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Michael Opielka (Hrsg.

Bildungsreform als Sozialreform


Perspektiven der Sozialpolitik
Herausgegeben von
Michael Opielka
Michael Opielka (Hrsg.)

Bildungsreform
als Sozial reform
Zum zusammenhang von
Bildungs- und Sozialpolitik

I
VS VERLAG FÜR SOZIALWISSENSCHAFTEN
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
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detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.

1. Auflage November 2005

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Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg

ISBN 978-3-531-14853-3 ISBN 978-3-322-91642-6 (eBook)


DOI 10.1007/978-3-322-91642-6
Inhalt

Einleitung 7
Michael Opielka

Bildung heute - Erfahrungen in Jena


Zur Aktualität des klassischen Bildungsbegriffs 11
Bir;git Sandkaulen

Bildungspolitik nach Pisa 23


Michael Winkler

Bildungs armut
Zum Zusammenhang von Sozialpolitik und Bildung 45
] utta Allmendinger und 5 tephan Leibjried

Soziale Benachteiligung im Bildungswesen


Die Reduktion von Ungleichheit als pädagogischer Auftrag 61
Wo!li!,ang Biittcher

Von Generation zu Generation?


Kleine Kinder und soziale Ungleichheit in Deutschland 77
Ursula Rabe-Kleber;g
6 Inhalt

Konturen einer neuen sozialen Bildungspraxis?


Bildung, Erziehung und Betreuung in der offenen
Ganztagsschule 89
Thomas Rauschenbach

Hochschul- und Arbeitsmarktpolitik -


Komplexe (In)Kompatibilitäten 113
Ger! G. Wagner

Bildungsreform und Sozialreform


Der Zusammenhang von Bildungs- und Sozialpolitik 127
Michael Opielka

Autorenverzeichnis 156
Einleitung
Michael Opielka

Der Zugang zu Bildungsressourcen wird in einer Wissens gesellschaft zur zentralen


Gerechtigkeitsfrage und folglich zum Gegenstand der Sozialpolitik, die in demokra-
tischen Gesellschaften die Teilhabe aller Bürgerinnen und Bürger an allen Funkti-
onssysternen der Gesellschaft garantiert. Diese systemfunktionale Überlegung hat
erstmals Talcott Parsons in den 1960er Jahren unter dem Begriff "Inklusion" for-
muliert, Niklas Luhmann griff sie auf. Sie trifft analytisch nach wie vor zu. Dass wir
nicht in einer theoretischen, sondern zunächst in einer realen Welt leben, zeigt die
seit den durchaus spektakulären "PISA"-Resultaten unbestreitbare Tatsache, dass
der Zugang zu formaler Bildung insbesondere in Deutschland eben nicht allen
Bürgerinnen und Bürgern gleichermaßen offen steht. Ein Zuschlag der Bildungspo-
litik zur Sozialpolitik, der im angelsächsischen Raum zumindest konzeptionell üb-
lich ist, würde in Deutschland das Ungleichheits- und damit das Gerechtigkeits-
problem nicht unbedingt lösen. Denn jenes Parsons-Luhmannsche Paradigma der
Inklusion Aller in alle Funktionssysteme einer demokratischen Gesellschaft kann
zumindest von der deutschen Sozialpolitik keineswegs als erfüllt gelten.
Derart skeptische Gedanken, die im vorliegenden Buch aus verschiedener Per-
spektive dominieren, regten die Sozial- und die Erziehungswissenschaften schon
früh zu explizit politisch-reformerischen Überlegungen an. Die oder der Intellektu-
elle benötigt zwar den kontemplativen Rückzug wie die methodisch akribische
Forschung zur Gewinnung neuer Einsichten. Doch ein Rückzug aus der Gesell-
schaft ist für die Kulturwissenschaften nicht nur methodisch unmöglich - sie sind
stets ein Teil der Kraft, die sie erschafft -, er wird von einem beträchtlichen Teil
ihrer Angehörigen auch nicht gewollt. Trotz resignativer, melancholischer Anwand-
lungen, die den Deutschen nicht ohne Anhaltspunkte als Kulturcharakter bisweilen
nachgesagt werden, mischten sich Sozial- und Erziehungswissenschaftler durchaus
in die Bildungsreformdebatten der letzten Jahrzehnte ein, ob nun in der Diskussion
um die Gesamt- und Ganztagsschule oder um das Recht auf Kindertagesstätten-
plätze und die Pflicht zu Studiengebühren. Neu ist allerdings, dass sich die Sozialpo-
litikwissenschaft systematischer mit bildungspolitischen Themen befasst. Dieses
Buch dokumentiert einen ersten Versuch, die neue Debatte um Bildungsreformen
als Sozialreformen zu dokumentieren und womöglich zu impulsieren.
Erleichtert wird dieser Versuch sicher dadurch, dass die prominentesten und
ausdrucksstärksten Vertreterinnen und Vertreter dieser Debatte hier versammelt
8 Michael Opielka

sind. Man mag einwenden, dass explizit an Bildungsungleichheit interessierte Kolle-


ginnen und Kollegen nicht vorkommen. Da sich die Idee der Ungleichheit mit
Demokratie systematisch nicht verträgt - auch wenn dies von Seiten eines sozialphi-
losophischen Konformismus bis heute bestritten wird -, kann die Einschränkung
zwar nicht wissenschaftlich, aber historisch wie ethisch gerechtfertigt werden. Diese
eher kryptischen Überlegungen ziehen sich natürlich nicht durch das ganze Buch.
Die Beiträge sind vielmehr von erfrischender Klarheit und verbinden analytische
Prägnanz mit reformerischer Reflexivität, bisweilen auch mit stilistischer Eleganz.
Es erscheint nicht erforderlich, die hier gesammelten Beiträge in dieser Einleitung
zusammen zu fassen oder gar zu kommentieren. Eine argumentative Linie kann
aber nachgezeichnet werden, ohne die für sich stehenden Texte zu verbiegen.
Der Beitrag von Birgit Sandkaulen konzentriert sich auf den Bildungsbegriff
selbst, auf die Idee einer "Bildung zur Freiheit", wie sie in den Jenaer Schlüsseljah-
ren der Humboldtschen und damit zunächst spezifisch deutschen, unterdessen aber
weltweit reüssierenden Bildungskonzeption angelegt wurde. Dass dieses Bildungs-
ideal gleichwohl gefährdet scheint, wird in ihrer Analyse nicht kulturpessimistisch
zur Verlustgeschichte vernebelt, sondern zur intellektuellen und demokratischen
Aufforderung: "Bildung, die auf Freiheit der Mitglieder einer Gesellschaft zielt,
kostet den Preis einer zumutbaren Anstrengung."
Dieser Anstrengung, so die engagierten und bisweilen zuspitzenden Überle-
gungen von Michael Winkler, unterziehen sich die gesellschaftlichen Eliten "nach
PISA" derzeit nicht. Bildungspolitik erscheint in Deutschland zunehmend ein Feld
voluntaristischer Beliebigkeit. Das mag mit der Komplexität von Anforderungen
und institutionellen Mängeln zu tun haben. Betrüblich ist aber, dass die allenthalben
betriebene Modernisierung des Bildungswesens zu einer "Bildungspolitik als Aus-
grenzung" mutiert, ohne Kenntnisnahme der Ungleichverteilung des kulturellen
Kapitals in der Gesellschaft. Seine Überlegungen haben einen pessimistischen Ton,
der freilich, indem er ausdrücklich wird, zugleich seine Transformation ermöglicht.
Das Problem der Ungleichheit wird in den beiden folgenden Beiträgen unter
soziologisch-sozialpolitischen und bildungsökonomischen Gesichtspunkten thema-
tisiert. Jutta Allmendinger und Stephan Leibfried widmen sich der Bildungsarmut
als einem Schnittfeld von Bildungs- und Sozialpolitik. Hier treten neben diversen
Messproblemen auch erstmals systematische Fragen der Wohlfahrts regime auf. Ist
es doch bemerkenswert, wie unterschiedlich die Kompetenzverteilung in den inter-
nationalen Bildungsvergleichsstudien auf die sozialpolitischen Regimeformen rea-
giert. Bildungsarmut, so ihr Fazit, ist politisch verhinderbar - wenn es politisch
gewollt wird.
Wolfgang Böttcher beleuchtet das Problem der Bildungsungleichheit aus der
Perspektive einer ökonomisch grundierten Bildungsforschung. Dabei zeichnet er
die Konjunkturen der Erklärung dieser Ungleichheit durch die letzten vier Jahr-
zehnte nach. Trotz durchaus vorhandener, empirisch untermauerter Erkenntnisse
Einleitung 9

ist das Ausbleiben von Maßnahmen zur Reduktion von Chancenungleichheit er-
schütternd und zugleich deutungsbedürftig. Die hohe soziale Selektion der deut-
schen Schule, ein zentrales Resultat der PISA-Studien, hätte "eigentlich niemanden
überraschen dürfen". Dass es auch anders geht und was dafür künftig erforderlich
wäre, erläutert er an "Vier E" der Bildungsreform: Effektivität, Effizienz, Evidenz
und Erfolgsorientierung.
In den drei folgenden Beiträgen wird die biographische Trias des deutschen
Bildungswesens untersucht: Die Vorschulpädagogik (Rabe-Kleberg), das Schulsys-
tem und sein Kontext (Rauschenbach) und die Hochschulen in ihrem Bezug zum
Arbeitsmarkt (Wagner). Alle drei Felder wurden in den letzten Jahren teils weit
reichenden Reformen unterzogen oder stehen davor.
Die vorschulische Erziehung wird von Ursula Rabe-Kleberg mit den neueren
Befunden der Kindheitsforschung verknüpft. Der "grundsätzlich positive Blick auf
Kinder als eigenständige und eigensinnige Wesen" darf freilich nicht den Blick
darauf trüben, dass gesellschaftliche Strukturen immer mehr an Ungleichheit gerade
auch für Kinder bedeuten. Kinder- und Jugendarmut erschwert für immer mehr
Heranwachsende den Einstieg in die geforderte Normalität. Die pädagogischen
Institutionen können dies freilich nur begrenzt kompensieren. Dass sie dies auch
noch unzureichend leisten, nicht nur, aber besonders auch für Kinder mit Migrati-
onshintergrund, verweist auf institutionelle wie professionelle Mängel. Der Erzie-
herberuf benötigt deshalb nicht nur einen "Zuwachs an inhaltlich-fachlichen Kom-
petenzen", sondern weiters einen "Zuwachs an sozialpolitischer Potenz".
Thomas Rauschenbach knüpft mit seinem Beitrag an der noch vor wenigen
Jahren, zumindest in Westdeutschland, beinahe verteufelten Praxis der "offenen
Ganztagsschule" an, die neuerdings parteiübergreifenden Zuspruch zu genießen
scheint. Ausgehend von den modellhaften Erfahrungen vor allem in Nordrhein-
Westfalen macht er aber deutlich, dass dieser "folgenreichste Eingriff in das System
Schule in der Geschichte der Bundesrepublik" doch noch erhebliche intellektuelle
und praktische Anstrengungen erfordert. Vor allem die Bildungsprozesse "vor und
neben der Schule" werden von den bisherigen Schul- und Unterrichtskonzepten
vernachlässigt. In einem breiten, zugleich pädagogischen, bildungs- wie sozialpoliti-
schen Panorama zeigt er auf, was erforderlich ist und durchaus geleistet werden
könnte, wenn die Akteure, also Professionelle, Eltern und Politiker wollen.
Der Beitrag von Gert G. Wagner konzentriert sich auf die Reformbemühun-
gen innerhalb der Hochschulpolitik, die einerseits die Autonomie der Hochschulen,
andererseits die Anforderungen eines im schnellen Wandel befindlichen Arbeits-
marktes berücksichtigen müssen. Er offeriert ein breites Spektrum teils in der Dis-
kussion bekannter, teils innovativer Vorschläge bis in die Organisation von For-
schung und Lehre. Sein bildungsökonomischer Zugriff strukturiert die Reformim-
pulse und bietet damit eine erfrischende Konsequenz, die natürlich nicht unumstrit-
10 Michael Opielka

ten bleiben muss, beispielsweise im optimistischen Plädoyer für die Einführung von
Studiengebühren.
Im abschließenden Beitrag des Herausgebers wird versucht, den Zusammen-
hang von Bildungs- und Sozialpolitik, wie im Grunde in allen Texten dieses Bandes,
als dynamischen, reformorientierten Kontext vorzuzeichnen. Nach einer Analyse
der Ungleichheiten im deutschen Bildungssystem in international vergleichender
Perspektive, wird der sozialpolitische Blick auf die Strukturen der Bildungsfinanzie-
rung gelenkt. Auch dabei zeigen sich deutsche Eigentümlichkeiten, vor allem aber
ein dramatisches Defizit. In Deutschland wird schlicht zu wenig in Bildung inves-
tiert. Die Frage, ob dieses Investitionsdefizit eher durch private oder durch öffentli-
che Investitionen behoben werde soll, wird hier eindeutig zugunsten der öffentli-
chen beantwortet. Dass die fehlende Investitionsneigung der deutschen Bildungs-
und Sozialpolitik in Bildung auch etwas mit einem qualitativ verengten Bildungsver-
ständnis zu tun hat, wird abschließend nicht nur beklagt, sondern mit praktischen
Reformvorschlägen beantwortet.
Die Idee des Buches und einige Beiträge (Sandkaulen, Wink/er, Rabe-Kleberg)
gehen zurück auf zwei studentische Fachtagungen an der Fachhochschule Jena,
Fachbereich Sozialwesen, die sich in 2004 und 2005 dem Zusammenhang von Bil-
dungs- und Sozialpolitik unter dem Gesichtspunkt von Studiengebühren und Ganz-
tagsschulen gewidmet hatten. Den Studierenden, die sich an der Vorbereitung und
Durchführung dieser Tagungen beteiligt hatten, dem Fachschaftsrat Sozialwesen,
dem Studentenrat und dem Verein der Freunde der Fachhochschule Jena sei für die
praktische wie wirtschaftliche Unterstützung gedankt. Meinen Mitarbeitern Miriam
Federer und Christian Reuter bin ich für die technische Unterstützung bei der Her-
stellung des Buches, aber auch für inhaltliche Hinweise und Diskussionen dankbar.

Jena, im September 2005


Bildung heute - Erfahrungen in Jena
Zur Aktualität des klassischen Bildungsbegriffs

Bir;git Sandkaulen

I.

Eine kleine Anekdote mag am Anfang stehen. Als Studentin habe ich vor mehr als
zwanzig Jahren ein Auslandsjahr in Frankreich, genauer in Poitiers verbracht: Am
dortigen "Centre de la Recherche sur Hegel et Marx", wie die Einrichtung damals
noch hieß (heute ist sie umbenannt in ein "Zentrum zur Erforschung der Philoso-
phie des deutschen Idealismus"). Ich studierte dort Georg Wilhelrn Friedrich He-
gels berühmtes Hauptwerk, das er 1806 in Jena vollendet und mit knapper Not vor
den Flammen des Napoleonischen Kriegs gerettet hat: die Phänomenologie des Geistes.
Es brauchte nicht viel, um zu sehen, dass der Begriff der "Bildung" in diesem Werk
eine hervorragende Rolle spielt. Das ganze Buch handelt von der Bildung des Be-
wusstseins, das - sowohl als einzelnes wie als kulturelles Bewusstsein - auf dem
Weg einer langen und breiten Erfahrungsgeschichte verstehen lernen soll, was es
selber ist, und dies nur verstehen lernen kann, wenn es begreift, auf welch mannig-
fache Weise es mit der geschichtlichen Welt vermittelt ist.
Dieser Gedanke hat mich fasziniert, und so beschloss ich, zum Thema "Bil-
dung" bei Hegel eine Arbeit zu schreiben, auf französisch, denn schließlich studierte
ich ja in Frankreich. Und da machte ich nun eine verblüffende Erfahrung: Ein
Wort, das im Französischen dem deutschen Ausdruck "Bildung" entsprochen hätte,
gab es nicht. Im Französischen braucht man eine Serie von Wörtern, um die vielfäl-
tigen Aspekte wiederzugeben, die in "Bildung" stecken und die alle in Hegels Ver-
wendung des Begriffs eine Rolle spielen: "formation" (Gestalten oder als Produkt
davon die Gestalt. die Kinder bilden einen Kreis, die Autos bilden eine Schlange),
"developpement" (Entwicklung. Pflanzen bilden Knospen aus), "creation" (bildende
Tätigkeit. "Bildende Künste''), "fondation" (Griindung. Bildung eines Staates), "orga-
nisation" (Aufbau: die Bildung eines Unternehmens, ein Unternehmensgebilde),
"education" oder "culture" (Erziehung. Ausbildung), und schließlich noch "connais-
sances" (Wissen, wie z.B. im "Bildungskanon''). Da es lästig gewesen wäre, ständig
all diese Wörter aufzuzählen, habe ich es in meinem französischen Text kurzerhand
bei dem deutschen Ausdruck "Bildung" belassen. So machte es im Übrigen auch
mein damaliger französischer Dozent. Noch heute höre ich ihn "la Bildung" sagen,
wenn er von einschlägigen Sachverhalten sprach.
12 Birgit Sandkaulen

Die Erfahrung, die ich damals gemacht habe, ließe sich in der englischen Spra-
che jederzeit wiederholen. Auch hier sagt man "education", wenn man Erziehung
oder Ausbildung meint, und spricht andererseits von "formation" und "develop-
ment", wenn man den Vorgang des Gestaltens, das Proftl einer Gestalt oder aber
derlei wie eine Entwicklung im Sinn hat.
Philosophen sind nicht zuletzt dazu da, um Begriffe zu klären - und eben dar-
um ist es mir im Anschluss an meine Anekdote zu run. Wir benutzen das Wort
"Bildung" jeden Tag, so als verstünde es sich von selbst. Kopfzerbrechen hingegen
macht uns die "Bildungs-Reform" oder die Frage "Bildung heute". Was aber ist
eigentlich "Bildung"? Offenbar handelt es sich um einen komplexen Begriff mit
vielen Bedeurungsnuancen: Dies zeigt jedenfalls schon, wie eben demonstriert, der
Blick in ein einfaches Sprachlexikon. Die Frage ist jedoch, wie wir mit diesem weit
reichenden Spektrum von semantischen Assoziationen umgehen, die den Ausdruck
"Bildung" in einem umfassenden Sinne charakterisieren.

11.

Im gegenwärtigen Kontext der Hochschulreform kommt es maßgeblich offenbar


nur auf einen Aspekt des Begriffs an. Was hier mit Bildung gemeint ist, heißt im
Englischen "education" und im Französischen "education" - intendiert sind also
"Erziehung" oder "Ausbildung" an den dafür vorgesehenen "Bildungsstätten", und
damit einhergehend Curricula, Gebühren, Srudiengänge. Überall hat das Wort einen
geradezu technischen Klang angenotIh'1len, der präzise anzeigt, worum es vor allem
geht: um Effizienz, um Nutzenmaxirnierung, um Abprüfbarkeit, um die Chancen
auf dem Arbeitsmarkt, um internationale Vergleichbarkeit, um Ökonomie von Zeit
und Geld.
Alle diese Hinsichten sind zweifellos von Belang. Ressourcen sollten nicht ver-
schwendet werden, auch nicht die der eigenen Lebenszeit. Jedoch muss man sich
deutlich machen, dass man, wenn man von "Bildung" und "Bildungssystemen" bis
hin zu den "Bildungsressourcen" nur mehr in dieser technischen, letztlich instru-
mentalisierten Weise spricht, die Bedeurung des Ausdrucks nicht nur verkürzt,
sondern auf eine extrinsische Dimension reduziert, die der Komplexität der Sache
ganz unangemessen ist. Anders gesagt: Das in andere Sprachen offenkundig nicht
ohne weiteres übersetzbare Wort "Bildung" - das hat dieses Wort übrigens mit dem
Ausdruck "Geist" gemeinsam - ist seiner ursprünglichen Verwendung nach ein
emphatisches Wort. Emphatisch gebraucht, zehrt es von inhaltlichen und durchaus
normativen Vorstellungen, die unterstreichen, dass Bildung - mit all den genannten
Konnotationen von formgebender Gestaltung und kreativer Tätigkeit, von dynami-
scher Entwicklung, aber auch von Fundierung und Strukrur, von Ausbildung be-
stimmter Fähigkeiten und Einstellungen bis hin zum Gewinn von Wissen - nicht
Bildung heute - Erfahrungen in Jena 13

vorrangig ein Mittel zu einem äußerlichen Zweck, sondern in erster Linie Zweck in
sich selbst ist.
Was dies für den Begriff "Bildung" konkret bedeutet, ist damit noch nicht ge-
sagt. Indes ist zu befürchten, dass bereits die Rede von einem "Zweck in sich
selbst" genügt, um den V erdacht aufkommen zu lassen, dass sich hier die typisch
weltferne Einstellung der Philosophen geltend macht. Philosophen, so heißt es,
sitzen im Elfenbeinturm, in dem sich trefflich über Bildung als "Zweck in sich
selbst" räsonieren und das harte Erfordernis der Praxis vergessen lässt. Auf diesen
Verdacht antworte ich zunächst mit zwei Thesen, die ich im Folgenden näher aus-
führen und dabei die "Erfahrungen in Jena" in eine gewisse Spannung zum Oberti-
tel "Bildung heute" rücken will.

1. Zu vermerken ist tatsächlich, dass "Bildung heute" höchstens noch in ferner


Erinnerung zu den basalen Überlegungen steht, die philosophisch dazu ausge-
arbeitet worden sind. Diesen Sachverhalt klar beim Namen zu nennen, anstatt
ihn zu verschleiern, ist wichtig: Allein dann kann man zu den gegenwärtigen
Bestrebungen wirklich Stellung nehmen.
2. Mit einer vermeintlichen Weltfremdheit, mit einer Praxisferne, hat der Rekurs
auf ein unverkürztes Bildungsverständnis gleichwohl nichts zu tun - das Ge-
genteil ist der Fall. Das beleuchtet bereits die Rede von einem "Zweck in sich
selbst". Die wichtige Unterscheidung, ob etwas Zweck in sich selbst oder nur
Mittel für etwas anderes ist, stammt von Aristoteles, der damit den Unter-
schied nicht etwa zwischen Theorie und Praxis, sondern den Unterschied zwi-
schen Praxis und Technik gekennzeichnet hat. Ein technisches Verhältnis be-
steht dann, wenn eine Tätigkeit unter Anwendung bestimmter Mittel auf die
Herstellung eines Produkts geht. Praxis hingegen zeichnet sich dadurch aus,
dass sich der Handlungsvollzug und sein Ergebnis überhaupt nicht voneinan-
der trennen lassen. In diesem Sinne ist Bildung als Zweck in sich selbst - phi-
losophisch verstanden - eine fundamentale Angelegenheit menschlicher Pra-
XiS.

III.

Das ist nun genauer zu erläutern. Dass sich das Wort "Bildung" nur umständlich in
andere Sprachen übersetzen lässt, habe ich eben herausgestellt.! Interessanterweise
steht dazu in Entsprechung, dass es in der deutschen Sprache selbst von ver-
gleichsweise jungem Gebrauch ist. Erst in der Mitte des 18. Jh. kommt es als "neues
Grundwort" in Umlauf. Und noch 1784 bezeichnet der berühmte Aufklärungsphi-

I Ygl. dazu auch den Artikel "Bildung" von Michel Espagne (Espagne 2004).
14 Birgit Sandkaulen

losoph Moses Mendelssohn den Begriff "Bildung" als einen "neuen Ankömmling in
unserer Sprache C•.. ) vorderhand bloß in der Büchersprache" (Lichtenstein 1971,
Sp. 921): Das heißt in einer Sprache, die sich von der alltäglichen Umgangssprache
unterscheidet.
Von heute aus besehen, wo wir geradezu inflationär von Bildung reden, mag
man das zunächst einmal gar nicht glauben. Und prompt stellt sich die Frage, was
wohl der Anlass war, das "neue Grundwort" Bildung in Umlauf zu bringen, und
was es weiter war, das diesem neuen Wort dann zu der unübersehbaren allgemeinen
Präsenz verholfen hat, von der wir heute noch - und sei es in der angedeuteten
reduzierten Weise - zehren. Ich nähere mich damit den "Erfahrungen in Jena", die
hier tatsächlich von maßgeblicher Bedeutung sind: solchen Erfahrungen nämlich,
wie man sie an diesem Ort um 1800 machen konnte. Um die Pointe dieses Rekurses
zu schärfen, lenke ich den Blick zunächst jedoch in noch einmal ältere Zeiten zu-
rück.
Die Etymologie des Wortes "Bildung" hat ihren Ursprung im Althochdeut-
schen und verweist hier auf die Tätigkeit des "abbildens", das "Bildnis" sowie das
"Gebilde". Die Wurzel der "Bildung" steckt demnach im Bild und im Gebilde als der
Gestalt - und hat demzufolge mit dem heute vorherrschenden Aspekt der Erzie-
hung und Ausbildung zunächst einmal überhaupt nichts zu tun. Bestimmend für die
Bedeutung des Ausdrucks sind vielmehr die anderen von mir schon genannten
Hinsichten, die sich im Assoziationsfeld kreativen Gestaltens bewegen. Und dazu
passt nun wiederum, dass die Substantivform "Bildung" im Spätrnittelalter durch
Meister Eckhart geprägt worden ist. Im Kontext einer hochspekulativen Theologie
deutet er das Bibelwort, wonach Gott den Menschen nach seinem Bild geschaffen
hat, als den Akt einer "Bildung", die nicht ein für allemal am Anfang der Welt statt-
gefunden hat, sondern die sich jederzeit in der menschlichen Seele vollzieht. Indem
Gott sich der Seele ein-bildet, wird die Seele zum Bild Gottes, die ihre reverse Ein-
bildung in Gott im Prozeß des Entbildens, der Befreiung von den Bildern der äu-
ßerlichen Welt realisiert (Lichten stein 1971, Sp. 921f.).
Mit Ausbildung hat das, wie gesagt, nicht das mindeste zu tun. Weit eher träfe
es offenkundig den Punkt, wenn man Bildung und Einbildungskraft assoziierte.
Zugleich jedoch steckt in diesem ursprünglich theologisch-religiösen Sinn der Bil-
dung ein Moment, das dem Verdacht Vorschub zu leisten scheint, dass mit der
Erinnerung an ältere Bedeutungsschichten dieses Wortes wenig mehr anzufangen
sei. Ich meine das Moment, das - einmal ganz abgesehen von der religiösen Dimen-
sion - auf einen Vorgang innerhalb der Seele zielt. Solcher Innerlichkeit steht das Äu-
ßere, die ganze äußere Welt, so scheint es jedenfalls, als irrelevant entgegen. Und
was wäre damit im Ernst gewonnen?
So einfach liegen die Dinge aber nicht. Denn für den Aufstieg der Bildung zu
einem "neuen Grundwort" im 18. Jahrhundert ist dieser Umstand, dass Bildung
zunächst maßgeblich zur Bezeichnung eines inneren Vorgangs eingeführt und ver-
Bildung heute - Erfahrungen in Jena 15

wendet worden ist, offenbar entscheidend gewesen. Denn gerade so entfaltet der
Begriff nun ein entschieden kritisches Potential Unter inzwischen säkularisierten Be-
dingungen wird er zum Verständigungswort all derer, die als vehemente Kritiker
ihrer Zeit, als Kritiker des Rationalismus der Aufklärung von sich reden machen.
Johann Gottfried Herder vor allem hat hier bahnbrechend gewirkt. Worauf die
Epoche der Aufklärung so stolz ist, dies entziffert Herder in einer Streitschrift von
177 4 als die verkehrte Gestalt einer lediglich äußerlichen Bildung, die in ganz me-
chanischer Weise allein auf den Zuwachs an Wissen, auf den Fortschritt einer blo-
ßen Verstandeskultur zielt, und dabei übersieht, dass weder der Gang der menschli-
chen Geschichte noch die Erfüllung menschlichen Lebens an solch einseitigen,
"künstlich" genannten Errungenschaften hängt (Herder 1994, S. 65). Der Aufstieg
der Bildung zum neuen Grundwort verdankt sich also - und das ist im Blick auf die
aktuellen Diskussionen so bemerkenswert - dem kritischen Einspruch gegen die
ausschließliche Zweckrationalität des Wissens, dem Einspruch gegen den "Wahn"
(ebd., S. 66), dergestalt - und zwar unter Beigesellung von "Furcht und Geld' (ebd.,
S. 71) - das Leben beherrschbar zu machen. So verkommen wir, wie Herder
schreibt, zu Funktionen eines ,,politischen Kalküls", wir werden zu "Maschinen" (ebd.,
S.64).
Die Alternative, die demgegenüber in Gestalt einer wohlverstandenen Bildung
beschworen wird, setzt sich von solch mechanistischem Unwesen ab. Worum es
geht und gehen soll, ist eine organische Entfaltung und Entwicklung aller individu-
ellen Kräfte, die das lebendige Leben im Ganzen in Anspruch nimmt. Bildung wird
so zu einem dynamischen Prozeß, der jetzt, bezogen auf das einzelne Individuum
und die Gesellschaft, eine innere Entwicklung und deren äußere Darstellung über-
greift und zum Ziel nicht das ablösbare Produkt einer "Bildungstechnik", sondern
die Verwirklichung von "Humanität" hat.
Der normative, als Zweck in sich selbst zu verstehende Gehalt des Ausdrucks
"Bildung" meint eben dies: die emphatische Bildung zur Humanität. Trainiert in der
möglichst kostenneutralen Evaluation von anwendungsorientiert Nützlichem, wie
wir heute sind, mag uns diese Emphase seltsam berühren. Jedoch sollte man dabei
eben nicht übersehen, was uns dann befremdet. Insofern der Ausdruck Bildung in
dem Moment in virulenten Gebrauch kommt, wo es nicht - um noch einmal Her-
der zu zitieren - um "Papierkultur!' (Herder 1994, S. 69) geht, sondern um die Hu-
manität eines nicht reduzierten Lebens, kann man ihn in dieser seiner ursprüngli-
chen Bedeutung schwerlich in die Ecke einer praxis- und erfahrungsfernen Kopfge-
burt schieben. Was mit der Differenz zwischen der ursprünglichen und der heute
überwiegenden Bedeutung des Begriffs "Bildung" auf dem Prüfstand steht, sind
vielmehr nichts anderes als unterschiedliche Lebensentwürfe selbst.
16 Birgit Sandkaulen

IV.

"Der Begriff der Bildung, der damals zu beherrschender Geltung aufstieg, war wohl
der größte Gedanke des 18. Jahrhunderts" (Gadamer 1975, S. 7). Als Hans-Georg
Gadamer diesen Satz 1960 an prominenter Stelle formulierte, war er zugleich davon
überzeugt, dass sich die Gegenwart des 20. Jahrhunderts im Rekurs auf den Bil-
dungsbegriff "mit dem Jahrhundert Goethes noch immer wie gleichzeitig" fühlen
kann, während die Zeit davor wie eine "geschichtliche Vorzeit" erscheine (ebd., S.
7). Das hatte nun allerdings schon damals Theodor W. Adorno ganz anders gese-
hen, wie in seinem 1959 geschriebenen bösen Aufsatz über die Theorie der Halbbil-
dung nachzulesen ist (Adorno 1997). Erst recht wird heute, mehr als 40 Jahre später,
die Einstellung Gadamers niemand mehr teilen - auch die so genannte Goethezeit
ist uns inzwischen zur "Vorzeit" geworden. Und daran mag man ermessen, mit
welch rasanter Beschleunigung sich unsere Welt seither verändert hat. Sofern wir
aber eine Vielzahl unserer Begriffe wie auch den der Bildung der geradezu revoluti-
onären Modernität der damaligen Zeit verdanken, ist eine Erinnerung an diese
Epoche der Orientierung dienlich.
Damit bin ich nun bei den spezifischen "Erfahrungen in Jena" angelangt. Die
auf Anhieb vielleicht seltsam klingende Auszeichnung einer Stadt - was hat schließ-
lich ein bestimmter Ort mit der Bildungsproblematik zu tun? - ist so merkwürdig
doch wiederum nicht. Denn wenn richtig ist, dass sich, so noch einmal Gadamer, in
der Epoche "zwischen Kant und Hegel [... ] die durch Herder bewirkte Prägung"
des Bildungsbegriffs "vollendet" hat (Gadamer 1975, S. 8), dann bedeutet dies so-
zusagen von selbst, sich an die Adresse Jenas zu wenden: an eine Adresse, an der
sich in der Nachbarschaft Weimars mit Herder und Johann Wolfgang Goethe die
damals entscheidenden intellektuellen Debatten abgespielt haben.
Was kann es heißen, den Begriff der Bildung über das bisher Gesagte hinaus
zu "vollenden"? Tatsächlich fehlt noch eine wichtige Dimension. Herder hatte
gegen die künstlich-mechanische "Maschine" einer in seinen Augen pervertierten
Aufklärung die organische Entfaltung des ganzen Lebens stark gemacht. Wie mein
früheres Beispiel schon zeigte - Pflanzen bilden Knospen aus - war Bildung damit
als ein ganzheitlicher Prozeß verstanden, dessen Nähe zu einem natürlichen Gesche-
hen unübersehbar ist. Wenn die Erde nicht gänzlich ungeeignet ist und die klimati-
schen Umstände nicht allzu störend sind, wenn mit einem Wort ein Organismus am
Wachstum nicht wesentlich gehindert wird, dann wird sich aus einem Samenkorn
eine Pflanze entwickeln, die sich, Knospen und Blüten treibend, natürlich erweise
reproduziert.
Die Einsicht, die demgegenüber Johann Gottlieb Fichtes und Hegels Bil-
dungskonzept trägt,2 ist die, dass menschliches Leben mit den Wachstumsprozessen

, Als weiterer wichtiger Autor ist hier auch Friedrich Schiller zu nennen.
Bildung heute - Erfahrungen in Jena 17

natürlichen Lebens nicht vergleichbar ist. Gewiss: rein körperlich besehen gehören
wir in die Natur wie alle anderen Lebewesen auch. Durch das Charakteristikum des
Geistes unterscheiden wir uns jedoch zugleich von einem nur natürlichen Sein. Ohne
in eine lange Erörterung darüber einzutreten, was diese Dimension des Geistes bei
Fichte und Hegel alles besagt und umfasst, genügt es an dieser Stelle zu vermerken,
dass ihrer Überzeugung nach das menschliche Leben sich nicht - unter geeigneten
Umständen - einfach naturwüchsig entfaltet, sondern aktiv bewältigt werden muss.
Wir haben uns angewöhnt, diesen bedeutsamen Punkt mit dem Unterschied
zwischen Natur auf der einen und Kultur auf der anderen Seite zu bezeichnen. Men-
schen sind nicht nur Natur- sondern wesentlich auch Kulturwesen, das heißt: allein
schon um überleben zu können, sind sie angewiesen darauf, dass sie die Welt, in der
sie leben, bewusst gestalten, und darin ist dann weiterhin impliziert, dass sie sich
eine geistige Wirklichkeit erschließen, in der sie sich zu ihrem Leben in ein Verhältnis
setzen - in der Verständigung über die Welt, woraus die Wissenschaften erwachsen,
und in den spezifisch normativen Orientierungen ihres Zusammenlebens und deren
Darstellung, in Recht und Moral, in Kunst, Religion und Philosophie. All dies um-
fasst der Titel "Kultur". Ernst Cassirer hat dafür den Ausdruck geprägt, dass der
Mensch im charakteristischen Unterschied zu den Tieren ein "animal symbolicum"
sei, ein Symbole schaffendes Tier.
Um nun keinen Missverständnissen Vorschub zu leisten: der Gedanke, dass
Menschen im beschriebenen Sinne symbolschaffende Kulturwesen sind, ist keine
Einsicht, die Fichte und Hegel erst um 1800 erfunden hätten. Dieser Gedanke ist
als solcher vielmehr uralt. Neu hingegen ist, dass das Erfordernis aktiver Weltbewäl-
tigung jetzt mit dem Begriff der Bildung unter den Bedingungen der Moderne und
ihres spezifischen Freiheitsverständnisses zusammengeführt wird. Auch jetzt meint
Bildung keine Technik, sondern wie bisher bei Herder die Entfaltung und Entwick-
lung aller Kräfte und Anlagen, und wie bei Herder wird darunter emphatisch die
Verwirklichung von Humanität verstanden. Gemäß dem Gedanken aber, dass diese
Verwirklichung von humaner Freiheit eine spezifisch kulturelle Aufgabe ist, die sich
nicht gleichsam von selbst erledigt, sondern unter dem Einsatz aller Kräfte gezielt in
Angriff genommen werden muss: diesem Gedanken gemäß gewinnt der Begriff der
Bildung jetzt die Bedeutung einer beträchtlichen Zumutung.
Es genügt nun nicht mehr, gegen die "Mechanik" äußerlichen Wissens auf den
Gang eines natürlich verlaufenden Bildungsprozesses zu setzen. Auch die Assozia-
tion einer Entwicklung, die sich - sofern sie nicht gestört wird - mehr oder weniger
harmonisch vollzieht, wird jetzt außer Kurs gesetzt. Bildung wird jetzt aufgeladen
mit der Assoziation einer unvermeidlichen und jedermann zuzumutenden Anstren-
gung, mit der Erwartung an jeden Einzelnen, in eine Auseinandersetzung einzutre-
ten, in der das, was ein humanes, ein freies und erfülltes Leben sein soll, allererst
erobert werden muss. Vor diesem Hintergrund erscheint Herders Konzept nach-
18 Birgit Sandkaulen

träglich wie eine "Bildungsidylle", aus der Fichte und Hegel die Menschen im Na-
men der Freiheit entschieden vertreiben.

v.
Bildung, die auf Freiheit der Mitglieder einer Gesellschaft zielt, kostet den Preis
einer zumutbaren Anstrengung. Weil niemand, so wie er geht und steht, schon
wirklich frei, sondern eben nur in einem unbestimmten Sinne "ungebildet" ist, und
deshalb auf die fraglose Berücksichtigung seiner Interessen und Vorlieben, wie sie
nun einmal gerade sind, auch gar keinen Anspruch erheben darf, geht der Bildungs-
prozess notwendigerweise mit Irritationen einher. Als Rückfall in den äußerlichen
Zwang einer "Maschine" ist das nicht gemeint. Nicht zu übersehen ist aber, dass
Fichte und Hegel in ihren Überlegungen nüchterner als Herder dem Umstand
Rechnung tragen, dass moderne Gesellschaften kein naturwüchsig harmonischer
Zustand, sondern das Resultat einer politischen Arbeit sind.
Da gibt es beispielsweise das Erfordernis der Arbeitsteilung in je spezialisierten
Berufen, über das Fichte in seiner Antrittsvorlesung 1794 bezeichnenderweise
nachdenkt. Soll diese Spezialisierung nicht Ergebnis einer zwangsweise verordneten
Zuweisung sein, sondern auf freier Berufswahl beruhen (Fichte 1971, S. 320), dann
ist die Bildung zur Freiheit eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass eine solche
Wahl überhaupt begründet getroffen werden kann. Und dies wiederum setzt dann
seinerseits voraus, wie Fichte seinen über fünfhundert Hörern einschärft, dass jeder
bereit sein muss, nicht nur das, was er seinen jeweiligen Anlagen und Fähigkeiten
gemäß kann, andern mitzuteilen, sondern ebenso das, was er von Hause aus nicht
kann, von andern "empfangen" zu wollen (ebd., S. 315). Bildung ist demnach gedacht
als ein anspruchsvoller Sozialisierungsprozess durch wechselseitigen Austausch. Im
Ergebnis soll sie diejenige freie "Gleichheit' erzeugen (ebd., S. 315), die zur Basis
einer freien Entscheidung für etwas Bestimmtes taugt; einer Entscheidung, so fügt
Fichte hinzu, von der sich die Gesellschaft dann allerdings mit Recht einen Nutzen
erwarten darf (ebd., S. 321). Das sind, kurz nach der Französischen Revolution, für
die feudale Ständegesellschaft in Deutschland revolutionäre Ansichten, die sich hier
an einen umfassend konzipierten Bildungsbegriff knüpfen.
Hegel geht auf diesem Wege noch weiter. Es genügt nicht, so hält er in seiner
schon erwähnten Phänomenologie des Geistes fest, das "Dafürhalten aus Autorität in
Dafürhalten aus eigener Überzeugung" zu verkehren, denn ob die eigenen Über-
zeugungen wahr sind, ist mit der Abkehr von äußerlichen Dekreten nicht zwangsläu-
fig garantiert (Hegel 1970, S. 73). Schon ein einziger Passus wie dieser zeigt, worum
es geht: Wie bei Fichte wird der Begriff der Bildung emphatisch aufgeladen in einer
historischen Situation, in der die reale oder mögliche Ablösung der Aristokratie
durch das Bürgertum zu Bewusstsein kommt, und in der nun zugleich darauf reflek-
Bildung heute - Erfahrungen in Jena 19

tiert werden muss, unter welchen Umständen denn die Äußerung eigener Meinun-
gen nicht nur der Form, sondern auch dem Inhalt nach "frei" genannt zu werden
verdient.
Die spätere Rede vom so genannten "Bildungsbürgertum" hat einen betont
negativen Klang. Bildungsbürger werden seit Friedrich Nietzsches Rede vom "Bil-
dungsphilister" assozüert mit den Ausgaben der "Klassiker" in ihrem Bücher-
schrank - und damit ist Bildung dann zu etwas geworden, das man als erstarrte
Attitüde getrost vergessen kann. Die Verklammerung von Bildung und bürgerli-
chem Selbstbewusstsein meint aber demgegenüber ursprünglich, wie bei Hegel zu
sehen, das Gegenteil davon. Bildung ist der Weg zur politischen Partizipation. Des-
halb ist sie im buchstäblichen Sinne Arbeit des Bewusstseins an sich selbst, und
deshalb verlangt sie den Prozeß einer anhaltenden Erfahrung, die den Einzelnen
zwingt, aus dem, was ihm vertraut und sicher scheint, herauszutreten und sich dem
Horizont ungewohnter Perspektiven und Erwartungen auszusetzen. Auf dem Weg
solcher Überlegungen geht Hegel sogar so weit, die "Bildung und ihr Reich der
Wirklichkeit" als die "Welt des sich entfremdenden Geistes" zu charakterisieren
(Hegel 1970, S. 359 ff.). Entfremdung. Auch für Hegel meint dies etwas Negatives,
etwas, das eigentlich nicht sein soll. Jedoch ist er ebenso fest davon überzeugt, dass
wir nur durch die negative Erfahrung von Entfremdung, von Entäußerung hin-
durch begreifen lernen, was der Unterschied zwischen Freiheit und Beliebigkeit ist.

VI.

Unangesehen der Diskussionen, die hier im Einzelnen zu führen wären, mag damit
deutlich geworden sein, welches Potential im Begriff der Bildung wirklich steckt:
Ein Potential, das nichts mit der technischen Hinsicht auf Nutzenmaxirnierung zu
tun hat und als Zweck in sich selbst verstanden sehr wohl auf die Praxis in einem
umfassenden Sinne zielt. Eben weil das aber so ist, kann ich hier noch einen letzten
Gedanken anschließen, der die "Erfahrungen in Jena" mit dem aktuellen Prozeß der
Hochschulreform unmittelbar verknüpft.
Um eine Studienreform ging es damals nämlich auch. Vor dem Hintergrund
der vorgestellten Überlegungen konnte das Universitätssystem so, wie es war, nicht
bleiben. Das heißt nun wirklich ganz konkret: Wer Bildung als Bildung zur Freiheit
versteht, kann die Studierenden unmöglich zwingen wollen, ein vorgeschriebenes
Tableau von Materien lediglich zur Kenntnis zu nehmen, ohne die eigene Urteils-
kraft an ihnen zu schärfen und dann zwangsläufig in die Gefahr bloßen Auswendig-
lernens zu geraten. Und er kann selber unmöglich das Interesse haben, ein einge-
führtes Lehrbuch in die Hand zu nehmen und in seinen Vorlesungen aus diesem
Buch buchstäblich vorzulesen und das Gelesene mit einigen Hinweisen zu kommen-
tieren. Dass dies bis um 1800 die gängige Unterrichtspraxis an den Universitäten
20 Birgit Sandkaulen

war, dass auch Immanuel Kant seine Vorlesungen in Königsberg auf diese Weise
bestritt, muss man wissen, um ermessen zu können, welche universitäre Revolution
Fichte als erster in Jena inszeniert hat.
Fichte hat aus keinem Lehrbuch mehr vorgelesen, sondern seine eigenen Ge-
danken vor seinen Zuhörern entwickelt, die er jeweils Bogen für Bogen dann erst in
den Buchdruck gab. Und er hat es förmlich gehasst, wenn die schulmäßige Erwar-
tung an ihn herangetragen wurde, er solle in immer gleichen Begriffen reden, damit
man die Terminologie besser behalten kann. Fichte wollte Studierende bilden, die
selbständig und kritisch denken lernen, die selbständig und kritisch denken lernen
wollen. Deshalb hat er bewusst seinen Begriffsgebrauch variiert. Er wollte vermei-
den, dass ein Gedanke nicht etwa selber durchdacht, sondern nur repetiert wird wie
etwas, das für die nächste Prüfung lästigerweise präsent sein muss. 3
Diese universitäre Revolution im Zeichen einer auch insofern gar nicht be-
quemen, sondern anstrengenden Bildung zur Freiheit hatte gewaltige Folgen. Denn
aufgrund seiner eigenen "Erfahrungen in Jena" war es Wilhelm von Humboldt, der
wenig später in Berlin die berühmte "Humboldtsche Universitätsreform" ins Werk
gesetzt hat. Im Kontrast zu dem ungeheuren bürokratischen Aufwand, der unsere
Energien in Anspruch nimmt, indem es Abprüfbarkeit zu garantieren, Leistungs-
punkte auszurechnen, neue Studiengänge zu entwerfen und durch Akkreditierungs-
anstalten zu schicken gilt, waren die Prinzipien dieser Humboldtschen Reform
denkbar einfach.
Das Einzige, was zu berücksichtigen war, war die Frage, unter welchen Bedin-
gungen die Bildung zur Freiheit gelingen kann, woraus sich die Antwort auch schon
von selbst ergibt: eben nur unter Bedingungen von Freiheit. Anstatt vorzeitig nach
anwendungs orientiertem Nutzen oder wie in der Schule nach "fertigen Kenntnis-
sen" zu schielen, sollen sich Lehrende und Studierende gemeinsam der Herausfor-
derung einer nie vollendeten Wissenschaft verschreiben - mehr, so Humboldt,
bedarf es nicht, womit er zugleich die Warnung verband, in diese gemeinsame, um
ein Sachinteresse zentrierte Tätigkeit des Forschens, Lehrens und Studierens nur
nicht hindernd einzugreifen. Um einen Elfenbeinturm reiner Wissenschaft, die sich
von allen Erfordernissen des Lebens, nicht zuletzt der Berufstätigkeit entfernt, ging
es dabei keineswegs, im Gegenteil. Gerade weil es sowohl dem Staat als auch der
Menschheit nicht "um Wissen und Reden, sondern um Charakter und Handeln zu
thun" ist, ist diesem Ziel am Besten gedient, wenn Universitäten der Ort sind, an
dem die Anstrengung freien und selbständigen Denkens gründlich geübt werden
darf (Humboldt 1982, S. 255 ff.).

3 Vgl. dazu auch Fichtes späteren Text von 1807: Deducirter Plan einer '{!I Berlin '{!I errichtenden hoheren Lehran-
stalt (Fichte 1971a).
Bildung heute - Erfahrungen in Jena 21

Dem möchte ich nichts hinzufügen - außer der virulenten Sorge, dass "Bil-
dung heute" über dem vorherrschenden Aspekt effizienter Ausbildung das essen-
tielle Erfordernis einer Bildung zur Freiheit aus den Augen zu verlieren droht.

Literatur

Adorno, Theodor W. (1997): Theorie der Halbbildung. In: ders., Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf
Tiedemann. Band 8. Frankfurt: Suhrkamp
Espagne, Michel (2004): "Bildung'~ In: Vocabulaire Europeen des Philosophies. Dictionnaire des
Intraduisibles. Sous la direction de Barbara Cassin. Paris: Le Robert/Seuil, S. 195-205
Fichte, Johann Gottlieb (1971): Über die Bestimmung des Gelehrten. In: Fichtes Werke. Hg. v.
Immanuel Hermann Fichte. Band VI. Berlin: de Gruyter
ders. (1971a): Deducirter Plan einer Zu Berlin ifi errichtenden hbheren Lehranstalt. In: Fichtes Werke.
Hg. v. Immanuel Hermann Fichte. Band VIII. Berlin: de Gruyter, S. 97ff.
Gadamer, Hans-Georg (1975): Wahrheit und Methode. GrundiJige einer philosophischen Hermeneutik.
4. Aufl .. Tübingen: J.CB. Mohr (pau! Siebeck)
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1970): Phänomenologie des Geistes. In: ders., Theorie-
Werkausgabe. Hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Band 3. Frankfurt: Suhr-
kamp
Herder, Johann Gottfried (1994): Auch eine Philosophie der Geschichte ifir Bildung der Menschheit.
In: ders., Werke in zehn Bänden. Hg. v. Jochen Brummack u. Martin Bollacher. Band 4.
Frankfurt: Klassiker Verlag
Humboldt, Wilhelm v. (1982): Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen
Anstalten in Berlin. In: ders .. Werke in jü,g Bänden. Hg. v. Andreas Flitner u. Klaus Giel. 3.
Aufl .. Band IV. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft
Lichtenstein, Ernst (1971): Bildung. In: Ritter, Joachim (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philo-
sophie. Band 1. Basel: Schwabe & Co, Sp. 921-937
Bildungspolitik nach PISA
Michael Winkler

Die folgenden Überlegungen 1 stellen keine geschlossene und systematische Argu-


mentation vor, sondern bieten nur einige Gedankengänge an; im Grunde handelt es
sich um kritische Notizen. Diese Offenheit hat viele Gründe: Zunächst spricht sich
in ihnen das Eingeständnis einer gewissen Unsicherheit aus. Diese entsteht weniger
daraus, dass den eigenen Befunden und Analysen nicht zu vertrauen wäre. Im Ge-
genteil: Die Unsicherheit hat zu tun damit, dass die Überlegungen weder dem
Mainstream entsprechen, wie er in den öffentlichen und fachlichen Debatten anzu-
treffen ist; noch befriedigen sie, was man sich vielleicht selbst gerne wünschen wür-
de. Es gibt zuweilen Situationen, in welchen man gar nicht der eigenen Meinung
sein will, allzumal wenn diese eher pessimistisch ausfallt. Endlich operieren sie mit
Prämissen, die auf den ersten Blick nicht zusammen passen; sie verbinden ein gera-
dezu traditionales Verständnis von Bildung, wie es beispielsweise in jüngerer Zeit
von Manfred Fuhrmann heftig eingefordert worden ist (vgl. Fuhrmann 2002, 2004),
mit einer Vorstellung von Sozialpolitik, die in ihren Analysen nicht die Augen vor
Fragen der Macht und Herrschaft verschließt, um an den Ideen von Gerechtigkeit
und Solidarität festzuhalten.
Dann: Die Überlegungen beginnen ein wenig ungewöhnlich, indem sie zu-
nächst kurz erläutern, in welchem Zugang sie das Thema bearbeiten. Ein zweiter
Punkt gibt sich seminaristisch und stellt einige Textpassagen aus der Studie "Das
Zukunftsprojekt. Bildung neu denken" vor, um an diesem Beispiel den gegenwärti-
gen bildungspolitischen Diskurs einzugrenzen. Der dritte Punkt untersucht diesen
dann in eher formaler Hinsicht und im Blick auf die in ihm wirkenden Akteure,
während ein vierter Punkt inhaltlich einige Entwicklungen aufnimmt, die sich in der
bildungspolitischen Landschaft beobachten lassen. Zum Schluss macht ein fünfter
Punkt zwei Anmerkungen zur hintergründigen Rationalität von PISA (und ver-
gleichbaren "Bildungs-Studien"). Behauptet wird nämlich, dass sich in diesen als ein
für sie spezifischer sozialer Sinn eine neue Form von Kontrolle und Herrschaft
verbirgt.

