bzw. - im Falle des Versagens - als Ort der
unzulänglichen Bildung hingegen wird Familie viel zu wenig in den Mittel-
punkt gerückt (vgl. Wissenschaftlicher Beirat für Familienfragen 2002, Büch-
ner/Krah 2005).
2. Als erster eigens geplanter Bildungsort tritt die institutionelle Kinderbetreuung in
das Leben von Kindern ein, bei der Mehrheit ab dem 4. Lebensjahr. Diese
Form der Förderung von Kindern ist in den modernen Gesellschaften zu ei-
nem integralen Bestandteil der kindlichen Normalbiographie geworden. Insbe-
sondere der Kindergarten wird diesbezüglich verstärkt als ein wichtiger Bil-
dungs- und nicht nur als Betreuungsort entdeckt (vgl. Fthenakis 2003). Dabei
92 Thomas Rauschenbach
Darüber hinaus sind weitere Lernorte, wie z.B. Nachhilfe, Schülerjobs und vor
allem die Medien, wichtige Modalitäten der Bildung im Prozess des Aufwachsens
(vgl. Rauschenbach u.a. 2004). Alle diese Lernorte bilden in ihrem Zusammenspiel
das Potential, aus dem sich Lern- und Bildungsprozesse entwickeln können, die zu
sehr viel breiter ausgelegten Kompetenzen führen, als diese im Rahmen der PISA-
Untersuchungen bislang zum Gegenstand gemacht worden sind. Die Frage, die sich
Konturen einer neuen sozialen Bildungspraxis? 93
hier anschließt, ist die, ob und inwieweit es gelingen kann, dass das "Projekt Ganz-
tagsschule" mit einem zeitlich und inhaltlich erweiterten Bildungskonzept diese
Vielfalt gewährleisten kann.
des Lernens und der Bildung nicht mehr aus, um den Anforderungen an Bildung,
Betreuung und Erziehung zu Beginn des 21. Jahrhunderts gerecht zu werden.
Eltern und erst recht Kinder, die von klein auf, d.h. bereits ab den ersten Le-
bensjahren durchgängig und in erheblichen Teilen des Tages in öffentlichen, päda-
gogisch gestalteten Räumen verbringen, haben ein Anrecht darauf, dass dort nicht
nur Betreuung, sondern eine umfassende Förderung und Entwicklung gewährleistet
wird. Mehr noch: Es besteht ein unwiderruflicher Bedarf, die Trias von Bildung,
Betreuung und Erziehung nicht nur zu einer viel zitierten Floskel verkommen zu
lassen, die ansonsten folgenlos bleibt, sondern alle drei Dimensionen im Rahmen
der öffentlichen Verantwortung in einem integrierten Gesamtkonzept umzusetzen
(vgl. BMFSFJ 2005). Nicht mehr und nicht weniger muss Maßstab und Anspruch
für das Zukunftsprojekt "Ganztagsschule" sein.
Das "Projekt Ganztagsschule" ist ein Pilotprojekt, ist ein riskantes Projekt mit
einem noch ungewissen Ausgang, bei dem es unvermeidlich Mängel und Fehler
geben muss (zur frühen Forschung zu Ganztagsschulen vgl. Radisch/Klieme 2003).
Wer dies nicht einkalkuliert und den Beteiligten nicht zugesteht, dass sie sich als
lernende Organisationen verstehen müssen, verkennt, dass ein solch vielschichtiges
Vorhaben nicht allein am grünen Tisch erdacht und in einem l:l-Format am Reiß-
brett entworfen werden kann. Unter dieser Voraussetzung käme es nie zustande, da
zu viele Dinge vorab nicht abschließend geklärt werden können. Für solche selte-
nen, aber folgenreichen Großprojekte gibt es in der Geschichte meist nur einen
kurzen Augenblick, wo sie sich in die Tat umsetzen lassen, da sie sonst vor lauter
Bedenken über das Unfertige nie umgesetzt werden. Und das Projekt Ganztags-
schule gehört in diese Kategorie.
Insoweit handelt es sich bei dem Projekt um eine Chance und ein Risiko
zugleich. Es ist kein Selbstläufer, den man politisch nur anzustoßen braucht, ohne
sich über weitere Umsetzungsschritte allzu viele Gedanken machen zu müssen,
ohne die Rahmenbedingungen politisch zu sichern und weiter zu entwickeln. Dieses
Vorhaben ist weder zum Nulltarif noch mit viel gutem Willen und Engagement
allein zu realisieren. Und es reicht auch nicht, einfach Ganztagsschule drauf zu
schreiben und dann zu hoffen, dass auch Ganztagsschule drin ist. Das muss man
wissen, muss man im Blick behalten, will man das Projekt nicht mit falschen, vor-
schnellen Erwartungen bereits im Keim ersticken.
In Anbetracht dieser Ausgangslage kann man nur den Hut ziehen vor jenen
Akteuren, die in der Politik so weitsichtig, zielstrebig und wagemutig waren, sich auf
den Weg zu machen und dieses ebenso chancen- wie risikoreiche Projekt auf der
Ebene von Bund und Ländern nunmehr tatkräftig anzugehen. Das ist keineswegs
trivial - und in Anbetracht des genannten gigantischen Ausmaßes dieser Aufgabe
schon aller Ehren wert. Der Geist ist aus der Flasche und wird nicht mehr zurück-
zuholen sein. Der politische und pädagogische Weg in die Ganztagsschule ist un-
umkehrbar beschritten; es gibt keinen Rückweg mehr.
Konturen einer neuen sozialen Bildungspraxis? 95
\ Dies zeigen in jüngerer Zeit auch Verlautbarungen, Wahlprogramme verschiedener Parteien, aber auch
Positionspapiere der diversen Ministerien in Bund und Ländern.
, Vgi. Investitionsprogramm "Zukunft Bildung und Betreuung" (IZBB): http://ww.bmbf.de/
de/1125.php Oetzter Zugriff am 6.7.2005). Darüber hinaus haben auch die Jugendministerkonferenz
96 Thomas Rauschenbach
(Beschluss vom 13./14.5.2004) und die Kultusministerkonferenz (Beschluss vom 3./4.6.2004) gemein-
sam ein Papier zur "Zusammenarbeit von Schule und Jugendhilfe" verabschiedet.
'Vgl.Jugendministerkonferenz 2003 (22./23.5.2003 in Ludwigsburg), unter: http://www.sozialnetz.de/
ca/bbq/xtn/ (letzter Zugriff am 04.07.05).
Konturen einer neuen sozialen Bildungspraxis? 97
Der Ausbau der Ganztagsangebote an Schulen befmdet sich derzeit noch in heftiger
Bewegung und die Entwicklungsverläufe in den Bundesländern unterscheiden sich
zum Teil erheblich (vgl. BMFSFJ 2005).6 Daher ist die Datenlage für eine qualitative
Bilanz dieses Ausbaus noch sehr beschränkt (vgl. Kolbe 2005). Gleichwohl liegt für
das Land NRW - das den Schwerpunkt seines Ausbaus bislang auf Angebote an
Grundschulen gesetzt hat - im zweiten Jahr des Ausbaus eine erste wissenschaftli-
che Analyse zu den Effekten des Ganztagsschulausbaus vor (vgl. Beher u.a. 2005).1
6 Folgt man den Angaben des Bundesbildungsministeriums, dann werden im Schuljahr 2005/2006
bundesweit bereits über 5.000 Schulen am Förderprogtamm "IZBB" für Ganztagsschulen teilnehmen.
- Nach der Einführung der offenen Ganztagsgrundschule wurden in einem ersten Untersuchungsab-
schnitt der Studie die Umsetzungsformen des Ganztags sowie die Erfahrungen bzw. Bewertungen der
98 Thomas Rauschenbach
In der Einschätzung ist sicherlich nicht davon auszugehen, dass die bislang vorlie-
genden ersten Erfahrungen bereits abschließende, aussagekräftige Schlussfolgerun-
gen zulassen, zumal sich die offene Ganztagsschule in NRW seit der Datenerhe-
bung erheblich weiter entwickelt hat: von 236 auf insgesamt 703 Schulen allein im
Schuljahr 2004/2005 - das sind rund 20% aller Grundschulen - bzw. von 11.721
auf 34.416 betreute Kinder in nur einem Schuljahr; im Schuljahr 2005/2006 sollen
weitere 500 Grundschulen dazu kommen, so dass dann zusammen bereits rund
1.300 Grundschulen und damit mehr als ein Drittel aller Grundschulen Ganztags-
angebote unterbreiten. 8
Insoweit ist es mittelfristig nur folgerichtig, dass sich Bund und Länder darauf
verständigt haben, die Entwicklung der Ganztagsschulen in einer bundesweit ange-
legten, repräsentativen Studie von einem Konsortium aus DIPF, DJI und Universi-
tät Dortmund wissenschaftlich begleiten zu lassen. Demnach werden von 2005 an
zunächst einmal mehr als 40.000 Schülerinnen und Schüler nebst deren Eltern, der
jeweiligen Schulleitung, den Lehrkräften, dem nicht-unterrichtenden pädagogischen
Personal sowie den Kooperationspartnern an ca. 400 repräsentativ ausgewählten
Ganztagsschulen befragt.9 Weitere Befragungen zu mehreren Messzeitpunkten sind
bis 2008 geplant.
Vor dem Hintergrund der von den beteiligten Akteuren selbst gesteckten Ziele
lassen sich die Ergebnisse des Zwischenberichts zur Offenen Ganztagsschule in
NRW (vgl. Beher u.a. 2005) quer lesen - nicht zuletzt auch unter der skizzierten
Fragestellung des Zusammenspiels von Bildung, Betreuung und Erziehung. Vor
diesem Hintergrund lassen sich exemplarisch acht Herausforderungen skizzieren.
beteiligten Akteure erfasst. Hierzu wurde eine Erkundungsstudie mit quantitativen und qualitativen
Untersuchungselementen an ausgewählten Schulen durchgeführt. Von den im Schuljahr 2003/2004
bestehenden 235 offenen Ganztagsschulen im Primarbereich wurden 24 Schulen für die Untersuchung
unter den Aspekten Verteilung auf die Regierungsbezirke und Berücksichtigung unterschiedlicher Sozial-
räume und Konzepte ausgewählt. An jeder Schule wurden die Schulleitungen sowie die beteiligten Eltern
per Fragebogen schriftlich befragt. Darüber hinaus wurden pro Schule jeweils Gruppeninterviews mit
denjenigen Personen geführt, die in verantwortlicher Form konzeptionell-gestaltend für die Entwicklung
und Organisation des Ganztags zuständig sind, aber auch mit den Mitarbeiter/innen, die an der täglichen
Durchführung des offenen Ganztag unmittelbar beteiligt sind.
8 Offen ist gegenwärtig, wie das Projekt in NRW politisch weitergeht. Allerdings steht in der Koalitions-
vereinbarung der neuen Regierung aus CDU und FDP, das diese "zusätzlich zu den bestehenden und
von der bisherigen Landesregierung geplanten Mittel ( ... ) den Schulen 2.400 Lehrstellen-Äquivalente
Gährlich 120 Mio. Euro) für Ganztagsangebote in Form von Budgets für einen flexiblen Personaleinsatz
zur Verfügung stellen" wollen (vgL Koalitionsvereinbarung NRW von CDU und FDP, S. 33, www.cdu-
nrw.de/media/Koalitionsvereinbarun~entwurf.pdf).