(1) Irritieren wird nun - erster Punkt -, wenn und wie die Selbstverständlichkeit be-
tont wird, dass es um Bildungspolitik nach PISA geht, zumal in der Zuspitzung auf das
Problem einer Bildungsreform als S o':(jalreform? - wobei dem Fragezeichen ein besonde-

I Zur Kritik an der PISA-Studie und ihrer Rezeption vgl. auch: Winkler 2003a.
24 Michael Winkler

res Gewicht zukommt. Dies ist jedoch besonders wichtig, weil das Thema Bildungs-
politik nach PISA dazu verführen könnte, normativ zu sprechen oder wenigstens die
Aspirationen, die Wünsche und Hoffnungen zu diskutieren, welche sich - im güns-
tigen Falle - nach einer Interpretation und Bewertung der Befunde aufdrängen. Im
weniger günstigen Fall wird aber Bildungspolitik gleichsam jenseits und vor aller
Auseinandersetzung mit den entsprechenden Studien betrieben, zuweilen spekula-
tiv, meist vor allem prätentiös und in der Absicht, ohnedies schon vorhandene
Programmatiken durchzusetzen.
In der Tat ist nach der Veröffentlichung der ersten PISA-Studie ein solches
Verfahren üblich geworden;2 boshaft formuliert dient beispielsweise die Studie
dazu, dem Willen der Finanzminister nach Verkürzung der Schulzeiten gerecht zu
werden. Auf der Wunschliste - neudeutsch: Agenda - steht seitdem vor allem, dass
die Bundesrepublik, ihre Schulen und ihre fünfzehnjährigen Schüler einen Ranking-
Platz mindestens im oberen Drittel erreichen, weil andernfalls die wirtschaftliche
Leistungsfähigkeit des Landes und der Wohlstand aller gefährdet seien. Das bildet
den Kern einer solchen normativen Bildungspolitik. Sie trägt allerdings zugleich ein
gesellschafts theoretisches Argument mit, nämlich die Sorge um Belastungen der
Nationalökonomie. Insofern versteckt sich in den einschlägigen Überlegungen und
Projekten von vornherein ein sozialreformerisches Element - über dessen Substanz
man streiten kann: Alison Wolf von der University of London hat in ihrem hüb-
schen Buch "Does Education matter? Myths About Education and Economic
Growth" überzeugend dargestellt, wie schwach die Beziehungen zwischen Bildung
und Ökonomie ausfallen; mit wirtschaftlichen Effekten lassen sich Bildungsinvesti-
tionen nur eingeschränkt rechtfertigen, sie benötigen vielmehr eine soziale und
kulturelle Begründung, die sich auf eine Vorstellung von gewünschter politischer
Ordnung stützt (Wolf 2002, v.a. S. 244ff.).
Das Dilemma solcher - sozusagen apriorisch - normativ geladenen Auseinan-
dersetzung mit Untersuchungen des Bildungssystems besteht aber darin, dass sie
sich häufig gar nicht auf die Untersuchungen selbst einlässt. Wenn überhaupt liest
man sie unter den Prämissen der schon vorher gefassten Vorstellungen, die letztlich
dann verwirklicht werden sollen. Was die Untersuchungen eigentlich besagen, ob sie
überhaupt im Blick auf die oft weit reichenden Reformpläne Datenmaterial und
Argumentationshilfe bieten, gerät zur Nebensache. Wer seine Absichten bestätigt
sieht, wird dann kaum nach den Voraussetzungen und Implikationen einer - wie

2 Die Unterscheidung zwischen der ersten und der zweiten, 2004 vorgestellten PISA-Studie (Deutsches

Pisa-Konsortiwn 2004) ist im Zusammenhang des mit diesen Untersuchungen betriebenen Politainments
von Bedeutung. Denn: während noch im Vorfeld dieser zweiten Veröffentlichung aus dem OECD-
Programm eine erhebliche Aufmerksamkeit von Medien und Politik bestand, ist diese praktisch mit der
Veröffentlichung in Deutschland nahezu vollständig zusammengebrochen. Das Interesse an der Studie
wie an der Bildungspolitik insgesamt hat sich wieder auf das Norrnalniveau des Desinteresses eingepen-
delt. (Anders übrigens - beispielsweise - in Österreich; dort hat die zweite Untersuchung für erhebliche
Resonanz gesorgt, weil die Ergebnisse deutlich gegenüber den Daten von 2000 abfielen.)
Bildungspolitik nach PISA 25

anspruchsvoll auch immer angelegten - empirischen und theoretischen Studie fra-


gen, sondern versuchen, diese für sich zu instrumentalisieren.
Tatsächlich steht eine solche im Grunde normative Vorstellung von Bildungs-
politik hinter der insgesamt freundlichen Aufnahme, welche der OECD-Studie
allenthalben widerfahren ist, motiviert aus einem lange vorbereiteten dunklen,
gleichwohl verbreiteten Unbehagen an der Funktions- und Leistungsfahigkeit des
deutschen Bildungswesens (vgl. z. B.: Ifd-Allensbach 2002). Eine freundliche Auf-
nahme, die weit in die Erziehungswissenschaft und sogar in die Soziale Arbeit hin-
ein reicht, dabei mehr Chancen sieht, als kritische Vorbehalte macht: PISA wird als
ein wichtiger Impuls gesehen, Bildungspolitik voranzutreiben, möglicherweise auch
die sozialpolitisch relevanten Dimensionen des Bildungsgeschehens wenigstens
aufzunehmen und zu bedenken. Kurz: Wer über die PISA-Studie und ihre bil-
dungspolitischen Effekte spricht, fasst meist als Thema und Inhalt von Bildungspo-
litik Hoffnungen und Erwartungen, auch Wünsche, eben Reformabsichten. Aber er
richtet in der Regel seine Aufmerksamkeit weniger auf das, was unter der Oberflä-
che aufgeregter Debatten geschieht - und darin liegt durchaus eine Gefahr.
Um dieser Gefahr zu entgehen, versuchen die hier skizzierten Überlegungen
zu klären, wie sich die Lage - mehr oder weniger empirisch - darstellt, um das Ge-
schehen analytisch und theoretisch zu betrachten. Die Leitthese lautet dabei, gewiss
ein wenig überspitzt: Es gibt keine explizite Bildungspolitik nach PISA, zugleich
aber wird in dem, was gegenwärtig als Bildungspolitik und Bildungsreform er-
scheint, eine dramatische Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse deutlich: Wir
sind wirklich mit einer Sozialreform konfrontiert, bei der indes nichts von dem
zutrifft, was an positiver Konnotation mit dem Ausdruck Reform so gemeinhin
verbunden wird - von der Vernichtung dessen, was Bildung eigentlich heißt, einmal
ganz abgesehen.

(2) Warum eher skeptisch, wenn nicht sogar pessimistisch argumentiert wird, kön-
nen - zweiter Punkt - einige Textausschnitte deutlich machen, die hier kurz, aber
durchaus kontextgerecht zu präsentieren sind. Nach den Ergebnissen aus der ersten
Erhebungswelle des OECD Programme flr International Student Assessment ist eine
Vielzahl von Veröffentlichungen, von Pamphleten und Studien, vor allem aber auch
von Konzepten und Programmen erschienen, mit welchen die vermeintlichen oder
tatsächlichen Defizite des deutschen Bildungswesens behoben werden sollen. Es ist
praktisch unmöglich, sie nur im Blick zu behalten, geschweige denn zu lesen. Zu-
dem wirken wohl Selektionsmechanismen, die der Formel gehorchen, nach welcher
nicht sein darf, was nicht sein soll. Symptomatisch dafür könnte sein, wie etwa die
so genannte IGLU-Studie (also die Internationale-Grundschul-Lese-Untersuchung)
deutlich weniger Beachtung fand, weil ihre Ergebnisse keineswegs dramatisch
schlecht ausfielen und somit das Verdikt über das Bildungssystem schlechthin eben
nicht bestätigten (vgl. Bos u.a. 2003, auch Mullis u.a. 2003).
26 Michael Winkler

Unter diesen Publikationen nach PISA gäbe es jedenfalls nicht nur viele Perlen
zu nennen, die Aufsehen erregten; vielmehr erweisen sich manche bei genauerer
Betrachtung als arg klein geratene, zudem taube Nüsse. Dennoch verrät mancher
dieser Texte eine Substruktur des neuen Bildungsdiskurses, wie er im Zusammen-
hang der PISA-Untersuchung hervortritt.
Dies gilt nun auch für die folgenden Textpassagen, die - nota bene - nicht aus
Erhebungen und Darstellungen stammen, welche im unmittelbaren Kontext von
PISA entstanden sind. Weder die OECD noch das Max-Planck-Institut, nicht ein-
mal - so wenigstens die Hoffnung - die deutschen Kultusminister haben etwas mit
ihr zu tun. Sie sind vielmehr der im Internet veröffentlichten Kurzfassung der Stu-
die "Bildung neu denken! Das Zukunftsprojekt" entnommen (Vereinigung der
Bayerischen Wirtschaft 2003). Diese Studie wurde von der Vereinigung der Bayeri-
schen Wirtschaft in Auftrag gegeben und von der Bayerischen Metall- und Elektro-
industrie gefördert. Mit ihrer Durchführung wurde das renommierte Forschungsin-
stitut Prognos beauftragt, Leitung der Studie und Gesamtredaktion lagen in den
Händen von Dieter Lenzen, seines Zeichens eine der herausragenden Figuren der
bundes deutschen Erziehungswissenschaft und gegenwärtig amtierender Präsident
der Freien Universität Berlin. Bedingt durch geschickte Veröffentlichungsstrategien
fiel die Medienresonanz auf die Studie entsprechend groß aus - nicht zuletzt gab
Dieter Lenzen eine Reihe von bemerkenswerten Interviews (u.a. in der Internet-
Ausgabe der Zeitschrift "der Stern"). Erstaunlicherweise fand die Buchveröffentli-
chung der Studie (Lenzen 2003) kaum mehr Aufmerksamkeit - das könnte mit den
Halbwertszeiten von medial dramatisierten Ereignissen, vielleicht sogar mit der
Substanz der Studie zu tun haben.
Zwei Grundlinien bestimmen diese: Die erste wird sichtbar an den in der Studie
als Herausforderungen benannten, allerdings widersprüchlich erscheinenden Vor-
aussagen, dass einerseits künftig mit einer "zeitlichen und räumlichen Entkoppelung
der Arbeitsnehmer von ihrem ,Betrieb"', mit mehr Selbständigkeit und Diskontinui-
täten in der Erwerbsbiografie zu rechnen sei. Auf der anderen Seite werden "Ver-
änderungen in der Lebenswelt [erwartet], die den Unterschied zwischen Arbeit und
Privadeben verringern werden, persönliche und soziale Beziehungen erschweren"
(Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft 2003, S. 3). Hier soll nicht über den empi-
rischen Gehalt dieser Annahmen gestritten werden - vieles deutet darauf hin, dass
zwar Standardarbeitsverhältnisse absolut geringer werden, sich aber strukturell deut-
lich weniger stark verändern, als diese These behauptet. Entscheidend scheint je-
doch, wie das vordergründige Paradox, nämlich Entkoppelung des Individuums
vom Betrieb bei gleichzeitiger Verschmelzung von Arbeit und Privatheit darauf
hinweist, dass und wie die Subjekte in ihrer Verfassung, mithin gleichsam ohne Dis-
tanzierungschance dem Produktionsgeschehen unterworfen werden; man kann von
einer Art Kapitalisierung der Subjekte sprechen, für die inzwischen der Ausdruck
"Employability" geprägt worden ist. Die Reform des Bildungswesens zielt also
Bildungspolitik nach PISA 27

darauf, einen Habitus zu erzeugen, in welchem das Subjekt vollkommen verwertet


werden kann und diese Verwertbarkeit zu seiner eigenen Angelegenheit macht.
Erforderlich werden demnach neue Qualifikationen, vor allem aber eine neue Tie-
fenwirkung des Bildungssystems. Der vorgeschlagenen Bildungsreform geht es
mithin um eine neue Art der Verfügung über Menschen, um eine Formung für das
Kapital, die darauf zielt, dass sich der Einzelne selbst kapitalisiert, indem er sich die
Logik der Unternehmerschaft zu eigen macht; es geht hier auch um die Ich-AG.
Entsprechend empfiehlt die Studie unter den "klaren Leitbildern für Leben, Lernen
und Arbeiten": "Das Individuum der Zukunft wird selbstverantwortlicher und in
Bezug auf sein Leben ,unternehmerischer' tätig sein und sich nicht auf die organisie-
rende Tätigkeit des Staates verlassen" (ebd., S. 5).
Dies verweist schon auf die ZJVeite Grundlinie der Studie, auf die Devise der De-
regulierung. Der Staat soll sich weitgehend aus dem Bildungssystem entfernen,
wobei aber zugleich eine höheres Maß an Kontrolle und insofern Regulierung ge-
fordert wird: "Das Bildungsverständnis des deutschen Bildungssystems ist revisi-
onsbedürftig im Hinblick auf mehr Verbindlichkeit, mehr Standardisierung, eine
stärkere Vermittlung personaler (Schlüssel-)Qualifikationen und eine deutlichere
Orientierung an der Arbeits- und Berufswelt" (ebd., S. 2). Das Zitat bestätigt die
Forderung nach Verkoppelung, wobei offen bleibt, worin eine solche Orientierung
an der Arbeitswelt bestehe; es nimmt eine ziemlich hohle Rhetorik in Anspruch,
welche besonderen Kompetenzen denn wirklich für das berufliche Leben taugen,
ganz abgesehen von den Tücken, die mit der Vorstellung von Schlüsselkompeten-
zen so gemeinhin verbunden sind (vgL Winkler 2003).
Was aber bedeutet dann Deregulierung? Der Staat verlagert seine Aktivitäten
auf die Etablierung von Normen und Standards, welche obligatorisch den Einzel-
nen so auferlegt werden, dass sie sich daran messen müssen. Wie sie die Einhaltung
der Standards erreichen, welche Anstrengungen sie dafür unternehmen und ob sie dies
überhaupt können, soll diesen Staat nicht mehr interessieren. Dieser beachtet allein
die Einhaltung der Normen und belegt sie im gegebenen Fall mit Sanktionen -
unnachsichtig, wie man von der Politik der zero tolerance schon kennt (vgL Wacquant
2000). Dabei werden keine Zynismen ausgelassen, wie ein letztes Zitat beweist.
Denn das von Lenzen verantwortete Papier, das offensichtlich von keiner redaktio-
nellen Bearbeitung getrübt wurde, empfiehlt u.a. "zur Deregulierung des Bildungs-
wesens (...), dass der Staat (...) die Finanzierung der individuellen Ausbildung suk-
zessive auf die Bildungsunterstützung von sozial schlechter Gestellten, aber Leis-
tungsfähigen, reduziert" (Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft 2003, S. 8).
Dies zergeht auf der Zunge. Propagiert wird nämlich nicht nur eine Spaltung
des Bildungssystems in einen öffentlich subsidiierten Teil für die - was sich auch
immer hinter der vordergründigen Plausibilität des Ausdrucks konkret verbirgt -
soiJal schlechter Gestellten; schon diese Formulierung darf man, mit Verlaub, als Bier-
tischdampfgeplauder werten. Wichtiger ist die in Kommata gestellte, mit Konjunk-
28 Michael Winkler

tion verbundene Beifügung: "aber Leisrungsfahigen". Der schnelle Blick, der von
Rürup bis Hartz, von Schröder über Stoiber bis Westerwelle darauf trainiert wurde,
nach der Leistung derjenigen zu fragen, welchen öffentliche Unterstützung gnaden-
halber gewährt wird, der schnelle Blick, der durch die öffentlich praktizierte Kritik
am - wie die Bild-Zeirung formuliert - "Sozialschmarotzerrum" gehärtet und blind
geworden ist, übersieht glattweg, dass hier nicht mehr von "Leisrungswillzgen" die
Rede ist. Bislang gebot der Rest von Anstand, wenigstens nur die zu diskriminieren,
denen man mangelnden Willen in die Schuhe schieben konnte - wie etwa die ost-
deutschen Arbeitslosen, die partout keine Arbeitsplätze finden wollen. Nein: Hier
geht es schon um die "Leisrungsfahigen". Ausgeschlossen werden also jene, die aus
welchen Gründen auch immer, eine geforderte Leisrung nicht zu erbringen imstan-
de sind, also: Behinderte, Kranke, Kinder mit Lernschwierigkeiten, junge Menschen
in belasteten Lebenssiruationen, die ihnen alle Kraft rauben. Das ist, mit Verlaub
gesagt, Faschismus pur - aber bislang hat offensichtlich niemand auch nur ein
Quäntchen Anstoß daran genommen.

(3) Die von Dieter Lenzen und Prognos verwendete Formulierung ist skandalös; sie
belegt durchaus den neuerdings in Bildungsdingen ungestraft erhobenen Ton (wo-
bei irritierend hinzu kommt, dass die Srudie bislang in den einschlägigen Fachzeit-
schriften nicht rezensiert worden ist). Dennoch soll sie nicht im Zentrum einer
Auseinandersetzung um Bildungspolitik stehen. Sie dient nur als Kulisse, um im
dritten Punkt der Frage nachzugehen, ob und in welchem Sinne wir überhaupt von
einer Bildungspolitik nach PISA sprechen können.
Sicher ist - der eben untersuchte Text belegt dies nachdrücklich -, dass im Zu-
sammenhang des Programme for International Student Assessment die Auseinanderset-
zung um Bildung eine neue Qualität gewonnen hat. Dabei fallt auf, dass weder das
Verfahren einer international vergleichend angelegten Srudie noch ihre Befunde als
sensationell gelten dürfen. Abgesehen von regelmäßigen, mit standardisierten Indi-
katoren arbeitenden Erhebungen, wie sie Education at a Glance zu Grunde liegen, hat
die OECD immer wieder Vergleichssrudien organisiert, in welchen die Bundesre-
publik Deutschland selten gut abgeschnitten hat: Regelmäßig wurde die Unterflnan-
zierung des Bildungssystems bemängelt (vgl. z.B. Lührig 1973), immer wurde auf
das Ungleichgewicht in der Aufmerksamkeit auf den Elementar- und Primarbereich
einerseits (vgl. aber auch zur "Grundschulmisere": Jochimsen 1971) und dem gut
ausgestatten Sekundarbereich hingewiesen, geradezu notorisch wurde die soziale
Selektivität des Bildungssystems festgehalten. Im Blick auf die Leisrungsmängel in
performance und out-put des Bildungssystems hatte zudem schon die Third International
Mathematics and Science Stucfy (TIMSS) unter Fachleuten für Aufsehen gesorgt. Parallel
zu PISA muss man die Internationale Civic Education Srudy (vgl. Torney-Purta u. a.
2001) mit ihren beunruhigenden Ergebnissen zur politischen Bildung und zum
sozialen Engagement deutscher Jugendlicher wie endlich die schon genannte, im
Bildungspolitik nach PISA 29

Rahmen der Progress in International Reading Literary Stu4J durchgeführte IGLU (Inter-
nationale Grundschul-Lese-Untersuchung) stellen. Zudem hatten schon andere
darauf hingewiesen, dass dem deutschen Bildungswesen schlicht Todsünden zu
bescheinigen seien (Richter 2001).
So verblüffend dies jedoch dennoch klingen mag: Es ist eigentlich falsch, von
einer Bildungspolitik nach dem PISA-Programm auszugehen. Denn seine grundle-
genden Intentionen entstanden schon früher und sind in das Design der Untersu-
chung eingegangen. Noch gravierender wirkt, dass von einer Bildungspolitik im
strengen Sinne einer distinkten, von klar erkennbaren Akteuren getragenen Praxis
der Entscheidungen keine Rede sein kann. Es gibt keine identifizierbaren Politiker,
keine klaren Programmatiken, es gibt auch keine verlässlich operierenden Ministe-
rien und Verwaltungen. Es gibt vor allem keine Öffentlichkeit mehr, in der die
Angelegenheiten des Bildungssystems in einer Art und Weise verhandelt werden,
die dann in demokratisch legitimierten Formen durch den Gesetzgeber ausgespro-
chen und geregelt werden. In Wirklichkeit wird das Geschehen durch eine Vielzahl
von heterogenen Einflüssen bestimmt. Vor allem die so genannte Wirtschaft be-
klagt Mängel der Ausbildung, wobei sie sich selbst ihren Verpflichtungen zuneh-
mend entzieht. Das geschieht übrigens mit der symptomatischen Pointe, noch
sprachlich die Beweispflicht für erfolgreiche Bildungsanstrengung zu verdrehen;
drückte etwa noch vor einem Jahrzehnt der Ausdruck "Ausbildungsfihigkeit" aus,
was ein Unternehmen oder Betrieb in Sachen Ausbildung zu leisten imstande war,
hat man unter der Hand dies nun in einen Ausdruck verkehrt, der die Fähigkeit
bezeichnet, sich einer Ausbildung unterziehen zu können (vgL Winkler/Kratochwil
2002).
Während aber die Klage der Wirtschaft wenigstens insofern rational zu rekon-
struieren ist, als sie mit der Zahl der Ausbildungsplätze korreliert, haben sich insbe-
sondere die Hochschulen damit hervorgetan, immer lauter das Klagelied über die
Studierfähigkeit anzustimmen. Bei all dem spielt viel Vergesslichkeit mit: Es waren
beispielsweise eben diese Hochschulen gewesen, die auf eine Reform der gymnasia-
len Oberstufe und die Einführung des Kollegstufensystems drängten, um nun bitter
zu beklagen, dass die Allgemeinbildung auf der Strecke geblieben sei. Endlich wären
noch ein paar weitere Akteure zu nennen, die subtil und sublim mitspielen - in
einem Maße freilich, dass man den Gedanken an kleine Verschwörungen einfach
nicht verdrängen kann. So hat sich beispielsweise der Bertelsmann-Konzern ganz
systematisch in die Bildungsdebatte und in Funktionen des Bildungssystems einge-
schlichen (vgL Schöller 2001); eines der maßgebenden Institute der Universitätsbe-
wertung, das eHE, ist eine Einrichtung des Bertelsmannkonzerns. Der Konzern hat
sich zudem mit einer Vielzahl von Aktivitäten in allen Bereichen des pädagogischen
Systems engagiert, wenngleich inzwischen sein Interesse doch abflaut. Insider spre-
chen von einem zwar zynischen, aber ziemlich radikalen Rückzug, weil die Gewinn-
aussichten deutlich geringer ausfallen als erhofft. Andere stehen jedoch schon in
30 Michael Winkler

den Startlöchern: Microsoft greift in der Fernsehwerbung ungeniert auf das staatli-
che Bildungssystem zu, die Beratungsgesellschaft McKinsey etabliert sich als eine
Instanz, welche die Debatte um Bildung vorantreibt, wobei insbesondere die Neu-
rowissenschaften in den Vordergrund geschoben werden. Unstrittig handelt es sich
stets um ehrenwerte Gesellschaften, die nur unser aller Bestes wollen. Aber worin
besteht wohl dieses Beste und vor allem: Warum wollen sie dieses Beste von uns
auch noch nehmen?
Dann: Die Debatte um Bildung und - so muss man ergänzen - Erziehung hat
in den letzten zehn Jahren eine neue Tiefendimension gewonnen. Sie lässt sich am
Titel einiger Bücher erkennen, die einige Popularität erhalten haben: Hermann
Giesecke sprach vom "Ende der Erziehung", um wenig später in seinem Buch
"Wozu ist die Schule da?" zu fordern, dass Schule sich auf Unterricht konzentrieren
müsse und nicht mit pädagogischen Aufgaben überfordert werden dürfe, die das
Elternhaus zu erledigen habe (Giesecke 1996). Peter Struck mahnte neue Lehrer für
das Land an (Struck 1994), empfahl sich zudem mit der Kunst der Erziehung (Struck
1996, vgl. Winkler 1997), während Petra Gerster und Christian Nürnberger (2001)
den Erziehungsnotstand ausriefen, bis endlich Susanne Gaschke (2001) die "Erzie-
hungskatastrophe" festgestellt hat; auch Kanzler Schröders Gattin hat sich einschlä-
gig geäußert.
Keines dieser Bücher plagt sonderliche Klugheit, für keines kann man Konsis-
tenz behaupten, geschweige denn, dass sie empirische oder gar theoretisch-reflexive
Qualität hätten. Auch wenn sie häufig mit dem Gestus von Ratgebern auftreten,
drücken diese Bücher allerdings allesamt ein dunkles Unbehagen gegenüber dem
pädagogischen System aus. Dieses wird als nicht mehr leistungsfahig beschrieben
und verurteilt. Folgt man den Diagnosen, versagen eigentlich alle und müssen daher
an die Kandare genommen werden: Die Eltern, die Erzieherinnen, Lehrerinnen,
Sozialpädagoginnen, vor allem aber die Kindern und Jugendlichen selbst; als
Grundmotive werden vorgetragen, dass ihnen nicht genug Grenzen gesetzt werden,
dass sie zu wenig Leistung bringen, zu wenig lesen, aber auch zu wenig sich auf
Naturwissenschaft, Technik und Informationstechnologien einlassen, aber dann
doch zu angepasst an die Konsumgesellschaft wären und zuviel an Computern
säßen.
Was mithin an Kritik vorgetragen wurde und wird, ist einigermaßen absurd; es
lohnt eigentlich fast nicht, sich damit auseinander zu setzen. Aufregender ist jedoch
die Veränderung bei den Akteuren dieses Paidotainment. Charakteristisch ist für sie
nämlich, dass und wie die Autoren allesamt in einem ganz eigentümlichen Zwi-
schenfeld von Wissenschaft und Medien angesiedelt sind und agieren. Zumindest
einige kommen aus dem Wissenschaftssystem, legitimieren sich im Spiel der Exper-
ten durch ihre so begründete Fachkompetenz. Zugleich zeichnet alle diese Bücher
aus, dass ihre Inhalte vor der Buchveröffentlichung schon journalistisch vorgestellt
wurden, zum Teil - so bei Susanne Gaschke - in Reportagen oder auch - so bei
Bildungspolitik nach PISA 31

Peter Struck - in Kolumnen der Hamburger Morgenpost, von Hermann Giesecke


in Rundfunksendungen. Das verweist auf einen Vorgang der Interpenetration von
Systemen, nämlich zunächst von Wissenschaft und Medien, zunehmend auch der
Politik. Noch deutlicher wird dies übrigens in der Diskursdimension, die durch den
Einfluss der Neuro- und Kognitionswissenschaften, aber auch der Medizin be-
stimmt wird. Hier sind es wiederum einige medial zu solchen ernannten Experten,
die mit ihrem oftmals ziemlich unfrisierten Beiträgen Einfluss auf die Debatte neh-
men - übrigens ohne Rücksicht auf zuweilen schlicht unverträgliche Positionen:
Dass scholare Prozesse möglichst früh einsetzen sollen, wird nämlich nicht nur mit
dem vorgeblich hohen Alter der Schulabsolventen begründet; vielmehr wird die
Einsicht der Gehirnforschung geltend gemacht, dass nur bis zum siebten Lebens-
jahr ein neuronales Fenster geöffnet sei, durch welches das Gehirn sich in seiner
Strukturbildung beeinflussen lasse; bis zu diesem Zeitpunkt sei ein Lernen in einem
umfassenden Sinne möglich. Dass gleichzeitig lebenslanges Lernen gefordert wird,
bildet nur eine der vielen Absurditäten des Geschehens - nebenbei weiß man aus
der Rehabilitation von Alkoholikern, dass das Gehirn viel länger an sich arbeitet
und neuronale Substitutionsprozesse vornimmt.
Gleichwohl: Zu beobachten ist ein neues Format, wie es Peter Weingart in sei-
nem Buch "Die Stunde der Wahrheit" beschrieben hat (Weingart 2001). Gestützt
auf wissenschaftliche Kompetenz repräsentieren und artikulieren diese Texte eine
Art hintergründigen Raunens, zugleich einen neuen Typus von Öffentlichkeit. Sie
haben das diskursive Feld für die PISA-Studie geschaffen, die Bühne und ihre Ku-
lissen vorbereitet, auf welcher diese dann als ein dramatisches mediales Ereignis
inszeniert und erfolgreich aufgeführt werden konnte - wobei die (noch einmal:
erste) Studie weniger wegen ihrer inhaltlichen Aussagen erfolgreich war, sondern
vor allem wegen der Art und Weise, wie einige Kernbefunde vorgestellt wurden.
Das Dilemma der neuen Allianzen zwischen Politik, Medien und Wissenschaft
besteht nämlich darin, die Aufmerksamkeit auf plakative Darstellungen zu lenken.
Was nicht in dreißig Sekunden gesagt werden kann, hat keine Aussicht darauf, ü-
berhaupt noch ausgesprochen zu werden. So wurde die Rezeption der PISA-Studie
in dem Ausmaß nur möglich, weil sie ihre Befunde in die Form gebracht hat, die der
durchschnittliche Deutsche am besten versteht, nämlich in die Gestalt der Bundes-
ligatabelle. Die Suggestivkraft einer Darstellung, welche mit dem unteren Tabellen-
drittel operiert, lässt sich offensichtlich nicht mehr überbieten. Kaum einer hat aber
danach gefragt, was denn die Zahlen überhaupt bedeuten.
Faktisch können in dieser Situation Differenzierungen und Reflexionen nicht
mehr vorgetragen werden, so dass in der Tat Vorurteile wie Ressentiments sofort
durchschlagen, selbst wenn offensichtlich ist, dass sie in der Sache überhaupt keine
Relevanz haben. Man kann dies gut an der ersten Reaktion auf die PISA-Befunde
erkennen, auf Kindergärten und Grundschulen als die Übeltäter zu verweisen. Dass
von diesen keine Rede in PISA war, tat nichts zur Sache. Die zweite Reaktion war
32 Michael Winkler

nicht minder absurd, nämlich die Kritik an der so genannten Kuschelpädagogik;


PISA enthält sich aber einer Bewertung der praktizierten Pädagogik und der metho-
dischen Verfahren, dennoch kreist die Debatte bis heute um diese Formel. Dass
dabei grundlegende Mechanismen und Zusammenhänge des Lernens, die unab-
dingbare Verknüpfung von Kognition und Emotion schlicht ignoriert werden,
gehört zu den besonderen Delikatessen der ganzen Debatte.
Wenn wir von Bildungspolitik heute reden, so haben wir also zunächst einmal
zu tun mit einer systematischen Erzeugung von Stimmungslagen. Sie werden dann
abgefragt, um als Steuerungsgrundlagen im Mediensystem zu dienen, auf welches
dann wiederum Politik reagiert. Wenn wir von Bildungspolitik reden, sprechen wir
also weniger von den klassischen Diskussions- und Entscheidungsprozessen im
Zusammenhang demokratisch legitimierter Instanzen, wir sprechen auch nicht von
einer breiten öffentlichen Debatte, in der die Einzelnen sich artikulieren und auf
Wirkung rechnen könnten. Es findet kein Raisonnement, keine Auseinandersetzung
statt. Vielmehr wird ein kommunikatives Klima vorbereitet, geradezu eine Ressen-
timent geschaffen, in welchem Positionen in einer Weise inszeniert werden, die
verbietet, dass man sich ihnen entzieht. Insofern haben wir mit einem Diskurs zu
tun, der in einer Art Eigenlogik voranschreitet, dabei kein Veto akzeptiert, weder
den empirisch gestützten Einwurf (oder den Verweis darauf, dass manche Behaup-
tungen schlicht falsch sind), schon gar nicht mit reflexiv-argumentativ begründeten
Hinweisen umzugehen vermag. Um ein Beispiel für die Absurdität der Debatte zu
nennen: So dringen die Protagonisten energisch auf eine Verkürzung der Schulzeit,
ohne zu bemerken, dass die faktischen Bildungszeiten in Deutschland - trotz der
langen Zeitspanne für sie - eher kurz ist - bedingt nämlich durch die Halbtagsschu-
le. Deutsche Schüler haben im Jahresdurchschnitt nahezu 200 Stunden weniger
Unterricht als die im Nachbarland Niederlande (vgl. Avenarius u. a. 2003). Wer also
auch immer auf mögliche Implikationen und Folgen von Entscheidungen hinweist,
der wird entweder völlig ignoriert oder als Bedenkenträger abgewertet.
Andererseits zeichnet sich aber zunehmend ab, wie eine Art Expertokratie ent-
steht, die in der Tat machtvoll und häufig genug hinter verschlossenen Türen, vor
allem unbeeindruckt von Gegenpositionen Entscheidungen trifft und insofern
handelt. Das sind auf der einen Seite die so genannten Expertenkommissionen, die
wir auf allen Politikfeldern antreffen; sie haben eine lange Tradition im Bereich der
Wirtschaftsbeobachtung, etwa in Gestalt der so genannten Weisen. Während deren
Urteil aufgrund einiger Fehlprognosen neuerdings sogar an Gewicht verliert, gewin-
nen in den vorgeblich weichen Bereichen, in welchen es allerdings um den Kernbe-
stand des Sozialstaates geht, solche Kommissionen einen - demokratietheoretisch
betrachtet - katastrophalen Stellenwert. Im Übrigen hat die Tageszeitung Die Welt
durchaus recht, wenn sie als die Blaupause dieses Verfahrens jene Kommission
nennt, welche die Rechtschreibreform ausgekocht hat.
Bildungspolitik nach PISA 33

Politik verändert sich also insofern, als Gestaltungswille, Gestaltungsfahigkeit,


und Gestaltungskraft der legitimierten parlamentarischen Gremien zunehmend an
Experten preisgegeben werden. Spätestens Gerhard Schröders Versprechen, die
Vorschläge der Hartz-Komrnission "eins-zu-eins" umsetzen zu wollen, hat den
Damm zwischen Politikberatung und legislativem Prozess endgültig brechen lassen;
im Grunde wurde so ein Staats putsch vollzogen, weil nämlich die Macht an Gre-
mien abgegeben wurde, die über keinerlei Legitimation verfügen.
Alles in allem lässt sich also dreierlei festhalten: Es gibt zum einen keine klaren
Machtzentren, aus welchen Bildungspolitik deftniert und gestaltet wird; vielmehr
haben wir mit eher dunklen, undurchsichtigen, oft hochgradig willkürlich und zufäl-
lig in Gang gesetzten Vorgängen zu tun, die zum Teil höchst widersprüchlich ver-
laufen. Zum anderen wird das Geschehen im Bildungssystem substantiell durch Ent-
scheidungen bestimmt, die nichts mit den Anforderungen zu tun haben, welche
man aus den vorliegenden Befunden vielleicht ableiten könnte. Was nämlich ge-
genwärtig passiert, wird vorrangig durch ftskalpolitische Entscheidungen und da-
durch bestimmt, wer die Lasten möglicher Gesetze auf wen abwälzen kann - sicht-
bar wird dies an den Debatten um die Kindertagesbetreuung. Endlich muss man
auch sehen, dass eine Tendenz zum Aktionismus eingezogen ist, bei dem Entschei-
dungen getroffen werden, ohne auch nur annähernd über Effekte oder wenigstens
flankierende Maßnahmen nachzudenken - ein Beispiel dafür bietet die Einführung
des achtjährigen Gymnasiums in Bayern3 , ein anderes kann man in der flächende-
ckend durchgesetzten Verlängerung der Lehrerarbeitszeiten sehen, die zu Kürzun-
gen in den Stellenplänen geführt haben.

(4) Was aber - vierter Punkt - passiert nun eigentlich konkret? Die Antwort fillt
keineswegs leicht, weil aufgrund der eingeschränkten Bundeskompetenz und der
Bildungshoheit der Länder eigentlich von vielen Bildungspolitiken gesprochen werden
muss. Dennoch zeichnet sich eine radikale, in ihren Konsequenzen dramatische
Veränderung ab. Sie hat sich zunächst angedeutet in dem Programm der rot-grünen
Bundesregierung, für den Ausbau einer Ganztagsbetreuung ein befristetes Budget
zur Verfügung zu stellen, das von den Ländern abgerufen werden kann. Wer die
Debatte etwas genauer verfolgt hat, kann feststellen, dass die unionsregierten Län-
der zunächst mit einer unwirschen Geste dieses Angebot zur Seite schieben wollten,
dann aber innegehalten haben. Der Grund dafür zeigt sich inzwischen. Weitgehend
hinter verschlossenen Türen tagte die so genannte Föderalismuskommission, die
eine Neuordnung der Verhältnisse zwischen Bund, Ländern und Kommunen vor-
bereitet. Dabei geben die Länder Kompetenzen im Bildungsbereich an den Bund

.1 In Verbindung mit der Einführung der neuen, dreijährigen BA-Studiengänge führt dies nun zu der

Konsequenz, dass der deutsche BA-Abschluss in den USA nicht anerkannt wird; während dort ein
vierjähriges Studimn auf einer zwälfJährigen Schulzeit aufbaut, wird die Ausbildungszeit in Deutschland
dann insgesamt mn ein Jahr zu kurz ausfallen.
34 Michael Winkler

ab, für das Zugeständnis, dass der Bund die Rahmenkompetenz im Bereich der
Jugendhilfe zugunsten der Länder schwächt. Flankierend wird der Rechtsanspruch
auf Hilfen zur Erziehung zurückgenommen, wie er das Kernstück von SGB VIII
darstellt. Inzwischen hat diese Entwicklung eine weitere Dimension angenommen.
So will das Land Thüringen nun - dem Beispiel anderer Länder folgend - den V or-
schulbereich künftig im Kultusministerium ansiedeln. Damit wird zwar vordergrün-
dig eine alte Forderung des - übrigens von der Union stets abgelehnten - Bildungs-
gesamtplans realisiert; andererseits muss man nicht nur einen Verlust der inzwi-
schen entwickelten Fachkompetenz in Sachen Elementarpädagogik befürchten,
vielmehr wird so das SGB VIII, somit die Rechtsgrundlage der Jugendhilfe fuettiert,
wenn nicht sogar zerstört.
Vor diesem Hintergrund wird nachvollziehbar, wie die Kultusministerkonfe-
renz sich relativ unproblematisch darauf einigen konnte, so etwas wie nationale
Bildungsstandards entwickeln zu wollen und deren Realisierung durch ein Institut
prüfen zu lassen, das an der Berliner Humboldt-Universität angesiedelt wird. Es ist
bislang zwar noch völlig offen, wie diese Bildungsstandards formuliert und verbind-
lich gemacht werden sollen, letztlich läuft das Verfahren auf die Einführung von
eher konventionellen Tests hinaus. Doch werden neue Leistungsanforderungen
etabliert - sichtbar in einer Einführung zentraler Prüfungen vor allem im Sekundar-
bereich, zudem in den zentral organisierten Tests auf unterschiedlichsten Stufen des
Bildungssystems. Dabei wird in einer End-of-the-Pipe-Strategie festgesetzt, was als
Ergebnis von Bildungsanstrengungen herauskommen soll - wobei zugleich, hierin
PISA folgend, die Träger des Bildungsgeschehens offen bleiben.
Damit konkretisiert sich, was als Deregulierung in den oben zitierten Textstel-
len auch angesprochen wurde. Entscheidend ist nur noch, ob das Endergebnis den
Maßstäben entspricht. Um welchen Preis es erzeugt wurde, beschäftigt nicht mehr.
Entsprechend zurückhaltend verhält man sich gegenüber Qualitätsstandards, die
sich auf Struktur und Prozess beziehen (anders dagegen: Avenarius u.a. 2003 z. B.
89ff.); völlig ausgeblendet bleibt, ob und inwiefern man sich zu den Inputfaktoren
verhalten soll. Unklar ist daher der künftige Status der Schulen (vgl. auch hier: Ave-
narius u.a. 2003). So räumen einige Länder den Schulen erweiterte Handlungsmög-
lichkeiten ein, wenn und sofern sie sich mit eigenen Schulprogrammen profilieren.
Andere verstärken die Aufsicht über die Schulen. Undeutlich ist ebenfalls, wie Leh-
rerinnen befähigt werden sollen, Tests als diagnostisches Instrumentarium zu nut-
zen; bislang sind sie jedenfalls weder mit ausreichenden Fähigkeiten ausgestattet
noch aber so ausgebildet worden, dass die Ergebnisse produktiv für die Förderung
der Kinder und Jugendlichen genutzt werden könnten. Völlig unklar ist endlich, wie
Schülerinnen und Schüler unterstützt und gefördert werden sollen, die bei solchen
Tests schlecht abschneiden - faktisch sollen der Druck des Schulsystems ebenso
gesteigert werden wie seine Selektivität. Man kann also davon ausgehen, dass die -
auch medikamentöse - Zurichtung von Schülern zunimmt (man denke nur an die
Bildungspolitik nach PISA 35

ADS-Debatte), dass die Jugendhilfe ein erweitertes Betätigungsfeld bei der Bearbei-
tung von Schulversagern erhält, dass vor allem die Zahl der vergessenen, weil aus-
gegrenzten Schüler zunimmt. Dies wird um so stärker der Fall sein, je mehr Markt-
mechanismen in das Bildungssystem eingeführt werden, die Schulen also auf eigene
Einnahmen angewiesen sind. Unzweifelhaft benötigen sie dann eine reputierliche
Klientel und werden sich all derjenigen entledigen, die als auffällig und störend das
Image der Schule schädigen.
Endlich: PISA erinnert energisch an das, was ein jeder kritischer Beobachter
des Bildungssystems schon immer wusste - aber in der alten Bundesrepublik nicht
sagen durfte, wenn er nicht des Landes und in die DDR verwiesen werden wollte:
Das bundesdeutsche Bildungssystem wirkt hochgradig sozial selektiv (vgl. z.B. All-
mendinger 1999). Je höher der Einkommens- und Bildungsstatus von Eltern, um so
größer ist die Chance, das Schulsystem erfolgreich in einem Bereich zu absolvieren,
der weiterführende Bildungsmöglichkeiten eröffnet. Freilich muss man hier ein
wenig vor den Verzerrungen warnen, die in der Debatte entstanden sind: Alle Bil-
dungs systeme dieser Welt reproduzieren soziale Ungleichheit, sie sind unvermeid-
lich ungerecht, wenn in Gesellschaften soziale Ungleichheit herrscht und somit die
Chancen Bildungsmöglichkeiten wahrzunehmen in einer Weise verteilt sind, die mit
sozialer Herkunft, sozioökonomischen Status zu tun haben. Etwas banal formuliert:
In Klassengesellschaften reproduzieren Bildungssysteme eben wiederum die Klas-
senzugehörigkeit (vgl. Bourdieu/Passeron 1973, Bourdieu 2001, Sünker 2003, 2004,
Sünker u.a. 1994).
Während aber in der Mehrzahl der Gesellschaften der sozioökonomische Sta-
tus und somit soziale Herkunft sich vor allem an der Stufe zum tertiären Bereich
diskriminierend auswirken, besteht das eine Problem in Deutschland darin, dass die
soziale Selektion des Bildungswesens sehr früh einsetzt - faktisch (etwa im Blick auf
den Zugang zur deutschen Sprache als Verkehrssprache) schon vor den formal
organisierten Bildungsprozessen, verschärft dann im Laufe der ersten zehn Jahre
des Schulunterrichts, nicht zuletzt aufgrund einer frühen Verteilung an der Stufe
von Primarbereich zu Sekundarbereich. Das andere Problem ist noch heikler: Das
bundesdeutsche Bildungssystem ist offensichtlich bei fast einem Viertel der Kinder
und Jugendlichen nicht in der Lage, diesen die basalen Grundlagen zu geben, die sie
für eine Existenz in dieser Gesellschaft benötigen. Vieles deutet darauf hin, dass
genau diese rund 25 Prozent auch jenem Viertel entsprechen, das als sozial hoch
belastet gelten muss - wobei nicht zuletzt Migrationshintergründe eine Rolle spie-
len. Es ist immerhin erst im Zusammenhang der PISA-Studie deutlich geworden,
dass für ein Drittel der in Deutschland lebenden jungen Menschen Migration und
ethnische Differenz eine entscheidende Erfahrung darstellen - vorher sprach man
von den acht bis zehn Prozent Ausländern, die eigentlich zu vernachlässigen seien.
Hier nun stellt sich allerdings die Frage nach dem Zusammenhang von Bil-
dungsreform und Sozialreform. Die soziale Selektivität des Bildungssystems lässt
36 Michael Winkler

sich nur mindern, wenn man einerseits schon möglichst frühzeitig herkunftsbeding-
te Hindernisse durch ge zielte Förderung kompensiert, andererseits Familien, Eltern,
Kindern und Jugendlichen mit belasteten und belastenden Lebensbedingungen eine
hinreichende Unterstützung sichert, die ihnen ermöglicht, für eine ganze Bildungs-
karriere Bildungsangebote wahrzunehmen. Dabei kommt es sowohl darauf an,
Familien direkt zu stützen, wie aber auch den jungen Menschen die nötige Umge-
bung für ihre Lernanstrengung zu sichern; gut ausgestattete Ganztagsschulen sind
hier unverzichtbar, wobei sie auch noch positive Effekte für die politische Sozialisa-
tion nach sich ziehen.
Indes: Die Wirklichkeit dieser Sozialreform sieht dramatisch anders aus: Es
gab kaum eine Reaktion auf den PISA-Befund zur sozialen Selektivität des Bil-
dungssystems - selbst der 10. Kinder- und Jugendbericht, der nachdrücklich auf das
Problem der Armut unter Familien und bei Minderjährigen hingewiesen hat, erzeug-
te mehr Echo (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
1998). Auch damals wurde freilich nur festgehalten, kein Kind müsse in Deutsch-
land verhungern. Dass aber Kinder und Jugendliche systematisch von Bildungs-
möglichkeiten ausgeschlossen werden, wird schlicht und einfach nicht zur Kenntnis
genommen. Es gibt keine Strategien, dem entgegen zu wirken. 4 Im Gegenteil: Alle
jüngeren Maßnahmen in der Reform des Sozialsystems gehen zu Lasten von Fami-
lien und Minderjährigen. Schon jetzt ist in den bundesdeutschen Großstädten rund
ein Viertel der Minderjährigen auf Sozialhilfe angewiesen. Die im Rahmen der so
genannten Hartz IV-Regelungen erfolgte Zusammenlegung von Arbeitslosengeld
und Sozialhilfe, das so genannte Arbeitslosengeld II, wird die Zahlen der Kinder
explosionsartig in die Höhe schnellen lassen, die von Armut betroffen sind. Und
weiter: Jede Maßnahme, die auf gesteigerte Selbstverantwortung gegenüber den
Risiken des Lebens, gegenüber Krankheit und Alter zielt, schmälert die Budgets der
Familien, geht zu Lasten der Kinder und Jugendlichen. Endlich: Jede bildungspoliti-
sche Strategie, die auf den Out-Put sieht und keine Qualitätskriterien für Struktur
und Prozess festhält, jede Deregulation im Bildungssystem führt unweigerlich dazu,
dass die Anforderungen an die einzelnen Familien steigen, ihren Beitrag für den
Bildungsgang der Kinder zu leisten - wer dem nicht nachkommen kann, der muss
damit rechnen, aus dem System ausgeschlossen zu werden: So erwarten weiterfüh-

4 Übrigens reagiert hier auch die Kinder- und Jugendhilfe hochgradig problematisch, wenn sie nun
gleichsam auf die Bildungsdebatte aufspringt, Bildung als eine ihrer genuinen Aufgaben betrachtet und
bewertet, damit aber die Arbeit an den sozialen Rahmenbedingungen, an der Ausgangslage des Lernens,
wie vor allem auch Fragen der Erziehung ausblendet. Sie muss selbst begreifen, dass sie eine genuine,
unverzichtbare Aufgabe darin hat, Sozialität und Individualität (nicht nur) junger Menschen so zu si-
chern, dass sie dann an formalisierten Bildungsprogrammen überhaupt erst teilhaben können. \' ersteht
sie sich selbst als Bildungsinstanz, dann gibt sie ihre eigenen Kompetenzen preis - mit der Folge, dass die
systemisch nötigen Leistungen überhaupt nicht mehr realisiert werden, für die sie nun in der Tat zustän-
dig ist. Sie reduziert sich dann auf Nothilfe, statt zu realisieren, dass sie in modernen Gesellschaften eben
eine infrastrukturelle Aufgabe als \' orbedingung des Schulsystems zu bewältigen hat.
Bildungspolitik nach PISA 37

rende Schulen inzwischen regelmäßig, dass Familien über pes und über einen In-
ternetanschluss verfügen; wer dies nicht tut, ist beispielsweise in Bayern praktisch
nicht mehr in der Lage, die in der Kollegstufe obligatorische Facharbeit anzuferti-
gen.
Armut ist heute in Deutschland jung; Armut in Kindheit und Jugend aber be-
deutet immer, dass man lebenslang betroffen ist (vgl. Palentien u.a. 1999). Der Zy-
nismus in der gegenwärtigen Situation besteht darin, dass dies nicht wahr- und ernst
genommen wird, die Politik die Lasten vielmehr weiter zu Ungunsten von Familien
verlagert; sie schließt damit Kinder und Jugendliche von Bildung aus. Hier flndet
eine Bildungsreform statt, die mit gesellschaftlichem Ausschluss operiert - nur
nebenbei: Dass die jetzt anstehende Novelle des Kinder- und Jugendhilfegesetzes
eine zunehmende Eigenbeteiligung von Eltern an der Finanzierung der Hilfen zur
Erziehung vorsieht, dass dies inzwischen in einigen Ländern auch für die ambulan-
ten Hilfen vorgesehen wird, die - wie etwa die Tagesgruppen - eine eminente Be-
deutung haben, um Schule bewältigen zu können, all dies bestätigt den Befund. Wer
nicht leistungsfähig ist, wird schlicht ausgeschlossen.

(5) Gibt es, um endlich zum fünften Punkt zu kommen, eine theoretische Interpre-
tation des Geschehens? Zwei Stichworte sollen genügen - wobei die Gefahr nicht
zu übersehen ist, dass sie polemisch übertreiben:
Das erstes Stichwort schließt an Überlegungen an, die Zygmunt Bauman in
den letzten Jahren an unterschiedlichen Stellen vorgetragen hat (vgl. Bauman 2000,
Bauman/Tester 2001). Es lautet: Bildungspolitik als AusgreniJIng. Mit PISA bricht eine
Bildungspolitik durch, die in der Tat eine Sozialreform beabsichtigt. Es geht ihr um
eine tief greifende und nachhaltig wirkende Umstellung dieser Gesellschaft. Diese
Umstellung wird ausgelöst durch einen Prozess der Deregulierung, der Entstaatli-
chung des Bildungssystems. Der ökonomisch geschwächte Staat verzichtet von sich
aus, die Infrastrukturen der Gesellschaft zu erhalten und zu steuern. Das Bildungs-
system ist aber eine der zentralen Infrastrukturen, möglicherweise eine wichtige
Bedingung des Reichtums einer Gesellschaft, sicher aber die zentrale Voraussetzung
für soziale und kulturelle Integration ihrer Mitglieder.
Der Rückzug des Staates aus der Subsidiierung des Bildungssystems wird meist
mit dem Verweis auf die Funktionsfähigkeit des Marktes gerechtfertigt, der auch die
Qualität des Bildungsangebots steigern soll. Nur: Dieser Verweis taugt nicht, weil
am Markt nur agieren kann, wer dazu überhaupt fähig ist. Wer kein Geld hat, kann
Bildungsleistungen nicht erwerben. Der Hinweis entbehrt auch nicht des Zynismus,
weil auf der Hand liegt, wie sich die sich selbst überlassenen Schulen jener Kinder
entledigen werden, die den Leistungsstandards nicht entsprechen - dabei handelt es
sich um keine Spekulation: Aus den USA wie aus Großbritannien weiß man, dass an
den PISA-Erhebungen schwierige Kindern gar nicht teilgenommen oder nach Hau-
38 Michael Winkler

se geschickt wurden, damit sie die durchschnittlichen Messwerte nicht verschlech-


tern konnten.
Ohnedies sollte man genauer hinsehen: Der Staat zieht sich aus den Bereichen
jener Infrastrukturen zurück, die mit der Daseinsvorsorge der Menschen zu tun
haben. Prozesse der Liberalisierung und Individualisierung, der Übertragung von
Verantwortung für die Absicherung existentieller Risiken beziehen sich vorrangig
auf die Einzelnen, allzumal auf solche, die auf eine abhängige Beschäftigung ange-
wiesen sind. Die Sicherung von Infrastrukturen für unternehmerische Investitionen
wird vehement weiter verfolgt. Ganz Ostdeutschland ist ein Beleg für eine solche
Politik, bei der staatliche Unterstützung Rationalisierungsprozesse vorangetrieben
hat. Faktisch hat die Förderpolitik der letzten fünfzehn Jahre Arbeitsplätze vernich-
tet, indem mit staatlicher Subvention Betriebsstätten in Ostdeutschland neu ge-
gründet wurden, die vorher in den alten Bundesländern mit geringerer Produktivität
agiert haben. Während Unternehmen also mehr denn je auf staatliche Unterstüt-
zung rechnen können, verlieren die Einzelnen die öffentliche Unterstützung in
ihren existentiellen Lebensbedingungen. Dies gilt bei der Gesundheits- und Alters-
vorsorge, wie es aber auch zunehmend dann gilt, wenn die Qualifikationen und
Kompetenzen für eine Erwerbstätigkeit erworben werden.
Alles deutet darauf hin, dass diese Form einer Modernisierung des Bildungs-
systems, dass also die faktisch betriebene Bildungspolitik insofern Sozialpolitik
darstellt, als sie zu massiven Ausgrenzungsprozessen führt und führen wird. Wenn
die Bundesrepublik nicht rasch gegensteuert - und dafür gibt es keinerlei Anzeichen
-, dann wird Bildung eine Angelegenheit von höchstens (euphemistisch gerechnet)
zwei Dritteln dieser Gesellschaft; der Rest verschwindet in das Vergessen einer
Arbeitslosenstatistik, die regelmäßig bereinigt wird und in Zukunft möglicherweise
gar nicht mehr die aufführt, welche aufgrund fehlender Ausbildung nie zur Berufs-
tätigkeit kamen und daher nicht als arbeitslos im Sinne des Sozialversicherungs-
rechts gelten. Kurz: Ein Effekt dieser, die Gesellschaft faktisch verändernden prak-
tischen Bildungspolitik, wie sie aus dem Zusammentreffen eines deregulierten, auf
Leistung angelegten Bildungssystems und einer auf die Steigerung von Armut ge-
richteten Sozialpolitik erwächst, besteht in der Ausgrenzung von Bevölkerung -
man vergisst Menschen, die niemals eine Chance bekommen, ihre Stimme zu erhe-
ben, an Wohlstand und Kultur teilzuhaben; man verdrängt diejenigen aus der Ge-
sellschaft wie aber auch aus dem Bewusstsein, die Schwierigkeiten haben, mit den
Anforderungen dieser Gesellschaft klar zu kommen, den Standards zu entsprechen,
die von anonymen Kontrollagenturen etabliert werden.
Das zweite Stichwort folgt Gedanken Michel Foucaults und lautet: Etabliemng
einer Kontrollgesellschaft mit Selbstunterwerfung der Subjekte. Ein kleiner gedanklicher Um-
weg ist nötig, um es zu erläutern: Die besondere Bedeutung von PISA auch und
gerade im Blick auf Fragen der Sozialen Arbeit und der Sozialpädagogik liegt darin,
dass sich das Design der Studie nicht an den Curricula der nationalen Bildungssys-
Bildungspolitik nach PISA 39

terne orientiert. PISA schlägt einen radikal neuen Weg ein, indem das Programm
einen eigenen Bewertungsmaßstab entwickelt, der im Prinzip zwei Dimensionen
hat: Auf der einen Seite schlägt PISA nämlich ein Modell dessen vor, was junge
Menschen an Kompetenzen benötigen, um erfolgreich in modemen Gesellschaften
leben zu können; PISA zeichnet somit ein stark normative Komponente aus, die an
die alte Debatte um Allgemeinbildung anknüpft. Auf der anderen Seite bestimmt
das Forschungsdesign die Frage nach der Leistungsfähigkeit des Bildungssystems.
Was halten die Gesellschaften in ihren nationalen Bildungssystemen bereit, um dem
Nachwuchs hinreichende Möglichkeiten zu eröffnen, in dieser Gesellschaft agieren
zu können? Dabei liegt eine Besonderheit der PISA-Studie darin, dass sie mit einem
abstrakten Verständnis von Bildungssystem operiert und sich nicht auf Schule allein
konzentriert; sie richtet tendenziell ihre Aufmerksamkeit auf die gesamten Anstren-
gungen, die eine Gesellschaft im Blick auf Bildungsprozesse unternimmt, ohne
jedoch die institutionellen Formen zu beurteilen, in welchen dies geschieht. Faktisch
behandelt PISA das Bildungssystem als black box, dessen Out-put gemessen wird;
die Studie macht also direkt keine Aussagen darüber, welche Form der schulischen
Organisation als besonders hilfreich erscheint. Insofern sind die Debatten darüber,
ob man ein Gesamtschulsystem mit Ganztagsbetrieb dem hochselektiven System
der Bundsrepublik vorziehen sollte, durch PISA nicht gedeckt - und selbst Re-Ana-
lysen der Daten geben hier keinen eindeutigen Aufschluss.
Die von PISA aufgeworfene Frage darnach, über welche Fähigkeiten und Fer-
tigkeiten Menschen verfügen sollten, ist nun keineswegs originell (vgl. z. B. Tenorth
1994). Schon Wilhelrn von Humboldt hat sie in den Mittelpunkt seiner bildungs-
theoretischen Überlegungen gestellt. Eine solche Frage kann man jedoch in zweier-
lei Hinsicht verfolgen: Einmal kann man - wie Humboldt dies vorrangig getan hat -
eine Vorstellung des idealen, des umfassend, allseitig und zugleich harmonisch und
entwickelten Menschen entwerfen; man stellt dann einen Begriff von Subjektivität
in den Mittelpunkt, an welchen eine formale Bildungstheorie anschließt. Zum ande-
ren kann man danach fragen, was die jeweilige Gesellschaft an Individuen benötigt,
um erfolgreich weiter bestehen zu können; Allgemeinbildung wird dann durch
Nützlichkeitserwartungen definiert, die letztlich ökonomisch bestimmt sind.
OECD, PISA und die der Studie folgende Bildungspolitik wählen den zweiten
Weg, obwohl sie dies nicht so leicht zu erkennen geben (vgl. Klausenitzer 2002,
Sünker 2003, 2004). Zwar weckt den Verdacht einen prioritär nützlichkeits- und
verwertungsorientierten Sicht, dass etwa Fragen von Emotionalität und Affektivität,
der moralischen Entwicklung, aber auch der politischen Beteiligung bei PISA nicht
nur in den Hintergrund gerückt, sondern glattweg verschwunden sind. Man kann
freilich argumentieren, dass dies einer forschungstechnischen Notwendigkeit ent-
sprach und unvermeidlich ist, man muss zudem feststellen, dass etwa bei der Civic
Education Study die deutschen Jugendlichen in Sachen des politischen Engage-
ments gar nicht so sonderlich gut abgeschnitten haben. Gleichwohl hat eben dieses
40 Michael Winkler

Deflzit mit zu der unsäglichen Debatte um die Schmusepädagogik geführt, welche


deutsche Schulen auszeichne und jetzt durch Leistungsorientierung und Kogniti-
vismus ersetzt werden müsse - wer immer die deutsche Schulrealität kennt, wird
sich bei dieser Debatte gewiss die Augen gerieben haben, wer auch nur eine kleine
Ahnung von den komplexen Verschränkungen zwischen Emotionen und Kognition
beim Lernen hat, musste ziemlich laut aufschreien.
Wenn ein vorrangig gesellschaftlich, genauer: ökonomisch deflnierter Bedarf
von Bildung bei PISA nicht so ins Auge springt, hängt dies damit zusammen, dass
das Programm diesen in einer gleichsam globalisierten, nämlich auf die Bedürfnisse
moderner Industriegesellschaften schlechthin gerichteten Perspektive ausgedrückt
und zugleich in individualisierenden Formeln verpackt hat (vgL Egger 1999, Klau-
senitzer 2002). Dass es um gesellschaftlichen Bedarf geht, fallt also nicht ins Auge,
weil sehr allgemein von basalen Kompetenzen zur Bewältigung des Lebens gespro-
chen wird. Dies verstärkt durchaus den Eindruck, dass PISA auf Allgemeinbildung
schlechthin zielt, die nun in moderner Form gefasst und vor allem messtechnisch
operationalisiert ist. Der Reiz auch und ganz besonders für die Soziale Arbeit und
Sozialpädagogik liegt dabei darin, dass damit die Frage nach der Lebensbewältigung
aufgeworfen und mitgedacht wird. Man könnte den Eindruck gewinnen, es gehe
darum, Menschen durch Bildungsangebote und Bildungsanstrengungen zu befähi-
gen, ihre Lebensumstände und sich selbst kontrollieren zu können.
Aber dies ist wohl ein Missverständnis: Wenn gleichzeitig einerseits die Res-
sourcen verknappt werden, welche einem Bildungssystem zur Verfügung stehen
und es als Infrastruktur wirken lassen, andererseits Normen und Standards verbind-
lich gemacht werden, welche letztlich von den Individuen selbst zu erfüllen sind,
entsteht eine eigentümliche Dialektik. Den individuellen Subjekten wird nämlich die
Verantwortung auferlegt für sich selbst zu sorgen, ohne dass sie auf Unterstützung
durch das Gemeinwesen rechnen dürfen; ihnen wird zugleich Verantwortung dafür
abverlangt, dass sie sich Normen unterwerfen, die sie nicht aufgestellt haben (vgL zu
den Konsequenzen: Lüttinghaus 2003). Es geht also um eine Selbstabrichtung, mit
der man sich den Erwartungen eines anderen beugt; PISA wäre vielleicht besser zu
übersetzen mit Programme for international student at!Justment. Dass PISA soviel Wert auf
die so genannten metakognitiven Strategien legt, ist ein Indikator dafür: Die Subjek-
te sollen die Fähigkeit erwerben, sich ständig selbst zu beobachten und zu regulie-
ren, im Blick auf Regelungen, auf die sie keinen Einfluss haben. Man verlangt den
individuellen Subjekten nicht nur eine Selbstabrichtung ab, sondern erwartet, dass
sie sich mit ihrem ganzen Leben solchen Normen unterwerfen. Man nutzt ihre
Autonomie, um Autonomie aufzuheben. Das ist die Perversion des neuzeitlichen
Autonomiegedankens, das ist zugleich auch der Übergang von der Disziplinargesell-
schaft zur Kontrollgesellschaft (vgL Prömmel 2002, Bröckling u.a. 2000). Denn
bislang haben die modernen Gesellschaften ihre Mitglieder material im Schach
gehalten, ihnen nicht zuletzt durch das Bildungssystem bestimmte Handlungsweisen
Bildungspolitik nach PISA 41

aufgezwungen, sie eben diszipliniert, wobei zugleich auch inuner Zonen unbotmä-
ßigen Verhaltens entstanden. Jetzt wird ein neuer Mechanismus etabliert: Man lässt
die Subjekte im Regen stehen, im schlimmsten Verfall verkommen sie in Armut, im
günstigen Fall strengen sie sich lebenslang an, um ihre Bildungschancen zu wahren;
sie strengen sich an, gewiss für sich, aber eben auch - die USA und Großbritannien
lehren dies - für die Banken, von denen sie die Kredite erhalten, um für das Leben
lernen zu können, für ein Leben, das ihnen niemals mehr gehört.
Gewiss: Das ist ein trübe Prognose, die zumindest als eine Dimension der Bil-
dungspolitik nach PISA zu erkennen ist. Es lässt sich nicht ausschließen, dass es
Alternativen dazu gibt, sowohl zu der kleinen, hier nur angedeuteten Theorie, wie
vor allem zu der von ihr beschriebenen Praxis. Um solche Alternativen muss aber
gerungen werden. Es ist eine Frage der Praxis, dass eine andere Bildungsreform und
eine Sozialreform möglich werden, die diesen Namen verdienen.