9 VgL zum Projekt "StEG - Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen" auch www.projekt-steg.de.
Konturen einer neuen sozialen Bildungspraxis? 99
diesbezüglich ein positives Fazit gezogen. Sie zeigen sich in der großen Mehrheit
zufrieden mit der Art der Betreuung und den Betreuungszeiten. Auch die Hausauf-
gabenbetreuung, so man sie der Betreuung zuschlägt, wird sowohl von den Eltern
als auch den Lehrkräften positiv wahrgenommen. Familien fühlen sich entlastet,
und aus Sicht der Lehrkräfte verbessert sich die Ausgangslage für den täglichen
Unterricht. 10
Schaut man auf die Angebote und Inhalte der so genannten Betreuung, so be-
tonen die unterschiedlichen Akteure, dass es dabei tatsächlich um mehr als um
Beaufsichtigung und Beschäftigung geht. Vor allem das nicht-unterrichtende Perso-
nal legt großen Wert auf die Bezjehungsarbeit zu den Kindern. In diesem Punkt liegt
vielleicht - sofern es gelingt, persönliche Beziehungen zu möglichst allen Kindern
aufzubauen - der wichtigste Indikator und die größte Chance zu einer Veränderung
gegenüber dem alten Schulsystem, das zumeist nicht so intensiv und unterrichts-
übergreifend auf individuelle Beziehungen und persönliche Verhältnisse abzielte
(obgleich dies von der Reformpädagogik schon seit den 1920erJahren unermüdlich
gefordert wurde).
Anmerken kann man darüber hinaus, dass es auffallt, dass die Betreuung fast
ausschließlich von nicht-unterrichtendem Personal erbracht wird, dass den Lehr-
kräften damit erst einmal ein Teil einer Aufgabe abgenommen wird und sie dadurch
offenbar auch bessere Unterrichts bedingungen vorfmden. Dies mag sie auch objek-
tiv erleichtern. Fraglich ist nur, inwieweit das lehrende Personal selber die dadurch
frei werdenden Ressourcen in ein Gesamtkonzept Ganztagsschule bzw. in die Un-
terstützung außerunterrichtlicher Bildungsprozesse der Kinder reinvestiert.
10 Diesbezüglich werden mittelfristig allerdings genauere Daten über die Effekte - auch differenziert
nach Leisrungsgruppen und sozialen Merkmalen - benötigt, vor allem um die Frage zu klären, inwieweit
sich dies auch auf die unterrichtlichen Leisrungen der guten und der schwächeren Kinder auswirkt.
100 Thomas Rauschenbach
ungsarbeit auch und vor allem Bezjehungsarbeit ist. Nicht zuletzt deshalb spricht vie-
les dafür, dass sich das gesamte pädagogische Personal die Verantwortung in der
Bildungs- und Betreuungsarbeit teilt, nicht unbedingt schematisch getrennt nach
Stundenplan oder gar in einer phantasielosen Aufteilung in Vormittag und Nach-
mittag. Hier muss - zumindest im Primarbereich - die einseitige Betonung von
Unterricht als ausschließliches Medium des Lehrens und Lernens sowie die Allein-
herrschaft von Lehrerinnen und Lehrern in dem unterrichtsbezogenen Teil der
Schule etwas gelassener gesehen, vielleicht doch ein wenig gelockert werden. Die
Trennung zwischen "Lehrkräften" und "nicht-unterrichtendem" pädagogischen
Personal - auch in punkto Verantwortung, Qualifikation, Arbeitsplatzsicherheit und
Bezahlung - sowie der einseitige Mangel an Vor- und Nachbereitungszeit für das
nicht-unterrichtende Personal- ohne, dass sich dabei zugleich im Gegenzug bei den
Lehrkräften diesbezüglich etwas ändert - erschwert eine "Bildungsplanung" für den
Nachmittag und die Abstimmung zwischen den beiden Personalgruppen.
Wenn die Ergebnisse in NRW darauf hinweisen, dass Lehrer und Lehrerinnen
im Nachmittagsbereich bislang kaum vertreten sind und überwiegend Erzieherinnen
die Organisation des Nachmittags übernehmen, dann ist das Ziel einer gemeinsamen
Gestaltung des Ganztags eindeutig noch nicht erreicht. Wechselseitige Hospitation,
Formen des Teamteachings zwischen unterschiedlichen Berufsgruppen und päda-
gogischen Fachkräften, Verknüpfungen von Unterrichtselementen und -themen mit
projektförmigen Bildungsangeboten in Kultur, Sport und Technik wären nur einige
mögliche Ansatzpunkte für gemeinsam zu initiierende Bildungsprozesse. Nur: Da-
für muss das beteiligte Personal in gegenseitiger Anerkennung als Bildungsfachkräf-
te zusammenarbeiten. Wenn das nicht-unterrichtende Personal von den Eltern und
Lehrkräften jedoch überwiegend auf die Funktion der Betreuungskraft festgeschrie-
ben wird, dann stehen diesbezüglich sicher noch einige heftige und kontroverse
Diskussionen um Rolle und Funktion aller Beteiligten im Bildungsprozess aus. Es
ist schon einigermaßen merkwürdig, wenn an der Ganztagsschule alle Welt mit-
macht - nur nicht die Lehrerinnen und Lehrer.
Und noch ein Hinweis zum nicht-unterrichtenden Personal: Möglicherweise
wird hier mal wieder - und das nicht nur aus Kostengründen - ein Webfehler re-
produziert, der gegenwärtig in der Kindertagesbetreuung heftig und kontrovers
diskutiert wird: das unterschiedliche Niveau und die Qualifikation der Personals. Wer glaubt,
am Nachmittag würden unausgebildete, willige und engagierte Menschen reichen,
die mitten im Leben stehen, koordiniert von einer einzelnen Erzieherin, der miss-
achtet beispielsweise alle Qualitätsdebatten, die schon seit ewigen Zeiten im Bereich
der Tagesbetreuung für Kinder geführt worden sind (vgl. Rabe-Kleberg 2005).
"Gleiche Augenhöhe", ein Gardemaß für ein gelungenes Ganztagesprojekt, das die
Politik so gerne in Aussicht stellt, müsste auch insoweit ernst genommen werden,
wenn der Nachmittag ebenfalls zu einer Bildungserfahrung eigener Art werden soll.
Konturen einer neuen sozialen Bildungspraxis? 105
Ein erster Schritt innerhalb des Systems Schule wäre es, dem außerunterrichtlichen
Personal systematischer ein Mitwirkungs- und Mitentscheidungsrecht an Lehrer-
und Schulkonferenzen einzuräumen, wenn die Rede von einer gemeinsamen Ver-
antwortung in Sachen Ganztagsschule mehr als eine rhetorische Sonntagsrede sein
soll. Erste Erfahrungen haben immer Pioniercharakter. Doch auf Dauer wird auch
die Ganztagsschule nicht umhinkommen, ähnlich wie die Kindertagesbetreuung,
Qualitätskriterien und Mindeststandards zu entwickeln - und das nicht nur für den
Nachmittag.
Bei der Konzeption der Offenen Ganztagsschule in NRW - dem ersten Ganztags-
schulprojekt neuerer Zeitrechnung, zu dem empirische Befunde vorliegen - klafft,
so scheint es zumindest nach den ersten explorativen Daten, zwischen Anspruch
und Wirklichkeit eine Lücke. Und gleichzeitig wird der Anspruch, wird das Ziel
damit nicht überflüssig, verliert man ansonsten doch den Fluchtpunkt am Ende des
Horizonts aus dem Auge und beginnt sich unter Umständen im Kreise zu drehen.
Das NRW-Ministerium selbst hat die Ziele hoch gesteckt. Im Runderlass zur Ganz-
tagsschule von 2003 heißt es: "Die offene Ganztagsschule soll durch die Zusam-
menarbeit von Schule, Kinder- und Jugendhilfe und weiteren außerschulischen
Trägern ein neues Verständnis von Schule entwickeln. Sie sorgt für eine neue Lernkultur zur
besseren Förderung der Schülerinnen und Schüler. Sie fördert die Zusammenarbeit von
Lehrkräften mit anderen Professionen. Sie ermöglicht mehr Zeit fiir Bildung und Erzje-
hung, individuelle Fiirderung, Spiel- und Freizeitgestaltung sowie eine bessere Rhythmisie-
rung des Schultages. Sie sorgt für ein umfassendes Bifdungs- und Erzjehungsangebot, das
sich an dem jeweiligen Bedarf der Kinder und der Eltern orientiert. Sie umfasst insbeson-
dere
• Förder-, Betreuungs- und Freizeitangebote,
• besondere Förderangebote für Kinder aus bildungsbenachteiligten Familien
und für Kinder mit besonderen Begabungen sowie
Konturen einer neuen sozialen Bildungspraxis? 107
Es bleibt ein Letztes: die Frage des Geldes. Wenn die Bildungspolitik in Sachen
Ganztagsschule A gesagt hat, dann muss sie konsequenterweise auch B sagen. Die
Ganztagsschule im Sekundarbereich - das Mehrheitsmodell in den Bundesländern -
ist zumindest im Planungsstadium auch in NRW überfillig. Vor allem der Blick auf
die ungelösten Probleme der massiven sozialen Selektion durch das herkömmliche
Bildungssystem macht ein rasches Handeln auch in dieser Altersgruppe und Schul-
stufe erforderlich. Denn die Herausforderungen der fehlenden Beziehung der schu-
lischen Lernorte zu den Kindern und Jugendlichen sind erheblich. Insoweit sind
perspektivisch vier Punkte zu beachten:
Rückbindung in Familie und sozialen Nahraum ist aber - wiederum der Tendenz
nach - eine Stärke etwa der Kindertageseinrichtungen oder der Jugendarbeit. Des-
halb könnte in der Wiederaneignung des Lebensweltbezugs auch ein Ansatzpunkt
für ein neues inhaltliches Profil und eine neue Qualität künftiger Bildungskonzepti-
onen liegen. Bei diesem Punkt geht es somit perspektivisch um eine Wiederoerkoppe-
lung von Lern- und Lebenswelten.
Bildung in diesem weiten Sinne geht damit weit über eine fremdbestimmte Ver-
wertbarkeit von (beruflichen) Qualifikationen hinaus und kann nicht länger einseitig
mit Blick auf Ausbildung und Arbeit definiert werden. Handlungs fähigkeit, Kritik-
fähigkeit, Fähigkeit zur Selbstbestimmung und zur selbständigen Lebensführung
110 Thomas Rauschenbach
sowie eine erfolgreiche Identitätsbalance erfordern mehr als den Erwerb von schu-
lisch gefiltertem Wissen: Eigentätigkeit, praktisches Üben und Können, Lernen und
gemeinsames Handeln mit anderen gehören zu diesem weiten Verständnis von
Bildung ebenso dazu wie kulturelle Bildung, soziales Lernen, emotionale Entwick-
lung und politische Bildung und der damit korrespondierende Erwerb von kulturel-
len, instrumentellen, sozialen und personalen Kompetenzen (vgL BMFSFJ 2005).
Wenn diese Punkte zu Parametern eines erweiterten Bildungskoordinatensystems
werden, dann besteht eine ernsthafte Chance, zu einer neuen, zukunftsfahigen Bil-
dungspraxis in Deutschland zu gelangen.
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Konturen einer neuen sozialen Bildungspraxis? 111
1 Aktualisierte und erweiterte Version eines vom Autor in "Aus Politik und Zeitgeschichte" veröffent-
Ein ganz anderes Beispiel: Die deutschen Hochschulen sind auch auf den de-
mographischen Wandel schlecht vorbereitet (vgL Brenke/Zimmermann 2005). Er
führt aufgrund einer längeren Lebenserwartung und weiterhin niedriger Geburten-
raten zu einem zunehmenden Anteil älterer Menschen an der Bevölkerung. Dieser
Trend wird zu einem steigenden Anteil Älterer an allen Erwerbstätigen und ent-
sprechenden Ansprüchen an die Weiterbildung auch an den Hochschulen führen.
Darüber hinaus ist Zuwanderung, gerade von qualifizierten Menschen, notwendig.
Auch hier spielen Hochschulen eine wichtige Rolle, die aber noch völlig unterentwi-
ckelt ist. Im Zuge der MA-Studiengänge sollte diese verbessert werden.
Insgesamt gilt: Die deutschen Universitäten brauchen viel zu lange, um Studie-
rende - die sich schlecht informiert für ein Studium entscheiden - zu einem ver-
wertbaren Abschluss zu führen. Und im internationalen Vergleich werden auf der
Ebene der Fachhochschulqualifikation zu wenig Studenten ausgebildet. Gleichzeitig
sind auf dem Gebiet der Forschung Spitzenleistungen selten geworden, und diese
finden oftmals noch in außeruniversitären Instituten statt - was kurzfristig schlecht
für die Lehre ist und sich deswegen langfristig auch in der außeruniversitären For-
schung rächt.
Die deutsche Hochschul- und Forschungspolitik bedarf dringend der Neuori-
entierung. Gleichwohl darf man die Schuld nicht nur bei den Hochschulen suchen.
Bei der Einführung der Studiengebühren ist auch die Sozialpolitik als Teil der Bil-
dungspolitik gefordert. Und vor allem sind Unternehmen und die Studierenden
selbst gefordert, die deutschen Hochschulen zu verändern.
Sowohl Unternehmen als auch Absolventen klagen immer wieder, dass die Hoch-
schulen ihre Studenten zu wenig auf den Berufsalltag vorbereiten würden. Dies
sollten die Hochschulen auch gar nicht zu bestreiten versuchen. Gleichwohl sollte
aber deutlicher als bislang - von den sich in der Defensive befindlichen Hochschul-
lehrern - gesagt werden: Für viele der von Unternehmen erwarteten "Schlüssel-
Kompetenzen" gibt es keine bessere Ausbildung als die der unternehmerischen
Praxis. Ähnliches trifft für bestimmte Fähigkeiten zu, die gelegentlich etwas irrefüh-
rend als "Methodenkompetenzen" bezeichnet werden und sich auf Fertigkeiten
beziehen, die sich der Abstraktion entziehen und an konkreten Unternehmenspro-
jekten eingeübt werden sollten. Wiederum andere Kompetenzen sind weniger aus-
bildungs- als selektionsrelevant - sie können nicht gelernt und eingeübt werden,
z.B. unternehmerische Risikofreude, sondern müssen durch die Unternehmen bei
der Rekrutierung von Mitarbeitern berücksichtigt und bewertet werden. In diesem
Prozess kann naturgemäß nicht jedes einzelne Unternehmen "die Besten" eines
Hochschul- und Arbeitsmarktpolitik 115
Absolventenjahrgangs einstellen. Dies ist trivial, wird aber von Unternehmern und
Personalmanagern, die lautstark über die mangelnde "Arbeitsmarktorientierung" der
Universitäten klagen, oftmals vergessen.
Betrachtet man Lehre und Forschung unter dem Gesichtspunkt der Verwer-
tung außerhalb des akademischen Arbeitsmarktes (für Lehre und Forschung), so
stellen sich mindestens zwei grundsätzliche Probleme:
• Wissenschaft braucht Freiräume, die der unmittelbaren Verwertbarkeit einer
Hochschulausbildung entgegenstehen können.
• Wissenschaftlicher Fortschritt ist nur noch durch Arbeitsteilung und Speziali-
sierung zu erreichen. Die dementsprechende disziplinäre Organisation von
Wissenschaft ist aber gleichzeitig den eher interdisziplinär oder gar pandiszi-
plinär angelegten Problemen der Welt und des Arbeitsmarktes nicht angemes-
sen, was wiederum für die Verwertbarkeit von Wissenschaft ein beträchtliches
Hindernis bedeutet.
boldtsche Bildungsideal" nach wie vor mehr Erfolg versprechend sein. Es ist an
angelsächsischen Spitzenuniversitäten verwirklicht: Dort bestreiten Forschungsuni-
versitäten nicht nur den größeren Teil der (auch anwendungsbezogenen und inter-
disziplinären) Forschung, sondern sind auch voll in der Lehre engagiert. Im Unter-
schied zu diesem Modell sind die außeruniversitären Forschungseinrichtungen in
Deutschland bislang weitgehend von der Pflicht zur Beteiligung an der Lehre ent-
bunden. Und formal in die Universitäten eingebundene "An-Institute" sind faktisch
oft noch weniger als öffentlich geförderte und evaluierte außeruniversitäre Einrich-
tungen in den regulären Universitätsbetrieb eingebunden. Die Qualitätsprobleme
deutscher Hochschulen werden durch diese Arbeitsteilung weiter verschärft.
Deswegen müssen Lösungen gesucht werden, die innerhalb der Universität
nicht nur interdisziplinäre Forschung, sondern auch interdisziplinäre Lehre beför-
dert. Diese Lösung dürfte in entsprechenden Master-Studiengängen, die in so ge-
nannten Professional Schools angeboten werden, liegen. Auf diese Modelle wird
unten näher eingegangen.
'Vgl. Zu diesem und den folgenden Abschnitten den Aufsatz Weiler u.a. 2003, der von Hans N. Weiler,
Norbert BenseI, Katharina Heuer und C. Katharina Spieß zusammen mit dem Autor verfasst wurde.
Hochschul- und Arbeitsmarktpolitik 117
Bachelor-Studium (BA)
Ein international kompatibles, d. h. dreijähriges Bachelor-Studium muss rasch flä-
chendeckend eingeführt werden. Für Abiturienten, die im Vergleich zum Ausland in
13 Schuljahren eine hochwertigere allgemeinbildende Schulausbildung erhalten
haben, sollten BA-Studiengänge mit stark allgemeinbildendem Charakter allerdings
auf faktisch zwei Jahre verkürzt werden.
Das BA-Studium stellt die erste Stufe einer Hochschulausbildung dar. Es ist
berufsbefahigend ausgerichtet und deshalb nicht mit dem heutigen Vordiplom
vergleichbar. Das BA-Studium ist keine wissenschaftlich "minderwertige" Fakten-
huberei bzw. eine bessere berufliche Lehre. Im Gegenteil: Wissenschaftliches Ler-
nen muss, wenn es berufsbefahigend sein soll, einen hohen Grad an Transferierbar-
keit von einem Wissensbereich zu einem anderen aufweisen. Das aber bedeutet
nichts anderes, als dass der Erwerb dieser Art von Lernfahigkeit in hohem Maße
theoriegeleitet sein muss - ein Postulat, das selbstverständlich für mehr und für
weniger anwendungsnahe Wissensbereiche gilt - beispielsweise gute Elektrotechnik
ist genau so theoriefahig und -bedürftig wie gute Soziologie. Diese theoretische
Qualität der hoch schulischen Grundausbildung bietet auch die beste Gewähr dafür,
dass die damit erworbene Lernfahigkeit in dem Sinne von Dauer ist, dass sie einen
lebenslangen Lernprozess zu inspirieren und zu organisieren in der Lage ist. In
dieser Perspektive kommt dem Fachwissen eine unverzichtbare Funktion zu - als
Übungsgelände für eine allgemeinere und zu verallgemeinernde Lernfahigkeit. Un-
abhängig von der Berufsbezogenheit eines Fachstudiums in der Bachelor-Phase
sollte dieses Studium am Beispiel eines Faches wissenschaftliches Lernen in dem
oben beschriebenen Sinn vermitteln; darin liegt - über mögliche fachliche Qualifi-
kationen hinaus - sein eigentlicher Beitrag zur Berufsfahigkeit.
Da BA-Studiengänge zum Teil - insbesondere in den Geisteswissenschaften -
allgemeinbildenden Charakter haben, stellt sich unausweichlich die Frage nach der
Dauer dieses Studiengangs in Deutschland bzw. nach der Dauer der gymnasialen
Oberstufe. In den USA ist die High-School-Zeit kurz, und das BA-Studium dauert
deshalb drei Jahre. Abiturienten aus Deutschland bekommen infolgedessen auch an
Elite-Universitäten ein BA-Jahr erlassen. Wenn in Deutschland strikt dreijährige
BA-Studiengänge eingeführt würden, muss die gymnasiale Oberstufe konsequent
um ein Jahr verkürzt werden.
Die Graduate School dient einem sehr speziellen Arbeitsmarkt, nämlich dem des
wissenschaftlichen Nachwuchses. In der Graduate School sind die Studienangebote
anzusiedeln, die den Anforderungen des wissenschaftlich-akademischen Arbeits-
marktes entsprechen und sich an diejenigen Absolventen der Bachelor-
Studiengänge richten, die sich für diesen Arbeitsmarkt entschieden haben und die
notwendigen Qualifikationen nachweisen. Man sollte nicht darum herumreden: Hier
3 Die Empfehlungen des Wissenschaftsrates zur Ausbildung von Medizinern sind nicht so radikal, die
nicht auf den wissenschaftlichen Nachwuchs zielende Medizinerausbildung an Fachhochschulen zu
verlagern, aber die vorgeschlagene Zweiteilung der Ausbildung für Praktiker und Forscher geht in diese
Richtung, die an einer "Medical School" (siehe oben Abschnitt zu "Professional Schools") gut verwirk-
lichbar wäre (vgl. Wissenschaftsrat 2004).
Hochschul- und Arbeitsmarktpolitik 121
kann und darf, ja muss es um die Förderung einer Leistungs-Elite gehen! Wenn
man von den bestehenden Strukturen in deutschen Universitäten ausgeht, kann
man sich eine Graduate School als den Ort vorstellen, wo die exzellenten studenti-
schen Hilfskräfte versammelt werden und damit besser gefördert werden können
als dies an einzelnen Professuren und Lehrstühlen möglich ist - ergänzt um Dokto-
randen, die von außen angeworben werden.
In der inhaltlichen Orientierung lehnt sich eine Graduate School in der Regel
enger an die herkömmlichen Disziplinen an als Professional Schools, die - wie oben
ausgeführt - durch gezielte joint appointments von Hochschullehrern mit Graduate
Schools verbunden werden. Im Prinzip handelt es sich bei diesem Typus um die Art
von Ausbildung, die der Wissenschaftsrat in seinen Empfehlungen zur Doktoran-
denausbildung, zur flächendeckenden Einführung von Promotionskollegs und zur
Errichtung von "Zentren für Graduiertenstudien" vorschlägt, und mit der die US-
amerikanischen Forschungsuniversitäten gute Erfahrungen gemacht haben (vgl.
Wissenschaftsrat 2002). Idealerweise werden unter der Regie einer solchen Gradu-
iertenschule keine Ressourcen mehr für Promotionen verschwendet, die lediglich
dem Titelerwerb dienen, denn den Mühen einer "verschulten" Graduate School
werden sich solche "Doktoranden" nicht unterziehen.
Mit der Einführung von Graduate Schools ist es möglich, dass die amerikani-
sche Trennung der Hochschulen in Lehr-Kollegs und Forschungshochschulen
vermieden wird; unvermeidbar wird aber eine Ausdifferenzierung des Lehrdeputats
von Hochschullehrern werden. Forschungsstarke und in der Graduiertenausbildung
engagierte Hochschullehrer müssen ein internationalen Maßstäben angepasstes De-
putat von maximal vier Semesterwochenstunden bekommen; während für Lehr-
Professoren auch ein über 10 Semesterwochenstunden hinausgehendes Deputat
verantwortbar ist. Insofern wird es wichtig sein zu beobachten, wie das neue Ham-
burger Hochschulgesetz wirken wird, das den Hochschulen eine Differenzierung
des Deputats zwischen 2 und 16 Wochenstunden erlaubt.