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Bildungs armut
Zum Zusammenhang von Sozialpolitik und Bildung

] utta A//mendinger und 5 tephan Leibjried

In Deutschland gibt es zwischen (Aus-)Bildung und Sozialpolitik kaum Bezüge;


bestenfalls werden Nach- und Weiterqualifizierung als den Arbeitsmarkt entlastend
angesehen.! Demgegenüber wurde in angelsächsischen Ländern unter social policy
immer schon education und social security verstanden. Diese integrierte Sichtweise
stand Pate für die angelsächsische Reform des Wohlfahrtsstaats gleich nach dem
Zweiten Weltkrieg: Sie war zugleich massiv Bildungsreform (vgl. Marshall 1991, S.
33ff. - den englischen Klassiker der Sozialpolitikforschung zur Zeit des Beveridge-
Plans). In den USA hatte sich zudem schon im 19. Jahrhundert das Bildungswesen
weit stärker und als eine Art Sozialstaatsersatz entwickelt (vgl. Heidenheimer 1981,
S. 269ff.). Das wirkt sich noch heute in der Bildungspolitik als Standortvorteil aus.
In Deutschland (und Frankreich) werden beide Bereiche ressortgebunden getrennt,
und die Sozialreform wurde seit 1955 zunächst vorrangig auf den so genannten
"Trichter" der Rentenreform (vgl. Hockerts 1977, S. 341ff.) verengt, wobei eine
nachholende Bildungsreform später - seit den siebziger Jahren - unabhängig von
der Sozialpolitik einsetzte. Bis Mitte der neunziger Jahre war materielle "Armut"
zudem selbst in der amtlichen Sozialpolitik des Bundes tabu, wie die deutsche Hal-
tung zu den Armutsprogrammen der EG über Jahrzehnte gezeigt hat: "Es gibt
keine Armut in Deutschland." Erst in jüngerer Zeit wurde versucht, Bildungs- und
Sozialpolitik zusammen zu sehen, allerdings eher erfolglos (vgl. Allmendinger 1999,
S. 155ff., Allmendinger/Leibfried 2002).
Das entspricht den heutigen Wahmehmungsmustern der "sozialen Frage". Wir
nennen zunächst die Ausgangspunkte der Verflechtung von Bildungs- und Sozial-
politik, um danach entsprechende Standards für eine systematische nationale Be-
richterstattung zu skizzieren. Zwei Definitionsgrundlagen von Bildungsarmut wer-
den verglichen: Bildungszertifikate, also Prüfungsnachweise, und Bildungskompe-
tenzen. Um die Verteilung von Kompetenzarmut und -reichtum geht es in einem
internationalen Vergleich: Es lassen sich "vier Welten" der "Kompetenzprodukti-
on" unterscheiden. Wir schließen mit perspektivischen Betrachtungen zur deut-
schen Bildungspolitik nach Erscheinen der internationalen Schülerleistungsstudie
PISA über die Grundkompetenzen 15-Jähriger.

1 Der Beitrag ist eine überarbeitete Fassung des unter dem Titel "Bildungsannut" in "Aus Politik und

Zeitgeschichte", Heft B 21-22/2003 erschienenen Aufsatzes.


46 Jutta Allmendinger und Stephan Leibfried

1. Bildung und Sozialpolitik

Ungleichgewichte von Bildung führen zu massiven gesellschaftlichen Verwerfungen


wie Analphabetismus (bei manchen) und Ausschluss (für nicht wenige) von norma-
len Integrationsformen wie Hauptschule und dualem System. Diese Defizite im
Generationenverband hinterlassen Spuren und werden vergleichsweise leicht wei-
tergegeben. Die besondere politische Herausforderung liegt daher darin, die Vertei-
lung von Humankapital im Sinne von Bildung in eine laufende Sozialberichterstat-
tung zu integrieren. Dieser muss sich Politik heute stellen, weil die Fortentwicklung
von Humankapital und seine gleichgewichtige Verteilung für die Integrationsfahig-
keit der deutschen Gesellschaft im europäischen Verbund ausschlaggebend sind.
Zudem geht es hier auch um soziales, politisches Kapital, auf dem in einer Demo-
kratie das Staatswesen aufbaut.
Im Rahmen der europäischen Integration werden Bildung und soziale Siche-
rung als "Sozialpolitik" betrachtet und nicht - wie in der Bundesrepublik - in ge-
trennten Ressorts gegeneinander abgeschottet. Für beide Bereiche werden die zent-
ralen Verteilungsfragen gleichermaßen und integriert aufgeworfen. So können Ver-
teilungs- und Lebenslagen präventiv beeinflusst und gegebenenfalls gestaltet wer-
den.
Die unterschiedlichen Perspektiven nationaler Sozialpolitik zeigt Manfred G.
Schmidt (vgl. Schmidt 1999, S. 181ff.): Vergangenheitslastige Sozialpolitikaufgaben
werden mit zukunftsgerichteten Bildungs- und Forschungsaufgaben anhand der
Staatsausgaben verglichen. Dabei ergeben sich zwei Marschrichtungen: In den an-
gelsächsischen Ländern wird, verglichen mit Deutschland, mehr in Bildung als in
Sozialpolitik investiert. 2 In Skandinavien wird auf gleichem, wenn nicht höherem
Niveau in klassische Sozialpolitik investiert, aber ebenso in Bildungspolitik. Wir
verharren bewegungslos zwischen diesen Ländern: Wir tätigen anhaltend niedrige
Investitionen in die Bildungs- und immer höhere in die Sozialpolitik.

2. Bildungsarmut und ihre Messung

Was ist Bildungsarmut? Die Beantwortung dieser Frage ist für eine nationale Be-
richterstattung von zentraler Bedeutung. Man könnte ähnlich vorgehen wie bei
anderen individuellen Armutslagen (unangemessenes Wohnen, schlechte Gesund-
heit und mangelndes Einkommen) und einen absoluten Maßstab an die Verteilung
von Bildungsressourcen anlegen: einen reinen Mindeststandard. Dieses Minimum
könnte durch Alphabetisierung, Absolvieren der Haupt- und der Berufsschulpflicht

2 Der ostasiatische Weg ist noch ausgeprägter auf Humankapital orientiert, vgl. Schmidt 2002, Rieger
/Leibfried 1999, S. 414ff.
Bildungsarmut 47

oder das Erreichen bestimmter Kompetenzen bestimmt werden. Ein relativer Maß-
stab würde auf das ganze Bildungs-Ressourcen-Gefüge abheben, auf die Positionie-
rung in einem Verteilungs spektrum. So wären etwa alle im unteren Quintil oder
Quartil der Bildungsverteilung bildungs arm.
Wir können die Verteilung von Bildungsressourcen national - in Deutschland
- oder international betrachten, so im Vergleich der EU-Mitgliedstaaten. Personen,
die national gesehen "bildungsreich" sind, können international "bildungsarm" sein.
Die internationale Öffnung der Märkte - bei Waren und Arbeitnehmern -lässt eine
nur nationale Sicht auf Reichtum und Armut an Humankapital immer hinfilliger
werden: Das Veralten einzelner Berufsbilder in Ausbildungsberufen lässt sich nur
vor diesem Hintergrund verstehen. Schnell verarmen hier Reiche, man betrachte
nur die veränderte Beruflichkeit rund um die Neuen Technologien in den letzten 20
Jahren. Die Diskussion, welche die deutsche akademische Ausbildung an den USA
misst und im oberen Bereich des Humankapitals ansetzt, trägt dieser transnationa-
len Vernetzung Rechnung (vgl. Allmendinger 1999).

national international

1 3
Absolut
Analphabetismus Analphabetismus

2 4

Relativ Verteilungsposition im innerstaat- Verteilungsposition im internatio-


lichen Qualiftkationsgefüge nalen Qualiftkationsgefüge
Quelle: Umgearbeitet nach Allmendinger 1999
Abbildung 1: Bildungsarmut und personelle Verteilung von Bildungsressourcen

Folgt man dieser in Abbildung 1 umrissenen Logik, eröffnet dies Perspektiven für
eine Berichterstattung über Armut und Reichtum, in der die "Produktion" von
Bildung systematisch in den Blick kommt. Aus einer Vielfalt möglicher Messgrößen
sollten dabei nur wenige zentrale herausgegriffen werden: Zertiftkate und Kompe-
tenzen.

a) Zertifikate
Absolute Bildungsarmut ließe sich nationalstaatlich anhand fehlender Abschlusszer-
tiftkate messen. Wie beim Existenzminimum der Sozialhilfe ergäbe sich so ein
zwingender Mindeststandard für alle. Er wird durch die umfassende Haupt- und
48 Jutta Allmendinger und Stephan Leibfried

Berufsschulpflicht vorgegeben. Wir haben also ein funktionales, institutionelles


Äquivalent für den Mindestlohn (der angelsächsischen Länder, der Niederlande)
oder das Mindestauskommen (Sozialhilfe-Regelsatz usf.). Da in der Bundesrepublik
nicht die Dauer des Schulbesuchs, sondern der erfolgreiche Abschluss (Zertifikat)
belohnt wird, ist ein Fehlen des Hauptschul- bzw. beruflichen Bildungsabschlusses
ein hartes, klares Merkmal für Unterversorgung mit schulischer Bildung. Darauf
kann eine Berichterstattung abstellen. Das betrifft im Bundesdurchschnitt bald zehn
Prozent eines Abschlussjahrgangs.
Bei relativer Bildungsarmut würde sich eine zertifikatsorientierte Berichterstat-
tung auf jenen Kreis ausweiten, der - in Zertifikaten, also Prüfungsnachweisen
gemessen - weniger Bildung aufweist als der Durchschnittsdeutsche. So wird auch
relative Armut gemessen, und ein solches Vorgehen wäre in Deutschland besonders
wichtig. Denn akademische Bildung gilt hier nicht - wie in den angelsächsischen
Ländern - als Schlüssel zu befriedigendem gesellschaftlichem Auskommen. Viel-
mehr wird auf eine breite, allgemeine Durchschnittsqualifikation geachtet, und zwar
über das duale Berufsausbildungssystem. Entsprechend sind die staatlichen Ausga-
ben gewichtet (vgL Schrnidt 2002). In Deutschland ist "Beruflichkeit" - nicht der
Job - Grundtypus sozialer Integration. Eine Berichterstattung muss daher auch der
soliden Grundlegung unterhalb akademischer Qualifikationen besondere Aufmerk-
samkeit schenken.
Wie steht es um absolute Bildungsarmut im internationalen Vergleich? Sie be-
zeichnet Personen, denen als Analphabeten in allen modernen Gesellschaften die
Fähigkeit zum Mindestanschluss fehlt. Bei uns handelt es sich um 0,5 bis 1,9 Millio-
nen Menschen (vgL Weißhuhn 2001). Dieser - im Vergleich zu Menschen ohne
Hauptschulabschluss eher kleinen - Gruppe sollte besondere Aufmerksamkeit zu-
kommen, weil sie heute zu den "extrem Armen" zählt.
Auch relative Bildungsarmut lässt sich international bestimmen: Wie unter-
schiedlich ist die Verteilung auf den unteren und oberen Zertiftzierungsstufen einer
Kohorte, einer Jahrgangsgruppe der Bevölkerung? Gibt es Länder mit prekärer
Bildungsarmut, in denen ein Gutteil der Zertiftzierten sich ganz unten ballt? Oder
mit einem "Durchschnittsbauch", in denen die mittlere Zertifikatsstufe die Masse
auf sich zieht? Oder solche, die auf klare Polarisierung zusteuern?

b) Kompetenzen
Seit PISA lässt sich Bildungsarmut auch über Kompetenzen messen. PISA berichtet
über das Verteilungs spektrum von Schülerleistungen in Leseverständnis, Mathema-
tik, Naturwissenschaften und Eicherübergreifenden Kompetenzen,3 so dass Armuts-
und Reichtumsindizes für die Leistungen selbst entwickelt werden können (zu ei-
nem breiten Überblick vgL UNICEF 2002).

3 Im Folgenden beziehen wir uns ausschließlich auf Angaben zur Lesekompetenz.


Bildungsarmut 49

Absolute Bildungsarmut könnte als Nichterreichen der untersten von insge-


samt fünf Kompetenzstufen4 (= Kompetenzstufe I) definiert werden, gleichzuset-
zen mit funktionalem Analphabetismus. "Diese Jugendlichen sind gleichwohl keine
Analphabeten. Sie besitzen elementare Lesefertigkeiten, die jedoch einer praktischen
Bewährung in lebensnahen Kontexten nicht standhalten." (Deutsches PISA-
Konsortium 2001, S. 363) Dies gälte für eine national wie international ansetzende
Definition, jedenfalls in der OECD-Welt.
Auch relative Bildungsarmut ließe sich über Kompetenzstufen bestimmen, ü-
ber das Geweilige) innerstaatliche bzw. internationale Verteilungs spektrum. Welche
Werte erreichen jene Schüler(innen), die im unteren Zehntel nationaler Verteilung
liegen?5 Empirisch ergibt sich: Die an nationalen und internationalen Standards
gemessene absolute Bildungsarmut beläuft sich nach PISA 2000 auf zehn, OECD-
weit auf sechs Prozent. Dieses Zehntel kompetenzarmer 15-Jähriger unter der
Kompetenzstufe I besteht bei uns zu zwei Dritteln aus Jungen, überwiegend 15-
Jährige aus Haupt- (50%) und Sonderschulen (34%). Die Eltern fast der Hälfte -
wie auch sie selbst - sind in Deutschland geboren, und die Umgangssprache in der
Familie ist Deutsch. Über ein Drittel (36%) dieser Bildungsarmen sind im Ausland
geboren.
Wenn Armut relativ im Gesamtgefüge der Kompetenzverteilung verortet wird,
fällt Bildungsarmut in Deutschland weitgehend mit absolut gemessener zusammen.
Die relativ Kompetenzarmen sind dies auch absolut, da der untere Rand der Vertei-
lung unterhalb der Kompetenzstufe I liegt. International verglichen ist das Ausmaß
der Kompetenzarmut noch deutlicher: Im OECD-Durchschnitt umfasst der untere
Rand der Verteilung nur wenige absolut Kompetenzarme: "In Deutschland erreich-
ten die 5 Prozent leistungsschwächsten lSchüler(innen)] maximal 284 Punkte im
Gesamttest. Das sind 51 Punkte weniger als für Kompetenzstufe I erforderlich sind.
In 14 Teilnehmerstaaten liegt der entsprechende Wert dagegen innerhalb der Gren-
zen der Kompetenzstufe I. In diesen Staaten (...) sind also die 5 Prozent leistungs-
schwächsten lSchüler(innen)] mindestens in der Lage, Anforderungen zu bewälti-
gen, die mit Kompetenzstufe I verknüpft sind. In Deutschland (...) liegt erst das
zehnte Perzentil innerhalb der Kompetenzstufe I, und zwar genau auf der unteren
Grenze des mit dieser Stufe abgesteckten Leistungsbereichs." (ebd., S. 108)
Auch für Bildungsreichtum lassen sich einfache Maßzahlen bestimmen. Abso-
luter Bildungsreichtum könnte mit Erreichen der höchsten Kompetenzstufe V

4 Die komplexe Konstruktion der Kompetenzsrufen wird erläutert in: Deutsches PISA-Konsortium

2001, S. 88ff. Die Anforderungen der Kompetenzsrufe Ir sind als Mindeststandard anzusehen. Kompe-
tenzsrufe I markiert also einen noch darunter liegenden Schwellenwert, also rlie Unterschreitung eines
Mindes t -Mindes tstandards.
; Um extreme Werte am untersten Rand auszuschließen, berichten wir nur rlie Werte zwischen dem 5.
und 10. PerzentiI (Hundertstelwert) der Gesamtverteilung von Kompetenzen.
50 Jutta Allmendinger und Stephan Leibfried

gegeben sein, relativer Bildungsreichtum, wenn Personen sich zwischen 90 und 95


Prozent in der nationalen Verteilung befinden (siehe Abbildung 2).
T.ilMlIIMrstut M (SE) so

I
Finnland "" (2.6) 89
":"Mda 634 (1.6) 115
Hcu~nd 529 (2.81 108
_Iitn 528 (l.S1 102

"
-I
Irland 527 (3.21
lCo~a 52512.41 70
Ve~j nigtH lCIlnig~ich 52312.61 100
Japan 522 (5.21 86
Sch~" 516 (2.21 92
Ost~rmc. h 507 (2.4) 93
Belgien' S07 13.61 107
Island S07 1I.s1 92
No~n SOS 12.1) 104
Fran~ich SOS (2.71 92

-
Ve~ i nigto Staallen S04 [7.01 lOS
OECO-Oun:hldlnltt 500 10,6) 100
OIne ....rt 49712,41 98

-
SclIwei.
Sp.wn
494 [4.21
493 (2,7)
102
85

-
r.dl«hi..,he ""pub! ik 492 {2,41 96
IlaMn 487 (2,9) 91
lltiItsc:hland 484 (2.S1 111

--
lJfthlle"'~" 483 (4.11 t6
Ullgam 480 14.01 94
Polen 479 (4,51 100
Griechenland 47415.01 97
Poltvgat 470 14,5) 97
AussiKhe FIIde.a!loft 482 14,2) 12
Lettland 4S8 (5.31 102
l.wcembu'9 441 11 ,61 100
MoiM 422 13.31 86
lnosi licn 3941 (3,1) 81

200 300 400


I r~ 600 700 800

11 In IV v
""'lentjl •

......
Mifte lw.n und IConli"'n.z1nt...... 01 I I:!: 2 SEI

1 Im flämischen Teil Belgiens liegt der Mittelwert bei 532 (SE=4,3; SD=96), im wallonischen
bei 476 (SE=7,2; SD=111). - Quelle: Deutsches PISA-Konsortium 2001, S. 106, Abb. 2.11.
Abbildung 2: Verteilung von Kompetenzstufen im internationalen Vergleich
Bildungsarmut 51

In Deutschland überschreiten die absolut Kompetenzreichen (etwa 8% der 15-Jäh-


rigen) die Kompetenzstufe V kaum und unter den relativ Kompetenzreichen sind
auch Personen, die absolut betrachtet nicht kompetenzreich sind. Bei uns geht im
OECD-Vergleich ausgeprägte Bildungsarmut mit eher durchschnittlichem Bil-
dungsreichtum einher: "Es gelingt nicht, leistungsschwache Schüler heranzuführen,
aber auch nicht, eine Elite zu bilden." (OECD 2001, S. 29)
Man wird all diese Ausführungen nur dann richtig verstehen und zuordnen
können, wenn man die Original-PISA-Grafik vor sich hat (siehe oben Abbildung 2),
in der die "Verteilung von Kompetenzstufen im internationalen Vergleich" ver-
zeichnet wird und dort die rechte und linke Begrenzungslinie des gesamten Kom-
petenzspektrums, also die Linien der Kompetenzstufen I und V, über die Länder
hinweg vergleichend verfolgt. Diese Grafik bringt das Ergebnis der PISA-Studie in
einem einzigen Schaubild zur Darstellung.

c) Kompetenzen versus Zertifikate


Betrachtet man den Personenkreis, welcher bei einer zertifikatsbezogenen Messung
als arm gälte, und jenen, der kompetenzarm zu nennen wäre, so dürften beide Maße
empirisch auseinander fallen: Von allen Schüler(inne)n, die unterhalb Kompetenz-
stufe I liegen, werden 89 Prozent von ihren Lehrkräften als "nicht schwache Leser"
eingestuft und nur 11 Prozent als "schwache Leser" (vgl. Deutsches PISA-Konsor-
tium 2001, S.119). Bis zum Bildungsabschluss fortgedacht, fmden wir auch Kompe-
tenzarme unter denen, die einen Abschluss machen. Das Zehntel Zertifikats arme
wäre dann nur eine konservative Schätzung wirklich Bildungsarmer. Allerdings
können unter den Zertifikatsarmen durchaus auch Kompetenzreiche sein. Dazu
gibt die PISA-Studie keine Hinweise: Die 15-Jährigen sind zu jung, um einen Ab-
schluss vorzuweisen.
Wie sind diese Maße von Bildungsarmut vergleichend zu bewerten? Welches
Maß ist vorzuziehen? Zunächst scheint vieles für Kompetenzmessung zu sprechen:
1. Kompetenzstufen sind feiner graduiert als Schulstufen bzw. Abschlusszertifi-
kate. Sie erfassen Unterschiede und Veränderungen einfacher, genauer und
schneller.
2. Bei der Zertifikatmessung können die Schulen wesentlich stärker die Anforde-
rungen bestimmen. Sie haben immer einen gewissen Spielraum, wenn sie Zer-
tifikate vergeben und Leistungsanforderungen bestimmen. Bei der Kompe-
tenzmessung geht es um schulextern entwickelte Anforderungsproftle. Somit
lassen sich Unterschiede zwischen Schulen nicht mehr auf unterschiedliche
Anforderungsniveaus der Schulen zurückführen.
3. International können Kompetenzstufen viel einfacher verglichen werden, da
sich Unterschiede zwischen Bildungssystemen nicht verzerrend auswirken. Al-
lerdings kann man von internationalen Unterschieden in der durchschnittlich
52 Jutta Allrnendinger und Stephan Leibfried

erreichten Kompetenzstufe durchaus auf Unterschiede zwischen Bildungssys-


temen zurück schließen.

In Deutschland steht dem die wichtige Frage entgegen: Inwieweit sind Kompeten-
zen als solche für den Eintritt ins Beschäftigungssystem und für Karrieremobilität
überhaupt wesentlich? Arbeitgeber fragen selten nach Kompetenzen, sondern nach
Zertiftkaten. Bildungsarmut über Zertiftkatsmangel zu bestimmen wäre angemesse-
ner, wenn dies die relevante Schaltgröße ist und weil seine Auswirkungen bekannt
sind. Über die langfristigen Folgen geringer Kompetenz wissen wir wenig. Geht es
um Folgen von Bildungsarrnut für die Integration in den Arbeitsmarkt, wären in
Deutschland Zertiftkate aufschlussreicher als Kompetenzen. Das Gegenteil gilt,
wenn wirtschaftliche Prosperität, also Innovationsfähigkeit der Wirtschaft, betrach-
tet werden soll, wenn es um individuelle, nicht am wirtschaftlichen Erfolg zu mes-
sende Entfaltungsmöglichkeiten geht. Beides hängt wesentlich von den grundlegen-
den Kompetenzen der Individuen ab, nicht von der Papier-, der Zertifikatsform.
Kompetenz- oder Zertifikatsmaße? Solange beide Messungen sich nicht über-
lappen, sind Bildungsarme über beide Maße gleichermaßen zu bestimmen. Mit
Kompetenzmaßen sind Zertifikatsmaße von Armut nicht zu ersetzen, nur zu ergän-
zen.

3. Vier Welten der Kompetenzverteilung

Bislang berichteten wir über Bildungsarmut als institutionell geprägtes, auf individu-
eller Ebene gemessenes Merkmal. Aggregiert kann man auf das gesamte Vertei-
lungsspektrum abstellen. Bildungssysteme in ihrer Gesamtheit lassen sich danach
beurteilen, wie eine Jahrgangskohorte sich auf unterschiedliche Bildungsabschlüsse
verteilt, aber auch danach, wie und in welchen Kompetenzwertbereichen sie über
Kompetenzstufen hinweg streut.
Ein solcher Ländervergleich lässt Muster erkennen, die sich aus dem Zusam-
menwirken absoluter Kompetenzarmut mit absolutem Kompetenzreichtum erge-
ben. "Vier Welten" der Kompetenzverteilung lassen sich unterscheiden (siehe Ab-
bildung 3; vgl. Allrnendinger/Leibfried 2002, S. 304). In einigen Ländern treten
Bildungsarmut und -reichtum gleichzeitig auf, die Kompetenzverteilung umfasst das
gesamte Spektrum von absoluter Bildungsarmut bis zu absolutem Bildungsreich-
tum: so etwa in Deutschland, den USA und der Schweiz. Diagonal gegenüber ftn-
den sich die wenigen Länder, die weder absolute Kompetenzarmut noch -reichtum
kennen: Korea und Spanien. Alle anderen Länder liegen zwischen diesen beiden
Polen: Sie kennen nur absolute Kompetenzarmut, aber keinen absoluten Kompe-
tenzreichtum: etwa Mexiko, Brasilien und Luxemburg. Oder sie kennen - spiegel-
Bildungsannut 53

verkehrt - nur absoluten Kompetenzreichtum, aber keine absolute Kompetenzar-


mut: etwa Finnland, Schweden und Frankreich.

absolute Kompetenzannut

ja nem

1 3
ja Deutschland, Polen, Belgien, Finnland, Kanada, Japan,
absoluter USA, Schweiz, Dänemark und Schweden, Frankreich, Island
Kompetenz- Norwegen und Irland
reichtum
2 4
nem Portugal, Brasilien, Mexiko, Südkorea und Spanien
Luxemburg, Liechtenstein,
Ungarn und Griechenland

Abbildung 3: Die Verteilung von Kompetenzannut und Kompetenzreichtum im


Ländervergleich
Diese einfache Zusammenstellung beruht auf zwei Bausteinen, dem Grad der Dif-
ferenzierung von Kompetenzen zwischen Personen und dem durchschnittlichen
Niveau der Kompetenzbildung: Bildungssysteme, bei denen der Abstand zwischen
den oberen fünf Prozent (den Kompetenzhöchsten) und den unteren fünf Prozent
(den Kompetenzniedrigsten) hoch ist, sind hoch differenzierend und erzeugen hohe
Ungleichheit. Systeme mit einer geringen Streuung (Bandbreite) zwischen den
Kompetenzhöchsten und -niedrigsten sind demgegenüber egalitär. Vom Differen-
zierungs- ist der Niveaueffekt zu unterscheiden: Liegen die differenzierenden bzw.
nivellierenden Bildungssysteme auf durchschnittlich hohem oder niedrigem Kom-
petenzniveau?
Eine nach Differenzierung und Niveau gebildete Typologie hat vier Ausprä-
gungen (siehe Abbildung 4, vgl. ebd., S. 305). Als egalitäres, kompetenzhohes und
damit zentrales Land kann Finnland gelten, als ungleiches, kompetenzhohes und
damit zentripetales Land Großbritannien, als ungleiches, kompetenzannes und
damit zentrifugales Land Deutschland und als gleiches, kompetenzannes und peri-
pheres Land Brasilien. Differenzierung und Niveau entsprechen vor allem zwei
organisatorischen Stellgrößen: Differenzierung wird über die organisationale und
regionale Gliederung des Bildungssystems gestaltet und ist bei starker Gliederung
und früher Selektion besonders ausgeprägt. Das Niveau variiert stark mit Bildungs-
ausgaben, Lehrplänen und Ausmaß der Bildungsexpansion. 6

" Diese Zusammenhänge lassen sich für Deutschland, für das eine ausgeprägte Differenzierung besteht,
veranschaulichen: Die Standardabweichung beträgt 111 Punkte und fillt damit wesentlich höher als der
54 Jutta Allmendinger und Stephan Leibfried

Kompetenzdifferenzierung

niedrig (egalitär) hoch (ungleich)

1 3
hoch zentral zentripetal
Kompetenz- Finnland Großbritannien
niveau (291/546) (355/529)
2 4
niedrig peripher zentrifugal
Brasilien Deutschland
(284/396) (366/484)
Anmerkung: Die erste in der Klammer hinter dem Land ausgewiesene Zahl kennzeichnet die
Bandbreite zwischen dem 95. und dem 5. Perzentil. Die zweite Zahl bezeichnet den nationa-
len Mittelwert im Kompetenzniveau.
Abbildung 4: Ausgewählte institutionelle Stellgrößen für Differenzierungs- und
Niveaueffekte Ge illustriert anhand der ausgeprägtesten Länder)
Den Differenzierungseffekt hat vor allem das dreigliedrige Schulsystem mit seiner
frühen, nur schwer revidierbaren Selektion von Schüler(inne)n in drei unterschiedli-
che "Bildungsklassen"J Bildungsferne, sprachferne und kompetenzschwache Schü-
ler(innen) können nicht in einem Lehr- und Lernzusammenhang mit ihrem starken
Gegenüber wachsen. Empirische Untersuchungen in den USA und Großbritannien
haben immer wieder belegt, dass kompetenzheterogene Lernumwelten kompetenz-
armen Schülern helfen und kompetenzreichen Schülern kaum schaden.
Der Niveaueffekt dürfte vor allem mit der vergleichsweise niedrigen deutschen
Bildungsausgabenquote zusammenhängen. 8 Besondere Defizite bestehen in der

OECD-Durchschnitt von 100 oder der USA-Wert von 105 aus. Beim Niveau liegen wir mit dem Mittel-
wert von 484 Punkten in der Endgruppe der OECD-Länder. Der OECD-Durchschnitt liegt bei 500, mit
den USA bei 504 Punkten und Spitzenreiter Finnland bei 546. Deutschland ist ein kompetenzmäßig
"zentrifugal" aufgestelltes Land, geprägt durch eine Tendenz weg von der Reichturnsmitte hin zur Ar-
mut. Mit den "zentripetalen" USA kontrastiert Deutschland, weil die Chancengleichheit geringer ist als in
den USA und ein Weniger an durchschnittlicher Bildung geboten wird.
, Nach der PISA-Studie funktioniert diese Zuweisung weitgehend: Das durchschnittliche Kompetenzni-
veau von Sonder-, Haupt-, Mittelschule und Gymnasium unterscheidet sich deutlich. Zur Leistungsver-
teilung nach Bildungsgängen vgl. Deutsches PISA-Konsortium 2001, S. 120ff.
8 Schmidt (2002) stellt auf ein Bündel von neun Ursachen für die mäßigen deutschen Bildungsinvestitio-
nen ab. Zu einer Kontroverse über den Zusammenhang zwischen Ausgabenentwicklung und Schüler-
kompetenzen vgl. Gundlach u.a. 2001, die einen OECD-weiten "Produktivitätskollaps" sehen, wobei die
Bildungsarmut 55

Finanzierung des primären, unteren sekundären und tertiären Bereichs; die Finan-
zierung konzentriert sich auf den oberen Sekundarbereich und die berufliche Bil-
dung, also auf "die Ausbildung für die mittleren bis höheren Berufspositionen einer
Industriegesellschaft" (vgl. Schmidt 2002, S. 6f.). PISA misst die mangelnden
Grundkompetenzen knapp hinter dem Ende dieser langen (relativen) Vernachlässi-
gung. Die mangelnden Kompetenzen von Kindern im sekundären Bereich lassen
sich also durch ein Zusammenwirken von fehlenden Bildungsausgaben und einer
Konzentration der Ausgaben im oberen Sekundarbereich erklären.
Weitere Gründe dürften mit Niveau- und Differenzierungseffekten gleicher-
maßen verbunden sein. Die zeitliche Beschränkung des Unterrichts auf wenige
Stunden am Tag überbetont Rezeption und Abstraktion und verzichtet, verglichen
mit Ganztagsschulen, eher auf Anwendung der Wissensinhalte. Weiterhin scheinen
sich deutsche Kinder-"gärten" als reine Kinderpflegestätten zu verstehen, nicht aber
als Bildungsstätten mit curricularem Auftrag. Bildung setzt also spät, nicht früh und
spielerisch an (vgl. Gottschall 2001). Das schmal gehaltene "Schulfenster" und die
Vernachlässigung des Kindergartens als Lernherausforderung lässt der Differenzie-
rung nach Herkunft ihren "natürlichen" Herkunfts-Lauf. Der untere Kompetenzbe-
reich ist keiner pull-Wirkung nach oben ausgesetzt, die das durchschnittliche Niveau
anhöbe. Herausforderungen für höhere Kompetenzstufen bleiben so eng begrenzt.
Gehen wir den "vier Welten der Kompetenzproduktion" angelehnt an Gosta
Esping-Andersen (1990) nach bzw. mit Francis G. Castles (vgl. Castles 1993) den
"Families of Nations", so ftnden sich in Auswertung von Abbildung 5 einige inte-
ressante Anhaltspunkte (vgl. Allmendinger/Leibfried 2002, S. 307ff.). Die "Famili-
es", die auf Verwandtschaft im allgemein politisch-kulturellen Rahmen abstellen,
dürften dabei aufschlussreicher sein.
Zunächst zu den Welten- bzw. jamilies-Lehren: Die Homogenität, also die ge-
ringe Kompetenzdifferen':(jerung, die je ausgeprägter ausfallt, je höher das Maß in der
Spalte "Streuung 95-5" ausfallt, ist in den nordischen Ländern (mit niedrigen 311)
schon weit deutlicher ausgeprägt als in den anglo-amerikanischen Ländern (mit
höheren 331). Die konservativen Länder gehen hier (mit 336) noch einen kleinen
Schritt weiter in Richtung mehr Kompetenzdifferen':(jerung, also hin zu größerer Un-
gleichheit im Bildungsergebnis, wobei Österreich der leichte Ausreißer in Richtung
weniger Differenzierung ist. Der Durchschnitt aller OE CD-Länder beträgt 328, ihn
unterbietet nur die nordische Regimegruppe. Im KompetenZ?Jiveau verkehrt sich dann
die Reihenfolge gegenüber der Differenzierung: Hier kommen die angloamerikani-
schen Länder (mit 524) als erste ins Ziel, gefolgt von den nordischen Ländern (mit
514); Finnland ist mit 546 der große nordische Ausreißer nach oben, auf den wir in
Deutschland fast ausschließlich abgestellt haben. Erst dann kommen als einzige

Lehrer mit ihren Gehältern die eigentlichen Gewinner sind, vgl. auch Schmidt 2002, S. 9; und ferner
Glennerster 2001, S. 19, der jedenfalls für Großbritannien in den letzten 5 Jahren von einer "Produktivi-
tätsexplosion" ausgeht, wobei die Schüler die Gewinner sind.
56 Jutta Allmendinger und Stephan Leibfried

Weltengruppe, die unter der OECD-Durchschnittsmarke von 500 liegt, als Schluss-
licht die deutschsprachigen ("konservativen") Länder (mit 495), darunter auch
Deutschland mit dem niedrigsten Wert in dieser Ländergruppe von 484.

Streuung 95-5' Mitte1wert b


OE CD-Durchschnitt alle Länder 328 500
Extremwerte Maximum (Deutschland) 366 484
Minimum Wert (Korea) 227 525
Föderalismen OECD-Durchschnitt 333 508
kontinentaler Durchschnitt 336 495
kontinental stark ausgeprägt (D, eH) 350 489
einzelne föderale Österreich 307 507
OECD-Staaten Kanada 310 534
Australien 331 528
USA 349 504
Schweiz 335 494
Deutschland 366 484
OECD-externer Brasilien 284 396
Föderalismus
nordische Durchschnitt 311 514
("sozialdemokra- Finnland 291 546
tische") Länder Island 302 507
Schweden 304 516
Dänemark 319 497
Norwegen 340 505
anglo- Durchschnitt 331 524
amerikanische Irland 309 527
("liberale") Kanada 310 534
Länder GB 330 523
Australien 331 528
USA 349 504
Neuseeland 355 529
deutschsprachige Durchschnitt 336 495
("konservative") Österreich 307 507
Länder Schweiz 335 494
Deutschland 366 484
a == Bandbreite zwischen dem 95. und dem 5. Perzentil
b == nationaler Mittelwert im Kompetenzniveau
Abbildung 5: Streubreiten und Mittelwerte nach Ländergruppen im Überblick
Entgegen unseren Erwartungen fällt in den flderal organisierten OECD-Ländern
(mit 333) die DiffereniJerung nur etwas betonter aus als im allgemeinen OECD-
Durchschnitt (von 328), in den europäischen Föderalstaaten (mit 336) allerdings
Bildungsannut 57

noch einmal betonter, und dann überraschend hoch (mit 350) in den zwei beson-
ders stark ausgeprägten kontinentalen Bundesstaaten, nämlich in Deutschland (mit
366) und der Schweiz (mit 335), nicht aber in Österreich (mit 307). Im Kompetenzni-
veau liegen alle föderalen Länder zusammen genommen (mit 508) über dem OECD-
Mittelwert (von 500). Allerdings liegen die kontinentalen Föderalstaaten (mit 495)
schon etwas unter dem Mittelwert und - vernachlässigt man Österreich (mit 507)
als einen eher föderalistisch verkleideten Einheitsstaat - so fmden wir Deutschland
samt der Schweiz (mit zusammen durchschnittlich 489) wieder als Schlusslichter im
Kompetenzniveau abgesetzt. Echter Föderalismus wirkt also als eine Art "Verstär-
ker": Er schützt dezentrale Tendenzen zur stärkeren Zergliederung des Bildungssys-
tems ebenso wie dezentrale Tendenzen nicht hinreichend in Bildung zu investieren.

4. Perspektiven

Die Betrachtung von Risikoschüler(inne)n bzw. Bildungsannen führt in eine Dis-


kussion über Schulstruktur (Dreigliedrigkeit), Ganztagsschulen und Zuschnitt von
Kindergärten. Diskussionen dieser Grundfragen wurden bei uns allerdings über-
haupt erst wieder nach diesen Kompetenzmessungen, vergleichenden Auswertun-
gen und ihrer großen öffentlichen Resonanz möglich, bislang aber ohne Identifizie-
rung der Schulen selbst. Diese Studien sollten ausgebaut, fortgeführt und die Daten
auch für einzelne Schulen offen gelegt werden. Nur so kann eine Refonndynamik
entstehen, welche die zu beklagende Ausgangslage verändert.
Eine Kompetenzmessung ist zusätzlich nötig, um stärker an den Schulen
selbst, an den Ursachen vor Ort, ansetzen zu können. An britischen Schulen wurde
Kompetenzmessung flächendeckend eingeführt und mit Wahlmöglichkeiten bei
fiskalischen Auswirkungen auf die Schule gekoppelt. Schüler haben erhebliche
Kompetenzgewinne erzielt und die durchschnittlichen Kompetenzwerte aller briti-
schen Schulen wurden wesentlich gesteigert (vgL Glennerster 2001). Markante Sche-
reneffekte wurden befürchtet, haben sich aber nicht bestätigt. Vielleicht schlägt in
Deutschland die weit verbreitete Aversion gegen Kompetenzmessung in ein Erken-
nen ihrer Nützlichkeit für Bildungsreform um?
Wer bislang auf Bildungsarmut hinwies, dem wurde entgegnet: "Diese Kinder
können es nicht besser", sie sind dumm. (Süd-)Korea, Großbritannien und Finn-
land zeigen deutlich, dass die Umwelt dieses Könnens-Potenzial ganz erheblich aus-
schöpft oder, wie in Deutschland, unter fordert bzw. begrenzt. Structure matters:
Die Schulumwelt bestimmt die erreichbaren Kompetenz stufen. Absolut gemessene
Bildungsannut ist venneidbar, wie der PISA-Erfolg von 14 Ländern zeigt. Ferner
können so auch Gruppen, die zertifizierungsann, aber kompetenzreich sind, stärker
ins Bildungssystem integriert werden.
58 Jutta Allmendinger und Stephan Leibfried

Bemerkenswert bleibt, dass Kultusministerien und Lehrergewerkschaften eini-


ge Energie darauf verwandten, der PISA-Erhebung einen Riegel vorzuschieben
bzw. sie nur in begrenzter Weise zuzulassen, also keine konkreten Schulvergleiche
zu erlauben (vgl. Schmoll 2000). Ein Protest gegen diese Intransparenz hat bislang
nirgends stattgefunden. Die Eltern sind zufrieden? Der Bund schaut zu? Die Schu-
len selbst meiden den Wettbewerb? Die Länder haben parteiübergreifend kein Inte-
resse an genaueren Informationen? Die Gewerkschaften suchen Solidarität in der
Informationsvermeidung? Mit Blick auf Großbritannien und die USA, wo diese
Daten routinemäßig erhoben werden, ist diese Stille verdächtig. Sie könnte zur Ruhe
vor dem Sturm werden, wenn nicht wenigstens eine begrenzte, kontrollierte Öff-
nung versucht wird, um an die Ursachen für Unterschiede im realen Schulvergleich
heranzukommen - und Abhilfe zu schaffen. Bei allem Unbehagen an Neoliberalem
werden wir uns auch ein wenig in Richtung eines "Quasi-Markts" bewegen müssen
(Glennester 1991, S. 1268ff., ist noch skeptisch).
Bei öffentlichkeitswirksamer Thematisierung von Bildungsarmut und nötigen
Reformen stehen wir vor einer Hürde, die nur wenige Staaten mit uns teilen: Ein
ausgeprägter Föderalismus9 und eine Sozialpolitik, die alle anderen Themen kraft-
voll verdrängt, wirken zusammen (vgl. Schmidt 2002). Der Tanker "Sozialversiche-
rungsstaat" drängt mit 60 Prozent der Staatsausgaben die kleinen Bildungsboote in
Ländern und Gemeinden ab. Diese Lage besteht in der OECD-Welt vornehmlich
in Deutschland.
Zwei Instrumente "sozialen Risikomanagements" gegenüber Armut sind - an-
ders als in Großbritannien (vgl. Glennester 2001), dem Zentralstaat - wegen der
vertikal geteilten Kompetenzordnung, bei uns nur begrenzt zugänglich: Sozialhilfe
und Bildungswesen. 1O Bei Einkommensarmut und -reichtum ist die Lage insofern
anders als bei Bildung, als der Steuerzugriff weitgehend beim Bund liegt. Der Bund
müsste also soziale Kohäsion bei der Bildungsarmut gerade dort als Perspektive
einbringen, wo er direkt kaum tätig werden kann. Eine nationale Berichterstattung
tendierte auf einmal zu Ersatz-Politik und Politik-Ersatz: Ersatz-Politik, denn dem
Bund ist der Zugang föderalistisch versperrt, also verlegt er sich aufs Symbolische,
Berichtende; Politik-Ersatz, denn das bundesweite politische Räsonnieren geschieht
im "Als-ob", tritt an die Stelle politischen Handelns, ersetzt bzw. vertagt eine
durchgreifende Bildungspolitik und Bildungsreform.
"Quasi-Markt" in einem föderalen Deutschland hieße aber auch, ihm eine an-
dere Bedeutung als in Großbritannien zu geben: Diesem Wettbewerb wären durch

9 Ein so ausgeprägter Föderalismus findet sich nur noch in der Schweiz, Österreich, den USA, Kanada

und Australien. Viele dieser Länder stellen sich allerdings bildungs politisch besser als Deutschland.
10 Selbst die Reformparolen überlappen sich inzwischen: In der Sozialhilfe ist der in Richtung Arbeits-

markt "aktivierende Sozialstaat" und "Fördern und Fordern" bundesweit das Panier, von Roland Koch
bis Gerhard Schröder. Die gleiche Maxime ("Fördern und Fordern") gilt nun auch im Bildungswesen,
etwa in Hessen, vgl. Wenz u.a. 2001.
Bildungsarmut 59

neue institutionelle Rahmenbedingungen, durch ergebnisorientierte föderale Ver-


bundsysteme, Möglichkeitsräume zu geben und Grenzen zu ziehen. Wir bekommen
in der Bildungspolitik keinen britischen Einheitsstaat und keinen Einheitsmarkt,
aber wir könnten auf einen koordinierten Bildungs-Föderalismus zusteuern, der die
Abhängigkeit der Sachausstattung von den Gemeindefmanzen, der Personalausstat-
tung von den Ländern und die diversen Struktur-Trennungen - Dreigliedrigkeit,
Bildung versus Betreuung - deutlich und nachvollziehbar relativiert. Schonung und
Einhegung des deutschen Föderalismus sind der Weg.
Der Zweite Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung 2005 hätte an
der für den deutschen Föderalismus besonders kritischen Schnittfläche von Sozial-
und Bildungspolitik erheblich weiter gehen können. Ohne verlässliche Berichterstat-
tung zur Bildung des Humankapitals bewegt sich ein Land wie Deutschland, das
von Bildung und Wissen so stark abhängt, im "sozialpolitischen Blindflug". Vor
allem die unterschiedlichen wissenschaftlichen (feil-)Disziplinen, die sich mit Bil-
dungs fragen befassen, wären zu ermutigen, der Sozialpolitik der Verteilung der
Bildungsressourcen, also der Chancengleichheit des 21. Jahrhunderts, mehr Auf-
merksamkeit zu widmen und in der Grundlagenforschung deutliche Akzente zu
setzen.
Können wir uns zwischen den zwei Marschrichtungen entscheiden? Zwischen
angelsächsischem Weg, bei dem prioritär in Bildung statt Sozialversicherungspolitik
zu investieren ist? Oder dem skandinavischen Weg, bei dem auf hohem Niveau in
beide Bereiche investiert wird? Oder gehen wir einen "dritten", brasilianischen Weg,
wo beide Bereiche getrost vernachlässigt werden? Buridans deutscher Esel könnte
immerhin zwei tragfahige internationale Eselsbrücken nutzen. Das brächte uns
kompetenzorientiert und kontrolliert zurück zum demokratischen Ausgangspunkt
der Bildungsreform der siebziger Jahre: "Die Schule der Nation C...) ist die Schule"
(Willy Brandt).

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Soziale Benachteiligung im Bildungswesen
Die Reduktion von Ungleichheit als pädagogischer Auftrag

Wolfgang Bö'ttcher

Nach der Veröffentlichung der internationalen Vergleichsstudien mag man einen


gewissen Zynismus in der Kommentierung verzeihen. In einer Hinsicht nämlich ist
das kritisierte deutsche Schulwesen ziemlich erfolgreich: Es gelingt ihm nahezu
perfekt, gesellschaftliche Ungleichheit in Bildungsungleichheit zu übersetzen und
die Vererbung sozialer Privilegien zu legitimieren, indem Schulerfolg als Resultat
individueller Leistung und Begabung erscheint. In den 1960er und 1970er Jahren
war dieser Tatbestand ein zentrales Thema der Erziehungs- und Sozialwissenschaf-
ten. Damals wurde nicht nur regelmäßig dokumentiert, wie sehr Schicht- oder Klas-
senzugehörigkeit die Bildungschancen der Einzelnen dominieren, es wurden auch
unterschiedliche - und durchaus konkurrierende - Erklärungen angeboten, welche
die Mechanismen aufzuzeigen versuchten, die für diesen Prozess verantwortlich
sind. Gegen Ende der 1970er Jahre war dieses Interesse weitgehend erloschen.
Verantwortlich hierfür war nicht nur ein politischer Klimawechsel, auch die wissen-
schaftlichen Disziplinen, die bis dahin das Thema forciert hatten, wandten sich ab.
Die schichtenspezifische Sozialisationsforschung wandelte sich in eine "ökologi-
sche", und die Ungleichheitsmodelle der Soziologie wurden durch sophistische
Modellkomplizierungen in Unterschiedlichkeitsmodelle überführt, beides mit dem
Effekt, tendenziell die vertikale Achse sozialer Differenzierung zu vernachlässigen.
Die Frage der sozialen Ungleichheit im Bildungswesen war in der deutschen
Erziehungswissenschaft seitdem marginalisiert. Ein wenig mag das mit einer gewis-
sen Tendenz deutscher Pädagogik zusammenhängen, Bildung als Medium der E-
manzipation zu verklären, statt ihre Funktion als Instrument der Sicherung von
Privilegien zu erklären. Insbesondere jedoch scheint auch eine generelle Abstinenz
hinsichtlich empirischer Wirkungsforschung verantwortlich zu sein. Anders als in
vielen anderen vergleichbaren Ländern bestand im Deutschland "vor PISA" kein
ausgeprägtes Interesse daran, die Ergebnisse pädagogischer Aktivitäten systematisch
und mit wissenschaftlicher Distanz zu analysieren.
Dieser Beitrag skizziert ausgewählte pädagogische und bildungspolitische
Maßnahmen, von denen man begründet eine Reduktion der Chancenungleichheit
erwarten kann. Dies geschieht vor dem Hintergrund eines Bezugsrahmens, den ich
als das "ökonomische Programm der Schulreform" bezeichne. Zunächst sollen aber
einige Erklärungen zur Genese der herkunftsspezifischen Bildungsungleichheit refe-
62 Wolfgang Böttcher

riert werden, denn hier ftnden sich Ansätze für ernstzunehmende Versuche, die
Verkoppelung von Herkunft und Schulerfolg zu reduzieren.

1. Angebote zu Erklärung der Ungleichheit

Das in den 1960er und 1970er Jahren dominante bildungssoziologische Paradigma


zur Erklärung von Ungleichheit war die "angewandte Sozialisationsforschung"
(Hurrelmann 1975, S. 18). Sie fokussierte auf die Entwicklung individueller Hand-
lungsdispositionen und entwickelte sich, mit Schicht- oder Klassenmodellen ver-
knüpft, zu einer Theorie der sozialen Reproduktion.
Ein Modell, das mittels sozialisationstheoretischer Annahmen die Zirkelför-
migkeit der sozialen Reproduktion beschreibt, liest sich so:

"Die schichtspezifische Auslese durch die Schule ist in der modernen Gesellschaft, in
der die formalen Schranken für den Zugang zu weiterführenden Schulen gefallen sind,
vor allem durch einen zirkulären Verlauf des Sozialisationsprozesses bestimmt. Die So-
zialisation durch den Beruf prägt in der Regel bei den Mitgliedern der sozialen Unter-
schicht andere Züge des Sozialcharakters als bei den Mitgliedern der Mittel- und Ober-
schicht. Während der Sozialisation durch die Familie werden normalerweise die jeweils
typischen Charakterzüge der Eltern an die Kinder weitervermittelt. C...) Da die Sozialisa-
tion durch die Schule auf die Ausprägung des Sozialcharakters der Mittel- und Ober-
schicht besser eingestellt ist als auf die der Unterschicht, haben es die Kinder aus der
Unterschicht besonders schwer, einen guten Schulerfolg zu erreichen. Sie erlangen häu-
fig nur Qualifikationen für die gleichen niederen Berufspositionen, die ihre Eltern be-
reits ausüben. Wenn sie in diese Berufspositionen eintreten, dann ist der Zirkel ge-
schlossen" (Rolff 1997, S. 36).