Vieles spricht dafür, dass die nun auch in Deutschland bestehenden Möglichkeiten
zur Erhebung von Studiengebühren zügig umgesetzt werden sollten. Und zwar über
die jetzt von einigen Ländern angestrebten Gebühren von 500 Euro pro Semester
hinaus. Die Studierenden würden bewusstere Entscheidungen zugunsten einzelner
Universitäten und Studiengänge treffen, und so aufgrund von Wettbewerb die Leh-
re an den Universitäten verbessern. Denn wer nennenswert zahlt, der überlegt nicht
nur genauer, was und wo er eigentlich studieren will, sondern er kritisiert auch mit
Recht eine schlechte Qualität der Lehre. Wenn die Lehre verbessert würde, könnte
auch zügiger studiert werden. Außerdem können nur durch Gebühren wirklich
nennenswert mehr Mittel für die Hochschulen mobilisiert werden. Natürlich müs-
sen die Gebühren, die eine Hochschule einwirbt, auch vollständig bei ihr verblei-
ben. Nur dann stimmen die Anreizwirkungen. Selbst wenn ein Landesfinanzminis-
ter vorab die Zuwendungen an alle "seine" Hochschulen absenkt, entfalten solche
Gebühren positive Effekte. 4
Dass Studiengebühren mit einem öffentlich finanzierten Stipendiensystem
kombiniert werden müssen, um die Entscheidung für ein Studium von der Bega-
bung und dem Leistungswillen junger Menschen abhängig zu machen und nicht
vom Geldbeutel der Eltern, ist selbstverständlich. In Deutschland könnte das Aus-
bildungsförderungsgesetz (BAföG) unschwer entsprechend umgebaut werden - es
ist ohnehin reformbedürftig, da es offensichtlich nicht ausreicht, um für Kinder aus
einkommensschwachen Elternhäusern ein Studium ausreichend verlockend zu
machen.
Wenn die Gebühren über die jetzt von einigen Ländern beschlossenen Beträge
von 500 Euro pro Semester hinausgehen, könnte der Staat zum Beispiel auch "Stu-
diengutscheine" vergeben, die je nach Einkommen der Eltern unterschiedlich teuer
sein würden. Bei Darlehensystemen ist es auf jeden Fall sinnvoll, deren Rückzah-
lung vom späteren beruflichen Erfolg abhängig zu machen. Die Rückzahlung könn-
, Ein Detail ist besonders wichtig: Wenn aus den Mitteln, die durch Studiengebühren eingenommen wer-
den, die Lehrkapazität erweitert witd, wn die Qualität des Studiwns zu heben, dann darf die vergrößerte
Lehr-Kapazität von den Wissenschaftsministerien und Verwaltungsgerichten, bei denen Studenten
versuchen einen Studienplatz einzuklagen, nicht zwn Anlass genommen werden die Studierenden-Kapa-
zität zu erhöhen und dadurch die Qualitäts-Verbesserung zunichte zu machen.
Hochschul- und Arbeitsmarktpolitik 123
Ohne Zweifel müssen sich die Hochschulen in Deutschland stärker auf die Interes-
sen des nicht-wissenschaftlichen Arbeitsmarktes einstellen. Aber es muss auch
deutlicher als bislang ausgesprochen werden: Für viele der von der Wirtschaft ge-
forderten Kompetenzen von Hochschulabsolventen gibt es keine bessere Ausbil-
dung als die der unternehmerischen Praxis. Und definitionsgemäß kann nicht jedes
Unternehmen die jeweils allerbesten Absolventen einstellen. Und Studierende müs-
sen sich besser als bislang darüber klar werden, ob und wie sie eine wissenschaftli-
che oder nicht-wissenschaftliche Berufskarriere anstreben.
Universitäten müssen sich auch auf den speziellen Arbeitsmarkt für Forschung
spezialisieren dürfen. Eine flächendeckende "Fachhochschulisierung" wäre unsin-
nig, d.h. eine Ausdifferenzierung der Hochschulen in Deutschland ist nahezu un-
vermeidlich. Da Differenzierung nicht zentral geplant werden kann, ist mehr Auto-
nomie der Hochschulen notwendig. Zentral können lediglich die Rahmenbedingun-
gen so gesetzt werden, dass der wettbewerbliehe Prozess der Differenzierung ziel-
bezogen erfolgt. Öffentlichkeit, Politik und Parlamente geben also ihre Gestaltungs-
ziele keineswegs auf, sondern sie lassen sie von autonomen Hochschulen besser
verwirklichen als gegenwärtig.
Damit Differenzierung zielbezogen erreicht wird, muss mehr Transparenz ü-
ber Hochschulen und ihre Qualität geschaffen werden. Nur dann kann sich zielge-
richteter Wettbewerb entfalten. Und dazu brauchen die Hochschulen - man kann
es nicht oft genug wiederholen - mehr Autonomie, nicht nur im Hinblick auf ihre
Entscheidungen und Strukturen, sondern auch finanziell.
Wie sollten die Rahmenbedingungen aussehen? Welche Wirkungen werden sie
vermutlich haben? Studiengebühren oder Bildungsgutscheine, verbunden mit einem
klug ausgebauten Stipendien- und Darlehen-System, sollten nicht nur die Qualität
der Lehre verbessern, sondern - weil sie spürbar sind - auch dafür sorgen, dass
Studenten sich bewusster für ein Studium, einen Studienort und den Arbeitsmarkt,
den sie anstreben, entscheiden. Der Hochschulzugang muss mit besseren Informa-
tionen, die in Schulen angeboten werden, und mit harten Eingangs- und/oder früh-
zeitigen Zwischenprüfungen so gestaltet werden, dass es nach dem zweiten Semes-
ter normalerweise keine Studienabbrecher mehr gibt. Auf Basis des insgesamt nach
wie vor guten öffentlichen Schulsystems, das freilich - zusammen mit dem Vor-
schulsystem - verbessert werden kann und sollte, brauchen wir in Deutschland
keine Befürchtungen zu haben, dass dadurch nur Kinder aus "besseren Elternhäu-
sern" Zugang zu den Hochschulen fmden. Studiengebühren sollten von den Hoch-
schulen - im Rahmen eines staatlich vorgegebenen Korridors - selbst festgelegt
werden und die Einnahmen sollten vollständig an den Hochschulen verbleiben.
Hochschul- und Arbeitsmarktpolitik 125
Literatur
Michael Opielka
I Dieser Beitrag basiert auf den Ausführungen in Opielka 2004 (S. 201ff.) sowie Opielka 2005.
128 Michael Opielka
ordnung zu den wichtigsten Kanälen des Lebenslaufs wurden, die über Ungleichheit
und Gleichheit von Chancen entscheiden. 2 Andererseits wird den angloamerikani-
schen Ländern eine Geringschätzung von sozialpolitischen Gleichheitszielen nach-
gesagt. Die Begründung dieser eigentümlichen Konstellation dürfte eine zweifache
sein: Zum einen lässt sich zeigen, dass in Großbritannien und in den USA ein be-
deutender Wohlfahrtsstaatsimpuls existiert ("Beveridge", "New Deal''), der eine
schlichte Zuordnung dieser Länder als "liberales" Wohlfahrts regime problematisiert
(vgl. Opielka 2004, S. 52ff.). Allerdings konzentriert sich das Gleichheitsinteresse -
besonders in den USA - auf Chancen- und Startgleichheit, auf die politische oder
bürgerrechtliche Seite sozialpolitischer Interventionen und weniger auf Ergebnis-
gleichheit. 3 Letzteres ist eher ein Charakteristikum sozialistisch-sozialdemokrati-
scher Wohlfahrtsregime.
Die zweite Begründung liegt wohl in der politischen Mittellage Deutschlands.
Nicht nur, dass soziale Gleichheit in der sozialpolitischen Rhetorik der Bundesre-
publik nachgeordnet blieb - jedenfalls während des "Kalten Krieges" 1945 bis
1989. Die Kulturhoheit der früheren Gliedstaaten des Deutschen Reiches - die für
die heutigen Bundesländer fortbesteht - hatte zwar schon vor der Aufklärung zu
einem verbreiteten und differenzierten Schul- und Hochschulwesen geführt, doch
litt der weitere Ausbau des Bildungswesens im 19. Jahrhundert stets unter Finanzie-
rungsengpässen. 1888 wurde in Preußen die Schulgeldfreiheit des V olksschulunter-
richts eingeführt, 1919 auf den gesamten Pflichtschulbereich ausgedehnt, und erst
nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Gymnasial- und Hochschulausbildung weit-
gehend unentgeltlich (Kaufmann 2003, S. 296ff.). Im Deutschen Reich herrschte ein
dreigliedriges Schulsystem, wobei nur das Gymnasium für ein bis zwei Prozent der
Schülerjahrgänge einen Hochschulzugang vermittelte. Nach dem Zweiten Weltkrieg
blieb eine umfassende Bildungsreform (wie in Schweden oder Großbritannien) aus,
in der Bundesrepublik wurden die Verhältnisse vor der NS-Herrschaft restauriert.
Die DDR orientierte sich überwiegend am in der Sowjetunion üblichen System der
Einheitsschule, die auch in Großbritannien und Schweden erfolgreich war. In
Westdeutschland wurde sie nur in einigen sozialdemokratisch regierten Bundeslän-
dern versucht. 4
In den 1960er Jahren diagnostizierte Georg Picht (1964) in Westdeutschland
aufgrund fehlender Bildungsinvestitionen der Länder eine "Bildungskatastrophe".
Die zunächst große und dann sozialliberale Koalition unter Willy Brandt führte zu
2 Vgl. Allmendinger 1999 und die Beiträge von Allmendinger/Leibfried und Böttcher in diesem Band.
.1Dass auch das US-amerikanische Bildungssystem das Ziel der Chancengleichheit verfehlt, wird unter-
dessen an einer Reihe von Indikatoren diskutiert. So haben Schüler aus dem ärmsten Bevölkerungsviertel
eine Chance von 8,6% zu einem College-Abschluss, Schüler des obersten Einkommensviertels eine
Chance von 74,9% (Brooks 2005, vgl. auch The Pell Institute 2004 und: www.postsecondary.org).
" Ausführlich zur Geschichte des Bildungswesens in Deutschland Berg u. a. 1987 ff., in vergleichender
Perspektive Postlethwaite 1995. Zur aktuellen Situation v. a. Cortina u. a. 2003, Avenarius u. a. 2003.
Bildungsreform als Sozialreform 129
einer Reform des Grundgesetzes, mit der bildungspolitische Aktivitäten des Bundes
erst möglich wurden (u. a. 1969 Bundesbildungsministerium, Berufsbildungsgesetz,
1976 Hochschulrahmengesetz). Kaum geändert wurde jedoch das gegliederte Schul-
system, die Orientierung der Berufsbildung am "dualen System" aus betrieblicher
Lehre und Berufsschule, die geringe Bedeutung der meist in kommunaler (V olks-
hochschulen) oder in freier Trägerschaft organisierten Erwachsenenbildung -
durchaus ein Problem angesichts des Bedarfs an "lebenslangem Lernen" -, der (in
Westdeutschland nach wie vor geringe) Ausbau von öffentlichen Einrichtungen für
Kleinkinder und generell das weitgehende Fehlen von Ganztagsschulen. Allein das
deutsche Hochschulwesen erfuhr seit den 1960er Jahren einen gewissen Ausbau,
allerdings nicht stärker als in Vergleichsländern. Zudem wurde mit der Einführung
der Fachhochschulen eine berufsorientierte, zugleich auf Kosteneinsparung zielende
Sparvariante der Universitäten ausgebaut, an der im Wintersemester 2000/01 mit
426.000 gut ein Viertel der insgesamt 1,8 Millionen Studenten in Deutschland einge-
schrieben war (Cortina u. a. 2003, S. 587).
~ulSd1"nd
Tsdlethlsche Republik
Ungam
xhweiz
Luxemburg
Portugal
Selgi.n
Vereini9tH Königreich
Polen
Neu,.,.land
Ausuallen
Irland
frankreich
Oänemark
Norwegen
Griethenland
Schweden
IllIlien
IC.anad.
Brasilien
Spanien
Ru"isdle Föderation
l ettland
Finnland
Island
Korea
o S tO IS 20 2S 30 35 40 45 50
VerJnderung der l~kompetenz ~i VerJnderung der Sozial",hidlt
um eine Standardabweichung
Jürgen Baumert, einer der Autoren der PISA-Studie, resümiert diese negativen Ver-
teilungseffekt folgendermaßen:
"Wie groß der Spielraum für die Entkopplung von sozialer Herkunft und dem Erwerb
zentraler BasisqualifIkationen wie Lesekompetenz international ist, zeigt ein Blick auf
das andere Ende der Verteilung. In Finnland - ein Staat, der übrigens auch durch seine
hohen Durchschnittswerte in der Lesekompetenz auff:illt - betragen die sozialen Dis-
paritäten, wenn man Jugendliche aus Familien des oberen und unteren Quartils der So-
zialstruktur \'ergleicht, erwa 50 Punkte oder eine halbe Standardabweichung - also we-
niger als die Hälfte des deutschen Wertes" (Baumert u. a. 2003, S. 130).
; Winkler (in diesem Band) führt als ein Beispiel die Yerkürzung der Gymnasialzeit von neun auf acht
Jahre in Bayern an, was in Verbindung mit der Einführung der neuen, dreijährigen Bachelor-
Studiengänge zur Konsequenz führe, dass der deutsche BA-Abschluss in den USA nicht anerkannt wird.
Dort baut ein vierjähriges BA-Studium auf einer zwölfjährigen Schulzeit auf, während die Ausbildungs-
zeiten in Deutschland dann insgesamt um ein Jahr zu kurz ausfallen. Wagner (in diesem Band) verweist
wiederum auf ein dreijähriges Bachelor-Studium in den USA, was Grund dafür sei, auch das deutsche
Abitur generell nach 12 Jahren ablegen zu können. Faktisch existieren auch in den USA beide Fonnen
des Bachelor-Studiums. Unmittelbare Überttagungen auf die deutsche Situation raten sich also nicht an.
Bildungsreform als Sozialreform 133
erfreulich, weil das Bildungssystem offensichtlich vielen eine Chance bietet. Über
die insgesamt problematische Leistungsbilanz des deutschen Bildungswesens in
Hinblick auf eine "investive" Sozialpolitik kann dies jedoch nicht hinweg täuschen.
Die "kompensative" Funktion der Sozial- und Bildungspolitik wird, worauf
PISA hindeutete, in Deutschland möglicherweise noch schlechter erfüllt als die
"investive". Erst in jüngerer Zeit kommt dieser Zusammenhang von Sozial- und
Bildungspolitik in den Blick, beispielsweise im Konzept der "Bildungsarmut" (All-
mendinger 1999, Allrnendinger/Leibfried in diesem Band). Anfang der 1990erJahre
wurde in der deutschen Soziologie das Phänomen der Bildungsungleichheit wieder
entdeckt (Shavit/Blossfeld 1993, Böttcher in diesem Band). Mittlerweile werden
hauptsächlich zwei Fragen diskutiert (Allmendinger/ Aisenbrey 2002): Hat die Bil-
dungs expansion zum Abbau der Bildungsungleichheit geführt, und wie kann die
Dauerhaftigkeit der sozialen Ungleichheit von Bildungschancen erklärt werden? Die
Tatsache, dass die Bildungsexpansion seit den 1960er Jahren in Deutschland gerin-
ger ausfiel als beispielsweise in Nordamerika oder Skandinavien, dürfte einen Teil
der deutschen Bildungsungleichheit erklären. Die Dauerhaftigkeit von Ungleichheit
wiederum ist auch die Folge einer eben nicht leistungsorientierten - geschweige
denn entwicklungsfördernden - Selektivität.
Bemerkenswert ist die Praxis intergenerationaler Ungleichheit, wie sie anhand
von Daten des sozio-ökonomischen Panels (SOEP) in Tabelle 1 sichtbar wird.
Zwar lassen sich die Einflüsse der verschiedenen Indikatoren auf die Bildungslauf-
bahn der Schüler nur schwer abschätzen, da die gemessenen Indikatoren unterein-
ander stark korrelieren. Unter dem Gesichtspunkt der Bildungsvererbung ist dies
gleichwohl aussagekräftig. Ein hervorstehendes Ergebnis der von den Autoren der
Untersuchung vorgenommenen multivariaten Analyse besteht darin, dass fehlendes
ökonomisches Kapital, vor allem in Form von Einkommensarmut, einen eigenständi-
gen Effekt auf die Bildungskarriere der Kinder hat: "Unabhängig von dem elterli-
chen Bildungsniveau und der beruflichen Bildung übt das familiäre Einkommen
einen signifikanten Effekt auf den Schulbesuch in der Sekundarstufe aus" (Hacket
u. a. 2001, S. 107). Da aber das Bildungs- und Ausbildungsniveau der Eltern wie-
derum deren Stellung auf dem Arbeitsmarkt beeinflusst - für die Bevölkerungs-
mehrheit die wichtigste Verteilungsinstanz für ökonomisches Kapital -, wird die
Beobachtung sozialer - nicht genetischer - Bildungsvererbung bekräftigt.
134 Michael Opiclka
Besuchte Schule
Hauptschule Realschule Gymnasiwn
Kulturelles Kapital
Elterliche Schulbildung
Hauptschule 47 34 19
Realschule 25 29 46
Abitur 6 18 77
k. A./ sonstiges 61 23 17
ausländische Pflichtschule 62 22 16
aus!. weiterführender Schulabschluss 44 25 31
BeruJsbildung der Eltern
Keine 65 22 13
Lehre 45 33 22
diverse 37 28 35
Beamtenausbildung 12 21 67
U niversität/FH 4 16 80
Besuch kultunller Veranstaltungen
seltener, nie 56 24 19
regelmäßig 26 30 44
mindestens 1 mal pro Monat 17 20 63
Ökonomisches Kapital
Einkommensannut
<60% 65 24 12
60 - 100 % 44 30 26
über 100 % 19 21 60
Arbeitslosit,keit
arbeitslos 49 26 25
nicht arbeitslos 40 26 34
S ory,en um eit,ene wirtschaftliche Entwicklul(~
große Sorgen 53 25 22
einige Sorgen 38 28 34
keine Sorgen 27 23 50
Weitere Faktoren
Geschlecht
männlich 46 22 32
weiblich 36 30 35
Nationalität
deutsch 30 28 42
türkisch 66 23 11
jugoslawisch (ex) 55 20 35
griechisch 31 27 42
italienisch 68 20 12
spanisch 52 28 20
Quelle: Hacket u. a. 2001, S. 106. - Berechnungen auf der Grundlage des SOEP, Welle 1-14
(1984-1997), Angaben in Prozent
Tabelle 1: Mögliche Einflussfaktoren auf die besuchte Schule in der
Sekundarstufe
Bildungsreform als Sozialreform 135
Karin Gottschall (2003, S. 890) hat unter der Signatur "Von Picht zu PISA" die
Bildungsstaatlichkeit im deutschen Sozialmodell als "ständisch und erziehungsfern"
etikettiert und dafür eine spezifische Relation des Bildungswesens mit der Familie
einerseits, dem Ausbildungssystem und Arbeitsmarkt andererseits verantwortlich
gemacht (Abbildung 2).
Damit gelangt der "konservative" Charakter des deutschen Sozialstaats nicht nur in
Bezug auf seine ständische - und in den sozialen Sicherungssystemen entsprechend
"berufsständische" - Orientierung in den Blick. Wirkungs kräftig ist auch die patri-
archale Einbettung des Bildungswesens, dessen Elementar- und Primarbereich
zwrundest im Westen Deutschlands - ähnlich wie in Österreich und der Schweiz -
auf der Verfügbarkeit der Mutter als Hausfrau und einem Normalarbeitsverhältnis
mit männlichem "breadwinner" aufruht (auch Leitner u. a. 2004).
Der Beitrag des Bildungswesens bei der Vererbung sozialer Ungleichheit ist
unübersehbar. Bildungsabschlüsse entscheiden über die Position in der Einkom-
menshierarchie und die Risiken am Arbeitsmarkt. Dies gilt für alle Industriestaaten,
wie Tabelle 2 anhand von Daten der OECD verdeutlicht. Personen mit höchstem
Bildungsabschluss unter der Sekundarstufe stehen am unteren Ende, Personen mit
Hochschulabschluss (tertiäre Ausbildung) am oberen. Die durch den Bildungsab-
schluss erzeugten Einkommensdifferenzen sind in Ländern wie Portugal (insbeson-
dere hinsichtlich der Geringqualifizierten), vor allem aber in den USA gravierend.
Dies gilt, wie OECD-Daten weiterhin zeigen, auch hinsichtlich der Arbeitslosen-
quoten. Sie waren Mitte der 1990er Jahre beispielsweise in Deutschland für Männer
mit einem Abschluss unter der Sekundarstufe mehr als dreimal so hoch wie für
Personen mit Hochschulabschluss, in den USA (für Männer wie Frauen) mehr als
fünfmal so hoch (Wolf 2002, S. 19f.). Im Jahr 2004 lag die Arbeitslosenquote in
Deutschland für Personen ohne Berufsabschluss mit 24,6 Prozent sogar mehr als
sechsmal so hoch \'vie für diejenigen mit Hochschulabschluss (4%) (Rein-
berg/Hummel 2005, S. 5).
136 Michael Opielka
Ausbildung
oberhalb Se- tertiäre
unter Sekun-
kundarstufe, Ausbildung
darstufe
ohne Tertiär- insgesamt
stufe
25-64 25-64 25-64
Belgien 2000 Männer 93 99 128
Frauen 83 112 133
Kanada 1999 Männer 80 102 138
Frauen 70 98 139
Dänemark 2000 Männer 86 91 131
Frauen 90 92 123
Finnland 1999 Männer 93 m 167
Frauen 99 m 145
Frankreich 1999 Männer 88 130 159
Frauen 80 133 145
Deutschland 2000 Männer 81 114 143
Frauen 74 128 141
Italien 1998 Männer 54 m 138
Frauen 61 m 115
Niederlande 1997 Männer 88 126 142
Frauen 73 120 146
Norwegen 1999 Männer 85 118 136
Frauen 84 121 137
Portugal 1999 Männer 60 m 180
Frauen 63 m 170
Schweden 1999 Männer 87 m 138
Frauen 88 m 126
Schweiz 2001 Männer 82 113 141
Frauen 75 122 154
Großbritannien 2001 Männer 72 m 147
Frauen 70 m 183
USA 2001 Männer 69 123 193
Frauen 67 120 176
Quelle: OECD 2003, Tabelle A14.1 (Auszug) - Nach jeweils höchstem Bildungsabschluss
und Geschlecht für Personen im Alter von 25 bis 64 Jahren; Medianeinkommen für Perso-
nen mit Sekundarabschluss = 100 (m). Die Jahre beziehen sich auf die Datengrundlagen.
Tabelle 2: Relatives Niveau des Erwerbseinkommens nach Bildungsabschlüssen
im internationalen Vergleich
Bildungsreform als Sozialreform 137
gestaltendes Gut ist, ob ein ho her Bildungsstand zum Sozial- bzw. Kulturkapital
einer Gesellschaft zählt oder ob Bildung eher als ein privates Gut, als eine den fami-
liären Gemeinschaften zu überlassende Investition in das (individuelle) Humankapi-
tal gilt.
(, Noch in 1999 lag der Anteil der öffentlichen Hand in der EU-15 bei 86 Prozent (Eurostat 2003. S. I).
Die Daten von 2002 und Abbildung 3 beziehen die 10 neuen l\1itgliedsstaaten ab 2004 bereits ein.