Diese "Zirkelthese" stammt aus der Diplomarbeit Hans-Günter Rolffs, die erstma-
lig 1967 veröffentlicht wurde und mittlerweile neun Auflagen erreichte. Wenn auch
die Situation auf dem Arbeitsmarkt die Lage für die Kinder aus der Unterschicht
noch verschärft wurde, weil häuftg Arbeitslosigkeit am Ende des Schulweges droht,
so hat die These auch heute noch nichts von ihrer erklärenden Kraft verloren. Der
"harte Kern" der schichtspeziftsch orientierten Sozialisationsforschung ist ein kau-
salanalytisches Modell der Erklärung ungleicher Bildungschancen, in dem insbeson-
dere die primäre Sozialisation in der Familie als zentrales Explanans galt. Als eine
Besonderheit von Rolffs Zirkelthese kann zweifels frei gelten, dass hier Schule nicht
nur als Selektionsinstanz gesehen wird, die mittels Zensuren die bildungs fernen
Kinder aussiebt, sondern Schule wird verstanden als eigene Sozialisationsinstanz,
die mit dem Milieu der Unterschichtskinder kollidiert. Rolffs Analyse zeigt also,
dass viele der Gründe für die reale Chancenungleichheit in der Schule und im
Schulsystem selbst zu ftnden sind: In der Art und Weise, wie Schule mit einer hete-
Soziale Benachteiligung im Bildungswesen 63

rogenen Schülerschaft umgeht, wie sie selektiert, wie sie Herkunft negiert und wie
sie diskriminierend sozialisiert (vgl. Geulen 2000).
Im Rahmen ihrer Analyse der klassenspezifischen Chancenungleichheiten an
französischen Hochschulen entwickelten Bourdieu und Passeron Thesen, die erklä-
ren sollen, wie soziale Tatbestände in der Praxis der Bildungsinstitutionen in natür-
liche umgedeutet werden. Die Leistungen von Studierenden werden demnach von
diesen und ihren Professoren entweder der "unmittelbaren Vergangenheit" zuge-
schrieben - also z.B. den Effekten von Seminaren - oder aber "der Begabung oder
der Persönlichkeit" (Bourdieu/Passeron 1971, S. 30t). Tatsächlich aber seien sie ab-
hängig von unmittelbar "aus dem Herkunftsmilieu übernommenen kulturellen
Gewohnheiten und Möglichkeiten", die durch frühzeitige und ebenfalls mit der
Herkunft eng verknüpfte Bildungsorientierungen verstärkt werden (ebd.). Gerade
das Ignorieren der sozial bedingten Ungleichheit führe zu ihrer Verschärfung.
Eine alternative Erklärung zur Genese ungleicher Bildungschancen bietet der
handlungstheoretische Ansatz Boudons (1974). Er unterscheidet zwischen dem
primären und dem sekundären Sozialisationseffekt. Der primäre Effekt beschreibt
die Korrelation zwischen dem Status der Herkunftsfamilie und dem Schulerfolg, die
wesentlich durch das kulturelle Kapital und seine Weitergabe durch Erziehung oder
Sozialisation hergestellt wird. Stärkere Erklärungskraft aber hätten die in der Soziali-
sationstheorie marginalisierten sekundären Sozialisationseffekte. Sie stellen ab auf
einen Zusammenhang zwischen Bildungswahlen - also Entscheidungen des Einzel-
nen bzw. seiner Eltern in Bezug auf die eigene Bildungskarriere - und sozialer Her-
kunft. Bei institutionell vorgegebenen Wahlentscheidungen ergeben sich relativ
resistente Muster schichtspezifischer Wahlen, weil gleiche Entscheidungen für Kin-
der unterschiedlicher Herkunft unterschiedliche Kosten und Nutzen generieren.
Die Wahlen (z.B. Kindergartenbesuch, Schulartwahl nach der Grundschule, Eintritt
in eine gymnasiale Oberstufe, Fächerwahl in der Oberstufe, Studium, Fächerwahl
im Studium ... ) lassen sich abstrakt als alternative Entscheidungen zwischen (a) und
(b) beschreiben, wobei die Wahrscheinlichkeit für eine bestimmte Entscheidung
zunimmt, je geringer die Kosten und je höher der mit dieser Entscheidung verbun-
dene Nutzen sind. Mit einem einfachen Modell simuliert Boudon den sekundären
Sozialisationseffekt. Er stellt das Bildungssystem als eine Folge von Entscheidungs-
punkten bzw. Weichen oder "Abzweigen" dar, an denen Schüler zwei Optionen
haben, wobei eine immer höhere Bildungschancen impliziert als die andere. Die
Wahrscheinlichkeit, den höher bewerteten Weg einzuschlagen, ist abhängig von der
Schulleistung, die ja, im Sinne des primären Sozialisationseffektes, schichtspezifisch
variiert. Aber gemäß der entscheidungstheoretischen Grundannahme des sekundä-
ren Effektes fallen solche Wahlen auch bei gleicher Leistung tendenziell unter-
schiedlich aus. Entscheidend ist, dass Boudon von relativ geringen Graden des
sekundären Effektes ausgehen kann, um dann doch dramatische Effekte simulieren
zu können.
64 Wolfgang Böttcher

Die soziale Reproduktion durch die Elirninierung bildungs ferner Schichten er-
folgt wirkungsvoll, wie die Statistik belegt, gleichwohl "sanft", wie Selbstverständ-
lichkeit und Akzeptanz dieser Mechanismen zeigen: Die Erfolgreichen und die
Gescheiterten gleichermaßen glauben an natürliche Fähigkeiten und Verdienst. Die
Ausgeschlossenen glauben an die Legitimität des Ausschlusses, den Privilegierten
hilft das Bildungssystem, nicht als Privilegierte zu erscheinen, weder vor sich selbst
noch vor den anderen (vgl. Bourdieu/Passeron 1971, S. 226ff.).

2. Fehl-Konstruktionen und das Ausbleiben von Maßnahmen zu


Reduktion von Chancen ungleichheit

Ein Maßnahmenkatalog in der vom Bundesministerium für Bildung und Wissen-


schaft 1976 herausgegebenen Schrift "Arbeiterkinder im Bildungssystem" (BMBW
1976) offenbart, dass seinerzeit an die Umsetzung von Programmen zur Reduktion
von Ungleichheit gedacht wurde, die durchaus Forschungsbefunde reflektieren.
Insbesondere war beabsichtigt, den Entscheidungszwang beim Übergang in die
Sekundarstufe I und die damit verbundene schichtspezifische Selektion dadurch zu
vermeiden, dass das gegliederte Schulwesen durch eine Gesamtschule ersetzt wer-
den sollte. Diese Idee blieb - im Westen - Illusion.
Eine weitere Idee war es, im Zuge einer didaktischen Neuorientierung die Le-
benswirklichkeit und Erfahrungen von Arbeiterkindern im Unterricht stärker zu
berücksichtigen. Außerdem sollten Lernausgangslagen und Begabungsschwerpunkte
der Schülerinnen und Schüler in differenzierender Unterrichtsorganisation und in
individualisierenden Wahlmöglichkeiten Berücksichtigung finden. Auch diese Ideen,
die nicht nur die Lernchancen von Kindern aus bildungsfernen Familien, sondern
die darüber hinaus ganz generell die pädagogische Qualität der Schule verbessern
sollten, veränderten zwar durchaus den schulischen Alltag, verfehlten aber eines
ihrer wesentlichen Ziele: Auch sie brachten keinen Durchbruch beim Abbau
schichtspezifischer Chancenungleichheit. Schließlich sollte ein veränderter Einsatz
öffentlicher Ressourcen gleichheits fördernd wirken: Allmähliche Einführung der
Lehrrnittelfreiheit, Erstattung von Schülertransportkosten und die Gewährung von
verlorenen öffentlichen Zuschüssen zum Lebensunterhalt von Schülerinnen und
Schülern aus einkommensschwachen Familien waren die Mittel der Wahl. Auch
diese Mittel wurden offenbar nicht im intendierten Sinne wirksam und nutzten eher
den anderen sozialen Schichten.! Selbst die Bildungsexpansion, die innerhalb weni-
ger Jahre die Übergangsquoten zu den Gymnasien und Realschulen anwachsen ließ,

1 Bei Bourdieu und Passeron (1971) heißt es kritisch: "Die Tragweite der sozialen Ungleichheitsfaktoren

ist so groß, dass auch eine wirtschaftliche Angleichung nicht viel ändern würde, da das Bildungssystem
inuner weiter soziales Privileg in Begabung oder individuelles Verdienst umdeuten und die Gleichheit
dadurch legitimieren würde" (ebd., S. 45).
Soziale Benachteiligung im Bildungswesen 65

änderte nur wenig am weitgehenden Ausschluss der Kinder bildungs ferner Schich-
ten aus den Institutionen der "höheren" Bildung.
Die relative Erfolglosigkeit, die wir beim Abbau schichtspezifischer Chance-
nungleichheit konstatieren, mag vielfältige Ursachen haben. Nicht nur, dass manche
Maßnahme allenfalls halbherzig ergriffen wurde, auch die Untauglichkeit bestimm-
ter Instrumente ist nicht auszuschließen. Auch muss festgehalten werden, dass
Bildungsungleichheit erst im Kontext sozialer Ungleichheit entsteht. Maßnahmen,
die der Reduktion der Benachteiligung von Arbeiterkindern im Bildungswesen
dienen sollten, dürften sich demnach nicht nur auf den engeren Bereich der Bil-
dungspolitik beschränken (vgl. BMBW 1981, S. 80).
Es lässt sich mangels ausreichender Wirkungsanalysen, zu kurz greifender Pro-
grammatiken und mangelhafter Umsetzungen kaum erwarten, dass die Reduktion
von Bildungsbenachteiligung erfolgreich hätte gelingen können. Als Zwischenfazit
lässt sich ziehen, dass die PISA-Befunde der hohen sozialen Selektion der deut-
schen Schule eigentlich niemanden hätten überraschen dürfen, zumal auch nach der
Hausse der Ungleichheitsforschung zahlreiche Bestätigungen der Befunde vorliegen
(z.B. Hansen u.a. 1986, Rodax 1989, Böttcher 1991, Köhler 1992, Rolff 1997).
Angesichts der geäußerten Bestürzung in weiten Kreisen von Politik und Öf-
fentlichkeit muss man fragen: Folgen nunmehr Anstrengungen, Benachteiligungen
ernsthaft angreifen zu wollen? Sollte die normative Entscheidung zugunsten einer
Prioritätensetzung zur Reduktion von Benachteiligung ausfallen, müssten damit
verbundene Maßnahmen in den Kontext einer paradigmatischen Neuorientierung
gestellt werden, die sichern hilft, dass Reformprojekte tatsächlich zielgerichtet, kos-
tengünstig und wirksam implementiert werden. Ein Angebot für eine solche Kon-
zeption möchte ich im Folgenden knapp erläutern.

3. Die "Vier E" der Bildungsrefonn

Meiner Überzeugung nach bedürfen Reformen von Bildungsorganisationen einer


grundlegenden paradigmatischen Neuorientierung, auf deren Grundlage einzelne
Reformvorschläge mit Bezug auf ihre je spezifische Programmatik evaluierbar sind.
Einen Vorschlag für eine solche paradigmatische Konstruktion habe ich als das
"ökonomische Programm der Bildungsreform" bezeichnet (vgl. zum Folgenden
Böttcher 2002). Im Hinblick auf die Absicht, Gleichheitsgewinne zu erzeugen,
wären demnach einschlägige pädagogische oder organisatorische Aktivitäten an
folgenden grundsätzlichen Leitprinzipien zu orientieren:
• Fokussierung der pädagogischen "Produktion" auf die Steigerung der (genauer
inhaltlich zu füllenden) Leistungen sozial benachteiligter Schülerinnen und
Schüler,
• stärkere Gewichtung des effizienten Einsatzes der hierzu nötigen Mittel,
66 Wolfgang Böttcher

• systematische empirische Evaluation von Maßnahmen sowie


• Erfolgsprämien für gelungene Reformen .

Griffig ließe sich bei diesem Konzept von den ,,4 E" der Schulreform sprechen:
Effektivität, Effizienz, Evidenz, Erfolgsorientierung.
Effektivität bezieht sich auf Arbeitsergebnisse (vgL hierzu z.B. Timrnermann
1998, S. 219ff.)2. Gefragt wird: Hat eine Organisation oder bis zu welchem Grade
hat eine Organisation ein Ziel erreicht? Ein Effektivitätsvergleich stellt auf das Ver-
hältnis unterschiedlicher Arbeitsergebnisse zueinander ab. Technisch gesprochen
beschreibt er die Relation unterschiedlicher, aber vergleichbarer Outputs.
Zum Effizienzbegriff schreibt Liket: "Bei Effizienz (Zweckmäßigkeit) steht die
Frage im Vordergrund, mit welchen Anstrengungen die Aktivität verrichtet wird.
Welche Anstrengungen (Kosten, Energie) sind nötig, um das Ziel zu erreichen?"
(1993, S. 127). Effektivität vergleicht demnach Ziele und Ergebnisse (Outcomes),
Effizienz setzt Inputs und Ergebnisse ins Verhältnis. Der Begriff fungiert genauer
betrachtet als normative Richtschnur: In der einen Variante soll der Einsatz verfüg-
barer Ressourcen mit bestmöglicher Outputmaximierung erfolgen (Maximie-
rungspinzip). In der anderen Variante soll ein definiertes Produkt bzw. eine definier-
te Leistung mit möglichst niedrigem Einsatz erreicht werden (Minimierungsprin-
zip)3. Effizienz, so kann man populär formulieren, heißt: Das Beste aus den zur
Verfügung stehenden Mittel machen! Wenn also bessere Lerneffekte bei Schülern
mit gleichen Mitteln (Geld, Zeit, Engagement etc.) erreicht werden können, ist ein
solches Vorgehen effizient. Bei gleichem Lerneffekt und gleichzeitig geringerem
Aufwand gilt das ebenfalls. Effizienz aber ist nicht mit Kostenreduktion gleichzu-
setzen. Die Suche nach Effizienz hat auch keinerlei normativen Bezug zu dem, was
eine pädagogische oder eine soziale Organisation erreichen soll, also der inhaltlichen
Füllung der mit Effektivität bezeichneten Dimension (vgL auch Hanushek u.a.
1994, S. xx).
Mit dem dritten Kriterium, Evidenz, ist ein weiteres ökonomisches Argument
genannt: Pädagogische Maßnahmen müssen nachweisen, Evidenzen dafür beibrin-
gen, dass sie ihren Zweck oder ihre Zwecke erreichen. Fehlende empirische Er-
folgskontrolle unterstützt die These von der (möglichen) Verschwendung oder
wenigstens mangelnder Zieltreue von Ressourcen in (vielen) pädagogisch organi-
sierten Prozessen. Wenn es richtig ist, dass bislang Effekte pädagogischer Neuerun-
gen eher unterstellt als untersucht wurden, dann ist hiermit ein bedeutendes Defizit
angesprochen, das auch pädagogisch - und nicht nur ökonomisch - negative Kon-

, Auch Liket (1993) verwendet in pädagogischen Zusammenhängen die Kategorie Effektivität ähnlich
wie von Timmennann vorgeschlagen: "Bei Effektivität (Wirksamkeit) wird die Frage gestellt, ob das Ziel,
das man sich gesetzt hat, erreicht wird" (ebd., S. 127).
3 In beiden Fällen kommt es darauf an, keine Ressourcen zu verschwenden, denn das käme einem nicht

gewünschten Verzicht auf - mögliche - höhere Leistungen gleich.


Soziale Benachteiligung im Bildungswesen 67

sequenzen hat: Wenn tatsächlich für uneffektive Maßnahmen Geld ausgegeben


wird, dann fehlt dieses Geld solchen Maßnahmen, die erfolgreich sind oder sein
könnten. Anders gesagt: Maßnahmen, die mit der Absicht antreten, sozial bedingte
Ungleichheit zu reduzieren, Erfolge aber nachgewiesenermaßen schuldig bleiben,
behindern oder verhindern gar erfolgreiche oder potenziell erfolgreiche Maßnah-
men und gehören abgeschafft.
Als viertes Leitprinzip in mikroökonomischen Reformvorschlägen findet sich
die Idee der "Erfolgsanreize" bzw. "Leisrungsanreize". Prozesse geplanten Wandels
werden demnach vor allem dann eingeleitet und erfolgreich abgeschlossen, wenn es
entsprechende Anreize für die relevanten Akteure gibt. Es basiert auf einer Annah-
me, welche die Soziologie rationalen Entscheidungshandelns in die Theorie sozialer
Systeme eingeführt hat: Individuen handeln demnach eigennützig, sie streben Be-
lohnung an und vermeiden Bestrafung. Leisrungsanreize oder "Incentives" sind
Belohnungen oder Bestrafungen als Folge von spezifischen Handlungsergebnissen
(Outcomes). Anreizsysteme verfolgen unter anderem das Ziel, die Arbeit der Akteu-
re auf das Organisationsziel oder bestimmte Organisationsziele hin auszurichten. 4
Diese vier Leitideen - Effektivität, Effizienz, Evidenz und Erfolgshonorierung
- beschreiben im Kern ein "ökonomisches Programm". Eine Realisierung dieser
Leitideen mündet im Prinzip "Intelligenter Ressourceneinsatz". Intelligenter Res-
sourceneinsatz ist keine Absage an die These möglicherweise notwendiger Ressour-
cenzuwächse, allerdings werden Belege dafür erwartet, dass Ressourcen - Geld,
Zeit, Personal- so eingesetzt werden, dass intendierte Wirkungen wenigstens wahr-
scheinlich sind. Solche Intention ist in unserem Fall die messbare Reduktion von
sozialer Selektion.
Zur Reduktion sozialer Selektion und Selbstselektion lassen sich auf Grundlage
der bisherigen Ausführungen verschiedene konkrete Reformaktivitäten denken und
einem empirischen Test unterziehen.

4. Hypothesen über ungleichheitsreduzierende Instrumente

Nach der sozialen wie sozialwissenschaftlichen Gleichgültigkeit gegenüber diesem


sozialen Tatbestand ist nach PISA die Frage virulent, wie eine faktische Reduktion
von Chancenungleichheit gelingen könnte. Ich will exemplarisch zwei Instrumente
zur Diskussion stellen, die sich an den Kriterien des "ökonomischen Programms"
bewähren müssen und die beide genuin pädagogische Aktivitäten benennen 5: eine

4 Die Tatsache, dass es problematisch ist, Arueizsysteme im Bildungswesen tatsächlich im intendierten


Sinne zu implementieren, soll nicht verschwiegen, kann hier aber nicht weiter thematisiert werden.
S Neben pädagogischen Ansätzen zur Förderung von Bildungsbenachteiligten (z.B. durch kleinere Lern-
gruppen, spezielle Lernprogramme oder kompensatorische Kursangebote) scheinen systemverändernde
Maßnahmen Erfolg versprechend. So legr der Ansatz von Boudon nahe, schulstrukturell vorgegebene
68 Wolfgang Böttcher

"reflexive Pädagogik" und die Einführung eines Kerncurriculums der Grundbil-


dung. Wir fragen also, was die Pädagogik dazu beitragen kann, Ungleichheit zu
reduzieren.

4.1 Reflexive Piidagogik


Bei ihrer Analyse weisen Bourdieu und Passeron (1971) auf die Möglichkeit einer
Pädagogik hin, die Unterschiede nicht negiert, sondern, wenn nicht zu überwinden,
so doch zu reduzieren sucht. Sie schlagen eine "Rationale Pädagogik" vor. Weil es
die Pädagogik im Dunkeln lässt, dass privilegierte Schüler schulisch relevante Vor-
teile gewissermaßen en passant im Milieu der Familie erwerben, erscheint ihr Erfolg
als individueller Erfolg, als Begabung. Die Lehrer, so Bourdieu und Passeron, sind
zur "soziologischen Relativierung" dieser "essentialistischen" Erfolgsdeflnition
"kaum geneigt" (Bourdieu/Passeron 1971, S. 86f.). Der Lehrer jedoch, der mit
Rücksicht auf ihm bekannte Schwierigkeiten in der Familie das sprichwörtliche eine
Auge zudrückt, spielt der Systemlogik gar in die Hand. Ein Verzicht, in bestimmten
Situationen und unter Berufung auf das soziale Handikap eines Einzelnen von all-
gemeingültigen Bewertungsmaßstäben abzusehen, komme einer Kapitulation gleich.
Die individuelle wohlwollende Berücksichtigung der sozialen Herkunft sei nichts als
bloßer Paternalismus: "Blindheit gegenüber sozialer Ungleichheit zwingt und be-
rechtigt zugleich, jegliche Ungleichheit, besonders aber die des akademischen Er-
folgs, als natürliche, als Ungleichheit der Begabung anzusehen" (ebd., S. 82)
Eine Chance zur Durchbrechung des Systems liegt in einer Pädagogik, die es
sich zur zentralen Aufgabe macht, das von den Schülern Erwartete auch tatsächlich
zu vermitteln. Dies sei in der Wirklichkeit von Schule (und Hochschule) nicht der
Fall: "Bei der augenblicklichen Beschaffenheit der Gesellschaft und der pädagogi-
schen Traditionen bleibt die Vermittlung der intellektuellen Techniken und Denk-
gewohnheiten, auf denen das Bildungswesen aufbaut, in erster Linie dem Familien-
milieu vorbehalten" (ebd., S. 88). Die daraus abgeleitete Forderung lautet, dem
einen größeren Stellenwert zu geben, was "rational und technisch durch methodi-
sches Lernen erworben werden kann" (ebd.). Oelkers macht darauf mit diesen
Worten aufmerksam: "Die Schule nutzt viele Elternanstrengungen, ohne dafür zu
bezahlen, während sie die externen Benachteiligungen nicht ausgleicht" (Oelkers 1997,
S.147).
Eine rationale Pädagogik "müsste den Inhalt und die beruflichen Ziele der
Ausbildung in Rechnung stellen" (Bourdieu/Passeron 1971, S. 89) und die Effekti-
vität unterschiedlicher pädagogischer Handlungstypen wie auch der verschiedenen
Unterrichts formen analysieren. Ihr wäre der Zusammenhang zwischen sozialer
Herkunft, pädagogischer Beziehung und Lernresultat klar, und sie würde es sich

Entscheidungspunkte zu reduzieren. Als wirkungsvoll könnte sich auch eine positiv diskriminierende
Schulfinanzierung erweisen (zu konzeptionellen Überlegungen vgl. BauerjBittlingmayer 2005).
Soziale Benachteiligung im Bildungswesen 69

zum vornehmsten und überprüfbaren Ziel setzen, Ungleichheit zu reduzieren. Sie


müsste möglichst früh einsetzen und eine zentrale Variable bei der Reproduktion
von Ungleichheit außer Kraft setzen, nämlich die unausgesprochene Erwartung der
Schule, schon vorauszusetzen, was sie eigentlich lehren sollte: Bereits in der Ele-
mentarbildung sollte es zu einem gezielten "Erlernen der Grundkenntnisse kom-
men, die die Grundschule stillschweigend bei ihren Schülern voraussetzt, angefan-
gen beim Verständnis und Gebrauch der gemeinsamen Landessprache und ver-
schiedener sprachlicher und graphischer Techniken" (College de France 1987, S.
268).
Tatsächlich ist ein der rationalen Pädagogik durchaus verwandtes Konzept
nicht nur theoretisch entwickelt, sondern auch praktisch erprobt: Die erziehungs-
wissenschaftliche Frauenforschung hat es sich ja geradezu programmatisch zur
Aufgabe gemacht, Mechanismen geschlechtsspezifischer Ungleichheit aufzudecken
und gleichheitsfördernde Konzepte zu erarbeiten. So sind die subtilen kommunika-
tiven Verzerrungen in der pädagogischen Beziehung zwischen Lehrern und Mäd-
chen auf der einen, Lehrern und Jungen auf der anderen Seite durchaus der kulturel-
len Vertrautheit zwischen Lehrern und Mittelschichtskindern hier und der entspre-
chenden Fremdheit zwischen Lehrern und Arbeiterkindern dort vergleichbar. Der
Verzicht durch Selbstelirninierung ist der Frauenforschung ebenso bekannt wie das
Phänomen suboptimaler Bildungswahlen. Folgerichtig wurden Unterrichtssituation
und Lehrerverhalten systematischen Analysen unterzogen, Konzepte zur Selbstprü-
fung des pädagogischen Handeln von Lehrern entwickelt, Anreize eingeführt, einge-
fahrene Fächerwahlen aufzubrechen, spezifische didaktische und methodische Prin-
zipien entworfen, geschlechts spezifische Zugangsweisen zum Lernen in bestimmten
Fächern vorgeschlagen und schließlich wurde das Prinzip gemeinsamen Lernens
nicht unerheblich relativiert.
Solche Konzepte lassen sich wohl am besten unter dem Titel "Reflexive Ko-
edukation" zusammenfassen. Gerade auch die immensen Erfolge der Frauenfor-
schung und einer Mädchen und Frauen im Bildungswesen gleichstellenden Politik
legen es nahe, eine systematische Pädagogik zur Reduktion herkunftsbedingter
Chancenungleichheit als "Reflexive Pädagogik" zu bezeichnen.
Eine Reflexive Pädagogik, die Ungleichheit reduzieren will, muss sensibel auf
die jeweilige "Zielgruppe" reagieren, was einschließt, dass gegebenenfalls unter-
schiedliche Strategien angewandt werden müssen - zum Beispiel eine spezifische
Didaktik oder Fördermaßnahmen. Es liegt ja eigentlich auf der Hand, dass Benach-
teiligte nicht weniger, sondern im Gegenteil mehr Aufmerksamkeit benötigen, wenn
sie von der Schule profitieren sollen. Allerdings, was die Inhalte des Lernens wie das
Erschließen der fürs Lernen notwendigen Instrumente betrifft, so gilt hier das Prin-
zip: Für alle das Gleiche. Dieses "Gleiche" nenne ich mangels eines besseren Beg-
riffs "Kerncurriculum".
70 Wolfgang Böttcher

4.2 Pragmatische Bildungsstandards und Kerncurricula


Die 2003 und 2004 veröffentlichten KMK-Bildungsstandards für den Primarbe-
reich, den Hauptschulabschluss und den Mittleren Abschluss 6 treten an, der relati-
ven Beliebigkeit der Bildungsinhalte in der deutschen Schule ein Ende zu setzen. Sie
scheinen den radikalen Wechsel von der Input- zur Outputsteuerung zu untermau-
ern. Es lassen sich jedoch Zweifel an der Steuerkraft dieser Standards anbringen
(vgl. Böttcher 2003), insbesondere vergeben sie die Möglichkeit einer wirkungsvol-
len Politik der Chancengleichheit. Diese bedarf nämlich, so meine These, Bildungs-
standards für eine Grundbildung, die klar, knapp, anspruchsvoll und verbindlich
sind. Diese Kriterien erfüllen die vorgelegten Standards nicht oder allenfalls punk-
tuell.
Was unter dem Attribut "klar" zu verstehen ist, möchte ich kurz an einem
schulischen Beispiel erläutern, das die US-amerikanische Bildungsgewerkschaft AFf
liefert. Eine nicht adäquate Formulierung eines Standards würde z.B. im Bereich
Mathematik so lauten: "Schüler müssen in der Lage sein, geometrische Regeln und
Verfahren in Situationen des täglichen Lebens anwenden zu können". Was eine
solche Beschreibung konkret bedeute, bliebe nämlich offen: Sollen sie nun in der
Lage sein, die Diagonale eines Rechtecks zu berechnen oder den Radius eines Krei-
ses oder den Satz des Pythagoras zu verstehen - oder all dieses zusammen? Der
harte Standard hingegen müsste heißen: "Der Schüler ist in der Lage, zwischen
Umfang und Fläche zu unterscheiden und er kann entscheiden, welches dieser
beiden Konzepte in einer gegebenen Problemsituation angemessen ist" (vgl. AFf
1996, S. 16).
Solche Standards müssen zudem "knapp" sein, sich also auf Wesentliches
konzentrieren, oder, um es aus anderer Perspektive zu formulieren, sie müssen
Raum für selbstverantwortete Wahl zusätzlicher Inhalte lassen. Sie müssen an-
spruchsvoll sein, weil sie die Absicht verfolgen, das zu definieren, was alle jungen
Menschen lernen müssen, um in der modernen Gesellschaft partizipationsfähig zu
sein und über ein Fundament und ein Motiv fürs Weiterlernen zu verfügen. Sie
müssen deshalb verbindlich sein, weil sie für alle Kinder und Jugendlichen gelten
müssen.
"Starke" Standards verhindern einen pädagogischen Voluntarismus und Sub-
jektivismus, der die Erwartungen an die Kinder und Jugendlichen insbesondere aus
bildungs fernen Schichten reduziert. In einem vagen Rahmkonzept von Standards
erfolgt die Formulierung von Zielen und Aufgaben letztlich ungeordnet und zufäl-
lig. Mangelnde Fairness entsteht so geradezu zwangsläufig. Starke Standards hinge-
gen tragen dazu bei, dass alle Kinder - unabhängig von ihrer Herkunft - mit dem
gleichen anspruchsvollen akademischen Curriculum konfrontiert werden (vgl. AFf
1996).

6 Siehe: http://www.kmk.org/schul/home1.htm
Soziale Benachteiligung im Bildungswesen 71

Starke Standards können in Kerncurricula überführt werden (vgl. zum Folgen-


den Böttcher 2001). Den Begriff Kerncurriculum verwende ich im Sinne eines ka-
nonisierten und sequenzierten unverzichtbareren Kernbestands an konkret defInier-
ten Inhalten, die eine Schule verlässlich allen Schülern vennitteln soll, gewisserma-
ßen ihr Pflichtenheft. Es bezeichnet Wissen und Kompetenzen, die tragfahigen
Grundlagen, über die Kinder verfügen müssen, wollen sie erfolgreich weiterlernen
und Lebenschancen verwirklichen. Der als unverzichtbar angenommene Kern wird
insbesondere im Falle sozialer Benachteiligung nicht im Alltag vennittelt. Im Unter-
schied zu den Kindern privilegierter Schichten haben solche aus bildungs fernen
Schichten keine andere Chance, an dieses Wissen anders zu gelangen als durch ihre
Schule. Grundlegend ist die Hypothese, dass die Orientierung an einem verbindli-
chen, transparenten, anspruchsvollen, aber gleichzeitig von jedem Schüler zu errei-
chenden Wissens- und Kompetenzkanon eine Voraussetzung für mehr Gleichheit
ist. Diese These setzt sich in Opposition zur Vorstellung, benachteiligte Gruppen
sollten ihre eigenen Curricula entwickeln dürfen und sie dürften nicht einer ihnen
fremden hegemonialen Mittelschichtskultur unterworfen werden. Schon Bourdieu
und Passeron kritisieren die Idee einer Parallelkultur mit eigenen Bildungsgängen
für die unteren Klassen bei formaler Gleichstellung heftig als Illusion: "Es genügt
nicht festzustellen, dass das Bildungswesen die Kultur einer bestimmten Klasse
repräsentiert, da diese Feststellung isoliert gerade zur V erewigung des gegenwärtigen
Zustands beiträgt" (Bourdieu/Passeron 1971, S. 87). Jede wirkliche Demokratisie-
rung setze voraus, dass das, was zum erfolgreichen Erwerb von Bildung gebraucht
wird, da gelehrt wird, wo die Unterprivilegierten dafür die einzige Chance haben,
nämlich in der Schule (vgl. ebd., S. 88). Kinder aus bildungs fernen Schichten haben
ausschließlich hier Gelegenheit, den gesellschaftlichen Kernbestand an Wissen zu
erwerben, der nötig ist für eine kritisch-kompetente Teilnahme am gesellschaftli-
chen Leben und ihnen die Chance gibt, ihrem sozialen Schicksal zu entkommen:

"If we specify the core of knowledge that all children should share, then we can guaran-
tee equal access to that knowledge, and compensate for the academic advantages some
students are offered at horne. In a eore Knowledge school, disadvantaged children, like
all children, enjoy the benefits of important, challenging knowledge that will provide
the foundation for successfullater Iearning" (Hirsch 1995, S. xvü).

Ähnlich kritisiert Huisken die Konsequenzen einer Vorstellung, welche die unglei-
chen Bildungschancen der Kinder aus Arbeiterfamilien mit ihrem - beim Schulein-
tritt schon weitgehend festgelegten - "Sozialcharakter" erklärt und damit die Schule
weitgehend aus der Verantwortung nehmen will. Er erklärt süffisant, "dass es am
Umgang der Schule mit solchen Mitbringseln liegen muss, wenn die Lücken im
Unterricht nicht behoben, sondern festgeschrieben und dann exekutiert werden. (...)
Unterschiedliche Voraussetzungen können sich also nur deshalb als Unterschiede
im Schulerfolg niederschlagen, weil es in der Schule gar nicht um Bildung, d.h. um
72 Wolfgang Böttcher

das Ausräumen von Wissensmängeln geht" (Huisken 1998, S. 133). Und eine Spur
zynischer schreibt Huisken weiter: "Die Unterschichtskinder kommen laut Pädago-
gik nicht einfach mit Wissensmängeln in die Schule. Sie sind mit einem ,Sozialcha-
rakter' ausgestattet, der sie für die Bildungsanstrengungen der Schule recht ungeeig-
net macht" (ebd., S. 134). Das Kerncurriculum ist der Versuch, die WissensdefIzite
auszugleichen, statt die Kinder aus bildungs fernen Schichten ihrem wahrscheinli-
chen sozialen Schicksal zu überlassen.
Alle Kinder können aber erst dann höhere Leistungen erbringen, wenn gezielte
ausgleichende Maßnahmen für diejenigen ergriffen werden, die in Gefahr sind, die
Standards (oder Kerncurricula) nicht zu erreichen. Ein Plädoyer für klare Standards
muss die Forderung nach Förderungsinstrurnenten beinhalten. 7 Das ist auch ein
Plädoyer für das Ende der "Glockenkurvenmentalität", die es für normal hält, dass
mehr oder weniger viele Kinder nur ein mangelhaftes oder ungenügendes Wissen
und Können erwerben und die große Masse mit einem die Oberflächlichkeit und
Unvollständigkeit des Gelernten widerspiegelnden "befriedigend" zertifiziert wird.
Deshalb sind der Reduktion von Ungleichheit verpflichtete Standards auch nach
oben offene Minimalstandards und nicht Regelstandards, wie in der KMK-Version,
die per defmitionem bereits legitimieren, dass eine Gruppe von Schülern unterhalb
des Durchschnitt- oder Regelniveaus bleibt. Dagegen steht die pädagogische opti-
mistische Version, die der verstorbene AFT-Präsident Al Shanker auf eine knappe
Formel brachte: "All can learn". Wer immer dieses Credo ex ante anzweifelt, muss
sich fragen lassen: Wozu Pädagogik?
Mit dem Konzept starker Standards einher geht das Potenzial zu einer wirkli-
chen "Schulrevolution". Starke Standards nämlich ermöglichen nicht nur, den Leis-
tungsstand von Schülern, sondern im Prinzip auch Erfolg oder Misserfolg von
Lehrern und Schulen zu identifizieren (vgl. Böttcher/Klemm 2002).

5. Eine neue Rolle für den Staat

Vor dem Hintergrund meiner Skizze wird deutlich, dass der Staat völlig neue Auf-
gaben zu erfüllen hat. Wer einige der internationalen Entwicklungen betrachtet,
kann zum Eindruck kommen, dass Schulreform nicht "aus dem System heraus"
entsteht, sondern einer beherzten und kompetenten politischen Umsteuerung be-
darf. Wieder nur kann ich beispielhaft vorgehen, indem ich eine neue BildungsfI-
nanzierung, die Frage defizitärer Bildungsforschung und das Fehlen einer gesell-
schaftlichen Vision skizziere.

- Ein der Chancengleichheit verpflichtetes System klarer Standards mit relativ regelmäßiger Evaluierung
dient der Diagnose, nicht der Selektion - es erlaubt demnach die Identifizierung derjenigen, die Lücken
aufweisen. Je früher sichtbar wird, welche Kinder nicht hinreichend vom Bildungsangebot profitieren,
desto Erfolg versprechender sind pädagogische Interventionen.
Soziale Benachteiligung im Bildungswesen 73

Auch wenn Bourdieu und Passeron zufolge das "kulturelle Privileg" so domi-
nant ist, dass auch und insbesondere finanzielle Ausgleichsmaßnahmen nicht nur
"wirkungslos bleiben, sondern sodann Ungleichheiten noch wirkungsvoller als
Unterschiede im Lerneifer oder Begabung legitimiert werden können" (Bour-
dieu/Passeron 1971, S. 45), sind Umschichtungen der Bildungsfmanzierung wahr-
scheinlich eine Bedingung für Gleichheitsgewinne. Heute spiegelt der öffentliche
Mitteleinsatz im Bildungswesen die Hierarchie der Bildungswege wider; er privile-
giert die Privilegierten und er benachteiligt die Benachteiligten. Das gegenwärtige
System ist von einem hohen Ausmaß an Verteilungsungerechtigkeit geprägt (vgl.
zum Folgenden auch Sachverständigenrat Bildung 1998). Ungerechtigkeiten beim
Einsatz öffentlicher Ressourcen finden sich insbesondere bei der Kombination von
Gebührenfreiheit und -pflicht, beim Ressourceneinsatz für unterschiedliche Bil-
dungswege und bei der Konzentration der Mittel auf unterschiedliche Stufen des
Bildungssystems. Eine dem ökonomischen Programm verpflichtete Politik könnte -
ganz im Gegensatz zum Staus quo - dort scharfe Grenzen ziehen, wo öffentlich
finanzierte Organisationen (hier: Schulen) keinen Beitrag zum sozialen Ausgleich
leisten. Schulen, denen dies hingegen gelingt, könnten besonders honoriert werden.
Eine Schule in einem solchen System würde nicht nach dem absoluten Leistungsni-
veau beurteilt, sondern nach dem, was sie zur Verbesserung von Leistungen beige-
tragen hat, nach dem "Mehrwert", den sie geschaffen hat. Schwierige oder günstige
Ausgangsbedingungen würden berücksichtigt. Inwieweit eine neue Schulfmanzie-
rung - zum Beispiel zur Durchsetzung aufgabenspezifischer Personalwirtschaft,
pädagogischer Förderkonzepte oder besonderer Organisations formen - tatsächlich
eine Reduktion von Ungleichheit bewirken kann, ist Gegenstand notwendiger empi-
rischer Prüfung.
Der letzte Hinweis leitet über zu einer weiteren neuen Aufgabe des Staates. Es
bedarf einer Förderung der Wirkungsforschung. Während der 1960er und 1970er
Jahre nährte eine Vielzahl von wissenschaftlich begleiteten Modellprojekten die
Vorstellung, dass man mit gewissen Wahrscheinlichkeiten feststellen kann, "welche
Veränderungen notwendig sind, um Arbeiterkindern die gleiche Teilnahme an allen
Bildungsangeboten zu ermöglichen" (BMBW 1981, S. 86). Die empirische erzie-
hungswissenschaftliche Forschung verzeichnet jedoch seitdem allgemein - und
insbesondere mit Blick auf unser Thema - ganz erhebliche Desiderata. Eine Stär-
kung empirischer Forschung bedarf gleichzeitig der verstärkten Disseminierung der
Forschungsergebnisse auf eine Art und Weise, die für die Praxis brauchbar ist. Mit
der Etablierung von starken Bildungsstandards könnte beispielsweise auch die Pro-
duktion von Lernmaterial für Lehrer einhergehen: paradigmatische Unterrichtstun-
den auf Video, am Curriculum orientierte fachliche Kurse und ähnliche Maßstäbe
74 Wolfgang Böttcher

setzende Maßnahmen. 8 Solche Verfahren haben wir im Rahmen der TIMS-Studie in


japanischen Schulen gefunden. Die Idee fmdet sich aber bereits im maßgeblich von
Bourdieu formulierten Bildungsreformprogramm des College de France (1987).
Es bedarf einer politischen Prioritätensetzung, wenn man so will, einer gesell-
schaftlichen Vision, die den Skandal der Produktion einer Risiko-Gruppe attackiert,
die mit Kraft und Intelligenz die Zahl von 25 Prozent der 15-jährigen Schüler dras-
tisch reduziert, die trotz einer 9-jährigen Schulzeit zu wenig Grundbildung erwor-
ben haben. Bei internationalen Vergleichen kann auffallen, dass die Förderung von
Chancengleichheit auch in föderativen Systemen durchaus als Politikfeld nationaler
Regierungen begriffen wird. In Deutschland konnte man zwar mit der Forderung
nach nationalen Bildungsstandards und der Etablierung des Programms Zukunft
Bildung und Betreuung Versuche des Bundes9 ausmachen, auf Schulentwicklung
Einfluss zu nehmen, aber abgesehen davon, dass die massiv durchgesetzte Kultur-
hoheit der Länder solche Bemühungen erstickt, fehlt es solchen Initiativen an einer
Prioritätensetzung pro Chancenausgleich. Und dieser Befund gilt uneingeschränkt
für die Länder. Nach Jahren der Reformmüdigkeit schafft man mit unterschiedli-
chen Aktionsschwerpunkten Mega-Baustellen, die allesamt von Baustopps bedroht
sind, weil sie weder logistisch noch fmanziell abgesichert sind. Im Hau-Ruck-
Verfahren erstellte bildungsgangsspezifische Bildungsstandards dienen eher der
Selektion als der Förderung, Ganztagsschulen helfen, kustodiale Probleme zu lösen,
müssen aber nichts zur Reduktion von Bildungsungleichheit beitragen, ein systema-
tisches und ausreichend fmanziertes Programm zur Entwicklung und Evaluation
von Fördermaßnahmen für benachteiligte Schüler fehlt.
Aber hat das Fehlen eines Systems nicht vielleicht System? Es sind "geheime"
soziale Mechanismen, "mit deren Hilfe das Bildungswesen die Kinder verschiedener
sozialer Klassen ungleich stark eliminiert" , schreiben Bourdieu und Passeron: "Das
Geheimnis trägt zum Fortbestand einer auf Tarnung ihrer stärksten Selbsterhal-
tungsmechanismen angewiesenen Sozialordnung bei und dient den Interessen derer,
die auf Erhaltung dieser Ordnung bedacht sind" (Bourdieu/Passeron 1971, S. 15).
Also fragen wir - Politiker und Wissenschaftler - uns: Wer will eigentlich mehr
Chancengleichheit im Bildungswesen? Von dem, wie es ist, profitiert schließlich
unsere soziale Klasse. Wollen wir unseren Kindern und Enkelkindern tatsächlich
die vermehrte Konkurrenz von denen da Unten zumuten?

8 Solches Material reduziert im Übrigen nicht die pädagogische Kompetenz oder Autonomie des Lehrers,

es endastet ihn im Gegenteil für die Wahrnehmung anderer Aufgaben, wie die z.B. stärkere Individuali-
sierung seiner pädagogischen Aktivitäten.
9 Siehe: http://www.bmbf.de/de/1125.php
Soziale Benachteiligung im Bildungswesen 75

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76 Wolfgang Böttcher

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Von Generation zu Generation?
Kleine Kinder und soziale Ungleichheit in Deutschland

Ursula Rabe-KlebeT,

Im Zuge eines beschleunigten Aufholprozesses hat sich in den letzten zehn bis
fünfzehn Jahren das Bild vom kleinen Kind in der deutschen Gesellschaft - Ost wie
West - stark verändert. Länger als in vergleichbaren anderen Gesellschaften - zu
nennen sind vor allem die angelsächsischen und skandinavischen Länder (vgl. z.B.
Veil 2003, Whalley 2001) - wurden hier Kinder im vorschulischen Alter als noch
schwache, sich nur langsam entwickelnde und deshalb vor dem Unbill der harten
Welt zu schützende Wesen betrachtet, die von Erwachsenen zu erziehen, belehren
und nicht zuletzt auch zu zivilisieren seien. Kinderbetreuung wurde und wird in
Deutschland weiterhin als Aufgabe der Sozialpolitik gefasst, wobei allerdings in
zunehmendem Maße der Bildungsauftrag des Kindergartens, der seit 1990 im Kin-
der- und Jugendhilfegesetz verankert ist, aber lange kaum beachtet wurde, nun als
der wichtigere neben den Aufgaben der Erziehung und Betreuung herausgestellt
wird (SGB VIII KJHG, § 22; Bundesjugendkuratorium 2004). Wenn wir heute von
kleinen Kindern reden, dann eher davon, dass sie großartige Forscher seien (Lae-
wen/Andres 2002), dass sie sich selbst bilden (Schäfer 2001), sozialkompetente
Vermittler in unübersichtlich gewordenen Puzzlefamilien seien und vor allem von
strahlender Intelligenz (Rabe-Kleberg 2001, bildung: elementar 2004).
Diese Prozesse der Veränderung des Kindbildes und der entsprechenden ge-
sellschaftlichen Diskurse über Kinder und Kindheit befördern zum einen die in
Deutschland überfillige Etablierung einer Kleinkindpädagogik in Wissenschaft und
Praxis, die an biographisch frühen Bildungsprozessen orientiert ist, zum anderen
aber auch sozial- und bildungspolitische Reformen des Bereichs elementarer Bil-
dung mit dem Ziel, diese Einrichtungen für alle Kinder bereitzustellen - wenn nicht
sogar ihren Besuch verpflichtend zu machen. In diesem Veränderungs- und Durch-
setzungsprozess sozial- und bildungspolitischer Reformen wurden von den Akteu-
ren bislang Fragen der Folgen sozialer Ungleichheit für die Kinder und der Hilfebe-
dürftigkeit von Familien eher vermieden. Hierfür mag es zwei Erklärungen geben,
eine pädagogische und eine soziologische:
• Pädagogisch wird davon ausgegangen, dass jedes Kind in seiner Individualität
und Persönlichkeit mit seinen Stärken gestärkt werden müsse. Probleme, Be-
hinderungen, Schwächen der Kinder werden - so die optimistische und positi-
ve pädagogische Sichtweise - dabei reduziert.
78 Ursula Rabe-Kleberg

• Soziologisch betrachtet könnte die Durchsetzung elementarer Bildung als


grundlegendes Bildungsangebot für alle Kinder durch die Thematisierung sozi-
aler Problemlagen als Ausgangspunkt für die grundlegende Reform der vor-
schulischen Einrichtungen gefahrlich sein und als ein unerwünschter Rückfall
in die sozialpolitisch verengte Begründung der Notwendigkeit von Kinder-
betreuung aufgrund von Notlagen der Familien missverstanden werden.

Der grundsätzlich positive Blick auf Kinder als eigenständige und eigensinnige
Individuen ist als professionelle pädagogische Fiktion zu verstehen. Sie ist notwen-
dig für die Durchsetzung eines neuen normativen Konzeptes, eines Paradigma- und
Habituswechsels, vor allem bei Erzieherinnen in der Praxis der Früherziehung un-
abdingbar, darf aber nicht mit einer realanalytischen Kategorie verwechselt werden,
mit dem die Lage der Kinder und ihr Handeln - auch in pädagogischen Institutio-
nen - abzubilden und zu untersuchen sind.
Soziale Ungleichheit und ihre Folgen für Lebenslagen und Bildungsprozesse
auch von kleinen Kindern zu thematisieren ist aber kein Rückfall in ein überwunden
geglaubtes Kindbild, vielmehr eine dringlich notwendige Ergänzung des Bildes von
Kindheit und Kindern - sozusagen der gesellschaftliche Rahmen für dieses Bild.
Und dieser gesellschaftliche Rahmen ist rissig, splitterig auf der einen Seite und
goldverziert auf der anderen - um das einmal so auszudrücken. Zudem ist die deut-
sche Tradition der sOi/alpadagogischen Tradition des Kindergartens mit den beiden
historischen Wurzeln in der sozialen und der bildungstheoretischen Begründung
noch letztlich im internationalen Vergleich als auch für andere Länder als vorbild-
lich hervorgehoben worden (OECD 2004, Rabe-Kleberg 2004). Im Diskurs und in
den politischen Auseinandersetzungen sollte dieses "Erbe" mehr gewürdigt werden.
Begreifen wir Kindheit als ein Strukturmoment von Gesellschaft und Kinder
als Mitglieder der Gesellschaft, dann sind sie von Phänomenen der sozialen Un-
gleichheit betroffen - und zwar als Kinder in spezifischer Weise. Die soziale Lage
der Kinder und die soziale Konstitution von Kindheit im Verhältnis der Generatio-
nen und ihrer Abfolge zu betrachten - wie es die Überschrift verspricht - mag
zunächst den Anschein erwecken, hier werde einer gewissen Naturwüchsigkeit der
Vererbung von ungleichen Chancen oder Positionen in Gesellschaft das Wort gere-
det - und damit ihrer Schicksalhaftigkeit. Dies ist selbstverständlich nicht an dem!
Generation selbst - so ist zu zeigen - ist Ergebnis gesellschaftlicher Konstruktions-
prozesse und die jeweilige historische und kulturelle Ausprägung der generationalen
Verhältnisse ebenso.
Jede Gesellschaft steht vor der Aufgabe, das Verhältnis der Generationen zu
ordnen. Auch Deutschland befindet sich - wie andere vergleichbare Gesellschaften
- seit einigen Jahren in einem langsamen Prozess der Neuordnung von Sozialpolitik
und Sozialstaat. Die Ordnung des Generationenverhältnisses ist dabei ein entschei-
dender Punkt. Die Frage, wie und ob sich in Zukunft die soziale Lage der Kinder
Von Generation zu Generation? 79

verändern wird, hängt wesentlich von dem Ausgang dieser generationalen Aushand-
lungsprozesse ab (Kaufmann 1997, Opielka 2004).
Im Folgenden sollen die Konsequenzen der generationalen "Vererbung" sozia-
ler Ungleichheit für kleine Kinder und ihre Rezeption in den Diskursen über die
Reform des Elementarbereichs der Bildung betrachtet werden. Hierzu werden wir
erstens die "Erfindung" von Kindheit als ein Projekt der Moderne thematisieren, als
einen Prozess, in dessen Verlauf Kindheit als ein sozialer Raum konstruiert wurde,
in dem die Kinder vor Gesellschaft geschürzt werden sollten und überprüfen, in
welcher Weise solche Kindheitsdiskurse bis heute unser Denken beeinflussen.
Zweitens werden wir die aktuelle "Wiederentdeckung" sozialer Ungleichheit thema-
tisieren und das generationale Verhältnis als ein zentrales Element der Ungleich-
heitslagen von Kindern kennzeichnen und in einem lerzten Schritt auf politische
und professionelle Strategien eingehen, die sich auf Veränderung und Verbesserung
von ungleichen Lebens- und Bildungschancen von Kindern beziehen.

1. Die gute Kindheit - Aktuelle Bildungsdiskurse erschweren es, die


sozialen Lagen von Kindern zu erkennen

Zu den wichtigen Strukturelementen moderner Gesellschaften gehört Kindheit als


ein exklusives Territorium, ein Bereich, der aus der wesentlich durch Arbeit be-
stimmten Gesellschaft der Erwachsenen ausgegrenzt wurde. Erwachsene und Kin-
der wurden als Generationen voneinander geschieden und in getrennte soziale
Räume verwiesen. Dieser im 16./17. Jahrhundert begonnene und bis heute fast
überall durchgesetzte Diskurs und Realprozess serze die Generationen ins Verhält-
nis von groß und klein, mächtig und machdos, fertig und noch werdend, stark und
verletzlich. Kindheit wurde und wird als ein Schonraum verstanden, in dem die
Kinder von den gesellschaftlichen Bedingungen und Einflüssen zu schützen sind.
Immer häufiger und für mehr Kinder wurde der soziale Raum auch zum materiellen
Ort, zum Kinderzimmer, zum Kindergarten, zur Schule. Die pädagogische Institu-
tionalisierung der Kindheit, ihre Scholarisierung, begann im Laufe der Geschichte
immer früher, dauerte länger, nahm mehr Zeit des Tages ein. Im Prozess der Diffe-
renzierung bildeten sich Kinderprofessionen und entsprechende Disziplinen heraus,
die sich auf diese Aliens, diese immer fremder werdenden "exterresrrischen" Wesen
spezialisierten, die im Laufe der Zeit von anderen Gesellschaftsmitgliedern kaum
noch bemerkt oder gar verstanden wurden (Honig u.a. 1996, Laewen/ Andres 2002,
Hengst/Zeiher 2005).
Einher mit diesem Exklusionsprozess geht eine gewisse Anthropologisierung
oder besser Ontologisierung von Kindheit und Kindern, eine Betrachtungsweise,
die Kinder aus Geschichte, Kultur und Herkunft herauslöst, sie als eigenständige
Wesen betrachtet, unter Absehen von Herkunft - Rasse, Ethnie, Klasse - und Ge-
80 Ursula Rabe-Kleberg

schlecht. Pädagogisch wurde dies je nach politisch-pädagogischem Programm zum


einen als Kollektiverziehung - unter Absehung der Individualität des einzelnen
Kindes, so wie dies nach dem Bildungs- und Erziehungsplan der DDR geschah -
oder als Chancengleichheit verstanden, wonach allen Kindern gleiche Angebote zu
machen seien.
Neutralität gegenüber der gesellschaftlichen Lage der Kinder wird dabei als
Gleichbehandlung aller Kinder missverstanden.! Diese Haltung und eine entspre-
chende Praxis fmden sich in vielen Interviews mit Kleinkindpädagoginnen, wonach
das Übel überall außerhalb des Kindergarten zu suchen ist. Zu diesem Außen ge-
hört die Gesellschaft als Ganze, die Werbung und die Süßigkeiten, zumeist aber
auch die Eltern mit ihren divergenten, in den Augen der meisten Erzieherirmen
unzulänglichen Erziehungsvorstellungen. Gegen das Eindringen dieser Außenbezü-
ge in ihre professionellen Claims wehren sie sich - oft mit sisyphosartigem Enga-
gement. 2 Wir müssen deshalb fragen, mit welchen professionellen Ressourcen Er-
zieherirmen in Kindergärten an die Folgen sozialer Ungleichheit herantreten. Dazu
im dritten Abschnitt mehr.

2. Kindheit und soziale Ungleichheit in Deutschland

Bis heute werden auch von kritischen Sozial- und Erziehungswissenschaftlern aktu-
elle gesellschaftliche heterogene, plurale und multikulturelle Verhältnisse für Kinder
eher als Chance und Herausforderung begriffen (z.B. BMFSFJ 1998). Die Perspek-
tive auf Bornierungen aufgrund ungleich verteilter Handlungsressourcen gerät bis
heute immer wieder aus dem Blick. Eine umfassende Definition dessen, was wir
unter sozialer Ungleichheit verstehen, wird von Reinhard Kreckel (1992, S. 17)
vorgelegt:

"Soziale Ungleichheit im weiteren Sinne liegt überall dort vor, wo die Möglichkeiten des
Zugangs zu allgemein verfügbaren und erstrebenswerten sozialen Gütern und/oder zu
sozialen Positionen, die mit ungleichen Macht - und/oder Interaktionsmöglichkeiten
ausgestattet sind, dauerhafte Einschränkungen erfahren und dadurch Lebenschancen
der betroffenen Individuen, Gruppen oder Gesellschaften beeinträchtigt oder begüns-
tigt werden."