Bildungsreform als Sozialreform 139
AL
U
MK
RO
TR
BO
EL
LU
IE
HR
SI<
CZ
ES • Ausgaben aus öffen1lchen
MT aue'enrOr
IT 8Ildungselnrlchtungen
OE • öffen1lche Subven1lonen an
NL den privaten Seldor
EU 25
UK
HU
PL
AT
EE
CH
FR
LV
PT
LT
SI
BE
FI
CY
15
NO
SE
OK
0 1 2 3 4 5 6 7 B 9
In Tabelle 3 sind die Ausgaben für den Vorschulbereich nicht erfasst. International
vergleichende Daten sind hierfür nur rudimentär verfügbar (vgl. auch Schmidt
Bildungsrefonn als Sozialrefonn 141
2005). Seitens der OECD wird (Stand 2000) nur zweierlei ausgewiesen: Zum einen
die relativen Ausgaben für die Vorschulerziehung von Kindern (ab drei Jahren), die
innerhalb der Gruppe der OE CD-Länder, gewichtet nach dem Pro-Kopf-
Einkommen laut BIP, um den Faktor drei schwanken. Am niedrigsten sind sie in
der Schweiz und Irland, etwa doppelt so hoch in Deutschland oder Österreich und
dreimal so hoch in Norwegen (OECD 2003, Table B1.2). Präziser sind, zweitens,
die Angaben für das Verhältnis von privaten und öffentlichen Aufwendungen in
diesem Bereich. Hier zeichnet sich Deutschland durch einen vergleichsweise hohen
Privatfmanzierungsanteil von 36,9 Prozent aus, der nur von Korea (74,1%), Japan
(48,7%), Irland (59,8%) und Australien (39,3%) übertroffen wird (ebd., Table B3.2).
In den meisten anderen Ländern liegt der privat finanzierte Anteil unter zehn Pro-
zent (in den USA beispielsweise 8,8%), wobei aus den Daten nicht ersichtlich ist, ob
ihn jeweils die Eltern aufbringen oder (wie zumindest zu einem geringen Teil in
Deutschland) privat-gemeinnützige Einrichtungsträger. Diese Daten unterstützen
die Annahme, dass sozialpolitisch in Deutschland der Vorschulbereich - wie von
Karin Gottschall (2003) analysiert - eher als Aufgabe des Familiensystems betrach-
tet wird (wobei merkwürdigerweise in den Niederlanden mit einem ähnlichen fami-
lienpolitischen Regime der Privatfmanzierungsanteil für die Vorschule nur bei 2,6%
liegt).
In Deutschland ist die Verteilung der privaten Bildungsausgaben ohnedies un-
gewöhnlich. Während im Vorschulbereich der Privatfinanzierungsanteil (36,9%)
mehr als doppelt so hoch ist wie im OECD-Durchschnitt (17,3%), liegt er im Terti-
ärbereich, also bei der Hochschulbildung, mit 8,2 Prozent deutlich unter dem
Durchschnitt (21,4%). Hier besteht allerdings gleichfalls eine erhebliche Abwei-
chung zwischen den Ländern. So liegt die private Beteiligung an der Hochschule in
einigen Ländern noch deutlich niedriger, beispielsweise in Österreich (3,3%), Dä-
nemark (2,4%), Griechenland (0,3%) oder Finnland (2,8%). In vielen Ländern müs-
sen die Studierenden und ihre Eltern allerdings mit deutlich höheren Eigenbeteili-
gungen rechnen, so in den USA (66,1 %)7, Großbritannien (32,3%), Kanada (39%),
Italien (22,5%) oder der Niederlande (22,6%). Aufgrund der hohen Aggregation
erlauben diese Daten nur Vennutungen über die Belastung einkommensschwacher
Gruppen. Die Tatsache, dass in mehr als der Hälfte der OECD-Staaten die privaten
Ausgaben für den Tertiärbereich zwischen 1995 und 2000 in absoluten Zahlen um
mehr als 30 Prozent gestiegen sind (zumeist allerdings ohne Verringerung des öf-
fentlichen Ausgabenanteils), deutet aber auf einen Trend in der Bildungsfinanzie-
rung, der für die Zukunft erhebliche sozialpolitische Bedeutung gewinnt.
- Der hohe Wert für die USA ist allerdings insoweit irritierend, als die Einnahmen der Universitäten
(über die überwiegend nur für die Undergraduate-Ausbildung, also bis zum Bachelor-Nh-eau zuständigen
Colleges liegen vergleichende Angaben nicht vor) aus Studiengebühren nur etwa 25 Prozent ihrer Ge-
samteinnahmen betragen (Brint 2005, S. 24).
142 Michael Opielka
Zum einen wird das Studium als Investition in Humankapital konzipiert, es ga-
rantiere - wie weiter oben belegt - deutlich verbesserte Einkommenschancen und
Arbeitsmarktpartizipation (psacharopoulos 1995; Barr 1998, S. 333ff.). Einige Auto-
ren schlagen sogar vor, die Investition in Studierende wie solche in andere langfris-
tige Anlagegüter auf dem Kapitalmarkt mit entsprechenden Renditeerwartungen im
weiteren Lebensgang des jeweiligen Investitionsträgers zu behandeln (palacios Lle-
ras 2004). Damit diese instrumentelle Perspektive auf junge Menschen nicht als
zynisch beurteilt wird, führt beispielsweise einer der einflussreichsten Akteure in der
deutschen einschlägigen Diskussion, das Centrum für Hochschulentwicklung (CHE
2000) der Bertelsmann Stiftung, ein Zusatzargument an: Ein gebührenfreies Hoch-
schulstudium bedeute eine "Umverteilung von unten nach oben", weil die damit
verbundene Humankapitalinvestition von der Gesamtgesellschaft getragen wird und
dem ohnehin privilegierten Akademiker nichts außer Zeit koste.
Hingegen zeigt der von Dohmen (2004) erstellte Vergleich privater und öffent-
licher Bildungsausgaben, dass in Deutschland der Anteil der privaten Ausgaben
(einschließlich Lebenshaltungskosten, nach Abzug von Stipendien und BAföG,
Stand 2003) für das Studium erheblich ist: Für minderjährige Schüler der Sekundar-
stufe II lag er bei monatlich 400 Euro (öffentlicher Anteil 435 Euro), für volljährige
Schüler (Sek II) bei 250 Euro (öffentlich 590 Euro), für Studenten bei 600 Euro
(öffentlich 845 Euro), während minderjährige Auszubildende den privaten Haushal-
ten (aufgrund des Ausbildungsgeldes) sogar noch 154 Euro einbringen (ebd., S. 18).
Diese ungleiche Kostenverteilung dürfte mit ein Grund dafür sein, dass der Anteil
von Studierenden aus den unteren Mittelschichten merklich rückläufig ist, worauf
die 17. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks aufmerksam macht (BMBF
2004).8 Aber auch volkswirtschaftlich ist das Argument der Humankapitalinvestition
umstritten. Sobald alle relevanten Faktoren des Bildungs-, Steuer- und Sozialversi-
cherungssystems einbezogen werden, lässt sich eine Umverteilung von unten nach
oben nicht mehr nachweisen (Wolter/Weber 1999).
Das zweite bildungsökonomische Argument für Studiengebühren erwartet po-
sitive Steuerungseffekte in der Hochschullandschaft selbst. Eine nachfrageorientier-
te Hochschulfinanzierung stelle eine "Option für autonome Hochschulen" (CHE
2001), indem es die Studierenden zu ökonomisch relevanten Nachfragern einer
Bildungsdienstleistung aufwerte und vor allem "Elitehochschulen" die Verknap-
R Das "orhaben der im Mai 2005 neu gewählten CDU-FDP-Landesregierung in NR\1\', die Einführung
der Srudiengebühren (500 Euro je Semester) für Bafög-EmpEinger dadurch nicht abschreckend zu
gestalten, indem die zurückzuzahlenden Srudiengebühren und Bafög inklusive Zinsen auf insgesamt
10.000 Euro begrenzt werden 0t. Generalanzeiger Bonn v. 28.9.2005, S. 5), könnte die materiellen Angs-
te der Srudierwilligen aus ökonomisch schwächeren Kreisen reduzieren. Doch ob es bei 10.000 Euro
bleibt;- \'ertrauen in die langfristige Bindung von Politik ist knapp. Da die vormalige CDU-FDP-
Opposition im schließlich für sie erfolgreichen \X'ahlkampf versprochen hatte, Bafög-Empfanger von
den neu einzuführenden Srudiengebühren auszunehmen, mag auch die anschließend gezeigte soziale
Generosität zur \' ertrauensbildung nicht unbedingt beitragen.
144 Michael Opielka
pung ihres Angebots durch hohe Preise erlaube - was sich wiederum in verbesser-
ten Leistungsangeboten niederschlage (Dierkes/Merkens 2002). Dieses Argument
wird zunehmend von Hochschulpolitikern aus verschiedenen Lagern angeführt.
Allerdings können gegen die damit verbundenen steuerungstheoretischen Annah-
men erhebliche Einwände geltend gemacht werden (Wolter 2002). Als Modell für
das Nachfrageargument wird meist auf die USA verwiesen. Die Hochschulland-
schaft ist dort jedoch von einer weitaus größeren Qualitätsstreuung geprägt, als dies
in Europa und insbesondere in Deutschland der Fall ist. 9 Zudem sind im US-
amerikanischen Wohlfahrtsregime liberale, marktliche Elemente traditionell stark.
Vergleicht man die geforderte Nachfragesteuerung mit einer energischen Angebots-
steuerung, wie sie beispielsweise in international anerkannten Musik- und Kunst-
hochschulen (gerade auch in Deutschland) in Form von ausgefeilten Aufnahmeprü-
fungen praktiziert wird, schneidet die Angebotssteuerung in der Regel besser ab.
Selbst wenn das von den Vertretern der Nachfragesteuerung schon im Interesse der
Qualitätssicherung bejahte Verfahren der "blind admissions" - die Finanzierung der
Studiengebühren wird hier erst im Anschluss an eine leistungsorientierte Auswahl
thematisiert - ernst genommen wird, bleibt doch der Abschreckungseffekt der teils
dramatisch hohen Studienkosten (und der dann folgenden Kreditbelastung), wenn
man nicht zu den besten zehn bis 20 Prozent der Studenten gehört, die mit aus-
kömmlichen Stipendien rechnen können.
Eher für die Angebotssteuerung sprechen zudem neuere Befunde aus den
USA, dem Bezugsland der Studiengebührenbefürworter (auch Wagner in diesem
Band). In einer Analyse der gegenwärtigen Entwicklung der amerikanischen For-
schungsuniversitäten hin zu "interdisziplinärer Kreativität" macht Steven Brint
darauf aufmerksam, dass Studiengebühren (tuition) unterdessen im Durchschnitt
weniger als 25 Prozent ihres operativen Budgets ausmachen, mit sinkender Tendenz
und interessanten Folgen: "Indeed, most show less concern with markets than with
status. American universities - like universities everywhere - try to enrol good stu-
dents, hire the best faculty, and improve their comparative position." (Brint 2005, S.
24) Möglicherweise sitzen die deutschen Bildungspolitiker und ihre Berater einem
überlebten Mythos des amerikanischen Hochschulwesens auf. Die Konsequenz
9 Die Frage nach der Qualität von Hochschulen wird in mehreren internationalen Hochschul-Rankings
methodisch problematisiert. Eines der meistzitierten Rankings, das "Academic Ranking of World Uni-
versities" des Institute of Higher Education der Jiao Tong University in Shanghai hat in seiner Untersu-
chung von 2005 (www.ed.sjtu.edu.cn/ranking.hrm) unter den 20 besten Hochschulen 17 aus den USA
(keine aus Deutschland), unter den 100 besten 53 aus den USA (5 aus Deutschland) und unter den 500
besten 168 aus den USA (40 aus Deutschland) gelistet. 30 Prozent der Ranking-Bewertung basieren auf
dem Anteil der Alumni an Nobelpreisträgern und "Field Medal" Gewinnern, womit die naturwissen-
schaftlichen Disziplinen und die Wirtschaftswissenschaften womöglich übergewichtet werden. Generell
muss man wohl festhalten, dass Hochschulrankings derzeit eher als Hinweise auf Qualitätsunterschiede
im Forschungsoutput gelten können und vor allem eine Marketingfunktion für das Einwerben von
Forschungsgeldern haben.