1 Eine angebliche "Neutralität" gegenüber dem Geschlecht der Kinder stellt eine vergleichbare "gut
gemeinte" Ignoranz gegenüber den virulenten Problemen der Kinder dar, eine Haltung, die in vielen
Einrichtungen anzutreffen ist.
2 Im Rahmen mehrerer Forschungsprojekte wurden von der Autorin und ihren Mitarbeiterinnen seit
1992 ca. 80 berufs-biographische Interviews in Ost- und Westdeutschland geführt, in denen dieses
Muster immer wieder anzutreffen ist.
Von Generation zu Generation? 81

Bildungsforscher haben vermehrt seit den 1990er Jahren nachdrücklich auf das
hartnäckige Weiterexistieren ungleich verteilter Bildungschancen hingewiesen (Mül-
ler 1994, Müller/Haun 1994, Bloß feld 1985, Rodax/Meier 1997), die sich trotz
eines gewissen Fahrstuhleffektes im Rahmen der Bildungsexpansion nach der Her-
kunft der Kinder durchsetzen und Deutschland im internationalen Vergleich inzwi-
schen eine Spitzenposition eingebracht haben, nämlich die im Abstand zwischen
den Bildungschancen der sozial Schwachen und denen der führenden Schichten
(Baumert/SchÜ1ner 2001). Ein Ergebnis, das in den letzten Jahren gesellschaftspoli-
tisch weitgehend ignoriert oder gar aktiv zugedeckt wurde. So weist die offizielle
Bildungsstatistik seit 1990 keine Daten mehr über die Herkunft der Schüler und ihre
Verteilung auf Schultypen aus (Geißler 2004). Ungleiche Chancen im Bildungswe-
sen, nicht zuletzt aufgrund der Verteilung der Kinder im dreigliedrigen Schulsystem,
werden in den politischen Diskursen eher "naturalisiert" als Ausdruck unterschied-
licher individueller Leistungspotentiale verstanden - und damit gesellschaftlich
immer wieder neu legitimiert.
In der so genannten Hamburger Untersuchung zum Selektionsverhalten von
Grundschullehrern im Übergang zum Gymnasium konnte zudem klar rekonstruiert
werden, dass Kinder aus der Unterschicht und von alleinerziehenden Müttern bei
gleichen Leistungen deutlich seltener für eine weiterführende Schule empfohlen
werden als Kinder aus höheren Schichten und "ordentlichen" Familienverhältnissen
(Lehmann/Peek 1997, auch Rolff 1997). Diese Ergebnisse haben ebenfalls bislang
keinen "Schock" ausgelöst, weder in der bildungspolitischen noch in der erzie-
hungswissenschaftlichen Diskussion!
Der so genannte PISA-Schock wurde ja auch weniger durch die Aussagen über
die sozial ungleich verteilten Bildungsprozesse ausgelöst oder gar durch die Tatsa-
che, dass es Jungen waren, die vor einem Bildungsdesaster stehen. Also nicht soziale
und genderspezifische Ungleichheit haben die nachfolgende Diskussion beherrscht,
sondern der Rangplatz Deutschlands in der Welt, der durch das nur eben auch nur
mittelmäßige Abschneiden der Spitzen im Bildungssystem erzeugt wurde.
Das für Deutschland typische wechselseitige Ausblenden von Sozialpolitik und
Bildungspolitik (Gottschall 2002) muss durchbrochen werden, will man die Konse-
quenzen sozialer Lebenslagen von Kindern und ihren Eltern in Beziehung zu Bil-
dungsprozessen und -institutionen bringen und wenn man fragen will, was und wie
Bildung effektiv zur Verbesserung sozialer Lebenslagen und damit zum Abbau von
Ungleichheit beiträgt (Mierendorff/Olk 2003).
In diesem Zusammenhang kann auch das Muster "Von Generation zu Gene-
ration" neu hinterfragt und als vermeintliches Schicksal aufgelöst werden.

• Zum einen ist zu fragen, was eine Gesellschaft als Ganze für die nachwach-
sende Generation "übrig" hat. Ob sie weiter so tun kann, als hätte sie diese gar
nicht nötig oder als könne sie sich selbst überlassen. Oder ob sie - wie die
82 Ursula Rabe-Kleberg

meisten anderen vergleichbaren Gesellschaften - versteht, dass nur eine gut


gebildete nächste Generation ein Fortbestehen der Gesellschaft sichert und
hieraus Konsequenzen gezogen werden (Bundesjugendkuratorium 2001).
• Zum anderen muss gefragt werden, ob es eine Gesellschaft weiterhin zulässt,
dass Privilegien zum einen und Beschränkungen zum anderen ohne weiteres
von einer Generation zur anderen transferiert werden und dass dies durch ge-
sellschaftliche Institutionen wie Kindergarten und Schule eher noch verstärket
und nicht etwa kompensiert wird.

Im Folgenden sollen diese Fragen vor allem unter dem Aspekt der frühkindlichen
Bildung im Kindergarten3 betrachtet werden. Dies vor allem, weil aktuell in den
politischen Diskussionen in den Ausbau der Elementarbildung geradezu illusionäre
Hoffnungen gesetzt werden, als könnte dort den meisten Problemen im Sozial- und
Bildungswesen erfolgreich begegnet werden, auch deshalb, weil dort die Welt noch
in Ordnung sei und die Gesellschaft vor der Tür bliebe.
Als eines der entscheidenden Phänomene, die auch kleine Kinder mit den Wi-
dersprüchen der Gesellschaft konfrontieren, ist das der Kinderarmut zu nennen -
und zwar in aller Härte, weil nämlich für jüngere Kinder die Chance, dass es in einer
armen Familie lebt, größer ist als für ältere. Über die Hälfte der von Armut bedroh-
ten kleinen Kinder leben bei alleinerziehenden Müttern (BMFSF] 1998, S. 89).
Armut und vor allem Kinderarmut sind seit den entsprechenden Studien und Be-
richten aus den 1990er]ahren (Housten 1991, Child Development 1994, AWO-ISS
2000, Walper 1999, BMGS 2005) als das entscheidende Merkmal für nachhaltig
ungleiche Lebens-, Gesundheits- und Bildungschancen anzusehen.
Dabei ist zunächst der generationale Aspekt hervorzuheben: Familien, die von
Armut bedroht sind, senken die Erwartungen an die Bildungsprozesse ihrer Kinder
radikal ab und verstärken so Selektionsprozesse der Schule und der Lehrer noch
weiter (Geißler 2004). Diese Tendenz wird bei niedrigem Bildungsstand der Eltern
verstärkt, bei höherem aber gebremst. Eltern mit niedrigem Einkommen können
ihren Kindern aber eben auch nicht zusätzliche Erfahrungen und Bildungsanregun-
gen bieten, zudem leben diese Familien zumeist in Wohnvierteln, die anregungsarm,
vielleicht sogar bedrohlich sind. Einkommensarmut mutiert so zu kultureller und
Bildungsarmut.
Die Studien für Deutschland (AWO-ISS 2000, Walper 1999) sowie eine Reihe
von entsprechenden internationalen und vergleichenden Untersuchungen (Child
development 1994, Housten 1991) verweisen übereinstimmend auf Folgen, die
arme Kinder ertragen müssen. Hierzu gehören vor allem eine bedrohte Gesundheit
und ein fehlendes Wohlgefühl (well being), ein oftmals angeschlagenes Selbstbild

3 Unter Kindergarten sollen hier alle sozialpädagogischen Einrichtungen für Kinder von 0 bis 6 Jahren
verstanden werden.
Von Generation zu Generation? 83

und insgesamt eine schwache Sozialentwicklung. Alles Merkmale, die sich ganzheit-
lich gesehen auf die Entwicklung von Motivation, Intelligenz, Sprache, und damit
letztlich auf die Bildungsprozesse auswirken.
Zu fragen ist, wie mit den Folgen generationaler Armut der Familien und der
Kinder umzugehen und ihnen entgegenzuwirken sei. Dabei werden vor allem
kommunikative, soziale und pädagogische Möglichkeiten reflektiert, d.h. politische
und professionelle Strategien im Sozial- und Bildungsbereich diskutiert. 4

3. Soziale Ungleichheit und elementare Bildungsprozesse

In aktuellen bildungs- und sozialpolitischen Diskursen wird der Ausbau von Ein-
richtungen für frühe Bildung, Erziehung und Betreuung - also Tagespflege, Krip-
pen, Kindergärten und Kindertageseinrichtungen - zunehmend mit Hoffnungen
und Funktionen begründet, die schon angesichts der Fülle der zusätzlichen Aufga-
ben vermutlich in den Bereich der Illusionen zu verweisen sind. Da soll der Besuch
der Einrichtungen die Kinder in die Lage versetzen, mit einem möglichst gleichen
Niveau an "Schulreife" in Bezug auf soziale, sprachliche und kognitive Kompeten-
zen in die Schule zu kommen - gänzlich unabhängig von sozialer und ethnischer
Herkunft, sozialen Lebenslagen und Bildungsniveau ihrer Familien.
Zunehmend wird der Ausbau dieser Einrichtungen selbst an diese Hoffnungen
geknüpft, so dass hier ein sozial- und bildungspolitisches Dilemma entsteht. Macht
man darauf aufmerksam, dass diese Hoffnungen - zumal unter den heutigen Rah-
menbedingungen in den Kindereinrichtungen - überzogen sind, zerstört man u. U.
die wachsende Bereitschaft, den Ausbau vorschulischer Bildungseinrichtungen
voranzutreiben. Unterstützt man statt dessen die politischen Hoffnungen und
Funktionszuweisungen in der vagen Hoffnung, auf dieser politischen "Welle" den
notwendigen Ausbau realisieren zu können, trägt man dazu bei, die Einrichtungen
wieder in eine "soziale Ecke" abzudrängen.
Sinnvoll erscheint es deshalb, den Diskurs über die möglichen Leistungen
frühkindlicher Bildungsprozesse zur Verbesserung der Lebenslagen und Zukunfts-
chancen von Kindern angesichts von sozialer Ungleichheit auf der Basis wissen-
schaftlicher Erkenntnisse und wissensbasierter Programme zu führen. Hierzu im
Folgenden drei zentrale grundlegende Überlegungen.
Zunächst sind die Kinder selbst als Akteure ihrer Bildungsprozesse zu thema-
tisieren und in ihrem Umgang mit den Folgen der sozialen Ungleichheit in ihrer
schlimmsten Ausprägung, der ökonomischen und kulturellen Armut. Empirische
Befunde zeigen, dass Kinder je nach Alter und Geschlecht höchst unterschiedlich

, Fiskalische und finanzielle Interventionen der Umverteilung und Absicherung der von Armut bedroh-
ten Kinder und ihrer Familien werden hier nicht thematisiert, was deren Relevanz und Dringlichkeit
keineswegs schmälern soll.
84 Ursula Rabe-Kleberg

mit den Erfahrungen von Kinderarmut umgehen. Es gibt auf der einen Seite sog.
"fitte Kinder", die sich als kaum beeinträchtigt erweisen, allerdings auch mehrfach
beeinträchtigte Kinder auf der anderen Seite. Aber es fmden sich auch solche Kin-
der, die sich sozial kompetent Hilfe und Förderung durch Institutionen und signifi-
kante Andere besorgen. Aus der Resilienzforschung weiß man, dass unter Umstän-
den nur eine starke erwachsene Person schon ausreicht, die Kinder vor den sozialen
und kulturellen Auswirkungen der Armut zu schützen, wenn sich diese als zuverläs-
sig und verantwortlich erweist. Dies können Eltern, Großeltern sein, aber auch
Professionals oder ganz andere Personen (Opp u.a. 1999).
Hieraus erwachsen für Professionals der Kleinkinderziehung Aufgabe und
Verantwortung. Professionals müssen kompetent sein und in die Lage versetzt
werden, solche Aufgaben zu erkennen, zu übernehmen und in enger Kooperation
mit den Eltern und anderen zuständigen Professionen auszufüllen.
Für Eltern und die gesamte Familie in schwierigen ökonomischen und sozialen
Lebenslagen scheinen deren Bildungsstand und das interne kommunikative Klima
dafm entscheidend zu sein, welches Engagement sie für die Bildung und andere
existentielle Bedürfnisse ihrer Kinder aufbringen und ob auf Zuverlässigkeit und
Verantwortung ihrerseits gesetzt werden kann (Iben 2001, Wieners 2001, Zinn-
ecker/Silbereisen 1996). Engagement der Eltern hängt aber auch ganz entscheidend
von den Erfahrungen der Eltern mit der Wirksamkeit ihres Tuns und den Möglich-
keiten der Partizipation ab. Studien aus Großbritannien und anderen europäischen
Ländern haben gezeigt, dass auch Eltern aus unteren sozialen Schichten und von
niedrigem Bildungsniveau in die Arbeit der Kindereinrichtungen integriert werden
können und sich selbst dabei durchaus weiterentwickeln (Whalley 2001, INT2 2004,
Bundesjugendkuratorium 2004a).
Zu den Voraussetzungen, dass Eltern sich in die Lage versetzen, sich trotz
prekärer Lebenslagen für ihre Kinder und deren Zukunft einsetzen, gehört aber
auch, dass Kindergärten wirklich zu Häusern für Kinder und Familien werden (peu-
cker/Riedel 2004). Die meisten Einrichtungen erfüllen heute kaum diese Bedingun-
gens, und damit auch nicht die gesetzlichen Verpflichtung des Kinder- und Jugend-
hilfegesetzes, nach der alle Einrichtungen für Kinder den Auftrag haben, gleiche
Lebensverhältnisse zu sichern und dabei Benachteiligung zu vermeiden bzw. abzu-
bauen.
Erfahrungen zeigen, dass arme Familien, insbesondere Migrantenfamilien,
auch dann das Kinderbetreuungsangebot nicht annehmen, wenn es nahezu kosten-
frei ist. Hier fehlen auf Seiten der Eltern Information über die Möglichkeiten früh-
kindlicher Erziehung und Vertrauen in die fremde Kultur, unter Umständen aber

; Auch in Deutschland gibt es inzwischen einige Einrichtungen, die sich hier erfreulich abheben, z.B. in
Berlin das PFH, das Projekt "Monheim für Kinder - MoKi", das lris-Regenbogenzentrum in Halle und
Einrichtungen im Rahmen des Bündnisses für Familien insbesondere in Nürnberg, um nur eine kleine
Auswahl zu nennen.
Von Generation zu Generation? 85

auch die Fähigkeit, sich den Regelmäßigkeiten einer Einrichtung anzupassen (Anne
Kinder in einem reichen Land 2004/05). Kostenfreiheit würde demnach nur wenig,
Kindergartenpflicht dagegen einiges dazu beitragen, dass auch diese Kinder eine
Chance auf ein vielfaltiges Angebot erhalten.
Ob das Bildungsangebot des Kindergartens in seiner heutigen Ausprägung
zum Abbau von Ungleichheit wesentlich beiträgt, ist allerdings fraglich. Auch wenn
dieses von allen erwartet wird. Untersuchungen über mittel- und längerfristige Aus-
wirkungen des Kindergartenbesuchs erbringen widersprüchliche Ergebnisse, zum
einen zeigen sie für Großbritannien, dass der Kindergartenbesuch in der kognitiven
Entwicklung den Kindern einen Vorsprung erbringt (EPPE 2004). Zum andern -
dies gilt vor allem für deutsche Verhältnisse - sind ähnliche Ergebnisse empirisch
hier (noch) nicht nachzuweisen (Kreyenfeld 2004, Becker/Lauterbach 2004).
Unter Umständen sind die Ergebnisse in Deutschland auf den (noch) niedri-
gen Stand der Entwicklung der Einrichtungen als Bildungsorte zurückzuführen
(Tietze 2002). Auszuschließen ist aber auch nicht, dass bei deutschen Erzieherinnen
mehr oder weniger ausgeprägte Vorbehalte gegen Eltern aus der Unterschicht und
nicht zuletzt gegen ausländische Eltern zu ftnden sind. Zu bedenken ist, dass der
Beruf der Erzieherin in Deutschland - vor allem in Ostdeutschland - von sozialem
Abstieg bedroht ist. Aufgrund der verbreiteten Praxis der Teilzeitarbeit nähert sich
das Gehalt einer Erzieherin dem Niveau der Armutsgrenze an. Von ihnen sind
deshalb eher Abgrenzungstendenzen zu erwarten als solidarische Kooperation.
Die allseits geforderte Professionalisierung des Erzieherinnenberufs wäre da-
her nicht nur mit einem Zuwachs an inhaltlich-fachlichen Kompetenzen verbunden,
sondern auch mit einem Zuwachs an sozialpolitischer Potenz, die diese in die Lage
versetzt, sich advokatorisch für die Kinder und ihre Familien einzubringen.
Abschließend ist festzuhalten, dass die fachliche wie politische Diskussion um
die Fragen der sozialen Ungleichheit in ihren Auswirkungen auf kleine Kinder und
die Aufgaben, die sich daraus für die Organisation und Professionalisierung der
Kleinkinderziehung in Deutschland ergeben, erst begonnen hat. Sozial- und bil-
dungspolitische Ansätze und Überlegungen, empirische Ergebnisse und politische
Programmatiken müssen hier zusammengeführt werden, um die biographisch und
gesellschaftlich nachhaltigen Folgen früh erfahrener sozialer Ungleichheit zu mini-
mieren.
Frühe Bildung erhält dann den Sinn die Personen, die Kinder, zu stärken, nicht
zuletzt für den Umgang mit Ungleichheit und Ungerechtigkeit in der Gesellschaft.
86 Ursula Rabe-Kleberg

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Konturen einer neuen sozialen Bildungspraxis?
Bildung, Erziehung und Betreuung in der offenen
Ganztagsschule

Thomas Rauschenbach

Nie war so viel Bildung wie heute.! Aller Orten wird über Lernen und Bildung dis-
kutiert, darüber, ob die Kinder in Deutschland richtig lernen, ob sie das Richtige
lernen und ob sie genügend lernen. Dabei ist die Debatte längst nicht mehr nur auf
Schule und Unterricht beschränkt; die Ausweitung des Bildungsauftrags für den
Kindergarten, eine V orverlegung des Einschulungsalters und der Ausbau der Ganz-
tagsschule sind nur einige Stichworte, die als des Rätsels Lösungen verkauft werden,
mit deren Hilfe die "deutsche Schmach von PISA" vergessen gemacht werden soll.
Im Kontext dieser Frage der Bildung geht es nicht nur darum, die immer
schneller wachsende Stoffmenge an Fakten, Informationen und Erkenntnissen
lernend zu verarbeiten, sondern zugleich auch zu lernen, die Chancen und Risiken
einer individualisierten Lebensführung zu bewältigen. Konnten die Menschen frü-
her auf den vorgefertigten Schienen eines durchschnittlichen Lebensverlaufs in die
vorbeikommenden Züge einsteigen - wohlgeordnet nach Klassen und Schichten -
müssen sie nunmehr in einem Straßengewirr mit vielen Abzweigungen und viel
Verkehr ihre Lebensführung selbst in die Hand nehmen. Insoweit haben sie heute
zwar deutlich verbesserte Optionen, Tempo und Richtung selbst zu bestimmen,
aber auch das erhöhte Risiko, bei der kleinsten Unachtsamkeit die richtige Abzwei-
gung zu verpassen, von der Fahrbahn abzukommen oder am Ende der Straße in
einer Sackgasse zu landen. Diese veränderte Aufgabe der Lebensführung stellt eine
eigene und neue Herausforderung mit Blick auf die Bildungs- und Lernprozesse
von Kindern dar.
Ausgelöst durch die erste PISA-Studie sind Bildung und Lernen verstärkt in
das Blickfeld von Politik und Öffentlichkeit geraten. Beunruhigt durch Schreckens-
szenarien, denen zufolge der Wirtschaftsstandort Deutschland durch diese neuerli-
che Bildungskatastrophe gefährdet sei, wurde Bildung wie niemals zuvor in den
Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt, verbunden mit der Hoffnung, dass insti-
tutionelle Reformen zu einer Verbesserung des Lernens und der Lemergebnisse
führen.

1 Überarbeite und erweiterte Fassung eines Vortrags auf der Veranstaltung ,,1 Jahr offene Ganztags-
grundschule in NRW" in Hamm arn 11.2.2005.
90 Thomas Rauschenbach

Doch so einfach ist die Sache nicht. Deutlich wurde mit den PISA-Ergeb-
nissen, dass schulexterne Faktoren die getesteten Kompetenzen bei den Schülerinnen
und Schülern in entscheidender Weise beeinflussen. Denn: Schulische Leistungen
sind in Deutschland in erheblichem Maße von der Herkunft abhängig. Schulerfolg
wird den Kindern buchstäblich (wieder) in die Wiege gelegt. So haben beide PISA-
Studien als "Risikogruppe" Kinder aus "bildungsfernen Schichten" bzw. mit Migra-
tionshintergrund identifiziert, deren Ergebnisse befürchten lassen, dass diese auch
im weiteren Verlauf ihres Lebens den Anschluss an Ausbildung und Beruf, an Teil-
habe und sozialer Integration verlieren (vgl. Baumert/Schümer 2001). Dies ist eine
Herausforderung, die über ein enges schulisches Bildungsverständnis deutlich hi-
nausweist, deren jugend-, familien- und sozialpolitischen Facetten unübersehbar
sind.
Der unbestreitbare historische Erfolg des Bildungsortes Schule - im Sinne des
damit verbundenen Fortschritts, Bildungfür alle zu ermöglichen - hat wesentlich mit
dazu beigetragen, dass die Bildungsfrage nicht nur immer stärker auf die Schule
ausgerichtet wurde, sondern dass damit zugleich auch andere Bildungsorte als die
unbeobachtete Seite des Bildungsgeschehens aus dem Blick geraten sind (vgl. Ot-
to/Rauschenbach 2004). Dem in jüngerer Zeit immer wieder verwendeten Slogan
"Bildung ist mehr als Schule" (vgl. Bundesjugendkuratorium u.a. 2002) widersprechen
auch die PISA-Verantwortlichen nicht, zielt doch deren Erhebungskonzept nicht
nur auf schulische Leistungen. Neben den Kompetenzmessungen zur sprachlichen,
mathematischen und naturwissenschaftlichen Grundbildung wurden im Jahr 2003
zusätzlich auch fachübergreifende Problemlösefahigkeiten getestet. Bei diesem
praktischen Problemlösen schnitten die deutschen Schülerinnen und Schüler inte-
ressanterweise international vergleichsweise gut ab. "Diese Art des Problemlösens
wird", so Manfred Prenzel, Deutschlands Hauptverantwortlicher für die PISA-
Studie 2003, "jedoch in erster Linie nicht im Unterricht vermittelt, sondern im All-
tag außerhalb der Schule".2
Allein dies ist ein Hinweis, die Blickrichtung auch auf die Lernorte jenseits der
Schule auszuweiten. Damit aber korrespondieren zwei Fragen, zum einen die Frage,
wo und wie die Jugendlichen die verschiedenen Kompetenzen eigentlich erwerben,
d.h. nach der Relevanz anderer Bildungsorte; und zum anderen die Frage nach den
Bildungsinhalten, also danach, was sie lernen sollen und ob insoweit - etwa bei PISA
- Bildung bereits in ausreichender Breite ins Blickfeld gerückt worden ist.
Beide Überlegungen sind keineswegs trivial. Bildung und Lernen findet neben
seiner curricular gestalteten Form in der Schule auch andernorts statt. So gibt es
vielfältiges Wissen, sichtbare Kompetenzen, vorhandene Fertigkeiten und Fähigkei-
ten, die jenseits der Schule gelernt werden: zufällig, geplant, nebenbei, spontan -
jedenfalls nicht in Rahmen schulischen Unterrichts. Dieser Teil des meist unbeo-

2 Lt. "Die Zeit" vom 09.12.2004.


Konturen einer neuen sozialen Bildungspraxis? 91

bachteten Bildungsgeschehens steht unterdessen in der Gefahr, systematisch ver-


nachlässigt und allenfalls als hilfreiche Zusatzqualifikation, nicht jedoch als die ande-
re Seite einer elementaren Grundbildung verbucht zu werden. Es liegt daher nahe,
den Zeiten und Zeiträumen vor und neben der Schule vermehrte Aufmerksamkeit zu
widmen, um deren Potenziale näher auszuloten.

1. Bildung vor und neben der Schule

Sofern man Bildung nicht nur mit dem Erwerb einer beruflichen QualifIkation für
das spätere Arbeitsleben gleichsetzt, sondern als einen kognitiven, sozio-
emotionalen, moralischen und praktisch-instrumentellen Herstellungs- und Befähi-
gungsprozess von größtmöglichster Autonomie und sozialer Verantwortung in allen
Lebensbereichen versteht, kann man davon ausgehen, dass viele Bereiche des alltäg-
lichen Lebens hierzu wichtige Beiträge leisten, auch wenn die Wirkung nicht-
geplanter Settings sehr unterschiedlich, nicht so zielgenau und die Eintrittswahr-
scheinlichkeit erfolgreicher Lernprozesse dort geringer sein mag. Bildungsdebatten
sind in Deutschland oftmals in den Binnenlogiken von Bildungsinstitutionen ver-
haftet. Da der Blick dabei in der Regel nicht auf jeweils andere Bildungsinstanzen
sowie damit verbundene Systemübergänge und noch weniger auf non-formale und
informelle Lernprozesse außerhalb dieser Institutionen fällt, gelingt es oft nicht, die
Komplexität unterschiedlicher Lern- und Lebenswelten als eine Einheit zu betrach-
ten und dadurch die wechselseitigen, positiven wie negativen Einflüsse gezielt zum
Ausgangspunkt zu machen. Der Horizont öffnet sich erst, wenn man Bildung im
Lebenslauf betrachtet und Bildungsverläufe als Produkt eines aufeinander folgenden
und zeitgleichen Zusammenspiels von unterschiedlichsten Bildungsorten und
-modalitäten versteht:
1. Alles beginnt mit der Familie. Sie lässt sich als eine Bildungswelt ganz besonde-
rer Art kennzeichnen: In der Familie ist in Sachen Bildung "alles möglich", a-
ber "nichts sicher". Und dennoch wird sie in der Bildungsforschung eher als
Hintergrundsvariable denn als Einflussgröße verwendet. Als eigenständiger Bil-
dungsort, als Ort des Geschehens bzw. - im Falle des Versagens - als Ort der
unzulänglichen Bildung hingegen wird Familie viel zu wenig in den Mittel-
punkt gerückt (vgl. Wissenschaftlicher Beirat für Familienfragen 2002, Büch-
ner/Krah 2005).
2. Als erster eigens geplanter Bildungsort tritt die institutionelle Kinderbetreuung in
das Leben von Kindern ein, bei der Mehrheit ab dem 4. Lebensjahr. Diese
Form der Förderung von Kindern ist in den modernen Gesellschaften zu ei-
nem integralen Bestandteil der kindlichen Normalbiographie geworden. Insbe-
sondere der Kindergarten wird diesbezüglich verstärkt als ein wichtiger Bil-
dungs- und nicht nur als Betreuungsort entdeckt (vgl. Fthenakis 2003). Dabei
92 Thomas Rauschenbach

unterstreicht die IGLU-Studie - eine international vergleichende Leistungsstu-


die im Grundschulalter - die positiven Effekte des Kindergartenbesuchs auf
die Leistungen der Grundschulkinder (vgl. Bos u.a. 2003).
3. Mit dem Beginn der Schulpflicht wird die Schule zu einer ebenso zentralen wie
zugleich auch stark formalisierten Lernwelt für alle Kinder. Dieser wird fast
exklusiv die Leistung zugeschrieben, die Bildungsbiographien der Heranwach-
senden zu prägen - was die Schule zweifellos auch tut, allerdings ergänzt und
umgeben durch andere außerunterrichtliche und außerschulische Bildungsorte
und -anlässe. Da jedoch Schule bislang der einzige öffentliche Raum ist, an
dem alle Kinder rund 10 Jahre ihres Lebens verbringen, macht allein dies sie zu
einem herausgehobenen Bildungsort (vgl. Avenarius u.a. 2003).
4. Mit zunehmendem Alter wächst die Bedeutung von Gleichaltrigengruppen als
einer wichtigen Gesellungsform und einer flüchtigen Gelegenheit des Lernens.
Gleichaltrige werden in ihrer Rolle als Ko-Produzenten des Lernens noch viel
zu wenig beachtet, obgleich sie sich als eine wichtiger werdende Einflussgröße
auf Bildungsprozesse von jungen Menschen erweisen (vgl. Nörber 2002). Bil-
dungsprozesse in Peergroups lassen sich am ehesten an vielfältigem, gegensei-
tigem informellem Lernen festmachen (wie z.B. Prozesse wechselseitiger Un-
terstützung, gemeinsame Freizeitaktivitäten oder die Herausbildung von Wert-
orientierungen). Zugleich spielen sie als defmitionsmächtiges Umfeld eine
zentrale Rolle für das Interesse bzw. Desinteresse an institutionellen Lernset-
rings (vgl. Wahler u.a. 2004).
5. Den vielfältigen Bildungsmöglichkeiten in der organisierten Freizeit, allen voran
der Jugendarbeit in den Vereinen, im Sport, in der Kultur oder in den Jugend-
freizeitstätten, ist gemeinsam, dass Bildungsprozesse an diesen Orten geplant
wie ungeplant ablaufen, dass die Teilnahme jedoch freiwillig und das Lernen
vielfach implizit erfolgt - und infolgedessen diese Lernorte auch deutlich we-
niger aufgesucht werden als die Pflicht-Schule (vgl. Rauschenbach u.a. 2005).
Dennoch sind diese Orte der organisierten Freizeit wichtig, bilden sie doch
u.U. elementare Schnittstellen, an denen sich junge Menschen nach eigenen In-
teressen engagieren und sich selbst erproben, in denen sie Wertschätzung und
Anerkennung erfahren können, ohne wie in der Schule ständig kontrolliert und
bewertet zu werden. Und immerhin zwei Drittel der 15-Jährigen nutzen im
Laufe ihrer Schulzeit zeitweilig derartige Angebote (vgl. Rauschenbach 2003).

Darüber hinaus sind weitere Lernorte, wie z.B. Nachhilfe, Schülerjobs und vor
allem die Medien, wichtige Modalitäten der Bildung im Prozess des Aufwachsens
(vgl. Rauschenbach u.a. 2004). Alle diese Lernorte bilden in ihrem Zusammenspiel
das Potential, aus dem sich Lern- und Bildungsprozesse entwickeln können, die zu
sehr viel breiter ausgelegten Kompetenzen führen, als diese im Rahmen der PISA-
Untersuchungen bislang zum Gegenstand gemacht worden sind. Die Frage, die sich
Konturen einer neuen sozialen Bildungspraxis? 93

hier anschließt, ist die, ob und inwieweit es gelingen kann, dass das "Projekt Ganz-
tagsschule" mit einem zeitlich und inhaltlich erweiterten Bildungskonzept diese
Vielfalt gewährleisten kann.

2. Ganztagsschule - eine neue bildungspolitische Chance

Das Projekt Ganztagsschule entwickelt sich derzeit zum folgenreichsten Eingriff in


das System Schule in der Geschichte der Bundesrepublik (vgl. Holtappels 2004, zur
internationalen Debatte vgl. Coelen 2003, Coelen/Otto 2005). Es ist vom Grund-
satz her das größte pädagogische Feldexperiment in der bundesdeutschen Bildungs-
geschichte im Kindes- und Jugendalter und hat das Zeug, zu einem wirklichen Re-
formprojekt mit Sprengkraft zu werden. Vielleicht wird dies erst aus der Distanz
und im Nachhinein so richtig sichtbar werden. Es gibt kein ähnlich gelagertes Un-
terfangen, das die Lern- und Lebenswelten aller beteiligten Akteure - der Kinder
und ihrer Familien, der Lehrkräfte sowie des nicht-unterrichtenden Personals - so
nachhaltig zu verändern in der Lage ist, wie dies beim Projekt Ganztagsschule mög-
lich sein dürfte. Und es hat bislang auch kein vergleichbar großes pädagogisches
Projekt gegeben, das so ambitioniert war, dass es fast alle zur Verfügung stehenden
pädagogischen Instanzen für das Kindes- und Jugendalter mobilisiert hat - vom
Kindergarten über die Schule bis zur Jugendarbeit, um nur die wichtigsten zu nen-
nen -, um sich an diesem Reformprojekt zu beteiligen. Wie folgenreich dieses ganze
Unternehmen ist, zeigt sich aber auch daran, dass es für die einzelnen pädagogi-
schen Arbeitsfelder nicht nur um eine nachgeordnete Form der Beteiligung geht,
sondern dass zugleich auch die eigene aktuelle Verfasstheit - des Kindergartens, des
Hortes, der Jugendarbeit - zur Disposition gestellt wird (zum Verhältnis von Ju-
gendhilfe und Schule vgl. auch Hartnuß/Maykus 2004).
Das Ausmaß dieses Reformprojekts reicht ungleich weiter als eine "Agenda
2010", verändert die Bildungslandschaften vermutlich nachhaltiger als der geplante
weitere Ausbau im Bereich der Kindertagesbetreuung, den wir seit Mitte der
1990er-Jahre mit dem Kindergartenrechtsanspruch bereits hinter und mit Blick auf
die Ausweitung des Platzangebotes für unter Dreijährige noch vor uns haben (da es
in diesen Fällen eher um ein "Mehr-Desselben" geht; vgl. dazu DJI 2005). Das
Projekt Ganztagsschule impliziert mehr: Es ist ein Umbau, der die Frage der "öf-
fentlichen Verantwortung für das Aufwachsen", wie dies der Elfte Kinder- und
Jugendbericht formulierte (vgl. BMFSFJ 2002), neu stellt - und sie dahingehend
beantwortet, dass diese öffentliche Verantwortung mehr umfasst, weiter gehen
muss, als dies bislang in Deutschland aus buchstabiert worden ist (zum Konzept
Ganztagsbildung vgl. Otto/Coelen 2004). Zugespitzt formuliert: Familien, ergänzt
um die bislang real existierende Halbtagesschule, reichen als Orte des Aufwachsens,
94 Thomas Rauschenbach

des Lernens und der Bildung nicht mehr aus, um den Anforderungen an Bildung,
Betreuung und Erziehung zu Beginn des 21. Jahrhunderts gerecht zu werden.
Eltern und erst recht Kinder, die von klein auf, d.h. bereits ab den ersten Le-
bensjahren durchgängig und in erheblichen Teilen des Tages in öffentlichen, päda-
gogisch gestalteten Räumen verbringen, haben ein Anrecht darauf, dass dort nicht
nur Betreuung, sondern eine umfassende Förderung und Entwicklung gewährleistet
wird. Mehr noch: Es besteht ein unwiderruflicher Bedarf, die Trias von Bildung,
Betreuung und Erziehung nicht nur zu einer viel zitierten Floskel verkommen zu
lassen, die ansonsten folgenlos bleibt, sondern alle drei Dimensionen im Rahmen
der öffentlichen Verantwortung in einem integrierten Gesamtkonzept umzusetzen
(vgl. BMFSFJ 2005). Nicht mehr und nicht weniger muss Maßstab und Anspruch
für das Zukunftsprojekt "Ganztagsschule" sein.
Das "Projekt Ganztagsschule" ist ein Pilotprojekt, ist ein riskantes Projekt mit
einem noch ungewissen Ausgang, bei dem es unvermeidlich Mängel und Fehler
geben muss (zur frühen Forschung zu Ganztagsschulen vgl. Radisch/Klieme 2003).
Wer dies nicht einkalkuliert und den Beteiligten nicht zugesteht, dass sie sich als
lernende Organisationen verstehen müssen, verkennt, dass ein solch vielschichtiges
Vorhaben nicht allein am grünen Tisch erdacht und in einem l:l-Format am Reiß-
brett entworfen werden kann. Unter dieser Voraussetzung käme es nie zustande, da
zu viele Dinge vorab nicht abschließend geklärt werden können. Für solche selte-
nen, aber folgenreichen Großprojekte gibt es in der Geschichte meist nur einen
kurzen Augenblick, wo sie sich in die Tat umsetzen lassen, da sie sonst vor lauter
Bedenken über das Unfertige nie umgesetzt werden. Und das Projekt Ganztags-
schule gehört in diese Kategorie.
Insoweit handelt es sich bei dem Projekt um eine Chance und ein Risiko
zugleich. Es ist kein Selbstläufer, den man politisch nur anzustoßen braucht, ohne
sich über weitere Umsetzungsschritte allzu viele Gedanken machen zu müssen,
ohne die Rahmenbedingungen politisch zu sichern und weiter zu entwickeln. Dieses
Vorhaben ist weder zum Nulltarif noch mit viel gutem Willen und Engagement
allein zu realisieren. Und es reicht auch nicht, einfach Ganztagsschule drauf zu
schreiben und dann zu hoffen, dass auch Ganztagsschule drin ist. Das muss man
wissen, muss man im Blick behalten, will man das Projekt nicht mit falschen, vor-
schnellen Erwartungen bereits im Keim ersticken.
In Anbetracht dieser Ausgangslage kann man nur den Hut ziehen vor jenen
Akteuren, die in der Politik so weitsichtig, zielstrebig und wagemutig waren, sich auf
den Weg zu machen und dieses ebenso chancen- wie risikoreiche Projekt auf der
Ebene von Bund und Ländern nunmehr tatkräftig anzugehen. Das ist keineswegs
trivial - und in Anbetracht des genannten gigantischen Ausmaßes dieser Aufgabe
schon aller Ehren wert. Der Geist ist aus der Flasche und wird nicht mehr zurück-
zuholen sein. Der politische und pädagogische Weg in die Ganztagsschule ist un-
umkehrbar beschritten; es gibt keinen Rückweg mehr.
Konturen einer neuen sozialen Bildungspraxis? 95

Dabei ist es schon erstaunlich, wie viele Schulen, Schulleitungen, einzelne


Lehrkräfte, wie viele Akteure vor Ort in den kommunalen Einrichtungen sich in so
kurzer Zeit bereits auf den Weg gemacht haben, obwohl- das muss man fairerwei-
se konstatieren - am Anfang außer dichtem Nebel meist noch nicht viel zu sehen
war, obwohl kein Kompass, keine genaue Landkarte, keine klaren Zielpunkte, keine
ausreichende Marschverpflegung und - vor allem - keine einigermaßen kostende-
ckende Reisekasse vorhanden war; es handelt sich also um eine klassische Pionier-
arbeit. Naiv und kurzsichtig, sagen in Anbetracht dieser Ausgangslage die einen,
alternativlos die anderen.
Das Wort Ganztagsschule ist in Windeseile zu einem politischen Schlüsselbeg-
riff, oder vielleicht besser: zu einer Art Universalschlüssel für alle behaupteten und
diagnostizierten Probleme in Sachen Bildung und - ganz generell - in Sachen Auf-
wachsen von Kindern und Jugendlichen geworden. 3 Weil jedoch nicht nur der gute
Wille reicht, ist das Augenmerk auf die Rahmenbedingungen zu legen, die dazu
beitragen, dass am Ende auch das rauskommen kann, was man am Anfang wollte.
Wenn unterdessen der Eindruck entsteht, dass mit diesem Zauberwort alles und
jedes gelöst werden kann, dann sollte zuvor noch einmal innegehalten werden.
Denn: Ganztagsschule ist die Antwort, was aber war eigentlich die Frage?
Mindestens drei Dimensionen sind bei diesem Projekt zu beachten, die in die-
sem Zusammenhang unterschwellig auf der Tagesordnung stehen. Dazu gehört die
bereits genannte Trias von Bildung, Betreuung und Erziehung, die für den Kindergarten
eine begriffliche Selbstverständlichkeit sein mag, aber im Kontext von Schule kei-
neswegs trivial oder voraussetzungslos ist:
• Erstens geht es bei diesem Reformprojekt um eine bessere Vereinbarkeit von
Familie und Beruf und damit um die Frage einer qualifizierten Betreuung von
Kindern jenseits des Unterrichts (gegenwärtig vor allem am Nachmittag). Es
geht insoweit zunächst einmal um eine zeitliche Ausweitung der "verlässlichen
Halbtagsschule" (vgL Holtappels 2002). Betreuung scheint nicht nur im Au-
genblick das (fast alles) dominierende Thema bei der Umsetzung des Ganzta-
gesprojekts zu sein, es scheint sich zugleich auch ein ähnliches Muster an Kri-
tik, Defiziten und Herausforderungen abzuzeichnen, wie dies in der über 100-
jährigen Geschichte der Kindertagesbetreuung immer wieder zu beobachten
war. Nicht ohne Grund soll vor allem die Kinder- und Jugendhilfe mit ihrer
langjährigen Erfahrung in Sachen Kinderbetreuung sowie außerschulischer
Kinder- und Jugendarbeit als strategischer Partner in das Ganztagesprojekt
einbezogen werden. 4

\ Dies zeigen in jüngerer Zeit auch Verlautbarungen, Wahlprogramme verschiedener Parteien, aber auch
Positionspapiere der diversen Ministerien in Bund und Ländern.
, Vgi. Investitionsprogramm "Zukunft Bildung und Betreuung" (IZBB): http://ww.bmbf.de/
de/1125.php Oetzter Zugriff am 6.7.2005). Darüber hinaus haben auch die Jugendministerkonferenz
96 Thomas Rauschenbach

Bei diesem gesamten Betreuungsaspekt muss jedoch beachtet werden, dass


"Betreuung" dabei nicht gedankenlos mit "Beaufsichtigung", "Schutz und Be-
wahrung" oder mehr oder minder abwechslungsreicher "Beschäftigung" von
Kindern verwechselt wird. Ungleich besser umschrieben wird das, was eine
proaktive Rolle von "Betreuung" ausmachen sollte, mit dem englischen Wort
"Care" bzw. "Edu-Care" oder auch mit deutschen Begriffen wie Beziehung,
Sorge, Unterstützung, Zuwendung oder Hilfe. Ob dieses Selbstverständnis von
Betreuung jedoch schon zur Grundausstattung der Ganztagesschulkonzepte
gehört, ist zumindest noch klärungsbedürftig.
• Zweitens geht es im Lichte von PISA bei der Ganztagsschule eindeutig auch
um eine verbesserte Bi/dung. In dieser Hinsicht liegt die eigentliche Herausfor-
derung darin, wie mit dem Projekt Ganztagsschule ein bildungsbezogener
"Dreisprung" gelingt, d.h. wie man es schafft, dass in diesem Projekt zum ei-
nen die schwächeren Kinder - die bei PISA so genannten "Risikogruppen" -
besser, zum anderen zugleich die ohnehin Fitten ihren Begabungen, Interessen
und Talenten entsprechend gezielter gefördert werden können und wie
schließlich des Weiteren das auf den Unterricht bzw. auf die damit korrespon-
dierenden, ganz spezifischen Kompetenzen ausgerichtete schulische Bildungs-
konzept um jene Elemente und Inhalte erweitert werden kann, die in der Ver-
gangenheit gerade nicht zu den Stärken der deutschen Halbtagsschule gehörten.
Vor allem diese letzte Seite der Erweiterung des Bildungshorizonts ist bislang
viel zu wenig ins Rampenlicht gerückt worden, obgleich diese Facette der
Thematik die größten Entwicklungsimpulse für eine künftige Ganztagesbil-
dung liefern könnte.
• Und drittens impliziert die Ganztagesrhetorik auch die Frage der E'i/ehung,
also das, was man vielleicht als Entwicklung einer eigenen moralischen Urteils-
kraft, als Entwicklung einer eigenen Persönlichkeit, einer zivilgesellschaftlichen
Haltung und einer erworbenen Verantwortung und Befähigung zu einer eigen-
ständigen Lebensführung umschreiben könnte. Dieses Thema, das spätestens
mit dem Verlust einer einst relativ konkurrenzlosen Definitionsmacht der Fa-
milie in Sachen Erziehung sowie einer erheblichen zeitlichen Ausweitung der
öffentlichen Erziehung von Kindesbeinen an virulent geworden ist - und bei-
spielsweise die Jugendrninisterkonferenz bereits im Jahre 2003 auf die Agenda
des politischen Handlungsbedarfs gesetzt hat -, ist in seiner Konsequenz in
der Ganztagsschul-Debatte noch gar nicht richtig angekommen;5 Kopfnoten
im Zeugnis sind ein vorsichtiger, nicht unbedingt geglückter Versuch, dieser

(Beschluss vom 13./14.5.2004) und die Kultusministerkonferenz (Beschluss vom 3./4.6.2004) gemein-
sam ein Papier zur "Zusammenarbeit von Schule und Jugendhilfe" verabschiedet.
'Vgl.Jugendministerkonferenz 2003 (22./23.5.2003 in Ludwigsburg), unter: http://www.sozialnetz.de/
ca/bbq/xtn/ (letzter Zugriff am 04.07.05).
Konturen einer neuen sozialen Bildungspraxis? 97

Dimension des Aufwachsens auch im schulischem Rahmen wieder verstärkt


Ausdruck zu verleihen.
Eine Messlatte für das Projekt Ganztagsschule wäre dann so anzulegen, dass in
Zukunft alle drei Dimensionen zum Tragen kommen können. Diese Herausforde-
rung kann die Schule, kann die bisherige Schulverwaltung, können die schulischen
Lehrkräfte allerdings nicht alleine schultern. Darauf ist die herkömmliche Unter-
richtsschule mit ihren spezifischen Stärken und Schwächen nicht ausreichend vor-
bereitet. Dazu braucht es Partner, Strukturen und Verfahren, die diesen erweiterten
Horizont ins Blickfeld zu rücken wissen, ihn kompetent umsetzen können und dazu
beitragen, dass Ganztagsschule nicht nur zu einer zeitlichen Ausdehnung der Unter-
richtsschule und damit der Lebenszeit von Kindern in öffentlicher Regie führt,
sondern dass zugleich eine verbesserte Umsetzung des Zusammenspiels von Bil-
dung, Betreuung und Erziehung sowie eine Ausweitung der Bildungsinhalte und
Lemmodalitäten durch Ganztagsschulen entsteht.
Wenn man so will, geht es bei dem Projekt Ganztagsschule in dreifacher Weise
um ein neues Zusammenspiel: Erstens um ein neuartiges Ineinander von Bildung,
Betreuung und Erziehung im öffentlichen Raum Schule, zweitens um eine verbes-
serte Verbindung von schulischen und außerschulischen Bildungsinhalten und
Lernmodalitäten sowie drittens um eine weitaus engere Kooperation der beiden
Systeme Jugendhilfe und Schule. Mit anderen Worten: Mit der auch von politischer
Seite dezidiert geförderten Kooperation von Schule und Jugendhilfe wird erstmalig
in Deutschland die Möglichkeit eröffnet, Bildung umfassender, mithin nicht nur
schulisch zu bestimmen, und so über die Schule hinaus auch andere Partner in die
Planung und Gestaltung eines umfassenden Bildungskonzeptes aktiv und auf breiter
Ebene einzubeziehen.

3. Das Projekt Ganztagsschule - im Lichte von ersten Befunden am


Beispiel NRW

Der Ausbau der Ganztagsangebote an Schulen befmdet sich derzeit noch in heftiger
Bewegung und die Entwicklungsverläufe in den Bundesländern unterscheiden sich
zum Teil erheblich (vgl. BMFSFJ 2005).6 Daher ist die Datenlage für eine qualitative
Bilanz dieses Ausbaus noch sehr beschränkt (vgl. Kolbe 2005). Gleichwohl liegt für
das Land NRW - das den Schwerpunkt seines Ausbaus bislang auf Angebote an
Grundschulen gesetzt hat - im zweiten Jahr des Ausbaus eine erste wissenschaftli-
che Analyse zu den Effekten des Ganztagsschulausbaus vor (vgl. Beher u.a. 2005).1

6 Folgt man den Angaben des Bundesbildungsministeriums, dann werden im Schuljahr 2005/2006
bundesweit bereits über 5.000 Schulen am Förderprogtamm "IZBB" für Ganztagsschulen teilnehmen.
- Nach der Einführung der offenen Ganztagsgrundschule wurden in einem ersten Untersuchungsab-
schnitt der Studie die Umsetzungsformen des Ganztags sowie die Erfahrungen bzw. Bewertungen der
98 Thomas Rauschenbach

In der Einschätzung ist sicherlich nicht davon auszugehen, dass die bislang vorlie-
genden ersten Erfahrungen bereits abschließende, aussagekräftige Schlussfolgerun-
gen zulassen, zumal sich die offene Ganztagsschule in NRW seit der Datenerhe-
bung erheblich weiter entwickelt hat: von 236 auf insgesamt 703 Schulen allein im
Schuljahr 2004/2005 - das sind rund 20% aller Grundschulen - bzw. von 11.721
auf 34.416 betreute Kinder in nur einem Schuljahr; im Schuljahr 2005/2006 sollen
weitere 500 Grundschulen dazu kommen, so dass dann zusammen bereits rund
1.300 Grundschulen und damit mehr als ein Drittel aller Grundschulen Ganztags-
angebote unterbreiten. 8
Insoweit ist es mittelfristig nur folgerichtig, dass sich Bund und Länder darauf
verständigt haben, die Entwicklung der Ganztagsschulen in einer bundesweit ange-
legten, repräsentativen Studie von einem Konsortium aus DIPF, DJI und Universi-
tät Dortmund wissenschaftlich begleiten zu lassen. Demnach werden von 2005 an
zunächst einmal mehr als 40.000 Schülerinnen und Schüler nebst deren Eltern, der
jeweiligen Schulleitung, den Lehrkräften, dem nicht-unterrichtenden pädagogischen
Personal sowie den Kooperationspartnern an ca. 400 repräsentativ ausgewählten
Ganztagsschulen befragt.9 Weitere Befragungen zu mehreren Messzeitpunkten sind
bis 2008 geplant.
Vor dem Hintergrund der von den beteiligten Akteuren selbst gesteckten Ziele
lassen sich die Ergebnisse des Zwischenberichts zur Offenen Ganztagsschule in
NRW (vgl. Beher u.a. 2005) quer lesen - nicht zuletzt auch unter der skizzierten
Fragestellung des Zusammenspiels von Bildung, Betreuung und Erziehung. Vor
diesem Hintergrund lassen sich exemplarisch acht Herausforderungen skizzieren.

1. Herausforderung: Die Betreuung


Beginnt man bei der Frage der Betreuung, so scheinen in dieser Hinsicht im ersten
Jahr relativ viele Erwartungen erfüllt worden zu sein. Von Seiten der Eltern wird

beteiligten Akteure erfasst. Hierzu wurde eine Erkundungsstudie mit quantitativen und qualitativen
Untersuchungselementen an ausgewählten Schulen durchgeführt. Von den im Schuljahr 2003/2004
bestehenden 235 offenen Ganztagsschulen im Primarbereich wurden 24 Schulen für die Untersuchung
unter den Aspekten Verteilung auf die Regierungsbezirke und Berücksichtigung unterschiedlicher Sozial-
räume und Konzepte ausgewählt. An jeder Schule wurden die Schulleitungen sowie die beteiligten Eltern
per Fragebogen schriftlich befragt. Darüber hinaus wurden pro Schule jeweils Gruppeninterviews mit
denjenigen Personen geführt, die in verantwortlicher Form konzeptionell-gestaltend für die Entwicklung
und Organisation des Ganztags zuständig sind, aber auch mit den Mitarbeiter/innen, die an der täglichen
Durchführung des offenen Ganztag unmittelbar beteiligt sind.
8 Offen ist gegenwärtig, wie das Projekt in NRW politisch weitergeht. Allerdings steht in der Koalitions-

vereinbarung der neuen Regierung aus CDU und FDP, das diese "zusätzlich zu den bestehenden und
von der bisherigen Landesregierung geplanten Mittel ( ... ) den Schulen 2.400 Lehrstellen-Äquivalente
Gährlich 120 Mio. Euro) für Ganztagsangebote in Form von Budgets für einen flexiblen Personaleinsatz
zur Verfügung stellen" wollen (vgL Koalitionsvereinbarung NRW von CDU und FDP, S. 33, www.cdu-
nrw.de/media/Koalitionsvereinbarun~entwurf.pdf).
9 VgL zum Projekt "StEG - Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen" auch www.projekt-steg.de.
Konturen einer neuen sozialen Bildungspraxis? 99

diesbezüglich ein positives Fazit gezogen. Sie zeigen sich in der großen Mehrheit
zufrieden mit der Art der Betreuung und den Betreuungszeiten. Auch die Hausauf-
gabenbetreuung, so man sie der Betreuung zuschlägt, wird sowohl von den Eltern
als auch den Lehrkräften positiv wahrgenommen. Familien fühlen sich entlastet,
und aus Sicht der Lehrkräfte verbessert sich die Ausgangslage für den täglichen
Unterricht. 10
Schaut man auf die Angebote und Inhalte der so genannten Betreuung, so be-
tonen die unterschiedlichen Akteure, dass es dabei tatsächlich um mehr als um
Beaufsichtigung und Beschäftigung geht. Vor allem das nicht-unterrichtende Perso-
nal legt großen Wert auf die Bezjehungsarbeit zu den Kindern. In diesem Punkt liegt
vielleicht - sofern es gelingt, persönliche Beziehungen zu möglichst allen Kindern
aufzubauen - der wichtigste Indikator und die größte Chance zu einer Veränderung
gegenüber dem alten Schulsystem, das zumeist nicht so intensiv und unterrichts-
übergreifend auf individuelle Beziehungen und persönliche Verhältnisse abzielte
(obgleich dies von der Reformpädagogik schon seit den 1920erJahren unermüdlich
gefordert wurde).
Anmerken kann man darüber hinaus, dass es auffallt, dass die Betreuung fast
ausschließlich von nicht-unterrichtendem Personal erbracht wird, dass den Lehr-
kräften damit erst einmal ein Teil einer Aufgabe abgenommen wird und sie dadurch
offenbar auch bessere Unterrichts bedingungen vorfmden. Dies mag sie auch objek-
tiv erleichtern. Fraglich ist nur, inwieweit das lehrende Personal selber die dadurch
frei werdenden Ressourcen in ein Gesamtkonzept Ganztagsschule bzw. in die Un-
terstützung außerunterrichtlicher Bildungsprozesse der Kinder reinvestiert.

2. Herauiforderung: Die Bildung


In punkto Bildung, d.h. in der individuellen Förderung aller Kinder - sowohl der
Benachteiligten als auch der Begabten und Fitten - sowie mit Blick auf eine neue
Gesamtkonzeption in Sachen Bildung zeigen sich nach der Startphase durchaus
noch Optimierungspotentiale. In den im Umfeld der Kinder- und Jugendhilfe for-
mulierten "Leipziger Thesen" heißt es dazu: "Zielperspektive eines umfassenden
Bildungsverständnisses ist u.a. mehr Zeit zur Förderung individueller Begabungen
und zur Anerkennung und Einbeziehung nicht durch Schule vermittelter Kompe-
tenzen" (Bundesjugendkuratorium u.a. 2002, S. 2).
Da Eltern in punkto individueller Förderung ihrer Kinder üblicherweise eher
unterrichtsnahe Formen als soziale und personale Bildungsprozesse im Auge haben,
sollte man die deutlich geäußerten Verbesserungswünsche gerade in diesem Punkt
ernst nehmen. Hausaufgabenhilfe ist vermutlich ein kaum zur Debatte stehender
Bestandteil der Ganztagsschule (zumindest, wenn sie in kleinen Lerngruppen und

10 Diesbezüglich werden mittelfristig allerdings genauere Daten über die Effekte - auch differenziert

nach Leisrungsgruppen und sozialen Merkmalen - benötigt, vor allem um die Frage zu klären, inwieweit
sich dies auch auf die unterrichtlichen Leisrungen der guten und der schwächeren Kinder auswirkt.
100 Thomas Rauschenbach

unter Berücksichtigung der einzelnen SchülerInnen und deren Lernbedarfe erfolgt).


Aber unbestritten entsteht dadurch noch kein auf jedes einzelne Kind abgestimmtes
Bildungs- und Förderkonzept, wie auch durch das eher additive Modell in der
Startphase noch kein integriertes Bildungskonzept, noch keine Gesamtidee, keine
Philosophie einer umfassenden Bildung erkennbar wird, in der kulturelle, instru-
mentelle, soziale und personelle Kompetenzen gleichermaßen zur Geltung kommen
(vgl. BMFSFJ 2005, S. 66).
An vielen Ganztagsschulen hat sich bereits ein reiches und buntes Angebot im
Nachmittagsbereich etabliert und die vielen Kooperationspartner, die auch für spe-
zielle Angebote einbezogen werden, spiegeln die Vielfalt der kulturellen, sportlichen
und anderen Freizeit- und Bildungsmöglichkeiten wider. Dadurch werden unstrittig
vielfältige Bildungsprozesse und Lernerfahrungen dem Grunde nach möglich ge-
macht. Und dennoch bleibt zu fragen, inwieweit in diesem Prozess bereits das Gan-
ze mehr ist als die Summe seiner Teile, sprich: ob hinter der Angebotsvielfalt und
den vielen Freizeitmöglichkeiten auch eine eigene Bildungsidee und erweiterte Bil-
dungsprozesse erkennbar werden.
Dabei steht eine stark ausgeprägte Angebotsorientierung teilweise auch in ei-
nem Spannungsverhältnis zu selbst gestalteten Phasen und Freiräumen für Kinder;
insoweit wird vom pädagogischen Fachpersonal die Verpflichtung der Kinder auf
bestimmte Angebote durchaus als problematisch empfunden. In diesem Punkt
besteht möglicherweise weiterer Diskussions- und Entwicklungsbedarf im Sinne
von angemessenen "Bildungsgelegenheiten" und "Bildungszumutungen". Die
Ganztagsschule will in einem erweiterten Bildungsverständnis offene und selbst
gestaltete Bildungsräume und -möglichkeiten anbieten. Gleichwohl greift ein Ver-
ständnis vom Nachmittag als bloßer Erholung und Freizeit mit Blick auf die Idee
einer Ganztagsschule, die auch für den außerunterrichtlichen Bereich Bildungspro-
zesse initiieren will, zu kurz.
Ein Ganztagsschulkonzept kann - zugespitzt formuliert - nicht in einen Vor-
mittag mit dem Grundtenor "Pauken" und in einen Nachmittag mit dem animati-
ven Werbeaufkleber "Erholung" zerfallen: Pflicht, Ernsthaftigkeit, Anstrengung
und Bildungszumutungen auf der einen, Spaß, Spiel und Erholung, alters- und be-
dürfnisgerechte Wellness-, Erholungs- und Konsumangebote auf der anderen Seite.
In diesem Fall würde ein Ganztagskonzept seinen selbst gesetzten Ansprüchen,
wenn überhaupt, allenfalls in Ansätzen gerecht, blieben wichtige Bildungschancen
jenseits von Unterricht und Schulfächern ungenutzt. Soziales Lernen, Auseinander-
setzung mit den eigenen Fähigkeiten und Kompetenzen, Persönlichkeitsbildung -
längst ebenso wichtige Schlüsselkompetenzen auf dem Weg des Erwachsenwerdens
- bestehen eben auch aus Herausforderungen durch Unbekanntes, Neues, "noch
nicht Gekonntes" jenseits von Schulfächern, das seinen Platz und seine Gelegenheit
in einer Ganztagsschule ebenso benötigt. Und auch diese Elemente halten - selbst
bei ansprechender, abwechslungsreicher Vermittlung - Anforderungen und Zumu-
Konturen einer neuen sozialen Bildungspraxis? 101

tungen an die Kinder bereit; so können etwa auch Leistungsanforderungen und


notwendige Anstrengungen in einer ungeliebten Sportart für Kinder rasch zu einer
bedrohlichen Zumutung werden.
In dieser Hinsicht sind vor allem die außerschulischen Kooperationspartner
gefordert, deutlicher ihre Bildungsanteile und ihre Rolle am Ganztag zu verdeutli-
chen. Ein Gesamtkonzept von Bildung steht vor der Herausforderung, alle Lern-
und Entwicklungsangebote der Schule in einem integrierlen Konzept zusammen zu
denken und zu planen. Vereinfacht gesprochen geht es hierbei vor allem um die
Ergänzung im nicht-unterrichtlichen Teil mit einem Bildungskonzept im Sinne von
,,Anders-und-Anderes-Lernen ".

3. Herausforderung: Die Er.;jehung


Auch wenn, wie es in Artikel 6 des Grundgesetzes heißt, Pflege und Erziehung der
Kinder das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht
ist, so werden dennoch aufgrund sich verändernder Zeitanteile zwischen privater
und öffentlicher Erziehung die Relationen zwischen Familie und Schule immer
stärker zu Lasten der Familie verschoben. Schon deshalb spricht rein äußerlich
einiges dafür, dass Erziehungsprozesse damit nicht einfach auf den reduzierten
Zeitanteil der Familie am Abend und Wochenende begrenzt werden können. Aller-
dings können diese auch nicht einfach weg von Eltern auf die Ganztagsschule abge-
schoben werden.
Die Auseinandersetzung mit Werten und sozialen Regeln, mit den Vorstellun-
gen und Verhaltensweisen Erwachsener, der soziale Umgang in Gruppen, das all-
mähliche Entstehen eigener Meinungen und Positionen, das Erproben und die
Justierung eines eigenen Lebensstils in der Gleichaltrigengruppe: all das sind, oder
besser sollten selbstverständliche Bestandteile der Ganztagsschule werden. In diesen
Dimensionen liegen wichtige Chancen und Aufgaben, denen sich Kinder lernend
stellen müssen, für das sie ein Gegenüber, für das sie kommunikative, intersubjekti-
ve Reibungsflächen und soziale Experimentierräume benötigen. Hier kann die
Schule ganz sicher von der Kinder- und Jugendhilfe, vom Hort, von der Jugendar-
beit lernen.
Die ersten Ergebnisse in NRW verweisen auf ein verbessertes soziales Klima
in der Ganztagsschule und in den Klassen. Dies könnte ein Hinweis sein, dass die
andere Seite des Schulalltags, der Unterricht, tatsächlich von diesen Entwicklungen
profitieren könnte. In der Einübung und dem Praktizieren demokratischer Regeln
sowie der konkreten Erfahrung von Mitbestimmung, Mitgestaltung, Verantwor-
tungsübernahme und einer Ernsthaftigkeit "im konkreten Tun" der Kinder liegt
auch die Chance einer verstärkten Erziehung zur Selbstregulation und Eigenverant-
wortung. Allerdings liegen über die Mitwirkung von Kindern im Ganztagsschulall-
tag bislang noch keine unmittelbaren Ergebnisse vor; dies muss im Rahmen künfti-
ger Forschung verstärkt untersucht werden.
102 Thomas Rauschenbach

4. Herausforderung: Die Nachfragenden


Nachfragende sind, wenn man so will, Eltern und Kinder. Die Eltern sehen, wie
beschrieben, nach ersten Befunden in NRW zwei ihrer Erwartungshaltungen in
hohem Maße eingelöst: Sie zeigen eine große Zufriedenheit mit den Betreuungszei-
ten und dem sozialen Lernklima in der Schule. Sie formulieren aber auch einen
deutlichen Verbesserungsbedarf in punkto Bildungs- und Förderangebote. Hier
wird von den Eltern der größte Nachholbedarf gesehen. Auch sie scheinen mithin
das Angebot der Ganztagsschule erst einmal als verlässliche Betreuungsleistung und
nicht unbedingt als Fortschritt in Sachen erweiterter Bildung und besonderer För-
derung wahrzunehmen.
Über die Zufriedenheit der SchülerInnen, die zweite und eigentliche "Nutzergrup-
pe", kann noch nicht viel gesagt werden, da sie - zumindest in NRW - nicht eigens
befragt wurde. Die durchaus positiven Rückmeldungen der Eltern, denen zufolge
66 Prozent der Kinder gerne in die offene Ganztagsschule gehen und nur 4 Prozent
skeptisch sind, wären noch mit eigenen Aussagen der Kinder zu kontrastieren und
dadurch vielleicht auch mit Blick auf die Bewertungen einzelner Teilelemente der
offenen Ganztagsschule zu differenzieren. Generell beschreiben Eltern die erweiter-
ten Möglichkeiten der sozialen Kontakte sowie die freudige Erwartung der Kinder
auf den Nachmittag als Gründe für deren Zufriedenheit (dies könnte aber natürlich
auch mit einer nicht so ausgeprägten Freude über den Vormittag zusammenhän-
gen).
Gleichzeitig muss jedoch mit Blick auf die Zufriedenheit sowohl der Kinder
als auch der Eltern die Einschränkung gemacht werden, dass Schule im Ganztag
nicht plötzlich zu einem Paradigma der Entspannung durch Bildung führen kann,
sprich: dass nach dem Unterricht das Reich der Freiheit und der Wünsche beginnt
und "Kundenzufriedenheit" zum alles entscheidenden Kriterium der konzeptionel-
len Ausrichtung wird. Hier muss eine Balance gelingen zwischen den widerstreiten-
den Interessen und Bedürfnissen; es wird ja auch nicht einfach der Mathematikun-
terricht abgeschafft, nur weil eine Reihe von Kindern kein Bedürfnis danach ver-
spürt.
Dies gilt in ähnlicher Weise auch mit Blick auf die Eltern. Es kann für eine
weitsichtige Bildungspolitik nicht reichen, dass die Erwachsenen schlicht zufrieden
und froh über ihre eigene zeitliche Entlastung sind - und sich sonst aus allem raus
halten. Im Gegenteil: Zu einem guten Ganztagsschulkonzept gehört die Einbezie-
hung und aktivierende "Inpflichtnahme" der Eltern, gehört, dass Eltern möglichst
früh beteiligt werden und sich auch - im Rahmen ihrer Möglichkeiten - aktiv betei-
ligen, selbst wenn das für manche Eltern bisweilen eine Zumutung sein mag. Und
genau in diesem Punkt, so zumindest ein Tenor im NRW-Zwischenbericht (vgL
Beher u.a. 2005), wünscht sich das nicht-unterrichtende Personal ein höheres Enga-
gement und mehr Selbstverantwortung von Seiten der Eltern. Dabei muss gleich-
Konturen einer neuen sozialen Bildungspraxis? 103

wohl der soziokulturelle Hintergrund der jeweiligen Elterngruppen im Blick behal-


ten werden.

5. Herausforderung: Individuelle Forderung b'lJ1l. besonderer Fo"rderbedaif


In Sachen Inanspruchnahme, also der Frage, wer die Ganztagsangebote nutzt und wer
nicht, sind die Aussagen des NRW-Zwischenberichts bislang vorsichtig. Wenn man
nach der Einbeziehung von Benachteiligten fragt, wird für die ausgewählten Schu-
len beschrieben, dass die Struktur der sozialen Herkunft in der Teilnahmestruktur
des Ganztagsangebots "gut" abgebildet sei. Auch Kinder aus Familien mit Migrati-
onshintergrund sind laut den Zwischenergebnissen ihrem Anteil entsprechend
repräsentiert; allerdings bedarf es auch hier weitergehender Analysen. Besondere
Förderangebote für diese Kinder waren und sind in einigen dieser Grundschulen
vorhanden, gleichwohl fehlt derzeit häufig noch die Verzahnung mit den Ganzta-
gesangeboten, so dass hier ein Fortschritt durch das Ganztagsangebot in der Start-
phase nicht immer erkennbar wird.
Ausgesprochen schwer scheint sich bislang das "Projekt Ganztagsschule" je-
doch mit dem zu tun, was eine wesentliche Idee bei der Implementation des IZBB-
Bundesprogramms war: die verbesserte Förderung des einzelnen Kindes, also die
individuelle Unterstützung der Lern- und Leistungsschwachen sowie der Benachteilig-
ten ebenso wie die gezielte Förderung der Lernbegierigen. Es scheint nach wie vor
- vor allem aus Gründen des personellen Mangels und der fehlenden Kontinuität,
vielleicht aus Mangel an konsequenter Ausrichtung - schwierig zu sein, ge zielte
Einzel- bzw. Kleingruppenförderung praktisch umzusetzen. Dies müsste, wenn sich
diese Beobachtung verallgemeinern lässt, eine besondere Herausforderung für die
Zukunft sein.

6. Herausforderung: Das Personal


Hier muss man zuallererst das hohe Engagement und die Einsatzbereitschaft des
Personals hervorheben, das sich beim Aufbau der Ganztagsschule engagiert und
viele Dinge ohne Rücksicht auf Arbeitszeiten und eigene Belastung angestoßen und
umgesetzt hat. Trotzdem drängt sich, wie von vielen befürchtet, ein gewisser Ein-
druck auf. Plakativ formuliert: Zunächst kommen morgens die Lehrkräfte und
machen Unterricht, um pünktlich mit dem Unterrichtsende das Terrain zu räumen
und dieses den ErzieherInnen bzw. dem sonstigen nicht-unterrichtenden Personal
zu überlassen, die dann - in einem bunten Personalmix, ohne Einbindung und
Kenntnis des Vormittags - für Fragen der Betreuung und der Koordination der
Nachmittagsangebote zuständig sind.
So sehr die personelle Vielfalt und Pluralität in einer ansonsten berufsgrup-
penmäßig eher eintönigen Schule prinzipiell zu begrüßen ist: Auch der nicht-
unterrichtliche Teil der Ganztagsschule braucht Hauptzuständige, braucht im Inte-
resse der Kinder Verlässlichkeit und Beständigkeit in den Beziehungen, da Betreu-
104 Thomas Rauschenbach

ungsarbeit auch und vor allem Bezjehungsarbeit ist. Nicht zuletzt deshalb spricht vie-
les dafür, dass sich das gesamte pädagogische Personal die Verantwortung in der
Bildungs- und Betreuungsarbeit teilt, nicht unbedingt schematisch getrennt nach
Stundenplan oder gar in einer phantasielosen Aufteilung in Vormittag und Nach-
mittag. Hier muss - zumindest im Primarbereich - die einseitige Betonung von
Unterricht als ausschließliches Medium des Lehrens und Lernens sowie die Allein-
herrschaft von Lehrerinnen und Lehrern in dem unterrichtsbezogenen Teil der
Schule etwas gelassener gesehen, vielleicht doch ein wenig gelockert werden. Die
Trennung zwischen "Lehrkräften" und "nicht-unterrichtendem" pädagogischen
Personal - auch in punkto Verantwortung, Qualifikation, Arbeitsplatzsicherheit und
Bezahlung - sowie der einseitige Mangel an Vor- und Nachbereitungszeit für das
nicht-unterrichtende Personal- ohne, dass sich dabei zugleich im Gegenzug bei den
Lehrkräften diesbezüglich etwas ändert - erschwert eine "Bildungsplanung" für den
Nachmittag und die Abstimmung zwischen den beiden Personalgruppen.
Wenn die Ergebnisse in NRW darauf hinweisen, dass Lehrer und Lehrerinnen
im Nachmittagsbereich bislang kaum vertreten sind und überwiegend Erzieherinnen
die Organisation des Nachmittags übernehmen, dann ist das Ziel einer gemeinsamen
Gestaltung des Ganztags eindeutig noch nicht erreicht. Wechselseitige Hospitation,
Formen des Teamteachings zwischen unterschiedlichen Berufsgruppen und päda-
gogischen Fachkräften, Verknüpfungen von Unterrichtselementen und -themen mit
projektförmigen Bildungsangeboten in Kultur, Sport und Technik wären nur einige
mögliche Ansatzpunkte für gemeinsam zu initiierende Bildungsprozesse. Nur: Da-
für muss das beteiligte Personal in gegenseitiger Anerkennung als Bildungsfachkräf-
te zusammenarbeiten. Wenn das nicht-unterrichtende Personal von den Eltern und
Lehrkräften jedoch überwiegend auf die Funktion der Betreuungskraft festgeschrie-
ben wird, dann stehen diesbezüglich sicher noch einige heftige und kontroverse
Diskussionen um Rolle und Funktion aller Beteiligten im Bildungsprozess aus. Es
ist schon einigermaßen merkwürdig, wenn an der Ganztagsschule alle Welt mit-
macht - nur nicht die Lehrerinnen und Lehrer.
Und noch ein Hinweis zum nicht-unterrichtenden Personal: Möglicherweise
wird hier mal wieder - und das nicht nur aus Kostengründen - ein Webfehler re-
produziert, der gegenwärtig in der Kindertagesbetreuung heftig und kontrovers
diskutiert wird: das unterschiedliche Niveau und die Qualifikation der Personals. Wer glaubt,
am Nachmittag würden unausgebildete, willige und engagierte Menschen reichen,
die mitten im Leben stehen, koordiniert von einer einzelnen Erzieherin, der miss-
achtet beispielsweise alle Qualitätsdebatten, die schon seit ewigen Zeiten im Bereich
der Tagesbetreuung für Kinder geführt worden sind (vgl. Rabe-Kleberg 2005).
"Gleiche Augenhöhe", ein Gardemaß für ein gelungenes Ganztagesprojekt, das die
Politik so gerne in Aussicht stellt, müsste auch insoweit ernst genommen werden,
wenn der Nachmittag ebenfalls zu einer Bildungserfahrung eigener Art werden soll.
Konturen einer neuen sozialen Bildungspraxis? 105

7. Herausforderung: Die Kooperation und die Kooperationspartner


Bilanziert man am Beispiel NRW, wer die Anbieter im Ganztagsbereich sind, fillt
auf, dass in der Startphase eindeutig die Schulen und Schulträger die Aktivposten
der Ganztagsschulentwicklung waren. Zwar haben sie in starkem Maße die nicht-
staatlichen Anbieter und andere Akteure ins Boot geholt. Aber dennoch waren
interessanterweise, soweit das derzeit abzusehen ist, die eigentlich Hauptverantwort-
lichen für das Wohl der Kinder im lokalen Raum, die kommunalen Jugendämter- als
die Zentralstellen für die Organisation des außerschulischen Angebots für Kinder
und Jugendliche - zunächst allenfalls sporadisch beteiligt. Dies ist schon einigerma-
ßen irritierend.
Im Hinblick auf die Frage einer angemessenen, tragEihigen und nachhaltigen
Kooperation auf gleicher Augenhiihe, die auch über die Anfangseuphorie und das Zu-
satzengagement Einzelner hinausgeht, scheint das Projekt Ganztagsschule jedenfalls
noch nicht an seinem Zielpunkt oder wenigstens in seiner Nähe angekommen zu
sein. Der Zwischenbericht in NRW beschreibt, dass die Planung und Konzeption
häufig Sache des Schulträgers und der Schulleitung war und dass das Personal für
den außerunterrichtlichen Bereich kaum eigene Vorstellungen und Ideen in das
Konzept einbringen konnte (vgl. Beher u.a. 2005).
Natürlich ist dies auch dem raschen und hektischen Aufbau mit immensem
Handlungsdruck geschuldet. Nichtsdestotrotz weisen die Daten auf die Notwendig-
keit einer besseren Koordination und Abstimmung der unterschiedlichen Personal-
gruppen (und auch dafür notwendigen Zeit) hin. Mag sein, dass der "gemeinsam
verantwortete Lernort" Ganztagsschule vielleicht doch nur noch ein paar Schritte
weit von der bisherigen Praxis entfernt ist. Aus nahe liegenden Gründen trägt auch
bei einem additiven Modell, wie es bislang durchgängig in NRW praktiziert worden
ist, jeder Teil die Verantwortung für sein eigenes Angebot und hat darin seine Zu-
ständigkeiten. Doch, wenn zum einen die Entscheidungen der Schule in Konferen-
zen getroffen werden, in denen das außerunterrichtliche Personal gar nicht vertreten
oder allenfalls Gast ist, und wenn zum anderen Konzeptionen zumindest zu größe-
ren Teilen stärker von Schulträgern und Schulleitungen erarbeitet und dadurch die
Jugendhilfeträger und außerschulischen Akteure eher zu Auftragnehmern werden,
dann kann man noch nicht wirklich von einem gelungenen und gemeinsam verant-
worteten "Haus des Lernens" sprechen (vgl. Bildungskomrnission NRW 1995).

8. Herausforderung: Die Rahmenbedingungen


Fragt man danach, was sich aus den ersten Analysen am Beispiel NRW, was sich für
die politisch Verantwortlichen auf den verschiedenen Ebenen an Steuerungsbedarf
identifizieren lässt, so kann man u.a. festhalten:
• eine verbesserte Zusammenführung von Schulplanung und Jugendhilfepla-
nung,
• eine organisierte Kommunikation von Schul- und Jugendhilfeausschüssen,
106 Thomas Rauschenbach

• eine systematische Zusammenarbeit und Kooperation zwischen kommunalen


Schulverwaltungen und Jugendämtern (evtl. in gemeinsamen Dezernaten),
• die Einrichtung regionaler Koordinierungsstellen und kommunaler Qualitäts-
zirkel,
• die Einrichtung organisatorischer Vorkehrungen für verbesserte Kommunika-
tionsmöglichkeiten zwischen dem gesamten Personal sowie
• die Aufstockung der Mittel, die eine sach- und aufgabenangemessene Arbeit
auch jenseits von Unterricht ermöglicht (zu den strukturellen Ambivalenzen
zwischen Jugendhilfe und Schule vgl. kritisch Merchel200S).

Ein erster Schritt innerhalb des Systems Schule wäre es, dem außerunterrichtlichen
Personal systematischer ein Mitwirkungs- und Mitentscheidungsrecht an Lehrer-
und Schulkonferenzen einzuräumen, wenn die Rede von einer gemeinsamen Ver-
antwortung in Sachen Ganztagsschule mehr als eine rhetorische Sonntagsrede sein
soll. Erste Erfahrungen haben immer Pioniercharakter. Doch auf Dauer wird auch
die Ganztagsschule nicht umhinkommen, ähnlich wie die Kindertagesbetreuung,
Qualitätskriterien und Mindeststandards zu entwickeln - und das nicht nur für den
Nachmittag.

4. Bilanz und konzeptionelle Perspektiven

Bei der Konzeption der Offenen Ganztagsschule in NRW - dem ersten Ganztags-
schulprojekt neuerer Zeitrechnung, zu dem empirische Befunde vorliegen - klafft,
so scheint es zumindest nach den ersten explorativen Daten, zwischen Anspruch
und Wirklichkeit eine Lücke. Und gleichzeitig wird der Anspruch, wird das Ziel
damit nicht überflüssig, verliert man ansonsten doch den Fluchtpunkt am Ende des
Horizonts aus dem Auge und beginnt sich unter Umständen im Kreise zu drehen.
Das NRW-Ministerium selbst hat die Ziele hoch gesteckt. Im Runderlass zur Ganz-
tagsschule von 2003 heißt es: "Die offene Ganztagsschule soll durch die Zusam-
menarbeit von Schule, Kinder- und Jugendhilfe und weiteren außerschulischen
Trägern ein neues Verständnis von Schule entwickeln. Sie sorgt für eine neue Lernkultur zur
besseren Förderung der Schülerinnen und Schüler. Sie fördert die Zusammenarbeit von
Lehrkräften mit anderen Professionen. Sie ermöglicht mehr Zeit fiir Bildung und Erzje-
hung, individuelle Fiirderung, Spiel- und Freizeitgestaltung sowie eine bessere Rhythmisie-
rung des Schultages. Sie sorgt für ein umfassendes Bifdungs- und Erzjehungsangebot, das
sich an dem jeweiligen Bedarf der Kinder und der Eltern orientiert. Sie umfasst insbeson-
dere
• Förder-, Betreuungs- und Freizeitangebote,
• besondere Förderangebote für Kinder aus bildungsbenachteiligten Familien
und für Kinder mit besonderen Begabungen sowie
Konturen einer neuen sozialen Bildungspraxis? 107

• Angebote zur Stärkung der Familienerziehung."


Besser kann man das kaum formulieren, auch wenn hier etwas die außerschulische
bzw. außerunterrichtliche Bildung fehlt. Insoweit kommt es nur noch darauf an,
derartige Programme auch in der Praxis umzusetzen. Bei einem Einstieg von heute
auf morgen kann nicht alles perfekt sein, kann ein neues "Haus des Lernens", das
aus dem vorhandenen Bestand entstehen soll, nicht auf Anhieb und störungsfrei
funktionieren. Allerdings muss jeder Bauherr vorab prüfen, ob er auf dem richtigen
Grund baut, ob das Fundament stabil ist und ob die zu verwendenden Baumateria-
lien die richtigen sind. Ansonsten besteht die Gefahr von Bausünden, die dann
später womöglich nicht mehr behoben werden können.
Bilanziert man dieses mit der Ministeriumszielsetzung ,,gemeinsam ein neues Ver-
ständnis von Schule entwickeln", so weisen die Ergebnisse der Startphase noch auf eini-
ge Mängel hin. Wenn sich flächendeckend ein additives Modell durchsetzt, wenn
Hausaufgabenhilfe von vielen als ein zentrales, wenn nicht sogar als das zentrale
Element der Ganztagsschule wahrgenommen wird, wenn - überspitzt - sich das
Lehrpersonal weiterhin nur für den Vormittag bzw. den herkömmlichen Unterricht
und das nicht-unterrichtende Personal primär für den Nachmittag oder auch nur
einzelne Module zuständig fühlt - und die Schulleitung verzweifelt beide Bereiche
zusammenzuhalten versucht -, dann ist das "Projekt Ganztagsschule" schon noch
einige Schritte weit von einem neuen Verständnis von Schule, also von dem ent-
fernt, was das Ministerium in NRW selbst als Leitbild formuliert hat. Inwieweit
dieses kleinere Schönheitsfehler oder aber echte Bausünden sind, wird sich erst
noch herausstellen.
Mit der derzeitigen Ausbaupraxis der Ganztagsschulen in einem ausschließlich
additiven Modell - also zwei Teile, die nicht miteinander systematisch verbunden
sind - wird noch kein wirklich neues Bildungsverständnis sichtbar. Dabei ist es
doch gerade für die außerschulischen Partner von ihrem Selbstverständnis und ihrer
Kompetenz her wichtig, in die konzeptionelle Entwicklung dieser Angebote für den
Ganztag eigene Vorstellungen und Bildungsinhalte einzubringen.
Auch wenn dies die bisherigen Untersuchungen noch nicht zeigen konnten, so
besteht doch - diesen Punkt muss man bei allem Enthusiasmus für die Ganztags-
schule auch als deren unbeabsichtigte Nebenwirkung im Blick behalten - für diese
außerschulischen Partner zugleich das Risiko, dass ein erweitertes Angebot an Schu-
len, das Kinder bis in den späten Nachmittag bindet, auch in Konkurrenz zu den
sonstigen Angeboten der Kinder- und Jugendarbeit bzw. dem Vereins sport treten
könnte (vgl. Rauschenbach 2005, Becker 2005). Beachtet werden muss mithin, dass
• an den Vormittagsunterricht nicht nur "Betreuung und Beaufsichtigung" bzw.
"Freizeit und Erholung" am Nachmittag drangehängt wird, ohne die bisherige
Halbtagsschule und den Unterricht selbst zu verändern.
• dass dem nicht-schulischen Teil eine eigene Bildungsidee zugrunde gelegt wird,
die die bisherigen Inhalte der Halbtagsschule ergänzt und erweitert, dass ein
108 Thomas Rauschenbach

Eigensinn, eine eigene Bildungskonzeption von der Jugendhilfe in die Schule


eingebracht wird, der auf das aufbaut, was Hort und Jugendarbeit, was Vereine
und Initiativen in ihrer rund lOO-jährigen Geschichte an Kompetenz, Konzep-
ten und Methoden entwickelt haben.
• Wichtig ist zudem, dass die Bereitschaft der Pionierphase nicht erlahmt und
sich der ganze Elan verflüchtigt, bevor das gesamte Projekt Ganztagsschule in
abgesicherte Regelungen überführt wird. Der Überschuss der Startenergie
muss umgemünzt werden in Nachhaltigkeit - und wenn man will, dass alle Be-
teiligten auf Dauer aktiv mitwirken, dann müssen auch entsprechende Rah-
menbedingungen an den Schulen aufgebaut und verstetigt werden.

Es bleibt ein Letztes: die Frage des Geldes. Wenn die Bildungspolitik in Sachen
Ganztagsschule A gesagt hat, dann muss sie konsequenterweise auch B sagen. Die
Ganztagsschule im Sekundarbereich - das Mehrheitsmodell in den Bundesländern -
ist zumindest im Planungsstadium auch in NRW überfillig. Vor allem der Blick auf
die ungelösten Probleme der massiven sozialen Selektion durch das herkömmliche
Bildungssystem macht ein rasches Handeln auch in dieser Altersgruppe und Schul-
stufe erforderlich. Denn die Herausforderungen der fehlenden Beziehung der schu-
lischen Lernorte zu den Kindern und Jugendlichen sind erheblich. Insoweit sind
perspektivisch vier Punkte zu beachten:

1. Das Problem der Selektion


Das dreigliedrige, oder genauer: das viergliedrige deutsche Schulwesen (die Sonder-
und Förderschulen werden vielfach einfach unterschlagen) mit seiner Ausrichtung
auf die überprüfbare Einzelleistung erzeugt und fördert zwangsläufig Prozesse der
Selektion. Kinder werden unterscheidbar gemacht, werden darin eingeübt, sich in
Bildungsfragen egoistisch zu verhalten, werden permanent - wie Bundesligaprofis -
mit Vergleichstabellen ihres Wissens, Könnens und Vers agens konfrontiert. Mag
sein, dass es ernsthafte Alternativen dazu kaum gibt, aber es fehlen zugleich wir-
kungsvolle Mechanismen des Ausgleichs und der Beseitigung von festgestellten
Unterschieden. Dies alles stellt sich in anderen Bildungsorten weitaus weniger ein-
deutig dar. Insoweit geht es bei dieser Frage um die Alternative ,,Auslesen oder For-
dern':

2. Das Problem des mangelnden Lebensweltbezugs


Vermutlich gibt es für Kinder und Jugendliche kaum einen Ort, der stärker von
ihrer eigenen primären Lebenswelt, von der nicht-kognitiven Seite des Lebens,
abgekoppelt ist als die Schule (immer im Durchschnitt gesprochen). Das heißt nicht,
dass Schule nicht lebensweltlich geprägt wäre. Im Gegenteil. Schule entwickelt sich
ganz massiv zu einer eigenen Lebenswelt, aber tendenziell abgekoppelt vom familia-
len Umfeld und dem sozialen Nahraum der Kinder und Jugendlichen. Just diese
Konturen einer neuen sozialen Bildungspraxis? 109

Rückbindung in Familie und sozialen Nahraum ist aber - wiederum der Tendenz
nach - eine Stärke etwa der Kindertageseinrichtungen oder der Jugendarbeit. Des-
halb könnte in der Wiederaneignung des Lebensweltbezugs auch ein Ansatzpunkt
für ein neues inhaltliches Profil und eine neue Qualität künftiger Bildungskonzepti-
onen liegen. Bei diesem Punkt geht es somit perspektivisch um eine Wiederoerkoppe-
lung von Lern- und Lebenswelten.

3. Derprekär gewordene Gebrauchswert


Vielfach ist das schulische Lehren und Lernen nicht auf eine Verwertbarkeit im
gegenwärtigen wie im späteren Leben ausgerichtet - zumindest ist diese für die
Kinder oft nicht erfahrbar oder erkennbar. So ist es in der heutigen Zeit immer
weniger selbstverständlich, warum in der Schule etwa Fächer wie Physik, Chemie
oder Geographie, also klassische Fächer des Industriezeitalters von allen gelernt
werden müssen, während bspw. Medizin, Psychologie, Recht, Ökonomie oder Pä-
dagogik im obligatorischen Unterricht so gut wie nicht vorkommen - obgleich es
sich durchweg um Themen handelt, bei denen man mit einem fröhlichen Dilettan-
tismus längst nicht mehr ungeschoren durchs Leben kommt. Bei diesem Punkt geht
es um die bislang kaum geführte Debatte einer biographisch und gesellschaftlich
neu auszubalancierenden Relevanz von Lerninhalten.

4. Das Problem der fohlenden Ernsthaftigkeit


Der schwierigste Problempunkt schulischen Lernens ist dessen Simulationscharak-
ter, d.h. die Reduzierung auf das "Als-üb-Lernen", auf eine Art Vorratslernen und
die damit einhergehende fehlende Ernsthaftigkeit mit Blick auf die unmittelbaren
Folgen schulischen Lernens. Schule hat sich auf diese Weise, im Bild des Sports
formuliert, zu einer unendlich langen Trainingseinheit entwickelt, bei der nicht nur
der tatsächliche Wettkampf - der eigentliche Anlass für das anstrengende Training-
selbst in so weite Ferne gerückt ist, dass es wenig erstaunt, wenn einige Kinder
zwischenzeitlich die notwendige Ausdauer vermissen lassen, sondern bei dem für
viele Betroffene zu allem Überfluss auch bis zum Schluss unklar bleibt, ob sich der
Aufwand für sie überhaupt lohnt, da sie nicht wissen, ob sie und, wenn ja, an wel-
chem Spiel sie später einmal mitspielen werden. Erst mit einer konsequenten Verla-
gerung der Aufmerksamkeit von den Bildungs:f)'stemen zu den individuellen Bil-
dungs biographien einerseits und von den Bildungsabsichten zu den Bildungswirkungen
andererseits, gerät die ungleich größere Palette und Bedeutung von Bildungs-
anlässen und -gelegenheiten im Laufe des Lebens ins Blickfeld.

Bildung in diesem weiten Sinne geht damit weit über eine fremdbestimmte Ver-
wertbarkeit von (beruflichen) Qualifikationen hinaus und kann nicht länger einseitig
mit Blick auf Ausbildung und Arbeit definiert werden. Handlungs fähigkeit, Kritik-
fähigkeit, Fähigkeit zur Selbstbestimmung und zur selbständigen Lebensführung
110 Thomas Rauschenbach

sowie eine erfolgreiche Identitätsbalance erfordern mehr als den Erwerb von schu-
lisch gefiltertem Wissen: Eigentätigkeit, praktisches Üben und Können, Lernen und
gemeinsames Handeln mit anderen gehören zu diesem weiten Verständnis von
Bildung ebenso dazu wie kulturelle Bildung, soziales Lernen, emotionale Entwick-
lung und politische Bildung und der damit korrespondierende Erwerb von kulturel-
len, instrumentellen, sozialen und personalen Kompetenzen (vgL BMFSFJ 2005).
Wenn diese Punkte zu Parametern eines erweiterten Bildungskoordinatensystems
werden, dann besteht eine ernsthafte Chance, zu einer neuen, zukunftsfahigen Bil-
dungspraxis in Deutschland zu gelangen.

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hammer
Hochschul- und Arbeitsmarktpolitik - Komplexe
(In) Komp atibilitäten
Ger! G. Wagner

Bei der Diskussion I der beschäftigungspolitischen Funktion, die die Hochschulen


haben können, also der Diskussion des Verhältnisses der Hochschulen und des
Arbeitsmarktes, müssen sorgfaltig zwei verschiedene Teilarbeitsmärkte unterschie-
den werden. Zum ersten der - zahlenmäßig gewichtigere - Arbeitsmarkt außerhalb
der Wissenschaft und zum zweiten der Arbeitsmarkt für Forschung und Wissen-
schaft, der sich zwar keineswegs ausschließlich, aber doch zu einem gewichtigen
Teil wiederum innerhalb von Universitäten selbst abspielt. Dieser Unterscheidung
wird in Deutschland durchaus mit der Differenzierung des Hochschulsystems in
Universitäten und Fachhochschulen Rechnung getragen; aber die Unterscheidung
ist auch innerhalb von Universitäten nützlich. Hier steht das Universitätssystem erst
an den Anfängen einer ziel führenden Differenzierung.
Noch immer sind viele Studien- und Prüfungsordnungen - auch die neuerer
Bachelor- und Masterstudiengängen - auf die Ausbildung wissenschaftlichen
Nachwuchses ausgelegt, während die meisten Studenten faktisch für den nicht-
wissenschaftlichen Arbeitsmarkt ausgebildet werden und dies - über fast alle Fakul-
täten hinweg - die übergroße Mehrheit auch will. Aber die "Fachhochschulisierung"
aller Universitäten, d.h. ausschließlich nicht-wissenschaftliche Berufsbezogenheit,
kann nicht die Lösung für den Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit
der Universitäten in Deutschland sein.
Zwei Schlaglichter: Betrachtet man das Verhältnis von Universitäten zum Ar-
beitsmarkt, dann leidet selbst eine V orzeige-Disziplin wie der Maschinenbau unter
dem Widerspruch zwischen unmittelbarem Arbeitsmarktbezug und der Notwendig-
keit von Spitzenausbildung und -forschung. Die Maschinenbau-Fachbereiche bilden
den allseits geschätzten Nachwuchs aus, der hilft, dass Deutschland nach wie vor
Weltmeister im Exportieren komplexer Maschinen und Anlagen ist. Gleichzeitig
deuten sich Probleme an, da zu viel Auftragsforschung, aber wenig wissenschafts-
orientierte und -fmanzierte Spitzen forschung betrieben würde (vgl. Wissenschaftsrat
2004b).

1 Aktualisierte und erweiterte Version eines vom Autor in "Aus Politik und Zeitgeschichte" veröffent-

lichten Beitrags (B25/2004). Vgl. auch Weiler u.a. 2003.


114 Gert G. Wagner

Ein ganz anderes Beispiel: Die deutschen Hochschulen sind auch auf den de-
mographischen Wandel schlecht vorbereitet (vgL Brenke/Zimmermann 2005). Er
führt aufgrund einer längeren Lebenserwartung und weiterhin niedriger Geburten-
raten zu einem zunehmenden Anteil älterer Menschen an der Bevölkerung. Dieser
Trend wird zu einem steigenden Anteil Älterer an allen Erwerbstätigen und ent-
sprechenden Ansprüchen an die Weiterbildung auch an den Hochschulen führen.
Darüber hinaus ist Zuwanderung, gerade von qualifizierten Menschen, notwendig.
Auch hier spielen Hochschulen eine wichtige Rolle, die aber noch völlig unterentwi-
ckelt ist. Im Zuge der MA-Studiengänge sollte diese verbessert werden.
Insgesamt gilt: Die deutschen Universitäten brauchen viel zu lange, um Studie-
rende - die sich schlecht informiert für ein Studium entscheiden - zu einem ver-
wertbaren Abschluss zu führen. Und im internationalen Vergleich werden auf der
Ebene der Fachhochschulqualifikation zu wenig Studenten ausgebildet. Gleichzeitig
sind auf dem Gebiet der Forschung Spitzenleistungen selten geworden, und diese
finden oftmals noch in außeruniversitären Instituten statt - was kurzfristig schlecht
für die Lehre ist und sich deswegen langfristig auch in der außeruniversitären For-
schung rächt.
Die deutsche Hochschul- und Forschungspolitik bedarf dringend der Neuori-
entierung. Gleichwohl darf man die Schuld nicht nur bei den Hochschulen suchen.
Bei der Einführung der Studiengebühren ist auch die Sozialpolitik als Teil der Bil-
dungspolitik gefordert. Und vor allem sind Unternehmen und die Studierenden
selbst gefordert, die deutschen Hochschulen zu verändern.

1. Nicht nur die Hochschulen sind an "Inkompatibilitäten" zwischen


Hochschulen und Arbeitsmarkt schuld

Sowohl Unternehmen als auch Absolventen klagen immer wieder, dass die Hoch-
schulen ihre Studenten zu wenig auf den Berufsalltag vorbereiten würden. Dies
sollten die Hochschulen auch gar nicht zu bestreiten versuchen. Gleichwohl sollte
aber deutlicher als bislang - von den sich in der Defensive befindlichen Hochschul-
lehrern - gesagt werden: Für viele der von Unternehmen erwarteten "Schlüssel-
Kompetenzen" gibt es keine bessere Ausbildung als die der unternehmerischen
Praxis. Ähnliches trifft für bestimmte Fähigkeiten zu, die gelegentlich etwas irrefüh-
rend als "Methodenkompetenzen" bezeichnet werden und sich auf Fertigkeiten
beziehen, die sich der Abstraktion entziehen und an konkreten Unternehmenspro-
jekten eingeübt werden sollten. Wiederum andere Kompetenzen sind weniger aus-
bildungs- als selektionsrelevant - sie können nicht gelernt und eingeübt werden,
z.B. unternehmerische Risikofreude, sondern müssen durch die Unternehmen bei
der Rekrutierung von Mitarbeitern berücksichtigt und bewertet werden. In diesem
Prozess kann naturgemäß nicht jedes einzelne Unternehmen "die Besten" eines
Hochschul- und Arbeitsmarktpolitik 115

Absolventenjahrgangs einstellen. Dies ist trivial, wird aber von Unternehmern und
Personalmanagern, die lautstark über die mangelnde "Arbeitsmarktorientierung" der
Universitäten klagen, oftmals vergessen.
Betrachtet man Lehre und Forschung unter dem Gesichtspunkt der Verwer-
tung außerhalb des akademischen Arbeitsmarktes (für Lehre und Forschung), so
stellen sich mindestens zwei grundsätzliche Probleme:
• Wissenschaft braucht Freiräume, die der unmittelbaren Verwertbarkeit einer
Hochschulausbildung entgegenstehen können.
• Wissenschaftlicher Fortschritt ist nur noch durch Arbeitsteilung und Speziali-
sierung zu erreichen. Die dementsprechende disziplinäre Organisation von
Wissenschaft ist aber gleichzeitig den eher interdisziplinär oder gar pandiszi-
plinär angelegten Problemen der Welt und des Arbeitsmarktes nicht angemes-
sen, was wiederum für die Verwertbarkeit von Wissenschaft ein beträchtliches
Hindernis bedeutet.

Das Prinzip von Freiräumen jenseits aller Verwertungsmöglichkeiten widerspricht


den unmittelbaren Interessen der meisten Studierenden bzw. Absolventen und der
meisten ihrer künftigen Arbeitgeber an der beruflichen Verwertbarkeit des studier-
ten Wissens und der erworbenen Kompetenzen. Eine konsequente Trennung von
Forschung, die rein wissenschaftsbezogen wäre, und Lehre, die nur auf den exter-
nen Arbeitsmarkt bezogen wäre, kann jedoch nicht sinnvoll sein, da auf diese Weise
der Lehrstoff schnellstens veralten und die Forschung nicht mehr durch die Präsenz
provozierend neugieriger Studierender befruchtet würde.
Ein weiteres Spannungsverhältnis zwischen der Welt der Wissenschaft und der
Weh von Wirtschaft und Gesellschaft ergibt sich aus der disziplinären Organisation
von Wissenschaft und der disziplinübergreifenden Qualität gesellschaftlicher Prob-
leme und Fragestellungen. In komplexen Situationen ist Arbeitsteilung nützlich. Das
ist einer der Gründe für die Existenz unterschiedlicher Fachdisziplinen. Gleichwohl
trifft die Beobachtung zu, dass Problemlösungen in der realen Welt ein Maß an
Überschreitung disziplinärer Grenzen erfordern, das mit der nach wie vor weitge-
hend disziplinären Organisation von Wissenschaft in einem Spannungsverhältnis
steht. Diese Spannung lässt sich weder durch eine Reduzierung gesellschaftlicher
Probleme auf disziplinäre Fragestellungen noch durch eine pandisziplinäre Organi-
sation von Wissenschaft lösen.
Ein nur scheinbarer Ausweg aus dem Dilemma zwischen der disziplinären Or-
ganisation der Wissenschaft und den Notwendigkeiten interdisziplinärer Problemlö-
sungen liegt in der Trennung von Universitäten, die in der Regel fach- und diszip-
lingebunden lehren, und außeruniversitären Forschungseinrichtungen, die interdis-
ziplinär forschen. In gewisser Hinsicht wird diese Unterscheidung - wenn auch
keineswegs säuberlich - seit Jahrzehnten in Deutschland gepflegt. Im Hinblick auf
die Qualität von Lehre und Forschung dürfte allerdings das traditionelle "Hum-
116 Gert G. Wagner

boldtsche Bildungsideal" nach wie vor mehr Erfolg versprechend sein. Es ist an
angelsächsischen Spitzenuniversitäten verwirklicht: Dort bestreiten Forschungsuni-
versitäten nicht nur den größeren Teil der (auch anwendungsbezogenen und inter-
disziplinären) Forschung, sondern sind auch voll in der Lehre engagiert. Im Unter-
schied zu diesem Modell sind die außeruniversitären Forschungseinrichtungen in
Deutschland bislang weitgehend von der Pflicht zur Beteiligung an der Lehre ent-
bunden. Und formal in die Universitäten eingebundene "An-Institute" sind faktisch
oft noch weniger als öffentlich geförderte und evaluierte außeruniversitäre Einrich-
tungen in den regulären Universitätsbetrieb eingebunden. Die Qualitätsprobleme
deutscher Hochschulen werden durch diese Arbeitsteilung weiter verschärft.
Deswegen müssen Lösungen gesucht werden, die innerhalb der Universität
nicht nur interdisziplinäre Forschung, sondern auch interdisziplinäre Lehre beför-
dert. Diese Lösung dürfte in entsprechenden Master-Studiengängen, die in so ge-
nannten Professional Schools angeboten werden, liegen. Auf diese Modelle wird
unten näher eingegangen.

2. Rahmenbedingungen für eine arbeitsmarktorientierte Veränderung von


Studiengängen

Um eine größere Arbeitsmarktnähe der Hochschulen zu realisieren, muss das Studi-


um konsequent in drei bzw. vier Stufen zerlegt werden: 2 ein berufsbefahigendes
Bachelor-Studium, ein berufbezogenes, d.h. ggf. auch interdisziplinäres Master-
Studium, das auch als Weiterbildungstudium angelegt sein kann. Sowie schließlich
als ein spezielles Studium ein hochqualiÜzierendes Doktoranden-Studium, das
zugleich aber auch ein "abgespecktes" Master-Programm für diejenigen beinhalten
sollte, die ansonsten diese anspruchsvolle Studienstufe ohne Abschluss beenden
würden.
Zum ersten kann mit einer solchen Studienstruktur die Entscheidung für ein
speziÜsches Berufsfeld hinausgezögert und eine zeitnähere, verlässlichere Prognose
über zukunftsträchtige Berufsfelder ermöglicht werden. Zum zweiten erleichtern
mehrstuÜge Studiengänge den Zugang zur Weiterbildung. Und zum dritten erlaubt
ein derart gegliedertes System, dass sich spätere Wissenschaftler im (Doktoran-
den)Studium frühzeitig spezialisieren können. Das führt dazu, dass in den anderen
Studiengängen die außerwissenschaftliche Berufsbezogenheit gestärkt wird.

'Vgl. Zu diesem und den folgenden Abschnitten den Aufsatz Weiler u.a. 2003, der von Hans N. Weiler,
Norbert BenseI, Katharina Heuer und C. Katharina Spieß zusammen mit dem Autor verfasst wurde.
Hochschul- und Arbeitsmarktpolitik 117

Bachelor-Studium (BA)
Ein international kompatibles, d. h. dreijähriges Bachelor-Studium muss rasch flä-
chendeckend eingeführt werden. Für Abiturienten, die im Vergleich zum Ausland in
13 Schuljahren eine hochwertigere allgemeinbildende Schulausbildung erhalten
haben, sollten BA-Studiengänge mit stark allgemeinbildendem Charakter allerdings
auf faktisch zwei Jahre verkürzt werden.
Das BA-Studium stellt die erste Stufe einer Hochschulausbildung dar. Es ist
berufsbefahigend ausgerichtet und deshalb nicht mit dem heutigen Vordiplom
vergleichbar. Das BA-Studium ist keine wissenschaftlich "minderwertige" Fakten-
huberei bzw. eine bessere berufliche Lehre. Im Gegenteil: Wissenschaftliches Ler-
nen muss, wenn es berufsbefahigend sein soll, einen hohen Grad an Transferierbar-
keit von einem Wissensbereich zu einem anderen aufweisen. Das aber bedeutet
nichts anderes, als dass der Erwerb dieser Art von Lernfahigkeit in hohem Maße
theoriegeleitet sein muss - ein Postulat, das selbstverständlich für mehr und für
weniger anwendungsnahe Wissensbereiche gilt - beispielsweise gute Elektrotechnik
ist genau so theoriefahig und -bedürftig wie gute Soziologie. Diese theoretische
Qualität der hoch schulischen Grundausbildung bietet auch die beste Gewähr dafür,
dass die damit erworbene Lernfahigkeit in dem Sinne von Dauer ist, dass sie einen
lebenslangen Lernprozess zu inspirieren und zu organisieren in der Lage ist. In
dieser Perspektive kommt dem Fachwissen eine unverzichtbare Funktion zu - als
Übungsgelände für eine allgemeinere und zu verallgemeinernde Lernfahigkeit. Un-
abhängig von der Berufsbezogenheit eines Fachstudiums in der Bachelor-Phase
sollte dieses Studium am Beispiel eines Faches wissenschaftliches Lernen in dem
oben beschriebenen Sinn vermitteln; darin liegt - über mögliche fachliche Qualifi-
kationen hinaus - sein eigentlicher Beitrag zur Berufsfahigkeit.
Da BA-Studiengänge zum Teil - insbesondere in den Geisteswissenschaften -
allgemeinbildenden Charakter haben, stellt sich unausweichlich die Frage nach der
Dauer dieses Studiengangs in Deutschland bzw. nach der Dauer der gymnasialen
Oberstufe. In den USA ist die High-School-Zeit kurz, und das BA-Studium dauert
deshalb drei Jahre. Abiturienten aus Deutschland bekommen infolgedessen auch an
Elite-Universitäten ein BA-Jahr erlassen. Wenn in Deutschland strikt dreijährige
BA-Studiengänge eingeführt würden, muss die gymnasiale Oberstufe konsequent
um ein Jahr verkürzt werden.