Bildungsreform als Sozialreform 145
wäre dann allerdings eine Verschlechterung der komparativen Position der deut-
schen Hochschulen im internationalen Wettbewerb. lO
Schließlich werden in politisch niedriger gehaltenen Debatten pragmatische
Argumente für Studiengebühren vertreten, beispielsweise der Hinweis auf die Be-
drängtheit der öffentlichen Haushalte, die den angesichts weiter steigender Studie-
rendenzahlen notwendigen Investitionsbedarf in die Hochschulbildung nicht auf-
bringen könnten. Dieses Argument trifft sich mit den aus der sonstigen sozialpoliti-
schen Diskussion bekannten Dilemmata der Finanzierung öffentlicher Gemein-
schaftsgüter. In gewisser Weise wird damit ähnlich den Konzepten der "Aktivie-
rung" in der Arbeitsmarkt- und Sozialhilfepolitik oder der "Rationierung" in der
Gesundheitspolitik eine Privatisierung von Gütern zu legitimieren versucht, die
sowohl im Wertesystem der Bevölkerung als auch unter gesamtgesellschaftlichen
Effektivitätsgesichtspunkten als öffentliche Güter gelten und gelten sollten. Die
sonst noch angeführten Argumente für Studiengebühren, beispielsweise die kosten-
lose Inanspruchnahme von Studienplätzen durch ausländische Studierende - wäh-
rend hiesige Studenten in deren Heimatländern Gebühren aufbringen müssen -,
könnten pragmatisch durch gestufte Systeme aufgehoben werden, bei denen Inlän-
der entlastet oder erst gar nicht belastet werden.
Wie die Auseinandersetzung mit einigen bildungsökonomischen Argumentati-
onsfiguren zeigen konnte, dürfte es in der bildungspolitischen Kontroverse um
Studiengebühren weniger um sachlich-wissenschaftliche, als um regimetheoretisch
erklärbare politisch-ideologische Konfliktthemen gehen. Um es vereinfacht zu poin-
tieren: Die Konjunktur privater Bildungsfinanzierungsmodelle scheint Ausdruck
einer liberalen bis neoliberalen Faszination gegenüber der Effizienz von Märkten,
gespeist von der Konjunktur neoklassischer Erklärungsmodelle. Die Frage nach der
Effektivität von Problemlösungsmustern hingegen bezieht stets auch nicht-
ökonomische Gründe in die Analyse ein und weist damit über Marktlösungen hin-
10 Für diese Interpretation sprechen auch neuere Befunde aus dem von Studiengebühr-Befürwortern
gern heran gezogenen Beispiel Australien, wo 1989 Studiengebühren sowie ein staatlich garantiertes
Studienkreditsystem (Higher Education Contribution System, HECS) eingeführt wurde (vgl. zur Einfüh-
rungsphase Pechar/Keber 1996). Dass es sich hierbei doch um ein politisch-ideologisches Projekt han-
delt, lässt sich recht eindrücklich an einem Beitrag in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (v.
27.9.2005) zeigen, der mit "In Australien hindern Gebühren sozial Schwache nicht am Studium" über-
schrieben ist. Trotz Gebühren von unterdessen bis zu 3500 Euro pro Semester (zu Beginn 1989: 100
Euro) haben sich die Zahlen der Studienanfanger "sogar in allen sozialen Gruppen deutlich gesteigert",
genauere Daten werden aber nicht genannt. Tatsächlich wurden unterdessen die Tilgungsfristen für
Studienkredite verkürzt, Einkommensgrenzen gesenkt und erwies sich die Ausfallquote der Rückzahlun-
gen als unerwartet hoch. Wie man dann noch von einem "Ideal" der Hochschulfinanzierung in Austra-
lien sprechen kann, das nur noch nicht erreicht sei, erscheint dem nüchternen Beobachter schleierhaft.
Wenn von vierzig australischen Universitäten nur zwei privat finanziert sind, mögen auch die staatlichen
"entdeckt haben, was Marketing bedeutet"; aber was das wirklich für Forschung und Lehre bringr, und
warum dazu Studiengebühren nötig sein sollen, lässt sich nur marktreligiös, nicht bildungssoziologisch
ergründen.
146 i'vlichael Opielka
aus. Das schließt nicht aus, dass beispielsweise bestimmte Modelle wie "Bildungs-
gutscheine" oder "Bildungskonten" für die Hochschulpolitik und möglicherweise
auch für andere Bereiche der Bildungswesens wie den Schul- und Vorschulbereich
sinnvoll sein können. Die entscheidende Kontroverse dürfte eher um die Frage
kreisen, ob und inwieweit Bildung als ein öffentliches Gut gilt oder ob man sie nur
als privates Gut, als je persönliche Humankapitalinvestition betrachtet.
In diese Richtung zielt auch die Analyse von Manfred G. Schmidt, die den Fra-
gen nachgeht, warum in den meisten OECD-Staaten im Vergleich zu Deutschland
ein größerer Sozialproduktanteil in die öffentlichen Bildungsausgaben investiert
wird und ein kleinerer in die privaten, und warum die öffentlichen Bildungsausga-
ben in Deutschland relativ niedrig und die privaten vergleichsweise hoch sind. Dass
er damit "weitgehend in Forschungsneuland" (Schmidt 2005, S. 108) vorstößt, wirft
ein eher beschämendes Licht auf die deutsche Bildungs- und Sozialpolitikforschung.
Insgesamt, so sein Resümee, hat die "Bildungspolitik in Deutschland ungünstige
Finanzierungsbedingungen gegen sich. Die hochgradige Politikverflechtung ver-
wehrt den Ländern, den Hauptfinanciers der Bildungssysteme, eine autonome Ein-
nahmen- und Ausgabenpolitik" (ebd., S. 116). Vor allem aber verengen die hohen
Sozialbeiträge den Spielraum für steuerfinanzierte Leistungen nachhaltig. Wenn
man sich vor Augen hält, dass die öffentlichen Investitionen in Bildungsinstitutio-
nen 11 in Deutschland mit 4,4 Prozent erst an 20. Stelle unter den 28 OECD-Staaten
liegen (OECD 2005, Table B2.1a, Stand 2002), die Spitzengruppe teils bis zu 50
Prozent des Volkseinkommens mehr aufwendet und selbst der Gesamtanteil öffent-
licher und privater Investitionen in Deutschland mit 5,3 Prozent unter dem OECD-
Mittel (5,8%) liegt, während die USA (7,2%) oder Dänemark und Korea Ge 7,1%)
deutlich mehr aufwenden, dann wird klar, dass Investitionen in die Bildungspolitik
tief greifende Strukturrefortnen der Finam~ierung des deutschen Sozialstaats erfor-
dern. Das gilt gerade dann, wenn Deutschland "aufholen" möchte. So sind im
OECD-Raum die öffentlichen und privaten Ausgaben für Bildungseinrichtungen
im Zeitraum 1995-2002 netto um 21 Prozent (primär-/Sekundärsektor) bzw. um 30
Prozent im Tertiärsektor gewachsen, in Deutschland jedoch nur um jeweils 8 und
10 Prozent (ebd., Table B2.2).
Eine Option zur Steigerung der Bildungsinvestitionen besteht in der dramati-
schen Ausweitung des privaten Finanzierungsanteils. Sie geht allerdings mit erhebli-
cher Ungleichheit einher. Wenn man dies nicht will, bleibt allein die Alternative, die
Finanzierung des deutschen Sozialstaats über lohnbezogene Abgaben zu reduzieren
und diese entweder über indirekte Steuern, in weit effektiverer Form aber über die
Einführung umfassender Bürgerversicherungen zu organisieren. Ein Modell wäre
die Einführung einer "Grundeinkommensversicherung", finanziert über Sozialsteu-
ern auf alle Einkommensarten ohne Bemessungsgrenze, und ergänzend eine Bür-
11 also ohne private Ausgaben und öffentliche Zuwendung an private Haushalte und Unternehmen.
Bildungsreform als Sozialreform 147
Es ist allerdings nicht nur Geld, was dem deutschen Bildungssystem fehlt. Mögli-
cherweise, so die abschließenden Überlegungen, steht die im internationalen Ver-
gleich auffällige Vernachlässigung öffentlicher Bildungsinvestitionen in einem nicht
einfach zu durchschauenden Zusammenhang mit den Ideen, den Werten und Nor-
mierungen von Bildung in Deutschland. Birgit Sandkaulen hat (in diesem Band)
darauf aufmerksam gemacht, dass die Idee von "Bildung zur Freiheit" eben nur
unter den Bedingungen von Freiheit gelingen kann. Diese Bedingungen erfordern
eine pädagogische Professionalität, die einen weitaus offeneren Begriff von "Leis-
tung" einschließt, als er in den bisher üblichen Benchmarking-Kategorien vor-
kommt. Diese Leistungsoffenheit heißt nicht Beliebigkeit. Sie muss die Nützlich-
keitsindikatoren des Arbeitsmarktes ernst nehmen, darf sich davon jedoch nicht in
den Möglichkeiten der Weltentdeckung und -erfahrung, die institutionalisierte Bil-
dungsprozesse unterstützen können, beschränken lassen. Die breite bildungspoliti-
sche Debatte der letzten Jahre ("nach PISA") hat die Überwindung solcher Be-
schränkungen nicht immer klar akzentuiert.
Ein Beispiel für mögliche Unklarheiten sind die Bemühungen von Beratungs-
firmen wie McKinsey, den Bildungssektor als Geschäftsbereich zu erschließen und
sich dazu intellektueller Unterstützung renommierter Wissenschaftler zu bedienen.
Das "Manifest" des deutschen PISA-Mitverantwortlichen Jürgen Baumert und
weiterer Kollegen, wonach Bildung den "vernünftigen Umgang mit der Welt" lehre
und deshalb "zentrale Aufgabe der unserer Gesellschaft werden müsse" (Baumert
u.a. 2002, S. 171) sieht vor allem vier Maßnahmen vor: Eine gewaltige Förderung
der vorschulischen Erziehung und Bildung - mit 2,2 Milliarden Euro sollen Krip-
pen- und Ganztagsplätze geschaffen werden -, konsequente Qualitätsmessung und
148 Michael Opielka
-sicherung, mehr Freiräume für die Schulen und eine Betrachtung der Bildung als
Investition, was hauptsächlich auf die Einführung von Studiengebühren hinausläuft.
Letzteres haben wir weiter oben als Ideologie- und Steuerungsproblem kritisiert.
Richtig ist aber die Forderung, pädagogische Professionalität auf allen Ebenen aus-
zubauen.
Doch Professionalität braucht selbst Maßstäbe. Hilfreich dafür sind pädagogi-
sche und institutionelle Reformen, die die Lebenswelt von Schülern und Studieren-
den ernst nehmen (vgl. die Beiträge von Rabe-Kleberg und Rauschenbach in diesem
Band). Dies soll im Folgenden an einem Beispiel diskutiert werden, der Integration
von Schul- und Sozialpädagogik. Sie zielt auf eine "sozialpädagogische Schule"
(Opielka 2005), die nichts mit "Kuschelpädagogik", hingegen viel mit Respekt vor
jungen Menschen zu tun hat.
Nicht erst im Elften Kinder- und Jugendbericht (BMFSFJ 2002, S. 161ff.)
wurde eine eigentümliche Spannung zwischen Schulpädagogik und Sozialpädagogik
nachlesbar: "Heute gibt es sowohl die Forderung, Schulsozialarbeit flächendeckend
einzuführen, weil dies familien- und jugendpolitisch erforderlich ist, als auch die
gegenteilige Forderung, Schulsozialarbeit zurückdrängen, weil dies bildungspolitisch
unerwünscht ist." Offensichtlich existieren, so die Autoren dieses Dokuments poli-
tikberatender Sozialpädagogik, gleichermaßen schulbezogene Angebote der Kinder-
und Jugendhilfe wie sozialpädagogische Aufgaben der Schule, die nur durch eine
"gemeinsame Organisation des Lernens und Lebens im öffentlichen Raum" bewäl-
tigt werden können. Doch es sei "einstweilen noch nicht ausgemacht, ob und wie
Schule und Kinder- und Jugendhilfe diesen Herausforderungen begegnen werden".