Master-Studium (MA) in der Professional School


Dem "lernbefahigenden" Bachelorstudium folgt in der konsekutiven Studienstruk-
tur als grundlegend anders und eindeutig berufsorientiert konzipierte weiterführen-
de Stufe ein Master-Studium, das in sich wiederum - trotz verschiedener Berüh-
rungs- und Übergangspunkte - unterschieden ist nach Ausbildungen für vorwie-
gend wissenschaftliche und vorwiegend nicht-wissenschaftliche Arbeitsmärkte.
Letztgenannte Studiengänge sollten, soweit es inhaltlich geht, auch innerhalb der
118 Gert G. Wagner

Hochschule in eigene organisatorische Einheiten eingefügt werden - Proftssional


Schools.
Die Professional School (vgL Weiler 2003) wird hier verstanden als eine Un-
tergliederung der Hochschulen im Sinne von Kompetenzzentren, die sich für einen
bestimmten Bereich gesellschaftlicher Aufgaben als zugleich interdisziplinäres und
anwendungsbezogenes Kompetenzzentrum auf höchstem wissenschaftlichem Ni-
veau und mit einem deutlichen inhaltlichen Proftl deftniert. Professional Schools
könnten unschwer auch gezielte Weiterbildungs-Programme anbieten. Denkbar und
sinnvoll sind Professional Schools in allen Bereichen, in denen sich in Forschung
und Ausbildung eine deutliche Zuordnung zu beruflichen, und damit meistens auch
zu interdisziplinären Tätigkeitsfeldern bestimmen lässt - also etwa in den Bereichen
Lehrerbildung, Rechtsprechung und Rechtspflege, Medizin und Gesundheitspflege
sowie betriebliches, öffentliches und gemeinnütziges Management. Die Unterschei-
dung in Universität und Fachhochschule wird bei Professional Schools an Bedeu-
tung verlieren.
Ein für den Erfolg des Modells der Professional School entscheidendes Struk-
turmerkmal ist das Instrument der gemeinsamen Berufung von Hochschullehrern
(joint appointmenl). Damit kann gewährleistet werden, dass es sich um Professuren
und deren Inhaber handelt, die entweder auf Dauer oder über einen längeren, zu
vereinbarenden Zeitraum hinweg sowohl einem herkömmlichen Fachbereich als
auch einer Professional School angehören und in beiden Einheiten an der Lehre wie
an der Forschung mitwirken.
In der Professional School sollten Master-Studiengänge durchweg stärker be-
rufsbezogen sein als heutige Diplom-Studiengänge. Ein Beispiel: Statt weiterhin All-
round-Architekten auszubilden, die entwerfen und planen können, aber für diese
Tätigkeit keinen Arbeitsplatz fmden, können Fachhochschulen und Universitäten in
einem BA-Studium methodische Grundlagen der Architektur und des Bauingeni-
eurwesens legen, um dann in differenzierten MA-Studiengängen arbeitsmarktgängi-
ge Inhalte anzubieten, z. B. Facility Management (lmmobilienökonomie) und Mes-
sebau.
Weiterführende Studiengänge in den nicht berufsbezogenen Fächern, also ins-
besondere den Geisteswissenschaften, sollten konsequenterweise nur auf dem Dok-
toranden-Level in Graduiertenkollegs (siehe unten) angeboten werden, da der Mas-
ter-Studiengang hier schlicht Zeitverschwendung wäre. Die Lehrerbildung hingegen,
die nicht mit einer Geisteswissenschaft verwechselt werden darf, ist berufsbezogen
und erfordert einen Master in der "School of Education", die ein Kompetenzzent-
rum für Lehre in allen Lebensphasen ist, also breiter und tiefer als die alte Pädagogi-
sche Hochschule angelegt ist.
Hochschul- und Arbeitsmarktpolitik 119

3. "Fachhochschulisierung" der Universität ist ein Holzweg

Das Spannungsverhältnis zwischen wissenschaftlichen Freiräumen und V erwer-


tungsmöglichkeiten am Arbeitsmarkt, das durch konsekutive Studiengänge ent-
spannt werden soll, spielt in der deutschen Diskussion bislang an anderer Stelle eine
große Rolle, nämlich in der Auseinandersetzung über das Verhältnis von Fachhoch-
schulen und Universitäten. Hier ist die hochschulpolitische Diskussion allerdings
weit von einem Konsens entfernt. Die eine Zielvorstellung unterscheidet klar zwi-
schen einer deutlich anwendungs- und verwertungs orientierten Forschung und
Lehre an Fachhochschulen und einem rein wissenschaftsorientierten und auf die
Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses konzentrierten Profil von For-
schungsuniversitäten. Was, wenn man mit dieser Unterscheidung Ernst machte, was
massive Umschichtungen in den Studierendenzahlen und der Ressourcenlage des
deutschen Hochschulwesens zur Folge hätte? Auf der anderen Seite dominiert ein
strikt marktorientiertes Konzept, nach dem Fachhochschulen und Universitäten mit
einem möglichst attraktiven Studienangebot in Wettbewerb zueinander treten, des-
sen Ergebnis freilich auch eine schärfere Profilierung sein dürfte.
Betrachtet man die Hochschul-Entwicklung der letzten Jahre, so ist sie in
Deutschland vom Auftreten vieler privater "Business Schools" auf Fachhochschul-
niveau, aber mit noch besserer Betreuungsrelation, geprägt (vgL Münkler 2005).
Vom Anspruch her liegen die Business Schools offenkundig zwischen den Zielen
traditioneller Fachhochschulen und Universitäten. Die Nachfrage vieler Studieren-
der macht es - wenn man ehrlich ist - unvermeidlich, dass die Hochschulpolitik
sich für das Wettbewerbsmodell entscheiden muss. In diesem Modell werden sich
Fachhochschulen (auch Berufsakadernien) und Universitäten jeweils stärker unter-
einander ausdifferenzieren, und die Grenzen der "Typen" werden verwischen. Auf
jeden Fall kann eine im Interesse der "Berufsorientierung" vielerorts geforderte
flächendeckende Absenkung des wissenschaftlichen Anspruchs der Universitäten,
die der Freiburger Historiker Ulrich Herbert als "Fachhochschulisierung" bezeich-
net, nicht das Ziel sein.
Ein Blick in erfolgreiche dynamische Dienstleistungs-Volkswirtschaften
spricht dafür, dass der Anteil der Erwerbstätigen, die über einen Fachhochschulab-
schluss verfügen, gesteigert werden sollte, um zu erreichen, dass auch in Deutsch-
land insgesamt etwa 40 Prozent der Erwerbstätigen über einen Hochschulabschluss
(in deutscher Typologie: von Universität oder Fachhochschule) verfügen. Dabei
darf freilich die international hochgeschätzte duale Berufsausbildung nicht beschä-
digt werden, auch wenn sie selbst der Modernisierung in Bezug etwa auf die ihr
zugrunde liegenden Berufsbilder durchaus dringend bedarf. Ein Bachelor-Abschluss
für Handwerksmeister (Bachelor HWK), wie er zum Beispiel vom Zentralverband
des Deutschen Handwerks gefordert wird (vgL Kloas 2001), ist deswegen keines-
wegs absurd, wie konservative Hochschulpolitiker glauben, sondern im Hinblick auf
120 Gert G. Wagner

die Anforderungen einer produktiven Wissensgesellschaft zielgerichtet. Freilich


muss dieser Bachelor-Typus aus Gründen der Qualitätssicherung von Hochschulen
vergeben werden und nicht z.B. von einer IHK. Der Anteil von Hochschulabsol-
venten sollte auch dadurch gesteigert werden, dass in den Bereichen Betriebswirt-
schaftslehre, Jura und vielleicht auch Medizin, für die Mehrzahl der Studierenden,
die keinerlei wissenschaftlichen Interessen haben, entsprechende berufsorientierte
Studiengänge angeboten werden - sinnvollerweise wiederum in Professional
Schools, die an Universitäten oder Fachhochschulen angesiedelt sein können. Erste
Initiativen in diese Richtung, wie etwa der von der Fachhochschule Lüneburg ange-
botene Studiengang "Diplom-Wirtschaftsrecht" , sollten konsequent als Vorbild
dienen. 3 Auch die Verschmelzung einer Universität mit einer Fachhochschule, wie
sie in Lüneburg praktiziert werden, könnte für die Ausbildung im Hinblick auf den
nicht-wissenschaftlichen Arbeitsmarkt Vorbildcharakter haben.
Den zur Zeit expandierenden Markt für den "Master of Business Administra-
tion" (MBA), der nach deutscher Typologie den Fachhochschulen zugeordnet wer-
den muss, sollten die etablierten Universitäten weitgehend privaten Neugründungen
überlassen: Sobald die traditionellen Hochschulen die Qualität ihrer Lehre verbes-
sert haben und z. B. "Soft Skills" in allen Fächern gelehrt werden, wird die Nach-
frage nach den privat maßgeschneiderten MBA-Abschlüssen ohnehin zurückgehen.
Dann werden sehr gute Business Schools, die in breit angelegte Universitäten ein-
gebettet sind, begehrt sein - nicht jedoch rein auf den MBA ausgerichtete Schmal-
spureinrichtungen. Insofern könnten sich Investitionen großer Firmen in eigene
Hochschulen - die gerne "Universities" statt Universitäten genannt werden - als
schlechte Geldanlage erweisen. Freilich hat das öffentliche Hochschulwesen offen-
bar bislang nicht rasch genug auf die speziellen Anforderungen aus Unternehmen
reagieren können.

4. Spitzenförderung und -forschung in der Graduate School

Die Graduate School dient einem sehr speziellen Arbeitsmarkt, nämlich dem des
wissenschaftlichen Nachwuchses. In der Graduate School sind die Studienangebote
anzusiedeln, die den Anforderungen des wissenschaftlich-akademischen Arbeits-
marktes entsprechen und sich an diejenigen Absolventen der Bachelor-
Studiengänge richten, die sich für diesen Arbeitsmarkt entschieden haben und die
notwendigen Qualifikationen nachweisen. Man sollte nicht darum herumreden: Hier

3 Die Empfehlungen des Wissenschaftsrates zur Ausbildung von Medizinern sind nicht so radikal, die
nicht auf den wissenschaftlichen Nachwuchs zielende Medizinerausbildung an Fachhochschulen zu
verlagern, aber die vorgeschlagene Zweiteilung der Ausbildung für Praktiker und Forscher geht in diese
Richtung, die an einer "Medical School" (siehe oben Abschnitt zu "Professional Schools") gut verwirk-
lichbar wäre (vgl. Wissenschaftsrat 2004).
Hochschul- und Arbeitsmarktpolitik 121

kann und darf, ja muss es um die Förderung einer Leistungs-Elite gehen! Wenn
man von den bestehenden Strukturen in deutschen Universitäten ausgeht, kann
man sich eine Graduate School als den Ort vorstellen, wo die exzellenten studenti-
schen Hilfskräfte versammelt werden und damit besser gefördert werden können
als dies an einzelnen Professuren und Lehrstühlen möglich ist - ergänzt um Dokto-
randen, die von außen angeworben werden.
In der inhaltlichen Orientierung lehnt sich eine Graduate School in der Regel
enger an die herkömmlichen Disziplinen an als Professional Schools, die - wie oben
ausgeführt - durch gezielte joint appointments von Hochschullehrern mit Graduate
Schools verbunden werden. Im Prinzip handelt es sich bei diesem Typus um die Art
von Ausbildung, die der Wissenschaftsrat in seinen Empfehlungen zur Doktoran-
denausbildung, zur flächendeckenden Einführung von Promotionskollegs und zur
Errichtung von "Zentren für Graduiertenstudien" vorschlägt, und mit der die US-
amerikanischen Forschungsuniversitäten gute Erfahrungen gemacht haben (vgl.
Wissenschaftsrat 2002). Idealerweise werden unter der Regie einer solchen Gradu-
iertenschule keine Ressourcen mehr für Promotionen verschwendet, die lediglich
dem Titelerwerb dienen, denn den Mühen einer "verschulten" Graduate School
werden sich solche "Doktoranden" nicht unterziehen.
Mit der Einführung von Graduate Schools ist es möglich, dass die amerikani-
sche Trennung der Hochschulen in Lehr-Kollegs und Forschungshochschulen
vermieden wird; unvermeidbar wird aber eine Ausdifferenzierung des Lehrdeputats
von Hochschullehrern werden. Forschungsstarke und in der Graduiertenausbildung
engagierte Hochschullehrer müssen ein internationalen Maßstäben angepasstes De-
putat von maximal vier Semesterwochenstunden bekommen; während für Lehr-
Professoren auch ein über 10 Semesterwochenstunden hinausgehendes Deputat
verantwortbar ist. Insofern wird es wichtig sein zu beobachten, wie das neue Ham-
burger Hochschulgesetz wirken wird, das den Hochschulen eine Differenzierung
des Deputats zwischen 2 und 16 Wochenstunden erlaubt.

5. Eingangsprüfungen verhindern Verschwendung von Lebenszeit

Nicht nur Universitäten und die Absolventen nachfragende Unternehmen müssen


sich verändern. Diese Zumutung gilt auch den Studierenden. Ein besserer Berufs-
bezug des Studiums beginnt beim Hochschulzugang mit systematischen, wiederhol-
ten Informations- und "Schnupper"-Angeboten in den Schulen und endet bei har-
ten Zwischenprüfungen in den Universitäten nach dem ersten oder zweiten Semes-
ter, damit Studenten nicht unnötig lange Zeit mit einem Studium verbringen, das
ihnen nicht liegt. Die Wahl des Studienorts darf nicht mehr überwiegend von der
Nähe zum Elternhaus abhängen, sondern von den Interessen der Studierenden und
dem spezifischen Angebot einer Hochschule. Wo immer ein Fach es erlaubt, sollten
122 Gert G. Wagner

Eingangspriifungen dafür sorgen, dass möglichst nur Studenten sich einschreiben


können, bei denen die Chance sehr hoch ist, dass sie das Studium bewältigen kön-
nen. Nur durch eine solche Umgestaltung des Hochschulzugangs werden die hohen
Abbrecherquoten zuriickgehen können - und Kinder aus bildungs fernen Eltern-
häusern werden umso eher ein Studium "riskieren" (vgl. Wissenschaftsrat 2004a).

6. Studiengebühren verbessern die Qualität des Studiums

Vieles spricht dafür, dass die nun auch in Deutschland bestehenden Möglichkeiten
zur Erhebung von Studiengebühren zügig umgesetzt werden sollten. Und zwar über
die jetzt von einigen Ländern angestrebten Gebühren von 500 Euro pro Semester
hinaus. Die Studierenden würden bewusstere Entscheidungen zugunsten einzelner
Universitäten und Studiengänge treffen, und so aufgrund von Wettbewerb die Leh-
re an den Universitäten verbessern. Denn wer nennenswert zahlt, der überlegt nicht
nur genauer, was und wo er eigentlich studieren will, sondern er kritisiert auch mit
Recht eine schlechte Qualität der Lehre. Wenn die Lehre verbessert würde, könnte
auch zügiger studiert werden. Außerdem können nur durch Gebühren wirklich
nennenswert mehr Mittel für die Hochschulen mobilisiert werden. Natürlich müs-
sen die Gebühren, die eine Hochschule einwirbt, auch vollständig bei ihr verblei-
ben. Nur dann stimmen die Anreizwirkungen. Selbst wenn ein Landesfinanzminis-
ter vorab die Zuwendungen an alle "seine" Hochschulen absenkt, entfalten solche
Gebühren positive Effekte. 4
Dass Studiengebühren mit einem öffentlich finanzierten Stipendiensystem
kombiniert werden müssen, um die Entscheidung für ein Studium von der Bega-
bung und dem Leistungswillen junger Menschen abhängig zu machen und nicht
vom Geldbeutel der Eltern, ist selbstverständlich. In Deutschland könnte das Aus-
bildungsförderungsgesetz (BAföG) unschwer entsprechend umgebaut werden - es
ist ohnehin reformbedürftig, da es offensichtlich nicht ausreicht, um für Kinder aus
einkommensschwachen Elternhäusern ein Studium ausreichend verlockend zu
machen.
Wenn die Gebühren über die jetzt von einigen Ländern beschlossenen Beträge
von 500 Euro pro Semester hinausgehen, könnte der Staat zum Beispiel auch "Stu-
diengutscheine" vergeben, die je nach Einkommen der Eltern unterschiedlich teuer
sein würden. Bei Darlehensystemen ist es auf jeden Fall sinnvoll, deren Rückzah-
lung vom späteren beruflichen Erfolg abhängig zu machen. Die Rückzahlung könn-

, Ein Detail ist besonders wichtig: Wenn aus den Mitteln, die durch Studiengebühren eingenommen wer-
den, die Lehrkapazität erweitert witd, wn die Qualität des Studiwns zu heben, dann darf die vergrößerte
Lehr-Kapazität von den Wissenschaftsministerien und Verwaltungsgerichten, bei denen Studenten
versuchen einen Studienplatz einzuklagen, nicht zwn Anlass genommen werden die Studierenden-Kapa-
zität zu erhöhen und dadurch die Qualitäts-Verbesserung zunichte zu machen.
Hochschul- und Arbeitsmarktpolitik 123

te auch über eine "Bildungserfolg-Abgabe" pauschaliert werden. Es gilt immer:


führt ein Studium nicht zu höherem Einkommen, muss dann faktisch nichts zu-
rückgezahltwerden.
Im Rahmen von länder- oder bundesspezifischen Mindestanforderungen an
"Sozialverträglichkeit" sollte jede Hochschule ein eigenes Gebührensystem etablie-
ren dürfen. Dadurch würde verhindert, dass die Gebühren überzogen hoch ange-
setzt werden, gleichzeitig könnten sehr gute Universitäten aber auch etwas "kost-
spieliger" sein, da sie ihren Absolventen bessere Berufschancen bieten. Freilich
sollte aus Gründen der föderalen Ausgewogenheit in Deutschland verhindert wer-
den, dass (gute) Universitäten an attraktiven Standorten durch steigende Gebühren
stetig ihre Finanzbasis verbessern können während andere systematisch absteigen.
Wenn an attraktiven Standorten höhere Gebühren durchsetzbar sind, könnte es
auch zu einer unerwünschten sozialen Differenzierung der Studierenden kommen
(vgL Dohmen 2005). Neben einer Regulierung der Gebührenhöhe spielt hier offen-
kundig eine kompensierende staatliche Grundfinanzierung - verbunden mit einem
Vorteilsausgleich zwischen Bundesländern (analog dem Schweizer Finanzierungs-
system) - eine große Rolle. 5
Viele halten Studiengebühren für eine unsoziale Zumutung. Dabei werden
mindestens drei Fakten übersehen: Bei entsprechenden Stipendien und Darlehen
belasten Studiengebühren Studenten aus finanziell nicht so gut gestellten Elternhäu-
sern nicht. Und wenn die gebührenfmanzierte Verbesserung der Lehre das Studium
auch nur um ein Semester verkürzt (vielerorts werden es zwei und mehr Semester
sein), steigt das Lebenseinkommen deutlich stärker als die Rückzahlung von Darle-
hen an Last verursacht. Und schließlich wird in Deutschland weitgehend übersehen,
dass die bildungs- und gesellschaftspolitische Basis für Studiengebühren besser ist
als im angelsächsischen Ausland, wo hohe Gebühren an vielen Universitäten, insbe-
sondere an Top-Einrichtungen, üblich sind. Denn in Deutschland haben wir nach
wie vor ein halbwegs funktionierendes öffentliches Schulwesen, während in den
USA und England Privatschulen gerade im Hinblick auf den Übergang zu den
Hochschulen "Klassengrenzen" schaffen (die im Übrigen durch die PISA-Erhe-
bung verschleiert werden, denn die massive Trennung der Chancen beginnt erst
nach dem 15. Lebensjahr). Ausgehend von einer öffentlich finanzierten homogenen
Schulausbildung kann man die Wirkungen von nach Leistung differenzierten Stu-
diengebühren guten Gewissens riskieren. Auf Basis eines solchen Schulsystems
können dann auch Leistungs-Eliten (und entsprechend spezialisierte Hochschulen)
gefördert werden, ohne dass die soziale Kohäsion der Gesellschaft Schaden nimmt.
Denn die so entstehende Elite ist nicht von sozialer Herkunft, sondern durch eigene
Leistung geprägt.

, Vgl. zum "Vorteilsausgleich" auch Zöllner 2005.


124 Gert G. Wagner

7. Fazit: Wie kann die komplexe Kompatibilität von Hochschul- und


Arbeitsmarktpolitik effektiver gestaltet werden?

Ohne Zweifel müssen sich die Hochschulen in Deutschland stärker auf die Interes-
sen des nicht-wissenschaftlichen Arbeitsmarktes einstellen. Aber es muss auch
deutlicher als bislang ausgesprochen werden: Für viele der von der Wirtschaft ge-
forderten Kompetenzen von Hochschulabsolventen gibt es keine bessere Ausbil-
dung als die der unternehmerischen Praxis. Und definitionsgemäß kann nicht jedes
Unternehmen die jeweils allerbesten Absolventen einstellen. Und Studierende müs-
sen sich besser als bislang darüber klar werden, ob und wie sie eine wissenschaftli-
che oder nicht-wissenschaftliche Berufskarriere anstreben.
Universitäten müssen sich auch auf den speziellen Arbeitsmarkt für Forschung
spezialisieren dürfen. Eine flächendeckende "Fachhochschulisierung" wäre unsin-
nig, d.h. eine Ausdifferenzierung der Hochschulen in Deutschland ist nahezu un-
vermeidlich. Da Differenzierung nicht zentral geplant werden kann, ist mehr Auto-
nomie der Hochschulen notwendig. Zentral können lediglich die Rahmenbedingun-
gen so gesetzt werden, dass der wettbewerbliehe Prozess der Differenzierung ziel-
bezogen erfolgt. Öffentlichkeit, Politik und Parlamente geben also ihre Gestaltungs-
ziele keineswegs auf, sondern sie lassen sie von autonomen Hochschulen besser
verwirklichen als gegenwärtig.
Damit Differenzierung zielbezogen erreicht wird, muss mehr Transparenz ü-
ber Hochschulen und ihre Qualität geschaffen werden. Nur dann kann sich zielge-
richteter Wettbewerb entfalten. Und dazu brauchen die Hochschulen - man kann
es nicht oft genug wiederholen - mehr Autonomie, nicht nur im Hinblick auf ihre
Entscheidungen und Strukturen, sondern auch finanziell.
Wie sollten die Rahmenbedingungen aussehen? Welche Wirkungen werden sie
vermutlich haben? Studiengebühren oder Bildungsgutscheine, verbunden mit einem
klug ausgebauten Stipendien- und Darlehen-System, sollten nicht nur die Qualität
der Lehre verbessern, sondern - weil sie spürbar sind - auch dafür sorgen, dass
Studenten sich bewusster für ein Studium, einen Studienort und den Arbeitsmarkt,
den sie anstreben, entscheiden. Der Hochschulzugang muss mit besseren Informa-
tionen, die in Schulen angeboten werden, und mit harten Eingangs- und/oder früh-
zeitigen Zwischenprüfungen so gestaltet werden, dass es nach dem zweiten Semes-
ter normalerweise keine Studienabbrecher mehr gibt. Auf Basis des insgesamt nach
wie vor guten öffentlichen Schulsystems, das freilich - zusammen mit dem Vor-
schulsystem - verbessert werden kann und sollte, brauchen wir in Deutschland
keine Befürchtungen zu haben, dass dadurch nur Kinder aus "besseren Elternhäu-
sern" Zugang zu den Hochschulen fmden. Studiengebühren sollten von den Hoch-
schulen - im Rahmen eines staatlich vorgegebenen Korridors - selbst festgelegt
werden und die Einnahmen sollten vollständig an den Hochschulen verbleiben.
Hochschul- und Arbeitsmarktpolitik 125

Das Studienangebot muss im Interesse der wissenschaftlichen wie nicht-


wissenschaftlichen Arbeitsmärkte konsequent auf Zielgruppen ausgerichtet werden.
Dem dienen Bachelor-, Master-, Doktor- und Weiterbildungs-Studiengänge, die in
differenzierter Weise von den derzeitigen Berufsakadernien, Fachhochschulen und
Universitäten angeboten werden können. Das BA-Studium an Universitäten muss
theoriegeleitet und nicht - wie an Fachhochschulen und Berufsakadernien - stärker
berufsbezogen sein. Aus Gründen der internationalen Vergleichbarkeit sollte es
grundsätzlich auf sechs Semester angelegt werden. Allerdings sollte es in stark all-
gemeinbildenden geisteswissenschaftlichen Studiengängen für Abiturienten die - im
Vergleich zum Ausland - bereits eine gute Allgemeinbildung (gegenwärtig aufgrund
einer 13jährigen Schulzeit) besitzen, auf vier Semester verkürzt werden können.
Eine Steigerung der Zahl und des Anteils von - in heutiger Terminologie -
Fachhochschul-Studiengängen und -Absolventen im Hinblick auf den nicht-
wissenschaftlichen Arbeitsmarkt ist überfällig. Viele jungen Menschen, die nicht an
wissenschaftlichen Erkenntnissen interessiert sind, verschwenden in vollakaderni-
sehen Studien Lebensenergie. Dies gilt insbesondere in den Bereichen Betriebswirt-
schaftslehre und Jura, teilweise auch in der Medizin. Während heute etwa 75 Pro-
zent der Studierenden einen universitären Studiengang besuchen, sollte es (die hier
skizzierten Reformen vorausgesetzt) in Zukunft möglich sein, dass dieser Anteil um
etwa die Hälfte sinkt - zum Vorteil der in verschiedenen Arbeitsmärkten tätigen
Menschen.

Literatur

Brenke, Karl/Zimmermann, Klaus F. (2005): Demographischer Wandel erfordert Bildungsrefonnen


und lebenslanges Lernen. In: Wochenbericht des DIW. Berlin, Nr. 19, S. 329-335
Dahmen, Dieter (2005): So kann'sgehen. In: Die Zeit. Nr. 18.28. Apri12005, S. 82
Klaas, Peter-Werner (2001): Qualiftzjerungsoffinsive des Handwerks. In: Wirtschaft und Berufterzje-
hung - Zeitschrift für Beruftbildung, 53. Jg., März, S. 1-8
Münkler, Herfried (2005): Elite in Massen. In: Der Tagesspiegel. Nr. 18869, S. 25
Weiler, Hans N. (2003): ProfessionalSchools - Ein Bündnis von Anwendungsbeiflg und Wissenschaft-
lichkeit. In: Titscher, Stefan/Höllinger, Sigurd (Hrsg.): Universitäten auf dem Weg vom Gesetz
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Leske + Budrich
ders./Bensel, Narbert/Heuer, Katharina/Spieß, C. Katharina/Wagner, Gert G. (2003):
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und Studienrefonn. In: BenseI, Narbert/Weiler, Hans N./Wagner, Gert G. (Hrsg.): Hoch-
schulen, 5 tudienrefonn und Arbeitsmärkte. Bielefeld: Bertelsmann Verlag, S. 33-71
Wissenschaftsrat (2002): Empfehlungen zur Doktorandenausbildung. Saarbrücken. Internet:
http://www.wissenschaftsrat.de/texte/5459-02.pdf
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tätsmedizjn. Berlin. Internet: http://www.wissenschaftsrat.de/texte/5913-04.pdf
126 Gert G. Wagner

Wissenschaftsrat (2004a): Empfehlungen zur Reform des Hochschulzugangs. Berlin. Internet:


http://www.wissenschaftsrat.de/texte/5920-04.pdf
Wissenschaftsrat (2004b): Empfehlungen zum Maschinenbau in Forschung und Lehre. Berlin. Inter-
net: http://www.wissenschaftsrat.de/texte/6209-04.pdf
Zöllner, Jürgen (2005): Studienplatifinan~emng durch Vorteilsausgleich - Der rheinisch-Pfä/~sche
Vorschlag ftir einen Ausbau des Hochschulsystems in einen fairen Wettbewerb. Internet:
http://www.mwwfk.rlp.de
Bildungsreform und Sozialreform
Der Zusammenhang von Bildungs- und Sozialpolitik

Michael Opielka

In einer Wissens- oder Informationsgesellschaft wird Bildung zu einer zentralen


Ressource sozialer Teilhabe und damit zugleich zu einer entscheidenden Variable
sozialer Ungleichheit. 1 Versteht man unter Sozialpolitik den Versuch, jeder Bürgerin
und jedem Bürger die Inklusion in alle gesellschaftlichen Funktionssysteme dauer-
haft offen zu halten, dann muss der Zugang zu Bildung als eine ihrer wesentlichen
AufgabensteIlungen gelten. Allerdings darf man Sozialpolitik nicht statisch betrach-
ten. Weil in einer kapitalistisch verfassten Marktgesellschaft Ungleichheit konstitutiv
ist, hat Sozialpolitik stets einen sozialreformerischen Impuls. Die Garantie von
Inklusion oder moderner formuliert: von Teilhabe erfordert immer wieder Verände-
rungen der vorhandenen Institutionen und Prozeduren. Hier treffen sich Bildungs-
reform und Sozialreform. Freilich ist keineswegs immer klar noch unumstritten,
welche Bildungsreformen als Sozialreformen im Sinne der Garantie von Teilhabe
gelten können.
Im Folgenden soll dieser Zusammenhang systematisch untersucht werden.
Dies soll in drei Schritten geschehen. Nach einigen Vorbemerkungen zum Verhält-
nis von Bildungs- und Sozialpolitik und einer kurzen Skizze zur Verortung der
Bildungspolitik in Deutschland wird in einem ersten Schritt der mit dem "PISA-
Schock" erneut in das öffentliche Bewusstsein gehobene Zusammenhang von Bil-
dungserfolg und sozialer Ungleichheit analysiert. Im zweiten Schritt werden die
Strukturen der Bildungsfinanzierung untersucht, die vielfältige sozialpolitische Imp-
likationen haben. Das zeigt insbesondere die aktuelle Debatte um die Einführung
von Studiengebühren. Im dritten Schritt wird die quantitative Analyse um einige
qualitative Überlegungen zur Pädagogisierung des Schulsystems ergänzt. Sie machen
deutlich, dass in die Bildungsinstitutionen spezifische Konzepte professionellen
Handelns eingelassen sind, die "das Soziale" und darin vor allem die gemeinschaft-
lich-kommunikative Seite von Bildungsprozessen bislang zu gering schätzen.
Anders als im angloamerikanischem Raum (z.B. Baldock u. a. 2003, S. 362ff.)
wird in Deutschland die Bildungspolitik bislang nicht zur Sozialpolitik gerechnet.
Das irritiert, weil einerseits die Institutionen des Bildungswesens in einer auf Leis-
tung und - scheinbar - nicht auf Herkunft setzenden marktwirtschaftlichen Sozial-

I Dieser Beitrag basiert auf den Ausführungen in Opielka 2004 (S. 201ff.) sowie Opielka 2005.
128 Michael Opielka

ordnung zu den wichtigsten Kanälen des Lebenslaufs wurden, die über Ungleichheit
und Gleichheit von Chancen entscheiden. 2 Andererseits wird den angloamerikani-
schen Ländern eine Geringschätzung von sozialpolitischen Gleichheitszielen nach-
gesagt. Die Begründung dieser eigentümlichen Konstellation dürfte eine zweifache
sein: Zum einen lässt sich zeigen, dass in Großbritannien und in den USA ein be-
deutender Wohlfahrtsstaatsimpuls existiert ("Beveridge", "New Deal''), der eine
schlichte Zuordnung dieser Länder als "liberales" Wohlfahrts regime problematisiert
(vgl. Opielka 2004, S. 52ff.). Allerdings konzentriert sich das Gleichheitsinteresse -
besonders in den USA - auf Chancen- und Startgleichheit, auf die politische oder
bürgerrechtliche Seite sozialpolitischer Interventionen und weniger auf Ergebnis-
gleichheit. 3 Letzteres ist eher ein Charakteristikum sozialistisch-sozialdemokrati-
scher Wohlfahrtsregime.
Die zweite Begründung liegt wohl in der politischen Mittellage Deutschlands.
Nicht nur, dass soziale Gleichheit in der sozialpolitischen Rhetorik der Bundesre-
publik nachgeordnet blieb - jedenfalls während des "Kalten Krieges" 1945 bis
1989. Die Kulturhoheit der früheren Gliedstaaten des Deutschen Reiches - die für
die heutigen Bundesländer fortbesteht - hatte zwar schon vor der Aufklärung zu
einem verbreiteten und differenzierten Schul- und Hochschulwesen geführt, doch
litt der weitere Ausbau des Bildungswesens im 19. Jahrhundert stets unter Finanzie-
rungsengpässen. 1888 wurde in Preußen die Schulgeldfreiheit des V olksschulunter-
richts eingeführt, 1919 auf den gesamten Pflichtschulbereich ausgedehnt, und erst
nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Gymnasial- und Hochschulausbildung weit-
gehend unentgeltlich (Kaufmann 2003, S. 296ff.). Im Deutschen Reich herrschte ein
dreigliedriges Schulsystem, wobei nur das Gymnasium für ein bis zwei Prozent der
Schülerjahrgänge einen Hochschulzugang vermittelte. Nach dem Zweiten Weltkrieg
blieb eine umfassende Bildungsreform (wie in Schweden oder Großbritannien) aus,
in der Bundesrepublik wurden die Verhältnisse vor der NS-Herrschaft restauriert.
Die DDR orientierte sich überwiegend am in der Sowjetunion üblichen System der
Einheitsschule, die auch in Großbritannien und Schweden erfolgreich war. In
Westdeutschland wurde sie nur in einigen sozialdemokratisch regierten Bundeslän-
dern versucht. 4
In den 1960er Jahren diagnostizierte Georg Picht (1964) in Westdeutschland
aufgrund fehlender Bildungsinvestitionen der Länder eine "Bildungskatastrophe".
Die zunächst große und dann sozialliberale Koalition unter Willy Brandt führte zu

2 Vgl. Allmendinger 1999 und die Beiträge von Allmendinger/Leibfried und Böttcher in diesem Band.
.1Dass auch das US-amerikanische Bildungssystem das Ziel der Chancengleichheit verfehlt, wird unter-
dessen an einer Reihe von Indikatoren diskutiert. So haben Schüler aus dem ärmsten Bevölkerungsviertel
eine Chance von 8,6% zu einem College-Abschluss, Schüler des obersten Einkommensviertels eine
Chance von 74,9% (Brooks 2005, vgl. auch The Pell Institute 2004 und: www.postsecondary.org).
" Ausführlich zur Geschichte des Bildungswesens in Deutschland Berg u. a. 1987 ff., in vergleichender
Perspektive Postlethwaite 1995. Zur aktuellen Situation v. a. Cortina u. a. 2003, Avenarius u. a. 2003.
Bildungsreform als Sozialreform 129

einer Reform des Grundgesetzes, mit der bildungspolitische Aktivitäten des Bundes
erst möglich wurden (u. a. 1969 Bundesbildungsministerium, Berufsbildungsgesetz,
1976 Hochschulrahmengesetz). Kaum geändert wurde jedoch das gegliederte Schul-
system, die Orientierung der Berufsbildung am "dualen System" aus betrieblicher
Lehre und Berufsschule, die geringe Bedeutung der meist in kommunaler (V olks-
hochschulen) oder in freier Trägerschaft organisierten Erwachsenenbildung -
durchaus ein Problem angesichts des Bedarfs an "lebenslangem Lernen" -, der (in
Westdeutschland nach wie vor geringe) Ausbau von öffentlichen Einrichtungen für
Kleinkinder und generell das weitgehende Fehlen von Ganztagsschulen. Allein das
deutsche Hochschulwesen erfuhr seit den 1960er Jahren einen gewissen Ausbau,
allerdings nicht stärker als in Vergleichsländern. Zudem wurde mit der Einführung
der Fachhochschulen eine berufsorientierte, zugleich auf Kosteneinsparung zielende
Sparvariante der Universitäten ausgebaut, an der im Wintersemester 2000/01 mit
426.000 gut ein Viertel der insgesamt 1,8 Millionen Studenten in Deutschland einge-
schrieben war (Cortina u. a. 2003, S. 587).

1. Bildungserfolg und soziale Ungleichheit

Die "bildungspolitischen Konjunkturen" in Deutschland - bis 1989 im Westen -


(Cortina u. a. 2003, S. 136ff.) zeichneten sich dadurch aus, dass sie zwischen jener
bürgerrechtlich-liberalen Seite des amerikanischen Denkens (z.B. "Bildung als Bür-
gerrecht") und der von konservativer Seite (z.B. "Bund Freiheit der Wissenschaft")
als "sozialistische Gleichmacherei" missverstandenen Einheitsschulprogrammatik
(Gesamtschule) weitgehend lahm gelegt wurden (Allmendinger 1999). Das Ergebnis
ist zu Anfang des 21. Jahrhunderts wenig ermutigend. Als Neuauflage der "Bil-
dungskatastrophe" der 1960er Jahre konnten die Ergebnisse der PISA-Studie der
OECD wirken ("Programme for International Student Assessment"), die im Jahr
2001 die Öffentlichkeit nicht nur damit überraschten, dass die deutschen Schülerin-
nen und Schüler in fast allen Leistungsbereichen vergleichsweise wenig erfolgreich
waren, was für ein Land der "Dichter und Denker" höchst ernüchternd ausfiel
(Baumert u. a./Deutsches PISA-Konsortium 2001). Aus sozialpolitischer Sicht be-
drückt am meisten, dass das deutsche Bildungswesen international nur eine Spit-
zenposition einnahm: in der sozialhierarchischen Schichtung des Bildungserfolgs.
Abbildung 1 zeigt, dass in Deutschland im Vergleich zu allen anderen OECD-
Staaten die soziale Lage der Herkunftsfamilie den stärksten Effekt auf die gegen
Ende der Vollzeitschulpflicht erreichte Lesekompetenz hat.
130 Michael Opielka

~ulSd1"nd

Tsdlethlsche Republik
Ungam
xhweiz

Luxemburg
Portugal
Selgi.n
Vereini9tH Königreich
Polen

Verein igt. SIlI.ten


ÖSterreidl
Uechtensteln

Neu,.,.land
Ausuallen

Irland
frankreich
Oänemark
Norwegen
Griethenland
Schweden
IllIlien

IC.anad.
Brasilien

Spanien
Ru"isdle Föderation
l ettland
Finnland

Island
Korea

o S tO IS 20 2S 30 35 40 45 50
VerJnderung der l~kompetenz ~i VerJnderung der Sozial",hidlt
um eine Standardabweichung

Quelle: Baumert u. a./Deutsches PISA-Konsortium 2001, S. 390


Abbildung 1: Steigerung des sozialen Gradienten der Lesekompetenz nach
Staaten
Bildungsreform als Sozialreform 131

Jürgen Baumert, einer der Autoren der PISA-Studie, resümiert diese negativen Ver-
teilungseffekt folgendermaßen:

"Wie groß der Spielraum für die Entkopplung von sozialer Herkunft und dem Erwerb
zentraler BasisqualifIkationen wie Lesekompetenz international ist, zeigt ein Blick auf
das andere Ende der Verteilung. In Finnland - ein Staat, der übrigens auch durch seine
hohen Durchschnittswerte in der Lesekompetenz auff:illt - betragen die sozialen Dis-
paritäten, wenn man Jugendliche aus Familien des oberen und unteren Quartils der So-
zialstruktur \'ergleicht, erwa 50 Punkte oder eine halbe Standardabweichung - also we-
niger als die Hälfte des deutschen Wertes" (Baumert u. a. 2003, S. 130).

Dieser "konservative", die sozialen Status-Ungleichheiten verlängernde Zug des


deutschen Bildungswesen bestätigt die entsprechende Einordnung des deutschen
Wohlfahrtsregimes.
Bei der Beurteilung der deutschen Bildungspolitik im internationalen Vergleich
verschränken sich somit zwei Achsen: die erreichte Bildungsleistung und die soziale
Ungleichheit. Da Bildung zunehmend als Wettbewerbsfaktor im internationalen
Standortwettbewerb gilt (kritisch jedoch Wolf 2002), wird nicht nur die Gleichheits-
frage, sondern auch die Leistungsfrage zum Problem einer "produktiven" oder
"investiven" Sozialpolitik. Die Resonanz auf PISA war in Deutschland erheblich.
Dass das deutsche Bildungswesen seit Jahrzehnten unter strukturellen Mängeln,
aber auch unter Unterfinanzierung litt, war seit jener "Bildungskatasttophe" be-
kannt und wird durch zahlreiche Vergleichsstudien bestätigt, die meist von der
International Association for the Evaluation of Educational Achievement (IEA) und der
OECD unterstützt wurden. So sorgte unter Fachleuten die Trends in International
Mathematics und Science Study (IIMSS) (1995, 1999,2003) für Aufsehen und die Civic
Education Study (1999/2000) lieferte beunruhigende Ergebnisse zur politischen Bil-
dung und zum sozialen Engagement deutscher Jugendlicher. Nach der Internationalen
GT7Indschul-Lese-Untersuchung (IGLU) erreichen am Ende der Grundschule die Kinder
in Deutschland "im internationalen Vergleich im Leseverständnis ein Kompetenz-
niveau, das einem Vergleich mit europäischen Nachbarländern durchaus standhal-
ten kann" (Bos u. a. 2003, S. 11), was nicht gerade Anlass zu Übermut gibt, aber
auch wenig Trost, da die mittlere Leistung des deutschen Bildungswesens nach der
Grundschule nachlässt.
Die Interpretation vergleichender Studien ist nie einfach. Man kann auch kriti-
sieren, dass die Leistungsbeurteilung nationaler Bildungsprogramme nach dem
Muster einer Bundesligatabelle zu suggestiv ist (so Winkler in diesem Band). Sicher-
lich spiegelt sich in dem seit den 1990er Jahren auf allen Politikgebieten reüssieren-
den Zug zu Methoden des Benchmarking zweierlei: der Wegfall der Ost-West-
Systemkonkurrenz, wodurch neue Vergleichsmaßstäbe erforderlich wurden, aber
auch die Dominanz eines US-amerikanischen W'issenschafts- und Sozialverständnis-
ses - praktisch alle vergleichenden Bildungsstudien werden in den USA koordiniert
132 Michael Opielka

-, das dem am Marktmodell orientierten Vergleich als Koordinationsprinzip zu-


neigt. Manche Sozialpolitikwissenschafder auch außerhalb des (neo-)liberalen Spekt-
rums, das diesem Prinzip schon immer anhing, glauben im "Sozialkomparativen"
und seiner Institutionalisierung gar das Wesen des Sozialstaats zu erkennen (so
Nullmeier 2000, S. 18). Das erscheint vor dem Hintergrund einer zeitgemäßen The-
orie der "Wohlfahrtsregime" übertrieben, die neben dem Marktprinzip noch drei
weitere Steuerungsprinzipien - Staat, Moral und Ethik - ausmacht (vgL Opielka
2004, S. 33ff.). Wie aber Markt, Leistung und Meritokratie (Herrschaft der Besten)
mit den anderen Steuerungs- und Gerechtigkeitsprinzipien zusammenhängen, ist in
Forschung und politischer Praxis umstritten. Michael Walzer macht auf mehrdi-
mensionale Gerechtigkeitsmodelle und damit "komplexe Gleichheit" aufmerksam,
denn selbst dem in Bildungsinstitutionen als Selektionsindikator gehandelten Ge-
rechtigkeitskriterium "Verdienst" unterliegen höchst anspruchsvolle und selten
ausreichend objektivierbare Bewertungsprozeduren (Walzer 2000, S. 203ff.). Ein
kritisch-reflexiver Realismus gegenüber der Benchmarking- und Ranking-Euphorie
ist damit aus empirischen und theoretischen Gründen ratsam.
Gleichwohl verweisen die vergleichenden Bildungserfolgsstudien auf die gra-
vierenden Strukturmängel des deutschen Bildungswesens. Dies wird in der deut-
schen Bildungsforschung (Cortina u. a. 2003) genauso gesehen wie im "Bildungsbe-
richt" an die Kultusministerkonferenz (Avenarius u. a. 2003). Die bildungspoliti-
schen Diskurse zeichnen sich in Deutschland seit Ende der 1990er Jahre allerdings
durch einen selbst historisch überraschenden Mangel an Organisation und diskursi-
ven Zentren aus (Winkler in diesem Band). Populärwissenschafdiches Lamento und
konservative Strukturverteidigung werden mit einem bildungspolitischen Aktionis-
mus kombiniert, der vom Benchmarking berauscht die komplexen Wechselbezie-
hungen innerhalb des Bildungssystems und zwischen diesem und der Gesellschaft
bisweilen mit unerwünschten Folgen wegwischt. 5 Trotz manch alarmistischer Mel-
dung - "Exodus der Besten. Nach Statistiken der EU-Kommission bleiben rund 75
Prozent aller in Europa geborenen Doktoranden in der Neuen Welt" (Die Welt v.
17. 8. 2004) - erweisen sich Deutschland, seine deutschsprachigen Nachbarländer
und die EU ab dem tertiären Bildungsbereich (Hochschulabschluss) als leistungsfä-
hig, von einem "Braindrain", einer Abwanderung deutscher und europäischer Spit-
zenkräfte beispielsweise in die USA, kann - den zitierten exilierten Doktoranden
zum Trotz - nicht die Rede sein (BT-Drucksache 15/3185). Das ist sozialpolitisch

; Winkler (in diesem Band) führt als ein Beispiel die Yerkürzung der Gymnasialzeit von neun auf acht
Jahre in Bayern an, was in Verbindung mit der Einführung der neuen, dreijährigen Bachelor-
Studiengänge zur Konsequenz führe, dass der deutsche BA-Abschluss in den USA nicht anerkannt wird.
Dort baut ein vierjähriges BA-Studium auf einer zwölfjährigen Schulzeit auf, während die Ausbildungs-
zeiten in Deutschland dann insgesamt um ein Jahr zu kurz ausfallen. Wagner (in diesem Band) verweist
wiederum auf ein dreijähriges Bachelor-Studium in den USA, was Grund dafür sei, auch das deutsche
Abitur generell nach 12 Jahren ablegen zu können. Faktisch existieren auch in den USA beide Fonnen
des Bachelor-Studiums. Unmittelbare Überttagungen auf die deutsche Situation raten sich also nicht an.
Bildungsreform als Sozialreform 133

erfreulich, weil das Bildungssystem offensichtlich vielen eine Chance bietet. Über
die insgesamt problematische Leistungsbilanz des deutschen Bildungswesens in
Hinblick auf eine "investive" Sozialpolitik kann dies jedoch nicht hinweg täuschen.
Die "kompensative" Funktion der Sozial- und Bildungspolitik wird, worauf
PISA hindeutete, in Deutschland möglicherweise noch schlechter erfüllt als die
"investive". Erst in jüngerer Zeit kommt dieser Zusammenhang von Sozial- und
Bildungspolitik in den Blick, beispielsweise im Konzept der "Bildungsarmut" (All-
mendinger 1999, Allrnendinger/Leibfried in diesem Band). Anfang der 1990erJahre
wurde in der deutschen Soziologie das Phänomen der Bildungsungleichheit wieder
entdeckt (Shavit/Blossfeld 1993, Böttcher in diesem Band). Mittlerweile werden
hauptsächlich zwei Fragen diskutiert (Allmendinger/ Aisenbrey 2002): Hat die Bil-
dungs expansion zum Abbau der Bildungsungleichheit geführt, und wie kann die
Dauerhaftigkeit der sozialen Ungleichheit von Bildungschancen erklärt werden? Die
Tatsache, dass die Bildungsexpansion seit den 1960er Jahren in Deutschland gerin-
ger ausfiel als beispielsweise in Nordamerika oder Skandinavien, dürfte einen Teil
der deutschen Bildungsungleichheit erklären. Die Dauerhaftigkeit von Ungleichheit
wiederum ist auch die Folge einer eben nicht leistungsorientierten - geschweige
denn entwicklungsfördernden - Selektivität.
Bemerkenswert ist die Praxis intergenerationaler Ungleichheit, wie sie anhand
von Daten des sozio-ökonomischen Panels (SOEP) in Tabelle 1 sichtbar wird.
Zwar lassen sich die Einflüsse der verschiedenen Indikatoren auf die Bildungslauf-
bahn der Schüler nur schwer abschätzen, da die gemessenen Indikatoren unterein-
ander stark korrelieren. Unter dem Gesichtspunkt der Bildungsvererbung ist dies
gleichwohl aussagekräftig. Ein hervorstehendes Ergebnis der von den Autoren der
Untersuchung vorgenommenen multivariaten Analyse besteht darin, dass fehlendes
ökonomisches Kapital, vor allem in Form von Einkommensarmut, einen eigenständi-
gen Effekt auf die Bildungskarriere der Kinder hat: "Unabhängig von dem elterli-
chen Bildungsniveau und der beruflichen Bildung übt das familiäre Einkommen
einen signifikanten Effekt auf den Schulbesuch in der Sekundarstufe aus" (Hacket
u. a. 2001, S. 107). Da aber das Bildungs- und Ausbildungsniveau der Eltern wie-
derum deren Stellung auf dem Arbeitsmarkt beeinflusst - für die Bevölkerungs-
mehrheit die wichtigste Verteilungsinstanz für ökonomisches Kapital -, wird die
Beobachtung sozialer - nicht genetischer - Bildungsvererbung bekräftigt.
134 Michael Opiclka

Besuchte Schule
Hauptschule Realschule Gymnasiwn
Kulturelles Kapital
Elterliche Schulbildung
Hauptschule 47 34 19
Realschule 25 29 46
Abitur 6 18 77
k. A./ sonstiges 61 23 17
ausländische Pflichtschule 62 22 16
aus!. weiterführender Schulabschluss 44 25 31
BeruJsbildung der Eltern
Keine 65 22 13
Lehre 45 33 22
diverse 37 28 35
Beamtenausbildung 12 21 67
U niversität/FH 4 16 80
Besuch kultunller Veranstaltungen
seltener, nie 56 24 19
regelmäßig 26 30 44
mindestens 1 mal pro Monat 17 20 63
Ökonomisches Kapital
Einkommensannut
<60% 65 24 12
60 - 100 % 44 30 26
über 100 % 19 21 60
Arbeitslosit,keit
arbeitslos 49 26 25
nicht arbeitslos 40 26 34
S ory,en um eit,ene wirtschaftliche Entwicklul(~
große Sorgen 53 25 22
einige Sorgen 38 28 34
keine Sorgen 27 23 50
Weitere Faktoren
Geschlecht
männlich 46 22 32
weiblich 36 30 35
Nationalität
deutsch 30 28 42
türkisch 66 23 11
jugoslawisch (ex) 55 20 35
griechisch 31 27 42
italienisch 68 20 12
spanisch 52 28 20
Quelle: Hacket u. a. 2001, S. 106. - Berechnungen auf der Grundlage des SOEP, Welle 1-14
(1984-1997), Angaben in Prozent
Tabelle 1: Mögliche Einflussfaktoren auf die besuchte Schule in der
Sekundarstufe
Bildungsreform als Sozialreform 135

Karin Gottschall (2003, S. 890) hat unter der Signatur "Von Picht zu PISA" die
Bildungsstaatlichkeit im deutschen Sozialmodell als "ständisch und erziehungsfern"
etikettiert und dafür eine spezifische Relation des Bildungswesens mit der Familie
einerseits, dem Ausbildungssystem und Arbeitsmarkt andererseits verantwortlich
gemacht (Abbildung 2).

Familie Bildung Ausbildung Arbeitsmarkt

Tertiärbereich Vollzeitschulische Normalarbeitsverhältnis


Ausbildungen "Männlicher
Sekundarbereich II (z.B. Fachschulen) Familienernährer"
Duales System
Sekundarbereich I
Primarbereich
I "Hausfrauenehe" Elementarbereich
Quelle: Gottschall 2003, S. 890
Abbildung 2: Verortung von Erziehung und Bildung im deutschen Sozialmodell

Damit gelangt der "konservative" Charakter des deutschen Sozialstaats nicht nur in
Bezug auf seine ständische - und in den sozialen Sicherungssystemen entsprechend
"berufsständische" - Orientierung in den Blick. Wirkungs kräftig ist auch die patri-
archale Einbettung des Bildungswesens, dessen Elementar- und Primarbereich
zwrundest im Westen Deutschlands - ähnlich wie in Österreich und der Schweiz -
auf der Verfügbarkeit der Mutter als Hausfrau und einem Normalarbeitsverhältnis
mit männlichem "breadwinner" aufruht (auch Leitner u. a. 2004).
Der Beitrag des Bildungswesens bei der Vererbung sozialer Ungleichheit ist
unübersehbar. Bildungsabschlüsse entscheiden über die Position in der Einkom-
menshierarchie und die Risiken am Arbeitsmarkt. Dies gilt für alle Industriestaaten,
wie Tabelle 2 anhand von Daten der OECD verdeutlicht. Personen mit höchstem
Bildungsabschluss unter der Sekundarstufe stehen am unteren Ende, Personen mit
Hochschulabschluss (tertiäre Ausbildung) am oberen. Die durch den Bildungsab-
schluss erzeugten Einkommensdifferenzen sind in Ländern wie Portugal (insbeson-
dere hinsichtlich der Geringqualifizierten), vor allem aber in den USA gravierend.
Dies gilt, wie OECD-Daten weiterhin zeigen, auch hinsichtlich der Arbeitslosen-
quoten. Sie waren Mitte der 1990er Jahre beispielsweise in Deutschland für Männer
mit einem Abschluss unter der Sekundarstufe mehr als dreimal so hoch wie für
Personen mit Hochschulabschluss, in den USA (für Männer wie Frauen) mehr als
fünfmal so hoch (Wolf 2002, S. 19f.). Im Jahr 2004 lag die Arbeitslosenquote in
Deutschland für Personen ohne Berufsabschluss mit 24,6 Prozent sogar mehr als
sechsmal so hoch \'vie für diejenigen mit Hochschulabschluss (4%) (Rein-
berg/Hummel 2005, S. 5).
136 Michael Opielka

Ausbildung
oberhalb Se- tertiäre
unter Sekun-
kundarstufe, Ausbildung
darstufe
ohne Tertiär- insgesamt
stufe
25-64 25-64 25-64
Belgien 2000 Männer 93 99 128
Frauen 83 112 133
Kanada 1999 Männer 80 102 138
Frauen 70 98 139
Dänemark 2000 Männer 86 91 131
Frauen 90 92 123
Finnland 1999 Männer 93 m 167
Frauen 99 m 145
Frankreich 1999 Männer 88 130 159
Frauen 80 133 145
Deutschland 2000 Männer 81 114 143
Frauen 74 128 141
Italien 1998 Männer 54 m 138
Frauen 61 m 115
Niederlande 1997 Männer 88 126 142
Frauen 73 120 146
Norwegen 1999 Männer 85 118 136
Frauen 84 121 137
Portugal 1999 Männer 60 m 180
Frauen 63 m 170
Schweden 1999 Männer 87 m 138
Frauen 88 m 126
Schweiz 2001 Männer 82 113 141
Frauen 75 122 154
Großbritannien 2001 Männer 72 m 147
Frauen 70 m 183
USA 2001 Männer 69 123 193
Frauen 67 120 176
Quelle: OECD 2003, Tabelle A14.1 (Auszug) - Nach jeweils höchstem Bildungsabschluss
und Geschlecht für Personen im Alter von 25 bis 64 Jahren; Medianeinkommen für Perso-
nen mit Sekundarabschluss = 100 (m). Die Jahre beziehen sich auf die Datengrundlagen.
Tabelle 2: Relatives Niveau des Erwerbseinkommens nach Bildungsabschlüssen
im internationalen Vergleich
Bildungsreform als Sozialreform 137

Die britische Bildungsökonomin Alison Wolf fragt: "Education is certainly signal-


ling something. But is this skills, or ability? Might education not be serving, essen-
tially, as a simple way of ranking, screening and selecting people in a mass society?"
(ebd., S. 29). Sie beantwortet die Fragen mit einem klaren Ja. In einer meritokrati-
schen Marktgesellschaft wird das Bildungswesen zur Agentur von Ungleichheit. In
ihrer eindrücklichen Studie widerlegt sie den "Mythos" eines unmittelbaren Zu-
sammenhangs von Bildung und - vor allem künftigem - Wirtschaftswachstum.
Ende der 1990er gingen weltweit über 1,1 Mrd. Kinder und Jugendliche zur Schule,
etwa 88 Mio. Studenten besuchten Hochschulen, 60 Mio. mehr als noch 30 Jahre
zuvor (ebd., S. 2f.). Der dramatische Ausbau des Bildungswesens folgt dem
Wohlstand der Nationen, nicht umgekehrt. Es sei eine naive Annahme, dass Regie-
rungen durch einen Ausbau von Bildungsangeboten die wirtschaftliche Entwicklung
maßgenau beeinflussen können. Indem jedoch das Bildungssystem immer mehr mit
dem Mithaltenkönnen in einem globalen ökonomischen Wettbewerb begründet
wird, fallen die kulturellen Gehalte von Bildung, die Entwicklung von persönlicher
und bürgerschaftlicher Identität unter den Tisch (ebd., S. 250ff.). Zugleich wird
verwischt, dass vor allem die Hochschulbildung in den meisten Marktgesellschaften
den Mittel- und Oberschichten vorbehalten ist und so Ungleichheit verstetigt wird.
Anstatt, so Wolf, die Hochschulbildung immer weiter auszubauen, wären im Inte-
resse von Chancengleichheit weitaus mehr Investitionen in den Primar- und Sekun-
darbereich nötig.
Für die Konzentration auf den Vorschul-, Primar- und Sekundarbereich spre-
chen auch die Befunde der Migrationsforschung, die im Grunde alle darauf hinaus
laufen, dass es "zur strukturellen Assimilation der Migranten, speziell im Bildungs-
system (...) keine sinnvolle Alternative" gibt (Esser 2004, S. 44f.). Das Argument von
Wolf sollte aber in Deutschland nur zurückhaltend aufgenommen werden. Wie
weiter unten anhand von vergleichenden Daten zu Bildungsausgaben belegt wird,
liegt Deutschland selbst bei der tertiären, der Hochschulbildung nicht in Führung.
Der Zusammenhang von Bildung und sozialer Ungleichheit ist offensichtlich.
Das Bildungssystem muss damit als ein Bereich der Sozialpolitik - im Sinne des
eingangs skizzierten Verständnisses - betrachtet werden. Bildungspolitische Ent-
scheidungen definieren mit der Rahmung von Lebensläufen und Chancen Zusam-
menhänge, die als soziale Ungleichheit von sozialpolitischer Bedeutung sind. Im
nächsten Abschnitt wird der Blick auf die Finanzierung von Bildung gelegt. Wie
auch in anderen Bereichen des Wohlfahrtsstaats stellen an Privatisierung und Ver-
marktlichung orientierte Akteure die bisherigen Aufgaben- und Finanzierungsver-
antwortungen in Frage. So wird diskutiert, ob die Bildungsausgaben als Zukunftsin-
vestitionen erhöht werden sollen, zugleich aber, ob diese Ausgaben nicht in stärke-
rem Umfang von den privaten Haushalten getragen werden sollen, beispielsweise in
Form von Studiengebühren. Regimetheoretisch wird in der Diskussion um die
Bildungsfinanzierung problematisiert, ob Bildung ein öffentliches, sozialpolitisch zu
138 Michael Opielka

gestaltendes Gut ist, ob ein ho her Bildungsstand zum Sozial- bzw. Kulturkapital
einer Gesellschaft zählt oder ob Bildung eher als ein privates Gut, als eine den fami-
liären Gemeinschaften zu überlassende Investition in das (individuelle) Humankapi-
tal gilt.

2. Bildungsfinanzierung als sozialpolitisches Problem

Üblicherweise finanziert die öffentliche Hand das Bildungswesen. In der EU (EU-


25) trägt sie (Stand 2002) durchschnittlich 89,4 Prozent der gesamten Bildungsaus-
gaben, den Rest übernehmen private Haushalte und Arbeitgeber (Eurostat 2005, S.
6).6 Hinsichtlich der Vergesellschaftung der Kosten gehört das Bildungswesen damit
zu den Kernbereichen des Wohlfahrtsstaats. Erst in jüngster Zeit wird versucht,
auch die privaten Bildungsausgaben präziser zu bestimmen. In einer Studie für das
Bundesministerium für Bildung und Forschung errechnen Dieter Dohmen und
Michael Hoi (2004) für das Jahr 2000 eine Netto-Finanzierung des deutschen Bil-
dungswesens zu 66 Prozent durch öffentliche und zu 34 Prozent durch private
Ausgaben, während das offizielle Bildungsbudget auf einen Staatsanteil von 74
Prozent kommt (ebd., S. 62). Der höhere Privatanteil geht vor allem darauf zurück,
dass Dohmen und Hoi den Lebensunterhalt nicht mehr vollzeitschulpflichtiger
Schüler und Studenten als "bildungsbedingte ,Lebenshaltungs-Opportunitätsausga-
ben'" (ebd., S. 14) in die Bildungskosten einrechnen. Im Vergleich mit anderen
Ländern gilt der Privatanteil in Deutschland aufgrund der "dualen" Berufsausbil-
dung ohnedies als etwas höher, da sich die Unternehmen an den Bildungskosten
beteiligen. Allerdings übernehmen die Unternehmen beispielsweise in Japan oder
den USA aufgrund eines ausgeprägteren In-Job-Trainings gleichfalls - statistisch
bislang kaum ausgewiesene - Ausbildungskosten (vgl. Schmidt 2005).
Mit den genannten Einschränkungen der Datengrundlagen geben die in Abbil-
dung 3 zusammengestellten öffentlichen Ausgaben für Bildung als Anteil des BIP
im europäischen Vergleich Auskunft über recht unterschiedliche Prioritätensetzun-
gen hinsichtlich der absoluten Ausgaben wie auch zum Verhältnis von Sachausga-
ben (direkte Ausgaben für Bildungseinrichtungen) und Transfers an private Haus-
halte, beispielsweise für Stipendien und Studenten darlehen, sowie an Unternehmen,
die ausbilden und hierfür Beihilfen erhalten. Deutschland investiert mit 4,8 Prozent
einen vergleichsweise niedrigen Anteil des BIP in Bildung. Die teils deutlich höhe-
ren Anteile in Österreich (5,7%), Frankreich (5,8%) und den skandinavischen Län-
dern (z. B. 8,5% in Dänemark) gehen vor allem auf das Konto der Investitionen in
den Primarbereich und in den Sekundarbereich, insbesondere für Ganztagsschulen.

(, Noch in 1999 lag der Anteil der öffentlichen Hand in der EU-15 bei 86 Prozent (Eurostat 2003. S. I).
Die Daten von 2002 und Abbildung 3 beziehen die 10 neuen l\1itgliedsstaaten ab 2004 bereits ein.
Bildungsreform als Sozialreform 139

AL
U
MK
RO
TR
BO
EL
LU
IE
HR
SI<
CZ
ES • Ausgaben aus öffen1lchen
MT aue'enrOr
IT 8Ildungselnrlchtungen
OE • öffen1lche Subven1lonen an
NL den privaten Seldor
EU 25
UK
HU
PL
AT
EE
CH
FR
LV
PT
LT
SI
BE
FI
CY
15
NO
SE
OK

0 1 2 3 4 5 6 7 B 9

Quelle: Eurostat 2005, S. 7 - Stand 2002


Abbildung 3: Öffentliche Gesamtausgaben für Bildung in Prozent des
Bruttoinlandsprodukts nach Art der Transaktion
140 Michael Opielka

Die deutsche Kombination von Halbtagsschule und dreigegliedertem Schulsystem


ist ein Sonderfall in Europa, der zwar die Rildungskosten für die öffentliche Hand
senkt, dafür jedoch für die Rildungsdefizite vor allem bei sozial schwächeren Schü-
lern verantwortlich gemacht wird (Gottschall/Hagemann 2002).
Die Ausgaben pro Studierenden im tertiären Bereich waren im Durchschnitt
doppelt so hoch wie im Primarbereich. Die Schwankungen zwischen den EU-
Mitgliedsstaaten sind beträchtlich, sowohl in der Höhe der Ausgaben pro Schü-
ler/Studierenden als auch über alle Bildungsstufen hinweg. So reichen die Ausgaben
pro Studierenden von 4084 EUR-KKS (d.h. nach Kaufkraft bereinigten Euro) in
Griechenland über 9496 EUR-KKS in Deutschland bis 13568 EUR-KKS in Schwe-
den. Diese Differenzen lassen sich nur mit sozial- und bildungs politischen Prioritä-
ten und Traditionen erklären, wobei die unterschiedlichen Wohlfahrtsregime (kon-
servativ, liberal, sozialdemokratisch) nicht immer unmittelbar mit den Rildungsaus-
gaben korrelieren.

Primar- Sekundar- Tertiär- insgesamt Verhältnis


bereich bereich bereich Tertiärbereich
/ Primarbe-
reich
EU 25 4167 5614 7945 5391 1,9
Belgien 4891 7141 10377 6506 2,1
Dänemark 6670 6909 13108 7343 2,0
Deutschland 3917 6189 9496 8012 2,4
Griechenland 2689 3454 4084 3490 1,5
Spanien 3828 5235 5374 4570 1,4
Frankreich 4345 7311 8009 6076 1,8
Italien 5820 6314 7226 5937 1,2
Niederlande 4798 5887 11310 6038 2,4
Österreich 6056 7713 10747 7632 1,8
Finnland 4392 6148 10160 5982 2,3
Schweden 6166 6344 13568 6800 2,2
Großbritannien 4422 5838 10429 5996 2,4
Norwegen 6482 8640 11861 8610 1,8
Polen 2308 2181 4173 2536 1,8
Quelle: Eurostat 2005, S. 8f. - Eigene Berechnungen. In Euro-KKS, Stand 2002. Zu Spanien
lagen für 2002 keine Angaben vor, deshalb Daten aus 1999 (Eurostat 2003, S. 3).
Tabelle 3: Öffentliche und private Ausgaben pro Schüler/Studierenden in
öffendichen Bildungseinrichtungen

In Tabelle 3 sind die Ausgaben für den Vorschulbereich nicht erfasst. International
vergleichende Daten sind hierfür nur rudimentär verfügbar (vgl. auch Schmidt
Bildungsrefonn als Sozialrefonn 141

2005). Seitens der OECD wird (Stand 2000) nur zweierlei ausgewiesen: Zum einen
die relativen Ausgaben für die Vorschulerziehung von Kindern (ab drei Jahren), die
innerhalb der Gruppe der OE CD-Länder, gewichtet nach dem Pro-Kopf-
Einkommen laut BIP, um den Faktor drei schwanken. Am niedrigsten sind sie in
der Schweiz und Irland, etwa doppelt so hoch in Deutschland oder Österreich und
dreimal so hoch in Norwegen (OECD 2003, Table B1.2). Präziser sind, zweitens,
die Angaben für das Verhältnis von privaten und öffentlichen Aufwendungen in
diesem Bereich. Hier zeichnet sich Deutschland durch einen vergleichsweise hohen
Privatfmanzierungsanteil von 36,9 Prozent aus, der nur von Korea (74,1%), Japan
(48,7%), Irland (59,8%) und Australien (39,3%) übertroffen wird (ebd., Table B3.2).
In den meisten anderen Ländern liegt der privat finanzierte Anteil unter zehn Pro-
zent (in den USA beispielsweise 8,8%), wobei aus den Daten nicht ersichtlich ist, ob
ihn jeweils die Eltern aufbringen oder (wie zumindest zu einem geringen Teil in
Deutschland) privat-gemeinnützige Einrichtungsträger. Diese Daten unterstützen
die Annahme, dass sozialpolitisch in Deutschland der Vorschulbereich - wie von
Karin Gottschall (2003) analysiert - eher als Aufgabe des Familiensystems betrach-
tet wird (wobei merkwürdigerweise in den Niederlanden mit einem ähnlichen fami-
lienpolitischen Regime der Privatfmanzierungsanteil für die Vorschule nur bei 2,6%
liegt).
In Deutschland ist die Verteilung der privaten Bildungsausgaben ohnedies un-
gewöhnlich. Während im Vorschulbereich der Privatfinanzierungsanteil (36,9%)
mehr als doppelt so hoch ist wie im OECD-Durchschnitt (17,3%), liegt er im Terti-
ärbereich, also bei der Hochschulbildung, mit 8,2 Prozent deutlich unter dem
Durchschnitt (21,4%). Hier besteht allerdings gleichfalls eine erhebliche Abwei-
chung zwischen den Ländern. So liegt die private Beteiligung an der Hochschule in
einigen Ländern noch deutlich niedriger, beispielsweise in Österreich (3,3%), Dä-
nemark (2,4%), Griechenland (0,3%) oder Finnland (2,8%). In vielen Ländern müs-
sen die Studierenden und ihre Eltern allerdings mit deutlich höheren Eigenbeteili-
gungen rechnen, so in den USA (66,1 %)7, Großbritannien (32,3%), Kanada (39%),
Italien (22,5%) oder der Niederlande (22,6%). Aufgrund der hohen Aggregation
erlauben diese Daten nur Vennutungen über die Belastung einkommensschwacher
Gruppen. Die Tatsache, dass in mehr als der Hälfte der OECD-Staaten die privaten
Ausgaben für den Tertiärbereich zwischen 1995 und 2000 in absoluten Zahlen um
mehr als 30 Prozent gestiegen sind (zumeist allerdings ohne Verringerung des öf-
fentlichen Ausgabenanteils), deutet aber auf einen Trend in der Bildungsfinanzie-
rung, der für die Zukunft erhebliche sozialpolitische Bedeutung gewinnt.

- Der hohe Wert für die USA ist allerdings insoweit irritierend, als die Einnahmen der Universitäten
(über die überwiegend nur für die Undergraduate-Ausbildung, also bis zum Bachelor-Nh-eau zuständigen
Colleges liegen vergleichende Angaben nicht vor) aus Studiengebühren nur etwa 25 Prozent ihrer Ge-
samteinnahmen betragen (Brint 2005, S. 24).
142 Michael Opielka

\' or allem in den Ländern, in denen der Privatfinanzierungsanteil der Hoch-


schulausbildung vergleichsweise niedrig ist, wird über dessen Ausweitung diskutiert,
insbesondere durch die Einführung oder deutliche Erhöhung von Studiengebühren.
Als Beleg für die Leistungsfähigkeit oder zumindest Unschädlichkeit von Studien-
gebühren wird auf Länder wie USA, Kanada, Japan oder Korea mit zugleich hohen
Studierenden- bzw. Absolventenzahlen verwiesen. Tatsächlich haben sich, wie der
Vergleich 1991 zu 2001 in Tabelle 4 nahe legt, in jenen Ländern diese Zahlen sogar
noch stürmischer entwickelt als in denjenigen, in denen Studium zum "Nulltarif'
(pechar/Kleber 1996) möglich ist.

1991 2001 1991 2001


Australien Männer 22 29 Italien Männer 7 10
Frauen 24 38 Frauen 6 13
Österreich Männer 8 15 Japan Männer : 46
Frauen 8 14 Frauen : 49
Belgien Männer 25 34 Korea Männer : 42
Frauen 29 41 Frauen : 37
Kanada Männer 30 45 Niederlande Männer 23 26
Frauen 33 56 Frauen 22 27
Dänemark Männer : 25 Norwegen Männer 26 33
Frauen : 34 Frauen 28 44
Finnland Männer 28 30 Spanien Männer 15 32
Frauen 39 46 Frauen 18 39
Frankreich Männer 19 32 Schweden Männer 26 34
Frauen 21 37 Frauen 28 39
Deutschland Männer 23 23 Schweiz Männer 29 35
Frauen 19 20 Frauen 13 17
Griechenland Männer : 21 Großbritannien Männer 19 30
Frauen : 27 Frauen 18 29
Irland Männer 20 45 USA Männer 29 36
Frauen 19 50 Frauen 31 42
Quelle: OECD 2003, Table A2.4 - Anteil der Bevölkerung im Alter von 25 bis 34 Jahren mit
Hochschulausbildung, nach Geschlecht, in Prozent; : = nicht bekannt
Tabelle 4: Entwicklung der Hochschulausbildung 1991 bis 2001 im Vergleich

Die Begründungen für Studiengebühren sind vielfältig, entstammen jedoch über-


wiegend dem bildungsökonomischen und wohlfahrtsökonomischen Kontext (so
auch der Beitrag von Wagner in diesem Band). Zwei theoretisch aufwändig auftre-
tende Argumentationsfiguren stehen neben einer Reihe pragmatischer Motive.
Bildungsreform als Sozialreform 143

Zum einen wird das Studium als Investition in Humankapital konzipiert, es ga-
rantiere - wie weiter oben belegt - deutlich verbesserte Einkommenschancen und
Arbeitsmarktpartizipation (psacharopoulos 1995; Barr 1998, S. 333ff.). Einige Auto-
ren schlagen sogar vor, die Investition in Studierende wie solche in andere langfris-
tige Anlagegüter auf dem Kapitalmarkt mit entsprechenden Renditeerwartungen im
weiteren Lebensgang des jeweiligen Investitionsträgers zu behandeln (palacios Lle-
ras 2004). Damit diese instrumentelle Perspektive auf junge Menschen nicht als
zynisch beurteilt wird, führt beispielsweise einer der einflussreichsten Akteure in der
deutschen einschlägigen Diskussion, das Centrum für Hochschulentwicklung (CHE
2000) der Bertelsmann Stiftung, ein Zusatzargument an: Ein gebührenfreies Hoch-
schulstudium bedeute eine "Umverteilung von unten nach oben", weil die damit
verbundene Humankapitalinvestition von der Gesamtgesellschaft getragen wird und
dem ohnehin privilegierten Akademiker nichts außer Zeit koste.
Hingegen zeigt der von Dohmen (2004) erstellte Vergleich privater und öffent-
licher Bildungsausgaben, dass in Deutschland der Anteil der privaten Ausgaben
(einschließlich Lebenshaltungskosten, nach Abzug von Stipendien und BAföG,
Stand 2003) für das Studium erheblich ist: Für minderjährige Schüler der Sekundar-
stufe II lag er bei monatlich 400 Euro (öffentlicher Anteil 435 Euro), für volljährige
Schüler (Sek II) bei 250 Euro (öffentlich 590 Euro), für Studenten bei 600 Euro
(öffentlich 845 Euro), während minderjährige Auszubildende den privaten Haushal-
ten (aufgrund des Ausbildungsgeldes) sogar noch 154 Euro einbringen (ebd., S. 18).
Diese ungleiche Kostenverteilung dürfte mit ein Grund dafür sein, dass der Anteil
von Studierenden aus den unteren Mittelschichten merklich rückläufig ist, worauf
die 17. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks aufmerksam macht (BMBF
2004).8 Aber auch volkswirtschaftlich ist das Argument der Humankapitalinvestition
umstritten. Sobald alle relevanten Faktoren des Bildungs-, Steuer- und Sozialversi-
cherungssystems einbezogen werden, lässt sich eine Umverteilung von unten nach
oben nicht mehr nachweisen (Wolter/Weber 1999).
Das zweite bildungsökonomische Argument für Studiengebühren erwartet po-
sitive Steuerungseffekte in der Hochschullandschaft selbst. Eine nachfrageorientier-
te Hochschulfinanzierung stelle eine "Option für autonome Hochschulen" (CHE
2001), indem es die Studierenden zu ökonomisch relevanten Nachfragern einer
Bildungsdienstleistung aufwerte und vor allem "Elitehochschulen" die Verknap-

R Das "orhaben der im Mai 2005 neu gewählten CDU-FDP-Landesregierung in NR\1\', die Einführung
der Srudiengebühren (500 Euro je Semester) für Bafög-EmpEinger dadurch nicht abschreckend zu
gestalten, indem die zurückzuzahlenden Srudiengebühren und Bafög inklusive Zinsen auf insgesamt
10.000 Euro begrenzt werden 0t. Generalanzeiger Bonn v. 28.9.2005, S. 5), könnte die materiellen Angs-
te der Srudierwilligen aus ökonomisch schwächeren Kreisen reduzieren. Doch ob es bei 10.000 Euro
bleibt;- \'ertrauen in die langfristige Bindung von Politik ist knapp. Da die vormalige CDU-FDP-
Opposition im schließlich für sie erfolgreichen \X'ahlkampf versprochen hatte, Bafög-Empfanger von
den neu einzuführenden Srudiengebühren auszunehmen, mag auch die anschließend gezeigte soziale
Generosität zur \' ertrauensbildung nicht unbedingt beitragen.
144 Michael Opielka

pung ihres Angebots durch hohe Preise erlaube - was sich wiederum in verbesser-
ten Leistungsangeboten niederschlage (Dierkes/Merkens 2002). Dieses Argument
wird zunehmend von Hochschulpolitikern aus verschiedenen Lagern angeführt.
Allerdings können gegen die damit verbundenen steuerungstheoretischen Annah-
men erhebliche Einwände geltend gemacht werden (Wolter 2002). Als Modell für
das Nachfrageargument wird meist auf die USA verwiesen. Die Hochschulland-
schaft ist dort jedoch von einer weitaus größeren Qualitätsstreuung geprägt, als dies
in Europa und insbesondere in Deutschland der Fall ist. 9 Zudem sind im US-
amerikanischen Wohlfahrtsregime liberale, marktliche Elemente traditionell stark.
Vergleicht man die geforderte Nachfragesteuerung mit einer energischen Angebots-
steuerung, wie sie beispielsweise in international anerkannten Musik- und Kunst-
hochschulen (gerade auch in Deutschland) in Form von ausgefeilten Aufnahmeprü-
fungen praktiziert wird, schneidet die Angebotssteuerung in der Regel besser ab.
Selbst wenn das von den Vertretern der Nachfragesteuerung schon im Interesse der
Qualitätssicherung bejahte Verfahren der "blind admissions" - die Finanzierung der
Studiengebühren wird hier erst im Anschluss an eine leistungsorientierte Auswahl
thematisiert - ernst genommen wird, bleibt doch der Abschreckungseffekt der teils
dramatisch hohen Studienkosten (und der dann folgenden Kreditbelastung), wenn
man nicht zu den besten zehn bis 20 Prozent der Studenten gehört, die mit aus-
kömmlichen Stipendien rechnen können.
Eher für die Angebotssteuerung sprechen zudem neuere Befunde aus den
USA, dem Bezugsland der Studiengebührenbefürworter (auch Wagner in diesem
Band). In einer Analyse der gegenwärtigen Entwicklung der amerikanischen For-
schungsuniversitäten hin zu "interdisziplinärer Kreativität" macht Steven Brint
darauf aufmerksam, dass Studiengebühren (tuition) unterdessen im Durchschnitt
weniger als 25 Prozent ihres operativen Budgets ausmachen, mit sinkender Tendenz
und interessanten Folgen: "Indeed, most show less concern with markets than with
status. American universities - like universities everywhere - try to enrol good stu-
dents, hire the best faculty, and improve their comparative position." (Brint 2005, S.
24) Möglicherweise sitzen die deutschen Bildungspolitiker und ihre Berater einem
überlebten Mythos des amerikanischen Hochschulwesens auf. Die Konsequenz

9 Die Frage nach der Qualität von Hochschulen wird in mehreren internationalen Hochschul-Rankings

methodisch problematisiert. Eines der meistzitierten Rankings, das "Academic Ranking of World Uni-
versities" des Institute of Higher Education der Jiao Tong University in Shanghai hat in seiner Untersu-
chung von 2005 (www.ed.sjtu.edu.cn/ranking.hrm) unter den 20 besten Hochschulen 17 aus den USA
(keine aus Deutschland), unter den 100 besten 53 aus den USA (5 aus Deutschland) und unter den 500
besten 168 aus den USA (40 aus Deutschland) gelistet. 30 Prozent der Ranking-Bewertung basieren auf
dem Anteil der Alumni an Nobelpreisträgern und "Field Medal" Gewinnern, womit die naturwissen-
schaftlichen Disziplinen und die Wirtschaftswissenschaften womöglich übergewichtet werden. Generell
muss man wohl festhalten, dass Hochschulrankings derzeit eher als Hinweise auf Qualitätsunterschiede
im Forschungsoutput gelten können und vor allem eine Marketingfunktion für das Einwerben von
Forschungsgeldern haben.
Bildungsreform als Sozialreform 145

wäre dann allerdings eine Verschlechterung der komparativen Position der deut-
schen Hochschulen im internationalen Wettbewerb. lO
Schließlich werden in politisch niedriger gehaltenen Debatten pragmatische
Argumente für Studiengebühren vertreten, beispielsweise der Hinweis auf die Be-
drängtheit der öffentlichen Haushalte, die den angesichts weiter steigender Studie-
rendenzahlen notwendigen Investitionsbedarf in die Hochschulbildung nicht auf-
bringen könnten. Dieses Argument trifft sich mit den aus der sonstigen sozialpoliti-
schen Diskussion bekannten Dilemmata der Finanzierung öffentlicher Gemein-
schaftsgüter. In gewisser Weise wird damit ähnlich den Konzepten der "Aktivie-
rung" in der Arbeitsmarkt- und Sozialhilfepolitik oder der "Rationierung" in der
Gesundheitspolitik eine Privatisierung von Gütern zu legitimieren versucht, die
sowohl im Wertesystem der Bevölkerung als auch unter gesamtgesellschaftlichen
Effektivitätsgesichtspunkten als öffentliche Güter gelten und gelten sollten. Die
sonst noch angeführten Argumente für Studiengebühren, beispielsweise die kosten-
lose Inanspruchnahme von Studienplätzen durch ausländische Studierende - wäh-
rend hiesige Studenten in deren Heimatländern Gebühren aufbringen müssen -,
könnten pragmatisch durch gestufte Systeme aufgehoben werden, bei denen Inlän-
der entlastet oder erst gar nicht belastet werden.
Wie die Auseinandersetzung mit einigen bildungsökonomischen Argumentati-
onsfiguren zeigen konnte, dürfte es in der bildungspolitischen Kontroverse um
Studiengebühren weniger um sachlich-wissenschaftliche, als um regimetheoretisch
erklärbare politisch-ideologische Konfliktthemen gehen. Um es vereinfacht zu poin-
tieren: Die Konjunktur privater Bildungsfinanzierungsmodelle scheint Ausdruck
einer liberalen bis neoliberalen Faszination gegenüber der Effizienz von Märkten,
gespeist von der Konjunktur neoklassischer Erklärungsmodelle. Die Frage nach der
Effektivität von Problemlösungsmustern hingegen bezieht stets auch nicht-
ökonomische Gründe in die Analyse ein und weist damit über Marktlösungen hin-

10 Für diese Interpretation sprechen auch neuere Befunde aus dem von Studiengebühr-Befürwortern

gern heran gezogenen Beispiel Australien, wo 1989 Studiengebühren sowie ein staatlich garantiertes
Studienkreditsystem (Higher Education Contribution System, HECS) eingeführt wurde (vgl. zur Einfüh-
rungsphase Pechar/Keber 1996). Dass es sich hierbei doch um ein politisch-ideologisches Projekt han-
delt, lässt sich recht eindrücklich an einem Beitrag in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (v.
27.9.2005) zeigen, der mit "In Australien hindern Gebühren sozial Schwache nicht am Studium" über-
schrieben ist. Trotz Gebühren von unterdessen bis zu 3500 Euro pro Semester (zu Beginn 1989: 100
Euro) haben sich die Zahlen der Studienanfanger "sogar in allen sozialen Gruppen deutlich gesteigert",
genauere Daten werden aber nicht genannt. Tatsächlich wurden unterdessen die Tilgungsfristen für
Studienkredite verkürzt, Einkommensgrenzen gesenkt und erwies sich die Ausfallquote der Rückzahlun-
gen als unerwartet hoch. Wie man dann noch von einem "Ideal" der Hochschulfinanzierung in Austra-
lien sprechen kann, das nur noch nicht erreicht sei, erscheint dem nüchternen Beobachter schleierhaft.
Wenn von vierzig australischen Universitäten nur zwei privat finanziert sind, mögen auch die staatlichen
"entdeckt haben, was Marketing bedeutet"; aber was das wirklich für Forschung und Lehre bringr, und
warum dazu Studiengebühren nötig sein sollen, lässt sich nur marktreligiös, nicht bildungssoziologisch
ergründen.
146 i'vlichael Opielka

aus. Das schließt nicht aus, dass beispielsweise bestimmte Modelle wie "Bildungs-
gutscheine" oder "Bildungskonten" für die Hochschulpolitik und möglicherweise
auch für andere Bereiche der Bildungswesens wie den Schul- und Vorschulbereich
sinnvoll sein können. Die entscheidende Kontroverse dürfte eher um die Frage
kreisen, ob und inwieweit Bildung als ein öffentliches Gut gilt oder ob man sie nur
als privates Gut, als je persönliche Humankapitalinvestition betrachtet.
In diese Richtung zielt auch die Analyse von Manfred G. Schmidt, die den Fra-
gen nachgeht, warum in den meisten OECD-Staaten im Vergleich zu Deutschland
ein größerer Sozialproduktanteil in die öffentlichen Bildungsausgaben investiert
wird und ein kleinerer in die privaten, und warum die öffentlichen Bildungsausga-
ben in Deutschland relativ niedrig und die privaten vergleichsweise hoch sind. Dass
er damit "weitgehend in Forschungsneuland" (Schmidt 2005, S. 108) vorstößt, wirft
ein eher beschämendes Licht auf die deutsche Bildungs- und Sozialpolitikforschung.
Insgesamt, so sein Resümee, hat die "Bildungspolitik in Deutschland ungünstige
Finanzierungsbedingungen gegen sich. Die hochgradige Politikverflechtung ver-
wehrt den Ländern, den Hauptfinanciers der Bildungssysteme, eine autonome Ein-
nahmen- und Ausgabenpolitik" (ebd., S. 116). Vor allem aber verengen die hohen
Sozialbeiträge den Spielraum für steuerfinanzierte Leistungen nachhaltig. Wenn
man sich vor Augen hält, dass die öffentlichen Investitionen in Bildungsinstitutio-
nen 11 in Deutschland mit 4,4 Prozent erst an 20. Stelle unter den 28 OECD-Staaten
liegen (OECD 2005, Table B2.1a, Stand 2002), die Spitzengruppe teils bis zu 50
Prozent des Volkseinkommens mehr aufwendet und selbst der Gesamtanteil öffent-
licher und privater Investitionen in Deutschland mit 5,3 Prozent unter dem OECD-
Mittel (5,8%) liegt, während die USA (7,2%) oder Dänemark und Korea Ge 7,1%)
deutlich mehr aufwenden, dann wird klar, dass Investitionen in die Bildungspolitik
tief greifende Strukturrefortnen der Finam~ierung des deutschen Sozialstaats erfor-
dern. Das gilt gerade dann, wenn Deutschland "aufholen" möchte. So sind im
OECD-Raum die öffentlichen und privaten Ausgaben für Bildungseinrichtungen
im Zeitraum 1995-2002 netto um 21 Prozent (primär-/Sekundärsektor) bzw. um 30
Prozent im Tertiärsektor gewachsen, in Deutschland jedoch nur um jeweils 8 und
10 Prozent (ebd., Table B2.2).
Eine Option zur Steigerung der Bildungsinvestitionen besteht in der dramati-
schen Ausweitung des privaten Finanzierungsanteils. Sie geht allerdings mit erhebli-
cher Ungleichheit einher. Wenn man dies nicht will, bleibt allein die Alternative, die
Finanzierung des deutschen Sozialstaats über lohnbezogene Abgaben zu reduzieren
und diese entweder über indirekte Steuern, in weit effektiverer Form aber über die
Einführung umfassender Bürgerversicherungen zu organisieren. Ein Modell wäre
die Einführung einer "Grundeinkommensversicherung", finanziert über Sozialsteu-
ern auf alle Einkommensarten ohne Bemessungsgrenze, und ergänzend eine Bür-

11 also ohne private Ausgaben und öffentliche Zuwendung an private Haushalte und Unternehmen.
Bildungsreform als Sozialreform 147

gerversicherung in der Gesundheitspolitik (dazu Opielka 2004). Damit würden die


öffentlichen Haushalte den Spielraum gewinnen, der für die Investition in Bildung
und damit in die Zukunft unserer Gesellschaft unerlässlich ist.
Die Ausweitung der Bildungsinvestitionen als öffentliches Gut und damit auch
aus öffentlichen Mitteln wäre zugleich zentraler Bestandteil einer großformatigen
Investition in soziale Dienstleistungen. Diese vom Mainstream der Sozialpolitikwis-
senschaften heute geforderte Transformation der Sozialpolitik würde öffentliche
Mittel aus den Geldleistungsprogrammen in die Dienstleistungsprogramme umsteu-
ern (siehe auch den Beitrag von Allmendinger/Leibfried in diesem Band). Dies
gefährdet aber die Dienstleistungsziele - hier: Bildungsinvestitionen für alle Bil-
dungswilligen - nur dann nicht, wenn die Geldleistungssysteme selbst auch systema-
tisch umstrukturiert werden, mit dem Fokus auf Teilhabe und Garantien ("Garan-
tismus") und nicht mehr auf Lebensstandardsicherung.

3. Bildungsreform und pädagogische Reform

Es ist allerdings nicht nur Geld, was dem deutschen Bildungssystem fehlt. Mögli-
cherweise, so die abschließenden Überlegungen, steht die im internationalen Ver-
gleich auffällige Vernachlässigung öffentlicher Bildungsinvestitionen in einem nicht
einfach zu durchschauenden Zusammenhang mit den Ideen, den Werten und Nor-
mierungen von Bildung in Deutschland. Birgit Sandkaulen hat (in diesem Band)
darauf aufmerksam gemacht, dass die Idee von "Bildung zur Freiheit" eben nur
unter den Bedingungen von Freiheit gelingen kann. Diese Bedingungen erfordern
eine pädagogische Professionalität, die einen weitaus offeneren Begriff von "Leis-
tung" einschließt, als er in den bisher üblichen Benchmarking-Kategorien vor-
kommt. Diese Leistungsoffenheit heißt nicht Beliebigkeit. Sie muss die Nützlich-
keitsindikatoren des Arbeitsmarktes ernst nehmen, darf sich davon jedoch nicht in
den Möglichkeiten der Weltentdeckung und -erfahrung, die institutionalisierte Bil-
dungsprozesse unterstützen können, beschränken lassen. Die breite bildungspoliti-
sche Debatte der letzten Jahre ("nach PISA") hat die Überwindung solcher Be-
schränkungen nicht immer klar akzentuiert.
Ein Beispiel für mögliche Unklarheiten sind die Bemühungen von Beratungs-
firmen wie McKinsey, den Bildungssektor als Geschäftsbereich zu erschließen und
sich dazu intellektueller Unterstützung renommierter Wissenschaftler zu bedienen.
Das "Manifest" des deutschen PISA-Mitverantwortlichen Jürgen Baumert und
weiterer Kollegen, wonach Bildung den "vernünftigen Umgang mit der Welt" lehre
und deshalb "zentrale Aufgabe der unserer Gesellschaft werden müsse" (Baumert
u.a. 2002, S. 171) sieht vor allem vier Maßnahmen vor: Eine gewaltige Förderung
der vorschulischen Erziehung und Bildung - mit 2,2 Milliarden Euro sollen Krip-
pen- und Ganztagsplätze geschaffen werden -, konsequente Qualitätsmessung und
148 Michael Opielka

-sicherung, mehr Freiräume für die Schulen und eine Betrachtung der Bildung als
Investition, was hauptsächlich auf die Einführung von Studiengebühren hinausläuft.
Letzteres haben wir weiter oben als Ideologie- und Steuerungsproblem kritisiert.
Richtig ist aber die Forderung, pädagogische Professionalität auf allen Ebenen aus-
zubauen.
Doch Professionalität braucht selbst Maßstäbe. Hilfreich dafür sind pädagogi-
sche und institutionelle Reformen, die die Lebenswelt von Schülern und Studieren-
den ernst nehmen (vgl. die Beiträge von Rabe-Kleberg und Rauschenbach in diesem
Band). Dies soll im Folgenden an einem Beispiel diskutiert werden, der Integration
von Schul- und Sozialpädagogik. Sie zielt auf eine "sozialpädagogische Schule"
(Opielka 2005), die nichts mit "Kuschelpädagogik", hingegen viel mit Respekt vor
jungen Menschen zu tun hat.
Nicht erst im Elften Kinder- und Jugendbericht (BMFSFJ 2002, S. 161ff.)
wurde eine eigentümliche Spannung zwischen Schulpädagogik und Sozialpädagogik
nachlesbar: "Heute gibt es sowohl die Forderung, Schulsozialarbeit flächendeckend
einzuführen, weil dies familien- und jugendpolitisch erforderlich ist, als auch die
gegenteilige Forderung, Schulsozialarbeit zurückdrängen, weil dies bildungspolitisch
unerwünscht ist." Offensichtlich existieren, so die Autoren dieses Dokuments poli-
tikberatender Sozialpädagogik, gleichermaßen schulbezogene Angebote der Kinder-
und Jugendhilfe wie sozialpädagogische Aufgaben der Schule, die nur durch eine
"gemeinsame Organisation des Lernens und Lebens im öffentlichen Raum" bewäl-
tigt werden können. Doch es sei "einstweilen noch nicht ausgemacht, ob und wie
Schule und Kinder- und Jugendhilfe diesen Herausforderungen begegnen werden".
Das klingt nicht sehr ermutigend.
Wie kommt diese melancholische Stimmung zustande? Angesichts der ernüch-
ternden Befunde des deutschen Schulwesens in jüngeren internationalen Bench-
markings wie PISA oder TIMSS wäre eher eine Aufbruch- und Reformbewegung
zu erwarten. Warum diese weitgehend fehlt, wird nun in drei Schritten erörtert.
Zunächst wird die deutsche Situation des Verhältnisses von Schule und Jugendhilfe
skizziert. Sie ist vor allem durch ein politisches, folglich rechtliches und institutio-
nelles Nebeneinander beider Bereiche charakterisiert. Der zweite Blick gilt den
professionellen Differenzen zwischen Schul- und Sozialpädagogik, die in Deutsch-
land trotz einer beachtlichen reformpädagogischen Tradition jenes Nebeneinander
unverdrossen legitimieren. Im dritten Argumentationsschritt werden Überlegungen
zur professionellen, institutionellen und schließlich politischen Überwindung dieser
Dichotomie angestellt. Sie zielen auf das Konzept einer sozialpädagogischen Schule.

Spannung von Schule und Jugendhilfe


In einem Handbuchartikel zum Verhältnis von Schule und Jugendhilfe wird die
historische Entwicklung dieses Verhältnisses als Ausdifferenzierung von Funkti-
onsbereichen beschrieben, die in der Weimarer Republik mit dem Reichsjugend-
Bildungsreform als Sozialreform 149

wohlfahrtsgesetz von 1922 die Jugendhilfe eigenständig institutionalisierte. Der


deutsch-deutsche Sonderweg von bundesrepublikanischem und DDR-
Bildungswesen beließ im Westen die Trennung von Schule und Jugendhilfe, wobei
nur in der Bundesrepublik im größeren Stil nicht-staatliche, freigemeinnützige
Träger und Verbände eine politisch gesicherte Rolle erhielten. In der DDR wieder-
um war auch die Jugendhilfe in eine staatlich-zentralistische Verantwortungsstruktur
mit gegenüber der Schule deutlich nachrangiger und professionell kaum entwickel-
ter Rolle eingebunden. Mit der deutschen Einheit 1989/90 wurde das westdeutsche
Modell praktisch verallgemeinert. "Die sozialpädagogische Schule als Regeleinrich-
tung", so die Autoren, "gilt gegenwärtig als eine Utopie, die auf absehbare Zeit
kaum Realisierungschancen hat" (Bettmer/Prüß 2001, S. 1534). Allerdings erscheint
diese Utopie merkwürdig blass. Sie beschränkt sich auf die Anstellung sozialpäda-
gogischer Fachkräfte an Schulen.
Doch selbst diese bescheidene "Utopie", die zudem auf Ganztagsschulen bzw.
Integrierte Gesamtschulen beschränkt scheint, wird im Alltag rechtlicher und insti-
tutioneller Kooperationsprobleme enttäuscht. Bettmer und Prüß (ebd., S. 1536f.)
unterscheiden drei Formen der Schulsozialarbeit: eine "additive" Zusammenarbeit
unter Fortschreibung institutioneller Zielsetzungen; eine "kooperative" Form, die
unter Beibehaltung institutioneller Eigenständigkeit gemeinsame Problem angeht,
und einen "integrativen" Typ, bei der sozialpädagogische Elemente unmittelbar in
die Schule integriert werden. Sie plädieren pragmatisch für die kooperative Form,
bei der die "Fachaufsicht beim zuständigen Jugendamt liegt, während die Durch-
führung der Aufgabe an einen freien Träger übertragen wird" (so auch ülk/Speck
2004). Dass die Schulsozialarbeit, wie sie unterdessen genannt wird, als "schulbezo-
gene Jugendhilfe" (Bettmer/Prüß 2001, S. 1537) etwas kurz greift, wird zwar in
neueren Projekten und Handbüchern gesehen (z.B. Hartnuß/Maykus 2004). Die
institutionelle und politische Pfadentwicklung scheint mehr nicht zu erlauben.
In einem aktuellen Überblick über das deutsche Bildungswesen des Max-
Planck-Instituts für Bildungsforschung kommt die Schulsozialarbeit nicht einmal
vor (Cortina u.a. 2003). Dabei ist es in der Fachdiskussion kaum umstritten, wie
breit angesichts der Perpetuierung sozialer Ungleichheit durch das deutsche Schul-
system wie seiner lebensweltlichen Defizite das Aufgabenspektrum jenseits des
Unterrichts gelesen werden muss (Huber 2001). Um nur einige dieser Aufgaben zu
nennen: Elternarbeit, Demokratieerziehung, Gewaltprävention, Mediation, Bera-
tungsangebote, Berufseinstiegshilfe, Erlebnispädagogik, ürganisationsentwicklung,
Fortbildungsmanagement, Engagementförderung von Eltern, Lehrern und Schülern
und insgesamt eine interne wie externe Öffnung der Schule, ihre Einbettung in ein
komplexes Netzwerk pädagogischer, psychosozialer und alltäglicher Hilfesysteme.
Auch die Kooperation zwischen Schulen und Betrieben gehört dazu (Brater/Munz
1996), gerade angesichts der noch länger kritischen Berufseinmündungsphase. In
manchen Schulen mögen heroische Lehrer - punktuell unterstützt durch Honorar-
150 Michael Opielka

kräfte aus anderen Disziplinen - viele dieser Aufgaben übernehmen (z.B. Riegel
2004). In reformpädagogisch orientierten Schulen (Montessori, Waldorf, Peter
Petersen) gelingt es recht häufig, nicht selten freilich auf Kosten einer Überforde-
rung des Lehrerpersonals, weil modellhafte, meist private Schulen nur unzureichend
finanziert werden.
Zur Zusammenarbeit von Schule und außerschulischer politischer Jugendbil-
dung im Rahmen der Demokratieerziehung demonstrieren neuere Modellvorhaben
ähnliche Befunde (z.B. Schäfer u.a. 2005). Über den Unterricht hinaus reichendes
Engagement von Lehrern ist eine seltene Ausnahme und führt die Aktiven unter
ihnen in Loyalitätsdilemmata gegenüber Mehrarbeit befürchtenden Kollegen. Der
Grund sind die Schulorganisationskulturen in Deutschland, die noch immer mit
einer versorgungs staatlichen Mentalität bei allen Beteiligten rechnen, insbesondere
auch bei den Eltern. In Versorgungskulturen wird die Verantwortung für Prozess-
gelingen letztlich nirgendwo bzw. in der Regel beim schwächsten Glied festge-
macht, in der Schule bei den Schülern.
Das institutionelle Nebeneinander von Schule und Jugendhilfe könnte, so die
Hoffnung vieler, durch die parteiübergreifend beabsichtigte Ausweitung von Ganz-
tagsschulen gelockert werden (Appel u.a. 2003, ausführlich Rauschenbach in diesem
Band). Auf eine automatische Integration wird man allerdings nicht hoffen dürfen.
Bislang wird die Schulsozialarbeit als ihr Schnittfeld betrachtet (Bolay 2004). Mögli-
cherweise ist dieser Blick zu beschränkt. Denn neben Sozialarbeitern und Sozialpä-
dagogen sind bisweilen auch Schulpsychologen tätig. Von letzteren hört man keine
Klagen darüber, dass Schulleiter sie als Springer für Klassenaufsichten bei Fehlstun-
den vereinnahmen, wie in empirischen Studien von Schulsozialarbeitern, die nicht
selten "als ,Fremde' im System Schule wahrgenommen" werden (Ülk/Speck 2004,
S. 71f.). Gegenüber dem Habitus des Lehrerstandes mit im Schuljahr 2003/4 insge-
samt 797.000 Angehörigen in Deutschland dürfte ein zu bescheidener Auftritt ande-
rer Berufsgruppen an Schulen kaum gelingen. Vermutlich hat dies mit einem grund-
legenderen, professionellen Problem zu tun.

Schulpädagogik vs. So:;.jalpädagogik


Die so genannte "Allgemeine Pädagogik" gilt in der deutschen Hochschullandschaft
üblicherweise mit der Schulpädagogik verbunden. Die Sozialpädagogik blieb stets
die kleine Schwester, zudem in einem - in dieser Form nur in Deutschland vorhan-
denem - Spannungsverhältnis zur Sozialarbeit, die praktisch nur an Fachhochschu-
len gelehrt wird, disziplinär umstritten mit dem Begriff einer angewandten "Sozial-
arbeitswissenschaft" markiert. Zwar wurde beispielsweise durch Hans-Uwe Ütto
und seine Schwer versucht, unter dem Begriff "Soziale Arbeit" eine disziplinäre und
professionelle Integration von Sozialarbeit und Sozialpädagogik zu kreieren. Diese
wissenschaftspolitischen Debatten sind nicht nur wissenssoziologisch interessant,
sondern dürften wohl als Signaturen auch für das hier zur Rede stehende Status-
Bildungsreform als Sozialreform 151

problem im Schulwesen gelten. Bei einem der herausragenden Fachvertreter der


deutschen Nachkriegs-Sozialpädagogik, Klaus Mollenhauer, beobachtete Christian
Niemeyer, dass ihn "bis zuletzt die tiefe Sorge um die kognitive Identität, disziplinä-
re Heimat und wissenschaftliche Perspektive der Sozialpädagogik umtrieb" (Nie-
meyer 1998, S. 471). Diese Sorge ist auch seitdem nicht grundlos. Sie spiegelt sich in
einer "Bildungspolitik nach PISA", die das Benchmarking-Modell kognitiver Leis-
tungen mit einer erstaunlichen Blindheit gegenüber bildungs soziologischen und
sozialpädagogischen Erkenntnissen durchziehen möchte (Winkler in diesem Band).
Die Gründe dafür liegen, so die Vermutung, in einer komplexen Gemengelage
aus Bildungspolitik und Jugendpolitik einerseits, Schulpädagogik und Sozialpädago-
gik (bzw. Sozialer Arbeit) andererseits. Jürgen Reyer zeichnete in seiner "Kleinen
Geschichte der Sozialpädagogik" die Entwicklung der Disziplin in Deutschland als
eine nach, die sich stets der Vermittlung von Individuum und Gemeinschaft widme-
te. Gemeinschaftsbildung war ihr Medium, die Schulreform der Reformpädagogik
galt als "sozialpädagogisches Großprojekt" (Reyer 2002, S. 119ff.). Die Rezeption
dieser historischen Analyse wurde durch manche Polemik Reyers zwar getrübt.
Seine These, dass die "Entgegensetzung der Begriffe Individualpädagogik und So'(jal-
pädagogik (...) theoretisch (...) nicht haltbar" (ebd., S. 8) ist, kann aber weiter führen.
Auch aus soziologischer Sicht ist "Gemeinschaft" eine Zentralkategorie des Sozia-
len (Opielka 2004a). Pädagogik geschieht immer in Gemeinschaft, unübersehbar in
der Schule. In dieser Perspektive sind Schulpädagogik und Sozialpädagogik ver-
schiedene Aspekte eines Handlungsprojekts, wobei letztere nicht den Unterricht,
dafür das Gesamt sozialer Beziehungen der Klienten thematisiert.
Politisch-praktisch werden diese Überlegungen, wenn die Bildungspolitik - wie
im angelsächsischen und skandinavischen Raum schon immer der Fall - künftig als
Teil der Sozialpolitik begriffen wird, eine Intention des vorliegenden Bandes. Sozi-
alpädagogische und sozialarbeiterische Professionalität kann dann ihren Platz am
Katzentisch des Bildungswesens verlassen.

So'(jale Schule
In den Schulen Finnlands - dem Land besonderer "PISA-Erfolge" - spricht man
nicht von Schulsozialarbeitern, sondern von "Schulkuratoren". Ihre "Kunden"
schließen Schüler, Studentengruppen, Eltern und Schulpersonal ein, sie sollen das
psychosoziale Wohl der Schulgemeinschaft und das Lernklima fördern und entwi-
ckeln. Auf 500 Schüler soll ein Schulkurator tätig sein, maximal für drei Schulge-
meinschaften. Im Kanton Zürich sind die Schulsozialarbeiter, wie eine neuere Stu-
die nachzeichnet, die am stärksten wachsende Beschäftigtengruppe (Müller 2004).
In den USA hat sich "School Social Work" längst mit eigenen Fachzeitschriften und
differenzierten Arbeitsprofilen etabliert (Allen-Meares 2004).
Die Ausdifferenzierung des Schulpersonals insbesondere um sozialpädagogi-
sche und -arbeiterische Qualifikationen wird auch in Deutschland offensiv verfolgt
152 Michael üpielka

werden müssen. Das kann nicht gegen den Lehrerstand erfolgen - aber auch nicht
einfach durch bescheidene Unterordnung. Die bisherigen, eher defensiven Versu-
che, durch eine Anbindung an die Jugendhilfestrukturen eine organisatorische Ei-
genständigkeit zu erreichen (so ülk/Speck 2004), dürften dabei nicht genügen. Die
geplante Ausweitung von Ganztagsschulen und die Integration von Horten in die
Schulen kann im schlechten Fall - analog dem Gesundheitswesen - zu einem Satel-
litensystem von "Lehrerhilfsberufen" führen, schlecht bezahlt und mit professionell
minderem Status. Im günstigen Fall gelingt es, auch durch die Etablierung neuer
Bachelor- und Master-Studiengänge, sozialpädagogische Professionalität im Schul-
bereich zu verankern. Ihr Projekt sollte die "sozialpädagogische Schule" werden -
von der Lehrer, Schüler, Eltern und das Gemeinwesen profitieren.
Diese Überlegungen und Hinweise können im Sinne einer "Bildungsreform als
Sozialreform" nicht auf die Schule beschränkt bleiben. Ein sozialpädagogischer und
in diesem Sinn "sozialer" Blick muss sowohl auf die Institutionen der Vorschulpä-
dagogik gerichtet werden (dazu Rabe-Kleberg in diesem Band), wie auf die Hoch-
schulen. Auch die Hochschulen müssen sich um "interdisziplinäre Kreativität"
(Brint 2005) bemühen, um eine Lern- und Forschungsorganisation, die sich den
komplexen Lebensproblemen der Gegenwart und Zukunft zuwendet und diese
Komplexität selbst zum Gegenstand ihres Leistungswettbewerbs macht. Wenn
Bildungs- und Sozialpolitik künftig verschränkt gedacht werden könnten, würde
sich auch die Sozialpolitik ändern müssen: Sie würde vom Menschen, von der Bür-
gerin und vom Bürger her gedacht und nicht, wie bisher, zunächst vom Arbeits-
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Autorenverzeichnis

Jutta Allmendinger, Jg. 1956, PhD. habil., Professorin für Soziologie an der Ludwig-
Maximilians-Universität in München und Direktorin des Instituts für Arbeitsmarkt-
und Berufsforschung (lAB) in Nürnberg. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte:
Organisations- und Bildungssoziologie, soziale Ungleichheit.

Wolfgang Biittcher, Jg. 1953, Dr. rer. pol. habil., Professor an der Westf;ilischen Wil-
helms-Universität in Münster. Leiter der Abteilung Qualitätsentwicklung und Eva-
luation in der Lehreinheit Erziehungswissenschaft. Geschäftsführender Direktor
des Instituts für Sozialpädagogik, Weiterbildung und Empirische Pädagogik. For-
schungsschwerpunkte: Qualitätsentwicklung und Evaluierung, Internationale
Trends zu einer Mikro-Ökonomie von Organisationen im Bildungs- und Sozialwe-
sen, Das Verhältnis von Organisation und Pädagogik, Curriculum-Entwicklung für
die Grundbildung, Chancengleichheit im Bildungswesen.

Stephan Leibfried, Jg. 1944, Dr. rer. pol., Professor für Sozialpolitik an der Universität
Bremen, Kodirektor am Zentrum für Sozialpolitik (ZeS), SFB "Staatlichkeit und
Wandel" und Graduiertenfakultät. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Armut,
Sozialpolitik, Globalisierung.

Michael Opielka, Jg.. 1956, Dr. rer. soc., Dipl. Päd., Professor für Sozialpolitik an der
Fachhochschule Jena, Fachbereich Sozialwesen und Geschäftsführer des Institut für
Sozialökologie (lSÖ) in Königswinter. Visiting Scholar an der University of Califor-
nia at Berkeley (School of Social Welfare) und Lehrbeauftragter an der Universität
Bonn. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Sozialpolitik, Religions- und Kultur-
soziologie, Familienforschung, Soziologische Theorie, Freiwilliges Engagement,
Sozialpädagogik.

Ursula Rabe-Kleber;g, Jg. 1948, Dr. phi!. habil., Professorin für Soziologie der Bildung
und Erziehung am Fachbereich Erziehungswissenschaft der Martin-Luther-
Universität Halle-Wittenberg, zuvor wissenschaftliche Mitarbeiterin an verschiede-
nen wissenschaftlichen Instituten und Universitäten in Berlin, Bremen, Hannover
und Münster. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Soziologie der Bildung und
Erziehung, Berufs- und Professionssoziologie, Kindheitsforschung insbesondere
institutionelle Kleinkinderziehung.
Autorenver7.eichnis 157

Thomas Rauschenbach, Jg. 1952, Dr. rer. soc., Professor und Lehrstuhlinhaber für
S07.ialpädagogik an der Universität Dortmund sowie Vorstand und Direktor des
Deutschen Jugendinstituts e. V .. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Theorie
der S07,ialen Arbeit, Bildung im Kindes- und Jugendalter, Jugendarbeit, Ausbildung
und Arbeitsmarkt für soziale Berufe, Ehrenamt, Freiwilligendienste/Zivildienst,
Verbändeforschung.

Birgit Sandkaulen, Jg. 1959, Dr. phil. habil., Professorin für Philosophie mit Schwer-
punkt auf dem Gebiet des deutschen Idealismus an der Friedrich-Schiller-
Universität Jena. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Klassische deutsche Philo-
sophie, Metaphysik, Philosophie der Erkenntnis, Politische Philosophie, Ästhetik.

Gen G. Wagner, Jg. 1953, Dr. rer. oee. habil., Lehrstuhlinhaber für Volkswirtschafts-
lehre an der TU Berlin und Forschungsdirektor am Deutschen Institut für Wirt-
schaftsforschung (DIW Berlin). Er war gewählter Fachgutachter der Deutschen
Forschungsgemeinschaft (DFG) und ist Mitglied des Wissenschaftsrates. Arbeits-
und Forschungsschwerpunkte: Mikroökonomische Theorie der S07.ialpolitik, Ar-
beitsmarkt- und Sozialpolitikforschung.

Michael Winkler, Jg. 1953 in Wien, Dr. phil. Dr. phil. habil., Professor und Lehrstuhl
für Allgemeine Pädagogik und Theorie der Sozialpädagogik an der Friedrich-
Schiller-Universität Jena; Gastprofessuren an den Universitäten Graz und Wien.
Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Geschichte und Theorie der Pädagogik, der
Erziehung und Bildung, pädagogische Gegenwartsdiagnostik, Theorie der S07,ialpä-
dagogik, Hilfen ?,Ur Erziehung, insbesondere Heimerziehung, Übergang von Schule
in berufliche Bildung.
Neu im Programm
Politikwissenschaft
Daniela Forkmann / Hakki Keskin
Michael Schlieben (Hrsg.) Deutschland als neue Heimat
Die Parteivorsitzenden in der Eine Bilanz der Integrationspolitik
Bundesrepublik Deutschland 2005.296 S. Br. EUR 24,90
1949 - 2005 ISBN 3-531-14673-4
2005. 401 S. Göttinger Studien zur
Parteienforschung. Br. EUR 29,90 Andreas Kost (Hrsg.)
ISBN 3-531-14516-9
Direkte Demokratie in den
deutschen Ländern
Christiane Frantz Eine Einführung
Karriere in NGOs 2005.382 S. Br. EUR 19,90
Politik als Beruf jenseits der Parteien ISBN 3-531-14251-8
2005.326 S. Bürgergesellschaft und
Demokratie. Br. EUR 32,90 Thomas Meyer
ISBN 3-531-14588-6
Theorie der
Sozialen Demokratie
Gert-Joachim Glaeßner /
2005.678 S. Br. EUR 39,90
Astrid Lorenz (Hrsg.)
ISBN 3-531-14612-2
Europäisierung der
inneren Sicherheit Undine Ruge / Daniel Morat (Hrsg.)
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Beispiel von organisierter Kriminalität Deutschland denken
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Dominik Hierlemann Siegfried Schumann (Hrsg.)

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Jan w. van Deth (Hrsg.)
Politische Strategieanalyse
Deutschland in Europa Konzeptionelle Grundlagen und
Ergebnisse des European Social Survey Anwendung in der Umwelt- und
2002-2003 Nachhaltigkeitspolitik
2005.385 S. Br. EUR 34,90 2005.328 S. mit 5 Abb. Br. EUR 32,90
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Parteien in der Abschied von der Toskana
Bürgergesellschaft Die SPD in der Ära Schröder
Zum Verhältnis von Macht 2., erw. Aufl. 2005. 206 S. Br. EUR 21,90
und Beteiligung ISBN 3-531-34268-1
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ISBN 3-531-14543-6 Hans Zehetmair (Hrsg.)
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Nico Fickinger Perspektiven für das 21. Jahrhundert
Der verschenkte Konsens 2005.232 S. Br. EUR 21,90
Das Bündnis für Arbeit, Ausbildung und ISBN 3-531-14477-4
Wettbewerbsfähigkeit 1998 - 2002: Moti-
vation, Rahmenbedingungen und Erfolge
2005. 352 S. mit 38 Abb. und 61 Tab.
Br. EUR 34,90
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