Das klingt nicht sehr ermutigend.
Wie kommt diese melancholische Stimmung zustande? Angesichts der ernüch-
ternden Befunde des deutschen Schulwesens in jüngeren internationalen Bench-
markings wie PISA oder TIMSS wäre eher eine Aufbruch- und Reformbewegung
zu erwarten. Warum diese weitgehend fehlt, wird nun in drei Schritten erörtert.
Zunächst wird die deutsche Situation des Verhältnisses von Schule und Jugendhilfe
skizziert. Sie ist vor allem durch ein politisches, folglich rechtliches und institutio-
nelles Nebeneinander beider Bereiche charakterisiert. Der zweite Blick gilt den
professionellen Differenzen zwischen Schul- und Sozialpädagogik, die in Deutsch-
land trotz einer beachtlichen reformpädagogischen Tradition jenes Nebeneinander
unverdrossen legitimieren. Im dritten Argumentationsschritt werden Überlegungen
zur professionellen, institutionellen und schließlich politischen Überwindung dieser
Dichotomie angestellt. Sie zielen auf das Konzept einer sozialpädagogischen Schule.
kräfte aus anderen Disziplinen - viele dieser Aufgaben übernehmen (z.B. Riegel
2004). In reformpädagogisch orientierten Schulen (Montessori, Waldorf, Peter
Petersen) gelingt es recht häufig, nicht selten freilich auf Kosten einer Überforde-
rung des Lehrerpersonals, weil modellhafte, meist private Schulen nur unzureichend
finanziert werden.
Zur Zusammenarbeit von Schule und außerschulischer politischer Jugendbil-
dung im Rahmen der Demokratieerziehung demonstrieren neuere Modellvorhaben
ähnliche Befunde (z.B. Schäfer u.a. 2005). Über den Unterricht hinaus reichendes
Engagement von Lehrern ist eine seltene Ausnahme und führt die Aktiven unter
ihnen in Loyalitätsdilemmata gegenüber Mehrarbeit befürchtenden Kollegen. Der
Grund sind die Schulorganisationskulturen in Deutschland, die noch immer mit
einer versorgungs staatlichen Mentalität bei allen Beteiligten rechnen, insbesondere
auch bei den Eltern. In Versorgungskulturen wird die Verantwortung für Prozess-
gelingen letztlich nirgendwo bzw. in der Regel beim schwächsten Glied festge-
macht, in der Schule bei den Schülern.
Das institutionelle Nebeneinander von Schule und Jugendhilfe könnte, so die
Hoffnung vieler, durch die parteiübergreifend beabsichtigte Ausweitung von Ganz-
tagsschulen gelockert werden (Appel u.a. 2003, ausführlich Rauschenbach in diesem
Band). Auf eine automatische Integration wird man allerdings nicht hoffen dürfen.
Bislang wird die Schulsozialarbeit als ihr Schnittfeld betrachtet (Bolay 2004). Mögli-
cherweise ist dieser Blick zu beschränkt. Denn neben Sozialarbeitern und Sozialpä-
dagogen sind bisweilen auch Schulpsychologen tätig. Von letzteren hört man keine
Klagen darüber, dass Schulleiter sie als Springer für Klassenaufsichten bei Fehlstun-
den vereinnahmen, wie in empirischen Studien von Schulsozialarbeitern, die nicht
selten "als ,Fremde' im System Schule wahrgenommen" werden (Ülk/Speck 2004,
S. 71f.). Gegenüber dem Habitus des Lehrerstandes mit im Schuljahr 2003/4 insge-
samt 797.000 Angehörigen in Deutschland dürfte ein zu bescheidener Auftritt ande-
rer Berufsgruppen an Schulen kaum gelingen. Vermutlich hat dies mit einem grund-
legenderen, professionellen Problem zu tun.
So'(jale Schule
In den Schulen Finnlands - dem Land besonderer "PISA-Erfolge" - spricht man
nicht von Schulsozialarbeitern, sondern von "Schulkuratoren". Ihre "Kunden"
schließen Schüler, Studentengruppen, Eltern und Schulpersonal ein, sie sollen das
psychosoziale Wohl der Schulgemeinschaft und das Lernklima fördern und entwi-
ckeln. Auf 500 Schüler soll ein Schulkurator tätig sein, maximal für drei Schulge-
meinschaften. Im Kanton Zürich sind die Schulsozialarbeiter, wie eine neuere Stu-
die nachzeichnet, die am stärksten wachsende Beschäftigtengruppe (Müller 2004).
In den USA hat sich "School Social Work" längst mit eigenen Fachzeitschriften und
differenzierten Arbeitsprofilen etabliert (Allen-Meares 2004).
Die Ausdifferenzierung des Schulpersonals insbesondere um sozialpädagogi-
sche und -arbeiterische Qualifikationen wird auch in Deutschland offensiv verfolgt
152 Michael üpielka
werden müssen. Das kann nicht gegen den Lehrerstand erfolgen - aber auch nicht
einfach durch bescheidene Unterordnung. Die bisherigen, eher defensiven Versu-
che, durch eine Anbindung an die Jugendhilfestrukturen eine organisatorische Ei-
genständigkeit zu erreichen (so ülk/Speck 2004), dürften dabei nicht genügen. Die
geplante Ausweitung von Ganztagsschulen und die Integration von Horten in die
Schulen kann im schlechten Fall - analog dem Gesundheitswesen - zu einem Satel-
litensystem von "Lehrerhilfsberufen" führen, schlecht bezahlt und mit professionell
minderem Status. Im günstigen Fall gelingt es, auch durch die Etablierung neuer
Bachelor- und Master-Studiengänge, sozialpädagogische Professionalität im Schul-
bereich zu verankern. Ihr Projekt sollte die "sozialpädagogische Schule" werden -
von der Lehrer, Schüler, Eltern und das Gemeinwesen profitieren.
Diese Überlegungen und Hinweise können im Sinne einer "Bildungsreform als
Sozialreform" nicht auf die Schule beschränkt bleiben. Ein sozialpädagogischer und
in diesem Sinn "sozialer" Blick muss sowohl auf die Institutionen der Vorschulpä-
dagogik gerichtet werden (dazu Rabe-Kleberg in diesem Band), wie auf die Hoch-
schulen. Auch die Hochschulen müssen sich um "interdisziplinäre Kreativität"
(Brint 2005) bemühen, um eine Lern- und Forschungsorganisation, die sich den
komplexen Lebensproblemen der Gegenwart und Zukunft zuwendet und diese
Komplexität selbst zum Gegenstand ihres Leistungswettbewerbs macht. Wenn
Bildungs- und Sozialpolitik künftig verschränkt gedacht werden könnten, würde
sich auch die Sozialpolitik ändern müssen: Sie würde vom Menschen, von der Bür-
gerin und vom Bürger her gedacht und nicht, wie bisher, zunächst vom Arbeits-
markt und seiner Regulierung.
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Autorenverzeichnis
Jutta Allmendinger, Jg. 1956, PhD. habil., Professorin für Soziologie an der Ludwig-
Maximilians-Universität in München und Direktorin des Instituts für Arbeitsmarkt-
und Berufsforschung (lAB) in Nürnberg. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte:
Organisations- und Bildungssoziologie, soziale Ungleichheit.
Wolfgang Biittcher, Jg. 1953, Dr. rer. pol. habil., Professor an der Westf;ilischen Wil-
helms-Universität in Münster. Leiter der Abteilung Qualitätsentwicklung und Eva-
luation in der Lehreinheit Erziehungswissenschaft. Geschäftsführender Direktor
des Instituts für Sozialpädagogik, Weiterbildung und Empirische Pädagogik. For-
schungsschwerpunkte: Qualitätsentwicklung und Evaluierung, Internationale
Trends zu einer Mikro-Ökonomie von Organisationen im Bildungs- und Sozialwe-
sen, Das Verhältnis von Organisation und Pädagogik, Curriculum-Entwicklung für
die Grundbildung, Chancengleichheit im Bildungswesen.
Stephan Leibfried, Jg. 1944, Dr. rer. pol., Professor für Sozialpolitik an der Universität
Bremen, Kodirektor am Zentrum für Sozialpolitik (ZeS), SFB "Staatlichkeit und
Wandel" und Graduiertenfakultät. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Armut,
Sozialpolitik, Globalisierung.
Michael Opielka, Jg.. 1956, Dr. rer. soc., Dipl. Päd., Professor für Sozialpolitik an der
Fachhochschule Jena, Fachbereich Sozialwesen und Geschäftsführer des Institut für
Sozialökologie (lSÖ) in Königswinter. Visiting Scholar an der University of Califor-
nia at Berkeley (School of Social Welfare) und Lehrbeauftragter an der Universität
Bonn. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Sozialpolitik, Religions- und Kultur-
soziologie, Familienforschung, Soziologische Theorie, Freiwilliges Engagement,
Sozialpädagogik.
Ursula Rabe-Kleber;g, Jg. 1948, Dr. phi!. habil., Professorin für Soziologie der Bildung
und Erziehung am Fachbereich Erziehungswissenschaft der Martin-Luther-
Universität Halle-Wittenberg, zuvor wissenschaftliche Mitarbeiterin an verschiede-
nen wissenschaftlichen Instituten und Universitäten in Berlin, Bremen, Hannover
und Münster. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Soziologie der Bildung und
Erziehung, Berufs- und Professionssoziologie, Kindheitsforschung insbesondere
institutionelle Kleinkinderziehung.
Autorenver7.eichnis 157
Thomas Rauschenbach, Jg. 1952, Dr. rer. soc., Professor und Lehrstuhlinhaber für
S07.ialpädagogik an der Universität Dortmund sowie Vorstand und Direktor des
Deutschen Jugendinstituts e. V .. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Theorie
der S07,ialen Arbeit, Bildung im Kindes- und Jugendalter, Jugendarbeit, Ausbildung
und Arbeitsmarkt für soziale Berufe, Ehrenamt, Freiwilligendienste/Zivildienst,
Verbändeforschung.
Birgit Sandkaulen, Jg. 1959, Dr. phil. habil., Professorin für Philosophie mit Schwer-
punkt auf dem Gebiet des deutschen Idealismus an der Friedrich-Schiller-
Universität Jena. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Klassische deutsche Philo-
sophie, Metaphysik, Philosophie der Erkenntnis, Politische Philosophie, Ästhetik.
Gen G. Wagner, Jg. 1953, Dr. rer. oee. habil., Lehrstuhlinhaber für Volkswirtschafts-
lehre an der TU Berlin und Forschungsdirektor am Deutschen Institut für Wirt-
schaftsforschung (DIW Berlin). Er war gewählter Fachgutachter der Deutschen
Forschungsgemeinschaft (DFG) und ist Mitglied des Wissenschaftsrates. Arbeits-
und Forschungsschwerpunkte: Mikroökonomische Theorie der S07.ialpolitik, Ar-
beitsmarkt- und Sozialpolitikforschung.
Michael Winkler, Jg. 1953 in Wien, Dr. phil. Dr. phil. habil., Professor und Lehrstuhl
für Allgemeine Pädagogik und Theorie der Sozialpädagogik an der Friedrich-
Schiller-Universität Jena; Gastprofessuren an den Universitäten Graz und Wien.
Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Geschichte und Theorie der Pädagogik, der
Erziehung und Bildung, pädagogische Gegenwartsdiagnostik, Theorie der S07,ialpä-
dagogik, Hilfen ?,Ur Erziehung, insbesondere Heimerziehung, Übergang von Schule
in berufliche Bildung.
Neu im Programm
Politikwissenschaft
Daniela Forkmann / Hakki Keskin
Michael Schlieben (Hrsg.) Deutschland als neue Heimat
Die Parteivorsitzenden in der Eine Bilanz der Integrationspolitik
Bundesrepublik Deutschland 2005.296 S. Br. EUR 24,90
1949 - 2005 ISBN 3-531-14673-4
2005. 401 S. Göttinger Studien zur
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